Title: Rede zum Schuljahresabschluß am 29. September 1809
Author: Georg Wilhelm Friedrich Hegel
Release date: October 1, 2004 [eBook #6728]
Most recently updated: November 8, 2012
Language: German
Credits: Produced by Mike Pullen and Delphine Lettau
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Rede zum Schuljahresabschluß am 29. September 1809
Georg Wilhelm Friedrich Hegel
Durch allergnädigste Befehle bin ich angewiesen, bei der feierlichen Verteilung der Preise, welche die allerhÖchste Regierung den SchÜlern, die sich durch ihre Fortschritte auszeichnen, zur Belohnung und noch mehr zur Aufmunterung bestimmt, in einer öffentlichen Rede die Geschichte der Gymnasialanstalt im verflossenen Jahre darzustellen und dasjenige zu berühren, wovon für das Verhältnis des Publikums zu derselben zu sprechen zweckmässig sein kann. So ehrerbietigst ich diese Pflicht zu erfüllen habe, so sehr liegt die eigene Aufforderung dazu in der Natur des Gegenstandes und Inhaltes, der eine Reihe königlicher Wohltaten oder deren Wirkungen ist und dessen Darstellung den Ausdruck der tiefschuldigsten Dankbarkeit für dieselbe enthält—einer Dankbarkeit, die wir in Gemeinschaft mit dem Publikum der erhabenen Sorge der Regierung für die öffentlichen Unterrichtsanstalten darbringen.—Es sind zwei Zweige der Staatsverwaltung, für deren gute Einrichtung die Völker am erkenntlichsten zu sein pflegen, gute Gerechtigkeitspflege und gute Erziehungsanstalten; denn von keinem übersieht und fühlt der Privatmann die Vorteile und Wirkungen so unmittelbar, nah und einzeln als von jenen Zweigen, deren der eine sein Privateigentum überhaupt, der andere aber sein liebstes Eigentum, seine Kinder, betrifft.
Die hiesige Stadt hat die Wohltat einer neuen Schuleinrichtung um so lebhafter erkannt, je größer und allgemein gefühlter das Bedürfnis einer Veränderung war.
Die neue Anstalt hatte ferner den Vorteil, auf alte, mehrere Jahrhunderte bestandene Anstalten, nicht auf eine neue zu folgen; es konnte sich somit an sie die vorhandene Vorstellung einer langen Dauer, eines Bleibenden knüpfen, und das entgegenkommende Zutrauen wurde nicht durch den Gegengedanken gestört, daß die neue Einrichtung etwas vielleicht nur Vorübergehendes, Experimentartiges sei,—ein Gedanke, der besonders, wenn er sich in den Gemütern derer, denen die unmittelbare Ausführung anvertraut ist, [festsetzt,] öfters sogar fähig ist, eine Einrichtung in der Tat zu einem bloßen Experiment herabzusetzen.
Ein innerlicher Grund des Zutrauens ist aber, daß die neue Anstalt bei wesentlicher Verbesserung und Erweiterung des Ganzen das Prinzip der älteren erhalten hat und insofern nur eine Fortsetzung derselben ist. Und es ist merkwürdig, daß dieser Umstand das Charakteristische und Ausgezeichnete der neuen Einrichtung ausmacht.
Indem das sich endigende Studienjahr das erste Jahr und die Geschichte unserer Anstalt in demselben die Geschichte ihrer Entstehung ist, so liegt der Gedanke ihres ganzen Planes und Zweckes zu nahe, als daß wir von ihm ab und schon auf einzelne Begebenheiten derselben unsere Aufmerksamkeit richten möchten. Weil die Sache selbst soeben erst geworden ist, so beschäftigt noch ihre Substanz die Neugierde und die nachsinnendere Überlegung. Das Einzelne aber ist teils aus den öffentlichen Anzeigen bekannt; teils, wie auch das weitere Detail, was und wie und wieviele Schüler dieses Jahr gelehrt worden, ist in dem gedruckt dem Publikum mitzuteilenden Schülerkatalog enthalten. Es sei mir daher erlaubt, in der hohen Gegenwart Eurer Exzellenz und dieser hochansehnlichen Versammlung mich an das Prinzip unseres Instituts zu halten und über sein Verhältnis und seine Grundzüge und deren Sinn einige allgemeine Gedanken vorzulegen, soweit die zerstreuende Vielgeschäftigkeit, die mein Amt gerade in diesem Zeitpunkte mit sich brachte, mir zu sammeln erlaubte.
