Essays und andere Geschichten
von
Else Lasker-Schüler
1914
Verlag der Weißen Bücher, Leipzig
2. Auflage
Copyright 1913 by Kurt Wolff Verlag, Leipzig
Druck von Oscar Brandstetter in Leipzig
Seite | |
Sterndeuterei | 9 |
Handschrift | 18 |
Johann Hansen und Ingeborg Coldstrup | 24 |
Künstler | 27 |
In der Morgenfrühe | 30 |
Elberfeld im dreihundertjährigen Jubiläumsschmuck | 32 |
Arme Kinder reicher Leute | 37 |
Am Kurfürstendamm | 40 |
Die beiden weißen Bänke vom Kurfürstendamm | 43 |
Die Odenwaldschule | 45 |
Lasker-Schüler contra B. und Genossen | 48 |
Coranna | 55 |
Die schwere Stunde | 57 |
Peter Hille | 59 |
Karl Kraus | 66 |
Loos | 69 |
Oskar Kokoschka | 72 |
Peter Baum | 74 |
Franz Werfel | 76 |
S. Lublinski | 77 |
Paul Leppin | 83 |
Richard Dehmel | 85 |
Max Brod | 86 |
Alfred Kerr | 87 |
Bei Guy de Maupassant | 89 |
Albert Heine | 100 |
Karl Vogt | 101 |
Paul Lindau | 102 |
Bei Julius Lieban | 104 |
Friedrich von Schennis | 107 |
Tilla Durieux | 109 |
Paul Zech | 112 |
Rudolf Blümner | 113 |
William Wauer | 115 |
Wauer-Walden via München und so weiter | 117 |
Emmy Destinn | 122 |
Franziska Schultz | 126 |
Kete Parsenow | 127 |
Ruth | 128 |
Unser Café | 130 |
Marie Böhm | 133 |
Der Alpenkönig und der Menschenfeind | 135 |
Egon Adler | 138 |
Ein Amen | 141 |
Wenn mein Herz gesund wär — | 143 |
Der Eisenbahnräuber | 150 |
Im neopathetischen Kabarett | 152 |
Kabarett Nachtlicht, Wien | 154 |
Apollotheater | 158 |
Tigerin, Affe und Kuckuck | 161 |
Im Zirkus | 163 |
Zirkuspferde | 169 |
Zirkus Busch | 172 |
St. Peter Hille in Ehrfurcht
Soll Ihr Leib noch länger mit seinen Sternen in der Hand Ihres Arztes liegen, und wie lange überlassen Sie ihm noch Ihren Verstand? Fragen Sie einmal so im Vorübergehen den Doktor, ob er von Ihrem Sternensystem eine Ahnung hat. Oder wenden Sie sich an einen Irrenarzt, der am gründlichsten Bescheid wissen müßte von der Astronomie des Menschen; sitzt er doch an seinem Pol, wie ein falscher Gott am Scheidewege, wo sich der Stern vom Chaos trennt. Es gibt gar keinen Irrsinn im Sinne der Eisenbärte, aber wer wird mich nicht verspotten, wenn ich behaupte, es gibt eine Veränderung im Chaos des Menschen. Darum sind Ihre Leiden aus keinem anderen Grunde entstanden, als aus allzu wuchtigen Sternenvorgängen. Senkte sich unerwartet Ihre Sonne in eins Ihrer Meere? Jedwede Behandlung Ihres Arztes ohne genaue astronomische Kenntnis Ihres Planeten ist ein Vergehen. Unbeschreiblich friedlich stimmt es, einen Mond in sich zu fühlen, und wer ihn in sich trägt, steht im verwandtschaftlichen Verhältnis mit dem Großgehenden da oben. Nach einem Schwächezustand, den ich überwand, meine Tore standen noch unbefestigt, fühlte ich den Durchgang des Vollmonds dicht an dem meinen vorbei, wie ein leichtes Beben. Nicht dieser Vorgang war ein krankhafter, aber durch die Kraft des Vorgangs erlitt ich Sternenschaden. Ich war noch lange nach diesem Ereignis eingehüllt in schwermütigen Wolkengedanken. Glauben Sie, die Erde leide etwa nicht noch durch die kürzlich erlittene, erduldete Kometkraft? Denken Sie an Maria, durch die Gott schritt. Das wird noch einmal geschehen, noch ewigkeitsmal, immer nach Gottesdrehung, er wendet sich durch Maria. Sie leidet das höchste Fest durch das Gottwillkommen, sieben Schwerter krankt ihr Herz. Wir sind das feinste Werk aus Sonne, Mond und Sternen und aus Gott. Wir sind seine Inspiration, seine Skizze zur großen Welt. Ich spreche nicht in Symbolen, obschon Symbole die Schatten großer Wahrheiten sind, Milderungsgründe: wenn etwas Ihren Horizont übersteigt. Sie setzen das allzu klare Licht mit gewisser Überlegenheit gern ins Dunkle. Ich möchte aber die Nacht von Ihnen nehmen, wachen Sie auf durch meine Raketensterne! Ich bin ja keine Gelehrte. Aber wenn ich Menschen medizinisch behandelte, würde ich sie „regnen“ lassen, Luft in weiten Kreisen „atmen“ lassen. Mancher Menschplanet erstickt an Dürre. Ich würde die verwandtschaftlichen Sterne ausfindig machen, die mit meinem Planetpatienten in irgendeinem Zusammenhang stehen könnten; namentlich, wenn es sich um eine epidemische Ursache handelte. Den kleinen Mars des Menschen kann man nur mit dem gröberen, großen Mars der Welt impfen. Ich kenne Leute, die unter dem Zusammenstoß ihrer Fixsterne leiden. Es sind schlechte Pächter ihrer Welt. Jeder Schlaganfall ist ein Zerbersten zweier vom Wege geirrter Sterne. Die Folge dieser Folge erst ist der Tod. Ich bitte Sie nicht, an sich herauf und herunter zu suchen; Sie sehen Ihre Sterne nicht, das was Sie betasten können, ist Chaos. Und weil ich vom Unantastbaren des Menschen spreche, glauben Sie nicht an meine Medizin und halten mich für eine Kurpfuscherin. Aber wer an meine Dichtungen glaubt, die man auch nicht in die Hand nehmen kann, und doch vorhanden sind, wird auch nicht zweifeln an den Sternen der Menschen, wovon ich ihnen erzähle. Sind Sie nicht reicher, als Sie glauben? Ich spreche von Ihrem Unsichtbarsten, von Ihrem Höchsten, das Sie nicht greifen können, wie die Sterne über Ihnen. Sind Sie nicht reicher, als Sie fassen können! Oder haben Sie schon einmal ein Stück Mond gegessen? Sie würden immer nur sein Chaos greifen, wie der Arzt Ihr Fleisch, daraus er keinen Stern formt. Der Doktor hat mich längst überführt, indem er mit dem Messer diese Leiche sezierte: „Der Tote ist an Schwindsucht gestorben, am Zerbersten der Lunge.“ Ihr Doktor hat doch keine blasse Ahnung von meiner Medizin. Allerdings ist dieser Tote an Tuberkulose gestorben, an der Folge seiner und des Arztes Unkenntnis seines Sternensystems. Und was ich von einer Epidemie halte? Die ist die Folge der Sintflut im Massenmenschsternensystem, ein Bacchanal tausender Sterne, daran alle Bruchteile, alle ungeordneten, unberufenen Fleischchaosse zersplittern. Ich glaube darum an Wunder, an ungestaltete Medizin. Wer aber kann sie mischen! Jesus von Nazareth tat Wunder, er ergriff die keimenden Sterne und trennte sie von den faulen und erweckte die Erblaßten an ihrer noch verglühenden Sternschnuppe. Der Nazarener wandelte durch das Sternensystem des Menschen und erlebte die Welt so tief und ging in Gott ein, und Gott in ihn, darum man ihn verwechselt noch auf den heutigen Tag mit Gott. Moses der Prophetarzt erkannte den Gott seines Volkes, heilte es und machte es stark. Eine Sage meiner Bücher sagt von einem Derwisch, der sein Herz in die Hand nehmen konnte und doch lebte durch die Kraft seiner Sterne. Wir sind das glühendste Werk von Mond und Sternen, nach unserm Modell hat Gott die große Welt erschaffen, in der wir: Ureigentum in unserer erweiterten Kopie leben ...
Ureigentum noch unverblaßt zu begegnen, erlebe ich überraschend oft. Diese testamentarischen Sehenswürdigkeiten, Übertragungen, die an Wert nicht einzuschätzen sind! Ich meine nicht die gemütlichen Hausväter aus der alten, guten Zeit oder den Waldmenschen, oder den aus der nackten Körperkultur oder den Zwiebelasketen. Merkwürdig, daß man gerade in den Irrenanstalten Gesichte erblickt aus allererster Sternzeit; Bilder, alte Meister, Menschen, die erstarrt sind in der Vision. Und kein Arzt weiß sie aus dem Augenblick der Erscheinung zu führen, wie aus engem Rahmen. Ich besuche diese scheintoten Galerien; mich lieben die unverstandenen, verfangenen Gesichte. Etwa weil ich ihnen den richtigen Platz zu geben vermag? O, ihre Angstgefühle! Die andern testamentarischen Gestalten unterscheiden sich von den irrenden Denkmalbildern ihres ungestörten Sternenlaufs wegen. Solchen Sterngeschöpfen geschehen Wunder. Wie St. Peter Hille, er hatte noch mit Moses und Jesus von Nazareth gesprochen und mit Buddha, und erzählte von ihnen, wie der Urenkel etwa von seinem Großvater Goethe. Das war der unumstößliche Beweis von der ersten Leuchtkraft Gottes in St. Peter Hille. Ich gehöre nicht zu den Spiritisten; Spiritismus ist Epigonentum, Nachahmung, gewalttätige Wunder. Um wirkliche Visionen zu erleben, muß man noch in der ersten Leuchtkraft Gottes sein. So ein gotterhaltener Mensch ist fromm und selbst Inspirationen fähig. Aus Isaaks weitem Munde seh’ ich viel im Traum Sterne aufsteigen, die er benennt nach Gottes Einverständnis.
Die hungrige Zeit fraß meine Leuchtkraft goldweise. Aber ich kann erzählen von der Astronomie des Menschen, wenn ich auch in meinen ersten zehn Jahren noch zwischen weichem Dunkel, zwischen ungeordneter Nacht, im Chaos lag. Ich war wie ungeboren neben meiner Mutter, noch ganz Chaos.
Das Kind ist nicht fromm, es ist dumpf. Dieser Irrtum! Fromm kann nur der wissende Mensch sein, aber nicht jeder macht die sechs Schöpfungstage in seiner Hülle durch und wird Stern, und wenige nur den Sonntag. Wie viele Heilige gibt es und doch ist jeder Andächtige oder Lauschende, jeder Staunende oder Liebende ein Heiliger. Wenn Jesus von Nazareth die Kinder rief, so fühlte er Verantwortung mit ihnen, mit dem Chaos, das sich entfalten werde. Er wußte, wie weit der Weg zum Sterne war. Die Kinder sind wie die Lämmer so dumpf. Darum beleidigt mich das irrige Wort: Jesus das „Lamm“ Gottes. Solche Unschuld ist eine Chaosunschuld, und der Nazarener war der Sonntag der Schöpfung. Der Jude hat sich mit ihm der vollendetsten Welt entledigt. Sagte der Sonntägliche doch zu einem der Mörder am Kreuztag: „Wahrlich, ich sage dir, heute wirst du mit mir im Paradiese sein.“ Der Jude, der den Himmlischen verstößt, beweist, daß er ein Bürger ist, um nichts weniger der Mensch des Abendlandes, der den verlornen Gott der Juden aufnahm, ihn sich erzog und erwog nach seinem lammblutenden Wort. Im Menschen bereitet sich immer Fleischdumpfheit, Chaos, Fleischsehnsucht; Gott aber ist umgestaltet, ungerahmt und breitet über alles sich. Wir reden immer zu dem Chaos des Menschen, wollen wir ihn gewinnen, denn der Stern ist böse, darum sind wir alle einmal krampfhaft enttäuscht in Gott. Wir finden in ihm kein Chaos, keinen faßbaren Schlupfwinkel. Er sandte darum seinen Sohn, das heißt, er kam in Menschgestalt zur Erde. Solcher Umgestaltung Demut vom Stern zum Chaos ist nur ein Gott fähig. Nie war solche Dunkelheit je auf Erden und am Himmel und im Menschen wie in der Zeit des Gottbesuchs. Dem Priester und Pharisäer flößte seine Betastbarkeit Mißtrauen ein, der Armselige umklammerte den vertriebenen Götzen aus Fleisch und Blut wie einst am Fuß des Mosesberges das goldene Kalb.
Sie wollen noch wissen, wie lange sich der Menschplanet erhält. Die meisten Menschen werden nicht älter und nicht jünger als sechzig Jahre. Jesus von Nazareth ist gottalt wie die Ewigkeit. Moses war zehntausend Jahre, als die Tochter Pharaos ihn im Korbe fand. Und von dem Propheten St. Peter Hille möchte ich sagen: Niemand wußte um seinen Geburtstag. Meine Mutter war dreimal sechzehn Jahre alt, mein Vater erlebte sechsmal seine tollsten Knabenstreiche. Wie schätzen Sie mich ein? Ich bin David und tue Simsontaten, ich bin Jakob und deute die Träume der Kühe und Ähren. (Oder zweifeln Sie daran, daß mich meine Brüder verkauft haben, das Bürgermillion!) So verwirrt sich die Zeit der Vergangenheit im Menschen. Heute bin ich eine Dichterin, und ich bitte Sie, mir zu verzeihen, daß meine Dichtung keine Gehirnkarte geworden ist mit Farben, lila, grün, rot gefärbt. Meine Bekenntnisse nehmen Sie als ein Luxusgeschenk hin, denn ich bin verschwenderisch, das liegt in meinem Sternsystem. Es kommt mir selbst nicht darauf an, einige Monde meines Planeten fallen zu lassen. Auch mit meinem Chaos, ohne das Chaos kommt kein Mensch davon, hat es eine besondere Bewandtnis. Darüber möchte ich schweigen, aber eines kann ich Ihnen sagen, wir Künstler sind einmal bis ins tiefste Mark und Bein Aristokraten. Wir sind die Lieblinge Gottes, die Kinder der Marien aller Lande. Wir spielen mit seinen erhabensten Schöpfungen und kramen in seinem bunten Morgen und goldenen Abend. Aber der Bürger bleibt Gottes Stiefsohn, unser vernünftiger Bruder, der Störenfried. Er kann nicht heimisch werden mit uns, er und seine Schwester nicht. Verwechselt die lärmende Bürgerin oder die zur Hure gewordene Magd nicht mit dem spielenden Sternenmädchen, die den Tanz aus nackter Scham tanzt! — —
Wohin mir doch heute alle meine Sterne geleuchtet haben! Immer muß ich wiederholen, der Arzt sollte sich auf die Astronomie des Menschen verstehen. Welcher von Ihren Hausärzten wäre imstande, eine Sonnenfinsternis in Ihnen herbeizuführen, geschweige den Stillstand Ihres Planeten?
Ich sehe Ihre Kanäle, Ihre Berge auf Ihren Sternen und Ihren Mond aufgehen hinter Ihrer Stirn. Jeder Schmerz und jedes Freudegefühl, Vernichtung oder Erhebung ist ein neues Bild Ihres Sternensystems. Sie sterben eigentlich an zerborstenen Sternen oder Erkaltung Ihrer Sonne oder an Finsternis. Wenn nur Ihr Leben den Höhepunkt erreicht hat vor dem Zerfall Ihres Chaos: den Himmel. Aber wenn er Ihnen nicht auf den Kopf paßte? Vom Blitzstrahl getroffen, das Chaos gespaltet, einzugehen in die Allmacht ist Seligkeit. So lausche ich auf mich. Aber der Bürger belauert sich, der Kranke in Arzthand betrauert sich, weil er keine Achtung vor dem Schmerz hat. Ich bin müde — wie ich mir entkomme, ein Schatten aus Mond und Sternen, riesengroß fiel ich um Mittag und sinke nun ein in meinen eigenen Planeten. Ich habe einen kritischen Tag hinter mir, manche Menschen wichen mir furchtsam mit den Augen aus. Einem kleinen Mädchen bohrte ich im Anblicken ein Loch in die Brust. Solche Kraft macht traurig. Ich sehne mich nach Glück, nach ihm, nach Hascha-Nid, dem goldhäutigen Sohn des Häuptlings. Der spielt mit sich, treibt und lockt die Sterne über seine Grenzen, ein göttliches Spiel, Wirbel und Wüstenwind. Ich liebe ihn, weil er so reich und rein an Sternen ist, und ich staune vor solch verschwenderischen Launen ... Aber das geht Sie nichts an. Gern hätte ich Ihnen noch vom Himmel erzählt. Später, wenn ich ihn erreiche und Gott —
Gott, wo bist du?
Ich möchte nah an deinem Herzen lauschen,
Mit deiner fernsten Nähe mich vertauschen,
Wenn goldverklärt in deinem Reich
Aus tausendseligem Licht
Alle die frühen und die späten Brunnen rauschen.
Dr. Otto Jahnke mit dem seltenen Handschriftsbild
Für den Künstler der Handschrift ist der Inhalt seines Schreibens nur ein Vorwand, wie für den Maler das Motiv seines Bildes.
Ich habe beobachtet, daß Kinder und Große so recht in Gedanken versunken, mit der Feder, mit dem Bleistift an zu kritzeln fingen, dann ganz unbewußt bemüht waren, schöne oder verschnörkelte Buchstaben und Worte zu schreiben; sich dann später selbst über die Bedeutung des Geschriebenen wunderten. Auf einmal steht auf dem weißen Rand der Zeitung ein Name im Arabeskenschmuck oder blumenverziert. Dort ist ein Zeitwort auf den Kopf gestellt, ich meine ein xbeliebiges Wort in Spiegelschrift geschrieben. Ich habe dasselbe fesselnde Gefühl beim Ansehen einer interessanten Handschrift wie bei einer guten Federzeichnung oder einem Gemälde. Und doch möchte ich darum die Handschrift nicht mit der Malzeichenkunst in einen Farbentopf oder in ein Tintenfaß werfen. Aber der, welcher sich verzweifelt nach einem Talent sehnt, möge es zunächst in seiner Handschrift suchen. Oft hat schon der Lehrer sie im Keim erstickt. Den meisten bleibt die Schrift nichts wie Inhalt — die Nachricht erfreut ihn, ärgert ihn, namentlich wenn sie noch dazu undeutlich geschrieben ist. Warum höre ich nie jemand sagen: Erklären Sie mir diese oder jene Handschrift. Ich meine nicht des sprachlichen Verständnisses wegen, auch nicht aus graphologischem Grunde; rein künstlerisch! Wie ja so oft die Frage aufgeworfen wird vor einem Bildnis. Es hat noch nie jemand von einer Handschrift den alltäglichen Ausruf getan: „Die ist mir zu hoch!“ Und doch gibt es gerade Meister dieser Schulmeisterkunst. Diejenigen sind’s, die sich im Klassenzimmer Strafe holten ihrer Klaue wegen. Es geht ihnen wie dem Genie, welches die Kunstschule ausspie. Handschrift ist erblich wie jedes Talent. — Für mich kommt kaum der Inhalt eines Briefes in Betracht; ich kann mich für den Schreiber nur seiner Buchstaben wegen interessieren. Und es geschah schon, daß ich ganz entzückt einen unverschämten Brief beantwortete und umgekehrt. Die Schrift ist ein Bild für sich und hat nichts mit dem Inhalt zu tun. Jeder lernt schreiben, eine Menge Menschen haben es in ihrer Handschrift zur Kunst gebracht. Und darum auch gibt es in keiner Kunst so viele Epigonen, wie in der Kunst der Buchstaben. Für diese Nachahmer ist jeder Buchstabe ein Gestell, dem sie einen Mantel umhängen, den ein anderer gewebt hat, sie verstehen eben ihre Blöße zu bemänteln. Die alltäglichsten Epigonen sind reichgewordene Frauen, die sich bemühen, ihre so oft charakteristische Ladenmädchenschrift zentimeterhoch heraufzuschrauben direkt zu hochmütigen Gänsehälsen. Der Mann möchte Bedeutung in seine Schrift legen und ahmt der Hand des ihm Geistigüberlegenen nach. Ungemein sympathisch berührt mich die sogenannte Tatze, die Schrift der Knaben, wenn sie den Aufsatz ins Diarium schreiben. Hier diese Zeilen hat ein Mädchen vorsichtig und sanft geschrieben. Manchmal lachen auch Briefe oder sind erbittert, die Schrift riecht fast nach Galle. Meines Freundes Brief blinzelt, eine Faunlandschaft. Dein Onkel schreibt eine kleine, rundliche, gleichmäßige Handschrift wie Taler. Geizhals ist er, aber ein Handschriftenkünstler wie mein Freund der Faun. Interessant sind die spitz auslaufenden Buchstaben auf dieser Seite, jedes Wort ein Wolfsgebiß. Und doch kein Tiergemälde. Interessant wirkt auf mich die Korrespondenz, die ich erbrach zugunsten der Kunst, zwischen Karl Kraus und Herwarth Walden. Alte und neue Meisterstücke. Ich sprach schon einmal in meinem Essay über die Kunst in Karl Kraus’ Buchstaben. Seine Handschrift ist ein Dürergemälde. Meine Handschrift hat als Hintergrund den Stern des Orients. Oft sagten mir Theologen, ich schreibe deutsch wie hebräisch oder arabisch. Ich denke an der späten Ägypter Fetischkultur; ihnen ging aus dem Buchstaben schon die Blüte auf, der Zwischenduft, der Handschrift mit Zeichenmalkunst verbindet. Mir fallen noch die Schriften der Chinesen und Japaner ein. — „Die Mitternacht zog näher schon, in stummer Ruh’ lag Babylon“ — die plötzliche Geisterschrift an der Wand entsetzte die berauschten Gäste nicht des Inhalts wegen, das furchtbare Schriftbild war es. Sie erblickten den Inhalt des Fluches. Darum ist auch das Verständnis zur Kunst ein Seltenes und Erhabenes — es liegt uns im Gesicht und geht uns vom Gesicht aus. — Die Kaufmannshandschrift — ich möchte noch vorher fragen, hat schon einer der Leser einmal ein Lebenszeichen vom Dichter Peter Baum bekommen? Nämlich gerade bringt mir der Postbote so ein Sommerbildchen, Buchstaben: Mückenschwarm, der zerstreut in der Sonne tanzt. Seine Karte blendet. Ich bin bei der Kaufmannshandschrift — phantasielos, nüchtern, sie liegt bewegungslos auf dem Papier. Kühle Tatsache. Der kaufmännische Reisende dreht seinen Buchstaben eitel den Schnurrbart. Stutzig machen mich Briefe, die vom Geschäftsmann geschrieben sind und von der Buchführung doppelt abweichen. In dem Schreiber steckt sicherlich das Handschrifttalent. Es gibt auch Launen der Schrift. Kinder, die erst morgen dem Christkind schreiben wollen, da sie heute nicht schön schreiben können. Meiner Mutter Briefe waren schwermütige Zypressenwälder, meines Vaters Schrift reizte zum Lachen, humoristische Zeichnungen aus dem Struwelpeter. Kohlrabenpechschwarze Mohren oder der böse Nikolas steckt die Jungens ins Tintenfaß. Gelungene, amüsante Überschwemmungen von Tinte waren die Briefe meines Vaters. — Es gibt auch Schriftinspirationen, viele Menschen berauschen sich an ihrer Schrift, und der Inhalt, den sie aufschreiben, ist nur Vortäuschung. Ich schreibe oft, um mich durch meine Schrift zu erinnern, mein Vater, um sich zu ergötzen. Meine Schwestern schreiben zweierlei: die älteste: Reisebilder, die andere: Kinderbilder. Der einzige Plastiker der Handschrift, den ich kannte, war St. Peter Hille, Petrus — er schrieb Rodins. Wie viel deutlicher gemalt ist das tiefsinnigste Bildnis, als die ausgeschriebene Handschrift (rein künstlerisch verstanden). Aber auch die kann dilettantisch sein, wenn sie ohne Tiefe und Geist und nur aus Ausübung entstanden ist. Manche sogenannte schöne Schrift allzu deutlich, Ölbilder nach Sichel. Lieber ist mir schon die Pfote von Aujuste. Ihr Brief und die Antwort vom Schatz geben sich einen Schmatz. Derbe Genrebilder. Vielerlei gibt’s davon. Ähnlich wie die Köchin schreibt das Dienstmädchen, die Kellnerin, das kleine Mädchen, die kecke Hure. Aber loser geheftet, unordentlicher ihr Brief, ein leicht schaukelndes Gerippe. Weit eher ist die Demimonde eine Epigonin. Sie stiehlt lächelnd und liebkosend die Buchstaben der Originale oder versteht wie die Sprache auch die Schrift ihres in Fesseln gelegten Herrn zu kopieren und zu belecken. — Habe ich schon gesagt, daß es auch Stilleben in der Handschrift gibt, zehn Seiten lange Briefe, die schlafen, aber deren Inhalt voll Leben sprudelt; Handschriftkünstler, die schulakademisch erzogen und erwogen sind. — Manche Buchstaben gucken neugierig. Gewissenhafte Schriften: Wie die Buchstaben getrennt auseinanderstehen. Er war sehr niedergeschlagen, als er diesen Brief schrieb, seine Handschrift war dünn aufgelegt. Hochbeglückt, glänzen die Vokale — glückliche Handschrift. Ich habe ein kleines Laboratorium von Schreibkaninchen, die ich anrege, mir Briefe zu schreiben. Sie können sich also schon auf meine Erfahrung verlassen, lieber Sturmleser; es tut mir unendlich leid, daß mein Manuskript dieses Aufsatzes nicht in Ihre Hände gelangt. Trotzdem es mit schwarzer Tinte geschrieben ist, wirkt es blau, tiefblau, liebesblau. Den wissenschaftlichen, langweiligen Inhalt müssen Sie schon in Kauf nehmen — seine Handschrift ist ein Liebesbildnis. Ich dachte nämlich, indem ich über „Handschrift“ schrieb, an drei schöne Königssöhne. In Wirklichkeit schrieb ich drei Briefe; den ersten an Zeuxis, den griechischen Maler, der nun in Berlin wohnt. Er sei mein Ideal, aber ich ginge nicht an ihm zugrunde. Ich schrieb dem süßen Prinzen von Afghanistan, daß er mein Typ sei und daß wir ineinander verwachsen wären. Ich schrieb Wilhelm von Kevlaar, daß er mein Symbol war, daß ich am Sterben läge, denn ich hätte an die große Treue geglaubt, an seine Treue zu mir, und er habe sie gebrochen.
Das Manuskript liegt dem interessierten Leser zur Verfügung in der Direktion.
Zur Kindertragödie in Kopenhagen
Ingeborg, seine kleine Königin ist tot — Johann Hansen lebt noch; an seinem Bettchen sitzt eine barmherzige Schwester und betet, daß der arme, verirrte Knabe bald genesen möge. Der Stationsarzt hat ihm das Tor des Todes verriegelt, sein Herz, das Ingeborgs Namen trägt, kann nicht zu ihr ins Himmelreich. Nun wird das Kinderspiel erst eine Kindertragödie. Die beiden wollten ja nur zum Tod, weil der einen Himmel besitzt, in dem sie sich vor allen Engeln ohne Furcht vor Strafe herzen könnten. Nicht diese Heimlichkeiten der Freude, ihre Gesichter schienen durch die Spalte der Türen, durch das Eisen der Tore. Immer bauten sie auf ihren Händen gläserne Schlösser, darin sie sich tausendbunt spiegelten bis ans Ende der Welt, wo der Himmel anfängt. Dort wohnt der Tod. Johann Hansen hob Ingeborg mit seinen Knabenarmen die Treppe zum Einlaß des Todes empor. Der öffnete und ließ die kleine Königin ein, Johann stolperte rücklings ins Leben zurück. Diese beiden feinen Kinder ergreifen meine Seele. Das Leben ließ sie aus der Haft, der Tod schmückte ihnen rosig sein Tor. Ich möchte, der Engel aus Andersens Märchen käme und trüge den verwundeten Knaben zu Ingeborg ins Himmelreich. Wie bösmütig sind die Menschen, die immer helfen wollen, ins Leben zu befördern. Es ist Nacht, überall blüht ein Stern. An der Decke im Krankensaal stehen viele Sterne, rotgoldene, süßgelbe, wie Honig, und auch mattfunkelnde Immortellen. Alle pflückt der kleine, heldenmütige Bräutigam für seine Braut, wenn er im Himmel mit ihr Hochzeit feiert. Auf einmal schlägt er die Augen auf: „Ingeborg, ich halte mein Wort!“ Hast du es gehört, großer Engel aus Andersens Märchen? Oder soll er aufwachen aus seinem Traum des Himmels — und die Erde ist wieder da, das Himmelreich verschwunden wie fortgezaubert, und Ingeborg liegt im Grabe. Ein Keller wird dann die Welt sein, kahl, viel kahler wie seines Hauses Keller. Alt ist er, wenn er aufwacht, jung, wenn seine Augen sich schließen. Was bietet das Leben? Nicht das Kind braucht den Eltern dankbar sein; wie können die Eltern aber das Nichtgeborensein dem Kinde ersetzen!!? Solch zwei Kindern vor allen Dingen, zwei Engel, die nicht auf die wankelmütige Erde gehören. Flügel wuchsen ihnen; die Pistole, die sich der Knabe vom Erlös seiner Geige kaufte, war Vortäuschung. Denn es geschah hier ein Todeswunder. Nicht mehr wäre ich überrascht gewesen, wenn dieselben Kinder anstatt für ewig zu schlummern, auferstanden wären aus einem Grabe. Wie will der Christus, der den Knaben auferweckt, ihm ein Himmelreich ersetzen? Es werden keine Landeserholungsheime die „festgestellte“ Neurose (Edelneurose) fortkurieren. Aber ich denke an Selma Lagerlöf die herrliche Menschin, an Karin Michaelis das liebe große Kind, sie könnten dem Knaben den himmelblauen Verlust ersetzen. Sie tragen die Bilder des Himmels in ihren Dichterinnenherzen — halten sie zwischen ihren Händen. Ich bin keineswegs sentimental, ich bin traurig. Man vergleiche nur nicht die unaufgeblühte Liebe dieser Engel mit den Tändeleien koketter Schulmädchen und greisenhafter Zwerge auf den Spazierwegen am Sonntagmittage. Diese beiden Kinder ergreifen meine Seele, ihre Lippen sind Himmelschlüsselchen.
