The Project Gutenberg eBook of Der Tempel: Roman

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Title: Der Tempel: Roman

Author: Hermynia Zur Mühlen

Release date: October 14, 2021 [eBook #66535]

Language: German

Credits: the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net (This book was produced from images made available by the HathiTrust Digital Library.)

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER TEMPEL: ROMAN ***

HERMYNIA ZUR MÜHLEN

DER TEMPEL

ROMAN

V  ·  I  ·  V  ·  A

VEREINIGUNG INTERNATIONALER VERLAGSANSTALTEN G. m. b. H.
BERLIN SW. 61 – LEIPZIG
1   9   2   2

Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten.

Prolog.

Schwarze Baumstämme ragen trostlos aus dem schmutziggrauen Schnee auf. Von den belebten Straßen klingeln gedämpft die Schlittenschellen herüber. Das Herdfeuer in der Küche der alten Frau Bernstein wirft blasse Lichtarabesken auf die schmierigen Wände, spielt auf dem Glas einer verblaßten Photographie, die einen Mann in Arrestantentracht darstellt, und läßt den Samowar aufblitzen wie Gold. Die großen Scheite knistern geheimnisvoll, der Samowar summt und treibt feine bläuliche Dampfwolken in die Höhe.

Die alte Jüdin sitzt vor dem Herd, neben ihr hockt auf dem Boden ein vierjähriges Knäblein, der kleine Moische. Die knochigen, abgearbeiteten Hände der Großmutter fahren liebkosend über das dichte schwarze Haar, und die müde alte Stimme erzählt, wohl zum hundertsten Mal, des kleinen Jungen Lieblingsgeschichte.

»Da die Fremden, Gott möge sie strafen, unseren herrlichen Tempel zerstört hatten, gab es unter den Frommen großes Weinen und Wehklagen, besonders ein gottliebender Jüngling namens Simon vermochte keinen Trost zu finden. Tag und Nacht strich er um die Stätte, wo der Tempel des Herrn gestanden, und weinte wie eine Mutter, die den einzigen Sohn verloren hat. Der Schmerz riß Furchen in seine Wangen und ließ sein Gebein verdorren, so daß er dahinschritt wie ein Greis, obgleich er noch jung an Jahren war. Seine Stimme ward heiser vom vielen Weinen, und er sprach mit niemand ein Wort, nicht mit Vater, noch Mutter, nicht mit Bruder, noch Schwester. Nur zum Ewigen schrie er auf aus der Nacht seiner Trauer und küßte den heiligen Boden, wo der Tempel gestanden hatte.

Nicht Trank, noch Speise wollte er genießen, und als drei Monde vergangen waren, war er so schwach geworden, daß er nicht mehr heimzugehen vermochte. Und er lag auf dem Hügel und rief nach dem Tod.

Da erbarmte sich seiner der Herr und sandte ihm des Nachts ein Gesicht. Auf die Stelle, wo der Tempel gestanden hatte, fiel aus den Himmeln helles Licht, und Simon sah eine ungeheure Schar, die nahte und trug Steine in den Händen, Steine und Mauerkellen und Äxte und Hämmer. Und siehe, sie legten Stein an Stein, und meißelten und hämmerten, und andere trugen Gold herbei und Edelsteine und machten sich damit zu schaffen. Da begriff Simon, daß der heilige Tempel wieder aufgebaut würde, und sein Herz jauchzte und sprang vor Freude. Doch verwunderte ihn eines gar sehr; nicht alle, die an dem heiligen Tempel bauten, waren Juden; es gab auch Fremde unter ihnen, deren Sprache er nicht verstand.

Lange sah Simon den Bauleuten zu; bisweilen aber kam einer und zog einen Stein aus dem Bau, gerade dort, wo er am nötigsten war, und dann hatten die anderen viel Arbeit, das Unheil wieder gut zu machen. Manche stürzten erschöpft zu Boden, etliche wurden von Balken tödlich getroffen, oder gerieten in Kampf mit jenen, die heimtückisch den Bau zu hindern trachteten, und erlagen unter deren Schlägen. Doch kamen immer neue hinzu, und der Tempel wuchs auf, herrlich gebaut, schimmernd und gleißend im überirdischen Licht, bis daß er endlich in vollendeter Herrlichkeit in den Himmel ragte. Und aus den Wolken schlug eine Stimme an Simons Ohr: »Trauere nicht mehr, und laß den Quell deiner Tränen versiegen. Siehe, mein Tempel wird aufragen von neuem am Tage des Heils und der Erlösung; jeder, der vom Weibe geboren, ist bestimmt, an ihm zu bauen, und jede befreiende Handlung, jede Tat der Liebe ist ein Stein, aus dem das Haus meiner Herrlichkeit erbaut wird. Und alle, die sich einfinden, am Tempel zu bauen, werden Brüder sein, und es wird nicht mehr geben Fremdlinge unter ihnen, denn sie werden sein ein Volk. Der vollendete Tempel aber wird aufragen wie ein Licht am Himmel, und seine Strahlen werden die ganze Welt erleuchten.«

Und Simon sah, wie sich das Licht, das vom Tempel ausging, gleich Wellen verbreitete, über die Hügel und die zerstörte Stadt floß und seinen Lauf gegen das Meer nahm.

Als das Gesicht ihm entschwand, war sein Herz leicht geworden wie eine Feder, und all seine Kraft war wiedergekehrt.

Er verließ den Hügel und berichtete daheim sein Gesicht, und ehe er starb, erzählte er es seinem Sohne, und dieser erzählte es auf dem Totenbett wieder seinem Sohne, und so ward die Prophezeiung bewahrt bis an den heutigen Tag.«

Die alte Stimme verstummt, träge und schläfrig knistern die verkohlenden Scheite, die Nacht steht vor dem Fenster wie eine schwarze Mauer; in der Ferne winselt leise ein Hund.

Erstes Kapitel.

Blaßblauer Himmel spiegelt sich in den Pfützen. Auf dem großen Fluß treiben Eisstücke gleich funkelnden Glasscherben dahin. Birken werfen violette Schatten auf den rasch schmelzenden Schnee. Schwerer Duft der fruchtbaren Erde steigt sonnengewärmt empor. Stille Verheißung, Friede, hoffnungsfreudige Liebe überfluten mild die wintergefolterte Erde.

In den engen, dunklen Gassen des Judenviertels merkte man wenig von der Vorfrühlingspracht. Der schmelzende Schnee bedeutete Kot und Gestank; begrabener Schmutz wurde frei, dampfte im Sonnenschein, warf übelriechende Dunstwolken gegen die baufälligen Häuser. Auf den Gesichtern lag schwer die Sorge, erschreckte Augen blickten scheu die Straßen entlang, eine unbestimmte Angst schien hastende Füße in die Häuser zu treiben, ängstliche Mütter hielten die Kinder daheim und seufzten erleichtert auf, wenn der Mann abends heil die Stube betrat. Unausgesprochen, heimlich von bebenden Herzen geflüstert, lastete ein Wort auf der Stadt, rot wie Flammen und Blut, schwärzer als Winternacht. Unausgesprochen durchbrüllte es in greller Angst die Straßen, winselte in allen Ecken: Pogrom!

Wer hat es ausgesprochen? Welcher zitternden Lippe hat es sich entrungen, welch grimmer Zorn, welche boshafte Schadenfreude hat damit gedroht? Keiner weiß es; wie ein Ungeheuer hat es sich plötzlich erhoben, wächst an, streckt tausend Arme aus, wartet zusammengekauert auf den Augenblick des Sprungs.

»Wenn doch Ostern vorbei wäre,« flüsterten blasse Frauen und zählten furchtsam die Tage. Mittwoch, Donnerstag waren vorbei, noch zwei gefährliche Tage, Karfreitag, Karsamstag kamen heran. Wenn die Rechtgläubigen nicht mehr fasten mußten, wenn Eier und Schinken ihre Bäuche füllten, entspannten sich die Nerven; der Satte wurde sanft und träge. Noch ein Tag war zu fürchten.

Und dann, am Karsamstag-Abend brach der Sturm los. Erst war es ein böser Bubenstreich; Knaben kamen aus einem anderen Stadtviertel gezogen, warfen bei einem Krämer die Fenster ein: »Verfluchter Jud! Gottesmörder!« – Dies war nur erst das Signal. Schwarze Massen strömten jählings in die engen Gassen, mit Knüppeln und Revolvern bewaffnet, brüllend, tobend, alles überrennend. Sie drangen in die Häuser ein, Klagerufe, wilde Schreie stiegen auf. Stockhiebe sausten durch die Luft; weinende Kinder rannten wie toll durch die Gassen. Rohe Hände griffen nach schwarzen Frauenhaaren, Weiberkörper fielen, johlende Männer stürzten sich über sie. Der erste Tote, ein alter Mann, schien den Zorn der Angreifer bis zur Raserei zu steigern. »Erschlagt sie, die Hunde! Die grindigen Juden!« Tausend Stimmen vereinigten sich zu einem einzigen Schrei, tausend Hände zu einer mordgierigen Hand, tausend Seelen zu einem einzigen Haß. Die schwarze Flut stieg an, es gab kein Entrinnen. Wer sich zur Wehr setzte – mit der bloßen Hand, die Opfer besaßen keine Waffen –, wurde niedergeschlagen, wer um Gnade flehte, erlitt dasselbe Los. Verbissener Grimm, berechtigter Haß waren von kundiger Hand gegen Unschuldige gelenkt worden, um Schuldige zu schützen. Jahrhunderte alte Knechtung nahm Rache am Unterdrückten statt am Unterdrücker. Dunkel verwirrte Geister waren Werkzeug in unmenschlichen Händen.

Die Kosaken kamen wie immer zu spät. Ihre Pferde jagten über Leichen dahin, die Nagaika fiel auf Sterbende nieder. Die schwarze Flut wich zurück, verschwand; sie hatte ihre Arbeit getan. Tote mit zerschmettertem Schädel lagen zwischen den Trümmern ihres Heims, Verwundete stöhnten in Straßenecken; durch offene Türhöhlen gähnten schwarz verwüstete Stuben; halb wahnsinnige Menschen suchten in Schutt und Scherben nach den Ihren. Es begann zu dämmern. Aus schwarzer Angststille rang sich Weinen los, ungeheueres, verzweifeltes Weinen, und plötzlich begannen alle Glocken der Stadt zu läuten; Ostern; Christ ist erstanden!

Neugierige kamen, mitleidig die einen, voll böser Freude die anderen, alle nervengepeitscht, das Grauen genießend. Auch Nadja kam, in ihrem schönsten Sonntagsstaat, mit geschminkten Wangen, geschwärzten Augen. Sie schritt behutsam dahin, hob den Rock, trippelte mit ihren neuen Schuhen über Blut und Kot. Die Kosakenoffiziere kannten sie, nickten ihr lachend zu, wenn sie sich durch die Reihen drängte. Sie lächelte ein starres, etwas verächtliches Lächeln, schauderte bisweilen beim Anblick einer Leiche und strebte dennoch von unheiliger Neugier getrieben weiter.

Auf einer Türschwelle lag eine alte Frau mit eingeschlagenem Schädel, neben ihr hockte brüllend ein kleiner Knabe. Nadja blieb stehen. Das Kind erblickte sie und lief auf sie zu, packte sie beim Rock, barg den Kopf an ihren Knien. Unwillkürlich neigte sich Nadja zu ihm, streichelte den kleinen, schwarzen Kopf. »Warum weinst Du, mein Täubchen?«

Abgehackt, von Schluchzen zerrissen, kam die Antwort:

»Sie haben ... die Großmutter ... erschlagen.«

»Wo ist Dein Vater?«

»Weit fort, im kalten Land, hinter Mauern.«

»Und Deine Mutter?«

»Tot.«

»Du hast niemanden auf der Welt?«

»Nur die Großmutter.«

Nadja warf einen scheuen Blick auf die tote Frau, dann betrachtete sie das Kind. Ganz allein auf der Welt war es, ein armes, kleines Geschöpf, diesen blutgierigen Bestien ausgeliefert. Ihre Neugierde und ihr Ekel verwandelten sich allmählich in dumpfen Zorn, sie wußte nicht recht gegen wen. Das Kind hielt noch immer ihren Rock in den kleinen Händen fest. »Nimm mich mit«, bat es, »ich habe Angst, und Du bist gut.«

Nadja starrte abermals auf die tote Frau, und plötzlich stiegen ihr Tränen in die Augen. »Was soll ich mit Dir anfangen, Herzchen, Täubchen? Ich kann keinen kleinen Jungen brauchen.«

»Nimm mich mit, ich habe Angst.«

Ein Kosakenoffizier trat auf die beiden zu.

»Jagen Sie doch den Judenbengel fort, Nadja Fedorowna.«

Etwas im Ton der harten, spöttischen Stimme reizte die Frau.

»Weshalb?«

»Was hat unsere schöne Nadja mit schmutzigen Judenkindern zu schaffen?«

»Nimm mich mit,« bettelte leise, erschreckt die Kinderstimme.

»Kann ich das Kind zu mir nehmen, Gregor Stepanowitsch?« Nadja wußte selbst kaum, was sie zu dieser Frage trieb; war es der kalte Spott in des Mannes Gesicht, war es die bebende Angst, die ihre Knie umklammerte?

»Selbstverständlich, aber ... Ich verstehe nicht ...«

»Sie verstehen gar vieles nicht.« Weshalb fühlte sie, die rechtgläubige Russin, sich plötzlich eins mit diesem Kind eines verachteten Volkes? Weshalb sah sie in dem Manne vor sich den Feind, den hochmütigen, frechen Unterdrücker? Längst vergessene Bilder wirbelten in tollem Tanz durch ihr Gehirn; ein enger, übelriechender Kellerraum, ein kleines Mädchen mit langem, verrauftem Haar, ein blonder Knabe, der ihm Äpfel schenkte, eine kalte Winternacht, der blonde Knabe in Studentenuniform gefesselt zwischen Kosaken.

»Leb' wohl, kleine Nadja!« Die Kosaken reißen ihn fort, die Kosaken ...

»Sie verstehen gar vieles nicht,« wiederholte sie schroff und griff nach der Hand des Kindes. »Komm, mein Täubchen, ich will Dich mitnehmen.«

Das Kind an der Hand, bahnt sie sich ihren Weg; hochmütig, herausfordernd. Der kleine Knabe hat zu weinen aufgehört, er hält ihre Hand fest, starrt scheu und dennoch vertrauensvoll zu ihr auf. An einer Straßenecke wartet Nadjas Droschke; des Kindes Augen leuchten, es ist noch nie in einer Droschke gefahren. Unbeholfen klettert es auf den Schoß der Frau und schlingt die Arme um ihren Hals.

»Wie heißt Du eigentlich?« fragt Nadja.

»Moische.«

Sie schüttelt sich. »Das geht nicht, alle würden mich auslachen. Von nun ab heißt Du Ivan, verstehst Du?«

Das Kind nickt erschrocken.

Die Nacht sinkt auf die Stadt nieder. Im Judenviertel schleichen verängstigte Gestalten aus Schlupfwinkeln und tragen ihre Toten fort. Halblautes unterdrücktes Jammern murmelt durch die Straßen. In der Ferne läuten die Osterglocken.

Zweites Kapitel.

»Christ ist erstanden!« Der dicke Kaufmann aus Nischni Nowgorod küßt Nadja auf die Stirn, und sie entgegnet gläubig: »Er ist wahrhaft erstanden« und fügt hinzu: »Was haben Sie mir mitgebracht, Michail Michailowitsch?«

Er lacht und zieht ungelenk den schweren Pelz aus. »Herrliche Dinge, mein Täubchen, einen Ring mit einer schwarzen Perle und eine alte Uhr. Der Händler sagt, sie habe dem ersten Kaiser der Franzosen gehört.« Er wirft sich in einen bequemen Lehnstuhl, keucht und betrachtet Nadja mit vergnügtem Grinsen.

Nadja dehnt sich auf der Chaiselongue, bläst blaue Rauchwolken in die Luft, spielt mit einer Perlenkette, die ihren Hals schmückt. Sie lächelt ein wenig verlegen. »Michail ...«

»Ja, Teuerste?«

»Es hat bei uns ein Pogrom gegeben.«

»So ...«

»Ich glaube, es sind an die dreihundert Juden erschlagen worden.«

»Schadet nichts, es gibt ihrer immer noch zu viel.«

Nadja wirft einen hastigen Blick nach dem schweren seidenen Fenstervorhang, hinter dem sich etwas regt.

»Kleine Kinder haben dabei alle ihre Angehörigen verloren.«

»Man muß sich in Gottes Willen fügen.«

Nadjas schlanke Finger trommeln ungeduldig auf der Tischplatte.

»Ganz kleine Kinder, Michail Michailowitsch.«

Der dicke Kaufmann rückt unruhig auf seinem Sessel hin und her. Nadja betrachtet ihn von der Seite.

»Dauern Sie die kleinen Kinder nicht?«

Ein merkwürdiger Ausdruck huscht über des dicken Kaufmanns Gesicht, eine Art erschrockener Grimm, doch entgegnet er gleichmütig: »Alle Menschen verlieren früher oder später ihre Eltern.«

Nadja setzt sich mit einem plötzlichen Ruck auf.

»Wissen Sie, Michail Michailowitsch, was Gregor Stepanowitsch neulich über Sie gesagt hat?«

»Was denn?«

»Sie seien gar kein Russe, seien ein getaufter Jude!«

Des dicken Kaufmanns Gesicht erglüht plötzlich dunkelrot, er schnauft vor Wut, wendet die Augen von Nadja ab: »Der verfluchte Hund! So zu lügen! Ich, ein Jude! Es ist ...«

Nadja lacht laut auf, ein listiger Zug legt sich um ihren kleinen Mund. »Komm heraus, Ivan!« ruft sie unvermittelt.

Der Vorhang wird zurückgeschlagen, das Kind tritt ins Zimmer, nicht mehr der kleine Moische, schmutzig, ungepflegt, mit zerrissenen Kleidern, nein, Ivan, in schwarzem Sammetanzug mit großem Spitzenkragen, gekämmtem Haar, sauberem Gesicht. Die großen schwarzen Augen blicken zwar noch immer schreckhaft, doch eilt das Kind voll Vertrauen zu Nadja hin.

»Was ist das?« Michail Michailowitsch starrt verblüfft auf den kleinen Eindringling.

»Das ist ein Judenkind.« Nadja betont jedes Wort, »dem sie die einzig lebende Anverwandte erschlagen haben. Ich habe es zu mir genommen. Sind Sie mir böse, Michail?«

Fragend, bereit beim geringsten Widerspruch in Zorn auszubrechen, blickt sie den dicken Kaufmann an. Der aber scheint seine ganze Umgebung vergessen zu haben. Starr hängen seine Augen an dem blassen Kindergesicht, bohren sich in die zarten Züge, die trotz ihrer Unreife bereits die Rasse verraten. Seine fetten, mit Diamantringen geschmückten Hände zittern, er schluckt hörbar.

»Nun?« Nadjas Stimme klingt ungeduldig.

Der dicke Kaufmann zieht sein Taschentuch hervor und schneuzt sich heftig. Dann murmelt er halb zu sich: »Ein Judenkind! Eine Waise!« Und plötzlich mit verbissenem Zorn: »Möge Gott sie strafen!«

Nadja lächelt befriedigt. »Sie sind also nicht böse, Michail?«

Echtes Gefühl verleiht dem gedunsenen, roten Gesicht plötzliche Würde. »Gott wird es Ihnen lohnen, mein Täubchen. Und ... falls Sie einen Wunsch haben ...«


So blieb denn der kleine Ivan bei Nadja, schlief in einem weichen Bett, aß sich täglich satt, erhielt von Nadjas Freunden die herrlichsten Spielzeuge und wurde allmählich ein verwöhnter kleiner Herr.

Die ersten Wochen lastete das Erlebte noch schwer auf ihm. Er schrak zusammen, wenn er laute Stimmen hörte, wollte nicht auf die Straße gehen, fuhr des Nachts schreiend aus dem Schlaf. Auch um die Großmutter weinte er, um die treue, nimmermüde Liebe, die seine Kindheit schützend umhüllt hatte. Nadja war zu ihm gut und zärtlich, doch fand sie nie Zeit, sich mit ihm zu beschäftigen. Das Kind verbrachte seine Tage einsam in dem schönen, hellen Zimmer, das die Frau für den Knaben eingerichtet hatte.

Nach einigen Monaten war das Vergessen wie ein schwarzer Schleier auf Ivans Denken gefallen. Er kannte kein anderes Leben, als die behagliche Üppigkeit in dem schönen Hause; wußte nicht mehr, daß er gehungert und gefroren hatte, daß ihm auf der Straße große böse Buben »grindiger Judenbengel« nachgeschrien und ihn mit Steinen beworfen hatten.

In Nadjas duftendem, prunkendem Schlafzimmer hing in der einen Ecke ein Muttergottesbild, vor dem Tag und Nacht ein rotes Lämplein brannte. Nadja lehrte das Kind, sich vor dem Bild verneigen und ein Kreuz schlagen.

»Wer ist die Frau mit dem Kind?« fragte Ivan.

»Die Muttergottes.«

»Und wer ist die Muttergottes?«

Nadja lächelte verlegen: »Die Mutter des Heilands. Wenn Du brav und fromm bist, wird sie Dich immer beschützen.«

»Beschützt sie Dich?«

»Sie wird sich meiner erbarmen.«

»Bist Du brav und fromm?«

Das schöne Gesicht drückte sich gegen den lockigen Kinderkopf und ward dunkelrot. »Nein, mein kleiner Ivan; deshalb mußt Du, wenn Du vor der Muttergottes das Kreuz schlägst, immer sagen: »Heilige Jungfrau, bete für Nadja, die arme Sünderin.«


Zwei Jahre waren verflossen, Ivan zählte nun bereits sechs Jahre. Er war zu einem schmächtigen Knaben mit blassem Gesicht und leuchtenden schwarzen Augen herangewachsen. Die Zeit war ihm vergangen wie ein Traum. Zwei herrliche Sommer in Peterhof, wo er am Meer spielen und baden durfte, zwei Winter in der Stadt. Nun kam der dritte Frühling, den er mit Nadja verlebte. Doch schien, er wußte nicht warum, nun plötzlich alles anders zu werden. Die vielen Besuche, die lachend in den Salons saßen und Champagner tranken, blieben aus; Nadja selbst, die sonst nie daheim war, wenn es keine Gesellschaft gab, saß tagelang allein in ihrem Schlafzimmer, lag müde und verdrossen auf dem Bett, starrte in den Spiegel und weinte bisweilen, was Ivan stets sehr erschreckte. Sie hustete, war mager geworden und wurde oft von jäher Ungeduld erfaßt, die auch den Knaben nicht verschonte.

Einmal fand er sie vor dem Spiegel sitzend und ihre Wangen mit einer roten Puderquaste betupfend. Die eine Wange war weiß, während die andere rosig schimmerte. Dies deuchte dem Kinde äußerst drollig und es lachte. Da warf Nadja die Puderquaste auf den Boden, vergrub das Gesicht in den Händen und begann zu schluchzen. »Du siehst es auch schon, Du! ... Wie eine alte Hexe sehe ich aus, Nikolai Tichonowitsch sagte gestern zu mir: »Sie müssen sich erholen, Nadja.« Ich weiß, was das heißt. Keiner will mich mehr. Und früher, auf den Knien haben sie vor mir gelegen, die Hunde! Und Du lachst, herzloses Kind. Du wirst nicht lachen, wenn wir verhungern, in einer Dachkammer verrecken.« Sie sprang auf, trat vor den Spiegel und riß mit zitternden Händen den Schlafrock herunter. »Da, schau das an, diese Knochen, diese eingefallenen Brüste. Aus ist es mit mir, aus. Wir können betteln gehen. Und Du lachst!«

Das erschrockene Kind begann zu weinen; Nadja kniete sich neben es hin. »Weine nicht, mein Täubchen, mein Seelchen. Ich werde Dich nicht verlassen. Die Muttergottes wird mich gesund machen, und ich werde an Michail Michailowitsch nach Nischni Nowgorod schreiben, der soll uns nach dem Süden schicken. Und wenn ich dann zurückkomme, gesund und schön, dann werde ich es den Hunden schon zeigen. Weine nicht, mein kleiner Ivan.«

Der Brief ging ab, doch kam nicht die Antwort von Michail Michailowitschs klobiger Hand geschrieben, eine feine spitze Frauenschrift teilte »Fräulein Nadja Sklowski« mit, sie habe den ihr unverständlichen Brief erhalten und glaube, es müsse sich um ein Mißverständnis handeln, ihr verstorbener Gatte habe sich nie im Leben, bestimmt aber nicht seit seiner Verehelichung, mit leichtfertigen Personen abgegeben.

Der Sommer kam, drückende, luftlose Hitze lag über der Stadt, die Sonne brannte auf das Pflaster nieder, die Straßen wurden öder und menschenleerer, Nadja weinte immer öfter, häufig kamen Männer, die lange Bogen Papier vorlegten und etwas zu verlangen schienen, und dann widerhallten die schönen Räume von groben Worten und Beschimpfungen. Ivan flüchtete erschrocken in eine Ecke und kam erst wieder zum Vorschein, wenn die Männer abgezogen waren.

Eines Tages begann Nadja zu packen. Ivan freute sich, als er inmitten des Schlafzimmers den großen Koffer erblickte. »Gehen wir ans Meer?« fragte er freudig.

Nadja lachte böse auf. »Ans Meer! Ja, ich habe einen Palast am Meer gemietet; wir sind ja so vornehme Herrschaften. Weißt Du, wo wir hingehen? Dorthin, woher wir beide kommen, in den Schmutz, in den Rinnstein.«

Und dann weinte sie wieder und hustete und warf Kleider und Wäsche und Schuhe kunterbunt in den Koffer.

Ein schäbiger Einspänner brachte Nadja und den Knaben in ihr neues Heim. Keiner der Diener, keines der Mädchen begleitete sie. In einer engen, übelriechenden dunklen Gasse machte der Wagen Halt. Der Kutscher trug den Koffer unzählige schmutzige Treppen hinauf und schob ihn in eine kleine Stube, die er fast ausfüllte. Dann brummte er über das geringe Trinkgeld und stampfte schwerfällig die Stufen hinab; der Klang seiner Schritte hallte dumpf gegen die schwarzen Mauern.

Ivan sah sich im Zimmer um, ein Bett, ein Waschtisch, zwei Stühle und ein kleiner wackeliger Tisch. An den schmierigen Wänden hatte die Feuchtigkeit seltsame Muster gezeichnet, die Decke war rauchgeschwärzt. Die schwere Luft roch nach Kohl und Spülwasser. Eine beklemmende Angst erfaßte den Knaben, all dies hatte er schon einmal gesehen, doch gehörte zu diesem Bilde noch etwas anderes. Warum glaubte er, gleich würde die Tür aufgehen, böse Menschen würden eintreten, brüllen, fluchen, Drohungen ausstoßen? Jählings fühlte er sich ganz klein, ganz verlassen. Er schmiegte sich an die Frau, wollte bei ihr Schutz suchen. Nadja jedoch stand reglos in der Mitte der Stube, die verkrampften Hände hingen schlaff herab. Ihre Augen starrten vor sich hin, ein leises Keuchen drang aus ihrer Kehle. Wie unheimlich war diese Stille, wenn sie doch sprechen wollte, nur ein einziges Wort!

»Mütterchen,« er zupfte sie am Rock.

Sie schien es nicht zu bemerken, starrte mit geweiteten, verzweifelten Augen die Wand an.

»Mütterchen, wo werde ich schlafen?«

Sie lachte heiser. »Ja, mein Prinzlein, wo wirst Du schlafen? Auf dem Stuhl, auf dem Tisch, auf dem Boden vor meinem Bett?« Sie hustete heftig, dann sich jäh einer anderen Stimmung hingebend. »Sei nicht traurig, Ivan, es wird schon wieder besser werden. Und dann kaufen wir uns ein großes Haus und leben schöner als zuvor.«

Sie trat an den Koffer, warf Kleider und Wäsche achtlos auf den schmutzigen Boden und wühlte unter den Gegenständen etwas hervor. Es war das Muttergottesbild. Sie fand einen Haken an der Wand, befestigte das Bildnis und lachte plötzlich vergnügt wie ein Kind. »Es wird uns Glück bringen, Ivan, ich fühle mich schon besser. Mach aber das Fenster auf, hier ist es zum Ersticken.«

Sie schwankte, tastete sich an den Möbeln bis zum Bett und fiel bewußtlos auf die rauhe, schmierige Decke.

Drittes Kapitel.

Der kleine Ivan ist ein geschicktes Kind, schier vermag er Nadja die Zofe zu ersetzen. Er findet das richtige Kleid im Koffer – einen Schrank gibt es nicht im Zimmer –, versteht gar bald, die Haken zu schließen, die feinen Haare zu bürsten und zu kämmen, wenn Nadja dazu allzu müde ist. Auch hat er gelernt, Tee zu kochen, zum Bäcker zu laufen und allerlei kleine Einkäufe zu besorgen.

Er hat das schöne Haus und sein geräumiges Zimmer ebenso rasch vergessen, wie er damals das erste Heim seiner Kindheit vergessen hat, ist schier glücklicher denn zuvor. Nadja ist den ganzen Tag daheim, liegt meist auf dem Bett, plaudert mit ihm, erzählt ihm Geschichten aus der fernen Zeit, als »ich noch ein kleines Mädchen war«. Wenn nur die Nächte nicht wären, diese unheimlichen, einsamen Nächte. Am Abend kleidet sich Nadja an, legt ihn zu Bett, und geht fort. Kaum ist der Knabe allein, so foltern ihn unbegreifliche Ängste, Gespenster, die seinem Gedächtnis entsteigen. Kracht nicht die Treppe? Tönen nicht dumpfe Schritte? Wer schleicht vor der Tür umher? Gleich wird sie aufgehen, etwas Entsetzliches wird geschehen. Leise wimmernd kriecht er unter die Decke und schließt krampfhaft die Augen, bis endlich der Schlaf sich seiner erbarmt.

Spät nachts oder früh morgens wecken ihn dann Nadjas schleppende Schritte auf den Treppenstufen. Sie schwankt herein, erschöpft, zitternd vor Müdigkeit, mit glühenden Wangen und fieberglänzenden Augen. Er schlüpft aus dem Bett, hilft ihr beim Entkleiden, deckt sie fürsorglich zu und legt sich, in eine Decke gewickelt, zu ihren Füßen nieder. Bisweilen murmelt sie schon halb im Schlaf: »Ein guter Abend, Ivan, morgen können wir uns satt essen«, und schläft noch im Reden ein.

Manchmal jedoch kommt sie nach zwei Stunden wieder heim, und Ivan hat gelernt, diese Abende zu fürchten, das verzweifelte Weinen, das: »Wir werden beide verhungern!« Er sitzt auf dem Bett, streichelt die schluchzende Frau, küßt ihre heißen Hände und weiß sich keinen Rat.

Die Tage werden immer kürzer, kalter, schneidender Wind heult durch die Straßen. Nadja kommt halb erstarrt und frostbebend heim. Eines Abends ist sie nicht allein, ein häßlicher, roh aussehender Mann tritt nach ihr in die Stube. »Ein Kind hast Du auch?« ruft er lachend, als er Ivans ansichtig wird. Nadja lacht ebenfalls, Ivan wundert sich über ihre Lustigkeit.

»Soll denn der Fratz hier bleiben?« fragt der Mann etwas verdrießlich.

»Nein, um Gotteswillen!« Nadja scheint ganz erschrocken zu sein. »Ivan, Herzchen, geh ein wenig vor die Tür, ich ... ich habe mit dem Herrn zu sprechen.«

»Sprechen!« Der Mann lacht brüllend vor Vergnügen.

»Und komm erst wieder, wenn ich Dich rufe.«

Ivan gehorcht. Er sitzt auf der Türschwelle im dunklen Korridor und horcht ängstlich auf jedes Geräusch. Wird der Mann dem Mütterchen nichts zuleide tun? Warum lachen die beiden so viel? Der Knabe zittert vor Kälte und Angst, schließlich fängt er zu weinen an. Wie lange die beiden sprechen! Aber er hört ja ihre Stimmen gar nicht mehr, sicherlich tut ihr der Mann etwas zuleide. Plötzlicher Zorn übermannt ihn, warum muß er hier draußen sitzen, ganz allein, und der fremde Mann darf in der warmen Stube sein? Seinen müden Kopf deucht unklar, daß er immer draußen gesessen hat, allein, frierend, in der Dunkelheit, nicht nur heute abend, nein, viele, viele Abende, jahrelang, immer. Und es wird auch immer so sein. Andere werden behaglich in hellen, warmen Stuben sitzen und lachen. Er aber hockt im Dunkeln und weint. Wer war es nur, der immer weinte? Eine ferne Erinnerung steigt in ihm auf: Ein Mann, der um einen zerstörten Tempel weinte ... nein, es war eine Frau, die um ihren Sohn weinte, den ihr böse Menschen getötet hatten, die Frau auf dem Bilde, das in der Ecke hängt ... Oder war es noch anders? Einmal hatte er bei Nadja einen jungen Mann gesehen, mit blassem Gesicht und wilden Augen, der hatte laut geschrien, wie im Zorn: »Ihr trinkt und feiert Feste, und draußen vor euren Türen stöhnt und weint das Volk!«

Die müden Augen fielen ihm zu, unklar jagten Worte durch seinen Kopf: »der Mann, der um den Tempel trauert ... die Mutter, der sie den Sohn getötet haben ... das Volk ... sie weinen alle, alle ...«

Viertes Kapitel.

Der Frühling kommt; selbst in die enge übelriechende Gasse dringt die Sonne; ihre Strahlen klettern die Mauern entlang, fallen durch die blinden Scheiben in Nadjas Zimmer. Sie hat das Bett ganz nahe ans Fenster gerückt, hält die durchsichtig gewordenen Hände der Wärme entgegen und freut sich des blauen Himmels, von dem sie zwischen Dächern und Schloten ein kleines Stück zu sehen vermag.

Seit sechs Wochen hat sie das Bett nicht mehr verlassen. »Ich bin nicht krank,« versichert sie Ivan wieder und wieder, »bin nur so entsetzlich müde. Wenn der Mai kommt, werde ich aufstehen und gesund sein.«

Den ganzen Tag liegt sie reglos da, stöhnt bisweilen leise, antwortet kaum auf des Kindes ängstliche Fragen. Am Abend jedoch färben sich die blassen Wangen dunkelrot, sie spricht, spricht unentwegt mit heiserer, keuchender Stimme. Oft sind ihre Worte Ivan unverständlich. Bisweilen scheint sie zu vergessen, wo sie sich befindet, ruft nach ihrer Zofe, verlangt »das neue Kleid aus Paris«. Dann wieder lacht sie in tollem Übermut, verspottet Leute, die sie vor sich zu sehen glaubt, verlangt nach Champagner, plaudert von großen Städten, fremden Ländern.

Sie ist ganz zufrieden, nur manchmal, wenn das Fieber ihren Geist nicht völlig trübt, wird sie unruhig, murmelt zaghaft vor sich hin: »Das Kind, was soll aus dem Kind werden?«

Die Nachbarn sind sehr gut zu den beiden. Die bucklige Schustersfrau bringt ihnen täglich von ihrer Suppe, und die dicke Anastasia mit den geschminkten Wangen aus dem vierten Stock drückt Ivan häufig einen Rubel in die Hand, damit er für Nadja etwas kaufe. Sie kommt zu der Kranken, bettet sie um, sitzt plaudernd an ihrem Lager. Sie ist es auch, die Ivan ein paar Griffe auf der Balalaika lehrt und einige Liebeslieder, ihn auf die Straße singen schickt, damit er etwas Geld verdiene.

Ivan zieht durch die engen Gassen, singt mit der schwachen Kinderstimme auf Höfen und Plätzen, und die Armen geben von ihrer Armut: Kopeken, Piroggen, bisweilen sogar ein Stückchen Fleisch.

