The Project Gutenberg EBook of Knulp, by Hermann Hesse
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Title: Knulp
Drei Geschichten aus dem Leben Knulps
Author: Hermann Hesse
Release Date: January 29, 2006 [EBook #17622]
Language: German
Character set encoding: ISO-8859-1
*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK KNULP ***
Produced by K.F. Greiner, Markus Brenner and the Online
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Fischers Bibliothek
zeitgenössischer Romane
Knulp
Drei Geschichten aus dem Leben Knulps
von
Hermann Hesse
S. Fischer, Verlag, Berlin
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die der Übersetzung.
Gedruckt während der Kriegszeit auf Papier mit Holzschliffzusatz.
Copyright 1915 S. Fischer, Verlag.
Vorfrühling
Anfang der neunziger Jahre mußte unser Freund
Knulp einmal mehrere Wochen im Spital liegen, und
als er entlassen wurde, war es Mitte Februar und
scheußliches Wetter, so daß er schon nach wenigen
Wandertagen wieder Fieber spürte und auf ein Unterkommen
bedacht sein mußte. An Freunden hat es
ihm nie gefehlt, und er hätte fast in jedem Städtchen
der Gegend leicht eine freundliche Aufnahme gefunden.
Aber darin war er sonderbar stolz, so sehr,
daß es eigentlich für eine Ehre gelten konnte, wenn
er von einem Freund etwas annahm.
Diesmal war es der Weißgerber Emil Rothfuß in
Lächstetten, dessen er sich erinnerte und an dessen schon
verschlossener Haustüre er abends bei Regen und
Westwind anklopfte. Der Gerber tat den Fensterladen
im Oberstock ein wenig auf und rief in die dunkle
Gasse hinunter: »Wer ist draußen? Hat’s nicht auch
Zeit, bis es wieder Tag ist?«
Knulp, als er die Stimme des alten Freundes hörte,
wurde trotz aller Müdigkeit sofort munter. Er erinnerte
sich an ein Verschen, das er vor Jahren gemacht
hatte, als er einmal vier Wochen mit Emil
Rothfuß zusammen gewandert war, und sang alsbald
am Hause hinauf:
»Es sitzt ein müder Wandrer
In einer Restauration,
Das ist gewiß kein andrer
Als der verlorne Sohn.«
Der Gerber stieß den Laden heftig auf und beugte
sich weit aus dem Fenster.
»Knulp! Bist du’s oder ist’s ein Geist?«
»Ich bin’s!« rief Knulp. »Du kannst aber auch über
die Stiege herunter kommen, oder muß es durchs
Fenster sein?«
Mit froher Eile kam der Freund herab, tat die
Haustüre auf und leuchtete dem Ankömmling mit der
kleinen rauchenden Öllampe ins Gesicht, daß er blinzeln
mußte.
»Jetzt aber herein mit dir!« rief er aufgeregt und
zog den Freund ins Haus. »Erzählen kannst du später.
Es ist noch was vom Nachtessen übrig, und ein Bett
kriegst du auch. Lieber Gott, bei dem Sauwetter!
Ja, hast du denn auch gute Stiefel, du?«
Knulp ließ ihn fragen und sich wundern, schlug auf
der Treppe sorgfältig die umgelitzten Hosenbeine herab
und stieg mit Sicherheit durch die Dämmerung empor,
obwohl er das Haus seit vier Jahren nimmer betreten
hatte.
Im Gang oben, vor der Wohnstubentüre, blieb er
einen Augenblick stehen und hielt den Gerber, der ihn
eintreten hieß, an der Hand zurück.
»Du,« sagte er flüsternd, »gelt, du bist ja jetzt verheiratet?«
»Ja, freilich.«
»Eben drum. – Weißt du, deine Frau kennt mich
nicht; es kann sein, sie hat keine Freude. Stören mag
ich euch nicht.«
»Ach was stören!« lachte Rothfuß, tat die Türe weit
auf und drängte Knulp in die helle Stube. Da hing
über einem großen Eßtisch an drei Ketten die große
Petroleumlampe, ein leichter Tabaksrauch schwebte
in der Luft und drängte in dünnen Zügen nach dem
heißen Zylinder hin, wo er hastig emporwirbelte und
verschwand. Auf dem Tisch lag eine Zeitung und eine
Schweinsblase voll Rauchtabak, und von dem kleinen
schmalen Kanapee an der Querwand sprang mit halber
und verlegener Munterkeit, als sei sie in einem
Schlummer gestört worden und wolle es nicht merken
lassen, die junge Hausfrau auf. Knulp blinzelte einen
Augenblick wie verwirrt am scharfen Licht, sah der
Frau in die hellgrauen Augen und gab ihr mit einem
höflichen Kompliment die Hand.
»So, das ist sie,« sagte der Meister lachend. »Und
das ist der Knulp, mein Freund Knulp, weißt du, von
dem wir auch schon gesprochen haben. Er ist natürlich
unser Gast und kriegt das Gesellenbett. Es steht ja
doch leer. Aber zuerst trinken wir einen Most miteinander,
und der Knulp muß was zu essen haben.
Es war doch noch eine Leberwurst da, nicht?«
Die Meisterin lief hinaus, und Knulp sah ihr nach.
»Ein bißchen erschrocken ist sie doch,« meinte er leise.
Aber Rothfuß wollte das nicht zugeben.
»Kinder habet ihr noch keine?« fragte Knulp.
Da kam sie schon wieder herein, brachte auf einem
Zinnteller die Wurst und stellte das Brotbrett daneben,
das in seiner Mitte einen halben Laib Schwarzbrot trug,
sorglich mit dem Anschnitt nach unten gestellt, und um
dessen Ründung im Kreise die erhaben geschnitzte Inschrift
lief: Gib uns heute unser täglich Brot.
»Weißt du, Lis, was der Knulp mich gerade gefragt
hat?«
»Laß doch!« wehrte dieser ab. Und er wandte sich
lächelnd an die Hausfrau: »Also, ich bin so frei, Frau
Meisterin.«
Aber Rothfuß ließ nicht nach.
»Ob wir denn keine Kinder haben, hat er gefragt.«
»Ach was!« rief sie lachend und lief sogleich wieder
davon.
»Ihr habet keine?« fragte Knulp, als sie draußen
war.
»Nein, noch keine. Sie läßt sich Zeit, weißt du, und
für die ersten Jahre ist es auch besser. Aber greif zu,
gelt, und laß dir’s schmecken!«
Nun brachte die Frau den grau und blauen, steingutenen
Mostkrug herein und stellte drei Gläser dazu
auf, die sie alsbald vollschenkte. Sie machte es geschickt,
Knulp sah ihr zu und lächelte.
»Zum Wohl, alter Freund!« rief der Meister und
streckte Knulp sein Glas entgegen. Der war aber
galant und rief: »Zuerst die Damen. Ihr wertes
Wohl, Frau Meisterin! Prosit, Alter!«
Sie stießen an und tranken, und Rothfuß leuchtete
vor Freude und blinzelte seiner Frau zu, ob sie auch
bemerke, was sein Freund für fabelhafte Manieren
habe.
Sie hatte es aber längst bemerkt.
»Siehst du,« sagte sie, »der Herr Knulp ist höflicher
als du, der weiß, was der Brauch ist.«
»O bitte,« meinte der Gast, »das hält eben jeder so,
wie er’s gelernt hat. Was Manieren betrifft, da könnten
Sie mich leicht in Verlegenheit bringen, Frau
Meisterin. Und wie schön Sie serviert haben, wie im
feinsten Hotel!«
»Ja gelt,« lachte der Meister, »das hat sie aber auch
gelernt.«
»So, wo denn? Ist Ihr Herr Vater Wirt?«
»Nein, der ist schon lang unterm Boden, ich hab
ihn kaum mehr gekannt. Aber ich habe ein paar Jahre
lang im Ochsen serviert, wenn Sie den kennen.«
»Im Ochsen? Der ist früher das feinste Gasthaus
von Lächstetten gewesen,« lobte Knulp.
»Das ist er auch noch. Gelt, Emil? Wir haben fast
nur Handlungsreisende und Turisten im Logis gehabt.«
»Ich glaub’s, Frau Meisterin. Da haben Sie’s
sicher gut gehabt und was Schönes verdient! Aber
ein eigener Haushalt ist doch besser, gelt?«
Langsam und genießerisch strich er die weiche Wurst
auf sein Brot, legte die reinlich abgezogene Haut auf
den Rand des Tellers und nahm zuweilen einen
Schluck von dem guten gelben Apfelmost. Der Meister
sah mit Behagen und Respekt ihm zu, wie er mit den
schlanken feinen Händen das Notwendige so sauber
und spielend tat, und auch die Hausfrau nahm es mit
Gefallen wahr.
»Extra gut aussehen tust du aber nicht,« begann im
weiteren Emil Rothfuß zu tadeln, und jetzt mußte
Knulp bekennen, daß es ihm neuestens schlecht gegangen
und daß er im Krankenhaus gewesen sei.
Doch verschwieg er alles Peinliche. Als ihn darauf
sein Freund fragte, was er denn jetzt anzufangen
denke, und ihm mit Herzlichkeit Tisch und Lager für
jede Dauer anbot, da war dies zwar genau das, was
Knulp erwartet und womit er gerechnet hatte, aber
er wich wie in einer Anwandlung von Schüchternheit
aus, dankte flüchtig und verschob das Besprechen dieser
Dinge bis morgen.
»Über das können wir morgen oder übermorgen
auch noch reden,« meinte er nachlässig, »die Tage
gehen ja gottlob nicht aus, und eine kleine Weile
bleib ich auf alle Fälle hier.«
Er machte nicht gern Pläne oder Versprechungen
auf lange Zeit. Wenn er nicht die freie Verfügung
über den kommenden Tag in der Tasche hatte, fühlte
er sich nicht wohl.
»Falls ich wirklich eine Zeitlang hierbleiben sollte,«
begann er dann wieder, »so mußt du mich als deinen
Gesellen anmelden.«
»Warum nicht gar!« lachte der Meister auf. »Du
und mein Gesell! Außerdem bist du ja gar kein Weißgerber.«
»Tut nichts, verstehst du denn nicht? Es liegt mir
gar nichts am Gerben, es soll zwar ein schönes Handwerk
sein, und zum Arbeiten habe ich kein Talent.
Aber meinem Wanderbüchlein wird es gut tun, weißt
du. Für das Krankengeld käme ich dann schon auf.«
»Darf ich’s einmal sehen, dein Büchlein?«
Knulp griff in die Brusttasche seines fast neuen Anzuges
und zog das Ding heraus, das reinlich in einem
Wachstuchfutteral steckte.
Der Gerbermeister sah es an und lachte: »Immer
tadellos! Man meint, du seiest erst gestern früh von
der Mutter fortgereist.«
Dann studierte er die Einträge und Stempel und
schüttelte in tiefer Bewunderung den Kopf: »Nein,
ist das eine Ordnung! Bei dir muß halt alles nobel
sein.«
Das Wanderbüchlein so in Ordnung zu halten, war
allerdings eine von Knulps Liebhabereien. Es stellte
in seiner Tadellosigkeit eine anmutige Fiktion oder
Dichtung dar, und seine amtlich beglaubigten Einträge
bezeichneten lauter ruhmvolle Stationen eines ehrenwerten
und arbeitsamen Lebens, in welchem nur die
Wanderlust in Form sehr häufiger Ortswechsel auffiel.
Das in diesem amtlichen Paß bescheinigte Leben
hatte Knulp sich angedichtet und mit hundert Künsten
diese Scheinexistenz am oft bedrohten Faden weiter
geführt, während er in Wirklichkeit zwar wenig Verbotenes
tat, aber als arbeitsloser Landstreicher ein
ungesetzliches und mißachtetes Dasein hatte. Freilich
wäre es ihm kaum geglückt, seine hübsche Dichtung
so ungestört fortzusetzen, wären ihm nicht alle Gendarmen
wohlgesinnt gewesen. Sie ließen den heiteren,
unterhaltsamen Menschen, dessen geistige Überlegenheit
und gelegentlichen Ernst sie achteten, nach
Möglichkeit in Ruhe. Er war beinahe ohne Vorstrafen,
es war ihm kein Diebstahl und kein Bettel
nachgewiesen, angesehene Freunde hatte er auch überall;
so ließ man ihn passieren, wie etwa in einem wohlgeordneten
Hauswesen eine hübsche Katze mitleben
mag, die jeder nachsichtig zu dulden meint, während
sie unbekümmert zwischen allen den fleißigen und bedrückten
Menschen ein sorgenlos elegantes, prachtvoll
herrenmäßiges und arbeitsloses Dasein verlebt.
»Aber jetzt wäret ihr schon lang im Bett, wenn ich
nicht gekommen wäre,« rief Knulp, indem er seine
Papiere wieder an sich nahm. Er stand auf und
machte der Hausfrau ein Kompliment.
»Komm, Rothfuß, und zeig mir, wo mein Bett
steht.«
Der Meister begleitete ihn mit Licht die schmale
Stiege zum Dachstock hinauf und in die Gesellenkammer.
Da stand eine leere eiserne Bettstatt an der
Wand und daneben eine hölzerne, die mit Bettzeug
versehen war.
»Willst eine Bettflasche?« fragte der Hauswirt
väterlich.
»Das fehlt gerade noch,« lachte Knulp. »Der Herr
Meister, der braucht freilich keine, wenn er so ein
hübsches kleines Frauelein hat.«
»Ja, siehst du,« meinte Rothfuß ganz eifrig, »da
steigst du jetzt in dein kaltes Gesellenbett in der Dachkammer,
und manchmal noch in ein schlechteres, und
manchmal hast du gar keins und mußt im Heu schlafen.
Aber unsereiner hat Haus und Geschäft und eine nette
Frau. Schau, du könntest doch schon lang Meister
sein und weiter als ich, wenn du bloß gewollt hättest.«
Knulp hatte unterdessen in aller Eile die Kleider
abgelegt und sich fröstelnd in das kühle Bettzeug verkrochen.
»Weißt du noch viel?« fragte er. »Ich liege gut
und kann zuhören.«
»Es ist mir Ernst gewesen, Knulp.«
»Mir auch, Rothfuß. Du mußt aber nicht meinen,
das Heiraten sei eine Erfindung von dir. Also gut
Nacht auch!«
Den anderen Tag blieb Knulp im Bette liegen. Er
fühlte sich noch etwas schwach, und das Wetter war
so, daß er doch das Haus kaum verlassen hätte. Den
Gerber, der sich vormittags bei ihm einfand, bat er,
er möge ihn ruhig liegen lassen und ihm nur am Mittag
einen Teller Suppe heraufbringen.
So lag er in der dämmerigen Dachkammer den
ganzen Tag still und zufrieden, fühlte Kälte und
Wanderbeschwerden entschwinden und gab sich mit
Lust dem Wohlgefühl warmer Geborgenheit hin. Er
hörte dem fleißigen Klopfen des Regens auf dem
Dache zu und dem Wind, der unruhig, weich und
föhnig in launischen Stößen ging. Dazwischen schlief
er halbe Stunden oder las, solange es licht genug war,
in seiner Wanderbibliothek; die bestand aus Blättern,
auf welche er sich Gedichte und Sprüche abgeschrieben
hatte, und aus einem kleinen Bündel von Zeitungsausschnitten.
Auch einige Bilder waren dazwischen,
die er in Wochenblättern gefunden und ausgeschnitten
hatte. Zwei davon waren seine Lieblinge und sahen
vom öfteren Hervorziehen schon brüchig und zerfasert
aus. Das eine stellte die Schauspielerin Eleonora
Duse vor, das andere zeigte ein Segelschiff bei starkem
Winde auf hoher See. Für den Norden und für das
Meer hatte Knulp seit den Knabenjahren eine starke
Vorliebe, und mehrmals hatte er sich dahin auf den
Weg gemacht, war auch einmal bis ins Braunschweigische
gekommen. Aber diesen Zugvogel, der immer
unterwegs war und an keinem Orte lang verweilen
konnte, hatte eine merkwürdige Bangigkeit und Heimatliebe
immer wieder in raschen Märschen nach Süddeutschland
zurückgetrieben. Es mag auch sein, daß
ihm die Sorglosigkeit verlorenging, wenn er in Gegenden
mit fremder Mundart und Sitte kam, wo
niemand ihn kannte und wo es ihm schwer fiel, sein
legendenhaftes Wanderbüchlein in Ordnung zu halten.
Um die Mittagszeit brachte der Gerber Suppe und
Brot herauf. Er trat leise auf und sprach in einem erschrockenen
Flüsterton, da er Knulp für krank hielt und
selber seit der Zeit seiner Kinderkrankheiten niemals
am hellen Tage im Bett gelegen war. Knulp, der
sich sehr wohl fühlte, gab sich keine Mühe mit Erklärungen
und versicherte nur, er werde morgen wieder
aufstehen und gesund sein.
Im späteren Nachmittag klopfte es an der Kammertür,
und da Knulp im Halbschlummer lag und keine
Antwort gab, trat die Meistersfrau vorsichtig herein
und stellte statt des leeren Suppentellers eine Schale
Milchkaffee auf die Stabelle am Bett.
Knulp, der sie wohl hatte hereinkommen hören,
blieb aus Müdigkeit oder Laune mit geschlossenen
Augen liegen und ließ nichts davon merken, daß er
wach sei. Die Meisterin, mit dem leeren Teller in der
Hand, warf einen Blick auf den Schläfer, dessen Kopf
auf dem halb vom blaugewürfelten Hemdärmel bedeckten
Arme lag. Und da ihr die Feinheit des dunklen
Haares und die fast kindliche Schönheit des sorglosen
Gesichts auffiel, blieb sie eine Weile stehen und sah
sich den hübschen Burschen an, von dem ihr der Meister
viel Wunderliches erzählt hatte. Sie sah über den
geschlossenen Augen die dichten Brauen auf der zarten,
hellen Stirn und die schmalen, doch braunen Wangen,
den feinen, hellroten Mund und den schlanken, lichten
Hals, und alles gefiel ihr wohl, und sie dachte an die
Zeit, da sie als Kellnerin im Ochsen je und je in Frühlingslaunen
sich von einem solchen fremden, hübschen
Buben hatte liebhaben lassen.
Indem sie sich, träumerisch und leicht erregt, ein
wenig vorbeugte, um das ganze Gesicht zu sehen, glitt
ihr der zinnerne Löffel vom Teller und fiel auf den
Boden, worüber sie in der Stille und befangenen
Heimlichkeit des Ortes heftig erschrak.
Nun schlug Knulp die Augen auf, langsam und unwissend,
als habe er tief geschlafen. Er drehte den
Kopf herüber, hielt einen Augenblick die Hand über
die Augen und sagte mit Lächeln: »Eia, da ist ja die
Frau Meisterin! Und hat mir einen Kaffee gebracht!
Ein guter, warmer Kaffee, das ist gerade das, wovon
ich in diesem Augenblick geträumt habe. Also schönen
Dank, Frau Rothfuß! Was ist es denn auch für
Zeit?«
»Viere,« sagte sie schnell. »Jetzt trinken Sie nur,
solang er warm ist, nachher hol ich das Geschirr dann
wieder.«
Damit lief sie hinaus, als habe sie keine Minute
übrig. Knulp sah ihr nach und hörte zu, wie sie in
Eile die Treppe hinab verschwand. Er machte nachdenkliche
Augen und schüttelte mehrmals den Kopf,
dann stieß er einen leisen, vogelartigen Pfiff aus und
wendete sich zu seinem Kaffee.
Eine Stunde nach dem Dunkelwerden aber wurde
es ihm langweilig, er fühlte sich wohl und prächtig
ausgeruht und hatte Lust, wieder ein wenig unter
Leute zu kommen. Behaglich stand er auf und zog sich
an, schlich in der tiefen Dämmerung leise wie ein
Marder die Treppe hinab und schlüpfte unbemerkt
aus dem Hause. Der Wind blies noch immer schwer
und feucht aus Südwesten, aber es regnete nicht mehr,
und am Himmel standen große Flecken licht und klar.
Schnuppernd flanierte Knulp durch die abendlichen
Gassen und über den verödeten Marktplatz, stellte sich
dann im offenen Tor einer Hufschmiede auf, sah den
Lehrlingen beim Aufräumen zu, fing ein Gespräch
mit den Gesellen an und hielt die kühlen Hände über
die dunkelrot verglosende Esse. Dabei fragte er obenhin
nach manchen Bekannten in der Stadt, erkundigte
sich über Todesfälle und Heiraten und ließ sich
von dem Hufschmied für einen Kollegen ansehen, denn
es waren ihm die Sprachen und Erkennungszeichen
aller Handwerke geläufig.
Während dieser Zeit setzte die Frau Rothfuß ihre
Abendsuppe an, klimperte mit den Eisenringen am
kleinen Herd und schälte Kartoffeln, und als das getan
war und die Suppe sicher auf schwachem Feuer stand,
ging sie mit der Küchenlampe ins Wohnzimmer hinüber
und stellte sich vor dem Spiegel auf. Sie fand
darin, was sie suchte: ein volles, frischwangiges Gesicht
mit bläulich-grauen Augen, und was ihr am Haar zu
bessern schien, brachte sie schnell mit geschickten Fingern
in Ordnung. Darauf strich sie die frischgewaschenen
Hände noch einmal an der Schürze ab, nahm das
Lämpchen zur Hand und stieg rasch ins Dach hinauf.
Sachte klopfte sie an die Türe der Gesellenkammer,
und nochmals etwas lauter, und da keine Antwort
kam, stellte sie die Leuchte an den Boden und machte
mit beiden Händen vorsichtig die Tür auf, daß sie
nicht knarre. Auf den Zehen ging sie hinein, tat einen
Schritt und ertastete den Stuhl bei der Bettstatt.
»Schlafen Sie?« fragte sie mit halber Stimme. Und
noch einmal: »Schlafen Sie? Ich will nur das Geschirr
abräumen.«
Da alles ruhig blieb und nicht einmal ein Atemzug
zu hören war, streckte sie die Hand gegen das Bett hin
aus, zog sie aber in einem Gefühl von Unheimlichkeit
wieder zurück und lief nach der Lampe. Als sie nun
die Kammer leer und das Bett mit Sorgfalt zugerichtet,
auch Kissen und Federdecke tadellos aufgeschüttelt
fand, lief sie verwirrt, zwischen Angst und
Enttäuschung, in ihre Küche zurück.
Eine halbe Stunde später, als der Gerber zum
Nachtessen heraufgekommen und der Tisch gedeckt
war, fing die Frau schon an, sich Gedanken zu machen,
fand aber nicht den Mut, dem Gerber von ihrem Besuch
in der Dachkammer zu erzählen. Da ging unten
das Tor, ein leichter Schritt klang durch den gepflasterten
Gang und die gebogene Stiege herauf, und
Knulp stand da, nahm den hübschen braunen Filz vom
Kopf und wünschte guten Abend.
»Ja, wo kommst denn du her?« rief der Meister erstaunt.
»Ist krank und läuft dabei in der Nacht herum!
Du kannst dir ja den Tod holen.«
»Ganz richtig,« sagte Knulp. »Grüß Gott, Frau
Rothfuß, ich komme ja gerade recht. Ihre gute Suppe
habe ich schon vom Marktplatz her gerochen, die wird
mir den Tod schon vertreiben.«
Man setzte sich zum Essen. Der Hausherr war gesprächig
und rühmte sich seiner Häuslichkeit und seines
Meisterstandes. Er neckte den Gast und redete ihm
dann wieder ernstlich zu, er solle doch das ewige
Wandern und Nichtstun einmal aufgeben. Knulp
hörte zu und gab wenig Antwort, und die Meisterin
sagte kein Wort. Sie ärgerte sich über ihren Mann,
der ihr neben dem manierlichen und hübschen Knulp
grob erschien, und gab dem Gast ihre gute Meinung
durch die Aufmerksamkeit ihrer Bewirtung kund. Als
es zehn Uhr schlug, sagte Knulp gute Nacht und bat
sich des Gerbers Rasiermesser aus.
»Sauber bist du,« rühmte Rothfuß, indem er das
Messer hergab. »Kaum kratzt’s dich am Kinn, so muß
der Bart herunter. Also gut Nacht, und gute Besserung!«
Ehe Knulp in seine Kammer trat, lehnte er sich in
das kleine Fensterchen oben an der Bodentreppe, um
noch einen Augenblick nach Wetter und Nachbarschaft
auszuschauen. Es war beinahe windstill, und zwischen
den Dächern stand ein schwarzes Stück Himmel, in
welchem klare, feucht schimmernde Sterne brannten.
