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Der
Vampyr,
oder:
Die Todtenbraut.

Ein Roman
nach neugriechischen Volkssagen.

Von
Theodor Hildebrand.

Erster Theil.

Leipzig, 1828.
bei Christian Ernst Kollmann.

Der
Vampyr,
oder:
Die Todtenbraut.

Erstes Kapitel.

Ein unglückliches, aber unverdientes Schicksal zwang den russischen Obersten Alfred Lobenthal, im Jahr 1818 seinen Abschied zu nehmen. Er begab sich nach Berlin, seinem Geburtsorte, wo er gern sein Leben beschlossen haben würde; aber sein Verhängniß hatte es anders über ihn bestimmt. Nach einem kaum halbjährigen Aufenthalte in dieser prächtigen Königsstadt trat Alfred eines Morgens tief bekümmert in das Zimmer seiner Gemahlin und kündigte ihr an, daß eine gebieterische Nothwendigkeit ihn zwinge, Berlin zu verlassen und in einer entfernten Gegend einen einsamen Aufenthaltsort zu suchen, wo sie in Ruhe und Frieden leben könnten.

Helene, die Gemahlin des Obersten, erschrak über diese Neuigkeit, aber sie verlor den Muth nicht. Sie liebte ihren Gatten zärtlich, und ward eben so von ihm wieder geliebt; den übrigen Theil ihres Glücks machten ihre Kinder aus, und wo sie sich auch befinden mochte, so war sie zufrieden, wenn sie nur von ihren Lieben nicht getrennt wurde; die Augenblicke der Muße, die ihr die Pflichten als Mutter und Hausfrau noch übrig ließen, drohten nirgends, ihr Langeweile zu machen, weil Musik und Malerei diesen Feind der Ruhe von ihr verscheuchen konnten. Daher war sie auch eben nicht betrübt, als sie die unerwartete Neuigkeit erfuhr; kaum fragte sie ihren Gatten nach der Ursach dieses plötzlichen Entschlusses. Nur das wünschte sie zu wissen, ob vielleicht seine politischen Meinungen abermals Alfred’s Sicherheit in Gefahr setzten. Nachdem sie hierüber beruhigt worden, und erfahren hatte, daß der Bankerott eines bedeutenden Handelshauses ihn um einen großen Theil seines Vermögens bringe, weßhalb es nothwendig sei, einige Jahre in der größten Zurückgezogenheit zu leben: umarmte sie ihren Gatten voll Zärtlichkeit und versicherte ihn, daß sie ohne Mühe das Geräusch der Hauptstadt mit der Einsamkeit des Landlebens vertauschen würde.

Der Oberst betrieb seine Abreise mit der größten Eilfertigkeit. Er wollte nicht einmal den Verkauf seines prächtigen Mobiliar’s abwarten, sondern bat einen Freund, dieses Geschäft an seiner Stelle zu übernehmen; und schon am folgenden Tage nach der Mittheilung seines Entschlusses an seine Frau reisete er mit ihr und seinen Kindern, nur von einem einzigen Bedienten begleitet, ab, ohne von seinen Bekannten und Verwandten Abschied genommen zu haben.

Sobald Alfred das Thor hinter sich hatte, schien er gleichsam von einer großen Last befreit zu sein. Seine Blicke, die unruhig hier und dort umherirrten, so lange er sich in der Stadt sahe, nahmen plötzlich den Ausdruck der Ruhe an, als er sich im Freien befand; er schien jetzt freier athmen zu können, und seiner Frau lebhaft die Hand drückend, rief er aus: „Endlich haben wir die Stadt im Rücken! O, wie verhaßt ist sie mir, wie lange dauerte mir die Zeit, bis der Wagen zum Thore hinausfuhr!“

— Ist es möglich, lieber Alfred, erwiederte seine Frau, daß du so sprechen kannst? Ist denn Berlin nicht mehr deine Geburtsstadt? Hat sie allen Reiz für dich verloren, da du doch sonst immer mit Entzücken von ihr sprachst? Ist sie nicht mehr dieselbe Stadt, und kann sie dir deßhalb mißfallen, weil sich unsere Lage geändert hat? —

„Ja, ich gestehe es, antwortete der Oberst, was mich sonst entzückte, mag ich jetzt kaum mit Augen sehen. Ich fühle, daß es mir unmöglich sein würde, nur noch einen Tag länger in Berlin zu bleiben.“

— Nun, so sei doch jetzt zufrieden, da wir diese dir so verhaßte Stadt schon im Rücken haben. Möchtest du in einer andern deine Ruhe wiederfinden, und alle unangenehmen Erinnerungen vergessen! —

„Von welcher Stadt sprichst du denn, mein Kind?“

— Nun, von derjenigen, in welcher wir künftig wohnen werden. Wir befinden uns auf der Straße nach Potsdam; willst du vielleicht nach Dresden, nach Leipzig, oder noch weiter? —

„Ach, liebe Helene, sagte der Oberst verlegen, es wird mir schwer, dich ganz mit dem Opfer bekannt zu machen, das du mir bringen sollst. Denkst du, ich verlasse Berlin, um in einer andern Stadt zu wohnen? Ach nein, in meiner Lage gefällt mir nur die Einsamkeit! Liebe Helene! wirst du dich nicht über meinen grausamen, Entschluß beklagen? Ich will eine abgelegene ländliche Wohnung suchen, wo nichts ....“

Eine plötzliche Röthe überzog bei diesen Worten die schönen männlichen Gesichtszüge des Obersten; er hielt mitten in seiner Rede inne, und sahe Helenen mit einem unbeschreiblichen Blicke an, in welchem indessen die schmerzhaftesten Empfindungen nicht zu verkennen waren.

Helene würde sich vielleicht hierüber beunruhigt haben, wenn sie geglaubt hätte, daß geheime Ursachen dem Schmerze ihres Gatten zum Grunde lägen. Allein sie wußte, wie sehr ihm der Verlust eines Theils seines Vermögens, bloß aus Liebe zu ihr und ihren Kindern, zu Herzen ging; sie kannte seine Zärtlichkeit für sie, und fürchtete, daß es ihn bekümmern möchte, sie mitten aus den Vergnügungen der großen Welt in die Einsamkeit des Landlebens zu versetzen. Ohne daher weiter über Alfreds Betragen nachzudenken, hielt sie sich bloß an den Schein, und sagte, ihrem Gatten die Hand drückend:

„Beruhige dich, lieber Alfred; mir ist wenig daran gelegen, welchen Winkel der Erde ich bewohne, wenn ich nur mit dir und meinen Kindern bin. Meine Pinsel und Farben sind hier in diesem Kästchen, meine Harfe wird mir nachgesandt: was könnte mir nun noch zu meinem Glücke fehlen?“

— Wie, theure Helene, du fürchtest dich nicht vor dem einsamen Landleben? —

„Es würde der Fall sein, wenn ich von den drei mir theuren Wesen entfernt wäre; mit ihnen ist meine Zufriedenheit stets vollkommen.“

— O, von welcher Unruhe befreist du mich; denn ich glaube, daß du aufrichtig sprichst! Wohlan, so gestehe ich dir, daß nur die Einsamkeit und Zurückgezogenheit meinem jetzigen Zustande anpassend ist, daß ich der Entfernung von allem Geräusche des Lebens bedarf. Ich will also einen Zufluchtsort aufzufinden suchen, der nicht so nahe bei einer Stadt liegt, daß man uns belästigen wird, der aber auch nicht allzuweit entfernt ist, um aller Annehmlichkeiten der Städte entbehren zu müssen, wozu insbesondere auch die Hülfe der Arzneikunst gehört, wenn die Gesundheit Wilhelms und Juliens (die Namen ihrer beiden Kinder) derselben bedürfen möchten. — —

„Nun, Alfred, und wo denkst du diesen Zufluchtsort zu finden?“

— In Böhmen, nicht weit von Prag. —

„Es scheint mir aber, daß du bei allen deinen früheren Reisen noch nie in dieser Gegend gewesen bist. Hast du dort vielleicht Bekanntschaften, und kennst du schon den Ort unseres künftigen Aufenthalts?“

— Nein, durchaus nicht; ich überlasse Alles dem Zufalle, und gerade, weil ich in Böhmen völlig unbekannt bin, reise ich dorthin. Ich hoffe, daß so meine Spur völlig verloren gehen wird, daß ich dort keiner Verfolgung ausgesetzt sein werde ... denn der Anblick der Menschen ist mir jetzt verhaßt. Ach, könnte ich die Vergangenheit aus meinem Gedächtnisse verwischen! Theure Helene, wie sehr wünschte ich, nur für dich gelebt zu haben! —

Diese zärtlichen Worte, die ihrer Natur nach Helenen nur angenehm sein konnten, brachten indessen in ihrem Herzen eine gerade entgegengesetzte Empfindung hervor. Der Ton, mit welchem ihr Gemahl sie ausgesprochen hatte, schien einen bittern Vorwurf gegen sie selbst anzudeuten, und seine Physiognomie sagte dabei mehr als seine Worte. Helene liebte ihren Mann noch, wie in den ersten Tagen ihrer Ehe; bis jetzt hatte sich in ihrem Herzen noch nie eine eifersüchtige Empfindung geregt, weil Alfreds Betragen sie überzeugte, daß sie allein in seinen Gedanken herrschte; aber diese Ruhe konnte von einem Augenblick zum andern getrübt werden. Helene hatte bis jetzt noch nie ernstlich über das Leben ihres Mannes nachgedacht, das er vor der Bekanntschaft mit ihr geführt haben könnte; sie wußte, daß ein junger, hübscher Offizier nicht anders als eine Menge verliebter Abentheuer gehabt haben konnte; aber sie glaubte, daß Alfred nicht Zeit gehabt hatte, sich Gefühlen hinzugeben, die nur dann erst gefährlich werden, wenn sie lange dauern. In dieser Hinsicht war also Helene frei von Unruhe; indessen stieg ihr doch jetzt der unglückliche Gedanke auf, daß wohl eine ältere Liebes-Intrigue ihren guten Theil an der so plötzlichen Reise, die einer übereilten Flucht glich, haben könnte.

Wie auch die Gedanken Helenens in dieser Hinsicht gewesen sein mochten, so hütete sie sich doch wohl, sie laut werden zu lassen; sie suchte vielmehr, sie zu unterdrücken, indem sie ein gleichgültiges Gespräch anfing. Hierbei kamen ihr die Fragen ihrer Kinder zu Hülfe, und Alfred, der sich über ihr unschuldiges Geschwätz freuete, suchte ihre Neugierde zu befriedigen. Der Oberst bemerkte indessen, daß die Miene seiner Gemahlin ernster und nachdenkender geworden war; da er diesen Anschein von Kummer nur ihrer Abreise von Berlin zuschrieb, so gab er sich alle Mühe, sie durch seine Zärtlichkeit wieder aufzuheitern, was ihm auch so gut gelang, daß Helene, von seiner Liebe zu ihr gerührt, alle ihre leeren Muthmaßungen bei Seite warf, und sich ganz dem Glücke überließ, mit ihrem Gatten und ihren Kindern leben zu können.

Zweites Kapitel.

Kaum war die Familie in Prag angekommen, so verlor der Oberst auch keinen Augenblick mehr, die einsame Wohnung ausfindig zu machen, nach welcher er sich so herzlich sehnte. Er wendete sich an einen Kommissionär, um zu erfahren, ob er irgend eine ländliche Wohnung, entfernt von allen großen Straßen, aber doch nicht zu weit von der Stadt entlegen, miethen oder kaufen könnte; und der Zufall entsprach hierbei völlig seinen Wünschen. Der Eigenthümer des Schlosses R...., in einer romantisch schönen und fruchtbaren Gegend, ungefähr zwei Stunden von Prag, bewohnte dieses uralte Gebäude nicht; vergebens hatte er schon seit längerer Zeit Liebhaber des Landlebens gesucht, aber bis jetzt noch keinen Miether finden können; daher ging er auch leicht in die Bedingungen ein, die ihm der Oberst Lobenthal machte, und der, kaum unterrichtet, daß das Schloß zu vermiethen sei, dahin geeilt war, um es zu besichtigen. Entzückt von seiner Lage, die ganz so war, wie er sie wünschte, errichtete Alfred sogleich einen Miethsvertrag in gehöriger Form, und begab sich mit seiner Familie nach seiner neuen Wohnung. Die nöthigen Möbel, einfach aber bequem, nicht prächtig, aber geschmackvoll, hatte er in der Stadt gekauft, und ließ sie unter Aufsicht eines alten Unteroffiziers von seinem Regiment nachkommen. Dieser, Namens Werner, ebenfalls ein Deutscher, ein tapferer Soldat, war schon früher in Rußland mit einer kleinen Pension verabschiedet worden; allein aus Anhänglichkeit an seinen Obersten, der ihm einst in einer Schlacht das Leben gerettet hatte, wollte er schlechterdings das Schicksal desselben theilen, und er nahm bei ihm weniger die Stelle eines Bedienten, als eines treuen und völlig ergebenen Freundes ein. Eine Köchin und ein Hausmädchen, beide in Prag in Dienst genommen, machten das Hauswesen des Obersten vollständig; denn Helene und ihr Gemahl hatten auf allen Luxus verzichtet, weil er durchaus keinen Reiz mehr für sie gewährte.

Die ersten Tage nach ihrer Ankunft im Schlosse R.... verflossen unter Beschäftigungen, die gewöhnlich mit der Veränderung des Wohnsitzes verbunden sind. Die Arbeiter waren in jener Gegend selten zu haben, oder ungeschickt, und die ganze innere Einrichtung beruhte daher auf des Obersten und Werners Thätigkeit. Sie leimten die Tapeten an, hingen die Spiegel auf, stellten die Möbel an ihren Ort, schlugen die Betten auf, u. s. w. und ihre Hände, nur gewohnt, die Waffen zu führen, wußten sich äußerst geschickt der Werkzeuge friedlicher Arbeiter zu bedienen.

Auch Helene war ihrerseits nicht müßig; die Wäsche, die Küche, die Speisekammer gaben ihr vollauf zu thun; sie vernachlässigte nichts, und indem die beiden Gatten so mit einander arbeiteten, verschönerten sie ihre Zeit durch die Ergießungen ihrer Zärtlichkeit und durch die Glückseligkeit eines vollkommnern gegenseitigen Vertrauens. Doch mitten unter diesen leichten Arbeiten verdunkelte oft eine plötzliche Erinnerung die heitere Stirn des Obersten; ein unwillkührliches Erbeben, das er sogleich wieder zu unterdrücken suchte, bewies, daß ihn ein geheimer Kummer drücken müsse, und mehr als einmal mußte Helene ihr Gesicht abwenden, um ihrem Gatten nicht noch mehr Unruhe zu verursachen, wenn er sähe, daß sie seinetwegen ebenfalls bekümmert sei.

Oefters schien Alfred wieder völlig heiter zu sein; die Gegenwart seiner Kinder machte ihm Vergnügen, und sehr häufig nahm er an ihren unschuldigen Spielen Theil; bald beschäftigte er sich mit seiner Flöte, bald durchstrich er, von einem Jagdhunde begleitet, die zahlreichen umliegenden Thäler und Berge. Hier aber, von dickem Gebüsch umgeben, setzte er sich oft am Fuße einer Eiche nieder, und überließ sich seinen Träumereien, welche dann mehrere Stunden lang dauerten. Erst die einbrechende Abenddämmerung, oder einige vorübergehende Landleute weckten ihn aus seinem fast bewußtlosen Zustande; er schlug sich dann heftig vor die Stirn, und eilte schnellen Schrittes nach dem Schlosse zurück.

Hätte Helene nur Geschmack für die Vergnügungen der großen Welt gehabt, so würde sie sich in ihrem jetzigen Aufenthalte äußerst unglücklich gefühlt haben. An Gesellschaft war hier wenig zu denken; die in der Nähe wohnenden Herrschaften kamen nur im Sommer auf’s Land, und sechs Monate lang im Jahre würde es Niemand von ihnen gewagt haben, sich zwischen die Berge und Felsen zu begeben, die im Winter fast gänzlich unzugänglich waren. Wir haben aber schon gesagt, daß Helene in sich selbst vortreffliche Hülfsmittel zum Zeitvertreib fand. Wenn das Hauswesen ihre Thätigkeit nicht in Anspruch nahm, so vergnügte sie sich durch Musik, Malerei und das Lesen der besten Werke unserer schönen Literatur, oder sie fand hinreichenden Genuß in der Gesellschaft ihres Mannes und ihrer Kinder.

Ein ganzes Jahr verging, ohne daß irgend eine außerordentliche Begebenheit eine Abwechselung in dem stillen und einförmigen Leben der Familie Lobenthal hervorgebracht hätte. Je mehr die Zeit verfloß, desto mehr erlangte der Oberst seine Ruhe wieder, und keine unangenehme Erinnerung schien ihn mehr zu belästigen. Helene, die ihren Gatten sehr genau beobachtet hatte, freute sich heimlich darüber. Nur selten war Alfred jetzt vom Schlosse abwesend; er ging nicht mehr so häufig, wie im Anfange, auf die Jagd, sondern war fast immer bei seiner Frau und seinen Kindern, mit deren Erziehung er sich beschäftigte; zum Zeitvertreib ließ er sich auch die Verschönerung des Schloßgartens angelegen sein, den er mit mehreren seltenen und schönen Blumen bereichert hatte.

Auch der Winter war an diesem einsamen und abgelegenen Orte für Alfred und Helenen nicht ohne allen Reiz, denn sie verstanden, sich selbst genug zu sein. Wenn der häufig fallende Regen die Wege in der Umgegend so verdorben hatte, daß es völlig unmöglich war, spazieren zu gehen, so diente der weite Saal des Schlosses zum gymnastischen Tummelplatz, wo Vater und Kinder sich für die körperliche Ausbildung der letztern heilsamen Leibesübungen überließen. Ohne Unterlaß hallte dann von den langen und hohen leeren Wänden ein lautes und herzliches Gelächter wieder. Den Stunden des Vergnügens folgte ein lehrreicher Unterricht; die Abende verflossen unter angenehmen Erzählungen, womit Helene ihre beiden kleinen aufmerksamen Zuhörer in Erstaunen setzte, und voll Entzücken betrachtete dann Alfred dieses Gemälde der häuslichen Glückseligkeit. Man achtete nicht der Stürme, des Schnees und Regens, der gegen die Fenster prasselte, und nach und nach verschwand jede Erinnerung an eine bittere Vergangenheit.

Auch der nächste Frühling verfloß in dieser angenehmen Ruhe. Um die Mitte des Monats Juli erhielt aber der Oberst einen Brief, der ihn mit neuem Kummer erfüllte. Er hatte eine Schwester, die in Stettin an einen königlichen Beamten verheirathet war. Gegenseitiges Unrecht unter den beiden Gatten, die beide noch jung und vielleicht Sklaven ihrer Leidenschaften waren, hatte schon mehrere unangenehme Auftritte unter ihnen herbeigeführt, die sich noch täglich vervielfältigten. Ein gemeinschaftlicher Freund dieser beiden Unglücklichen, der einen öffentlichen Ausbruch ihrer Uneinigkeiten fürchtete, hielt es für seine Pflicht, den Obersten von dem, was vorging, zu benachrichtigen. Er forderte ihn auf, keine Zeit zu verlieren, und nach Stettin zu eilen, weil, wie er glaubte, seine Gegenwart allein im Stande wäre, die beiden Gatten auf die Dauer wieder mit einander zu versöhnen.

Dem Obersten kam diese unangenehme Mittheilung sehr ungelegen. Es schien ihm zu hart, sich aus dem Schooße seiner glücklichen Familie entfernen zu sollen, um wieder in die Welt zurückzukehren, deren verhaßtem Geräusch er nun schon entgangen war. Zwar machte ihm sein Herz Vorwürfe wegen seiner Gleichgültigkeit gegen seine junge Schwester, für die er die Stelle eines Vaters zu vertreten hatte; er fühlte, wie nützlich ihr sein guter Rath sein könnte, wodurch er vielleicht im Stande wäre, sie vor dem Abgrunde des Unglücks zu bewahren, dem sie unbedachtsam entgegen zu eilen schien; allein von der andern Seite sollte er sich von seiner zärtlichen Gattin, von seinen Kindern auf unbestimmte Zeit entfernen; das Opfer war ihm zu groß. Er wußte lange nicht, was er thun sollte; ehe er indessen einen Entschluß faßte, suchte er durch schriftliche Ermahnungen auf seine Schwester einzuwirken. Solche Vorstellungen konnten aber da kein Gehör finden, wo heftige Leidenschaften laut ihre Stimmen erhoben; die beiden Gatten klagten einander gegenseitig in den Antworten an, die sie ihrem Schwager zukommen ließen, und dachten nicht daran, sich wieder auszusöhnen. Endlich gedieh ihre Uneinigkeit auf einen solchen Punkt, daß Alfreds Schwester keinen Anstand nahm, das Haus ihres Mannes zu verlassen, und sich nach dem Landgute einer ihrer Freundinnen zurückzuziehen.

Drittes Kapitel.

Als der Oberst diese letztere Nachricht erhielt, zögerte er nicht länger; er machte sich Vorwürfe, nicht schon früher abgereiset zu sein, und schob auf sich selbst einen Theil der Schuld an dem von seiner Schwester begangenen Fehler. Jetzt mußte so schnell als möglich Hülfe geleistet werden, und nachdem er Helenen um Rath gefragt hatte, die völlig seiner Meinung war, begab er sich nach Prag, von wo er mit Extrapost weiter nach Stettin eilte. Er reisete ganz allein ab, und ließ zum Schutze für seine Frau und Kinder den rechtschaffenen und furchtlosen Werner zurück, den er in Allem, was das Interesse seiner Familie betraf, als sein zweites Selbst betrachten konnte. Helene mußte ihren ganzen Muth zusammennehmen, um sich beim Abschiede von ihrem Gatten zu fassen. Dieß war die erste Trennung von ihm, aber sie wußte ihren Schmerz in sich zu verschließen, und zeigte nur so viel davon, als ihr völlig unmöglich war zurückzuhalten.

„Ach, Geliebter! rief sie unter einem Strom von Thränen aus; eile, daß du zu mir zurückkehrst! Erst jetzt wird mir dieser Ort hier als eine wirkliche Wüstenei erscheinen; ich werde völlig allein sein, sobald ich dich nicht mehr sehe.“

Alfred versuchte, der zärtlichen Helene einigen Trost einzuflößen. Schon befand man sich im Monat September, und er versprach ihr, spätestens im Monat Dezember wieder zu kommen, hinzusetzend: daß sie seiner Zärtlichkeit wohl so viel Vertrauen schenken würde, um zu glauben, daß er selbst nichts sehnlicher wünschen könnte, als noch weit früher in ihre Arme zu eilen, wenn es nur irgend möglich wäre. Aber wie vergeblich sind alle Trostgründe in dem Augenblicke der Trennung! Man fühlt nichts, als das gegenwärtige Uebel, und es drückt uns danieder. Die Zukunft ist in solcher Stimmung gleichgültig, die Hoffnung verliert allen ihren Zauber, und man kennt nur die Qual der Gegenwart.

In den ersten Tagen nach Alfred’s Abreise war Helene gleichsam in einem Zustande der Bewußtlosigkeit. Ihr Geist, von hundert peinlichen Vorstellungen angegriffen, ward für eine abergläubische Furcht empfänglich, und nur mit einem geheimen Schauder ging sie des Abends die Treppe hinauf und durch den großen Saal. Die Einbildungskraft, die stets bereit ist, Alles herbeizuziehen, was uns in Schrecken setzen kann, verdoppelte ihre Lebendigkeit, um Helenen mit Schrecken zu erfüllen. Die geringste Kleinigkeit war hinreichend, sie in Furcht zu setzen; oft stand sie plötzlich zitternd still, weil sie ein sonderbares Geräusch gehört zu haben glaubte, oder sie machte ihre Augen zu, aus Scheu, irgend eine fürchterliche Erscheinung zu erblicken. Die Gesellschaft ihrer Kinder war an den Abenden, die schon lang zu werden anfingen, nicht mehr hinreichend, um sie zu beruhigen; sie rief nach dem treuen Werner und nach Lisetten, der Köchin, einem guten, aber höchst abergläubischen, furchtsamen Mädchen, und behielt Beide Stunden lang bei sich, unter dem Vorwande, ihnen Befehle für den folgenden Tag zu geben, oder ihnen Rechenschaft von dem, was sie den Tag über gethan hatten, abzufordern.