Die Dämmerung liegt weich über der engen Stube, das letzte Licht hat sich im kleinen Spiegel gefangen, der hell aufleuchtet. Anastasia sitzt an Nadjas Bett. Sie hat sich schon für ihre Arbeit bereitgemacht, ist geschminkt und gepudert, eng geschnürt. Mit besorgten Augen schaut sie auf die Kranke, deren Atem schwer pfeifend die schmerzende Brust hebt. Anastasia hat getrunken, ihr Mund strömt Wodtkageruch aus, und schwere Traurigkeit lastet auf ihr.

»Ein Hundeleben!« seufzt sie. »Und wenn man das Ende bedenkt.«

Nadja schweigt.

»Und in der Kirche will keine neben mir knien«, fährt Anastasia fort. »Bin ich denn schlechter als sie? Ich stehle doch nicht, tue keinem Menschen etwas zuleide, bin eine Rechtgläubige.«

Der letzte Lichtstrahl erlischt, der silberglänzende Spiegel wird zur toten, grauen Fläche.

»Nadja, Du solltest doch einmal den Popen kommen lassen.«

»Weshalb?«

»Man weiß doch nicht. Gott wird Dir Deine Sünden vergeben, Täubchen, aber so, ohne Popen, ohne Gottes Verzeihung darfst Du nicht sterben. Man ist doch kein Vieh.«

»Sterben?« Nadjas schwache Stimme gellt auf. »Wer spricht vom Sterben?«

»Mein Seelchen,« die rauhe, rote Hand streichelt beruhigend über die Decke, »Du weißt doch selbst, daß Du nicht mehr lange leben wirst. Der Tod steht Dir schon auf dem Gesicht. Wozu willst Du auch leben? Das Leben ist gar nicht so schön für unsereins.«

Nadjas abgezehrte Hand greift nach Anastasias Arm, verkrallt sich in das weiche Fleisch. »Ich will nicht sterben, Stasia, will nicht. Das Leben ist so gut und schön. Und ich bin noch so jung. Stasia, halte mich fest; ich fürchte mich!«

Etwas erschreckt über die Wirkung ihrer Worte drückt Anastasia die Kranke an sich. »Still, still, mein Täubchen, es braucht ja nicht so zu kommen. Ich meine nur, weil Du genau so aussiehst, wie Natascha, die vor einem Monat starb.«

»Und Ivan,« Nadja beginnt zu weinen, »was soll aus ihm werden, wenn ich sterbe? Er ist noch so klein.«

»Wir werden für ihn sorgen,« beruhigt sie die andere. »Und dann gibt es ja auch Waisenhäuser.«

Nadja scheint ihre Worte nicht zu hören. Mit starren Augen blickt sie vor sich hin, ein Zittern erfaßt ihren Körper, ihre Zähne schlagen gegeneinander: »Sterben! Sterben!«

Ivan bringt eine ganze Tasche voll Geld heim. Hat der herrliche Frühlingstag die Herzen erweicht, fächelt der laue Wind den Menschen leichtsinnige Großmut zu? Jeder hat ihm heute etwas gegeben, und nicht nur Kopeken, auch Silbermünzen, ja sogar einen ganzen Rubel schüttet er auf Nadjas Bett aus.

»Morgen bekommst Du gut zu essen, Mütterchen!« ruft er freudig und schlingt die Arme um ihren Hals. »Milch und Piroggen, und Stasia soll uns eine gute Kohlsuppe kochen. Bist Du froh, Mütterchen?«

»Ja, mein kleiner Ivan.«

»Und dann wirst Du nicht mehr müde sein, wirst aufstehen und mit mir in die Sonne gehen. Nicht wahr, Mütterchen?«

»Ja, mein Täubchen!«

Ivan klettert aufs Bett. »Mütterchen, heute, wie ich ganz weit draußen war, sah ich Jungen, die liefen einem kleinen Knaben nach und warfen mit Steinen nach ihm und schrien: »grindiger Jud!« Sie wollten, ich solle auch mit Steinen werfen, aber mir tat das Herz weh, weil der kleine Knabe so weinte. Warum verfolgten sie ihn, Mütterchen, was hat er Böses getan?«

Nadja schlingt den Arm um das Kind, ihre Lippen beginnen zu beben, wie in schwarze Nebel gehüllt steigt ein schauriges Bild vor ihr auf: zerschmetterte Schädel ... blutige Leiber ... ein kleines, schwarzäugiges Kind hockt weinend neben einer toten Frau. ...

»Warum weinst Du, Mütterchen?«

»Ivan, versprich mir, daß Du nie mit den bösen Buben gehst und Steine nach einem anderen wirfst. Du darfst auch nie jemand: »grindiger Jud« nachschreien. Versprich mir das, Ivan.«

Unklar durchzuckt ihren müden Kopf der Gedanke: »Nun wird mir die alte Frau verzeihen, daß der kleine Moische zur Muttergottes betet.«

»Ja, Mütterchen.«

»Du darfst auch niemals gegen Schwache böse sein, Ivan. Mußt ihnen immer helfen. Du mußt alle Menschen lieben, Ivan.«

»Auch die bösen Menschen, Mütterchen?«

Da blitzen die großen Augen wild aus dem hageren Gesicht, schrilles Beben kommt in die müde Stimme, fieberglühende Hände pressen sich schmerzhaft um die kleine Kinderhand.

»Nein, Ivan, die mußt Du hassen; die bösen Menschen, die uns zu Tieren machen und dann verachten, die uns verhungern lassen, den kleinen Kindern ihre Eltern erschlagen; die bösen Menschen, die unsere Herren sind, die reich und glücklich leben, die unsere Freunde nach Sibirien schicken. Die mußt Du hassen. Dein ganzes Leben lang, Ivan, mußt gegen sie kämpfen, sie vernichten!«

Die Stimme versagt ihr, kraftlos fällt sie auf die Kissen zurück. Der Knabe hat ihre Worte nicht verstanden, doch begreift er, sie fordere eine Antwort; er nickt ernst: »Ja, Mütterchen.«

»Und jetzt schlafe, mein Seelchen, ich bin müde.«

»Gute Nacht, liebes Mütterchen, morgen wird ein herrlicher Tag sein.«


Es ist noch dunkel in der kleinen Stube, da fühlt Ivan, wie er an den Schultern gepackt und gerüttelt wird. Schlaftrunken öffnet er die Augen: »Ist es schon spät, Mütterchen? Ich stehe schon auf.«

Eine fremde Stimme röchelt auf: »Ivan, ich ersticke! Mache Licht!«

Zitternd entzündet er die Kerze.

Nadja sitzt aufgerichtet im Bett, ringt nach Atem, stöhnt, schluchzend hebt sich ihre Brust, Tränen rinnen aus den starren, entsetzten Augen.

Ratlos steht das Kind vor dem Bett.

»Was fehlt Dir, Mütterchen, was soll ich tun?«

»Ich sterbe, Ivan, ich sterbe,« weint die Kranke auf.

Das Kind beginnt zu schluchzen: »Ich werde Stasia rufen.«

»Schnell, schnell!«

Ivan hastet die Treppe hinauf, rüttelt an des dicken Mädchens Tür; sie ist verschlossen. »Stasia! Stasia!«

»Was ist's?«

»Komm schnell, Mütterchen ... Sie stirbt ...«

Eine Männerstimme brüllt auf: »Verfluchte Bande! Nicht einmal jetzt hat man Ruh. Laß sie sterben!«

Anastasias erschrockene Stimme klingt heraus: »Gleich, Ivan, gleich!« und fährt zornig fort: »Du Bestie!«

Ivan läuft in die Stube zurück. Nadja liegt röchelnd da, aus ihren Mundwinkeln rinnt Blut. Sie packt das Kind an der Hand: »Ivan ... Angst ... Ich ersticke ... Bete ...« Und da das zu Tode erschrockene Kind stumm verharrt, flüstert sie abermals wimmernd: »Bete!«

In Ivans kleinem Kopf wirbeln die Gedanken durcheinander; beten? Er findet keine Worte ... eine große Leere ist in seinem Gehirn. Sternchen tanzen vor seinen Augen, kalter Schweiß perlt ihm auf der Stirne.

Und wieder tönt das verzweifelte Wimmern vom Bett: »Bete für mich!«

Da endlich löst sich die Starre in seinem Gehirn, Worte kommen, irgendwoher, aus schwarzer Ferne, fremde und doch vertraute Worte. Er fällt vor dem Muttergottesbild auf die Knie, schlägt ein Kreuz und betet:

»Boruch ato adonai ...«


Der Tag, auf den Ivan sich so gefreut, ist gekommen. Aber Mütterchen will keine Milch und keine Piroggen; Mütterchen liegt ganz still und weiß im Sonnenschein, und Anastasia hat ihr die Hände auf die Brust gefaltet und zwei brennende Kerzen neben das Bett gestellt.

Anastasia ist trotz der frühen Morgenstunde vollständig betrunken. Sie kniet weinend neben dem Bett, murmelt eintönige Worte, schwankt und trinkt von Zeit zu Zeit ein Gläschen Wodtka.

Ivan kauert erschreckt in einer Ecke.

Die bucklige Schustersfrau bringt Blumen und legt sie auf Nadjas Brust. »Sie soll doch noch den Frühling merken, die Arme.«

Das Zimmer füllt sich mit Sonne. Vor dem Bett betet die betrunkene Dirne; die Worte verwirren sich ihr im Munde, mit schwerer Stimme lallt sie: »Heilige Muttergottes, bitte für sie. Bitte, heilige Muttergottes. Bitte, Muttergottes, für die Heilige!«

Fünftes Kapitel.

Der Newski dehnt sich endlos im kalten Licht einer weißen Julinacht. Grimmigen Schatten gleich ragen die hohen Häuser zum bleiernen Himmel auf, in der Ferne ballt sich drohend die dunkle Masse des Admiralitätsturmes. Droschken jagen dahin, Autos gellen wild auf, Menschen kommen und gehen. Es ist weder Tag noch Nacht. Die Stunden, die schier ohne Übergang vom Abend zum Morgen gleiten, haben etwas Unheimliches, Feindseliges. Die Stadt gleicht trotz allem Treiben einem Gespensterort, wo Schatten die Straßen bevölkern, vom Grab befreite Tote lärmend ihre kurze Auferstehung feiern. Die erste Röte im Osten deucht Erlösung vom Banne der bösen Stunden, das Zwischenreich versinkt, eine lebendige Stadt der Lebendigen breitet sich der Sonne entgegen.

Leute strömen aus dem Theater, kommen von den Inseln gefahren. Hier und dort schreitet ein Polizist seine Runde ab, und dunkle Gestalten huschen tiefer in die Schatten der Häuser.

An einer Ecke steht ein kleiner Knabe mit einer Balalaika; verstimmt und falsch wimmern die Saiten, und eine dünne Kinderstimme singt:

»O schwarze Augen,
O schöne Augen!«

Seltsam klingt das schwermütig leidenschaftliche Lied aus Kindermund. Die kleinen Finger sind müde und greifen falsch. Schrille Mißtöne zittern durch die Nacht; immer heiserer wird die schwache Stimme.

Achtlos gehen die meisten vorüber; es ist spät, es drängt die Leute heim ins behagliche Bett; was geht sie das fremde Kind an?

Ein betrunkener Matrose torkelt heran: »Sing' einmal etwas anderes, Brüderchen, seit einer halben Stunde plärrst Du das gleiche Lied.«

»Ich weiß kein anderes.«

»Wart', ich pfeif Dir eines vor.« Der Matrose lehnt sich gegen eine Mauer, und die verbotenen Töne eines revolutionären Liedes klingen herausfordernd auf. »So, und jetzt sing dazu:

»Des Volkes Blut verströmt in Bächen
Und bitt're Tränen rinnen drein.
Doch kommt der Tag, da wir uns rächen,
Dann werden wir die Richter sein!««

Eine Frauengestalt huscht heran: »Grischa, Du bist verrückt! Komm fort!« Sie packt den Matrosen am Arm, versucht ihn weiterzuziehen.

»Wart' doch, mein Täubchen, ich muß dem Brüderchen eine Kopeke geben. Da hast Du, mein Söhnchen, und lerne andere Lieder.«

Ein Polizist nähert sich rasch; der Matrose und die Frau verschwinden in einer Nebengasse.

»Hast Du gepfiffen?« schreit der Polizist Ivan an.

»Nein, Euer Wohlgeboren; bei Gott, ich kann gar nicht pfeifen!«

»So, na hüte Dich, wenn ich nicht ein guter Mensch wäre ...« Auch der Polizist steht nicht mehr ganz fest auf den Beinen; Rührung überkommt ihn beim Gedanken an die eigene Güte. »Ein seelensguter Mensch, ja, frag' nur alle, die mich kennen, ob Sergei Stepanowitsch nicht ein seelensguter Mensch ist.« Er zieht ein Taschentuch hervor und schneuzt sich laut. »Ja, gut, seelensgut, und muß diese Hundearbeit verrichten. Da nimm, das Herz tut mir weh, wenn ich Dich so stehen sehe; Du solltest schlafen.« Zwanzig Kopeken gleiten in Ivans Hand. Schwerfällig trottet der Polizist weiter.

Ivan zählt das Geld, zehn Kopeken, zwanzig Kopeken, eine Kopeke, ein halber Rubel – noch nicht genug. »Bring' fünf Rubel mit«, hat Stasia am Abend gesagt. »Morgen muß ich die Miete bezahlen. Dann darfst Du Dich auch wieder ausschlafen.«

Nein, er kann noch nicht heimgehen, Stasia würde zornig sein. Nicht, daß sie böse zu ihm wäre, oder ihn schlüge, aber sie schreit so furchtbar, wenn sie zornig ist; davor hat Ivan Angst. Und wenn er nicht genug Geld heimbringt, droht sie ihm mit dem Waisenhaus, »wo man Schläge bekommt und den ganzen Tag beten muß«. Vielleicht ist sie auch noch gar nicht daheim, und er müßte im dunklen Gang warten, bis sie kommt.

Er gähnt, reißt die schlaftrunkenen Augen auf,

»O schwarze Augen,
O schöne Augen!«

Eine Saite reißt mit kläglichem Schrillen; das ist die zweite heute nacht; nun muß er mehr als fünf Rubel verdienen, denn die Saiten kosten viel Geld.

Kleine steife Finger greifen in die noch unversehrten Saiten, noch jammervoller denn zuvor klingt die Begleitung, schluchzt schrill und hoffnungslos:

»Unsel'ge Stunde Du,
da ich Dich sah!«

Sechstes Kapitel.

Der Tisch war fertig gedeckt; das große, stämmige »Mädchen für alles« wischte noch rasch mit einem zweifelhaft sauberen Tuch ein Glas aus, seufzte, rieb den erfrorenen juckenden Fuß gegen ein Stuhlbein und verfügte sich ins Wohnzimmer, um die Familie zu rufen. Sie saßen um die Lampe, in der kleinen ostpreußischen Stadt gab es noch kein elektrisches Licht. Frau Selder stopfte Strümpfe, die drei älteren Kinder, Friedrich, Gustav, Ilse waren mit Schularbeiten beschäftigt, die kleine Lene spielte mit ihrer Puppe, der Gymnasialprofessor saß vor einem Stoß Schulhefte und las stirnrunzelnd in einem Brief.

Schwere Luft lastete über dem Raum, der Geruch staubiger Plüschmöbel vermischte sich mit dem langgetragener Wollkleider, und über allem schwebte, von der Küche eindringend, fettiger Speisenduft. Die Gesichter waren verdrossen, die drei älteren Kinder arbeiteten unmutig, gelangweilt, die Mutter sah müde und sorgenvoll drein, auch Herrn Selders Züge verrieten Gereiztheit; bloß auf Lenes etwas blassem Kindergesicht lag zufriedene Heiterkeit.

Bei Tisch herrschte zuerst allgemeine Stille; wenn der Vater so dreinschaute, war es klüger, sich ruhig zu verhalten; endlich brach er das Schweigen. Er hatte den Brief zum zweitenmal gelesen und bemerkte nun verdrießlich mit harter, knarrender Stimme: »Margarete kommt demnächst zu Besuch!«

»Mein Gott, jetzt im Winter! Und der Ofen im Gastzimmer heizt nicht!« Frau Selders Gesicht wurde noch sorgenvoller.

»Ja, und sie bringt auch noch ein Kind mit!«

»Ein Kind?«

»Sie scheint ganz verrückt geworden zu sein, meine liebe Schwester. Das kommt davon, wenn eine Frau anstatt zu heiraten in der Welt umherstrolcht und Konzerte gibt. Dabei muß sie ja jedes Gefühl für das Schickliche verlieren. Sitz gerade, Gustav, ein deutscher Junge muß stramm sein. Ich will euch den Brief vorlesen. Kinder, klappert nicht so mit dem Besteck, das stört mich.«

Vier Paar neugierige Kinderaugen wandten sich dem Vater zu, als er zu lesen begann. Seine Worte kamen in mißbilligendem Ton heraus, etwa so, wie er in der Schule einen besonders schlechten Aufsatz vorlas, um den Schüler vor der Klasse zu beschämen:

 »Liebe Geschwister!

Plötzliche Sehnsucht nach dem kleinen alten Nest hat mich gepackt, und ich werde demnächst bei Euch erscheinen. Hoffentlich komme ich Euch nicht ungelegen. Ich möchte gerne vor meiner Tournee in Amerika ein wenig ausrasten und auch die Kinder wieder einmal sehen. Diesmal komme ich nicht allein, ich bringe ein Pflegesöhnchen mit, für das ich um freundliche Aufnahme bitte. Es ist ein kleiner Russe, den ich, buchstäblich, auf der Straße aufgelesen habe; er sang zu einer Balalaika, und ich glaube, man könnte ihn in der Musik ausbilden. Da das arme Geschöpf keine Anverwandte hatte, war es mir ein leichtes, es zu adoptieren; übrigens geht mit Hilfe des Rubels in Rußland alles leicht. Ivan ist nun schon vier Monate bei mir und versteht bereits Deutsch; er ist ein äußerst kluges Kind, und es ist eine angenehme Abwechslung, einmal etwas Menschliches um sich zu haben, das einen weder betrügen noch ausnützen will.

Ich werde voraussichtlich in den ersten Tagen des Dezember bei Euch eintreffen.

Mit herzlichem Gruß an Euch und die Kinder

Euere Schwester Margarete.«

»Ein Russenkind!« rief die kleine Lene vergnügt, »wie lustig! Wie es wohl aussieht?«

Frau Selder seufzte: »Deine Schwester ist wirklich wunderlich; genügen ihr unsere Kinder nicht? Gott weiß, woher dieses Kind stammt.«

Der Gymnasialprofessor häufte sich den Teller voll Kartoffeln und begann hastig zu essen. Nach einer Weile bemerkte er: »Wenn es wenigstens ein Mädchen wäre, das könnte Margarete zu einem Dienstmädchen heranbilden; russische Dienstboten pflegen ganz besonders treu zu sein – aber ein Junge! Freilich, Margarete war immer so, maßlos in allem, genau wie mit ihrer Leidenschaft für die Musik. Maßhalten, kein Überschwang, immer schön nüchtern, das ist die Hauptsache im Leben.«

Die Kinder blinzelten einander zu; sie kannten diese Lehre des Vaters, hörten sie fast täglich. Herr Selder sprach im Kreise der Familie stets in Lehrsätzen; er fühlte, dies schulde er seinem väterlichen Pflichtgefühl, jenem Teil seiner selbst, das er »den Vater« nannte. Herrn Selders »Ich« war sorgsam in verschiedene Teile geschieden. Zuerst kam der »Untertan«, der ehrfürchtige Bewunderer Seiner Majestät des Kaisers. Dieses Gefühl lag in bedingungslose, gedankenlose Ergebenheit wie in Watte gebettet; dann kam »der Deutsche«, dies war mehr ein Fluidum, das den ganzen Menschen durchdrang, stählte, festigte mit der Überzeugung, der einzig wertvollen Nation anzugehören, dem zur Herrschaft berufenen, ethisch höchststehenden Volke, den Menschen aus Stahl und Eisen; hierher gehörte auch noch »der evangelische Christ«, der an »unseren« Gott glaubte, an einen Privatgötzen des deutschen Volkes, der auf dieses und sein Herrscherhaus mit ewig gnädigem Lächeln herabblickte, eine Art verklärter Barbarossa, dessen Unglück es gewesen war, einen weichlich-sentimentalen Sohn zu haben, einen unfähigen Kronprinzen, der mit der Masse liebäugelte. Auch der »Gymnasialprofessor« machte einen nicht unbeträchtlichen Teil der Selderschen Seele aus; jedenfalls einen der angenehmsten, ein köstliches Gegenstück zum »Untertan«, denn hier war Macht, Gewalt, Autorität, ein Stückchen Kaiser, ein Stückchen Gott. Außerdem gab es noch »den Vater« und einen letzten, kleinsten Teil »den Gatten«. Herr Selder sagte, wenn er eine Ansicht bekräftigen wollte, niemals: »Ich«, sondern stets: »Ich, als getreuer Untertan Seiner Majestät« oder: »Ich, als Gymnasialprofessor« oder: »Ich, als guter Deutscher«.

Mit all diesen Eigenschaften hielt er strenge Zucht im Hause; seine Frau, erschöpft und verbittert von den ewigen Geldsorgen, voller Bewunderung für das Wissen des Mannes, das ihrer eigenen, schlechten Bildung ungeheuer erschien, hatte sich vom ersten Tag ihrer Ehe an seinem Willen gefügt, und auch die drei ältesten Kinder wagten keinen Widerspruch. Nur die jüngste, die kleine Helene, machte ihm Sorgen. Er vermißte an ihr das »echt deutsche« Wesen. Schon die mutwilligen braunen Augen, die krausen schwarzen Locken paßten schlecht in dieses blonde, glatthaarige Heim. Außerdem hatte dieses achtjährige Kind die schlechte – in Augenblicken des Zornes sagte der Vater sogar die »verruchte« – Gewohnheit, nichts auf Treu und Glauben nehmen; bei jeder Belehrung, jedem apodiktischen Satz fand der trotzige kleine Mund ein »Aber«, und die Fragen des Kindes brachten Herrn Selder oft zur Verzweiflung. Auch jetzt störte sie die schöne Familienharmonie, die sich in einer fast feindseligen Stimmung gegen Margarete Selder und das fremde Kind äußerte. Die Mutter meinte bekümmert: »Es ist mir gar nicht recht, daß die Kinder mit diesem zugelaufenen Jungen verkehren sollen; Gott weiß, woher er stammt, welche Unarten er mitbringt, welch schlechten Einfluß er auf sie haben kann. Ein Kind von der Straße!«

Die kleine Lene rief dazwischen: »Einmal etwas Neues! Die Geschwister kenne ich so gut, die sind mir langweilig. Ich freue mich auf das Russenkind. Ich werde es sehr lieb haben!«

»Helene!« Der »Vater«, der »Gymnasialprofessor«, der »Deutsche« lagen im strengen Ton der Stimme, »ein artiges Kind liebt vor allem Eltern und Geschwister, dann liebt es seine Volksgenossen, Fremden gegenüber ist dies Gefühl nicht am Platze.«

»Warum?«

Dieses entsetzliche Kinder-Warum! Hier mußte schon die Religion herhalten. »Weil Gott will, daß wir unsere Nächsten lieben, jene, die er uns gegeben hat, die uns nahestehen.«

Eine weiße Kinderstirn runzelte sich, kluge junge Augen hefteten sich auf den Vater, ein Kinderverstand dachte angestrengt nach.

»Man darf also nur seine Familie lieben?« war das Ergebnis dieses Nachdenkens.

»Ja, hauptsächlich.«

»Und Gott tut nur was recht ist?« kam die unvermittelte Frage zurück.

Verblüfft sah der Gymnasialprofessor auf das kleine Mädchen: »Ja, selbstverständlich.«

»Aber ich habe doch heute in der Bibel gelernt: »Also hat Gott die Welt geliebt,« die Welt ist doch nicht Gottes Familie?«

»Das ist etwas anderes, überhaupt sollst Du nicht so viel sprechen, Lene,« und zu seiner Frau gewandt, fuhr Herr Selder ungeduldig fort: »Du solltest die Bibelstellen wirklich besser auswählen, Annie.«

»Aber ...«

»Schweig', Helene!«

Eine winzige rote Zunge streckte sich vor, ganz wenig und zum Glück unbemerkt, und eine rebellische Stimme murmelte halblaut: »Wenn Du etwas nicht weißt, muß ich immer schweigen.«

Nach dem Abendbrot kletterte Lene auf der Mutter Schoß. »Mutti, was ist maßlos?«

Verständnislos blickte Frau Selder ihre Jüngste an: »Was meinst Du, Lenchen?«

»Vater sagte bei Tisch, Tante Margarete ist maßlos; das muß etwas Schönes sein, denn Tante Margarete ist lieb und gut; wenn ich groß bin, werde ich auch maßlos sein.«

Frau Selder seufzte hilflos; sie wagte nicht, ihren Mann zu Hilfe zu rufen; er malte mit grimmigem Gesicht rote Striche in die Schülerhefte.

»Es ist Zeit, Schlafen zu gehen, Lenchen.«

Sie brachte die Kleine ins Bett.

Als sie bereits das Licht verlöscht hatte und an der Tür stand, durchschnitt Lenes Stimme die Dunkelheit: »Mutter, warum ...«

Frau Selder floh ins Wohnzimmer.

Siebentes Kapitel.

Tante Margarete war gekommen; sie brachte einen Hauch frischer Luft mit, ein Stückchen Welt, das den geordneten Haushalt beunruhigte, die Erwachsenen verdroß und die Kinder mit Staunen erfüllte. Ihre Ansichten, ihre ganze Art verstimmten den Bruder, der sich stets von neuem fragte, wie es denn möglich sei, daß dieses »verrückte Frauenzimmer« seine Schwester sei. Immer wieder lag ein gereiztes Wort auf seinen Lippen, eine zornige Entgegnung, doch fiel ihm stets rechtzeitig die Bitte seiner Frau ein: »Wilhelm, vertrage Dich mit Margarete, Du weißt, wie großmütig sie ist, und nun, da Friedrich nächstes Jahr dienen wird ... Ihre Konzerte tragen viel ein ...« Und seufzend schluckte der Gymnasialprofessor seinen gerechten Zorn hinunter und lächelte säuerlich.

Eine unklare Aufregung hatte auch die Kinder erfaßt. Ilse, die Fünfzehnjährige, betrachtete mit geheimem Neid die eleganten Kleider, fühlte sich abgestoßen von dem ungewohnten Luxus der Tante, schlich aber doch im Verborgenen in ihr Zimmer, betupfte sich vor dem Spiegel die Wangen mit Rosapuder, fuhr mit dem Schwarzstift über die blonden Augenbrauen, stahl ein wenig Parfüm für ihr Taschentuch. Friedrich, der sich mit seinen achtzehn Jahren äußerst erwachsen vorkam, versuchte Margarete gegenüber den Welterfahrenen zu spielen, wurde gutmütig von ihr ausgelacht und empfand von da ab eine ausgesprochene Abneigung gegen sie. Die beiden Jüngsten jedoch gingen bedingungslos zum Feind über; Gustav, der stets Eßbereite, erlag den Bonbons, die Margarete freigebig verteilte, streckte begeistert den schulmüden Körper auf dem Sofa, dem zahllose seidene Kissen die puritanische Härte geraubt hatten, und prahlte in der Schule mit der »berühmten« Verwandten. Lene war überhaupt nicht von der Tante fortzubringen; alles an Margarete deuchte sie ein zur Wirklichkeit gewordenes Märchen, selig klammerte sie sich an den einzigen Menschen, der anscheinend für jedes »Warum« eine Antwort hatte und so herrlich von der großen Welt zu erzählen wußte.

Ivan fühlte sich äußerst unbehaglich; er verstand zwar die Worte, die gegen sein Ohr schlugen, die ganze Umgebung jedoch deuchte ihn fremd und bedrückend. Der große blonde Mann mit der knurrenden Stimme flößte ihm Furcht ein, die Frau, die ihn so eifrig nach seinen »lieben Eltern« ausforschte, brachte ihn in Verlegenheit. »Was war Dein Vater?« »Ich weiß nicht. Er war hinter den schwarzen Mauern.« Verständnislos blickte Frau Selder den Knaben an. »Hinter den schwarzen Mauern?« »Ja, böse Menschen haben ihn gefangen gehalten.« Dunkle Röte stieg in Frau Selders blasses Gesicht. »Gefangen?« Und bei sich dachte sie: »Ein Verbrecher, ein Zuchthäusler! – in unserem ehrbaren Heim das Kind eines Verbrechers!« Auf das Schlimmste gefaßt, fuhr sie fort: »Und wodurch hat Deine liebe Mutter euch erhalten?« »Mütterchen, ich weiß es nicht; zuerst lebten wir in einem schönen Haus, dann ...« Margarete Selder kam ihm zu Hilfe. »Laß doch das arme Kind in Ruhe, Annie. Hab' ich Dich je nach Deinen Eltern ausgefragt?«

»Margarete!« Empörung schrillte durch Frau Selders Stimme. »Das ist doch etwas ganz anderes. Du weißt doch, daß mein seliger Vater Pastor war und mein Großvater Konsistorialrat und ...«

»Und Dein Urgroßvater wieder Pastor und so weiter bis zu Adam hinauf, ich weiß schon.« Margarete trommelte mit dem Finger ungeduldig auf den Tisch, das Licht fing sich in dem Diamantring, der diesen Finger schmückte, und dieser Anblick verlieh Frau Selder die Kraft, eine ärgerliche Antwort zu unterdrücken und sich mit einem ergebenen Seufzer zu begnügen.

Gleich am ersten Abend erregte Ivan in aller Unschuld großes Ärgernis. Herr Selder hielt täglich eine Abendandacht ab; am Morgen fand er hierzu keine Zeit, vielleicht glaubte er auch am hellichten Tag ohne den Schutz »unseres Gottes« auskommen zu können; in der Nacht jedoch, im unheimlichen Dunkel, war es gut, einen allmächtigen Bundesgenossen zu haben.

Die ganze Familie umstand den Eßtisch und Herr Selder las eintönig, salbungsvoll einen Psalm vor, dann sagte er: »Laßt uns beten.« Ivan, der bloß die letzten Worte verstanden hatte, schlug artig ein Kreuz. Strenge Blicke trafen ihn. Gustav und Lene begannen zu kichern. Nach der Andacht bemerkte Herr Selder in strengem Ton: »Ivan, Du bist hier in einem christlichen Haus, derlei Hokuspokus mußt Du Dir abgewöhnen; das sind törichte Aberglauben; verstehst Du?«

Ivan verstand nicht, ängstlich schmiegte er sich an Margarete. »Was habe ich Böses getan?«

Sie streichelte die dunklen Locken. »Du darfst kein Kreuz schlagen, Ivan, das beleidigt den Gott meines Bruders.« Und halblaut, zu Herrn Selder gewandt, meinte sie spöttisch: »Ihr habt komische Götzen, meine lieben Leute.«

»Margarete!«


Auch am folgenden Tag kränkte Ivan ohne böse Absicht die heiligsten Gefühle der Familie. Er stand im Wohnzimmer und betrachtete zwei große farbige Bilder, die über dem Sofa hingen: einen Mann mit aufgezwirbeltem Schnurrbart und eine perlenbehangene Frau. Dann fragte er Lene, zu der er das größte Zutrauen hatte: »Wer sind diese häßlichen Leute? Der Mann sieht aus, wie der Polizist auf unserer Straße.«

Einen Augenblick herrschte eisige Stille; dann lachte Margarete hell auf, und Friedrich rief wütend: »Verdammter Russenbengel!« Herr Selder aber sprach mit zornbebender Stimme: »Ivan, das darfst Du nie wieder sagen. Diese Bilder stellen unser erhabenes Herrscherpaar dar, von dem Du mit Ehrfurcht sprechen mußt.« Und milder, gleichsam die Unwissenheit dieses fremden Kindes bedauernd, fügte er erklärend hinzu: »Diese Bilder sind uns Deutschen ebenso lieb und verehrungswürdig, wie euch Russen die Bilder des Zaren und der Zarin.«

Lene zog Ivan fort ins Kinderzimmer. »Erzähl' mir von Rußland.« Ivan wußte nichts zu erzählen.

»Gefällt es Dir bei uns?« fragte das kleine Mädchen.

»Nein!«

»Mir auch nicht; wenn ich groß bin, gehe ich fort und komme nie wieder. Warum gefällt es Dir nicht?«

Ivan rang mit Gefühlen, die keinen Ausdruck fanden, schließlich meinte er: »Dein Vater sagt immer: »Du darfst nicht«. Was darf man denn bei euch tun?«

»Gar nichts, bloß still sein und folgen. Waren Deine Eltern auch so?«

»Mütterchen nicht, die war lieb und gut.« Und jählings überfiel den kleinen Knaben ein Gefühl grenzenloser Verlassenheit; Tränen stiegen ihm in die Augen, er begann bitterlich zu weinen.

Lene schlang die Arme um ihn. »Weine nicht, Ivan, ich werde zu Dir halten, und wenn wir größer sind, laufen wir fort nach Rußland, wo nicht immer alles verboten wird und die Menschen gut sind.«

»Wird Deine Schwester noch lange bei uns bleiben?«, fragte Frau Selder ihren Gatten beim Schlafengehen. Sie flocht eben das Haar zu einem festen Zopf; in einen braunen Barchentschlafrock gehüllt, die Füße in Filzpantoffeln, saß sie am Rand des Bettes. »Seit sie hier ist, ist mit Gustav und Lene nichts mehr anzufangen. Und dann kleidet sie sich so auffallend, heute noch hat mich die Frau Doktor gefragt, wer diese »gar so elegante Dame« sei, die bei uns wohnt. Außerdem – wenn sie übt –, sie singt immer diese schamlos leidenschaftlichen Liebeslieder. Was soll sich Ilse denken, wenn sie solche Worte hört? Ich bat Margarete, doch gerade diese Lieder nicht zu singen, wenn die Kinder daheim sind. Weißt Du, was sie sagte: ›Mein Gott, habt Ihr eine verdorbene Phantasie!‹«

Herr Selder putzte sich eben die Nägel mit seinem Taschenmesser und war zu sehr beschäftigt, um zu antworten. Seine Frau fuhr fort: »Hat sie denn von ihrer Abreise noch gar nicht gesprochen?«

»Nein. Dafür hat sie aber angedeutet, daß sie geneigt wäre, uns finanziell zu helfen, damit Friedrich in einem guten Regiment dienen könne. Sie scheint in den letzten Jahren viel verdient zu haben.«

»Merkwürdig, daß die Menschen so viel zahlen, um jemanden singen zu hören. Mir machen die Choräle in der Kirche weit mehr Freude als Margaretes Lieder. Freilich, wenn sie uns helfen will ... Wir müssen gut gegen sie sein, Wilhelm, schließlich ist sie doch Deine Schwester ... Und vielleicht wird sie der Aufenthalt in einem deutschen christlichen Heim günstig beeinflussen.«

Herr Selder stieg ins Bett. »Sprich Du einmal mit ihr über Friedrich, so ganz nebenbei.«

»Ja,« Frau Selders blaue Augen glänzten auf, »wenn ich bedenke, Wilhelm, unser lieber Junge in des Kaisers Rock! Er ist so stramm, so tüchtig, er könnte es beim Militär weit bringen.«

»Jetzt nicht, freilich, wenn es wieder einmal Krieg gäbe; dann ...«

Die Frau nickte.

Herr Selder verlöschte die Kerze.

»Heute hat Graf Stramwitz mit mir gesprochen, Annie; ein äußerst liebenswürdiger Herr. Sein Sohn kommt nach den Weihnachtsferien in meine Klasse; er ist in Gustavs Alter. Es wäre gut, wenn die beiden Knaben sich anfreunden würden. Der Graf war sehr freundlich, ein vornehmer, ritterlicher Mann, äußerst schneidig; ja, unsere Aristokraten können sich sehen lassen.«

»Auch ich war im Pensionat mit einer Gräfin befreundet, Wilhelm; ich habe ihr immer die Rechenaufgaben gemacht; wir sagten sogar »Du« zueinander. Du weißt doch, Wilhelm, ich habe ihr Bild noch und ...«

Aber Wilhelm hatte diese Geschichte wohl bereits an die hundertmal gehört. Er drehte wortlos sein Gesicht der Wand zu und schlief ein.


