Title: Geschichte des Agathon. Teil 1
Author: Christoph Martin Wieland
Release date: September 1, 2000 [eBook #2313]
Most recently updated: April 3, 2015
Language: German
Credits: This etext was prepared by Michael Pullen, Alpharetta, GA
This etext was prepared by Michael Pullen, Alpharetta, GA.
Geschichte des Agathon
Christoph Martin Wieland
Erste Fassung (1766/1767)
—quid Virtus, et quid Sapientia possit Utile proposuit nobis exemplar.—
Geschichte des Agathon—Inhalt
Vorbericht
Erster Teil
Erstes Buch
Erstes Kapitel: Anfang dieser Geschichte
Zweites Kapitel: Etwas ganz Unerwartetes
Drittes Kapitel: Unvermutete Unterbrechung des
Bacchus-Festes
Viertes Kapitel: Agathon wird zu Schiffe gebracht
Fünftes Kapitel: Eine Entdeckung
Sechstes Kapitel: Erzählung der Psyche
Siebentes Kapitel: Fortsetzung der Erzählung der Psyche
Achtes Kapitel: Psyche beschließt ihre Erzählung
Neuntes Kapitel: Wie Psyche und Agathon wieder getrennt werden
Zehntes Kapitel: Ein Selbstgespräch
Eilftes Kapitel: Agathon kömmt zu Smyrna an, und wird verkauft
Zweites Buch
Erstes Kapitel: Wer der Käufer des Agathon gewesen
Zweites Kapitel: Absichten des weisen Hippias
Drittes Kapitel: Verwunderung, in welche Agathon gesetzt wird
Viertes Kapitel: Welches bei einigen den Verdacht erwecken wird,
daß diese Geschichte erdichtet sei
Fünftes Kapitel: Schwärmerei des Agathon
Sechstes Kapitel: Ein Gespräch zwischen Hippias und seinem Sklaven
Siebentes Kapitel: Worin Agathon für einen Schwärmer ziemlich gut
räsoniert
Achtes Kapitel: Vorbereitungen zum Folgenden
Drittes Buch
Erstes Kapitel: Vorbereitung zu einem sehr interessanten Diskurs
Zweites Kapitel: Theorie der angenehmen Empfindungen
Drittes Kapitel: Die Geisterlehre eines echten Materialisten
Viertes Kapitel: Worin Hippias bessere Schlüsse macht
Fünftes Kapitel: Der Anti-Platonismus in Nuce
Sechstes Kapitel: Ungelehrigkeit des Agathon
Viertes Buch
Erstes Kapitel: Geheimer Anschlag, den Hippias gegen die Tugend
unsers Helden macht
Zweites Kapitel: Hippias stattet einer Dame einen Besuch ab
Drittes Kapitel: Geschichte der schönen Danae
Viertes Kapitel: Wie gefährlich es ist, der Besitzer einer
verschönernden Einbildungskraft zu sein
Fünftes Kapitel: Pantomimen
Sechstes Kapitel: Geheime Nachrichten
Fünftes Buch
Erstes Kapitel: Was die Nacht durch in den Gemütern einiger von
unsern Personen vorgegangen
Zweites Kapitel: Eine kleine metaphysische Abschweifung
Drittes Kapitel: Worin die Absichten des Hippias einen merklichen
Schritt machen
Viertes Kapitel: Veränderung der Szene
Fünftes Kapitel: Natürliche Geschichte der Platonischen Liebe
Sechstes Kapitel: Worin der Geschichtschreiber sich einiger
Indiskretion schuldig macht
Siebentes Kapitel: Magische Kraft der Musik
Achtes Kapitel: Eine Abschweifung, wodurch der Leser zum Folgenden
vorbereitet wird
Neuntes Kapitel: Nachrichten zu Verhütung eines besorglichen
Mißverstandes
Zehentes Kapitel: Welches alle unsre verheiratete Leser, wofern sie
nicht sehr glücklich oder vollkommne Stoiker sind,
überschlagen können
Eilftes Kapitel: Eine bemerkenswürdige Würkung der Liebe, oder von
der Seelenmischung
Sechstes Buch
Erstes Kapitel: Ein Besuch des Hippias
Zweites Kapitel: Eine Probe von den Talenten eines
Liebhabers
Drittes Kapitel: Konvulsivische Bewegungen der
wiederauflebenden Tugend
Viertes Kapitel: Daß Träume nicht allemal Schäume sind
Fünftes Kapitel: Ein starker Schritt zu einer Katastrophe
Siebentes Buch
Erstes Kapitel: Die erste Jugend des Agathons
Zweites Kapitel: En animam & mentem cum qua Di nocte
loquantur!
Drittes Kapitel: Die Liebe in verschiedenen Gestalten
Viertes Kapitel: Fortsetzung des Vorhergehenden
Fünftes Kapitel: Agathon entfliehet von Delphi, und findet
seinen Vater
Sechstes Kapitel: Agathon kommt nach Athen, und widmet sich
der Republik. Eine Probe der besondern Natur
desjenigen Windes, welcher vom Horaz aura
popularis genennet wird
Siebentes Kapitel: Agathon wird von Athen verbannt
Achtes Kapitel: Agathon endigt seine Erzählung
Neuntes Kapitel: Ein starker Schritt zur Entzauberung unsers
Helden
Zweiter Teil
Achtes Buch
Erstes Kapitel: Vorbereitung zum Folgenden
Zweites Kapitel: Verräterei des Hippias
Drittes Kapitel: Folgen des Vorhergehenden
Viertes Kapitel: Eine kleine Abschweifung
Fünftes Kapitel: Schwachheit des Agathon; unverhoffter Zufall,
der seine Entschließungen bestimmt
Sechstes Kapitel: Betrachtungen, Schlüsse und Vorsätze
Siebentes Kapitel: Eine oder zwo Digressionen
Neuntes Buch
Erstes Kapitel: Veränderung der Szene. Charakter der Syracusaner,
des Dionysius und seines Hofes
Zweites Kapitel: Charakter des Dion. Anmerkungen über denselben.
Eine Digression
Drittes Kapitel: Eine Probe, daß die Philosophie so gut zaubern
könne, als die Liebe
Viertes Kapitel: Philistus und Timocrates
Fünftes Kapitel: Agathon wird der Günstling des Dionysius
Zehentes Buch
Erstes Kapitel: Von Haupt—und Staats-Aktionen. Betragen Agathons
am Hofe des Königs Dionys
Zweites Kapitel: Beispiele, daß nicht alles, was gleißt, Gold ist
Drittes Kapitel: Große Fehler wider die Staats-Kunst, welche Agathon
beging—Folgen davon
Viertes Kapitel: Nachricht an den Leser
Fünftes Kapitel: Moralischer Zustand unsers Helden
Eilftes Buch
Erstes Kapitel: Apologie des griechischen Autors
Zweites Kapitel: Die Tarentiner. Charakter eines liebenswürdigen
alten Mannes
Drittes Kapitel: Eine unverhoffte Entdeckung
Viertes Kapitel: Etwas, das man ohne Divination vorhersehen konnte
Fünftes Kapitel: Abdankung
Der Herausgeber der gegenwärtigen Geschichte siehet so wenig Wahrscheinlichkeit vor sich, das Publicum überreden zu können, daß sie in der Tat aus einem alten Griechischen Manuskript gezogen sei; daß er am besten zu tun glaubt, über diesen Punkt gar nichts zu sagen, und dem Leser zu überlassen, davon zu denken, was er will.
Gesetzt, daß wirklich einmal ein Agathon gewesen, (wie dann in der Tat, um die Zeit, in welche die gegenwärtige Geschichte gesetzt worden ist, ein komischer Dichter dieses Namens den Freunden der Schriften Platons bekannt sein muß:) gesetzt aber auch, daß sich von diesem Agathon nichts wichtigers sagen ließe, als wenn er geboren worden, wenn er sich verheiratet, wie viel Kinder er gezeugt, und wenn, und an was für einer Krankheit er gestorben sei: was würde uns bewegen können, seine Geschichte zu lesen, und wenn es gleich gerichtlich erwiesen wäre, daß sie in den Archiven des alten Athens gefunden worden sei?
Die Wahrheit, welche von einem Werke, wie dasjenige, so wir den Liebhabern hiemit vorlegen, gefodert werden kann und soll, bestehet darin, daß alles mit dem Lauf der Welt übereinstimme, daß die Charakter nicht willkürlich, und bloß nach der Phantasie, oder den Absichten des Verfassers gebildet, sondern aus dem unerschöpflichen Vorrat der Natur selbst hergenommen; in der Entwicklung derselben so wohl die innere als die relative Möglichkeit, die Beschaffenheit des menschlichen Herzens, die Natur einer jeden Leidenschaft, mit allen den besondern Farben und Schattierungen, welche sie durch den Individual-Charakter und die Umstände einer jeden Person bekommen, aufs genaueste beibehalten; daneben auch der eigene Charakter des Landes, des Orts, der Zeit, in welche die Geschichte gesetzt wird, niemal aus den Augen gesetzt; und also alles so gedichtet sei, daß kein hinlänglicher Grund angegeben werden könne, warum es nicht eben so wie es erzählt wird, hätte geschehen können, oder noch einmal wirklich geschehen werde. Diese Wahrheit allein kann Werke von dieser Art nützlich machen, und diese Wahrheit getrauet sich der Herausgeber den Lesern der Geschichte des Agathons zu versprechen.
Seine Hauptabsicht war, sie mit einem Charakter, welcher gekannt zu werden würdig wäre, in einem manchfaltigen Licht, und von allen seinen Seiten bekannt zu machen. Ohne Zweifel gibt es wichtigere als derjenige, auf den seine Wahl gefallen ist. Allein, da er selbst gewiß zu sein wünschte, daß er der Welt keine Hirngespenster für Wahrheit verkaufe; so wählte er denjenigen, den er am genauesten kennen zu lernen Gelegenheit gehabt hat. Aus diesem Grunde kann er ganz zuverlässig versichern, daß Agathon und die meisten übrigen Personen, welche in seine Geschichte eingeflochten sind, wirkliche Personen sind, dergleichen es von je her viele gegeben hat, und in dieser Stunde noch gibt, und daß (die Neben-Umstände, die Folge und besondere Bestimmung der zufälligen Begebenheiten, und was sonsten nur zur Auszierung, welche willkürlich ist, gehört, ausgenommen) alles, was das Wesentliche dieser Geschichte ausmacht, eben so historisch, und vielleicht noch um manchen Grad gewisser sei, als irgend ein Stück der glaubwürdigsten politischen Geschichtschreiber, welche wir aufzuweisen haben.
Es ist etwas bekanntes, daß öfters im menschlichen Leben weit unwahrscheinlichere Dinge begegnen, als der Chevalier de Mouhy selbst zu erdichten sich getrauen würde. Es würde also sehr übereilt sein, die Wahrheit des Charakters unsers Helden deswegen in Verdacht zu ziehen, weil es öfters unwahrscheinlich ist, daß jemand so gedacht oder gehandelt habe, wie er. Wenn es unmöglich sein wird, zu beweisen, daß ein Mensch, und ein Mensch unter den besondern Bestimmungen, unter welchen sich Agathon von seiner Kindheit an befunden, nicht so denken oder handeln könne, oder wenigstens es nicht ohne Wunderwerke, Einflüsse unsichtbarer Geister, oder übernatürliche Bezauberung hätte tun können: So glaubt der Verfasser mit Recht erwarten zu können, daß man ihm auf sein Wort glaube, wenn er positiv versichert, daß Agathon wirklich so gedacht oder gehandelt habe. Zu gutem Glücke finden sich in den beglaubtesten Geschichtschreibern, und schon allein in den Lebensbeschreibungen des Plutarch Beispiele genug, daß es möglich sei, so edel, so tugendhaft, so enthaltsam, oder, nach der Sprache des Hippias, und einer ansehnlichen Klasse von Menschen zu reden, so seltsam, so eigensinnig und albern zu sein als es unser Held in einigen Gelegenheiten seines Lebens ist.
Man hat an verschiedenen Stellen des gegenwärtigen Werks die Ursachen angegeben, warum man aus dem Agathon kein Modell eines vollkommen tugendhaften Mannes gemacht hat. Da die Welt mit ausführlichen Lehrbüchern der Sittenlehre angefüllt ist, so steht einem jeden frei, (und es ist nichts leichters) sich einen Menschen einzubilden, der von der Wiege an bis ins Grab, in allen Umständen und Verhältnissen des Lebens, allezeit und vollkommen so empfindt, denkt und handelt, wie eine Moral. Damit Agathon das Bild eines wirklichen Menschen wäre, in welchem viele ihr eigenes erkennen sollten, konnte er, wir behaupten es zuversichtlich, nicht tugendhafter vorgestellt werden, als er ist; und wenn jemand hierin andrer Meinung sein sollte, so wünschten wir, daß er uns (wenn es wahr ist, daß derjenige der Beste ist, der die besten Eigenschaften mit den wenigsten Fehlern hat,) denjenigen nenne, der unter allen nach dem natürlichen Lauf Gebornen, in ähnlichen Umständen, und alles zusammen genommen, tugendhafter gewesen wäre, als Agathon.
Es ist möglich, daß irgend ein junger Taugenichts, wenn er siehet, daß ein Agathon den reizenden Verführungen der Liebe und einer Danae endlich unterliegt, eben den Gebrauch davon machen kann, welchen der junge Chärea beim Terenz von einem Gemälde machte, welches eine von den Schelmereien des Vater Jupiters vorstellte,—und daß er, wenn er mit herzlicher Freude gelesen haben wird, daß ein so vortrefflicher Mann habe fallen können, zu sich selbst sagen mag: Ego homuncio hoc non facerem? ego vero illud faciam ac lubens.
Es ist eben so möglich, daß ein übelgesinnter oder ruchloser Mensch, den Diskurs des Sophisten Hippias lesen, und sich einbilden kann, die Rechtfertigung seines Unglaubens und seines lasterhaften Lebens darin zu finden: Aber alle rechtschaffnen Leute werden mit uns überzeugt sein, daß dieser junge Bube, und dieser ruchlose Freigeist beides gewesen und geblieben wären, wenn gleich keine Geschichte des Agathon in der Welt wäre.
Dieses letztere Beispiel führt uns auf eine Erläuterung, wodurch wir der Schwachheit gewisser gutgesinnter Leute, deren Wille besser ist, als ihre Einsichten, zu Hülfe zu kommen, und sie vor unzeitig genommenem ärgernis oder ungerechten Urteilen zu verwahren, uns verbunden glauben. Wir gestehen gerne, daß wir in das Bewußtsein der Redlichkeit unsrer Absichten eingehüllt, nicht daran gedacht hätten, daß diese Sorgfalt nötig wäre, wenn uns nicht die Anmerkung stutzen gemacht hätte, welche einer unsrer Freunde, ohne unser Vorwissen, auf der Seite pag. 58, unter den Text zu setzen, gut befunden.
Diese Erläuterung betrifft die Einführung des Sophisten Hippias in unsere Geschichte, und den Diskurs, wodurch er den Agathon von seinem liebenswürdigen und tugendhaften Enthusiasmus zu heilen, und zu einer Denkungsart zu bringen hofft, welche er nicht ohne guten Grund für geschickter hält, sein Glück in der Welt zu machen. Leute, die aus gesunden Augen gerade vor sich hin sehen, würden ohne unser Erinnern aus dem ganzen Zusammenhang unsers Werkes, und aus der Art, wie wir bei aller Gelegenheit von diesem Sophisten und seinen Grundsätzen reden, ganz deutlich eingesehen haben, wie wenig wir dem Mann und dem System günstig sind; und ob es sich gleich weder für unsere eigene Art zu denken, noch für den Ton und die Absicht unsers Buches geschickt hätte, mit dem heftigen Eifer gegen ihn auszubrechen, welcher einen jungen Magister treibt, wenn er, um sich seinem Consistorio zu einer guten Pfründe zu empfehlen, gegen einen Tindal oder Bolingbroke zu Felde zieht: So hoffen wir doch bei vernünftigen und ehrlichen Lesern keinen Zweifel übrig gelassen zu haben, daß wir den Hippias für einen schlimmen und gefährlichen Mann, und sein System, (in so fern es den echten Grundsätzen der Religion und der Rechtschaffenheit widerspricht) für ein Gewebe von Trugschlüssen ansehen, welche die menschliche Gesellschaft zu grunde richten würden, wenn es moralisch möglich wäre, daß der größere Teil der Menschen damit angesteckt werden könnte. Wir glauben also vor allem Verdacht über diesen Artikel sicher zu sein. Aber da unter unsern Lesern ehrliche Leute sein können, welche uns wenigstens eine Unvorsichtigkeit Schuld geben, und davor halten möchten, daß wir diesen Hippias entweder gar nicht einführen, oder wenn dieses der Plan unsers Werkes ja erfodert hätte, seine Lehrsätze ausführlich hätten widerlegen sollen: So sehen wir für billig an, ihnen die Ursachen zu sagen, warum wir das erste getan, und das andere unterlassen haben.
Weil nach unserm Plan der Charakter unsers Helden auf verschiedene Proben gestellt werden sollte, durch welche seine Denkensart und seine Tugend erläutert, und dasjenige, was darin übertrieben, und unecht war, nach und nach abgesondert würde; so war es um so viel nötiger ihn auch dieser Probe zu unterwerfen, da Hippias, bekannter maßen, eine historische Person ist, und mit den übrigen Sophisten derselben Zeit sehr vieles zur Verderbnis der Sitten unter den Griechen beigetragen hat. überdem diente er den Charakter und die Grundsätze unsers Helden durch den Kontrast, den er mit selbigen macht, in ein desto höheres Licht zu setzen. Und da es mehr als zu gewiß ist, daß der größeste Teil derjenigen, welche die große Welt ausmachen, wie Hippias denkt, oder doch nach seinen Grundsätzen handelt; so war es auch in dem Plan der moralischen Absichten, welche wir uns bei diesem Werke vorgesetzt haben, zu zeigen, was für einen Effekt diese Grundsätze machen, wenn sie in den gehörigen Zusammenhang gebracht werden. Und dieses sind die hauptsächlichsten Ursachen, warum wir diesen Sophisten (welchen wir nicht schlimmer vorgestellt haben, als er wirklich war, und als seine Brüder noch heutiges Tages sind) in die Geschichte des Agathon eingeflochten haben.
Eine ausführliche Widerlegung dessen, was in seinen Grundsätzen irrig und gefährlich ist: (Denn in der Tat hat er nicht allemal unrecht,) wäre in Absicht unsers Plans ein wahres hors d'oeuvre gewesen, und schien uns auch in Absicht der Leser überflüssig; indem nicht nur die Antwort, welche ihm Agathon gibt, das beste enthält, was man dagegen sagen kann; sondern auch das ganze Werk (wie einem jeden in die Augen fallen wird, sobald man das Ganze wird übersehen können) als eine Widerlegung desselben anzusehen ist. Agathon widerlegt den Hippias beinahe auf die nämliche Art wie Diogenes den Sophisten, welcher leugnete, daß eine Bewegung sei: Diogenes ließ den Sophisten schwatzen, so lang er wollte; und da er fertig war, begnügte er sich vor seinen Augen ganz gelassen auf und ab zu gehen. Dieses war unstreitig die einzige Widerlegung, die er verdiente.
Wir würden dem zweiten Teile, dessen Ausgabe von der Aufnahme des ersten abhangen wird, den Vorteil der Neuheit und den Lesern zu gleicher Zeit ein künftiges Vergnügen rauben, wenn wir den Inhalt desselben vor der Zeit bekannt machten. Genug, daß man unsern Helden in der Folge in eben so sonderbaren und interessanten Umständen und Verwicklungen sehen wird, als in dem ersten Teil. Alles, was wir vorläufig von der Entwicklung sagen können, ist dieses: daß Agathon in der letzten Periode seines Lebens, welche den Beschluß unsers Werkes macht, ein eben so weiser als tugendhafter Mann sein wird, und (was uns hiebei das beste zu sein deucht, ) daß unsre Leser begreifen werden, wie und warum er es ist; warum vielleicht viele unter ihnen, weder dieses noch jenes sind; und wie es zugehen müßte, wenn sie es werden sollten.
Anfang dieser Geschichte
Die Sonne neigte sich bereits zum Untergang, als Agathon, der sich in einem unwegsamen Walde verirret hatte, von der vergeblichen Bemühung einen Ausgang zu finden abgemattet, an dem Fuß eines Berges anlangte, welchen er noch zu ersteigen wünschte, in Hoffnung von dem Gipfel desselben irgend einen bewohnten Ort zu entdecken, wo er die Nacht zubringen könnte. Er schleppte sich also mit Mühe durch einen Fußweg hinauf, den er zwischen den Gesträuchen gewahr ward; allein da er ungefähr die Mitte des Berges erreicht hatte, fühlt er sich so entkräftet, daß er den Mut verlor den Gipfel erreichen zu können, der sich immer weiter von ihm zu entfernen schien, je mehr er ihm näher kam. Er warf sich also ganz Atemlos unter einen Baum hin, der eine kleine Terrasse umschattete, auf welcher er die einbrechende Nacht zuzubringen beschloß.
Wenn sich jemals ein Mensch in Umständen befunden hatte, die man unglücklich nennen kann, so war es dieser Jüngling in denjenigen, worin wir ihn das erstemal mit unsern Lesern bekannt machen. Vor wenigen Tagen noch ein Günstling des Glücks, und der Gegenstand des Neides seiner Mitbürger, befand er sich, durch einen plötzlichen Wechsel, seines Vermögens, seiner Freunde, seines Vaterlands beraubt, allen Zufällen des widrigen Glücks, und selbst der Ungewißheit ausgesetzt, wie er das nackte Leben, das ihm allein übrig gelassen war, erhalten möchte. Allein ungeachtet so vieler Widerwärtigkeiten, die sich vereinigten seinen Mut niederzuschlagen, versichert uns doch die Geschichte, daß derjenige, der ihn in diesem Augenblick gesehen hätte, weder in seiner Miene noch in seinen Gebärden einige Spur von Verzweiflung, Ungeduld oder nur von Mißvergnügen hätte bemerken können.
Vielleicht erinnern sich einige hiebei an den Weisen der Stoiker von welchem man ehmals versicherte, daß er in dem glühenden Ochsen des Phalaris zum wenigsten so glücklich sei, als ein Morgenländischer Bassa in den weichen Armen einer jungen Circasserin. Da sich aber in dem Lauf dieser Geschichte verschiedne Proben einer nicht geringen Ungleichheit unsers Helden mit dem Weisen des Seneca zeigen werden, so halten wir für wahrscheinlicher, daß seine Seele von der Art derjenigen gewesen sei, welche dem Vergnügen immer offen stehen, und bei denen eine einzige angenehme Empfindung hinlänglich ist, sie alles vergangnen und künftigen Kummers vergessen zu machen. Eine öffnung des Waldes zwischen zween Bergen zeigte ihm von fern die untergehende Sonne. Es brauchte nichts mehr als diesen Anblick, um die Empfindung seiner widrigen Umstände zu unterbrechen. Er überließ sich der Begeisterung, worin dieses majestätische Schauspiel empfindliche Seelen zu setzen pflegt, ohne eine lange Zeit sich seiner dringendsten Bedürfnisse zu erinnern. Endlich weckte ihn doch das Rauschen einer Quelle, die nicht weit von ihm aus einem Felsen hervor sprudelte, aus dem angenehmen Staunen, worin er etliche Minuten sich selbst vergessen hatte; er stand auf, und schöpfte mit der hohlen Hand von diesem Wasser, dessen fließenden Kristall, seiner Einbildung nach, eine wohltätige Nymphe seinen Durst zu stillen, aus ihrem Marmorkrug entgegen goß; und anstatt die von Cyprischem Wein sprudelnde Becher der Athenischen Gastmähler zu vermissen, deuchte ihm, daß er niemals angenehmer getrunken habe. Er legte sich hierauf wieder nieder, entschlief unter dem sanftbetäubenden Gemurmel der Quelle, und träumte, daß er seine geliebte Psyche wieder gefunden habe, deren Verlust das einzige war, was ihm von Zeit zu Zeit einige Seufzer auspreßte.
Etwas ganz Unerwartetes
Wenn es seine Richtigkeit hat, daß alle Dinge in der Welt in der genauesten Beziehung auf einander stehen, so ist nicht minder gewiß, daß diese Verbindung unter einzelnen Dingen oft ganz unmerklich ist; und daher scheint es zu kommen, daß die Geschichte zuweilen viel seltsamere Begebenheiten erzählt, als ein Romanen—Schreiber zu dichten wagen dürfte. Dasjenige, was unserm Helden in dieser Nacht begegnete, gibt mir neue Bekräftigung dieser Beobachtung ab. Er genoß noch der Süßigkeit des Schlafs, den Homer für ein so großes Gut hält, daß er ihn auch den Unsterblichen zueignet; als er durch ein lärmendes Getöse plötzlich aufgeschreckt wurde. Er horchte gegen die Seite, woher es zu kommen schiene, und glaubte in dem vermischten Getümmel ein seltsames Heulen und Jauchzen zu unterscheiden, welches von den entgegenstehenden Felsen auf eine fürchterliche Art widerhallte. Agathon, der nur im Schlaf erschreckt werden konnte, beschloß diesem Getöse mit eben dem Mut entgegen zu gehen, womit in spätern Zeiten der unbezwingbare Ritter von Mancha dem nächtlichen Klappern der Walkmühlen Trotz bot. Er bestieg also den obern Teil des Berges mit so vieler Eilfertigkeit als er konnte, und der Mond, dessen voller Glanz die ganze Gegend weit umher aus den dämmernden Schatten hob, begünstigte sein Unternehmen. Das Getümmel nahm immer zu, je näher er dem Rücken des Berges kam; er unterschied itzt den Schall von Trummeln und das Flüstern regelloser Flöten, und fing an zu erraten, was dieser Lärm zu bedeuten haben möchte; als sich ihm plötzlich ein Schauspiel darstellte, welches fähig scheinen könnte, den Weisen selbst, dessen wir oben erwähnet haben, seiner eingebildeten Göttlichkeit vergessen zu machen. Ein schwärmender Haufen von jungen Thracischen Weibern war es, welche von der Orphischen Wut begeistert, sich in dieser Nacht versammelt hatten, die unsinnigen Gebräuche zu begehen, die das heidnische Altertum zum Andenken des berühmten Zuges des Bacchus aus Indien eingesetzt hatte. Ohne Zweifel könnte eine ausschweifende Einbildungskraft, oder der Griffel eines la Fage von einer solchen Szene ein ziemlich verführerisches Gemälde machen; allein die Eindrücke die der wirkliche Anblick auf unsern jungen Helden machte, waren nichts weniger als von der reizenden Art. Das stürmisch fliegende Haar, die rollenden Augen, die beschäumten Lippen und die aufgeschwollnen Muskeln, die wilden Gebärden und die rasende Fröhlichkeit, mit der diese Unsinnigen in frechen Stellungen, ihre mit zahmen Schlangen umwundnen Thyrsos schüttelten, ihre Klapperbleche zusammen schlugen, oder abgebrochne Dithyramben mit lallender Zunge stammelten; alle diese Ausbrüche einer fanatischen Wut, die ihm nur desto schändlicher vorkam, weil sie den Aberglauben zur Quelle hatte, machten seine Augen unempfindlich, und erweckten ihm einen Ekel vor Reizungen, die mit der Schamhaftigkeit alle ihre Macht auf ihn verloren hatten. Er wollte zurück fliehen, aber es war unmöglich, weil er in eben dem Augenblick, da er sie erblickte, von ihnen bemerkt worden war. Der unerwartete Anblick eines Jüngling, an einem Ort und bei einem Feste, welches kein männliches Aug entweihen durfte, hemmte plötzlich den Lauf ihrer lärmenden Fröhlichkeit, um alle ihre Aufmerksamkeit auf diese Erscheinung zu wenden.
Hier können wir unsern Lesern einen Umstand nicht länger verhalten, der in diese ganze Geschichte einen großen Einfluß hat. Agathon war von einer so wunderbaren Schönheit, daß die Rubens und Girardons seiner Zeit, weil sie die Hoffnung aufgaben, eine vollkommnere Gestalt zu erfinden, oder aus den zerstreuten Schönheiten der Natur zusammen zu setzen, die seinige zum Muster nahmen, wenn sie den Apollo oder Bacchus vorstellen wollten. Niemals hatte ihn ein weibliches Aug erblickt, ohne die Schuld ihres Geschlechts zu bezahlen, welches die Natur für die Schönheit so empfindlich gemacht zu haben scheint, daß diese einzige Eigenschaft den meisten unter ihnen die Abwesenheit aller übrigen verbirgt. Agathon hatte ihr in diesem Augenblick noch mehr zu danken; sie rettete ihn von dem Schicksal des Pentheus. Seine Schönheit setzte diese Mänaden in Erstaunen. Ein Jüngling von einer solchen Gestalt, an einem solchen Ort, zu einer solchen Zeit! Konnten sie ihn für etwas geringers halten, als für den Bacchus selbst? In dem Taumel worin sich ihre Sinnen befanden, war nichts natürlichers als dieser Gedanke; auch gab er ihrer Phantasie auf einmal einen so feurigen Schwung, daß, da sie die Gestalt dieses Gottes vor sich sahen, sie alles übrige hinzudichtete, was ihm zu einem vollständigen Dionysus mangelte. Ihre bezauberten Augen stellten ihnen die Silenen und die Ziegenfüßigen Faunen vor, die um ihn her schwärmten, und Tyger und Leoparden die mit liebkosender Zunge seine Füße leckten; Blumen, so deucht es sie, entsprangen unter seinen Fußsohlen, und Quellen von Wein und Honig sprudelten von jedem seiner Tritte auf, und rannen in schäumenden Bächen die Felsen hinab. Auf einmal erschallte der ganze Berg, der Wald und die benachbarten Felsen von ihrem lauten "Evan, Evan!" mit einem so entsetzlichen Getöse der Trummeln und Klapperbleche, daß Agathon, bei dem das, was er in diesem Augenblick sah und hörte, alles überstieg, was er jemals gesehen, gehört, gedichtet oder geträumt hatte, von Entsetzen und Erstaunung gefesselt, wie eine Bildsäule stehen blieb, indes, daß die entzückten Bacchantinnen gaukelnde Tänze um ihn her machten, und durch tausend unsinnige Gebärden ihre Freude über die vermeinte Gegenwart ihres Gottes ausdrückten.
Allein die unmäßigste Schwärmerei hat ihre Grenzen, und weicht endlich der Obermacht der Sinnen. Zum Unglück für den Helden unsrer Geschichte kamen diese Unsinnigen allmählich aus einer Entzückung zurück, worüber sich vermutlich ihre Einbildungskraft gänzlich abgemattet hatte, und bemerkten immer mehr menschliches an demjenigen, den seine ungewöhnliche Schönheit in ihren trunknen Augen vergöttert hatte. Etliche, die das Bewußtsein ihrer eignen stolz genug machte, die Ariadnen dieses neuen Bacchus zu sein, näherten sich ihm, und setzten ihn durch die Art womit sie ihre Empfindungen ausdrückten in eine desto größere Verlegenheit, je weniger er geneigt war, ihre ungestümen Liebkosungen zu erwidern. Dem Ansehn nach würde unter ihnen selbst ein grimmiger Streit entstanden sein, und Agathon zuletzt das tragische Schicksal des Orpheus, der ehmals aus ähnlichen Ursachen von den thracischen Mänaden zerrissen worden war, erfahren haben, wenn nicht die Unsterblichen, die das Gewebe der menschlichen Zufälle leiten, in eben dem Augenblick ein Mittel seiner Errettung herbeigebracht hätten, da weder seine Stärke, noch seine Tugend ihn zu retten hinlänglich war.
Unvermutete Unterbrechung des Bacchus-Festes
Eine Schar Cilicischer Seeräuber, welche frisches Wasser einzunehmen bei nächtlicher Weile an dieser Küste geländet, hatten von fern das Getümmel der Bacchantinnen gehört, und sogleich für einen Aufruf zu einer ansehnlichen Beute aufgenommen. Sie erinnerten sich, daß die vornehmsten Frauen dieser Gegend die geheimnisvollen Orgya um diese Zeit zu begehen pflegten; und daß sie, wenn sie sich zu solchem Ende versammelten, in ihrem schönsten Putz aufzuziehen pflegten, ob sie gleich vor Besteigung des Berges sich dessen wieder entledigten, und alles bis zu ihrer Wiederkunft von einer Anzahl Sklavinnen bewachen ließen. Die Hoffnung, außer diesen Weibern, von denen sie die schönsten für die Asiatischen Harems bestimmten, eine Menge von kostbaren Kleidern und Juwelen zu erbeuten, schien ihnen wohl wert, sich etwas länger aufzuhalten. Sie teilten sich also in zween Haufen, davon der eine sich derer bemächtigte, welche die Kleider hüteten, indessen daß die übrigen den Berg bestiegen, und mit großem Geschrei unter die Thracierinnen einstürmend, sich von ihnen Meister machten, ehe sie Zeit oder Mut hatten, sich zur Wehr zu setzen. Die Umstände waren allerdings so beschaffen, daß sie sich allein mit den gewöhnlichen und anständigsten Waffen ihres Geschlechts verteidigen konnten. Allein diese Cilicier waren allzusehr Seeräuber, als daß sie auf die Tränen und Bitten, noch selbst auf die Reizungen dieser Schönen einige Achtung gemacht hätten, welche doch in diesem Augenblick, da Schrecken und Zagheit ihnen die Weiblichkeit (wenn es erlaubt ist, dieses Wort einem großen Dichter abzuborgen) wiedergegeben hatte, selbst dem sittsamen Agathon so verführerisch vorkamen, daß er vor gut befand, seine nicht gerne gehorchende Augen an den Boden zu heften. Allein die Räuber hatten itzt andre Sorgen, und waren nur darauf bedacht, wie sie ihre Beute aufs schleunigste in Sicherheit bringen möchten. Und so entging Agathon, für etliche nicht allzufeine Scherze über die Gesellschaft, worin man ihn gefunden hatte, und für seine Freiheit, einer Gefahr, aus der er seinen Gedanken nach sich nicht zu teuer loskaufen konnte. Der Verlust der Freiheit schien ihn in den Umständen worin er war, wenig zu bekümmern; und in der Tat, da er alles übrige verloren hatte, was die Freiheit schätzbar macht, so hatte er wenig Ursache sich wegen eines Verlusts zu kränken, der ihm wenigstens eine Veränderung im Unglück versprach.
Agathon wird zu Schiffe gebracht
Nachdem die Cilicier mit ihrer gesamten Beute wieder zu Schiffe gegangen, und die Teilung derselben mit größerer Eintracht, als womit die Vorsteher einer kleinen Republik sich in die öffentlichen Einkünfte zu teilen pflegen, geendiget hatten; brachten sie den Rest der Nacht mit einem Schmause zu, bei welchem sie nicht vergaßen, sich wegen der mehr als stoischen Unempfindlichkeit, die sie bei Eroberung der thracischen Schönen bewiesen hatten, schadlos zu halten. Unterdessen aber, daß das ganze Schiff beschäftiget war, das angefangne Bacchusfest zu vollenden, hatte sich Agathon unbemerkt in einen Winkel zurück gezogen, wo er vor Müdigkeit abermals einschlummerte, und den Traum gerne fortgesetzt hätte, aus welchem ihn das "Evan Evan" der berauschten Mänaden geweckt hatte.
Eine Entdeckung
Die aufgehende Sonne, die von der rosenfingrichten Aurora angekündiget, das jonische Meer mit ihren ersten Strahlen vergoldete, fand alle diejenigen, mit dem Virgil zu reden, von Wein und Schlaf begraben, welche die Nacht durch dem Bacchus und seiner Göttin Schwester geopfert hatten. Nur Agathon, der gewohnt war mit der Morgenröte zu erwachen, wurde von den ersten Strahlen geweckt, die in horizontalen Linien an seiner Stirne hinschlüpften. Indem er die Augen aufschlug, sah er einen jungen Menschen in einer Sklaven-Kleidung vor sich stehen, der ihn mit großer Aufmerksamkeit betrachtete. So schön als Agathon war, so schien er doch von diesem liebenswürdigen Jüngling an Feinheit der Gestalt und Farbe übertroffen zu werden; in der Tat hatte er in seiner Gesichtsbildung und in seiner ganzen Figur etwas so jungfräuliches, daß er, gleich dem schönen Liebling des Horaz, in weiblicher Kleidung unter einer Schar von Mädchen gemischt, gar leicht das Auge des schärfsten Kenners betrogen haben würde. Agathon erwiderte den Anblick dieses jungen Sklaven mit einer Aufmerksamkeit, in welcher ein angenehmes Erstaunen nach und nach sich bis zur Entzückung erhob. Eben diese Bewegungen enthüllten sich auch in dem anmutigen Gesichte des jungen Sklaven; ihre Seelen erkannten einander in eben demselben Augenblicke, und schienen durch ihre Blicke schon in einander zu fließen, eh ihre Arme sich umfangen, und die von Entzückung bebende Lippen "Psyche—Agathon", ausrufen konnten. Sie schwiegen eine lange Zeit; dasjenige, was sie empfanden, war über allen Ausdruck; und wozu bedurften sie der Worte? Der Gebrauch der Sprache hört auf, wenn sich die Seelen einander unmittelbar mitteilen, sich unmittelbar anschauen und berühren, und in einem Augenblick mehr empfinden, als die Zunge der Musen selbst in ganzen Jahren auszusprechen vermöchte. Die Sonne würde vielleicht unbemerkt über ihrem Haupt hinweg, und wieder in den Ozean hinab gestiegen sein, ohne daß sie in dem fortdaurenden Augenblick der Entzückung den Wechsel der Stunden bemerkt hätten; wenn nicht Agathon dem es allerdings zukam hierin der erste zu sein, sich mit sanfter Gewalt aus den Armen seiner Psyche losgewunden hätte, um von ihr zu erfahren, durch was für einen Zufall sie in die Gewalt der Seeräuber gekommen sei. "Die Zeit ist kostbar, liebste Psyche" sagte er, "wir müssen uns der Augenblicke bemächtigen, da diese Barbaren, von der Gewalt ihres Gottes bezwungen, zu Boden liegen. Erzähle mir, durch was für einen Zufall wurdest du von meiner Seite gerissen, ohne daß es mir möglich war zu erfahren, wie oder wohin? Und wie finde ich dich itzt in diesem Sklavenkleid, und in der Gewalt dieser Seeräuber?"
Erzählung der Psyche
"Du erinnerst dich", antwortete ihm Psyche, "jener unglücklichen Stunde, da die eifersüchtige Pythia unsre Liebe, so geheim wir sie zu halten vermeinten, entdeckte. Nichts war ihrer Wut zu vergleichen, und es fehlte nur noch, daß ihre Rache nicht mein Leben zum Opfer verlangte; denn sie ließ mich einige Tage alles erfahren, was verschmähte Liebe erfinden kann, eine glückliche Nebenbuhlerin zu quälen. Ob sie es nun gleich in ihrer Gewalt hatte, mich deinen Augen gänzlich zu entziehen, so hielt sie sich doch niemals sicher, so lang ich zu Delphi sein würde. Sie machte bald ein Mittel ausfündig, sich meiner zu entledigen, ohne einigen Argwohn zu erwecken; sie schenkte mich einer Verwandten, die sie zu Syracus hatte, und weil sie mich an diesem Orte weit genug von dir entfernt hielt, säumte sie nicht, mich in der größten Stille nach Corinth, und von da nach Sicilien bringen zu lassen. Die Törin! kannte sie die Macht der Liebe nicht, die Agathon einflößt? Wußte sie nicht, daß keine Scheidung der Leiber durch Länder und Meere meine Seele verhindern könne, aus einer Zone in die andre zu fliegen, und gleich einem liebenden Schatten um dich her zu schweben? Oder hoffte sie, reizender in deinen Augen zu werden, wenn du mich nicht mehr neben ihr sehen würdest? Wie wenig kannte sie unsre Liebe! Nein, wahre Liebe kann so wenig eifersüchtig sein, als sich selbst fühlende Stärke zittern kann.—Ich verließ Delphi mit zerrißnem Herzen. Als ich den letzten Blick auf diese bezauberten Haine heftete, wo deine Liebe mir ein neues Wesen gab, eine neue Würklichkeit, gegen die mein voriges Leben eine ekelhafte Abwechslung von einförmigen Tagen und Nächten, ein ungefühltes Pflanzen-Leben war, als ich diese geliebte Gegend endlich ganz aus den Augen verlor.—Nein, Agathon, ich kann es nicht beschreiben, du kannst es empfinden, du allein—Als ich mich selbst wieder fühlte, erleichtert ein Strom von Tränen mein gepreßtes Herz. Es war eine Art von Wollust in diesen Tränen, ich ließ ihnen freien Lauf, ohne mich zu bekümmern, daß sie gesehen würden. Die Welt schien mir ein leerer Raum, und alle Gegenstände um mich her Träume und Schatten; du und ich waren allein; ich sah, ich hörte nur dich, ich lag an deiner Brust, ich legte meinen Arm um deinen Hals, ich zeigte dir meine Seele in meinen Augen; ich führte dich in die heiligen Schatten, wo du mich die Gegenwart der Unsterblichen fühlen lehrtest; ich lag zu deinen Füßen, und meine an deinen Lippen hangende Seele glaubte den Gesang der Musen zu hören, wenn du sprächest; wir wandelten Hand in Hand beim sanften Mondschein durch elysische Gegenden, oder setzten uns unter die Blumen, stillschweigend, indem unsre Seelen, in ihrer eignen geistigen Sprache sich einander enthüllten, und lauter Licht und Wonne um sich her sahen, und unsterblich zu sein wünschten, um sich ewig lieben zu können. Unter diesen Erinnerungen, deren Lebhaftigkeit alle äußre Empfindungen verdunkelte, beruhigte sich mein Herz allgemach. Ich, die sich selbst nur für einen Teil deines Wesens hielt, konnte nicht glauben, daß wir immer getrennt bleiben würden. Diese Hoffnung machte nun mein Leben aus, und bemächtigte sich meiner so sehr, daß ich wieder heiter wurde. Denn ich zweifelte nicht, ich wußte es, daß du nicht aufhören könntest, mich zu lieben. Ich überließ dich der glühenden Leidenschaft einer mächtigen und reizenden Nebenbuhlerin, ohne sie einen Augenblick zu fürchten. Ich wußte, daß wenn sie es auch so weit bringen könnte, deine Sinnen zu verführen, sie doch unfähig sei, dir eine Liebe einzuflößen wie die unsrige, und daß du dich bald wieder nach derjenigen sehnen würdest, die dich allein glücklich machen, weil sie allein dich lieben kann, wie du geliebt zu sein wünschest. Unter tausend solchen Gedanken kam ich endlich zu Syracus an. Die vorsichtige Priesterin hatte Anstalt gemacht, daß ich nirgend Mittel finden konnte, dir von meinem Aufenthalt Nachricht zu geben. Meine neue Gebieterin war von der guten Art von Geschöpfen, die gemacht sind sich selbst zu gefallen, und sich alles gefallen zu lassen. Ich wurde zu der Ehre bestimmt, den Aufputz ihres schönen Kopfes zu besorgen; und die Art, wie ich dieses Amt verwaltete, erwarb mir ihre Gunst so sehr, daß sie mich beinahe so viel liebte, als ihren Schoßhund. In diesem Zustand hielt ich mich für so glücklich, als ich es ohne deine Gegenwart in einem jeden andern hätte sein können, bis die Ankunft des Sohnes meiner Gebieterin die Szene veränderte."
Fortsetzung der Erzählung der Psyche
"Narcissus, so hieß dieser junge Herr, war von seiner Mutter nach Athen geschickt worden, die Weisen daselbst zu hören, und die feinen Sitten der Athenienser an sich zu nehmen. Allein er hatte keine Zeit gefunden, weder das eine noch das andre zu tun. Einige junge Leute, die er seine Freunde nannte, machten jeden Tag eine neue Lustbarkeit ausfündig, die ihn verhinderte, die schwermütigen Spaziergänge der Philosophen zu besuchen. überdas hatten ihm die artigsten Sträußermädchen von Athen gesagt, daß er ein sehr liebenswürdiger junger Herr wäre; er hatte es ihnen geglaubt, und sich also keine Mühe gegeben, erst zu werden, was er nach einem so vollgültigen Zeugnis, schon war. Er hatte sich also mit nichts beschäftiget, als seine Person in das gehörige Licht zu setzen; niemand in Athen konnte sich rühmen lächerlicher geputzt zu sein, weißere Zähne und sanftere Hände zu haben als Narcissus. Er war der erste in der Kunst, sich in einem Augenblick zweimal auf einem Fuß herum zu drehen, einen Fächer aufzuheben, oder ein Blumensträußchen an die Stirne einer Dame zu stecken. Bei solchen Vorzügen glaubte er einen natürlichen Beruf zu haben, sich dem weiblichen Geschlecht anzubieten. Die Leichtigkeit womit seine Verdienste über die zärtlichen Herzen der Sträußermädchen gesiegt hatten, machte ihm Mut sich an die Kammermädchen zu wagen, und von diesen Nymphen erhob er sich endlich zu den Göttinnen selbst. Ohne sich zu bekümmern, wie sein Herz aufgenommen wurde, hatte er sich angewöhnt zu glauben, daß er unwiderstehlich sei; und wenn er nicht allemal Proben davon erhielt, so machte er sich dafür schadlos, indem er sich der Gunstbezeugungen am meisten rühmte, die er nicht genossen hatte.—Wunderst du dich, Agathon, woher ich so wohl von ihm unterrichtet bin? Von ihm selbst. Was meine Augen nicht an ihm entdeckten, das sagte mir sein Mund. Denn er selbst war der unerschöpfliche Inhalt seiner Gespräche, so wie der einzige Gegenstand seiner Bewunderung. Ein Liebhaber von dieser Art sollte dem Ansehen nach wenig zu bedeuten haben. Eine Zeit lang belustigte mich seine Torheit; allein er wurde ungestüm. Er fand es unanständig, daß eine Aufwärterin seiner Mutter unempfindlich gegen ein Herz bleiben sollte, um welches die Sträußer-Mädchen zu Athen einander beneidet hatten. Ich ward endlich genötiget, meine Zuflucht zu seiner Mutter zu nehmen. Allein eben diese leutselige Organisation, welche sie gütig gegen sich selbst, gegen ihr Schoßhündchen und gegen alle Welt machte, machte sie auch gütig gegen die Torheiten ihres Sohnes. Sie schien es so gar übel zu nehmen, daß ich von den Vorzügen eines so liebreizenden jungen Herrn nicht stärker gerührt würde. Die Ungeduld über die Anfälle, denen ich beständig ausgesetzt war, gab mir tausendmal den Gedanken ein, mich heimlich hinweg zu stehlen. Allein ich hatte keine Nachricht von dir; ein Reisender von Delphi hatte uns zwar gesagt, daß du daselbst unsichtbar geworden, aber niemand konnte sagen wo du seiest. Diese Ungewißheit stürzte mich in eine Unruhe, die meiner Gesundheit nachteilig zu werden anfing; als eben dieser Narcissus, dessen lächerliche Liebe zu sich selbst mich so lange gequält hatte, mir ohne seine Absicht das Leben wieder gab, indem er erzählte, daß ein gewisser Agathon von Athen, nach einem Sieg über die aufrührischen Einwohner von Euböa, diese Insel seiner Republik wieder unterworfen habe. Die Umstände die er von diesem Agathon hinzu fügte, ließen mich nicht zweifeln, daß du es seiest. Eine Sklavin, die mir gewogen war, beförderte meine Flucht. Sie hatte einen Liebhaber, der sie beredet hatte, sich von ihm entführen zu lassen. Ich half ihr, dieses Vorhaben auszuführen und begleitete sie; der junge Sicilianer verschaffte mir zur Dankbarkeit dieses Sklavenkleid, und brachte mich auf ein Schiff, welches nach Athen bestimmt war. Ich wurde für einen Sklaven ausgegeben, der seinen Herrn zu Athen suchte, und überließ mich zum zweitenmal den Wellen, aber mit ganz andern Empfindungen als das erstemal, da sie nun anstatt mich von dir zu entfernen, uns wieder zusammen bringen sollten."
Psyche beschließt ihre Erzählung
"Unsre Fahrt war einige Tage glücklich, außer daß ein Wind der uns westwärts trieb, unsre Reise ungewöhnlich verlängerte. Allein am Abend des sechsten Tages erhob sich ein heftiger Sturm, der uns in wenigen Stunden wieder einen großen Weg zurück machen ließ; unsre Schiffer waren endlich so glücklich, eine von den unbewohnten Cycladen zu erreichen, wo wir uns vor dem Sturm in Sicherheit setzten. Wir fanden in eben der Bucht wohin wir uns geflüchtet hatten, ein anders Schiff liegen, worin sich eben diese Cilicier befanden, denen wir itzt zugehören. Sie hatten eine griechische Flagge aufgesteckt, sie grüßten uns, sie kamen zu uns herüber, und weil sie unsre Sprache redeten, so hatten sie keine Mühe uns so viele Märchen vorzuschwatzen, als sie nötig fanden, uns sicher zu machen. Nach und nach wurde unser Volk vertraulich mit ihnen; sie brachten etliche große Krüge mit Cyprischem Weine, wodurch sie in wenig Stunden alle unsre Leute wehrlos machten. Sie bemächtigten sich hierauf unsers ganzen Schiffes, und begaben sich, so bald sich der Sturm in etwas gelegt hatte, wieder in die See. Bei der Teilung wurde ich einmütig dem Hauptmann der Räuber zuerkannt. Man bewunderte meine Gestalt ohne mein Geschlecht zu mutmaßen. Allein diese Verborgenheit half mir nicht so viel, als ich gehofft hatte. Der Cilicier, den ich für meinen Herrn erkennen mußte, verzog nicht lange, mich mit einer ekelhaften Leidenschaft zu quälen. Er nannte mich Ganymedes, und schwur bei allen Tritonen und Nereiden, daß ich ihm sein müßte, was dieser trojanische Prinz dem Jupiter gewesen sei. Wie er sah, daß seine Schmeicheleien ohne Würkung waren, nötigte er mich zuletzt, ihm zu zeigen, daß ich mein Leben gegen meine Ehre für nichts halte. Dieses verschaffte mir bisher einige Ruhe, und ich fing an, auf ein Mittel meiner Befreiung zu denken. Ich gab dem Räuber zu verstehen, daß ich von einem ganz andern Stande sei, als mein Sklavenmäßiger Anzug zu erkennen gäbe, und bat ihn aufs inständigste mich nach Athen zu führen, wo er für meine Erledigung erhalten würde, was er nur fodern wollte. Allein über diesen Punkt war er unerbittlich, und jeder Tag entfernte uns weiter von diesem geliebten Athen, welches, wie ich glaubte, meinen Agathon in sich hielt. Wie wenig dachte ich, daß eben diese Entfernung, über die ich so untröstbar war, uns wieder zusammen bringen würde? Aber, ach! in was für Umständen finden wir uns wieder! Beide der Freiheit beraubt, ohne Freunde, ohne Hülfe, ohne Hoffnung befreit zu werden; verurteilt ungesitteten Barbaren dienstbar zu sein. Die unsinnige Leidenschaft meines Herrn wird uns so gar des einzigen Vergnügens berauben, das unsern Zustand erleichtern könnte. Seitdem ihm meine Entschlossenheit die Hoffnung benommen seinen Endzweck zu erreichen, scheint sich seine Liebe in eine wütende Eifersucht verwandelt zu haben, die sich bemüht, dasjenige was man selbst nicht genießen kann, wenigstens keinem andern zu Teil werden zu lassen. Der Barbar wird dir keinen Umgang mit mir verstatten, da er mir kaum sichtbar zu sein erlaubt. Doch die ungewisse Zukunft soll mir nicht einen Augenblick von der gegenwärtigen Wonne rauben. Ich sehe dich, Agathon, und bin glücklich. Wie begierig hätte ich vor wenigen Stunden einen Augenblick wie diesen mit meinem Leben erkauft!" Indem sie dieses sagte, umarmte sie den glücklichen Agathon mit einer so rührenden Zärtlichkeit, daß die Entzückung, die ihre Herzen einander mitteilten, eine zweite sprachlose Stille hervorbrachte; und wie sollten wir beschreiben können, was sie empfanden, da der Mund der Liebe selbst nicht beredt genug war, es auszudrucken?
Wie Psyche und Agathon wieder getrennt werden
Nachdem unsre Liebhaber aus ihrer Entzückung zurückgekommen waren, verlangte Psyche von Agathon eben dieselbe Gefälligkeit, die sie durch Erzählung ihrer Begebenheiten für seine Neugierde gehabt hatte. Er meldete ihr also, wiewohl ihm die Zeit nicht erlaubte umständlich zu sein, auf was Weise er von Delphi entflohen, wie er mit einem Athenienser bekannt geworden, und wie sich entdecket habe, daß dieser Athenienser sein Vater sei; wie er durch einen Zufall in die öffentlichen Angelegenheiten verwickelt und durch seine Beredsamkeit dem Volke angenehm geworden; die Dienste, die er der Republik geleistet; durch was für Mittel seine Neider das Volk wider ihn aufgebracht, und wie er vor wenig Tagen mit Verlust aller seiner väterlichen Güter und Ansprüche lebenslänglich aus Athen verbannt worden; wie er den Entschluß gefaßt, eine Reise in die Morgenländer vorzunehmen, und durch was für einen Zufall er in die Hände der Cilicier geraten. Sie fingen nun auch an, sich über die Mittel ihrer Befreiung zu beratschlagen; allein die Bewegungen, welche die allmählich erwachenden Räuber machten, nötigten Psyche sich aufs eilfertigste zu verbergen, um einem Verdacht zuvorzukommen, wovon der Schatten genug war, ihren Geliebten das Leben zu kosten. Sie beklagten itzt bei sich selbst, daß sie, nach dem Beispiel der Liebhaber in den Romanen, eine so günstige Zeit mit unnötigen Erzählungen verloren, da sie doch voraus sehen konnten, daß ihnen künftig wenig Gelegenheit würde gegeben werden, sich zu besprechen. Allein was sie hierüber hätte trösten können, war, daß alle ihre Beratschlagungen und Erfindungen vergeblich gewesen wären. Denn an eben diesem Morgen erhielt der Hauptmann Nachricht von einem reichbeladnen Schiffe, welches im Begriff sei, von Lesbos nach Corinth abzugehen, und welches, nach den Umständen die der Bericht angab, unterwegs aufgefangen werden könnte. Diese Zeitung veranlaßte eine geheime Beratschlagung unter den Häuptern der Räuber, wovon der Ausschlag war, daß Agathon mit den gefangnen Thracierinnen und einigen andern jungen Sklaven unter einer Bedeckung in eine Barke gesetzt wurde, um ungesäumt nach Smirna geführt und daselbst verkauft zu werden; indes, daß die Galeere mit dem größten Teil der Seeräuber sich fertig machte, der reichen Beute, die sie schon in Gedanken verschlangen, entgegen zu gehen. In diesem Augenblick verlor Agathon die Gelassenheit, mit der er bisher alle Stürme des widrigen Glücks ausgehalten hatte. Der Gedanke, von seiner Psyche wieder getrennt zu werden, setzte ihn außer sich selbst. Er warf sich zu den Füßen des Ciliciers, er schwur ihm, daß der verkleidete Ganymedes sein Bruder sei; er bot sich selbst zu seinem Sklaven an, er flehte, er weinte.—Aber umsonst. Der Seeräuber hatte die Natur des Elements, welches er bewohnte, und die Syrenen selbst hätten ihn nicht bereden können, seinen Entschluß zu ändern. Agathon erhielt nicht einmal die Erlaubnis, von seinem geliebten Bruder Abschied zu nehmen; die Lebhaftigkeit, die er bei diesem Anlaß gezeigt, hatte ihn dem Hauptmann verdächtig gemacht. Er wurde also, von Schmerz und Verzweiflung betäubt, in die Barke getragen, und befand sich schon eine geraume Zeit außer dem Gesichtskreis seiner Psyche, eh er wieder erwachte, um den ganzen Umfang seines Elends zu fühlen.
Ein Selbstgespräch
Da wir uns zum unverbrüchlichen Gesetze gemacht haben, in dieser Geschichte alles sorgfältig zu vermeiden, was gegen die historische Wahrheit derselben einigen gerechten Verdacht erwecken könnte; so würden wir uns ein Bedenken gemacht haben, das Selbstgespräch, welches wir hier in unserm Manuskript vor uns finden, mitzuteilen, wenn nicht der ungenannte Verfasser die Vorsicht gebraucht hätte uns zu melden, daß seine Erzählung sich in den meisten Umständen auf eine Art von Tagebuch gründe, welches (sichern Anzeigen nach) von der eignen Hand des Agathon sei, und wovon er durch einen Freund zu Crotona eine Abschrift erhalten. Dieser Umstand macht begreiflich, wie der Geschichtschreiber habe wissen können, was Agathon bei dieser und andern Gelegenheiten mit sich selbst gesprochen; und schützet uns gegen die Einwürfe, die man gegen die Selbstgespräche machen kann, worin die Geschichtschreiber den Poeten so gerne nachzuahmen pflegen, ohne sich, wie sie, auf die Eingebung der Musen berufen zu können.
Unsre Urkunde meldet also, nachdem die erste Wut des Schmerzens, welche allezeit stumm und Gedankenlos zu sein pflegt, sich geleget, habe Agathon sich umgesehen; und da er von allen Seiten nichts als Luft und Wasser um sich her erblickt, habe er, seiner Gewohnheit nach, also mit sich selbst zu philosophieren angefangen:
"War es ein Traum, was mir begegnet ist, oder sah ich sie würklich, hört' ich würklich den rührenden Akzent ihrer süßen Stimme, und umfingen meine Arme keinen Schatten? Wenn es mehr als ein Traum war, warum ist mir von einem Gegenstand, der alle andern aus meiner Seele auslöschte nichts als die Erinnerung übrig? Wenn Ordnung und Zusammenhang die Kennzeichen der Wahrheit sind, o! wie ähnlich dem ungefähren Spiel der träumenden Phantasie sind die Zufälle meines ganzen Lebens!—Von Kindheit an unter den heiligen Lorbeern des Delphischen Gottes erzogen, schmeichle ich mir unter seinem Schutz, in Beschauung der Wahrheit und im geheimen Umgang mit den Unsterblichen, ein stilles und sorgenfreies Leben zuzubringen. Tage voll Unschuld, einer dem andern gleich, fließen in ruhiger Stille, wie Augenblicke vorbei, und ich werde unvermerkt ein Jüngling. Eine Priesterin, deren Seele eine Wohnung der Götter sein soll, wie ihre Zunge das Werkzeug ihrer Aussprüche, vergißt ihre Gelübde, und bemüht sich meine unerfahrne Jugend zu Befriedigung ihrer Begierde zu mißbrauchen. Ihre Leidenschaft beraubt mich derjenigen, die ich liebe; ihre Nachstellungen treiben mich endlich aus dem geheiligten Schutzort, wo ich, seit dem ich mich selbst empfand, von Bildern der Götter und Helden umgeben, mich einzig beschäftigt hatte, ihnen ähnlich zu werden. In eine unbekannte Welt ausgestoßen, finde ich unvermutet einen Vater und ein Vaterland, die ich nicht kannte. Ein schneller Wechsel von Umständen setzt mich eben so unvermutet in den Besitz des größten Ansehens in Athen. Das blinde Zutrauen eines Volkes, das in seiner Gunst so wenig Maß hält als in seinem Unwillen, nötigt mir die Anführung seines Kriegsheers auf; ein wunderbares Glück kömmt allen meinen Unternehmungen entgegen, und führt meine Anschläge aus; ich kehre siegreich zurück. Welch ein Triumph! Welch ein Zujauchzen! Welche Vergötterung! Und wofür? Für Taten, an denen ich den wenigsten Anteil hatte. Aber kaum schimmert meine Bildsäule zwischen den Bildern des Cecrops und Theseus, so reißt mich eben dieser Pöbel, der vor wenigen Tagen bereit war, mir Altäre aufzurichten, mit ungestümer Wut zum Gerichtsplatz hin. Die Mißgunst derer, die das übermaß meines Glücks beleidigte, hat schon alle Gemüter wider mich eingenommen, und alle Ohren gegen meine Verteidigung verstopft; Handlungen, worüber mein Herz mir Beifall gibt, werden auf den Lippen meiner Ankläger zu Verbrechen, mein Verdammungs-Urteil wird ausgesprochen. Von allen verlassen, die sich meine Freunde genannt hatten, und kurz zuvor die eifrigsten gewesen waren, neue Ehrenbezeugungen für mich zu erfinden, fliehe ich aus Athen, mit leichterm Herzen, als womit ich vor wenigen Wochen, unter dem Zujauchzen einer unzählbaren Menge, durch ihre Tore eingeführt wurde; und entschließe mich den Erdboden zu durchwandern, ob ich einen Ort finden möchte, wo die Tugend, von auswärtigen Beleidigungen sicher, ihrer eigentümlichen Glückseligkeit genießen könnte, ohne sich aus der Gesellschaft der Menschen zu verbannen. Ich nahm den Weg nach Asien, um an den Ufern des Oxus die Quellen zu besuchen, aus denen die Geheimnisse des Orphischen Gottesdiensts zu uns geflossen sind. Ein Zufall führt mich unter einen Schwarm rasender Bachantinnen, und ich entrinne ihrer verliebten Wut bloß dadurch, daß ich in die Hände seeräuberischer Barbaren falle. In diesem Augenblicke, da mir von allem was man verlieren kann nur noch das Leben übrig ist, finde ich meine Psyche wieder; aber kaum fange ich an meinen Sinnen zu glauben, daß sie es sei, die ich in meinen Armen umschlossen halte, so verschwindet sie wieder, und ich finde mich auf diesem Schiffe, um zu Smyrna als ein Sklave verkauft zu werden—Wie ähnlich ist alles dieses einem Traum, wo die schwärmende Phantasie, ohne Ordnung, ohne Wahrscheinlichkeit, ohne Zeit oder Ort in Betracht zu ziehen, die betäubte Seele von einem Abenteur zu dem andern, von der Krone zum Bettlers-Mantel, von der Wonne zur Verzweiflung, vom Tartarus ins Elysium fortreißt?—Und ist denn das Leben ein Traum, ein bloßer Traum, so eitel, so unwesentlich, so unbedeutend als ein Traum? Ein unbeständiges Spiel des blinden Zufalls, oder unsichtbarer Geister, die eine grausame Belustigung darin finden, uns zum Scherz bald glücklich bald unglücklich zu machen? Oder, ist es eben diese allgemeine Seele der Welt, deren Dasein die geheimnisvolle Majestät der Natur ankündiget; ist es dieser allesbelebende Geist, der die menschlichen Sachen anordnet; warum herrschet in der moralischen Welt nicht eben diese unveränderliche Ordnung und Zusammenstimmung, wodurch die Elemente die Jahres—und Tages-Zeiten, die Gestirne und die Kreise des Himmels in ihrem gleichförmigen Lauf erhalten werden? Warum leidet der Unschuldige? Warum sieget der Betrüger? Warum verfolgt ein unerbittliches Schicksal die Tugendhaften? Sind unsre Seelen den Unsterblichen verwandt, sind sie Kinder des Himmels; warum verkennt der Himmel sein Geschlecht, und tritt auf die Seite seiner Feinde? Oder hat er uns die Sorge für uns selbst gänzlich überlassen, warum sind wir keinen Augenblick unsers Zustandes Meister? Warum vernichtet bald Notwendigkeit, bald Zufall, die weisesten Entwürfe? -"
Hier hielt Agathon eine Zeitlang inne; sein in Zweifeln verwickelter Geist arbeitete sich loszuwinden, bis ein neuer Blick auf die majestätische Natur die ihn umgab, eine andre Reihe von Vorstellungen in ihm entwickelte. —"Was sind", fuhr er mit sich selbst fort, "meine Zweifel anders, als Eingebungen der eigennützigen Leidenschaft? Wer war diesen Morgen glücklicher als ich? Alles war Wollust und Wonne um mich her. Hat sich die Natur binnen dieser Zeit verändert, oder ist sie minder der Schauplatz einer grenzenlosen Vollkommenheit, weil Agathon ein Sklave, und von Psyche getrennet ist? Schäme dich, Kleinmütiger, deiner trübsinnigen Zweifel, und deiner unmännlichen Klagen! Wie kannst du Verlust nennen, dessen Besitz kein Gut war? Ist es ein übel, deines Ansehens, deines Vermögens, deines Vaterlandes beraubt zu sein? Alles dessen beraubt warst du in Delphi glücklich, und vermißtest es nicht. Und warum nennest du Dinge dein, die nicht zu dir selbst gehören, die der Zufall gibt und nimmt, ohne daß es in deiner Willkür steht sie zu erlangen oder zu erhalten? Wie ruhig, wie heiter und glücklich floß mein Leben in Delphi hin, ehe ich die Welt, ihre Geschäfte, ihre Sorgen, ihre Freuden und ihre Abwechselungen kannte; eh ich genötiget war, mit den Leidenschaften andrer Menschen, oder mit meinen eigenen zu kämpfen, mich selbst und den Genuß meines Daseins einem undankbaren Volke aufzuopfern, und unter der vergeblichen Bemühung, Toren oder Lasterhafte glücklich zu machen, selbst unglücklich zu sein! —Meine eigene Erfahrung widerlegt die ungerechten Zweifel des Mißvergnügens am besten. Es waren Augenblicke, Tage, lange Reihen von Tagen, da ich glücklich war, glücklich in den frohen Stunden, da meine Seele, vom Anblick der Natur begeistert, in tiefsinnigen Betrachtungen und süßen Ahnungen, wie in den bezauberten Gärten der Hesperiden irrte; glücklich, wenn mein befriedigtes Herz in den Armen der Liebe, aller Bedürfnisse, aller Wünsche vergaß, und nun zu verstehen glaubte, was die Wonne der Götter sei; glücklicher, wenn in Augenblicken, deren Erinnerung den bittersten Schmerz zu versüßen genug ist, mein Geist in der großen Betrachtung des Ewigen und Unbegrenzten sich verlor—Ja du bist, alles beseelende, alles regierende Güte—ich sah, ich fühlte dich! Ich empfand die Schönheit der Tugend, die dir ähnlich macht; ich genoß die Glückseligkeit, welche Tagen die Schnelligkeit der Augenblicke, und Augenblicken den Wert von Jahrhunderten gibt. Die Macht der Empfindung zerstreut meine Zweifel; die Erinnerung der genossenen Glückseligkeit heilet den gegenwärtigen Schmerz, und verspricht eine bessere Zukunft. Alle diese allgemeine Quellen der Freude, woraus alle Wesen schöpfen, fließen, wie ehmals, um mich her; meine Seele ist noch eben dieselbige, wie die Natur, die mich umgibt—O Ruhe meines Delphischen Lebens, und du, meine Psyche! Dich allein, von allem, was außer mir ist, nenne ich mein, weil du die wehrtere Hälfte meines Wesens bist—Wenn ihr auf ewig verloren wäret, dann würde meine untröstbare Seele nichts auf Erde finden, das ihr die Liebe zum Leben wieder geben könnte. Aber ich besaß beide, ohne sie mir selbst gegeben zu haben, und die wohltätige Macht, die sie gab, kann sie wiedergeben. Teure Hoffnung, du bist schon ein Anfang der Glückseligkeit, die du versprichst! Es wäre zugleich gottlos und töricht, sich einem Kummer zu überlassen, der den Himmel beleidigt, und uns selbst der Kräfte beraubt, dem Unglück zu widerstehen, und der Mittel, wieder glücklich zu werden. Komm denn, du süße Hoffnung einer bessern Zukunft, und feßle meine Seele mit deinen schmeichelnden Bezauberungen! Ruhe und Psyche—Dieses allein, ihr Götter, so möget ihr Lorbeer-Kränze und Schätze geben, wem ihr wollt!"
