The Project Gutenberg EBook of Seelenverkäufer, by M. Gontard-Schuck This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org Title: Seelenverkäufer Das Schicksal einer Deutsch-Amerikanerin Author: M. Gontard-Schuck Release Date: April 30, 2011 [EBook #35999] Language: German Character set encoding: ISO-8859-1 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK SEELENVERKÄUFER *** Produced by Heike Leichsenring, Alexander Bauer, Jana Srna and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net
M. GONTARD-SCHUCK
DAS SCHICKSAL EINER DEUTSCH-AMERIKANERIN
VIERTES UND FÜNFTES TAUSEND
BERLIN / F. FONTANE & CO.
Das erste bis dritte Tausend erschien als erste Auflage im Juni 1914, das vierte und fünfte Tausend im darauffolgenden Monat.
Auf Grund des U. G. vom 19. Mai 1909 gegen Nachdruck geschützt.
Copyright 1914 by F. Fontane & Co.
I. Kindheit | 1 |
II. Der neuen Welt zu | 24 |
III. Nacht | 36 |
IV. Sonnenaufgang | 94 |
V. Als Stewardeß | 131 |
VI. Im sichern Hafen | 183 |
VII. Eine Abrechnung | 224 |
VIII. Ans Werk | 255 |
Zum letzten Male liegst du vor mir, mein treuer Weggenoß. Zum letzten Male, ehe ich dich hinausschicke in die Welt.
Sinnend ruhen meine Blicke auf den ersten Aufzeichnungen aus jener Zeit, da die verschlossenen Türen des Lebens sich für mich öffneten.
Ein Kind war ich noch damals, und wie hart hat mich das Schicksal in die Schmiede genommen, um einen Menschen aus mir zu machen, der Menschen und menschliche Schwächen versteht.
Und war es nicht gut, daß ich noch so jung war? Wie wäre es mir sonst möglich gewesen, die furchtbaren Erlebnisse meiner ersten Jugend so vollständig verwinden zu können?
Die kindlich unfertigen Schriftzüge da vor mir, die noch so gar keine Charakteristik zeigen, wecken nur eine leise, wehmütige Rührung in mir. Von dem Schmerz, der Bitterkeit jener Tage spüre ich nichts, gar nichts mehr.
Vielleicht, weil ich jetzt verstehe, wie alles kommen konnte, ja, wie alles kommen mußte. Wie eine Schuld, die andere nach sich zog, und wie auch an mir der uralte Fluch sich erfüllte, wie in mir das Vergehen der Eltern seine Sühne fand.
Und war es denn überhaupt ein Vergehen? War es Sünde?
Meine arme Mutter, was wußte sie von Sünde in ihrer Waldeinsamkeit?
Ihre Eltern waren stille, wortkarge Menschen, und sie fühlte sich oft sehr einsam in dem großen, alten Jagdhause oben im Gebirge. Und der Erbprinz, der als leidenschaftlicher Jäger oft ganze Wochen dort oben zubrachte, hatte nach den Pirschgängen am frühen Morgen Zeit und Muße genug, sich mit der schönen Försterstochter zu beschäftigen.
Mehr als für Ruhe und Glück des Mädchens gut war. — — —
Der Prinz war ein schöner Mann, und das Försterkind liebte ihn.
Sie mußte ihn ja lieben!
Wie selten kamen Fremde in ihre Waldeinsamkeit; und wie begreiflich ist es, daß ihr junges Herz dem ersten, der sich um sie bemühte, zuflog.
Wer will da von Schuld und Sünde sprechen?
Aber der rosenrote Traumhimmel des jungen Mädchens wurde gar rauh zerstört, als die Folgen sich zeigten. Und Lisbeth mußte heiraten. Zwar nicht den Prinzen, wohl aber seinen Büchsenspanner.
Alles Sträuben half nichts, der Vater war unerbittlich!
Hoheit wünschte es, so war es für ihn Befehl.
Der Büchsenspanner erhielt die Pachtung der Domäne Neuhof, und ich wurde als Tochter des Herzoglichen Domänenpächters Georg Albrecht geboren. —
Ich beneide jeden, der auf eine frohe, ungetrübte Kindheit zurückblicken kann.
Meine ersten Erinnerungen haften an einzelnen häßlichen Szenen im Elternhause. Die weinende, betrübt einherschleichende Mutter, der zornig scheltende Vater sind die am fernsten liegenden Bilder. Später entsinne ich mich, daß die Mutter immer krank war. Häßliche Auftritte gab es auch da noch. Ich fürchte, ich habe die Mutter nicht so geliebt, wie sie es um mich verdient hat.
Ihr stilles Dulden lag meiner wilden, aufbrausenden Natur nicht. Am liebsten wäre ich ihrem Peiniger an die Kehle gesprungen, wenn er ihr harte Worte gab, wenn er mich Wechselbalg oder Kuckucksei nannte. Obgleich ich die Bedeutung der Worte gar nicht verstand. —
Ich war noch nicht zwölf Jahre alt, als meine Mutter starb. Für die arme Dulderin war es eine Erlösung – für mich ein Unglück, dessen Tragweite ich erst in späteren Jahren voll ermessen konnte. Erst viel später, Jahrzehnte später, habe ich verstehen gelernt, was mir an jenem Tage genommen worden war.
Die Jahre nach dem Tode meiner Mutter, bis zu meinem fünfzehnten Jahre sind mir wie eine ununterbrochene Kette von Unannehmlichkeiten in Erinnerung. Lichtblicke waren es, wenn ich zu den Großeltern durfte. Bei ihnen war ich daheim.
Und als ich eines Tages von meinem Vater gezüchtigt worden war – ungerecht, wie ich meinte – da riß ich aus, und wanderte zu Fuß die neun Stunden über den Wald zu den Großeltern.
Einige Tage durfte ich bei ihnen bleiben, dann kam mein Vater, und ich mußte wieder mit nach Hause.
Liebe zu mir war es nicht, die ihn dazu trieb, mich wieder zu holen. Erst viel später habe ich begriffen, daß, solange er mich bei sich hatte, immer eine gewisse Nachsicht mit ihm geübt wurde, wenn er mit der Pacht im Rückstande war. Und das war wohl meistens der Fall.
Das flotte Leben, das er führte, verschlang zu viel.
Oft hörte ich damals des Abends Gläserklingen und lustiges Frauenlachen aus den unteren Räumen zu mir herauftönen.
Ich war neugierig ndash; sehr neugierig.
Aber die alte Rosine schalt mich aus, wenn ich sie fragte.
»Du hast geträumt, Kind! In der Nacht schläft man. Wo sollten hier denn Damen herkommen?«
Ich hatte aber doch nicht geträumt. Ich weiß es jetzt.
Mein Tagebuch.
Ich habe mir ein Tagebuch gekauft, und heute will ich es einweihen, heute am Todestage meiner lieben, toten Mutter.
Nun ich aber davorsitze, weiß ich gar nicht, was ich schreiben soll. Ich erlebe so gar nichts. Soll ich schreiben, daß ich sehr unglücklich bin? Das kann ich nicht! Ich bin mir selbst nicht recht klar über mein Empfinden. Ich habe etwas sehr Böses getan und weiß nicht, was aus mir werden wird, und darüber müßte ich doch traurig sein, aber ich bin es nicht.
Die Großeltern werden schon für mich sorgen, sie haben es ja immer getan. — Und Rudolph? Wie kommt es, daß ich so wenig an ihn denke in meiner Verbannung? Und wie kommt es, daß ich keine Nachricht von ihm bekomme? Ist sein Vater noch immer nicht gesund? —
Den 4. Februar.
Ich sitze wieder vor meinem Tagebuch und weiß nicht, was ich schreiben soll. Ich will deshalb eintragen, warum ich hier in E. bin und warum ich eigentlich unglücklich sein sollte. — —
Ich war im Frühjahr fünfzehn Jahre alt und sollte Ostern konfirmiert werden. Unser Inspektor war zum 1. Januar gegangen, und Vater war immer in einer fürchterlichen Laune.
Ich ging mit den andern Dorfkindern zu Pastor Eckebrecht in die Konfirmandenstunde. Der Pastor war immer sehr gut zu mir, er fragte mich oft nach den Großeltern und auch, wie es bei uns zu Hause ginge. Auch ob Vater oft abends zur Stadt führe.
Am Palmsonntag kamen die Großeltern; das war mir das Liebste an der ganzen Konfirmation. Die Großmutter backte immer so schönen Rosinenkuchen.
Wir haben aber gar nicht viel gefeiert, denn der Vater fuhr nach dem Kaffee gleich wieder in die Stadt, und darüber schien Großvater ärgerlich zu sein. Ich freute mich, als er weg war. Mit den Großeltern allein war es viel schöner.
Großmutter sagte mir, daß ich bis zum Herbst im Hause bleiben solle, dann solle ich fort, um etwas zu lernen. Was, das wußte ich nicht, war mir auch einerlei. Mir war die Hauptsache, daß ich fortkam. Auch über das Wohin machte ich mir keine Sorgen, jedenfalls in eine schöne, große Stadt, wo es Schaufenster gab, die man sich besehen konnte.
Anna Marie Walter war einmal in Dresden gewesen und hatte mir so viel davon erzählt, daß ich ganz neugierig war. — —
Ich bin auch fortgekommen – aber schön ist es hier nicht. — —
Am ersten April war ein Volontär bei uns eingetreten. Der Sohn eines Gutsbesitzers aus dem Hessischen. Er war sehr hübsch, so flott und lustig, daß wir bald gute Freunde waren. —
Warum Rudolph Schönewald gerade zu uns gekommen war, weiß ich nicht, denn lernen konnte er bei uns wahrhaftig nicht viel. Rosine sagte mir, daß er schon auf verschiedenen Gütern gewesen sei, aber nirgends ausgehalten habe.
Bei uns kam es nicht so genau darauf an. Er bezahlte eine schöne Summe dazu, und das konnte mein Vater gut gebrauchen. — —
Rudolph war noch nicht vier Wochen bei uns, als wir uns schon heimlich trafen. Bald im Feld, bald im nahen Gehölz.
Ich liebte ihn sehr, und er nannte mich seine süße, kleine Lotte. Ob er mich ebensosehr geliebt, wie ich ihn? Ich zweifle jetzt oft daran. Wenn ich darüber nachdenke, ist mir, als ob er viel kühler und ruhiger gewesen sei als ich.
Er hat wohl schon mehr junge Mädchen gekannt und geliebt. —
Für mich war es etwas Neues, Überwältigendes.
Ich war in jenen seligen, duftschweren Sommerwochen wie im Fieber. Ich war gar nicht ich selbst.
Dieses heimliche Suchen und Finden. — — —
Ich war so selig, alles in mir drängte diesem Manne entgegen. — —
Heuernte! Sonnenflimmer und Blumenduft!
Seit Tagen war schönes Wetter; die Heuernte war im vollen Gange. Alles was Arme hatte, mußte helfen. Auch ich half.
Ob ich auch geholfen haben würde, wenn der Verwalter nicht Rudolph Schönewald gewesen wäre? —
Wir waren beim Heuabladen. Auf dem Wagen unten stand der Großknecht, und in der Luke stand Rudolph und nahm ab. Ich stand etwas zurück und nahm Rudolph das Heu ab. Oben auf dem Heu waren noch zwei Kleinmägde, die es verstauten. Alle anderen, Tagelöhner, Knechte, Mägde und Schnitter, waren auf dem Feld beim Dörren.
Als der Wagen leer war, schickte Rudolph die beiden Mädchen nach dem Heuboden über der großen Scheune, wo gerade ein Wagen vorfuhr. Im Scherz nahm er einen Arm voll Heu und warf es über mich, so daß ich ganz darunter begraben war.
Ich krabbelte mich heraus, nahm einen Arm voll und tat das gleiche. —
Erhitzt und keuchend setzten wir das Spiel eine Zeitlang so fort, dann sank ich ermattet von der Anstrengung und dem betäubenden Duft ins Heu.
Rudolph warf sich über mich und küßte mich, heiß, leidenschaftlich, sinnverwirrend — — — —
Den nächsten Wagen lud ich nicht mit ab. — —
Tagelang war ich wie betäubt. Ob man mir etwas ansah?
Ich wagte mich gar nicht aus dem Hause. Konnte mir denn nicht jeder von der Stirne lesen, was ich getan?
Doch nichts geschah, alles war wie bisher.
Alles war wie bisher, nur ich war eine andere. —
Drei Tage ließ ich mich nicht vor Rudolph sehen, dann hielt ich es nicht mehr aus. Ich mußte ihn sehen, ich mußte wissen, was er von mir dachte.
War er auch in einer solch kläglichen Stimmung? Schämte er sich auch?
Ich mußte ihn sprechen, aber nicht am Tage. Ich würde ihm nicht in die Augen sehen können. — —
Gegen Abend, als es dunkel war, ging ich den gewohnten, ihm bekannten Weg.
Meine Hoffnung trog mich nicht, schon nach kurzer Zeit kam er mir nach.
Ich konnte die Augen nicht aufschlagen, als er zu mir trat.
»Wo bist du gewesen, Lotte? Warum bist du die ganzen Tage nicht einmal herausgekommen?« fragte er.
Ich hob die Augen und sah ihm ins Gesicht. Doch da stand nichts als ein leichtes Verwundern über mein ihm unerklärliches Fernbleiben. War es denn möglich! War das, was mich bis ins Innerste aufgerüttelt, für ihn gar nichts?
Ich war eine andere seit jener Stunde, und er?
Ich wußte nicht, was ich sagen sollte und stammelte: »Ich – ich schämte mich.«
»Du bist mein kleines Schäfchen,« sagte er lachend und schloß mich in die Arme. »Komm, laß uns noch ein wenig weitergehen.«
Wir trafen uns nun täglich und – bald schämte ich mich nicht mehr. — —
Alles wird zur Gewohnheit, und Rudolph verstand es, meine Gewissensbisse und Selbstvorwürfe einzuschläfern.
Liebten wir uns denn nicht?
Wen ging es etwas an, wenn wir die heimliche Süßigkeit der Liebe auskosteten?
»Wenn ich noch einige Jahre älter bin, wenn ich ausgelernt habe und vom Militär frei bin, dann wirst du ja doch meine Frau, meine süße, kleine Frau!«
Ich war sehr jung, sehr verliebt, und die Sommernächte waren schwül und voller Düfte. — —
Der Sommer ist hin und mit ihm meine rosenrote, geheimnisvolle Verliebtheit. — —
In den ersten Oktobertagen kam eine Depesche an Rudolph, daß sein Vater plötzlich sehr schwer erkrankt sei; er müsse sofort nach Hause kommen.
Wir konnten kaum Abschied nehmen, so rasch ging alles. Ich war ganz unglücklich. Kam er wieder, ehe ich fortging? Würde ich ihn noch einmal sehen, ehe ich in ein Pensionat kam?
Ich war überhaupt in einer ganz schrecklichen Stimmung. Schon seit einigen Wochen fühlte ich mich gar nicht besonders wohl. Mir war oft so übel des Morgens, daß ich kaum den Kopf erheben konnte.
Am liebsten wäre ich jetzt hier geblieben. So sehr ich mich Ostern auf die Pension gefreut hatte, jetzt hatte ich gar kein Verlangen mehr danach. Rosine war auch gar nicht gut zu mir, den ganzen Tag schalt sie mit mir herum. Am liebsten wäre ich zur Großmutter gegangen.
Da, am zweiten Sonntag nach Rudolphs Abreise, kam plötzlich ganz unerwartet die Großmutter.
Ich weiß nicht, mir war seltsam beklommen, als sie mir in die Augen sah. Das gütige, alte Gesicht sah so kummervoll auf mich.
»Kind, Kind, was hast du getan,« sagte sie dann weinend.
Ich konnte nicht antworten, ich weinte mit; obgleich ich gar nicht wußte worüber. Mir war nur plötzlich so bange, so seltsam ahnungsvoll zumute.
Und dann erfuhr ich den Grund von Großmutters Kommen.
Rosine hatte ihr geschrieben: Sie habe schon den ganzen Sommer bemerkt, daß der Windhund, der Schönewald, hinter mir hergelaufen sei, und sie habe längst bemerkt, daß nicht mehr alles mit mir in Ordnung sei. — —
»Erzähle, Kind, alles Weinen hilft nun nichts mehr, und verheimlichen läßt es sich auch nicht,« sagte die Großmutter.
Ich erzählte. Die Großmutter saß ganz still. Sie sah so gramvoll vor sich nieder, daß ich hätte laut aufschreien können.
Als ich geendet, nickte sie einige Male still vor sich hin, dann löste ein Seufzer die beklommene Stille, und Großmutter sagte:
»Du gehst heut' abend mit mir, Lottchen. Mach' einstweilen deine Sachen fertig, ich werde mit dem Vater sprechen, was später wird, das müssen wir noch sehen.«
Was dann da unten über mich verhandelt wurde, ich weiß es nicht. Oft drang die scheltende Stimme des Vaters zu mir herauf, aber auch die sonst so sanfte Stimme der Großmutter war seltsam hart und klar.
Am andern Tage war ich in der Försterei. Der tiefe Friede, der um das liebe, alte Haus lag, tat mir wohl. Der Waldbach, der durch den Garten rauschte, sang mir sein wundersames Lied. Ich fühlte mich geborgen.
Nach einigen Tagen erwartete ich, daß der Großvater oder die Großmutter mit mir sprechen, vielleicht mit mir schelten würden. Doch nichts von alledem geschah. Der Großvater sagte gar nichts. – Nur schien mir, sein Gang sei noch gebückter und sein Haar noch weißer geworden. — —
Was würde aus mir werden?
Ich wollte an Rudolph schreiben und wurde zu meinem Schrecken gewahr, daß ich nicht einmal seine Adresse wußte. Den Namen seines väterlichen Gutes wußte ich, aber wo lag es?
Oder war Rudolph schon wieder in Neuhof?
Die Großeltern wagte ich gar nicht zu fragen. Hätten sie mich doch gescholten, ich glaube, mir wäre wohler gewesen. Diese schweigende Güte erdrückte mich.
Am Ende der Woche reiste der Großvater nach E. Großmutter sagte mir, daß er eine Pension für mich suchen wolle; hier könne ich nicht bleiben, weil die Försterei zu einsam im Walde liege. — —
Eigentlich ist es gar keine Försterei, es ist ein Jagdhaus, das einst ein Vorfahr des jetzigen Herzogs für seine Geliebte erbaut hat. Wenn der Herzog im Sommer auf Schloß Ringhardt residierte, dann wollte er sie immer in der Nähe haben. Nach Schloß Ringhardt durfte er sie nicht bringen, dort wohnte seine Mutter, so baute er ihr mitten im Walde, dreiviertel Stunden entfernt von Schloß Ringhardt, das Jagdschloß Finsterberg.
Es ist ein zweistöckiges Gebäude mit weit vorspringendem Dach und kleinen, bleigefaßten Fensterscheiben.
Im Untergeschoß wohnte jeweilig ein Förster, zu dessen Obliegenheiten es gehörte, die oberen Räume in Ordnung zu halten. — —
Jene Zeiten sind lange vorbei. Es wohnt keine geheimnisvolle Unbekannte mehr da oben, und auf der schönen Chaussee, die damals angelegt wurde, klingt selten der Hufschlag eines Vollblutes. — — —
Weihnachten durfte ich noch bei den Großeltern bleiben, doch es war ein trauriges Fest; keines von uns dreien hatte Mut und Lust zur lauten Freude. Lautlos, als läge ein Toter im Hause, gingen wir aneinander hin.
Es lag wie ein Bann über uns allen. — — —
Einige Tage nach Neujahr hat mich der Großvater hierher gebracht. Hier, bei Frau Martin, soll ich bleiben bis Anfang März, dann komme ich in die Entbindungsanstalt, die hier in der Stadt ist. Was dann mit mir werden soll, wenn alles vorüber ist, ich weiß es nicht. Mir ist unsäglich bange.
Als der Großvater von mir ging, meinte ich, das Herz müßte mir brechen vor Weh. Und vergebens versuchte er mich zu trösten. Ihm selbst war auch gar weh ums Herz, denn kaum konnte er sprechen vor Rührung.
Großmutter soll mich bald besuchen. — — —
Nun bin ich allein.
Ich habe ein ganz einfaches, sauberes Stübchen. Frau Martin, bei der ich wohne, ist die Witwe eines Beamten und lebt in ziemlich beschränkten Verhältnissen. Sie ist vom Großvater wohl in meine Geschichte eingeweiht worden, sie quält mich nicht mit Fragen. Sie ist lieb und gut zu mir und tröstet mich, wenn mich das Heimweh gar zu sehr packt.
Ich helfe ihr ein wenig in der kleinen Wirtschaft, dann vergesse ich wenigstens für kurze Zeit meinen Kummer.
Was soll ich auch immer tun?
Ich habe so viel überflüssige Zeit zum Denken.
Ich schreibe Briefe an Rudolph, ohne je einen abzusenden.
Und nun habe ich mir sogar ein Tagebuch gekauft, obgleich ich sonst nicht für solch überflüssigen Kram bin. Tagebücher und Poesiealbums waren mir immer greulich. —
Aber die Langeweile! Die vielen unausgefüllten Stunden! —
Mit wem soll ich sprechen? Wem soll ich mein Herz ausschütten? Wenn ich älter wäre, hätte ich wohl nicht solches Anlehnungsbedürfnis.
Warum bin ich noch so jung? So furchtbar jung?
Ob ich wohl auch hier wäre, wenn meine Mutter noch lebte? — — —
Den 8. Februar.
Heute hatte ich einen Brief und ein Paket von der Großmutter. Ein schöner, warmer Schlafrock für mich war darin und dann noch eine Menge kleiner Sächelchen. Kinderwäsche! Ach, und von mir! Ich mußte weinen. Das alles habe ich angehabt, als ganz kleines Würmchen. Ob wohl meine Mutter alles selbst gemacht hat? Ob sie sich wohl sehr gefreut hat, als sie mich in den Armen hielt? Ich freue mich gar nicht! Wie könnte ich auch! Ich wünschte, mein Kind wäre tot. Frau Martin sagt mir auch, die bedauernswertesten Geschöpfe auf der Welt seien diese unehelichen Kinder. Niemand liebe sie. Überall würden sie herumgestoßen. Vielleicht nimmt Großmutter mich mit dem Kinde zu sich, ich wollte es schon recht gern haben. Aber es soll doch niemand wissen, daß ich ein Kind habe, deshalb haben sie mich doch gerade hierher gebracht.
Und Rudolph schreibt noch immer nicht!
Ob er nicht weiß, wo ich bin? — — —
Den 20. Februar.
Ich glaube, es war doch Unsinn, daß ich mir ein Tagebuch gekauft habe. Manchmal abends, wenn ich es öffne und hineinschreiben will, dann weiß ich nichts. Ich kann doch nicht bloß hineinschreiben, was ich den Tag über esse und trinke! Und sonst erlebe ich ganz und gar nichts. In die Stadt bin ich noch nicht einmal gekommen. Wenn ich abends im Dunkeln spazieren gehe, suche ich immer die Anlagen auf, die hierhinaus liegen. Da begegne ich fast nie einem Menschen.
Am 1. März soll ich wahrscheinlich schon in die Anstalt. Der Arzt kommt morgen und untersucht mich, dann wird er sagen, wann ich hinkommen soll. Wenn alles vorüber ist, bleibe ich noch einige Wochen bei Frau Martin, bis ich mich wieder ganz erholt habe.
Wenn ich nur wüßte, was dann aus mir werden soll! — —
Den 22. Februar.
Ich darf noch acht Tage länger bei Frau Martin bleiben. Gestern war der Doktor hier, es war gräßlich! Ich habe mich so geschämt. Aber als ich mich nicht anfassen lassen wollte, wurde er grob. Er ist ein widerlicher Kerl mit wässerigen Schellfischaugen, ich mag ihn gar nicht. Hoffentlich ist er gerade krank, wenn es so weit mit mir ist, und es ist ein anderer da.
Überhaupt fand ich es häßlich von ihm, gleich so grob zu mir zu sein. Das kann er sich doch denken, daß man sich schämt! Er ist doch ein Mann.
Ob es wohl sehr schlimm ist? Es soll sehr wehe tun. Maria Rettberg sagte es einmal, als wir noch zu Fräulein Fischer gingen. Ihre große Schwester hatte ein Baby, und da hatte sie hinter der Portiere versteckt zugehört, wie die es ihrer Freundin erzählt hatte. Sie wäre beinahe gestorben.
Aber ich will nicht sterben! Ich bin noch so jung. — — —
Den 28. April.
Acht Wochen sind es her, seit ich zuletzt in mein Büchlein geschrieben. Nun ist alles vorüber. Ich mußte doch früher in die Anstalt, als bestimmt war; die Niederkunft kam etwas zu früh.
Es war furchtbar! Zuletzt habe ich gar nichts mehr davon gewußt, ich war besinnungslos. Und das war gut. Es wäre vielleicht auch besser gewesen, wenn ich gar nicht wieder zu mir gekommen wäre, ist doch auch mein Kind tot. Sie sagen wenigstens so. Aber ich glaub' es nicht, sie machen alle so sonderbare Gesichter dabei. Als ich fragte, ob es schon totgeboren sei, sagte die Schwester ja. Und als ich Frau Martin gestern fragte, wie lange es gelebt habe, da sagte sie, sie wisse es nicht genau, einige Stunden nur.
Das widerspricht sich doch!
Ein Knabe ist es gewesen. Mein Kind! Wie mir zumute ist bei dem Gedanken. Ich habe früher wohl oft gedacht, es sei besser, wenn es tot wäre, und nun möchte ich es doch so gerne haben. Ich würde es doch sehr liebhaben.
Wenn ich nur die Wahrheit wüßte! Aber wer wird sie mir sagen?
Seit gestern bin ich nun wieder bei Frau Martin. Ich sehe jetzt wie ein Junge aus, ganz kurze Haare habe ich. Das kommt von der Krankheit, sagt Frau Martin, da gehen einem immer die Haare aus. Ich bin sehr krank gewesen, Kindbettfieber! Es soll sehr schlimm sein, und manchmal haben sie nicht gedacht, daß ich durchkommen würde. Großmutter ist lange bei mir gewesen, ich hab's aber nicht gewußt.
Ich bin jetzt sehr mager und blaß, und Frau Martin sagt, ich sei noch gewachsen. Das ist ja auch gut möglich, mit sechzehn Jahren kann man noch lange wachsen.
Morgen will ich an Vater schreiben, damit er mir Rudolphs Adresse schreibt. Ich hätte es schon früher tun sollen, denn Großmutter sagt's mir doch nicht. Wir müssen doch nun bald heiraten.
Mir ist ganz sonderbar bei dem Gedanken. Ich weiß nicht – das alles liegt mir jetzt so weit ab – so gar nicht mehr, als ob ich die wäre, die in jenen schwülen, duftschweren Sommertagen heimliche Wege gewandelt. Mein Blut ist so ruhig, und wenn ich an Rudolph denke, ist mir gar nicht mehr sehnsüchtig zu Sinn. Es ist schrecklich! Ich glaube zuweilen, er ist mir ganz gleichgültig. Ich verstehe mich selbst nicht. Denn das ist doch unmöglich! Ich muß ihn doch heiraten! Oder muß ich vielleicht gar nicht? Könnte ich doch einmal mit der Großmutter sprechen! Lange bleibe ich nicht mehr hier; im Walde unter meinen schönen Bäumen kann ich mich viel besser erholen. Gibt es ein schöneres Plätzchen, als unter meinen geliebten Tannen? Ich könnte Ziegenmilch trinken und weite Spaziergänge machen. Wo geht es sich schöner, als auf den schmalen moosgepolsterten Pirschwegen, zwischen den schlanken Stämmen der Kiefern, wo es so kühl und rein ist! Ich will schreiben, sie sollen mich heimnehmen, sonst werde ich wieder krank. — — —
Ich habe viel zu schreiben diesmal. Ob ich noch alles genau weiß?
Schon acht Tage nach meiner Entlassung aus der Anstalt holte Großvater mich nach Hause. Sie waren noch immer sehr gut zu mir, alle beide. Viel zu gut, ich weiß es wohl. Aber Großmutter sagt, ich sei zu jung und unerfahren gewesen, und Rudolph trüge ganz allein die Schuld.
»Muß ich ihn denn nicht heiraten, Großmutter?« fragte ich zagend.
»Ach Kind, das ist ja gerade das Schlimme. Er denkt nicht dran. Sein Vater ist doch gestorben, er hat nun zum Großvater gesagt, er müsse seine beiden Schwestern auszahlen, könne also nur eine reiche Frau heiraten. Ein Landwirt, der kein Geld in den Händen habe, könne sich nicht lange halten.«
Einen Augenblick saß ich ganz still, ich wußte nicht, sollte ich mich freuen oder sollte ich betrübt sein. Was aber nun? Wieder zum Vater? Der würde schön mit mir umspringen!
Aber das war noch nicht alles, was die Großmutter mir zu sagen hatte. Vater ist gar nicht mehr auf Neuhof. Die ganze Geschichte ist bald nach meiner Abreise zusammengebrochen.
Großmutter sagte: »Du bist zwar noch sehr jung, aber in Anbetracht aller Umstände und weil ich annehme, daß dich das, was du jetzt hinter dir hast, über deine Jahre hinaus gereift hat, so will ich dir erzählen, was du, wenn alles anders gekommen wäre, nie hättest erfahren dürfen.«
Und so erfuhr ich alles. Es wurde mir jetzt klar, was ich schon oft geahnt, wenn ich des Vaters Redensarten und Scheltworte hörte. —
Er ist gar nicht mein rechter Vater. Mein Vater ist ein ganz hoher Herr, der mein Mütterchen nicht hat heiraten dürfen, weil sie nur ein armes Bürgermädchen gewesen ist.
Damit ich aber nicht als uneheliches Kind geboren wurde, hat die Mutter Georg Albrecht geheiratet. Dafür hat er die Pachtung der Domäne Neuhof sehr billig bekommen. Für mich selbst ist eine Summe von 50 000 Mark deponiert worden, von der er bis zu meiner Großjährigkeit die Nutznießung gehabt hätte.
Und nun? Alles ist fort! Der Vater hat schon lange keine Pacht mehr bezahlt, immer ist sie ihm wieder gestundet worden, und jetzt ist es herausgekommen, daß er auch mein Geld durchgebracht hat. Alles mit leichtsinnigen Weibern in Champagner umgesetzt. So geht es mir nun. Weil der Vater mein Geld mit leichtsinnigen Weibern durchgebracht hat, kann Rudolph mich nicht heiraten. Denn hätte ich die 50 000 Mark, dann wäre ich eine reiche Frau.
Aber bin ich denn überhaupt traurig, daß Rudolph mich nicht haben will? Eigentlich nicht! Wenn ich es mir recht überlege, dann fühle ich mich eher erleichtert bei dem Gedanken. Wenn ich nur erst wüßte, was aus mir werden soll! Ein anderer Mann wird mich auch nicht wollen, denn ich glaube, die Leute hier wissen doch alles. Und überhaupt, ich will auch gar keinen haben, die Männer sind alle schlecht! Alle! Nur Großvater ist gut! —
Ich will etwas lernen, dann brauch' ich keinen Mann zu heiraten. — —
Ob ich Großmutter mal frage, ob mein Kind wirklich tot ist?
Warum mir nur so sonderbar ist, wenn ich daran denke. Ich habe doch in meiner Ohnmacht, in der halben Bewußtlosigkeit das Schreien eines Kindes gehört! — —
Mein Haar wächst wieder! Ich fühle mich mit jedem Tage wohler. — — —
Ich bin glücklich! Gerade, wenn man keinen Ausweg sieht, kommt manchmal von einer Seite, an die man am wenigsten gedacht, die rettende Hand. —
Ich gehe nach Amerika!
Mit vier Worten ist es gesagt, und birgt doch so viel in sich.
Aber nur ruhig und vernünftig!
Also: Die Großmutter hat ihre einzige Schwester drüben. Lange schon. Geschrieben haben die Schwestern sich zuweilen, aber sehr lebhaft ist der Briefwechsel gerade nicht gewesen in den letzten Jahren.
Die Großmutter hat nun auch mein Unglück nach drüben berichtet, und da hat die Großtante geschrieben, ich solle nach drüben kommen. Sie habe sich schon immer ein Töchterchen gewünscht. Nach einigen Jahren, wenn ich Sehnsucht nach den Großeltern habe, könnte ich ja auch einmal wieder zu ihnen fahren.
Ich freute mich sehr, ich lachte und weinte in einem Atem. Da war die Großmutter sehr traurig, aber dann sagte sie, auch sie sähe ein, daß es das beste für mich sei, und ich solle in Zukunft so leben, daß ich täglich und stündlich bestrebt sei, das auszulöschen, was ich unbewußt gesündigt. Das sei die beste Sühne. — —
Nun weiß ich nicht recht, wie mir ist. Ich freue mich und bin doch auch wieder traurig. Aber die Freude überwiegt. —
Ich werde sehr fleißig sein in Amerika, damit ich bald reich werde, dann komme ich wieder, aber Rudolph Schönewald heirate ich dann auch nicht. Ich hasse ihn! —
Großmutter kauft mir jetzt allerlei schöne Sachen, Wäsche und Kleider. Schon am 28. Mai soll ich fahren. Ein Brief an die Großtante ist schon fort, und ein Platz auf dem Dampfer ist auch bestellt. Die Großeltern fahren beide mit nach Bremen.
Ich habe sehr viel zu tun jetzt, da werde ich lange nicht einschreiben können.
Den ersten Tag auf See.
Der Abschied von den lieben Alten war schrecklich! Die Großmutter weinte zum Erbarmen. Und ich? Ich weiß nicht, es tat mir ja auch sehr leid, aber trotzdem – ich komme mir beinahe schlecht vor – ich freute mich! Freute mich auf die große, unbekannte Welt und auf all das Schöne, das sie mir vielleicht bringt.
Ich bin jung, und ein klein wenig von all den Herrlichkeiten der Welt ist das Leben mir doch auch schuldig.........?!
Das Wetter ist sehr schön, nur gegen Abend wurde es etwas bewegter. Hoffentlich behalten wir es so, daß ich nicht seekrank werde. Die Großeltern haben mich dem Kapitän sehr empfohlen, und er will gut auf mich aufpassen.
Er ist ein reizender Mensch und auch noch gar nicht so alt. Ich habe früher immer gedacht, die Kapitäne wären alle alt und grau. —
Den 29. Mai.
Ich habe kein Auge zugetan die ganze Nacht. Das Bett war entsetzlich hart. Ich bin nicht gewöhnt, nur auf der Matratze zu liegen. Und die Wolldecken zum Zudecken sind auch nicht besonders hübsch.
Ich bin mit einer Dame zusammen im Zimmer, einer Amerikanerin. Das heißt, eigentlich ist sie aus Wien, aber sie ist schon sehr lange in Amerika. Sie fährt jedes Jahr zweimal nach Europa. Ich glaube, sie ist sehr reich. Sie hat die ganzen Hände voll feiner Ringe. Mit mir ist sie sehr freundlich und gibt mir allerlei gute Ratschläge.
Hübsch ist sie nicht, aber sehr fein; sie hat so feine Nachthemden, wie ich noch gar keine gesehen habe. — —
Donnerstag, den 30.
Heute ist schlechtes Wetter, tüchtig Wind und Regen. Gegen Abend wurde es sogar sehr stürmisch – nach unsrer Ansicht.
Zum Mittagessen lag schon alles krank. An unserem Tisch waren nur ganz wenige erschienen, und während des Essens verschwanden auch die noch zum Teil sehr rasch. Es war mir auch ein wenig sonderbar, ich hab' aber doch gut gegessen, nur keinen Fisch, der Geruch war mir zu widerlich.
Ich bin gestern abend erst um elf Uhr zu Bett gegangen, habe dann aber ganz fein geschlafen.
Den 1. Juni.
Heute war das Wetter wieder schön; den ganzen Tag sehr ruhig, und trotzdem sind noch Einige seekrank. Mir schmeckt jetzt wieder alles. Heute nachmittag zwischen vier und fünf Uhr fuhr auch ein Dampfer an uns vorbei, nach Hause zu. Mir war ein klein wenig sonderbar zumute, ob es wohl Heimweh ist? Ich habe recht nette Gesellschaft gefunden. Meine Zimmergenossin – Frau Fröhlich heißt sie – hat einen Neffen mit an Bord; gleich am ersten Tage hat sie ihn mir vorgestellt. Er sieht sehr gut aus, und ich glaube, er mag mich auch gern, denn er ist immer um mich herum.
Ich glaube, wenn ich nicht so furchtbar viel durchgemacht hätte mit den Männern – ich meine mit Rudolph – so könnte ich ihn vielleicht liebhaben, aber so! Nein! Ich werde niemals wieder einen Mann lieben. — — —
Mr. Smith – so heißt der Neffe – gibt sich sehr viel Mühe mit mir. Er will mich Englisch lehren. Die paar Brocken, die ich bei Fräulein Fischer gelernt habe, die helfen mir gar nichts.
An Deck haben wir immer viel Spaß. Wenn wir in den Stühlen liegen, kommt zuweilen der Kapitän und fragt, ob wir auch gut zugedeckt seien oder ob er den vierten Offizier schicken solle, damit er den Damen die Füße schön einwickele. Dann gibt es immer großes Gelächter. — — — —
Den 2., abends.
Endlich haben wir das lange prophezeite schlechte Wetter. Heut' gegen Abend waren wir auf der Brücke; es sah wunderschön aus, wenn das Wasser vorn über Deck kam und sogar bis zu uns heraufspritzte. Herr Smith ist sehr aufmerksam, stets ist er in meiner Nähe. Heute früh saß er im Stuhl neben mir – seine Tante war im Damenzimmer, da sie sich nicht besonders wohl fühlte. Er hat mir so viel dummes Zeug vorgeschwatzt. Er sagt, ich sei sehr schön – ob das wohl wahr ist? – Er ist der einzige Erbe seiner Tante, die sehr reich ist, und kann seiner Frau jeden Wunsch erfüllen. Und wenn er eine so schöne Frau hätte, wie ich, so würde er sie in Samt und Seide kleiden, das muß fein sein. – Und Geld braucht sie gar nicht zu haben, er hat nicht nötig, darauf zu sehen.
Wenn ich dagegen an Rudolph denke! Jetzt könnte ich mich schon rächen. Wenn ich Mr. Smith heiratete, so könnte ich schon nächstes Jahr wieder zu Besuch nach Hause reisen, und dann könnte ich Rudolph zeigen, daß ich auch ohne Geld einen reichen und hübschen Mann bekommen habe. – Denn hübsch ist Herr Smith, hübscher als Rudolph. Aber ich liebe ihn nicht, kann ihn also auch nicht heiraten. Das habe ich ihm auch gesagt.
Er war sehr traurig – und da tat er mir wieder leid. — —
Den 3., morgens.
Die Nacht war schrecklich! Das Innere wurde mir förmlich umgedreht. Scheußlich! Ich fürchtete wirklich, ich würde auch noch krank. Um zwei Uhr bin ich aufgestanden, ich konnte nicht mehr liegen, bald stand ich nahezu Kopf, bald wieder auf den Füßen. Ich habe mich auf das Sofa gesetzt und eine Apfelsine gegessen, dann war mir etwas menschlicher.
Frau Fröhlich ist sehr krank, jetzt sieht sie gar nicht mehr fein aus. Auch viel älter kommt sie mir vor. Erst dachte ich, sie wäre kaum dreißig.
Aber natürlich, sie hat doch einen Neffen, der 27 Jahre alt ist. — — —
Den 4.
Heute ist wieder prachtvolles Wetter. Trotzdem sind noch immer Einige krank. Ich selbst fühle mich großartig. Ich habe zwar noch nicht ein einziges Mal bei Tisch gefehlt, aber gestern war's doch nicht so ganz richtig.
Riesigen Spaß haben wir gestern nachmittag gehabt, als wir im Salon zum Kaffee waren. Ohne daß man vorher viel gemerkt hatte, holte das Schiff plötzlich so stark über, daß unsere Kuchenteller, Kaffeetassen und alles was nicht fest war, mit einem Male auf der Erde herumflog. Natürlich großes Geschrei. Alle suchten Zwiebäcke zusammen. Kaffee wurde dann nicht mehr getrunken. Heute abend ist großes Konzert, sogenanntes Seemannskonzert. Ich gehe auch hin. Alle wollen sich sehr elegant machen, und ich habe nur ein einfaches weißes Kleid, das ich anziehen kann. —
Da sitz' ich nun und halte schon eine ganze Weile die Feder in der Hand, ohne daß ich weiß, wo ich beginnen soll. Und doch habe ich so viel zu schreiben, wie noch nie während der ganzen Reise.
Zwischen gestern und heute liegt eine Ewigkeit oder ein ganzes Menschenschicksal, ich weiß es nicht.
Mir ist so sonderbar – so bange. Ist es das Neue, das Unbekannte, dem ich entgegengehe?
Es ist wohl hauptsächlich der Gedanke: hast du auch recht getan, der mich quält. —
Ist es doch das erstemal, daß ich bewußt mein Schicksal in die eigenen Hände genommen habe. — —
Also ich habe mich nun doch mit Herbert Smith verlobt. —
Ich war gestern abend in dem Konzert und hatte mein weißes Kleid an. Alle andern Damen waren feiner, denn das Kleid ist sehr einfach. Frau Fröhlich und ihr Neffe saßen mit mir am Tisch, außerdem noch eine junge Dame aus Baltimore, Miß Pfort, und ein Herr aus Köln. Schon als ich in den Salon kam, sah ich, daß Herberts Augen aufleuchteten; er sprang auf und kam mir entgegen; er sagte mir gleich so viel Schönes, daß ich ganz rot und verlegen wurde.