Herr von Kuckuck sitzt immer auf dem Fenstersims und schnappt mit seinem zugespitzten Mund alle meine todtraurigen Worte auf, die sonst im Zimmer liegen blieben, und ich würde schließlich in der Überschwemmung von Todtrauer ertrinken. Auch sieht er so spaßig bei der Fütterung aus, ich muß manchmal hell auflachen. Mein Mann kann von Kuckuck nicht ausstehen. „Er ist eine Beleidigung neben dir.“ Aber ich muß immer einen Hofnarr haben, das ist so ein uraltes, erbübertragenes Gelüste. Er folgt mir überall hin — auf dem Salzfaß sitzt er in der Küche, wenn ich am Herd stehe und mit dem Quirl dem Feuer behilflich bin — ich meine wegen des Weichwerdens der Erbsen — — ich trage goldene Pantoffel, aber in meinen seidenen Strümpfen sind schon Löcher. Herr von Kuckuck wird merkwürdig düster, immer wenn er auf dem Salzfaß sitzt und meinem Kochen zusieht. Er erzählt von Prinzessinnen, die in Goldpantoffeln und Seidenstrümpfen kochen und scheuern müssen und sich die Hände blutig reiben und aber der Himmel ihnen alle Sterne schulde. Ich glaube, ich bin im Anfang aus einem goldenen Stern, aus einem funkelnden Riesenpalast auf die schäbige Erde gefallen — meine leuchtenden Blutstropfen können vor Durst nicht ausblühen, sie verkümmern immer vor dem Tage der Pracht, und mein Mann erzählte mir dasselbe, und darum haben wir uns geheiratet. „Wenn sich mein Budget besser gestaltet,“ sagt Herr von Kuckuck, „so braucht Prinzessin keine Erbsen mehr zu kochen.“ Er verspricht es feierlich, zwei große Tropfen fallen aus seinen Augen, die sind lila, und die Feierlichkeit kleidet ihn so: eine Burleske, die plötzlich auf geraden, rabenschwarzen Beinen steht. Ich rieche zu gern Ananas — ich glaube, wenn ich mir täglich eine Ananas kaufen könnte, ich würde die hervorragendste Dichterin sein. Alles hängt von Kuckucks Budget ab. Mein Mann der wünscht sich gar nichts mehr, er denkt morgens schon heimlich an seine Zigarette, die er im Bett rauchen wird. Die Lampe zuckt, es ist alles so dünn im Zimmer. „Herein!“ Eine Erbse klopft an meinen Magen. Kleine Beinchen bekommen die Erbsen und wackeln mit ihren dicken Wasserköpfen — eine plumpst den Berg herunter. „Bist du aufgewacht?“ Mein Mann fragt und hebt den Zigarrenbecher vom Boden auf — dann streichelt seine Ananashand mein Gesicht — die Finger tragen alle Notenköpfe — sie singen — und immer, wenn das hohe C kommt, sägt mein Arm über seine Brust und seinen Leib — ich nehme die Gedärme hervor — eine Schlangenbändigerin bin ich — dudelsack Ladudel ludelli liii!!!! Ich schiebe die Schlangen vorsichtig wieder in seinen Körper, die kleinste hat sich fest um meinen Finger gesogen, aber sie ist die hauptsächlichste Schlange, sonst kann er keine indischen Vogelnester mehr essen. Ich gleite die Kissen herab, mein Kopf liegt in einem weißen Bach, alle Fische tragen Ketten von Erbsen um den Hals und schwimmen hinter mir über die flaue Matratze. Mein Mann wartet schon im Sessel. Im Rahmen über dem Schrank hängt von Kuckuck und über ihm sein Onkel Pankratius, einer der gestrengen drei Herren, und zählt — Budget lauter goldene Schnäbel. Es wird alles so grau — ich habe solche Angst, ich verkrieche mich in die Achselhöhle meines Mannes. Auf dem Sofa sitzt ein Jüngling, er hat große, braune, spöttische Augen, die lächeln schüchtern. „Wer bist du!“ ruft mein Mann. „Ich bin der Schatten Ihrer Frau und habe Theologie studiert.“
Meinem Freund, dem Bildhauer Georg Koch
Ich gehe an Mandelbäumen vorbei, aber die blühen in den Gärten fremder Häuser, und die Fenster sind noch geschlossen hinter Spitzengeweben. Ich bin unendlich müde, gewohnheitsmäßig bewegen sich meine Füße vorwärts, Maschinen sind es, und sie müßten eigentlich unverhüllt in blauen Sandalen gehen, denn sie sind von goldzagem Wandel, wie die Sonne, die aufstieg. Ich kenne die Menschen nicht, die mir begegnen, ich weiche ihrem Dünkel aus, und ich brauche nur meinen grauen Mantel abzulegen, um König zu sein. Ich bin unendlich müde, ich glaube, ich bin im tiefsten Leben erkrankt, aber die Vorübergehenden merken es nicht, sie heben auf, was lärmend auf den Straßen liegt, aber sie hören nicht das schmerzliche Murmeln, das tödliche Verrauschen einer Seele. Da liegt ein Nachtfalter vor mir — er stirbt — wie dürftig seine Flügel sind, ein Lumpenhändler war es, ein Vagabund, der sich nachts auf den Straßen herumtrieb und am Feuerrausch der Lampen endete. Er stirbt — ich trete ihn tot. Ich denke an ihn — wenn es für ihn doch einen Himmel, einen blauen Strand gäbe — er würde dort ein schöner Schmetterling sein. Ich bin unendlich müde — wenn ich nun auch eines Morgens so daliege, wie der graubraune Strolch — welcher Fuß würde mich zertreten. Es kommen Männer an mir vorbei in weißen Sportschuhen und Frauen schreiten hastig über den Damm. Ich mag diese Frauen nicht im Ornat, derbgewordene Philisterinnen sind sie — was wissen sie von der Knabenzeit. Aber das kleine Mädchen mit der Bubenbluse, es wird mich übermütig zertreten im Scherzwort, im Frühlingslachen. Ich bin unendlich müde und es beginnt der rücksichtslose Tag. Der Mann aus Glas mit der Vollstreckungsmappe unterm Arm wartet vor der Haustür auf mich, heute klebt er die Siegel. Ich muß ihn zart am Henkel fassen — so ganz vorsichtig, liebevoll, daß er nur keinen Sprung bekommt. Draußen an dem fremden Hause blühen die Mandelbäume: der Falter ist tot, ich vergaß, ihn vom Weg in einen der Gärten zu werfen.
Paul Zech, meinem Wupperfreund
„Lott es doot, Lott es doot, Liesken leegt om Sterwen, dat es god, dat es god, gäwt et wat tu erwen!“ Ich bin verliebt in meine buntgeschmückte Jubiläumsstadt; das rosenblühende Willkomm gilt mir, denn ich bin ihr Kind, die flatternden Fahnen auf den Dächern, aus den Fenstern winken mir zu, lange Rotschwarzweiß-Arme, die mich umfangen wollen. Ich soll überall hereinkommen. Ich bin in Elberfeld an der Wupper in der Stadt der Schieferdächer. Hohe Ziegelschornsteine steigen, rote Schlangen herrisch zur Höhe, ihr Hauch vergiftet die Luft. Den Atem mußten wir einhalten, kamen wir an den chemischen Fabriken vorbei, allerlei scharfe Arzeneien und Farbstoffe färben die Wasser, eine Sauce für den Teufel. Aber nach Newiges zu, wo die Maschinen ruhen, wie frische Drillingsbäche fließt die Wupper zwischen Wiesen und Waldalleen. Aber ich bin verliebt in meine zahnbröckelnde Stadt, wo brüchige Treppen so hoch aufsteigen, unvermutet in einen süßen Garten, oder geheimnisvoll in ein dunkleres Viertel der Stadt. Ich mag die neuen Bauten nicht — wer aber war die Urpatrizierin des Rokokohauses aus der friderizianischen Zeit? Es lebt noch einbalsamiert zwischen jüngst zur Welt gekommenen Fabrikanten- und Doktorhäusern. Denn jeder etwas wohlhabende Bürger der Stadt besitzt ein Wohnhaus, worüber er Herr ist. Portiersleute gibt es in Elberfeld nicht, frech gewordene Sklaven, die nach Belieben ein- und herauslassen. Selbst viele Arbeiter leben im Eigentum ihrer Mütter. Gequacksalbert hat die Alte an der grünen Pumpe, noch heute heilt sie Krampfadern und Beingeschwüre. Und das berühmte Geheimmittel gegen die Cholera hat der sterbende Großvater Willig dem Vater ins Ohr gelallt, und der hat es wieder dem Sohn anvertraut, und nun weiß es der Enkel, der wahrscheinlich seiner gesprächigen Mutter wegen taubstumm zur Welt kam. Und überhaupt so seltsame Dinge gingen in der Stadt vor; — immer träumte ich davon auf dem Schulweg über die Au. Manchmal lief ich durch graue, lose Schleier, Nebel war überall; hinter mir kamen schauerliche Männer mit einem Auge oder loser Nacktheit; auch an Ziethens Häuschen mußte ich vorbei, der seine Frau erschlagen haben sollte, „ewwer en doller Gesell wors gewäsen.“ Oft ließ ich vor Angst die Bücher fallen oder der Ranzen hing mir nur noch halb auf der Schulter. Nun grünt nicht mehr die von Zäunen umgrenzte Au; Tore verschließen Häuser; kein Schulkind kann mehr auf dem Wege zur Schule träumen, jedes Fenster zur Rechten und zur Linken weckt es auf. Lebt der greise Direktor Schornstein noch, der nicht wie die roten Schornsteine rauchte, aber vor Zorn so oft fauchte? Ich bin verliebt in meine Stadt und bin stolz auf seine Schwebebahn, ein Eisengewinde, ein stahlharter Drachen, wendet und legt er sich mit vielen Bahnhofköpfen und sprühenden Augen über den schwarzgefärbten Fluß. Immer fliegt mit Tausendgetöse das Bahnschiff durch die Lüfte über das Wasser auf schweren Ringfüßen durch Elberfeld, weiter über Barmen zurück nach Sonnborn-Rittershausen am Zoologischen Garten vorbei. Mein Vater mußte an den Sonntagen mit mir dorthin gehen, der bemerkte nicht den Sekundaner mit der bunten Mütze. Auf dem Hügel im Tannenwäldchen am Bärenkäfig versprachen wir uns zu heiraten. — Ich muß an alles denken und stehe plötzlich wie hingehext vor meinem Elternhaus; unser langer Turm hat mich gestern schon ankommen sehen; ich fall’ ihm um den Hals wahrhaftig. Leute am Fenster des Hauses bemerken, daß ich weine — sie laden mich ein auf meine Bitte, einzutreten. Schwermütig erkenne ich die vielen Zimmer und Flure wieder. Auf einmal bin ich ja das kleine Mädchen, das immer rote Kleider trägt. Fremd fühlte ich mich in den hellen Kleidern unter den andern Kindern, aber ich liebte die Stadt, weil ich sie vom Schoß meiner Mutter aus sah. Von jeder Höhe der vielen Hügel schwebt noch ihr stolzer Blick wie ein Adler; und meines Vaters lustige Streiche stürmen eben um die Ecke der Stadt. „Wat wollt öhr van meck, eck sie jo sing Doochter.“ Das rettet mich vor der schon erhobenen Faust eines besoffenen Herumtreibers. Das verwilderte Jahrmarktgesindel rings um mich schwenkt meine Kindheit immer wieder von neuem wie in einer vielseitigen Luftschaukel auf und nieder. Das Geklingel der Karussellmusik, begleitet von Flüchen rauher Mäuler und Kreischen frivoler Weibsbilder ist zärtlich meinem Ohr. Denn ich bin verliebt in die Stadt der Messen und Karussells. Mein Begleiter versucht mich zu überreden, mit ihm den Riesenjahrmarktplatz zu verlassen. Aber ich muß noch einige Male Karussell fahren. „Lott es doot, Lott es doot“, ich fahr für mein Leben gern; gerade die altmodischen Holztiere sind am fröhlichsten und drehlichsten. Mein Leopard springt auf Raub. Zwischen Aujust und Aujuste die Bewußte, hinter Caal und Caaroline, Alma, Luischen, Amanda. Gar nicht stolz bin ich — sie beginnen mich zu lieben. Ich bin verliebt in meine Stadt, manchmal schrei’ ich ganz laut auf, das überzeugt das rohe, arme Gesindel. Den Härrn Schüler haben viele gekannt, er hat sie umsonst wohnen lassen in seinen Häusern. — Wir gehen durch das Tor ins Elberfeld vor „dreihundert“ Jahren. Mina singt gerade im Tingeltangel ihre Liebeslieder. In rosanen Atlaspantoffeln stecken ihre Klumpfüße, ein knappes Röckchen bedeckt ihren Allerweltsleib. Diese Undame charakterisiert das Chantant einer ganzen Zeit. Ich entgehe ihrem Spotte nicht, aber ich weiß ihr Achtung einzuflößen. Ist ihr Hals etwa nicht wie Milch? Und zu guter Letzt erkundige ich mich angelegentlich, wo man genau solche Pantoffeln bekommt in der Stadt, wie die ihren sind. „Die sinn ut Engeland bei Paris.“ — Nun hinein ins Kölner Hännesken! Gewaltsam zerre ich den Dichter zwischen die Clowns ins Innere des Brettertheaters. „Sie werden noch gestochen werden, wie Ihr Vater einmal.“ Durch seine Uhr ging die Spitze des Metzgermessers. Am anderen Morgen führten die jammernden Eltern den heulenden Sohn vor das fieberknarrende Bett meines Vaters. Er wußte, daß sie kommen würden, und drei Gläser und eine Flasche Rotwein standen zum Empfang auf dem Nachttisch. Aber er ächzte vor Schmerz, namentlich, als die fette Metzgersmutter begann, dat et där wackere Här Schüler verzeehen mödd ... Ich bin verliebt in meine Stadt, aber schon muß ich Abschied nehmen wie von einem alten, düsteren Bilderbuch mit lauter Sagen. Niemand hat mich wiedererkannt, auch in Weidenhof der Wirt nicht, der immer einen ganz kleinen Kellner für mich herbeischaffen mußte am Festtag, wenn wir dort Forellen aßen. Und die Einkehr in meine Heimat habe ich einem Dichter in Elberfeld zu verdanken, der kam dorthin lange nach mir. Paul Zechs feine künstlerische Gedichte duften morsch und grün nach der Seele des Wuppertals.
Der kleinen Hedwig Grieger
Und wo die ganze Erde im grünen Lachen steht und ein großer Spielplatz ist, fallen mir die vielen lieblichen Kindergesichtchen um so schmerzlicher auf, die da weinen im Sonnenschein. Ihre Löckchen flattern zwar lustig aus den feinen Spitzenhäubchen hervor, und viele von den Kleinen stecken in seidenen Tanzkleidchen. Aber sie dürfen sich an der Hand ihrer Begleiterinnen nicht recht freuen, und ihre runden Herzchen möchten hüpfen. Baby hat ein Knöpfchen von seinem Schuh abgerissen, es hat sich so gelangweilt — aber Detta muß ihn am Abend wieder annähen, dafür gibt’s eine Saftige. Auf dieselbe Bank setzt sich ein sogenanntes Fräulein, allerdings, sie trägt einen Federhut und hat die Allüren ihrer Dame abgesehen ... Sie rückt, den Abstand zwischen ihrer Person und ihren dienenden Kolleginnen zu wahren, vorsichtig an das äußerste Ende der Bank. Wie schon angedeutet, ist sie nicht aus der Gattung der gemeinen Kuhblume (s. Caltha), sie straft gebildeter. Mit einem Roman von Emile Zola schlägt sie ihre kleine Schutzbefohlene auf den Mund, auf die weißen Zuckerzähnchen. Und nur selten rügen Vorübergehende die brutale Eigenmächtigkeit dieser Donnas.
Lottchen wird über die Straße geschleift, es ist so heiß, seine zweijährigen Beinchen können nicht mehr ausschreiten. „Ick soll dir woll tragen, olle Pute.“ Keine der Mütter erbarmt sich seiner, und nur einige Mädchen mit der Schulmappe am Arm oder dem Ranzen auf dem Rücken bleiben entrüstet stehen und versuchen, die Kleine von der Hand ihrer Peinigerin zu befreien, die aber schlägt kreischend um sich — ein Volksauflauf entsteht und nimmt sich der armen dienenden Person an — ich und meine kleinen Verbündeten sind das Gespötte der Straße.
Am Nachmittag begegnen mir die tapferen Schulmädchen wieder, sie führen ihre kleinsten Geschwister spazieren und tummeln sich mit ihnen über die Wiesen; wie zärtlich sie mit den langen Zöpfen ihrem Brüderchen die Patschklatschhändchen und das bestaubte Gesichtchen säubert! Und welche Wonne, durch den kühlen Wiesenbach zu waten! Viele von ihnen brauchen nicht erst ihre Füße entblößen — heirassassa wie das Wasser aufspritzt. „Daß nur nicht die neuen Kleider naß werden!“ erinnert die Älteste mit den langen Zöpfen. Sie steht noch im Pflichtgefühl zur Puppe. Vierzehn Jahre wird sie nächsten Monat; „ich komme“, erzählt sie mir, „in den Dienst nach der Einsegnung.“ Sie hat keine Erfahrungen gemacht, und was sie von Hörensagen getrübt weiß, ist noch zu verwischen. Ich habe immer solch eine Puppenmutter bei meinem Bengel, für seine sechs Jahre weiß er genug Streiche, ich lache ob seiner Ausgelassenheit, die auch von seiner Kameradin ungezüchtigt bleibt. Sie balgen sich und springen miteinander über die Wege, mutwillige Ziegenböcke. Aber auch besonnen kann seine junge Begleiterin sein. Auf jeden Fall befolgt sie noch schulgewohnt meine Worte und streikt nicht heimlich wie manche ausgewachsene Personen, die schon aus Oppositionslust das Gegenteil ausführen.
Ja, diese Allzufreien. Arm machen sie manchmal die Kinder der reichen Leute mit ihren gehässigen Launen und niederen Liebeleien. Allerdings gibt es auch noch musterhafte Pädagoginnen unter den Kindermädchen oder „Fräuleins“ — ich meine nicht solche, die unter jeden Schritt des Kindes ein Rechenexempel oder ein Abc legen, nein, ich meine jene, die zu spielen verstehen, und die müßten doppelt besoldet werden — welche ungeheuren Summen werden für den Magen ausgegeben, warum nicht für die Seele seines Kindes? Nichts fordert Technik in solch feinem Maße wie die Kunst des Kindes, „das Spiel“ — die bunten Gedanken zu drehen im Krausköpfchen, wie in einem Kaleidoskop. Ja, es gibt vortreffliche „Bonnen“, besorgte und doch heitere Freundinnen der Kinder. Aber wäre es nicht ratsam, weibliche Detektivs anzustellen, verheiratete Frauen, die die Überschreitungen der — minder Trefflichen draußen auf den Wegen beurteilen könnten? Mütter und Väter, sucht einmal euer Kind draußen in der sorglosen Natur statt nur im Spielzimmer auf, dort werdet ihr die Hüterinnen eurer Kleinen ungeschminkt kennen lernen.
Was mich im vorigen Winter traurig machte
Georg Fuchs in Freundschaft
Blumen werden bald blühen an beiden Seiten des Reitwegs am Kurfürstendamm. Wenn die lieblichen Reiterinnen an all dem Duft vorbeigaloppieren werden, dann ist es zu spät, ihnen zu sagen, daß die buntlachende Allee gesprengt wurde mit Schweiß und Blut Peitschender und Gepeitschter. Die Pferde vornehmer Landauer tanzen, ihre schwarzen Augen zünden vor Leuchten. Ich beginne sie mit ihren geplagten, wiehernden Brüdern zu beneiden. Die können nicht weiter durch den Hügel an Hügel aufgeworfenen Erdboden; ihre Hufe mußten sich selbst den Schmerzensweg bereiten. Da gibt es kein Pardon! Auch kein Mitleid der Spaziergänger, niemand will was mit den Fuhrleuten zu schaffen haben; in den neumodischen, wogenden Busen der Damen pocht kein Herz. Sie verhindern sogar ihre Männer, sich in Straßenangelegenheiten zu mischen. Manchmal stellen sich Kinder auf zur rechten und linken Seite des Dammes. Für sie ist es eine Unterhaltung, ein wirklicher Kientopp. Heute besah sich ein Schutzmann den unerhörten Vorgang. Aus einem Bäckerladen schickte eine Käuferin für die Pferde alte Semmeln. Ich sah über dem Gesicht des uniformierten Mannes eine kräftige Freude marschieren. Und ich bat ihn, ob er nicht eingreifen wollte. Er erklärte mir, die Fuhrleute sind nicht so schlimm wie ihre Brotgeber. Weigert sich einer der Angestellten, wegen der nicht genügenden Anzahl Pferde an seinem Karren loszufahren, verliert er seine zwanzig Mark per Woche. „Da lauern schon immer genug Brotlose vor der Türe.“ Für die zwanzig Mark. — Sie leben, sie peitschen, sie fluchen dafür. Ihre Roheit besteht das Examen. „Dämlich Vieh, windelweich hau ick dir, faulet Luder!“ Die Wut rinnt den Unmenschen über die Backen, den entblößten Hals hinab. Die Rücken der Tiere bluten vor Hieben. Wie sollen sie es anders machen? Verteidigt sie der Schutzmann. Denn es dauern ihn die Treiber ebenso wie die Pferde. Die Treiber, die nur zwanzig Mark verdienen pro Woche und sich so plagen müssen mit dem Vieh. „Es ist doch mal Vieh, es ist doch zum Ziehen da!“ Ein paar Bürger stimmen ein in den bequemen Sang. Röhren sollen gelegt werden zum Ablauf des Wassers. Die Blumen, die bald auf beiden Seiten der Allee wachsen, müssen bewässert werden. Gibt es denn keine Maschinen, die die Erde schließlich aufwälzen können? meint ein sechsjähriger kleiner altkluger Ingenieur. Er hält auch eine Maschine im kleinen aus einem Spielwarengeschäft in der Hand. Die Männer toben. Wilde Australneger sind Engel dagegen mit ihrem Schlachtgeschrei. Ich aber fühle ebenfalls die schwere Schuld, die die Besitzer dieser Fuhrunternehmen trifft. Vorwurfsvoll schielen seine Knechte über die gefräßigen Pferde auf uns: Sie hätten selbst Hunger. Endlich aber entschließen sie sich, nach all den vergeblichen Peitschenhieben, die Pferde umzuspannen. Zu sechsen geht es doch besser über die holprige Strecke. „Ich hab das gleich gedacht,“ gesteht der Schutzmann. „Aber sagen Sie mal was zu den Leuten!“ Wenn die lieblichen Reiterinnen im Sommer auf ihren verwöhnten Schimmeln durch die Allee des Kurfürstendamms reiten, wird der Geranium zu ihren Seiten rot wie die vergossenen Blutstropfen der armen Pferde blühen. Sie hatten alle traurige Augen und ließen die Köpfe hängen.
Meinem lieben Freunde Andreas Meyer
Morgens standen sie plötzlich auf dem Kurfürstendamm wie vom Himmel gefallen in Mondsichelfasson. Die eine weiße Bank winkte den Leuten, die aus der Friedrich-Wilhelm-Gedächtniskirche kamen, freundlich zu, die andere weiße Bank lud eine blonde Schöne ein in aschgrünem Samt. Ich bin seitdem öfters an den weißen Bänken vorbeigegangen; gestern setzte ich mich zum erstenmal auf die eine, den Damm weiter, auf die andere. Guckte ich geradeaus, bot sich mir ein Kreuz- und Querbild. Man sieht es vielen Vorbeieilenden an am Operngucker in ihrer Hand, wohin sie wollen — zur Hochbahn —, in einer halben Stunde fangen die Theater an. Andere kommen aus der Stadt, biegen um die Joachimsthaler Straße und kehren ein in das heimatliche Café des Westens. Kommen da zwei kleine, arme Mädchen; in ihrer Mitte ihren lebendigen, rotbäckigen Hampelmann, der sprechen kann. „Zwei Jahre ist er,“ erzählen sie mir und streiten sich, wer ihn aufwarten, das heißt, wer mir von ihnen seine Kunststücke zeigen wird. „Wir sind keine Schwestern,“ antworten die beiden gernegroßen Mütter, sie lassen schon behäbig das Kinn hängen, fürsorglich sind sie um ihren kleinen Kasperle. „Wir sind jede für uns allein.“ Sie meinten damit, sie sind nicht einmal verwandt. Lieschen ist in Pflege, ihr Pflegevater ist Nachtwächter — manchmal legt er sich vor Müdigkeit, wenn er morgens nach Haus kommt, mit dem Bund Schlüsseln und der Laterne ins Bette. Das andere Lieschen, sie heißen beide ganz gleich, erzählt: Sein Vater helfe einem Zauberer. „Ein schwarzer Neger ist sein Papa!“ Es ruft mich jemand von der Haltestelle der Elektrischen, ein Dichter im Florentiner, er will in die Kolonie fahren. „Reisen Sie alleine, Torquato Tasso, ich will mich noch auf die weiße Schwesternbank setzen.“ Ich sehe mich nach ihr um, sie glänzt viel bräutlicher wie diese, von der ich mich erhebe; und ich zögere, mich auf die myrtenweiße niederzusetzen. Aber die beiden Verliebten da bemerken es nicht. Aus der Kirche treten schon die ersten Sonntaglinge, die Sonne spielt Orgel um das Haus mit ihren schlanken Strahlen. Ich verstecke mein Gesicht in dem großen Glockenturm — sehe, höre und denke nichts, und doch findet man sich auf den weißen Bänken wieder, wenn man sich verloren hat.
Edith Geheeb-Cassirer
In den Bergen zwischen Laub und Wiesen stehen fünf bemalte Waldschlößchen: jedes ist einem Dichter gewidmet, und drinnen lachen Knaben und Mädchen mit ihren Lehrern und Lehrerinnen. Und unter ihnen lebt der Rübezahl mit seinen gütigen nußbraunen Augen und dem langen Weihnachtsbart. Paul Geheeb, der Schöpfer der Odenwaldschule, ist ein Rübezahl, er zaubert Freude durch die Hallen und Säle seiner Gnomenhäuser, und überall ist es hell, wohin seine sonnigen Augen scheinen. Immer steigt sein Fuß, ob er auf die Gipfel will oder über die Ebene schreitet. Von Rübezahl sprechen die Bauern im Tal, wenn sie den Direktor oben meinen, den die Kinder alle so lieb haben. Jedem Mädchen schenkt er ein tröstendes Wort, und den verirrten Wanderer beherbergt er und seine Gnomen für die Nacht: die sitzen in bunten Spielreihen beim Vesper und trinken Milch aus großen Kannen.
Heute macht die blonde Adi den Vorschlag, alle Jungen müssen einen Stoffaffen und alle Mädchen einen Stoffbären mit zum Sonntagsmahl bringen: die zwei vorhandenen hat die Schelmin dem lieben Rübezahl in die Brusttaschen seines Rockes gesteckt, daß die beiden wulstigen Tierköpfe zur Belustigung aller Kinder hervorgucken zur Rechten und zur Linken.
Paul Geheeb versteht das junge Herz des Kindes wie einen Kaleidoskop zu drehen, er weiß die bunten Bilder zu würdigen. Aber auch seine Lehrer sind Künstler: sie haben alle noch Knabenherzen wie ihre Zöglinge und führen mit ihnen manchen Indianerstreich aus. Die Knaben tragen alle Sweater, und die Kleider der Mädchen sind durch Bänder über der Achsel gehalten, echte Kindertracht: sie paßt zu roten Backen und leuchtenden Augen. Und alle haben gesunde Lungen, die atmen wie die starken Bäume das Leben ein und aus. In der Frühe müssen die Odenwaldkinder ins Luftbad, sich viel, viel Luft holen, und es gibt keinen Südwind und keinen Nordsturm, dem die Rübezahlbande nicht gewachsen wäre. Die verzärteltsten Kleinen trotzen dort der Welt mit den allerhand Erkältungen. Aber Vernunft liegt in jeder Anordnung Paul Geheebs: seine ihm anvertrauten Lieblinge bewegen sich in wohlgewärmten Räumen in der Winterzeit. Die Korridore, die Lesehallen, die Schlafgemächer sind mollig temperiert.
Jedes Kind besitzt sein Heim, oder es müßte dicke Freundschaft geschlossen haben und den Wunsch aussprechen, sein Eigentum mit irgendeinem Spielgefährten zu teilen. Mein Paul und der Bruno Tillehsen; was der Torquato Tasso dichtet, illustriert mein Junge. Auch das Burgfräulein Irmgard und der kleine Landwirt Bubi, die Kinder von Wilhelm von Scholz, sind Zöglinge der Odenwaldschule. Auch der Peter ist oben beim Rübezahl, vom Bildhauer Gaul der kleine Sohn: der ißt so gern Nüsse: überall kracht es nur so zwischen den Zähnen. —
Nachmittags ist immer frei: die saftigen Äpfel werden von den Ästen geschüttelt, oder die kleinen Gnomen helfen den Bauern in den Scheunen, in der Zeit, da die emsigen Gnominnen Blumen pflücken oder Himbeeren und Brombeeren sammeln für den Tisch ihrer großen Freundinnen. Liebe, erwachsene Schulmädchen sind die Lehrerinnen: in den Frühstunden lauschen die Kinder mit offenem Munde ihren Lehrwundern. Jede Lehrerin und jeder Lehrer verstehen es, auf spannende Art die jungen Zuhörer zu fesseln. Die freuen sich auf jeden Morgen wie auf den Geburtstagstisch, immer bietet der Unterricht neue, überraschende Gaben.