Eben wollte er den Kopf hereinziehen und das
Fenster schließen, da wurde ein kleines Fenster ihm
gegenüber im Nachbarhause plötzlich hell. Er sah eine
kleine niedere Kammer, der seinen ganz ähnlich, durch
deren Türe eine junge Dienstmagd hereintrat, eine
Kerze im messingnen Leuchter in der Hand und in der
Linken einen großen Wasserkrug, den sie am Boden
abstellte. Dann leuchtete sie mit der Kerze über ihr
schmales Mägdebett hin, das bescheiden und säuberlich
mit einer groben roten Wollendecke zum Schlafen
einlud. Sie stellte den Leuchter weg, man sah nicht
wohin, und setzte sich auf eine niedere grüngemalte
Kofferkiste, wie alle Dienstmägde eine haben.
Knulp hatte sofort, als die unerwartete Szene drüben
zu spielen begann, sein eigenes Licht ausgeblasen,
um nicht gesehen zu werden, und stand nun still und
lauernd aus seiner Luke gebeugt.
Die junge Magd drüben war von der Art, die ihm
gefiel. Sie war vielleicht achtzehn oder neunzehn
Jahre, nicht eben groß gewachsen, und hatte ein bräunliches
gutes Gesicht mit einem kleinen Mund, mit
braunen Augen und dunklem dichten Haar. Dies
stille angenehme Gesicht sah gar nicht fröhlich aus, und
die ganze Person saß auf ihrer harten grünen Kiste
ziemlich bekümmert und traurig da, so daß Knulp, der
die Welt und auch die Mädchen kannte, sich wohl denken
konnte, das junge Ding sei noch nicht lange mit
seiner Kiste in der Fremde und habe Heimweh. Sie
ließ die mageren braunen Hände im Schoße ruhen und
suchte einen flüchtigen Trost darin, vor dem Schlafengehen
noch eine Weile auf ihrem kleinen Eigentum zu
sitzen und an die heimatliche Wohnstube zu denken.
Ebenso regungslos wie sie in ihrer Kammer verharrte
Knulp in seinem Fensterloch und blickte mit
wunderlicher Spannung in das kleine fremde Menschenleben
hinüber, das so harmlos seinen hübschen
Kummer im Kerzenlicht hütete und an keinen Zuschauer
dachte. Er sah die braunen, gutmütigen Augen
bald unverborgen herüber dunkeln, bald wieder von
langen Wimpern bedeckt und auf den braunen, kindlichen
Wangen das rote Licht leise spielen, er sah den
mageren jungen Händen zu, wie sie müde waren und
die kleine letzte Arbeit des Entkleidens noch ein wenig
hinausschoben, während sie auf dem dunkelblauen
baumwollenen Kleide ruhten.
Endlich richtete das Jüngferlein mit einem Seufzer
den Kopf mit den schweren, in ein Nest aufgesteckten
Zöpfen empor, blickte gedankenvoll, doch nicht minder
bekümmert ins Leere und bückte sich dann tief, um
ihre Schuhnestel aufzulösen.
Knulp wäre ungern schon jetzt weggegangen, doch
schien es ihm unrecht und fast grausam, dem armen
Kinde beim Auskleiden zuzuschauen. Gern hätte er
sie angerufen, ein wenig mit ihr geschwatzt und sie mit
einem Scherzwort ein wenig fröhlicher zu Bett gehen
lassen. Aber er fürchtete, sie würde erschrecken und
alsbald ihr Licht ausblasen, wenn er hinüber riefe.
Statt dessen begann er nun eine seiner vielen kleinen
Künste zu üben. Er hob an, unendlich fein und
zart zu pfeifen, wie aus der Ferne her, und er pfiff
das Lied »In einem kühlen Grunde, da geht ein
Mühlenrad«, und es gelang ihm, es so fein und zart
zu machen, daß das Mädchen eine ganze Weile zuhörte,
ohne recht zu wissen, was es sei, und erst beim
dritten Vers sich langsam aufrichtete, aufstand und
horchend an ihr Fenster trat.
Sie streckte den Kopf heraus und lauschte, indes
Knulp leise weiterpfiff. Sie wiegte den Kopf ein
paar Takte lang der Melodie nach, schaute dann plötzlich
auf und erkannte, woher die Musik komme.
»Ist jemand da drüben?« fragte sie halblaut.
»Nur ein Gerbergesell,« gab es ebenso leise Antwort.
»Ich will die Jungfer nicht im Schlafen stören.
Ich habe nur ein bißchen das Heimweh gehabt und
mir noch ein Lied gepfiffen. Ich kann aber auch lustige.
– Bist du etwa auch fremd hier, Mädele?«
»Ich bin vom Schwarzwald.«
»Ja, vom Schwarzwald! Und ich auch, und da sind
wir Landsleute. Wie gefällt’s dir in Lächstetten? Mir
gar nicht.«
»O, ich kann nichts sagen, ich bin erst acht Tage hier.
Aber es gefällt mir auch nicht recht. Seid Ihr schon
länger da?«
»Nein, drei Tage. Aber Landsleute sagen du zu
einander, gelt?«
»Nein, ich kann nicht, wir kennen einander ja gar
nicht.«
»Was nicht ist, kann werden. Berg und Tal kommen
nicht zueinander, aber die Leute. Wo ist denn Euer
Ort, Fräulein?«
»Das kennt Ihr doch nicht.«
»Wer weiß? Oder ist’s ein Geheimnis?«
»Achthausen. Es ist bloß ein Weiler.«
»Aber ein schöner, gelt? Vorn am Eck steht
eine Kapelle, und es ist auch eine Mühle da, oder
eine Sägerei, und dort haben sie einen großen
gelben Bernhardinerhund. Stimmt’s oder stimmt’s
nicht?«
»Der Bello, herrje!«
Da sie sah, er kenne ihre Heimat und sei wirklich
dort gewesen, fiel ein großes Teil Mißtrauen und Bedrücktheit
von ihr ab, und sie wurde ganz eifrig.
»Kennet Ihr auch den Andres Flick?« fragte sie
rasch.
»Nein, ich kenne niemand dort. Aber gelt, das ist
Euer Vater?«
»Ja.«
»So, so, also dann seid Ihr eine Jungfer Flick, und
wenn ich jetzt noch den Vornamen dazu weiß, dann
kann ich Euch eine Karte schreiben, wenn ich wieder
einmal durch Achthausen komme.«
»Wollet Ihr denn schon wieder fort?«
»Nein, ich will nicht, aber ich will Euern Namen
wissen, Jungfer Flick.«
»Ach was, ich weiß ja Euren auch nicht.«
»Das tut mir leid, aber es läßt sich ändern. Ich
heiße Karl Eberhard, und wenn wir uns einmal am
Tag wieder begegnen, dann wisset Ihr, wie Ihr mich
anrufen müßt, und wie muß ich dann zu Euch sagen?«
»Barbara.«
»So ist’s recht und danke schön. Er ist aber schwer
zum Aussprechen, Euer Name, und ich möchte fast
eine Wette machen, daß man Euch daheim Bärbele
gerufen hat.«
»Das hat man auch. Wenn Ihr doch alles schon
wisset, warum fraget Ihr dann so viel? Aber jetzt
müssen wir Feierabend machen. Gut Nacht, Gerber.«
»Gut Nacht, Jungfer Bärbele. Schlafet auch gut,
und weil Ihr’s seid, will ich jetzt noch eins pfeifen.
Laufet nicht fort, es kostet nichts.«
Und alsbald setzte er ein und pfiff einen kunstvollen
jodlerartigen Satz, mit Doppeltönen und Trillern, daß
es funkelte wie eine Tanzmusik. Sie hörte mit Erstaunen
dieser Kunstfertigkeit zu, und als es stille
ward, zog sie leise den Fensterladen herein und machte
ihn fest, während Knulp ohne Licht in seine Kammer
fand.
Am Morgen stand Knulp diesmal zu guter Stunde
auf und nahm des Gerbers Rasiermesser in Gebrauch.
Der Gerber trug aber schon seit Jahren einen Vollbart,
und das Messer war so verwahrlost, daß Knulp
es wohl eine halbe Stunde lang über seinem Hosenträger
abziehen mußte, ehe das Barbieren gelang.
Als er fertig war, zog er den Rock an, nahm die Stiefel
in die Hand und stieg in die Küche hinab, wo es warm
war und schon nach Kaffee roch.
Er bat die Meistersfrau um Bürste und Wichse zum
Stiefelputzen
»Ach was!« rief sie, »das ist kein Männergeschäft.
Lassen Sie mich das machen.«
Allein das gab er nicht zu, und als sie endlich mit
ungeschicktem Lachen ihr Wichszeug vor ihn hinstellte,
tat er die Arbeit gründlich, reinlich und dabei spielend,
als ein Mann, der nur gelegentlich und nach Laune,
dann aber mit Sorgfalt und Freude eine Handarbeit
verrichtet.
»Das lass’ ich mir gefallen,« rühmte die Frau und
sah ihn an. »Alles blank, wie wenn Sie grad zum
Schatz gehen wollten.«
»O, das tät’ ich auch am liebsten.«
»Ich glaub’s. Sie haben gewiß einen schönen.«
Sie lachte wieder zudringlich. »Vielleicht sogar mehr
als einen?«
»Ei, das wäre nicht schön,« tadelte Knulp munter.
»Ich kann Ihnen auch ein Bild von ihr zeigen.«
Begierig trat sie heran, während er sein Wachstuchmäpplein
aus der Brusttasche zog und das Bildnis
der Duse hervorsuchte. Interessiert betrachtete sie das
Blatt.
»Die ist sehr fein,« begann sie vorsichtig zu loben,
»das ist ja fast eine rechte Dame. Nur freilich, mager
sieht sie aus. Ist sie denn auch gesund?«
»Soviel ich weiß, jawohl. So, und jetzt wollen wir
nach dem Alten sehen, man hört ihn in der Stube.«
Er ging hinüber und begrüßte den Gerber. Die
Wohnstube war gefegt und sah mit dem hellen Getäfel,
mit der Uhr, dem Spiegel und den Photographien
an der Wand freundlich und heimelig aus.
So eine saubere Stube, dachte Knulp, ist im Winter
nicht übel, aber darum zu heiraten, verlohnt doch
nicht recht. Er hatte an dem Wohlgefallen, das die
Meisterin ihm zeigte, keine Freude.
Nachdem der Milchkaffee getrunken war, begleitete
er den Meister Rothfuß nach dem Hof und Schuppen
und ließ sich die ganze Gerberei zeigen. Er kannte
fast alle Handwerke und stellte so sachverständige Fragen,
daß sein Freund ganz erstaunt war.
»Woher weißt du denn das alles?« fragte er lebhaft.
»Man könnte meinen, du seiest wirklich ein
Gerbergesell oder einmal einer gewesen.«
»Man lernt allerlei, wenn man reist,« sagte Knulp
gemessen. »Übrigens, was die Weißgerberei angeht,
da bist du selber mein Lehrmeister gewesen, weißt du’s
nimmer? Vor sechs oder sieben Jahren, wie wir zusammen
gewandert sind, hast du mir das alles erzählen
müssen.«
»Und das weißt du alles noch?«
»Ein Stück davon, Rothfuß. Aber jetzt will ich dich
nimmer stören. Schade, ich hätte dir gern ein bißchen
geholfen, aber es ist da unten so feucht und stickig, und
ich muß noch so viel husten. Also Servus, Alter, ich geh
ein wenig in die Stadt, solang es gerade nicht regnet.«
Als er das Haus verließ und langsam die Gerbergasse
stadteinwärts bummelte, den braunen Filzhut
etwas nach hinten gerückt, trat Rothfuß in die Tür
und sah ihm nach, wie er leicht und genießerisch dahinging,
überall sauber gebürstet und den Regenpfützen
sorglich ausweichend.
»Gut hat er’s eigentlich,« dachte der Meister mit
einem kleinen Neidgefühl. Und während er zu seinen
Gruben ging, dachte er dem Freund und Sonderling
nach, der nichts vom Leben begehrte als das Zuschauen,
und er wußte nicht, sollte er das anspruchsvoll oder bescheiden
heißen. Einer, der arbeitete und sich vorwärts
schaffte, hatte es ja in vielem besser, aber er konnte nie
so zarte hübsche Hände haben und so leicht und schlank
einhergehen. Nein, der Knulp hatte recht, wenn er
so tat, wie sein Wesen es brauchte und wie es ihm nicht
viele nachtun konnten, wenn er wie ein Kind alle
Leute ansprach und für sich gewann, allen Mädchen
und Frauen hübsche Sachen sagte, und jeden Tag für
einen Sonntag nahm. Man mußte ihn laufen lassen,
wie er war, und wenn es ihm schlecht ging und er
einen Unterschlupf brauchte, so war es ein Vergnügen
und eine Ehre, ihn aufzunehmen, und man
mußte fast noch dankbar dafür sein, denn er machte es
froh und hell im Haus.
Indessen schritt sein Gast neugierig und vergnügt
durchs Städtchen, pfiff einen Soldatenmarsch durch die
Zähne und begann ohne Eile die Orte und Menschen
aufzusuchen, die er von früher her kannte. Zunächst
wandte er sich nach der steil ansteigenden Vorstadt, wo
er einen armen Flickschneider kannte, um den es schade
war, daß er nichts als alte Hosen zu stopfen und kaum
jemals einen neuen Anzug zu machen bekam, denn
er konnte etwas und hatte einmal Hoffnungen gehabt
und in guten Werkstätten gearbeitet. Aber er hatte
früh geheiratet und schon ein paar Kinder, und die
Frau hatte wenig Genie fürs Hauswesen.
Diesen Schneider Schlotterbeck suchte und fand
Knulp im dritten Stockwerk eines Hinterhauses in der
Vorstadt. Die kleine Werkstätte hing wie ein Vogelnest
in den Lüften überm Bodenlosen, denn das Haus
stand an der Talseite, und wenn man durch die Fenster
senkrecht hinabschaute, hatte man nicht nur die drei
Stockwerke unter sich, sondern unterm Hause floh der
Berg mit kümmerlichen steilen Gärten und Grashalden
schwindelnd abwärts, endigend in einem
grauen Wirrwarr von Hinterhausvorsprüngen, Hühnerhöfen,
Ziegen- und Kaninchenställen, und die
nächsten Hausdächer, auf die man hinabsah, lagen
jenseits dieses verwahrlosten Geländes schon tief und
klein im Tale drunten. Dafür war die Schneiderwerkstatt
taghell und luftig, und auf seinem breiten Tisch
am Fenster hockte der fleißige Schlotterbeck hell und
hoch über der Welt wie der Wächter in einem Leuchtturm.
»Servus, Schlotterbeck,« sagte Knulp im Eintreten,
und der Meister, vom Licht geblendet, spähte mit eingekniffenen
Augen nach der Türe.
»Oha, der Knulp!« rief er aufleuchtend und streckte
ihm die Hand entgegen. »Auch wieder im Land?
Und wo fehlt’s denn, daß du zu mir herauf steigst?«
Knulp zog einen dreibeinigen Stuhl heran und
setzte sich nieder.
»Gib eine Nadel her und ein bißchen Faden, aber
braunen und vom feinsten, ich will Musterung halten.«
Damit zog er Rock und Weste aus, suchte sich einen
Zwirn heraus, fädelte ein und überging mit wachsamen
Augen seinen ganzen Anzug, der noch sehr gut und fast
neu aussah und an dem er jede blöde Stelle, jede
lockere Litze, jeden halbwegs losen Knopf alsbald mit
fleißigen Fingern wieder instand setzte.
»Und wie geht’s sonst?« fragte Schlotterbeck. »Die
Jahreszeit ist nicht zu loben. Aber schließlich, wenn
man gesund ist und keine Familie hat –«
Knulp räusperte sich polemisch.
»Ja, ja,« sagte er lässig. »Der Herr läßt regnen über
Gerechte und Ungerechte, und nur die Schneider
sitzen trocken. Hast du immer noch zu klagen, Schlotterbeck?«
»Ach, Knulp, ich will nichts sagen. Du hörst ja die
Kinder nebendran schreien. Es sind jetzt fünf. Da sitzt
man und schuftet bis in alle Nacht hinein, und nirgends
will’s reichen. Und du tust nichts als spazierengehen!«
»Fehlgeschossen, alter Kunde. Vier oder fünf Wochen
bin ich im Spital in Neustadt gelegen, und da
behalten sie keinen länger, als er’s bitter nötig hat, und
es bleibt auch keiner länger drin. Des Herrn Wege
sind wunderbar, Freund Schlotterbeck.«
»Ach laß diese Sprüche, du!«
»Bist du denn nimmer fromm, he? Ich will es
gerade auch werden, und darum bin ich zu dir gekommen.
Wie steht’s damit, alter Stubenhocker?«
»Laß mich in Ruh’ mit der Frömmigkeit! Im Spital,
sagst du? Da tust du mir aber leid.«
»Ist nicht nötig, es ist vorbei. Und jetzt erzähl einmal:
wie ist’s mit dem Buch Sirach und mit der Offenbarung?
Weißt du, im Spital hab ich Zeit gehabt,
und eine Bibel war auch da, da hab ich fast alles gelesen
und kann jetzt besser mitreden. Es ist ein kurioses
Buch, die Bibel.«
»Da hast du recht. Kurios, und die Hälfte muß
verlogen sein, weil keins zum andern paßt. Du verstehst’s
vielleicht besser, du bist ja einmal in die Lateinschule
gegangen.«
»Davon ist mir wenig geblieben.«
»Siehst du, Knulp –.« Der Schneider spuckte zum
offenen Fenster in die Tiefe hinunter und sah mit
großen Augen und erbittertem Gesicht hinterdrein.
»Sieh, Knulp, es ist nichts mit der Frömmigkeit. Es
ist nichts damit, und ich pfeife drauf, sag ich dir. Ich
pfeife drauf!«
Der Wanderer sah ihn nachdenklich an.
»So, so. Das ist aber viel gesagt, alter Kunde. Mir
scheint, in der Bibel stehen ganz gescheite Sachen.«
»Ja, und wenn du ein Stück weiterblätterst, dann
steht immer irgendwo das Gegenteil. Nein, ich bin
fertig damit, aus und fertig.«
Knulp war aufgestanden und hatte nach einem
Bügeleisen gegriffen.
»Du könntest mir ein paar Kohlen drein geben,«
bat er den Meister.
»Zu was denn auch?«
»Ich will die Weste ein wenig bügeln, weißt du, und
dem Hut wird es auch gut tun, nach all dem Regen.«
»Immer nobel!« rief Schlotterbeck etwas ärgerlich.
»Was brauchst du so fein zu sein wie ein Graf, wenn
du doch nur ein Hungerleider bist?«
Knulp lächelte ruhig. »Es sieht besser aus, und es
macht mir eine Freude, und wenn du’s nicht aus
Frömmigkeit tun willst, so tust du’s einfach aus Nettigkeit
und einem alten Freund zuliebe, gelt?«
Der Schneider ging durch die Tür hinaus und kam
bald mit dem heißen Eisen wieder.
»So ist’s recht,« lobte Knulp, »danke schön!«
Er begann vorsichtig den Rand seines Filzhutes zu
glätten, und da er hierin nicht so geschickt war wie im
Nähen, nahm ihm der Freund das Eisen aus der Hand
und tat die Arbeit selber.
»Das laß ich mir gefallen,« sagte Knulp dankbar.
»Jetzt ist es wieder ein Sonntagshut. Aber schau,
Schneider, von der Bibel verlangst du zu viel. Das,
was wahr ist, und wie das Leben eigentlich eingerichtet
ist, das muß ein jeder sich selber ausdenken und
kann es aus keinem Buch lernen, das ist meine Meinung.
Die Bibel ist alt, und früher hat man mancherlei
noch nicht gewußt, was man heute kennt und weiß;
aber darum steht doch viel Schönes und Braves drin,
und auch ganz viel Wahres. Stellenweise ist sie mir
gerade wie ein schönes Bilderbuch vorgekommen,
weißt du. Wie das Mädchen da, die Ruth, übers Feld
geht und die übrigen Ähren sammelt, das ist fein, und
man spürt den schönsten warmen Sommer drin, oder
wie der Heiland sich zu den kleinen Kindern setzt und
denkt: ihr seid mir doch viel lieber als die Alten mit
ihrem Hochmut alle zusammen! Ich finde, da hat er
recht, und da könnte man schon von ihm lernen.«
»Ja, das wohl,« gab Schlotterbeck zu und wollte
ihn doch nicht Recht haben lassen. »Aber einfacher ist
es schon, wenn man das mit andrer Leute Kindern
tut, als wenn man selber fünfe hat und weiß nicht, wie
sie durchfüttern.«
Er war wieder ganz verdrossen und bitter, und Knulp
konnte das nicht ansehen. Er wünschte ihm, ehe er
gehe, noch etwas Gutes zu sagen. Er besann sich ein
wenig. Dann beugte er sich zu dem Schneider, sah
ihm mit seinen hellen Augen nah und ernsthaft ins
Gesicht und sagte leise: »Ja, hast du sie denn nicht lieb,
deine Kinder?«
Ganz erschrocken riß der Schneider die Augen auf.
»Aber freilich, was denkst du auch! Natürlich hab ich
sie lieb, den Größten am meisten.«
Knulp nickte mit großem Ernst.
»Ich will jetzt gehen, Schlotterbeck, und ich sage dir
schönen Dank. Die Weste ist jetzt gerade das Doppelte
wert. – Und dann, mit deinen Kindern mußt du lieb
und lustig sein, das ist schon halb gegessen und getrunken.
Paß auf, ich sage dir etwas, was niemand
weiß und was du nicht weiter zu erzählen
brauchst.«
Der Meister sah ihm aufmerksam und überwunden
in die klaren Augen, die sehr ernst geworden waren.
Knulp sprach jetzt so leise, daß der Schneider Mühe
hatte, ihn zu verstehen.
»Sieh mich an! Du beneidest mich und denkst: der
hat es leicht, keine Familie und keine Sorgen! Aber
es ist nichts damit. Ich habe ein Kind, denk dir, einen
kleinen Buben von zwei Jahren, und der ist von fremden
Leuten angenommen worden, weil man doch den
Vater nicht kennt und weil die Mutter im Kindbett
gestorben ist. Du brauchst die Stadt nicht zu wissen,
wo er ist; aber ich weiß sie, und wenn ich dorthin
komme, dann schleiche ich mich um das Haus herum
und steh am Zaun und warte, und wenn ich Glück
habe und sehe den kleinen Kerl, dann darf ich ihm
keine Hand und keinen Kuß geben und ihm höchstens
im Vorbeigehen was vorpfeifen. – Ja, so ist das, und
jetzt adieu, und sei froh, daß du Kinder hast!«
Knulp setzte seinen Gang durch die Stadt fort, er
stand eine Weile plaudernd am Werkstattfenster eines
Drechslers und sah dem geschwinden Spiel der lockigen
Holzspäne zu, er begrüßte unterwegs auch den
Polizeidiener, der ihm gewogen war und ihn aus
seiner Birkendose schnupfen ließ. Überall erfuhr er
Großes und Kleines aus dem Leben der Familien
und Gewerbe, er hörte vom frühen Tod der Stadtrechnersfrau
und vom ungeratenen Sohn des Bürgermeisters,
er erzählte dafür neues von anderen Orten
und freute sich des schwachen, launigen Bandes, das
ihn als Bekannten und Freund und Mitwisser da und
dort mit dem Leben der Seßhaften und Ehrbaren
verband. Es war Samstag, und er fragte in der Toreinfahrt
einer Brauerei die Küfergesellen, wo es
heut abend und morgen eine Tanzgelegenheit gebe.
Es gab mehrere, aber die schönste war die im Leuen
von Gertelfingen, nur eine halbe Stunde weit.
Dahin beschloß er das junge Bärbele aus dem Nachbarhause
mitzunehmen.
Es war bald Mittagszeit, und als Knulp die Treppe
im Rothfußschen Hause erstieg, schlug ihm von der
Küche her ein angenehm kräftiger Geruch entgegen.