Eine Schönheit wie ich, habe nicht nötig, sich noch mit kostbaren Kleidern zu schmücken, ich sei die Schönste im Saal trotz meiner Einfachheit. — — —
Ich müßte kein Mädchen sein, wenn ich mich nicht gefreut hätte. —
Zuweilen dachte ich wohl, es seien nur Redensarten, aber mir scheint doch, es ist etwas Wahres daran, denn ich habe wohl bemerkt, daß alle Herren nach mir sahen. Und ich muß sagen, ich gefalle mir selbst, wenn ich im Gesellschaftszimmer an den großen Spiegeln vorübergehe. Ich bin groß und schlank, und mein goldbraun leuchtendes Haar sieht sehr apart aus. —
Ein bißchen eitel darf ich wohl sein. —
Nach dem Konzert saßen wir noch etwas zusammen, es kamen noch einige Herren dazu, und als im Salon die Lichter ausgelöscht werden sollten, beschlossen alle, ins Rauchzimmer zu gehen. Frau Fröhlich bat so lange, bis ich mitging. —
Wir haben sehr viel Champagner getrunken – ich trinke ihn gern – und ich glaube, ich habe einen regelrechten kleinen Schwips gehabt. Ja – und heute früh war ich verlobt. – Wenigstens sagen es alle. Und Herbert war schon um acht Uhr an unserer Zimmertüre und nannte mich seine schöne Braut, seinen stolzen Schwan und was der dummen Dinge mehr sind. – Aber gern hör' ich's doch. — —
Ich kann's jetzt verstehen, daß mein Vater gern Champagner trinkt; mir hat er auch geschmeckt. —
Herbert sagt, wenn ich erst seine Frau sei, könne ich trinken, so viel ich wolle. —
Ich bin doch etwas stark benommen im Kopf. Frau Fröhlich sagt, das komme vom ungewohnten Trinken; sie ließ eine Flasche Sherry kommen, da habe ich auch ein Glas mitgetrunken, und es ist mir wirklich etwas besser geworden. —
Wenn ich über alles klar nachdenke, dann ist mir ganz miserabel zumute. – Soll ich Herbert mein – mein – ja was ist es eigentlich, was hinter mir liegt? Ein Erlebnis – ein Unglück – oder was sonst? Es ist schrecklich! Nein, ich kann es nicht sagen. Würde er dann noch zu mir sagen – mein stolzer Schwan? Schwäne sind rein – weiß – unnahbar. Ach, ich komme mir manchmal so gar nicht mehr rein vor. – Ich sage nichts, lieber will ich ihn überhaupt nicht heiraten.
Aber wird er mich wieder freigeben?
Er hat mir heute nachmittag schon seinen Plan entwickelt. —
Sowie wir in New York ankommen, fahren wir beide im Automobil zum Pfarrer und lassen uns trauen. Das geht in Amerika ganz leicht. Herbert kennt einen Pfarrer in der 2. Avenue, zu dem fahren wir. Papiere brauchen wir nicht.
Die Tante besorgt währenddessen das Gepäck, und ehe alles fertig ist, sind wir schon wieder zurück, dann kann ich meinen Großonkel, der mich abholen will, immer noch begrüßen.
Herbert meint, es wäre möglich, daß wir beide mit zur Großtante reisten, aber es sei besser, daß wir uns sofort trauen ließen, dann könne der Onkel nichts mehr daran ändern.
Wenn wir nicht gleich mit dem Onkel gehen, dann wollen wir aber später einige Wochen zu ihm und der Tante. —
Und nächstes Jahr kann ich schon wieder nach Deutschland zu Besuch. —
Herbert hat mich gebeten, dem Kapitän nichts von unserem Plan zu erzählen. Es wäre ihm vielleicht nicht recht, weil ich noch so jung sei, und weil er doch den Großeltern versprochen habe, auf mich zu achten.
Ich werde es ihm nicht sagen, ich sehe ihn ja auch so selten. – Ich quäle mich immer mit dem Gedanken, daß ich Herbert doch meinen Fehltritt sagen müßte. Ich warte immer auf einen günstigen Augenblick. Wenn ich einmal längere Zeit ganz allein mit ihm wäre, dann hätte ich den Mut. Aber hier am Schiff ist man ja nie allein. —
Ob ich Herbert liebe, weiß ich wirklich nicht. Manchmal glaube ich es ja, aber trotzdem – wenn er jetzt plötzlich von mir gehen würde, ich glaube kaum, daß es besonders wehe tät'. —
Es ist vielleicht gut so. — —
Morgen sind wir dort. Eben sagte mir der Kapitän im Vorübergehen, daß wir morgen früh 10 Uhr am Pier in Hoboken sind.
Jetzt sitzt nun alles im Salon und schreibt Briefe, und auch ich will die letzten Zeilen in mein Buch schreiben, ehe ich es weglege. Vielleicht komme ich in nächster Zeit doch nicht zum Schreiben. Und wenn ich wieder schreibe, bin ich schon Frau. Frau! Komisch. Mir ist, als könnt ich's kaum glauben. —
Gleich will ich noch einen Brief an die Großeltern schreiben, denen werde ich aber doch alles berichten, obgleich Herbert mich bat, vorläufig noch nichts davon zu erwähnen. —
Um mich herum sitzt alles und schreibt. Briefe und Karten.
Adressen werden ausgetauscht, Versprechungen gemacht usw.
Ich möchte wohl wissen, wie viele von diesen Adressen benutzt werden. Wer denkt nach einem halben Jahre noch an die geschlossene Freundschaft?
Es sind auch eine ganze Anzahl Liebespärchen hier an Bord, alle erst von dieser Reise.
Die Seeluft muß eine stark aufreizende Wirkung haben.
Bei manchen sollte man es kaum glauben, daß sie sich erst seit kaum acht Tagen kennen.
Da ist zum Beispiel ein Pärchen an unserem Tisch. Alle Anzeichen sprechen dafür, daß sie sehr intim miteinander sind. – Ich hielt sie für Mann und Frau.
Gestern sprach ich mit dem Zahlmeister darüber, der lachte. —
»Das ist jede Reise so, zuweilen mehr, zuweilen weniger. Diese beiden haben sich vordem nie gesehen. Sie ist Rheinländerin und er ist aus Thüringen. Überdies wird sie von ihrem Bräutigam erwartet.« — —
Der Zahlmeister wird wohl recht haben. — —
Ich möchte keinen Seemann heiraten. Die Damen hier am Schiff sind teilweise sehr entgegenkommend gegen die Herren. — —
Herbert, der schon oft gefahren, lacht mich aus und sagt, das sei nicht so schlimm. Ein bißchen amüsieren dürfe sich jeder Mann. — —
Die See wird manchmal so unruhig, lange wird's nicht dauern, dann gibt's wieder Seekranke.
Allzu schlimm kann's nicht mehr werden, denn es sind jetzt nur noch zwölf Stunden. —
Wenn ich dann wieder einschreibe, ist es in der Neuen Welt. — —
Vier Wochen später.
Ach ja, es ist eine neue Welt, in der ich lebe – aber was für eine!
Furchtbare Wochen liegen hinter mir – fürchterlichere vielleicht noch vor mir!
Ich will schreiben – und weiß nicht, wo beginnen – ich weiß weder Anfang noch Ende.
Mit einem einzigen Schrei der Qual möchte ich alles in die Welt hinausrufen. —
In die Welt! In welche Welt?
Die Welt, die mich jetzt umgibt, lacht über meine Klagen. Und eine andere aufzusuchen, in der ich nicht verlacht werde, liegt nicht in meiner Macht. — —
Ich bin gefangen! Wo? Ich weiß es nicht. —
Doch ich will es dir schlicht und der Reihe nach erzählen, kleines Buch. Du allein bist ohne Falsch. —
Alles spielte sich so ab, wie Herbert es mir gesagt. Wir beide gingen nach Ankunft des Schiffes sofort ohne Aufenthalt durch die Zollschranke. Gepäck hatten wir nicht. Im Automobil fuhren wir dann ein ziemliches Stück, auch auf einem großen Fährboot über den Fluß und dann noch eine kurze Strecke weiter.
Wir sind dann in ein großes Haus gegangen. Wie Herbert mir sagte, zu seinem Freunde, dem Pfarrer. —
Ob es eine Vorahnung war? – Als die Tür hinter mir zuschlug, überkam mich plötzlich eine Angst, daß ich am liebsten wieder hinausgelaufen wäre. Doch Herbert legte den Arm um mich und führte mich in ein auf der linken Seite des Flures gelegenes Zimmer.
Sonderbar, ich sah keinen Menschen, und Herbert schien hier wie zu Hause zu sein.
Auch im Zimmer war niemand. Herbert geleitete mich zu einem Sessel, welcher der Tür gegenüberstand. —
Ich war plötzlich so müde. —
Einen Augenblick nur solle ich ihn entschuldigen, er komme sofort zurück, sagte er mir, und ging durch eine andere Tür hinaus.
Ich sah mich im Zimmer um. Die Wände waren mit einigen Bildern geschmückt – Dutzendware –, gegenüber der Tür stand eine Chaiselongue, kein Tisch, nur noch einige Sessel. —
Aber was mir jetzt erst auffiel – das Zimmer hatte ja gar kein Fenster! Eine elektrische Krone erhellte es, es war aber doch Tag. Es konnte höchstens zwölf Uhr sein! —
Noch immer kam Herbert nicht wieder.
Hinter mir rauschte ein Seidenkleid – eine Tür hatte ich nicht gehen hören. Ich drehte mich aufhorchend um, eine Dame stand vor mir und lächelte mich an.
Es war eine große, kräftig gebaute Frau im Alter von ungefähr fünfzig Jahren. Sie war sehr elegant gekleidet, sah aber trotzdem sehr gewöhnlich aus, denn ihr Gesicht war unangenehm und brutal. —
»Sie müssen Herrn Smith einen Augenblick entschuldigen. Er hat erst noch rasch etwas zu erledigen, wird aber sofort hier sein. Darf ich Ihnen einstweilen eine kleine Erfrischung anbieten?«
Und ohne eine Erwiderung abzuwarten, trat sie an einen kleinen Seitenschrank und goß zwei Gläser voll Wein, von denen sie mir das eine anbot; das andere stellte sie auf ein kleines Ziertischchen, in dessen Nähe sie sich niederließ. —
Ich hatte bis jetzt noch kein Wort gesprochen.
Ich saß da mit meinem Weinglas in der Hand und sah mich hilflos um. Ich hätte es gern hingesetzt, aber ein Tisch schien in diesem Zimmer ein überflüssiges Möbel zu sein. —
»Trinken Sie, liebes Kind, Sie werden erschöpft sein. Ich nehme Ihnen dann das Glas wieder ab,« sagte meine liebenswürdige Wirtin – die Gattin des Pfarrers, wie ich damals annahm.
Ich war wirklich durstig, aber noch mehr hungrig. Ich hatte seit dem Frühstück nichts mehr genossen, und auch da vor lauter Aufregung nur wenig. Ich tat deshalb einen guten Zug aus meinem Glase, dann nahm sie mir das Glas ab und setzte sich mir gegenüber.
Was sie zu mir gesprochen, weiß ich nicht; mich überfiel eine seltsame, bleierne Müdigkeit, ich riß einige Male mit Gewalt die Augen auf, aber dann konnte ich nicht mehr dagegen ankämpfen. Ich bin dann wohl eingeschlafen. — —
Als ich erwachte, war es Nacht. Ich lag ausgezogen auf einem Bett. Im Zimmer war es ganz finster.
Ich versuchte mühsam, meine Gedanken zu sammeln. Wo war ich? Was war mit mir geschehen? War ich krank gewesen? Mir war sonderbar benommen im Kopf. Ich sann und sann und kam zu keiner Klarheit.
Müde schlief ich endlich wieder ein. — —
Das Geräusch einer schließenden Tür weckte mich. Als ich die Augen aufschlug, war es Tag, und die Frau von gestern stand vor meinem Bett.
»Nun, ausgeschlafen?« fragte sie.
Ich sah sie verständnislos an.
»Wo ist Herbert?« fragte ich, nachdem ich meine Gedanken einigermaßen gesammelt hatte.
»Sie meinen Herrn Smith? Der hat noch gestern wieder abreisen müssen, liebes Kind. Aber er kommt wieder, sobald er nur irgend kann. Seien Sie nur zufrieden, Sie sind bei Freunden. Sie werden es gut bei uns haben, wenn Sie schön artig und vernünftig sind.«
»Aber wo bin ich denn! Bei wem?« fragte ich dringend. »Ich muß doch zu meiner Tante!«
»Es ist leider niemand gekommen, der Sie hat abholen wollen. Wir haben gestern sofort nachfragen lassen. Sie müssen deshalb schon bei uns bleiben. Nun ruhen Sie sich nur noch recht schön aus, ich schicke Ihnen gleich etwas Frühstück herauf. Später kommen Sie dann auch mal herunter in den Salon. Vorläufig ruhen Sie noch.« — —
Sie ging, und ich war wieder allein. Doch nicht lange.
Ein Mädchen kam und brachte mir Kaffee und Gebäck.
Aber wie sah die Person denn aus! Schrecklich! Wie konnte man denn so ein Geschöpf um sich haben? Ganz entzündete Augen und auch sonst so ekelhaft.
Sie sah mir den Widerwillen wohl an und lachte häßlich.
»Wenn du Glück hast, mein Engel, so siehst du eines Tages auch so hübsch aus,« sagte sie frech.
»Wie meinen Sie das?« fragte ich.
Sie antwortete nicht, drehte sich um und ging hinaus.
Ich mochte nichts anrühren von dem, was dieses Geschöpf in den Händen gehabt hatte. Der Kaffee wurde kalt.
Doch in meinen Eingeweiden wühlte der Hunger; ich war jung und gesund und hatte seit vierundzwanzig Stunden nichts gegessen. Nach und nach trank ich den kalten Kaffee und aß auch das Gebäck. Ich wollte endlich aufstehen und mich nach meinen Wirten umsehen. – Ich suchte nach meinen Kleidern, sie waren nicht da. Ich sah mich um, nichts war zu sehen, auch keine Klingel, um jemand herbeizurufen.
Mein Gott, was bedeutete das alles?! Wo war ich nur? Ich tat das einzige, was mir übrig blieb, ich kroch wieder ins Bett.
Wie lange ich gelegen – ich weiß es nicht, ich mußte wohl wieder eingeschlafen sein. —
Ein Geräusch schreckte mich auf, meine Wirtin stand wieder vor mir. Ich sprang rasch aus dem Bett und fragte nach meinen Kleidern.
»Ihre Kleider sind ganz verdorben, liebes Kind. Sie sind ein wenig krank gewesen gestern. Aber ich habe Ihnen hier ein schönes neues Kleid mitgebracht, das ziehen Sie an.«
Mit diesen Worten legte sie ein wunderbares Gebilde von Spitzen und durchsichtigem Mull auf das Bett.
In meiner grenzenlosen Dummheit freute ich mich über das schöne Zeug.
»Oh, von Herbert!« rief ich erfreut.
Ich dachte an die versprochenen Kleider aus Samt und Seide. — —
Meine Wirtin antwortete nicht, sie lächelte nur zustimmend. --
Ich zog mich rasch an, es paßte wie für mich gemacht.
Ich suchte mit den Augen nach einem Spiegel, denn ich hätte mich gern gesehen in meiner neuen Herrlichkeit, aber ich sah keinen.
»Kommen Sie, Kind,« sagte die Frau, die meinem Blick gefolgt war, und faßte mich um. »Wenn Sie recht vernünftig und artig sind, bekommen Sie bald ein schönes großes Zimmer mit großen Spiegeln.«
Wenn ich artig und vernünftig bin – schon wieder diese Redensart. Was soll das? Weshalb sollte ich nicht artig sein? — —
Lange dachte ich aber nicht über dieses Rätsel nach, ich verstand es einfach nicht. —
Ich ging mit meiner Führerin eine schöne, breite Treppe hinunter – ich war also in meinem gestrigen Zustand die Treppe hinauf getragen worden – dann trat sie mit mir in einen Salon, der, nach meiner Berechnung, in entgegengesetzter Richtung von dem Eingang liegen mußte.
Ein merkwürdiges Haus. Auch hier brannten wieder die elektrischen Flammen. Anscheinend war gerade eine größere Gesellschaft. Im Zimmer saßen elegante Damen und Herren. —
Und fein war es hier, überall standen bequeme Sofas und Tischchen. – Lauschige Ecken, schwellende Polster; kurz und gut, ich kam mir vor wie im Märchen.
Meine Führerin, deren Namen ich noch nicht einmal wußte, stellte mich mit den Worten vor: »Meine Herrschaften, hier bringe ich Ihnen Fräulein Lotti. Gestern erst frisch von Europa angekommen.«
Das war ja eine sonderbare Sitte hier in diesem Lande. Aber alle schienen das in der Ordnung zu finden. Alle lachten und schwatzten durcheinander. Einige kamen auf mich zu und sprachen einige Worte mit mir. Doch ich verstand sehr wenig, sie sprachen fast alle englisch.
Ich war ganz verlegen. Ich setzte mich auf ein Sofa in der Nähe der Tür.
Bald setzte sich ein Herr zu mir, ein kleiner, dicker Kerl mit einer Glatze und vorstehenden, wässerigen Augen.
Ein ganz frecher Patron! Setzte sich sofort zu mir auf das Sofa, ganz dicht an mich heran.
Ich rückte von ihm ab, da lachte er so widerlich und sagte:
»Na, Kleine! Noch so spröde? Wird bald besser. Komm, wir trinken ein Fläschchen zusammen. Dann gibt's Mut.«
Ich sah mich hilflos um. Was bedeutete das? War ich in einem Narrenhaus? Da sah ich an der anderen Seite des Salons meine Wirtin.
Ich wollte aufspringen, sie fragen, um Aufklärung bitten. Aber ich weiß nicht, wie mir plötzlich war; auf halbem Wege blieb ich stehen. Die Frau sah mich so sonderbar stechend, so lauernd an. — —
Ich mußte an den Blick einer Schlange denken, die ihr Opfer hypnotisiert. Ich sah mich um. Alle hatten jetzt Wein auf den Tischen, nur noch einige Damen saßen so da. Ich machte ein paar Schritte und wollte zu einer alleinsitzenden Dame hingehen, da stand der alte, eklige Kerl wieder neben mir.
»Mach' keine Dummheiten, Kleine, komm setz' dich,« sagte er zu mir und faßte zugleich nach meinem Arm.
Ich riß mich los und stürmte nach der Tür. Als ich draußen stand, wußte ich nicht wohin. Ich hatte den Gedanken, nach unten zu laufen, hinaus aus diesem sonderbaren Hause – da stand die Frau neben mir.
»Was soll das?« sagte sie kurz, »warum laufen Sie weg?«
»Ich will mich nicht von dem alten Kerl anfassen lassen! Ich kenne ihn ja gar nicht! Man ist doch nicht gleich so dreist!«
»Da wirst du dich dran gewöhnen müssen, liebes Kind. Das ist bei uns nun mal so. Und überhaupt, gerade mit diesem Herrn wirst du sehr freundlich sein, der hat sehr viel Geld. Komm!«
Jetzt sagte sie schon Du zu mir! Und wie schroff sie war! Hier blieb ich nicht!
»Dann will ich hier fort,« sagte ich rasch. »Ich kenne ja die Leute alle gar nicht. Lassen Sie mich gehen, ich laufe ans Schiff zu dem Kapitän, der wird an meine Verwandten telegraphieren.«
»Schlag dir das aus dem Kopf,« sagte die Frau. »Du kannst hier nicht fort. Ich habe gestern deine Koffer holen lassen, die standen noch drüben am Pier, das kostet Geld. Das Kleid hier habe ich für dich bezahlt, kannst du mir das alles wiedergeben?« — —
Ach Gott, mein Geld! Daß ich daran nicht gedacht hatte! —
Ich hatte ja noch zweihundert Mark gehabt. Wo war meine Tasche? Alles fort!
»Wo ist mein Geld, meine Tasche! Ich hab' es doch mit hierher gebracht!« rief ich angstvoll.
»Du glaubst doch nicht, daß du hier bestohlen worden bist?« sagte die Frau höhnisch. »Wenn du Geld bringst, kannst du gehen; so lange bleibst du hier.«
Mit diesen Worten faßte sie mich an der Hand und zog mich wieder in den Salon.
Da ging es jetzt lustig zu. Sie sangen und tanzten wild durcheinander. – Und wie waren die Mädchen angezogen! Das war mir vorhin noch gar nicht so aufgefallen. —
Ich setzte mich ratlos wieder hin. Da kam auch schon wieder dieser Mensch und setzte sich neben mich.
Ich sah ihn gar nicht an. —
Es wurde Champagner gebracht, ich nippte kaum. So gut er mir unterwegs geschmeckt hatte, der Appetit war mir vergangen. — —
Wäre ich nicht gar so dumm gewesen, hätte ich nur einmal über etwas derartiges gelesen oder gehört, ich würde endlich gewußt haben, wo ich war. So aber saß ich noch immer und zermarterte mir den Kopf, was das eigentlich für eine Gesellschaft sei, in der ich mich befand. — — —
Es gab an dem Abend noch einen furchtbaren Skandal. Ich begriff endlich, wo ich mich befand und was man von mir wollte. Als der alte Kerl einige Glas Champagner getrunken hatte, wurde er zudringlich, und ich schlug ihn ins Gesicht. Da wurde er wütend, er tobte wie ein Wahnsinniger. Mir war es einerlei, ich verstand auch nicht, was er sagte.
Die Frau verstand ich dann um so besser. Sie wurde furchtbar heftig und ließ endlich die Maske fallen.
Ich sei in diesem Hause zu keinem anderen Zweck, als den Herren, die hierher kämen und die ihr schweres Geld dafür bezahlten, gefällig zu sein. Sie habe ein anständiges Stück Geld für mich bezahlt und sie würde schon dafür sorgen, daß sie keinen Schaden habe. Sie wolle mich schon zahm kriegen. Sie habe da ganz schöne Mittelchen. Sie gebe mir aber den guten Rat, mich gleich zu fügen, denn nützen würde mir mein Widerstand doch nichts. —
Ein paar Tage früher oder später, es sei nur mein eigener Schaden. —
»Willst du also vernünftig sein und mit dem Herrn recht freundlich sprechen?«
»Nein! Lieber spring ich aus dem Fenster!« rief ich außer mir.
»Wie du willst! Dann spring aus dem Fenster!« rief sie, faßte mich am Arm und schob mich in ein Zimmer.
»Hier bleibst du, bis du Vernunft angenommen hast,« rief sie mir nach und schloß die Tür zu.
Im Zimmer war es dunkel, ich konnte nicht die Hand vor den Augen sehen.
Ich tastete umher, ich suchte an der Wand entlang, vorsichtig schritt ich weiter. Ein Bett war da. Gott sei Dank.
Ich zog das feine Kleid aus und legte mich nieder. Ich sann und sann, was konnte ich tun? Hier im fremden Land, in der großen fremden Stadt, ohne Geld, ohne Freunde! Und doch! Wenn ich nur hinaus könnte, jemand würde sich schon meiner annehmen.
Zuletzt kamen die Tränen, ich weinte so heiß und schmerzlich, daß ich gar nicht wieder aufhören konnte.
Sie müssen mein verzweifeltes Weinen gehört haben, aber kein Mensch kümmerte sich um mich; die sind alle hart wie Stein. —
Zuletzt bin ich wohl vor Ermattung eingeschlafen.
Als ich erwachte, war es noch immer dunkel um mich. Ich wußte gar nicht mehr, war es Tag oder Nacht. Wie lange war ich schon hier? War es ein Tag oder waren es mehrere?
Mich quälte schon wieder der Hunger. War ich denn immer hungrig? Bei all meinem Elend und bei all dem Kummer – die Natur verlangte ihr Recht.
In Geschichten hatte ich so oft gelesen, wenn sie traurig waren oder Kummer hatten, dann nahmen sie tagelang keine Nahrung zu sich. Ich hatte immer Hunger.
Ich konnte nicht mehr schlafen, vorsichtig erhob ich mich und tastete nach der Tür, sie war noch immer verschlossen. Ich klopfte, niemand kam. Ich klopfte stärker, alles umsonst.
Ich ging wieder ins Bett und wartete. Ich meinte, Stunden gelegen zu haben, und nichts ließ sich hören.
Ich konnte es zuletzt gar nicht mehr aushalten und stand wieder auf. Ich hatte Kopfschmerz und war ganz zittrig auf den Beinen, so elend war ich.
Was hatte man mit mir vor? Wollte man mich hier verhungern lassen?
Ich schlug mit den Fäusten gegen die Tür und schrie aus Leibeskräften. Niemand kam.
Jetzt kam die Furcht langsam gekrochen! Was wollte man mit mir machen? Oder hatten sie mich vergessen?
Wieder kroch ich ins Bett. —
Ob ich dann vor Erschöpfung ohnmächtig geworden bin oder ob ich wieder eingeschlafen bin, ich weiß es nicht.
Nur daß ich, als das schreckliche Weib wieder zu mir kam und mich fragte, ob ich gehorchen wolle, ganz apathisch zu allem ja gesagt habe.
Ich glaube, sie haben mich lange hungern lassen, denn ich bekam zuerst ein wenig warmen Wein und dann ein rohes Ei. — —
Zwei Tage danach war ich wieder im Salon. Der ekelhafte Kerl war wieder da, und alles ging seinen Gang. — —
Jetzt habe ich ein schönes Zimmer, und der Mensch kommt jeden Abend. Es ist ein reicher Pelzhändler aus der 8. Straße.
Ich weiß jetzt auch, wo ich bin. – Es ist ein Mädchen hier – die »schwarze Katze« sagen alle zu ihr – sie ist vom ersten Tage an sehr freundlich zu mir gewesen. Sie riet mir auch, als ich wieder in den Salon kam, mich zu fügen. Ich sei doch machtlos.
»Jedenfalls bist du Mädchenhändlern in die Hände gefallen,« sagte sie.
Ich erzählte ihr alles. Von Frau Fröhlich, von Herbert Smith, von der Heirat, alles!
»Es ist so! Das saubere Paar ist mit frischer Ladung von Europa gekommen. Entweder, sie haben im Zwischendeck noch Mädchen gehabt, oder aber sie haben auf einem anderen Dampfer, der langsamer fährt, die Mädchen eingeschifft und sind dann selbst mit dem Schnelldampfer gefahren, um die Ware hier in Empfang zu nehmen. Du bist ihnen als Leckerbissen unterwegs noch in die Arme gelaufen.«
»Aber können wir denn nicht zur Polizei?«
»Die Polizei? Du kommst vorläufig überhaupt nicht an die Luft, eher nicht, bis du erst richtig zahm bist. Und dann! Die Polizei! Da mach dir nur nicht zu viel Hoffnung. Weißt du, ich könnte dir Sachen erzählen. Die Policeleute hier im Viertel werden alle von »ihr« bezahlt. Denn die versteht ihr Geschäft. – Und uns glaubt man ja doch nicht. Aber trotz alledem, wenn wir Geld hätten, und du bist nach einigen Monaten noch derselben Ansicht, so will ich dir wohl helfen. Nur jetzt ist noch nichts zu machen.« —
»Und warum gehst du nicht fort, wenn du doch kannst?« fragte ich sie.
»Gott, ich! Wo soll ich hin? Es ist immer noch besser als auf der Straße, da laufen hier in New York sowieso genug herum. Ich bin ja mal 'ne Zeitlang 'raus gewesen; solange man ein festes Verhältnis hat, mag's gehen. Hat man das nicht, dann gibt's Tage, da kann man hungern.«
Ich war ganz benommen. Das war ja schrecklich.
»Aber du kannst doch in Stellung gehen. Nicht immer so etwas,« sagte ich beschwörend.
»Du bist ein kleines Schäfchen,« lachte sie mich aus. »Das ist bei mir zu spät. Ich habe dies Leben schon zu lange gelebt. – Und – ich will auch nichts anderes mehr. Wir werden ja sehen, vielleicht geht es dir eines Tages ebenso.«
»Nein, o nein. Ich will hier nicht bleiben, lieber sterben,« rief ich verzweifelt.
»Na, na, nur ruhig, Kleines. Ich gebe dir einen guten Rat: Lerne vor allen Dingen Englisch, das ist die Hauptsache. Dann sauf' nicht zu viel, das ist auch 'ne Hauptsache. Dann halte die Augen gut offen, möglich, daß mal einer kommt, der so viel Gefallen an dir findet, daß er dich auskauft. Alles schon dagewesen. Und hübsch bist du ja, das muß dir der Neid lassen. Du hast so was Besonderes, so was Vornehmes an dir. Vielleicht hast du Glück.«
Ich faßte wieder Hoffnung. Ich war dem Mädchen so dankbar für seine Ratschläge und habe sie bisher getreulich befolgt. — — — —
Bis jetzt gehöre ich noch immer dem alten, dicken Ekel. Er scheint großes Gefallen an mir zu finden, denn er bezahlt alles, was sie verlangt.
Ich hatte einige Tage die Hoffnung, daß er mich vielleicht herausnehmen würde. Als er einmal sehr guter Laune war, bat ich ihn darum. Ich versprach, bei ihm zu bleiben, so lange er mich haben wolle – natürlich sagte ich das nur, denn ich wäre sofort ausgerissen, wenn ich das Haus hinter mir gehabt hätte. Aber er lachte mich nur aus.
»Nee, Kleine, auf den Leim kriech' ich nicht. Ich habe das hier viel besser und bequemer. Solange ich nicht will, kriegt dich kein anderer. In dieser Weise ist die Rottmann anständig, da betrügt sie nicht.« —
Bis jetzt habe ich also nur diesem einen gehört, aber wie lange wird es dauern und ich gehöre jedem, der mich will!
Der Gedanke ist mir furchtbar!
Ich liebe das Leben so sehr. Ich bin jung, und jede Kreatur hängt am Leben. Und doch – wenn ich irgendein Mittel hätte, ich würde mich töten. – Aber hier ist auch auf solche Stimmungen Rücksicht genommen, ich bin gewiß nicht die erste Anfängerin. —
Wenn ich jetzt einmal an die lieben, alten Großeltern denke, so könnte ich laut aufweinen vor Qual.
Nie wieder werde ich sie sehen, nie wieder die lieben, alten Gesichter küssen dürfen. —
Auch wenn ich Glück habe und wieder herauskomme, es soll kein bekanntes Gesicht das meine wiedersehen. – Ich will tot sein, tot für alle! — —
Es ist eine furchtbare Einrichtung, daß es Menschen gibt, denen erlaubt wird, andere Menschen gegen ihren Willen festzuhalten und Geld mit ihnen zu verdienen. — — —
Es ist schrecklich! Ich fange an, mich vor mir selbst zu fürchten. Ich habe oft den kaum zu unterdrückenden Wunsch, diesem Menschen die Hände um den Hals zu krallen und ihn so lange zu würgen, bis er tot ist. Es zuckt mir dann förmlich in den Fingern vor Begierde. —
Ob wohl einem Manne nie der Gedanke kommt, daß er eigentlich in Lebensgefahr schwebt, wenn er sich so ein geknechtetes Wesen leibeigen macht? Wäre es nicht möglich, daß in einem solchen Geschöpf einmal der Rachedurst überschäumt?
Sich und ihr ganzes zertretenes Geschlecht würde sie rächen. —
Ach, ich glaube, ich werde wahnsinnig oder schlecht. — —
Daß ein Mensch sich in kurzer Zeit so sehr verändern kann!
Noch vor einem Jahre war ich ein dummes, leidenschaftlich verliebtes Ding. Und nun? Mir ist zuweilen, als ob ich das gar nicht bin. Mir ist, als sei das alles schon eine Ewigkeit. Bin ich es wirklich, deren Herz einst aufjubelte bei den törichten Liebesworten, die man mir ins Ohr flüsterte?
Und jetzt! Ich glaube, ich kann nie wieder Liebe und Leidenschaft empfinden. – Mögen sie mit meinem Körper Schacher treiben, meine Seele gehört mir. Meine Seele bleibt rein. —
Ich bin keine Dirne und will auch keine werden. —
Ich sinne und sinne, wie aus diesem Hause herauszukommen ist, aber alle meine Bemühungen sind erfolglos.
In einem Gefängnis könnte ich nicht sicherer verwahrt sein.
Die Tür ist Tag und Nacht gut bewacht, und Neuankömmlingen wird nur unter gewissen Vorsichtsmaßregeln geöffnet.
Nur alte Bekannte, die das bestimmte Klingelzeichen geben, können ohne weiteres herein.
Ich habe mir gestern die Rückseite des Hauses angesehen, ich hoffte, vielleicht von da auf ein Nebengrundstück kommen zu können, aber auch diese Hoffnung muß ich aufgeben.
Eine glatte, hohe Mauer umgibt einen kleinen, dreieckigen Hof, und die Fenster, die nach diesem Hofe gehen, sind nicht zu öffnen, sondern haben nur oben eine kleine Luftscheibe. Jenseits der Mauer sind sehr hohe Häuser; auf der einen Seite ein kleineres, das aber, wie es scheint, unbewohnt ist.
An dem einen großen Hause laufen schmale eiserne Leitern empor, wenn ich die erreichen könnte, dann wäre Rettung möglich.
Aber die Mauer ist hoch und der Zugang zum Hofe ist bewacht. —
Das Schlimmste aber sind die Kleider! Kann ich halbnackt auf die Straße gehen?
Es ist ein raffiniert einfaches Mittel, uns unsere Straßenkleider wegzuschließen, um uns an der Flucht zu hindern. —
Heute erzählte mir die Bronja aus ihrem Leben. Bronja, so heißt die schwarze Katze. —
Sie ist verheiratet gewesen und hat sogar ein Kind, ein kleines Mädchen. Es lebt noch, bei ihren Eltern in Posen. Ihr Mann hat Gelder bei irgendeiner Kasse unterschlagen, und als es entdeckt wurde, haben sie ihn eingesperrt. Als er dann wieder freigekommen ist, sind die beiden nach Amerika gegangen, da der Mann nirgends wieder eine Stelle bekam. Bronja ging mit ihm. Sie hat ihn sehr geliebt! Das Kind sollte bei den Eltern bleiben, bis die beiden hier festen Fuß gefaßt hatten. —
Aber hier in Amerika ist es für solche verkrachten Existenzen auch schwer. Die beiden mußten sich trennen. Bronja nahm eine Stelle als Empfangsdame bei einem Arzte an, und ihr Mann ließ sich vorläufig von ihr ernähren.
Schließlich fand er eine Stelle in einer deutschen Wirtschaft als Kellner. Doch dann fing er das Trinken an und sank immer tiefer. Als er die Stelle verloren, trieb er sich überall herum, war bald da, bald dort an der Ostseite. Und jetzt sitzt er wegen Einbruchdiebstahls im Gefängnis. —
Bronja lernte in ihrer Stellung einen reichen Herrn kennen und wurde dessen Freundin – ein Wunder ist es ja nicht, denn sie ist eine Schönheit in ihrer Art.
Als ihr Gönner ihrer eines Tages überdrüssig geworden war, verlor sie allen Halt und alle Selbstachtung.
Durch den Verkehr in den Lokalen, wo der Herr sie hingeführt, war sie in der Lebewelt bekannt geworden, und es fehlte ihr nicht an Zuspruch. Sie bekam Geld, kaufte sich feine Kleider und Schmuck und war eines der am meisten gesuchten Mädchen in dem berüchtigten Viertel New Yorks. —
Eines Abends war sie noch ziemlich spät in der 14. Straße ohne Begleitung, als ihr ein Seemann in die Hände fiel. Sie geht mit ihm in eines der bekannten Häuser, wo sie sich ein Zimmer geben läßt, nachdem natürlich vorher fürchterlich getrunken worden war. – In der Nacht ist dann dem Fremden seine ganze Barschaft gestohlen worden. Bronja sagt, sie habe es nicht getan, sie sei selbst viel zu betrunken gewesen. Der Fremde schlug aber Lärm, die Polizei kam ins Haus, und Bronja wurde verhaftet.
Man ließ sie nach einiger Zeit wieder frei, da man ihr nichts nachweisen konnte. Zu allem Unglück war aber ihre Wirtin während der Zeit mit ihrem ganzen Kram, Kleidern und Wäsche und ihren paar Dollars verschwunden. Um wenigstens ein Unterkommen zu haben, ging sie in ein öffentliches Haus. —
»Diese Häuser können unsereinen immer gebrauchen, wenigstens solange man gesund und hübsch ist. Und was ist denn auch weiter dabei? Mir gefällt es! Früher, als ich mit meinem Manne noch zusammen war, war es auch nicht viel besser, wenn er besoffen nach Hause kam.«
»Aber was soll aus dir werden, wenn du älter bist?« fragte ich sie mitleidig.
»Dann mache ich's wie die Rottmann. Glaub' mir, das bringt am meisten Geld. Je feiner, desto besser. Was bringen allein die Getränke schon. Nur mit Mädchenhändlern laß ich mich nicht ein, da werde ich, glaub' ich, nie hart genug dazu. Du solltest klug sein und deinem alten Pelzhändler richtig um den Bart gehen, daß er dir ordentlich was schenkt. Nur wenn du Geld hast, kannst du hier herauskommen.«
»Und willst du nie mehr zu deinem Manne, wenn er wieder freikommt?« fragte ich sie.
»Nie wieder! Er wird mich hoffentlich nicht finden. Ich glaube nicht mehr an ihn. Und wenn er so lange in Sing-Sing gewesen ist, dann ist es überhaupt ausgeschlossen.«
Arme Bronja. — —
Den 4. Juli.
Nun bin ich schon über vier Wochen in diesem Hause und bin heute zum ersten Male in der frischen Luft gewesen. Mit »Madame« zusammen. Wir haben im Automobil eine Ausfahrt gemacht, ganz weit hinaus nach Bronxpark. Die Bronja sagt, das sei alles Berechnung von »ihr«.
Amerika feiert heute ein großes Nationalfest, da zeigt sie den Herren, was sie für gutes und schönes Material auf Lager hat.
Denn unter der Herrenwelt ist sie gut bekannt.
Sie fürchtet also wohl, daß mein Dicker bald wegbleibt. Ich wollte mich freuen, denn widerlicher kann keiner sein.
Und er hilft mir ja doch nicht heraus. — —
Ich habe also heute zum ersten Male dieses Land gesehen. Gesehen? Nein! Gesehen habe ich nichts davon. Ich wagte kaum aufzublicken. Ich meine, jeder Mensch muß es mir vom Gesicht ablesen, was ich bin. Sehr hohe Häuser sind hier, so viel wenigstens habe ich gesehen. Als ich die Bäume und Büsche im Bronxpark sah, mußte ich an zu Hause denken, und das Heimweh packte mich furchtbar.
Ich habe mich nachher sattgeweint. — — —
Den 5. Juli.
Gestern abend ist es toll hergegangen. Es war furchtbar voll, denn es ist nichts Seltenes, daß auch Herren mit fremden Mädchen kommen, ordentlich zechen und dann ein Zimmer nehmen. So auch gestern abend. Es waren sehr viele und auch sehr elegante Damen da. Aber Bronja sagt, ich steche alle aus. Wenn ich so dabei bliebe, sei ich mit zwanzig Jahren eine königliche Schönheit.
Wenn ich dann nicht schon tot bin. — —
Mir kommt es vor, als ob auch zuweilen verheiratete Frauen hierher kämen, und Bronja meint, das sei schon so. Das seien solche, denen es zu gut ginge, oder auch solche, die sich etwas Taschengeld nebenbei verdienten.
Ich möchte sie an meine Stelle wünschen. — —
Der Dicke war auch da gestern abend. Ich habe wohl bemerkt, daß die Herren sehr viel nach mir guckten, aber er wich nicht von meiner Seite. Er war ordentlich stolz, daß er der Besitzer war. Als ob er das seiner Schönheit zu verdanken hätte.
Ich dachte an Bronjas Mahnung, ich solle schön mit ihm tun – ich kann es nicht. Ich werde Gott danken, wenn er nicht mehr kommt. Ich habe gestern auch zu viel getrunken. Es läßt sich nicht ganz vermeiden, so sehr ich mich auch in acht nehme.
Und dann die Hauptsache: man kommt besser darüber weg, wenn man nicht ganz bei Sinnen ist. —
Wie soll man es sonst nur auf die Dauer aushalten?
Die Madame schimpft noch dazu immer, daß ich nicht genug trinke.
Den 16.
Gott sei Dank, das Scheusal ist fort. Vorgestern war er zum letzten Male hier. Er ist heute nach Europa gefahren.
Ich habe ihn noch einmal gebeten, fußfällig habe ich ihn angefleht, mich herauszunehmen. Ich habe die Zähne zusammengebissen und habe getan, als ob ich ihn furchtbar gern hätte, als ob mich sein Fortgehen ganz unglücklich machte – es war alles umsonst. – Da war ich zuletzt so wütend, daß ich ihm ins Gesicht gespuckt habe. Es war mir auch alles einerlei. Aber er ist doch dageblieben, der furchtbare Mensch! Ich weiß nicht, ob sich jemand das Widerliche, das in einer solch erzwungenen Vereinigung liegt, voll ausdenken kann. Ich fühle Gott sei Dank nichts dabei, das ist ein Glück für mich. Aber ich liege dann und analysiere jede Bewegung des Verhaßten, der glaubt, durch sein Geld mir meinen Körper abkaufen zu können. —
Wenn die Liebe oder der Sinnenrausch die Ursache einer Vereinigung sind, so ist sie geadelt durch das Gefühl. Hier aber! Es ist mir unfaßbar, wie Männer – Männer mit Geist und Herz – eine solch furchtbare Sünde begehen können und kraft ihres Geldes und ihrer physischen Überlegenheit diese armen Geschöpfe so foltern. —
Denn freiwillig oder nicht – die hier sind, haben alle einmal den Anfang machen müssen – und der ist furchtbar.
Gewohnheit und Alkohol tun viel – doch bis man so weit ist — —.
Den 17.
Ein Übel bin ich los und dem andern bin ich verfallen.
In meinem Haß gegen den alten dicken Kerl habe ich nicht daran gedacht, daß noch Widerlichere kommen könnten.
Jetzt muß ich jeden nehmen, der mich begehrt, und wenn es in einem Abend ein Dutzend sind.
Bronja gibt mir gute Ratschläge. Gut essen und trinken. Geld sparen und Englisch lernen.
Geld sparen – bis jetzt habe ich noch keinen Cent zu sehen bekommen. Ich brauche nichts – sagt Madame. Sie will es für mich sparen. – Die ist immer noch nicht mit mir zufrieden. Ich trinke nicht genug und animiere nicht genug zum Trinken. —
Obgleich es ja wirklich das beste ist, man kommt aus dem Alkoholdusel gar nicht heraus.
Das Schlimme ist: ich gefalle –, alle wollen mich haben. Ich möchte nur wissen, was sie an mir finden.
Einige von den Mädchen sind schon neidisch. Die dummen Gänse, als ob ich etwas dazu könnte! Ich wäre zufrieden, wenn keiner zu mir käme. Nur Bronja hält treu zu mir. Als ich ihr gestern meine Not klagte, lachte sie mich aus.
»Du bist ein kleines Schaf,« sagte sie. »Deine hoheitsvolle, unnahbare Miene und deine großartige Figur reizen die Männer. Freue dich! Denn, wenn eine keinen Anklang findet, ist es erst recht schlimm. Die schaffen sie dann fort in ein anderes Loch. Frei kommt sie deshalb doch nicht. Erst muß sie ausgenutzt sein. Die ganze Bande hier im Land steckt unter einer Decke. Die Mädchenhändler, die Wirte und, nicht zu vergessen, die wohllöbliche Polizei. Ich bin überzeugt, der Policemann, der hier an der Ecke patrouilliert, verdient mehr als ein Bankdirektor.