Plätschernde Bäche, goldene Gärten begleiten den Ankömmling die Bergstraße hinauf von Heppenheim bis oben ins Gnomenstädtchen; holde Landschaft, befreite Erde — kommt man aus der Großstadt dorthin, wo Rübezahl seine Odenwaldschule erbaut hat!
Dem lieben Rechtsanwalt Hugo Caro in Verehrung
Seitdem einige Tageszeitungen um mein lyrisches Gedicht: „Leise sagen“, soviel Lärm geschlagen und mich für geisteskrank erklärt haben, hat sich eine Partei um mich erhoben, die es sich zum Lebenszweck angedeihen läßt, diese gefährliche Behauptung mit allen gerichtlichen Gegenbeweisen aus der Welt zu schaffen. Das Resultat ist: Ich werde beobachtet, nicht allein von einem Psychiater, auch von mir selbst — (ich wollte, ich könnte mir was dafür anrechnen —). Ich kann den ganzen Tag nicht auf einen Namen kommen, auf den Namen meines Urgroßvaters, der Scheik in Bagdad war. Dieser Zustand ist unsäglich unerträglich, als ob man gähnen muß und kann nicht, als ob man in eine Posaune blasen muß und findet die Öffnung nicht. Ich war heute schon überall, wo irgend etwas von Asien zu spüren ist. Auch im orientalischen Seminar war ich beim Rektor, der dachte freundlich über den Namen meines ehrwürdigen Urherrn nach, und alle seine Schüler taten das, und Schülerschüler, Muselmänner, Chinesen, Japaner, Studenten aus Vampur, Koreaner, Sudanesen; es dachten Siamesen, Indier, Serben, Türken, Montenegriner, Talmudisten, Zionisten, auch die beiden Söhne einer Kaffernfamilie dachten, und denken wahrscheinlich jetzt noch nach. Ich habe kein Gedächtnis mehr, seitdem bei mir Gehirnerweichung in Frage genommen ist. Rechts vom Gehirn steht mein Heer — links der Feind. Ich fühle seitdem auch nicht mehr richtig, ich taste; die Sternwarte meines Herzens ist getrübt — und mein Horizont liegt hinter dem Rubikon — und der Sturm — verweht meinen Geist. Wie soll ich mich beschäftigen? Ist mein Psychiater nicht bei mir, fahr’ ich zu ihm heraus und bringe ihm einen Kloß meines Gehirns. Ich muß immer meckern, wenn ich bei ihm bin; er hat einen roten Ziegenbart. Ich konnte mich schon als Kind nicht beschäftigen, meist habe ich mit Knöpfen gespielt, aber ich habe alle verloren oder wo angenäht, und wenn der Psychiater nicht eindringlicher mich beobachtet, werde ich es den Redaktionen der Zeitungen mitteilen, die mich bei der Gehirnerweichung ertappten; sie haben ihn doch für mich engagiert, und er muß seine Pflicht tun.
Ich laufe jetzt so gern über Wiesen; Knaben gewähre ich mit Vorliebe mein Gehirn, solange es noch einigermaßen hartköpfig ist, zur Zielscheibe ihrer Gewehre. Das Sprechen wird mir schwer; wenn ich singen könnte! Dann könnte ich viel besser alles sagen. Aber ich habe zu jung gesungen, die frühe Blüte meines Kehlkopfs war noch nicht befestigt. Sprechen lernte ich schon beim Milchtrinken, aber das Singen hätte ich unterdrücken müssen, Talente sollte man mindestens fünfzehn Jahre im Steckkissen herumtragen. Dabei wird man immer kleiner und schläfriger. Ich bat heute den Psychiater, er solle mich ein bißchen in seinem Kinderwagen herumfahren. Er hat nämlich einen im Nebenzimmer stehen, darin seine Frau ihre Hoffnungen spazierenfährt, schon zwei Jahre, damit er sie nicht verstößt. Von seinem zukünftigen Sohne lasse er sich die Fesseln der Ehe gefallen, aber nicht von seiner Frau, die geht immer in blau, weil sie den Himmel auf Erden vermißt. Er aber hat mir ein Rasselchen geschenkt, ich hätte viel lieber die Gummipuppe gehabt, für in den Mund zu nehmen. Ich habe einen Brief von mir selbst von früher gefunden, an meine britische Busenfreundin, den lese ich dem Psychiater vor. Seitdem ich diesen Brief geschrieben habe, ist mein Herz graumeliert, und Dr. Ziegenbart sagt: „Lesen Sie!“ Dear Mabel! Manchmal hab ich so Sehnsucht, ich säß wieder nachmittags an einem großen, runden Tisch neben meiner Mama und so zwischen meinen Schwestern und Brüdern, und oben sitzt mein Papa, und wir trinken zusammen um vier Uhr Kaffee aus der silbernen Kaffeemaschine durch Filtrierpapier — und so ganz zusammengerückt sitzen wir, wie eine Insel, aus einem Stück. Nichts Fremdes mehr, aber wir fließen ineinander, trotzdem wir Geschwister alle anders waren, und fürchten uns nicht vor dem Tode, weil einer den andern ersetzt. Das ist lange her, ich weiß auch nicht, warum ich daran so oft denke, zumal ich doch Robinson wurde, durchbrannte in die Welt, weil ich dem Robinson auf dem Deckel seiner Geschichte so ähnlich sah. Und ich liebte das Abenteuer, das hat nichts mit der Stube zu tun, und wenn es auch eine herrliche ist. Aber dreimal im Leben hatte ich eine große Sehnsucht, wieder in einer Stube neben Mama und Papa und Geschwistern zu sitzen. Als ich mich zum ersten Male vermählte. Aber ich fiel ins Haus und verletzte mir die Knie, die bluten seitdem. Und das zweitemal, das war noch trauriger; da folgte ich meinem Verlobten in seine Heimatstube. Ich saß neben seiner Schwester; mein Verlobter saß neben seiner Mama, und oben am Tischanfang trank sein Papa den Nachmittagskaffee, und auf einmal sah ich, daß die fremde Mama meinem Verlobten ein großes Stück Kuchen auf den Teller legte, ein Stück Torte mit einer Frucht darauf; und ich bekam ein schmales Stück Torte ohne eine rote Kirsche; da war ich plötzlich ganz klein wie zu Haus und weinte. Und zum dritten Male überkam mich die Sehnsucht, mit meinen Verehrern in ihr Haus zu gehen. Das erinnerte mich am wirklichsten an zu Haus. So viel Geschwister, die sprachen wie meine Schwestern und Brüder und waren schön, aber dann kam ein großer Hund und schnüffelte um den Tisch herum, bis er mich fand; denn einem von den drei Brüdern hatte ich das Herz gefressen. Ich sehne mich nun nicht mehr nach einer Stube, wo eine Mama und ein Papa und Geschwister um den Tisch sitzen und eine Insel sind. Mein Angebeteter verspottet mich und meint, ich ziere mich wie ein Backfisch. Ich habe kein Verlangen mehr nach der heiligen Nachmittagsstube, und ich bin wirklich der Robinson auf dem Deckel seiner Abenteuer. Aber ich möchte noch die ganze Nacht so traurig erzählen. Many greetings, dein Robinson. — Wer mich alles in die drei ersten Stuben geführt habe, meint der Psychiater, sei für ihn nicht schwer zu enträtseln, aber den Angebeteten möchte er kennen lernen, der eine Ausnahme bilde, da ich seiner Eltern Stube nicht heimsuchte. Ich verstehe; des Doktors ironische Weise ist mir sympathisch. Der Psychiater nickt mit dem Kopf; er ist Schriftsteller nebenbei, und hat Momente der Psyche aufzuweisen, die bei Doktoren ohne Drum und Dran nicht vorhanden sind. Sein Ton ist mitleidig, wäre er eine Frau, spräche er wehleidig. Ich habe das Glück, daß er keine Frau ist. Zwischen ihm und seiner Frau fällt ein schwarzer Vorhang, aber über seinem Schreibtisch hängt unverschleiert, aber zahm verblümt, ein deutscher Gelehrter mit einem Bart aus Eichenlaub; sein früherer Universitätsprofessor; den muß er zum Aufreizen seiner Nerven haben. Auch steht in seinem Sprechzimmer eine Lampe, deren Birne streikt, weil sie kein Apfel ist. Der Waschtisch seiner medizinischen Hände läuft nicht, er steht auf Plattfüßen. Mein Zimmer funktioniert viel besser, es liegt am See, an der Waschschüssel. Und dabei spreche ich immer vom Tigris, nicht wahr? Verhöhnt mich nur, liebwerte, wahrhafte Leser; oh, diese Welt mit ihren Flüssen, Nebenflüssen und Überflüssen! Es hat jemand dem Psychiater gesagt, ich sei abnorm eifersüchtig. Das könnte allenfalls ein Symptom von Gehirnerweichung sein. Aber was soll ich mit meinem Mann sprechen, wenn er in der Nacht nach Haus kommt, als Eifersucht. Der Leser soll mir die Frage ganz aufrichtig beantworten, bitte. Ich lehne an seinem Rücken wie vor einem blinden Fenster. Übrigens ist meine Eifersucht nicht subjektiv, sie ist eine Landeigenschaft, ein Kostüm, eine Nationaltracht der Seele. Meinem Psychiater leuchtet die landläufige Logik wirklich ein; ich bin ein für allemal von ihm als gesund entlassen, und brauche mich nicht mehr seinen Beobachtungen zu unterziehen. Der Feind ist verurteilt vom hohen Gerichtshof zu zehn Mark Schadenersatz; hätte er nicht schon Berufung eingelegt, so hätte ich es ihm geraten, denn er soll in schlechten Verhältnissen sein — ich bin zu weich ...! Was soll ich nun tun, als über den Namen meines Urgroßvaters nachdenken? Im Augenblick, wo ich glaube, ich habe ihn, kugelt er noch schwerer als Blei in meinen Rachen zurück. Wie ein einbalsamierter Leib. Dabei höre ich den Namen meines Urgroßvaters auf meiner Zunge, eine Melodie, einen Psalm. Ich muß mich zerstreuen, ich werde die Redaktionen, die so lange nun mit mir in Konnex standen, um Verzeihung bitten; ich kann doch nicht dafür, daß ich keine Gehirnerweichung habe! Der Psychiater glaubt doch nicht daran! Das Leben ist was furchtbar Schmerzliches; alle meinen, daß es nur was Enttäuschendes ist. Ich meine beides und gaukle mit Geschicken. Und wie das Leben vom Milieu abhängt, wenigstens meins. Läge zum Beispiel das Fenster meines Zimmers statt nach gegenüber, seitwärts mit dem Blick nach dem Westhimmel, wo abends der Mars aufmarschiert, hätte ich Freude am Leben gehabt und wüßte, warum ich lebe — aber so! Ich kann mich nicht mehr sehen, ich ertrage in den Spiegeln mein Gemälde nicht mehr, wenn nun mein Angebeteter kommt und hat meine Augen? Und darum gerade, wegen seiner hellen Lichter liebe ich ihn, gelbe Rosen, und wenn sie traurig sind, fallen sie wie Goldregen. Er ist ein Sonntagskind, ich bin ein Feiertagskind, das nicht gehalten wird; er findet keine Ruhe in mir. Wir lieben uns, wie die verschiedenen Liebenden auf Erden und im Himmel. Wie selige Engel mit der Pose des Flügels, wie die ersten Menschen, die noch glühend waren, wie zwei große Blumen hinter der Hecke, die nichts wiedersagt, wie zwei Rubinen im Reichsring eines Kaisers und manchmal früh am Morgen wie zwei Schakale. Ich mache mir gar kein Gewissen daraus; alle Romane der Ehe sind Unwahrheiten! In Wirklichkeit gibt es kein Gewissen. Aber, daß ich den Namen meines Blutpächters, meines Urgroßvaters, vergessen habe, darüber mache ich mir heftige Gewissensbisse.
Eine Indianergeschichte gestaltet von Slevogt
Dem hochverehrten, feinen Professor Walther Otto
Mein Junge trägt einen Indianerschmuck in den Haaren, grüne, gelbe, blaue, lila und rote Federn, und um seine Lenden einen Gurt aus Vogelbeeren und harten Muscheln. Aber er weiß nichts von den Menschen in Wild-West. Ich kaufe ihm aus Furcht, er könne eines Tages nach drüben durchbrennen, keine Indianergeschichten. Der kupferrote Gott ist der Fanatismus der Knaben. Seine Legenden sind gefährlich, sie kommen über einen, ihre Bilder machen Mut, stählern. Grüngelbblaulilarot! Meine Brüder machten sich in nächtlicher Frühe mit ihren Freunden auf und davon — der Skalpgott rief sie aus dem Elternhaus. Sie hatten sich schon Wochen vorher für ihr Sonntagsgeld Pfeifchen, Tabak, Zigarren und dergleichen mehr für den Tausch am Lande besorgt. Manche von ihnen stahlen ihren Schwestern Ohrringe, Broschen, Ketten für die Häuptlingsfrauen und Indianermädchen. Aber die Reise ging nur bis Bremen, die strafenden Väter ließen die Durchbrenner grausam wieder in die Heimat transportieren. Mein Vater jedoch war im Grunde seines Herzens stolz darauf; er ließ meinen Brüdern im Garten ein Indianerzelt aufschlagen, kaufte Speere und andere Mordwaffen und Gürtel, deren Skalpflachshaare fast bis zur Erde reichten ... Es ist schon lange, lange her, ich habe seit Indianerjahren kein Indianerbuch mehr aufgeschlagen. Nun liegt ein großes in den Farben der Kupferhaut auf meinem Schoß. Slevogt hat gezaubert, als er die Gestalten des Werkes erschuf nächtlich auf weißer Prärie; seine schwarze Feder zeichnete kupferrotes Leben. Ich muß die wilden Wildwestmenschen festhalten, sie laufen, galoppieren meinen Blick entlang, über meine Hände hinweg in die Freiheit. Tänze, Kämpfe, Ritte führen sie auf, ich vernehme Pferdegetrampel, höre Kriegsrufe, werde eingehüllt vom aufwirbelnden Nebel flüchtender, feindlicher Stämme. Mich ergreift die Sehnsucht meiner Brüder.
Ich wollte ein Schmerzen rege sich
Und stürze mich grausam nieder
Und riß mich je an mich!
Und es lege eine Schöpferlust
Mich wieder in meine Heimat
Unter der Mutterbrust.
Ein sorglos abgetanes Urteil las ich dieser Tage über die ungeheure Schöpfung: Die schwere Stunde von Charlotte Berend. Die Wirkung des Bildes auf den Kritiker hat mich zwar nicht überrascht; viele seiner kritisierenden Vorfahren verwechselten schon die Erzkraft eines Kunstwerks mit der entblößten Brutalität. Es gehört schon ein Jahrtausendblick dazu, gerade den Wert dieses gottalten Bildes der Charlotte Berend zu erkennen — sein Allvatername heißt das Gesetz. Ich hoffe nicht, daß die Künstlerin aus Bescheidenheit den königlichen Namen fälschte. Sie hat ihre Schöpfung aus dem Mark aller Farben erschaffen. Es nahte ihre selige, schwere Stunde selbst. Das Wunder der Inspiration schlug sie zur Riesin.
Ich sehe zunächst kühl und sachlich eine Mutter, die ein Kind zur Welt bringt. Die weise Frau am Fußende des Bettes wartet hilfebereit. „Herr, gestehen Sie es, und auch Sie, Frau Ehegattin. Sie vermißten den besorgten Hausvater zwischen dem Spalt der Türe vorsichtig lauschend. Das wäre wenigstens noch gefühlvoll gewesen“ ... gerade das Nichtfamiliäre verleiht dem Bild das Unpersönliche, baut das Werk mit kosmischen Knochen auf. — Was soll das kleine Mädchen am Bett der Mutter? „Es ist ja erst zwölf Jahre alt.“ Es ist vielleicht noch jünger, und es tat mir wirklich furchtbar leid, wenn beim Betrachten der kleinen Gegenwart des unschuldigen Wesens, gefühlvollen Damen eine schmerzhafte Entrüstung anging, aber ich sage: die Kleine gehört zu der ungeheuren Landschaft des Leibes; auf dem Rand des Lebenskelches sitzt sie, das schwebende Auge zurückgelehnt, voll Grauen und Wunder gelähmt. Ein Seraph — aber gleich wird er seine Lippen öffnen und die ernste Melodie der Dichtung über den sich bäumenden, felsgeöffneten Leib der Mutter singen. — Und die Vorsehung, wie man die Wartende am Fußende des Lagers nennen könnte, wendet die letzte Nüchternheit des Vorganges mit einem Tuch, wie mit einer Wolke ab. — Eine Heilige hätte nicht keuscher gedichtet, das Problem des Odems gestaltet. Ich habe nie in Wirklichkeit ein kindtragendes Weib mit solcher Ehrfurcht betrachtet, wie diese Riesenmutter, von einer Riesin gemalt, auf ihrem Riesenbilde. Sie hauchte nicht nur über den lebengeöffneten Vorgang die Scham, sie nahm dem Prangen auch jede Fessel der Sklaverei, die mich anwidert beim Anblick einer begnadeten Frau.
Charlotte Berend hat ein Historienbild des Naturgesetzes gemalt; es müßte neben Michelangelos Moses im Tempel der Galerien hängen.
Meiner teuren Mutter in Liebe und Ehrfurcht
„Es dauert höchstens zwanzig Minuten, Peter!“ Er nickte lächelnd — aber er vergaß auch sofort wieder, daß er den Kopf nicht hin- und zurückbiegen durfte, von der Zeitung auf und nieder, und so kam ’s, daß ich entweder das rechte oder das linke Auge nicht an seinem Platz oder die Nase zu lang im Verhältnis zur Stirn zeichnete. Und manchmal nahm er noch seinen Bleistift und beschrieb andächtig den weißen Rand des Zeitungsblattes.
„Du kannst gleich weiterzeichnen, schrecklicher Tyrann du!“ sagte er und las mühsam entziffernd sein eigenes Schreiben.
Es waren einige steinige Einfälle, die er seinem Myrdin und seiner Viviane ferner vermachen wollte. Und er zog die große vergilbte Papierrolle aus seiner Manteltasche und las von den beiden Menschen, die älter waren als Adam und Eva, von seinem Menschenpaar Myrdin und Viviane. Die sprachen eine Sprache, mit der am ersten Schöpfungstage sich Himmel und Erde erzählten — — sie waren mit der Erde zugleich erschaffen — gewachsen mit der Erde — aus der Erde; ja, das fand auch Peter ...
„Da magst du recht haben!“
Und er saß, den Kopf herabgesenkt auf den großen Lehnstuhl nahe dem Ofen in seinem olivenfarbigen Mantel, als ob er die Wärme mit sich nach Hause nehmen wollte.
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Eines Abends klingelte es um halber Mitternacht — das sah Peter ähnlich. Seine Augen lachten mutwillig wie Knabenaugen, die einen Streich hinter sich hatten. „Der Verleger hat mir Vorschuß gegeben — Tino, toller Kerl, komm mit! Wir sitzen alle in der Weinrebe.“
Und Peter sah aus wie ein Bacchus, seine Seele war aufgeblüht wie einer der Weinberge in Alt-Athen. Und wir saßen um ihn im Kreise und sangen: fahrende Schüler, wie die Jünger des Weins aus der bacchantischen Szene seines Werkes „Des Platonikers Sohn“. Wir waren der Most, der Lenz des Weines, das Leben, das wildsüße Auf- und Niederbrausen.
„O Wein, du lieber, dummer Wein,
Was willst du da im Kerker sein?
Hervor du rieselnde Sonne,
Und laß die alberne Tonne.
Weißt du denn nicht, du dummer Wein,
Bin Bruder Lustig, frisch vom Rhein,
Ein Kenner erlesener Tropfen,
So laß mich nicht harren und klopfen!“
Am Morgen in meinem Halbschlaf sah ich Peter; durch seinen langen Bart guckten blaue und gelbe Weinaugen mutwilliger kleiner Dionysinnen mit roten Pausbäckchen und kecker Faunbuben mit frechen Schwänzchen. Und die neckten ihn und zupften ihn an seinen langen Kraushaaren, jauchzten und sprangen um den großen Bacchus, und ein ganz kleines, ängstliches Bacchüschen kroch in seine weite, weite Ohrmuschel. Und wir alle saßen zu seinen Füßen, und er erzählte von seiner Frühjugend, von seinen vielen Liebchen — ja, ja, Bacchus mußte verliebt sein.
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Einmal an einem Wintermorgen kam Hugo, der Landsknecht, wie ihn Peter seines rauhen Organs und seiner kecken Launen wegen nannte. „Kommen Sie mit, Prinzessin! Peter ist krank, wir wollen ihn besuchen!“ „Und wissen Sie auch, Hugo, daß heute sein Geburtstag ist?“
Davon wußte er nichts, der Ungläubige. Und wir zogen gen Norden, und als wir durch das Tor seines Hauses traten, lagen vor uns Treppen, zu besteigen wie künstliche Gebirge aus Brettern. „Na, det is man scheene, dat Se sich bis her verstiegen han — — denken Se so wat, er is mir jestern dot in de Arme jeblieben! ...“ Und Peters gemütliche Wirtin drückte mich an ihren Busen, aus dem der dicke Atem jammerte. Und sie geleitete uns durch die Küche bis an Peters Kammertür, drückte diese behutsam auf und blickte zunächst vorsichtig durch die Spalte. „Nu kommen Se sachte rin!“ — — Und da lag der Peter wirklich in seinem Nest halb aufgerichtet: ein kranker grimmiger Geier. Der Kragen seines Mantels hing wie ein dunkler Fittich über dem Bettgestell, und einer der Füße, mit dem Stiefel angetan, scharrte ungeduldig an der senfgelben tapezierten Wand. Als er uns sah, war es, als ob er uns nach und nach erst erkannte, und er fuhr durch seinen Bart wie ein reißender Herbststurm. „Setzt euch, wenn ihr Platz findet, ihr Einbrecher, ihr Störenfriede, setzt euch!“ Aber nicht allein der Boden, sondern auch das tausendjährige Sofa waren begraben unter großen, gelben Papierflocken. Wir setzten uns auf das kleine Fensterbrett und stellten unsere Füße sündhaft auf die großen Säcke, die, wie wir später hörten, die Manuskripte der Dramen Peters enthielten. „Du, Peter, ich will dir den Doktor holen,“ sagte der Landsknecht besorgt. Oh, und das klang so lächerlich, und die dicke Wirtin hatte et ooch jewollt, „er will aber nich.“ „Der Doktor soll mir wohl Sonne oder Mairegen für meinen Katarrh verschreiben?“ Und Peter lächelte wieder wie Frühlingsanfang, und auf einmal begann er laut zu reden: „Heute abend muß ich noch ins Theater.“ Da fiel seine alte dicke Wirtin vor Schreck auf das tausendjährige Sofa. „Sie wollen im Thiater jehn, Sie?“ „Na gewiß,“ antwortete Peter und machte die Bewegung, aus dem Nest zu fliegen. In der Küche seufzte die Gute und meinte: „Na, so nötig hat er det Schreiben doch ooch nich, wo er bei uns is!“ Und sie brachte ihm zur Fürsorge die dampfende Hafergrütze und zwei Schmalzstullen ins Zimmer. Und dann sich vor uns entschuldigend, sagte sie: „Er ist so reene wie eene Jungfer, ick seh schon, wie se ihm später in de Kirche uffbahren als Heiligen.“
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Es war ein kalter Nachmittag; der Mond blähte sich auf zwischen seinen Sternen wie ein goldener Bauch, ein wohlbeleibter Dukatenmillionär. Peter und ich wanderten wohl schon stundenlang durch die Straßen Berlins, durch die Bleiluftgegenden mit den kahlen, grauen Häusern, in denen der Hunger mit seinen tausenden Kindern wohnt. Und über dieser Gegend spazierte behaglich durch das weite Land der Wolken der fette Mond, der satt an Gold getrunkene Mond. „Aber, Tino, ich wußte ja gar nicht, daß du ein kleiner Bebel bist.“ „Ja, ich denke an die armen, blassen Kinder, die nie in die Sonne sehen, und an dich, Peter, an dich, dem die Welt ihr jubelndstes, tiefstes Spiel schenkte und das Leben eine Stiefmutter ist.“ „O du Fromme,“ sagte Peter leise zu mir. Nach einer Weile blieb er unter einer Laterne stehen, nahm ein kleines schwarzes Heftchen aus der großen Manteltasche und schrieb.
Das tat er oft, und ich ging gemächlich des Weges weiter.
Wir kamen über einen großen Platz. Vielleicht gaben die schloßartigen Bauten mit den gegossenen Toren, die eisernen Hüter der königlichen Gärten, Peter den Anlaß, mir zu erzählen, daß sein Vater der Fürst S. aus Westfalen sei und seine Mutter eine Leibeigene. Ich war gar nicht verwundert darüber, als ich seine schlanken Hände betrachtete.
„Meine Mutter“, erzählte er weiter, „war eine stille, blasse Frau. Ich kann mich kaum an den Ton ihrer Stimme erinnern; aber als ich meine ‚Brautseele‘ dichtete, hörte ich ihr Blut aus meinem Herzen singen, sanft und dann sehnsuchtswild, wie eine einsame Spätherbstblume.“ Wir schwiegen beide lange Zeit, über Erinnerungen wandelnd, bis es Abend läutete und die Glocken uns erweckten.
Wir fragten einen Mann, der an uns vorübereilte: „Wie kommen wir aus dem Tiergarten wieder auf die Straße?“
Und wir bogen und wendeten uns, bis wir glücklich den Weg wiederfanden. „Sieh, Tino, hier tief im Dickicht habe ich Wochen zugebracht und Dunkelheiten getrunken! Oh, das waren einzige Gottnächte!“
Aber ich sah schmerzlich auf seine eingefallenen Wangen.
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Ich ging, meiner Ahnung vertrauend, voraus. Peter studierte indessen noch die Hausnummern gegenüber dem großen Gebäude, in das ich eintrat. Und wirklich, hier wohnte Gerhart Hauptmann. Er kam mir schon im Treppenflur entgegen, ja, er war es. „Herr Hauptmann, ich bringe Ihnen den Peter Hille lebendig hier; er hätte sicherlich wieder die verabredete Stunde versäumt.“ „Sah ihn schon von meinem Fenster aus,“ rief Gerhart Hauptmann, er war nämlich schon unten, den Peter selbst heraufzuholen. Als die beiden kamen, sagte der Herrliche zu Hauptmann, mir schelmisch zunickend, „Dies ist mein Kamerad, Tino nenne ich sie. Es ist der Name ihres Blutes, die grünrote Ausstrahlung ihrer Seele.“ Wir setzten uns, nachdem Hauptmann zärtlich den Mantel von Peter Hilles Schulter genommen hatte. Auf den Tischen lagen überall Journale, die meines Propheten Dichtungen enthielten, auch des Platonikers Sohn fehlte nicht, das wundergroße Schauspiel. Hauptmann schwang es triumphierend in die Höhe. Und ich hörte lauter Melodien; der Dichter Worte wurden Lieder. Und Hauptmanns stolzes Gesicht neigte sich seinem hohen Gaste zu, die Quelle seines Herzens zu erreichen, denn wie aus Leben gehauen saß Peter Hille in dem weiten, klaren Raum, sein Bart wallte ungeheuer.
Im Zimmer meiner Mutter hängt an der Wand ein Brief unter Glas im goldenen Rahmen. Oft stand ich als Kind vor den feinen pietätvollen Buchstaben wie vor Hieroglyphen und dachte mir ein Gesicht dazu, eine Hand, die diesen wertvollen Brief wohl geschrieben haben könnte. Darum auch war ich Karl Kraus schon wo begegnet — — in meinen Heimatjahren, beim Betrachten der kostbaren Zeilen unter Glas im goldenen Rahmen. Den Brief hatte ein Bischof geschrieben an meiner Mutter Mutter, ein Dichter. Blau und mild waren seine Augen, und sanftbewegt seine schmalen Lippen und sein Stirnschatz wohlbewahrt, wie bei Karl Kraus; der trägt frauenhaft das Haar über die Stirn gekämmt. Und immer empfangen seine Augen wie des Priesterdichters Augen gastlich den Träumenden. Immer schenken Karl Kraus’ Augen Audienz. Ich sitze so gerne neben ihm, ich denke dann an die Zeit, da ich den Schreiber des Briefes hinter Glas aus seinem goldenen Rahmen beschwor. Heute spricht er mit mir. Ich bewundere die goldgelbe Blume über seinem Herzen, die er mir mit feierlicher Höflichkeit überreicht. Ich glaube, sie war bestimmt für eine blonde Lady; als sie an unseren Tisch trat, begannen seine Lippen zu spielen. Karl Kraus kennt die Frauen, er beschaut durch sie zum Denkvertreib die Welt. Bunte Gläser, ob sie fein getönt oder vom einfachsten Farbenblut sind, behutsam behütend, feiert er die Frau. Verkündet er auch ihre Schäden dem Leser seiner Aphorismen — wie der wahre Don Juan, der nicht ohne Frauen leben kann, sie darum haßt — im Grunde aber nur die Eine sucht. Ich begegne Karl Kraus am liebsten unter „kriegsberatenen Männern“. Seine dichterische Strategie sind Strophen feinster Abschätzung. Ein gütiger Pater mit Pranken, ein großer Kater, gestiefelte Papstfüße, die den Kuß erwarten. Manchmal nimmt sein Gesicht die Katzenform eines Dalai-Lama an, dann weht plötzlich eine Kühle über den Raum — Allerleifurcht. Die große chinesische Mauer trennt ihn von den Anwesenden. Seine chinesische Mauer, ein historisches Wortgemälde, o, plastischer noch, denn alle seine Werke treten hervor, Reliefs in der Haut des Vorgangs. Er bohrt Höhlen in den Samt des Vorhangs, der die Schäden verschleiert schwer. Es ist geschmacklos, einen Papst zu hassen, weil sein Raunen Flüsternde stört, weil sein Wetterleuchten Kerzenflackernden heimleuchtet. Karl Kraus ist ein Papst. Von seiner Gerechtigkeit bekommt der Salon Frost, die Gesellschaft Unlustseuche.
