The Project Gutenberg EBook of Die Gründung des Deutschen Zollvereins by Heinrich von Treitschke
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Title: Die Gründung des Deutschen Zollvereins Author: Heinrich von Treitschke Release Date: October, 20 2007 [Ebook #23065] Language: German Character set encoding: UTF-8 ***START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE GRÜNDUNG DES DEUTSCHEN ZOLLVEREINS***
Ein Quellenbuch mit Urkunden, Briefen und sonstigen Aktenstücken zur Geschichte des Deutschen Zollvereins dürfte auf allgemeines Interesse kaum rechnen und müßte bei der Länge der Zeit, über die sich die Verhandlungen hinschleppten, nur ein kümmerlicher Torso sein, der niemand gefiele. Dagegen darf die klassische Darstellung, die Heinrich v. Treitschke in seiner Deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert dieser größten Schöpfung der Friedensregierung Friedrich Wilhelms III. gewidmet hat, selbst den Wert einer Quelle beanspruchen, da sie auf einem umfassenden Studium aller in Betracht kommenden Akten und Briefwechsel beruht, von denen die wenigsten der wissenschaftlichen Forschung bisher durch den Druck zugänglich gemacht sind.
Im folgenden sind die in Betracht kommenden Kapitel der Deutschen Geschichte mit geringen Auslassungen, die vom Leser wohl nirgends als Lücken empfunden werden dürften, mit freundlich gewährter Erlaubnis der Verlagsbuchhandlung zu einer Einheit zusammengefaßt und wirken in dieser Form fast wuchtiger als in der Verstreuung über drei dicke Bände, wie sie der chronologische Aufbau des alle Seiten des deutschen Lebens umspannenden Werkes mit sich bringt. Sie reden eine so eindringliche Sprache von einer jammervollen Vergangenheit deutschen Kleinlebens, daß man nur wünschen kann, daß die Stimme des tapferen Rufers im Streit für nationale Einigung auch weiterhin gehört werde, nachdem ihn selbst schon seit Jahren der kühle Rasen deckt.
Leipzig, 19. Mai 1913.
Horst Kohl.
In dem Sturm und Drang der großen Reformperiode war für die Umgestaltung des alten preußischen Akzisewesens wenig geschehen; man hatte sich begnügt, dem flachen Lande mehrere städtische Steuern aufzulegen und in Altpreußen die Einfuhr fremder Fabrikwaren gegen eine Akzise von 8 1⁄3 Prozent des Wertes zu gestatten. Daneben bestanden in den alten Provinzen noch 67 verschiedene Tarife, nahezu 3000 Warenklassen umfassend; außerdem die kursächsische Generalakzise im Herzogtum Sachsen, das schwedische Zollwesen in Neuvorpommern, in den Rheinlanden endlich seit Aufhebung der napoleonischen Douanen ein schlechterdings anarchischer Zustand. Und diese unerträgliche Belästigung des Verkehrs gewährte doch, da eine geordnete Grenzbewachung noch fehlte, keinen Schutz gegen das Ausland. Auch in dem chaotischen Geldwesen zeigte sich die Abhängigkeit des verarmten Staates von den Fremden: in Posen und Pommern mußten 48, in den Provinzen links von der Elbe 71 fremde Geldsorten amtlich anerkannt und tarifiert werden. Schon längst bemerkte der König mit Besorgnis, wie schwer der gesetzliche Sinn des Volkes durch die Fortdauer des überlebten Prohibitivsystems geschädigt wurde. Seit die bürgerlichen Gewerbe auf dem platten Lande sich ansiedelten, nahm der Schmuggel einen ungeheuren Aufschwung. Im Jahre 1815 versteuerte jeder Materialwarenladen der alten Provinzen täglich nur zwei Pfund Kaffee.
Auch die unhaltbaren Verhältnisse an der Ostgrenze mahnten zu rascher Tat. Sobald Preußen, Polen und Rußland [pg 006] im März 1816 zu Warschau wegen der Ausführung des Wiener Vertrages vom 3. Mai 1815 zu verhandeln begannen, stellte sich bald heraus, daß Hardenberg in Wien von dem Fürsten Czartoryski überlistet worden war. Die scheinbar so harmlosen Bestimmungen des Vertrags über die freie Durchfuhr und den freien Verkehr mit den Landeserzeugnissen aller vormals polnischen Landschaften legten dem preußischen Staate fast nur Pflichten auf, da sein Gebiet das Durchfuhrland bildete. Um der Abrede buchstäblich zu genügen, hätte Preußen seine polnischen Provinzen von dem übrigen Staatsgebiete durch eine Zollinie trennen müssen, während Rußland, dem Vertrage zuwider, seine alte Zollgrenze, die das polnische Litauen von Warschau abschied, unverändert ließ und auch Österreich sich keineswegs geneigt zeigte, seinen polnischen Kronlanden handelspolitische Selbständigkeit zuzugestehen. Die polnischen Unterhändler sahen in dem Vertrage ein willkommenes Mittel, um durch die Ansiedlung von Handelsagenten und Kommissionären ihre nationale Propaganda in Preußens polnische Gebiete hineinzutragen. Sie erdreisteten sich, der Krone Preußen geradezu die unbeschränkte Souveränität über Danzig zu bestreiten, und stellten so übermütige Forderungen, daß der König mit einer entschiedenen Ablehnung antwortete, als Zar Alexander nach seiner Gewohnheit versuchte, die Ansprüche der Polen durch einen zärtlichen Freundesbrief zu unterstützen. Der unerquickliche Verlauf dieser Verhandlungen zwang zu dem Entschlusse, die polnischen Landschaften den übrigen Provinzen des Ostens völlig gleichzustellen. Auf der anderen Seite lehrten die Frankfurter Erfahrungen, daß ein Bundeszollgesetz ganz unmöglich war und Preußen mithin zunächst im eigenen Hause Ordnung schaffen mußte.
Im Jahre 1816 erfolgten die ersten vorbereitenden Schritte. Das Verbot der Geldausfuhr ward aufgehoben, das Salzregal in allen Provinzen gleichmäßig eingeführt; dann sprach die Verordnung vom 11. Juni die Aufhebung der Wasser-, Binnen- und Provinzialzölle als Grundsatz aus und verhieß die Einführung eines allgemeinen und einfachen Grenzzollsystems. Zu Anfang des folgenden Jahres war der Entwurf für das neue Zollgesetz beendigt. Sobald aber von den reformatorischen Absichten des Entwurfs Einiges ruchbar [pg 007] ward, erscholl der Notschrei der geängstigten Produzenten weithin durch das Land. Leidenschaftliche Eingaben der Baumwoll- und Kattunfabrikanten aus Schlesien und Berlin, die doch allesamt unter der bestehenden Unordnung schwer litten, bestätigten die alte Wahrheit, daß die Selbstsucht der Menschen der schlimmste Feind ihres eigenen Interesses ist. Der Lärm ward so bedrohlich, daß der König für nötig hielt, zunächst eine Spezialkommission mit der Prüfung dieser Vorstellungen zu beauftragen. Hier errang die alte friderizianische Schule noch einmal die Oberhand. Der Vorsitzende, Oberpräsident v. Heydebreck, betrachtete als höchste Aufgabe der Handelspolitik »das Numeraire dem Lande zu konservieren«; die Mehrheit beschloß, der Krone die Wiederherstellung des Verbotsystems, wie es bis zum Jahre 1806 bestanden, anzuraten. Aber zugleich mit diesem Bericht ging auch ein geharnischtes Minderheitsgutachten ein, verfaßt von Staatsrat Kunth, dem Erzieher der Gebrüder Humboldt, einem selbstbewußten Vertreter des altpreußischen Beamtenstolzes, der das gute Recht der Bureaukratie oftmals gegen die aristokratische Geringschätzung seines Freundes Stein verteidigte. Mit den Zuständen des Fabrikwesens aus eigener Anschauung gründlich vertraut, lebte und webte er in den Gedanken der neuen Volkswirtschaftslehre. »Eigentum und Freiheit, darin liegt alles; es gibt nichts anderes« — so lautete sein Kernspruch. Als das ärgste Gebrechen der preußischen Industrie erschien ihm die erstaunlich mangelhafte Bildung der meisten Fabrikanten, eine schlimme Frucht des Übergewichts der gelehrten Klassen, welche nur durch den Einfluß des auswärtigen Wettbewerbs allmählich beseitigt werden konnte; waren doch selbst unter den ersten Fabrikherren Berlins viele, die kaum notdürftig ihren Namen zu schreiben vermochten.
Kunths Gutachten fand im Staatsrate fast ungeteilte Zustimmung; es ließ sich nicht mehr verkennen, daß die Aufhebung der Handelsverbote nur die notwendige Ergänzung der Reformen von 1808 bildete. Als das Plenum des Staatsrats am 3. Juli über das Zollgesetz beriet, sprachen die politischen Gegner Gneisenau und Schuckmann einmütig für die Befreiung des Verkehrs. Oberpräsident Merckel und Geh. Rat Ferber, ein aus dem sächsischen Dienste herübergekommener [pg 008] trefflicher Nationalökonom, führten aus, daß dem Notstande des Gewerbefleißes in Schlesien und Sachsen nur durch die Freiheit zu begegnen sei; und zuletzt stimmten von 56 Anwesenden nur drei gegen das Gesetz: Heydebreck, Ladenberg und Geh Rat Beguelin. Am 1. August genehmigte der König von Karlsbad aus »das Prinzip der freien Einfuhr für alle Zukunft«. Nun folgten neue peinliche Verhandlungen, da es anfangs unmöglich schien, die neue Ordnung gleichzeitig in den beiden Hälften des Staatsgebiets einzuführen. Endlich, am 26. Mai 1818, kam das Zollgesetz für die gesamte Monarchie zustande.
Sein Verfasser war der Generaldirektor Karl Georg Maaßen1, ein Beamter von umfassenden Kenntnissen, mit Leib und Seele in den Geschäften lebend, ein Mann, der hinter kindlich anspruchslosen Umgangsformen den kühnen Mut des Reformers, eine tiefe und freie Auffassung des sozialen Lebens verbarg. Aus Cleve gebürtig, hatte er zuerst als preußischer Beamter in seiner Heimat, dann eine Zeitlang im bergischen Staatsdienste die Großindustrie des Niederrheins, nachher bei der Potsdamer Regierung die Volkswirtschaft des Nordostens kennen und also die Theorien Adam Smiths2, denen er von frühauf huldigte, durch vielseitige praktische Erfahrung zu ergänzen gelernt. So ging er auch beim Entwerfen des Zollgesetzes nicht von einer fertigen Doktrin aus, sondern von drei Gesichtspunkten der praktischen Staatskunst. Die Aufgabe war: zunächst in der gesamten Monarchie durch Befreiung des inneren Verkehrs eine lebendige Gemeinschaft der Interessen zu begründen, sodann dem Staate neue Einnahmequellen zu eröffnen, endlich dem heimischen Gewerbefleiß einen mächtigen Schutz gegen die englische Übermacht zu gewähren und ihm doch den heilsamen Stachel des ausländischen Wettbewerbs nicht gänzlich zu nehmen. Wo die Wünsche der Industrie den Ansprüchen der Staatskassen widersprachen, da mußte das Interesse [pg 009] der Finanzen vorgehen; dies gebot die Bedrängnis des Staatshaushalts.
Die beiden ersten Paragraphen des Gesetzes verkündigten die Freiheit der Ein-, Aus- und Durchfuhr für den ganzen Umfang des Staates. Damit wurde die volle Hälfte des nichtösterreichischen Deutschlands zu einem freien Marktgebiete vereinigt, zu einer wirtschaftlichen Gemeinschaft, welche, wenn sie die Probe bestand, sich auch über die andere Hälfte der Nation erweitern konnte. Denn die schroffsten Gegensätze unseres vielgestaltigen sozialen Lebens lagen innerhalb der preußischen Grenzen. War es möglich, Posen und das Rheinland ohne Schädigung ihrer wirtschaftlichen Eigenart derselben wirtschaftlichen Gesetzgebung zu unterwerfen, so war schon erwiesen, daß diese Gesetze mit einigen Änderungen auch für Baden und Hannover genügen mußten. Preußen hatte sich — so sagte Maaßen oftmals — genau die nämlichen Fragen vorzulegen wie alle die anderen deutschen Staaten, welche ernstlich nach Zolleinheit verlangten, und konnte, wegen der Mannigfaltigkeit seiner wirtschaftlichen Interessen, leichter als jene die richtige Antwort finden. Aber die Ausführung des Gedankens, die Verlegung der Zölle an die Grenzen des Staates war in Preußen schwieriger als in irgendeinem anderen Reiche; sie erschien zuerst vielen ganz unausführbar. Man sollte eine Zollinie von 1073 Meilen bewachen, je eine Grenzmeile auf kaum fünf Geviertmeilen des Staatsgebiets, und zwar unter den denkbar ungünstigsten Verhältnissen, da die kleinen deutschen Staaten, die mit dem preußischen Gebiete im Gemenge lagen, zumeist noch kein geordnetes Zollwesen besaßen, ja sogar den Schmuggel grundsätzlich begünstigten. Solche Bedrängnis veranlaßte die preußischen Finanzmänner zur Aufstellung eines einfachen übersichtlichen Tarifs, der die Waren in wenige große Klassen einordnete. Eine umfängliche, verwickelte Zollrolle, wie sie in England oder Frankreich bestand, erforderte ein zahlreiches Beamtenpersonal, das in Preußen den Ertrag der Zölle verschlungen hätte. Durch denselben Grund wurde Maaßen bewogen, die Erhebung der Zölle nach dem Gewichte der Waren vorzuschlagen, während in allen anderen Staaten das von der herrschenden Theorie allein gebilligte System der Wertzölle galt. Die Abstufung der Zölle nach dem Werte [pg 010] würde die Kosten der Zollverwaltung unverhältnismäßig erhöht haben; zudem lag in der hohen Besteuerung kostbarer Waren eine starke Versuchung zum Schmuggelhandel, welche ein Staat von so schwer zu bewachenden Grenzen nicht ertragen konnte.
Auch in der großen Prinzipienfrage der Handelspolitik gab die Rücksicht auf die Finanzen den Ausschlag. Der Staat hatte die Wahl zwischen zwei Wegen. Man konnte entweder nach Englands und Frankreichs Beispiel Prohibitivzölle einführen, um diese sodann als Unterhandlungsmittel gegen die Westmächte zu benutzen und also Zug um Zug durch Differentialzölle zur Erleichterung des Verkehrs zu gelangen; oder man wagte sogleich in Preußen ein System mäßiger Zölle zu gründen, in der Hoffnung, daß die Natur der Dinge die großen Nachbarreiche dereinst in dieselbe Bahn drängen werde. Maaßen fand den Mut, den letzteren Weg zu wählen, vornehmlich, weil der zweifelhafte Ertrag aus hohen Schutzzöllen dem Bedürfnis der Staatskassen nicht genügen konnte. Verboten wurde allein die Einfuhr von Salz und Spielkarten; die Rohstoffe blieben in der Regel abgabenfrei oder einem ganz niedrigen Zolle unterworfen. Von den Manufakturwaren sollte ein mäßiger Schutzzoll erhoben werden, nicht über 10 Prozent, ungefähr der üblichen Schmuggelprämie entsprechend. Die Kolonialwaren dagegen unterlagen einem ergiebigen Finanzzolle, bis zu 20 Prozent, da Preußen an seiner leicht zu bewachenden Seegrenze die Mittel besaß, diese Produkte wirksam zu besteuern.
Dies freieste und reifste staatswirtschaftliche Gesetz des Zeitraums wich von den herrschenden Vorurteilen so weit ab, daß man im Auslande anfangs über die gutmütige Schwäche der preußischen Doktrinäre spottete. Den Staatsmännern der absoluten Monarchie fällt ein undankbares entsagungsvolles Los. Wie laut preist England heute seinen William Huskisson3, one of the world's great spirits; alle gesitteten Völker bewundern die Freihandelsreden des großen Britten. [pg 011] Der Name Maaßens aber ist bis zur Stunde in seinem eigenen Vaterlande nur einem engen Gelehrtenkreise vertraut. Und doch hat die große Freihandelsbewegung unseres Jahrhunderts nicht in England, sondern in Preußen ihren ersten bahnbrechenden Erfolg errungen. Das wiederhergestellte französische Königtum hielt in dem Tarife von 1816 die strengen napoleonischen Prohibitivzölle gegen fremde Fabrikwaren hartnäckig fest. Die Selbstsucht der Emigranten fügte noch schwere Zölle auf die Erzeugnisse des Landbaues, namentlich auf Schlachtvieh und Wolle, hinzu. Auch in England war nur ein Teil des Handelsstandes für die Lehren der Verkehrsfreiheit gewonnen. Noch stand der Grundherr treu zu den hohen Kornzöllen, der Reeder zu Cromwells Navigationsakte4, der Fabrikant zu dem harten Prohibitivsysteme; noch urteilte die Mehrzahl der Gebildeten wie einst Burke5 über Adam Smith: solche abstrakte Theorien sind gut genug für das stille Katheder von Glasgow6. Erst das kühne Vorgehen der Berliner Staatsmänner ermutigte die englischen Freihändler, mit ihrer Meinung herauszurücken. Auf das »glänzende Beispiel, welches Preußen der Welt gegeben«, berief sich die freihändlerische Petition der Londoner City, welche Baring im Mai 1820 dem Parlamente übergab. An Preußen dachte Huskisson, als er seinen berühmten Satz aufstellte: »Der Handel ist nicht Zweck, er ist das Mittel, Wohlstand und Behagen unter den Völkern zu verbreiten« und seinem Volke zurief: »Dies Land kann nicht still stehen, während andere Länder vorschreiten in Bildung und Gewerbefleiß«.
Den freihändlerischen Ansichten der preußischen Staatsmänner genügte das neue Gesetz nicht völlig. Man ahnte [pg 012] im Finanzministerium wohl, daß der weitaus größte Teil des Zollertrags allein von den gangbarsten Kolonialwaren aufgebracht werden und die Staatskasse von anderen Zöllen nur geringen Vorteil ziehen würde. Aber man sah auch, daß jedem Steuersystem durch die Gesinnung der Steuerpflichtigen feste Schranken gezogen sind; die öffentliche Meinung jener Tage würde der Regierung nie verziehen haben, wenn sie den Kaffee besteuert, den Tee frei gelassen hätte. Maaßen verwarf jede einseitige Begünstigung eines Zweiges der Produktion, er rechnete auf das Ineinandergreifen von Ackerbau, Gewerbe und Handel und betrachtete die Schutzzölle nur als einen Notbehelf, um die deutsche Industrie allmählich zu Kräften kommen zu lassen. Schon bei der ersten Revision des Tarifs im Jahre 1821 tat man einen Schritt weiter im Sinne des Freihandels, vereinfachte den Tarif und setzte mehrere Zölle herab. Während das Gesetz von 1818 für die westlichen Provinzen einen eigenen Tarif mit etwas niedrigeren Sätzen aufgestellt hatte, fiel jetzt der Unterschied zwischen den Provinzen hinweg; die Zollrolle von 1812 bildete in Form und Einrichtung die Grundlage für alle späteren Tarife des Zollvereins.
Derweil der Staatsrat diese Reform zum Abschluß brachte, erging sich die unreife nationalökonomische Bildung der Zeit in widersprechenden Klagen. Die Massen meinten die Verteuerung des Lebensunterhalts nicht ertragen zu können, die Fabrikanten sahen »dem englischen Handelsdespotismus« Tür und Tor geöffnet und bestürmten den Thron abermals mit so verzweifelten Bittschriften, daß der König, obwohl selbst mit Maaßens Plänen ganz einverstanden, doch eine nochmalige Prüfung des schon unterschriebenen Gesetzes befahl. Erst am 1. September 1818 wurde das Zollgesetz veröffentlicht, erst zu Neujahr 1819 traten die neuen Grenzzollämter in Tätigkeit. Am 8. Februar 1819 erschien das ergänzende Gesetz über die Besteuerung des Konsums inländischer Erzeugnisse, wonach nur Wein, Bier, Branntwein und Tabaksblätter einer Steuer unterlagen, die ohne unmittelbare Belästigung der Verzehrer von den Produzenten zu erheben war.
Die neue Gesetzgebung hielt im ganzen sehr glücklich die Mitte zwischen Handelsfreiheit und Zollschutz. Nur nach [pg 013] einer Richtung hin wich sie auffällig ab von den Grundsätzen des gemäßigten Freihandels: sie belastete den Durchfuhrhandel unverhältnismäßig schwer. Der Zentner Transitgut zahlte im Durchschnitt einen halben Taler Zoll, auf einzelnen wichtigen Handelsstraßen noch weit mehr — sicherlich eine sehr drückende Last für ordinäre Güter, zumal wenn sie das preußische Gebiet mehrmals berührten. Die nächste Veranlassung zu dieser Härte lag in dem Bedürfnis der Finanzen. Preußen beherrschte einige der wichtigsten Handelsstraßen Mitteleuropas: die Verbindung Hollands mit dem Oberlande, die alten Absatzwege des polnischen Getreides, den Verkehr Leipzigs mit der See, mit Polen, mit Frankfurt. Man berechnete, daß die volle Hälfte der in Preußen eingehenden Waren dem Durchfuhrhandel angehörte. Die erschöpfte Staatskasse war nicht in der Lage, diesen einzigen Vorteil, den ihr die unglückliche langgestreckte Gestalt des Gebiets gewährte, aus der Hand zu geben. Überdies stimmten alle Kenner des Mautwesens überein in der für jene Zeit wohlbegründeten Meinung, daß nur durch Besteuerung der Durchfuhr der finanzielle Ertrag des Grenzzollsystems gesichert werden könne. Gab man den Transit völlig frei, so wurde dem Unterschleif Tür und Tor geöffnet, ein ungeheurer Schmuggelhandel von Hamburg, Frankfurt, Leipzig her geradezu herausgefordert, das ganze Gelingen der Reform in Frage gestellt. Die unbillige Höhe der Durchfuhrzölle aber und das zähe Festhalten der Regierung an diesen für die deutschen Nachbarlande unleidlichen Sätzen erklärt sich nur aus politischen Gründen. Der Transitzoll diente dem Berliner Kabinett als ein wirksames Unterhandlungsmittel, um die deutschen Kleinstaaten zum Anschluß an die preußische Handelspolitik zu bewegen.
Von jenem Traumbilde einer gesamtdeutschen Handelspolitik, das während des Wiener Kongresses den preußischen Bevollmächtigten vorgeschwebt hatte, war man in Berlin längst zurückgekommen. Die Unmöglichkeit solcher Pläne ergab sich nicht bloß aus der Nichtigkeit der Bundesverfassung, sondern auch aus den inneren Verhältnissen der Bundesstaaten. Hardenberg7 wußte, daß der Wiener Hof an seinem [pg 014] altväterlichen Provinzialzollsystem nichts ändern wollte und seine nichtdeutschen Kronländer einem Bundeszollwesen schlechterdings nicht unterordnen konnte. Aber auch das übrige Deutschland bewahrte noch viele Trümmer aus der schmählichen kosmopolitischen Epoche unserer Vergangenheit. Noch war Hannover von England, Schleswig-Holstein von Dänemark abhängig, noch stand Luxemburg in unmittelbarer geographischer Verbindung mit dem niederländischen Gesamtstaate. Wie war ein gesamtdeutsches Zollwesen denkbar, so lange diese Fremdherrschaft währte? Auch die Verfassung mehrerer Bundesstaaten bot unübersteigliche Hindernisse. Die preußische Zollreform ruhte auf dem Gedanken des gemeinen Rechts. Wer durfte erwarten, daß der mecklenburgische Adel auf seine Zollfreiheit, der sächsische auf die mit den ständischen Privilegien fest verkettete Generalakzise verzichten würde, so lange die ständische Oligarchie in diesen Landen ungestört herrschte? Wie war es möglich, die preußischen Zölle, welche die Einheit des Staatshaushalts voraussetzten, in Hannover einzuführen, wo noch die Königliche Domänenkasse und die ständische Steuerkasse selbständig nebeneinander standen? Das Zollwesen hing überdies eng zusammen mit der Besteuerung des inländischen Konsums; nur wenn die Kleinstaaten sich entschlossen, das System ihrer indirekten Steuern auf preußischen Fuß zu setzen oder doch dem preußischen Muster anzunähern, war eine ehrliche Gegenseitigkeit, eine dauernde Zollgemeinschaft zwischen ihnen möglich. Und ließ sich solche Opferwilligkeit erwarten in jenem Augenblick, da der Rheinbund und das Ränkespiel des Wiener Kongresses den selbstsüchtigen Dünkel der Dynastien krankhaft aufgeregt und jeder Scham entwöhnt hatten? Selbst jene Staaten, denen redlicher Wille nicht fehlte, konnten gar nicht sofort auf die harten Zumutungen eingehen, welche Preußen ihnen stellen mußte, um sich den Ertrag seiner Zölle zu sichern. Man mußte, so gestand Eichhorn8 späterhin, sich erst orientieren in der veränderten Lage, [pg 015] die nationalökonomischen Bedürfnisse des eigenen Landes und die zur Deckung der Staatsausgaben notwendigen Opfer überschlagen; bevor man hierüber ins Klare gekommen, konnte man sich von einer gemeinsamen Beratung keinen Erfolg versprechen, am wenigsten von einer Beratung für ganz Deutschland am Bundestag.
Wie die Dinge lagen, mußte Preußen selbständig vorgehen, ohne jede schonende Rücksicht für die deutschen Nachbarn. Unter den gemütlichen Leuten herrschte die Ansicht vor, Preußen solle die Binnengrenzen gegen Deutschland offen halten und allein an den Grenzen gegen das Ausland Zölle erheben. Der kindische Vorschlag hätte, ausgeführt, jede Grenzbewachung unmöglich gemacht, die finanziellen wie die volkswirtschaftlichen Zwecke der Zollreform völlig vereitelt. Selbst eine mildere Besteuerung deutscher Produkte war unausführbar. Gerade die deutschen Kleinstaaten mit ihren verzwickten, mangelhaft oder gar nicht bewachten Grenzen mußten der preußischen Staatskasse als die gefährlichsten Gegner erscheinen. Ursprungszeugnisse, von solchen Behörden ausgestellt, boten den genauen Rechnern der Berliner Bureaus keine genügende Sicherheit. Jede Erleichterung, die an diesen Grenzen eintrat, ermutigte den Unterschleif, so lange nicht eine geordnete Zollverwaltung in den kleinen Nachbarstaaten bestand. Noch mehr: gewährte Preußen den deutschen Staaten Begünstigungen, so griff das Ausland unfehlbar zu Retorsionen9, und der Staat wurde allmählich in ein Differentialzollsystem hineingetrieben, das den Absichten seiner Staatsmänner schnurstracks zuwiderlief. Differentialzölle erschienen dem Finanzministerium noch weit bedenklicher als Schutzzölle, da diese den Verkehr belasteten zugunsten der einheimischen, jene zum Vorteil der ausländischen Produzenten.
Es war nicht anders: sollte das neue Zollsystem überhaupt ins Leben treten, so mußten alle nichtpreußischen Waren zuvörderst auf gleichem Fuß behandelt werden. Allerdings wurden dadurch die deutschen Nachbarn sehr hart getroffen. Sie waren gewohnt, einen schwunghaften Schmuggelhandel nach Preußen hinüber zu führen; jetzt trat die strenge Grenzbewachung [pg 016] dazwischen. Die Zollinien an den Grenzen der neuen Provinzen störten vielfach altgewohnten Verkehr. Das Königreich Sachsen litt schwer, als die preußischen Zollschranken dicht vor den Toren Leipzigs aufgerichtet wurden. Die kleinen rheinischen Lande sahen nahe vor Augen das beginnende Erstarken der preußischen Volkswirtschaft; was drüben ein Segen, ward hüben zur Last. Begreiflich genug, daß gerade in der unmittelbaren Nachbarschaft Preußens die Mißstimmung überhand nahm. Auch die Einrichtung der Gewichtszölle war für die deutschen Nachbarstaaten unverhältnismäßig lästig, da das Ausland zumeist feinere, Deutschland gröbere Waren in Preußen einzuführen pflegte.
Indes, wenn es nicht anging, den Kleinstaaten sofort Begünstigungen zu gewähren, so war doch die Zollreform von Haus aus darauf berechnet, die deutschen Nachbarn nach und nach in den preußischen Zollverband hineinzuziehen. »Die Unmöglichkeit einer Vereinigung für den ganzen Bund erkennend, suchte Preußen durch Separatverträge sich diesem Ziele zu nähern« — mit diesen kurzen und erschöpfenden Worten hat Eichhorn zehn Jahre später den Grundgedanken der preußischen Handelspolitik bezeichnet. Die Zerstückelung seines Gebietes zwang den Staat, deutsche Politik zu treiben, machte ihm auf die Dauer unmöglich, sich selbst genügsam abzuschließen, seine Verwaltung zu ordnen ohne Verständigung mit den deutschen Nachbarlanden. Ein großer Teil der thüringischen Besitzungen Preußens, 41 Geviertmeilen, mußte vorderhand aus der Zollinie ausgeschlossen bleiben. Es war eine unabweisbare Notwendigkeit, die Zollschranken mindestens so weit hinauszuschieben, daß das gesamte Staatsgebiet gleichmäßig besteuert werden konnte. In dem Zollgesetz selber (§ 5) war die Absicht erklärt, durch Handelsverträge den wechselseitigen Verkehr zu befördern. Die harte Besteuerung der Durchfuhr gab diesem Winke fühlbaren Nachdruck. Noch bestimmter sprach sich Hardenberg über die Absicht des Gesetzes aus, schon ehe es in Kraft trat. Als die Fabrikanten von Rheidt und anderen rheinischen Plätzen den Staatskanzler um Beseitigung der deutschen Binnenzölle baten, gab er die Antwort (3. Juni 1818): die Vorteile, welche aus der Vereinigung mehrerer deutscher Staaten zu einem gemeinschaftlichen Fabrik- und Handelssystem [pg 017] hervorgehen können, seien der Regierung nicht unbekannt; mit steter Rücksicht hierauf sei der Plan des Königs zur Reife gediehen. »Es liegt ganz im Geiste dieses Planes, ebensowohl auswärtige Beschränkungen des Handels zu erwidern, als Willfährigkeit zu vergelten und nachbarliches Anschließen an ein gemeinsames Interesse zu befördern«. Ebenso erklärte er den Elberfeldern: die preußischen Zollinien sollten dazu dienen, »eine allgemeine Ausdehnung oder sonstige Vereinigung vorzubereiten«.
Damit wurde deutlich angekündigt, daß der Staat, der seit langem das Schwert des alten Kaisertums führte, jetzt auch die handelspolitischen Reformgedanken der Reichspolitik des sechzehnten Jahrhunderts wieder aufnahm und bereit war, der Nation nach und nach die Einheit des wirtschaftlichen Lebens zu schaffen, welche ihr im ganzen Verlaufe ihrer Geschichte immer gefehlt hatte. Er dachte dies Ziel, das sich nicht mit einem Sprunge erjagen ließ, schrittweis, in bedachtsamer Annäherung, durch Verträge von Staat zu Staat zu erreichen. Mars und Merkur sind die Gestirne, welche in diesem Jahrhundert der Arbeit das Geschick der Staaten vornehmlich bestimmen. Das Heerwesen und die Handelspolitik der Hohenzollern bildeten fortan die beiden Rechtstitel, auf denen Preußens Führerstellung in Deutschland ruhte. Und diese Handelspolitik war ausschließlich das Werk der Krone und ihres Beamtentums. Sie begegnete, auch als ihre letzten Ziele sich späterhin völlig enthüllten, regelmäßig dem verblendeten Widerstande der Nation. Im Zeitalter der Reformation war die wirtschaftliche Einigung unseres Vaterlandes an dem Widerstande der Reichsstädte gescheitert; im 19. Jahrhundert ward sie recht eigentlich gegen den Willen der Mehrzahl der Deutschen von neuem begonnen und vollendet.
Im Kampfe gegen das preußische Zollgesetz hielten alle deutschen Parteien zusammen, Kotzebues Wochenblatt so gut wie Ludens Nemesis. Vergeblich widerlegte J. G. Hoffmann10 in der Preußischen Staatszeitung mit überlegener Sachkenntnis [pg 018] das fast durchweg wertlose nationalökonomische Gerede der Presse. Dieselben Schutzzöllner, die um Hilfe riefen für die deutsche Industrie, schalten zugleich über die unerschwinglichen Sätze des preußischen Tarifs, der doch jenen Schutz gewährte. Dieselben Liberalen, die den Bundestag als einen völlig unbrauchbaren Körper verspotteten, forderten von dieser Behörde eine schöpferische handelspolitische Tat. Wenn Hoffmann nachwies, daß das neue Gesetz eine Wohltat für Deutschland sei, so erwiderten Pölitz, Krug und andere sächsische Publizisten, kein Staat habe das Recht, seinen Nachbarn Wohltaten aufzudrängen. Alberne Jagdgeschichten wurden mit der höchsten Bestimmtheit wiederholt und von der Unwissenheit der Leser begierig geglaubt. Da hatte ein armer Höker aus dem Reußischen, als er seinen Schubkarren voll Gemüse zum Leipziger Wochenmarkt fuhr, einen Taler Durchfuhrzoll an die preußische Maut zahlen müssen — nur schade, daß Preußen von solchen Waren gar keinen Zoll erhob. Auch die Sentimentalität ward gegen Preußen ins Feld geführt; sie findet sich ja bei den Deutschen immer ein, wenn ihnen die Gedanken ausgehen. Da war gleich am ersten Tage, als das unselige Gesetz in Kraft trat, ein Zollbeamter zu Langensalza von einem gothaischen Patrioten im Rausche heiligen Zornes erstochen worden; der Mann hatte sich aber selbst entleibt. Da hieß es wehmütig, König Friedrich Wilhelm hege wohl menschenfreundliche Absichten, aber »finanzielle Rücksichten vergiften die besten Maßregeln«; für die harte Notwendigkeit dieser finanziellen Rücksichten hatte man kein Auge. Die ersehnte Einheit des deutschen Marktes — darüber bestand unter den liberalen Patrioten kein Streit — konnte nur gelingen, wenn die bereits vollzogene Einigung der Hälfte Deutschlands wieder zerstört wurde.
Quelle: H. v. Treitschke, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. II, 211 ff. — Die Anmerkungen sind vom Herausgeber beigefügt.
Alles historische Werden entspringt der beständigen Wechselwirkung zwischen dem bewußten Menschenwillen und den gegebenen Zuständen. Wie die Vernunft, die in den Dingen [pg 019] liegt, nur durch die Willenskraft eines großen, die Zeichen der Zeit verstehenden Mannes verwirklicht werden kann, so finden auch die Sünden und Irrtümer der Politiker ihre Schranke an dem Charakter der Staaten, an der Macht der Ideen, die sich im Verlauf der Geschichte angesammelt haben. Schwer hatte die Krone Preußen gefehlt, als sie in Karlsbad11 sich den lebendigen Kräften des jungen Jahrhunderts entgegenstemmte; und doch war dieser Staat modern von Grund aus, er konnte sich der neuen Zeit nicht gänzlich entfremden und begann eben jetzt eine Reform seines Haushalts, welche ihn befähigte, in seiner wirtschaftlichen Entwicklung alle anderen deutschen Staaten zu überflügeln. Nachgiebig bis zur Selbstvergessenheit war Hardenberg in Teplitz12 allen Wünschen Österreichs entgegengekommen, der Glaube an die unbedingte Interessengemeinschaft der beiden Großmächte beherrschte ihn ganz und gar; und doch war der Gegensatz der beiden Mächte in einer alten Geschichte begründet und, so lange die Machtfrage der deutschen Zukunft ungelöst blieb, durch menschlichen Willen nicht mehr beizulegen. Fast in dem nämlichen Augenblicke, da der Berliner Hof sich gänzlich der Führung Österreichs zu überlassen schien, tat er wieder einen Schritt vorwärts auf den Bahnen der friderizianischen Politik und begann die deutschen Nachbarlande in seine Zollgemeinschaft aufzunehmen. Es war ein winziger, nach dem Maße der Gegenwart fast lächerlicher Erfolg, aber der unscheinbare Beginn einer Staatskunst, welche die deutschen Staaten durch das Band wirtschaftlicher Interessen unlösbar an Preußen ketten und die Befreiung von Österreich vorbereiten sollte.
[pg 020]Seit das preußische Zollgesetz in Kraft gesetzt und den kleinen Nachbarn zunächst nur durch seine Härten fühlbar wurde, erhob sich überall mit erneuter Stärke der Ruf nach Aufhebung aller Binnenmauten, und es begann eine leidenschaftliche Agitation für die deutsche Handelseinheit, der Vorläufer und das Vorbild der späteren Kämpfe um die politische Einheit. Die ganze Nation schien einig in einem großen Gedanken; gleichwohl gingen die Ansichten über die Mittel und Wege nach allen Richtungen auseinander, und das einzige, was retten konnte, der Anschluß an die schon vorhandene Einheit des preußischen Marktgebietes, ward in unseliger Verblendung so lange verschmäht, bis schließlich nur die bittere Not das Unvermeidliche erzwang.
Gleich nach dem Frieden begann eine regelmäßige Einwanderung in das verarmte Preußen einzuströmen, etwa halb so stark als der Überschuß der Geburten; sie bestand überwiegend aus jungen Leuten der deutschen Nachbarschaft, die in dem Lande der sozialen Freiheit ihr Glück suchten. Als nunmehr die Binnenzölle in der Monarchie hinwegfielen, da ließen sich die Vorteile, welche der preußische Geschäftsmann aus seinem ausgedehnten freien Markt zog, zumal an den Grenzplätzen bald mit Händen greifen: so siedelte ein Teil der Bingener Weinhändler auf das preußische Ufer der Nahe über, da die Preise in Preußen oft dreimal höher standen als auf dem überfüllten hessischen Markte. Das Beamtentum der kleinen Höfe war noch gewöhnt an das Zunftwesen, an die Erschwerung der Niederlassung und der Heiraten, an die tausend Quälereien einer kleinlichen sozialen Gesetzgebung; von der Überlegenheit der preußischen Handelspolitik ahnte man hier noch gar nichts. Manchem wohlmeinenden Beamten in Sachsen und Thüringen erschienen die preußischen Steuergesetze als eine überflüssige fiskalische Härte, weil sein eigener Staat für das Heerwesen nur Geringes leistete, also mit bescheidenen Einnahmen auskommen konnte. So entstand unter dem Schutze der kleinen Höfe an den preußischen Binnengrenzen ein Krieg aller gegen alle, ein heilloser Zustand, von dem wir heute kaum noch eine Vorstellung haben. Das Volk verwilderte durch das schlechte Handwerk des Schwärzens. In die zollfreien Packhöfe, welche überall dem preußischen Gebiete nahe lagen, traten alltäglich handfeste [pg 021] braune Gesellen, die Jacken auf Rücken und Schultern ganz glatt gescheuert, manch einem schaute das Messer aus dem Gürtel; dann packten sie die schweren Warenballen auf, ein landesfürstlicher Mautwächter gab ihnen das Geleite bis zur Grenze und ein Helf Gott mit auf den bösen Weg. Der kleine Mann hörte sich nicht satt an den wilden Abenteuern verwegener Schmuggler, die das heutige Geschlecht nur noch aus altmodischen Romanen und Jugendschriften kennt. Also gewöhnte sich unser treues Volk die Gesetze zu mißachten. Jener wüste Radikalismus, der allmählich in den Kleinstaaten überhand nahm, ward von den kleinen Höfen selber gepflegt: durch die Sünden der Demagogenjagd wie durch die Frivolität dieser Handelspolitik.
Als die Urheber solchen Unheils galten allgemein nicht die Kleinstaaten, die den Schmuggel begünstigten, sondern Preußen, das ihn ernsthaft verfolgte; nicht jene Höfe, die an ihren unsauberen fiskalischen Kniffen, ihren veralteten unbrauchbaren Zollordnungen träge festhielten, sondern Preußen, das sein Steuersystem neu gestaltet und gemildert hatte. Unfähig, die Lebensbedingungen eines großen Staates zu verstehen, stellten die kleinen Höfe alles Ernstes die Forderung, Preußen müsse jene reiflich erwogene, in alle Zweige des Gemeinwesens tief einschneidende Reform sofort wieder rückgängig machen, noch bevor sie die Probe der Erfahrung bestanden hatte — und halb Deutschland stimmte dem törichten Ansinnen zu.
Außerhalb der preußischen Beamtenkreise wagten in diesen ersten Jahren nur zwei namhafte Schriftsteller das Werk Maaßens unbedingt zu verteidigen. Der unermüdliche Benzenberg13 bewährte in seinem Buche »über Preußens Geldhaushalt und neues Steuersystem« wieder einmal seinen praktischen Takt. Im Verkehr mit Hardenberg hatte er gelernt, den Staatshaushalt von oben, vom Standpunkt der Regierenden zu betrachten. Er wußte, daß jede ernsthafte Kritik eines Steuersystems beginnen muß mit der Frage: [pg 022] welche Ausgaben dem Staate unerläßlich seien? — einer Frage, die von den meisten Publizisten jener Zeit gar nicht berührt wurde. So gelingt ihm nachzuweisen, daß Preußen seiner Zolleinkünfte nicht entbehren könne. Er scheut sich nicht, das Wehrgesetz und die neuen Steuergesetze als die größten Wohltaten der jüngsten Epoche Friedrich Wilhelms III. zu loben; er verlangt, daß man sie gegen jeden Widerstand aufrecht halte, fordert die Nachbarstaaten auf, der Einladung des Königs zu folgen und mit Preußen wegen gegenseitiger Aufhebung der Zölle zu verhandeln. Dem Traumgebilde der Bundeszölle geht er hart zu Leibe. Er richtet an F. List14 (August 1819) einen offenen Brief und fragt, wie denn der Bundestag, »der keine Art von Legislation hat«, eine solche Reform schaffen oder gar die Zollverwaltung leiten solle? und sei denn die Aufhebung der Binnenmauten möglich ohne gleichmäßige Besteuerung des inneren Konsums? Die Stimme des nüchternen Mannes verhallte in dem allgemeinen Toben; war er doch längst schon den Liberalen verdächtig, weil er ein offenes Auge für die Eigenart des preußischen Staates besaß.
Auch einer der tüchtigsten Kaufleute Deutschlands, E. W. Arnoldi in Gotha15, begrüßte das preußische Zollgesetz schon im Januar 1819 als den ersten Keim eines Vereins aller deutschen Staaten. Nur herzhaft eingeschlagen in die dargebotene Hand: — so sprach er sich im Allgemeinen Anzeiger aus — Preußen stellt ja den Grundsatz der Gegenseitigkeit an die Spitze seines Gesetzes und erklärt sich bereit zu Verträgen mit den Nachbarn. Der treffliche Mann hatte einst in Hamburg noch zu den Füßen des alten Büsch16 gesessen und sich dort eine freie Ansicht vom Welthandel gebildet, welche [pg 023] der binnenländischen Kleinlebigkeit der Mehrzahl seiner Standesgenossen noch ganz fremd war. Ihn wurmte die kindliche Unmündigkeit dieser Geschäftswelt, die so gar nichts tat, um sich das Joch einer widersinnigen Handelsgesetzgebung vom Nacken zu schütteln. Schon seit Jahren trug er sich mit dem Gedanken eines Bundes der deutschen Fabrikanten zur Vertretung ihrer gemeinsamen Interessen. Dann stiftete er in seiner Vaterstadt unter dem Namen Innungshalle eine Handelskammer und eine rasch aufblühende Handelsschule. Endlich fand er ein weites Gebiet fruchtbarer Tätigkeit in dem Versicherungswesen, das noch ganz in der Botmäßigkeit des Auslandes stand. Fast an allen größeren deutschen Plätzen unterhielt der mächtige Londoner Phönix seine Agenturen und beutete die Deutschen durch unbillige Prämien aus, da die kleinen heimischen Versicherungsgesellschaften, die in einzelnen Städten des Nordens bestanden, ihre Wirksamkeit auf die Vaterstadt beschränkten. Da wendete sich Arnoldi (1819) an die Nation mit der Frage, wie lange sie noch ihr Geld in die englische Sparbüchse legen wolle, und entwarf den Plan für eine deutsche, das gesamte Vaterland umfassende, auf Gegenseitigkeit beruhende Feuerversicherungsbank. Zwei Jahre darauf trat diese Anstalt zu Gotha ins Leben, der erste Anfang der großartigen Entwicklung unseres nationalen Versicherungswesens. Der allgemeine Haß gegen Englands Handelsherrschaft kam dem kühnen Unternehmer zustatten. Überall im Binnenlande schalt man auf England und die Hansestädte, die den Süddeutschen nur als englische Kontore galten; der wieder erwachende Napoleonskultus und die französischen Sympathien der Liberalen des Südens wurden durch solche erregte Stimmungen gefördert. Über die Waffen freilich, welche den deutschen Gewerbefleiß vor einer erdrückenden ausländischen Mitwerbung sichern konnten, hatten die wenigsten auch nur nachgedacht. Nur soviel schien allen unzweifelhaft, daß sämtliche neu eingeführte Zölle sofort wieder aufgehoben und die im Artikel 19 der Bundesakte verheißene Verkehrsfreiheit durch den Bundestag angeordnet werden müsse.
Selbst jener hochherzige, geistvolle Agitator, der mit dem ganzen Ungestüm seiner Tatkraft gegen die Binnenmauten auftrat, auch Friedrich List, teilte den allgemeinen [pg 024] Irrtum. Wie Görres17 einst im Rheinischen Merkur die Idee der politischen Macht und Einheit des Vaterlandes vertrat, so verfocht List die Idee der handelspolitischen Einheit — eine verwandte Natur, feurig, hochbegeistert, ein Meister der bewegten Rede, voll tiefer und echter Leidenschaft, leicht hingerissen zu phantastischen Verirrungen. Ein echter Reichsstädter, war er im freiheitsstolzen Reutlingen aufgewachsen, unter ewigen Händeln mit den württembergischen Schreibern; er zählte zu jenen geborenen Kämpfern, denen das Schicksal immer neuen Hader sendet, auch wenn sie den Streit nicht suchen. Seine Mutter, seinen einzigen Bruder sah er plötzlich sterben infolge der Roheit brutaler Beamten; und als er dann selber einige Jahre in der geisttötenden Scheintätigkeit der württembergischen Schreibstuben verbracht hatte, da ward sein Haß gegen die Herrschaft des rheinbündischen Beamtentums grenzenlos, und er setzte sich zum Ziele seines Lebens, den Bürger und Bauersmann zur Selbsttätigkeit zu erwecken, ihn aufzuklären über seine nächsten Interessen, die Volkswirtschaftslehre von den Formeln des Katheders zu befreien und sie die Sprache des Volkes reden zu lassen. Schon durch die Geburt ein Deutscher schlechtweg, gleich dem Reichsritter Stein, ging er mit seinen kühnen Entwürfen sogleich über die Grenzen der schwäbischen Heimat hinaus, so daß er den verschwiegerten und verschwägerten Württembergern bald als ein wildfremder Störenfried verdächtig wurde: eine neue Zeit handelspolitischer Größe, dauerhafter als einst die Herrlichkeit der Hansa, sollte dem deutschen Vaterlande tagen. Eine seltene Kunst, die Massen zu befeuern und zu erregen, stand ihm zu Gebote, ein agitatorisches Talent, dessengleichen unsere an großen Demagogen so arme Geschichte seither nur noch zweimal, in Robert Blum18 und [pg 025] Lassalle19 gesehen hat. Im April 1819 stiftete List mit mehreren Industriellen der Kleinstaaten, Miller aus Immenstadt, Schnell aus Nürnberg, E. Weber aus Gera den Verein deutscher Kaufleute und Fabrikanten, dem sich bald die Mehrzahl der großen Firmen in Süd- und Mitteldeutschland anschloß, und legte rasch entschlossen seine Tübinger Professur nieder, da die württembergische Regierung das Amt eines Konsulenten des Handelsvereins als unverträglich mit der Beamtenwürde betrachtete.
Der neue Handelsverein richtete sogleich an den Bundestag eine Bittschrift um Ausführung des Artikels 19, Beseitigung aller Binnenmauten und Erlaß eines deutschen Zollgesetzes, das den Zöllen des Auslandes mit strengen Retorsionen begegnen sollte, bis sich ganz Europa über allgemeine Handelsfreiheit verständigt hätte — denn noch bekannte sich List, gleich den meisten Süddeutschen jener Zeit, im Grundsatz zu den Lehren des Freihandels. In Frankfurt abgewiesen, bestürmte List sodann die Höfe, die Geschäftsmänner und wen nicht sonst mit seinen Gesuchen, geißelte in seiner Zeitschrift dem »Organ des deutschen Handels- und Gewerbestandes«, unermüdlich und unerbittlich die Gebrechen deutscher Handelspolitik. Also hat er in rastloser Arbeit mehr als irgendeiner der Zeitgenossen dazu beigetragen, daß die Überzeugung von der Unhaltbarkeit des Bestehenden tief in die Nation drang. Große verwegene Träume, die erst das lebende Geschlecht in Erfüllung gehen sieht, regten sich in seinem stürmischen Kopfe: er dachte an eine gemeinsame Gewerbegesetzgebung, an ein deutsches Postwesen, an nationale Industrieausstellungen, er hoffte die romantischen Kaiserträume des jungen Geschlechts durch die Arbeit der praktischen nationalen Politik zu verdrängen und sah die Zeit voraus, da eine freie Verfassung, ein deutsches Parlament aus der Handelseinheit hervorgehen würde. Als der Schöpfer des Zollvereins, wie er selber im Übermaß seines Selbstgefühls sich genannt hat, kann List gleichwohl keinem Unbefangenen gelten.
Ein klares Programm, einen bestimmten, durchgebildeten politischen Gedanken aufzustellen und festzuhalten, lag überhaupt [pg 026] nicht in der Weise der Patrioten jener Zeit. Nur im Innern der süddeutschen Mittelstaaten begann die konstitutionelle Bewegung bereits feste, deutlich ausgesprochene Parteimeinungen hervorzurufen. Wer über den deutschen Gesamtstaat schrieb, begnügte sich noch immer, der elenden Gegenwart ein leuchtendes Idealbild gegenüberzuhalten und dann im raschen Wechsel Einfälle und Winke für den praktischen Staatsmann hinzuwerfen. Wie Görres im Rheinischen Merkur ein ganzes Geschwader deutscher Verfassungspläne harmlos veröffentlichte, so eilte auch List in jähen Sprüngen von einem Plane zum andern über. Bald will er die deutschen Bundesmauten an eine Aktiengesellschaft verpachten; bald soll Deutschland sich anschließen an das österreichische Prohibitivsystem; dann überfällt ihn wieder die Ahnung, ob nicht Preußen den Weg zur Einheit zeigen werde. In seiner Eingabe an den Bundestag gestand er: »Man wird unwillkürlich auf den Gedanken geleitet, die liberale preußische Regierung, die der Lage ihrer Länder nach vollkommene Handelsfreiheit vor allen andern wünschen muß, hege die große Absicht, durch dieses Zollsystem die übrigen Staaten Deutschlands zu veranlassen, endlich wegen einer völligen Handelsfreiheit sich zu vergleichen. Diese Vermutung wird fast zur Gewißheit, wenn man die Erklärung der preußischen Regierung berücksichtigt, daß sie sich geneigt finden lasse, mit Nachbarstaaten besondere Handelsverträge zu schließen«. Leider vermochte der Leidenschaftliche nicht an dieser einfach richtigen Erkenntnis festzuhalten. Er war ein Gegner der preußischen Handelspolitik, soweit aus seinem unsteten Treiben überhaupt eine vorherrschende Ansicht erkennbar wird; denn nach allen Abschweifungen lenkte er immer wieder auf jenen Weg zurück, welchen Preußen längst als unmöglich erkannt hatte, auf die Idee der Bundeszölle. Von den preußischen Zuständen besaß List nur sehr mangelhafte Kenntnis; sein Verein ward durch die Hoffnung auf baldige Wiederaufhebung des preußischen Zollgesetzes zusammengehalten und besaß Korrespondenten in allen größeren deutschen Staaten, aber, bezeichnend genug, keinen in Preußen.
Nur der Zauber, der an dem Namen Deutschland haftete, erklärt das Rätsel, daß so viele wackere und einsichtige Männer noch immer auf eine Handelspolitik des Deutschen Bundes [pg 027] hoffen konnten. Seinerseits hatte der Bundestag alles getan, um die Schwärmer zu enttäuschen. Die Berichterstattung über Lists Bittschrift wurde dem Hannoveraner Martens20 übertragen, der gleich den meisten dieser »deutschen Großbritannier« die englische Handelsherrschaft auf deutschem Boden hocherfreulich fand. Mit dem ganzen Feuereifer polizeilicher Seelenangst fragte er zunächst, woher dieser Verein das Recht nehme, sich zum Vertreter des deutschen Handelsstandes aufzuwerfen, und überließ es den hohen Regierungen, auf ihre beteiligten Untertanen ein wachsames Auge zu richten. Zur Sache selbst brachte er nicht viel mehr vor als eine drastische Schilderung der ungeheueren Schwierigkeiten, welche sich, seit die deutschen Staaten souverän geworden, der Handelseinheit entgegenstellten (24. Mai). Einige Bundesgesandte wünschten mindestens die Einsetzung einer Kommission; aber dann hätten ja die Bittsteller wähnen können, dieser Schritt sei auf ihre Veranlassung geschehen! Um einer so frevelhaften Mißdeutung vorzubeugen, beschloß die Bundesversammlung nur, daß man sich späterhin einmal mit dem Artikel 19 beschäftigen wolle. Einige Wochen nachher (22. Juli) erinnerten die Ernestinischen Höfe den Bundestag nochmals an den unglücklichen Artikel; Lists Freund, E. Weber, und die Fabrikanten des Thüringer Waldes ließen ihnen keine Ruhe. Diesmal ergingen sich Baden, Württemberg, beide Hessen und die Ernestiner in wohlgemeinten, aber auch sehr wohlfeilen Reden zum Preise der deutschen Verkehrsfreiheit und begeisterten die Versammlung dermaßen, daß sie nunmehr wirklich beschloß, nach den Ferien, also 1820, solle eine Kommission eingesetzt werden. Das war die Hilfe, welche Deutschlands Handel in Frankfurt zu erwarten hatte. Der preußische Gesandte21 aber fand es mit Recht unbegreiflich, daß diese Versammlung sichs zutraue, so schwierige Arbeiten auch nur in die Hand zu nehmen.
Trotz solcher Erfahrungen sollten noch viele Jahre vergehen, bis die Unausführbarkeit der leeren Versprechungen [pg 028] des Artikels 19 allgemein erkannt wurde. Mit großer Hartnäckigkeit hielt namentlich die badische Regierung an dem Traumbilde des Bundeszollwesens fest; ihr langgestrecktes, auf die Durchfuhr angewiesenes Land litt unter dem Jammer der Binnenmauten besonders schwer, und nicht ohne Besorgnis betrachtete Minister Berstett22 die wachsende Erbitterung im Volke. Der beschränkte Mann hoffte durch wirtschaftliches Gedeihen die Nation mit ihrer schimpflichen Zersplitterung zu versöhnen, ihr »einen materiellen Ersatz für den Verlust mancher chimärischen, aber liebgewordenen Ideen« zu geben. Darum empfahl er auf den Karlsbader Konferenzen in einer langen Denkschrift (15. August) die Einführung eines Bundes- Douanensystems, das für 30 Millionen Menschen freien Verkehr schaffen müsse; über die große Frage, wie es möglich sein sollte, Hannover, Holstein, Luxemburg, Deutsch- Österreich einem nationalen Zollwesen einzufügen, ging das überaus unklare, widerspruchsvolle Schriftstück schweigend hinweg. Metternich23 wurde durch diesen Antrag, welchem Österreich sich schlechterdings nicht fügen konnte, unangenehm überrascht und versuchte sogar, die Kompetenz des Bundes in Zweifel zu ziehen. »Der Handel — so behauptete er —, seine Ausdehnung wie seine Beschränkung gehört zu den ersten Befugnissen der Souveränität«. Zur Mißhandlung der Universitäten, von denen die Bundesakte kein Wort sagte, war der Bund nach der k. k. Doktrin unzweifelhaft befugt; aber die Verkehrsfreiheit, welche der Bundesvertrag ausdrücklich in Aussicht stellte, verstieß gegen die Souveränität der Bundesstaaten. Drastischer konnte das Verhältnis der Hofburg zu den Lebensfragen der deutschen Nation unmöglich bezeichnet werden. Auf das wiederholte Andrängen Badens und Württembergs erklärte sich der österreichische Staatsmann zuletzt doch bereit, die Zollfrage auf die Tagesordnung der bevorstehenden Wiener Konferenzen zu setzen. Er wußte wohl, was von solchen Beratungen zu erwarten sei.
[pg 029]Unterdessen hatte auch der beste Kopf unter den badischen Finanzmännern, Nebenius24, seine Gedanken über die Bedingungen der deutschen Verkehrsfreiheit in einer geistvollen Denkschrift niedergelegt, einer Privatarbeit, welche zwar niemals, auch nicht mittelbar, auf die Entwicklung des Zollvereins irgendeinen Einfluß ausgeübt hat, aber durch Klarheit und Bestimmtheit alles übertraf, was damals von Privatleuten über deutsche Handelspolitik geschrieben wurde. Der gelehrte Verfasser der badischen Konstitution errang sich schon in jenen Jahren durch seine Schrift über die englische Staatswirtschaft ein wissenschaftliches Ansehen, das späterhin, seit dem Erscheinen seines Werkes »der öffentliche Kredit« noch höher stieg; dies klassische Buch kann niemals ganz veralten, es wird, wie Ricardos25 Werke, dem angehenden Nationalökonomen immer unschätzbar bleiben als eine Schule strengen methodischen Denkens. Auch seine um Neujahr 1819 verfaßte handelspolitische Denkschrift verrät überall den sicheren Blick des gewiegten Kenners. Sie wurde im April 1819 vertraulich den badischen Landtagsmitgliedern mitgeteilt und dann im Winter den Wiener Konferenzen durch Berstett als ein beachtenswertes Privatgutachten überreicht. Maaßen freilich, Klewiz26 und die anderen Urheber des preußischen Zollgesetzes konnten aus den Ratschlägen des badischen Staatsmannes nichts lernen. Für sie war das Richtige in seiner Denkschrift nicht neu, das Neue nicht richtig.
Die Denkschrift tritt, in den behutsam schonenden Formen, welche Nebenius liebte, entschieden gegen das preußische Zollgesetz auf. Sie hebt die Übelstände dieses Systems scharf heraus, ohne die Lichtseiten zu erwähnen. Sie stellt den Satz [pg 030] hin: »kein deutscher Staat, Österreich ausgenommen, vermag sein Gebiet gegen überwiegende fremde Konkurrenz wirksam zu schützen« — eine Behauptung, welche Preußens Staatsmänner soeben durch die Tat zu widerlegen begannen. Die Urheber des Gesetzes vom 26. Mai gingen aus von den Bedürfnissen des preußischen Staatshaushalts, Nebenius hebt an mit der Betrachtung der Leiden des deutschen Verkehrs. Darum steht jenen die finanzielle, diesem der staatswirtschaftliche Gesichtspunkt obenan. Darum wollen jene die allmähliche Erweiterung des preußischen Zollwesens unter den Bedingungen, welche das Interesse der preußischen Finanzen vorschreibt. Nebenius hingegen fordert, ganz im Sinne der Durchschnittsmeinung der Zeit, ein System deutscher Bundeszölle, eine vom Bundestage abhängige Zollverwaltung. Er will mithin genau das Gegenteil der Politik, welche den wirklichen Zollverein geschaffen hat; der erste Schritt auf dem von Nebenius vorgeschlagenen Wege mußte offenbar zur Aufhebung des preußischen Zollgesetzes führen, also gerade die Grundlage des späteren Zollvereins vernichten. Der handelspolitische Kampf jener Jahre bewegte sich um die eine Frage: soll das preußische Zollgesetz aufrecht bleiben oder nicht? Und in diesem Streite stand Nebenius auf der Seite der Irrenden. Will man eine Denkschrift, welche also den leitenden politischen Gedanken der preußischen Handelspolitik bekämpft, als den bahnbrechenden Vorläufer des Zollvereins preisen, so muß man, kraft derselben Logik, auch Großdeutsche und Kleindeutsche für Gesinnungsgenossen erklären. Beide Parteien erstrebten bekanntlich die deutsche Einheit, nur leider auf entgegengesetzten Wegen.
Der staatsmännische Sinn des geistvollen Badeners steht keineswegs auf gleicher Höhe mit seiner volkswirtschaftlichen Einsicht. Er hegt wohl Zweifel, ob Österreich dem Zollverein beitreten könne, zu einem sicheren Schluß gelangt er dennoch nicht. Noch im Jahre 1835 hat er den Eintritt Österreichs für möglich gehalten; dann werde der Zollverein »den schönsten aller Märkte bilden«. Die schwerwiegenden politischen Gründe, welche einen solchen Gedanken für Preußen unannehmbar machten, sind ihm niemals klar geworden. Ebenso wenig will er begreifen, warum Preußen als eine europäische Macht die Selbständigkeit seiner Zollverwaltung [pg 031] unbedingt aufrecht halten mußte; er verlangte eine in der Hand des Bundes zentralisierte Zollverwaltung, die Mautbeamten sollen allein dem Bunde vereidigt werden. Auch bei der Erörterung von Nebenfragen vermag er nicht immer hinauszublicken über den engen Gesichtskreis seines heimischen Kleinstaates. So will er, mit wenigen Ausnahmen, die gesamte Zollerhebung allein an den Grenzen stattfinden lassen, weil, nach der Ansicht des badischen Beamtentums, diese Einrichtung dem Grenzlande Baden besonderen Vorteil bringen sollte. Maaßen dagegen ließ in allen größeren preußischen Plätzen Packhöfe und Zollstellen errichten, da ohne solche Erleichterung ein schwunghafter Speditionshandel offenbar nicht gedeihen konnte.