Der Geist und Zweck unserer Anstalt ist die Vorbereitung zum gelehrten Studium, und zwar eine Vorbereitung, welche auf den Grund der Griechen und Römer erbaut ist. Seit einigen Jahrtausenden ist dies der Boden, auf dem alle Kultur gestanden hat, aus dem sie hervorgesprosst und mit dem sie in beständigem Zusammenhange gewesen ist. Wie die natürlichen Organisationen, Pflanzen und Tiere, sich der Schwere entwinden, aber dieses Element ihres Wesens nicht verlassen können, so ist alle Kunst und Wissenschaft jenem Boden entwachsen; und obgleich auch in sich selbstständig geworden, hat sie sich von der Erinnerung jener älteren Bildung nicht befreit. Wie Anteus seine Kräfte durch die Berührung der mütterlichen Erde erneuerte, so hat jeder neue Aufschwung und Bekräftigung der Wissenschaft und Bildung sich aus der Rückkehr zum Altertum ans Licht gehoben.
So wichtig aber die Erhaltung dieses Bodens ist, so wesentlich ist die Abänderung des Verhältnisses, in welchem er ehemals gestanden hat. Wenn die Einsicht in das Ungenügende, Nachteilige alter Grundsätze und Einrichtungen überhaupt und damit der mit ihnen verbundenen vorigen Bildungzwecke und Bildungsmittel eintritt, so ist der Gedanke, der sich zunächst auf der Oberfläche darbietet, die gänzliche Beseitigung und Abschaffung derselben. Aber die Weisheit der Regierung, erhaben über diese leicht scheinende Hilfe, erfüllt auf die wahrhafteste Art das Bedürfnis der Zeit dadurch, daß sie das Alte in ein neues Verhältnis zu dem Ganzen setzt und dadurch das Wesentliche derselben ebensosehr erhält, als sie es verändert und erneuert.
Ich brauche nur mit wenigen Worten an die bekannte Stellung zu erinnern, welche das Erlernen der lateinischen Sprache ehemals hatte, daß dasselbe nicht sowohl für ein Moment des gelehrten Studiums galt, sondern den wesentlichsten Teil desselben ausmachte und das einzig höhere Bildungsmittel war, welches demjenigen dargeboten wurde, der nicht bei dem allgemeinen, ganz elementarischen Unterrichte stehenbleiben wollte; daß für die Erwerbung anderer Kenntnisse, welche fürs bürgerliche Leben nützlich oder an und für sich von Wert sind, kaum ausdrückliche Anstalten gemacht waren, sondern es im ganzen der Gelegenheit der Erlenung jener Sprache überlassen war, ob etwas und wieviel dabei von ihnen anflog,—daß jene Kenntnisse zum Teil für eine besondere Kunst, nicht zugleich für ein Bildungsmittel galten und größtenteils in jene Schale gehüllt waren.
Die allgemeine Stimme erhob sich gegen jenes unselig gewordene Lateinlernen; es erhob sich das Gefühl vornehmlich, daß ein Volk nicht als gebildet angesehen werden kann, welches nicht alle Schätze der Wissenschaft in seiner eigenen Spache ausdrücken und sich in ihr mit jedem Inhalt frei bewegen kann. Diese Innigkeit, mit welcher die eigene Sprache uns angehört, fehlt den Kenntnissen, die wir nur in einer fremden besitzen; sie sind durch eine Scheidewand von uns getrennt, welche sie dem Geiste nicht wahrhaft einheimisch sein lässt.