Die Kinder waren schlafen gegangen, Herr und Frau Selder saßen mit Margarete im Wohnzimmer.

»Also abgemacht, mein kleiner Ivan bleibt bei Euch, Ihr werdet ihn behandeln wie euere eigenen Kinder – natürlich ersetze ich Euch alle Unkosten – und dafür lasse ich Friedrich bei einem guten Regiment dienen.«

Auf Frau Selders blassen Wangen glühten hochrote Flecke. Sie war gar nicht damit einverstanden, das »Russenkind« zu behalten, andererseits aber konnte man doch das Friedrich betreffende Angebot nicht ausschlagen.

»Ich hoffe, liebe Schwester, Du siehst ein, welch großes Opfer unsere geschwisterliche Liebe Dir bringt, indem wir das fremde Kind in unser Heim aufnehmen.«

»Opfer?« Margaretes Stimme klang nicht gerade liebenswürdig. »Schließlich tut Ihr es ja nicht umsonst.«

Herr Selder überhörte geflissentlich den taktlosen Einwand. »Du kannst überzeugt sein, daß Ivan alle Vorteile der Erziehung genießen wird, die unseren Kindern zuteil werden. Ich will mein Möglichstes tun, um einen echt deutschen Mann aus dem Kinde zu machen.«

»Mach' lieber einen Menschen aus ihm. Das dürfte Dir allerdings schwerer fallen.«

»Margarete,« Rührung bebte aus Herrn Selders Stimme, »ich sehe mit tiefer Trauer, wie sehr Dich Dein kosmopolitisches Leben verdorben hat. Du scheinst jedes Heimatsgefühl verloren zu haben. Vergiß draußen in der großen Welt nicht, daß deutsches Blut in Deinen Adern fließt.«

Margarete lachte. »Ich hab' genug mit dem deutschen Blut zu kämpfen, Wilhelm, mit der deutschen Arroganz und Kleinlichkeit, um das je vergessen zu können.« Dann wurde ihr spöttisches Gesicht weicher, sie wandte sich an die Schwägerin: »Annie, ich weiß, was für eine gute Mutter Du bist, finde auch für das fremde Waisenkind ein Fleckchen in Deinem Herzen, hab' es lieb.«

»Ich werde ihm gegenüber meine Christenpflicht erfüllen.«

Margarete schauderte leicht zusammen. »Armer Ivan, wenn ich ihn doch lieber mitnehmen könnte.« Dann zu ihrem Bruder gewandt: »Also die Angelegenheit ist erledigt. Übermorgen fahre ich nach Hamburg.«

Frau Selder hatte noch etwas auf dem Herzen. »Wäre es Dir unangenehm, Margarete, wenn wir den Knaben Johannes nennen würden? Ivan klingt so fremdartig, so – so heidnisch.«

»Meinetwegen, nenn' ihn wie Du willst, vielleicht findest Du leichter ein wenig Liebe für den Johannes als für den Ivan, Du – Du – deutsche Seele!«

Am folgenden Morgen teilte Gustav Ivan vergnügt mit, daß er von nun an »Johannes« heiße und kein »Russenkind« mehr sei, sondern ein Deutscher.

Ivan nahm die Kunde teilnahmslos auf, der Gedanke, ohne Margarete bei diesen fremden Menschen bleiben zu müssen, bedrückte ihn so sehr, daß ihm alles übrige belanglos erschien. Anders Lene, die stampfte mit dem kleinen Fuß auf, begann zu weinen: »Das ist eine Gemeinheit! Nun wollen sie ihn genau so machen wie alle anderen. Laß es Dir nicht gefallen, Ivan!«

»Johannes,« verbesserte Gustav grinsend.

»Es ist doch einerlei,« meinte Ivan traurig, »ob ich jetzt Ivan oder Johannes heiße. Ich weiß nicht,« fügte er sinnend hinzu, »bisweilen kommt es mir vor, als ob ich einmal noch anders geheißen hätte, aber ich weiß es nicht mehr.«

Achtes Kapitel.

Was wird aus dem welken Laub des Herbstes, was aus den abgeblätterten Jahren der Kindheit? Verfliegen sie spurlos im All, zerzaust und verweht, häufen sie sich an, wie Schneeflocken zur Lawine, um später als schwere Last müde Schultern zu drücken, oder gleichen sie einer Wunderblume, die, aus unzähligen Samenkörnchen bestehend, des Regens und der Sonne, der Glut und des Frostes unzähliger Jahreszeiten bedarf, um sich endlich zur höchsten Pracht zu entfalten?

Wie Nebelgebilde huschen die Kinderjahre vorüber, gleiten scheinbar wesenlos über die jungen Seelen dahin, bisweilen jedoch trifft greller Sonnenschein einen Augenblick, ein Bild, oder schwarze Schatten verdichten sich zu Gestalten, und diese bleiben im Gedächtnis haften. – –

Aus dem kleinen erschrockenen Ivan, den ein seltsames Schicksal in ein deutsches Heim verschlagen hatte, war nun ein langer, hagerer, vierzehnjähriger Johannes geworden. Wenn er es versuchte, sich an die langen sieben Jahre zu erinnern, die er in der kleinen ostpreußischen Stadt verbracht hatte, so verschwammen sie ineinander, grau und farblos, eintönig und traurig; nur wenige Begebenheiten, einige Zeitpunkte hoben sich schroff von dem fahlblassen Hintergrund ab.

Die schwere hilflose Traurigkeit, als er nach Margarete Selders Abreise allein bei den Fremden zurückblieb; das qualvolle Nörgeln und Erziehen der Erwachsenen, die böswilligen Neckereien der älteren Kinder. Ungestüm hatte es ihn fort verlangt; lieber hungern und frieren, lieber nachts in den Straßen singen, als diese entsetzlichen Tage, an denen alles nach der Uhr ging, jede Stunde festgelegt und eingeteilt war. Und niemals ein liebes Wort, eine Zärtlichkeit, morgens und abends ein Kuß von Frau Selder, das gehörte ja mit zur Tagesordnung, wie das Essen oder der sonntägliche Familienspaziergang. Sein einziger Trost war Lene gewesen; teils aus Widerspruchsgeist, teils aus ahnender, unbewußter Kindergüte schloß sich das kleine Mädchen dem Einsamen an, verteidigte ihn gegen die Geschwister, half ihm bei seinen ersten Schularbeiten, ließ die Freundinnen im Stich, um bei ihm zu bleiben.

Und dann kam die Schule, der enge Raum, die unerträgliche Nähe fremder Körper, die Disziplin, die endlosen, langweiligen Lehrstunden.

»Und es müßte doch gar nicht langweilig sein,« klagte er Lene seine Not, »es ist doch schön zu wissen, wie die Menschen früher gelebt haben, wie alles so kam, wie es heute ist. Aber das erzählt uns der Lehrer nicht. Immer nur Jahreszahlen und Kaiser und Könige und Schlachten. Warum werden immer die Kriege so hervorgehoben; ist es denn recht und gut, Menschen zu töten?«

Am meisten hatte er noch die Religionsstunden geliebt. Etwas Verwandtes klang in ihm nach, wenn das Alte Testament durchgenommen wurde; Jerusalem, Zion – seltsam vertraute Musik deuchten ihn diese Worte, Heimatsklänge. Doch gerade in der Religionsstunde war es zu einem Auftritt gekommen, der ihm daheim viel böse Worte eingetragen, ihm seltsamerweise aber auch ganz unerwartet einen Freund gewonnen hatte. Er zählte damals zehn Jahre, saß als einer der besten Schüler in der ersten Bank. Neben ihm befand sich der Sohn eines Gutsbesitzers, Ewald Bronken, ein frecher Junge und berüchtigter Raufbold. Der alte Pastor sprach über die Kreuzigung Christi, und wie die Menge den Gefolterten noch am Kreuze verspottete. Der alte Mann sprach mit der ganzen Innigkeit eines warmen kindlichen Glaubens, und Johannes fühlte ehrliche Ergriffenheit. Da schnellte neben ihm Ewald empor: »Herr Pastor, warum erschlagen wir nicht die stinkenden Juden? Mein Vater sagt auch, man müsse sie ausrotten.«

Wahnsinnige, ihm selbst unverständliche Wut übermannte Johannes, mit aller Kraft schlug er dem Kameraden auf den Mund.

Nach der Stunde behielt ihn der alte Pastor in der Klasse zurück; sorgenvoll prüften die gütigen verblaßten Augen das noch immer zornglühende Knabengesicht. »Was hast Du zu Deiner Entschuldigung vorzubringen, Johannes?«

Johannes senkte den Kopf.

»Weshalb hast Du Ewald geschlagen?«

Ohne Trotz, ohne Schuldbewußtsein, bloß verwirrt und fast erschreckt schaute der Knabe den alten Mann an: »Ich weiß nicht, Herr Pastor.«

»Tut es Dir nicht leid?« Es lag fast eine Bitte in der fragenden Stimme.

»Nein, Herr Pastor, das heißt, es tut mir leid, daß es in Ihrer Stunde geschehen ist, aber ich – ich täte es wieder, wenn einer so über die Juden spräche. Ich ertrage das nicht; ich weiß nicht warum.«

»Hast Du jüdische Freunde, die Dir lieb sind?«

»Nein, Herr Pastor.«

»Und früher, als Du ein kleines Kind warst, bist Du vielleicht bei Juden aufgewachsen?«

»Nein, Herr Pastor, als Mütterchen starb, wurde sie vom Popen beerdigt.«

Der alte Mann blickte lange forschend auf den Knaben.

»Ich weiß nicht, was Dich zu dieser Handlung hinriß, mein Sohn. Gott allein weiß, was sich in Dir geregt hat, darum will ich Dich auch nicht strafen; um so mehr, als auch Dein Kamerad im Unrecht war. Eines aber merke Dir, mein Kind, durch Schläge überzeugt man niemanden.«

Dieser Ansicht war Herr Selder freilich nicht; als er die Geschichte erfuhr, versuchte er auf höchst eindringliche Art, Johannes durch Schläge zu überzeugen, und auch Frau Selder verschonte den Sünder nicht mit bösen Worten.

»Warum hast Du's getan?« fragte Lene, als Johannes sich vorsichtig mit schmerzverzogenem Gesicht im Kinderzimmer neben sie aufs Sofa setzte.

»Ich weiß nicht, Lenchen, frage mich selbst, was mir einfiel, aber ich hätte ihn erschlagen mögen, als er das sagte.«

»Er wird's Dir heimzahlen wollen, aber wenn er Dich verprügelt, kratz' ich ihm die Augen aus!«

Seltsamerweise war der alte Pastor nach diesem Ereignis gütiger denn zuvor gegen Johannes, der, dem Lehrer zuliebe, mit doppeltem Eifer lernte. Bloß dies Jahr waren ihm plötzlich, er wußte selbst nicht weshalb, die Religionsstunden zuwider geworden. Die Schüler seiner Klasse wurden zum Abendmahl vorbereitet; die meisten blieben völlig unberührt, etliche ließen sich von religiöser Schwärmerei erfassen, Johannes hatte das Gefühl, als stünde er abseits, als trenne ihn plötzlich von den Kameraden und dem gütigen alten Lehrer eine unüberbrückbare Kluft. Mit wahrem Grauen dachte er an den Tag, da ihm vom Altar herab der Kelch gereicht werden würde. Die Worte: »Nehmet hin und trinket, dies ist mein Blut,« erfüllten ihn schier mit Ekel. Eines Tages suchte er den Pastor auf und erklärte ihm, er könne nicht zum Abendmahl gehen. Und wie an jenem Tag, da er in der Klasse den Kameraden geschlagen hatte, fragte ihn der alte Mann: »Weshalb?«

Und Johannes erwiderte wie an jenem Tage: »Ich weiß nicht, Herr Pastor.«

»Liebst Du den Heiland nicht, Johannes?«

»Doch, Herr Pastor. Aber ... aber anders als Sie es tun.«

Der alte Mann dachte nach; er wußte, welche schwere Folgen es für Johannes haben würde, wenn er sich weigerte, zum Abendmahl zu gehen. Er kannte den Gymnasialprofessor und dessen korrekte Frömmigkeit nur allzu gut. Und weshalb wollte gerade dieser, sein bester Schüler, sich der heiligen Handlung entziehen? Hatte er vielleicht atheistische Schriften gelesen, seinen Glauben verloren?

»Sage mir aufrichtig, was Dich quält, mein Kind.«

Der Knabe wurde rot, Tränen traten ihm in die Augen; er wollte den Lehrer nicht kränken; schließlich stammelte er: »Die Worte: dies ist mein Blut; ich kann nicht, es ekelt mich.«

Der alte Pastor blickte ihn traurig an. »Denke doch lieber an die anderen Worte: Das tut zu meinem Gedächtnis! Selbst wenn Du den Heiland nicht für Gottes Sohn hältst, willst Du nicht etwas zum Gedächtnis eines guten und edlen Menschen tun und so Teil haben an ihm?« Und da diese Worte noch nicht wirkten, bediente sich der alte Mann mit kindlicher List eines anderen Mittels: »Mir zuliebe, mein Kind.«

Johannes fügte sich. Als er jedoch nach dem Abendmahl daheim bei Tisch saß, konnte er keinen Bissen hinunterwürgen, brach zu seiner großen Beschämung in heiße Tränen aus und verließ eilends das Zimmer.

Frau Selder wischte sich bewegt die Augen: »Die Gnade des Herrn hat ihn gerührt.«

»Ja,« meinte der Gymnasialprofessor würdevoll, »ein echt deutsches, wahrhaft christliches Heim wirkt veredelnd. Wenn ich bedenke, daß der arme Junge ebensogut ein Russe und ein Götzenverehrer hätte werden können ...«

Neuntes Kapitel.

»Komm mit, Johannes, ich will Dir etwas zeigen.« Lene zog ihn am Arm in die Bodenkammer. Hier unter altem Gerümpel, Koffern und Kisten hatten sich die beiden eine Art Wohnzimmer eingerichtet; eine große Kiste diente als Tisch, Lene hatte unbemerkt aus einigen Kissen Federn entwendet und aus alten Kleidern zwei Polster gemacht, auf denen sich's herrlich sitzen ließ; eine kleine Kiste barg einige Lieblingsbücher, Äpfel und Birnen. Diesen Raum nannten die beiden »unser Heim« und hier fühlten sie sich wirklich behaglich.

Lenes Augen glänzten, ihre Wangen waren dunkelrot. »Jetzt weiß ich, warum man lebt!« rief sie eifrig. »Was man mit seinem Leben anfangen muß.«

»Was hast Du denn entdeckt?«

Sie wühlte in der Kiste und brachte ein Buch zum Vorschein. »Da, das mußt Du lesen, das ist heiliger als die Bibel.«

Johannes warf einen Blick auf das Buch. »›Das unterirdische Rußland‹ von Stepniak, das kenne ich.« Er lächelte ein wenig; trotzdem er zwei Jahre jünger war, als das Mädchen, verlieh ihm seine ruhige Art eine gewisse Überlegenheit über das impulsive, quecksilberige junge Ding.

»Du kennst es und hast mir nie davon erzählt!« rief Lene empört. »Du bist ein schlechter Freund!«

»Woher hast Du das Buch?«

Sie lachte vergnügt. »Vom Zahnarzt.«

»Vom Zahnarzt?«

»Ja, vorige Woche mußte ich dort so lange warten, und einer, der vor mir daran kam, ließ das Buch im Wartezimmer liegen. Da fing ich darin zu lesen an. Und als er dann herauskam, fragte ich ihn ganz einfach, ob ich das Buch mitnehmen und zu Ende lesen dürfte? Er kennt Dich aus der Schule, sagte, Du mögest es ihm zurückbringen.«

Johannes nickte. »Und Du hast so ohne weiteres einen fremden Menschen angesprochen?«

»Ich mußte das Buch lesen; er war auch sehr freundlich und ich kenne ihn doch vom Sehen, aus dem Papiergeschäft seines Vaters. Er hat mir noch andere Bücher versprochen.«

Johannes lachte. »Wenn Dein Vater wüßte, daß Du Dir vom Sohn des alten Mendel Silberblatt Bücher ausleihst!«

»Mein Vater ist ein ...«, mit einem letzten Rest kindlicher Pietät verschluckte Lene den »Esel«, der ihr auf den Lippen lag. Das Verhältnis zwischen dem Gymnasialprofessor und seiner Jüngsten hatte sich in den letzten Jahren immer mehr zugespitzt, und Lenes Kritik machte vor keiner Autorität Halt. Dann wandte sie sich wieder dem Buch zu. »Johannes, daß es solche Menschen gibt, so mutig, so selbstlos, kannst Du Dir das vorstellen? Und das arme russische Volk. Du, man muß nach Rußland gehen und ihm helfen.«

»Weshalb nach Rußland gehen? Glaubst Du, unser Volk braucht keine Hilfe, glaubst Du, die Arbeiter des Grafen Stramwitz sind weniger geknechtet als die russischen Bauern?«

Sie sah ihn mit großen Augen an. »Das ist mir nie eingefallen. Johannes, weshalb sprachst Du mit mir nie über derlei Dinge?«

»Du bist doch ein Mädchen,« meinte er halb entschuldigend.

»Haben die russischen Frauen sich nicht auch für das Volk geopfert? Das ist eine faule Ausrede, sag' die Wahrheit.«

Johannes zögerte, schließlich bemerkte er: »Siehst Du, Lenchen, ich denke schon lange über diese Dinge nach, und – und sie sind für mich wie etwas Heiliges. Ich hatte Angst, Du würdest sie nicht verstehen, würdest am Ende darüber lachen, und das hätte mir weh getan.«

»Bin ich denn Ilse, die nur ans Heiraten denkt, oder Gustav mit seinem ewigen Mikroskop? Ich bin doch ein Mensch und auch kein Kind mehr.«

Er blickte sie sinnend an; sie war klein und zart geblieben, mit raschen, nervösen Bewegungen. Die Worte, die sie als kleines Mädchen der Mutter gegenüber ausgesprochen hatte: »Wenn ich groß bin, werde ich maßlos sein,« schienen sich zu verwirklichen. Die ehrbare Nüchternheit, die in strengen Grenzen gehaltene, für feierliche Gelegenheiten aufgesparte Begeisterung des Elternhauses waren ihr fremd; sie gab sich mit ursprünglicher Kraft jedem Eindruck ganz hin, haßte oder liebte, bewunderte oder verachtete aus allen Kräften ihrer jungen Seele. Einer kurzen Periode religiöser Begeisterung war für sie eine große Leere gefolgt, sie tastete, suchte nach etwas, das dem Leben Sinn verleihen konnte, ohne recht zu wissen, wonach es sie eigentlich verlangte.

»Du,« ihre Finger strichen schier liebkosend über das Buch, das auf ihren Knien lag, »der Anatol Silberblatt, glaubt der auch daran?«

»Freilich, von ihm weiß ich ja alles, was ich weiß. Wir haben oft darüber gesprochen, er hat mir Bücher geliehen ...«

»Wie kommt er auf solche Gedanken?«

»Das habe ich ihn auch gefragt; er meint, dies komme daher, weil er Jude sei, und da die Juden immer geknechtet und unterdrückt worden seien, verstanden sie die Armen und Gequälten besser.«

Lene schwieg, zog einen Apfel aus der Kiste und biß hinein. Plötzlich schien ihr ein Gedanke zu kommen, noch mit vollem Mund sagte sie:

»Johannes, wir müssen einen Bund schließen.«

»Einen Bund?«

Sie warf den Rest des Apfels zum Bodenfenster hinaus. »Ja, Du und ich und Anatol; wir müssen schwören, für das Volk zu leben, es zu befreien. Heimlich müssen wir zusammenkommen und aufs Evangelium schwören.«

»Das geht nicht, Du dummes Ding, er glaubt doch nicht ans Evangelium.«

Sie sah verblüfft drein. »Das ist wahr. Was macht man dann? Gibt es denn nichts, was den Juden und Christen gleich heilig ist?«

Johannes dachte nach; Lenes Frage eröffnete ihm einen neuen Horizont; es mußte doch etwas geben, in dem sich die Menschen aller Völker, aller Rassen und Glauben finden konnten, etwas, das für sie das Kruzifix des Rechtgläubigen, das Evangelium des Protestanten war. Lenes Worte durchschnitten seine Gedanken.

»Wenn man das Gute will, so ist es doch einerlei, was man ist, ob Jude oder Christ, Deutscher oder Russe; es muß etwas geben, das über allem steht, das die Menschen vereinigt.«

Johannes verharrte noch immer stumm. Seine Schweigsamkeit brachte Lene oft zur Verzweiflung; sie war nicht fürs Nachdenken, bei ihr mußte immer alles blitzartig, wie eine Erleuchtung kommen.

»Johannes,« drängte sie, »es muß doch etwas geben.«

Er hatte inzwischen in seinem Gehirn eine Lösung gefunden. »Ja, Anatol hat mir selbst davon erzählt, es ist mir nur nicht gleich eingefallen, Du schwätzt so viel und das verwirrt mich. Erinnerst Du Dich, Lenchen, wie Dein Vater neulich bei Tisch über die ›Internationale‹ schimpfte, die Leute Verräter, vaterlandslose Gesellen nannte?«

Lene zuckte die Achseln. »Der Vater schimpft immer, aber was hat das mit unserer Sache zu tun? Weshalb sprichst Du jetzt davon?«

»Weil die ›Internationale‹ das ist, in dem sich alle Menschen finden können, der heilige Bund, in dem es keine Nationen und Konfessionen gibt. Anatol kann Dir die Sache besser erklären, als ich.«

»Gut. Sag' ihm, um was es sich handelt. Am Sonntag machen die Eltern einen Ausflug, ich werde nicht mitgenommen, weil ich neulich gegen den dummen Affen, der Ilse heiraten soll, grob war, und Du sagst, Du müßtest lernen. Dann bringst Du den Anatol her, in ›unser Heim‹, und wir schließen den Bund und schwören auf die ›Internationale‹!«


Gustav Selder hob die kurzsichtigen, wasserblauen Augen von seinem Buch, als Johannes das gemeinsame Zimmer betrat und grinste mitleidig: »Was hast Du denn eigentlich angestellt, Johannes?«

»Ich?«

»Ja, der Vater kocht vor Wut, Du wirst etwas Schönes erleben.«

»Ja, aber ... Ich habe doch gar nichts getan.«

»Was habt ihr denn diese Woche für einen Aufsatz gehabt? Der Vater hat Deinen sogar der Mutter vorgelesen; das tut er nur, wenn er ganz besonders wütend ist. Das wird heute ein angenehmes Mittagessen werden.«

Bis nach der Suppe herrschte bei Tisch eisige Stille. Dann ging es los.

»Ich wundere mich, daß Du mir noch in die Augen zu sehen wagst, Johannes,« begann der Gymnasialprofessor.

Der Angeredete schwieg. Lene horchte auf.

»Ich habe Deinen Aufsatz korrigiert und frage Dich nun, wie kannst Du es wagen, Verbrecher und Mörder als Helden hinzustellen?«

»Das habe ich nicht getan.«

»Ich gebe euch einen Aufsatz über ›Helden‹, bespreche das Thema mit euch, nenne euch als Anhaltspunkte einige Namen, wie Friedrich der Große, Blücher, Moltke, Wilhelm I., und was machst Du? Du schreibst über Freiheitshelden, erwähnst nicht etwa Arndt und Theodor Körner, was noch angegangen wäre, nein, es beliebt Dir nicht einmal, deutsche Namen zu nennen. Deine Weisheit muß nach Rußland gehen. Und was für Leute preist Du als Helden? Revolutionäre, Aufrührer, gemeine Schurken, die es gewagt haben, sich wider ihren Herrn und Monarchen zu erheben! Und nicht genug, daß Du solche Beispiele aus der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts nimmst, nein, Du treibst es noch ärger – Du wagst es, die niederträchtigen Schufte, die jetzt in Rußland Revolution machen, die das Leben des Zaren, eines Freundes und Verwandten unseres allergnädigsten Kaisers, bedrohen, Helden zu nennen, Freunde der Menschheit.«

»Aber ...«

»Schweig! Du bist in einem christlichen loyalen Haus aufgewachsen, von gutem Beispiel umgeben. Ich selbst habe versucht, Dich zu einem treuen, redlichen Bürger zu erziehen. Dein Bruder trägt des Kaisers Rock und wird demnächst Oberleutnant werden, und Du, Du schreibst wie ein, wie ein ... Sozialist. Schäme Dich!«

»Aber ...«

»In diesem Haus kannst Du dergleichen nicht gehört haben, unsere Freunde, mit denen Du zusammentrafst, sind keine Mörder und Räuber, die ›Deutsche Tageszeitung‹, die ich Dir zu lesen gestattete, aus reiner Güte, denn einen Jungen Deines Alters geht es nichts an, was in der Welt geschieht, hat sicherlich niemals derartige Ansichten geäußert. Ich frage mich, wie ist es möglich, daß ein Kind unseres Hauses so verrucht sein kann? Wie ist es möglich?!«

»Ich ...«

»Schweig. Seit Monaten erregst Du meine Unzufriedenheit; immer sehe ich Dich mit diesem Judenbengel zusammenstecken. Was hat ein deutscher Jüngling mit einem Juden gemein? Die Juden sind Schädlinge am Körper unseres Volkes. Glaubst Du, daß Friedrich mit Juden verkehren würde, oder Gustav?«

Gustav schmunzelte vergnügt und brummte: »Warum denn nicht, wenn ich von ihnen etwas lernen kann.« Doch beachtete sein Vater diesen Einwurf nicht, mit sich überschlagender, kreischender Stimme fuhr er fort: »Dein Aufsatz hat mir bewiesen, daß unsere ganze liebende Sorge, all unsere Opfer vergeblich waren. Du bist kein Deutscher! Was Dich empören sollte, erfüllt Dich mit Bewunderung, was Du verdammen solltest, preist Du. Du bist ein verkommenes Subjekt, ein hergelaufener Bursche, gehörst nicht zu uns!«

Frau Selder warf ihrem Manne einen bewundernden Blick zu; wie gut er sprach, fast wie ein Pastor. Auch des Gymnasialprofessors Zorn entwich. Er fühlte sich groß und gewaltig, als gerechter Richter, und dies tat ihm wohl. Da ereignete sich ein Zwischenfall, der seinen Zorn von neuem entflammte. Eine helle Mädchenstimme schrie über den Tisch: »Nein, er gehört wirklich nicht zu euch, aber ich auch nicht, Gott sei Dank!«

Frau Selder sah ihre Tochter entsetzt an, Ilse machte sich ganz klein auf ihrem Stuhl, Gustav grinste schadenfroh.

»Helene!« Jedes weitere Wort blieb dem Gymnasialprofessor in der Kehle stecken.

»Um nichts in der Welt möchte ich zu euch gehören!« fuhr die zornige junge Stimme fort, »ihr seid gemein und niederträchtig. Dumme Kaiser und Könige verehrt ihr, ja, sie sind dumm und schlecht, und wahre Helden schmäht ihr. Ihr mästet euch vom Blute der Armen, saugt sie aus, lebt in Luxus und Üppigkeit ...«

Dem Gymnasialprofessor fiel jählings inmitten des entsetzten Zornes sein Gehalt ein. Mit dem Brustton tiefster Überzeugung schrie er: »Schweig, Helene, das ist nicht wahr!« Aber seine Tochter fuhr unbeirrt fort: »Ausbeuter seid ihr, Knechter des Proletariats, Liebediener der Fürsten. Unsere geknechteten Brüder im Osten suchen sich zu befreien, und ihr wollt es verhindern, weil euch um euer unrecht erworbenes Gut bang ist!«

Johannes konnte ein Lächeln nicht unterdrücken; Lene war eine gelehrige Schülerin. Der »Bund« gab natürlich eine Zeitung heraus, in drei Exemplaren, fein säuberlich mit der Hand geschrieben, und Lene zitierte fast wörtlich den von Anatol Silberblatt verfaßten Leitartikel. Der Gymnasialprofessor saß wie zu Stein erstarrt; seine Tochter, und woher hatte sie diese Ausdrücke: Proletariat, Ausbeuter, geknechtete Brüder im Osten? Er rang nach Atem, und erst als Lene, vom Leitartikel ablassend und wieder zu ihrem eigenen Sprachschatz zurückkehrend, rief: »Ihr seid schreckliche Menschen. Ich schäme mich, solche Eltern zu haben!« fand er Worte und befahl ihr, sofort das Zimmer zu verlassen. Sie ging, einen letzten Trumpf ausspielend, zog Johannes mit sich fort, reckte auf der Türschwelle die kleine Gestalt hoch empor: »Komm', Johannes, wir gehören nicht zu den Kapitalisten!«

Die anderen blieben verstört zurück. Frau Selder weinte, Ilse wagte nicht, die Augen zu heben, Gustav murmelte etwas wie »wichtige Schularbeit« und verließ hastig das Zimmer. Der Gymnasialprofessor ging mit großen Schritten auf und ab. Schließlich blieb er vor seiner Frau stehen: »Ein böser Geist ist in unser Haus gedrungen, Annie. Wir müssen die Kinder strenger halten. Ich begreife nicht, was Helene eingefallen ist.«

Frau Selder nickte noch immer schluchzend, dann fiel ihr Blick auf die Füße ihres Mannes: »Wilhelm, Du mußt Dir ein Paar neue Stiefel kaufen, ein drittesmal kann man sie nicht mehr sohlen.«

Der Gymnasialprofessor sah auf die abgewetzten Stiefel nieder. »Luxus und Üppigkeit, Ausbeuter, Kapitalisten!« schrie er jählings auf und schlug mit der geballten Faust wütend auf den Tisch.

Zehntes Kapitel.

Ilse Selder saß am Fenster und nähte an ihrer Ausstattung; bisweilen hob sie die linke Hand und betrachtete strahlenden Gesichtes den glatten goldenen Reif, der den Ringfinger schmückte. Lene kauerte in einer Sofaecke und blickte mit spöttischen Augen auf die Schwester.

»Also in vierzehn Tagen sind wir Dich endgültig los,« bemerkte sie schließlich liebenswürdig, »sag' einmal, Ilse, warum trägst Du eigentlich Trauer um Tante Margarete?«

Ihre Schwester schaute sie erstaunt an. »Es fehlen doch noch zehn Tage zum Trauerhalbjahr.«

»Ach so, richtig. Eigentlich mußt Du doch sehr froh sein, daß sie gestorben ist; ohne die Erbschaft hätte Dein Adolf Dich nie und nimmer geheiratet.«

»Aber Lene!«

»Aber Lene, glaubst Du ich weiß nicht, daß Du uns alle ruhig sterben ließest, bloß um zu einem Mann zu kommen? Was hast Du denn eigentlich vom Heiraten?«

»Das verstehst Du nicht, dazu bist Du zu jung. Wir lieben einander und werden ein trautes Heim haben.«

»Und dann?«

»Was meinst Du?«

»Na ja, trautes Heim, das ist ja sehr schön. Aber was wirst Du mit Deinem Leben anfangen, was wirst Du leisten?«

»Meine Pflichten als Gattin ...«

Lene pfiff durch die Zähne. »Jedes Jahr ein Kind, nicht wahr?«

»Lene, davon spricht man doch nicht.«

»So, das tut man bloß.« Sie betrachtete forschend die Schwester. »Jetzt bist Du noch ganz hübsch, in vier, fünf Jahren wirst Du eine dicke Kuh sein, wie Deine Freundin Käthe, oder ausgemergelt und verdrossen, wie unsere arme Mutter. Und Dein Mann wird Dir aus der »Deutschen Tageszeitung« vorlesen und am Sedantag und Kaisers Geburtstag betrunken nach Hause kommen.«

»Ich verbiete Dir, so über Adolf zu sprechen.«

»Dein Adolf! Warum hat er Dir denn erst einen Antrag gemacht, als Tante Margaretes Testament veröffentlicht wurde? Ja, die große Liebe ...«

»Du bist gemein.«

»Nein, bloß weniger dumm als Du. Sag' mir, Ilse, hast Du denn nie über das Leben nachgedacht?«

»Ich verstehe Dich nicht.«

»Über die große Welt, und was wir ihr schuldig sind?«

»Du kannst nicht behaupten, Lene, daß ich je pflichtvergessen war.«

»Nein, nein. Du warst eine gute Tochter, wirst eine liebende Gattin und Mutter werden, immer nur sehen, was vor Deiner Nase liegt, und allgemein geachtet sterben. Herrgott, wenn ich so leben müßte, lieber würde ich mich gleich aufhängen.«

Die ältere Schwester schüttelte mißbilligend den Kopf. »Was Du für Gedanken hast! Daran ist Johannes mit seinen verrückten Ideen schuld. Wenn Du jetzt zu Hause die einzige Tochter bist, wird sich das geben.«

Lene schnellte auf. »Sprich nicht davon, mir graut vor dem Gedanken, daheim sitzen, Handarbeiten machen, in Kaffeekränzchen gehen! Und den erstbesten Mann heiraten, nur um von hier fortzukommen. Wenn Tante Margarete lebte, ich ginge zu ihr.«

Frau Selder trat ins Zimmer. »Kinder, was ist denn schon wieder los? Weshalb schreist Du so, Lene? Ich habe eine gute Nachricht erhalten, Friedrich kommt übermorgen.«

»Das auch noch,« murmelte Lene halblaut und schob sich vorsichtig in die Nähe der Tür.

»Wohin gehst Du, Lene? Es regnet.«

»Ich habe Besorgungen zu machen.«

»Dann bring uns Knöpfe mit und weiße Nähseide. Und bürste vorerst Dein Haar, Du siehst gar zu unordentlich aus.«

Ein kalter Herbstnachmittag hüllte die Stadt in trostlose Gräue. Von den entlaubten Bäumen perlten große Tropfen ab, die Häuser verschwammen im Nebel.

Lene hastete durch die Straßen, mit feindseligen Blicken betrachtete sie die wohlbekannten Häuser, die Vorübergehenden. Immer das gleiche Einerlei; farblos, öde, tot. Wird auch sie gleich der Schwester ihr Leben in dieser entsetzlichen Kleinstadt verbringen müssen?

Vor dem Papierladen des Herrn Silberblatt pfiff sie die ersten Takte der Marseillaise. Im ersten Stock öffnete sich ein Fenster, ein dunkler Kopf schaute heraus.

»Komm spazieren, Anatol!« rief sie hinauf.

»Bei dem Wetter!«

»Komm nur!«

Wenige Augenblicke später trat Anatols große, hagere Gestalt aus der Ladentür.

»Bist Du ganz verrückt, Lene? Bei diesem Regen spazieren gehen!«

»Sei gut, Anatol, ich muß mich auslüften. Wir wollen an den Fluß gehen.«

Breit und träge wälzten sich die grauen Fluten des mächtigen Flusses, die endlose Ebene versank in den Wolken, ungeheure Traurigkeit lastete schwer auf der ganzen Landschaft.