Ich liebe Karl Kraus, ich liebe diese Päpste, die aus dem Zusammenhang getreten sind, auf ihrem Stuhl sitzen, ihre abgestreifte Schar, flucht und sucht sie. — Männer und Jünglinge schleichen um seinen Beichtstuhl und beraten heimlich, wie sie den grandiosen Zynismusschädel zu Zucker reiben können. O, diese Not, heute rot — — morgen tot! Unentwendbar inmitten seiner Werkestadt ragt Karl Kraus ein lebendiges, überschauendes Denkmal. Er bläst die Lufttürme um und hemmt die Schnelläufer, den Königinnen mit gewinnendem Lächeln den Vortritt lassend. Er kennt die schwarzen und weißen Figuren von früher her von neuem hin. Mit ruhiger Papsthand klappt er das Schachbrett zusammen, mit dem die Welt zugenagelt ist.
Von der Seite betrachtet, erinnert sein Kopf an den Totenschädel eines Gorillas; wendet mir Loos langsam das Gesicht zu, prüfen mich scharf des Gorillas runde, hellbraune Augen. Die sind gefährlich, greifen aus einem andern Denken, aus einem fremden, geschwinden Grund. Die Blicke der Gäste strafen mich für meinen Ausspruch, Loos selbst aber scheint nichts gehört zu haben. Ist er schwerhörig? Auf mich wirkt sein Unvernehmen geisterhaft, wundersam wund; für den unverstandenen Sprecher — unverständlich. Senkt Loos den Kopf, neigen sich seinem Ohre die Lippen zu; o, wie sanft er die Lider hängen läßt — man hat ihn dann lieb, die Lotosseele unter den Gorillen. Schielende, deren Züge etwas Rührendes erhalten, und Hinkende, die im verlorenen Gleichgang süße Interessantheit hinschaukeln — zehnfach tönt Loos das Wort wieder, ruft man es in ihn hinein. Dann wird er ein reißender Geist, den man im Echo heraufbeschwor, ein affenböser Künstler, reißt er dem die Perücke vom Kopf, setzt ihm den Skalp wieder an, daß er mit seiner Person vernarbe. Ein handgreiflicher Philosoph ist er, dem die Verschnörkelung der Architektur ein eitler Greuel, ein verwirrtes Knäuel ist, den er rücksichtslos löst. Loos will Ordnung schaffen in den Welten hier unten, in der Welt, die sich der von sich abstrebende Mensch erschaffen läßt vom Architektenmenschen und nicht hineinpaßt. Wie viele sitzen und schwitzen in fremden vier Häuten, denn die Wände unseres Gemaches sollen unser passendstes Kleid sein, sie sollen die Schrift unseres Atems tragen. Die Seuche der Einrichtung hat sich schon in die Schlösser der Fürsten begeben, auf Altären liegen „stilvolle“ Decken, und durch die Tempel der Künstler flutet das elektrische Licht der Birnen aus neuerfundenen Kelchen. Wollte man mir sogar auf den Rücken meines Zigeunerkarrens, meines grünen Holzvogels, die sogenannte aufsteigende Kurve (ich weiß gar nicht, was das ist) und langweilige kühle Linien ziehen, die große Klassikerlinie Weimarer Spätgeburt van de Veldisch architektiert. Man sehnt sich rein nach dem Buckel. Die Wände meiner Rast sind auch die Wände meiner Last, sind mit mir verwachsen, aufgewachsen. Meine Behausung gleicht mir auf ein Haar. Darum springe ich gerne aus meiner Haut mal, am liebsten in das mir vermählte Zimmer. Ist sein Bewohner auch meist nicht in seiner Hauptperson anwesend, sein Heim aber spricht für ihn. Kühlritterblau empfängt mich das Tapetengesicht; ich setze mich vor den Schreibtisch, vor Rhodopes farbige Statuette, meines auserwählten Zimmers heimliche Liebe. Über den Flügeldeckel kehren Lieder heim und legen sich auf die Tasten — schlummern und träumen laut; hingezaubert sitzt ja ihr Schöpfer auf dem runden Stuhl und spielt. Ich denke an meine Prinzessinnenzeit ... Wer salbt meine toten Paläste, sie trugen alle die Kronen meiner Väter. — Ich hasse die Tische, Stühle, Sessel und so weiter, die sich verkuppeln ließen, mit ihrem Plebejerbesitzer; das sind Mesallianzen, Sessel, deren Lehne sich beugte immer tiefer ihrem Sitz zu. Ich denke an einen wie ein Melancholischer. — Ich helfe dir räumen, Loos, aber wehe dir, wenn ich nach Wien komme, und du sitzt nicht auf einem australischen Urwaldast zurückgezogen hinter Gedanken tausendgitterig.
Wir schreiten sofort durch den großen in den kleinen Zeichensaal, einen Zwinger von Bärinnen, tappischtänzelnde Weibskörper aus einem altgermanischen Festzuge; Met fließt unter ihren Fellhäuten. Mein Begleiter flüchtet in den großen Saal zurück, er ist ein Troubadour; die Herzogin von Montesqiou Rohan ist lauschender nach seinem Liede als das Bärenweib auf plumpen Knollensohlen. Denn Treibhauswunder sind Kokoschkas Prinzessinnen, man kann ihre feinen Staub- und Raubfäden zählen. Blutsaugende Pflanzlichkeiten alle seine atmenden Schöpfungen; ihre erschütternde Ähnlichkeitswahrheit verschleiert ein Duft, aus Höflichkeit gewonnen. Warum denke ich plötzlich an Klimt? Er ist Botaniker, Kokoschka Pflanzer. Wo Klimt pflückt, gräbt Kokoschka die Wurzel aus — wo Klimt den Menschen entfaltet, gedeiht eine Farm Geschöpfe aus Kokoschkas Farben. Ich schaudere vor den rissig gewordenen spitzen Fangzähnen dort im bläulichen Fleisch des Greisenmundes, aber auf dem Bilde der lachende Italiener zerrt gierig am Genuß des prangenden Lebens. Kokoschka wie Klimt oder Klimt wie Kokoschka sehen und säen das Tier im Menschen und ernten es nach ihrer Farbe. Liebesmüde läßt die Dame den schmeichelnden Leib aus grausamen Träumen zur Erde gleiten, immer wird sie sanft auf ihren rosenweißen Krallen fallen. Das Gerippe der männlichen Hand gegenüber dem Frauenbilde ist ein zeitloses Blatt, seine gewaltige Blume ist des Dalai-Lamas Haupt. Auch den bekannten Wiener Architekten erkenne ich am Lauschen seiner bösen Gorillenpupillen und seiner stummen Affengeschwindigkeit wieder, ein Tanz ohne Musik. Mein Begleiter weist mit einer Troubadourgeste auf meinen blonden Hamlet; in ironischer Kriegshaltung kämpft Herwarth Walden gegen den kargen argen Geist. Auf allen Bildern Kokoschkas steht ein Strahl. Aus der Schwermutfarbe des Bethlehemhimmels reichen zwei Marienhände das Kind. Viele Wolken und Sonnen und Welten nahen, Blau tritt aus Blau. Der Schnee brennt auf seiner Schneelandschaft. Sie ist ehrwürdig wie eine Jubiläumsvergangenheit: Dürer, Grünewald.
Oskar Kokoschka ist eine junge Priestergestalt, himmelnd seine blauerfüllten Augen und zögernd und hochmütig. Er berührt die Menschen wie Dinge und stellt sie, barmherzige Figürchen, lächelnd auf seine Hand. Immer sehe ich ihn wie durch eine Lupe, ich glaube, er ist ein Riese. Breite Schultern ruhen auf seinem schlanken Stamm, seine doppelt gewölbte Stirn denkt zweifach. Ein schweigender Hindu, erwählt und geweiht — seine Zunge ungelöst.
Er versäumt den Tag, und die Dunkelheit erreicht er, wenn es zu spät ist. Aber er träumt noch schnell unter dem verschwindenden Mond. Einmal kam Peter Baum barhäuptig im Januar ins Theater gegangen, draußen waren 15 Grad Zerfahrenheit. Einmal steckte er seine brennende Zigarre in die Hosentasche, später meinte Peter Baum — daß es nicht die Kartoffeln auf dem Feld gegenüber wären, aber daß seine Lende versenge. Und doch hat St. Peter Hille einmal gesagt: Peter Baum sei der sensibelste Mensch, den er je kennen gelernt habe. Peter Baum ist ganz blau. Das heißt übersetzt: Er ist ein Dichter. Sternenpsalme hat er gedichtet für die Harfe Davids, für das Herz Salomos, des Dichterkönigs von Juda. Und doch ist Peter Baum der leibliche Sohn und Erbe des Evangeliums. Seine Väter waren die Herren von Elberfeld im Wupper-Muckertale. Sie beteten zu Luther und wachten auf in Sonntagsfrühe beim ersten Schrei des Kirchenhahns. Manchmal erscheinen sie ihrem Urenkel im Schlafe, weniger der jüdischen Psalme, aber seines abtrünnigen Romans „Spuk“ wegen. Es ist ein Roman im Kaleidoskop; die Bilder kommen buntartig und schwinden blendend wie teuflische Spiegel. Ein flackerndes Fleckenspiel hinter geschlossenen Augen. O, und seine wundervollen Novellen „Im alten Schloß“ brachte er mir eines Abends; seine große Tannengestalt erschien mir noch eine Krone höher, so aufwärts wie der Graf seines Buches, ein wetternder Weihnachtsbaum, der seinen Schmuck abgeschüttelt hat. Die Wochenschrift „Sturm“ wird Peter Baums neuestes Werk bringen, das spielt zur Rokokozeit und ist in geblümter Seidensprache geschrieben. Wie tief seine Dichtungen doch ihn erleben und er sich an ihnen verwandelt!
Ein entzückender Schuljunge ist er.
Lauter Lehrer spuken in seinem Lockenkopf.
Sein Name ist so mutwillig:
Franz Werfel.
Immer schreib’ ich ihm glühende Liebesbriefe,
Die unbeantwortet bleiben.
Aber wir lieben ihn alle
Seines zarten, zärtlichen Herzens wegen.
Sein Herz hat Echo,
Pocht verwundert.
Und fromm werden seine Lippen
Im Gedicht.
Manches trägt einen staubigen Turban.
Er ist der Enkel seiner eigenen Verse.
Doch auf seiner Lippe
Ist eine Nachtigall gemalt.
Mein Garten singt,
Wenn er ihn verläßt.
Immerblau streut seine Stimme
Über den Weg.
S. Lublinski ist von Geburt Ostpreuße. Er hat mir oft von seiner Heimat erzählt: dort sind noch die Wälder so finster und verwachsen wie kleine Urwälder. Zwischen knolligen Wurzeln und Stämmen ist sein Nest; knollig ist auch er an Leib und Seele, ein Knollengewächs, aus dem jäh eine leuchtende Blüte aufsteigt. Zusammengekauert in seinem Korbstuhl sitzt er, wie in einem großen Pflanzenkübel, und grübelt, ob er den Entschluß, den er zunächst erst in einiger Perspektive wohlwollend betrachtet, wirklich fassen soll oder nicht ... Wir beide haben manchen Abend bei schweigender Dunkelheit zusammen auf der Veranda des Kaffeehauses gesessen. Die Gäste sehen nach der Richtung unsers Tisches und lachen über das Holpern seiner Stimme; jedoch die Kellner, vom allerdicksten bis zum blaßwangigen Groom, haben sich schon an die eigentümliche, stoßende Hornsprache S. Lublinskis gewöhnt; sie harren aufmerksam seinem Wink und entreißen raubtierartig den lesenden Gästen Journale und Zeitschriften, die er verlangt. S. Lublinski schiebt seine Brille vorsichtig höher auf den Nasenrücken — der kleine Literat und der phlegmatische Baccalaureus-Referendarius nähern sich unserm Tisch. Mit außergewöhnlicher, liebenswürdiger Handgebärde fordert er die beiden jugendlichen Opfer auf, sich an unsrer Seite niederzulassen. Ich weiß: S. Lublinski ist in Kampfstimmung, er hat tagsüber Aufsätze schreiben müssen, und ihn ärgert die Erde mit den vielen Tintenfässern; und ohne jede Veranlassung, oder auf eine geringfügige Bemerkung hin, überfällt er den Nachbar — sein Herz jedoch schlägt Kobolz dazu. Mich interessiert die Strategie seines Angriffs — der arme Gegner, der an den Zorn seiner rollenden Augen glaubt und ihn gutmütig besänftigen will. Ihn reizt der bequeme Widerstand. Worte werden Kugeln, Bomben explodieren, der Kampf wird ernst. S. Lublinski schlägt mit der Faust dröhnend auf den Tisch; seine Augen bluten ... Gold hat sein Vater in der Jugend aus Kanadas Gefilden gegraben ... und die Lust nach Abenteuern hat sich in S. Lublinski vergeistigt. Aber der Freund kennt ihn auch im Zelt; er hat seine träumende Stirn gesehen mit dem poetischen Schneehauch. Und jauchzen möchte S. Lublinski! — Selten sehnte sich ein zweiter tiefer nach dem bübischen Lenztag, hinter dem Horizont auf der blauen Wiese nach dem fröhlichen Ringelrangelspiel, wie er. Aber der große Ungeschickte fürchtet, zu stolpern; und es ist ihm nichts beschämender, als lächerlich zu wirken — er würde eher mit einem Gänsekiel Verse schreiben. Unschönheit ist S. Lublinskis Kinderkrankheit ... Wie auf gerosteten Geleisen bewegt er sich vorwärts; seine Arme schleudern beim geringsten Außertaktkommen. So ist auch der Rhythmus seiner Seele, seiner Novellen und Dramen. Ich würde jede andre Fassung für unecht betrachten ... Aber da steht kein Tor, daran er nicht rüttelt. „Ich habe Prinzessin mein neues Buch: ‚Gescheitert‘ mitgebracht“ ... S. Lublinski beobachtet mich mißtrauisch unter seiner Brille — er weiß, mich interessieren eigentlich nur meine eigenen Dichtungen; aber ich bitte ihn auf seine stumme Voraussetzung, mir selbst eine Novelle seines Buches vorzulesen. Er liest die Geschichte des gehänselten Knaben — er öffnet seine Seele. Schwerer als jedes Kind, dessen Eigenart sich abhebt vom Durchschnitt, hat er gelitten — aber aus der dumpfen, beklemmenden Nacht seiner Leiden recken sich eiserne, kleine Fäuste, grauenhaft verzerrte Fratzen, aus denen klagende Kinderaugen blicken. Endlich von seinen peinigenden Altersgenossen befreit, den folgenden Schultag vergessend, führt er Kriegsspiele auf, allein, hinter den Hecken seines Gartens. In Reih und Glied tausend gehorchende Soldaten —: „Vorwärts marsch!“ Und er an ihrer Spitze, als Befehlshaber, als Feldherr! Aus kleinen Steinen besteht in Wirklichkeit das tapfere Heer ...
Wieder angelehnt im Sofapolster, das Buch zugeklappt auf dem Tisch, beginnt S. Lublinski in zynischster Weise seine Nachteulenähnlichkeit zu verspotten. Selten sehnte sich ein Zweiter schmerzlicher und unerfüllter nach Liebe wie der da ... Hannibal (eines seiner wuchtigen Dramen), der schwermütige, schwerwütige Krieger, der erwachsene Feldherr seiner Spiele hinter den Hecken seines Gartens. Peter Hille sagte einmal: „Den Hannibal hat er aus gerostetem Eisen geschmiedet.“ Aber nicht minder hart ist der zweite Akt seines Königinnendramas: Elisabeth und Essex. Ich habe oft S. Lublinski durch die durchsichtigen, großblumigen Gardinen seiner Fenster dichten sehen und hören. Die Kissen fliegen von den Sesseln, die Beine der Stühle und Tische knaxen, und ein Ertappter sitzt er nun wieder vor seinem Schreibtisch, die reine Stirn in die Hand gestützt. Leise fällt vom Himmel ein feiner Regen — gesponnenes Weinen —, mir ist, als ob auch seine Seele weine ... S. Lublinski aber gibt sich nicht lange weichen Stimmungen hin — er rafft sich auf: „Frau Thormann, ich will noch fortjehen, ich habe ein wenig Kopfdruck.“ „Aber Herr Lublinski, bei dem Regen?“ ... „Da ist mir nicht bange; aber ich fürchte, der letzte Akt des Zaren ist mir was in die Breite jejangen“ ... Frau Thormann, seine hübsche, muntere Wirtin, hat mir mal ganz vertraulich gesagt: „Mucken haben sie ja alle; aber er sieht immer wieder sein Unrecht ein, das muß man ihm lassen.“ Und sie würde mich wahrscheinlich für eine Verleumderin halten, wenn ich ihr erzählen würde, daß ihr großer Pflegling gestern auf dem Rücken der Sphinx, am Eingang des Cafés, gesessen hat und den Vorübergehenden, im jubelnden und schwärzesten Pathos, den Schiller deklamierte: „Der See kann sich, der Landvogt nicht erbarmen!“ Aber in der Frühe brachte mir die Post einen Brief von ihm: die gotischen, getürmten Buchstaben seiner Schrift drohten über meine erschreckten Augen zu fallen: „Prinzessin, ich habe von meinem Freund, nachdem wir uns von Ihnen gestern abend verabschiedet hatten, erfahren, daß Sie noch immer mit dem Schwätzer nachmittags im Café sitzen — ich fordere Sie zum wiederholten Male auf, den Verkehr abzubrechen, andernfalls ich meine Freundschaft zurückziehen werde. Außerdem weiß ich, daß mein Freund unter Ihrer neuen Akquisition leidet. S. Lublinski.“ Noch am selben Tag begegnen wir uns. S. Lublinski will an mir in zierlichem Bogen vorbeischlürfen — wir lachen — ich bemühe mich, ihm die Schweigsamkeit des Kaukasiers zu beweisen: „Ich rieche zu gerne Steppe, Herr Lublinski; aber Sie wissen doch, nichtsdestoweniger liebe ich Ihren Freund, den prinzlichen Tondichter; — und bringen Sie ihm meine tiefblonde Verehrung.“ — S. Lublinski: „Scheusal!!“ —
Alle Passanten haben es gehört — bis nach Hause haben mich die Straßenjungen begleitet. S. Lublinski muß sterben! ... Ich trage meinen siebenläufigen, ungeladenen Revolver unter dem Mantel versteckt, und der Mond am Himmel ist wie eine brennende Kanonenkugel. Die Mamsell hinter dem Bufett ruft, als sie mich erblickt, Moloch, den Oberkellner, den unersättlichen Götzen (seine Augen sind blanke Taler). „Wo ist S., der Lublinski?!“ „Herr Doktor sind soeben fortgegangen, haben aber für Sie einen Brief hinterlassen.“ Und seine Aussage noch bestätigend, weist er auf den Tisch hin, an dem Herr Doktor zu sitzen pflegt: etliche Zündhölzer schwimmen, zerbrochen im Wasserbad auf dem Silbertablett ... „Sehr geehrte Frau, ich gebe zu, daß ich mich in der Erregung heute morgen im Ausdruck hinreißen ließ, und ich sehe es gern ein und bitte Sie um Entschuldigung; jedoch die Tatsache selbst bleibt trotzdem unverändert bestehen. S. Lublinski.“
Zwei Jahre sind’s nun her, als ich vor dem Riesenfenster des Kaffeehauses saß und S. Lublinski in großen, feierlichen Buchstaben antwortete:
„Sire, ich erkläre hiermit unsere freundschaftlichen sowie diplomatischen Beziehungen für aufgehoben“ ...
Ein großer kantiger Vampirflügel mit Apostelaugen schwebt Paul Leppins Roman „Daniel Jesus“ vor mir auf. Hier wandelt nicht das Werk auf Füßen, und ich suche nicht nach seiner Erde. Paul Leppins Roman ist eine Flügelgestalt, Himmel und Hölle schöpfen aus ihrem rauschenden Brunnen. Hat Paul Leppin „Daniel Jesus“ oder hat Daniel Jesus „Paul Leppin“ erschaffen? Die Vieraugen des großen kantigen Romans sind vom gleichen, tiefen Wachen. Aber Paul Leppin ist gewachsen, ungekrümmt, eine Linde, und sein Haar duftet nach dem sanften Blond ihrer Blüten, und Daniel Jesus hat einen Buckel, und unersättlich ist sein fahler Durst. Auf deine müde Hand, Daniel Jesus, tropft traumleise ein Goldtröpfchen; Martha Bianca tritt barfuß aus dem Herzen durch die Paulpforte. Voll Sonnenbangen ist Paul Leppin wie der Gipfel goldbedrängt, und er formt schwermütig aus goldenen Träumen, die bis in die Wolken ragen, bleierne Buckel. Mit gläubiger Gebärde aber schaufelt die Frau des Schusters das Martyrium von Daniels Jesus Rücken ... „Prinzessin,“ sagt Paul Leppin zu mir, „wir wollen auf einen wilden Ball gehen“; wir finden nur klingelbehangene Tanzböden. Paul Leppin sehnt sich nach der Orgie seines Romans; die drehte sich hinter Sternenvorzeiten seiner Dichtung, spöttisch hißte sie Satan auf Babelhöhe, Satan Daniel Jesus, Paul Leppins Geschöpf, von dem er sich losträumte. Inmitten der Tanzenden sitzt Daniel Jesus Paul zwischen nackten Eingeweiden, die sich verwickeln, verknoten nach seinem Szepter. Rasende Weiber taumeln sich im weichen, pochenden Raume und wachsen zu Lawinen über lüsterne Rücken. Und auf dem brandigen Haupt der Schusterfrau steht eine Mauer auf, eine leuchtende Krone, wie die des heiligen Landes — in ihrem Riesenleib tanzen alle die blutzerrissenen Leiber und ihre Teufel, wie in einer weißen Hölle; denn Daniel Jesus hat sie erhoben zu seiner Rechten. Es heißt im Buche: „Andächtig küßt sie seinen Buckel, wie ein Kruzifix.“ Paul Leppin, ich grüße dich.
Aderlaß und Transfusion zugleich;
Blutgabe deinem Herzen geschenkt.
Ein finsterer Pflanzer ist er,
Dunkel fällt sein Korn und brüllt auf.
Immer Zickzack durch sein Gesicht,
Schwarzer Blitz.
Über ihm steht der Mond doppelt vergrößert.
Das Volk wird nie nach ihm schreien; er sättigt nicht, er ist überhaupt nicht zum essen, man kann höchstens eine seiner Hände streicheln oder seinen Mund küssen — er hat einen schüchternen Kindermund. Der erzählt immer von sich, immer so hübsche Geschichten, die sich am Ende des Pfades reimen und viele, viele Wege geht er mit den Mädchen in seinen Gedichten. In Grimms Märchen ist er gemalt, wie er als Kind aussah, in Hänsel und Gretel. Ich hatte Max Brod eine Nelke mitgebracht, die trug er in der Hand, als er in den Saal kam, und ich bildete mir ein, er lese mir ganz alleine vor inmitten der königlichen Gemälde; ringsum an den Wänden: Van Gogh. Ich weiß den Namen seines Schauspiels nicht, aus dem er erzählte. Aber immer war es die Liebe, die über seine Lippen kam — mein Herz ging blau auf unter den vielen lauschenden Herzen. Max Brod ist ein Liebesdichter. Auch der andere Aufzug seines Schauspiels war ein Liebesgedicht, ein vielstimmiges, ein streitendes. Ich glaube, man kann nur Liebesgedichte in „Prag“ schreiben, wo so viele Bögen und Wälle sind; und lauter graue Figuren treten aus den alten Häusern hervor — die Steingespenster führen die Herzen bange zusammen. Ich habe manchmal Sehnsucht nach Prag, schon um mit Max Brod durch die Gewölbe seiner Heimat zu wandeln, wo die alten Häuser wie Mumien stehn, zur Rechten und Linken.
Silvester 1908 bin ich Alfred Kerr begegnet unter künstlichen Balkansternen, zwischen schleierverhüllten Angesichten schöner Haremsfrauen und fezbedeckter Häupter weißgekleideter Muselmänner. „Wissen Sie, wer der Beduinenfürst war?“ (Wir grüßten uns nach des Bosporus Zeremoniell und Sitte.) „Reißen Sie mich nicht immer aus meinen morgenländischen Illusionen,“ antwortete ich meiner Begleiterin. Später hörte ich, der Araber mit dem Seidenmantel sei Alfred Kerr gewesen. Am besten gefallen mir seine Gedichte, sie sind humorsüß und fallen ihm in die Hand. Aber seine allerschönste Dichtung war ein spanisches Essay; jedes Wort trug eine Abendrotrose im Haar, jedes Wort war eine Senora, erhob sich und tanzte.
Über den Kurfürstendamm sehe ich ihn manchmal nach der Kolonie heimwärts gehen. Dort wohnt Alfred Kerr in einer Villa, die beneidet wird, sonst pflegt man die meisten Kolonisten ihrer Villa wegen zu beneiden. Heimlich birgt dieses nachtumheckte Schlößchen seinen Dichter. Spät muß der Kritisierende die Kritik niederschreiben, die sind blaunervig wie er selbst und duften nach melancholischer Ironie. Wir haben uns beide nur immer das Schönste gesagt, wir kennen uns nur im Gruß. Mich dünkt, er träumt von „Heinrich“ wie ein einziger Sohn, der sich einen Bruder wünscht. Er träumt immer von seinem Bruder Heinrich Heine. Bald gleicht er ihm auf einen Nerv. Alfred Kerr müßte durch die Straßen von Paris wandern wie der tote Bruder, mich stört des Lebenden chevaleresker Mantel, sein abgestäubter Hut. Warum denke ich so? — Morgen lese ich im Tag seine gedichtete Kritik über Hauptmanns Premiere.
Eine Phantasie
Dir allein will ich mein interessantestes Geheimnis anvertrauen, aber du mußt dies als meine Beichte betrachten und bewahren wie ein Amtsgeheimnis.
Paris!
Ich stehe an den Türpfeiler eines Magazins gelehnt und weine, als wollte ich mich in Tränen auflösen. Am Himmel standen schwarze Gewitterwolken, und der Boulevard war nicht allzu überfüllt von Spaziergängern; aber auch unter den wenigen Menschen, die mich erstaunt betrachteten, litt ich unsäglich. O, petite, o, was fehlt Ihnen, Mademoiselle? Sehen Sie doch, Madame, wie blaß die Kleine aussieht, und die großen Augen.
Ich war damals ungefähr sechzehn Jahre alt, und noch in beständigem Kontakt mit meinem Gotte. Ich bildete mir nämlich ein, daß, als plötzlich ein furchtbarer Donnerschlag erdröhnte, der liebe Herrgott aus besonderer Freundschaft zu mir es gewittern ließe, über den Menschen, inmitten derer ich litt. Die auffällige Kritik über meine Person, die sich in diesem lauten Bedauern aussprach, entfachte auch schließlich meinen Zorn. So hielt ich dafür, daß die zwei Passanten, die plötzlich vor mir haltmachten, kein anderes Motiv leitete, als die Lust zur Neckerei. Namentlich erbitterte es mich, da der helläugige der beiden seinem Begleiter zurief: „Mon cher, sehen Sie doch einmal den kleinen Teufel!“ Der große Herr runzelte die Stirn, dabei murmelte er ein paar leichte Worte; ich verstand sie wohl, aber ich möchte sie im Interesse meiner Person lieber verschweigen; wieder fielen große Regentropfen aus meinen Augen, dann meinte der dunkle Herr in milderem Ton: „Es handelt sich hier wieder um eine Bettelnovellette,“ und reichte mir ein Geldstück hin. Ich war sehr betroffen und konnte mich nicht enthalten zu rufen: „O, Monsieur, ich bin keine Komödiantin und keine Bettlerin.“ Er schämte sich und versuchte durch allerhand Reden sich zu entschuldigen. „Pardonnez, Mademoiselle, pardonnez, aber da Sie, wie ich aus Ihrer Aussprache entnehme, keine Französin sind, werden Sie sich schwerlich eine Vorstellung von der Schauspielkunst unsrer Nichtdamen machen können. Und möchte ich Sie bitten, sich mir anzuvertrauen.“ „Ich bin so allein, Herr,“ sagte ich; ich glaube, sonst erwiderte ich nichts mehr, denn ich war ermattet bis zum Tode. Während wir noch beisammen standen, trat ein dritter zu den beiden und klopfte dem dunklen auf die Schulter: „Na, mon ami, schon wieder im Dienste der Frauen?“ Der Helläugige, den ich trotz meiner tragischen Stimmung heimlich seiner Schönheit halber bewunderte, schob seinen Arm in den des hinzukommenden Herrn — ich glaube auf ein paar leise gesprochene Worte des Dunklen hin — und zog ihn, leise auf ihn einredend, mit sich fort. Dann wandte sich der Bleibende mir zu, und es war eine eigentümliche Mischung von Erkühnen und Güte in seinem dunklen Auge, das mich in Furcht jagte und zu gleicher Zeit mir Mut machte. „Hier ist kein Platz für Auseinandersetzungen, mein kleines Fräulein, und ich bitte Sie, mir zu folgen.“ Der energische Ton meines Beschützers wirkte suggerierend auf mich, und ich folgte ihm. Er schwieg, bis wir die gegenüberliegende Seite des Boulevards erreicht hatten; dann faßte er meine Hand und sagte, jedes einzelne Wort betonend: „Mademoiselle, wenn Sie in mir einen Freund gewinnen wollen, so fürchten Sie sich nicht und vertrauen Sie mir Ihr Schicksal an.“ Ich war sehr glücklich über seine lieben Worte und atmete auf und wünschte mir nichts sehnlicher im Augenblick, als seine Hand zu drücken. Wir nahmen Platz im Garten eines Restaurants; der Fremde bestellte zunächst Bouillon und dann ein Hühnchen, welches er mir wie einem Baby vorschnitt. Dabei flüsterte er mir zu: „Grade so ein kleines Hühnchen wie Sie, Mademoiselle.“ Dann mußte ich ihm meine Lebensgeschichte erzählen, wie ich an der Hand Apollos aus meiner Heimat durchgebrannt bin. „Und warum gerade nach Paris, kleiner Robinson?“ Zögernd und fast tonlos entgegnete ich: „Ich wollte in ein Meisteratelier.“ Dann fragte der Fremde: „Haben Sie schon an eines angeklopft?“ „Nein,“ sagte ich verlegen, „ich habe mich mit meinem Gelde verrechnet und wollte mir erst etwas verdienen, um wenigstens für einen Monat die Kosten zu erschwingen.“ „Und was dann?“ fragte er nachdrücklich. „Ja, dann, hoffe ich, Stipendien zu bekommen.“ Hierbei holte ich einen Zettel aus der Tasche, worauf die Adresse jenes Kleidermagazins stand, in dem ich engagiert war. Mein Beschützer begann zu lachen und meinte: „Eine Direktrice können Sie doch sicher mit Ihrem schlanken Figürchen nicht abgeben.“ „Aber eine Kostümzeichnerin.“ „Ah, Sie wollen mit Stilleben Ihre Karriere beginnen.“ Wir lachten beide. — Nach einer Weile fragte ich ihn, ich glaube sehr scheu:
„Herr, wer sind Sie?“
„Ich bin ebenfalls ein Kunstjünger.“
„Maler?“ fragte ich.