Dieser Gesichtspunkt, die fehlerhaften, oft zum durchgängigen Mechanismus herabsinkenden Methoden, die verabsäumte Erwerbung vieler wichtiger Sachkenntnisse und geistiger Fertigkeiten hat sich nach und nach die Kenntnis der lateinischen Sprache von ihrem Anspruche, als Hauptwissenschaft zu gelten, und von ihrer lange behaupteten Würde, allgemeines und fast ausschliesendes Bildungsmittel zu sein, abgesetzt. Sie hat aufgehört, als Zweck betrachtet zu werden, und diese geistige Beschäftigung hat dagegen sogenannte Sachen, und darunter alltägliche, sinnliche Dinge, die keinen Bildungsstoff abzugeben fähig sind, über sich mächtig werden sehen müssen. Ohne in diese Gegensätze und deren weitere Bestimmungen, ihre Übertreibungen oder äusserliche Kollisionen einzugehen, genüge es hier, uns des weisen Verhältnisses zu freuen, das unsere allerhöchste Regierung hierin festgesetzt hat.
Erstlich hat dieselbe durch die Vervollkommnung der deutschen Volksschulen die allgemeine Bürgerbildung erweitert, es werden dadurch allen die Mittel verschafft, das ihnen als Menschen Wesentliche und für ihren Stand Nützliche zu erlernen; denen, die das Bessere bisher entbehrten, wird dasselbe hierdurch gewährt; denen aber, die, um etwas Besseres als den ungenügenden allgemeinen Unterricht zu erhalten, nur zu dem genannten Bildungsmittel greifen konnten, wird dasselbe entbehrlicher gemacht und durch zweckmäßigere Kenntnisse und Fertigkeiten ersetzt.—Auch die hiesige Stadt sieht der vollständigen Organisation dieser dem größten Teil des übrigen Königreichs bereits erwiesenen Wohltat, erwartungsvoll entgegen—einer Wohltat, deren wichtige Folgen für das Ganze kaum zu berechnen sind.
Zweitens hat das Studium der Wissenschaften und die Erwerbung höherer geistiger und nützlicher Fertigkeiten, in ihrer Unabhängigkeit von der alten Literatur, in einer eigenen Schwesteranstalt ihr vollständiges Mittel bekommen.
Drittens endlich ist das alte Sprachenstudium erhalten. Es steht teils nach wie vor als höheres Bildungsmittel jedem offen, teils aber ist es zur gründlichen Basis des gelehrten Studiums befestigt worden. Indem dasselbe nun neben jenes getreten ist, ist es seiner Ausschlieslichkeit verlustig geworden und kann den Hass gegen seine vorherigen Anmaßungen getilgt haben. So auf die Seite getreten, hat es um so mehr das Recht, zu fordern, daß es in seiner Abscheidung frei gewähren dürfe und von fremdartigen, störenden Einmischungen ferner unbehelligt bleibe.
Durch diese Ausscheidung und Einschränkung hat es seine wahrhafte Stellung und die Möglichkeit erhalten, sich um so freier und vollständiger ausbilden zu können. Das echte Kennzeichen der Freiheit und Stärke einer Organisation besteht darin, wenn die unterschiedenen Momente, die sie enthält, sich in sich vertiefen und zu vollständigen Systemen machen, ohne Neid und Furcht nebeneinander ihr Werk treiben und es sich treiben sehen, und daß alle wieder nur Teile eines großen Ganzen sind. Nur was sich abgesondert in seinem Prinzip vollkommen macht, wird ein konsequentes Ganzes, d.h. es wird etwas; es gewinnt Tiefe und die kräftige Möglichkeit der Vielseitigkeit. Die Besorgnis und Ängstlichkeit über Einseitigkeit pflegt zu häufig der Schwäche anzugehören, die nur der vielseitigen inkonsequenten Oberflächlichkeit fähig ist.
Wenn nun das Studium der alten Sprachen wie vorher die Grundlage der gelehrten Bildung bleibt, so ist es auch in dieser Einschränkung sehr in Anspruch genommen worden. Es scheint eine gerechte Forderung zu sein, dass die Kultur, Kunst und Wissenschaft eines Volkes auf ihre eigenen Beine zu stehen komme. Dürfen wir von der Bildung der neueren Welt, unserer Aufklärung und den Fortschritten aller Künste und Wissenschaften nicht glauben, daß sie die griechischen und römischen Kinderschuhe vertreten haben, ihrem alten Gängelbande entwachsen auf eigenem Grund und Boden fußen können? Den Werken der Alten möchte immerhin ihr größer oder geringer angeschlagener Wert bleiben, aber sie hätten in die Reihe von Erinnerungen, gelehrter müßiger Merkwürdigkeiten, unter das blose Geschichtliche zurückzutreten, das man aufnehmen könnte oder auch nicht, das aber nicht schlechthin für unsere höhere Geistesbildung Grundlage und Anfang ausmachen müsste.