Agathon kömmt zu Smyrna an, und wird verkauft
Das Wetter war unsern Seefahrern so günstig, daß Agathon gute Muße hatte, seinen Betrachtungen so lange nachzuhängen, als er wollte; zumal da seine Reise von keinem der 5 Umstände begleitet war, womit eine poetische Seefahrt ausgeschmückt zu sein pflegt. Denn man sahe da weder Tritonen, die aus krummen Ammons-Hörnern bliesen, noch Nereiden, die auf Delphinen, mit Blumen-Kränzen gezäumet, über den Wellen daherritten; noch Syrenen, die mit halbem Leib aus dem Wasser hervorragend, die Augen durch ihre Schönheit, und das Ohr durch die Süßigkeit ihrer Stimme bezaubert hätten. Die Winde selbst waren etliche Tage lang so zahm, als ob sie es mit einander abgeredet hätten, uns keine Gelegenheit zu irgend einer schönen Beschreibung eines Sturms oder eines Schiffbruchs zu geben; kurz, die Reise ging so glücklich von statten, daß die Barke am Abend des dritten Tages in den Hafen von Smyrna einlief; wo die Räuber, nunmehr unter dem Schutz des großen Königs gesichert, sich nicht säumten, ihre Gefangenen ans Land zu setzen, in der Hoffnung, auf dem Sklaven-Markte keinen geringen Vorteil aus ihnen zu ziehen. Ihre erste Sorge war, sie in eines der öffentlichen Bäder zu führen, wo man nichts vergaß, was dazu dienen konnte, sie den folgenden Tag verkäuflicher zu machen. Agathon war noch zu sehr von allem demjenigen, was mit ihm vorgegangen war, eingenommen, als daß er auf das gegenwärtige aufmerksam sein konnte. Er wurde gebadet, abgerieben, mit Salben und wohlriechenden Wassern begossen, mit einem Sklaven-Kleid von vielfarbichter Seide angetan, mit allem was seine Gestalt erheben konnte, ausgeschmückt, und von allen, die ihn sahen, bewundert; ohne daß ihn etwas aus der vollkommnen Unempfindlichkeit erwecken konnte, welche in gewissen Umständen eine Folge der übermäßigen Empfindlichkeit ist. In dasjenige vertieft, was in seiner Seele vorging, schien er, weder zu sehen, noch zu hören; weil er nichts sah, oder hörte, was er wünschte; und nichts als der Anblick, der sich ihm auf dem Sklaven-Markte darstellte, war vermögend, ihn aus dieser wachenden Träumerei aufzurütteln. Diese Szene hatte zwar das Abscheuliche nicht, das ein Sklaven-Markt zu Barbados so gar für einen Europäer haben könnte, dem die Vorurteile der gesitteten Völker noch einige überbleibsel des angebornen menschlichen Gefühls gelassen hätten; allein sie hatte doch genug, um eine Seele zu empören, die sich gewöhnt hatte, in den Menschen mehr die Schönheit ihrer Natur, als die Erniedrigung ihres Zustands; mehr das, was sie nach gewissen Voraussetzungen sein könnten, als was sie würklich waren, zu sehen. Eine Menge von traurigen Vorstellungen stieg in gedrängter Verwirrung bei diesem Anblick in ihm auf; und in eben dem Augenblick, da sein Herz von Mitleiden und Wehmut zerfloß, brannte es von einem zürnenden Abscheu vor den Menschen, dessen nur diejenigen fähig sind, welche die Menschheit lieben. Er vergaß über diesen Empfindungen seines eignen Unglücks, als ein Mann von edelm Ansehen, welcher schon bei Jahren zu sein schien, im Vorübergehn seiner gewahr ward, stehen blieb, und ihn mit besondrer Aufmerksamkeit betrachtete. "Wem gehört dieser junge Leibeigene?" fragte endlich der Mann einen von den Ciliciern, der neben ihm stand. "Dem, der ihn von mir kaufen wird", versetzte dieser. "Was versteht er für eine Kunst?" fuhr jener fort. "Das wird er dir selbst am besten sagen können", erwiderte der Cilicier. Der Mann wandte sich also an den Agathon selbst, und fragte ihn, ob er nicht ein Grieche sei? ob er sich nicht in Athen aufgehalten? und ob er in den Künsten der Musen unterrichtet worden? Agathon bejahete diese Fragen: "Kannst du den Homer lesen?" "Ich kann lesen; und ich meine, daß ich den Homer empfinden könne." "Kennst du die Schriften der Philosophen?" "Nein, denn ich verstehe sie nicht." "Du gefällst mir, junger Mensch! Wie hoch haltet ihr ihn, mein Freund?" "Er sollte, wie die andern, durch den Herold ausgerufen werden", antwortete der Cilicier, "aber für zwei Talente ist er euer." "Begleite mich mit ihm in mein Haus", erwiderte der Alte, "du sollst zwei Talente haben, und der Sklave ist mein." "Dein Geld muß dir sehr beschwerlich sein", sagte Agathon; "woher weißt du, daß ich dir für zwei Talente nützlich sein werde?" "Wenn du es nicht wärest", versetzte der Käufer, "so bin ich unbesorgt, unter den Damen von Smyrna zwanzig für eine zu finden, die mir auf deine bloße Miene hin wieder zwei Talente für dich geben." Und mit diesen Worten befahl er dem Agathon, ihm in sein Haus zu folgen.
Wer der Käufer des Agathon gewesen
Der Mann, der sich für zwei Talente das Recht erworben hatte, den Agathon als seinen Leibeignen zu behandeln, war einer von den merkwürdigen Leuten, die unter dem Namen der Sophisten in den griechischen Städten umherzogen, sich der edelsten und reichsten Jünglinge bemächtigten, und durch die Annehmlichkeiten ihres Umgangs und die prächtigen Versprechungen, ihre Freunde zu vollkommnen Rednern, Staatsmännern und Feldherren zu machen, das Geheimnis gefunden hatten, welches die Alchymisten bis auf den heutigen Tag vergeblich gesucht haben. Sie wurden von aller Welt mit dem ehrenvollen Namen der Sophisten oder Weisen benennt; allein die Weisheit, von der sie Profession machten, war von der Socratischen, die durch einige Verehrer dieses Atheniensischen Bürgers so berühmt worden ist, so wohl in ihrer Beschaffenheit, als in ihren Würkungen unendlich unterschieden; oder besser zu sagen, sie war die vollkommne Antipode derselbigen. Die Sophisten lehrten die Kunst, die Leidenschaften andrer Menschen zu erregen; Socrates die Kunst, seine eigene zu dämpfen. Jene lehrten, wie man es machen müsse, um weise und tugendhaft zu scheinen; dieser lehrte, wie man es sei. Jene munterten die Jünglinge von Athen auf, sich der Regierung des Staats anzumaßen; Socrates, daß sie vorher die Hälfte ihres Lebens anwenden sollten, sich selbst regieren zu lernen. Jene spotteten der Socratischen Weisheit, die nur in einem schlechten Mantel aufzog, und sich mit einer Mahlzeit für sechs Pfenninge begnügte, da die ihrige in Purpur schimmerte, und offne Tafel hielt. Die Socratische Weisheit war stolz darauf, den Reichtum entbehren zu können; die ihrige wußte, ihn zu erwerben. Sie war gefällig, einschmeichelnd, und wußte alle Gestalten anzunehmen; sie vergötterte die Großen, kroch vor ihren Dienern, tändelte mit den Damen, und schmeichelte allen, welche es bezahlten. Sie war allenthalben an ihrem rechten Platz; beliebt bei Hofe, beliebt an der Toilette, beliebt beim Spiel-Tisch, beliebt beim Adel, beliebt bei den Finanz-Pachtern, beliebt bei den Theater-Göttinnen, beliebt so gar bei der Priesterschaft. Die Socratische war weit entfernt, so liebenswürdig zu sein; sie war trocken und langweilig; sie wußte nicht zu leben; sie war unerträglich, weil sie alles tadelte, und immer Recht hatte; sie wurde von dem geschäftigen Teil der Welt für unnützlich, von dem müßigen für abgeschmackt, und von dem andächtigen gar für gefährlich erklärt. Wir würden nicht fertig werden, wenn wir diese Gegensätze so weit treiben wollten, als wir könnten. Genug, daß die Weisheit der Sophisten einen Vorzug hatte, den ihr die Socratische nicht streitig machen konnte; sie verschaffte ihren Besitzern Reichtum, Ansehen, Ruhm, und ein Leben, das von allem, was die Welt glücklich nennet, überfloß.
Hippias (so hieß der neue Herr unsers Agathon) war einer von diesen Glücklichen, dem die Kunst, sich die Torheiten andrer Leute zinsbar zu machen, ein Vermögen erworben hatte; wodurch er sich im Stande sah, sich der Ausübung derselben zu begeben, und die andre Hälfte seines Lebens in den Ergötzungen eines begüterten Müßiggangs zu zubringen; zu deren angenehmsten Genuß das zunehmende Alter viel geschickter scheint, als die ungestüme Jugend. Er hatte sich zu diesem Ende Smyrna zu seinem Wohn-Ort ausersehen, weil die Annehmlichkeiten des jonischen Klima, die schöne Lage dieser Stadt, der überfluß, der ihr durch die Handlung aus allen Teilen des Erdbodens zuströmte, und die Verbindung des griechischen Geschmacks mit der wollüstigen üppigkeit der Morgenländer ihm diesen Aufenthalt vor allen andern, die er kannte, vorzüglich machte. Hippias hatte den Ruhm, daß ihm in den Talenten seiner Profession wenige den Vorzug streitig machen könnten. Ob er gleich über fünfzig Jahre hatte, so war ihm doch von der Gabe zu gefallen, die ihm in seiner Jugend so nützlich gewesen war, noch genug übrig geblieben, daß sein Umgang von den artigsten Personen des einen und andern Geschlechts gesucht wurde. Er hatte alles, was die Art von Weisheit, die er ausübte, verführisch machen konnte; eine edle Gestalt, eine einnehmende Gesichts-Bildung, einen angenehmen Ton der Stimme, einen behenden und geschmeidigen Witz, und eine Beredsamkeit, die desto mehr gefiel, weil sie mehr ein Geschenk der Natur, als eine durch Fleiß erworbene Kunst zu sein schien. Diese Beredsamkeit, oder vielmehr diese Gabe angenehm zu schwatzen, mit einer Tinktur von allen Wissenschaften, einem feinen Geschmack in dem Schönen und Angenehmen, und eine vollständige Kenntnis der Welt, war mehr als er nötig hatte, um in den Augen aller derjenigen, mit denen er umging, (denn er ging mit keinen Socraten um) für einen Genie vom ersten Rang, für einen Mann zu gelten, welcher alles wisse; welchem schon zugelächelt wurde, eh man wußte, was er sagen wollte, und wider dessen Aussprüche nicht erlaubt war, etwas einzuwenden. Indessen war doch dasjenige, dem er sein Glück vornehmlich zu danken hatte, die besondere Gabe, die er besaß, sich der schönern Hälfte der Gesellschaft gefällig zu machen. Er war so klug, frühzeitig zu entdecken, wie viel an der Gunst dieser reizenden Geschöpfe gelegen ist, welche in den policierten Teilen des Erdbodens die Macht würklich ausüben, die in den Märchen den Feen beigelegt wird; die mit einem einzigen Blick, oder durch eine kleine Verschiebung des Halstuchs stärker überzeugen, als Demosthenes und Lysias durch lange Reden; die mit einer einzigen Träne den Gebieter über Legionen entwaffnen, und durch den bloßen Vorteil, den sie von ihrer Gestalt und einem gewissen Bedürfnis des stärkern Geschlechts zu ziehen wissen, sich zu unumschränkten Beherrscherinnen derjenigen machen, in deren Händen das Schicksal ganzer Völker liegt. Hippias hatte diese Entdeckung von so großem Nutzen gefunden, daß er keine Mühe gesparet hatte, es in der Anwendung derselben zu dem höchsten Grade der Vollkommenheit zu bringen; und dasjenige, was er in seinem Alter noch davon hatte, bewies, was er in seinen schönen Jahren gewesen sein müsse. Seine Eitelkeit ging so weit, daß er sich nicht enthalten konnte, die Kunst, die Zauberinnen zu bezaubern, in die Form eines Lehr-Begriffs zu bringen, und seine Erfahrungen und Beobachtungen hierüber der Welt in einer sehr gelehrten Abhandlung mitzuteilen, deren Verlust nicht wenig zu bedauern ist, und schwerlich von einem heutigen Schriftsteller unsrer Nation zu ersetzen sein möchte.
Nach allem, was wir bereits von diesem weisen Manne gesagt haben, wär es überflüssig, eine Abschilderung von seinen Sitten zu machen. Sein Lehr-Begriff, von der Kunst zu leben, wird uns in kurzem umständlich vorgelegt werden; und er besaß eine Tugend, welche nicht die Tugend der Moralisten zu sein pflegt; er lebte nach seinen Grundsätzen.
Absichten des weisen Hippias
Unter andern Neigungen, in deren Befriedigung man den rechten Gebrauch des Reichtums zu setzen pflegt, hatte Hippias einen besondern Geschmack an allem, was gut in die Augen fiel. Er wollte, daß die Seinigen, in seinem Hause wenigstens, sich nirgends hinwenden sollten, ohne einem schönen Gegenstande zu begegnen. Die schönsten Gemälde, die schönsten Bildsäulen und Schnitzwerke, die reichsten Tapeten, das schönste Hausgeräte, die schönsten Gefäße befriedigten seinen Geschmack noch nicht; er wollte auch, daß der belebte Teil seines Hauses mit dieser allgemeinen Schönheit übereinstimmen sollte; und seine Bediente und Sklavinnen waren die ausgesuchtesten Gestalten, die er in einem Lande, wo die Schönheit gewöhnlich ist, hatte finden können. Die Gestalt Agathons möchte also allein hinreichend gewesen sein, ihm seine Gunst zu erwerben; zumal da er eben einen Leser nötig hatte, und aus dem Anblick und den ersten Worten desselben urteilte, daß er sich zu einem Dienst vollkommen schicken würde, wozu eine gefallende Gesichts-Bildung und eine musikalische Stimme die nötigsten Gaben sind. Allein Hippias hatte noch eine geheime Absicht, die er durch diesen Jüngling zu erreichen hoffte. Obgleich die Liebe zu den Wollüsten der Sinne seine herrschende Neigung zu sein schien, so hatte doch die Eitelkeit nicht weniger Anteil an den meisten Handlungen seines Lebens. Er hatte, bevor er sich nach Smyrna begab, um die Früchte seiner Arbeit zu genießen, den schönsten Teil seines Lebens zugebracht, die edelste Jugend der griechischen Städte zu bilden; er hatte Redner gebildet, die durch eine künstliche Vermischung des Wahren und Falschen, und den klugen Gebrauch gewisser Figuren, einer schlimmen Sache den Schein und die Würkung einer guten zu geben wußten; Staats-Männer, welche die Kunst besaßen, mitten unter den Zujauchzungen eines betörten Volks die Gesetze durch die Freiheit und die Freiheit durch schlimme Sitten zu vernichten; um diejenigen, die sich der heilsamen Zucht der Gesetze nicht unterwerfen wollten, der willkürlichen Gewalt ihrer Leidenschaften zu unterwerfen; kurz, er hatte Leute gebildet, die sich Ehren-Säulen dafür aufrichten ließen, daß sie ihr Vaterland zu Grunde richteten. Allein dieses befriedigte seine Eitelkeit noch nicht: Er wollte auch jemand hinterlassen, der seine Kunst fortzusetzen geschickt wäre; eine Kunst, die in seinen Augen allzuschön war, als daß sie mit ihm sterben sollte. Schon lange hatte er einen jungen Menschen gesucht, bei dem er das natürliche Geschicke, der Nachfolger eines Hippias zu sein, in derjenigen Vollkommenheit finden möchte, die dazu erfodert wurde. Seine Gabe, aus der Gestalt und Miene das Inwendige eines Menschen zu erraten, beredete ihn, im Agathon zu finden, was er suchte; wenigstens hielt er es der Mühe wert, den Versuch mit ihm zu machen; und da er von seiner Tüchtigkeit ein so gutes Vorurteil gefasset hatte, so fiel ihm nur nicht ein, in seine Willigkeit zu den großen Absichten, die er mit ihm vorhatte, einigen Zweifel zu setzen.
Verwunderung, in welche Agathon gesetzt wird
Agathon wußte noch nichts, als daß er einem Manne zugehöre, dessen äußerliches Ansehen ihm gefiel; als er bei dem Eintritt in sein Haus durch die Schönheit des Gebäudes, die Bequemlichkeiten der Einrichtung, die Menge und die gute Miene der Bedienten, und durch einen Schimmer von Pracht und üppigkeit, der ihm allenthalben entgegen glänzte, in eine Art von Verwunderung gesetzt wurde, die ihm sonst nicht gewöhnlich war, und die nur desto mehr zunahm, wie er hörte, daß er die Ehre haben sollte, ein Haus-Genosse von Hippias, dem Weisen, zu werden. Er war noch im Nachdenken begriffen, was für eine Art von Weisheit dieses sein möchte, als Hippias, der indes seinem Zahlmeister befohlen hatte, den Cilicier zu befriedigen, ihn in sein Cabinet rufen ließ, und ihm seine künftige Bestimmung in diesen Worten ankündigte: "Die Gesetze, Callias, (denn dieses soll künftig dein Name sein) geben mir zwar das Recht, dich als meinen Leibeigenen anzusehen; aber es wird nur von dir abhangen, so glücklich in meinem Hause zu sein, als ich selbst. Alle deine Verrichtungen werden darin bestehen, den Homer bei meinem Tische, und die Aufsätze, mit deren Ausarbeitung ich mir die Zeit vertreibe, in meinem Hör-Saal vorzulesen. Wenn dieses Amt leicht zu sein scheint, so versichre ich dich, daß ich nicht leicht zu befriedigen bin, und daß du Kenner zu Hörern haben wirst. Ein jonisches Ohr will nicht nur ergötzt, es will bezaubert sein. Die Annehmlichkeit der Stimme, die Reinigkeit und das Weiche der Aussprache, die Richtigkeit des Akzents, das Muntre, das Ungezwungene, das Musikalische ist nicht hinlänglich; wir fodern eine vollkommne Nachahmung, einen Ausdruck, der jedem Teile des Stücks, jeder Periode, jedem Vers das Leben, den Affekt, die Seele gibt, die sie haben sollen; kurz, die Art, wie gelesen wird, soll das Ohr an die Stelle aller übrigen Sinne setzen. Das Gastmahl des Alcinous soll diesen Abend dein Probstück sein. Die Fähigkeiten, die ich an dir zu entdecken hoffe, werden meine Absichten mit dir bestimmen; und vielleicht wirst du in der Zukunft Ursache finden, den Tag, an dem du dem Hippias gefallen hast, unter deine Glücklichen zu zählen." Mit diesen Worten verließ er unsern Jüngling, und ersparte sich dadurch die Demütigung zu sehen, wie wenig der neue Callias durch die Hoffnungen gerührt schien, wozu ihn diese Erklärung berechtigte. In der Tat hatte die Bestimmung, die jonischen Ohren zu bezaubern, in Agathons Augen nicht edels genug, daß er sich deswegen hätte glücklich schätzen sollen; und über dem war etwas in dem Ton dieser Anrede, welches ihm mißfiel, ohne daß er eigentlich wußte, warum? Inzwischen vermehrte sich seine Verwunderung, je mehr er sich in dem Hause des weisen Hippias umsah; und er begriff nun ganz deutlich, daß sein Herr, was auch sonst seine Grundsätze sein möchten, wenigstens von der Ertödung der Sinnlichkeit, wovon er ehmals den Plato zu Athen sehr schöne Dinge sagen gehört hatte, keine Profession mache. Allein wie er sah, was die Weisheit in diesem Hause für eine Tafel hielt, wie prächtig sie sich bedienen ließ, was für reizende Gegenstände ihre Augen, und was für wollüstige Harmonien ihre Ohren ergötzten, während daß der Schenk-Tisch mit den ausgesuchtesten Weinen und den angenehm-betäubenden Getränken der Asiaten beladen, den Sinnen zum Genuß so vieler Wollüste neue Kräfte zu geben schien; wie er die Menge von jungen Sklaven sah, die den Liebes-Göttern ähnlich schienen, die Chöre von Tänzerinnen und Lauten-Spielerinnen, die durch die Reizungen ihrer Gestalt so sehr als durch ihre Geschicklichkeit bezauberten, und die nachahmenden Tänze, in denen sie die Geschichte der Leda oder Danae durch bloße Bewegungen mit einer Lebhaftigkeit vorstellten, die einen Nestor hätte verjüngern können; wie er die üppigen Bäder, die bezauberten Gärten, kurz, wie er alles sah, was das Haus des weisen Hippias zu einem Tempel der ausgekünsteltsten Sinnlichkeit machte, so stieg seine Verwunderung bis zum Erstaunen; und er konnte nicht begreifen, was dieser Sybarite getan haben müsse, um den Namen eines Weisen zu verdienen, oder wie er sich einer Benennung nicht schäme, die ihm, seinen Gedanken nach, eben so gut anstund, als dem Alexander von Phera, wenn man ihn den Leutseligen, oder der Phryne, wenn man sie die Keusche hätte nennen wollen. Alle Auflösungen, die er sich selbst hierüber machen konnte, befriedigten ihn so wenig, daß er sich vornahm, bei der ersten Gelegenheit dieses Problem dem Hippias selbst vorzulegen.
Welches bei einigen den Verdacht erwecken wird, daß diese Geschichte erdichtet sei
Die Verrichtungen des Agathon ließen ihm so viel Zeit übrig, daß er in wenigen Tagen in einem Hause, wo alles Freude atmete, sehr lange Weile hatte. Zwar lag die Schuld nur an ihm selbst, wenn es ihm an einem Zeit-Vertreib mangelte, der sonst die hauptsächlichste Beschäftigung der Leute von seinem Alter auszumachen pflegt. Die Nymphen dieses Hauses waren von einer so gefälligen Gemüts-Art, von einer so anziehenden Figur, und von einem so günstigen Vorurteil für den neuen Haus-Genossen eingenommen, daß es weder die Furcht abgewiesen zu werden, noch der Fehler ihrer Reizungen war, was den schönen Callias so zurückhaltend oder unempfindlich machte.
Verschiedene, die aus seinem Betragen schlossen, daß er noch ein Neuling sein müsse, ließen sich die Mühe nicht dauern, ihm die Schwierigkeiten, die ihm seine Schüchternheit, ihren Gedanken nach, in den Weg legte, zu erleichtern; sie gaben ihm Gelegenheiten, die den Zaghaftesten hätten unternehmend machen sollen. Allein (wir müssen es nur gestehen, was man auch von unserm Helden deswegen denken mag) er gab sich eben so viel Mühe, diese Gelegenheiten auszuweichen, als man sich geben konnte, sie ihm zu machen. Wenn dieses anzuzeigen scheint, daß er entweder einiges Mißtrauen in sich selbst, oder ein allzugroßes Vertrauen in die Reizungen dieser schönen Verführerinnen gesetzt habe, so dienet vielleicht zu seiner Entschuldigung, daß er noch nicht alt genug war, ein Xenocrates zu sein; und daß er, vermutlich nicht ohne Ursache, ein Vorurteil wider dasjenige gefaßt hatte, was man im Umgang von jungen Personen beiderlei Geschlechts unschuldige Freiheiten zu nennen pflegt. Dem sei inzwischen wie ihm wolle, so ist gewiß, daß Agathon durch dieses seltsame Bezeugen einen Argwohn erweckte, der ihm bei allen Gelegenheiten sehr beißende Spöttereien von den übrigen Hausgenossen, und selbst von den Schönen zuzog, die sich durch seine Sprödigkeit nicht wenig beleidigt fanden, und ihm auf eine feine Art zu verstehen gaben, daß sie ihn für geschickter hielten, die Tugend der Damen zu bewachen, als auf die Probe zu stellen. Agathon fand nicht ratsam, sich in einen Wett-Streit einzulassen, wo er besorgen mußte, daß die Begierde, recht zu haben, die sich in der Hitze des Streites auch der Klügsten zu bemeistern pflegt, ihn zu gefährlichen Erörterungen führen könnte. Er machte daher bei solchen Anlässen eine so alberne Figur, daß man von seinem Witz eine eben so verdächtige Meinung bekommen mußte, als man schon von seiner Person gefaßt hatte; und die Verachtung, in die er deswegen bei jedermann fiel, trug vielleicht nicht wenig dazu bei, ihm den Aufenthalt in einem Hause beschwerlich zu machen, wo ihm ohnehin, alles, was er sah und hörte, ärgerlich war. Er liebte diejenigen Künste sehr, über welche, nach dem Glauben der Griechen, die Musen die Aufsicht hatten. Allein die Gemälde, womit alle Säle und Gänge dieses Hauses ausgeziert waren, stellten so schlüpfrige und unsittliche Gegenstände vor, daß er seinen Augen um so weniger erlauben konnte, sich darauf zu verweilen, je vollkommner die Natur darin nachgeahmt war, und je mehr sich der Genie bemüht hatte, der Natur selbst neue Reizungen zu leihen. Eben so weit war die Musik, die er alle Abende nach der Tafel hören konnte, von derjenigen unterschieden, die seiner Einbildung nach allein der Musen würdig war. Er liebte eine Musik, welche die Leidenschaften besänftigte, und die Seele in ein angenehmes Staunen wiegte, oder das Lob der Unsterblichen mit einem feurigen Schwung von Begeistrung sang, wodurch das Herz in heiliges Entzücken und in ein schauervolles Gefühl der gegenwärtigen Gottheit gesetzt wurde; und wenn sie Zärtlichkeit und Freude ausdrückte, so sollte es die Zärtlichkeit der Unschuld und die rührende Freude der einfältigen Natur sein. Allein in diesem Hause hatte man einen ganz andern Geschmack. Was Agathon hörte, waren Syrenen-Gesänge, die den üppigsten Liedern des tejischen Dichters einen Reiz gaben, der auch aus unangenehmen Lippen verführerisch gewesen wäre; Gesänge, die durch den nachahmenden Ausdruck des verschiednen Tons der schmeichelnden, seufzenden und schmachtenden, oder der triumphierenden und in Entzückung aufgelösten Leidenschaft die Begierde erregten, dasjenige zu erfahren, was in der Nachahmung schon so reizend war; Lydische Flöten, deren girrendes, verliebtes Flüstern die redenden Bewegungen der Tänzerinnen ergänzte, und ihrem Spiel eine Deutlichkeit gab, die der Einbildungs-Kraft nichts zu erraten übrig ließ; Symphonien, welche die Seele in ein bezaubertes Vergessen ihrer selbst versenkten, und, nachdem sie alle ihre edlere Kräfte entwaffnet hatte, die erregte und willige Sinnlichkeit der ganzen Gewalt der von allen Seiten eindringenden Wollust auslieferten. Agathon konnte bei diesen Szenen, wo so viele Künste, so viele Zauber-Mittel sich vereinigten, den Widerstand der Tugend zu ermüden, nicht so gleichgültig bleiben, als diejenigen zu sein schienen, die derselben gewohnt waren; und die Unruhe, in die er dadurch gesetzt wurde, machte ihm, was auch die Stoiker sagen mögen, mehr Ehre, als dem Hippias und seinen Freunden ihre Gelassenheit. Er befand also für gut, sich allemal, wenn er seine Rolle, als Homerist, geendiget hatte, hinweg und an einen Ort zu begeben, wo er in ungestörter Einsamkeit sich von den widrigen Eindrücken befreien konnte, die das geschäftige und fröhliche Getümmel des Hauses, und der Anblick von so vielen Gegenständen, die seine moralischen Sinne beleidigten, den Tag über auf sein Gemüte gemacht hatten.
Schwärmerei des Agathon
Die Wohnung des Hippias war auf der mittäglichen Seite von Gärten umgeben, in deren weitläufigem Bezirk die Kunst und der Reichtum alle ihre Kräfte aufgewandt hatten, die einfältige Natur mit ihren eignen und mit fremden Schönheiten zu überladen. Gefilde voll Blumen, die aus allen Teilen der Erde gesammelt, jeden Monat zum Frühling eines andern Klima machten, Lauben von allerlei wohlriechenden Stauden, Lust-Gänge von Zitronen-Bäumen, öl-Bäumen und Zedern, in deren Länge der schärfste Blick sich verlor, Haine von allen Arten der fruchtbaren Bäume, und Irrgänge von Myrten und Lorbeer-Hecken, mit Rosen von allen Farben durchwunden, wo tausend marmorne Najaden, die sich zu regen und zu atmen schienen, kleine murmelnde Bäche zwischen die Blumen hingossen, oder mit mutwilligem Plätschern in spiegelhellen Brunnen spielten, oder unter überhangenden Schatten von ihren Spielen auszuruhen schienen. Alles dieses machte die Gärten des Hippias den bezauberten Gegenden ähnlich, diesen Spielen einer dichtrischen und malerischen Phantasie, die man erstaunt ist, außerhalb seiner Einbildung zu sehen. Hier war es, wo Agathon seine angenehmsten Stunden zubrachte; hier fand er die Heiterkeit der Seele wieder, die er dem angenehmsten Taumel der Sinne unendlich weit vorzog; hier konnt' er sich mit sich selbst besprechen; hier war er von Gegenständen umgeben, die sich zu seiner Gemüts-Beschaffenheit schickten, obgleich die seltsame Denk-Art, wodurch er die Erwartung des Hippias so sehr betrog, auch hier nicht ermangelte, sein Vergnügen durch den Gedanken zu vermindern, daß alle diese Gegenstände weit schöner wären, wenn sich die Kunst nicht angemaßet hätte, die Natur ihrer Freiheit und rührenden Einfältigkeit zu berauben. Oft wenn er beim Mond-Schein, den er mehr als den Tag liebte, so einsam im Schatten lag, erinnert' er sich der frohen Szenen seiner ersten Jugend, der unbeschreiblichen Eindrücke, die jeder schöne Gegenstand, jeder ihm neue Auftritt der Natur auf seine jugendlichen unverwöhnten Sinnen gemacht hatte, der süßen Stunden, die ihm in den Entzückungen einer ersten und unschuldigen Liebe zu Augenblicken geworden waren. Diese Erinnerungen, mit der Stille der Nacht und dem Gemurmel sanfter Bäche und der sanft wehenden Sommer-Lüfte, wiegten seine Sinnen in eine Art von leichtem Schlummer ein, worin die innerlichen Kräfte der Seele mit verdoppelter Stärke würken; dann bildeten sich ihm die reizenden Aussichten einer bessern Zukunft vor; er sah alle seine Wünsch' erfüllt, er fühlte sich etliche Augenblicke glücklich; und wenn sie vorbei waren, beredete er sich, daß diese Hoffnungen ihn nicht so lebhaft rühren, nicht in eine so gelassene Zufriedenheit senken würden, wenn es nur nächtliche Spiele der Phantasie, und nicht vielmehr innerliche Ahnungen wären, Blicke, welche der Geist in der Stille und Freiheit, die ihm die schlummernden Sinne lassen, in die Zukunft und in eine weitere Sphäre tut, als diejenige, die von der Schwäche ihrer körperlichen Sinne umschrieben wird.
In einer solchen Stunde war es, als Hippias, den die Anmut einer schönen Sommer-Nacht zum Spaziergang einlud, ihn unter diesen Beschauungen überraschte, denen er, in der Meinung, allein zu sein, sich zu überlassen pflegte. Hippias blieb eine Weile vor ihm stehen, ohne daß Agathon seiner gewahr wurde; endlich aber redet' er ihn an, und ließ sich in ein Gespräch mit ihm ein; welches ihn nur allzusehr in dem Argwohn bestärkte, den er von dem Hang unsers Helden zu demjenigen, was er Schwärmerei nannte, bereits gefaßt hatte.
Ein Gespräch zwischen Hippias und seinem Sklaven
HIPPIAS "Du scheinst in Gedanken vertieft, Callias?"
AGATHON "Ich glaubte allein zu sein."
HIPPIAS "Ein andrer an deiner Stelle würde sich die Freiheit meines Hauses besser zu Nutze machen. Doch vielleicht gefällst du mir um dieser Zurückhaltung willen nur desto besser. Aber mit was für Gedanken vertreibst du dir die Zeit, wenn man fragen darf?"
AGATHON "Die allgemeine Stille, der Mondschein, die rührende Schönheit der schlummernden Natur, die mit den Ausdünstungen der Blumen durchwürzte Nachtluft, tausend angenehme Empfindungen, deren liebliche Verwirrung meine Seele trunken machte, setzte sie in eine Art von Entzückung, worinnen ein andrer Schauplatz von unbekannten Schönheiten sich vor mir auftat; es war nur ein Augenblick, aber ein Augenblick, den ich um eines von den Jahren des Königs von Persien nicht vertauschen wollte."
HIPPIAS (lächelt.)
AGATHON "Dieses brachte mich hernach auf die Gedanken, wie glücklich der Zustand der Geister sei, die den groben tierischen Leib abgelegt haben, und im Anschauen des wesentlichen Schönen, des Unvergänglichen, Ewigen und Göttlichen, Jahrtausende durchleben, die ihnen nicht länger scheinen als mir dieser Augenblick; und in den Betrachtungen, denen ich hierüber nachhing, bin ich von dir überraschet worden."
HIPPIAS "Du schliefst doch nicht, Callias; du hast wie ich sehe, mehr
Talente als du nötig hast; du kannst auch wachend träumen?"
AGATHON "Es gibt vielerlei Arten von Träumen, und bei einigen Menschen scheint ihr ganzes Leben Traum zu sein; wenn dieses Träume sind, so sind sie wenigstens angenehmer als alles, was ich in dieser Zeit wachend hätte erfahren können."
HIPPIAS "Du gedenkest also vielleicht einer von diesen Geistern zu werden, die du so glücklich preisest?"
AGATHON "Ich hoff' es zu werden, und würde ohne diese Hoffnung mein Dasein für kein Gut achten."
HIPPIAS "Besitzest du etwan ein Geheimnis, körperliche Wesen in geistige zu erhöhen, einen Zaubertrank von der Art derjenigen, womit die Medeen und Circen der Dichter so wunderbare Verwandlungen zuwege bringen?"
AGATHON "Ich verstehe dich nicht, Hippias."
HIPPIAS "So will ich deutlicher sein. Wenn ich anders dich verstanden habe, so hältst du dich für einen Geist, der in einen tierischen Leib eingekerkert ist?"
AGATHON "Wofür sollt ich mich sonst halten?"
HIPPIAS "Sind die vierfüßigen Tiere, die Vögel, die Fische, die Gewürme, auch Geister, die in einen tierischen Leib eingeschlossen sind?"
AGATHON "Vielleicht."
HIPPIAS "Und die Pflanzen?"
AGATHON "Vielleicht auch diese."
HIPPIAS "Du bauest also deine Hoffnung auf ein Vielleicht. Wenn die Tiere vielleicht auch nicht Geister sind, so bist du vielleicht eben so wenig einer; denn das ist einmal gewiß, daß du ein Tier bist. Du entstehest wie die Tiere, wächsest wie sie, hast ihre Bedürfnisse, ihre Sinnen, ihre Leidenschaften, wirst erhalten wie sie, vermehrest dich wie sie, stirbst wie sie, und wirst wie sie wieder zu einem bißchen Wasser und Erde, wie du vorher gewesen warst. Wenn du einen Vorzug vor ihnen hast, so ist es eine schönere Gestalt, ein paar Hände, mit denen du mehr ausrichten kannst als ein Tier mit seinen Pfoten, eine Bildung gewisser Gliedmaßen, die dich der Rede fähig macht, und ein lebhafterer Witz, der von einer schwächern und reizbarern Beschaffenheit deiner Fibern herkommt; und der doch alle Künste, womit wir uns so groß zu machen pflegen, den Tieren abgelernt hat."
AGATHON "Wir haben also sehr verschiedene Begriffe von der menschlichen
Natur, du und ich."
HIPPIAS "Vermutlich, weil ich sie für nichts anders halte, als wofür meine Sinnen und eine Beobachtung ohne Vorurteile sie mir geben. Doch ich will freigebig sein; ich will dir zugeben, dasjenige was in dir denkt sei ein Geist, und wesentlich von deinem Körper unterschieden.—Worauf gründest du die Hoffnung, daß dieser Geist noch denken werde, wenn dein Leib zerstört sein wird? Was für eine Erfahrung hast du, eine Meinung zu bestätigen, die von so vielen Erfahrungen bestritten wird? Ich will nicht sagen, daß er zu nichts werde; aber dein Leib verliert durch den Tod die Form die ihn zu deinem Leibe machte; woher hoffest du, daß dein Geist die Form nicht verlieren werde, die ihn zu deinem Geiste macht?"
AGATHON "Weil ich mir unmöglich vorstellen kann, daß der Oberste Geist, dessen Geschöpfe oder Ausflüsse die übrigen Geister sind, ein Wesen zerstören werde, das er fähig gemacht hat, so glücklich zu sein, als ich es schon gewesen bin."
HIPPIAS "Ein neues Vielleicht? Woher kennst du diesen obersten Geist?"
AGATHON "Woher kennst du den Phidias, der diesen Amor gemacht hat?"
HIPPIAS "Weil ich ihm zusah wie er ihn machte; denn vielleicht könnt eine
Bildsäule auch entstehn, ohne daß sie von einem Künstler gemacht würde."
AGATHON "Wieso?"
HIPPIAS "Eine ungefähre Bewegung ihrer kleinsten Elemente könnte diese
Form endlich hervorbringen."
AGATHON "Eine regellose Bewegung ein regelmäßiges Werk?"
HIPPIAS "Warum das nicht? Du kannst im Würfelspiel von ungefähr alle drei werfen. So gut als dieses möglich ist, könntest du auch unter etlichen Billionen von Würfen einen werfen, wodurch eine gewisse Anzahl Sandkörner in eine zirkelrunde Figur fallen würde. Die Anwendung ist leicht zu machen."
AGATHON "Ich verstehe dich. Aber es bleibt allemal unendlich unwahrscheinlich, daß die ungefähre Bewegung der Elemente nur eine Muschel, deren so unzählich viele an jenem Ufer liegen, hervorbringen; und die Ewigkeit selbst scheint nicht lange genug zu sein, nur diese Erdkugel, diesen kleinen Atomen des ganzen Weltalls auf solche Weise entstehen zu machen."
HIPPIAS "Es ist genug, daß unter unendlich vielen ungefähren Bewegungen, die nichts regelmäßiges und dauerhaftes hervorbringen, eine möglich ist, die eine Welt hervorbringen kann. Dieses setzt der Wahrscheinlichkeit deiner Meinung ein Vielleicht entgegen, wodurch sie auf einmal entkräftet wird."
AGATHON "So viel als das Gewicht einer unendlichen Last, durch die
Hinwegnahme eines einzigen Sandkorns."
HIPPIAS "Du hast vergessen, daß eine unendliche Zeit in die andere Waagschale gelegt werden muß. Doch ich will diesen Einwurf fahren lassen, ob er gleich weiter getrieben werden kann; was gewinnt deine Meinung dadurch? Vielleicht ist die Welt immer in der allgemeinen Verfassung gewesen, worin sie ist?—Vielleicht ist sie selbst das einzige Wesen, das durch sich selbst bestehet? Vielleicht ist der Geist von dem du sagtest, durch die wesentliche Beschaffenheit seiner Natur gezwungen, diesen allgemeinen Weltkörper nach den Gesetzen einer unveränderlichen Notwendigkeit zu beleben? Und gesetzt, die Welt sei, wie du meinest, das Werk eines verständigen und freien Entschlusses; vielleicht hat sie viele Urheber? Mit einem Worte, Callias, du hast viele mögliche Fälle zu vernichten, eh du nur das Dasein deines obersten Geistes außer Zweifel gesetzt hast."
AGATHON "Ich brauche zu meiner eignen Beruhigung keinen so weitläufigen Weg. Ich sehe die Sonne, sie ist also; ich empfinde mich selbst, ich bin also; ich empfinde, ich sehe diesen obersten Geist, er ist also."
HIPPIAS "Ein Träumender, ein Kranker, ein Wahnwitziger sieht; und doch ist das nicht, was er sieht."
AGATHON "Weil er in diesem Zustande nicht recht sehen kann."
HIPPIAS "Wie kannst du beweisen, daß du nicht gerad in diesem Punkt krank bist? Frage die ärzte; man kann in einem einzigen Stück wahnwitzig, und in allen übrigen klug sein; so wie eine Laute bis auf eine einzige falsche Saite wohl gestimmt sein kann. Der rasende Ajax sieht zwo Sonnen, ein doppeltes Thebe. Was für ein untrügliches Kennzeichen hast du, das Wahre von dem was nur scheint; das was du würklich empfindest, von dem was du dir nur einbildest; das was du richtig empfindest, von dem was eine verstimmte Nerve dich empfinden macht, zu unterscheiden? Und wie, wenn alle Empfindung betröge, und nichts von allem was ist, so wäre, wie du es empfindest?"
AGATHON "Darum bekümmere ich mich wenig. Gesetzt, die Sonne sei nicht so, wie ich sie sehe und fühle; für mich ist sie darum nicht minder so, wie ich sie sehe und fühle, und das ist für mich genug. Ihr Einfluß in das System aller meiner übrigen Empfindungen ist darum nicht weniger würklich, wenn sie gleich nicht so ist, wie sie sich meinen Sinnen darstellt, ja wenn sie gar nicht ist."
HIPPIAS "Die Anwendung hievon, wenn dirs beliebt?"
AGATHON "Die Empfindung, die ich von dem höchsten Geiste habe, hat in das innerliche System des meinigen den nämlichen Einfluß, den die Empfindung die ich von der Sonne habe, auf mein körperliches System hat."
HIPPIAS "Wie so?"
AGATHON "Wenn sich mein Leib übel befindet, so vermehrt die Abwesenheit der Sonne das Unbehagliche dieses Zustands. Der wiederkehrende Sonnenschein belebt, ermuntert, erquicket meinen Körper wieder, und ich befinde mich wohl, oder doch erleichtert. Eben diese Würkung tut die Empfindung des alles beseelenden Geistes auf meine Seele; sie erheitert, sie beruhiget, sie ermuntert mich; sie zerstreut meinen Unmut, sie belebt meine Hoffnung; sie macht, daß ich in einem Zustande nicht unglücklich bin, der mir ohne sie unerträglich wäre."
HIPPIAS "Ich bin also glücklicher als du, weil ich alles dieses nicht nötig habe. Erfahrung und Nachdenken haben mich von Vorurteilen frei gemacht; ich genieße alles was ich wünsche, und wünsche nichts, dessen Genuß nicht in meiner Gewalt ist. Ich weiß also wenig von Unmut und Sorgen. Ich hoffe wenig, weil ich mit dem Genuß des Gegenwärtigen zufrieden bin. Ich genieße mit Mäßigung, damit ich desto länger genießen könne, und wenn ich einen Schmerz fühle, so leide ich mit Geduld, weil dieses das beste Mittel ist, seine Dauer abzukürzen."
AGATHON "Und worauf gründest du deine Tugend? Womit nährest und belebest du sie? Womit überwindest du die Hinternisse, die sie aufhalten; die Versuchungen, die von ihr ablocken, das ansteckende der Beispiele, die Unordnung der Begierden, und die Trägheit, welche die Seele so oft erfährt, wenn sie sich erheben will?"
HIPPIAS "O Jüngling, lange genug hab ich deinen Ausschweifungen zugehört. In was für ein Gewebe von Hirngespinsten hat dich die Lebhaftigkeit deiner Einbildungskraft verwickelt? Deine Seele schwebt in einer beständigen Bezauberung, in einer Abwechselung von quälenden und entzückenden Träumen, und die wahre Beschaffenheit der Dinge bleibt dir so verborgen, als die sichtbare Gestalt der Welt einem Blindgebornen. Ich bedaure dich, Callias. Deine Gestalt, deine Gaben berechtigen dich nach allem zu trachten, was das menschliche Leben glückliches hat; deine Denkungsart allein wird dich unglücklich machen. Angewöhnt lauter idealische Wesen um dich her zu sehen, wirst du die Kunst niemals lernen, von den Menschen Vorteil zu ziehen. Du wirst in einer Welt, die dich so wenig kennen wird als du sie, wie ein Einwohner des Monds herum irren, und nirgends am rechten Platze sein, als in einer Einöde oder im Fasse des Diogenes. Was soll man mit einem Menschen anfangen, der Geister sieht? Der von der Tugend fodert, daß sie mit aller Welt und mit sich selbst in beständigem Kriege leben soll? Mit einem Menschen, der sich in den Mondschein hinsetzt, und Betrachtungen über das Glück der entkörperten Geister anstellt? Glaube mir, Callias, (ich kenne die Welt und sehe keine Geister) deine Philosophie mag vielleicht gut genug sein eine Gesellschaft müßiger Köpfe statt eines andern Spiels zu belustigen; aber es ist eine Torheit sie ausüben zu wollen. Doch du bist jung; die Einsamkeit deiner ersten Jugend und die morgenländischen Schwärmereien, die etliche griechische Müßiggänger von den Egyptern und Chaldäern nach Hause gebracht, haben deiner Phantasie einen romanhaften Schwung gegeben; die übermäßige Empfindlichkeit deiner Organisation hat den angenehmen Betrug befödert; Leuten von dieser Art ist nichts schön genug, was sie sehen, nichts angenehm genug, was sie fühlen; die Phantasie muß ihnen andre Welten erschaffen, die Unersättlichkeit ihres Herzens zu befriedigen. Allein diesem übel kann noch geholfen werden. Selbst in den Ausschweifungen deiner Einbildungskraft entdeckt sich eine natürliche Richtigkeit des Verstandes, der nichts fehlt als auf andre Gegenstände angewendet zu werden. Ein wenig Gelehrigkeit und eine unparteiische überlegung dessen, was ich dir sagen werde, ist alles was du nötig hast, um von dieser seltsamen Art von Wahnwitz geheilt zu werden, die du für Weisheit hältst. überlaß es mir, dich aus den unsichtbaren Welten in die wirkliche herabzuführen; sie wird dich anfangs befremden, aber nur weil sie dir neu ist, und wenn du sie einmal gewohnt bist, wirst du die ätherischen so wenig vermissen als ein erwachsner die Spiele seiner Kindheit. Diese Schwärmereien sind Kinder der Einsamkeit und der Muße; ein Mensch der nach angenehmen Empfindungen dürstet, und der Mittel beraubt ist, sich würkliche zu verschaffen, ist genötiget sich mit Einbildungen zu speisen, und aus Mangel einer bessern Gesellschaft mit den Sylphen umzugehen. Die Erfahrung wird dich hievon am besten überzeugen können. Ich will dir die Geheimnisse einer Weisheit entdecken, die zum Genuß alles dessen führt, was die Natur, die Kunst, die Gesellschaft, und selbst die Einbildung (denn der Mensch ist doch nicht gemacht immer weise zu sein) Gutes und Angenehmes zu geben haben; und ich müßte mich ganz mit dir betrügen, wenn die Stimme der Vernunft, die du noch niemals gehört zu haben scheinst, dich nicht von einem Irrwege zurückrufen könnte, wo du am Ende deiner Reise in das Land der Hoffnungen dich um nichts reicher befinden würdest, als um die Erfahrung dich betrogen zu haben. Itzo ist es Zeit schlafen zu gehen; aber der nächste ruhige Morgen den ich habe, soll dein sein. Ich brauche dir nicht zu sagen, wie zufrieden ich mit der Art bin, wie du bisher dein Amt versehen hast; und ich wünsche nichts, als daß eine bessere übereinstimmung unsrer Denkungsart mich in den Stand setze, dir Beweise von meiner Freundschaft zu geben." Mit diesen Worten begab sich Hippias hinweg, und ließ unsern Agathon in einer Verfassung, die der Leser aus dem folgenden Kapitel ersehen wird.
Worin Agathon für einen Schwärmer ziemlich gut räsoniert
Wir zweifeln nicht, daß verschiedene Leser dieser Geschichte in der Vermutung stehen werden, Agathon müsse über diese nachdrucksvolle Apostrophe des weisen Hippias nicht wenig betroffen, oder doch wenigstens in einige Unruhe gesetzt worden sein. Das Alter des Hippias, der Ruf der Weisheit, worin er stand, der zuversichtliche Ton, womit er sprach, der Schein von Wahrheit der über seine Rede ausgebreitet war; und was nicht das wenigste scheint, das Ansehen, welches ihm seine Reichtümer gaben; alle diese Umstände hätten nicht fehlen sollen, einen Menschen aus der Fassung zu setzen, der ihm so viele Vorzüge eingestehen mußte, und überdas noch sein Sklave war. Allein man kann sich irren. Agathon hatte diese ganze emphatische Rede mit einem Lächeln angehört, welches fähig gewesen wäre, alle Sophisten der Welt irre zu machen, wenn die Dunkelheit und das Vorurteil des Redners für sich selbst es hätten bemerken lassen; und kaum befand er sich allein, so war die erste Würkung derselben, daß dieses Lächeln sich in ein Lachen verwandelte, welches er zum Nachteil seines Zwerchfells länger zurückzuhalten unnötig hielt, und welches immer wieder anfing, so oft er sich die Miene, den Ton und die Gebärden vorstellte, womit der weise Hippias die nachdrücklichsten Stellen seiner Rede von sich gegeben hatte. Allein diese mechanische Bewegung machte bald ernsthaftern Gedanken Platz, und es fehlte wenig, so hätte er sich selbst Vorwürfe darüber gemacht, daß er fähig gewesen darüber zu lachen, daß ein so großer Unterschied zwischen Hippias und Agathon war. "Ein Mensch, der so lebt wie Hippias", dacht' er, "muß so denken; und wer so denkt wie Hippias würde unglücklich sein, wenn er nicht so leben könnte. Ich muß lachen", fuhr er mit sich selbst fort, "wenn ich an den Ton der Unfehlbarkeit denke, womit er sprach. Dieser Ton ist mir nicht so neu, als der weise Hippias glauben mag. Ich habe Gerber und Sackträger zu Athen gekannt, die sich nicht zu wenig deuchten, mit dem ganzen Volk in diesem Ton zu sprechen. Du glaubst mir etwas neues gesagt zu haben, wenn du meine Denkungsart Schwärmerei nennst, und mir mit der Gewißheit eines Propheten die Schicksale ankündigest, die sie mir zuziehen wird. Wie sehr betrügst du dich, wenn du mich dadurch erschreckt zu haben glaubst! O! Hippias, was ist das, was du Glückseligkeit nennest? Niemals wirst du fähig sein, zu wissen was Glückseligkeit ist. Was du so nennst ist Glückseligkeit, wie das Liebe ist, was dir deine Tänzerinnen einflößen. Du nennst die meinige Schwärmerei; laß mich immer ein Schwärmer sein, und sei du ein Weiser. Die Natur hat dir diese Empfindlichkeit, diese innerlichen Sinnen versagt, die den Unterschied zwischen uns beiden machen; du bist einem Tauben ähnlich, der die fröhlichen Bewegungen, welche die begeisternde Flöte eines Damon in alle Glieder seiner Hörer bringt, dem Wein oder der Unsinnigkeit zuschreibt; er würde tanzen wie sie, wenn er hören könnte. Die Weltleute sind in der Tat nicht zu verdenken, wenn sie uns andre für ein wenig mondsüchtig halten; wer will ihnen zumuten, daß sie glauben sollen, es fehle ihnen etwas, das zu einem vollständigen Menschen gehört? Ich kannte zu Athen ein junges Frauenzimmer, welches die Natur wegen der Häßlichkeit ihrer übrigen Figur durch sehr artige Füße getröstet hatte. 'Ich möchte doch wissen', sagte sie zu einer Freundin, 'was diese jungen Gecken an der einbildischen Timandra sehen, daß sie sonst für niemand Augen haben als für sie? Es ist wahr, sie hat keine unfeine Farbe, ihre Züge sind so so, ihre Augen wenigstens aufmunternd genug, und sie ist sehr besorgt, ihre Bewunderer durch Auslegung gewisser schlüpfriger Schönheiten für die Gleichgültigkeit ihres Gesichts schadlos zu halten; aber was sie für Füße hat! Wie kann man einen Anspruch an Schönheit machen, ohne einen feinen Fuß zu haben?' 'Du hast Recht', versetzte die Freundin, die der Natur nichts schönes zu danken hatte, als ein paar überaus kleine Ohren; 'man muß einen Fuß haben wie du, um schön zu sein; aber was sagst du zu ihren Ohren, Hermia? So wahr mir Diana gnädig sei, sie würden einem Faunen Ehre machen.' So sind die Menschen, und es wäre unbillig ihnen übel zu nehmen, daß sie so sind. Die Nachtigall singt, der Rabe krächzt, und er müßte kein Rabe sein, wenn er nicht dächte, daß er gut krächze; er hat noch recht, wenn er denkt, die Nachtigall krächze nicht gut; es ist wahr, dann geht er zu weit, wenn er über die Nachtigall spottet, daß sie nicht so gut krächzt wie er; aber sie würde eben so Unrecht haben, wenn sie über ihn lachte, daß er nicht singe wie sie; er singt nicht, aber er krächzt doch gut, und das ist für ihn genug. Aber Hippias ist besorgt für mich, er bedaurt mich, er will mich so glücklich machen, wie er ist. Das ist großmütig! Er hat ausfindig gemacht, daß ich das Schöne liebe, daß ich gegen den Reiz, des Vergnügens nicht unempfindlich bin. Diese Entdeckung war leicht zu machen; aber in den Schlüssen, die er daraus zieht, könnt' er sich betrogen haben. Der kluge Ulysses zog sein steinichtes kleines Ithaca, wo er frei war, und sein altes Weib mit der er vor zwanzig Jahren jung gewesen war, der bezauberten Insel der schönen Calypso vor, wo er unsterblich und ein Sklave gewesen wäre; und der Schwärmer Agathon würde mit allem seinem Geschmack für das Schöne, und mit aller seiner Empfindlichkeit für die Ergötzungen, ohne sich einen Augenblick zu bedenken, lieber in das Faß des Diogenes kriechen, als den Palast, die Gärten, das Serail und die Reichtümer des weisen Hippias besitzen, und Hippias sein."
Immer Selbstgespräche, hören wir den Leser sagen. Wenigstens ist dieses eines, und wer kann davor? Agathon hatte sonst niemand, mit dem er hätte reden können als sich selbst; denn mit den Bäumen und Nymphen reden nur die Verliebten. Wir müssen uns schon entschließen, ihm diese Unart zu gut zu halten, und wir sollten es desto eher tun können, da ein so feiner Weltmann als Horaz unstreitig war, sich nicht geschämt hat zu gestehen, daß er öfters mit sich selbst zu reden pflege.
Vorbereitungen zum Folgenden
Agathon hatte noch nicht lange genug unter den Menschen gelebt, um die Welt so gut zu kennen, als ein Theophrast sie zu der Zeit kannte, da er sie verlassen mußte. Allein was ihm an Erfahrung abging, ersetzte seine natürliche Gabe in den Seelen zu lesen, die durch die Aufmerksamkeit geschärft worden war, womit er die Menschen und die Auftritte des Lebens, die er zu sehen Gelegenheit gehabt, beobachtet hatte. Daher kam es, daß seine letzte Unterredung mit dem Hippias, anstatt ihn etwas zu lehren, nur den Verdacht rechtfertigte, den er schon einige Zeit gegen den Charakter und die Denkungsart dieses Sophisten gefaßt hatte. Er konnte also auch leicht erraten, von was für einer Art die geheime Philosophie sein würde, von welcher er ihm so große Vorteile versprochen hatte. Dem ungeachtet verlangte ihn nach dieser Zusammenkunft, teils weil er neugierig war, die Denkungsart eines Hippias in ein System gebracht zu sehen, teils weil er sich von der Beredsamkeit desselben diejenige Art von Ergötzung versprach, die uns ein geschickter Gaukler macht, der uns einen Augenblick sehen läßt, was wir nicht sehen, ohne es bei einem klugen Menschen so weit zu bringen, daß man in eben demselben Augenblick nur daran zweifeln sollte, daß man betrogen wird. Mit einer Gemütsverfassung, die so wenig von der Gelehrigkeit hatte, welche Hippias foderte, fand sich Agathon ein, als er nach Verfluß einiger Tage an einem Morgen in das Zimmer des Sophisten gerufen wurde, welcher auf einem Ruhbette liegend seiner erwartete, und ihm befahl sich neben ihm niederzusetzen und das Frühstück mit ihm zu nehmen. Diese Höflichkeit war nach der Absicht des weisen Hippias eine Vorbereitung, und er hatte, um die Würkung derselben zu befördern, das schönste Mädchen in seinem Hause ausersehen, sie hiebei zu bedienen. In der Tat die Gestalt dieser Nymphe, und die gute Art womit sie ihr Amt versah, machten ihre Aufwartung für einen Weisen von Agathons Alter ein wenig beunruhigend. Das schlimmste war, daß die kleine Hexe, um sich wegen der Gleichgültigkeit zu rächen, womit Agathon ihre zuvorkommende Gütigkeit bisher vernachlässiget hatte, keinen von den Kunstgriffen verabsäumte, wodurch sie den Wert des von ihm verscherzten Glückes empfindlicher zu machen glaubte. Sie hatte die Bosheit gehabt, sich in einem so niedlichen, so sittsamen und doch so verführerischen Morgen-Anzug darzustellen, daß Agathon sich nicht verhindern konnte zu denken, die Grazien selbst könnten, wenn sie gekleidet erscheinen wollten, keinen Anzug erfinden, der auf eine wohlanständigere Art das Mittel, zwischen der eigentlichen Kleidung und ihrer gewöhnlichen Art sich sehen zu lassen, hielte. Die Wahrheit zu sagen, das rosenfarbe Gewand, welches sie umfloß, war eher demjenigen ähnlich, was Petron einen gewebten Wind oder einen leinenen Nebel nennt, als einem Zeug der den Augen etwas entziehen soll; und die kleinste Bewegung entdeckte Reizungen, die desto gefährlicher waren, da sie sich gleich wieder in verräterische Schatten verbargen, und der Einbildungskraft noch mehr als den Augen nachzustellen schienen. Dem ungeachtet würde unser Held sich vielleicht ganz wohl aus der Sache gezogen haben, wenn er nicht beim ersten Anblick die Absichten des Hippias und der schönen Cyana (so hieß das junge Frauenzimmer) erraten hätte. Diese Entdeckung setzte ihn in eine Art von Verlegenheit, die desto merklicher wurde, je größere Gewalt er sich antat, sie zu verbergen; er errötete zu seinem größten Verdruß bis an die Ohren, er machte allerlei gezwungne Gebärden, und sah alle Gemälde in dem Zimmer nach einander an, um seine Verwirrung unmerklich zu machen; aber alle seine Mühe war umsonst, und die Geschäftigkeit der schalkhaften Cyane fand immer neuen Vorwand seinen zerstreuten Blick auf sich zu ziehen. Doch der Triumph, dessen sie in diesen Augenblicken genoß, währte nicht lange. So empfindlich die Augen Agathons waren, so waren sie es doch nicht mehr als sein moralischer Sinn; und ein Gegenstand, der diesen beleidigte, konnte keinen so angenehmen Eindruck auf jene machen, daß er nicht von der unangenehmen Empfindung des andern wäre überwogen worden. Die Forderungen der schönen Cyane, das Gekünstelte, das Schlaue, das Schlüpfrige, das ihm an ihrer ganzen Person anstößig war, löschte das Reizende so sehr aus, und erkaltete seine Sinnen so sehr, daß ein größerer Grad davon, gleich dem Anblick der Medusa, fähig gewesen wäre, ihn in einen Stein zu verwandeln. Die Freiheit und Gleichgültigkeit, die ihm dieses gab, blieb Cyanen nicht verborgen; und er sorgte dafür, sie durch gewisse Blicke, und ein gewisses Lächeln, dessen Bedeutung ihr ganz deutlich war, zu überzeugen, daß sie zu früh triumphiert habe. Dieses Betragen war für ihre Reizungen allzu beleidigend, als daß sie es so gleich für ungezwungen hätte halten sollen; der Widerstand, den sie fand, forderte sie zu einem Wettstreit heraus, worin sie alle ihre Künste anwandte, den Sieg zu erhalten; allein die Stärke ihres Gegners ermüdete endlich ihre Hoffnung, und sie behielt kaum noch so viel Gewalt über sich selbst, den Verdruß zu verbergen, den sie über diese Demütigung ihrer Eitelkeit empfand. Hippias, der sich eine zeitlang stillschweigend mit diesem Spiel belustigte, urteilte bei sich selbst, daß es nicht leicht sein werde, den Verstand eines Menschen zu fangen, dessen Herz selbst auf der schwächsten Seite, sowohl befestiget schien. Allein diese Anmerkung bekräftigte ihn nur in seinen Gedanken von der Methode, die er bei seinem neuen Schüler gebrauchen müsse; und da er selbst von seinem System besser überzeugt war, als irgend ein Bonze von der Kraft der Amulete, die er seinen dankbaren Gläubigen austeilt, so zweifelte er nicht, daß Agathon durch einen freimütigen Vortrag besser zu gewinnen sein würde, als durch die rednerischen Kunstgriffe, deren er sich bei schwachem Seelen mit gutem Erfolg zu bedienen pflegte. Sobald also das Frühstück genommen, und die beschämte Cyane abgetreten war, fing er nach einem kleinen Vorbereitungs-Gespräch, den merkwürdigen Diskurs an, durch dessen vollständige Mitteilung wir desto mehr Dank zu verdienen hoffen, da wir von Kennern versichert worden, daß der geheime Verstand desselben den buchstäblichen an Wichtigkeit noch weit übertreffe, und der wahre und unfehlbare Prozeß, den Stein der Weisen zu finden, darin verborgen liege.
Vorbereitung zu einem sehr interessanten Diskurs
"Wenn wir auf das Tun und Lassen der Menschen acht geben, mein lieber Callias, so scheint zwar, daß alle ihre Sorgen und Bemühungen kein andres Ziel haben als sich glücklich zu machen; allein die Seltenheit dererjenigen die es würklich sind, oder es doch zu sein glauben, beweiset zugleich, daß die meisten nicht wissen, durch was für Mittel sie sich glücklich machen sollen, wenn sie es nicht sind; oder wie sie sich ihres guten Glückes bedienen sollen, um in denjenigen Zustand zu kommen den man Glückseligkeit nennt. Es gibt eben so viele die im Schoße des Ansehens, des Glücks und der Wollust, als solche die in einem Zustande von Mangel, Dienstbarkeit und Unterdrückung elend sind. Einige haben sich aus diesem letztern Zustand emporgearbeitet, in der Meinung, daß sie nur darum unglückselig sein, weil es ihnen am Besitz der Güter des Glücks fehle. Allein die Erfahrung hat sie gelehrt, daß wenn es eine Kunst gibt, die Mittel zur Glückseligkeit zu erwerben, es vielleicht eine noch schwerere, zum wenigsten eine seltnere Kunst sei, diese Mittel recht zu gebrauchen. Es ist daher allezeit die Beschäftigung der Verständigsten unter den Menschen gewesen, durch Verbindung dieser beiden Künste diejenige heraus zu bringen, die man die Kunst glücklich zu leben nennen kann, und in deren würklichen Ausübung, nach meinem Begriffe, die Weisheit besteht, die so selten ein Anteil der Sterblichen ist. Ich nenne sie eine Kunst, weil sie von der fertigen Anwendung gewisser Regeln abhängt, die nur durch die übung erlangt werden kann: Allein sie setzt wie alle Künste einen gewissen Grad von Fähigkeit voraus, den nur die Natur gibt, und den sie nicht allen zu geben pflegt. Einige Menschen scheinen kaum einer größern Glückseligkeit fähig zu sein als die Austern, und wenn sie ja eine Seele haben, so ist es nur so viel als sie brauchen, um ihren Leib eine Zeitlang vor der Fäulnis zu bewahren. Ein größerer und vielleicht der größte Teil der Menschen befindet sich nicht in diesem Fall; aber weil es ihnen an genugsamer Stärke des Gemüts, und an einer gewissen Zärtlichkeit der Empfindung mangelt, so ist ihr Leben gleich dem Leben der übrigen Tiere des Erdbodens, zwischen Vergnügen, die sie weder zu wählen noch zu genießen, und Schmerzen, denen sie weder zu widerstehen noch zu entfliehen wissen, geteilt. Wahn und Leidenschaften sind die Triebfedern dieser menschlichen Maschinen; beide setzen sie einer unendlichen Menge von übeln aus, die es nur in einer betrognen Einbildung, aber eben darum wo nicht schmerzlicher doch anhaltender und unheilbarer sind, als diejenigen die uns die Natur auferlegt. Diese Art von Menschen ist keines gesetzten und anhaltenden Vergnügens, keines Zustandes von Glückseligkeit fähig; ihre Freuden sind Augenblicke, und ihre übrige Dauer ist entweder ein würkliches Leiden, oder ein unaufhörliches Gefühl verworrner Wünsche, eine immerwährende Ebbe und Flut von Furcht und Hoffnung, von Phantasien und Gelüsten; kurz eine unruhige Bewegung die weder ein gewisses Maß noch ein festes Ziel hat, und also weder ein Mittel zur Erhaltung dessen was gut ist sein kann, noch dasjenige genießen läßt, was man würklich besitzt. Es scheint also unmöglich zu sein, ohne eine gewisse Zärtlichkeit der Empfindung, die uns in einer weitern Sphäre, mit feinern Sinnen und auf eine angenehmere Art genießen läßt, und ohne diejenige Stärke der Seele, die uns fähig macht das Joch der Phantasie und des Wahns abzuschütteln, und die Leidenschaften in unsrer Gewalt zu haben, zu demjenigen ruhigen Zustande von Genuß und Zufriedenheit zu kommen, der die Glückseligkeit ausmacht. Nur derjenige ist in der Tat glücklich, der sich von den übeln die nur in der Einbildung bestehen, gänzlich frei zu machen; diejenigen aber, denen die Natur den Menschen unterworfen hat, entweder zu vermeiden, oder doch zu vermindern—und das Gefühl derselben einzuschläfern, hingegen sich in den Besitz alles des Guten, dessen uns die Natur fähig gemacht hat, zu setzen, und was er besitzt, auf die angenehmste Art zu genießen weiß; und dieser Glückselige allein ist der Weise.
Wenn ich dich anders recht kenne, Callias, so hat dich die Natur mit den Fähigkeiten es zu sein so reichlich begabt, als mit den Vorzügen, deren kluger Gebrauch uns die Gunstbezeugungen des Glücks zu verschaffen pflegt. Dem ungeachtet bist du weder glücklich, noch hast du die Miene es jemals zu werden, so lange du nicht gelernt haben wirst, von beiden einen andern Gebrauch zu machen als du bisher getan hast. Du wendest die Stärke deiner Seele an, dein Herz gegen das wahre Vergnügen unempfindlich zu machen, und beschäftigest deine Empfindlichkeit mit unwesentlichen Gegenständen, die du nur in der Einbildung siehest, und nur im Traume genießest; die Vergnügungen, welche die Natur dem Menschen zugeteilt hat, sind für dich Schmerzen, weil du dir Gewalt antun mußt sie zu entbehren; und du setzest dich allen übeln aus, die sie uns vermeiden lehrt, indem du anstatt einer nützlichen Geschäftigkeit dein Leben mit den süßen Einbildungen wegträumest, womit du dir die Beraubung des würklichen Vergnügens zu ersetzen suchst. Dein übel, mein lieber Callias, entspringt von einer Einbildungskraft, die dir ihre Geschöpfe in einem überirdischen Glanze zeigt, der dein Herz verblendet, und ein falsches Licht über das was würklich ist ausbreitet; einer dichterischen Einbildungskraft, die sich beschäftiget schönere Schönheiten, und angenehmere Vergnügungen zu erfinden als die Natur hat; einer Einbildungskraft, ohne welche weder Homere, noch Alcamene, noch Polygnote wären; welche gemacht ist unsre Ergötzungen zu verschönern, aber nicht die Führerin unsers Lebens zu sein. Um weise zu sein, hast du nichts nötig als die gesunde Vernunft an die Stelle dieser begeisterten Zauberin, und die kalte überlegung an den Platz eines sehr oft betrüglichen Gefühls zu setzen. Bilde dir auf etliche Augenblick' ein, daß du den Weg zur Glückseligkeit erst suchen müssest; frage die Natur, höre ihre Antwort, und folge dem Pfade, den sie dir vorzeichnen wird."