Er blieb stehen und sog in knabenhafter Lust und Neugierde
mit spürenden Nüstern das Labsal ein. Aber
so still er gekommen war, man hatte ihn schon gehört.
Die Meistersfrau tat die Küchentüre auf und stand
freundlich in der lichten Öffnung, vom Dampf der
Speisen umwölkt.
»Grüß Gott, Herr Knulp,« sagte sie liebevoll,
»das ist recht, daß Sie so zeitig kommen. Nämlich wir
kriegen heut Leberspatzen, wissen Sie, und da hab
ich mir gedacht, vielleicht könnte ich ein Stück Leber für
Sie extra braten, wenn Sie es so lieber haben. Was
meinen Sie?«
Knulp strich sich den Bart und machte eine Kavaliersbewegung.
»Ja, warum soll denn ich was Besonderes haben,
ich bin froh, wenn’s eine Suppe gibt.«
»Ach was, wenn einer krank gewesen ist, gehört
er ordentlich gepflegt, wo soll sonst die Kraft herkommen?
Aber vielleicht mögen Sie gar keine Leber?
Es gibt solche.«
Er lachte bescheiden.
»O, von denen bin ich nicht, ein Teller voll Leberspatzen,
das ist ein Sonntagsessen, und wenn ich’s
mein Lebtag jeden Sonntag essen könnte, wär ich
schon zufrieden.«
»Bei uns soll Ihnen nichts fehlen. Zu was hat
man kochen gelernt! Aber sagen Sie’s jetzt nur, es
ist ein Stück Leber übrig, ich hab’s Ihnen aufgespart.
Es täte Ihnen gut.«
Sie kam näher und lächelte ihm aufmunternd ins
Gesicht. Er verstand gut, wie sie es meinte, und ziemlich
hübsch war das Weiblein auch, aber er tat, als sehe
er nichts. Er spielte mit seinem hübschen Filzhut, den
ihm der arme Schneider aufgebügelt hatte, und sah
nebenaus.
»Danke, Frau Meisterin, danke schön für den guten
Willen. Aber Spatzen sind mir wirklich lieber. Ich
werde schon genug verwöhnt bei Ihnen.«
Sie lächelte und drohte ihm mit dem Zeigefinger.
»Sie brauchen nicht so schüchtern zu tun, ich glaub’s
Ihnen doch nicht. Also Spatzen! und ordentlich Zwiebel
dran, gelt?«
»Da kann ich nicht nein sagen.«
Sie lief besorgt zu ihrem Herde zurück, und er setzte
sich in die Stube, wo schon gedeckt war. Er las im
gestrigen Wochenblatt, bis der Meister sich einfand
und die Suppe aufgetragen wurde. Man aß, und
nach Tische wurde zu dreien eine Viertelstunde mit
Karten gespielt, wobei Knulp seine Wirtin durch einige
neue, verwegene und zierliche Kartenkunststücke in
Erstaunen setzte. Er verstand auch mit spielerischer
Nachlässigkeit die Karten zu mischen und blitzschnell
zu ordnen, er warf sein Blatt mit Eleganz auf den
Tisch und ließ zuweilen den Daumen über die Kartenränder
laufen. Der Meister sah mit Bewunderung
und Nachsicht zu, wie ein Arbeiter und Bürger brotlose
Künste sich gefallen läßt. Die Meisterin aber beobachtete
mit kennerhafter Teilnahme diese Anzeichen
einer weltmännischen Lebenskunst. Ihr Blick ruhte
aufmerksam auf seinen langen, zarten, von keiner
schweren Arbeit entstellten Händen.
Durch die kleinen Fensterscheiben floß ein dünner,
unsicherer Sonnenschein in die Stube, über den Tisch
und die Karten, spielte launisch und kraftlos am Fußboden
mit den schwachen Schlagschatten und zitterte
kreiselnd an der blau getünchten Stubendecke. Knulp
nahm dies alles mit blinzelnden Augen wahr: das
Spiel der Februarsonne, den stillen Frieden des
Hauses, das ernsthaft arbeitsame Handwerkergesicht
seines Freundes und die verschleierten Blicke der hübschen
Frau. Es gefiel ihm nicht, das war kein Ziel und
Glück für ihn. Wäre ich gesund, dachte er, und wäre es
Sommerszeit, ich bliebe keine Stunde länger hier.
»Ich will ein wenig der Sonne nachgehen,« sagte
er, als Rothfuß die Karten zusammenstrich und auf
die Uhr sah. Er ging mit dem Meister die Treppe
hinunter, ließ ihn im Trockenschuppen bei seinen Fellen
und verlor sich in den öden schmalen Grasgarten, der,
von Lohgruben unterbrochen, bis an das Flüßchen
hinabreichte. Dort hatte der Gerber einen kleinen
Brettersteg gebaut, an dem er seine Häute schwemmen
konnte. Auf den Steg setzte sich Knulp, ließ die Sohlen
knapp über dem still und rasch fließenden Wasser
hängen, blickte belustigt den schnellen, dunklen Fischen
nach, die unter ihm weg ihren Lauf hatten, und fing
dann an, die Gegend neugierig zu studieren, denn er
suchte eine Gelegenheit, mit der kleinen Dienstmagd
von drüben zu sprechen.
Die Gärten stießen aneinander, durch einen schlecht
erhaltenen Lattenzaun getrennt, und unten am
Wasser, wo die Zaunpfähle längst vermodert und verschwunden
waren, konnte man ungehindert vom einen
Grundstück auf das andere hinübergehen. Der Nachbarsgarten
schien mit mehr Sorgfalt gepflegt zu
werden als der wüste Grasplatz des Weißgerbers.
Man sah dort vier Reihen von Beeten liegen, vergrast
und eingesunken, wie sie nach dem Winter sind,
Ackerlattich und überwinterter Spinat wuchs spärlich
in zwei Rabatten, Rosenbäumchen standen zur Erde
gebogen mit eingegrabenen Kronen. Weiterhin standen,
das Haus verbergend, ein paar hübsche Fichtenbäume.
Bis zu ihnen drang Knulp geräuschlos vor, nachdem
er den fremden Garten betrachtet hatte, und sah nun
zwischen den Bäumen hindurch das Haus liegen, die
Küche nach hinten, und er hatte noch nicht lange gewartet,
da sah er in der Küche auch das Mädchen mit
aufgekrempelten Ärmeln wirtschaften. Die Hausfrau
war dabei und hatte viel zu befehlen und zu lehren,
wie es bei Weibern ist, die keine gelernte Magd bezahlen
mögen und ihre jährlich wechselnden Lehrmädchen
nachher, wenn sie aus dem Hause sind, nicht
genug zu preisen wissen. Ihre Unterweisung und
Klage geschah jedoch in einem Ton, der ohne Bosheit
war, und die Kleine schien bereits daran gewöhnt,
denn sie tat unbeirrt und mit glatter Miene ihre
Arbeit.
Der Eindringling stand an einen Stamm gelehnt
mit vorgestrecktem Kopf, neugierig und wachsam wie
ein Jäger, und lauschte mit vergnügter Geduld als
ein Mann, dessen Zeit wohlfeil ist und der gelernt hat,
als Zuschauer und Zuhörer am Leben teilzunehmen.
Er freute sich am Anblick des Mädchens, wenn es
durchs Fenster sichtbar wurde, und er schloß aus der
Mundart der Hausfrau, daß sie keine geborene Lächstetterin,
sondern ein paar Stunden weiter oben im
Tale daheim sei. Ruhig horchte er und kaute auf einem
duftenden Tannenzweig eine halbe Stunde und eine
ganze Stunde lang, bis die Frau verschwand und es
still in der Küche wurde.
Er wartete noch eine kleine Weile, dann trat er behutsam
vor und klopfte mit einem dürren Zweig ans
Küchenfenster. Die Magd achtete nicht darauf, er
mußte noch zweimal klopfen. Da kam sie ans halboffene
Fenster, tat es vollends auf und schaute heraus.
»Ja, was tut denn Ihr da?« rief sie halblaut.
»Jetzt wär ich fast erschrocken.«
»Vor mir doch nicht!« meinte Knulp und lächelte.
»Ich wollte bloß einmal Grüßgott sagen und sehen,
wie’s geht. Und weil nämlich heut Samstag ist,
möchte ich fragen, ob Ihr morgen nachmittag etwa
frei habet, zu einem kleinen Spaziergang.«
Sie sah ihn an und schüttelte den Kopf, und da
machte er ein so trostlos betrübtes Gesicht, daß es ihr
ganz leid tat.
»Nein,« sagte sie freundlich, »morgen hab ich nicht
frei, nur vormittags für die Kirche.«
»So, so,« brummte Knulp. »Ja, dann könntet Ihr
aber gewiß heut abend mitkommen.«
»Heut abend? Ja, frei hätte ich schon, aber da will
ich einen Brief schreiben, an meine Leute daheim.«
»O, den schreibt Ihr dann eben eine Stunde später,
er geht heut nacht doch nimmer fort. Sehet Ihr, ich
hab mich schon so gefreut, bis ich wieder ein bißchen
mit Euch reden kann, und heut abend, wenn’s nicht
gerade Katzen hagelt, hätten wir so schön spazieren
gehen können. Gelt, seiet lieb, Ihr werdet doch vor
mir keine Angst haben!«
»Angst hab ich gar keine, einmal vor Euch nicht.
Aber es geht halt nicht. Wenn man sieht, daß ich mit
einem Mannsbild spazieren geh –«
»Aber Bärbele, es kennt Euch ja hier kein Mensch.
Und es ist doch wahrhaftig keine Sünde und geht
niemand was an. Ihr seid doch kein Schulmädchen
mehr, gelt? Also vergesset es nicht, ich bin um acht
Uhr bei der Turnhalle drunten, da wo die Schranken
für den Viehmarkt sind. Oder soll ich früher kommen?
Ich kann es schon richten.«
»Nein, nein, nicht früher. Überhaupt – Ihr müsset
gar nicht kommen, es geht nicht, und ich darf nicht – –«
Wieder zeigte er das knabenhaft betrübte Gesicht.
»Ja, wenn Ihr halt gar nicht möget!« sagte er
traurig. »Ich habe gedacht, Ihr seid hier fremd und
allein und habet manchmal das Heimweh, und ich
auch, und da hätten wir einander ein bißchen erzählen
können, von Achthausen hätt ich gern noch mehr gehört,
weil ich doch einmal dort war. Ja nun, zwingen
kann ich Euch nicht, und Ihr müsset mir’s auch nicht
übelnehmen.«
»Ach was übelnehmen! Aber wenn ich doch nicht
kann.«
»Ihr habt ja frei heut abend, Bärbele. Ihr möget
bloß nicht. Aber vielleicht überlegt Ihr’s Euch noch.
Ich muß jetzt gehen, und heut abend bin ich an der
Turnhalle und warte, und wenn niemand kommt, dann
geh ich allein spazieren und denk an Euch und daß
Ihr jetzt nach Achthausen schreibet. Also adieu, und
nichts für ungut!«
Er nickte kurz und war weg, ehe sie noch etwas sagen
konnte. Sie sah ihn hinter den Bäumen verschwinden
und machte ein ratloses Gesicht. Dann kehrte sie zur
Arbeit zurück, und plötzlich begann sie – die Frau war
ausgegangen – laut und schön dazu zu singen.
Knulp hörte es wohl. Er saß wieder auf dem Gerbersteg
und machte kleine Kugeln aus einem Stückchen
Brot, das er bei Tische zu sich gesteckt hatte.
Die Brotkugeln ließ er sachte ins Wasser fallen, eine
nach der andern, und schaute nachdenklich zu, wie sie
untersanken, ein wenig von der Strömung abgetrieben,
und wie sie unten auf dem dunklen Grunde
von den stillen gespenstischen Fischen aufgeschnappt
wurden.
»So,« sagte der Gerbermeister beim Nachtessen,
»jetzt ist’s Samstag abend, und du weißt gar nicht,
wie schön das ist, wenn man es die ganze Woche
streng gehabt hat.«
»O, ich kann’s mir schon denken,« lächelte Knulp,
und die Meisterin lächelte mit und sah ihm schalkhaft
ins Gesicht.
»Heut abend,« fuhr Rothfuß im festlichen Tone fort,
»heut abend trinken wir einen guten Krug Bier miteinander,
meine Alte holt ihn gleich, gelt? Und morgen,
wenn es gut Wetter gibt, machen wir alle drei
einen Ausflug. Was meinst du, alter Freund?«
Knulp schlug ihn kräftig auf die Schulter.
»Man hat es gut bei dir, das muß ich sagen, und auf
den Ausflug freu ich mich schon. Hingegen heut abend
habe ich eine Besorgung, es ist ein Freund von mir
hier, den muß ich treffen, er hat in der oberen Schmiede
gearbeitet und reist morgen fort. – Ja, es tut mir
leid, aber morgen sind wir ja den ganzen Tag beieinander,
sonst hätt ich mich auch gar nicht darauf
eingelassen.«
»Du wirst doch nicht jetzt in der Nacht herumlaufen
wollen, wo du noch halb krank bist.«
»Ach was, zu arg darf man sich auch nicht verwöhnen.
Ich komme nicht spät heim. Wo tust du den
Schlüssel hin, daß ich dann herein kann?«
»Du bist ein Eigensinn, Knulp. Also dann geh halt,
und den Schlüssel findest du hinterm Kellerladen.
Du weißt doch, wo?«
»Jawohl. Dann geh ich jetzt. Leget Euch nur zeitig
ins Bett! Gut Nacht. Gut Nacht, Frau Meisterin.«
Er ging, und als er schon unten beim Haustor war,
kam ihm hastig die Meistersfrau nachgelaufen. Sie
brachte einen Regenschirm, den mußte Knulp mitnehmen,
er mochte wollen oder nicht.
»Sie müssen auch Sorge zu sich haben, Knulp,«
sagte sie. »Und jetzt will ich Ihnen zeigen, wo Sie
nachher den Schlüssel finden.«
Sie nahm ihn in der Dunkelheit bei der Hand und
führte ihn um die Hausecke und machte vor einem
Fensterchen halt, das mit Holzläden verschlossen war.
»Hinter den Laden legen wir den Schlüssel,« berichtete
sie aufgeregt und flüsternd und streichelte
Knulps Hand. »Sie müssen dann bloß durch den Ausschnitt
langen, er liegt auf dem Simsen.«
»Ja, danke schön,« sagte Knulp verlegen und zog
seine Hand zurück.
»Soll ich Ihnen ein Bier aufheben, bis Sie wiederkommen?«
fing sie wieder an und drückte sich leise
gegen ihn.
»Nein, danke, ich trinke selten eins. Gut Nacht,
Frau Rothfuß, und danke schön.«
»Pressiert’s denn so?« flüsterte sie zärtlich und kniff ihn
in den Arm. Ihr Gesicht stand dicht vor dem seinen, und
in einer verlegenen Stille, da er sie nicht mit Gewalt zurückstoßen
mochte, strich er mit der Hand über ihr Haar.
»Aber jetzt muß ich weiter,« rief er plötzlich überlaut
und trat zurück.
Sie lächelte ihn mit halb geöffnetem Munde an, er
konnte im Dunkeln ihre Zähne schimmern sehen.
Und sie rief ganz leise: »Ich warte dann, bis du heimkommst.
Du bist ein Lieber.«
Nun ging er rasch davon in die finstere Gasse hinein,
den Schirm unterm Arme, und begann bei der nächsten
Ecke, um der törichten Beklommenheit Herr zu werden,
zu pfeifen. Es war das Lied:
Du meinst’, ich werd’ dich nehmen,
Hab’s aber nicht im Sinn,
Ich muß mich deiner schämen,
Wenn ich in G’sellschaft bin.
Die Luft ging lau, und zuweilen traten Sterne am
schwarzen Himmel heraus. In einem Wirtshaus
lärmte junges Volk, dem Sonntag entgegen, und im
Pfauen sah er hinter den Fenstern der neuen Kegelbahn
eine bürgerliche Herrengesellschaft in Hemdärmeln
beieinander stehen, Kegelkugeln in den Händen
wägend und Zigarren im Munde.
Bei der Turnhalle machte Knulp halt und schaute sich
um. In den kahlen Kastanienbäumen sang schwach der
feuchte Wind, der Fluß strömte unhörbar in tiefer
Schwärze und spiegelte ein paar erleuchtete Fenster
wider. Die milde Nacht tat dem Landstreicher in allen
Fibern wohl, er atmete spürend und ahnte Frühling,
Wärme, trockene Straßen und Wanderschaft. Sein
unerschöpfliches Gedächtnis überschaute die Stadt,
das Flußtal und die ganze Gegend, er wußte überall
Bescheid, er kannte Straßen und Fußwege, Dörfer,
Weiler, Höfe, befreundete Nachtherbergen. Scharf
dachte er nach und stellte den Plan für seine nächste
Wanderung auf, da hier in Lächstetten seines Bleibens
doch nimmer sein konnte. Er wollte nur, wenn es ihm
die Frau nicht zu schwer machte, dem Freunde zulieb
noch über diesen Sonntag bleiben.
Vielleicht, dachte er, hätte er dem Gerber einen
Wink geben sollen, seiner Meisterin wegen. Aber er
liebte es nicht, seine Hände in anderer Leute Sorgen
zu stecken, und er hatte kein Bedürfnis, die Menschen
besser oder klüger machen zu helfen. Es tat ihm leid,
daß es so gegangen war, und seine Gedanken an die
ehemalige Ochsenkellnerin waren keineswegs freundlich;
aber er dachte auch mit einem gewissen Spott an
des Gerbers würdige Reden über Hausstand und Eheglück.
Er kannte das, es war meistens nichts damit,
wenn einer mit seinem Glück oder mit seiner Tugend
sich rühmte und groß tat, mit des Flickschneiders
Frömmigkeit war es einst ebenso gewesen. Man konnte
den Leuten in ihrer Dummheit zusehen, man konnte
über sie lachen oder Mitleid mit ihnen haben, aber
man mußte sie ihre Wege gehen lassen.
Mit einem gedankenvollen Seufzer tat er diese
Sorgen beiseite. Er lehnte sich in die Höhlung einer
alten Kastanie, der Brücke gegenüber, und dachte
weiter seiner Wanderschaft nach. Er wäre gerne quer
über den Schwarzwald gegangen, aber da oben war
es jetzt kalt, und vermutlich lag noch viel Schnee, man
verdarb sich die Stiefel, und die Schlafgelegenheiten
waren weit auseinander. Nein, damit war es nichts,
er mußte den Tälern nachgehen und sich an die Städtchen
halten. Die Hirschenmühle, vier Stunden weiter
unten am Fluß, war der erste sichere Rastort, dort
würde man ihn bei schlechtem Wetter ein, zwei Tage
behalten.
Wie er so in Gedanken stand und kaum mehr daran
dachte, daß er auf jemanden warte, erschien in Dunkelheit
und Zugwind auf der Brücke eine schmale ängstliche
Gestalt und kam zögernd näher. Er erkannte sie
sofort, lief ihr freudig und dankbar entgegen und
schwang den Hut.
»Das ist lieb, daß Ihr kommet, Bärbele, ich habe
schon beinah nimmer dran geglaubt.«
Er ging zu ihrer Linken und führte sie die Allee flußaufwärts.
Sie war zaghaft und schämte sich.
»Es war doch nicht recht,« sagte sie wieder und
wieder. »Wenn uns nur niemand sieht!«
Knulp aber hatte eine Menge zu fragen, und bald
wurden die Schritte des Mädchens ruhiger und gleichmäßiger,
und schließlich ging sie leicht und munter
neben ihm wie ein Kamerad und erzählte, von seinen
Fragen und Einwürfen erwärmt, mit Begier und
Eifer von ihrer Heimat, von Vater und Mutter,
Bruder und Großmama, von den Enten und Hühnern,
von Hagelschlag und Krankheiten, von Hochzeiten und
Kirchweihfesten. Ihr kleiner Schatz an Erlebnissen
tat sich auf und war größer, als sie selber geglaubt hätte,
und schließlich kam die Geschichte ihrer Verdingung
und ihres Abschieds von daheim, ihr jetziger Dienst
und das Hauswesen ihres Dienstherren an die Reihe.
Sie waren längst weit vor dem Städtchen draußen,
ohne daß Bärbele auf den Weg geachtet hatte. Nun
hatte sie sich von einer langen, trüben Woche des
Fremdseins, Schweigens und Duldens im Plaudern
erlöst und war ganz lustig geworden.
»Wo sind wir denn aber?« rief sie plötzlich verwundert.
»Wo laufen wir denn hin?«
»Wenn es Euch recht ist, gehen wir nach Gertelfingen
hinein, wir sind gleich dort.«
»Gertelfingen? Was sollen wir da? Wir wollen
lieber umkehren, es wird spät.«
»Wann müsset Ihr denn daheim sein, Bärbele?«
»Um zehne. Da wird’s Zeit. Es ist ein netter
Spaziergang gewesen.«
»Bis zehne ist’s noch lang,« sagte Knulp, »und ich
will gewiß dran denken, daß Ihr zur Zeit heimkommet.
Aber weil wir doch nimmer so jung zusammen kommen,
so könnten wir eigentlich heut noch einen Tanz miteinander
riskieren. Oder möget Ihr nicht tanzen?«
Sie sah ihn gespannt und verwundert an.
»O, tanzen mag ich immer. Aber wo denn? Hier
mitten in der Nacht draußen?«
»Ihr müsset wissen, wir sind gleich in Gertelfingen,
und da ist Musik im Löwen. Wir können hinein gehen,
bloß auf einen einzigen Tanz, und dann gehen wir
heim und haben einen schönen Abend gehabt.«
Bärbele blieb zweifelnd stehen.
»Es wäre lustig,« meinte sie langsam. »Aber was
soll man von uns denken? Ich will nicht für so eine
angeschaut werden, und ich will auch nicht, daß man
meint, wir zwei gehören zusammen.«
Und plötzlich lachte sie übermütig auf und rief:
»Nämlich, wenn ich später einmal einen Schatz haben
will, dann muß es kein Gerber sein. Ich will Euch nicht
beleidigen, aber Gerber ist doch ein unsauberes Handwerk.«
»Da habet Ihr vielleicht recht,« sagte Knulp gutmütig.
»Ihr sollet mich ja auch nicht heiraten. Es
weiß kein Mensch, daß ich ein Gerber bin und daß Ihr
so stolz seid, und die Hände hab ich mir gewaschen, und
wenn Ihr also einmal mit mir herumtanzen wollt, so
seid Ihr eingeladen. Sonst kehren wir um.«
Sie sahen in der Nacht das erste Haus des Dorfes
mit einem bleichen Giebel aus Gebüschen schauen, und
Knulp sagte plötzlich »Bst!« und hob den Finger auf,
und da hörten sie vom Dorfe her die Tanzmusik, eine
Ziehharmonika und eine Geige, tönen.
»Also denn!« lachte das Mädchen, und sie gingen
rascher.
Im Löwen tanzten nur vier oder fünf Paare,
lauter junge Leute, die Knulp nicht kannte. Es ging
still und anständig zu, und niemand belästigte das
fremde Paar, das sich dem nächsten Tanz anschloß.
Sie machten einen Ländler und eine Polka mit, dann
kam ein Walzer, den Bärbele nicht konnte. Sie sahen
zu und tranken einen Pfiff Bier, weiter reichte
Knulps Barschaft nicht.
Bärbele war beim Tanzen warm geworden und
blickte nun mit glänzenden Augen in den kleinen Saal.
»Jetzt wär es eigentlich Zeit zum Heimgehen,«
sagte Knulp, als es halb zehn Uhr war.
Sie fuhr auf und sah ein wenig traurig aus.
»Ach schade!« sagte sie leise.
»Wir können ja noch dableiben.«
»Nein, ich muß heim. Und schön war’s.«
Sie gingen weg, aber unter der Tür fiel es dem Mädchen
ein: »Wir haben ja der Musik gar nichts gegeben.«
»Ja,« meinte Knulp etwas verlegen, »sie hätten
wohl einen Zwanziger verdient. Aber es steht leider
so mit mir, daß ich keinen habe.«
Sie wurde eifrig und zog ihren kleinen gestrickten
Geldbeutel aus der Tasche.