Es mag auf dem Lande auch noch so einsam sein, die Häuser mögen auch noch so weit von einander entfernt liegen, so ist dieß Alles doch nicht im Stande, die Neugierde der Landbewohner einzuschränken. Für diese Klasse von Menschen ist die gewöhnlichste Begebenheit etwas Wichtiges, sie geben auf die geringste Kleinigkeit Acht, und Alles wird den Nachbarn treulich wiedererzählt. So war es auch bei der Ankunft der Familie Lobenthal im Schlosse R.... Was für übertriebene Dinge erzählte man sich von ihr, was für lächerliche Mährchen wurden auf ihre Rechnung verbreitet! Aber die Zeit verfloß, und ein und derselbe Gegenstand kann nicht stets zur Unterhaltung dienen; daher schien die Familie Lobenthal, nach Verlauf von funfzehn Monaten, im Lande völlig eingebürgert zu sein, und man trat sogar mit der Dienerschaft in freundschaftliche Verhältnisse, so daß die Männer im Stalle mit Wernern, die Weiber in der Küche mit Lisetten häufig Unterhandlungen anspannen, und ihnen erzählten, was sie Sonntags vor der Kirchthür Neues gehört hatten.

Lisette und Werner erzählten gerne, wenn Gelegenheit dazu war, ihrer Frau wieder, was sie gehört hatten, und Helene erröthete innerlich über das seltsame Vergnügen, das sie dabei genoß, ihnen zuzuhören; indessen war ihr, während der Abwesenheit ihres Mannes, Zerstreuung nöthig, und gleichviel, welchen Gegenstand man vor ihr abhandelte: sie zog das albernste Geschwätz immer noch der Einsamkeit vor.

Schon war der Oberst seit länger als einer Woche nicht mehr im Schlosse, als Lisette eines Abends mit so wichtiger Miene in’s Zimmer trat, daß Helene nicht daran zweifeln konnte, sie habe ihr eine außerordentliche Neuigkeit mitzutheilen. Sie irrte sich nicht; sobald das gute Mädchen sich bei der Lampe niedergesetzt hatte, die ihr zu ihrer Abendarbeit leuchtete, fing sie an:

„Von nun an, Frau Oberstin, werden wir nicht mehr so ganz allein in dieser Gegend sein; das Land hier wird immer mehr bevölkert, die Anzahl der Fremden vermehrt sich; und wenn das so fortgeht, so wird man bald, wie man im Dorfe sagt, des Montags einen Markt auf unserm Schloßplatze abhalten können.“

— Ei, mein Gott, antwortete Helene erstaunt, wer sind denn die zahlreichen Einwohner, die sich in der Gemeinde angesiedelt haben? —

„Wenn ich Ihnen die Wahrheit sagen soll, Frau Oberstin, so sind es eben noch nicht viel, aber das wird noch kommen. Für’s Erste ist da schon der Herr Oberst Lobenthal mit seiner Familie, und dann eine Dame, deren Geschichte und Herkunft man noch nicht kennt, und die das kleine Haus dort unten im Thale, mitten im Walde, gekauft hat.“

— Da hat sie sich eine sehr einsame Wohnung gewählt, und sie muß entweder viel Muth besitzen, oder ein großes Gefolge bei sich haben, wenn sie ohne Furcht in diesem Hause bleiben kann. —

„Dieser Meinung ist auch das ganze Dorf, und dennoch ist sie ganz allein; denn ein alter Bedienter kann hier gar nicht in Anschlag kommen, weil er so abgelebt, so bleich und hinfällig ist, daß er weniger einem Lebendigen, als einem Bewohner der andern Welt ähnlich sieht. Was die Dame betrifft, so sagt man, daß sie schön ist, obgleich ihre Miene etwas ganz Außerordentliches haben soll. Ich kann übrigens nichts Näheres davon berichten, weil ich sie noch nicht gesehen habe; aber am nächsten Sonntage müßte ich sehr krank sein, wenn ich in der Kirche fehlen sollte. Die Dame wird doch ohne Zweifel dort sein, und dann will ich sie genau betrachten, daß ich Ihnen einen vollkommnern Bericht abstatten kann, wenn Sie selbst zufällig nicht im Stande sein sollten, sie zu sehen.“

— Ich bezweifle nicht, Lisette, daß du sie genau betrachten wirst; aber was spricht man jetzt von ihr? Weiß man, aus welchem Grunde sie sich gerade gegen den Winter eine so wenig angenehme Wohnung gewählt hat? Ist sie aus Prag? Ist sie Wittwe, oder unverheirathet? —

„Man hat alle diese Fragen schon an ihren Bedienten gerichtet, ohne die geringste genügende Antwort zu erhalten; denn dieser Bediente soll ein mürrischer und äußerst grober Mensch sein. Seine Antworten sind: Ja, nein; vielleicht: das geht Euch nichts an; was er kauft, bezahlt er, ohne weiter ein Wort zu sprechen, und entfernt sich dann sogleich wieder. So viel weiß man indessen schon gewiß, daß diese Leute keine Deutschen sind; denn sie haben eine ganz seltsame Aussprache, und unter sich bedienen sie sich fremder, unverständlicher Worte.“

— Ist denn diese Dame schon lange hier? fragte Helene, die schon den Wunsch fühlte, in der Fremden eine Gesellschafterin zu finden, die einige Abwechselung in ihrer einfachen, gleichförmigen Lebensart hervorbringen könnte. —

„Sie ist an demselben Tage hier angekommen, wo der Herr Oberst abreisete. Anfangs stieg sie bei dem Schäfer Paul ab, und fragte ihn, ob nicht in der Nähe irgend ein Haus zu miethen oder zu kaufen sei? Paul erwiederte, daß die Gebrüder Gierschmann das kleine Haus im Walde verkaufen wollten; sie ließ sie sogleich herbeiholen, handelte mit ihnen, und schlief schon in derselben Nacht in ihrem neuen Wohnsitze. Paul und die beiden Gierschmann haben anfangs aus dieser Begebenheit ein Geheimniß gemacht, wahrscheinlich weil sie der armen Dame eine übermäßig große Summe für das Haus abgenommen haben. Aber am Ende kommt doch Alles heraus: die Geschichte wurde bekannt, und ich bin nicht die Letzte, die sie erfahren hat. Vor einer Stunde habe ich sie von der Frau des Nachtwächters gehört, und ich würde gegen meine Pflicht gehandelt haben, wenn ich Ihnen nicht sogleich Alles mitgetheilt hätte.“

Helene dankte Lisetten durch eine Verneigung des Kopfes für ihren guten Willen, und nahm sich vor, so bald als möglich Bekanntschaft mit der fremden Dame zu machen.

Während dieses langen Gesprächs schwieg Werner, der ebenfalls gegenwärtig war, und schüttelte von Zeit zu Zeit mit dem Kopfe. Diese Bewegung und sein Stillschweigen fielen der Oberstin auf, daher sie ihn fragte, ob er Mißtrauen gegen die unbekannte Dame hege?

„Ei, erwiederte Werner, ich sehe eben nichts Gutes in ihrem Erscheinen in hiesiger Gegend. Eine junge Frau, die auch hübsch sein soll, wie man sagt, kommt mit einem einzigen Bedienten hier her, um sich in ein abgelegenes Haus einzuschließen: scheint dieß ganz in der Ordnung zu sein? Hat sie einen Mann? Wo ist ihre Familie? Sollte sie nicht eine Abentheurerin sein? Ich habe ehemals genug von diesen geheimnißvollen Prinzessinnen bei unseren Offizieren gesehen, die anfangs alle Blicke scheuten, und sich sorgfältig eingezogen hielten, bis sie irgend einen Fang gemacht hatten. Dann erschienen sie am hellen Tage, und zeigten ihre Reize, ihre Pracht und ihr schlechtes Betragen; hatten sie nun die Frucht rein ausgesogen, so verschwanden sie plötzlich, wie die Irrwische, die wir oft dort unten auf dem Moraste erblicken.“

— Ich glaube es wohl, antwortete Helene, daß man in einer großen Stadt solche unglücklichen Geschöpfe antrifft, die, um einen desto bessern Handel mit ihren Reizen zu machen, die Neugierde durch das Dunkel zu reizen suchen, mit dem sie sich umhüllen; aber hier in R...., mein guter Werner, was sollte eine solche Person hier suchen? Wo ist hier der reiche Partikulier, den sie verführen könnte? Ich weiß in der ganzen Gegend nur Familien, die in der vollkommensten Eintracht leben, und überdieß binnen Kurzem das Land bis zum künftigen Sommer verlassen werden. Kann aber diese Dame nicht Unglücksfälle erlitten haben? Schämt sie sich nicht vielleicht, in der Welt auf einem niedrigeren Fuße zu leben, als ihr früher ihrem Range nach zukam? und wird wohl eine heutige Sirene mitten im Walde, fern von jeder Straße, ihren Aufenthalt wählen? Wird sie sich nicht vielmehr den Orten nähern, die häufig von Reisenden besucht sind? Nein, mein lieber Werner, dein Verdacht ist ungerecht; man muß von seinem Nächsten nichts Uebeles denken, als wenn offenbare Gründe dazu vorhanden sind. —

Werner erwiederte nichts, aber er schien keinesweges überzeugt zu sein. Ihm diente seine Erfahrung zur Richtschnur, wonach er Alles beurtheilen zu können glaubte, was ihm jetzt begegnete.

Der folgende Tag war außerordentlich schön. Gegen Abend gingen die Kinder unter Werners Aufsicht spazieren, und der Zufall führte sie nach dem nahe gelegenen Walde, während Helene selbst sich nicht so weit vom Schlosse entfernte, sondern nur bis nach dem Dorfe hinunter ging, wo sie mit den Landbewohnern, denen sie begegnete, von der nahe bevorstehenden Erndte plauderte. Alle erzählten ihr aber von der fremden Dame; ihre Ankunft hatte die allgemeine Neugier gereizt, und man belauschte daher jeden ihrer Schritte. Man wußte, daß sie gegen Abend ihre Wohnung verließ, um in der Umgegend spazieren zu gehen; so lange aber die Sonne noch am Himmel stand, zeigte sie sich nur höchst selten. Den ganzen Tag brachte sie in einem Zimmer ihres obern Stockwerks zu, wo Niemand sie zu sehen bekam. Ihr alter Bedienter verrichtete sämmtliche Geschäfte des Hauswesens, aber er sah stets so mürrisch aus, daß man keine Lust fühlte, eine Unterredung mit ihm anzuknüpfen, wenn er dann und wann in’s Dorf kam, um irgend etwas einzukaufen.

Jemehr Helene von der Unbekannten sprechen hörte, desto fester nahm sie sich vor, sie kennen zu lernen; denn bei allen ihren vortrefflichen Eigenschaften war die Frau Oberstin doch immer eine Tochter unserer gemeinschaftlichen Stamm-Mutter Eva. Indessen wußte sie ihren geheimen Wunsch unter eine scheinbar große Gleichgültigkeit zu verbergen, und als es finster zu werden anfing, kehrte sie nach dem Schlosse zurück.

Sobald ihre Kinder sie erblickten, liefen sie ihr voll Freude entgegen. „Ach, Mutter! liebe Mutter! riefen beide zugleich; wir haben die schöne unbekannte Dame gesehen, und mit ihr gesprochen. Sie hat uns diese schönen Blumenkränze geschenkt. Ach, wie gut und wie hübsch ist sie!“

Dieses unverhoffte Zusammentreffen und die Worte ihrer Kinder reizten Helenens Neugierde noch mehr. „Still, liebe Kinder, sagte sie, sprecht nicht beide zugleich; Eines von euch soll mir erzählen, was vorgefallen ist, und das Andere kann dann nachholen, was vielleicht das Erste vergessen hat.“

Dieser Vorschlag war ganz angemessen, aber es boten sich nur Schwierigkeiten dar, ihn auszuführen. Julie, ein höchst lebhaftes niedliches Mädchen, schien nicht geneigt, ihrem Bruder das Wort zu überlassen, der seinerseits wieder das Recht des Aeltern in Anspruch nahm, um der Erzähler des kleinen Abentheuers zu sein. Hieraus entstand ein ernsthafter Streit. Helene versuchte anfangs vergebens den Weg der Güte: sie drang nicht durch, weil Julie sprechen und Wilhelm nicht schweigen wollte: die Mutter sah sich endlich genöthigt, ihr ganzes Ansehen zu gebrauchen, und ein bestimmter Befehl legte dem kleinen Mädchen Stillschweigen auf. Julie nahm nun eine schmollende Miene an, und setzte sich in einen Winkel des Zimmers, wo sie ihr niedliches Gesichtchen in den Händen verbarg, indem sie versicherte, daß ihr Bruder falsch erzähle, daß sie aber gewiß den Mund nicht öffnen würde, um ihn zu berichtigen.

Wilhelm, stolz auf die Auszeichnung, die ihm seine Mutter zu Theil werden ließ, stellte sich lächelnd vor sie hin und fing nun seine Erzählung an: „Ich hatte Lust, liebe Mutter, in das Thal hinabzugehen, um von den schönen Blumen, deren so viele auf der dortigen Wiese wachsen, abzupflücken. Ich bat daher unsern Werner, uns dahin zu führen, und er willigte ein; wir waren aber kaum einige Augenblicke da, so lief auch schon Julie, die niemals ruhig bleiben kann, aus allen Kräften nach dem Walde zu.“

— Das ist nicht wahr! rief Julie, voll Aerger über die Beschuldigung ihres Bruders; ich verfolgte einen schönen, bunten Schmetterling, und du thatest dasselbe. — Siehst du wohl, liebe Mutter, daß du von Wilhelmen nichts Ordentliches erfahren wirst? Ich will dir daher erzählen, was geschehen ist, denn mit mir hat ja die Dame zuerst gesprochen. —

„Ich habe dir befohlen zu schweigen, antwortete die Mutter sanft, aber ernsthaft; und ich will, daß du mir gehorchst. Daß ich also meinen Befehl nicht zum dritten Mal wiederholen muß!“

Die Strenge dieser Worte, welche übrigens so wenig mit Helenens Liebe zu ihrem niedlichen Töchterchen übereinstimmte, verursachte dem letzteren so viel Schmerz, daß Julie in einen Strom von Thränen ausbrach, und ihre kleinen Arme ihrer Mutter um den Hals schlang. Helene sahe nun ein, daß sie sich zu strenge gezeigt hatte, und ohne ein Wort zu sagen, streichelte sie mit ihrer Hand die schönen blonden Locken ihrer Tochter, und drückte dann einen Kuß auf ihre Stirn, worauf die Heiterkeit sich bei derselben wieder einzustellen nicht ermangelte. Indessen fuhr Wilhelm in seiner Erzählung fort. Er berichtete, wie die fremde Dame plötzlich vor seinen erstaunten Blicken erschienen sei, während er seiner Schwester habe nachlaufen wollen, die sich mitten in das dickste Gebüsch begeben hatte; wie Julie die Hand der fremden Dame gehalten habe, welche letztere sich dann mit ihren Spielen vereinigte, obgleich sie, bemerkte der Knabe, die Lustigkeit eben nicht zu lieben schiene. Sie war immer ernsthaft, und das laute Gelächter Juliens, womit sie immer sehr freigebig ist, schien ihr sogar ein gewisses Beben zu verursachen. Aber sie behandelte uns mit einer außerordentlichen Gütigkeit. Vergebens wollte Werner mehrmals mit uns nach Hause zurückkehren, sie hielt uns immer noch auf, weil sie stets noch einige Blumen zu den Kränzen hinzuzufügen hatte, die sie uns wand. Aber sie ist erstaunlich geschickt; nur weiß ich nicht, warum sie beständig einen Handschuh auf der linken Hand trägt; das muß ihr doch sehr beschwerlich sein. Julie wollte ihn ihr abziehen, aber sie hinderte es mit einer sehr heftigen Bewegung, und warf ihr zugleich einen Blick zu, der mich und meine Schwester in Schrecken setzte; so böse schien er uns zu sein.

Diese Erzählung ward in allen Punkten von dem kleinen Mädchen bestätigt, das nun ebenfalls das Wort zu nehmen eilte. Julie fügte noch eine Menge Einzelnheiten hinzu, und erzählte ihrer Mutter, daß die hübsche Dame ihr mitten im Gebüsch so plötzlich erschienen sei, als wenn sie aus der Erde hervorgekommen wäre.

„Ich erschrak anfangs sehr, fuhr Julie fort, und da die Dame es bemerkte, so schien sie darüber sehr bekümmert zu sein. Sie kam dann lächelnd auf mich zu, und ihre freundlichen Worte machten mich nun bald dreister. Uebrigens hat sie nicht die geringste Frage an mich gerichtet, wie es sonst wohl diejenigen zu thun pflegen, die mich zum ersten Male sehen; sie sprach nur von unseren Spielen und Vergnügungen, und wie sehr sie meine Freundin zu werden wünschte. Von dir und von meinem Vater hat sie nicht ein Wort erwähnt.“

Werner, der nun ebenfalls befragt ward, bestätigte Alles, was die Kinder gesagt hatten. Aber über sein ganzes Wesen schien die größte Verwirrung verbreitet zu sein, und vergebens suchte er sie zu verbergen; sie ward wider seinen Willen so sichtbar, daß Helene aufmerksam werden mußte.

„Nun, Werner! sagte sie; du bist nicht eben so sehr für die fremde Dame eingenommen, als Wilhelm und seine Schwester. Hast du immer noch dein früheres Mißtrauen gegen sie, oder hast du sie vielleicht gar wieder erkannt?“

— Ich! sie wieder erkannt haben! rief der alte Soldat, dessen Gesicht in diesem Augenblick alle Farbe verlor. Ich wüßte nicht, Frau Oberstin, wie mein Betragen Sie auf solche Muthmaßung hinführen könnte. Ich kenne jene Person nicht; aber dennoch beharre ich bei der Meinung, daß ihre Ankunft hierselbst zu geheimnißvoll ist, um sich etwas Gutes davon zu versprechen. Wenn Sie meinem Rathe folgen wollten, so würden Sie Ihren Kindern nicht erlauben, bekannter und vertrauter mit ihr zu werden. Was die Erlaubniß betrifft, daß diese Unbekannte ihren Fuß über die Schwelle des Schlosses setzt, so wissen Sie selbst, was Sie dabei zu thun haben. Wenn ich aber an Ihrer Stelle wäre, so würde ich auch nicht einmal zugeben, daß sie auch nur den Hof überschreitet. —

„Um so strenge gegen sie zu verfahren, erwiederte Helene, müßte ich überzeugt sein, daß ihre Gesellschaft durchaus nicht für mich paßt, und dieß werde ich vielleicht bald erfahren. Aber da du sie heute zum ersten Male gesehen hast, da dein Widerwille gegen sie gar keine gegründete Ursache hat, so kann ich mein Betragen völlig nach den obwaltenden Umständen einrichten. Dennoch bin ich fest entschlossen, mein lieber Werner, auf deinen Rath zu hören, wenn du von dieser Dame irgend etwas weißt, das dich überzeugt, es würde gefährlich für mich sein, mit ihr umzugehen.“

Werner schien einen Augenblick lang ungewiß zu sein, was er der Oberstin antworten sollte; plötzlich hörte indessen diese Ungewißheit auf, und er versicherte dann mit fester Stimme, daß seine Furcht nur auf Vorurtheilen beruhe, daß die fremde Dame ihm völlig unbekannt sei, und daß seine Herrschaft völliges Recht habe, zu handeln, wie es ihr gut dünke.

Helene kannte die edle Freimüthigkeit des alten Soldaten, und sie zweifelte nicht an der Wahrheit dessen, was er sagte. Sie schrieb sein Mißtrauen der natürlichen Bedächtigkeit derjenigen zu, die in der Welt viel gesehen und erfahren haben; das Böse hat sich ihnen unter allen Gestalten gezeigt, und sie fürchten stets, es da anzutreffen, wo der Anschein es am Wenigsten vermuthen läßt. Nur in der Zurückgezogenheit lernt das menschliche Herz sich einem Vertrauen überlassen, das noch durch Nichts getäuscht wurde, und nur der häufige Umgang mit Menschen lehrt sie fürchten.

Viertes Kapitel.

Indem Werner die Oberstin versicherte, daß die fremde Dame ihm unbekannt sei, sprach er wider seine Ueberzeugung. So auffallende Gesichtszüge konnten bei ihm unmöglich in Vergessenheit gekommen sein; er wußte, wie sehr die, welche damit geschmückt war, würdig gewesen, die zärtlichste Neigung einzuflößen, und er zitterte schon im Voraus vor einem Zusammentreffen, das für die Zukunft die schrecklichsten Stürme zu weissagen schien. Aber sollte er unter diesen Umständen die Ruhe seiner würdigen Gebieterin vergiften? War es nöthig, in ihrem Herzen die verzehrenden Flammen der Eifersucht anzuzünden? Unglücklicherweise giebt es Fälle im menschlichen Leben, wo es nothwendig ist, die Wahrheit zu verschweigen, und wo man mit der Lüge in’s Bündniß treten muß, um großen Uebeln vorzubeugen. Einer von diesen Fällen war hier eingetreten, und nur ungern opferte ihm Werner seine natürliche Wahrheitsliebe auf; er verschwieg also, was er wußte. Wie sehr wünschte er aber die Nacht herbei, wo er hoffen konnte, ruhig über diese schwierige Lage nachzudenken. Seine Klugheit sagte ihm, wie wichtig es sei, nichts von seiner innern Unruhe merken zu lassen; denn wenn sich einmal der Verdacht im Busen der Oberstin erhob, zu welchen Auftritten konnte dieß führen! Er nahm daher alle seine Kraft zusammen, und bewachte sich selbst so strenge, daß Helene in seinen Gesichtszügen nichts als die Gleichgültigkeit des gewöhnlichen Lebens wahrnehmen konnte.

Als Werner endlich nach eilf Uhr in seinem Zimmer allein war, eilte er zu seinem Schreibtische, und schrieb an seinen Herrn, was hier vorgegangen war.

„Wie groß wird Ihr Erstaunen sein, Herr Oberst, wenn Sie erfahren, daß Lodoiska jetzt hier in R.... wohnt, und die nächste Nachbarin des Schlosses ist. Was will sie hier, jetzt, nach Verlauf so vieler Jahre? was hegt sie für Absichten? Diese Fragen kann ich Ihnen nicht beantworten. Sie hat mich nicht erkannt, wenigstens ließ sie nicht das geringste Zeichen entschlüpfen, woraus ich es hätte schließen können. Lassen Sie mir jetzt Ihre Befehle zukommen, und ich werde sie ohne Verzug ausführen. Wollen Sie sie wiedersehen, und sich eine Zusammenkunft mit ihr verschaffen, um ihre Absichten kennen zu lernen? Oder ziehen Sie es vor, daß die Frau Oberstin und Ihre Kinder diese Gegend hier augenblicklich verlassen? Dieß würde vielleicht der beste Weg sein, den Sie einschlagen könnten. Sie werden nie glücklich, noch ruhig sein, so lange diese Lodoiska lebt, oder wenigstens, so lange dieselbe Sie mit ihrer Gegenwart und ihren Vorwürfen verfolgt.“ —

Indem Werner diese letzten Worte niedergeschrieben hatte, erbebte er unwillkührlich; denn es schien ihm, als wenn er hinter sich das Geräusch eines Gewandes hörte, und den Athem einer Person fühlte, die sich über ihn her beugte, um zu lesen, was er geschrieben. Die Täuschung war so vollkommen, daß er nicht daran zweifelte, die Oberstin sei dicht hinter ihm, und voller Schrecken hierüber, wagte er anfangs nicht, die Augen aufzuschlagen, noch den Kopf umzuwenden; da indessen nach Verlauf von einer Minute sich noch immer kein neues Geräusch hören ließ, so blickte er um sich, und überzeugte sich nun, daß er sich geirrt habe. Kein lebendiges Wesen war in seinem Zimmer zu sehen, die tiefste Stille herrschte überall, nur dann und wann von dem Geschrei einer einsamen Eule unterbrochen, die in dem alten Thurme des Schlosses nistete.