Er hört nichts, er sieht nichts, kurz und gut, er versteht sein Geschäft. Deshalb würde es dir auch nichts helfen, wenn du wirklich fortlaufen könntest. Keine Viertelstunde wärst du draußen. Unter dem Vorwand, dich zu beschützen und Erkundigungen einzuziehen, liefert er dich wieder dahin ab, woher du gekommen. Ich weiß ja, wie's gemacht wird. Die ganze Bande ist organisiert. Es ist die reine Aktiengesellschaft.« — — — — —
Welch seltsame Verirrungen doch das Tier im Menschen haben kann! – Es ist hier im Hause eine Wienerin, Kathinka heißt sie. Ein Monstrum von einer Frau. Sonst ist sie gar nicht außergewöhnlich groß und dick, aber einen Busen hat sie – unbeschreiblich!
Und ist es zu glauben, daß dieses Mädchen, das weder schön ist noch sonst besondere Anziehungskraft besitzt, nur wegen ihres abnormen Busens eine Art Zugnummer dieses gesegneten Hauses ist?
Sie selbst ist dabei kreuzfidel und spart sich Geld.
»Es gibt halt Mannsleut', die gern auf'm Fettpolster liegen, wann's viel getrunken haben,« sagt sie lachend. — — —
Wenn ich doch auch erst etwas gleichgültiger werden könnte. – Aber nein – ich will es gar nicht werden. Ich will nicht jeden moralischen Halt verlieren. Ich muß hier wieder fort oder sterben. – Ich darf gar nicht denken – nicht nach Hause an die alten Leute, dann schäme ich mich furchtbar, obgleich ich schuldlos an meiner Schande bin.
Ich habe nun schon wiederholt versucht, einen meiner Käufer für meine Lage zu interessieren. Keiner glaubt mir. Sie lachen und sagen: Das sagt jede. — — —
Den 22.
Wie soll ich es ertragen!
Gestern abend war es wieder einmal recht voll, aber es wurde der Alten nicht genug verzehrt. Hauptsächlich Mixed-drinks sollen viel verkauft werden, denn daran wird verdient.
An mir ließ sie ihre Wut wieder aus, weil an meinem Tisch am wenigsten verzehrt worden war. Ich war bis elf Uhr schon viermal oben im Zimmer gewesen und hatte keine Lust mehr. —
Sie hat mich nun beobachtet. Und behauptet, ich sei viel zu unfreundlich. Kurz und gut, sie hat mir gedroht, wenn ich mich nicht bessere, käme ich nächste Woche ins Hafenviertel, an den Eastriver, da haben sie auch noch ein Haus.
Bronja kennt es. Es sei fürchterlich dort. Heizer und Kohlenzieher, betrunkene Seeleute aus aller Herren Länder. Kein weißbezogenes Bett, schmutzige Schlafsofas und dazu an manchem Tage zwanzig Besucher. Krankheiten unausbleiblich. Kontrolle gibt's nicht. —
Übrigens gibt es die auch hier nicht, denn ich habe noch nie einen Arzt gesehen. —
Aber das tue ich nicht, nein, das nicht! Dann wird sich schon ein Weg finden, wie ich ein Ende machen kann. —
Ich bete zu Gott, aber ich glaube, es gibt gar keinen mehr.
Wenn es wirklich einen allmächtigen Gott im Himmel gäbe, dann könnte er nicht zugeben, daß so furchtbare Dinge auf seiner Erde geschähen.
Bronja tröstet mich.
»Sei nur nicht bange, du kommst hier nicht fort, sie will dich nur erschrecken. Aber du solltest wirklich ein klein wenig mehr trinken. Es ist besser. Du brauchst deshalb immer noch nicht zu saufen. Du kommst aber viel besser über alles fort.«
Ich will es tun, ja, ich will es tun. Später, wenn ich wieder frei bin, werde ich desto enthaltsamer sein.
Ich mochte früher nie Bier und Wein, nur der Champagner hat mir geschmeckt – zu meinem Verhängnis.
Hätte ich an Bord nicht zu viel Sekt getrunken, so hätte ich mich nicht von dieser Bande umgarnen lassen.
Überhaupt der Alkohol. Ich habe nun schon manche hier kennen gelernt – wir sind für beständig fünfundzwanzig bis achtundzwanzig, ohne die Vorübergehenden – und es sind wenige darunter, bei denen der erste Fehltritt – der erste Fall – nicht im Alkohol geschehen ist. —
In der Bibel ist die verbotene Frucht der Apfel – wollten doch alle nur Äpfel essen, es wäre besser.
Es ist vielleicht auch nicht recht berichtet, es war vielleicht auch schon der Sekt.
Seit vierzehn Tagen ist eine Neue da. Ein kleines zartes Ding von kaum Mittelgröße.
Solange sie nichts getrunken hat, sieht sie immer so traurig aus, aber abends ist sie die Schlimmste. Sie trinkt wie ein Irländer und kann furchtbar viel vertragen.
Sie hat mir vor einigen Tagen ihre Geschichte erzählt.
Sie ist glücklich verheiratet gewesen. Ihr Mann, der für eine große Firma jedes Jahr zweimal nach Berlin reiste, um Herrenstoffe einzukaufen, war gut und lieb zu ihr.
Im vergangenen Herbst, als sie wieder für einige Wochen allein war, ging sie mit einer befreundeten Familie zu einem Picknick.
Ein Herr, der mit von der Partie war, hatte sich den ganzen Tag sehr aufmerksam gegen sie gezeigt. Am Tage haben sie noch fast nichts getrunken, doch abends, als sie in einem Auto nach Hause fuhren, sind sie noch am Broadway in einem Hotel eingekehrt, um zu Abend zu essen. Bis in die Nacht hinein ist gegessen und getrunken worden. — —
Als sie am andern Morgen aufwachte, lag der Herr neben ihr im Bett. – Ihr Mann hat es erfahren, und sie sind geschieden.
»Hat mich der Alkohol hineingebracht, soll er mich auch wieder herausbringen, ich sauf' mich tot,« sagt sie lachend.
Aber dabei könnte man weinen. — — —
Ich bin krank, und ich möchte sagen, Gott sei Dank. Zumal auch der Arzt sagt, daß es nicht schlimm sein soll. Nur einige Tage Ruhe.
Der Doktor war erst recht ungezogen zu mir. So barsch und grob, daß mir die Tränen in die Augen traten.
Ich drehte mein Gesicht nach der Wand, damit er – und hauptsächlich die Madame – nichts sehen sollten.
Denn sie ist nicht aus dem Zimmer gegangen, solange der Arzt da war. Wahrscheinlich fürchtete sie, daß ich etwas sagen würde. —
Nachher war er ganz nett und manierlich.
Ich schämte mich aber doch ganz fürchterlich.
Es sei nicht so schlimm. Überreizung – was Wunder. Einige Tage Ruhe, dann sei alles wieder gut.
Er kommt noch einmal wieder. — —
Wenn er dann doch allein ins Zimmer käme. Ich würde ihn bitten, mir herauszuhelfen. Aber er wird's auch nicht wollen. Die Menschen machen sich nicht gern Unannehmlichkeiten mit Leuten, die sie nichts angehen. —
Wenn ich so allein hier liege, mache ich mir allerlei Gedanken.
Dumm bin ich doch gewesen, sehr dumm.
Wie kann man als junges Mädchen mit einem wildfremden Menschen in die Welt hineingehen! Wenn ich auch erst sechzehn Jahre alt bin, so viel hätte ich doch bedenken müssen. Freilich, besser wäre es gewesen, ich hätte schon früher etwas von solchen Sachen gelesen, dann wäre mir vielleicht doch der Gedanke gekommen, könnten das womöglich auch solche Menschen sein? — —
Aber soviel weiß ich, komme ich je hier aus diesem Hause – und ich habe den festen Glauben daran – dann soll das, was ich hier erlebt, nicht umsonst gewesen sein. — —
Ich freue mich jetzt so, daß ich mein Tagebuch habe; da kann ich doch so recht mein Herz ausschütten. Etwas muß der Mensch haben. Briefe kann ich nicht schreiben, und ich glaube auch kaum, daß ein Brief von mir aus dem Hause gelassen würde.
An wen sollte ich auch schreiben?
Für die Großeltern bin ich tot, und hier im Lande habe ich keine Seele, die sich um mich sorgt.
Was mögen wohl die lieben, alten Leute für Kummer gehabt haben, als sie erfahren haben, daß ich nicht bei den Verwandten angekommen bin? Vielleicht haben sie gedacht, ich bin kurz vorher über Bord gefallen. Denn ich bin doch spurlos verschwunden. Nur Frau Fröhlich und ihr sauberer Neffe könnten Auskunft geben, und die werden sich hüten.
Ich möchte nur wissen, wo mein Koffer ist. Die Rottmann sagte doch damals, sie hätte ihn holen lassen.
Mich wundert nur, daß die beiden ihn nicht behalten haben, jedenfalls ist ihnen der Inhalt zu gewöhnlich gewesen. —
Wie froh wäre ich, könnte ich meine Wäsche anziehen, die darin war. Wie gern würfe ich den ganzen Plunder von mir.
Damit will ich nicht sagen, daß ich die feinen Sachen nicht mag, ganz gewiß nicht! Schön ist es, so zarte Stoffe zu tragen – aber unter diesen Umständen! Ja, wenn ich reich wäre – recht reich –, dann würde ich auch feine seidene Hemden tragen und mich an meiner Schönheit freuen – aber so!
Ich sei schön, sagen sie – und wenn ich mich zuweilen im Spiegel betrachte, komme ich mir so unrein vor, so fleckig, so – pfui Teufel, habe ich dann einen merkwürdigen Geschmack auf der Zunge. —
Dann hätte ich auch Lust, mir dicken Puder an Gesicht und Hals zu schmieren, wie sie's alle hier machen. — — —
Ich hab's gewagt!
Also, der Doktor war wieder da. Die Madame stand dabei, und trotzdem habe ich sie angeführt. —
Ach, ich bin so froh, so glücklich, vielleicht hilft es was.
Weil ich mir denken konnte, daß die Alte wieder dabeistehen würde, hatte ich schon vorher ein kleines Stückchen Papier ganz eng beschrieben. Alles hatte ich darauf geschrieben, was wichtig war. —
Ich flehte den Doktor an, mir zu helfen. —
Als er mich nun wieder untersuchte und gerade mit einem Arm über mich hinreichte, habe ich ihm das Röllchen in die Hand geschoben. Er verstand meine Absicht sofort, schloß die Hand und fuhr in seiner Untersuchung fort. — —
Die Alte hat nichts bemerkt, und ich bin so froh, so glücklich. Wenn er mir doch helfen wollte! Er brauchte ja nur zur Polizei zu gehen. — —
Ich glaube, ich kann nicht eher wieder ruhig schlafen, ehe ich nicht weiß, ob ich mich an keinen Unwürdigen gewandt habe.
Den 4. August.
Gestern war ich wieder im Salon. Ich bin wieder gesund, nun kann die Tierquälerei von neuem beginnen.
Tierquälerei! – Ich sage das so leichtsinnig – ein Tier würde sich nicht gefallen lassen, was ich mir gefallen lassen muß. Und was das beste ist, sein Artgenosse würde es auch nicht in dieser Weise mißbrauchen.
Die Tiere sind klüger und besser als die Menschen.
Ich komme auf ganz, ganz dumme Gedanken.
Früher habe ich zu wenig nachgedacht und jetzt denke ich zuviel. Wäre ich früher mehr zum Nachdenken gezwungen gewesen, so brauchte ich jetzt meine Gedanken nicht auf diese Weise spazieren zu führen. — —
Von dem Doktor habe ich noch nichts gehört, aber eine andere interessante Bekanntschaft habe ich gemacht. Ein junger Landsmann war da, ein lieber Mensch. Er gefiel mir gleich, als er kam, und weil ich gerade allein saß, ging ich sofort zu ihm. Er bestellte eine Flasche Rüdesheimer. »Aber echten,« rief er mir noch zu.
Wir kamen ins Gespräch und plötzlich entdeckten wir, daß wir Landsleute waren. Gar nicht weit voneinander zu Hause.
In meiner Freude und Aufregung vergaß ich ganz, daß ich ja nie jemand hatte sagen wollen, wer ich war.
Er ging dann mit mir nach oben, und da – als wir allein waren – faßte ich mir ein Herz und erzählte ihm alles, mein ganzes Unglück.
Er glaubte mir gleich und lachte gar nicht über mich.
Ich habe ihn auch gefragt, ob er mir nicht heraushelfen könne.
Er meinte, leicht würde es nicht sein, ich sei noch zu kurze Zeit hier, und die Besitzer dieser Häuser müßten die Schlepper wohl gut bezahlen und wollten dann natürlich ihr Geld auch wieder heraus haben. Gutwillig würde mich die Rottmann nicht gehen lassen, auch wenn sie Geld geboten kriegte.
Er will sich alles überlegen.
Mit der Polizei sei nichts zu machen, da müsse man Geld haben, sehr viel Geld. Denn da hieße es, wer am besten bezahlt, wird am besten bedient. Und die Rottmann kenne ihre Leute, die würde schon anständig bezahlen. — — — —
Das ist ja ganz schrecklich! Das sieht ja trostlos für mich aus. Aber mein neuer Freund kommt wieder – heute noch nicht, damit es nicht auffällt, aber morgen. Dann werden wir weiter beraten.
Ich habe jetzt Hoffnung.
Dem kann ich vertrauen, er hat ein so gutes Auge.
Als ich ihm sagte, wie alt ich sei, da sah er mich so mitleidig an und sagte: »Du armes Ding.« Da mußte ich natürlich weinen. Das Mitleid mit mir selbst trieb mir die Tränen in die Augen.
Und habe ich nicht wirklich ein Recht, über mich zu weinen?
Gibt es ein zweites Geschöpf, das so unglücklich, so armselig ist wie ich! Mit noch nicht siebzehn Jahren eine Dirne, eine Verworfene!
Und doch bin ich das Kind eines Fürsten!
Aber das ist ja gerade mein Unglück. —
Ich fühle einen Haß in mir, ich kann es gar nicht sagen. Ich weiß nur nicht, wen ich mehr hassen soll: die Rottmann, Herbert Smith, Rudolph Schönewald oder den Urheber meines Daseins.
Ich bin überhaupt zuweilen ganz wirr von all dem Denken. – Ich bin wohl auch noch zu jung und habe zu wenig praktischen Verstand.
Ich habe jetzt doch wenigstens etwas Schönes, an das ich denken kann. Ich freue mich so darauf, daß mein neuer Freund wiederkommt.
Ob er Wort hält?
Wenn ich daran denke, daß er nicht kommen könnte, dann wird mir siedendheiß vor Angst. — —
Er war da! Schon am zweiten Abend kam er wieder. —
So früh er aber auch kam, ich war schon vergeben.
Aber ich hatte dann doch noch Glück, ich konnte mich freimachen und zu ihm gehen.
Er hatte keine andere angenommen.
Ich konnte ihm an den Augen ansehen, wie widerlich es ihm war, daß ich direkt aus den Armen eines anderen Mannes zu ihm kam.
Aber ich kann's doch nicht ändern, ist es mir doch nicht weniger widerlich.
Es war trotzdem ein so glücklicher Abend. —
Wir saßen noch nicht lange zusammen, da kam der Doktor – mein Doktor.
Er ging nicht gleich zu mir, er saß erst eine Zeitlang bei Lizzi und hat mit der eine Flasche Wein getrunken. Dann trat er ganz harmlos auf uns zu und rief schon von weitem: »Ah, da ist ja auch meine Patientin! Wie geht's uns denn?«
Dann hat er sich zu uns gesetzt. Wie bin ich glücklich! Wie ist es gut, daß ich ihn gebeten habe. Der ist klug und kennt die hiesigen Verhältnisse. Er spricht ganz nett Deutsch, da seine Eltern geborene Deutsche sind.
Er sagt, auf geradem Wege, mit der Polizei, sei gar nichts zu machen. Wir müßten überhaupt äußerst vorsichtig sein. Wendeten wir uns an die Polizei, so bekomme die Rottmann sofort einen Wink, und wenn dann die Polizei offiziell ins Haus komme, sei ich verschwunden.
Entweder würde ich versteckt oder ich sei schon an ein anderes Haus verschickt, was noch viel schlimmer sei. Denn dieses Haus hier am Broadway sei noch eines der besten.
Herr Werner, mein neuer Freund, fragte, ob ich nicht herauszukaufen sei. Da meinte der Doktor, auch das habe wenig Aussicht.
Erstens würde sie einen unverschämten Preis fordern, und zweitens sei noch die Frage, ob sie es überhaupt tue.
Ich verdiene ihr vorläufig doch ein gutes Stück Geld, und so sehr junge Mädchen bekäme sie auch nicht alle Tage. — —
Aber er hat doch einen Plan. Sie wollen mich entführen. —
Wenn Herr Werner jetzt wieder kommt, will er all sein Geld mitbringen, das er auf der Sparkasse hat. Aber es soll nicht für die Rottmann, sondern zu andern Zwecken verwendet werden.
Geld müßten wir in Händen haben, sonst sei nichts zu machen.
Der Doktor will alles besorgen in der Zeit, da Werner fort ist, und er will währenddem auch noch einige Male wiederkommen.
Ich hätte laut aufjubeln mögen, dabei mußte ich ein gleichgültiges Gesicht machen. — —
Werner ging mit mir nach oben, und der Doktor wartete unten, bis wir wiederkamen.
Ich habe Werner fast erdrückt vor Zärtlichkeit, und gern gab ich mich ihm an diesem Abend. —
Ich hab' ihm soviel gelobt, heiraten darf er mich nicht – obgleich er eine Andeutung machte – dazu bin ich zu schlecht. Aber dienen will ich ihm, dienen wie eine Magd, damit ich die Schuld abtrage. —
Ich hätte so gern einmal aufgejubelt, nur einmal – aber ich mußte still sein. — —
Als wir nach unten kamen, saß der Doktor noch da. Er ist dann zum Schein mit mir nach oben gegangen. Er hat sein Geld aber umsonst bezahlt, wir haben nur noch ein wenig geplaudert. —
Die beiden Herren sind dann zusammen fortgegangen, sie wollten nach Lüchow, um noch ein Glas Pilsener zu trinken und alles Nötige zu besprechen. — —
Die »Augusta Viktoria« fährt morgen, und mein Freund kommt nicht wieder. Aber nächste Reise! Ob ich es wohl aushalte?
Und dabei muß ich so gleichgültig tun, damit nichts auffällt, sonst bin ich womöglich fort, wenn das Schiff wiederkommt. —
Aber wenn ich allein im Zimmer bin und an die Zukunft denke, dann krieche ich oft unter die Bettdecke, balle das Taschentuch vor dem Munde zusammen und schreie laut auf; und wenn es auch nur ein undeutliches Grunzen wird, ich habe mich doch erleichtert. — —
Den 20. August.
Schrecklich ist es doch, was das Leben aus all diesen Mädchen gemacht hat. Sie betrachten ihr Handwerk als etwas ganz Selbstverständliches. Alle wollen Geld verdienen, und die Wenigsten haben etwas. —
Bronja sagt auch, daß es nur sehr Wenige gibt, die sich hier wieder herausarbeiten. Die weitaus Meisten enden an der Ostseite, am Fluß unten, in den Verbrecherkellern.
Wenn sie zu nichts sonst mehr taugen, dann verdienen sie immer noch einige Cents für ihre Zuhälter, bis sie eines Tages abgefangen werden oder bei einer Schlägerei umkommen. —
Mir ist das unbegreiflich. Es muß herauszukommen sein, wenn der feste Wille da ist.
Ich glaube nur, die meisten der Mädchen wollen auch nicht ernstlich. Das faule Leben, das Saufen – denn trinken kann man es wirklich nicht mehr nennen – gefällt ihnen. Des Nachts wird gefeiert dann bis in den Nachmittag hinein geschlafen und dann geht's von neuem los. – Viele sind auch schon nach kurzer Zeit derart verdorben, daß sie für ein anständiges bürgerliches Leben gar nicht mehr zu gebrauchen sind. Auch die Mädchen untereinander sind oft widerlich. Das ist ein Küssen und Umarmen, als ob sie noch nicht genug an dem aufgezwungenen Verkehr hätten. —
Ich bin nicht genug in die Geheimnisse des Geschlechtslebens eingeweiht, aber so viel merke ich doch, daß da etwas vorgeht, was nicht sein darf. Etwas Unerlaubtes, Anormales.
Die Rottmann paßt aber auf, und ich habe schon verschiedene Male gehört, wie sie die eine aus dem Zimmer der anderen holte. Ich glaube sogar, sie schlägt sie, schimpfen tut sie wenigstens genug.
Mir ist die ganze Sache überaus widerlich!
Überhaupt mag ich das ewige Küssen untereinander nicht. Die Ulli ist darin schrecklich. —
Kürzlich fragte sie mich sogar, ob ich nicht ihre Freundin sein wolle. Ich habe mich bestens bedankt.
Ich bin mit Bronjas Freundschaft vollständig zufrieden. —
Gestern habe ich wieder etwas erlebt – eine traurige Abwechslung in diesem Geist und Körper mordenden Einerlei.
Ich glaube, wenn ich noch lange in diesem Hause bin, dann bleibt mir kein Abgrund der Natur verborgen.
Zu den ständigen Besuchern gehört ein Herr Vaillant, der Besitzer eines großen Warenhauses. Die Mädchen sagen alle Bobbi zu ihm. Wenn er kommt, dann ist ordentlich was los. Er läßt immer so viel anfahren, daß sich bald alles auf dem Teppich wälzt. —
Gestern wollte er nun haben, die Sofia und die kleine, zarte Mary sollten im Evakostüm vor ihm tanzen.
Es reize ihn nichts mehr, und nun wolle er sehen, wer mehr Reiz auf ihn ausübe, die große, stattliche Sofia, oder die kleine, zierliche Mary.
Jede bekam zehn Dollar extra.
Erst natürlich ordentlich getrunken und dann ging es los. —
Die Rottmann saß an der Seite, mit einem alten verkommenen Kerl – es soll ein früherer Lehrer sein, jetzt führt er ihr die Bücher. Ihre Augen funkelten wie bei einer Katze; wenn ich es nicht zu unglaublich fände, so möchte ich sagen, daß sie selbst das ekle Schauspiel mit lüsternen Blicken betrachtete.
Die beiden Mädchen hatten sich bei ihrem Tanzen und Drehen derartig erhitzt und aufgeregt, daß ihnen die Haare wirr ums Gesicht flogen. Plötzlich stieß die kleine Mary einen Schrei aus und stürzte hin.
Dann lachte und schrie sie immerzu. Sie hatte Krämpfe. Es war schrecklich! – Die allgemeine Lust wurde aber nicht dadurch gestört. —
Mary wurde weggetragen und Bobbi ging mit Sofia nach oben. —
Sie habe noch zehn Dollar Strumpfgeld von ihm bekommen, sagte sie uns später. —
Den 28.
Jetzt sind es schon beinahe drei Wochen, seit ich Werner kenne. Ich verfolge im Geiste seine Reise nach Deutschland. Zwölf bis vierzehn Tage dauert die Fahrt, dann die Zeit, da das Schiff im Hafen liegt, und endlich die Herreise. —
Ich habe zuweilen solche Angst, daß Werner nicht wiederkommt.
Wenn auch diese Hoffnung scheitert, dann glaube ich an nichts mehr. – Aber nein, diese Augen können nicht lügen. Er ist ein guter Mensch, einer von den Wenigen, die es gibt. — — — — —
Der Doktor hat auch nicht Wort gehalten. Noch nicht ein einziges Mal war er hier, und ich hatte doch so darauf gehofft. Er wird mich vergessen haben oder er will nicht kommen. —
Mir kommt es vor, als ob wieder irgend etwas im Hause vor sich ginge. Wenn mich nicht alles täuscht, sind wieder Neue eingebracht worden. Das alte, schreckliche Geschöpf, das mir am ersten Morgen mein Frühstück brachte, begegnete mir heute früh auf der Treppe. Ich habe es Bronja erzählt, und die meint, das würde wohl so sein. Wenn neu Aufgegriffene ankommen, dann muß immer diese Person die Bedienung besorgen. Sie ist der Rottmann ergeben auf Tod und Leben, weil sie sonst nirgends mehr hin kann. Sie ist unheilbar geschlechtskrank. – Die Rottmann behält sie aber, weil sie für diese Henkersdienste jemand haben muß, der verschwiegen und ihr blindlings ergeben ist.
Und dieses Mädchen – anstatt jede Geschlechtsgenossin zu warnen und ihr Gelegenheit zu geben, aus diesem Hause wieder hinauszukommen – hilft mit einer wahren Wollust dabei, sie zu verderben. —
Sonderbare Seelenabgründe sind es, die das Leben zeitigt. —
4. September.
Ich habe richtig vermutet. Gestern waren zwei Neue im Salon. —
Die armen Dinger! Ich bin überzeugt, es sind ein paar arme Dienstmädchen vom Lande oder so was Ähnliches. Sie waren so schüchtern und linkisch, und an ihren Händen und Armen konnte man noch sehen, daß sie bis jetzt wenig gepflegt worden waren.
Mein eigenes Unglück steht mir mit erneuter Klarheit und Stärke wieder vor Augen. Könnte ich doch mit ihnen sprechen, sie fragen, ob sie sich in ihr Schicksal ergeben, oder ob sie auch versuchen wollen, hier wieder fortzukommen.
Aber ich darf noch nicht einmal gleich zu ihnen hingehen, sonst erwecke ich das Mißtrauen der Rottmann, und ich muß jetzt doppelt auf der Hut sein. —
Die Viola sagte kürzlich zu mir, ich sei noch gut behandelt worden, wenn ich bloß hätte hungern müssen. Sie selbst sei noch viel schlimmer hereingefallen. —
Vor fünf Jahren hatte sie eine Stelle als Erzieherin nach New Orleans angenommen.
Alles sei sehr schön abgemacht gewesen, freie Überfahrt auf einem französischen Dampfer. Drüben sei sie von einem Diener in Livree abgeholt worden, kurz und gut, alles habe sich aufs feinste angelassen. Auch beim Betreten des Hauses sei ihr noch kein Zweifel gekommen.
Aber dann! Schon am ersten Abend wollte man sie einkleiden, und da waren ihr plötzlich die Augen geöffnet worden.
Sie hatte dann sofort gewußt, wo sie war, da sie schon öfter derartige Sachen gelesen hatte.
Sie hat geweint, gebeten, gedroht und Gott weiß was versucht, es hat alles nichts genützt. Und als sie sich geweigert hat, »Dienst« zu tun, da hat sie ein Kerl – jedenfalls der extra dafür angestellte Bändiger – gebunden und geknebelt und derart mit einem Gummischlauch geschlagen, daß sie tagelang nicht hat liegen können ohne die fürchterlichsten Schmerzen.
Als sie nach sechs Tagen wieder aufstehen konnte, hat die Madame gesagt: »Na, mein Kind, hast du dich besonnen?« Da hat sie schaudernd zu allem ja gesagt.
Sie sagt, nie in ihrem Leben würde sie diese Züchtigung vergessen; sie habe das Gefühl gehabt, als hinge ihr das Fleisch in Streifen vom Körper. —
Also ist es mir im Verhältnis noch gut ergangen. — —
Die Viola will aber auch nicht beim Gewerbe bleiben. Sie spart sich etwas Geld und will dann sehen, ob sie nicht heiraten kann.
Irgend jemand, und wenn es der geringste Arbeiter ist, nur damit sie wieder in anständige Umgebung kommt.
Sie spricht nie von ihren Eltern oder ihrer Heimat.
Ich glaube aber, sie ist aus ganz guter Familie, man merkt es an der Sprache. —
Gestern war Marys Geburtstag. Als die letzten Besucher in der Nacht oder vielmehr gegen Morgen fortgingen, war es eben nach fünf Uhr.
»Nun wird Geburtstag gefeiert,« sagte Mary. »Keine darf zu Bett, ich halte alle frei.« —
Da haben wir denn gefeiert! Gegen neun Uhr hatte Mary schon eine Zeche von dreißig Dollar und noch dachte keine ans Schlafengehen. Auch ich habe tüchtig mitgetrunken – man wird wirklich so langsam in den Strudel gezogen. Es wird höchste Zeit, daß ich fortkomme. – Zuletzt konnten wir uns kaum noch auf den Beinen halten, und die Alte, die sich sonst immer freut, wenn gut verzehrt wird, gab nichts mehr heraus.
Wir sollten zu Bett, damit wir abends wieder frisch wären. —
Ja, ja, das Geschäft! Das ist die Hauptsache. Ob dabei sonst etwas zugrunde geht, das kümmert sie wenig. —
Heut' tut mir die arme Mary leid, sie hat sicher den Verdienst von einigen Wochen geopfert und niemand genützt. — —
Ich glaube, ich liebe Werner. Ich sehne mich so nach ihm, daß ich es bald nicht mehr aushalte. Oder ist es die Sehnsucht nach Freiheit? Ich weiß es wirklich nicht. Meine Gedanken gehen zuweilen ganz absonderliche Wege.
Wenn er mich liebte! Wenn er mich doch heiratete! Ich selbst mag ihn gern leiden – sollte es Liebe sein? Es wäre ein großes Glück für mich. Aus aller Not und allem Schlamm wäre ich heraus. Und niemand kennt mich dort, wo er mich hinführt, niemand weiß, woher ich komme. —
Aber nein, das darf nicht sein. Ich darf seine Güte nicht mißbrauchen. Es wäre schlechter Lohn für ihn – und vielleicht auch für mich, wollte ich den lockenden Stimmen meines Innern nachgeben. —
Das Bewußtsein, wo ich gewesen – von welchem Ort er mich geholt, würde in jede Stunde, auf jede harmlose Freude einen Schatten werfen.
Meine Träume aber kann mir niemand rauben. Sie sind so tröstend, aber ach so unwirklich, wenn ich meinen jetzigen Aufenthalt bedenke.
Die Nächte sind so heiß – so wollüstig – so voll prickelnder Unruhe. Ist es Sünde, wenn ich an den fernen Freund denke, wenn mein Blut aufgepeitscht wird durch aufreizende Getränke und die Berührung heißer, sinnenzuckender Körper?
Ist es Sünde, wenn ich ihn vor mein geistiges Auge zaubere, um damit die erzwungene Umarmung erträglicher zu machen? —
Ich liebe ihn! Ganz gewiß, ich liebe ihn. — — —
Noch zwei Tage, dann muß Werners Schiff wieder hier sein, und meine Erlösung ist nahe. Dann ist alles überstanden, auch diese letzten ekelhaften Episoden sind vergessen.
Den Gedanken, was werden soll, wenn Werner nicht Wort hält, kann ich gar nicht ausdenken. Ich habe dann ein Gefühl, als ob mir jemand die Kehle zuschnürt. Heiß und kalt überläuft es mich.
Der Doktor war hier. Er ist doch treu. —
Aber klug ist er, das muß ich sagen; na, er muß es ja am besten wissen, er kennt die Verhältnisse hier im Lande und wird schon alles gut einrichten.
Zuerst kümmerte er sich scheinbar gar nicht um mich, trank mit der Mary ein Flasche Wein und kam dann erst zu mir.
Er hatte einen Brief für mich – von Werner – nur einige Zeilen.
Ich bin so glücklich, obgleich es nun noch etwas länger dauert.
Werner schreibt mir, daß sein Schiff zehn Tage überliegt, aber dann holt er mich bestimmt, ich soll ihm vertrauen.
Der Doktor war sehr vorsichtig, er gab mir den Brief erst, nachdem er mit mir im Zimmer war, und als ich ihn gelesen, mußte ich ihn zerreißen, und er steckte die Stückchen in die Tasche. —
Er selbst hat Werner geraten, nicht an mich direkt zu schreiben, denn es hätte auffallen müssen, wenn ich einen Brief von Europa bekommen hätte.
Er hat recht, daran habe ich gar nicht gedacht. Überhaupt habe ich mir noch gar nicht überlegt, daß ja niemand meinen Familiennamen weiß. Man vergißt ihn hier beinahe. Man ist wie im Zuchthaus – nur eine Nummer.
Ich hatte überhaupt meinen guten Tag heute, nur anständigen Besuch. Von einem habe ich sogar ein wunderschönes Geschenk bekommen, eine reizende, brillantenbesetzte Uhr.
Ich war ganz sprachlos.
Ich habe sie später Bronja gezeigt, die hat aber meine Freude mächtig gedämpft.
»Der hat sie sicher erst gestohlen,« sagte sie trocken. »Denn sonst verschenken sie nicht so leicht so kostbare Dinger.«
Meinetwegen, ich freue mich trotzdem.
Aber recht könnte Bronja schon haben, etwas sonderbar ist es. Kennt mich nicht weiter und schenkt mir gleich eine Uhr?
Na einerlei!
Es gibt auch kleine Lichtblicke im Dunkel unserer Existenzen. Wenigstens muß ich es so nennen, wenn ich jemand sagen höre, daß er gern hier ist.
Die Lilly wenigstens sagt, ihr gefiele das Leben ganz gut und sie wünsche sich auch nie etwas anderes. —
Geschmacksache ist es natürlich, aber ihr bekommt es ja auch anscheinend, denn sie wird dick und fett dabei. —
Wie ein Roman hört sich's an, wenn sie ihre Geschichte erzählt. — —
In einem kleinen mährischen Dörfchen im Armenhaus groß geworden, wird sie von Deutsch-Amerikanern, die zu Besuch in der Heimat weilen, als Mädchen für alles mit nach Amerika genommen.
Sie, die bis dahin kaum satt zu essen bekommen, blüht bei der guten Kost auf wie eine Rose. —
Sie hatte es gut in ihrer Stelle. Der Mann, der eine gutgehende Bäckerei in Pittsburg hatte, hielt die Familie gut – aber – aber. – Die Frau war ziemlich verblüht – war wohl auch nie eine Schönheit gewesen – und nun gar – neben der üppig aufblühenden achtzehnjährigen Lilly!
Was Wunder, daß die Augen des Mannes immer häufiger und unruhiger auf Lilly hafteten. —
Lilly schlief mit der ältesten Tochter ihrer Herrschaft in einem Bett, einem jener breiten amerikanischen Betten, in denen bequem ein halbes Dutzend Kinder liegen könnte.
Die Sommernächte waren schwül und heiß. Die gute Kost hatte alles in ihr zur Entfaltung gebracht, die Sinne forderten ihr Recht.
Und eines Nachts – genau als ob es in ihren wollüstigen Traum paßte, kommt ihr Dienstherr und nimmt sich, was ihm ohne Widerstreben gegeben wurde. —
Wie eine Frucht, die sich überreif vom Baume löst, so fällt Lillys Jungfräulichkeit dem alternden Manne in den Schoß. —
Die Tochter daneben ist nicht einmal gestört worden in ihrem kindlichen Schlummer. — —
Doch die inbrünstige Umarmung hatte Folgen – was nun?
Der Mann war nicht schlecht, er versprach für Lilly zu sorgen.
Als die Frau merkte, was los war, mußte sie aus dem Hause. —
Als ein Glück betrachteten es beide, daß der Geselle, ein häßlicher, pockennarbiger Ungar, der Lilly schon immer gern gesehen hatte, ihr aber nicht hübsch genug gewesen war, nun aufs neue um sie warb. – Lilly war froh, mit seinem Namen ihre Schande zudecken zu können. – Der Meister gab eine gute Aussteuer und Lilly wurde Frau Allasch. Sie eröffneten einen Laden, und alles wäre gut gewesen, wenn nicht der junge Ehemann so eifersüchtig gewesen wäre. Er war sich wohl bewußt, daß er Lillys Besitz nicht nur seiner Schönheit zu danken hatte. —
Es gab häßliche Szenen, und da zudem das Kind kurze Zeit nach der Geburt gestorben war, ließ Lilly eines Tages ihren pockennarbigen Herrn Gemahl sitzen und fuhr nach New York. —
Hier ist sie zuerst in einem deutschen Haushalt in Brooklyn in Stellung gewesen, es hat ihr aber gar nicht gefallen.
»Die Deutschen wollen nichts bezahlen, aber arbeiten soll man wie ein Pferd,« sagt sie. —
Dann war sie in einem Hotel in der 8. Straße Zimmermädchen, und da hat sie so nach und nach Geschmack am leichten Leben gefunden.
Sie fühlt sich ganz wohl dabei und legt sich sogar noch Geld zurück. Doch ich glaube, es gibt nicht viele Lillys. — —
Ich muß oft darüber nachdenken, was zu tun ist, um solch armen Teufeln zu helfen, die in diese Häuser verschleppt werden.
Das einzig Richtige würde sein, wenn diese Häuser gesetzlich nicht geduldet würden. Es würde trotz alledem noch genug derartige Mädchen geben, wie man an Lilly sehen kann.
Aber Leute wie die Rottmann, die sich von der Schande und dem Elend anderer mästen, die dürfte es nicht geben. – Und wenn es wirklich nicht ohne diese Häuser geht, dann sollte der Staat sie bauen, genau wie er Gefängnisse, Zuchthäuser und Idiotenanstalten baut. —
Doch ich phantasiere. Mit meinen siebzehn Jahren fange ich an und will die Welt verbessern. —
Man hört so vieles in diesem Hause, so manches Schicksal geht an einem vorüber, und immer, oder doch zum weitaus größten Teil, ist an dem ersten Fall die Hauptschuld auf seiten des Mannes und des Alkohols.
Mag die Gefallene später werden wie sie will – zuerst ist sie verführt worden. —
Ich fühle mich seit einigen Tagen gar nicht wohl. Ist es die Unruhe wegen Werner, die mich quält, oder steckt mir eine Krankheit in den Gliedern? Das Essen will mir gar nicht schmecken, obgleich es im allgemeinen ganz gut ist.
Auch Bronja meint, daß es in dieser Weise bei der Rottmann recht anständig sei. Es gibt reichlich und gut zu essen und wenigstens einmal am Tage – abends um sechs Uhr – eine gemeinsame Tafel.
Wie ich von den anderen schon gehört habe, gibt es Häuser, wo die Mädchen noch nicht einmal ausreichend beköstigt werden und wo sie sich noch zum Teil von ihrem eigenen Geld unterhalten müssen. — —
Ich werde immer unruhiger. Wenn ich richtig rechne und sonst nichts dazwischen kommt, muß das Schiff bald ankommen.
Ich bin förmlich wie im Fieber, es kann nicht allein die Sehnsucht nach Freiheit sein.
Wenn ich an Werner denke, überläuft mich ein so sonderbares Gefühl, ein traumhaftes Glücksempfinden überkommt mich, das ich aber immer rasch wieder abschüttele. —
Ich bin abergläubisch geworden, ich fürchte, wenn ich schon zu fest an mein Glück glaube, so zerrinnt es wie eine Fata Morgana vor meinem sehnsüchtigen Blick. — —
Die beiden zuletzt Angekommenen habe ich auch einmal unbeobachtet gesprochen. Es sind ein paar Süddeutsche. Sie haben sich unterwegs bereden lassen, als Kellnerinnen hierher zu kommen. Anfangs sind sie ziemlich unglücklich gewesen, ergeben sich aber jetzt in ihr Schicksal. Die eine, die Sepha, anscheinend die Schlauere, sagt: »Mir werden uns halt a Geld sparen und hernach gehn m'r wieder ham, da waß ka Mensch net, wo m'rs Geld her ham.« —
Auch ein Standpunkt. — —
Ich habe heute die Madame um Geld gebeten und habe ihr gesagt, daß die Mädchen alle ihr Geld selbst aufbewahrten, nur ich bekäme keinen Pfennig.
»So, Geld willst du haben? Dann komm mal mit ins Garderobenzimmer, da will ich dir zeigen, wo dein Geld ist,« war die Antwort. —
Ach ja, das Garderobenzimmer. Ein riesenhaftes Kapital steckt in diesem Raum. Alle vierzehn Tage heißt es: es müssen neue Kleider angeschafft werden, in diesen vertragenen Fähnchen kannst du nicht jeden Abend dasitzen. —
Ich habe Kleider über Kleider, und doch nicht ein einziges, um als anständiger Mensch auf die Straße gehen zu können. — —
Heute war der Doktor wieder da, und morgen kommt Werner!
Ich bin wie von Sinnen. Ich muß wenigstens mein Buch zum Vertrauten machen, sonst, glaube ich, sprengt es mir die Brust.
Heute abend muß ich wieder unter die Decke kriechen und mein Glück in diese kleine Welt hinausschreien. —
Ach, wenn es doch gelingen wollte! —
An ein Scheitern darf ich gar nicht denken, dann stockt mein Herzschlag. Es muß gelingen oder – ich werde wahnsinnig. —
O, guter Gott, guter Gott, ich will wieder an dich glauben, wenn du mir diesmal hilfst – nur dies eine Mal hilf mir, ich bin doch auch dein Geschöpf. —
Ich muß aufhören mit Schreiben, meine Sinne verwirren sich, ich glaube, ich habe in Wirklichkeit Fieber.
Wenn ich doch ein Mittel hätte, um schlafen zu können, ich werde sonst morgen ganz krank und elend sein, und vielleicht habe ich meine Kräfte nötig. —
Ob auch kein Mensch etwas ahnt? Hat mich nicht die Rottmann vorhin so sonderbar angesehen? Oder bilde ich es mir nur ein?
Wenn es mißlingt, gibt es ein Unglück! Mir ist dann alles einerlei – ich könnte das Weib kalten Blutes ermorden.
Mag man mich dann ins Gefängnis stecken, wenigstens ist eines dieser Scheusale weniger auf der Erde. — —
Ich kann nicht mehr – ich glaube, ich bin krank.
Auf See, den 2. November.
Seit fünf Tagen habe ich dich nicht geöffnet, mein kleiner Tröster in der Not.
Jetzt will ich dir aber auch sehr vieles, sehr Schönes und sehr Wichtiges erzählen. —
Ich bin auf der Fahrt nach Deutschland.
Das sagt eigentlich alles. Trotzdem will ich ausführlich erzählen, wie alles zugegangen ist; ist es mir doch selbst noch wie ein Märchen.
Als Werner kam, hielt er sich nicht lange unten auf, sondern ging gleich mit mir hinauf. Die Flasche Wein, die er hatte bringen lassen, blieb fast unberührt stehen. Er rief dem Charly zu, er solle alles so stehen lassen, er käme gleich wieder.
Oben teilte er mir hastig seinen Plan mit. Ich mußte rasch zu mir stecken, was ich gerne mitnehmen wollte.
Es war wenig genug. Dich, mein kleines Buch, steckte Werner in die Brusttasche, dann saßen wir atemlos und warteten.
Das Schlimmste war, daß ich keine Kleider hatte. Ich mußte in dem dünnen, spitzenübersäten Kunstwerk, das meinen Körper mehr preisgab als verhüllte, auf die Straße.