„Nein, aber Schriftsteller.“
Ich atmete auf in der unklaren Empfindung, mich in verläßlichen Händen zu befinden.
„Nun werde ich Ihnen einen Vorschlag machen, kleiner Robinson, zumal ich Sie nicht Ihrem Schicksal überlassen werde, bis Sie Ihre geschäftliche Angelegenheit geordnet haben. Ich bringe Sie zu einer Freundin, die mir lieb und teuer ist, zu einer Madame L. T., die wird Sie mit Vergnügen aufnehmen.“
Wir erhoben uns.
„Allons, Mademoiselle!“
Beim Verlassen versuchte ich, meinem Begleiter seine Auslagen zurückzuerstatten, obgleich dies meine letzte Barschaft war. Ich durfte die Bitte gar nicht zu Ende sprechen, als er schon den Kopf schüttelte: „Aber Mademoiselle, Sie sind mein Gast.“ — In der Rue de R. hielt das Kabriolett vor einem villenartigen Hause. Ein zierliches Mädchen in Rosa öffnete die Tür und sagte, ohne meinen Begleiter zu Worte kommen zu lassen, fast vorwurfsvoll: „O, Monsieur, Madame hat bis vor einer halben Stunde auf Sie gewartet, nun ist sie allein in den Bazar gefahren.“ Betreten murmelte mein Begleiter: „Mon Dieu, wie konnte ich das vergessen!“ Ich fühlte mich als die Schuldige, dieses mochte der Fremde empfinden, da er beruhigend sagte: „Ich nehme die Schuld auf mich.“ Ich hörte ihn leise vor sich hinsagen: „Eine liebe Person ist Madame L. T.“ Dann wandte er sich wieder zu mir: „Nun, ich werde Sie gegen Abend hinbringen, und Sie werden sie schätzen lernen, wie ich.“ — „Gefällt Ihnen mein Heim?“ fragte Guy de Maupassant, der mir unterwegs endlich seinen Namen genannt hatte, von dessen Bedeutung ich damals noch keine Ahnung hatte. „Jetzt wollen wir uns ruhig überlegen, was wir zu tun gedenken. Kommen Sie doch aus Ihrem Winkel hervor und fürchten Sie sich nicht vor mir! Haben Sie auch schon daran gedacht, falls Sie noch Eltern haben, daß die in Besorgnis sein werden, und daß ich eigentlich verpflichtet bin, ihnen Nachricht zukommen zu lassen?“ Er mochte wohl meinen Schreck bemerken, denn er fügte schnell hinzu: „Nun, wir sind ja Kollegen, außerdem bin ich kein Moralprediger, und Ihr Unternehmen rüge ich keineswegs, im Gegenteil, es imponiert mir, aber na, diesen Punkt wollen wir gemeinsam mit Madame L. T. überlegen. Für den Augenblick bin ich dafür, daß der kleine Robinson von den Strapazen seines Abenteuers sich etwas ausruht. Ich werde unterdessen ein wenig ausgehen und frühzeitig wieder erscheinen.“ Er war fort, und ich allein, mutterseelenallein im fremden Hause. Zunächst betrachtete ich die Gegenstände des Zimmers. Auf dem Schreibtisch standen einige Photographien, unter denen ich auch den helläugigen Herrn von heute morgen fand. Zu meiner großen Freude, denn er gefiel mir schon wegen seiner blonden Locken sehr gut. Dann aber spürte ich die so lange zurückgehaltene Müdigkeit, legte mich auf eines der Kanapees und deckte mich mit den Decken zu, die Maupassant für mich bereitgelegt hatte. Aus traumlosem Schlaf, wahrscheinlich durch das Geräusch einer aufgehenden Tür aufgewacht, mußte ich meine Gedanken erst mühsam sammeln. „Herr Gott, wo war ich denn eigentlich?“ Ich eilte ans Fenster, und mir schoß plötzlich angesichts der fremdartigen Uniformen auf der Straße unten der Gedanke durchs Hirn: „Wie kam’s doch noch, daß ich in Paris bin.“ Mich überkam plötzlich die Angst eines Gefangenen, der keinen Ausweg weiß. „Herr Gott, wenn nun der fremde, dunkle Mann ein Verbrecher wäre?“ Mir wurden plötzlich alle Sensationsgeschichten meines Lebens grauenvoll lebendig. Um mich zu orientieren, um gleichsam die Waffen meines Feindes kennen zu lernen, ging ich an den Schreibtisch.
„Was, Goethe!“ Nun fühlte ich mich in Sicherheit. Und was mich am meisten interessierte, da lag ja auch Petöfi. Der Dichter, der mir gefiel in seiner ungarischen Studentenuniform. „Ach, Monsieur!“ rief ich erstaunt und erschreckt. Maupassant stand nämlich vor mir, ich mußte sein Klopfen überhört haben. „Nun, mein kleiner Robinson, Sie sehen ja so frisch aus, wie ein Dijonknöspchen; jetzt wollen wir weitere Dispositionen treffen. Übrigens öffnen Sie einmal die beiden Schachteln, mit deren Inhalt bald zwei kleine Buben spielen werden.“ In der einen Schachtel lagen schonungsvoll Bleisoldaten geschichtet, mit dunklen Waffenröcken und roten Hosen. In der Mitte der Schachtel aber lag, umgeben von seinen Getreuen, Napoleon III., hoch zu Roß. Aus der andern Schachtel glotzten mich porzellanene Froschaugen an, Enten mit gelben Schnäbeln, Reptilien aller Arten — ein ganzes Aquarium. Ich richtete die Soldaten parademäßig. Maupassant hatte währenddes eine Waschschüssel herbeigeholt, und wir ließen nun die Ungeheuer auf den Fluten, die wir zu künstlichen Stürmen erregten, nach Herzenslust austoben.
Wir, Maupassant und ich, waren auf einmal intim wie zwei Gespielen. Das fand auch Maupassant. „Wir würden uns, glaube ich, sehr gut vertragen,“ sagte er plötzlich und klopfte mir auf die Backe. Dann aber begann er ernstlich über meine Situation zu reden. „Ich habe eben Erkundigungen eingezogen über das Magazin. Der Chef steht keineswegs in gutem Leumund. Ich rate Ihnen davon ab, dort einzutreten aber vielleicht haben Sie noch andere Fertigkeiten, die sich verwerten ließen?“
„Ach ja, Herr Maupassant, ich tanze sehr gut.“
„So, dann wäre ja der Zirkus oder das Ballett gar nicht übel!“ meinte er nicht ohne Ironie. „Und welcher Tanz wäre denn Ihre Spezialität?“
„Danse de ventre.“
„So?“ Maupassant lächelte erstaunt. „Da müssen Sie mir gleich eine Probe Ihrer Fertigkeit ablegen.“
„Eh bien!“ rufe ich in heller Begeisterung: „Sie werden der Pascha sein, vor dem ich mich mit meinem Kostüm produziere.“ „So hätten wir auch das Lokalkolorit,“ ergänzte er. Ich war indessen schon so eingebürgert in der gastlichen Wohnung, daß ich die Türe öffnete und Maupassant bat, so lange meine Toilette währte, zu verschwinden. Eine golddurchwirkte Decke, die auf einem der Tischchen lag, nahm ich und wand sie um meine Lenden bis zu den Füßen herab. Ich löste meine Haare und entnahm einer Vase einige Nelken, die ich mir kreuzförmig um den Kopf flocht. Ich muß ausgesehen haben wie eine Wilde.
„Entrez, monsieur le Pascha, s’il vous plaît.“
Maupassant trat ein, auf dem ausdrucksvollen Kopfe einen Fez und um den Hals eine reiche Münzenkette, mit majestätischem Ernst nahm er auf einem zum Thron umdrapierten Sessel würdig und feierlich Platz, und die Vorstellung begann.
„Charmant, drôle, superbe!“ rief er ein über das andere Mal, und seine Würde vergessend, begann er taktmäßig den Kopf hin- und herzuwiegen bei jedem, Kastagnettenschlag markierenden, Schnippen meiner Finger. Die Nelken aus den Haaren nehmend, kniete ich zum Schluß vor ihm nieder. „Mein Fürst und Gebieter, hat deine Prinzessin Gnade vor deinen Augen gefunden?“
„Was begehrst du?“ rief der Pascha mit Pathos.
„Deine Freundschaft, Herr.“ — Wir fuhren am Abend noch, da Maupassant sich dagegen sträubte, mich in das obskure und für mich gänzlich ungeeignete Hotel „Maison Bohème“ zu bringen, in dem ich bei meiner Ankunft, da es mir wie ein Wahrzeichen erschien, abgestiegen war, zu Madame L. T. — Unterwegs bat er mich, ihn zu küssen, da er doch mein Gespiele sei. Ich war im Begriff, meinen Kopf in die Höhe zu recken und ihn zu küssen, da ich seinen Wunsch ganz natürlich fand — doch nein, — plötzlich senkte ich meinen Kopf wieder in die alte Lage zurück, denn in diesem Augenblick fiel mir ein, was Maupassant mir gesagt: „Ich verachte die Frauen, weil ich sie nötig habe.“
„Nun, plötzlich anders gewillt?“ rief er erstaunt und gekränkt.
„Ah so,“ meinte er lächelnd. — — —
Madame L. T. empfing mich liebenswürdig und küßte mich nach französischer Sitte auf beide Wangen. „Hier bring’ ich Ihnen einen kleinen Robinson,“ erklärte Maupassant. „Und vor allen Dingen une belle fille,“ sagte Madame L. T. weiter. „Das finde ich keineswegs,“ warf Maupassant ein, „apart — ja — ein Mädchen mit Knabenaugen.“
Mit gedämpfter Stimme unterhielten sich die beiden, wahrscheinlich über meine Zukunft, hinter der Portiere, und dann empfahl sich mein Beschützer, nicht ohne mich nochmals ausdrücklich zu beruhigen: „Mein liebes Fräulein, seien Sie unbesorgt, Sie befinden sich in den besten Händen!“ Madame führte mich in ein kleines Boudoir, wo wir den Tee einnahmen. Sie hörte nicht auf mit Liebkosungen; und noch mehr wie meine Leidensgeschichte interessierte sie mein Renkontre mit Maupassant.
Meine Wangen glühten im Gespräch, und ich machte ihr das Geständnis, daß Maupassant mir sehr gut gefiele, daß er mich habe küssen wollen, was ich aber stolz abgelehnt. Als ich schwieg, begann die Dame, die während meiner begeisterten Aussprache erblaßt war, mir klar zu machen in der delikatesten Weise, daß man die Liebe eines Mannes wie Maupassant sich am besten bewahre durch Zurückhaltung. Und dann verstand sie in rührender Weise mich aufmerksam zu machen, wie besorgt meine Angehörigen nun wohl um mich sein würden. Sie brachte mich zu Bette wie ein Kind, und ich konnte nicht unterlassen, meine Arme um sie zu schlingen wie instinktiv, um ihr Abbitte zu leisten dafür, daß ich ihr Schmerzen bereitet hatte. Ich weinte bitterlich diese Nacht, nicht ohne das wohltuende Gefühl einer gewissen Hochachtung vor mir selbst — denn ich faßte den Entschluß, eine heroische Tat zu vollbringen, Paris zu verlassen — Maupassant nie wiederzusehen.
Morgens früh klopfte ich an die Tür der Dame und teilte ihr meinen Entschluß mit, daß, falls sie mir das Geld zur Rückreise borgen wolle, ich Paris verlassen würde. Ich glaube, im Grunde plagte mich das Heimweh, das durch das Wort Madame L. T., noch geschürt wurde.
„O, meine liebe Madame L. T., nicht wahr, Sie grüßen Monsieur Maupassant von mir?“
Hinter deiner stolzen, ewigen Wimper gingen wir unter,
Schwermütige Sterne brannten auf deinem Lide.
Deine große Hand beugte das Meer
Und brach ihm die Perlen vom Grund.
Die Wüste war dein Schild
In der Schlacht.
An dich dürfen nur Dichter und Dichterinnen denken,
Mit dir nur Könige und Königinnen trauern.
Alle Leiber der Stadt ringeln sich
Giftig um deinen Leib.
Deine Schwester bespie den Traumstein deiner Liebe.
Du, ein beraubter Palast,
Judas schwankende Säule,
Völker bedrohend.
So arg mag nur ein Schöpfer lichtmitten
Seiner Reiche zerbersten.
Der ist aus Gold —
Wenn er auf die Bühne tritt,
Leuchtet sie.
Seine Hand ist ein Szepter,
Wenn sie Regie führt.
Den Trauerspielen Strindbergs
Setzt er Kronen auf,
Aus den Dichtungen Ibsens
Holt er die schwarzen Perlen all.
Er kann nur selbst den König spielen
Im Spiel.
Morgen wird er König sein —
Ich freu’ mich.
Manchmal sitzt Paul Lindau abends im Café des Westens und freut sich über die bunten Jünglinge und zwitschernden Mädchen. Er ist nicht hochtrabend, er tut mit. Seines Herzens leuchtende Farbe ist nicht eingetrocknet. Meine Eltern hatten Paul Lindau furchtbar lieb. Er war Redakteur in der Elberfelder Stadt. Ich habe Paul Lindau eines Tages gesagt, Herr Doktor, ich bin Else Schüler. Da meinte er, er habe meine Eltern nicht vergessen. Und wenn wir uns nun begegnen, denken wir an ein Haus am Wupperstrand, darin die Feste ein und aus tanzten. Paul Lindau hat Temperament, er kann keine Maske anlegen, sie würde nicht lange dauern vor seinem Herzen. Er ist ewig jung. Aber auf allen Tischen und Vorsprüngen seiner Gemächer liegen antike Sammlungen, rissige Geschenke aus allen Erdteilen. Ich muß Paul Lindau aus meinem Leben erzählen; er versteht zuzuhören; diamantisch strahlt seine Liebenswürdigkeit. Mutter und Großmütter, Vater und Urväter hängen eingerahmt in goldenen Rahmen über seinem Schreibtisch; er selbst als Knabe blauäugig und rosengelockt. Nicht viel älter war ich, als ich seinen wundervollen Barmer-Roman las, von seinem alten Pfarroheim und den beiden süßen Kusinen. No leckern Äppeln rukt sinne Liebesgeschechte on dat ganze Hus von sing heelegen Onkel bis bowen op die Rompelkammer, wo die Äppels em Wenter leegen. Ich erinnere ihn an die Sitte. Paul Lindau weiß alles noch ganz genau. Diabolisch sind die schwarzen Täler der Schornsteine — denkt seine ernste Stirne, aber die Sonne spielt dazu ganz bunt auf seinen schlanken Händen.
Ich bitte Herrn Lieban, mir einen Nachtigallenspaß aus seinem Leben zu erzählen. Wir sitzen in seinem kleinen Gemach auf gemondeten und gestreiften Diwans, Herr Lieban, sein Töchterchen Eva und ich. Herr Lieban erzählt von Wanderzügen nach dem Süden. Wunderbar ahmt er die Begeisterung des temperamentvollen Publikums nach; eine ganze Reihe verschiedener Mienen huschen auf seinem Gesicht vorüber. Noch heute spricht man in Florenz davon, wie er eines Tages angeflogen kam und gesungen und es hinausgejubelt hat das feurige Lied an die Teure seiner Heimat: „Dein ist mein Herz und soll es ewig bleiben!!“ Und wieder zarter einsetzend: „Dein ist mein Herz und soll es ewig bleiben ...“ Und bei seiner Abreise haben sie auf dem Bahnsteig, auf dem Trittbrett und im Waggon gestanden. Jedes trug ein leuchtendes Herz am Busen geheftet. „Arivederla, Signor Giulio, arivederla!“ Ein halbes Kind war er damals noch, aber Herr Lieban ist noch heute neunzehnjährig mit seinen kurzen, schwarzen Ringelrangelrosenlocken und den dunkeln Schalkaugen. — Mutwillig, sturmwillig über die weichen Teppiche — hin und her flattern die Portieren. „Hab’ im eigenen Hause keine Ruhe — hören Sie, da klingelt’s wieder.“ In diesem Salon unterschreibt Maestro ein Engagement, in jenem erwarten ihn bittende Lippen. Einige Damen in Pelz und Federhüten sehe ich durch den Perlenvorhang auf niedlichen Rokokostühlen sitzen. Herr Lieban soll in einer Wohltätigkeitsvorstellung singen, Herr Lieban kann nicht abschlagen, das wissen alle schon. Mit zugehaltenen Ohren eilt er plötzlich wieder an uns vorbei; aus dem Studierzimmer dringen schmerzliche Töne einer harrenden Schülerin. „Sie stimmt ihre Kehliatur“, flüstert mir schelmisch Eva ins Ohr. Und Herr Lieban weiß gar nicht, was er zuerst erledigen soll. Klein-Eva und ich sind ganz alleine — Klein-Eva hat ebenfalls einen Kobold im Auge sitzen und Goldflatterhaare hat sie; sie will nicht zur Bühne gehen — der Vater hat ihr zu viel Schlimmes von dort erzählt. Und als Herr Lieban sich uns wieder widmen kann, bitte ich ihn, auf sein Töchterchen zeigend, mir auch etwas Schlimmes von dort zu erzählen. Er nickt einige Male ernsthaft mit dem Kopf, er nickt seinem Liebling zu; der scheint zu wissen, was seinen Vater so verwundert hat. „Ja, ich kann’s nicht verschmerzen,“ sagt Herr Lieban, „genau fünfundzwanzig Jahre sind’s her, ich spielte den Mime in der Premiere des „Siegfried“ im Berliner Viktoriatheater. Wagner stand hinter der Bühne, und es geschah, daß man mich nach dem zweiten Akte verlangte und den Schöpfer vergaß. Wagner stürmte fort und ließ sich am Abend nicht mehr sehen. Aber das, was ich nicht verschmerzen kann, ist: als wir am andern Tag den Erfolg des Meisterwerks feierten und wir Mitwirkenden uns am Eingang des Theatersaals aufgestellt hatten, Wagner unsere Ehrfurcht in Form einer Gabe zu Füßen zu legen, daß er da jedem von uns lebhaft die Hand drückte, an mir vorüberschritt, meinen Gruß nicht beachtete und mir zurief: ‚Sie haben mir ja den gestrigen Abend umgeschmissen.‘ Sehen Sie, das habe ich nie verschmerzen können, gerade weil er ein Gottkünstler ist.“ Eva sagt: „Vater hat’s gedruckt im Buch stehen“ — sie springt aus der Türe und holt das vergilbte Buch vom Schreibtisch. Herr Lieban muß lächeln. Aber seufzend mit der Puppe im Arm begleitet mich Eva die Treppe hinunter. Durch die Villenallee nach Hause zu lese ich im Vorübergehen an der Litvassäule Julius Liebans Namen. Er singt heute abend den David, den finsterulkigen Schusterjungen. Den David kann kein andrer singen. Seine Stimme sind Saiten einer Leier, die einmal an einem Freudentage ein Gott erschaffen hat. Seine Lieblingslieder rauschen durch Seidengärten, und mit Silberglocken behangen klingen seine Schelmengesänge und tragen bunte Tracht. „Es ist zum Küssen ...“ einer sagt’s dem andern unter den großen Lichtsternen entzückt ins Ohr.
Der Baron ist eine Schöpfung aus Genie; er ist bereitet aus Himmel und Satan, aus Fegefeuernuancen und gottblau. Mein Bruder nannte ihn den Marquis; ich dachte immer, könnte ich den Marquis sehn. Eines Tages sah ich den Marquis in gepuderter Perücke, in blauem Samtrock, die Rokokohände zwischen feinen Spitzen, lustwandeln über die Wege von Sanssouci auf seinem Bild in der Nationalgalerie. So überall im Rahmen atmet er mit seinen Farben vermischt; zwischen ocker und bleu liegt er auf seiner Palette. Und aus den Rosen des Parkes steigt sein Duft und die Stirn des Schlosses bescheint seine Andacht. Friedrich von Schennis ist ein Andächtiger. Noch zwischen losen Frauenlippen und seinem wilden Zynismus lauscht er nach Gott. Sein Zynismus schluchzt. Der Baron ist schön, sein Angesicht ist feierlich, immer liegt ein Schleier auf seiner feinen Haut. Die fältet sich schmerzlich dann, wenn sein Auge die Wirklichkeit erblickt, die Wirklichkeit ohne Zeremonie. Ich wundere mich nicht, daß er den Philister haßt, den Sonntags- und Alltagsphilister, noch eindringlicher aber empfinde ich seine Verachtung gegen den freigewordenen Bürgersohn, den Studenten der Kunst. „Die Kunst kann man nicht erlernen, nicht wahr, Herr Baron, Herr Marquis, König aller Könige?“ Ich sitze neben ihm und bin der Prinz von Theben. Und zu seiner Linken versteht ein Arzt des Rausches die unbekümmerten Launen des Barons zu beschwichtigen. Aber der Baron liebt das Gaukelspiel des Herzens. Wir müssen mit ihm Champagner trinken, er will Begleiter zur Vergessenheit haben. Aber ich weiß, der Baron kann nicht vergessen, er kann wohl trunken, doch nicht betrunken werden. Ich vergieße den schäumenden Luxus, der herrliche Mundschenk zersplittert, mich zu ehren, meinen gläsernen Kelch. Das hätte Friedrich der Große auch in seiner Flötenlaune getan; der Baron stammt aus der Zeit der Flötenkonzerte. Er hat kein Alter, er ist wandelbar wie die Zeit, die einmal Lenz und einmal Herbst zum Zeitvertreib ist. Trägt der Marquis nicht seine Perücke wie auf der Schloßlandschaft in der Galerie, so ist sein Haar aschblond, sein Auge ist aus Merveillieuxseide, und seine Hand bewegt sich immer wie zum Holen einer Schönen zum Menuett. Seine Freude und seine Schwermut sind Jünglinge, und darum haßt er den Tod und möchte ihn vergessen im Wein. Sein Esprit erinnert an Voltaire, lauter Blitze, die treffen und Brände werden. Wenn der Mond gegangen ist über den Garten, dann werden wir auch nach Hause gehn, ich will noch über Friedrich von Schennis einen Essay dichten. Seine Bilder sind adlig und blaublütig. Liszt, der Musikpapst, Wagner und der Großherzog von Weimar sind seine stolzesten Werke, und die vielen Liebeslandschaften hängen in Nischen minniglicher Schlösser.
Ich würde für sie auch im Privatleben das Eboligewand wählen, den zackigen, weißen Kragen, der ihr Angesicht, ein Bukett von Lichtwende und Herzschatten, wie mit einer Atlasmanschette umgibt. Frau Durieux spielt im Theater Reinhardts die Eboli; die schlummernde Saitenspielerin ist auferstanden aus ihrem Sarkophage. Es tut wohl, sie in „prinzeßlicher“ Wirklichkeit wiederzusehen, in ihrem eifersüchtigen Herzen zu erleben den Kampf mit der Kabale. Den schnöden Verrat an die Königin verabreicht sie dem lauernden Pater noch mit traumhaften Fingerspitzen. Keineswegs hysterisch gehässig — historisch wie ihr Kleid wirkt das intrigante Frauenspiel in der Kapelle steinerner Nacht, an der blutgenagelt Gottes Sohn hängt. Frau Durieux’ verzweifelte Gebärde, nachdem ihre Königin sie verstößt, erinnert an das Gemälde der büßenden Magdalene. — Als ich sie vor einiger Zeit in ihrem Gemach erwartete, suchte ich unwillkürlich nach der Laute. Da kam mir entgegen Rhodope, ihre Hände hingen herab wie Myrthen. Diese himmelweiße Syrierin ist der Glorienschein ihrer Eingebung, das keusche Geschmeide ihrer Begabung. Beweglich ist die Verwandlungskunst der Frau Durieux, denn wer vermutet nach der bräutlichen, geduldigen Königin und der verwöhnten Lautenspielerin, „Sie“ in der bitteren Haut der eigensinnigen Spielverderberin der ältlichen Schwester der Brüder im Friedensfest. Krummrückig zum Fußaufstampfen, hartnäckig widersetzend, den Angehörigen eine giftige Augenweide. — In „Gott der Rache“ von Schalom Asch spielte Frau Durieux die junge Kupplerin des Bordells. Ich sehe sie noch keck in der Mitte des Sofas sich hinflegeln mit der Frechheit einer freigewordenen Sklavin, mit dem Machtbewußtsein, vernichten zu können je nach Berechnung. Das scheußliche Verbrechen ihres früheren Bordellchefs zappelt auf ihrem Knie, sie läßt es kichernd über ihrem Strumpfband hängen, sie braucht nur den lockeren Vorhang aufzuheben. Tilla Durieux spielte skandalös hervorragend. Hier nenne ich die Schauspielerin, die Charakteristik ihres Zivils vergessend, kurzweg „Tilla“ Durieux; aber wer sie in ihrem Privatgemach je sah, umgeben vom Staat schützender Tore und mächtiger Bequemlichkeiten, sie selbst zum Empfang der Gäste sich liebenswürdig ermannend, wird mit mir empfinden, daß sie keineswegs eine Bohèmin ist, zu treu dem Einen außerdem, auch daß ihr die seelische Leichtigkeit der Umgebenheit fehlt, und ich nenne sie „Frau“ Durieux nicht etwa wie man die Spießerin zu nennen pflegt, aber weil sie die Hofdame der Schauspielerinnen ist; jeder Tag muß ihr „d’or-jour“ sein. — Auf dem Sezessionsfest im Februar teilte sich die Menge in zwei Flittergitter, als sie den Saal betrat. Sie trug ein dunkles Spitzenkleid und eine hängende Nelke im Haarknoten. Ich fragte den Rektor in „Frühlingserwachen“ an unserm Tisch, wer die schwarze Leopardin mit dem Blutstropfen am Nacken sei. Prangende Schlichtheit, geschmeidiger Charme, in ihrem Herzen blühen feine Nerven schmerzvoll auf. Aber als es Mitternacht war, tanzte sie, auf einer Perle des Sekts rollend, mit leuchtenden Augen im bunten Spiele der Masken. Dieses Jahr gibt es wieder ein Fest; ich hoffe, daß Frau Durieux auf Erden weilt, sie hält sich nämlich ab und zu mit Vorliebe oben in den Wolken verborgen, in ihrem Luftballon, und was wird sich Prinz Karneval ärgern, wenn sie ihm nur eine lange Nase machen wird. — Die Maschen des Netzes, das den Ballon umhüllt, lockerten sich schon einmal. „Ein Punkt in der Ewigkeit“ kommt man sich im Raume vor, erzählt Frau Durieux. Sie ist ohne Furcht und Zaudern. Zwischen Leere und Leere, Vogel sein, nur Atem, so folge ich in Gedanken den Schilderungen der Luftschifferin in die Lüfte. Da nimmt ihr Terrierhund einen Anlauf aus salonansalongereihter Ferne, springt mir auf die Schulter, ich falle vor Schreck aus allen Himmeln.
Sing Groatvatter woar dat verwunschene Bäuerlein
Aus Grimm sinne Märchens.
Der Enkelsonn ist ein Dichter.
Paul Zech schreibt mit der Axt seine Verse.
Man kann sie in die Hand nehmen,
So hart sind die.
Sein Vers wird zum Geschick
Und zum murrenden Volk.
Er läßt Qualm durch sein Herz dringen:
Ein düsterer Beter.
Aber seine Kristallaugen blicken
Unzählige Male den Morgen der Welt.