Diese Gewißheit, daß die Oberstin seinen Brief nicht gelesen habe, verursachte ihm die größte Freude, und nachdem er sein Zimmer fest verschlossen hatte, suchte er sich einem erquickenden Schlafe zu überlassen; es gelang ihm aber nicht. Die geheimnißvolle Lodoiska kam ihm nicht aus den Gedanken, und in seinem Zorne gegen sie fluchte er laut, als wenn er eine Abtheilung Rekruten zu exerziren hätte. Erst sehr spät schlossen sich endlich seine Augen, und der Mensch in ihm lebte nur noch durch seine nächtlichen Beziehungen mit den himmlischen Geistern fort. Gewöhnlich kam Werner sonst dem Erwachen der Morgenröthe zuvor; dießmal aber stand die Sonne schon über den umliegenden Hügeln, als der alte Unteroffizier plötzlich aus dem Schlafe aufschreckte, und über die Art von Bewußtlosigkeit, in der er gewesen zu sein sich erinnerte, erstaunte. Ohne Zweifel hatten die Arbeiter auf dem Felde schon angefangen, und er war dabei nicht zugegen gewesen. Voller Scham über diesen Fehler zog er sich schnell an und eilte hinunter in den Hof; hier erinnerte er sich aber, daß er den wichtigen Brief an seinen Herrn auf dem Schreibtische vergessen habe, und da die Klugheit ihm rieth, denselben nicht vor Jedermanns Augen umher liegen zu lassen, so kehrte er um, ihn zu sich zu stecken, und ihn nachher dem täglich nach der Stadt gehenden Boten zur Bestellung auf der Post zu übergeben.

Der Brief befand sich nicht mehr an dem Orte, wo Werner ihn hatte liegen lassen, sondern er sahe ihn, in tausend Stücke zerrissen, auf dem Fußboden umhergestreut. Dieser eben so sehr überraschende, als verdächtige Anblick entriß Wernern einen lauten Ausruf, und versetzte ihn dann in ein peinliches Nachdenken. Wer konnte das Schreiben zerrissen haben? Wer war während so weniger Augenblicke in seinem Zimmer gewesen, um dort so unverschämt zu handeln? Sollte es die Oberstin, oder Lisette, oder das Hausmädchen gewesen sein? Nur diese drei Personen konnten um diese Zeit schon aufgestanden sein. Er erinnerte sich, daß er das letztere auf dem Hofe gesehen habe; auch erblickte er Lisetten durch das Fenster in der Küche mit ihren Arbeiten beschäftigt, und die Oberstin schien noch nicht aufgestanden zu sein, wie die geschlossenen Fensterladen ihres Zimmers zeigten. Kurz, er wußte nicht, was er von diesem außerordentlichen Vorfalle denken sollte; und er gewann es nicht über sich, den Brief sogleich von Neuem zu schreiben, sondern sammelte nur sorgfältig die Stücke vom Fußboden auf, um sie in’s Feuer zu werfen.

Den ganzen Tag über befand sich Werner in einer äußerst peinlichen Stimmung. Obgleich er überzeugt war, daß die Oberstin sein Zimmer nicht so sehr verletzt habe, so fühlte er doch eine große Verlegenheit, als er heute zum ersten Male in ihre Nähe kam. Er suchte sich zu zwingen, und in den Gesichtszügen Helenens zu lesen; aber diese waren so ruhig, daß sie unmöglich eine so unerwartete Entdeckung, wie die Lesung des Briefes ihr gewähren mußte, gemacht haben konnte. Werners Erstaunen ward nun immer größer, und er verlor sich vergebens in allerhand Vermuthungen; höchst unangenehm aber war es ihm, als die Kinder ihn baten, sie wieder, wie gestern, nach dem Walde spazieren zu führen, weil sie hofften, ihre neue Freundin, wie sie sagten, wieder zu sehen.

Gern hätte Werner es ihnen abgeschlagen; aber die Oberstin war zugegen, und ehe er noch ein Wort sprechen konnte, hatte sie schon ihre Einwilligung gegeben. Die Klugheit gebot ihm, von seinen wahren Gedanken nichts merken zu lassen, um bei der Gemahlin seines Obersten weder Argwohn noch Furcht zu erregen, und mit zurückgehaltenem Unwillen stieg er langsam den Hügel hinab, nach dem Orte zu, wie seine jungen Begleiter wünschten.

Kaum befanden sie sich am Saume des Waldes, so trat Lodoiska plötzlich aus dem Gebüsch hervor, in ihren Händen ein paar Federbälle und eine schöne Puppe, die sie den Kindern bestimmt hatte. Sobald diese ihre neue Freundin erblickten, liefen sie auf sie zu, und Julie war so dreist, sich gerade zu in ihre Arme zu werfen. Diese unschuldige Handlung schien die Fremde tief zu bewegen; sie trat einen Schritt zurück, und warf einen so finstern, unheimlichen Blick auf das Kind, daß der muthige Werner darüber erstarrte. Allein diese anfängliche Bewegung dauerte nicht lange; ein leichtes Lächeln überflog die Gesichtszüge der Fremden, und mit der größten Liebenswürdigkeit vertheilte sie die mitgebrachten Geschenke.

Wilhelm, entzückt über die Federbälle, lief sogleich nach der nahen Wiese, um sie zu versuchen, und Julie, ganz glücklich bei dem Anblick ihrer Puppe, bat um Erlaubniß, Blumen pflücken zu dürfen, um ihre kleine Dame damit zu schmücken. Die Fremde hatte nichts dagegen, und als sie die Kinder mit ihren Spielen in voller Beschäftigung sahe, näherte sie sich dem alten Unteroffizier, der in tiefem Sinnen an einen Baum gelehnt stand, und über die Vergangenheit nachdachte. Er fürchtete, daß neue Unfälle die Ruhe seines Obersten stören möchten; er war höchst unzufrieden, aber er wußte nicht, wie er dem drohenden Ungewitter zuvorkommen sollte.

Werner war so sehr mit sich selbst beschäftigt, daß er die Annäherung der Dame nicht gehört hatte, als er plötzlich aus seinem Nachdenken durch eine ihm wohlbekannte Stimme geweckt ward, die aber in diesem Augenblick etwas Dumpfes und Feierliches hatte, so daß er sich davon bis in’s Innerste ergriffen fühlte.

„Nun Werner, redete sie ihn an, was habe ich dir gethan, daß du mir stets entgegen bist? Wird deine ungerechte Abneigung gegen mich nicht endlich einmal aufhören?“

Auf’s Aeußerste überrascht durch diese Worte, schlug der Soldat die Augen auf, entfernte sich von dem Baume, an den er sich gelehnt hatte, und schien wenig geneigt zur Antwort zu sein. Doch überwand er sich, und sagte:

„Was wollen Sie von mir, Lodoiska? Warum haben Sie Ihr Vaterland verlassen? Was suchen Sie hier in Deutschland? Hat denn die Zeit keinen Einfluß auf Sie? Denken Sie noch eben so, wie in den Jahren Ihrer Jugend? Dann bedaure ich Sie, oder vielmehr ich beklage Ihren Wahnsinn.“

— Die Zeit, antwortete die Fremde in dem feierlichsten Tone, vermag jetzt nichts mehr über mich; es giebt ein Leben, wo ihre Macht völlig aufhört, und wo die Empfindungen unveränderlich werden, wie die Ewigkeit, von welcher sie ein Theil sind. Wundere dich nicht über meine Gegenwart, denn nicht mein Wille ist es, der mich leitet; ich gehöre mir selbst nicht mehr an, sondern einem grausamen, gebieterischen Herrn, der mir jeden meiner Schritte vorzeichnet. Meine alte Wunde blutet noch, und die Zeit, wie du sie nennst, hat das Recht verloren, sie zu vernarben. —

„Warum aber, erwiederte Werner, sich mit unnützen Hoffnungen quälen? Zwischen Ihnen und dem Obersten ist Alles vorbei. Er hat vielleicht Unrecht gegen Sie begangen, aber er darf daran nicht mehr denken. Schon seit mehrern Jahren ist er der Gatte einer Frau, die seine Zärtlichkeit verdient. Wollen Sie die Ruhe in seinem Hause stören? Treibt die Rache Sie so weit, daß Sie das Herz seiner Gemahlin zerreißen können?“

— Durfte er sich verheiraten, Werner? Gehörte dein Herr sich allein an, um sich frei hinzugeben? Hat er nicht mit seinem eigenen Blute das Versprechen unterschrieben, nur mit mir vor den Altar zu treten? Weißt du dieß Alles nicht, du, der du so dreist von der Vergangenheit sprichst, die den Treulosen vernichten wird? War ich weniger schön, als deine jetzige Gebieterin, oder weniger tugendhaft? Was hatte ich Unrechtes gethan? Etwa, weil ich Liebe für Liebe gab, und mich einem Gefühle gänzlich überließ, das ich für aufrichtig hielt? Habe ich mein Versprechen zurückgenommen, das ich ebenfalls mit meinem Blute unterschrieb? Ist es nicht noch in Alfred’s Händen, und kann er vor Gott der rechtmäßige Gatte einer Andern sein? Was habe ich Unrechtes gethan? Er kann mir keine Vorwürfe machen, während ich ihn durch die Menge der meinigen zu Boden zu schlagen im Stande bin! —

Während die schöne Fremde so sprach, schien sie der Erde gar nicht mehr anzugehören; ihre hohe und schlanke Gestalt, der unstät umherschweifende Blick, die in ihren Gesichtszügen bemerkbaren Zeichen des Unwillens, welche ihrem Munde einen furchtbaren Ausdruck gaben, alles Dieses zusammen gab ihr das Ansehen eines überirdischen Wesens. Werner war nicht im Stande, den Blick ihres forschenden Auges auszuhalten, das seine Gedanken bis in die innersten Falten seines Herzens zu verfolgen schien. Insgeheim mußte er zugeben, daß sein Herr Unrecht gethan; aber es war auf keine Weise wieder gut zu machen, und Lodoiska mußte, ungeachtet der Gerechtigkeit ihrer Ansprüche, darauf Verzicht leisten. Dieß suchte er ihr in seiner Antwort begreiflich zu machen.

Die Fremde hörte ihm mit einem verächtlichen Lächeln zu, ohne weder Erstaunen noch Unzufriedenheit blicken zu lassen. Schon schmeichelte er sich, sie überzeugt zu haben, und wollte nun seine Ueberredung vollenden, als sie ihn plötzlich dadurch unterbrach, daß sie ihm ihre rechte Hand auf seine Schulter legte. Diese mit einer Art von Nachlässigkeit gemachte Bewegung brachte nichts desto weniger in ihm eine außerordentliche Wirkung hervor. Er hatte an dem Orte der Schulter, welchen Lodoiska’s Hand berührte, ein ganz seltsames Gefühl, und es schien ihm, als wenn er mitten aus einem glühenden Ofen in ein Meer von Eis geschleudert würde; dieses Gefühl verlor sich aber sogleich wieder, sobald die Hand zurückgezogen wurde, die es hervorgebracht hatte.

„Habe ich ihn seines Versprechens entbunden? sagte Lodoiska ruhig, ohne auf die Gründe zu antworten, die ihr Werner so eben auseinandergesetzt. Hat er unsern schriftlichen Vertrag noch?“

— Gleichviel, ob er ihn noch hat oder nicht, es kann jetzt doch nichts mehr darauf ankommen; mag er in seinen Händen sein, oder in den Ihrigen, wozu könnte er noch dienen? Die Gerichte werden gar keine Rücksicht darauf nehmen. —

„Es ist möglich, leichtsinniger Soldat, daß die menschlichen Gesetze gegen diese Art von Meineid nichts vermögen; aber es giebt in jener Welt einen unbestechlichen Richter. Dieser war Zeuge jenes Versprechens, an ihn habe ich mich gewendet, um Gerechtigkeit zu erlangen, und ich bin gewiß, sie zu erhalten.“

— Wahrlich, Lodoiska, erwiederte Werner lächelnd, da könnten Sie lange warten, ehe das Urtheil, wovon Sie sprechen, in Vollziehung gesetzt wird. Glauben Sie mir, das Beste für Sie ist, wenn Sie in Ihr Vaterland zurückkehren, und dort ruhig bei Ihrer Familie bleiben. Sein Sie überzeugt, daß der Oberst nicht anstehen wird, Ihnen ruhige und sorgenlose Zukunft durch ein anständiges Jahrgehalt zu sichern. —

„Das steht nicht mehr in seiner Macht, antwortete die Fremde in einem noch feierlichern Tone als bisher; ich habe keine Familie mehr, die ganze Erde ist mein Vaterland, und was die Vortheile betrifft, die du mir in Alfred’s Namen versprichst, so bedarf ich ihrer nicht. Das Geld ist in meinen Augen verächtlich, und ich besitze es im Ueberfluß. Wenn du dich anheischig machen willst, deinem Herrn meine Gegenwart hierselbst nicht zu melden, so verspreche ich dir mehr Reichthümer, als du dir wünschen kannst. Hier, fuhr sie fort, eine sehr große gefüllte Geldbörse hervorziehend, nimm dieß auf Abschlag dessen, was du noch in Zukunft von mir erhalten sollst.“

Die seltsamen Worte Lodoiska’s machten das Erstaunen des alten Soldaten vollkommen. Er wußte, daß sie, die Tochter eines moldauischen Bauers, nicht reich war, und jetzt gab sie ihm den Beweis des Gegentheils. Dieß trug aber nicht zu seiner Beruhigung bei, doch durfte die Fremde sich nicht schmeicheln, ihn zu verführen.

„Auch ich, Lodoiska, sagte Werner, bin über meine Bedürfnisse erhaben, und ich danke Ihnen für Ihr großmüthiges Anerbieten; es könnte mich nicht reizen, wenn ich auch die Absicht hätte, dem Obersten zu schreiben, daß Sie hier sind.“

— Lügner! antwortete Lodoiska lebhaft, du hast sie, diese Absicht, und du hast schon versucht, sie auszuführen. —

Diese zuversichtliche Behauptung, die ihm zugefügte Beleidigung, die eine männliche Person mit ihrem Blute würde haben bezahlen müssen, versetzte den erstaunten Werner fast in einen Zustand des Erstarrens. Er wußte nicht, ob er seinem Zorn den Lauf lassen, oder ihn zu unterdrücken suchen sollte; doch riß ihn die Heftigkeit seines Charakters mit fort, und er rief voller Unwillen:

„Danken Sie es Ihrer weiblichen Kleidung, die Sie vor meiner augenblicklichen Rache schützt! Aber was für einen Titel verdienen Sie, unvorsichtiges Weib, da Sie nicht fürchten, sich heimlich in fremde Häuser einzuschleichen, und die Handlungen ihrer Bewohner zu belauschen? Sie stehen früh genug auf, wie es scheint; aber sein Sie überzeugt, Sie sollen so bald nicht wieder, ohne mein Wissen, ins Schloß eindringen.“

Ein Lächeln, dessen Bedeutung unbegreiflich schien, war Lodoiska’s ganze Antwort. Dann aber nahm sie eine Miene von Würde an, und sagte:

„Bedenke, Werner, daß du thätigen Antheil an meinem Unglück genommen hast; ich warne dich jetzt, nicht blind in den Abgrund des Verderbens zu rennen. Glaube mir, es wird am besten für dich sein, unparteiisch bei dem Kampfe zu bleiben, der sich bald erheben kann; dieß ist das einzige Mittel für dich, dem nahen Ungewitter zu entgehen.“

Bei diesen Worten sprühten ihre Augen gleichsam Feuer, und nach einer fürchterlich drohenden Geberde entfernte sie sich mit schnellen Schritten auf einen schmalen Fußsteig, der sie bald den Blicken entzog. Sie hörte nicht auf die Stimmen der beiden Kinder, die, ihrer Spiele müde, sich jetzt näherten, um mit ihr zu plaudern. Werner stand wie unbeweglich da, und war in tiefes Nachdenken über die Unglücksfälle versunken, die er schon mit Gewißheit vorhersah. Endlich weckte ihn Wilhelm aus seiner Träumerei.

„Hörst du den Donner nicht, Werner, der dort aus der schwarzen Wolke herüberrollt? Sieh doch, welche schöne Blitze! Es wird gewiß ein Gewitter geben.“

— Ein Gewitter! rief Werner aus. Sollte ihre Prophezeihung schon so schnell in Erfüllung gehen? — Er erblickte nun ebenfalls die heranziehenden schwarzen Wolken, aus denen häufige Blitze fuhren, und da die Vorsicht nicht erlaubte, den Spaziergang noch weiter fortzusetzen, so nahm er seine beiden jungen Freunde an die Hand, und kehrte auf dem kürzesten Wege nach dem Schlosse zurück.

Fünftes Kapitel.

Helene, die aus ihrem Fenster das Gewitter hatte herannahen sehen, war schon in großer Unruhe über die verzögerte Rückkehr ihrer Kinder gewesen, und voller Ungeduld verließ sie daher das Schloß, um ihnen entgegenzugehen. Sie war noch nicht weit gekommen, als sie schon das laute Gelächter der kleinen, muthwilligen Julie hörte, und bald darauf sahe sie die theuern Wesen auf sich zu laufen. Die Kinder sprachen von nichts, als von der schönen Dame, und von den Geschenken, die sie ihnen gemacht hatte. Helene war Mutter, und faßte daher schon ein günstiges Vorurtheil für diejenige, welche ihren theuern Kindern eine solche Freude machte; sie erkundigte sich, was die Fremde gesagt habe?

„O dießmal, antwortete das kleine Mädchen, hat sie nicht lange mit uns geplaudert, sondern beständig mit Werner gesprochen, den sie zuletzt voll Zorn verließ.“

Diese wenigen Worte des Kindes stürzten alle Pläne über den Haufen, die der Unteroffizier schon unterweges gemacht hatte. Er sahe sogleich ein, daß er Julien nicht widersprechen könne, weil die Oberstin ihm doch nicht Glauben beimessen würde; ein Entschluß mußte aber gefaßt werden, und ungeachtet seines Widerwillens gegen die Lüge wartete er nicht ab, bis Helene ihn fragte, sondern, nachdem Letztere die Kinder durch einen Wink entfernt hatte, sagte er:

„Ich hatte vollkommen Recht, Frau Oberstin, der Unbekannten nicht zu trauen. Glauben Sie mir, daß sie ihren Aufenthalt nicht ohne gefährliche Absichten hier in R.... gewählt hat. Eine ganze Stunde lang hat sie mich mit Fragen über Ihre Familie und alle unsere Nachbarn gleichsam auf die Folter gespannt. Sie wollte Alles wissen, das Alter, den Rang, die Beschäftigung eines Jeden, und sie wurde gar nicht müde in ihren Versuchen, mich auszuforschen. Anfangs suchte ich ihren unverschämten Fragen mit Höflichkeit auszuweichen, aber sie hielt sich noch nicht für besiegt, und kehrte zum Angriff zurück. Eine Frage folgte auf die andere, gleichsam wie ein ununterbrochenes Heckfeuer, so daß ich endlich der Sache überdrüssig wurde. Ich nahm meine Truppen zusammen, und rückte ihr mit gefälltem Bajonet auf den Leib, so daß ich ihr eine völlige Niederlage beibrachte. Mein Widerstand setzte sie in solche Bestürzung, daß sie in höchst übler Laune ihren Rückzug antrat.“

Diese mit militärischen Ausdrücken untermischte Rede zwang der Oberstin ein Lächeln ab. Die Fragen der Fremden schienen ihr nicht so unverschämt, als Werner sie darstellte; sie hielt es für natürlich, daß sie sich nach den Familien der Gegend erkundigte, wo sie sich niedergelassen hatte.

„Ich hoffe, mein lieber Werner, daß deine Antworten nicht beleidigend gewesen sind; man muß Achtung vor den Damen haben, und vorzüglich darf ein Soldat dieselbe nicht aus den Augen setzen.“

— Das ist recht gut für unsere Herren Offiziere, erwiederte Werner; aber wir, da wir nicht ihre Vorrechte genießen, brauchen auch nicht ihre Höflichkeiten nachzuahmen. —

Mit diesen Worten, die er absichtlich etwas hart aussprach, entfernte sich der alte Soldat, und Helene kehrte nun zu ihren Kindern zurück, während das Gewitter immer näher kam, und der Regen schon in großen Strömen niederfiel. Helene fürchtete nicht das Rollen des Donners, so wenig als ihre Kinder; aber Lisette und Marie waren in der größten Angst. Sie eilten zu ihrer Gebieterin, gleichsam um bei ihr Schutz zu suchen, den sie ihnen auch nicht verweigerte. Da Werner unterdessen ungestört sein konnte, so begab er sich auf sein Zimmer, und ungeachtet eines unwillkührlichen Schauders, der sich zu wiederholten Malen in seinem Innern erhob, setzte er sich, um zum zweiten Male an seinen Herrn zu schreiben.

Das Gewitter wurde immer heftiger, und die Winde kämpften fürchterlich mit einander, so daß sie in ihrer Wuth das Schloß in seinen Grundfesten zu erschüttern drohten. Unter das Rollen des Donners und das Heulen des Sturmes hörte Werner von Zeit zu Zeit sich gleichsam klagende Stimmen mischen; ja er hörte Worte, deren Ton seinem Ohr nicht unbekannt war. Mehrere Male hörte er unwillkührlich auf zu schreiben; dann aber, voll Scham über seine Schwäche, sammelte er seine Gedanken wieder, und zur Stunde des Abendessens war sein Brief an den Obersten fertig.

Da er sein Schreiben nicht abermals den Versuchen Lodoiska’s aussetzen wollte, schloß er dasselbe in einen Kasten ein, und setzte diesen in seinen Kleiderschrank. Von beiden steckte er die Schlüssel zu sich, und verließ dann ruhig sein Zimmer, überzeugt, daß sein Geheimniß nun in Sicherheit sei. Das Ungewitter tobte immer noch fort, und Lisette so wie Marie waren bereits fast todt vor Schrecken. Die Kinder, des Wartens auf das Abendessen müde, schliefen auf einem Sopha, und Helene las in einem guten Buche. Werners Eintritt in’s Zimmer belebte die beiden Mädchen wieder, die sich nun entschlossen, jede zu ihren Verrichtungen zu gehen, und das verspätete Abendessen wurde endlich aufgetragen.

Erst gegen Mitternacht ward der Himmel wieder heiter, und nach und nach kehrte die Natur zur Ruhe zurück. Werner hatte dem Unwetter heimlich mit Vergnügen zugesehen, denn er wußte, daß es mehrere Tage lang unmöglich blieb, spazieren zu gehen, wenn Regen gefallen war; und er hoffte, daß während dieser Zeit irgend ein Umstand eintreten möchte, wodurch die neue Bekanntschaft der Kinder seines Herrn mit Lodoiska aufgehoben würde; ja, er schmeichelte sich, daß die Antwort des Obersten auf seinen Brief dem ganzen Leben der Familie eine andere Richtung geben könnte.

Mit diesen Gedanken beschäftigt, die ihm keine Ruhe ließen, schlief der brave Soldat nur wenig. Der neue Tag war noch nicht angebrochen, so befand er sich schon auf den Beinen. Er nahm seine Schlüssel und öffnete den Schrank und den Kasten, um den Brief herauszunehmen, den er ohne Verzug nach Prag auf die Post senden wollte. Er fand ihn nach dem Gefühl, und steckte ihn in seine Tasche, ohne ihn zu sehen, da es noch dunkel war; hierauf ging er hinunter in den Hof, um den Knecht zu rufen, der ihm als Bote dienen sollte.