Theorie der angenehmen Empfindungen
"Und wen anders als die Natur können wir fragen, um zu wissen wie wir leben sollen, um wohl zu leben? Die Götter? Wenn eine Gottheit ist, so ist sie entweder die Natur selbst, oder die Urheberin der Natur; in beiden Fällen ist die Stimme der Natur die Stimme der Gottheit. Sie ist die allgemeine Lehrerin aller Wesen; sie lehrt jedes Tier vom Elephanten bis zum Insekt, was seiner besondern Verfassung gut oder schädlich ist. Um so glücklich zu sein als es diese innerliche Einrichtung erlaubt, braucht das Tier nichts weiter, als dieser Stimme der Natur zu folgen, welche bald durch den süßen Zug des Vergnügens, bald durch das ungedultige Fodern des Bedürfnisses, bald durch das ängstliche Pochen des Schmerzens es zu demjenigen locket, was ihm zuträglich ist, oder es zur Erhaltung seines Lebens und seiner Gattung auffordert, oder es vor demjenigen warnet, was seinem Wesen die Zerstörung dräuet. Sollte der Mensch allein von dieser mütterlichen Vorsorge ausgenommen sein, oder er allein irren können, wenn er der Stimme folget, die zu allen Wesen redet? Oder ist nicht vielmehr die Unachtsamkeit und der Ungehorsam gegen ihre Erinnerungen die einzige wahre Ursache, warum unter einer unendlichen Menge von lebenden Wesen der Mensch das einzige Unglückselige ist?
Die Natur hat allen ihren Werken eine gewisse Einfalt eingedrückt, die ihre mühsamen Anstalten und eine genaue Regelmäßigkeit unter einem Schein von Leichtigkeit und ungezwungner Anmut verbirgt. Mit diesem Stempel sind auch die Gesetze der Glückseligkeit bezeichnet, die sie dem Menschen vorgeschrieben hat. Sie sind einfältig, leicht auszuüben, und führen gerade und sicher zum Zweck. Die Kunst glücklich zu leben, würde die gemeinste unter allen Künsten sein, wie sie die leichteste ist, wenn die Menschen nicht gewohnt wären sich einzubilden, daß man große Absichten nicht anders, als durch große Anstalten erreichen könne. Es scheint ihnen zu einfältig, daß alles was ihnen die Natur durch den Mund der Weisheit zu sagen hat, in diese drei Erinnerungen zusammen fließen soll: Befriedige deine Bedürfnisse, vergnüge alle deine Sinnen, und erspare dir so viel du kannst alle schmerzhaften Empfindungen. Und doch wird dich eine kleine Aufmerksamkeit überführen, daß die vollständigste Glückseligkeit deren die Sterblichen fähig sind, in die Linie eingeschlossen ist, die von diesen dreien Formuln bezeichnet wird.
Es hat Narren gegeben, welche die Frage mühsam untersucht haben, ob das Vergnügen ein Gut, und der Schmerz ein übel sei? Es hat noch größere Narren gegeben, welche würklich behaupteten, der Schmerz sei kein übel, und das Vergnügen kein Gut; und was das lustigste dabei ist, beide haben Toren gefunden, die albern genug waren, diese Narren für weise zu halten. Das Vergnügen ist kein Gut, sagen sie, weil es Fälle gibt wo der Schmerz ein größeres Gut ist; und der Schmerz ist kein übel, weil er zuweilen besser ist als das Vergnügen. Sind diese Wortspiele einer Antwort wert? Was würd' ein Zustand sein, der in einem vollständigen unaufhörlichen Gefühl des höchsten Grades aller möglichen Schmerzen bestünde? Wenn dieser Zustand das höchste übel ist, so ist der Schmerz ein übel. Doch wir wollen die Schwätzer mit Worten spielen lassen, die ihnen bedeuten müssen was sie wollen. Die Natur entscheidet diese Frage, wenn es eine sein kann, auf eine Art, die keinen Zweifel übrig läßt. Wer ist, der nicht lieber vernichtet als unaufhörlich gepeiniget werden wollte? Wer sieht nicht einen schönen Gegenstand lieber, als einen ekelhaften? Wer hört nicht lieber den Gesang der Grasmücke, als das Geheul der Nachteule? Wer zieht nicht einen angenehmen Geruch oder Geschmack einem widrigen vor? Und würde nicht der enthaltsame Callias selbst lieber auf einem Lager von Blumen in den Rosenarmen irgend einer schönen Nymphe ruhen, als in den glühenden Armen des ehernen Götzenbildes, welchem die Andacht gewisser Syrischer Völker, wie man sagt, ihre Kinder opfert? Eben so wenig scheint es einem Zweifel unterworfen zu sein, daß der Schmerz und das Vergnügen so unverträglich sind, daß eine einzige gepeinigte Nerve genug ist, uns gegen die vereinigten Reizungen aller Wollüste unempfindlich zu machen. Die Freiheit von allen Arten der Schmerzen ist also unstreitig eine unumgängliche Bedingung der Glückseligkeit; allein da sie nichts positives ist, so ist sie nicht so wohl ein Gut, als der Zustand, worin man des Genusses des Guten fähig ist. Dieser Genuß allein ist es, dessen Dauer den Stand hervorbringt, den man Glückseligkeit nennt.
Es ist unleugbar, daß nicht alle Arten und Grade des Vergnügens gut sind. Die Natur allein hat das Recht uns die Vergnügen anzuzeigen, die sie uns bestimmt hat. So unendlich die Menge dieser angenehmen Empfindungen zu sein scheint, so ist doch leicht zu sehen, daß sie alle entweder zu den Vergnügungen der Sinne, oder der Einbildungskraft, oder zu einer dritten Klasse, die aus beiden zusammen gesetzt ist, gehören. Die Vergnügen der Einbildungskraft sind entweder Erinnerungen an ehmals genossene sinnliche Vergnügen; oder Mittel uns den Genuß derselben reizender zu machen; oder angenehme Dichtungen und Träume, die entweder in einer neuen willkürlichen Zusammensetzung der angenehmen Ideen, die uns die Sinne gegeben, oder in einer dunkel eingebildeten Erhöhung der Grade jener Vergnügen, die wir erfahren haben, bestehen. Es sind also, wenn man genau reden will, alle Vergnügungen im Grunde sinnlich, indem sie, es sei nun unmittelbar oder vermittelst der Einbildungskraft, von keinen andern als sinnlichen Vorstellungen entstehen können.
Die Philosophen reden von Vergnügen des Geistes, von Vergnügen des Herzens, von Vergnügen der Tugend. Alle diese Vergnügen sind es für die Sinnen oder für die Einbildungskraft, oder sie sind nichts. Warum ist Homer unendlich mal angenehmer zu lesen als Heraclitus? Weil die Gedichte des ersten eine Reihe von Gemälden darstellen, die entweder durch die eigentümliche Reizungen des Gegenstandes, oder die Lebhaftigkeit der Farben, oder einen Kontrast, der das Vergnügen durch eine kleine Mischung mit widrigen Empfindungen erhöhet, oder die Erregung angenehmer Bewegungen, unsre Phantasie bezaubern.—Da die trocknen Schriften des Philosophen nichts darstellen, als eine Reihe von Wörtern, womit man abgezogne Begriffe bezeichnet, von denen sich die Einbildungskraft nicht anders als mit vieler Anstrengung und einer beständigen Bemühung, die gänzliche Verwirrung so vieler unbestimmter Schattenbilder zu verhüten, einige Ideen machen kann; wenn anders dasjenige so genennt zu werden verdient, was in Absicht seines wirklichen Gegenstands in der Natur, kaum so viel ist als ein Schatten gegen den Körper der ihn zu werfen scheint. Es ist wahr, es gibt abgezogene Begriffe, die für gewisse enthusiastische Seelen entzückend sind; aber warum sind sie es? In der Tat bloß darum, weil ihre Einbildungskraft sie auf eine schlaue Art zu verkörpern weiß. Untersuche alle angenehmen Ideen von dieser Art, so unkörperlich und geistig sie scheinen mögen, und du wirst finden, daß das Vergnügen, so sie deiner Seele machen, von den sinnlichen Vorstellungen entsteht, womit sie begleitet sind. Bemühe dich so sehr als du willst, dir Götter ohne Gestalt, ohne Glanz, ohne etwas das die Sinnen rührt, vorzustellen; es wird dir unmöglich sein. Der Jupiter des Homer und Phidias, die Idee eines Hercules oder Theseus, wie unsre Einbildungskraft sich diese Helden vorzustellen pflegt, die Ideen eines überirdischen Glanzes, einer mehr als menschlichen Schönheit, eines ambrosischen Geruchs, werden sich unvermerkt an die Stelle derjenigen setzen, die du dich vergeblich zu machen bestrebest; und du wirst noch immer an dem irdischen Boden kleben, wenn du schon in den empyreischen Gegenden zu schweben glaubst. Sind die Vergnügen des Herzens weniger sinnlich? Sie sind die Allersinnlichsten. Ein gewisser Grad derselben verbreitet eine wollüstige Wärme durch unser ganzes Wesen, belebt den Umlauf des Blutes, ermuntert das Spiel der Fibern, und setzt unsre ganze Maschine in einen Zustand von Behaglichkeit, der sich der Seele um so mehr mitteilet, als ihre eigne natürliche Verrichtungen auf eine angenehme Art dadurch erleichtert werden. Die Bewunderung, die Liebe, das Verlangen, die Hoffnung, das Mitleiden, jeder zärtliche Affekt bringt diese Würkung in einigem Grad hervor, und ist desto angenehmer, je mehr er sich derjenigen Wollust nähert, die unsre Alten würdig gefunden haben, in der Gestalt der personifizierten Schönheit, aus deren Genuß sie entspringt, unter die Götter gesetzt zu werden. Derjenige, den sein Freund niemals in Entzückungen gesetzt hat, die den Entzückungen der Liebe ähnlich sind, ist nicht berechtiget von den Vergnügen der Freundschaft zu reden. Was ist das Mitleiden, welches uns zur Guttätigkeit treibt? Wer anders ist desselben fähig als diese empfindlichen Seelen, deren Auge durch den Anblick, deren Ohr durch den ächzenden Ton des Schmerzens und Elends gequälet wird, und die in dem Augenblick, da sie die Not eines Unglücklichen erleichtern, beinahe dasselbige Vergnügen fühlen, welches sie in eben diesem Augenblick an seiner Stelle gefühlt hätten? Wenn das Mitleiden nicht ein wollüstiges Gefühl ist, warum rührt uns nichts so sehr als die leidende Schönheit? Warum lockt die klagende Phädra in der Nachahmung zärtliche Tränen aus unsern Augen, da die winselnde Häßlichkeit in der Natur nichts als Ekel erweckt? Und sind etwan die Vergnügen der Wohltätigkeit und Menschenliebe weniger sinnlich? Dasjenige, was in dir vorgehen wird, wenn du dir die kontrastierenden Gemälde einer geängstigten und einer fröhlichen Stadt vorstellest, die Homer auf den Schild des Achilles setzt, wird dir diese Frage auflösen! Nur diejenigen, die der Genuß des Vergnügens in die lebhafteste Entzückung setzt, sind fähig, von den lachenden Bildern einer allgemeinen Freude und Wonne so sehr gerührt zu werden, daß sie dieselbige außer sich zu sehen wünschen; das Vergnügen der Guttätigkeit wird allemal mit demjenigen in Verhältnis stehen, welches ihnen der Anblick eines vergnügten Gesichts, eines fröhlichen Tanzes, einer öffentlichen Lustbarkeit macht; und es ist nur der Vorteil ihres Vergnügens, je allgemeiner diese Szene ist. Je größer die Anzahl der Fröhlichen und die Mannigfaltigkeit der Freuden, desto größer die Wollust, wovon diese Art von Menschen, an denen alles Sinn, alles Herz und Seele ist, beim Anblick derselben überströmet werden. Laß uns also gestehen, Callias, daß alle Vergnügen, die uns die Natur anbeut, sinnlich sind; und daß die hochfliegendste, abgezogenste und geistigste Einbildungskraft uns keine andre verschaffen kann, als solche, die wir auf eine weit vollkommnere Art aus dem rosenbekränzten Becher, und von den Lippen der schönen Cyane saugen könnten.
Es ist wahr, es gibt noch eine Art von Vergnügen, die beim ersten Anblick eine Ausnahme von meinem Satz zu machen scheint. Man könnte sie künstliche nennen, weil wir sie nicht aus den Händen der Natur empfangen, sondern nur gewissen übereinkommnissen der menschlichen Gesellschaft zu danken haben, durch welche dasjenige, was uns dieses Vergnügen macht, die Bedeutung eines Gutes erhalten hat. Allein die kleinste überlegung ist hinlänglich uns zu überzeugen, daß diese Dinge uns keine andre Art von Vergnügen machen, als die wir vom Besitz des Geldes haben; welches wir mit Gleichgültigkeit ansehen würden, wenn es uns nicht für alle die würklichen Vergnügen Gewähr leistete, die wir uns dadurch verschaffen können. Von dieser Art ist dasjenige, welches der Ehrgeizige empfindet, wenn ihm Bezeugungen einer scheinbaren Hochachtung oder Unterwürfigkeit gemacht werden, die ihm als Zeichen seines Ansehens und der Macht, die ihm dasselbe über andre gibt, angenehm sind. Ein morgenländischer Despot bekümmert sich wenig um die Hochachtung seiner Völker; sklavische Unterwürfigkeit ist für ihn genug. Ein Mensch hingegen, dessen Glück in den Händen solcher Leute liegt, die seines gleichen sind, ist genötiget, sich ihre Hochachtung zu erwerben. Allein diese Unterwürfigkeit ist dem Despoten, diese Hochachtung ist dem Republikaner nur darum angenehm, weil sie das Vermögen oder die Gelegenheit gibt, die Leidenschaften und die Begierden desto besser zu befriedigen, welche die unmittelbaren Quellen des Vergnügens sind. Warum ist Alcibiades ehrgeizig? Alcibiades bewirbt sich um einen Ruhm, der seine Ausschweifungen, seinen übermut, seinen schleppenden Purpur, seine Schmäuse und Liebeshändel bedeckt; der es den Atheniensern erträglich macht, den Liebesgott, mit dem Blitze Jupiters bewaffnet, auf dem Schilde seines Feldherrn zu sehen; der die Gemahlin eines spartanischen Königs so sehr verblendet, daß sie stolz darauf ist, für seine Buhlerin gehalten zu werden. Ohne diese Vorteile würde ihm Ansehn und Ruhm so gleichgültig sein, als ein Haufen Rechenpfennige einem corinthischen Wucherer. 'Allein', spricht man, 'wenn es seine Richtigkeit hat, daß die Vergnügen der Sinne alles sind, was uns die Natur zuerkannt hat, was ist leichter und was braucht weniger Kunst und Anstalten, als glücklich zu sein? Wie wenig bedarf die Natur um zu frieden zu sein?' Es ist wahr, die rohe Natur bedarf wenig. Ihre Unwissenheit ist ihr Reichtum. Eine Bewegung, die seinen Körper munter erhält, eine Nahrung die den Hunger stillt, ein Weib, schön oder häßlich, wenn ihn die Ungeduld eines gewissen Bedürfnisses beunruhiget, ein schattichter Rasen, wenn er des Schlafs bedarf, und eine Höhle, sich vor dem Ungewitter zu sichern, ist alles was der wilde Mensch nötig hat, um in dem Lauf von achtzig oder hundert Jahren sich nur nicht einmal einfallen zu lassen, daß man mehr brauchen könne. Die Vergnügen der Einbildungskraft und des Geschmacks sind nicht für ihn; er genießt nicht mehr als die übrigen Tiere, und genießt wie sie. Wenn er glücklich ist, weil er sich nicht für unglücklich hält, so ist er es doch nicht in Vergleichung mit demjenigen, für den die Künste des Witzes und des Geschmacks die angenehmste Art der Bedürfnisse der Natur zu genießen, und eine unendliche Menge von Ergötzungen der Sinne und der Einbildung erfunden haben, wovon die Natur in dem rohen Zustande, worin wir sie uns in den ältesten Zeiten vorstellen, keinen Begriff hat. Diese Vergleichung, es ist wahr, findet nur in dem Stand einer Gesellschaft statt, die sich in einer langen Reihe von Jahrhunderten endlich zu einem gewissen Grade der Vollkommenheit erhoben hat. In einem solchen aber wird alles das zum Bedürfnis, was der Wilde nur darum nicht vermisset, weil es ihm unbekannt ist; und ein Diogenes könnte zu Corinth nicht glücklich sein, wenn er nicht ein Narr wäre. Gewisse poetische Köpfe haben sich ein goldnes Alter, ein Arcadien, ein angenehmes Hirtenleben geträumt, welches zwischen der rohen Natur und der Lebensart des begüterten Teils eines gesitteten und sinnreichen Volkes das Mittel halten soll. Sie haben die verschönerte Natur von allem demjenigen entkleidet, wodurch sie verschönert worden ist, und dieses idealische Wesen die schöne Natur genannt. Allein außerdem, daß diese schöne Natur, in dieser nackten Einfalt, welche man ihr gibt, niemals irgendwo vorhanden war; wer siehet nicht, daß die Lebensart des goldnen Alters der Dichter, zu derjenigen, welche durch die Künste mit allem bereichert und ausgeziert worden, was der Witz zu erfinden fähig ist, um uns in den Armen einer ununterbrochnen Wollust, vor dem überdruß der Sättigung zu bewahren; daß, sage ich, jene dichtrische Lebensart zu dieser sich eben so verhält, wie die Lebensart des wildesten Sogdianers zu jener? Wenn es angenehmer ist in einer bequemen Hütte zu wohnen als in einem hohlen Baum, so ist es noch angenehmer in einem geräumigen Hause zu wohnen, das mit den ausgesuchtesten und wollüstigsten Bequemlichkeiten versehen, und, wohin man die Augen wendet, mit Bildern des Vergnügens ausgeziert ist; und wenn eine mit Bändern und Blumen geschmückte Phyllis reizender ist als eine schmutzige und zottichte Wilde, muß nicht eine von unsern Schönen, deren natürliche Reizungen durch einen wohlausgesonnenen und schimmernden Putz erhoben werden, um eben so viel besser gefallen als eine Phyllis?"
Die Geisterlehre eines echten Materialisten
"Wir haben die Natur gefragt, Callias, worin die Glückseligkeit bestehe, die sie uns zugedacht habe, und wir haben ihre Antwort. Ein schmerzenfreies Leben, die angenehmste Befriedigung unsrer natürlichen Bedürfnisse, und der abwechslende Genuß aller Arten von Vergnügen, womit die Einbildungskraft, der Witz und die Künste unsern Sinnen zu schmeicheln fähig sind.—Dieses ist alles was der Mensch fodern kann, und wenn es eine erhabnere Art von Glückseligkeit gibt, so können wir wenigstens gewiß sein, daß sie nicht für uns gehört, da wir nicht einmal fähig sind, uns eine Vorstellung davon zu machen. Es ist wahr, der enthusiastische Teil unter den Verehrern der Götter schmeichelt sich mit einer zukünftigen Glückseligkeit, zu welcher die Seele nach der Zerstörung des Körpers erst gelangen soll. Die Seele, sagen sie, war ehmals eine Freundin und Gespielin der Götter, sie war unsterblich wie sie, und begleitete (wie Plato homerisiert) den geflügelten Wagen Jupiters, um mit den übrigen Unsterblichen die unvergängliche Schönheiten zu beschauen, womit die unermeßlichen Räume über den Sphären erfüllt sind. Ein Krieg, der unter den Bewohnern der unsichtbaren Welt entstand, verwickelte sie in den Fall der Besiegten; sie ward vom Himmel gestürzt, und in den Kerker eines tierischen Leibes eingeschlossen, um durch den Verlust ihrer ehmaligen Wonne, in einem Zustand, der eine Kette von Plagen und Schmerzen ist, ihre Schuld auszutilgen. Das unendliche Verlangen, der nie gestillte Durst nach einer Glückseligkeit, die sie in keinem irdischen Gut findet, ist das einzige, das ihr zu ihrer Qual von ihrem vormaligen Zustand übrig geblieben ist; und es ist unmöglich, daß sie diese vollkommne Seligkeit, wodurch sie allein befriediget werden kann, wieder erlange, eh sie sich wieder in ihren ursprünglichen Stand, in das reine Element der Geister empor geschwungen hat. Sie ist also vor dem Tode keiner andern Glückseligkeit fähig als derjenigen, deren sie durch eine freiwillige Absonderung von allen irdischen Dingen, durch Ertödung aller irdischen Leidenschaften und Entbehrung aller sinnlichen Vergnügen, fähig gemacht wird. Nur durch diese Entkörperung wird sie der Beschauung der wesentlichen und göttlichen Dinge fähig, worin die Geister ihre einzige Nahrung und diese vollkommne Wonne finden, wovon die sinnlichen Menschen sich keinen Begriff machen können. Solchergestalt kann sie nur, nachdem sie durch verschiedne Grade der Reinigung, von allem was tierisch und körperlich ist, gesäubert worden, sich wieder zu der überirdischen Sphäre erheben, mit den Göttern leben, und im Unverwandten Anschauen des wesentlichen und ewigen Schönen, wovon alles Sichtbare bloß der Schatten ist, Ewigkeiten durchleben, die eben so grenzenlos sind, als die Wonne, von der sie überströmet werden.
Ich zweifle nicht daran, Callias, daß es Leute geben mag, bei denen die Milzsucht hoch genug gestiegen ist, daß diese Begriffe eine Art von Wahrheit für sie haben. Es ist auch nichts leichters, als daß junge Leute von lebhafter Empfindung und feurigen Einbildungskraft, durch eine einsame Lebensart und den Mangel solcher Gegenstände und Freuden, worin sich dieses übermäßige Feuer verzehren könnte, von diesen hochfliegenden Schimären eingenommen werden, welche so geschickt sind, ihre nach Vergnügen lechzende Einbildungskraft durch eine Art von Wollust zu täuschen, die nur desto lebhafter ist, je verworrener und dunkler die bezaubernden Phantomen sind die sie hervorbringen; allein ob diese Träume außer dem Gehirn ihrer Erfinder, und derjenigen, deren Einbildungskraft so glücklich ist ihnen nachfliegen zu können, einige Wahrheit oder Würklichkeit haben, ist eine Frage, deren Erörterung nicht zum Vorteil derselben ausfällt, wenn sie der gesunden Vernunft aufgetragen wird. Je weniger die Menschen wissen, desto geneigter sind sie, zu wähnen und zu glauben. Wem anders als der Unwissenheit und dem Aberglauben der ältesten Welt haben die Nymphen und Faunen, die Najaden und Tritonen, die Furien und die erscheinenden Schatten der Verstorbnen ihre vermeinte Würklichkeit zu danken? Je besser wir die Körperwelt kennen lernen, desto enger werden die Grenzen des Geister-Reichs. Ich will itzo nichts davon sagen, ob es wahrscheinlich sei, daß die Priesterschaft, die von jeher einen so zahlreichen Orden unter den Menschen ausgemacht, bald genug die Entdeckung machen mußte, was für große Vorteile man durch diesen Hang der Menschen zum Wunderbaren von ihren beiden heftigsten Leidenschaften, der Furcht und der Hoffnung, ziehen könne. Wir wollen bei der Sache selbst bleiben. Worauf gründet sich die erhabne Theorie, von der wir reden? Wer hat jemals diese Götter, diese Geister gesehen, deren Dasein sie voraussetzt? Welcher Mensch erinnert sich dessen, daß er ehmals ohne Körper in den ätherischen Gegenden geschwebt, den geflügelten Wagen Jupiters begleitet, und mit den Göttern Nektar getrunken habe? Was für einen sechsten oder siebenten Sinn haben wir, um die Würklichkeit der Gegenstände damit zu erkennen, womit man die Geisterwelt bevölkert? Sind es unsre innerlichen Sinnen? Was sind diese anders als das Vermögen der Einbildungskraft die Würkungen der äußern Sinnen nachzuäffen? Was sieht das inwendige Auge eines Blindgebornen? Was hört das innere Ohr eines gebornen Tauben? Oder was sind diese Szenen, in welche die erhabenste Einbildungskraft auszuschweifen fähig ist, anders als neue Zusammensetzungen, die sie gerade so macht, wie ein Mädchen aus den Blumen, die in einem Parterre zerstreut stehen, einen Kranz flicht; oder höhere Grade dessen was die Sinnen würklich empfunden haben, von welchen man jedoch immer unfähig bleibt, sich einige klare Vorstellung zu machen; denn was empfinden wir bei dem ätherischen Schimmer, oder den ambrosischen Gerüchen der homerischen Götter? Wir sehen, wenn ich so sagen kann, den Schatten eines Glanzes in unsrer Einbildung; wir glauben einen lieblichen Geruch zu empfinden; aber wir sehen keinen ätherischen Glanz, und empfinden keinen ambrosischen Geruch. Kurz, man verbiete den Schöpfern der überirdischen Welten sich keiner irdischen und sinnlichen Materialien zu bedienen, so werden ihre Welten, um mich eines ihrer Ausdrücke zu bedienen, plötzlich wieder in den Schoß des Nichts zurückfallen, woraus sie gezogen worden. Und brauchen wir wohl noch einen andern Beweis, um uns diese ganze Theorie verdächtig zu machen, als die Methode, die man uns vorschreibt, um zu der geheimnisvollen Glückseligkeit zu gelangen, welcher wir diejenige aufopfern sollen, die uns die Natur und unsre Sinnen anbieten? Wir sollen uns den sichtbaren Dingen entziehen, um die unsichtbaren zu sehen; wir sollen aufhören zu empfinden, damit wir desto lebhafter phantasieren können. 'Verstopfet eure Sinnen', sagen sie, 'so werdet ihr Dinge sehen und hören, wovon diese tierischen Menschen, die gleich dem Vieh mit den Augen sehen, und mit den Ohren hören, sich keinen Begriff machen können.' Eine vortreffliche Diät, in Wahrheit; die Schüler des Hippokrates werden dir beweisen, daß man keine bessere erfinden kann, um wahnwitzig zu werden. Es scheint also sehr wahrscheinlich, daß alle diese Geister, diese Welten, welche sie bewohnen, und diese Glückseligkeiten, welche man nach dem Tode mit ihnen zu teilen hofft, nicht mehr Wahrheit haben, als die Nymphen, die Liebesgötter und die Grazien der Dichter, als die Gärten der Hesperiden und die Inseln der Circe und Calypso; kurz, als alle diese Spiele der Einbildungskraft, welche uns belustigen, ohne daß wir sie für würklich halten. Die Religion unsrer Väter befiehlt uns einen Jupiter, eine Venus zu glauben; ganz gut; aber was für eine Vorstellung macht man uns von ihnen? Jupiter soll ein Gott, Venus eine Göttin sein: Allein der Jupiter des Phidias ist nichts mehr als ein heroischer Mann, noch die Venus des Praxiteles mehr als ein schönes Weib; von dem Gott und der Göttin hat kein Mensch in Griechenland den mindesten Begriff. Man verspricht uns nach dem Tod ein unsterbliches Leben bei den Göttern; aber die Begriffe die wir uns davon machen, sind entweder aus den sinnlichen Wollüsten, oder den feinern und geistigern Freuden, die wir in diesem Leben erfahren haben, zusammengesetzt; es ist also klar, daß wir gar keine echte Vorstellung von dem Leben der Geister und von ihren Freuden haben. Ich will hiemit nicht leugnen, daß es Götter, Geister oder vollkommnere Wesen als wir sind, haben könne oder würklich habe. Alles was meine Schlüsse zu beweisen scheinen, ist dieses, daß wir unfähig sind, uns eine richtige Idee von ihnen zu machen, oder kurz, daß wir nichts von ihnen wissen. Wissen wir aber nichts, weder von ihrem Zustande noch von ihrer Natur, so ist es für uns eben so viel, als ob sie gar nicht wären. Anaxagoras bewies mir einst mit dem ganzen Enthusiasmus eines Sternsehers, daß der Mond Einwohner habe. Vielleicht sagte er die Wahrheit. Allein was sind diese Mondbewohner für uns? Meinest du, der König Philippus werde sich die mindeste Sorge machen, die Griechen möchten sie gegen ihn zu Hülfe rufen? Es mögen Einwohner im Monde sein; für uns ist der Mond weder mehr noch weniger als eine leere glänzende Scheibe, die unsre Nächte erheitert, und unsre Zeit abmißt. Hat es aber diese Bewandtnis, wie es denn nicht anders sein kann, wie töricht ist es, den Plan seines Lebens nach Schimären einzurichten, und sich der Glückseligkeit deren man würklich genießen könnte, zu begeben, um sich mit ungewissen Hoffnungen zu weiden; die Frucht seines Daseins zu verlieren, so lange man lebt, in Hoffnung sich dafür schadlos zu halten, wenn man nicht mehr sein wird! Denn daß wir itzt leben, und daß dieses Leben aufhören wird, das wissen wir gewiß; ob ein andres alsdann anfange, ist wenigstens ungewiß, und wenn es auch wäre, so ist es doch unmöglich, das Verhältnis desselben gegen das itzige zu bestimmen, da wir kein Mittel haben uns einen echten Begriff davon zu machen. Laß uns also den Plan unsers Lebens auf das gründen, was wir kennen und wissen; und nachdem wir gefunden haben, was das glückliche Leben ist, den geradesten und sichersten Weg suchen, auf dem wir dazu gelangen können."
Worin Hippias bessere Schlüsse macht
"Ich habe schon bemerkt, daß die Glückseligkeit, welche wir suchen, nur in dem Stand einer Gesellschaft, die sich schon zu einem gewissen Grade der Vollkommenheit erhoben hat, statt finde. In einer solchen Gesellschaft entwickeln sich alle diese mannichfaltigen Geschicklichkeiten, die bei dem wilden Menschen, der so wenig bedarf, so einsam lebt, und so wenig Leidenschaften hat, immer müßige Fähigkeiten bleiben. Die Einführung des Eigentums, die Ungleichheit der Güter und Stände, die Armut der einen, der überfluß, die üppigkeit und die Trägheit der andern, dieses sind die wahren Götter der Künste, die Mercure und die Musen, denen wir ihre Erfindung oder doch ihre Vollkommenheit zu danken haben. Wie viel Menschen müssen ihre Bemühungen vereinigen, um einen einzigen Reichen zu befriedigen! Diese bauen seine Felder und Weinberge, andre pflanzen seine Lustgärten, noch andre bearbeiten den Marmor, woraus seine Wohnung aufgeführt wird; tausende durchschiffen den Ozean um ihm die Reichtümer fremder Länder zuzuführen; tausende beschäftigen sich, die Seide und den Purpur zu bereiten, die ihn kleiden; die Tapeten, die seine Zimmer schmücken; die kostbaren Gefäße, woraus er ißt und trinkt; und die weichen Lager, worauf er der wollüstigsten Ruhe genießt. Tausende müssen in schlaflosen Nächten ihren Witz verzehren, um neue Bequemlichkeiten, neue Wollüste, eine leichtere und angenehmere Art die leichtesten und angenehmsten Verrichtungen, die uns die Natur auferlegt, zu tun, für ihn zu erfinden, und durch die Zaubereien der Kunst, die den gemeinsten Dingen einen Schein der Neuheit zu geben weiß, seinen Ekel zu täuschen, und seine vom Genuß ermüdeten Sinnen aufzuwecken. Für ihn arbeitet der Maler, der Tonkünstler, der Dichter, der Schauspieler, und überwindet unendliche Schwierigkeiten, um Künste zur Vollkommenheit zu treiben, welche die Anzahl seiner Ergötzungen vermehren sollen. Allein alle diese Leute, welche für den glücklichen Menschen arbeiten, würden es nicht tun, wenn sie nicht selbst glücklich zu sein wünschten. Sie arbeiten nur für denjenigen, der ihre Bemühung für sein Vergnügen belohnen kann. Der König von Persien selbst ist nicht mächtig genug, den Zeuxes zu zwingen, daß er ihm eine Leda male. Nur die Zauberkraft des Goldes, welchem eine allgemeine übereinkunft der gesitteten Völker den Wert aller nützlichen und angenehmen Dinge beigelegt hat, kann den Genie und den Fleiß einem Midas dienstbar machen, der ohne seine Schätze kaum so viel wert wäre, dem Maler, der für ihn arbeitet, die Farben zu reiben. Die Kunst, sich die Mittel zur Glückseligkeit zu verschaffen, ist also schon gefunden, mein lieber Callias, sobald wir die Kunst gefunden haben, einen genugsamen Vorrat von diesem Steine der Weisen zu bekommen, der uns die ganze Natur unterwirft, der Millionen von unsers Gleichen zu freiwilligen Sklaven unsrer üppigkeit macht, und der uns in jedem schlauen Kopf einen dienstwilligen Mercur, und durch den unwiderstehlichen Glanz eines goldnen Regens, in jeder Schönen eine Danae finden läßt. Die Kunst reich zu werden, Callias, ist im Grunde nichts anders, als die Kunst, sich des Eigentums andrer Leute mit ihrem guten Willen zu bemächtigen. Ein Despot hat unter dem Schutz eines Vorurteils, welches demjenigen sehr ähnlich ist, womit die Egypter den Krokodil vergötterten, in diesem Stück einen ungemeinen Vorteil: Da sich seine Rechte so weit erstrecken als seine Macht, und diese Macht durch keine Pflichten eingeschränkt ist, weil ihn niemand zwingen kann, sie zu erfüllen; so kann er sich das Vermögen seiner Untertanen zueignen, ohne sich darum zu bekümmern, ob es mit ihrem guten Willen geschieht. Es kostet ihn keine Mühe, unermeßliche Reichtümer zu erwerben, und, um mit der unmäßigsten Schwelgerei in einem Tag Millionen zu verschwenden, hat er nichts nötig, als denjenigen Teil des Volkes, den seine Dürftigkeit zu einer immerwährenden Arbeit verdammt, an diesem Tage fasten zu lassen. Allein außer dem, daß dieser Vorteil nur sehr wenigen Sterblichen zu Teil werden kann, so ist er nicht so beschaffen, daß ein weiser Mann ihn beneiden könnte. Das Vergnügen höret auf Vergnügen zu sein, so bald es über einen gewissen Grad getrieben wird. Das übermaß der sinnlichen Wollüste zerstöret die Werkzeuge der Empfindung; das übermaß der Vergnügen der Einbildungskraft, verderbt den Geschmack des echten Schönen, indem für unmäßige Begierden nichts reizend sein kann, was in die Verhältnisse und das Ebenmaß der Natur eingeschlossen ist. Daher ist das gewöhnliche Schicksal der morgenländischen Fürsten, die in die Mauern ihres Serails eingekerkert sind, in den Armen der Wollust vor Ersättigung und überdruß umzukommen; indessen, daß die süßesten Gerüche von Arabien vergeblich für sie düften, daß die geistigen Weine ihnen ungekostet aus Kristallen entgegenblinken, daß tausend Schönheiten, deren jede zu Paphos einen Altar erhielte, alle ihre Reizungen, alle ihre buhlerische Künste umsonst verschwenden, ihre schlaffen Sinnen zu erwecken, und zehen tausend Sklaven ihrer üppigkeit in die Wette eifern, um unerhörte und ungeheure Wollüste zu erdenken, welche fähig sein möchten, wenigstens die glühende Phantasie dieser unglückseligen Glücklichen auf etliche Augenblicke zu betrügen. Wir haben also mehr Ursache, als man insgemein glaubt, der Natur zu danken, wenn sie uns in einen Stand setzt, wo wir das Vergnügen durch Arbeit erkaufen müssen, und vorher unsre Leidenschaften mäßigen lernen, eh wir zu einer Glückseligkeit gelangen, die wir ohne diese Mäßigung nicht genießen könnten.
Da nun die Despoten und die Straßenräuber die einzigen sind, denen es, jedoch auf ihre Gefahr, zusteht, sich des Vermögens andrer Leute mit Gewalt zu bemächtigen: So bleibt demjenigen, der sich aus einem Zustand von Mangel und Abhänglichkeit empor schwingen will, nichts anders übrig, als daß er sich die Geschicklichkeit erwerbe, den Vorteil und das Vergnügen der Lieblinge des Glückes zu befördern. Unter den vielerlei Arten, wie dieses geschehen kann, sind einige dem Menschen von Genie, mit Ausschluß aller übrigen, vorbehalten, und teilen sich nach ihrem verschiednen Endzweck in zwo Klassen ein, wovon die erste die Vorteile, und die andre das Vergnügen des beträchtlichsten Teils einer Nation zum Gegenstand hat. Die erste, welche die Regierungs—und Kriegs-Künste in sich begreift, scheint ordentlicher Weise nur in freien Staaten Platz zu finden; die andre hat keine Grenzen als den Grad des Reichtums und der üppigkeit eines jeden Volks, von welcher Art seine Staatsverfassung sein mag. In dem armen Athen wurde ein guter Feld-Herr unendlichmal höher geschätzt, als ein guter Maler; in dem reichen und wollüstigen Athen gibt man sich keine Mühe zu untersuchen, wer der tüchtigste sei, ein Kriegsheer anzuführen; man hat wichtigere Dinge zu entscheiden; die Frage ist, welche unter etlichen Tänzerinnen die artigsten Füße hat, und die schönsten Sprünge macht? ob die Venus des Praxiteles, oder des Alcamenes die schönere ist?—Die Künste des Genie von der ersten Klasse führen für sich allein selten zum Reichtum. Die großen Talente, die großen Verdienste und Tugenden, die dazu erfodert werden, finden sich gemeiniglich nur in armen und emporstrebenden Republiken, die alles, was man für sie tut, nur mit Lorbeerkränzen bezahlen. In Staaten aber, wo Reichtum und üppigkeit schon die Oberhand gewonnen haben, braucht man alle diese Talente und Tugenden nicht, welche die Regierungskunst zu erfodern scheint. Man kann in solchen Staaten Gesetze geben, ohne ein Solon zu sein; man kann ihre Kriegsheere anführen, ohne ein Leonidas oder Themistokles zu sein. Perikles, Alcibiades, regierten zu Athen den Staat, und führten die Völker an; obgleich jener nur ein Redner war, und dieser keine andre Kunst kannte, als die Kunst sich der Herzen zu bemeistern. In solchen Republiken hat das Volk die Eigenschaften, die in einem despotischen Staate der Einzige hat, der kein Sklave ist; man braucht ihm nur zu gefallen, um zu allem tüchtig befunden zu werden. Perikles herrschte, ohne die äußerlichen Zeichen der königlichen Würde zu tragen, so unumschränkt in dem freien Athen, als Artaxerxes in dem untertänigen Asien. Seine Talente, und die Künste die er von der schönen Aspasia gelernt hatte, erwarben ihm eine Art von Oberherrschaft, die nur desto unumschränkter war, da sie ihm freiwillig zugestanden wurde; die Kunst eine große Meinung von sich zu erwecken, die Kunst zu überreden, die Kunst von der Eitelkeit der Athenienser Vorteil zu ziehen und ihre Leidenschaften zu lenken; diese machten seine ganze Regierungskunst aus. Er verwickelte die Republik in ungerechte und unglückliche Kriege, er erschöpfte die öffentliche Schatzkammer, er erbitterte die Bundsgenossen durch gewaltsame Erpressungen; und damit das Volk keine Zeit hätte, eine so schöne Staats-Verwaltung genauer zu beobachten, so bauete er Schauspielhäuser, gab ihnen schöne Statuen und Gemälde zu sehen, unterhielt sie mit Tänzerinnen und Virtuosen, und gewöhnte sie so sehr an diese abwechselnden Ergötzungen, daß die Vorstellung eines neuen Stücks, oder der Wettstreit unter etlichen Flötenspielern zuletzt Staats-Angelegenheiten wurden, über welchen man diejenigen vergaß die es in der Tat waren. Hundert Jahre früher würde man einen Perikles für eine Pest der Republik angesehen haben; allein damals würde Perikles ein Aristides gewesen sein. In der Zeit worin er lebte, war Perikles, so wie er war, der größte Mann der Republik; der Mann der Athen zu dem höchsten Grade der Macht und des Glanzes erhub, den es zu erreichen fähig war; der Mann, dessen Zeit als das goldne Alter der Musen in allen künftigen Jahrhunderten angezogen werden wird; und, was für ihn selbst das interessanteste war, der Mann, für den die Natur die Euripiden und Aristophane, die Phidias, die Zeuxes, die Damonen, und die Aspasien zusammen brachte, um sein Privatleben so angenehm zu machen, als sein öffentliches Leben glänzend war. Die Kunst über die Einbildungskraft der Menschen zu herrschen, die geheimen, ihnen selbst verborgnen Triebfedern ihrer Bewegungen nach unserm Gefallen zu lenken, und sie zu Werkzeugen unsrer Absichten zu machen, indem wir sie in der Meinung erhalten, daß wir es von den ihrigen sind, ist also, ohne Zweifel, diejenige, die ihrem Besitzer am nützlichsten ist, und dieses ist die Kunst welche die Sophisten lehren und ausüben; die Kunst, welcher sie das Ansehen, die Unabhänglichkeit und die glücklichen Tage, deren sie genießen, zu danken haben. Du kannst dir leicht vorstellen, Callias, daß sie sich in etlichen Stunden weder lehren noch lernen läßt; allein meine Absicht ist auch für itzt nur, dir überhaupt einen Begriff davon zu geben. Dasjenige, was man die Weisheit der Sophisten nennt, ist die Geschicklichkeit sich der Menschen so zu bedienen, daß sie geneigt sind, unser Vergnügen zu befördern, oder überhaupt die Werkzeuge unsrer Absichten zu sein. Die Beredsamkeit, welche diesen Namen erst alsdann verdient, wenn sie im Stand ist, die Zuhörer, wer sie auch sein mögen, von allem zu überreden, was wir wollen, und in jeden Grad einer jeden Leidenschaft zu setzen, die zu unsrer Absicht nötig ist; eine solche Beredsamkeit ist unstreitig ein unentbehrliches Werkzeug, und das vornehmste wodurch die Sophisten diesen Zweck erreichen. Die Grammatici bemühen sich, junge Leute zu Rednern zu bilden; die Sophisten tun mehr, sie lehren sie überreder zu werden, wenn mir dieses Wort erlaubt ist. Hierin allein besteht das Erhabne einer Kunst, die vielleicht noch niemand in dem Grade besessen hat, wie Alcibiades, der in unsern Zeiten so viel Aufsehens gemacht hat. Der Weise bedient sich dieser überredungs-Gabe nur als eines Werkzeugs zu höhern Absichten. Alcibiades überläßt es einem Antiphon, sich mit Ausfeilung einer künstlichgesetzten Rede zu bemühen; er überredet indessen seine Landsleute, daß ein so liebenswürdiger Mann wie Alcibiades das Recht habe zu tun, was ihm einfalle; er überredet die Spartaner zu vergessen, daß er ihr Feind gewesen, und daß er es bei der ersten Gelegenheit wieder sein wird; er überredet die Königin Timea, daß sie ihn bei sich schlafen lasse, und die Satrapen des großen Königs, daß er ihnen die Athenienser zu eben der Zeit verraten wolle, da er die Athenienser überredet, daß sie ihm Unrecht tun, ihn für einen Verräter zu halten. Diese überredungskraft setzt die Geschicklichkeit voraus, jede Gestalt anzunehmen, wodurch wir demjenigen gefällig werden können, auf den wir Absichten haben; die Geschicklichkeit, sich der verborgensten Zugänge seines Herzens zu versichern, seine Leidenschaften, je nachdem wir es nötig finden, zu erregen, zu liebkosen, eine durch die andre zu verstärken, oder zu schwächen, oder gar zu unterdrucken; sie erfodert eine Gefälligkeit, die von den Sittenlehrern Schmeichelei genennt wird, aber diesen Namen nur alsdann verdient, wenn sie von den Gnathonen die um die Tafeln der Reichen sumsen, nachgeäffet wird,—eine Gefälligkeit, die aus einer tiefen Kenntnis der Menschen entspringt, und das Gegenteil von der lächerlichen Sprödigkeit gewisser Phantasten ist, die den Menschen übel nehmen, daß sie anders sind, als wie diese ungebetenen Gesetzgeber es haben wollen; kurz, diejenige Gefälligkeit ohne welche es vielleicht möglich ist, die Hochachtung, aber niemals die Liebe der Menschen zu erlangen; weil wir nur diejenigen lieben können, die uns ähnlich sind, die unsern Geschmack haben oder zu haben scheinen, und so eifrig sind, unser Vergnügen zu befördern, daß sie hierin die Aspasia von Milet zum Muster nehmen, welche sich bis ans Ende in der Gunst des Perikles erhielt, indem sie in demjenigen Alter, worin man die Seele der Damen zu lieben pflegt, sich in die Grenzen der Platonischen Liebe zurückzog, und die Rolle des Körpers durch andre spielen ließ. Ich lese in deinen Augen Callias, was du gegen diese Künste einzuwenden hast, die sich so übel mit den Vorurteilen vertragen, die du gewohnt bist für Grundsätze zu halten. Es ist wahr, die Kunst zu leben, welche die Sophisten lehren, ist auf ganz andre Begriffe von dem, was in sittlichem Verstande schön und gut ist gebaut, als diejenigen hegen, die von dem idealischen Schönen, und von einer gewissen Tugend, die ihr eigner Lohn sein soll, so viel schöne Dinge zu sagen wissen. Allein, wenn du noch nicht müde bist mir zuzuhören, als ich es bin zu schwatzen; so denke ich, daß es nicht schwer sein werde dich zu überzeugen, daß das idealische Schöne und die idealische Tugend mit jenen Geistermärchen, wovon wir erst gesprochen haben, in die nämliche Klasse gehören."
Der Anti-Platonismus in Nuce
"Was ist das Schöne? Was ist das Gute? Eh wir diese Fragen beantworten können, müssen wir, deucht mich, vorher fragen: Was ist das, was die Menschen schön und gut nennen? Wir wollen vom Schönen den Anfang machen. Was für eine unendliche Verschiedenheit in den Begriffen, die man sich bei den verschiedenen Völkern des Erdbodens von der Schönheit macht! Alle Welt kommt darin überein, daß ein schönes Weib das schönste unter allen Werken der Natur sei. Allein wie muß sie sein, um für eine vollkommne Schönheit in ihrer Art gehalten zu werden? Hier fängt der Widerspruch an. Stelle dir eine Versammlung von so vielen Liebhabern vor, als es verschiedne Nationen unter verschiednen Himmelsstrichen gibt; was ist gewisser, als daß ein jeder den Vorzug seiner Geliebten vor den übrigen behaupten wird? Der Europäer wird die blendende weiße, der Mohr die rabengleiche Schwärze der seinigen vorziehen; der Grieche wird einen kleinen Mund, eine Brust, die mit der hohlen Hand bedeckt werden kann, und das angenehme Ebenmaß einer feinen Gestalt; der Africaner wird die eingedrückte Nase, und die aufgeschwollnen dickroten Lippen; der Persianer die großen Augen und den schlanken Wuchs, der Serer, die kleinen Augen, die Kegelrunde dicke und winzigen Füße an der seinigen bezaubernd finden. Hat es mit dem Schönen in sittlichen Verstande, mit dem was sich geziemt, eine andre Bewandtnis? Die Spartanischen Töchter scheuen sich nicht, in einem Aufzug gesehen zu werden, wodurch in Athen die geringste öffentliche Metze sich entehrt hielte. In Persien würd' ein Frauenzimmer, das an einem öffentlichen Orte sein Gesicht entblößte, eben so angesehen, als in Smyrna eine die sich nackend sehen ließe. Bei den morgenländischen Völkern erfodert der Wohlstand eine Menge von Beugungen und untertänigen Gebärden, die man gegen diejenigen macht, die man ehren will; bei den Griechen würde diese Höflichkeit für eben so schändlich und sklavenmäßig gehalten werden, als die attische Politesse zu Persepolis grob und bäurisch scheinen würde. Bei den Griechen hat eine freigeborne ihre Ehre verloren, die sich den jungfräulichen Gürtel von einem andern, als ihrem Manne auflösen läßt; bei gewissen Völkern die jenseits des Ganges wohnen, ist ein Mädchen desto vorzüglicher, je mehr es Liebhaber gehabt hat, die seine Reizungen aus Erfahrung anzurühmen wissen. Diese Verschiedenheit der Begriffe vom sittlichen Schönen zeigt sich nicht nur in besondern Gebräuchen und Gewohnheiten verschiedner Völker, wovon sich die Beispiele ins Unendliche häufen ließen; sondern selbst in dem Begriff, den sie sich überhaupt von der Tugend machen. Bei den Römern ist Tugend und Tapferkeit einerlei; bei den Atheniensern schließt dieses Wort alle Arten von nützlichen und angenehmen Eigenschaften in sich. Zu Sparta kennt man keine andre Tugend als den Gehorsam gegen die Gesetze; in despotischen Reichen keine andre, als die sklavische Untertänigkeit gegen den Monarchen und seine Satrapen; am caspischen Meere ist der tugenhafteste der am besten rauben kann, und die meisten Feinde erschlagen hat; und in dem wärmsten Striche von Indien hat nur der die höchste Tugend erreicht, der sich durch eine völlige Untätigkeit, ihrer Meinung nach, den Göttern ähnlich macht. Was folget nun aus allen diesen Beispielen? Ist nichts an sich selbst schön oder recht? Gibt es kein gewisses Modell, wornach dasjenige, was schön oder sittlich ist, beurteilt werden muß? Wir wollen sehen. Wenn ein solches Modell ist, so muß es in der Natur sein. Denn es wäre Torheit, sich einzubilden, daß ein Pygmalion eine Bildsäule schnitzen könne, welche schöner sei als Phryne, die kühn genug war, bei den Olympischen Spielen, in eben dem Aufzug worin die drei Göttinnen um den Preis der Schönheit stritten, das ganze Griechenland zum Richter über die ihrige zu machen. Die Venus eines jeden Volks ist nichts anders als die Abbildung eines Weibes, die bei einer allgemeinen Versammlung dieses Volks für diejenige erklärt würde, bei der sich die National-Schönheit im höchsten Grade befinde. Allein welches unter so vielerlei Modellen ist denn an sich selbst das schönste? Der Grieche wird für seine rosenwangichte, der Mohr für seine rabenschwarze, der Perser für seine schlanke, und der Serer für seine runde Venus mit dem dreifachen Kinn streiten. Wer soll den Ausschlag geben? Wir wollen es versuchen. Gesetzt, es würde eine allgemeine Versammlung angestellt, wozu eine jede Nation den schönsten Mann und das schönste Weib, nach ihrem National-Modell zu urteilen, geschickt hätten; und wo die Weiber zu entscheiden hätten, welcher unter allen diesen Mitwerbern um den Preis der Schönheit der schönste Mann, und die Männer, welche unter allen das schönste Weib wäre: Ich sage also, man würde gar bald diejenigen aus allen übrigen aussondern, die unter diesen milden und gemäßigten Himmelsstrichen geboren worden, wo die Natur allen ihren Werken ein feineres Ebenmaß der Gestalt, und eine angenehmere Mischung der Farben zu geben pflegt. Denn die vorzügliche Schönheit der Natur in den gemäßigten Zonen erstreckt sich vom Menschen bis auf die Pflanzen. Unter diesen Auserlesnen von beiden Geschlechtern würde vielleicht der Vorzug lange zweifelhaft sein; allein endlich würde doch unter den Männern derjenige den Preis erhalten, bei dessen Landesleuten die verschiednen gymnastischen übungen am stärksten, und Verhältnisweise in dem höchsten Grade der Vollkommenheit getrieben würden; und alle Männer würden mit einer Stimme diejenige für die schönste unter den Schönen erklären, die von einem Volke abgeschickt worden, welches bei der Erziehung der Töchter die möglichste Entwicklung und Kultur der natürlichen Schönheit zur Hauptsache machte. Der Spartaner würde also vermutlich für den schönsten Mann, und die Perserin für das schönste Weib erklärt werden. Der Grieche, welcher der Anmut den Vorzug vor der Schönheit gibt, weil die griechischen Weiber mehr reizend als schön sind, würde nichts desto weniger zu eben der Zeit, da sein Herz einem Mädchen von Paphos oder Milet den Vorzug gäbe, bekennen müssen, daß die Perserin schöner sei; und eben dieses würde der Serer tun, ob er gleich das dreifache Kinn und den Wanst seiner Landsmännin reizender finden würde.—Laß uns zu dem sittlichen Schönen fortgehen. So groß auch hierin die Verschiedenheit der Begriffe unter verschiednen Zonen ist, so wird doch schwerlich geleugnet werden können, daß die Sitten derjenigen Nation, welche die geistreichste, die munterste, die geselligste, die angenehmste ist, den Vorzug der Schönheit haben. Die ungezwungne und einnehmende Höflichkeit des Atheniensers muß einem jeden Fremden angenehmer sein, als die abgemessene, ernsthafte und zeremonienvolle Höflichkeit der Morgenländer; das verbindliche Wesen, der Schein von Leutseligkeit, so der erste seinen kleinsten Handlungen zu geben weiß, muß vor dem steifen Ernst des Persers, oder der rauhen Gutherzigkeit des Scythen eben so sehr den Vorzug erhalten, als der Putz einer Dame von Smyrna, der die Schönheit weder ganz verhüllt, noch ganz den Augen preis gibt, vor der Vermummung der Morgenländerin oder der tierischen Blöße einer Wilden. Das Muster der aufgeklärtesten und geselligsten Nation scheint also die wahre Regul des sittlichen Schönen, oder des Anständigen zu sein, und Athen und Smyrna sind die Schulen, worin man seinen Geschmack und seine Sitten bilden muß. Allein nachdem wir eine Regul für das Schöne gefunden haben, was für eine werden wir für das, was Recht ist finden? wovon so verschiedene und widersprechende Begriffe unter den Menschen herrschen, daß eben dieselbe Handlung, die bei dem einen Volke mit Lorbeerkränzen und Statuen belohnt wird, bei der andern eine schmähliche Todesstrafe verdient; und daß kaum ein Laster ist, welches nicht irgendwo seinen Altar und seinen Priester habe. Es ist wahr, die Gesetze sind bei dem Volke, welchem sie gegeben sind, die Richtschnur des Rechts und Unrechts; allein was bei diesem Volk durch das Gesetz befohlen wird, wird bei einem andern durch das Gesetz verboten. Die Frage ist also: Gibt es nicht ein allgemeines Gesetz, welches bestimmt, was an sich selbst Recht ist? Ich antworte ja, und dieses allgemeine Gesetz kann kein andres sein, als die Stimme der Natur, die zu einem jeden spricht: Suche dein Bestes; oder mit andern Worten: Befriedige deine natürliche Begierden, und genieße so viel Vergnügen als du kannst. Dieses ist das einzige Gesetz, das die Natur dem Menschen gegeben hat; und so lang er sich im Stande der Natur befindet, ist das Recht, das er an alles hat, was seine Begierden verlangen, oder was ihm gut ist, durch nichts anders als das Maß seiner Stärke eingeschränkt; er darf alles, was er kann, und ist keinem andern nichts schuldig. Allein der Stand der Gesellschaft, welcher eine Anzahl von Menschen zu ihrem gemeinschaftlichen Besten vereiniget, setzt zu jenem einzigen Gesetz der Natur, suche dein eignes Bestes, die Einschränkung, ohne einem andern zu schaden. Wie also im Stande der Natur einem jeden Menschen alles recht ist, was ihm nützlich ist; so erklärt im Stande der Gesellschaft das Gesetz alles für unrecht und strafwürdig, was der Gesellschaft schädlich ist, und verbindet hingegen die Vorstellung eines Vorzugs und belohnungswürdigen Verdienstes mit allen Handlungen, wodurch der Nutzen oder das Vergnügen der Gesellschaft befördert wird. Die Begriffe von Tugend und Laster gründen sich also eines Teils auf den Vertrag den eine gewisse Gesellschaft unter sich gemacht hat, und in so ferne sind sie willkürlich; andern Teils auf dasjenige, was einem jeden Volke nützlich oder schädlich ist; und daher kommt es, daß ein so großer Widerspruch unter den Gesetzen verschiedner Nationen herrschet. Das Klima, die Lage, die Regierungsform, die Religion, das eigne Temperament und der National-Charakter eines jeden Volks, seine Lebensart, seine Stärke oder Schwäche, seine Armut oder sein Reichtum, bestimmen seine Begriffe von dem, was ihm gut oder schädlich ist; daher diese unendliche Verschiedenheit des Rechts oder Unrechts unter den policiertesten Nationen; daher der Kontrast der Moral der glühenden Zonen mit der Moral der kalten Länder, der Moral der freien Staaten mit der Moral der despotischen Reiche; der Moral einer armen Republik, welche nur durch den kriegerischen Geist gewinnen kann, mit der Moral einer reichen, die ihren Wohlstand dem Geist der Handelschaft und dem Frieden zu danken hat; daher endlich die Albernheit der Moralisten, welche sich den Kopf zerbrechen, um zu bestimmen, was für alle Nationen recht sei, ehe sie die Auflösung der Aufgabe gefunden haben, wie man machen könne, daß eben dasselbe für alle Nationen gleich nützlich sei.
Die Sophisten, deren Sittenlehre sich nicht auf abstrakte Ideen, sondern auf die Natur und wirkliche Beschaffenheit der Dinge gründet, finden die Menschen an einem jeden Ort, so, wie sie sein können. Sie schätzen einen Staatsmann zu Athen, an sich selbst, nicht höher als einen Gaukler zu Persepolis, und eine ehrbare Matrone von Sparta ist in ihren Augen kein vortrefflicheres Wesen als eine Lais zu Corinth. Es ist wahr, der Gaukler würde zu Athen, und die Lais zu Sparta schädlich sein; allein ein Aristides würde zu Persepolis, und eine Spartanerin zu Corinth wo nicht eben so schädlich, doch wenigstens ganz unnützlich sein. Die Idealisten, wie ich diese Philosophen zu nennen pflege, welche die Welt nach ihren Ideen umschmelzen wollen, bilden ihre Lehrjünger zu Menschen, die man nirgends für einheimisch erkennen kann, weil ihre Moral eine Gesetzgebung voraussetzt, welche nirgends vorhanden ist. Sie bleiben arm und ungeachtet, weil ein Volk nur demjenigen Hochachtung und Belohnung zuerkennt, der seinen Nutzen befördert oder doch zu befördern scheint; ja sie werden als Verderber der Jugend, und als heimliche Feinde der Gesellschaft angesehen, und die Landesverweisung oder der Giftbecher ist zuletzt alles, was sie für die undankbare Bemühung davon tragen, die Menschen zu entkörpern, um sie in die Klasse der idealischen Wesen, der mathematischen Punkte, Linien und Dreiecke zu erhöhen. Klüger, als diese eingebildeten Weisen, die, wie jener Flötenspieler von Aspondus, nur für sich selbst singen, überlassen die Sophisten den Gesetzen eines jeden Volks ihre Bürger zu lehren, was Recht oder Unrecht sei. Da sie selbst zu keinem besondern Staatskörper gehören, so genießen sie die Vorrechte eines Weltbürgers, und indem sie den Gesetzen und der Religion eines jeden Volkes bei dem sie sich befinden, eine äußerliche Achtung bezeugen, wodurch sie vor allen Ungelegenheiten mit den Handhabern derselben gesichert werden; so erkennen und befolgen sie doch in der Tat kein andres als jenes allgemeine Gesetz der Natur, welches dem Menschen sein eignes Bestes zur einzigen Richtschnur gibt. Alles wodurch ihre natürliche Freiheit eingeschränkt wird, ist die Beobachtung einer nützlichen Klugheit, die ihnen vorschreibt ihren Handlungen die Farbe, den Schnitt und die Auszierung zu geben, wodurch sie denjenigen, mit welchen sie zu tun haben, am gefälligsten werden. Das moralische Schöne ist für unsre Handlungen eben das, was der Putz für unsern Leib; und es ist eben so nötig, seine Aufführung nach den Vorurteilen und dem Geschmack derjenigen zu modeln, mit denen man lebt, als es nötig ist sich so zu kleiden wie sie. Ein Mensch, der nach einem gewissen besondern Modell gebildet worden, sollte, wie die wandelnden Bildsäulen des Dädalus, an seinen väterlichen Boden angefesselt werden; denn er ist nirgends an seinem Platz als unter seines gleichen. Ein Spartaner würde sich nicht besser schicken, die Rolle eines obersten Sklaven des Artaxerxes zu spielen, als ein Sarmater sich schickte Polemarchus zu Athen zu sein. Der Weise hingegen ist der allgemeine Mensch, der Mensch, dem alle Farben, alle Umstände, alle Verfassungen und Stellungen anstehen, und er ist es eben darum, weil er keine besondre Vorurteile und Leidenschaften hat, weil er nichts als ein Mensch ist. Er gefällt allenthalben, weil er, wohin er kommt, sich die Vorurteile und Torheiten gefallen läßt, die er antrifft. Wie sollte er nicht geliebt werden, er, der immer bereit ist sich für die Vorteile andrer zu beeifern, ihre Begriffe zu billigen, ihren Leidenschaften zu schmeicheln? Er weiß, daß die Menschen von nichts überzeugter sind, als von ihren Irrtümern, und nichts zärtlicher lieben als ihre Fehler; und daß es kein gewisseres Mittel gibt sich ihren Abscheu zuzuziehen, als wenn man ihnen eine Wahrheit entdeckt, die sie nicht wissen wollen. Weit entfernt also, ihnen die Augen wider ihren Willen zu eröffnen, oder ihnen einen Spiegel vorzuhalten, der ihnen ihre Häßlichkeit vorrückte, bestärkt er den Toren in dem Gedanken, daß nichts abgeschmackter sei als Verstand haben, den Verschwender in dem Wahn, daß er großmütig, den Knicker in den Gedanken, daß er ein guter Haushalter, die Häßliche in der süßen Einbildung, daß sie desto geistreicher, und den Reichen in der überredung, daß er ein Staatsmann, ein Gelehrter, ein Held, ein Gönner der Musen und ein Liebling der Damen sei. Er bewundert das System des Philosophen, die einbildische Unwissenheit des Hofmanns, und die großen Taten des Generals; er gestehet dem Tanzmeister ohne Widerrede zu, daß Cimon der größte Mann in Griechenland gewesen wäre, wenn er die Füße besser zu setzen gewußt hätte; und dem Maler, daß man mehr Genie braucht, ein Zeuxes als ein Homer zu sein. Diese Art mit den Menschen umzugehen, ist von unendlich größerm Vorteil als man beim ersten Anblick denken möchte. Sie erwirbt ihm ihre Liebe, ihr Zutrauen, und eine desto größere Meinung von seinen Verdienste, je größer diejenige ist, die er von den ihrigen zu haben scheint. Sie ist das gewisseste Mittel, zu den höchsten Stufen des Glücks empor zu steigen. Meinest du, daß es allein die größten Talente, die vorzüglichsten Verdienste seien, die einen Archonten, einen Heerführer, einen Satrapen, oder den Günstling eines Fürsten machen? Siehe dich in den Republiken um; du wirst finden, daß dieser sein Ansehen der lächelnden Miene zu danken hat, womit er die Bürger grüßt; ein andrer der emphatischen Peripherie seines Wanstes; ein dritter der Schönheit seiner Gemahlin, und ein vierter seiner brüllenden Stimme. Gehe an die Höfe, du wirst Leute finden, welche das Glück, worin sie schimmern, der Empfehlung eines Kammerdieners, der Gunst einer Dame, die sich für ihre Talente verbürgt hat, oder der Gabe des Schlafs schuldig sind, womit sie befallen werden, wenn der Vezier mit ihren Weibern scherzt. Nichts ist in diesem Lande der Bezauberungen gewöhnlicher, als einen unbärtigen Knaben in einen General, einen Pantomimen in einen Staatsminister, einen Kuppler in einen Oberpriester verwandelt zu sehen; ein Mensch ohne alle Verdienste kann oft durch ein einziges Talent, und wenn es auch nur das Talent eines Esels wäre, zu einem Glücke gelangen, das ein andrer durch die größten Verdienste vergeblich zu erhalten gesucht hat. Wer könnte demnach zweifeln, daß die Kunst der Sophisten nicht fähig sein sollte, ihrem Besitzer auf diese oder jene Art die Gunst des Glückes zu verschaffen? Vorausgesetzt, daß er die natürlichen Gaben besitze, ohne welche der Mann von Verstand in der Welt allezeit dem Narren Platz machen muß, der damit versehen ist. Allein selbst auf dem Wege der Verdienste ist niemand gewisser sein Glück zu machen, als ein Sophist. Wo ist der Platz, den er nicht mit Ruhm bekleiden wird? Wer ist geschickter die Menschen zu regieren als derjenige, der am besten mit ihnen umzugehen weiß? Wer schickt sich besser zu öffentlichen Unterhandlungen? Wer ist fähiger der Ratgeber eines Fürsten zu sein? Ja, wofern er nur das Glück auf seiner Seite hat, wer wird mit größerm Ruhm ein Kriegsheer anführen als er? Wer wird die Kunst besser verstehen, sich für die Geschicklichkeit und die Verdienste seiner Subalternen belohnen zu lassen? Wer wird die Vorsicht, die er nicht gehabt, die klugen Anstalten, die er nicht gemacht, die Wunden, die er nicht bekommen hat, besser gelten zu machen wissen, als er?
Doch es ist Zeit einen Diskurs zu enden, der für beide ermüdend zu werden anfangt. Ich habe dir genug gesagt, um den Zauber zu vernichten, den die Schwärmerei auf deine Seele gelegt hat; und wenn dieses nicht genug ist, so würde alles überflüssig sein was ich sagen könnte. Glaube übrigens nicht, Callias, daß der Orden der Sophisten einen unansehnlichen Teil der menschlichen Gesellschaft ausmache. Die Anzahl derjenigen die unsre Kunst ausüben, ist in allen Ständen sehr beträchtlich, und du wirst unter denen die ein großes Glück gemacht haben, schwerlich einen einzigen finden, der es nicht einer geschickten Anwendung unsrer Grundsätze zu danken habe. Diese Grundsätze machen die gewöhnliche Denkungsart der Hofleute, der Leute die sich dem Dienste der Großen gewidmet haben, und überhaupt derjenigen Klasse von Menschen aus, die an jedem Orte die edelsten und angesehensten sind, und (die wenigen Fälle ausgenommen, wo das spielende Glück durch einen blinden Wurf einen Narren an den Platz eines klugen Menschen fallen läßt) sind die geschickten Köpfe, die von diesen Maximen den besten Gebrauch zu machen wissen, allezeit diejenigen, die es auf der Bahn der Ehre und des Glücks am weitesten bringen."