»Warum saget Ihr auch nichts? Da ist ein Zwanziger,
gebet den!«
Er nahm das Geldstück und brachte es den Musikanten,
dann gingen sie hinaus und mußten vor der Haustür
einen Augenblick stehen bleiben, bis sie in der tiefen
Dunkelheit den Weg sahen. Der Wind ging stärker
und führte einzelne Regentropfen.
»Soll ich den Schirm auftun?« fragte Knulp.
»Nein, bei dem Wind, wir kämen ja nicht weiter.
Es ist nett gewesen da drinnen. Ihr könnet’s fast wie
ein Tanzmeister, Gerber.«
Sie plauderte fröhlich fort. Ihr Freund aber war
still geworden, vielleicht daß er müde ward, vielleicht
daß er den nahen Abschied fürchtete.
Plötzlich fing sie an zu singen: »Bald gras’ ich am
Neckar, bald gras’ ich am Rhein.« Ihre Stimme klang
warm und rein, und beim zweiten Vers fiel Knulp
mit ein und sang die zweite Stimme so sicher, tief und
schön, daß sie mit Behagen darauf horchte.
»So, ist jetzt das Heimweh vergangen?« fragte er
am Ende.
»O ja,« lachte sie hell. »Wir müssen wieder einmal
so einen Spaziergang machen.«
»Das tut mir leid,« antwortete er leiser. »Es wird
wohl der letzte gewesen sein.«
Da blieb sie stehen. Sie hatte nicht genau zugehört,
aber der betrübte Klang seiner Worte war ihr aufgefallen.
»Ja, was ist denn?« fragte sie leicht erschrocken.
»Habt Ihr was gegen mich?«
»Nein, Bärbele. Aber morgen muß ich fort, ich
habe gekündigt.«
»Was Ihr nicht saget! Ist’s wahr? Das tut mir
aber leid.«
»Um mich muß es Euch nicht leid sein. Lang wär’
ich doch nicht geblieben, und ich bin ja auch bloß ein
Gerber. Ihr müsset bald einen Schatz haben, einen
recht schönen, dann kommt das Heimweh nimmer, Ihr
werdet sehen.«
»Ach, redet nicht so! Ihr wisset, daß ich Euch
ganz gern habe, wenn Ihr auch nicht mein Schatz
seid.«
Sie schwiegen beide, der Wind pfiff ihnen ins Gesicht.
Knulp ging langsamer. Sie waren schon nah bei
der Brücke. Schließlich blieb er stehen.
»Ich will Euch jetzt adieu sagen, es ist besser, Ihr
gehet die paar Schritte noch allein.«
Bärbele sah ihm mit aufrichtiger Betrübnis ins
Gesicht.
»Es ist also Ernst? Dann sage ich Euch auch noch
meinen Dank. Ich will es nicht vergessen. Und alles
Gute auch!«
Er nahm ihre Hand und zog sie an sich, und während
sie ängstlich und verwundert in seine Augen sah, nahm
er ihren Kopf mit den vom Regen feuchten Zöpfen in
beide Hände und sagte flüsternd: »Adieu denn, Bärbele.
Ich will jetzt zum Abschied noch einen Kuß von
Euch haben, daß Ihr mich nicht ganz vergesset.«
Ein wenig zuckte sie und strebte zurück, aber sein
Blick war gut und traurig, und sie sah erst jetzt, wie
schöne Augen er habe. Ohne die ihren zu schließen,
empfing sie ernsthaft seinen Kuß, und da er darauf mit
einem schwachen Lächeln zögerte, bekam sie Tränen in
die Augen und gab ihm den Kuß herzhaft zurück.
Dann ging sie schnell davon und war schon über der
Brücke, da kehrte sie plötzlich um und kam wieder
zurück. Er stand noch am selben Ort.
»Was ist, Bärbele?« fragte er. »Ihr müsset heim.«
»Ja, ja, ich geh schon. Ihr dürfet nicht schlecht von
mir denken!«
»Das tu ich gewiß nicht.«
»Und wie ist denn das, Gerber? Ihr habet doch
gesagt, Ihr hättet gar kein Geld mehr? Ihr krieget
doch noch Lohn, eh Ihr fortgeht?«
»Nein, Lohn kriege ich keinen mehr. Aber es macht
nichts, ich komme schon durch, da müsset Ihr Euch keine
Gedanken machen.«
»Nein, nein! Ihr müsset etwas im Sack haben.
Da!«
Sie steckte ihm ein großes Geldstück in die Hand, er
spürte, daß es ein Taler war.
»Ihr könnet mir’s einmal wiedergeben oder schicken,
später einmal.«
Er hielt sie an der Hand zurück.
»Das geht nicht. So dürfet Ihr nicht mit Eurem
Geldlein umgehen! Das ist ja ein ganzer Taler.
Nehmt ihn wieder! Nein, Ihr müsset! So. Man muß
nicht unvernünftig sein. Wenn Ihr was Kleines bei
Euch habt, einen Fünfziger oder so, das nehm ich gerne,
weil ich in der Not bin. Aber mehr nicht.«
Sie stritten noch ein wenig, und Bärbele mußte
ihren Geldbeutel herzeigen, weil sie sagte, sie habe
nichts als den Taler. Es war aber nicht so, sie hatte
auch noch eine Mark und einen kleinen silbernen
Zwanziger, die damals noch galten. Den wollte er
haben, aber das war ihr zu wenig, und dann wollte er
gar nichts nehmen und fortgehen, aber schließlich
behielt er das Markstück, und sie lief nun im Trabe
heimwärts.
Unterwegs dachte sie beständig darüber nach, warum
er sie jetzt nicht noch einmal geküßt habe. Bald wollte
es ihr leid tun, bald fand sie es gerade besonders lieb
und anständig, und dabei blieb sie schließlich.
Eine gute Stunde später kam Knulp nach Hause.
Er sah im Wohnzimmer droben noch Licht brennen,
also saß die Meisterin noch auf und wartete auf ihn.
Er spuckte ärgerlich aus und wäre beinahe davongelaufen,
gleich jetzt in die Nacht hinein. Aber er war
müde, und es würde regnen, und dem Weißgerber
wollte er das auch nicht antun, und außerdem spürte
er auf diesen Abend hin noch Lust zu einem bescheidenen
Schabernack.
So fischte er denn den Schlüssel aus seinem Versteck
heraus, schloß vorsichtig wie ein Dieb die Haustüre
auf, zog sie hinter sich zu, schloß mit zusammengepreßten
Lippen geräuschlos ab und versorgte den
Schlüssel sorgfältig am alten Platz. Dann stieg er auf
Socken, die Schuhe in der Hand, die Stiege hinauf,
sah Licht durch eine Ritze der angelehnten Stubentür
und hörte die beim langen Warten eingeschlafene
Meisterin drinnen auf dem Kanapee tief in langen
Zügen atmen. Darauf stieg er unhörbar in seine
Kammer hinauf, schloß sie von innen fest ab und ging
ins Bett. Aber morgen, das war beschlossen, wurde
abgereist.
Meine Erinnerung an Knulp
Es war noch mitten in der fröhlichen Jugendzeit,
und Knulp war noch am Leben. Wir wanderten
damals, er und ich, in der glühenden Sommerszeit
durch eine fruchtbare Gegend und hatten wenig
Sorgen. Tagsüber schlenderten wir an den gelben
Kornfeldern hin oder lagen auch unter einem kühlen
Nußbaum oder am Waldesrand, am Abend aber hörte
ich zu, wie Knulp den Bauern Geschichten erzählte,
den Kindern Schattenspiele vormachte und für die
Mädchen seine vielen Lieder sang. Ich hörte mit
Freude zu und ohne Neid, nur wenn er unter den
Mädchen stand und sein braunes Gesicht wetterleuchtete
und die Jungfern zwar viel lachten und spotteten,
aber mit unverwandten Blicken an ihm hingen,
da schien es mir zuweilen, er sei doch ein seltener
Glücksvogel oder ich das Gegenteil, und dann ging
ich manchmal zur Seite, um nicht so überflüssig dabei
zu stehen, und begrüßte entweder den Pfarrer in
seiner Wohnstube um ein gescheites Abendgespräch
und ein Nachtlager, oder ich setzte mich ins Gasthaus
zu einem stillen Wein.
Eines Nachmittags, erinnere ich mich, kamen wir
an einem Kirchhof vorüber, der samt einer kleinen
Kapelle verlassen zwischen den Feldern lag, weit weg
vom nächsten Dorf, und mit seinen dunkeln Gebüschen
überm Mauerkranz recht friedvoll und heimatlich in
dem heißen Lande ruhte. Am Eingangsgitter standen
zwei große Kastanienbäume, es war aber verschlossen,
und ich wollte weitergehen. Doch Knulp mochte nicht,
er schickte sich an, über die Mauer zu steigen.
Ich fragte: »Schon wieder Feierabend?«
»Wohl, wohl, sonst tun mir bald die Sohlen weh.«
»Ja, muß es denn gerade ein Kirchhof sein?«
»Ganz gern, komm du nur mit. Die Bauern gönnen
sich nicht viel, das weiß ich wohl, aber unter der Erde
wollen sie’s doch gut haben. Darum lassen sie sich’s
gern eine Mühe kosten und pflanzen was Sauberes
auf die Gräber und daneben.«
Da stieg ich mit hinüber und sah, daß er recht hatte,
denn es lohnte sich wohl, über das Mäuerlein zu
klettern. Da innen lagen in geraden und in krummen
Reihen die Gräber nebeneinander, die meisten mit
einem weißen Kreuz von Holz versehen, und darauf
und darüber war es grün und blumenfarbig. Da
glühte freudig Winde und Geranium, im tiefern
Schatten auch noch später Goldlack, und Rosenbüsche
hingen voller Rosen, und Fliederbäume und Holunderbäume
standen dick im Holz und Laub, daß es wie ein
Lustgarten war.
Wir schauten alles ein wenig an und setzten uns
dann im Grase, das stellenweise hoch und in Blüte
stand, und ruhten aus und wurden kühl und zufrieden.
Knulp las den Namen auf dem nächsten Kreuz und
sagte: »Der heißt Engelbert Auer und ist über sechzig
Jahr alt geworden. Dafür liegt er jetzt unter Reseden,
was eine feine Blume ist, und hat es ruhig. Reseden
möcht ich schon auch einmal haben, und einstweilen
nehm ich eine von den hiesigen mit.«
Ich sagte: »Laß sie nur und nimm was anderes,
Reseden welken bald.«
Er brach doch eine ab und steckte sie auf seinen Hut,
der neben ihm im Grase lag.
»Wie es da schön still ist!« sagte ich.
Und er: »Ja, schon. Und wenn es noch ein wenig
stiller wär, so könnten wir wohl die da drunten reden
hören.«
»Das nicht. Die haben ausgeredet.«
»Weiß man’s? Man sagt doch immer, der Tod ist
ein Schlaf, und im Schlaf redet man oft und singt
auch mitunter.«
»Du vielleicht schon.«
»Ja, warum nicht? Und wenn ich verstorben wär,
da würd ich warten, bis am Sonntag die Mädlein
herüberkommen und still herumstehen und sich von
einem Grab ein Blümlein abbrechen, und dann würd
ich ganz leis anfangen singen.«
»So, und was denn?«
»Was? Irgendein Lied.«
Er legte sich lang auf den Boden, machte die Augen
zu und fing bald mit einer leisen, kindlichen Stimme
an zu singen:
»Weil ich früh gestorben bin,
Drum singet mir, ihr Jüngferlein,
Ein Abschiedslied.
Wenn ich wiederkomm,
Wenn ich wiederkomm,
Bin ich ein schöner Knabe.«
Ich mußte lachen, obwohl das Lied mir gut gefiel.
Er sang schön und zart, und wenn manchmal die Worte
keinen völligen Sinn hatten, war doch die Melodie
recht fein und machte es schön.
»Knulp,« sagte ich, »versprich den Jungfern nicht
zu viel, sonst hören sie dir bald nimmer zu. Das mit
dem Wiederkommen ist schon recht, aber gewiß weiß
das kein Mensch, und ob du dann gerade ein schöner
Knabe wirst, das ist erst recht nicht sicher.«
»Sicher ist es nicht, das stimmt. Aber es wäre mir
lieb. Weißt du noch, vorgestern, der kleine Bub mit
der Kuh, den wir nach dem Weg gefragt haben? So
wär ich gern wieder einer. Du nicht auch?«
»Nein, ich nicht. Ich habe einmal einen alten Mann
gekannt, wohl über siebzig, der hat so still und gut
geblickt, und mir kam es vor, als könne an ihm nur
Gutes und Kluges und Stilles sein. Und seither denk
ich hie und da, so möcht ich gern auch einer werden.«
»Ja, da fehlt dir noch ein Stückchen dran, weißt du.
Und es ist überhaupt komisch mit dem Wünschen.
Wenn ich jetzt im Augenblick bloß zu nicken brauchte
und wäre dann so ein netter kleiner Bub, und du
brauchtest bloß zu nicken und wärst ein feiner milder
alter Kerl, so würde doch keiner von uns nicken. Sondern
wir würden ganz gern bleiben, wie wir sind.«
»Das ist auch wahr.«
»Wohl. Und auch sonst, schau. Oft denk ich mir:
Das Allerschönste und Allerfeinste, was es überhaupt
gibt, das ist ein schlankes junges Fräulein mit einem
blonden Haar. Stimmt aber nicht, denn man sieht
oft genug, daß eine Schwarze fast noch schöner ist.
Und außerdem, es geschieht auch wieder, daß mir
so scheint: Das Allerschönste und das Feinste von allem
ist doch ein schöner Vogel, wenn man ihn so frei in der
Höhe sieht schweben. Und ein andermal ist gar nichts
so wundersam wie ein Schmetterling, ein weißer zum
Beispiel mit roten Augen auf den Flügeln, oder auch
ein Sonnenschein am Abend in den Wolken droben,
wenn alles glänzt und doch nicht blendet, und alles
dann so froh und unschuldig aussieht.«
»Ganz recht, Knulp. Es ist eben alles schön, wenn
man es in der guten Stunde anschaut.«
»Ja. Aber ich denke noch anders. Ich denke, das
Schönste ist immer so, daß man dabei außer dem Vergnügen
auch noch eine Trauer hat oder eine Angst.«
»Ja wie denn?«
»Ich meine so: Eine recht schöne Jungfer würde
man vielleicht nicht gar so fein finden, wenn man nicht
wüßte, sie hat ihre Zeit und danach muß sie alt werden
und sterben. Wenn etwas Schönes immerfort in alle
Ewigkeit gleich bleiben sollte, das würde mich wohl
freuen, aber ich würd es dann kälter anschauen und
denken: Das siehst du immer noch, es muß nicht heute
sein. Dagegen was hinfällig ist und nicht gleich bleiben
kann, das schaue ich an und habe nicht bloß Freude,
sondern auch ein Mitleid dabei.«
»Nun ja.«
»Darum weiß ich auch nichts Feineres, als wenn
irgendwo bei Nacht ein Feuerwerk angestellt wird.
Da gibt es blaue und grüne Leuchtkugeln, die steigen
in die Finsternis hinauf und wenn sie gerade am schönsten
sind, dann machen sie einen kleinen Bogen und
sind aus. Und wenn man dabei zuschaut, so hat man
die Freude und auch zu gleicher Zeit die Angst: gleich
ist’s wieder aus, und das gehört zueinander und ist
viel schöner, als wenn es länger dauern würde. Nicht?«
»Doch, wohl. Aber das stimmt auch wieder nicht
für alles.«
»Warum nicht?«
»Zum Beispiel, wenn zwei einander gern haben
und heiraten, oder wenn zwei miteinander eine Freundschaft
schließen, so ist das doch gerade deswegen schön,
weil es für die Dauer ist und nicht gleich wieder ein
Ende haben soll.«
Knulp sah mich aufmerksam an, dann blinzelte er
mit seinen schwarzen Wimpern und sagte nachdenklich:
»Mir ist es auch recht. Aber auch das hat doch einmal
sein Ende, wie alles. Da gibt es vielerlei, was einer
Freundschaft den Hals brechen kann, und einer Liebe
auch.«
»Schon recht, aber daran denkt man nicht, bevor es
kommt.«
»Ich weiß nicht. – Sieh, du, ich habe zweimal in
meinem Leben eine Liebschaft gehabt, ich meine eine
richtige, und beidemal wußte ich gewiß, daß das für
immer sei und nur mit dem Tod aufhören könne, und
beidemal hat es ein Ende gefunden und ich bin nicht
gestorben. Auch einen Freund hab ich gehabt, daheim
noch in unsrer Stadt, und hätte nicht gedacht, daß
wir beide bei Lebzeiten auseinander kommen könnten.
Aber wir sind doch auseinander gekommen, schon
lang.«
Er schwieg, und ich wußte nichts dazu zu sagen.
Das Schmerzliche, das in jedem Verhältnis zwischen
Menschen ruht, war mir noch nicht zum Erlebnis geworden,
und ich hatte es noch nicht erfahren, daß zwischen
zwei Menschen, sie seien noch so eng verbunden,
immer ein Abgrund offen bleibt, den nur die Liebe
und auch die nur von Stunde zu Stunde mit einem
Notsteg überbrücken kann. Ich dachte über die vorigen
Worte meines Kameraden nach, von denen mir das
über die Leuchtkugeln am besten gefiel, denn ich hatte
das selber schon manches Mal empfunden. Die leise
lockende Farbenflamme, in die Finsternis aufsteigend
und allzubald darin ertrinkend, schien mir ein Sinnbild
aller menschlichen Lust, die je schöner sie ist, desto
weniger befriedigt und desto rascher wieder verglühen
muß. Das sagte ich auch zu Knulp.
Aber er ging nicht darauf ein.
»Ja, ja,« sagte er nur. Und dann, nach einer guten
Weile, mit gedämpfter Stimme: »Das Sinnen und Gedankenmachen
hat keinen Wert, und man tut ja auch nicht,
wie man denkt, sondern tut jeden Schritt eigentlich ganz
unüberlegt so, wie das Herz gerade will. Aber das mit
dem Freundsein und Verlieben ist vielleicht doch so, wie
ich meine. Am Ende hat doch ein jeder Mensch das Seinige
ganz für sich und kann es nicht mit anderen gemein
haben. Man sieht es auch, wenn einer stirbt. Da wird
geheult und getrauert, einen Tag und einen Monat und
auch ein Jahr, aber dann ist der Tote tot und fort, und
es könnte in seinem Sarge drin gerade so gut ein heimatloser
und unbekannter Handwerksbursch liegen.«
»Du, das behagt mir aber nicht, Knulp. Wir haben
doch oft geredet, daß das Leben schließlich einen Sinn
haben muß und daß es einen Wert hat, wenn einer
gut und freundlich statt schlecht und feindselig ist.
Aber so, wie du jetzt sagst, ist eigentlich alles einerlei,
und wir könnten gerade so gut stehlen und totschlagen.«
»Nein, das könnten wir nicht, mein Lieber. Schlag
doch einmal die paar nächsten Leute tot, die wir treffen,
wenn du’s vermagst! Oder verlang einmal von einem
gelben Schmetterling, er soll blau sein. Der lacht dich
aus.«
»So mein ich’s auch nicht. Aber wenn doch alles
einerlei ist, dann hat es keinen Sinn, daß man gut
und redlich sein will. Dann gibt es ja kein Gutsein,
wenn blau so gut wie gelb und bös so gut wie gut ist.
Dann ist eben jeder wie ein Tier im Wald und tut
nach seiner Natur und hat weder ein Verdienst noch
eine Schuld dabei.«
Knulp seufzte.
»Ja, was soll man darüber sagen! Vielleicht ist es
so, wie du sagst. Dann wird man auch deswegen oft so
dumm betrübt, weil man spürt, daß das Wollen keinen
Wert hat, und daß alles ganz ohne uns seinen Weg geht.
Aber eine Schuld gibt es deswegen doch, auch wenn
einer nicht anders hat können als schlecht sein. Denn
er spürt es doch in sich. Und darum muß auch das
Gute das Richtige sein, weil man dabei zufrieden bleibt
und sein gutes Gewissen hat.«
Ich sah es seinem Gesicht an, daß er dieser Gespräche
satt war. Es ging ihm oft so, er kam ins Philosophieren
hinein, stellte Sätze auf, redete für sie und wider sie
und hörte plötzlich wieder auf. Früher hatte ich gemeint,
er sei dann meiner unzulänglichen Antworten
und Einwürfe müde. Aber es war nicht so, sondern er
fühlte, daß seine Neigung zum Spekulieren ihn auf
Gelände führe, wo seine Kenntnisse und Redemittel
nicht ausreichten. Denn er hatte zwar recht viel gelesen,
unter anderem Tolstoi, aber er konnte zwischen
richtigen und Trugschlüssen nicht immer genau unterscheiden
und fühlte das selber. Von den Gelehrten
redete er, wie ein begabtes Kind von den Erwachsenen
redet: er mußte anerkennen, daß sie mehr Macht
und Mittel hatten als er, aber er verachtete sie,
daß sie doch damit nichts Rechtes anfingen und
mit allen ihren Künsten doch keine Rätsel lösen
konnten.
Nun lag er wieder, den Kopf auf beiden Händen,
starrte durch das schwarze Holunderlaub in den blauen
heißen Himmel und summte ein altes Volkslied vom
Rhein vor sich hin. Ich weiß noch den letzten Vers:
Nun hab ich getragen den roten Rock,
Nun muß ich tragen den schwarzen Rock,
Sechs, sieben Jahr,
Bis daß mein Lieb verweset war.
Spät am Abend saßen wir am dunklen Rand eines
Gehölzes einander gegenüber, jeder mit einem großen
Stück Brot und einer halben Schützenwurst, aßen und
sahen dem Nachtwerden zu. Vor Augenblicken noch
waren die Hügel vom gelben Widerschein des Späthimmels
beglänzt und in flaumig schwimmendem
Lichtrauch aufgelöst gewesen, nun aber standen sie
schon dunkel und scharf und malten ihre Bäume,
Felderrücken und Gebüsche schwarz auf den Himmel,
der noch ein wenig lichtes Tagesblau, aber schon viel
mehr tiefes Nachtblau hatte.
Solange es noch licht gewesen war, hatten wir einander
drollige Sachen aus einem kleinen Büchlein
vorgelesen, das hieß »Musenklänge aus Deutschlands
Leierkasten« und enthielt lauter dumme lustige Schundlieder
mit kleinen Holzschnitten. Das hatte nun mit
dem Tageslicht sein Ende gefunden. Als wir fertig
gegessen hatten, wünschte Knulp Musik zu hören, und
ich zog die Mundharfe aus der Tasche, die voller Brosamen
war, putzte sie aus und spielte die paar oft
gehörten Melodien wieder. Die Dunkelheit, in der
wir schon eine Weile saßen, hatte sich vor uns nun
weit in das vielfältig gewölbte Land hinein verbreitet,
auch der Himmel hatte seinen bleichen Schein verloren
und ließ im Schwärzerwerden langsam einen
Stern um den andern hervorglühen. Die Töne unserer
Harmonika flogen leicht und dünn feldeinwärts und
verloren sich bald in den weiten Lüften.
»Wir können doch noch nicht gleich schlafen,« sagte
ich zu Knulp. »Erzähl mir noch eine Geschichte, sie
braucht nicht wahr zu sein, oder ein Märchen.«
Knulp besann sich.
»Ja,« sagte er, »eine Geschichte und auch ein Märchen,
beides beieinander. Es ist nämlich ein Traum. Vorigen
Herbst hat es mir so geträumt und seither zweimal
ganz ähnlich, das will ich dir erzählen:
Da war eine Gasse in einem Städtlein, ähnlich wie
bei mir daheim, alle Häuser streckten die Giebel auf
die Gassenseite, aber sie waren höher, als man sie
sonst sieht. Da ging ich hindurch, und es war, wie wenn
ich nach einer langen, langen Zeit endlich wieder heimkehrte;
aber ich hatte nur eine halbe Freude, denn es
war nicht alles in Ordnung, und ich wußte nicht ganz
sicher, ob ich nicht doch am falschen Ort und gar nicht
in der Heimat sei. Manche Ecke war ganz, wie es sein
sollte, und ich kannte sie sofort wieder, aber viele Häuser
waren fremd und ungewohnt, auch fand ich die Brücke
und den Weg zum Marktplatz nicht und kam statt
dessen an einem unbekannten Garten und an einer
Kirche vorbei, die war wie in Köln oder in Basel,
mit zwei großen Türmen. Unsre Kirche daheim aber
hat keine Türme gehabt, sondern nur einen kurzen
Stumpen mit einem Notdach, weil sie früher sich
verbaut haben und den Turm nicht fertig machen
konnten.