Ehe er ihn fand, verging einige Zeit, und die heraufsteigende Morgenröthe erhellte bereits die Erde rings umher, als er dem alten Peter anempfahl, sich sogleich nach der Stadt auf den Weg zu machen, um einen höchst eiligen Brief auf die Post zu bringen. Während er mit ihm sprach, zog er den Brief aus der Tasche, und warf noch zufällig einen Blick darauf, ehe er ihn übergab. O welche Ueberraschung ohne Gleichen! Das Papier war mit großen Blutstropfen befleckt, so daß es nicht einmal möglich war, die Aufschrift zu lesen! —

Dieser außerordentliche Umstand preßte dem erstaunten Soldaten unwillkührlich einen Schrei aus. Kaum konnte er seinen Augen trauen; unbeweglich stand er da, den Brief zwischen den Fingern hin- und herdrehend, ohne noch immer zu begreifen, was er vor sich sehe. Dann kehrte er schnell seine Tasche um, aber sie war völlig rein, und am Wenigsten konnte man eine Spur von Blut darin entdecken. Hierauf eilte er in’s Schloß zurück auf sein Zimmer, und untersuchte den Kasten, in welchem der Brief gelegen hatte; aber auch hier fand sich keine Spur von der Ursache, die das Papier beschmutzt haben konnte. Der muthige Werner starrte vor Schrecken; doch erholte er sich bald, und ohne Zeitverlust schrieb er nun den Brief zum dritten Male. Zwar kürzte er ihn ab, aber sein Inhalt war desto dringender, und sobald er fertig war, übergab er ihn dem Boten, den er zur größeren Sicherheit noch eine gute Strecke weit begleitete. —

Werner besaß Muth, aber dennoch konnte er sich jetzt einer gewissen abergläubischen Furcht nicht erwehren. Mit der größten Unruhe erinnerte er sich an die Erzählungen, die er in Rußland und vorzüglich in der Moldau und Wallachei gehört hatte, als er sich daselbst mit seinem Regiment befand; an die Sagen von Menschen, die ihre Seele dem Teufel verkauft hätten, und dadurch eine übernatürliche Macht zum Schaden ihrer Mitmenschen erlangten. Alle jene Mährchen fielen ihm jetzt wieder ein, und die beiden so eben erst erlebten Ereignisse verleiteten ihn sogar zu dem Glauben, daß wohl Lodoiska durch ein ähnliches Bündniß sich eben solche Macht verschafft haben könnte. Doch verwarf er bald diese Gedanken wieder. „Was für ein Thor ich bin, sagte er zu sich selbst, an solche Fabeln zu glauben. In der Moldau und Wallachei mag dergleichen hingehen, es wohnen dort nur Barbaren; aber in Deutschland hat der Teufel schon lange sein Recht verloren, oder es bloß den Taschenspielern überlassen; diese arbeiten bei uns noch allein für ihn, und vielleicht ist Mamsell Lodoiska eine solche geschickte Taschenspielerin. Aber sie mag sich in Acht nehmen; denn sie würde übel wegkommen, wenn ich sie einmal auf der That ertappe.“

Nachdem er hierauf einer Flasche mit altem guten Rum, die auf seinem Tische stand, einen Besuch abgestattet hatte, vergrößerte sich noch sein Muth, und er nahm sich vor, von nun an seine Wachsamkeit noch zu verdoppeln, um zu entdecken, durch welche Mittel sich Lodoiska’s Wirksamkeit bis in’s Schloß erstrecken könnte. In der Hoffnung, recht bald vom Obersten Antwort zu erhalten, ging er dann an seine gewöhnlichen Geschäfte.

Die Einsamkeit, in welcher die Familie Lobenthal im Schlosse R.... lebte, ging indessen nicht so weit, daß sie nicht von Zeit zu Zeit durch einige Besuche unterbrochen worden wäre, welche die auf den umliegenden Gütern wohnenden Herrschaften im Schlosse abstatteten. Sie wurden stets mit großer Höflichkeit und Gastfreundschaft empfangen, und Helene sahe sie sogar mit Vergnügen, besonders seitdem ihr Gatte abwesend war; denn sie bedurfte jetzt mehr Zerstreuung als früher, und fand sie in dem Umgange mit den Nachbarn. Daher fiel es auch im Geringsten nicht auf, als noch an demselben Tage, Nachmittags um zwei Uhr, ein alter Edelmann aus der Nachbarschaft im Schlosse eintraf, der früher Oberjägermeister gewesen war, jetzt aber ruhig sein Feld bauen ließ.

Herr von Krauthof war ein großer Esser, ein erprobter Trinker, der seine ganze Zeit beinahe mit Besuchen hinbrachte, und dabei weder die Schlösser der Herrschaften, noch die Häuser der Pächter verschmähte. Seine Hauptstärke bestand darin, daß er Stunden lang nichts als Komplimente herzusagen wußte; und nachdem er dieses wichtige Geschäft auch heute beim Eintritt in’s Zimmer Helenens beendigt hatte, kam er endlich auf einen Gegenstand, der uns hier näher angeht. —

„Nun, Frau Oberstin, fuhr er im Flusse seiner Rede fort, Sie haben ja eine liebenswürdige Nachbarin bekommen. Ich sage: liebenswürdig, obgleich ich nicht recht weiß, warum; denn mich hat sie mit einer verzweifelten Strenge behandelt. Erst am vergangenen Dienstag erfuhr ich, daß sich hier in der Gegend eine fremde Dame niedergelassen habe, deren Schönheit allgemein gelobt wird; ich hielt es daher für Pflicht, und um ihr eine gute Vorstellung von unsern hiesigen Herren beizubringen, ihr sogleich einen Besuch abzustatten. Gestern also begab ich mich nach dem Häuschen im Walde, meinen Regenschirm unter dem Arme, weil man jetzt nicht mehr dem Wetter, so wenig als den Menschen, trauen kann. Als ich anlangte, war die Hausthür verschlossen. Ich fand dieß ganz in der Ordnung, weil ein Jeder in seinem Hause Herr sein will; ich klopfte daher an, und man öffnete. Schon war ich im Begriff einzutreten, als ich plötzlich ein wahres Gespenst vor mir sahe, das mir den Weg versperrte. Stellen Sie sich den größten und zugleich den magersten aller Menschen vor: ein Gesicht wie ein Jesuit, Augen wie eine Eule, und eine Miene, als wenn es eher ein Bewohner jener als dieser Welt gewesen wäre; eine rauhe und hohle Stimme, eine Manier wie ein Holzblock und einen völlig verpesteten Athem.“

— Was wollen Sie hier? fragte er mich, ohne weiter irgend eine Höflichkeitsformel hinzuzusetzen. —

„Diese unartige Frage überraschte mich zwar ein wenig, da sich aber ein Edelmann aus altem Geschlechte so leicht nicht in Verlegenheit setzen läßt, so antwortete ich ihm: Ich bin ein Edelmann aus der Nachbarschaft, der deiner Herrschaft seine Hochachtung bezeigen, und also bei ihr vorgelassen werden will. — Nach dieser artigen Rede hatte ich einiges Recht zu glauben, daß ich sogleich Zutritt bei der Dame erhalten würde; aber ich irrte mich sehr, wie Sie sogleich hören werden. Denn dieser neue Cerberus nahm auf meine Höflichkeit gar keine Rücksicht.“

— Ich kann Sie nicht einlassen, antwortete er mir, denn meine Herrschaft ist stets mit Geschäften überhäuft, und hat keine Zeit, Besuche anzunehmen. Sie ist nicht hier hergekommen, um Gesellschaft zu suchen, und Sie würden auch zum zweiten Male vergebens hierherkommen. —

„So sprach der grobe Mensch, und ohne meine Antwort abzuwarten, trat er einen Schritt zurück, und schlug mir mit heftigem Geräusch die Thür vor der Nase zu. Ich würde nicht im Stande sein, Ihnen meinen Aerger hierüber der Wahrheit gemäß zu schildern; allein ich entfernte mich sogleich voller Verachtung von diesem ungastfreundlichen Hause, mit dem festen Vorsatze, alle meine Nachbarn vor einem gleichen Schicksale zu warnen, wenn sie es sich vielleicht einfallen lassen wollten, den hergebrachten Formen der Höflichkeit nachzukommen.“

Diese Erzählung belustigte Helenen sehr; sie nahm sich indessen vor, sich nicht einer ähnlichen Aufnahme auszusetzen, so groß auch ihr Wunsch war, die geheimnißvolle Fremde kennen zu lernen. Sie hoffte, ihr auf einem Spaziergange mit ihren Kindern zu begegnen; für jetzt tadelte sie aber hart die Unhöflichkeit des Bedienten, indem sie die Bemerkung machte, daß der Herr von Krauthof ihm ohne Zweifel völlig unbekannt sein müsse; denn, setzte sie hinzu, hätte er gewußt, mit wem er die Ehre gehabt, zu sprechen, so würde er gewiß einer solchen Grobheit sich nicht schuldig gemacht haben.

Der ehemalige Ober-Jägermeister ward durch ein solches aus einem so schönen Munde hervorgegangenes Kompliment wegen seines Mißgeschicks beinahe völlig getröstet, und um es desto besser zu vergessen, eilte er, eine andere Unterhaltung auf die Bahn zu bringen. Er fing an, von Politik zu sprechen. Helene wußte, daß man über dieses Kapitel dem Strome seiner Rede freien Lauf lassen mußte, und daß er ganz entzückt diejenigen Häuser verließ, wo man ihn, ohne ihn zu unterbrechen, anhörte. Auch sprach er heute so ganz nach Herzenslust, der gute Mann! Er errieth Alles, alle Geheimnisse der Höfe lagen offen vor ihm; er setzte Minister ab, und schuf neue; er sagte den Gang der politischen Angelegenheiten vorher, kurz, er spielte eine ganze Stunde lang den Gesetzgeber von ganz Europa. Helene hörte ihm mit einem Anschein von Theilnahme zu, die ihn ganz bezauberte, und voller Zufriedenheit verließ er das Schloß, um einen benachbarten Grafen zu besuchen, wo er im Lobe der Oberstin unerschöpflich war.

„Alles recht gut! entgegnete man ihm; aber aus welcher Familie stammt sie her? — Sie und ihr Mann, mein Bester, sind Emporkömmlinge, bleiben aber immer nur ehrliche Bürgersleute, was doch wahrhaftig nicht viel ist!“ —

Sechstes Kapitel.

Mehrere Tage lang blieben die Wege in der Umgegend des Schlosses, in Folge des gefallenen Regens, so naß und schlüpfrig, daß dadurch die Spaziergänge der Kinder des Obersten verhindert wurden, womit Werner äußerst zufrieden war. Die Kleinen vergaßen bald ihre neue schöne Freundin; aber nicht so war es mit Helenen, welche die Unbekannte schlechterdings sehen wollte. Mit Ungeduld erwartete sie den Augenblick, wo der Erdboden wieder so trocken sein würde, daß die Spaziergänge wieder ihren Anfang nehmen könnten. Am nächsten Mittwoch ward endlich ihr Wunsch erfüllt; die Sonne hatte die Feuchtigkeit getrocknet, und der Tag war außerordentlich schön. Da Werner Geschäfte halber nicht im Schlosse war, so benutzte Helene diesen, Umstand, und ging mit Wilhelm und Julien nach der kleinen Wiese im Thale hinab. —

Je näher Helene ihrem Ziele kam, desto Mehr fühlte sie ihr Herz von einer ganz sonderbaren Empfindung beklommen, deren Ursache ihr unerklärlich war. Es schien ihr, als wenn ihre Brust von einer ungeheuren Last eingeengt würde; kaum konnte sie noch Athem holen, und ein allgemeines Mißbehagen durchschauderte ihren ganzen Körper. In Folge dieser physischen Ermattung erschlaffte auch ihr Geist, und sie verfiel in eine schwermüthige Stimmung, die sie vergebens von sich zu bannen suchte. Die laute Freude ihrer Kinder war heute nicht im Stande, auch sie fröhlicher zu stimmen, und zwei Mal fühlte sie in ihrem Auge eine Thräne, die doch in keinem gegründeten Kummer ihre Ursache hatte.

Als sie endlich auf der Wiese angekommen war, setzte sie sich am Fuße einer schönen Linde, wo eine natürliche Rasenbank sie zur Ruhe einladete, nieder, und indem sie ihr Strickzeug aus dem Arbeitskörbchen nahm, gab sie den beiden Kleinen das Zeichen, daß sie nun die Freiheit hätten, ihre Spiele anzufangen. Dieß ließen sie sich auch nicht zwei Mal bedeuten, und lustig sprangen sie auf dem weichen Grase umher, als plötzlich, nach Verlauf von ungefähr einer Viertelstunde, die Silbertöne einer melodischen Harfe erschallten.

Ueberrascht gab Helene ihren Kindern ein Zeichen, still zu sein, und sich neben ihr in’s Gras zu setzen. Begierig lauschte sie auf die seltsamen Töne, die der verborgene Virtuos seinem Instrument entlockte: anfangs war es nur ein langsames, feierliches Vorspiel, dem aber bald ein feuriges und heftiges Ritornell folgte, und eine sanfte weibliche Stimme begleitete das Spiel mit ihrem Gesange.

Schon bei den ersten Tönen dieser Stimme fühlte Helene ein unwillkührliches Beben. Die Sprache, in welcher die Arie gesungen ward, war ihr völlig unbekannt, aber obgleich sie die Worte nicht verstand, so machte doch die Musik einen so außerordentlichen und sonderbaren Eindruck auf sie, daß sie sich selbst nicht von der dadurch in ihr hervorgebrachten Stimmung Rechenschaft zu geben im Stande war. Endlich schwieg die Stimme und das Instrument; Helene konnte nicht zweifeln, daß es die Unbekannte sei, die sich jetzt in ihrer Nähe befinde, und sie dachte darüber nach, auf welche Art sie am besten zu ihr gelangen möchte; da fiel ihr aber plötzlich ein Mittel ein. Sie gab ihren Kindern die Erlaubniß, sich wieder entfernen zu dürfen, und diese, welche längst die Stimme ihrer Freundin erkannt hatten, eilten ohne Verzug nach dem Orte hin, wo die Töne hergekommen waren. Sie fanden sie im nahen Gebüsch auf einem Baumstamme sitzend, und eine Harfe in der Hand, die sie eben wieder zu spielen angefangen hatte, obgleich sie über dem einen ihrer Arme immer noch den Handschuh trug.

Sie schien sich über den Anblick der Kinder zu freuen, und rief ihren Bedienten, der sich in einiger Entfernung von ihr niedergesetzt hatte. Nachdem sie ihm die Harfe übergeben, fragte sie ihren Liebling, die kleine Julie, was für ein Spiel sie spielen wolle? Das pfiffige Kind hatte die Absicht, die Fremde ihrer Mutter zuzuführen, hütete sich aber wohl, ihr zu sagen, daß dieselbe ganz in ihrer Nähe sei; sie antwortete daher: daß sie gern springen und laufen möchte, und setzte hinzu, ihre Freundin könne sie gewiß nicht einholen, wenn sie ihr einen Vorsprung von einigen Schritten geben wollte.

Lodoiska nahm den Vorschlag an. Julie läuft voraus, und wird auf das Lebhafteste verfolgt; aber sie richtet ihren Lauf nach dem Orte, wo sich ihre Mutter befindet, die von dieser Seite her, des Gebüsches wegen, nicht gesehen werden kann; plötzlich eilt das kleine Mädchen in die Arme ihrer Mutter, und überrascht bleibt Lodoiska, fast unbeweglich, vor derselben stehen. Letztere, voller Freude über diesen günstigen Zufall, erhob sich sogleich von ihrem Sitze und ging der Fremden einige Schritte entgegen, während sie dieselbe mit forschendem Blicke betrachtete.

Lodoiska hatte den schönsten Wuchs, und ihre äußerst angenehme, verführerische Gestalt besaß nur gerade die nöthige Ueppigkeit, um ihre Schönheit zu erhöhen. Ihr Gesicht war vollkommen länglich rund; ihr Mund klein, ihre Nase griechisch, ihre Augen groß; über ihrer offenen Stirn erhob sich ein prächtiger, reicher Haarwuchs, und einige ihrer rabenschwarzen Locken fielen auf die alabasterweißen Schultern hinab. Kurz, Lodoiska war sehr schön, und dennoch waren es nicht ihre Reize allein, die den größten Eindruck auf den Beschauer machten; sie hatte in dem Ganzen ihrer Züge etwas Unbegreifliches und Unbeschreibliches, was man nicht müde werden konnte, zu betrachten, ohne jedoch jemals mit sich selbst einig zu werden, ob es Vergnügen sei, was dadurch hervorgebracht würde, oder ein ganz seltsames Gefühl der Furcht. Die Weiße ihrer Haut war außerordentlich, durch ein lebhaftes Roth in ihren Gesichtszügen verschönert; aber dennoch bemerkte man in dieser Mischung eine erdfarbene, gelbgraue Schattirung, die öfters die Harmonie des Ganzen störte. Die Frische ihrer Lippen konnte nur mit der Farbe der ersten hervorbrechenden Rosenknospe verglichen werden; aber gewisse krampfhafte Bewegungen in den Gesichtsmuskeln, ein Lächeln, das nahe an Bosheit grenzte, verdarben den Eindruck der Bewunderung, und verriethen, daß das Herz der Fremden nicht ruhig sein könne, und daß sie, ungeachtet aller Anstrengung, nicht im Stande sei, die Heftigkeit ihrer Leidenschaft zu zähmen. Wenn man nun gar ihre Augen betrachtete, was sollte man dann von ihr denken! welcher Ausdrücke sollte man sich bedienen, um die sonderbare Mischung zu schildern, welche in ihren Blicken eine himmlische Sanftmuth und eine furchtbare Lebendigkeit hervorbrachten? Bald glüheten ihre Augen von verzehrendem Feuer, bald waren sie düster, ausdruckslos und völlig unbeweglich, was eine schauerliche Empfindung hervorbrachte. Sie stellten zugleich das Leben und den Tod dar, und dennoch bemerkte man keine vollkommene Abgestorbenheit, sondern nur eine beispiellose Mischung von beiden, eine Vereinigung dieser beiden äußersten Extreme. Ein weißes Kleid, mit schwarzen Bändern besetzt, und nach einem in Deutschland unbekannten Schnitte, so wie ein schwarzer wollener Shawl, machten ihren ganzen Putz aus.

Da Helene, nach einem schnellen Ueberblick dieses ganzen Wesens der Fremden, wobei sie in der eben beschriebenen Ungewißheit blieb, sahe, daß die Unbekannte unbeweglich stand, und nicht einmal den Mund zum Sprechen öffnete, so hielt sie es für schicklich, die Unterhaltung durch Danksagungen für die Güte anzufangen, womit sie zu den Vergnügungen ihrer Kinder beigetragen habe.

Kaum hörte Lodoiska diese Worte, so überflog ihr Gesicht eine leichte Röthe, ihre Augen wurden lebendiger, und sie öffnete den niedlichen, kleinen Mund zum Sprechen.

„Ich habe also die Ehre, die Frau Oberstin Lobenthal vor mir zu sehen? Sie werden mir verzeihen, daß ich Ihnen meinen Besuch nicht abgestattet habe; aber ich suchte hier die ungestörteste Einsamkeit, und kam nur in diese Gegend, um einen Plan auszuführen, dessen Wichtigkeit allein mich dem Grabe entreißen konnte. Ich werde mich hier nur kurze Zeit aufhalten, und kaum im Stande sein, meine Pflichten zu erfüllen, so genau sind meine Stunden gezählt; ich habe daher nur wenige zu meiner Erholung übrig.“

— Ich bedaure es sehr, antwortete Helene, daß ich Ihre Gesellschaft nicht genießen soll, die mir ohne Zweifel sehr angenehm sein würde. —

„Glauben Sie es nicht, rief Lodoiska, gleichsam wider ihren Willen von einer innern Bewegung mit fortgerissen; wünschen Sie meine Gesellschaft nicht, sie führt die Verzweiflung, die bittersten Thränen und den Tod mit sich.“

Ein Blick, den jetzt Helene auf die Kleidung der Unbekannten warf, gab ihr die Auflösung dieser Art von Räthsel. Sie zweifelte nicht, daß der Tod der Dame einige Lieben entrissen hätte, und daß ihre Antwort daher nur auf ihren Kummer hindeutete; sie erwiederte also, daß man nicht hoffen dürfe, in der Einsamkeit seine Betrübniß zu lindern, sondern vielmehr in der Gesellschaft guter Menschen Trost suchen müsse.

„Sie irren sich, entgegnete die Fremde; es giebt einen Zeitpunkt im Leben, nach dessen Verlauf sich eine unübersteigliche Scheidewand aufthürmt, und wo das Schicksal unwiderruflich ist. Ich habe keine Linderung meiner Qualen mehr zu hoffen, und meine Zukunft ist unveränderlich wie die Ewigkeit, von welcher sie ein Theil ist.“

Diese außerordentliche Rede bestärkte Helenen noch mehr in ihrer Meinung, daß die junge Dame sehr heftigen Kummer haben müsse, der wohl gar ihren Verstand zerrüttet haben könne. Sie fühlte daher Mitleid mit ihr, und um sie zutraulicher zu machen, wollte sie ihr die Hand reichen. Da trat Lodoiska schnell einen Schritt zurück.

„Was wollen Sie? sagte sie mit der größten Heftigkeit. Schwache Sterbliche! Eilen Sie Ihrem Schicksale nicht im Voraus entgegen! Wissen Sie, daß Sie dem Tode verfallen sind, sobald Sie mich berühren?“

Jetzt zweifelte Helene nicht mehr an der Verstandeszerrüttung der Fremden, und um sie zu zerstreuen, suchte sie das Gespräch auf einen andern Gegenstand zu bringen.

„Wenn Ihnen die Gesellschaft erwachsener Personen so unangenehm ist, sagte sie, so scheinen doch wenigstens diese Kinder Gnade vor Ihnen gefunden zu haben.“

— Gnade vor mir gefunden, sagen Sie? antwortete Lodoiska mit hohler Stimme. Welche Gnade? Ich rathe Ihnen nicht, sich damit zu rühmen; es ist vielmehr nur eine Frist, wie sie der Henker seinem Schlachtopfer gewährt, indem er die Werkzeuge zu dessen Marter in Bereitschaft setzt. —

Diese Worte waren so schauerlich, daß Helene voller Furcht eine Bewegung machte, gleichsam um die Kinder zu entfernen. Jetzt schwebte aber ein Lächeln voller Unschuld auf Lodoiska’s Lippen, und ihre Augen nahmen einen sanften Ausdruck an.

„O, verzeihen Sie, Frau Oberstin, sagte sie, daß ich Ihnen einen solchen Schrecken verursachte; aber es giebt Augenblicke, wo ich ganz nur der Vergangenheit und der Zukunft angehöre, wo ich der Gegenwart entrückt bin. Wider meinen Willen entschlüpfen dann unsinnige Reden meinen Lippen, und mein Herz kann die einzige Empfindung, die ihm noch zurückgeblieben ist, nicht bezähmen.“

— Ich werde stets den Schmerz ehren, der Sie peinigt, und mich mit dem Wunsche begnügen, daß er bald ganz verschwinden möchte. Wenn der Anblick meiner Kinder Ihnen lästig ist, so will ich es denselben verbieten, sich Ihnen wieder zu nähern. —

„O, glauben Sie mir, hüten Sie sie wohl, diese Kinder, worauf Sie stolz sind; eine grausame Krankheit, ein verzehrendes Gift, oder, weiß ich es? tausend andere Ursachen können sie Ihnen entreißen; wachen Sie daher über sie, und lassen Sie sie nicht aus den Augen. Sie sind noch so jung und schwach, daß sie Ihnen bald die bittersten Thränen verursachen könnten.“

Bei diesen Worten verdunkelten sich ihre Augen abermals zu einem unbeschreiblichen Wahnsinn; ihr Mund verzog sich fürchterlich, ihr Gesicht entfärbte sich, und Helene sahe in ihr mehr einen entstellten Leichnam, als ein lebendiges menschliches Wesen. Gern hätte die Letztere eine so peinliche Szene abgebrochen, aber ihr Mitleid hielt sie noch zurück, weil sie fürchtete, sie in solchem Zustande allein sich selbst zu überlassen, und sie für völlig wahnsinnig hielt.