Neben diesen Irrtümern der Denkschrift steht freilich eine lange Reihe tief durchdachter, praktisch brauchbarer Vorschläge, doch ist kein einziger darunter, welchen das preußische Kabinett nicht schon damals gekannt und angewendet hätte. Mit großer Klarheit entwickelt Nebenius den Satz, daß ohne Zollgemeinschaft die Freiheit des Verkehrs nicht möglich sei. Dieser Gedanke, der uns heute trivial und selbstverständlich erscheint, war der Diplomatie der Kleinstaaten jener Zeit völlig neu. Den Berliner Staatsmännern war er wohlbekannt; denn nur jenen Staaten, die sich dem preußischen Zollsystem einfügen wollten, hatte Preußen freien Verkehr angeboten. Ebenso tief durchdacht waren die Grundzüge des Zolltarifs, welche Nebenius entwarf. Er will mäßige Finanzzölle namentlich auf die Gegenstände allgemeinen Gebrauchs, auf die Kolonialwaren legen; die dem heimischen Gewerbefleiß notwendigen Rohstoffe gibt er frei, die Fabrikwaren schützt er durch Zölle, die ungefähr der üblichen Schmuggelprämie entsprechen; feindselige Schritte des Auslandes sollen mit Repressalien erwidert werden. Treffliche Gedanken, ohne Frage; aber als Nebenius schrieb, war bereits der preußische Tarif veröffentlicht, der durchaus auf denselben Grundsätzen beruhte. Selbständiges Nachdenken hatte den Süddeutschen genau auf dieselben staatswirtschaftlichen Ideen geführt, welche Eichhorn oftmals als den Eckstein des preußischen Systems bezeichnete: »Freiheit, Reziprozität, Ausschließung der Prohibition.« War es nicht ein seltsames Zeichen der allgemeinen Unklarheit jener Tage, daß ein so [pg 032] ungewöhnlicher Geist so dicht heranstreifte an die Ideen des preußischen Zollsystems und doch nicht einmal die Frage aufwarf, ob nicht der Bau der deutschen Handelseinheit auf dem festen Grunde dieses Systems aufgerichtet werden sollte? — Nebenius stellt ferner den Grundsatz auf, daß die Verteilung der Zolleinnahmen nach der Kopfzahl der Bevölkerung erfolgen solle. Aber als seine Denkschrift in Berlin bekannt wurde, da hatte Preußen denselben folgenschweren Gedanken schon in einem Staatsvertrage praktisch durchgesetzt. Er erörtert sodann, die Zollgemeinschaft sei unmöglich, wenn nicht auch der innere Konsum nach gleichen Grundsätzen besteuert werde; bis dies Ziel erreicht sei, müsse man sich mit Übergangsabgaben behelfen. Auch diese Einsicht bestand in Berlin schon längst; eben weil Eichhorn und Maaßen die weit abweichenden Steuersysteme der Nachbarstaaten kannten, wollten sie nicht zu einer vorschnellen Einigung die Hand bieten. Sie wußten desgleichen so gut wie Nebenius, daß es genüge, einen Zollvertrag für einige Jahre abzuschließen; gleich ihm hofften sie zuversichtlich, der unermeßliche Segen der Verkehrsfreiheit werde die Wiederaufhebung eines einmal geschlossenen Zollvereins verhindern …
Nebenius galt in der Diplomatie allgemein als ein bedeutender Kopf und als ein höchst unbequemer Unterhändler. Er zählte zu jenen stillen Gelehrtennaturen, die unter schmuckloser Hülle ein sehr reizbares Selbstgefühl hegen, den Widerspruch ungern, noch schwerer die Widerlegung ertragen. Weit entfernt von der lauten Prahlsucht Friedrich Lists, war er doch mitnichten gesonnen, sein Licht hinter den Scheffel zu stellen. Er gab wohl zu, kein einzelner Mann könne als Urheber des Zollvereins gelten. Doch er rühmte sich, seine Denkschrift habe den Gedanken eines allgemeinen Zollverbandes zum ersten Male entwickelt, sie habe, bis auf einen einzigen Irrtum, die Verfassung des späteren Zollvereins im voraus richtig gezeichnet. Er übersah, daß dieser einzige Irrtum gerade die Lebensfrage der deutschen Handelspolitik betraf; er übersah nicht minder, daß der beste Teil seiner Denkschrift lediglich als Wunsch aussprach, was Preußen durch die Tat schon vollzogen hatte. Ihm gebührt nur das große Verdienst, daß er, gleichzeitig mit den preußischen Staatsmännern und unabhängig von ihnen, für einige wichtige [pg 033] Fragen deutscher Handelspolitik die rechte Lösung erdachte; jedoch die entscheidende Frage: »Bundeszölle oder Anschluß an das preußische System?« wurde in Berlin richtig, von Nebenius falsch beantwortet …
Eine klare Vorstellung von dem Handelsbunde, der anderthalb Jahrzehnte später ins Leben trat, hegte im Jahre 1819 noch niemand. »Die Idee hatte sich noch gar nicht entwickelt«, pflegte Eichhorn späterhin zu sagen. Der Aufzug des großen Gewebes war bereits ausgespannt. Es bestand das preußische Zollsystem, es bestand der ausgesprochene Wille Preußens, dies System zu erweitern und den deutschen Nachbarn ohne Kleinsinn reichlichen Anteil an den gemeinsamen Zolleinkünften zu gewähren. Noch fehlte der Einschlag. Es fehlte der gute Wille der Nachbarstaaten; es fehlte hüben wie drüben ein deutlicher Begriff von den losen und lockeren bündischen Formen, welche allein einen dauernden Handelsbund zwischen eifersüchtigen souveränen Staaten — dies noch niemals gewagte Unternehmen — ermöglichen konnten. Jenen guten Willen hat nachher die Not gezeitigt. Diese Verfassungsformen des Zollvereins sind nicht von Nebenius, noch von irgendeinem Denker im voraus ersonnen worden, da die Theorie solche Aufgaben niemals lösen kann; sie sind gefunden worden auf den Wegen praktischer Politik, durch Verhandlungen und gegenseitige Zugeständnisse zwischen den deutschen Staaten. Der badische Denker schrieb als ein unverantwortlicher Privatmann, er durfte kühn sofort die Einheit des ganzen Vaterlandes ins Auge fassen. Er hat an diesem Ideale unverbrüchlich festgehalten, und weil er so hohen Flug nahm, verfiel er auf den unmöglichen Plan der Bundeszölle. Preußens Staatsmänner hatten ein köstliches Gut zu hüten: die schwer errungene und noch immer hart bedrohte handelspolitische Einheit ihres Staates. Sie mußten sich von den Schwärmern bald des zaghaften Kleinsinns, bald des selbstzufriedenen Dünkels zeihen lassen, und indem sie bedachtsam auf dem Bestehenden fortbauten, erreichten sie das hohe Ziel. —
Zur rechten Stunde fanden die Urheber des preußischen Zollgesetzes einen mächtigen diplomatischen Bundesgenossen an dem neuen Referenten für die deutschen Angelegenheiten, J. A. F. Eichhorn, den sein Chef Graf Bernstorff auf dem [pg 034] Gebiete der Handelspolitik völlig frei schalten ließ. Unter den Helden der Arbeit, welche in müden Tagen die großen Überlieferungen Preußens mutig aufrecht hielten, in friedlichem Schaffen den Grund legten für seine neue Größe, steht Eichhorn in vorderster Reihe. Sein ganzer Lebensgang hatte ihn vorbereitet auf die Rolle des friedlichen Bändigers der Kleinstaaterei. Im Löwensteinischen Wertheim war er aufgewachsen, an der lieblichen Ecke des Maintales und des Taubergrundes, so recht im Herzen der verkommenen Staatenwelt des alten Reichs, und sein tagelang blieb es ihm unvergeßlich, wie er dort noch den Boten des Reichskammergerichts in seiner altfränkischen Tracht die Befehle von Kaiser und Reich hatte vollstrecken sehen. Begeistert von den Taten Friedrichs, war er dann gen Norden gegangen, um dem Staate seiner Wahl zu dienen, und auch an ihm bewährte sich, daß Preußen die wärmste Liebe bei jenen Deutschen findet, die sich dies Gefühl erst erarbeitet haben. Er mußte in Cleve den Zusammenbruch der preußischen Herrschaft, dann in Hannover 1806 die fiskalischen Künste einer kleinlichen Annexionspolitik mit ansehen und ward trotz alledem nicht irr an seinem Staate. Dann nahm er teil an Schills abenteuerlichem Zuge und trat zu Berlin mit Stein und Gneisenau, mit (W. v.) Humboldt, Altenstein27, Kircheisen28 in vertrauten Verkehr; sie alle ließen den unbekannten jungen Fremdling sofort als einen Ebenbürtigen gelten. Ein Schüler Spittlers29, gründlich und vielseitig gebildet, ward er als erster Syndikus der Berliner Universität auch persönlich mit der gelehrten Welt näher bekannt; mit Schleiermacher30 verband den tief religiösen Mann eine treue Freundschaft, der großen Theologenfamilie der Sack gehörte [pg 035] er durch seine Heirat an. Die Zeiten des Befreiungskrieges verlebte er gehobenen Herzens erst als Offizier in Blüchers Stabe, dann als Mitglied von Steins Zentralverwaltung; hier fand er reiche Gelegenheit, den kleinen deutschen Regierungen bis in das Innerste der Seele zu blicken. Unerschüttert trug er die Begeisterung jener großen Jahre hinüber in die stille Zeit des Friedens.
Als er in seinem vierzigsten Jahre die wichtige Stellung im Auswärtigen Amte erhielt, da beseelte ihn die Hoffnung, eine solche Verbindung, wie sie einst unter der Zentralverwaltung nur zeitweilig, unfertig, unbeliebt bestanden hatte, auf die Dauer zu begründen, die deutschen Staaten durch die Bande des Rechts, des Vertrauens, des Interesses für immer an die Krone Preußen anzuschließen. Dies galt ihm als die Vollendung, als die Läuterung der Träume von 1813. Er erkannte in dem Artikel 19 der Bundesakte »die gutgemeinte Absicht der deutschen Fürsten, daß, unbeschadet ihrer Souveränität, den deutschen Untertanen die Wohltat eines gemeinsamen Vaterlandes gewährt werden müsse«, und er traute seinem Preußen die Kraft zu, die dem Bunde fehlte, diese Wohltat eines Vaterlandes den Deutschen zu spenden. Neben der schneidigen Kühnheit, die man oft an den großen Epochen unserer Geschichte bewundert hat, übersieht man leicht jene kalte, zähe, ausdauernde Geduld, welche der preußischen Staatskunst in den endlos langweiligen Händeln deutscher Kleinstaaterei zur anderen Natur geworden war. Wohl keiner unserer Staatsmänner hat diese altpreußische Tugend mit solcher Meisterschaft geübt wie Eichhorn. Da watet der geistvolle Mann jahraus jahrein durch den zähen Schlamm armseliger Verhandlungen, die schon beim Durchlesen körperlichen Ekel erregen. Nichts schwächt ihm die Frische des Geistes; immer bleibt ihm der Gedanke gegenwärtig, welch großes Ziel hinter den kleinen Händeln winkt; immer wieder rafft sich sein gebrechlicher Körper nach schweren Krankheitsanfällen zu rastloser Tätigkeit auf. Überall hat er seine Augen; wie der Arzt am Krankenbette überwacht er die Stimmung der kleinen Höfe, ihre Bosheit, ihre Selbstsucht, ihre ratlose Torheit. Zuweilen hilft er sich mit einem scharfen Witz über die Langeweile hinaus. »Was wohl die herzoglich sächsischen Häuser beabsichtigen? — schreibt er einmal — Ja, wenn sie [pg 036] es nur selber wüßten!« Und nach allem Jammer, den ihm die Kleinfürsten zu kosten geben, bewahrt er ihnen doch Achtung und Wohlwollen, kommt bereitwillig, mit bundesfreundlicher Gesinnung, jedem billigen Wunsche entgegen. Oftmals schlugen die schmutzigen Wellen der Demagogenverfolgung gegen seinen ehrlichen Namen an; er blieb sich selber treu, trat tapfer ein für seine verfolgten Freunde und behauptete sich doch im Vertrauen des Königs. Dann hat Fürst Metternich viele Jahre hindurch alle seine schlechten Künste spielen lassen gegen den verhaßten Patrioten, der in Wien als der böse Dämon Preußens galt. Zugleich schmähte die liberale Presse auf den Servilen. Er aber trug gelassen Stein auf Stein zu dem unscheinbaren Bau deutscher Handelseinheit und duldete schweigend die Unbilden der öffentlichen Meinung, denn jeder Versuch einer lauten Rechtfertigung wäre sein sicherer Sturz gewesen. Nachher kam doch eine Zeit, da mindestens die Höfe sein Verdienst erkannten; sämtliche Orden des Deutschen Bundes, nur kein österreichischer, wurden dem anspruchslosen Geheimen Rate verliehen, und die Staatsschriften der dankbaren Zollverbündeten priesen ihn als »die Seele des preußischen Ministeriums«. Die Nation aber erfuhr niemals ganz, was sie ihm schuldete.
Seine Hoffnung war, das preußische Zollsystem durch Verträge mit den deutschen Nachbarstaaten allmählich zu erweitern. Für die Formen und Grenzen dieser Erweiterung hat er nicht im Voraus einen festen Plan entworfen; er stellte sie, da er die Schwierigkeit des Unternehmens richtig würdigte, dem unberechenbaren Gange der Ereignisse anheim. Die Frage, ob Preußens Zollschranken dereinst am Main oder am Bodensee stehen würden, war im Jahre 1819 noch nicht praktisch; sie konnte den Leiter der preußisch-deutschen Politik vielleicht in seinen Träumen, sie durfte ihn nicht bei seiner Arbeit beschäftigen. Nur das eine war ihm sicher, daß das neue Zollsystem aufrecht bleiben, den festen Kern bilden müsse für die Neugestaltung des deutschen Verkehrs. Er verlangte freie Hand für Preußens Handelspolitik, wies von diesem Gebiete die Einmischung Österreichs entschieden zurück. Aber jede Feindseligkeit gegen die Hofburg lag ihm fern; der Gedanke, den Deutschen Bund von Österreich abzutrennen, blieb ihm, dem Konservativen, der in den Ideen [pg 037] von 1813 lebte, völlig fremd. Noch als Greis hat er Radowitzs Unionspläne als unausführbare Träume bekämpft. —
Einen widerwärtigen Übelstand, der sofort beseitigt werden mußte, bot die Lage der zahlreichen Enklaven. Die Zollinien wurden alsbald soweit vorgeschoben, daß sie die anhaltischen Herzogtümer fast ganz und auch einen Teil der kleinen thüringischen Gebiete, die mit Preußen im Gemenge lagen, umfaßten. Alle nach diesen Ländern eingeführten Waren unterlagen ohne weiteres den preußischen Einfuhrzöllen. Erst nachdem die neue Grenzbewachung in Kraft getreten, ließ Eichhorn zu Anfang 1819 diesen Staaten die Einladung zugehen, mit dem Berliner Kabinett wegen des Zollwesens zu verhandeln. Der König sei bereit, nach billiger Übereinkunft den Landesherren der eingeschlossenen Gebiete das Einkommen zu überweisen, das seinen Staatskassen aus den Enklaven zufließe. Dies kurz angebundene Verfahren, das in den Papieren des Finanzministeriums als »unser Enklavensystem« bezeichnet ward, mußte allerdings die kleinen Höfe befremden; doch die Notwendigkeit gebot, diesen Nachbarn zu zeigen, daß sie in ihrer Handelspolitik von Preußen abhängig seien. Nur gutmütige Schwäche konnte das Gelingen der großen Zollreform abhängen lassen von der vorausgehenden Zustimmung eines Dutzends kleiner Herren, die nach deutscher Fürstenweise allein für die Beredsamkeit vollendeter Tatsachen empfänglich waren. Lediglich die Eitelkeit der Nachbarfürsten ward gekränkt; den wirtschaftlichen Interessen der Enklaven gereichte Preußens Vorgehen offenbar zum Segen. Eine selbständige Handelspolitik blieb in diesen armseligen Gebietstrümmern ja doch undenkbar. Das Gedeihen ihrer Volkswirtschaft wurde sofort vernichtet, wenn Preußen sie von seinem Zollsystem ausschloß und sie mit seinen Schlagbäumen rings umstellte; auch der Handel innerhalb der Provinz Sachsen erlitt ärgerliche Störung, wenn alle durch das Anhaltische oder das Schwarzburgische gehenden Waren verbleit und der Kontrolle der Zollämter unterworfen werden mußten. Ebenso wenig durfte Preußen den Verkehr der Enklaven völlig unbeaufsichtigt lassen. Was diese Ländchen selbst an Zolleinkünften aufbrachten, bildete freilich nur den achtzigsten Teil der preußischen Zolleinnahmen; doch durch den Schmuggel [pg 038] konnten sie den Finanzen Preußens hochgefährlich werden.
Durch die heilsame Rücksichtslosigkeit der Berliner Finanzmänner erhielten die Enklaven freien Verkehr auf dem preußischen Markte, ihre Staatskassen die Zusage eines gesicherten reichlichen Einkommens, das sie aus eigener Kraft niemals erwerben konnten. Die preußische Regierung handelte in gutem Glauben; sie war bereit, ihr eigenes Enklavensystem auch gegen preußisches Gebiet anwenden zu lassen; mehrmals erklärte sie, wenn ein süddeutscher Zollverein zustande komme, so müsse der enklavierte Kreis Wetzlar sich diesem Zollsystem unterwerfen. Ganz unhaltbar war vollends die von den gekränkten Kleinfürsten oft wiederholte Anklage, Preußens Enklavensystem verletze das Völkerrecht. Alle nach den Enklaven bestimmten Waren unterlagen von Rechts wegen den preußischen Durchfuhrzöllen; und wenn der Berliner Hof für gut fand, die Transitabgaben auf gewissen Straßen bis zur Höhe der Einfuhrzölle hinaufzuschrauben, so ließ sich rechtlich dawider nichts einwenden.
Indem Eichhorn die Kleinstaaten einlud zu freundnachbarlichen Verträgen über die Behandlung der Enklaven, erklärte er zugleich die Bereitwilligkeit des Königs, auch über den Anschluß nichtenklavierter Gebiete zu verhandeln. Er betonte den nationalen Charakter des Zollgesetzes, er hob hervor, dies Gesetz sei im Sinne des Artikels 19 der Bundesakte gedacht, sei bestimmt, zunächst in einem Teile von Deutschland die Binnenmauten aufzuheben, sodann auch anderen Bundesstaaten den Anschluß zu erleichtern; der König verdiene den Dank der Bundesgenossen, da er begonnen habe, den deutschen Markt von der Herrschaft des Auslandes zu befreien. An dieser nationalen Richtung hat Preußens Handelspolitik seitdem unerschütterlich festgehalten; die in späteren Jahren oft auftauchenden Vorschläge, etwa Belgien oder die Schweiz in den Zollverein aufzunehmen, wurden in Berlin stets kurzerhand zurückgewiesen. Nicht kosmopolitische Verkehrsfreiheit war Preußens Ziel, sondern die Handelseinheit des Vaterlandes. Der König, sagt eine von Bernstorff unterzeichnete Note an das Kollegium der Geheimen Räte zu Gotha (vom 13. Juni 1819), beabsichtige durch das Gesetz vom 26. Mai »hauptsächlich [pg 039] den Handel mit außerdeutschen Landeserzeugnissen zu besteuern und die Mitbewerbung außerdeutscher Fabriken von Ihren Staaten und von denjenigen Ländern abzuwehren, welche sich hierin an Ihre Maßregeln anschließen wollen.« Er hege »den lebhaften Wunsch, die nur zur Besteuerung außerdeutscher Verbrauchsartikel und zum Schutze der preußischen Landesindustrie gegen die außerdeutschen Fabriken ergriffenen Maßregeln bundesverwandten deutschen Staaten, soweit es ihre Lage irgend gestattet, nicht zum Nachteil gereichen zu lassen.« Hierauf rät die Note, einen thüringischen Handelsverein zu bilden, der alsdann mit Preußen in Zollverbindung treten solle; sie zeichnet also genau den Weg vor, welcher 14 Jahre später zu der handelspolitischen Vereinigung Preußens und Thüringens geführt hat.
Im selben Sinne versicherte die Staatszeitung amtlich, »daß Preußen schon seiner Lage wegen, mehr aber noch, weil die Vereinigung des Einzelinteresses der deutschen Bundesstaaten zu einem Gesamtinteresse für Preußen vorzüglich wünschenswert sei, zu dem Plane einer völligen Handelsfreiheit zwischen den Bundesstaaten die Hand zu bieten am ehesten geneigt sei, und daß es am liebsten die Schwierigkeiten gehoben sehen werde, die sich der Ausführung entgegenzustellen schienen.« Und als gegen Weihnachten 1819 Abgeordnete des Listschen Vereins nach Berlin kamen, um die Regierung für einen deutschen Mautverband zu gewinnen, da erhielten sie von Hardenberg und drei Ministern die Versicherung: »daß die preußische Regierung, weit entfernt, durch einseitige Maßregeln den Wohlstand der deutschen Nachbarstaaten untergraben zu wollen, sich freuen würde, wenn alle Regierungen Deutschlands über die Grundsätze eines gemeinschaftlichen, die Wohlfahrt aller Teile fördernden Handelssystems sich vereinigen könnten, wozu die preußische Regierung sehr gern die Hände bieten werde, um ihrerseits mitzuwirken, daß dem ganzen Deutschland die Wohltat eines freien, auf Gerechtigkeit gegründeten Handels zuteil werde. Es ist ihnen aber auch nicht verhehlt worden, daß der Zustand und die Verfassung der einzelnen deutschen Staaten noch keineswegs zu gemeinsamen Anordnungen vorbereitet erscheine; wozu auch besonders gehöre, daß die gemeinsamen Anordnungen in einem gemeinsamen Sinne [pg 040] von allen gehalten würden. Die Sache scheine daher jetzt nur darauf zu führen, daß einzelne Staaten, welche sich durch den jetzigen Zustand beschwert glaubten, mit denjenigen Bundesmitgliedern, von denen nach ihrer Meinung die Beschwerden veranlaßt werden, sich zu vereinigen suchten und daß auf diesem Wege übereinstimmende Anordnungen von Grenze zu Grenze weitergeleitet würden, welche den Zweck hätten, die inneren Scheidewände mehr und mehr wegfallen zu lassen.«
Damit war rund und nett der Grundgedanke einer nationalen Handelspolitik ausgesprochen, welche bei der Nichtigkeit des Bundestages die einzig mögliche war. Deutlicher als Preußen sprach, konnte eine Regierung über noch unfertige Entwürfe schlechterdings nicht reden. Aber in der epidemischen Verblendung, die nunmehr über die öffentliche Meinung hereinbrach, in dem donnernden Lärm der Anklagen, die auf das absolutistische Preußen herniederprasselten, wurden die offenkundigen Worte und Taten des Berliner Kabinetts völlig vergessen. Man redete sich hinein in den Wahn, daß Preußen sich selbstgefällig von dem großen Vaterlande absondere. Alles schalt auf den Berliner Hochmut und Partikularismus, am lautesten jene kleinen Höfe, welche das Enklavensystem ertragen mußten. Selbst Karl August von Weimar betrachtete es als eine höchst anmaßende Zumutung, daß er seine rings von Preußen umschlossenen Ämter Allstedt und Oldisleben dem preußischen Zollsystem einfügen sollte, und ließ dem Berliner Hofe schreiben: »Eine strenge Durchführung des Gesetzes vom 26. Mai scheint mit dem Geiste und den Grundsätzen der Bundesakte so wenig in Einklang zu stehen, daß nicht zu bezweifeln steht, es werde diese Angelegenheit Gegenstand der nächsten Verhandlungen des Bundestages werden und S. K. Majestät von Preußen als Bundesfürst selbst geruhen, konziliatorische Anträge deshalb an den Bund gelangen zu lassen.«
Auf so naive Vorschläge konnte Eichhorn sich nicht einlassen. Er durfte das Zollwesen der Provinz Sachsen nicht dem Belieben Österreichs und der Bundestagsmehrheit preisgeben, sondern gab sich der Hoffnung hin, die Erkenntnis des eigenen Vorteils würde die kleinen thüringischen Dynasten bestimmen, auf das Anerbieten Preußens einzugehen und ihre enklavierten Gebietsteile durch Verträge dem preußischen [pg 041] Zollsystem anzuschließen. In der Tat wendeten sich die kleinen Nachbarn allesamt sogleich an den Berliner Hof, aber nur, um zu fordern, daß Preußen sein Enklavensystem alsbald wieder aufhebe; wie dies möglich sein sollte, wußten sie freilich nicht anzugeben. Besonders hart fühlte sich der wohlmeinende Fürst Anton Günther von Schwarzburg-Sondershausen getroffen. Die Hauptmasse seines Reiches, die Unterherrschaft mit der Hauptstadt, ein Land von fast 30000 Einwohnern, war von preußischem Gebiet umschlossen und dem preußischen Zollwesen einverleibt; da die Krone Preußen als Rechtsnachfolgerin von Kursachsen hier überdies das Postregal und einige andere Hoheitsrechte ausübte, so blieb dem Fürsten von seiner teueren Souveränität allerdings wenig übrig. Mit dringenden Bitten mußten also erst der vielgeplagte gemeinsame thüringische Gesandte General Lestocq, dann das Sondershausener Geheime Konsilium selbst den preußischen Hof bestürmen um »Zurücknahme einer Anordnung, in welche man schwarzburg-sonderhausenscherseits sich nie zu fügen entschlossen ist.«
Minister Klewiz erwiderte verbindlich, durch einen Vertrag könne die Angelegenheit ohne Schwierigkeit geordnet werden; er gewährte auch dem Fürsten freundnachbarlich Freipässe für die Verzehrung seines Hofhalts, aber eine Abänderung des Gesetzes schlug er rundweg ab, da die Gefahr des Schmuggels aus den kleinen Nachbarlanden gar zu groß sei. In Sondershausen wollte man den Wink nicht verstehen. Mehrere Monate hindurch wurde die preußische Regierung immer von neuem mit der Anfrage belästigt, ob sie nun endlich bereit sei, eine Verfügung aufzuheben, welche so gröblich in die Rechte der Sondershausener Souveränität eingreife. Der Fürst selber richtete an den König die »devoteste Bitte«, ihn »durch einen neuen Beweis Allerhöchstdero allgemein verehrter und gepriesener Liberalität und Großmut zum unbegrenztesten und devotesten Danke zu verpflichten.« Alles war vergeblich; die untertänige Form konnte über den anmaßenden Inhalt der Bittschriften nicht täuschen. Dann kam der Kanzler v. Weise selbst nach Berlin, ein wackerer alter Herr, der im Verein mit seinem Sohne, dem Geheimen Rat, das Sondershausener Ländchen patriarchalisch regierte. Auch er richtete nichts aus.
[pg 042]Mittlerweile hatte sich Vizepräsident v. Motz31 in Erfurt des Streites angenommen. Er kannte alle Herzensgeheimnisse der Kleinstaaterei, da sein Regierungsbezirk mit fast einem Dutzend kleiner Landesherrschaften im Gemenge lag; er war mit den beiden Weise als guter Nachbar vertraut geworden und erwarb sich jetzt um Deutschlands werdende Handelseinheit, die ihm bald noch Größeres verdanken sollte, sein erstes Verdienst, indem er den Freunden vorstellte, wie kindisch es sei, an einer Zollhoheit festzuhalten, die doch niemals in Wirksamkeit treten konnte. Der kunstsinnige Fürst wünschte längst, im freundlichen Tale der Wipper ein Sondershausener Nationaltheater zu gründen, aber die Mittel fehlten; schloß er sich dem preußischen Zollwesen an, so war ihm aus der Not geholfen. Diese Erwägung wirkte.
Gegen Ende September erschien der alte Weise wieder in Berlin, und da er diesmal ernstlich verhandeln wollte, so ward er mit großer Freundlichkeit aufgenommen. Maaßen und Hoffmann führten die Unterhandlung, unter beständiger Rücksprache mit Eichhorn. Noch unbekannt mit der Nebeniusschen Denkschrift, stellte Hoffmann zuerst den Gedanken auf: das einfachste sei doch, die gemeinsamen Zolleinnahmen ohne fiskalische Kleinlichkeit nach der Volkszahl zu verteilen. Damit war jener Bevölkerungsmaßstab gefunden, der allen späteren Zollverträgen Preußens zur Grundlage gedient hat. Weise ging sofort auf das günstige Anerbieten ein, und am 25. Oktober 1819 wurde der erste Zollanschlußvertrag unterzeichnet, kraft dessen der Fürst von Sondershausen »unbeschadet seiner landesherrlichen Hoheitsrechte« seine Unterherrschaft dem preußischen Zollgesetz unterwarf und dafür nach dem Maßstabe der Bevölkerung seinen Anteil an den Zolleinnahmen — vorläufig eine Bauschsumme von 15000 Talern — erhielt. Eine Mitwirkung bei der Zollgesetzgebung wurde dem kleinen Verbündeten nicht zugestanden; er mußte die Handelsverträge Preußens und [pg 043] alle anderen Änderungen, welche das Finanzministerium beschloß, einfach annehmen. Im übrigen waren seine Hoheitsrechte sorgsam, fast ängstlich gewahrt; selbst die Steuervisitationen auf schwarzburgischem Gebiet sollten nur durch die fürstlichen Beamten vollzogen werden.
Im Wippertale herrschte laute Freude. Der Fürst dankte tief gerührt für dies neue Zeichen königlicher Hochherzigkeit; nun konnte er endlich sein berühmtes Rauchtheater eröffnen, wo er mit den Bürgern seiner Residenz um die Wette den Musen des Dramas und der Rauchkunst huldigte. Finanziell betrachtet, war das Abkommen unzweifelhaft ein Löwenvertrag zugunsten Sondershausens; Preußen brachte um des politischen Zweckes willen ein Geldopfer, denn das wenig bemittelte Thüringer Bergländchen verzehrte von den einträglichsten Zollartikeln, den Kolonialwaren, weit weniger als der Durchschnitt der östlichen Provinzen.
Um so berechtigter schien die Erwartung, daß die übrigen Kleinen dem Beispiel Sondershausens folgen würden. Im Eingange des Vertrags hatte der König nochmals erklären lassen, daß er bereit sei, ähnliche Abkommen mit anderen Bundesfürsten zu schließen. Rudolstadt begann schon zu verhandeln. Auch mit Braunschweig, Weimar, Gotha dachte Hoffmann binnen kurzem ins Reine zu kommen, und bereits ging er mit seinen Entwürfen über die Grundsätze des Enklavensystems hinaus. Die unglückliche zerrissene Gestalt seines Gebietes zwang den preußischen Staat, auch wenn er auf alle Eroberungspläne verzichtete, mindestens zum handelspolitischen Ehrgeiz; er konnte sein Steuersystem kaum durchführen, wenn er nicht außer den Enklaven auch noch einige nur halb umschlossene Nachbarlandschaften seinem Zollgesetze unterwarf. Da lag Anhalt-Bernburg, das auf eine kleine Strecke Weges nicht an Preußen grenzte und also gewissenhaft als Ausland behandelt wurde. Was war der Dank? Ein ungeheuerer Schmuggel, der von Monat zu Monat anwuchs und die Zolleinnahme der Provinz Sachsen zu verschlingen drohte. Schon im Oktober wurden 4023 Zentner zumeist Kolonialwaren, in die anhaltischen Harzstädtchen bei Ballenstedt eingeführt, um alsbald spurlos zu verschwinden. Mindestens dies Vorland, meinte Hoffmann, müsse sogleich in die Zollinie eintreten; werde der Vertrag mit Sondershausen [pg 044] nur erst bekannt, dann könnten sich die kleinen Nachbarn nicht länger mehr wider ihren eigenen Vorteil sträuben.
Die Hoffnung trog. Jener Zollvertrag, der uns heute so selbstverständlich erscheint, sollte während mehrerer Jahre der einzige bleiben. Kaum ward er ruchbar, so erscholl an allen Höfen ein Schrei des Zornes. Fürst Anton Günther mußte von seinen durchlauchtigen Genossen ernste Vorwürfe hören, weil er das Kleinod der Souveränität so würdelos preisgegeben; die anderen kleinen Nachbarn, die seinem Vorgange bereits folgen wollten, traten, eingeschüchtert durch die allgemeine Entrüstung, von den Verhandlungen zurück. An die Spitze der Gegner Preußens stellte sich der Herzog von Cöthen. Der erklärte im Namen der kleinen Fürsten: »freiwillig können und werden sie sich nicht unterwerfen, wenn sie nicht die heiligsten Pflichten gegen ihre Untertanen, gegen ihre Häuser und gegen ihre eigene Ehre verletzen wollen«; dann forderte er getrost, Preußen solle ihm einen fünf Stunden breiten Streifen zollfreien Gebiets bis zur sächsischen Grenze zur Verfügung stellen, damit das Haus Anhalt freien Zugang zum Welthandel erlange. Gemütlich lauernd und im Stillen schürend, stand hinter den erbitterten Kleinen der treue Bundesgenosse Preußens, Österreich. Die Höfe beschlossen insgeheim, auf den Wiener Konferenzen mit vereinter Kraft die Aufhebung des preußischen Zollgesetzes durchzusetzen; nur wenn der vorhandene Anfang deutscher Zolleinheit vom Erdboden verschwand, konnte der Bundestag die nationale Handelspolitik begründen! Und an dieser Raserei partikularistischer Leidenschaft nahm die gesamte Nation außerhalb Preußens teil. Alle die Lieder und Reden zum Preise der deutschen Einheit waren vergessen, sobald Preußen sich anschickte, den Deutschen »die Wohltat eines gemeinsamen Vaterlandes zu gewähren«.
Preußens Staatsmänner hatten gehofft, schon in dem ersten Jahre, da das neue Gesetz bestand, einige der deutschen Nachbarn für die Politik der praktischen deutschen Einheit zu gewinnen. Jetzt sahen sie sich in die Verteidigung zurückgeworfen. Der siegreiche Kampf um die Behauptung, dann um die Erweiterung des Zollgebiets blieb auf Jahre hinaus die wichtigste Aufgabe der preußischen Staatskunst. Durch die friedlichen Eroberungen dieses Kampfes hat König Friedrich [pg 045] Wilhelm gesühnt, was in Karlsbad gefehlt war, und die Marksteine gesetzt für das neue Deutschland. Er war der rechte Mann für dies unscheinbare und doch so folgenschwere Werk deutscher Geduld. Gleichmütig und immer bei der Sache, treu und beharrlich, von einer Rechtschaffenheit, die jedes Mißtrauen entwaffnete, stets bereit, dem bekehrten Gegner mit aufrichtigem Wohlwollen entgegenzukommen — so hat er nach und nach die Trümmer Deutschlands befreit aus den Banden eigener Torheit und ausländischer Ränke, den Weg bereitend für größere Zeiten. Die Gegenwart aber soll nicht undankbarer sein, als Friedrich der Große war, der von dem glanzlosen Arbeitsleben seines Vaters sagte: »Der Kraft der Eichel danken wir den Schatten des Eichbaums, der uns deckt.«
Quelle: H. v. Treitschke, Deutsche Geschichte usw. II, 607ff.
Als Hardenberg seine Weisungen (für die nach Wien berufene Ministerkonferenz) an Bernstorff32 erteilte, schärfte er ihm noch einmal ein, daß ein Bundeszollwesen bei dem gegenwärtigen Zustande der deutschen Staaten unmöglich sei. Sodann wiederholte er ihm wörtlich, was er gleichzeitig den Abgesandten des Listschen Handelsvereins antwortete und durch die Staatszeitung veröffentlichen ließ: »Man kann daher die Sache nur darauf zurückführen, daß einzelne Staaten, welche durch den jetzigen Zustand sich beschwert glauben, mit denjenigen Bundesgliedern, woher nach ihrer Meinung die Beschwerde kommt, sich zu vereinigen suchen, und daß so übereinstimmende Anordnungen von Grenze zu Grenze weiter geleitet werden, welche den Zweck haben, die inneren Scheidewände mehr und mehr fallen zu lassen.« So war das handelspolitische Programm der preußißschen [pg 046] Regierung nochmals klar und unzweideutig ausgesprochen. Indem sie an ihrem Zollgesetze festhielt, erklärte sie sich bereit, anderen Bundesstaaten durch freie Verträge den Zollanschluß oder Handelserleichterungen zu gewähren; aber sie sah auch ein — und hierin lag ihre Überlegenheit — daß alle Klagen wider die Binnenmauten müßige Reden blieben, solange die deutschen Staaten sich über ein gemeinsames Zollgesetz nicht einigen konnten.
Auf lebhaften Widerspruch war Bernstorff von vornherein gefaßt; er wußte wohl, wie unfaßbar diese nüchternen handelspolitischen Gedanken, die heute jedem geläufig sind, der großen Mehrzahl der deutschen Höfe noch erschienen. Der leidenschaftliche Ausbruch »gehässiger Vorurteile«, den er in Wien erleben mußte, übertraf doch seine schlimmsten Erwartungen. Die naive volkswirtschaftliche Unwissenheit der Epoche feierte auf den Konferenzen ihre Saturnalien; fast die gesamte deutsche Diplomatie lief Sturm wider das preußische Zollgesetz. Sobald auf die Fragen des Handels die Rede kam, verschob sich die Stellung der Parteien vollständig. Der preußische Bevollmächtigte, der fast in allen andern Fragen die Mehrheit der Versammlung nach sich zog, stand in den handelspolitischen Beratungen ebenso vereinsamt wie in den militärischen, er erschien wie der Störenfried der deutschen Einigkeit. Dieselben Höfe, die überall sonst den Wirkungskreis des Bundes ängstlich zu beschränken suchten, hofften durch einen rechtswidrigen Bundesbeschluß jene segensreiche Reform, welche dem preußischen Deutschland den freien Verkehr geschenkt hatte, wieder umzustoßen. Von Mund zu Mund ging die sophistische Behauptung, das preußische Gesetz verstoße wider den Artikel 19 der Bundesakte, der nichts weiter enthielt als die Zusage, daß der Bundestag wegen des Handels und Verkehrs »in Beratung treten« solle.
Preußens böser Genius, so ließen sich selbst Wohlmeinende vernehmen, hat dies unglückliche Gesetz geschaffen, das ihm überall Zutrauen und Zuneigung verscherzt; Preußen wird es dereinst noch bereuen! Und seltsam, die Angriffe der entrüsteten Vorkämpfer deutscher Handelsfreiheit richteten sich ausschließlich gegen Preußen, obgleich auch andere Bundesstaaten des gleichen Frevels schuldig waren. Bayern hatte [pg 047] soeben (22. Juli 1819), wie Preußen, ein neues Zollgesetz verkündigt, aber niemand eiferte dawider. Vollends das österreichische Prohibitivsystem belastete nicht nur alle Waren ungleich härter als das preußische Gesetz, es verbot sogar einzelne deutsche Erzeugnisse gänzlich, namentlich die Franken- und Rheinweine. Keiner unter den deutschen Ministern nahm daran Anstoß. Metternich sagte kurzweg zu Berstett: »Ich betrachte Österreich als gar nicht in der Handelsfrage befangen«, und der badische Staatsmann nahm diese Erklärung ohne Widerspruch als selbstverständlich hin. Also ward gerade durch den leidenschaftlichen Eifer der Kleinen bewiesen, wie fest ihre Interessen mit Preußen verkettet waren, wie lose mit Österreich. Einige der kleinen Minister vertraten den Gedanken der Bundeszölle: so Fritsch33, dem sein Großherzog befohlen hatte, die Verlegung aller Zollinien an die Bundesgrenze zu fordern, so Berstett, der noch immer der Meinung blieb, durch die Verkündigung allgemeiner Verkehrsfreiheit werde der Bund am sichersten die Unzufriedenheit der Nation beschwichtigen. Andere wollten nur den Verkehr mit deutschen Produkten frei lassen, und diese so wenig wie jene wußten die Mittel zur Ausführung ihres Planes anzugeben: gegen das Ausland, meinte Berstett gemütlich, möge jeder Bundesstaat seine Zölle nach Belieben anordnen, genug, wenn im Innern Deutschlands die Mauten hinwegfielen. Zu diesen ehrlichen Enthusiasten gesellten sich einige Bundesgenossen, die ihre unlauteren Hintergedanken kaum verbargen. Der Herzog von Coburg34 erschien selbst in Wien, um durch sein Veto den Abschluß der Bundeskriegsverfassung zu vereiteln, falls ihm nicht unbeschränkte Verkehrsfreiheit gewährt würde; doch da die Konferenz das Bundesmilitärgesetz nicht ins reine brachte, so ward der feine Plan zu Schanden. Noch dreister trat Marschall35 auf. Der witterte mit dem Instinkt des Hasses, daß die neue Zollgesetzgebung, das Werk der »demagogischen Subalternen« in den Berliner Bureaus, dem preußischen Staate vielleicht dereinst [pg 048] die Hegemonie im Norden verschaffen könne; durch ihre Vernichtung dachte er zugleich diesen Staat des Unheils zu demütigen und der Schlange der Revolution das Haupt zu zertreten.
Ähnliche Gesinnungen hegte der Kasseler Hof, der bereits, ohne eine Verständigung mit dem Nachbarstaate auch nur zu versuchen, den Zollkrieg gegen Preußen eröffnet hatte. Durch ein Gesetz vom 17. September 1819 wurde die Ein- und Durchfuhr vieler preußischer Waren verboten oder mit schweren Zöllen belegt. Der Mehrbetrag der erhöhten Abgaben sollte verwendet werden zum Besten der hessischen Gewerbetreibenden, welche das preußische Zollgesetz an den Bettelstab gebracht habe — ein Versprechen, das der geizige Kurfürst36 selbstverständlich niemals einlöste. In Berlin dachte man anfangs an Retorsionen. Der König aber hielt sich streng an die Zusage, daß die preußischen Zölle vornehmlich die außerdeutschen Waren treffen sollten, und wollte feindselige Schritte gegen deutsche Staaten, wenn irgend möglich, vermeiden. Auch ein Gutachten des Finanzministeriums gelangte zu dem Schlusse, die hessischen Retorsionen seien für Hessen überaus schädlich, für Preußen ungefährlich, also »nur der Form wegen zu bekämpfen«. Der Gesandte in Kassel sprach sich in diesem Sinne vertraulich gegen den Kurfürsten aus. Unterdessen ließ Preußen die Köln-Berliner Kunststraße über Höxter und Paderborn, mit Umgehung des hessischen Gebiets, ausbauen. Der Verkehr des Nordostens mit dem Süden zog sich von Hanau hinweg nach Würzburg, die hessischen Straßen begannen zu veröden. Der Kurfürst mußte seine Kampfzölle wieder herabsetzen und harrte nun um so ungeduldiger auf einen Bundesbeschluß, der die Zollinien des unangreifbaren Nachbarn zerstören sollte.
Unter den Widersachern Preußens verstand doch keiner eine so urwüchsig grobe Sprache zu führen wie der Herzog Ferdinand von Köthen, ein eitler, nichtiger Mensch, der im Jahre 1806 wegen erwiesener Unfähigkeit den preußischen Kriegsdienst hatte verlassen müssen und jetzt persönlich an die Donau eilte, um »die Mediatisierung des uralten Hauses Anhalt« abzuwenden. Die wirkliche Herrin seines Ländchens [pg 049] war seine Gemahlin Julia, eine geborene Gräfin Brandenburg, Halbschwester des Königs von Preußen, eine Dame von Geist und Bildung, unermeßlich stolz auf ihre fürstliche Würde, den katholisierenden Lehren der romantischen Schule eifrig zugetan. Da Metternich den Wert einer solchen Bundesgenossin wohl zu würdigen wußte, so hatte er Adam Müller37 beauftragt, neben dem Leipziger Konsulate auch das Amt des österreichischen Geschäftsträgers an den anhaltischen Höfen zu bekleiden, und der gefeierte Publizist der ultramontanen Partei wurde der romantischen Herzogin bald ein unentbehrlicher Ratgeber. Müller haßte seine preußische Heimat mit dem ganzen Ingrimm des Konvertiten. Seinem erfinderischen Kopfe entsprang der Plan zu einem großen Gaunerstücke kleinfürstlicher Staatskunst, das die preußische Zollgesetzgebung von innen heraus durchlöchern und mindestens für die Provinz Sachsen unmöglich machen sollte. Das Köthensche Land wurde einige Stunden weit von der Elbe durchflossen, und die Elbe zählte zu den konventionellen Flüssen, denen der Wiener Kongreß die »vollkommene Freiheit der Schiffahrt« zugesagt hatte. Welch eine glänzende Aussicht eröffnete sich also für die Machtstellung Köthens, wenn die Konferenz sich bewegen ließ, die Freiheit der Elbe sofort und unbedingt von Bundes wegen einzuführen! Dann konnte der Herzog, obgleich sein Land von preußischem Gebiete umschlossen war, eine selbständige europäische Handelspolitik beginnen, er konnte die Freiheit der Elbschiffahrt mißbrauchen, um im Herzen des preußischen Staates dem Schleichhandel eine große Freistätte zu eröffnen, den gehaßten Nachbarstaat mit geschmuggelten Waren zu überschwemmen und ihn vielleicht zur Änderung seines Zollsystems zu zwingen. Begierig ging der kleine Herr auf diese freundnachbarlichen Gedanken ein; Gewissensbedenken berührten ihn nicht, und den Unterschied von Macht und Ohnmacht vermochte er nicht zu begreifen. Die wiederholten wohlwollenden Einladungen zum freiwilligen Anschluß an das preußische Zollsystem hatte er sämtlich schroff abgefertigt, in jenem pöbelhaft schreienden Tone, der allen Schriftstücken dieses Hofes gemein [pg 050] war. »Anhalt — so erklärte er stolz — kann seine Rettung nur suchen in dem allgemeinen europäischen völkerrechtlichen Staatenverein und in den Hilfsmitteln, welche ihm seine geographische Lage an großen Strömen darbietet.«
Mehr oder minder eifrig klagten auch die meisten übrigen Bevollmächtigten wider die Selbstsucht des Staates, der allein dem Ideale der deutschen Handelseinheit im Wege stehe. Nur die Hansestädte, befriedigt mit ihrer kosmopolitischen Handelsstellung, wiesen jeden Versuch gemeinsamer deutscher Handelspolitik kühl zurück. Auch Zentner38 zeichnete sich wieder durch kluge Besonnenheit aus; dem gestaltlosen Traumbilde einer allgemeinen Verkehrsfreiheit, deren Bedingungen noch niemand kannte, wollte er das neue bayrische Zollgesetz nicht opfern. Metternich aber ließ mit schlecht verhehlter Schadenfreude die Kleinen wider Preußen lärmen. Meisterhaft verstand der Wiener Hof, die Angst vor dem preußischen Ehrgeiz, die allen Kleinstaaten in den Gliedern lag, je nach Umständen für seine Zwecke auszubeuten. Im Oktober hatte Graf Bombelles39 auf ausdrücklichen Befehl des Kaisers Franz dem Großherzog von Weimar40 gedroht: wenn man die Karlsbader Beschlüsse nicht überall streng ausführe, dann müßten die beiden Großmächte aus dem Bunde ausscheiden, und dann würde der Kaiser sich genötigt sehen, seinem preußischen Alliierten »in Deutschland eine erweiterte Stellung zu verschaffen«. Ebenso unbedenklich benutzte Metternich jetzt die Eifersucht der Kleinen, um Preußens Handelspolitik zu bekämpfen. Freilich durfte er nicht wagen, die Gegner seines unentbehrlichen Bundesgenossen offen zu unterstützen, zumal da er selber an dem österreichischen Zollwesen nicht das Mindeste ändern wollte. Unter der Hand jedoch ermutigte er die Ergrimmten und flüsterte ihnen zu, das preußische Zollgesetz sei das Werk einer Partei, deren Zwecke mit »treuem Bundessinn« nichts gemein hätten. Als handelspolitischen Ratgeber hatte er sich den Urheber der anhaltischen Schleichhandelspläne, Adam Müller, nach Wien kommen lassen.
[pg 051]Die Nation war über das Problem der Zolleinheit noch ebenso wenig ins Klare gekommen wie ihre Staatsmänner. Von dem politischen Ergebnis der Konferenzen erwartete sie, nach den Karlsbader Erfahrungen, nichts Erfreuliches; nur die Aufhebung der Binnenmauten und namentlich der preußischen Zollinien erschien allen Parteien als ein bescheidener Wunsch, der bei einigem guten Willen der Regierungen leicht erfüllt werden konnte. Eine Flugschrift »Freimütige Worte eines Deutschen aus Anhalt« sprach mit drastischen Worten aus, was nahezu alle Nichtpreußen über die Berliner Handelspolitik dachten. Der offenbar wohlmeinende Verfasser fand es ehrenrührig, daß man die von preußischem Gebiete umschlossenen Staaten als Enklaven bezeichne, und schlechthin rechtswidrig, daß Preußen von »Fremden« Steuern erhebe; das Strafurteil der öffentlichen Meinung müsse der Sache »der Wahrheit und des Rechts« unfehlbar zum Siege verhelfen.
Als Wortführer der Kaufleute und Gewerbtreibenden fand sich F. List mit seinen Getreuen J. J. Schnell und E. Weber auf den Konferenzen ein und legte eine Denkschrift vor, deren hochgemutes patriotisches Pathos inmitten der engherzigen partikularistischen Interessenpolitik der Wiener Versammlung wildfremd erschien. Mit der Einheit der Nation — so führte er in beredten Worten aus — sei die vollkommene Unabhängigkeit der Einzelstaaten nicht vereinbar; der Bund müsse den 30 Millionen Deutschen den Segen des freien Verkehrs schaffen und also in Wahrheit ein Bund der Deutschen werden. Und was war der praktische Vorschlag, der diesen begeisterten Worten folgte? List verlangte, daß die deutschen Staaten ihre Zölle an eine Aktiengesellschaft verpachten sollten, und machte sich anheischig, die Aktien unterzubringen; diese Gesellschaft würde das deutsche Bundeszollwesen begründen und den Regierungen alle Sorge um lästige Einzelheiten abnehmen! Seltsam doch, in welche holden Selbsttäuschungen der feurige Patriot sich einwiegte. Er behauptete, Preußen sei geneigt, sein Zollgesetz aufzugeben, obgleich man ihm soeben von Berlin aus amtlich das Gegenteil versichert hatte. Er sah sich von der Wiener Polizei argwöhnisch beobachtet und schrieb in die Heimat: »wir sind von allen Seiten mit Spionen umgeben, bei einem Spion [pg 052] einquartiert, von einem Spion bedient«; er wußte, daß Metternich in der Konferenz erklärt hatte, mit den Individuen, welche sich für die Vertreter des deutschen Handelsstandes ausgäben, könne man sich auf keine Verhandlungen einlassen, da der Bundestag bereits den Deutschen Handelsverein als ein gesetzwidriges und unzulässiges Unternehmen verurteilt habe. Das alles beirrte ihn nicht in seiner rührenden Zuversicht. Als nun gar Adam Müller eine Denkschrift Lists über deutsche Industrieausstellungen wohlwollend begutachtete und Kaiser Franz in einer Audienz dem unverwüstlichen Agitator versicherte, seine Regierung werde gern das Wohl des deutschen Vaterlandes fördern, da wähnte er sich schon fast am Ziele: »Aller Augen sind nunmehr auf die Kaiserlich österreichische Regierung gerichtet. Wie würde sich nicht Österreichs edelmütiger menschenfreundlicher Kaiser die Völker deutscher Zunge aufs neue verbinden, wenn ihnen so große Wohltat von seinen Händen käme!« Als auch diese Täuschung schwand, warf er seine Hoffnungen auf die süddeutschen Höfe und meinte, seine Sache habe durch die Verzögerung nur gewonnen. So klammerte sich der edle Patriot an jeden Strohhalm; nur das preußische Zollgesetz, das dereinst der Eckstein unserer wirtschaftlichen Einheit werden sollte, erschien ihm, wie der gesamten Nation, als der Quell des Verderbens.
In der Konferenz eröffnete Marschall den Kampf durch eine Denkschrift vom 8. Januar, welche den preußischen Staat mit so grobem Unglimpf überhäufte, daß Bernstorff sie dem Verfasser zurückgab. Durch die neuen Zolleinrichtungen, hieß es da, würden die Eigentumsrechte von Hunderttausenden angegriffen, das Eigentum und der Besitz vermindert. Dann forderte der Nassauer getrost: Aufhebung aller seit dem Jahre 1814 neu eingeführten Mauten und sofortige Vollziehung der Beschlüsse des Wiener Kongresses über die Flußschiffahrt; im übrigen volle Freiheit für jeden deutschen Staat, die Zölle gegen das Ausland willkürlich festzusetzen, wenn er nur keine Binnenmauten errichte. Daß der letztere Vorschlag einen plumpen Widerspruch enthielt, daß kein Einzelstaat sich gegen das Ausland schützen konnte, wenn seine deutschen Binnengrenzen unbewacht blieben — diese handgreifliche Wahrheit war dem nassauischen Staatsmanne ganz [pg 053] entgangen; er sprach wie der Blinde von den Farben, da sein Ländchen gar keine Grenzzölle besaß.
Dann wiederholte Berstett seine alten Klagen gegen die Binnenmauten und verteilte unter den Genossen jene gedankenreiche Denkschrift von Nebenius über die Bundeszölle; bei ruhiger Prüfung mußten jedoch alle die Unmöglichkeit einer Bundeszollverwaltung zugestehen, und der badische Minister selbst ließ den Plan seines geistvollen Untergebenen fallen. Darauf neue wütende Ausfälle Marschalls, so grob und ungeschlacht, daß Bernstorff beim Schluß der Konferenzen dem Bundesgesandten schrieb: »es würde unter der Würde unseres höchsten Hofes sein, diesem in keiner Hinsicht achtungswerten Manne irgendeine gegen seine Person gerichtete Empfindlichkeit zu äußern«, Goltz möge sich also dem nassauischen Kollegen gleichgültig fern halten. Nunmehr protestierte auch Fritsch im Namen der Thüringer wider Preußens Enklavensystem und verlangte, jedem Produzenten müsse gestattet werden, seine Erzeugnisse überall in Deutschland frei abzusetzen, jedem Konsumenten, seinen Bedarf auf dem nächsten Wege zu beziehen. Dazwischen hinein fuhr der Köthener Herzog, dessen anmaßendes Benehmen Bernstorff nicht grell genug schildern konnte, mit wiederholten geharnischten Verwahrungen. Er klagte, man lasse ihn alle Lasten des preußischen Zollwesens tragen, nicht die Vorteile, während es doch lediglich an ihm lag, auf Preußens Anerbietungen einzugehen und auch der Vorteile teilhaftig zu werden. Er drohte die auswärtigen Garanten der Bundesakte anzurufen zum Schutze der »über allem Angriff erhabenen Sache« des uralten Hauses Anhalt. Schließlich verweigerte er geradezu der Schlußakte seine Unterschrift, wenn ihm der Bund nicht die »freie Kommunikation mit Europa« sicherstellte: »so lange die Herzöge von Anhalt sich in einer drückenden unfreiwilligen Zinsbarkeit gegen einen mächtigen Nachbarstaat befinden, kann für dieses alte Fürstenhaus keine Bundesakte und also auch keine Schlußakte existieren.«
Inmitten dieses Gezänks bewahrte Graf Bernstorff vornehme Ruhe und aufrichtigen Freimut. Er beklagte laut, daß die Bundesakte durch ihre allgemeinen Versprechungen unerfüllbare Erwartungen geweckt habe. Fest und stolz wies [pg 054] der preußische Minister jede ehrenrührige Zumutung zurück: von der Aufhebung des neuen Gesetzes könne gar nicht die Rede sein. Zugleich wiederholte er unermüdlich in immer neuen Umschreibungen die in der Staatszeitung veröffentlichten Gedanken. Es sei »unmöglich, eine solche Einigung anders als durch allmähliche Vorbereitung und die mühsamste Ausgleichung streitender Interessen bewirkt zu sehen«. Nur Verträge zwischen den Einzelstaaten könnten dem wirtschaftlichen Elend steuern. »Geschieht dieses im Süden wie im Norden von Deutschland, und werden diese Versuche unter der Mitwirkung und Pflege des Bundes gemacht, so läßt es sich wohl denken, daß man auf diesem freilich langsamen, aber vielleicht einzig möglichen Wege dahin gelangen werde, die jetzt bestehenden Scheidewände aus dem Wege zu räumen und in Beziehung auf Handel und Verkehr diejenige Einheit der Gesetzgebung und Verwaltung hervorzubringen, welche ein Verein nebeneinander bestehender freier und besonderer Staaten, wie ihn der Deutsche Bund bildet, irgend zulassen kann.« Auf die Schmähungen des Kötheners bemerkte er trocken, daß in Dresden bereits seit mehreren Monaten eine Konferenz der Elbuferstaaten tage; dort allein sei der Ort, die Frage der freien Elbschiffahrt zum Austrage zu bringen.
Wahrlich, ein historischer Augenblick! Der große Kampf zweier Jahrhunderte, der alte unversöhnliche Gegensatz österreichischer und preußisch-deutscher Politik erneuerte sich in diesen unscheinbaren Händeln, noch ohne daß die Kämpfer den tiefen Sinn des Streites begriffen … Die ganze Zukunft deutscher Politik hing daran, daß Preußens verständige Redlichkeit triumphierte über dies Bündnis der Unklarheit und der Lüge. Und Preußen siegte.
Da die Gegner nur in ihrem Hasse, nicht in irgendeinem positiven Gedanken übereinstimmten, so errang Bernstorff bereits am 10. Februar einen durchschlagenden Erfolg in dem handelspolitischen Ausschusse der Konferenz; er bewog den Ausschuß, seine Anträge auf einige »mehr vorbereitende als entscheidende, keinen künftigen bundesförderlichen Beschlüssen vorgreifende Bestimmungen zu beschränken«. Der Ausschuß beantragte demnach lediglich, daß der Bundestag, dem Artikel 19 gemäß, die Beförderung des Handels als einen der Hauptgegenstände seiner Tätigkeit ansehen solle. Nur [pg 055] über die Freiheit des Getreidehandels, welche Preußen schon vor drei Jahren in Frankfurt befürwortet hatte, schienen jetzt alle Teile endlich einig, und der Ausschuß schlug vor, die Frage durch schleunige Vereinbarung zu erledigen. Als diese Anträge am 4. März in der Konferenz zur Verlesung kamen, da brach, sobald der Name des Bundestags erklang, einer der Anwesenden in lautes Lachen aus, und die ganze Versammlung stimmte fröhlich ein. Und diese Staatsmänner, die ihr Urteil über die Leistungsfähigkeit des Bundestages so unzweideutig bekundeten, hatten sich soeben noch vermessen, das preußische Zollgesetz durch einen Bundesbeschluß aufzuheben! Die Anträge des Ausschusses wurden angenommen, und um auch den widerspenstigen Köthener zu gewinnen, fügte man noch ein Separatprotokoll hinzu, kraft dessen die beteiligten Staaten sich verpflichteten, die Beschlüsse des Wiener Kongresses über die Flußschiffahrt unverbrüchlich zu halten, die Verhandlungen deshalb tätig zu betreiben.