Den Mephisto spielt er jeden Abend, eine Privatvorstellung im Freundeskreis. Ohne witzelnde Fußspitzenpose — der Doktor hat Humor, der im Kranichschritt mit dem Schwermutflügel einherschreitet. Wenn er nicht kommt, sind wir alle belämmert; die gretchenblondesten Mädchenköpfe freuen sich, wenn der Mephisto endlich doch kommt. Er versteht Greisengesichtern lächelnde Jünglingsaugen einzusetzen, wenn er bei Laune ist und sein Herz mit übersprudelndem Schalkwillen vorträgt. Wehe aber, wenn er durch die Türe kommt, und sein Hut sitzt schief in die Stirne gedrückt — es regnete —, er konnte heute kein Luftbad nehmen, ein paar Sätze von der Galle, mehr hören wir nicht. Aber seine Galle ist kariert. Nie war ein Hut so mit seinem Kopf verwandt, wie Doktor Blümners Hut. Der ist ein Mime, durchblutet mit den Eigenarten seines Trägers. Unter Hunderten würde ich den Hut des Doktors herausfinden, namentlich aber dann, wenn der Rand seines Panamas lacht; er sitzt rund hinten im Genick. Etwas muß der Doktor heut’ ausführen, ich warte am liebsten mitten im Zimmer, wenn er Klavier spielt, ich kann dann so mit seinen Späßen laufen — er spielt eine eigenvertonte Polonäse, er führt sie an. Seine Finger springen wie ungezogene Jungen über die Tasten, schlagen Kobolz, zanken sich; plötzlich steht er gravitätisch auf: „Der Schlaf erwartet mich!“ Aber in Wirklichkeit steht der Vollmond vor seinem Fenster, hinter dem Ohr einen Federkiel. Der Doktor muß noch einen Essay schreiben. Seinen Lehrer im Frühlingserwachen — wer kann ihn je vergessen und die Grazie des Ricco in Minna von Barnhelm. Er ist der Aristokrat des großen Schelmenspiels. Aber auch sehr oft beliebt es dem Doktor, sein ernstes Wesen dem Publikum zu schenken; es steht ihm am besten; kehrt es ein — kommt es hervor aus seinem tiefsten Herzensschatten. In diesem Monat hält der Doktor wieder einen Vortrag, es sind die schönsten Abende, goldene Atrappen mit überraschendem Inhalt. Als er die Geschichte der Schneider von Keller vorlas, glaubte ich die drei bis zum Schluß verschwinden zu sehn aus dem Saal. Er machte nämlich auch ein Gesicht, als ob sie ihm weggelaufen wären. In seinem feinen Profil ist seine schöne Nase tragisch geschnitten nach Gemmenart. Das Leben fällt gelassen vor ihm.
Als das Café Kutschera noch seinen adligen Namen „Sezession“ trug, hielt in dem oberen Raum des Cafés William Wauer einen Vortrag über Theaterkunst. Ein junger Schauspieleleve nahm mich mit herauf; viele Eleven und Elevinnen schritten vor mir in den Saal der grauen Sammetsofas und Sessel; ich war die einzige unter den Zuhörern, die Wauer noch nie gesehen und doch ihn sich genau so vorgestellt hatte mit der eigenartig schmerzlichen Sicherheit in den Augen und in den Gebärden. Ein großer Geiger, der nicht die göttliche Geige findet. Ein großer Dirigent — ist nicht sein Vortrag ein Zusammenspiel vielerhand Instrumente gewesen. Lebendige Violinen, seine Schauspieler; er mag nicht die erste Violine zwischen ihnen, die den Ton angibt, kein Genie, das sich abtönt, hervortönt von den anderen Tönen. Das Zusammenspiel seiner Leute, eine Genieleistung soll sie sich heben aus der Fertigkeit seiner Hand. Als das künstlerische Theater aus Moskau in Berlin gastierte, gedachte ich der Worte William Wauers. Der Zar bis zum Onkel Wanja und die Frauen all, glichen seinen Idealgeschöpfen. Wandelnde Töne, schreitende Melodien, unbezahlbare Instrumente mit tausendtiefem Ton. Aus Spielläden und Kotillongeschäften liefert man William Wauer, Spaßgeigen, Trompeten, Kriköhs: Dilettanten und Tantinnen. Sie essen ihre Rolle, um sie ganz im Leib zu haben. Sie muß ihnen auf den Leib passen. Aber der Schauspieler soll den Duft seiner Rolle einatmen. Über solch trunkene Seele zu streichen mit seinem Bogen. — Seine Regie steht auf Füßen, das Milieu gleicht dem Bewohner des Schauspiels. Erster Aufzug: Veranda, von Säulen umstanden. Zweiter Aufzug: Wohnzimmer der gräflichen Familie. Man kann sich gar kein anderes Innere vorstellen nach dem Wuchs der Villa. William Wauers Regie ist anatomisch. Sein Blut möchte fließen durch die Adern seiner Schauspieler wie ein Strom durch das Spiel. Das soll keimen und aufgehen aus seiner Gestalt in vielen Gestalten. Kein Asiate ist er, dem die Tragödie nur eine einzige Kriegsgebärde wird. Er meint, zu den Wilden gehöre ich, und mit der eigenartig schmerzlichen Sicherheit im Auge betrachtet er mich wie ein fremdes Instrument aus Bambus.
O, wie wohl ist mir im Herzen zwischen den vielen scherzenden Herzen; alle sind bunt und brennen, aber mein Herz ist blau und glüht. Am Morgen hänge ich es an einen sorglosen Blumenbaum und lasse es zwitschern. Wie ich so dahinlebe, ich bin einer der fahrenden Schüler aus St. Peter Hilles Platonikers Sohn. Im Tanzschritt ziehen wir durch das Grün der Stadt hintereinander mitten im Mondpolka. Die Straßen und Plätze duften noch nach Marienbalsam der Dome. Wir schweben, wir kennen die Sünde nicht, an der Welt vorbei, mit München der Südstadt Deutschlands im Arme. Ich muß München immer küssen, schon, weil ich Berlin hinter mir habe; wie von einer langweiligen Kokotte geschieden fühle ich mich. Meine Freunde spielen Harmonika, wir ziehen an Schaufenstern pietätvoller Läden vorbei; Meisterbilder, frommer Schmuck, wilde Waffen aus den Gräbern der Bibelfürsten und überall die blauen König-Ludwig-Augen! Eine alte Riesenkommode ist München aus einem bayrischen Alpenknochen gehauen. Man kann so andächtig kramen in München und ausruhen auf gepolsterten Erinnerungen. Hier freut man sich seiner selbst, man findet sich in seinem glücklichsten Augenblick oben auf dem Berge der Stadt. Im Vorbeischreiten an den Gärten Obersendlings, flüchtet vor mir das prahlerische Häuserregiment Berlins. Es steigt die Erde, ich sitze auf ihrem Rücken in einem der Schlösser. Ich bleibe hier für ewig! Man sagt das so leicht. Ein Paradies ist München, aus dem man nicht vertrieben wird, aber Berlin ist ein Kassenschrank aus Asphalt; der ihn zum Labsal benutzt, hängt sein Herz engherzig als Schloß davor. Ich soll mich so ganz erholen in der bayerischen Hauptstadt. Gibt’s auch Cafés hier? Da winkt schon eins von ferne. Sei mir gegrüßt, oder wie der Bayer sagt „Gott grüß dich, Café Bauer!“ Von einem Altan herab ladet es den Vorbeiwandelnden einzutreten, manchmal sogar holt der luftschöpfende Ober den Gast in sein Kaffeehaus nach südlicher Sitte. Ich stelle eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dem Café Bauer mit unserem Café des Westens fest, unserer nächtlichen Heimat, (grinst nur verfluchte Somaliphilister und Sudanproleten) unserer Oase, unserem Zigeunerwagen, unserem Zelt, darin wir ausruhen nach dem alltäglichen schmerzvollen Kampf. Die Frau Wirtin ist sanft, sie pflegt unsere Launen, die uns der Bürger schlug. Vom Oberober bis zum Unterunter passen die sich dem Rhythmus der Gäste an. Herr Rattke hat wieder ein neues Buch geschrieben in Trochäen über Servieren, verrät mir Richard, der Zeitungsverweser, der Journaltruchseß. Er liest mir mit Pathos mein Gedicht im Sturm vor über München; ich beginne zu seufzen. Was fangen nun die spielenden Straßen dort ohne mich an und die vielen gaukelnden Herzen? Daß die gesund bleiben, dafür sorgen die Ärzte, namentlich der unvergleichliche Doktor Arthur Ludwig. Alle seine Patienten kommen, weil er der unvergleichlichste Mensch noch dazu ist, nie zur angeschlagenen Zeit in die Sprechstunde, wegen der süßen Speisen und der Marmeladen, die zum Mittag aufgetragen werden von seiner emsigen, lieben Haushälterin. Und die bettlosen Patienten und Freunde nahen gewöhnlich mit dem Dietrich und der Zahnbürste im Gewande, sie kommen vom Rande ihres Lebens und der Doktor, ein heiliger Wirt, wie auf dem Bilde in seinem Sprechzimmer, zu sehen ist: „Fräulein Haushälterin, besorge für den Fremdling nun eine Lagerstatt.“ Er ist direkt ein Engel. „Ein starkfühlender, intelligenter Engel“, betont ein Kollege von ihm, Doktor Max Nassauer, der dichtende Arzt in München.
Wir gehen alle in den Simplizissimus, in Kati Kobus’ berühmte Künstlerkneipe. Heute kommen die Kegler! Ich meine die Leute vom Kegelabend. Ludwig Scharf trägt mit starkem Ton seine Verse vor, jedes Wort ist an das andere geschmiedet. Sein Gesicht ist eine diabolische Arabeske. Dazwischen tönt die fahrende Stimme des Gitarrespielers und die liebenswürdigen, drolligen Bemerkungen Max Halbes; er gefällt mir sehr. Und all die kleinen summenden Mädchen mit den braunen und blonden Liedern. Und die Hauptsache bleibt die Kati Kobus, die Simplizissimusherrscherin mit dem Kronmal auf der Stirn. Sie ist die Herzogin des Rausches, sie ist eine Regierende. Wer so zu unterscheiden vermag wie sie! Eine Juwelierin, wer so das Angesicht auf sein Geistkarat zu werten vermag. Das Scheiden aus ihrem Nachtgarten, wo das Lachen blüht zwischen Bilderhecken, tut mir besonders weh. „Frau Helene,“ sage ich mich ermannend eines Morgens zu meiner Wirtin, „es muß geschieden sein!!!“ Berlin! Vom Waggon aus steige ich sofort die Stufen des Kleinen Theaters hinan zur Generalprobe der Vier Toten der Fiametta. Morgen zur selbigen Stunde werde ich Jacobsohn wiedersehen — ich werde Jacobsohn wiedersehen!
Direktor Wauer fundiert noch seinen letzten Fußtapfen, er legt so das Schreiten und die Gebärden der Spielenden fest. Fest und sicher bewegt sich nun das ungeheure Pantomimendrama und ballt sich wieder zur Einheit. So wohlgeformt und nicht ein Abweichen, nicht ein überflüssiges Zureichen allerleigrauen führen des Schneiders (William Wauer) Klauen die Schneidernadel unentwegt. Grandios ist die Bewegung seines Mundes, die nicht ein stummes Reden, aber ein drohendes Auftun seines Gesichtes bedeutet. In großen teuflischen Zeichen nicht minder, wie ihr Direktor, spielt Rosa Valetti, die Schneidersfrau, und rotangefüllt, ein Blutbezechter, ein wankender Bär, tappt der Lastträger (Guido Herzfeld) auf den Ruf der verzweifelten Fiametta über die Stufen der Treppe, in das Trauerspiel. Das Harlekintrio. Ein Gemälde, das im Anschaun mit dem Körper des Bewunderers verwächst. Und die ungeheure Last Trauerspiel, rollt sich auf einer Musik aufwärts hochmütig über die Leiche verdutzter höhnender Kritik. Herwarth Walden, ein Hodler der Musik, der alles Süßliche zerreißt im Siegeskrampf und Kampf. Morgen ist die Premiere der Vier Toten der Fiametta, ich werde Jacobsohn wiedersehen —, ich werde den kleinen Jacobsohn wiedersehen! „Wer kommt noch mit ins Café?“
Ich schrieb ihr am Schluß meines Briefes: Semiramis, hinter den düsteren Gängen deines Palastes vermute ich hängende Gärten. Worauf sie ans Ende ihrer Zeilen setzte: Meine liebe Dichterin, meine Gärten sind diesen Abend wilde, verschwiegene Schluchten, kommen Sie und hören Sie mich die Carmen singen. —
Manchmal versteckte ich den Kopf in das Sammetgehang der Loge, den dunklen Strom ihrer Stimme einsam über mich rauschen, tanzen zu hören über üppige Pfade heißer Lippen liebentlang. —
Der Soldat Don José sitzt abseits der Ausgelassenen und schmiedet seine zerrissene Säbelkette; versunken in Mutter, Heimat und Liebchen, dem frischen blonden Blümchen der treuherzigen Provence. Aber da steht sie hoch auf der Brücke, lauernd, hungrig — o, du gewaltige Carmen-Katze! Den Oberkörper weit nach vorwärts gestreckt, schleicht sie bestienmajestätisch über die Treppe, die zu ihrem Opfer führt. Es durchgreift den Soldaten eine peinigende Unruhe, er vertieft sich gewaltsam in seine Arbeit, aber seine Finger zittern vor ängstlicher Wollust. „Ei, du süßer Kettenschmied!“ Und ein Strauß greller Rosen fällt zu seinen Füßen nieder. Die lockende Schwere ihres Liedes ergreift ihn, es berauscht ihn der singende Duft ihres Blutes. —
Und dann Carmens grausames Begegnen mit Don Josés Liebchen, Carmens zum Sieg gerüstetes Entgegenziehn der fremden Rasse, aus der sie ihr Opfer geraubt hat, das sie lieben und peinigen muß und zerstören wird. „Sieh, ich nehme dich, ich verschlinge dich!“ Und ihr Gesang und Spiel bekommen Tatzen, die den Geliebten umkrallen, den Kampf seines Soldatenherzens zerreißen und ihn ihr zu eigen machen. Bravissimo, Carmen — Emmy Destinn!
Und nun das Schwärzerwerden ihrer Stimme vor dem verstoßenen, verhöhnten Geliebten, die trübe Todesangst, die sie betastet. Und leise klingt die Hochzeitsmusik, beben die Zaubertöne, die den Soldaten gelockt haben in die Netze ihrer furchtbaren Seele. Carmen! Todwund heben sich die Lider ihrer bebenden Pupillen — ihr Sprung mißglückt. Feierlich singt das Cello und flehentlich die Geigen. Draußen wartet Escamillo. Carmen zerreißt ihre Haut aus Hochzeitsseide und veratmet, noch ehe Don José ihr treuloses Katzenherz durchsticht. Blaß werden die Klänge in der Ferne.
Die Lieb, die von Zigeunern stammt,
Fragt nicht nach Recht, Gesetz und Macht.
Liebst du mich nicht, bin ich entflammt,
Und lieb ich dich, nimm dich in acht!
Als ich am Tage nach der Vorstellung Emmy Destinn besuchte, saß sie auf ihrer Bank von Gold aufrecht, den Kopf düster gesenkt, wie die Blüte einer Pharaonenblume. Sie trug ein Kleid aus bunten Farben der Gewänder assyrischer Königinnen. In ihren Ohren hingen Gehänge von durchsichtigen, gelben Steinen. „Habe ich Ihnen gestern gefallen?“ fragte sie mich. Und ehe ich antworten konnte, pochte es leise an die Tür — mit einer Tasse süßen Duftes trat eine ältere Frau ins Gemach und flüsterte ihrer Königin mit besorgtem Augenrollen und Kopfschütteln einiges ins Ohr. Als sie draußen war, sagte Semiramis zu mir: „Sie war meine Amme und ist noch immer um ihr herangewachsenes Baby in Besorgnis.“
Wir setzten uns an ein kleines Rosenholztischchen. Vor dem Fenster dämmert es schon, aber Emmy Destinn möchte vom Morgen trinken, immerzu spielen; in ihrem Gesicht scheinen plötzlich ganz hell die beiden großen, braunen Monde. „Komm, wir wollen um die Rosenholztische Fangen spielen!“
An der Wand, mir gegenüber, hängen die verschiedenartigsten Instrumente, wohl an zehn Geigen. „Und der Flügel dort, ist der Flügel Webers gewesen,“ erzählte sie lebhaft. „Und sehen Sie sich auch einmal diese Bildergalerie dort an; ich habe eine mächtige Verehrung für Napoleon den Ersten.“ In jedem Lebensalter hängen Bildnisse des ehernen Kaisers von Frankreich da, Briefe in zärtlichen Rahmen, Waffen, die er geschwungen hat, umzäunt mit Lorbeeren. —
Katzen, Hunde, Hasen, Hähne, Puten von leuchtendem weißen Porzellan, venetianische Vasen, vielarmige Leuchter stehen auf stolzen Säulen und Elfenbeintischchen. Da seh’ ich mich zu meinem Leidwesen drei, vier, fünf, immer noch mehrere Male in großen Spiegelwänden. Die schöne Königin hat, ohne daß ich es bemerkte, die Türen ihres weiten Paradieses geöffnet: blühende Seltenheiten und Seide.
„Besuchen Sie mich bald wieder,“ sagte sie; ein Lächeln in den tausendjährigen Augen.
In Berlin gibt es eine Fraue, die die Schmerzen Marias leidet, sieben Schwerter im Herzen; und die doch gnadenreich herablächelt auf die Armen und Kranken. Jeder Mensch, der sich ihr nähert, ist ihr Jesuskind. Einen Tempel müsse man um diese Mutter bauen, einen Garten pflanzen, der ihr blühender Mantel sei. Ich kann mich nicht der Fraue nahen, ohne ihr meine Andacht zu bringen. Verirrte Magdalenen treten durch ihres Hauses Pforte ein und rasten; ruhen aus und besinnen sich unter der Liebe ihres Mutterdachs. Franziska Schultz ist die Mutter des Mutterschutzes. Man könnte fast das gefallene Mädchen ihrer Patronin wegen beneiden. Mit fürsorglicher Liebe lullt die höchste Fraue der Gnade die verstoßene Mutter und ihr pochendes Spielzeug mit ihren beiden Armen zärtlich ein. Kein Vorwurf trifft die Tragende, ihres Kindes wegen, das noch auf seinem rechtmäßigen, heiligen Muttererbe blüht. Alle Mütter aber lieben die Eine.
Eine Dame, die den Glanz irdischer Glänze ausdrehte und durch die dunkle Straße schreitet, wo das Elend wuchert. Nun wohnen keine verwöhnten Gäste mehr in ihrem Hause, aber solche, die ein Herz voll Liebe beanspruchen. Tragende und Beladene treten durch ihres Herzens geöffnete Pforte ein. Maria!
Die Venus von Siam, ist die Kete Parsenow. Feingebogene Dolche sind ihre Augen, wie die der Göttinnen in goldenen Tempeln.
Peter Altenberg gab vor einigen Jahren eine Zeitschrift heraus, auf jeder Seite stand „sie“ in blonden Farben. Die Kete Parsenow spielte damals in Wien am Theater; nun wird sie hier spielen, und doch sollte solche Schönheit verborgen bleiben, im heiligen Haus zwischen geopferten, schweigenden Blumen. Im Sommer begeisterte sie hier als Ophelia die Zuhörer. Blutschwarz sank Hamlets Kopf in den Schnee ihres Schoßes. Immer wird sie die Jungfrau der Schauspielerinnen bleiben; sie ist unbetastete Skulptur. Einmal legte sich vor ihr nieder eine weiße Steppenhündin und wurde ihr ähnlich. Als sie vom Strauch eine Rose pflückte, blühte die höher in ihrer Hand. Sie ist selbst ein Wunder. In der Frau vom Meere erschrak sie vor dem Überschwang ihres Herzens. Und Ibsen, was hätte er gesagt, wenn er der Kete Parsenow begegnet wäre, seiner Generalstochter Hedda Gabler. Kete Parsenow ist sich ebenbürtig, sie ist ebenso schön wie großherzig. Elfenbein ist ihre Haut; immer singt ihr Gesicht. Einmal wurden die Sicheln der Venus zu Monden, als sie böse war. Ich sah die Venus von Siam lächeln, ich sah die Venus von Siam sterben.
Sie müßte eine Patronesse haben — etwa die Kaiserin von Island oder eine reiche Eskimotochter; vielleicht wird es eine Inger auf Östrot sein. Ruth ist eine Tragödin. Schon seit zwei Jahren spielt sie mit Vorliebe Partien aus Ibsens Werken. Ihre Dreijahrärmchen heben sich zürnend zum Himmel: „Götter!“ Ich habe Ruth nie lachen sehn und auch weinen nicht, wie andere Kinder. Ruth lacht mit Vorsicht, plötzlich hält ihr Gesichtchen wie eine kleine Sonne zu leuchten inne — und weinen tut Ruth, um wieder zu lachen. Und am Abend dauert es eine Weile bis sie einschläft, gerne läßt sie einen schmalen Guckspalt offen für den Morgen, ob auf der Heizung ein Schokoladenkakes liegt, von einem verkleideten Onkel als Nikolas oder einer Zuckerhäuschentante gespendet. Ruth gastierte zum erstenmal im Vorgarten des Cafés des Westens, sie war damals zwei Jahre alt und trug ein weißes Kleid über glänzendem Stoff von der Farbe ihres Mündchens, das auf einmal zum Mund wurde, wie gehext, strenge Furchen zog; ich erschrak. Und noch dazu der finstere Ibsenblick, der mich furchtbar einschüchterte. Immer tiefer sank Ruths Lockenköpfchen auf die Strohröhre herab, die vor ihm im Glase steckte: „So tinkt ‚Er‘ Limonade.“ „Er“ hängt im mächtigen Rahmen im Zimmer ihrer Muttertragödin (Beß Brenk) und immer steht Ruth vor seinem Angesicht und besieht es sich, ob es auch noch so macht wie „sie“. In Klein-Ruth schlägt das große Ibsenherz, und als Ibsen sein Puppenheim schuf, pochte sicher ein kleines Anhängsel an seinem schweren Schlag, ein Goldherzchen, in dessen Mitte ein himmelblaues Perlchen rauschte. Ruth springt vom Stuhl, tanzt in ihren niedlichen Goldkäferstiefelchen, die Röcke nach unten geglättet — nun hat sie ein langes Kleid an. Sie tanzt einen herablassenden, zurückhaltenden Tanz; da, als ob ein Sausevogel durch ihren Kopf fliegt — fort will ihre kleine Seele — ihre Beinchen sind ganz nackt; über Stühle und Tische hinweg — Ruth, Ruth! Ich glaube, sie sitzt oben auf dem Ast des jungen Baumes vor dem Caféhaus. Was soll man dazu sagen — Genie? Fort mit dieser alten Denkmalhülle, sie tut dem Kind weh, aber in ein Wunder wollen wir die wundervolle, kleine Ruth kleiden; in einem goldenen Bettchen soll Ruth schlafen und von einem goldenen Tellerchen und mit einem goldenen Löffelchen essen und auf dem Becher, aus dem Ruth fürder trinken soll, steht in Goldbuchstaben geschrieben: Ruth. Sie schüttelt den Kopf wie eine Herrscherin, ich glaube, sie ist beleidigt, nicht um der vielen goldenen Sachen wegen, der Ober hat ihr Zucker schenken wollen; sie gleitet schwerfällig vom Stuhl, streckt den Leib wie eine Kugel vor, ihr Engelsgesichtchen bekommt Runzeln — „dicke Frau is satt“.
Ein offener Brief an Paul Block
Sire, Sie möchten etwas aus unserem Café wissen, aber unser Café ist schon seit ungefähr Pfingsten nicht mehr unser Café. Gestern las ich in einer Chicagoer Zeitung, die mir meine Schwester aus Amerika sandte, schwarz auf weiß, warum unser Café nicht mehr unser Café ist, bitte hören Sie, Sire. „Früher war das Stelldichein all dieser „Radikalen“ das Café Größenwahn. Aber eines Tages verbot der Besitzer der Dichterin Else Lasker-Schüler, die zu diesem Kreise gehört, das Lokal, weil sie nicht genug verzehre. Man denke! Ist denn eine Dichterin, die viel verzehrt, überhaupt noch eine Dichterin? Sie empfand das mit Recht als eine unerhörte Beleidigung, als schimpfliches Mißtrauen gegenüber ihrer dichterhaften Echtheit. Ebenso dachten die anderen. Daher verließen sie empört das Lokal.“
Ob das alles nun wortgetreu wiedergegeben ist, — jedenfalls begab sich die Schreckenstat an einem Sonntag, meine Seele wurde Werktag, bäumte sich auf und sehnte sich nach Revolution. Kein Vers, keine Stimmung, kein Pathos, nicht der schäumendste Überschwang hatte unsere Gemeinschaftlichkeit so fädenverstrickt zusammengerollt, wie diese unerhörte Begebenheit; Herr Café-des-Westens hatte mir, uns allen, das Betreten seines Cafés ein für allemal untersagt. Ungeheuer! Allerdings, wenn ich auch nichts verzehrt hätte. Aber dem war nicht so, ich war gerade im Begriff, meine zweite Bestellung zu entrichten, Schokolade mit Sieb (da ich die Haut nicht mag), als Herr Café-des-Westens aus einer Ecke auf mich Lesende losstürmte und rief, es geht nicht, daß Sie hier sitzen bleiben, ohne etwas zu verzehren!!! Neben mir saß mein Reichskanzler Bisam O. Er ist feig, aber seine rosa Haare standen Hügel, wurden brandrot und sprühten Feuer. Dann kamen hintereinander meine verehrten Freunde, die Paschas, und die Schlacht begann.
Soll ich Ihnen nun noch über die früheren Ereignisse dieses Cafés erzählen oder genügt es, wenn ich Ihnen sage, Sire, daß wir dort die schönsten Abende, namentlich zu Zeiten Lublinskis, erlebten; den haben wir alle kolossal verehrt, und er lachte selbst herzhaft, wenn ihn der „Blümmner“ nachahmte. Unser Zorn liegt nun über dem Café des Westens wie über einem verlorenen Paradies, in dem wir nicht sündigten, aber das an uns sündigte. Als wir auf der Straße standen, gedachten wir mit Wehmut des Gründers unseres verlorenen Cafés. Herr Rocco hatte es sich als besondere Freude angerechnet, daß wir Künstler in seinen Räumen verkehrten; wir Künstler haben sozusagen das Café des Westens mit auf die Welt gebracht, wir Künstler haben ihm das erste Feierkleid geschenkt, wir Künstler haben es zur Königin aller Cafés erhoben! Einer von uns hielt diese Rede in die Nacht hinaus, ich glaube, ich war’s, und den Chor gaben meine tiefergriffenen Kameraden und Kameradinnen. Allerdings war Rocco kein Bär, noch nicht einmal ein Tanzbär, keinesfalls ein Brummbär. — — —
Nur einmal in der Woche treffen wir uns nun im Café Josty am Zoo, wir wollen keine Kaffern mehr sein. Auf einer Erhöhung sitzen wir an zwei Tischen, und Sonnabend halten wir Geheimsitzung. (Unter Diskretion bitte.) Wir wollen Herrn Café-des-Westens zwingen, sich zu entleiben, ich schlage vor, mit dem Cafélöffel. Bitte, hochverehrter Sire, kommen Sie doch unverhofft einmal, aber machen Sie sich keine Illusionen. Wir sind ganz leise und flüstern, scheint’s, nur so von Mund zu Mund, lauter Spielereien. Wäre doch einmal nur einer größenwahnsinnig. Hysterisch sind nur Dilettanten. Manchmal aber reißt einer unseres Stamms schnaubend die Türe des Cafés Josty um Mitternacht auf, den Tubutsch im Gewande. Doch unsere größte Überraschung bleibt, wenn unser Sänger kommt, der Dresdener Hofopernsänger Franz Lindner. Aus der Liedertafel holte ihn mein Heimatfreund Paul Zech. Noch sitzt überfließender Tenor in seiner Kehle, er muß uns den Rest weich über den Tisch herüber singen. Dann kommt eine innige Freude des Beisammenseins über uns, denn wir Künstler sind Kinder.
Ecke Französische und Charlotten-Straße lachen aus einem der Glaskästen schöne, weiße Zähne, zwischen frischen Lippen in Mädchengesichtern. Manche von den jungen Schauspielerinnen offenbaren ihre ureigene Begabung, denn ihre Perlmutterhecken sind gar nicht erschaffen, am Abend hinter zuckenden Lippen versteckt zu schimmern. Über dem Atelier von Marie Böhm scheint auch der Himmel zu heiter; die wundervolle Photographin kann nicht genug Vorhänge über die Sonne ziehen, die macht immerfort ein freundliches Gesicht. Marie Böhm ist die Eigentümerin des kunstphotographischen Ateliers Becker und Maaß. Man kann sich ohne Gefahr vor Entstellung vor ihren Apparat begeben. Marie Böhm weiß im richtigen Augenblick den Blick vom Auge zu nehmen. „Der nichtssagendste, ausdrucksloseste Mensch hat einen Augenblick, den muß man eben festhalten.“ Ihre lieben, blauen Augen strahlen, als sie das antwortet. Ich verstecke mich unter einem Tisch hinter langen Laubgewächsen, um aus meiner Froschperspektive einige Aufnahmen zu beobachten. Daß das nicht angehe, meint Fräulein Böhm — schon naht das Brautpaar, ich rufe ihr aus meiner Lage zerstreut zu, sie soll sagen — im Fall — ich bin Arzt und interessiere mich für neuartige Operationen. Diese Ideenverwirrung stammt von meinem Vater her, er verwechselte immer das Zahnziehen mit dem Photographierenlassen. Beides hat so was mit dem Herausholen zu tun — und — „der eine Augenblick“. Marie Böhm aber hat keine Zange in der Hand. Bräutigamundbrautumschlungen sitzen die beiden auf der Bank und drehen ihr den Rücken zu; ihre Gesichter blicken sich auf einmal nach etwas um. Ob sie mich quaken hören! — „Danke!“ Zweite Aufnahme. — Für die Photographien müßte es auch eine Welt geben aus gediegenem Silberoxyd im Krinolin. Das Album ist aus der Mode gekommen, darin sich das photographierte Onkeltantengeschlecht zum Aufblättern befand; es stirbt nicht aus. In Schalen liegen all die Pietäten, Frauen, die sich auch schon Löckchen drehten. Nun sind unsere Kleidersäcke zugebunden. Auf den spätverwandten Bildern stehen die Röcke weit in Runden. Ihre Augen aufgetan in Todesangst — den Augenblick zu greifen, heute hascht ihn die Photographie wie einen Schmetterling vom zwanglosen Sichgehenlassen. Und gerade meine liebe Marie Böhm ist eine so große Photographin — sie photographiert auch ohne Apparat gerade mitten in der Sonne mit geschlossenen Augen, wie der Maler malt ohne Pinsel im Spazierengehen, im Anblick, im Nachsinnen. Wenn ich ihr gegenüber sitze, wartet sie auf die Falte zwischen meinen Brauen.