„Mein Gott! sagte sie; Ihnen ist unwohl, und Sie werden in diesem Zustande Ihren Spaziergang nicht fortsetzen können. Wollen Sie mir erlauben, Sie nach Ihrer Wohnung zu begleiten?“

— Ich, krank sein? O nein, enttäuschen Sie sich! Ich weiß nicht mehr, was krank sein heißt; denn ich befinde mich jetzt in meinem gewöhnlichen Zustande. Ihnen erscheint er ohne Zweifel als unangenehm, und ich weiß nicht, ob er mir selbst gefällt oder nicht; aber Sie ängstigen sich darüber, und wir wollen ihn daher zu vergessen suchen. Wohlan! wovon wollen wir sprechen? Ich wurde zwar nicht in einem Stande geboren, wo es gewöhnlich ist, sich besondere Kenntnisse zu erwerben; aber jetzt befinde ich mich an der Quelle alles Wissens; vor meinen Augen ist der Vorhang der menschlichen Unwissenheit gefallen, und ich könnte Ihnen erklären, was die Menschen nicht begreifen. —

Diese Rede hielt die Oberstin für einen Beweis ihres zerrütteten Verstandes, und sie suchte daher die Gedanken der Fremden auf andere Gegenstände zu leiten, was ihr auch allmählich gelang. Lodoiska schien wieder zu sich selbst zu kommen, und sprach bald über alltägliche Dinge, wobei sie einen großen Umfang des Wissens verrieth, obgleich in ihrem Betragen etwas Rohes und Wildes war, das einen Beweis ihrer wenig sorgfältigen Erziehung gab. Indessen entschlüpfte ihr auch keine Silbe, wodurch ihr Herkommen verrathen worden wäre, und man hörte nur an ihrer Aussprache, daß sie nicht in Deutschland geboren sei. Helene vermuthete, daß sie das Opfer einer heftigen unglücklichen Liebe geworden, und in Folge dessen ihren Verstand verloren habe; daher sie es auch ganz natürlich fand, daß der Greis, dessen Obhut sie ohne Zweifel übergeben war, sie in der größten Eingezogenheit hielt.

Das Gespräch kam auch auf die Musik. Die Oberstin, welche selbst sehr gut die Harfe spielte, machte der Unbekannten wohlverdiente Lobeserhebungen über das, was sie von ihr gehört hatte. Lodoiska wies dieses Lob mit Bescheidenheit von sich, aber es lag dabei in ihrem Wesen eine unbeschreibliche Gleichgültigkeit. Sie sprach von ihrer Fertigkeit im Spiel und Gesang, wie von der eines ganz fremden Menschen, und nichts setzte sie in Bewunderung oder schien ihr nur im Geringsten am Herzen zu liegen; sie zeigte so wenig Theilnahme an Allem, was die Menschen reizt oder nur beschäftigt, daß man sich unangenehm berührt fühlte, und es war nicht etwa Egoismus, sondern eine solche Kälte, ein solcher Ueberdruß an allen Dingen, daß man sie deßhalb beklagen mußte. Ist dieß ein Frauenzimmer oder nur eine Bildsäule? sagte Helene zu sich selbst. Hängt sie nur durch den Schmerz noch mit dem Menschlichen zusammen? — Da die Sonne hinter den Bergen gänzlich verschwunden war, und die Abenddämmerung schon einbrach, so kamen die Kinder herbei, und ihrer Spiele müde, an denen man keinen Theil nahm, baten sie, nach dem Schlosse zurückgeführt zu werden.

„Ja, sagte Lodoiska, es ist Zeit nach Hause zu gehen, und Alles, was körperlich ist, wird sich bald zur Ruhe begeben; dann ist der Raum der Welt nur mit den höhern Geistern bevölkert. Leben Sie wohl, Frau Oberstin; ich wünschte, Ihnen nie begegnet zu sein, und unser Zusammentreffen wird mir noch lange Zeit hindurch einen lebhaften Kummer verursachen.“

Mit diesen Worten entfernte sie sich schnell, und verschwand im nahen Gebüsche.

Helene, stets geneigt, von der Unbekannten nur Gutes zu urtheilen, sahe in dieser Rede ein Zeichen ihres Wohlwollens, und bedauerte, sie nicht zum gesellschaftlichen Umgange mit andern Menschen überreden zu können. In Begleitung ihrer Kinder trat sie den Rückweg nach dem Schlosse an, und zufrieden, die Fremde gesehen, auch die Ursache ihres Kummers und ihrer Eingezogenheit errathen zu haben, theilte sie am Abend dem treuen Werner ihr Zusammentreffen mit der Unbekannten mit. Der brave Bediente zeigte aber gar keine Ueberraschung bei Allem, was er von der Oberstin hörte; nur hätte er gern gewußt, ob Lodoiska irgend einen Argwohn in ihr zu erregen gesucht habe. Aber er bemerkte, daß die Gesichtszüge seiner Herrschaft völlig heiter waren, und schloß daraus, daß Lodoiska verschwiegen und vorsichtig gewesen sein müsse.

Siebentes Kapitel.

Am folgenden Nachmittage baten die Kinder, wieder auf der Wiese spielen zu dürfen, und Werner, der bestimmt wurde, sie dahin zu begleiten, gehorchte nur mit Widerwillen. Zu seiner größten Zufriedenheit ließ sich aber Lodoiska gar nicht sehen, so wenig als am folgenden Tage, wo Werner die Antwort des Obersten auf seinen Brief erwartete. Er schickte den Boten nach der Stadt, um die nach dem Schlosse R.... bestimmten Briefe von der Post abzuholen, und harrte den ganzen Tag über mit der größten Ungeduld auf dessen Rückkehr. Schon war die Nacht angebrochen, als der Bote endlich an das Schloßthor klopfte.

„Die Briefe! Schnell die Briefe her! rief ihm Werner entgegen. Tausend Millionen Bomben und Granaten! ich glaubte, du würdest gar nicht wiederkommen.“

— Die Briefe? antwortete der Bote. Sie irren sich, Herr Werner, denn ich habe nur einen Brief; hier ist er, und ich wünsche, daß es der sein mag, den Sie erwarten. —

Werner griff hastig danach, und sahe beim Schein der Lampe, die er in der Hand hatte, nach der Aufschrift. Sie war allerdings vom Obersten, indessen nicht an ihn, sondern an Helenen gerichtet. Ein Dolchstich hätte Wernern nicht mehr Schmerzen verursachen können, als das Ausbleiben des so sehnlich erwarteten Briefes. Die Nachlässigkeit des Obersten schien ihm unbegreiflich; er drehte den in der Hand habenden Brief hin und her; manchmal bildete er sich ein, sein Herr könnte sich bei der Aufschrift geirrt haben, und der Brief könnte also dennoch für ihn sein. Indessen wagte er es nicht, sich hiervon zu überzeugen, und zitternd händigte er endlich das Schreiben der Oberstin ein.

Helene kannte die große Anhänglichkeit des guten Unteroffiziers an ihren Gemahl, und hatte daher die Gewohnheit, ihm lange Stellen aus den von ihm erhaltenen Briefen vorzulesen, wenn gerade keine persönlichen Angelegenheiten darin vorkamen. Auch dießmal wich sie nicht von ihrer Gewohnheit ab, und der erstaunte Zuhörer erfuhr, daß der Oberst sich wohl befinde, aber daß er die Zeit seiner Rückkehr noch nicht bestimmen könne. Die beiden Gatten, welche er wieder zu vereinigen strebte, waren äußerst aufgebracht gegen einander, und es war daher nicht so leicht, sie gänzlich auszusöhnen. Der Oberst schloß endlich seinen Brief mit der Bitte an seine Frau, dem guten Werner seine Freundschaft zu versichern, und sich bei ihm wegen seines Stillschweigens zu beklagen, da er doch versprochen hätte, zu schreiben, und ihm die nöthigen Nachrichten über den Zustand der Gärten und Felder mitzutheilen.

Dieser letztere Theil des Briefes machte einen zu großen Eindruck auf Werner, als daß er sich länger hätte halten können.

„Alle Teufel! rief er aus, das ist ein Vorwurf, den ich wahrlich nicht verdiene. Ist es meine Schuld, wenn der Oberst meine Briefe nicht erhält? Denn ich habe ihm an demselben Tage geschrieben, wo Sie, Frau Oberstin, Ihren Brief absendeten, und den dieser hier beantwortet. O, Herr Bote, wart’ er nur, ich will seinen Rücken schon bedienen, wie er es verdient hat!“

Helene war im Begriff, Werner’s Zorn zu besänftigen, als dieser sich plötzlich besann und fortfuhr:

„Da fällt mir aber eben ein, daß der arme Teufel von Bote nicht daran Schuld sein kann, wenn der Brief verloren ist. Ich hatte Mißtrauen, ich weiß selbst nicht warum, und empfahl daher dem Boten, mir von der Post in Prag einen Empfangschein über den Brief mitzubringen, was er auch gethan hat. Wahrlich, dabei steht mir der Verstand still!“

Helene, die nicht ahnete, welche Wichtigkeit Werner mit Recht auf den Verlust seines Briefes setzte, dachte nicht weiter daran; und voller Freude, Nachrichten von ihrem Gatten erhalten zu haben, fühlte sie weiter keine Unruhe, als über das gezwungene längere Ausbleiben desselben. Sie begab sich bald darauf in ihr Zimmer, und Werner auf das seinige, wo er einen vierten Brief zu schreiben beabsichtigte, den er selbst mit Tagesanbruch nach Prag bringen wollte. Denn er ging in seinem Zorne so weit, daß er selbst die Rechtlichkeit des Postoffizianten in Verdacht hatte. —

Voll von diesem Entschlusse öffnete er seinen Schreibtisch, um Papier und Feder zur Hand zu nehmen, als er beim Schein der Lampe einen Brief erblickte, der ihm nicht unbekannt zu sein schien — — es war sein eigener Brief, den er an den Obersten geschrieben hatte. Er war abermals mit einigen Blutstropfen befleckt, und eine zitternde Hand hatte Folgendes auf den Umschlag geschrieben:

Dein Briefschreiben ist vergeblich; Alfred wird nie eine Zeile von Dir erhalten, wenn Du ihn nicht bloß von den Gegenständen der Landwirthschaft unterhältst.

Schon oft hatte Werner den Mündungen der Kanonen gegenüber gestanden, die auf tausend verschiedene Arten den Tod von sich spieen; mehr als einmal hatte er den Säbel eines feindlichen Husaren über seinen Kopf schwingen sehen; aber noch niemals hatte er einen solchen Schreck empfunden, als den, welcher jetzt sein Herz zu Eis erstarrte.

Maschinenmäßig irrte sein Blick im Zimmer umher, als wenn er erwartete, irgend eine gespenstische Gestalt vor seinen Augen erscheinen zu sehen; wiederholt wischte er sich mit der Hand den Schweiß von der Stirne, aber der übrige Theil des Körpers blieb unbeweglich, als wenn er festgebannt gewesen wäre. Jemehr er über Alles nachdachte, was ihm seit Kurzem geschehen war, desto mehr verlor er sich in allerhand Muthmaßungen. Oft wollte er sich überreden, daß er nur durch seine Einbildungskraft getäuscht würde; aber der Brief lag ja vor ihm, wie er ihn dem Boten übergeben hatte; zugleich sah er den Empfangschein des Postoffizianten vor sich, und dieser mußte also der Schuldige sein. Doch jetzt boten sich neue Schwierigkeiten dar. Wie war der Brief nach dem Schlosse zurückgekommen? Wer besaß die drei Schlüssel seines Zimmers, des Schreibtisches und des darin enthaltenen Schubfaches? Befand sich also der Verräther im Schlosse selbst? War er unter den Tagelöhnern und Knechten, oder unter den beiden Dienstmädchen? Werner konnte sich über alle diese Fragen keine Auskunft geben, weil er stets auf unauflösliche Schwierigkeiten stieß. Mehr als einmal sah er sich gezwungen, beinah an überirdische Geister zu glauben, wie er so oft in der Moldau und Wallachei davon hatte erzählen hören, und er verfluchte die Zauberer und Hexen, von deren Macht man dort allgemein überzeugt war. Ja selbst die fürchterlichen Vampyre fielen ihm ein, die nach den dortigen Sagen die Gräber wieder verlassen, um auf der Erde, deren Schrecken sie sind, umherzuirren, und aus den Adern der Lebendigen, deren Blut sie aussaugen, ein Dasein zu fristen, das kein völliges Leben, aber auch kein Tod ist. Dann aber verlachte Werner dergleichen Aberglauben wieder, und suchte seinen Verdacht auf natürlichere Art zu begründen; er nahm sich vor, die größte Wachsamkeit zu verwenden, um zu erfahren, wer im Schlosse der Lodoiska seinen Beistand leistete.

Ehe Werner diese Art von Krieg beginnen wollte, die wenig mit seinem offenen und freimüthigen Charakter übereinstimmte, nahm er sich vor, seine Feindin persönlich zu sprechen, und dieß gleich am andern Morgen auszuführen. Kaum konnte er erwarten, bis der Tag wieder angebrochen war, und als er glaubte, daß es spät genug sei, um vorgelassen zu werden, machte er sich nach dem Häuschen im Walde auf den Weg.

Als er hier ankam, war die Hausthür verschlossen. Er klopfte, aber man antwortete nicht; er verdoppelte seine Anstrengungen, um gehört zu werden, und nichts unterbrach die Stille im Innern des Hauses. Je länger er wartete, desto höher stieg seine Ungeduld, und er setzte den Klopfer zum dritten Male in Bewegung, ohne einen bessern Erfolg zu erlangen. Was sollte er thun? War das Haus verlassen, oder wollte man ihm nicht aufmachen? Sollte er die Belagerung aufheben oder sie am andern Morgen hartnäckiger fortsetzen?

Während er darüber nachdachte, was er zu thun habe, hörte er nicht weit von sich ein leises Geräusch, und kaum hatte er sich umgedreht, so sahe er den alten Bedienten Lodoiska’s sich gegenüber stehen. Dieser war von einer riesenmäßigen Größe; sein Scheitel war gänzlich von allem Haar entblößt, und über seinem mageren Gesichte herrschte eine schaudervolle Leichenblässe. Seine Augen, völlig erloschen, waren unbeweglich; der Ton seiner Stimme war schleppend und heiser, und ein verpestender Athem strömte aus seinem Munde, in welchem man kaum noch einige Zähne erblickte. Ein weiter Mantel von grobem Tuche bedeckte die ganze Gestalt dieser kolossalen Figur, und Alles an ihm kündigte an, daß er des Lebens müde sei, daß er Alles, was dem gewöhnlichen Menschen gefallen kann, verachtete.

„Holla! sagte Werner, ohne vor seinem unangenehmen Aeußern zu erschrecken. Ist deine Herrschaft schon so früh ausgeflogen?“

— Hoho! Patron! Wer giebt dir ein Recht zu solcher Frage? antwortete der alte Bediente. Sind wir denn schon so bekannt, daß du so vertraut mit mir sprechen darfst? —

Der Ton dieser Rede war nichts weniger als freundschaftlich, so daß Werner, ungeachtet seines Selbstvertrauens, davon überrascht ward. Indessen wollte er nicht gleich beim Anfange der Feindseligkeiten als Besiegter erscheinen, und er erwiederte daher:

„Nun, sei nur nicht gleich so böse, alter Eisenfresser. Ich will deine Herrschaft sprechen, und ich habe hier lange vergebens geklopft, ohne daß ich auch nur den Anschein eines lebendigen Wesens wahrnehmen konnte. Ist es nun nicht ganz natürlich, daß ich dich, da ich dich hier vor mir sehe, nach deiner Herrschaft frage? Oder bist du vielleicht einer von jenen Leuten, denen es leichter wird, Streit anzufangen, als eine Frage richtig zu beantworten?“

— Wenn du mich kenntest, Freund, sagte der Greis, so würdest du leicht einsehen, daß ich eigentlich mit dir gar keinen Streit anfangen kann. Du gehst deinen Weg, der meinige hat aber schon seit langer Zeit sein Ziel erreicht. Deßhalb bin ich indessen nicht geneigt, Beleidigungen oder Drohungen so ungestraft hingehen zu lassen; aber ich hoffe, es wird so weit unter uns nicht kommen, und wir werden sogleich fertig mit einander sein. Was willst du von meiner Herrschaft? Ich kann deinen Auftrag bei ihr so ausrichten, ganz so, als wenn du es selbst gethan hättest. —

„Nein, Alter, antwortete Werner, ziemlich unwillig über die Art, wie ihn dieser Bediente behandelte; meine Geschäfte mit Lodoiska bedürfen keiner Mittelsperson. Zwar ist es möglich, daß sie dir zum Theil bekannt sind, ja daß du selbst in die Taschenspielerei verwickelt bist, welche mich eigentlich bewogen hat, hierher zu kommen; indessen gefällt es mir nun einmal nicht, dich zum Vertrauten zu machen, und ich will mit Lodoiska selbst sprechen. Verstehst du mich?“

— Ich verstehe dich; allein deßhalb habe ich noch keine Lust, deinen Wunsch zu erfüllen. Lodoiska, wie du sie kurzweg zu nennen beliebst, hat mit dir gar nichts zu schaffen; gieb dich also nur zufrieden, und da du Soldat gewesen bist, wie es mir scheint, so mache die Wendung, die ihr Linksumkehrt nennt, und geh deiner Wege. —

„Weißt du wohl, Alter, daß eine zahlreichere Artillerie dazu gehört, um mich zum Rückzuge zu zwingen?“

— Nun gut, so wollen wir sie schon finden, sagte der Bediente mit der größten Ruhe, und zu gleicher Zeit, ehe Werner sich dessen versahe, ergriff er ihn vor der Brust, und zwar mit solcher Stärke, daß er ihn mit einer Hand hoch vom Boden in die Luft hob, und ihn, ungeachtet aller Anstrengungen des Ex-Unteroffiziers, auf einem Fußsteige in einiger Entfernung wieder niedersetzte.

Ach, wie sehr bedauerte es Werner in diesem Augenblicke, seinen Säbel nicht bei sich zu haben, um diese schwere Beleidigung augenblicklich rächen zu können! Sein handfester Gegner hatte ihm auch zu gleicher Zeit seinen Stock entrissen, und in der Nähe bot sich ihm Nichts dar, das er als Waffe hätte gebrauchen können. Aber konnte er die erlittene Beleidigung ungestraft lassen? Der Zorn verblendete den Unteroffizier nicht so sehr, daß er nicht hätte einsehen sollen, wie es unmöglich war, mit dem Alten zu ringen, da seine körperliche Stärke Alles übertraf, was Werner je gesehen hatte; es blieb ihm also nichts übrig, als seinen Gegner auf den Zweikampf mit Säbel oder Pistolen herauszufordern.

Der Bediente, stets voll unerschütterlicher Ruhe, sahe ihn kaltblütig an. „Was willst du von mir? sagte er. Wozu soll ich mich noch anderer Waffen bedienen, um deinen Stolz zu demüthigen? Gieb deinen Vorsatz auf. Ich schlage mich nicht, ich vertheidige mich bloß, und vernichte denjenigen auf der Stelle, der nicht fürchtet, mich zu beleidigen. Du hast mich nun schon kennen gelernt; geh ruhig deinen Weg, schwacher und eitler Thor, und wage dich nicht wieder hierher, von wo ich dich vielleicht zum zweiten Male nicht lebendig entkommen lassen würde.“

Der rauhe Ton, womit er diese Worte aussprach, die todtverkündende Geberde, womit er sie begleitete, die Flamme der Mordsucht, welche in seinen Augen leuchtete, alles Dieses brachte Wernern, ungeachtet seines Muthes, aus aller Fassung. Er war sogar in Zweifel, ob er seine Aufforderung erneuern sollte, als sich plötzlich die Thür des Hauses öffnete, und Lodoiska, in einem schwarzen Kleide, das ihr ein höchst seltsames Ansehen gab, heraustrat.

„Wirst du denn immer vergessen, Ladislaus, sagte sie, daß ich dir verboten habe, dich deinem heftigen Charakter zu überlassen? Ist es möglich, daß die Thorheiten der Menschen dich noch immer nicht gänzlich verlassen haben? Und mußt du diejenigen beleidigen, die mich zu sprechen wünschen?“

Der Alte fuhr bei diesen Worten seiner Herrschaft zusammen, aber in seinem gleichgültigen Gesichte zeigte sich weder Hochachtung noch Verwirrung. Bloß seine Lippen verzogen sich in ein scheußliches Lächeln, und ohne etwas zu erwiedern, ging er langsamen Schrittes in das Haus hinein, als wenn er an der eben stattgefundenen Szene gar keinen Theil gehabt hätte.

Nichts konnte Wernern in diesem Augenblicke erwünschter sein, als das Erscheinen Lodoiska’s. Bloß um sie zu sprechen, war er hierher gekommen, und das Benehmen ihres Bedienten ließ ihm wenig Hoffnung übrig, seinen Zweck zu erreichen; er war also froh, als er sahe, daß Lodoiska ihn anzuhören geneigt schien, und näherte sich ihr, konnte jedoch nicht umhin, ihr bei seiner Anrede sein Mißvergnügen über das Betragen ihres Bedienten zu erkennen zu geben.

„Wahrlich, Lodoiska, sagte er, Ihr Wächter, denn anders kann ich ihn nicht nennen, mag sich glücklich preisen, daß ich jetzt eine gewisse Art von Eisen nicht bei mir hatte, die mich sonst niemals verließ, als ich mich noch in Ihrem Vaterlande befand. Hätte er damals eine Grobheit, wie heute, gezeigt, ich würde ihm den scharfen Stahl einige Zoll tief in die verdammte Brust gestoßen haben; aber nur Geduld! er soll mich nicht immer so wehrlos finden, und ich bin fest entschlossen, ihm mit Zinsen zurückzuzahlen, was ich ihm heute schuldig bleiben mußte.“

— Laß es gut sein, Werner, antwortete Lodoiska, und vergiß den unangenehmen Vorfall. Ladislaus hat allerdings Unrecht; aber du hast ihn gereizt, und, ihn nach dem Anschein seines Alters beurtheilend, geglaubt, daß es leicht sein würde, ihn zur Erfüllung deiner Wünsche zu zwingen. Dein Irrthum zeigte sich bald; aber glaube mir, vergiß, was vorgegangen ist, es ist für dich am Besten. Deine Rache würde sonst auf dich selbst zurückfallen. —

„Das ist recht schön gesagt, aber ein alter Soldat läßt nicht mit sich spielen wie mit einem Rekruten. Ich werde niemals eine Beleidigung ungeahndet lassen; und habe ich überdieß Ursache, mit der Herrschaft zufriedener zu sein, als mit dem Bedienten? Haben wir Beide nicht auch etwas abzumachen? Steht es Ihnen an, sich mit Taschenspielerkünsten abzugeben, und kann ich ruhig zusehen, daß Sie hierherkommen, mich zu beleidigen, und die Ruhe der Familie meines Obersten zu stören?“

— Werner, sagte Lodoiska kalt, ich weiß nicht, welche höhere Macht dich deinem Untergange entgegentreibt. Wie kannst du es wagen, dich gegen mich zu beklagen? Wer von uns Beiden hat dem Andern das meiste Unrecht zugefügt? Bist du es nicht, Elender, der in dem Hause meines Vaters vorzüglich zu meinem Falle beitrug? Erinnerst du dich der Zeit nicht mehr, wo du, zu Gunsten der verbrecherischen Absichten des Obersten, mich von seiner treulosen Liebe ohne Aufhören unterhieltest? Warst du nicht stets bei mir, um meine Vernunft irre zu führen und meiner Tugend Fallstricke zu legen? Unglücklicher, dir steht es wohl an, in einem anmaßenden Tone gegen mich zu sprechen, und mir Unrecht gegen dich vorzuwerfen! Fort aus meinen Augen, wenn dir dein Leben lieb ist, elender Wurm des Staubes, den ich schon hätte zertreten sollen! —

„Teufel noch einmal! Lodoiska, Sie gehen ja rasch zu Werke! Doch, ich mache mir nichts daraus, weil Sie ein Weib sind, und was schon vor so vielen Jahren geschehen ist, dessen erinnere ich mich nicht mehr. Wenn Sie leichtgläubig waren, so ist es nur Ihre Schuld. Aber woraus ich mir viel mache, und was ich nie erlauben werde, ist: wenn man in meine Geheimnisse eindringt, wenn man meinen Briefwechsel stört, und sich auf eine strafwürdige Art in das Haus meiner Herrschaft einschleicht.“

Lodoiska antwortete nicht; sie warf nur einen Blick auf Werner, in dem sich die auffallendste Bosheit malte, gleichsam als Triumph einer schon gewissen Rache.