Ungelehrigkeit des Agathon
Hippias konnte sich wohl berechtiget halten, einigen Dank bei seinem Lehrjünger verdient zu haben, da er sich so viele Mühe gegeben hatte, ihn weise zu machen. Allein wir müssen es nur gestehen, er hatte es mit einem Menschen zu tun, der nicht fähig war, die Wichtigkeit dieses Dienstes einzusehen, oder die Schönheit eines Systems zu empfinden, welches seinen vermeinten Empfindungen so zuwider war. Seine Erwartung wurde also nicht wenig betrogen, als Agathon, wie er sah, daß der weise Hippias zu reden aufgehört hatte, ihm diese kurze Antwort gab: "Du hast eine schöne Rede gehalten, Hippias; deine Beobachtungen sind sehr fein, deine Schlüsse sehr bündig, deine Maximen sehr praktisch, und ich zweifle nicht, daß der Weg, den du mir vorgezeichnet hast, zu der Glückseligkeit würklich führe, deren Vorzüge vor meiner Art glücklich zu sein, du in ein so helles Licht gesetzt. Dem ungeachtet empfinde ich nicht die mindeste Lust so glücklich zu sein, und wenn ich mich anders recht kenne, so werde ich schwerlich eher ein Sophist werden, bis du deine Tänzerinnen entlässest, dein Haus zu einem öffentlichen Tempel der Diana widmest, und nach Indien ziehst, ein Bramine zu werden." Hippias lachte über diese Antwort, ohne daß sie ihm desto besser gefiel. "Und was hast du gegen mein System einzuwenden?" fragte er. "Daß es mich nicht überzeugt", erwiderte Agathon. "Und warum nicht?" "Weil meine Erfahrung und Empfindung deinen Schlüssen widerspricht." "Ich möchte wohl wissen, was dieses für Erfahrungen und Empfindungen sind, die demjenigen widersprechen, was alle Welt erfährt und empfindt." "Du würdest beweisen, daß es Schimären sind." "Und wenn ich es bewiesen hätte?" "Du würdest es nur dir beweisen, Hippias; du würdest nichts beweisen, als daß du nicht Callias bist." "Aber die Frage ist, ob Hippias oder Callias richtig denkt?" "Wer soll Richter sein?" "Das ganze menschliche Geschlecht." "Was würde das wider mich beweisen?" "Sehr viel. Wenn zehen Millionen Menschen urteilen, daß zween oder drei aus ihrem Mittel Narren sind, so sind sie es; das ist unleugbar." "Aber wie, wenn die zehen Millionen, deren Ausspruch dir so entscheidend vorkommt, zehn Millionen Toren wären, und die drei wären klug?" "Wie müßte das zugehen?" "Können nicht zehn Millionen die Pest haben, und Sokrates allein gesund herum gehen?" "Diese Instanz beweist nichts für dich. Ein Volk hat nicht immer die Pest; Allein die zehn Millionen denken immer so wie ich. Sie sind also in ihrem natürlichen Zustande, wenn sie so denken; und wer anders denkt, gehört folglich entweder zu einer andern Gattung von Wesen, oder zu den Wesen, die man Toren nennt." "So ergeb ich mich in mein Schicksal." "Es gibt noch eine Alternative, junger Mensch. Du schämest dich, entweder deine Gedanken so schnell zu verändern, oder du bist ein Heuchler." "Keines von beiden, Hippias." "Leugne mir zum Exempel, wenn du kannst, daß dir die schöne Cyane, die uns beim Frühstück bediente, Begierden eingeflößt hat, und daß du verstohlne Blicke -" "Ich leugne nichts." "So gestehe, daß das Anschauen dieser runden schneeweißen Arme, dieses aus der flatternden Seide hervoratmenden Busens, die Begierde in dir erregt, ihrer zu genießen." "Ist das Anschauen kein Genuß?" "Keine Ausflüchte, junger Mensch!" "Du betrügst dich, Hippias, wenn es erlaubt ist einem Weisen das zu sagen; ich bedarf keiner Ausflüchte. Ich mache nur einen Unterschied zwischen einem mechanischen Instinkt, der nicht gänzlich von mir abhängt, und dem Willen meiner Seele. Ich habe den Willen nicht gehabt, dessen du mich beschuldigest." "Ich beschuldige dich nichts, als daß du meiner spottest. Ich denke, daß ich die Natur kennen sollte. Die Schwärmerei kann in deinen Jahren keine so unheilbare Krankheit sein, daß sie wider die Reizung des Vergnügens sollte aushalten können." "Deswegen vermeide ich die Gelegenheiten." "Du gestehest also, daß Cyane reizend ist?" "Sehr reizend." "Und daß ihr Genuß ein Vergnügen wäre?" "Vermutlich." "Warum quälest du dich dann, dir ein Vergnügen zu versagen, das in deiner Gewalt ist." "Weil ich mich dadurch vieler andern Vergnügen berauben würde, die ich höher schätze." "Kann man in deinem Alter so sehr ein Neuling sein? Was für Vergnügen, die allen übrigen Menschen unbekannt sind, hat die Natur für dich allein aufbehalten? Wenn du noch größere kennest als dieses,—doch ich merke dich. Du wirst mir wieder von den Vergnügungen der Geister, von Nektar und Ambrosia sprechen; aber wir spielen itzt keine Komödie, mein Freund. Die Erscheinung einer Cyane in einem von den Gebüschen meiner Gärten würde fähig sein, so gar deinen Geistern Körper zu geben." "Hippias, ich rede wie ich denke. Ich kenne Vergnügen, die ich höher schätze als diejenigen, die der Mensch mit den Tieren gemein hat." "Zum Exempel?" "Das Vergnügen eine gute Handlung zu tun." "Was nennest du eine gute Handlung?" "Eine Handlung, wodurch ich, mit einiger Anstrengung meiner Kräfte, oder Aufopferung eines Vorteils oder Vergnügens, andrer Bestes befördere." "Du bist also töricht genug zu glauben, daß du andern mehr schuldig seiest, als dir selbst?" "Das nicht; sondern ich finde für gut, ein geringeres Vergnügen dem größern aufzuopfern, welches ich alsdann genieße, wenn ich das Glück meiner Nebengeschöpfe befördern kann." "Du bist sehr dienstfertig; gesetzt aber es sei so, wie hängt dieses mit demjenigen zusammen, wovon itzt die Rede ist?" "Das ist leicht zu sehen. Gesetzt, ich überließe mich den Eindrücken, welche die Reizungen der schönen Cyane auf mich machen könnten; gesetzt, sie liebte mich, und ließe mich alles erfahren, was die Wollust berauschendes hat; eine Verbindung von dieser Art könnte von keiner langen Dauer sein;" "aber würden die Erinnerungen der genoßnen Freuden nicht die Begierde erwecken, sie wieder zu genießen? Eine neue Cyane"—"würde mir wieder gleichgültig werden, und eben diese Begierden zurück lassen." "Eine immerwährende Abwechslung ist also hierin, wie du siehst, das Gesetz der Natur." "Aber auf diese Art würde ichs gar bald so weit bringen, keiner Begierde widerstehen zu können." "Wozu brauchst du zu widerstehen, so lange deine Begierden in den Schranken der Natur und der Mäßigung bleiben?" "Wie aber, wenn endlich das Weib meines Freundes, oder welche es sonst wäre, die der ehrwürdige Name einer Mutter gegen den bloßen Gedanken eines unkeuschen Anfalls sicher stellen soll; oder wie, wenn die unschuldige Jugend einer Tochter, die vielleicht kein andres Heuratsgut als ihre Unschuld und Schönheit hat; der Gegenstand dieser Begierden würde, über die ich durch so vieles Nachgeben alle Gewalt verloren hätte?" "So hättest du dich in Griechenland wenigstens vor den Gesetzen vorzusehen. Allein was müßte das für ein Hirn sein, das in solchen Umständen kein Mittel ausfündig machen könnte, seine Leidenschaft zu vergnügen, ohne sich mit den Gesetzen abzuwerfen? Ich sehe, du kennest die Damen zu Athen und Sparta nicht." "O! was das betrifft, ich kenne so gar die Priesterinnen zu Delphi. Aber ists möglich, daß du im Ernste gesprochen hast?" "Ich habe nach meinen Grundsätzen gesprochen. Die Gesetze haben in gewissen Staaten, (denn es gibt einige, wo sie mehr Nachsicht haben) nötig gefunden, unser natürliches Recht an eine jede, die unsre Begierden erregt, einzuschränken. Allein da dieses nur geschah, um gewisse Ungelegenheiten zu verhindern, die aus dem ungescheuten Gebrauch jenes Rechts in solchen Staaten zu besorgen wären, so siehst du, daß der Geist und die Absicht des Gesetzes nicht verletzt wird, wenn man vorsichtig genug ist zu den Ausnahmen die man davon macht keine Zeugen zu nehmen" "O Hippias!" rief Agathon hier aus, "ich habe dich, wohin ich dich bringen wollte. Du siehest die Folgen deiner Grundsätze. Wenn alles an sich selbst recht ist, was meine Begierden wollen; wenn die ausschweifenden Forderungen der Leidenschaft unter dem Namen des Nützlichen, den sie nicht verdienen, die einzige Richtschnur unsrer Handlungen sind; wenn die Gesetze nur mit einer guten Art ausgewichen werden müssen, und im Dunkeln alles erlaubt ist; wenn die Tugend, und die Hoffnungen der Tugend nur Schimären sind; was hindert die Kinder, sich wider ihre Eltern zu verschwören? Was hindert die Mutter, sich selbst und ihre Tochter dem meistbietenden Preis zu geben? Was hindert mich, wenn ich dadurch gewinnen kann, den Dolch in die Brust meines Freundes zu stoßen, die Tempel der Götter zu berauben, mein Vaterland zu verraten, oder mich an die Spitze einer Räuberbande zu stellen; und, wenn ich anders Macht genug habe, ganze Länder zu verwüsten, ganze Völker in ihrem Blute zu ertränken? Siehest du nicht, daß deine Grundsätze, die du so unverschämt Weisheit nennest, und durch eine künstliche Vermischung des Wahren mit dem Falschen scheinbar zu machen suchst, wenn sie allgemein würden, die Menschen in weit ärgere Ungeheuer, als Hyänen, Tyger und Krokodille sind, verwandeln würden? Du spottest der Tugend und Religion? Wisse, nur den unauslöschlichen Zügen, womit ihr Bild in unsre Seelen eingegraben ist, nur dem geheimen und wunderbaren Reiz, der uns zu Wahrheit, Ordnung und Güte zieht, und den Gesetzen besser zu statten kommt, als alle Belohnungen und Strafen, ist es zuzuschreiben, daß es noch Menschen auf dem Erdboden gibt, und daß unter diesen Menschen noch ein Schatten von Sittlichkeit und Güte zu finden ist. Du erklärst die Ideen von Tugend und sittlicher Vollkommenheit für Phantasien. Siehe mich hier, Hippias, so wie ich hier bin, biete ich den Verführungen aller deiner Cyanen, den scheinbarsten überredungen deiner Weisheit, und allen Vorteilen, die mir deine Grundsätze und dein Beispiel versprechen, trotz. Eine einzige von diesen Phantasien ist hinreichend die unwesentliche Zauberei aller dieser Blendwerke zu zerstreuen. Laß die Tugend immer eine Schwärmerei sein, diese Schwärmerei macht mich glücklich, und würde alle Menschen glücklich, und den ganzen Erdboden zu einem Himmel machen, wenn deine Grundsätze, und diejenige, welche sie ausüben, nicht, so weit ihr ansteckendes Gift dringt, Elend und Verderbnis ausbreiteten."
Agathon wurde ganz glühend, indem er dieses sagte; und ein Maler, um den zürnenden Apollo zu malen, hätte sein Gesicht in diesem Augenblick zum Urbild nehmen müssen. Allein der weise Hippias erwiderte diesen Eifer mit einem Lächeln, welches dem Momus selbst Ehre gemacht hätte, und sagte ohne seine Stimme zu verändern: "Nunmehr glaube ich dich zu kennen, Callias, und du wirst von meinen Verführungen weiter nichts zu besorgen haben. Die gesunde Vernunft ist nicht für so warme Köpfe gemacht, wie der deinige. Wie leicht, wenn du mich zu verstehen fähig gewesen wärest, hättest du dir den Einwurf selbst beantworten können, daß die Grundsätze der Sophisten und Weltleute verderblich wären, wenn sie allgemein würden? Die Natur hat schon davor gesorgt, daß sie nicht allgemein werden,—doch ich würde mir selbst lächerlich sein, wenn ich deine begeisterte Apostrophe beantworten, oder dir zeigen wollte, wie sehr auch der Affekt der Tugend das Gesicht verfälschen kann. Sei tugendhaft, Callias; fahre fort dich um den Beifall der Geister, und die Gunst der ätherischen Schönen zu bewerben; rüste dich, dem Ungemach, das dein Platonismus dir in dieser Unterwelt zuziehen wird, großmütig entgegen zu gehen, und tröste dich, wenn du Leute siehst, die niedrig genug sind, sich an irdischen Glückseligkeiten zu weiden, mit dem frommen Gedanken, daß sie in dem andern Leben, wo die Reihe an dich kommt, glücklich zu sein, sich in den Flammen des Phlegeton wälzen werden."
Mit diesen Worten stund Hippias auf, warf einen verächtlichmitleidigen Blick auf den Agathon, und wandte ihm den Rücken zu, um ihm mit einer unter seines gleichen gewöhnlichen Höflichkeit zu verstehen zu geben, daß er sich zurückziehen könne.
Geheimer Anschlag, den Hippias gegen die Tugend unsers Helden macht
Wir vermuten, daß es einigen Lesern scheinen werde, Hippias habe in seinem Diskurs bei Agathon einen größern Mangel von Erfahrung und Kenntnis der Welt vorausgesetzt, als er, nach allem, was bereits mit ihm vorgegangen war, haben konnte. Wir müssen also zur Entschuldigung dieses Weisen sagen, daß Agathon, aus Ursachen, die uns unbekannt geblieben, für gut befunden habe, von dem glänzenden Teil seiner Begebenheiten, und sogar von seinem Namen ein Geheimnis zu machen. Denn sein Name war durch die Rolle, die er zu Athen gespielt hatte, in den griechischen Städten allzubekannt worden, als daß er es nicht auch dem Hippias hätte sein sollen; ob dieser gleich, seit dem er in Smyrna wohnte, sich wenig um die Staatsangelegenheiten der Griechen bekümmerte, die er in den Händen seiner Freunde und Schüler ganz wohl versorgt hielte. Da nun Agathon so sorgfältig gewesen war, ihm alles zu verbergen, was einigen Verdacht hätte erwecken können, daß er jemals etwas mehr als ein Aufwärter in dem Tempel zu Delphi gewesen; so konnte Hippias mit desto besserm Grunde voraussetzen, daß er noch ein vollkommner Neuling in der Welt sei, als weder die Denkungsart noch das Betragen dieses jungen Menschen so beschaffen war, daß ein Kenner auf günstigere Gedanken hätte gebracht werden sollen. Leute von seiner Art können, in der Tat zehen Jahre hinter einander in der großen Welt gelebt haben, ohne daß sie dieses fremde und entlehnte Ansehen verlieren, welches beim ersten Blick verkündiget, daß sie hier nicht einheimisch sind; geschweige, daß sie fähig wären, sich jemals zu dieser edeln Freiheit von den Fesseln der gesunden Vernunft, zu dieser weisen Gleichgültigkeit gegen alles was die schwärmerischen Seelen Empfindung nennen, und zu dieser verzärtelten Feinheit des Geschmacks zu erheben, wodurch die Weltleute sich auf eine so vorteilhafte Art unterscheiden. Solche Leute können wohl Beobachtungen machen; allein da ihnen dieser Instinkt, dieses sympathetische Gefühl mangelt, mittelst dessen jene einander so schnell und zuverlässig ausfindig machen; oder deutlicher zu reden, da sie von allem auf eine andre Art gerührt werden, als jene; und sich, so sehr sie sich auch anstrengten, niemals an ihre Stelle setzen können: so bleiben sie doch immer in einem unbekannten Lande, wo ihre Erkenntnis nur bei Mutmaßungen stehen bleibt, und ihre Erwartung alle Augenblicke durch unbegreifliche Zufälle und unverhoffte Veränderungen betrogen wird. Mit allen seinen Vorzügen war Agathon doch in eben dieser Klasse, und es ist also kein Wunder, daß er, ungeachtet der tiefen Betrachtungen die er über seine Unterredung mit dem Hippias bei sich selbst anstellte, sehr weit entfernt war, die Gedanken zu erraten, womit dieser Sophist itzt umging, dessen Eitelkeit durch den schlechten Fortgang seines Vorhabens, und den Eigensinn dieses seltsamen Jünglings weit mehr beleidiget war, als er sich hatte anmerken lassen. Agathon, wenn er das würklich wäre, was er zu sein schien, wäre (dachte der weise Mann nicht ohne Grund) eine lebendige Widerlegung seines Systems. "Wie?" sagte er zu sich selbst, (ein Umstand, der ihm selten begegnete) "ich habe mehr als vierzig Jahre in der Welt gelebt, und unter einer unendlichen Menge von Menschen von allen Ständen und Klassen, nicht einen einzigen angetroffen, der meine Begriffe von der menschlichen Natur nicht bestätiget hätte, und dieser junge Mensch sollte mich noch an die Tugend glauben lehren? Es kann nicht sein; er ist ein Phantast oder ein Heuchler. Was er auch sein mag, ich will es ausfündig machen.—Gut! Das ist ein vortrefflicher Einfall! Ich will ihn auf eine Probe stellen, wo er unterliegen muß, wenn er ein Schwärmer, und wo er die Maske ablegen wird, wenn er ein Komödiant ist. Er hat gegen Cyane ausgehalten, dies hat ihn stolz und sicher gemacht. Aber das beweist noch nichts. Wir wollen ihn auf eine stärkere Probe setzen; wenn er in dieser den Sieg erhält, so muß er—ja, so will ich meine Nymphen entlassen, mein Haus den Priestern der Cybele vermachen, und an den Ganges ziehen, und in der Höhle eines alten Palmbaums, mit geschloßnen Augen und den Kopf zwischen den Knien, so lange in der nämlichen Positur sitzen bleiben, bis ich, allen meinen Sinnen zu trotz, mir einbilde, daß ich nicht mehr bin! "—Dies war ein hartes Gelübde; auch hielt sich Hippias sehr überzeugt, daß es so weit nicht kommen würde, und damit er keine Zeit versäumen möchte; so machte er noch an demselbigen Tag Anstalt, seinen Anschlag auszuführen.
Hippias stattet einer Dame einen Besuch ab
Die Damen zu Smyrna hatten damals eine Gewohnheit, welche ihrer Schönheit mehr Ehre machte als ihrer Sittsamkeit. Sie pflegten sich in den warmen Monaten gemeiniglich alle Nachmittage eines kühlenden Bades zu bedienen, und, um keine lange Weile zu haben, nahmen sie um diese Zeit die Besuche derjenigen Mannspersonen an, die das Recht eines freien Zutritts in ihren Häusern hatten. Diese Gewohnheit war in Smyrna eben so unschuldig als es der Gebrauch bei unsern westlichen Nachbarinnen ist, Mannspersonen bei der Toilette um sich zu haben; auch kam diese Freiheit nur den Freunden zu statten, und, den besondern Fall ausgenommen, wenn die hartnäckige Blödigkeit eines noch unerfahrnen Neulings einiger Aufmunterung nötig hatte, waren die Liebhaber gänzlich davon ausgeschlossen. Unter einer großen Anzahl von Schönen, bei denen der weise Hippias dieses Vorrecht genoß, war auch eine, die unter dem Namen Danae den ersten Rang in derjenigen Klasse von Frauenzimmern einnahm, die man bei den Griechen Freundinnen, oder noch eigentlicher Gesellschafterinnen zu nennen pflegte. Diese Gattung von Damen war damals unter ihrem Geschlecht, was die Sophisten unter dem männlichen; sie stunden in keiner geringern Achtung, und konnten sich rühmen, daß die vollkommensten Modelle aller Vorzüge ihres Geschlechts, wenn man die strenge Tugend ausnimmt, die Aspasien, die Leontium und die Phrynen sich kein Bedenken machten von ihrem Orden zu sein. Was die Danae betrifft, so machten die Mannspersonen zu Smyrna kein Geheimnis daraus, daß sie, ihrem Urteil nach, an Schönheit und Artigkeit alle andre Frauenzimmer, galante und spröde, tugendhafte und andächtige, übertreffe. Es ist wahr, die Geschichte meldet nicht, daß die Damen sich sehr beeifert hätten, das Urteil der Mannspersonen durch ihren öffentlichen Beitritt zu bestätigen; allein soviel ist gewiß, daß keine unter ihnen war, die sich selbst nicht gestanden hätte, daß, eine einzige Person ausgenommen, die sie niemals öffentlich nennen wollten, die schöne Danae alle übrigen eben so weit übertreffe, als sie von dieser einzigen Ungenannten übertroffen werde. In der Tat war ihr Ruhm von dieser Seite so festgesetzt, daß man das Gerücht nicht unwahrscheinlich fand, welches versicherte, daß sie in ihrer ersten Jugend den berühmtesten Malern zum Modell gedient habe; und daß sie bei einer solchen Gelegenheit den Namen erhalten, unter welchem sie in Jonien berühmt war. Itzo hatte sie zwar das dreißigste Jahr schon zurückgelegt, allein ihre Schönheit hatte dadurch mehr gewonnen als verloren; und der blendende Jugendglanz, der mit dem Mai des Lebens zu verschwinden pflegt, wurde durch tausend andre Reizungen ersetzt, welche ihr, nach dem Urteil der Kenner, eine gewisse Anziehungskraft gaben, die man, ohne sich eines schwülstigen Ausdrucks schuldig zu machen, in gewissen Umständen für unwiderstehlich halten konnte. Dem ungeachtet scheute sich, unter der ägide der Gleichgültigkeit, worin ihn damals ordentlicher Weise auch die schönsten Figuren zulassen pflegten, der weise Hippias nicht, seine Tugend öfters dieser Gefahr auszusetzen. Er war der schönen Danae unter dem Titel eines Freundes vorzüglich angenehm, und die geheime Geschichte sagt so gar, daß sie ihn ehmals nicht unwürdig gefunden, ihm eine Zeitlang eine noch interessantere Stelle, bei ihrer Person anzuvertrauen; eine Stelle die nur von den liebenswürdigsten seines Geschlechts bekleidet zu werden pflegte. Diese Dame war es, deren Beihülfe Hippias sich zu Ausführung seines Anschlags wider den Agathon bedienen wollte, dessen schwärmerische Tugend, seinen Gedanken nach, eine Beschimpfung seiner Grundsätze war, die er viel weniger leiden konnte, als die allerscharfsinnigste Widerlegung in forma. Er begab sich also zu der gewöhnlichen Stunde zu ihr, und war kaum in den Saal getreten, wo sie sich befand, und in den Bedürfnissen des Bades, von zween jungen Knaben, welche eher ein paar Liebesgötter zu sein schienen, bedient wurde; als sie schon in seinem Gesicht etwas bemerkte, das mit seiner gewöhnlichen Heiterkeit einen Absatz machte. "Was hast du, Hippias", sagte sie zu ihm, "daß du eine so tiefsinnige Miene mitbringst?" "Ich weiß nicht", antwortete er, "warum ich tiefsinnig aussehen sollte, wenn ich eine Dame im Bade besuche; aber das weiß ich, daß ich dich noch nie so schön gesehen habe, als diesen Augenblick." "Gut", sagte sie, "das beweist, daß ich recht geraten habe. Ich bin gewiß, daß ich heute nicht besser aussehe als das letztemal, da du mich sahest; aber deine Phantasie ist höher gestimmt als gewöhnlich, und du schreibst den Einfluß, den sie auf deine Augen hat, großmütig auf die Rechnung des Gegenstands, den du vor dir hast; ich wollte wetten, daß die häßlichste meiner Kammermädchen, dir in diesem Augenblick eine Grazie scheinen würde." "Ich habe", versetzte Hippias, "keine Ansprüche an eine lebhaftere Einbildungskraft zu machen als Zeuxes und Aglaophon, welche sich nichts vollkommners zu erfinden getrauten als Danae. Welche schöne Gelegenheit zu einer neuen Verwandlung, wenn ich Jupiter wäre!"—"Und was für eine Gestalt wolltest du annehmen, um zu gleicher Zeit meine Sprödigkeit und deine liebe Gemahlin zu hintergehen? Denn ich glaube kaum, daß unter allen geflügelten, vierfüßigen und kriechenden Tieren eines ist, das nicht schon einem Unsterblichen hätte dienen müssen, irgend ein ehrliches Mädchen zu beschleichen." "Ich würde mich nicht lange besinnen", sagte Hippias; "was für eine Gestalt könnte ich annehmen, die dir angenehmer und mir zu meiner Absicht bequemer wäre, als dieses Sperlings, der deine Liebhaber so oft zu einer gerechten Eifersucht reizt; der, durch die zärtlichsten Namen aufgemuntert, mit solcher Freiheit um deinen Nacken flattert, oder mit mutwilligem Schnabel den schönsten Busen neckt, und die Liebkosungen allezeit doppelt wieder empfängt, die er dir gemacht hat." "Es ist dir leichter wie es scheint", versetzte Danae, "einen Sperling an deine Stelle, als dich an die Stelle eines Sperlings zu setzen; bald könntest du mir die Schmeicheleien meines kleinen Lieblings verdächtig machen. Aber genug von den Wundern, die du meiner Schönheit zutrauest; wir wollen von was anderm reden. Weißest du, daß ich meinem Liebhaber den Abschied gegeben habe?" "Dem schönen Hiacinthus?" "Ihm selbst, und was noch mehr ist, mit dem festen Entschluß, seine Stelle nimmer zu ersetzen." "Das ist eine tragische Entschließung, schöne Danae." "Nicht so sehr als du denkest. Ich versichre dich, Hippias, meine Geduld reicht nicht mehr zu, alle Torheiten dieser abgeschmackten Gecken auszustehen, welche die Sprache der Empfindung reden wollen und nichts fühlen; deren Herz nicht so viel als mit einer Nadelritze verwundet ist, ob sie gleich von Martern und von Flammen reden; die unfähig sind etwas anders zu lieben als sich, und denen meine Augen nur zum Spiegel dienen sollen, um darin den Wert ihrer kleinen unverschämten Figur zu bewundern. Kaum glauben sie ein Recht an unsre Gütigkeit zu haben, so bilden sie sich ein, daß sie uns viel Ehre erweisen, wenn sie unsere Liebkosungen mit einer zerstreuten Miene dulden. Ein jeder Blick, den sie auf mich werfen, sagt mir, daß ich ihnen nur zum Spielzeug diene; und die Hälfte meiner Reizungen geht an ihnen verloren, weil sie keine Seele haben, um die Schönheiten einer Seele zu empfinden." "Dein Unwille ist gerecht", versetzte der Sophist; "es ist verdrießlich, daß man diesen Mannsleuten nicht begreiflich machen kann, daß die Seele das liebenswürdigste an einem schönen Frauenzimmer ist. Aber beruhige dich; nicht alle Männer denken so unedel, und ich kenne einen, der dir gefallen würde, wenn du, zur Abwechslung, einmal Lust hättest, es mit einem geistigen Liebhaber zu versuchen." "Und wer kann das sein, wenn man fragen darf?" "Es ist ein Jüngling, gegen den deine Hyacinthe nur Meerkatzengesichter sind, schöner als Adonis."—"Fi, Hippias, das ist als wie wenn du sagtest, süßer als Honigseim. Du begreifst nicht, wie sehr mir vor diesen schönen Herren ekelt." "O! das hat nichts zu bedeuten; ich stehe dir für diesen. Er hat keinen von den Fehlern der schönen Narcissen, die dir so ärgerlich sind. Kaum scheint er es zu wissen, daß er einen Leib hat. Das ist ein Mensch wie man nicht viele sieht, schön wie Apollo, aber geistig wie ein Zephyr; ein Mensch, der lauter Seele ist, der dich, wie du hier bist, für eine bloße Seele ansehen würde, und der alles auf eine geistige Art tut, was wir andere körperlich tun. Du verstehst mich ja, schöne Danae?" "Nicht allzuwohl; aber deine Beschreibung gefällt mir nichts desto minder. Du sprichst doch im Ernst?" "In ganzem Ernst: Wenn du Lust hast die metaphysische Liebe zu kosten, so habe ich deinen Mann gefunden. Er ist platonischer als Plato selbst—denn ich denke, du könntest uns geheime Nachrichten von diesem berühmten Weisen geben." "Ich erinnere mich", antwortete Danae lächelnd, "daß er einmal mit einer meiner Freundinnen eine kleine Zerstreuung gehabt hat, die du ihm nicht übel nehmen mußt. Wo ist ein Geist, dem ein hübsches Mädchen von achtzehn Jahren nicht einen Körper geben könnte?" "Du kennest meinen Mann noch nicht", erwiderte Hippias; "die Göttin von Paphos, ja du selbst würdest es bei ihm so weit nicht bringen. Du kannst ihn Tag und Nacht um dich haben. Du kannst ihn auf alle Proben stellen, du kannst ihn—bei dir schlafen lassen, Danae, ohne daß er dir Gelegenheit geben wird, nur die mindeste kleine Ausrufung anzubringen; kurz, bei ihm kann deine Tugend ganz ruhig einschlummern, ohne jemals in Gefahr zu kommen, aufgeweckt zu werden." "Ach! nun verstehe ich dich; es verlohnte sich der Mühe nicht, den Scherz so weit zu treiben. Ich verlange keinen Liebhaber der sich nur darum an meine Seele hält, weil ihm das übrige zu nichts nütze ist." "Auch ist derjenige, den ich dir anpreise, weit entfernt in diese Klasse zu gehören; mache dir darüber keinen Kummer. Was du für die Folge einer physischen Notwendigkeit hältst, ist bei ihm die Würkung der Tugend, und der erhabnen Philosophie, von der er Profession macht." "Du machst mich sehr neugierig ihn zu sehen; aber weißt du, Hippias, daß meine Eitelkeit nicht zu frieden wäre, auf eine so kaltsinnige Art geliebt zu sein. Es ist wahr, ich bin dieser mechanischen Liebhaber von Herzen überdrüssig; aber ich würde mit einem andern eben so übel zu frieden sein, der gegen dasjenige ganz unempfindlich wäre, wofür jene allein empfindlich sind. Ein Frauenzimmer findet allezeit ein Vergnügen darin, Begierden einzuflößen, auch wann sie nicht im Sinn hat, sie zu vergnügen. Die Spröden selbst sind von dieser Schwachheit nicht ausgenommen. Wozu haben wir nötig, daß uns ein Liebhaber sagt, daß wir reizend sind? Wir wollen es aus den Würkungen sehen, die wir auf ihn machen. Je weiser er ist, desto schmeichelnder ist es für unsre Eitelkeit, wenn wir ihn aus seiner Fassung setzen können. Nein, du begreifst nicht, wie sehr das Vergnügen, das uns der Anblick aller der Torheiten macht, wozu wir diese Herren der Schöpfung bringen können, alle andre übertrifft, die sie uns zu machen fähig sind. Ein Philosoph, der zu meinen Füßen wie eine Turteldaube girret, der mir zu Gefallen seine Haare und seinen Bart kräuseln läßt, der so wohl riecht wie ein arabischer Salbenhändler, der mir den Hof zu machen, mit meinem Schoßhund schwatzt und Oden auf meinen Sperling macht—ah! Hippias, man muß ein Frauenzimmer sein, um zu begreifen, was das für ein Vergnügen ist!"—"Ich bedaure dich"; erwiderte der schalkhafte Sophist, "daß du diesem Vergnügen bei dem Liebhaber, von dem ich rede, entsagen mußt. Er hat seine Proben schon gemacht. Er ist zärtlich wie ein junger Seufzer, aber, wie gesagt, er ist es nur für die Seele der Schönen; alles übrige macht keinen größern Eindruck auf ihn, als ein Gemälde, oder eine Bildsäule." "Das wollen wir sehen", versetzte Danae; "ich verlange schlechterdings, daß du ihn diesen Abend zu mir bringest; du wirst nur eine kleine Gesellschaft finden, die uns nicht hindern soll. Aber wer ist denn dieser Ungenannte, von dem wir schon so lange schwatzen?" "Es ist ein Sklave, den ich vor etlichen Wochen von einem Cilicier gekauft habe, aber ein Sklave, wie man sonst nirgends sieht. Er ist zu Delphi im Tempel des Apollo erzogen worden, und, so viel ich vermute, wird er sein Dasein der antiplatonischen Liebe dieses Gottes zu irgend einer artigen Schäferin zu danken haben, die sich zu weit in seinen Lorbeerhain gewagt haben mag. Er ist hernach eine geraume Zeit zu Athen gewesen, und die schönen Reden des Plato haben die romanhafte Erziehung vollendet, die er in den geheiligten Hainen zu Delphi erhalten. Er geriet durch einen Zufall in die Hände Cilicischer Seeräuber, und aus diesen in die meinige. Er nannte sich Pythokles; aber weil ich diese Art von Namen nicht leiden kann, so hieß ich ihn Callias, und er verdient so zu heißen, denn er ist der schönste Mensch, den ich jemals gesehen habe. Seine übrigen Gaben bestätigen die gute Meinung, die sein Anblick von ihm erweckt. Er hat Verstand, Geschmack, und Wissenschaft; er ist ein Liebhaber und ein Günstling der Musen; aber mit allen diesen Vorzügen ist er doch nichts weiter als ein wunderlicher Kopf, ein Schwärmer und ein unbrauchbarer Mensch. Er nennt seinen Eigensinn Tugend, weil er sich einbildet, die Tugend müsse die Antipode der Natur sein; er hält die Ausschweifungen seiner Phantasie für Vernunft, weil er sie in einen gewissen Zusammenhang gebracht hat; und sich selbst für weise, weil er auf eine methodische Art raset. Er gefiel mir beim ersten Anblick, ich faßte den Entschluß, etwas aus diesem jungen Menschen zu machen; aber alle meine Mühe war umsonst; und wenn es möglich ist, daß er durch jemand zu recht gebracht werden kann, so muß es durch ein Frauenzimmer geschehen; denn ich glaube bemerkt zu haben, daß man nur durch sein Herz in seinen Kopf kommen kann. Die Unternehmung wäre deiner würdig, schöne Danae, und wenn sie dir nicht gelingt, so ist er unverbesserlich, und verdient nichts, als daß man ihn seiner Torheit und seinem Schicksal überlasse."
"Du hast meinen ganzen Ehrgeiz rege gemacht, Hippias", versetzte die schöne Danae; "bringe ihn diesen Abend mit; ich will ihn sehen, und wenn er aus eben denselben Elementen zusammengesetzt ist, wie andre Erden-Söhne, so wollen wir eine Probe machen, ob Danae ihrer Lehrmeisterin würdig ist."
Hippias war sehr erfreut, den Zweck seines Besuchs so glücklich erreicht zu haben, und versprach beim Abschied, zur bestimmten Zeit diesen wunderbaren Jüngling aufzuführen, an welchem die schöne Danae so begierig war, die Macht ihrer Reizungen zu versuchen.
Geschichte der schönen Danae
Die Dame, mit welcher unsre Leser im vorigen Kapitel Bekanntschaft gemacht, hat vermutlich einem guten Teil derselben nicht so übel gefallen, daß sie nicht eine nähere Nachricht von dem Charakter und der Geschichte derselben erwarten sollten; und wir sind desto geneigter, ihrem Verlangen ein Genüge zu tun, je nötiger der Verfolg unsrer Geschichten zu machen scheint, daß der Leser in den Stand gesetzt werde, der schönen Danae Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Die allgemeine Meinung zu Smyrna war, daß sie eine Tochter der berühmten Aspasia von Milet sei, die, nachdem sie in ihrer Vaterstadt die Kunst der Galanterie, wovon sie Profession machte, durch die Verbindung derselben mit der Philosophie und den Künsten der Musen, zu jenem Grade der Vollkommenheit erhoben hatte, der sie zur wahren Erfinderin derselben zu machen schien, nach Athen gezogen war, wo sie sich ihrer seltnen Vorzüge auf eine so kluge Art zu bedienen gewußt, daß sie sich endlich zur unumschränkten Beherrscherin des großen Perikles, der das ganze Griechenland beherrschte, oder wie die komischen Dichter ihrer Zeit sich ausdrückten, zur Juno dieses atheniensischen Jupiters erhoben hatte. Allein die Vermutungen, worauf sich diese Meinung von der Abkunft der Danae gründeten, können nicht für hinlänglich angesehen werden, das Zeugnis verschiedner Geschichtschreiber zu überwägen, welche versichern, daß sie aus der Insel Scios gebürtig gewesen, und nach dem Tod ihrer Eltern, in ihrem vierzehnten Jahr mit einem Bruder nach Athen gekommen, um in dieser Stadt, worin alle angenehmen Talente willkommen waren, durch die ihrigen ihren Unterhalt zu gewinnen. Die Kunst, welche sie hier trieb, war eine Art von pantomimischen Tänzen, wozu gemeiniglich nur eine oder zwo Personen erfordert wurden, und worin die tanzende Person, nach der Modulation einer Flöte oder Leier, gewisse Stücke aus der Götter—und Heldengeschichte der Griechen, durch Gebärden und Bewegungen vorstellte. Allein, da diese Kunst wegen der Menge derer die sie trieben, nicht zureichte sie zu unterhalten, so sahe sich die junge Danae genötiget, den Künstlern zu Athen die Dienste eines Models zu tun; und erhielt dadurch außer dem Nutzen, den sie davon zog, die schmeichelnde Ehre, bald als Diana, bald als Venus auf die Altäre gestellt, die Bewunderung der Kenner und die Anbetung des Pöbels zu erhalten. Bei einer solchen Gelegenheit trug es sich zu, daß sie von dem jungen Alcibiades überraschet, und in der Stellung der Danae des Acrisius, welche sie eben vorstellte, allzureizend befunden wurde, als daß einem geringern als Alcibiades auch nur der Anblick so vieler Schönheiten erlaubt sein sollte. Auf der andern Seite wurde die junge Danae von der Figur, den Manieren, dem Stand und den Reichtümern dieses liebenswürdigen Verführers so sehr eingenommen, daß er keine große Mühe hatte, sie zu bereden sich in seinen Schutz zu begeben. Er brachte sie also in das Haus der Aspasia, welches zu gleicher Zeit eine Akademie der schönsten Geister von Athen, und eine Frauenzimmer-Schule war, worin junge Mädchen von den vorzüglichsten Gaben, unter der Aufsicht einer so vollkommen Meisterin, eine Erziehung erhielten, welche sie zu der Bestimmung geschickt machen sollte, die Großen und die Weisen der Republik in ihren Ruhestunden zu ergötzen. Danae machte sich diese Gelegenheit sowohl zu Nutze, daß sie die Gunst, und endlich selbst die Vertraulichkeit der Aspasia erhielt, welche, weit über die Niederträchtigkeit gemeiner Seelen erhaben, sich mit so vielem Vergnügen in dieser jungen Person wieder hervorgebracht sah, daß sie dadurch zu der Vermutung Anlaß gab, deren wir bereits Erwähnung getan haben. Inzwischen genoß Alcibiades allein der Früchte einer Erziehung, wodurch die natürlichen Gaben seiner jungen Freundin zu einer Vollkommenheit entwickelt wurden, die ihr den Namen der zweiten Aspasia erwarb; und die schöne Danae legte sich selbst die Pflicht auf, eine Treue gegen ihn zu beobachten, die er nicht zu erwidern nötig fand. Da die Liebe zur Veränderung eine stärkere Leidenschaft bei ihm war, als die Liebe die ihm irgend ein Frauenzimmer einflößen konnte, so mußte auch Danae, nachdem sie sich eine geraume Zeit in dem ersten Platz bei ihm erhalten hatte, einer andern weichen, die keinen Vorzug vor ihr hatte, als daß sie ihm neu war. So schwach Danae von einer gewissen Seite sein mochte, so edel war ihr Herz in andern Stücken. Sie liebte den Alcibiades, weil sie von seiner Person und von seinen Eigenschaften bezaubert war, und dachte wenig daran, von seinen Reichtümern Vorteil zu ziehen. Sie würde also nichts von ihm übrig behalten haben, als das Andenken von dem liebenswürdigsten Mann ihrer Zeit geliebt worden zu sein; wenn er nicht eben so stolz und freigebig gewesen wäre, als sie, wider die Gewohnheit ihrer Gespielen, uneigennützig war. "Ich verlasse dich Danae", sagte er zu ihr, "allein ich werde nicht zugeben, daß diejenige, die einst dem Alcibiades zugehörte, jemals genötiget sein soll, dem Reichsten zu überlassen, was nur dem Liebenswürdigsten gehört." Mit diesen Worten drang er ihr eine Summe auf, die mehr als zulänglich war, sie von dieser Seite außer aller Gefahr zu setzen. Der Tod der Aspasia und die Veränderungen, die er nach sich zog, bewogen sie, wenige Jahre darauf Athen zu verlassen, und nach etlichen Begebenheiten, an denen ihr Herz keinen geringen Anteil hatte, Smyrna zu ihrem beständigen Sitz zu erwählen. Hier hatte sie Gelegenheit dem jüngern Cyrus bekannt zu werden, dessen liebenswürdige Eigenschaften durch die Feder des Xenophon eben so bekannt worden sind, als der unglückliche Ausgang der Unternehmung, wodurch er sich auf den Thron des ersten Cyrus zu schwingen hoffte. Ihr erster Anblick unterwarf ihr das Herz dieses Prinzen, der so empfindlich gegen diejenige Art von Reizungen war, wodurch sich die Schülerinnen der Aspasia von den lebenden Statuen unterschieden, die in den Morgenländern zum Vergnügen der Großen bestimmt werden, und in der Tat zu dem einzigen Gebrauch den diese von ihnen zu machen wissen, wenig Seele nötig haben. Allein so schmeichelhaft diese Eroberung für sie war, so konnte sie doch nichts bewegen, ihn nach Sardes zu begleiten, und ihre Freiheit der Ehre aufzuopfern, die erste seiner Sklavinnen zu sein. Sie blieb also in Smyrna zurück, wo sie durch die großmütige Freigebigkeit des Cyrus, der sich hierin von keinem Athenienser übertreffen lassen wollte, in den Stand gesetzt war, ihre einzige Sorge sein zu lassen, wie sie auf die angenehmste Art leben wollte. Sie bediente sich dieses Glücks, wie es der Name der zwoten Aspasia erfoderte. Ihre Wohnung schien ein Tempel der Musen und Grazien zu sein, und wenn Amor von einer so reizenden Gesellschaft nicht ausgeschlossen war, so war es jener Amor, den die Musen beim Anacreon mit Blumenkränzen binden, und der sich in dieser Gefangenschaft so wohl gefällt, daß Venus ihn vergeblich bereden will, sich in seine vorige Freiheit setzen zu lassen. Die Spiele, die Scherze und die Freuden, (wenn es uns erlaubt ist, die Sprache Homers zu gebrauchen, wo die gewöhnliche zu matt scheint), schlossen mit den lächelnden Stunden einen unauflöslichen Reihentanz um sie her, und Schwermut, überdruß, und Langeweile waren mit allen andern Feinden der Ruhe und des Vergnügens aus diesem Wohnplatz der Freude verbannt.
Wir haben, deucht uns, schon mehr als genug gesagt, um unsre Leser in keine mittelmäßige Sorge für die Tugend unsers Helden zu setzen. In der Tat hatte er sich noch niemals in Umständen befunden, wo wir weniger hoffen dürfen, daß sie sich werde erhalten können; die Gefahr worin sie bei der üppigen Pythia, unter den rasenden Bachantinnen und in dem Hause des weisen Hippias, welches dem Stalle der Circe so ähnlich sah, geschwebet hatte, verdient nur nicht neben derjenigen genannt zu werden, welcher wir ihn bald ausgesetzt sehen werden, und deren wir ihn gerne überhoben hätten, wenn uns die Pflichten eines Geschichtschreibers erlaubten, unsrer freundschaftlichen Parteilichkeit für ihn, auf Unkosten der Wahrheit nachzugeben.
Wie gefährlich es ist, der Besitzer einer verschönernden Einbildungskraft zu sein
Wenn eine lebhafte Einbildungskraft ihrem Besitzer eine unendliche Menge von Vergnügen gewährt, die den übrigen Sterblichen versagt sind; wenn ihre magische Würkung alles Schöne in seinen Augen verschönert, und ihn da in Entzückung setzt, wo andre kaum empfinden; wenn sie in glücklichen Stunden, ihm diese Welt zu einem Paradiese macht, und in traurigen seine Seele von der Szene seines Kummers hinwegzieht, und in andre Welten versetzt, die durch die vergrößernden Schatten einer vollkommnen Wonne seinen Schmerz bezaubern: So müssen wir auf der andern Seite gestehen, daß sie nicht weniger eine Quelle von Irrtümern, von Ausschweifungen und von Qualen für ihn ist, wovon er, selbst mit Beihülfe der Weisheit und mit der feurigsten Liebe zur Tugend, sich nicht eher losmachen kann, bis er, auf welche Art es nun sein mag, so weit gekommen ist, die allzugroße Lebhaftigkeit derselben zu mäßigen. Der weise Hippias hatte, die Wahrheit zu gestehen, unserm Helden sehr wenig Unrecht getan, als er ihm eine Einbildungskraft von dieser Art zuschrieb; ob wir ihm gleich in Absicht des Mittels nicht völlig beifallen können, wodurch selbige, seiner Meinung nach, am besten in das gehörige Gleichgewicht mit den übrigen Kräften der Seele gesetzt werden könne. Die schlaue Danae hatte sich aus der Beschreibung des Hippias eine solche Vorstellung von dem Agathon gemacht, daß sie alles gewonnen zu haben glaubte, wenn sie nur seine Einbildungskraft auf ihre Seite gebracht haben würde. Hippias, dachte sie, hatte nur darin gefehlt, daß er ihn durch die Sinnen verführen wollte. Auf diese Voraussetzung machte sie einen Plan, über den sie nicht wenig vergnügt war; und dachte so wenig daran, daß die Ausführung sie ihr eignes Herz kosten könnte, als Agathon sich von der Gefahr träumen ließ, die dem seinigen zubereitet wurde. Endlich kam die Stunde, die dem Hippias bestimmt worden war. Agathon begleitete seinen Herrn, ohne zu wissen wohin. Sie traten in einen Palast, der auf einer doppelten Reihe von jonischen Säulen ruhte, und mit vielen vergoldeten Bildsäulen ausgezieret war. Das Inwendige dieses Hauses stimmte vollkommen mit der Pracht des äußerlichen Anblicks überein. Allenthalben begegnete ihm das geschäftige Gewimmel von unzählichen Sklaven und Sklavinnen, wovon die erstern alle unter zwölf Jahren zu sein schienen, und so wie die letztern von außerordentlicher Schönheit waren. Ihre Kleidung stellte dem Aug' eine angenehme Verbindung der Einförmigkeit mit der Abwechslung vor; einige waren in weiß, andre in himmelblau, andre in rosenfarb, andre in andre Farben gekleidet, und jede Farbe schien eine besondere Klasse zu bezeichnen, welcher ihre eigne Dienste angewiesen waren. Agathon, auf den alles lebhaftere Eindrücke machte, als es nötig war, um nach dem Maßstab der Moralisten genug zu sein, wurde durch alles was er sah, so sehr bezaubert, daß er sich in eine von seinen idealischen Welten versetzt glaubte. Allein eh er Zeit hatte zu sich selbst zu kommen, führte ihn Hippias in einen großen und hellerleuchteten Saal, worin die Gesellschaft versammelt war, welche sie vermehren sollten. Er hatte kaum einen Blick auf sie geworfen, als die schöne Danae ihm mit einer Anmut und Leutseligkeit die ihr eigen war, entgegen kam, und ihm sagte, daß ein Freund des Hippias das Recht habe, sich in ihrem Hause und in dieser Gesellschaft als einheimisch anzusehen. Ein so verbindliches Kompliment verdiente wohl eine Antwort in eben diesem Ton; allein Agathon war in diesem Augenblick außer Stand, höflich zu sein: Ein Blick, womit man den äußersten Grad des angenehmsten Erstaunens malen müßte, war alles, was er auf diese Anred' erwidern konnte. Die Gesellschaft, die er versammelt fand, war aus lauter solchen Personen zusammengesetzt, welche die Vorrechte des vertrautesten Umgangs in diesem Hause genossen, und die attische Urbanität, die von der spröden, regelmäßigen und manierenreichen Politesse der heutigen Europäer so sehr verschieden war, in einem so hohen Grad als Danae selbst, besaßen. In einer Gesellschaft nach der heutigen Art würde Agathon, in den ersten Augenblicken, da er sich darstellte, zu einer unendlichen Menge von boshaften und spöttischen Anmerkungen Stoff gegeben haben; allein in dieser war ein flüchtiger Blick alles, was er auszuhalten hatte. Die Unterredung wurde fortgesetzt, niemand zischelte dem andern ins Ohr, oder schien das Erstaunen zu bemerken, mit der seine Augen die schöne Danae zu verschlingen schienen; kurz, man ließ ihm alle Zeit die er brauchte um wieder zu sich selbst zu kommen, wofern sich anders dieser Ausdruck für die Verfassung schickt, in der er sich diesen ganzen Abend durch befand. Vielleicht erwartet man, daß wir eine nähere Erläuterung über diesen außerordentlichen Eindruck geben sollen, welchen Danae auf unsern allzureizbaren Helden machte; allein wir sehen uns noch außer Stand, die Neugierde des Lesers über einen Punkt zu befriedigen, wovon Agathon selbst noch nicht fähig gewesen wäre, Rechenschaft zu geben: Soviel können wir inzwischen sagen, daß diese Dame dem Anschein nach niemals weniger erwarten konnte, eine solche Würkung zu machen; so wenig Mühe hatte sie sich gegeben, durch einen schlauen Putz ihre Reizungen in ein günstiges Licht zu setzen. Ein Kleid von weißem Taft, mit kleinen Streifen von Purpur, und eine halberöffnete Rose in ihrem schwarzen Haar, machte ihren ganzen Staat aus; und von der Durchsichtigkeit, wodurch die Kleidung der Cyane den Augen unsers Helden anstößig gewesen, war die ihrige so weit entfernt, daß man mit besserm Recht an ihr hätte aussetzen können, daß sie zu sehr verhüllt sei. Es ist wahr, sie hatte Sorge getragen, daß ein kleiner niedlicher Fuß, der an Weiße den Alabaster übertraf, dem Auge nicht immer entzogen würde; und die ganze Schönheit ihres Gesichts war nicht vermögend, den Agathon aufmerksam zu erhalten, wenn sich dieser reizende Fuß sehen ließ. Allein dieses, und eine schneeweiße Hand mit dem Anfang eines vollkommen schönen Arms war alles, was das neidische Gewand den vorwitzigen Blicken nicht versagte; was es also auch sein mochte, was in seinem Herzen vorging, so ist doch dieses gewiß, daß an der Person und dem Betragen der schönen Danae nicht das mindeste zu entdecken war, das einige besondere Absicht auf unsern Helden hätte anzeigen können; und daß sie, es sei nun aus Unachtsamkeit oder Bescheidenheit, nicht einmal zu bemerken schien, daß Agathon für sie allein Augen, und über ihrem Anschauen den Gebrauch aller andern Sinnen verloren hatte.
Pantomimen
Nach Endigung der Mahlzeit, bei welcher Agathon beinahe einen bloßen Zuschauer abgegeben hatte, trat ein Tänzer und eine junge Tänzerin herein, die nach der Modulation eben so vieler Flöten die Geschichte des Apollo und der Daphne tanzten. Die Geschicklichkeit der Tanzenden befriedigte alle Zuschauer; alles an ihnen war Seele und Ausdruck, und man glaubte sie immer zu hören, ob man sie gleich nur sah. "Wie gefällt dir diese Tänzerin, Callias", fragte Danae den Agathon, welcher nur mittelmäßig aufmerksam auf dieses Spiel zu sein schien, und der einzige war, der nicht beobachtete, daß die Tänzerin von ungemeiner Schönheit, und eben so wie Cyane, kaum mit etwas mehr als gewebter Luft umhüllt war. "Mich deucht", versetzte Agathon, der itzt erst anfing sie aufmerksamer anzusehen, "mich deucht, daß sie, vielleicht aus allzugroßer Begierde zu gefallen, den Charakter verläßt den sie vorstellen soll. Warum sieht sie sich im Fliehen um? Und mit einem Blick, der es ihrem Verfolger zu verweisen scheint, daß er nicht schneller ist als sie?—Gut, sehr gut!" (fuhr er fort, wie die Stelle kam, wo Daphne den Flußgott um Hülfe anruft,) "unverbesserlich! Wie sie mitten in ihrem Gebet sich verwandelt! Wie sie erbleicht! Wie sie schauert! Ihre Füße wurzeln mitten in einer schreckhaften Bewegung ein; umsonst will sie ihre ausgebreiteten Arme zurückziehen.—Aber warum dieser zärtlichbange Blick auf ihren Liebhaber? Warum diese Träne, die in ihrem Auge zu erstarren scheint?"—Ein allgemeines Lächeln beantwortete die Frage Agathons. "Du tadelst gerade", versetzte zuletzt einer von den Gästen, "was wir am meisten bewundern. Eine gewöhnliche Tänzerin würde nicht fähig gewesen sein, deinen Tadel zu verdienen. Es ist unmöglich mehr Geist, mehr Feinheit und einen schönern Kontrast in diese Rolle zu bringen, als die kleine Psyche, (so hieß die Tänzerin) getan hat." Daphne selbst war nicht bestürzter gewesen, da sie sich verwandelt fühlte, als Agathon in dem Augenblick, als er den Namen Psyche hörte; er stockte mitten in einem Worte, das er sagen wollte; er errötete, und seine Verwirrung war so merklich, daß Danae, welche sie der Beschämung seines Tadels zuschrieb, für nötig hielt, ihm zu Hülfe zu kommen. "Der Tadel des Callias", sagte sie, "beweist, daß er den Geist, womit Psyche ihre Rolle gespielt, so gut empfunden hat, als Phädrias. Aber vielleicht ist er darum nicht minder gegründet. Psyche sollte die Person der Daphne gespielt haben, und hat ihre eigene gespielt; ist es nicht so, Psyche? Du dachtest, wie würde mir's an Daphnens Stelle gewesen sein?"—"Und wie hätte ichs anders machen können, meine Gebieterin?" fragte die kleine Tänzerin. "Du hättest den Charakter annehmen sollen, den ihr die Dichter geben, und hast dich begnügt dich selbst in ihre Umstände zu setzen." "Was für ein Charakter ist denn das", erwiderte Psyche. "Einer Spröden", sagte der weise Hippias; "das ist der Lieblings-Charakter des Callias." Abermalige Gelegenheit zum Erröten für den guten Agathon. "Du hast es nicht erraten", sagte er; "der Charakter, den Daphne nach meiner Idee haben soll, ist Gleichgültigkeit und Unschuld; sie kann beides haben, ohne eine Spröde zu sein." "Psyche verdient also desto mehr Lob", erwiderte Phädrias (für den sie, wie die Geschichte meldet, noch etwas mehr als eine Tänzerin war) "weil sie den Charakter verschönert hat, den sie vorstellen sollte. Der Streit zwischen Liebe und Ehre erfordert mehr Genie um nachgeahmt zu werden, und ist für den Zuschauer rührender, als die Gleichgültigkeit, die ihr Callias geben will. Und zudem, wo ist die junge Nymphe, die gegen die Liebe eines so schönen Gottes wie Apollo ist, gleichgültig sein könnte?" "Ich bin deiner Meinung", sagte Hippias. "Daphne flieht vor dem Apollo, weil sie ein junges Mädchen ist; und weil sie ein junges Mädchen ist, so wünscht sie heimlich, daß er sie erhaschen möge. Warum sieht sie sich so oft um, als um ihm zu verweisen, daß er nicht schneller sei? Wie er ihr so nahe ist, daß sie nicht mehr entfliehen kann, so fleht sie dem Flußgotte, daß er sie verwandeln soll. Grimasse! Warum stürzte sie sich nicht in den Fluß, wenn es ihr Ernst war? Sie tat was eine Nymphe tun soll, da sie den Flußgott anrief; das war in der Ordnung: Aber wer konnte auch fürchten, so schnell erhört zu werden? Und in welchem Augenblick konnte sie es weniger wünschen, als in eben diesem, da sie sich von den begierigen Armen ihres Liebhabers schon umschlungen fühlte? Hatte sie sich denn aus einem andern Grund außer Atem geloffen, als damit er sie desto gewisser erhaschen möchte? Was ist also natürlicher als der Unwille, der Schmerz und die Traurigkeit, womit sie sein Betragen erwidert, da sie die Arme, womit sie ihn—zurückstoßen will, zu Lorbeerzweigen erstarret fühlt? Selbst der zärtliche Blick ist natürlich; die Verstellung hört auf, wenn man in einen Lorbeerbaum verwandelt wird. War nicht dieses das ganze Spiel der Psyche? Und kann etwas natürlicher sein? Es ist der Charakter eines jungen Mädchens; eines von denen jungen Mädchen, versteht sichs, mein lieber Callias, wie man sie in dieser materiellen Welt findet." "Ich ergebe mich", versetzte Agathon; "die Tänzerin hat alles getan, was man von ihr fodern konnte, und ich war lächerlich zu erwarten, daß sie die Idee ausführen sollte, die ich von einer Daphne in meiner Phantasie habe." Agathon hatte dieses kaum gesprochen, als Danae, ohne ein Wort zu sagen, aufstund, der Tänzerin einen Wink gab, und mit ihr verschwand. In einer kleinen Weile kam die Tänzerin allein wieder zurück, die Flöten fingen wieder an, und Apollo und Daphne wiederholten ihre Pantomime. Aber wie erstaunte Agathon als er sah, daß es Danae selbst war, die in der Kleidung der Tänzerin die Person der Daphne spielte! Armer Agathon! Allzureizende Danae! Wer hätte es glauben sollen? Ihr ganzes Spiel drückte die eigenste Idee des Agathon aus, aber mit einer Anmut, mit einer Zauberei, wovon ihm seine Phantasie keine Idee gegeben hatte. Die Empfindungen, von denen seine Seele in diesen Augenblicken überfallen wurde, waren so lebhaft, daß er sich bemühte, seine Augen von diesem zu sehr bezaubernden Gegenstand abzuziehen; aber vergeblich! Eine unwiderstehliche Gewalt zog sie zurück. Wie edel, wie schön waren ihre Bewegungen! Mit welch einer rührenden Einfalt drückte sie den Charakter der Unschuld aus! Er sah noch in sprachloser Entzückung nach dem Orte, wo sie zum Lorbeerbaum erstarrte, als sie schon wieder verschwunden war, ohne das Lob und das Händeklatschen der Zuschauer zu erwarten, welche nicht Worte genug finden konnten, das Vergnügen auszudrücken, das ihnen Danae durch diese unerwartete Probe ihres Talents gemacht hatte. In wenigen Minuten kam sie schon wieder in ihrer eignen Person zurück. "Wie sehr ist Callias dir verbunden, schöne Danae", sagte Phädrias indem sie hereintrat! "Du allein konntest seinen Tadel rechtfertigen, nur diejenige konnte es, die liebenswürdig genug ist, um die Sprödigkeit selbst reizend zu machen. Wie sehr wäre ein Apollo zu bedauren, für den du Daphne wärest!" Es war glücklich für den guten Agathon, daß er, indem dieses mit einem bedeutenden Blick gesagt wurde, in dem Anschauen der schönen Danae so verloren war, daß er nichts hörte; denn sonst würde ein abermaliges Erröten die Auslegung zu diesem Text gemacht haben. Das Lob dieser Dame, und ein Gespräch über die Tanzkunst füllte den überrest der Zeit aus, welche diese Gesellschaft noch beieinander zubrachte; ein Gespräch, dessen Mitteilung uns der Leser gerne nachlassen wird, da wir seine Begierde nach angelegenern Materien zu befriedigen haben. Nur diesen Umstand können wir nicht vorbeigehen, daß Agathon bei diesem Anlaß auf einmal so beredt wurde, als er vorher tiefsinnig und stillschweigend gewesen war; eine lächelnde Heiterkeit schimmerte um sein ganzes Gesicht, und noch niemal hatte sein Witz sich mit solcher Lebhaftigkeit hervorgetan. Er erhielt den Beifall der ganzen Gesellschaft, und die schöne Danae selbst konnte sich nicht enthalten, ihn von Zeit zu Zeit mit einem Ausdruck von Vergnügen und Zufriedenheit anzusehen; indessen daß in seinen nur selten von ihr abgewandten Augen etwas glänzte, für welches wir uns umsonst bemühet haben, in der Sprache der Menschen einen Namen zu finden.
Geheime Nachrichten
Wir haben von unserm Freunde Plutarch gelernt, daß sehr kleine Begebenheiten öfters durch große Folgen merkwürdig werden, und sehr kleine Handlungen uns nicht selten tiefere Blicke in das Inwendige der Menschen tun lassen, als die feierlichen Handlungen, wozu man, weil sie dem öffentlichen Urteil ausgesetzt sind, sich ordentlicher Weise in eine gewisse mit sich selbst abgeredete Verfassung zu setzen pflegt. Die Gründlichkeit dieser Beobachtung hat uns bewogen, in der Geschichte der Pantomime, welche das vorige Kapitel ausfüllt, so umständlich zu sein; und wir hoffen uns deshalb vollkommen zu rechtfertigen, wenn wir diese Erzählung durch dasjenige ergänzen, was die liebenswürdige Psyche betrifft, mit welcher der Leser schon im ersten Buche, wiewohl nur im Vorbeigehen, bekannt zu werden angefangen hat. Diese Psyche, so wie sie war, hatte bisher unter allen Wesen, welche in die Sinne fallen, (wir setzen diese Einschränkung nicht ohne Ursach hinzu, so seltsam sie auch in anti-platonischen Ohren klingen mag) den ersten Platz in seinem Herzen eingenommen, und er hatte, seitdem sie von ihm entfernt war, kein Frauenzimmer gesehen, die nicht durch die bloße Erinnerung an Psyche alle Macht über sein Herz und selbst über seine Sinnen verloren hätte; deren Bewegungen, wie man weiß, sonst nicht immer mit den erstern so parallel laufen, als gewisse Romanenschreiber vorauszusetzen scheinen. Die Wahrheit zu gestehen, so war dieses nicht die Würkung derjenigen heroischen Treue und Standhaftigkeit in der Liebe, welche in besagten Romanen zu einer Tugend von der ersten Klasse gemacht wird; Psyche erhielt sich im Besitz seines Herzens, weil ihm die Erinnerungen, die er von ihr hatte, angenehmer waren, als die Empfindungen, die ihm irgend eine andre Schöne einzuflößen vermocht, oder weil er bisher keine andre gesehen hatte, die so sehr nach seinem Herzen gewesen wäre. Eine Erfahrung von etlichen Jahren beredete ihn, daß es allezeit so sein würde, und daher kam vielleicht die Bestürzung, wovon er befallen wurde, als der erste Anblick der schönen Danae ihm eine Vollkommenheit darstellte, die seiner Einbildung nach allein jenseits des Mondes anzutreffen sein sollte. Er müßte nicht Agathon gewesen sein, wenn diese Erscheinung sich nicht seiner ganzen Seele so sehr bemeistert hätte, wie wir gesehen haben. Niemals, deuchte ihn, hatte er in einem so hohen Grad und in einer so seltnen Harmonie alle diese feinern Schönheiten, von denen gemeine Seelen nicht gerührt zu werden fähig sind, vereiniget gesehen. Ihre Gestalt, ihre Blicke, ihr Lächeln, ihre Gebärden, ihr Gang, alles hatte diese Vollkommenheit, welche die Dichter den Göttinnen zuzuschreiben pflegen. Was Wunder also, daß er in den ersten Stunden nichts als anschauen und bewundern konnte, und daß seine entzückte Seele noch keine Zeit hatte auf dasjenige acht zu geben, was in ihr vorging. In der Tat waren alle ihre übrigen Kräfte so gebunden, daß er wider seine Gewohnheit in dieser ganzen Zeit sich seiner Psyche eben so wenig erinnerte, als ob sie nie gewesen wäre. Allein als die junge Tänzerin zum Vorschein kam, welche die Person der Daphne spielte, so stellte einige ähnlichkeit, die sie würklich in der Gesichtsbildung und Figur mit Psyche hatte, ihm auf einmal, wiewohl ohne daß er sich dessen deutlich bewußt war, das Bild seiner abwesenden Geliebten vor die Augen; seine Einbildungskraft setzte durch eine gewöhnliche mechanische Würkung Psyche an die Stelle dieser Daphne, und wenn er so vieles an der Tänzerin auszusetzen fand, so war es im Grunde nur darum, weil die Vergleichung den Betrug des ersten Anblicks entdeckte, oder weil sie nicht Psyche war. So gewöhnlich dergleichen Spiele der Einbildung sind, so selten ist es, daß man den Einfluß deutlich unterscheidet, den sie auf unsre Urteile oder Neigungen zu haben pflegen. Agathon selbst, der sich von seiner ersten Jugend an eine Beschäftigung daraus gemacht hatte, den geheimen Triebfedern seiner innerlichen Bewegungen nachzuspüren, merkte dennoch nicht eher, was bei diesem Anlaß in seiner Phantasie vorging, bis der Name Psyche, dieser Name, dessen bloßer Ton sonst Musik in seinen Ohren gewesen war, ihn erschütterte, und in eine Verwirrung von Empfindungen setzte, die er selbst zu beschreiben Mühe gehabt hat; wenn wir anders hievon nach der besondern Dunkelheit, die in unsrer Urkunde über diese Stelle liegt, urteilen dürfen. Was auch die Ursache dieser Bestürzung gewesen sein mag, so ist gewiß, daß er weit davon entfernt war nur zu argwöhnen, der Genius seiner ersten Liebe stutze vielleicht darüber, eine Nebenbuhlerin in einem Herzen zu finden, welches er von Psyche allein ausgefüllt zu sehen gewohnt war. Sein Selbstbetrug, wofern es anders einer war, scheint desto mehr Entschuldigung zu verdienen, weil dieser geliebte Name würklich in wenig Augenblicken seine ganze Zärtlichkeit rege machte. Er bemerkte nun erst deutlich die ähnlichkeiten, welche die beiden Psychen mit einander hatten; er verglich sie mit einem Vorurteile, welches der Abwesenden so günstig war, daß die Gegenwärtige ihr nur zum Schatten dienen mußte; ja wir wissen nicht, ob eine so lebhafte Erinnerung nicht endlich der schönen Danae selbst Abbruch getan hätte, wenn diese, gleich als ob sie durch eine Art von Divination erraten hätte was in seiner Seele vorging, nicht auf den glücklichen Einfall gekommen wäre, sich an den Platz der kleinen Tänzerin zu setzen, um die Vorstellung auszuführen, welche sich Agathon von einer idealischen Daphne gemacht, und deren die Geschmeidigkeit ihres Geistes sich so schnell und so glücklich zu bemächtigen gewußt hatte. Einen schlimmern Streich konnte sie in der Tat der einen und der andern Psyche nicht spielen. Beide wurden von ihrem blendenden Glanze, wie benachbarte Sterne von dem vollen Mond, ausgelöscht. Und wie hätte ihn auch das Bild seiner abwesenden Geliebten noch länger beschäftigen können, da alle Anschauungskräfte seiner Seele, auf diesen einzigen bezaubernden Gegenstand geheftet, ihm kaum zureichend schienen, dessen ganze Vollkommenheit zu empfinden; da er diese sittliche Venus mit allen ihren geistigen Grazien würklich vor sich sah, zu deren bloßen Schattenbild ihn Psyche zu erheben vermocht hatte?
Wir wissen nicht, ob man eben ein Hippias sein müßte, um zu glauben, daß gewisse Schönheiten von einer nicht so unkörperlichen, wiewohl in ihrer Art eben so vollkommenen Natur, weit mehr als Agathon selbst gewahr wurde, zu dieser Verzückung in die idealischen Welten beigetragen haben könnten, worin er während dem pantomimischen Tanz der Danae sich befand. Die Nymphen-mäßige Kleidung, welche dieser Tanz erforderte, war nur allzugeschickt diese Reizungen in ihrer ganzen Macht und in dem mannigfaltigsten Lichte zu entwickeln; und wir müssen gestehen, die Göttin der Liebe selbst hätte sich nicht zuversichtlicher als die untadelliche Danae dem Auge der schärfsten Kenner, ja selbst den Augen einer Nebenbuhlerin, in diesem Aufzug überlassen dürfen. Der Charakter der ungeschminkten Unschuld, welchen sie so unverbesserlich nachahmte, schien dadurch einen noch lebhaftern Ausdruck zu erhalten; aber einen so lebhaften, daß ein jeder andrer als ein Agathon dabei in Gefahr gewesen wäre, die seinige zu verlieren. Freilich hatten die übrigen Zuschauer Mühe genug, sich zu enthalten, die Rolle des Apollo in ganzem Ernste zu machen; aber von unsern Helden hatte Danae nichts zu besorgen; und sie fand, daß Hippias nicht zuviel von ihm versprochen hatte. Diese materiellen Schönheiten, die er nicht einmal deutlich unterschied, weil sie in seinen Augen mit den geistigen in Eins zusammengeflossen waren, mochten den Grad der Lebhaftigkeit seiner Empfindungen noch so sehr erhöhen, so konnten sie doch die Natur derselben nicht verändern; niemals in seinem Leben waren sie reiner, Begierden-freier, unkörperlicher gewesen. Kurz, so widersinnisch es jenen aus gröberm Stoff gebildeten Erdensöhnen, welche in dem vollkommensten Weibe nur ein Weib sehen, scheinen mag, so gewiß war es, daß Danae mit einer Gestalt und in einem Aufzug, welcher (mit dem weisen Hippias zu reden) einen Geist hätte verkörpern mögen, diesen seltsamen Jüngling in einen so völligen Geist verwandelte, als man jemals diesseits und vielleicht auch jenseits des Mondes gesehen hat.