So war es auch mit den Leuten. Manche, die ich
von weitem sah, waren mir ganz wohlbekannt, ich
wußte ihre Namen und hatte sie schon im Mund, um
sie damit anzurufen. Aber die einen gingen vorher
in ein Haus oder in eine Seitengasse und waren fort,
und wenn einer näherkam und an mir vorbeiging,
verwandelte er sich und wurde fremd; aber wenn er
vorüber und wieder weiter weg war, meinte ich im
Nachsehen, er sei es doch und ich müsse ihn kennen.
Ich sah auch ein paar Weiber vor einem Laden beieinander
stehen, und eine davon, schien mir’s, war
sogar meine verstorbene Tante; aber wie ich zu ihnen
gehe, kenne ich sie wieder nimmer und höre auch, daß
sie eine ganz fremde Mundart reden, die ich kaum verstehen
kann.
Schließlich dachte ich: Wenn ich nur wieder aus der
Stadt draußen wäre, sie ist’s und ist’s doch nicht. Doch
lief ich immer wieder auf ein bekanntes Haus zu oder
einem bekannten Gesicht entgegen, die mich alle auch
wieder für Narren hatten. Dabei wurde ich nicht
zornig und verdrießlich, sondern nur traurig und voller
Angst; ich wollte ein Gebet hersagen und besann mich
mit aller Kraft, aber es fielen mir nichts als unnütze,
dumme Redensarten ein – zum Beispiel ›Sehr geehrter
Herr‹ und ›Unter den obwaltenden Umständen‹
– und die sagte ich verwirrt und traurig vor
mich hin.
Das ging, schien mir, ein paar Stunden lang so
weiter, bis ich ganz warm und müd war und völlig
willenlos immer weiterstolperte. Es war schon Abend,
und ich nahm mir vor, den nächsten Menschen nach der
Herberge oder nach der Landstraße zu fragen, aber
ich konnte keinen anreden, und alle gingen an mir
vorbei, wie wenn ich Luft wäre. Bald hätte ich vor
Müdigkeit und Verzweiflung geweint.
Da auf einmal ging es wieder um eine Ecke, und da
sah ich unsere alte Gasse vor mir liegen, ein wenig
gemodelt und verziert zwar, aber das störte mich jetzt
nimmer viel. Ich ging darauf los und kannte ein
Haus ums andere trotz der Traumschnörkel deutlich
wieder, und endlich auch unser altes väterliches Haus.
Es war ebenfalls übernatürlich hoch, sonst aber fast
ganz wie in alten Zeiten, und die Freude und Aufregung
lief mir wie ein Grausen den Rücken hinauf.
Unter dem Tor aber stand meine erste Liebste, die
hat Henriette geheißen. Nur sah sie größer und etwas
anders aus als früher, war aber nur noch schöner geworden.
Im Näherkommen sah ich sogar, daß ihre
Schönheit wie ein Wunderwerk war und ganz engelhaft
erschien, doch merkte ich nun auch, daß sie hellblond
war und nicht braun wie die Henriette, und doch
war sie es auf und nieder, wenn auch verklärt.
›Henriette!‹ rief ich hinüber und zog den Hut ab,
weil sie so fein und herrlich aussah, daß ich nicht wußte,
ob sie mich noch werde kennen wollen.
Sie drehte sich ganz herum und sah mir in die Augen.
Aber wie sie mir so ins Auge sieht, mußte ich mich verwundern
und schämen, denn es war gar nicht die, für
die ich sie angesprochen hatte, sondern es war die Lisabeth,
meine zweite Liebste, mit der ich lange gegangen
war.
›Lisabeth!‹ rief ich also jetzt, und streckte ihr die
Hand hin.
Sie sah mich an, das ging bis ins Herz, wie wenn
Gott einen anschauen würde, nicht streng und etwa
hochmütig, sondern ganz ruhig und klar, aber so
geistig und überlegen, daß ich mir wie ein Hund vorkam.
Und sie wurde im Anschauen ernst und traurig,
dann schüttelte sie den Kopf wie auf eine vorlaute
Frage, nahm auch meine Hand nicht an, sondern ging
ins Haus zurück und zog das Tor still hinter sich zu.
Ich hörte noch das Schloß einschnappen.
Da kehrte ich um und ging fort, und obschon ich vor
Tränen und Leidwesen kaum aus den Augen sah, war
es doch merkwürdig, wie die Stadt sich wieder verwandelt
hatte. Es war jetzt nämlich jede Gasse und
jedes Haus und alles genau wie in früherer Zeit und
das Unwesen ganz verschwunden. Die Giebel waren
nicht mehr so hoch und hatten die alten Farben, die
Leute waren es wirklich und schauten mich froh und
verwundert an, wenn sie mich wieder kannten, auch
riefen manche mich mit meinem Namen an. Aber ich
konnte keine Antwort geben und auch nicht stehen
bleiben. Statt dessen lief ich mit aller Macht den
wohlbekannten Weg über die Brücke und vor die
Stadt hinaus und sah alles nur aus nassen Augen
vor Herzweh. Ich wußte nicht warum, mir schien nur,
es sei hier für mich alles verloren und ich müsse in
Schande fortlaufen.
Dann, wie ich vor der Stadt draußen unter den
Pappeln war und ein wenig anhalten mußte, fiel
mir’s erst ein, daß ich daheim und vor unserem Haus
gewesen sei und an Vater und Mutter, Geschwister und
Freunde und alles mit keinem Gedanken gedacht habe.
Es war eine Verwirrung, Kümmernis und Scham in
meinem Herzen wie noch niemals. Aber ich konnte
nicht umkehren und alles gutmachen, denn der Traum
war aus, und ich wurde wach.«
Knulp sagte: »Ein jeder Mensch hat seine Seele,
die kann er mit keiner anderen vermischen. Zwei
Menschen können zueinander gehen, sie können miteinander
reden und nah beieinander sein. Aber ihre
Seelen sind wie Blumen, jede an ihrem Ort angewurzelt,
und keine kann zu der andern kommen, sonst
müßte sie ihre Wurzel verlassen, und das kann sie eben
nicht. Die Blumen schicken ihren Duft und ihren
Samen aus, weil sie gern zueinander möchten; aber
daß ein Same an seine rechte Stelle kommt, dazu
kann die Blume nichts tun, das tut der Wind, und der
kommt her und geht hin, wie und wo er will.«
Und später: »Der Traum, den ich dir erzählt habe,
hat vielleicht die gleiche Bedeutung. Ich habe weder
der Henriette mit Wissen unrecht getan noch der Lisabeth.
Aber durch das, daß ich beide einmal liebgehabt
und zu eigen habe nehmen wollen, sind sie für mich zu
einer solchen Traumgestalt geworden, die beiden ähnlich
sieht und doch keine ist. Die Gestalt gehört mir
eigen, aber sie ist nichts Lebendiges mehr. So habe ich
auch oft über meine Eltern nachdenken müssen. Die
meinen, ich sei ihr Kind und ich sei wie sie. Aber wenn
ich sie auch lieben muß, bin ich doch ihnen ein fremder
Mensch, den sie nicht verstehen können. Und das, was
die Hauptsache an mir und vielleicht gerade meine
Seele ist, das finden sie nebensächlich und schreiben
es meiner Jugend oder Laune zu. Dabei haben sie
mich gern und täten mir gern alles Liebe. Ein Vater
kann seinem Kind die Nase und die Augen und sogar
den Verstand zum Erbe mitgeben, aber nicht die Seele.
Die ist in jedem Menschen neu.«
Ich hatte nichts dazu zu sagen, da ich diese Gedankenwege
damals noch nicht, wenigstens nicht aus eigenem
Bedürfnis, gegangen war. Mir war bei diesem
Spintisieren eigentlich recht wohl zumute, da es mir
nicht bis ans Herz ging und ich deshalb vermutete, es
werde auch für Knulp mehr ein Spiel als ein Kampf
sein. Außerdem war es friedsam schön, da zu zweien
im trockenen Gras zu liegen, auf die Nacht und den
Schlaf zu warten und die frühen Sterne zu betrachten.
Ich sagte: »Knulp, du bist ein Denker. Du hättest
sollen Professor werden.«
Er lachte und schüttelte den Kopf.
»Viel eher könnt es sein, daß ich noch einmal zur
Heilsarmee ginge,« meinte er dann nachdenklich.
Das war mir zu viel. »Du,« sagte ich, »spiel mir
doch nichts vor! Willst du nicht auch noch ein Heiliger
werden?«
»Doch, das will ich auch. Jeder Mensch ist heilig,
wenn es ihm mit seinen Gedanken und Taten wirklich
Ernst ist. Wenn man etwas für recht hält, muß man
es tun. Und wenn ich es einmal für das richtige halte,
daß ich zur Heilsarmee gehe, dann werde ich’s hoffentlich
auch tun.«
»Immer die Heilsarmee!«
»Jawohl. Ich will dir sagen, warum. Ich habe
schon mit vielen Leuten gesprochen und auch viele
Reden halten hören. Ich habe Pfarrer und Lehrer
und Bürgermeister und Sozialdemokraten und Liberale
reden hören; aber es war keiner dabei, dem es
ganz bis ins Herz hinein Ernst war und dem ich zugetraut
hätte, daß er im Notfall für seine Weisheit
sich selber geopfert hätte. Bei der Heilsarmee aber,
mit allem Musikmachen und Radau, hab ich schon
drei-, viermal Leute gesehen und gehört, denen ist es
Ernst gewesen.«
»Woher weißt du das denn?«
»Das sieht man schon. Der eine zum Beispiel, der
hat in einem Dorf eine Rede gehalten, am Sonntag,
im Freien bei einem Staub und einer Hitze, daß er
bald ganz heiser war. Kräftig hat er ohnedas nicht
ausgesehen. Wenn er kein Wort mehr herausbrachte,
ließ er seine drei Kameraden einen Vers singen und
nahm derweil einen Schluck Wasser. Das halbe Dorf
ist um ihn herumgestanden, Kinder und Große, und
haben ihn für Narren gehabt und kritisiert. Hinten
stand ein junger Knecht, der hatte eine Peitsche und
ließ von Zeit zu Zeit einen Mordsknaller los, um den
Redner recht zu ärgern, und dann lachten jedesmal
alle. Aber der arme Kerl ist nicht bös geworden, obwohl
er gar nicht dumm war, sondern hat sich mit
seinem Stimmlein in dem Spektakel durchgefochten
und hat gelächelt, wo ein andrer geheult oder geflucht
hätte. Weißt du, das tut einer nicht um einen Hungerlohn
und um des Vergnügens willen, sondern er muß
eine große Helligkeit und Gewißheit in sich haben.«
»Meinetwegen. Aber eins paßt nicht für alle. Und
wer ein feiner und empfindsamer Mensch ist wie du, der
tut bei dem Spektakel nicht mit.«
»Vielleicht doch. Wenn er etwas weiß und hat, was
noch viel besser ist als die ganze Feinheit und Empfindsamkeit.
Es paßt freilich nicht eins für alle, aber die
Wahrheit, die muß für alle passen.«
»Ach Wahrheit! Woher weiß man, ob gerade die
mit ihrem Halleluja die Wahrheit haben.«
»Das weiß man nicht, ganz richtig. Aber ich sage ja
nur: Wenn ich einmal finde, daß das die Wahrheit ist,
dann will ich ihr auch folgen.«
»Ja wenn! Aber du findest ja jeden Tag eine Weisheit,
und morgen läßt du sie nimmer gelten.«
Er sah mich betroffen an.
»Da hast du etwas Schlimmes gesagt.«
Ich wollte mich entschuldigen, doch wehrte er ab
und blieb still. Bald sagte er leise gut Nacht und legte
sich ruhig hin, aber ich glaube nicht, daß er schon schlief.
Auch ich war noch zu lebhaft und lag noch weit über
eine Stunde lang mit aufgestützten Ellbogen da und
schaute in das nächtliche Land hinein.
Am Morgen sah ich gleich, daß Knulp heute seinen
guten Tag habe. Ich sagte ihm das, und er strahlte
mich mit seinen kinderhaften Augen an und sagte:
»Richtig geraten. Und weißt du auch, wo es herkommt,
wenn einer so einen guten Tag hat?«
»Nein, woher?«
»Es kommt davon, daß man nachts gut geschlafen
und recht viel Schönes geträumt hat. Aber man darf
es nimmer wissen. So geht mir’s heute. Ich habe
lauter Pracht und Lustbarkeit zusammengeträumt,
aber alles vergessen; ich weiß nur noch, daß es herrlich
schön gewesen ist.«
Und noch eh wir das nächste Dorf erreicht und eine
Morgenmilch im Leibe hatten, sang er schon mit seiner
warmen, leichten, mühelosen Stimme drei, vier nagelneue
Lieder in die nüchterne Frühe hinein. Aufgeschrieben
und abgedruckt würden diese Lieder vielleicht
recht wenig vorstellen. Aber wenn Knulp kein großer
Dichter war, so war er doch ein kleiner, und während
er sie selber sang, sahen seine Liedchen den schönsten
anderen oft ähnlich wie hübsche Geschwister. Und
einzelne Stellen und Verse, die ich behalten habe,
sind wahrhaft schön und mir noch immer wert. Es
ist nichts davon aufgeschrieben worden, und seine Verse
kamen, lebten und starben harmlos und verantwortungslos,
wie die Lüfte wehen, aber sie haben nicht
nur mir und ihm, sondern vielen anderen, Kindern und
Alten, manche Viertelstunde schön und lieb gemacht.
Hell und sonntagsangetan
Wie ein Fräulein aus dem Tor,
Kommt sie rot und aber stolz
Überm Tannenwald hervor –
so sang er an jenem Tage von der Sonne, die in seinen
Liedern fast immer vorkam und gepriesen wurde.
Und sonderbar, so wenig er im Gespräch das Spekulieren
lassen konnte, so unbefangen waren seine Verslein,
die wie saubere Kinder in hellen Sommerkleidern
dahinsprangen. Oft waren sie auch sinnlos drollig und
dienten nur dazu, den vorhandenen Übermut entströmen
zu lassen.
Den damaligen Tag wurde ich ganz von seiner
Laune angesteckt. Wir begrüßten und neckten alle
Leute, die uns begegneten, so daß hinter uns her bald
gelacht, bald geschimpft wurde, und der ganze Tag
verging uns wie eine Festlichkeit. Wir erzählten einander
Streiche und Witze aus der Schulzeit, hingen
den vorübergehenden Bauern und oft auch ihren
Rossen und Ochsen Spitznamen an, aßen uns an
einem verborgenen Gartenzaun an gestohlenen Stachelbeeren
satt und schonten unsere Kräfte und Stiefelsohlen,
indem wir beinahe jede Stunde eine Rast hielten.
Mir schien, seit meiner noch jungen Bekanntschaft
mit Knulp hätte ich ihn noch nie so fein und lieb und
unterhaltsam gefunden, und ich freute mich darauf,
daß von heute an das eigentliche Zusammenleben und
Wandern und Lustigsein erst anheben sollte.
Der Mittag wurde schwül, und wir lagen mehr im
Grase als wir marschierten, und gegen den Abend hin
zog sich Gewitterdunst und drange Luft zusammen, so
daß wir beschlossen, für die Nacht ein Dach zu suchen.
Knulp wurde nun allmählich stiller und ein wenig
müde, doch merkte ich es kaum, denn er lachte noch
immer herzlich mit und stimmte oft in meinen Gesang
ein, und ich selber ward noch ausgelassener und fühlte
ein Freudenfeuer um das andere in mir angehen.
Vielleicht war es bei Knulp umgekehrt, daß in ihm
die festlichen Lichter schon zu verglimmen begannen.
Mir ist es damals immer so gegangen, daß ich an
frohen Tagen gegen die Nacht hin immer lebhafter
wurde und kein Ende finden konnte, ja, oft trieb ich
mich nach einer Lustbarkeit nachts noch ganze Stunden
allein herum, wenn die andern längst ermüdet waren
und schliefen.
Dieses abendliche Freudenfieber befiel mich auch
damals, und ich freute mich, als wir talwärts gegen ein
stattliches Dorf kamen, auf eine lustige Nacht. Vorerst
bestimmten wir eine abseits stehende, leicht zugängliche
Scheuer zu unserer Nachtherberge, dann zogen wir
in das Dorf ein und in einen schönen Wirtsgarten,
denn ich hatte meinen Freund für heute als meinen
Gast geladen und dachte einen Eierkuchen und ein paar
Flaschen Bier zu spendieren, weil es doch ein Freudentag
war.
Knulp hatte die Einladung auch willig angenommen.
Doch als wir unter einem schönen Platanenbaum an
unsrem Gartentisch Platz nahmen, sagte er halb verlegen:
»Du, wir wollen aber keine Trinkerei anfangen,
gelt? Eine Flasche Bier trink ich gern, das tut gut
und ist mir ein Vergnügen, aber mehr mag ich kaum
vertragen.«
Ich ließ es gut sein und dachte: Wir werden schon zu
so viel oder wenig kommen, als uns Freude macht.
Wir aßen den heißen Eierkuchen und ein kräftig
frisches, braunes Roggenbrot dazu, und allerdings
ließ ich mir bald eine zweite Flasche Bier bringen,
während Knulp seine erste noch halbvoll hatte. Mir
war, da ich wieder üppig und herrschaftlich an einem
guten Tische saß, herzlich wohl zumut, und ich dachte
das heute abend noch eine Weile zu genießen.
Als Knulp mit seinem Bier zu Ende war, nahm er
trotz meiner Bitten keine zweite an und schlug mir vor,
jetzt noch ein wenig durchs Dorf zu schlendern und
dann zeitig schlafen zu gehen. Das war nun gar nicht
meine Absicht, doch mochte ich nicht geradezu widersprechen.
Und da meine Flasche noch nicht leer war,
hatte ich auch nichts dagegen, daß er einstweilen vorausging,
wir würden uns nachher schon wieder treffen.
Er ging denn auch. Ich sah ihm nach, wie er mit
seinem bequemen, genießenden Feierabendschritt, eine
Sternblume hinterm Ohr, die paar Treppen hinab
auf die breite Gasse und langsam dorfeinwärts bummelte.
Und wenn es mir auch leid tat, daß er nicht
noch eine Flasche mit mir leeren wollte, dachte ich im
Nachschauen doch froh und zärtlich: Du lieber Kerl!
Inzwischen nahm die Schwüle, trotzdem die Sonne
schon verschwunden war, noch immer zu. Ich hatte
das gern, bei solchem Wetter in Ruhe bei einem frischen
Abendtrunk zu sitzen, und richtete mich an meinem
Tische noch auf einiges Bleiben ein. Da ich beinahe
der einzige Gast war, fand die Kellnerin reichlich Zeit,
mit mir ein Gespräch zu pflegen. Ich ließ mir von ihr
auch noch zwei Zigarren bringen, von denen ich eine
anfänglich für Knulp bestimmte, doch rauchte ich sie
nachher in der Vergeßlichkeit selber noch.
Einmal, etwa nach einer Stunde, kam Knulp wieder
und wollte mich abholen. Ich war jedoch seßhaft geworden,
und da er müde war und Schlaf hatte, wurden
wir einig, daß er an unsere Schlafstätte gehen und
sich hinlegen sollte. So ging er denn. Die Kellnerin
aber fing sofort an, mich nach ihm auszufragen, denn
er stach allen Mädchen in die Augen. Ich hatte nichts
dagegen, er war ja mein Freund und sie nicht mein
Schatz, und ich pries ihn sogar noch mächtig, denn mir
war wohl und ich meinte es mit jedermann gut.
Es fing zu donnern und leis im Platanenbaum zu
winden an, als ich endlich spät aufbrach. Ich zahlte,
schenkte dem Mädchen einen Zehner und machte mich
ohne Eile auf den Weg. Im Gehen spürte ich wohl, daß
ich eine Flasche zu viel getrunken hatte, denn ich hatte
die letzte Zeit ganz ohne starkes Getränk gelebt. Doch
machte mich das nur vergnügt, denn ich konnte schon
etwas vertragen, und ich sang noch den ganzen Weg
vor mich hin, bis ich unser Quartier wiederfand. Da
stieg ich leise hinein und fand richtig den Knulp im
Schlaf liegen. Ich sah ihn an, wie er hemdärmlig auf
seiner ausgebreiteten braunen Jacke lag und gleichmäßig
atmete. Seine Stirn und der bloße Hals und die eine
Hand, die er von sich weggestreckt hielt, gaben in dem
trüben Halbdunkel einen bleichen Schein.
Dann legte ich mich in den Kleidern nieder, doch
machte die Erregung und der eingenommene Kopf
mich immer wieder wach, und es wurde draußen schon
Zwielicht, als ich endlich fest und tief und dumpf
einschlief. Es war ein fester, doch kein guter Schlaf,
ich war schwer und matt geworden und hatte undeutliche,
plagende Träume.
Am Morgen erwachte ich erst spät, es war schon
voller Tag, und das helle Licht tat mir in den Augen
weh. Mein Kopf war leer und trüb und die Glieder
müde. Ich gähnte lange, rieb mir die Augen und streckte
die Arme, daß die Gelenke knackten. Aber trotz der
Müdigkeit hatte ich noch einen Rest und Nachklang von
der gestrigen Laune in mir und dachte den kleinen Jammer
am nächsten klaren Brunnen von mir zu spülen.
Es kam jedoch anders. Als ich mich umsah, war
Knulp nicht vorhanden. Ich rief und pfiff nach ihm
und war im Anfang noch ganz arglos. Als jedoch
Rufen, Pfeifen und Suchen vergeblich blieb, kam mir
plötzlich die Erkenntnis, daß er mich verlassen habe.
Ja, er war fort, heimlich fortgegangen, er hatte nicht
länger bei mir bleiben mögen. Vielleicht weil ihm
mein gestriges Trinken zuwider war, vielleicht weil
er sich heute seiner eigenen gestrigen Ausgelassenheit
schämte, vielleicht nur aus einer Laune, vielleicht aus
Zweifel an meiner Gesellschaft oder aus einem plötzlich
erwachten Bedürfnis nach Einsamkeit. Aber wahrscheinlich
war doch mein Trinken daran schuld.
Die Freude wich von mir, Scham und Trauer erfüllten
mich ganz. Wo war jetzt mein Freund? Ich
hatte, seinen Reden zum Trotz, gemeint, seine Seele ein
wenig zu verstehen und teil an ihm zu haben. Nun
war er fort, ich stand allein und enttäuscht, mußte mich
mehr als ihn anklagen und hatte nun die Einsamkeit,
in welcher nach Knulps Ansicht jeder lebt und an die
ich nie ganz hatte glauben mögen, selber zu kosten.
Sie war bitter, nicht nur an jenem ersten Tag, und sie
ist inzwischen wohl manches Mal lichter geworden, aber
völlig will sie mich seither nimmer verlassen.
Das Ende
Es war ein heller Tag im Oktober; die leichte,
durchsonnte Luft wurde von launigen kurzen Windzügen
bewegt, aus Feldern und Gärten zog in dünnen,
zögernden Bändern der hellblaue Rauch von Herbstfeuern
und erfüllte die lichte Landschaft mit einem
scharfsüßen Geruch von verbranntem Kraut und Grünholz.
In den Dorfgärten blühten sattfarbige Buschastern,
späte bläßliche Rosen und Georginen, und an
den Zäunen brannte noch hier und dort eine feurige
Kapuzinerblüte aus dem schon matt und weißlich
schimmernden Gekräut.
Auf der Landstraße nach Bulach fuhr langsam der
Einspänner des Doktors Machold. Der Weg ging sachte
bergan, links abgemähte Äcker und Kartoffelfelder, in
denen noch geerntet wurde, rechts junger enger Fichtenwald
halb erstickt, eine braune Wand von dichtgedrängten
Stangen und dürren Zweigen, der Boden
gleichfarbig trockenbraun voll dick gelagerter welker
Nadeln. Geradeaus führte die Straße einfach in den
zartblauen Herbsthimmel hinein, als habe da oben die
Welt ein Ende.