Über die Freiheit des Getreidehandels setzte man ebenfalls ein besonderes Protokoll auf, aber Metternich vereitelte schließlich auch diesen einzigen heilsamen Plan, in dem sich alle Parteien zusammenfanden. Er schob die Entscheidung immer wieder hinaus, und als die Konferenz endlich zum Beschlusse schreiten wollte, da war Kaiser Franz, zum lebhaften Bedauern seines Ministers, bereits nach Prag abgereist. Arglos meldete Bernstorff einige Tage später, die Erwiderung Sr. Majestät sei noch immer nicht eingetroffen. Die Konferenz mußte auseinandergehen, ohne das Protokoll abzuschließen. Erst gegen Mitte Juni lief die österreichische Antwort beim Bundestage ein. Der gute Kaiser, der sich gegen F. List so väterlich über das Wohl des deutschen Vaterlandes geäußert hatte, meinte jetzt trocken: das Wiener Protokoll »sei eigentlich nur bestimmt, die Veranlassung zur weiteren Entwickelung der darin ausgesprochenen Grundsätze zu geben«; man brauche also nicht förmlich darüber abzustimmen, sondern solle nur sogleich die vorbehaltene Beratung am Bundestage beginnen. Dies geschah denn auch. In einem salbungsvollen Präsidialvortrage feierte Buol41 die Reize des freien [pg 056] Getreidehandels; seine Worte waren aber so allgemein gehalten, daß selbst der harmlose Goltz sofort bemerkte, Österreich hege Hintergedanken. Darauf beriet der Bundestag mit gewohnter Emsigkeit weiter, und nach einem Vierteljahr (5. Oktober) beschloß er, zunächst Nachrichten über den Stand der Gesetzgebung in den Einzelstaaten einzuholen. Der freie Getreidehandel verschwand in jenem geheimnisvollen Schlunde, in dessen Tiefen die ewig unvollendeten Bundesbeschlüsse gebettet lagen. Das waren Österreichs Liebesdienste zum Besten der deutschen Verkehrsfreiheit. —
Der Verlauf der Konferenzen selbst bestätigte durchweg, was Bernstorff vorhergesagt: daß ein Bund ohne politische Einheit keine gemeinsame Handelspolitik treiben könne. Angesichts dieser Erfahrungen begannen einige der süddeutschen Staatsmänner sich doch endlich mit den Ratschlägen Bernstorffs zu befreunden. Eingepreßt zwischen den Mautlinien Frankreichs, Österreichs, Preußens, vermochte die Volkswirtschaft des Oberlandes kaum mehr zu atmen, zumal da noch keiner der süddeutschen Staaten, außer Bayern, ein geordnetes Zollwesen besaß. Die Frage ließ sich nicht mehr abweisen, ob man nicht zunächst versuchen solle, diese zerstückelten Gebiete in einem handelspolitischen Sonderbunde zu vereinigen, also genau dasselbe zu tun, was man soeben dem preußischen Staate als Bundesfriedensbruch vorgeworfen hatte. Den ersten Anstoß zu solchen Plänen gab der wackere du Thil; noch späterhin pflegte der Darmstädter Hof sich dieses Verdienstes gern zu rühmen. Aber erst durch Berstetts rührige Tätigkeit gewann der Gedanke Leben. Der Badener hegte, wie du Thil, die ehrliche Hoffnung, daß aus diesem Sonderbunde »nach und nach ein Ganzes« hervorgehen werde; indes dachte er auch an Retorsionen gegen die preußischen Zölle und gab eine kurz abweisende Antwort, als Bernstorff ihm versicherte, mit einem süddeutschen Zollverein werde Preußen gern Handelsverträge abschließen. Auch Marschall ließ sich auf den Plan nur ein, weil er erwartete, daß Süddeutschland nunmehr mit vereinter Kraft den Zollkrieg gegen Preußen eröffnen werde. Württemberg endlich spielte mit Triasplänen und hoffte, den politischen Bund des [pg 057] konstitutionellen »reinen Deutschlands« aus dem Handelsverein hervorgehen zu sehen — ein Gedanke, der weder in München noch in Darmstadt Anklang fand.
Bei solcher Verschiedenheit der politischen Absichten konnte Berstett nach langwierigen vertraulichen Beratungen nur einen bescheidenen Erfolg erreichen. Am 19. Mai verpflichteten sich die beiden süddeutschen Königreiche, Baden, Darmstadt, Nassau und die thüringischen Staaten, noch im Laufe des Jahres Bevollmächtigte nach Darmstadt zu senden, welche dort auf Grund einer unverbindlichen Punktation über die Bildung eines süddeutschen Zollvereins verhandeln sollten. Mehr wollte der vorsichtige Zentner, der sein bayrisches Zollgesetz behüten mußte, schlechterdings nicht versprechen. Immerhin war jetzt doch ein Weg betreten, der aus dem Elend der Binnenmauten vielleicht hinausführen konnte. Die liberale Presse begrüßte dankbar die patriotische Tat ihrer Lieblinge. Der allzeit vertrauensvolle List sah das Ideal der deutschen Zolleinheit bereits nahezu verwirklicht, und als er bald darauf nach Frankfurt kam, fand er seinen Gönner Wangenheim42 in einem Rausche des Entzückens: so trug das reine Deutschland der gesamten Nation doch endlich die Fackel voran! Minder hoffnungsvoll, aber durchaus wohlwollend beurteilte Bernstorff den Entschluß der süddeutschen Höfe. Er versicherte Berstett seiner Zustimmung; denn gelang es den Mittelstaaten, ihr zerrüttetes Verkehrsleben aus eigener Kraft zu ordnen, so blieb für die Zukunft eine Verständigung mit Preußen möglich. Seinem König schrieb er: trotz manchen feindseligen politischen und staatswirtschaftlichen Hintergedanken bestehe für Preußen kein Grund, das Unternehmen zu mißbilligen, zumal da das Gelingen noch sehr fraglich scheine.
Der Versuch, das preußische Zollgesetz durch ein Machtgebot des Bundes zu vernichten, war gescheitert. Doch unterdessen führte der Köthener Herzog seinen Schmuggelkrieg wider die preußischen Mauten wohlgemut weiter und hemmte dadurch zugleich die Verhandlungen über die Elbschiffahrt. Wie oft hatten einst die Fremden gespottet über [pg 058] die furiosa dementia43 der Deutschen, die sich ihre herrlichen Ströme durch ihre Zölle selber versperrten! Erst seit Frankreich das linke Rheinufer an sich riß, ward dies sprichwörtliche Leiden Deutschlands etwas gelindert. Im Jahre 1804 wurde statt der alten drückenden Rheinzölle das Rheinoktroi eingeführt, das im wesentlichen nur bestimmt war, die Kosten der Strombauten und der Leinpfade44 zu decken, und diese neue Ordnung bewährte sich so gut, daß der Wiener Kongreß sie auch für die anderen konventionellen Ströme Deutschlands als Regel vorschrieb. Seitdem war die Weserschiffahrt in der Tat frei geworden: nach einem langen Streite mit Bremen ließ sich Oldenburg durch die Vermittlung des Bundestages bewegen, auf den widerrechtlichen Elsflether Zoll endlich zu verzichten (August 1819). Schwieriger lagen die Verhältnisse zwischen den zehn Uferstaaten der Elbe. Die von W. Humboldt redigierten Artikel 108–116 der Wiener Kongreßakte stellten den Grundsatz auf, daß die Schiffahrt auf den konventionellen Strömen frei, das will sagen: niemandem verwehrt sein sollte, und verpflichteten die Uferstaaten, binnen sechs Monaten Verhandlungen einzuleiten, damit die Schiffahrtsabgaben gleichmäßig und unabänderlich, ungefähr dem Betrage des Rheinoktrois entsprechend, festgesetzt würden.
Offenbar vermochten diese wohltätigen Verheißungen nur dann ins Leben zu treten, wenn die Erhebung der Schiffahrtsabgaben, wie der Artikel 115 ausdrücklich vorschrieb, von dem Zollwesen der Uferstaaten durchaus getrennt blieb und alle Beteiligten durch eine strenge Uferpolizei verhinderten, daß die freie Schiffahrt zum Schmuggel in die Nachbarlande mißbraucht würde. Nur unter dieser Bedingung konnte Preußen, das jene Artikel der Kongreßakte als sein eigenes Werk betrachtete, seine Hand zu ihrer Ausführung bieten; wie durfte man — so fragte späterhin eine preußische Staatsschrift — einem mächtigen Staate zumuten, »in seinem Herzen einen Wurm zu dulden, der seine innere Lebenswurzel annagt?« Nur wenn Anhalt, das von der Provinz Sachsen [pg 059] rings umschlossen war, dem preußischen Zollsysteme beitrat, konnte die verheißene Freiheit der Elbschiffahrt und der rechtmäßige Ertrag der preußischen Einfuhrzölle zugleich gesichert werden. Seit der alte Dessauer einst die sämtlichen Landgüter seiner Ritterschaft aufgekauft, hatten sich Landbau und Forstwirtschaft in den anhaltischen Ländchen unter der sorgsamen Pflege ihrer Fürsten glücklich entwickelt; alle seine natürlichen Interessen verwiesen dies blühende Gartenland, das der Industrie noch gänzlich entbehrte, auf den freien Verkehr mit den benachbarten gewerbereichen Bezirken Preußens. Was der Vereinbarung im Wege stand, war allein der tolle Souveränitätsdünkel des Herzogs von Köthen und die weiter blickende Feindseligkeit seines Ratgebers Adam Müller. Die »Anschließungsinsinuationen« des Berliner Kabinetts wies der Herzog empört zurück: ob man denn nicht einsehe, so fragte er einmal, »wie schon die bloße Unnatur eines solchen Verhältnisses, die Unterordnung eines souveränen Fürsten unter die Zolladministration eines benachbarten Staates, dem Bestande eines freundschaftlichen Verhältnisses mit der Regierung desselben durchaus ungünstig sei!«
Da mit Vernunftgründen bei diesem Hofe nichts auszurichten war, so begnügte sich Preußen vorläufig, sein Enklavensystem gegen Anhalt aufrecht zu halten. Alle zu Lande nach Anhalt eingehenden Waren wurden dem preußischen Eingangszolle unterworfen. Nur den Elbschiffern erlaubte man Sicherheit zu stellen für die Zahlung der preußischen Abgaben und erstattete ihnen den Betrag zurück, falls der Verbleib der eingeführten Waren in Anhalt nachgewiesen wurde.
Schamloser Unterschleif war die Folge dieser Erleichterung. Der anhaltische Schleichhandel wuchs von Monat zu Monat, und mit Ungeduld erwarteten die preußischen Finanzmänner die vertragsmäßige Regelung dieser leidigen Zustände, als endlich im Juni 1819 — viertehalb Jahre nach dem Zeitpunkt, welchen der Wiener Kongreß vorgeschrieben — die Elbschiffahrtskonferenz in Dresden eröffnet wurde. Dort sprachen Hamburg und Österreich eifrig für die Befreiung des Flusses, die ihnen freilich nur Vorteil bringen konnte, da die Hansestadt gar keine Schiffahrtsabgaben erhob und die hohen böhmischen Elbzölle auf der wenig befahrenen obersten [pg 060] Stromstrecke nur geringen Ertrag brachten. Dänemark hingegen, Mecklenburg, Anhalt zeigten sich schwierig. Am hartnäckigsten aber verteidigte Hannover seinen Besitzstand; denn das welfische Königreich überließ die Sorge wie die Kosten für das Fahrwasser der Niederelbe großmütig dem Hamburger Senate und erhob dafür in Brunshausen, nahe bei Stade, einige Meilen oberhalb der Mündung, seinerseits einen hohen Zoll von allen eingehenden Seeschiffen. Sein Bevollmächtigter verwahrte sich feierlich gegen jeden Versuch, dies Kleinod der Welfenkrone anzutasten: das sei ein Seezoll, der mit der Elbschiffahrt nichts zu schaffen habe, und nimmermehr könne die Absicht der Wiener Verheißungen dahin gehen, »die Basis alles volkstümlichen Glücks, den Rechtszustand zu erschüttern«. Kein Zureden half; die Konferenz mußte den Stader Zoll ganz aus dem Spiele lassen und nur den Stromverkehr oberhalb Hamburgs zu erleichtern suchen. Nach zweijährigen Verhandlungen, die den preußischen Bevollmächtigen oft der Verzweiflung nahe brachten, kam endlich am 23. Juli 1821 die Elbschiffahrtsakte zustande, ein dürftiger Vergleich, der in Form und Inhalt die Spuren mühseliger Kämpfe verriet; immerhin wurden die bestehenden Schiffahrtsabgaben doch etwas herabgesetzt, und der Verkehr auf dem Strome begann sich bald zu heben.
Die preußische Regierung behauptete während dieses unleidlichen Gezänks durchweg eine versöhnliche Haltung. Sie gab für den Elbverkehr ihre Durchfuhrzölle auf, die einen so wesentlichen Bestandteil ihrer Handelspolitik bildeten, und war bereit, die Schiffahrtsabgaben noch weiter herabzusetzen als die kleinen Nachbarn zugestehen wollten; aber sie erklärte auch von vornherein, daß sie eine Schmugglerherberge im Innern ihres Staates nicht dulden werde und darum die Elbschiffahrtsakte nur unterzeichnen könne, wenn Anhalt sich ihrem Zollwesen anschließe. Ihr Bevollmächtigter fügte warnend hinzu: das eigene Interesse der kleinen Regierungen gebiete ihnen, das Zollsystem des großen Nachbarstaates zu unterstützen, »weil dadurch die zu ihren Gunsten bestehende Zerstückelung Deutschlands in ihren nachteiligen Folgen gemildert werden würde«. Wie flammte der kleine Köthener Herr auf, als er diese unerhörte Äußerung preußischen Übermuts erfuhr und gleichzeitig Bernstorff in einem [pg 061] neuen Mahnschreiben an die Köthener Regierung offen aussprach: »die norddeutschen Staaten haben den Schutz für ihre Existenz, ihre Wohlfahrt und Selbständigkeit und ihre gemeinnützigen Anstalten von Preußen zu erwarten«. Der Herzog, der gerade mit seinem königlichen Schwager zugleich in Karlsbad verweilte, berichtete sofort alles an Marschall. »Ich schmeichle mir, so schrieb er, daß alle Gutgesinnten auf meiner Seite stehen und nicht zugeben, daß es Preußen erlaubt wird, sich alles zu erlauben. Ob einem Kabinett, das durch einen solchen Mann repräsentiert ist, zu trauen ist, lasse ich dahingestellt.« Dann fuhr er höhnisch fort: »das Spaßhafteste ist, daß der König mit uns ebenso freundlich als sonst ist« — und bat den Nassauer, auch fernerhin auf Wittgenstein45, »der ganz im guten Geiste ist«, wirken zu lassen, damit die Partei, welche das Zollgesetz halte, zu Falle komme. Im gleichen Tone antwortete Marschall: »Man hat zwar bisher ähnliche Phrasen in dem Munde deutscher Revolutionäre gehört, nicht aber in dem eines Repräsentanten eines deutschen Königs. Wenn Preußen das nördliche Deutschland und ganz Deutschland schützt, so schützt umgekehrt das nördliche Deutschland und ganz Deutschland Preußen. Rechte und Verbindlichkeiten sind durchaus wechselseitig. Wer das Gegenteil behauptet, verletzt die erste und Hauptgrundlage des Bundes und bewegt sich außerhalb des Bundes. Namentlich hat der mächtigste der deutschen Bundesstaaten, sowohl im Bunde als in Europa, bei jeder Gelegenheit den entgegengesetzten Grundsatz laut ausgesprochen und bei jeder Veranlassung geltend gemacht.«
Dieser mächtigste der Bundesstaaten trieb unterdessen sein doppeltes Spiel weiter. Metternich, der ebenfalls in Karlsbad anwesend war, hielt zwar, auf Preußens Wunsch, einige Unterredungen mit dem Herzog, angeblich, um den Streit beizulegen. Aber zur nämlichen Zeit reichte die Köthener Regierung eine Klage beim Bundestage ein und forderte die Herausgabe eines dem Köthener Kaufmann Friedheim gehörigen Elbschiffes, das beim preußischen Zollamte Mühlberg an der Kette lag, weil der Schiffer für den Betrag der [pg 062] preußischen Zölle keine Sicherheit stellen wollte. Nachher ergab sich — der österreichische Bevollmächtigte Münch in Dresden mußte es selber dem preußischen Gesandten [Jordan] eingestehen — daß Adam Müller den Friedheim zu seiner Weigerung aufgestiftet hatte, um den Streit vor den Bundestag zu bringen.
Da Preußen unerschütterlich blieb, so bequemten sich die drei anhaltischen Herzöge schließlich doch zu einem Zugeständnis und versprachen auf der Dresdener Konferenz feierlich »zu einem Vereine mit Preußen wegen Sicherstellung seiner Landesabgaben auf möglichst ausführbare Weise die Hand zu bieten«. Auf dies Fürstenwort vertrauend, hielt König Friedrich Wilhelm den Hader nunmehr für abgetan; er ratifizierte die Akte, ließ jenes unglückliche Köthener Schiff freigeben, also daß die Klage am Bundestage ihren Gegenstand verlor, und Bernstorff lud die anhaltischen Höfe nochmals ein, in Berlin wegen der Bedingungen des Zollanschlusses zu verhandeln. Aber Monate vergingen, und kein anhaltischer Bevollmächtigter erschien. Dem unaufhaltsamen Köthener war es gelungen, seine wohlmeinenden Vettern von Dessau und Bernburg46, die ihr Wort halten wollten, wieder umzustimmen; sie hatten ihm versprechen müssen, nicht ohne ihn dem preußischen Zollsystem beizutreten, und er war inzwischen mit seinem Adam Müller über einen neuen Betrug einig geworden.
Da die Elbschiffahrtsakte im März 1822 in Kraft treten sollte, so entschloß sich Minister Klewiz im Januar, das Enklavensystem gegen Anhalt vorläufig aufzuheben, was die Finanzpartei in Berlin schon längst gefordert, Eichhorn aber, aus Wohlwollen gegen das Nachbarland, bisher verhindert hatte. Man umringte demnach die drei Herzogtümer mit preußischen Zollstellen; der Elbverkehr dagegen ward, gemäß der Akte, freigegeben und Preußen begnügte sich, die nach Anhalt bestimmten Schiffe einer Durchsuchung zu unterwerfen. [pg 063] Eben auf diese Vertragstreue Preußens hatte Adam Müller seinen sauberen Plan berechnet. Die Durchsuchung der Elbschiffe wurde natürlich zu leerem Scheine, sobald man anhaltischerseits unredlich verfuhr. Nun taten sich sofort mehrere große englische Exportfirmen mit Köthener Kaufleuten zusammen, um den Schleichhandel unter dem Schutze des Herzogs in großem Stile zu pflegen. Das gesamte Ländchen ward ein Schwärzerwirtshaus, ein Stelldichein für die Gauner und Spitzbuben des deutschen Nordens. Die große Mehrzahl der treuen Köthener segnete dankbar den Landesherrn, der ihnen billige Waren und reichlichen Verdienst beim schmutzigen Handel verschaffte. Wunderbar, wie sich die Verzehrungskraft dieses glücklichen Völkchens mit einem Male hob, als wäre ein Goldregen über das Land gekommen. Nicht lange, und der anhaltische Konsum von ausländischen Waren verhielt sich zu dem preußischen wie 64 : 1000, der von baumwollenen Waren, die in Preußen hoch verzollt wurden, wie 165 : 1000, die Bevölkerung der beiden Lande stand wie 9 : 1000. Für die Drogen dagegen, welche das preußische Gesetz mit einem niedrigen Zoll belegte, zeigten die Anhalter geringere Neigung; hier stellte sich das Verhältnis nur wie 13 : 1000. Und bei dieser übernatürlichen Konsumtion gingen die herzoglichen Zollbeamten dem Volke mit gutem Beispiel voran: der Zollinspektor Klickermann in Dessau bezog, wie Preußen aus den Listen seiner Elbzollämter nachwies, in dem einen Jahre 1825 für seinen Hausbedarf zollfrei auf dem Strome: 53 Oxhoft Wein, 4 Oxhoft Rum, 98 Säcke und 1 Faß Kaffee, 13 Säcke Pigment und Pfeffer, insgesamt an 1000 Zentner. Mehr denn eine halbe Million Taler im Jahre wurden durch den anhaltischen Schleichhandel den preußischen Kassen vorenthalten; der Zollertrag in den Provinzen Brandenburg und Sachsen stieg nachher, als Anhalt endlich sich dem preußischen System unterworfen hatte, bald von 3,135 auf 4,128 Millionen.
Der Besitz einer souveränen Krone ohne Macht entsittlicht auf die Dauer ihren Träger. Wie gründlich mußte das Rechtsgefühl der kleinen Höfe, seit sie keinen Richter mehr über sich anerkannten, verwüstet sein, wenn dies rechtschaffene askanische Haus, das von jeher einer wohlverdienten allgemeinen Achtung genoß und so viele seiner tapferen Söhne [pg 064] in die Reihen des preußischen Heeres gesendet hatte, sich jetzt unbedenklich erdreistete, die Gesetzgebung seines alten treuen Beschützers durch groben Unfug zu untergraben! Ein Unglück, daß der ehrwürdige Senior des anhaltischen Gesamthauses, der seinem Ländchen unvergeßliche Leopold Friedrich Franz von Dessau vor kurzem47 gestorben war; er würde den zweifachen Vertragsbruch schwerlich geduldet haben, denn Anhalt hatte sich auf dem Wiener Kongresse zur Unterdrückung des Schleichhandels verpflichtet und nachher in Dresden feierlich eine Verständigung mit Preußen versprochen.
Um dieser letzteren Verpflichtung scheinbar zu genügen, sendete Herzog Ferdinand endlich im Januar 1822 seinen Hofmarschall Sternegg nach Berlin, befahl ihm, allein mit Hardenberg zu verhandeln; mit Bernstorff zu sprechen, sei unter der Würde des Kötheners. Der Staatskanzler aber zwang den Abgesandten kurzweg, sich an das Auswärtige Amt zu wenden, und dort stellte sich heraus, daß Sternegg durchaus keine Anerbietungen wegen des Zollanschlusses zu bringen, sondern lediglich eine Entschädigungsforderung zu überreichen hatte. Der Schaden Köthens betrug, nach dem billigen Maßstabe der Kopfzahl angeschlagen, etwa 40 000 Taler für drei Jahre. Der Herzog berechnete das Zehnfache und zeigte sich hoch erstaunt, da Preußen den Köthener Schmuggel in Gegenrechnung stellte. Nach langen, gereizten Erörterungen rückten die Herzöge schließlich mit dem Vorschlage heraus: Preußen möge dem enklavierten Anhalt durch einen Gebietsaustausch auf ewige Zeiten freien Verkehr mit Sachsen verschaffen, dann seien die drei Höfe bereit, sich versuchsweise auf einige Jahre dem preußischen Zollsystem anzuschließen. Sofort wies Bernstorff die »unangemessene« Zumutung scharf zurück, der Unterhändler mußte abziehen, und Anhalt blieb mit preußischen Zollinien umgeben. Aber der Schleichhandel blühte fröhlich fort, die Grenzwache Preußens war machtlos gegen den bösen Willen der herzoglichen Behörden. Obwohl der Berliner Hof über Adam Müllers Ränke genau unterrichtet war, so wollte er doch schlechterdings nicht glauben, daß Fürst Metternich [pg 065] das Treiben seines Generalkonsuls billige. Jahrelang ertrug der preußische Adler langmütig die Bisse der anhaltischen Maus, immer in der Hoffnung, daß die drei Herzöge endlich noch ihr Wort einlösen würden.
Und in diesem Streite, der alle Selbstsucht, allen Dünkel, alle Torheit der Kleinstaaterei an den Tag brachte, stand die deutsche Presse wie ein Mann zu den anhaltischen Schmugglern. Der Schmerzensschrei des freien Kötheners war das Wiegenlied der deutschen Handelseinheit, die erst nach zwei Menschenaltern auf demselben Elbstrome unter den Weherufen des freien Hamburgers ihr letztes Ziel erreichen sollte. Mit einer Verblendung ohnegleichen täuschte sich die Bevölkerung der kleinen Staaten, bei jeder Wendung dieses wirrenreichen Kampfes, regelmäßig über ihr eigenes und des Vaterlandes Wohl, um jedesmal, sobald der gefürchtete Anschluß an Preußen endlich vollzogen war, die Notwendigkeit der Änderung nachträglich dankbar anzuerkennen. Ebenso regelmäßig verdeckte der Partikularismus seine Selbstsucht hinter dem schönen Worte der Freiheit; bald nahm er die Freiheit des Handels, bald das freie Selbstbestimmungsrecht der deutschen Ströme, bald auch beides zugleich zum Vorwand, und jedesmal ließ sich die vom Liberalismus beherrschte öffentliche Meinung durch solche hohle Kraftworte verführen.
Die unausrottbaren Vorurteile wider das preußische Zollgesetz wirkten zusammen mit jener gedankenlosen Gemütlichkeit, die es unbesehen für unedel hält, bei einem Kampfe zwischen Macht und Ohnmacht die Partei des Stärkeren zu ergreifen. Und dazu der juristische Formalismus unserer politischen Bildung, der gar nicht ahnte, daß im Staatenverkehre das formelle Recht nichtig ist, wenn es nicht durch die lebendige Macht getragen wird. War denn Köthen nicht ebenso souverän wie Preußen? Wie durfte man dieser souveränen Macht einen Zollanschluß zumuten, der ihr freilich nur Segen bringen konnte und sich aus ihrer geographischen Lage mit unabwendbarer Notwendigkeit ergab, aber ihrem freien Selbstbestimmungsrechte widersprach? Und wenn es ihr beliebte, die Freiheit der Elbe zur boshaften Schädigung des Nachbarlandes zu gebrauchen — in welchem Artikel der Bundesakte war dies denn verboten? Daß Anhalt sich durch die Wiener Verträge zur Beseitigung des Schleichhandels [pg 066] verbunden hatte, überging man mit Stillschweigen. Bignon48, der alte Anwalt der deutschen Kleinstaaten, trat ebenfalls auf den Kampfplatz mit einem offenen Briefe über den preußisch-anhaltischen Streit. Er beklagte schmerzlich, daß Frankreich nicht mehr wie sonst vom Niederrhein her des Richteramtes über Deutschland warten könne; aber »Frankreich ist von der Natur bestimmt, immer zu herrschen, und wenn es das Szepter der Macht verloren hat, so hat es doch das Szepter der öffentlichen Meinung bewahrt«. Vor dem Szepterträger der öffentlichen Meinung fand Preußen, wie billig, keine Gnade. Auf diesem Wege der Usurpationen, rief Bignon, ist das Haus der Capetinger einst schrittweis dahin gelangt, die großen Vasallen Frankreichs zu vernichten. Treuherzig sprach der deutsche Liberale die Warnung des Bonapartisten nach.
Auch die Mehrheit am Bundestage kam der Klage des Köthener Hofes, die selbst nach der Freigebung jenes Elbschiffes nicht zurückgezogen wurde, bereitwillig entgegen. Umsonst verwahrte sich König Friedrich Wilhelm, als er im Sommer 1821 durch Frankfurt kam, mit scharfen Worten wider den Vorwurf, daß er Anhalt mediatisieren wolle. Die kleinen Höfe ließen sichs nicht ausreden: Preußen wünsche, wie Berstett sich ausdrückte, »seine geographische Dünnleibigkeit auf Kosten einiger Kleineren zu arrondieren«. Der neu ernannte badische Bundesgesandte Blittersdorff49 und die Klügeren seiner Genossen wußten wohl, wie wenig »bei dem bekannten Charakter des Herzogs oder vielmehr der Frau Herzogin« auf ein verständiges Abkommen zu rechnen sei; doch sie meinten, »dies sei die Gelegenheit für den Bundestag, seine Dauer und Lebenskraft zu erproben«. Es galt, Preußen zu demütigen vor einem ohnmächtigen Nachbarn; es galt, der norddeutschen Großmacht zu beweisen, daß sie, nach Marschalls Worten, ebenso sehr durch Köthen geschützt [pg 067] werde, wie Köthen durch Preußen. Von den größeren Bundesstaaten zeigte allein Bayern ein Verständnis für die Machtverhältnisse; nachdem die Münchener Regierung soeben selber die Schwierigkeiten der Einführung eines neuen Zollsystems kennen gelernt hatte, meinte sie doch, daß ein kleiner Unterschied bestehe zwischen einem Reiche und einer Enklave. Die anderen beurteilten die Frage nach den Gesichtspunkten des Zivilprozesses, und da die Rechtsfrage allerdings zweifelhaft lag, so entspann sich am Bundestage eine grimmige Fehde, die durch viele Jahre hingeschleppt, den liberalen Zeitungen immer wieder den willkommenen Anlaß bot, Preußen als den Friedensbrecher Deutschlands zu brandmarken.
Das also war für Preußen das Ergebnis der handelspolitischen Verhandlungen in Wien und Dresden. Das neue Zollgesetz war gegen den Widerstand fast aller Bundesstaaten unverändert aufrecht geblieben, auch die Freiheit der Elbe war notdürftig sicher gestellt, und die alte Ansicht der preußischen Regierung, daß der Bund für den deutschen Verkehr schlechterdings nichts zu leisten vermöge, hatte sich abermals bestätigt. Aber ebenso fest stand auch die Erkenntnis, daß Verhandlungen mit den einzelnen Staaten, bei ihrer gegenwärtigen Stimmung, vorläufig ganz aussichtslos waren. Welche unbelehrbare Gehässigkeit war dem Grafen Bernstorff entgegengetreten, welche anmaßende Sprache hatte er anhören müssen, erst in Wien, dann in Dresden! Nach so niederschlagenden Erfahrungen faßte man in Berlin den verständigen Entschluß, fortan keine Einladungen mehr ergehen zu lassen, sondern gelassen zu warten, bis die Not den kleinen Nachbarn die Augen öffne. In diesem Sinne erging an sämtliche Gesandten in Deutschland die gemessene Weisung, sich streng zurückzuhalten und auf alle handelspolitischen Anfragen lediglich zu antworten: der König habe schon im Jahre 1818 sich zu Verhandlungen bereit erklärt, er hege noch immer den Wunsch, andere deutsche Staaten mit seinem Zollsysteme zu verbinden, jetzt sei es an den Nachbarn, dem guten Willen entgegenzukommen. Eichhorn begründete diesen Entschluß mit der Erwägung, daß die Eifersucht der Dynastien durch Einladungen erfahrungsgemäß nur gereizt würde: »Solche Anträge konnten zugleich als Aufforderungen zur Änderung ihrer inneren Staatsgesetzgebung und als ihre Selbständigkeit [pg 068] gefährdende Anmutungen mißdeutet werden.« Gegen das tiefeingewurzelte Mißtrauen der kleinen Höfe wirkte nur eine Waffe: ruhiger Gleichmut, der die Natur der Dinge für sich wirken ließ. Was verschlug es auch, wenn die Presse unablässig über Preußens selbstsüchtige Sonderstellung Wehe rief? Von der öffentlichen Meinung, die sich noch weit verblendeter zeigte als die Höfe, hatte die Handelseinheit des Vaterlandes nichts zu erwarten; Preußens bester Bundesgenosse war die wachsende Finanznot der kleinen Staaten.
Quelle: H. v. Treitschke, Deutsche Geschichte usw. III, 29ff.
Sehr wichtig wurde die große Handelskonferenz der süddeutschen und einiger mitteldeutschen Kleinstaaten, welche, den Wiener Verabredungen gemäß, am 13. September 1820 in Darmstadt zusammentrat. Auch hier war Wangenheim die Unruhe in der Uhr. Unermüdlich kam er von Frankfurt herübergeritten, immer zur Vermittlung bereit, gleich befreundet mit dem Schutzzöllner List und dem Freihändler Nebenius; denn aus diesem Handelstage mußte unfehlbar der politische Bund des reinen Deutschlands hervorgehen. In der Tat blieben die Darmstädter Verhandlungen nicht ganz unfruchtbar, obgleich sich Pläne und Gegenpläne noch rastlos wie die Blasen im brodelnden Wasserkessel übereinander drängten. Sie dienten als ein Läuterungsprozeß, der die unbrauchbaren, traumhaften Gedanken aus der deutschen Handelspolitik ausschied. Sie boten den Teilnehmern wie dem aufmerksam zuschauenden Berliner Hofe die Gelegenheit, die wirtschaftlichen Interessen der Bundesstaaten kennen zu lernen, die Bedingungen eines Handelsvereins ernstlich zu erwägen. Aber sie lehrten auch durch ihr wiederholtes Scheitern, daß ein Zollverein ohne Preußen unmöglich war. Von einem binnenländischen Wirtschaftsgebiete, dem die Küste fehlte, konnte niemals eine lebensfähige nationale Handelspolitik ausgehen.
Kein Wunder freilich, daß die mißhandelte Nation den ersten Versuch zur Beseitigung der Binnenmauten mit Jubel [pg 069] aufnahm. Zahlreiche Dankadressen belohnten den hochherzigen Entschluß der Höfe. Badische Landwirte bezeugten schon im Voraus dem Minister Berstett: durch die Darmstädter Konferenzen sei »der Grund gelegt zu einem glorreichen, einem wahrhaften Nationalinstitute«. Sogar jener kluge E. W. Arnoldi in Gotha, der zuerst unter den deutschen Geschäftsmännern die nationale Bedeutung des preußischen Zollgesetzes erkannt hatte, ließ sich jetzt durch die Zeitströmung fortreißen und bat seinen Herzog um Anschließung an die süddeutschen Staaten, weil Gotha den Wettbewerb der überlegenen preußischen Fabriken nicht ertragen könne. Die Wünsche und Erwartungen des Publikums gingen freilich hergebrachtermaßen nach allen Himmelsrichtungen auseinander. Der badische Handelsstand verlangte den unbedingten Freihandel: mehr als 15 Kreuzer Zoll könne der Zentner Kolonialwaren schlechterdings nicht ertragen. Andere ergingen sich in den üblichen Ausfällen gegen »jene stolzen Ausländer«. In der bayrischen Kammer beantragte der Abgeordnete Köster eine deutsche Nationaltracht aus deutschen Stoffen; schon in der Volksschule müsse den Kindern der patriotische Abscheu vor ausländischen Waren eingeflößt werden. Die Mannheimer Kaufleute dagegen hofften vornehmlich auf harte Zölle wider den Frankfurter Handel: der Verein solle anderen Plätzen die Vorteile gewähren, welche die stolze Mainstadt ihren ungebührlich großen Kapitalien verdanke; den Rheinpreußen müsse er jede Erleichterung versagen, so lange nicht der preußische Staat dem Vereine beitrete und der Mehrheit sich unterwerfe.
Leider wurde die allgemeine Unklarheit nur vermehrt durch die Schriften Lists und seiner Genossen, die sich allmählich ganz in die Irrtümer des starren Prohibitivsystems verloren. Miller von Immenstadt forderte in einer für die Darmstädter Konferenzen bestimmten Druckschrift (Juli 1821): Verbot aller auswärtigen Waren, die wir selbst erzeugen oder durch Surrogate ersetzen können; mit der Schweiz und Piemont, mit Holland, Hannover, den Hansestädten und Holstein müsse man sich zu verbinden suchen; der König von Dänemark werde als treuer deutscher Bundesfürst sicherlich geneigt sein, die Schiffe des Vereins mit seinem Danebrog zu decken. Das alles im Namen deutscher Ehre und mit dem unvermeidlichen [pg 070] patriotischen Pathos! Den Regierungen wurden die zudringlichen Mahnungen des Listschen Vereins, der sich auch in Darmstadt wieder durch Sendboten vertreten ließ, bald sehr unbequem. Der badische Bevollmächtigte Nebenius verbot seinem Sekretär, mit List zu verkehren, sagte dem Agitator ins Gesicht, seine Anwesenheit sei überflüssig, errege schlimme Gerüchte. List blieb ohne jeden Einfluß auf den Verlauf der Beratungen, und Berstett hielt für nötig, seinem Gönner Metternich von vornherein zu beteuern: nur das Gebot der Selbsterhaltung, »nicht die einseitigen, trügerischen, von einer kleinen Schar eigensüchtiger Fabrikanten ausgegangenen Deklamationen« hätten das Darmstädter Unternehmen hervorgerufen.
Die Kabinette selbst waren mit nichten einiger als die öffentliche Meinung, denn die verbündeten Staaten bildeten nur scheinbar eine geographische Einheit. Sobald man den Geschäften ernsthaft ins Auge sah, zeigte sich, daß eine natürliche Gemeinschaft süddeutscher Volkswirtschaft, dem Norden gegenüber, nicht bestand. Vielmehr trat wieder einmal jene eigentümliche Stellung des Rheinlandes hervor, das so oft schon in unserer Geschichte die heilsame Rolle des Vermittlers gespielt hat zwischen Nord und Süd. Die kleinen oberrheinischen Staaten waren dem rheinischen Tieflande durch stärkere Interessen verbunden als den bayrisch-schwäbischen Landen. Nun gar Kurhessen und Thüringen wurden nur durch eine politische Schrulle, durch den Haß gegen Preußen, in diese süddeutsche Genossenschaft getrieben. Darum verhielt sich der Kasseler Hof von vornherein unlustig und ablehnend. Die thüringischen Staaten begannen schon 1822 Sonderberatungen in Arnstadt, doch nahmen sie gleichzeitig an den Darmstädter Konferenzen teil und belästigten das Berliner Kabinett mit nichtssagenden allgemeinen Anfragen — die bare Ratlosigkeit des Nichtwollens und Nichtkönnens.
Und welch ein Gegensatz der staatswirtschaftlichen Gesetze und Ansichten! In Baden verboten sich hohe Zölle von selbst, weil das gesamte Land nur aus Grenzbezirken bestand und die benachbarte Schweiz noch kein geordnetes Mautwesen besaß. Die Regierung verstand die günstige Handelslage des Staates geschickt auszubeuten, sie begnügte sich mit sehr niedrigen Finanzzöllen, welche einen schwunghaften Durchfuhrhandel [pg 071] nach Baden lockten und den Staatskassen reichen Ertrag brachten. Die Großindustrie konnte unter diesem Systeme freilich nicht Fuß fassen; sie galt im Finanzministerium für überflüssig. Auch das Volk vermißte sie nicht, da der Freihandel wohlfeile Fabrikwaren vom Auslande brachte. Alle deutschen Nachbarn aber klagten laut; denn ein großartiger Schmuggelhandel trieb von Baden her, namentlich auf dem Schwarzwalde, sein Unwesen, fand bei der Regierung unziemliche Nachsicht; manche häßliche Skandalfälle, so der ungeheure Defraudationsprozeß der Firma Renner, erinnerten an Köthensche Zustände. In Darmstadt herrschte noch ein veraltetes physiokratisches System, das keine Grenzzölle kannte und fast den gesamten Staatsaufwand aus direkten Steuern und dem Ertrage der Domänen bestritt; der Mainzer Handelsstand, der die Douanen Napoleons noch nicht vergessen konnte, beschwor die Regierung, sich vor dieser Pest zu hüten. In Nassau ging das herzogliche Domanium mit seinen herrlichen Rebgärten und Mineralwassern jedem anderen wirtschaftlichen Interesse vor. Daher hielt Marschall die Fabriken für staatsgefährlich, Grenzzölle zum mindesten für bedenklich und führte ein Akzisesystem ein, das er den Nachbarn oft als ein finanzpolitisches Meisterwerk empfahl. Der mächtige Beamtenstand befand sich wohl bei der unnatürlichen Wohlfeilheit des Konsums auf dem engen Markte; nach den Produzenten fragte niemand. Bayern dagegen besaß bereits in Franken und Schwaben die ersten Anfänge einer aufstrebenden Großindustrie; die bayerischen Zölle standen im Durchschnitt etwas niedriger als die preußischen, brachten aber geringen Ertrag wegen der unverhältnismäßigen Kosten der Grenzbewachung. Der württembergische Gewerbefleiß blieb hinter dem bayerischen noch etwas zurück; die Stuttgarter Handelspolitik stand daher in der Mitte zwischen dem Freihandel der Rheinuferstaaten und den schutzzöllnerischen Wünschen der bayrischen Fabrikanten.
So abweichende Richtungen zu versöhnen war unmöglich auf dem engen Raume eines süddeutschen Verbandes. Allein ein großes freies Marktgebiet konnte die Staaten genugsam entschädigen für die unvermeidlichen Opfer und Belästigungen, welche jeder Zollverein anfangs den Genossen auferlegt; und diesen einzig ausreichenden Ersatz gewann man [pg 072] nur durch den Anschluß an Preußen, der von sämtlichen Teilnehmern grundsätzlich verworfen wurde. »Wir alle — so gestand du Thil späterhin selber — strebten ja einzig darnach Front gegen Preußen zu machen.« Selbst die politische Eintracht der Verbündeten stand auf schwachen Füßen, wie laut auch die Liberalen den natürlichen Bund der konstitutionellen Staaten priesen. … Es war ein Unglück für die Konferenz, daß ihr mehrere Bundesgesandte als Bevollmächtigte angehörten und also auch noch die Ränke und Klatschereien der Eschenheimer Gasse in das wüste Durcheinander der Beratungen hineinspielten. Du Thil hingegen betrieb die Verhandlungen, wie sein greiser Großherzog, mit nüchternem Geschäftsverstande und wollte von politischen Hintergedanken nichts hören. Marschall und nach einigem Schwanken auch Berstett blieben in dem politischen Fahrwasser der Hofburg. Das Münchener Kabinett endlich zeigte keine feste Haltung. Während Aretin50, der erste Bevollmächtigte, in Darmstadt wie in Frankfurt vorsichtig den Spuren Wangenheims folgte und Lerchenfeld51 … den süddeutschen Handelsverein ehrlich wünschte, betrachtete Graf Rechberg52 die Darmstädter Konferenz mit Mißtrauen, und der zweite Bevollmächtigte Jörres, der ganz von Rechberg abhing, tat unter der Hand das Seinige, um die Verhandlungen zu erschweren. Mit zähem Eigensinn hielt jeder Hof seine Forderungen fest, obschon im Grunde noch keiner eine durchgebildete handelspolitische Überzeugung besaß; jede Nachgiebigkeit erschien wie ein Verrat an der eigenen Souveränität. So fehlten alle Vorbedingungen einer Verständigung.
Ein prunkendes Aushängeschild für den Verein war rasch gefunden. Die Handelspolitik der Verbündeten sollte auf dem »staatswirtschaftlich-finanziellen Prinzipe« ruhen — ein schönes Wort, dem leider jedes Kabinett einen anderen Sinn unterlegte. Der tüchtigste Staatswirt der Versammlung, Nebenius, [pg 073] ward auf du Thils Vorschlag beauftragt, einen Entwurf für die Beratungen auszuarbeiten. Voll Zuversicht ging er ans Werk; er teilte die allgemeine Ansicht der süddeutschen Bureaukratie, daß die Beseitigung der Binnenmauten den Partikularismus kräftigen müsse, und schrieb seinem Hofe hoffnungsvoll: durch unseren Verein »wird den Einheitspredigern das wichtigste und schlagendste Argument siegreich entrissen.« Jedoch der Plan, den er am 27. November vorlegte, entsprach allein dem badischen Interesse, war für alle anderen Staaten unannehmbar. Er schlug ein System sehr niedriger Finanzzölle vor, für den Zentner Kolonialwaren 30 Kreuzer bis 2 fl., für Fabrikwaren 5 bis 15 fl. — Sätze, welche Aretin viel zu gering fand. Der Streit blieb unlösbar, da beide Teile sich auf unwiderlegliche Gründe stützten. Ein kleines Zollgebiet bedarf des Freihandels, weil es die Kosten scharfer Grenzbewachung nicht tragen kann; doch ebenso gewiß genügten die badischen Zölle nicht, um die werdende bayrische Industrie zu schützen.
Nebenius wollte ferner alle Zölle an den Grenzen erheben, keine Packhöfe dulden, nur die Rheinhäfen außerhalb der Mautlinie liegen lassen. Dahinter verbarg sich die Hoffnung der Karlsruher Bureaukratie, Kehl und Mannheim zu Hauptstapelplätzen des Vereins zu erheben. Mit Recht erhob Bayern lebhaften Widerspruch: nur bei ganz niedrigen Zöllen seien Lagerhäuser entbehrlich; auch solle man die Hoffnung auf Frankfurts Beitritt festhalten und nicht den natürlichen Mittelpunkt des oberrheinischen Speditionshandels zugunsten kleinerer Plätze benachteiligen. In demselben Geiste badischer Engherzigkeit war der weitere Antrag, daß den Grenzstaaten gestattet werde, von allen Waren, welche der Verein zollfrei einlasse, Zölle für ihre eigne Rechnung zu erheben. Sofort widersprachen alle rückwärts liegenden Staaten. Auch bei der Verteilung der allgemeinen Zolleinnahmen vergaß Nebenius den Vorteil Badens nicht, das allerdings unter den Bundesgenossen die reichsten Zolleinkünfte besaß. Er verlangte als Maßstab: die Kopfzahl und die Länge der Grenzen, welche jeder Staat zu bewachen habe. Ebenso dreist bestand Bayern auf seinem Interesse: man müsse einen Durchschnitt suchen aus der Kopfzahl und dem Umfange des Gebiets — weil Bayern dünner bevölkert war als die Nachbarlande.
[pg 074]Die gesetzgebende Gewalt wollte Nebenius einer Konferenz von Bevollmächtigten anvertrauen, die alljährlich zusammenzutreten und mit einfacher Mehrheit zu beschließen hätte. Der Münchener Hof aber war nicht geneigt, sich den kleinen Mitverbündeten also zu unterwerfen; Aretin trug das Selbstgefühl der Macht rücksichtslos zur Schau und forderte für jede halbe Million eine Stimme — das wollte sagen: die Stimmenmehrheit für Bayern allein — was wieder von du Thil und den anderen Kleinen als »ein allzu naiver Versuch« zurückgewiesen wurde. Die Zollverwaltung endlich sollte von einem gemeinsamen Beamtentum geführt, durch eine permanente Kommission beaufsichtigt werden. Seltsamerweise erregte diese Zentralverwaltung zunächst geringen Anstoß. Die schwäbische Bureaukratie sprach sogar lebhaft dafür. Dem allmächtigen Stande der württembergischen Schreiber blieb der Verein unheimlich, der so viele Schreiberstellen aufzuheben drohte. Indes wenn sich das Unheil nicht abwenden ließ, so erschien die Zentralverwaltung als das geringere Übel; sie mußte doch aus jedem Staate eine zahlreiche Beamtenschar anstellen. Behielten dagegen die Staaten ihre selbständige Zollverwaltung, so hatte Württemberg nur zwei Grenzmeilen am Bodensee zu überwachen, und die ganze Herrlichkeit der königlichen Mautverwaltung brach zusammen!
Die Verhandlung über jene Streitfragen ward bald gereizt und gehässig. Nebenius sprach in seinen Berichten mit sehr ungerechter Bitterkeit über die Gegner, die doch vielfach wohlbegründeten Einspruch erhoben. Zudem vertrat noch jeder Staat seine eigentümlichen Wünsche. Reuß und Weimar wollten das Geleitsgeld für ihre imaginären Harnischreiter nicht ohne Entschädigung aufgeben. Der Kurfürst von Hessen weigerte sich, seine Transitzölle dem Vereine zu überlassen, forderte zum mindesten ein Präzipuum53 für den starken Konsum französischer Weine, worauf man mit der kecken Lüge antwortete, im Oberland werde davon mehr getrunken als in Kurhessen. Baden wollte nicht beitreten, wenn nicht sogleich ein Handelsvertrag mit der Schweiz abgeschlossen würde. Derweil also die Meinungen ziellos durcheinander wogten, hofften mehrere der Kabinette, einmal selbst der [pg 075] bayrische Hof, auf Preußens Zutritt! Wiederholt besprach man in Darmstadt die Aufnahme der preußischen Rheinlande; dem kreisenden Berge dieses Sonderbunds zu Lieb sollte Preußen die schwer erkämpfte handelspolitische Einheit seines Gebiets wieder zerreißen! …
Nachdem man sechs Monate auf die bayrischen Instruktionen gewartet, erklärte endlich (Juli 1821) der bayrische Bevollmächtigte, sein Hof verlange, daß das bestehende bayrische Zollgesetz dem Vereine zur Grundlage diene. So begann der trostlose Streit von neuem. Darauf, nach anderthalb Jahren, bot sich eine Gelegenheit, die Lebenskraft des Vereines zu erproben. Frankreich erließ am 23.–April 1822 ein neues Douanengesetz, das die Interessen der oberdeutschen Staaten offenbar feindlich verletzte, die wichtigsten Gegenstände der Einfuhr aus Süddeutschland, Schlachtvieh und Wolle mit unerschwinglichen Zöllen belegte. Der Schlag traf fast alle süddeutschen Lande gleichmäßig; sollte nicht mindestens gegen diesen Angriff gemeinsame Abwehr möglich sein? Man verhandelte und verhandelte. Baden verbot (17.–Mai) die Weineinfuhr auf seiner Westgrenze; Württemberg schloß sich diesen Retorsionen an; mit Bayern war keine Verständigung zu erzielen. In seiner Not wendete sich Berstett an Metternich, bat die Hofburg um ihre guten Dienste in den Tuilerien. Nach fast zwei Monaten (12.–August) erwiderte der Österreicher: »es ist kaum zu erwähnen nötig, wie sehr bereit wir sind«, den deutschen Bundesstaaten jede Gefälligkeit zu erweisen; aber das französische Gesetz ist das Ergebnis der nationalen Meinung und eines »national-ökonomischen Systems, das faktisch das Lieblingssystem unserer Zeit geworden ist.« Das war die Hilfe, welche Deutschlands Volkswirtschaft von Österreich zu erwarten hatte! Zuletzt riefen die unsicheren, vereinzelten Retorsionen der süddeutschen Höfe nur einen neuen gehässigen Zank zwischen Bayern und Baden hervor; denn da die bayrische Pfalz keine Mauten besaß, so mußte Baden, um die französischen Weine wirksam zu treffen, auch die Weineinfuhr vom bayrischen Überrhein verbieten, was wieder bayrische Klagen veranlaßte — und so weiter ins Unendliche.
Gegen den Herbst 1822 schienen die Verhandlungen wieder vorwärts zu rücken. Bayern, ermutigt durch einen [pg 076] drängenden Beschluß seines Landtags, legte sich kräftig ins Zeug; der rastlose Wangenheim brachte einen Vermittlungsantrag ein, zugunsten der bayrischen Vorschläge. Aber noch immer ward man nicht Handels einig, man zerrte herüber und hinüber. Da verlor die darmstädtische Regierung die Geduld; sie hatte ihrem Landtage baldige Regelung des Zollwesens versprochen und erklärte jetzt (Februar 1823): wenn man nicht endlich sich vergleiche, so werde Darmstadt für sein eignes Haus sorgen.
Die preußische Regierung sah diesen wohlgemeinten aber aussichtslosen Verhandlungen gelassen zu, da sie sich mit jedem Jahre mehr von der Lebenskraft ihres eigenen Zollgesetzes überzeugte, und ließ sich in ihrer kühlen Geringschätzung nicht stören, als die landesüblichen Kraftreden wider Preußens Zollsystem auch auf der Darmstädter Konferenz erklangen. Eine Denkschrift des Auswärtigen Amtes bemerkte darüber späterhin trocken: »Man wählte in Darmstadt Preußen zum Stichblatt, weil man dadurch die öffentliche Meinung gewann und seine eigenen Pläne leichter durchsetzen konnte.« Metternich hingegen, der den Darmstädter Plänen keinen fruchtbaren Gedanken entgegenzustellen wußte, ward der Sorgen nicht ledig. Schon vor Eröffnung der Konferenzen ermahnte er Berstett, mindestens den Einfluß der Subalternen und der Landstände fern zu halten. Zugleich mußte Marschall gegen den Karlsruher Hof den Verdacht äußern, ob vielleicht Nebenius selber zu den verkappten Demagogen gehöre. Der badische Minister versuchte seinen Gönner zu beschwichtigen und gab an Nebenius gemessene Weisung, sich vor allen politischen Nebengedanken zu hüten: »Auch aus dem Einfachsten wird Gift gesogen. Rücksichten, die mehr gefühlt als bezeichnet werden können, verbieten, den Landtagen irgendwelche Einwirkung zu gestatten.« Gleichwohl blieb Metternich argwöhnisch, und sein Marschall gestand ihm wehmütig: da der Kaufmann mit seinem beweglichen Kapitale leider nicht einem, sondern allen deutschen Staaten angehöre, so könne die Handelssache von den Revolutionären allerdings leicht für ihre Einheitsträume ausgebeutet werden. Selbst der unverkennbare Mißerfolg der Konferenzen beruhigte die Leiter der deutschen hohen Polizei nicht: dieser Verschwörer Wangenheim war überall, selbst das badische Land sollte er [pg 077] zu Pferde durchstreift haben, um sich mit den liberalen Abgeordneten zu besprechen. …
Am 3. Juli 1823 erklärte schließlich du Thil den Austritt seines Großherzogs aus der Darmstädter Konferenz, weil Hessen außerstande sei, die Ordnung seines Zollwesens noch länger zu verschieben. Nassau folgte dem Beispiele. Darauf weigerte sich Bayern, ohne Darmstadt weiter zu verhandeln; unter lebhaften gegenseitigen Anklagen ging der Kongreß auseinander, nach drei Jahren unerquicklichen Streites. Er scheiterte an der Unmöglichkeit, abweichende Interessen in engem Rahmen zusammenzuhalten.
Quelle: H. v. Treitschke, Deutsche Geschichte usw. III, 302 ff.
In das achte Jahr hinein hatte Minister Klewiz sein schweres Amt ertragen, mit unwandelbarer Geduld die große Steuerreform aufrecht gehalten wider zahllose Angriffe von innen und von außen. Aber das Defizit vermochte er nicht zu beseitigen, trotz allen neu angeordneten Ersparnissen; denn er begnügte sich mit einer bescheidenen Stellung, die es ihm unmöglich machte, den Staatshaushalt vollständig zu übersehen. Er trug vor der Welt die Verantwortung für das gesamte Finanzwesen; und gleichwohl verfügte Ladenberg54 mit seiner Generalkontrolle selbständig über alle Ausgaben und einen Teil der Einnahmen des Staates. Und dazu noch die unabhängige Staatsschuldenverwaltung, bei deren Einsetzung Klewiz nicht einmal befragt wurde. Da der Streit der Departements einen vollständigen Etat gar nicht mehr zustande kommen ließ, so mußte der Minister schon 1824 die für jedes dritte Jahr versprochene Bekanntmachung des Budgets unterlassen. Müde der ewigen Reibungen und doch zu schüchtern, um für sich selber die gebührende Macht zu fordern, erklärte er im Dezember 1824 dem Könige, unter den bestehenden Ressortverhältnissen vermöge er das Gleichgewicht der Finanzen [pg 078] nicht herzustellen, und erbat sich nachher die Oberpräsidentenstelle in seiner sächsischen Heimat.
Der König ließ darauf (12. Dezember) den vier Präsidenten Schön, Vincke, Motz und Schönberg den Entwurf des neuen Etats zusenden mit der Anfrage: welche Bedenken sie dawider hätten und welche besonderen Befugnisse sie für den künftigen Finanzminister noch verlangten, damit er das Gleichgewicht wieder herstellen könne. Jeder der vier sollte antworten, als ob er selber zur Übernahme des Finanzministeriums bestimmt sei; keiner durfte von der Befragung der anderen etwas erfahren … Nur Motz traf in seiner Antwort mit sicherer Hand den eigentlichen Sitz des Übels, den Dualismus der Finanzverwaltung. Er forderte für den Minister kurz und gut Sitz und Stimme in der Generalkontrolle, so daß auch die Ausgabeetats nicht ohne seine Genehmigung zustande kommen könnten; sodann ganz freie Hand bei der Auswahl seiner Räte, endlich Zentralisation des Kassenwesens. In zwei weiteren Denkschriften … verlangte er ferner die Aufstellung völlig zuverlässiger Etats und erklärte sich entschieden gegen die Wiedereinführung der Provinzialministerien. Denn neben solchen Unterministern sei ein mächtiger Finanzminister unmöglich; dieser müsse unmittelbar an der Verwaltung teilnehmen, um »unverbesserliche Mißgriffe, Einseitigkeit und Indolenz« zu verhüten: »er kann nicht darauf beschränkt bleiben, durch Etats und Verwaltungsnormen nur die Zukunft nach seinen Ansichten zu regeln; auch kann es ihm nicht helfen, die Vergangenheit nach toten Zahlen zu meistern«. —
Die Entscheidung konnte nicht zweifelhaft sein … Der König entschied sich für Motz. Er ahnte in jenem Augenblicke selber nicht, wie segensreich dieser Entschluß auf den Gang der deutschen Geschichte einwirken sollte.
Motz stand in seinem 50. Jahre, als er am 1. Juli 1825 sein Amt übernahm, der einzige Staatsmann in einem Kabinett von Geschäftsmännern55. Auch dieser Kurhesse war einst, wie Eichhorn, durch den Glanz der friderizianischen Zeiten aus seiner kleinstaatlichen Heimat in den preußischen Staatsdienst hinübergeführt worden. Eine ungleich glänzendere [pg 079] und doch nicht minder gediegene Natur als der stille gelehrte Maaßen, tatkräftig, wagelustig, voll kecken Selbstvertrauens, das sich oft in beißenden Sarkasmen äußerte, hatte der rüstige Naturalist in einer wechselreichen praktischen Laufbahn alle Bücherweisheit verachten gelernt und doch verstanden, die lebendigen Ideen der Zeit sich anzueignen … Das waren seine frohesten Tage gewesen, da er als junger Landrat auf dem Eichsfelde bald zu Pferd bald mit der Jagdflinte auf der Schulter seinen Kreis durchstreifte und die Bauern auf ihren Höfen besuchte, selten mit Befehlen eingreifend, immer bereit, dem geringen Manne zu zeigen, wie man sich selber helfen könne, denn »Selbsttätigkeit entspricht dem energischen Charakter des preußischen Volkes.« Dort gewöhnte er sich den Bauernstand als den Kern der Nation zu schätzen: »lieber die drückendsten Luxusauflagen, lieber wie Pitt alle Elemente besteuern, als den Schweiß des Landmanns belasten.« Der Friede von Tilsit zwang ihn, in die Dienste des verhaßten Königreichs Westfalen zu treten; er leitete das Steuerwesen im Harzdepartement, erschien zweimal als Deputierter bei dem Gaukelspiele des Kasseler Landtages und beobachtete voll froher Ahnungen, wie unterdessen der preußische Staat die Gedanken echter deutscher Freiheit in sich aufnahm. Kaum kam die Kunde von der Leipziger Schlacht, so rief er seine Eichsfelder wieder unter die alten Fahnen und war sodann in Halle und Fulda bei der Organisation der wiedereroberten Provinzen tätig.
Als Präsident in Erfurt half er nachher, jenen Zollvertrag mit Sondershausen abschließen, der so vielen anderen zum Vorbilde dienen sollte. Hier in Thüringen trat ihm die ganze Hilflosigkeit der deutschen Kleinstaaterei vor Augen. Grenzenlos war seine Verachtung gegen die kleinen Höfe. Er kannte ihre Gesinnung genugsam aus den Schicksalen seiner eigenen Familie, die unter dem Geize des hessischen Kurfürsten schwer zu leiden hatte, und lernte sie noch richtiger schätzen, als der König ihn einmal nach Kassel sendete, um die ehelichen Zwistigkeiten im hessischen Hause — natürlich ohne Erfolg — zu beschwichtigen. Ein stolzer Preuße von Grund aus, freimütig, selbständig in allem, wollte er das Lob Österreichs, das in den Beamtenkreisen gesungen wurde, niemals gelten lassen: pfui über diese faule, unwissende, unredliche k. k. [pg 080] Verwaltung. Außer Canning56 war Motz der einzige Staatsmann dieser Epoche, der die Hohlheit Metternichs völlig durchschaute. Während fast alle anderen preußischen Staatsmänner ein stilles Zagen nicht überwinden konnten, blieb diesem frischen Geiste die frohe Zuversicht des Jahres 1813 ungeschwächt. »Ein guter Krieg wird uns wohl tun, sagte er oft. Aber es muß ein Volkskrieg sein, und dann werden wir Kräfte entwickeln, über die man staunen wird.«
Motz wollte die Stein-Hardenbergischen Reformen bis in die letzten Konsequenzen vollendet sehen: eine neue Landgemeindeordnung sollte ergänzend neben die Städteordnung treten, die Ablösung der Grundlasten vollständig ausgeführt, auch die Ausgleichung der Grundsteuer vollzogen werden — um der Gerechtigkeit willen, selbst wenn der Staat dabei Verluste erlitte …
Während seiner angestrengten Verwaltungstätigkeit in Erfurt und nachher als Oberpräsident in Magdeburg entstanden die Denkschriften über die Abrundung des preußischen Staatsgebietes, über den Anschluß der kleinen Kontingente an das preußische Heer, über die Reform der Verwaltung. Diese rasch hingeworfenen Arbeiten zeigen schon sein ganzes Wesen: weiten, scharfen Blick, vorurteilsfreien, hochherzigen Patriotismus, aber auch einen Zug von genialem Leichtsinn, der notwendig zu seinem Bilde gehört. Ohne solche Lust am kecken Wagen und Pläneschmieden hätte er schwerlich die Kraft gefunden, in einer Epoche der Ermattung und Entsagung den Neubau des deutschen Staates vorzubereiten. Die ihm näher standen, empfingen den Eindruck, daß hier eine groß angelegte Natur, ein gedankenreicher, unruhiger, überaus produktiver Kopf in allzu engem Wirkungskreise sich aufzureiben drohte. Der Mann bedurfte einer großen Tätigkeit, wenn die Ideen, die in seinem Geiste gärten, sich abklären, wenn sein starker Ehrgeiz und seine frohe Willenskraft sich frei entfalten sollten.