Lene schwieg; dies war bei ihr eine solche Seltenheit, daß Anatol schier besorgt fragte: »Was ist denn wieder los, Kleine?«

Sie wandte ihm tränenfeuchte Augen zu. »Ich halte es nicht mehr aus! Jetzt, da Ilse fortgeht, ich habe sie ja nie leiden können, das alberne Ding, aber sie war nützlich, weil sich die Mutter hauptsächlich mit ihr beschäftigt hat. Aber jetzt muß ich dann die Haustochter spielen. Und Du gehst auch nach Berlin, und Johannes kommt nächstes Jahr aus dem Hause. Ich wollte, ich wäre tot!«

Er klopfte ihr beschwichtigend auf die Schulter. »Wie alt bist Du denn eigentlich?«

»Siebzehn vorbei.«

»Ja, dann mußt Du eben noch vier Jahre warten, bis Du frei bist.«

»Das halte ich nicht aus. Wann fährst Du fort?«

»Nächste Woche.«

»Und Du willst wirklich Journalist werden?«

»Ja, aber erzähle es nicht meinem Vater, der glaubt, ich würde beim Jus bleiben.«

»Anatol!«

»Was?«

»Weißt Du, daß ich sehr praktisch bin und sogar kochen kann?«

Er schaute sie verständnislos an. »Kann schon sein, weshalb erzählst Du mir das?«

»Weil ...« Sie stockte, das schmale Gesicht rötete sich. »Anatol, lieber Anatol, willst Du mich nicht heiraten?«

»Bist Du ganz verrückt geworden?«

Sie überwand ihre augenblickliche Verlegenheit. »Weißt Du, so wie die russischen Studentinnen es taten, früher, um von daheim fortzukommen. Ich würde Dich gar nicht stören. Bitte, Anatol, heirate mich.«

Er lachte. »Nein, Du kleine Närrin.«

»Weshalb?«

»Ich heirate keine Christin,« entgegnete er unliebenswürdig, »und dann wäre es für mich lächerlich, mit neunzehn Jahren heiratet man doch noch nicht. Um Gotteswillen, weine nicht, ich wollte Dich ja nicht kränken.«

Lene hatte sich an einen Baumstamm gelehnt und schluchzte bitterlich. »Das nennt man Freundschaft, eine so geringfügige Sache schlägst Du mir ab? Und wir haben doch geschworen, zusammenzuhalten, immer!«

Er war ernst geworden; das war kein trotziges Kind mehr, das hier so verzweifelt weinte, war eine gequälte junge Seele, die nach Freiheit schrie. Plötzliches Mitleid erfaßte ihn; er zog sie an sich. »Weine nicht, kleine Lene, verlier' nicht den Mut. Wenn es für Dich Arbeit gibt, komme ich Dich holen.«

»Bestimmt?«

»Ganz bestimmt!«


Man saß beim Hochzeitsdiner, Frau Selder wischte sich unentwegt die Augen, der Gymnasialprofessor plauderte liebenswürdig mit der Mutter des Bräutigams, das Brautpaar flüsterte miteinander und Friedrich, der Oberleutnant, machte seiner neuen Schwägerin den Hof.

»Eine gute Partie,« meinte eine alte Tante von Frau Selder zum Gymnasialdirektor, »Gerichtsassessor und ein so schneidiger junger Mann.«

»Ja, er muß ein forscher Student gewesen sein, sehen Sie nur die vielen Schmisse.«

»Haben Sie je ein Fliegenauge unter dem Mikroskop betrachtet, gnädiges Fräulein?« fragte Gustav seine Nachbarin. »Ein wahres Kunstwerk.« Das junge Mädchen sah ihn schier erschrocken an. »Nein, Herr Selder.«

»Nun werden bald Sie an die Reihe kommen, Fräulein Helene,« bemerkte der Brautführer, ein eleganter junger Offizier, »Sie müssen aber in die Armee heiraten, schon Ihrem Bruder zuliebe.«

»Ich hasse Offiziere,« entgegnete sie gedankenlos, dann etwas erschrocken über ihre Unliebenswürdigkeit, »ich meine, überhaupt das Militär.«

»Das kann doch nicht Ihr Ernst sein?«

Johannes saß am untersten Ende der Tafel, neben dem jüngsten Bruder des Bräutigams, einem Studenten. Er fühlte sich vereinsamt und traurig. Wie fremd waren ihm doch alle diese Menschen, trotz der vielen unter ihnen verbrachten Jahre. Nur Lenes trotziges, kleines Gesicht mutete ihn vertraut an. »Was werden Sie studieren?« fragte sein Nachbar. »Medizin? Sehen Sie nur zu, daß Sie in eine gute Verbindung kommen, ich werde Ihnen gerne behilflich sein.«

»Danke, ich will in keine Verbindung eintreten.«

»Das müssen Sie doch; das ist doch die Hauptsache im Studentenleben! Wann beenden Sie die Schule?«

»Nächstes Jahr.«

»Wir werden uns ja wohl in Berlin sehen!«

Der Gymnasialprofessor erhob sich und schlug an sein Glas. In einer wohleinstudierten Rede trank er auf das Wohl seiner Gäste und verlieh der Freude Ausdruck, sein teueres Kind den Händen eines so wackeren Mannes anvertrauen zu dürfen. Während des allgemeinen Anstoßens glitt Lene unbemerkt zu Johannes hinüber. »Wir wollen uns drücken,« flüsterte sie, »der alte General wird bestimmt ein Hoch auf den Kaiser ausbringen, und da tue ich nicht mit.«

»Du bist kindisch, Lene.«

Sie sah ihn vorwurfsvoll an. »Man darf keine Kompromisse schließen. Komm, niemand wird bemerken, daß wir fehlen.«

Er folgte ihr; sie eilte ihm voraus, die Bodentreppe hinauf, das lange Kleid mit beiden Händen hochhaltend.

»Mein Gott, war das gräßlich!« rief sie, sich auf eines der alten Polster werfend.

»Was denn?«

»Die ganze Komödie und diese Leute; widerlich. Aber was machst Du für ein Gesicht, Johannes, Du schaust ja ganz traurig drein.«

»Lene, glaubst Du, daß Dein Vater recht hat, und ich ein undankbarer Charakter bin?«

»Weshalb?«

»Ich bin nun doch seit vielen Jahren bei euch, und als wir unten saßen, fühlte ich ganz deutlich, daß ihr mir alle fremd seid, ja, sogar Du, Lenchen, ich gehöre nicht zu euch, es ist dasselbe, wie in der Schule; stets war ich allen fremd, gehöre nirgends hin. Ich habe Heimweh und weiß nicht, wonach.«

»Vielleicht nach Rußland; aber daran kannst Du Dich ja gar nicht mehr erinnern.«

»Nein; bisweilen ist mir, als hätte ich Heimweh nach einem anderen Land, das ich noch vor Rußland gekannt habe, nach Menschen, die eine Sprache reden, die ich nie gehört habe. Weißt Du, Lene, wie mir oft zu Mute ist? Wie dem Ahasver, der wandern mußte, immer wandern, und niemals heimfand.«

Sie war nachdenklich geworden.

»Erinnerst Du Dich, was uns Anatol neulich schrieb; von der neuen Welt, die wir aufbauen müßten, der glücklichen gerechten Welt?«

»Ja, ich weiß nicht weshalb, aber wenn ich an diese Worte denke, sehe ich immer einen Hügel, auf dem eine Stadt liegt. Und von dieser Stadt strömt Licht nach der ganzen Welt hin.«

Lene lachte auf. »Ich weiß, was für ein Bild Du meinst; warte, ich werde es Dir gleich zeigen.« Sie kramte in der Bücherkiste und brachte ein altes illustriertes Liederbuch zum Vorschein. Die staubigen, vergilbten Blätter umwendend, fand sie das Bild. Von einer Anhöhe strebte ein gewaltiger Tempel auf, dessen Helle die tiefer liegende Landschaft erleuchtete. Die beiden Köpfe beugten sich über das Bild, und Lene las halblaut die erste Strophe des Kirchenliedes:

»Jerusalem, du hochgebaute Stadt ...«

Elftes Kapitel.

Strahlender Sonnenschein verklärte das banale ostpreußische Städtchen zu wundersamer Schönheit. Rosen und Nelken loderten in den kleinen Gärten, Malven wiegten gemächlich die dicken Köpfe im Winde, feierlich hieratische Lilien lächelten klösterlich und sandten fromme Düfte zum Himmel empor. An den Hecken blühte Jasmin in wilder Verschwendung, Blüte an Blüte, so dicht, daß kaum ein grünes Blatt zu sehen war.

Außerhalb der Stadt dehnten sich wogend unendliche Ährenfelder, ein einziges, unbegrenztes gelbes Meer, aus dem hier und dort rotblutend kleine Mohninseln aufragten oder kornblumenblau ein Stückchen Himmel sich spiegelte. Festlicher Duft entströmte der gebärenden Erde, alles drängte, trieb zur Vollendung, zum höchsten Gedeihen; das Land feierte Sonntag, Sonnentag.

Sogar in die grauen Häuser drang der Sonnenzauber, enge Stuben erschienen plötzlich weit in dem hereinstürzenden, alles überflutenden Licht, Feiertag lag auf wintermüden Gesichtern, in dunkelgewöhnte Augen spielten Sonnenstrahlen.

Gustav Selder packte; Lene und Johannes halfen ihm. Gustavs kurzsichtige Augen tasteten ängstlich suchend das Zimmer ab.

»Wo ist mein blaues Heft, Lene, in dem ich meine Notizen habe? Das muß mit.«

Die Schwester lachte. »Vor Deiner Nase, Du blinder Maulwurf. Eile Dich doch, wir wollen ins Freie.«

»Gleich, gleich, und das Buch mit den Tabellen, ich kann es nicht finden.«

»Mein Gott, Du mit Deinen Büchern!«

Sorgfältig packte Gustav, hüllte Buch um Buch in Zeitungspapier, bettete sie schier zärtlich in den großen Koffer. Endlich war alles fertig. »So,« meinte er vergnügt, »jetzt bekommt Ihr jeder eine Zigarette zur Belohnung, aber geh fort vom Fenster, Lene, daß Dich niemand rauchen sieht.«

Sie setzte sich auf den geschlossenen Koffer. »Bist Du froh, Gustav?«

»Worüber?«

»Daß Du fortkommst.«

»Ja. Hier ist es freilich angenehm ruhig zum Arbeiten, aber wenn ich an die Instrumente und Laboratorien denke, die es in Berlin gibt!« Die kurzsichtigen Augen leuchteten auf.

»Wirst Du dort auch den ganzen Tag über Deinen Büchern hocken?«

»Natürlich; was sollte ich denn sonst tun? Wenn mich nur der eklige Kerl, Ilses Schwager, mit seiner dummen Verbindung in Ruhe läßt! Wozu hat ihm denn der Vater geschrieben, daß ich nach Berlin komme?«

Lene lachte spöttisch. »Du naives Kind! Du sollst doch ›gute‹ Bekanntschaften machen, in die ›Gesellschaft‹ kommen. In Adalberts Verbindung sind fast lauter Aristokraten.«

Gustav blickte sie hilflos an. »Was soll ich denn mit den Leuten anfangen? Die wissen ja gar nichts, spielen, trinken, raufen und ...« Er stockte, suchte nach einem für Mädchenohren passenden Ausdruck. »Und vergnügen sich mit Weibern. Ja, wenn ich Empfehlungen an Professoren hätte!«

»Suche doch Anatol Silberblatt auf,« bemerkte Johannes, »er ist in einen interessanten Kreis geraten.«

»Ich mag Euren lieben Anatol nicht. Nein, nicht weil er Jude ist, Lene, Du brauchst mich nicht so wütend anzuschauen. Ich achte die Juden, sie haben wissenschaftlich viel geleistet; aber diese Burschen mit ihrem Weltbeglückungsfieber sind mir zuwider, sie schreien herum, meinen mit ihrem Reden wunder was zu erreichen, und schließlich bleibt doch alles beim alten. Was geht mich die Politik an? Es gibt nur eine Wahrheit auf der Welt: die Wissenschaft.«

»Aber wenn Du wählen sollst, Gustav, da mußt Du doch irgendeine Überzeugung haben!«

»Überzeugung? Erstens werde ich höchstwahrscheinlich nie wählen, das Ganze ist mir völlig gleichgültig; und wenn ich es dennoch täte, so würde ich den wählen, von dem für die Wissenschaft am meisten zu erhoffen ist.«

»Wie, sogar einen Sozialisten?«

»Weshalb denn nicht? Diese ganzen Parteisachen kommen mir höchst kindisch vor. Ja, Lene, ich weiß, daß ich Dich in Deinen heiligsten Gefühlen kränke; übrigens ist ein Sozialdemokrat für unser ehrbares, konservatives Haus gerade genug.«

Sie wurde dunkelrot.

»Was willst Du damit sagen?«

»Daß ich doch nicht so blind bin, wie Ihr alle glaubt, und sehr gut weiß, warum meine liebe Schwester am ersten Mai mit Kopfschmerzen schon um sieben Uhr zu Bett ging und um Gottes willen nicht gestört werden durfte. Glaubst Du, Du dummer Fratz, Du könntest in dieser Kleinstadt in die sozialdemokratischen Versammlungen gehen, ohne erkannt zu werden?«

Sie blickte ihn halb erschrocken, halb trotzig an. »Wirst Du es dem Vater sagen?«

»Weshalb sollte ich? Jeder kann tun, was er will, und, unter uns gesagt, ist mir der Vater mit seinem »Deutschland über alles« noch zuwiderer als Du mit Deinem »Volk«. Ich bin international, nein, nicht in Deinem Sinn, Vereinigung aller wissenschaftlich Arbeitenden zur Förderung der Wissenschaft. Übrigens bist Du ein interessanter Fall, Lene, lauter Pastoren und Schullehrer als Ahnen, und das letzte Produkt eine wilde Revolutionärin! Ein merkwürdiger Rückschlag, der vielleicht bis zu einem Ahnen aus der Steinzeit geht. Man müßte ...«

»Gustav, Du bist jetzt neunzehn Jahre alt, gibt es denn nichts auf der Welt, was Dich zu erwärmen vermag?«

Ein verblüffter Blick traf sie. »Wie dumm Du bist, meine Arbeit natürlich. Außerdem,« ein gutes Lächeln huschte über das unschöne Gesicht, »manchmal auch meine kleine Schwester. Jetzt, wo ich fortgehe, merke ich erst, daß ich die zwei Narren der Familie, Dich und Johannes recht lieb habe.«

Sie schnellte auf und umschlang ihn stürmisch: »Du bist also doch ein Mensch, Gustav!«

»Vorsicht, Lene, meine Brille!«


Johannes hatte die Kerze verlöscht, fahler Mondschein erfüllte das Zimmer mit kaltem Licht; unheimliche Schatten huschten über die Wände. Durch das geöffnete Fenster trug der sanfte Nachtwind den Duft frischgeschnittenen Heues herein. Johannes starrte auf die verödete Straße, die gleich einer dunklen Schlucht in die schwarze Unendlichkeit zu münden schien. Hier und dort war noch ein Zimmer erleuchtet; ängstliche, zaghafte Lichter kämpften gegen die Nacht.

Heute nachmittag war Gustav fortgefahren. Die ganze Familie hatte ihn zum Bahnhof begleitet; der Gymnasialprofessor, stolz auf den Sohn, der sein Abiturium mit Auszeichnung bestanden hatte, redete laut und eindringlich, als ob die letzten guten Lehren auch den Gepäckträgern galten; Frau Selder gab sich einer wehmütig-freudigen Rührung hin, und Lene versetzte alle in Erstaunen, indem sie in Tränen ausbrach, als sich der Zug in Bewegung setzte.

»Das gute Kind,« flüsterte Frau Selder ihrem Manne zu, »es hat doch Familiensinn.« Und Lene drückte Johannes' Arm schmerzhaft zusammen: »Der kann fort und ich muß hier bleiben. Mein Gott, wenn man doch keine Familie hätte!«

Johannes lächelte vor sich hin, ihm war die kleine Szene eingefallen, die sich gestern abend zwischen Vater und Sohn abgespielt hatte. Er und Gustav lagen bereits zu Bett, da trat der Gymnasialprofessor ein und ließ sich neben dem Tisch nieder. Er schien gerührt und etwas verlegen. »Du gehst jetzt in die große Welt, Gustav, vergiß auch dort nicht die Lehren Deines Elternhauses. Du wirst allerhand Menschen kennen lernen, vergiß nie, daß Du ein evangelischer Christ und ein Deutscher bist.«

Gustav murmelte etwas Unverständliches zwischen den Kissen hervor.

Der Gymnasialprofessor erhob sich und schritt im Zimmer auf und ab. Er räusperte sich etliche Male, blieb beim Waschtisch stehen, stellte das Glas von der einen auf die andere Seite und fuhr schließlich fort: »Eine der Eigenheiten, die uns Deutsche besonders günstig von den anderen Nationen unterscheidet, ist unser schönes reines Familienleben.« Er stockte, sah sich hilfesuchend im Zimmer um. Gustav grinste boshaft. »Du wirst, wie ich Dir bereits sagte, allerlei Menschen treffen ... Menschen ... ich meine ... nicht nur Männer. Die Gefahren der Großstadt ... Nicht alle Frauen gleichen Deiner lieben Mutter und Deinen Schwestern. Es gibt auch ...« Er stockte abermals.

»Huren!« ergänzte Gustav gelassen. »Ich weiß schon, was Du sagen willst, Vater. Mache Dir keine Sorgen um mich. Ich kann Weiber ohnehin nicht leiden, sie vergeuden einem die kostbare Zeit, und lernen kann man von ihnen auch nichts. Außerdem ist es ein wissenschaftlich viel umstrittener Punkt, ob es gesünder sei, Enthaltsamkeit zu wahren, oder nicht, Forel zum Beispiel widerspricht dem Professor ...«

Der Gymnasialprofessor war bis zur Tür geflohen, nun riß er sie auf. »Gute Nacht, Gustav,« unterbrach er den Sohn, »gute Nacht, Johannes!« – –

Johannes war wieder ernst geworden; er gedachte des Kameraden, der nun durch die Nacht fuhr. Morgen würde er in Berlin eintreffen. Gustav begann nun sein eigenes Leben. Die ganze Welt lag vor ihm und viele, lange Jahre, in denen er sich mit dieser Welt auseinandersetzen konnte. Wie gelassen war er diesem Gedanken gegenüber! Für ihn bedeutete die Welt seine geliebte Wissenschaft, er blickte nicht nach links, nicht nach rechts, ging eine gerade, ebene Straße zwischen zwei hohen Mauern dahin, hielt sich fern vom Leben, blieb den Menschen gegenüber fremd. Doch ihn störte dieses Fremdsein, das Johannes so quälte, nicht im geringsten. Er sah die Menschen gar nicht, ahnte nichts von ihren Schmerzen, ihrem Glück.

In einem Jahr würde dann auch er selbst hinausziehen in die Welt; er atmete tief auf. War es nicht wie ein Sprung in ein ungeheures schwarzes Meer mit drohenden Wogen? Würde seine Kraft nicht versagen? Und wohin würden ihn die Wogen treiben, wohin strebte er? Er war anders geartet als Gustav, sein Studium konnte ihm nicht alles bedeuten. Was wollte er eigentlich? Er dachte an Lene: »Ich will den Menschen helfen, für die bessere Welt kämpfen,« hatte sie unlängst gesagt. Sie glaubte an einen Sieg. Ihrer trotzig frohen Natur behagte der Kampf. »Den Menschen helfen«, ja, das wollte auch er, doch mußte er hierzu ihnen nicht erst näher kommen?

Ein Helfen von oben herab widerstrebte ihm. Man mußte inmitten der Masse stehen, mit ihr, nicht nur für sie kämpfen. Anatol Silberblatt kam ihm in den Sinn, der schrieb begeisterte Briefe aus Berlin: »Ich nehme Teil an der Arbeiterbewegung, wir treiben Propaganda, halten Versammlungen ab, klären die Massen auf. Es sind viele Russen an der Universität, die verstehen sich auf revolutionäre Arbeit. Es ist gut, daß Du ein Jahr in der Schule erspart hast, komm' bald zu uns.« Der glaubte auch an seine Arbeit, an die Erreichung des Zieles, an die angewendeten Mittel. Propaganda? Seit Jahrzehnten wurde Propaganda getrieben, wurden Versammlungen abgehalten, die Massen aufgeklärt. Und dennoch waren die Armen heute elender, die Entrechteten geknechteter denn je. In den Händen der Wenigen lag das Schicksal der Vielen; der Reichtum des Landes floß nicht, ein gesegneter Strom, durch alle Schichten, sondern lastete als erdrückende Bürde auf darbenden, abgearbeiteten Leibern. Der in Jahrhunderten errungene Fortschritt war kaum zu bemerken. Ging dies derart weiter, so wurden Generationen um Generationen geopfert, ehe das Reich der Gerechtigkeit kam. Was aber konnte an Stelle der Propaganda durch das Wort gesetzt werden? Verschwommen durchzuckte ein Satz sein Gehirn: »Die Propaganda durch die Tat!« Nein, auch die Tat des einzelnen brachte keine Rettung, was hatten Kaliajews, Sasonows heldenmütige Handlungen Rußland genützt? Sie hatten erreicht, daß eine verängstete, um Leben und Güter bangende Bourgeoisie sich noch enger zusammenschloß, eine kompaktere Masse bildete, die noch schwerer zu bekämpfen war. Wie, wodurch konnte der Sieg errungen werden?

Johannes warf einen Blick durchs Fenster. Wie kalt und grausam der Mond am Himmel stand! Glich er nicht einem unbarmherzigen Herrscher, der gelassen und fühllos, sich seiner Macht bewußt, auf die ringenden, leidenden, gefolterten Untertanen herabsah? Eine kleine Wolke wurde vom Wind gegen den Mond getrieben, für einen Augenblick verschwand er, dann zeigte er triumphierend, mit bösem Grinsen, von neuem seine boshafte, totstarre Fratze. Ein seltsames Gefühl überkam Johannes: würde es den Wolken gelingen, dieses bosheitsatmende Gebilde zu vernichten? Gespannt starrte er zum Himmel hinauf. Wolke um Wolke warf sich gegen das furchtbare Gesicht, zerstob vor den fahlen Strahlen, die gleich Lanzen in das flaumige Wolkenweiß stachen. Im Westen jedoch ballten sich schwarz und gewitterdrohend immer mehr Wolken zusammen. Von allen Ecken und Enden des Himmels kamen sie nun geflogen, Wind erhob sich, eine gewaltige, schwarze Masse wälzte sich gegen den Mond vor. Ein Blitz zerriß den Himmel. Und nun hatte die schwarze Masse den Mond erreicht, sie überflutete ihn, riß ihn in ihr dunkles, brodelndes Meer. Er verschwand. Ein heftiger Donnerschlag dröhnte durch die Nacht, heulend warf sich der Sturm gegen die Häuser. Das Gewitter hatte gesiegt!

Zwölftes Kapitel.

Lene Selder stieg rasch die Treppen hinauf, die in der großen Berliner Mietskaserne zum vierten Stock führten. Das Gebäude lag in einem ärmlichen Viertel, in die enge Gasse fiel keine Sonne, und an diesem kalten winterlichen Vormittag erschienen Gasse und Häuser besonders trostlos. Eine unordentliche, ungekämmte Frau scheuerte die Treppe: »Herr Selder, der wohnt im vierten Stock, die zweite Tür links.«

Lene klopfte. Keine Antwort. Sollte Johannes noch schlafen? Sie klopfte abermals, dann rüttelte sie an der Klinke.

Die Tür des Nebenzimmers wurde geöffnet, ein dunkler Kopf schaute heraus: »Er ist nicht daheim, kommt gegen Mittag zurück. Herrgott, Lene! Was machst denn Du hier?«

»Anatol! Wohnst Du denn auch hier? Laß mich hinein, ich bin eben mit dem Frühzug angekommen und ganz durchgefroren.«

Anatol Silberblatt trat auf den Korridor; er sah müde und verschlafen aus. »Wie kommst denn Du nach Berlin?«

Sie lachte ein wenig befangen. »Ich bin durchgegangen.«

»Ja, aber ...«

»Ich erzähle Dir alles, laß mich nur ins Zimmer, mich etwas erwärmen.«

»Komm', aber ich bin nicht allein.«

Sie folgte ihm. Das Zimmer war in einen blauen Rauchnebel gehüllt; am Schreibtisch saß ein älterer Mann mit leicht ergrautem Haar und schrieb, auf dem Sofa lümmelte ein jüngerer Mensch.

»Wir haben Besuch bekommen,« verkündete Anatol, »eine von daheim durchgegangene junge Dame. Kerner, das ist Selders Schwester, von der wir Dir schon öfter erzählt haben. Savin, mach' Platz, sie ist müde von der Reise.«

Der ältere Mann reichte Lene ohne aufzusehen die Hand, und der junge Russe schnellte eilig vom Sofa auf. »Wir kennen Sie schon ganz gut, Fräulein, Johannes hat oft von Ihnen gesprochen. Wie kalt Ihre Hände sind! Gib den Schnellsieder her, Anatol, wir müssen ihr Tee kochen.«

Etwas verwirrt sah sich Lene in der Stube um; auf dem ungemachten Bett türmten sich Zeitungen, Bücher bedeckten den einzigen Tisch, Zigarettenstummel und Asche lagen am Boden. Sie blickte verstohlen nach den Insassen des Zimmers. Anatol hatte sich ein wenig verändert, sein Gesicht war etwas härter, energischer geworden, die Augenlider und Ränder waren leicht gerötet, als ob er zu wenig schlafe. Der Mann am Schreibtisch mußte ein Deutscher sein, ein gutmütiges, verwittertes Gesicht mit unzähligen Runzeln und Falten; ein scharfer Zug um den Mund verlieh ihm einen Ausdruck tiefer Traurigkeit, der im Widerspruch mit den frohen blauen Augen stand, die sich eben vom Papier hoben und Lene freundlich zulächelten. Savin stand am Waschtisch, spülte ein Glas aus, machte sich mit der henkellosen Teekanne zu schaffen; seine Bewegungen waren leicht und geschickt, wie die einer Frau. Savin, der Name deuchte Lene bekannt. War das nicht der junge Russe, der aus dem Moskauer Gefängnis entflohen war, über den ihr Johannes geschrieben hatte?

Anatol warf etliche Zeitungen auf den Fußboden, um Platz zu machen, und setzte sich aufs Bett. »Was willst Du denn eigentlich hier machen, Lene?«

»Ich weiß noch nicht,« gestand sie etwas verlegen, »hoffe Gustav überreden zu können, daß er mich bei sich behält.«

Anatol lachte. »Gustav! Das einfachste ist, Du gehst zu ihm, richtest Dich dort häuslich ein, er hat ohnehin zwei Zimmer, der Kapitalist, redest erst nicht lange. Nach drei Wochen wird er vielleicht bemerken, daß Du da bist. Dann kannst Du ihm einreden, Du wärest schon immer dagewesen, er hätte es bloß vergessen gehabt.«

»Ist er so beschäftigt?«

»Beschäftigt! Sag' lieber verrückt. Den ganzen Tag hockt er im Laboratorium und abends sitzt er bei seinen Büchern bis spät in die Nacht hinein. Wir waren unlängst bei ihm, Johannes und ich, er war sehr freundlich, freute sich ungemein, uns zu sehen; nach fünf Minuten aber sagte er: »Geht Ihr nicht bald fort, liebe Kinder? Ich habe zu arbeiten.«

Savin reichte Lene ein Glas Tee. »Sie müssen müde sein. Fräulein, nehmen Sie doch Ihren Hut ab. Anatol, wirf ein Kissen her, sie sitzt unbequem.« Er stopfte ihr das Kissen in den Rücken, breitete eine Decke über ihre kalten Füße, zündete ihr eine Zigarette an. Und wieder dachte Lene, er ist wie eine Frau so besorgt und gütig; ich hatte mir russische Revolutionäre ganz anders vorgestellt.

Inzwischen war Anatol an den Schreibtisch getreten und besprach sich halblaut mit Kerner.

Lene kam sich einsam und verloren vor; heimliche Sehnsucht nach dem verhaßten Elternhaus überkam sie. Was wollte sie hier unter diesen fremden Leuten? Sie fühlte zu ihrem großen Ärger, daß ihr Tränen in die Augen stiegen, unterdrücktes Schluchzen preßte ihr die Kehle zusammen.

Savin schien ihre Stimmung zu erraten; er schob die Teekanne vorsichtig fort und setzte sich auf die Tischkante. »Es kommt Ihnen merkwürdig vor, nicht wahr? Ein wenig fremd und unheimlich? Sie dürfen nicht traurig sein, Fräulein, in einer Woche werden Sie sich hier schon zu Hause fühlen. Johannes wird sich freuen, Sie zu sehen. Ich glaube, er hatte immer Heimweh nach Ihnen.«

Die weiche slawische Stimme tat ihr wohl; sie fühlte ihren Mut zurückkehren.

»Wir werden auch bald Arbeit für Sie finden,« fuhr der junge Russe fort, »Sie gehören doch zu uns?«

»Freilich! Nur ... ich bin so unerfahren ... Weiß gar nicht ...«

Er lächelte. »Wir werden Sie einmal in die Arbeiterviertel führen, Fräulein. Wenn Sie erst die Kinder gesehen haben: rachitisch, verkümmert, mit blassen alten Gesichtern, verschreckten hungrigen Augen, und die Frauen, die gar keine Frauen mehr sind, sondern Lasttiere, ausgearbeitete Maschinen, dann werden Sie schon wissen, um was es sich handelt.«

Er hatte ganz leise gesprochen, um Anatol und Kerner nicht zu stören, aber ein eisiger Zorn tönte aus seiner Stimme, eine mühsam beherrschte Wut; die grauen Augen blitzten.

»Ich möchte ja so gerne helfen,« sagte sie schüchtern.

»Sie werden auch helfen. Bisher kennen Sie alles nur aus Büchern; wenn Sie aber das Elend wirklich sehen werden, und daneben den Reichtum, die eleganten Straßen, die Müßiggänger, und wissen werden, für jeden dieser Gecken, jede dieser vornehmen Damen verbluten Hunderte ihr Leben, werden jeder Glücksmöglichkeit beraubt, jedes Menschenrechtes, dann werden Sie auch nicht mehr bedauern, Ihr behagliches Heim aufgegeben zu haben.«

Lene lächelte unwillkürlich. »Gar so schön war es nicht,« meinte sie ehrlich. »Nun hängt für mich alles von meinem Bruder ab.«

»Ihr Bruder ist ein merkwürdiger Mensch,« entgegnete Savin. »Vollkommen weltfremd. Er weiß gar nicht, was um ihn herum geschieht. Trotzdem kann ich ihn gut leiden, er hat ein ausgesprochenes Gerechtigkeitsgefühl. Neulich wurde in einer Fabrik ein Arbeiter höchst ungerechterweise entlassen. Ein Mann, der sechs Kinder zu versorgen hat. Ihr Bruder, der wegen einer kleinen Erfindung, die er gemacht hat, mit dem Fabrikanten in Unterhandlungen stand, erfuhr von dem Fall, und brach die Unterhandlungen ab, erklärend, er wolle mit solchen Schweinen nichts zu tun haben.«

»Gustav?« rief Lene freudig erstaunt.

»Ja, aber seine Begründung war charakteristisch: ein solcher Mensch schändet die Wissenschaft und darf daher aus ihr keinen Nutzen ziehen.«

Beide lachten. Savin schenkte ihr noch ein Glas Tee ein. »Ist Ihnen jetzt wärmer?« Sie nickte. »Auch in der Seele?« »Ja, woher wußten Sie, wie mir zumute war?«

Er wurde ernst. »Auch ich stamme aus dem verdammten Bourgeoismilieu und weiß, wie viel wir abzustreifen haben; das gesicherte, ruhige Leben hängt wie Kletten an uns, behindert jede Bewegung. Und wir können uns nicht mit einem Ruck freimachen, müssen tagtäglich von neuem dagegen ankämpfen. Bisweilen beneide ich Menschen wie Kerner.«

Sie sah fragend zu ihm auf.

»Ein gewesener Arbeiter; jetzt ist er Sekretär des Metallarbeiterverbandes. Der Mann kennt nur eines: die Arbeiterbewegung. Das ist sein Leben, sein Glück, seine Hoffnung.«

Anatol trat an die beiden heran: »Komm, Lene, wir wollen Johannes von der Universität abholen. Der wird erstaunt sein, wenn er Dich sieht.«

Gustav ließ sich von der Schwester unerwartetem Erscheinen keineswegs in Aufregung versetzen. Er blickte von seinen Büchern auf, nickte ihr zerstreut, freundlich zu: »Du, Lene? Das ist nett, daß Du mich besuchst. Setz' Dich, nur einen Augenblick, ich bin gleich fertig.«

Aus dem Augenblick wurde eine halbe Stunde. Endlich schloß Gustav das Buch und wandte sich der Schwester zu. »Ist die Mutter auch hier?«

»Die Mutter? Nein.«

»Haben sie Dich allein nach Berlin gehen lassen? Das wundert mich.«

»Sie wissen doch gar nicht, daß ich hier bin, glauben ich sei auf dem Lande bei Ilses Schwiegereltern.«

Gustav bewahrte seine Ruhe. »So, und was treibt Dich denn eigentlich hierher?«

»Ich konnte es daheim nicht mehr aushalten! Du weißt doch, wie es ist. Und ich habe gedacht ... Gustav, lieber guter Gustav ... Laß mich bei Dir bleiben.«

»Bei mir?«

Sie setzte sich auf die Lehne seines Stuhles, streichelte ihm das Haar, schilderte in beweglichen Worten ihr eintöniges, unerträgliches Leben im Elternhaus, schmeichelte, bettelte.

Er blickte sie bekümmert an. »Warum heiratest Du denn nicht? Du bist recht hübsch geworden, hast auch eine anständige Mitgift. Du müßtest doch einen Mann finden können.«

Lene lachte etwas weinerlich.

»Erstens hat mich noch niemand haben wollen, und dann heiraten? Ein Leben führen wie Ilse, bei der sich alles um das Kind und ihren gräßlichen Adolf dreht? Laß mich hier bleiben, ich werde Dich gar nicht stören.«

»Nicht stören! Heute abend habe ich durch Dich schon anderthalb Stunden verloren.«

»Das war bloß heute, bis wir alles besprochen haben. Gustav, ich bitte Dich.«

»Stoß nicht an den Schreibtisch, Du bringst meine Papiere in Unordnung. Mußt Du denn ausgerechnet bei mir wohnen? Du kannst doch in eine Pension gehen, ich werde Dich jeden Sonntag besuchen.«

»Das werden die Eltern nie zugeben.« Nun weinte sie wirklich, eng an den Bruder geschmiegt. Er streichelte ungelenk das krause Haar. »Paß doch auf! Du weinst mir meine Abhandlung naß. Neben mir ist noch ein Zimmer frei, dort könntest Du wohnen.«

»Wie gut Du bist!«

»Warte, nicht so ungestüm; erst müssen wir allerlei Abmachungen treffen.

Du kannst mit mir frühstücken, darfst aber dabei nicht sprechen; das zerstreut mich. Tagsüber bin ich nicht zu Hause, da soll sich Johannes um Dich kümmern oder seine Freunde. Am Abend können wir zusammen essen, aber Du mußt Dir ein Buch nehmen und den Mund halten. Meinen Schreibtisch rührst Du nicht an, darfst auch keine dummen Fragen stellen, wie: ›Was arbeitest Du jetzt?‹ oder ›Was bedeutet diese Formel?‹ Nach dem Abendessen hast Du mich in Ruhe zu lassen. Bist Du einverstanden?«

»Ja, ja; danke, lieber, guter Gustav.«

»Und jetzt geh' zu meiner Wirtin und erkläre ihr alles. Sage auch, daß Du meine Schwester bist, sonst glaubt sie Gott weiß was. Heute habe ich für Dich keine Zeit mehr, gute Nacht.«

»Ja, aber Gustav ...«

»Was denn noch?«

»Du mußt auch den Eltern schreiben. Wenn Du sie bittest, mich hier zu lassen, so werden sie es gestatten; sie halten so viel von Dir. Und sie sollen meinen Koffer nachschicken, gepackt ist er schon.«

»Auch das noch!« Er warf einen verzweifelten Blick auf die Uhr. »Noch eine verlorene halbe Stunde. Na, gut, aber jetzt geh'.«

Vor dem Schlafengehen blickte Lene zum geöffneten Fenster hinaus. Unzählige Lichter stachen in den dunklen Nachthimmel, zitterten, flackerten durch die Luft. Schwere, schwarze Häusermassen breiteten sich wuchtig aus, Wagen rasselten, Automobile rasten schrillend durch die Straßen; die große Stadt keuchte und blies schwarzen, stickigen Atem empor. Dem Mädchen ward schwer ums Herz; all diese unzähligen Häuser, und in den Häusern Menschen um Menschen. Schöne, vornehme Räume, in denen Reichtum wohnte, armselige Zimmer, in denen sich Armut klein machte, Spelunken, stinkende Schenken, in denen sich das Elend duckte. Das letzte Wort warf jäh ein Bild in ihr Gehirn; geducktes Elend, ja das ist sprungbereites Elend, wie ein Raubtier, das zusammengekauert alle Muskeln zum Sprunge strafft. Geduckt: wie lange noch? Und das gewaltige Tier schnellt muskelentspannt auf den Feind?!