Der Doktor hielt die Zügel lose in den Händen und
ließ das alte Pferdchen gehen, wie es wollte. Er kam
von einer sterbenden Frau, der nicht mehr zu helfen
war und die doch zäh ums Leben gekämpft hatte bis
zur letzten Stunde. Nun war er müde und genoß die
stille Fahrt durch den freundlichen Tag; seine Gedanken
waren eingeschlafen und folgten leicht betäubt und
willenlos den Zurufen, die aus dem Geruch der Feldfeuerchen
aufstiegen, angenehme, verschwommene Erinnerungen
an Herbstferientage der Schülerzeit und
weiter zurück in klangvolle, gestaltlose Kindheitsdämmerung.
Denn er war auf dem Lande aufgewachsen,
und seine Sinne folgten erfahren und willig allen ländlichen
Zeichen der Jahreszeiten und ihrer Geschäfte.
Er war nahe am Einschlafen, da weckte ihn das
Stehenbleiben des Wagens. Eine Wasserrinne lief
quer über die Straße, darin fanden die Vorderräder
einen Halt, und das Roß blieb dankbar stehen, senkte
den Kopf und genoß wartend die Rast.
Machold ermunterte sich über dem plötzlichen Verstummen
der Räder, nahm die Zügel zusammen, sah
lächelnd nach verdämmerten Minuten Wald und
Himmel wie zuvor in sonniger Klarheit stehen und
trieb den Gaul mit vertraulichem Zungenschnalzen
zum Weitersteigen an. Darauf setzte er sich aufrecht,
er liebte es nicht am Tage zu schlummern, und steckte
sich eine Zigarre an. Die Fahrt ging im langsamen
Schritt weiter, zwei Weiber grüßten vom Felde, in
Schattenhüten hinter einer langen Front von gefüllten
Kartoffelsäcken hervor.
Die Höhe war jetzt nahe, und das Pferdchen hob den
Kopf, ermuntert und voll Erwartung, nächstens den
langen Sattel des heimatlichen Hügels hinabzutraben.
Da erschien im nahen lichten Horizont von drüben her
ein Mensch, ein Wanderer, stand einen Augenblick vom
Blau umlodert frei und hoch, stieg nieder und wurde
grau und klein. Er kam näher, ein magerer Mann mit
kleinem Bart in schlechten Kleidern, sichtlich auf der
Landstraße daheim, er ging müde und mühevoll,
aber er zog den Hut mit stiller Artigkeit und sagte:
Grüß Gott.
»Grüß Gott,« sagte der Doktor Machold und sah
dem Fremden nach, der schon vorüber war, und plötzlich
hielt er den Gaul an, wandte sich stehend über das
knarrende Lederdach zurück und rief: »Heda, Sie!
Kommen Sie einmal her!«
Der staubige Wanderer blieb stehen und sah zurück.
Er lächelte schwach herüber, wandte sich wieder ab
und schien weitergehen zu wollen, dann besann er sich
dennoch und kehrte gehorsam um.
Jetzt stand er neben dem niederen Wagen und hatte
den Hut in der Hand.
»Wohinaus, wenn man fragen darf?« rief Machold.
»Der Straße nach, gegen Berchtoldsegg.«
»Kennen wir einander nicht? Ich kann bloß nicht auf
den Namen kommen. Sie wissen doch, wer ich bin?«
»Sie sind der Doktor Machold, will mir scheinen.«
»Na also? Und Sie? Wie heißen Sie?«
»Der Herr Doktor wird mich schon kennen. Wir
sind einmal nebeneinander beim Präzeptor Plocher
gesessen, Herr Doktor, und Sie haben damals die
lateinischen Präparationen von mir abgeschrieben.«
Machold war schnell ausgestiegen und sah dem Mann
in die Augen. Dann klopfte er ihm auflachend auf die
Schulter.
»Stimmt!« sagte er. »Dann bist du also der berühmte
Knulp, und wir sind Schulkameraden. So
laß dir doch die Hand schütteln, alter Kerl! Wir haben
uns sicher zehn Jahre nimmer gesehen. Immer noch
auf der Wanderschaft?«
»Immer noch. Man bleibt gern beim Gewohnten,
wenn man älter wird.«
»Da hast du recht. Und wohin geht die Reise?
Wieder einmal der Heimat zu?«
»Richtig geraten. Ich will nach Gerbersau, ich habe
eine Kleinigkeit dort zu tun.«
»So, so. Lebt denn noch jemand von deinen Leuten?«
»Niemand mehr.«
»Gerade jugendlich schaust du nimmer aus, Knulp.
Wir sind doch erst Vierziger, wir zwei. Und daß du so
einfach an mir vorbei hast laufen wollen, ist nicht recht
von dir. – Weißt du, mir scheint, du könntest vielleicht
einen Doktor brauchen.«
»Ach was. Mir fehlt weiter nichts, und was mir
fehlt, das kann doch kein Doktor kurieren.«
»Das wird sich ja zeigen. Jetzt steig einmal ein und
komm mit mir, dann können wir besser reden.«
Knulp trat ein wenig zurück und setzte den Hut
wieder auf. Mit verlegenem Gesicht wehrte er
sich, als der Doktor ihm in den Wagen helfen
wollte.
»Ach, wegen dessen, das wäre nicht nötig. Das Rößlein
rennt dir nicht fort, solang wir dastehen.
Indessen faßte ihn ein Anfall von Husten, und der
Arzt, der schon Bescheid wußte, packte ihn kurzerhand
und setzte ihn in das Gefährt.
»So,« sagte er im Weiterfahren, »gleich sind wir
droben, und dann geht’s Trab, in einer halben Stunde
sind wir daheim. Du brauchst keine Unterhaltung zu
machen, mit deinem Husten, wir können dann daheim
weiter reden. – – Was? – – Nein, das hilft dir
jetzt nichts mehr, kranke Leute gehören ins Bett und
nicht auf die Landstraße. Weißt du, damals im Latein
hast du mir oft genug geholfen, jetzt bin ich einmal an
der Reihe.«
Sie fuhren über den Höhenrücken und mit pfeifender
Bremse den langen Sattel hinab; gegenüber sah man
schon die Dächer von Bulach über den Obstbäumen.
Machold hielt die Zügel kurz und paßte auf den Weg,
und Knulp ergab sich müde in halbem Behagen dem
Genuß des Fahrens und der gewaltsamen Gastfreundschaft.
Morgen, dachte er, oder spätestens übermorgen
walze ich weiter nach Gerbersau, wenn die Knochen
noch zusammenhalten. Er war kein Springinsfeld
mehr, der die Tage und Jahre verschwendete. Er
war ein kranker, alter Mann, der keinen Wunsch mehr
hatte, als vor dem Ende noch einmal die Heimat zu
sehen.
In Bulach nahm ihn sein Freund zuerst in die Wohnstube
und gab ihm Milch zu trinken und Brot mit Schinken
zu essen. Dabei plauderten sie und fanden langsam
die Vertrautheit wieder. Dann erst nahm ihn
der Arzt ins Verhör, das der Kranke gutmütig und
etwas spöttisch über sich ergehen ließ.
»Weißt du eigentlich, was dir fehlt?« fragte
Machold am Ende seiner Untersuchung. Er sagte es
leicht und ohne Wichtigkeit, und Knulp war ihm dafür
dankbar.
»Ja, ich weiß schon, Machold. Es ist die Auszehrung,
und ich weiß auch, daß es nimmer lang gehen
kann.«
»Na, wer weiß! Aber dann mußt du also auch einsehen,
daß du in ein Bett und in eine Pflege gehörst.
Einstweilen kannst du ja hier bei mir bleiben, ich sorge
inzwischen für einen Platz im nächsten Spital. Es
spukt bei dir, mein Lieber, und du mußt dich zusammennehmen,
daß du’s noch einmal durchhaust.«
Knulp zog seinen Rock wieder an. Er wandte sein
hageres und graues Gesicht mit einem Ausdruck von
Schelmerei dem Doktor zu und sagte gutmütig: »Du
machst dir viele Mühe, Machold. Also meinetwegen.
Aber von mir darfst du nimmer viel erwarten.«
»Wir werden ja sehen. Jetzt setzest du dich in die
Sonne, so lang sie noch in den Garten scheint. Die
Lina macht dir das Gastbett zurecht. Wir müssen dir
auf die Finger sehen, Knülplein. Daß so ein Mensch,
der sein ganzes Leben in der Sonne und Luft zugebracht
hat, sich dabei ausgerechnet die Lungen kaputt
macht, ist eigentlich nicht in der Ordnung.«
Damit ging er weg.
Die Haushälterin Lina war nicht erfreut und wehrte
sich dagegen, so einen Landstreicher ins Gastzimmer
zu lassen. Aber der Doktor schnitt ihr das Wort ab.
»Lassen Sie gut sein, Lina. Der Mann hat nimmer
lang zu leben, er muß es bei uns noch ein bißchen gut
haben. Sauber ist er übrigens immer gewesen, und
eh er zu Bett geht, stecken wir ihn ins Bad. Tun Sie
ihm eins von meinen Nachthemden heraus und vielleicht
meine Winterpantoffeln. Und vergessen Sie
nicht: Der Mann ist ein Freund von mir.«
Knulp hatte elf Stunden geschlafen und den nebligen
Morgen im Bett verdämmert, wo er sich erst allmählich
darauf besinnen konnte, bei wem er sei. Als die Sonne
herausgekommen war, hatte Machold ihm das Aufstehen
erlaubt, und nun saßen sie beide nach Tisch bei
einem Glas Rotwein auf der sonnigen Altane. Knulp
war vom guten Essen und von seinem halben Glas
Wein munter und gesprächig geworden, und der Doktor
hatte sich für eine Stunde frei gemacht, um noch
einmal mit dem seltsamen Schulkameraden zu plaudern
und vielleicht etwas über dieses nicht gewöhnliche
Menschenleben zu erfahren.
»Du bist also zufrieden mit dem Leben, das du gehabt
hast?« sagte er lächelnd. »Dann ist ja alles gut.
Sonst hätte ich aber doch gesagt, es ist eigentlich schad
um so einen Kerl wie dich. Du hättest ja kein Pfarrer
oder Lehrer zu werden brauchen, vielleicht aber wäre
ein Naturforscher oder auch etwa ein Dichter aus dir
geworden. Ich weiß nicht, ob du deine Gaben benutzt
und weiter gebildet hast, aber du hast sie für
dich allein verbraucht. Oder nicht?«
Knulp stützte das Kinn mit dem dünnen Bärtchen in
die hohle Hand und sah auf die roten Lichter, die hinterm
Weinglas auf dem besonnten Tischtuch spielten.
»Es stimmt nicht ganz,« sagte er langsam. »Die
Gaben, wie du es nennst, damit ist es nicht so weit her.
Ich kann ein bißchen kunstpfeifen, auch Handorgel
spielen und manchmal Verslein machen, früher bin
ich auch ein guter Läufer gewesen und habe nicht
schlecht getanzt. Das ist alles. Und daran habe ich ja
nicht allein Freude gehabt, es waren meistens Kameraden
dabei, oder junge Mädel oder Kinder, die haben
ihren Spaß daran gehabt und sind mir manchmal
dafür dankbar gewesen. Wir wollen es gut sein lassen
und damit zufrieden sein.«
»Ja,« sagte der Doktor, »das wollen wir. Aber eins
muß ich dich noch fragen. Du bist damals bis in die
fünfte Klasse mit mir in die Lateinschule gegangen,
ich weiß es noch genau, und bist ein guter Schüler gewesen,
wenn auch kein Musterbub. Und dann auf
einmal warst du weg, und es hieß, du gehest jetzt in die
Volksschule, und da waren wir auseinander, ich durfte
ja als Lateiner nicht mit einem Freund sein, der in
die Volksschule ging. Wie ist nun das zugegangen?
Später, wenn ich von dir hörte, habe ich immer gedacht:
Wenn er damals bei uns in der Schule geblieben
wäre, hätte alles anders kommen müssen. Also, wie
war’s damit? War es dir verleidet, oder hat dein Alter
das Schulgeld nimmer zahlen mögen, oder was
sonst?«
Der Kranke nahm sein Glas in die braune, magere
Hand, doch trank er nicht, er blickte nur durch den Wein
gegen das grüne Gartenlicht und stellte dann den
Kelch vorsichtig auf den Tisch zurück. Schweigend
schloß er dann die Augen und versank in Gedanken.
»Ist es dir zuwider, davon zu reden?« fragte sein
Freund. »Es muß ja nicht sein.«
Da tat Knulp die Augen auf und sah ihm lange und
prüfend ins Gesicht.
»Doch,« sagte er, noch zögernd, »ich glaube, es muß
sein. Ich habe das nämlich noch nie einem Menschen
erzählt. Aber jetzt ist es vielleicht ganz gut, wenn jemand
es hört. Es ist ja bloß eine Kindergeschichte,
aber für mich ist sie doch wichtig gewesen, es hat mir
jahrelang zu schaffen gemacht. Sonderbar, daß du
gerade danach fragst!«
»Warum?«
»Ich habe die letzte Zeit wieder viel daran denken
müssen, und deswegen bin ich auch wieder auf dem
Weg nach Gerbersau.«
»Ja, dann erzähle.«
»Siehst du, Machold, wir sind ja damals gute
Freunde gewesen, wenigstens bis in die dritte oder
vierte Klasse. Nachher kamen wir weniger zusammen,
und du hast manchmal vergebens vor unserem Haus
gepfiffen.«
»Herrgott, ja, das stimmt! Daran habe ich seit
mehr als zwanzig Jahren nimmer gedacht. Mensch,
was hast du für ein Gedächtnis! Und weiter?«
»Ich kann dir jetzt sagen, wie das gegangen ist.
Die Mädchen waren daran schuld. Ich bin ziemlich
früh auf sie neugierig geworden, und du hast noch an
den Storch und an den Kindlesbrunnen geglaubt, da
wußte ich schon so ziemlich, wie es mit Buben und
Mädeln beschaffen ist. Das war mir damals die Hauptsache,
darum bin ich nimmer viel bei eurem Indianerspiel
dabei gewesen.«
»Da warst du zwölf Jahr alt, nicht?«
»Fast dreizehn, ich bin ein Jahr älter als du. Wie
ich einmal krank war und im Bett lag, da hatten wir
eine Base zum Besuch da, die war drei oder vier Jahr
älter als ich, und die fing an mit mir zu spielen, und
als ich wieder gesund und auf war, bin ich einmal
nachts zu ihr in die Stube gegangen. Da wurde mir
bekannt, wie ein Frauenzimmer aussieht, und ich war
elend erschrocken und bin davongelaufen. Mit der
Base wollte ich jetzt kein Wort mehr reden, sie war mir
verleidet, und ich hatte Angst vor ihr, aber die Sache
war mir halt einmal im Kopf, und von da an bin ich
eine Zeitlang bloß den Mädchen nachgegangen. Beim
Rotgerber Haasis waren zwei Töchter in meinem
Alter, und da kamen auch andere Mädchen aus der
Nachbarschaft hin, wir spielten auf den dunkeln Böden
Verstecken und hatten immer viel zu kichern und zu
kitzeln und geheim zu tun. Ich war meistens der
einzige Bub in dieser Gesellschaft, und manchmal durfte
ich einer von ihnen die Zöpfe flechten oder eine gab
mir einen Kuß, wir waren alle noch unerwachsen und
wußten nicht recht Bescheid, aber es war alles voll
von Verliebtheit, und beim Baden versteckte ich mich
in die Büsche und sah ihnen zu. – – Und eines
Tages war eine Neue da, eine aus der Vorstadt, ihr
Vater war Arbeiter in der Strickerei. Sie hat Franziska
geheißen, und sie hat mir gleich beim erstenmal gut
gefallen.«
Der Doktor unterbrach ihn. »Wie hat ihr Vater
geheißen? Vielleicht kenn ich sie.«
»Verzeih, ich möcht dir das lieber nicht sagen,
Machold. Es gehört nicht zur Geschichte, und ich will
auch nicht, daß jemand das von ihr weiß. – Nun also!
Sie ist größer und stärker gewesen als ich, wir haben
hie und da miteinander gehändelt und gerauft, und
wenn sie mich dann an sich drückte, bis es mir weh tat,
dann war mir schwindlig und wohl wie in einem Rausch.
In die wurde ich verliebt, und weil sie zwei Jahre
älter war und schon davon redete, daß sie jetzt bald
einen Schatz haben wolle, da wurde es mein einziger
Wunsch, der möchte ich sein. – – Einmal saß sie
allein im Lohgarten am Fluß und hatte die Füße ins
Wasser hängen, sie hatte gebadet und bloß das Leibchen
an. Da kam ich und setzte mich zu ihr. Auf einmal
bekam ich Mut und sagte ihr, ich wolle und müsse ihr
Schatz werden. Aber sie sah mich mit den braunen
Augen mitleidig an und sagte: »Du bist ja noch ein
Büble und hast kurze Hosen an, was weißt denn du
von Schatz und Liebhaben?« Doch, sagte ich, ich wisse
alles, und wenn sie nicht mein Schatz werden möge,
dann werfe ich sie ins Wasser und mich mit. Da schaute
sie mich aufmerksam an, mit einem Blick wie eine
Frau, und sagte: ›Wir wollen einmal sehen. Kannst
du denn schon küssen?‹ Ich sagte ja und gab ihr
schnell einen Kuß auf den Mund und dachte, damit
wäre es gut, aber sie hatte meinen Kopf gepackt und
hielt ihn fest und küßte mich jetzt richtig wie ein Weib,
daß mir Hören und Sehen verging. Dann lachte sie
mit ihrer tiefen Stimme und sagte: ›Du würdest mir
schon passen, Bub. Aber es geht doch nicht. Ich kann
keinen Schatz brauchen, der in die Lateinschule geht,
das gibt keine rechten Leute. Ich muß einen richtigen
Mann zum Schatz haben, einen Handwerker oder
einen Arbeiter, keinen Studierten. Es ist also nichts
damit.‹ Sie hatte mich aber auf ihren Schoß gezogen
und war in ihrer festen Wärme so schön und gut
in den Armen zu halten, daß ich gar nicht daran denken
konnte, von ihr zu lassen. Also habe ich der Franziska
versprochen, ich wolle nimmer in die Lateinschule
gehen und ein Handwerker werden. Sie lachte
nur, aber ich ließ nicht nach, und zuletzt küßte sie mich
wieder und versprach mir, wenn ich kein Lateinschüler
mehr sei, dann wolle sie mein Schatz sein, und ich solle
es gut bei ihr haben.«
Knulp hielt inne und hustete eine Weile. Sein
Freund sah aufmerksam herüber, beide schwiegen eine
kleine Zeit. Dann fuhr er fort: »Also, jetzt weißt du
die Geschichte. Es ist natürlich nicht so geschwind gegangen,
wie ich gemeint hatte. Mein Vater gab mir
ein paar Ohrfeigen, als ich ihm mitteilte, ich wolle und
könne jetzt nimmer in die Lateinschule gehen. Ich
wußte nicht gleich Rat; oft habe ich mir vorgenommen,
ich wolle unsere Schule anzünden. Das waren Kindergedanken,
aber mit der Hauptsache ist es mir Ernst
gewesen. Schließlich fiel mir der einzige Ausweg ein.
Ich tat einfach in der Schule nimmer gut. Weißt
du’s nimmer?«
»Wahrhaftig, es dämmert mir wieder. Du hast eine
Zeitlang fast jeden Tag Arrest gehabt.«
»Ja. Ich habe Stunden geschwänzt und schlechte
Antworten gegeben, ich habe die Aufgaben nimmer
gemacht und meine Schulhefte verloren, es war jeden
Tag etwas los, und schließlich bekam ich Freude dran
und habe jedenfalls den Lehrern damals das Leben
nicht leicht gemacht. Das Latein und das Zeug alles
war mir sowieso jetzt nimmer extra wichtig. Du weißt,
ich hab immer eine gute Nase gehabt, und wenn ich
hinter etwas Neuem her war, dann gab’s eine Weile
nichts anderes für mich auf der Welt. So war mir’s
mit dem Turnen gegangen, und dann mit dem Forellenfangen,
und mit der Botanik. Und gerade so hatte
ich’s halt damals mit den Mädchen, und eh ich da die
Hörner abgelaufen und meine Erfahrung gewonnen
hatte, war mir nichts andres wichtig. Es ist ja auch
blöd, so als Schulbub in der Bank zu hocken und Konjugationen
zu üben, wenn man heimlich mit allen
Sinnen doch nur bei dem ist, was man gestern abend
beim Baden von den Mädchen ausspioniert hat. –
Na, item! Die Lehrer merkten das vielleicht, sie
hatten mich im ganzen gern und schonten mich solang
wie möglich, und es wäre nichts aus meinen Absichten
geworden, aber ich fing jetzt eine Freundschaft mit
dem Bruder der Franziska an. Er ging in die Volksschule,
in die letzte Klasse, und war ein schlechter Kerl;
ich habe viel von ihm gelernt, aber nichts Gutes, und
habe viel von ihm zu leiden gehabt. In einem halben
Jahr war mein Ziel endlich erreicht, mein Vater hat
mich halbtot geschlagen, aber ich war aus eurer Schule
ausgewiesen und saß jetzt in der gleichen Volksschulstube
wie der Bruder der Franziska.«
»Und sie? Das Mädel?« fragte Machold.
»Ja, das war eben der Jammer. Sie ist doch nicht
mein Schatz geworden. Seit ich manchmal mit ihrem
Bruder heimkam, wurde ich schlechter von ihr behandelt,
wie wenn ich jetzt weniger wäre als früher, und erst als
ich schon zwei Monate in der Volksschule saß und mir
angewöhnte, öfter am Abend mich aus dem Haus zu
stehlen, da wurde mir die Wahrheit bekannt. Ich
streunte eines Abends spät im Rieder Wald herum, und
wie ich’s schon mehrmals getan hatte, behorchte ich
ein Liebespaar auf einer Bank, und als ich schließlich
mich näher drückte, da war es die Franziska mit einem
Mechanikergesellen. Sie haben gar nicht auf mich geachtet,
er hatte den Arm um ihren Hals gelegt und in
der Hand eine Zigarette, und ihre Bluse stand offen,
und kurz, es war scheußlich. Da war also alles vergebens
gewesen.«
Machold klopfte seinem Freund auf die Schulter.
»Na, vielleicht war’s für dich doch das Beste.«
Aber Knulp schüttelte energisch den scharfen
Kopf.
»Nein, gar nicht. Ich möchte heut noch meine rechte
Hand drum geben, wenn das anders gegangen wäre.
Sag mir nichts über die Franziska, ich lasse nichts auf
sie kommen. Und wenn es richtig gegangen wäre,
dann hätte ich die Liebe auf eine schöne und glückliche
Art kennen gelernt, und vielleicht hätte mir das geholfen,
daß ich auch mit der Volksschule und mit
meinem Vater im guten zurecht gekommen wäre.
Denn – wie soll ich’s sagen? – schau, seither habe
ich manche Freunde und Bekannte und Kameraden
und auch Liebschaften gehabt; aber ich habe nie mehr
mich auf das Wort eines Menschen verlassen oder mich
selber durch ein Wort gebunden. Niemals mehr.
Ich habe mein Leben gehabt, wie es mir paßte, und es
hat mir nicht an Freiheit und an Schönem gefehlt, aber
ich bin doch immer allein geblieben.«
Er griff nach dem Glase, sog mit Sorgfalt den letzten
kleinen Schluck Wein und stand auf.
»Wenn du erlaubst, leg ich mich wieder hin, ich
mag nimmer davon reden. Du hast gewiß auch noch
zu tun.«
Der Doktor nickte.
»Noch etwas, du! Ich will heut um einen Platz im
Spital für dich schreiben. Es paßt dir vielleicht nicht,
aber da ist nichts zu ändern. Du gehst kaputt, wenn du
nicht schnell in eine Pflege kommst.«
»Ach was,« rief Knulp mit ungewohnter Heftigkeit,
»so laß mich halt kaputt gehen! Es nützt ja doch nichts
mehr, das weißt du selber. Warum soll ich mich jetzt
noch einsperren lassen?«
»Nicht so, Knulp, sei doch vernünftig! Ich wäre ein
miserabler Doktor, wenn ich dich so herumlaufen ließe.