Lassen wir es aber gelten, daß überhaupt vom Vortrefflichen auszugehen ist, so hat für das höhere Studium die Literatur der Griechen vornehmlich, und dann die der Römer, die Grundlage zu sein und zu bleiben. Die Vollendung und Herrlichkeit dieser Meisterwerke muss das geistige Bad, die profane Taufe sein, welche der Seele den ersten und unverlierbaren Ton und Tinktur für Geschmack und Wissenschaft gebe. Und zu dieser Einweihung ist nicht eine allgemeine, äussere Bekanntschaft mit den Alten hinreichend, sondern wir müssen uns ihnen in Kost und Wohnung geben, um ihre Luft, ihre Vorstellungen, ihre Sitten, selbst, wenn man will, ihre Irrtümer und Vorurteile einzusaugen und in dieser Welt einheimisch zu werden,—der schönsten, die gewesen ist.
Wenn das erste Paradies das Paradies der Menschennatur war, so ist dies das zweite, das höhere, das Paradies des Menschengeistes, der in seiner schöneren Natürlichkeit, Freiheit, Tiefe und Heiterkeit wie die Braut aus ihrer Kammer hervortritt. Die erste wilde Pracht seines Aufgangs im Morgenlande ist durch die Herrlichkeit der Form umschrieben und zur Schönheit gemildert; er hat seine Tiefe nicht mehr in der Verworrenheit, Trübseligkeit oder Aufgeblasenheit, sondern sie liegt in unbefangener Klarheit offen; seine Heiterkeit ist nicht ein kindisches Spielen, sondern über die Wehmut hergebreitet, welche die Härte des Schicksals kennt, aber durch sie nicht aus der Freiheit über sie und aus dem Maße getrieben wird. Ich glaube nicht zu viel zu behaupten, wenn ich sage, daß, wer die Werke der Alten nicht gekannt hat, gelebt hat, ohne die Schönheit zu kennen.
In einem solchen Elemente nun, indem wir uns [darin] einhausen, geschieht es nicht nur, daß alle Kräfte der Seele angeregt, entwickelt und geübt werden, sondern dasselbe ist ein eigentümlicher Stoff, durch welchen wir uns bereichern und unsere bessere Substanz bereiten.
Es ist gesagt worden, daß die Geistestätigkeit an jedem Stoffe geübt werden könne, und als zweckmäßigster Stoff erschienen teils äußerlich nützliche, teils die sinnlichen Gegenstände, die dem jugendlichen oder kindlichen Alter am angemessensten seien, indem sie dem Kreise und der Art des Vorstellens angehören, den dieses Alter schon an und für sich selbst habe.
Wenn vielleicht, vielleicht auch nicht, das Formelle von der Materie, das Üben selbst von dem gegenständlichen Kreise, an dem es geschehen soll, so trennbar und gleichgültig dagegen sein könnte, so ist es jedoch nicht um das Üben allein zu tun. Wie die Pflanze die Kräfte ihrer Reproduktion an Licht und Luft nicht nur übt, sondern in diesem Prozesse zugleich ihre Nahrung einsaugt, so muß der Stoff, an dem sich der Verstand und das Vermögen der Seele überhaupt entwickelt und übt, zugleich eine Nahrung sein. Nicht jener sogenannte nützliche Stoff, jene sinnliche Materiatur, wie sie unmittelbar in die Vorstellungsweise des Kindes fällt, nur der geistige Inhalt, welcher Wert und Interesse in und für sich selbst hat, stärkt die Seele und verschafft diesen unabhängigen Halt, diese substantielle Innerlichkeit, welche die Mutter von Fassung, von Besonnenheit, von Gegenwart und Wachen des Geistes ist; er erzeugt die an ihm großgezogene Seele zu einem Zwecke, der erst die Grundlage von Brauchbarkeit zu allem ausmacht und den es wichtig ist, in allen Ständen zu pflanzen. Haben wir nicht in neueren Zeiten sogar Staaten selbst, welche solchen inneren Hintergrund in der Seele ihrer Angehörigen zu erhalten und auszubauen vernachlässigten und verachteten, sie auf die bloße Nützlichkeit und auf das Geistige nur als auf ein Mittel richteten, in Gefahren haltungslos dastehen und in der Mitte ihrer vielen nützlichen Mittel zusammenstürzen sehen?