Sie schauderte zusammen und schloß das Fenster.

Dreizehntes Kapitel.

Wenige Tage nach Lenes Ankunft in Berlin holte Johannes sie eines Abends ab. »Wir wollen Boris Isralew besuchen; er liegt wieder zu Bett.«

»Wer ist Boris Isralew?«

»Einer meiner besten Freunde und unserer fähigsten Köpfe. Bei ihm wirst Du auch unseren ganzen Kreis kennen lernen.«

Sie hängte sich in ihn ein. »Du hinkst noch immer?«

»Der Arzt meint, das würde nie ganz vergehen, sobald ich müde werde, schleife ich den Fuß nach. Ich bin heute den ganzen Tag herumgelaufen.«

»Es war wirklich Pech, daß Du Dir vorigen Winter beim Schlittschuhlaufen den Fuß brechen mußtest.«

»Ja, außerdem ist das Hinken ein ›besonderes Kennzeichen‹, falls man einmal von der Polizei gesucht werden sollte.«

»Johannes! Was habt Ihr vor?«

»Aha, Deine ostpreußische Bourgeoisseele erbebt bei Erwähnung der Polizei. Du bist doch noch ein rechtes Kind. Übrigens, Savin möchte Dich schon zur Arbeit heranziehen. Ist's Dir recht?«

»Natürlich, was soll ich tun?«

»Er wird selbst darüber mit Dir sprechen.«

Sie gingen durch die frostige Winternacht. Ihre Schritte hallten scharf vom Trottoir wider. Nach einer Viertelstunde erreichten sie ein großes Haus.

»Boris wohnt im fünften Stock.«

Sie betraten ein geräumiges Mansardenzimmer, das Lene auf den ersten Blick mit Menschen erfüllt deuchte. Die alte Befangenheit überkam sie von neuem. In einem Bett an der Wand lag ein abgezehrter Mann mit grauem Haar, das schlecht zu seinem noch jungen Gesicht paßte. Johannes zog Lene ans Bett. »Das ist Boris. Boris, ich habe Dir meine kleine Schwester gebracht.«

Boris Isralew drückte dem jungen Mädchen kräftig die Hand. »Wir haben Sie schon erwartet. Setzen Sie sich, Genossin.«

Lene gehorchte; halb scheu, halb neugierig sah sie sich in der Stube um. Hier war es behaglicher als in Anatols Zimmer; auf Regalen standen unzählige Bücher, einige Bilder hingen an den Wänden, meist Porträte, darunter Männer in russischer Arrestantentracht; auf einem kleinen Tisch summte ein Samowar, sogar ein rotblühender Geranienstock schmückte das Zimmer. Sie ließ ihre Augen über die Anwesenden schweifen. Auf dem einzigen Lehnstuhl saß eine weißhaarige alte Frau mit feinen, vornehmen Zügen; sie plauderte angeregt mit Kerner, der ihr etwas zu erklären schien. Savin disputierte in einer Ecke mit einem blonden jungen Menschen. Ein alter, weißbärtiger Mann wärmte sich vor dem kleinen Ofen. Anatol fehlte.

Savin kam zu Lene herüber. »Sie wollen wohl wissen, wer die Leute sind? Bei uns gibt es kein feierliches Vorstellen, man lernt sich mit der Zeit kennen.«

Boris wurde verlegen. »Verzeihen Sie, ich vergaß ganz, daß Sie niemanden kennen. Erkläre Du, Savin, mich ermüdet das Reden.« Seine Stimme war heiser, er hustete. »Haben Sie sich erkältet?« fragte Lene unüberlegt. Boris lachte ein wenig. »Das gerade nicht, ich bin der unvermeidliche schwindsüchtige russische Jude, der in jedem revolutionären Kreis vertreten sein muß.«

Lene errötete heftig. Savin kam ihr zu Hilfe: »Also Deine Persönlichkeit ist schon erklärt, Boris. Wer interessiert Sie von den anderen am meisten?«

»Die alte Dame dort drüben, sie paßt so gar nicht hierher, sieht so ruhig aus, so ...« Sie stockte.

»Vornehm, wollten Sie sagen, Sie Tochter der Bourgeoisie. Sie scheinen auch noch zu glauben, daß Revolutionäre unbedingt wie Raubmörder aussehen müssen. Diese alte Dame ist die Liebe Ihres Bruders Johannes; hat er Ihnen nicht von ihr erzählt?«

»Nein.«

»Sie heißt Frau von Reuter, damit Sie über alles unterrichtet sind, und ist geborene Engländerin. Sie war an einen inzwischen verstorbenen Ministerialrat verheiratet; guter preußischer Adel, schreiben Sie's Ihrem Herrn Vater zur Beruhigung.« Er lachte boshaft und Lene warf ihm einen zornigen Blick zu. »Ich schreibe meinem Vater überhaupt nicht.«

»Ungeratene Tochter!«

»Ja, aber wie kommt diese Frau ...?«

»Zu uns verruchten Bösewichtern? Sie scheint sich in der feudalen Umgebung recht unbehaglich gefühlt zu haben; ihre einzige Freude war ihr Sohn. Ein lieber, netter Junge, er ist vor einem Jahr gestorben. In ihrer Trauer hat sich die alte Dame verzweifelt an seine Freunde geklammert, und diese Freunde waren eben wir. Außerdem sagt ihr, sie ist eine Engländerin vom guten, alten liberalen Schlag, das preußische System so gar nicht zu. In vielen Dingen kommt sie freilich nicht mit, aber in den Hauptsachen verstehen wir einander sehr gut. Dort drüben geht's übrigens eben hitzig zu; hören wir, was es gibt.«

Der junge blonde Mensch rief eben heftig: »Sabotage ist Verbrechen, mit Gewalt ist nichts auszurichten, nur die Evolution vermag uns weiterzubringen.«

»Dummer Esel!« brummte Savin halblaut.

»Sabotage scheint mir unrichtig,« meinte die alte Dame, »weil sie eine Verschwendung guten Materials bedeutet, doch kann sie im gegebenen Moment ebenso angebracht sein wie jede Gewalt.«

»Gnädige Frau,« der junge blonde Mann dämpfte die Stimme und lächelte liebenswürdig, »der historische Materialismus ...«

»Bitte, lassen Sie mich mit Ihrer Theorie in Ruhe, Philipp, Sie wissen, ich verstehe nichts davon, begreife nur, was meine alten Augen in siebenundsechzig langen Jahren gesehen haben. Und was ich sah – es war weiß Gott nichts Schönes –, hat mich gelehrt, die Gerechtigkeit müsse mit allen Mitteln erzwungen werden. Geht es nicht anders, sogar mit Gewalt.«

»Gewalt ist das Übel,« tönte vom Ofen her eine tiefe singende Stimme, »Gewalt ist böse. Lasset den Geist der Liebe eindringen in alle Herzen, dann wird das Reich des Herrn kommen über Nacht.«

»Unser Prophet,« flüsterte Savin Lene zu, »ein russischer Rabbiner. Bei einem Pogrom wurden vor seinen Augen seine Frau und seine beiden Kinder erschlagen. Seitdem ist er ein wenig wirr im Kopfe.«

»Wer ist der Blonde?« fragte Lene.

»Ein guter Kerl, aber ein großer Dummkopf. Der typische deutsche Revisionist. Ein Mensch, der imstande ist, alles herzugeben, und nicht weiter denken kann als bis zum morgigen Tag. Überhaupt, die deutschen Genossen ...!«

»Sei nicht ungerecht, Savin,« Boris Isralew wandte sich dem Kameraden zu, »sie haben gute Arbeit geleistet.«

»Aber der Schwung fehlt ihnen, das heilige Feuer, die Vision. Sie kleben an der Erde. Sozialismus ist nicht nur Lohnfrage, philosophische Theorie. Sozialismus ist in erster Linie Religion! Die Deutschen sind zufrieden, wenn sie die Wunden der Menschheit mit Pflastern verkleben können, hier ein Gesetzlein, dort ein Gesetzlein. Aber das strömende Blut stößt die Pflaster ab, und der Organismus verblutet. Es ist ein Unglück für die Welt, daß ausgerechnet die Deutschen in der ›Internationale‹ die führende Rolle spielen.«

»Patriot!« lachte der Kranke. »Sollen die Russen sie übernehmen?«

»Nicht unbedingt, vielleicht die Italiener!«

Boris schüttelte den Kopf. »Flammengeister, ohne die nötige Tiefe. Ich glaube an die Deutschen. Wenn es einmal ernst wird, so werden sie die Probe bestehen.«

Savin zuckte die Achseln. »Einige Auserwählte, hinter denen dann die ganze Meute herkläffen wird. Die ›Partei‹ nicht.« –

Das Gespräch ward allgemeiner, Lene lauschte schweigend. Unverständliche Worte schlugen gegen ihr Ohr, fremde Begriffe stürmten auf sie ein. Unwillkürlich dachte sie an ihr Elternhaus zurück. Um diese Stunde saß der Vater über seinen Heften, und die Mutter nähte und stopfte. Ihr Heim erschien ihr als ein kleines Eiland im tobenden, aufgepeitschten Ozean, dessen Bewohner taub sind gegen das Gebrüll der Wogen, das Heulen des Sturmes. Wie viele solche Eilande gab es in Deutschland, wie viele Menschen, die sich auf ihnen gedankenlos sicher wähnten! –

Als eine kleine Pause im Gespräch eintrat, wandte sie sich an Savin: »Johannes sagte, Sie hätten für mich Arbeit?«

Er nickte. »Erst muß ich Sie tüchtig in die Schule nehmen. Sie sind ja leider grenzenlos unwissend. Später schicken wir Sie dann zu den Frauen, Propaganda treiben.«

»Mich?« Lene war ehrlich erschrocken.

»Ja, Sie sehen trotz der dunklen Haare und Augen so unverkennbar arisch aus. Ihnen kann man nicht alle Lehren mit einem ›Saujud‹ widerlegen.«

Sie schwieg etwas verlegen, er lachte. »Ja, das kommt häufig vor, auch Johannes ist es schon passiert.«

Die Tür wurde aufgerissen, Anatol trat hastig ein. »Kinder, es geht los, auf dem Balkan!«

»Das dürfte uns wenig berühren,« meinte Philipp gelassen.

»Ist ein Verbrechen kein Verbrechen, weil es auf einem anderen Erdteil geschieht?« warf Frau von Reuter vorwurfsvoll ein. Einen Augenblick herrschte Stille. Dann schrie der alte Jude schmerzlich auf: »Mord und Elend! Verbrechen und Sünde! Die Flammen verzehren das Haus, und ein böser Wind treibt sie näher und näher. Wer bewahrt uns vor der Feuersbrunst, wenn des Nachbarn Haus in Flammen steht?«


»Wie sehr Du Dich verändert hast, Johannes,« bemerkte Lene, da sie den Heimweg angetreten hatten, »daheim warst Du so still und verschlossen, erwecktest immer den Eindruck eines Fremden, der sich in ungewohnter Umgebung unbehaglich fühlt.«

»Das tat ich auch,« gab er zu, »die Luft daheim engte mir die Brust ein. Und dann, so ruhelos war mir zumute, als dürfe ich bloß einen Augenblick rasten, müßte dann fort, immer weiter und weiter. Wohin? Ich wußte es selbst nicht.«

»Und jetzt?«

»Jetzt ist mir, als hätte ich heimgefunden. In Boris' kleiner Stube fühle ich mich zu Hause. Die Menschen sind mir vertraut, ich empfinde ein Zugehörigkeitsgefühl zu ihnen, sie reden meine Sprache. Sogar den alten Rabbiner Löw verstehe ich.«

»Es ist doch schrecklich, daß auf dem Balkan Krieg ist.«

Er nickte.

»Was hat der alte Mann mit den Flammen gemeint?«

»Er faselt immer von einem Weltkrieg, der die Ruchlosigkeit der Menschen strafen wird. Aber das ist bei uns ausgeschlossen. Das Proletariat in allen westlichen Ländern würde aufstehen wie ein Mann, am Tage der Kriegserklärung hätten wir den Weltstreik.«

»Glaubst Du?«

»Ich bin davon überzeugt!«

Sie waren vor Lenes Wohnung angelangt.

»Kommst Du noch mit hinauf?«

»Nein, es ist zu spät, gute Nacht.«

Lene trat in des Bruders Zimmer. »Gustav, auf dem Balkan ist der Krieg ausgebrochen!«

Er blickte nicht einmal auf. »So, das ist doch kein Grund, um mich zu stören. Was geht mich der Balkankrieg an?«

Lene konnte lange nicht einschlafen. Als sie dann doch endlich in unruhigen Schlummer verfiel, quälte sie ein böser Traum. Sie sah den alten Abraham Löw auf einem hohen Berge stehen und wehklagend auf die Ebene deuten. Ein gewaltiges Feuermeer wälzte sich zischend, lodernd vorwärts, seine Wogen überfluteten Dörfer und Städte, züngelnde Flammen griffen nach den Himmeln. Sie erwachte mit klopfendem Herzen; unbestimmte Angst preßte ihr die Brust zusammen. Halb noch im Schlaf murmelte sie wie eine tröstliche Zauberformel vor sich hin: »Bei uns ist das ausgeschlossen. Der Weltstreik ...«

Vierzehntes Kapitel.

Der Zug pustete durch die graue Vorfrühlingslandschaft. Märzsturm griff mit wuchtigen Händen nach den Rauchwolken und zerriß sie in dünne Streifen, die er über den blaßblauen Himmel jagte. Der große Fluß, endlich von seinen Eisketten befreit, war in unbändigem Freiheitsdrang über die Ufer getreten, überschwemmte die Ebene, die, farblos in die Fluten übergehend, einem einzigen ungeheueren Meer glich. Mürrische Kiefern streckten sich verschlafen, warfen die winterlichen Nadeln ab, schlanke Birken, noch unbelaubt und dennoch frühlingsduftig und frisch in ihren weißen Gewändern, reckten sich der liebkosenden blassen Sonne entgegen. Am Horizont durchschnitt in scharfer Zickzacklinie ein Schwarm Wildenten die Luft.

Lene beugte sich weit aus dem Kupeefenster; seltsam wehmütige Freude erfüllte sie ganz. Wie schön war doch die Heimat, von einer trostlosen, bitteren Schönheit, die sich einem mehr ins Herz stahl, als gesegnetere, süden-begnadete Gegenden. Auch ein wenig bang war ihr zumute; nach anderthalb Jahren fuhr sie zum erstenmal heim. Die Mutter war mit Ilse, die im Winter krank gewesen, in den Süden gereist, und Lene sollte sie daheim ersetzen. Sie verließ ungern Berlin, doch fühlte sie, auch ihr würde eine kurze Rast wohltun; Johannes und seine Freunde hatte ihre Arbeitskraft redlich ausgenützt; jede Stunde des Tages hatte eine Beschäftigung mit sich gebracht. Savin war über ihre Abreise empört gewesen; hatte prophezeit, sie werde sich vom trägen Bourgeoisleben einfangen lassen, womöglich heiraten, zumindest verändert, unbrauchbar wiederkommen.

Lene lächelte, als ihr dies einfiel. Das letzte Jahr hatte sich mit seinen Erlebnissen und Bildern in ihre Seele eingebrannt. Träumerisch versuchte sie die stärksten Eindrücke zurückzurufen; Bilder, Stimmungen kehrten wieder, so lebendig, daß sie völlig vergaß, wo sie sich befand.

Der erste Mai in Berlin; strahlender Sonnenschein, ein tiefblauer Himmel. »Kaiserwetter«, sagte ein behäbiger Bürger zu seiner Frau, vergessend, daß dieser Tag einem anderen Herrscher geweiht war, dem enterbten, einzig berechtigten Herrscher der Welt, dem Volke, das sich alljährlich einmal seiner Herrscherwürde bewußt wird. Die Linden entlang kam der Zug, endlos, unübersehbar, Kopf an Kopf. Organisation folgte auf Organisation, die Hände, deren Arbeit die Welt schafft und erhält, ruhten; nicht wie sie am Sonntag ruhen, gedankenlos, trägmüde; nein, mit einer gewissen Würde und Kraft, mit dem Bewußtsein ihrer Macht ruhten sie an diesem, ihrem eigenen Feiertag. Lene entsann sich einer Gruppe, die sie besonders ergriffen hatte – die der »Scheuerfrauen«. »Frauen«, das Wort klang wie Hohn auf diese Geschöpfe angewandt. Unförmige, gebeugte, vom Rheumatismus verkrümmte Wesen, erschöpfte bleiche Gesichter, aufgequollene Leiber schleppten sich mit schweren Schritten dahin, rotblaue, gesprungene Hände hingen matt herab. Und dennoch, auch in diesen müden Augen lag ein Feiertagsglanz, leuchtete Machtbewußtsein; heute waren sie nicht einzelne, überarbeitete, unterernährte Arbeitstiere, heute hatten sie ihren Platz gefunden, waren ein Teil der gewaltigen Masse geworden, deren Forderungen und Hoffnungen zum lenzlichen Himmel aufgeschrien. Organisation um Organisation, Menschen um Menschen, alle von einem Gefühl beseelt, von einem Gedanken getragen. Und an der Spitze des Zuges wehend im Wind das Symbol des Martyriums, das Symbol der Hoffnung, der großen Vereinigung – die rote Fahne.

Das Symbol des Martyriums! Ein Winterabend kam Lene in den Sinn, den sie mit Johannes und Anatol bei Boris Isralew verbracht hatte. Sie waren in der Dämmerung rauchend um den kleinen Ofen gesessen und Boris, der sich wohler fühlte als gewöhnlich, hatte von der russischen Arbeiterbewegung, von ihren Führern und Helden gesprochen.

»Erzähle Lene von Deinem Leben im Gefängnis, das macht dieser unerfahrenen Seele einen ungeheuren Eindruck,« sagte Johannes.

»Ich war ja nur vier Jahre in der Schlüsselburg,« meinte Boris ausweichend.

»Nur vier Jahre!« rief Lene.

»Wissen Sie denn nicht, daß viele unserer Kameraden zwanzig und vierundzwanzig Jahre gefangen waren?« Und nun erzählte er. Vor ihren Augen ragte die trostlose Festung auf der öden Nevainsel auf, von schwerem Nebel eingehüllt, ein Ort des Grauens, des Wahnsinns und des Todes. Aber auch ein geheiligter Ort. Hinter diesen undurchdringlichen Mauern, in Einzelzellen, führten die Besten des russischen Landes ein gefoltertes Leben. Etliche zerbrach die Schwere des Schicksals, die ewige Einsamkeit verwirrte ihren Geist, andere starben freiwillig, um ihren Gefährten zu helfen, auf schauerliche Art. Die meisten jedoch bewahrten sich Kraft und Mut, auch wenn ihre Körper zugrunde gingen. »Die frommen Katholiken des Mittelalters,« meinte Boris, »glaubten, die Heiligkeit der Klöster entsühne die sündige Welt, und die Gebete der Mönche und Nonnen verdichteten sich zu einem Schleier, der schützend zwischen Gottes Zorn und den Menschen schwebte. Was im Mittelalter die Klöster gewesen sind, das waren für Rußland die Gefängnisse. Diese Orte der Qual und des stummen Heldentums entsühnten das Land und bewahrten die Idee vor dem Tode. An der unendlichen Liebe, an der heißen Freiheitsglut unserer Märtyrer entzündeten sich Hunderte von jungen Kämpfern. Jeder Gefangene war eine heimliche Fackel, die die Nacht erhellte und den Weg zur Zukunft wies.«

»Deshalb wird auch Rußland, das Land der höchsten Leiden, das Reich der Zukunft sein, aus dem Licht in alle Länder der Erde dringen wird,« bemerkte Johannes leise.

»Ex oriente lux,« sagte Anatol. »Einmal ist dort das Licht schon aufgeflammt, doch gelang es den Feinden, es zu verlöschen. Lodert es abermals empor, dann wird es so gewaltig sein, daß es alle Länder überschwemmen und die Nacht endgültig vertreiben wird.«

Der Gymnasialprofessor war selbst auf den Bahnhof gekommen, um seine Tochter abzuholen. Er deuchte Lene gealtert, verdrossener denn sonst, obschon er anscheinend über das Wiedersehen erfreut war. Im ersten Augenblick waren beide befangen, standen einander fremd gegenüber. Eine junge Frau stieg aus dem anstoßenden Kupee, Herr Selder grüßte ehrerbietig, half ihr die Tasche aus dem Abteil nehmen und war über die Ablenkung sichtlich froh.

Gemächlich schritten Vater und Tochter durch die Straßen, Herr Selder fragte nach Gustav, erzählte von Ilse und der Mutter. Lene antwortete schier mechanisch. Staunend betrachtete sie die Gebäude, wie klein und eng doch alles war. Ihr schien, als sei die ganze Stadt zusammengeschrumpft.

»Wer war die schöne Frau, die Du auf dem Bahnhof gegrüßt hast?« fragte sie, als eine kleine Verlegenheitspause entstand.

»Die junge Gräfin Stramwitz. Graf Heinz hat vor einem Jahr geheiratet. Leider hat er sich eine Italienerin ausgesucht, seine Eltern waren darüber verzweifelt. Diese Rassenmischung heutzutage ist eine böse Sache. Es kommt ein fremdes Element in ein rein deutsches Haus. Sie hat auch einen ganz verrückten Namen, Gioia, oder so etwas ähnliches.«

»Das bedeutet ›Freude‹, wie hübsch!«

»Es gibt doch bei uns schöne Mädchen genug,« fuhr der Gymnasialprofessor fort, ohne ihren Einwand zu beachten. »Wohlerzogene deutsche Mädchen, geeignetere Mütter für den künftigen Majoratsherrn, als diese Fremde. Ich würde meinen Kindern niemals gestatten, einen Nichtdeutschen zu heiraten.«

»Armer Vater,« dachte Lene, »Deine Kinder werden Dich nicht fragen.«

Sie waren daheim angelangt. Als Lene die Zimmer durchschritt, vermeinte sie nie fortgewesen zu sein. Alles war unverändert. Das rote Plüschalbum lag noch immer auf dem großen Tisch in der Wohnstube, der Mutter Nähkorb stand daneben. Auch die Menschen waren die gleichen, hier in der kleinen Stadt war die Zeit stehen geblieben. An den Kaffeetischen wurden noch immer die alten Themen erörtert: Dienstbotennot, Verlobungen, Hochzeiten, Geburten und Todesfälle. Man las die »Gartenlaube« oder die »Woche«, blieb von jedem politischen Ereignis unberührt, freute sich höchstens, wenn ein neuer Kaiserenkel geboren wurde.

Eine Woche nach ihrer Ankunft begegnete Lene dem alten Pastor. Er ging mit ausgestreckten Armen auf sie zu. »Der ist auch kleiner geworden,« dachte das Mädchen, die verhutzelte alte Gestalt betrachtend.

Der alte Mann fragte nach Johannes, konnte nicht genug von seinem Lieblingsschüler hören. »Die jetzigen Schüler machen mir gar keine Freude; ich glaube, sie lachen mich heimlich aus,« meinte er wehmütig, »ich verstehe auch die heutige Jugend nicht mehr.«

Wieder einer, sagte sich Lene ungeduldig, den der Fortschritt stört. Doch schämte sie sich dieses Gedankens, da der alte Mann fortfuhr: »Sie hat gar keine menschlichen Ideale mehr. Zu meiner Zeit haben wir mit siebzehn und achtzehn Jahren für die Freiheit und die Menschenrechte geschwärmt, wenn wir auch später brave Spießbürger geworden sind. Heute glaubt die Jugend an Militarismus und Handel. Dazu ist sie so egoistisch geworden, so verständnislos. Und diesen nüchternen Köpfen soll ich Liebe predigen. Freilich, sie kommen auch nie in meine Predigt. Aber daran mag ich schuld sein; ich bin wohl zu langweilig.«

Die gütigen alten Augen sahen so ehrlich betrübt drein, daß Lene sich schwor, jeden Sonntag in die Kirche zu gehen.

»Wie ist denn die Jugend in der großen Stadt, mein Kind?« fragte er. »Sie kennen bestimmt viele von Johannes Freunden.«

Sie waren unterdessen unbemerkt beim Pfarrhaus angelangt. Der alte Mann zog Lene in den kleinen Garten. Sie setzten sich auf eine Bank in die Sonne, ein uralter Schäferhund humpelte hinkend herbei und rieb den Kopf gegen die Knie seines Herrn.

Lene erzählte von Johannes und den Freunden; sie wurde eifrig. Seit einer Woche durfte sie zum erstenmal reden, ohne vorerst jedes Wort reiflich zu überlegen. Der alte Pastor hörte interessiert zu, nickte beistimmend mit dem weißen Kopf. »Ihr nennt es Sozialismus,« meinte er schließlich, »wir haben es Christentum genannt. Es kommt wohl auf dasselbe heraus. Gott ist die Liebe und die Liebe ist Gott. Wohl uns, wenn wir diesen schlichten Satz erfassen können. Aber«, die alte Stimme wurde jählings hart und schneidend, »was haben wir aus dem Christentum gemacht? Einen Mantel, um unsere Verbrechen zu decken, eine Fahne, unter der wir gegen die heiligsten Gebote sündigen. Die Händler haben den Tempel geschändet und an das Kreuz, von dem sie den Heiland gerissen haben, schlagen sie die Armen. Wann wird der Herr kommen und die Verruchten austreiben?«

Der alte Mann hatte sich erhoben. Plötzlich war jede greisenhafte Schwäche von ihm abgefallen, die kleine Gestalt schien zu wachsen und eine seltene Würde anzunehmen.

Das Mädchen blickte ihn teilnehmend an und dachte: »Merkwürdig, wie er doch jetzt dem alten Abraham Löw, dem Rabbiner, gleicht.«

Fünfzehntes Kapitel.

Im kleinen Pfarrhausgarten stand der hübsch gedeckte Kaffeetisch mit der altmodischen dickbäuchigen silbernen Zuckerdose und den kleinen, zierlichen Meißener Täßchen, die noch von des Pastors Mutter stammten. Der alte Mann trippelte mit kleinen Schritten geschäftig hin und her, schnitt von seinen geliebten Rosenstöcken die schönsten Blüten und legte sie, nachdem er sorgsam die Dornen entfernt hatte, auf das blendend weiße Tischtuch. Lene Selder saß in einem tiefen Korbsessel und sah lächelnd seinem Treiben zu.

»Jetzt ruhen Sie sich aber aus, Herr Pastor,« sagte sie schließlich. »Alles ist wunderschön und Sie dürfen sich nicht müde machen, bevor der Besuch kommt.«

Der alte Mann legte ihr eine schöne Rose auf den Schoß. »Zum Dank, daß Sie gekommen sind, um mir zu helfen. Die arme, fremde, kleine Frau wird sich freuen, jemanden zu finden, mit dem sie französisch sprechen kann. Mit ihrem Deutsch hapert's immer noch ein wenig.«

Er setzte sich neben Lene. »Seien Sie recht freundlich zu der jungen Frau, ich glaube, das arme Kind fühlt sich hier sehr verlassen und fremd. Ich kümmere mich ja nicht um das Geschwätz der Leute, aber man hört doch so allerlei.«

»Wie ist Heinz Stramwitz auf die Idee verfallen, eine Italienerin zu heiraten?«

»Er hat sie in Florenz kennen gelernt. Die Großmutter der jungen Frau war eine weitläufige Verwandte der Stramwitz.«

Die alte Haushälterin kam eilfertig gelaufen, ihr freundliches rotes Gesicht glühte vor Aufregung: »Die Herrschaften kommen!« rief sie atemlos ....

Der alte Pastor ging seinen Gästen entgegen, während er sie begrüßte, betrachtete Lene die beiden mit Interesse. Heinz Stramwitz hatte sich wenig verändert, das war noch dasselbe herrische, arrogante Gesicht, der gleiche kalte Blick. Seiner hohen, gutgewachsenen Gestalt fehlte jede Biegsamkeit. Wie er mit dem alten Mann spricht! dachte Lene empört. Diese liebenswürdig herablassende Art, wie zu einem Untergebenen. Dann fiel ihr Blick auf die junge Frau. Gioia, Freude, wie der Name zu ihr paßte! Alles an dieser schlanken Gestalt schien Lebensfreude zu atmen, die warmschimmernden rotbraunen Haare, die großen, leuchtenden braunen Augen, der frische rote Mund. »Armes Kind,« meinte Lene bei sich, »was tust Du in unserer nüchternen, farblosen Gegend?«

Gioia Stramwitz schien ein wenig befangen. Artig, wie ein schüchternes Kind, beantwortete sie des alten Pastors Fragen. Sie sprach fehlerlos deutsch, doch redete sie langsam, etwas stockend, als ob sie die Worte suchen müsse. Heinz Stramwitz begrüßte Lene höflich, erkundigte sich nach Friedrich und Gustav.

Die Stimmung am Kaffeetisch war eine frostige, unbehagliche, das Gespräch stockte stets von neuem und der alte Pastor warf Lene hilfesuchende Blicke zu. Diese wandte sich an die junge Frau. »Vielleicht sprechen Sie lieber französisch, Gräfin?« Sofort leuchteten die braunen Augen auf. »Sie sprechen französisch? Wie schön! Da können wir richtig miteinander plaudern.«

»Du sollst Dich doch endlich daran gewöhnen, deutsch zu sprechen, Gioia!« warf ihr Mann etwas ungeduldig ein.

Sie blickte fast ängstlich zu ihm auf. Der alte Pastor legte sich ins Mittel: »Kommen Sie, Graf, Sie wollten ja meine Bienenstöcke sehen; wir lassen die beiden Damen hier.«

Heinz Stramwitz folgte dem alten Mann in die Richtung des Hofes, und Gioia wandte sich lebhaft in französischer Sprache an Lene. »Woher können Sie französisch? Und weshalb habe ich Sie noch nie gesehen?«

Lene lächelte über den Eifer der jungen Frau. »Französisch kann ich noch aus meiner Schulzeit; es ist auch danach. Was Ihre zweite Frage anbetrifft, ich bin seit anderthalb Jahren zum erstenmal wieder daheim.«

»Wo leben Sie?«

»In Berlin.«

»Waren Sie je in Italien?«

»Nein.«

»Schade, ich möchte so gerne mit jemanden zusammenkommen, der Italien kennt und liebt.« Heißes Heimweh klang aus der weichen Stimme und Lene fragte teilnahmsvoll: »Sehnen Sie sich sehr in Ihre Heimat zurück?«

»Mein Gott, wie sehr! Hier ist es ja auch sehr schön,« warf sie halb erschrocken ein, besorgt, die Heimatsliebe des Mädchens verletzt zu haben. »Aber alles ist so farblos, so kalt. Und dieser endlose Winter! Ich bin ganz verzweifelt geworden, als ich die Sonne so lang nicht sah. Auch diese große, graue Ebene ist so traurig. Bei uns gibt es freundliche Landschaften, so blau, mit weich verschwimmenden Hügeln; hier ist alles scharf und kantig, genau wie die Menschen!« Abermals blickte sie verlegen zu Lene auf: »Verzeihen Sie, ich wollte nichts Böses über Ihre Landsleute sagen.«

Lene lachte. »Sie dürfen es ruhig tun, auch ich finde die Leute hier entsetzlich. Haben Sie viele Bekannte?«

Gioia nickte betrübt. »Sehr viele, Heinz hat ja so unzählige Verwandte. Wir haben viel Besuch und ich weiß nie, was ich mit den Leuten reden soll; Kinder habe ich keine, ich weiß vom Berliner Hofleben nichts und anderes interessiert sie nicht. Mir tun die Leute leid, ihr Leben ist so arm, und es gibt doch so viel Schönes auf der Welt!«

»Schönes?« Lene hatte das letzte Jahr ihres Lebens so viel Elend und Not, Häßlichkeit und Ungerechtigkeit gesehen, daß ihr diese Behauptung recht gewagt klang.

»Ja, natürlich, Bilder, schöne Bauten, Gärten, ein Sonnenuntergang, der San Miniato in Gold taucht, wie ein Märchenschloß. Und Musik und Farben und frohe Menschen.«

Lene runzelte die Stirn. »Und an die vielen Menschen, die nichts Schönes im Leben haben können, an die Armen denken Sie gar nicht, Gräfin?«

Gioia wurde still. »Halten Sie mich für einen schlechten Menschen?« fragte sie mit kindlichem Ernst. »Das macht das Leben hier ja noch viel trauriger. Wie die Menschen leben! Ganze Familien in eine Stube gepfercht, und arbeiten von sechs Uhr früh bis spät abends. Und wie die Gutsbesitzer ihre Leute behandeln, wie die Sklaven, Heinz ...« Sie brach ab, wurde dunkelrot und fuhr dann hastig fort: »Ich möchte mich so gerne mit den Leuten auf dem Gut anfreunden, ihnen helfen, aber sie sind entsetzlich mißtrauisch gegen mich, voller Ehrfurcht, sie sprechen zu mir, als ob ich ein höheres Wesen wäre. Und dann kann ich schlecht Deutsch, da fällt es mir doppelt schwer, den Leuten begreiflich zu machen, daß ich sie lieb habe und nicht dulden will, daß ihnen Unrecht geschieht.«

Mit nachsichtiger Überlegenheit hatte Lene zugehört; ein gutes, liebes Kind, dachte sie. Der Ton jedoch, mit dem Gioia die letzten Worte sprach, ließ sie aufhorchen. Sie wollte etwas erwidern, aber in diesem Augenblick kehrten die beiden Männer zurück.

»Eine Musterbienenwirtschaft hat der Herr Pastor,« bemerkte Heinz Stramwitz gnädig. »Wenn das Gesindel hier nicht so faul wäre, könnte es sich auf diese Art eine hübsche Summe machen.«

Lene ärgerte der hochmütige Ton, sie wollte etwas entgegnen, der alte Pastor jedoch schien dies zu erraten. Er legte ihr begütigend die Hand auf den Arm. »So, Lenchen, jetzt kommt der Tugend Lohn,« er kramte in seinen weiten Taschen und zog eine Schachtel Zigaretten hervor. »Die kleinen Mädchen von heute rauchen ja alle.«

»Bitte, geben Sie mir auch eine,« bat Gioia. Ihr Mann machte ein ärgerliches Gesicht. »Das ist bei uns nicht Sitte, liebes Kind,« bemerkte er schroff.

»Ich meine, es ist keine so große Sünde, ein wenig Rauch in die Luft zu blasen,« begütigte der Pastor.

Gioia warf ihm einen dankbaren Blick zu und sagte in ihrer hübschen, stockenden Art: »Ich wollte Sie etwas fragen, Herr Pastor. Der kleine Sohn unseres Müllers ist krank, er soll in der Sonne liegen. Wo kann ich hier einen guten, weichen Liegestuhl bekommen? Ich habe schon vergeblich in allen Geschäften gesucht.«

»Meine Frau posiert auf die Menschenfreundin,« meinte Heinz Stramwitz spöttisch, »das wird ihr schon vergehen, wenn sie erst sieht, wie undankbar das Gesindel ist. Man darf die Leute nicht verwöhnen, sonst werden sie frech. Aber meine Frau will das nicht einsehen. Sie macht bei jedem kranken Knechtskind Geschichten, als ob es sich um unsereins handeln würde. Dabei schadet es doch wirklich nichts, wenn so ein schmutziger Fratz daraufgeht, die Leute kriegen ja ohnehin jedes Jahr ein anderes, wie die Kaninchen.«

Lene war nicht mehr zu halten. »Würden Sie von Ihren eigenen Kindern auch so sprechen, Graf Stramwitz?« fragte sie mit zornbebender Stimme.