Was die Nacht durch in den Gemütern einiger von unsern Personen vorgegangen
Wir haben schon so viel von der gegenwärtigen Gemütsverfassung unsers Helden gesagt, daß man sich nicht verwundern wird, wenn wir hinzusetzen, daß er den übrigen Teil der Nacht in ununterbrochenem Anschauen dieser idealen Vollkommenheit zubrachte, die seine Einbildungskraft mit einer ihr gewöhnlichen Kunst, und ohne daß er den Betrug merkte, an die Stelle der schönen Danae geschoben hatte. Dieses Anschauen setzte sein Gemüt in eine so angenehme und ruhige Entzückung, daß er, gleich als ob nun alle seine Wünsche befriediget wären, nicht das geringste von der Unruhe, den Begierden, der innerlichen Gärung, der Abwechslung von Frost und Hitze fühlte, womit die Leidenschaft, mit der man ihn, nicht ohne Wahrscheinlichkeit, behaftet glauben konnte, sich ordentlicher Weise anzukündigen pflegt.
Was die Danae betrifft, welche die Ehre hatte, diese erhabene Entzückungen in ihm zu erwecken, so brachte sie den Rest der Nacht wo nicht mit eben so erhabenen doch in ihrer Art mit eben so angenehmen Betrachtungen zu. Agathon hatte ihr gefallen, sie war mit dem Eindruck, den sie auf ihn gemacht, zufrieden; und sie glaubte, nach den Beobachtungen, die ihr dieser Abend bereits an die Hand gegeben, daß sie sich selbst mit gutem Grunde zutrauen könne, ihn, durch die gehörigen Gradationen, zu einem zweiten und vielleicht standhaftern Alcibiades zu machen. Nichts war ihr hiebei angenehmer als die Bestätigung des Plans, den sie sich über die Art und Weise, wie man seinem Herzen am leichtesten beikommen könne, gemacht hatte. Es ist wahr, daß der Einfall, sich an die Stelle der Tänzerin zu setzen, ihr erst in dem Augenblick gekommen war, da sie ihn ausführte; allein sie würde ihn nicht ausgeführt haben, wenn sie nicht die gute Würkung davon mit einer Art von Gewißheit vorausgesehen hätte. Hätte sie in dem ersten Augenblick, da sie sich ihm darstellte, in ihren Gebärden, oder in ihrem Anzug das mindeste gehabt, das ihm anstößig hätte sein können, so würde es ihr schwer gewesen sein, den widrigen Eindruck dieses ersten Augenblicks jemals wieder gut zu machen. Agathon mußte in den Fall gesetzt werden, sich selbst zu hintergehen, ohne es gewahr zu werden; und wenn er für subalterne Reizungen empfindlich gemacht werden sollte, so mußte es durch Vermittlung der Einbildungskraft und auf eine solche Art geschehen, daß die geistigen und die materiellen Schönheiten sich in seinen Augen vermengten, und daß er in den letztern nichts als den Widerschein der ersten zu sehen glaubte. Danae wußte sehr wohl, daß die intelligible Schönheit keine Leidenschaft erweckt, und daß die Tugend selbst, wenn sie (wie Plato sagt) in sichtbarer Gestalt unaussprechliche Liebe einflößen würde, diese Würkung mehr der blendenden Weiße und dem reizenden Contour eines schönen Busens, als der Unschuld, die aus demselben hervorschimmerte, zuzuschreiben haben würde. Allein das wußte Agathon noch nicht; er mußte also betrogen werden, und, so wie sie es anging, konnte sie mit der größten Wahrscheinlichkeit hoffen, daß es ihr gelingen würde.
Der weise Hippias hatte zuviel Ursache, den Agathon bei dieser Gelegenheit zu beobachten, als daß ihm das geringste entgangen wäre, was ihn von dem glücklichen Fortgang seines Anschlags zu versichern schien. Allein er schmeichelte sich zuviel, wenn er hoffte, Callias werde, in dem ekstatischen Zustande, worin er zu sein schien, ihn zum Vertrauten seiner Empfindungen machen. Das Vorurteil, welches dieser wider ihn gefaßt hatte, verschloß ihm den Mund, so gern er auch dem Strome seiner Begeisterung den Lauf gelassen hätte. Eine Danae war in seinen Augen ein so vortrefflicher Gegenstand, und das was er für sie empfand, so rein, so weit über die brutale Denkungsart eines Hippias erhaben; daß er durch eine unzeitige Vertraulichkeit gegen diesen Ungeweihten beides zu entheiligen geglaubt hätte.
Eine kleine metaphysische Abschweifung
Es gibt so verschiedne Gattungen von Liebe, daß es, wie uns ein Kenner derselben versichert hat, nicht unmöglich wäre, drei oder vier Personen zu gleicher Zeit zu lieben, ohne daß sich eine derselben über Untreue zu beklagen hätte. Agathon hatte in einem Alter von siebzehn Jahren für die Priesterin zu Delphi etwas zu empfinden angefangen, das derjenigen Art von Liebe glich, die, nach dem Ausdruck des Fieldings, ein wohlzubereiteter Rostbeef einem Menschen einflößt, der guten Appetit hat. Diese Liebe hatte, ehe er selbst noch wußte, was daraus werden könnte, der Zärtlichkeit weichen müssen, welche ihm Psyche einflößte. Die Zuneigung, die er zu diesem liebenswürdigen Geschöpfe trug, war eine Liebe der Sympathie, eine Harmonie der Herzen, eine geheime Verwandtschaft der Seelen, die sich denen, so sie nicht aus Erfahrung kennen, unmöglich beschreiben läßt; eine Liebe an der das Herz und der Geist mehr Anteil nimmt als die Sinnen, und die vielleicht die einzige Art von Verbindung ist, welche, (wofern sie allgemein sein könnte) den Sterblichen einigen Begriff von den Verbindungen und Vergnügen himmlischer Geister zu geben fähig wäre. Wir sehen voraus, daß unsre meisten Leser bei dieser Stelle die Nase rümpfen, und zweifeln werden, ob wir uns selbst verstehen; allein wir lassen uns dieses gar nicht anfechten. Sancho, wenn er (wie es ihm zuweilen begegnete) eine Menge schöner Sachen vorgebracht hatte, wovon weder sein Herr noch irgend ein andrer, oder auch er selbst etwas verstehen konnte, pflegte sich damit zu trösten, daß er sagte: "Gott versteht mich"; und der Geschichtschreiber des Agathons kann es ganz wohl leiden, daß diese und ähnliche Stellen seines Werkes von allen andern Lesern für Galimathias gehalten werden, da er versichert ist, daß *** ihn versteht—Agathon könnte also von dieser gedoppelten Art von Liebe, wovon eine die Antipode der andern ist, aus Erfahrung sprechen; allein diejenige, worin jene beiden sich in einander mischen, die Liebe, welche die Sinnen, den Geist und das Herz zugleich bezaubert, die heftigste, die reizendste und gefährlichste aller Leidenschaften, war ihm mit allen ihren Symptomen und Würkungen noch unbekannt; und es ist also kein Wunder, daß sie sich schon seines ganzen Wesens bemeistert hatte, eh es ihm nur eingefallen war, ihr zu widerstehen. Es ist wahr, dasjenige was in seinem Gemüte vorging, nachdem er in zween oder drei Tagen die schöne Danae weder gesehen, noch etwas von ihr gehört hatte, hätte den Zustand seines Herzens einem unbefangnen Zuschauer verdächtig gemacht; aber er selbst war weit entfernt das geringste Mißtrauen in die Unschuld seiner Gesinnungen zu setzen. Was ist natürlicher, als das Verlangen, das vollkommenste und liebenswürdigste unter allen Wesen, nachdem man es einmal gesehen hat, immer zu sehen? Solche Schlüsse macht die Leidenschaft. Aber was sagte denn die Vernunft dazu? die Vernunft? O, die sagte gar nichts. übrigens müssen wir doch, es mag nun zur Entschuldigung unsers Helden dienen oder nicht, den Umstand nicht aus der Acht lassen, daß er von der schönen Danae nichts anders wußte, als was er gesehen hatte. Der Charakter, den ihr die Welt beilegte, war ihm gänzlich unbekannt; er hatte noch keinen Anlaß, und, die Wahrheit zu sagen, auch kein Verlangen gehabt, sich darnach zu erkundigen.
Worin die Absichten des Hippias einen merklichen Schritt machen
Inzwischen waren ungefähr acht Tage verflossen, welche dem stillschweigenden und melancholischen Agathon, zu großem Vergnügen des boshaften Sophisten, achthundert Jahre dauchten, als dieser an einem Morgen zu ihm kam, und mit einer gleichgültigen Art zu ihm sagte: "Danae hat einen Aufseher über ihre Gärten und Landgüter vonnöten; was sagst du zu dem Einfall, den ich habe, dich an diesen Platz zu setzen? Mich daucht, du würdest dich nicht übel zu einem solchen Amte schicken; hast du nicht Lust in ihre Dienste zu treten?" Ein Wort, welches Bestürzung und übermäßige Freude, Mißtrauen und Hoffnung, Erblassen und Glühen zu gleicher Zeit ausdrückte, würde uns wohl zustatten kommen, die Verwirrung auszudrücken, worein diese Anrede den guten Agathon setzte. Sie war zu groß, als daß er sogleich hätte antworten können. Allein die Augen des Hippias, in denen er einen Teil der Bosheit lase, die der Sophist zu verbergen sich bemühte, gaben ihm bald die Sprache wieder. "Wenn du Lust hast, dich auf diese Art von mir los zu machen", versetzte er mit so vieler Fassung als ihm möglich war, "so hab ich nur eine Bedenklichkeit -" "Und diese ist?" "—daß ich mich sehr schlecht auf die Landwirtschaft verstehe." "Das hat nichts zu bedeuten", antwortete der Sophist; "du wirst Leute unter dir haben, die sich desto besser darauf verstehen, und das ist genug. Im übrigen glaube ich, daß du mit Vergnügen in diesem Hause sein wirst. Du liebest das Landleben, und du wirst Gelegenheit haben alle seine Annehmlichkeiten zu schmecken. Wenn du es zufrieden bist, so geh ich, um diese Sache in Richtigkeit zu bringen." "Du hast dir das Recht erkauft, mit mir zu machen was du willt", erwiderte Agathon. "Die Wahrheit zu sagen", fuhr Hippias fort, "ungeachtet der kleinen Mißhelligkeiten unsrer Köpfe, verlier ich dich ungern: Allein Danae scheint es zu wünschen, und ich habe Verbindlichkeiten gegen sie; sie hat, ich weiß nicht woher, eine große Meinung von deiner Fähigkeit gefaßt, und da ich alle Tage Gelegenheit haben werde, dich in ihrem Hause zu sehen, so kann ich mirs um so eher gefallen lassen, dich an eine Freundin abzutreten, von der ich gewiß bin, daß dir so begegnet werden wird, wie du es verdienest." Agathon beharrte in dem Ton der Gleichgültigkeit, den er angenommen hatte, und Hippias, dem es Mühe genug kostete, die Spöttereien zurückzuhalten, die ihm alle Augenblicke auf die Lippen kamen, verließ ihn, ohne sich merken zu lassen, daß er wüßte, was er von dieser Gleichgültigkeit denken sollte. Das Betragen Agathons bei diesem Anlaß wird ihn vielleicht in den Verdacht setzen, daß er sich bewußt gewesen sei, daß es nicht richtig in seinem Herzen stehe, warum hätte er sonst nötig gehabt sich zu verbergen? Allein man muß sich der Vorurteile erinnern, die er wider den Sophisten gefaßt hatte, um zu sehen, daß er vollkommen in seinem Charakter blieb, indem er Empfindungen vor ihm zu verbergen suchte, die einem so unverbesserlichen Anti-Platon ganz unverständlich oder vollkommen lächerlich gewesen wären. Die Freude, welcher er sich überließ, so bald er sich allein sah, läßt uns keinen Zweifel übrig, daß er damals noch nicht das geringste Mißtrauen in sein Herz gesetzt habe. Diese Freude war über allen Ausdruck.
Liebhaber von einer gewissen Art können sich eine Vorstellung davon machen, welche der allerbesten Beschreibung wert ist; und den übrigen würde diese Beschreibung ohngefähr so viel helfen, als eine Seekarte einem Fußgänger. Die unvergleichliche Danae wieder zu sehen; nicht nur wieder zu sehen, in ihrem Hause zu sein, unter ihren Augen zu leben, ihres Umgangs zu genießen, vielleicht—ihrer Freundschaft gewürdiget zu werden—hier hielt seine entzückte Einbildungskraft stille. Die Hoffnungen eines gewöhnlichen Liebhabers würden weiter gegangen sein; allein Agathon war kein gewöhnlicher Liebhaber. "Ich liebe die schöne Danae", sagte Hyacinthus, da er nach ihrem Genuß lüstern war; "eben darum liebt ihr sie nicht", würde ihm die Sokratische Diotima geantwortet haben. Derjenige, der in dem Augenblick, da ihm seine Geliebte den ersten Kuß auf ihre Hand gestattet, einen Wunsch nach einer größern Glückseligkeit hat, muß nicht sagen, daß er liebe.
Veränderung der Szene
Danae hatte von der Freigebigkeit des Prinzen Cyrus, außer dem Hause, welches sie zu Smyrna bewohnte, ein Landgut, in der anmutigsten Gegend außerhalb dieser Stadt, wo sie von Zeit zu Zeit einige dem Vergnügen geweihte Tage zuzubringen pflegte. Hieher mußte sich Agathon begeben, um von seinem neuen Amte Besitz zu nehmen, und dasjenige zu veranstalten, was zum Empfang seiner Gebieterin nötig war, welche sich vorgenommen hatte, den Rest der schönen Jahrszeit auf dem Lande zu genießen. Wir widerstehen der Versuchung, eine Beschreibung von diesem Landgut zu machen, um dem Leser das Vergnügen zu lassen, sich dasselbe so wohlangelegt, so prächtig und so angenehm vorzustellen als er selbst es will. Alles, was wir davon sagen wollen, ist, daß diejenigen, deren Einbildungskraft einiger Unterstützung nötig hat, den sechszehnten Gesang des "befreiten Jerusalems" lesen müßten, um sich eine Vorstellung von dem Orte zu machen, den sich diese griechische Armide zum Schauplatz der Siege auswählte, die sie über unsern Helden zu erhalten hoffte. Sie fand nicht für gut, oder konnte es nicht über sich selbst erhalten, ihn lange auf ihre Ankunft warten zu lassen; und sie war kaum angelangt, als sie ihn zu sich rufen ließ, und ihn durch folgende Anrede in eine angenehme Bestürzung setzte: "Die Bekanntschaft, die wir vor einigen Tagen mit einander gemacht haben, wäre, auch ohne die Nachrichten, die mir Hippias von dir gegeben, schon genug gewesen, mich zu überzeugen, daß du für den Stand nicht geboren bist, in den dich ein widriger Zufall gesetzt hat. Die Gerechtigkeit, die ich Personen von Verdiensten widerfahren zu lassen fähig bin, gab mir das Verlangen ein, dich aus einer Abhänglichkeit von dem Hippias zu setzen, welche die Verschiedenheit deiner Denkungsart von der seinigen, dir in die Länge beschwerlich gemacht hätte. Er hatte die Gefälligkeit, dich mir als eine Person vorzuschlagen, die sich schickte, die Stelle eines Aufsehers in meinem Hause zu vertreten. Ich nahm sein Erbieten an, um das Vergnügen zu haben, den Gebrauch davon zu machen, den ich deinen Verdiensten und meiner Denkungsart schuldig bin. Du bist frei, Callias, und vollkommen Meister zu tun was du für gut befindest. Kann die Freundschaft, die ich dir anbiete, dich bewegen bei mir zu bleiben, so wird der Name eines Amtes, von dessen Pflichten ich dich völlig freispreche, wenigstens dazu dienen, der Welt eine begreifliche Ursache zu geben, warum du in meinem Hause bist; wo nicht, so soll das Vergnügen, womit ich zu Beförderung der Entwürfe, die du wegen deines künftigen Lebens machen kannst, die Hand bieten werde, dich von der Lauterkeit der Bewegungsgründe überzeugen, welche mich so gegen dich zu handeln angetrieben haben." Die edle und ungezwungene Anmut, womit dieses gesprochen wurde, vollendete die Würkung, die eine so großmütige Erklärung auf den Empfindungs-vollen Agathon machen mußte, "was für eine Art zu denken! was für eine Seele!" Konnt' er weniger tun, als sich zu ihren Füßen werfen, um in Ausdrücken, deren Verwirrung ihre ganze Beredsamkeit ausmachte, der Bewundrung und der Dankbarkeit Luft zu machen, deren übermaß seine Brust zersprengen zu wollen schien. "Keine Danksagungen, Callias", unterbrach ihn die großmütige Danae, "was ich getan habe, ist nicht mehr als ich einem jeden andern, der deine Verdienste hätte, eben sowohl schuldig zu sein glaubte -" "Ich habe keine Ausdrücke für das was ich empfinde, anbetungswürdige Danae", rief der entzückte Agathon, "ich nehme dein Geschenk an, um das Vergnügen zu genießen, dein freiwilliger Sklave zu sein; eine Ehre, gegen die ich die Krone des Königs von Persien verschmähen würde. Ja, schönste Danae, seitdem ich dich gesehen habe, kenne ich kein größeres Glück als dich zu sehen; und wenn alles, was ich in deinem Dienste tun kann, fähig sein kann, dich von der unaussprechlichen Empfindung, die ich von deinem Werte habe, zu überzeugen; würdig sein kann, mit einem zufriednen Blick von dir belohnt zu werden—o Danae! wer wird denn so glücklich sein als ich?" "Laßt uns", sagte die bescheidne Nymphe, "ein Gespräch enden, das die allzugroße Dankbarkeit deines Herzens auf einen zu hohen Ton gestimmt hat. Ich habe dir gesagt, auf was für einem Fuß du hier sein wirst. Ich sehe dich als einen Freund meines Hauses an, dessen Gegenwart mir Vergnügen macht, dessen Wert ich hoch schätze, und dessen Dienste mir in meinen Angelegenheiten desto nützlicher sein können, da sie freiwillig und die Frucht einer uneigennützigen Freundschaft sein werden." Mit diesen Worten verließ sie den dankbaren Agathon, in dessen Erklärung einige vielleicht Schwulst und Unsinn, oder wenigstens zuviel Feuer und Entzückung gefunden haben werden. Allein sie werden sich zu erinnern belieben, daß Agathon weder in einer so gelassenen Gemütsverfassung war, wie sie; noch alles wußte, was sie durch unsere Indiskretion von der schönen Danae erfahren haben. Wir wissen freilich was wir ungefähr von ihr denken sollen; allein in seinen Augen war sie eine Göttin; und zu ihren Füßen liegend konnte er, zumal bei der Verbindlichkeit, die er ihr hatte, natürlicher Weise, diese Danae nicht mit einer so philosophischen Gleichgültigkeit ansehen, wie wir andern.
Agathon war nun also ein Hausgenosse der schönen Danae, und entfaltete mit jedem Tage neue Verdienste, die ihm dieses Glück würdig zeigten, und die seine geringe Achtung für den Hippias ihn verhindert hatte, in dessen Hause sehen zu lassen. Da nebst den besondern Ergötzungen des Landlebens diese feinere Art von Belustigungen, an denen der Witz und die Musen den meisten Anteil haben, die hauptsächlichste Beschäftigung war, wozu man die Zeit in diesem angenehmen Aufenthalt anwendete; so hatte er Gelegenheit genug, seine Talente von dieser Seite schimmern zu lassen; und seine bezauberte Phantasie gab ihm so viele Erfindungen an die Hand, daß er keine andre Mühe hatte, als diejenigen auszuwählen, die er am geschicktesten glaubte, seine Gebieterin und die kleine Gesellschaft von vertrauten Freunden, die sich bei ihr einfanden, zu ergötzen. So weit war es schon mit demjenigen gekommen, der vor wenigen Wochen es für eine geringschätzige Bestimmung hielt, in der Person eines unschuldigen Anagnosten die jonischen Ohren zu bezaubern.
In der Tat können wir länger nicht verbergen, daß diese unbeschreibliche Empfindung (wie er dasjenige nannte was ihm die schöne Danae eingeflößt hatte) dieses ich weiß nicht was, welches wir, so wenig er es auch gestanden hätte, ganz ungescheut Liebe nennen wollen, in dem Lauf von wenigen Tagen so sehr zugenommen hatte, daß einem jeden andern als einem Agathon die Augen über den wahren Zustand seines Herzens aufgegangen wären. Wir wissen wohl, daß die Umständlichkeit unsrer Erzählung bei diesem Teile seiner Geschichte, den Ernsthaftern unter unsern Lesern, wenn wir anders dergleichen haben werden, sehr langweilig vorkommen wird. Allein die Achtung, die wir ihnen schuldig sind, kann uns nicht verhindern, uns die Vorstellung zu machen, daß diese Geschichte vielleicht künftig, und wenn es auch nur aus einem Gewürzladen wäre, einem jungen noch nicht ganz ausgebrüteten Agathon in die Hände fallen könnte, der aus einer genauern Beschreibung der Veränderungen, welche die Göttin Danae nach und nach in dem Herzen und der Denkungsart unsers Helden hervorgebracht, sich gewisse Beobachtungen und Kautelen ziehen könnte, von denen er vielleicht einen guten Gebrauch zu machen Gelegenheit bekommen möchte. Wir glauben also, wenn wir diesem zukünftigen Agathon zu Gefallen uns die Mühe nehmen, der Leidenschaft unsers Helden von der Quelle an in ihrem wiewohl noch geheimen Lauf nachzugehen, desto eher entschuldiget zu sein, da es allen übrigen, die mit diesen Anekdoten nichts zu machen wissen, frei steht, das folgende Kapitel zu überschlagen.
Natürliche Geschichte der Platonischen Liebe
"Die Quelle der Liebe", sagt Zoroaster, oder hätte es doch sagen können, "ist das Anschauen eines Gegenstandes, der unsre Einbildungskraft bezaubert." Der Wunsch diesen Gegenstand immer anzuschauen, ist der erste Grad derselben. Je bezaubernder dieses Anschauen ist, und je mehr die an dieses Bild der Vollkommenheit angeheftete Seele daran zu entdecken und zu bewundern findet, desto länger bleibt sie in den Grenzen dieses ersten Grades der Liebe stehen. Dasjenige was sie hiebei erfährt, kommt anfangs demjenigen außerordentlichen Zustande ganz nahe, den man Verzückung nennt; alle andere Sinnen, alle wirksamen Kräfte der Seele scheinen stille zu stehen, und in einen einzigen Blick, worin man keiner Zeitfolge gewahr wird, verschlungen zu sein. Dieser Zustand ist zu gewaltsam, als daß er lange dauern könnte; langsamer oder schneller macht er der Empfindung eines unaussprechlichen Vergnügens Platz, welches die natürliche Folge jenes ekstatischen Anschauens ist, und wovon, wie einige Adepten uns versichert haben, keine andre Art von Vergnügen oder Wollust uns einen bessern Begriff geben kann, als der unreine und düstre Schein einer Pechfackel von der Klarheit des unkörperlichen Lichts, worin, nach der Meinung der Morgenländischen Weisen, die Geister als in ihrem Elemente leben. Dieses innerliche Vergnügen äußert sich bald durch die Veränderungen, die es in dem mechanischen Teil unsers Wesens hervorbringt; es wallt mit hüpfender Munterkeit in unsern Adern, es schimmert aus unsern Augen, es gießt eine lächelnde Heiterkeit über unser Gesicht, und gibt allen unsern Bewegungen eine neue Lebhaftigkeit und Anmut: es stimmt und erhöhet alle Kräfte unsrer Seele, belebt das Spiel der Phantasie und des Witzes, und kleidet, so zu sagen, alle unsre Ideen in den Schimmer und die Farbe der Liebe. Ein Liebhaber ist in diesem Augenblick mehr als ein gewöhnlicher Mensch; er ist (wie Plato sagt) von einer Gottheit voll, die aus ihm redet und würket; und es ist keine Vollkommenheit, keine Tugend, keine Heldentat so groß, wozu er in diesem Stande der Begeistrung und unter den Augen des geliebten Gegenstands nicht fähig wäre. Dieser Zustand dauert noch fort, wenn er gleich von demselben entfernt wird, und das Bild desselben, das seine ganze Seele auszufüllen scheint, ist so lebhaft, daß es einige Zeit braucht, bis er der Abwesenheit des Urbildes gewahr wird. Aber kaum empfindet die Seele diese Abwesenheit, so verschwindet jenes Vergnügen mit seinem ganzen bezauberten Gefolge; man erfährt in immer zunehmenden Graden das Gegenteil von allen Würkungen jener Begeisterung, wovon wir geredet haben; und derjenige der vor kurzem mehr als ein Mensch schien, scheint nun nichts als der Schatten von sich selbst, ohne Leben, ohne Geist, zu nichts geschickt als in einöden Wildnissen wie ein Gespenst umherzuirren, den Namen seiner Göttin in Felsen einzugraben, und den tauben Bäumen seine Schmerzen vorzuseufzen; ein kläglicher Zustand, in Wahrheit, wenn nicht ein einziger Blick des Gegenstands, von dem diese seltsame Bezauberung herrührt, hinlänglich wäre, in einem Wink diesem Schatten wieder einen Leib, dem Leib eine Seele, und der Seele diese Begeisterung wieder zu geben, durch welche sie ohne Beobachtung einiger Gradation von der Verzweiflung zu unermeßlicher Wonne übergeht. Wenn Agathon dieses alles nicht völlig in so hohem Grad erfuhr, als andre von seiner Art, so muß dieses vermutlich allein dem Einfluß beigemessen werden, den seine werte Psyche noch in dasjenige hatte, was in seinem Herzen vorging. Allein wir müssen gestehen, dieser Einfluß wurde immer schwächer; die lebhaften Farben, womit ihr Bild seiner Phantasie ehemals vorgeschwebt hatte, wurden immer matter; und anstatt daß ihn sonst sein Herz an sie erinnert hatte, mußte es itzt von ohngefähr und durch einen Zufall geschehen. Endlich verschwand dieses Bild gänzlich; Psyche hörte auf für ihn zu existieren, ja kaum erinnerte er sich alles dessen, was vor seiner Bekanntschaft mit der schönen Danae vorgegangen war anders, als ein erwachsener Mensch sich seiner ersten Kindheit erinnert. Es ist also leicht zu begreifen, daß seine ganze vormalige Art zu empfinden und zu sein, einige Veränderung erlitt, und gleichsam die Farbe und den Ton des Gegenstands bekam, der mit einer so unumschränkten Macht auf ihn würkte. Sein ernsthaftes Wesen machte nach und nach einer gewissen Munterkeit Platz, die ihm vieles, das er ehmals mißbilligst hatte, in einem günstigern Lichte zeigte; seine Sittenlehre wurde unvermerkt freier und gefälliger, und seine ehmaligen guten Freunde, die ätherischen Geister, wenn sie ja noch einigen Zutritt bei ihm hatten, mußten sich gefallen lassen, die Gestalt der schönen Danae anzunehmen, um vorgelassen zu werden. Vor Begierde der Beherrscherin seines Herzens zu gefallen, vergaß er, sich um den Beifall unsichtbarer Zuschauer seines Lebens zu bekümmern; und der Zustand der entkörperten Seelen deuchte ihn nicht mehr so beneidenswürdig, seitdem er im Anschauen dieser irdischen Göttin ein Vergnügen genoß, welches alle seine Einbildungen überstieg. Der Wunsch immer bei ihr zu sein, war nun erfüllt, dem zweiten, der auf diesen gefolget sein würde, dem Verlangen ihre Freundschaft zu besitzen war sie selbst gleich anfangs großmütiger Weise zuvorgekommen, und die verbindliche und vertraute Art, wie sie etliche Tage lang mit ihm umging, ließ ihm von dieser Seite nichts zu wünschen übrig. Er hatte ihre Freundschaft, nun wünschte er auch ihre Zärtlichkeit zu haben—Ihre Zärtlichkeit!—Ja, aber eine Zärtlichkeit, wie nur die Einbildungskraft eines Agathons fähig ist, sich vorzustellen. Kurz, da er anfing zu merken, daß er sie liebe, so wünschte er wieder geliebt zu werden. Allein er liebte sie mit einer so uneigennützigen, so geistigen, so begierdenfreien Liebe, als ob sie eine Sylphide gewesen wäre; und der kühnste Wunsch, den er zu wagen fähig war, war nur, in derjenigen sympathetischen Verbindung der Seelen mit ihr zu stehen, wovon ihm Psyche die Erfahrung gegeben hatte. "Wie angenehm" (dacht er) "wie entzückungsvoll, wie sehr über alles, was die Sprache der Sterblichen ausdrücken kann, mußte eine solche Sympathie mit einer Danae sein, da sie mit Psyche schon so angenehm gewesen war!" Zum Unglück für unsern Platoniker war dieses ein Plan, wozu Danae, welche dieses mal keine Sylphide spielen wollte, sich nicht so gut anließ, als er es gewünscht hatte. Sie fuhr immer fort sich in den Grenzen der Freundschaft zu halten, und, die Wahrheit zu sagen, sie war entweder nicht geistig genug, sich von dieser intellektualischen Liebe, von der er ihr so viel schönes vorsagte, einen rechten Begriff zu machen; oder sie fand es lächerlich, in ihrem Alter und mit ihrer Figur eine Rolle zu spielen, die, nach ihrer Denkungsart, sich nur für eine Person schickte, die im Bade keine Besuche mehr annimmt; wenn sie gleich allzu bescheiden war, ihm dieses mit Worten zu sagen, so fand sie doch Mittel genug, ihm ihre Gedanken über diesen Punkt auf eine vielleicht eben so nachdrückliche Art zu erkennen zu geben. Gewisse kleine Nachlässigkeiten in ihrem Putz, ein verräterischer Zephir, oder ihr Sperling, der indem sie neben Agathon auf einer Ruhebank saß, mit mutwilligem Schnabel an dem Gewand zerrte, das zu ihren Füßen herabfloß, schienen seiner ätherischen Liebe zu spotten, und ihm Aufmunterungen zu geben, die ein minder bezauberter Liebhaber nicht nötig gehabt hätte. Danae hatte Ursache mit der Würkung dieser kleinen Kunstgriffe zufrieden zu sein. Agathon, welcher sich angewöhnt hatte, den Leib und die Seele als zwei verschiedene Wesen zu betrachten, und in dessen Augen Danae eine geraume Zeit nichts anders, als (nach dem Ausdruck des Guidi) eine himmlische Schönheit in einem irdischen Schleier gewesen war, vermengte diese beiden Wesen je länger je mehr in seiner Phantasie mit einander, und er konnte es desto leichter, da in der Tat alle körperlichen Schönheiten seiner Göttin so beseelt waren, und alle Schönheiten ihrer Seele so lebhaft aus diesem reizenden Schleier hervorschimmerten, daß es beinahe unmöglich war, sich eine ohne die andre vorzustellen. Dieser Umstand brachte zwar keine wesentliche Veränderung in seiner Art zu lieben hervor; doch ist gewiß, daß er nicht wenig dazu beitrug, ihn unvermerkt in eine Verfassung zu setzen, welche die Absichten der schlauen Danae mehr zu begünstigen als abzuschrecken schien. "O du, für den wir aus großmütiger Freundschaft uns die Mühe gegeben haben, dieses dir allein gewidmete Kapitel zu schreiben, halte hier ein und frage dein Herz. Wenn du eine Danae gefunden hast (armer Jüngling! welche Molly Seagrim kann es nicht in deinen bezauberten Augen sein?) und du verstehest den Schluß dieses Kapitels, so kömmt unsre Warnung schon zu spät, und du bist verloren, fliehe, von dem Augenblick an, da du sie gesehen; fliehe, und ersticke den Wunsch sie wieder zu sehen! Wenn du das nicht kannst; wenn du, nachdem du diese Warnung gelesen, nicht willst: so bist du kein Agathon mehr, so bist du was wir andern alle sind; tue was du willst, es ist nichts mehr an dir zu verderben."
Worin der Geschichtschreiber sich einiger Indiskretion schuldig macht
Die schöne Danae war sehr weit entfernt, gleichgültig gegen die Vorzüge des Callias zu sein, und es kostete ihr würklich, so gesetzt sie auch war, einige Mühe, ihm zu verbergen, wie sehr sie von seiner Liebe gerührt war, und wie gern sie sich dieselbe zu Nutz gemacht hätte. Allein aus einem Agathon einen Alcibiades zu machen, das konnte nicht das Werk von etlichen Tagen sein, und um so viel weniger, da er durch unmerkliche Schritte, und ohne, daß sie selbst etwas dabei zu tun schien, zu einer so großen Veränderung gebracht werden mußte, wenn sie anders dauerhaft sein sollte. Die große Kunst war, unter der Masque der Freundschaft seine Begierden zu eben der Zeit zu reizen, da sie selbige durch eine unaffektierte Zurückhaltung abzuschrecken schien. Allein auch dieses war nicht genug; er mußte vorher die Macht zu widerstehen verlieren; wenn der Augenblick einmal gekommen sein würde, da sie die ganze Gewalt ihrer Reizungen an ihm zu prüfen entschlossen war. Eine zärtliche Weichlichkeit mußte sich vorher seiner ganzen Seele bemeistern, und seine in Vergnügen schwimmende Sinnen mußten von einer süßen Unruhe und wollüstigen Sehnsucht eingenommen werden, ehe sie es wagen wollte, einen Versuch zu machen, der, wenn er zu früh gemacht worden wäre, gar leicht ihren ganzen Plan hätte vereiteln können. Zum Unglück für unsern Helden ersparte ihr seine magische Einbildungskraft die Hälfte der Mühe, welche sie aus einem übermaß von Freundschaft anwenden wollte, ihm die Verwandlung, die mit ihm vorgehen sollte, zu verbergen. Ein Lächeln seiner Göttin war genug, ihn in Vergnügen zu zerschmelzen; ihre Blicke schienen ihm einen überirdischen Glanz über alles auszugießen, und ihr Atem der ganzen Natur den Geist der Liebe einzuhauchen: Was mußte denn aus ihm werden, da sie zu Vollendung ihres Sieges alles anwendete, was auch den unempfindlichsten unter allen Menschen zu ihren Füßen hätte legen können? Agathon wußte noch nicht, daß sie die Laute spielte, und in der Musik eine eben so große Virtuosin als in der Tanzkunst war. Die Feste und Lustbarkeiten, in deren Erfindung er unerschöpflich war, um ihr den ländlichen Aufenthalt angenehmer zu machen, gaben ihr Anlaß, ihn durch Entdeckung dieser neuen Reizungen in Erstaunung zu setzen. "Es ist billig", sagte sie zu ihm, "daß ich deine Bemühungen, mir Vergnügen zu machen, durch eine Erfindung von meiner Art erwidre. Diesen Abend will ich dir den Wettstreit der Sirenen und der Musen geben, ein Stück des berühmten Damons, das ich noch aus Aspasiens Zeiten übrig habe, und das von den Kennern für das Meisterstück der Tonkunst erklärt wurde. Die Anstalten sind schon dazu gemacht, und du allein sollst der Zuhörer und Richter dieses Wettgesangs sein." Niemals hatte den Agathon eine Zeit länger gedaucht, als die wenigen Stunden, die er in Erwartung dieses versprochenen Vergnügens zubrachte. Danae hatte ihn verlassen, um durch ein erfrischendes Bad ihrer Schönheit einen neuen Glanz zu geben, indessen daß er die verschwindenden Strahlen der untergehenden Sonne einen nach dem andern zu zählen schien. Endlich kam die angesetzte Stunde. Der schönste Tag hatte der anmutigsten Nacht Platz gemacht, und eine süße Dämmerung hatte schon die ganze schlummernde Natur eingeschleiert; als plötzlich ein neuer zauberischer Tag, den eine unendliche Menge künstlich versteckter Lampen verursachte, den reizenden Schauplatz sichtbar machte, welchen die Fee dieses Orts zu diesem Lustspiel hatte zubereiten lassen. Eine mit Lorbeerbäumen beschattete Anhöhe erhob sich aus einem spiegelhellen See, der mit Marmor gepflastert, und ringsum mit Myrten und Rosenhecken eingefaßt war. Kleine Quellen schlängelten den Lorbeerhain herab, und rieselten mit sanftem Murmeln oder lächelndem Klatschen in den See, an dessen Ufer hier und da kleine Grotten, mit Korallenmuscheln und andern Seegewächsen ausgeschmückt hervorragten, und die Wohnung der Nymphen dieses Wassers zu sein schienen. Ein kleiner Nachen in Gestalt einer Perlenmuschel, der von einem marmornen Triton emporgehalten wurde, stund der Anhöhe gegen über am Ufer, und war der Sitz, auf welchem Agathon als Richter den Wettgesang hören sollte.
Magische Kraft der Musik
Agathon hatte seinen Platz kaum eingenommen, als man in dem Wasser ein wühlendes Plätschern, und aus der Ferne, wie es ließ, eine sanft zerflossene Harmonie hörte, ohne jemand zu sehen, von dem sie herkäme. Unser Liebhaber, den dieser Anfang in ein stilles Entzücken setzte, wurde, ungeachtet er zu diesem Spiele vorbereitet war, zu glauben versucht, daß er die Harmonie der Sphären höre, von deren Würklichkeit ihn die Pythagorischen Weisen beredet hatten; allein, während daß sie immer näher kam und deutlicher wurde, sah er zu gleicher Zeit die Musen aus dem kleinen Lorbeerwäldchen und die Sirenen aus ihren Grotten hervorkommen. Danae hatte die jüngsten und schönsten aus ihren Aufwärterinnen ausgelesen, diese Meernymphen vorzustellen, die, nur von einem wallenden Streif von himmelblauem Byssus umflattert, mit Cithern und Flöten in der Hand sich über die Wellen erhuben, und mit jugendlichem Stolz untadeliche Schönheiten vor den Augen ihrer eifersüchtigen Gespielen entdeckten. Allein kleine Tritonen, bliesen, um sie her schwimmend, aus krummen Hörnern, und neckten sie durch mutwillige Spiele; indes daß Danae mitten unter den Musen, an den Rand der kleinen Halbinsel herabstieg, und, wie Venus unter den Grazien, oder Diana unter ihren Nymphen hervorglänzend, dem Auge keine Freiheit ließ, auf einem andern Gegenstande zu verweilen. Ein langes schneeweißes Gewand floß, unter dem halbentblößten Busen mit einem goldnen Gürtel umfaßt, in kleinen wallenden Falten zu ihren Füßen herab; ein Kranz von Rosen wand sich um ihre Locken, wovon ein Teil in kunstloser Anmut um ihren Nacken schwebte; ihr rechter Arm, auf dessen Weiße die Homerische Juno eifersüchtig hätte sein dürfen, umfaßte eine Laute von Elfenbein. Die übrigen Musen, mit verschiednen Saiteninstrumenten versehen, lagerten sich zu ihren Füßen; sie allein blieb in einer unnachahmlich reizenden Stellung stehen, und hörte lächelnd der Aufforderung zu, welche die übermütigen Syrenen ihr entgegensangen. Man muß ohne Zweifel gestehen, daß das Gemälde, welches sich in diesem Augenblick unserm Helden darstellte, nicht sehr geschickt war, weder sein Herz noch seine Sinnen in Ruhe zu lassen; allein die Absicht der Danae war nur, ihn durch die Augen zu den Vergnügungen eines andern Sinnes vorzubereiten, und ihr Stolz verlangte keinen geringern Triumph, als ein so reizendes Gemälde durch die Zaubergewalt ihrer Stimme und ihrer Saiten in seiner Seele auszulöschen. Sie schmeichelte sich nicht zu viel. Die Sirenen hörten auf zu singen, und die Musen antworteten ihrer Ausforderung durch eine Symphonie, welche auszudrucken schien, wie gewiß sie sich des Sieges hielten. Nach und nach verlor sich die Munterkeit, die in dieser Symphonie herrschte; ein feierlicher Ernst nahm ihren Platz ein, das Getön wurde immer einförmiger, bis es nach und nach in ein dunkles gedämpftes Murmeln und zuletzt in eine gänzliche Stille erstarb. Ein allgemeines Erwarten schien dem Erfolg dieser vorbereitenden Stille entgegen zu horchen, als es auf einmal durch eine liebliche Harmonie unterbrochen wurde, welche die geflügelten und seelenvollen Finger der schönen Danae aus ihrer Laute lockten. Eine Stimme, welche fähig schien, die Seelen ihren Leibern zu entführen, und Tote wieder zu beseelen (wenn wir einen Ausdruck des Liebhabers der schönen Laura entlehnen dürfen) eine so bezaubernde Stimme beseelte diese reizende Anrede. Der Inhalt des Wettgesangs war über den Vorzug der Liebe, die sich auf die Empfindung, oder derjenigen, die sich auf die bloße Begierde gründet. Nichts könnte rührender sein, als das Gemälde, welches Danae von der ersten Art der Liebe machte; "in solchen Tönen", dacht Agathon, "ganz gewiß in keinen andern, drücken die Unsterblichen einander aus, was sie empfinden; nur eine solche Sprache ist der Götter würdig." Die ganze Zeit da dieser Gesang dauerte, deuchte ihn ein Augenblick, und er wurde ganz unwillig, als Danae auf einmal aufhörte, und eine der Sirenen, von den Flöten ihrer Schwestern begleitet, kühn genug war, es mit seiner Göttin aufzunehmen. Allein er wurde bald gezwungen anders Sinnes zu werden, als er sie hörte; alle seine Vorurteile für die Muse konnten ihn nicht verhindern, sich selbst zu gestehen, daß eine fast unwiderstehliche Verführung in ihren Tönen atmete. Ihre Stimme, die an Weichheit und Biegsamkeit nicht übertroffen werden konnte, schien alle Grade der Entzückungen auszudrücken, deren die sinnliche Liebe fähig ist; und das weiche Getön der Flöten erhöhte die Lebhaftigkeit dieses Ausdrucks auf einen Grad, der kaum einen Unterschied zwischen der Nachahmung und der Wahrheit übrig ließ. "Wenn die Sirenen, bei denen der kluge Ulysses vorbeifahren mußte, so gesungen haben", (dachte Agathon) "so hatte er wohl Ursache, sich an Händen und Füßen an den Mastbaum binden zu lassen." Kaum hatten die Sirenen diesen Gesang geendiget, so erhub sich ein frohlockendes Klatschen aus dem Wasser, und die kleinen Tritonen stießen in ihre Hörner, den Sieg anzudeuten, den sie über die Musen erhalten zu haben glaubten. Allein diese hatten den Mut nicht verloren: Sie ermunterten sich bald wieder, und fingen eine Symphonie an, wovon der Anfang eine spottende Nachahmung des Gesanges der Sirenen zu sein schien. Nach einer Weile wechselten sie die Tonart und den Rhythmus durch ein Andante, welches in wenigen Takten nicht die mindeste Spur von den Eindrücken übrig ließ, die der Syrenen Gesang auf das Gemüte der Hörenden gemacht haben konnte. Eine süße Schwermut bemächtigte sich Agathons; er sank in ein angenehmes Staunen, unfreiwillige Seufzer entflohen seiner Brust, und wollüstige Tränen rollten über seine Wangen herab. Mitten aus dieser rührenden Harmonie erhob sich der Gesang der schönen Danae, welche durch die eifersüchtigen Bestrebungen ihrer Nebenbuhlerin aufgefordert war, die ganze Vollkommenheit ihrer Stimme, und alle Zauberkräfte der Kunst anzuwenden, um den Sieg gänzlich auf die Seite der Musen zu entscheiden. Ihr Gesang schilderte die rührenden Schmerzen einer wahren Liebe, die in ihrem Schmerzen selbst ein melancholisches Vergnügen findet; ihre standhafte Treue und die Belohnung, die sie zuletzt von der zärtlichsten Gegenliebe erhält. Die Art wie sie dieses ausführte, oder vielmehr die Eindrücke, die sie dadurch auf ihren Liebhaber machte, übertrafen alles was man sich davon vorstellen kann. Sein ganzes Wesen war Ohr, und seine ganze Seele zerfloß in die Empfindungen, die in ihrem Gesange herrscheten. Er war nicht so weit entfernt, daß Danae nicht bemerkt hätte, wie sehr er außer sich selbst war, und wie viel Mühe er hatte, um sich zu halten, aus seinem Sitz sich in das Wasser herabzustürzen, zu ihr hinüber zu schwimmen, und seine in Entzückung und Liebe zerschmolzene Seele zu ihren Füßen auszuhauchen. Sie wurde durch diesen Anblick selbst so gerührt, daß sie genötiget war, die Augen von ihm abzuwenden, um ihren Gesang vollenden zu können: Allein sie beschloß bei sich selbst, die Belohnung nicht länger aufzuschieben, welche sie einer so vollkommenen Liebe schuldig zu sein glaubte. Endlich endigte sich ihr Lied; die begleitende Symphonie hörte auf; die beschämten Sirenen flohen in ihre Grotten; die Musen verschwanden; und der staunende Agathon blieb in trauriger Entzückung allein.
Eine Abschweifung, wodurch der Leser zum Folgenden vorbereitet wird
Wir können die Verlegenheit nicht verbergen, in welche wir uns durch die Umstände gesetzt finden, worin wir unsern Helden zu Ende des vorigen Kapitels verlassen haben. Sie drohen dem erhabnen Charakter, den er bisher mit einer so rühmlichen Standhaftigkeit behauptet, und wodurch er sich zweifelsohne in eine nicht gemeine Hochachtung bei unsern Lesern gesetzt hat, einen Abfall, der denenjenigen, welche von einem Helden eine vollkommene Tugend fordern, eben so anstößig sein wird, als ob sie, nach allem was bereits mit ihm vorgegangen, natürlicher Weise etwas bessers hätten erwarten können.
Wie groß ist in diesem Stücke der Vorteil eines Romanendichters vor demjenigen, welcher sich anheischig gemacht hat, ohne Vorurteil oder Parteilichkeit, mit Verleugnung des Ruhms, den er vielleicht durch Verschönerung seiner Charakter, und durch Erhebung des Natürlichen ins Wunderbare sich hätte erwerben können, der Natur und Wahrheit in gewissenhafter Aufrichtigkeit durchaus getreu zu bleiben! Wenn jener die ganze grenzenlose Welt des Möglichen zu freiem Gebrauch vor sich ausgebreitet sieht; wenn seine Dichtungen durch den mächtigen Reiz des Erhabnen und Erstaunlichen schon sicher genug sind, unsre Einbildungskraft und unsre Eitelkeit auf seine Seite zu bringen; wenn schon der kleinste Schein von übereinstimmung mit der Natur hinlänglich ist, die Freunde des Wunderbaren, welche immer die größeste Zahl ausmachen, von ihrer Möglichkeit zu überzeugen; ja, wenn er volle Freiheit hat, die Natur selbst umzuschaffen, und, als ein andrer Prometheus, den geschmeidigen Ton, aus welchem er seine Halbgötter und Halbgöttinnen bildet, zu gestalten wie es ihm beliebt, oder wie es die Absicht, die er auf uns haben mag, erheischet: So sieht sich hingegen der arme Geschichtschreiber genötiget, auf einem engen Pfade, Schritt vor Schritt in die Fußstapfen der vor ihm hergehenden Wahrheit einzutreten, jeden Gegenstand so groß oder so klein, so schön oder so häßlich, wie er ihn würklich findet, abzumalen; die Würkungen so anzugeben, wie sie vermöge der unveränderlichen Gesetze der Natur aus ihren Ursachen herfließen; und wenn er seiner Pflicht ein völliges Genügen getan hat, sich gefallen zu lassen, daß man seinen Helden am Ende um wenig oder nichts schätzbarer findet, als der schlechteste unter seinen Lesern sich ohngefähr selbst zu schätzen pflegt.
Vielleicht ist kein unfehlbarers Mittel mit dem wenigsten Aufwand von Genie, Wissenschaft und Erfahrenheit ein gepriesener Schriftsteller zu werden, als wenn man sich damit abgibt, Menschen (denn Menschen sollen es doch sein) ohne Leidenschaften, ohne Schwachheit, ohne allen Mangel und Gebrechen, durch etliche Bände voll wunderreicher Abenteure, in der einförmigsten Gleichheit mit sich selbst, herumzuführen. Eh ihr es euch verseht, ist ein Buch fertig, das durch den erbaulichen Ton einer strengen Sittenlehre, durch blendende Sentenzen, durch Charaktere und Handlungen, die eben so viele Muster sind, den Beifall aller der gutherzigen Leute überraschet, welche jedes Buch, das die Tugend anpreist, vortrefflich finden. Und was für einen Beifall kann sich ein solches Werk erst alsdenn versprechen, wenn der Verfasser die Kunst oder die natürliche Gabe besitzt, seine Schreibart auf den Ton der Begeisterung zu stimmen, und, verliebt in die schönen Geschöpfe seiner erhitzten Einbildungskraft, die Meinung von sich zu erwecken, daß ers in die Tugend selber sei. Umsonst mag dann ein verdächtiger Kunstrichter sich heiser schreien, daß ein solches Werk eben so wenig für die Talente seines Urhebers beweise, als es der Welt Nutzen schaffe; umsonst mag er vorstellen, wie leicht es sei, die Definitionen eines Auszugs der Sittenlehre in Personen, und die Maximen des Epictets in Handlungen zu verwandeln; umsonst mag er beweisen, daß die unfruchtbare Bewunderung einer schimärischen Vollkommenheit, welche man nachzuahmen eben so wenig wahren Vorsatz als Vermögen hat, das äußerste sei, was diese wackere Leute von ihren hochfliegenden Bemühungen zum Besten einer ungelehrigen Welt erwarten können: Der weisere Tadler heißt ihnen ein Zoilus, und hat von Glück zu sagen, wenn das Urteil das er von einem so moralischen Werke des Witzes fällt, nicht auf seinen eignen sittlichen Charakter zurückprallt, und die gesundere Beschaffenheit seines Gehirns nicht zu einem Beweise seines schlimmen Herzens gemacht wird. Und wie sollte es auch anders sein können? Unsre Eitelkeit ist zusehr dabei interessiert, als daß wir uns derjenigen nicht annehmen sollten, welche unsre Natur, wiewohl eignen Gewalts, zu einer so großen Hoheit und Würdigkeit erhalten. Es schmeichelt unserm Stolze, der sich ungern durch so viele Zeichen von Vorzügen des Stands, des Ansehens, der Macht und des äußerlichen Glanzes unter andre erniedriget sieht, die Mittel (wenigstens so lange das angenehme Blendwerk daurt) in seiner Gewalt zu sehen, sich über die Gegenstände seines Neides hinauf schwingen, und sie tief im Staube unter sich zurücklassen zu können. Und wenn gleich die unverhehlbare Schwäche unsrer Natur uns auf der einen Seite, zu großem Vorteil unsrer Trägheit, von der Ausübung heroischer Tugenden loszählt; so ergötzt sich doch inzwischen unsre Eigenliebe an dem süßen Wahne, daß wir eben so wundertätige Helden gewesen sein würden, wenn uns das Schicksal an ihren Platz gesetzt hätte.
Wir müssen uns gefallen lassen, wie diese gewagten Gedanken, so natürlich und wahr sie uns scheinen, von den verschiednen Klassen unsrer Leser aufgenommen werden mögen: Und wenn wir auch gleich Gefahr laufen sollten, uns ungünstige Vorurteile zuzuziehen; so können wir doch nicht umhin, diese angefangene Betrachtung um so mehr fortzusetzen, je größer die Beziehung ist, welche sie auf den ganzen Inhalt der vorliegenden Geschichte hat.
Unter allen den übernatürlichen Charaktern, welche die mehrbelobten romanhaften Sittenlehrer in einen gewissen Schwung von Hochachtung gebracht haben, sind sie mit keinem glücklicher gewesen, als mit dem Heldentum in der Großmut, in der Tapferkeit und in der verliebten Treue. Daher finden wir die Liebensgeschichten, Ritterbücher und Romanen, von den Zeiten des guten Bischofs Heliodorus bis zu den unsrigen, von Freunden, die einander alles, sogar die Forderungen ihrer stärksten Leidenschaften, und das angelegenste Interesse ihres Herzens aufopfern; von Rittern, welche immer bereit sind, der ersten Infantin, die ihnen begegnet, zu gefallen, sich mit allen Riesen und Ungeheuern der Welt herumzuhauen; und (bis Crebillon eine bequemere Mode unter unsre Nachbarn jenseits des Rheins aufgebracht hat) beinahe von lauter Liebhabern angefüllt, welche nichts angelegners haben, als in der Welt herumzuziehen, um die Namen ihrer Geliebten in die Bäume zu schneiden, ohne daß die reizendesten Versuchungen, denen sie von Zeit zu Zeit ausgesetzt sind, vermögend wären, ihre Treue nur einen Augenblick zu erschüttern. Man müßte wohl sehr eingenommen sein, wenn man nicht sehen sollte, warum diese vermeinten Heldentugenden in eine so große Hochachtung gekommen sind. Von je her haben die Schönen sich berechtiget gehalten, eine Liebe, welche ihnen alles aufopfert, und eine Beständigkeit, die gegen alle andre Reizungen unempfindlich ist, zu erwarten. Sie gleichen in diesem Stücke den großen Herren, welche verlangen, daß unserm Eifer nichts unmöglich sein solle, und die sich sehr wenig darum bekümmern, ob uns dasjenige, was sie von uns fordern, gelegen, oder ob es überhaupt recht und billig sei, oder nicht. Eben so ist es für unsre Beherrscherinnen schon genug, daß der Vorteil ihrer Eitelkeit und ihrer übrigen Leidenschaften sich bei diesen vorgeblichen Tugenden am besten befindet, um einen Artabanus oder einen Grafen von Comminges zu einem größern Mann in ihren Augen zu machen, als alle Helden des Plutarchs zusammengenommen. Und ist die unedle Eigennützigkeit oder der feige Kleinmut, womit wir (zumal bei jenen Völkern, wo der Tod aus sittlichen Ursachen mehr als natürlich ist, gefürchtet wird) den größesten Teil der bürgerlichen Gesellschaft angesteckt sehen, vielleicht weniger interessiert, eine sich selbst ganz vergessende Großmut und eine Tapferkeit, die von nichts erzittert, zu vergöttern? Je vollkommener andre sind, desto weniger haben wir nötig es zu sein; und je höher sie ihre Tugend treiben, desto weniger haben wir bei unsern Lastern zu besorgen.
Der Himmel verhüte, daß unsre Absicht jemals sei, in schönen Seelen diese liebenswürdige Schwärmerei für die Tugend abzuschrecken, welche ihnen so natürlich und öfters die Quelle der lobenswürdigsten Handlungen ist. Alles was wir mit diesen Bemerkungen abzielen, ist allein, daß die romanhaften Helden, von denen die Rede ist, noch weniger in dem Bezirke der Natur zu suchen seien als die geflügelten Löwen und die Fische mit Mädchenleibern; daß es moralische Grotesken seien, welche eine müßige Einbildungskraft ausbrütet, und ein verdorbner moralischer Sinn, nach Art gewisser Indianer, destomehr vergöttert, je weiter ihre verhältniswürdige Mißgestalt von der menschlichen Natur sich entfernet, welche doch, mit allen ihren Mängeln, das beste, liebenswürdigste und vollkommenste Wesen ist, das wir würklich kennen—und daß also der Held unsrer Geschichte, durch die Veränderungen und Schwachheiten, denen wir ihn unterworfen sehen, zwar allerdings, wir gestehen es, weniger ein Held, aber destomehr ein Mensch, und also desto geschickter sei, uns durch seine Erfahrungen, und selbst durch seine Fehler zu belehren.
Wir können indes nicht bergen, daß wir aus verschiednen Gründen in Versuchung geraten sind, der historischen Wahrheit dieses einzige mal Gewalt anzutun, und unsern Agathon, wenn es auch durch irgend einen Deum ex Machina hätte geschehen müssen, so unversehrt aus der Gefahr, worin er sich würklich befindet, herauszuwickeln, als es für die Ehre des Platonismus, die er bisher so schön behauptet hat, allerdings zu wünschen gewesen wäre. Allein da wir in Erwägung zogen, daß diese einzige poetische Freiheit uns nötigen würde, in der Folge seiner Begebenheiten so viele andre Veränderungen vorzunehmen, daß die Geschichte Agathons würklich die Natur einer Geschichte verloren hätte, und zur Legende irgend eines moralischen Don Esplandians geworden wäre: So haben wir uns aufgemuntert, über alle die ekeln Bedenklichkeiten hinauszugehen, die uns anfänglich stutzen gemacht hatten, und uns zu überreden, daß der Nutzen, den unsre verständigen Leser sogar von den Schwachheiten unsers Helden in der Folge zu ziehen Gelegenheit bekommen könnten, ungleich größer sein dürfte, als der zweideutige Vorteil, den die Tugend dadurch erhalten hätte, wenn wir, durch eine unwahrscheinlichere Dichtung als man im ganzen "Orlando" unsers Freunds Ariost finden wird, die schöne Danae in die Notwendigkeit gesetzt hätten, in der Stille von ihm zu denken, was die berühmte Phryne bei einer gewissen Gelegenheit von dem weisen Xenocrates öffentlich gesagt haben soll.
So wisset dann, schöne Leserinnen, (und hütet euch, stolz auf diesen Sieg eurer Zaubermacht zu sein,) daß Agathon, nachdem er eine ziemliche Weile in einem Gemütszustand, dessen Abschilderung den Pinsel eines Thomsons oder Geßners erfoderte, allein zurückgeblieben war, wir wissen nicht ob aus eigner Bewegung oder durch den geheimen Antrieb irgend eines antiplatonischen Genius den Weg gegen einen Pavillion genommen, der auf der Morgenseite des Gartens in einem kleinen Hain von Zitronen-, Granaten—und Myrtenbäumen auf jonischen Säulen von Jaspis ruhte; daß er, weil er ihn erleuchtet gefunden, hineingegangen, und nachdem er einen Saal, dessen herrliche Auszierung ihn nicht einen Augenblick aufhalten konnte, und zwei oder drei kleinere Zimmer durchgeeilet, in einem Cabinet, welches für die Ruhe der Liebesgöttin bestimmt schien, die schöne Danae auf einem Sofa von nelkenfarbem Atlas schlafend angetroffen; daß er, nachdem er sie eine lange Zeit in unbeweglicher Entzückung und mit einer Zärtlichkeit, deren innerliches Gefühl alle körperliche Wollust an Süßigkeit übertrifft, betrachtet hatte, endlich—von der Gewalt der allmächtigen Liebe bezwungen, sich nicht länger zu enthalten vermocht, zu ihren Füßen kniend, eine von ihren nachlässig ausgestreckten schönen Händen mit einer Inbrunst, wovon wenige Liebhaber sich eine Vorstellung zu machen jemals verliebt genug gewesen sind, zu küssen, ohne daß sie daran erwacht wäre; daß er hierauf noch weniger als zuvor sich entschließen können, so unbemerkt als er gekommen, sich wieder hinwegzuschleichen; und kurz, daß die kleine Psyche, die Tänzerin, welche seit der Pantomime, man weiß nicht warum, gar nicht seine Freundin war, mit ihren Augen gesehen haben wollte, daß er eine ziemliche Weile nach Anbruch des Tages, allein, und mit einer Miene, aus welcher sich sehr vieles habe schließen lassen, aus dem Pavillion hinter die Myrtenhecken sich weggestohlen habe.
Nachrichten zu Verhütung eines besorglichen Mißverstandes
Die Tugend (pflegt man dem Horaz nachzusagen) ist die Mittelstraße zwischen zween Abwegen, welche beide gleich sorgfältig zu vermeiden sind. Es ist ohne Zweifel wohl getan, wenn ein Schriftsteller, der sich einen wichtigern Zweck als die bloße Ergötzung seiner Leser vorgesetzt hat, bei gewissen Anlässen, anstatt des zaumlosen Mutwillens vieler von den neuern Franzosen, lieber die bescheidne Zurückhaltung des jungfräulichen Virgils nachahmet, welcher bei einer Gelegenheit, wo die Angola's und Versorand's alle ihre Malerkunst verschwendet, und sonst nichts besorget hätten, als daß sie nicht lebhaft und deutlich genug sein möchten, sich begnügt uns zu sagen:
"Daß Dido und der Held in Eine Höhle kamen."
Allein wenn diese Zurückhaltung so weit ginge, daß die Dunkelheit, welche man über einen schlüpfrigen Gegenstand ausbreitete, zu Mißverstand und Irrtum Anlaß geben könnte: So würde sie, deucht uns, in eine falsche Scham ausarten; und in solchen Fällen scheint uns ratsamer zu sein, den Vorhang ein wenig wegzuziehen, als aus übertriebener Bedenklichkeit Gefahr zu laufen, vielleicht die Unschuld selbst ungegründeten Vermutungen auszusetzen. So ärgerlich also gewissen Leserinnen, deren strenge Tugend bei dem bloßen Namen der Liebe Dampf und Flammen speit, der Anblick eines schönen Jünglings zu den Füßen einer selbst im Schlummer lauter Liebe und Wollust atmenden Danae billig sein mag; so können wir doch nicht vorbeigehen, uns noch etliche Augenblicke bei diesem anstößigen Gegenstande aufzuhalten. Man ist so geneigt, in solchen Fällen der Einbildungskraft den Zügel schießen zu lassen, daß wir uns lächerlich machen würden, wenn wir behaupten wollten, daß unser Held die ganze Zeit, die er (nach dem Vorgeben der kleinen Tänzerin) in dem Pavillion zugebracht haben soll, sich immer in der ehrfurchtsvollen Stellung gehalten habe, worin man ihn zu Ende des vorigen Kapitels gesehen hat. Wir müssen vielmehr besorgen, daß Leute, welche nichts dafür können, daß sie keine Agathons sind, vielleicht so weit gehen möchten, ihn im Verdacht zu haben, daß er sich den tiefen Schlaf, worin Danae zu liegen schien, auf eine Art zu Nutze gemacht haben könnte, welche sich ordentlicher Weise nur für einen Faunen schickt, und welche unser Freund Johann Jacob Rousseau selbst nicht schlechterdings gebilliget hätte, so scharfsinnig er auch (in einer Stelle seines Schreibens an Herrn Dalembert) dasjenige zu rechtfertigen weiß, was er "eine stillschweigende Einwilligung abnötigen" nennet. Um nun unsern Agathon gegen alle solche unverschuldete Mutmaßungen sicher zu stellen, müssen wir zur Steuer der Wahrheit melden, daß selbst die reizende Lage der schönen Schläferin, und die günstige Leichtigkeit ihres Anzugs, welche ihn einzuladen schien, seinen Augen alles zu erlauben, seine Bescheidenheit schwerlich überrascht haben würden, wenn es ihm möglich gewesen wäre, der zauberischen Gewalt der Empfindung, in welche alle Kräfte seines Wesens zerflossen schienen, Widerstand zu tun. Wir wagen nicht zuviel, wenn wir einen solchen Widerstand in seinen Umständen für unmöglich erklären, nachdem er einem Agathon unmöglich gewesen ist. Er überließ also endlich seine Seele der vollkommensten Wonne ihres edelsten Sinnes, dem Anschauen einer Schönheit, welche selbst seine idealische Einbildungskraft weit hinter sich zurücke ließ; und (was nur diejenigen begreifen werden, welche die wahre Liebe kennen,) dieses Anschauen erfüllte sein Herz mit einer so reinen, vollkommnen, unbeschreiblichen Befriedigung, daß er alle Wünsche, alle Ahnungen einer noch größern Glückseligkeit darüber vergessen zu haben schien. Vermutlich (denn gewiß können wir hierüber nichts entscheiden) würde die Schönheit des Gegenstands allein, so außerordentlich sie war, diese sonderbare Würkung nicht getan haben; allein dieser Gegenstand war seine Geliebte, und dieser Umstand verstärkte die Bewundrung, womit auch die Kaltsinnigsten die Schönheit ansehen müssen, mit einer Empfindung, welche noch kein Dichter zu beschreiben fähig gewesen ist, so sehr sich auch vermuten läßt, daß sie den mehresten aus Erfahrung bekannt gewesen sein könne. Diese namenlose Empfindung ist es allein, was den wahren Liebhaber von einem Satyren unterscheidet, und was eine Art von sittlichen Grazien sogar über dasjenige ausbreitet, was bei diesem nur das Werk des Instinkts, oder eines animalischen Hungers ist. Welcher Satyr würde in solchen Augenblicken fähig gewesen sein, wie Agathon zu handeln?—Behutsam und mit der leichten Hand eines Sylphen zog er das seidene Gewand, welches Amor verräterisch aufgedeckt hatte, wieder über die schöne Schlafende her, warf sich wieder zu den Füßen ihres Ruhebettes, und begnügte sich, ihre nachlässig ausgestreckte Hand, aber mit einer Zärtlichkeit, mit einer Entzückung und Sehnsucht an seinen Mund zu drücken, daß eine Bildsäule davon hätte erweckt werden mögen. Sie mußte also endlich erwachen. Und wie hätte sie auch sich dessen länger erwehren können, da ihr bisheriger Schlummer würklich nur erdichtet gewesen war? Sie hatte aus einer Neugierigkeit, die in ihrer Verfassung natürlich scheinen kann, sehen wollen, wie ein Agathon bei einer so schlüpfrigen Gelegenheit sich betragen würde; und dieser letzte Beweis einer vollkommnen Liebe, welche, ungeachtet ihrer Erfahrenheit, alle Annehmlichkeiten der Neuheit für sie hatte, rührte sie so sehr, daß sie, von einer ungewohnten und unwiderstehlichen Empfindung überwunden, in einem Augenblick, wo sie zum erstenmal zu lieben und geliebt zu werden glaubte, nicht mehr Meisterin von ihren Bewegungen war. Sie schlug ihre schönen Augen auf, Augen die in den wollüstigen Tränen der Liebe schwammen, und dem entzückten Agathon sein ganzes Glück auf eine unendlich vollkommnere Art entdeckten, als es das beredteste Liebesgeständnis hätte tun können. "O Callias!" (rief sie endlich mit einem Ton der Stimme, der alle Saiten seines Herzens widerhallen machte, indem sie, ihre schönen Arme um ihn windend, den Glückseligsten aller Liebhaber an ihren Busen drückte,) "—was für ein neues Wesen gibst du mir? Genieße, o! genieße, du Liebenswürdigster unter den Sterblichen, der ganzen unbegrenzten Zärtlichkeit, die du mir einflößest." Und hier, ohne den Leser unnötiger Weise damit aufzuhalten, was sie ferner sagte, und was er antwortete, überlassen wir den Pinsel einem Correggio, und schleichen uns davon.