Den edelsten Nahrungsstoff nun und in der edelsten Form, die goldenen Äpfel in silbernen Schalen, enthalten die Werke der Alten, und unvergleichbar mehr als jede anderen Weke irgendeiner Zeit und Nation. Ich brauche an die Großheit ihrer Gesinnungen, an ihre plastische, von moralischer Zweideutigkeit freie Tugend und Vaterlandsliebe, an den großen Stil ihrer Taten und Charaktere, das Mannigfaltige ihrer Schicksale, ihrer Sitten und Verfassungen nur zu erinnern, um die Behauptung zu rechtfertigen, daß in dem Umfange keiner Bildung soviel Vortreffliches, Bewunderungswürdiges, Originelles, Vielseitiges und Lehrreiches vereinigt war.
Dieser Reichtum aber ist an die Sprache gebunden, und nur durch und in dieser erreichen wir ihn in seiner ganzen Eigentümlichkeit. Den Inhalt geben uns etwa Übersetzungen, aber nicht die Form, nicht die ätherische Seele desselben. Sie gleichen den nachgemachten Rosen, die an Gestalt, Farbe, etwa auch Wohlgeruch den natürlichen ähnlich sein können; aber die Lieblichkeit, Zartheit und Weichheit des Lebens erreichen jene nicht. Oder die sonstige Zierlichkeit und Feinheit der Kopie gehört nur dieser an, an welcher ein Kontrast zwischen dem Inhalte und der nicht mit ihm erwachsenen Form sich fühlbar macht. Die Sprache ist das musikalische Element, das Element der Innigkeit, das in der Übertragung verschwindet,—der feine Duft, durch den die Sympathie der Seele sich zu geniesen gibt, aber ohne den ein Werk der Alten nur schmeckt wie Rheinwein, der verduftet ist.
Dieser Umstand legt uns die hart scheinende Notwendigkeit auf, die Sprachen der Alten gründlich zu studieren und sie uns geläufig zu machen, um ihre Werke in dem möglichsten Umfang aller ihrer Seiten und Vorzüge geniesen zu können. Wenn wir uns über die Mühe, die wir hierzu anwenden müssen, beschweren wollten und es fürchten oder bedauern könnten, die Erwerbung anderer Kenntnisse und Fertigkeiten darüber zurücksetzen zu müssen, so hätten wir das Schicksal anzuklagen, das uns in unserer eigenen Sprache nicht diesen Kreis klassischer Werke hat zuteil werden lassen, die uns die mühevolle Reise zu dem Altertum entbehrlicher machten und den Ersatz für dasselbe gewährten.
Nachdem ich von dem Stoffe der Bildung gesprochen, führt dieser Wunsch darauf, noch einige Worte über das Formelle zu sagen, das in ihrer Natur liegt.