Er sah sie verblüfft an: »Das ist doch ganz etwas anderes, Fräulein Selder.«

Lene blickte verstohlen nach Gioia. Die junge Frau war ganz blaß geworden, sie biß sich in die Unterlippe und warf ihrem Mann einen haßerfüllten Blick zu. Das liebe, gute Kind dürfte gar nicht so zahm sein, dachte Lene schadenfroh, die wird dem braven Heinz noch recht unbequem werden.

Der alte Pastor streichelte beschwichtigend die schmale, weiße Hand der jungen Frau: »Ich werde Ihnen den Liegestuhl verschaffen, Gräfin.«

Gioia hielt die gütige alte Hand fest. »Sagen Sie nicht ›Gräfin‹, lieber Herr Pastor, und auch Sie, Fräulein Selder, nennen Sie mich Gioia. Sie beide sind die ersten wirklichen Menschen, die ich hierzulande getroffen habe!«

Peinliches Schweigen folgte diesem Ausbruch. Dann begann der alte Mann hastig von gleichgültigen Dingen zu sprechen. Als der Wagen vorfuhr, bat Gioia Lene, sie recht bald zu besuchen. »Schon morgen, kommen Sie zum Mittagessen und bleiben Sie den ganzen Nachmittag.«

Als die beiden fortgefahren waren, setzte sich der alte Pastor mit einem Seufzer der Erleichterung neben Lene.

»Die Frau gefällt mir,« meinte sie.

Er nickte; sein freundliches, runzliches Gesicht wurde traurig: »Armes Kind! Armes Kind!« –

»Du scheinst verrückt geworden zu sein, Gioia,« herrschte Heinz Stramwitz seine Frau an, als der Wagen die Chaussee entlang rollte, »Du vergißt, daß diese Leute nicht zu unserem Kreis gehören. Der alte Pastor ist ein braver Mann, und auch Herr Selder ist höchst ehrenhaft, aber immerhin, es sind doch Bürgerliche. Mit denen ist man hierzulande nicht so intim!«

»Sie gefallen mir jedenfalls viel besser, als Deine Verwandten und Freunde,« entgegnete Gioia trotzig.

»Ich sage ja nicht, daß Du mit ihnen nicht liebenswürdig sein sollst, aber Du kannst doch nicht das Gefühl haben, daß sie zu uns gehören,« meinte er etwas milder, »ihr im Ausland nehmt die Sache leider viel zu leicht. Bei uns hingegen versteht man den nötigen Abstand zu wahren.«

Sie hatte seine letzten Worte nicht beachtet. »Zu uns gehören,« wiederholte sie nachdenklich, »ich gehöre ja auch nicht zu euch, Heinz.«

»Als meine Frau gehörst Du in unseren Kreis. Außerdem brauchst Du nicht gar so bescheiden sein. Auch Deine Familie ist von gutem, alten Adel. Die Forragianis wurden bereits im fünfzehnten Jahrhundert geadelt. Und dann noch eines: Diese Lene Selder soll in Berlin in einem unmöglichen Milieu verkehren, Sozialisten, Juden, Anarchisten und wie diese Leute heißen mögen. Ich möchte nicht, daß Du Dich von ihren Ideen beeinflussen läßt. Ich weiß, es gilt auch bei einigen unserer Kreise für modern, liberale Ansichten zu haben, ich jedoch dulde das in meinem Hause nicht. Es hat noch kein Mitglied der Familie Stramwitz gegeben, das sich Liberalismus zuschulden kommen ließ, und es soll auch keines geben.«

Gioia schwieg. Daheim angelangt eilte sie in ihren kleinen Salon. Über dem Flügel hing ein großes Bild von Florenz. Mit heimwehschweren Augen betrachtete sie die schlanken Türme, die in den sonnigen Himmel strebten, die sanften Hügel, welche die Stadt einrahmten. Dann warf sie durchs Fenster einen schier feindseligen Blick auf die große Ebene. Ja, sie haßte dieses Land, haßte seine Gräue und Eintönigkeit, und auch die Menschen haßte sie, diese harten, kantigen Menschen mit ihren beschränkten Ideen, ihrem törichten Hochmut. »Ich gehöre nicht zu euch,« schluchzte sie auf, das Gesicht in die Hände vergrabend, »werde nie zu euch gehören, und will es auch nicht.«

Sie sank aufs Sofa und weinte bitterlich. Über ihr lächelte im sonnigen Glanz Florenz, die Stadt der Blumen und der Helle, in das dunkelnde Zimmer.

Sechzehntes Kapitel.

Tannenduft durchzog das Haus, im Wohnzimmer schmückte Frau Selder den Weihnachtsbaum, während Friedrich in einen Lehnstuhl hingelümmelt von seiner Garnison erzählte. Gustav, Johannes und Lene waren am vorhergehenden Abend eingetroffen; Herr Selder hatte diesmal auf einem »trauten Weihnachtsfest« bestanden, das alle im Elternhaus vereinigte. Bis auf Friedrich, der sich äußerst gut mit dem Vater verstand, waren sie widerstrebend gekommen. Lene, die einen besonderen Grund hatte, den Eltern etwas Liebes zu erweisen, hatte die beiden jungen Männer mit vieler Mühe überredet, mit ihr zu fahren.

Nun saßen sie alle drei in Lenes Zimmer. Gustav gähnte laut. »Eine teuflische Einrichtung, diese Familienfeste. Was haben eigentlich die Eltern davon, wenn wir uns nun hier langweilen? Daß Du herkamst, Lene, begreife ich noch, Du willst Deine letzte christliche Weihnacht feiern.«

Lene lachte, dann wurde sie ernst. »Wenn ich daran denke, wie sehr ich die Eltern kränken werde, ist mir gar nicht heiter zumute.«

»Warum tust Du es dann; hast Du eine solche Leidenschaft für Anatol?«

Sie gab ihm keine Antwort, starrte in die Schneeflocken hinaus, die ein heftiger Wind gegen das Fenster peitschte. Leidenschaft schien bei ihrer Liebesgeschichte wirklich keine Rolle gespielt zu haben. Sie hatten sich derart aneinander gewöhnt, daß sie sich das Leben nicht mehr anders vorstellen konnten. Die ganze Sache war höchst einfach und prosaisch gekommen. Vor drei Wochen saß sie bis spät in die Nacht bei Anatol, der ihr einen Artikel in die Schreibmaschine diktierte; als sie sich erhob, um heimzugehen, meinte er: »Es ist wirklich langweilig, daß Du immer fortgehen mußt; bisweilen fällt mir in der Nacht etwas ein, das am Morgen noch erledigt werden müßte, dann bist Du natürlich nicht da.«

»Daran ist leider nichts zu ändern.«

Er schaute sie nachdenklich an. »Bist Du eigentlich schon einundzwanzig?«

»Ja, seit Ostern. Weshalb?«

»Du bist also Dein eigener Herr?«

»Gott sei Dank!«

»Dann sehe ich wirklich keinen Grund, weshalb wir nicht heiraten sollten.«

Sie starrte ihn an. »Heiraten?«

»Warum bist Du so erstaunt? Wir vertragen uns gut, ich kann mir keine bessere Sekretärin vorstellen, außerdem bist Du recht nett.«

»Aber ...«

»Entschließe Dich, Lene,« drängte er, »es ist wirklich schon spät.«

»Du könntest mir wenigstens sagen, daß Du mich lieb hast und mir einen Kuß geben,« meinte sie vorwurfsvoll.

»Verzeih, das hab' ich ganz vergessen, das versteht sich ja auch von selbst.« Er küßte sie auf die frischen roten Lippen, seine Augen irrten von ihrem Gesicht zu dem Manuskript: »Du hast Dich schon wieder vertippt, dort, in der zweiten Zeile.«

Nein, er war kein leidenschaftlicher Bräutigam, aber wenn Lene an ihn dachte, wurde ihr dennoch froh ums Herz. Er war ihr bester Freund und der Mensch, dessen unbeugsamen Willen und zähe Arbeitskraft sie am meisten bewunderte. Da beide wußten, Lenes Eltern würden in diese Heirat niemals einwilligen, hatten sie beschlossen, sich im Januar trauen zu lassen und es erst als vollzogene Tatsache der Familie Selder mitzuteilen.

Johannes und Gustav erfuhren die Verlobung bereits am nächsten Tag. Gustav nahm die Ankündigung mit seiner gewohnten Ruhe auf. »Um so besser, dann werde ich wieder ungestört arbeiten können.« – –

Johannes Stimme unterbrach Lenes Gedanken. »Nun ist Savin schon in Rußland.«

»Ja, schade, daß er fortfuhr. Er hätte ebensogut in Berlin bleiben können.«

»Er wollte die deutsche Nüchternheit loswerden, wieder einmal revolutionäre Luft atmen.«

»Hoffentlich bleibt er nicht zu lang fort.«

Gustav dehnte sich: »Ich gehe schlafen, das ist ja nicht zum Aushalten vor Langweile.«

Die ganze Familie war um den Christbaum versammelt, auch Ilse mit ihrem Mann und den zwei Kindern hatte sich eingefunden. Lene war still und ein wenig gedrückt, Gustav verbarg nur mit Mühe seine Langeweile. Herr Selder sah sich mit stolzer Rührung im Kreis der Seinen um. »So hat uns das heilige Fest wieder alle vereint. Wie schön ist doch der Gedanke, daß an diesem Abend in unserem Vaterland allüberall der Christbaum brennt und aller Herzen des Herrn gedenken.«

»Es gibt auch etliche hunderttausend Einwohner, die keine Christen sind,« bemerkte Gustav mit unnötiger Genauigkeit.

Der Gymnasialprofessor warf ihm einen strafenden Blick zu. »Ich spreche nur von unseren Volksgenossen, die anderen zählen nicht.«

Friedrich hatte sich Lene genähert. »Die Mutter erzählte mir, Du seiest mit der jungen Gräfin Stramwitz sehr befreundet. Du könntest mich mitnehmen, wenn Du das nächstemal dort Besuch machst. Ich kenne ja ihren Mann.«

»Gioia lernt nicht gerne fremde Leute kennen.«

»Gioia, Du nennst sie Gioia? So intim seid ihr? Du bist doch klüger, als ich dachte, verstehst gute Verbindungen anzuknüpfen. Vielleicht laden sie Dich einmal nach Berlin ein. Sie führen ein großes Haus, sogar der Kronprinz verkehrt bei ihnen.«

Ilse klagte halblaut ihrer Mutter. »Adolf hat so viel Ärger mit seinen Untergebenen. Die Leute werden täglich frecher. Das macht ihn furchtbar nervös. Und gerade jetzt, wo ich das Kind erwarte ...«

Johannes hatte sich in eine Ecke zurückgezogen und betrachtete die Szene. »Trauliche Weihnachten!« Wie fremd waren sich doch alle diese Menschen, wie wenig verstanden sie einander. Er gedachte der vielen Weihnachtsabende, die er in diesem Haus verbracht hatte. Stets war es das gleiche gewesen, erzwungene Feststimmung. Die alte Kindertraurigkeit befiel ihn. So hatte er als kleiner Knabe in einer Ecke gehockt, fremd unter Fremden. Draußen im Leben, wo es Arbeit gab, kannte er dieses Gefühl nicht mehr, dort hatte er seinen Platz gefunden, hatte die Menschen gefunden, zu denen er gehörte.

Die Männer der Familie hatten sich zusammengesetzt, Ilse und Frau Selder spielten mit den Kindern. Lene hatte unbemerkt das Zimmer verlassen. Einzelne Worte drangen zu Johannes herüber. Er hörte Friedrichs schnarrende Stimme: »Disziplin ... Ordnung halten ... Die verdammte rote Bande ...« Und Adolfs heiseres Organ: »Mit Maschinengewehren dreinfahren ...« »Unser Kaiser wird schon mit ihnen fertig werden,« das war der Gymnasialprofessor ... »Ja, Mama, die kleine Annie kann schon ganz richtig singen, ich habe sie den Weihnachtspsalm gelehrt ... Willst Du ihn nicht Großmama vorsingen, mein Herzchen?« Friedrich wurde warm: »Dieser verdammte faule Friede! Deutschland geht daran zugrunde. Und die anderen Nationen werden immer übermütiger. Wir brauchen einen frisch fröhlichen Krieg, dann ...« Die kleine Annie hatte sich aufgestellt, sie hielt die Händchen gefaltet und sang mit ihrer schrillen dünnen Kinderstimme: »Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!«

Siebzehntes Kapitel.

Wenn sich der Bergbach dem Abhang naht, über den er als tosender Wasserfall in die grausige Tiefe stürzt, so eilen die kleinen Wellen, treiben eine die andere mit wilder Hast vorwärts, springen über Stein und Geröll, als könnten sie es nicht erwarten, in die fremde unheimliche Tiefe zu stürzen, als riefe sie das Verderben mit lockender Stimme, trügerisches Glück vorspiegelnd, mit sanften Worten Tod und Unheil verschleiernd. Und die kleinen Wellen hasten und jagen, ahnen nicht die Gefahr, ermuntern einander zu immer rascherem Lauf und stürzen hinab, ehe sie sich's gewahr geworden. – –

Derart flogen die Jahre, angezogen von einem unbekannten entsetzlichen Grauen, das in Nacht verborgen auf sie lauerte. Bisweilen zuckte freilich ein Blitz durch die Wolken und wies auf den steil abfallenden Hang, dann warnten einige, die weiser waren, als die andern: wir treiben dem Verderben zu! Die meisten jedoch lachten ihrer und verspotteten sie als Träumer, die am hellen Mittag Gespenster sehen.

Boris Isralew gehörte zu diesen verlachten Propheten. »Seht ihr denn nicht, daß wir uns täglich mehr der Katastrophe nähern?« pflegte er den Freunden zu sagen, »glaubt ihr das Rüsten der Völker, das Hetzen der Presse bedeute nichts, sei belangloses Spiel? Arbeitet, arbeitet, klärt die Massen auf, reißt die Giftblume, die sich Patriotismus nennt, mit der Wurzel aus. Merkt ihr denn nicht, ihr Narren, wie sie in allen Beeten aufwuchert und mit ihrem schwülen Duft die Gehirne der Menschen verwirrt und betäubt?«

Auch Savin schrieb ähnliches aus Rußland: »Es bereitet sich ein Verbrechen vor, das ungeheuerlichste der Weltgeschichte. Unsere Regierung fühlt das Nahen der Revolution, sie wird mit allen Mitteln das Volk ablenken. Wir tun, was wir können, arbeitet auch ihr. Jede Stunde ist von unermeßlichem Wert.«

Die Freunde lachten: »Ihr seid verrückt, ihr Russen. Noch nie stand der Gedanke des Internationalismus auf so festen Füßen. Glaubt Ihr denn wirklich, ein Arbeiter würde gegen den anderen Arbeiter ziehen? Wenn es nottut, ist im Verlauf weniger Stunden in allen Ländern der Generalstreik proklamiert, dann können die Herrscher sich gegenseitig bekriegen, wenn sie es wollen, kein Arbeiter tut mit!«

Am überzeugtesten verfocht Philipp Schermann diese Ansichten, wenn sie im kleinen Kreise zur Sprache gebracht wurden. »Ihr kennt den deutschen Arbeiter nicht, scheint gar nicht zu wissen, welche Kulturhöhe er erreicht hat. Er läßt sich nicht mit faulen Schlagworten fangen, wie dies beim Romanen oder im Osten der Fall sein könnte. Außerdem unterschätzt ihr unsere Führer; kein einziger würde für Kriegskredite stimmen.«

Kerner schüttelte den grauen Kopf. »Der Führer bin ich nicht so sicher. Seit einiger Zeit weht ein ›deutscher‹ Wind durch ihre Reden, auf die Arbeiter jedoch kann man sich verlassen. Der Gegensatz zwischen den Klassen hat sich in den letzten Jahren ungeheuer verschärft; niemals wird das Proletariat für die Herren in den Krieg ziehen. Es wird nur noch einen einzigen Kampf ausfechten – seinen eigenen.« – –

So kamen der Sommer mit Glut und Duft, der Winter mit glitzernder Kälte; mit rasender Schnelligkeit drehte sich das Rad der Zeit, Minute peitschte Minute dem Verderben entgegen.

Der kleine Freundeskreis hatte sich wenig verändert. Lene und Anatol waren verheiratet, und ein kleiner schwarzäugiger Knabe lärmte durch ihre bescheidene Wohnung. Johannes hatte sein Studium beendet und eine Praxis begründet, die ihm allerdings wenig eintrug, da er meist arme Leute zu Patienten hatte. Gustav hatte sich in der Gelehrtenwelt einen guten Namen errungen. Er war noch immer der alte Bücherwurm und vergrub sich nach wie vor in seinen einsamen Zimmern. Friedrich hatte nach der Schwester Heirat völlig mit ihr gebrochen, seine Empörung war grenzenlos und sein ganzes Bestreben darauf gerichtet, vor den Regimentskameraden zu verbergen, daß er eine Schwester habe, die Frau Silberblatt hieß. Er war es auch, der den Zorn der Eltern gegen die ungeratene Tochter stets von neuem bestärkte und darauf bestand, daß ihr die Rückkehr ins Elternhaus verboten werde. Der Gymnasialprofessor freilich brauchte hierzu nicht erst aufgestachelt zu werden, und Frau Selder fügte sich auch hierin seinen Wünschen, wie sie sich ja ihr ganzes Leben gefügt hatte, doch stand in jedem ihrer Briefe an Gustav schüchtern, als Postskriptum, die Frage: »Wie geht es Lene?«

Seit einem halben Jahr war der kleine Kreis um ein Mitglied größer geworden. An einem Dezemberabend hatte es an Lenes Wohnungstür geklingelt, und als sie öffnen ging, stand Gioia Stramwitz auf der Schwelle. »Darf ich bei Euch bleiben?«

»Ja, selbstverständlich, aber ...«

Gioia hielt Lenes Hand fest: »Frag' nicht viel, ich bin totmüde, nimm mich auf. Wir lassen uns scheiden.«

»Na endlich!« rief Lene etwas taktlos und zog die Freundin in das behagliche Wohnzimmer. Allmählich erfuhr sie die ganze Geschichte. »Ich ertrug es nicht länger,« erzählte die junge Frau, die schmal und blaß geworden war. »Konnte nicht mehr mit ansehen, wie Heinz mit seinen Leuten umging. Kannst Du Dir vorstellen, daß er sie schlug – mit dem Stock? Und wenn ich eine Einrede wagte, hieß es: ›Das ist mein Haus, hier geschieht, was ich will!‹ Und dann immer die versteckten und offenen Vorwürfe der Familie, daß ich noch keinen Sohn habe. ›Das schöne Gut, wer soll es denn einmal übernehmen?‹«

»Armes Kind!«

»Ich habe die Zähne zusammengebissen, redete mir ein, es sei meine Pflicht, bei Heinz zu bleiben. Dann aber geschah etwas, über das ich nicht mehr hinwegkommen konnte. Unser Vorarbeiter hatte eine nette, junge Frau, ein liebes, zartes Geschöpf. Die beiden Leute waren so glücklich miteinander, und als die kleine Frau ein Kind erwartete, ging sie immer mit einem ganz verklärten Gesicht umher. An einem Abend, es war ein furchtbares Wetter, Regen und Sturm, kam der Vorarbeiter zu meinem Mann und bat ihn, um den Arzt zu schicken, bei seiner Frau hätten die Wehen begonnen.

›Bei diesem Wetter meine Pferde anspannen und zwei Stunden laufen lassen?‹ schrie Heinz den Mann an. ›Sie sind wohl verrückt geworden?‹ Der Mann blieb ganz ruhig, ich sah, wie ihn die Angst um seine Frau quälte. ›Sie ist eine schwache Frau,‹ sagte er, ›ich bitte den gnädigen Herrn recht herzlich. Frau Gräfin, Sie sind immer gut zu uns gewesen, helfen Sie uns jetzt.‹

Nun baten wir beide, der Mann mit Tränen in den Augen, ich zitternd vor unterdrückter Empörung. Heinz geriet in Zorn: ›Euere Weiber werfen ja wie die Hündinnen!‹ schrie er. ›Heute abend kommt mir kein Pferd aus dem Stall.‹ Und er klingelte und befahl dem Kutscher zu sagen, er solle darauf achten, daß kein Pferd angespannt werde. Lene, des Mannes Gesicht! Diese hilflose Wut, diese Verzweiflung! Ich ging mit ihm zu seiner Frau. Es war eine schreckliche Nacht. Gegen Morgen gebar die Frau ein kleines totes Kind, und eine Stunde darauf starb sie selbst. Der Mann war ganz still, er sagte kein Wort. Nur einmal, als er an mir vorbeikam – ich weinte in einer Zimmerecke –, streichelte er meinen Arm und sagte: ›Weinen Sie nicht, Sie haben alles getan, was Sie konnten, und für die Frau ist es besser, tot zu sein. Der Herr hätte uns ohnehin entlassen, und wo hätten wir so schnell Arbeit gefunden? Die Gutsherren nehmen nicht gern eine Familie mit einem kleinen Kind, weil die Frau dann nicht zur Arbeit gehen kann.‹

Am Vormittag kam Heinz mich holen. Die Stube war voller Menschen, Frauen waren gekommen, um die Tote zu sehen. Ich war wie von Sinnen. Als Heinz eintrat, zeigte ich auf das Bett und schrie ihm ›Mörder!‹ zu. Und als er mich anherrschte, verlor ich den letzten Rest von Selbstbeherrschung. ›Du willst einen Sohn von mir, Du Verbrecher!‹ schrie ich, ›Du wirst mich nicht mehr anrühren. Ich werde Dich beim Gericht anklagen, Du Mörder! Du Mörder!‹

Die Leute drängten sich um uns. ›Komm' nach Haus, Gioia,‹ sagte er erschrocken.

›Ich werde nie mehr Dein Haus betreten.‹ Ich wandte mich an die Leute: ›Gebt nicht zu, daß er mich anrührt.‹

›An die Arbeit, Gesindel, oder ihr seid alle entlassen!‹ brüllte Heinz. Und die Leute schlichen scheu hinaus, bis auf ein paar alte Frauen.

Ich bin auch nicht mehr ins Schloß zurückgegangen. Die Mutter des Müllers hat mich bei sich aufgenommen. Jetzt ist die Scheidung eingeleitet. Meine Eltern sind über mich empört und wollen nicht, daß ich zu ihnen zurückkehre. Da habe ich an Dich gedacht, Lene. Ihr wollt doch die Verbrecher, die Mörder vernichten, nehmt mich auf. Ich muß die tote Frau rächen und die anderen unzähligen Opfer.«

Als Lene den Freunden von Gioia erzählte, nickte Boris Isralew befriedigt. »Aus diesem Holz werden die Fanatiker geschnitzt. Sie soll nur bei uns bleiben. Ich werde darauf achten, daß sie keine unnötigen Dummheiten macht.«

Gioia fügte sich leicht in den Kreis ein. Sie war zu jeder Arbeit bereit, und Anatol, der es verstand, alle Fähigkeiten der Menschen auszunützen, entdeckte gar bald, daß die junge Frau eine vorzügliche Rednerin war. Der lodernde Haß ihrer Worte riß die stumpfsten Zuhörer mit, in kurzen Sätzen reihte sie Bild an Bild, Ungerechtigkeit an Ungerechtigkeit, bis im Saal ein ungeheuerliches Gemälde von Knechtung, Unrecht und Menschenleid aller Augen erfüllte und sich unauslöschlich in die Gehirne einbrannte.

»Die verkörperte Revolution,« meinte ein junger Maler, der sich den Freunden angeschlossen hatte, »so müßte man sie malen. Mit dem rotleuchtenden Haar, das wie Flammen aufloht. Alles ist an ihr Leben, Bewegung, treibender Haß.« –

Sie hatten sie alle lieb gewonnen, freuten sich ihrer Lebenskraft, ihrer Glut. Einem jedoch deuchte sie eine Offenbarung – Johannes. Ihre freudige Lebenslust schien ihm eine erwärmende Flamme. Jede Verzagtheit, jede Mutlosigkeit verging in ihrer Nähe. Die grauen Kinderjahre, das Gefühl der Einsamkeit, die ihn bisweilen noch bedrückten, verschwanden aus seinem Gedächtnis, eine farbenfrohe, leuchtende Welt tat sich ihm auf, ihm war, als habe er endlich die sonnige, beseligende, lang gesuchte Heimat gefunden.

»Sie ist gerade das Richtige für unseren Träumer,« meinte Lene erfreut zu ihrem Mann, »sie wird ihn aufrütteln.«

»Er schaut sie an, wie ein Kind den Weihnachtsbaum,« lachte Anatol, »mit ganz verklärten Augen.«

Johannes aber, der stille und verschlossene, wagte kein Wort, bis sie einmal abends nach einer Versammlung heimgingen. Vor Lenes Wohnung machten sie Halt. Plötzlich erfaßte ihn übermächtig die Sehnsucht nach dieser Frau und ihm war, als müsse er sterben, wenn sie jetzt von ihm ginge. Er hielt ihre Hand fest. »Gioia, geh nicht zu den anderen, komm' mit mir, Du gehörst mir.«

Sie schwieg einen Augenblick. – Da brach alle Sehnsucht des Heimatlosen, alles Verlangen des Einsamen in stammelnden Worten aus ihm hervor. Ungelenke, fast kindische Sätze der Leidenschaft, der Liebe. Und abermals wiederholte er, wie um es sich selbst zu versichern: »Du gehörst mir!«

»Das weißt Du erst jetzt?« fragte sie leise. Nicht nur die Worte, der ganze Ton der warmen Stimme gaben ihm Antwort.

Er schlang in der Dunkelheit die Arme um sie, und so strebten sie nach seiner kleinen Stube. Von draußen dufteten die Linden herein. Ein leiser Wind bewegte den Vorhang am offenen Fenster.


In Sarajewo war der österreichische Thronfolger ermordet worden. »Was geht das uns an? Ein Habsburger weniger,« meinte Philipp Schermann gelassen. Aber Anatol war anderer Ansicht. »Ein günstiger Vorwand für die Kriegspartei.«

»Bei uns ist sie viel zu schwach, um Unheil zu stiften,« behauptete der andere überzeugt, »sie schreit, rasselt mit dem Säbel und wagt doch nichts zu tun, weil sie ganz genau weiß, sie hat im Fall einer Kriegserklärung das ganze Volk gegen sich.«

»Aber in den anderen Ländern,« meinte Lene sorgenvoll.

»England ist aus Vernunftsgründen gegen den Krieg,« entgegnete Frau von Reuter, die, den kleinen Emanuel auf den Knien, am Fenster saß, »es weiß genau, welch ungeheuerer materieller Schaden ihm daraus erwachsen würde.«

»Und in Frankreich sind die Sozialisten zu mächtig, außerdem haben sie dort einen Mann, der die Massen in der Hand hält. Jaurès wird mit allen Kräften den Krieg verhindern.«

Der alte Abraham Löw saß zusammengekauert in einer Ecke. Seit dem Mord von Sarajewo hatte ihn tiefe Traurigkeit befallen. Er schwieg unentwegt, schien die an ihn gerichteten Worte nicht zu hören, starrte mit entsetzten Augen in die Ferne, als ob er dort etwas Furchtbares erblicke.

Ein herrlicher Sommertag strahlte mit sonnenbegnadeter Glut über Berlin. Lene deckte den Tisch und seufzte ein wenig über Anatols Unpünktlichkeit. Boris Isralew, den die Sonne aus dem Zimmer gelockt hatte, stand am Fenster, auch Abraham Löw hatte sich wie gewöhnlich zum Mittagessen eingefunden. »Mir scheint, es werden Extrablätter verkauft,« sagte Boris, »die Leute rotten sich zusammen. Ich werde eines holen gehen.«

»Nein, Boris, Sie sollen nicht die vielen Treppen steigen, Anatol muß ja gleich kommen, dann werden wir alles erfahren.«

»Böses bereitet sich vor,« murmelte Abraham Löw in seiner Ecke.

Die Tür wurde aufgerissen, Anatol erschien, atemlos vom eiligen Gang, sehr blaß. »Jaurès ist ermordet worden!«

»Jaurès!«

Ein Glas entfiel Lenes Händen und zerscherbte auf dem Fußboden. »Unmöglich! ... Wann? ... Wer hat es getan?« ... Fragen überstürzten sich. Dann verstummten alle. Schwere Furcht, böse Ahnungen lasteten über der kleinen Stube. Und plötzlich erhob der alte Mann in der Ecke seine Stimme, sie klang dumpf und verzweifelt. »Wehe, es stehen Fackeln im Winde und leuchten durch die Nacht. Die eine große, hellstrahlende hat der Sturm verlöscht, und die anderen zittern und brennen schwächer und schwächer. Wehe, auch sie werden verlöschen. Nacht bricht herein und treibt aus die Helle. Nacht herrscht allerorten, und durch das Dunkel schreit der Jammer zum ehernen Himmel auf!«

Achtzehntes Kapitel.

Die eine Fackel, die große, hellstrahlende, die seit Jahren in Frankreich geleuchtet hatte, war erloschen. Die anderen bebten im gewaltigen Sturmwind, zitterten, brannten schwächer, immer schwächer – erloschen. Die Nacht des Wahnsinns breitete sich über die Länder, drang in Geister und Seelen. Ätzendes Lügengift spritzte aus Worten und Schriften, lähmte die Gehirne. Herden waren die Menschen geworden, sinnlos verschreckte Herden, denen des Hirten gellender Angstschrei den Wolf verkündet. Besinnungslos trieben sie vorwärts, rissen alle mit, zertraten unter ihren Füßen, wer im irren Lauf nicht Schritt halten konnte. Keiner riß sich los aus der Herde, keiner schrie den Betörten die Wahrheit zu. Wurde wirklich keine Stimme laut oder versank sie im Gebrüll der Masse? Wo waren die Führer? Wo die Männer, deren Geist durch Jahrzehnte die Menge gelenkt hatte? Verkrochen sie sich feige vor dem Sturm, wurden auch ihre Hirne geblendet, wie das des Unwissendsten ihrer Anhänger?

Aus geballten Leidenschaften und niedrigem Neid, aus Ehrgeiz und Habsucht, aus Feigheit und Leichtgläubigkeit formten die Menschen mit eigenen Händen den Moloch, das Ungeheuer mit den tausend Fangarmen und der unersättlichen Gier, das Mordgespenst, Tod und Verderben atmend. Und sie erhoben es, beteten es an, in selbstzerfleischender Raserei und nannten es Vaterland.

Vaterland! Nie mehr wird nach diesen furchtbaren Jahren ein Denkender dies Wort aussprechen können, ohne zu schaudern. Daß zwei heilige Dinge verbunden den Dämon ergeben können, der die Menschheit vernichtet! Vater: Hüter, Pfleger, Schützer der Seinen; Land: gütiger, nährender Boden, korngoldene Felder, Fruchtbarkeit, Segen.

Eine Fackel erlosch nach der anderen, hatten sie jemals gebrannt? In allen Parlamenten stimmten die Vertreter des Volkes für die Kriegskredite, nur in Serbien fanden zwei Männer den Mut, ihre Stimmung dagegen zu erheben und in Deutschland verließ bei der Abstimmung einer den Saal. Ein einziger!

Wo waren die Führer? Blinde und Verräter sprachen zum Volke, Blinde und Verräter drängten sich, des eigenen Vorteils eingedenk um den Kaiser. Schwarze Druckerschwärze spie Geifer unter die Menge.

Der Generalstreik? »Die anderen sollen damit anfangen,« hieß es in jedem Land, »dann werden wir ihrem Beispiel folgen. Wir dürfen unser Land nicht preisgeben.«

Urplötzlich hatten sie alle ein Land, die Menschen, die noch vor Wochen die ganze Welt Heimat genannt und der Grenzpfähle gespottet hatten. Und hatten ein Volk, die früher nur die »Internationale« gekannt. Jene, die außer dem Klassenkampf jeden Kampf zurückgewiesen hatten, sprachen mit volltönenden Worten auf offenem Markte von »unserem« Krieg, forderten Geknechtete, Unterdrückte auf, mit ihren Herren die Brüder zu bekämpfen.

»Gott hat Wahnsinn in die Welt geblasen und keiner vermag sich dessen zu erwehren,« seufzte Abraham Löw, als an einem Abend nach der englischen Kriegserklärung die Freunde bei Lene zusammengekommen waren.

»Wir sind angegriffen worden, wir müssen uns verteidigen!« warf Philipp Schermann ein.

»Wir sind nicht angegriffen worden,« entgegnete Johannes hart, und Gioia rief zornig: »Diese Lügen tragt Ihr ins Volk, um es für den Krieg zu begeistern!«

»Sollen wir unseren Boden den Feinden preisgeben?« fragte Philipp empört.

»Was ist der Boden gegen die Menschen?« Frau von Reuters milde, alte Stimme bebte. »Ich kann gar nicht auf die Straße gehen und die jungen, starken Leute ansehen, die abmarschieren. Rotwangig, stramm, singend schreiten sie einher und sind doch nur Gespenster, Tote, die sich noch als Lebende fühlen. Mir ist zumut, als müßte ich die Züge zum Stehen bringen, welche Menschen, gesunde, lebensvolle Menschen in den Tod tragen.«

»Und keiner tut etwas, keiner,« sagte Anatol düster, »die einen haben den Kopf verloren, die anderen, wie wir, sitzen daheim und jammern.«

»Deutschland ist an dem Krieg nicht schuld! Die Feinde haben ihn uns aufgezwungen!«

»Die Feinde? Philipp, wer sind die Feinde? Die unseligen Proletariermassen, die aus allen Ländern an die Front getrieben werden, oder die Regierungen im eigenen Lande?«

»Er redet schon ganz ›vaterländisch-korrekt‹,« höhnte Anatol. »Die Feinde! Du hast Dich schnell zurechtgefunden, mein guter Philipp.«

»Laß jetzt die dummen Hänseleien.« Philipps frisches Gesicht färbte sich dunkelrot. »Jetzt, wo das Vaterland in Gefahr ist, ist die Zeit des Haarspaltens vorbei. Das haben auch unsere Führer eingesehen und haben für die Dauer des Krieges den Kampf gegen die Regierung eingestellt. Wir können nicht anders handeln, aber die Sozialisten in den anderen Ländern, die es viel leichter haben, als wir, sind zu Verrätern an der ›Internationale‹ geworden.«

»Die Internationale,« meinte Lene sinnend, »klingt das Wort nicht wie ein Hohn? Wir meinten einen unzerstörbaren Bau aufgeführt zu haben, und beim ersten Sturm stürzt er zusammen.«

Der alte Rabbiner blickte wie betäubt im Kreise umher: »Ein stolzer Bau, fest stand der Tempel Jehovahs zu Jerusalem und dennoch ward er zerstört, doch wenn der Herr die Seinen versammelt, wird auch der Tempel wieder aufragen auf dem heiligen Berg. Viele Tränen werden die Mauern reinwaschen und der Schuldlosen Blut wird die Steine aneinanderkitten, wie Mörtel.«

Anatol war aufgeschnellt. »Ich ertrage euer nutzloses Gejammer nicht länger. Johannes, Gioia ...« er zog die beiden in eine Ecke und sprach eifrig auf sie ein.