Um das Defizit zu beseitigen, hatte der König den neuen Minister berufen. Die glückliche Lösung dieser nächsten Aufgabe [pg 081] bildete zugleich die Vorbedingung für das Gelingen der handelspolitischen Pläne, welche Motz seit jenem Sondershausener Vertrage nicht mehr aus den Augen verloren hatte; nur wenn das Gleichgewicht des Staatshaushalts gesichert war, konnte die Krone Zollverträge von zweifelhaftem finanziellem Erfolge wagen. In den Kreisen des hohen Beamtentums wurde die Lage der Finanzen allgemein sehr ungünstig beurteilt. Hatte man vor sechs Jahren schlechterdings nicht glauben wollen, daß in Preußen ein Defizit bestehen könne, so hielt man jetzt den Zustand für ganz verzweifelt, weil man die Ergiebigkeit der neuen Steuern nicht genau kannte. Motz teilte diese düstere Ansicht nicht. Er war überzeugt, das vielbeklagte Defizit sei längst nicht mehr vorhanden, wenn nur erst Einheit, Übersicht, Ordnung in das Finanzwesen komme; »aber, sagte er später zu seiner Tochter, ich hütete mich wohl, Überschüsse zu versprechen, man hätte mich für wahnsinnig gehalten.« —
Einen minder mutigen Mann hätte die Lage des Marktes wohl erschrecken können. Zur selben Zeit, da Motz ins Amt trat, brach über England eine furchtbare Handelskrisis herein, eine der schwersten Erschütterungen, welche die Handelsgeschichte kennt. Die Eröffnung des südamerikanischen Marktes hatte eine fieberische Spekulation erweckt, welcher nun der natürliche Rückschlag folgte: in fünf Vierteljahren stürzten mehr als 70 Banken und an 3600 Geschäftshäuser zusammen. Auch Deutschland blieb von dem Unheil nicht verschont, wie bescheiden auch sein Anteil am Weltverkehr noch war: die große Firma Reichenbach in Leipzig und einige der ersten Häuser Berlins gingen zugrunde. Doch was bedeutete diese Bedrängnis des Geldmarkts neben der namenlosen Not des deutschen Landbaues, die wie alle landwirtschaftlichen Krisen ungleich langsamer überwunden wurde? Die Hungerjahre waren kaum überstanden, da fielen die Preise aller landwirtschaftlichen Erzeugnisse schnell und anhaltend. Die Zollgesetze des Auslandes und der elende Zustand der Straßen hemmten die Abfuhr der überreichen Ernten; selbst die technischen Fortschritte, welche die deutsche Landwirtschaft ihren Lehrern Thaer und Schwerz verdankte, wirkten für jetzt nachteilig, da die Konsumtion dem gesteigerten Angebot so rasch nicht zu folgen vermochte. Der Wert der Grundstücke [pg 082] sank in manchen Landesteilen tiefer als einst zur Zeit des Krieges. Nur die Schäfereien behaupteten sich noch; Deutschland allein führte nach England über zweimal soviel Wolle aus als alle übrigen Länder zusammen. Aber auch dieser Vorteil drohte zu schwinden, seit die Fremden von uns zu lernen begannen, deutsche Hirten und Schafe in Rußland, Schweden, Frankreich, Australien verwendet wurden. Am härtesten litt das unglückliche Altpreußen; während der Kriegsjahre war mehr als die Hälfte seines Viehstandes draufgegangen, jetzt stand in einzelnen Gegenden der Tagelohn auf 3 bis 4 Sgr., in anderen wurde der Scheffel Roggen für 5 Sgr. ausgeboten. Schöns Schwager, Oberst Brünneck, suchte den Nachbarn zu helfen durch die Einführung der Schafzucht und anderer technischer Verbesserungen; doch nur wenige waren imstande, sich auf neue Unternehmungen einzulassen. Auf die flehentliche Bitte der Stände gewährte der König »dieser alten Kernprovinz« abermals außerordentliche Unterstützungen: Chausseen wurden gebaut, große Getreideankäufe für die Armee angeordnet, auch Magazine angelegt, welche den Preis des Scheffels Roggen auf der Höhe von 1 Taler halten sollten.
Dann erlangte Schön57 noch eine neue Bewilligung von 3 Millionen Taler zur Rettung verschuldeter Grundbesitzer. Als guter Patriot wollte er vornehmlich die alten, mit der Geschichte des Landes verwachsenen Geschlechter im Besitze ihrer Stammgüter erhalten. Dieselbe Meinung vertrat sein Freund Stägemann58 im königlichen Kabinett; der war, obwohl ein Anhänger der neuen Volkswirtschaftslehre, doch von jeher der Ansicht gewesen, daß durch den Untergang der alten Grundbesitzer der Staat selber zugrunde gehe: »es scheint mir ganz simpel, weil ein anderer Staat daraus wird«. Aber die bewilligte Summe reichte nicht von fern aus, obwohl sie fast den sechszehnten Teil der gesamten Staatseinnahmen [pg 083] ausmachte; zudem mußte die große Kreditanstalt der Provinz, die »Landschaft«, der die bedrängten Grundherren allesamt verschuldet waren, um jeden Preis vor dem Bankrott bewahrt werden, wenn man nicht das ganze Land dem Verderben preisgeben wollte. Daher befahl der König auf Schöns Vorschlag (1824), die Unterstützungsgelder zwar zunächst zur Rettung der alten Grundherrengeschlechter zu verwenden; wenn es aber ganz unmöglich sei, eine Familie im Besitze zu erhalten, dann solle sie mit einer notdürftigen Pension abgefunden und ihr Stammgut durch die Landschaft unter den Hammer gebracht werden.
Mit dieser fast unbeschränkten Vollmacht schritt Schön ans Werk. Das Schicksal des altpreußischen Adels lag in seiner Hand. Abermals, und noch stürmischer, als vor Jahren bei der Verteilung der ersten Kriegsentschädigungsgelder, drängte sich alles um die Gunst des Beherrschers der Provinz. Er tat sein Bestes, viele wackere Männer vom Landadel verdankten allein seiner Fürsorge die Erhaltung ihres Besitzes; wo er aber die Lage für hoffnungslos hielt, da ließ er die Landschaft unerbittlich zur Subhastation schreiten. So geschah es, daß unter der Mitwirkung dieser wohlwollenden Regierung die Grafen Schlieben, die Grafen Goltz und viele andere angesehene Adelsgeschlechter von Haus und Hof verjagt wurden — die meisten schuldlos, denn der letzte Grund ihrer Not lag doch in den patriotischen Opfern der Kriegszeit. Hunderte von Landgütern wurden versteigert, einmal ihrer 218 fast zu gleicher Zeit; das unmäßige Angebot drückte die Preise so tief herab, daß die Landschaft selber nur durch Zuschüsse des Staates sich behaupten konnte. In manchen Teilen der Provinz wechselte die volle Hälfte der großen Güter ihren Besitzer …
Mit diesen traurigen Wirren hatte der Finanzminister unmittelbar nichts zu schaffen, aber an dem Ertrage der Abgaben lernte er die Not der Landwirtschaft nur zu gründlich kennen, obwohl der König bei allen seinen Unterstützungen streng den Grundsatz einhielt, daß auch dem Bedürftigsten niemals ein Nachlaß an den Staatssteuern bewilligt werden dürfe. Um die Schwierigkeiten zu bemeistern, wollte Motz zunächst die Lage des Staatshaushalts genau übersehen und erneuerte daher seine alte Forderung, daß der Finanzminister [pg 084] in der Generalkontrolle Sitz und Stimme haben müsse. Der König suchte nach seiner Gewohnheit zu vermitteln, weil er den verdienten alten Ladenberg nicht kränken mochte, und ordnete an, der Finanzminister solle im Falle der Meinungsverschiedenheit durch einen seiner Räte mündlich mit dem Präsidenten der Generalkontrolle unterhandeln. Mit einer solchen Halbheit konnte sich Motz nicht zufrieden geben; denn zwischen den beiden koordinierten Behörden hatte sich längst ein tragikomischer Wettstreit des Amtseifers entsponnen, wie er nur in der preußischen Bureaukratie möglich ist. Die Generalkontrolle suchte ihre Lebenskraft zu erweisen, indem sie den Etats zahllose lächerliche Monita zusetzte, zum Domänenetat allein 91, zum Forstetat 146, und die Kalkulatoren des Finanzministeriums erwiderten natürlich mit gleicher Münze. Das Gezänk war so unerträglich, daß Motz sich entschloß, den König um seine Entlassung zu bitten, wenn ihm seine berechtigte Forderung nicht gewährt würde. »Ich kann mich nicht dazu verstehen — schrieb er an Lottum — die Rolle zu übernehmen, welche Herr v. Klewiz viele Jahre zum Nachteil der Finanzen des Staates ertragen hat.« Ein solches Abschiedsgesuch galt nach den Grundsätzen des alten Absolutismus als strafbarer Trotz, und Motz selber hielt für nötig, die Versicherung hinzuzufügen: »ich würde der Gnade des Königs mich selbst unwürdig erkennen, wenn ich, in Eitelkeit und Torheit befangen, mich auf anderem Wege in meiner Dienststelle zu konservieren bemüht sein wollte.«
Seit Stein im Frühjahr 1807 aus ähnlichem Anlaß ungnädig entlassen worden, hatte kein Minister mehr gewagt, in diesem Tone zu reden; selbst Hardenberg hatte nur einmal, als er auf die Zustimmung des Königs sicher rechnen konnte, leise mit einem Abgang gedroht. Friedrich Wilhelm brauchte auch volle vier Monate, bis er dem neuen Minister sein selbstbewußtes Auftreten ganz verzieh. Dann aber hatte er sich durch Lottums Vorträge von der Unhaltbarkeit des bestehenden Dualismus gründlich überzeugt, und da er seine bureaukratischen Hartköpfe kannte, so ging er nunmehr sogleich weit über die Vorschläge des Finanzministers selber hinaus. Am 8. April 1826 überraschte er diesen durch die willkommene Mitteilung: er denke die Generalkontrolle ganz aufzuheben, ihre Geschäfte dem Finanzministerium zu übertragen. [pg 085] Am 29. Mai wurde dieser Befehl vollzogen, und Ladenberg mußte sich wehmütig mit dem Präsidium der Oberrechnungskammer begnügen. Motz aber war jetzt endlich Herr der Lage, und die anderen Minister empfanden bald, daß er sich berechtigt hielt, alle Gebiete der Verwaltung scharf zu überwachen. Der langsame Altenstein mochte wohl Grund haben, sich über die Anmaßung des Finanzministers zu beschweren, denn umständliche Bedachtsamkeit reizte den stürmischen Mann leicht; doch über seine Kargheit konnte niemand klagen. Den Anforderungen der Kunst und Wissenschaft entsprach er, nach dem Maße der vorhandenen Mittel, sehr freigebig; als Kamptz59 ihn wegen der hohen Kosten der Revision des Landrechts befragte, erwiderte er nachdrücklich: für ein solches Werk muß in Preußen immer Rat geschafft werden.
In jedem Zweige des Finanzwesens spürte man die rüstigen Hände des neuen Leiters. Durch eine gründliche Reform der Kassenverwaltung verschaffte er sich einen genauen Überblick über alle Bestände. Das Steuerwesen ließ er in den Händen Maaßens, des Urhebers der neuen Zollgesetzgebung. Die beiden galten in der Beamtenwelt als Nebenbuhler, aber sie wurden Freunde. Maaßen fügte sich gern der raschen Entschlossenheit des jüngeren Vorgesetzten, und dieser wußte wohl, was er der Umsicht und Sachkenntnis des Generalsteuerdirektors verdankte. »Alles mit Maaßen«, sagte er lächelnd, wenn ihn der besonnene Freund von einem übereilten Wagnis zurückgehalten hatte. Unter Maaßen arbeitete der geistreiche Ludwig Kühne60, Motzs alter Freund von Erfurt her, der Schrecken aller Trägen und Mittelmäßigen; wie wußte er seine Leute in Atem zu halten, wenn er ihnen zurief: »Dummheit ist eine Gottesgabe, aber sie zu mißbrauchen ist schändlich!«
In den Provinzen war das Steuerwesen bisher von den [pg 086] Regierungen verwaltet worden; der König hatte indes bald eingesehen, wie wenig das langsame Kollegialsystem sich für diesen Zweig der Verwaltung eignet, und daher (1822) zunächst in den beiden westlichen Provinzen das gesamte Steuerwesen einem Provinzialsteuerdirektor unterstellt. Diese Einrichtung bewährte sich vollständig und wurde durch Motz auch in den übrigen Provinzen eingeführt. Die neuen Behörden mußten nach Landesbrauch anfangs oft mit der Eifersucht der Regierungen kämpfen, auch das Volk empfing sie mit Argwohn, denn der Name der Zöllner hatte einen bösen Klang, in den alten Provinzen dachte man noch mit Schrecken an die Regiedirektoren des großen Königs. Doch bald lernte man die Pünktlichkeit und schlagfertige Raschheit der Steuerbehörden schätzen; am Rhein wurde der Steuerdirektor v. Schütz sogar ein volksbeliebter Mann. Jede tiefgreifende Steuerreform bedarf der Zeit, um ihren Wert zu erproben. Jetzt hatte die Geschäftswelt sich nach und nach an die neuen Abgaben gewöhnt, die Beamten Übung und Sicherheit erlangt in den ungewohnten Formen. Auch der Schmuggel begann nachzulassen. Etwa um das Jahr l827 konnte die Reform als abgeschlossen und in den Volksgewohnheiten festgewurzelt gelten.
Zu ihrer Ergänzung unternahm Motz die Neugestaltung der Domänenverwaltung, die unter dem Drucke der großen landwirtschaftlichen Krisis ganz in Verwirrung geraten war. Der Minister selbst und der neue Direktor des Domänenwesens, Keßler, bereisten persönlich sämtliche Domänen und Forsten der Monarchie, überall jubelnd empfangen von der Jägerei und den Pächtern, die es kaum fassen konnten, daß die Herren in Berlin sich endlich einmal ihrer Not annahmen. Dann überwies Motz, um mit dem alten Jammer aufzuräumen, alle Rückstände einer besonderen Verwaltung und schloß für das gesamte Domanium neue, billigere Pachtverträge, welche streng eingehalten wurden, aber hunderte von Pächtern vor dem Untergange bewahrten. Mit der Veräußerung der Domänen verfuhr er sehr vorsichtig; nur in Westpreußen und Posen ließ er zahlreiche Vorwerke an deutsche Kolonisten veräußern, »um einen selbständigen und der Regierung anhänglichen Bauernstand zu bilden«.
Das Beste blieb doch, daß man nun endlich wußte, woran [pg 087] man war. Nach kaum drei Jahren, am 30. Mai 1828, konnte Motz dem Monarchen berichten, daß statt des gefürchteten Defizits ein reiner Überschuß von 4,4 Millionen erzielt worden sei, der sich nach Eingang der Rückstände auf 7,8 Millionen steigern müsse; 3,245 Millionen waren bereits bar an den Staatsschatz abgeführt, 1,172 Millionen zu außerordentlichen Ausgaben verwendet. Dankbar gestand er zu, ohne die großen unter seinem Vorgänger vollzogenen Reformen würde er nicht imstande sein, dem König so erfreuliche Ergebnisse vorzulegen; aber er durfte sich sagen, nur er habe vermocht, die Ernte dieser Saaten einzuheimsen, und er fühlte sich bereits so sicher, daß er eine mäßige Verminderung der Klassensteuer vorzuschlagen wagte: die Steuerpflichtigkeit sollte fortan zwei Jahre später als bisher, erst mit dem sechzehnten Lebensjahre beginnen. Auch fernerhin, so schloß der von L. Kühne entworfene Bericht, werden die Grundsätze der Finanzverwaltung bleiben: »Sparsamkeit und Ordnung in den gewöhnlichen Ausgaben; Bereithaltung der Kräfte, welche der Friede gewährt hat, für die Zeit des ersten Krieges; Aufrechterhaltung des Kredits durch Pünktlichkeit; Verwendung eines Teiles der Überschüsse als werbendes Kapital für die Zukunft für den Gewerbefleiß.«
Seitdem war Motz der Achtung des Königs sicher. Bei Hofe betrachtete man ihn als einen Emporkömmling, da sein altes hessisches Adelsgeschlecht im preußischen Dienste neu war. Die Partei Wittgensteins [des Polizeiministers] witterte bald den Liberalismus des Ministers heraus; Lottum aber und die anderen Anhänger der unbedingten Sparsamkeit tadelten seinen Leichtsinn, weil er mit den steigenden Einnahmen auch das knappe Ausgabenbudget allmählich um etwa 900000 Taler erhöhte. Wagten sich solche Vorwürfe aus dem Dunkel heraus, dann rechtfertigte er sich stets freimütig vor dem Könige selbst, denn ohne das Vertrauen des Monarchen könne der Finanzminister als Aufseher der gesamten inneren Verwaltung nicht bestehen …
In den letzten Jahren hatte Preußens Handelspolitik auch den kleinen Nachbarn gegenüber nur wenig Erfolge errungen. Die von preußischem Gebiete umschlossenen Kleinstaaten [pg 088] waren durch das wüste Geschrei, das sich an den Höfen und in der Presse wider das Zollgesetz erhob, gründlich eingeschüchtert. Der Fürst von Rudolstadt getraute sich erst nach drei Jahren (1822) dem verständigen Beispiele seines Sondershausener Vetters zu folgen und mit seiner Unterherrschaft dem preußischen Zollsystem beizutreten. Im nächsten Jahre wurden auch zwei weimarische Ämter sowie das obere Herzogtum Bernburg in die Zollgemeinschaft aufgenommen, und alle Beteiligten befanden sich wohl bei dem freien Verkehr. Aber auf den so oft verheißenen Beitritt der gesamten anhaltischen Lande wartete man in Berlin noch immer vergeblich. Der Köthener Herzog führte den Schmuggelkrieg gegen seinen königlichen Schwager wohlgemut fort, ermutigt durch die Einflüsterungen seines Adam Müller und durch das endlose Gezänk am Bundestage. Als Müller es gar zu frech trieb, mußte sich Hatzfeldt61 in Wien beschweren. Metternich gab dem Geschäftsträger sofort einen scharfen Verweis wegen eines Benehmens, das »den bekanntlich zwischen Österreich und Preußen bestehenden so innigen und freundschaftlichen Verhältnissen« durchaus widerspreche, und teilte dies Schreiben dem preußischen Hofe verbindlich mit. Müllers geheime Weisungen lauteten aber wahrscheinlich anders; er ließ sich in seinem Treiben keineswegs stören und fand in der jesuitischen Umgebung der Herzogin treue Bundesgenossen. Die Wortbrüchigkeit des kleinen Nachbarn mußte den Berliner Hof um so tiefer verstimmen, da mittlerweile (1824) die hohenzollernschen Fürstentümer mit Württemberg einen Zollvertrag schlossen, genau nach dem Vorbilde der preußischen Enklavenverträge. So schlugen die Kleinstaaten sich selber ins Angesicht. Dieselben verständigen handelspolitischen Grundsätze, welche Wangenheim in Frankfurt der preußischen Regierung als eine Verletzung des Völkerrechts vorgeworfen hatte, wurden nun in Schwaben eingeführt, und dieselbe liberale Presse, die das preußische Enklavensystem mit Schmähungen überhäufte, fand die Anwendung dieses Systems in Württemberg hocherfreulich.
Sobald Motz sich in seinem neuen Amte zurecht gefunden hatte, erklärte er dem auswärtigen Amte: Preußens Langmut [pg 089] gegen den unredlichen kleinen Nachbarhof werde zur Schwäche, man müsse endlich die ganze Strenge des Zollgesetzes wider ihn anwenden (Januar 1826). Gleich nachher baten Dessau und Bernburg um die Aufnahme einiger Ämter in die Zollgemeinschaft und empfingen, auf Motzs Betrieb, die Antwort: mit solchem Stückwerk sei nichts getan; wollten die Herzöge mit ihren gesamten Gebieten beitreten, so würde man sie willkommen heißen. Nach einiger Zögerung erschienen nunmehr zwei anhaltische Unterhändler in Berlin, und mit dem bernburgischen, v. Salmuth, einem geistreichen, witzigen Manne, der das mönchische Unwesen des Köthener Hofes gründlich verachtete, wurde Motz bald handelseins. Noch im Laufe des Sommers erklärte der Herzog von Bernburg die Unterwerfung seines gesamten Landes unter das preußische Zollgesetz. Acht volle Jahre hatte es also gewährt seit der Verkündigung dieses Gesetzes, bis zum erstenmal ein ganzer deutscher Kleinstaat beitrat. Der dessauische Bevollmächtigte aber brach die Verhandlungen ab; denn unterdessen war Adam Müller von Köthen nach Dessau hinübergekommen, angeblich, um in der Mulde zu baden, in Wahrheit, um den Anschluß an Preußen zu hintertreiben.
In einem herzbrechenden Klageschreiben sprach Herzog Leopold von Dessau, der mit einer Nichte des Königs verheiratet war, dem Oheim sein Bedauern aus: schon vor Jahren habe er dem Köthener Vetter versprochen, nicht ohne ihn beizutreten. Das preußische Ministerium verlange, »daß die enklavierten Staaten fremde Gesetze und Verwaltungsformen unweigerlich annehmen müssen. Dies aber, Allergnädigster König, ich wage es vertrauensvoll auszusprechen, wollen Allerhöchstdieselben nicht. Preußens mächtiger und gerechter Monarch, der im zweiten Artikel der Bundesakte Souveränität und Unabhängigkeit garantierte, wird nie gestatten, daß die Minister durch strenges Festhalten am Buchstaben des Bundesvertrages den Geist, der sichtbar in demselben waltet, ertöten, daß aus dem ersteren ein Rechtstitel für faktischen Zwang entlehnt werde. Wenn ich so das kleine, auf mich gekommene Erbe meiner Ahnen, das, erhört Gott meine und meiner vielgeliebten Gemahlin Gebete, der Urenkel eines Königs aus meiner Hand erhalten wird, vor E. K. Maj. Herzen und Allerhöchstihren mir und meiner Gemahlin bewiesenen väterlichen [pg 090] Gesinnungen zu verteidigen wage, so fehlt es mir dazu nicht an einem näheren Anlaß« — worauf denn eine lange Klage über die dem anhaltischen Lande angedrohte »Polizeilinie« folgte. Der König aber zeigte sich sehr aufgebracht über die Zweizüngigkeit seines Neffen. Er erinnerte ihn daran, daß Preußen die Dresdener Elbschiffahrtsakte erst unterzeichnet habe, nachdem die Askanier ihren Beitritt zum preußischen Zollsystem förmlich versprochen hätten; er forderte ihn auf, dem Beispiel Bernburgs zu folgen, und schloß: »Auch kann ich nicht glauben, daß das in Dresden von sämtlichen Herzögen von Anhalt gegebene Versprechen einer Einigung durch irgendeine von ihnen späterhin gegebene Zusage an Verbindlichkeit zu verlieren vermöchte.« Ein zweites Schreiben des Dessauers, das sich abermals auf die hartnäckige Weigerung des Köthener Vetters berief, blieb unbeantwortet.
Der König befahl nunmehr, dem Froschmäusekrieg ein Ende zu machen und das anhaltische Land mit der gefürchteten »Polizeilinie« zu umgeben, aber zugleich die beiden Herzöge nochmals zu Unterhandlungen einzuladen. Im März 1827 wurde die Elbe oberhalb und unterhalb Anhalts gesperrt, von den eingehenden Schiffen die vorläufige Zahlung der preußischen Zölle gefordert unter Vorbehalt der Rückvergütung, falls die Waren wirklich in Anhalt verblieben. Sofort sendete der Köthener Herzog einen Leutnant mit einem Ultimatum nach Berlin; sei es, daß er einen höheren militärischen Würdenträger nicht in seinem Vermögen hatte, oder daß er Preußen verhöhnen wollte. Der tapfere Leutnant forderte drohend die Zurücknahme der Maßregeln binnen acht Tagen, sonst werde Köthen zu ernsteren Mitteln greifen. Natürlich erhielt er keine Antwort; Eichhorn und Heinrich v. Bülow62, Humboldts geistreicher Schwiegersohn, der in diesen lächerlichen Händeln sein diplomatisches Talent zuerst bewährte, setzten nur einige scharfe Bemerkungen an den Rand des Köthener Ultimatums. Nun brachte Köthen cette affaire ennuyante, wie Bernstorff zu [pg 091] seufzen pflegte, nochmals an den Bundestag. Wieder verteidigte die gesamte Presse den unschuldigen Kleinstaat, den hochherzigen Beschützer der Schwärzer und der Schwarzen; wieder trat in der Eschenheimer Gasse63 ein Ausschuß zusammen unter dem Vorsitz des k. k. Gesandten. Wieder ward ein Bericht zugunsten Köthens erstattet, und wieder mußte der preußische Gesandte64 eine scharfe Erwiderung verlesen. Nagler sagte geradezu, seine Regierung sei durch den Kommissionsbericht in der Überzeugung von ihrem Rechte unerschütterlich befestigt worden. Bernstorff aber erklärte: »Dazu haben sich große Staaten mit den kleinen nicht in einen Verein zusammengetan, damit diese nur ihre, bei vernünftigem Gebrauch unantastbare Souveränität nach Willkür und jeder überspannten Einbildung ausüben dürfen.« Österreich zeigte bei alledem eine sehr zweideutige Haltung. Adam Müller wurde zwar auf längere Zeit beurlaubt, doch im übrigen tat die Hofburg gar nichts zur Unterstützung Preußens; ihr Gesandter Graf Trauttmansdorff beschwerte sich sogar über die angeordneten Zwangsmaßregeln.
Die kleinen Höfe ergriff ein jäher Schrecken, da sie so unsanft an die natürlichen Schranken ihrer Souveränität erinnert wurden. In einem verzweifelten Briefe fragte Großherzog Georg von Strelitz seinen königlichen Schwager, ob er denn wirklich den Bestand des Deutschen Bundes gefährden wolle. Friedrich Wilhelm aber ließ sich nicht beirren. Er sendete dem Schwager (Juli 1827) eine Denkschrift, welche nochmals die ganze Nichtswürdigkeit der anhaltischen Schleichhandelspolitik darstellte, und sagte: daraus möge er lernen, »daß das Interesse meiner Untertanen die getroffenen Maßregeln gebieterisch erheischte, daß ich dazu vollkommen berechtigt war, und daher weder die Aussprüche der Bundesversammlung noch das Urteil des Publikums in und außer Deutschland, sondern nur die Nachgiebigkeit der anhaltischen Fürsten eine Änderung hervorbringen können.« Dann hob er mit seinem geraden Verstande noch einmal den Kern des [pg 092] Streites heraus: »E. K. Hoheit wird außerdem einleuchten, daß, wenn sich die Interessen eines Staates von 30 bis 40 000 Einwohnern mit denen von 12 Millionen in Konflikt befinden, es in der Natur der Verhältnisse liegt, daß der erstere nachgebe, sobald ihm eine vollständige Entschädigung geboten wird. Sollte der Bund die aus einer übel verstandenen Souveränität hergeleiteten Anmaßungen kleiner Staaten gegen mächtigere nicht in die gehörigen Schranken zurückweisen, so würde für diese das Bundesverhältnis bald unerträglich werden und der Bund, wie E. K. H. bemerken, allerdings in Gefahr schweben.«
Mittlerweile begannen die beiden bedrängten Kleinfürsten doch zu merken, daß sie den ungleichen Kampf nicht durchführen konnten. Sie beschlossen, ihr verpfändetes Wort endlich einzulösen, und erklärten sich zu Unterhandlungen bereit. Am 17. Juli 1828, nach neunjährigen Schmuggelfreuden, traten Dessau und Köthen dem preußischen Zollsystem bei. Beide Landesherren bedauerten in gefühlvollen Manifesten, ihre geliebten Untertanen so schwer belasten zu müssen; der Köthener berief sich auf »unabwendbare Umstände«, der aufrichtigere Dessauer — mit jener zynischen Gemütlichkeit, die dem deutschen Kleinfürsten nicht verargt wird — auf »die Interessen seines Kammerhaushalts«. Alle diese Enklavenverträge gewährten den kleinen Höfen einen nach der Volkszahl abgemessenen Anteil am Ertrage der preußischen Ein- und Ausfuhrzölle, außerdem noch allerhand Ehrenrechte — das Landeswappen neben dem preußischen für die Zollämter und was der Eitelkeiten mehr war — aber durchaus keinen Anteil an der Zollgesetzgebung. Nur Dessau und Köthen behielten sich das Recht des Widerspruchs vor, falls die Grundsätze und Grundlagen des Zollgesetzes verändert würden — ein Satz, der glücklicherweise gar nichts bedeutete. Ebenso harmlos war die Klausel, wonach Dessau und Bernburg nur für sechs Jahre beitreten sollten. Motz und Eichhorn wußten wohl, wie wenig an einen Wiederaustritt zu denken sei; so gönnte man den Kleinen das erhebende Bewußtsein, daß sie sich nicht für ewige Zeiten unterworfen hätten. In der Tat begann in den anhaltischen Ländern der ehrliche Erwerb wieder zu gedeihen, und bald fühlte jedermann, die natürliche Ordnung der Dinge sei hergestellt.
[pg 093]Noch während diese anhaltischen Händel schwebten, eröffnete sich für Preußen plötzlich die Aussicht, auch größere deutsche Staaten in seine Zollgemeinschaft aufzunehmen. Gewitzigt durch die niederschlagenden Erfahrungen der Wiener Konferenzen, hatte der Berliner Hof während der letzten Jahre gelassen abgewartet, ob die Not der Finanzen einen der Mittelstaaten bewegen würde, sich freiwillig dem preußischen Zollsystem anzuschließen. Eine solche Politik gewährte zugleich den Vorteil, daß Preußen verschont blieb vor den unzähligen Zollvereinsplänen, welche gleich Nebelgestalten, rasch gebildet und rasch zerfließend, an den kleinen Höfen auftauchten und oftmals auch an die preußischen Gesandten herantraten. Leichtfertiges Pläneschmieden war von jeher das Vorrecht der Ohnmacht. Ein Staat, der eine große nationale Idee vertrat, durfte auf die Mückenseigerei nassauischer und meiningischer Staatsdilettanten sich nicht einlassen. Ein einziger von Preußen übereilt abgeschlossener Zollvertrag, der die Probe nicht bestand und sich wieder auflöste, hätte die Höfe wie die Nation vollends abgeschreckt und die preußische Handelspolitik auf Jahre hinaus gelähmt. Nur wenn ein Mittelstaat, Dünkel und Mißtrauen überwindend, selber in Berlin positive Anerbietungen stellte, dann allein ließ sich glauben, daß er durch gewichtige Interessen bestimmt werde und ein dauerhafter Bund möglich sei.
Aus dem Ränkespiel Adam Müllers erfuhr man überdies, welche Kräfte an den kleinen Höfen ihr Wesen trieben und beschloß daher, alle Verhandlungen über Zollsachen nur in Berlin zu führen. Nur in Berlin fanden sich die kundigen Fachmänner, deren, und das reiche statistische Material, dessen man zur Lösung so vieler verwickelten Einzelfragen bedurfte. Nur hier war man leidlich gesichert gegen die Umtriebe der Hofburg, wie gegen die Vorurteile der kleinen Dynastien. Der Aufenthalt in einem ernsten Gemeinwesen übt immer einen wohltätig ernüchternden Einfluß, und selbst in jener stillen Zeit bewährte Preußen diese erziehende Kraft. In den Gesandtschaftsberichten läßt sich deutlich verfolgen, wie die kleinen Diplomaten stets mit mißtrauischem Zagen den verrufenen Berliner Boden betraten und schon nach wenigen Monaten ein unbefangenes, ja wohlwollendes Urteil über die preußischen Dinge sich [pg 094] bildeten. Graf Bernstorff blieb mit den Gesandten der Mittelstaaten immer auf gutem Fuße, selbst wenn das Verhältnis zu den Kabinetten sich trübte.
Sodann lernte man aus dem unglücklichen Verlaufe der Darmstädter Zollkonferenzen, daß Zollverhandlungen mit mehreren Staaten zugleich, bei der großen Verschiedenheit der Interessen, keinen Erfolg versprechen. Seitdem stand in Berlin der Entschluß fest, immer nur mit einem einzelnen Staate über Zollfragen zu verhandeln, mit mehreren nur dann, wenn diese sich bereits zu einer handelspolitischen Einheit verbunden hätten. Diese streng eingehaltene Regel erlitt eine einzige Ausnahme. Die kleinen thüringischen Lande konnten vereinzelt weder eine Zollgrenze bewachen, noch als Träger eines handelspolitischen Interesses gelten. Darum hatte das Berliner Kabinett schon im Jahre 1819 dem Gothaer Hofe die Bildung eines thüringischen Vereins empfohlen — ein Vorschlag, dessen Berechtigung selbst auf den Darmstädter Konferenzen von dem sachkundigen badischen Bevollmächtigten anerkannt wurde. Allen anderen Staaten gegenüber blieb der Grundsatz der Einzelverhandlungen aufrecht.
Über die handelspolitischen Pläne der Mittelstaaten war der Berliner Hof sehr genau unterrichtet; denn an mehreren der kleinen Höfe bestand eine einflußreiche preußische Partei, in München und Stuttgart mindestens ein tiefer Groll gegen Österreich, der unseren Geschäftsmännern zustatten kam. Dazu der landesübliche Nationalhaß des Nachbars gegen den Nachbar; wie ließ sich ein Geheimnis bewahren, wenn heute ein darmstädtischer, morgen ein badischer Minister sich gedrungen fühlte, seine gerechte Entrüstung über Bayerns oder Württembergs anmaßende Vorschläge in den schweigsamen Busen des wohlwollenden preußischen Gesandten aus zuschütten? Der Karlsruher Posten diente als die beste Warte, um den Wandel der kleinen Gestirne zu beobachten. Die Teilnahme Preußens an dem geplanten süddeutschen Zollverein befürwortete in Berlin niemand, weil man ihn für hoffnungslos hielt. Dagegen wurde wiederholt und ernstlich die Frage erwogen: unter welchen Bedingungen Preußen mit größeren Nachbarstaaten einen Zollbund abschließen könne? Klewiz beantwortete sie in einem Gutachten vom [pg 095] 27. Juni 1822 dahin: Nur unter drei Bedingungen können wir die Nachbarstaaten in unseren Verband aufnehmen. Wir müssen fordern: »Annahme unserer Branntweinsteuer und einer angemessenen Biersteuer«, nur dann wird der Verkehr aller Schranken ledig. Ferner »ein sehr überwiegendes Vorrecht für Preußen bei Bestimmung der Ein-, Aus- und Durchgangsabgaben«. Endlich »die Douanenlinie in jenen Ländern muß ganz von uns abhängen«, da die bisherige Zollverwaltung der Nachbarstaaten keine Bürgschaft gibt für die gewissenhafte Ausführung der Gesetze. Begreiflich genug, daß ein preußischer Minister für seinen Staat eine solche handelspolitische Hegemonie wünschte. Bald aber erkannte man in Berlin, wie wenig die Mittelstaaten gesonnen waren, eine »fremde« Verwaltung in ihren Ländern zu ertragen, und stimmte daher seine Ansprüche herab.
Im Jahre 1824 verhandelten die drei Ministerien des Auswärtigen, des Handels und der Finanzen nochmals über die Frage, »wie sich Preußen bei den Zollvereinsunternehmungen zu verhalten habe.« Geh Rat Sotzmann, der Sohn des bekannten Geographen, eines der ersten Talente der Finanzverwaltung, und H. v. Bülow faßten das Ergebnis der Beratung in einer großen Denkschrift zusammen, welche schon mehrere Hauptgrundsätze der späteren Zollvereinsverfassung aufstellte. Sie erklärten: der Anschluß an Preußen könne auf zwei Wegen erfolgen — entweder durch vollständige Unterwerfung, wie sie in Bernburg geschehen sei, oder durch eine freiere Verbindung. Einem größeren Staate dürfe nur die letztere zugemutet werden; doch müsse er jedenfalls seine Zölle und Konsumtionssteuern den preußischen gleichstellen. Der Unterschied von »Zollanschluß« und »Zollverein« war also schon damals den preußischen Staatsmännern geläufig, wenngleich sie die modernen Schulausdrücke noch nicht gebrauchen. Da der Beitritt etwa von Kurhessen »nur soviel Zuwachs bringt als ein einziger unserer Regierungsbezirke ausmacht«, so kann der Berliner Hof die Entwicklung seines Zollwesens von der Zustimmung eines solchen Bundesgenossen nicht unbedingt abhängig machen. Daher soll Preußen sich nur auf eine Reihe von Jahren binden, um bei Ablauf der Frist über Änderungen und Zusätze sich von neuem zu vereinbaren. Man verzichtet mithin auf jedes Vorrecht, [pg 096] erkennt die volle Gleichberechtigung des kleinen Bundesgenossen an und behält sich nur das Recht der Kündigung vor, als unentbehrliches Gegengewicht. Jeder der beiden Staaten ernennt seine Zollbeamten selbst, doch werden sie beiden Regierungen verpflichtet. Der Plan, die Grenzbewachung allein in Preußens Hände zu legen, war mithin aufgegeben. Nur noch ein kleiner Schritt weiter, und man mußte erkennen, daß auch die doppelte Vereidigung der Zollbeamten dem Dünkel der kleinen Höfe unerträglich sei, bloß eine gegenseitige Kontrolle der Zollverwaltung sich erlangen lasse. Preußen hatte sein letztes Wort noch nicht gesprochen; die Denkschrift verhehlte nicht, daß der Berliner Hof gefaßt sein müsse auf noch größere Zugeständnisse. »Wird nur der Zweck erreicht — die wirkliche Einführung des preußischen Zoll- und Konsumtionssteuersystems und die Verfolgung der Kontraventionen —, so kann man über Formalitäten, die durch öffentliche Unterordnung der jenseitigen Souveränitätsrechte anstößig werden dürften, leichter hinweggehen.« Zum Schluß wird ein wichtiger Gedanke entwickelt, den das preußische Kabinett fortan getreulich festhielt und weiter verfolgte: Sollte Kurhessen nur gegenseitige Eingangsbegünstigungen wünschen, so wäre dies für Preußen, wegen unserer höheren Zölle, nicht bloß kostspieliger, sondern auch gefährlicher; die völlige Verschmelzung der beiden Zollsysteme bleibt in jeder Hinsicht vorzuziehen. — In der Tat, nicht die Höhe der Binnenzölle lähmte den deutschen Handel, sondern das Dasein der Binnenmauten selber; jede Reform, die nicht an diese Wurzel des Übels die Axt legte, blieb ein Mißgriff.
Leider hatten diese verständigen Grundsätze für den Augenblick gar keine Wirkung; denn die Verfasser der Denkschrift hielten sich noch buchstäblich an das Programm von 18l9. Sie wollten in gerader Linie »von Grenze zu Grenze« vorgehen, von dem nächsten Nachbar zu dem entfernteren. Was schien auch einfacher als der Plan, zunächst die angrenzenden Staaten zu gewinnen, die im unmittelbaren Bereich der preußischen Macht lagen, und dann erst zu versuchen, ob das geeinte Norddeutschland vielleicht mit dem Süden sich verständigen könne? Und doch war dieser gerade Weg ganz ungangbar. Die Denkschrift selber gesteht, daß der [pg 097] allen Neuerungen abgeneigte Dresdner Hof sich, schon wegen der Leipziger Messen, dem preußischen Zollwesen fernhalten werde. Hannover, als ein Brückenkopf Englands, wird gar nicht erwähnt, ebensowenig das dänische Holstein. Thüringen »ist auf Preußen angewiesen«, muß sich aber, wie in einem besonderen Promemoria ausgeführt wird, zuvörderst zu einem Verein zusammentun, der dem preußischen Zollsystem als »Vorland und Deckwerk« dienen soll. Darmstadt »grenzt nicht an uns«, selbst sein Oberhessen kann nur in Betracht kommen, wenn Kurhessen gleichzeitig beitritt. — Nach alledem blieb als nächstes erhebliches Ziel nur der Beitritt von Kurhessen samt Waldeck, und sogar dies war unerreichbar, denn der hessische Kurfürst zeigte, nachdem er es eine kurze Zeit mit einem verständigen Zollsystem versucht hatte, dem großen Nachbarstaate bald wieder die alte Gehässigkeit. Solange in Berlin diese Ansichten vorherrschten, die offenbar mit dem alten unseligen Gedanken der Mainlinie zusammenhingen, ließ sich eine Erweiterung des Zollsystems über die kleinen Enklaven hinaus nicht absehen.
Erst durch Motz wurde der Bannkreis dieser norddeutschen Ideen durchbrochen. Hierin und in der Beseitigung des Defizits, die eine Handelspolitik großen Stils erst ermöglichte, liegt sein bleibendes Verdienst. Er zuerst unter den preußischen Staatsmännern verfiel auf die Frage: ob nicht in dem wunderlichen Durcheinander unserer Kleinstaaterei der Umweg vielleicht rascher zum Ziele führe als die gerade Linie? ob man nicht die Nachbarn, die nicht zu überzeugen waren, vielmehr umgehen und umklammern müsse? Der kühne Spieler kam mit seinen Bauern auf dem Brette nicht vorwärts und ließ darum die Springer vorgehen. Er faßte sich das Herz, sobald eine günstige Stunde kam, über Kurhessen und die anderen unmittelbaren Nachbarn hinweg den süddeutschen Staaten die Hand zu reichen. In einer Zeit, da die amtliche deutsche Welt den ewigen Bund zwischen Österreich und Preußen für ein unverbrüchliches Gesetz ansah, ging er geradeswegs auf das Ziel los, das gesamte Deutschland mit Ausschluß Österreichs durch das unzertrennliche Band wirtschaftlicher Interessen unter der Führung Preußens für immer zu vereinigen und also die Befreiung von der Herrschaft des Hauses Lothringen vorzubereiten. Sobald dieser Entschluß feststand, [pg 098] war das Eis gebrochen. Der steile Weg war betreten, der die Handelspolitik Preußens rasch von Erfolg zu Erfolg führen sollte.
Quelle: H. v. Treitschke, Deutsche Geschichte usw. III, 453 ff., 477 ff.
Als die Darmstädter Konferenzen im Sterben lagen, gaben die kleinen thüringischen Staaten die Erklärung ab: wenn man in Darmstadt sich nicht vereinige, so sähen sie sich genötigt, einen bereits verabredeten bedingten Vertrag auszuführen und »einen in sich geschlossenen Handelsstaat« zu bilden — »eine Selbsthilfe, welche das Bild der Zwietracht, das Deutschlands Staaten darstellen, zur höchsten Vollendung zu bringen gemacht wäre.« Und wahrlich, der Süden bot einen jammervollen Anblick nach dem Abbruch der Darmstädter Verhandlungen. Jedes Kabinett ging trotzig und verstimmt seines eigenen Weges. Die darmstädtische Regierung versuchte noch einmal (Februar 1824), die oberrheinischen Höfe zur Annahme gleichförmiger Zollgesetze zu bewegen; da dies mißlang, gab sie ihrem Lande eine selbständige Zollordnung, welche, dem Volke verhaßt, kaum 80000 Gulden jährlich einbrachte. Der kluge du Thil hatte diesen armseligen Ertrag vorhergesehen, er wollte sich aber für künftige Zollverträge ein Unterhandlungsmittel sichern. Auch Württemberg führte im selben Jahre ein neues Zollgesetz ein, das dem bayrischen nahe stand. Das Schmuggelgeschäft in Frankfurt und in Baden blühte wie nie zuvor. Törichte Retorsionen belästigten den Verkehr. Als Württemberg mit der Schweiz über einen Handelsvertrag verhandelte, sendete Baden sofort einen Bevollmächtigten nach Zürich, um den Fortgang des Geschäftes argwöhnisch zu beobachten. In der Schweiz herrschte dasselbe Elend germanischer Zersplitterung; konkordierende und nicht konkordierende Kantone fanden des Haders kein Ende, die Verhandlungen rückten kaum von der Stelle.
Nur der Stuttgarter Hof gab in diesem Zeitraum allgemeiner [pg 099] Zerfahrenheit die Triasträume und Zollvereinspläne nicht auf. Der württembergische Gesandte in München, Freiherr von Schmitz-Grollenburg, ein rühriger Liberaler, gleich seinem Gönner Wangenheim begeistert für den Bund der Mindermächtigen, ließ nicht ab, das bayrische Kabinett um Wiederaufnahme der Verhandlungen zu bitten. Eine geraume Zeit hindurch fand er keinen Anklang; sein Freund Lerchenfeld konnte nicht aufkommen gegen Rechberg, der rundweg aussprach, eine gemeinschaftliche Zollgrenze sei entwürdigend für die rückwärtsliegenden Staaten. Auch bestand im altbayrischen Volke wenig Neigung mehr für die Zollvereinspläne; die öffentliche Meinung verlor das Vertrauen zu den immerdar vergeblichen Unterhandlungen.
Immerhin hatten die Darmstädter Beratungen die Lage etwas geklärt. Süddeutschland zerfiel in zwei Gruppen. Die beiden Königreiche auf der einen, die Rheinuferstaaten auf der anderen Seite, waren sich der Gemeinschaft ihrer Interessen bewußt geworden. Eben diese Sonderung zweier Gruppen führte dann zu neuen Einigungsversuchen. Baden schloß mit Darmstadt (10. September 1824) einen Vertrag, der den eigenen Produkten der beiden Staaten einige Erleichterung gewährte, und sendete sodann seinen Nebenius zu gleichem Zwecke nach Württemberg. Der badische Bevollmächtigte ward in Stuttgart sehr unfreundlich aufgenommen und wochenlang hingehalten, da der württembergische Unterhändler stets zur unpassenden Stunde unwohl wurde. Gekränkt und verstimmt dachte er schon heimzureisen; da erfuhr er endlich, daß Württemberg inzwischen schon eine neue geheime Verhandlung mit Bayern begonnen habe. Die Nachricht von dem badisch-hessischen Vertrage hatte den Münchener Hof mit schwerer Sorge erfüllt. Man fürchtete die Führerschaft im Süden zu verlieren und geriet in Unruhe wegen der Rheinpfalz; diese unzufriedene Provinz forderte dringend, fast drohend eine Verständigung mit den Rheinuferstaaten, die für ihr Handelsinteresse weit wichtiger seien als die altbayrischen Lande. Überdies hatte Blittersdorff den unsterblichen Artikel 19 und die Handelssache soeben am Bundestage wieder zur Sprache gebracht; und obwohl dies nur ein Zeichen der Ratlosigkeit war, so wollte doch Bayern jede Einmischung des Bundes abschneiden. So geschah es, daß Schmitz-Grollenburgs [pg 100] Anträge jetzt in München einer günstigeren Stimmung begegneten. König Max Joseph65 gestattete, daß der württembergische Geheimrat Herzog nach München kam. Während man Nebenius in Stuttgart mit leeren Ausflüchten vertröstete, ward an der Isar über einen süddeutschen Zollverein verhandelt.
Schon am 4. Oktober 1824 kam dort ein vorläufiger Vertrag zustande; im folgenden Monat traten die Bevollmächtigten der beiden Königreiche in Stuttgart zusammen, um die Vereinbarung endgültig festzustellen. Gewitzigt durch den ziellosen Meinungswirrwar der Darmstädter Konferenzen, zogen Bayern und Württemberg diesmal vor, zunächst unter sich ins reine zu kommen, dann erst die kleinen Nachbarn zum Beitritt aufzufordern. Ein richtiger Gedanke, sicherlich, doch die Heimlichkeit des Verfahrens verletzte die oberrheinischen Höfe. In Karlsruhe wie in Darmstadt prahlte man gern: wir können Bayerns entbehren, Bayern nicht unser, da wir seine Verbindung mit der Rheinpfalz beherrschen. Um so bitterer empfand man das rasche Vorgehen des Münchener Hofes. Um »den Prätensionen der königlichen Höfe« entgegenzutreten, eilte Berstett nach Frankfurt, besprach sich dort mit Marschall. Gleich darauf (19. November 1824) hielten Berstett, Nebenius, du Thil und Hoffmann in Heidelberg eine geheime Zusammenkunft, welche der badische Minister selber in einem vertrauten Briefe »ein Gegengift« gegen die bayrisch-württembergischen Umtriebe nannte.
Das hier vereinbarte Protokoll, dem nachher auch Marschall beitrat, wurde bedeutungsvoll für die Geschichte der deutschen Handelspolitik; denn hier spielte der Partikularismus seinen höchsten Trumpf aus, er stellte seine letzte und schwerste Bedingung auf. Die verbündeten Staaten verpflichteten sich, in fester Gemeinschaft vorzugehen und vornehmlich bei dem Verlangen zu beharren, daß jeder Staat seine Zollverwaltung selbständig führe; nur unter dieser Bedingung sei ein Zollverein möglich. Baden, das doch in Wien und in Darmstadt selber eine Zentralverwaltung vorgeschlagen hatte, hielt jetzt die entgegengesetzte Forderung am hartnäckigsten [pg 101] fest. Die beiden Königreiche hatten ihr Mißtrauen gegen die allzu nachsichtige badische Zollverwaltung oft und in verletzender Form ausgesprochen. Der Karlsruher Hof fühlte sich dadurch tief gekränkt und — er fürchtete die Anwesenheit bayrischer Zollbeamten in seinem bedrohten pfälzischen Gebiete. Wir wollen, schrieb Berstett an du Thil, schlechterdings keinen status in statu66, kein Funktionieren fremder Beamten in unserem Gebiete; und jener antwortete: auch keine Verpflichtung der Zollbehörden für die Gemeinschaft, denn sonst könnte der Großherzogliche Zolldirektor dem Minister sich widersetzen! Ebenso nachdrücklich erklärte Nebenius: »Die Frage ist ganz einfach diese, ob die Untertanen der einzelnen Staaten in einem unmittelbaren Verhältnis zu der Gemeinschaft stehen sollen«; hege man kein Vertrauen zu der redlichen Verwaltung der Bundesgenossen, dann sei ein Zollverein überhaupt undenkbar. Es war einfach die Gesinnung des eifersüchtigen Partikularismus, die hier nackt heraustrat. Aber dieser Partikularismus blieb die Lebensluft des deutschen Bundesrechts. Der badisch-darmstädtische Vorschlag ergab sich folgerecht aus dem Wesen eines Staatenbundes. Eine Zentralverwaltung für das Zollwesen ließ sich nur denken auf dem Boden eines Bundesstaates, eines Reiches.
Indessen hatten die beiden Königreiche ihren Entwurf festgestellt und die oberrheinischen Kabinette zu Verhandlungen über das Beschlossene eingeladen. Im Februar 1825 begannen die Stuttgarter Konferenzen — eine kläglichere Wiederholung der Darmstädter Verhandlungen, von Haus aus verdorben durch Groll und Mißtrauen. Daß Nassau keinen redlichen Willen mitbrachte, errieten die preußischen Diplomaten sofort; was ließ sich auch von diesem Bevollmächtigten, dem hartköpfigen Partikularisten Röntgen67 erwarten? Die Darmstädtische Regierung begann schon seit langem zu bezweifeln, ob ein süddeutscher Verein ihrem Staate nützlich sei. Wein und Getreide, für jetzt fast die einzigen wichtigen Ausfuhrartikel des Ländchens, fanden ihren Absatz im Norden; und auch wenn der Verein zustande kam, blieb Darmstadt nach wie vor ein Grenzland, überall von Mauten [pg 102] umstellt. Kurhessen hielt sich den Konferenzen fern. Auch der badische Bevollmächtigte Nebenius kam aus unlustig hoffnungsloser Stimmung nicht heraus, und erschwerte die Verhandlungen durch seine Reizbarkeit. Der bayrisch-württembergische Entwurf nahm das bayrische Zollgesetz zur Grundlage, gewährte den beiden Königreichen eine überwiegende Stimmenzahl und verteilte die Einnahmen nach der Kopfzahl der Bevölkerung. Hier erhob sich ein Streit, der wieder ein scharfes Licht warf auf die Gesinnung der kleinen Höfe. Sollte die Bevölkerung berechnet werden nach einer neuen Zählung oder auf Grund der provisorischen Bundesmatrikel? Die Matrikel diente zum Maßstab für die militärischen Leistungen der Bundesstaaten; als man sie zusammen stellte, ergab sich in vielen Kleinstaaten eine betrübende Entvölkerung, eine überraschend niedrige Kopfzahl. Jetzt, da die Zolleinnahmen nach der Stärke der Bevölkerung verteilt werden sollte, beteuerten die kleinen Gesandten wie aus einem Munde: die Matrikel genüge längst nicht mehr, die Zahl der Einwohner sei inzwischen zur Freude aller Wohlmeinenden wunderbar schnell gewachsen!
Den wichtigsten Streitpunkt bildete doch die Frage nach den Formen der Verwaltung. Die königlichen Höfe verlangten durchaus eine gemeinschaftliche Zentralverwaltung; sie trauten den Beamten der kleineren Staaten nicht. Dem württembergischen Finanzminister schien die getrennte Verwaltung schon darum unzulässig, weil dann nur sehr geringe Zolleinnahmen unmittelbar in seine Kassen fließen würden; wer bürgte dafür, daß die Bundesgenossen ihre Überschüsse pünktlich herauszahlten? Gereizt durch solches Mißtrauen, hielten die Minister der Rheinuferstaaten abermals eine Zusammenkunft in Mainz (Ende März 1825) und beschlossen, fest auf dem Heidelberger Protokoll zu bestehen. Triumphierend erzählte Marschall an Berstett, wie überlegen sein Herzog68 den Kronprinzen von Bayern69 bei einem Besuche in Bieberich abgefertigt habe. »Niemals, hatte der stolze Nassauer in heiligem Zorne gerufen, niemals werde ich mir von Euch in meinem Lande Gesetze vorschreiben lassen. Meine 300000 Untertanen [pg 103] sind mir gerade so lieb, wie Euch Eure drei Millionen. Ich brauche Euch nicht!« — worauf der Bayer den Austausch freundnachbarlicher Gefühle abschloß mit der Beteuerung: »Wir brauchen Euch auch nicht!« Zugleich setzte der Karlsruher Hof seinen ergebenen Landtag in Bewegung; der geistreiche allezeit partikularistische Staatsrechtslehrer Karl Salomon Zachariä70 kämpfte auf der Rednerbühne wider die Anmaßung der königlichen Höfe: »wer ist wohl Herr in seinem Hause, wenn er die Herrschaft mit anderen teilt?« Da gaben Bayern und Württemberg endlich nach.
Doch alsbald erhob sich ein neuer Zwist: um den Tarif — ein Streit, der bei dem grundtiefen Gegensatz der Meinungen zum Bruche führen mußte. Baden gab als höchsten Zoll für Kolonialwaren 1½ Gulden zu und hielt dies für ein großes Zugeständnis, während Bayern für Kaffee 15 Gulden forderte; Wollenwaren dachte Bayern mit 60 Gulden zu belasten, Baden bewilligte nur 8 Gulden als höchsten Satz für Fabrikate. Vergeblich beschwor Miller von Immenstadt den Karlsruher Hof um Nachgiebigkeit; das Prohibitivsystem herrsche in der weiten Welt, auch Huskisson könne mit seinen freihändlerischen Träumen nicht durchdringen. Berstett blieb fest: »Bayern, schrieb er an Marschall, verlangt, daß wir ohne Ersatz alle Vorteile unserer geographischen Lage mit ihm teilen. Der König von Württemberg stimmt den bayrischen Ansprüchen zu, um sich die Gewogenheit einer gewissen Partei zu erhalten«. Im August 1825 erklärte Baden seinen Austritt und verkündigte zugleich ein neues Zollgesetz, dessen niedrige Sätze allgemeine Freude im Lande erregten. Nassau trat ebenfalls zurück.
Auch diesmal spielten politische Bedenken mit; eine Reise des Königs von Württemberg nach Paris erweckte die Besorgnis, ob der Bund der Mindermächtigen vielleicht mit französischer Hilfe ins Leben treten solle. Nebenius versicherte späterhin, ihm habe in Stuttgart immer der Gedanke an Deutschlands künftige Handelseinheit vorgeschwebt; hohe Schutzzölle im Süden hätten die spätere Vereinigung mit dem Norden erschweren müssen. Und sicherlich, wenn unter dem [pg 104] Schutze der bayrischen Zölle eine jugendliche Industrie in Oberdeutschland emporwuchs, so blieb dem früher entwickelten preußischen Gewerbefleiß wenig Hoffnung, den süddeutschen Markt für sich zu erobern; der preußische Staat verlor mithin den einzigen Vorteil, den ihm ein allgemeiner Zollverein, zur Entschädigung für schwere finanzielle Opfer, versprach. Gleichwohl ist unverkennbar, daß auch der geistreiche badische Staatswirt sich nicht frei hielt von jener allgemeinen schwarzsichtigen Verstimmung, welche die trübseligen Stuttgarter Konferenzen beherrschte. Von hohen Schutzzöllen war ja gar nicht die Rede. Die von Bayern vorgeschlagenen Zölle für Fabrikate standen erheblich unter den Sätzen des preußischen Tarifs; die Gefahr, welche Nebenius fürchtete, lag zum mindesten noch in der Ferne. Im nächsten Winter hat Bayern noch einmal versucht, den Verein ohne Baden und Nassau in Gang zu bringen. Freiherr v. Zu Rhein verhandelte in Stuttgart und Darmstadt. Aber die Darmstädter Regierung erwiderte, sie könne ohne Kurhessen nicht beitreten. Da der Kasseler Hof sich weigerte, so war auch dieser letzte Versuch gescheitert.
So hoffnungslos war die Lage, als König Ludwig den Thron bestieg. Groll und Erbitterung überall. Selbst der bescheidene Handelsvertrag zwischen Baden und Darmstadt war schon nach Jahresfrist wieder erloschen, weil die Behörden mit den Ursprungszeugnissen freundnachbarlichen Mißbrauch trieben. Nach dem bayrischen Thronwechsel schöpfte König Wilhelm von Württemberg wieder frischen Mut. Er richtete im Dezember 1826 einen Brief an seinen erlauchten Nachbarn, schlug ihm vor, die abgebrochenen Verhandlungen wieder aufzunehmen und zunächst einen bayrisch-württembergischen Verein zu stiften. König Ludwig ging darauf ein. Da die beiden Staaten schon in Darmstadt und Stuttgart zusammengehalten hatten und ihre Zollgesetze nur geringe Unterschiede aufwiesen, so nahmen die im folgenden Monat zu München begonnenen Verhandlungen günstigen, wenngleich sehr langsamen Fortgang. Am 12. April 1827 wurde ein Präliminarvertrag unterzeichnet. Man beschloß, »die angrenzenden Staaten« zum Beitritt aufzufordern und ihnen zugleich die politische Bedeutung dieses rein deutschen Bundes ans Herz zu legen. Der werdende Verein war [pg 105] nicht geradezu gegen Preußen gerichtet; er wurde in Berlin mit gelassener Ruhe angesehen. Freilich ging aus dem Wortlaut jener Verabredung wie aus dem ganzen Verhalten der Bundesgenossen unzweifelhaft hervor, daß an Preußens Beitritt nicht entfernt gedacht wurde. Man hoffte Macht gegen Macht mit Preußen über Handelserleichterung zu verhandeln und wollte im Notfall selbst Retorsionen gegen die preußischen Zölle anwenden. Der Verein sollte den Kern des »reinen Deutschlands« bilden, »ein immer engeres gegenseitiges Anschließen in allen politischen Beziehungen zur unmittelbaren heilsamen Folge haben«, wie das bayrische Kabinett nach Stuttgart schrieb.
Indes die angrenzenden Staaten hatten längst verlernt, auf einen süddeutschen Verein zu hoffen, und sie fürchteten Bayerns Führung. Am 15. Mai 1827 besprachen sich Berstett und du Thil nochmals in Heidelberg; gleich darauf sendeten die drei oberrheinischen Höfe ablehnende Antworten nach München. Berstett erwiderte schroff, Baden wolle nicht eine künstliche Industrie durch Schutzzölle großziehen. Der Nassauer Hof ließ in Stuttgart seine Verwunderung aussprechen, wie nur Württemberg ein solches »Merkantilsystem« annehmen und einem größeren Hofe sich unterwerfen könne. Hessen-Darmstadt aber, außerstande, sein drückendes und doch unergiebiges Mautwesen länger zu halten, verfeindet mit Kurhessen, voll Mißtrauens gegen die süddeutschen Nachbarn, richtete endlich bestimmte Anträge nach Berlin. Dergestalt haben jene Münchener Verhandlungen die entscheidende Wendung in der Geschichte deutscher Handelspolitik herbeigeführt — einen heilsamen Umschwung, den weder König Ludwig noch König Wilhelm beabsichtigte.
Minister du Thil, der jetzt die Finanzen und die auswärtigen Angelegenheiten seines Großherzogtums zugleich leitete, befand sich, wie er selbst erzählt, in verzweifelter Stimmung. Die Finanznot stieg, das Volk murrte. Die armen Leineweber auf dem Vogelsberge bei Alsfeld hatten durch die spanische Revolution ihren Markt verloren, das Hinterland um Biedenkopf fand, eingepreßt zwischen preußische Gebiete, keinen [pg 106] Absatz mehr für seine Teppiche und Wollwaren, der Mainzer Handelsstand konnte die Last der nahen preußischen Zollstellen kaum mehr ertragen. Im Landtage verlangten einzelne Stimmen, wie schon vor Jahren der Abgeordnete Perrot, eine Verständigung mit Preußen, andere befürworteten den süddeutschen Verein. Nur darin war man einig, daß der Staat in seiner vereinsamten Stellung nicht bleiben könne; die Kammer sprach die Erwartung aus, daß irgendein Zollverein zustande komme, und gab der Regierung freie Hand. Großen Eindruck machte auf den Minister eine von dem Fabrikanten Bayer im Vogelsberge eingereichte, vom Pfarrer Frank verfaßte gründliche Denkschrift, die überzeugend nachwies, daß der Warenzug des Landes überwiegend durch Preußen gehe. Darum lehnte du Thil die bayrische Einladung ab, obgleich Lerchenfeld zweimal von Frankfurt herüberkam und König Ludwig persönlich im Bade Brückenau den hessischen Staatsrat Hofmann zu überreden suchte. Immer klarer ward ihm die Erkenntnis, daß nur der Beitritt zum preußischen Zollsystem noch retten könne. Es war ein kühner Entschluß für den Minister eines Mittelstaates; denn im Grunde waren doch alle bisherigen süddeutschen Zollverhandlungen zur Abwehr gegen das preußische Zollwesen unternommen worden, und seit dem Köthener Streite stand an sämtlichen Höfen die Meinung fest, daß durch eine Verständigung mit Preußen die souveräne Würde schimpflich preisgegeben werde. Indes der mutige Minister war gewöhnt, die Stimmungen des Tages gering zu schätzen, er pflegte in den Landtagsverhandlungen seine selbständige Gesinnung oft sehr scharf und nicht ohne verletzende Ironie auszusprechen.