Das Fortschreiten der Bildung ist nämlich nicht als das ruhige Fortsetzen einer Kette anzusehen, an deren frühere Glieder die nachfolgenden zwar mit Rücksicht auf sie gefügt würden, aber aus eigener Materie und ohne daß diese weitere Arbeit gegen die erstere gerichtet wäre. Sondern die Bildung muß einen früheren Stoff und Gegenstand haben, über den sie arbeitet, den sie verändert und neu formiert. Es ist nötig, daß wir uns die Welt des Altertums erwerben, so sehr, um sie zu besitzen, als noch mehr, um etwas zu haben, das wir verarbeiten.—Um aber zum Gegenstande zu werden, muß die Substanz der Natur und des Geistes uns gegenübergetreten sein, sie muß die Gestalt von etwas Fremdartigem erhalten haben.—Unglücklich der, dem seine unmittelbare Welt der Gefühle entfremdet wird; denn dies heißt nichts anderes, als daß die individuellen Bande, die das Gemüt und den Gedanken heilig mit dem Leben befreunden, Glaube Liebe und Vertrauen, ihm zerrissen wird!—Für die Entfremdung, welche Bedingung der theoretischen Bildung ist, fordert diese nicht diesen sittlichen Schmerz, nicht das Leiden des Herzens, sondern den leichteren Schmerz und Anstrengung der Vorstellung, sich mit einem Nicht- Unmittelbaren, einem Fremdartigen, mit etwas der Erinnerung, dem Gedächtnisse und dem Denken Angehörigen zu beschäftigen.—Diese Forderung der Trennung aber ist so notwendig, daß sie sich als ein allgemeiner und bekannter Trieb in uns äussert. Das Fremdartige, das Ferne führt das anziehende Interesse mit sich, das uns zur Beschäftigung und Bemühung lockt, und das Begehrenswerte steht im umgekehrten Verhältnisse mit der Nähe, in der es steht und gemein mit uns ist. Die Jugend stellt es sich als ein Glück vor, aus dem Einheimischen wegzukommen und mit Robinson eine ferne Insel zu bewohnen. Es ist eine notwendige Täuschung, das Tiefe zuerst in der Gestalt der Entfernung suchen zu müssen; aber die Tiefe und Kraft, die wir erlangen, kann nur durch die Weite gemessen werden, in die wir von dem Mittelpunkte hinwegflogen, in welchen wir uns zuerst versenkt befanden und dem wir wieder zustreben.
Auf diesen Zentrifugaltrieb der Seele gründet sich nun überhaupt die Notwendigkeit, die Scheidung, die sie von ihrem natürlichen Wesen und Zustand sucht, ihr selbst darreichen und eine ferne, fremde Welt in den jungen Geist hineinstellen zu müssen. Die Scheidewand aber, wodurch diese Trennung für die Bildung, wovon hier die Rede ist, bewerkstelligt wird, ist die Welt und Sprache der Alten; aber sie, die uns von uns trennt, enthält zugleich alle Anfangspunkte und Fäden der Rückkehr zu sich selbst, der Befreundung mit ihr und des Wiederfindens seiner selbst, aber seiner nach dem wahrhaften allgemeinen Wesen des Geistes.
Diese allgemeine Notwendigkeit, welche die Welt der Vorstellung so sehr als die Sprache als solche umfaßt, wenn wir sie auf die Erlernung der letzteren anwenden, so erhellt von selbst, daß die mechanische Seite davon mehr als bloß ein notwendiges Übel ist. Denn das Mechanische ist das [dem] Geiste Fremde, für den es Interesse hat, das in ihn hineingelegte Unverdaute zu verdauen, das in ihm noch Leblose zu verständigen und zu seinem Eigentume zu machen.
Mit diesem mechanischen Momente der Spracherlernung verbindet sich ohnehin sogleich das grammatische Studium, dessen Wert nicht hoch genug angeschlagen werden kann, denn es macht den Anfang der logischen Bildung aus,—eine Seite, die ich noch zuletzt berühre, weil sie beinahe in Vergessenheit gekommen zu sein scheint. Die Grammatik hat nämlich die Kategorien, die eigentümlichen Erzeugnisse und Bestimmungen des Verstandes zu ihrem Inhalte; in ihr fängt also der Verstand selbst an, gelernt zu werden. Diese geistigen Wesenheiten, mit denen sie uns zuerst bekannt macht, sind etwas höchst Fassliches für die Jugend, und wohl nichts Geistiges [ist] fasslicher als sie; denn die noch nicht umfassende Kraft dieses Alters vermag das Reiche in seiner Mannigfaltigkeit nicht aufzunehmen; jene Abstraktionen aber sind das ganz Einfache. Sie sind gleichsam die einzelnen Buchstaben, und zwar die Vokale des Geistigen, mit denen wir anfangen, [um] es buchstabieren und dann lesen zu lernen. —Alsdann trägt die Grammatik sie auch auf eine diesem Alter angemessene Art vor, indem sie dieselben durch äusserliche Hilfsmerkmale, welche die Sprache meist selbst enthält, unterscheiden lehrt; um etwas besser, als jedermann rot und blau unterscheiden kann, ohne die Definitionen dieser Farben nach der Newtonschen Hypothese oder einer sonstigen Theorie angeben zu können, reicht jene Kenntnis vorerst hin, und es ist höchst wichtig, auf diese Unterschiede aufmerksam gemacht worden zu sein. Denn wenn die Verstandesbedingungen, weil wir verständige Wesen sind, in uns sind und wir dieselben unmittelbar verstehen, so besteht die erste Bildung darin, sie zu haben, d.h. sie zum Gegenstande des Bewusstseins gemacht zu haben und sie durch Merkmale unterscheiden zu können.