Alles war auf die Minute festgelegt.
Werner war um zehn Uhr gekommen, bis um einhalb elf Uhr kamen vier junge Männer, die in den großen Salon gingen. Bis drei viertel elf kamen vier, die in den kleinen Salon hinter der Bar gingen.
Alle diese Leute waren vom Doktor angeworben und wurden mit dem Gelde Werners bezahlt. —
Fünf Minuten vor elf mußten die im kleinen Salon untereinander Streit anfangen, einer davon mußte einen blinden Schuß abgeben, zu gleicher Zeit mußten die im großen Salon so agieren, daß alles nach dem kleinen Salon hinstürzte.
Und genau auf die Minute – elf Uhr – gab der Doktor an der Eingangstür das bekannte Einlaßzeichen, so daß der Portier wußte, es war ein eingeweihter Besucher.
Genau in diesem Augenblick kamen wir, Werner und ich, die Treppe herunter. Die Tür durfte nicht wieder ins Schloß fallen. Ein Auto stand draußen, und fort ging es – ich war frei!!!
Alles klappte. Der Doktor hatte noch einen handfesten Kerl bei sich, und als der Schließer auf mich zustürzen wollte, faßte ihn der Begleiter des Doktors an der Kehle und sagte leise aber bestimmt: »Keep quiet! Einen Laut und du bist ein toter Mann!«
Der Doktor sprang zurück und war mit einem Satz bei uns im Auto, dann ging es vorwärts.
Wir sind erst ganz nach oben bis zur 128. Straße gefahren, um etwaige Verfolger irrezuführen, dann ging es durch den Zentralpark und an der anderen Seite herunter nach Hoboken.
Es war bereits nach Mitternacht, als wir im Zentralhotel ankamen.
Der Doktor hatte an alles gedacht. Im Auto lag ein Mantel, in den ich schlüpfen mußte, damit meine Kleidung bei den Hotelbediensteten nicht auffiele und etwaigen Nachforschungen Vorschub geleistet würde. Ich bekam ein Zimmer, Werner ließ sich eines daneben geben, dann schloß er mich ein und, ich war allein – allein und in Freiheit.
Am anderen Morgen – Werner hatte einen Tag Urlaub genommen – telephonierte er an ein Konfektionsgeschäft und ließ mir etwas anständige Garderobe kommen.
Unter dem Vorwand, daß ich mit dem Schiff gekommen sei und unglücklicherweise meinen Koffer eingebüßt habe, wurde ich vollständig neu ausgestattet.
Ein einfaches, dunkelblaues Kostüm, ein Reisehut und Stiefel waren das Nötigste. Dann bekam ich noch ein einfaches Straßenkleid, und die bürgerlich einfache Dame war fertig.
Ich nahm alles widerspruchslos an. Es waren Wohltaten, die ich vielleicht nie würde vergelten können; ich mußte sie annehmen.
Vorläufig dachte ich nur an den Augenblick. —
Als ich mit allem fertig war, und wir in meinem Zimmer beim Lunch saßen, sagte Werner: »Heute nachmittag fahren wir nach New York hinüber zu Pastor Schneider und lassen uns trauen.«
»Nein, o nein!« rief ich, »tun Sie das nicht!«
»Nun, nun,« sagte Werner, »warum denn nicht?«
»Sie – werden es später bereuen, bitter bereuen. Ich darf Ihre Güte so nicht ausnutzen. Das Mitleid mit meiner verzweifelten Lage hat Sie handeln lassen, aber nun ist es genug.«
»Und meinen Sie, ich hätte dies alles getan, wenn ich nicht von Anfang an die Absicht gehabt hätte, Sie zu heiraten? Ich weiß alles, was Sie mir sagen wollen; ich weiß, daß Hunderte von jenen Mädchen nicht verdienen, daß ein anständiger Mann auch nur den Finger um sie rührt, ich weiß aber auch, daß Sie keine von denen sind. Sie haben Unglück gehabt – es wird bei Ihnen liegen, zu beweisen, daß es unverdientes war.« — —
Es ist nicht schwer für einen jungen Mann, ein junges Mädchen, das ihm sowieso schon zugetan ist, zu bereden, ihn zu heiraten, ihr plausibel zu machen, daß sie nicht zu schlecht für ihn ist.
Ich erinnerte mich so mancher, mit der ich zusammen war, die sich keinen Augenblick besonnen haben würde. Ich dachte auch an manche, die wirklich besser war, als so viele verheiratete Damen, die geachtet dastanden und doch innerlich nichts taugten, und all meine großen und festen Vorsätze schmolzen dahin wie Butter an der Sonne. — – Wenn ich von jetzt ab ein tadelloses Leben führte, war dann nicht alles gut? Was aber, wenn später bei Werner die Reue kam?
»Sie werden es später bereuen, lieber Freund! Gesetzt den Fall, es käme durch irgendeinen Zufall heraus, wo Sie mich hergeholt haben, ich könnte es nicht ertragen, Schande über Sie gebracht zu haben!«
»Das brauchen wir nicht zu befürchten. Kein Mensch von unserem Schiff ist drüben in jenem Hause gewesen, keiner hat Sie gesehen.«
»Und wenn doch? Sie kennen die Menschen nicht, mein Freund! Ich will Ihre Freundin sein, Ihre Dienerin, alles will ich für Sie tun, und wenn Sie mich nicht mehr wollen, dann schicken Sie mich fort – dann –« Ich fing an zu weinen. Das ganze Elend meiner jungen Jahre kam mir mit Allgewalt zum Bewußtsein.
Wäre es nicht besser, ich wäre tot? Wem nützte mein Dasein?
»Weine nicht, Liebling! Du mußt mein Weib werden. Es ist unmöglich, wie du dir das denkst. Ich kann so nicht neben dir leben, ich habe dich lieb – komm, sei vernünftig und gib nach. Magst du mich denn nicht auch ein wenig leiden? Ich schwöre dir, ich rühre dich nicht eher wieder an, bis du mein Weib bist; bedenke – ich bin ein Mensch von Fleisch und Blut – und ich liebe dich – quäle mich nicht länger.«
»Wenn ich nur wüßte, daß es zu deinem Glücke wäre, daß ich dadurch nur etwas von der großen Schuld abtragen könnte, wie gern würde ich dir gehören. Aber deine Zukunft, dein Glück!« entgegnete ich, nur noch schwach widerstrebend.
»Mein Glück und meine Zukunft bist du! Laß die Menschen sagen und tun was sie wollen, wenn nur wir beide zufrieden sind. Komm, sag' ja!«
»Aber — — —«
»Kein Aber mehr, Liebling,« sagte da Werner und nahm mich in seine Arme. Und jauchzend flog ich an seinen Hals, und er vergrub sein Gesicht in meinen Haaren.
»Mein Liebling, mein alles!« flüsterte er, und küßte mich immer und immer wieder. »Wie schön du bist! Und jetzt bist du mein! Jetzt gehört diese Schönheit, dieser entzückende Körper mir – mir ganz allein!«
Willenlos hing ich in seinem Arm. Mein ganzes Herz schlug ihm entgegen. Wie war er gut! Das war endlich ein Mann von jener Sorte, die wir nötig haben. Nun war auch für mich die Sonne eines besseren Tages aufgegangen.
Ja, ich wollte sein Weib sein, und mein ganzes ferneres Leben sollte ein einziges Dankgebet – ein einziges Opferfeuer für meinen Retter sein. — — —
Zwei Stunden später waren wir Mann und Frau.
Der alte, würdige Pfarrer und seine Gattin nahmen uns sehr liebevoll auf. Werner kannte das Ehepaar schon seit langem, da sie schon wiederholt mit seinem Schiff gefahren waren.
Nach der Trauung hatten wir ein schönes Diner bei Reißenwebers, und fuhren dann wieder nach Hoboken.
Ich hatte große Angst, und Werner mußte ein geschlossenes Auto nehmen, weil ich immer noch Sorge hatte, daß ich entdeckt würde. —
Auch als wir wieder im Hotel waren, wollte die Ruhe noch nicht kommen; erst hier auf dem Schiff, als einige Meilen Wasser zwischen mir und jener Stadt mit den hohen Häusern lagen, konnte ich aufatmen.
Also wirklich und wahrhaftig frei! Frei, und so Gott will, ein anständiger Mensch! — — —
Es gefiel mir erst sehr auf dem Schiff, aber das hat nicht lange gedauert. Wir hatten Sturm, und ich bin tüchtig seekrank gewesen, jetzt geht es aber wieder.
Ich fahre in der zweiten Kajüte, und Werner hat dafür gesorgt, daß ich allein im Zimmer bin. Ich freue mich sehr darüber, ich mußte immer wieder an meine Herfahrt denken und an meine Zimmernachbarin, diese alte Seelenverkäuferin.
Ich bin aber doch auch zu dumm gewesen, jetzt könnte mir das nicht wieder passieren, jetzt kenne ich den Geruch.
Ich bilde mir immer ein, ich selbst rieche auch noch nach diesem verfluchten süßlichen Zeug, mit dem die ganze Luft in jenem Hause durchtränkt war. Es kann aber gar nicht möglich sein – denn ich habe nichts mehr von jenem Zeug am Leibe und habe schon drei Bäder genommen – und doch – sehen mich nicht auch die Männer mit besonderen Blicken an?
Werner, dem ich meine Befürchtungen mitteilte, lachte.
»Ich glaub' es wohl, daß sie dich angucken, Süßes! Du weißt wohl gar nicht, wie schön du bist!« —
Ich bin sehr glücklich! Werner und ich machen Pläne – wonnige Pläne für die Zukunft.
Eine kleine Wohnung werden wir uns mieten, drei Zimmer nur, denn Werner verdient noch nicht viel – aber wir werden trotzdem glücklich sein – so glücklich.
Wir brauchen niemand, ganz allein für uns beide wollen wir sein. Ich werde sehr viel zu tun haben für die erste Zeit, die ganze Wohnung muß eingerichtet werden, und ich habe doch so gar nichts.
Ärmer als ich ist wohl nie ein Mädchen in die Ehe gegangen. Alles verdanke ich der Güte dieses Mannes – es wird mir schwer – »meines Mannes« zu sagen, es ist mir, als ob ich noch kein Recht dazu hätte.
Und doch habe ich es, er selbst hat es mir gegeben. —
Wenn ich alles recht überdenke, dann möchte ich seine Hände küssen, er macht vieles wieder gut, was andere gesündigt. —
Wenn ich doch nicht immer wieder ins Grübeln kommen wollte! Wenn ich mich doch uneingeschränkt der Stunde freuen könnte!
Aber ich kann es nicht. Eine Angst verzehrt mich, für die ich keinen Namen habe.
Bald sind wir in Deutschland – wenn ich nach der Heimat könnte! Nur einmal meinen Kopf im Schoße der lieben alten Frau zu vergraben.
Aber nein, fort mit diesen Gedanken – ich bin tot – muß tot sein!
Würden sie mich nicht fragen? Würde ich der Großmutter in die lieben, alten, reinen Augen sehen können?
Ach, hätte ich doch meine Mutter noch! Zu ihr könnte ich kommen! – Hätte ich meine Mutter noch, dann wäre alles anders, und ich brauchte nicht so vor sie zu treten. — —
Morgen kommen wir an. Man merkt es an der Unruhe unter den Passagieren. Alle haben zu packen, zu schreiben und zu besprechen; wie in einem Bienenkorb ist es.
Ich allein habe nichts zu packen und zu schreiben – ich besitze nichts, auch habe ich mich dieses Mal mit keinem Menschen bekanntgemacht. Ich bin mißtrauisch geworden. Was ich früher zu offen und zu vertrauensselig war, bin ich nun zu scheu. — —
Ich weiß nicht, wie mir ist – ein sonderbares Angstgefühl quält mich die letzten Tage. Ich will mir mit Gewalt das Glücksempfinden, das mich zu Beginn der Reise beseelte, zurückzwingen – ich kann es nicht.
Ich sollte mich freuen, der Heimat näherzukommen und kann es nicht.
Schlaflos wälze ich mich des Nachts auf meinem Lager, sonderbare beängstigende Träume quälen mich, ich habe versucht zu beten – ich kann es nicht. Will Gott nichts mehr von mir wissen, weil ich sein Dasein angezweifelt habe? Aber hatte ich nicht ein Recht dazu? Kann man an Gott und seine Allmacht glauben, wenn man so entsetzliche Dinge erlebt?
Warum läßt dieser Gott, der doch ein Gott der Liebe sein soll, zu, daß ein schuldloses, unerfahrenes Mädchen so vergewaltigt, gemartert und gepeinigt wird! Und doch will ich mir Mühe geben, aufs neue an seine Güte und Allmacht zu glauben. Ich will gut sein. Doch dann darf ich nicht mehr an das Vergangene denken. Erst wenn ich das Entsetzliche ganz aus meiner Erinnerung ausgelöscht habe, wird es mir möglich sein, den alten Kinderglauben wiederzufinden. --
Im eigenen Heim!
Wer kennt nicht den Zauber dieses Wortes?
Für mich ist es doppelt heilig: Daheim!
Ich, die Ausgestoßene, bin daheim.
Und doch ist mein Glück nicht ohne bitteren Beigeschmack, denn ich bin schon wieder allein.
Allein im eigenen Heim, ohne ihn, der es mir geschaffen.
»Du mußt dich daran gewöhnen, Lottchen! Sieh, du hast nun einmal einen Seemann zum Manne, da mußt du dir sagen, daß es unmöglich für ihn ist, zu Hause zu bleiben. Und mit der Zeit gewöhnst du dich daran. Alle Seemannsfrauen müssen sich darein finden; in vier Wochen bin ich ja wieder da und dann ist es um so schöner.« —
Er hat recht, ich muß mich daran gewöhnen. Aber schwer ist es doch. Daran habe ich gar nicht gedacht, an dieses immerwährende Alleinsein. Aber selbst wenn ich daran gedacht hätte, würde es nichts genützt haben, Werner kann eben nicht an Land bleiben. Sobald er aber Oberzahlmeister ist, kann er mich einmal mitnehmen.
Wenn ich nur nicht gar so fremd hier wäre!
Und doch, bin ich nicht kindisch mit meinen unnützen Klagen?
Ist es nicht im Gegenteil recht gut, daß ich fremd bin?
Wie furchtbar würde es für Werner sein, wenn mich jemand erkennen sollte. —
Zum Glück habe ich nicht viel Zeit zu dummen Gedanken und nutzlosen Klagen. Ich muß arbeiten, muß meine Wohnung einrichten.
Vorläufig haben wir nur Küche und Schlafzimmer. Alles in Eile und provisorisch hingestellt. Aber wenn Werner wiederkommt, soll er alles hübsch und gemütlich vorfinden, er soll sich freuen über seine Frau und sein Heim. —
Eine ganze Menge Geld hat er mir hier gelassen. Zweihundert Mark! Was kann ich dafür alles kaufen! Töpfe und Pfannen, auch einige Deckchen und Läufer, um alles recht schön zu machen. —
Die Möbel für das Wohnzimmer kaufen wir erst, wenn Werner wiederkommt, die müssen wir auf Abzahlung nehmen, Werner hatte gar kein Geld mehr. —
Eigentlich ist es schrecklich, daß er all das viele Geld für mich hat ausgeben müssen; was hätte man alles dafür kaufen können!
Eine Wut überkommt mich, wenn ich an die Rottmann denke – nur einmal möchte ich sie wiedersehen, einmal möchte ich ihr gegenübertreten, um ihr meinen ganzen Zorn, meine ganze Verachtung ins Gesicht zu schleudern.
Aber was nützt es, wenn ich gegen dieses Weib wüte, ist sie doch nicht allein schuld an diesen Zuständen. —
Nicht ein Unternehmer allein, das ganze System muß bekämpft werden. Ich will klug und reich werden, ich will Geld sammeln. Überall müssen Warnungstafeln angebracht werden.
Es muß anders werden, ganz anders. —
Eine Woche lang habe ich nicht an mein Büchlein gedacht, aber heute ist ein so kalter, stürmischer Tag, da habe ich mir Feuer im Herd angezündet, damit die Küche schön durchwärmt ist, und nun will ich mich wieder einmal mit dir unterhalten. --
Ich habe mich nun schon ganz nett und behaglich eingerichtet.
Auch außerhalb meiner kleinen Wohnung habe ich mich schon umgesehen. Die Stadt ist nicht groß, und man ist bald zu Ende mit den Sehenswürdigkeiten. Landschaftliche Reize kann ich an der flachen, eintönigen Gegend wenig entdecken. Trotz alledem wäre es unrecht, ihr jede Schönheit absprechen zu wollen.
Wie wunderschön allein ist ein Spaziergang bei Sonnenuntergang am Außendeich. Ein ganz wunderbares Schauspiel ist es, wenn der Sonnenball langsam im Wasser versinkt. Der Horizont, das Wasser, alles glüht tiefrot, um dann langsam, blasser und blasser werdend, in rosa und bläulichen Tönen zu verglimmen.
Und dann der Heimweg; hier und da auf dem Wasser ragt gespenstisch ein Mast empor, dann blitzt da und dort ein Lichtlein rot, grün oder grellweiß, das Blinklicht des Leuchtturmes alles überragend, und weit, weit unten in ununterbrochener Reihe die Lichter des Hafens.
Aber diese einsamen Spaziergänge sind nichts für mich, sie machen mich melancholisch und heimwehkrank.
Heimwehkrank nach einer Heimat, die ich nicht habe.
Meine Heimat ist jetzt hier, ist bei dem Manne, der mir einen ehrlichen Namen gab. —
Ich bin immer noch ängstlich, wenn ich auf der Straße gehe.
Wie leicht ist es möglich, daß mich jemand gesehen hat. Es ist eine Hafenstadt, und der Weg nach Amerika ist sehr kurz – über die Planken eines Dampfers. —
Nicht um mich bin ich besorgt, um ihn.
Und noch etwas anderes macht mir Sorge.
Fast hätte ich über dem letzten großen Unglück, das mich betroffen, meinen Fehltritt von zu Hause vergessen. Nicht ein einziges Mal in den letzten Wochen habe ich daran gedacht.
Aber nun, wo ich in Ruhe bin, quält es mich um so mehr. —
Muß ich es Werner sagen? Hat er ein Anrecht an das Leben, das so weit zurückliegt? So weit!
Und doch ist es noch kein Jahr her, seit ich von den Großeltern fort bin. – Mir scheinen es Ewigkeiten.
Ich bin in einem furchtbaren Zwiespalt.
Ist es meine Pflicht, es meinem Manne zu sagen oder darf ich schweigen?
Wird er nicht an mir zweifeln, wenn ich es sage? Wird er nicht denken, daß der Ort, an dem er mich getroffen, dann gar nicht so unrecht für mich gewesen sei?
Hätte ich doch einen einzigen Menschen, mit dem ich sprechen könnte! – Ich glaube nicht, daß ich den Mut habe, es ihm zu sagen; ich fürchte seine Liebe und Achtung – jawohl seine Achtung, so paradox es auch klingen mag – zu verlieren. —
Denn trotz alledem und alledem, Werner achtet mich. Er weiß, ich war unschuldig dort hingekommen; und er achtet mich deshalb, weil ich mit allen Mitteln versucht habe, herauszukommen. —
Erführe er meinen ersten, dummen, kindischen Streich – wer weiß, ob dann nicht dieses Gefühl, das mich so sehr erhebt, für immer verloren wäre.
Ich muß das Geheimnis mit mir herumtragen. — —
Der Schlaf, der mich auch in den schlimmsten Augenblicken meines Lebens nicht verlassen, scheint mich jetzt zu fliehen.
Ich liege oft stundenlang und grübele über Dinge, die ich nicht ändern kann. Ruhelos wälze ich mich hin und her. —
Ist es die Einsamkeit um mich? Ist es das geheime innere Schuldgefühl, das mich quält? Diese stillen, schwarzen Nächte erdrücken mich. Wäre doch Werner erst wieder hier! Ich eigne mich nicht zur Seemannsfrau.
Immer allein!
Abends beim Schlafengehen und morgens beim Aufstehen. —
Oft schrecke ich Nachts aus unruhigem Schlummer auf, dann ist mir, als hörte ich ruhige, schwere Atemzüge neben mir – ich fasse hinüber, aber da ist nichts, ich bin allein – immer allein. —
Letzte Nacht hatte ich einen entsetzlichen Traum.
Mir träumte, ich stand allein auf einem weiten, endlos weiten Platz und wußte nicht, wohin ich mich wenden sollte.
Da kam ein Mann in einem langen, schwarzen Mantel, den großen Hut tief in die Stirn gedrückt, so daß ich nichts von dem Gesicht sehen konnte, und faßte mich bei der Hand.
Er führte mich über Felder und Auen weit, weit, und dann zuletzt in ein großes, palastartiges Haus, viele, viele Treppen empor.
Als wir schon sehr hoch gestiegen waren, öffnete mein Führer eine Tür, ließ mich los und sagte mit dumpfer Stimme: »Gehe diesen Weg, und du wirst rein wie eine Lilie sein.«
Ich hob den Fuß und wollte vorwärts schreiten, doch mit einem entsetzten Schrei fuhr ich zurück. Vor mir breitete sich endlos, unabsehbar das Meer.
Durch den Schrei war ich erwacht, entsetzt starrte ich ins Dunkel. Ich fürchtete mich so, daß ich nicht einmal wagte, mir Licht anzuzünden. —
Was bedeutete dieser unheimliche Traum?
Was wollte dieser unheimliche Mensch?
Und dieses große Wasser? Soll ich sterben? Soll ich im Wasser sterben?
Aber ich will nicht! Jetzt nicht! Dann hätte mich das Wasser vor sieben Monaten verschlingen sollen!
Ach Werner, mein Liebster, ich sehne mich nach dir, wärest du bei mir, du würdest mich trösten.
Die Sehnsucht, das Verlangen nach dir brennt mir wie Feuer in den Adern. — —
Schon wieder einmal bin ich allein.
Selige Tage waren es, als Werner hier war, ach, wie ist er gut! So gut, daß ich fast beschämt bin.
Ich weiß nicht, wie ich ihm danken soll. —
Nun haben wir auch die Möbel für unsere Wohnstube, fein!
Wie könnt' ich glücklich sein, wenn – ja wenn die bösen Gedanken nicht wären.
Ein jedes Vergehen trägt die Strafe gleich in sich – habe ich einmal irgendwo gelesen. Wie wahr das ist, das fühle ich jetzt nur zu gut. Ich bin bestraft durch die fortwährende Angst, daß Werner auch das noch erfahren könnte.
Ich machte eine kleine Andeutung, daß ich gern einmal die Heimat sehen würde. Gleich war er bereit.
»Warum nicht, Lieb! Nächste Reise, oder Pfingsten. Fahre ruhig hin; wenn ich wiederkomme, bist du längst wieder hier. Denn zu den Großeltern willst du ja doch nicht.«
Ich könnte also reisen! Aber nein, es geht nicht! Das habe ich auch Werner gesagt; ich habe ihm gesagt, daß es Wünsche bleiben müssen.
»Mir ist es recht, Lieb,« sagte er, »ich will nur dich zufrieden wissen.«
Ich soll mir ein Hündchen kaufen, damit ich nicht mehr so verlassen bin.
Ich freue mich, ich mag Tiere so gern. Gleich heute werde ich ausgehen und mir einige ansehen, die in der Zeitung standen.
Meine einsamen Spaziergänge am Außendeich muß ich aufgeben. Es ist hier wie überall. —
Ein Weib, das allein auf einsamen Wegen geht, ist ein Stück Freiwild. Oder habe ich etwas an mir? Trage ich ein Kainszeichen mit mir herum?
Wie kann ein Mann sich einfach erlauben, einer Frau, die ruhig ihres Weges geht, seine Begleitung anzubieten!
Woher nimmt er sich das Recht? Ist das auch ein Stück Herrenmoral?
Mich kostet es leider eine schöne, liebgewordene Gewohnheit. — —
Wenn ich doch einmal nach Hause in meine Berge könnte!
Jetzt liegt wohl noch Schnee, aber nicht lange mehr, und es beginnt zu grünen und zu blühen.
Die Täler fangen früh an, sich zu schmücken, wenn auch die Berge noch lange ihre winterliche Haube aufbehalten. —
In Großmutters Garten die Schneeglöckchen und Veilchen haben es immer am eiligsten.
Wie schön würde es sein, könnte ich hingehen!
Zu schön, um wahr zu werden. — —
Nun habe ich wirklich einen kleinen vierfüßigen Hausgenossen.
Wie ist das schön! So gesellig!
Jetzt kann ich wenigstens mal ein Wort sprechen.
Pit, mein kleiner Pit versteht alles. Er ist so klug, und wenn er sich erst vollständig an mich gewöhnt hat, versteht er gewiß jedes Wort. Abends stelle ich sein Körbchen vor mein Bett – nun bin ich doch nicht mehr so allein. —
Ob Werner ihn auch mag? Ganz sicher! Er ist zu niedlich.
Wenn ich im Bett liege, kann ich ihn immer beobachten, wie er sein Bettchen für die Nacht zurecht macht. Und wenn ich seine Decke noch so schön hingelegt habe, er fängt doch noch selbst an, alles zurechtzuzerren. Er kratzt mit den Füßchen und stuppst mit dem Näschen, bis alles nach Wunsch ist, dann legt er sich sehr befriedigt hin und wirft mir einen Blick zu aus seinen blanken Äugelchen, als wollte er sagen: So gehört sich das, du verstehst auch rein gar nichts davon. —
Ich bin so zufrieden, das Leben ist doch ganz schön.
Morgen kommt Werner.
Heute will ich alles schön sauber machen, damit unser kleines Reich würdig ist, seinen Herrn aufzunehmen.
Wenn das Wetter schön ist, werde ich an den Hafen gehen, um das Schiff hereinkommen zu sehen. Pit geht mit. —
Was Werner wohl sagen wird über meinen kleinen Freund?
Noch eine Nacht, dann ist er bei mir. Ich freue mich sehr auf ihn.
Ob er sich ebenso nach mir sehnt?
Ich will ihn doch fragen, ob er auch so unruhig nach mir ist.
Werner macht so wenig Worte; es ist mir schon wiederholt aufgefallen. Seine Handlungen sind um so besser. — —
Da ist es, das Geahnte, Gefürchtete.
Meine Angst, meine Scheu vor den Menschen war berechtigt.
Wäre ich nicht mit ausgegangen! — — —
Werner kam vorgestern von See. Er war so glücklich und zufrieden, er hatte eine schöne Reise gehabt und auch gut verdient, da er hin und zurück sein Zimmer vermietet hatte. —
Gestern Abend wollte er eine Stunde mit mir in ein Café gehen. Ich hatte keine rechte Lust und bat: »Laß uns zu Hause bleiben, da ist es viel schöner.«
Er hörte nicht auf mich.
»Du mußt auch mal raus, Schatz; du wirst mir sonst noch ganz melancholisch.«
Um ihm die Freude nicht zu verderben, gab ich nach, und wir gingen nach dem Viktoria-Café.
Anfangs war es nur schwach besucht, später setzte sich an den Tisch neben uns ein Trupp Herren.
Ich kannte niemand im ganzen Lokal.
Plötzlich fühlte ich, daß mich jemand beobachtete. Mir wurde unbehaglich, ohne zu wissen, warum.
Ich wandte den Kopf etwas zur Seite und sah, daß ein Herr mich ziemlich ungeniert anstarrte.
Ich kannte ihn nicht; aber – mein schlechtes Gewissen! Ich wurde blutrot und drehte den Kopf zur Seite; wie unter einem hypnotischen Zwang mußte ich nach einiger Zeit wieder hinsehen; noch immer dieses fatale Anstarren. —
Ein bartloses Gesicht mit einigen Schmissen an der linken Backe und hellen, erbarmungslosen Augen.
Wer war es nur? —
»Laß uns gehen, Werner,« bat ich.
Werner, der nichts von meiner Not merkte, sagte: »Aber warum denn, Schatz? 's ist doch ganz nett hier!«
»Ich muß hier heraus,« sagte ich angstvoll und sah ihn flehend an. Sofort sprang er auf und beugte sich über mich.
»Ist dir nicht gut, Lieb?« fragte er besorgt. —
Da stand der Herr, der wohl bemerkt hatte, daß ich fort wollte, auf und ging langsam an unserem Tisch vorüber, mich immerzu scharf und dreist anstarrend.
Auch Werner wurde aufmerksam. Er faßte sich an die Stirne, warf dann einen Blick auf mich, der zu fragen schien: »Kennst du ihn?«
Ich schüttelte den Kopf und sah ihn hilflos an. —
»Wie ist mir denn,« murmelte Werner vor sich hin, »den muß ich doch kennen!« Dann wandte er sich und schritt dem andern nach zur Toilette.
Ich wollte ihn zurückhalten, doch meine Hand fiel kraftlos in den Schoß.
Was hätte es auch genützt. Ich hatte geahnt, daß es so kommen mußte.
Die Welt ist so groß, so unendlich groß, und doch zu klein für ein wundgeschossenes Geschöpf, um sich verkriechen zu können. — —
Als Werner kam, stand ich sofort auf; schweigend half er mir in den Mantel; schweigend verließen wir das Lokal.
Als wir einige Schritte gegangen waren, nahm er meinen Arm und zog ihn unter den seinen; ich wagte kaum, ihm in die Augen zu sehen. —
»Es war ein Schiffsarzt,« sagte er nach einigen Minuten, »ich habe ihn zur Rede gestellt wegen seiner Ungebührlichkeit; er kennt dich – leider; er ist einmal drüben gewesen bei der Rottmann. Na, weine nur nicht, diesem edlen Herrn können wir ja aus dem Wege gehen. Aber meine Meinung habe ich ihm wenigstens gesagt!«
Ich antwortete nicht. Ich schluchzte krampfhaft in mein Taschentuch. Die Vorübergehenden sahen uns nach, sie hielten uns wohl für ein Liebespaar, das sich verzankt hatte. —
Als wir zu Hause ankamen, warf ich mich angekleidet aufs Bett und schluchzte jammervoll; Werner hatte Mühe, mich zu beruhigen.
»Was ist denn weiter geschehen, Liebling? Rege dich doch nicht so furchtbar auf. Was liegt an diesem Laffen? Wir beide sind zufrieden, das ist die Hauptsache.«
Du Armer! Zufrieden, ich und zufrieden! Ja, wenn die Schatten der Vergangenheit nicht so unbarmherzig auf das bißchen Licht fielen, das mich jetzt umleuchtet.
Nun mache ich auch ihn noch unglücklich! Diesen Einzigen, der mir den Glauben an die Menschheit wiedergeben konnte.
Es ist zum Wahnsinnigwerden!
Immer und immer wieder möchte ich rufen: Warum mir das alles? Warum dies übervolle Maß für mich?
Ach, könnt' ich schlafen, schlafen, um nie mehr aufzuwachen. — —
Nun bin ich wieder allein. Das bißchen Ruhe, in das ich mich nach und nach hineingeträumt habe, ist wieder hin.
Auch um Werner bin ich sehr in Sorge, er war gar nicht besonders auf dem Posten die letzten Tage; eine starke Erkältung hatte ihn befallen. Wenn er mir nur nicht ernstlich krank wird! Er freilich lachte mich aus, als ich ihn bat, zu Hause zu bleiben.
»Das würde eine schöne Geschichte werden, wenn jeder Seemann wegen einer kleinen Erkältung gleich an Land bleiben wollte; da könnten unsere Dampfer bald leer losfahren,« sagte er lachend. —
Er hat recht, aber trotzdem – was kann nicht alles passieren während einer solchen Reise. —
Und läßt sich nicht alles besser tragen, wenn man es gemeinsam trägt?
An die Schattenseiten des Seemannslebens habe ich nicht gedacht. Als ich auf dem Schiff war und dort alles wie am Schnürchen ging, als die Besatzung mit immer freundlichen Mienen auf die manchmal recht unsinnigen Wünsche der Passagiere einging, da habe ich nicht daran gedacht, daß diese Leute ein Doppelleben führen, um das sie wirklich nicht zu beneiden sind.
Ich möchte meinen Mann gerne an Land behalten; lieber wenig Verdienst, aber beisammen. —
Wie ist das zum Beispiel schrecklich mit meiner Flurnachbarin: der Mann fährt nach Ostasien; während der letzten Reise hat sie ein Töchterchen bekommen und hat es auch wieder verloren; das Kindchen ist nur sechs Wochen alt geworden.
Der Vater aber hat das Kind gar nicht gesehen.
Und das alles hat die arme Frau allein durchmachen müssen. —
Wirklich, auch eine Art Heldentum, von dem die Außenwelt nichts weiß. Ich werde Werner bitten, doch lieber im Bureau der Gesellschaft zu arbeiten, wenn er auch weniger verdient, es wird schon gehen. Oder vielleicht können wir ganz von hier fort, an einen Ort, wo niemand uns kennt.
Hier kennt mich nun doch schon ein Mensch, und nicht lange wird es dauern, so kennen mich noch mehr.
Was habe ich diesem Menschen getan, daß er mich so brandmarkt? Muß ich immer auf der Flucht vor meiner Vergangenheit sein? Wenn ich anders geartet wäre! Gleichgültiger gegen das Urteil der Menschen.
Nein, nein, das kann ich nicht – ich kann nicht leben ohne die Achtung meiner Mitmenschen. — —
Wäre doch die Reise erst zu Ende. —
Ich bin in einer furchtbaren Unruhe. Kommt es davon, daß Werner nicht ganz wohl war, oder kommt es, weil ich gar nicht aus dem Hause komme? Beides wirkt wohl zusammen.
Ich gehe auch des Morgens nicht mehr aus; wie leicht könnte mir dieser Mensch begegnen und mich auf offener Straße insultieren. – Und doch kann ich nicht immer eingeschlossen sein!
Was soll nur werden? — — —
Soeben war ein Herr vom Kontor bei mir. —
Was mag das nur zu bedeuten haben? Ich verstehe das gar nicht. Ich bin wie betäubt. —
Das Schiff ist drüben angekommen, und unter den telegraphischen Berichten, die an die Direktion gekommen sind, ist auch die Nachricht gewesen, daß mein Mann erkrankt ist und wahrscheinlich in Hoboken ins Hospital müsse; ich solle mich nicht ängstigen, wenn das Schiff ohne ihn zurückkäme, er sei drüben sehr gut aufgehoben. — —
Nicht ängstigen! – Wie ruhig er das sagt! —
Ich soll mir keine Sorgen machen, es sei nicht schlimm! Mein Mann komme vielleicht schon mit dem nächsten Dampfer. —
Sind das nun Worte – nur Worte? Was ist daran wahr? —
Was kann ich tun? Nichts!
Könnt' ich rasch hinlaufen; aber ich kann ja nicht!
Und wenn ich wirklich Geld hätte und hinfahren könnte, so wäre Werner möglicherweise schon wieder fort, wenn ich dort ankäme. —
Aber wenn man mir nun gar nicht die Wahrheit gesagt hat? Wenn es schlimm ist – viel schlimmer?
Ach, wer gibt mir Klarheit?
Ruhig warten, wenn jeder Blutstropfen kocht vor Angst. Die Hände in den Schoß legen, wenn man Berge versetzen möchte. —
Zwei Stunden später.
Ich kann nicht schlafen. Es ist eine so warme, schwüle Nacht.
Ich bin wieder aufgestanden und sitze im Nachthemd am offenen Fenster. Kein Mondstrahl durchbricht das Dunkel; der Himmel hängt wie eine große, grauschwarze Glocke über der Erde.
Nirgends ein heller Schein.
Ist diese dunkle, schwüle Nacht das Abbild meines Lebens – meiner Zukunft? — —
Mutter! Meine liebe tote Mutter, woher plötzlich der Gedanke an dich! Bist du mir nah?
Wenn du es bist, o, so gib mir ein Zeichen von deiner Nähe; sage mir, daß du bei mir bist und mich leitest. —
Ich war dir ein schlechtes, liebloses Kind, ich fühle es.
Gedankenlos ging ich neben dir – gedankenlos und ohne rechtes Verständnis nahm ich dein frühes Scheiden.
Und doch hast du so viel um mich gelitten.
Ach, Mutter, hätte ich dich jetzt, du würdest mir helfen und raten. – Mutter, komm zu mir, ich brauche dich, nie brauchte ich eine liebende Hand nötiger. Ich fühle, etwas Schreckliches steht vor mir und droht, sich auf mich zu stürzen.
Mutter, hilf mir! — — — —
Noch einmal habe ich versucht, zu schlafen, ich kann es nicht. Der Morgen dämmert schon im Osten, und noch fand ich keinen Schlaf. – Auch mein kleiner Freund findet keine Ruhe. Oder ist es nur meine Aufregung, die sich ihm mitteilt?
Sonst liegt er die ganze Nacht still in seinem Körbchen, und jetzt läuft er ruhelos umher und heult zuweilen so seltsam schauerlich. Ich glaube, ich fürchte mich.
Aber wovor?
Ich wünschte, ich wäre anders geartet; wäre gleichgültiger, dann könnte ich ruhig schlafen und säße nicht um vier Uhr morgens am Fenster meines Schlafzimmers und starrte mit brennenden, übernächtigen Augen in den langsam heraufsteigenden Tag. —
Mein Traum, mein Traum; sollte das seine Lösung sein? Stehe ich jetzt vielleicht vor der endlosen Wasserwüste, die mir mein Alles verschlungen hat? —
Ich fürchte, ich bin krank, sonst würde ich mich nicht so entsetzlich ängstigen – um ein Nichts vielleicht.
Mein Mann ist wohl längst wieder gesund, und wenn ich ihm meine Sorgen erzähle, wird er mich schelten, daß ich so wenig Seemannsfrau bin. Ich werde versuchen, noch eine Stunde zu schlafen. — —
Wenn ich oft noch im Zweifel war, ob ich Werner wirklich liebte, so wie man sich Gattenliebe untereinander vorstellt, so sind diese Zweifel jetzt geschwunden.
Wäre es nur Dankbarkeit gewesen, ich würde nicht so um sein Leben zittern.
Werner, Werner, mein Lieb, mein Alles, wo bist du? Wie lange hörte ich nichts von dir! Bist du noch krank? Rufe mich, und ich eile zu dir, um dich zu pflegen, und wenn ich durch Welten von dir getrennt wäre. – Ich muß Gewißheit haben, ich ertrage keine Nacht mehr wie die vergangene. —
Und doch, was kann ein Weib tun in meiner Lage! Was kann sie tun? Ein Telegramm wird mir Erlösung und Gewißheit bringen. —
Nun habe ich Gewißheit. Entsetzliche Gewißheit!
Nun liegt es wieder vor mir, das Leben, unnütz und von niemand gewollt. Was soll ich damit?
Wem frommt es?
Nun er tot ist!
Tot, der einzige Mensch, der mich geliebt, der an mich geglaubt, der mich dem Schlamm entrissen hat.
Ach Mutter, Mutter, warum hast du mich geboren? Wo bist du, um dein Kind zu schützen?
Gib ihn mir wieder, Gott, aus deinem Himmel oder nimm auch mich zu dir!
Ich kann nicht mehr – würde ich doch krank – könnte ich sterben –.
Heute habe ich die Sachen meines Mannes bekommen. —
Gestern kam sein Schiff zurück – ohne ihn – ohne ihn!
Nur die paar armseligen Sachen bezeugen mir, daß er gewesen. —
Ein kleiner Kasten mit seinen intimen, kleinen Sachen: Briefe – sein Taschenbuch – seine Brieftasche – eine Photographie – meine eigene.
Bin ich das wirklich? Dies unschuldige Gesichtchen mit den großen, fragenden Augen? Nein, ich bin es nicht.
Seine Börse, das alte, abgegriffene Ding, von dem er sich nicht trennen mochte. Sonst nichts, nichts!
Kein letzter Gruß, kein Zeichen, daß er mein gedacht in seiner letzten Stunde.
In seinem Taschenbuch nichts. Aufzeichnungen, mir unverständlich. —
Ist das alles? Ist das das Ende? Es ist unmöglich!
Ein Wort, ein letztes Wort!
Laß mich wissen, ob du noch immer in Liebe mein gedacht.
Der Gedanke läßt mich nicht los, foltert mich bis zu körperlicher Pein, daß du freiwillig gingst.
Jene Begegnung im Café – war sie dir so furchtbar?
Konntest du die Verachtung nicht ertragen, die dein Weib traf?
Erbarme dich, du Unbarmherziger da oben, und gib mir Gewißheit. —
Ah, ein Brief!
Ich kann ihn kaum öffnen, so zittern mir die Finger. Ein Brief von ihm, mit zitternder Hand geschrieben:
»Gott schütze Dich, Liebling! Ich fürchte, ich bin sehr krank. – Wenn wir uns nicht wiedersehen sollten? – Lotti, mein süßes Weib, ich habe Dich sehr geliebt. Bleibe gut, wenn ich von Dir gehen sollte. Du bist ein seltenes Geschöpf, laß Dich nicht zerbrechen, laß den Gedanken an mich Dein Leitstern sein, damit Du nicht wieder untergehst. Möchtest Du nicht doch zu Deinen Großeltern gehen? —
Lottchen, Liebling, seit ich erwachsen bin, habe ich nicht oft an meinen Gott gedacht – ich hatte ihn fast vergessen; heut' ist er mir nah, darum bin ich gefaßt. Er wird auch Dich beschützen. Was er tut, ist gut. Ich umarme Dich im Geiste und küsse Deinen süßen, warmen Mund und Deine strahlenden Augen.
Gott schütze Dich!
Dein Werner.«
Ist das das Ende von meinem Paradies? Es ist ja nicht möglich – nicht möglich!
Er kann mich nicht verlassen haben!
Ist all das warme pulsierende Leben tot? Hinweggeweht?
Wo ist es? Wo ist sein lieber Körper? Wo ist das, was von ihm übrig blieb? – Ich will zu ihm. Wenn ich sonst nichts kann, so will ich an seinem Grabe knien und will ihm mein Leid klagen.
Zu ihm, zu ihm! Das soll jetzt meine Aufgabe sein! —
Ich bin matt bis zum Sterben, und doch ist eine Zentnerlast von mir genommen. —
Er ging nicht freiwillig; eine bösartige Mandelentzündung hat ihn dahingerafft. —
Die besten Menschen sterben früh, heißt es. An ihm hat es sich bewahrheitet.
Er war der Besten einer. — —
Ich nehme sein Kopfkissen, so wie ich es bekommen, und lege mein müdes Haupt darauf. Ich will darauf schlafen heute nacht. Vielleicht kommt er zu mir und hält geheime Zwiesprache mit mir.
Ich werde inbrünstig flehen, daß er zu mir kommt.