In Oberstetten fänden wir sicher Platz für dich, und
du kriegst extra einen Brief von mir mit, und nach acht
Tagen komm ich selber einmal und seh nach dir. Ich
verspreche dir’s.«
Der Landstreicher sank auf seinen Sitz zurück, es
schien fast, als wäre er nahe am Weinen, und rieb seine
dünnen Hände ineinander wie ein Frierender. Dann
sah er dem Doktor flehentlich und kindlich in die Augen.
»Also denn,« sagte er ganz leise. »Es ist ja nicht recht
von mir, du hast so viel für mich getan, und sogar
Rotwein – es war alles viel zu gut und fein für mich.
Du mußt mir nicht bös sein, ich habe noch eine große
Bitte an dich.«
Machold klopfte ihm begütigend auf die Schulter.
»Sei gescheit, Alter! Es will dir niemand an den
Kragen. Also, was ist’s?«
»Bist du mir nicht bös?«
»Gar nicht. Warum auch?«
»Dann bitt ich dich, Machold, dann mußt du mir
einen großen Gefallen tun. Schick mich nicht nach
Oberstetten! Wenn ich doch in so einen Spittel muß,
dann möcht ich wenigstens nach Gerbersau, da kennt
man mich, und ich bin dort daheim. Vielleicht ist es
auch wegen der Armenpflege besser, ich bin ja dort
geboren, und überhaupt –«
Seine Augen bettelten mit Inbrunst, er konnte vor
Erregung kaum sprechen.
Er hat Fieber, dachte Machold. Und er sagte ruhig:
»Wenn das alles ist, was du zu bitten hast – das wird
bald in Ordnung sein. Du hast ganz recht, ich will
nach Gerbersau schreiben. Geh du jetzt und lege dich
hin, du bist müd und hast zuviel gesprochen.«
Er sah ihm nach, wie er schleppend ins Haus ging,
und mußte plötzlich an den Sommer denken, da Knulp
ihn im Forellenfangen unterrichtet hatte, an seine
kluge, beherrschende Art, mit Kameraden umzugehen,
an die hübsche zwölfjährige Glut des rassigen Buben.
»Armer Kerl,« dachte er mit einer Rührung, die
ihn störte, und erhob sich rasch, um an die Arbeit zu
gehen.
Der nächste Morgen brachte Nebel, und Knulp
blieb den ganzen Tag im Bett. Der Doktor legte ihm
einige Bücher hin, die er aber kaum berührte. Er war
verdrossen und bedrückt, denn seit er Sorgfalt, Pflege,
gutes Bett und zarte Kost genoß, spürte er deutlicher
als zuvor, daß es mit ihm zu Ende gehe.
Wenn ich noch ein Weile so liege, dachte er unmutig,
dann komme ich nimmer auf. Es war ihm wenig
mehr ums Leben zu tun, die Landstraße hatte in den
letzten Jahren viel von ihrem Zauber verloren. Aber
sterben wollte er nicht, ehe er Gerbersau wiedergesehen
und allerlei heimlichen Abschied dort genommen
hätte, von Fluß und Brücke, vom Marktplatz und vom
einstigen Garten seines Vaters, und auch von jener
Franziska. Seine späteren Liebschaften waren vergessen,
wie denn überhaupt die lange Reihe seiner
Wanderjahre ihm jetzt klein und unwesentlich erschien,
während die geheimnisvollen Zeiten der Knabenschaft
einen neuen Glanz und Zauber gewannen.
Aufmerksam betrachtete er das einfache Gastzimmer;
er hatte in vielen Jahren nicht so prächtig gewohnt.
Er studierte mit sachlichem Blick und tastenden Fingern
das Gewebe der Bettleinwand, die weiche, ungefärbte
Wolldecke, die feinen Kissenbezüge. Auch der
hartholzene Fußboden interessierte ihn, und die Photographie
an der Wand, die den Dogenpalast in Venedig
vorstellte und in Glasmosaik gerahmt war.
Dann lag er wieder lange mit offenen Augen,
ohne etwas zu sehen, müde und nur mit dem beschäftigt,
was still in seinem kranken Leibe vorging. Aber
plötzlich fuhr er wieder auf, beugte sich schnell aus dem
Bett und angelte mit hastigen Fingern seine Stiefel
her, um sie sorgfältig und sachkundig zu untersuchen.
Gut waren sie nimmer, aber es war Oktober, und bis
zum ersten Schnee würden sie noch aushalten. Und
nachher war doch alles aus. Es kam ihm der Gedanke,
er könnte Machold um ein paar alte Schuhe bitten.
Aber nein, der würde nur mißtrauisch werden; ins
Spital braucht man kein Schuhwerk. Vorsichtig
tastete er die brüchigen Stellen im Oberleder ab.
Wenn das gut mit Fett behandelt wurde, mußte es
mindestens noch einen Monat halten. Die Sorge war
überflüssig; vermutlich würde dies alte Paar Schuhe
ihn überdauern und noch im Dienste sein, wenn er
selbst schon von der Landstraße verschwunden war.
Er ließ die Stiefel fallen und versuchte tief zu atmen,
es tat ihm aber weh und machte ihn husten. Da blieb
er still und wartend liegen, atmete in kleinen Zügen
und hatte Angst, es möchte schlimm mit ihm werden,
ehe er sich seine letzten Wünsche erfüllt hätte.
Er versuchte an den Tod zu denken, wie schon manchmal,
aber sein Kopf ermüdete daran und er fiel in
Halbschlummer. Nach einer Stunde erwachend, meinte
er tagelang geschlafen zu haben und fühlte sich frisch
und still. Er dachte an Machold, und es fiel ihm ein,
er müsse ihm ein Zeichen seiner Dankbarkeit dalassen,
wenn er fortginge. Er wollte ihm eins von seinen
Gedichten aufschreiben, weil der Doktor gestern einmal
danach gefragt hatte. Aber er konnte sich auf keines
ganz besinnen, und keines gefiel ihm. Durchs Fenster
sah er im nahen Wald den Nebel stehen und starrte
lange hinüber, bis ihm ein Gedanke kam. Mit einem
Bleistiftende, das er gestern im Hause gefunden und
mitgenommen hatte, schrieb er auf das saubere weiße
Papier, mit dem die Schublade seines Nachttisches
ausgelegt war, einige Zeilen:
Die Blumen müssen
Alle verdorren,
Wenn der Nebel kommt,
Und die Menschen
Müssen sterben,
Man legt sie ins Grab.
Auch die Menschen sind Blumen,
Sie kommen alle wieder,
Wenn ihr Frühling ist.
Dann sind sie nimmer krank,
Und alles wird verziehen.
Er hielt inne und las, was er geschrieben hatte.
Es war kein richtiges Lied, die Reime fehlten, aber es
stand doch das darin, was er hatte sagen wollen. Und
er netzte den Bleistift an den Lippen und schrieb
darunter: »Für Herrn Doktor Machold, Wohlgeboren,
von seinem dankbaren Freunde K.«
Dann legte er das Blatt in die kleine Schublade.
Andern Tages war der Nebel noch dicker geworden,
aber es war eine strengkühle Luft, und man konnte am
Mittag auf Sonne hoffen. Der Doktor ließ Knulp
aufstehen, da er flehentlich danach verlangte, und erzählte,
daß im Gerbersauer Spital Platz für ihn sei
und er dort erwartet werde.
»Da will ich gleich nach dem Mittagessen marschieren,«
meinte Knulp, »vier Stunden brauche ich doch,
vielleicht fünf.«
»Das fehlt noch!« rief Machold lachend. »Fußwandern
ist jetzt nichts für dich. Du fährst mit mir im
Wagen, wenn wir sonst keine Gelegenheit finden. Ich
schicke einmal zum Schulzen hinüber, der fährt vielleicht
mit Obst oder mit Kartoffeln in die Stadt. Auf
einen Tag kommt es jetzt auch nimmer an.«
Der Gast fügte sich, und als man erfuhr, daß morgen
der Schulzenknecht mit zwei Kälbern nach Gerbersau
fahre, wurde beschlossen, Knulp sollte mit ihm fahren.
»Einen wärmeren Rock könntest du aber auch brauchen,«
sagte Machold, »kannst du einen von mir tragen?
Oder ist der zu weit?«
Er hatte nichts dagegen, der Rock wurde geholt,
probiert und gut befunden. Knulp aber, da der Rock
von gutem Tuch und wohlbehalten war, machte sich
in seiner alten Kindereitelkeit sogleich daran, die
Knöpfe zu versetzen. Belustigt ließ ihn der Doktor
machen und gab ihm noch einen Hemdkragen dazu.
Am Nachmittag probierte Knulp in aller Heimlichkeit
seine neue Kleidung, und da er nun wieder so gut
aussah, begann es ihm leid zu tun, daß er sich in der
letzten Zeit nicht mehr rasiert hatte. Er wagte nicht,
die Haushälterin um des Doktors Rasierzeug zu bitten,
aber er kannte den Schmied im Dorf und wollte dort
einen Versuch machen.
Bald hatte er die Schmiede gefunden; er trat in die
Werkstatt und sagte den alten Handwerksgruß: »Fremder
Schmied spricht um Arbeit zu.«
Der Meister sah ihn kalt und prüfend an.
»Du bist kein Schmied,« sagte er gelassen. »Das
mußt du einem andern weismachen.«
»Richtig,« lachte der Landstreicher. »Du hast noch
gute Augen, Meister, und doch kennst du mich nicht.
Weißt du, ich bin früher Musikant gewesen, und du
hast in Haiterbach manchen Samstagabend zu meiner
Handorgel getanzt.«
Der Schmied zog die Augenbrauen zusammen und
tat noch ein paar Stöße mit der Feile, dann führte
er Knulp ans Licht und sah ihn mit Aufmerksamkeit an.
»Ja, jetzt weiß ich,« lachte er kurz. »Du bist also
der Knulp. Man wird halt älter, wenn man sich so
lang nicht sieht. Was willst du in Bulach? Auf einen
Zehner und auf ein Glas Most soll’s mir nicht ankommen.«
»Das ist recht von dir, Schmied, und ich nehm’s für
genossen an. Aber ich will was anderes. Du könntest
mir dein Rasiermesser für eine Viertelstunde leihen,
ich will heut abend zum Tanzen gehen.«
Der Meister drohte ihm mit dem Zeigefinger.
»Du bist doch ein Lugenbeutel, ein alter. Ich meine,
mit dem Tanzen wirst du’s nimmer wichtig haben, so
wie du aussiehst.«
Knulp kicherte vergnügt.
»Du merkst doch alles! Schad, daß du kein Amtmann
geworden bist. Ja, ich muß also morgen ins Spital, der
Machold schickt mich hin, und da wirst du begreifen, daß
ich nicht so wie ein Zottelbär antreten mag. Gib mir
das Messer, in einer halben Stunde hast du’s wieder.«
»So? Und wo willst du denn hin damit?«
»Zum Doktor hinüber, ich schlafe bei ihm. Gelt,
du gibst mir’s?«
Das schien dem Schmied nicht sehr glaubwürdig.
Er blieb mißtrauisch.
»Ich geb dir’s schon. Aber weißt du, es ist kein
so gewöhnliches Messer, es ist eine echte Solinger
Hohlklinge. Die möcht ich gern wiedersehen.«
»Verlaß dich drauf.«
»Ja, schon. Du hast da einen guten Rock an, Freundlein.
Den brauchst du zum Rasieren nicht. Ich will dir
was sagen: Zieh ihn aus und laß ihn da, und wenn du
mit dem Messer wiederkommst, kriegst du auch den
Rock wieder.«
Der Landstreicher verzog das Gesicht.
»Also gut. Extra nobel bist du nicht, Schmied.
Aber es soll meinetwegen gelten.«
Nun holte der Schmied das Messer, Knulp gab den
Rock zum Pfande, duldete aber nicht, daß der rußige
Schmied ihn anfasse. Und nach einer halben Stunde
kam er wieder und gab das Solinger Messer zurück,
und sein struppiges Kinnbärtchen war weg, er sah
ganz anders aus.
»Jetzt noch ein Nägelein hinters Ohr, dann kannst
du weiben gehen,« sagte der Schmied voll Anerkennung.
Aber Knulp war nicht mehr zu Scherzen gelaunt,
er zog seinen Rock wieder an, sagte kurzen Dank und
ging davon.
Auf dem Heimweg traf er vor dem Hause den Doktor,
der ihn verwundert anhielt.
»Wo läufst denn du herum? Ja, und wie siehst du
aus! – Aha, rasiert! Mensch, du bist doch ein Kindskopf!«
Aber es gefiel ihm, und Knulp bekam diesen Abend
wieder einen Rotwein zu trinken. Die beiden Schulkameraden
feierten Abschied, und jeder war so aufgeräumt
wie möglich, und keiner wollte sich etwas wie
eine Beklemmung anmerken lassen.
Zeitig am Morgen kam der Knecht des Schulzen
mit dem Wagen vorgefahren, auf dem in Lattenverschlägen
zwei Kälber standen, mit den Knien zitterten
und grell in den kalten Morgen starrten. Es lag zum
erstenmal Reif auf den Wiesen. Knulp wurde zu dem
Knecht auf den Bock gesetzt und bekam eine Decke über
die Knie, der Doktor drückte ihm die Hand und schenkte
dem Knecht eine halbe Mark; der Wagen rasselte weg
und dem Wald entgegen, während der Knecht seine
Pfeife anzündete und Knulp mit verschlafenen Augen
in die hellblaue Morgenkühle blinzelte.
Aber später kam die Sonne, und der Mittag wurde
ganz warm. Die zwei auf dem Bock unterhielten sich
ausgezeichnet, und als sie in Gerbersau ankamen,
wollte der Knecht durchaus samt seinem Wagen und
den Kälbern den Umweg machen und am Krankenhaus
vorfahren. Indessen hatte Knulp ihm das bald
ausgeredet, und sie trennten sich freundschaftlich vor
der Einfahrt in die Stadt. Da blieb Knulp stehen und
sah dem Wagen nach, bis er unter den Ahornen beim
Viehmarkt verschwand.
Er lächelte und schlug einen Heckenpfad zwischen
den Gärten ein, den nur Einheimische kannten. Er
war wieder frei! Im Spital mochten sie warten.
Noch einmal kostete der Heimgekehrte das Licht und
den Duft, die Geräusche und Gerüche der Heimat und
die ganze erregende und sättigende Vertrautheit des
Daheimseins: Gewühl der Bauern und Bürger auf
dem Viehmarkt, durchsonnte Schatten brauner Kastanienbäume,
Trauerflug später dunkler Herbstfalter an
der Stadtmauer, Klang des vierstrahligen Marktbrunnens,
Weingeruch und hohles hölzernes Gehämmer
aus der gewölbten Kellereinfahrt des Küfermeisters,
wohlbekannte Gassennamen, jeder dicht behängt
von einem unruhigen Schwarm von Erinnerungen.
Mit allen Sinnen schlürfte der Heimatlose
den vielfältigen Zauber des Zuhauseseins, des Kennens,
des Wissens, des Sicherinnerns, der Kameradschaft
mit jeder Straßenecke und jedem Prellstein. Schlendernd
und unermüdet war er den ganzen Nachmittag
in allen Gassen unterwegs, belauschte den Messerschleifer
am Fluß, sah dem Drechsler durchs Fenster
seiner Werkstatt zu, las auf neugemalten Schildern
die alten Namen wohlbekannter Familien. Er
tauchte die Hand in den steinernen Trog des Marktbrunnens,
seinen Durst aber löschte er erst unten am
kleinen Abtsbrünnlein, das noch immer geheimnisvoll
wie vor all den verflossenen Jahren im Erdgeschoß
eines uralten Hauses entsprang und in der seltsam
klaren Dämmerung seiner Quellstube zwischen den
Steinplatten rauschte. Am Flusse stand er lange und
lehnte an der hölzernen Brüstung überm ziehenden
Wasser, worin das dunkle Seegras langhaarig wallte
und die schmalen Rücken der Fische schwarz und stille
über den zitternden Kieseln standen. Er ging über den
alten Steg und ließ sich in der Mitte in die Kniekehlen
sinken, um wie als Knabe den feinen, lebendig
elastischen Gegenschwung des Brückleins in sich zu
spüren.
Ohne Eile spazierte er weiter und vergaß nichts,
nicht die Kirchenlinde mit dem kleinen Rasenstück und
nicht das Wehr der oberen Mühle, seinen einstigen
Lieblingsbadeplatz. Er blieb vor dem Häuschen stehen,
in dem vor Zeiten sein Vater gewohnt hatte, und
lehnte sich eine kleine Weile zärtlich mit dem Rücken an
die alte Haustür, suchte auch den Garten auf und sah
über einen lieblos neuen Drahtzaun weg in eine neu
angelegte Pflanzung hinein – aber die vom Regenwasser
abgerundeten Steinstufen und der runde, feiste
Quittenbaum neben der Tür waren noch die alten.
Hier hatte Knulp seine besten Tage gehabt, noch ehe er
sich aus der Lateinschule hatte wegjagen lassen, hier
hatte er einst ein volles Glück, Erfüllungen ohne Rest,
Seligkeiten ohne Bitternisse gekostet, diebesselige
Kirschensommer, versunkenes flüchtiges Gärtnerglück
im Belauschen und Pflegen seiner Blumen: geliebter
Goldlack, lustige Winde, zärtlich samtenes Stiefmütterchen,
und Kaninchenställe und Werkstatt und Drachenbau,
Wasserleitungen aus dem Markrohr des Holunders
und Mühlräder aus Fadenrollen mit Schaufeln
aus Schindelstücken. Kein Dach, dessen Katzen er nicht
gekannt, kein Garten, dessen Früchte er nicht versucht,
kein Baum, den er nicht bestiegen, in dessen Krone er
nicht ein grünes Traumnest besessen hatte. Dieses
Stück Welt hatte ihm gehört, war von ihm in tiefster
Vertrautheit gekannt und geliebt worden; hier hatte
jeder Strauch und jeder Gartenhag Bedeutung, Sinn,
Geschichten für ihn gehabt, jeder Regen- und Schneefall
zu ihm gesprochen, hier hatte Luft und Erde in
seinen Träumen und Wünschen gelebt, sie erwidert
und ihr Leben mitgeatmet. Und heute noch, dachte
Knulp, war vielleicht hier ringsum kein Hausbewohner
und kein Gartenbesitzer, dem dies alles mehr angehört
hätte als ihm, dem es mehr wert war, mehr sagte,
mehr Antwort gab, mehr Erinnerungen weckte.
Zwischen nahen Dächern stach hoch und spitzig der
graue Giebel eines schmächtigen Hauses empor. Dort
hatte vor Zeiten der Rotgerber Haasis gewohnt, und
dort hatten Knulps Kinderspiele und Knabenwonnen
ihr Ende gefunden in den ersten Heimlichkeiten und
zärtlichen Händeln mit Mädchen. Von dort war er
manchen Abend über die dämmernde Gasse heimgekehrt
mit keimenden Ahnungen der Liebeslust, dort
hatte er den Gerberstöchtern die Zöpfe aufgelöst und
unter den Küssen der schönen Franziska getaumelt.
Er wollte hinübergehen, später am Abend, oder vielleicht
morgen. Jetzt aber lockten diese Erinnerungen
ihn wenig, er hätte sie alle zusammen gerne hingegeben
für das Gedächtnis einer einzigen Stunde der
früheren, der Knabenzeit.
Eine Stunde und länger verweilte er am Gartenzaun
und schaute hinunter, und was er sah, war nicht
der neue, fremde Garten, der dalag und mit dem jungen
Beerengesträuch schon ganz leer und herbstlich
aussah. Er sah den Garten seines Vaters, und seine
Kinderblumen im kleinen Beet, am Ostersonntag gepflanzte
Aurikeln und glasige Balsaminen, und kleine
Gebirge aus Steinchen, auf welchen er hundertmal gefangene
Eidechsen ausgesetzt hatte, unglücklich, daß
keine dort bleiben und wohnen und sein Haustier
sein wollte, und dennoch immer wieder voll Erwartung
und Hoffnung, wenn er eine neue mitbrachte. Alle
Häuser und Gärten, alle Blumen und Eidechsen und
Vögel der Welt konnte man ihm heute schenken, und
es wäre nichts gegen den zaubervollen Glanz einer
einzigen Sommerblume, wie sie damals in seinem
Gärtchen wuchs und die köstlichen Blumenblätter
leise aus der Knospe rollte. Und die Johannisbeerbüsche
von damals, deren jeden er noch genau im
Gedächtnis hatte! Sie waren fort, sie waren nicht
ewig und unzerstörbar gewesen, irgendein Mann hatte
sie ausgerissen und ausgegraben und ein Feuer draus
gemacht, Holz und Wurzeln und welke Blätter waren
miteinander verbrannt, und niemand hatte darum
geklagt.
Ja, hier hatte er oft den Machold bei sich gehabt.
Der war jetzt ein Doktor und Herr und fuhr im Einspänner
bei den kranken Leuten herum, und er war
wohl auch ein guter und aufrichtiger Mensch geblieben;
aber auch er, auch dieser kluge und stramme Mann, was
war er gegen damals, gegen den gläubigen, scheuen,
erwartungsvoll zärtlichen Knaben von damals? Hier
hatte ihm Knulp gezeigt, wie man Käfige für Fliegen
baut und Schindeltürme für Heuschrecken, und er war
Macholds Lehrer und sein größerer, klügerer, bewunderter
Freund gewesen.
Der nachbarliche Fliederbaum war alt und moosig
dürr geworden, und das Lattenhaus im andern
Garten war zerfallen, und man mochte an seine Stelle
bauen, was man wollte, es wurde nie mehr so schön
und beglückend und richtig, wie alles einmal gewesen
war.
Es begann zu dämmern und kühl zu werden, als
Knulp den vergrasten Gartenweg verließ. Vom neuen
Kirchturm, der das Bild der Stadt veränderte, rief
eine neue Glocke laut herüber.
Er schlich durchs Tor der Rotgerberei in den Gerbergarten,
es war Feierabend und niemand zu sehen.
Unhörbar schritt er über den weichen Lohboden an den
gähnenden Löchern vorüber, wo die Häute in der
Lauge lagen, und bis zum Mäuerchen, wo der Fluß
schon dunkel an den moosig grünen Steinen hintrieb.
Da war der Ort, an dem er einmal eine Abendstunde
mit Franziska gesessen war, die bloßen Füße im Wasser
plätschernd.
Und wenn sie mich nicht vergebens hätte warten
lassen, dachte Knulp, dann wäre alles anders gekommen.
Wenn auch die Lateinschule und das Studieren
versäumt war, ich hätte Kraft und Willen genug
gehabt, um doch etwas zu werden. Wie einfach und
klar war das Leben! Damals hatte er sich weggeworfen
und von allem nichts mehr wissen wollen, und das
Leben war darauf eingegangen und hatte nichts von
ihm verlangt. Er war außerhalb gestanden, ein Bummler
und Zaungast, beliebt in den guten jungen Jahren
und allein im Kranksein und Altern.
Es ergriff ihn eine große Müdigkeit, er setzte sich auf
dem Mäuerchen nieder, und der Fluß rauschte dunkel
in seine Gedanken. Da wurde über ihm ein Fenster
hell, das mahnte ihn, es sei spät, und man dürfe ihn
hier nicht finden. Er schlüpfte lautlos aus dem Lohgarten
und aus dem Tor, knöpfte den Rock zu und
dachte ans Schlafen. Er hatte Geld, der Doktor hatte
ihn beschenkt, und nach kurzem Besinnen verschwand er
in einer Herberge. Er hätte in den »Engel« oder
»Schwanen« gehen können, wo man ihn kannte und
wo er Freunde gefunden hätte. Aber daran war ihm
jetzt nicht gelegen.
Vieles hatte sich im Städtchen verändert, was ihn
früher bis ins kleinste interessiert hätte, aber diesmal
wollte er nichts sehen und wissen, als was zur alten
Zeit gehörte. Und als er nach kurzem Fragen erfuhr,
daß die Franziska nicht mehr lebe, da verblaßte alles,
und ihm schien, er sei einzig ihretwegen hergekommen.