Indem wir durch die grammatische Terminologie uns in Abstraktionen bewegen lernen und dies Studium als die elementarische Philosophie anzusehen ist, so wird es wesentlich nicht bloß als Mittel, sondern als Zweck—sowohl bei dem lateinischen als bei dem deutschen Sprachunterricht—betrachtet. Der allgemeine oberflächliche Leichtsinn, den zu vertreiben der ganze Ernst und die Gewalt der Erschütterungen, die wir erlebt, erforderlich war, hatte, wie im Übrigen, so bekanntlich auch hier das Verhältnis von Mittel und Zweck verkehrt und das materielle Wissen einer Sprache höher als ihre verständige Seite geachtet.—Das grammatische Erlernen einer alten Sprache hat zugleich den Vorteil, anhaltende und unausgesetzte Vernunfttätigkeit sein zu müssen; indem hier nicht, wie bei der Muttersprache, die unreflektierte Gewohnheit die richtige Wortfügung herbeiführt, sondern es notwendig ist, den durch den Verstand bestimmten Wert der Redeteile vor Augen zu nehmen und die Regel zu ihrer Verbindung zu Hilfe zu rufen. Somit aber findet ein beständiges Subsumieren des Besonderen unter das Allgemeine und Besonderung des Allgemeinen statt, als worin ja die Form der Vernunfttätigkeit besteht.—Das strenge grammatische Studium ergibt sich also als eines der allgemeinsten und edelsten Bildungsmittel.
Dies zusammen, das Studium der Alten in ihrer eigentümlichen Sprache und das grammatische Studium, macht die Grundzüge des Prinzips aus, welches unsere Anstalt charakterisiert. Dieses wichtige Gut, so reich es schon an sich selbst ist, begreift darum nicht den ganzen Umfang der Kenntnisse, in welche unsere vorbereitende Anstalt einführt. Ausserdem, daß schon die Lektüre der alten Klassiker so gewählt ist, um einen lehrreichen Inhalt darzubieten, befasst die Anstalt auch den Unterricht fernerer Kenntnisse, die einen Wert an und für sich haben, von besonderer Nützlichkeit oder auch eine Zierde sind. Ich brauche diese Gegenstände hier nur zu nennen; ihr Umfang, ihre Behandlungsweise, die geordnete Stufenfolge in denselben und in ihren Verhältnissen zu anderen, die Übungen, die an sie angeknüpft werden, ist in der gedruckt auszuteilenden Nachricht näher zu ersehen. Diese Gegenstände sind also im allgemeinen: Religionsunterricht, deutsche Sprache nebst Bekanntmachung mit den vaterländischen Klassikern, Arithmetik, späterhin Algebra, Geometrie, Geographie, Geschichte, Physiographie, welche die Kosmographie, Naturgeschichte und Physik in sich begreift, philosophische Vorbereitungswissenschaften; ferner französische, auch für die künftigen Theologen hebräische Sprache, Zeichnen und Kalligraphie. Wie wenig diese Kenntisse vernachlässigt werden, ergibt sich aus der einfachen Rechnung, daß, wenn wir die vier letzteren Unterrichtsgegenstände nicht in Anschlag bringen, zwischen jenen zuerst genannten und den alten Sprachen die Zeit des Unterrichts in allen Klassen genau zur Hälfte geteilt ist; die erwähnten Gegenstände aber mit eingerechnet, fällt auf das Studium der alten Sprachen nicht die Hälfte, sondern nur zwei Fünfteile des ganzen Unterrichts.