Ich grabe meinen Kopf in das Kissen, auf welchem er geruht, und denke an ihn und seine große Liebe, und er wird kommen und wird mir raten, wohin ich mein Lebensschifflein steuern soll. – Zur Großmutter gehe ich nicht; weiß ich doch nicht einmal, ob sie noch lebt. — —
Er ist nicht gekommen. All mein Bitten, all mein Flehen war umsonst. Niemand kommt wieder, der in jene geheimnisvollen Fernen ging. —
Ich bin allein mit meinem Gram und meiner Liebe.
Er ist tot, und ich habe ihn verloren.
Ich habe oft darüber gelächelt, wenn ich hörte, daß es Leute gibt, die vermeinen, sich mit ihren toten Lieben in Verbindung setzen zu können, jetzt verstehe ich sie. Auch dieser Wahn ist ein Trost. – Nur zu mir kommt niemand, weder die Mutter noch er.
Und doch wird er unvergessen sein. Er soll leben in meiner Erinnerung und in meinem Herzen.
– Der Tote ist tot und nur der Lebende hat Rechte, sagt man ja wohl. Bei mir soll auch der Tote sein Recht behalten. — —
Ich bin so fremd hier geblieben, und das rächt sich jetzt. Kein Mensch kommt zu mir, niemand sagt mir ein liebes, tröstendes Wort.
In solchen Zeiten merkt man doch, daß es gut ist, wenn der Mensch zum Menschen geht.
Nur vom Kontor kommt ab und zu ein Herr zu mir. Er hat mir auch Werners noch ausstehendes Gehalt gebracht und zudem eine kleine Summe, die jede Witwe beim Tode ihres Mannes von der Gesellschaft erhält.
Ich bin also nicht ganz mittellos, für einige Monate hätte ich zu leben. Aber was dann?
Die Frage wird immer dringender. Das Leben ist brutal in seinen Forderungen.
In meinen Schmerz und in meine Trauer drängt sich gewaltsam die Sorge ums tägliche Brot. —
Als ich heute Herrn Rehm meinen Wunsch andeutete, daß ich so gern nach drüben an das Grab meines Gatten möchte, macht er mir einen Vorschlag, der mir zuerst ganz ungeheuerlich, bei längerem Nachdenken aber gar nicht so übel erscheint.
Er meint, ich solle bei der Kompanie als Stewardeß fahren. —
Ein verlockender Vorschlag.
Ich komme umsonst an das Ziel meiner Wünsche, und wenn es mir auf dem Schiff nicht gefällt, so kann ich zu jeder Zeit wieder abgehen; eine passende Stelle wird sich finden.
Ein unangenehmes Gefühl beschleicht mich zwar, wenn ich an New York denke, doch die Verlockung ist zu groß. Und bin ich jetzt nicht gefeit gegen alles?
Ein Fall wie der im vergangenen Jahre bei meiner Ausreise kann mir nicht wieder passieren. — —
Nur meine Jugend! Werde ich einem so verantwortungsvollen Posten gewachsen sein? — —
Die Würfel sind gefallen. Ich komme auf einen neugebauten Dampfer, der noch im Herbst seine erste Reise macht. —
Nun habe ich wieder alle möglichen neuen Sorgen.
Die Wohnung aufgeben, ein Zimmer mieten, was nicht so leicht sein wird, denn ich will meinen kleinen Pit behalten, und muß mir Leute aussuchen, die gut zu ihm sind.
Er ist so klug; alles versteht er. Und wenn ich ihm erzähle, daß Frauchen ausgehen muß, dann weint er wie ein Kind. Er kuschelt sich in meinem Schoß wie ein Igel zusammen. Es ist doch etwas Lebendes, das ich um mich habe. Hoffentlich finde ich gute Pflege für ihn. Es gibt mir wirklich ein wenig das Gefühl des Gehobenseins, wenn ich mir sage, ich habe für etwas zu sorgen, ich muß Geld verdienen – und wenn es auch nur ein Hund ist.
Nur ein Hund – man sagt das so – und welch ein Trost war er mir! Wenigstens ein Geschöpf, das mich lieb hatte, das mein war und nicht mit unbarmherzigem Forschen nach meiner Vergangenheit fragte.
Oft sind Tiere besser als Menschen.
Eine neue Phase meines Lebens.
Seit drei Tagen bin ich auf der »Nirwana« als Stewardeß. —
Noch kann ich nicht viel sagen, es wäre verfrüht, schon jetzt über irgend etwas urteilen zu wollen.
Der Dienst ist nicht so schwer wie ich gedacht. Kranke Damen bedienen, ihnen etwas zu essen bringen und sonstige intimere Hilfeleistungen, bei denen sie keine männliche Bedienung brauchen können, ab und zu ein Bad fertig machen und den Damensalon in Ordnung halten, das wären so bis jetzt meine Pflichten. Ob noch andere dazu kommen, muß ich abwarten.
Das einfache schwarze Kleid, das ich trage, habe ich durch einen weißen Kragen etwas freundlicher gestalten müssen.
Ich gebe zu, daß das nötig war, man muß doch leicht kenntlich sein zwischen den vielen Passagieren, aber es hat so was Zofenmäßiges an sich, und das mag ich nicht. —
Meine Kollegin, mit der ich die Kabine teile, ist eine ältere Frau, die Witwe eines früheren I. Offiziers der Gesellschaft. Sie hat vier Kinder großzuziehen, und da sie bei dem Tode ihres Mannes vollständig ohne Mittel zurückgeblieben ist, so hat sie die günstige Gelegenheit benutzt. Sie hat recht, was soll eine Frau anfangen, die nichts weiter gelernt hat als einen Haushalt zu führen, wenn sie in eine derartige Situation gerät? Die Beschäftigung hier kommt der häuslichen am nächsten. —
Und von den weißen Häubchen kann man auch eine andere Auffassung haben. Auch Krankenschwestern tragen Häubchen. —
Ja, ja, Frau Marie hat ganz recht, alles hat seine zwei Seiten. —
Alles hat seine zwei Seiten, das merke ich auch im Dienst.
Ich bin in Trauer um meinen Mann, der kaum zehn Wochen tot ist, aber das hält die Männer nicht ab, mich mit begehrlichen Blicken zu verfolgen.
Ich tue doch nun gewiß nichts, um sie zu ermuntern, aber auch gar nichts. Ich war so ruhig, so zufrieden. Mein schwarzes Kleid schien mir Schutz genug zu sein.
Oft muß ich denken, ob ich wohl etwas Besonderes an mir habe, das die Männer reizt? Ich bin doch nicht anders in meinem Auftreten als andere Frauen auch.
Haben die Männer eine besonders feine Nase für gewisse Dinge? Es ist doch beinahe ein Jahr, daß ich aus jener Atmosphäre heraus bin. —
Aber nein, ich brauche keine Angst zu haben, niemand weiß etwas, niemand kann etwas wissen. —
Ich habe meiner Kollegin meine Not geklagt. Sie sagt, das mache meine Jugend und Schönheit. —
Also muß ich wirklich schön sein, wenn sogar die Geschlechtsgenossinnen es unumwunden zugeben.
Ich könnte stolz darauf sein, denn Schönheit ist bekanntlich die größte Macht eines Weibes. Aber Schönheit ist auch eine Gefahr, und für mich war sie die letztere. —
Gewiß, wer klug ist und seine Waffen und Mittel zu gebrauchen versteht, aber ich war bislang eben nicht klug. – Doch werde ich mir jetzt Mühe geben, es zu sein.
Ich bin jetzt alt genug, habe genug durchgemacht, und wenn ich wirklich noch etwas Gutes und Nützliches aus meinem Leben zimmern will, so ist es Zeit. —
Ich muß für mich selbst denken und handeln, ich muß das Andenken meines Mannes ehren.
Mittwoch sind wir in New York, an seinem Grabe werde ich beten. Nicht zu Gott, dem Unsichtbaren, der mich bisher immer verlassen, nein, zu ihm, zu Werner, zu meinem Retter. — —
Gestern war ich endlich bei ihm.
Sie haben ihn schön gebettet, und noch waren die Schleifen und Kränze nicht zerstört, die man ihm von allen Seiten dargebracht hatte.
Lange habe ich an seinem Grabe gekniet und leise Zwiesprache mit ihm gehalten. Er hat mich gehört und verstanden.
Mir war ganz anders zu Sinn, so froh, so voller Zuversicht ging ich auf den Weg.
Er wird mir beistehen, sein Geist wird um mich sein. — —
Wir haben nicht viel Passagiere, ich bin also nicht sehr beschäftigt. Ich bin froh, daß die Tage in New York vorüber sind, ich hatte doch immer noch etwas Furcht, obgleich es ja Unsinn ist. —
Und wenn mich wirklich jemand erkannt hätte, was wollten sie mir tun? Überhaupt, wo drüben die Frauen so viel Rechte haben – das heißt – wenn sie frei sind und Gebrauch davon machen können; denn ich habe damals sehr wenig davon bemerkt. —
Ich habe mich schon ganz nett eingearbeitet. Der Kapitän ist ein vornehmer alter Herr, der mir immer sehr freundlich zunickt, wenn er mir mal begegnet.
Auch der Obersteward, mein direkter Vorgesetzter, ist ganz nett. Sie haben alle Mitleid mit mir, weil ich nach so kurzer Ehe und so jung schon auf mich selbst angewiesen bin.
Überhaupt finde ich, die Männer können unter Umständen ganz nett sein, wenn sie nur nicht immer gleich das Weibchen in der Frau suchen würden. — —
Unter den Passagieren ist ein Rechtsanwalt aus Patterson; schon am dritten Tage machte er mir einen regelrechten Heiratsantrag. Er will meinetwegen wieder mit der »Nirwana« zurück, dann will er mich auf einen Tag abholen, will mir sein Haus zeigen usw. Ich sage zu allem ja. Er kann lange warten; lieber gehe ich nach der Reise gar nicht an Land. —
Gebranntes Kind scheut's Feuer. —
Auf Steuerbordseite in Nr. 65 wohnt ein berühmter Sänger mit seiner Frau. Er ist in Amerika auf einer Gastspieltournee gewesen.
Gestern hatten wir etwas hohe See, da war seine Frau krank, und ich mußte verschiedene Male zu ihr ins Zimmer.
Gegen Abend traf ich auch den berühmten Mann. Er war sehr freundlich und sagte dann zu seiner Frau: ich sei viel zu schade für dieses Leben hier, ob ich kein Talent hätte, um zur Bühne zu gehen. Ich hätte eine wundervolle elegante Figur und sei sehr schön. —
Seine Frau schalt ihn aus und sagte, er solle mir keine Dummheiten in den Kopf setzen. —
Eifersüchtig scheint sie aber nicht zu sein.
Sie hat mich dann gefragt, wie es komme, daß ich so jung schon einen solchen Platz einnehme, da habe ich ihr von meiner kurzen Ehe und von meinem Verlust erzählt; das, was vorherging, habe ich verschwiegen.
Sie sagte, ich sei sehr tapfer. Ob ich gar keine Angehörigen mehr habe? Ich sagte: Nein.
Wozu soll ich mehr sagen? Ich muß lernen, Herz und Zunge im Zaume zu halten. — —
Ich habe mir in der Bibliothek etwas zu lesen geholt. Die Abende sind so lang, wenn man nicht genug zu tun hat, und für Handarbeiten war ich nie.
Es ist ein englisches Buch und heißt: Wenn die Liebe stirbt.
Eigentlich schrecklich, dieses langsame gegenseitige Erkalten zwischen zwei Menschen, die sich einst so heiß geliebt.
Ist das immer so? Und muß das sein?
Dann müßte ich ja glücklich sein, daß Werner von mir gegangen ist. Unsere Liebe war neu, groß, noch täglich im Wachsen.
Sie war wie ein Sonnenaufgang.
Zuerst war ich noch furchtsam und glaubte nicht an mein Glück, bis es dann strahlend wie das Sonnenwunder vor mir stand.
Aber doch – etwas länger hätte es schon währen dürfen. — —
Wieder zu Hause. Ich habe mich so über meinen kleinen Pit gefreut, daß ich wohl geweint habe. Wie war das Tier glücklich! Es konnte mir gar nicht genug seine Freude und Liebe zeigen; den ganzen Abend ist es nicht von meinem Schoß gegangen. Und fein war Pit! Frau Meyer hatte ihm extra ein blaues Schleifchen umgebunden. — —
Ich könnte nun eigentlich ganz zufrieden sein; verdient habe ich auch ganz schön – aber trotzdem, bleiben werde ich nicht in dieser Stellung. Ich betrachte sie nur als Übergang.
Ich werde mir etwas Geld sparen, da ich meine Kost an Bord habe, brauche ich ja wenig, und ich will mich offenen Auges umsehen, um vor allen Dingen einige Bekanntschaften zu machen. —
Wenn ich mit einer älteren Dame aus der ersten Kajüte gehen könnte, wäre es das beste.
Ich muß doch wieder drüben bleiben, so böse mir auch das erste Mal die Neue Welt mitgespielt hat. Nur drüben ist die Möglichkeit für mich, hoch zu kommen.
Man wird doch nicht so sehr nach dem Woher und Wohin gefragt wie in Deutschland. —
Weihnacht auf See.
Es war wunderschön. In jedem Salon war ein Baum auch im Zwischendeck und in den Mannschaftsräumen.
Im ersten Salon ging der Baum bis hinauf durch das große Skylight.
Die Musik spielte überall den Weihnachtschoral, der Kapitän hielt eine kleine Ansprache, es war wirklich wunderschön.
Ich habe natürlich geweint, ganz furchtbar, ich mußte der beiden vergangenen Weihnachten gedenken. —
Als alles vorüber war, habe ich mir ein Tuch umgeworfen und bin noch für einige Augenblicke auf Deck gegangen.
Die Nacht war kalt und klar. Kein Wind und kein Schnee, hoch und rein wölbte sich der Himmel über der unendlichen Weite. —
Es sind meine schönsten Augenblicke, die ich mir auch beim schlechtesten Wetter nicht nehmen lasse.
Auf dem Bootsdeck ist ein wunderschönes Plätzchen zwischen dem Maschinenskylight und dem Rauchzimmer. Hier ist es stets geschützt, auch bei dem schlechtesten Wetter.
Hier kann ich Ich sein. Hier auf diesem stillen Plätzchen, um mich die Unendlichkeit, läßt es sich träumen. Mir ist dann, als ob meine Seele Schwingen bekäme und über die Wellen eilte, um gleichgestimmte Genossen zu suchen. —
Wenn schlechtes Wetter ist, schlinge ich den Arm um den eisernen Pfeiler und lasse mich von den Wellen hin und her wiegen.
Es ist ein Gefühl des Gehobenseins in mir. Losgelöst von aller Erdenschwere schwebe ich mit meiner Seele über die unendlichen Weiten. —
Heut' ist niemand auf den Decks. Was noch nicht schläft, sitzt in den Rauchzimmern und feiert Weihnachten. — —
Auch ich feiere Weihnacht – heimlich und still mit meinem Liebsten. Ob er wohl um mich ist heute? Und du, Mutter?
Ob die abgeschiedenen Seelen sich begegnen im unendlichen Raum?
Dann müßten jene beiden, die mir die liebsten waren auf dieser Welt, zusammen sein. —
Ich muß so viel an das denken, was hinter jenem undurchdringlichen Vorhang liegt, seit er von mir ging. Und doch werde ich auch mit all meinem Grübeln nichts erforschen.
Ist es nicht, als ob jemand auf mich zuschritte, als ob eine strahlende Gestalt auf dem hellen Streif stünde, der über dem Wasser liegt? – Und der Geist Gottes schwebte über den Wassern. Kinderglaube – du bist so tröstlich. —
Ich bin müde, so müde! Ich will schlafen gehen. —
Ich weiß nicht – ich war immer so gesund und stark. Hunger und Schlaf verließen mich auch in den schlimmsten Lagen meines Lebens nicht, und nun? Ich grüble und habe schlaflose Nächte.
Was ist mit mir?
Wir haben diese Reise einen Pfarrer an Bord, einen behäbigen Herrn in mittleren Jahren.
Leider widmet er meiner Person mehr Aufmerksamkeit als mir lieb ist. Er scheint zu glauben, daß die Pflichten einer Stewardeß, noch dazu wenn sie jung und hübsch ist, sich auch auf ein anderes Gebiet erstrecken.
Er ist strenger Temperenzler – nur Champagner trinkt er ziemlich viel – because the Doctor says so.
Gestern abend ist er mir auf Deck gefolgt und hat mir einen kleinen Vortrag über seine Gesundheit gehalten, und was ihm außer dem Champagner der Arzt noch verordnet hat.
Dann lud er mich zu einem Glase Sekt ein. Ich lehnte ab, auch sein anderes Angebot mußte ich leider ablehnen.
Ich fühlte ganz und gar kein Bedürfnis, bei dem geistlichen Herrn als Medizin zu fungieren. —
Aber natürlich ist mir mein Erholungsplätzchen für diese Reise verleidet. —
Wir legen auf – vielmehr das Schiff legt auf —: vier Wochen. Ich könnte mich eigentlich auch ein wenig freuen und im Grunde meines Herzens tue ich es wirklich, denn es ist doch ganz schön, wenn man wieder einmal ganz sich selbst gehört, nur wird diese Auflegezeit wieder ein kleines Loch in meine Ersparnisse reißen.
Ein paar hundert Mark habe ich doch schon zusammen, zum Drübenbleiben langt es aber noch nicht. Und die Gelegenheit, mit einer Dame zu gehen, hat sich noch nicht geboten. —
Ich werde in diesen Wochen allerlei ordnen. Vor allen Dingen muß ich Werners Sachen einmal gut durchsehen. Ich muß mich über mich selbst wundern, daß ich so ruhig sein kann bei diesem Gedanken. Vor einigen Monaten hätte ich nichts anrühren können ohne vor Schmerz zu vergehen. Und nun! Sein liebes Bild rückt in immer weitere Fernen.
Die Zeit ist doch die beste Trösterin. Nie hätte ich geglaubt, als ich mein Haupt verzweiflungsvoll in sein Kissen grub, daß ich einmal wieder so ruhig an ihn denken könnte.
Oder bin ich gar nicht fähig, die rechte Liebe zu empfinden und Treue zu halten? Bald werde ich an mir selbst irre.
Ist ein Weib wirklich ein so sonderbares, unergründliches Geschöpf, wie die Buddhisten sagen?
Sind andere Frauen besser oder sind sie nur klüger?
Es ist totenstill im Hause. Die Wirtsleute sind aus, und ich bin ganz allein. Pit liegt auf meinem Schoß, und ich freue mich der Nähe des kleinen, warmen Geschöpfes.
Soeben las ich in einem französischen Buche den Satz: Glücklich sein ist eine Kunst. – Eine Kunst? Ich habe geglaubt, es sei ein Geschenk der Götter.
Ich bin leider kein Liebling der Götter! — —
Ich werde aufatmen, wenn die Auflegezeit vorüber ist. Ich bin nicht geschaffen für ein stilles, ruhiges Leben ohne Zweck und Ziel. —
Als Werner noch lebte, drehte sich alles um ihn. Was ich tat, tat ich für ihn und freute mich immer, wenn alles recht schön bei seiner Heimkehr war.
Jetzt hab' ich niemand, für den ich sorge, nur meinen kleinen, süßen Pit, und der braucht so wenig.
Wieder auf der Fahrt. Ich bin froh, daß die einsamen Tage vorüber sind. Es geht auf das Frühjahr zu, und wie alle an Bord sagen, gibt es nun bald viel zu tun. Schon mit dieser Reise beginnt der Passagierandrang von drüben.
Mir ist es recht. Denn erstens habe ich dann keine Zeit zum Grübeln, und die Unruhe in mir wird durch die Arbeit zum Schweigen gebracht, und zweitens verdiene ich hoffentlich bald recht viel Geld und komme meinem Ziele immer näher. — —
Seit Tagen fühle ich mich nicht recht wohl. Es ist eine Hitze im Schiff zum Ersticken, an Schlaf ist kaum zu denken.
Dazu diese Unruhe in mir! Ich fühle mich so unsicher, eine unbestimmte Sehnsucht quält mich, wonach? — — —
Ich will meinen Schlafrock überwerfen, um noch ein Stündchen auf Deck zu gehen. — —
Das hilft immer. Es ist etwas Großes um diese unendliche Einsamkeit. Nur das Stampfen der mächtigen Riesen im Innern des Schiffes stört. Wie schön muß es auf einem Segler sein!
Ich bin in einer schrecklichen Stimmung in diesen Tagen.
Unzufriedenheit, Mitleid mit mir selbst und ein unbestimmtes Sehnen liegen mir wie eine Krankheit in den Gliedern.
Und habe ich nicht recht, Mitleid mit mir zu haben? Ist es nicht wirklich etwas Bedauernswertes, so ein einsames, verlassenes, junges Geschöpf, wie ich es bin?!
Ein wenig Liebe, ein wenig Güte und Selbstlosigkeit würden mir gut tun, aber wo sie finden?
Man sagt: die Jugend ist nur glücklich in der Erwartung all des Großen und Schönen, was das Leben bringen soll, und das Alter ist glücklich, daß alles vorüber ist. —
Ich habe nicht bemerkt, daß ich jung war, soll ich mir wünschen, alt zu sein? — —
Ich habe eine neue Bekanntschaft gemacht.
Ein Deutschamerikaner, der zu Besuch nach der alten Heimat geht. Vom ersten Tage an habe ich bemerkt, daß er nach mir sah, wenn ich über Deck oder durch den Salon ging.
Schon zu verschiedenen Malen hat er versucht, mit mir zu sprechen. Seine Augen hängen voll unverhohlener Bewunderung an meinem Gesicht. Wenn er jetzt wieder mit mir anfängt, werde ich ihn fragen, warum er ohne seine Frau reist.
Ich muß auf der Hut sein, nicht noch einmal darf ich das Recht zu Selbstvorwürfen haben. —
Mr. Siegel ist nicht verheiratet. Ich habe ihn gefragt, als er heute mit mir zu sprechen anfing.
Ich glaube, er hatte mich abgefangen, als ich von der alten Frau Fletcher kam. Sie ist so krank, daß sie gar nicht aus dem Bett kann, ich muß sie nun immer für die Nacht fertig machen und tue das meist so gegen neun Uhr. —
Als ich nun vorhin von der alten Dame kam, stand Mr. Siegel vor dem Salon und wartete.
Er fragte sofort, warum ich ihm aus dem Wege gehe.
Er scheint ziemlich gerade auf sein Ziel los zu steuern.
Ich sagte ihm, daß ich mich nicht entsinnen könne, ihm aus dem Wege gegangen zu sein, ich wüßte aber auch nicht, daß es zu meinen Pflichten gehöre, mich mit den Herren zu beschäftigen. — —
»Sie wissen ganz genau, was ich von Ihnen will. Sie wissen, daß ich Sie suche vom ersten Tage an. Sie müßten kein Weib sein, wenn Sie das nicht bemerkt hätten.«
»Und wenn ich es bemerkt hätte? Was dann?«
»Dann müssen Sie einen Grund haben, mir auszuweichen. Bin ich Ihnen unsympathisch?«
»Das weiß ich nicht! Darüber nachzudenken hatte ich keine Gelegenheit. Im übrigen kann es Ihnen ja auch gleichgültig sein, ob ich Sie gern oder weniger gern mag. In einigen Tagen sind wir in Europa, dann gehen Sie fort und denken nicht mehr an uns hier. Und für uns kommen andere Passagiere, so daß auch wir nicht mehr lange über die Fortgegangenen nachdenken können.«
»Ich werde aber an Sie denken! Und damit auch Sie mich nicht so rasch vergessen, gebe ich Ihnen hier ein kleines Andenken. In zwei Monaten komme ich zurück, ich hatte eigentlich schon einen Platz auf dem »Moltke« belegt, aber das mache ich sofort rückgängig. Ich fahre wieder mit diesem Dampfer.«
»Das wird wahrscheinlich nichts werden; wir sind ausverkauft bis zum Herbst hinein.«
»Das ist mir einerlei, und wenn ich im Rauchzimmer auf dem Sofa schlafen soll, ich komme schon mit.«
Es kamen Passagiere, und ich lief durch den Salon, unwillkürlich das lange, flache Kästchen, das Mr. Siegel mir in die Hand gedrückt hatte, unter der Schürze verbergend.
Ich lief in mein Zimmer; ich war neugierig, was es war.
Eine wunderhübsche kleine Tasche aus rötlichem Leder mit altsilbernen Beschlägen – so wie sie die Damen in Amerika statt des Portemonnaies tragen, war in dem Kasten. Wunderhübsch! Ja, aber – warum habe ich es angenommen? Ich darf das Ding doch nicht behalten, auf keinen Fall! Und wie kommt dieser Mensch dazu, mir ein solches Geschenk zu machen? Ob er die Tasche an Bord gekauft hat? Oder drüben?
Einerlei, was geht es mich an. Sofort morgen früh werde ich mich erkundigen, wo er wohnt, und werde ihm die Tasche durch seinen Zimmersteward wieder zurückgeben lassen.
Schade! Sie ist reizend! — — — —
Ich war noch ein Stündchen auf Deck. Ach, es ist wundervoll.
Allein mit der Natur! Gibt es etwas Erfrischenderes als diese herbe, kräftige Seeluft? Wenn man barhäuptig dasteht und sich anblasen läßt?
Ich fühle mich dann wie ein Mann, stark, kräftig, unternehmungslustig. Ach ja, ein Mann! Ich möchte ein Mann sein. Ein Seemann!
Fechten mit Sturm und Wetter. Die Kräfte messen an den Aufgaben, die Natur und Technik uns stellt. —
Aber ich bin nur ein Weib – ein schwaches Weib – wie man sagt.
Warum sind wir schwächer als die Männer?
Und sind wir es denn wirklich?
Könnte ich nicht ebensogut mit Ölrock und Südwester da oben stehen, wie der vierte Offizier, dieser kleine dicke Junge, der aussieht wie ein recht gut gefüttertes Muttersöhnchen?
Aber nein, ich bin ein Mädchen, ich muß recht schön hier unten bleiben, muß zufrieden sein, wenn ein Mann sich herbeiläßt, mir seine Aufmerksamkeit zu schenken. —
Der Teufel hole sie alle! Was will nun dieser Siegel wieder von mir? Warum stört er meine Ruhe?
Ich könnte ihn schon leiden, er ist ein rechter Mann. —
Ein offenes, schönes Auge, kurzes, starkes Haar und einen wunderhübschen Mund, eigentlich viel zu schön für einen Mann.
Auch seine ganze Art und Weise gefällt mir.
Wie alt er wohl sein mag? Nicht mehr sehr jung. Fünf-, sechsunddreißig? Viel zu alt für mich mit meinen achtzehn Jahren. – Lotte, Lotte, wohin verirrst du dich! Geh schlafen, dann vergehen dir die dummen Gedanken. — —
Der Steward hat mir die Tasche wiedergebracht, Mr. Siegel kenne sie nicht; es sei wohl ein Irrtum. —
Nun liegt sie wieder in meiner Koje. Was mache ich damit? Ich kann das hübsche Ding doch nicht einfach über Bord werfen! Der Mann zwingt mich wirklich dazu, an ihn zu denken. —
Morgen kommen wir an. Mr. Siegel hat mich diese Tage nicht wieder angesprochen, nur heute abend war er mir auf Deck gefolgt.
Er muß doch also gewußt haben, daß ich abends immer noch nach oben gehe. Nett von ihm, daß er mich bis jetzt nicht gestört hat. Er will allen Ernstes mit uns zurück und hofft, daß ich dann etwas liebenswürdiger zu ihm bin.
Ich habe ihm gesagt, daß ich niemals anders zu ihm sein würde. Überhaupt solle er mich in Ruhe lassen. Die Männer seien alle schlecht, er auch – gewiß, er auch! —
»Liebes Kind, wer sagt Ihnen, daß die Männer so schlecht sind? Haben Sie so früh schon böse Erfahrungen gemacht?«
Ich antwortete nicht. Ich wurde ganz verlegen – – wenn er wüßte – –!
»Ich habe gehört, daß Ihnen Ihr Mann nach kurzer Ehe gestorben ist. War er nicht gut zu Ihnen? Undenkbar!«
»Oh, mein Mann!« rief ich, und stockte, in diesem Ausruf lag schon viel zu viel. —
»Ich will Ihnen jetzt Lebewohl sagen,« fuhr Mr. Siegel fort. »Lebewohl und auf Wiedersehen. Denn ich werde Sie wiedersehen. Und versuchen Sie einstweilen, ohne Vorurteil an mich zu denken. Ich war bis jetzt noch nie schlecht gegen eine Frau. – Ich hatte keine Zeit, mich mit ihnen zu beschäftigen, weder im Guten noch im Bösen. Jetzt habe ich Zeit, da dürfen Sie es mir nicht verdenken, wenn ich mich freue, daß mir ein solches Prachtexemplar in die Hände läuft. Doch nun Adio. Auf Wiedersehen in acht Wochen.«
Er gab mir nicht die Hand, er zog nur seinen Hut und blieb stehen, bis ich die Treppe zum Bootsdeck hinauf war. —
Zwei Stunden später.
Ich kann wieder mal nicht schlafen. Ich liege und simuliere und grüble, bis mir die Schläfen hämmern.
Diese Männer! Warum beunruhigt mich nur das alles? Was will er von mir?
Welche Frage! Was sie alle von uns wollen. Außer ihm, außer Werner.
Schütze du mich, Liebster, schütze mich vor mir selbst, vor meinen eigenen, jungen, sehnsüchtigen Gedanken. --
Herrn Siegel habe ich nicht mehr gesehen bei der Ankunft. Es war solch ein Trubel. Die Empfangs- und Zollhalle ist viel zu klein bei so vielen Passagieren.
Ein prachtvoller Rosenstrauß wurde mir heute früh von einem Gärtnerburschen gebracht.
Nur eine Karte war dabei. »C. W. Siegel« – sonst nichts.
Herr Siegel sorgt also dafür, daß ich ihn nicht vergesse. —
Mein kleiner Pit freut sich immer, wenn ich komme. Es ist merkwürdig, wie anhänglich so ein Tier ist.
Es ist für mich ein Trost, doch etwas zu haben, was mir ganz und gar gehört; ich möchte mich nie von ihm trennen, ist es doch auch noch ein Stück Erinnerung an mein kurzes Eheglück. —
Seit drei Tagen sind wir wieder auf See.
Ich habe diesesmal ein kleines, dreijähriges Mädchen in meinem Zimmer, ein reizendes, kleines Ding.
Die Mutter ist in New York und erwartet dort ihren Liebling.
Eine ältere Dame brachte das Kind in Southampton an Bord. Ich habe sehr viel zu tun, jede freie Minute muß ich dem Kinde widmen. Es ist nur gut, daß wir nach drüben zu jetzt nicht so viel Passagiere haben, so bleibt mir doch etwas mehr Zeit für die Kleine. —
Tagsüber setze ich die Kleine oft ein Stündchen in den Damensalon. Die Damen beschäftigen sich dann alle gern ein wenig mit ihr, und ich kann in dieser Zeit etwas anderes erledigen. Auch ein Herr ist zwischen den Passagieren, der sich oft eine ganze Weile mit dem Kinde beschäftigt.
So nett und lieb spielt er mit ihm, wie ich es einem Manne gar nicht zugetraut hätte. Heute Nachmittag habe ich ihm eine Zeitlang zugesehen, ohne daß er mich bemerkte. —
Mir kam Werner in den Sinn. Wie schön, wenn mir dieses Glück beschieden gewesen wäre. —
Vorbei – für mich scheint kein ruhiges Glück im Schoße der Zeit zu harren. —
Heute morgen um zehn Uhr waren wir bei Sandy Hook Feuerschiff und sollten schon gegen zwölf Uhr am Pier in Hoboken sein.
Aber es wurde nachmittags zwei Uhr, ehe wir anlegten. Wie auf Bestellung kam ein Nebel, dick wie ein Londoner Novembernebel.
Wir mußten warten, bis es sich wenigstens ein klein wenig aufgeklärt hatte, um durch die hier stets massenhaft aus- und einfahrenden Schiffe durchzukommen.
Schrecklich ist so eine Verzögerung. Die Passagiere stellen sich dann an, als wäre der Kapitän und die ganze Schiffsbesatzung für das Wetter verantwortlich, und sie verlören durch die kleine Verzögerung mindestens ein halbes Vermögen.
Unangenehm ist das Warten ja, aber am unangenehmsten doch für die am Pier stehenden Angehörigen. Diesesmal speziell für die in Angst und Sorge wartende Mutter der kleinen Elsie.
Sie stand unten, als das Schiff anlegte. Ich hatte das Kind auf dem Arm und lehnte mich an die Reeling. Durch ihr heftiges Winken wurde ich aufmerksam und zeigte der Kleinen die Mutter, doch das Kind schien sie nicht mehr zu kennen.
Der Steg war noch nicht fest, da versuchte die Mutter als erste heraufzulaufen; man hielt sie fest. Der erste Offizier, der am Fallreep stand, hatte Mitleid mit der Ärmsten und holte sie herauf.
Nie werde ich den Schrei vergessen, mit dem sie auf mich zustürzte. Sie wollte mir das Kind aus dem Arm nehmen, brach aber buchstäblich vor meinen Füßen zusammen. —
O, Mutterliebe, du rätselvolles Heiligtum, wirst du auch mir noch aufgehen? — —
Den Bemühungen des Arztes gelang es bald, die junge Frau zur Besinnung zu bringen. Sie saß dann noch ein Stündchen im Damensalon, ihr kleines Mädchen neben sich, und freute sich, es glücklich hier zu haben.
Sie wußte gar nicht, wie sie mir danken sollte, daß ich ihr ihren Liebling gebracht.
Als sie fortging, wollte sie mir etwas geben – Geld – ich habe es nicht genommen. So gern ich Geld verdiene, hier war es mir unmöglich, etwas zu nehmen. Die Frau sah überdies nicht danach aus, als ob sie mit Glücksgütern allzu reichlich gesegnet sei. —
Sie will mich in den nächsten Tagen noch einmal besuchen. Darauf freue ich mich.
Mr. Siegel hatte ich ganz vergessen über meinem kleinen Passagier. Heute wurde ich wieder an ihn erinnert.
Ein Korb wundervoller Rosen wurde für mich abgegeben. Alle tiefdunkelrot. – Der Brief, der die Bestellung enthalten hat, muß mit uns gegangen sein.
Es ist doch wirklich zu reizend von ihm! Aber – Vorsicht! War nicht Herbert Smith auch sehr aufmerksam?
Wir sind in Amerika, im Lande der Freiheit!
Man hüte sich also!
Wir haben noch mehr Passagiere auf der Rückfahrt als wir erwartet hatten. Alles drängt aus diesem Fegefeuer fort. Uns wird es schon die paar Tage zu viel.
Im Pier ist aber die Hitze auch zeitweise unerträglich.
Kein Luftzug, dazu nachts diese hochbeinigen Plagegeister, die Moskitos. —
Am Tage vor der Abfahrt war ein Kohlenzieher an Land gewesen und hatte des Guten etwas zuviel getan; in seinem Dusel legt er sich zwischen die Warenballen im Pier und schläft ein.
Am andern Morgen konnte er nicht aus den Augen sehen, so zerstochen war er. Sein Gesicht sah aus wie eine riesige Melone. —
Bald sind wir wieder daheim. —
Ich bin wirklich begierig, ob mich auch da wieder ein blühender Gruß erwartet. Es würde mir etwas fehlen, wenn dem nicht so wäre..........
Dieser Mann kennt die Frauen, obgleich er sagt, daß er bis jetzt noch keine Zeit für sie gehabt habe. —
Ich kann mich gar nicht mehr darauf besinnen, was er für Augen hat. In den Augen liegt das Herz........
Ich bin eine zu schlechte Menschenkennerin, da wird es mir wohl mit den Augen ebenso gehen. —
Wir haben nichts Besonderes an Bord diese Reise. Nach und nach habe ich mich auch schon so eingelebt, daß ich gar nicht mehr nach dem Einzelnen hinsehe.
Irgend etwas passiert ja jede Reise. Auch nette Damen, die den Herren gern gefällig sind, gibt es fast immer dabei, man wird als Stewardeß doch so manches gewahr. —
Ich bin ja nun auch nicht mehr so dumm. —
Diesesmal ist in Nr. 42 eine Jüdin, ein schönes, üppiges Weib, ich möchte darauf wetten, daß der Geigenvirtuose aus Nr. 10 nicht nur zu einer Tasse Tee zu ihr geht, wenn er abends um zehn Uhr immer so rasch ins Zimmer schlüpft. — —
Morgen sind wir da. Ich bin ganz unruhig vor lauter Erwartung, ob ein duftender Gruß da ist.
Dieser böse Mensch bringt mit seinen Rosen meine ganze, mühsam erzwungene Ruhe wieder in Aufruhr.
Was er wohl ist? Ob er ein Geschäft hat? Oder vielleicht Farmer? Das wäre schön! Ich mochte immer gern auf dem Lande sein, nur einmal hatte ich Sehnsucht nach der Stadt. —
Aber was fällt mir denn ein! Ich glaube, ich träume wachenden Auges. Was geht es mich an, was dieser Mann ist?
Aber seine Rosen sind doch schön.
Rote Rosen! Rot wie Rubinen oder wie Blutstropfen, die aus dem Herzen eines liebenden Weibes strömen.
Gleich bei meiner Ankunft wurde mir ein Korb gebracht.
Ich war ordentlich zufrieden als sie ankamen. Als ob ich ein Recht darauf hätte.
Das Herz ist ein sonderbares Ding, die besten Vorsätze wirft es über den Haufen. —
Ich will noch bis Oktober fahren, dann bleibe ich drüben. —
Ich werde auf dieser Reise einmal zu den Pfarrersleuten gehen in der II. Avenue; die sind lange im Lande, über dreißig Jahre, die werden mir gewiß raten.
Bis jetzt war ich noch nicht ein einziges Mal in New York; es war mir immer noch etwas unbehaglich bei dem Gedanken. Nur Hoboken und der Kirchhof auf dem Berge, das waren meine Ausgehziele.
Nach Werners Grab mochte ich die letzte Zeit gar nicht. Ich hatte ein schlechtes Gewissen. – Ich habe immer das Gefühl, als ob Werner es wissen müßte, daß ich ihm untreu war, wenn auch nur in Gedanken. Doch wenn er es weiß und als verklärter Geist oder als Astralkörper um mich ist, dann wird er auch mein Inneres kennen, wird die Leidenschaften und Triebe verstehen, die die Natur in mich gelegt – und mir verzeihen. —
Der Rechtsanwalt ist diese Reise wieder hier.
Er kam gleich auf mich zu, als die Passagiere ankamen, und schien sich wirklich zu freuen.
Es kann ja sein, daß er ein ganz guter Mensch ist und absolut nichts Böses mit mir im Sinne hat, aber nach meiner schlimmen Erfahrung von damals sehe ich beinahe in jedem männlichen Wesen einen Schuft. —
Wir haben auch schon wieder allerlei Passagiere nach drüben zu, da die Heimkehr der Vergnügungsreisenden bereits wieder einsetzt. —
Abends elf Uhr.
Ich habe wieder einmal ein Stündchen auf meinem Lieblingsplätzchen gesessen. Wir haben so wunderbar schönes, klares Wetter, daß man meint, die hellen, leichten Wölkchen, die da und dort eilend am Himmel hinziehen, wären von der Hand eines gottbegnadeten Künstlers auf diesen durchsichtigen Hintergrund gemalt.
Mit sehnsüchtigen Blicken folgen ihnen meine Augen.
Was drängt und treibt in meiner Brust? Wo liegt für mich die Zukunft? Die Zukunft und das Glück?
Wenn ich nur nicht mehr so gar jung wäre! Wie ruhig und zufrieden ist meine Kollegin, sie freut sich, wenn sie so viel verdient, daß sie gut für ihre Kinder sorgen kann, weiter gehen ihre Wünsche nicht. Wäre ich wenigstens vierzig Jahre alt. Vierzig Jahre! Eine lange Wegstrecke liegt vor mir bis dahin. Werde ich sie allein zurücklegen oder –?
Die Luft ist klar und rein, ich aber stehe wie in einem dicken, undurchdringlichen Nebel.
Was verbirgt er vor mir? —
Geh schlafen, Lotte, geh schlafen! Was hilft dein Grübeln über Jugend und Alter, solange noch das Blut heiß und verlangend durch die Adern pulst.
Ach, es ist schwer, den ruhig abgemessenen Schritt der reiferen Jahre zu wandern. — —
Mr. Turner, der Rechtsanwalt, bat mich heute, ihm einen Tag zu bestimmen, an dem ich mit ihm ausgehen wolle.
Ich habe ihm gesagt, ich ginge nicht mit fremden Herren spazieren.
Er machte mir darauf den Vorschlag, noch jemand von Bord mitzunehmen, falls ich nicht mit ihm allein gehen wolle.
Wir sollten bei ihm zu Mittag essen und Nachmittags würden wir eine schöne Ausfahrt machen, in den Centralpark oder nach Coney Island hinüber. Da hätte ich nun wirklich Lust. Von Coney Island habe ich schon so viel gehört. – Aber wen soll ich mitnehmen?
Ich muß mal mit meiner Kollegin sprechen. —
Gestern abend hatten wir ein tragikomisches Erlebnis in der zweiten Kajüte. Im zweiten Salon war Konzert; ich ging über den Vorplatz, um noch einige Minuten auf Deck zu gehen; da wurde gerade der Brautchor aus Lohengrin gespielt.
Ich blieb an der Treppe stehen und hörte zu. Da kam eine Dame aus dem Salon und verwickelte mich in ein Gespräch; wir setzten uns auf das Sofa und plauderten immer weiter.
Im Salon wurde mittlerweile ein Gassenhauer oder so etwas Ähnliches gespielt, bei dem die Musiker mitsangen. Am Schluß kam immer der Refrain: Aujust, sollst mal runter kommen! Aujust! Aujust! —
Neben dem Salon am Fuße der Treppe liegt auf der Backbordseite die Herrentoilette. —
In dem Augenblick als im Salon das Singen aufhörte, flog die Tür zur Toilette auf; der Rechtsanwalt, notdürftig sein Beinkleid mit den Händen haltend, stürzt angsterfüllt einige Stufen die Treppe herauf auf uns zu und stammelt: »Feuer? Feuer im Schiff?« Dann brach er zusammen.
Im ersten Augenblick verstand ich nicht, was los war, dann begriff ich den Zusammenhang. —
Aujust – Feuer. So hatte er mißverstanden.