Aber wir fangen an, zu merken, wiewohl zu späte, daß wir unsern Freund Agathon auf Unkosten seiner schönen Freundin gerechtfertiget haben. Es ist leicht vorauszusehen, wie wenig Gnade sie vor dem ehrwürdigen und glücklichen Teil unsrer Leserinnen finden werde, welche sich bereden (und vermutlich Ursache dazu haben) daß sie in ähnlichen Umständen sich ganz anders als Danae betragen haben würden. Auch sind wir weit davon entfernt, diese allzuzärtliche Nymphe entschuldigen zu wollen, so scheinbar auch immer die Liebe ihre Vergehungen zu bemänteln weiß. Indessen bitten wir doch die vorbelobten Lukretien um Erlaubnis, dieses Kapitel mit einer kleinen Nutzanwendung, auf die sie sich vielleicht nicht gefaßt gemacht haben, schließen zu dürfen. Diese Damen (mit aller Ehrfurcht die wir ihnen schuldig sind, sei es gesagt) würden sich sehr betrügen, wenn sie glaubten, daß wir die Schwachheiten einer so liebenswürdigen Kreatur, als die schöne Danae ist, nur darum verraten hätten, damit sie Gelegenheit bekämen, ihre Eigenliebe daran zu kitzeln. Wir sind in der Tat nicht so sehr Neulinge in der Welt, daß wir uns überreden lassen sollten, daß eine jede, welche sich über das Betragen unsrer Danae ärgern wird, an ihrer Stelle weiser gewesen wäre. Wir wissen sehr wohl, daß nicht alles, was das Gepräge der Tugend führt, würklich echte und vollhaltige Tugend ist; und daß sechszig Jahre, oder eine Figur, die einen Satyren entwaffnen könnte, kein oder sehr wenig Recht geben, sich viel auf eine Tugend zu gut zu tun, welche vielleicht niemand jemals versucht gewesen ist, auf die Probe zu stellen. Wir zweifeln mit gutem Grunde sehr daran, daß diejenigen, welche von einer Danae am unbarmherzigsten urteilen, an ihrem Platz einem viel weniger gefährlichen Versucher als Agathon war, die Augen auskratzen würden: Und wenn sie es auch täten, so würden wir vielleicht anstehen, ihrer Tugend beizumessen, was eben sowohl die mechanische Würkung unreizbarer Sinnen, und eines unzärtlichen Herzens, hätte gewesen sein können. Unser Augenmerk ist bloß auf euch gerichtet, ihr liebreizenden Geschöpfe, denen die Natur die schönste ihrer Gaben, die Gabe zu gefallen, geschenkt—ihr, welche sie bestimmt hat, uns glücklich zu machen; aber, welche eine einzige kleine Unvorsichtigkeit in Erfüllung dieser schönen Bestimmung so leicht in Gefahr setzen kann, durch die schätzbarste eurer Eigenschaften, durch das was die Anlage zu jeder Tugend ist, durch die Zärtlichkeit eures Herzens selbst, unglücklich zu werden: Euch allein wünschten wir überreden zu können, wie gefährlich jene Einbildung ist, womit euch das Bewußtsein eurer Unschuld schmeichelt, daß es allezeit in eurer Macht stehe, der Liebe und ihren Forderungen Grenzen zu setzen. Möchten die Unsterblichen (wenn anders, wie wir hoffen, die Unschuld und die Güte des Herzens himmlische Beschützer hat,) möchten sie über die eurige wachen! Möchten sie euch zu rechter Zeit warnen, euch einer Zärtlichkeit nicht zu vertrauen, welche, bezaubert von dem großmütigen Vergnügen, den Gegenstand ihrer Liebe glücklich zu machen, so leicht sich selbst vergessen kann! Möchten sie endlich in jenen Augenblicken, wo das Anschauen der Entzückungen, in die ihr zu setzen fähig seid, eure Klugheit überraschen könnte, euch in die Ohren flüstern: Daß selbst ein Agathon, weder Verdienst noch Liebe genug hat, um wert zu sein, daß die Befriedigung seiner Wünsche euch die Ruhe eures Herzens koste.
Welches alle unsre verheiratete Leser, wofern sie nicht sehr glücklich oder vollkommne Stoiker sind, überschlagen können
Die schöne Danae war keine von denen, welche das, was sie tun, nur zur Hälfte tun. Nachdem sie einmal beschlossen hatte, ihren Freund glücklich zu machen, so vollführte sie es auf eine Art, welche alles was er bisher Vergnügen und Wonne genannt hatte, in Schatten und Wolkenbilder verwandelte. Man erinnert sich vermutlich noch, daß eine Art von Vorwitz oder vielmehr ein launischer Einfall, die Macht ihrer Reizungen an unserm Helden zu probieren, anfangs die einzige Triebfeder der Anschläge war, welche sie auf sein Herz gemacht hatte. Die persönliche Bekanntschaft belebte dieses Vorhaben durch den Geschmack, den sie an ihm fand; und der tägliche Umgang, die Vorzüge Agathons, und, was in den meisten Fällen die Niederlage der weiblichen Tugend wo nicht allein verursacht, doch sehr befördert, die ansteckende Kraft, das Sympathetische der verliebten Begeisterung, welcher der göttliche Plato mit Recht die wundertätigsten Kräfte zuschreibt; alles dieses zusammen genommen, verwandelte zuletzt diesen Geschmack in Liebe, aber in die wahreste, zärtlichste und heftigste, welche jemals gewesen ist. Unserm Helden allein war die Ehre aufbehalten (wenn es eine war) ihr eine Art von Liebe einzuflößen, worin sie, ungeachtet alles dessen, was uns von ihrer Geschichte schon entdeckt worden ist, noch so sehr ein Neuling war, als es eine Vestalin in jeder Art von Liebe sein soll. Kurz, er, und er allein, war darzu gemacht, den Widerwillen zu überwinden, den ihr die gemeinen Liebhaber, die schönen Hyacinthe, diese tändelnden Gecken, an denen (um uns ihres eigenen Ausdrucks zu bedienen) die Hälfte ihrer Reizungen verloren ging; gegen alles was die Miene der Liebe trug, einzuflößen angefangen hatten.
Die meisten von derjenigen Klasse der Naturkündiger, welche mit dem Herrn von Büffon davorhalten, daß das Physikalische der Liebe das beste davon sei, werden ohne Bedenken eingestehen, daß der Besitz, oder (um unsern Ausdruck genauer nach ihren Ideen zu bestimmen) der Genuß einer so schönen Frau als Danae war, an sich selbst betrachtet die vollkommenste Art von Vergnügungen in sich schließe, deren unsre Sinnen fähig sind; eine Wahrheit, welche, ungeachtet einer Art von stillschweigender übereinkunft, daß man sie nicht laut gestehen wolle, von allen Völkern und zu allen Zeiten so allgemein anerkannt worden ist, daß Carneades, Sextus, Cornelius Agrippa, und Bayle selbst sich nicht getrauet haben, sie in Zweifel zu ziehen. Ob wir nun gleich nicht Mut genug besitzen, gegen einen so ehrwürdigen Beweis als das einhellige Gefühl des ganzen menschlichen Geschlechts abgibt, öffentlich zu behaupten, daß diejenigen Vergnügungen der Liebe, welche der Seele eigen sind, den Vorzug vor jenen haben: So werden doch nicht wenige mit uns einstimmig sein, daß ein Liebhaber, der selbst eine Seele hat, im Besitz der schönsten Statue von Fleisch und Blut, die man nur immer finden kann, selbst jene von den neuern Epicuräern so hoch gepriesene Wollust nur in einem sehr unvollkommnen Grade erfahren würde; und daß diese allein von der Empfindung des Herzens jenen wunderbaren Reiz erhalte, welcher immer für unaussprechlich gehalten worden ist, bis Rousseau, der Stoiker, sich herabgelassen, sie in dem fünf und vierzigsten der Briefe der neuen Heloise, in einer Vollkommenheit zu schildern, welche sehr deutlich beweist, was für eine begeisternde Kraft die bloße halberloschene Erinnerung an die Erfahrungen seiner glücklichen Jugend über die Seele des Helvetischen Epictets ausgeübt haben müsse. Ohne Zweifel sind es Liebhaber von dieser Art, Saint Preux und Agathons, welchen es zukömmt, über die berührte Streitfrage einen entscheidenden Ausspruch zu tun; sie, welche durch die Feinheit und Lebhaftigkeit ihres Gefühls eben so geschickt gemacht werden, von den physikalischen, als durch die Zärtlichkeit ihres Herzens, oder durch ihren innerlichen Sinn für das sittliche Schöne, von den moralischen Vergnügungen der Liebe zu urteilen. Und wie wahr, wie natürlich werden nicht diese jene Stelle finden, die den Verehrern der animalischen Liebe unverständlicher ist als eine Hetruscische Aufschrift den Gelehrten,—"O, entziehe mir immer diese berauschenden Entzückungen, für die ich tausend Leben gäbe!—Gib mir nur das alles wieder was nicht sie, aber tausendmal süßer ist als sie"-Die schöne Danae war so sinnreich, so unerschöpflich in der Kunst (wenn man anders dasjenige so nennen kann, was Natur und Liebe allein, und keine ohne die andre geben kann) ihre Gunstbezeugungen zu vervielfältigen, den innerlichen Wert derselben durch die Annehmlichkeiten der Verzierung zu erhöhen, ihnen immer die frische Blüte der Neuheit zu erhalten, und alles Eintönige, alles was die Bezauberung hätte auflösen, und dem überdruß den Zugang öffnen können, klüglich zu entfernen; daß sie oder eine andre ihres gleichen den Herrn von Büffon selbst dahin gebracht hätte, seine Gedanken von der Liebe zu ändern, welches vielleicht alle Marquisinnen von Paris zusammengenommen nicht von ihm erhalten würden. Diese glückseligen Liebenden, brauchten, um ihrer Empfindung nach, den Göttern an Wonne gleich zu sein, nichts als ihre Liebe: Sie verschmähten itzt alle diese Lustbarkeiten, an denen sie vorher so viel Geschmack gefunden hatten; ihre Liebe machte alle ihre Beschäftigungen und alle ihre Ergötzungen aus: Sie empfanden nichts anders, sie dachten an nichts anders, sie unterhielten sich mit nichts anderm; und doch schienen sie sich immer zum erstenmal zu sehen, zum erstenmal zu umarmen, zum erstenmal einander zu sagen, daß sie sich liebten; und wenn sie von einer Morgenröte zur andern nichts anders getan hatten, so beklagten sie sich doch über die Kargheit der Zeit, welche zu einem Leben, das sie zum Besten ihrer Liebe unsterblich gewünscht hätten, ihnen Augenblicke für Tage anrechne. "Welch ein Zustand, wenn er dauern könnte!"—ruft hier der griechische Autor aus.
Eine bemerkenswürdige Würkung der Liebe, oder von der Seelenmischung
Ein alter Schriftsteller, den gewiß niemand beschuldigen wird, daß er die Liebe zu metaphysisch behandelt habe, und den wir nur zu nennen brauchen, um allen Verdacht dessen, was materielle Seelen für Platonische Grillen erklären, von ihm zu entfernen; mit einem Worte, Petronius, bedient sich irgendwo eines Ausdrucks, welcher ganz deutlich zu erkennen gibt, daß er eine verliebte Vermischung der Seelen nicht nur für möglich, sondern für einen solchen Umstand gehalten habe, der die Geheimnisse der Liebesgöttin natürlicher Weise zu begleiten pflege. Jam alligata mutuo ambitu corpora animarum quoque mixturam fecerant, sagt dieser Oberaufseher der Ergötzlichkeiten des Kaisers Nero; um vermutlich eben dasselbe zu bezeichnen, was er an einem andern Ort ungleich schöner also ausdrückt:
Et transfudimus hinc & hinc labellis Errantes animas- Ob er selbst die ganze Stärke dieses Ausdrucks eingesehen, oder ihm so viel Bedeutung beigelegt habe, als wir; ist eine Frage, die uns (nach Gewohnheit der meisten Ausleger) sehr wenig bekümmert. Genug, daß wir diese Stellen einer Hypothese günstig finden, ohne welche sich, unsrer Meinung nach, verschiedene Phänomena der Liebe nicht wohl erklären lassen, und vermöge welcher wir annehmen, daß bei wahren Liebenden, in gewissen Umständen, nicht (wie einer unsrer tugendhaftesten Dichter meint) ein Tausch, sondern eine wirkliche Mischung der Seelen vorgehe. Wie dieses möglich sei zu untersuchen, überlassen wir billig den weisen und tiefsinnigen Leuten, welche sich, in stolzer Muße und seliger Abgeschiedenheit von dem Getümmel dieser sublunarischen Welt, mit der nützlichen Spekulation beschäftigen, die Art und Weise ausfindig zu machen, wie dasjenige was würklich ist, ohne Nachteil ihrer Meinungen und Lehrgebäude, möglich sein könne. Für uns ist genug, daß eine durch unzähliche Beispiele bestätigte Erfahrung außer allen Zweifel setzt, daß diejenige Gattung von Liebe, welche Shaftesbury mit bestem Recht zu einer Art des Enthusiasmus macht, und gegen welche Lucrez aus eben diesem Grunde sich mit so vielem Eifer erklärt, solche Würkungen hervorbringe, welche nicht besser als durch jenen Petronischen Ausdruck abgemalt werden können.
Agathon und Danae, die uns zu dieser Anmerkung Anlaß gegeben haben, hatten kaum vierzehn Tage, welche freilich nach dem Kalender der Liebe nur vierzehn Augenblicke waren, in diesem glückseligen Zustande, worin wir sie im vorigen Kapitel verlassen haben, zugebracht: als diese Seelenmischung sich in einem solchen Grade bei ihnen äußerte, daß sie nur von einer einzigen gemeinschaftlichen Seele belebt und begeistert zu werden schienen. Würklich war die Veränderung und der Absatz ihrer gegenwärtigen Art zu sein, mit ihrer vorigen so groß, daß weder Alcibiades seine Danae, noch die Priesterin zu Delphi den spröden und unkörperlichen Agathon wieder erkannt haben würden. Daß dieser aus einem spekulativen Platoniker ein praktischer Aristipp geworden; daß er eine Philosophie, welche die reinste Glückseligkeit in Beschauung unsichtbarer Schönheiten setzt, gegen eine Philosophie, welche sie in angenehmen Empfindungen, und die angenehmen Empfindungen in ihren nächsten Quellen, in der Natur, in unsern Sinnen und in unsern Herzen sucht, vertauschte; daß er von den Göttern und Halbgöttern, mit denen er vorher umgegangen war, nur die Grazien und Liebesgötter beibehielt; daß dieser Agathon, der ehmals von seinen Minuten, von seinen Augenblicken der Weisheit Rechenschaft geben konnte, itzt fähig war (wir schämen uns es zu sagen) ganze Stunden, ganze Tage in zärtlicher Trunkenheit wegzutändeln—Alles dieses, so stark der Abfall auch ist, wird dennoch den meisten begreiflich scheinen. Aber daß Danae, welche die Schönsten und Edelsten von Asien, welche Fürsten und Satrapen zu ihren Füßen gesehen hatte, welche gewohnt war, in den schimmerndsten Versammlungen am meisten zu glänzen, einen Hof von allem, was durch Vorzüge der Geburt, des Geistes, des Reichtums und der Talente würdig war, nach ihrem Beifall zu streben, um sich her zu sehen: Daß diese Danae itzt verächtliche Blicke in die große Welt zurückwarf, und nichts angenehmers fand als die ländliche Einfalt, nichts schöners als in Hainen herumzuirren, Blumenkränze für ihren Schäfer zu winden, an einer murmelnden Quelle in seinem Arm einzuschlummern, von der Welt vergessen zu sein, und die Welt zu vergessen—daß sie, für welche die Liebe der Empfindung sonst ein unerschöpflicher Gegenstand von witzigen Spöttereien gewesen war, itzt von den zärtlichen Klagen der Nachtigall in stillheitern Nächten bis zu Tränen gerührt werden—oder wenn sie ihren Geliebten unter einer schattichten Laube schlafend fand, ganze Stunden, unbeweglich, in zärtliches Staunen und in den Genuß ihrer Empfindungen versenkt, neben ihm sitzen konnte, ohne daran zu denken, ihn durch einen eigennützigen Kuß aufzuwecken,—daß diese Schülerin des Hippias, welche gewohnt gewesen war, nichts lächerlichers zu finden, als die Hoffnung der Unsterblichkeit, und diese süßen Träume von bessern Welten, in welche sich empfindliche Seelen so gerne zu wiegen pflegen—daß sie itzt, beim dämmernden Schein des Monds, an Agathons Seite auf Blumen hingegossen, schon entkörpert zu sein, schon in den seligen Tälern des Elysiums zu schweben glaubte—mitten aus den berauschenden Freuden der Liebe sich zu Gedanken von Gräbern und Urnen verlieren, dann ihren Geliebten zärtlicher an ihre Brust drückend den gestirnten Himmel anschauen, und ganze Stunden von der Wonne der Unsterblichen, von unvergänglichen Schönheiten und himmlischen Welten phantasieren konnte, und, von den Wünschen ihrer grenzenlosen Liebe getäuscht, in der Hoffnung einer immerwährenden Dauer itzt so wenig Ausschweifendes fand, daß ihr kein Gedanke natürlicher, keine Hoffnung gewisser schien; dieses waren in der Tat Wunderwerke der Liebe, und Wunderwerke, welche nur die Liebe eines Agathons, nur jene Vermischung der Seelen, durch welche ihrer beider Denkungsart, Ideen, Geschmack und Neigungen in einander zerflossen, zuwege bringen konnte. Welches von beiden bei dieser Vermischung gewonnen oder verloren habe, wollen wir unsern Lesern zu entscheiden überlassen, von denen der zärtlichere Teil vielleicht der schönen Danae den Vorteil zuerkennen wird: Aber dieses, deucht uns, wird niemand so roh oder so stoisch sein zu leugnen, daß sie glücklich waren—felices errore suo—glücklich in dieser süßen Betörung, welcher, um dasjenige zu sein, was die Weisen schon so lange gesucht und nie gefunden haben, nichts abgeht, als daß sie (wie der griechische Autor hier abermal mit Bedauern ausruft) nicht immer währen kann.
Ein Besuch des Hippias
Zufällige Ursachen hatten es so gefüget, daß Hippias sich auf einiche Wochen von Smirna hatte entfernen müssen, und daß die Zeit seiner Abwesenheit gerade in diejenige Zeit fiel, worin die Liebe unsers Helden und der schönen Danae den äußersten Punkt ihrer Höhe erreichte. Dieser Umstand hatte sie gänzlich Meister von einer Zeit gelassen, welche sie zum Vorteil der Liebe und des Vergnügens so wohl anzuwenden wußten. Keiner von Danaes ehemaligen Verehrern hatte sich erkühnt, ihre Einsamkeit zu stören; und die Freundinnen, mit denen sie ehmals in Gesellschaft gestanden war, hatten zu gutem Glück alle mit ihren eignen Angelegenheiten so viel zu tun, daß sie keine Zeit behielten, sich um Fremde zu bekümmern. Zudem war ihr Aufenthalt auf dem Lande nichts ungewöhnliches, und der allgemeine Genius der Stadt Smirna war der Freiheit in der Wahl der Vergnügungen allzugünstig, als daß eine Danae (von der man ohnehin keine vestalische Tugend foderte) über die ihrigen, wenn sie auch bekannt gewesen wären, sehr strenge Urteile zu besorgen gehabt hätte.
Allein Hippias war kaum von seiner Reise zurückgekommen, so ließ er eine seiner ersten Sorgen sein, sich in eigner Person nach dem Fortgang des Entwurfs zu erkundigen, den er mit ihr zu Bekehrung des allzuplatonischen Callias gemeinschaftlich angelegt hatte. Die besondere Vertraulichkeit, worin er seit mehr als zehn Jahren mit ihr gelebt hatte, gab ihm das vorzügliche Recht, sie auch alsdann zu überraschen, wenn sie sonst für niemand sichtbar war. Er eilte also, so bald er nur konnte, nach ihrem Landgute; und hier brauchte er nur einen Blick auf unsre Liebende zu werfen, um zu sehen, wie viel in seiner Abwesenheit mit ihnen vorgegangen war. Ein gewisser Zwang, eine gewisse Zurückhaltung, eine Art von schamhafter Schüchternheit, welche ihm besonders an der Pflegtochter Aspasiens fast lächerlich vorkam, war das erste, was ihm an beiden in die Augen fiel. Wahre Liebe (wie man längst beobachtet hat) ist eben so sorgfältig ihre Glückseligkeit zu verbergen, als jene frostige Liebe, welche Coquetterie oder Langeweile zur Mutter hat, begierig ist, ihre Siege auszuposaunen. Allein dieses war weder die einzige noch die vornehmste Ursache einer Zurückhaltung, welche unsre Liebenden, aller angewandten Mühe ungeachtet, einem so scharfsichtigen Beobachter nicht entziehen konnten. Das Bewußtsein der Verwandlung, welche sie erlitten hatten; die Furcht vor dem komischen Ansehen, welches sie ihnen in den Augen des Sophisten geben möchte; die Furcht von einem Spott, vor dem sie die mutwilligen Ergießungen bei jedem Blicke, bei jedem Lächeln erwarteten; dieses war es, was sie in Verlegenheit setzte, und was den artigsten Gesichtern in ganz Jonien etwas Verdrießliches gab, welches von einem jeden andern als Hippias für ein Zeichen, daß seine Gegenwart unangenehm sei, hätte aufgenommen werden müssen. Allein dieser nahm es für das auf, was es in der Tat war; und da niemand besser zu leben wußte, so schien er so wenig zu bemerken, was in ihnen vorging, machte den Unachtsamen und Sorglosen so natürlich, hatte so viel von seiner Reise und tausend gleichgültigen Dingen zu schwatzen, und wußte dem Gespräch einen so freien Schwung von Munterkeit zu geben, daß sie alle erforderliche Zeit gewannen, sich wieder zu erholen, und sich in eine ungezwungene Verfassung zu setzen. Wenn Agathon hiedurch so sehr beruhigst wurde, daß er würklich hoffte, sich in seinen ersten Besorgnissen betrogen zu haben, so war die feinere Danae weit davon entfernt, sich durch die Kunstgriffe des Sophisten ein Blendwerk vormachen zu lassen. Sie kannte ihn zu gut, um nicht in seiner Seele zu lesen; sie sah wohl, daß es zu einer Erörterung mit ihm kommen müsse, und war nur darüber unruhig, wie sie sich entschuldigen wollte, daß sie, über der Bemühung den Charakter des Agathons umzubilden, ihren eignen oder doch einen guten Teil davon verloren hatte. Mit diesen Gedanken hatte sie sich in den Stunden der gewöhnlichen Mittagsruhe beschäftiget, und war noch nicht recht mit sich selbst einig, wie weit sie sich dem Sophisten vertrauen wolle; als er in ihr Zimmer trat, und mit der vertraulichen Freimütigkeit eines alten Freundes ihr entdeckte, daß es die Neugier über den Fortgang ihres geheimen Anschlags sei, was ihn so bald nach seiner Wiederkunft zu ihr gezogen habe. "Die Glückseligkeit des Callias" (setzte er hinzu) "schimmert zu lebhaft aus seinen Augen und aus seinem ganzen Betragen hervor, schöne Danae, als daß ich durch überflüssige Fragstücke das reizende Inkarnat dieser liebenswürdigen Wangen zu erhöhen suchen sollte. Und findest du ihn also der Mühe würdig, die du auf seine Bekehrung ohne Zweifel verwenden mußtest?" "Der Mühe?" sagte Danae lächelnd; "ich schwöre dir, daß mir in meinem Leben keine Mühe so leicht geworden ist, als mich von dem liebenswürdigsten Sterblichen, den ich jemals gekannt habe, lieben zu lassen. Denn das war doch alle Mühe -" "Nicht ganz und gar", (unterbrach sie Hippias) "wenn du so aufrichtig sein willt, als es unsrer Freundschaft gemäß ist. Ich bin gewiß, daß er an keine Verstellung dachte, da er noch in meinem Hause war; und die Veränderung, die ich an ihm wahrnehme ist so groß, verbreitet sich so sehr über seine ganze Person, hat ihn so unkenntlich gemacht, daß Danae selbst, auf deren Lippen die überredung wohnt, mich nicht überreden soll, daß eine solche Seelenwandlung im Schlafe vorgehen könne. Keine Zurückhaltungen, schöne Danae, die Würkungen zeugen von ihren Ursachen; ein großes Werk setzt große Anstalten voraus; wenn ein Callias dahin gebracht wird, daß er wie ein Liebling der Venus herausgeputzt ist, daß er mit einer Sybaritischen Zunge von der Niedlichkeit der Speisen und dem Geschmack der Weine urteilt; daß er die wollüstigsten Läufe eines in Liebe schmelzenden Liedes mit entzücktem Händeklatschen wiederholen heißt, und sich die Trinkschale von einer jungen Circasserin mit unverhülltem Busen eben so gleichgültig reichen läßt, als er sich in die weichen Polster eines Persischen Ruhebettes hineinsenkt—wahrhaftig, schöne Danae, das nenn ich eine Verwandlung, welche in so kurzer Zeit zu bewerkstelligen, ich keiner von allen unsterblichen Göttinnen zugetraut hätte." "Ich weiß nicht, was du damit sagen willst", erwiderte Danae mit einer angenommenen Zerstreuung; "mich deucht nichts natürlichers, als alles, worüber du dich so verwundert stellst; und gesetzt, daß du dich in deinem Urteil von Callias betrogen hättest, ist es seine Schuld? Wenn ich dir die Wahrheit sagen soll, so kann nichts unähnlichers sein, als wie du ihn mir abgeschildert und wie ich ihn gefunden habe. Du machtest mich einen Pedantischen Toren, den Gegenstand einer Komödie erwarten, und ich wiederhole es, du magst über mich lachen so lange du willt, Alcibiades selbst im Frühling seiner Jahre und Reizungen war nicht liebenswürdiger als derjenige, den du mir für ein komisches Mittelding von einem Phantasten und von einer Bildsäule gegeben hast. Wenn eine Verschiedenheit zwischen Agathon und den Besten ist, für welche ich ehmals aus Dankbarkeit, Geschmack oder Laune, Gefälligkeiten gehabt habe, so ist sie gänzlich zu seinem Vorteil; so ist es, daß er edler, aufrichtiger, zärtlicher ist, daß er mich liebet, da jene nur sich selbst in mir liebten; daß ihn mein Vergnügen glücklicher macht als sein eignes; daß er das großmütigste und erkenntlichste Herz mit den glänzendesten Vorzügen des Geistes, mit allem was den Umgang reizend macht, vereinigt besitzt. "—"Welch ein Strom von Beredsamkeit", rief Hippias mit dem Lächeln eines Fauns aus; "du sprichst nicht anders als ob du seine Apologie gegen mich machen müßtest; und wenn habe ich denn was anders gesagt? Beschrieb ich ihn nicht als liebenswürdig? Sagt' ich dir nicht, daß er dir die Hyacinthe, und alle diese artigen gaukelnden Sommervögel unerträglich machen würde? Aber wir wollen uns nicht zanken, schöne Danae. Ich sehe, daß Amor hier mehr Arbeit gemacht als ihm aufgetragen war; er sollte dir nur helfen, den Agathon zu unterwerfen; aber der übermütige kleine Bube hat es für eine größere Ehre gehalten, dich selbst zu besiegen; diese Danae, welche bisher mit seinen Pfeilen nur gescherzt hatte. Bekenne, Danae -" "Ja", (fiel sie ihm lebhaft ein) "ich bekenne, daß ich liebe wie ich nie geliebt habe; daß alles was ich sonst Glückseligkeit nannte, kaum den Namen des Daseins verdient hat; ich bekenne es, Hippias, und bin stolz darauf, daß ich fähig wäre, alles was ich besitze, alle Ergötzlichkeiten von Smirna, alle Ansprüche an Beifall, alle Befriedigungen der Eitelkeit, und eine ganze Welt voll Liebhaber wie eine Nußschale hinzuwerfen, um mit Callias in einer mit Stroh bedeckten Hütte zu leben, und mit diesen Händen, welche nicht zu weiß und zärtlich dazu sein sollten, die Milch zuzubereiten, die ihm, vom Felde wiederkommend, weil ich sie ihm reichte, lieblicher schmecken würde, als Nektar aus den Händen der Liebesgöttin."
"O, das ist was anders", rief Hippias, der sich nun nicht länger halten konnte, in ein lautes Gelächter auszubrechen; "wenn Danae aus diesem Tone spricht, so hat Hippias nichts mehr zu sagen. Aber", fuhr er fort, nachdem er sich die Augen gewischt und den Mund in Falten gelegt hatte; "in der Tat, schöne Freundin, ich lache zur Unzeit; die Sache ist ernsthafter als ich beim ersten Anblick dachte, und ich besorge nun in ganzem Ernste, daß Callias, so sehr er dich anzubeten scheint, nicht Liebe genug haben möchte, die deinige zu erwidern." "Ich erlasse dem Hippias diese Sorge", sagte Danae mit einem spöttischen Lächeln, welches ihr sehr reizend ließ; "das soll meine Sorge sein; und mich deucht, Hippias, welcher ein so großer Meister ist, von den Würkungen auf die Ursachen zu schließen, sollte ganz ruhig darüber sein können, daß sich Danae nicht wie ein vierzehnjähriges Mädchen fangen läßt." "Die Götter der Liebe und Freude verhüten, daß meine Worte einen übelweissagenden Sinn in sich fassen", erwiderte Hippias! "Du liebest, schöne Danae; du wirst geliebt; kein würdigers Paar glücklich zu sein, kein geschickteres sich glücklich zu machen, hat Amor nie vereiniget. Erschöpfet alles, was die Liebe reizendes hat! Trinket immer neue Entzückungen aus ihrem nektarischen Becher; und möge die neidenswerte Bezauberung so lang als euer Leben dauern!"
Eine Probe von den Talenten eines Liebhabers
In einem so freundschaftlichen und schwärmerischen Ton stimmte der gefällige Sophist seine Sprache um, als Agathon hereintrat, und ihnen einen Spaziergang in die Gärten vorschlug, worin er sich das Vergnügen machen wollte, sie mit einer in geheim veranstalteten Ergötzung zu überraschen. Man ließ sich den Vorschlag gefallen, und nachdem Hippias eine Reihe von neuen Gemälden, womit die Galerie vermehrt worden war, gesehen hatte, begab man sich in den Garten, in welchem, nach Persischem Geschmack, große Blumenstücke, Spaziergänge von hohen Bäumen, kleine Weiher, künstliche Wildnisse, Lauben und Grotten in anmutiger Unordnung unter einander geworfen schienen. Das Gespräch ward itzt wieder gleichgültig, und Hippias wußte es so zu lenken, daß Agathon unvermerkt veranlaßt wurde, die neue Wendung, welche seine Einbildungskraft bekommen hatte, auf hundertfältige Art zu verraten. Inzwischen neigte sich die Sonne, als sie beim Eintritt in einen kleinen Wald von Myrten—und Zitronenbäumen, an welchen die Kunst keine Hand angelegt zu haben schien, von einem versteckten Konzert, welches alle Arten von Singvögel nachahmte, empfangen wurden. Aus jedem Zweig, aus jedem Blatte schien eine besondere Stimme hervorzugehen; so volltönig war diese Musik, in welcher die Nachahmung der kunstlosen Natur in der scheinbaren Unregelmäßigkeit phantasierender Töne, die lieblichste Harmonie hervorbrachte, die man jemals gehört hatte. Die Dämmerung des heitersten Abends, und die eigne Anmut des Orts vereinigten sich damit, um diesem Lusthain die Gestalt der Bezauberung zu geben. Danae, welche seit wenigen Wochen eine ganz neue Empfindlichkeit für das Schöne der Natur und die Vergnügungen der Einbildungskraft bekommen hatte, sahe ihren sich ganz unwissend stellenden Liebling mit Augen an, welche ihm sagten, daß nur die Gegenwart des Hippias sie verhindere, ihre schönen Arme um seinen Hals zu werfen: als unversehens eine Anzahl von kleinen Liebesgöttern und Faunen aus dem Hain hervorhüpfte; jene von flatterndem Silberflor, der mit nachgeahmten Rosen durchwürkt war, leicht bedeckt; diese nackend, außer daß ein Efeukranz, mit gelben Rosen durchflochten, ihre milchweißen Hüften schützten, und um die kleinen verguldeten Hörner sich schlangen, die aus ihren schwarzen kurzlockichten Haaren hervorstachen. Alle diese kleine Genii streuten aus zierlichen Körbchen von Silberdraht die schönsten Blumen vor Danae her, und führten sie tanzend in die Mitte des Wäldchens, wo Gebüsche von Jasminen, Rosen und Acacia eine Art von halbzirkelndem Amphitheater machten, unter welchem ein zierlicher Thron von Laubwerk und Blumenkränzen für die schöne Danae bereitet stand. Nachdem sie sich hier gesetzt hatte, breiteten die Liebesgötter einen Persischen Teppich vor ihr aus, indem von den kleinen Faunen einige beschäftigt waren, den Boden mit goldnen und kristallenen Trinkschalen von allerlei niedlichen Formen zu besetzen, andre unter der Last voller Schläuche mit possierlichen Gebärden herbeigekrochen kamen, und im Vorbeigehen den weisen Hippias durch hundert mutwillige Spiele neckten. Auf einmal schlupften die Grazien hinter einer Myrtenhecke hervor, drei jugendliche Schwestern, deren halbaufgeblühte Schönheit ein leichtes Gewölk von Gase mehr zu entwickeln als zu verhüllen eifersüchtig schien. Sie umgaben ihre Gebieterin, und indem die erste einen frischen Blumenkranz um ihre schöne Stirne wand, reichten ihr die beiden andern kniend in goldnen Schalen die auserlesensten Früchte und Erfrischungen dar; indes die Faunen den Hippias mit Efeu kränzten, und wohlriechende Salben über seine Glatze und seinen halbgrauen Bart heruntergossen. Beide bezeugten ihr Vergnügen über dieses kleine Schauspiel, welches das lachendste Gemälde von der Welt machte; als eine zärtliche Symphonie von Flöten aus der Luft, wie es schien, herabtönend, die Augen zu einer neuen Erscheinung aufmerksam machte. Die Liebesgötter, die Faunen und die Grazien waren indes verschwunden, und es öffnete sich der Danae gegenüber die waldichte Szene, um den Liebesgott darzustellen, auf einem goldnen Gewölke sitzend, welches über den Rosenbüschen von Zephyren emporgehalten wurde. Ein schalkhaftes Lächeln, das sein liebliches Gesicht umscherzte, schien die Herzen zu warnen, sich von der tändelnden Unschuld dieses schönen Götterknabens nicht sorglos machen zu lassen. Er sang mit lieblicher Stimme, und der Inhalt seines Gesangs drückte seine Freude aus, daß er endlich eine bequeme Gelegenheit gefunden habe, sich an der schönen Danae zu rächen. "Gleich der Liebesgöttin, meiner Mutter" (sang er) "herrscht sie unumschränkt über die Herzen, und haucht allgemeine Liebe umher: Von ihren Blicken beseelt, wendet ihr die Natur, als ihrer Göttin, sich zu; verschönert, wenn sie lächelt, traurig und welkend, wenn sie sich von ihr kehrt: Verlassen stehn die Altäre zu Paphos, die Seufzer der Liebenden wallen nur ihr entgegen; und indem ihre siegreichen Augen ringsum sie her jedes Herz verwunden und entzücken, lacht sie, die Stolze, meiner Pfeile, und trotzt mit unbezwungner Brust der Macht, vor welcher Götter zittern: Aber nicht länger soll sie trotzen; hier ist der schärfste Pfeil, scharf genug einen Busen von Marmor zu spalten, und die kälteste Seele in Liebesflammen hinwegzuschmelzen. Zittre, ungewahrsame Schöne! dieser Augenblick soll Amorn und seine Mutter rächen! Tiefseufzend sollst du auffahren, wie ein junges Reh auffährt, das unter Rosen schlummernd den geflügelten Pfeil des Jägers fühlt; schmerzenvoll und trostlos sollst du in einsamen Hainen irren, und auf öden Felsen sitzend den schleichenden Bach mit deinen Tränen mehren."
So sang er und spannte boshaft-lächelnd den Bogen; schon war der Pfeil angelegt, schon zielte er nach ihrem leichtbedeckten Busen: als er plötzlich mit einem lauten Schrei zurückfuhr, seinen Pfeil zerbrach, den Bogen von sich warf, und mit zärtlich schüchterner Gebärde auf die schöne Danae zuflatterte. "O Göttin, vergib", (sang er, indem er bittend ihre Knie umfaßte) "vergib, vergib, schöne Mutter, dem Irrtum meiner Augen! wie leicht war es zu irren? Ich sahe dich für Danae an."
In dem nämlichen Augenblick, da er dieses gesungen hatte, erschienen die Grazien, die Liebesgötter und die kleinen Faunen wieder, und endigten diese Szene mit Tänzen und Gesängen, zum Preis derjenigen, welche auf eine so schmeichelhafte Art zur Göttin der Schönheit und der Liebe erklärt worden war. Dieses überraschende Kompliment, welches damals noch den Reiz der Neuheit hatte, weil es noch nicht an die Daphnen und Chloen so vieler neuern Poeten verschwendet worden war, schien ihr Vergnügen zu machen; und der doppelt belustigte Hippias gestand, daß sein junger Freund einen sehr guten Gebrauch von seiner Einbildungskraft zu machen gelernt habe. "Dachte ich nicht, Callias", sagte er leise zu ihm, indem er ihn auf die Schultern klopfte, "daß ein Monat unter den Augen der schönen Danae dich von den Vorurteilen heilen würde, womit du gegen Grundsätze eingenommen warest, die du bereits so meisterhaft auszuüben gelernt hast."
Der übrige Teil des Abends wurde auf eine eben so angenehme Weise zugebracht, bis endlich Hippias, welcher den folgenden Morgen wieder in Smirna sein mußte, in einem Zustande, worin er mehr dem Vater Silen als einem Weisen glich, von den kleinen Faunen zu Bette gebracht wurde.
Agathon hatte nun nichts dringenders als von Danae zu erfahren, was der Gegenstand ihrer einzelnen Unterredung mit dem Hippias gewesen sei. Man wird es dieser Dame zu gut halten können, daß sie die Aufrichtigkeit ihres Berichts nicht so weit trieb, ihm das Complot einzugestehen, worein sie sich von dem Sophisten anfangs hatte ziehen lassen; und dessen Ausgang so weit von der Anlage des ersten Plans entfernt gewesen war. Die zärtlichste und vertrauteste Liebe verhindert nicht, daß man sich nicht kleine Geheimnisse vorbehalten sollte, bei deren Entdeckung die Eigenliebe ihre Rechnung nicht finden würde. Sie begnügte sich also ihm zu sagen, daß Hippias viel Gutes von ihm gesprochen, und sie versichert habe, daß er ihn weit aufgeweckter und artiger finde als er vorher gewesen; es hätte sie bedünkt, daß er mehr damit sagen wollen, als seine Worte an sich selbst gesagt hätten; sie hätte aber eben so wenig daran gedacht ihn zum Vertrauten ihrer Liebe zu machen, als sie Ursache hätte, eine Achtung zu verbergen, welche man den persönlichen Verdiensten des Callias nicht versagen könne; im übrigen hätte sie seine Munterkeit auf die Rechnung der Zeit, welche das Andenken seiner Unglücksfälle schwäche, und der vollkommnern Freiheit geschrieben, die er in ihrem Hause hätte. Agathon ließ sich durch diese Erzählung nicht nur beruhigen; sondern, wie seine Einbildungskraft gewohnt war, ihn immer weiter zu führen, als er im Sinne hatte zu gehen, so fühlte er sich, nachdem sie eine Zeitlang von dieser Materie gesprochen hatten, so mutig, daß er sich vornahm den Scherzen des Hippias, wofern es demselben je einfallen sollte über seine Freundschaft mit Danae zu scherzen, in gleichem Ton zu antworten; eine Entschließung, welche (ob er es gleich nicht gewahr wurde) in der Tat mehr Unverschämtheit voraussetzte, als selbst ein langwieriger Fortgang auf den Abwegen, auf die er verirrt war, einem Agathon jemals geben konnte.
Konvulsivische Bewegungen der wiederauflebenden Tugend
Wenige Tage waren seit dem Besuch des Hippias verflossen; als ein Fest, welches er alle Jahre seinen Freunden zu geben pflegte, Gelegenheit machte, der schönen Danae und ihrem Freunde eine Einladung zuzusenden. Weil sie keinen guten Vorwand zu geben hatten, ihr Ausbleiben zu entschuldigen, so erschienen sie auf den bestimmten Tag, und Agathon brachte eine Lebhaftigkeit mit, welche ihm selbst Hoffnung machte, daß er sich so gut halten würde, als es die Anfälle, die er von der Schalkhaftigkeit des Sophisten erwartete, nur immer erfordern könnten. Hippias hatte nichts vergessen, was die Pracht seines Fests vermehren konnte; und nach demjenigen, was im zweiten Buch von den Grundsätzen, der Lebensart und den Reichtümern dieses Mannes gemeldet worden, können unsre Leser sich so viel davon einbilden als sie wollen, ohne zu besorgen, daß wir sie durch überflüssige Beschreibungen von den wichtigern Gegenständen, die wir vor uns haben, aufhalten würden.
Agathon hatte über der Tafel die Rolle eines witzigen Kopfs so gut gespielt; er hatte so fein und so lebhaft gescherzt, und bei Gelegenheiten die Ideen, wovon seine Seele damals beherrscht wurde, so deutlich verraten; daß Hippias sich nicht enthalten konnte, ihm in einem Augenblick, wo sie allein waren, seine ganze Freude darüber auszudrücken. "Ich bin erfreut, Callias" (sagte er zu ihm) "daß du, wie ich sehe, einer von den Unsrigen worden bist. Du rechtfertigest die gute Meinung vollkommen, die ich beim ersten Anblick von dir faßte; ich sagte immer, daß einer so feurigen Seele wie die deinige, nur wirkliche Gegenstände mangelten, um ohne Mühe von den Schimären zurückzukommen, woran du vor einigen Wochen noch so stark zu hängen schienest." Zum Glück für den guten Agathon rettete ihn die Darzwischenkunft einiger Personen von der Gesellschaft, mitten in der Antwort, die er zu stottern angefangen hatte; aber aus der Unruhe, welche diese wenige Worte des Sophisten in sein Gemüt geworfen hatten, konnte ihn nichts retten.
Alle Mühe, die er anstrengte, alle Zeitkürzungen, wovon er sich umgeben sah, waren zu schwach ihn wieder aus einer Verwirrung herauszuziehen, welche sogar durch den Anblick der schönen Danae vermehrt wurde. Er mußte einen Anstoß von übelkeit vorschützen, um sich eine Zeitlang aus der Gesellschaft wegzubegeben, um in einem entlegnen Cabinet den Gedanken nachzuhängen, deren auf einmal daherstürmende Menge ihm eine Weile alles Vermögen benahm, einen von dem andern zu unterscheiden. Endlich faßte er sich doch so weit, daß er seinem beklemmten Herzen durch dieses oft abgebrochene Selbstgespräch Luft machen konnte: "Wie?—'Ich bin erfreut, daß du einer von den Unsrigen geworden?'—Ists möglich? Einer von den Seinigen?—Dem Hippias ähnlich?—Ihm, dessen Grundsätze, dessen Leben, dessen vermeinte Weisheit mir vor kurzem noch so viel Abscheu einflößten?—Und die Verwandlung ist so groß, daß sie ihm keinen Zweifel übrig läßt? Gütige Götter! Wo ist euer Agathon?—Ach! es ist mehr als zu gewiß, daß ich nicht mehr ich selbst bin!—Wie? sind mir nicht alle Gegenstände dieses Hauses, von denen meine Seele sich ehmals mit Ekel und Grauen wegwandte, gleichgültig oder gar angenehm worden? Diese üppigen Gemälde—diese schlüpfrigen Nymphen—diese Gespräche, worin alles, was dem Menschen groß und ehrwürdig sein soll, in ein komisches Licht gestellt wird—diese Verschwendung der Zeit—diese mühsam ausgesonnenen und über die Forderung der Natur getriebenen Ergötzungen—Himmel! wo bin ich? An was für einem jähen Abhang find ich mich selbst—welch einen Abgrund unter mir—O Danae, Danae!—"hier hielt er inn, um den trostvollen Einflüssen Raum zu lassen, welche dieser Name und die zauberischen Bilder, so er mit sich brachte, über seine sich selbst quälende Seele ausbreiteten. Mit einem schleunigen übergang von Schwermut zu Entzückung, durchflog sie itzt alle diese Szenen von Liebe und Glückseligkeit, welche ihr die letztverfloßnen Tage zu Augenblicken gemacht hatten; und von diesen Erinnerungen mit einer innigen Wollust durchströmt, konnte sie oder wollte sie vielmehr den Gedanken nicht ertragen, daß sie in einem so beneidenswürdigen Zustand unter sich selbst heruntergesunken sein könne. "Göttliche Danae", rief der arme Kranke in einem verdoppelten Anstoß des wiederkehrenden Taumels aus; "wie? Kann es ein Verbrechen sein, das Vollkommenste unter allen Geschöpfen zu lieben? Ist es ein Verbrechen glücklich zu sein?"—In diesem Ton fuhr Amor, (welchen Plato sehr richtig den größten unter allen Sophisten nennt) desto ungehinderter fort ihm zuzureden, da ihm die Eigenliebe zu Hilfe kam, und seine Sache zu der ihrigen machte. Denn was ist unangenehmers, als sich selbst zugleich anklagen und verurteilen müssen? Und wie gerne hören wir die Stimme der sich selbst verteidigenden Leidenschaft? Wie gründlich finden wir jedes Blendwerk, womit sie die richterliche Vernunft zu einem falschen Ausspruch zu verleiten sucht? Agathon hörte diese betriegliche Apologistin so gerne, daß es ihr gelang, sein Gemüte wieder zu besänftigen. Er schmeichelte sich, daß ungeachtet einer Veränderung seiner Denkungsart, die er sich selbst für eine Verbesserung zu geben suchte, der Unterscheid zwischen ihm und Hippias noch so groß, so wesentlich sei als jemals. Er verbarg seine schwache Seite hinter die Tugenden, deren er sich bewußt zu sein glaubte; und beruhigte sich endlich völlig mit einem idealischen Entwurf eines seinen eignen Grundsätzen gemäßen Lebens, zu welchem er seine geliebte Danae schon genug vorbereitet glaubte, um ihr selbigen ohne längern Aufschub vorzulegen. Er kehrte nunmehr, nachdem er ungefähr eine Stunde allein gewesen war, mit einem so aufgeheiterten Gesicht zur Gesellschaft, welche sich in einem Saale des Gartens versammelt hatte, zurück, daß Danae und Hippias selbst sich bereden ließen, seinen vorigen Anstoß einer vorübergehenden übelkeit zuzuschreiben. Ergötzlichkeiten folgten itzt auf Ergötzlichkeiten so dicht aneinander, und so mannigfaltig, daß die überladene Seele keine Zeit behielt sich Rechenschaft von ihren Empfindungen zu geben; und nach Gewohnheit des Landes wurde die ganze Nacht bis zum Anbruch der Morgenröte in brausenden Vergnügungen hingebracht. Die Gegenwart der liebenswürdigen Danae würkte mit ihrer ganzen magischen Kraft auf unsern Helden, ohne verhindern zu können, daß er von Zeit zu Zeit in eine Zerstreuung fiel, aus welcher sie ihn, sobald sie es gewahr wurde, zu ziehen bemüht war. Die Gegenstände, welche seinen sittlichen Geschmack ehmals beleidigst hatten, waren hier zu häufig, als daß nicht mitten unter den flüchtigen Vergnügungen, womit sie gleichsam über die Oberfläche seiner Seele hinglitscheten, ein geheimes Gefühl seiner Erniedrigung seine Wangen mit Schamröte vor sich selbst, dem Vorboten der wiederkehrenden Tugend, hätte überziehen sollen.
Dieses begegnete insonderheit bei einem pantomimischen Tanze, womit Hippias seine größtenteils vom Bacchus glühenden Gäste noch eine geraume Zeit nach Mitternacht vom Einschlummern abzuhalten suchte. Die Tänzerin, ein schönes Mädchen, welches ungeachtet seiner Jugend, schon lange in den Geheimnissen von Cythere eingeweiht war, tanzte die Fabel der Leda. Dieses berüchtigte Meisterstück der eben so vollkommnen als üppigen Tanzkunst der Alten, von dessen Würkungen Juvenal in einer von seinen Satyren ein so zügelloses Gemälde macht. Hippias und die meisten seiner Gäste bezeugten ein unmäßiges Vergnügen über die Art, wie seine Tänzerin diese schlüpfrige Geschichte nach der wollüstigen Modulation zwoer Flöten, allein durch die stumme Sprache der Bewegung, von Szene zu Szene bis zur Entwicklung fortzuwinden wußte.—Zeuxes, und Homer selbst, riefen sie, konnte nicht besser, nicht deutlicher mit Farben oder Worten, als die Tänzerin durch ihre Bewegungen malen. Die Damen glaubten genug getan zu haben, daß sie auf dieses Schauspiel nicht Acht zu geben schienen; aber Agathon konnte den widrigen Eindruck, den es auf ihn machte, und den innerlichen Grauen, womit sein Gemüt dabei erfüllt wurde, kaum in sich selbst verschließen. Er wollte würklich etwas sagen, welches allerdings in der Gesellschaft, worin er war, übel angebracht gewesen wäre; als ein beschämter Blick auf sich selbst, und vielleicht die Furcht belacht zu werden, und den ausgelassenen Hippias zu einer allzuscharfen Rache zu reizen, seine Rede auf seinen Lippen erstickte; und weil doch die ersten Worte nun einmal gesagt waren, den vorgehabten Tadel in einen gezwungenen Beifall verwandelten. Er hatte nun keine Ruhe, bis er die schöne Danae bewogen hatte, sich mit einer von ihren Freundinnen aus einer Gesellschaft wegzuschleichen, aus welcher die Grazien schamrot wegzufliehen anfingen; und sein Unwille ergoß sich während daß sie nach Hause fuhren, in eine scharfe Verurteilung des verdorbenen Geschmacks des Sophisten, welche so lange dauerte, bis sie bei Anbruche des Tages wieder auf dem Landhause der Danae anlangten, um die von Ergötzungen abgemattete Natur zu derjenigen Zeit, welche zu den Geschäften des Lebens bestimmt ist, durch Ruhe und Schlummer wiederherzustellen.
Daß Träume nicht allemal Schäume sind
Die Stoiker, dieser strenge moralische Orden, dessen Abgang der vortreffliche Präsident von Montesquieu als einen Verlust für das menschliche Geschlecht ansieht, hatten unter andern Sonderlichkeiten, eine große Meinung von der Natur und Bestimmung der Träume. Sie trieben es so weit, daß sie sich die Mühe gaben, eben so große Bücher über diese Materie zu schreiben, als diejenigen, womit die gelehrte Welt noch in unsern Tagen, von einigen weisen Mönchen über die erhabne Kunst, die Gespenster zu prüfen und zu bannen, beschenkt worden ist. Sie teilten die Träume in mancherlei Gattungen und Arten ein, wiesen ihnen ihre geheime Bedeutungen an, gaben den Schlüssel dazu, und trugen kein Bedenken, einige Arten derselben ganz zuversichtlich dem Einfluß derjenigen Geister zuzuschreiben, womit sie alle Teile der Natur reichlich bevölkert hatten. In der Tat scheinen sie sich in diesem Stück lediglich nach einem allgemeinen Glauben, der sich von je her unter allen Völkern und Zeiten erhalten hat, gerichtet, und dasjenige in die Form einer schlußförmigen Theorie gebracht zu haben, was bei ihren Großmüttern ein sehr unsichers Gemische von Tradition, Einbildung und Blödigkeit des Geistes gewesen sein möchte. Dem sei nun wie ihm wolle, so ist gewiß, daß wir zuweilen Träume haben, in denen so viel Zusammenhang, so viel Beziehung auf unsre vergangne und gegenwärtige Umstände, wiewohl allezeit mit einem kleinen Zusatz von Wunderbarem und Unbegreiflichem, anzutreffen ist; daß wir uns um jener Merkmale der Wahrheit willen geneigt finden, in diesem letztern etwas geheimnisvolles und vorbedeutendes zu suchen. Träume von dieser Art den Geistern außer uns, oder, wie die Pythagoräer taten, einer gewissen prophetischen Kraft und Divination unsrer Seele beizumessen, welche unter dem tiefen Schlummer der Sinne bessere Freiheit habe, sich zu entwickeln: So sinnreiche Auflösungen überlassen wir denjenigen, welche zum Besitz jener von Lucrez so enthusiastisch gepriesenen Glückseligkeit, die Ursachen der Dinge einzusehen, in einem vollern Maße gelangt sind als wir. Indessen haben wir uns doch zum Gesetz gemacht, den guten Rat unsrer Amme nicht zu verachten, welche uns, da wir noch das Glück ihrer einsichtsvollen Erziehung genossen, unter Anführung einer langen Reihe von Familienbeispielen, ernstlich zu vermahnen pflegte, die Warnungen und Fingerzeige der Träume ja nicht für gleichgültig anzusehen.
Agathon hatte diesen Morgen, nachdem er in einer Verwirrung von uneinigen Gedanken und Gemütsbewegungen endlich eingeschlummert war, einen Traum, den wir mit einigem Recht zu den kleinen Ursachen zählen können, durch welche große Begebenheiten hervorgebracht worden sind. Wir wollen ihn erzählen, wie wir ihn in unsrer Urkunde finden, und dem Leser überlassen, was er davon urteilen will. Ihn deuchte also, daß er in einer Gesellschaft von Nymphen und Liebesgöttern auf einer anmutigen Ebne sich erlustige. Danae war unter ihnen. Mit zauberischem Lächeln reichte sie ihm, wie Ariadne ihrem Bacchus, eine Schale voll Nektars, welchen er an ihren Blicken hangend mit wollüstigen Zügen hinunterschlürfte. Auf einmal fing alles um ihn her zu tanzen an; er tanzte mit; ein Nebel von süßen Düften schien rings um ihn her die wahre Gestalt der Dinge zu verbergen, und tausend liebliche Gestalten gaukelten vor seiner Stirne, welche wie Seifenblasen eben so schnell zerflossen als entstunden. In diesem Taumel tanzte und hüpfte er eine Zeit lang fort, bis auf einmal der Nebel und seine ganze fröhliche Gesellschaft verschwand: Ihm war als ob er aus einem tiefen Schlaf erwachte; und da er die Augen aufschlug, sah er sich an der Spitze eines jähen Felsens, unter welchem ein reißender Strom seine sprudelnden Wellen fortwälzte. Gegen ihm über, auf dem andern Ufer des Flusses, stand Psyche; ein schneeweißes Gewand floß zu ihren Füßen herab; ganz einsam und traurig stand sie, und heftete Blicke auf ihn, die ihm das Herz durchbohrten. Ohne sich einen Augenblick zu besinnen, stürzte er sich in den Fluß hinab, arbeitete sich ans andre Ufer hinüber, und eilte, sich seiner Psyche zu Füßen zu werfen. Aber sie entschlüpfte wie ein Schatten vor ihm her, ohne daß sie aufhörte, sichtbar zu sein; ihr Gesicht war traurig, und ihre rechte Hand wies in die Ferne, wo er die goldnen Türme und die heiligen Haine des delphischen Tempels ganz deutlich zu unterscheiden glaubte. Tränen liefen bei diesem Anblick über seine Wangen herab; er streckte seine Arme, flehend, und von unaussprechlichen Empfindungen beklemmt, nach der geliebten Psyche aus; aber sie floh eilends von ihm weg, einer Bildsäule der Tugend zu, welche unter den Trümmern eines verfallnen Tempels, einsam und unversehrt, in majestätischer Ruhe auf einem unbeweglichen Cubus stand. Psyche umarmte diese Bildsäule, warf noch einen tiefsinnigen Blick auf ihn und verschwand. Verzweifelnd wollte er ihr nacheilen, als er sich plötzlich in einem tiefen Schlamme versenket sah; und die Bestrebung, die er anwendete, sich herauszuarbeiten, war so heftig, daß er daran erwachte.
Ein Strom von Tränen, in welchen sein berstendes Herz ausbrach, war die erste Würkung des tiefen Eindruckes, den dieser sonderbare Traum in seiner erwachten aber noch ganz von ihren Gesichten umgebnen Seele zurückließ. Er weinte so lange und so heftig, daß sein Hauptküssen ganz davon durchnetzt wurde. "Ach Psyche! Psyche!" rief er von Zeit zu Zeit aus, indem er seine gerungenen Arme wie nach ihrem Bilde ausstreckte; und dann brach eine neue Flut aus seinen schwellenden Augen. "Wo bin ich", rief er wiederum aus, und sah sich um, als ob er bestürzt wäre, sich in einem mit Persischen Tapeten behangnen, und von tausend Kostbarkeiten schimmernden Zimmer auf dem weichsten Ruhebette liegend zu finden—"O Psyche—was ist aus deinem Agathon worden?—O unglücklicher Tag, an dem mich die verhaßten Räuber deinem Arm entrissen!"—Unter solchen Vorstellungen und Ausrufungen stund er auf; ging in heftiger Bewegung auf und nieder, warf sich abermal auf das Ruhbette, und blieb eine lange Zeit stumm, und mit zu Boden starrenden Blicken unbeweglich, wie in Gedanken verloren, sitzen. Endlich raffte er sich wieder auf, kleidete sich an, und stieg in die Gärten herab, um in dem einsamsten Teil des Hains die Ruhe zu suchen, welche er nötig hatte, über seinen Traum, seinen gegenwärtigen Zustand und die Entschließungen, die er zu fassen habe, nachdenken zu können. Unter allen Bildern, welche der Traum in seinem Gemüte zurückgelassen hatte, rührte ihn keines lebhafter als die Vorstellung der Psyche, wie sie mit ernstem Gesicht auf den Tempel und die Haine von Delphi wies—die geheiligten örter, wo sie einander zuerst gesehen, wo sie so oft sich eine ewige Liebe geschworen, wo sie so rein, so tugendhaft sich geliebt hatten, wie sich im hohen Olymp die Unverkörperten lieben.
Diese Bilder hatten etwas so rührendes, und der Schmerz, womit sie ihn durchdrangen, wurde durch die lebhaftesten Erinnerungen seiner ehmaligen Glückseligkeit so sanft gemildert, daß er eine Art von Wollust darin empfand, sich der zärtlichen Wehmut zu überlassen, wovon seine Seele dabei eingenommen wurde. Er verglich seinen itzigen Zustand mit jener seligen Stille des Herzens, mit jener immer lächelnden Heiterkeit der Seele, mit jenen sanften und unschuldsvollen Freuden, zu welchen, seiner Einbildung nach, unsterbliche Zuschauer ihren Beifall gegeben hatten: Und indem er unvermerkt, anstatt die Vergleichung unparteiisch fortzusetzen, sich dem schleichenden Lauf seiner erregten Einbildungskraft überließ; deuchte ihn nicht anders, als ob seine Seele nach jener elysischen Ruhe, wie nach ihrem angebornen Elemente, sich zurücksehne. "Wenn es auch Schwärmereien waren", rief er seufzend aus, "wenn es auch bloße Träume waren, in die mein halbabgeschiedner, halbvergötterter Geist sich wiegte—welch eine selige Schwärmerei! Und wie viel glücklicher machten mich diese Träume, als alle die rauschenden Freuden, welche die Sinnen in einem Wirbel von Wollust dahinreißen, und wenn sie vorüber sind, nichts als Beschämung und Reue, und ein schwermütiges Leeres im unbefriedigten Geist zurücklassen!"
Vielleicht werden unsre Leser aus demjenigen, was damals in dem Gemüte unsers Helden vorging, sich viel Gutes für seine Wiederkehr zur Tugend weissagen. Aber mit Bedauern müssen wir gestehen, daß sich eine andre Seele in seinem Inwendigen erhob, welche die Würkung dieser guten Regungen in kurzem wieder unkräftig machte; es sei nun, daß es die Stimme der Natur oder der Leidenschaft war, oder daß beide sich vereinigten, ihn ohne Abbruch seiner Eigenliebe wieder mit sich selbst und dem Gegenwärtigen auszusöhnen.
In der Tat war es bei der Lebhaftigkeit, welche alle Ideen und Gemütsbewegungen dieses sonderbaren Menschens charakterisierte, kaum möglich, daß der überspannte Affekt, worin wir ihn gesehen haben, von langer Dauer hätte sein können. Die Stärke seiner Empfindungen rieb sich an sich selbst ab; seine Einbildungskraft pflegte in solchen Fällen so lange in geradem Lauf fortzuschießen, bis sie sich genötiget fand, wieder umzukehren. Er fing nun an, sich zu überreden, daß mehr Schwärmerei als Wahrheit und Vernunft in seiner Betrübnis sei; er glaubte bei näherer Vergleichung zu finden, daß seine Leidenschaft für Danae durch die Vollkommenheit des Gegenstands gänzlich gerechtfertiget würde, und so vorzüglich ihm kurz zuvor die Glückseligkeit seines delphischen Lebens, und die unschuldigen Freuden der ersten noch unerfahrnen Liebe geschienen hatten; so unwesentlich fand er sie itzt in Vergleichung mit demjenigen, was ihn die schöne Danae in ihren Armen hatte erfahren lassen. Das bloße Andenken daran setzte sein Blut in Feuer, und seine Seele in Entzückung; seine angestrengteste Einbildung erlag unter der Bestrebung eine vollkommnere Wonne zu erfinden.
Psyche schien ihm itzt, so liebenswürdig sie immer sein mochte, zu nichts anderm bestimmt gewesen zu sein, als die Empfindlichkeit seines Herzens zu entwickeln, um ihn fähig zu machen, die Vorzüge der unvergleichlichen Danae zu empfinden. Er schrieb es einem Rückfall in seine ehmalige Schwärmerei zu, daß er sich durch einen Traum, welchen er mit aller seiner sonderbaren Beschaffenheit, doch für nichts mehr als ein Spiel der Phantasie halten konnte, in so heftige Bewegungen hätte setzen lassen. Das einzige, was ihn noch beunruhigte, war der Vorwurf der Untreue gegen seine einst so zärtlich geliebte und so zärtlich wieder liebende Psyche. Allein die Unmöglichkeit von der unwiderstehlichen Danae nicht überwunden zu werden; (ein Punkt, wovon er so vollkommen als von seinem eignen Dasein überzeugt zu sein glaubte.) Der Verlust aller Hoffnung, Psyche jemals wieder zu finden, (welchen er, ohne genauere Untersuchung, für ausgemacht annahm;) beides schien ihm gegen diesen Vorwurf von großem Gewicht zu sein; und um sich desselben gänzlich zu entledigen, geriet er endlich gar auf den Gedanken, daß seine Verbindung mit Psyche mehr die Liebe eines Bruders zu einer Schwester, eine bloße Liebe der Seelen, als dasjenige gewesen sei, was im eigentlichen Sinn Liebe genennt werden sollte; eine Entdeckung, die ihm bei Vergleichung der Symptomen dieser beiden Arten von Liebe, unwidersprechlich zu sein deuchte. Diese Vorstellungen stiegen nach und nach, zumal an einem Orte, wo jede schattichte Laube, jede Blumenbank, jede Grotte, ein Zeuge genoßner Glückseligkeiten war, zu einer solchen Lebhaftigkeit, daß sie eine Art von Ruhe in seinem Gemüte wieder herstellten; wenn anders die Verblendung eines Kranken, der in der Hitze seines Fiebers gesund zu sein wähnt, diesen Namen verdienen kann. Doch verhinderten sie nicht, daß, diesen ganzen Tag über, ein Eindruck von Schwermut und Traurigkeit in seinem Gemüte zurückblieb; die Bilder der Psyche und der Tugend, welche er so lange gewohnt gewesen war zu vermengen, stellten sich immer wieder vor seine Augen; umsonst suchte er sie durch Zerstreuungen zu entfernen; sie überraschten ihn in seinen Arbeiten, und beunruhigten ihn in seinen Ergötzungen; er suchte ihnen auszuweichen, der Unglückliche! und wurde nicht gewahr, daß eben dieses ein vollständiger Beweis sei, daß es nicht so richtig mit ihm stehe, als er sich selbst zu überreden suchte.
Ein starker Schritt zu einer Katastrophe
Danae liebte zu zärtlich, als daß ihr der stille Kummer, der eine wiewohl anmutige Düsternheit über das schöne Gesicht unsers Helden ausbreitete, hätte unbemerkt bleiben können; aber aus eben diesem Grunde war sie zu schüchtern, ihn voreilig um die Ursache einer so unerwarteten Veränderung zu befragen. Es war leicht zu sehen, daß sein Herz leiden müsse; aber mit aller Scharfsichtigkeit, welche den Augen der Liebe eigen ist, konnte sie doch nicht mit sich selbst einig werden, was die Ursache davon sein könne. Ihr erster Gedanke war, daß ihm vielleicht ein zu weit getriebner Scherz des boshaften Hippias anstößig gewesen sein möchte. Allein was auch Hippias gesagt haben konnte, schien ihr nicht genugsam, eine so tiefe Wunde zu machen, als sie in seinem Herzen zu sehen glaubte. Das Interesse ihres eignen brachte sie bald auf einen andern Gedanken, dessen sie vermutlich nicht fähig gewesen wäre, wenn ihre Liebe nicht die Eitelkeit überwogen hätte, welche bei den meisten Schönen die wahre Quelle dessen ist, was sie uns für Liebe geben wollen. "Wie, wenn seine Liebe zu erkalten anfinge"; sagte sie zu sich selbst—"erkalten? Himmel! wenn das möglich ist, so werde ich bald gar nicht mehr geliebt sein."—Dieser Gedanke war zu entsetzlich für ein so völlig eingenommenes Herz, als daß sie ihn sogleich hätte verbannen können—wie bescheiden macht die wahre Liebe!—Sie, welche gewohnt gewesen war, in allen Augen die Würkungen ihres alles besiegenden Reizes zu sehen; sie, welche unter den Vollkommensten ihres Geschlechts nicht Eine kannte, von der sie jemals in dem süßen Bewußtsein ihrer Vorzüglichkeit nur einen Augenblick gestört worden wäre—mit einem Wort—Danae—fing an mit Zittern sich selbst zu fragen: ob sie auch liebenswürdig genug sei, das Herz eines so außerordentlichen Mannes in ihren Fesseln zu behalten? Und wenn gleich die Eigenliebe sie von Seiten ihres persönlichen Wertes hierüber beruhigte; so war sie doch nicht ohne Sorgen, daß in ihrem Betragen etwas gewesen sein möchte, wodurch das Sonderbare in seiner Denkungsart, oder die edle Zärtlichkeit seiner Empfindungen hätte beleidiget werden können. Hatte sie ihm nicht zuviel Beweise von ihrer Liebe gegeben? Hätte sie ihm seinen Sieg nicht schwerer machen sollen? War es sicher, ihn die ganze Stärke ihrer Leidenschaft sehen zu lassen, und sich wegen der Erhaltung seines Herzens allein auf die gänzliche Dahingebung des Ihrigen zu verlassen?—Diese Fragen waren weder spitzfindig noch so leicht zu beantworten, als manches gute Ding sich einbildet, dem man eine ewige Liebe geschworen hat, und dessen geringster Kummer nun ist, ob man ihr werde Wort halten können. Die schöne Danae kannte die Wichtigkeit derselben in ihrem ganzen Umfange; und alles was sie sich selbst darüber sagen konnte, stellte sie doch nicht so zufrieden, daß sie nicht für nötig befunden hätte, einen gelegnen Augenblick zu belauschen, um sich über alle ihre Zweifel ins Klare zu setzen; im übrigen sehr überzeugt, daß es ihr nicht an Mitteln fehlen werde, dem entdeckten übel zu helfen, es möchte nun auch bestehen, worin es immer wollte. Agathon ermangelte nicht, ihr noch an dem nämlichen Tag Gelegenheit dazu zu geben.