In diesem ersten verflossenen Studienjahre ist die Hauptsache instand gesetzt worden und in Gang gekommen; das zweite Jahr wird an sich auf nähere Bestimmung und Ausbildung einzelner Zweige, wie z.B. der Anfangsgründe physikalischer Wissenschaften, näher bedacht sein können, und die allerhöchste Gnade Seiner Königlichen Majestät wird uns dazu, wie wir mit vertrauensvoller Zuversicht entgegensehen, instand setzen.—Auch was in der äusseren Einrichtung und Schicklichkeit noch abgeht—die Musen haben an sich wenig Bedürfnisse und sind hier nicht verwöhnt—, was für die Betätigung der äusseren disziplinarischen Aufsicht noch erforderlich ist—und die Natur des hiesigen Charakters und das Interesse der Eltern für Wohlgezogenheit ihrer Kinder erleichtert diese Sorge—, und dergleichen Nebenbedürfnisse sehen ihre Abhilfe bereits auf dem Wege.
Die allgemeinen Wirkungen der allerhöchsten huldreichsten Anordnungen, der gnädigsten näheren Aufsicht und Betätigung des Königlichen Generalkommissariats und der denselben gemäßen Bemühungen der Lehrer in diesem ersten Jahre hat das Publikum durch die öffentlichen Prüfungen zu beurteilen Gelegenheit gehabt.—Der letzte Akt, womit wir dasselbe beschliesen, ist diese öffentliche Feierlichkeit, durch welche die allergnädigste Regierung ihren Anstalten noch das Moment der Ehre und der öffentlichen Bezeugung der Zufriedenheit mit den Fortschritten der studierenden Schüler hinzufügen will.
Ein Teil von Ihnen, meine Herren, hat bereits ein Merkmal der gnädigsten Zufriedenheit in der Erlaubnis erhalten, die Universität beziehen zu dürfen; Sie sahen dabei, daß das Auge der Regierung offen über Sie ist; halten Sie sich für überzeugt, daß es immer offen über Sie sein wird, daß Sie derselben Rechenschaft von der Anwendung ihrer Studienjahre und von dem gnädigst bewilligten Zutritte zu den Königlichen Anstalten abzulegen haben, daß in unserem Vaterlande Ihren Talenten und Applikationen jede Laufbahn offensteht, aber nur für das Verdienst gangbar ist. Setzen Sie somit das Werk, das Sie hier angefangen haben, auf der Universität wacker fort. Die meisten von Ihnen verlassen zum erstenmal ihr väterliches Haus; wie Sie sich schon einmal von dem Herzen Ihrer Mutter ablösten, als Sie in das erste Leben traten, so lösen Sie sich jetzt von dem Leben in Ihrer Familie ab, indem Sie den Schritt in den Stand der Selbstständigkeit tun. Die Jugend sieht vorwärts; vergessen Sie dabei den Rückblick des Danks, der Liebe und der Pflicht nach Ihren Eltern niemals.
Die Urteile der Lehrer über jeden Einzelnen aller Schüler werden denselben in Gegenwart aller Lehrer und der Mitschüler der Klasse vorgelesen; diese Zensur wird auf Verlangen auch den Eltern schriftlich mitgeteilt. Das kurze Resultat dieses Urteils ist der Fortgangsplatz, den jeder nach seinen Gesamtfortschritten unter den Mitschülern seiner Klasse durch die Beratung der Lehrer und die Bestätigung des Rektorats erhält. Die Ordnung dieser Plätze ist ein Zeugnis dessen, was jeder von Ihnen bereits geleistet hat; sie wird hier öffentlich und dann durch den Druck bekanntgemacht.
Solenner ist die Auszeichnung derjenigen, die sich unter ihren Mitschülern vorzüglich hervorgetan haben und derer die Belohnung und der Preis aus der Hand Seiner Exzellenz des Herrn Genaeralkommissärs jetzt wartet. Empfangen Sie ihn als ein Zeichen der Zufriedenheit mit dem, was Sie seither leisteten, und noch mehr als eine Aufmunterung für Ihr zukünftiges Verhalten,—als eine Ehre, die Ihnen widerfährt, aber noch mehr als einen neuen Anspruch auf ihre weitere Anstrengung, als ein höheres Recht, das Ihre Eltern, Ihre Lehrer, das Vaterland und die allerhöchste Regierung auf Sie erworben haben.
Ende dieses Projekt Gutenberg Etextes Rede zum Schuljahresabschluß am 29. September 1809, von Georg Wilhelm Friedrich Hegel.