»Ich habe Boris Isralew zu mir ins Haus genommen,« sagte Frau von Reuter, »als Russe und Revolutionär dürften ihm allerlei Schwierigkeiten drohen, so kann ich ihn mit meinem Namen schützen.«

»Ich hoffe, Sie werden aber auch darauf achten, gnädige Frau,« warf Philipp Schermann ein, »daß er keine kriegsfeindliche Hetze treibt. In diesem Augenblick ...«

»Wenn Sie gegen kriegsfeindliche Hetzer vorgehen wollen, lieber Philipp,« unterbrach ihn die alte Dame mit gelassenem Lächeln, »so müssen Sie bei mir anfangen. Ich leugne es nicht, daß ich bei jeder Gelegenheit gegen den Krieg rede und es auch stets tun werde.«

Philipp Schermann wurde etwas verlegen. »Sie können meinen Standpunkt nicht recht verstehen, gnädige Frau. Sie als geborene Engländerin ...«

»Sie sind es, der es nicht verstehen kann, Philipp. Ich würde in meiner Heimat ebenso handeln. Aber ihr scheint alle vergessen zu haben, daß man nicht nur Deutscher oder Engländer, Österreicher oder Russe ist, sondern in allererster Linie Mensch. Und als Mensch darf man wohl international sein, denke ich.«

Gioia und Johannes schickten sich zum Gehen an, und die anderen folgten ihrem Beispiel. Anatol setzte sich neben seine Frau auf das kleine Sofa. »Lene, die alte Frau hat mich auf einen Gedanken gebracht. Zu den Truppen können wir nicht gelangen, wohl aber zu den Eisenbahnern. Die muß man bearbeiten.«

Sie nickte. »Du willst es versuchen?«

»Ja, sofort. Heute nacht geht wieder ein großer Truppentransport vom Friedrichsbahnhof ab, Kerner hat es mir erzählt, einer seiner Freunde ist dort angestellt.«

»Ich gehe mit Dir.«

»Nein, Lene, die Sache dürfte gefährlich werden. Du darfst nichts riskieren, des Kindes wegen.«

Sie schlang die Arme um ihn. »Und Du? Und Du?«

»Kleine Lene, liebster, bester Kamerad, versuche nicht, mich zurückzuhalten.«

Sie war sehr blaß geworden. »Nein, das tue ich nicht.« Dann fuhr sie leiser, mit nicht ganz fester Stimme fort: »Weißt Du, Anatol, wie glücklich ich all die Jahre mit Dir war?«

Er drückte sie fest an sich.

»Was werden sie Dir tun, wenn sie Dich erwischen?«

»Ich weiß es nicht,« damit erhob er sich.

»Setz' Dich keiner unnötigen Gefahr aus.«

»Nein, Lene, Du wirst für unsere Sache weiterarbeiten, auch wenn ich nicht wiederkommen sollte.«

»Ja.«

Er ging. Sie schaute ihm durchs Fenster nach, verfolgte mit ihren Augen die rasch ausschreitende Gestalt, bis sie ihren Blicken entschwand.

Auf dem Bahnhof herrschte wildes Gedränge, Stimmen klangen durcheinander, eilige Schritte dröhnten in der gewölbten Halle. Keuchende Maschinen bliesen schwarzen Rauch von sich, Wachen schritten auf und ab, blickten mit starren, gelangweilten Gesichtern auf das Treiben.

Plötzlich schien die geordnete Arbeit zu stocken. Alles drängte sich nach einer Stelle, wo auf hoch übereinandergestapelten Kisten ein Mann stand. Sein blasses Gesicht ragte über die vielen ihn umdrängenden Köpfe auf. Laut, mit wilder, verbissener Heftigkeit sprach er zu der Menge:

»Was treibt ihr da? Ihr arbeitet! Wißt ihr auch, was eure Arbeit bedeutet? Mord bedeutet sie, Mord an eueren Brüdern. Ohne euere Arbeit würden die Züge nicht abfahren. Euere Arbeit schleppt die anderen in den Tod, als schlepptet ihr jeden einzelnen an der Hand ins Verderben. Legt die Arbeit nieder! Wie oft habt ihr gestreikt, wenn es sich um eine erbärmliche Lohnerhöhung handelte, heute, da es um Menschenleben geht, könnt ihr euch nicht genug tun an der Arbeit für die Herren. Wie oft fiel in eueren Versammlungen das Wort: »Wir wollen nicht länger für die Herren arbeiten!« Heute mordet ihr für sie. Arbeiter, kein Zug geht ab, wenn ihr es wollt. Gebt das Beispiel! Wenn unsere Brüder in den anderen Ländern, die ihr mit törichtem Nachbeten die ›feindlichen‹ nennt, von euerer Tat hören werden, auch sie ...«

Er wurde von rückwärts zu Boden gerissen; vier Soldaten drangen auf ihn ein. Er wehrte sich aus allen Kräften. Wilde Beschimpfungen prasselten auf ihn nieder. »Schurke!« »Verräter!« »Spion!« »Saujud! Schlagt ihn tot!«

Der diensthabende Offizier trat vor. »Fesselt ihn!«

Der Mann wurde abgeführt.

Die Arbeit nahm ihren Fortgang; Gedröhn, Gerassel, eilende Schritte, Rufe, schrille Pfiffe erfüllten den Bahnhof. In der Nacht schleppten pustende Lokomotiven überfüllte Wagenreihen nach dem Osten.

Neunzehntes Kapitel.

Gustav schob den kleinen Emanuel, der sich mit unwillkommener Zärtlichkeit immer wieder an seine Knie klammerte, sanft aber energisch fort und blickte seine Schwester an. »Du kannst froh sein, daß die Sache Deines Mannes noch so gut abgelaufen ist. Sechs Jahre Zuchthaus sind eine milde Strafe. Und wem verdankt Ihr das?«

»Lieber Gustav, ich weiß, was Du für uns getan hast.«

Er wehrte ungeduldig ab: »Ich spreche doch nicht von mir, obgleich auch meine Freunde ihr Teil dazu beigetragen haben. Das Hauptverdienst jedoch gebührt Friedrich; wenn der sich nicht eine Woche nachher an der Front auszeichnet ... So aber, als Schwager eines ›Helden‹ ist Anatol noch glimpflich davongekommen. Ich möchte nur wissen, warum er eigentlich den Unsinn gemacht hat.«

»Er mußte, Gustav, konnte nicht anders.«

»Merkwürdig; was mir an ihm gefällt, ist, daß er, dieser impulsive Mensch, sich so völlig der Massensuggestion entziehen konnte. Aber er brauchte diese Tatsache doch nicht in alle Welt zu schreien.«

»Sollen wir unsere Überzeugungen verleugnen?«

»Steig' doch nicht gleich aufs hohe Roß. Übrigens, ich bitte Dich, was sind Überzeugungen? Vor fünf Monaten haben wir alle behauptet, es sei ein Verbrechen, einen Menschen zu töten, und jetzt, wenn einer recht viel Morde auf dem Gewissen hat, bekommt er das Eiserne Kreuz.«

»Und Du bist damit einverstanden?«

»Nein, ich halte die ganze Sache für eine maßlose Vergeudung von Werten, bin auch ganz froh, daß mich meine Kurzsichtigkeit untauglich macht. Ich habe weder Lust, mich aus mir unbekannten Gründen totschießen zu lassen, noch fremde Menschen, die mir nie etwas zuleide getan haben, umzubringen. Aber deshalb stelle ich mich doch nicht auf die Straße, schreie wie ein Zahnbrecher und riskiere den Galgen. Wenn die Leute dumm genug sind, sich als Schlachtvieh behandeln zu lassen, so geschieht es ihnen ganz recht. Übrigens,« fügte er ernst werdend hinzu, »habe ich eine gewisse Achtung vor Anatol und euch übrigen Narren. Ihr seid wenigstens konsequent, nicht wie der unausstehliche blonde Kerl, den ich öfter bei euch traf, und der nicht fünf Worte reden konnte, ohne zu versichern: ich bin Sozialdemokrat. Und dann geht der Mensch hin und meldet sich freiwillig. Wie heißt er denn nur?«

»Philipp Schermann.«

»Hoffentlich fällt er bald. Ich kann patriotische Sozialisten nicht leiden, auch reine Patrioten nicht. Mir scheint, mir sind überhaupt alle Menschen widerlich geworden. Wo man hinkommt: ›Haben Sie's schon gehört? Ein neuer Sieg! Gefangene! Der Feind hat schwere Verluste erlitten!‹ Was geht mich der ganze dumme Krieg an? Ich will in Ruhe arbeiten.«

»Auch Du wirst nicht gleichgültig bleiben können. Jetzt heißt es, die eine oder die andere Partei ergreifen.«

»Spiele nicht die Seherin, das hast Du Dir von dem alten Rabbiner angewöhnt, der immer bei euch hockt. Übrigens schrieb mir die Mutter ungefähr das Gleiche. Ich habe Dir ihren Brief mitgebracht – ein Zeitdokument. Hier ist er, lies!« und Lene las:

 Lieber Gustav!

Du wirst vielleicht erfahren haben, daß unser lieber Friedrich mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden ist. Der Vater und ich sind sehr stolz darauf und danken Gott, daß er uns einen so tapferen, edlen Sohn gegeben hat, und daß wir ihn dem Vaterland schenken dürfen.

Dein letzter Brief hat den Vater peinlich berührt, er versteht nicht, wie Du Dein Herz in dieser großen Zeit so verschließen kannst. Auch ich begreife Dich nicht. Hast denn nicht auch Du im Elternhaus Liebe fürs Vaterland und für unseren herrlichen Kaiser gelernt? Ist Dir Dein Volk nicht teuer? Der Vater ist sehr betrübt darüber, daß Du untauglich bist. Er hätte so gerne der Heimat zwei Söhne gegeben.

Eben bringt er mir die erfreuliche Nachricht, daß im Osten eine große Schlacht geschlagen wurde und der Feind an die zwanzigtausend Mann Verluste hat. Gott wird uns auch fürderhin beistehen ...«

Lene warf den Brief unmutig auf den Tisch: »Ich kann nicht weiterlesen, es ekelt mich.«

Gustav lachte. »Unsere gute, sanfte Mutter, eine freudige Nachricht, daß zwanzigtausend Menschen getötet worden sind! Das würde ich schließlich noch begreifen, sie ist borniert und phantasielos, wie alle Frauen; sieht nicht ein, daß auch die Feinde Menschen sind. Aber was sie über Friedrich schreibt, ihren Liebling! Stolz über die Auszeichnung, Freude, daß sie ihn dem Vaterland schenken dürfen! Ich hätte geglaubt, eine Frau würde schreien: ›Gebt mir meinen Sohn zurück, mit welchem Recht setzt ihr sein Leben aufs Spiel. Was geht mich euer verdammtes Vaterland an? Ich will mein Kind!‹«

»Unzählige Frauen denken so,« entgegnete Lene traurig.

»Warum brüllen sie's dann nicht heraus? Warum tun sie nichts? Ihr seid zu nichts gut, ihr Weiber!«

»Weil wir feig sind. Laß aber einmal Elend und Verzweiflung stärker werden, als die Feigheit, dann wirst Du sehen, was wir tun können.«

Kalter, feiner Regen rieselte herab, die Laternen spiegelten sich im feuchten Asphalt, der Nebel dämpfte das Rollen der Räder und Pusten der Automobile. Gioia hastete heim, die Hände in den Muff gepreßt. Im Wohnzimmer fand sie Johannes regungslos in einem tiefen Lehnstuhl vergraben.

»Du hast Dich wieder den ganzen Nachmittag nicht gerührt, Johannes.«

»Wozu?«

»Ich habe gute Nachrichten.«

»Es gibt keine guten Nachrichten.«

Sie nahm den Hut ab und setzte sich auf die Lehne seines Stuhles. »Johannes, es hat gar keinen Sinn, hier zu sitzen und zu verzweifeln.«

»Was soll ich denn tun?«

»Arbeiten! Es sind unserer so wenige, jeder zählt. Warum bist Du heute nicht zu Frau von Reuter gekommen?«

»Um zu hören, wie in einem Salon drei oder vier Menschen verstohlen das Wort: ›Revolution‹ flüstern, während draußen vor den Fenstern die Menge: ›Sieg!‹ johlt?«

»Heute waren es nicht drei oder vier Menschen. Wir haben geglaubt, alle Führer seien verschwunden. Es gibt noch Führer.«

Er lächelte wehmütig. »Mag sein, daß der eine oder der andere sich selbst wiedergefunden hat. Aber was sollen Führer ohne Anhang? Und heute denkt das ganze Volk, wie die Regierungszeitungen wollen.«

»Weil wir diesen Zeitungen freie Hand lassen.«

Er seufzte. »Du bist ein Kind, Gioia, eine unverbesserliche Optimistin. Alles ist zusammengebrochen, eingestürzt, und Du nimmst einen winzigen Stein aus den Trümmern und rufst freudestrahlend: ›Aus diesem Stein werde ich den neuen Bau errichten!‹«

»Heute ist ein neuer Stein hinzugekommen, nein, zwei neue Steine. Setz Dich auf, Johannes, schau' nicht so verzweifelt drein, Du benimmst sonst auch mir den Mut.«

Er streichelte zärtlich das rotbraune Haar, das von der Feuchtigkeit gelöst in ihr Gesicht hing. »Du darfst nicht ungeduldig werden, Gioia, mußt doch begreifen, wie mir zumute ist. Alles, woran man jahrelang geglaubt hat, in einer kurzen Woche vernichtet. Aus dieser Zerstörung läßt sich nichts mehr aufbauen. Und die Menschen! Ich gehe durch die gewohnten Straßen, wie durch eine fremde Stadt. Eine unbekannte Sprache umflutet mich, ich treffe Freunde, freue mich sie zu sehen, und bemerke nach den ersten Worten, daß mir Fremde gegenüberstehen.«

Sie blickte ihn besorgt an. »Du darfst Dich nicht so gehen lassen.«

Er beachtete ihren Einwurf nicht, fuhr wie zu sich selbst fort: »Mir ist zumute, wie in meinen Kindertagen; alte unklare Erinnerungen suchen mich heim. Ich sehe eine große Stadt, höre wilde Schreie, Menschen kommen mit Knüppeln, fallen über andere her. Woher kommt dies Bild? Ich erinnere mich an nichts derartiges. Dann gibt es noch ein Bild, das mich bis in meinen Schlaf verfolgt: auf hohem Hügel ein zertrümmerter, eingestürzter Bau, eine Woge des Weinens und Klagens umspielt ihn, und ich weiß, daß zusammen mit diesem Bau die Hoffnung der Menschen vernichtet ward.«

»Wir richten ihn wieder auf!« rief sie eifrig. »Schon sind die Bauleute an der Arbeit, bei uns und in allen Ländern.«

Er schüttelte verzagt den Kopf. »Ich sehe keine.« Dann nach einer kleinen Pause: »Du wolltest mir doch etwas erzählen?«

»Ja, ein Brief von Savin ist gekommen.«

»Aus Rußland? Wie ist das möglich?«

»Wir wissen es selbst nicht. Heute Morgen fand Boris in seiner Tür einen schmutzigen Umschlag ohne Aufschrift stecken. Darin lag ein Zettel, Savins Schrift, bloß ein paar Worte: ›Verliert nicht den Mut, Großes bereitet sich vor, wir arbeiten trotz allem zusammen. Grüße die Genossen.‹ Siehst Du, daß wir Freunde haben, Johannes?«

»Ich begreife den ganzen Vorfall nicht, seid vorsichtig, es kann eine Falle sein. Und Deine zweite Neuigkeit?«

Sie neigte den Kopf zu ihm herab, sprach halblaut. »Weißt Du, wer heute bei uns war, um die Arbeit zu organisieren?«

»Nun?«

»Ich will keine Namen nennen, die Wände haben Ohren. Wir haben unseren Führer wieder, den Mann, dem wir am meisten vertraut haben, und der uns am bittersten enttäuscht hatte.«

Johannes schnellte auf. »Gioia! Ist das möglich? Er hat sich besonnen, ist zu uns zurückgekehrt?«

»Ja, er sammelt die Genossen in aller Stille, niemand darf davon wissen. Bist Du noch immer so niedergeschlagen?«

Er war wie verwandelt; helle Röte stieg ihm in die blassen Wangen, neue Glut belebte die müden Augen. Er rang nach Worten.

»Er, der Mann, der Deutschlands Bestes verkörperte, von dem wir alles erhofften! Wenn es einen Menschen gibt, der die Massen von ihrem Wahn zu heilen vermag, ist er es. Gioia, daß wir ihn wieder haben, daß er der Sache dennoch treu geblieben ist!«

»Wirst Du wieder daran glauben, daß alles gut werden wird? Wir hier, in den anderen Ländern die Freunde, wir sehen einander nicht, hören unsere Stimmen nicht, aber wir wissen, daß jeder den Stein herzuträgt, jeder am Tempel der Freiheit baut, bis er aufragt über Blut und Tränen der geschändeten Menschheit.«


Bleiern schleppte sich die Zeit dahin, auf dunkle Wintertage folgte ein freudloser Frühling. Weshalb scheint die Sonne, weshalb schmücken sich die Bäume mit frischem Laub? Draußen an der Front stehen die Menschen, vergehen in Elend und Not, daheim hockt an jedem Herde die Trauer um Verlorene und hüllt das ganze Haus in ihre schwarzen Schleier. Kommt noch kein Ende? Sieg oder Niederlage, bloß ein Ende des Grauens. Regen sich die Völker noch immer nicht? Stumpf ziehen sie aus, stumpf kehren die Krüppel und Verwundeten heim. Und noch immer betäuben die Regierungen die Ohren ihrer Untertanen mit dem Wort: »Vaterland« und ersticken in patriotischem Fanfarenklang das Weinen der Verzweifelten.

Die Asche dumpfgrauer Ergebung bedeckt die Länder. Niemals kann daraus die befreiende Flamme auflodern.

Und dennoch! Knistert es nicht hier und dort wie verborgene Glut, leuchtet nicht bisweilen ein roter Funke auf?

Durch siegestrunkene Massen, durch niederlagegeängstete Völker gehen Menschen, die eine andere Sprache reden, die Sprache, die vor dem Kriege so vielen verständlich war. Einer horcht auf, dann ein zweiter; scheu, ängstlich, schier wie im Traum flüstern sie die Worte nach. Totes wird wieder lebendig. Erstarrtes taut auf. In allen Sprachen werden die Worte geflüstert, harte und weiche Laute fließen zusammen. Noch ist es bloß Raunen, doch Tag für Tag fallen neue Stimmen in den Chor ein. Die Schuldigen, die an sicheren Stellen verharren, die Henker, die reuelos ihre Völker in den Tod schicken, sind taub gegen das unterirdische Gemurmel. Sie hören bloß ihr eigenes Kriegsgebrüll. Und der Chor schwillt an. Bald wird der Tag kommen, da er aufgellend Kanonengedröhn und Hurrageschrei übertönt, da aus Schützengräben und Spitälern, aus Elendswohnungen und Gefängnissen ein Wort hervorbricht und wie Blitz in den Himmel fährt: »Friede, Freiheit, Revolution!«

Zwanzigstes Kapitel.

In weichen blauen Schatten, blaßflimmernden Lichtstrahlen gleitet der erste Maitag in die Nacht hinüber. Bogenlampen kämpften noch mit der Tageshelle, glühen fahl und gespenstisch auf.

Reges Treiben herrscht auf den Straßen, Menschen hasten dahin, stoßen, drängen in eine Richtung, als wären sie magnetisch angezogen. Auf dem Potsdamer Platz staut sich das Volk; harte Arbeitergesichter, blasse abgehärmte Frauen, zufrieden-fette neugierig glotzende Bürger, Schutzleute mit herausfordernden Gebärden, alles wogt durcheinander. Bisweilen schrillt ein Pfiff durch die Luft, ein Ruf wird laut; leises gedämpftes Murmeln umspült den Platz, wie Wogen ein Felsenriff.

Noch kommen Menschen, mehr und mehr. Seltsam verändert scheinen die seit zwei Jahren in tierischer Ergebung verstumpften Gesichter. Trostlose Augen leuchten plötzlich hoffnungserfüllt, halboffene Münder scheinen nach frischem Trank zu gieren, schlaffe Muskeln straffen sich, von neuer Ahnung belebt. So mag die Menge ausgezogen sein, den Nazarener zu sehen, der Worte des ewigen Lebens hatte. Und so, mit dem hämischen Feindesblick, mit der satten Selbstherrlichkeit mögen auch damals die Pharisäer und Reichen abseits gestanden haben, törichter Neugierde voll, wie heute die Bürger.

Menschen um Menschen, schwarz wird der dicht gedrängte Platz, und noch immer kommen neue hinzu, kommen, kommen ...

Einer hat sie gerufen, einer, auf den sie vertrauen dürfen, der Freund der Geknebelten und Geknechteten, der Mann, der aus dem Schlamm der Feigheit, in dem seine einstigen Genossen versunken sind, aufstieg, der Feind der Herren und Unterdrücker.

Er spricht zu ihnen, Blitze sind die kurzen scharfen Worte, die das Dunkel der Geister erhellen, Schöpfung ist seine Rede, aus verängsteten Herdentieren formt sie Menschen, Ketten zerreißt sie, knüpft von neuem das Band, das Volk mit Volk vereint. Von Mund zu Mund gehen seine Worte, fallen, unauslöschlicher Funken, auf entflammbaren Boden. Bebende Bürgerangst peitscht die Schutzleute vor: »Laßt diesen Mann nicht sprechen, seine Worte bedeuten Verderben für uns. Weh uns, wenn das Volk die Wahrheit erkennt. Schafft uns den Mann aus dem Weg!«

Die Polizisten drängen durch die Menge; da erhebt der Mann seine Stimme, tausend Stimmen aus allen Ländern klingen in dieser einen Stimme mit, Drohung, Prophezeiung, Weltgericht verkündet die Stimme: »Nieder mit dem Krieg! Nieder mit der Regierung!«

Zwei Schutzleute greifen ihn, er wehrt sich, wird fortgeschafft. Schreien, Johlen und Pfeifen schlägt gegen Häusermauern. Langsam zerstreut sich die Menge. Sie trägt die Worte mit heim, wird sie hüten und wahren, bis sie, zum Feuerstrahl werdend, in das morsche Gebäude hineinschlagen, das ihnen allen als Kerker dient.

Rohe Hände haben des Mannes Mund verschlossen, und doch fliegen seine Worte über die Grenzen, entflammen die Herzen der wenigen Getreuen in den anderen Ländern mit Freude und Hoffnung, treiben anderen, denen der Mut der Überzeugung fehlt, Schamröte ins Gesicht.

»Gott sei Dank, der ist unschädlich gemacht,« seufzen erleichtert die Bürger, »nun können wir unseren heiligen Krieg ungestört genießen; er hat ja doch auch seine guten Seiten.«

Gioia hat die Nachricht von Karl Liebknechts Verhaftung gebracht, bestürzt sitzt sie mit Johannes und Lene in der Wohnung der letzteren.

»Was nun?« fragt Johannes mit der alten Verzagtheit.

Gioia hat glühende Wangen und leuchtende Augen. »Doppelte Arbeit für uns; auch im Gefängnis bleibt er unser Führer, wirkt vielleicht noch mehr denn zuvor. Weißt Du nicht, was in den Meßgebeten der Märtyrer steht: »Das Blut der Märtyrer ist der Same der Kirche.« Die schwerste Arbeit ist getan, die Masse hat die Not erkannt, die sie umgibt, jetzt können auch kleine Leutchen wie wir, den Weg zur Wahrheit weisen.«

Lene drückt der Freundin Hand. »Du bist die Tapferste von uns, Gioia, verlierst nie den Mut.«

»Wenn Ihr ihn heute abend gesehen hättet!« rief die junge Frau begeistert. »Das war nicht ein Mensch wie die anderen, der da stand und sprach, war die Verkörperung aller Menschensehnsucht nach Freiheit und Gerechtigkeit, die Liebe aller Liebenden, und der Haß aller Hassenden. So lange ...« Sie stockt, draußen wird heftig geklingelt, Lene erhebt sich und tritt gleich darauf von Gustav gefolgt wieder ins Zimmer.

Gustav ist sehr blaß, er beantwortet kaum den Gruß der anderen, wendet sich sofort an die Schwester.

»Lene, wann kommen Deine Narren wieder zusammen?«

»Meine Narren?«

»Ja, Narren, Revolutionäre, Heilige, wie Du sie nennen magst. Ich will mich Euch anschließen, mit Euch arbeiten, kann nicht mehr abseits stehen.«

Die drei starren ihn betroffen an.

»Was ist mit Ihnen geschehen?« fragt Gioia verblüfft.

Gustav wirft sich aufs Sofa. »Geschehen? Ich habe eingesehen, daß jeder, der nicht gegen diesen gottverdammten Krieg arbeitet, ein Verbrecher ist, daß jeder, der abseits steht, ein Verbrecher ist, daß ...«

»Aber wie kommst Du mit einem Mal darauf?« Johannes betrachtet staunend den Freund; noch nie hat er ihn so erregt gesehen.

»Sie waren am Potsdamer Platz!« ruft Gioia erratend.

»Ja, zufällig kam ich vorbei. Ein Mann drückte mir ein Flugblatt in die Hand; ich las darin und fand alles, was dort geschrieben stand, richtig, trotz des ungeschliffenen Stils. Dann sah ich, wie sich Leute um einen Mann drängten; ich folgte ihnen, fragte, wer der Mann sei. Einer lachte: ›Das wissen Sie nicht? Das ist Karl Liebknecht.‹ Woher sollte ich das wissen, ich hörte den Namen zum erstenmal. Ich hörte zu, was Liebknecht sprach, es waren nur wenige Worte – aber es war die Wahrheit. Als ich dann sah, wie er abgeführt wurde, weil er die Wahrheit ausgesprochen hatte, ward mir seltsam zumute. Ich glaube sogar, ich habe mitgebrüllt, als er im Gehen nochmals rief: ›Nieder mit dem Krieg! Nieder mit der Regierung!‹« Gustav schöpfte Atem und trocknete sich den Schweiß von der Stirn.

»Nachher,« fuhr er fort, »spazierte ich planlos umher, merkte, in Gedanken vertieft, gar nicht, wohin ich kam, und befand mich plötzlich auf dem Friedrichsbahnhof. Da fiel mir Anatol ein; heute verstand ich ihn zum erstenmal. Ich betrat den Perron.« Er lachte ein wenig befangen. »Alles hat zusammengewirkt; es war soeben ein Verwundetentransport eingelaufen. Ihr wißt, ich bin nicht weichherzig, aber ich hätte heulen mögen bei dem Anblick, oder noch lieber ein paar Verbrecher erschlagen, die an allem schuld sind. Ist das nicht die richtige Stimmung für einen Revolutionär?«

Gioia fiel ihm um den Hals. »Lieber alter Gustav! Morgen werden wir Sie bei den ›Narren‹ einführen. Sagte ich es nicht, Johannes? Das Blut der Märtyrer ...«


Etwa eine Woche später stürzte Gustavs Wirtin aufgeregt in sein Arbeitszimmer: »Ein Herr Unterstaatssekretär und Professor Westwald fragen, ob Herr Doktor sie empfangen können?«

Gustav schnitt ein geärgertes Gesicht. »Die alten Trottel! Na gut, ich lasse bitten.«

Die beiden Herren erschienen und waren äußerst verbindlich und liebenswürdig. Gustav, der wohl ahnte, was der Zweck dieses Besuches sei, benahm sich zurückhaltend, fast unhöflich, was seine Gäste jedoch gar nicht zu bemerken schienen. Man sprach von allerlei gleichgültigen Dingen; schließlich wurde es Gustav langweilig, er unterbrach ein Kompliment des Unterstaatssekretärs mit den Worten: »Und welchem Umstande verdanke ich die Ehre dieses Besuches?«

Der Unterstaatssekretär betrachtete angelegentlich seine wohlgepflegten Nägel, räusperte sich und bemerkte: »Herr Professor Westwald hat mich bereits vor einiger Zeit darauf aufmerksam gemacht, daß Sie, Herr Doktor, sich mit der Herstellung giftiger Gase befassen. Wenn ich den Herrn Professor richtig verstanden habe, so ist Ihnen eine Zusammensetzung gelungen, die die bereits bekannten weit übertrifft.«

Gustav grinste. »Das will ich meinen, daß meine Formel besser ist.«

»Wir haben nun erwartet,« fuhr der Unterstaatssekretär salbungsvoll fort, »daß Sie, Herr Doktor, uns Ihre Erfindung anbieten würden. Da dies bis heute noch nicht geschehen ist, suchte ich Sie auf, um ...«

»Weshalb sollte ich Ihnen das Angebot machen?«

»Wir wissen ja, aus welch echt patriotischer Familie Sie stammen, Ihr Herr Bruder hat an der Front wahre Heldentaten verrichtet und ...«

»Mein Schwager sitzt im Gefängnis.«

Der Unterstaatssekretär schien peinlich berührt. Begütigend legte er die Hand auf Gustavs Schulter: »Mein lieber Doktor, niemand ist für angeheiratete Verwandte verantwortlich; es fällt niemandem ein, Ihnen aus dem unpatriotischen Verhalten Ihres Schwagers einen Vorwurf zu machen. Aber eben in Berücksichtigung dieser Tatsache muß es Ihnen als Patriot doppelt am Herzen liegen, dem Vaterland in seiner Not zu helfen.«

»Ich bin kein Patriot.« Gustav begann ungeduldig zu werden.

Der Unterstaatssekretär wetzte unruhig auf seinem Sessel hin und her.

»Der Herr Doktor meint wohl, er sei gegen Annexionen,« warf Professor Westwald beschwichtigend ein, »dies ist ja auch die Ansicht verschiedener durchaus ehrenhafter, loyaler Leute.«

Eine peinliche Pause folgte.

Schließlich nahm der Unterstaatssekretär wieder das Wort. »Es ist Ihre Pflicht, Herr Doktor, uns die Formel auszuhändigen; das müssen Sie doch selbst einsehen?«

»Wenn ich es aber nicht einsehe?«

»So werden wir, so leid uns dies auch tut, zu strengeren Maßnahmen schreiten müssen.«

Jetzt verlor Gustav die Geduld. Er schnellte auf und schrie seinen Gast an:

»Strengere Maßnahmen! Wer gibt euch ein Recht auf mein Gehirn und dessen Erzeugnisse? Ich habe mich mit der Sache befaßt, weil sie mich interessierte, aber nicht, um an unzähligen Unschuldigen zum Mörder zu werden. Zupfen Sie mich nicht am Rock, Herr Professor Westwald, ich weiß genau, was ich tue, und ich erkläre Ihnen hiermit, Exzellenz, Sie werden die Formel nicht bekommen

Auch der Unterstaatssekretär hatte sich erhoben, blaß vor Zorn starrte er auf Gustav. »Sie werden die Regierung zu Schritten zwingen, Herr Doktor, die Ihnen äußerst unangenehm sein dürften.«

»Ich pfeife auf eure verdammte Regierung!« Außer sich vor Wut, riß Gustav die Schreibtischlade auf, zog einen beschriebenen Zettel heraus und zerriß ihn, bevor ihn die beiden daran hindern konnten, in kleine Stücke. »So, Exzellenz, jetzt lassen Sie eine Haussuchung vornehmen, das war die Formel!« Er lachte grimmig auf: »Aber da drin in meinem Kopf steht sie noch immer geschrieben, und ich werde sie vielleicht einmal anderweitig verwenden können.«

Der Unterstaatssekretär wandte sich an den Professor. »Haben Sie die letzten Worte des Herrn Doktor genau gehört; könnten Sie sie im Notfall unter Eid bestätigen?«

Professor Westwald nickte: »Jawohl, Exzellenz.«

Ohne ein weiteres Wort schickten sich die beiden Herren zum Gehen an. Gustav begleitete sie mit ausgesuchter Höflichkeit bis zur Tür. »Es war mir eine große Ehre, Exzellenz.«

Allein geblieben lachte er auf: »Was ist denn eigentlich in mich gefahren? Gott weiß, was ich mir da eingebrockt habe! Und weshalb war ich so wütend? Aus revolutionärer Gesinnung oder – über die Vergewaltigung der Wissenschaft?«

Einundzwanzigstes Kapitel.

Die Kriegsgewinnler und Kapitalisten hatten den Schlaf verloren, und auch das Essen wollte ihnen nicht mehr recht schmecken, geheime, uneingestandene Angst versalzte ihnen die Speisen, gab teueren Weinen den herben Geschmack des geringsten Krätzers, verlieh den weichsten Betten unbehagliche Härte. Die Kriegsgewinnler und Kapitalisten fühlten sich nicht wohl. Welch ein Unglück! Draußen sterben unsere tapferen Feldgrauen für uns, für unser Behagen, für unseren Reichtum, und wir in der Heimat werden von Ängsten geschüttelt, können das Leben, das uns andere so teuer erkaufen, nicht recht genießen, welch ein Unglück! Da gilt es Abhilfe schaffen! Aus dem Angstschweiß verstunkener Bürgerseelen, aus der prickelnden Unruhe des Junkers wurde der weiße Terror geboren. Unser einstiger lieber Vetter, der Zar, hat uns gezeigt, wie die Sache gehandhabt werden muß. Schade, daß nicht auch wir ein Sibirien haben, doch gibt es Gott sei Dank Gefängnisse genug im Deutschen Reich, auch die Schutzhaft ist keine üble Einrichtung.

Am Abend des 28. Juni schmeckte den Herren das Essen viel besser: Karl Liebknecht war in erster Instanz zu zwei Jahren, sechs Monaten und drei Tagen Zuchthaus verurteilt worden. »Ein Hetzer weniger,« meinten sie in den Klubs, »mit den paar Übrigen wird man auch noch fertig werden. Die anderen Sozialdemokraten halten sich wacker, sind unsere besten Bundesgenossen. Solange die zu uns stehen, halten wir das Volk in der Hand.« Und sie stießen an, auf das Wohl des vernünftigen Kriegsgerichtes – etwas strenger hätte das Urteil sein können –, auf unsere Feldherrn und unsere braven Freunde, die Sozialdemokraten.

Dennoch waren sie nicht ganz beruhigt; es gab noch andere Elemente, die hetzten und schürten; auch die muß man unschädlich machen. Im Juli wurde Rosa Luxemburg zum zweitenmal ins Gefängnis geworfen, im August ereilte Franz Mehring das gleiche Schicksal. »Der alte Mann war besonders gefährlich,« bemerkten die Herren untereinander, »seine siebzig Jahre machten Eindruck auf die sentimentale Masse. Es ist zu hoffen, daß er bei so hohem Alter das Gefängnisleben nicht lange ertragen wird.« Und nun genossen sie wieder eine ungestörte Nachtruhe.

Auch Unbekannte, die sich in nichts hervorgetan hatten wurden dem guten Schlaf und dem Appetit der Herren geopfert; unter ihnen befand sich Gustav Selder. Seine unvorsichtigen Worte: »er werde vielleicht seine Formel anderweitig verwenden können«, wurde gegen ihn ausgenützt; er wurde in Schutzhaft genommen. Er fand sich mit dem gewohnten Gleichmut darein, warf den ihn abführenden Polizisten etliche griechische und lateinische Zitate an den Kopf, die diese für ganz besondere Injurien hielten und bedankte sich feierlich für die ihm gebotene Ruhe und Abgeschlossenheit, die seinem Studium von großem Nutzen sein würde. –

Endlos schlichen die Tage dahin. Der Fluch des Deuteronoms schien über der Welt zu lasten: »Des Morgens wirst du sagen: Ach, daß es Abend wäre! Des Abends wirst du sagen: Ach, daß es Morgen wäre! Unsägliches Warten spannte alle Nerven, warten, warten, von Stunde zu Stunde, Tag zu Tag. Warten auf die Erlösung, die nicht zu kommen scheint und doch kommen muß. Hunger und Not fraßen an den Menschen mit scharfen, nagenden Zähnen, stumpfer, hoffnungsloser Grimm vergiftete die Seelen, lähmte die Kräfte. Mißtrauen durchtränkte das Volk, Mißtrauen gegen die Herren, aber auch Mißtrauen gegen die anderen, die mutig und unentwegt an seiner Aufklärung arbeiteten. »Ihr redet nur, warum tut Ihr nichts? Ihr seid genau wie die anderen,« sagte eine alte Frau, deren zweiter Sohn gefallen war, zu Gioia, und diese wußte keine Antwort. Sie selbst trieb die Freunde zur Tat, geriet in Verzweiflung, wenn deren Vorsicht ihr klar machte: noch ist es zu früh, wir sind zu schwach. Boris Isralew tröstete sie: »Die Befreiung muß kommen, Gioia, doch wird sie nicht von einem Land ausgehen, das in vielen satten Jahren hart geworden und zu Stein erstarrt ist. Sie wird von jenem Lande kommen, wo Schmerz und Elend seit Jahrhunderten das Feuer in Brand erhalten, die Flamme geschürt haben. Nur ein gekreuzigtes Volk vermag der Messias der Völker zu sein.«

Die alte Frau von Reuter schien von den Freunden die am härtesten Betroffene zu sein; jetzt, da das ungeheuerliche Verbrechen der Blockade Kinder und Frauen mordete, erinnerte sie sich mit Entsetzen, daß sie dem Lande angehörte, das diese Schuld auf sich genommen hatte. »Ich schäme mich, den Menschen in die Augen zu sehen,« sagte sie zu Lene, und Tränen flossen über ihr feines, altes Gesicht. »Wir alle tragen Schuld am Kriege, mich aber drückt noch die Schuld und Schande meines Landes.« Sie gönnte sich keine Ruhe, die müden alten Füße stiegen unzählige Treppen hinauf, um Nahrung und Kleidung in elende Dachkammern zu tragen. Es war bald bei den Freunden ein beliebter Scherz geworden, sie bei jedem Besuch zu fragen: »Was haben Sie heute verkauft?« Dann errötete die alte Frau wie ein junges Mädchen: »Nichts, gar nichts.« Und Lene fragte: »Wo ist denn Dein Diamantring?« »Am Finger irgendeiner fetten Schiebersgattin,« brummte Boris Isralew von der Chaiselongue her. »Eine alte Frau braucht keine Ringe,« bemerkte Frau von Reuter lächelnd, »aber kleine Kinder brauchen Milch.« Der schön eingerichtete Salon wurde kahl und dürftig. Ein wertvolles Möbelstück nach dem anderen wanderte zum Antiquar. Als die Teuerung immer größer wurde, überraschte die alte Dame die Freunde mit der Nachricht, daß sie ihre Wohnung aufgegeben habe und mit Boris Isralew zwei kleine Stuben in einem ärmlichen Viertel beziehen werde. »Fast alle meine kleinen Kinder leben dort,« bemerkte sie entschuldigend, »ich brauche dann nicht mehr so weit zu laufen.«

»Sie richtet sich zugrunde,« meinte Lene besorgt zu Boris.