Schwermut und Traurigkeit machen die Seele nach und nach schlaff, und eröffnen sie allen weichen und zärtlichen Regungen. Dieser Satz ist so wahr, daß tausend Liebesverbindungen in der Welt keinen andern Ursprung haben. Ein Liebhaber verliert einen Gegenstand, den er anbetet; er ergießt seine Klagen in den Busen einer Freundin, für deren Reizungen er bisher vollkommen gleichgültig gewesen war—Sie bedauert ihn; er findet sich dadurch erleichtert, daß er sich frei und ungehindert beklagen kann; und die Schöne ist erfreut, daß sie Gelegenheit hat, ihr gutes Herz zu zeigen: Ihr Mitleiden rührt ihn, und erregt seine Aufmerksamkeit: Sobald eine Frauensperson zu interessieren anfängt, sobald entdeckt man Reizungen an ihr: Die Regungen, worin beide sich befinden, sind der Liebe günstig; sie verschönern die Freundin, und blenden die Augen des Freundes: überdem sucht der Schmerz natürlicher Weise eine Zerstreuung, und ist geneigt sich an alles zu hängen, was ihm Trost und Linderung verspricht: Eine dunkle Ahnung neuer Vergnügungen; der Anblick eines Gegenstands, der solche geben kann; die günstige Gemütsstellung, worin man denselben sieht, auf der Einen—die Eitelkeit, diese große Treibfeder des weiblichen Herzens; das Vergnügen, so zu sagen, einen Sieg über eine Nebenbuhlerin davon zu tragen, indem man liebenswürdig genug ist, ihren Verlust zu ersetzen; die Begierde, selbst ihr Andenken auszulöschen; vielleicht, auch die Gutherzigkeit der menschlichen Natur, und das Vergnügen glücklich zu machen, auf der andern Seite—wie viel Umstände, welche sich vereinigen, unvermerkt den Freund in einen Liebhaber, und die Vertraute in die Hauptperson eines neuen Romans zu verwandeln.
In einer Gemütsverfassung von dieser Art befand sich Agathon, als Danae, welche vernommen hatte, daß er den ganzen Abend in der einsamsten Gegend des Gartens zugebracht, sich nicht mehr zurückhalten konnte ihn aufzusuchen. Sie fand ihn mit halbem Leib auf einer grünen Bank liegen, das Haupt unterstützt, und so zerstreut, daß sie eine Weile vor ihm stand, ehe er sie gewahr wurde. "Du bist traurig, Callias", sagte sie endlich mit einer gerührten Stimme, indem sie Augen voll mitleidender Liebe auf ihn heftete. "Kann ich traurig sein, wenn ich dich sehe?" erwiderte Agathon, mit einem Seufzer, welcher seine Frage zu beantworten schien. Auch gab ihm Danae keine Antwort auf ein so verbindliches Kompliment, sondern fuhr fort, ihn stillschweigend, aber mit einem Gesicht voll Seele, und Augen die voller Wasser standen, anzusehen. Er richtete sich auf, und sahe sie eine Weile an, als ob er bis in den Grund ihrer Seele schauen wollte. Ihre Herzen schienen durch ihre Blicke in einander zu zerfließen. "Liebest du mich, Danae?" fragte endlich Agathon mit einer von Zärtlichkeit und Wehmut halberstickten Stimme, indem er einen Arm um sie schlang, und fortfuhr sie mit wäßrichten Augen anzusehen. Sie schwieg eine Zeit lang. "Ob ich dich liebe? -" War alles was sie sagen konnte; aber der Ausdruck, der Ton, womit sie es sagte, hätte durch alle Beredsamkeit des Demosthenes nicht ersetzt werden können. "Ach Danae!" (erwidert Agathon) "ich frage nicht, weil ich zweifle—Kann ich eine Versichrung, von welcher das ganze Glück meines Lebens abhängt, zu oft von diesen geliebten Lippen empfangen? Wenn du mich nicht liebtest—wenn du aufhören könntest mich zu lieben -" "Was für Gedanken, mein liebster Callias?" unterbrach sie ihn: "Wie elend wär ich, wenn du sie in deinem Herzen fändest—wenn dieses dir sagte, daß eine Liebe wie die unsrige aufhören könne?"—Ein übelverhehlter Seufzer war alles was er antworten konnte. "Du bist traurig, Callias", fuhr sie fort; "ein geheimer Kummer bricht aus allen deinen Zügen hervor—Du begreifst nicht, nein, du begreifst nicht, was ich leide, dich traurig zu sehen, ohne die Ursache davon zu wissen. Wenn mein Vermögen, wenn meine Liebe, wenn mein Leben selbst hinlänglich ist, sie von dir zu entfernen, mein Geliebter, o! so verzögre keinen Augenblick, dein Innerstes mir aufzuschließen -" Der Ausdruck, die Blicke, der Ton der Stimme, womit sie dieses sagte, rührte den gefühlvollen Agathon bis zu sprachloser Entzückung. Er wand seine Arme um sie, druckte sein Gesicht auf ihre klopfende Brust, und konnte lange nur durch die Tränen reden, womit er sie benetzte.
Nichts ist ansteckenders als der Affekt einer in Empfindung zerfließenden Seele. Danae, ohne die Ursach aller dieser Bewegungen zu wissen, wurde so sehr von dem Zustand gerührt, worin sie ihren Liebhaber sah, daß sie eben so sprachlos als er selbst, sympathetische Tränen mit den Seinigen vermischte. Diese Szene, welche für den gleichgültigen Leser nicht so interessant sein kann, als sie es für unsre Verliebten war, dauerte eine ziemliche Weile. Endlich faßte sich Agathon, und sagte in einer von diesen zärtlichen Ergießungen der Seele, an welchen die überlegung keinen Anteil hat, und worin man keine andre Absicht hat als ein volles Herz zu erleichtern: "Ich liebe dich zu sehr, unvergleichliche Danae, und fühle zu sehr, daß ich dich nicht genug lieben kann, um dir länger zu verhehlen, wer dieser Callias ist, den du, ohne ihn zu kennen, deines Herzens würdig geachtet hast. Ich will dir das Geheimnis meines Namens und die ganze Geschichte meines Lebens, so weit ich in selbiges zurückzusehen vermag, entdecken; und wenn du alles wissen wirst—ich weiß es, daß ich einer so großen Seele, wie die deinige, alles entdecken darf—Denn wirst du vielleicht natürlich finden, daß der flüchtigste Zweifel, ob es möglich sein könne deine Liebe zu verlieren, hinlänglich ist, mich elend zu machen." Danae stutzte, wie man sich vorstellen kann, bei einer so unerwarteten Vorrede; sie sah unsern Helden so aufmerksam an, als ob sie ihn noch nie gesehen hätte, und verwunderte sich itzt über sich selbst, daß ihr nicht längst in die Augen gefallen war, daß weit mehr unter ihrem Liebhaber verborgen sei, als die Nachrichten des Hippias, und die Umstände, worin sich ihre Bekanntschaft angefangen, vermuten ließen. Sie dankte ihm auf die zärtlichste Art für die Probe eines vollkommnen Zutrauens, welche er ihr geben wolle, und nach einigen vorbereitenden Liebkosungen, womit sie ihre Dankbarkeit bestätigte, fing Agathon die folgende Erzählung an:
Die erste Jugend des Agathons
"Ich war schon achtzehn Jahre alt, eh ich denjenigen kannte, dem ich mein Dasein zu danken habe. Von der ersten Kindheit an, in den Hallen des delphischen Tempels erzogen, war ich gewöhnt, die Priester des Apollo mit diesen kindlichen Empfindungen anzusehen, welche das erste Alter über alle, die für unsre Erhaltung Sorge tragen, zu ergießen pflegt. Ich war noch ein kleiner Knabe, als ich schon mit dem geheiligten Gewand, welches die jungen Diener des Gottes von den Sklaven der Priester unterschied, bekleidet, und zum Dienst des Tempels, wozu ich gewidmet war, zubereitet wurde.
Wer Delphi gesehen hat, wird sich nicht verwundern, daß ein Knabe von gefühlvoller Art, der beinahe von der Wiegen an daselbst erzogen worden, unvermerkt eine Gemütsbildung bekommen muß, welche ihn von den gewöhnlichen Menschen unterscheidet. Außer der besondern Heiligkeit, welche ein uraltes Vorurteil und die geglaubte Gegenwart des Pythischen Gottes der ganzen delphischen Landschaft beigelegt hat, war in den Bezirken des Tempels selbst kein Platz, der nicht von irgend einem ehrwürdigen oder glänzenden Gegenstand erfüllt, oder durch das Andenken irgend eines Wunders verherrlichet war. Wie nun der Anblick so vieler wundervoller Dinge das erste war, woran meine Augen gewöhnt wurden: So war die Erzählung wunderbarer Begebenheiten die erste mündliche Unterweisung, die ich von meinen Vorgesetzten erhielt; eine Art von Unterricht, den ich nötig hatte, weil es ein Teil meines Berufs sein sollte, den Fremden, von welchen der Tempel immer angefüllt war, die Gemälde, die Schnitzwerke und Bilder, und den unsäglichen Reichtum von Geschenken, wovon die Hallen und Gewölbe desselben schimmerten, zu erklären.
Für ungewohnte Augen ist vielleicht nichts blendenders als der Anblick eines von so vielen Königen, Städten und reichen Partikularen in ganzen Jahrhunderten zusammengehäuften Schatzes von Gold, Silber, Edelsteinen, Perlen, Elfenbein und andern Kostbarkeiten: Für mich, der dieses Anblicks gewohnt war, hatte die bescheidne Bildsäule eines Solon mehr Reiz, als alle diese schimmernde Trophäen einer abergläubischen Andacht, welche ich gar bald mit eben der verachtenden Gleichgültigkeit ansahe, womit ein Knabe die Puppen und Spielwerke seiner Kindheit anzusehen pflegt. Noch unfähig, von den Verdiensten und dem wahren Wert der vergötterten Helden mir einen echten Begriff zu machen, stand ich oft vor ihren Bildern, und fühlte, indem ich sie betrachtete, mein Herz mit geheimen Empfindungen ihrer Größe und mit einer Bewundrung erfüllt, wovon ich keine andre Ursache als mein innres Gefühl hätte angeben können. Einen noch stärkern Eindruck machte auf mich die große Menge von Bildern der verschiednen Gottheiten, unter welchen unsre Voreltern die erhaltenden Kräfte der Natur, die manchfaltigen Vollkommenheiten des menschlichen Geistes und die Tugenden des geselligen Lebens personifiziert haben, und wovon ich im Tempel und in den Hainen von Delphi mich allenthalben umgeben fand. Meine damalige Erfahrung, schöne Danae, hat mich seitdem oftmals auf die Betrachtung geleitet, wie groß der Beitrag sei, welchen die schönen Künste zu Bildung des sittlichen Menschen tun können; und wie weislich die Priester der Griechen gehandelt, da sie die Musen und Grazien, deren Lieblinge ihnen so große Dienste getan, selbst unter die Zahl der Gottheiten aufgenommen haben. Der wahre Vorteil der Religion, in so fern sie eine besondere Angelegenheit des priesterlichen Ordens ist, scheinet von der Stärke der Eindrücke abzuhängen, die wir in denjenigen Jahren empfangen, worin wir noch unfähig sind, Untersuchungen anzustellen. Würden unsre Seelen in Absicht der Götter und ihres Dienstes von der Kindheit an leere Tafeln gelassen, und anstatt der unsichern und verworrenen aber desto lebhaftern Begriffe, welche wir durch Fabeln und Wunder-Geschichte, und in etwas zunehmendem Alter durch die Musik und die abbildenden Künste von den übernatürlichen Gegenständen bekommen, allein mit den unverfälschten Eindrücken der Natur und den Grundsätzen der Vernunft überschrieben; so ist sehr zu vermuten, daß der Aberglaube noch größere Mühe haben würde, die Vernunft—als, in dem Falle, worin die meisten sich befinden, die Vernunft Mühe hat, den Aberglauben von der einmal eingenommenen Herrschaft zu verdrängen. Der größte Vorteil, den dieser über jene hat, hanget davon ab, daß er ihr zuvorkommt. Aber wie leicht wird es ihm alsdenn sich einer noch unmündigen Seele zu bemeistern, wenn alle diese zauberische Künste, welche die Natur im Nachahmen selbst zu übertreffen scheinen, ihre Kräfte vereinigen, die entzückten Sinnen zu überraschen? Wie natürlich muß es demjenigen werden die Gottheit des Apollo zu glauben, ja endlich sich zu bereden, daß er ihre Gegenwart und Einflüsse fühle, der in einem Tempel aufgewachsen ist, dessen erster Anblick das Werk und die Wohnung eines Gottes ankündet? Demjenigen, der gewohnt ist den Apollo eines Phidias vor sich zu sehen, und das mehr als menschliche, welches die Kenner so sehr bewundern, der Natur des Gegenstands, nicht dem schöpferischen Geiste des Künstlers zuzuschreiben?
So viel ich die Natur unsrer Seele kenne, deucht mich, daß sich in einer jeden, die zu einem gewissen Grade von Entwicklung gelangt, nach und nach ein gewisses idealisches Schöne bilde, welches (auch ohne daß man sich's bewußt ist) unsern Geschmack und unsre sittliche Urteile bestimmt, und das Modell abgibt, wornach unsre Einbildungskraft die besondern Bilder dessen was wir groß, schön und vortrefflich nennen, zu entwerfen scheint. Dieses idealische Modell formiert sich (wie mich itzo wenigstens deucht, nachdem neue Erfahrungen mich auf neue oder erweiterte Betrachtungen geleitet haben) aus der Beschaffenheit und dem Zusammenhang der Gegenstände, worin wir zu leben anfangen.
Daher (wie die Erfahrung zu bestätigen scheint) so viele besondere Denk—und Sinnesarten als man verschiedene Erziehungen und Stände in der menschlichen Gesellschaft antrifft. Daher der Spartanische Heldenmut, die Attische Urbanität, und der aufgedunsene Stolz der Asiaten; daher die Verachtung des Geometers für den Dichter, oder des spekulierenden Kaufmanns gegen die Spekulationen des Gelehrten, die ihm unfruchtbar scheinen, weil sie sich in keine Darici verwandeln wie die seinigen; daher der grobe Materialismus des plumpen Handwerkers, der rauhe Ungestüm des Seefahrers, die mechanische Unempfindlichkeit des Soldaten, und die einfältige Schlauheit des Landvolks; daher endlich, schöne Danae, die Schwärmerei, welche der weise Hippias deinem Callias vorwirft; diese Schwärmerei, die ich vielleicht in einem minder erhabnen Licht sehe, seitdem ich ihre wahre Quelle entdeckt zu haben glaube; aber die ich nichts desto weniger für diejenige Gemütsbeschaffenheit halte, welche uns, unter den nötigen Einschränkungen, glücklicher als irgend eine andre machen kann.
Du begreifest leicht, schöne Danae, daß unter lauter Gegenständen, welche über die gewöhnliche Natur erhaben, und selbst schon idealisch sind, jenes phantastische Modell, dessen ich vorhin erwähnte, in einem so ungewöhnlichen Grade abgezogen und überirdisch werden mußte, daß bei zunehmendem Alter alles was ich würklich sah, weit unter demjenigen war, was sich meine Einbildungskraft zu sehen wünschte. In dieser Gemütsverfassung war ich, als einer von den Priestern zu Delphi aus Absichten, welche sich erst in der Folg' entwickelten, es übernahm, mich in den Geheimnissen der Orphischen Philosophie einzuweihen; der einzigen, die von unsern Priestern hochgeachtet wurde, weil sie die Vernunft selbst auf ihre Partei zu ziehen, und den Glauben von dessen unbeweglichem Ansehen das ihrige abhing, einen festern Grund als die Tradition und die Fabeln der Dichter, zu geben schien.
Nichts, was ich jemals empfunden habe, gleicht der Entzückung, in die ich hingezogen wurde, als ich in den Händen dieses Egyptiers, der die geheime Götterlehre seiner Nation zu uns gebracht hat, in das Reich der Geister eingeführt, und zu einer Zeit, da die erhabensten Gemälde Homers und Pindars ihren Reiz für mich verloren hatten, mitten in der materiellen Welt mir eine Neue, mit lauter unsterblichen Schönheiten erfüllt, und von lauter Göttern bewohnt, eröffnet wurde.
Das Alter, worin ich damals war, ist dasjenige, worin wir, aus dem langen Traum der Kindheit erwachend, uns selbst zuerst zu finden glauben, die Welt um uns her mit erstaunten Augen betrachten, und neugierig sind, unsre eigne Natur und den Schauplatz, worauf wir uns ohn unser Zutun versetzt sehen, kennen zu lernen. Wie willkommen ist uns in diesem Alter eine Philosophie, welche den Vorteil unsrer Wissensbegierde mit dieser Neigung zum Wunderbaren und dieser arbeitscheuen Flüchtigkeit, welche der Jugend eigen sind, vereiniget, welche alle unsre Fragen beantwortet, alle Rätsel erklärt, alle Aufgaben auflöset; eine Philosophie, welche destomehr mit dem warmen und gefühlvollen Herzen der Jugend sympathisiert, weil sie alles Unempfindliche und Tote aus der Natur verbannet, und jeden Atom der Schöpfung mit lebenden und geistigen Wesen bevölkert, jeden Punkt der Zeit mit verborgnen Begebenheiten und großen Szenen befruchtet, welche für künftige Ewigkeiten heranreifen; ein System, welches die Schöpfung so unermeßlich macht, als ihr Urheber ist; welches uns in der anscheinenden Verwirrung der Natur eine majestätische Symmetrie, in der Regierung der moralischen Welt einen unveränderlichen Plan, in der unzählbaren Menge von Klassen und Geschlechtern der Wesen einen einzigen Staat, in den verwickelten Bewegungen aller Dinge einen allgemeinen Richtpunkt, in unsrer Seele einen künftigen Gott, in der Zerstörung unsers Körpers die Wiedereinsetzung in unsre ursprüngliche Vollkommenheit, und in dem nachtvollen Abgrund der Zukunft helle Aussichten in grenzenlose Wonne zeigt? Ein solches System ist zu schön an sich selbst, zu schmeichelhaft für unsern Stolz, unsern innersten Wünschen und wesentlichsten Trieben zu angemessen, als daß wir es in einem Alter, wo alles Große und Rührende so viel Macht über uns hat, nicht beim ersten Anblick wahr finden sollten. Vermutungen und Wünsche werden hier zu desto stärkern Beweisen, da wir in dem bloßen Anschauen der Natur zuviel Majestät, zuviel Geheimnisreiches und Göttliches zu sehen glauben, um besorgen zu können, daß wir jemals zugroß von ihr denken möchten. Und, soll ich dirs gestehen, schöne Danae? Selbst itzt, da mich glückliche Erfahrungen das Schwärmende und Unzuverlässige dieser Art von Philosophie gelehrt haben, fühle ich mit einer innerlichen Gewalt, die sich gegen jeden Zweifel empört, daß diese übereinstimmung mit unsern edelsten Neigungen, welche ihr das Wort redet, der rechte Stempel der Wahrheit ist, und daß selbst in diesen Träumen, welche dem materialischen Menschen so ausschweifend scheinen, für unsern Geist mehr Würklichkeit, mehr Unterhaltung und Aufmunterung, eine reichere Quelle von ruhiger Freude und ein festerer Grund der Selbstzufriedenheit liegt, als in allem was die Sinne uns angenehmes und Gutes anzubieten haben. Doch ich erinnere mich, daß es die Geschichte meiner Seele, und nicht die Rechtfertigung meiner Denkensart ist, wozu ich mich anheischig gemacht habe. Es sei also genug, wenn ich sage, daß die Lehrsätze des Orpheus und des Pythagoras, von den Göttern, von der Natur, von unsrer Seele, von der Tugend, und von dem was das höchste Gut des Menschen ist, sich meines Gemüts so gänzlich bemeisterten, daß alle meine Begriffe nach diesem Urbilde gemodelt, alle meine Reizungen davon beseelt, und mein ganzes Betragen, so wie alle meine Entwürfe für die Zukunft, mit dem Plan eines nach diesen Grundsätzen abgemessenen Lebens, dessen Beurteilung mich unaufhörlich in mir selbst beschäftigte, übereinstimmig waren."
En animam & mentem cum qua Di nocte loquantur!
"Der Priester, der sich zu meinem Mentor aufgeworfen hatte, schien über den außerordentlichen Geschmack, den ich an seinen erhabnen Unterweisungen fand, sehr vergnügt zu sein, und ermangelte nicht, meinen Enthusiasmus bis auf einen Grad zu erhöhen, welcher mich, seiner Meinung nach, alles zu glauben und alles zu leiden fähig machen müßte. Ich war zu jung und zu unschuldig, um das kleinste Mißtrauen in seine Bemühungen zu setzen, bei welchen die Aufrichtigkeit meines eignen Herzens die edelsten Absichten voraussetzte. Er hatte die Vorsicht gebraucht, es so einzuleiten, daß ich endlich aus eigner Bewegung auf die Frage geraten mußte, ob es nicht möglich sei, schon in diesem Leben mit den höhern Geistern in Gemeinschaft zu kommen? Dieser Gedanke beschäftigte mich lange bei mir selbst; ich fand möglich, was ich mit der größesten Lebhaftigkeit wünschte. Die Geschichte der ersten Zeiten schien meine Hoffnung zu bestätigen. Die Götter hatten sich den Menschen bald in Träumen, bald in Erscheinungen entdeckt; verschiedene waren so gar glücklich genug gewesen, Günstlinge der Götter zu sein. Hier kam mir Ganymed, Endymion und so viele andre zu statten, welche von Gottheiten geliebt worden waren. Ich gab demjenigen, was die Dichter davon erzählen, eine Auslegung, welche den erhabenen Begriffen gemäß war, die ich von den höhern Wesen gefasset hatte; die Schönheit und Reinigkeit der Seele, die Abgezogenheit von den Gegenständen der Sinne, die Liebe zu den unsterblichen und ewigen Dingen, schien mir dasjenige zu sein, was diese Personen den Göttern angenehm, und zu ihrem Umgang geschickt gemacht hatte. Ich entdeckte endlich dem Theogiton (so hieß der Priester) meine lange geheim gehaltene Gedanken. Er erklärte sich auf eine Art darüber, welche meine Neubegierde rege machte, ohne sie zu befriedigen; er ließ mich merken, daß dieses Geheimnisse seien, welche er Bedenken trage, meiner Jugend anzuvertrauen: Doch sagte er mir, daß die Möglichkeit der Sache keinem Zweifel unterworfen sei, und bezauberte mich ganz mit dem Gemälde, so er mir von der Glückseligkeit derjenigen machte, welche von den Göttern würdig geachtet würden, zu ihrem geheimen Umgang zugelassen zu werden. Die geheimnisvolle Miene, die er annahm, so bald ich nach den Mitteln hiezu zu gelangen fragte, bewog mich, den Vorsatz zu fassen, zu warten, bis er selbst für gut finden würde, sich deutlicher zu entdecken. Er tat es nicht; aber er machte so viele Gelegenheiten, meine erregte Neugierigkeit zu entflammen, daß ich mich nicht lange enthalten konnte, neue Fragen zu tun. Endlich führte er mich einsmals tief im geheiligten Hain des Apollo in eine Grotte, welche ein uralter Glaube der Bewohner des Landes von den Nymphen bewohnt glaubte, deren Bilder, aus Zypressenholz geschnitzt, in Blinden von Muschelwerk das Innerste der Höhle zierten.
Hier ließ er mich auf eine bemooste Bank niedersetzen, und fing nach einer viel versprechenden Vorrede an, mir, wie er sagte, das geheime Heiligtum der göttlichen Philosophie des Hermes und Orpheus aufzuschließen. Unzähliche religiöse Waschungen, und eine Menge von Gebeten, Räucherungen und andre geheimen Anstalten mußten vorhergehen, einen noch in irdische Glieder gefesselten Geist zum Anschauen der himmlischen Naturen vorzubereiten. Und auch alsdenn würde unser sterblicher Teil den Glanz der göttlichen Vollkommenheit nicht ertragen, sondern (wie die Dichter unter der Geschichte der Semele zu erkennen gegeben) gänzlich davon verzehrt und vernichtet werden, wenn sie sich nicht mit einer Art von körperlichem Schleier umhüllen, und durch diese Herablassung uns nach und nach fähig machen würden, sie endlich selbst, entkörpert und in ihrer wesentlichen Gestalt anzuschauen. Ich war einfältig genug alle diese vorgegebene Geheimnisse für echt zu halten; ich hörte dem ernsten Theogiton mit einem heiligen Schauer zu, und machte mir seine Unterweisungen so wohl zu Nutze, daß ich Tag und Nacht an nichts anders dachte als an die außerordentliche Dinge, wovon ich in kurzem die Erfahrung bekommen würde.
Du kannst dir einbilden, Danae, ob meine Phantasie in dieser Zeit müßig war. Ich würde nicht fertig werden, wenn ich alles beschreiben wollte, was damals in ihr vorging, und mit welch einer Zauberei sie mich in meinen Träumen bald in die glücklichen Inseln, welche Pindar so prächtig schildert, bald zum Gastmahl der Götter, bald in die Elysischen Täler, der Wohnung seliger Schatten, versetzte.
So seltsam es klingt, so gewiß ist es doch, daß die Kräfte der Einbildung dasjenige weit übersteigen, was die Natur unsern Sinnen darstellt: Sie hat etwas glänzenders als Sonnenglanz, etwas lieblichers als die süßesten Düfte des Frühlings zu ihren Diensten, unsre innern Sinnen in Entzückung zu setzen; sie hat neue Gestalten, höhere Farben, vollkommnere Schönheiten, schnellere Veranstaltungen, eine neue Verknüpfung der Ursachen und Würkungen, eine andere Zeit—kurz, sie erschafft eine neue Natur, und versetzt uns in der Tat in fremde Welten, welche nach ganz andern Gesetzen als die unsrige regiert werden. In unsrer ersten Jugend sind wir noch zu unbekannt mit den Triebfedern unsers eignen Wesens, um deutlich einzusehen, wie sehr diese scheinbare Magie der Einbildungskraft in der Tat natürlich ist. Wenigstens war ich damals leichtgläubig genug, Träume von dieser Art, übernatürlichen Einflüssen beizumessen, und sie für Vorboten der Wunderdinge zu halten, welche ich bald auch wachend zu erfahren hoffte.
Einsmals, als ich nach der Vorschrift des Theogitons acht Tage lang mit geheimen Zeremonien und Weihungen, und in einer unablässigen Anstrengung mein Gemüt von allen äußerlichen Gegenständen abzuziehen, zugebracht hatte, und mich nunmehr berechtiget hielt, etwas mehr zu erwarten, als was mir bisher begegnet war, begab ich mich in später Nacht, da alles schlief, in die Grotte der Nymphen, und nachdem ich eine Menge von schwülstigen Liedern und Anrufungsformeln hergesagt hatte, legte ich mich, mit dem Angesicht gegen den vollen Mond gekehrt, welcher eben damals in die Grotte schien, auf die Ruhebank zurück, und überließ mich der Vorstellung, wie mir sein würde, wenn Luna aus ihrer Silbersphäre herabsteigen, und mich zu ihrem Endymion machen würde. Mitten in diesen ausschweifenden Vorstellungen, unter denen ich allmählich zu entschlummern anfing, weckte mich plötzlich ein liebliches Getön, welches in einiger Entfernung über mir zu schweben schien, und wie ich bald erkannte, aus derjenigen Art von Saitenspiel erklang, welche man dem Apollo zuzueignen pflegt. Einem natürlich gestimmten Menschen würde gedeucht haben, er höre ein gutes Stück von einer geschickten Hand ausgeführt; und so hätte er sich nicht betrügen können. Aber in der Verfassung, worin ich damals war, hätte ich vielleicht das Gequäke eines Chors von Fröschen für den Gesang der Musen gehalten. Die Musik, die ich hörte, rührte, fesselte, entzückte mich; sie übertraf, meiner eingebildeten Empfindung nach (denn die Phantasie hat auch ihre Empfindungen,) alles was ich jemals gehört hatte; nur Apollo, der Vater der Harmonie, dessen Laute die Sphären ihre Götter-vergnügende Harmonien gelehrt hatte, konnte so überirdische Töne hervorbringen. Meine Seele schien davon wie aus ihrem Leibe emporgezogen zu werden, und, lauter Ohr, über den Wolken zu schweben; als diese Musik plötzlich aufhörte, und mich in einer Verwirrung von Gedanken und Gemütsregungen zurückließ, die mir diese ganze Nacht kein Auge zu schließen, gestattete.
Des folgenden Tages erzählte ich dem Theogiton, was mir begegnet war. Er schien nichts sehr besonders daraus zu machen; doch gab er, nachdem er mich um alle Umstände befragt hatte, zu, daß es Apollo, oder eine von den Musen gewesen sein könne. Du wirst lächeln, Danae, wenn ich dir gestehe, daß ich, so jung ich war, und ohne mir selbst recht bewußt zu sein, warum? doch lieber gesehen hätte, wenn es eine Muse gewesen wäre. Ich unterließ nun keine Nacht, mich in der Grotte einzufinden, um die vermeinte Muse wieder zu hören: Aber meine Erwartung betrog mich; es war Apollo selbst. Nach etlichen Nächten, worin ich mich mit der stummen Gegenwart der Nymphen von Zypressenholz hatte begnügen müssen, kündigte mir ein heller Schein, der auf einmal in die Grotte fiel, und durch die allgemeine Dunkelheit und meinen Wahnwitz zu einem überirdischen Licht erhoben wurde, irgend eine außerordentliche Begebenheit an. Urteile, wie bestürzt ich war, als ich mitten in der Nacht, den Gott des Tages, auf einer hellglänzenden Wolke sitzend, vor mir sah, der sich mir zu lieb den Armen der schönen Thetis entrissen hatte. Goldgelbe Locken flossen um seine weißen Schultern; eine Krone von Strahlen schmückte seine Scheitel; das silberne Gewand, das ihn umfloß, funkelte von tausend Edelsteinen; und eine goldne Leier lag in seinem linken Arm. Meine Einbildung tat das übrige hinzu, was zu Vollendung einer idealischen Schönheit nötig war. Allein Bestürzung und Ehrfurcht erlaubte mir nicht, dem Gott genauer ins Gesicht zu sehen; ich glaubte geblendet zu sein, und den Glanz von Augen, welche die ganze Welt erleuchteten, nicht ertragen zu können. Er redete mich an; er bezeugte mir sein Wohlgefallen an meinem Dienst, und an der feurigen Begierde, womit ich, mit Verachtung der irdischen Dinge mich den himmlischen widmete. Er munterte mich auf, in diesem Wege fortzugehen, und mich den Einflüssen der Unsterblichen leidend zu überlassen; mit der Versicherung, daß ich bestimmt sei, die Anzahl der Glücklichen zu vermehren, welche er seiner besondern Gunst gewürdiget habe. Er verschwand, indem er diese Worte sagte, so plötzlich, daß ich nichts dabei beobachten konnte; und so voreingenommen als mein Gemüt war, hätte dieser Apollo seine Rolle viel ungeschickter spielen können, ohne daß mir ein Zweifel gegen seine Gottheit aufgestiegen wäre. Theogiton, dem ich von dieser Erscheinung Nachricht gab, wünschte mir Glück dazu, und sagte mir von den alten Helden unsrer Nation, welche einst Lieblinge der Götter gewesen, und nun als Halbgötter selbst Altäre und Priester hätten, so viel herrliche Sachen vor, als er nötig erachten mochte, meine Betörung vollkommen zu machen. Am Ende vergaß er nicht, mir Anweisung zu geben, wie ich mich bei einer zweiten Erscheinung gegen den Gott zu verhalten hätte. Insonderheit ermahnte er mich, mein Urteil über alles zurückzuhalten, mich durch nichts befremden zu lassen, und der Vorschrift unsrer Philosophie immer eingedenk zu bleiben, welche eine gänzliche Untätigkeit von uns fodert, wenn die Götter auf uns würken sollen. Man mußte so unerfahren sein, als ich war, um keine Schlange unter diesen Blumen zu merken. Nichts als die Entwicklung dieser heiligen Mummerei konnte mir die Augen öffnen. Ich konnte unmöglich aus mir selbst auf den Argwohn geraten, daß die Zuneigung einer Gottheit eigennützig sein könne. Ich hatte vielmehr gehofft, die größesten Vorteile für meine Wissens-Begierde von ihr zu ziehen, und mit mehr als menschlichen Vorzügen begabt zu werden. Die Erklärungen des Apollo befremdeten mich endlich, und seine Handlungen noch mehr; zuletzt entdeckte ich, was du schon lange vorher gesehen haben mußt, daß der vermeinte Gott kein andrer als Theogiton selber war; welcher, sobald er sein Spiel entdeckt sah, auf einmal die Sprache änderte, und mich bereden wollte, daß er diese Komödie nur zu dem Ende angestellt habe, um mich von der Eitelkeit der Theosophie, in die er mich so verliebt gesehen hätte, desto besser überzeugen zu können. Er zog die Folge daraus: Daß alles, was man von den Göttern sagte, Erfindungen schlauer Köpfe wären, womit sie Weiber und leichtgläubige Knaben in ihr Netz zu ziehen suchten; Kurz, er wandte alles an, was eine unsittliche Leidenschaft einem schamlosen Verächter der Götter eingeben kann, um die Mühe einer so wohl ausgesonnenen und mit so vielen Maschinen aufgestützten Verführung nicht umsonst gehabt zu haben. Ich verwies ihm seine Bosheit mit einem Zorne, der mich stark genug machte, mich von ihm loszureißen. Des folgenden Tags hatte er die Unverschämtheit, die priesterlichen Verrichtungen mit eben der heuchlerischen Andacht fortzusetzen, womit er mich und jeden andern bisher hintergangen hatte. Er ließ nicht die geringste Veränderung in seinem Betragen gegen mich merken, und schien sich des Vergangenen eben so wenig zu erinnern, als ob er den ganzen Lethe ausgetrunken hätte. Diese Aufführung vermehrte meine Unruhe sehr; ich konnte noch nicht begreifen, daß es Leute geben könne, welche, mitten in den Ausschweifungen des Lasters, Ruhe und Heiterkeit, die natürlichen Gefährten der Unschuld, beizubehalten wissen. Allein in weniger Zeit darauf befreite mich die Unvorsichtigkeit dieses Betrügers von den Besorgnissen, worin ich seit der Geschichte in der Grotte geschwebet hatte. Theogiton verschwand aus Delphi, ohne daß man die eigentliche Ursache davon erfuhr. Aus dem, was man sich in die Ohren murmelte, erriet ich, daß Apollo endlich überdrüssig geworden sein möchte, seine Person von einem andern spielen zu lassen. Einer von unsern Knaben, der ein Verwandter des Ober-Priesters war, hatte (wie man sagte) den Anlaß dazu gegeben.
Diese Begebenheiten führten mich natürlicher Weise auf viele neue Betrachtungen; aber meine Neigung zum Wunderbaren und meine Lieblings-Ideen verloren nichts dabei; sie gewannen vielmehr, indem ich sie nun in mich selbst verschloß, und die Unsterblichen allein zu Zeugen desjenigen machte, was in meiner Seele vorging. Ich fuhr fort, die Verbesserung derselben nach den Grundsätzen der Orphischen Philosophie mein vornehmstes Geschäfte sein zu lassen. Ich fing nun an zu glauben, daß keine andre als eine idealische Gemeinschaft zwischen den Höhern Wesen und den Menschen möglich sei; daß nichts als die Reinigkeit und Schönheit unsrer Seele vermögend sei, uns zu einem Gegenstande des Wohlgefallens jenes Unnennbaren, Allgemeinen, Obersten Geistes zu machen, von welchem alle übrige, wie die Planeten von der Sonne, ihr Licht und die ganze Natur ihre Schönheit und unwandelbare Ordnung erhalten; und daß endlich in der übereinstimmung aller unsrer Kräfte, Gedanken und geheimsten Neigungen mit den großen Absichten und den allgemeinen Gesetzen dieses Beherrschers der sichtbaren und unsichtbaren Welt, das wahre Geheimnis liege, zu derjenigen Vereinigung mit demselben zu gelangen, welche ich für die natürliche Bestimmung und das letzte Ziel aller Wünsche eines unsterblichen Wesens ansah. Beides, jene geistige Schönheit der Seele und diese erhabene Richtung ihrer Würksamkeit nach den Absichten des Gesetzgebers der Wesen, glaubte ich am sichersten durch die Betrachtung der Natur zu erhalten; welche ich mir als einen Spiegel vorstellte, aus welchem das Wesentliche, Unvergängliche und Göttliche in unsern Geist zurückstrahle, und ihn nach und nach eben so durchdringe und erfülle, wie die Sonne einen angestrahlten Wasser-Tropfen. Ich überredete mich, daß die unverrückte Beschauung der Weisheit und Güte, welche so wohl aus der besondern Natur eines jeden Teils der Schöpfung, als aus dem Plan und der allgemeinen ökonomie des Ganzen hervorleuchte, das unfehlbare Mittel sei, selbst weise und gut zu werden. Ich brachte alle diese Grundsätze in Ausübung. Jeder neue Gedanke, der sich in mir entwickelte, wurde zu einer Empfindung meines Herzens; und so lebte ich in einem stillen und lichtvollen Zustand des Gemüts, dessen ich mich niemals anders als mit wehmütigem Vergnügen erinnern werde, etliche glückliche Jahre hin; unwissend (und glücklich durch diese Unwissenheit) daß dieser Zustand nicht dauern könne; weil die Leidenschaften des reifenden Alters, und (wenn auch diese nicht wären) die unvermeidliche Verwicklung in dem Wechsel der menschlichen Dinge jene Fortdauer von innerlicher Heiterkeit und Ruhe nicht gestatten, welche nur ein Anteil entkörperter Wesen sein kann."
Die Liebe in verschiedenen Gestalten
"Inzwischen hatte ich das achtzehnte Jahr erreicht, und fing nun an, mitten unter den angenehmen Empfindungen, von denen meine Denkungs-Art und meine Beschäftigungen unerschöpfliche Quellen zu sein schienen, ein Leeres in mir zu fühlen, welches sich durch keine Ideen ausfüllen lassen wollte. Ich sah die manchfaltigen Szenen der Natur wie mit neuen Augen an; ihre Schönheiten hatten für mich etwas Herz-rührendes, welches ich sonst nie auf diese Art empfunden hatte. Der Gesang der Vögel im Haine schien mir was zu sagen, das er mir nie gesagt hatte, ohne daß ich wußte, was es war; und die neu belaubten Wälder schienen mich einzuladen, in ihren Schatten einer wollüstigen Schwermut nachzuhängen, von welcher ich mitten in den erhabensten Betrachtungen wider meinen Willen überwältiget wurde. Nach und nach verfiel ich in eine weichliche Untätigkeit: Mich deuchte, ich sei bisher nur in der Einbildung glücklich gewesen; und mein Herz sehnete sich nach einem Gegenstand, in welchem ich jene idealische Vollkommenheiten würklich genießen möchte, an denen ich mich bisher nur wie an einem geträumten Gastmahle geweidet hatte. Damals zuerst stellten sich mir die Reizungen der Freundschaft in einer vorher nie empfundenen Lebhaftigkeit dar: Ein Freund (bildete ich mir ein) ein Freund würde diese geheime Sehnsucht meines Herzens befriedigen. Meine Phantasie malte sich einen Pylades aus, und mein verlangendes Herz bekränzte dieses schöne Bild mit allem, was mir das Liebenswürdigste schien, selbst mit jenen äußerlichen Annehmlichkeiten, welche in meinem System den natürlichen Schmuck der Tugend ausmachten. Ich suchte diesen Freund unter der blühenden Jugend, welche mich umgab. Mehr als einmal betrog mich mein Herz, ihn gefunden zu haben; aber eine kurze Erfahrung machte mich meines Irrtums bald gewahr werden. Unter einer so großen Anzahl von auserlesenen Jünglingen, welche die Liverei des Gottes zu Delphi trugen, war nicht ein einziger, den die Natur so vollkommen mit mir zusammen gestimmt hatte, als die Spitzfindigkeit meiner Begriffe es erfoderte.
Um diese Zeit geschah es, daß ich das Unglück hatte, der Ober-Priesterin eine Neigung einzuflößen, welche mit ihrem geheiligten Stande und mit ihrem Alter einen gleich starken Absatz machte; sie hatte mich schon seit geraumer Zeit mit einer vorzüglichen Gütigkeit angesehen, welche ich, so lang ich konnte, einer mütterlichen Gesinnung beimaß, und mit aller der Ehrerbietung erwiderte, die ich der Vertrauten des Delphischen Gottes schuldig war. Stelle dir vor, schöne Danae, was für ein Modell zu einer Bild-Säule des Erstaunens ich abgegeben hätte, als sich eine so ehrwürdige Person herabließ, mir zu entdecken, daß alle Vertraulichkeit, die ich zwischen ihr und dem Apollo voraussetzte, nicht zureiche, sie über die Schwachheiten der gemeinsten Erden-Töchter hinwegzusetzen. Die gute Dame war bereits in demjenigen Alter, worin es lächerlich wäre, das Herz eines Mannes von einiger Erfahrung einer jungen Nebenbuhlerin streitig machen zu wollen. Allein einem Neuling, wofür sie mich mit gutem Grund ansah, die ersten Unterweisungen zu geben, dazu konnte sie sich ohne übertriebene Eitelkeit für reizend genug halten. Sie war zu den Zeiten des Heiligen Kriegs in der Blüte ihrer Schönheit gewesen; hatte sich aber, wie die meisten ihres Standes, so gut erhalten, daß sie noch immer Hoffnung haben konnte, in einer Versammlung herbstlicher Schönheiten vorzüglich bemerkt zu werden. Setze zu diesen ehrwürdigen überbleibseln einer vormals berühmten Schönheit eine Figur, wie man die blonde Ceres zu bilden pflegt, große schwarze Augen, unter deren affektiertem Ernst eine wollüstige Glut hervorglimmte, und zu allem diesem eine ungemeine Sorgfalt für ihre Person, und die schlaue Kunst, die Vorteile ihrer Reizungen mit der strengen Sittsamkeit ihrer priesterlichen Kleidung zu verbinden: so kannst du dir eine genugsame Vorstellung von dieser Pythia machen, um den Grad der Gefahr abnehmen zu können, worin sich die Einfalt meiner Jugend bei ihren Nachstellungen befand.
Es ist leicht zu erachten, wie viel es sie Mühe kosten mußte, die ersten Schwierigkeiten zu überwinden, welche ein mehr Ehrfurcht als Liebe einflößendes Frauenzimmer, in den hartnäckigen Vorurteilen eines achtzehnjährigen Jünglings findet. Ihr Stand erlaubte ihr nicht, sich deutlich zu erklären; und meine Blödigkeit verstand die Sprache nicht, deren sie sich zu bedienen genötigt war. Zwar braucht man sonst zu dieser Sprache keinen andern Lehrmeister als sein Herz; allein unglücklicher Weise sagte mir mein Herz nichts. Es bedurfte der lange geübten Geduld einer bejahrten Priesterin, um nicht tausendmal das Vorhaben aufzugeben, einem Menschen, der aus lauter Ideen zusammengesetzt war, ihre Absichten begreiflich zu machen. Und dennoch fand sie sich endlich genötigt, sich des einzigen Kunstgriffs zu bedienen, von dem man in solchen Fällen eine gewisse Würkung erwarten kann; sie hatte noch Reizungen, welche die ungewohnten Augen eines Neulings blenden konnten. Die Verwirrung, worein sie mich durch den ersten Versuch von dieser Art gesetzt sah, schien ihr von guter Vorbedeutung zu sein; und vielleicht hätte sie sich weniger in ihrer Erwartung betrogen, wenn nicht ein Umstand, von dem ihr nichts bekannt war, meinem Herzen eine mehr als gewöhnliche Stärke gegeben hätte.
Unsre Tugend, oder diejenigen Würkungen, welche das Ansehen haben, aus einer so edeln Quelle zu fließen, haben insgemein geheime Triebfedern, die uns, wenn sie gesehen würden, wo nicht alles, doch einen großen Teil unsers Verdienstes dabei entziehen würden. Wie leicht ist es, der Versuchung einer Leidenschaft zu widerstehen, wenn ihr von einer stärkern die Waage gehalten wird?
Kurz zuvor, eh die schöne Pythia ihren physikalischen Versuch machte, war das Fest der Diana eingefallen, welches zu Delphi mit aller der Feierlichkeit begangen wird, die man der Schwester des Apollo schuldig zu sein vermeint. Alle Jungfrauen über vierzehn Jahre erschienen dabei in schneeweißem Gewand, mit aufgelösten fliegenden Haaren, den Kopf und die Arme mit Blumen-Kränzen umwunden, und sangen Hymnen zum Preis der jungfräulichen Göttin. Auch alte halb verloschne Augen heiterten sich beim Anblick einer so zahlreichen Menge junger Schönen auf, deren geringster Reiz die frischeste Blum der Jugend war. Urteile, schöne Danae, ob derjenige, den der bunte Schimmer eines blühenden Blumen-Stücks schon in eine Art von Entzückung setzte, bei einem solchen Auftritt unempfindlich bleiben konnte? Meine Blicke irrten in einer zärtlichen Verwirrung unter diesen anmutsvollen Geschöpfen herum; bis sie sich plötzlich auf einer einzigen sammelten, deren erster Anblick meinem Herzen keinen Wunsch übrig ließ, etwas anders zu sehen. Vielleicht würde mancher sie unter so vielen Schönen kaum besonders wahrgenommen haben; denn der schönste Wuchs, die regelmäßigsten Züge, langes Haar, dessen wallende Locken bis zu den Knien herunterflossen, und eine Farbe, welche Lilien und Rosen, wenn sie ihre eigene Schönheit fühlen könnten, beschämt hätte, alle diese Reizungen waren ihr mit ihren Gespielen gemein; viele übertrafen sie noch in einem und dem andern Stücke der Schönheit, und wenn ein Maler unter der ganzen Schar hätte entscheiden sollen, welche die Schönste sei, so würde sie vielleicht übergangen worden sein; allein mein Herz urteilte nicht nach den Regeln der Kunst. Ich empfand, oder glaubte zu empfinden, (und dieses ist in Absicht der Würkung allemal eins) daß nichts liebenswürdigers als dieses junge Mädchen sein könne, ohne daß ich daran gedachte, sie mit den übrigen zu vergleichen; sie löschte alles andre aus meinen Augen aus. So (dacht ich) müßte die Unschuld aussehen, wenn sie, um sichtbar zu werden, die Gestalt einer Grazie entlehnte; so rührend würden ihre Gesichts-Züge sein; so still-heiter würden ihre Augen; so holdselig ihre Wangen lächeln; so würden ihre Blicke, so ihr Gang, so jede ihrer Bewegungen sein. Dieser Augenblick brachte in meiner Seele eine Veränderung hervor, welche mir, da ich in der Folge fähig wurde, über meinen Zustand zu denken, dem übergang in eine neue und vollkommnere Art des Daseins gleich zu sein schien. Aber damals war ich zu stark gerührt, zu sehr von Empfindungen verschlungen, um mir meiner selbst recht bewußt zu sein. Meine Entzückung ging so weit, daß ich nichts mehr von dem Pomp des Festes bemerkte; und erst, nachdem alles gänzlich aus meinen Augen verschwunden war, ward ich, wie durch einen plötzlichen Schlag, wieder zu mir selbst gebracht. Itzt hatte ich Mühe, mich zu überzeugen, daß ich nicht aus einem von den Träumen erwacht sei, worin meine Phantasie, in überirdische Sphären verzückt, mir zuweilen ähnliche Gestalten vorgestellt hatte. Der Schmerz, eines so süßen Anblicks beraubt zu sein, konnte das vollkommene Vergnügen nicht schwächen, womit das Innerste meines Wesens erfüllt war. Selbigen ganzen Abend, und den größesten Teil der Nacht, hatten alle Kräfte meiner Seele keine andere Beschäftigung, als sich dieses geliebte Bild bis auf die kleinsten Züge mit allen diesen namenlosen Reizen,—welche vielleicht ich allein an dem Urbilde bemerkt hatte,—und mit einer Lebhaftigkeit vorzumalen, die ihm immer neue Schönheiten lehnte; mein Herz schmückte es mit allem, was die Natur Anmutiges hat, mit allen Vorzügen des Geistes, mit jeder sittlichen Schönheit, mit allem was nach meiner Denkungs-Art das Vollkommenste und Beste war, aus—was für ein Gemälde, wozu die Liebe die Farben gibt!—Und doch glaubte ich immer, zu wenig zu tun; und bearbeitete mich in mir selbst, noch etwas schöners als das Schönste zu finden, um die Idee, die ich mir von meiner Unbekannten machte, gänzlich zu vollenden, und gleichsam in das Urbild selbst zu verwandeln.—Diese liebenswürdige Person hatte mich zu eben der Zeit, da ich sie erblickte, wahrgenommen; und es war (wie sie mir in der Folge entdeckte) etwas mit den Regungen meines Herzens übereinstimmendes in dem ihrigen vorgegangen. Ich erinnerte mich, (denn wie hätte ich die kleinste Bewegung, die sie gemacht hatte, vergessen können?) daß unsre Blicke sich mehr als ein mal begegnet waren, und daß sie sogleich mit einer Scham-Röte, welche ihr ganzes liebliches Gesicht mit Rosen überzog, die Augen niedergeschlagen hatte. Ich war zu unerfahren, und in der Tat auch zu bescheiden, aus diesem Umstand etwas besonderes zu meinem Vorteil zu schließen; aber doch erinnerte ich mich desselben mit einem so innigen Vergnügen, als ob es mir geahnet hätte, wie glücklich mich die Folge davon machen würde. Ich hatte die Eitelkeit nicht, welche uns zu schmeicheln pflegt, daß wir liebenswürdig seien; ich dachte an nichts weniger, als auf Mittel, wie ich mich lieben machen wollte. Aber die Schönheit der Seele, die ich in ihrem Gesichte ausgedrückt gesehen hatte; diese sanfte Heiterkeit, die aus dem natürlichen Ernst ihrer Züge hervorlächelte, hauchten mir Hoffnung ein, daß ich geliebet werden würde.—Und welch einen Himmel von Wonne eröffnete diese Hoffnung vor mir! Was für Aussichten! Welches Entzücken!—Wenn ich mir vorstellte, daß mein ganzes Leben, daß selbst die Ewigkeiten, in deren grenzenlosen Tiefen, der Glückliche die Dauer seiner Wonne so gerne sich verlieren läßt, in ihrem Anschauen und an ihrer Seite dahinfließen würden!
So lebhafte Hoffnungen setzten voraus, daß ich sie wieder finden würde; und dieser Wunsch brachte die Begierde mit sich, zu wissen wer sie sei. Aber wen konnt' ich fragen? Ich hatte keinen Freund, dem ich mich entdecken durfte; von einem jeden andern glaubte ich, daß er bei einer solchen Frage mein ganzes Geheimnis in meinen Augen lesen würde; und die Liebe, die ein sehr guter Ratgeber ist, hatte mich schon einsehen gemacht, wie viel daran gelegen sei, daß der Pythia nicht das Geringste zu Ohren komme, was ihr den Zustand meines Herzens hätte verraten, oder sie zu einer mißtrauischen Beobachtung meines Betragens veranlassen können. Ich verschloß also mein Verlangen in mich selbst, und erwartete mit Ungeduld, bis irgend ein meiner Liebe günstiger Schutz-Geist mir zu dieser gewünschten Entdeckung verhelfen würde. Nach einigen Tagen fügte es sich, daß ich meiner geliebten Unbekannten in einem der Vorhöfe des Tempels begegnete. Die Furcht, von jemand beobachtet zu werden, hielt mich in eben dem Augenblick zurück, da ich auf sie zueilen und meine Entzückung über diesen unverhofften Anblick in Gebärden, und vielleicht in Ausrufungen, ausbrechen lassen wollte. Sie blieb, indem sie mich erblickte, einige Augenblicke stehen, und sah mich an. Ich glaubte ein plötzliches Vergnügen in ihrem schönen Gesicht aufgehen zu sehen; sie errötete, schlug die Augen wieder nieder, und eilte davon. Ich durft' es nicht wagen, ihr zu folgen; aber meine Augen folgten ihr, so lang es möglich war; und ich sahe, daß sie zu einer Tür einging, welche in die Wohnung der Priesterin führte. Ich begab mich in den Hain, um meinen Gedanken über diese angenehme Erscheinung ungestörter nachzuhängen. Der letzte Umstand, den ich bemerkt hatte, und ihre Kleidung, brachte mich auf die Vermutung, daß sie vielleicht eine von den Aufwärterinnen der Pythia sei, deren diese Dame eine große Anzahl hatte, die aber (außer bei besondern Feierlichkeiten) selten sichtbar wurden. Diese Entdeckung beschäftigte mich noch nach der ganzen Wichtigkeit, die sie für mich hatte, als ich, in der Tat zur ungelegensten Zeit von der Welt, zu der zärtlichen Priesterin gerufen wurde.—Die Begierde und die Hoffnung, meine Geliebte bei dieser Gelegenheit wieder zu sehen, machte mir anfänglich diese Einladung sehr willkommen; aber meine Freude wurde bald von dem Gedanken vertrieben, wie schwer es mir sein würde, wenn meine Unbekannte zugegen wäre, meine Empfindungen für sie den Augen einer Nebenbuhlerin zu verbergen. Die Künste der Verstellung waren mir zu unbekannt, und meine Gemüts-Regungen bildeten sich (auch wider meinen Willen) zu schnell und zu deutlich in meinem äußerlichen ab, als daß ich mich bei allen meinen Bestrebungen, vorsichtig zu sein, sicher genug halten konnte. Diese Gedanken gaben mir (wie ich glaube) ein ziemlich verwirrtes Aussehen, als ich vor die Pythia geführt wurde. Allein, da ich niemand, als eine kleine Sklavin von neun oder zehen Jahren, bei ihr fand, erholte ich mich bald wieder; und sie selbst schien mit ihren eigenen Bewegungen zu sehr beschäftigt, um auf die meinige genau Acht zu geben,—oder (welches wenigstens eben so wahrscheinlich ist) sie legte die Veränderung, die sie in meinem Gesichte wahrnehmen mußte, zu Gunsten ihrer Reizungen aus, von denen sie sich dieses mal desto mehr Würkung versprechen konnte, je mehr sie vermutlich darauf studiert hatte, sie in dieses reizende Schatten-Licht zu setzen, welches die Einbildungs-Kraft so lebhaft zum Vorteil der Sinnen ins Spiel zu ziehen pflegt. Sie saß oder lag (denn ihre Stellung war ein Mittelding von beiden) auf einem mit Silber und Perlen reich gestickten Ruhe-Bette; ihr ganzer Putz hatte dieses Zierlich-Nachlässige, hinter welches die Kunst sich auf eine schlaue Art versteckt, wenn sie nicht dafür angesehen sein will, daß sie der Natur zu Hülfe komme; ihr Gewand, dessen bescheidene Farbe ihrer eigenen eben so sehr als der Anständigkeit ihrer Würde angemessen war, wallte zwar in vielen Falten um sie her; aber es war schon dafür gesorgt, daß hier und da der schöne Contour dessen, was damit bedeckt war, deutlich genug wurde, um die Augen auf sich zu ziehen, und die Neugier lüstern zu machen. Ihre Arme, die sie sehr schön hatte, waren in weiten und halb auf geschürzten ärmeln fast ganz zu sehen; und eine Bewegung, welche sie, während unsers Gesprächs, unwissender Weise gemacht haben wollte, trieb einen Busen aus seiner Verhüllung hervor, welcher reizend genug war, ihr Gesicht um zwanzig Jahre jünger zu machen. Sie bemerkte diese kleine Unregelmäßigkeit endlich; aber das Mittel, wodurch sie die Sachen wieder in Ordnung zu bringen suchte, war mit der Unbequemlichkeit verbunden, daß dadurch ein Fuß bis zur Hälfte sichtbar wurde, dessen die schönste Spartanerin sich hätte rühmen dürfen. Die tiefe Gleichgültigkeit, worin mich alle diese Reizungen ließen, machte ohne Zweifel, daß ich Beobachtungen machen konnte, wozu ein gerührter Zuschauer die Freiheit nicht gehabt hätte. Indes gab mir doch eine Art von Scham, die ich anstatt der guten Pythia auf meinen Wangen glühen fühlte, ein Ansehen von Verwirrung, womit die Dame, welche in zweifelhaften Fällen alle mal zu Gunsten ihrer Eigenliebe urteilte, ziemlich wohl zufrieden schien. Sie schrieb es vermutlich einer schüchternen Unentschlossenheit oder einem Streit zwischen Ehrfurcht und Liebe bei, daß ich (ungeachtet des starken Eindrucks, den sie auf mich machte) ihr keine Gelegenheit gab, die Delikatesse ihrer Tugend sehen zu lassen. Ich hatte Aufmunterungen nötig, zu welchen man bei einem geübtern Liebhaber sich nicht herablassen würde. Die Geschicklichkeit, die man mir in der Kunst, die Dichter zu lesen, beilegte, diente ihr zum Vorwand, mir einen Zeit-Vertrieb vorzuschlagen, von dem sie sich einige Beföderung dieser Absicht versprechen konnte. Sie versicherte mich, daß Homer ihr Lieblings-Autor sei, und bat mich, ihr das Vergnügen zu machen, sie eine Probe meines gepriesenen Talents hören zu lassen. Sie nahm einen Homer, der neben ihr lag, und stellte sich, nachdem sie eine Weile gesucht hatte, als ob es ihr gleichgültig sei, welcher Gesang es wäre; sie gab mir den ersten den besten in die Hände; aber zu gutem Glücke war es gerade derjenige, worin Juno, mit dem Gürtel der Venus geschmückt, den Vater der Götter in eine so lebhafte Erinnerung der Jugend ihrer ehelichen Liebe setzt.—Von dem dichterischen Feuer, welches in diesem Gemälde glühet, und dem süßen Wohlklang der Homerischen Verse entzückt, beobachtete sie nicht, in was für eine verführische Unordnung ein Teil ihres Putzes durch eine Bewegung der Bewunderung, welche sie machte, gekommen war. Sie nahm von dieser Stelle Anlaß, die unumschränkte Gewalt des Liebes-Gottes zum Gegenstande der Unterredung zu machen. Sie schien der Meinung derjenigen günstig zu sein, welche behaupten, daß der Gedanke, einer so mächtigen Gottheit widerstehen zu wollen, nur in einer vermessenen und ruchlosen Seele geboren werden könne. Ich pflichtete ihr bei, behauptete aber, daß die meisten in den Begriffen, welche sie sich von diesem Gotte machten, der großen Pflicht, von der Gottheit nur das Würdigste und Vollkommenste zu denken, sehr zu nahe träten; und daß die Dichter durch die allzusinnliche Ausbildung ihrer allegorischen Fabeln in diesem Stücke sich keines geringen Vergehens schuldig gemacht hätten. Unvermerkt schwatzte ich mich in einen Enthusiasmus hinein, in welchem ich, nach den Grundsätzen meiner geheimnisreichen Philosophie, von der intellektualischen Liebe, von der Liebe welche der Weg zum Anschauen des wesentlichen Schönen ist, von der Liebe welche die geistigen Flügel der Seele entwickelt, sie mit jeder Tugend und Vollkommenheit schwellt, und zuletzt durch die Vereinigung mit dem Urbild und Urquell des Guten in einen Abgrund von Licht, Ruhe und unveränderlicher Wonne hineinzieht, worin sie gänzlich verschlungen und zu gleicher Zeit vernichtigt und vergöttert wird—so erhabne, mir selbst meiner Einbildung nach sehr deutliche, der schönen Priesterin aber so unverständliche Dinge sagte, daß sie in eben der Proportion, nach welcher sich meine Einbildungs-Kraft dabei erwärmte, nach und nach davon eingeschläfert wurde. In der Tat konnte im Prospekt eines so schönen Busens, als ich vor mir sahe, nichts seltsamere sein, als eine Lob-Rede auf die intellektualische Liebe; auch gab die betrogne Pythia nach einer solchen Probe alle Hoffnung auf, mich, diesen Abend wenigstens, zu einer natürlichen Art zu denken und zu lieben herumzustimmen. Sie entließ mich alsobald darauf, nachdem sie mir, wiewohl auf eine ziemlich rätselhafte Art, zu vernehmen gegeben hatte, daß sie besondere Ursachen habe, sich meiner mehr anzunehmen, als irgend eines andern Kostgängers des Apollo. Ich verstund aus dem, was sie mir davon sagte, so viel, daß sie eine nahe Anverwandtin meines mir selbst noch unbekannten Vaters sei; daß es ihr vielleicht bald erlaubt sein werde, mir das Geheimnis meiner Geburt zu entdecken; und daß ich es allein diesem nähern Verhältnis zu zuschreiben habe, wenn sie mich durch eine Freundschaft unterscheide, welche mich, ohne diesen Umstand, vielleicht hätte befremden können. Diese Eröffnung, an deren Wahrheit mich ihre Miene nicht zweifeln ließ, hatte die gedoppelte Würkung—mich zu bereden, daß ich mich in meinen Gedanken von ihren Gesinnungen betrogen haben könne—und sie auf einmal zu einem interessanten Gegenstande für mein Herz zu machen. In der Tat fing ich, von dem Augenblick, da ich hörte, daß sie mit meinem Vater befreundet sei, an, sie mit ganz andern Augen anzusehen; und vielleicht würde sie von den Dispositionen, in welche ich dadurch gesetzt wurde, in kurzer Zeit mehr Vorteil haben ziehen können, als von allen den Kunstgriffen, womit sie meine Sinnen hatte überraschen wollen. Aber die gute Dame wußte entweder nicht, wie viel man bei gewissen Leuten gewonnen, wenn man Mittel findet, ihr Herz auf seine Seite zu ziehen; oder sie war über mein seltsames Betragen erbittert, und glaubte, ihre verachteten Reizungen nicht besser rächen zu können, als wenn sie mich in eben dem Augenblick von sich entfernte, da sie in meinen Augen las, daß ich gerne länger geblieben wäre. Alles Bitten, daß sie ihre Gütigkeit durch eine deutlichere Entdeckung des Geheimnisses meiner Geburt vollkommen machen möchte, war umsonst; sie schickte mich fort, und hatte Grausamkeit genug, eine geraume Zeit vorbei gehen zu lassen, eh sie mich wieder vor sich kommen ließ. Zu einer andern Zeit würde das Verlangen, diejenigen zu kennen, denen ich das Leben zu danken hätte, mir diesen Aufschub zu einer harten Strafe gemacht haben; aber damals brauchte es nur wenige Minuten, wieder allein zu sein, und einen Gedanken an meine geliebte Unbekannte, um die Priesterin mit allen ihren Reizen, und mit allem was sie mir gesagt und nicht gesagt hatte, aus meinem Gemüte wieder auszulöschen. Es war mir unendlich mal angelegener zu wissen, wer diese Unbekannte sei, und ob sie würklich (wie ich mir schmeichelte) für mich empfinde, was ich für sie empfand, als in Absicht meiner selbst aus einer Unwissenheit gezogen zu werden, gegen welche die Gewohnheit mich fast ganz gleichgültig gemacht hatte: So lange ich das nicht wußte, würde ich die Entdeckung, der Erbe eines Königs zu sein, mit Kaltsinn angesehen haben. Der Blick, den sie diesen Abend auf mich geheftet hatte, schien mir etwas zu versprechen, das für mein Herz unendlich mehr Reiz hatte, als alle Vorteile der glänzendsten Geburt. Mein ganzes Wesen schien von diesem Blicke, wie von einem überirdischen Lichte, durchstrahlt und verklärt—ich unterschied zwar nicht deutlich, was in mir vorging—aber so oft ich sie mir wieder in dieser Stellung, mit diesem Blicke, mit diesem Ausdruck in ihrem lieblichen Gesichte vorstellte, (und dieses geschah allemal so lebhaft, als ob ich sie würklich mit Augen sähe) so schien mir mein Herz vor Liebe und Vergnügen in Empfindungen zu zerfließen, für deren durchdringende Süßigkeit keine Worte erfunden sind. "—Hier wurde Agathon (dessen Einbildungs-Kraft, von den Erinnerungen seiner ersten Liebe erhitzt, einen hübschen Schwung, wie man sieht, zu nehmen anfing,) durch eine ziemlich merkliche Veränderung in dem Gesichte seiner schönen Zuhörerin, mitten in dem Lauf seiner unzeitigen Schwärmerei aufgehalten, und aus seinem achtzehnten Jahr, in welches er in dieser kleinen Ekstase zurückversetzt worden war, auf einmal wieder nach Smyrna, zu sich selbst und der schönen Danae gegenüber, gebracht.
Fortsetzung des Vorhergehenden
Es ist eine alte Bemerkung, daß man einer schönen Dame die Zeit nur schlecht vertreibt, wenn man sie von den Eindrücken, die eine andre auf unser Herz gemacht hat, unterhält. Je mehr Feuer, je mehr Wahrheit, je mehr Beredsamkeit wir in einem solchen Falle zeigen, je reizender unsre Schilderungen, je schöner unsre Bilder, je beseelter unser Ausdruck ist, desto gewisser dürfen wir uns versprechen, unsre Zuhörerin einzuschläfern. Diese Beobachtung sollten sich besonders diejenigen empfohlen sein lassen, welche eine würklich im Besitz stehende Geliebte mit der Geschichte ihrer ehemaligen verliebtet Abenteuer unterhalten. Agathon, welcher noch weit davon entfernt war, von seiner Einbildungs-Kraft Meister zu sein, hatte diese Regel gänzlich aus den Augen verloren, da er einmal auf die Erzählung seiner ersten Liebe gekommen war. Die Lebhaftigkeit seiner Wiedererinnerungen schien sie in Empfindungen zu verwandeln; er bedachte nicht, daß es weniger anstößig wäre, eine Geliebte, wie Danae, mit der ganzen Metaphysik der intellektualischen Liebe, als mit so enthusiastischen Beschreibungen der Vorzüge einer andern, und der Empfindungen, welche sie eingeflößt, zu unterhalten. Eine Art von Mittelding zwischen Gähnen und Seufzen, welches ihr an der Stelle, wo wir seine Erzählungen abgebrochen haben, entfuhr, und ein gewisser Ausdruck von langer Weile, der aus einer erzwungnen Miene von vergnügter Aufmerksamkeit hervorbrach, machte ihn endlich seiner Unbesonnenheit gewahr werden; er stutzte einen Augenblick, er errötete, und es fehlte wenig, daß er den Zusammenhang seiner Geschichte darüber verloren hätte. Doch erholte er sich noch geschwinde genug wieder, um seiner Verwirrung irgend einen zufälligen Vorwand zu geben, und setzte seine Erzählung fort, indem er fest bei sich beschloß, genauer auf sich selbst Acht zu geben, und seine Beschreibungen so sehr abzukürzen, als es nur immer möglich sein würde; ein Vorsatz, bei welchem unsre Leser sich wenigstens eben so wohl befinden werden, als die schöne Danae, wenn er anders fähig sein wird, sich selbst Wort zu halten.