Wer den Kulissenmantel des Alpenkönigs trug, vernahm ich beim ersten Ton der Rauschestimme. Albert Heine, der Herodes, ist zu viel für diese Papiermaché-Rolle. Ich habe vergessen, mir einen Theaterzettel zu kaufen, außerdem sitze ich vor einer Säule und vor dieser pflanzt sich wild ein Herr auf mit einem Wasserkopf. Aber auch die übergroße Vegetation, die mir den Blick zur Bühne hemmt, vermag keineswegs meine Stimmung zu trüben, ich kam, um von dem romantisch-komischen Märchen Honig aus goldgeblümter Heiterkeit zu naschen. An meine Nachbarin mit dem künstlichen Busen wende ich mich mit behutsamer Frage, ich erfahre: Hinter den ältlichen Stirnfalten des Menschenfeindes verbirgt sich der Direktor selbst — Carl Meinhard. Es ist fast nicht zu glauben, gestern hörte ich ihn noch lachen im Café des Westens wie ein Achtzehnjähriger, und vorigen Winter trug er eine Knabenpelzmütze, die stand ihm (es gehört zwar nicht hierher) hervorragend. Nun steigt er aus dem Altbrunnen, ein greiser, grotesker Wolf (Bastard) — man erkennt ihn nicht wieder; und doch ist es Carl Meinhard, der Fagottspieler unter den Darstellern, er spielt heute abend die grimmige Polka seiner Rolle mit Meisterfertigkeit. — In der Reihenfolge den Inhalt des romantisch-komischen Märchens zu erzählen, möchte ich dem Leser vorenthalten; selbst hören und sehen! Selbst ins Berliner Theater gehen. Ich hole nur die Hauptgestalten, die mir so sehr gefallen haben, hinter dem Vorhang hervor und stelle sie auf meine Hand, eine Miniaturbühne, ich, die Regisseurin aus Privatvergnügen. Rappelkopf, der reiche Gutsbesitzer (Carl Meinhard), sein Bedienter Habakuk (Oskar Sabo) und du, Josefine Dora, wo steckst du? Mögen die Leute denken, was sie wollen. Du singst ja selbst: Aber er denkt ... Habakuk, der Bediente des Herrn Rappelkopf, erinnert mich leise daran, daß er zwei Jahre in Paris gewesen ist, nichtsdestoweniger verleugnet sein Radieschengesicht „Läutemichels“ berühmte Gemüsegärten. Er, ein dienernder Ungeschickter, ein tragischer August im allerkünstlerischsten Unsinn. Zwei Jahre war er in Paris gewesen. Das hebt ihn in den Augen des Personals vom Souterrain bis in den Salon der Herrschaft. Dieser soll das bedeutungsvolle Motto eine zarte Mahnung sein, für ihn selbst wird es zum Schild seines untergebenen Joches. Er war zwei Jahre in Paris gewesen, das macht Habakuk keck und überlegen und bringt wie eine Zauberformel einigen Glanz über seinen Dieneralltag. Jäh wird ihm der Spruch vor der dürftigen Kammer seines Herzens gestrichen, er darf nicht mehr seinen Lippen hochmütig entschlüpfen, sein menschenfeindlicher Herr, zweiter Teil, hat es ihm verboten. Der Alpenkönig nämlich hat sich, um den Menschenfeind von seinem Wahn zu befreien, in dessen Gestalt und Wutausbrüche verwandelt. Und heimlich vertraut sich der stumme Bediente dem gemütlichen Onkel an, arglos dem wirklichen menschenfeindlichen Rappelkopf, der in seinem eigenen Hause im verträglichen Wesen des Onkels porträttreu zu Gast weilen muß. In keinem üblichen Brief, keiner knisternden Zeitung, in keiner unerwarteten Depesche steht es geschrieben, aber auf dem riesengroßen Taschentuch Habakuks, ehrfurchtsvoll seiner Hosentasche entzogen. Wir lesen es alle: er war zwei Jahre in Paris gewesen — und der mitleidige Onkel gestattet es ihm, herauszuschreien — endlos — endlich. Es kommt der erlösende Augenblick: Ich war zwei Jahre in Paris gewesen! Das macht ihm niemand nach, ich kann den Humor nicht schildern, es ist nicht nachzulachen. Tröste dich Habakuk, beraubte Dienerseele, ich war auch gewesen, ich war sechs Jahre in „Konstantinopel“ gewesen — ich möchte es jedem an den glorreichen Kopf werfen, jedem in seine dicke Stirn schneiden — wer’s glaubt wird selig. Um Himmels willen, Liesl (Josefine Dora) hörst du denn nicht, dein Herr ruft nach dir. Rappelkopf hat sämtliche Möbel zerschmettert. Das Liesl wagt sich mit Todesverachtung, wackelnd mit dem allerwertesten Vollmond in des Menschenfeinds Gemach — „aber er denkt“ — Sie muß immer wieder das Lied singen mit dem Refrain: Bassab, „aber er denkt“ — und immer bassiger und spaßiger: aber er denkt ...
Der Beifall will nicht enden. Ich stürme noch einmal in Mantel und Hut auf meinen Platz zurück.
Seinem Vater zur Widmung
Meine Spelunke verwandelt sich zum türkischen Café, wenn er und ich zusammen Zigaretten rauchen und wir von den Wänden für unsere Häupter die beiden Fez herunterholen, die auf die Griffe meiner Dolche gestülpt sind.
Einer der Söhne des gefangenen Abdul Hamid, der begabteste jedenfalls, ist der Maler und zur Mokkastunde der Gast meiner Palastspelunke. Wir sprechen (in der Zeit der Abendhimmel alle seine goldenen Bilder aufs Dach stellt) von roten, blauen, grünen und lila Dingen. Ich rate Egon Adler: „Sie müssen immer nur Ihr Selbstbildnis malen.“
Er ist so ganz Eigen, ganz Sich, und sein Herz in einem Rahmen. Aber in seinem Herzen liegt sein jungverstorbener Bruder begraben, und innige Gestalt schafft des Malers Hand, wenn der Engel seiner Erinnerung aufersteht.
Zwischen den Farben liegt er dann plötzlich — Stern zwischen Zinnober und Marin auf der Palette für die großen Pinsel. Alle Bilder Egon Adlers sind Spiele, sind süß, haben großgeöffnete Augen, sind ganz in Gottes Vaterhand und rufen.
Sein Mariengemälde holte ich mir aus einer dunklen Ecke des Ausstellungssaals ans Licht: „Träume, säume Marienmädchen, überall bläst der Rosenwind die schwarzen Sterne aus; wiege im Arme dein Seelchen — alle Kinder kommen auf Lämmern zottehotte geritten, Gottlingchen sehen und die schönen Schimmerblumen und den großen Himmel da im kurzen Blaukleide.“
* *
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Aber auch die drei Könige sind gekommen; einer sitzt auf des anderen Schulter, der höchste trägt ein Krönchen, ist des Malers Bruder und will Mariens heiliges Spielzeug haben.
Auf Egon Adlers unvergleichlichem Schöpfungsbilde steht sein Brüderchen verzaubert als Mantelkranich mitten auf der Wiese und macht den frechen, kleinen Vögeln bange. Als Reiter reitet er auf dem langausschreitenden Reiterpferd durch den Wald über die Wege aus bunten Fahnenstreifen.
Immer muß Egon Adler die Geschichte des unvergeßlichen Bruders in Farben erzählen, der ist der Memed seines Mohammedherzens.
Hinter den Paradiesbäumen, in den Schornstein seiner Stadtbilder, überall hat sich der kleine Bruder versteckt; er ist es, der den Glorienschein um die Heiligenlocken der Jüngergestalten seines älteren, malenden Bruders anzündet.
Das sich wiegende Blatt der Palme, auf dem Treibhausgemälde ist der Kleine, seine Seele leuchtet im Stein des Ringes am Finger des japanischen Schauspielers.
Elfjährige Kinderaugen gucken unter der Stirn des Selbstbildnisses von Egon Adler und erhöhen es zum Selbstantlitz. Und in den Wolken tummelt er sich als Mond.
Ewig ist Egon Adlers Malerei, ein Engel lebt in seinem Herzen und hängt seinen Schöpfungen Flügel an.
Einmal, als ich sie besuchte, malte jemand ihre Hand — eine schmale Dolde am Ast, eine Seele, die blühte. Ellen Neustädter spielt nicht zur Schau; ihr Spiel ist eine tiefe Dichtung. Die Bühne fängt die Geschehnisse ihres Herzens auf und reicht sie dem Besucher, ein vielköpfiges Ganzes. Sie gibt dem Gemach oder der Landschaft die Farbe, und ihr Odem ist überall. Die Damen vom künstlerischen Theater in Moskau könnten ihre Schwestern sein; die haben allerdings ihre Partner, ihre Zugehörigkeit. Ellen Neustädter hat nur einen gleichwertigen Bruder in Berlin: Oskar Sauer. Warum trennt man das rechtmäßige Spielerpaar? Klein Eyolfs Eltern sind sie. Schwere, hehre Paradiesstimmung, düstere Ernte. Eine Engeline: Ellen Neustädter; der Erzengel unter den Schauspielern ist Oskar Sauer. Was ihre Lippen bringen, ist Kunst aus Segen gewölbt. Sein Spiel straft, ihr Spiel belohnt; ist ihr Wesen aus Glas, sein Wort aus Stahl. Immer erzwingt die Gabe der beiden Wunderkünstler ehrfürchtige Anbetung. Es schneite draußen weiße Sterne. Oskar Sauer war seinen Leiden erlegen in „Nora“. Stand noch lange nach Schluß der Vorstellung am Theatertor — ich bildete mir ein, er sei wirklich gestorben. Auch heute wagte ich mich nicht stürmisch zu begeistern. Ellen Neustädters Seele ist eine zagende Dolde. Durch die lange Theaterabendstraße ging ich auf Zehen heimwärts, denn mein Herz träumte noch. Genial ist das Unantastbare, Erzengel ist alles Genie, es erlöst vom Täglichen, bringt Verlorenheit und Seligkeit zugleich.
Kinematographisches
In Verehrung für Ludwig Kainer
Wenn mein Herz gesund wär, spräng ich zuerst aus dem Fenster; dann ging ich in den Kientopp und käm nie wieder heraus. Es ist mir genau so, als ob ich das große Los gewonnen hab’ und noch nicht ausbezahlt bin, oder auf einer Pferdelotterie einen Gaul gewonnen hab’ und keinen Stall „umsonst“ auftreiben kann. Das Leben ist doch eigentlich ein Wendeltreppendrama, immer so rund herauf und wieder hinunter, immer um sich selbst wie bei den Sternen. Ich bin in freudiger Verzweiflung, in verzweifelter Freudigkeit; am liebsten machte ich einen Todessprung oder einen Jux. Meine Freundin Laurentia zecht wie ein Fuchs, sie studiert die Sprache der alten Herren, ich meine Griechisch und Lateinisch und macht gute Fortschritte. Aber was geht mich das alles an; ich will nichts wissen, nichts. Wenn es nur nicht klopfen würde!
Das Gehirn wird rein aufgewühlt, es klopft nicht allein unten jeden Freitag und Sonnabend, jedes Stäubchen wird aufgewirbelt, es klopft auch an den anderen Wochentagen, denn ich wohne zwischen Haus und Haus und muß die Brutalität aller Höfe ertragen. Ich sitze immer bei geschlossenen Fenstern und werde gar nichts von dem Sommer haben; ausgehen kann ich nicht, ich schreibe Geistergeschichten; ich habe Schulden. Dabei zieht’s, wenn ich die Türen rechts und links und hinter mir auflasse. Ich trage seit dieser Wohnung ein Katzenfell; wenn ich abends wo eingeladen bin, überkommt mich eine furchtbare Angst, ich könnte anfangen zu miauen. Ich hab’ gar keine Lust zum Leben mehr, wenn noch die Menschen gerne meine Lyrik lesen wollten; wer sie gern liest, der soll mir doch mal einen netten Brief schreiben. Ich muß nämlich wegen meiner Krankheit in Kleesalz baden, damit man nicht über mich ausrutscht. Ich habe dann immer so eine Langeweile in der Badewanne, und lese gerne schmeichelhafte Briefe an mich. Was einen schlechte Kritiken ärgern! Man hat doch sofort jemand gern, der einem schöne Worte schreibt. Es gibt wirklich sympathische Geschöpfe auf der Welt. Ich kann nur Weißgesichter nicht leiden, ich habe einen Argwohn gegen Licht. Darum nehme ich mir auch nur schwarze Mägde und Diener. Ich habe zwei Neger und zwei Indianerinnen; Tecofis Vaterhäuptling kommt manchmal nach Berlin und tritt dort mit seiner Truppe im Chât noir auf. Tecofi fragt mich, wenn sein Vater nach Berlin kommt, ob er bei mir auf dem Balkon wohnen könne. Ich hab’ nichts dagegen. Mein Somalineger ist königlicherer Abstammung, sein Vater besitzt bei Teneriffa Hammelherden. Manchmal schickt er mir ein paar abgezogene Hammel, die kommen als Hautgoutragout hier an. Osmann, mein jüngerer Neger, sieht aus, wie ein sinnender Gorilla im Pflanzenkübel. Böse Spezies, herrlich zu schauen, aber man muß ihn in Ruhe lassen; seit kurzem pfeif’ ich auch nicht mehr, wenn er jemandem den Kopf abbeißen soll, er ist zu schade, zu wertvoll, um zu gehorchen, selbst mir. Meine beiden Indianerinnen sind emsige Mädchen, sie sind angestellt von mir, die Fäden meiner Logik zu suchen, die Logik meiner Unterhaltung zu finden. Manchmal suchen sie die ganze Nacht, ich fürchte, sie werden sich einmal in einem Augenblick an meinem Leidfaden aufhängen. Das muß man in Kauf nehmen, dunkle Leute sind schlechte Spürhunde, sie können nichts finden in der Nacht ihrer Haut. Halloh, was tät’ ich, wenn mein Herz gesund wär? Habe ich denn ein Herz oder wenigstens sowas Ähnliches? Bei dieser Einlage im Programm muß ich weinen — gut, daß es Nußstangen gibt, die trösten, auch die Pfefferminz in Holzschächtelchen. Ich glaube nicht, daß mein Herz aus Fleisch und Blut ist, rissig sind seine Wände; es hat weniger Augenblickswert als Ewigkeitswert, darum bin ich vollständig unbrauchbar für den Vorbeipassierenden, ich bin nur interessant für den Forscher. Immer klingelt es in den effektvollsten Stellen. „Hier 35, 24 wer dort?“ „Doktor Nikito Ambrosia, sind Sie Else Lasker-Schüler?“ „Leider.“ „Frohlocken Sie nicht, verzweifeln Sie nicht, meine Dame, ich frage Sie an, ganz ergebenst, würden Sie ein Engagement am Wintergarten annehmen, monatlich mit einer Gage von 10000 Mark? das macht im Jahr rund 100000 Mark?“ „Sie spaßen wohl, Herr, es ist doch nicht üblich, am Varieté länger, als einen Monat die Artisten zu beschäftigen.“ „Aber, uns liegt daran, meine Gnädigste, Sie an unser Varieté zu fesseln.“ „Es handelt sich wohl um meine arabische Szene, Herr Dr. Ambrosius?“ „Ganz recht! Da Sie hoch zu Kamel über Theben sitzen.“ „Herr, ich kenne Sie, so einen ungeschminkten Baß gibt es nicht am Varieté. Sie sind Professor Gellert, der letzte Hohenzollerndämmer.“ Schluß! Mein Brief: Herzallerliebster in Adrianopel! Er fragte mich nämlich an, ob ich ihn noch liebe, bittet mich, ihn nicht zu belügen. Ich werde ihm doch keinen Stoff zur Lyrik geben, (er ist Dichter), „ich liebe ihn also! Basta!“ Könnte ich doch auch ein bißchen nach der Türkei, zumal meine Vorfahren alle in Sänften getragen wurden. Das Gehen wird mir darum schwer. Wo bei Euch die Sohlen schon erkaltet sind, sind sie bei mir noch Glut. Wenn mein Herz gesund wär, was tät’ ich dann? Einen Augenblick bitte! Ich würde mich pudelnackt ausziehen und mich in ein Süßwasser werfen, wo die sanften Fische leben, aber Schuppen kann ich nicht leiden. Oder ich ging nach dem Südpol und wärmte mich mal ganz tüchtig ein, oder ich ließ jedenfalls in der Eiszone einen Anthrazitofen setzen. Was soll ich noch machen? Ich blieb gerade am Wendekreis stehen zum Trotz. Den Sternbildern würde ich Schnurrbärte malen. Ist es nicht himmelschade, daß mein Herz nicht gesund ist? Vom Mond kommen die Herzkrankheiten, namentlich die Neurosen. Alle Krankheiten kommen von oben. Hier unten ist es ganz nett. Darum stürzen auch so viele Aviatiker vom Himmel herab; das Fahrzeug platzt ja gar nicht, die Fallsucht kriegen sie alle, je höher sie die Bazillen der Gestirne einsaugen. Wie die Aviatiker aussehn: Wie die Vögel, ihre Nasen sind Schnäbel, und die Köpfe strecken sie in die Höhe. Ein neues Menschengeschlecht. Einmal aß mit mir ein Luftsegler zu Mittag, der hackte wie ein Habicht am Fleisch herum, riß am Schnitzel wie ein Aasgeier. Karl Vollmöllers herrliche Katharine von Armignac ist die erste Aviatikerin der Welt. Im Uniontheater der Luftschiffahrtausstellung am Zoo fliegen sie alle. Ich kann umsonst zusehen, ich versprach über alles zu schreiben. Ich hab’ kein Geld, aber darum kann ich mich doch nicht von der Welt abschließen. Und soll sogar die Regierung in Theben übernehmen, ich regiere sogar schon pro forma. Die Leute in Berlin sagen, ich habe eine fixe Idee. Fixe Idee ist was Natürliches: Natur, die das Gesetz zum Sklaven macht. Ich bin der Prinz von Theben. Nur Kaiser Wilhelm kann mir in Deutschland nachfühlen, was Regieren heißt. Ich habe dabei ein bunt’ Volk. Nachts liege ich auf dem Dach, und bei Tage sitze ich unter meiner Palme und regiere. Ich bin für alles verantwortlich; mein Volk schielt noch vor Ungewißheit, es meint, ich mache Ulk, aber auch der Ulk ist mir bitterer Ernst. Ich bevorzuge nichts — nur Menschen. Bin ungerecht, weil ich Geschmack habe, künstlerischen Sinn habe; meine Rede ans Volk bedient sich nicht des Punktes, weil ich mich nicht binden will. Ich bin am tolerantesten gegen mich, ich bin gnädig gegen mich, ich bin einig mit mir, aus Diplomatie, weil sich mein Volk an mich halten muß. Ich denke nur viel, sehr arg, unmittelbar, ich lasse alle meine Gedanken ganz nah an mich herankommen, damit sie das Fürchten verlernen. Wenn ich nur nicht schon in der Frühe von so vielen muselmännischen Barbieren gestört würde, die mich tätowieren wollen, von abendländischen Malern, die mich porträtieren wollen. Nachts werde ich immer im Schlummer auf meinem Dach gestört von meinen Paschas, die vor Begeisterung meines Regierungsantritts nicht ruhen können. Sie haben immer in der Audienz, die ich ihnen erteilte, eine Frage unaufgeworfen vergessen, die sie treibt. Seitdem ich als regierender Prinz in Theben gewählt bin, bewegen sich viele Ehrgeizige in derselben Tracht und Gebärde in den Straßen der Stadt, die mir zu gleichen trachten. Meine Epigonen! Denn regieren ist auch eine Kunst, eine Eigenschaft, wie die Malerei, die Dichtkunst und die Musik. Die Epigonie aber ist eine Tätigkeit, darum bringt die Epigonie was ein, wie die Arbeit. Ich arbeite nie, ich hasse den Schreibtisch — zwar hab’ ich selbst einen — aber er ist nie ganz gewesen. Heute Nacht, da meine Neger schliefen, erbrachen die Paschas gewaltsam die Pforte, die zu meinem Dache führt, wegen der Freimarken. Ich wurde in der Nacht noch im Profil (Seite steht mir besser wie en face), im Turban und Regierungsmantel photographiert in allen Farben; auf allen Posten meiner Stadt verbreitet man Mich Allerhöchst.
Vielleicht gehe ich selbst noch einmal in den Schwank, sein Humor hat doppelte Lebenskraft, man kann sich zweimal totlachen. Es fällt mir gar nicht ein, den Inhalt des kleinen Lustspiels zu verraten, nur möchte ich seinen famosen Darstellern für den schönen Abend und vor allen Dingen dem Autor Fritz Gräbert für den lustigen Streich danken. Arthur Winckler spielte den ehemaligen Bäckermeister August Pickenbach mit Rosinen und Korinthen und allen außergewöhnlichen Zutaten. Emmy Dittmar, allerdings eine Schulreiterin, in die man sich verlieben kann. Frau Meyer (Rosa Schäffel), man soll sich noch so eine gute Wirtin suchen! Es war ein lachendes Zusammenspiel, ein Tanz, leichtfüßig, ein Walzer: An der blauen Donau, wenn auch der erste Aufzug in Ostende an der Nordsee spielt und der Herr Rentier Bäckermeister Pickenbach auf berlinisch mir und mich der neuen Bekanntschaft beim Sekt sein Mehlherz ausschüttet. Man kommt nicht aus dem Lachen heraus, der traurigen Jungfrau Sentimentalität ist der Eintritt verboten, der Autor hat die banale Tochter zu Hause gelassen, er ironisiert selbst den Kuß. Er mag nicht eines Kusses wegen einen Augenblick Lachen einbüßen. „Skool!“ ruft mein Nachbar. Er ist Schwede. Ein Liebespaar, zwei Turteltauben, stehn doch sonst immerwo im dritten Akt, gefüllt oder ungefüllt, am Nischenfenster und girren im frischesten Lustspiel geheuchelte Sehnsucht. Meine Angst war also hier vergebens. Und mich belustigt ungestört der ungeschlachte, wollige Liebhaber Maler Hans Wegemann (Carl Wessel), es blieb ihm jedes Wort im Hals stecken, bis er zum beißenden Hammel ausreifte unter der Leitung seiner Backfischbraut Marie, der Tochter Pickenbachs (Grete Kroll). Die vielen Hände, die einen Wirbel klatschten, waren nicht zu übersehen.
Tausend und Einer. Ich habe mich nicht verzählt, las auch, während ich die Köpfe zählte, Armin Wassermann Verse seiner Herzensdichter. Weich und herb, reich und superbe ist seine Sprache; dazu sein schwärmerisches, knabenhaftes Savoyardengesicht! — Ich suche nach einem Stuhl, der im Verborgenen blüht — endlich finde ich so ein Veilchen abseits am Tapetenrand; ich setze mich. Meine Tänzerin Zobeïde, die sehr neugierig auf das Kabarett der Neopathetik ist, ruht schon lange müde zwischen weißen, lilagelben, roten und himmelblauen Mädchen; ein Dichter mit Honiglippen und zwei Augen, naschhafte Bienen, als einziger Tasso neben ihr und ihren bräutlichen Schwestern. Es betritt jemand den Ölberg des Saals und predigt über Kunst. Der Vortrag ist geistvoll, wenn man sich auch durch Mimik und Brille in die Schule zurückversetzt glaubt. Noch immer höre ich keine Gedichte von mir — warum lud man mich ein, zumal ich keineswegs objektiv bin? Auf einmal flattert ein Rabe auf, ein schwarzschillernder Kopf blickt finster über die Brüstung des Lesepults. Jakob van Hoddis. Er spricht seine kurzen Verse trotzig und strotzend, die sind so blank geprägt, man könnte sie ihm stehlen. Vierreiher — Inschriften; rund herum müßten sie auf Talern geschrieben stehn in einem Sozialdichterstaat. Ich muß immer ans Geld denken; wie man so runterkommt — wenn Zobeïde, meine Tänzerin, ein Portemonnaie bei sich hätte, würde ich zu der Menschenhitze ein Glas Limonade trinken. Ich höre, wie ein Vortragender mit triumphierendem Gesicht Stefan Georges Dichtungen als Ruhepunkt bezeichnet. Das muß ich widerlegen. Stefan Georges Gedichte wandeln allerdings, ohne müde zu werden; nicht bunte Karawanen über Sandwege; aus ihnen weht die Kühle endloser Prozessionen zwischen frommen Schlössern und himmelhohen Domen. Die Orthographie der Georgeverse erinnert in ihrer Gleichtönigkeit leicht an englische Sonntagsruhe. War’s das, lieber Vortragender? Gern hätte ich die Rede von Kurt Hiller, dem Präsidenten des neopathetischen Kabaretts, gehört.
Zobeïde, meine Tänzerin, will noch nicht mit nach Hause kommen.
Der lieben Malerin Lene Kainer
Die Straßen enden in Rundungen, tanzumschlingende Arme. Wir wandeln wie in einem endlosen Saal durch Wien. Es ist Nacht — die Mondkrone mit den vielen tausend Sternenkerzen brennt lustig über der Stadt der Walzer. Aber nur wenige Menschen begegnen uns, vom Vergnügen kehren die letzten heim, und ihre Gedanken drehen sich noch mit den blauen Donauklängen leichtfüßig über das spiegelblanke Leben. Aber die Wiener sind höflich gegen ihre Fremdlinge (wir suchen nämlich das Kabarett Nachtlicht), noch im Tanztaumel besinnen sie sich nach dem entferntesten Winkel, begleiten sogar den Suchenden bis an Ort und Stelle. Da steht’s ja: „Kabarett Nachtlicht“ — Erich Mühsam trägt gerade seine „Amanda“ vor. Er sieht noch lebenslässiger aus, wie in Berlin. Zwar sitzt sein Rock heute ohne Tadel, und seine Mähne, löwengelb, ist gepflegter wie an der Spree. Aber er bangt sich nach Ruhe, und auch die Jungfern seiner Verse mit dem nächtlichen unrechtlichen Geschick sind müde, sich hier weiter zu produzieren. „Ein Kunststück, seien Sie mal Schlußnummer — komme erst um 5 Uhr morgens in die Klappe.“ Nichtsdestoweniger will er uns noch ins Kasino begleiten. Dort tanzt eine schwarze Blondine, „Spaniens Madonna“, sagt Peter Altenberg im Vorübergehen. Er ist im Begriff, gestützt auf seinen Knüppelstock, das Kabarett zu verlassen — ihm folgt die kleine Künstlergesellschaft.
Am anderen Abend sind wir zeitiger da. Es treten uns einige von den Mitwirkenden entgegen: Jener mit dem Monokle im Auge kommt mir bekannt vor. „Gewiß, Frau Lasker-Schüler, wir haben uns schon oft im Café Kurfürstendamm in Berlin gesehen.“ Er ist Roda Roda, der humoristische Schriftsteller. In eine der kleinen Logen setzen wir uns, seine scharmanten Humoresken zu hören. Das Publikum applaudiert, bevor er beginnt; es weiß, nun gibt’s was zu lachen. Im Kakaduton schäkert er mit ihnen wie mit einer Schar hörlustiger Kinder. Junge und alte Geschäftsleute, kleine Mädchen, Damen der Gesellschaft, Offiziere, selbst die Erzherzöge kommen, das Nachtlicht morgens auszublasen. In einer Rumpelkammer spinnwebgrau sitzen wir, unwillkürlich sucht man nach allerlei altmodischem Gerümpel. Bestaubte Figuren und Porträts, näher betrachtet von neuen Künstlern ausgeführt, hängen an den Wänden, und auf der Konsole über dem blonden Kopf eines Leutnants steht die Statuette von Madame Delvard, der Scharfrichterin. Sie ist die einzige, die den elf Scharfrichtern in München zur Hand ging. „Ich werde extra einige Chansons für Sie singen.“ Sie spricht zu mir — ich liebe ihre graziöse Stimme, dunkler vergrößern sich ihre graublauen Augen zwischen zitternden Lidern. Ihre Nervosität duftet. Sie ist eine erwachte Klimtblume aus dem magischen Farbentraum des Meisters. Blasse Lichtchen werfen einen Schleier auf ihre beringten Hände, die schlaff herabhängen an ihrem überschlanken Samtstengelleib, wie weiße tauschimmernde Blätter. Und Wedekinds rotäugige Straßenlieder singt sie mit der Schüchternheit eines Kindes. So leicht kommt sie nicht von der Bühne herunter: ein Lied und immer noch eins — „Der Bauer wollt’ fahren ins Heu!“ Unwiderruflich das letzte — aber sie singt es mit frischer Kraft, sie singt es bedeutend, stößt es von sich, wie aufschießende Saat. Da steht keine ätherische Prinzessin mehr im Lichtschaum; Acker liegt unter ihrer Zunge, Peter Altenberg nickt zustimmend und setzt sich neben mich in die kleine Loge. Monsieur Henry, Madame Delvards Gatte, begleitet ihre Lieder am Klavier, aber auch er ist ein Vortragsmeister. Ich werde nie seine Ballade vom „Heiligen Nicolas“ vergessen, seine rauschige Schwermutsstimme. Monsieur Henry ist der gewandteste unter den blutigen Elfen in München gewesen, und ein Kavalier ersten Ranges. Wir wollen uns wieder vom Zuschauerraum an den Künstlertisch zurückziehen; doch Peter Altenberg hält mich auf meinem Platz zurück. „Das Meißnerfigürchen müssen Sie noch sehen und die drei Handwerksburschen.“ Sie stehen schon auf der Bühne in altfränkischen, goldknöpfigen Röcken, die Mützen geschmückt mit Eichenlaub. Ihr Wanderlied beglückt mich ebenso immer wieder wie meinen Nachbar. Er ist nächtlich Gast des Kabaretts; die Umgebung dieser Künstlerkinder tut ihm wohl, der Aufenthalt auf der kleinen Künstlerinsel unter dem guten grünlich flackernden Miniaturstern. Ein kostbares Spitzengewebe ist seine Seele, jedes holprige Wort bleibt in ihren Seidenmassen hängen. Aber wen der gute Blick seines Schelmenauges trifft, der möchte ihn wohl ergreifen können und in ein Enveloppe als Andenken legen. Und sollte er sich nicht ärgern über die Breitheit der Menschen — „nichtsdestoweniger zerstreut es mich, nachmittags am Graben im Café zu sitzen und die bunte Bewegung anzusehen“. Ich möchte manchmal zu ihm sagen, so ganz unmotiviert: „Lieber Peter Altenberg.“ — — — Es ist gleich Morgen — wir wollen alle noch einmal Carmen tanzen sehen — — und dann lebt wohl, ihr lieben Künstler, so ball kemma ma nöt wieda zsamm.