Der arme Kerl, er schämte sich hernach seiner Furcht, und am andern Tage war er ganz krank, er hatte einen richtigen Nervenchock gehabt. Der Vorfall kam auch vor den Kapitän, und in Zukunft dürfen solche Sachen nicht mehr gespielt werden. Obgleich die Passagiere, wenn sie in Stimmung sind, immer gerade diesen Blödsinn haben wollen. — —
Mr. Turner ist wieder wohlauf. Zuerst schien es ihm ein wenig peinlich zu sein, daß ich ihn in dieser Verfassung gesehen, aber am zweiten Tage hatte er sein ganzes Selbstbewußtsein wiedergefunden. Er läßt nicht nach mit Bitten, einen Tag mit ihm auszugehen. —
Frau Martens, meine Kollegin, will mich begleiten, und außerdem will unser Kapellmeister, der ein Landsmann von Frau Martens ist, auch noch mit.
Er sagte zwar zu mir: »Wenn der Mensch etwas Böses im Schilde führt, nützt unsere Begleitung auch nichts. Wenn er mit Ihnen allein sein will, braucht er bloß einen Schutzmann anzurufen und ihm zu sagen, daß wir ihn belästigen, und sofort werden wir beide mitgenommen. Der Rechtsanwalt gibt seine Adresse an, und der ehrenwerte Hüter des Gesetzes weiß, daß er am anderen Tage ein schönes Geschäft macht. —
Uns beide lassen sie nach einigen Stunden laufen, sie haben sich dann eben geirrt.« —
Ja, ja, in Amerika wird alles gemacht. — —
Wir gehen doch! Der Kapellmeister ist schon öfter in Coney Island gewesen und sagt, es sei sehr interessant. Und ich möchte zu gern mal hin. Seit ich hier an Bord bin, war ich noch nicht ein einziges Mal an Land, außer auf dem Kirchhof. Auch da will ich hin in diesen Tagen. Ich muß zu Werner, um in seiner Nähe meine Gefühle zu prüfen. Ich bin über mich selbst in Unruhe.
Acht Monate sind es her, seit Werner tot ist; ich dachte damals, ich würde nie wieder lachen können, würde nie wieder an ein Vergnügen denken, und jetzt?
Ich schäme mich manchmal meiner selbst. —
Heute, am Ankunftstag, war auch wieder ein Korb Rosen für mich da. Ich hatte beinahe nicht daran gedacht über all dem Ankunftstrubel. —
Wir hatten einen Ausreißer an Bord und wußten nichts davon. Erst als bei Sandy Hook Bundesmarschall Bernhard an Bord kam, erfuhren wir, was wir für interessante Ladung gehabt hatten.
Einen Bankdirektor mit seiner Geliebten.
Dieser Bernhard ist ein schrecklicher Spürhund, er hatte die beiden sofort.
Der Herr, der unter anderm Namen in die Passagierliste eingetragen war, wurde leichenblaß, als Bernhard ihn plötzlich ganz jovial mit seinem rechten Namen anredete. Er tat mir ordentlich leid.
Nun müssen beide wieder mit zurück, aber dieses Mal nicht in der ersten Kajüte. — —
Ich habe erst heute, nachdem wir schon wieder zwei Tage auf See sind, einige Minuten Zeit, ein wenig mit dir zu plaudern. —
Ich bin also wirklich mit Mr. Turner ausgewesen. Frau Martens und der Kapellmeister sind mit mir gegangen.
Mr. Turner holte uns am Ferryboot ab und ging erst mit uns nach dem Hoffmannhaus, wo wir ein Glas Wein tranken. Dann rief er ein Auto und fuhr mit uns durch den Park. —
Ich wäre furchtbar gern mal den Broadway hinauf gefahren und hätte nach dem Hause gesehen, aber ich wagte nicht, etwas davon zu sagen.
Wer weiß auch, ob ich es gefunden hätte. Ich bin bei Nacht heraus, ich weiß nicht mal, wie es aussieht. —
Nach der Fahrt haben wir dann am oberen Broadway gegessen; geluncht, wie man hier sagt.
Mittags um eins lunchen sie und abends um sechs essen sie zu Mittag. —
Nachdem fuhren wir hinüber nach Coney Island.
Mr. Turner war sehr nett und ganz anständig zu mir. Aber – aber – ein Wolf im Schafspelz ist er doch. —
Unterwegs hat er mir erzählt, er habe keine Frau, und nun ist er doch verheiratet, deshalb hat er auch im Restaurant mit uns gegessen. Er sagt natürlich, er lebe schon seit Jahren getrennt von seiner Frau, innerlich seien sie schon längst geschieden und nur der Kinder wegen dränge er auf keine öffentliche Scheidung.
»Bis jetzt ist es mir auch gleichgültig gewesen,« sagte er im Laufe des Gesprächs. »Aber seit ich Sie gesehen, drückt mich die Fessel. Noch nie habe ich ein Weib gekannt, das all meine Sinne und Gedanken so gefangen genommen hat wie Sie. Könnten Sie mich lieben? Könnten Sie vergessen, daß ich kein freier Mann bin, und könnten Sie trotzdem Ihr Geschick in meine Hände legen? Ich würde alles für Sie tun!«
»Wie meinen Sie das? Sie sagten doch selbst, daß Ihre Frau noch lebt.«
»Ich sagte Ihnen doch, heiraten kann ich Sie nicht, so gern ich auch möchte. Aber trotz alledem, Sie sollen leben wie eine Fürstin, wenn Sie mich nur ein klein wenig wiederlieben.........
Ich bin reich, reicher als die Welt vermutet. Sie sollen alles haben, was Ihnen das Leben angenehm machen kann. Reisen, Schmuck, Toiletten, eine reizende kleine Wohnung, und nichts anderes sollen Sie mir dafür geben als sich selbst, Ihren schönen jugendlichen Körper, Ihre Liebe.«
– Nichts anderes?!! – Ah!
»Und Ihre Frau?«
»Oh, meine Frau!« sagte er mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Was geht sie mich an? Ich gebe ihr genug, daß sie ein vornehmes Leben führen kann, mehr verlangt sie nicht von mir. Das einzige, was mich an unser Haus fesselt, sind die Kinder. Keinen Augenblick würde ich mich besinnen, meine Ehe zu lösen, wenn die Kinder nicht wären.« — —
Er sprach gut, der Herr Rechtsanwalt, und vielleicht hätte er Erfolg gehabt, hätte eine andere neben ihm gesessen, ein harmloses, dummes Ding. Aber so!
Doch es hieß vorsichtig sein, ihn nicht vor den Kopf stoßen, damit unser schöner Ausflug nicht mit einem Mißton endete. —
Frau Härtens und Herr Lünsberg saßen auf der andern Seite des Fährbootes – wir waren auf der Rückfahrt von Coney Island – und unterhielten sich; sie ahnten nicht, was Herr Turner für wunderschöne Luftschlösser vor mir aufbaute.
»Sie sind sehr liebenswürdig, Herr Turner. Aber Sie werden verstehen, es ist eine Sache, die überlegt sein will. Geben Sie mir eine Reise Bedenkzeit, ich will mit mir zu Rate gehen, es ist doch immerhin eine einschneidende Frage, die Sie da an mich stellen.«
»Gewiß, gewiß, das kann ich verstehen. Nur sagen Sie mir das eine, lieben Sie einen andern Mann?«
»Nein,« sagte ich mit voller Überzeugung, »ich liebe keinen Lebenden. Der einzige, den ich geliebt, der liegt drüben in Jersey City unterm kühlen Rasen.«
Er schwieg einen Augenblick, die Erinnerung an den Tod war ihm wohl etwas unbehaglich. Dann fuhr er rasch fort:
»Dann bin ich beruhigt. Wenn mir sonst nichts im Wege steht, werden Sie mich lieben lernen. Ich werde so gut zu Ihnen sein, daß Sie gar nicht anders können.«
Ich schwieg. Was sollte ich darauf erwidern? Mochte er glücklich sein in dem Gedanken. —
Als wir in New York ankamen, war es bereits neun Uhr. Doch Mr. Turner in seiner frohen, siegesgewissen Stimmung ließ uns noch nicht los. Wir mußten noch mit ihm dinieren. Er fuhr uns zum Atlantic-Garden, einer kleinen Oase in dem Steinmeer der Großstadt, und da haben wir noch ein paar wirklich vergnügte Stunden verlebt.
New York kann also auch schön sein, wenn man es in der rechten Gesellschaft und in der rechten Beleuchtung sieht. —
Unser splendider Gastgeber ließ ein Menü zusammenstellen, das sich essen ließ. Dazu einen wirklich guten Chambertin. —
Wir waren alle in bester Stimmung, unser Kapellmeisterchen hatte sogar einen regelrechten kleinen Spitz.
Alle unsere guten Vorsätze waren vergessen, und wenn jetzt der Rechtsanwalt etwas Böses im Schilde geführt hätte, wäre es ihm nicht schwer geworden, es auszuführen. —
Aber er selbst war viel zu selig, zweimal selig: vom Wein und von der Liebe. — —
Es war ein schöner Tag, ich kann nicht anders sagen, und es hat mich nicht gereut, mitgegangen zu sein. Die Arbeit geht noch einmal so gut von der Hand, wenn man dazwischen auch einmal ein wenig Vergnügen hat. Schwarzbrot allein schmeckt auch nicht immer. —
Wir haben zur Heimreise das Schiff nicht mehr sehr voll; im August flaut es immer stark ab. Auf der nächsten Ausreise werden wir dafür um so mehr Passagiere haben; sicher sind auch alle Offizierszimmer vermietet. —
Ob wohl Mr. Siegel mitkommt? Ob er noch einen Platz erhalten hat? Ich muß doch sehen, daß ich so bald wie möglich eine Passagierliste bekomme. —
Ich bin wirklich neugierig – nur neugierig. — —
Ich will froh sein, wenn diese Reise zu Ende ist. Ich habe eine Unruhe in mir, die mich kaum schlafen läßt. —
Ist es die Ahnung vor etwas Unbestimmtem?
Wenn ich jemand hätte, der mir nahe stünde, so würde ich fürchten, es sei etwas passiert, aber so? Wessen Geschick geht mich etwas an? Nur mein kleiner Pit freut sich auf mein Kommen, sonst niemand. — —
Der übliche Rosenstrauß erwartete mich, aber kein Wort, ob er kommt. Ich bin so erregt, daß ich gar nicht weiß, wie ich die Tage hinbringen soll.
Warum beunruhigt mich dieser Mann so mit seinen Blumen?
Eine leichtsinnige Tändelei sieht ihm nicht ähnlich.
Dieser breitschultrige, kräftige Mann mit den scharfen Zügen hat mir nicht den Eindruck gemacht, als ob er seine Zeit mit Nichtigkeiten hinbrächte.
Wäre es doch schon Mittwoch! Die Tasche habe ich noch nicht ein einziges Mal gebraucht, wann sollte ich auch? Noch bin ich in Trauer um meinen Gatten, und meine schwarzen Kleider vertragen keine so prunkvollen Beigaben. — —
Morgen fahren wir ab. Ich bin in einer Unruhe, für die ich mir selbst am liebsten die Erklärung schuldig bliebe.
Ich kann nicht sagen, daß ich mich glücklich fühle, im Gegenteil, mir ist ganz miserabel zumute. --
Ich habe mir die Passagierliste beim Obersteward durchgesehen, sein Name ist nicht darin. —
Aber was geht es schließlich auch mich an, mit welchem Schiff Mr. C. W. Siegel aus Chikago nach Hause fährt.
Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten, Lotte, und schäme dich! Jawohl, schäme dich! Schreib' es ruhig nieder, damit du es schwarz auf weiß vor dir hast. Gefällt es dir? Ganz ohne beschönigendes Mäntelchen? Denkst schon wieder an einen Mann und läßt dich durch den Gedanken an ihn beunruhigen, noch ehe dein Gatte ein Jahr tot ist!
Er, der so gut zu dir war und den du nie vergessen wolltest! —
Gewiß, ich schäme mich. Aber gibt es nicht doch eine Entschuldigung für mich? Ist es nicht natürlich, wenn ich in meinem Alter den Wunsch habe, noch einmal wieder in andere Verhältnisse zu kommen. Und daß ich dies nur an der Hand eines guten, starken Mannes kann, weiß ich jetzt. Hätte ich etwas Tüchtiges gelernt, dann wäre es etwas anderes, aber so?
Ich möchte recht stark und selbständig sein. Ein Weib wie Katharina die Zweite oder, um in der Jetztzeit zu bleiben, wie Henriette Goldsmith. Zielbewußt und kraftvoll.
Vielleicht werde ich es noch. Schicksal und Schicksalsschläge schmieden Charaktere.
Und ich will mir Mühe geben, ein ganzer Mensch zu werden. —
Die Männer sind besser daran als wir Frauen, schon von klein auf wird mehr Selbstbewußtsein in sie hineingepflanzt. —
An uns rächt sich die alte Vernachlässigung. —
Nur ein Mädchen!
Ich habe mir immer gewünscht, ein Mann zu sein, nun will ich mein Bestes tun, um ein kraftvolles, selbstbewußtes Weib zu werden. —
Er ist doch da. Und ich habe mich gefreut, als ich ihn das Fallreep heraufkommen sah, als ob mir Gott weiß was widerfahren wäre. —
Wenn ich mir selbst Rechenschaft ablegen sollte, warum ich mich so gefreut, so kann ich es nicht sagen, und doch ist es so; dich, mein kleines Buch, brauche ich ja nicht zu belügen.
Es war mir, als würde ein Druck von meinem Herzen genommen.
Auch seine Augen leuchteten auf, ich sah es wohl, bin dann aber rasch nach unten gegangen in mein Zimmer.
Mittags ein Uhr gingen wir in See, und jetzt ist es vier Uhr.
Ich habe eine abergläubische Furcht, aus der Kabine zu gehen, und doch muß ich mich jetzt nach meinen Passagieren umsehen. Also geh' an die Arbeit, Lotte, wovor fürchtest du dich? Fürchtest du dich vor etwas, das du herbeigesehnt?
Das Herz ist ein sonderbares Ding, es will oft ganz etwas anderes als – als – Lotte, Lotte – sag' ruhig die Wahrheit. —
Mr. Siegel hat meine Gewohnheit nicht vergessen.
Nachdem ich ihn den ganzen Nachmittag nicht gesehen, stand er auf Deck, als ich etwas nach neun Uhr nach oben ging. —
Um die Wahrheit zu sagen – ich hatte es erwartet. Es wäre widersinnig gewesen, wenn er mich nicht gesucht hätte. —
Die Rosengaben wären dann nur einer Laune entsprungen, und danach sieht er mir nicht aus. —
Als ich die Treppe zum Bootsdeck heraufkam, war ich vom Licht noch etwas geblendet und konnte die dunkle Gestalt an der Ecke des Skylights nicht gleich entdecken. —
»Guten Abend, Frau Lotti,« scholl eine gedämpfte Stimme aus dem Halbdunkel.
Ich war im Augenblick doch etwas erschrocken.
»Oh! Sie sind es, Mr. Siegel! Wie geht es Ihnen?«
»Ausgezeichnet! Und Ihnen? Haben Sie zuweilen an mich gedacht?«
»Dafür haben Sie ja gesorgt. Ich muß mich wohl bedanken für die schönen Blumen – aber – warum haben Sie das getan? Warum —«.
»Warum? Das fragen Sie noch? Aber ich will es Ihnen erklären, wenn es einer Erklärung bedarf, wenn Ihnen Ihr Herz nicht selbst die Antwort gibt. Sagen Sie mir die Wahrheit, Frau Lotti, muß ich Ihnen wirklich mein Tun mit dürren Worten erklären?«
Ich wurde über und über rot, es war gut, daß es dunkel war, so sah er meine Verlegenheit nicht. Ich wußte nicht, was ich ihm antworten sollte.
Es ist schrecklich! Vorläufig bin ich noch weit von meinem Ideal entfernt. —
Mr. Siegel fuhr fort: »Sagen Sie mir nur das eine: Haben Sie zuweilen an mich gedacht?«
»Das mußte ich schon. Ihre schönen Rosen sorgten dafür, daß ich den Spender nicht vergaß.«
»Und haben sie Ihnen Freude gemacht?«
»Gewiß, das heißt bedingungsweise. Um die Wahrheit zu sagen, haben sie mich mehr beunruhigt als erfreut. Kurz und gut – Sie hätten es nicht tun sollen, Mr. Siegel.« —
Ich hatte meine Verlegenheit überwunden und sprach nun ruhig und sachlich.
Einen Augenblick schwieg er und sah mich forschend an, dann sagte er kurz und ohne Umschweife: »Wollen Sie meine Frau werden?«
Das war kurz und bündig.
Einen Augenblick blieb es still zwischen uns, dann sagte ich langsam: »Wissen Sie denn auch, wen Sie zu Ihrer Frau begehren?«
Einen Moment stutzte er, dann sagte er: »Ich frage nicht nach dem Woher. Ich verlasse mich auf meine Augen und auf meinen Instinkt. Ich habe mich bis jetzt noch nie geirrt, wenn ich mir jemand für eine wichtige Sache ausgesucht habe. Ich nehme auch hier die Verantwortung auf mich.«
»Und daß ich nach Woher und Wohin fragen könnte, daran denken Sie wohl nicht? Leiden Sie auch an der allgemein verbreiteten Einbildung der Herren, wonach ein Weib froh sein muß, wenn ein Mann es begehrt?«
»Aber, teure Frau, Sie tun mir unrecht. Im Gegenteil, ich würde es als ein ganz unerhörtes Glück betrachten, wenn Sie mich nur ein wenig, ein ganz klein wenig lieben könnten. Und alles, was Sie über meine Person wissen müssen, das sollen Sie erfahren.
Ich bin kein Mann von vielen Worten, aber das muß ich Ihnen sagen: vom ersten Sehen an stand es bei mir fest: Die soll es sein. – Ich glaube, Sie können ein guter Kamerad sein, Frau Lotti! Nicht wahr?«
Ich stand wortlos da.
Was sollte ich sagen? Hier war Erlösung aus dem jetzigen Verhältnis. Aber – noch liebte ich diesen Mann nicht, so sehr ich mich auch auf ihn gefreut hatte. Noch liebte ich ihn nicht, das war mir klar. Er ist mir sehr sympathisch, er hat ein schönes Organ, und überhaupt sein ganzes Wesen ist mir überaus angenehm.
Er ist nicht hübsch, kein sogenannter schöner Mann. Aber das ist auch nicht nötig; meist sind schöne Männer unausstehlich eitel. —
»Haben Sie keine Antwort für mich, Frau Lotti?« fragte die Stimme neben mir.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Geben Sie mir Zeit. Und dann – Sie wissen, daß mein Mann erst seit elf Monaten tot ist, ich habe ihn sehr geliebt.«
»Ich weiß es. Ich bin nicht eifersüchtig auf den Toten. Ich gönne ihm gern Ihr schmerzliches Gedenken. Sie selbst aber gehören dem Leben, dem roten, leuchtenden, vollpulsierenden Leben.«
Er griff nach meiner schlaff herniederhängenden Hand und drückte einen feurigen Kuß darauf.
Hastig zog ich sie zurück.
»Lassen Sie mich jetzt allein, Mr. Siegel. Ich muß noch ein Stündchen allein mit dem Meere sein. Morgen, übermorgen, sprechen wir weiter darüber.«
»Lassen Sie mich nicht zu lange warten, teure Frau. Ich warte, warte mit Ungeduld.«
Als er gegangen, lehnte ich mich über die Reeling und sah in das schäumende Wasser. Wie Myriaden kleiner Fünkchen brach es sich in den Wellen am Bug des Schiffes. —
Auch das Meer hat seine Sterne! Oder sind es Sterne, die vom Himmel gefallen sind?
Gefallene Sterne?
Gefallene Sterne – und doch leuchten sie noch.
Könnte ich es als Sinnbild betrachten! Als Sinnbild meines Lebens?.........
Was für eine Antwort werde ich diesem Manne geben? Was für eine Antwort darf ich ihm geben?
Ist es Betrug, wenn ich sein Weib werde, ohne ihm zu sagen, was hinter mir liegt?
Hat er ein Recht auf meine Vergangenheit?
— – Nein, er hat kein Recht darauf. — —
Ich weiß, ich stehe im Widerspruch mit unseren herrschenden Anschauungen, ich weiß, ich muß diesen Entschluß mit meiner Ruhe erkaufen. —
Sei es drum!
Nie würde es dem Manne einfallen, dem Weibe, das er erwählt, vor der Hochzeit alle dunklen Punkte seiner Vergangenheit aufzudecken. Er fühlt sich viel zu wohl in der Rolle des Helden, zu dem man hinaufsieht, um diesen Nimbus von selbst zu zerstören. --
Warum soll ein Weib nicht dieselben Rechte haben?
Gleiches Recht für alle!
Der Mann ist aus genau demselben Stoff wie die Frau. Das, was er als Vorrecht für sich in Anspruch nimmt, hat er sich selbst angemaßt. Ich will dieselben Rechte beanspruchen. —
Das Weib befindet sich dem Manne gegenüber sowieso in ständiger Notwehr – und da sind alle Mittel erlaubt. — —
Liebe und Glück! Sind sie immer zusammen, diese beiden?
Oder kann ich auch ohne Liebe ein wenig Glück in der Ehe finden? Ich bin schon jetzt entschlossen, den Antrag dieses Mannes anzunehmen. Ich bin ihm zugetan und ich glaube, er ist ein Mann, den man achten muß. Daß ich zu ihm aufsehe, wie zu einem Halbgott, wie man es so oft in überschwenglichen Romanen liest, das verlangt er nicht von mir. – Und ich würde es auch nicht tun. —
Mr. Siegel schickt mir soeben einen Brief. —
Nicht eigentlich einen Brief, es sind vielmehr Aufzeichnungen über sein Leben und Wirken. Kurz und prägnant, ganz wie er selbst. —
Als sechzehnjähriger Junge aus Deutschland ausgewandert, hat er in Amerika so ziemlich alles versucht, was Arbeit heißt, bis er durch Zufall nach Chikago verschlagen worden ist.
Mit fünf Cents in der Tasche ist er dort angekommen, heute besitzt er eine große Fleischkonservenfabrik und beschäftigt bereits über hundert Personen.
Das ist gewiß etwas! Für mich ist es die erste Staffel auf der Leiter. – Ich bin mir bewußt, daß wir, falls ich die Gattin dieses Mannes werde, auf dieser Staffel nicht stehen bleiben werden. —
Hat mich das Leben um das Schönste betrogen, so soll es mir dafür etwas anderes geben: Reichtum.
Und dieser Mann ist dazu wie geschaffen, mit ihm muß es sich gut und sicher wandern lassen. —
Aber noch will ich warten. Ein Jahr wenigstens will ich den Witwenschleier tragen.
Obgleich – wenn ich mir gegenüber ehrlich sein will – es ja doch nur äußerlich ist. In Wirklichkeit war ich dem Toten doch schon längst untreu. Denn auch der Gedanke an einen anderen Mann ist Treulosigkeit. --
Heute, am Tage vor der Ankunft in New York habe ich mich mit Mr. Siegel ausgesprochen.
Ich bin sehr zufrieden, ich glaube, daß ich diesen Schritt nicht bereuen werde.
Mr. Siegel ist ein Mann von außergewöhnlicher Regsamkeit, den das Leben ganz gehörig zwischen die Scheren genommen hat.
Daß er sich nicht hat unterkriegen lassen, ist ein gutes Zeichen. Wir passen in gewisser Weise sehr gut zusammen, auch ich habe mich nicht zermalmen lassen.
Nur darf er das nicht wissen. —
Hoffentlich fragt er mich nie nach meiner Vergangenheit. Sagen würde ich ihm doch nichts, aber es ist gut, wenn ich nicht zu lügen brauche. —
Wir haben soeben einen recht heftigen Gewittersturm gehabt.
Niemand dachte mehr an schlechtes Wetter so kurz vor der Ankunft, und alles freute sich schon auf morgen, da kam noch einmal ganz unerwartet die Seekrankheit. Beim Diner waren fast alle Plätze leer, sogar die Herren konnten nicht widerstehen. —
Ich bin nachher noch auf Deck gewesen, es war wunderbar klare, schöne Luft, nachdem es ausgetobt.
Mr. Siegel suchte mich auf und hat allerlei mit mir besprochen.
Ich soll, wenn ich jetzt nach Deutschland komme, meine überflüssigen Sachen verkaufen und als Passagier mit der »Nirwana« zurückkommen. —
Das erstere werde ich tun, das letztere nicht, wozu?
Ich fahre als Stewardeß und mustere in New York ab, wozu unnütz Geld ausgeben?
Vorläufig habe ich sowieso nicht allzu viel, und es widerstrebt mir, etwas von ihm anzunehmen, bevor ich sein Weib bin.
Auf der Rückreise können sie mich an Bord ganz gut entbehren, wir haben nach draußen zu jetzt doch wenig Passagiere. —
Aber meinen süßen, kleinen Pit muß ich mitnehmen. Ob er wohl seekrank wird?
Gestern bin ich noch einmal an Werners Grab gewesen. Ich habe Abschied genommen auf lange Zeit, vielleicht für immer.
Es war, trotz aller schlimmen Erfahrungen, ein seliges Stück meiner Jugend, das da oben auf dem stillen Friedhof auf der Höhe ruht. Die schmerzlichen Tränen, die ich geweint, bringen es mir nicht zurück.
Und doch, wie wandelbar ist der Mensch!
Wer mir vor elf Monaten gesagt hätte, daß ich einmal wieder so ruhig über alles denken würde, ich hätte ihn für roh und gefühllos gehalten. Und nun? Ja, ja, es ist schon so, das Leben ist brutal. —
Zum letzten Male zu Hause.
Noch einmal bin ich um den Außendeich gegangen. --
Es wird Herbst. Kalt und unfreundlich bläst der Wind über das Wasser. Die Sonne hat ihre strahlende Glut verloren, fahl und glanzlos versinkt sie in den Wellen.
Lange starre ich in die verglimmenden Farben.
Könnte ich schauend vergessen, was mir das Leben getan!
Doch Kopf hoch! Ich werde es vergessen, denn ich muß. Das Leben ist zu hart, um nur zu schauen und zu träumen. —
Das alles sage ich mir, und doch wende ich mich traurig um und lenke meine Schritte heimwärts. —
Wie das Laub zu meinen Füßen starb mein schöner Sommertraum. —
Die letzte Reise!
Eigentlich ist es mir trotz alledem etwas wehmütig zu Sinn. Es war doch ein interessanter Abschnitt meines wechselvollen Daseins. – Was für Gestalten gehen an einem vorüber! In wie manches Schicksal sieht man hinein!
Glück und Unglück, Haß und Neid, Liebe und Abneigung, Gleichgültigkeit und Verachtung – wie nahe kommt es einem, und wie eng zusammengedrängt ist es zwischen den Wänden dieser schwimmenden Riesen. Mancher Bund wird geschlossen und manches noch so fest scheinende Band löst sich.
Kaleidoskopartig wechselt es von Reise zu Reise.
Vorbei! —
Meinen kleinen Pit darf ich leider nicht bei mir haben. Er ist ganz oben auf dem obersten Deck in der Hundevilla. Noch zwei kleine reizende Kerls sind bei ihm und eine prachtvolle siamesische Katze, die einer älteren Dame gehört.
Gesellschaft hat er also genug. Trotzdem sitzen alle Bewohner der Villa verdrossen in ihrem Käfig, und Pit ist immer halb wahnsinnig, wenn ich hinaufkomme und ihn ein halbes Stündchen auf Deck lasse.
Um zehn Uhr waren wir am Pier; Mr. Siegel war schon da und winkte von weitem.
Als die Passagiere gelandet, kam er sofort an Bord und brachte mir einen Strauß roter Rosen, dieselbe Farbe wie immer.
Ich freute mich doch sehr, ihn zu sehen; obgleich ich keinen Augenblick daran gezweifelt habe, daß er Wort halten würde, war es mir doch immer, als ob es gar nicht wahr sein könnte. —
Heute nachmittag mustere ich ab und morgen gehe ich vom Schiff.
Mr. Siegel war beim Kapitän und hat mit ihm gesprochen, er wird morgen mit uns fahren und unser Trauzeuge sein.
Es war mir sehr angenehm, denn trotz aller Vernunftgründe beschlich mich zuweilen doch ein unangenehmes Gefühl, wenn ich an meine erste amerikanische Trauungsfahrt dachte. —
Dies ist nun die dritte, der Himmel mag mir beistehen, daß es zum Guten ausfällt.
In der kleinen evangelischen Kirche auf dem Berge sind wir getraut. Nach der Trauung sind wir alle – Kapitän Heymann, Pastor Morris, seine Frau und wir beide – nach New York gefahren, wo Mr. Siegel, vielmehr mein Mann, im Astoria ein exquisites kleines Diner bestellt hatte. Wir waren recht vergnügt zusammen, und Kapitän Heymann hielt sogar noch eine launige Rede, in der er bedauerte, daß er nicht jede Reise eine junge, hübsche Stewardeß zu verheiraten habe. —
Ich fürchte nur, es wird auch nicht oft einen Mr. Siegel geben. —
Nach dem Essen, als wir allein waren, bat ich meinen Mann, noch eine kleine Ausfahrt mit mir zu machen. —
Ich bin mir selbst nicht klar über das, was in mir vorging.
Ein beinahe krankhaftes Verlangen beherrschte mich, jenes Haus einmal wiederzusehen.
Wie es den Verbrecher unwiderstehlich an den Ort seiner Schandtat treibt, so geht es mir mit jenem Hause.
Langsam fuhren wir am Broadway hinauf, durch den Centralpark und die fünfte Avenue wieder herunter.
Aufmerksam habe ich jedes Haus geprüft, ich konnte es nicht finden. Manchmal meinte ich wohl, das muß es sein, dann wurde ich wieder irre. Alle Häuser haben Fenster, und ich meine, dieser Kerker habe nach der Straße zu keine Fenster gehabt. —
Auch an den Doktor muß ich denken; wüßte ich nur seinen Namen und seine Adresse, so würde ich ihn von meinen veränderten Verhältnissen in Kenntnis setzen.
Auch Werners Tod hätte ich ihm melden müssen, er hat es um mich verdient. Es ist schade, daß ich nicht weiß, wie er heißt. — —
Heute Abend fahren wir weiter. —
Leb' wohl für einige Zeit, mein treuer Weggenoß; möchte es nur Gutes sein, was ich dir ferner anzuvertrauen habe. — — —
Sechs Wochen später.
Wir sind noch für drei Wochen in dem idyllisch gelegenen Seebad Bar Harbour gewesen. Wie ein kleines Paradies ist dieses Fleckchen Erde, und ich war glücklich, restlos glücklich.
Keine Angst, keine Sorgen, ein Gatte, der mir jeden Wunsch an den Augen absieht – es ist doch schön auf der Welt. —
Schön, solange man jung ist. Auch ohne die vielgepriesene Liebe.
Chikago, den 28. Oktober.
Mein Gatte muß doch reicher sein als ich gedacht. Das »kleine Häuschen«, das er nach seiner Rückkehr von Europa gekauft, ist ein ganz stattlicher Bau und liegt in einem prachtvollen, alten Garten am Lake Shore Drive. Das Haus hat früher einem reichen Schweinezüchter gehört, und mein Mann hat es hauptsächlich meinetwegen gekauft, da ihm sein altes Haus an Sheridan Road nicht hübsch genug war.
Ich bin ihm sehr dankbar, wir leben in glücklichster Gemeinschaft und kein Schatten trübt unser Leben.
Ich will ihm eine treue und gute Gefährtin sein. Nie soll er empfinden, daß nicht mein volles Herz ihm gehört. —
Ich habe dich lange nicht in Händen gehabt, kleines Buch. Mein Leben läuft so glatt und ereignislos dahin, daß ich kaum etwas aufzuzeichnen habe. Ich lebe, wie eine Amerikanerin der besseren Stände lebt. —
Mit meinem Manne verbindet mich innigste Freundschaft.
Er bespricht alles mit mir und freut sich, daß ich seinem Wirken und Schaffen so lebhaftes Interesse entgegenbringe. —
Und mir wiederum macht es Freude, daß ich teilhaben darf an seiner Arbeit. —
Trotzdem bin ich nicht voll befriedigt, ich habe noch zu viel unausgefüllte Zeit.
Ja, wenn ich ein Kind hätte! Ob ich vergebens auf dies höchste Glück warte? Auch mein Mann würde sich freuen, und ich würde ihm doch so gern einmal eine recht große Freude machen. —
Ich muß jetzt oft wieder an den 20. Februar vor zwei Jahren denken. Welches Glück empfände mein Mann, wenn ich ihm einen Knaben schenkte, und wie unwillkommen war das arme Kind damals! Ob es wirklich tot ist?
Ich habe ein so sonderbares Gefühl, eine Art Unterbewußtsein, das mir sagt, mein Kind lebt. —
Wer gibt mir Gewißheit? —
Ich bin einige Monate recht faul gewesen. —
Im Unglück und in der Einsamkeit habe ich mich immer zu dir geflüchtet, jetzt, in meinem wohleingerichteten Leben vergesse ich dich oft, kleiner Freund.
Eine Entschuldigung habe ich wenigstens: ich hatte keine Zeit.
Wir sind einige Monate auf Reisen gewesen. Drei Wochen in Ägypten und drei Wochen in Italien, von wo aus wir einen kleinen Abstecher nach Paris gemacht haben. —
Mein Mann ist zu gut, die ganze Welt möchte er mir zeigen, er weiß gar nicht, was er mir alles Liebes erweisen soll. Und ich stehe so bettelarm daneben und kann ihm gar nichts geben, nicht einmal ein ganzes volles Herz. —
Ob er nie etwas vermißt? Glühende Küsse, stürmische Umarmungen?
Ich bin ihm sehr gut – aber ich bin mir zuweilen selbst ein Rätsel. Nichts treibt mich zum Manne.
Ich bin doch jung, sehr jung!
Aber nie mehr seit jenen heißen, schwülen Sommernächten auf dem heimatlichen Gut fiebert mein Blut dem Manne entgegen. —
Auch bei aller Liebe zu Werner, es war nichts Stürmisches, kein leidenschaftliches Begehren in meiner Liebe.
Ruhig und still wie ein linder Sommerabend.
Oft denke ich, ich habe zu früh vom Baume der Erkenntnis gegessen. Vielleicht war mein Körper doch noch nicht entwickelt genug, um den Anforderungen ohne Schaden gerecht zu werden, die das Mutterwerden an das Weib stellt. — —
Oder ist es das verdorbene, degenerierte Blut des Vaters, das dies sonderbare Wesen aus mir gemacht hat?
Ich erzähle dir wieder allen möglichen Unsinn, du mein kleiner, verschwiegener Freund; und ich wollte dir doch nur sagen, daß ich sehr, sehr glücklich sein könnte, wenn —
Mein kleiner, süßer Pit. Ich hatte ihn zurückgelassen, nun war er wie von Sinnen, als ich heimkam, und ging mir nicht vom Schoß. Ich werde ihn jetzt immer mitnehmen, wenn ich auf Reisen gehe. —
Heute ist mein zwanzigster Geburtstag; ich wollte, es wäre der vierzigste. Ich fühle mich auch viel eher wie vierzig. —
Ich weiß nicht, ich kann in der letzten Zeit gar nicht so recht von Herzen froh sein. Ich bin im Gegenteil sonderbar trüb gestimmt.
Ich möchte schreiben und kann nicht. Ein geheimnisvolles Glücksgefühl keimt leise, ganz leise in meinem Innern. —
Ich habe nie leicht geweint. Es war mir immer unsympathisch, wenn Frauen um jede Kleinigkeit in Tränen zerflossen. Aber jetzt bin ich selbst die reine Trauerweide. Um nichts muß ich weinen. —
Pit tröstet mich, er will mir immer die Tränen von den Wangen küssen. Sonderbar, gerade als ob er wüßte, daß Tränen an den Wimpern etwas Schmerzliches bedeuten. —
Und müde bin ich, so müde. —
Mein Mann ist von einer Aufmerksamkeit, die geradezu rührend ist. Ob er etwas ahnt? Noch habe ich ihm nichts gesagt, die Enttäuschung wäre sonst zu groß. Später. — —
Weihnachten!
Ich bin beschenkt worden wie eine Fürstin, und doch sagt mein Mann, ich habe ihm noch viel mehr gegeben.
Er ist außer sich vor Glück. Aber ich glaube, er wünscht sehr, daß es ein Junge ist. Ich nicht, ich möchte viel lieber ein Mädchen. Jungens gehören der Mutter nie so lange wie ein Mädchen. —
Und doch sollte ich andererseits gar nicht den Wunsch haben, der Welt ein solches Wesen zu schenken. Wie leicht kann ihm einmal mein eigenes Schicksal zustoßen. —
Aber nein! Das sind Hirngespinste.
Ich werde dafür sorgen, daß meine Tochter einst gewappnet ins Leben tritt. Meine Tochter! Meine Tochter! Welch süßer Klang in meinem Ohr!
Heute bin ich zum ersten Male wieder vollständig außer Bett, und da sollst du, mein geduldiger Freund, auch sogleich mein neues Glück erfahren.
Ich bin Mutter!
Weißt du, was dieses Wort bedeutet? Was es für mich bedeutet?
Und auch mein innigster Wunsch ist erfüllt. Es ist ein Mädchen, ein kleines, süßes Mädchen.
Ob mein Mann enttäuscht war? Ich weiß es nicht, gefühlt habe ich es nicht. Seine Liebe und Fürsorge gehen ins Ungemessene. —
Und ich? Muß ich dir sagen, wie glücklich ich bin? Das süße, kleine Geschöpf, dem ich jetzt alles bin!
Mein Mann wollte eine Amme, um mich zu schonen, aber ich gebe mein Kind keiner fremden Person; das höchste Glück, das kleine Wesen an der Brust zu haben, gönne ich niemand. —
Drollig ist es, Pit zu beobachten. Er ist richtig eifersüchtig. Wenn ich das Kind auf dem Schoß habe, weint und jammert er, kratzt an meinem Kleid und geberdet sich ganz unsinnig. Lege ich das Kind in sein Bettchen, so springt er mit einem Seufzer der Erleichterung auf meinen Schoß und kuschelt sich umständlich zurecht, dabei fortwährend entrüstete Blicke nach dem kleinen Eindringling werfend.
Mein Mann findet, daß mich die Pflege des Kindes zu sehr anstrengt. Ich soll es nicht mehr stillen oder soll an einen schönen Platz aufs Land, wo ich gute, frische Milch und reine Luft habe.
Ich gehe also lieber aufs Land, damit ich meinen kleinen Liebling noch länger ganz für mich allein habe.
Das Kind entwickelt sich prächtig, und mein Mann ist ganz vernarrt. Seine Enttäuschung über den ausgebliebenen Thronfolger hat er verschmerzt. Oder hofft er noch? —
Nein, ich möchte keinen Jungen haben. Ein Junge, der mir aus den Händen wächst und vielleicht auch einmal Wege geht, auf denen die Weiblichkeit durch den Schlamm gezogen wird. — —
Mowbray, Rocky Mountains, den 6. Juni.
Ich habe heute eine Begegnung gehabt, die mich bis ins Innerste erschüttert hat. Alles, die ganze Vergangenheit ist mit einem Schlage wieder lebendig geworden. —
Ich habe den Doktor getroffen, meinen Doktor!
Er ist für einige Wochen hier zur Erholung. —
Nun weiß ich auch seinen Namen. Curtis heißt er.
Doktor Curtis freute sich sehr, als er mich sah, war aber natürlich ebenso sehr verwundert, mich hier im Westen zu sehen.
Zuerst war ich natürlich doch etwas beunruhigt, aber ich brauche ihn nicht zu fürchten, er ist ein anständiger Mensch, und niemand wird etwas durch ihn erfahren. Warum hätte er sich auch wohl so viel Mühe mit meiner Rettung gegeben?
Ich bin jetzt auch lange nicht mehr so in Sorge wegen meiner Vergangenheit; wer soll mich hier wohl erkennen? In einer Hafenstadt ist es doch schon anders. —
Lange haben wir auf der Bank gesessen, meine ganze Geschichte habe ich ihm erzählt, und herzliche Worte sprach er über den armen Werner.
Auch über die schrecklichen Verhältnisse in diesen Häusern, hauptsächlich in den Hafenstädten, haben wir gesprochen. Eine Änderung wäre nur mit Hilfe der Regierung und einer eingreifenden Gesetzgebung möglich.
Der Doktor ist nie wieder bei der Rottmann gewesen. Auf meine Bitte will er nach seiner Heimkehr einmal hin. Wenn die Bronja noch da ist und sie will heraus, soll er ihr behilflich sein.
Ich habe Geld genug, und mein Mann gibt mir gern ein paar tausend Dollars, wenn ich ihn darum bitte, ohne zu fragen wofür.
Nur meinen Namen darf der Doktor nicht nennen. — —
Ich bin ganz allein im Wald. Mein Töchterchen ist mit der Wärterin im Garten; ich war so unruhig, ich mußte eine Strecke laufen. —
Hier ist es himmlisch, die Unruhe fällt von mir wie ein schwerer, stickender Dunst.
Wie ein Dom wölben sich die Jahrhunderte alten Bäume über mir. Die Hände eines Künstlers hätten es nicht schöner schaffen können. Wie sanft spielt das grünliche Licht in den Zweigen. Von Baum zu Baum winden sich Schmarotzerpflanzen mit leuchtenden Blumen. Eine fast tropische Überschwenglichkeit herrscht. Der Fuß versinkt wie in dicken Teppichen.
Kann man sich unglücklich fühlen in solcher Umgebung? — —
Der Doktor ist abgereist, er wird mir schreiben, sobald er mir etwas zu berichten hat.
Auch ich werde mich zur Heimkehr rüsten, ich sehne mich nach meinem Heim und seinem Herrn.
— — — — — — — — — — — —
Lange Jahre sind es her, seit ich nicht mehr in mein Büchlein geschrieben habe. Oft hatte ich es in Händen und ließ die eng beschriebenen Seiten durch die Finger gleiten, doch nichts, was mir des Aufzeichnens wert schien, ist in diesen Jahren durch mein Leben gegangen. —
Einfache tägliche Erlebnisse, kleine Freuden, kleine Leiden. —
Mein Töchterchen wächst heran und verspricht körperlich und geistig das Beste. Meinem Manne bin ich in den letzten Jahren immer unentbehrlicher geworden bei seinen ausgedehnten Geschäften, und das erfüllt mich mit ganz besonderem Stolz. Es zeigt mir, daß ein Weib doch auch zu etwas anderem zu gebrauchen ist, als nur zu inhaltlosen Tändeleien.
Ich habe also in gewisser Weise erreicht, was ich erreichen wollte, und könnte dich nun endgültig zur Seite legen, mein kleiner papierener Freund.