Aber würde Preußen auf den unerwarteten Antrag eingehen? Schon im Sommer 1825 hatte der Darmstädter Hof einmal in Berlin angefragt, ob Preußen geneigt sei, einen Zollverein mit beiden Hessen abzuschließen, und sofort eine zustimmende Antwort erhalten. Nachher war Preußen aber wieder zurückgetreten, weil Kurhessen sich dem Plane versagte, und damals in Berlin noch die Meinung herrschte, die Erweiterung des Zollsystems dürfe nur »von Grenze zu Grenze«, von dem näheren Nachbarn zu dem entfernteren vorschreiten. Aus dieser Meinung erklärte es sich auch, daß ein halbes Jahr darauf eine zweite, sehr unbestimmt gehaltene [pg 107] Anfrage aus Darmstadt dahin beantwortet wurde: Verhandlungen mit Darmstadt allein versprächen keinen Erfolg, weil das Großherzogtum nicht an Preußen angrenze.
Von den freieren und kühneren Ansichten, welche Motz sich inzwischen gebildet hatte, ahnte du Thil nichts. Er fühlte sich des Erfolges so wenig sicher, daß er nicht einmal seinen greisen Großherzog71 zu unterrichten wagte, sondern zunächst bei Bernstorff, mit dem er von den Wiener Konferenzen her befreundet war, vertraulich anfragte. Bernstorff aber kannte die Pläne des Finanzministers ebensowenig wie der Hesse, da er seit Jahren die Handelssachen an Eichhorn zu überlassen pflegte, und gab eine zaghafte Antwort: finanziellen Gewinn verspreche der Vertrag für Preußen nicht, und auf eine unbedingte Unterwerfung des Großherzogtums werde König Friedrich Wilhelm selbst nicht eingehen wollen. Erst als du Thil erwiderte, an eine Mediatisierung seines Großherzogs denke er auch keineswegs, sendete Bernstorff einen zweiten, ermutigenden Brief.
Nunmehr weihte der hessische Minister seinen Großherzog in das Geheimnis ein und stellte bei dem preußischen Gesandten v. Maltzan, der trotz wiederholter Andeutungen nicht aus seiner Zurückhaltung herausgegangen war, am 10. August 1827 die förmliche Anfrage, ob man in Berlin geneigt sei, einen geheimen Bevollmächtigten seines Hofes zu empfangen. Die Frage lautete noch immer unbestimmt genug, du Thil sprach nur von gegenseitigen Handelserleichterungen. Und selbst wenn der bedrängte Darmstädter Hof, wie zu erwarten stand, weiter ging und zu einem wirklichen Zollverein die Hand bot, welchen Vorteil gewährte ein solcher Bund den Finanzen und der Volkswirtschaft Preußens? Der kleine Staat besaß kein zusammenhängendes Gebiet, grenzte nur auf drei Stellen, auf wenige Meilen, an preußisches Land. Eben jetzt hoffte man in Berlin, die Verträge mit den Enklaven endlich zum Abschluß zu bringen; gelang dies, so war ein klarer Gewinn erreicht, die Länge der Zollgrenzen verminderte sich von 1073 auf 992 Meilen. Trat Darmstadt hinzu, so waren wieder 1108 Grenzmeilen zu bewachen, während das freie Marktgebiet sich nur um 152 Geviertmeilen [pg 108] vergrößerte. Eine sehr beträchtliche Vermehrung des Absatzes preußischer Fabrikware stand nicht in Aussicht, da Darmstadt nicht zu den stark konsumierenden Ländern zählte. Nur die bergisch-märkische Industrie durfte auf Erweiterung ihres Verkehrs rechnen. Im Mosellande dagegen fürchtete man die Konkurrenz der rheinhessischen Weine. Den Staatskassen drohte geradezu Verlust, wenn die Zolleinkünfte nach der Kopfzahl verteilt wurden. Das kleine Nachbarland verzehrte weit weniger Kolonialwaren, hatte bisher eine zehnmal niedrigere Zolleinnahme bezogen als Preußen: Darmstadt kaum 2½ Sgr., Preußen 24 Sgr. auf den Kopf der Bevölkerung.
Motz war gerade auf einer Dienstreise abwesend, als die Nachrichten aus Hessen einliefen. Maaßen aber, der ihn vertrat, durfte als schlichter Amtsverweser nur wiederholen, was schon zweimal vom Finanzministerium erklärt worden war: er wies die Verhandlungen über Handelserleichterungen nicht ab, hielt jedoch einen Zollverein für unmöglich, da Hessen allzu sehr zerstückelt sei und ein so weit abweichendes Steuersystem besitze. Im Auswärtigen Amte dachte man mutiger. Eichhorn fand es hochbedenklich, einen deutschen Bundesgenossen zurückzuweisen, der in ernster Verlegenheit sich an Preußen wende; er riet aus politischen Gründen dringend, auf du Thils Wünsche einzugehen; nur solle nicht bloß ein Handelsvertrag, sondern eine dauernde Verbindung geschlossen werden. Zugleich schrieb Otterstedt72 aus Karlsruhe: daß König Ludwig bei seinem Zollverein politische Nebenpläne verfolge, sei offenkundig; jetzt gelte es, Preußens Ansehen zu wahren. Er verbürgte sich für du Thils Ehrlichkeit, mahnte aber, das strengste Geheimnis bei den Verhandlungen zu bewahren, damit nicht Österreich und Bayern vereint in Darmstadt entgegenarbeiteten. Unterdessen war Motz heimgekehrt, und sofort trat er mit den Plänen heraus, die ihm während der letzten Jahre aufgestiegen waren. Der kühne Mann erklärte sich bereit, jetzt den unvorteilhaften Vertrag mit Darmstadt zu schließen, weil er hoffte, daß dies Beispiel die mitteldeutschen Nachbarn nachziehen werde; auf die niederdeutschen Staaten war ja doch nicht zu rechnen. Es ist sehr wichtig, schrieb er dem Minister des Auswärtigen, beide [pg 109] Hessen und alle sächsischen Regierungen, auch das Königreich, in unser Steuersystem aufzunehmen. »Ich bin auch nicht besorgt, daß diese einen anderen Steuerverband wählen werden, weil ihr Finanzinteresse nur in einer Verbindung mit uns bedeutend gewinnen und sie drückender Finanzsorgen entheben wird. Ich hoffe und wünsche, daß Hessen-Darmstadt, dessen Finanzverlegenheit bekannt ist und welches hier die richtige Medizin findet, damit den Anfang machen, und die anderen genannten Regierungen dann bald nachfolgen werden.«
Während also die Berliner Behörden unter sich berieten, setzten Bayern und Württemberg alle Hebel ein, um den Kurfürsten von Hessen für ihren werdenden Verein zu gewinnen. Drangen sie durch, so schien die Verbindung Darmstadts mit Preußen kaum rätlich. Daher sendete du Thil den Prinzen August Wittgenstein nach Kassel, angeblich, wie er Maltzan sagte, um den Kurfürsten zu warnen vielleicht auch, um für alle Fälle gedeckt zu bleiben. Am Kasseler Hofe überwog der Widerwille gegen den konstitutionellen Süden und die Furcht vor jeder Schmälerung der Souveränität; Bayerns Bemühungen scheiterten.
Nun erst war das Feld frei. Der König erlaubte den Beginn der Verhandlungen und am 6. Januar 1828 erschien Staatsrat Hofmann in Berlin, derselbe, der einst bei der Begründung der hessischen Verfassung so wirksam mitgeholfen hatte, ein sachkundiger Geschäftsmann, von starkem Ehrgeiz, keineswegs unempfindlich für die Vorteile, welche beim Abschluß wichtiger Verträge dem Unterhändler zuzufallen pflegen. Der gewandte Mann hatte verstanden, zugleich mit den Liberalen ein gutes Einvernehmen zu unterhalten und sich im Vertrauen seines Fürsten zu behaupten; mit Wangenheim in Freundschaft zu leben, ohne den Großmächten verdächtig zu werden. Die handelspolitische Verständigung mit Preußen war ihm seit Jahren ein geläufiger Gedanke. In der diplomatischen Welt stritt man sich, ob Hofmann in Privatangelegenheiten eines hessischen Prinzen reise, oder den Verkauf der Kreuznacher Saline in Berlin vermitteln solle. So durch die Hintertür, wie der Dieb in der Nacht, ist diese folgenreiche Entscheidung in unsere Geschichte eingetreten. Das Geheimnis war nur zu nötig. In Darmstadt [pg 110] wünschten zwar Minister Grolman73 und Prinz Emil aufrichtig die Verständigung mit Preußen; doch die österreichische Partei arbeitete in der Stille, ein voreiliges Wort konnte alles verderben.
Der hessische Bevollmächtigte beantragte nur die gegenseitige Herabsetzung einer langen Reihe von Zöllen auf ein Zehntel der bisherigen Sätze; als unerläßliche Bedingung stellte er den Kernsatz jenes Heidelberger Protokolls auf: selbständige Zollverwaltung für Darmstadt. Alsbald trat ihm Motz entgegen mit dem Bedenken: Zollerleichterungen seien unfruchtbar, weitläufig, gefährlich; Preußen müsse die vollständige Annahme seines Zollgesetzes verlangen. Unter solchen Umständen mußten die Verhandlungen entweder scheitern oder zu einem Kompromisse führen: zur Bildung eines Zollvereins auf Grund des preußischen Zollgesetzes, aber mit selbständiger Zollverwaltung für beide Teile. Überraschend schnell, in wenigen Tagen wurde die Lösung gefunden, wonach die süddeutschen Kabinette in jahrelangen Verhandlungen getrachtet hatten. Am 11. Januar 1828 fand die erste förmliche Konferenz im Finanzministerium statt, und hier wurde bereits von allen Seiten anerkannt, daß nur eine vollständige Vereinigung möglich sei: Darmstadt trat in das preußische Zollsystem ein; Preußen, längst bereit »über Formalitäten leicht hinwegzugehen«, gewährte dem Verbündeten gleiches Stimmrecht bei Abänderungen der Zollgesetze und eine selbständige Zollverwaltung, die aber streng nach preußischem Muster eingerichtet werden sollte. Mit diesem Entschlusse war alles Wesentliche entschieden. Die nächste Konferenz vom 17. Januar behandelte nur noch Detailfragen. Am 24. Januar berichtete Eichhorn dem Könige: der Vertrag verspreche allein für Hessen finanzielle und volkswirtschaftliche Vorteile, für Preußen dagegen einen großen politischen Gewinn, da die kleinen Staaten auf diesem Wege dauernd an uns gefesselt werden. Am 3. Februar genehmigte der König den Abschluß der Verhandlungen; in seiner streng rechtlichen Gesinnung fügte er ausdrücklich die Bedingung hinzu: »die deutschen Nachbarstaaten, besonders [pg 111] Baden, dürfen dadurch nicht in ihrem Interesse getränkt werden.«
So kam denn am 14. Februar 1828 jener denkwürdige Vertrag zustande, der in Wahrheit die Verfassung des deutschen Zollvereins feststellte. Er verhält sich zu den späteren Zollvereinsverträgen genau so, wie die Verfassung des Norddeutschen Bundes zu der heutigen Reichsverfassung sich verhält. Durch den Zutritt anderer, größerer Mittelstaaten haben sich späterhin die zentrifugalen Kräfte des Zollvereins erheblich verstärkt; einzelne Bestimmungen des Vertrags wurden im föderalistischen Sinne abgeschwächt; doch die Fundamente des preußisch-hessischen Vertrags blieben unerschüttert. Darmstadt nahm die preußischen Zölle an und gab überdies die vertrauliche Zusage, daß auch die wichtigsten preußischen Konsumtionssteuern eingeführt werden sollten. Der Kreis Wetzlar tritt unter die darmstädtischen, das hessische Hinterland unter die westfälischen Zollbehörden. Preußen ernennt einen Rat bei der Zolldirektion in Darmstadt, Hessen desgleichen bei der Steuerdirektion zu Köln. Beide Staaten beaufsichtigen wechselseitig ihre Hauptzollämter durch Kontrolleure; eine Konferenz von Bevollmächtigten verteilt alljährlich die gemeinschaftlichen Einnahmen nach Verhältnis der Kopfzahl. Dergestalt war die Rechtsgleichheit der Verbündeten, die souveräne Würde des darmstädtischen Reiches, mit peinlicher Sorgfalt gewahrt. Die milde Kontrolle änderte wenig an der Selbständigkeit der hessischen Zollverwaltung; der Verein beruhte im Grunde nur auf gegenseitigem Vertrauen. Nach den bisherigen Leistungen kleinstaatlicher Zollverwaltung konnten die preußischen Geschäftsmänner einen solchen Vertrag nicht ohne ernste Bedenken unterschreiben. Die hessische Regierung aber hat das gute Zutrauen gerechtfertigt, sie ließ das neue Zollwesen unter der einsichtigen Leitung des Finanzrats Biersack fest und redlich durchführen. Diese deutsche Treue, diese ehrenhafte Erfüllung der eingegangenen Verbindlichkeiten bildet überhaupt das beste Verdienst, das die Mittelstaaten um den Zollverein sich erworben haben; der Abschluß der Verträge selbst war nicht eine freie patriotische Tat der kleinen Höfe, sondern ein Ergebnis der bitteren Not.
Ebenso streng wurde die Gleichberechtigung der Verbündeten [pg 112] in Sachen der Zollgesetzgebung aufrecht erhalten. Der Artikel 4 lautete ursprünglich: Abänderungen der Zollgesetze sollen nur in »gegenseitigem Einvernehmen« erfolgen, »und es sollen alle diese Veränderungen im Großherzogtum Hessen im Namen S. K. H. des Großherzogs verkündigt werden.« Diese Fassung erregte in Darmstadt schmerzliches Aufsehen. Prinz Emil selbst eilte zu Maltzan, stellte ihm vor: »der Großherzog weiß, daß man in Berlin selbst nicht wünscht, daß die großherzogliche Regierung in den Augen des übrigen Deutschlands erniedrigt werde.« Eichhorn, der längst verlernt hatte, sich über die Weltanschauung deutscher Kleinfürsten zu verwundern, ging auf die Bitte ein; er strich jene erniedrigenden Worte, ersetzte sie nachträglich durch die Wendung: »und sollen von jeder der beiden Regierungen ihrerseits verkündigt werden«. Damit war das europäische Gleichgewicht zwischen Preußen und Darmstadt wieder hergestellt.
So bereitwillig die preußischen Staatsmänner in diesen lächerlichen Formfragen nachgaben, ebenso schwer fiel ihnen der Entschluß, den Inhalt des Artikels 4 selbst anzunehmen. Wann hatte denn jemals eine Großmacht ihre Zollgesetzgebung dem guten Willen eines Staates vom dritten Range unterworfen? Es war vorauszusehen, daß dieser darmstädtische Vertrag allen späteren Zollvereinsverträgen ebenso zum Vorbilde dienen würde, wie der Sondershausener Vertrag das Muster gewesen war für alle nachfolgenden Enklavenverträge. In jenem Augenblick freilich standen die kleinen Kabinette den Ideen des Freihandels sogar noch näher als Preußen. Doch konnte dem Scharfblick Motzs und Maaßens nicht entgehen, daß diese Parteistellung in einer nahen Zukunft sich gänzlich verschieben würde, sobald in Oberdeutschland eine junge Großindustrie entstand. Der preußischen Zollgesetzgebung drohte vielleicht Stillstand und Verkümmerung, wenn die Mittelstaaten ein Veto erhielten.
Alle diese staatswirtschaftlichen Bedenken mußten verstummen vor den glänzenden Aussichten, welche sich der nationalen Politik Preußens eröffneten. Darmstadt — so berichtete Eichhorn dem Könige — empfängt durch den Vertrag erst die Möglichkeit eines haltbaren Zollsystems. Preußen gewinnt die wichtige Position in Mainz, verhindert [pg 113] den süddeutschen Sonderbund, in den Norden hinein vorzudringen, und darf mit Sicherheit darauf rechnen, daß Hessens Beispiel Nachfolge finden, eine große handelspolitische Vereinigung entstehen wird. Nochmals wird sodann dem König versichert, daß jede Feindseligkeit gegen deutsche Staaten vermieden werden solle. »Die Vereinigung ist von Ew. Maj. Behörden weder gesucht, noch weniger durch verführerische Lockungen veranlaßt worden; man hat nur Anträge und Vorschläge, welche von der großherzoglichen Regierung ausgingen, entgegengenommen.«
Der neue Zollverein sollte bis zum 31. Dezember 1834 dauern und dann, sofern keine Kündigung erfolge, auf weitere sechs Jahre verlängert werden. Das Recht der Kündigung blieb … die einzige Waffe, um Preußen sicherzustellen gegen den Mißbrauch des gleichen Stimmrechts. Handelsverträge schloß Preußen allein — denn der Zusatz »unter Mitwirkung und Zustimmung Darmstadts« war praktisch wertlos. In allem übrigen bestand vollständige Gleichheit der Rechte.
Auch um diesen Vertrag hat sich ein zielloser Prioritätsstreit erhoben. Der partikularistische Neid will die Tatsache nicht zugeben, daß die Verfassung des Zollvereins in Berlin ersonnen wurde. Man behauptet, der preußisch-hessische Verein sei lediglich dem bayrisch-württembergischen Verein nachgebildet worden, welcher einige Wochen vorher, am 18. Januar 1828, zustande kam und ebenfalls das gleiche Stimmrecht, die selbständige Zollverwaltung der Bundesgenossen anerkannte. Ein Blick auf die Tages- und Jahreszahlen genügt, um dies Märchen zu widerlegen. Der Fundamentalsatz der Zollvereinsverfassung, die Parität und Unabhängigkeit der Bundesgenossen, wurde in der Konferenz vom 11. Januar zwischen Preußen und Darmstadt vereinbart, acht Tage bevor der bayrisch-württembergische Vertrag abgeschlossen wurde — in einem Augenblick, da man zu Berlin den Gang der Münchener Verhandlungen noch nicht näher kannte. Die neueste aus München eingelaufene Nachricht sagte nur: noch bleibe zweifelhaft, ob der süddeutsche Verein gemeinsame oder getrennte Zollverwaltung haben solle, das letztere sei allerdings wahrscheinlicher. Der Gedanke lag eben in der Luft, er ergab sich mit Notwendigkeit aus den fruchtlosen Zollverhandlungen der jüngsten Jahre, er wurde [pg 114] von den norddeutschen und von den süddeutschen Zollverbündeten gleichzeitig angenommen, ohne daß sie voneinander wußten. Im Grunde ist der ganze Streit müßig. Der Entschluß, von dem die Zukunft deutscher Handelspolitik abhing, konnte nur in Berlin gefaßt werden. Ob Bayern und Württemberg einander die Parität zugestanden, war gleichgültig. Doch ob die norddeutsche Großmacht die unerhörte Selbstverleugnung finden würde, mit einem Staate dritten Ranges sich bescheiden auf eine Linie zu stellen — an dieser Frage hing alles. Sobald Preußen diesen Entschluß faßte, war dem Souveränitätsdünkel der kleinen Höfe der letzte Vorwand genommen und die Bahn gebrochen für Deutschlands Handelseinheit. Dem gewissenhaften Notizensammler soll unvergessen bleiben, daß Bayern und Württemberg den »ersten« Zollverein in Deutschland gründeten, ihre Verhandlungen etwas früher beendigten als Preußen und Darmstadt. Für den Historiker hat die Tatsache geringen Wert. Denn der süddeutsche Verein erwies sich als ein verfehlter Versuch und ging bald zugrunde; der preußisch-hessische Verein bewährte sich und wuchs. Aus diesem, nicht aus jenem, ist der große deutsche Zollverein hervorgegangen.
Eichhorn fühlte, daß die Dinge endlich in Fluß kamen. Voll froher Zuversicht richtete er im März an die Gesandtschaften in Deutschland eine eingehende Instruktion. Er schildert darin den Gang der preußischen Handelspolitik, das System des bewußten, berechneten Abwartens, das so gute Früchte getragen habe. Er zeigte sodann, wie mit dem Darmstädter Vertrage die entscheidende Wendung eingetreten sei: diese Verhandlungen waren besonders darum nützlich, weil sie »die Möglichkeit eines gemeinschaftlichen Zollsystems für Staaten, die geographisch unabhängig sind, erwiesen. An die Stelle eines dunklen Gefühls, welches früherhin eine Vereinigung in einer unbestimmten Richtung suchte, ist eine klare Erkenntnis getreten.« Man sieht heute in der Aufnahme der staatswirtschaftlichen Grundsätze eines anderen Staates nicht mehr eine Verleugnung der Souveranität. Nichtsdestoweniger soll die Diplomatie nach wie vor eine ruhig zuwartende Haltung behaupten. Ebenso zuversichtlich schrieb Eichhorn an Motz: Unsere Handelspolitik hat sich bewährt und wird noch größere Erfolge erringen, [pg 115] wenn wir die Anfragen anderer Staaten geduldig abwarten. Der bayrisch-württembergische Verein ist lose und wird noch lockerer werden, wenn er wider Erwarten neue Bundesgenossen finden sollte.
In der Tat erwies sich in Hessen wie einst in den Enklaven sehr rasch der Segen der preußischen Gesetze. Im ersten Augenblick war die Stimmung im Lande noch geteilt. Das Starkenburger Land sah den gewohnten kleinen Verkehr mit dem Frankfurter Markte mannigfach belästigt, und in der Kammer klagten nach deutschem Brauche einzelne Patrioten beweglich über den »Löwenvertrag«, welchen Preußens Schlauheit der hessischen Unschuld auferlegte. Der Handelsstand in Mainz und Offenbach dagegen sprach der Regierung seinen Dank aus, und bald regte sich überall im Lande ein neues Leben. Vor kurzem noch hatte man in Berlin geplant, eine Messe in Köln zu errichten, die dem Mainzer und Frankfurter Verkehr das Gegengewicht halten sollte: jetzt entstand in Offenbach ein schwunghafter Meßverkehr, der namentlich im Ledergeschäfte das reiche Frankfurt zu überflügeln begann. Die beiden Verbündeten bauten eine große Straße von Paderborn über Biedenkopf nach Gießen und weiter südwärts, so daß ein fast zollfreier Straßenzug den Neckar mit der Ostsee verband. Nach zwei Jahren war die handelspolitische Opposition in den Kammern fast völlig verstummt. Graf Lehrbach, der den Minister wegen Landesverrats verklagen wollte, stand vereinsamt; der Abgeordnete Schenk aber dankte der Regierung und schloß gemütlich: Das einzige Mittel gegen den Wunsch nach politischer Einheit ist die Zolleinigung! Mit Selbstgefühl verwies Hofmann auf die günstigen Rechnungsabschlüsse und sagte »mit voller Zuversicht dieser auf gegenseitige Vorteile gegründeten Verbündung Bestand und Dauer voraus: so werden Sie hoffentlich bald dasjenige verwirklicht sehen, was noch vor wenigen Jahren zwar Gegenstand Ihrer angelegentlichsten Wünsche war, aber nach so vielen vergeblichen Verhandlungen kaum in dem Reiche der Möglichkeit zu liegen schien.« Auch in Preußen hielten die Klagen der Geschäftswelt, die sich anfangs laut genug erhoben, nicht lange vor. Unterdessen hatte der König sein gesamtes thüringisches Gebiet in die Zollinie aufgenommen; die Lage der ernestinischen Fürstentümer ward fast unerträglich. [pg 116] Es schien undenkbar, daß Kurhessen und Thüringen, also von allen Seiten umklammert, ihren törichten Widerstand fortsetzen sollten.
Und doch sollte das Undenkbare geschehen. Auf das erste Gerücht hin versuchten allerdings einige Kleinstaaten, sich den Verbündeten zu nähern — lediglich in der Absicht, den Inhalt des Vertrages, der noch streng geheim gehalten wurde, zu erfahren. Präsident Krafft in Meiningen schrieb an Hofmann, bat um Aufklärung, deutete gewichtig an, daß Meiningen vielleicht dem hessischen Beispiel folgen werde, wenn man nur die Machtstellung dieses Reiches nach Gebühr würdige: »Die Lage des Landes Meiningen läßt seinen Wert den geographischen Umfang desselben überschreiten, indem mehrere der frequentesten Landstraßen die Handelsplätze an den Küsten der Nordsee mit einem bedeutenden Teile des südlichen Deutschlands, der Schweiz und Italiens verbinden, und Preußen, Bayern und Kurhessen zu seinen wichtigeren Grenznachbarn gehören.« Die Meininger Welthandelsstraßen boten unleugbar auf der Landkarte einen sehr stattlichen Anblick; gebaut waren sie freilich noch nicht, auch besaß das Ländchen durchaus nicht die Mittel, sie jemals zu bauen. Motz, dem die Naturgeschichte des deutschen Kleinstaats einen unerschöpflichen Quell der Ergötzung bot, sendete das Meininger Schreiben an Hofmann zurück und versicherte, die geographische Bedeutung des Herzogtums sei ihm ganz neu; dann schloß er wehmütig: »es ist betrübt, wenn solche überspannte Diener dazu beitragen, daß dem Souveränitätsdünkel ihrer Fürsten auch noch ein Straßendünkel hinzugefügt wird.« Der Vorfall blieb dem klugen Manne unvergessen; der Meininger Straßendünkel sollte zur rechten Stunde noch eine Rolle spielen in der deutschen Geschichte. Noch durchsichtiger war ein diplomatisches Kunststück der freien Stadt Frankfurt. Der alte Rothschild erschien bei Otterstedt, um verbindlich anzufragen, ob nicht auch Frankfurt mit Preußen einen ähnlichen Vertrag schließen könne. Nun wußte alle Welt, daß die Handelspolitik dieser Republik lediglich in einer systematischen Pflege des Schmuggels bestand. Der Fühler hatte also nur den Zweck, den Senat über die Bedingungen des preußisch-hessischen Vertrages zu unterrichten, damit die Frankfurter Schmuggler sich darauf einrichten [pg 117] konnten. Selbstverständlich wurde der diplomatische Börsenfürst mit einigen allgemeinen Redensarten heimgeschickt.
Unter den deutschen Höfen war nur einer, der den preußisch-hessischen Verein mit Freude begrüßte: der badische Hof. Allein durch Preußens Beistand konnte Großherzog Ludwig hoffen, seine Pfalz gegen Bayern zu behaupten; daher schrieb er an Blittersdorff: »ich freue mich, einen Einfluß vermehrt zu sehen, dem ich, besonders im gegenwärtigen Augenblick, soviel verdanke«. Zugleich hoffte man in Karlsruhe die Absichten der badischen Handelspolitik nunmehr in Süddeutschland durchzusetzen, denn seit Darmstadt zu Preußen übergetreten, bildete Baden allein die für Bayern unentbehrliche Verbindung zwischen Franken und der Pfalz.
Alle anderen Höfe vernahmen die erste unsichere Kunde aus Berlin mit unbeschreiblichem Schrecken; die Nachricht fiel wie eine Bombe in die diplomatische Welt. Selbst Blittersdorff, der doch die entgegengesetzten Ansichten seines Souveräns kannte, enthielt sich nicht zu jammern über »dies Unglück, diesen neuen Beweis preußischer Selbstsucht«: es sei ja klar, Preußen wolle nur den hessischen Markt für seine Fabrikate ausbeuten, und glaube selber nicht an die Dauer der Verbindung. Was der Heißsporn also herauspolterte, war nur der Widerhall der erregten Reden der österreichischen Partei am Bundestage. Münch74 und Langenau75 versicherten entrüstet: jetzt endlich sei Preußens maßlose Herrschsucht entlarvt. Vor kurzem noch hatten sie auf den preußischen Hochmut gescholten, der jede Verständigung mit den Nachbarn abweise. Am lautesten lärmte Marschall über diesen »Unterwerfungsvertrag«, den er ebensowenig gelesen hatte wie die anderen aus der österreichischen Sippe. Er traf sogleich Anstalten zur Begünstigung des Schmuggels in Bieberich und den anderen Rheinhäfen. Der Gedanke, daß Nassau jetzt wie Anhalt zur preußischen Enklave werden solle, war seinem Nationalstolze schrecklich. Dann ließ er durch die [pg 118] getreue Oberpostamtszeitung die Lüge verbreiten, Preußen habe auch Nassau zum Beitritt eingeladen, sei aber stolz zurückgewiesen worden. Der untertänige Landtag stimmte der Ansicht des Ministers zu, als dieser erklärte: eine Erhöhung der Staatseinnahmen sei überflüssig; für Nassaus europäische Politik wie für seine Volkswirtschaft könne der Anschluß an Preußen nur gefährlich werden.
Daß Münch und Langenau nicht ohne geheime Weisungen handelten, ließ sich leicht erraten. Zum Überfluß sprach Fürst Metternich selbst seine Bestürzung in sauersüßen Worten aus. Der preußische Gesandte teilte dem österreichischen Staatskanzler eine Denkschrift mit, die sich ausführlich über Preußens bisherige Handelspolitik verbreitete. Darauf erwiderte der Fürst: »Der Darmstädter Vertrag hat großes Aufsehen erregt, wie ja alles in Deutschland mißdeutet wird. Doch ist uns lieb, daß Preußen sich so offen ausspricht; mit der Denkschrift bin ich im wesentlichen einverstanden. Bayern hat uns kürzlich aufgefordert, den preußisch-hessischen Vertrag zu hintertreiben. Wir lehnten ab, da solche Verträge eine Konsequenz der Souveränität sind. Ich kann aber nicht verhehlen, daß, sobald dergleichen Verbindungen aufhören, bloß aus dem administrativen Gesichtspunkt betrachtet zu werden und ihnen eine politische Tendenz zugrunde gelegt wird, die Grundgesetze des Bundes ihnen entgegenstehen.« Darauf empfahl er dem preußischen Hofe abermals, wie einst auf dem Aachener Kongreß, die Vorzüge der k. k. Provinzialmauten: wenn man in Preußen Provinzialzölle einführte, so würde man der lästigen Zollverträge nicht bedürfen! Mit Entzücken vernahm Motz diese Orakelsprüche und schrieb an Eichhorn: »Von den Finanzansichten des Fürsten v. Metternich werden wir wohl keinen Gebrauch machen können. Dagegen wollen wir nicht bestreiten, daß es in vieler Beziehung für uns ohne Nachteil sein wird, wenn er für Österreich bei seinen erleuchteten Ansichten beharrt.« Zudem wußte Eichhorn, wie eifrig der k. k. Gesandte in Darmstadt der Ratifikation des Vertrages entgegengewirkt hatte; noch im Februar war Otterstedt von Karlsruhe hinübergeeilt, um dem österreichischen Einfluß die Wage zu halten.
Auch jenes deutsche Kabinett, das damals dem Berliner Hofe am nächsten stand, auch Hannover, überraschte durch [pg 119] auffällige Ungezogenheit. Der König wollte nicht, daß das befreundete Nachbarland aus dem neuen Verein Besorgnis schöpfe. Er befahl daher eine Ausnahme zu machen von der Regel, wonach Preußen sich aller handelspolitischen Anerbietungen enthalten sollte, und ließ in Hannover einige neue Straßenzüge und bedeutende Zollerleichterungen vorschlagen, da nach den Grundsätzen der hannoverschen Politik ein wirklicher Zollverein doch nicht zu erwarten stand. Aber diese Eröffnungen blieben unerwidert. Das war mehr als Verstimmung; das deutete auf feindselige Pläne, die im Dunkeln sich vorbereiteten.
Die öffentliche Meinung zeigte sich, wie immer in der Geschichte des Zollvereins, noch verblendeter als die Kabinette, und die Hofburg verstand, trotz ihres Hasses gegen den Liberalismus, den liberalen Unverstand vortrefflich auszubeuten. In Frankfurt arbeitete unter Münchs Augen eine k. k. Korrespondenzenfabrik: mit merkwürdiger Übereinstimmung erzählten der Nürnbergische Korrespondent, die Elberfelder Zeitung, das Frankfurter Journal von unseligen Darmstädter Industriellen, die Haus und Hof verließen, um den preußischen Zöllen zu entgehen. Die Augsburger Allgemeine Zeitung ließ sich aus Darmstadt schreiben: man muß heute einundzwanzigmal preußisch reden, ehe man einmal hessisch reden darf; das unglückliche Land trägt zweifache Lasten, die neuen Mauten und die alten, da ja für Wein und Tabak Ausgleichungsabgaben erhoben werden. Auch unabhängige Blätter, wie der Altonaer Merkur und die Neue Mainzer Zeitung, erzählten die Fabel vom Fuchs, der im Stalle zum Pferde sagte: tritt mich nicht, ich will dich auch nicht treten!
Die preußische Regierung konnte sich in den Künsten des literarischen Minenkriegs niemals mit Österreich messen; sie begnügte sich, den österreichischen Tendenzlügen lehrhafte Berichtigungen in der Staatszeitung entgegenzustellen; das unglückliche Blatt krankte aber an der Erbsünde aller offiziösen Blätter, der Trockenheit. Auf allgemeine Zustimmung konnte in diesem Lande der Kritik kein Schritt der Regierung rechnen. Nicht bloß unter den Industriellen zitterten viele vor der drohenden Vermehrung der Konkurrenz. Auch eine Schule innerhalb des Beamtentums, Schön mit seinen [pg 120] ostpreußischen Freunden, schalt auf diese Bummler in Berlin, die daheim nicht Ruhe fänden und auswärts unnütze Händel anzettelten.
Am gefährlichsten unter allen Kräften des Widerstandes erschien vorderhand die feindselige Haltung des Münchener Hofes. Im Oktober 1827 waren in München die Verhandlungen zwischen den beiden süddeutschen Königskronen wieder aufgenommen worden. Schmitz-Grollenburg76 und Armansperg77 betrieben beide das Geschäft mit feurigem Eifer. So kam am 18. Januar 1828 jener erste deutsche Zollverein zustande. Es erfüllte sich, was in Berlin so oft vorausgesagt worden: Tarif und Verwaltungsordnung des neuen Vereins kamen den Grundsätzen der preußischen Zollgesetzgebung sehr nahe, weil sich den süddeutschen Kronen dieselben Fragen aufdrängten, welche Preußen schon durch das Gesetz von 1818 gelöst hatte. Die Zölle auf Fabrikwaren standen niedriger als in Preußen, die auf Kolonialwaren etwas höher: vom Kaffee erhob Preußen 6 Tlr. 20 Sgr. für den Zentner, Bayern-Württemberg 15 Gulden für den um etwa 9 Prozent schwereren bayrischen Zentner. Im übrigen fast dieselben Regeln wie im preußisch-hessischen Verein: getrennte Zollverwaltung unter gegenseitiger Kontrolle, Verteilung der Einkünfte nach der Kopfzahl, Grenzzölle und Packhöfe.
Indes die verständige Verfassung konnte den Grundschaden dieses Bundes nicht heilen: er war zu klein und darum, wie Eichhorn voraussagte, nicht lebensfähig. Wohl stiegen die Zolleinnahmen Württembergs im ersten Jahre um 220000 Gulden; der kleinere Bundesgenosse zog selbstverständlich den größeren Vorteil aus der Erweiterung des Marktgebiets. Doch betrugen die Zolleinnahmen nur 9½ Sgr. auf den Kopf der Bevölkerung, während Preußen das Zweiundeinhalbfache, 24 Sgr., einnahm. Die Kosten der Zollverwaltung verschlangen mindestens 44 Prozent der Einkünfte; in Bayern war der Rohertrag für das Rechnungsjahr 1828–1829: 2,842 Millionen Gulden, der Reinertrag nur [pg 121] 1,582 Millionen Gulden. Die geringen Zölle genügten nicht, die heimische Industrie wirksam zu schützen, und doch blieb jede Erhöhung unmöglich, wenn nicht der gesamte Reingewinn den Staatskassen verloren gehen sollte. Am kläglichsten befand sich die bayrische Pfalz. Die entlegene Provinz sollte vor der Hand außerhalb der Mautlinien bleiben und ihre eigenen Erzeugnisse zollfrei in das Vereinsland einführen, was denn sofort französische, badische, rheinpreußische, hessische Fabrikanten zu großartigem Schmuggel veranlaßte. Gewichtige Stimmen in der Pfalz forderten laut den Anschluß an Preußen; einer der ersten Industriellen der Provinz, Geh Rat. Camuzzi, schrieb in diesem Sinne an die Allgemeine Zeitung, ward aber von der Firma Cotta abgewiesen.
König Ludwig wollte die Gebrechen des Vereins lange nicht bemerken. Wie war er stolz auf seiner Hände Werk, den ersten deutschen Zollverein; wie schwelgte er in erhabenen Träumen von historischer Unsterblichkeit. Er wollte fortleben im Munde später Geschlechter als der Vollender der fossa Carolina, jenes Kanales zwischen der Nordsee und dem Schwarzen Meer, den Karl der Große ersonnen, doch nicht ausgeführt hatte, und beschäftigte sich auch mit großen Eisenbahnplänen, seit Franz Baader78 im Nymphenburger Park einen Dampfwagen fahren ließ. »Jetzt sind die Zollsysteme der beiden Großmächte nicht mehr furchtbar« — hieß es bei Hofe. Schon war ein Unterhändler nach Zürich gesendet, um die Schweiz zum Eintritt in den süddeutschen Verein oder doch zu einem Handelsvertrage zu bewegen. Niemals hatte Bayerns Gestirn glänzender geleuchtet als im Januar 1828; niemals zuvor hatte der König eine so stolze Sprache gegen den Bundestag geführt. »Die antisozialen, antiföderalistischen Tendenzen der bayrischen Politik« traten, wie Blittersdorff klagte, dem Präsidialgesandten schroff entgegen. Sofort nach der Unterzeichnung des süddeutschen Zollvertrages [pg 122] ging Freiherr v. Zu Rhein nach Darmstadt, um das Großherzogtum zum Beitritt einzuladen und ihm die Parität, welche ihm die beiden Königreiche bisher verweigert hatten, bedingungslos zuzugestehen. War Hessen gewonnen, so mußte das widerhaarige Baden auf Gnade oder Ungnade sich ergeben.
Mitten in diese holden Träume fiel niederschmetternd die Kunde von dem preußisch-hessischen Vertrag. Durch diesen Verein, das sprang in die Augen, verlor der süddeutsche Verein sofort Sinn und Bedeutung. König Ludwig sah seine teuersten Hoffnungen zerstört, blieb mehrere Wochen hindurch völlig fassungslos. »Nunmehr hab' ich alle Schritte getan, um meine armen Untertanen zu retten!« sagte er verzweifelnd zu Schmitz-Grollenburg. In groben Schimpfworten entlud sich sein Groll; er schalt laut auf den Verräter Hofmann, erzählte an offener Tafel, Preußen habe den Prinzen Emil von Hessen mit 400000 Gulden bestochen. In seinem Zorne vergaß er auch wieder seinen »teutschen« Stolz. Solange diese kleinen Höfe noch europäische Politik treiben durften, waren auch patriotische Fürsten nicht vor argen Verirrungen sicher. Wie Ludwig einst als Kronprinz, trotz seines Abscheus gegen Napoleon, mehrmals untertänige Briefe an den Schöpfer der bayrischen Königskrone gerichtet und sogar die Hoffnung ausgesprochen hatte, sein Sohn Max werde dereinst dem König von Rom79 seine Anhänglichkeit widmen, so hatte er neuerdings um Sponheims willen die Hilfe Rußlands angerufen und wendete sich jetzt wieder an das gehaßte Frankreich. Den Winter über hatte der Herzog von Dalberg80 in München sein Wesen getrieben; nun fanden seine Einflüsterungen Gehör. König Ludwig warnte den französischen Hof vor dem Ehrgeiz Preußens, das bereits in Süddeutschland sich festzusetzen suche. Im selben Sinne bearbeitete Lerchenfeld zu Frankfurt den alten Reinhard81. Alsbald befahl [pg 123] Minister La Ferronays dem Geschäftsträger in München rührige Wachsamkeit gegen die von Preußen her drohende Gefahr; er stellte zugleich einige Handelserleichterungen in Aussicht zugunsten der troisième Allemagne.82
Da König Ludwig schon nach wenigen Monaten von seinen leidenschaftlichen Verirrungen zurückkam, so wurden diese häßlichen Zettelungen mit dem Auslande nachher ganz in Abrede gestellt. Der Hergang ist gleichwohl verbürgt durch die übereinstimmenden Zeugnisse von Freund und Feind. Nicht allein der preußische Gesandte Küster berichtete darüber ausführlich seinem Hofe; der badische Gesandte Fahnenberg meldete ganz dasselbe nach Karlsruhe. Der österreichische Gesandte Graf Spiegel warf dem bayrischen Minister des Auswärtigen die Anklage ins Gesicht, daß er Frankreich in die deutsche Handelspolitik hineinzuziehen suche. Über Lerchenfelds Verhalten berichtete Blittersdorff, der ja selber sehr geneigt war, jedes Mittel zu gebrauchen zur Vernichtung des preußisch-hessischen Vereins. Die Schwenkung der bayrischen Politik nach Frankreich hinüber war bald eine der gesamten diplomatischen Welt bekannte Tatsache.
König Ludwig überließ sich eine Zeitlang blindlings dem stürmischen Unwillen der verletzten Eitelkeit. Sein Kabinettsrat Grandauer übte schlechten Einfluß; auch Freiherr v. d. Tann träumte bayrische Großmachtsträume. Nur der alte welterfahrene Minister Zentner sah die Dinge ruhiger an. Selbst König Wilhelm von Württemberg blieb nüchtern und gleichmütig. Sein Geschäftsverstand war doch stärker als sein Groll gegen Preußen; auch mochten ihm die bitteren Erfahrungen der Tage von Verona noch unvergessen sein. In einem Gespräche mit du Thil verbarg er zwar seine Enttäuschung nicht, gestand aber zu: »früher oder später werden wir noch gezwungen sein, Euerem Beispiele zu folgen«. Im selben Sinne erklärte sein Minister Beroldingen dem preußischen Gesandten, »daß Württemberg in die deutsch-patriotischen Gesinnungen der preußischen Regierung niemals auch nur den geringsten Zweifel gesetzt hat und die bestehenden besonderen Vereine zugleich als Mittel betrachtet, zu dereinstiger [pg 124] Erreichung des gemeinschaftlichen Zweckes in einer allgemeinen Ausdehnung den Weg zu bahnen.«
Wie der preußische Staat alles, was er für die Macht und Einheit unseres Vaterlandes tat, erkämpfen mußte gegen den Widerstand des Auslandes, so ward auch der preußisch-hessische Bund sofort von den Ränken der fremden Mächte umsponnen. Im Verein mit Frankreich versuchte Holland Unfrieden zu säen zwischen Süd und Nord. Der Minister Verstolck van Soelen machte den württembergischen Geschäftsträger aufmerksam auf die Gefahren, welche der deutschen Handelsfreiheit und der Unabhängigkeit der Kleinstaaten drohten. Der Württemberger, ein verständiger Mann, der seinem preußischen Kollegen, dem Grafen Truchseß-Waldburg, alles mitteilte, antwortete treffend: die Zölle der fremden Mächte, und nicht zuletzt Hollands, zwingen uns Deutsche, uns zu einigen und neue Handelswege zu suchen — worauf Verstolck heilig versicherte: die Herabsetzung der niederländischen Zölle stehe nahe bevor; für jetzt aber dürfe man nur an den Widerstand gegen den gemeinsamen Feind, gegen Preußen denken. Eichhorn, der die holländischen Kaufherren aus den endlosen Rheinschiffahrtsverhandlungen genugsam kannte, schrieb an den Rand der Depesche: Die Niederlande verfolgen gar keinen positiven Zweck, sie wollen nur die weitere Einigung Deutschlands in Zollsachen verhindern. In der Tat lud der niederländische Geschäftsträger Mollerus den Münchener Hof ein, für den süddeutschen Verein einen Handelsvertrag mit Holland abzuschließen, und beteuerte zugleich die gute Absicht seines Hofes, sich mit den oberländischen Staaten über Preußen hinweg wegen der Rheinzölle zu verständigen. Bestimmte, greifbare Vorschläge übergab er nicht; die Absicht war lediglich, Bayern und Württemberg von Preußen fernzuhalten. Auch England bezeigte seine Unzufriedenheit. Der Präsident des Handelsamts, Charles Grant, beschwerte sich bei dem preußischen Gesandten Bülow heftig über die hohen Zölle des preußisch-hessischen Vereins und erhielt die kühle Antwort: der Verein habe an den preußischen Zöllen gar nichts geändert; doch wisse jedermann, daß Preußen freieren handelspolitischen Grundsätzen huldige als England.
Mit diesen Ränken des Auslandes, die bald einen sehr bedrohlichen Charakter annahmen, verkettete sich der unselige [pg 125] Sponheimer Handel. König Ludwig war, da er sich allerdings auf Österreichs unerfüllte Versprechungen berufen konnte, von seinem Rechte auf den Heimfall der Pfalz tief überzeugt und fühlte sich schwer beleidigt, als Preußen seinen Ansprüchen entgegentrat. Der preußische Gesandte merkte dem König bald an, daß er etwas auf dem Herzen habe. Da trafen sich die beiden eines Tages auf der Straße. Der König trat auf den Diplomaten zu, ging eine Strecke Weges mit ihm und schüttete seinen Zorn aus: »Ich kann nicht genug sagen, wie tief es mich geschmerzt, daß gerade Preußen in der badischen Sache sich voran und mir gegenübergestellt hat. Anders kann ich das Memoire nicht bezeichnen, womit Preußen, ohne mich zu hören, die Initiative gegen mich bei den übrigen Höfen ergriffen hat. Bernstorff denkt immer noch an das alte Bayern; es ist aber heute ein neues Bayern, ein neuer König. Preußen hat nie einen größeren Enthusiasten gehabt als mich. Um so mehr hat mich's gekränkt, daß man sich aus meiner Freundschaft gar nichts macht. Will man mich denn nur zum Gegner haben?« Der König ereiferte sich, erhob die Stimme, die Vorübergehenden blieben stehen und horchten auf. Der Gesandte konnte sich dem schwerhörigen Fürsten nicht verständlich machen, geriet in peinliche Verlegenheit, gab seinem Hofe den Rat, man möge den Erzürnten beschwichtigen. Augenblicklich ließ sich wenig tun, da König Friedrich Wilhelm das gute Recht Badens schlechterdings nicht preisgeben wollte. Für die Zukunft war noch nichts verloren. Der heißblütige Wittelsbacher blieb auch als Gegner offen und ehrlich; sobald sein Zorn verrauchte, konnte man vielleicht wieder anknüpfen, da ihm Deutschlands Handelseinheit wirklich am Herzen lag. Vorderhand freilich wirkte der Münchener Hof dem preußisch-hessischen Verein offen entgegen; er versuchte, durch unentgeltlichen Vorspann und ähnliche kleine Mittel den Verkehr von Gießen und Vilbel auf die Linie Hersfeld-Fulda hinüberzulocken, verlangte von dem Hause Thurn und Taxis, daß die Frankfurt-Aschaffenburger Post über Hanau, nicht mehr durch das darmstädtische Gebiet geführt werde usw.
Der entscheidende Kampf entspann sich am Kasseler Hofe; noch einmal wurde die kurhessische Handelspolitik verhängnisvoll für das ganze Deutschland. Der Großherzog [pg 126] von Hessen hatte die Berliner Verhandlungen nur gutgeheißen in der bestimmten Erwartung, daß der Kasseler Vetter seinem Beispiel folgen würde. Deshalb blieb der preußisch-hessische Vertrag bis zum Mai geheim; denn niemals hätte der Stolz des Kasseler Despoten sich entschlossen, einem bereits veröffentlichen Vertrage nachträglich beizutreten und also vor der Welt zuzugestehen, daß das minder mächtige Darmstadt ihm vorangegangen sei. Hofmann ging noch im Februar, auf der Rückreise von Berlin, nach Kassel und meinte die Lage ziemlich günstig zu finden. Freiherr v. Meysenbug und andere hohe Beamte, mit denen er vertraulich sprach, gaben ihm bereitwillig zu, daß Kurhessen nach Darmstadts Beitritt nicht mehr zögern dürfe: nur der Anschluß an Preußen könne die zerrüttete Volkswirtschaft retten. Gleichwohl war Hofmann im Irrtum; schon nach 24 Stunden mußte er unverrichteter Sache abziehen. »An diesem Hofe, schrieb du Thil, sind rationelle Berechnungen nicht statthaft.« Hinter und über den Beamten trieb die Reichenbach [Die Geliebte des Kurfürsten.] ihr Wesen, die noch immer auf eine österreichische Fürstenkrone hoffte.
Auf solchem Boden war den armseligen Künsten der kleinen Höfe die Stätte bereitet. Ein Heerlager von amtlichen und geheimen Unterhändlern strömte im Frühjahr 1828 zu Kassel zusammen, um den Kurfürsten von Preußen fernzuhalten. Aus Bayern erschienen die Geheimen Räte Oberkamp und Siebein, der erstere wohlgeschult in dem Ränkespiel der Eschenheimer Gasse; auch seinen Freund v. d. Tann schickte König Ludwig hinüber. Für Württemberg arbeitete der alte Agitator Miller von Immenstadt, jetzt württembergischer Steuerrat. Aus Sachsen kam Freiherr v. Lützerode, aus Hannover Kammerrat Lüder, auch Koburg und Meiningen sendeten Unterhändler. Dann erschien »zum allgemeinen Schrecken« Präsident v. Porbeck aus Arnsberg, um dem Berliner Kabinett über das verworrene Treiben zu berichten. Die Darmstädter Regierung erneuerte im März ihren Versuch und sendete den Prinzen Wittgenstein, um dem Kurfürsten mitzuteilen: Preußen habe eingewilligt, daß der Zutritt Kurhessens zu dem Vertrage vorbehalten bleibe und Darmstadt den Antrag stelle; der Großherzog erlaube [pg 127] sich daher anzufragen, ob der Kurfürst die Absendung eines Bevollmächtigten genehmige. Am 12. März sprach der Kurfürst dem Prinzen seinen verbindlichen Dank aus. Doch schon nach drei Tagen schlug der Wind um. Sei es, daß Wittgenstein allzu zuversichtlich aufgetreten war, sei es, daß Oberkamp und die Reichenbach dem Kurfürsten die Schmach einer Unterwerfung unter Preußens Befehle geschildert hatten — genug, am 15. März ließ der Finanzminister Schminke ein Schreiben an du Thil abgehen, in jener Tonart, die nur in Kassel oder Köthen möglich war: »S. K. Hoheit können nicht ohne große Empfindlichkeit wahrnehmen, daß in einem Allerhöchstdemselben und Allerhöchstdero Kurstaate durchaus fremden Vertrage von seiten des großherzoglichen Hofes Stipulationen in Beziehung auf das Kurfürstentum eingegangen sind und eine Initiative ergriffen worden ist, welche das Kurhaus in Ansehung des großherzoglichen Hauses sich nicht einmal gestattet hat. Allerhöchstdieselben sind nicht davon überzeugt, daß es dem Interesse des Kurstaats entsprechend sei, einer solchen Übereinkunft das bisherige System aufzuopfern.« Die gröbsten Wendungen hatte der Kurfürst eigenhändig in das Schreiben hineingebracht. Bei einer neuen Audienz donnerte er Wittgenstein an: »Ich bin Chef des hessischen Hauses; Anmaßungen, wie der Großherzog sie sich erlaubt hat, werde ich nicht dulden; ich kann die Bitte des Großherzogs nicht gewähren.« Auch Wittgensteins Sendung war gescheitert.
Eichhorn ahnte, daß die süddeutschen Kronen die Hände im Spiele gehabt, empfahl dem Bundestagsgesandten Nagler und allen Gesandten im Oberlande scharfe Aufmerksamkeit auf die Handelspolitik der kleinen Höfe. Zwei Tendenzen, schrieb er, wirken uns in Kassel entgegen. Der bayrisch-württembergische Verein sucht Kurhessen für sich zu gewinnen; er krankt an verkehrten politischen Nebengedanken und ruht auf dem falschen Grundsatze, daß die Binnenstaaten von den Küstenländern sich unabhängig machen sollen; »mit jeder Ausdehnung verliert das System selbst an innerem Halt und Zusammenhang«. Gefährlicher scheint der von einigen thüringischen Staaten gehegte Plan, unter Kurhessens Führung einen hessisch-thüringischen Zollverein zu bilden, der nach Belieben mit Preußen oder mit dem Süden verhandeln [pg 128] könnte — eine Träumerei, »so einladend für den Stolz des Kurfürsten, daß er kaum widerstehen wird.«
Nach Wittgensteins Abreise meinten die bayrisch-württembergischen Unterhändler ihr Spiel gewonnen. Bayern versprach dem Kurfürsten, seine bisherigen Zolleinnahmen zu verbürgen, wenn er dem süddeutschen Verein beitrete. Der Kurfürst, als ein geriebener Handelsmann, holte sofort eine alte Schuldforderung an das fürstliche Haus Oettingen hervor, welche einst Napoleon für Bayern eingezogen hatte; auch diese Sache zu bereinigen war Bayern erbötig. Schon bereiste Oberkamp mit einem kurhessischen Finanzbeamten die bayrischen Grenzen, um diesem die Einrichtung der Mauten zu zeigen. Da griff eine gewandtere Hand ein und betrog die süddeutschen Höfe um den Sieg.
Daß Österreich die Erweiterung des preußisch-hessischen Vereins ungern sah, war allbekannt. Wenn der österreichische Geschäftsträger in Kassel dem Prinzen Wittgenstein zuvorkommend seine Instruktionen zeigte und dort zu lesen stand, er solle seinen preußischen Kollegen überall getreulich unterstützen, so wußte man in Berlin längst, was von solchen k. k. Scherzen zu halten sei. Aber auch der Zollverein der konstitutionellen Südstaaten erschien zu Wien hoch gefährlich. Sobald das diplomatische Getriebe in Kassel begann, wurde Freiherr v. Hruby, einer der eifrigsten und gefährlichsten Feinde Preußens, so recht ein Vertreter des alten ferdinandeischen Hochmuts, von Karlsruhe abberufen, in Hannover und Kassel als Gesandter beglaubigt. Ihm gelang es, den Kurfürsten zu überzeugen, daß auch der Anschluß an Bayern die kurhessische Nationalehre gefährde; »die bayrischen Mautritter«, wie der Kurfürst höhnte, empfingen im Mai abschlägige Antwort. Und bald erfüllte sich, was ein feiner Kenner der hessischen Dinge dem preußischen Gesandten Hänlein vorausgesagt hatte: »Kurhessen wird seine ergiebigen Transitzölle zu behalten suchen und am liebsten gar nichts an dem Bestehenden ändern. Nur wenn keine Verständigung mit der Kurfürstin zustande kommt, wird unser Staat, welcher bekanntlich nur aus einer Person besteht, sich aus Ärger vielleicht auf die Seite der Gegner Preußens schlagen.«
Dahin war es wirklich gekommen, daß die Zukunft der deutschen Handelspolitik zunächst von dem ehelichen Frieden [pg 129] des kurhessischen Hauses abhing. Um den Kurfürsten mit seiner Gemahlin zu versöhnen und dann den besänftigten Despoten für den Zollverein zu gewinnen, sendete König Friedrich Wilhelm den General Natzmer83 nach Kassel. Motz gab dem Unterhändler eine Weisung mit, deren friderizianischer Ton von der matten Diplomatensprache jener Zeit gar seltsam abstach. Es war, als hätte der tapfere Hesse schon das Jahr 1866 vorausgesehen. Er bemerkt zunächst, die Verbindung mit Preußen liege im eigenen Interesse Kurhessens; mit 600000 Köpfen könne man kein eigenes Zollsystem bilden. Der Anschluß an den finanziell unfruchtbaren bayrisch-württembergischen Verein sei für Hessen unnatürlich. Dagegen bringt der Anschluß an Preußen: eine bedeutende Einnahme von 20–24 Sgr. auf den Kopf; sodann einen großen Markt von 13 Millionen Einwohnern — denn nicht Verbote, sondern die Freiheit eines großen inneren Marktes fördern die Industrie, wie Preußens Beispiel zeigt — endlich den Besitz der großen Handelsstraßen. Schließt Kurhessen sich nicht an, so muß Preußen eine Straße durch Hannover suchen und den Bremer Verkehr nach Süddeutschland von Minden aus zum Rhein leiten. Manche Höfe, und namentlich Minister Marschall in Wiesbaden, behaupten zwar, ein Zollverein sei eine Verletzung der Souveränität. Aber der Großherzog von Hessen ist souverän geblieben, der Vertrag gewährt beiden Teilen gleiche Rechte. »In die neueren Ideen von Souveränität ist überhaupt viel Schwindel gekommen. Ich frage besonders: ist Kurhessen souveräner in einem auf gleiche Souveränität basierten Vertrage mit seinem mächtigsten unmittelbaren Nachbarn, oder ist es souveräner ohne solche Verbindung, in einer unfreundlichen Stellung diesem mächtigsten unmittelbaren Nachbarn gegenüber? Es gibt Verhältnisse, mögen sie auch noch in der Zukunft liegen, in welchem Preußen ein feindlich gesinnter Nachbar nützlicher sein kann als ein durch feste Verträge verbundener.« Die furchtbare Offenheit dieser Sprache war nicht geeignet, den Kurfürsten zu gewinnen. Natzmer wurde mit ungeschliffener Grobheit heimgeschickt, und auch Leopold Kühne, der zur Unterstützung des Generals nach [pg 130] Kassel und nebenbei nach Braunschweig ging, richtete an beiden Orten nichts aus. In solcher Laune, tobend gegen seine Gemahlin wie gegen alles, was den preußischen Namen trug, war der hessische Despot bereit, den Weisungen Österreichs blindlings zu folgen.
Die Hofburg wollte nicht bloß die Erweiterung des preußischen Zollsystems verhindern, sie dachte, das System selber zu zerstören, den mühsam errungenen ersten Anfang deutscher Handelseinheit zu vernichten; und gerade bei den norddeutschen Höfen, welche durch alle ihre natürlichen Interessen auf Preußen angewiesen waren, fand diese Absicht Anklang. Der dynastische Haß des sächsischen Hofes, der Welfenstolz Hannovers, der Grimm des Kurfürsten gegen seinen königlichen Schwager, die Großmannssucht des Nassauer Herzogs, die gedankenlose Ängstlichkeit der kleinsten Höfe — alle niederträchtigen und alle schwächlichen Elemente des norddeutschen Kleinfürstentums vereinigten sich in tiefster Stille zum Kampfe gegen Preußen. Gestützt auf Österreich, begünstigt durch den Handelsneid Englands, Frankreichs und Hollands, kam der Mitteldeutsche Handelsverein zustande — eine der bösartigsten und unnatürlichsten Verschwörungen gegen das Vaterland — gleich dem Rheinbunde ein Zeugnis, wessen das deutsche Kleinfürstentum fähig war.
Nirgends erweckte der preußisch-hessische Vertrag schwerere Besorgnisse als am Dresdner Hofe. Wie hatte man sich dort so behaglich eingelebt in den alten Privilegienwust, wie war es so süß, am Bundestage über die deutsche Handelseinheit und die Bundeszölle salbungsvoll zu reden — in der frohen Erwartung, daß gar nichts zustande komme, daß man jedes ernsten Entschlusses, jeder heilsamen Reform allezeit überhoben bleibe! Jetzt erstanden plötzlich dicht an Sachsens Grenzen zwei Zollverbände. Wie nun, wenn die augenblickliche Verstimmung des Königs von Bayern verflog, wenn die beiden Vereine, die in ihren handelspolitischen Grundsätzen einander so nahe standen, sich zu einem verschmolzen: wenn sie auch Thüringen gewannen, und also dem Leipziger Handel der Weg zur See ringsum durch Zollstellen versperrt wurde? Lauter und lauter erklangen die Klagen der Fabrikanten [pg 131] des Erzgebirges; zweimal im Jahre 1828 liefen Petitionen ein, die den König beschworen: der Anschluß an Preußen, oder auch an den süddeutschen Verein, irgendein Entschluß, der aus der vereinsamten Stellung hinausführe, sei unvermeidlich. Der Minister Graf Einsiedel84, der als Eisenwerksbesitzer der Großindustrie näher stand, begann irre zu werden an dem alten System. Einer der tüchtigsten jüngeren Beamten, Wietersheim85, schilderte in einer beredten Denkschrift den Notstand der Industrie, die Unterlassungssünden der Regierung. König Anton aber hielt, wie sein Minister Manteuffel86, einen Handelsbund mit Preußen für unmöglich. Eben in jenen Jahren stand ein alter Lieblingsgedanke der albertinischen Politik in voller Blüte. Vor kurzem erst, nach dem Aussterben des Hauses Gotha, hatte der König von Sachsen den Schiedsrichter und väterlichen Vermittler gespielt zwischen den ernestinischen Vettern. Man hoffte in Dresden, eine dauernde Hegemonie über die thüringischen Lande zu erlangen. Um so schmerzlicher empfand man die Gefahr, daß Thüringen dem preußischen oder dem süddeutschen Verein sich anschließen könnte.