Nein, es hatte keinen Sinn, hier in den Gassen und
zwischen den Gärten herumzustrolchen und sich von
denen, die ihn kannten, halb mitleidige Späße zurufen
zu lassen. Und als er zufällig in dem engen
Postgäßlein dem Oberamtsarzt begegnete, fiel
ihm plötzlich ein, man könnte ihn am Ende droben
im Krankenhaus vermissen und nach ihm fahnden.
Alsbald kaufte er bei einem Bäcker zwei
Wecken, stopfte sie in seine Rocktaschen und stieg noch
vor Mittag zur Stadt hinaus eine steile Bergstraße
hinan.
Da saß hoch oben am Waldrande, an der letzten
großen Straßenbiegung, ein staubiger Mann auf
einem Steinhaufen und klopfte mit einem langstieligen
Hammer den graublauen Muschelkalk in Stücke.
Knulp sah ihn an, grüßte und blieb stehen.
»Grüß Gott,« sagte der Mann und klopfte weiter,
ohne den Kopf zu heben.
»Ich meine, das Wetter bleibt nimmer lang,« probierte
Knulp.
»Kann schon sein,« brummte der Steinklopfer und
sah einen Augenblick empor, vom Mittagslicht auf
der hellen Straße geblendet. »Wo wollet Ihr hinaus?«
»Nach Rom zum Papst,« sagte Knulp. »Ist’s wohl
noch weit?«
»Heut kommet Ihr nimmer hin. Wenn Ihr überall
stehen bleiben müsset und die Leute in der Arbeit
stören, dann erlaufet Ihr’s in keinem Jahr.«
»So, meinet Ihr? Na, eilig hab ich’s nicht, Gott
sei Dank. Ihr seid ein fleißiger Mann, Herr Andres
Schaible.«
Der Steinklopfer hielt die Hand über die Augen
und musterte den Wanderer.
»Ihr kennt mich also,« sagte er bedächtig, »und ich
kenn Euch auch, will mir scheinen. Bloß auf den
Namen muß ich noch kommen.«
»Da müsset Ihr den alten Krabbenwirt fragen, wo
wir Anno neunzig allemal unseren Sitz gehabt haben.
Aber er wird nimmer leben.«
»Schon lang nimmer. Aber jetzt tagt mir’s, alter
Kunde. Du bist der Knulp. Setz dich ein bißchen her,
und grüß Gott auch!«
Knulp setzte sich, er war zu rasch gestiegen und atmete
mit Beschwerden; er sah erst jetzt, wie schön in der
Tiefe das Städtchen lag, blaublanker Fluß, rotbraunes
Dächergewimmel und kleine grüne Bauminseln dazwischen.
»Du hast es nett hier droben,« sagte er aufatmend.
»Es geht so, ich kann nicht klagen. Und du? Früher
ist’s leichter den Berg rauf gegangen, gelt? Du schnaufst ja
heillos, Knulp. Hast wieder einmal die Heimat besucht?«
»Jawohl, Schaible, es wird das letztemal sein.«
»Und warum denn?«
»Weil halt die Lunge kaputt ist. Weißt du nix dagegen?«
»Daheim geblieben wenn du wärst, mein Lieber,
und hättest brav geschafft, und hättest Weib und Kinder
und jeden Abend dein Bett, dann wär’s vielleicht
anders mit dir. Na, darüber weißt du meine Meinung
von früher her. Da kann man jetzt nichts machen.
Ist’s denn so schlimm?«
»Ach, ich weiß nicht. – Oder doch, ich weiß schon.
Es geht halt den Berg hinunter, und jeden Tag ein
bißchen schneller. Da ist’s dann wieder ganz gut, wenn
man für sich allein ist und niemand zur Last fällt.«
»Wie man’s nimmt; das ist deine Sache. Es tut
mir aber leid.«
»Ist nicht nötig. Gestorben muß einmal sein, es
kommt sogar an die Steinklopfer. Ja, alter Kunde,
da sitzen jetzt wir zwei und können uns beide nicht viel
einbilden. Du hast ja auch einmal andere Gedanken
im Kopf gehabt. Hast du nicht damals zur Eisenbahn
gewollt?«
»Ach, das sind alte Geschichten.«
»Und deine Kinder sind gesund?«
»Ich weiß nichts andres. Der Jakob verdient jetzt
schon.«
»So? Ha, die Zeit vergeht. Ich will, glaub ich,
jetzt auch ein wenig weiter.«
»Es pressiert nicht so. Wenn man sich so lang
nimmer gesehen hat! Sag, Knulp, kann ich dir mit
etwas helfen? Viel hab ich nicht bei mir, es wird eine
halbe Mark sein.«
»Die kannst du selber brauchen, Alterle. Nein,
danke schön.«
Er wollte noch etwas sagen, aber es wurde ihm
elend ums Herz, und er schwieg, und der Steinklopfer
gab ihm aus seiner Mostflasche zu trinken. Sie blickten
eine Weile auf die Stadt hinunter, ein Sonnenspiegel
im Mühlkanal blitzte kräftig herauf, über die Steinbrücke
fuhr langsam ein Lastwagen, und unterm Wehr
schwamm lässig ein weißes Gänsegeschwader.
»Jetzt hab ich ausgeruht und muß weiter,« fing
Knulp wieder an.
Der Steinklopfer saß in Gedanken und schüttelte
den Kopf.
»Hör, du, du hättest mehr werden können als so ein
armer Teufel von Pennbruder,« sagte er langsam.
»Es ist doch sündenschad um dich. Weißt du, Knulp, ich
bin gewiß kein Stündeler, aber ich glaube halt doch,
was in der Bibel steht. Du mußt auch daran denken.
Du wirst dich verantworten müssen, es wird nicht so
leicht gehn. Du hast Gaben gehabt, bessere als ein
anderer, und es ist doch nichts aus dir geworden. Du
darfst mir’s nicht zürnen, wenn ich das sage.«
Jetzt lächelte Knulp, und ein Schimmer von der
alten harmlosen Schelmerei stand in seinen Augen.
Er klopfte seinem Kameraden freundlich auf den Arm
und stand auf.
»Wir werden ja sehen, Schaible. Der liebe Gott
fragt mich vielleicht gar nicht: Warum bist du nicht
Amtsrichter geworden? Vielleicht sagt er auch bloß:
Bist wieder da, du Kindskopf? und gibt mir droben
eine leichte Arbeit, Kinderhüten oder so.«
Andres Schaible zuckte die Achseln unter dem blau
und weiß gewürfelten Hemde.
»Mit dir kann man nicht im Ernst reden. Du meinst,
wenn der Knulp kommt, da wird der Herrgott nichts
als Späße machen.«
»Ach nein. Aber es könnte doch sein, nicht?«
»Red nicht so!«
»Ja, dann will ich dem lieben Gott sagen, er solle
halt einmal den Schaible fragen, der kenne mich gut.
Was sagst du ihm dann?«
»Nee, mich braucht der Herrgott gewiß nicht dazu.
Aber ich täte sagen: Der Knulp hat sein Leben lang
nichts als Kindereien getrieben, aber ich glaube, er ist
halt doch ein guter und anständiger Kerl gewesen.«
Sie gaben sich die Hände, und dabei steckte der Steinklopfer
ihm ein kleines Geldstück zu, das er verstohlen
aus seiner Hosentasche gegraben hatte. Und Knulp
nahm es an und wehrte sich nimmer, um dem anderen
nicht seine Freude zu verderben.
Er warf noch einen Blick in das alte heimatliche Tal,
nickte noch einmal zu Andres Schaible zurück, dann
begann er zu husten und machte schnellere Schritte,
und war alsbald um die obere Waldecke verschwunden.
Vierzehn Tage später, nachdem es auf nebelkalte
Tage noch sonnige mit späten Glockenblumen und
kühlreifen Brombeeren gegeben hatte, brach plötzlich
der Winter herein. Es gab strengen Frost und darauf
am dritten Tage bei milderer Luft einen schweren,
hastigen Schneefall.
Knulp war diese ganze Zeit unterwegs gewesen,
auf zielloser Streife immer im Umkreis der Heimat,
und noch zweimal hatte er aus nächster Nähe, im
Walde verborgen, den Steinklopfer Schaible gesehen
und beobachtet, ohne ihn nochmals anzurufen. Er
hatte zu viel zu denken gehabt und war auf allen den
langen, mühsamen, nutzlosen Wegen immer tiefer in
das Gewirre seines verfehlten Lebens geraten wie in
zähe Dornranken, ohne den Sinn und Trost dazu zu
finden. Dann war die Krankheit von neuem über ihn
gekommen, und wenig fehlte, so wäre er eines Tages
trotz allem doch noch in Gerbersau erschienen und hätte
am Krankenhaus angeklopft. Aber als er nach tagelangem
Alleinsein wieder die Stadt unten liegen sah,
da klang ihm alles fremd und feindlich entgegen, und
es ward ihm klar, daß er nimmer dorthin gehöre. Zuweilen
kaufte er in einem Dorf ein Stück Brot, auch
gab es noch Haselnüsse genug. Die Nächte brachte er
in den Blockhütten der Waldarbeiter oder zwischen
Strohbündeln auf dem Felde zu.
Jetzt kam er im dichten Schneetreiben vom Wolfsberg
herüber gegen die Talmühle gegangen, verfallen
und todesmüde und dennoch immerzu auf den Beinen,
als müsse er den kleinen Rest seiner Tage noch mächtig
ausnützen und laufen, laufen, allen Waldrändern und
Schneisen nach. So krank und müde er war, seine
Augen und seine Nüstern hatten die alte Beweglichkeit
behalten; äugend und schnuppernd wie ein feinfühliger
Jagdhund stellte er auch jetzt noch, da es keine
Ziele mehr für ihn gab, jede Bodensenkung, jeden
Windhauch, jede Tierspur fest. Sein Wille war nicht
dabei, und seine Beine gingen von selber.
In seinen Gedanken aber stand er jetzt wieder, wie
seit einigen Tagen fast immerzu, vor dem lieben Gott
und sprach unaufhörlich mit ihm. Furcht hatte er
keine; er wußte, daß Gott uns nichts tun kann. Aber
sie sprachen miteinander, Gott und Knulp, über die
Zwecklosigkeit seines Lebens, und wie das hätte anders
eingerichtet werden können, und warum dies und
jenes so und nicht anders habe gehen müssen.
»Damals ist es gewesen,« beharrte Knulp immer
wieder, »damals, wie ich vierzehn Jahre alt war und
die Franziska mich im Stich gelassen hat. Da hätte
noch alles aus mir werden können. Und dann ist irgend
etwas in mir kaputt gegangen oder verpfuscht worden,
und von da an habe ich eben nichts mehr getaugt. –
Ach was, der Fehler ist einfach der gewesen, daß du
mich nicht mit vierzehn Jahren hast sterben lassen!
Dann wäre mein Leben so schön und vollkommen gewesen
wie ein reifer Apfel.«
Der liebe Gott aber lächelte immerzu, und manchmal
verschwand sein Gesicht ganz in dem Schneetreiben.
»Na, Knulp,« sagte er ermahnend, »denk einmal an
deine Jungeburschenzeit, und an den Sommer im
Odenwald, und an die Lächstettener Zeiten! Hast
du da nicht getanzt wie ein Reh, und hast das schöne
Leben in allen Gelenken zucken gefühlt? Hast du nicht
singen können und Harmonika spielen, daß den Mädchen
die Augen übergelaufen sind? Weißt du noch
die Sonntage in Bauerswil? Und deinen ersten Schatz,
die Henriette? Ja, ist denn das alles nichts gewesen?«
Knulp mußte nachdenken, und wie ferne Bergfeuer
strahlten ihm die Freuden seiner Jugend dunkelschön
herüber und dufteten schwer und süß wie Honig und
Wein, und klangen tieftönig wie Tauwind in der Vorfrühlingsnacht.
Herrgott, es war schön gewesen, schön
die Lust und schön die Trauer, und es wäre jammerschade
um jeden Tag gewesen, der gefehlt hätte!
»Ach ja, es war schön,« gab er zu, und war doch voll
Weinerlichkeit und Widerspruch wie ein müdes Kind.
»Es war ja wunderschön damals. Freilich, Schuld und
Traurigkeit ist auch schon dabei gewesen. Aber es ist
wahr, es sind gute Jahre gewesen, und vielleicht
haben nicht viele solche Becher ausgetrunken und
solche Tänze angeführt und solche Liebesnächte gefeiert,
wie ich dazumal. Aber dann, dann hätte es aus
sein sollen! Schon dort war ein Stachel im Glück, ich
weiß noch wohl, und dann sind niemals mehr so gute
Zeiten gekommen. Nein, niemals mehr.«
Der liebe Gott war weit im Schneegewehe verschwunden.
Nun, da Knulp ein wenig stehen blieb,
um wieder zu Atem zu kommen und ein paar kleine
Blutflecke in den Schnee zu spucken, nun war Gott
unversehens wieder da und gab Antwort.
»Sag einmal, Knulp, bist du nicht ein wenig undankbar?
Ich muß lachen, wie vergeßlich du geworden
bist! Wir haben uns an die Zeit erinnert, wo du der
Tanzbodenkönig warst, und an deine Henriette, und
du hast zugeben müssen: es war gut und schön, es hat
wohlgetan und einen Sinn gehabt. Und wenn du so
an die Henriette denkst, mein Lieber, mit was für
Gefühlen willst du dann gar an Lisabeth denken?
He? Ja, hast du denn die ganz vergessen können?«
Und wieder stand wie ein fernes Gebirge ein Stück
Vergangenheit vor Knulps Augen, und wenn es nicht
ganz so froh und lustig aussah wie das vorige, so
glänzte es dafür viel heimlicher und inniger, wie Frauen
lächeln zwischen Tränen, und es standen Tage und
Stunden aus ihren Gräbern auf, an die er lange
nimmer gedacht hatte. Und mitten inne stand Lisabeth,
mit schönen, traurigen Augen, den kleinen Buben auf
dem Arm.
»Was für ein schlechter Kerl bin ich gewesen!« fing
er wieder zu klagen an. »Nein, seit die Lisabeth tot ist,
hätte ich auch nimmer leben dürfen.«
Aber Gott ließ ihn nicht weiterreden. Er sah ihn
durchdringend aus den hellen Augen an und fuhr fort:
»Hör auf, Knulp! Du hast der Lisabeth sehr weh getan,
das ist nicht anders, aber du weißt wohl, sie hat
doch mehr Zartes und Schönes von dir empfangen als
Böses, und sie hat dir nicht einen Augenblick gezürnt.
Siehst du denn immer noch nicht, du Kindskopf, was
der Sinn von dem allen war? Siehst du nicht, daß du
deswegen ein Leichtfuß und ein Vagabund sein mußtest,
damit du überall ein Stück Kindertorheit und
Kinderlachen hintragen konntest? Damit überall die
Menschen dich ein wenig lieben und dich ein wenig
hänseln und dir ein wenig dankbar sein mußten?«
»Es ist am Ende wahr,« gab Knulp nach einigem
Schweigen halblaut zu. »Aber das ist alles früher
gewesen, da war ich noch jung! Warum hab ich aus
dem allem nichts gelernt und bin kein rechter Mensch
geworden? Es wäre noch Zeit gewesen.«
Es gab eine Pause im Schneefall. Knulp rastete
wieder einen Augenblick und wollte den dicken Schnee
von Hut und Kleidern schütteln. Aber er kam nicht
dazu, er war zerstreut und müde, und Gott stand jetzt
nahe vor ihm, seine lichten Augen waren weit offen
und strahlten wie die Sonne.
»Nun sei einmal zufrieden,« mahnte Gott, »was soll
das Klagen nützen? Kannst du wirklich nicht sehen,
daß alles gut und richtig zugegangen ist und daß nichts
hätte anders sein dürfen? Ja, möchtest du denn jetzt
ein Herr oder ein Handwerksmeister sein und Frau
und Kinder haben und am Abend das Wochenblatt
lesen? Würdest du nicht sofort wieder davonlaufen
und im Wald bei den Füchsen schlafen und Vogelfallen
stellen und Eidechsen zähmen?«
Wieder fing Knulp zu gehen an, er schwankte vor
Müdigkeit und spürte doch nichts davon. Es war ihm
viel wohler zumute geworden, und er nickte dankbar
zu allem, was Gott ihm sagte.
»Sieh,« sprach Gott, »ich habe dich nicht anders
brauchen können, als wie du bist, und ich habe dir
den Stachel der Heimatlosigkeit und Wanderschaft mitgeben
müssen, sonst wärest du irgendwo sitzen geblieben
und hättest mir mein Spiel verdorben. In
meinem Namen bist du gewandert und hast den seßhaften
Leuten immer wieder ein wenig Heimweh nach
Freiheit mitbringen müssen. In meinem Namen hast
du Dummheiten gemacht und dich verspotten lassen;
ich selber bin in dir verspottet und bin in dir geliebt
worden. Du bist ja mein Kind und mein Bruder und
ein Stück von mir, und du hast nichts gekostet und nichts
gelitten, was ich nicht mit dir erlebt habe.«
»Ja,« sagte Knulp und nickte schwer mit dem Kopf.
»Ja, es ist so, ich habe es eigentlich immer gewußt.«
Er lag ruhend im Schnee, und seine müden Glieder
waren ganz leicht geworden, und seine entzündeten
Augen lächelten.
Und als er sie schloß, um ein wenig zu schlafen,
hörte er noch immer Gottes Stimme reden und sah
noch immer in seine hellen Augen.
»Also ist nichts mehr zu klagen?« fragte Gottes
Stimme.
»Nichts mehr,« nickte Knulp und lachte schüchtern.
»Und alles ist gut? Alles ist, wie es sein soll?«
»Ja,« nickte er, »es ist alles, wie es sein soll.«
Gottes Stimme wurde leiser und tönte bald wie die
seiner Mutter, bald wie Henriettes Stimme, bald wie
die gute, sanfte Stimme der Lisabeth.
»Dann bist du daheim,« sagte die Stimme. »Dann
bist du daheim und bleibst bei mir.«
Als Knulp die Augen nochmals auftat, schien die
Sonne und blendete so sehr, daß er schnell die Lider
senken mußte. Er spürte den Schnee schwer auf seinen
Händen liegen und wollte ihn abschütteln, aber der
Wille zum Schlaf war schon stärker als jeder andere
Wille in ihm geworden.
Ende
Werke
von
Hermann Hesse
Peter Camenzind
Roman. 72. Auflage. Geh. 3 Mark, geb. 4 Mark 50 Pfg.
Hesse gibt die Geschichte eines Bauernbubens, eines harten,
muskeligen Kerls, der aber den versonnenen Träumerkopf des
Hermann Hesse auf den Schultern hat. Und da ist schon die
Tragik – so einer findet sich im Leben nicht zurecht. Draußen
nicht, aber drinnen wohl. Wahrhaftige Firnenreinheit ist
über den letzten Kapiteln im Gebirge, da sich alles klärt und
versöhnt.
(Freistatt, München)
Aus Indien
Aufzeichnungen von einer indischen Reise
6. Auflage. Geh. 3 Mark, geb. 4 Mark 50 Pfennig
Hesse hat Indien ganz auf seine Art erlebt, mit jener selben
großen, verinnerlichten Gelassenheit, mit der er in seinen
Romanen und Novellen Menschen und Landschaften seiner
süddeutschen Heimat erlebt. Wohin er uns auch führt, es ist
ein berückender Genuß, ihm zu folgen. Alles Fremde, Exotische
führt den Dichter schließlich zu sich selbst zurück. Damit pflückt
er noch einmal eine nach Farbe und Duft exotische Blüte, und
doch ist der Baum, an dem sie gewachsen, ein völlig heimischer;
eine in die feinsten seelischen Gründe tauchende Erzählkunst, wie
sie Hesse mit unsern besten deutschen Meistern verbindet.
(Königsberg. Allgemeine Zeitung)
Umwege
Erzählungen. 10. Auflage. Geh. 3,50 Mark, geb. 5 Mark
Hermann Hesse bringt immer Freude, bringt immer Gewinn.
Diese höchste Kunst in der stillsten Schlichtheit seines
Wortgefüges, diese innig beteiligte Herzlichkeit seiner Menschenschilderung,
diese ruhig abwartende Ironie der Darstellung
menschlicher Schwächen und Schwänke sind unvergleichlich.
Wie Gottfried Keller in seinen »Seldwylern«, so hat Hesse
in seinen Gerbersauern seine sicherste Meisterschaft erreicht,
seine ganz persönliche Domäne gefunden.
(Berliner Tageblatt)
Roßhalde
Roman. 20. Auflage. Geh. 4 Mark, geb. 5 Mark 50 Pfg.
Das Buch beschreibt ein unwiederholbares, bis in die tiefsten
und dunkelsten Gemütsquellen hinein individualisiertes Einzelschicksal.
Zwischen Mann und Frau in einer Künstlerehe ist
eine Fremdheit in die Höhe gewachsen, grundlos, mit der
Unüberwindlichkeit alles Elementaren. Es liegt wie eine
dumpfe Last über beiden, die sie nicht heben können, weil ihr
Kind es ihnen unmöglich macht, auseinanderzugehen. Nie hat
Hermann Hesse künstlerisch etwas so Starkes gestaltet, wie
die seelische Spannung dieses Gebundenseins, den schmerzhaften
Bann der zwiefachen Einsamkeit dessen, der zum engsten
Zusammenleben mit einem einst nahen und nun willenlos
feindlich fernen Menschen verdammt ist. »Roßhalde« ist
eines der menschlich tiefsten und wahrsten Bücher, die geschrieben
sind.
(Die Hilfe)
Diesseits
Erzählungen. 20. Auflage. Geh. 3,50 Mark, geb. 5 Mark
Wie man etwa Eduard Mörikes Gedichte lesen sollte, an
einem stillen, schönen Sommertage im Grase liegend, der Zeit
und jeder Alltäglichkeit weit entrückt, ruhevoll nur sich und
dem Weben der leise schaffenden Natur lauschend, in solcher
Sonntagsstimmung sollte man Hermann Hesses neuen Novellenband
»Diesseits« lesen.
(Neue Zürcher Zeitung)
Nachbarn
Erzählungen. 12. Auflage. Geh. 3,50 Mark, geb. 5 Mark
Es ist eigentlich eine einzige Geschichte, die wir da in den
fünf Erzählungen des neuen Hessebandes erleben; so harmonisch
zusammengeschweißt erscheinen sie ... Ruhig, über allen
Dingen schwebend, ohne Leidenschaft und vollkommen abgeklärt
werden uns diese Geschichten erzählt. Aber in einer
Sprache, die ihresgleichen sucht, und die den Stolz in uns aufleben
läßt: sehet, das ist Deutsch. Gott sei Dank, daß es eine
deutsche Sprache gibt. Und Dichter, die sie adeln.
(Württemberger Zeitung, Stuttgart)
[Anmerkungen zur Transkription: Dieses elektronische Buch wurde auf
Grundlage der 1915 in der Reihe »Fischers Bibliothek zeitgenössischer
Romane« erschienenen Ausgabe erstellt. Die nachfolgende Tabelle enthält
eine Auflistung aller gegenüber dem Originaltext vorgenommenen
Korrekturen.
p 052: Gut Nacht, Frau Meistern. -> Meisterin
p 052: kann ihm hastig -> kam
p 101: So so. -> So, so. ]
[Transcriber’s Note: This ebook has been prepared from the edition
published in 1915 as part of the series "Fischers Bibliothek
zeitgenössischer Romane". The table below lists all corrections applied
to the original text.
p 052: Gut Nacht, Frau Meistern. -> Meisterin
p 052: kann ihm hastig -> kam
p 101: So so. -> So, so. ]
End of the Project Gutenberg EBook of Knulp, by Hermann Hesse
*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK KNULP ***
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Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
throughout numerous locations. Its business office is located at
809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email
business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact
information can be found at the Foundation's web site and official
page at http://pglaf.org
For additional contact information:
Dr. Gregory B. Newby
Chief Executive and Director
gbnewby@pglaf.org
Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation
Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
spread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.
The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements. We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance. To
SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
particular state visit http://pglaf.org
While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.
International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.
Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations.
To donate, please visit: http://pglaf.org/donate
Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic
works.
Professor Michael S. Hart is the originator of the Project Gutenberg-tm
concept of a library of electronic works that could be freely shared
with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project
Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.
Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily
keep eBooks in compliance with any particular paper edition.
Most people start at our Web site which has the main PG search facility:
http://www.gutenberg.org
This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.