„Ich wiederhole es Ihnen, fuhr Werner fort, daß ich Ihrer Ränke und Spielereien müde bin. Schon zwei meiner Briefe haben Sie aufgehalten; denn wer anders, als Sie, könnte es gethan haben? Ich weiß zwar noch nicht, durch welche Mittel Sie Ihre Absicht erreichten; aber sein Sie überzeugt, wenn ich einst Jemanden auf der That ertappen sollte, sein Prozeß würde nicht lange dauern, und sein Rücken würde sich über meine Dazwischenkunft eben nicht zu erfreuen haben.“

— Wie! so grausam wolltest du verfahren, und selbst mit dem armen Ladislaus? sagte Lodoiska spottend und mit einem boshaften Lächeln. —

„O, bei allen Teufeln! lassen Sie ihn kommen — mit ihm vor allen Andern. Ich habe eine gute Jagdflinte, mit welcher er genaue Bekanntschaft machen, und gegen welche seine Faust nichts ausrichten soll.“

— Werner, ich wiederhole es dir zum letzten Male, du gehst mit starken Schritten deinem nahen Untergange entgegen. —

„Und Sie, Lodoiska, dem Ende Ihrer verbrecherischen Intriguen. Ich werde sie nicht länger ertragen, und wenn auch ein vierter Brief nicht an den Obersten gelangt, so wollen wir sehen, ob ich mit Hülfe der Obrigkeit nicht Recht erlangen kann.“

— Unsinniger! worauf willst du deine Klage gründen? Soll ich für deine Thorheit verantwortlich gemacht werden? Wem willst du es einbilden, daß ich im Stande bin, den Briefwechsel zwischen dir und deinem Herrn zu hindern? Du wirst vor den Augen der Welt zum Gelächter werden! Armer Schwächling, die Strafe für deine Kühnheit soll dir dann auf dem Fuße folgen. —

„Lodoiska, Sie können mir vorreden, was Sie wollen. Ich weiß, daß ich einiges Unrecht gegen Sie begangen habe, wenn es nämlich unrecht ist, einen jungen Offizier und ein hübsches Mädchen einander näher zu bringen; aber ich beschwöre Sie, vergessen Sie das Geschehene, und lassen Sie mich in Ruhe.“

— Ich habe dir versprochen, dich in Ruhe zu lassen, ja, habe dir Belohnungen angeboten, wenn du dich anheischig machen wolltest, den Obersten nicht von meinem Hiersein zu benachrichtigen. Wie kannst du mir eine solche Kleinigkeit abschlagen? Laß ihn zurückkommen, und erlaube, daß ich ihn zum letzten Male sehen darf; sein Glück, seine Ruhe, ja sein Leben hängt davon ab. Uebrigens wirst du mir vergeblich entgegenstreben, denn mir stehen Mittel zu Gebote, denen du nicht zu widerstehen vermagst. Aber zittere, wenn dir ein einziges Wort entschlüpft, wodurch die glückliche Nebenbuhlerinn, welche meine Stelle an Alfreds Seite einnimmt, von meinem Verhältnisse benachrichtigt wird. Deine Unvorsichtigkeit würde dir das Leben kosten; ja Werner, ich würde dich auf der Stelle aufopfern! —

Bei diesen Worten machte Lodoiska eine so heftige Bewegung, daß dadurch ein Theil ihres Kleides zerrissen wurde, und Werner unter ihrer linken Brust eine Wunde erblicken konnte, aus welcher einige Tropfen Blut hervorrieselten. Der unwillkührliche Schrecken, in welchen ihn dieser unerwartete Anblick versetzte, entging der Fremden nicht, und da sie ohne Mühe die Ursache davon errieth, so suchte sie mit ihrer Hand die zerrissene Stelle des Kleides zu bedecken.

Sobald Werner sich von seiner Erstarrung erholt hatte, fühlte er sein Herz von plötzlichem Mitleiden bewegt. „Unglückliches Mädchen! rief er, was haben Sie gethan? Wie können Sie sich in Ihrem jetzigen Zustande noch einer so gefährlichen Leidenschaft hingeben? Eilen Sie schnell nach Ihrer Wohnung; Ihre Wunde ist wieder aufgebrochen, und Sie kennen wahrscheinlich die Gefahr nicht, in der Sie sich befinden.“

— Von welcher Gefahr sprichst du? Ich kenne keine mehr auf der Erde. —

„Aber Ihr Blut fließt ja aus der Wunde, von welcher wahrscheinlich der Verband losgegangen ist. Eilen Sie, ihn wieder herzustellen, und wenn Sie meiner Hülfe bedürfen, so zögern Sie nicht, sie anzunehmen.“

— Beunruhige dich meinetwegen nicht. Mein Blut kann nicht mehr fließen, denn ich habe keines mehr, und schon vor langer Zeit verlor ich es bis auf den letzten Tropfen. An Blut, um das verlorne zu ersetzen, mangelt es mir nicht; denn ich weiß, wo ich es finden kann. Laß dieses Blut hier nur fließen, und kümmere dich deßhalb nicht. —

Bei diesen seltsamen Worten zweifelte Werner, gleich wie die Oberstin, nicht länger, daß Lodoiska’s Unglücksfälle sie um den Verstand gebracht haben möchten, und sein ganzer Zorn gegen sie war verschwunden. Er wollte es daher versuchen, sie durch gelinde Worte zu beruhigen, und da er bemerkte, daß ihr Gesicht schon von einer schauerlichen Todtenblässe bedeckt ward, so eilte er auf sie zu, um sie unter den Arm zu fassen und nach ihrem Hause zu geleiten.

„Keinen Schritt weiter! rief sie ihm mit heiserer und schwacher Stimme entgegen. Rühre mich nicht an, oder eile vielmehr, zu entfliehen! Was jetzt vorgehen wird, darfst du nicht erblicken! Ladislaus! Ladislaus! komm geschwind, oder ich bin nicht ferner im Stande, die Absichten meiner Sendung in ihrem ganzen Umfange zu erfüllen!“

Ladislaus hörte diesen Ruf, und kam noch schnell genug herbei, um Lodoiska, die ohnmächtig in seine Arme sank, zu halten. Nachdem der Greis sie einen Augenblick betrachtet hatte, sahe er mit wilden Blicken um sich her, und ohne ein Wort zu sprechen, gab er Wernern ein Zeichen, sich zu entfernen. Dieser schien anfangs nicht geneigt, ihm Folge zu leisten; allein er entschloß sich dazu, als er bedachte, daß er vielleicht durch seine Hartnäckigkeit den Tod der Fremden herbeiführen könnte. Er kehrte daher auf den Fußsteig zurück, der nach dem Schlosse führte. Bei einer Krümmung des Weges, wodurch der Ort, wo Lodoiska auf dem Grase ausgestreckt lag, ihm wieder zu Gesichte kam, blieb er stehen und sahe nun, wie der alte Bediente sich über die Ohnmächtige hinbeugte, und ihr eine rothe Flüssigkeit in den Mund goß. In demselben Augenblick aber erhielt Werner einen so heftigen Schlag auf den Kopf, daß er davon zu Boden stürzte. Er raffte sich schnell wieder auf, um dem Feinde, der ihn geschlagen hatte, die Spitze zu bieten; aber keine lebendige Seele war rings um ihn her zu erblicken, und er mußte daher seinen Fall einem Stoße an einen Baumast zuschreiben, da er eben durch einen Wald ging.

Seine Neugierde bewog ihn, zum zweiten Male nach der Gruppe auf der Wiese hinzublicken; aber er sahe sie nicht mehr. Dieses plötzliche Verschwinden setzte ihn in das größte Erstaunen, und in tiefes Nachdenken versunken, kam er nach dem Schlosse zurück. „Gebe Gott! sagte er zu sich selbst, daß dieß Alles eine natürlichere Wendung nimmt; denn was ich gesehen habe, ist unbegreiflich; und ich wünschte wohl, die Geheimnisse zu durchdringen, mit denen wir umgeben sind.“ —

Achtes Kapitel.

Da die Fremde immer fortfuhr, in der größten Zurückgezogenheit zu leben, so ward am Ende auch die Neugier der Nachbarn müde, sich mit ihr zu beschäftigen, und schon sprach man kaum mehr von den Bewohnern des Hauses im Walde, als eine neue Begebenheit die Aufmerksamkeit der Landbewohner auf sich zog, und Lodoiska ganz bei ihnen in Vergessenheit brachte.

Es gab in der Gemeinde ein junges Mädchen von ausgezeichneter Schönheit, das auch ziemlich wohlhabend war, und daher allen jungen Leuten in der Umgegend den Wunsch einflößte, sie zu heirathen. So oft Röschen sich bei einer öffentlichen Lustbarkeit sehen ließ, bildete sich sogleich ein Kreis von Anbetern um sie her, die ihr nach ihrer Art den Hof machten; allein sie blieb lange Zeit völlig gleichgültig. Röschen nahm die ihr dargebrachten Huldigungen an, ohne einen von den Anbetern im Geringsten auszuzeichnen, bis endlich ein junger Pächter das Herz der schönen Gleichgültigen zu rühren verstand.

Sobald Röschens Wahl bekannt wurde, setzte dieß die übrigen nun hoffnungslosen Anbeter in Wuth, und man brach in die schrecklichsten Drohungen gegen das glückliche Paar aus. Es wurden mehrere Verträge geschlossen, um dieser Heirath alle möglichen Hindernisse in den Weg zu legen; aber ohne sich an alle diese Anfeindungen zu kehren, traf das junge Paar Anstalten zu seiner Hochzeit, und schon war der Tag der Trauung in der Kirche auf den nächsten Sonntag festgesetzt.

Der Sonnabend vor der Hochzeit war derselbe Tag, wo Werner seinen Besuch bei Lodoiska abgestattet, und so wenig befriedigt nach dem Schlosse zurückkehren mußte. Auch er war zur Hochzeit Röschens eingeladen, und sollte sich am andern Morgen schon mit Tagesanbruch mit den Freunden des Bräutigams vereinigen, theils um mit ihnen vergnügt zu sein, theils um, mit ihnen vereint, die wüthenden Versuche zu vereiteln, welche die verschmähten Nebenbuhler etwa machen könnten.

Nach dem Abendessen begab sich Werner auf sein Zimmer, noch ganz mit dem Gedanken an das beschäftigt, was er heute gesehen und gehört hatte. Unaufhörlich fiel ihm immer wieder die riesenmäßige Stärke des alten Bedienten ein, und es schien ihm, als wenn er vor seinen Augen das Blut aus Lodoiska’s Wunde fließen sähe. Während er so, in ein peinliches Nachdenken vertieft, in seinem Lehnstuhl saß, warf er seine zerstreuten Blicke hier und da im Zimmer umher, bis sich seine Augen endlich starr auf einen Punkt hefteten, und er in einen lauten Angstruf des Schreckens ausbrach. Seine Flinte, mit welcher er dem alten Ladislaus gedroht hatte, war in hundert Stücke zerbrochen, und was ihn am meisten in Erstaunen setzte, auch selbst der Lauf war eben so zerstückelt, wie die übrigen Theile des Gewehres.

Bei diesem unerwarteten Anblick, wobei er sich überzeugen mußte, daß eine übermenschliche Kraft gewirkt habe, fühlte er sich von einem eiskalten Schauer ergriffen, und eine gute Zeit lang blieb er wie versteinert vor seiner zerbrochenen Flinte stehen. Diese Begebenheit überstieg seine Fassungskraft, da er keine natürliche Ursache dafür auffinden konnte; und in seinem unwillkührlichen Schrecken hätte er fast bei sich selbst angelobt, sich nicht mehr in Lodoiska’s Angelegenheiten zu mischen, da er einsahe, daß er einer höheren Kraft, als die schwachen Mittel, die ihm zu Gebote standen, bedurfte, um mit Vortheil gegen sie in die Schranken zu treten. Es dauerte lange, ehe er einschlafen konnte. Bei jedem leisen Geräusch schreckte er hoch empor, bis endlich seine Abspannung so hoch stieg, daß er in eine Art von Schlafsucht verfiel; denn es war schon sieben Uhr, als er von dem starken Lärm, den eine heftig an seine Thür klopfende Person verursachte, erwachte. Jetzt fiel ihm die Hochzeit ein, zu welcher er eingeladen war, und da er glaubte, daß man ihn dazu herbeiholen wollte, stand er schnell auf, voller Scham über seinen langen Schlaf. Als er die Thür öffnete, sahe er einen seiner guten Bekannten aus dem Dorfe, dessen Miene so traurig war, daß er darüber erschrak. Schon war er im Begriff, ihn nach der Ursache zu fragen, als dieser ihm zuvorkam.

„Ach, lieber Werner, sagte er mit halb erstickter Stimme, welche fürchterliche That ist in dieser Nacht geschehen! Röschen ist todt, auf die schrecklichste Art ermordet!“

— Was sagst du da, Mathes? Wer hat dieses schändliche Verbrechen begangen? Du machst mich vor Schrecken erstarren! —

„Ach, leider ist es nur allzuwahr! Der Mörder ist noch völlig unbekannt. Er hat sich auf eine unbegreifliche Art in’s Zimmer geschlichen, und dem armen Mädchen zwei Adern geöffnet; aber das Sonderbarste dabei ist, daß durchaus kein Blut mehr in dem Körper der Unglücklichen gefunden wird, und kaum hat man einige kleine Blutflecke an ihrem Bette bemerkt.“

— Kein Blut mehr! rief Werner, wie vom Blitz getroffen. Kein Blut mehr! O Himmel, sollten sich denn die Schrecken der Moldau und Wallachei auch hier nach Deutschland fortpflanzen! —

Er schwieg, vielleicht bereuend, daß er schon zu viel gesagt habe; aber das Uebel, was er gern vermieden hätte, war schon geschehen. Voller Neugierde bestand Mathes auf die Erklärung dessen, was er nicht verstand, und vergebens suchte Werner das Gespräch auf andere Dinge zu bringen, indem er sich näher nach den Umständen bei der Mordthat erkundigte; sein Freund ließ sich nicht abweisen, und nachdem er ihm erzählt hatte, was er wußte, drang er abermals darauf, zu wissen, von welchen Schrecken der Moldau und Wallachei Werner gesprochen habe. Er zeigte dabei eine solche Hartnäckigkeit in seinen Fragen, daß Werner ihn wohl befriedigen mußte, wenn er sich nicht mit ihm gänzlich erzürnen wollte.

„Wahrhaftig, lieber Mathes, sagte Werner, du läßt mir auch gar keine Ruhe; da du es denn doch willst, so sollst du Alles erfahren; aber schiebe nicht die Schuld auf mich, wenn du dich vielleicht heute Abend fürchtest. Die Schrecken der Moldau und Wallachei, deren ich vorher erwähnte, sind nämlich gewisse Wesen, die des Nachts aus den Gräbern auferstehen, um die Lebendigen zu morden. Wie ich gehört habe, sollen sie auch in Ungarn und in Griechenland allgemein sein; kurz diese Wesen, welche weder todt noch lebendig sind, kommen des Nachts selbst in die Wohnungen ihrer Verwandten und Freunde. Sie legen sich dann neben ihnen in’s Bett, öffnen ihnen die Adern, und saugen ihnen das Blut aus, was ihnen zur Erhaltung ihres schändlichen Daseins nöthig ist. Diese Handlung wiederholen sie alle Nächte von zwölf bis ein Uhr, so lange, bis alles Blut aus dem Körper verschwunden ist, und so den Tod ihres Schlachtopfers verursacht. Sobald eins dieser Wesen, welche man dort Vampyre nennt, sich in einem Dorfe eingefunden hat, ist allenthalben Furcht und Trauer verbreitet; man ruft die Priester zu Hülfe, aber ihre Beschwörungen bleiben fruchtlos, und der Vampyr treibt ungestört sein Wesen fort. Nur ein Mittel ist vorhanden, sich von ihm zu befreien: man muß nämlich suchen, seinen Körper im Grabe aufzufinden. Beim ersten Anblick scheint dieser Körper leblos zu sein; aber an seiner Wohlbeleibtheit, an der Röthe seiner Wangen und Lippen, die oft noch mit Blute beschmutzt sind, erkennt man ihn dann leicht. Sogleich entreißt man dieses verabscheuungswürdige Ungeheuer seinem Sarge, haut ihm die Hände, die Füße und den Kopf ab; aber damit wäre noch nichts geschehen, wenn man nicht zuletzt sein Herz mit einem spitzigen Pfahle durchbohrte. Dann entströmt der Wunde, unter einem schrecklichen Schrei des Vampyrs, eine Menge von blutiger Materie, und mit ihm das Leben. Sämmtliche Theile des Körpers werden nun in’s Feuer geworfen und verbrannt, worauf das Land ruhig wird, bis ein neuer Vampyr aus dem Grabe aufersteht. Diese schreckliche Plage der Menschen ist um so furchtbarer, als es scheint, daß die Vampyre sich fortpflanzen, indem oft ein Mensch, der durch sie geopfert wurde, ebenfalls ein Vampyr wird. Uebrigens giebt es sowohl männliche als weibliche Vampyre, und ich würde gar nicht fertig werden, wenn ich dir Alles erzählen wollte, was ich darüber bei meinem Aufenthalt in jenen Ländern gehört habe.“

Werner hätte noch lange fortsprechen können, ohne von seinem Zuhörer unterbrochen zu werden; dieser verlor kein Wort von seiner Erzählung, und wendete schon in Gedanken den fürchterlichen Vampyrismus auf den plötzlichen Tod des jungen Röschens an.

„Herr Jesus! rief er aus, ist dergleichen möglich? Sieh, Werner, es ist mir jetzt schon leid, daß ich dich danach gefragt habe, obgleich ich dadurch über etwas belehrt worden bin, was ich bisher noch nicht wußte. Gott sei Dank! wir hatten hier in unserm Lande bis jetzt nur einige Gespenster, die manchmal den Lebendigen einen Schreck einjagten, ohne ihnen weiter ein Leid zuzufügen. Aber sich von Blut zu nähren! man könnte bei dem bloßen Gedanken daran schon vor Furcht sterben. Armes Röschen! ja gewiß, ein Vampyr hat dich gemordet, es ist nicht daran zu zweifeln!“ —

Ungeachtet Werner im Geheimen selbst daran glaubte, so suchte er doch seinen Freund Mathes zu überreden, daß Röschens Tode eine andere Ursache zum Grunde liege; aber Mathes war zu begierig, die neu erlangten Kenntnisse weiter zu verbreiten, als daß er seine Voraussetzung hätte aufgeben können.

„Du magst mir sagen, was du willst, rief Mathes aus; ich bin und bleibe überzeugt, daß hier ein Vampyr sein Wesen getrieben hat, und ich will es sogleich im ganzen Dorfe bekannt machen.“

Mit diesen Worten rannte er aus dem Zimmer, ungeachtet Werner ihn gern zurückhalten wollte. Den ersten Bekannten, denen er begegnete, eilte er, seine wunderbare Geschichte von den Vampyren zu erzählen, welche so allgemein Eingang fand, daß man bald in der ganzen Gegend von nichts Anderem sprach, und darüber die Fremde im Häuschen im Walde und ihre Sonderbarkeiten vergaß.

Unterdessen drückte Wernern die Sorge, zu erforschen, wie es Lodoiska möglich gemacht habe, sich heimlichen Eingang in’s Schloß zu verschaffen. Er fing damit an, alle Bewohner desselben auf das Genaueste zu beobachten, und wachte über jede ihrer gleichgültigsten Handlungen; ganze Stunden lang blieb er in einem Winkel seines Zimmers versteckt, um Jemanden zu ertappen, der sich vielleicht hineinschleichen würde. Alle seine Bemühungen blieben indessen fruchtlos, und er fand nicht einmal Veranlassung, gegen irgend Jemanden gerechterweise den kleinsten Verdacht zu hegen.

Weit entfernt, deßhalb seine Nachforschungen jetzt schon einzustellen, richtete er sie nach einer andern Seite hin. Er wußte nämlich, daß die alten Schlösser fast immer mit unterirdischen Gewölben und geheimen Gängen versehen waren, welche dazu dienen konnten, Werke der Finsterniß dem Tageslichte zu entziehen; um sich daher auch in dieser Hinsicht zu beruhigen, hielt er, unter dem Vorwande, die Festigkeit der Grundmauern und des Gebälkes zu untersuchen, in Gesellschaft eines geschickten Maurers eine genaue Besichtigung des Schlosses. Zwei ganze Tage brachten sie damit zu, die Wände, die Fußböden und alle Mauern zu untersuchen; allenthalben, wo man durch Klopfen eine Höhlung wahrnahm, überzeugte man sich sogleich, was etwa daselbst verborgen sein könnte.

Die Genauigkeit dieser Untersuchung führte endlich zu der Kenntniß eines unterirdischen Ganges, welcher in einem Winkel eines der Zimmer des untersten Stockwerks seinen Anfang nahm, von hier auf einer sehr engen Treppe hinabführte, und sich sehr weit unter der Erde hin, in der Richtung nach Nordwesten, erstreckte. Bei der Entdeckung dieses Ganges, und noch mehr an der Richtung desselben, glaubte Werner den Weg entdeckt zu haben, auf welchem man sich heimlich ins Schloß schleichen könnte. Von seinem Gefährten begleitet, jeder mit einer Laterne versehen, trat er die Wanderung in diesem unterirdischen Gang an; allein als sie ungefähr hundert Schritte weit vorgedrungen waren, sahen sie sich durch große Felsenmassen aufgehalten, die nirgends einen Ausweg zeigten. Nachdem sie versucht hatten, dieses Hinderniß zu beseitigen, überzeugte sie endlich der Widerstand, den diese Felsen ihren Werkzeugen entgegensetzten, daß ihre Bemühungen vergeblich seien. Sie kehrten daher um, und Werner ließ nun den innern Eingang mit einer Mauer verschließen; denn dieser unterirdische Gang schien ihm dennoch gefährlich, weil er leicht durch irgend eine geheime Thür, die sie nicht bemerkt hatten, mit dem Häuschen im Walde zusammenhängen konnte. Jetzt erst war er zufrieden, weil er sich schmeichelte, nun die Pläne der Feindin seiner Ruhe vernichtet zu haben.

Neuntes Kapitel.

Schon war man dem Ende des Monats Oktober nahe. Alle Verbindung der Familie Lobenthal mit der Fremden hatte aufgehört, und Helene verlor nach und nach einen Theil der Neugierde, welche ihr anfangs ihre geheimnißvolle Nachbarin einflößte; aber der Zeitpunkt war gekommen, der sie näher als je mit derselben in Berührung bringen sollte.

Helene saß eines Abends noch ziemlich spät, mit einem neuen sehr anziehenden Buche beschäftigt, als sie plötzlich einen hellen rothen Schein am Himmel erblickte. Sie sprang auf und näherte sich dem Fenster; da hörte sie die Sturmglocke im Dorfe läuten, und unten im Schloßhofe erscholl das Geschrei: Feuer! Feuer! und Helene erkannte an der Richtung des hellen Scheines, welcher über dem Walde schwebte, daß es nur das Haus der Fremden sein könne, welches jetzt in Flammen stand. Sogleich eilte sie zum Zimmer hinaus, die Treppe hinab, über den Schloßhof und dem Walde zu. Vergebens stellte sich ihr Werner entgegen; vergebens bewies er ihr unterweges, daß sie Unrecht habe, selbst dem Orte der Feuersbrunst zuzueilen: sie beschleunigte ihre Schritte, ohne auf seine Vorstellungen zu hören, und überließ sich ganz dem edlen Gefühle ihres mitleidigen Herzens.

Mit welchem Schmerze betrachtete sie die Fortschritte der helllodernden Flammen, als sie an den Ort der Feuersbrunst gelangte! Es war keine Hoffnung mehr übrig, das Haus zu retten. Vergeblich strengten sich einige von den herbeigeeilten Bauern an, dem Feuer Einhalt zu thun; es mangelte ihnen an den nöthigen Mitteln, und man mußte zuletzt der völligen Zerstörung des Hauses ruhig zusehen.

Helene war kaum angekommen, so suchte sie eifrig nach der Fremden, und bei der schauerlichen Helle, die das Feuer umherwarf, entdeckte sie sie bald, wie sie, in ein großes weißes Bettlaken eingewickelt, an einen Baum angelehnt stand. Dieß gab ihr das schreckliche Ansehen eines Gespenstes; ihr Gesicht war leichenblaß, ihre Augen stier und ohne irgend einen Ausdruck, so daß ihre völlige Unempfindlichkeit, ihre kalte Ruhe Jedermann auffiel. Man irrte um sie her, beklagte und tröstete sie, aber sie antwortete nicht; und bei Allem, was man auch sagen mochte, beharrte sie in ihrem Stillschweigen. Nur Helenens Ankunft weckte sie aus ihrem dumpfen Hinstarren, und kaum hatte sie dieselbe erkannt, so schwebte ein schreckliches Lächeln über ihre Lippen, verschwand aber sogleich wieder, worauf Lodoiska in ihren vorigen träumerischen Zustand zurückkehrte.