»Nein, laßt sie nur; sie könnte das Elend nicht ertragen, wenn sie sich nicht selbst gäbe. Sie ist noch aus der alten Schule, die an private Wohltätigkeit glaubt, die liebe Alte. Übrigens kein schlechtes Produkt der alten Schule.«

Warten, warten, warten! An den Fronten verbluten sie zu Millionen; Krüppel kehren heim, Blinde, Kranke; Kinder verhungern, ein einziger Jammersaal eines ungeheueren Spitals ist das ganze Land. Kommt denn keine Erlösung? Verzweiflung schreit zum ehernen Himmel auf, Verzweiflung winselt in Spelunken und elenden Kammern. Der Himmel ist taub und taub sind auch die Menschen, die dem Unheil Halt gebieten könnten. Bleierne Tage schleppen sich in den Herbst, schleppen sich in den Winter. Endlos ist dieser Winter, es wird nie Frühling werden. Früher, vor dem Krieg, da gab es einen Frühling, das Eis schmolz, selig erneutes Leben sproß auf. Das war einmal; es klingt wie im Kindermärchen oder verbirgt dieser Satz noch einen anderen Sinn?

Warten, warten, warten!

Der Märzwind, der ungestüm mit junger Kraft dem Winter an den Leib rückt, bringt die Kunde. Worte peitscht er durch die stickige schwarze Wolkenluft, daß sich die Nebel teilen und blauender Himmel sichtbar wird. Zauberworte. »Rußland! Revolution! Der Zar ist gestürzt! Die Sozialisten am Ruder! Friede!« und immer wieder: »Rußland! Rußland!« Der Völkerheiland erstand aus seinem Grab, das Heil kommt!

Fremde sprechen einander auf der Straße an: »Haben Sie's gelesen? Ist es wahr?« Osterahnen geht durch die Welt, die Zeitungen, die Kunde aus dem Osten bringen, werden gelesen wie das Evangelium. Gebeugte Leiber straffen sich, in verängstete Seelen strömt neuer Mut. »Die haben's gekonnt, warum nicht auch wir?« Lippen, die das Wort »Feind« versehrt hat, leuchten rot und geheilt, sie sagen: »Unsere Brüder.«

Die Herren reiben sich die Hände: »Revolution in Rußland! Das ist recht! Jetzt wird man fertig werden mit der Bande!«

Boris Isralew schüttelt den Kopf, als er die Namen der Führer liest. »Jubelt nicht zu früh; das ist bloß die erste Stufe. Bourgeoisrevolution. Aber sie macht den Weg frei für die andere, die wahre. Es ist noch nicht der Tag, bloß der erste helle Schein im Osten. Aber der Tag wird kommen!« – –

Der Tag kam und brachte für Deutschland schwärzeste Nacht; eine Nacht, aus der sich in Flammenzeichen zwei Worte abheben, ein ewiges Brandmal der Schande: Brest-Litowsk!

Die Herren, die Kapitalisten haben gesiegt: deutsche Soldaten dringen vor in einem entwaffneten Land, und Deutschlands Ehre liegt im Kot, wird von Deutschen auf Rußlands Straßen zertreten. Aber diese Schande peitscht viele auf, die, stumpf vor Elend und Not, sich in alles gefügt haben.

»Sie haben unsere Leiber verkauft,« ruft Kerner, bebend vor Wut, in einer geheimen Versammlung, »und wir haben es geduldet. Waren von jeher gewohnt, daß unsere Leiber und Leben den Kapitalisten gehören. Jetzt aber wollen sie unsere Seelen verkaufen, und das dulden wir nicht! Die sind noch unser, die kann uns kein Kaiser und kein Feldherr rauben. Unsere Brüder im Osten sollen sich nicht vergeblich an uns gewandt haben.« Doch noch sind die Herren zu mächtig, das Volk ist zu schwach; seine Stimme wird übertönt. Eines jedoch ist gewonnen, der deutsche Arbeiter hat die geblendeten Augen geöffnet; er erkennt allmählich den wahren Feind, den ihm schurkische Führer als Freund dargestellt haben; er erkennt auch die Brüder. Der Osten streckt die Hand aus, und unzählige Hände greifen nach ihr, über Drahtverhaue, aus Schützengräben und Gefängniszellen, aus dem Kerker der Not. Noch herrscht die Nacht, doch rötet sich schon der Osten. Zum zweitenmal hat ein Gewaltiger das Wort gesprochen: »Es werde Licht!« Die Nebel zerteilen sich, die Sonne, noch hinter Wolken verborgen, wärmt bereits die erstarrte Erde, und über blindes Chaos, Haß und Bestialität erhebt sich siegreich der Geist!

Zweiundzwanzigstes Kapitel.

Boris Isralew lag im Sterben. Seit Monaten bereits fragte sich Johannes staunend, was dem siechen Körper noch die Kraft zum Leben gab; war es der unbeugsame Wille des einstigen Katorgasträflings, der nicht fortgehen wollte, ehe er das Ende des Entsetzens gesehen hatte, oder die glühende Sehnsucht nach der ersten befreienden Tat im Deutschen Reich?

Er wurde immer ungeduldiger, herrschte die Freunde an, wenn sie von ihrer Arbeit berichteten, von Flugblättern, geheimen Versammlungen.

»Ihr bleibt im ersten Kapitel des Evangelium stecken!« pflegte er gereizt auszurufen. »Bei euch ist es immer noch: im Anfang war das Wort. Laßt doch endlich die Tat folgen. Euere vielen Worte, gesprochene wie gedruckte, erdrosseln die Tat. Aber natürlich, in diesem verdammten Land der Ordnung wartet ihr, bis euch die Revolution behördlich gestattet wird!« Als er allmählich schwächer wurde, verschwand jedoch seine Ungeduld. »Es muß ja kommen und wird auch ohne mich gehen. Wir haben euch den Weg gezeigt.«

Er sprach von Rußland, grenzenloses Heimweh hatte sich seiner bemächtigt. Wenn die langen Schatten des Sommerabends in die Stube fielen, redete er verwirrten Geistes vor sich hin: »Siehst Du, wie die Ebene leuchtet? Endlos, unbegrenzt. Und dort hinten der Birkenwald, wie er duftet. Heilige russische Erde, Mutter der Märtyrer und des Heiles, sehe ich Dich doch noch einmal?« Er sprach zu alten Kameraden: »Morgen, Ivan, wenn der Minister ausfährt ... Ist Dein Revolver in Ordnung? ... O diese Fesseln, wie eisig sie im Winter sind! ... Wer ist in der Nachbarzelle? Klopfe noch einmal, Kamerad, ich habe Dich nicht verstanden.«

Dann kamen Tage, an denen er stumm, bewußtlos dalag. – –

An einem Augustmorgen, als es zu dämmern begann, öffnete er die Augen. Frau von Reuter, die an seinem Bett eingenickt war, erwachte, als seine Hand ihre Schultern berührte. Er blickte sie an, ohne sie zu erkennen, lächelte, sprach ein paar russische Worte, hob die Arme und rief: »Wir siegen!« Dann streckte sich der abgezehrte Körper, bäumte sich noch einmal auf und fiel zurück; die gebrochenen Augen blickten starr nach dem Fenster, in die aufgehende Sonne.


Als Lene etwa eine Woche später Johannes und Gioia aufsuchte, blieb sie wie erstarrt an der Türschwelle stehen; der Mann dort beim Fenster, unmöglich, es konnte ja nicht sein, und dennoch ... »Savin!«

Ein wohlbekanntes Gesicht lachte ihr entgegen. »Ein kleiner Irrtum, liebe Lene, Herr Rotberger, Kaufmann aus Linz.«

»Wie ist es denn möglich?«

»Alles ist möglich und mehr als alles wird möglich werden. Wie geht's, Strohwitwe? Was macht Anatol? Und Gustav sitzt auch? Ich habe auch gesessen, verdammt lange sogar, bis zur zweiten Revolution.«

Am Abend kamen sie alle bei Frau von Reuter zusammen. »Es sind unser recht wenig geworden,« meinte Savin, sich im Kreise umblickend. »Den armen Boris hätte ich gerne noch gesehen. Und wo steckt der Prophet?«

»Der geht überhaupt nicht mehr aus,« erwiderte Johannes. »Hockt den ganzen Tag daheim und betet. Er glaubt, der Messias werde demnächst kommen.«

»Er hat so Unrecht nicht, der alte Mann. Wir in Rußland haben mit dem Aufbau des Gottesreiches begonnen,« bemerkte Savin ernst.

»Erzähle!«

Er erzählte, berichtete, wie der geballte Wille eines gepeinigten Volkes Gestalt angenommen, und aus dieser Gestalt sich das Räterußland entwickelt hatte.

»Blutig, sagt Ihr, sei die Revolution verlaufen? Ja, sollen wir etwa unseren Feinden mit der reinen Vernunft auf den Leib rücken? Sie wehren sich, das ist von ihrem Standpunkt aus begreiflich, und wir sind verpflichtet, das Errungene zu schützen. Nicht etwa, daß es vernichtet werden könnte. Erschlagt uns alle, setzt die Autokratie wieder ein, aus der russischen Erde werden sich Menschen bilden, die unsere Idee fortführen. Rußland ist durchtränkt von der Idee, sie sickert in die Geister ein; unsere Feinde von gestern sind heute unsere Anhänger. Propaganda? Freilich treiben wir Propaganda; aber ich meine, wir hätten es gar nicht nötig. Wir haben die Jahrtausende alte Sehnsucht der Völker verwirklicht; unser bloßes Bestehen ist Propaganda genug.«

»Wären wir erst so weit,« seufzte Kerner.

»Bei Euch ist das anders. Ihr müßt vom Schlamm der Bourgeoisie erst in den Schmutz des Kleinbürgertums geraten, des brutalen, herrschsüchtigen Kleinbürgertums. Euch fehlt der Schwung, um diese Stufe zu überspringen. Ihr müßt Euch emporarbeiten, Schritt für Schritt, werdet zurückfallen und von neuem beginnen müssen. Das weiß man bei uns; wir rechnen noch nicht auf euch, in drei, vier Jahren vielleicht.«

»Wir sind nicht müßig gewesen,« warf Gioia ein.

»Ich weiß es, auch ihr habt gute Führer, nur sitzen die meisten jetzt augenblicklich im Gefängnis. Und dann noch eins, das russische Volk vermag seine wahren Führer zu erkennen, das deutsche nicht. Gebt ihm Lenin oder Trotzki, es wird ihn nicht verstehen, wird Mißtrauen empfinden, sich gegen ihn aufhetzen lassen.«

»Haben Sie uns keine Botschaft gebracht, Savin?« warf Lene ein.

»Rotberger, bitte. Ja; aber die muß ich zuerst anderen berichten, dann sollt ihr es erfahren.«

Sie saßen beisammen, bis der Morgen graute, fragten, erzählten. Es war, als sei mit dem Russen ein frischer Lufthauch gekommen, der die dumpfe Schwüle zerstörte. Sie lauschten ihm, wie man dem Wanderer lauscht, der heimgekehrt, von einem sagenhaften Lande berichtet, einem Lande, in dem alle Träume und Sehnsüchte Wahrheit geworden sind.


Die Welt hielt den Atem an und wartete mit klopfenden Pulsen. Die Zentralmächte hatten ein Friedensangebot gemacht. Es gab keine laute Freude, allzu teuer war dieser Friede erkauft; dumpfer Groll erhob drohende Fäuste.

Die Patrioten zitterten, sie waren bereit, alles zu opfern, selbst den »geliebten Kaiser«, um das Volk zu beschwichtigen. Das Volk! Was war aus der stumpfen Masse geworden, dem wehrlosen Schlachtvieh, über das die Herren bedingungslos verfügen konnten? Plötzlich löste sich diese Masse auf, und man erkannte schaudernd, daß sie aus Menschen bestand, lauter verbitterten, haßerfüllten Menschen. Und wie viele es waren! Früher hatte man jubelnd gesagt: »Ja, wir haben es, das Menschenmaterial« und hatte sich über die Zahl derer gefreut, die man in den Tod schicken konnte. Heute verfluchten die Herren die ungeheuere Anzahl, ja, mit einem kleinen Volk, mit dem könnte man fertig werden, ein paar verläßliche Regimenter würden genügen. »Verläßliche Regimenter?« Wer ist heute noch verläßlich? Matrosen meutern, Soldaten; seltsam, es war den Herren nie eingefallen, daß auch diese zum Volk gehören, Volk sind. Nun mußten sie's erkennen. – –

Die Ereignisse folgten Schlag auf Schlag. Der Volksstaat Bayern wurde proklamiert; noch stritt man über des Kaisers Rücktritt, da wurde auch schon in Berlin die Republik ausgerufen.

»Revolution?« sagte Savin zu Gioia, die außer sich vor Freude war. »Das ist keine Revolution. Ist vielleicht der Auftakt. Wer hat die Republik verkündet? Ein Sozialpatriot. Wer wird herrschen? Die Sozialpatrioten. Der kleine Bourgeois kommt ans Ruder, Kerenski und Dan. Das Volk ist eben so schlecht daran, wie zuvor, schlechter, weil man ihm noch leichter vortäuschen kann, es habe mitzureden. Glaubt ihr denn Revolution sei eine Spielerei? Solange sie nicht ein Elementarereignis ist, ein Ausbruch der Masse, kann sie nichts erreichen.«

»Du hast Unrecht, Savin,« meinte Johannes.

»Wir werden ja sehen. Weil ein Wetterleuchten die Nacht erhellt hat, wähnt ihr, der Morgen sei gekommen. Glaubt mir, die Nacht, die dieses unglückselige Land bedeckt, muß noch weit dunkler werden, ehe es tagt.«

Von der Straße drangen Jubel und Freudenrufe ins Zimmer. Gioia öffnete das Fenster und lehnte sich weit hinaus.

»Der falsche Messias,« murmelte Savin verdrossen, »der Heiland der Bürger! Schließen Sie das Fenster, Gioia, ich kann es nicht ertragen, die Leute denen zujubeln zu hören, die sie knechten werden.«

Dreiundzwanzigstes Kapitel.

»Mein Gott, weshalb haben sie uns nicht im Gefängnis gelassen?« sagte Anatol Silberblatt düster und starrte in den grauen Winterabend hinaus. »Dort waren wir glücklich, ahnten schon lange, daß sich etwas vorbereite, füllten die grauen Tage mit Hoffnung aus. Und dann, diese wundervolle Nacht vom neunten November! Mein Zellennachbar hatte die Nachricht erfahren. Woher? So etwas sickert durch die Mauern hindurch. Er klopfte an die Wand: »Sieg! Revolution!« Ich ließ ihn die Worte drei, viermal wiederholen, mußte sie immer wieder hören. Als ich sie weitergab, hörte ich meinen anderen Nachbarn schluchzen wie ein Kind. Wir waren alle schier verrückt vor Glück. Endlich! Und dann kommt man heraus, und findet – das.«

Er wandte Lene sein zerquältes Gesicht zu.

»Liebster,« entgegnete sie zögernd, nach Trost tastend, »es ist doch wenigstens der Anfang.«

»Nein, es ist das Ende. Wie habt Ihr es zugeben können? Einen Tag lag die ganze Macht in den Händen des Proletariats, und es läßt sie sich entwinden. Nicht entreißen, wenn es der Übermacht erlegen wäre, aber nein, es läßt sich die Macht aus den Händen nehmen, glaubt dabei noch, es habe sie an seine Freunde weitergegeben ...«

»Wir sind 1905 auch geschlagen worden,« warf Savin ein.

»Das war etwas anderes; damals seid ihr euren Feinden gewichen, habt gewußt, in etlichen Jahren beginnt der Kampf aufs neue. Aber heute glaubt der größte Teil des Volkes, alles sei in schönster Ordnung.«

»Wir haben doch Freunde in der Regierung,« Lene klammerte sich verzweifelt an jedem Strohhalm.

»Die werden schön langsam verdrängt, heute der, morgen ein anderer.«

»Wir werden nicht dulden, daß einer geht,« rief Johannes und Gustav fügte hinzu: »Du siehst zu schwarz, Anatol, wir können jeden Augenblick Verstärkungen aus Spandau und Frankfurt an der Oder erhalten. Es wird übrigens gar nicht nötig sein, zu derartigen Mitteln zu greifen. Laß am Sonntag den Demonstrationszug zustande kommen, da wird unserer herrlichen Regierung schon das Herz in die Hosen fallen.«

Aber Anatol wollte sich nicht beschwichtigen lassen.

»Ihr vergeßt immer, wer heute die Macht an sich gerissen hat. Unbedeutende, verbürgerte Leute, die sich zum erstenmal groß und wichtig vorkommen. Die werden an der Macht festhalten, zäh wie ein Hund an seinem Knochen, werden mit der Bourgeoisie paktieren, mit dem Militär, alles tun, um nur an der Spitze zu bleiben. Die ...«

»Sie werden sich nicht eines solchen Verrates schuldig machen,« unterbrach ihn Gioia heftig.

Anatol lachte bitter. »Sie haben sich in vier langen Jahren an den Verrat gewöhnt; was könnt ihr anderes von ihnen erwarten? Das wissen auch unsere Führer, wissen genau, daß es den Kampf aufs Messer gilt.«

»Komm, Anatol, wir wollen in die Versammlung gehen, Liebknecht wird sprechen,« erinnerte Johannes.

»Ich kann nicht auf die Straße gehen, kann nicht die rote Fahne wehen sehen, beschmutzt und entehrt von den Händen, die sie gehißt haben. Zweimal hat Deutschland die Idee gemordet, in Brest-Litowsk und in der deutschen Revolution!«

Er verbarg das Gesicht in den Händen, tiefe Stille herrschte in der kleinen Stube, verzagte, trostlose Stille. Schließlich brach Frau von Reuter das Schweigen. Ihre alte, zitternde Hand fuhr liebkosend über Anatols gebeugten Kopf. »Ich verstehe nicht recht, worum es sich handelt, weiß nur unklar, daß wieder einmal Menschen das Heilige zu sich herabgezerrt und geschändet haben. Das brandmarkt die Menschen, mein Kind, aber nicht das Heilige. Das bleibt, das ist ewig und unbesieglich. Und auch hier tragen es noch viele im Herzen. Glaube mir, es ist so stark, daß es, selbst wenn es auch nur ein Einziger in seiner Seele bewahrte, von dieser einen Seele aus die Welt entflammen könnte.«

Anatol hob den Kopf, er schien die Worte der alten Frau nicht gehört zu haben, mit verzerrten Zügen blickte er zum Fenster hinaus. »Wie der Schnee fällt, alles zudeckt; die ganze Straße sieht aus wie ein Grab.«

Sie verstanden seine Stimmung, die sich allmählich allen mitgeteilt hatte. Nur die alte Frau lächelte und sagte leise, aber bestimmt: »O ihr Jungen, wißt ihr denn noch nicht, daß das Grab nicht den Tod bedeutet, sondern die Auferstehung?« – –

Durch die Siegesallee wälzte sich der endlose Zug, eine schwarze Drohung im fahlweißen Wintertag. Mit blödem Staunen blickten die weißen Marmorpuppen von ihren Sockeln herab: was soll das bedeuten? Das hat es zu unserer Zeit nie gegeben! Da haben sich die gemeinen Leute schön bescheiden geduckt und unseren Befehlen gefügt. Was sind das für Menschen, die hier an uns vorüberziehen? Sie sehen arm aus, gleichen in Kleidung und Äußerem unseren Untertanen, aber nie sahen wir in den Zügen unseres braven Volkes einen derartigen Ausdruck. Gehorsam, Ergebenheit, salbten sein Angesicht, und es wagte kaum, die Augen zu uns zu erheben. Diese jedoch haben harte, entschlossene Gesichter, ehrfurchtslose, kühn blitzende Augen. Bei Gott, das sind keine Untertanen mehr! Die Fürstenpuppen der Siegesallee fröstelten, zogen sich den Schneemantel fester um die Schultern und hätten gerne die Köpfe geschüttelt, wenn ihnen dies der starre Marmornacken gestattet hätte.

Sie hatten mit ihren blinden Augen – stets sind Herrscheraugen blind gewesen, auch wenn sie nicht aus weißem Marmor gemeißelt sind – zum erstenmal richtig gesehen. Das waren keine Untertanen mehr, die an ihnen vorüberzogen, waren Menschen, die, ihrer Würde bewußt, keinen Herrn mehr anerkannten, weil sie endlich, endlich begriffen hatten, daß sie selber die Herren waren, die Macht – sie, das Volk, das Proletariat. Zu Tode verbitterte Menschen waren es, weil sie erkannt hatten, man habe sie zum zweitenmal betrogen und diesmal war nicht der Feind der Betrüger gewesen, sondern der angebliche Freund, die Männer, denen sie jahrzehntelang geglaubt hatten, die ihre Führer gewesen waren.

Diese Erkenntnis brütete schwüle Hitze aus, von Mensch zu Menschen flog das böse Wissen, entfachte sich bei jedem neuen Anprall. Flammen des Hasses züngelten auf, und jeder neue Gedanke brachte dem Feuer neue Nahrung. Sturmwind waren die Worte der Führer, fuhren in die Flammen, trieben sie hoch, vergrößerten ihre Kraft. Lodernder Haß, heiliger Zorn schritt an jenem Sonntag durch die Straßen Berlins. Anatol, der sich dem Zug angeschlossen hatte, lachte auf, aus befreiter Brust. »Besiegt? Wie konnte ich dies nur glauben? Durch jeden Druck werden wir stärker. Wir sind das Feuer, das den Lügenwald verzehrt, sind das Meer, das die Düne überflutet. Für eine vom Felsen zurückgeworfene Welle gischen hunderte auf. Wir sind unsterblich, weil wir die Menschheit sind. Mögen sie uns töten, vernichten, neue Flammen werden aus Asche und Schutt brechen und ihre Festen zerstören. Wir sind unbesieglich!«


Kampf tobt in den Straßen Berlins. Schüsse hallen wider, Blut befleckt die Straßen, Schreie gellen auf, Militär jagt einher; Bürgerkrieg!

Verhaltener Grimm fletscht die Zähne. Die Besiegten vom neunten November, die Offiziere, die »treuen« Truppen, toben sich aus; sie sind mit einem Male gut Freund mit der bisher verhaßten Regierung. Entfesselte Roheit feiert Triumphe. In ihren Höhlen liegt lauernd die Reaktion und freut sich des Gemetzels.

Eine kleine Schar – die erhofften Verstärkungen sind ausgeblieben – kämpft einen Verzweiflungskampf, einen Kampf, der nur mit ihrer Niederlage enden kann. Nicht immer werden sie die Schwächeren sein, das Reich der Freiheit muß mit Blut erkauft werden. Und sie, die zerlumpt und elend auf den Straßen sterben, zu Tode getroffen, von Pferden überritten, sie lassen ihren Kindern ein köstliches Erbe – die Idee. Und wenn unsere Führer fallen, wir sind nicht führerlos, mit der roten Fahne in der Hand zieht die Idee vor uns her, wie die Feuersäule des Herrn den Juden den Weg wies ins gelobte Land. – –

Gustav ist verwundet, es gelingt Anatol und Johannes, die in seiner Nähe kämpfen, ihn in Johannes' Wohnung zu bringen. Als sie wieder fortwollen, klammert sich Gioia einen Augenblick an Johannes. »Wann kommst Du wieder?«

»Ich weiß nicht. War Lene nicht hier?«

»Sie brachte das Kind her, lief wieder fort. Und ich muß jetzt daheim sitzen.«

»Einige müssen am Leben bleiben, Gioia.«

Sie erschrickt vor dem Ernst seiner Stimme.

»Du glaubst, daß es hoffnungslos ist, daß wir nicht siegen können, vergeblich sterben?«

»Nicht vergeblich, Liebste. Dies ist kein Entscheidungskampf, ist bloß der Anfang eines langen, langen Ringens.« Er küßt sie innig. »Leb' wohl!« – –

Die frühe Winternacht bricht herein, alles verschwimmt zu grauer Masse. Der Kampf in den Straßen flaut ab; hier und dort dröhnt noch ein Schuß, in der Ferne rattern Maschinengewehre. Bisweilen schleudern Scheinwerfer grelles Licht auf den Asphalt.

Johannes steht auf seinem Posten. Er ist todmüde, kalter Wind läßt ihm die Glieder erstarren, tiefe Traurigkeit lastet bleiern auf seinem Gehirn. Pferdegetrampel klingt dumpf vom Pflaster auf. Johannes hebt das Gewehr. Schon haben ihn die Feinde bemerkt. »Wieder so ein verfluchter Spartakist!«

Ein Blitz zerreißt die Winternacht. Ein scharfer Knall. – Die Soldaten reiten weiter. Johannes liegt auf der Erde, fühlt, wie eine warme, klebrige Flüssigkeit an ihm herabrieselt.

Am unteren Ende der Straße kommt es noch zu einem Zusammenstoß. Scheinwerfer erhellen das Dunkel, Johannes sieht mit sich trübenden Augen, wie kleine schwarze Punkte aufeinander losstürzen. Verzweiflung überkommt ihn. Ist das das Ende? Die Ungerechtigkeit siegt und die Freiheit flieht? Wird das gelobte Land niemals erreicht werden? Vor seinen Toren stehen Heere mit Maschinengewehren.

Aus der Ferne tönt Hufschlag. Seltsam, es klingt wie etwas anderes, klingt, als würden bei einem Bau Steine geklopft, Steine. Seine Gedanken verwirren sich. Es ist ihm plötzlich warm und wohl zumute. Die bleierne Trauer, die seine Brust zusammengepreßt, hebt sich. Zartes, gedämpftes Klingen tönt in seinen Ohren, Schellen, ja Schlittenschellen. Vor seinen geschlossenen Augen steigt ein Bild auf. Eine breite, unendlich lange Straße ist es, hell erleuchtet. In einem Schlitten sitzt er als kleiner Junge, in Pelze gehüllt neben einer schönen Frau ... Ein schlanker Arm preßt ihn fest an einen duftenden Körper ... Der Schlitten rast dahin ... Das Bild verschwimmt. Nun glaubt er, eine behagliche Wohnstube zu sehen ... Gioia sitzt am Schreibtisch ... das elektrische Licht fällt prall auf ihr rotbraunes Haar ... es schimmert wie Bronze ... Und immer wieder, durch alle Bilder, durch alle wirren Träume dieser seltsame Ton, als würden Steine geklopft ...

Er öffnet die Augen; woher kommt dies Geräusch? Und da sieht er von Licht überflutet einen hohen Hügel vor sich ... Aus unendlicher Ferne hört er eine längstvergessene alte Stimme: »Und siehe, sie fügten Stein an Stein, und meißelten und hämmerten, und andere trugen Gold herbei und Edelsteine und machten sich damit zu schaffen. Da begriff Simon, daß der heilige Tempel wieder aufgebaut werde, und sein Herz jauchzte und sprang vor Freude ...«

Der Tempel; ja, Steine werden geklopft beim Tempelbau ...

Am Ende der Straße kämpfen noch immer schwarze, verschwimmende Pünktchen miteinander. Johannes sieht sie vorspringen, zurückweichen, winzige, schwarze Pünktchen. Bisweilen blitzt etwas auf, ein scharfer Strahl zuckt von einem Pünktchen zum anderen. Eine kalte Wirklichkeitswelle spült erstarrend über Johannes' Gehirn. Das sind Menschen, kämpfende Menschen. Dann hüllt ein warmer, rosiger Nebel ihn völlig ein. Es duftet plötzlich nach Flieder. Angestrengt starrt er auf die kämpfenden, schwarzen Pünktchen. Und lächelt. Wie hat er nur glauben können, daß dies kämpfende Leute sind, Menschen, die sich gegenseitig ein Leid antun? Das ist nur ein böser Traum gewesen. Nun sehen seine Augen wieder klar, immer lauter wird das Klopfen, und er erblickt einen endlosen Zug, der mit Bausteinen in den Händen den Hügel hinansteigt ... Und immer neue kommen hinzu, von allen Enden der Welt und bringen Stein um Stein ...

Es wird ihm schwarz vor den Augen, er schließt sie, ringt keuchend nach Luft ... Dann öffnet er sie noch einmal, und vor seinem beseligten Blick steht der Tempel, schimmernd und gleißend in überirdischem Licht, und ragt in vollendeter Herrlichkeit in den Nachthimmel auf ...

Ende.


Hinweise zur Transkription

Das Originalbuch ist in Antiqua gesetzt.

Darstellung abweichender Schriftarten: gesperrt, Kursiv.

Im Originalbuch fehlt, zwischen siebtem und neuntem Kapitel, die Kennzeichnung eines achten Kapitels. Es wurde deshalb auf Seite 44 an der Position eines inhaltlichen Gedankenwechsels die Überschrift "Achtes Kapitel." eingefügt.

Der Text des Originalbuches wurde grundsätzlich beibehalten, mit folgenden Ausnahmen,

Seite 4:
im Original "legten Stein an Stein, und meiselten und hämmerten"
geändert in "legten Stein an Stein, und meißelten und hämmerten"

Seite 15:
im Original "»Und wer ist die Muttergottes.«"
geändert in "»Und wer ist die Muttergottes?«"

Seite 18:
im Original "alldies hatte er schon einmal gesehen"
geändert in "all dies hatte er schon einmal gesehen"

Seite 22:
im Original "gut zu den beiden. die bucklige Schustersfrau"
geändert in "gut zu den beiden. Die bucklige Schustersfrau"

Seite 28:
im Original "Bitte, Muttergottes, für die Heilige!"
geändert in "Bitte, Muttergottes, für die Heilige!«"

Seite 31:
im Original "»Margarete kommt demnächst zu Besuch!»"
geändert in "»Margarete kommt demnächst zu Besuch!«"

Seite 38:
im Original "»Und wodurch hat Deine liebe Mutter euch erhalten?"
geändert in "»Und wodurch hat Deine liebe Mutter euch erhalten?«"

Seite 38:
im Original "am Morgen fand er hiezu keine Zeit"
geändert in "am Morgen fand er hierzu keine Zeit"

Seite 46:
im Original "Mein Vater sagt aucht man müsse"
geändert in "Mein Vater sagt auch, man müsse"

Seite 50:
im Original "»Das unterirdische Rußland« von Stepniak, das kenne ich.«"
geändert in "»›Das unterirdische Rußland‹ von Stepniak, das kenne ich.«"

Seite 66:
im Original "Du sollst doch »gute« Bekanntschaften machen"
geändert in "Du sollst doch ›gute‹ Bekanntschaften machen"

Seite 76:
im Original "kommt ihnen merkwürdig vor, nicht wahr?"
geändert in "kommt Ihnen merkwürdig vor, nicht wahr?"

Seite 77:
im Original "Savin schenkte ihr noch ein Glas Tee ein"
geändert in "Savin schenkte ihr noch ein Glas Tee ein."

Seite 78:
im Original "»Du, Lene?« Das ist nett, daß Du mich besuchst."
geändert in "»Du, Lene? Das ist nett, daß Du mich besuchst."

Seite 79:
im Original "›Was arbeitest Du jetzt? oder ›Was bedeutet diese Formel?‹"
geändert in "›Was arbeitest Du jetzt?‹ oder ›Was bedeutet diese Formel?‹"

Seite 82:
im Original "Diese alte Dame its die Liebe Ihres Bruders Johannes"
geändert in "Diese alte Dame ist die Liebe Ihres Bruders Johannes"

Seite 89:
im Original "sie besonders ergriffen hatte – die der »»Scheuerfrauen«."
geändert in "sie besonders ergriffen hatte – die der »Scheuerfrauen«."

Seite 90:
im Original "verwirrte ihren Geist' andere starben freiwillig"
geändert in "verwirrte ihren Geist, andere starben freiwillig"

Seite 92:
im Original "Er ging mit ausgestreckten Armen auf sie zu:"
geändert in "Er ging mit ausgestreckten Armen auf sie zu."

Seite 94:
im Original "»Der alte Mann legte ihr eine schöne Rose"
geändert in "Der alte Mann legte ihr eine schöne Rose"

Seite 97:
im Original "auch ich finde, die Leute hier entsetzlich"
geändert in "auch ich finde die Leute hier entsetzlich"

Seite 99:
im Original "»Sagen Sie nicht Gräfin«, lieber Herr Pastor"
geändert in "»Sagen Sie nicht ›Gräfin‹, lieber Herr Pastor"

Seite 101:
im Original "Mit heimwehschweren Augen betrachtet sie die"
geändert in "Mit heimwehschweren Augen betrachtete sie die"

Seite 101:
im Original "Ueber ihr lächelte im sonnigen Glanz"
geändert in "Über ihr lächelte im sonnigen Glanz"

Seite 106:
im Original "»Sehr ihr denn nicht, daß wir uns täglich mehr"
geändert in "»Seht ihr denn nicht, daß wir uns täglich mehr"

Seite 116:
im Original "»Er redet schon ganz ›vaterländisch-korrekt,« höhnte"
geändert in "»Er redet schon ganz ›vaterländisch-korrekt‹,« höhnte"

Seite 120:
im Original "»Verräter!« »Spion!« Saujud! Schlagt ihn tot!««"
geändert in "»Verräter!« »Spion!« »Saujud! Schlagt ihn tot!«"

Seite 120:
im Original "»Sollen wir unsere Ueberzeugungen verleugnen?«"
geändert in "»Sollen wir unsere Überzeugungen verleugnen?«"

Seite 122:
Absatz eingefügt vor "Lene warf den Brief unmutig auf den Tisch"

Seite 124:
im Original "Es seufzte. »Du bist ein Kind, Gioia"
geändert in "Er seufzte. »Du bist ein Kind, Gioia"

Seite 129:
im Original "Blut der Märyrer ist der Same der Kirche"
geändert in "Blut der Märtyrer ist der Same der Kirche"

Seite 138:
im Original "Früher. vor dem Krieg, da gab es"
geändert in "Früher, vor dem Krieg, da gab es"

Seite 140:
im Original "»Laßt doch endlich die Tat folgen."
geändert in "Laßt doch endlich die Tat folgen."

Seite 143:
im Original "Wären wir erst so weit,« seufzte Kerner."
geändert in "»Wären wir erst so weit,« seufzte Kerner."