Aus solchen Berechnungen entsprang der Plan, einen Gegenzollverein zu bilden, der, ohne selbst ein positives handelspolitisches Ziel zu verfolgen, nur als ein Keil zwischen die beiden Zollvereine hineindringen, ihre Verbindung hindern sollte. Es galt, die ersten Anfänge der Handelseinheit zu zerstören, den schmachvollen Zustand deutscher Zerrissenheit zu verewigen. Die Träger dieser Politik waren zwei Gebrüder Carlowitz, aus einem der ehrenwertesten Häuser des obersächsischen Adels. Der Ältere87, königlich sächsischer Minister, war bis zum vorigen Jahre noch Bundestagsgesandter gewesen [pg 132] und stand in der Eschenheimer Gasse in lebhaftem Andenken als ein wohlmeinender Geschäftsmann der alten Schule, ein pedantischer Vertreter der bekannten kursächsischen Formelseligkeit. Der Jüngere88, jetzt Minister in Gotha, persönlich ebenfalls sehr achtungswert, hatte alle die unausrottbaren Vorurteile des kursächsischen Adels mit aus der Heimat hinübergenommen. Vergeblich stellten ihm gothaische Beamte vor, ihr Ländchen sei auf Preußen angewiesen; der verständige Kammerrat Braun rief ihm zu: »Sie handeln als königlich sächsischer, nicht als herzoglich sächsischer Staatsmann.« Er blieb dabei, »ein neutraler Verein« sei notwendig, »eine achtunggebietende Masse zwischen den beiden Zollvereinen stark genug, um beiden Bedingungen zu diktieren«. Der Herzog von Gotha ward für die Pläne seines sächsischen Ratgebers leicht gewonnen. Er stand mit dem Berliner Hofe auf schlechtem Fuße, weil er sein entlegenes Saarland Lichtenberg gegen ein Stück des preußischen Thüringens auszutauschen wünschte und König Friedrich Wilhelm diese Zumutung noch immer beharrlich abwies. In ihren Mitteln war die Koburgische Handelspolitik wenig wählerisch. Aller drei Wochen ging von Koburg eine Sendung neu geprägter unterwertiger Münzen nach Lichtenberg; von dort überfluteten die unter dünner Silberhülle rötlich schimmernden Koburger Sechser das benachbarte süddeutsche Guldenland, und diese gewerbsmäßige Falschmünzerei währte jahrelang fort trotz den Beschwerden der Nachbarn. Auch am Weimarischen Hofe herrschte augenblicklich eine gegen Preußen leidenschaftlich eingenommene Partei, an ihrer Spitze der gescheite Minister Schweitzer89.
So wurde denn ein hochgefährliches Unternehmen gegen Deutschlands Handelseinheit in aller Stille eingefädelt, harmlos, gemütlich wie eine Carlowitzsche Familienangelegenheit. In den letzten Tagen des März 1828 trafen sich der Herzog [pg 133] von Gotha, die beiden Carlowitze und Schweitzer auf dem Carlowitzschen Familiengute Oberschöna — sie alle noch ohne eine klare Vorstellung von den schweren Folgen ihres Beginnens. Wir Deutschen sind Gott sei Dank durch unabweisbare Interessen, durch alle Lebensgewohnheiten aufeinander angewiesen; jeder Versuch offener Feindseligkeit von Deutschen gegen Deutsche erscheint als eine Sünde wider die Natur und bietet darum neben der Entrüstung auch der Lachlust ein breites Ziel. In denselben Tagen, da in Oberschöna der Zollkrieg gegen Preußen beschlossen wurde, verhandelte in Berlin der Weimarische Bevollmächtigte Thon wegen freundnachbarlicher Aufhebung der Geleitsgelder. Mochte man den preußischen Staat bis in der Hölle tiefste Gründe verwünschen, entbehren konnte man ihn nicht. Die in Oberschöna abgeschlossene Punktation besagte: Es soll ein Handelsverein geschlossen werden zwischen Sachsen, Kurhessen und Thüringen. Die Teilnehmer »werden sich bemühen, den Beitritt der übrigen zwischen der preußischen und bayrischen Zollinie gelegenen Lande zu erlangen.« Sie verpflichten sich, »einseitig keinem auswärtigen Zollsystem beizutreten, noch, ohne Zustimmung des Vereins, mit einem Staate, in welchem ein solches System besteht, einen Handels- oder Zollvertrag zu schließen.« Sie wollen ihre gegenseitigen Untertanen auf gleichem Fuß behandeln und (Artikel 7) die Transitabgaben im Verkehr zwischen den Vereinsstaaten nicht über das Maß der sächsischen Transitzölle erhöhen. Sechs Monate nach der Konstituierung des Vereins soll über gemeinsame Handelsverträge und Retorsionen beraten werden.
Es war ein pactum de paciscendo, ein Vertrag ohne positiven Inhalt, eine Verpflichtung, vorläufig nichts zu tun, den bestehenden Zustand nur nach gemeinsamer Abrede zu verändern. Von einer Zollgemeinschaft zwischen den Vereinsstaaten, von irgendwelchen ernsten Reformen war gar nicht die Rede. Gleichwohl konnte der »neutrale« Verein dem preußischen Zollsystem verderblich werden; er suchte der Handelspolitik Preußens ihre schärfste Angriffswaffe, die Durchfuhrzölle, aus der Hand zu winden. Wenn es gelang, alle zwischen den preußischen Provinzen eingeklammerten Länder, insbesondere die Küstenstaaten, für den Verein zu gewinnen, so nahm die gesamte Einfuhr von der See nach [pg 134] dem innern Deutschland ihren Weg durch die Vereinslande, da die sächsischen Transitzölle weit niedriger standen als die preußischen. Schritt man darauf zu den verabredeten »Retorsionen«, wurde die Durchfuhr von Bayern nach Preußen und von einer preußischen Provinz zur anderen mit hohen Zöllen belastet, dann war Preußen einer reichen Einnahmequelle und seines wirksamsten Unterhandlungsmittels zugleich beraubt; nicht bloß die Erweiterung des preußischen Zollsystems wurde verhindert, der Bestand des Systems selber ward in Frage gestellt. Unter der Maske der Neutralität beschloß man den Zollkrieg. Um nur Preußen zu schädigen, verpflichtete sich die sächsische Regierung, ihre eigenen Fabriken in wehrlosem Zustande zu lassen, die Industrie des Erzgebirges der englischen Konkurrenz völlig preiszugeben. Wahrhaftig, nicht patriotische Gesinnung war es, was die kleinen Staaten unseres Nordens endlich in den preußisch- deutschen Zollverein führte; kein Mittel, auch das verwerflichste nicht, blieb unversucht, das preußische Zollsystem zu sprengen; erst nachdem alle Angriffe gescheitert waren, unterwarf man sich notgedrungen der deutschen Handelseinheit.
Die Oberschönaer Punktation wurde dem sächsischen Bundestagsgesandten Bernhard von Lindenau90 zugesendet; dort in der Eschenheimer Gasse sollten dem »sächsischen Antizollverein«, wie man in Berlin sagte, neue Anhänger geworben werden. Eine edle, hochsinnige Gelehrtennatur, ehrlich liberal und begeistert für Deutschlands Größe, hatte Lindenau bis vor kurzem im gothaischen Ministerium mit Einsicht gewirkt. Er wünschte aufrichtig die deutsche Handelseinheit und gestand seinem Darmstädter Amtsgenossen in Frankfurt: wäre Kurhessen dem preußischen Verein beigetreten, so hätte ich auch für den Beitritt Sachsens und Thüringens gestimmt. Nun Kurhessen sich weigerte, hoffte er sein Ziel auf anderem Wege zu erreichen: durch einen Bund der norddeutschen Lande, welcher den preußischen Staat zur [pg 135] Milderung seines Zollsystems zwingen sollte. Auch er krankte an dem Erbfehler der kleinen Diplomatie, er überschätzte die Macht seines Staates und sah nicht, daß die preußische Regierung den Versuch, ihr Gesetze vorzuschreiben, als offene Feindseligkeit betrachten und sich zur Wehre setzen mußte. Also hat der treffliche Mann seinen lauteren Idealismus, seine lebhafte ruhelose Tätigkeit eingesetzt für Pläne, die der dynastischen Scheelsucht entsprangen, und zwei Jahre lang an einem Verein gearbeitet, welchen Stein verächtlich als einen Afterbund verdammte. Selbst die Sippschaft höchst unzweideutiger politischer Charaktere, welche sich sofort des Oberschönaer Planes bemächtigte, öffnete dem sächsischen Staatsmanne nicht die Augen. Münch und Langenau, Marschall und Rothschild, alle Stützen der österreichischen Partei warben für den Handelsverein. Mehrmals in der Woche kam der Herzog von Nassau zu Langenau hinüber, um neue Bundesgenossen zu gewinnen.
Dergestalt war wieder einmal eines jener anmutigen Ränkespiele eingeleitet, welche von Zeit zu Zeit die trostlose Langeweile der Bundestagsgeschäfte wohltätig unterbrachen. Daß Österreich alle Fäden der Verschwörung in seiner Hand hielt, war bald am Bundestage offenkundig. Mit gewohnter Treuherzigkeit stellte die Hofburg jede Parteinahme in Abrede. Der k. k. Hofrat v. Kreß, der Leiter der österreichischen Handelssachen, beteuerte dem preußischen Geschäftsträger feierlich: mit keinem Worte habe Osterreich den Anschluß Darmstadts zu verhindern gesucht; er selber habe die Korrespondenz geführt und nach Darmstadt geschrieben, sein Hof werde sich freuen, wenn Hessen bei dem preußischen Bündnis seinen Vorteil finde. Nach den Enthüllungen, die man in Berlin vom Darmstädter Hofe selbst erhalten, konnten solche Beteuerungen nur Heiterkeit erregen. Wie Österreich zu dem neuen Gegenzollverein stand, das erhellte, wenn anders die Frankfurter Gesandtschaftsberichte noch einer Bestätigung bedurften, aus einem Briefe Lindenaus, der in Berlin bekannt wurde. »Ich verhandle mit Holstein und den Niederlanden, schrieb der sächsische Diplomat an den Bundestagsgesandten Leonhardi91, sowie wir nicht minder der Unterstützung des [pg 136] gemeinnützigen, vielversprechenden Unternehmens von seiten der österreichischen Regierung, welche dessen Förderung wünscht, versichert sein können.« Auch die anderen ausländischen Feinde der preußischen Handelspolitik liehen dem Verein ihren Beistand. Graf Reinhard versicherte die Vereinsmitglieder der warmen Unterstützung des Pariser Kabinetts. Um die Niederlande zu gewinnen, ging Lindenau im Herbst selber nach Brüssel und stellte dort vor — er, der Vertreter des Elbuferstaates Sachsen: — es sei notwendig, den Rhein und Main wieder zu beleben, die durch den Elb- und Weserhandel so schwere Einbuße erlitten hätten, und den rheinischen Kolonialwarenhandel Hollands wieder zu der Höhe zu erheben, die er im achtzehnten Jahrhundert behauptet. Selber mit seiner deutschen Provinz beizutreten, lag freilich nicht in Hollands Absicht; doch warben seine Diplomaten in Frankfurt eifrig für den Verein.
Entscheidend wurde die Haltung von England-Hannover. Noch war man in London gewohnt, mit dreister Sicherheit auf Deutschlands Zwietracht zu rechnen; jede Regung selbständigen Willens in der deutschen Handelspolitik galt den Briten als ein Schlag ins eigene Angesicht. Welch' eine köstliche Aussicht, wenn jetzt durch den Gegenzollverein nicht nur die machtlose Anarchie des deutschen Zollwesens verewigt, sondern auch den englischen Waren gegen mäßige Transitzölle der Weg bis ins Herz von Deutschland eröffnet wurde; von dort mochten sie dann durch die Schmuggler nach Preußen und Bayern hinübergeschafft werden. Mit Feuereifer ging der Gesandte am Bundestage, Addington, auf Lindenaus Ideen ein. Umsonst warnte der nüchterne Milbanke, Geschäftsträger bei der Stadt Frankfurt: der Verein entbehre jedes positiven Zwecks, könne und werde nicht dauern, der deutsche Handel bedürfe schlechterdings einer Reform. Addingtons Meinung drang in London durch; allzu verlockend war der Gedanke, den offenen hannoverschen Markt, der bisher den englischen Fabriken so unschätzbar gewesen, bis an den Main zu erweitern. Die englische Schaluppe Hannover folgte wie immer ihrem Schiffe. Graf Münster92 schalt hinterrücks den preußischen Zollverein »eine [pg 137] preußische Reunionskammer«, mußte sich von dem preußischen Gesandten Bülow »sein wenig gerades Benehmen« vorwerfen lassen. Zugleich bat, wie Bülow von dem Minister Fitzgerald selbst erfuhr, der sächsische Gesandte in London um durchgreifende Maßregeln gegen das preußische Zollsystem, das dem englischen Handel und der Unabhängigkeit der deutschen Staaten gleich verderblich sei. So trat denn Hannover dem Verein bei; das Industrieland Sachsen unterwarf sich dem englischen Handelsinteresse. Freiherr v. Grote93, ein fähiger hannoverscher Beamter, Preußens geschworener Feind, wurde neben Lindenau die Seele des Bundes.
Auch Bremen trat hinzu. Der treffliche Smidt94 hatte sich allzu tief eingelebt in die Träume Wangenheims, der auch jetzt wieder aus seinem Koburger Stilleben heraus gegen Preußen arbeitete; er konnte ein krankhaftes Mißtrauen gegen den norddeutschen Großstaat nicht überwinden, und jetzt, da die reindeutschen Sonderbundspläne sogar von Österreich insgeheim unterstützt wurden, gab er sich ihnen unvorsichtiger hin als sonst seine Art war. Er wünschte, wie er am Bundestage mehrmals aussprach, deutsche Konsulate und eine deutsche Flagge. Doch solange Deutschland noch nicht ein nationales Handelsgebiet bildete, war das lockere hannoversche Zollwesen für den bremischen Freihandel bequemer als das strenge preußische System. Die von dem »neutralen« Verein versprochene Erleichterung des Transitverkehrs konnte auf den ersten Blick einen hanseatischen Staatsmann allerdings bestechen. Aber auch nur auf den ersten Blick. Voreingenommen gegen Preußens Zollsystem, bemerkte Smidt nicht, daß die Teilnahme an dem neuen Handelsbunde der überlieferten hanseatischen Handelspolitik schnurstracks widersprach; der Verein war in Wahrheit nicht neutral, sondern durchaus parteiisch, antipreußisch. Smidt dachte so hoch von dem Werte dieser totgeborenen Vereinigung, daß er ihrem Urheber, dem Sachsen Carlowitz, das bremische [pg 138] Ehrenbürgerrecht verschaffte — eine seltene Auszeichnung, welche seit dem Freiherrn vom Stein kein deutscher Staatsmann mehr erlangt hatte. Ruhiger urteilte der Hamburger Senat; er lehnte jede Mitwirkung ab, weil Hamburgs Freihafen den Interessen des gesamten deutschen Verkehrs zu dienen habe. Die Frankfurter großen Firmen dagegen begrüßten mit Jubel die in Aussicht gestellte Erleichterung des Durchfuhrhandels, die den landesüblichen Schmuggel mächtig fördern mußte; auch waren die Patrizier der stolzen Republik längst gewöhnt, den untertänigen Schweif des k. k. Bundesgesandten zu bilden. Bürgermeister Thomas und Senator Guaita zusamt dem österreichischen Anhang setzten den Beitritt durch, gegen den heftigen Widerspruch einer preußischen Partei.
Territorialen Zusammenhang konnte der Verein nur durch Kurhessen erlangen; daher wurden dort die stärksten Hebel eingesetzt. Der jüngere Carlowitz selbst erschien im April zu Kassel, bald darauf kam Lindenau. Beide, unterstützt durch Hruby, stellten dem Kurfürsten vor, was er am liebsten hörte: der neutrale Verein verlange gar keine Änderung in den bestehenden Gesetzen Kurhessens; man betrachte dies Land als den Kern des Bundes, könne der Sachkenntnis des Kurfürsten nicht entbehren, darum sollten die Beratungen über das Grundgesetz unter seinen Augen, in Kassel erfolgen. Den Ausschlag gab jedoch die staatsmännische Absicht, dem Schwager in Berlin einen derben Possen zu spielen. Durch Kurhessens Beitritt wurde Badens Ablehnung mehr als aufgewogen. Lindenau schrieb an Berstett: er hoffe auf die Mitwirkung des Karlsruher Hofes um so sicherer, da durch den Verein »weder die Selbständigkeit der eigenen Landesverwaltung, noch auch deren finanzielle Verhältnisse die mindeste Störung erleiden, sondern nur die unveränderte Aufrechterhaltung des status quo95 versichert und bezweckt wird.« Der Antrag ward abgelehnt. Mit Bayern verfeindet, von süddeutschen und preußischen Vereinslanden rings umschlossen, hatte Baden von dem neutralen Verein nichts zu hoffen, von Preußens Zorn alles zu fürchten. Bei allen anderen kleinen Höfen fanden Lindenaus Werbungen günstiges [pg 139] Gehör. Einige ängstliche thüringische Kabinette wurden gewonnen durch die vertrauliche Versicherung, Preußen sei mit der Gründung des Vereins einverstanden, eine plumpe Erfindung, die doch Eingang fand, weil die preußische Diplomatie sich wie bisher ruhig zurückhielt. Selbst Herzog Karl von Braunschweig ging diesmal Hand in Hand mit dem gehaßten jüngeren Welfenhause; eine Weisung Metternichs bewog ihn, beizutreten.
Also waren im Laufe des Sommers die sämtlichen zwischen den beiden Hälften der preußischen Monarchie eingepreßten Kleinstaaten angeworben für den Neutralitätsbund, der sich den Namen »Mitteldeutscher Handelsverein« beilegte. Nach jahrelangen vergeblichen Unterhandlungen sah Deutschland plötzlich in einem Jahre drei handelspolitische Vereine auftauchen. Nur Baden und die niederdeutschen Kleinstaaten östlich der Elbe blieben noch isoliert. Triumphierend verkündete ein Artikel der Frankfurter Oberpostamtszeitung, der aus Lindenaus Feder stammte, am 25. Juni: Sachsen, Hannover, Kurhessen, Nassau, Frankfurt sind die Schöpfer des neuen Vereins, der den Artikel 19 der Bundesakte zur Wahrheit macht und, statt neue Zollinien zu schaffen, vielmehr die Handelsfreiheit auf sein Banner schreibt. »Daß Ware gegen Ware vertauscht, Freiheit mit Freiheit, Gleiches mit Gleichem erwidert werde, das ist Forderung des natürlichen Rechts, bei dessen Verkennung und Verweigerung es dem Verein wohl nicht an Mitteln fehlen dürfte, das, was recht und billig ist, mit feierlicher Kraft geltend zu machen, da er helfen und hemmen, Vorteil und Nachteil zu gewähren vermag.« Ein Gebiet von sechs Millionen Seelen gehört ihm, die ganze weite Nordseeküste, die größten Stapel- und Handelsplätze Deutschlands; die Elbe, den Rhein, den Main, die Weser von allen Zöllen zu befreien, liegt allein in seiner Hand!
Wohl mochte man prahlen! Eine so krankhaft unnatürliche Mißbildung war dem Partikularismus noch nie zuvor gelungen. In einem weiten Widerhaken reichte das Vereinsgebiet von Bremen nach Fulda, dann westwärts zum Rhein, gen Osten bis zur schlesischen Grenze, von dem englischen Markt Hannover bis zu dem gewerbereichen Sachsen, über einen bunten Länderhaufen, welchen, Preußen gegenüber, [pg 140] nur ein gemeinsames Interesse zusammenhielt: Angst und Neid. Eben jene norddeutschen Kleinstaaten, welche bisher den handelspolitischen Anstrengungen Preußens und Bayern-Württembergs einen trägen ablehnenden Widerstand entgegengestellt, redeten plötzlich von deutscher Handelsfreiheit. Indes sie den Artikel 19 der Bundesakte im Munde führten, verschworen sie sich, die bestehende Zersplitterung aufrecht zu halten und den preußischen Durchfuhrhandel zu vernichten. Und hinter diesem Bunde standen schirmend Österreich, England, Holland, Frankreich! Wenn man in Berlin noch der Belehrung bedurft hätte über die feindselige Gesinnung des Mitteldeutschen Vereins, so mußte die hinterhaltige Sprache der verbündeten Kabinette jeden Zweifel zerstören. In tiefster Stille, ohne die geringste Mitteilung an die preußische Gesandtschaft, hatte der Dresdner Hof sein Werk begonnen. Als am preußischen Hofe einiges ruchbar wurde, schrieb Graf Einsiedel dem Gesandten v. Watzdorf in Berlin, versicherte heilig, Baden sei nicht zum Beitritt aufgefordert worden. Doch leider hatte der Karlsruher Hof jenes Einladungsschreiben Lindenaus an Berstett dem Berliner Kabinett sogleich mitgeteilt. Der Abteilungschef im Auswärtigen Amte bemerkte an den Rand der sächsischen Depesche: »Das Gegenteil steht in unseren Akten. Graf Bernstorff wird Herrn v. Watzdorf eines Besseren belehren.« Nicht minder verdächtig erschien, daß der hannoversche Gesandte in Dresden, v. Reden, plötzlich ohne jede Veranlassung ein Schreiben an Bernstorff richtete, um inbrünstig zu beteuern, Hannover hege durchaus keine feindseligen Absichten gegen Preußen, mißbillige entschieden jenes gehässige Programm der Oberpostamtszeitung. Warum solche unerbetene Entschuldigung, wenn man sich nicht schuldig fühlte? Späterhin, in einer Denkschrift vom Jahre 1832, nannte Metternich selbst den Mitteldeutschen Handelsverein »versuchsweise zum Schutze gegen das preußische Zollsystem geschaffen«.
Und abermals zeigte die öffentliche Meinung ihre alte unbelehrbare Verblendung. In Arnstadt rottete sich das Volk zusammen vor dem Hause des Erbprinzen; die Leute drohten auszuwandern, wenn der Fürst nicht fest zu dem Mitteldeutschen Verein stehe. Das sächsische Oppositionsblatt »die Biene« verteidigte warm die hochherzige Absicht der sächsischen [pg 141] Krone, die Unabhängigkeit »unseres Vaterlandes« zu retten; das Erzgebirge müsse ja unfehlbar zugrunde gehen, wenn die preußischen Zölle die Getreideeinfuhr aus Böhmen verhinderten — diese preußischen Zölle, die den Getreideverkehr fast gar nicht belasteten! Weithin erklang der Jubelruf der Liberalen über die schmachvolle Niederlage des preußischen Absolutismus: Preußens Herrschsucht ist gedemütigt, das Gleichgewicht der Mächte in Deutschland wieder hergestellt! Selbst in Bayern und Württemberg, deren eigenes Zollsystem doch durch den Mitteldeutschen Verein bedroht wurde, verteidigte die Presse den neuen Handelsbund. Der bayrische Hesperus donnerte gegen Darmstadt, das einen industriellen Selbstmord begangen, den Schwaben und Bayern »einen Teil des Segens edler Fürsten« geraubt habe. Die Neckarzeitung begrüßte den Verein als ein Zeugnis der Bundestreue, als einen letzten Versuch, die Verheißungen der Bundesakte ins Leben zu führen. Sogar innerhalb der bayrischen Regierung fand sich eine Partei bereit, die sächsisch-englischen Entwürfe zu unterstützen; Lerchenfeld und Oberkamp, die gesamte Bundestagsgesandtschaft König Ludwigs, blieben mit Lindenau in vertrautem Verkehr. Nur wenige verstanden den festen patriotischen Stolz des Freiherrn vom Stein, der voll Verachtung auf die Vasallen der englischen Handelspolitik niederschaute und an Gagern schrieb: »es ist den erbärmlichen, neidischen, antinationalen Absichten unserer kleinen Kabinette angemessen, sich an das Ausland zu schließen, sich lieber von Fremden peitschen zu lassen, als dem allgemeinen Nationalinteresse die Befriedigung kleinlichen Neides aufzuopfern.«
Am 21. Mai 1828 hatten die Verbündeten zu Frankfurt einen Präliminarvertrag geschlossen. Am 22. August, nachdem unterdessen der Verein vollzählig geworden, versammelten sich die Bevollmächtigten in Kassel, und schon am 24. September kam der endgültige Vertrag zustande. Solche Schnelligkeit der Beratung stach von den Gewohnheiten der Staatsmänner des Bundestags auffällig ab; sie bewies deutlich, daß man Gefahr im Verzuge glaubte und mehr einen diplomatischen Schachzug als ein dauerhaftes Werk beabsichtige. Der Vertrag, in Dresden entworfen, sprach die feindselige, aggressive Richtung gegen Preußen noch weit offener aus [pg 142] als die Oberschönaer Punktation. Der Verein ist bestimmt, den freien Verkehr im Sinne des Artikels 19 der Bundesakte zu befördern und »die Vorteile, welche in dieser Hinsicht dem einzelnen Staate durch seine geographische Lage und sonst gewährt sind, auf das Ganze zu übertragen, auch daneben sich jene Vorteile zu erhalten und sicher zu stellen.« Die Verbündeten verpflichten sich, bis zum 31. Dezember 1834 — d. h. bis zu dem Zeitpunkte, wo der preußisch-hessische Vertrag ablief — keinem auswärtigen Zollverein einseitig beizutreten. Die Straßen sollen in gutem Stande erhalten, neue Straßenzüge verabredet werden. Die bestehenden Durchfuhrzölle auf Waren, welche für einen Vereinsstaat bestimmt sind, dürfen nicht erhöht werden; dagegen steht dem Verein wie jedem Vereinsstaate frei, Waren, die aus dem Auslande in das Ausland gehen, mit höheren Transitgebühren zu belasten. England-Hannover war es, das diesen unzweideutigen Artikel 7 durchgesetzt hatte. Es lag darin die Drohung, den Handel zwischen den beiden Hälften der preußischen Monarchie zu zerstören, und zugleich eine systematische Begünstigung der englischen Einfuhr. Denn da auf Hannovers ausdrückliches Verlangen jedem Vereinsstaate die Befugnis eingeräumt wurde, Handelsverträge mit dem Auslande zu schließen, so eröffnete sich den englischen Waren über Bremen und Hannover ein fast zollfreier Weg nach den Binnenstaaten, welche, wie Sachsen, Thüringen, Nassau, Frankfurt, noch kein geordnetes Grenzzollsystem besaßen. Noch deutlicher sprach der neunte Artikel, der jedem Vereinsstaate das Recht zu einseitigen Retorsionen vorbehielt; Kurhessen hatte diese Bestimmung gefordert, und der Kurfürst verstand unter Retorsionen jede gehässige Gewalttat wider die Nachbarn. Die einzige wesentliche Wohltat, welche der Verein dem Handel brachte, war die Erleichterung des Transits, und sie ward erkauft durch schwere Schädigung der heimischen, vornehmlich der erzgebirgischen Industrie. Im übrigen dauerten alle bestehenden Akzisen und Zölle fort; nur Warenverbote zwischen den Vereinsstaaten waren unstatthaft, auch sollten die gewöhnlichen Erzeugnisse des Landbaues nicht verzollt werden.
Der Kern des Vertrages blieb die Absicht, auf sechs Jahre hinaus die Erweiterung des preußischen Zollsystems zu verhindern [pg 143] und inzwischen vielleicht durch Ableitung des Durchfuhrhandels dem Zollwesen Preußens die Wurzeln abzugraben. Eine von Marschall und Röntgen verfaßte nassauische Denkschrift über das Verhältnis des Vereins zu Preußen und Bayern gibt über diese freundnachbarlichen Absichten sicheren Aufschluß. Sie schildert beweglich, wie Darmstadt sich »an ein nicht aus seiner Autonomie hervorgegangenes System« angeschlossen habe. Allerdings wurden dabei »die äußeren Formen der Selbständigkeit gewahrt«, aber das Großherzogtum »hat sich während der Dauer des Vertrages jeder materiellen Autonomie begeben, kann nur noch eine großmütige Berücksichtigung seiner Wünsche in billigen Anspruch nehmen und ist deshalb seiner endlichen Mediatisierung um einen bedeutenden Schritt näher gerückt.« Solcher Schwäche gegenüber sind die Verbündeten entschlossen, »keine willenlose Hingebung zu zeigen, keine nicht aus dem eigenen Bedürfnis hervorgegangene Handelsgesetzgebung« anzunehmen. »Das Wesentliche des Kasseler Vertrages liegt in der Vereinigung selbst, in dem für sechs Jahre begründeten non plus ultra96. Das Wesentliche liegt ferner in dem durch diese sechsjährige engere Verbindung begründeten Ablehnungsmotive von Ansinnungen mancher Art, denen, wenn sie von übermächtiger Seite ausgehen, der Einzelne und Schwächere nicht viel mehr als die Bitte um Schonung entgegenzusetzen hat.« Das Wesentliche liegt endlich in der Aussicht, zu einer Verbindung mit anderen Staaten »mit Ehren gelangen zu können«. Bayern und Preußen haben dasselbe, ja ein größeres Bedürfnis nach einer Annäherung an die Vereinsstaaten als diese selbst; daher muß der Verein die Verbindungsstraßen zwischen Bayern und Preußen fest in der Hand halten, ihre freie Benutzung nur kraft gemeinsamen Beschlusses bewilligen. So wird er eine gesetzliche Ordnung mit verhältnismäßig gleichen Rechten für ganz Deutschland begründen.
Die Denkschrift schließt mit der pathetischen Frage: »Kann man denn aus irgendeinem Grunde auch nur vermuten, daß Preußen die fieberhaften Träume, in welchen eine übermütige Partei das ganze nördliche Deutschland nur als eine [pg 144] mit Unrecht noch länger vorenthaltene Beute des preußischen Adlers erscheinen lassen möchte, irgend teilen oder begünstigen werde?« Naiver ließ sich die Seelenangst der Kleinen nicht aussprechen. Nicht irgendein positiver Gedanke, sondern allein die Furcht vor Preußens und Bayerns Übermacht, der ohnmächtige Wunsch, ein tertium aliquid97 zu bilden, wie der alte Gagern98 sagte, hatte den Mitteldeutschen Verein geschaffen. Aber je ratloser man sich fühlte, um so lauter ward gelärmt; »es war ein Gegacker, schreibt du Thil, als sei ein großes Werk vollendet worden«. Zahllose Orden belohnten alle Teilnehmer der Kasseler Beratung, bis zum Kanzlisten herab.
Selbst die einzige Waffe, die man gegen Preußen schwingen konnte, erwies sich als unwirksam; den preußischen Durchfuhrhandel zu lähmen war unmöglich, solange die Handelsstraßen, welche das preußische Gebiet umgehen sollten, noch nicht gebaut waren. Mannigfache Entwürfe wurden zu Kassel besprochen; man träumte von neuen Handelswegen dicht neben Darmstadts Grenzen, von einem langen Straßenzuge aus Sachsen über Altenburg und Gotha nach Kurhessen, der den Verkehr hinwegleiten sollte von der großen preußischen Chaussee über Kösen und Eckartsberge. Aber wer sollte die Straße bauen? Die verarmten kleinen ernestinischen Staaten besaßen nicht die Mittel, die größeren Bundesgenossen wollten kein Geld vorschießen. Zudem stieß man überall auf preußisches Gebiet; wie sollte die Erfurter Gegend umgangen werden, wo Preußen bereits eine gute Chaussee gebaut hatte? Unablässig arbeitete die Diplomatie der Bundesgenossen, um Bayern und Württemberg von Preußen fernzuhalten; der hannoversche Gesandte Stralenheim in Stuttgart ward nicht müde, den König Wilhelm vor Preußens Fallstricken zu warnen. Beharrlich wiederholte der Dresdner Hof, der die Führung des Vereins behielt, er sei bereit, Anträge und Vorschläge zur Ausbildung des Bundes entgegenzunehmen. Niemand wußte einen möglichen Vorschlag. Schon vor der Kasseler Zusammenkunft gestand Lindenau [pg 145] einem Frankfurter Amtsgenossen: »die Mehrzahl der Teilnehmer betrachtet den Verein als ein Ruhekissen, sie ist froh, daß alles beim alten bleibt.« Nun klagten die Thüringer über Sachsens hegemonischen Ehrgeiz, Frankfurt über die erdrückenden kurhessischen Mauten. Der Kurfürst, um seinen Holzmagazinen höhere Preise zu schaffen, verbot den altgewohnten Holzhandel, der aus den hannoverschen Waldgebirgen nach Hessen hinübergeführt ward. Die Unmöglichkeit, mit einem solchen Fürsten freundnachbarlich auszukommen, lag vor Augen. Fast ein Jahr währten die Verhandlungen zwischen den beiden hessischen Häusern wegen der Erleichterung einiger Enklaven; da erklärte der Kurfürst: die gegenseitige Verpflichtung, die Durchfuhrzölle auf gewissen Straßen nicht zu erhöhen, solle allein für Darmstadt, nicht für Kurhessen gelten! Seine Weisungen an die Unterhändler fand Maltzan »ausgezeichnet durch naive Unwissenheit und despotischen Ton, der Feder eines Rabener99 würdig«.
Immer schärfer trat der tiefe Gegensatz der handelspolitischen Anschauungen innerhalb des Vereins hervor. Die Kaufherren von Frankfurt und Bremen forderten unbeschränkten Freihandel, Hannover die Begünstigung der englischen Waren. Andere Staaten träumten von neuen Zolllinien; wieder andere hofften, die Milderung des preußischen Zollsystems und dann den Eintritt in dies System zu erzwingen. Kein einziger Kopf an allen diesen kleinen Höfen, der einen klaren Gedanken mit Ausdauer verfolgte; Karl August von Weimar war im Juni 1828 gestorben. Bald sonderten sich die Küstenlande und die Binnenstaaten in zwei Gruppen. Thüringen und Sachsen schlossen einen Separatvertrag, desgleichen Hannover und Oldenburg. Sie versprachen ihre gegenseitigen Untertanen im Handelsverkehr auf gleichem Fuße zu behandeln usw. — geringfügige Erleichterungen, die in Preußen gar nicht nötig waren, da das freiere preußische Zollgesetz zwischen In- und Ausländern nicht unterschied. Die einfache in Berlin längst feststehende Erkenntnis, daß nur die Beseitigung der Binnenmauten dem deutschen Handel aufhelfen könne, war diesen Kabinetten noch nicht [pg 146] aufgegangen. Die gedankenlose Trägheit der österreichischen Staatsmänner fühlte sich befriedigt von dem Erfolge des Augenblicks. Dem preußischen Zollsystem war ein Riegel vorgeschoben, der einige Jahre halten mochte; eine positive Ausbildung des Handelsvereins wünschte man in Wien nicht, da jeder Bund im Bunde gefährlich schien. Selbstgefällig sagte Münch-Bellinghausen zu Blittersdorff: »wie klug hat Österreich gehandelt, die Kollisionen zu vermeiden, denen Preußen nicht entgehen wird!« Der weiterblickende Badener aber schrieb: Ich war erstaunt über solche Verblendung. Als ob ein Stillstand im Völkerleben möglich sei! Als ob der preußisch-hessische Verein sich jemals wieder auflösen würde! Österreich allein hat all dies Unheil verschuldet, hat nichts getan, um den Artikel 19 der Bundesakte auszuführen und uns also den Preußen in die Hände geliefert.
Nunmehr nahm Preußen den Handschuh auf. Der Berliner Hof hatte den ersten Verhandlungen der mitteldeutschen Staaten mit der gewohnten ruhigen Zurückhaltung zugesehen. Ein sächsisch-thüringischer Verein war unschädlich; erst durch Hannovers Zutritt gewann der Verein eine gefährliche Ausdehnung. Man wollte in Berlin nicht glauben, daß dies nahe befreundete Kabinett, dem Preußen soeben jene neuen Straßenzüge und Handelserleichterungen angeboten hatte, einem gegen Preußen gerichteten Bunde sich anschließen werde. Da trat Hannover zu den Verbündeten über, während Bernstorff noch eine freundliche Antwort auf sein Anerbieten erwartete. Sofort verschwand jeder Zweifel über den Charakter des Vereins. Motz in seiner feurig kühnen Weise forderte sogleich, daß man die Gegner als Gegner behandle, und erklärte: »Sollte dieser Verein zustande kommen, so ist Preußen in der Lage, sein Zollsystem für abgeschlossen zu halten, und keineswegs in der Lage, diesen neutralen Verein seiner Absicht gemäß unter imponierenden Bedingungen aufzunehmen.«
Obgleich bisher nur dürftige Nachrichten über die Pläne des Vereins eingelaufen waren, so erriet der Finanzminister doch auf den ersten Blick, daß die Zerstörung des preußischen [pg 147] Durchfuhrhandels in der Absicht der Verbündeten liege. Deshalb, fuhr er fort, muß der Transit fortan mehr als bisher im Lande gehalten, der Straßenbau rüstig gefördert, namentlich die Chaussierung der wichtigen Straße von Magdeburg nach Zeitz rasch vollendet werden. Die nach Hannover gerichteten Anerbietungen sind als nicht geschehen zu betrachten. Noch entschiedener spricht er in einem Schreiben an Bernstorff: »Es ist gewiß ein bemerkenswertes Zeichen der Zeit, daß in der Mitte und vorzugsweise im Norden Deutschlands, im Schoße des Deutschen Bundes und dennoch unter der Fahne Österreichs, für den ostensibeln Zweck einer angeblichen Vervollkommnung der Verhältnisse dieses Bundes eine Koalition sich bildet, welche Preußen von ihren Plänen und Beratungen ausschließt und auf alle Weise zu erkennen gibt, nicht nur, daß sie eine Ausführung und Erweiterung allgemeiner Bundesmaximen auch ohne Preußens Teilnahme für möglich hält, sondern auch, daß Preußen eben als störendes Prinzip jener Ausführung und Erweiterung zu betrachten, und deshalb die Aufstellung einer förmlichen Oppositionsmasse gegen dasselbe anrätlich sei«. Darum dürfen wir den Verein nicht ignorieren; wir müssen unser gerechtes Befremden aussprechen und den Entschluß, »jeder uns auf irgendeine Art kompromittierenden weiteren Entwicklung dieses sonderbaren Systems auf angemessene Weise entgegenzutreten«.
Über Österreichs Absichten war der entschlossene Mann längst im klaren. Er wußte, daß die k. k. Verpflegungsbeamten in Mainz, um den Preußisch-Hessischen Verein zu schädigen, die vertragsmäßige Steuerfreiheit der österreichischen Garnison gröblich mißbrauchten, für Tabak, Zucker, Bier massenhaft Steuerfreischeine ausgaben, mehr, als ganz Rheinhessen verzehren konnte. Er forderte, der Gesandte in Wien solle rund heraus erklären: wir lassen uns nicht täuschen durch das Blendwerk, das mit dem Artikel 19 getrieben wird, wir lassen uns weder imponieren, noch uns mißbrauchen. Am 8. November schrieb er dem Minister des Auswärtigen geradezu: »Ob und inwieweit überhaupt auf wahre freundschaftliche Verhältnisse von Österreich gegen uns zu rechnen sei, vermag ich nicht zu beurteilen. Soviel scheint mir aber sicher zu sein, daß Österreich dem übereilt organisierten Deutschen Bunde [pg 148] den Charakter des ehemaligen deutschen Fürstenbundes beizulegen und darin die Rolle Friedrichs des Großen zu übernehmen denkt.« Österreichs Haltung gegen uns in dem Köthener Zollstreit war entschieden feindselig, ohne Österreichs Beistand wäre der Mitteldeutsche Verein nie zustande gekommen.
Ein Blick auf diese Aktenstücke genügt, um das Rätsel zu lösen, warum das Berliner Kabinett über die geheime Geschichte seiner Handelspolitik beharrlich geschwiegen, auch die windigsten Prahlereien der zahlreichen geistigen und leiblichen Väter des Zollvereins gelassen ertragen hat. Das Bündnis der Ostmächte war nach wie vor der leitende Gedanke der auswärtigen Politik des Königs. Brach man mit Österreich, so wurde der Deutsche Bund unhaltbar und auch der werdende Zollverein selber in Frage gestellt. Für Preußens Diplomatie ergab sich mithin die Aufgabe, durch ruhige feste Haltung den Wiener Hof dahin zu bringen, daß er der preußischen Handelspolitik nicht geradezu widerstrebte. Preußen räumte der Hofburg die Führerstelle ein in dem Schattenspiele des Bundestages und verlangte für sich die Leitung der wirklichen Geschäfte deutscher Staatskunst. Dies blieb der einzig mögliche Weg nationaler Politik, solange man weder den Willen noch die Macht besaß, die kriegerische Aktion der friderizianischen Tage zu erneuern. Den deutschen Dualismus zu beseitigen, kam dem König nicht zu Sinn; die Absicht war nur, dem preußischen Staate im Bereiche der deutschen Politik ein Gebiet selbständigen, ungestörten Wirkens zu erobern. Ein solches System setzte behutsame Vorsicht und unverbrüchliche Verschwiegenheit voraus; es fiel dahin, sobald die Welt erfuhr, wie planmäßig Preußens Handelspolitik arbeitete und wie deutlich die besten Köpfe des Kabinetts den Grundsatz der Interessen erkannten, der die beiden großen Bundesmächte trennte.
Das Auswärtige Amt ging nicht sofort auf die kampflustige Gesinnung des Finanzministers ein. Der König verlangte ruhige, sorgfältige Prüfung, damit nicht durch vorschnelles Urteil deutschen Bundesstaaten Unrecht geschehe. Sobald nähere Nachrichten einliefen, stimmte Eichhorn der Ansicht Motzs bei und erließ eine Instruktion an sämtliche Gesandten in Deutschland, welche ausführlich darstellte, wie unberechtigt [pg 149] und hoffnungslos das Unternehmen der Mitteldeutschen sei: die Verbündeten mögen sich die Frage vorlegen, was ein Verein von sechs Millionen Einwohnern, der fast nur Binnenländer umfaßt, bei einem Konflikt mit uns gewinnen dürfte, »ob der innere Verkehr nicht ertötet statt belebt und der Handel mit dem Auslande nicht beschränkt statt ausgebreitet werden würde«. Außerdem erhielt die Wiener Gesandtschaft die Weisung, sich zu beschweren über die feindselige Haltung der österreichischen Diplomaten und dem Staatskanzler die auf Metternichs Demagogenfurcht berechnete Frage ans Herz zu legen: »Sind es nicht hauptsächlich die Absonderungen und Trennungen, welche im Handel und Verkehr stattfinden, wodurch eine Stimmung des Mißbehagens, der Unzufriedenheit und der Sehnsucht nach einer Veränderung unterhalten wird?« Der Gesandte in London ward befehligt, entschieden auszusprechen, daß an Verhandlungen mit Hannover vorerst nicht mehr zu denken sei: »wir müssen offen gestehen, daß unser Vertrauen auf hannoverscher Seite schlecht erwidert worden ist«. Jordan in Dresden sollte sein Befremden über die mißtrauische Heimlichkeit der sächsischen Politik kundgeben; Grote in Hamburg dem Senate »die Anerkennung seines weisen und angemessenen Betragens aussprechen und dabei erklären, man hoffe, daß er bei demselben auch verharren werde«.
Zugleich erging an die Regierungen der Grenzbezirke der Befehl, die handelspolitischen Maßregeln der Verbündeten, die sich noch immer in rätselhaftes Dunkel hüllten, scharf zu beobachten. Hier zeigte sich die ganze Unnatur des Mitteldeutschen Vereins. Das Vereinsgebiet lag im Bereiche der preußischen Macht, war überall von eingesprengten preußischen Gebietsstücken unterbrochen, durch tausend Bande des nachbarlichen Verkehrs an Preußen gekettet. Eine Schar von preußischen Postbeamten, Floßinspektoren, Schiffahrtsaufsehern lebte in Feindesland, gab sichere Nachricht über alles, was auf den Flüssen und Straßen der Verbündeten vorging. Die Staatszeitung und Buchholzs Neue Monatsschrift begannen den Federkrieg gegen den Handelsverein »Eine Souveränität, die sich durch bloße Opposition geltend machen will — rief Buchholz warnend —, steht im Widerspruch mit sich selbst und kann nur Niederlagen erfahren.« [pg 150] Auch durch Retorsionen wollte Motz den Gegnern zu Leibe gehen; er dachte den sächsischen Fabrikanten den Meßrabatt zu entziehen und in Magdeburg eine Messe zu errichten. Hier aber widersprach der König; er wollte sein Wort halten, auch jetzt noch jede Feindseligkeit gegen deutsche Bundesstaaten unterlassen, und ließ den kampflustigen Finanzminister an die Rücksichten erinnern, die man dem Deutschen Bunde schulde.
Die offene Sprache der preußischen Diplomatie erweckte allerdings Angst und Reue an einigen der kleinsten Höfe. Der Fürst von Sondershausen, dessen Unterherrschaft unter dem Schutze des preußischen Zollsystems aufblühte, war mit seiner Oberherrschaft dem Handelsverein beigetreten und ließ durch sein Geheimes Konsilium das Berliner Kabinett bitten, »diese abgedrungene Maßregel nicht übel zu deuten«. Darauf erwiderte das Auswärtige Amt: man hoffe, »daß ein pp. Konsilium keinen Augenblick darüber im Zweifel sein werde, was in der Wahl zwischen der Festhaltung an dem bisher bestehenden Verhältnis mit Preußen und zwischen der Teilnahme an einer neuen Verbindung zu tun oder zu lassen sei«. Nun bat der Fürst in einem eigenhändigen Briefe den König um Verzeihung und flehte, ihn »mit allergnädigster Nachsicht zu beurteilen und der unschätzbaren hohen Gnade nicht für unwert zu halten«. Auch der Herzog von Gotha schrieb an Wittgenstein (16. Dezember): er erfahre »zu seiner größten Verwunderung«, daß Preußen mit dem Handelsvereine nicht einverstanden sei; nimmermehr sei ihm in den Sinn gekommen, den preußischen Hof, dessen Gunst so wertvoll, zu verletzen.
Gegen die größeren Staaten des Vereins war mit so sanften Mitteln nichts auszurichten. Motz behielt doch Recht, da er an Bernstorff schrieb: »Ich bin der Meinung, daß andere Rücksichten, welche nicht durch die bestehenden Verträge geboten werden, gegen die betreffenden, uns in finanzieller Hinsicht nur feindlich gegenüberstehenden Bundesstaaten wohl aus den Augen gesetzt werden können, indem der preußische Staat die Macht und die Kraft hat, seinen hohen und höchsten Interessen die der Bundesstaaten unterzuordnen, und nach den seit 13 Jahren gemachten Erfahrungen die Liebe für uns in den Bundesstaaten erst dann zu gewinnen [pg 151] sein dürfte, wenn sie mit Furcht und Beachtung der bestehenden Verhältnisse vereinigt bleibt.« Der feurige Mann war entschlossen, den Handelsverein zu sprengen: gegen offenbare Feindseligkeit reiche die Politik des Zuwartens nicht mehr aus. »Wir werden es noch dahin bringen, rief er zuversichtlich, daß einzelne Mitglieder des Mitteldeutschen Vereins dringend um Aufnahme in den preußischen Verein bitten werden!« Er hatte noch im Januar bezweifelt, ob eine Verbindung mit dem soweit abgelegenen Bayrisch-Württembergischen Verein rätlich sei; jetzt faßte er den glücklichen Gedanken, über den Handelsverein hinweg den süddeutschen Königskronen die Hand zu reichen und dergestalt durch einen Bund des Nordens mit dem Süden den mitteldeutschen Sonderbund zu zerstören.
Zum Heil für Deutschland erwachten um dieselbe Zeit ähnliche Wünsche in München und Stuttgart. Wie laut auch König Ludwig im ersten Zorne wider Preußens und Darmstadts Verräterei gescholten hatte, auf die Dauer konnte er sich doch nicht verbergen, daß seine eigenen kühnen Pläne gescheitert waren. Nachdem Kurhessen zu den Mitteldeutschen übergetreten, war an eine Vergrößerung des Süddeutschen Vereins nicht mehr zu denken; der rein deutsche Bund unter Wittelsbachs Fahnen blieb ein Traum. Ebensowenig konnte der Verein in seiner vereinsamten Stellung verharren. Auch trat, wie Metternich vorhergesehen, die alte Abneigung zwischen den beiden Königen bald wieder hervor. Die Hoffnung auf einen Handelsverein mit der Schweiz ward zunichte an der Zwietracht der Eidgenossen. So blieb den oberdeutschen Königen nur die Wahl, entweder mit Preußen oder mit dem sächsisch-englischen Verein eine Verbindung zu suchen. Hinter Sachsen und Hannover aber stand Österreich; dies allein genügte, um den König von Württemberg gegen die mitteldeutschen Verbündeten einzunehmen. Sein neuer Finanzminister, Freiherr Karl Varnbüler100, derselbe, der einst in den Vorderreihen der Altrechtler gestanden, bewährte sich als ausgezeichneter Geschäftsmann und riet dringend zur Verständigung mit Preußen. Welchen nennenswerten handelspolitischen [pg 152] Vorteil, außer der Herabsetzung der Durchfuhrzölle, hatten die Mitteldeutschen zu bieten? Wie sollte der patriotische König von Bayern sich einlassen in jene unsauberen Zettelungen mit Frankreich, England, Holland, welche der Mitteldeutsche Verein mit unbeschämter Stirn betrieb? In der ersten Aufwallung des Zornes hatte König Ludwig wohl einen Schritt nach Frankreich hinüber getan; ein Bündnis mit dem Auslande einzugehen, den deutschen Verkehr dem englischen Handelsinteresse zu unterwerfen, lag dem bei all seiner Wunderlichkeit grunddeutschen Monarchen ebenso fern wie seinem vertrauten Minister Armansperg.
Sobald man in München kaltblütig überlegte, erschien doch selbst Preußens Verhalten in dem Sponheimer Handel erklärlich. Die Berliner Regierung war ja durch europäische Verträge verpflichtet, Badens Recht zu schützen; sie verfuhr, wie König Ludwig selbst zugeben mußte, mit rückhaltloser Offenheit; ihr Gesandter suchte durch versöhnliche Sprache den erzürnten Fürsten zu beschwichtigen. Preußen schlug jetzt vor, Bayern und Baden sollten beiderseits auf ihr Sponheimer Erbrecht verzichten, damit der leidige Handel für immer aus der Welt geschafft würde. König Ludwig sträubte sich lange, doch fing er an zu begreifen, daß dies der einzige Weg sei, um sich mit Anstand aus dem verlorenen Spiele zurückzuziehen. Gegen den Spätsommer 1828 begannen der Minister und sein königlicher Freund bereits die Frage zu erwägen, ob nicht eine Annäherung an den Preußisch-Hessischen Verein unvermeidlich sei. Daß die öffentliche Meinung in Bayern dieser Annäherung entschieden widerstrebte, war für die Freunde eher ein Stachel als ein Hemmnis. Voll hochfliegender Begeisterung, empfänglich für alles Außerordentliche, liebten beide die Welt durch unerwartete Entschlüsse zu überraschen. Um so schwerer fiel ihnen, die Demütigung ihres Ehrgeizes, den Schiffbruch ihrer reindeutschen Pläne zu verwinden. Aber sie vermochten es über sich, das Opfer zu bringen. Unabweisbar drängten diese trocknen Geschäftsverhandlungen den näher Beteiligten die Einsicht auf, daß die Deutschen doch zueinander gehörten, nur durch Mißtrauen, durch Unkenntnis und durch die Selbstsucht, die immer der schlimmste Feind des eigenen Vorteils ist, einander verfeindet wurden.
[pg 153]Ganz unerwartet fand sich ein Helfer, der die beginnende Umstimmung am Münchener Hofe zu fördern und für Deutschlands große Sache zu verwerten verstand. Der Buchhändler Freiherr v. Cotta101 war als großer Geschäftsmann mit Personen und Zuständen des deutschen Nordens näher vertraut als das schwäbisch-bayrische Beamtentum, und blickte, wie er schon in dem württembergischen Verfassungskampfe bewiesen hatte, auch in der Handelssache über die landläufigen süddeutschen Vorurteile weit hinaus. Unternehmend und beweglich, befreundet mit Nebenius und anderen namhaften Volkswirten in allen Teilen Deutschlands, erkannte er längst, daß der süddeutsche Verkehr ohne Preußens freundnachbarlichen Beistand niemals gesunden könne, und obgleich ihm viel daran lag, die Gunst Metternichs für seine Allgemeine Zeitung nicht zu verlieren, so faßte er doch den tapferen Entschluß, als Vermittler aufzutreten. Er besprach sich insgeheim mit Armansperg, reiste dann im September 1828 nach Berlin zu dem großen Naturforschertage, der also auch für unsere Politik bedeutsam werden sollte. Cotta wurde durch Humboldt bei Witzleben102 und Motz eingeführt, sprach dort den Gedanken aus, ob nicht eine Verständigung zwischen Bayern und Preußen möglich sei, und fand den günstigsten Empfang. Eine überraschende Verwandtschaft der Anschauungen stellte sich heraus. Motz bekannte, daß er sich längst mit ähnlichen Absichten getragen habe; im Grunde seien es ja doch nur Mißverständnisse, welche bisher zwischen den beiden Staaten gestanden. Cotta kehrte heim und schrieb am 20. Oktober aus München: er habe des Ministers »gnädige Eröffnungen« den Monarchen in München und Stuttgart mitgeteilt; beide seien von der Notwendigkeit des Planes überzeugt und hätten bereits die Einladung, dem Mitteldeutschen Verein beizutreten, zurückgewiesen. Nunmehr zog Motz das Auswärtige Amt in das Geheimnis und erklärte: »Jetzt ist es wünschenswert, einen Handelsverein mit Bayern, Württemberg und Baden zu bilden«: der Süden muß für [pg 154] eigene Rechnung unsere Zollgrundsätze annehmen, namentlich unsere höheren Tarifsätze auf ausländische Waren, also auch auf die Waren des Mitteldeutschen Vereins. Solange dieser Verein die vollständige Verschmelzung mit dem Süden hindert, müssen Preußen-Hessen und Bayern-Württemberg mindestens ihre eigenen Produkte und Fabrikate gegenseitig vom Zolle befreien.
Im November eilte der Unterhändler wieder nach Berlin, diesmal mit einer förmlichen Beglaubigung versehen, und wurde von dem Könige aufs freundlichste aufgenommen. Die Berliner erzählten sich mit untertänigem Erstaunen, der einfache Buchhändler sei zur Tafel gezogen worden. Motz gab ihm nach längeren Verhandlungen die Punktation des Vertrags mit auf den Weg. Triumphierend meldete Cotta am 17. Dezember aus München: »Alles, was ich mitbrachte, war hier höchst erfreulich und willkommen«, bei König Ludwig wie bei dem Minister Armansperg. »Beide sind von den großartigen Ideen ergriffen, die einer Verbindung Preußens mit Bayern und Württemberg nach den von Hochdenselben entwickelten Grundsätzen als Leitstern vorgehen und zur Richtschnur dienen. Ich sehe schon im Geiste Ihre herrliche Idee in kurzer Frist realisiert«. Und am 20. Dezember nochmals: Wird auch Baden gewonnen, »so wäre der Grundstein im Süden Deutschlands zu dem Gebäude gelegt, das Ihr verehrter König und Sie zum Wohle und Gedeihen Deutschlands im Auge haben«.
Motz erwiderte: er hoffe »ein Werk zu begründen, an welchem nicht nur wir und unsere Zeitgenossen, sondern auch unsere Nachkommen Freude haben werden«. Der Mitteldeutsche Verein müsse offen bekämpft werden, »denn was wir gemeinschaftlich suchen, ein soviel möglich allgemeiner Markt in Deutschland, wird für Bayern, Württemberg und Preußen durch die Grundsätze dieses neutralen Vereins nicht nur befördert, sondern viele diesem Verlangen entgegenstehende Hindernisse nur noch mehr stabiliert«. Gleichzeitig schrieb er an den Kronprinzen von Preußen, der sich gerade am Münchener Hofe aufhielt, enthüllte ihm das Geheimnis der Mission Cottas, bat dringend um Unterstützung: der Vertrag sei politisch und volkswirtschaftlich hochwichtig, wenngleich die Zolleinnahmen wohl zunächst einige Einbußen erleiden würden. Der Prinz, der dem geistreichen Minister längst wohl wollte, nahm sich denn auch der Verhandlungen eifrig an.
[pg 155]Am 9. Januar 1829 konnte Cotta aus Stuttgart berichten, daß auch König Wilhelm die Hauptgrundsätze der preußischen Punktation gebilligt habe, und gegen Ende des Monats erschien der Unermüdliche zum drittenmal in Berlin. Der preußische Minister verlor zuweilen fast die Geduld bei allen den ängstlichen Vorbehalten, welche der süddeutsche Unterhändler stellen mußte, und klagte bitterlich über diesen »Hökerkram«. Gegen die vollständige Zollbefreiung der eigenen Produkte erhob Bayern Bedenken; man fürchtete in München die überlegene rheinische Industrie. Auch mit seinem Vorschlage, daß die bayrische Pfalz sofort dem preußischen Zollverein beitreten solle, drang Motz nicht durch; der Stolz der bayrischen Krone widerstrebte, auch der Münchener Landtag hätte der unerläßlichen Abänderung des pfälzischen Steuerwesens niemals zugestimmt. Noch weniger war auf Badens Beitritt zu hoffen. Der kleine Staat wollte die günstige Gelegenheit benutzen, um seinen Länderbestand für alle Zukunft sicherzustellen; er forderte, daß vor den Zollverhandlungen der Sponheimer Streit beigelegt werde. Da König Ludwig darauf nicht einging, so erkannte das Berliner Kabinett im Laufe des Winters selbst, daß man nicht wohl tue, die Verhandlungen noch mehr zu verwickeln, und ließ Baden vorläufig aus dem Spiele.
Am 6. März 1829 begannen endlich die amtlichen Verhandlungen in Berlin. Die süddeutschen Kronen waren durch ihre Gesandten Luxburg und Blomberg vertreten, den Ausschlag gab Cotta, der von beiden Königen Vollmacht hatte. Für Preußen erschienen Eichhorn und Schönberg, dazu Motz, Maaßen und Finanzrat Windhorn. Auch Hofmann kam aus Darmstadt herüber. Die ersten Kräfte der Regierung waren aufgeboten; es galt, die Brücke über den Main zu schlagen. Am 27. Mai 1829 wurde der Vertrag unterzeichnet. Preußen- Hessen und Bayern-Württemberg versprachen einander bis zum Jahre 1841 Zollfreiheit für alle inländischen Erzeugnisse der Natur, des Gewerbefleißes und der Kunst; nur für eine Reihe wichtiger Fabrikwaren sollte, auf Bayerns Andringen, zunächst bloß eine Zollerleichterung um 25 Prozent eintreten, bis allmählich die völlige Befreiung erfolgen könne. Beide Teile verpflichteten sich, ihre Zollsysteme mehr und mehr in Übereinstimmung zu bringen; alljährlich sollten Bevollmächtigte [pg 156] zusammentreten »zur Befestigung und Erweiterung dieses Vertrags«. Auch ein Zollkartell wurde für die Zukunft verabredet. Der Vertrag trug in allem den Charakter eines Provisoriums; er begründete die engste Form handelspolitischer Vereinigung, die sich erreichen ließ, so lange die Länder der Verbündeten nicht in festem geographischen Zusammenhange standen. Alle Beteiligten fühlten, daß sie erst im Beginn einer Zeit gemeinsamer handelspolitischer Aktion standen; sie verpflichteten sich zu Protokoll, Handelsverträge mit solchen Ländern, die an mehrere Vereinsstaaten zugleich angrenzten, also vornehmlich mit Baden, nur im gemeinsamen Einverständnis abzuschließen.