„Bis jetzt, redete Helene sie an, habe ich Ihren Willen befolgt, und Sie völlig Ihrer Einsamkeit überlassen; da aber nun das Unglück mit neuer Wuth über Sie ausgebrochen ist, so bewilligen Sie mir die Bitte, eine Wohnung im Schlosse anzunehmen. Es ist keine Hoffnung mehr vorhanden, daß Sie je wieder in diesem Hause wohnen können; nehmen Sie daher den Zufluchtsort an, den Ihnen die aufrichtigste Theilnahme anbietet.“

Lodoiska schien jetzt völlig aus ihrer Träumerei zu erwachen, und suchte sogar ihrer finsteren Miene einen angenehmern Ausdruck zu geben. Ohne Weigerung nahm sie das ihr gemachte großmüthige Anerbieten an. Sie erzählte Helenen: daß das Feuer auf dem Heerde schlecht ausgelöscht gewesen sein müsse, und wahrscheinlich einige Kohlen in einem Bunde Flachs Feuer gefaßt haben könnten, das in der Nähe des Heerdes befindlich gewesen sei. Bald darauf wäre die ganze Küche und der anstoßende Hausflur in Flammen gewesen. „Kaum hatte ich noch so viel Zeit, fuhr sie fort, einige Kleider, meine Börse und Kostbarkeiten zum Fenster hinauszuwerfen. Dann eilte ich die Treppe hinab, welche bereits brannte, und suchte hier im Freien einen Zufluchtsort. Aber was mag aus meinem alten Bedienten geworden sein? Ich sehe ihn nirgends.“

— Ich habe ihn nach dem Dorfe eilen sehen, antwortete Helene, die der Fremden die Wahrheit, welche sie vermuthete, verhehlen wollte. Aber kommen Sie jetzt in’s Schloß; die Nacht ist kalt, und Sie sind nicht angezogen; dieses Betttuch kann Sie unmöglich vor den schädlichen Eindrücken der Nachtluft beschützen. —

Ohne weiter eine Einwendung zu machen, nahm Lodoiska, jedoch mit vielen Danksagungen, das Anerbieten an. Werner, der in der Nähe stand und Alles mit anhörte, gerieth darüber in eine unbeschreibliche Verwirrung. Den Gedanken, daß Lodoiska mit seiner Gebieterin unter einem Dache wohnen sollte, konnte er kaum ertragen; ein besonderes Vorgefühl ließ ihn die schrecklichsten Auftritte, die daraus entstehen würden, voraussehen, und zwei Mal hatte er schon den Mund geöffnet, um der Oberstin die Wahrheit zu entdecken, damit sie erführe, welche Schlange sie an ihrem Busen erwärmen wollte; aber immer hielt ihn die Furcht vor den Folgen einer solchen Entdeckung wieder zurück, und er behielt das Geheimniß in seinem Herzen verschlossen. Ein Blick des Triumphs, den ihm seine Feindin zuwarf, brachte ihn vollends zur Verzweiflung; indessen nahm er sich vor, sie so genau zu bewachen, daß es ihr unmöglich werden würde, ihre geheimen Triebfedern in Bewegung zu setzen. Schweigend folgte er den beiden Damen nach dem Schlosse zurück.

Am andern Morgen entdeckte man unter den Trümmern des Hauses die Ueberbleibsel eines fürchterlich verstümmelten und verbrannten Leichnams, der schon in Verwesung übergegangen war. Er verpestete die ganze Luft umher; übrigens konnte man keine Spur mehr von seinem Gesichte erkennen. Da man jedoch den Körper nicht weit von den Ueberbleibseln eines Bettes fand, so zweifelte man keinen Augenblick, daß es der Bediente der Unbekannten sei, vorzüglich da er nie wieder im Dorfe gesehen wurde.

Als die beiden Damen auf dem Schlosse angekommen waren, bat Helene die Fremde, sich unverzüglich zu Bett zu legen, und Lisette trat näher, um sie von ihrer Umhüllung zu befreien. Allein Lodoiska stieß sie lebhaft zurück, und äußerte den Wunsch, einige Minuten allein zu bleiben. Man willfahrtete ihr. Als man voraussetzen konnte, daß sie sich niedergelegt haben würde, trat Helene wieder zu ihr ins Zimmer, um ihr einige Erfrischungen anzubieten, die Lodoiska indessen hartnäckig ausschlug; und da Lisette ihr ein Glas mit Glühwein darreichen wollte, gab sie mit ihrer linken Hand ein Zeichen, daß sie auch dieses Getränk verschmähe. Bei dieser Gelegenheit bemerkte Helene, daß die linke Hand der Fremden noch immer mit einem Handschuhe versehen sei; noch mehr erstaunte sie aber, als Lisette das Betttuch, in welches Lodoiska eingehüllt gewesen, aufnahm, und man nun bemerkte, daß es von Blut benetzt sei.

„Sie haben sich verwundet, sagte Helene mit lebhafter Besorgniß; warum wollen Sie nicht zugeben, daß man Ihnen die bei solchen Zufällen gewöhnliche Hülfe leiste? Warum wollen Sie eine so natürliche Sache ausschlagen? Die Blässe Ihres Gesichts beweiset, daß Sie derselben höchst nöthig bedürfen.“

— Nein, nein! rief die Fremde voller Schrecken aus, wofür man gar keine gerechte Ursache auffinden konnte; ich will, ich mag keine Hülfe! Es ist wahr, daß ich verwundet bin; aber ich bin es schon seit sehr langer Zeit, und ich habe jetzt nichts mehr zu fürchten. Um Alles in der Welt wollte ich Niemanden meine blutende Wunde zeigen; glauben Sie mir, daß ich mir selbst genug bin. Lassen Sie mich jetzt allein, wenn ich bitten darf, und beruhigen Sie sich, denn für mich ist keine Gefahr mehr zu befürchten. —

In der Stimme, womit sie diese Worte aussprach, lag eine so unbegreifliche Mischung von Gefühl und Gefühllosigkeit, ja selbst von Ironie, daß man nicht ohne einen geheimen Schauder zuhören konnte. Helene glaubte sich ihren Wünschen nicht länger widersetzen zu dürfen, und ließ sie daher allein.

Am andern Morgen stand sie erst sehr spät wieder auf; man wagte nicht, eher in ihr Zimmer einzutreten, als bis man sie darin umhergehen hörte; dann klopfte Helene leise an, und erhielt die Einladung, hineinzukommen. Die Fremde war bereits völlig angezogen; das schwarze Kleid, das sie heute trug, machte die außerordentliche Blässe ihres Gesichts noch bemerkbarer.

Die Nachricht von dem Tode des alten Ladislaus war schon im Schlosse bekannt, und Helene glaubte nicht, daß es möglich sein würde, sie vor der Fremden stets geheim zu halten. Um sie aber nicht zu sehr zu erschüttern, wandte Helene alle mögliche Vorsicht an, und bereitete sie nur ganz allmählich darauf vor. Sie gab sich eine völlig unnütze Mühe. Schon bei den ersten Worten ward sie von der Fremden errathen, und sowohl in ihren Gesichtszügen, als in ihrer Antwort bemerkte man nichts als die ruhigste Gleichgültigkeit. Sie schien völlig gefühllos bei Helenens Erzählung zu sein, und zeigte nicht einmal das gewöhnliche Gefühl des Mitleidens, welches dergleichen Unglücksfälle sonst bei den Menschen hervorbringen.

Ueber ein solches Benehmen mußte Helene natürlich auf’s Höchste erstaunen; Lodoiska bemerkte es, und gleichsam als wenn sie ihren Fehler hätte wieder gut machen wollen, sagte sie: „Frau Oberstin, Sie wundern sich über mich, und fassen vielleicht eine schlechte Meinung von mir, daß ich nicht mehr Gefühl bei dem Tode des armen Ladislaus zeige; aber glauben Sie mir, ihm ist wenig an solchen Zeichen des Mitleids gelegen. Ich stand mit ihm durchaus nicht in näherer Verbindung; wir kamen Beide von demselben Orte her, und fanden uns zusammen, weil es so sein mußte. Jetzt hat uns der Wille des Allmächtigen wieder getrennt, aber wir werden zum zweiten Male, und dann auf ewig, mit einander vereinigt werden. Warum sollte ich daher Thränen vergießen? Ich habe keine Thränen mehr; sie sind ausgetrocknet für jede Art von Schmerz: denn ich habe während meines sterblichen Lebens zu viel geweint. Jetzt, da ich nur noch ein Dasein besitze, weil ich mich nicht in ein Grab legen kann, ungeachtet ich das sehnlichste Verlangen nach dieser kühlen Wohnung trage, soll ich mich mit Dingen beschäftigen, die mich nichts angehen? Nein, nein! Nur ein einziger Zweck belebt mich noch, nur eine einzige Absicht strebe ich zu erreichen! Dann werde ich ohne Freude, wie ohne Leid, einen Körper verlassen, in welchem ich mich selbst nicht mehr leiden mag.“

Lodoiska hätte noch lange so fortsprechen können, ohne von der Oberstin unterbrochen zu werden. In Allem, was jene junge Person sagte, lag immer etwas so Unbegreifliches und Unzusammenhängendes, daß man nicht wußte, ob man sie bemitleiden oder fürchten sollte. Die Worte kamen so eintönig aus ihrem Munde, daß dadurch immer die Wirkung zerstört wurde, welche sie sonst hätten machen können; das unbewegliche Hinstarren ihres Auges schien zu beweisen, daß sie dem, was sie sprach, völlig fremd war; kurz, bei ihr wich Alles von der gewöhnlichen Regel ab, und man konnte sich nicht erinnern, je etwas ihr Aehnliches gesehen zu haben.

Helene war so erstaunt über die Rede der Fremden, daß sie darauf nichts zu antworten wußte; sie suchte dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, und fragte: ob sie vielleicht jetzt einige Nahrungsmittel zu sich nehmen wolle. Lodoiska machte ein bejahendes Zeichen, worauf die Oberstin Befehl gab, das Frühstück hereinzubringen.

Jetzt traten auch die Kinder herein, die schon ungeduldig darauf gewartet hatten, bei ihrer Freundin vorgelassen zu werden. Lodoiska empfing sie mit einem Lächeln, welchem sie den Ausdruck des Wohlwollens zu geben strebte, und eine plötzliche Röthe überflog ihr Gesicht, das zu gleicher Zeit so verzerrt wurde, als wenn ihr Herz von einem tödtlichen Stiche durchbohrt worden wäre. Alles dieses wurde jedoch von Niemanden bemerkt. Helene, stolz auf ihre Kinder, überhäufte dieselben mit ihren zärtlichsten Liebkosungen, während die Fremde heimlich Blicke voll Zorn und Verachtung auf diese allerliebste Gruppe warf. Um zu verbergen, was in ihrem Innern vorging, bedeckte sie oft ihr Gesicht mit beiden Händen, von denen die eine stets mit einem Handschuh bedeckt war, und lange Zeiträume hindurch schien sie in das tiefste Nachdenken versunken zu sein.

Zehntes Kapitel.

Bei den russischen Truppen, die im Jahre 1812 die Moldau und Wallachei besetzt hatten, befand sich auch das Regiment, in welchem Alfred Lobenthal damals als Rittmeister diente. Er war einer der kühnsten und tapfersten unter allen Offizieren, und sein Muth verwickelte ihn öfters in die gefährlichsten Unternehmungen; auch war ihm das Glück, welches gern die Kühnheit krönt, gewöhnlich hold, bis die unbeständige Göttin ihn einst auf einige Zeit verließ: der Rittmeister Lobenthal erhielt in einem Gefechte, in dem Augenblicke, wo der Feind die Flucht ergriff, einen Flintenschuß in den Leib, der ihn vom Pferde stürzte.

Werner, der brave Unteroffizier, den die Dankbarkeit auf immer an ihn gefesselt hatte, befand sich in der Nähe, und eilte sogleich zur Hülfe herbei. Von einigen Soldaten unterstützt, brachte er den Rittmeister in das benachbarte Haus eines Pächters, der einer gewissen Wohlhabenheit genoß, und da die Ankunft eines verwundeten Offiziers für die Einwohner eine Schutzwehr war, so nahmen sie ihn mit Freude und Wohlwollen auf. Der Hausvater, ein ehrwürdiger Greis, ließ ihm das beste Zimmer einräumen, und ihm alle Hülfe leisten, die ihm zu Gebote stand. Der Wundarzt des Regiments ward herbeigeholt; nach dem ersten Verbande erklärte er, daß die Wunde zwar nicht tödtlich sei, aber nur langsam wieder heilen würde.

Beinah vierzehn Tage lang befand sich Lobenthal in einer fast völligen Bewußtlosigkeit; er hörte kaum das Geräusch, was man um sein Bett her machte, und da seine Augen stets geschlossen waren, so sahe er nicht, wie sorgsam man ihn pflegte; sonst hätte er sogleich bemerkt, wie unter den Personen, die über die Erhaltung seines Lebens wachten, sich vorzüglich die junge Tochter des Hauses auszeichnete, die nicht nur durch ihre außerordentliche Schönheit, sondern auch durch ihr liebenswürdiges, unschuldiges Wesen Jedermann auffiel. Von einem Mitleiden bewegt, dessen wahre Ursachen sie selbst noch nicht kannte, brachte sie ganze Tage am Bette des Kranken zu, der ungeachtet seiner Todtenblässe, dennoch in seinen Gesichtszügen die Spuren einer hohen Schönheit verrieth.

Lodoiska fand stets einen neuen Vorwand, in das Krankenzimmer zurückzukehren, aus welchem man sie öfters forttrieb; mehrere Stunden brachte sie häufig bloß mit einem Anschauen zu, dessen Folgen für sie höchst gefährlich werden konnten. Sobald aber befreundete Offiziere Lobenthals oder Soldaten von seiner Schwadron kamen, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen, floh das unschuldige Mädchen, voller Scham, hier überrascht worden zu sein, so leicht wie ein junges Reh von dannen, und wartete mit Ungeduld, bis die lästigen Besuche sich wieder entfernt haben würden.

Die ersten Blicke, welche Lobenthal aufschlug, fielen auf diesen irdischen Engel; wie konnte er sie anders, als mit der höchsten Bewunderung ansehen? Er fühlte bald das Bedürfniß eines Vertrauten, mit welchem er nach Herzenslust von derjenigen sprechen könnte, die seine ganze Seele erfüllte; hierzu wurde Werner erwählt, und stolz auf diese Auszeichnung eilte er, sich derselben würdig zu machen, indem er Gelegenheit suchte, die schöne Lodoiska von den glänzenden Eigenschaften seines Rittmeisters zu unterhalten, ohne ihr jedoch auf eine bestimmte Art zu erklären, was dieser schöne junge Offizier von ihr dachte.

Werners Erzählungen nahmen die Aufmerksamkeit des jungen Mädchens auf eine außerordentliche Art in Anspruch. Mit welcher Spannung hörte sie der Beschreibung einer Schlacht zu! Sie folgte in Gedanken dem Rittmeister bis mitten in die sich immer erneuernden Gefahren; bald erblaßte, bald erröthete sie; ihr Athemzug wurde kürzer, wenn die Gefahr am augenscheinlichsten war. Endigte aber dann die Erzählung mit einem Siege, den Lobenthal nicht mit einer Wunde bezahlt hatte, so erhob sie ihre ausdrucksvollen Augen gen Himmel, und stattete der Vorsehung tausend Mal ihren wärmsten Dank ab.

In der Stille der Nacht, so wie am Tage mitten unter ihren Arbeiten, war sie nur von einem einzigen Gedanken beschäftigt: der schöne und tapfere Rittmeister war ihrer Einbildungskraft, so wie ihrem Herzen, unaufhörlich gegenwärtig. Je länger dieß dauerte, desto tiefer drang der Pfeil in’s Innere; schon empfand sie das ganze Entzücken der Liebe, und doch hatte der Gegenstand derselben noch kein Wort mit ihr davon gesprochen. Indessen beobachtete Lobenthal nicht lange diese Zurückhaltung, die weder mit seinem Stande noch mit seinem Charakter übereinstimmte; er erklärte sich endlich, und ward sogleich erhört. Lodoiska befand sich in jenem Alter, wo das Mißtrauen noch unbekannt ist; sie liebte mit Leidenschaft, und es schien ihr ganz natürlich, daß sie eben so wieder geliebt würde. Sie kannte weder den Unterschied der Stände noch des Vermögens; ihr Geliebter war schön und jung, sie war beides ebenfalls: alles schien ihr daher gleich, und für sie konnte die Zukunft nichts sein, als eine glückliche Verlängerung der Gegenwart.

Aber mitten in diesem Entzücken erhielt sie sich rein, wie die Tugend selbst; kein unreiner Gedanke befleckte ihre Unschuld, und Lobenthal, voll Erstaunen über eine Leidenschaft, vereinigt mit so viel Tugend, machte keinen Versuch, sie zu entweihen. Je länger er seine Lodoiska sahe, desto größer wurde seine Zärtlichkeit für sie, bis sie endlich den höchsten Gipfel erreichte. Eines Abends, nachdem er den ganzen Tag in dem reinsten, entzückendsten Vergnügen zugebracht hatte, ritzte er sich mit einem Federmesser den Arm, und schrieb mit seinem Blute ein Heirathsversprechen auf, welches er seiner Geliebten übergab. Lodoiska eilte, ein Gleiches zu thun; nach dem uralten Gebrauche der dortigen Gegenden ward der doppelte Vertrag fünf Nächte lang unter dem Leichenstein eines Grabes verwahrt, und dadurch im Himmel selbst geheiligt.

Man zweifelt in jenen Ländern nicht, daß zwei Liebende durch einen solchen Vertrag unwiderruflich an einander gefesselt werden; jede andere Ehe, die nicht unter ihnen beiden vollzogen würde, kann nur höchst unglücklich sein. Die Jungfrau, welche sich auf solche Art verlobt, kann nach ihrem Tode aus dem Grabe wieder auferstehen, um als Vampyr den Treulosen zu quälen, der sie verlassen hat. Lobenthal wußte nichts von allen diesen Eigenheiten, und fürchtete die Zukunft nicht; denn es schien ihm unmöglich, seine Lodoiska je zu vergessen.

Wochen und Monate vergingen; schon waren die russischen Truppen aus der Moldau und Wallachei wieder abgezogen, um im Norden ihren Mitbrüdern gegen die Franzosen zu Hülfe zu eilen. Lobenthals Wunde war geheilt, und dennoch verlängerte er seinen Aufenthalt, da die Liebe ihn einen Theil seiner Pflicht vergessen machte; aber ein strenger Befehl seines Chefs lösete bald die Bezauberung des neuen Rinaldo, und es blieb ihm keine Wahl, als sich zu entehren, oder sich von Lodoiska zu trennen. Der Kampf in seinem Innern war fürchterlich, doch trugen endlich Ruhm und Pflicht den Sieg über die Liebe davon. Nachdem Lobenthal seine eigene Schwachheit überwunden hatte, mußte er noch die seiner Geliebten bekämpfen; er suchte sie durch die feierlichsten Versprechungen zu beruhigen, und gelobte, höchstens in Zeit von einem Jahre wiederzukommen. Endlich fand sich Lodoiska geduldig, aber nicht getröstet, und willigte in die unglückliche Abreise.

Lobenthal sahe seine Braut nicht wieder; lange Zeit hindurch blieb er ihr treu, aber die Abwesenheit brachte endlich auch bei ihm die gewöhnliche Wirkung hervor. Lodoiska wurde ihm nach und nach gleichgültig, er vergaß seine Versprechungen, und endlich erlosch das Andenken an seine frühere Liebe völlig durch seine Vermählung mit Helenen. Indessen blieb es ihm unmöglich ganz mit Lodoiska zu brechen. Sie schrieb ihm regelmäßig, und ergab sich geduldig in eine verlängerte Zögerung, die der Krieg nothwendig machte; als aber der Frieden endlich in ganz Europa hergestellt war, wurden ihre Briefe dringender, und sie kündigte dem nun zum Obersten beförderten Lobenthal an, daß sie ihn selbst aufsuchen wolle, wenn er nicht zu ihr zurückkehren würde.

Lobenthal beantwortete diese Briefe nicht, und er hörte lange nichts von seiner ehemaligen Braut, bis er endlich in Berlin, nach seiner Verabschiedung und nach langer Unterbrechung, abermals einen Brief von Lodoiska erhielt, worin sie ihm ihre nahe Ankunft in Berlin meldete. Dieses Schreiben mußte ihm, als Gatten Helenens, den höchsten Schrecken verursachen; er that daher einen verzweifelten Schritt, und machte seine unglückliche Braut mit seiner Vermählung bekannt. Voller Angst erwartete er ihre Antwort, die auch nicht lange ausblieb. Kaum hatte er sie erhalten, so trat er zu Helenen in’s Zimmer, schützte einen bedeutenden Verlust an seinem Vermögen vor, der ihn zwänge, die Hauptstadt sogleich zu verlassen, und trat die Reise nach Böhmen an, wie wir am Eingange dieses Buches gesehen haben. Auf die Antwort Lodoiska’s wagte er nie wieder einen Blick zu werfen, und in einem neuen Anfall von Schrecken vernichtete er diesen Brief, so daß man nie erfahren hat, was er eigentlich enthalten habe. —

Eilftes Kapitel.

Lodoiska’s jetziger Aufenthalt im Schlosse R.... konnte nur von übler Vorbedeutung für die Familie Lobenthal sein; Werner, der genau von den früheren Verhältnissen des Obersten unterrichtet war, fürchtete das Schrecklichste, und gerieth fast in Verzweiflung, seine Furcht weder Jemanden zu entdecken, noch den Obersten davon benachrichtigen zu können. Er entschloß sich endlich, sich Lodoiska so viel als möglich zu nähern, um ihre wahren Absichten kennen zu lernen.

Hierzu wählte er einen Nachmittag, als die Oberstin gerade einige Gesellschaft aus der Nachbarschaft bei sich hatte. Als er in Lodoiska’s Zimmer trat, saß dieselbe in der Nähe eines Fensters, während der junge Wilhelm vor ihr stand, und auf ihren Schooß ein Bilderbuch gelegt hatte, das er mit vielem Vergnügen durchblätterte. Die Fremde schien in das tiefste Nachdenken versunken zu sein, und sahe den Knaben mit Blicken an, die nichts weniger als Wohlwollen verriethen; Werners Schritte weckten sie aber aus ihren Träumereien, worauf sie augenblicklich ihre Miene änderte, und ihre gewöhnliche außerordentliche Gleichgültigkeit annahm. Der alte Unteroffizier trat näher und grüßte sie, was aber nicht erwidert wurde; doch ließ er sich durch diese Unhöflichkeit nicht irre machen, sondern fing sogleich seinen Angriff an, wie er sich vorgenommen hatte.