Der Kohinoor meines Nachbars tanzt hin und her, macht Sprünge auf seinem Zeichenblock wie die Clowns dort auf dem Rade. Jetzt nascht er von der Chansonette im honiggelben Frack. Einige von den Umrissen leben auf dem weißen Untergrund, neckisch, eckig hingeworfen, namentlich der eine von der Clowniade ist very fine getroffen. Ein Klatschwirbel holt the english artist auf die Bühne zurück. Was ist mit ihm geschehen! Seine Stirn nach allen Richtungen hin zur Unförmigkeit aufgedunsen. Zweifellos hat er die englische Krankheit mit herüber gebracht. Es gibt keinen Spaß, den der nicht da gedacht hat, und ich muß ehrlich auch in diesem Essay gestehen, es kommt nun noch dazu, daß ich die Brüder aus London besonders mag, „ich hab’ noch nie so gelacht wie heute!“ Der Kohinoor meines Nachbars lauscht zugespitzt; die zwei ehrwürdigen Bordellmatronenwirtinnen vor mir erinnern sich gegenseitig ihres Amtes. Geliebter und Geliebtin blicken sich zu in der Loge wie die schillernden Demi-Monde auf dem Vorhang, der sich weltenseufzend spaltet und das Gemach der Sultana enthüllt. Nackte Frauen steigen (obere, kleine Bühne) aus ihrem Brunnenbade wie im wirklichen Harem eines Sultans. Am Fuß der Treppe, die zum eigentlichen Gemach der Herrin führt, wacht der Wächter armverschränkt. Endlich nahen die erfrischten Schönen, aber ihre Haare duften nicht nach Pharaonenblüten, auch sind ihre Glieder keineswegs ungelöste Geheimnisse. Und statt Sultana betritt Frau Betty das Gemach, die Freundin des amüsanten Frauendoktors, ihres wohlsituierten Mannes treue Tennispartnerin. Sie liest auch Romane — — schwüle mit Betthimmelpointen und Daunenliederbordüren, und ich fürchte, daß die Halbmonde der Dekoration vor Begierde rein zu Glotzmonden werden. Die Freundinnen beginnen endlich, indes Sultana ihren Leib dem Divan und dem Kissen gibt, mit ihren Tauchtänzen (kein Druckfehler), Schleier-Eiertänzen, man vernimmt Arm- und Beingegackel. Der Wächter tritt vor, er ist nicht „Asra“, er schreit nicht ia, furchtbar kracht sein Wort, sein Antlitz bleich, sein Turban — — Blut. Die Tänzerinnen vertanzen in den Keller. Jäh springt Sultana von ihrem Lager auf und stößt auf Jargon von sich: „Was willst du von mir, Hund!“ Der Sultan, dein Gebieter hat es so befohlen. Betty du mußt sterben ... Und deine Tändelei hört auf im Mondscheinvorhang. Leise nähert sich der Wächter ihrem Ohre, aber Sultana wählt lieber den Tod, als daß sie sich, Sultana bleibe stark, dem intriganten Schuften schenken mag. Diese temperamentvolle Charakterfeste, warum gastiert sie nicht bei Gebrüder Herrnfeld? Die zwei greisen Leopardinnen vor mir schnurren, der Kohinoor meines Freundes fällt bleischwer zu Boden. Männer ergreifen auf die Gebärde des Wächters erbarmungslos die Geprüfte. Arme schicke Betty, tipptopp, peitschensiebenhiebenspaltig! Ob wir paar Geschworene im Zuschauerraum auch von deiner Unschuld überzeugt sind — — es nützt nichts. Markerschütternd verenden deine Hilferufe. Aber in weißen Tennisschuhen und weißem Flanellhemd steht die Taube von Gatte am Fußende des Ruhebetts. Statt der zunehmenden goldenen Viertel- und Halbkugeln — — Tapetengeknospe. Wärter: „Sultana“ ... und wieder ihr Name leise verbettelnd: Ein Tropfen des Turbans klebt auf der aufgeschlagenen Seite des Romans.
Wie eine Erlösung nun das Konzert auf dem Banjo der lovely, sweet Miß, ihr Spiel verbreitet hellen, herben Zauber. Und nach ihr der musikalische Clown mit der Entennase, er verabreicht kurzweg ein Konzert auf den Messingknöpfen eines Schirmständers, ich habe mich in der Zeit verliebt in ihn, — — — mein Herz sprach immer schon für einen August, über den man sich totlacht. Und Euch sparte ich mir bis zuletzt auf, edle, blonde Senora Fornarina, ich möchte Euch etwas besonders Schönes sagen, goldene Traube Spaniens.
Tierfabel
Zirkus Busch ist in seinem Extrazug von Berlin abgereist. Ich bin zu seinem Abschied auf die Bahn gekommen, früh am Morgen; der Komet stand noch über der Sternwarte, aber die Zirkussterne, Schulreiterinnen, Jongleure, Auguste, der Riese mit dem Zwerg, der große Bär, die Elefantin, das Dromedar, der glitzernde Galawagen, alle waren sie im Lauf und bald im vollsten Zuge. Noch lange hörte ich das Brüllen der Tigerinnen, nie haßte ein Mann so wütend das Weib wie der Bändiger dieser gestreiften Katzenleiber. Der Puls des Zirkus blieb stehn, trat der unerschrockene Sultan in das Gittergemach seiner brüllenden Sklavinnen. Er mißbraucht sie nicht zu Kunststücken, läßt er auch die Kunstreiterin seiner Tigerinnen durch einen Papierreifen springen. Wollust bereitet ihm, seine wutschäumenden Tigerweiber mit Stangen und Schüssen bis zur Wutekstase zu reizen und sie zu bezwingen. Schschschschschschsch — sch — die beiden eleganten Brüder Fillies und ihre graziöse Schwester werfen noch einen kurzen Blick auf den Perron, der Clown mit der genialen Ungeschicklichkeit verlangt auf idiotisch vom Zeitungsträger den „Ulk“ — Sch .... Berlin hat sein größtes Kind eine Weile verloren, den Zirkus; wo geht man nun hin, um zuzugucken? Wie ein Mensch soll der Affe sich im Wintergarten benehmen. Herr Darwin, der Enkel des großen Zoologen, wird mich ins Varieté begleiten. Es ergreift ihn, so einen gebildeten Vorfahren seiner Baumzeit zu sehen. Ich bin ebenfalls von dem fletschenden Erzurgroßvater entzückt. Ein Gourmet ist der greise Herr, keineswegs lebt er von Luft und Erkenntnis. Der verwandte Künstler da oben verzehrte ein Menu von Dressel und regalierte sich an Heidsieck-Monopol. Mit Verbindlichkeit raucht er die Zigarette, die ihm ein Bewunderer verehrte. „Es ist Zeit“ noch prüft er die Zeiger auf seiner Uhr. — Ich möchte mich auch in ein solches Prachtbett legen — ich bin müde — die Nacht vorher brachte ich, mich verirrend, in der Kolonie Grunewald zu; im Rieselregen auf einer runden Sommerbühne, worauf die Gärtner Kiesel legen. Nasse Nacht, kein Komet mehr. Ich war trostlos. Plötzlich rief der Kuckuck — ich bezog es zuerst persönlich, aber so unhöflich sind nur die Kuckucksuhren. Dieser da zwischen jungem Grün, zwischen April und Mai, ist ein vortragender Künstler, ein wundervoller Komiker. Also gibt es wirklich Kuckucke? Ich dachte immer, es sei eine Fabel.
Meinem lieben blauen Reiter Franz Marc und seiner blauen Reiterin
Die junge Reitkünstlerin Miß Ella kehrt in die Manege zurück und schlägt die ausgelassensten Purzelbäume. Und dann kommen Paolo, Luigi und Alberto, die drei Gigerl, und treiben aneinander Gymnastik mit der markigen Beweglichkeit großer Leonahrder Hunde. Vier braune, ungarische Pferdeprinzen, deren Haut unter dem Schein der vielen Kristallsterne wie Gold glänzt, tanzen mit wilder Anmut und königlicher Grandezza. „Als ob sie Musik in den schlanken Waden haben!“ sagt mein Begleiter zu mir. Und nun das Intermezzo der beiden Clowns. „Er ist mein Bruder,“ kreischt Aujust, der blöde Aujust, der amüsante Idiot. Wie ein Gänserich watschelt er in seinen sackweiten Hosen quer durch die Manege. Fräulein Marinka, die sanfte, graziöse Erzieherin auf einem ihrer zwei artigen Pferde sitzend — ringelrangelreihe singen die Geigen — und ihre beiden Zöglinge springen vor Vergnügen. Und wieder ertönt die Musik hoch oben vom Zirkus, das sind heiße Carmentöne, walzerartig in rundem Klingen geblasen. „Hier ist die Verunstaltung erträglich,“ sagt mein Begleiter zu mir, „es paßt zum Milieu.“ Und immer bunter werden die Klänge ... in schimmernde, mattfarbene Stoffe gehüllt kommen reizende Spanierinnen geritten und feurige, spanische Kavaliere. Heißer und tollkühner wird der tanzende Ritt; die bacchantischen Donnas sausen, wie Feuerstürme über den Sand, auf dem Rücken ihrer Zauberrosse liegend — indessen die Senores mit liebenswürdiger Höflichkeit aufrecht zu Pferde, dem Winke ihrer Damen harren.
Aujust! Aujust! Wo bist de, Aujust? Da steht er ja, versteckt hinter der niedrigen Brüstung der Manege und heult in Trompetentönen, daß alle Herzen Purzelbäume schlagen und immer höher wächst er, immer höher. „Det hat keenen juten Anbejinn und een langet Uffwehen,“ quitscht Aujusten sein Bruder mit den wulstigen Mehlbacken und der Haardüte auf dem spitzen Kopf, indessen Aujust die Manege in Melancholie, langsam wie ein wandelnder Turm durchschreitet. „Det Luder ist maschuche jeworden, weil der kleine Cohn sinn Vater is!“
Schon harren die drei blonden englischen Reiterinnen in blauer Seide; lovely Girls, drei holde Mädchenenzianen. Hei, wie sie springen, herauf und herunter von dem Rücken ihres wiehernden Vogels. Nun trägt er sie alle drei über den Sand in tausende Märchen, weithin, in blaue Gärten ... Ich entwand meinem Begleiter die weiße Rose, die über seinem Herzen blühte. „Miß here! catch it!“
10 Minuten Pause!
„Wie gefällt es dir!“ „Es ist wie ein blühendes Abenteuer. Es ist, als ob ich brausenden, dunklen Wein trinke, und ich vergesse alles was grau ist und hinkt. Ich sitze in einem bunten, jauchzenden Schoß, und um ihn herum wachsen ragende Gefahren, die aber lustige Kleider tragen.“ Wir gehen durch die weiten Korridorhallen. Galawagen auf Goldrädern, Riesendrachen aus Papiermaché, zusammengeklappte Bretterhäuser, Fässer, allerlei Gerümpel, Kostüme mit Silberfransen, Steinen und Perlen liegen in übermütiger Unordnung zwischen dem Mobiliar. Wir treten in die Ställe ein: da stehen die herrlichen Schimmel mit der silberschimmernden Haut und den Seidenschweifen, wie helle Rosen des Frühfrühlings. Und dort die finsteren Rappen mit den großen Feueraugen. Eine kleine Treppe führt uns abwärts in die Stallungen der Elefanten — diese grauen, schweren Gebäude aus Fleisch und Knochen mit den winzigen Guckaugenfensterchen. Als wir wieder auf unseren Plätzen saßen, war die Manege mit eisernen Gittern umzäunt. Zwei mächtige Löwen schreiten in den Käfig und hinter ihnen die anderen Könige der Kraft. „Nero! Herkules! Agamemnon! Odysseus! Hektor! Kambyses! Hierher! Dorthin! Willst du! Vite, vite! Ah, mon cher.“ — und dann wieder im gebrochenen Deutsch: „Aben Sie die Güte, mein Freund.“ Mademoiselle Claire, du grausamste Braut! Mit erhobenem Arm, mit drohender Liebenswürdigkeit beugt sie den Willen ihrer grimmigen Sklaven. Ihr weißer Hals lockt wie Süßigkeit, ihr blendender Hals, das Ideal ihrer brüllenden Verehrer. „Ah, messieurs! Hektor, Agamemnon, Kambyses, dînez s’il vous plaît.“ Und sie tafelt ihnen blutende Leckerbissen. Das gierige Brüllen und Knurren dröhnt durch die weiten Räume des Zirkus in aufwachsender Wildheit. Hastig eilt der Diener herein und wieder heraus aus dem Käfig, Gerätschaften bringt er, Kugeln, Stangen, Fässer holend, Stühle und Tische — aus Gauklern besteht die gefährliche Truppe. „Genug, Madame Claire!“ Nero muß sich noch auf dem Seil produzieren. Gewandt, wie ein Seiltänzer dreht er sich, in der Mitte des Seiles angelangt, um sich selbst. „Brav gemacht!“ Seine Brüder sind schon alle gefangen in der kleinen Nacht ihrer Wagenherberge, und er allein liegt noch ausgestreckt, wie im Sande der Wüste, und schlummert. „Nero, wache auf! Nero, ich muß bitten“ — aber Nero rührt sich nicht, er öffnet zwar seine gelben Augen — und ihn auf den Schultern nach Hause tragend, wie ein müdes Baby, durchschreitet die furchtbare Heilige, die heilige Kriegerin, eine Siegerin das Eisentor.
Als der Direktor seine zwei Perserhengste vorführte, sah ich zwischen den Tönen der tanzenden Musik noch die grimmige Pranke Agamemnons, die nach seiner Schönen ausholte und das schwärmerische Anschmiegen Neros.
Im Eingang der Manege stehen zwei Riesenelefanten, zwei Schulräte an Ruhe und Würde. Etliche helle und dunkle Pferdchen springen, fleißige Schulbuben hinter einigen größeren Apfelschimmeln, die ernst und gravitätisch in der Mitte des Zirkus haltmachen. Aber in fauler Gemütsruhe spazieren die kleinen Elefanten herbei, und dann ungeduldig die mutwilligen Zebras mit den glänzenden Streifen auf der Haut. Und nun laufen sie allesamt in verschiedenem Tempo, als ob sie kanonartig das Abc singen.
Tatrata tönen die Trompeten und die Hörner, Reiter und Reiterinnen in ziegelroten Tuchanzügen, galoppieren auf ihren schlanken Rennern über Zäune und Hecken, dem Edelwild nach, den Hirschen und leichtfüßigen Gazellen — und da läuft ja auch der Aujust in rasender Angst durch den weiten Manegeraum und hinter ihm ein Wild mit einer vielästigen Geweihkrone. Die Puste jeht Aujusten aus. Er stöhnt, er schreit und gestikuliert mit allen Vieren. „Herr Stallmeister, retten Sie mir!!!“ Und zum Schluß: Mr. Bob, the little gentleman, mit seiner kleinen sechsjährigen Dame auf dem Pferde ...
Noch in Hut und Mantel stehen die Zuschauer vor ihren Plätzen. — Es kann doch eigentlich noch gar nicht aus sein — tuuht, tuuht! Über die Manege des Zirkus senkt sich schwer von der Decke des Zirkus eine Riesenfeuerglocke. Aujust ist durchgebrannt!! Rotumhüllte Clowns, wie in Glut gebadet, wandeln knurrend über den Sand, immer auf und ab; die Anführer tragen Aujustens Herz aus kariertem Zucker auf einem roten Kattunkissen. Aber da steht er ja oben auf dem Olymp: „Aujust, sollst mal runter kommen!“ schallen tausend Stimmen durcheinander — aber Aujust steht drohend aufgerichtet, seine Nase ist weiß und spitz wie eine Nadel, seine Augen sind wutrot aus den Höhlen getreten. Düstere Zettel fliegen auf das Publikum. Er streikt, er beansprucht im Namen der Clowngesellschaft mit beschränkter Haft erhöhten Lohn — er droht mit juten Witzen. Und mit einem langen Purzelbaum setzt er über unzählige Köpfe lachender Hörer hinweg durch eine der Ausgangstüren. — Die vielen Lichter werden trübe, wie müde Augen — ich und mein Begleiter sind die letzten der Aufbrechenden — der große Zirkus ist ganz allein.
Der lieblichen Fürstin Helle von Sontzo
Der Tempel der Pferde ist der Zirkus, ich meine, jedes Pferd will spielen, und das heißt auf die Sprache des Wieherns, beten; alle Tiere wollen spielen, aber welche Tieraugen brennen vor Begeisterung so tief wie die des Rappen; die Schimmel sind fromme Pilger oder Heilige. Päpstinnen, wie Santa Anna, Leo ritt auf ihren unbefleckten, weißen Rücken zwischen frommen Hecken seiner päpstlichen Gärten. Ich gehe jeden Monat in den großen Zirkustempel Busch, zu jedem Feiertag der Pferde, zu ihrem Galadienst. Am liebsten sind mir ihre Feiern ohne vielerlei Äußerlichkeiten, wenn sie ungesattelt ohne Reiter oder Reiterinnen sich tanzend im Kreise bewegen, ihr eigenes Blut feiern nach Herzenslust. Gefallen lasse ich mir die drei Geschwister Fillis im Zirkus Busch, des berühmten, französischen Reiters Reitlinge. Die stören den Rhythmus des Pferdespiels nicht; ihre Gestalten sind selbst schlankgeweiht dem Ritt. Mademoiselle Fillis, die Schwester der beiden jungen Chevaliers ist verwachsen, wie ihre Brüder, mit dem Rücken ihres wiehernden Priesters. — Mein Vater und meine Mutter ritten durch die Akazienchausseen meiner Heimat; meiner Mutter Edelstute wallfahrtet oft durch meine Erinnerung und trägt mir dichterische Gedanken zu, und meines Vaters Hengst setzt über mein Blut und läßt es aufschäumen. Ich liebe euch, ihr Pferde mit den langen Seidenschweifen, Atlas ist eure Haut und feuerfarbener Samt eure Augen. Solche Schönheit ist die Frömmigkeit der Pferde, gezüchtet, spielfähig und buntgebenedeit. Ich wüßte keine andere Stätte, die den Namen Tempel der Pferde verdiente, wie den Zirkus. Etwa der Rennstall? Prostituiertes Pferdepriestertum. „Beten“ heißt „Spielen“ der Pferde und gibt es einen lustigeren, weihevolleren Sandtempel, als den Zirkus. — Hochmütig ihrer Zucht bewußt, schütteln die Herrenpferde ihre Mähnen, kehren verächtlich dem Liebesäugeln einer dreisten Lastpferdin oder einer brünstigen Dickschenkelin ihres Pferdevolkes den Rücken. Sie gehen keine Mesalliance ein. Glücklich macht mich der Anblick eines Reiters, paßt er sich dem Denken seines Trägers an. Wie denkt sein Pferd, sein wohlgepflegtes Pferd? Trabweise, sprungweise, gallopierend, immer in Gedanken, treu seiner Bewegung. Und das überträgt sich dem Kavalier und seiner Dame, Halbpriester der da oben, Halbpriesterin, die auf des Pferdes Rücken. Voll Spiellust sind die Füllen; jeden Morgen wartete ungeduldig so ein Nimmermüdes auf mich und meine Schulkameradin. Über den Zaun auf seine Wiese sprangen wir schulvergessend — wer von uns drei wohl am liebsten Zeck spielte! Darum empfinde ich schmerzlich jede Mißhandlung der Karrenpferde. Bang wie Regen fließen die dunklen Lider über ihre trüben Augen. Wie denkt so ein Pferd? Kummer bedrückt sein Herz und beugt seinen verhärmten Kopf. Manchmal tröstet der Braune den Schwarzen oder der Apfelschimmel die müde Apfelschimmelin. — Wie futterfreudig hingegen an ihren fetten Trog denken die markigen Erntepferde; an den Seiten des Kopfes tragen sie den blanken Messingschmuck. Zwei, vier Kinderhände, vom reichen Schulzen die Buben, halten sich an den Strähnen der Mähne des schnaubenden vierbeinigen Bauern fest, und einige Plumssäcke liegen auf dem Hinterviertel seines stampfenden, drallen Pferdeweibs. Ich liebe euch alle, ihr Pferde, auch die Zwergpferdchen aus Gullivers Zwerglande im Zirkus Busch.
„Wann fängt es an?“ Daß wir nur ganz pünktlich dort sind! Ich will lieber den ersten Aufzug einer Theaterpremiere versäumen als die Reiterin im Quastensattel. Es hieße eine Erinnerung schießen lassen. Erstaunte, großaufgetane Augen bekommt man im Zirkus, und die Lippen werden rot und runden sich. Und alle Menschen, die zugucken, sind Kinder. Das ist es: Zugucken soll man.
Nach dem Steppenritt — die liebenswürdige Schulreiterin im blauen Tuchkleid; ihr folgen weißbegossene Pudel, zwei Clowns. Beim Müller waren sie und wollen nun zum Bäcker in den Ofen. Hinter ihnen hilflos der wirkliche August in spitzen, amerikanischen Lackschuhen, gentlemanlike gekleidet. Auf einmal öffnet sich der Vorhang der oberen kleinen Bühne. An stählernen Recken strecken sich schmiegsame Menschenleiber, wie Katzen hin und her auf Samthänden und leisen Füßen. Aber unten in der Manege stampfen schon die schwarzen Zigeunerpferde. Ich liebe die Pferde. Es sind gestaltgewordene Sagen, Legenden, Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Wann setzen die wiehernden Paschas über den Bankzaun, im Kreis den Sand aufwirbelnd zur Wolke! Ihre Nacken schmückt der Halbmond mit dem Stern. Oben vom Gipfel des Zirkus braust ein Marsch. Ich hörte ihn schon am Bosporus; Abdul Hamids Sohn hat ihn vertont. — — —
Die Kristallkronen senken sich majestätisch, der bunte Riesenraum wird zu einem Krönungssaal. Die Ringer warten schon vor der Halle. Schlanke Königssöhne aus dem Norden, ihre Schultern sind dunkelvergoldet von der Mitternachtssonne. Dichtungen werden Wahrheiten. Johannes Josefsson, ein isländischer Achill, er führt den Heroentanz der Kraft auf. Ich muß an den schönen Halbgott denken, noch zwischen den Indianern, Farmern und Cowboys. Eine interessante Häuptlingspantomime. Man bekommt Lust, mitzupantomimen. Ich halte die übliche verzuckerte Nußstange noch unberührt in der Hand. — —
Morgen Mittwoch acht Uhr, große Galavorstellung.
Kurt Wolff Verlag, Leipzig (früher Ernst Rowohlt Verlag)
Max Brod
Die Höhe des Gefühls
Szenen, Verse, Tröstungen
25 Exemplare auf Bütten, vom Autor signiert in Ganzleder gebunden je Mark 15.—
Geheftet Mark 3.— Gebunden Mark 4.50
Berliner Tageblatt: Der Titel „Die Höhe des Gefühls“ bezeichnet einen Zustand außerordentlicher seelischer Steigerung, der ein Hinausgehen über die sonstigen Grenzen der lyrischen Form zum szenischen Bilde notwendig macht, indem der Träger des Gefühls sich selbst in den leidenschaftlichen Beziehungen zur Umwelt darstellen muß. Durch eine ins Großartige aufstrebende biblische Düsterkeit und Erlebniskraft erhebt sich das Schlußstück „Die Arche Noah“ zu einer Musik des Wortes und Sinnes, die man als ein poetisches Oratorium ansprechen möchte.
Neue Freie Presse, Wien: Es dünkt mich das innigste, echteste und zugleich kühnste, selbstbewußteste der Brodschen Bücher. Hier gab der Dichter vielleicht sein Tiefstes: ein Paradigma der Menschheit, ihrer Irrungen und Versuchungen, ihrer Verstrickungen und Erlösungen in Form einer kurzen und gedrängten, phantasievoll vergegenwärtigten Szene. Irgendein Unsagbares schwingt hierbei noch mit, das ich nur durch das Wort „Musik“ anzudeuten vermag.
Die Zeit, Wien: Etwas Weltabgewandtes, Abseitiges, nach innen Gekehrtes, das mit unserem Gefühls- und Gedankenleben mehr zu tun hat, als Krieg und Börse, zieht uns mit seltsamer Gewalt zu diesen Blättern und dennoch spürt man verhalten den heißen Atem unserer Zeit darin. Über die neue Gabe des jungen Prager Dichters wird man sich freuen: sie gehört zu den in unserer Zeit so seltenen reifen und harmonischen Büchern, die gleichweit von erdfernem Optimismus und kokett-ironischer Weltschmerzlichkeit entfernt sind.
Prager Tageblatt: Brods Kunst erscheint hier wunderbar gesteigert, losgelöst vom stofflichen Zwang, wie auf Flügeln die Welt durchmessend. Der Verlag hat dem Werk übrigens ein ganz erlesenes Kleid gegeben.
Kurt Wolff Verlag, Leipzig (früher Ernst Rowohlt Verlag)
Max Brod
Über die Schönheit häßlicher Bilder
Ein Vademecum für Romantiker unserer Tage
Geheftet Mark 3.50 Gebunden Mark 4.50
Ein ernstes und dabei bizarres Bekenntnisbuch Max Brods, das eigensinnige, höchst individuelle Credo dieses Dichters. Man kann sagen, daß sein Schaffen durch das vorliegende Buch, in dem der Dichter fast ausschließlich von sich selbst und seinen äußersten Gedankenverfaserungen spricht, in ganz neuem Lichte erscheint. Das Buch ist zum tieferen Verständnis der vorhergehenden Werke Brods unerläßlich. Wir sehn hier ein heftiges Temperament und seine Opposition gegen unser mechanisiertes, amerikanisiertes, philiströs-kaufmännisches Zeitalter äußern. Aber diese Opposition ist alles andere als griesgrämig. Sie versteckt sich oft sogar hinter einem lustigen Lob des Verabscheuten, ja sie baut eine ganze phantastische Theorie der „Schönheit des Geschmacklosen“ aus. Die Greuel kitschiger Bilder, Kino und Panorama, Chansonetten und Ausstattungsstücke, häßliche Möbel und konventionelle Schauspielkunst werden in unterhaltendster Paradoxie in den Himmel erhoben. Hinter dem komplizierten Gewebe von Spott und ironischer Verliebtheit schlägt aber immer wieder die Liebe zum Begeisternden, zu den Sternen, zu Smetana und Berlioz, zum Meister Flaubert und zu dem nach Ansicht des Dichters bedeutendsten Zeitgenossen Robert Walser durch. So ist dieses Buch eigentlich nur ein eigenwilliger, aber doch ein Weg zum Ideal und zur Befreiung des Menschen im Absoluten, im Reiche des Erhabenen und Schönen. Unbeirrbar steht hinter jedem der unberechenbaren Seitensprünge und humoristischen Exkursionen der große Ernst dieses Dichters. Max Brod hat in seinem gleichzeitig erschienenen (mit Dr. Felix Weltsch gemeinsam verfaßten) philosophischen Buch „Anschauung und Begriff“ die exakte Basis gegeben, auf der er sich so kühne Scherze erlauben darf, die in anderem Zusammenhange vielleicht frivol klängen, während sie hier nur von der unbefangenen, nietzschehaft heiteren Luft um diesen sicheren Tänzer Kunde geben.
Kurt Wolff Verlag, Leipzig (früher Ernst Rowohlt Verlag)
Franz Werfel
Wir sind
Neue Gedichte
In vorzüglicher Ausstattung / Druck der Offizin W. Drugulin
Vorzugsausgabe: 15 numerierte vom Autor signierte Expl. auf schwerem Japanbütten in Ganzlederbd. M. 35.—
Geheftet Mark 3.— Gebunden Mark 4.50
Ein neues Buch von Franz Werfel, dem jungen, rasch berühmt gewordenen Lyriker. Was in Werfels ersten Versen bereits gestaltet war: die Fülle der Erscheinungen im Geiste des zeitgenössischen Poeten, wird hier gesteigert zu ungeheuerster Weltbeseelung. Aber nicht mehr im Irdischen will seine Dichtung beharren, sie versucht dem Göttlichen im Gefühl aller Menschheit näher zu kommen. So wird sein Singen prophetisch wie die Psalmen des Alten Testaments; sein Werk hat die Stärke und Verkündigung eines neuen Ethos.
Urteile über Franz Werfel:
Wilhelm Herzog: „... ein ganz junger, ganz großer Dichter. Wenn irgendwo, so ist hier die neue Kunst.“
Frankfurter Zeitung: „... ein ganz großer Dichter, mit allem Ernste sei das gesagt.“
Neue Rundschau: „... Withmans kosmische Liebe und Goethes unersättliche Lust zu fühlen, hat sich Werfel durch das Recht der Wiedergeburt zu eigen gemacht.“
B. Viertel im „Strom“: „Diesem jungen Dichter fügt sich das Leben, indem es ihn entzückt, in leichte, zarte, schwebende Formen. Alles ist neu, alles ist noch Ereignis, ist Ekstase.“
Anmerkungen zur Transkription
Die Schreibweise und Zeichensetzung des Originales wurden weitgehend beibehalten. Nur offensichtliche Fehler wurden korrigiert wie hier aufgeführt (vorher/nachher):