Unbeirrt durch die Peinlichkeit der Einzelverhandlungen hielt Motz seinen Blick fest auf die großen Verhältnisse des Vaterlandes gerichtet; er wußte, daß er seinem Staate die Bahn zu einer stolzen Zukunft geöffnet hatte. Im Juni sprach er sich gegen den König über die politische Bedeutung der geschlossenen Verträge offen aus. Seine Denkschrift wirft zuerst einen Rückblick auf die vollendete Unfähigkeit des Bundestags, der niemals in förmliche Beratung über die Handelseinheit getreten sei; selbst während der Not von 1817 habe man in Frankfurt nur genau soviel getan, »um den föderativen Nachbar, im buchstäblichen Sinne des Wortes, nicht verhungern zu lassen. Wie konnte dies auch anders sein, da dem Deutschen Bunde ein großer Staat an der Spitze steht, der das ihm eigentümliche, seit 50 Jahren schon bestehende, seinem privaten Interesse bis daher vermeintlich zusagende, mit den Interessen der übrigen Staaten des Deutschen Bundes aber nicht vereinbarliche Zoll- und Prohibitivsystem aufzugeben nicht gewillt ist; da andere Bundesmitglieder die Handelsinteressen ihrer Hauptstaaten denen ihrer Bundeslande unterzuordnen nicht gemeint sind, vielmehr letztere, natur- und sachgemäß, an die ersteren festgeknüpft haben; und da wieder andere den Gegenstand mehr nur aus fiskalischem wie aus staatswirtschaftlichem Gesichtspunkte betrachtet wissen wollen? Der Deutsche Bund gab damit ein Beispiel, wie die allgemeine Staatengeschichte bis dahin noch keines aufzuweisen hat«; es entstand ein Handelskrieg aller gegen alle, »der weit schlimmer war, als ein innerer Krieg der Waffen nur je hätte sein können«. Dann erinnert [pg 157] Motz an die patriotischen Bestrebungen des deutschen Handelsstandes, an die persönlichen Bemühungen der Souveräne von Bayern und Württemberg. Als gleichzeitig der Bayrisch-Württembergische und der Preußisch-Hessische Verein sich bildeten, lag die Möglichkeit zweier großen Zollvereine für ganz Deutschland vor. Da erhob sich unter Österreichs Führung der neutrale Verein, der den status quo, d. h. das Unerträgliche aufrecht erhalten will; er zwang uns, sogleich weiter zu gehen und das große Handelssystem zu begründen.
Dies System, fährt die Denkschrift fort, bietet erstens kommerzielle Vorteile. Die Verbindung umschließt schon jetzt 20 Millionen Einwohner, behauptet also den dritten Platz unter den europäischen Staaten, da Österreich kein einiges Machtgebiet bildet; sie wird auf 25 Millionen steigen, sobald der Mitteldeutsche Verein wahrnimmt, »daß er ganz und gar einen eitlen Zweck verfolgt«, und die süd- und mitteldeutschen Staaten nebst Mecklenburg uns beitreten; sie wird auf 27 Millionen steigen, wenn auch die anderen Staaten (soweit sie nicht Nebenlande sind), also Hannover, Braunschweig, Oldenburg und die Hansestädte eintreten. Der innere Verkehr ist wichtiger als der auswärtige Handel, jener schlägt dreimal, dieser einmal im Jahre das Kapital um. Manche deutsche Staaten erhalten durch das Handelssystem einen zwanzig- bis zweihundertmal größeren Markt für ihre Produkte. Dazu kommen zweitens die finanziellen Vorteile. Der Satz: »je billiger die Abgabe, desto größer der Ertrag«, wird sich auch diesmal bewähren, wenngleich vielleicht die erste Übergangszeit einige Ausfälle bringen mag. Wichtiger ist drittens der politische Gewinn. »Wenn es staatswissenschaftliche Wahrheit ist, daß Zölle nur die Folge politischer Trennung verschiedener Staaten sind, so muß es auch Wahrheit sein, daß Einigung dieser Staaten zu einem Zoll- und Handelsverbande zugleich auch Einigung zu einem und demselben politischen System mit sich führt.«
Nun wird in großen Zügen die friderizianische Politik den Wittelsbachern gegenüber geschildert: wie Friedrich den ersten Nichtösterreicher, Karl VII., auf den Kaiserthron erhoben, dann durch den bayrischen Erbfolgekrieg und den Fürstenbund Bayern dreimal vom Untergange gerettet habe. Preußen hat bisher von alledem noch keine Frucht geerntet. [pg 158] Bayerns feindselige Haltung zur Zeit des Rheinbundes und der Ansbach-Baireuther Händel erklärt sich nur aus »der totalen Verwirrung und Verirrung der Staatenpolitik« jener revolutionären Tage. Heute aber kann Preußen kein Mißtrauen mehr einflößen, sondern muß wünschen, »mit allen den Staaten, die nur von wahrhaft deutschem Interesse geleitet und Preußen mit offenem Vertrauen ergeben sind, nicht aber etwa den Besitz deutscher Provinzen bloß als Vehikel für Förderung der Interessen ihrer größeren auswärtigen, Deutschlands Interessen fremden Staatenkörper zu benutzen streben, in jeder Beziehung, politisch und kommerziell, sich recht innig und recht enge zu verbinden«. Möglich bleibt doch der für jetzt allerdings »nicht leicht gedenkbare« Fall, daß entweder ein allgemeiner Krieg ausbräche, oder »daß der Deutsche Bund in seiner jetzigen Gestalt sich einmal auflöste und mit Ausschluß aller heterogenen Teile sich neu gestaltete«; dann würde unser Handelssystem ungeheuer wichtig werden. Viertens bringt uns das Handelssystem eine militärische Verstärkung um 92000 Mann. Bayerns Zutritt entschied die Kriege von 1805 und 1806 zu Napoleons Gunsten, desgleichen der Rheinbund den Krieg von 1809. Gegen Frankreich können wir unser Rheinland nur decken, wenn wir der bayrischen Pfalz sicher sind; Österreich aber wird durch den Handelsbund in einem weiten Bogen umfaßt, kann von Schlesien und Altbayern her zugleich bedroht werden. Die Denkschrift schließt: »In dieser, auf gleichem Interesse und natürlicher Grundlage ruhenden und sich notwendig in der Mitte von Deutschland erweiternden Verbindung wird erst wieder ein in Wahrheit verbündetes, von innen und von außen festes und freies Deutschland unter dem Schutz und Schirm von Preußen bestehen. Möge nur das noch Fehlende weiter ergänzt und das schon Erworbene mit umsichtiger Sorgfalt noch weiter ausgebildet und festgehalten werden!«
So der preußische Finanzminister, ein Jahr vor der Julirevolution, zwei Jahre bevor Paul Pfizer103 den Briefwechsel zweier Deutschen erscheinen ließ! Unter allen Äußerungen [pg 159] deutscher Staatsmänner aus jener Zeit ist keine, die so entschieden mit der Politik des friedlichen Dualismus bricht, die so rund heraussagt: los von Österreich! Und welche Sicherheit des Blicks in allem und jedem! Der Mann wußte schon 1829 bis auf einen geringfügigen Irrtum ganz genau, in welcher Reihenfolge bis zum Jahre 1866 die deutschen Staaten dem Zollverein beigetreten sind.
In einem Rundschreiben an ihre Gesandten sprach die preußische Regierung offen aus: der Vertrag mit Bayern stelle eine noch engere Vereinigung und die allmähliche Verwirklichung der deutschen Handelseinheit in Aussicht. Noch blieben am bayrischen Hofe tausend Bedenken zu überwinden. König Ludwig, gewöhnt an unbedingte Selbstherrschaft, zürnte heftig, weil seine Unterhändler in einigen Punkten ihre Instruktionen überschritten hatten; er konnte das alte süddeutsche Mißtrauen gegen die preußischen Kniffe nicht überwinden, mäkelte an jedem Worte, fürchtete überall doppelte Auslegung. Auch der berühmte Streit über das Alternat104, der in jenen Tagen die Mußestunden der Bundestagsgesandten würdig ausfüllte, wirkte störend. Die königlichen Höfe wollten den großherzoglichen wohl die Gleichberechtigung beim Vortritt, doch nicht bei den Unterschriften zugestehen; nach vielem Herzeleid behalf man sich endlich, fertigte nur zwei Haupturkunden aus, die eine für Preußen-Hessen, die andere für Bayern-Württemberg gemeinsam. Dazu die begreifliche Furcht des Münchener Hofes vor der Kleinmeisterei seines Landtags. Cotta bat inständig: »nicht zu vergessen, daß wir selbst Vorurteilen fröhnen müssen, um die höheren großen Zwecke zu erreichen, besonders den Verein«. In gleichem Sinne schrieb Armansperg an Motz: »das gewiß segensreiche Werk, welches durch den Handelsvertrag nunmehr in das Leben treten wird, verdankt Deutschland größtenteils der Großartigkeit Ihrer Ideen und der tätigen Sorgfalt, womit Ew. Exzellenz die Unterhandlungen leiteten und jede Einseitigkeit zu entfernen strebten. Wenn dem Geiste Ew. Exzellenz manches, wonach unsere Wünsche zielen, kleinlich erscheinen wird, so mögen Sie in [pg 160] Erwägung ziehen, daß in den Hallen der Stände manch Kleinliches hauset und nicht immer durch die Waffe der Vernunft bekämpft und besiegt werden kann« — worauf dann im Interesse der oberpfälzischen Hammerwerke gebeten ward, die groben Eisenwaren unter die Ausnahmeartikel zu stellen. Im Laufe des Sommers hat Cotta selbst in Brückenau und Friedrichshafen die letzten Bedenken der beiden süddeutschen Könige beschwichtigt; sie ratifizierten, überhäuften den gewandten Unterhändler mit Gunst. König Wilhelm zeigte sich ebenso unbefangen wie sein Minister Varnbüler; von den alten cäsarischen Träumen war keine Rede mehr. Dann schickte Preußen zwei seiner besten Finanzmänner, Sotzmann und Pochhammer, nach München, um die neuen Zolleinrichtungen einführen zu helfen. Die bayrischen Beamten erstaunten, soviel Geduld und Schonung bei den verrufenen Preußen zu finden; in gemeinsamer ernsthafter Arbeit trat man einander näher.
Nun der schwere Entschluß gefaßt war, segelte König Ludwig sogleich mit rastlosem Ungestüm in dem neuen Fahrwasser dahin. Er pries in überschwenglichen Worten die Redlichkeit, die Mäßigung, die Größe der Ansichten des Berliner Kabinetts, versicherte dem Bildhauer Rauch, wie stolz er sei, mit dem Staate Friedrichs Hand in Hand zu gehen, wie rechtschaffen und weise König Friedrich Wilhelm sich gehalten habe. Die öffentliche Meinung im Süden nahm den Vertrag voll Mißtrauens auf; eine Deputation, die dem Könige den Dank der guten Stadt Nördlingen aussprach, blieb eine vereinzelte Erscheinung. In den höheren Kreisen des bayrischen Beamtentums fühlte man doch, daß endlich nach langen Irrfahrten fester Ankergrund gefunden sei. Der Bundestagsgesandte Lerchenfeld erhielt strenge Weisung, sich der mitteldeutschen Zettelungen zu enthalten, und wirkte fortan zu Frankfurt und Kassel redlich mit seinen preußischen Genossen zusammen. Die freieren Köpfe ahnten von vornherein, daß dies gesunde naturgemäße Bündnis zwischen den beiden größten deutschen Staaten weiter führen mußte. Schon bei den Berliner Verhandlungen hatte Hofmann die Frage aufgeworfen, ob nicht Preußens westliche Provinzen mit dem Süden sogleich einen wirklichen Zollverein bilden sollten. In dieser unreifen Form war der Gedanke für Preußen unannehmbar. [pg 161] Sobald man den Vertrag ausführte, zeigte sich jedoch rasch, daß man nicht auf halbem Wege stehen bleiben konnte. Die bayrische Rheinpfalz erhielt bayrische Mauten, da man sich in München nicht hatte entschließen können, sie dem preußischen Zollsystem einzufügen. Das Ergebnis war trostlos: die Provinz brachte im Jahre 1830 nur 165000 Gulden an Zöllen auf, während die Grenzbewachung 248000 Gulden verschlang. Der Landrat der Pfalz bat und klagte; der Zustand konnte nicht dauern. Schon im Februar 1830 fragte der unermüdliche Cotta bei Hofmann vertraulich an, wie man denn bei vollständiger Zollgemeinschaft mit den preußischen Behörden auskomme. Hofmann antwortete mit einem warmen Lobe für die preußischen Beamten, die sich zwar anfangs sehr mißtrauisch zeigten, nachher aber, sobald sie die Zuverlässigkeit der hessischen Verwaltung kennen lernten, ganz umgänglich wurden.
Das Ausland und seine Gesellen, die Mitteldeutschen, sahen mit wachsendem Schrecken, wie Preußens Handelspolitik binnen Jahresfrist einen zweiten großen Erfolg errang. Vergeblich hatte das sächsische Kabinett noch während der Berliner Verhandlungen den Münchener Hof für den mitteldeutschen Bund geworben; vergeblich war der Nassauer Röntgen, jener alte vielgeschäftige Feind Preußens, nach Stuttgart gereist, um dort vorzustellen: Motz, der ruchlos ehrgeizige Kraftmensch, wolle Preußen durch die Entfesselung der industriellen Kräfte zur leitenden deutschen Macht erheben. In Berlin selbst arbeiteten einige Agenten des mitteldeutschen Vereins, so der Frankfurter Senator Guaita. Österreich sendete den Hofrat Eichhof nach München, um Bayern durch das Angebot einiger geringfügigen Handelserleichterungen von Preußen hinwegzulocken und zugleich den König Ludwig zu erinnern, wie feindselig Preußen in der Sponheimer Sache gehandelt habe. Münch in Frankfurt versuchte wieder einmal, den Darmstädter Hof gegen Hofmann, »dies Werkzeug Preußens«, einzunehmen. Die Diplomatie Englands, Frankreichs, Hollands — voran Lord Erskine und Graf Rumigny in München — ward nicht müde, vor Preußen zu warnen. Von allen fremden Mächten zeigte sich wieder nur Rußland als ein treuer Freund Preußens; Anstett in Frankfurt sprach offen und nachdrücklich für die Berliner Handelspolitik.
[pg 162]Nach und nach begann doch die vollendete Tatsache ihren Zauber zu üben. Wie lange sollte man noch die Klagen der mißhandelten Nation ertragen? Wie lange noch sich abquälen an allezeit vergeblichen Sonderbünden, während Preußen jede handelspolitische Verhandlung regelmäßig erfolgreich hinausführte? Selbst Blittersdorff, der rastlose Parteigänger Österreichs, gab nunmehr die Sache Habsburgs fast verloren. Wenn Preußen, so schrieb er, alle deutschen Staaten unter seinem Handelssystem vereinigt, dann ist Österreich faktisch aus dem Deutschen Bunde hinausgedrängt! Der Verkehr wird dadurch nicht zentralisiert, sondern, bei der großen Anzahl unserer kleinen Mittelpunkte, überall gleichmäßig belebt werden. Die Gefahren für die Souveränität sind geringer in einem großen Zollverein, als wenn man versucht, der Zeit in den Weg zu treten. —
Die preußisch-bayrischen Verhandlungen blieben ein Schlag ins Wasser, solange der Verkehr zwischen den beiden Staaten den willkürlichen »Retorsionen« des mitteldeutschen Vereins unterlag. Die neue Straße von Westfalen durch das darmstädtische Gebiet verband nur die westlichen Provinzen Preußens mit den Ländern der süddeutschen Bundesgenossen und führte überdies in der Frankfurter Gegend einige Stunden lang durch mitteldeutsches Vereinsland. Sollte der preußisch-bayrische Bund Lebenskraft gewinnen, so war eine zollfreie Straße zwischen den Hauptmassen der beiden verbündeten Zollvereine unentbehrlich. Da erinnerte sich Motz zur guten Stunde an den Straßendünkel des Meininger Reiches und an jenen untertänigen Entschuldigungsbrief des Gothaer Herzogs. Wie nun, wenn Preußen dem Meininger Lande die Mittel bot, jene Welthandelsstraße zwischen Italien und der Nordsee wirklich zu bauen? Der Wunsch, den Verkehr im Lande zu halten, blieb ja der höchste Gedanke, dessen die Handelspolitik der Kleinstaaten jener Tage fähig war. Wie oft sind die Staatsmänner der Ernestiner nach München oder Berlin geeilt, um durch dringende Bitten den Bau einer Umgehungsstraße zu verhindern; wie jammerte Frankfurt, da im Frühjahr 1829 ein Spediteur Waren aus der Schweiz nach Leipzig über Nürnberg sendete und billigere Fracht berechnete als seine Frankfurter Konkurrenten. Diese Straßenpolitik war das beste Rüstzeug des Mitteldeutschen Vereins, [pg 163] und Motz beschloß, die Verbündeten mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Er eröffnete Verhandlungen mit Meiningen und Gotha, noch bevor der bayrische Vertrag abgeschlossen war. Der Herzog von Koburg kam selbst nach Berlin. Am 3. Juli 1829 wurde mit Meiningen, tags darauf mit Gotha ein Vertrag geschlossen, »um die Hindernisse zu beseitigen, die vorzüglich durch örtliche Verhältnisse dem Handel und gewerblichen Verkehr entgegenstehen«. Die drei Staaten verpflichteten sich gemeinsam, einen großen Straßenzug zu bauen von Langensalza über Gotha nach Zelle, von da über Meiningen nach Würzburg und über Suhl, Hildburghausen, Lichtenfels nach Bamberg. Preußen schoß den kleinen Herren die Gelder vor. Der Durchfuhrhandel auf den neuen Straßen wurde völlig freigegeben. Dazu mehrfache Zollerleichterungen und freier nachbarlicher Verkehr zwischen Meiningen, Gotha und Preußens thüringischen Enklaven. Es war dieselbe Straße quer über den Kamm des Thüringer Waldes, die nachher in der Eisenbahnpolitik des Deutschen Reiches noch einmal eine bedeutsame Rolle spielen sollte.
Diese beiden unscheinbaren Verträge haben in Wahrheit den Mitteldeutschen Verein vernichtet. Denn jetzt erst erhielt der preußisch-bayrische Vertrag praktischen Wert. Motz eilte selbst nach Thüringen, um den raschen Ausbau der Straßen zu fördern. Sobald dieser zollfreie Straßenzug vollendet war, standen die beiden verbündeten Zollvereine in gesicherter geographischer Verbindung, ihre völlige Verschmelzung blieb nur noch eine Frage der Zeit. Zugleich hatte das Berliner Kabinett mit Mecklenburg den Bau einer neuen Straße von Hamburg nach Magdeburg verabredet. Der mächtige Warenzug zwischen der Nordsee und der Schweiz ward von Hannover, Kassel und Frankfurt hinweggelenkt auf die Straße Magdeburg-Nürnberg. Der Mitteldeutsche Verein, der Bayern und Preußen auseinander halten sollte, wurde durch einen Meisterstreich der preußischen Diplomatie selber in der Mitte zerspalten. Immer wieder drängt sich der Gedanke auf, wieviel langsamer der Knoten sich hätte entwirren lassen, wenn ein Reichstag die diplomatische Aktion des Berliner Hofes lähmte. Wer diese unterirdische Arbeit auf ihren verschlungenen Wegen verfolgt, der muß, wo nicht billigen, so doch verstehen, daß ein freier Geist wie Trendelenburg105, [pg 164] damals den preußischen Absolutismus als einen Segen für Deutschland pries.
Preußen vollzog mit jenen zwei Verträgen nur eine Tat erlaubter Kriegslist wider erklärte Gegner, und doch keinen feindseligen Schritt, keine gehässige Retorsion. Die Niederlage des Mitteldeutschen Vereins war um so vollständiger, da niemand das Recht hatte, sich über Preußen zu beklagen. Während sonst die Handelspolitik den Feind durch Handelserschwerungen zu schlagen sucht, entwaffneten Motz und Eichhorn den Kasseler Sonderbund durch die Erleichterung des deutschen Verkehrs; sie konnten sogar den Dank der Mitteldeutschen beanspruchen für die Eröffnung einer zollfreien Straße. Den beiden thüringischen Fürsten freilich gereichte der Hergang nicht zur Ehre. Verlockt durch die Aussicht auf den Besitz einer großen Handelsstraße, wurden die Herzöge zu Verrätern an ihren mitteldeutschen Verbündeten. Sie verletzten zwar nicht den Wortlaut, doch den Sinn des Kasseler Vertrages, der den Bundesgenossen allerdings den Abschluß von Handelsverträgen gestattete, aber unzweifelhaft den Zweck verfolgte, die Erweiterung des preußischen Zollsystems zu verhindern. Das böse Beispiel weckte bald Nachahmung. Der Mitteldeutsche Verein, gegründet durch partikularistische Selbstsucht, sollte ein würdiges Ende finden; er sollte nach und nach zerbröckeln durch ein frivoles Spiel mit Treu und Glauben.
Zugleich bereitete Motz in diesem tatenreichen Sommer den Mitteldeutschen noch eine Überraschung, die ihrem Handel Segen, ihrem Sonderbunde Verderben brachte. Er verständigte sich mit den Niederlanden über die Rheinschiffahrt und eröffnete also seinen süddeutschen Verbündeten die Aussicht auf freien Verkehr mit der Nordsee. Sobald der britische Kaufmann seine Waren zollfrei rheinaufwärts bis nach Frankfurt und Mannheim senden konnte, mußte England das Interesse an dem Mitteldeutschen Verein verlieren, und dem Sonderbunde war eine mächtige Stütze entzogen. —
Nach so gründlichen Niederlagen hätten ernsthafte Staatsmänner den Sonderbund als einen verunglückten Versuch [pg 165] sofort aufgeben und eine Verständigung mit den überlegenen Zollvereinen des Südens und des Nordens suchen müssen. Doch die unverwüstliche Zanksucht dieser kleinen Höfe wollte nicht Frieden halten, ihr Dünkel sträubte sich gegen ein beschämendes Geständnis. Der sächsische Gesandte in Wien, Graf Schulenburg, wußte Wunder zu berichten von den Handelserleichterungen, die Metternich in allgemeinen Andeutungen dem Verein versprach; ähnliche Zusagen, ebenso unbestimmt gehalten, gab der französische Gesandte Graf Fenelon dem Nassauer Hofe. In Hannover lebte ungebrochen der alte Welfenstolz; Graf Münster bot alle kleinen Künste auf, um den Meininger Herzog durch seine Schwester, die Herzogin von Clarence, von Preußen abzuziehen. Im Februar 1829 war Varnhagen von Ense106 von der preußischen Regierung nach Kassel und Bonn gesendet worden, um nochmals eine Beilegung des ehelichen Zwistes im kurfürstlichen Hause zu versuchen. Er hatte sich des undankbaren Auftrags mit erstaunlichem Ungeschick entledigt, bei Hruby, dem grimmigen Feinde Preußens, sich belehren lassen über die Lage. Das Ende war, daß die beiden Gatten unversöhnlicher denn je einander gegenüberstanden, und der Kurfürst in schäumender Wut seinem königlichen Schwager Rache schwur. So geschah es, daß das längst verlorene Spiel der Mitteldeutschen noch durch einige Jahre fortgesetzt wurde, bis Preußen den Gegnern auch den letzten Stein aus dem Brette geschlagen hatte.
Seit dem Juni 1829 tagte in Kassel abermals der Kongreß der Mitteldeutschen — ein Bild vollendeter Ratlosigkeit, ohnmächtigen Grolles. Alles tobte wider die Verräter in Meiningen und Gotha, die dem Verein »ein wichtiges Objekt« geraubt hatten; man sendete Kommissäre hinüber, um die beiden Herzöge zu verwarnen. Alles zitterte vor der freien preußischen Handelsstraße Hamburg-Nürnberg. Selbst die patriotische Hoffnung, daß Dänemark vielleicht den Bau [pg 166] jener Straße hindern werde, bot keinen Trost; denn das kleine Stück holsteinischen Gebiets zwischen Hamburg und der mecklenburgischen Grenze konnte leider auf der Elbe umgangen werden! Der nassauische Bevollmächtigte Röntgen pflegte auch dem befreundeten badischen Hofe Bericht zu erstatten über den Gang der Verhandlungen. Diese Berichte wurden von Karlsruhe getreulich der preußischen Regierung mitgeteilt; man kannte also in Berlin aus erster Quelle die rettungslose Verwirrung des feindlichen Lagers. Schon in einer der ersten Sitzungen warf ein Bevollmächtigter die wohlberechtigte naive Frage auf: »worin denn eigentlich das materielle Wesen des Vereins bestehe?« Man fühlte, daß man »eine Gesamtautonomie gründen müsse, um die eigene Autonomie zu bewahren«. Man verlangte nach einem »Gemeingut«, das als Unterhandlungsmittel gegen Preußen dienen solle. Die Lächerlichkeit eines Zollvereins ohne gemeinsame Zölle begann zwar einzelnen einzuleuchten; selbst Nassau meinte, die Vorteile des freien Binnenhandels überwögen unendlich jede Erleichterung des ausländischen Verkehrs. Aber, hieß es dawider, »würde der Verein ein wirklicher Mautverband, so müßten wir schließlich doch preußische Farbe annehmen!« Sechs Kommissionen wurden gebildet, um im Stile des Bundestages über alle erdenklichen Fragen der Verkehrspolitik hin und her zu reden. Absonderliche patriotische Freude erregte der Vorschlag, den 21 Guldenfuß anzunehmen und also »das preußische Geld zu verdrängen«.
Von neuem tauchte der Gedanke auf, mehrere Bünde im Bunde zu bilden — zwei, drei oder vier, was verschlug es? Diese politischen Mollusken ließen sich doch in jede beliebige Form pressen. Hannover wünschte einen Sonderbund der Küstenstaaten. In lehrhafter Denkschrift bewies Smidt von Bremen, daß die Vereinsstaaten teils in horizontaler, teils in vertikaler Richtung zu den großen deutschen Handelsstraßen lägen; sie möchten also zwei oder drei Gruppen bilden. Die freie Stadt Bremen, versteht sich, müsse unabhängig bleiben, denn sie »qualifiziert sich von selbst als eine Ausnahme von der Regel des Handelsvereins«. Indes begann dem gewiegten Handelspolitiker doch unheimlich zu werden; er riet dringend zu Verhandlungen mit den beiden anderen Zollvereinen.
[pg 167]Unverhohlen sprach sich die ängstliche Unlust der thüringischen Staaten aus. Reuß beantragte sofort Verhandlungen mit Preußen zu eröffnen; Meiningen und Gotha drohten, ihres eigenen Weges zu gehen, wenn der Verein nicht mit Preußen sich verständige. Geschäftig trugen die Bevollmächtigten der kleinen Thüringer dem preußischen Gesandten Hänlein die Geheimnisse des Vereins zu. Doch die größeren Staaten Hannover, Sachsen, Hessen, Weimar blieben hartnäckig. Die rastlosen Treiber Carlowitz, Grote, Conta brachten endlich am 11. Oktober 1829 einen neuen Bundesvertrag zustande. Die Verpflichtung, einseitig keinem auswärtigen Zollverein beizutreten, wurde verlängert bis zum Jahre 1841, weil der preußisch-bayrische Vertrag bis zu diesem Jahre währte. Die Durchfuhrzölle auf den großen, das Ausland mit dem Auslande verbindenden Straßen sollten nur nach gemeinsamer Verabredung verändert werden. Es lag auf der Hand, daß dieser Artikel allein bestimmt war, den Verkehr zwischen Preußen und Bayern zu erschweren, die Wiederholung der Gothaer und Meininger Vorgänge zu verhindern. Preußen versuchte auch sofort den Beschluß zu hintertreiben. Eichhorn schrieb an Bülow in London: »von der kurhessischen Regierung ist man schon lange gewohnt, daß sie das Verkehrte tut und keine Verhältnisse achtet«; unbegreiflich aber sei Hannovers Verhalten; der Gesandte solle daher in London nachdrückliche Beschwerden erheben. Trotzdem ging der Beschluß durch, und nach dieser unzweideutigen Feindseligkeit bestimmte man in Kassel noch, daß Sachsen, Hannover und Kurhessen im Namen des Vereins Verhandlungen mit Preußen eröffnen sollten — jenes Kurhessen, das sich in den gröbsten Beleidigungen gegen den Berliner Hof erging!
Im übrigen blieb auch dieser zweite Vertrag nahezu inhaltlos; keine irgend erhebliche Verkehrserleichterung war vereinbart. Daher erhob sich sofort nach dem Abschlusse des Vertrages überall heftiger Widerstand. Die Ratifikation konnte erst im April 1830 erfolgen. Meiningen und Gotha versagten ihre Zustimmung. Die reußischen Länder folgten am 9. Dezember 1829 dem Beispiel ihrer Nachbarn, sie vereinbarten mit Preußen Handelserleichterungen und Straßenbauten und versprachen, dem preußischen oder dem bayrischen [pg 168] Verein beizutreten, sobald sie ihrer Pflichten gegen die Mitteldeutschen ledig seien. Im Frankfurter gesetzgebenden Körper fragte man murrend: warum verständige Kaufleute sich verpflichten sollten, zwölf Jahre lang nichts zu tun? Einflußreiche Firmen forderten den Anschluß an Preußen, selbstverständlich nicht zu gleichem Rechte: das mächtige Frankfurt sollte nur »einen Freihafen des preußischen Vereins« bilden. Die Stadt litt schwer; Spedition und Fabriken begannen nach Offenbach überzusiedeln. Dennoch behauptete die österreichische Partei die Oberhand. Sachsen und Weimar, erschreckt durch den schwunghaften bayrisch-preußischen Verkehr dicht neben ihren Grenzen, knüpften ihre Ratifikation an den Vorbehalt: vom Jahre 1835 müsse ihnen der Austritt freistehen, falls bis dahin Preußen und Bayern zu einem Zollverein sich verschmolzen hätten. Der rastlose Röntgen reiste von einer preußischen Gesandtschaft zur anderen, versuchte sich zu entschuldigen: wer hätte denn vor einem Jahre ahnen können, daß Preußen in der orientalischen Frage und in den Zollsachen eine so glückliche Rolle spielen würde? Als Maltzan allen Anzapfungen nur ein diplomatisches Schweigen entgegensetzte, fuhr der beleidigte Nassauer heraus: »Es ist unrecht, auch den kleinsten Feind zu mißachten« — worauf jener verbindlich erwiderte: »Also Ihr seid unsere Feinde?« Endlich genehmigte Nassau den Vertrag nur mit der Erklärung: als unbedingt verpflichtend könne er nicht gelten. So drohten Abfall und Verrat von allen Seiten her.
Bei der verblendeten Selbstüberschätzung dieser Kabinette läßt sichs nicht leicht entscheiden, ob die drei führenden Mittelstaaten ernstlich hofften, Zugeständnisse von Preußen zu erlangen, oder ob sie die Verhandlungen mit dem Berliner Hofe lediglich begannen, um ihre unzufriedenen thüringischen Bundesgenossen zu beschwichtigen. Genug, das hannöversche Kabinettsministerium richtete schon am l4. August an Bernstorff die Frage, ob Preußen mit den Verbündeten unterhandeln wolle, und fügte in der üblichen hochtrabenden Weise hinzu: »Der Verein sei wohl imstande, solche Vorteile anzubieten, welche die Zugeständnisse aufwiegen dürften«. In Berlin ergriff man die Gelegenheit, den Mitteldeutschen unumwunden die Meinung zu sagen und zugleich den nationalen Sinn der preußischen Handelspolitik [pg 169] ausführlicher als je zuvor darzulegen. Ein Ministerialschreiben vom 31. Oktober 1829 hielt der hannoverschen Regierung ihr gehässiges unaufrichtiges Verfahren vor, schilderte drastisch den Handelsverein, der »nichts Gemeinsames habe als das Motiv, woraus er entsprang; im übrigen findet man nur ein Aggregat besonderer Interessen«. Wesentliche Vorteile hat der Verein uns nicht zu bieten, es müßte denn sein, daß er den Verkehr zwischen unseren Provinzen erschweren wollte. »Vor dergleichen feindseligen Maßregeln hegt die preußische Regierung überhaupt keine Besorgnis.« Mit Hannover allein sind wir bereit zu verhandeln, nicht mit einer Mehrzahl grundverschiedener Staaten. Preußen hat jetzt, nach den neuesten vorteilhaften Verträgen, noch weniger als sonst ein unmittelbares Interesse an solchen Verhandlungen, sondern nur das eine Interesse, »daß dadurch eine engere Verbindung zwischen den deutschen Völkern begründet und durch diese ein neuer Segen über Deutschland und dessen einzelne Staaten verbreitet werde. Wird dabei der Grundsatz befolgt, solche gemeinschaftliche Maßregeln zu verabreden, wodurch nur in dem eigenen Gebiet bisher bestandene Hemmungen im gegenseitigen Verhältnis zueinander aufgehoben und keine neuen zur Störung des Verkehrs mit anderen Staaten angeordnet werden, so kann sich niemand über eine Vereinigung, welche auf einer solchen Grundlage errichtet wird, beschweren. Jede solche Vereinigung bildet vielmehr den Übergang zu einer neuen; und in einer solchen praktisch fortschreitenden Entwicklung, welche keinem feindseligen Prinzip Raum gibt, läßt sich hoffen, daß allmählich das Problem einer gegenseitigen Freiheit des Verkehrs zwischen den deutschen Staaten in dem größtmöglichen Umfange, welchen überhaupt die Natur der Verhältnisse gestattet, gelöst werde.« Hannover suchte noch einige unwahre Entschuldigungen vorzubringen, doch allein mit dem Berliner Hofe zu verhandeln, war dem Welfenstolze unmöglich.
Sachsen und Kurhessen unterließen nunmehr jede Anfrage; indes konnte sich der Dresdener Hof eine Rechtfertigung seiner Handelspolitik nicht versagen. Geh. Rat v. Könneritz107 [pg 170] — in späteren Jahren als Minister eine Säule der hochkonservativen Partei —, verfaßte eine Denkschrift im kursächsischen Kurialstile und wiederholte darin die alten hundertmal widerlegten Anklagen gegen das preußische Zollsystem. Dann versicherte »Man annoch fordersamst«: der Mitteldeutsche Verein sei »eine völkerrechtlich vollkommen statthafte und in der Staatengeschichte gar nicht ungewöhnliche Übereinkunft mehrerer souveräner Staaten, eine zur Rettung der dem hiesigen Lande unentbehrlichen Nahrungszweige, des Fabrikwesens und des Handels, notwendig bedungene Maßregel« — und sprach sein Befremden aus, daß Preußen dieser unschuldigen Verbindung entgegenarbeite. Motz, von Eichhorn befragt, ob eine Verhandlung mit Sachsen rätlich sei, erwiderte: »Sachsen gewinnt durch eine Zollvereinigung mit Preußen in allen Beziehungen vorzugsweise, und Preußen kann dieselbe mehr nur in politischer, weniger in finanzieller Beziehung wünschen. Auch die politischen Vorteile sind mehr in der hierdurch geförderten Einigung von Deutschland als in dem besonderen Anschluß von Sachsen an Preußen zu suchen. Sachsen kann freundlicher, rücksichtsvoller Verhandlungen gewärtig sein, wenn es seine mitteldeutschen Verpflichtungen aufgibt, deren Dauer den Anschluß an das preußische Zollsystem geradezu verhindert. Herr v. Könneritz gehört zu den beschränkten einseitigen Köpfen, deren Belehrung, wenn man auch Zeit daran wenden wollte, ebenso unfruchtbar bleiben würde als die ganze Idee des Mitteldeutschen Vereins.« Darauf verwies das Auswärtige Amt dem Gesandten in Dresden, daß er das anmaßende sächsische Schriftstück angenommen habe, und begnügte sich, die Beschuldigungen der Denkschrift kurz zu widerlegen.
Unterdessen arbeitete Hannover heimlich an einem Verein der Küstenstaaten. Am 27. März 1830 kam zu allgemeiner Überraschung der Eimbecker Vertrag zustande, ein Werk Grotes, die Grundlage des späteren norddeutschen Steuervereins. Hannover, Oldenburg, Braunschweig und Kurhessen verpflichteten sich, innerhalb des Mitteldeutschen Vereins einen Zollverein mit gemeinschaftlichen niedrigen Zöllen zu bilden. Vorderhand war alles freilich noch Entwurf. Daß die Küstenstaaten sich zusammentaten, erschien nicht ganz unnatürlich; Motz selbst urteilte mild über den Eimbecker Vertrag. Hannover [pg 171] war nun einmal unfrei der englischen Handelspolitik gegenüber; auch bestand damals weit verbreitet und festgewurzelt die Meinung, daß die Volkswirtschaft der Nordseeküste von den preußischen Zuständen sehr weit abweiche — ein Vorurteil, das erst nach zwei Jahrzehnten überwunden wurde. Um so mehr mußte die Teilnahme des Binnenlandes Kurhessen befremden. Die Luft ward schwül in dem unglücklichen Lande. Die Reichenbach befürchtete einen Aufstand; irgend etwas, stellte sie dem Kurfürsten vor, müsse geschehen, um das mißhandelte Volk zu beschwichtigen. Da nun der Kurfürst nicht mit Preußen gehen wollte, so schloß er den Eimbecker Vertrag, der mindestens an der hannoverschen Grenze Erleichterungen versprach. —
Das war die Lage der deutschen Volkswirtschaft, als die Julirevolution hereinbrach, das alte System in den Hauptstaaten des Mitteldeutschen Handelsvereins über den Haufen warf und also dem Verein den letzten Stoß gab.
Motz selber sollte den vollständigen Sieg seiner Ideen nicht erleben; er starb, erst vierundfünfzigjährig, am 30. Juni 1830. Er nahm ins Grab die feste Zuversicht, daß Preußens Handelspolitik die eingeschlagenen Bahnen nicht mehr verlassen könne; »mein eigenes Departement macht mir am wenigsten Sorge«, sagte er oft in seinen letzten Tagen. Wie gänzlich hatte sich Preußens deutsche Machtstellung verändert in den fünf Jahren, seit dieser Mann den Staatshaushalt leitete! Die ausländische Presse selbst, die sonst so gleichgültig an den deutschen Dingen vorüberging, fing schon an aufzumerken. Wenn diese Staaten, schrieb der Constitutionnel, schon die Einheit ihrer Handelsinteressen erkennen, so werden sie auch bald entdecken, daß sie dieselben politischen Interessen haben, und das wird ein Sieg sein über Österreich. Die Edinburgh Review aber sagte mit jener englischen Bescheidenheit, die sich auch im Lobe nie verleugnet: »Die preußische Handelspolitik, die vielleicht der jedes anderen Staates in der Welt überlegen ist, verdankt ihren Ursprung wahrscheinlich dem Selbstbereicherungstriebe eines absoluten Herrschers.« Vor kurzem noch verhaßt und gemieden, war Preußen jetzt mit den bekehrten Kernlanden des Rheinbundes zu einem großen nationalen Zwecke verbündet. Das vor zehn Jahren von ganz Deutschland bekämpfte preußische Zollgesetz begann [pg 172] bereits siegreich vorzudringen, und schon ließ sich voraussehen, daß es seine Herrschaft bis zum Bodensee erstrecken würde. In Berlin, nicht mehr in Frankfurt und Wien, wurden die großen Geschäfte der Nation erledigt.
Motz hatte in einem kurzen diplomatischen Kriege, der mit seinen fest und sicher geleiteten weitverzweigten Verhandlungen an die Entstehung des fridericizianischen Fürstenbundes erinnert, nicht bloß den Gegenzollverein nahezu gesprengt, sondern auch durch geistige Waffen die Gegner geschlagen, den Unsinn des feindlichen Unternehmens dargetan und vor aller Welt erwiesen, daß Österreich für die Nöte der Nation nur leere Worte hatte, Preußen die heilende Tat. Nicht eine zufällige Verkettung der Umstände führte den Süden auf kurze Zeit mit dem Norden zusammen, wie einst die Genossen des Fürstenbundes. Die Gemeinschaft, die jetzt sich bildete, war unzerstörbar. Sie entsprang den Lebensbedürfnissen eines arbeitenden Jahrhunderts, und über ihren unscheinbaren ersten Anfängen waltete der freie Geist eines Mannes, der fast allein in müder, verdrossener Zeit schon hellen Auges die schlummernden Kräfte des germanischen Riesen erkannte, die große Zukunft des »in Wahrheit verbündeten Deutschlands« ahnte.
Quelle: H. v. Treitschke, Deutsche Geschichte usw. III, 623ff.
Nach dem Tode Motzs … erhielt sein Freund Maaßen, der Begründer des Zollgesetzes, die Leitung des Finanzwesens. Die Wahl des Königs konnte keinen würdigeren Mann treffen. Maaßen überragte den Verstorbenen durch umfassende Sachkenntnis; klug, gerecht, wohlwollend, verstand er bei den Unterhandlungen, sich das Vertrauen der argwöhnischen kleinen Kronen stets zu erhalten. Freilich fehlten ihm der kühne Wagemut und der weite staatsmännische Blick des Vorgängers; er ließ die Dinge gern an sich kommen und hegte nicht wie jener den Ehrgeiz, auf die Leitung der gesamten [pg 173] preußischen Politik einzuwirken, obgleich er als der bedeutendste Kopf des Ministeriums klar erkannte, wie gemächlich die Mittelmäßigkeit in den anderen Departements sich wieder einzunisten begann … So erklärt es sich, daß die mühselige Arbeit der handelspolitischen Einigung zwar stetig vorwärts schritt, aber zunächst nicht so schnell gefördert wurde, wie man wohl erwarten konnte, nachdem Motz Schlag auf Schlag die letzten Enklaven aufgenommen, den Zollverein mit Darmstadt, den Handelsvertrag mit Bayern-Württemberg abgeschlossen, den feindlichen Handelsverein der Mitteldeutschen nahezu zersprengt hatte.
Die Nachspiele der Julirevolution gereichten der preußischen Handelspolitik zum Vorteil; sie räumten plötzlich alle die Hemmnisse hinweg, welche das alte System in den norddeutschen Mittelstaaten dem Zollverbande entgegenstellte. Durch den Untergang der ständischen Anarchie in Sachsen, der despotischen Willkür in Hessen war die Verwaltung beider Länder den preußischen Institutionen angenähert worden; früher oder später mußte die Verständigung erfolgen. In Kurhessen zunächst wurde die Morschheit des alten Mautwesens offenbar. Nicht zuletzt die wirtschaftliche Not hatte die Volksbewegungen im Herbst 1830 hervorgerufen. Das Ländchen mit seinen 154 Geviertmeilen besaß 154 Meilen Zollgrenze. Frecher als irgendwo auf deutschem Boden gedieh hier der Schmuggel; in geschlossenen Scharen zogen die Schwärzer aus, maßen sich mit den Zollwächtern in offenem Gefechte. Während die Kosten der Zollverwaltung den Ertrag der Eingangsabgaben fast verzehrten, begann jetzt auch der ergiebige Durchfuhrzoll zu versiegen, da der Transit sich nach der neuen Thüringer Straße hinüberzog. Als die Unruhen ausbrachen, verließen alle Mautbeamten im Hanauischen und Fuldischen ihre Amtshäuser; Massen fremder Waren strömten unverzollt ins Land, und der Bundesgesandte Meyerfeld erklärte dem Bundestage, die Regierung dürfe nicht wagen, die Zollämter wieder herzustellen. Entsetzt schrieb Blittersdorff: »Die Mauten können leicht für ganz Deutschland ein Losungswort des Aufruhrs werden.«
Doch wie konnte Kurhessen aus dem unerträglichen Notstande heraus? Die Regierung war zwiefach gebunden: durch den Mitteldeutschen Handelsverein und durch den Eimbecker [pg 174] Vertrag. Jener lag im Sterben, dieser war vorderhand noch ein Entwurf, änderte nichts an den Leiden des Landes. Man schwankte lange; noch im Herbst 1830 widmete Geh. Rat Meisterlin, einer der Urheber des Eimbecker Vertrags, den Landständen eine Flugschrift, die den Eintritt in das preußische Zollsystem verwarf, weil Hessens Gewerbefleiß die Mitwerbung der überlegenen rheinischen Industrie nicht ertragen könne. Die alte Abneigung des Kurfürsten gegen Preußen war nicht verflogen, auch schien ihm doch bedenklich, eine zweifache Verflichtung ohne weiteres zu brechen. Er wünschte — und mit ihm wohl die Mehrzahl im Lande — einen Mautverband des gesamten Deutschlands, der die Sonderbünde von selbst aufgehoben hätte. In diesem Sinne mußte Meyerfeld bei dem bayrischen Bundestagsgesandten Lerchenfeld vertraulich anfragen. Das Münchener Kabinett aber kannte jetzt die handelspolitischen Pläne wie die Verhandlungsweise des Berliner Hofes; daher gab Graf Armansperg an Lerchenfeld die verständige Weisung: diese Sache sei vorsichtig dahin zu lenken, daß sie in Berlin unter Preußens Leitung erledigt werde. Gleichwohl konnte der Kurfürst sich noch immer nicht entschließen, mit dem verhaßten Preußen und dem so gröblich beleidigten Darmstädter Vetter allein zu verhandeln. Noch im folgenden Frühjahr erhielt Meyerfeld den Auftrag, die Vereinigung sämtlicher deutscher Mautverbände beim Bundestage zu beantragen; da warnte ihn Nagler: niemals werde Preußen einer solchen Utopie zustimmen.
Unterdessen hatte Motz, ein Verwandter des preußischen Ministers, das hessische Finanzministerium übernommen. Die Anarchie im Zollwesen ward unhaltbar; die Kommissäre des Eimbecker Vereins, die in Hannover tagten, konnten sich nicht einigen. Motz und sein wackerer Amtsgenosse Schenk zu Schweinsberg bewogen endlich den Kurfürsten, daß er die Geheimräte Ries und Meisterlin im Juni nach Berlin schickte, um mit Preußen-Darmstadt und Bayern-Württemberg zugleich einen Zollverein zu schließen. Doch unerbittlich hielt Eichhorn den beiden Bevollmächtigten den alten preußischen Grundsatz entgegen: Verhandlungen mit mehreren Staaten zugleich sind aussichtslos. Vergeblich sträubte sich der Kurfürst; man mußte sich der Forderung des Berliner Hofes fügen, mit Preußen-Darmstadt allein verhandeln. In [pg 175] Maaßens Auftrag führte L. Kühne die Unterhandlung. Der schlicht bürgerliche kleine Mann erwies sich jetzt schon, wie späterhin in allen Geschäften des Zollvereins, als meisterhafter Diplomat. Klar und bestimmt, mit überlegener Sachkenntnis und ehrlichem Wollen, entwickelte er seine Vorschläge; wenn ihm aber das törichte Mißtrauen der Kleinen entgegentrat, dann funkelten seine kleinen scharfen Augen, und er fertigte alle Winkelzüge mit schneidenden Sarkasmen ab. Auf die Frage des Preußen, ob Kurhessen nicht noch durch die mitteldeutschen Handelsverträge gebunden sei, verweigerten die Hessen jede Antwort, weil ihnen das Gewissen schlug. Man ging also über diesen wunden Punkt schweigend hinweg. Die Kurhessen drängten zur Eile; denn sie befürchteten einen neuen Umschwung an ihrem heimischen Hofe, wo Österreich und England-Hannover alle Minen springen ließen, und sie wollten, geängstigt durch die nahende Cholera, den unheimlichen Boden Berlins schleunigst wieder verlassen. Schon am 29. August 1831 war alles beendigt. Um dem zollvereinsfreundlichen Könige von Bayern eine Ehre zu erweisen, wurde der Vertrag auf den Ludwigstag (25. August) zurückdatiert. Kurhessen trat dem preußischen Zollsystem bei, im wesentlichen unter denselben Bedingungen wie einst Darmstadt. Der alte Kurfürst ließ diese Demütigung noch über sich ergehen, wenige Tage bevor er die Regierung seinem Sohne abtrat. Vor sieben Jahren war man in Berlin bereit gewesen, ein erhöhtes Einkommen an Kurhessen zu bewilligen; jetzt hatte das Kurfürstentum seinen Durchfuhrhandel verloren und durch gehäufte Sünden jeden Anspruch auf Begünstigung verscherzt. Hessen mußte sich begnügen mit dem Maßstabe der Kopfzahl.
Der Vertrag war für Kurhessen eine politische Notwendigkeit, er rettete das Land aus namenlosem Elend. Selbst der Kasseler Landtag wagte nicht zu widersprechen. Die mitteldeutschen Verbündeten freilich drohten und lärmten. Nicht ohne Grund: Kurhessen hatte in den rohesten Formen seine Vertragspflicht gebrochen, ohne auch nur ernstlich eine Verständigung mit den alten Bundesgenossen zu versuchen. Für Preußen dagegen war ein klarer Gewinn errungen. Wie die Gotha-Meininger Straße den Verkehr mit dem Süddeutschen Verein gesichert hatte, so wurde jetzt die lang ersehnte [pg 176] Verbindung zwischen dem Osten und dem Westen hergestellt, der Mitteldeutsche Verein noch an einer zweiten Stelle durchbrochen. Während in Thüringen die Zollfreiheit der preußischen Durchfuhrstraße den mitteldeutschen Verbündeten gefährlich wurde, mußte Kurhessen die höheren Transitzölle des preußischen Tarifs einführen. Auf Bayerns dringende Vorstellungen setzte Preußen diese hessischen Zölle bald auf die Hälfte herab. Eine noch weitergehende Verminderung war vorderhand untunlich; die mitteldeutschen Verbündeten, vornehmlich die Frankfurter Kaufleute, sollten fühlen, daß sie von Preußen abhingen, und durch heilsamen Druck bestärkt werden in ihrer beginnenden Bekehrung.
Durch den Abfall Kurhessens ward der Mitteldeutsche Handelsverein vernichtet. Der Liberalismus freilich kam so schnell nicht los von den liebgewonnenen Phrasen. In Bayern deklamierte Siebenpfeiffer gegen die Maut: sie hätte zur Volkssache werden sollen und ist zur Volksfeindin geworden! Stromeyer in Baden schrieb in die gefürchtete Zeitschrift »Rheinbayern« einen donnernden Artikel: Die preußische Aristokratenstirne wagt es, sich an das Nationalgefühl zu wenden! In Preußen herrscht, härter als irgendwo auf der Welt, die eiserne Konsequenz des Merkantilsystems; der Mitteldeutsche Verein vertritt die Freiheit. Darum soll Baden festhalten an seinem trefflichen liberalen Zollwesen. Dann wird Württemberg, das ohnedies durch seine hohe politische Bildung dem konstitutionellen Musterstaate nahe steht, und bald auch das konstitutionelle Bayern, Sachsen, Kurhessen dem badischen System sich anschließen! — Auch einer der edelsten und gelehrtesten Vertreter deutscher Wissenschaft brach eine Lanze für den sterbenden Sonderbund. Johann Friedrich Böhmer108 verfaßte das wunderliche Büchlein »das Zollwesen in Deutschland geschichtlich beleuchtet«. Der Legitimist des heiligen Reiches stellte den kühnen Satz auf, die Zollfreiheit der deutschen Flüsse müsse von Recht wegen auch für die Landstraßen gelten. Er pries den Mitteldeutschen Verein als »den letzten Versuch, von dem, was einstens als gemeines deutsches Recht und Freiheit gegolten, soviel wie möglich, wenigstens vertragsweise [pg 177] zu sichern«. Er schalt Preußen den »Reichsfeind und Landfriedensbrecher«, warnte die Kleinstaaten, »wie leicht sich Einverleibungen der Nachbarländer an Zollangelegenheiten knüpfen«, und getröstete sich des schönen Wortes, das vor zwölf Jahren der k. k. Präsidialgesandte gesprochen: daß »die hohe Bundesversammlung die Beförderung und Erfüllung des deutschen Handels in die Hand nehmen werde!«
Die sächsischen Höfe waren längst nicht mehr in der Lage, solchen Schrullen nachzuhängen. Die Not des Haushalts, das laute Murren des Volkes zwang sie, demütig bittend in Berlin anzuklopfen. Armselige Advokatenkünste mußten vorhalten, um den Vertragsbruch zu beschönigen. Meiningen behauptete, der Mitteldeutsche Verein sei durch den Eimbecker Vertrag zerrissen worden, er bestehe nicht mehr zu Recht. Der Verrat des einen diente dem anderen zum Vorwande; sobald die kleinen Thüringer schwankten, berief sich das Dresdner Kabinett auf den Artikel des Kasseler Vertrages, wonach die gänzlich vom Auslande umschlossenen Gebietsteile den Satzungen des Vereins nicht unterliegen sollten. Das sei jetzt Sachsens Fall, wenn Thüringen sich mit Preußen verständige — eine offenbare Sophisterei, da jene Klausel sich nur auf entlegene Enklaven bezog. Wollte der sächsische Hof ehrenhaft verfahren, so mußte er sofort einen neuen Kongreß der mitteldeutschen Verbündeten berufen, dort die Auflösung des unhaltbaren Vereins beantragen und dann erst mit Preußen unterhandeln. Aber die alte Politik der Winkelzüge, der Halbheit, des Mißtrauens gegen Preußen wurde selbst unter dem neuen Ministerium Lindenau nicht sogleich aufgegeben. Die sächsische Regierung glaubte, ihre Wünsche in Berlin sicherer durchsetzen zu können, wenn sie an dem Gespenste des Mitteldeutschen Vereins noch einen Rückhalt hätte; sie begann mit Preußen zu verhandeln, noch bevor sie ihrer älteren Verpflichtung entbunden war.
Nachdem das Dresdner Kabinett schon im August 1830 bei den süddeutschen Kronen leise angefragt, mußte sich der alte König Anton endlich entschließen, an den König von Preußen selber zu schreiben. Er beteuerte, daß er längst die Absicht gehabt, mit Preußen in kommerzielle Verbindung zu treten »und somit im Sinne des hochwichtigen und wohltätigen Zwecks zu handeln, dessen Erreichung von Ew. Majestät [pg 178] bereits seit längerer Zeit beabsichtigt wird. Daß diese Verhandlung von Preußen begonnen und eingeleitet werde, scheint die notwendige Bedingung des Erfolges zu sein.« Lindenau, der im Januar 1831 dies Handschreiben nach Berlin brachte, überreichte zugleich eine Denkschrift, worin Sachsen den Entschluß aussprach, die Auflösung des Mitteldeutschen Vereins durchzusetzen, »da Veranlassung, Zweck und Grund des Vereins nicht mehr vorhanden sind. Das Bedürfnis einer bewegten Zeit, die Zuversicht, durch den Antritt einer solchen Verhandlung die aufgeregten Gemüter am sichersten zu beruhigen, endlich die Hoffnung, daß ein solcher die Mehrzahl der deutschen Bundesstaaten umfassender Verband auch auf die größeren Weltereignisse einen friedlich besänftigenden Einfluß äußern könne«, ermutigten den sächsischen Hof, die Verhandlungen in Berlin zu beginnen.
Noch kläglicher war die Demütigung Weimars. Derselbe Minister Schweitzer [S. Fußnote S. 132], der seit Jahren das preußische Zollsystem als den Todfeind deutscher Handelsfreiheit bekämpft hatte, versicherte im Juli 1830 dem Auswärtigen Amte: »daß zur Förderung des von dem König von Preußen begonnenen, in seinen Zwecken und seinen Gründen immer klarer hervortretenden deutschen Werkes, also zur Förderung eines freien Handels und Verkehrs im deutschen Vaterlande von Preußen aus, der Großherzog von Weimar im Einverständnis mit dem Königreich Sachsen mit Vergnügen die Hand bieten wird.« Dann sang der weimarische Minister Fritsch [S. Fußnote S. 47] die Totenklage des Sonderbundes: »Auf hinreichende Zeit zur Ausbildung des Vereins ist nicht mehr zu rechnen, nachdem die großen welthistorischen Ereignisse seit dem 25. Juli 1830 und deren Folgen auf deutschem Boden eine weit schleunigere Hilfe notwendig gemacht, man kann sagen, die Übel, welche als chronische behandelt werden sollten, in akute verwandelt haben. Nur Schaden, nur Verderben könnte es bringen, wenn man sich unter solchen Umständen noch gegenseitig beschränken, sich zum Nichtstun verpflichtet halten wollte in einer Zeit, welche in allen öffentlichen Dingen ganz andere Forderungen stellt. Was uns die Jahre 1829 und 1830 [pg 179] genommen und gebracht haben, ließ sich im Jahre 1828 nicht voraussehen, nicht vorausahnen. Der Kasseler Verein war und bleibt ein bedeutendes Unternehmen, nicht ohne Folgen. Es wird den Stiftern desselben ein gerechtes Urteil in der Geschichte um so weniger entgehen, je bereitwilliger sie jetzt das Geständnis ablegen und betätigen, daß eine ganz neue Zeit uns gekommen ist.«
Friedrich Wilhelm antwortete dem König von Sachsen sehr freundlich, er sei bereit, Sachsens Anträge zu erwägen, und sprach sich zugleich offen aus über die nationalen Ziele seiner Handelspolitik: »Wiewohl der Abschluß dieser Verträge stets nur mit einzelnen Staaten erfolgte, so hatte man dennoch dabei nicht ein ausschließliches Interesse der unmittelbar Beteiligten im Auge, sondern man verfolgte zugleich den Gesichtspunkt, daß die einzelnen Verträge als Mittel dienen möchten, der Freiheit des Verkehrs in Deutschland überhaupt eine größere Ausdehnung zu geben.« Dem weimarischen Hofe drückte der Minister des Auswärtigen seine Freude aus, daß unser Werk auch in den Augen Weimars »immer klarer als ein deutsches Werk hervortritt«; dann wiederholte er in schneidenden Ausdrücken die hundertmal von Preußen ausgesprochene Ermahnung: die Thüringer sollten sich erst unter sich verständigen, bevor Preußen mit ihnen verhandeln könne.
Nach solchen Erfolgen stand in Berlin fester denn je die Überzeugung, daß der eingeschlagene Weg der Einzelverhandlungen allein zum Ziele führe. Mit voller Sicherheit schrieb Bernstorff dem König: »Die Schöpfung eines allgemeinen deutschen Zoll- und Handelssystems oder irgendeiner anderen bleibenden Institution ähnlicher Natur ist eine Aufgabe, deren Lösung dem Bunde solange unmöglich bleiben wird, als derselbe nicht eine andere, von der jetzigen ganz verschiedene Organisation besitzt«. Seit dem Zerfall des mitteldeutschen Sonderbundes schien die Bahn frei für die vollständige Vereinigung der beiden befreundeten Zollvereine des Südens und des Nordens. Was sollte jetzt noch hindern, da beide Teile die Unhaltbarkeit des bestehenden Zustandes lebhaft empfanden? da die zwischenliegenden Staaten nicht mehr feindlich im Wege standen, sondern selbst um ihre Aufnahme baten? da das Grundgesetz des preußisch-hessischen Vereins sich von selber darbot als die Regel für den [pg 180] großen Verein? Und dennoch mußte Preußen wieder und wieder durch den Flugsand waten, der im Wüstenwinde der deutschen Kleinstaaterei emporwirbelte. Fast drei Jahre lang, von 1830 bis 1833, spielte in Berlin, vielfach unterbrochen, eine dreifache Reihe mühseliger Verhandlungen: mit Bayern- Württemberg, mit Sachsen, mit den thüringischen Staaten; und das Geschäft wäre nie zum Abschluß gelangt, wenn man nicht, dem alterprobten Grundsatz getreu, die Unterhandlungen mit den einzelnen Gruppen scharf auseinandergehalten hätte. Der Vergleich drängt sich unwillkürlich auf: der Deutsche Zollverein ging aus dem Preußisch-Hessischen hervor unter ähnlichen Kämpfen und Bedenken, wie späterhin das Deutsche Reich aus dem Norddeutschen Bunde. Der Zollverein wie der Norddeutsche Bund stieß auf die höchsten Schwierigkeiten erst, als die größeren Mittelstaaten, mit ihrem festgewurzelten und nicht ganz unberechtigten Partikularismus, mit der Fülle ihrer scheinbar oder wirklich abweichenden Interessen in die Verhandlungen eintraten. In Versailles, wie 40 Jahre zuvor in Berlin, gebärdeten sich die süddeutschen Kronen anfangs, als stände man vor einem Neubau, als sei noch gar kein Grundgesetz vorhanden; erst nach langem, peinlichem Zögern erkannten sie die im Norden bestehende Ordnung an, doch indem der Bau erweitert wurde, lockerte man zugleich das feste Gefüge seiner Mauern.
Der Handelsvertrag zwischen Preußen-Hessen und Bayern- Württemberg war von vornherein in der Absicht fortschreitender Erweiterung abgeschlossen. In München aber begann die ultramontane Partei, sofort an dem neuen Bunde zu zerren und zu nagen. Ihre Führer, Schenk109, Görres, Ringseis110, standen durch den k. k. Legationsrat Wolff mit der Hofburg im Verkehr; der Gesandte in Wien, Graf Bray111, war für Metternich gewonnen, desgleichen neuerdings auch der alte Feldmarschall Wrede.112 Angesichts dieser mächtigen Gegner [pg 181] und der unberechenbaren Launen König Ludwigs hielt Bernstorff für nötig, allen Begehren Bayerns soweit als möglich entgegenzukommen. Der Münchener Hof wünschte zunächst den Eintritt Badens in den bayrisch-württembergischen Verein; denn das badische Gebiet ragte als ein trennender Keil zwischen die bayrische Pfalz und die Hauptmasse der Vereinslande hinein, und unter dem Schutze der gerühmten Karlsruher Freihandelspolitik, die für die Grenzbewachung wenig tat, blühte auf dem Schwarzwalde wie am Rheinufer ein gefährlicher Schmuggelhandel. War der kränkelnde Süddeutsche Zollverein durch Badens Zutritt neu gekräftigt, dann erst sollte — so rechnete König Ludwig — über die völlige Verschmelzung der beiden Vereine des Nordens und des Südens verhandelt werden …
Eine handelspolitische Verständigung zwischen Bayern und Baden blieb aber völlig aussichtslos, solange die beiden Höfe einander noch als Feinde betrachteten und König Ludwig seine traumhaften Ansprüche auf badisches Gebiet nicht aufgab. Als Großherzog Ludwig starb und sein Nachfolger sogleich von allen Mächten anerkannt wurde, da wagte man in München gar nicht mehr wie früher zu behaupten, daß mit der Thronbesteigung der Hochbergischen Linie das Haus der Zähringer ausgestorben sei. Der Wittelsbacher trug seine vorgeblichen Ansprüche auf den »Heimfall« der badischen Pfalz stillschweigend zu Grabe. Um so mehr lag ihm daran, mindestens durch eine kleine Gebietserweiterung der Welt zu beweisen, daß Bayern doch nicht ganz im Unrecht gewesen sei.