„Vortrefflich, Lodoiska, sagte er; da haben Sie sich nun in ein Haus eingeführt, wo Sie der Klugheit gemäß lieber hätten wegbleiben, und das Sie hätten scheuen sollen, zu Ihrer eigenen Ruhe und zur Ruhe einer achtungswürdigen Familie. Was haben Sie jetzt für Absichten? Wollen Sie hier, zum Lohne für die gute Aufnahme, die Sie genießen, Schmerz und Zank erregen? Halten Sie es nicht für angemessener, da Sie denn nun einmal den Obersten noch wiedersehen wollen, seine Rückkehr in Prag abzuwarten?“

— Ich halte dafür, Werner, daß man sich in wichtigen Angelegenheiten nicht bei seinen Feinden Raths erholen müsse, und überdieß bist du in deinen Rathschlägen eben nicht glücklich. Warst du es nicht, der mich einst aufforderte, mich von der Liebe des treulosesten aller Männer rühren zu lassen? Und dennoch kanntest du ihn genau, und wußtest, wie groß sein Leichtsinn sei. Aber dieß hinderte dich nicht, mich dem Rande des Abgrundes näher zu führen, und wer steht mir dafür, daß dein jetziger Rath nicht ebenfalls ähnliche Betrügereien im Hinterhalt hat? —

„Wenn ich Unrecht that, so ward dieß mehr in Folge meines damaligen Alters, als meines Herzens geübt. Jetzt leitet mich nur meine Theilnahme für ....“

— Ich glaube nicht mehr an die Worte der Menschen, und gehe auch nicht von dem mir einmal vorgeschriebenen Wege ab. Da ich mich jetzt in diesem Hause befinde, so werde ich darin so lange bleiben, bis Alles für mich aus ist, und ich den ewigen Qualen entgegengehe, die mich erwarten. —

„Was haben Sie aber zu fürchten, wenn Sie nichts Böses gethan haben?“

— Nicht mit dir, rief die Fremde im heftigsten Tone, werde ich über diesen Punkt sprechen. Ich bin es müde, dich anzuhören und dir zu antworten; ja deine Gegenwart ist mir so lästig, daß ich ungeduldig auf den Zeitpunkt warte, wo ich deiner Gesellschaft überhoben werde. —

„Es thut mir leid, Ihnen zu mißfallen; aber obgleich meine Anwesenheit Ihnen so lästig ist, so dürfen Sie sich doch nicht schmeicheln, mich aus den Augen zu verlieren, so lange Sie sich in diesem Schlosse befinden, und ich werde meine Wachsamkeit nur noch verdoppeln.“

— Wahrlich, Werner, deine Wachsamkeit wird auch höchst nöthig sein, und du wirst großen Vortheil davon haben. Fürchtest du nicht, mich endlich auf’s Aeußerste zu treiben? Kannst du die Frechheit haben, mich so zu beleidigen, indem du mir geradezu dein Mißtrauen gegen mich ausdrückst? Schwacher Sterblicher! Sobald ich deiner Obhut müde bin, wirst du aufhören, meinen Absichten Hindernisse in den Weg zu legen. Sei überzeugt, daß du, der du mit so vieler Kühnheit zu mir sprichst, das Schloß eher verlassen wirst, als ich! —

„Ich zweifle nicht, daß meine Gegenwart Ihnen lästig ist; allein wenn ich will, so soll keine Stunde vergehen, und Sie werden einen Laufpaß erhalten, sich Ihre Wohnung anderswo zu suchen, wo es Ihnen belieben wird. Ich darf nur ein Wort sagen ....“

— Du wirst es nicht sagen, dieses Wort, denn du kennst die Folgen davon! Glaube mir, Werner, wenn dir das Glück der Oberstin theuer ist, so laß sie den noch übrigen Theil ihres Lebens in Ruhe zubringen. Ich werde ihr nur im äußersten Falle die schreckliche Aufklärung geben, und wenn ihr Leben vergiftet wird, so bist du allein die Ursache davon. —

„Aber kurz, was wollen Sie hier? Worauf gründen Sie Ihre Hoffnung?“

— Hoffnungen habe ich nicht und kann ich nicht mehr haben, denn mein Schicksal ist unwiderruflich bestimmt. Aber ich habe noch Pflichten zu erfüllen, Befehle zu vollziehen. Früherhin hätten sie mein Herz zerrissen, das sich dagegen aufgelehnt haben würde; aber jetzt kommt es mir nicht mehr darauf an, da ich schon im Voraus in der Zukunft lesen kann; die Gefühle, denen ich früher hingegeben war, sind jetzt für mich verloren. —

„Wahrhaftig, Lodoiska, ich höre Sie sprechen, aber es ist mir unmöglich, Sie zu verstehen. Als Sie noch in Ihrem Vaterlande waren, brauchte ich nicht erst über jedes Ihrer Worte nachzudenken; aber jetzt sind sie mir so dunkel, daß ich mir vergebens den Kopf darüber zerbreche. Ich bitte Sie, drücken Sie sich deutlicher und ohne Umschweife gegen mich aus!“

Lodoiska antwortete nicht; ein triumphirendes Lächeln schwebte über ihren Lippen, während sie gleichgültig mit dem Buche spielte, welches Wilhelm, der sich beim Eintritte des Unteroffiziers entfernte, zurückgelassen hatte. Dadurch entstand ein ziemlich langes Stillschweigen, das Werner endlich zuerst brach.

„Ich sehe wohl, sagte er voller Aerger, daß es vergebens ist, Sie auf vernünftige Gedanken zu bringen. Aber, wenn Sie darauf bestehen, einen Plan auszuführen, den ich schlechterdings nicht errathen kann, so vergessen Sie wenigstens nicht, mit welcher Güte Sie im Schlosse R.... aufgenommen worden sind, und lassen Sie uns unsere Gastfreundschaft gegen Sie nicht bereuen!“

Diese Worte brachten ein flüchtiges Erröthen in den Gesichtszügen der Fremden hervor; aber sie nahmen bald ihre gewöhnliche Blässe wieder an, und Lodoiska antwortete mit großer Ruhe:

„Welchen Vorwurf über mein Betragen, sei es auch in der Folge wie es wolle, könnte mir derjenige machen, der voll Entzücken in dem Hause meines Vaters aufgenommen wurde, und zum Lohne dafür nur Verzweiflung und Tod darin zurückließ?“

Eine so kräftige Erwiderung setzte Wernern in Verlegenheit. Er fühlte die Richtigkeit dieses Vorwurfs, doch suchte er seine Verwirrung zu verbergen, indem er sagte:

„Geschehene Dinge sind nicht zu ändern; aber die Fehler der andern sind für uns keine Entschuldigung, und das Böse, was erst noch geschehen soll, kann das frühere Uebel nicht wieder gut machen.“

Lodoiska antwortete ihm nicht. Sie gab ihm nur ein Zeichen, daß sie wünsche, allein zu sein, und da Werner fürchtete, von der Oberstin hier überrascht zu werden, so entfernte er sich, aber mit dem festen Vorsatze, jeden Schritt der Feindin des Hauses, wie er sie nannte, zu belauschen.

Helene, deren Einsamkeit nur selten durch die Besuche der Nachbarn gestört wurde, hoffte durch die Gesellschaft der jungen Fremden für die Folge einigen Zeitvertreib zu haben; aber sie überzeugte sich bald, daß der Umgang mit ihr nichts weniger als angenehm sei. Ihre beständige Traurigkeit, ihr Schweigen, wenn man sie nicht fragte, ihre kurzen Antworten, und mehr als Alles, das Unbeschreibliche in ihren Gesichtszügen, waren höchst zurückstoßend für Helenen, die bald dem mehrmals ausgesprochenen Wunsche der Fremden nachgab, sie in ihrem Zimmer völlig allein zu lassen. Lodoiska verließ dasselbe nur zur Zeit der Mahlzeiten, und setzte sich schweigend an den Tisch, wo sie kaum so viel Nahrung zu sich nahm, als zur Erhaltung ihres Lebens höchst nothwendig war. Vergebens drang man in sie, mehr zu essen; sie schlug hartnäckig die besten Speisen aus, und begnügte sich mit etwas Fleisch, das sie bloß aussaugte; Nahrungsmittel aus dem Pflanzenreich waren ihr höchst zuwider. Die Ruhe, deren sie in ihrem Zimmer genoß, ward nur durch die täglichen Besuche der Kinder unterbrochen. Sie zeigte sich stets freundlich gegen dieselben, obgleich sie öfters ganz unbeschreibliche Blicke auf sie warf.

Vierzehn Tage wohnte sie bereits auf dem Schlosse, und ihr Betragen blieb immer dasselbe. Vergebens wurde sie stets von Werner belauscht; er konnte durchaus nichts Verdächtiges entdecken, obgleich er des Nachts zu allen Stunden aufstand, und im Schlosse umherschlich. Wider seinen Willen fing er daher am Ende zu glauben an, er habe sie falsch beurtheilt, und ließ auch allmählich in seiner Wachsamkeit nach.

Zu dieser Zeit fing Wilhelm zu kränkeln an, und setzte seine Mutter in die größte Unruhe. Das Kind beklagte sich eigentlich über nichts insbesondere, und dennoch sahe man die Röthe seiner Wangen schwinden, und seinen Körper immer mehr abmagern. Bald wurde er so schwach, daß er nicht mehr gehen konnte; auch das Tageslicht ward ihm zuwider; aber zu gleicher Zeit nahm seine Anhänglichkeit an die Fremde zu, die er kaum mehr verlassen wollte. Wenn man ihn mit Gewalt von seiner Freundin trennte, gerieth er in Zorn, und ganze Stunden lang brachte er in ihrem Arm liegend zu. Lodoiska sahe indessen diese Zuneigung mit Gleichgültigkeit an, obgleich sie das Kind nicht von sich entfernte, und darein willigte, daß es vorzugsweise ihrer Pflege überlassen wurde.

Helene schrieb Briefe über Briefe an ihren Mann, theilte ihm den bedenklichen Krankheitszustand ihres Sohnes mit, und bat ihn, doch endlich seiner Abwesenheit ein Ziel zu setzen. Von der Feuersbrunst und dem Aufenthalte der unglücklichen Fremden im Schlosse hatte sie ihn schon früher benachrichtigt. Lobenthal theilte in seinen Antworten Helenens Aengstlichkeit, und versprach ihr, sich sobald als möglich auf den Rückweg zu machen, da aller Anschein da sei, eine völlige Aussöhnung zwischen seiner Schwester und ihrem Gatten zu Stande zu bringen. Der Begebenheit mit der Feuersbrunst hatte er nur wenig seine Aufmerksamkeit geschenkt, und berührte sie nur im Vorübergehen, indem er das Betragen Helenens völlig billigte. Alle seine Briefe schloß er mit den heißesten Wünschen für die Genesung seines geliebten Wilhelm.

Der Himmel schien seine Wünsche nicht erhören zu wollen; die Kräfte des Kindes schwanden immer mehr, sein Athem wurde immer kürzer, und schon konnte er kaum seinen Kopf in gerader Richtung über den Schultern erhalten, auf welche er aller Anstrengungen ungeachtet immer wieder zurückfiel. Helene war außer sich. Zwar suchte ein geschickter Arzt, der täglich nach dem Schlosse kam, ihr Trost einzusprechen, allein auch dieser wußte selbst nicht, was er von der außerordentlichen Krankheit denken sollte. Das Kind behielt bei seiner großen Schwäche eine Eßlust, die mit der Krankheit immer zunahm; es beklagte sich stets über Hunger, der nur schwer zu stillen war, und dieß am meisten des Morgens, sobald er aus seinem todtenähnlichen Schlafe erwachte. Dann forderte er die kräftigsten und schwersten Nahrungsmittel, die er verschlang, als wenn er mehrere Tage lang gar nichts gegessen hätte. Um die Mutter nicht noch mehr in Angst zu setzen, that der Arzt, als wenn er gute Hoffnung habe, das Kind wieder herzustellen; aber insgeheim sahe er kein Mittel vor Augen, wie er sein Versprechen erfüllen sollte.

Lodoiska verließ ihren kleinen Freund nur selten; sie hörte die Fragen des Arztes, die Klagen der Mutter mit an, ohne sich je in das Gespräch zu mischen. Nur wenn das Kind die Arznei einnehmen sollte, wendete sie ihren Einfluß auf den kleinen Wilhelm an, der sie dann freundlich anlächelte, ihre Hand nahm, und artig zu sein versprach, wenn Lodoiska bei ihm bleiben wollte.

„Sei ruhig, mein Kind, sagte sie, und fürchte deßhalb nichts. Ich habe mich zu innig mit deinem Wesen vereinigt, als daß ich mich von dir trennen könnte, und ich werde dich nur in dem verhängnißvollen Augenblicke aufgeben, wo man Alles auf der Erde verlassen muß.“

Diese liebreichen Worte verloren für die Zuhörer allen Werth, weil sie mit der äußersten Gleichgültigkeit und Trockenheit ausgesprochen wurden. Die Fremde legte überhaupt nur selten einen Ausdruck in das, was sie sagte oder that, so daß man sie weniger für ein lebendiges Geschöpf, als für ein belebtes Automat zu halten geneigt war, das sich bloß nach dem Uhrwerk in seinem Innern auf eine stets gleichförmige Weise bewegte. So viel Kälte erregte öfters bei Helenen eine leichte Anwandlung von Zorn, die aber sogleich wieder unterdrückt wurde, wenn sie sich erinnerte, daß der Verstand dieser unglücklichen Fremden ohne Zweifel gelitten haben müsse. Auch war dieß die Ursache, warum sie nicht die Fragen an sie that, die man sonst wohl das Recht hat, an Jemanden zu richten, der in ein Haus eingeführt und aufgenommen ist. Sie wußte von Lodoiska selbst, daß deren Aufenthalt in Deutschland nicht mehr lange dauern würde, daher sie sich auch vorgenommen hatte, bis zum nächsten Frühling der Fremden die Gastfreundschaft zu gewähren.

Der gute Werner, der den kleinen Wilhelm über allen Ausdruck liebte, war über seine Krankheit ganz untröstlich. Er selbst lebte kaum nur noch zur Hälfte, da es augenscheinlich war, daß der Knabe seinem Grabe entgegenging; ja er gerieth endlich in eine Art von Verzweiflung, so daß er den Verdacht schöpfte: Wilhelm möchte wohl vergiftet sein, und Lodoiska sei die Urheberin dieses abscheulichen Verbrechens. Dieser Gedanke ließ ihm von nun an keine Ruhe mehr, und er sann auf nichts, als auf die Art, wie er seinen Verdacht entweder aufklären oder wieder vernichten könnte.

Zwölftes Kapitel.

Werner beobachtete seit einigen Tagen die Fremde mit erneuerter und verdoppelter Wachsamkeit, ohne indessen etwas Verdächtiges auffinden zu können. Wilhelm schien mit jeder Minute den Geist aufgeben zu wollen, und es ward also angeordnet, daß seine Mutter, Werner oder Lisette abwechselnd des Nachts bei ihm wachen sollten. Dieser Zeitpunkt, welcher entscheidend zu sein schien, war derjenige, wo ein ziemlich merkbares Besserbefinden einige Hoffnung gab, daß das Kind dennoch wieder genesen könnte. Sein völlig abgemagerter Körper erhielt einige Kräfte wieder; schon verbreitete sich eine leichte Röthe über seine eingefallenen Wangen, und im ganzen Schlosse herrschte die lauteste Freude. Nur Lodoiska blieb völlig gefühllos. Der lauschende Blick Werners, der sie nicht aus den Augen verlor, glaubte bei ihr eine Veränderung zu bemerken, die der des Kindes gerade entgegengesetzt war; sie verlor einen guten Theil von ihrem körperlichen Umfange. Ueber ihr leichenblasses Gesicht war eine verdächtige Unruhe verbreitet, und ihr Gang wurde holperig und schleppend. Oft legte sie eine Hand auf die Wunde, welche Werner unter ihrer linken Brust gesehen hatte, und drückte sie mit Heftigkeit, als wenn sie das Leben, das hier zu entschlüpfen drohte, hätte zurückhalten wollen. Zweimal überraschte Werner sie, wie sie das kranke Kind mit der Aufmerksamkeit einer wilden Ungeduld betrachtete, und eine Bewegung, schrecklich für den, welcher sie verstanden hätte, drückte dabei ihre Gedanken aus. Allein Werner errieth sie nicht; er sah jedoch genug, um überzeugt zu sein, daß entweder die Fremde mit dem morgenden Tage das Schloß verlassen, oder daß das Kind sein Leben endigen müsse. Er nahm sich vor, mit der größten Klugheit zu Werke zu gehen, und der Oberstin so viel zu sagen, daß sie zuerst die Fremde auffordern würde, sich anderswo eine Wohnung zu suchen, weil es nicht anginge, daß sie noch länger in ihrer jetzigen bleiben könne.

Unterdessen war die Nacht schon angebrochen. Die Oberstin, von Mattigkeit fast erschöpft, weil sie seit mehreren Tagen selbst bei ihrem Sohne gewacht hatte, fühlte heute ein unwiderstehliches Bedürfniß, etwas Ruhe zu genießen, und sie wollte daher eins der Dienstmädchen zur Wache für diese Nacht bestimmen, als Lodoiska, von dieser Absicht unterrichtet, sich selbst erbot, ihrem jungen Freunde diesen Dienst zu leisten. Helene glaubte, es ihr nicht abschlagen zu dürfen, vorzüglich da sie bisher noch nicht bei dem kleinen Wilhelm gewacht hatte, was man nicht wagen wollte, ihr anzumuthen.

Die Sache wurde sogleich abgemacht, und Lisette brachte, wahrscheinlich aus Vergeßlichkeit, dem guten Werner davon keine Nachricht. Dieser legte sich also in der Ueberzeugung zu Bett, daß der Sohn seines Obersten die Nacht unter der Obhut der zärtlichsten Mutter zubringen würde; aber kaum hatte er sich niedergelegt, so durchkreuzte seinen Kopf eine Menge der peinlichsten Ideen. Einige Augenblicke lang bemächtigte sich dann der Schlaf seiner Sinne, ohne ihm jedoch Ruhe zu verschaffen; er ward von den seltsamsten Träumen bis auf’s Aeußerste geängstigt. Bald glaubte er mitten im Walde, welcher sich hinter dem Garten des Schlosses R.... befand, umherzuirren; plötzlich stürzte eine Räuberbande über ihn her, und er blieb nach einem heftigen Kampfe sterbend auf der Erde liegen; bald versetzte ihn eine Erinnerung aus früheren Zeiten in die Wohnung von Lodoiska’s Vater. Er sah auf dem Hausflur einen Sarg, mit einem schwarz und weißen Leichentuche behangen, und mit einer Krone von Lilien und weißen Nelken geschmückt; eine Menge junger Mädchen stand umher, bis ein Geistlicher erschien, und den Zug nach dem Kirchhofe führte. Hier wurde der Sarg in ein offenes Grab versenkt; die Zuschauer entfernten sich. Werner allein war noch stehen geblieben, und sahe, daß es plötzlich tiefe Nacht um ihn her geworden. Mit einem fürchterlichen Donnerschlage erschien der Mond; kaum hatte dieser die Gegend umher erleuchtet, so öffnete sich unter dumpfem Brausen eines heftigen Sturmwindes die Erde, und in ein Leichentuch gehüllt steigt langsam eine Gestalt aus dem frischen Grabe empor. Immer höher erhebt sie sich in die Lüfte, und durch eine unwiderstehliche Macht wird Werner ihr nach mit fortgerissen. Sie durchfliegt mit reißender Schnelligkeit ungeheure Räume, während der halb betäubte Soldat sie stets begleitet, bis endlich beide sich wieder zur Erde niederlassen. Werner erkennt das Schloß R.... und schaudert über das, was hier vorgehen soll. Sein geheimnißvoller Führer zieht unter seinem Leichentuche eine Hand hervor, welche aber nichts als ein Gerippe ist, und klopft damit an die Thür des Schlosses; sie wird ihm aufgethan, und in demselben Augenblicke dreht die Gestalt sich um; der erstaunte Werner erkennt in ihr das zornige Gesicht Lodoiska’s. —

Ein so fürchterlicher Traum konnte nicht länger dauern; Werner erwachte, ganz in seinem Schweiße gebadet, und kaum wagte er in der ihn umgebenden Finsterniß die Augen aufzuschlagen. Als er sich nach und nach besann, schien es ihm, als wenn der Himmel selbst ihm eine schreckliche Aufklärung gegeben hätte, von welcher er jetzt Gebrauch machen müsse. Alle Wunder, über die er bisher erstaunte, sind ihm jetzt erklärt, denn im Grabe hat Lodoiska die Macht geschöpft, womit sie ihn überraschte. Bisher hatte er geglaubt, bloß gegen ein von Leidenschaft verblendetes Weib zu kämpfen, und jetzt ist es ein höllischer Geist, mit dem er sich messen soll.

Während sich Werner so dem Fluge seiner Einbildungskraft überließ, erinnerte er sich, daß die Oberstin heute bei ihrem Sohne wachen würde: ein günstiger Zeitpunkt, um ihr die wichtigen Entdeckungen zu machen, wodurch Werner sie und ihre Familie zu retten hoffte; denn leicht war es möglich, daß Lodoiska jetzt in einen irdischen Schlaf versunken sein konnte, und daher nicht im Stande war, sich seinem Vorhaben zu widersetzen. Dieser Gedanke gab ihm einen raschen Entschluß; er sprang sogleich aus dem Bette, kleidete sich rasch an und eilte nach der Thür; aber hier fiel ihm ein, daß es gefährlich sein könne, ohne Waffen durch die weitläuftigen Gänge und Säle des Schlosses zu gehen, weil es möglich sei, daß vielleicht ein schrecklicher Vampyr darin umherirre. Beim Schein des Mondes, der seine Strahlen durch das Fenster warf, suchte er seine Pistolen, die stets geladen waren; dann verließ er endlich sein Zimmer, und nahm seinen Weg nach dem des kranken Kindes, wo er die Gemahlin seines Obersten anzutreffen hoffte.

In beständiger Furcht, daß das geringste Geräusch Lodoiska’s Aufmerksamkeit wecken könnte, ging er nur langsam und so leise als möglich vorwärts; er hielt seinen Athem an, und zitterte bei dem Gedanken, überrascht zu werden. Schon hat er die Haupttreppe erstiegen und befindet sich in dem großen Saale, ohne das Geringste wahrgenommen zu haben; er tritt jetzt in den Gesellschaftssaal, den er ebenfalls unangefochten durchschleicht, und ist schon im Begriff, die Thür des Zimmers zu öffnen, in welchem sich die Oberstin bei ihrem Kinde befindet, als es ihm einfällt, daß sie wohl eingeschlummert sein könnte, und daß er durch sein plötzliches Erscheinen ihr einen großen Schrecken verursachen würde. Um sich vorher zu überzeugen, ob sie schläft oder wacht, näherte er also sein Auge dem Schlüsselloche, und blickt in’s Zimmer hinein.

Welche Ueberraschung! Nicht Helene befindet sich hier, sondern die unerklärbare Lodoiska! Sie geht mit langsamen Schritten auf und nieder, aber scheint nichts desto weniger in der größten Ungeduld zu sein; bald blickt sie auf das Bett, in welchem das kranke Kind ruht, bald auf den Mond, der in einem völlig wolkenleeren Himmel immer höher steigt ..... Jetzt schlägt die Schloßuhr zwölfe! ..... In demselben Augenblicke werden Lodoiska’s Gesichtszüge völlig entstellt, und eine schreckliche Freude scheint ihre Muskeln zusammenzuziehen; mit der größten Heftigkeit reißt sie sich den Handschuh ab und stürzt sich wie wüthend über das Bett her. Hier legt sie ihren Mund auf den des Kindes und scheint mit langen Zügen das Blut zu trinken, das sie aus der Brust und von da aus allen Adern dieses unglücklichen Wesens hervorsaugt! —

Dieß ist zu viel für den guten Werner. Sollte er auch sein Leben verlieren, er kann dieses schreckliche Schauspiel nicht länger mit ansehen; er spannt eine seiner Pistolen, reißt die Thür mit Gewalt auf, und stürzt sich auf das Ungeheuer los, um ihm den Lohn für seine Verbrechen zu geben.

„Endlich habe ich dich ertappt! rief er aus. Kehre jetzt zur Hölle zurück, und besudele die Erde nicht mehr mit deiner Gegenwart!“ Er drückt seine Pistole auf sie ab, und Lodoiska wird von der Kugel getroffen; aber schneller als der Adler, der in seinem Neste von dem kühnen Jäger überrascht wird, springt sie von dem Lager auf, das sie so eben entweihete.

— Elender, sagte sie, deine Mühe ist vergebens! du selbst sollst jetzt mein Geheimniß mit in’s Grab nehmen! —

Ein scharf geschliffener Dolch blitzt in ihrer Hand; Werner giebt zum zweiten Male Feuer, aber die Kugel fährt unschädlich neben Lodoiska vorbei in die Mauer, und in demselben Augenblicke wühlt das mörderische Eisen in seinem Herzen. Ohne einen Laut von sich zu geben fällt Werner todt auf den Fußboden nieder.

Ende des ersten Theils.

Anmerkungen zur Transkription

Der Originaltext ist in Fraktur gesetzt. Im Original g e s p e r r t hervorgehobener Text wurde in einem anderen Schriftstil markiert.

Die variierende Schreibweise, Grammatik und Interpunktion des Originales wurden unverändert beibehalten. Lediglich offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert wie hier aufgeführt (vorher/nachher):

*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 51694 ***