Aber – ich kann es doch nicht. Es ist mir wie ein Unrecht, das ich an dir begehe. —
Und dann, ich möchte, falls ich früher sterbe als mein Mann, das Buch in seine Hände legen, damit er sieht, wen er an sein Herz genommen hatte. Stirbt mein Mann vor mir, so soll meine Tochter die Aufzeichnungen ihrer Mutter lesen, sie wird daraus ersehen, wie viel ein Weib ertragen kann, ohne daß es seelisch zugrunde geht. —
Der Vollständigkeit halber will ich noch erwähnen, daß Bronja wieder in ihrer Heimat ist. Der Doktor hat ihr zweitausend Dollars gegeben, hat ihr ein Billett besorgt und sie auch nach dem Dampfer gebracht. Sie hat so große Sehnsucht nach ihrem Kinde gehabt.
Mögen die guten Wünsche, die sie für die unbekannte Wohltäterin ausgesprochen, sich an ihr selbst erfüllen! —
Wir gehen in diesem Frühjahr nach Europa. Mein Mann ist gar nicht recht wohl; ein Herzleiden, das er schon längere Jahre hat, macht ihm viel zu schaffen.
Die Geschäfte bringen zuviel Aufregung, er muß deshalb einmal vollständig ausspannen. —
In Bad Nauheim werde ich dafür sorgen, daß ihm jede Aufregung fern bleibt.
Wir sind reich, sehr reich.
Daran, daß ich mir in keiner Weise Beschränkungen aufzulegen brauchte, merkte ich schon früher, daß wir über reiche Mittel zu verfügen hatten. In den letzten Jahren, wo ich mich um alle geschäftlichen Angelegenheiten kümmere, weiß ich, daß wir nicht mehr zu arbeiten brauchten. Aber es geht mir genau wie meinem Manne, ich könnte mich nicht darein denken, daß alles, sein ganzes Lebenswerk, für andere geschaffen sein sollte.
Und ist nicht die Arbeit eine herrliche Trösterin?
Lou freut sich furchtbar auf unsere Reise. Sie ist nun zehn Jahre alt und hat schon einiges Verständnis dafür. —
Doch für mich gibt es nun wieder allerlei heikle Punkte.
Das Fragen nimmt kein Ende.
»Wo ist deine Heimat, Pa?«
»Bist du in einem Dorf zu Hause oder in einer Stadt, Ma?«
Was soll ich antworten? Ich fürchte auch, mein Mann denkt sich etwas dabei, wenn ich zu sehr ausweiche.
Ich selbst fiebere förmlich bei dem Gedanken, daß ich von Bad Nauheim aus in einigen Stunden da sein kann, wo das stille alte Haus der Großeltern im dunkeln Tannenwald träumt.
Ob ich es einmal wage? Unerkannt könnte ich sie vielleicht sehen. – Ach, ich glaube, ich würde mich verraten, wenn ich sie vor mir sähe. – Und Prinz, der alte Hühnerhund! Er würde mich sofort erkennen, wenn er noch lebt. — —
Dienstag, den 28. Mai sind wir mit der »Spree« von New York abgefahren. Mein Mann hat ein hübsches Pullmanset für uns belegt, und wir sind ganz begeistert von der Bequemlichkeit und Eleganz der Einrichtung. Man merkt kaum, daß man auf See ist.
Lou ist ganz und gar aus dem Häuschen. Ihr Vater erfreut sich, glaub' ich, zum ersten Male vollkommen ohne irgendwelche Ablenkung an ihrer frischen, kindlichen Heiterkeit.
Ich finde, er erholt sich schon jetzt von Tag zu Tag.
Mir selbst geht es sonderbar. Von der ersten Stunde an, da ich das Schiff betrat, ist mir so sonderbar unruhig zu Sinn.
Ich suche etwas und weiß nicht was. —
Gleich am ersten Abend bin ich ein Stündchen auf Deck gewesen.
Wie wunderbar ist die reine, salzige Luft! Welch wunderbare Farben verglimmen am Horizont und wecken tausend Erinnerungen, süße und schmerzliche, in meiner Brust!
Sonnenuntergang! Der ganze Horizont ist von einem satten, tiefen Rot. Der Himmel scheint wie ein einziger großer ausgehöhlter Rubin über uns zu hängen.
Das Wasser ist so ruhig wie ein See, nur hie und da tanzen rotgoldene Lichter; gibt es Schöneres?
Doch alles Schöne ist vergänglich. Kaum eine halbe Stunde, und grau und fahl, gespensterhaft liegt die unabsehbare Fläche vor mir. —
Mich friert trotz des warmen Wetters.
Es macht traurig, immer an die Vergänglichkeit alles wahrhaft Schönen erinnert zu werden. — —
Bad Nauheim.
Deutschland bekommt mir nicht. Mein Mann erholt sich von Tag zu Tag, und ich verzehre mich selbst vor Unruhe.
Die Luft hier ist erfüllt von Erinnerungen.
Diese ganzen Jahre hatte ich alles vergessen, die Heimat, die Großeltern und – die Schuld!
Nun wacht alles wieder auf, und ich stehe schwindelnd am Wege und weiß nicht, wohin er mich führen wird.
Ich sehe ein, daß eine Schuld wie ein Schmutzfleck auf der Vergangenheit liegt, der sich nie wieder auslöschen läßt.
Mag man zuweilen glauben, daß er verblaßt, mag man sein Vorhandensein für einige Zeit vergessen, er kommt wieder. —
Ich kann es nicht mehr aushalten, ich muß hin!
Ich muß wenigstens versuchen, die alten Leute von weitem zu sehen.
Ob sie noch leben? Aber warum nicht? Vierzehn Jahre sind es her, seit ich von ihnen ging, und die Leute in meiner Heimat werden alt. —
Ob ich es wage und unter dem Deckmantel einer Fremden das Jagdschloß besehe?
Werde ich mich beherrschen können?
Ich war da!
Unter dem Vorwand, etwas in Frankfurt besorgen zu wollen, bin ich hingefahren.
Ich habe meinen Mann belogen; diesen besten, gütigsten aller Männer habe ich belogen! So gebiert noch nach Jahren die alte Schuld neue Konflikte und Verwicklungen.
Ich bin froh, daß ich es getan. Ich werde Ruhe finden, nun ich die alten lieben Großeltern gesehen. --
Und doch hätte ich aufschreien können, als ich die gebückte Gestalt des Großvaters an mir vorübergehen sah.
Ob sie sich gewundert haben über die fremde Frau, die so gern das alte Jagdschloß sehen wollte, und die gar so dicht verschleiert war?......
Wie glücklich würde es mich machen, wenn ich ihnen meine Lou bringen könnte, mein prächtiges, liebes Mädchen!
Und wie würden sie sich freuen!
Aber das ist alles für mich unmöglich, es ist ein verlorenes Paradies, in das ich mit brennenden, sehnsüchtigen Augen starre.
Und warum? War es nur meine Schuld, daß ich diesen Weg der Lüge und der Verstellung wandern muß?
Morgen fahren wir nach E., um von da aus die Heimat meines Mannes zu besuchen.
Lou freut sich königlich. Sie denkt sich wohl das Häuschen, in dem ihr Vater geboren, als eine niedliche, kleine Villa. —
Hoffentlich ist sie nicht zu sehr enttäuscht. — —
Seit fünf Tagen sind wir auf Capri. Der Arzt hält die Fahrt von hier aus für besser. Ich freue mich über das gute Aussehen meines Mannes; hoffentlich hält es an.
Am Siebzehnten fahren wir von Genua aus mit der »Prinzeß Irene« wieder nach Hause. —
Die letzten Tage in Deutschland sind uns wie im Fluge vergangen. —
Die paar Stunden, die wir in der Heimat meines Mannes zugebracht haben, waren auch für mich eine Erquickung.
Lou war gar nicht enttäuscht. Im Gegenteil, alles war ihr neu und köstlich.
Und ich?
Ich beneide meinen Mann um seine arme, aber fleckenreine Vergangenheit. Welch ein Triumph war es für den armen, herumgestoßenen Waisenknaben, daß er so vor seine Landsleute hintreten konnte! —
Ich bin des Reisens müde und freue mich, heimzukommen.
Heim? Wohin zieht es mich?
Bald reißt die alte Heimat an meinem Herzen, bald die neue.
Ich habe Heimweh und bin nirgends zu Hause. —
Und doch ist meine Heimat da drüben in dem Lande, das mich trotz aller Schuld der bürgerlichen Gesellschaft wiedergegeben hat.
Nach zwei Jahren.
Amerika hat nicht gehalten, was Europa versprochen.
Das Befinden meines Mannes ist wieder ebenso schwankend wie vor unserer Reise.
Er muß sich schonen, und um ihm dazu Gelegenheit zu geben, habe ich nach und nach die Geschäfte fast ganz in meine Hände genommen. Es war ein schweres Stück Arbeit, aber es ist mir gelungen.
Der alte Thomas, der schon seit Jahren meines Gatten rechte Hand ist, bespricht alles mit mir. Und nur wenn etwas ganz besonders Wichtiges vorliegt, müssen wir erst seinen Rat einholen.
Aber wir sorgen schon dafür, daß es keine aufregenden Sachen sind, die wir mit ihm besprechen. —
Oft sagt mein Mann zu mir: »Du hast mich schon gar nicht mehr nötig, Liebling. Du bist so entschlossen und umsichtig, wie nur je ein Mann es sein könnte.«
Das macht mich stolz. Es erfüllt mich mit ungeahnter Befriedigung, daß ich meine Kräfte so entfalten kann. Daß ich diesem Manne, der mich genommen, ohne viel zu fragen, einen Teil der Schuld abtragen kann.
Nun muß ich die Geschäfte Thomas überlassen und mich ganz meinem Manne widmen. Werde ich ihn mir erhalten? Er ist sehr krank.
Meine Lou, mein liebes, gutes Kind; sie ist mir ein rechter Trost in diesen schweren Tagen.
Wie liebt sie ihren Vater! Sie weicht kaum von seinem Lager. Ich hätte dem kleinen, lustigen Vogel gar nicht so viel tiefes Gefühl zugetraut. —
Das Schlimmste ist vorüber.
Es waren lange, schwere Wochen, aber noch einmal haben wir gesiegt. Und nun gehen wir wieder nach Europa; noch einmal soll Nauheim seine Wunderkraft beweisen.
Lou freut sich wieder sehr auf die Fahrt, wenn auch die Freude etwas gedämpft wird durch des guten Vaters Krankheit. —
Wieder einmal bin ich auf meiner geliebten See. Sie zeigt sich mir diesmal nicht von der besten Seite. Wir haben Sturm und Regen, und der Wind rast über Deck, daß es kaum möglich ist, nach oben zu gehen. —
Ich habe eine Begegnung gehabt, die alles, was langsam zur Ruhe gekommen war, wieder in Aufruhr gebracht hat.
Ich müßte mich sehr irren, wenn nicht Smith, Herbert Smith, an Bord wäre. Er trägt einen kurz verschnittenen Vollbart, und doch habe ich ihn sofort erkannt.
Wie ein elektrischer Schlag ging es durch meinen Körper. Und auch er muß mich erkannt haben, denn ein leichter Schreck huschte über seine Züge.
Das Geschäft muß sehr viel einbringen, denn er fährt erste Kajüte. —
Was soll ich tun?
Soll ich diesen Menschen ungehindert seines Weges ziehen lassen?
Ist es nicht vielmehr meine Pflicht, ihn zu entlarven?
Alles in mir ist in Aufruhr. Wird man mir glauben?
Nein, man wird mir nicht glauben, oder doch nur dann, wenn ich mich selbst preisgebe.
Und mein Mann! Wie würde er es ertragen?
Ach, und mein Kind, meine Lou!
Nein, ich kann es nicht, jetzt noch nicht!
Ich kann in den reinen Augen meines Kindes nicht als eine Verworfene dastehen! —
Ein Vorfall kam mir ins Gedächtnis, den ich vor einigen Jahren erlebte.
Quälende Selbstvorwürfe peinigten mich; ich fühlte mich unsäglich elend und unglücklich und weinte still in meinem Zimmer.
Da kam Lou zu mir herein, und als sie meine Tränen sah, war sie ganz Mitleid. Stürmisch umschlang sie meinen Hals.
»Mama, süße Mama, warum weinst du?« rief sie zärtlich.
Ich schüttelte mit dem Kopfe, ich konnte kein Wort hervorbringen vor lauter Schluchzen.
Als ich mich etwas gefaßt hatte, sagte ich:
»Laß mich, Kind, laß mich allein!«
»Mama, sei gut; sage mir, warum du weinst. Wer hat dir etwas zuleide getan?«
»Niemand, Liebling. Mama muß an früher denken. Damals als sie noch nicht ihren Liebling, ihre Lou, hatte.«
»Darüber brauchst du doch nicht zu weinen, süße Ma!«
»Aber Mama hat damals sehr viel Schweres durchgemacht, und darüber muß sie weinen.«
»Aber du sollst nicht weinen, Ma. Wer hat dir etwas getan? Ich werde es Pa sagen. Niemand darf dir etwas tun!«
»Aber die Mama war nicht gut gewesen und hatte Strafe verdient, Liebling.«
»Aber Mama! Wenn das der Papa hörte! Du bist doch meine liebste, beste, einzigste Mama.«
»Hast du mich denn so lieb, mein Engel?«
»So lieb!« jauchzte das kleine Geschöpf und umschlang mich mit ihren Armen. — —
Nein, ich kann es nicht von mir wälzen. Um des Kindes willen nicht.
Was sollte aus ihr werden, wenn sie den Glauben an die Mutter verlieren müßte? — — —
Meinem Manne geht es schlecht. Er leidet stark an Atemnot.
Wären wir erst in Nauheim. Ich darf ihn nicht verlieren, jetzt noch nicht. Ich würde wieder ganz einsam sein – denn noch kann mir mein Kind, meine Lou, den Gatten nicht ersetzen. —
Ich habe mich nie nach einer Freundin gesehnt, mein Gatte war mir alles.
Doch sollte er von mir gehen, und ich allein die Strecke wandern müssen, die ich noch vor mir habe, so werde ich Trost in der Arbeit und bei meinem Kinde suchen.
Nur jetzt laß ihn mir noch, noch ist es zu früh. —
Wenn es wahr ist, daß die Ehen am glücklichsten sind, in denen die Liebe des Mannes größer ist als die der Frau, so mag es davon kommen, daß die unsere so überaus glücklich war.
Sicher muß aber auch die Frau danach sein, wenn eine solche Ehe wirklich glücklich sein soll.
Was ihr an Liebe fehlt, muß sie durch Pflichtgefühl ersetzen. —
Mein Mann erholt sich nicht wieder. Der Arzt läßt mir keine Hoffnung.
Es kann noch Monate währen, es kann auch plötzlich kommen, ich muß auf alles gefaßt sein. —
Es ist Arterienverkalkung dazugekommen.
Der Ärmste, er hat in seiner Jugend zu viel gearbeitet und entbehrt.
Ich bin jetzt ganz gefaßt und zeige meinem Manne immer ein fröhliches Gesicht; er darf nicht ahnen, wie es um ihn steht.
Ob er wirklich nichts ahnt? – Seine sonderbaren Reden machen mich manchmal stutzig.
»Du hast mich sehr glücklich gemacht, Liebling,« sagte er kürzlich zu mir.
»Tu' ich es denn jetzt nicht mehr, Liebster?« fragte ich scherzend.
»Immer! Aber wenn ich einmal von dir gehen sollte, Lotti, wirst du mich auch nicht so bald vergessen?«
»Ich dich vergessen? Wie redest du nur? Du bleibst noch lange bei uns. Denk' an Lou! An deine Lou! Du mußt noch bei uns bleiben! Hörst du?«
Tränen liefen mir über die Wangen, und auch ihm verging vor Rührung die Stimme. »Wie gerne möchte ich! Und doch, kann ich nicht ohne Sorge gehen? Ruht nicht mein Lebenswerk in guten Händen? Du bist ein ganzer Mensch geworden, meine Lotti.«
»Du warst mein Lehrer, ich war in guten Händen.«
Ich möchte gern wieder einmal in meinen Wald, darf aber nicht wagen, meinen Mann zu verlassen.
Gestern hatte ich eine Begegnung, die mich gleicherweise erschreckte und erfreute.
Der Herzog ist hier, der Herzog von B.
Das also ist mein Vater! Dieser blasse, schmale Herr!
Ich hab' ihn mir anders vorgestellt. Als einen ritterlichen, sieghaften Mann. —
Er wird anders gewesen sein, als meine Mutter ihn geliebt hat. Nun ist er krank, herzleidend natürlich.
Er hat keine Kinder und eine kalte, unsympathische Gattin.
Das ist die Strafe! Die gerechte Strafe für meine zerstörte Jugend und den frühen Tod meiner Mutter.
Ich möchte ihn hassen – und doch – ich kann es nicht. — —
Gestern hat er mit Lou gesprochen, mit meiner Lou.
Ob wirklich etwas daran ist, an dem Märchen von der Stimme des Blutes? Ich glaub' es nicht. Wenn ihm Lou gefällt, so ist das nur natürlich. Jedermann mag das entzückende, natürliche Geschöpfchen gern.
Wir saßen gestern abend auf der Terrasse, mein Mann und ich.
Wenn es nicht so sonderbar wäre, so möchte ich sagen, mein Mann ist mir jetzt teurer als je zuvor.
Es ist ein solch inniges Verhältnis zwischen uns, wie es kaum zwischen jungen Liebesleuten sein kann.
Ich mag gar nicht von seiner Seite gehen.
Ist es das nahe Scheiden, das uns so innig vereint? Hat uns etwas, das mehr ist als Liebe, zusammengeführt?
Der Rückblick auf meine Ehe läßt mich keinen Augenblick den Schritt bereuen, den ich getan, trotzdem es ohne Liebe geschah.
Könnte ich ebenso sagen von dem, was früher geschah! — — —
Heute waren wir zusammen im Wald. Lou suchte Blumen, und wir beide waren allein unter dem grünen Gewölbe.
Die Luft schien geschwängert mit Wohlgerüchen, und die Ruhe, die uns umgab, hob uns über den Alltag hinaus.
»Gibt es etwas Schöneres als unseren deutschen Wald?« sagte mein Mann sinnend, nachdem er eine Weile regungslos den Blick nach oben gewandt hatte.
Mir traten die Tränen in die Augen. Wer wußte es besser als ich, wie schön er war. Mit einem Schlage stand alles vor mir. Das Forsthaus, die Großeltern, die dunkeln Tannen, alles, alles!
»Ich möchte im deutschen Walde ruhen, wenn ich einmal nicht mehr bin, Lottchen. Versprich mir, daß du mir hier oder in der Heimat ein schönes Plätzchen unter den rauschenden Tannen aussuchen willst,« fuhr er fort.
»Sprich nicht immer vom Sterben, Liebster,« sagte ich schluchzend.
»Weine nicht, Lotti. Ich will nicht mehr davon sprechen, wenn es dich aufregt. Nur versprich mir, daß du mir meinen Wunsch erfüllen willst. Willst du, Liebling?«
»Ich verspreche es dir. Du sollst unter den schönsten Tannen schlafen, die unser deutscher Hochwald hat,« sagte ich feierlich.
Wie eine Vision stieg der Platz vor mir auf. Ich kannte ihn! Oh, ich kannte ihn!
Ich sehe den Herzog fast täglich. Ich möchte vor ihn hintreten und ihm sagen, wer ich bin.
Doch wem würde es nützen! Mir? Ich brauche ihn nicht.
Meiner Lou? Auch in Deutschland duckt man sich vor amerikanischen Millionen genau so sehr wie vor Herzogskronen, das habe ich kennen gelernt.
Und wenn mein Sinn nach einer Krone stände, so könnte ich einst eine kaufen für meinen Liebling; tun es doch so viele. —
Kronen drücken schwer, das sehe ich jetzt wieder an dem Fürsten und seiner Gattin. Sie sehen beide nicht eben glücklich aus.
Und mein Kind soll glücklich sein.
Das Verhängnis kommt zusehends näher. Mein Mann hat seine Anfälle immer häufiger. Es ist mir entsetzlich, ihn so leiden zu sehen und nicht helfen zu können. Aber hier muß auch die Kunst der Ärzte Halt machen. Nur erleichtern läßt sich sein Leiden.
Rührend ist seine Mühe, mit der er mir seine Schmerzen zu verbergen sucht. —
Er fürchtet, mir wehe zu tun.
Gibt es größere Liebe? —
Wie langsam und bleiern die Stunden in die Ewigkeit rinnen!
Wie furchtbar muß ein Mensch kämpfen, ehe er die Hülle abwerfen kann, die doch zuweilen so unsäglich schwer drückt.
Stunden hatte ich bereits am Lager meines Mannes gesessen. Er schien zu schlummern, langsam und stoßweise nur ging sein Atem.
Plötzlich bewegte er sich, sah mich einen Augenblick sinnend an und sagte dann langsam und schwerfällig:
»Küsse mich, Lotti, und küsse unsere süße Lou von mir. Sie soll nicht hierherkommen jetzt. Es ist kein Anblick für ein Kind, wenn ein Mensch mit dem Tode ringt.«
Er machte eine kleine Pause und winkte abwehrend mit der Hand, als ich ihn unterbrechen wollte. Dann fuhr er fort:
»Du hast mich sehr glücklich gemacht, Lotti. Du hast die Sonne in den grauen Alltag meines Lebens gebracht, ich danke dir dafür.
Mit der Fabrik wirst du gut fertig werden, Thomas steht dir zur Seite. Es wäre mir sehr lieb, wenn du sie behalten wolltest, meine besten Jahre hat sie mir gekostet.
Mich aber laß hier in der Heimat, und willst du lieber bei mir bleiben, so sei auch dafür gesegnet.«
Erschöpft schwieg er.
Sanft strich ich ihm den Schweiß von der Stirn und drückte einen Kuß auf die Lippen, die nur Worte der Liebe und Güte für mich gehabt hatten.
»Alles soll werden, wie du es wünschest,« sagte ich tröstend, »ich werde in allem deinem Sinne gemäß handeln.«
Er lag still und ruhig in den Kissen. Die Atembeschwerden schienen etwas nachzulassen, das Atmen ging leichter.
Um zwölf Uhr wollte der Arzt noch einmal kommen. —
Ich nahm seine Hand in die meine und saß still und bewegungslos neben ihm.
Die Hand wurde kälter und kälter. Ruhig und ohne weiteren Kampf schlief er hinüber. Als der Doktor kam, war alles vorbei. —
Ich kann nicht weinen, und doch sitzt es mir in der Kehle, daß ich ersticken möchte.
Zu lange habe ich es kommen sehen, um ungefaßt dem Entsetzlichen gegenüberzustehen. —
Doch ich habe keine Zeit zum Klagen, ich muß den Platz suchen, wo mein Gatte ruhen soll im rauschenden Tannenwald.
Mein armes Kind, sie ist ganz aufgelöst.
Ihr junges Herzchen ist gebrochen von dem ersten, schweren Leid.
Ihr Vater! Ihr einziger, lieber Vater!
Sie kann es nicht fassen. —
Die Natur ist grausam in ihrer ausgleichenden Arbeit. —
Ich will heute noch nach Jagdhaus Finsterberg, zu den Großeltern. Dort in ihrem Walde soll mein Mann ruhen. —
Ich habe keine Zeit zu müßigem, tatenlosem Jammern. —
Ob ich mein Kind mit mir nehme?
Nein! Ich will noch warten! Den ersten Ansturm will ich allein ertragen.
Später vielleicht – vielleicht kann ich mein Kind in die Arme der Großeltern legen. —
Unser Chauffeur hat gute Tage gehabt. Seit Wochen ist das Auto nicht aus der Garage gekommen, heute soll es mich hinübertragen in die Heimat, in das dunkle, heimliche Grün des Waldes.
Ob ich unvermutet vor sie hintrete?
Nein, ich würde sie zu sehr erschrecken, den Tod könnten sie davon haben!
Den Tod! Mich friert trotz der Sonnenglut.
Wenn ich niemand mehr fände? Wenn fremde Gesichter mir entgegensähen! — —
Ich bin nervös; die lange, aufreibende Pflege hat mich selbst auch krank gemacht. Und doch darf ich nicht schwach werden. Ich muß meine Kräfte hochhalten, bis ich dich gebettet habe, du guter, du treuer Weggenoß.
Wie ein Zwang ist es über mir, seit er den Wunsch geäußert.
Ich muß ihn unter die Tannen der Heimat betten.
Ich bin inkonsequent, ich weiß es. Nie wieder wollte ich in der Heimat weilen als die, die ich wirklich bin.
Und doch fühle ich schon jetzt eine Freudigkeit, eine Zuversicht in mir, wie seit langem nicht.
Es muß also doch wohl das Rechte sein, trotz der scheinbaren Inkonsequenz. —
Umstände ändern die Sache.
Nun ist auch das vorüber.
Mein Wagen trägt mich rasch wieder zu meinem Kinde, das ich schon morgen den Großeltern bringen will.
Wenn ich alles überdenke, dann weiß ich selbst nicht, wie es gekommen ist.
Unter dem Vorwande, Grüße von einer Dame aus Amerika überbringen zu wollen, bat ich um eine Unterredung.
Ich vermochte kaum zu sprechen vor Aufregung, als ich endlich den lieben Alten gegenübersaß.
Wiederholt fing ich an, ohne doch ein Wort über die Lippen zu bringen. Wohl sah ich den prüfenden Blick des Großvaters, die nervös zitternden Hände der Großmutter.
Und als mir dann statt aller Worte Tränen aus den Augen stürzten, da war es auch um die Zurückhaltung der Großmutter geschehen.
Mit dem schluchzenden Ruf: »Lottchen, du bist es, Lottchen, mein Kind!« hielt sie mich umschlungen, und ich schluchzte den Jammer meiner Seele an ihrer treuen Brust aus.
Wäre ich doch schon früher zu ihnen gegangen!
Keine Frage nach dem, was ich gefürchtet! Ihnen war es genug, daß ich da war. —
Ach, ich bin so froh, so glücklich! Ich habe einen Platz gefunden, wo ich meinen Schmerz ausweinen kann. — —
Zeit zu langem Reden hatten wir nicht, dafür wird später übergenug Muße sein. Ich mußte vor allem meine Bitte anbringen, mir ein Plätzchen zu geben für meinen armen, toten Gatten.
Der Großvater wurde ernst.
»Das kann ich nicht, Liebling. Ich habe hier keine Rechte zu vergeben. Hier hat nur der Herzog zu bestimmen.«
Der Herzog? Oh, mein Gott! Daß ich daran nicht gedacht!
Mein Kopf brannte, meine Augen glühten.
»Der Herzog! So gehe ich zum Herzog!« rief ich aus.
»Du wolltest?« rief der Großvater.
»Weißt du, zu wem du gehst?« fragte die Großmutter.
»Ich weiß es. Und eben deshalb hoffe ich keine Fehlbitte zu tun. Und warum sollte ich nicht gehen? Nicht ich bin es, die sich hier zu schämen hat.«
Der Großvater neigte das Haupt.
»Mach' was du willst, Kind. Ich bin alt, ich habe nicht mehr viel zu verlieren.«
»Ach, Großvater! Was sollte dir denn passieren? Und wenn der hohe Herr wirklich unzufrieden sein sollte, so kommst du mit mir.«
»Nein, nein, mein Kind! Alte Bäume verpflanzt man nicht mehr. Bring' uns dein Kind, damit wir uns an ihm freuen können. Aber bald!«
»So komm mit und hole sie!« sagte ich rasch. »Du würdest auch mir eine Stütze sein in diesen Tagen.« — — —
Er ist mitgekommen, und Lou ist ganz glücklich über den prächtigen, alten Großvater. —
Morgen gehe ich zum Herzog. Sonderbares Gefühl! Ob sich etwas regt in seiner Brust bei meinem Anblick?
Ob ich meiner Mutter gleiche?
Ich weiß nicht, soll ich ihn hassen oder lieben? —
Keines von beiden! Er ist mir gleichgültig.
Wenn er mir meinen Wunsch erfüllt, bin ich zufrieden.
Sonderbar: mein Vater! Es verbinden sich mir gar keine lieben, herzlichen Gefühle mit diesem Wort.
Eine unharmonische Kindheit, eine schmutzige, traurige Jugend, und doch – wie wunderschön ist es, einen Vater zu haben. Einen Vater, wie er meiner Lou starb. —
Auch dieser Schritt ist getan: ich habe mein Ziel erreicht.
Ich habe an gar nichts gerührt. Ich habe nur gebeten. Als die Enkelin des alten Försters Ruhland. —
Um den letzten, innigen Wunsch meines sterbenden Gatten zu erfüllen, sei ich hier, ich wisse keinen schöneren und passenderen Platz als den in der Heimat, die ich nie vergessen könne. —
»Förster Ruhland hatte nur ein Kind, eine Tochter?« fragte der Fürst mit unterdrückter Stimme.
»Nur eine Tochter, Hoheit. Sie war meine Mutter.«
»Ihre Mutter!« flüsterte er. »Wie alt sind Sie, gnädige Frau?«
»Wie alt? Ich bin schon sehr alt! Geboren bin ich im Juni 1872.«
»Achtzehnhundertzweiundsiebzig,« murmelte er und stützte sich schwer auf die Lehne seines Sessels.
Dann ruhten seine Augen einige Minuten forschend auf meinem Gesicht.
»Ihr Wunsch ist Ihnen erfüllt. Suchen Sie sich den schönsten Platz aus, gnädige Frau – oder darf ich »liebes Kind« sagen? Sie sind doch die Enkelin meines alten, treuen Ruhland....... Ich werde mich bei der Beerdigung Ihres Gatten vertreten lassen.«
Er reichte mir die Hand, und ich drückte dankbar meine Lippen darauf. Ein sonderbares Gefühl arbeitete in mir. Ich hatte ihn hassen wollen. Und nun? Dieser Mann war nicht schlecht, er hatte im jugendlichen Leichtsinn gesündigt. — —
Und jetzt war er nicht glücklich.
Kronen drücken schwer. — — —
»Die Schrulle eines Millionärs« nennen sie hier den Wunsch meines Gatten.
Mein lieber, einfacher Mann. Kann ein Mensch anspruchsloser sein? Er beanspruchte so wenig für sich von seinem Reichtum.
Ist er nicht ganz natürlich dieser Wunsch nach einem stillen, einsamen Ruheplätzchen, wenn man ein so arbeitsreiches, unruhiges Leben hinter sich hat? —
Nun haben wir ihn gebettet. Nichts wird ihn stören als der Schrei eines Nachtvogels oder das Brüllen der Hirsche in ihrer Kampfzeit.
Die Vögel in den Zweigen singen ihm das Schlummerlied. Ihm ist wohl, für uns ist es hart. Wer sich zu der Religion flüchten kann mit seinem Schmerz, der ist wohl daran.
Ach, ich beneide mein Kind, das voller Inbrunst und Hingebung am Grabe des geliebten Vaters betet.
Nun ist wieder Ruhe um mich her.
Wir bleiben noch einige Tage hier bei den Großeltern.
Lou würde am liebsten immer hier bleiben, hier, bei dem toten Vater und bei den lieben alten Leuten.
Nur mir wühlt die Unruhe im Blut.
Eine Aussprache ist unvermeidlich, und ich – ich fürchte sie.
Die Großeltern haben mir das Geständnis leicht gemacht.
Sie schienen zu ahnen, was hinter mir lag.
Ich hatte den Brief vergessen, den ich am Vorabend jenes unseligen Ankunftstages an sie geschrieben hatte. Dieser Brief war das letzte Lebenszeichen von mir. —
War es verwunderlich, daß sie ahnten, in welche Hände ich gefallen?
Sie haben Erkundigungen angestellt, der Onkel in Amerika hat mit Hilfe des deutschen Konsuls alles mögliche versucht – ohne Erfolg.
Mich hatten sie fest und sicher hinter den Mauern jenes verfluchten Hauses. — — — —
Und während meine Lou, mein Liebling, draußen im Walde umherstreift, rollt sich noch einmal die Vergangenheit mit all ihren Schrecknissen vor mir auf. — — —
Wir haben uns ausgesprochen und alles ist – oder vielmehr soll begraben sein.
Zu vergeben hatten sie mir im Grunde nichts – der alte Fluch hatte sich auch an mir erfüllt. —
Die Sünden der Väter. — —
Mir liegt auch alles so weit ab jetzt, der erneute schwere Verlust läßt mir alles klein erscheinen.
Ich habe kein rechtes Glück in der Welt. Alles wird mir genommen.
Ich muß daran denken, wie hoffnungsfreudig ich war, als mein Mann damals um mich warb. Noch einmal lag das Leben schön und begehrenswert vor mir. Nun liegt auch das wieder eingesargt drüben unterm Rasen. — —
Habe ich mein Gelöbnis gehalten?
War ich ihm ein gutes, treues Weib?
Ein guter Kamerad?
Ich war es! Ich habe meine Pflicht erfüllt. Nicht einmal den Mangel an Liebe hat er empfunden.
Ich habe ihn sehr hoch geschätzt, er war der Besten einer. —
Daß ich ihm keinen Sohn schenken konnte, einen Erben für sein Lebenswerk!
Trotzdem ich zuerst erfreut darüber war, keinem Jungen das Leben geschenkt zu haben, hat es mich die letzten Jahre doch oft betrübt. So sehr er auch sein Mädchen geliebt, ein Sohn hat ihm doch gefehlt.
Dort kommt der Mond langsam über die Wipfel der Tannen und wirft sein blasses, kaltes Licht auf das schmale Bett da drüben.
Wo stand ein Bett wie dieses, so schmal, so kalt und schmucklos!
Und ich lag darin – vor langen, langen Jahren – oder war ich es nicht? War es mein Schatten?
Morgen werde ich vor die Großmutter hintreten und Rechenschaft über jene Tage fordern. —
Was man dem Kinde damals vorenthielt, der reifen, geprüften Frau wird man es nicht mehr weigern.
Ich will Aufschluß über Leben und Tod meines Kindes. —
In all den langen Jahren bin ich das quälende Bewußtsein nicht losgeworden, daß ich damals nicht die Wahrheit erfahren habe.
Ich bin jetzt auf einem Punkt angelangt, daß ich auf nichts und niemand mehr Rücksicht nehme.
Noch kurze Zeit, und das große Wasser liegt wieder zwischen mir und der Heimat.
Ich kann nicht schlafen. Die Geister der Vergangenheit umschweben mich und lassen mich nicht zur Ruhe kommen. —
Bist auch du mir nahe, teure Mutter? Und du, Werner, mein Geliebter, mein Retter?
Seid ihr zufrieden mit mir, so gebt mir ein Zeichen!
Fern, ganz fern und schwach tönt feines Klingen im Dunkel des Waldes, wie eine Stimme aus dem Jenseits.
Oder fiel ein Stern klingend vom Himmel?
Ich will schlafen und träumen, vielleicht kommen im Traum die Lieben zu mir, die mir das Wachen versagt. — —
Meine Ahnung hat mich nicht betrogen, ich habe einen Sohn!
Er lebt, ist gesund, und ich – ich wußte es nicht!
Warum hat man es mir verheimlicht? —
Sie haben es gut mit mir gemeint, sagen die Großeltern. Ich sollte, selbst noch ein Kind, nicht diese Bürde tragen. —
Später, wenn ich älter geworden, wenn die Umstände danach waren, hätten sie mir die Wahrheit sagen wollen.
Und dann sei ich verschollen gewesen. —
Sie haben es gut gemeint! Gewiß, ich muß wohl noch dankbar sein. —
Aber nun? Wo ist mein Kind? Jetzt hält mich nichts mehr zurück, führt mich hin! —
Sie schweigen – sind verlegen – was soll das bedeuten? —
Und so erfahre ich denn das Unglaubliche, das Unfaßbare!
Mein Sohn, mein Kind, ist auf Gut Koppenbruch, bei Rudolph Schönewald, seinem Vater!
Es ist kaum auszudenken, und doch ist es wahr!
Es klingt gleich einem Märchen, und doch ist es Wahrheit. Der Mann, der vor allen anderen daran schuld ist, daß ich in dieses Labyrinth geriet, der es ablehnte, der Mutter seines Kindes einen ehrlichen Namen zu geben, dieser Mann nimmt den Sohn eben dieser Frau an Kindes Statt an, weil seine Gattin ihm keinen Erben geschenkt.
Meinen Sohn! — —
Meine Gedanken wandern hinweg, weit fort, zu den Tagen, wo mein Mann hoffte – vergebens hoffte, daß ihm ein Erbe für sein Lebenswerk geboren würde.
Er hoffte vergebens!
Und Rudolph Schönewald sollte sich in meinem Sohne den Erben heranziehen?
Das Kind der Frau, die er verschmäht, weil sie nicht Geld genug hatte, um die Gattin eines Gutsbesitzers zu werden!
Nein! Ich werde es nicht zugeben! Ich selbst will mein Kind zu mir nehmen, und keine Macht der Welt wird mich daran hindern. —
Vor acht Jahren erst hat er den Knaben zu sich genommen, als ihm selbst keine Hoffnung geblieben, daß ihm ein Erbe geboren würde.
Die Großeltern haben es als die glücklichste Lösung der ganzen Angelegenheit betrachtet.
Kann ich sie tadeln?
Nein, gewiß nicht!
Die Mutter verschollen, sie selbst alt und gebrechlich, ist es da nicht zu begreifen, wenn sie es als ein Glück ansahen, daß der Knabe auf diese Weise gewissermaßen zu seinem Rechte kam? —
Seine Gattin weiß natürlich nichts von der Herkunft ihres Adoptivsohnes. Für sie ist es ein entfernter Verwandter. —
Nun aber bin ich da, und sofort werde ich Schritte tun, um mir mein Kind zurückzuholen. —
Wem bin ich Rechenschaft schuldig? Niemand.
Meiner Lou?
Fürchte ich die fragenden Augen meines Töchterchens?
Es wird sich ein Ausweg finden; später, wenn sie es besser versteht, soll sie alles erfahren, die ganze Wahrheit.
Nur jetzt noch nicht, noch ist sie nicht reif genug dafür. —
Ich habe an Rudolph Schönewald geschrieben und ihn ersucht, mir Zeit und Ort anzugeben, wo ich mein Kind in Empfang nehmen kann, um es mit nach Amerika zu nehmen. —
Wer mir gesagt hätte, daß ich noch einmal an diesen Mann schreiben würde! Ich versuche vergebens, mir sein Bild ins Gedächtnis zurückzurufen.
Weit, weit ab, in fernem, undurchdringlichem Nebel liegen jene heißen, schwülen Tage, in denen zuerst meine Sinne erwacht. —
Nichts regt sich mehr in mir, was für diesen Mann spricht. Nur ein Gefühl der Genugtuung beschleicht mich bei dem Gedanken, ihm wehe zu tun. —
Er wird den Knaben liebgewonnen haben. Er wird ihn mir nicht geben wollen. Aber er muß! Das Recht ist auf meiner Seite.
Und wäre es nicht so, dann würde ich mich nicht scheuen, noch einmal die Hilfe des Herzogs in Anspruch zu nehmen. — —
Was ist es, das mich so rastlos macht, seit ich den Brief geschrieben?
Ist es die Sehnsucht nach dem Kinde, das ich nicht kenne?
Nein! Vor mir selbst will ich wahr sein!
Gewiß, ich sehne mich nach dem Knaben. Wie wird er sein? Werde ich ihn lieb haben – und er mich?
Er wird mich lieben lernen.
Ob man ihm je von seiner Mutter sprach?
Ich wage gar nicht zu fragen, wem er ähnlich sieht.
Nur nicht jenem Menschen, dem ich jetzt mit Freuden die größte Enttäuschung seines Lebens bereite.
Vielleicht nicht nur eine Enttäuschung, vielleicht einen Schmerz, einen wirklichen, großen Schmerz. —
Ja, das ist es! Ich freue mich darüber! Ich will ihm wehe tun! —
Ist das schlecht?
Es ist nur menschlich! Wer hat nach meinen Gefühlen gefragt? —
Heute früh war er da!
So rasch hatte ich die Wirkung meines Briefes nicht erwartet. —
Ich war sehr erschrocken, als mir Rudolph Schönewald gemeldet wurde. Ich warf einen Blick in den Spiegel und erschrak noch mehr über das blasse Gesicht, das mir aus der schwarzen Umrahmung doppelt blaß entgegenschien.
Es klopfte an die Tür. Ich trat einen Schritt vor – es war mir nicht möglich, »Herein« zu rufen – da stand er auch schon vor mir. —
Was hatte ich mir alles vorgenommen! Was wollte ich diesem Manne ins Gesicht schleudern, jahrelang angehäuften Groll, Verachtung, alles, alles – und nun sagte ich gar nichts.
Er stand vor mir, den Hut in der Hand, das blonde Haar an den Schläfen stark gelichtet, mit unsicheren, ängstlichen Augen, und sagte ebenfalls nichts.
So mußte ich anfangen.
»Sie wünschten mich zu sprechen, Herr Schönewald?«
»Ja – Sie schrieben mir, gnädige Frau, und – da – ich – dachte —«
Er stotterte und schwieg.
»Da wollten Sie mir meinen Jungen selbst bringen, nicht wahr?« sagte ich kühl. Ich hatte mich gefaßt und mich darauf besonnen, wer vor mir stand. —
Er zog sein Taschentuch heraus und wischte sich den Schweiß von der Stirn, dann sagte er:
»Warum wollen Sie mir das antun, gnädige Frau? Sie kennen den Jungen gar nicht, und ich, ich habe ihn lieb.«
»Sie hätten ihn seinerzeit für immer haben können, nun ist es zu spät. Uneheliche Kinder gehören, soviel ich weiß, der Mutter. Und ich gedenke mein Recht geltend zu machen.«
»Aber ich habe ihn adoptiert!«
»Ohne meine Einwilligung!«
»Er wird nicht von mir wollen, haben Sie Erbarmen!«
»Haben Sie Erbarmen gehabt? Ich tue nur, was die Bibel lehrt: Auge um Auge, Zahn um Zahn.«
»So kann Sie nichts von Ihrem Vorhaben abbringen?«
»Nichts! Es ist nutzlos, weiter darüber zu reden. Adieu!«
Er ging. Merkwürdig gebückt, trotz seiner noch jungen Jahre. —
Mir ist so wohl! Es ist ein schönes Gefühl, wenn man so abrechnen kann. — — —
Nur dürfte der Grund zu dieser Abrechnung nicht das Schicksal meines Kindes sein.
Das ist der bittere Nachgeschmack.
Aber das weiß nur ich allein. — —
Ich will heute nachmittag nach Nauheim fahren und alles zur Abreise vorbereiten. Wenn ich meinen Sohn bei mir habe, will ich so bald als möglich nach drüben.
Es ist auf alle Fälle besser, diese Entfernung zwischen ihn und seinen Vater zu legen. —
Mir ist ganz sonderbar zumute, wenn ich mir vergegenwärtige, wie es werden wird.