Gegen Ende Mai 1830 erschien Armansperg in tiefem Geheimnis zu Berlin und bat um Preußens gute Dienste. König Friedrich Wilhelm übernahm die Vermittlung, im Verein mit dem König von Württemberg, und ließ den badischen Minister Boeckh nach Berlin einladen. Er hoffte nicht nur den leidigen Gebietsstreit beizulegen, sondern auch Baden zum Eintritt in den Bayrisch-Württembergischen Zollverein zu bewegen. Am 10. Juli brachte Bernstorffs versöhnliches Zureden endlich eine Übereinkunft zustande, kraft deren Baden dem süddeutschen Verein beizutreten versprach; dafür wollten beide Teile auf ihre Sponheimer Erbansprüche verzichten. Um Bayern gänzlich zufrieden zu stellen, wurde noch ein geringfügiger Gebietsaustausch irgendwo an der badischen [pg 182] Ostgrenze vorbehalten. Damit schien der jämmerliche Handel aus der Welt geschafft. Metternich sprach bereits allen Teilnehmern seinen Glückwunsch aus, und König Ludwig dankte dem preußischen Minister aufs wärmste …
Sobald man jedoch über die Ausführung der Übereinkunft verhandelte, verlangte Bayern einen Zuwachs von etwa 20000 Einwohnern und setzte erst nach langem Feilschen seine Forderung ein wenig herab; das schöne Wertheim vornehmlich, das Heidelberg der Mainlande, erschien dem romantischen Wittelsbacher unwiderstehlich verlockend. Der Karlsruher Hof wies jede größere Gebietsabtretung entschieden zurück und verschanzte sich hinter der gesinnungstüchtigen Entrüstung seines Volkes. Die Stadt Wertheim selbst hatte freilich gegen die Abtretung wenig einzuwenden, weil die Beamten den Main-Tauberkreis als das badische Sibirien behandelten; auch der Fürst Georg von Löwenstein, der dort Hof hielt, wollte sich als treuer deutscher Patriot den Herrschaftswechsel wohl gefallen lassen, wenn dadurch nur endlich das Elend der Binnenmauten aufgehoben würde. Anders empfand die große Mehrzahl der Liberalen; sie dachte von dem Musterlande der konstitutionellen Freiheit nicht eine Geviertmeile aufzuopfern, und ihr Entschluß stand um so fester, da sie auch den Zollvereinsplänen mißtraute. Der Hauptverkehr des langgestreckten Landes ging von Norden nach Süden und konnte durch den Anschluß an Bayern-Württemberg wenig gewinnen. Man übersah oder wollte übersehen, daß dieser Anschluß nur das Mittel bilden sollte zur späteren Vereinigung mit Preußen; unleugbar war der bayrische Plan zu fein, zu verwickelt, um sogleich vom Volke verstanden zu werden.
Überall in Baden sprach man begeistert von einem gesamtdeutschen Zollverbande; denn soviel Boden hatte die Idee der deutschen Handelseinheit durch Preußens Siege doch gewonnen, daß niemand mehr sie schlechthin zu verwerfen wagte. Freilich benutzten viele badische Liberale das schöne Wort vom allgemeinen deutschen Zollverein nur als ein Schurzfell, um die Blöße ihrer partikularistischen Selbstsucht zu bedecken. Wie behaglich lebte sichs doch unter der badischen Handelsfreiheit — auf Kosten der lieben Nachbarn! Mit Stolz sah der Badener — so sagte eine Flugschrift des Rastatter [pg 183] Kaufmanns F. Meyer »über die Zollverhältnisse Badens« — wie die Nachbarn aus dem Elsaß, aus Schwaben, aus der Rheinpfalz in »das wohlfeile, gastfreie« Ländle kamen, um dann ihre billigen Einkäufe über die heimatliche Grenze hinüberzuschmuggeln. Nimmermehr sollte diese gemütliche Unordnung durch eine gewissenhafte Grenzbewachung beseitigt werden. Der Freiburger Handelsstand stellte dem Landtage vor: ein Zollverein »wird rechtliche, sittlich gute Menschen in eine Rotte von Zöllnern, Schmugglern, Spionen und Gaunern verwandeln« — wobei nur verschwiegen ward, daß die große Mehrzahl der badischen Geschäfte, zumal die Kolonialwarenhandlungen, dem Schleichhandel längst als Herbergen dienten. Noch kräftiger sprach das Straßburger Konstitutionelle Deutschland: »Maut, Maut, preußische Maut erhalten wir. Unglückliches Vaterland! Im Geheimen, im Dunkel der Nacht wird sie dir gegeben! Wehe dir, Kammer von 1831!« Als Großherzog Leopold sein Oberland bereiste, wurde er überall dringend gewarnt, und Winter113, der in Fragen der großen Politik immer ratlos war, wagte nicht, einer scheinbar so starken Volksüberzeugung zu widersprechen.
So schleppte sich der Zank durch fast anderthalb Jahre dahin. Die beiden vermittelnden Höfe boten alle ihre Beredsamkeit auf. Der Berliner sprach sanft, der Stuttgarter schroff: denn König Wilhelm sah sein Land unmittelbar unter dem badischen Schmuggel leiden, er drohte dem Karlsruher Hofe geradezu: Bayern und Württemberg würden »dem bisherigen ganz feindseligen Betragen Badens gemeinschaftlich ein jedes Mittel entgegensetzen, um nicht mitten in unserem Verein das System einer Regierung zu sehen, das mit Vorbedacht Unzufriedenheit und Unruhe in unserer so bedenklichen Zeit stiftet«. Ebenso vergeblich schrieb König Ludwig selbst in seinem wuchtigsten Partizipialstile an den Großherzog: »durch meine letzten Vorschläge habe ich das Äußerste getan, um die Sponheimer Angelegenheit zur Ausgleichung zu bringen, von und großem Wert ist mir die von Ew. K. Hoheit ausgedrückte Willfährigkeit, damit sie und Beitritt zum Zollverein stattfinde, überzeugt, daß fester Wille [pg 184] beides bei Ihren Ständen durchsetzen werde«. An diesem festen Willen gebrach es dem badischen Hofe gänzlich. Die Minister verteidigten den Zutritt zum Süddeutschen Zollverein sehr lau; Welcker114 tobte mit gewohnter Wortfülle gegen die absolute preußische Krone, Rotteck115 unterstützte ihn etwas ruhiger. Die phrasenreichen Verhandlungen gereichten dem Musterlandtage wenig zur Ehre; über die volkswirtschaftliche Bedeutung der Frage wußten nur einzelne große Geschäftsmänner ein treffendes Wort zu sagen, so der liberale Fabrikant Buhl aus Ettlingen und der Tabakshändler v. Lotzbeck aus Lahr. Selbst der liberale E. E. Hoffmann, der aus Darmstadt herüberkam, um den badischen Parteifanatikern Vernunft zu predigen, richtete nichts aus. Schließlich einigte sich der Landtag über eines jener unwahren Kompromisse, wie sie der Partikularismus liebt, wenn er nichts mehr zu sagen weiß. Beide Kammern verwarfen einstimmig den Eintritt in den Süddeutschen Verein und gaben der Regierung Vollmacht, über einen gesamtdeutschen Zollverein zu verhandeln (November 1831). Dabei konnte sich jeder das Seine denken, denn an die Möglichkeit eines Zollvereins mit Österreich, Hannover und Holstein glaubte eigentlich niemand mehr. Auch die von Bayern geforderte Gebietsabtretung wurde durch die zweite Kammer verworfen, einstimmig, unter brausenden Hochrufen auf den Großherzog.
Dem gefeierten Fürsten ward bei dieser Begeisterung seiner getreuen Opposition sehr schwül zu Mute. In einem flehentlichen Briefe wendete er sich abermals hilfesuchend an Bernstorff … , und wirklich unterzog sich der geduldige preußische Minister noch einmal den undankbaren Mühen der Vermittlung. König Ludwig aber empfand jenen Beschluß des badischen Landtages als eine persönliche Beleidigung; er hielt es für schmachvoll, eine Forderung, die schon soviel Staub aufgewirbelt hatte, ohne jede Entschädigung fallen [pg 185] zu lassen. An dem ergrimmten Wittelsbacher war jetzt jeder Zuspruch verschwendet. Auch der König von Württemberg ließ nach einiger Zeit in schnöden Worten erklären, daß er mit dem unbelehrbaren badischen Hofe nichts mehr zu schaffen haben wolle. In Berlin urteilte man milder, doch die erneuten Verhandlungen blieben fruchtlos. Der königliche Dichter in München hinterließ die imaginären Sponheimer Ansprüche seinen Nachfolgern als ein heiliges Vermächtnis, untertänigen Historikern als einen köstlichen Stoff für bajuvarische Großsprechereien. Also ward Baden, früherhin immer ein wackerer Vorkämpfer der deutschen Handelseinheit, teils durch die Torheit seiner Kammern teils durch eine seltsame diplomatische Verwicklung ganz in das Hintertreffen gedrängt und von den entscheidenden Verhandlungen der Zollvereinspolitik mehrere Jahre hindurch ausgeschlossen.
Nach alledem war eine Verständigung zwischen Bayern und Baden vorläufig undenkbar. Der deutschen Handelseinheit aber kam jener ablehnende Beschluß der badischen Kammern seltsamerweise zu gute. Der künstliche Gedanke, zunächst den süddeutschen Verein zu vergrößern und dann erst die Vereinigung mit dem Norden zu suchen, war fortan beseitigt. Die oberdeutschen Königshöfe, außerstande, ihren unergiebigen Sonderbund aufrecht zu halten, sahen sich genötigt, statt des Notbehelfs sogleich das durchschlagende Mittel zu wählen; sie stellten jetzt bei dem preußischen Kabinett den Antrag auf völlige Vereinigung. Im Dezember 1831 wurden die Verhandlungen in Berlin eröffnet. Doch sofort ergab sich eine Fülle gewichtiger Bedenken. Preußen hatte schon durch die Aufnahme der beiden Hessen ein fühlbares finanzielles Opfer gebracht; der Ertrag seiner Zölle, der um 1829 gegen 25,3 Sgr. für den Kopf der Bevölkerung abwarf, begann bereits zu sinken. Durfte man auch die oberdeutschen Lande, die von Kolonialwaren noch weit weniger verzehrten als die beiden Hessen, zu den gleichen Bedingungen aufnehmen? Die Finanzpartei in Berlin fürchtete schwere Verluste, wie denn in der Tat Preußen im Durchschnitt der Jahre 1834–1839 nur 22 Sgr. auf den Kopf erhalten hat. Sie verlangte entschieden ein Präcipuum zugunsten Preußens; [pg 186] ein Ausfall in den Einnahmen schien hochbedenklich in so unruhiger Zeit. Die bayrisch-württembergischen Finanzmänner dagegen lebten in dem wunderlichen Wahne, daß die Konsumtion im Süden stärker sei als in Preußen; sie meinten schon seltene Großmut zu zeigen, wenn sie auch nur die Verteilung nach der Kopfzahl zugeständen.
Die Einführung der preußischen Konsumtionssteuern war in Hessen ohne Schwierigkeit erfolgt; Bayern aber sah sich außerstande, seine Malzsteuer abzuändern. Während Preußen kaum 1,3 Millionen Taler, 3 Sgr. auf den Kopf, durch die Besteuerung des Bieres bezog, gewann Bayern allein in seinem rechtsrheinischen Gebiete 5 Millionen Gulden, 21 Sgr. auf den Kopf, und aus diesem Ertrage mußte nach der Verfassung die Staatsschuld verzinst werden. Unmöglich konnte Preußen seine Biersteuer zu der gleichen Höhe hinaufschrauben. Der angestammte Durst ließ sich ebenso wenig in den Norden verpflanzen wie die Realgerechtigkeiten der bayrischen Brauer, die jenen reichen Steuerertrag erst ermöglichten, aber den Grundsätzen der preußischen Gewerbefreiheit widersprachen. Da die gleichmäßige Besteuerung der inländischen Konsumtion mithin unausführbar blieb, so bestand die preußische Finanzpartei hartnäckig auf der Einführung von Ausgleichungsabgaben. Die an sich richtige Meinung, daß jede Zollgemeinschaft die annähernde Gleichheit der indirekten Steuern voraussetze, war seit dem Jahre 1818 eine der leitenden Ideen der preußischen Handelspolitik. Die Berliner Finanzmänner hatten sich so tief in diesen Gedanken eingelebt, daß sie ihn alsbald mit fiskalischer Härte auf die Spitze trieben. Die Ausgleichungsabgaben sind lange, wesentlich durch Preußens Schuld, ein wunder Fleck der Zollgesetze geblieben; sie belästigten den Verkehr und brachten geringen Ertrag, auch nachdem sie späterhin die rein fiskalische Gestalt der »Übergangsabgaben« annahmen.
Irrte Preußen in dieser Frage, so erhoben auch die Südstaaten höchst unbillige Ansprüche. Sie verlangten anfangs eine völlige Umgestaltung des Tarifs und fanden namentlich die preußischen Zölle auf Baumwollenwaren unerträglich hoch, da sie selbst noch fast gar keine Baumwollspinnereien besaßen. Und doch konnte Preußen nicht nachgeben. Sachsens Eintritt stand bevor, die preußische Industrie klagte laut über [pg 187] die drohende Mitwerbung des Erzgebirges; in solcher Stunde die Zölle herabzusetzen, schien selbst dem Freihändler Maaßen nicht ratsam. Auch die von Württemberg geforderte Herabsetzung der Zuckerzölle ging nicht durch; die Interessen der mächtig aufblühenden Magdeburgischen Rübenzuckerindustrie durften nicht preisgegeben werden. Desgleichen die gefürchteten preußischen Transitzölle blieben noch unentbehrlich als ein sanfter Wink für die Nachbarn. Überhaupt war die Lage des Augenblicks der Vereinfachung des Tarifs keineswegs günstig; Preußens Staatsmänner ahnten, daß die süddeutschen Höfe in einer nahen Zukunft die Farbe wechseln, mit schutzzöllnerischem Eifer auf die Erhöhung der Zölle dringen würden. Lebhafter noch als dieser staatswirtschaftliche Kampf entbrannte der »staatsrechtliche Streit«, wie man in München zu sagen pflegte. Die verständige Bestimmung der preußisch-hessischen Verträge, wonach Preußen in der Regel allein die Handelsverträge für den Zollverein schließen sollte, galt dem bayrischen und dem württembergischen Hofe als eine schimpfliche Unterwerfung; sie forderten unbedingte Gleichheit in allem und jedem.
So mannigfache sachliche Bedenken ins Gleiche zu bringen, konnte nur erprobter staatsmännischer Kraft gelingen. Die oberdeutschen Höfe aber hatten, töricht genug, zwei junge Subalternbeamte für diese schwierige Mission bevollmächtigt, vermutlich nur aus Sparsamkeit. Die Ersparnis sollte ihnen teuer zu stehen kommen. Eichhorn hatte an den Unterhändlern der Kleinstaaten schon des Wundersamen viel beobachtet; eine Persönlichkeit wie dieser württembergische Bevollmächtigte, der Assessor Moritz Mohl116, war ihm noch nicht vorgekommen. Die Diplomatie in Berlin konnte nicht genug ihre Verwunderung aussprechen über den ungestümen Mann mit der roten Perrücke und den vollgepfropften Aktenmappen: welch eine weitschweifige Kleinlichkeit, welche Lust an unfruchtbarem theoretischem Streite, welche Fülle unverdauter Gelehrsamkeit, welch ein hartnäckiges Mißtrauen gegen Preußen! [pg 188] Der frühreife schwäbische Staatsweise entfaltete bereits alle jene Talente, die noch 40 Jahre später den deutschen Reichstag bezaubern sollten; L. Kühne nannte ihn »einen eingebildeten Narren, der den Bären des Nordlands seine kindische konstitutionelle Weisheit zu predigen dachte«. Als Mohl dem einzigen Küstenstaate des Zollvereins die Abschließung von Schiffahrtsverträgen verbieten wollte, da erwiderte der Preuße: »dann werden wir also einen unserer Ostseehäfen an Württemberg abtreten müssen, um die Gleichheit zwischen den Zollgenossen herzustellen!« Mit einem solchen Kollegen behaftet, konnte auch der bayrische Assessor Bever nichts fördern. Die hochstehenden preußischen Staatsmänner fanden es bald unerträglich, mit Subalternen zu verhandeln, die bei jeder Kleinigkeit daheim anfragten; und zu allem Unheil begann auch wieder der alte Streit der Berliner Departements: Kühne und Eichhorn, die doch beide das nämliche wollten, betrachteten einander mit gegenseitiger Eifersucht. Also gestalteten sich die Verhandlungen mit dem befreundeten Süden wider Erwarten zu einem unerquicklichen Zwist. Im Mai 1832 brach man sie ab.
Moritz Mohl schrieb nun eine ungeheure Denkschrift und bewies, daß der Zollverein mit Preußen den sicheren Untergang Württembergs herbeiführen müsse. Ein Menschenalter darauf hat Freiherr v. Varnbüler dies klassische Aktenstück der Vergessenheit entrissen, um der Welt den Weitblick des Volksmannes zu zeigen. König Wilhelm wünschte nach wie vor den Abschluß, selbst Wangenheim hatte einiges gelernt, mahnte aus der Ferne zur Verständigung. Doch die große Mehrheit im Lande widerstrebte. Die Fabrikanten, die bisher aus der Beherrschung des bayrischen Marktes großen Gewinn gezogen, fürchteten die Industrie des Niederrheins, die Bequemlichkeit des mächtigen Schreiberstandes zitterte vor der strengen preußischen Kontrolle, der gesinnungstüchtige Liberale schlug ein Kreuz vor dem Schreckbilde des norddeutschen Absolutismus. Mehr als ein halbes Jahr brauchten die süddeutschen Höfe, um sich einen neuen Entschluß zu bilden. Unterdessen trieb die Diplomatie Österreichs und der auswärtigen Mächte ihr verdecktes Spiel an den Höfen der Mittelstaaten. Eine Zeitlang stand die große Sache fast hoffnungslos. Baden tut wohl, alle Zollvereinsgedanken [pg 189] vorläufig aufzugeben — sagte der bayrische Minister Gise zu dem badischen Gesandten Fahnenberg —, Preußen stellt unerhörte Forderungen, verlangt von uns materielle Opfer und die Beschränkung der Souveränität, Kurhessen bereut schon den übereilten Anschluß! Zudem bestand wenig Freundschaft zwischen den Beamten der beiden Königreiche; ein Glück nur, daß Schmitz-Grollenburg, der württembergische Gesandte in München, das Vertrauen König Ludwigs besaß und die Fäden nicht gänzlich abreißen ließ.
So verging das Jahr in leidiger Verstimmung. Da raffte sich endlich König Ludwig auf und ließ am Silvesterabend eine derbe Note an Schmitz-Grollenburg schreiben: Der Süddeutsche Verein sei tatsächlich aufgelöst, die Wiederaufnahme der preußischen Verhandlungen schlechthin unvermeidlich. Zugleich kam vom Berliner Hofe eine ernste Mahnung: wolle man zu Ende gelangen, so müsse statt unbrauchbarer Subalternen ein fähiger hochgestellter Staatsmann die Unterhandlungen in Berlin führen. Der Rat wirkte. Zu Ende Januars l833 wurde der bayrische Finanzminister v. Mieg als gemeinsamer Bevollmächtigter der beiden Kronen nach Berlin gesendet: ein Jugendfreund König Ludwigs …, ein trefflicher Beamter von großer Sachkenntnis und seltener Arbeitskraft, die der König nach seiner Weise bis auf den letzten Tropfen auspreßte — in der Handelspolitik sehr frei gesinnt, dabei gütig und liebenswürdig, hochgebildet, von feinen gewinnenden Formen. Er vermied über Stuttgart zu reisen, weil er der pedantischen Schwerfälligkeit der württembergischen Schreiber mißtraute, sprach aber unterwegs in Dresden ein, verständigte sich mit den sächsischen Finanzmännern und erschien am 6. Februar in der preußischen Hauptstadt. Eichhorn und Maaßen kamen ihm herzlich entgegen; es bewährte sich wieder … »Preußens seltenes Talent, fremde Staatsmänner in Berlin zu gewinnen«. Noch boten sich der Bedenken viele; allein da Preußen auf seinen erprobten Tarif, seine festbegründete Zollverwaltung verweisen konnte, so blieb nur übrig, die im Norden bestehende Ordnung mit einigen Änderungen anzunehmen. Preußen verzichtete auf jedes Präcipuum … Die Einnahmen wurden nach der Kopfzahl verteilt; nur für die Schiffahrtsabgaben auf der Oder und Weichsel, die ja gar nicht zur Zollgemeinschaft gehörten, [pg 190] bezog Preußen eine Bauschsumme. Auch der teuerste Herzenswunsch des bayrischen Großmachtsbewußtseins fand Erfüllung: jeder Staat erhielt das Recht, Handelsverträge zu schließen, lediglich die Verträge mit dem russischen Polen blieben dem preußischen Staate vorbehalten. Zum Entgelt für so große Zugeständnisse wagte Mieg, in einem Punkte seine Instruktionen zu überschreiten: er bewilligte, daß die preußische Zollverwaltung des rascheren Übergangs halber sofort im Süden provisorisch eingeführt würde, noch bevor die Zollgemeinschaft in Kraft trat.
Am 4. März wurden die hessischen Bevollmächtigten zur ersten Plenarversammlung gerufen, am 22. kam der Vertrag zustande: die verbündeten Staaten, »in fortgesetzter Fürsorge für die Beförderung der Freiheit des Handels zwischen ihren Staaten und hierdurch zugleich in Deutschland überhaupt«, bilden einen »Gesamtverein«, der am 1. Januar 1834 für acht Jahre ins Leben tritt. Das Grundgesetz entsprach im wesentlichen den hessischen Verträgen, nur daß die Selbständigkeit der Bundesgenossen erheblich verstärkt wurde. Für jede Änderung der Zollgesetze wurde Einstimmigkeit der Verbündeten gefordert. Das schlimmste Gebrechen des Vereins lag weniger in seinen Satzungen als in der Verschiebung der Machtverhältnisse. Durch den Zutritt mehrerer größerer Staaten mit gleichem Stimmrecht wurde die freie Tätigkeit der preußifchen Handelspolitik unvermeidlich erschwert. Die neuen Rechte dagegen, die man den Zutretenden einräumte, schienen bedenklicher als sie waren … Die Befugnis, Handelsverträge zu schließen, dies von Bayern mit so leidenschaftlichem Eifer erstrebte Kleinod, erwies sich als ein harmloses Spielzeug … Preußen allein galt im Auslande als Haupt und Vertreter des Zollvereins; daher sind alle irgend wichtigen Handelsverträge durch Preußen im Namen des Vereins abgeschlossen worden. Auch die Kontrolle ward ermäßigt, auf Bayerns Andringen. Die Verbündeten sendeten bloß Vereinsbevollmächtigte zu den Zolldirektionen, Kontrolleure zu den Hauptzollämtern der Genossen; eine gegenseitige Visitation des Grenzdienstes fand nicht mehr statt. Solche Formen verschlugen wenig; denn im Grunde war der Verein auch bisher nur durch wechselseitiges Vertrauen und die Macht der Interessen zusammengehalten worden. Die Bundesgenossen gelobten [pg 191] einander »unbeschränkte Offenheit« in der Zollverwaltung, und sie haben ihr Wort redlich gehalten …
Da Bayern und Württemberg noch immer ihre törichte Sorge vor finanziellen Verlusten nicht aufgaben, so wurde in einem geheimen Artikel den Verbündeten das Recht vorbehalten, den Verein vor der Zeit zu kündigen, falls ihre Zolleinnahmen einen Ausfall von 10 Proz. des bisherigen Rohertrags aufwiesen. Maaßen unterschrieb getrosten Mutes; er wußte, daß der Vertrag ein Löwenvertrag war zugunsten des Südens, und der Erfolg sollte seine Erwartungen noch weit übertreffen. In den Jahren von 1834 bis 1845 hat der Norden an Bayern 22,29 Millionen Taler, an Württemberg 10,3 Millionen herausgezahlt, in dem Zeitraum von 1854–1865 empfing Bayern vom Norden 34 Millionen. Während der zwei ersten Jahrzehnte des Zollvereins haben bei der Abrechnung regelmäßig nur Preußen, Sachsen, Frankfurt und Braunschweig herausgezahlt; alle anderen Staaten gewannen. Allerdings geben jene großen Zahlen kein ganz zutreffendes Bild, da ein Teil der für das Binnenland bestimmten Einfuhr in den Häfen und Speditionsplätzen des Nordens verzollt wurde. Deutlicher erhellt der unverhältnismäßige Gewinn des Südens aus der Tatsache, daß die Verwaltungskosten in Bayern schon während des ersten Jahres von 44 auf 16, später auf nahezu 10 Proz. sanken, Bayerns Anteil an dem Kaffeezoll sofort auf das Dreifache, bis zum Jahre 1845 auf das Fünffache stieg.
Um auch den leisesten Anschein preußischer Hegemonie zu vermeiden, wurde verabredet, daß die alljährlichen Konferenzen der Zollvereinsbevollmächtigten nicht mehr, wie im preußisch-hessischen Verein, regelmäßig zu Berlin sich versammeln sollten; sie wanderten fortan, nach dem Belieben der Verbündeten, von Ort zu Ort, der erste Zusammentritt fand in München statt. Streitigkeiten wollte man der Entscheidung eines Schiedsrichters unterwerfen, der durch einstimmigen Beschluß für jeden einzelnen Fall zu ernennen war. Doch ist ein solcher Schiedsspruch niemals angerufen worden — nicht weil die Eintracht ungetrübt bestanden hätte, sondern weil der Dünkel der Kleinstaaten den freiwilligen Ausgleich der schimpflichen Unterwerfung unter eine fremde Gewalt regelmäßig vorzog. Daß Bayern seine Biersteuer [pg 192] behielt, war unvermeidlich. Man begnügte sich daher, ein Maximum für die Konsumtionssteuern festzusetzen und die allmähliche Annäherung der Steuersysteme in Aussicht zu stellen. In einem so lockeren Bunde blieb das liberum veto [Einspruchsrecht] und das Kündigungsrecht für Preußen ebenso unentbehrlich wie für die Kleinstaaten, als ein letztes verzweifeltes Mittel, um dem schwerfälligen Körper einen Entschluß zu entreißen. Nur die Hoffnung auf einen hohen politischen Gewinn konnte den preußischen Hof zu so schweren Opfern, zu einer so weitgehenden Nachsicht für die Grillen und Eitelkeiten der Mittelstaaten bestimmen. Mit überlegener Geduld erwartete Eichhorn, daß aus den fast lächerlichen Formen dieses lockeren Vereins doch eine unlösbare Gemeinschaft der Interessen emporwachsen müsse.
Mieg kehrte heim in der festen Erwartung, daß der so überaus vorteilhafte Vertrag ihm die Verzeihung für sein eigenmächtiges Vorgehen verbürge. Er täuschte sich schwer. König Ludwig konnte selbständigen Willen nicht ertragen, empfing den Freund mit bitteren Vorwürfen; daß die preußische Zollordnung sofort provisorisch eingeführt werden sollte, schien ihm eine Entwürdigung der bayrischen Krone. Der Minister wollte, tief verletzt, sein gegebenes Wort nicht zurücknehmen; er forderte und erhielt seine Entlassung … Nunmehr nahm der König die Akten an sich, und lange blieb das Schicksal des Vertrages zweifelhaft. Miegs Nachfolger, Lerchenfeld, erkannte zwar, nachdem er die Papiere eingesehen, die Notwendigkeit des Abschlusses, doch rückte er nicht recht mit der Sprache heraus. Fürst Öttingen-Wallerstein117 vollends, der vielgewandte liberalisierende Minister, bewies in ausführlicher Denkschrift: kein Zollverein ohne Österreich, die preußische Hegemonie ist Bayerns Verderben. Der preußische Gesandte hielt schon alles für verloren und schrieb verzweifelnd: nur Eichhorn selber könne noch retten. Darauf eilte Eichhorn sofort nach München (Juli 1833), gewährte noch das letzte Zugeständnis, gab zu, daß kein Provisorium stattfinden solle, seine gewinnende Freundlichkeit brachte in [pg 193] wenigen Tagen alles ins reine. Jetzt brach des Königs gute Natur wieder durch; er wünschte sich Glück zu der Wiederkehr der friderizianischen Tage, ließ eine Denkmünze prägen auf das Gelingen seines eigensten Werkes und sagte zu dem Nassauer Röntgen: »Österreich ist ein abgeschlossener Staat, mit dem wir wohl Handelsverträge, doch keinen Zollverein schließen können; Preußen ist ein Blitz, der mitten durch Deutschland hindurchfährt.«
Kaum war die Krone Bayern gewonnen, so begann der Kampf mit dem württembergischen Landtage. Die schwäbischen und badischen Liberalen hatten sich zu Anfang des Jahres in Pforzheim versammelt und dort beschlossen, dem vordringenden preußischen Absolutismus mannhaft zu widerstehen. Die Schutzzöllner beweinten den nahen Untergang der schwäbischen Industrie; die Partikularsten bewiesen, daß Württembergs Absatzwege nach Frankfurt und der Schweiz, nicht nach dem Norden führten; manche pessimistische Radikale gönnten dem verhaßten Ministerium nicht ein Verdienst, das der Regierung allein gebührte, sie wünschten noch weniger, daß ein wichtiger Grund der allgemeinen Unzufriedenheit beseitigt werde. Die gemütlichen Leute wollten die geforderten Opfer nur einem gesamtdeutschen Verein bringen. Selbst den gemäßigten Liberalen schien es hochbedenklich, einer absoluten Krone mittelbare Einwirkung auf den württembergischen Haushalt zu gestatten. Zudem wurden die Kammern nur zu einer Erklärung über den Vertrag, nicht zu förmlicher Genehmigung aufgefordert. Der Landtag empfand bitter seine Ohnmacht. König Wilhelm setzte seinen Stolz darein, das Werk hinauszuführen; kein Zweifel, er hätte auch ohne die Zustimmung der getreuen Stände den Vertrag vollzogen und also den leeren Schein der schwäbischen Verfassungsherrlichkeit vor aller Welt erwiesen. Darum wollte selbst Paul Pfizer, der Bewunderer Preußens, sich nicht zur Genehmigung entschließen; wenn er zustimmte, so verlor er jedes Ansehen unter den Parteigenossen, jede politische Wirksamkeit in seiner Heimat. In solchen tragischen Widerspruch war der süddeutsche Liberalismus geraten. Endlich, im November, genehmigte der Landtag den Vertrag nach harten Kämpfen. Nur einzelne waren überzeugt …, die Mehrzahl gab ihr Ja nur aus gedankenlosem Gehorsam; alle Führer [pg 194] der Liberalen, Pfizer, Uhland118, Römer119, stimmten dawider. Es war ein vollständiger Triumph des geschäftskundigen Beamtentums über den schwärmenden Liberalismus.
Neue unerquickliche Händel folgten, da nun das preußische Zollwesen durch eine gemeinsame Vollziehungskommission im Süden eingeführt wurde. Wie oft mußte der preußische Kommissär L. Kühne von den gemütlichen bayrischen Beamten bittere Klagen hören über diese verwünschte Berliner Strammheit; er bestand darauf, daß in den Grenzbezirken, wo offenkundiger Schmuggel blühte, drei Monate lang eine strenge Binnenkontrolle gründlich aufräumte. Die unfreie soziale Gesetzgebung der Mittelstaaten fand so leicht nicht den Übergang zur preußischen Freiheit … Doch der wesentliche Inhalt des Vertrags wurde redlich ausgeführt. Seit in München ein neuer Zolldirektor, der verdiente Knorr, ernannt war, arbeitete die Zollverwaltung fest und pünktlich. Jeder neue Tag der Erfahrung warb dem Zollverein neue Anhänger im Süden; die besseren Köpfe des Liberalismus gestanden beschämt ihren Irrtum …
Gleichzeitig mit Bayern und Württemberg unterhandelte Sachsen in Berlin. Es geschah, wie Motz vorhergesehen: keine der Zollvereinsverhandlungen hat den preußischen Staatsmännern schwerere Überwindung gekostet. Gewiß trat mit Sachsens Beitritt nur die Natur der Dinge in ihr Recht. Das Erzgebirge erhielt wieder ungehemmten Verkehr mit seiner alten Kornkammer, den Muldenniederungen in der Provinz Sachsen, Leipzig wieder freie Verfügung über seine wichtigsten Handelsstraßen; Macht und Bedeutung des Zollvereins stiegen erheblich, sobald eines der ersten Fabrikländer und der größte Meßplatz Europas hinzutrat. Gleichwohl war der unmittelbare Vorteil fast ausschließlich auf Sachsens Seite; in Preußen erhoben sich ernste staatswirtschaftliche und [pg 195] finanzielle Bedenken. Preußen gewann in Sachsen nur einen kleinen Markt, der überdies durch seinen eigenen Gewerbefleiß schon reichlich versorgt war. Da die Lebenshaltung und demnach der Arbeitslohn im Erzgebirge niedriger stand als in irgendeinem anderen Industriebezirke, so fürchteten die preußischen Fabriken, vornehmlich die Webereien und Druckereien in Schlesien und in der Provinz Sachsen, der sächsischen Konkurrenz zu erliegen. Von allen Seiten her wurde das Finanzministerium mit Warnungen bestürmt; am Niederrhein rief die erste Nachricht von dem Beginn der preußisch- sächsischen Verhandlungen weithin im Lande eine starke Aufregung hervor. Die Frage, wie ein großer Meßplatz einem Zollsystem sich einfügen lasse, galt noch allgemein als ein fast unlösbares Problem; sie war bei den Verhandlungen mit Bayern-Württemberg oft erörtert und endlich zur Seite geschoben worden, da man an der Verständigung verzweifelte.
An der sächsisch-böhmischen Grenze hatte sich ein ungeheurer Schmuggel festgenistet; das Volk nahm den elenden Zustand hin wie eine Notwendigkeit, ja wie einen Segen. Selbst Lindenau wagte nach dem Abschluß des Zollvereins im Gespräch mit Blittersdorff nur die schüchtern zweifelnde Bemerkung: daß der Schmuggel im Erzgebirge jetzt aufhören wird, »ist wohl schwerlich ein Unglück«. Die hochherzige Gesinnung des neuen Mitregenten, des Prinzen Friedrich August, wurde in Berlin ebenso bereitwillig anerkannt, wie die Einsicht der trefflichen Männer, die er in sein Kabinett berufen. Doch ein volles Jahr verfloß, bis die Ordnung in dem aufgeregten Ländchen sich wieder befestigte; Maaßen fragte besorgt, ob eine Regierung, die den schwächlichen Aufläufen in Leipzig und Dresden so wenig nachhaltigen Widerstand entgegengestellt, auch den festen Mut besitzen werde, die Schmuggelnester im Gebirge auszuheben. Und lehrte denn nicht der Gang der Verhandlungen, daß die neue Regierung das alte kleinliche Mißtrauen gegen Preußen nicht gänzlich über Bord geworfen hatte? Man kam in Berlin nicht los von dem Argwohn, Sachsen würde einen Zollverein mit Österreich vorziehen, wenn nur die Hofburg mehr böte als leere Redensarten. Wenn König Friedrich Wilhelm keinen deutschen Staat locken und einladen wollte, so doch am allerwenigsten diesen sächsischen Hof, der als Stifter des Mitteldeutschen [pg 196] Vereins eine so bösartige Gehässigkeit zur Schau getragen hatte. Der preußische Konsul Baumgärtner empfing einen herben Verweis, als er zu Anfang 1830 eine Flugschrift über die Notwendigkeit eines sächsisch-preußischen Zollbundes schrieb und in Sachsen verbreitete.
Bis zum Sturze des alten Systems erging sich die sächsische Regierung in Umwegen und Künsteleien, nach der alten Gewohnheit der Mittelstaaten. Sie fragte in Stuttgart und München an, ob Sachsen nicht dem Süddeutschen Verein beitreten könne. Ihr Berliner Geschäftsträger Könneritz richtete an Ancillon die Bitte: Preußen möge sofort seinen Tarif zu Sachsens Gunsten herabsetzen, da die Verhandlungen über den unmittelbaren Anschluß vorderhand noch ausgesetzt werden müßten. Maaßen aber antwortete (15. September 1830): »ohne vorhergegangene Vereinigung zu einem gegenseitig erleichterten Handelsverkehr« können wir bei der Ordnung unseres Tarifs auf dritte Staaten keine Rücksicht nehmen.
Erst das Ministerium Lindenau fand den Mut einzugestehen, was sich mit Händen greifen ließ: daß Sachsens Gewerbefleiß ohne Preußens Freundschaft untergehen mußte; nahm doch die gesamte überseeische Ausfuhr des Landes ihren Weg durch Preußen, desgleichen fast die gesamte Einfuhr der rohen Baumwolle. Leider war nur ein Teil der Fabrikanten im Gebirge dem Anschluß günstig, das Landvolk und vornehmlich Leipzig wehklagten über das hereinbrechende Verderben. Also hat selbst der allzeit patriotische und einsichtige Handelsstand der wackeren Pleißestadt, ganz wie späterhin die Kaufmannschaft von Frankfurt, Bremen, Hamburg, die unliebsame Wahrheit erhärtet, daß der Interessent fast niemals sachverständig ist. Auch der große Kaufherr wird zum Krämer, sein Gesichtskreis verengt sich, sobald er seinen unmittelbaren Vorteil bedroht wähnt; stolz auf seine persönliche Kraft und Freiheit, empfindet er es als eine Anmaßung, eine Beleidigung, wenn die Männer des grünen Tisches ihm zumuten, seine altgewohnten Geschäftsformen zu ändern, und will nicht zugestehen, daß über große handelspolitische Fragen nicht die privatwirtschaftliche Anschauung des Kaufmanns, sondern das staatswirtschaftliche Urteil des Staatsmannes zu entscheiden hat. Trotz alledem entschloß [pg 197] sich die Regierung gegen Jahresschluß zu jener ersten Anfrage in Berlin. Das Ministerium des Auswärtigen antwortete (24. Januar 1831): Die Schwierigkeiten scheinen sehr groß, die Interessen überaus verschieden; »dennoch ist die Aufgabe so gemeinnützig und deutscher Regierungen, welche neben der Sorge für ihre Untertanen zugleich die Beförderung des Wohls von ganz Deutschland im Auge haben, so entschieden würdig«, daß wir den Versuch wagen wollen. Die oberdeutschen Könige, von allem unterrichtet, überließen die Verhandlungen vertrauensvoll dem preußischen Hofe; die Überlegenheit der sächsischen Industrie, meinte Armansperg zuversichtlich, ist in einem großen Verein wenig zu fürchten, auch die schwierige Grenzbewachung muß sich durchführen lassen, so man ernstlich will.
Im März 1831 kam der sächsische Finanzminister v. Zeschau120 nach Berlin — neben dem Bayern Mieg, dem Hessen Hofmann und dem Badener Boeckh121 sicherlich der fähigste unter allen den Finanzmännern, mit denen Preußen zu verhandeln hatte — tätig und kenntnisreich, ein ritterlicher Charakter, schweigsam und bedächtig, noch von seiner preußischen Dienstzeit her mit L. Kühne wohl bekannt. Die in Dresden gewünschte Änderung des gesamten Tarifs gab er bald auf, gleichwohl ward er mit Maaßen nicht handelseinig. Erschreckt durch die Warnungen seiner Fabrikanten, wollte Preußen provisorische Schutzzölle zugunsten einiger Fabrikwaren einführen, damit die Industrie Zeit behielte, sich auf die Konkurrenz des Erzgebirges zu rüsten. Zugleich verlangte man Entschädigung für den drohenden starken Verlust an Durchfuhrzöllen. Kühne selbst fand diese Forderungen zu hart; aus dem Magdeburgischen gebürtig, betrachtete er die Kursachsen halb als seine Landsleute und hielt dem Minister vor: nach der Teilung Sachsens sei Preußen schon ehrenhalber verpflichtet, dem Nachbarlande Wohlwollen zu zeigen. Als Maaßen in diesen Fragen endlich nachgegeben hatte, [pg 198] erhob sich sofort ein neues Hemmnis: die Meßfrage. Frankfurt an der Oder hatte bisher für seine Messen einen Zollrabatt genossen, der erst vor kurzem auf 20 Proz. herabgesetzt war; nun der Eintritt Leipzigs bevorstand, wollte Preußen seinen schwer bedrohten kleinen Meßplatz nicht ungünstiger stellen als bisher. Die Leipziger Kaufmannschaft dagegen sagte den unfehlbaren Verfall ihrer Messen voraus, falls Frankfurt irgendein Vorrecht behalte; und »keine Regierung, am wenigsten eine konstitutionelle — schrieb der sächsische Bevollmächtigte Wietersheim —, kann einer so ausdrücklichen Erklärung der Repräsentanten des gefährdeten Nationalinteresses entgegenhandeln«. Auch das Altenburgische Geheime Ministerium sendete ein dringendes Mahnungsschreiben nach Berlin — »ohne alle äußere Aufforderung«, wie man unschuldig beteuerte —, und schilderte in herzbrechenden Worten das furchtbare Schicksal, das dem unglücklichen Leipzig drohe.
Da die Verhandlungen sich so ungünstig anließen, so wünschte der sächsische Hof, geängstigt durch die fortdauernde Gärung im Lande, mindestens einige Handelserleichterungen sofort zu erlangen, falls die vollständige Vereinigung nicht möglich sei. Der Prinz-Mitregent selber stellte diese Bitte in einem Handschreiben an den König von Preußen (11. April 1831). Er gab zu bedenken, daß mit dem gänzlichen Mißlingen dieser Verhandlungen »die Ausführung des großen und für die Sicherheit und Ruhe Deutschlands begründeten, von Ew. K. Majestät verfolgten Planes, die Interessen des Handels und Verkehrs in verschiedenen deutschen Staaten zu vereinigen und dadurch zugleich das politische Band zu befestigen, gefährdet werden oder mindestens Aufschub erleiden würde. Auch mag ich mir selbst nicht verschweigen, daß eine erfolglose Verhandlung in der gegenwärtigen Zeit auch hier nicht ohne einen sehr ungünstigen Eindruck bleiben würde«. Ein solcher Mittelweg schien aber den besten Köpfen der preußischen Regierung kleinlich und nutzlos. Eichhorn bewies in einem ausführlichen Gutachten: sofortige Handelserleichterungen würden, nach der Lage der Dinge, nur dem preußischen Staate einseitige Opfer auferlegen; wolle Sachsen dagegen zu Preußen in ein ähnliches Verhältnis treten, wie bisher Bayern und Württemberg, so sei dazu eine vollständige [pg 199] Neugestaltung seines Zollsystems erforderlich; warum also nicht sogleich das höchste Ziel, den Zollverein, ins Auge fassen? … Die letzten mündlichen Verhandlungen erfolgten im Juli, bald nachher stockte auch der schriftliche Verkehr. Die deutschen Kabinette begannen zu fürchten, daß Sachsen den Plan aufgegeben habe; der Dresdner Hof sah sich um die Wende des Jahres genötigt, in einer langen Denkschrift seine Handelspolitik vor den oberdeutschen Königen zu verteidigen.
Erst als Bayern und Württemberg ihre Zollvereinsverhandlungen in Berlin eröffneten, faßte man sich in Dresden wieder ein Herz. Im März 1832 erschien Zeschau zum zweitenmal in Berlin. Abermals kam man einen Schritt weit vorwärts; Sachsen erklärte sich bereit, das preußische System der indirekten Steuern anzunehmen. Doch über die Messen konnte man sich wieder nicht verständigen. Nun wirkte auch die Staatsweisheit Moritz Mohls lähmend auf Sachsen zurück; ohne die süddeutschen Höfe, die jetzt ihre Verhandlungen abbrachen, wollte das Dresdner Kabinett, wie begreiflich, nicht beitreten. Im Mai wurde die letzte Beratung gehalten; der Sommer verlief in peinlicher Verlegenheit …
Inzwischen beging der sächsische Hof einen schweren politischen Fehler, der den schlimmsten Verdacht zu rechtfertigen schien. Hannover hatte am Bundestage wieder einmal die Ausführung des Artikels 19 beantragt — in der unverhohlenen Absicht, den Gang der preußischen Handelspolitik zu stören. Ohne jede Rücksprache mit Preußen, ohne auch nur den Bericht der Bundestagskommission abzuwarten, stimmte Sachsen als die erste deutsche Regierung dem törichten Antrage zu und erklärte: Höchster Zweck des Bundes in Zollsachen ist, dasjenige durch gemeinschaftliche Gesetze zu erreichen, was durch Einzelverhandlungen nur schwer zu erreichen ist; sollen in Deutschland überhaupt Durchfuhrzölle bestehen, so doch jedenfalls ein anderes System als das preußische! — Die Finanzpartei in Berlin klagte laut über die offenbare Zweizüngigkeit. Geh. Rat Michaelis fragte in einer scharfen Denkschrift: soll diese Sprache des sächsischen Bundestagsgesandten etwa die öffentliche Meinung in Sachsen für den preußischen Zollverein gewinnen? — Wen konnten auch die nichtigen Entschuldigungen überzeugen, die der sächsische Minister Minckwitz seinem Berliner Gesandten Watzdorf [pg 200] schrieb (29. November 1832)? Der harmlose Mann beteuerte, die Vorgänge in Frankfurt sollten den Berliner Verhandlungen »keinen Eintrag tun«! Eichhorn aber, als ein gewiegter Kenner des Charakters der kleinen Höfe, mahnte seine erzürnten Amtsgenossen zur Geduld: gönnen wir doch den Herren in der Eschenheimer Gasse ihre unschuldigen Stilübungen; der Dresdner Hof meint es ehrlich, wenngleich er zuweilen einem Anfall von Schwäche unterliegt; noch eine kurze Frist, und er kommt wieder zu uns.
Und so geschah es. Im Januar 1833 besprach sich Mieg in Dresden mit Zeschau, und als darauf die Berliner Verhandlungen mit Bayern so glücklich vorangingen, kam der sächsische Finanzminister (24. März) zum drittenmal in die preußische Hauptstadt. Nach kaum acht Tagen (30. März 1833) schlossen Eichhorn, Maaßen, Zeschau und Watzdorf den Zollvereinsvertrag, der wörtlich mit dem soeben beendigten bayrischen übereinstimmte. Einige Separatartikel ordneten den Zustand der Messen. Der Frankfurter Zollrabatt blieb etwas ermäßigt bestehen, doch durfte Sachsen seinem Leipzig ähnliche Vergünstigungen zuwenden. Der Meßhandel erhielt eine große Erleichterung durch die Einrichtung der Meßkontierung; für Leipziger Großhandlungen von gutem Rufe wurde sogar ein über die Meßzeiten hinaus fortdauerndes Steuerkonto zum Abschreiben eröffnet — eine wichtige Vergünstigung, die noch manchen Mißbrauch veranlassen sollte. Auch die Herabsetzung einiger Zollsätze, namentlich für Woll- und Baumwollwaren, wurde vereinbart. Preußen verpflichtete sich, die Ermäßigung der Elbschiffahrtsabgaben, welche Anhalt dem preußischen Elbhandel zugestanden hatte, auch dem sächsischen Verkehre zuzuwenden; der gute Vorsatz scheiterte freilich an Anhalts Kleinsinn.
Nicht ohne Zagen unterschrieb Maaßen den Vertrag, der den preußischen Markt den Fabriken des Erzgebirges eröffnete; von allen seinen Räten stimmte ihm nur Kühne unbedingt zu. »Das ist ein schwerer Vertrag — sagte er zu Kühne … —, es hätte ihn nicht jeder unterzeichnet.« Die Besorgnis des Staatswirts hatte zurücktreten müssen vor den Hoffnungen der Politiker. Sachsen stand gerade in den Flitterwochen seines konstitutionellen Lebens; der Eintritt dieses Staates mußte die öffentliche Meinung günstig stimmen. Leider [pg 201] verging wieder eine geraume Frist, bis die deutsche Welt mit der vollendeten Tatsache sich versöhnte. Die preußischen Fabrikanten lärmten, die gute Stadt Leipzig überließ sich einer maßlosen Verzweiflung. Eine Petition, die der k. k. Konsul Bercks geschäftig umhertrug, warnte die Regierung; die Stadtverordneten richteten eine dringende Vorstellung nach Dresden. An Zeschaus Wohnung fand sich eines Morgens ein Anschlag: »Allhier wird von einem Parvenu, einem preußischen Landrat, so sächsischer Finanzminister geworden ist, das Land für Geld und Orden an Preußen verkauft.« Der Taumel ergriff jeden Stand und jedes Alter. Die Leipziger Schulbuben kauften sich englische Farbkästen auf Vorrat, weil sie mit frühreifer handelspolitischer Vorsicht befürchteten, das gewohnte Spielzeug werde nunmehr für bürgerliche Geldbeutel unerschwinglich werden. Ein Jahr darauf schon begann für die Pleißestadt eine neue Epoche glänzender Handelsblüte; das kleine Frankfurt wurde durch den überlegenen Nebenbuhler ganz zurückgedrängt, die mächtigen Leipziger Firmen lernten bald, den Frankfurter Meßrabatt für sich selber zu benutzen. Auch die Klagen der preußischen Fabrikanten verstummten, und niemand wollte die warnenden Petitionen unterschrieben haben. Zeschau selbst, der Wohltäter Leipzigs, hat freilich von den stolzen Kaufherren der Meßstadt niemals irgendeine Genugtuung für so viele Schmähungen erhalten.
Während diese verwickelte zweifache Verhandlung in wiederholten Ansätzen erledigt wurde, hatte Eichhorns unverwüstliche Geduld zugleich ein drittes schwieriges Geschäft zu führen: die Unterhandlungen mit den thüringischen Staaten. In Thüringen wie in Sachsen und Kurhessen wurde die beginnende Bekehrung gefördert durch den unruhigen Sommer von 1830, durch die Angst vor den murrenden Massen. Hier wie in Sachsen hoffte man anfangs, sogleich einseitige Handelserleichterungen von Preußen zu erlangen. Der weimarische Minister Gersdorff kam im Januar 1831 zugleich mit Lindenau nach Berlin, überbrachte ein Handschreiben seines Großherzogs, das um solche Vergünstigung bat: »dies würde in einer Periode mannigfacher Aufregungen Übelgesinnten einen Vorwand zu schlechten Einwirkungen entnehmen.« Auf wiederholte ähnliche Anfragen kleiner thüringischer Höfe [pg 202] antwortete das Berliner Kabinett (5. Juli 1831): man sei bereit, über einen Zollverein zu verhandeln, doch nur mit allen thüringischen Staaten gemeinsam, und nur wenn diese Höfe sich nicht mehr gebunden glaubten an den mitteldeutschen Verein. Erst als Kurhessen zu dem preußischen Vereine übergetreten war, erklärten die ernestinischen Höfe: der Mitteldeutsche Verein sei tatsächlich aufgelöst.
General Lestocq, der vielgeplagte Gesandte, den die thüringischen und einige andere kleine Dynasten in Berlin auf gemeinsame Kosten ernährten, überreichte am 15. Januar 1832 eine Verbalnote: Preußen möge die Initiative ergreifen, ältere bindende Verpflichtungen beständen nicht mehr. Weimar drängte am eifrigsten; das Großherzogtum besaß an Gersdorff und O. Thon zwei treffliche Verwaltungsbeamte, die wohl einsahen, wo der Grund der ewigen Finanznot lag. Spröder verhielt sich Gotha, da hier der hergebrachte Schmuggel allgemein als ein Nationalglück betrachtet wurde. Maaßen und Eichhorn entwickelten nun ausführlicher den einfachen Gedanken, den sie so oft schon ausgesprochen hatten: die verzettelten thüringischen Gebiete sollen zunächst unter sich einen Verein mit gemeinsamer Zollverwaltung bilden und dann erst als eine geschlossene Einheit in den großen Zollverein treten; Preußen will die Kreise Erfurt, Suhl und Ziegenrück diesem thüringischen Vereine zuteilen, wird auch dafür sorgen, daß Kurhessen sein Schmalkaldener Land hinzugefügt. Zu förmlichen Verhandlungen kam es auch jetzt noch nicht; denn Eichhorn hoffte, vorher mit Bayern und Württemberg abzuschließen. Diese beiden Höfe fühlten sich schon beunruhigt durch die Anfragen der Ernestiner; sie meinten: schließe Thüringen früher ab, so sei der Süden auf Gnade und Ungnade dem Belieben Preußens überliefert. Darum richteten sie sogar eine Verwahrung an den Berliner Hof (15. November 1832): ohne die vorhergehende Zustimmung Bayerns und Württembergs dürfe Preußen die Thüringer nicht aufnehmen. Der Dresdener Hof, der sich noch immer als das geborene Oberhaupt der Ernestiner fühlte, verlangte zu allen Verhandlungen mit seinen Stammesvettern zugezogen zu werden. Preußen erwiderte: wir werden Sachsens Interessen sorgsam wahren, doch der Zutritt eines sächsischen Bevollmächtigten kann die Verhandlungen nur erschweren. Immerhin [pg 203] haben diese Bedenken der drei kleinen Königskronen den Beginn der Unterhandlungen verzögert.
Erst im Dezember 1832 begannen die Konferenzen mit den Thüringern. Die preußischen Staatsmänner schlugen vor, eine Zentralbehörde für das thüringische Zollwesen zu bilden. Große Bestürzung; keiner der Kleinen wollte eine solche Beschränkung seiner Souveränität zugeben. Da meinten die Preußen begütigend: es werde genügen, einen Generalinspektor einzusetzen; der müsse freilich in Erfurt wohnen, als dem Mittelpunkte des Landes, doch solle er nicht von Preußen, sondern von der thüringischen Hauptmacht Weimar ernannt werden. Hiermit schien jeder Widerspruch entwaffnet. Wenn Preußen sein Zollwesen einem weimarischen Beamten unterstellte, so durfte auch der Reußenstolz und der Gothaerdünkel nicht klagen. Gleichwohl erhoben Altenburg und Meiningen neue Bedenken; sie konnten sich nicht in den Gedanken finden, daß ihre Verwaltung fremder Aufsicht unterliegen solle. Schon war man nahe daran, ohne Meiningen abzuschließen. Da drohte Kühne: wenn man die preußischen Beamten als Spione betrachte, dann müsse Preußen sein gefürchtetes Enklavensystem gegen die kleinen Nachbarn anwenden. Das schlug durch. Am 10. Mai 1833 wurde der »Zoll- und Handelsverein der thüringischen Staaten« gebildet, am folgenden Tage erklärte der neue Verein, der das gesamte System der preußischen indirekten Steuern annahm, seinen Zutritt zu dem Deutschen Zollvereine. Ein weimarischer Generalbevollmächtigter vertrat die Thüringer auf den Konferenzen des Zollvereins, gab in Tarifsachen nur eine Gesamtstimme ab; in einigen anderen Fällen sollte er die Meinung jedes einzelnen thüringischen Staates gesondert vortragen. Dieser Bund im Bunde, welchen Preußens Staatsmänner seit dem Jahre 1819 erstrebt hatten, erwies sich als so einfach und naturgemäß, daß niemals, auch nicht in den schwersten Krisen des Zollvereins, an die Auflösung des thüringischen Vereins gedacht worden ist. —
Also war des großen Werkes schwerster Teil gelungen. Ein unerhörter Ordenssegen belohnte die treue Arbeit des Beamtentums; die Jahrgänge der deutschen Gesetzsammlungen schwollen zu unförmlichen Bänden an, von allen den neuen Verträgen und Gesetzen. Dann kam jene folgenschwere [pg 204] Neujahrsnacht des Jahres 1834, die auch den Massen das Nahen einer besseren Zeit verkündete. Auf allen Landstraßen Mitteldeutschlands harrten die Frachtwagen hochbeladen in langen Zügen vor den Mauthäusern, umringt von fröhlich lärmenden Volkshaufen. Mit dem letzten Glockenschlage des alten Jahres hoben sich die Schlagbäume; die Rosse zogen an, unter Jubelruf und Peitschenknall ging es vorwärts durch das befreite Land. Ein neues Glied, fest und unscheinbar, war eingefügt in die lange Kette der Zeiten, die den Markgrafenstaat der Hohenzollern hinaufgeführt hat zur kaiserlichen Krone. Das Adlerauge des großen Königs blickte aus den Wolken, und aus weiter Ferne erklang schon der Schlachtendonner von Königgrätz. Glücklicher als sein leidenschaftlicher Freund hat Maaßen die Stunde der Genugtuung noch genossen. Er starb am 4. November 1834. Einen ebenbürtigen Nachfolger fand er nicht; nur in Eichhorn und den Geheimen Räten des Finanzministeriums lebten die Überlieferungen von 1818 fort.
Der erweiterte Handelsbund nahm jetzt den Namen des Deutschen Zollvereins an.122 Aus dem dunstigen Nebel des Deutschen Bundes traten schon erkennbar die Umrisse jenes Kleindeutschlands hervor, das dereinst den Ruhm und die Macht des Heiligen Römischen Reiches überbieten sollte.
Die politischen Wirkungen des Zollvereins sind dank der unvergleichlichen Schwerfälligkeit des deutschen Staatslebens nicht so rasch und nicht so unmittelbar eingetreten, als manche kühne Köpfe meinten. Schon zu Anfang der dreißiger Jahre hoffte Hansemann123, ein Parlament des [pg 205] Zollvereins und daraus vielleicht einen Deutschen Reichstag erstehen zu sehen, und wie viele andere wohlmeinende Patrioten haben nicht ähnliche Erwartungen an den deutschen »Zollstaat« geknüpft. Aber der Handelsbund war kein Staat, er bot keinen Ersatz für die mangelnde politische Einheit und konnte noch durch Jahrzehnte fortdauern, ohne die Lüge der Bundesverfassung zu zerstören. Als Minister du Thil im Jahre 1827 seinem Großherzog den Rat gab, jenen entscheidenden Schritt in Berlin zu wagen, da sprach er offen aus: Wir dürfen uns darüber nicht täuschen; indem wir den Handelsbund schließen, verzichten wir auf die Selbständigkeit unserer auswärtigen Politik; bricht ein Krieg aus zwischen Österreich und Preußen, so ist Hessen an die preußischen Fahnen gebunden. Desgleichen Dahlmann124, der nach seiner großen und tiefen Art den Zollverein sofort als das einzige deutsche Gelingen seit den Befreiungskriegen begrüßte, erklärte zuversichtlich, der Handelsbund stelle uns sicher vor der Wiederkehr bürgerlicher Kriege. Auch diese Weissagungen sind nicht buchstäblich eingetroffen. Der Zollverein hat die oberdeutschen Staaten nicht verhindert, die Waffen zu ergreifen gegen Preußen. Und dennoch sollte gerade das Jahr 1866 die gewaltige Lebenskraft dieses handelspolitischen Bundes erproben. Der rasche Siegeszug der preußischen Fahnen überhob Preußen der Mühe, seine wuchtigste Waffe zu schwingen, durch die Aufhebung der Zollgemeinschaft die oberdeutschen Höfe sofort zu bekehren.
Das Bewußtsein, daß man zueinander gehöre, daß man sich nicht mehr trennen könne von dem großen Vaterlande, war durch die kleinen Erfahrungen jedes Tages in alle Lebensgewohnheiten der Nation eingedrungen, und in dieser mittelbaren politischen Wirkung liegt der historische Sinn des Zollvereins … es ging doch zu Ende mit dem Philistertum der alten Zeit, das an die Herrlichkeit der Kleinstaaten kindlich glaubte. Der Geschäftsmann folgte mit seinen Gedanken den Warenballen, die er frei durch die deutschen Länder sandte, er gewöhnte sich, wie schon längst der Gelehrte, über [pg 206] die Grenzen des heimischen Kleinstaates hinauszublicken; sein Auge, vertraut mit großen Verhältnissen, sah mit ironischer Gleichgültigkeit auf die Kleinheit des engeren Vaterlandes. Der Gedanke selbst, daß die alten trennenden Schranken jemals wiederkehren könnten, wurde dem Volke fremd; wer einmal in dem Handelsbund stand, gehörte ihm für immer. Eine unerbittliche Notwendigkeit stellte nach jeder Krisis die alten Grenzen des Zollvereins wieder her; kalte politische Köpfe konnten mit mathematischer Sicherheit den Verlauf des Streites im voraus berechnen … Der preußische Staat erfüllte, indem er Deutschlands Handelspolitik leitete, einen Teil der Pflichten, welche dem Deutschen Bunde oblagen, wie er zugleich allein durch sein Heer die Grenzen des Vaterlands sicherte. So ist er durch redlichen Fleiß langsam emporgewachsen zur führenden Macht des Vaterlandes, und nur weil die europäische Welt es nicht der Mühe wert hielt, das Heerwesen und die Handelspolitik Preußens ernstlich kennen zu lernen, bemerkte sie nicht das stille Erstarken der Mitte des Festlandes.
Quelle: H. v. Treitschke, Deutsche Geschichte usw. IV, 350ff.