Wenn er nicht zu mir will? Möglich wäre auch das.
Wie soll er diese so plötzlich aufgetauchte Mutter lieben?
Aber er ist noch jung, ist aufnahmefähig für alles Neue und Absonderliche.
Lou ist fünfzehn Jahre und er achtzehn. —
Achtzehn Jahre! Was hatte ich mit achtzehn Jahren schon alles hinter mir! — —
Die Großeltern gehen mit sonderbar vorwurfsvollen Blicken einher. Sie scheinen nicht mit meinem Tun zufrieden. —
Bis zu seinem zehnten Jahre ist der Knabe hier bei ihnen gewesen.
Ich glaub' es wohl, daß sie ihn ungern hergegeben haben, daß sie nur das Wohl des Knaben im Auge hatten.
Sie können mich nicht begreifen, daß ich ihn nicht dort lasse, wo nach ihrer Meinung sein rechter Platz ist.
Sind es nur Rachegefühle, die mich leiten?
Gilt mir das Wohl meines Kindes nicht in erster Linie?
Wenn ich ganz wahr gegen mich sein will, so weiß ich es selbst nicht einmal.
Ich will mein Kind haben, will es umarmen, herzen, küssen, und fürchte mich doch vor diesem Augenblick.
Das aber weiß ich gewiß, daß mich ein wohliges Gefühl beschleicht, wenn ich an den Schmerz denke, den ich dem Vater dieses Kindes zufüge.
Lou will im Walde bleiben, bis alles fertig zur Abreise ist.
Mich trägt mein Wagen schnell zur Stadt; es ist schön, so schnell zum Ziele zu kommen.
Ich lehne mich im Wagen zurück und lasse meine Augen über die alten, vielhundertjährigen Bäume gleiten. Es träumt sich gut unter euch. Und du wirst still und friedlich ruhen, mein treuer Freund.
Ich aber will dir noch jetzt den Mann erziehen, den du dir für deine Werke so oft gewünscht hast. —
Die Dämmerung zieht herauf. Die Stimmen der spielenden Kinder tönen von der Straße zu mir ins Zimmer.
Selige Tage der Kindheit.
So gut es meine Lou hat, etwas hat sie nicht kennen gelernt.
Diese wundervollen Spiele an lauen Sommerabenden, wenn jeder Augenblick vorm Zubettgehen noch im Spiel mit den Nachbarskindern ausgenutzt wird. —
Auch Millionäre können ihren Kindern nicht alles geben. — —
Nun ist alles erledigt. Ich bin wieder im Walde und erwarte nur noch meinen Jungen.
Großvater ist gestern hingefahren, ihn zu holen.
Schönewald hat an ihn geschrieben, es ginge über seine Kraft, selbst den Jungen aus seinem Hause zu bringen.
Ich will es glauben, es ist vielleicht auch besser so.
Großvater kann ihn wenigstens etwas vorbereiten unterwegs.
Und Lou? Ich muß es ihr endlich sagen, daß sie einen Kameraden bekommt, einen Bruder!
Wird es mir doch zu schwer, das rechte Wort zu finden — —
Nun ist es gesagt! Sie ist doch noch ein rechter Kindskopf.
Sie freut sich! Freut sich unbändig über den Bruder, und fragt nicht nach dem Wie und Wo.
Schon immer hat sie sich einen Bruder gewünscht, mit dem sie Spaziergänge und Streifzüge unternehmen könne.
Es ist gut so. Später, wenn sie vernünftiger ist, werde ich es ihr besser erklären können.
Nun ist er da!
Mein Junge! Mein großer, schöner Junge! Ach, ich bin doch glücklich. So hatte ich ihn mir nicht vorgestellt, so groß und hübsch. Ein rechter Herr schon!
Ach, und gottlob nichts, aber auch gar nichts von dem, was ich gefürchtet. Sein Aussehen ruft mir keine unangenehmen Erinnerungen wach. Dunkelbraunes Haar, schöne Nase, etwas gebogen, und prächtige, dunkle Augen.
Aber so scheu, so ungelenk ist der große Bursche, immer und immer wieder guckt er sich die neue Mutter an. —
Ich war ganz aufgeregt. Ich habe gelacht und geweint, und all meine Ruhe war verflogen. Hätte ich ihn doch schon früher gehabt, meinen Jungen! Wird er sich jetzt noch an mich gewöhnen?
Früher? Aber ich vergesse ja ganz, daß mein Mann von der Existenz dieses Kindes gar nichts hätte wissen dürfen.
So war es also gerade die rechte Zeit. —
Ja, ja, ich finde mich durch mein eigenes Leben bald nicht mehr hindurch.
Morgen reisen wir ab. Ich freue mich diesmal sehr auf die Reise.
Die letzten Tage waren unerträglich.
Der Knabe ist mir fremd, und alle meine Annäherungsversuche waren erfolglos. Noch ist kein gemeinsames Band zwischen uns. Nur mit Lou ist er bereits gut Freund.
Doch ist wenigstens sein Name mir vertraut. Sie haben ihm Großvaters Namen gegeben.
Konrad, ein schöner Name, und so echt deutsch.
Und ich will seinen Träger zum Amerikaner machen!
Ob es mir gelingen wird?
Ich hoffe es, ist er doch noch jung. —
Ich glaube überhaupt, es ist in erster Linie die Freude an der Reise, an dem Unbekannten, die ihn bewogen hat, so rasch und widerstandslos einzuwilligen.
Steckt doch in jedem jungen Menschen der Hang zum Abenteuerlichen.
Mag es sein, ich muß es hinnehmen. Später, im steten Umgang, und drüben, wo er ganz auf mich angewiesen ist, werden wir schon das heimliche Band finden, das uns verbindet.
Es muß gelingen! Es war mir ein unerträglicher Gedanke, die Fabrik und die großen Viehzüchtereien in fremde Hände zu legen, wenn ich einmal gehe. —
Lou? Sie wird heiraten, und ich möchte ihr keinen Mann aufzwingen aus Rücksicht aufs Geschäft.
Ergibt es sich von selbst, daß sie eine passende Heirat macht, dann um so besser; es ist Platz für zwei Herren. —
Auch die großen Weideflächen brauchen Aufsicht, und wir könnten etwas mehr Ruhe walten lassen.
Aber Ruhe in Amerika, und noch dazu in einem Geschäft – das ist beinahe ein Ding der Unmöglichkeit.
Es wäre deshalb doppelt gut, wenn die Arbeit geteilt würde. —
Auf See.
Wieder einmal die goldene Klarheit eines schönen Herbsttages auf See. Die Luft ist mild und wunderbar rein.
Erquickende Tage, erquickende Nächte, noch einmal ist es eine Zeit für mich, von der ich sagen kann, das Leben ist doch lebenswert. —
Der Kinder wegen nehmen wir die Mahlzeiten im großen Salon, was wir in den letzten Jahren wegen meines Mannes Krankheit nie getan haben. Die schön geschmückten Tische, der Luxus der Ausstattung, die harmonisch abgestimmten Farben, das ist stets wie ein Fest.
Wir sitzen am Kapitänstisch, sind also bevorzugt, gewissermaßen. —
Mein Junge kommt aus der Verwunderung gar nicht heraus. Er staunt noch immer die Annehmlichkeiten des Reichtums als etwas Unwirkliches an. Lou ist das gewöhnt, sie nimmt es als selbstverständlich hin.
Was wohl der Kapitän und all die hohen Herrschaften sagen würden, speziell der deutsche Gesandte Graf B., der mir gegenüber sitzt, wenn ich ihnen verriete, daß ich vor nun sechzehn Jahren auf genau solchem Schiff als Stewardeß tätig war?
Das Geld ist doch eine große Macht. — —
Ich kann mich nicht überwinden, ich muß auch diesmal wieder nach alter Gewohnheit des Abends ein Stündchen auf Deck.
Heute abend traf ich Konrad, allein und auf meinem alten Plätzchen. Es berührt mich sonderbar; begegnen wir uns hier in einem Empfinden?
Ich legte den Arm um ihn und sah ihm in die Augen.
Heimweh? Armer Junge! Ich hätte es mir denken können......
»Nächstes Jahr gehen wir wieder nach draußen, mein Junge! Wenn du brav lernst, dann sollst du als Belohnung eine Europareise haben. Auch Lou wird gern wieder mitgehen, meinst du nicht auch?«
Es leuchtete freudig auf in seinem von Tränen verdunkelten Blick.
Ich selbst habe auch den Wunsch, schon nächstes Jahr wieder an mein geliebtes Grab zu eilen. Bin ich doch jetzt, durch die Umstände gezwungen, viel zu früh fortgegangen.
Ich habe mich entschlossen, erst noch einige Wochen in New York zu bleiben. Es ist besser für Konrad, er muß erst einigermaßen die Sprache beherrschen.
Wir haben schon unterwegs nur noch Englisch mit ihm gesprochen. Ich glaube, es wird ihm leicht werden. Nur muß er einen tüchtigen Lehrer haben. Wir beide, Lou und ich, wir sind nicht energisch genug. Wenn er es gar nicht verstehen kann, dann sprechen wir doch immer wieder Deutsch. Am besten ist es aber, wenn er überhaupt kein Wort Deutsch mehr hört.
Ich werde den Doktor aufsuchen, er wird mir raten. —
Nun bin ich doch schon zu Hause. Aus den Wochen in New York sind nur einige Tage geworden. Aber ich bin allein mit Lou, denn Konrad ist in New York geblieben.
Doktor Curtis hielt es für das beste, und ich muß ihm recht geben. Hätte ich doch auch nicht gedacht, daß es sich so wunderschön einrichten ließe. —
Doktor Curtis ist verheiratet, schon seit vierzehn Jahren.
Er hat eine liebe, kleine Frau und ein Töchterchen, das an Ausgelassenheit meiner Lou nichts nachgibt.
Ich habe ihn in alles eingeweiht, was Konrad betrifft. Und er meint, daß es auf alle Fälle besser ist, wenn der Junge erst noch einige Zeit für sich hat. Eine Zeit des Besinnens, der Einkehr.
Er wächst auch leichter in das Fremde hinein, das ihn dort erwartet, wenn er die Sprache schon einigermaßen beherrscht. —
Ich bin zuweilen voller Hoffnung für die Zukunft, zuweilen bin ich wieder ganz mutlos. —
Und doch – war der Abschied von meinem großen Jungen nicht ganz vielversprechend? Kann ich mehr verlangen? — —
Ich will arbeiten, dann vergehen die Grillen. Zu lange hat der Herr gefehlt, ich muß viel nachholen. —
Nach dem Westen will ich erst, wenn Konrad hier ist, es soll mein erstes Alleinsein mit ihm werden.
Lou muß diesmal in Chikago bleiben, obgleich sie für ihr Leben gern in den Ranchos herumwirtschaftet; sie muß diesmal verzichten.
Ich muß die Gelegenheit wahrnehmen, um endlich das Vertrauen meines Jungen zu gewinnen. —
Auch im Betrieb habe ich bereits vorgearbeitet. Den alten Thomas habe ich ins Vertrauen gezogen. Es schien mir, als ob er im Anfang etwas verstimmt sei, doch es wird sich geben, er ist ein treuer Diener.
Auch ihm ist am letzten Ende ein Herr lieber als mehrere.
Und was wäre uns schließlich weiter übrig geblieben als eine Aktiengesellschaft? Denn ganz will ich meine Kräfte nicht aufreiben und ich möchte auch gern endlich an die Verwirklichung meiner lange gehegten Pläne gehen. —
Nun ich allein bin, komme ich erst wieder so recht zu mir selbst und denke die letzten Monate noch einmal in Ruhe durch.
Der Tod meines Mannes – es ist, als ob schon eine Ewigkeit seitdem verflossen wäre.
Zuweilen bin ich über mich selbst verwundert, daß mich das alles nicht tiefer getroffen hat.
Gewiß, es war mir sehr schmerzlich, es hat sehr wehgetan, ein Stück meines besseren Ich ist von mir gegangen. Und doch – ich meine, andere Frauen empfinden viel tiefer, sind viel untröstlicher. Ich glaube, in mir ist eine Saite zerbrochen, die nie mehr klingen kann. —
Es ist schade, man wird so hart und liebt die Menschen so wenig. Die Menschheit im allgemeinen will ich damit sagen – denn im besonderen habe ich einige recht innig in mein Herz geschlossen.
Und doch muß ich noch zufrieden sein. Denn besser hart und kalt als untergehen im Sumpf. —
Ich habe eine lange Pause in meinen Aufzeichnungen gemacht. Monate sind seitdem vergangen, nun bin ich mit Konrad im Westen.
Ich freue mich über meinen Entschluß, hier geht das Herz des Jungen so recht auf. —
Heimweh und Fremdheit sind verschwunden, das Kind hat sich zur Mutter gefunden.
Wenn wir abends nach stundenlangem Umherstreifen müde und hungrig in unser Blockhaus kommen, wo uns ein einfaches, aber leckeres Mahl erwartet, dann sind wir so glücklich, daß wir mit keinem Könige tauschen möchten.
Am meisten freut sich Konrad über die schöne Büchse, die ich ihm geschenkt. Er ist schon so geübt und ein so passionierter Jäger, daß ich manchmal glaube, er würde am liebsten immer hier bleiben. Aber das geht nicht. Chikago bleibt vorläufig die Hauptsache.
Nur manchmal einige Wochen der Erholung hier im Westen, das will ich ihm versprechen. —
Ein Jahr ist Konrad nun schon bei uns, und, Gott sei Dank, er scheint nicht mehr nach Hause zu denken, wenigstens sagt er nie etwas davon.
Wir kommen sehr gut miteinander aus. Natürlich ist das Verhältnis nicht so, wie zwischen mir und Lou, das kann ich auch nicht verlangen, aber ich darf zufrieden sein. — —
Heute kam ein Brief vom Großvater mit einer Einlage, einem amtlichen Schriftstück. Konrad muß Soldat werden. Wer hätte daran gedacht? —
Was nun?
Ich will zum Konsul gehen, er wird mir helfen. — —
Es ist alles nicht so schlimm. Der Junge hat zum Glück sein Einjährigenzeugnis, braucht also nur ein Jahr zu dienen.
Er läßt sich nun noch vorläufig zwei Jahre zurückstellen und fährt dann im August oder September hinüber, damit er im Oktober eintreten kann. Er ist jetzt neunzehn Jahre, also auch noch jung genug, wenn er mit zweiundzwanzig Jahren wieder zurückkommt.
Es ist gut, daß er als Einjähriger dienen kann; im anderen Falle hätten wir doch wohl vorgezogen, nicht auf die Zuschrift zu antworten. Besser ist es natürlich so, dann ist ihm wenigstens später der Aufenthalt in Deutschland zu jeder Zeit gestattet.
Lou macht die Sache am meisten Spaß.
Es ist ihr ganz was Neues, daß ihr Bruder Soldat sein soll, und sie will ihn durchaus besuchen während seiner Dienstzeit.
Dieser Wunsch soll ihr erfüllt werden. Nach Ablauf seines Dienstjahres werden wir uns unseren Jungen wieder holen.
Schon lange habe ich Sehnsucht nach dem stillen Plätzchen unter den dunkeln Tannen. Nur die Arbeit hält mich zurück. —
Zwei Jahre später.
Nun ist Konrad schon seit Wochen fort, und wir merken beide so recht, wie sehr wir ihn lieben, wie sehr er uns fehlt.
Sogar der alte Thomas stöhnt zuweilen und sagt: »Wenn doch der junge Herr erst wieder hier wäre! He is the smartest young chap, I ever saw.«
– Das will gewiß viel sagen. —
Den 10. Juli.
Wir sind schon auf der Reise, wir können es gar nicht mehr erwarten, wir müssen unsern Jungen besuchen.
Lou zumal ließ keine Ruhe mehr.
»I should like to see the boy in this funny uniform« ist ihr ständiger Ausspruch.
Er dient in Hannover, und ich freue mich, die Stadt bei dieser Gelegenheit kennen zu lernen. —
Meine Lou ist eine erwachsene junge Dame geworden, und ich habe es beinahe nicht bemerkt.
Es wird mir schwer, mich darein zu finden, für mich ist sie noch immer das Kind, mein kleiner Liebling, mein Wildfang. —
Aber was hilft es mir? Sie ist neunzehn Jahre, und ich denke mit Schrecken daran, daß eines Tages ein Mann kommt und sie mir fortnimmt.
Elternlos! Man zieht die Kinder für andere groß, um im Alter einsamer zu sein als je zuvor. —
Ich werde in Cherbourg den Dampfer verlassen und mich einige Wochen in Paris aufhalten. Wir müssen neue Kleider haben, damit mein Junge mit seiner Schwester Staat machen kann. Und für Lou will ich eine gewandte Zofe engagieren, die auch mir etwas behilflich sein kann. Meine alte Hannah wird zu steif, ich konnte sie diesmal gar nicht mitnehmen. Ich muß die alte, treue Seele sowieso etwas entlasten. Wenn wir nach Hannover kommen, muß Lou als vollendete Dame auftreten, und diese Französinnen verstehen ihr Geschäft. — —
Das Wiedersehen zwischen Konrad und uns beiden war sehr herzlich.
Gott sei Dank, der Junge hat mich doch lieb!
Kein Gedanke daran, daß er wieder in Deutschland bleiben möchte, wie ich oft im stillen befürchtet.
Nun kann ich ruhig sein, dies war der Prüfstein. —
Wir haben es gut getroffen. Das Regiment, bei dem Konrad dient, hat irgendeine Gedenkfeier. Es gibt allerlei Festlichkeiten und Aufführungen, und Konrad freut sich, seine schöne Schwester überall zeigen zu können. —
Lou ist natürlich ganz Feuer und Flamme.
Ich selbst bin davon weniger erbaut, doch ich muß dem Kinde auch etwas gönnen; habe ich doch drüben viel zu zurückgezogen gelebt.
Ich wollte Lou recht lange ihre Kindheit erhalten.
Wenn ich daran denke, was ich in dem Alter hinter mir hatte, dann überläuft's mich heiß und kalt.
War ich denn das wirklich?
Ich wollte, es wäre ein Traum gewesen. —
Konrad ist befördert worden. Ich verstehe nicht viel davon, aber hier scheinen sie ja großes Gewicht auf diese Auszeichnung zu legen. – Es hat wenig Zweck, aber mag es sein, den Jungen freut's. —
Alle die Einladungen und Festlichkeiten habe ich gestern mit einem Diner im Bristol erwidert.
Einige Kameraden, die Konrad besonders nahegetreten waren, einige Offiziere des Regiments mit ihren Damen und sogar der Herr Oberst waren erschienen. —
Wir sind ja Amerikaner, und anscheinend schweben unsere paar Millionen tausendfach vergrößert um uns.
Ich könnte mir sonst die übergroße Liebenswürdigkeit von allen Seiten nicht erklären.
Alles ist sehr gut gelungen. Der Wirt hatte alles aufgeboten, da ich ihm in pekuniärer Beziehung keinerlei Beschränkung auferlegt hatte. —
Und doch bin ich verstimmt heute.
Lou ist wie ausgewechselt in den letzten Wochen. Ich fürchte, ich fürchte, es hängt mit dem Oberleutnant von Foltmer zusammen. — —
In aller Frühe schon kam ein Strauß dunkelroter Rosen. —
Ich weiß, was diese Rosen für eine Sprache reden.
Mir rufen sie die Jahre der Vergangenheit mit Allgewalt zurück.
Lou selbst wurde wie ein Röschen so rot. Es ist Zeit, daß wir abreisen, ehe es zu spät ist. —
Hätte ich nur nicht versprochen, noch zu dem Feste zu gehen, das der Oberst nächste Woche auf seinem Gut in Wolfshagen geben will. —
Es ist nur dreißig Minuten von Hannover, und es werden sehr viele aus der Stadt dasein. Gewiß auch dieser Foltmer.
Er scheint ja ein ganz netter Mensch zu sein, aber er sollte sich nicht um meine Lou kümmern, dann wäre er mir noch viel angenehmer. Auf alle Fälle werden wir nach dem Fest gleich abreisen.
Ich will das Glück meines Kindes; doch es wäre mir lieber, wenn sie es jenseits des großen Wassers finden würde. — —
Meine Befürchtungen waren nicht unbegründet.
Und der Herr Oberst oder vielmehr seine Gattin scheinen mit den Wünschen des jungen Offiziers vertraut zu sein.
Schon als er Lou den Arm bot, um sie zu Tisch zu führen, sah ich, wie es in ihren Augen aufleuchtete. Bei Tisch konnte ich wenig von ihr sehen; da mich der Oberst zu Tisch geführt, war ich ziemlich weit von ihr entfernt. Als aber die Tafel aufgehoben war, und ich sie zuerst wiedersah, da strahlten ihre großen Augen wie zwei Sonnen.
Glückliches Kind! — —
Ich kam einen Augenblick in Versuchung, den Leuten da zuzurufen, wen sie als hochgeehrten Gast hier in ihrer Mitte hatten. —
Schrecklich! Daß mir in den schönsten Augenblicken meines Lebens immer wieder diese Gedanken kommen.
Es ist wie ein unerträglicher Zwang. — —
Lou schläft noch, doch ich sitze schon seit Stunden hier am Fenster. Wir wollen mit Schluß dieser Woche abreisen. Einen Platz auf dem Dampfer habe ich bestellt, wir werden uns aber erst in Cherbourg einschiffen, um vorher noch ein oder zwei Tage für Paris zu haben. —
Doch schon zu spät!
Als Lou erwachte, flüsterte sie mir verschämt ins Ohr, daß Oberleutnant Foltmer mir heut' früh einen Besuch machen wolle. —
Also doch! Und so rasch!
Das lag nicht in meiner Berechnung.
Soll ich alles widerstandslos gehen lassen, wie es will, oder soll ich ihn gar nicht empfangen?
Doch nein, das darf ich nicht tun. Will ich denn nicht das Glück meines Lieblings? Darf ich es ihr wehren, wenn sie es an der Seite dieses Mannes zu finden hofft?
Ich werde mich eines Tages damit abfinden müssen, daß sie von mir geht. Nicht für uns erziehen wir unsere Kinder. —
Aber es ist trotzdem so schwer, auch wenn ich es mir täglich vorsage.
Ich will mich nicht unnütz quälen, ich will abwarten, was mir der Oberleutnant zu sagen hat.
Es wäre ja immerhin möglich, daß ich mich irre.
Und doch – Lou war sonst so ganz anders.
Das Kindliche, das harmlos Fröhliche ist verschwunden, das Weib in ihr ist erwacht.
Ich werde trotz alledem sehr vorsichtig sein. Ich werde mich nicht überrumpeln lassen. Ich muß wissen, ob der Charakter dieses Mannes Garantien bietet.
Ist es nicht auch möglich, daß die überseeischen Reichtümer ihn locken? Man sagt, daß Offiziere viel Geld gebrauchen können. — —
Meine Lou ist so glücklich, anscheinend ist der Oberleutnant ein tüchtiger Mann; er ist selbst sehr wohlhabend, da fällt wohl von selbst der Gedanke fort, ihn für einen Mitgiftjäger zu halten.
Er ist der Sohn eines Großindustriellen, der erst neuerdings geadelt worden ist.
Ich freue mich, daß er aus denselben Kreisen stammt wie Lou; es paßt besser als wenn er der Abkömmling irgendeines verarmten, feudalen Geschlechts wäre, um nun mit den Millionen seiner Frau sein Wappen neu zu vergolden.
Nur daß ich mein Kind in Deutschland lassen soll, das wird mir schwer.
Ob Foltmer gern Soldat ist? Ob er sich vielleicht entschließen könnte, die glänzende Uniform auszuziehen?
»This funny uniform«, jetzt sagt's der Schlingel nicht mehr. —
Mit der Abreise ist es nun doch nicht so schnell gegangen. Wir haben erst noch einen Besuch bei Foltmers Eltern gemacht. Ich bin mit einigem Widerstreben hierhergegangen, konnte aber auch keinen triftigen Grund für eine Ablehnung finden. —
Mit offenen Armen, äußerst liebenswürdig hat man uns aufgenommen.
Sonderbar, lebten wir hier in Deutschland, so wäre gewiß des Fragens kein Ende gewesen nach der Familie, der Herkunft und so weiter.
Nun wir aber Fremde sind, fragt man uns nicht.
Ich bin, trotzdem ich nie wieder für immer in Deutschland leben möchte, im Herzen gut deutsch geblieben, und da verdrießt es mich doch manchmal, daß der Deutsche alles, was aus dem Ausland kommt, als etwas Besonderes ansieht. —
Im übrigen freue ich mich doch, hierher gekommen zu sein. Wenn der Betrieb auch nicht an die amerikanischen Verhältnisse heranreicht, so muß ich doch gestehen, daß ich gestaunt habe über die Einrichtungen, deren endgültige Entwicklung noch lange nicht abgeschlossen ist. Aber die Automobilfabrikation ist hier ja auch noch lange nicht so weit wie drüben bei uns. — —
Der Abschied des Brautpaares war recht schwer. Ich habe mich täglich mehr davon überzeugt, daß mein Kind wirklich von Herzen um seiner selbst willen geliebt wird. Was bei diesem lieben, sonnigen Geschöpf ja auch kein Wunder ist.
Am liebsten hätte Foltmer schon jetzt geheiratet.
Aber da war ich unerbittlich. Ein Jahr müssen sie noch warten.
Es wäre überhaupt mein größter Wunsch, daß Foltmer erst einmal zu uns nach Chikago käme, vielleicht ließe er sich dann dazu bewegen, seinen Abschied zu nehmen.
Wir werden sehen. — — – Nach einem kleinen Abstecher in die Heimat zu den Großeltern wollen wir am 28. Oktober mit dem »Kaiser Wilhelm« wieder nach New York. — —
Es ist wie ein Verhängnis auf dieser Reise. Nicht allein, daß mein Liebling, meine Lou, mich verlassen will, hat sich jetzt auch Konrad noch verlobt. Und gerade jetzt, wo ich mich so gefreut habe über seine Heimkehr.
Eigentlich habe ich mir schon in Deutschland Gedanken gemacht über Konrads Sehnsucht nach Amerika, die mir, offen gestanden, etwas unnatürlich war – nun habe ich die Erklärung dafür. —
Helen Curtis war der Magnet. Helen, das Töchterchen meines alten Freundes. —
So leid es mir einerseits tut, daß ich den Jungen, den ich so spät erst gefunden, nun schon wieder an eine andere verlieren soll, so sage ich mir doch auch, daß es sich gar nicht glücklicher hätte gestalten können.
Schon damals, als Konrad im Hause des Doktors gewesen ist, haben sich die ersten Anzeichen der jungen, knospenden Liebe bemerkbar gemacht.
Im vergangenen Jahre, ehe er nach Deutschland fuhr, um seiner Militärpflicht zu genügen, war er noch einige Tage als Gast am Madison Square, und schon damals haben die beiden sich ausgesprochen.
Doktor Curtis ist sehr zufrieden. Er setzt große Hoffnungen in Konrads Können und ist überzeugt, daß er noch einmal einer der ersten Männer unserer Industrie sein wird. —
Schon im Frühjahr möchte Konrad heiraten. Mir ist es etwas zu rasch, aber der Doktor meint, allzu langes Warten sei nicht nach seinem Geschmack. Wenn ich aber triftige Gründe habe, so wolle er sie selbstverständlich respektieren.
Die habe ich nicht, und ich könnte mir auch keine Liebere als Ersatz für meine Lou wünschen als die zierliche, blonde Helen. —
Es gibt Arbeit daheim, und das ist gut.
Wenn Konrad heiraten will, so muß ich zuvor genau wissen, was ich Lou als der Tochter ihres Vaters schuldig bin.
Mein Gerechtigkeitsgefühl läßt es nicht zu, daß ich meinen Sohn, der doch meinem Gatten völlig fremd war, als seinen Erben hier hinsetze.
Ich habe mit Thomas darüber gesprochen, und er billigt meine Ansicht vollständig.
Ist mir doch sogar, als ob er seit der Zeit merklich wärmer gegen Konrad sei.
Ich habe immer das Gefühl gehabt, als empfände er es als ein Unrecht gegen Lou, daß ich Konrad als zukünftigen Herrn hierhergebracht habe. —
Der gute Alte!
Ich habe selbst zu viel Unrecht erlitten, um leichtsinnig mit den Rechten anderer zu spielen.
Lous Anteil soll ihr ungeschmälert werden, und nur das, was mein Rechtsanteil an dem Vermögen meines Mannes ist, soll die Basis bilden, auf der Konrad weiterbauen kann. Habe ich mich nicht in ihm getäuscht, so wird er ganz im Sinne meines Mannes weiterarbeiten und wird in nicht zu ferner Zeit auf eigenen Füßen stehen können.
Vier bis fünf Jahre werde ich noch allein Herrin der Werke bleiben, bis dahin wird es sich gezeigt haben, ob ich mich ohne Sorgen zur Ruhe setzen kann. —
New York, Dezember 1906.
Ich sitze in meinem Arbeitszimmer. Das Haus ist still, wie ausgestorben.
Nach Jahren halte ich mein altes Tagebuch wieder einmal in den Händen.
Erinnerungen! Die lieben Gäste der Einsamkeit.
Sind es auch mir liebe Gäste?
Sie sind es! Aus vollem, aufrichtigem Herzen kann ich es sagen. Die Einsamkeit, die viele Menschen lastend empfinden, mir ist sie eine Erholung; ein köstliches Insichselbstversenken. —
Auch die bösen Erinnerungen meiner frühesten Jugend schrecken mich nicht mehr, obgleich es ein köstlich Ding sein muß, beim Rückblick auf die durchwanderte Strecke nur Gutes und Schönes zu sehen.
Doch ich will nicht ungerecht sein; es ist wohl wenigen beschieden, nur Rosen im Garten des Lebens zu pflücken. —
Als ich vor sechs Jahren am Sterbebette der Großmutter stand – und sie mir sagte: »Du hast alles wieder gut gemacht, mein Kind,« da habe ich mich sehr gefreut. Die Anerkennung aus diesem Munde tat mir wohl.
Auch ich selbst habe das Bewußtsein, daß ich vor dem strengsten Richter bestehen könnte, wenn die Abrechnung kommt. —
Ich wohne nun in New York und widme mich ganz meinen schon lange gehegten Lieblingsplänen, der Bekämpfung des Mädchenhandels. —
Wo fände sich ein dankbareres Feld als gerade hier?
Und doch, es ist schwer zu arbeiten: bei so wenig Entgegenkommen von Seiten der Behörden, besonders der Polizei. —
Ich weiß nicht, wie schlimm es in anderen Großstädten ist, ich weiß nur, daß es hier sehr schlimm ist.
Ich habe jetzt gelernt, daß da, wo ich einst war, noch der Himmel unter diesen Höllen ist.
Ein Gang durch die Bowery, Hell's Kitchen, the Stovepipe und wie diese entsetzlichen Orte alle heißen, hat mir gezeigt, wie schlimm ich es hätte treffen können.
Fürchterliche Zustände herrschen auch in den sogenannten Teehäusern des Chinesenviertels. Das sind die Orte, wo mit Vorliebe halbwüchsige Kinder hinverschleppt werden.
Ein Wesen, das dahinein kommt, findet wohl nie wieder den Weg zurück. —
Mit einem zuverlässigen Detektiv als Führer, in einen Herrenmantel gehüllt, habe ich selbst es gewagt, in ein solches Haus zu gehen, in dem kein Mensch ohne das bestimmte Paßwort Einlaß findet.
Durch einen engen Torweg gelangten wir in einen engen, schmutzigen Hof. Am Ende des Hofes stiegen wir eine steile Treppe hinan und kamen in einen schmalen, niedrigen Gang, der fast ganz dunkel war; nur am Ende brannte eine gedämpfte rote Ampel.
Am Ende des Ganges, da wo die rote Ampel brannte, mußten wir um eine Ecke biegen und anscheinend denselben Weg zurückgehen. Dann, nach einer kleinen Biegung nach rechts, standen wir vor einer schweren eichenen Tür.
In ungefähr Kopfhöhe war eine kleine Klappe in der Tür, nicht größer als zwanzig Zentimeter im Geviert. —
Ich klopfte und wartete.
Da öffnete sich geräuschlos die Klappe, ein verwittertes Gesicht mit scharfen, stechenden Augen wurde einen Augenblick sichtbar, dann, ehe ich noch ein Wort sagen konnte, hatte sich die Öffnung schon wieder geschlossen.
»Lassen Sie mich einmal klopfen,« flüsterte mein Begleiter, »dieser Tsung Lee ist vorsichtig. Er hat sofort gemerkt, daß Sie ein Fremder sind.«
Ich trat zurück und ließ ihn vortreten.
Ein kurzes, dreimal wiederholtes Klopfen wurde hörbar, die Klappe flog auf, einige leise geflüsterte Worte trafen mein Ohr, dann bewegte sich die schwere Tür lautlos in ihren Angeln und wir traten ein. Wir standen in einem Raum, in dem ich im ersten Augenblick gar nichts unterscheiden konnte. Ein ungewisses Dämmer herrschte, und ich hörte nirgends einen Laut. —
»Sie scheinen uns noch nicht recht zu trauen,« flüsterte mein Begleiter. »Man ist hier sehr vorsichtig. Dafür bieten diese Häuser aber auch, was man an keinem Platze der Welt schöner haben kann. Hier findet jeder seine Rechnung. Sogar der — —«
Ein Geräusch ließ ihn verstummen. Wir drehten uns nach der Seite, ein blaßgrüner Vorhang ging auseinander, und dahinter, auf schwellendem Diwan, wie aus der Erde gestiegen, lag, von rosigem Licht umflossen ein Weib, vielmehr ein Kind noch, und streckte die Arme nach uns aus. Ich wollte darauf zutreten um mit dem Kinde zu sprechen, mein Begleiter hielt mich zurück.
»Warten,« flüsterte er, »es kommt noch besser.«
Und es kam besser. —
Die armen Wesen! Ich bin gewiß, nicht ein einziges von all den armen Kindern hat gewußt, was man mit ihm vorhatte, wohin man es bringen würde. Das alte Lied, das alte Leid. —
Wir verließen das Haus auf einem anderen Wege, nicht ohne vorher fünfzig Dollars für den Besuch bezahlt zu haben.
Die ganze Einrichtung dieser Häuser läßt unschwer erkennen, daß es vollständig ausgeschlossen ist für jemand, der wider seinen Willen darin festgehalten wird, zu entkommen.
Auch die Polizei würde nie etwas anderes finden, wenn sie wirklich suchen würde, als eine harmlose Teestube im unteren Stock.
Alles, was nicht gesehen werden soll, wird über die Leiter entfernt.
Aber der Polizei ist all dies bekannt!
Es ist ihr bekannt, daß gerade diese Pesthöhlen in Chinatown das Schlimmste sind, was es in diesem Genre geben kann. Und doch werden sie geduldet.
Ich habe die Aufzeichnungen in meinem Tagebuch noch einmal durchgelesen und, obgleich mein Blut jetzt ruhiger und schwerer durch die Adern fließt, stimme ich auch jetzt noch meinen damaligen Ausführungen zu: Daß ein Hauptteil der Schuld an den unseligen Verhältnissen auf dem Gebiete der Prostitution auf Seiten des Mannes liegt. – Die Konjunktur richtet sich hier, wie überall, nach Angebot und Nachfrage.
Hier allein liegt der Kern des Übels. Würden die Männer jene Häuser nicht so frequentieren, so wäre ihre Existenzmöglichkeit stark beschränkt. Der Mädchenhandel, diese Pestbeule unserer Kultur, müßte naturgemäß von selbst aufhören. —
Nun habe ich so oft die Entgegnung hören müssen: der Mann kann nicht anders, er muß in diese Häuser gehen, will er nicht seine Gesundheit arg gefährden.
Zugegeben, dem wäre so, warum heiratet er nicht, wenn er nicht ohne geschlechtlichen Verkehr leben kann?
Und ist es anderseits nicht wieder eine sehr einseitige Auffassung der Herren, daß auf Kosten ihres Wohlbefindens, auf Kosten ihrer Genußsucht, die andere Hälfte der Menschheit Opfer bringen muß? Wer fragt die unverheiratete Frau danach, ob sie geschlechtlichen Verkehr nötig hat?
Im Gegenteil, sie ist verfemt, ausgestoßen aus der Gesellschaft, wenn sie ihren Sinnen gehorcht.
Und hat doch nur dasselbe getan, wozu der Mann volle Berechtigung hat. —
Aber angenommen, man könnte wirklich nicht ohne öffentliche Häuser auskommen – was ich, wie gesagt, bestreite – so wäre es immerhin das Beste und meiner Meinung nach einzig Richtige, wenn sie verstaatlicht würden.
Man komme nicht mit Einwänden, daß es nicht geht. Es geht alles! Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. —
Natürlich müßten internationale Abkommen getroffen werden, deren wir ja auf allen anderen Gebieten übergenug haben.
Nur auf diesem Gebiet, wo es sich um die Frau handelt, um die eigentliche Trägerin der Zukunft, da ist man lässig.
Würden alle, aber auch alle derartigen Pesthöhlen plötzlich aufgehoben, und diejenigen, die freiwillig ihren Körper den Lüsten des Mannes zur Verfügung stellen wollen, in staatlich verwaltete Häuser gesteckt, wo es keinen Sekt, sondern nur alkoholfreie Getränke geben dürfte, man würde staunen, wie sehr die Unsittlichkeit abnehmen würde.
Hier allein wäre der Weg für die Regierungen, um Abhilfe zu schaffen. Dem Mädchenhandel wäre damit ein für allemal der Nährboden entzogen.
Warum wird dieser Weg nicht beschritten?
Doktor Curtis, mein alter Freund, ist mir ein treuer Helfer in meinen Bestrebungen. Er findet da, wo die Frau nur verschlossene Türen finden würde, immer noch einen Weg.
Der größte Erfolg unserer Bestrebungen, die Aufhebung eines der schlimmsten Nester – des sogenannten Katzenkellers in der unteren Bowery – ist sein Werk.
Wenn die Mächtigen dieser Erde lässig sind, so müssen die Frauen sich selbst helfen, sie müssen kämpfen für diese Ärmsten der Frauen.
— — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —
Der sehnlichste Wunsch meiner Jugend hat sich erfüllt. Ich habe die Mittel und auch die Zeit, mich jenen Unglücklichen zu widmen.
Meine Kinder sind glücklich. Bei Konrad durfte ich im vergangenen Frühjahr das erste Enkelchen bei der Taufe halten, und auch mein Liebling, meine Lou, die eine prächtige deutsche Offiziersfrau ist, hat bereits einen Jungen und ein Mädchen. —
Aber sie alle brauchen mich nicht. Ich kann meine Kraft und meine Zeit ungehindert den Unglücklichen widmen, die mich nötig haben.
Wir leben in einer Zeit, in der man von Überkultur redet. Die Nordstaaten haben Millionen geopfert, um die Neger zu befreien. In den Augen der humanen Amerikaner war die geduldete Sklaverei eine Schande.
Was aber sind die allein hier in New York lebenden 35 000 unglücklichen Geschöpfe anderes?
Der farbige Sklave hatte es tausendmal besser als sie.
Ich darf mich nicht allzu tief in diese Abgründe menschlicher Schwächen versenken. Mein ganzes Blut empört sich gegen das unheilvolle System. Nur das Weib kann dem Weibe helfen. Gemeinsam müssen sie vorgehen gegen diese Schurken, die sich in so unerhörter Weise gegen die heiligsten Güter der Menschheit versündigen. Die da Wucher treiben mit Körper und Seele ahnungsloser Geschöpfe. —
Denn sie gehören ja doch zu uns, diese Armen – trotz alledem und alledem. — —
Ende.
Druck: Berliner Buch- und Kunstdruckerei, G. m. b. H., Berlin SW 48 – Zossen (Mark)
F. FONTANE & Co., BERLIN/DAHLEM (Post Grunewald)
AMERIKA-LITERATUR
Kurt Aram:
Mit 100 Mark nach Amerika
Ratschläge und Erlebnisse
Ausg. A. (mit einem Katechismus für Auswand.) cart. M. 1.—
Ausg. B. Brosch. M. 3.—, gebund. M. 4.—
Ludwig Max Goldberger:
Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten
VIII. Aufl. Brosch. M. 5.—, geb. M. 6.50
Geh. Reg.-Rat Dr. Hintrager:
Wie lebt und arbeitet man in den Vereinigten Staaten?
Nordamerikanische Reiseskizzen
II. Aufl. Brosch. M. 5.—, geb. M. 6.50
Orla Holm:
Aus Mexiko
Reisebriefe
Brosch. M. 3.50, geb. M. 5.—
Wilhelm von Polenz:
Das Land der Zukunft
(Was können Amerika und Deutschland von einander lernen?)
VIII. Aufl. Brosch. M. 4.—, geb. M. 5.—
Dasselbe Werk auch in englischer Übersetzung
Ernst von Wolzogen:
Der Dichter in Dollarica
IV. Aufl. Brosch. M. 5.—, geb. M. 6.50
Was Onkel Oskar mit seiner Schwiegermutter in Amerika passierte
VII. Aufl. Brosch. M. 1.—, cart. M. 2.—
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End of the Project Gutenberg EBook of Seelenverkäufer, by M. Gontard-Schuck *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK SEELENVERKÄUFER *** ***** This file should be named 35999-h.htm or 35999-h.zip ***** This and all associated files of various formats will be found in: http://www.gutenberg.org/3/5/9/9/35999/ Produced by Heike Leichsenring, Alexander Bauer, Jana Srna and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. Creating the works from public domain print editions means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. 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It exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from people in all walks of life. Volunteers and financial support to provide volunteers with the assistance they need, are critical to reaching Project Gutenberg-tm's goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will remain freely available for generations to come. In 2001, the Project Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4 and the Foundation web page at http://www.pglaf.org. Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit 501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at http://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by U.S. federal laws and your state's laws. The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S. Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered throughout numerous locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact information can be found at the Foundation's web site and official page at http://pglaf.org For additional contact information: Dr. Gregory B. Newby Chief Executive and Director gbnewby@pglaf.org Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide spread public support and donations to carry out its mission of increasing the number of public domain and licensed works that can be freely distributed in machine readable form accessible by the widest array of equipment including outdated equipment. Many small donations ($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt status with the IRS. The Foundation is committed to complying with the laws regulating charities and charitable donations in all 50 states of the United States. Compliance requirements are not uniform and it takes a considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up with these requirements. We do not solicit donations in locations where we have not received written confirmation of compliance. 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Hart is the originator of the Project Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be freely shared with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support. Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper edition. Most people start at our Web site which has the main PG search facility: http://www.gutenberg.org This Web site includes information about Project Gutenberg-tm, including how to make donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.