"Die süßen Träume", (fuhr der Held unsrer Geschichte fort) "worin mein Herz sich so gerne zu wiegen pflegte, hatten nicht würkliches genug, diesen angenehmen Zustand meines Gemütes lange zu unterhalten. Eine zärtliche Schwermut, welche jedoch nicht ohne eine Art von Wollust war, bemächtigte sich meiner so stark, daß ich Mühe hatte, sie vor denjenigen zu verbergen, mit denen ich einen Teil des Tages zubringen mußte. Ich suchte die Einsamkeit; und weil ich den Tag über, nur wenige Stunden in meiner Gewalt hatte, so fing ich wieder an, den größten Teil der Zeit, worin andere schliefen, in den angenehmen Hainen, die den Tempel umgeben, mit meinen Gedanken und dem Bilde meiner Unbekannten zu durchwachen. In einer dieser Nächte begegnete es, daß ich von ungefähr in eine Gegend des Hains verirrte, welche das Ansehen einer Wildnis, aber der anmutigsten, die man sich nur einbilden kann, hatte. Mitten darin ließ das Gebüsche, welches in labyrinthischen Krümmungen mit hohen Zypressen und vielen selbst gewachsenen Lauben abgesetzt, sich um sich selbst herumwand, einen offnen Platz, der mit einem halben Circul von wilden Lorbeer-Bäumen, von denen sich immer eine Reihe über die andere erhub, eingefaßt, auf der andern Seite aber nur mit niedrigem Myrten-Gesträuch und Rosen-Hecken leicht umkränzt war. Mitten darin lagen einige Nymphen von weißem Marmor, von überhangendem Rosen-Gesträuche beschattet, welche auf ihren Urnen zu schlafen schienen, indes sich aus jeder Urne eine Quelle in ein geräumiges Becken von poliertem schwarzem Granit-Marmor ergoß, worin die Frauens-Personen, welche unter dem Schutz des delphischen Apollo stunden, sich im Sommer zu baden pflegten. Dieser Ort war (einer alten Sage nach) der Diana heilig; und kein männlicher Fuß durfte, bei Strafe, sich den Zorn dieser unerbittlichen Göttin zu zuziehen, sich unterstehen, ihrem geheiligten Ruhe-Platz nahe zu kommen. Vermutlich machte die Göttin eine Ausnahme zu Gunsten eines unschuldigen Schwärmers, der (ohne den mindesten Vorsatz, ihre Ruhe zu stören, und ohne einmal zu wissen, wohin er kam), sich hieher verirrt hatte. Denn anstatt mich ihren Zorn empfinden zu lassen, begünstigte sie mich vielmehr mit einer Erscheinung, welche mir angenehmer war, als wenn sie selbst, mich zu ihrem Endymion zu machen, zu mir herabgestiegen wäre. Weil ich in eben dem Augenblick, da ich diese Erscheinung hatte, den Ort, wo ich mich befand, für denjenigen erkannte, der mir öfters, um ihn desto gewisser vermeiden zu können, beschrieben worden war; so war würklich mein erster Gedanke, daß es die Göttin sei, welche, von der Jagd ermüdet, unter ihren Nymphen schlummre. Von einem heiligen Schauer erschüttert, wollte ich schon den Fuß zurückziehn; als ich beim Glanz des seitwärts einfallenden Mond-Lichts gewahr wurde, daß es meine Unbekannte war. Ich will es nicht versuchen, zu beschreiben wie mir in diesem Augenblicke zu Mute war; es war einer von denen, an welche ich mich nur erinnern darf, um zu glauben, daß ein Wesen, welches einer solchen Wonne fähig ist, zu nichts geringers als zu der Wonne der Götter bestimmt sein könne. Itzt konnt' ich natürlicher Weise nicht mehr denken, mich unbemerkt zurückzuziehen; meine einzige Sorge war, die liebenswürdige Einsame zu einer Zeit und an einem Orte, wo sie keinen Zeugen, am allerwenigsten einen männlichen vermuten konnte, durch keine plötzliche überraschung zu erschrecken. Die Stellung, worin sie an eine der marmornen Nymphen angelegt lag, gab zu erkennen, daß sie staunte; ich betrachtete sie eine geraume Weile, ohne daß sie mich gewahr wurde. Dieser Umstand erlaubte mir meine eigene Stelle zu verändern, und eine solche zu nehmen, daß sie, so bald sie die Augen aufschlage, mich unfehlbar erkennen müßte. Diese Vorsicht hatte die verlangte Würkung. Sie erblickte mich; sie stutzte; aber sie erkannte mich doch zu schnell, um mich für einen Satyren anzusehen. Meine Erscheinung schien ihr mehr Vergnügen als Unruhe zu machen. Ein jeder andrer, so gar ein Satyr, würde irgend ein artig gedrehtes Kompliment in Bereitschaft gehabt haben, um seine Freude über eine so reizende Erscheinung auszudrücken; die Gelegenheit konnte nicht schöner sein, sie für eine Göttin, oder wenigstens für eine der Gespielen Dianens anzusehen, und diesem Irrtum gemäß zu begrüßen. Aber ich, von neuen, nie gefehlten, unbeschreiblichen Empfindungen gedrückt, ich konnte gar nichts sagen. Zu ihren Füßen hätte ich mich werfen mögen; aber die Schüchternheit, welche (zumal in meinem damaligen Alter) mit der ersten Liebe so unzertrennlich verbunden ist, hielt mich zurück; ich besorgte, daß sie sich einen nachteiligen Begriff von der tiefen Ehrerbietung, die ich für sie empfand, aus einer solchen Freiheit machen möchte. Meine Unbekannte war nicht so schüchtern; sie hub sich, mit dieser sittsamen Anmut, wodurch sie sich das erste mal, als ich sie gesehen, in meinen Augen von allen ihren Gespielen unterschieden hatte, vom Boden auf, und ging ein paar Schritte gegen mich. 'Wie finde ich den Agathon hier?' sagte sie mit einer Stimme, die ich noch zu hören glaube; so lieblich, so rührend schien sie unmittelbar in meine Seele sich einzuschmeicheln. In der süßen Verwirrung, worin ich war, fand ich keine bessere Antwort, als sie zu versichern, daß ich nicht so verwegen gewesen wäre, ihre Einsamkeit zu stören, wenn ich vermutet hätte, sie hier zu finden. Das Kompliment war nicht so artig, als es ein junger Athenienser bei einer solchen Gelegenheit gemacht hätte; aber Psyche (so erfuhr ich in der Folge, daß meine Unbekannte genennt werde) war zu unschuldig, um Komplimente zu erwarten. 'Ich erkenne meine Unvorsichtigkeit, wiewohl zu spät', versetzte sie: 'Was wird Agathon von mir denken, da er mich an diesem abgelegenen Ort in einer solchen Stunde allein findet? Und doch' (setzte sie errötend hinzu) 'ist es glücklich für mich, wenn ich ja einen Zeugen meiner Unbesonnenheit haben mußte, daß es Agathon war.' Ich versicherte sie, daß mir nichts natürlicher vorkomme, als der Geschmack, den sie in der Einsamkeit, in der Stille einer so schönen Nacht, und in einer so anmutigen Gegend zu finden scheine. Ich setzte noch vieles von den Annehmlichkeiten des Mondscheins, von der majestätischen Pracht des sternvollen Himmels, von der Begeistrung, welche die Seele in diesem feierlichen Schweigen der ganzen Natur erfahre, von dem Einschlummern der Sinne, und dem Erwachen der innern geheimnisvollen Kräfte unsers unsterblichen Teils, hinzu—Dinge, welche bei den meisten Schönen, zumal in einem so anmutigen Myrten-Gebüsche, und in der einladenden Dämmerung einer so lauen Sommer-Nacht, sehr übel angebracht gewesen wären; aber bei der gefühlvollen Psyche rührten sie die empfindlichsten Saiten ihres Herzens. Das Gespräch, worin wir uns unvermerkt verwickelten, entdeckte eine übereinstimmung in unserm Geschmack und in unsern Neigungen, welche gar bald ein eben so freundschaftliches und vertrauliches Verständnis zwischen unsern Seelen hervorbrachte, als ob wir uns schon viele Jahre geliebet hätten. Mir war, als ob ich alles, was sie sagte, durch eine unmittelbare Anschauung in ihrer Seele lese; und hinwieder schien das, was ich sagte, so abgezogen, idealisch und dichterisch, es immer sein mochte, ein bloßer Widerhall oder die Entwicklung ihrer eigenen Empfindungen und solcher Ideen zu sein, welche als Embryonen in ihrer Seele lagen, und nur den erwärmenden Einfluß eines geübtern Geistes nötig hatten, um sich zu entfalten, und durch ihre naive Schönheit die erhabensten und sinnreichsten Gedanken der Weisen zu beschämen. Die Zeit wurde uns bei dieser Unterhaltung so kurz, daß wir kaum eine Stunde bei einander gewesen zu sein glaubten, als uns die aufgehende Morgenröte erinnerte, daß wir uns trennen mußten. Ich hatte durch diese Unterredung erfahren, daß meine Geliebte von ihrer Herkunft eben so wenig wisse, als ich von der meinigen; daß sie von ihrer Amme, in der Gegend von Corinth bis ins sechste Jahr erzogen, hernach aber von Räubern entführt, und an die Priesterin zu Delphi verkauft worden, welche sie in allen weiblichen Künsten, und da sie eine besondere Neigung zum Lesen an ihr bemerkt, auch in der Kunst die Dichter recht zu lesen, habe unterrichten lassen, und sie in der Folge zu ihrer Leserin gemacht habe. Diese Umstände waren für meine Liebe zu der jungen Psyche nicht sehr schmeichelhaft; allein das Vergnügen der gegenwärtigen Augenblicke ließ mich gar nicht an das Künftige denken; unbekümmert, wohin die Empfindungen, von denen ich eingenommen war, in ihren Folgen endlich führen könnten, überließ ich mich ihnen mit aller Gutherzigkeit der jugendlichen Unschuld; meine kleine Psyche zu sehen, zu lieben, es ihr zu sagen, und aus ihrem schönen Munde zu hören, in ihren seelenvollen Augen zu sehen, daß ich wieder geliebt werde.—Das waren itzt alle Glückseligkeiten, die ich wünschte, und über welche hinaus ich keine andere kannte. Ich hatte ihr etwas von den Eindrücken gesagt, die ihr erster Anblick auf mein Herz gemacht hatte; und sie hatte diese Eröffnungen mit dem Geständnis der vorzüglichen Meinung, welche ihr das allgemeine Urteil zu Delphi von mir gegeben hätte, erwidert; aber meine zärtliche und ehrfurchtsvolle Schüchternheit erlaubte mir nicht, ihr alles zu sagen, was mein Herz für sie empfand. Meine Ausdrücke waren lebhaft und feuerig; aber sie hatten mit der gewöhnlichen Sprache der Liebe so wenig ähnliches, daß ich weniger zu sagen glaubte, indem ich in der Tat unendlich mal mehr sagte, als ein gewöhnlicher Liebhaber, der mehr von seinen Begierden beunruhigt, als von dem Werte seiner Geliebten gerührt ist. Allein da wir uns scheiden mußten, würde mich mein allzuvolles Herz verraten haben, wenn die unerfahrne Jugend der guten Psyche ihr erlaubt hätte, einiges Mißtrauen in Empfindungen zu setzen, welche sie nach der Unschuld ihrer eigenen beurteilte. Ich zerfloß in Tränen, und setzte ihr auf eine so zärtliche, so bewegliche Art zu, mir zu versprechen, sich in der folgenden Nacht wieder in dieser Gegend finden zu lassen, daß es ihr unmöglich war, mich ungetröstet wegzuschicken. Wir setzten also, da uns alle Gelegenheit, uns bei Tage zu sprechen, abgeschnitten war, diese nächtliche Zusammenkünfte fort; und unsere Liebe wuchs und verschönerte sich zusehends, ohne daß wir dachten, daß es Liebe sei. Wir nannten es Freundschaft; und genossen ihrer reinsten Süßigkeiten, ohne durch einige Besorgnisse, Bedenklichkeiten oder andre Symptome der Leidenschaft, beunruhigt zu werden. Psyche hatte sich eine Freundin, wie ich mir einen Freund, gewünscht; nun glaubten wir beide gefunden zu haben, was wir wünschten. Unsere Denkungs-Art, und die Güte unserer Herzen, flößte uns ein vollkommenes und unbegrenztes Zutrauen gegen einander ein.—Meine Augen, welche schon lange gewöhnt waren, anders zu sehen, als man sonst in meinen damaligen Jahren zu sehen pflegt, sahen in Psyche kein reizendes Mädchen, sondern die schönste, die liebenswürdigste der Seelen, deren geistige Reizungen aus dem durchsichtigen Flor eines irdischen Gewandes hervorschimmerten; und die wissensbegierige Psyche, welche nie glücklicher war, als wenn ich ihr die erhabenen Geheimnisse meiner dichterischen Philosophie entfaltete, glaubte den göttlichen Orpheus oder den Apollo selbst zu hören, wenn ich sprach. Es ist in der Natur der Liebe (so zärtlich und unkörperlich sie immer sein mag) so lange zuzunehmen, bis sie das Ziel erreicht hat, wo die Natur sie zu erwarten scheint. Die unsrige nahm auch zu, und ging nach und nach durch mehr als eine Verwandlung; aber sie blieb sich selbst doch immer ähnlich. Nachdem uns der Name der Freundschaft nicht mehr bedeutend genug schien, dasjenige, was wir für einander empfanden, auszudrücken, wurden wir eins, daß unter allen Zuneigungen, derer uns die Natur fähig mache, die Liebe eines Bruders und einer Schwester zugleich die stärkste und die reineste sei. Die Vorstellung, die wir uns davon machten, entzückte uns; und nachdem wir oft bedauert hatten, daß uns die Natur diese Glückseligkeit versagt habe, wunderten wir uns zuletzt, wie wir nicht bälder eingesehen hätten, daß es nur von uns abhange, ihre Kargheit in diesem Stücke zu ersetzen.
Wir waren also Bruder und Schwester, und blieben es einige Zeit, ohne daß die Vertraulichkeit und die unschuldigen Liebkosungen, wozu uns diese Namen berechtigten, in unsern Augen wenigstens, der Tugend, welcher wir zugleich mit der Liebe eine ewige Treue geschworen hatten, den geringsten Abbruch taten. Wir waren enthusiastisch genug, die Vermutung oder vielmehr die bloße Möglichkeit, einander vielleicht so nahe verwandt zu sein, als wir wünschten, in den zärtlichen Ergießungen unserer Herzen zuweilen für die Stimme der Natur zu halten; zumal da eine wirkliche oder eingebildete besondere ähnlichkeit unserer Gesichts-Züge diesen Wahn zu rechtfertigen schien. Da wir uns aber die Betrüglichkeit dieser vermeinten Sprache des Blutes nicht immer verbergen konnten, so fanden wir desto mehr Vergnügen darin, die Vorstellungen von einer natürlichen Verschwisterung der Seelen, einem sympathetischen Zug der einen zu der andern, einer schon in einem vorhergehenden Zustand in bessern Welten angefangenen Bekanntschaft nachzuhängen, und sie in tausend angenehme Träume auszubilden. Aber auch bei diesem Grade ließ uns der phantastische Schwung, den die Liebe unsern Seelen gegeben hatte, nicht stille stehen. Wir strengten das äußerste Vermögen unserer Einbildungs-Kraft an, um uns einen Begriff von derjenigen Art zu lieben zu machen, womit in den überirdischen Sphären die Geister einander liebten. Keine andere schien uns zu gleicher Zeit der Stärke und der Reinigkeit unserer Empfindungen genug zu tun, noch für Wesen sich zu schicken, die im Himmel entsprungen, und dahin wiederzukehren bestimmt wären. Ich gestehe dir, schöne Danae, daß ich bei der Erinnerung an diese glückselige Schwärmerei meiner ersten Jugend mich kaum erwehren kann zu wünschen, daß die Bezauberung ewig hätte dauern können. Und dennoch ist nichts gewissers, als daß sich diese allzugeistige Empfindungen endlich verzehrt, und die Natur, welche ihre Rechte nie verliert, uns zuletzt unvermerkt auf eine gewöhnlichere Art zu lieben geführt haben würde; wenn uns nur die schöne Pythia so viel Zeit, als dazu erfodert wurde, gelassen hätte. Diese Dame hatte etliche Wochen verstreichen lassen, ohne (dem Ansehen nach) sich meiner zu erinnern; und ich hatte sie in dieser Zeit so gänzlich vergessen, daß ich ganz betroffen war, als ich wieder zu ihr berufen wurde. Ich fand gar bald, daß die Göttin von Paphos, welche sich vielleicht wegen irgend einer ehemaligen Beleidigung an ihr zu rächen beschlossen, sie in dieser Zwischen-Zeit nicht so ruhig gelassen hatte, als es für sie und mich zu wünschen war. Vermutlich hatte sie (wie die tragische Phädra) allen ihren weiblichen und priesterlichen Stolz zusammengerafft, um eine Leidenschaft zu unterdrücken, deren übelstand sie sich selbst unmöglich verbergen konnte; allein eben so vermutlich mochte sie sich selbst durch die tröstlichen Trug-Schlüsse, welche Euripides der Amme dieser unglückseligen Prinzessin in den Mund legt, wieder beruhigt, und endlich den herzhaften Entschluß gefaßt haben, ihrem Verhängnis nachzugeben. Denn, nachdem sie alle ihre Mühe, mich das, was sie mir zu sagen hatte, erraten zu lassen, verloren sah, brach sie endlich ein Stillschweigen, dessen Bedeutung ich eben so wenig verstehen wollte, und entdeckte mir mit einer Deutlichkeit und mit einem Feuer, welche mich erröten und erzittern machten, daß sie liebe und wieder geliebt sein wolle. Der reizende Anzug und die verführische Stellung, worin sie dieses Geständnis machte, schien ausgewählt zu sein, mich den Wert des mit angebotenen Glückes mehr als jemals empfinden zu lassen. Ich muß noch itzt erröten, wenn ich an die Verwirrung denke, worin ich mit allen meinen erhabenen Begriffen in diesem Augenblick war.—Die menschliche Natur so erniedrigt—den Namen der Liebe so entweihet zu sehen! In der Tat, die Pythia selbst konnte von der Art, wie ich ihre Zumutungen abwies, nicht empfindlicher beschämt und gequält werden, als ich es durch die Notwendigkeit war, worein ich mich gesetzt sah, ihr so übel zu begegnen. Ich bestrebte mich, die Härtigkeit meiner Antworten durch die sanftesten Ausdrücke zu mildern, die ich in der Verwirrung finden konnte. Aber ich erfuhr bald, daß heftige Leidenschaften sich so wenig als Sturm-Winde durch Worte beschwören lassen. Die ihrer selbst nicht mehr mächtige Priesterin nahm für beleidigenden Spott auf, was ich aus der wohlgemeinten, aber allerdings unzeitigen Absicht, ihrer versinkenden Tugend zu Hülfe zu kommen, sagte. Sie geriet in eine Wut, welche mich in die äußerste Verlegenheit setzte; sie brach in Verwünschungen und Drohungen, und einen Augenblick darauf in einen Strom von Tränen und in so bewegliche Apostrophen aus, daß ich beinahe schwach genug gewesen wäre, mit ihr zu weinen, ohne mein Herz geneigter zu finden, dem ihrigen zu antworten. Ich ergriff endlich das einzige Mittel, das mir übrig blieb, mich der albernen Rolle, die ich in dieser Szene spielte, zu erledigen; ich entfloh. In eben dieser Nacht sah ich meine geliebte Psyche wieder an dem gewöhnlichen Orte; mein Gemüt war von der Geschichte dieses Abends zu sehr beunruhigt, als daß ich ihr ein Geheimnis davon hätte machen können. Wir bedaurten die Priesterin, so schwer es uns auch war, von der Wut und den Qualen einer Liebe, welche mit der unserigen so wenig ähnliches hatte, uns eine Vorstellung zu machen; aber wir bedaurten noch vielmehr uns selbst. Die Raserei, worin ich die Pythia verlassen hatte, hieß uns das ärgste besorgen. Wir zitterten eines für des andern Sicherheit; und aus Furcht, daß sie unsere Zusammenkünfte entdecken möchte, beschlossen wir, (so hart uns dieser Entschluß ankam) sie eine Zeitlang seltner zu machen. Dieses war das erste mal, daß die reinen Vergnügungen unserer schuldlosen Liebe von Sorgen und Unruhe unterbrochen wurden, und wir mit schwerem Herzen von einander Abschied nahmen. Es war, als ob es uns ahnete, daß dieses das letzte mal sei, da wir uns zu Delphi sähen; und wir sagten uns wohl tausend mal Lebe wohl; ohne uns eines aus des andern Armen loswinden zu können. Wir redeten mit einander ab, uns erst in der dritten Nacht wieder zu sehen. Zufälliger Weise fügte sichs, daß ich in der Zwischen-Zeit mit der Priesterin in Gesellschaft zusammenkam. Es war natürlich, daß sie in Gegenwart fremder Leute ihrem Betragen gegen mich den freundschaftlichen Ton der Anverwandtschaft gab, welche zwischen uns vorausgesetzt wurde, und durch welche sie nötig befunden hatte, ihren Umgang mit mir gegen die Urteile strenger Sitten-Richter sicher zu stellen. Allein außer diesem bemerkte ich, daß sie etliche mal, da sie von niemand beobachtet zu sein glaubte, die zärtlichsten Blicke auf mich heftete. Ich war zu gutherzig, Verstellung unter diesen Zeichen der wiederkehrenden Liebe zu argwöhnen; und der Schluß, den ich daraus zog, beruhigte mich gänzlich über die Besorgnis, daß sie meinen Umgang mit Psyche entdeckt haben möchte. Ich flog mit ungedultiger Freude zu unserer abgeredeten Zusammenkunft; ich wartete so lange, daß mich der Tag beinahe überrascht hätte; ich durchsuchte den ganzen Hain: aber da war keine Psyche. Eben so ging es in der folgenden und dritten Nacht. Mein Schmerz und meine Betrachtungen waren unaussprechlich. Damals erfuhr ich zum ersten mal, daß meine Einbildungs-Kraft, welche bisher nur zu meinem Vergnügen geschäftig war, in eben dem Maße, wie sie mich glücklich gemacht hatte, mich elend zu machen fähig sei. Ich zweifelte nun nicht mehr, daß die Priesterin unsere Liebe entdeckt habe; und die Folgen, welche dieser Umstand für Psyche haben konnte, stellten sich mir mit allen Schrecknissen einer sich selbst quälenden Einbildung dar. Ich faßte in der Wut meines Schmerzens tausend heftige Entschließungen, von denen immer eine die andere verschlang; ich wollte zu der Priesterin gehen, und meine Psyche von ihr fodern—ich wollte—das Ausschweifendste, was man in der Verzweiflung wollen kann; ich glaube, daß ich fähig gewesen wäre, den Tempel anzuzünden, wenn ich hätte hoffen können, meine Psyche dadurch zu retten. Und doch hielt mich ein Schatten von Hoffnung, daß sie durch zufällige Ursachen habe verhindert werden können, ihr Wort zu halten, noch zurück, einen unbesonnenen Schritt zu tun, welcher ein bloß eingebildetes übel würklich und unheilbar hätte machen können. Vielleicht (dachte ich) weiß die Priesterin noch nichts von unserm Geheimnis; und wie unselig wär' ich in diesem Fall, wenn ich selbst der Verräter davon wäre? Dieser Gedanke führte mich zum vierten mal in den Ruhe-Platz der Diana. Nachdem ich wohl zwo Stunden vergebens gewartet hatte, warf ich mich, in einer Betäubung von Schmerz und Verzweiflung, zu den Füßen einer von den Nymphen hin. Ich lag eine Weile, ohne meiner selbst mächtig zu sein. Als ich mich wieder erholt hatte, sah ich einen frischen Blumen-Kranz um den Hals und die Arme einer von den Nymphen gewunden; ich sprang auf, um genauer zu erkundigen, was dieses bedeuten möchte, und fand ein Briefchen an den Kranz geheftet, worin mir Psyche meldete: daß ich sie in der folgenden Nacht um eine bestimmte Stunde unfehlbar an diesem Platz antreffen würde; sie versparete es auf diese Besprechung, mir zu sagen, durch was für Zufälle sie diese Zeit über verhindert worden, mich zu sehen, oder mir Nachricht von ihr zu geben; ich dürfte aber vollkommen ruhig und gewiß sein, daß die Priesterin nichts von unserer Bekanntschaft wisse. Die heftige Begierde, womit ich wünschte, daß dieses Briefchen von Psyche geschrieben sein möchte, ließ mich nicht daran denken, ein Mißtrauen darein zu setzen, ungeachtet mir ihre Handschrift unbekannt war. Ich ging also plötzlich von dem äußersten Grade des Schmerzens zu der äußersten Freude über. Ich wand den Glück-weissagenden Blumen-Kranz um mich herum, nachdem ich die unsichtbaren Spuren der geliebten Finger, die ihn gewunden hatten, auf jeder Blume weggeküßt hatte. Den folgenden Abend wurde mir jeder Augenblick bis zur bestimmten Zeit ein Jahrhundert. Ich ging eine halbe Stunde früher, den guten Nymphen zu danken, daß sie unsere Liebe in ihren Schutz genommen hatten. Endlich glaubte ich, Psyche zwischen den Myrten-Hecken hervorkommen zu sehen. Die Nacht war nur durch den Schimmer der Sterne beleuchtet; aber ich erkannte die gewöhnliche Kleidung der Psyche, und war von dem ersten Rauschen ihrer Annäherung schon zu sehr entzückt, um gewahr zu werden, daß die Gestalt, die sich mir näherte, mehr von dem üppigen Contour einer Bacchantin als von der jungfräulichen Geschmeidigkeit meiner Freundin hatte. Wir flogen einander mit gleichem Verlangen in die Arme. Die sprachlose Trunkenheit des ersten Augenblicks verstattet nicht, Bemerkungen zu machen; aber es währte doch nicht lange, bis ich notwendig fühlen mußte, daß ich mit einer Heftigkeit, welche mit der unschuldigen Zärtlichkeit einer Psyche den stärksten Absatz machte, an einen kaum verhüllten und ungestüm klopfenden Busen gedrückt wurde.—Das konnte nicht Psyche sein.—Ich wollte mich aus ihren Armen loswinden; aber sie verdoppelte die Stärke, womit sie mich umschlang, zugleich mit ihren wollüstigen Liebkosungen; und da ich nun auf einmal mit einem Entsetzen, welches mir alle Sehnen lähmte, meinen Irrtum erkannte; so machte die Gewalt, die ich anwenden wollte, mich von der rasenden Priesterin loszureißen, daß wir mit einander zu Boden sanken. Ich wünschte aus Hochschätzung des Geschlechts, welches in meinen Augen der liebenswürdigste Teil der Schöpfung ist, daß ich diese Szene aus meinem Gedächtnis auslöschen könnte.—Die Bestrebungen dieser Unglückseligen empörten endlich alle meine Geister zu einem Grimm, der mich ihrer eigenen Wut überlegen machte. Ich hatte alle meine Vernunft nötig, um nicht alle Achtung, die ich wenigstens ihrem Geschlecht schuldig war, aus den Augen zu setzen. Aber ich zweifle nicht, daß eine jede Frauens-Person, welche noch einen Funken von sittlichem Gefühl übrig hätte, lieber den Tod, als die Vorwürfe und die Verwünschungen, womit sie überströmt wurde, ausstehen wollte. Sie krümmete sich, in Tränen berstend zu meinen Füßen.—Dieser Anblick war mir unerträglich—ich wollte entfliehen; sie verfolgte mich, sie hing sich an, und bat mich, ihr den Tod zu geben. Ich verlangte mit Heftigkeit, daß sie mir meine Psyche wieder geben sollte. Diese Worte schienen sie unsinnig zu machen. Sie erklärte mir, daß das Leben dieser Sklavin in ihrer Gewalt sei, und von dem Entschluß, den ich nehmen würde, abhange. Sie sah die Veränderung, die diese Drohung auf einmal in meinem ganzen Wesen machte; wir verstummten beide eine Weile. Endlich nahm sie einen sanftern, aber nicht weniger entschlossenen Ton an, um mir ihre vorige Erklärung zu bekräftigen. Die Eifersucht machte sie so vieles sagen, daß ich Zeit bekam mich zu fassen, und eine Drohung weniger fürchterlich zu finden, zu deren Ausführung ich sie, wenigstens aus Liebe zu sich selbst, unfähig glaubte. Ich antwortete ihr also mit einem kalten Blute, welches sie stutzen machte: daß sie auf ihre eigene Gefahr über das Leben meiner jungen Freundin disponieren könne. Doch ersuchte ich sie, sich zu erinnern, daß sie selbst mich zum Meister über das Ihrige, und über das, was ihr noch lieber als das Leben sein sollte, gemacht habe. Das meinige (setzte ich lebhafter hinzu) hört mit dem Augenblick auf, da Psyche für mich verloren ist; denn bei dem Gott, dessen Gegenwart dieses heilige Land erfüllt, keine menschliche Gewalt soll mich aufhalten, ihrem geliebten Geist in eine bessere Welt zu folgen, wohin uns das Laster nicht folgen kann, unsere geheiligte Liebe zu beunruhigen!—Meine Standhaftigkeit schien, den Mut der Priesterin niederzuschlagen. Sie sagte mir endlich: Sie merkte sehr wohl, daß ich trotzig darauf sei, daß ich in meiner Gewalt habe, sie zu Grunde zu richten—ich könnte tun, was ich wollte; nur sollte ich versichert sein, daß ihr Psyche für jeden Schritt antworten sollte, den ich machen würde. Mit diesen Worten entfernte sie sich, und ließ mich in einem Zustande, dessen Abscheulichkeit, nach der Empfindung die ich davon hatte, abgemessen, über allen Ausdruck ging. Ich wußte nun, daß die Priesterin Mittel gefunden haben müsse, unser Geheimnis zu entdecken, und daß der Blumen-Kranz ein Kunstgriff von ihrer Erfindung gewesen war. Nach dieser Niederträchtigkeit war keine Bosheit so ungeheuer, deren ich diese Elende nicht fähig gehalten hätte. Ich besorgte nichts für mich selbst, aber alles für die arme Psyche, welche ich der Gewalt einer Nebenbuhlerin überlassen mußte, ohne daß mir alle meine Zärtlichkeit für sie das Vermögen geben konnte, sie davon zu befreien."
Agathon entfliehet von Delphi, und findet seinen Vater
"Nachdem ich etliche Tage in der grausamen Ungewißheit, was aus meiner Geliebten geworden sein möchte, zugebracht hatte, erfuhr ich endlich von einer Sklavin der Pythia, welche ihre Freundin gewesen war, daß sie nicht mehr in Delphi sei. Dieses war alle Nachricht, die ich von ihr ziehen konnte; aber es war genug, mir den Aufenthalt von Delphi unerträglich zu machen. Nunmehr bedacht' ich mich keinen Augenblick, was ich tun wollte. Ich stahl mich in der nächsten Nacht hinweg, ohne um die Folgen eines so unbesonnenen Schrittes bekümmert zu sein; oder richtiger zu sagen, in einem Gemüts-Zustande, worin ich unfähig war, einige vernünftige überlegung zu machen. Ich irrte eine Zeitlang an allen Orten herum, wo ich eine Spur von meiner Freundin zu entdecken hoffte; töricht genug mir einzubilden, daß sie mich, wo sie auch sein möchte, durch die magische Gewalt der Sympathie unsrer Seelen nach sich ziehen werde. Aber meine Hoffnung betrog mich; niemand konnte mir die geringste Nachricht von ihr geben. Unempfindlich gegen alles Elend, welches ich auf dieser unsinnigen Wanderschaft erfahren mußte, fühlte ich keinen andern Schmerz als die Trennung von meiner Geliebten und die Ungewißheit, was ihr Schicksal sei; ich würde die Versicherung, daß es ihr wohl gehe, gerne mit meinem Leben bezahlt haben. Endlich führte mich der Zufall oder eine mitleidige Gottheit nach Corinth. Die Sonne war eben untergegangen, als ich von den Beschwerlichkeiten der Reise, und einer Diät, deren ich nicht gewohnt war, äußerst abgemattet, vor dem Hofe eines von den prächtigen Landgütern ankam, welche die Küsten des Corinthischen Meeres verschönern. Ich warf mich unter eine hohe Zypresse nieder, und verlor mich in den Vorstellungen der natürlichen, und dennoch in der Hitze der Leidenschaft nicht vorhergesehenen Folgen meiner Flucht von Delphi. In der Tat war meine Situation fähig, den herzhaftesten Mut niederzuschlagen. In eine Welt ausgestoßen, worin mir alles fremd war, ohne Freunde, unwissend wie ich ein Leben werde erhalten können, dessen Urheber mir nicht einmal bekannt war—warf ich traurige Blicke um mich her—die ganze Natur schien mich verlassen zu haben—auf dem weiten Umfang der mütterlichen Erde sah ich nichts, worauf ich einen Anspruch machen konnte als ein Grab, wenn mich die Last des Elends endlich aufgerieben haben würde; und selbst dieses konnte ich nur von der Frömmigkeit irgend eines mitleidigen Wanderers hoffen. Diese melancholischen Gedanken wurden durch die Erinnerung meiner vergangnen Glückseligkeit, und durch das Bewußtsein, daß ich mein Elend durch keine Bosheit des Herzens oder irgend eine entehrende übeltat verdient hätte, noch empfindlicher gemacht. Ich sah mit tränenvollen Augen um mich her, als ob ich ein Wesen in der Natur suchen wollte, dem mein Zustand zu Herzen ginge. In diesem Augenblick erfuhr ich den wohltätigen Einfluß dieser glückseligen Schwärmerei, welche die Natur dem empfindlichsten Teil der Sterblichen, zu einem Gegenmittel gegen die übel, denen sie durch die Schwäche ihres Herzens ausgesetzt sind, gegeben zu haben scheint. Ich wandte mich an die Unsterblichen, mit denen meine Seele schon so lange in einer Art von unsichtbarer Gemeinschaft gestanden war. Der Gedanke daß sie die Zeugen meines Lebens, meiner Gedanken, meiner geheimsten Neigungen gewesen seien, goß lindernden Trost in mein verwundetes Herz. Ich sahe meine geliebte Psyche unter ihre Flügel gesichert. 'Nein', rief ich aus, 'die Unschuld kann nicht unglücklich sein, noch das Laster seine Absichten ganz erhalten! In diesem majestätischen All, worin Sphären und Atomen sich mit gleicher Unterwürfigkeit nach den Winken einer weisen und wohltätigen Macht bewegen, wär es Unsinn und Gottlosigkeit, sich einer entnervenden Kleinmut zu überlassen.—Mein Dasein ist der Beweis, daß ich eine Bestimmung habe. —Hab' ich nicht eine Seele welche denken kann, und Gliedmaßen, welche ihr als Sklaven zur Ausrichtung ihrer Gedanken zugegeben sind?—Bin ich nicht ein Grieche? Und wenn mich mein Vaterland nicht erkennen will, bin ich nicht ein Mensch? Ist nicht die Erde mein Vaterland? Und gibt mir nicht die Natur ein unverlierbares Recht an Erhaltung und jedes wesentliche Stück der Glückseligkeit, sobald ich meine Kräfte anwende die Pflichten zu erfüllen, die mich mit der Welt verbinden?'—Diese Gedanken beschämten meine Tränen, und richteten mein Herz wieder auf. Ich fing an, die Mittel zu überlegen, die ich in meiner Gewalt hatte, mich in bessere Umstände zu setzen; als ich einen Mann von mittlerm Alter gegen mich herkommen sah, dessen Ansehen und Miene mir beim ersten Anblick Zutrauen und Ehrerbietung einflößten. Ich raffte mich sogleich vom Boden auf, und beschloß mit mir selbst, ihn anzureden, ihm meine Umstände zu entdecken, und mir seinen Rat auszubitten. Er kam mir zuvor.—'Du scheinest vom Weg ermüdet zu sein, junger Fremdling', sagte er zu mir, mit einem Ton, der ihm sogleich mein Herz entgegen wallen machte; 'und da ich dich unter dem wirtschaftlichen Schatten meines Baumes gefunden habe, so hoffe ich, du werdest mir das Vergnügen nicht versagen, dich diese Nacht in meinem Hause zu beherbergen. ' Dieser Mann, den ich hieraus für den Herrn des Hauses, welches ich vor mir sah, erkannte, betrachtete mich mit einer sonderbaren Aufmerksamkeit, indem ich ihm für seine Leutseligkeit dankte, und mit einer Offenherzigkeit, welche von meiner wenigen Kenntnis der Welt zeugte, bekannte; daß ich im Begriff gewesen sei, ihn um dasjenige zu ersuchen, was er mir auf eine so edle Art anbiete; nachdem ich durch einen Zufall in diese Gegenden, wo ich niemand kenne, geraten sei. Ich weiß nicht, was ihn zu meinem Vorteil einzunehmen schien; mein Aufzug wenigstens konnte es nicht sein; denn ich hatte, aus Sorge entdeckt zu werden, meine Delphische Kleidung gegen eine schlechtere vertauscht, welche auf meiner Wanderschaft ziemlich abgenutzt worden war. Er wiederholte mir wie angenehm es ihm sei, daß mich der Zufall vielmehr ihm als einem seiner Nachbarn zugeführt habe; und so folgte ich ihm in sein Haus, dessen Weitläufigkeit, Bauart und Pracht einen Besitzer von großem Reichtum und vielem Geschmack ankündigte. Der Saal in dem wir zuerst abtraten, war mit Gemälden von den berühmtesten Meistern, und mit einigen Bild-Säulen und Brust-Bildern vom Phidias und Alcamenes ausgeziert. Ich liebe wie dir bekannt ist, die Werke der schönen Künste bis zur Schwärmerei, und mein langer Aufenthalt in Delphi hatte mir einige Kenntnis davon gegeben. Ich bewunderte einige Stücke, setzte an andern dieses oder jenes aus, nannte die Künstler, deren Hand oder Manier ich erkannte, und nahm Gelegenheit von andern Meisterstücken zu reden, die mir von ihnen bekannt waren. Ich bemerkte, daß mein Wirt mich mit Verwunderung von neuem betrachtete, und so aussah, als ob er betroffen wäre, einen jungen Menschen, den er in einem so wenig versprechenden Aufzug unter einem Baum liegend gefunden, mit so vieler Kenntnis von Künsten sprechen zu hören, von denen gemeiniglich nur Leute von Stand und Vermögen im Ton der Kenner zu reden pflegen. Nach einer kleinen Weile wurde gemeldet, daß das Abend-Essen aufgetragen sei. Er führte mich hierauf in einen kleinen Saal, dessen Mauern von einem der besten Schüler des Parrhasius mit Wasser-Farben niedlich übermalt waren. Wir speiseten ganz allein. Die Tafel, das Geräte, die Aufwärter, alles stimmte mit dem Begriff überein, den ich mir bereits von dem Geschmack und dem Stande des Haus-Herrn gemacht hatte. Unter dem Essen trat ein junger Mensch von feinem Ansehen und zierlich gekleidet, auf, und rezitierte ein Stuck aus der Odyssee mit vieler Geschicklichkeit. Mein Wirt sagte mir, daß er bei Tische diese Art von Gemüts-Ergötzung den Tänzerinnen und Flötenspielerinnen vorzöge, womit man sonst bei den Tafeln der Griechen sich zu unterhalten pflege. Das Lob das ich seinem Leser beilegte, gab zu einem Gespräch über die beste Art zu rezitieren, und über die Griechischen Dichter Anlaß, wobei ich meinem Wirte abermal Gelegenheit gab, zu stutzen, und mich immer aufmerksamer, und wie mich deuchte, mit einer Art von zärtlicher Gemüts-Bewegung anzusehen. Er sah daß ich es gewahr wurde, und sagte mir hierauf, daß mich die Verwunderung womit er mich von Zeit zu Zeit betrachtete, weniger befremden würde, wenn ich die außerordentliche ähnlichkeit meiner Gesichts-Bildung und Miene mit einer Person, welche er ehmals gekannt habe, wißte; 'doch du sollst selbst hievon urteilen', setzte er hinzu, und hierauf fing er an von andern Dingen zu reden, bis der Wein und die Früchte aufgestellt wurden. Bald darauf stunden wir auf, und nachdem wir eine Weile in einer langen Galerie, die auf einer doppelten Reihe Corinthischer Säulen von buntem Marmor ruhte, und prächtig erleuchtet war, auf und abgegangen waren, führte er mich in ein Cabinet, worin ein Schreibtisch, ein Büchergestell, einige Polster, und ein Gemälde in Lebensgröße auf welches ich nicht gleich acht gab, alle Möbeln und Zierraten ausmachten. Er hieß mich niedersetzen, und nachdem er das Bildnis, welches ihm gegenüber hing, eine ziemliche Weile mit Bewegung angesehen hatte, redete er mich also an: 'Deine Jugend, liebenswürdiger Fremdling, die Art wie sich unsere Bekanntschaft angefangen, die Eigenschaften die ich in dieser kurzen Zeit an dir entdeckt, und die Zuneigung die ich in meinem Herzen für dich finde, rechtfertigen mein Verlangen, von deinem Namen, und von den Umständen benachrichtiget zu sein, welche dich in einem solchen Alter von deiner Heimat entfernt und in diese fremde Gegenden geführt haben können. Es ist sonst meine Gewohnheit nicht, mich beim ersten Anblick für jemand einzunehmen. Aber bei deiner Erblickung hab ich einem geheimen Reiz, der mich gegen dich zog nicht widerstehen können; und du hast in diesen wenigen Stunden meine voreilige Neigung so sehr gerechtfertiget, daß ich mir selbst Glück wünsche, ihr Gehör gegeben zu haben. Befriedige also mein Verlangen, und sei versichert, daß die Hoffnung, dir vielleicht nützlich sein zu können, weit mehr Anteil daran hat, als ein unbescheidener Vorwitz. Du siehest einen Freund in mir, dem du dich, ungeachtet der kurzen Dauer unsrer Bekanntschaft, mit allem Zutrauen eines langwierigen und bewährten Umgangs entdecken darfst.' Ich wurde durch diese Anrede so sehr gerührt, daß sich meine Augen mit Tränen füllten—ich glaube, daß er darin lesen konnte was ihm mein Herz antwortete, ob ich gleich eine Weile keine Worte finden konnte. Endlich sagte ich ihm, daß ich von Delphi käme; daß ich daselbst erzogen worden; daß man mich Agathon genennt hätte; daß ich niemalen habe entdecken können, wem ich das Leben zu danken habe; und daß alles was ich davon wisse, dieses sei, daß ich in einem Alter von vier oder fünf Jahren in den Tempel gebracht, mit andern Knaben, welche man dem Dienst des Gottes zu Delphi gewidmet, erzogen, und nachdem ich zu mehrern Jahren gekommen, von den Priestern mit einer vorzüglichen Achtung angesehen, und in allem was zur Erziehung eines freigebornen Griechen erfordert werde, geübet worden sei. Stratonicus (so wurde mein Wirt genannt) hatte während daß ich dieses sagte, Mühe sich ruhig zu halten; sein Gesicht veränderte sich; er wollte anfangen zu reden, schien sich aber wieder anders zu bedenken, und ersuchte mich nur, ihm zu sagen, warum ich Delphi verlassen hätte. So natürlich die Aufrichtigkeit sonst meinem Herzen war, so konnte ich doch dieses mal unmöglich über die Bedenklichkeiten hinaus kommen, welche mir über meine Liebe zu Psyche den Mund verschlossen. Einem Freunde von meinen Jahren, für den ich mein Herz eben so eingenommen gefunden hätte, als für den Stratonicus, würde ich das Innerste meines Herzens ohne Bedenken aufgeschlossen haben, so bald ich hätte vermuten können, daß er meine Empfindungen zu verstehen fähig sei: Aber hier hielt mich etwas zurück, davon ich mir selbst die Ursache nicht recht angeben konnte. Ich schob also die ganze Schuld meiner Entweichung von Delphi auf die Pythia, indem ich ihm so ausführlich, als es meine jugendliche Schamhaftigkeit gestatten wollte, von den Versuchungen, in welche sie meine Tugend geführt hatte, Nachricht gab. Er schien sehr wohl mit meiner Aufführung zufrieden, und nachdem ich meine Erzählung bis auf den Augenblick, wo ich ihn zuerst erblickt, und dasjenige was ich sogleich für ihn empfunden, fortgeführt; stund er mit einer lebhaften Bewegung auf, warf seine Arme um meinen Hals, und sagte mit Tränen der Freude und Zärtlichkeit in seinen Augen:—'Mein liebster Agathon, siehe deinen Vater—hier', setzte er hinzu, indem er mich sanft umwendete, und auf das Gemälde wies, welchem ich bisher den Rücken zugekehrt hatte,—'hier, in diesem Bilde, erkenne die Mutter, deren geliebte Züge mich beim ersten Anblick in deiner Gesichts-Bildung gerührt, und diese Bewegung erregt haben, die ich nun für die Stimme der Natur erkenne.'
Du kennest mich zu gut, liebenswürdige Danae, um dir meine Empfindungen in diesem Augenblicke nicht lebhafter einzubilden, als ich sie beschreiben könnte. Solche Augenblicke sind keiner Beschreibung fähig; für solche Freuden hat die Sprache keine Namen, die Natur keine Bilder, und die Phantasie selbst keine Farben.—Das Beste ist, zu schweigen, und den Zuhörer seinem eigenen Herzen zu überlassen. Mein Vater schien durch meine Entzückung, welche sich lange Zeit nur durch Tränen und sprachlose Umarmungen und abgebrochene Töne der zärtlichsten Regungen, deren die Natur fähig ist, ausdrücken konnte, doppelt glücklich zu sein. Das Vergnügen, womit er mich für seinen Sohn erkannte, schien ihn selbst wieder in die glücklichsten Augenblicke seiner Jugend zu versetzen, und Erinnerungen wieder aufzuwecken, denen mein Anblick ein neues Leben gab. Da er natürlicher Weise voraussetzen konnte, daß ich begierig sein werde, die Ursachen zu wissen, welche meinen Vater, der mich mit so vielem Vergnügen für seinen Sohn erkannte, hatten bewegen können, mich so viele Jahre von sich verbannt zu halten; so gab er mir hierüber alle Erläuterungen, die ich nur wünschen konnte, durch eine umständliche Erzählung der Geschichte seiner Liebe zu meiner Mutter. Seine Bekanntschaft mit ihr hatte sich zufälliger Weise in einem Alter angefangen, worin er noch gänzlich unter der väterlichen Gewalt stund. Sein Vater war das Haupt eines von den edelsten Geschlechtern in Athen. Meine Mutter war sehr jung, sehr schön, und eben so tugendhaft als schön, unter der Aufsicht einer alten Frau, die sich ihre Mutter nannte, dahin gekommen. Die strenge Eingezogenheit, worin sie sehr kümmerlich von ihrer Hand-Arbeit lebte, verwahrte die junge Musarion vor den Augen und vor den Nachstellungen der mäßigen reichen Jünglinge, welche gewohnt sind, junge Mädchen, die keinen andern Schutz als ihre Unschuld, und keinen andern Reichtum als ihre Reizungen haben, für ihre natürliche Beute anzusehen. Dem ungeachtet konnte sie nicht verhintern, durch einen Zufall, den ich übergehen will, meinem Vater bekannt zu werden, welcher sich durch seine gesittete und bescheidene Lebens-Art von den meisten jungen Atheniensern seiner Zeit unterschied. Sein tugendhafter Charakter konnte ihn nicht verwahren, von den Reizungen der jungen Musarion gerührt zu werden; aber er machte, daß seine Liebe die Eigenschaft seines Charakters annahm. Sie war tugendhaft, bescheiden, und eben dadurch stärker und dauerhafter. Sein Stand, sein guter Ruf und sein zurückhaltendes Betragen gegen den unschuldigen Gegenstand seiner Liebe gaben zusammengenommen einen Beweg-Grund ab, der die Nachsicht entschuldigen konnte, womit die Alte seine geheime Besuche duldete, ob sie gleich immer häufiger wurden. Nichts kann natürlicher sein, als dasjenige, was man liebt, dem Mangel nicht ausgesetzt sehen zu können; aber nichts ist auch in den Augen der Welt zweideutiger, als die Freigebigkeit eines jungen Menschen gegen eine junge Person, welche das Unglück hat, durch ihre Annehmlichkeiten den Neid, und durch ihre Armut die Verachtung des großen Haufens zu erregen. Man kann sich nicht bereden, daß in einem solchen Fall derjenige, welcher gibt, nicht eigennützige Absichten habe; oder diejenige, welche annimmt, ihre Dankbarkeit nicht auf Unkosten ihrer Unschuld beweise. Stratonicus gebrauchte deswegen die äußerste Vorsichtigkeit, um die Wohltaten, womit er diese kleine Familie von Zeit zu Zeit unterstützte, vor aller Welt und vor ihnen selbst zu verbergen. Allein sie entdeckten doch zuletzt ihren unbekannten Wohltäter; und diese neue Proben seiner edelmütigen Sinnes-Art vollendeten den Eindruck, den er schon lange auf das unerfahrne Herz der zärtlichen Musarion gemacht hatte, und gewannen es ihm gänzlich. Niemals würde die Liebe von der zärtlichsten Gegenliebe erwidert, zwei Herzen glücklicher gemacht haben, wenn die Umstände der jungen Schönen einer gesetzmäßigen Vereinigung nicht Schwierigkeiten in den Weg gelegt hätten, welche ein jeder anderer als ein Liebhaber für unüberwindlich gehalten hätte. Endlich war Stratonicus so glücklich, zu entdecken, daß seine Geliebte würklich eine Atheniensische Bürgerin sei, die Tochter eines zwar armen, aber rechtschaffenen Mannes, welcher im Pelopponesischen Kriege sein Leben auf eine rühmliche Art verloren hatte. Nunmehr wagte er es, seinem Vater das Geheimnis seiner Liebe zu entdecken; er wandte alles an, seine Einwilligung zu erhalten; aber der Alte, welcher alle Reizungen und alle Tugenden der jungen Musarion für keinen genugsamen Ersatz des Reichtums, der ihr fehlte, ansah, blieb unerbittlich. Stratonicus liebte zu inbrünstig, um dem Befehl, nicht weiter an seine Geliebte zu denken, gehorsam zu sein; er würde sich selbst für den Unwürdigsten unter den Menschen gehalten haben, wenn er fähig gewesen wäre, ihr nur das Wenigste von seinen Empfindungen zu entziehen. Die Widerwärtigkeiten und Hinternisse, womit seine Liebe kämpfen mußte, taten vielmehr die Würkung, welche sie in einem solchen Falle bei edeln und wahrhaftig eingenommenen Gemütern allemal tun werden; sie konzentrierten das Feuer ihrer gegenseitigem Zuneigung, und bliesen eine Flamme, welche, so lange sie von Hoffnung genährt wurde, drei Jahre lang sanft und rein fortgebrannt hatte, zu der heftigsten Leidenschaft an. Das Herz ermüdet endlich durch den langen Kampf mit seinen süßesten Regungen; es verliert die Kraft zu widerstehen; und je länger es unter den Qualen einer zugleich verfolgten und unbefriedigten Liebe geseufzet hat, je heftiger sehnet es sich nach einer Glückseligkeit, wovon ein einziger Augenblick genugsam ist, das Andenken aller ausgestandenen Leiden auszulöschen, das Gefühl der gegenwärtigen zu ersticken, und die Augen, von der süßen Trunkenheit der glücklichen Liebe benebelt, gegen alle künftige Not blind zu machen. Außer diesem hatte Musarion noch den Beweg-Grund einer Dankbarkeit, von deren drückender Last ihr Herz sich zu erleichtern suchte. Kurz: Sie schwuren einander eine ewige Treue, überließen sich dem sympathetischen Verlangen ihres Herzens, und bedienten sich der Gewalt, die ihnen die Liebe gab, einander glücklich zu machen. Die Glückseligkeit, welche eines dem andern zu danken hatte, unterhielt und befestigte die zärtliche Vereinigung ihrer Herzen, anstatt sie zu schwächen oder gar aufzulösen; denn noch niemals ist der Genuß das Grab der wahren Zärtlichkeit gewesen. Ich, schöne Danae, war die erste Frucht ihrer Liebe. Glücklicher Weise fiel meinem Vater eben damals durch den letzten Willen eines Oheims ein kleines Vorwerk auf einer von den Insuln zu, welche unter der Botmäßigkeit der Athenienser stehen. Dieses mußte meiner Mutter zur Zuflucht dienen; ich wurde daselbst geboren, und genoß drei Jahre lang ihrer eigenen Pflege; bis sie mir durch eine Schwester entzogen wurde, deren Leben der liebenswürdigen Musarion das ihrige kostete. Stratonicus hatte inzwischen manchen Versuch gemacht, das Herz seines Vaters zu erweichen; aber allemal vergebens. Es blieb ihm also nichts übrig, als seine Verbindung mit meiner Mutter und die Folgen derselben geheim zu halten. Ihr frühzeitiger Tod vernichtete die Entwürfe von Glückseligkeit, die er für die Zukunft gemacht hatte, ohne die zärtliche Treue, die er ihrem Andenken widmete, zu schwächen. Die Sorge für das, was ihm von ihr übrig geblieben war, hielt ihn zurück, sich einer Traurigkeit völlig zu überlassen, welche ihn lange Zeit gegen alle Freuden des Lebens gleichgültig, und zu allen Beschäftigungen desselben verdrossen machte. Der Tempel zu Delphi schien ihm der tauglichste Ort zu sein, mich zu gleicher Zeit zu verbergen, und einer guten Erziehung teilhaft zu machen. Er hatte Freunde daselbst, denen ich besonders empfohlen wurde, mit dem gemessensten Auftrag, mich in einer gänzlichen Unwissenheit über meinen Ursprung zu lassen. Sein Vorsatz war, so bald der Tod seines Vaters ihn zum Meister über sich selbst und seine Güter gemacht haben würde, mich von Delphi abzuholen, und nach Athen zu bringen, wo er so dann seine Verbindung mit meiner Mutter bekannt machen, und mich öffentlich für seinen Sohn und Erben erklären wollte. Aber dieser Zufall erfolgte erst wenige Monate vor meiner Flucht, und seit demselben hatten ihn dringendere Geschäfte genötigt, meine Abholung aufzuschieben.
Nachdem mein Vater diese Erzählung geendigt hatte, ließ er einen alten Freigelassenen zu sich rufen, und fragte ihn: Ob er den kleinen Agathon kenne, den er vor vierzehn Jahren dem Schutz des Delphischen Apollo überliefert habe? Der gute Alte, dessen Züge mir selbst nicht unbekannt waren, erkannte mich desto leichter, da er binnen dieser Zeit von meinem Vater etliche male nach Delphi abgeschickt worden war, sich meines Wohlbefindens zu erkundigen. Nunmehr wurde in wenigen Augenblicken das ganze Haus mit allgemeiner Freude erfüllt; die Zufriedenheit meines Vaters über mich, und das Vergnügen, womit alle seine Haus-Genossen mich, als den einzigen Sohn ihres Herrn, bewillkommten, machte die Freude vollkommen, die ich bei einem so unverhofften und plötzlichen übergang von dem Elend eines sich selbst unbekannten, nackten und allen Zufällen des Schicksals preis gegebenen Flüchtlings zu einem so blendenden Glücks-Stand notwendig empfinden mußte. Blendend hätte er wenigstens für manchen andern sein können, der durch die Art seiner Erziehung weniger als ich vorbereitet gewesen wäre, einen solchen Wechsel mit Bescheidenheit zu ertragen. Inzwischen bin ich mir selbst die Gerechtigkeit schuldig, zu sagen, daß die Versicherung, ein Bürger von Athen, und durch meine Geburt und die Tugend meiner Voreltern zu Verdiensten und schönen Taten berufen zu sein, mir ungleich mehr Vergnügen machte, als der Anblick der Reichtümer, welche die Gütigkeit meines Vaters mit mir zu teilen so begierig war, und welche in meinen Augen nur dadurch einen Wert erhielten, weil sie mir das Vermögen zu Leben schienen, desto freier und vollkommener nach den Grund-Sätzen, die ich eingezogen hatte, leben zu können. Ich unterhielt mich nun mit einer neuen Art von Träumen, welche durch ihre Beziehung auf meine neu entdeckten Verhältnisse für mich so wichtig, als durch ihre Ausführung eben so viele Wohltaten für das menschliche Geschlecht zu sein schienen. Ich machte Entwürfe, wie die erhabenen Lehr-Sätze meiner idealischen Sitten-Lehre auf die Einrichtung und Verwaltung eines gemeinen Wesens angewendet werden könnten. Diese Betrachtungen, welche einen guten Teil meiner Nächte wegnahmen, erfüllten mich mit dem lebhaftesten Eifer für ein Vaterland, welches ich nur aus Geschichtschreibern kannte; ich zeichnete mir selbst, auf den Fußstapfen der Solons und Aristiden, einen Weg aus, bei welchem ich an keine andere Hinternisse dachte, als solche, die durch Mut und Tugend zu überwinden sind. Dann setzte ich mich in meinen patriotischen Entzückungen an das Ende meiner Laufbahn, und sah in Athen, nichts geringers als die Hauptstadt der Welt, die Gesetzgeberin der Nationen, die Mutter der Wissenschaften und Künste, die Königin des Meers, den Mittelpunkt der Vereinigung des ganzen menschlichen Geschlechts.—Kurz, ich machte ungefähr eben so schimärische, und eben so ungeheure Projekte, als Alcibiades; aber mit dem wesentlichen Unterscheid, daß ein von Güte und allgemeiner Wohltätigkeit beseeltes Herz die Quelle der meinigen war. Sie hatten noch dieses Besondere, daß ihre Ausführung, (die moralische Möglichkeit derselben vorausgesetzt,) keiner Mutter eine Träne, und keinem Menschen in der Welt mehr, als die Aufopferung seiner Vorurteile, und solcher Leidenschaften, welche die Ursachen alles Privat-Elends sind, gekostet hätten. Ihre Ausführung schien mir, weil ich mir die Hinternisse nur einzeln, und nicht in ihrem Zusammenhang und vereinigtem Gewichte vorstellte, so leicht zu sein, daß ich nur allein darüber verwundert war, daß ein Perikles unter den kleinfügigen Bemühungen Athen zur Meisterin von Griechenland zu machen, habe übersehen können, wie viel leichter es sei, es zum Tempel eines ewigen Friedens und der allgemeinen Glückseligkeit der Welt zu machen. Diese schönen Spekulationen gaben etliche mal den Stoff zu den Unterredungen ab, womit ich meinem Vater des Abends die Zeit zu verkürzen pflegte. Die Lebhaftigkeit meiner Einbildungskraft schien ihn eben so sehr zu belustigen, als sein Herz, dessen Ebenbild er in dem meinigen erkannte, sich an den tugendhaften Gesinnungen vergnügte, welche er, wie ich selbst, (vielleicht beide ein wenig zu parteiisch) für die Triebfedern meiner politischen Träume hielt. Alles, was er mir von den Schwierigkeiten ihrer Ausführung, die er mit der Quadratur des Zirkels in eine Klasse setzte, sagen konnte, überzeugte mich so wenig, als einen Verliebten die Einwendungen eines Freundes, der bei kaltem Blut ist, überzeugen werden. Ich hatte eine Antwort für alle; und dieser neue Schwung, den mein Enthusiasmus bekommen hatte, wurde bald so stark, daß ich es kaum erwarten konnte, mich in Athen, und in Umständen zu sehen, wo ich die erste Hand an dieses große Werk, wozu ich gewidmet zu sein glaubte, legen könnte."
Agathon kommt nach Athen, und widmet sich der Republik. Eine Probe der besondern Natur desjenigen Windes, welcher vom Horaz aura popularis genennet wird
"Mein Vater hielt sich nur so lange zu Corinth auf, als es seine Geschäfte erfoderten, und eilte selbst, mich so bald es nur möglich war, in dieses Athen zu versetzen, welches sich meiner verschönernden Einbildung in einem so herrlichen Lichte darstellte. Ich gestehe dir, Danae, (und hoffe, die fromme Pflicht gegen meine Vaterstadt nicht dadurch zu beleidigen) daß der erste Anblick mit dem was ich erwartete einen starken Absatz machte. Mein Geschmack war zu sehr verwöhnt, um das Mittelmäßige, worin es auch sein möchte, erträglich zu finden; er wollte gleichsam alles in diese feine Linie eingeschlossen sehen, in welcher das Erhabene mit dem Schönen zusammenfließt; und wenn er diese Vollkommenheit an einzelnen Teilen gewahr wurde, so wollte er, daß alle zusammenstimmen, und ein sich selbst durchaus ähnliches, symmetrisches Ganzes ausmachen sollten. Von diesem Grade der Schönheit war Athen, so wie vielleicht eine jede andere Stadt in der Welt, noch weit entfernt; indessen hatte sie doch der gute Geschmack und die Verschwendung des Pericles, mit Hülfe der Phidias, der Alcamenen, und andrer großer Meister, in einen solchen Stand gestellt, daß sie mit den prächtigsten Städten des politesten Teils der Welt um den Vorzug streiten konnte; und ich hielt mit Recht davor, daß die Ergänzung und Vollendung dessen, was ihr von dieser Seite noch abging, der leichteste Teil meiner Entwürfe, und eine natürliche Folge derjenigen Veranstaltungen sein werde, welche sie, meiner Einbildung nach, zum Mittelpunkt der Stärke, und der Reichtümer des ganzen Erdbodens machen sollten.
Sobald wir in Athen angekommen waren, ließ mein Vater seine erste Sorge sein, mich auf eine gesetzmäßige und öffentliche Art für seinen Sohn erkennen, und unter die Atheniensischen Bürger aufnehmen zu lassen. Dieses machte mich eine Zeit lang zu einem Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit. Die Athenienser sind, wie dir nicht unbekannt ist, mehr als irgend ein anders Volk in der Welt geneigt, sich plötzlich mit der äußersten Lebhaftigkeit für oder wider etwas einnehmen zu lassen. Ich hatte das Glück, ihnen beim ersten Anblick zu gefallen; die Begierde mich zu sehen, und Bekanntschaft mit mir zu machen, wurde eine Art von epidemischer Leidenschaft unter Jungen und Alten; jene machten in kurzem einen glänzenden Hof um mich, und diese faßten Hoffnungen von mir, welche mich, ohne es an mir selbst gewahr zu werden, mit einem geheimen Stolz erfüllten, und die allzuhochfliegende Meinung, die ich ohnehin geneigt war, von meiner Bestimmung zu fassen, bestätigten. Dieser subtile Stolz, der sich hinter meinen besten Neigungen und tugendhaftesten Gesinnungen verbarg, und dadurch meinem Bewußtsein sich entzog, benahm mir nichts von einer Bescheidenheit, wodurch ich vor den meisten jungen Leuten meiner Gattung mich zu unterscheiden schien; und ich gewann dadurch, nebst der allgemeinen Achtung des geringern Teils des Volkes, den Vorteil, daß die Vornehmsten, die Weisesten und Erfahrensten mich gerne um sich haben mochten, und mir durch ihren Umgang eine Menge besondere Kenntnisse mitteilten, welche mir bei meinem frühzeitigen Auftritt in der Republik sehr wohl zu statten kamen. Die Reinigkeit meiner Sitten, der gute Gebrauch, den ich von meiner Zeit machte, der Eifer, womit ich mich zum künftigen Dienst meines Vaterlandes vorbereitete, die fleißige Besuchung der Gymnasien, und der Preis, den ich in den übungen von den mehresten meines Alters davon trug: Alles dieses vereinigte sich, das günstige Vorurteil zu unterhalten, welches man einmal für mich gefaßt hatte; und da mir noch die Verdienste meines Vaters, und einer langen Reihe von Voreltern den Weg zur Republik bahnten; so ist es nicht zu verwundern, daß ich in einem Alter, worin die meisten Jünglinge nur mit ihren Vergnügungen beschäftiget sind, den Mut hatte, in den öffentlichen Versammlungen aufzutreten, und das Glück, mit einem Beifall aufgenommen zu werden, welcher mich in Gefahr setzte, eben so schnell, als ich empor gehoben wurde, so wohl durch meine eigene Vermessenheit, als durch den Neid meiner Nebenbuhler wieder gestürzt zu werden.
Die Beredsamkeit ist in Athen, und in allen Freistaaten, wo das Volk Anteil an der öffentlichen Verwaltung hat, der nächste Weg zu Ehrenstellen, und das gewisseste Mittel sich auch ohne dieselben Ansehen und Einfluß zu verschaffen. Ich ließ es mir also sehr angelegen sein, die Geheimnisse einer Kunst zu studieren, von deren Ausübung und dem Grade der Geschicklichkeit, den ich mir darin erwerben würde, die glückliche Ausführung aller meiner Entwürfe abzuhängen schien. Denn wenn ich bedachte, wozu Perikles und Alcibiades die Athenienser zu bereden gewußt hatten: So zweifelte ich keinen Augenblick, daß ich sie mit einer gleichen Geschicklichkeit zu Maßnehmungen würde überreden können, welche, außerdem, daß sie an sich selbst edler waren, zu weit glänzendern Vorteilen führten, ohne so ungewiß und gefährlich zu sein. In dieser Absicht besuchte ich die Schule des Platons, welcher damals zu Athen in seinem größesten Ansehen stund, und indem er die Weisheit des Socrates mit der Beredsamkeit eines Gorgias und Prodicus vereinigte, nach dem Urteil meiner alten Freunde, weit geschickter, als diese Wortkünstler, war, einen Redner zu bilden, der vielmehr durch die Stärke der Wahrheit, als durch die Blendwerke und Kunstgriffe einer hinterlistigen Dialektik sich die Gemüter seiner Zuhörer unterwerfen wollte. Der vertrautere Zutritt, den mir dieser berühmte Weise vergönnte, entdeckte eine übereinstimmung meiner Denkungsart mit seinen Grundsätzen, welche die Freundschaft, die ich für ihn faßte, in eine fast schwärmerische Leidenschaft verwandelte. Sie würde mir schädlich gewesen sein, wenn man damals schon so von ihm gedacht hätte, wie man dachte, nachdem er, durch die Bekanntmachung seiner metaphysischen Dialogen, bei den Staatsleuten, und selbst bei vielen, welche seine Bewundrer gewesen waren, den Vorwurf, welchen Aristophanes ehemals (wiewohl höchst unbillig) dem weisen Socrates gemacht, sich mit besserm Grund oder mehr Scheinbarkeit zugezogen hatte. Aber damals hatte Plato weder seinen 'Timäus' noch seine 'Republik' geschrieben. Indessen existierte diese letztere doch bereits in seinem Gehirne; sie gab sehr oft den Stoff zu unsern Gesprächen in den Spaziergängen der Akademie ab; und er bemühete sich desto eifriger, mir seine Begriffe von der besten Art, die menschliche Gesellschaft einzurichten, und zu regieren, eigen zu machen, da er das Vergnügen zu haben hoffte, sie wenigstens in so fern es die Umstände zulassen würden, durch mich realisiert zu sehen. Sein Eifer in diesem Stücke mag so groß gewesen sein, als er will, so war er doch gewiß nicht größer, als meine Begierde, dasjenige auszuüben, was er spekulierte. Allein, da meine Vorstellung von der Wichtigkeit der Pflichten, welche derjenige auf sich nimmt, der sich in die öffentlichen Angelegenheiten mischet, der Lauterkeit und innerlichen Güte meiner Absichten proportioniert war, und ich desto weiter von Ehrsucht, und andern eigennützigen Leidenschaften entfernt zu sein glaubte, je gewisser ich mir bewußt war, daß ich (wenn ich es für erlaubt gehalten hätte, mich in der Wahl einer Lebensart bloß meiner Privatneigung zu überlassen,) eine von dem Städtischen Getümmel entfernte Muße, und den Umgang mit den Musen, die ich alle zugleich liebte, der Ehre, eine ganze Welt zu beherrschen, vorgezogen hätte: So glaubte ich mich nicht genug vorbereiten zu können, eh ich auf einem Theater erschiene, wo der erste Auftritt gemeiniglich das Glück des ganzen Schauspiels entscheidet. Ich widerstund bei etlichen Gelegenheiten, welche mich aufzufodern schienen, so wohl dem Zudringen meiner Freunde, als meiner eigenen Neigung, ob es gleich, seit dem Alcibiades mit so gutem Erfolg den Anfang gemacht hatte, nicht an jungen Leuten fehlte, welche, ohne sich durch andre Talente, als die Geschicklichkeit ein Gastmahl anzuordnen, sich zierlich zu kleiden, zu tanzen, und die Cithar zu spielen, bekannt gemacht zu haben, vermessen genug waren, nach einer durchgeschwärmten Nacht aus den Armen einer Buhlerin in die Versammlung des Volks zu hüpfen, und von Salben triefend mit einer tändelhaften Geschwätzigkeit von den Gebrechen des Staats, und den Fehlern der öffentlichen Verwaltung zu plaudern.
Endlich ereignete sich ein Fall, wo das Interesse eines Freundes, den ich vorzüglich liebte, alle meine Bedenklichkeiten überwog. Eine mächtige Kabale hatte seinen Untergang geschworen; er war unschuldig; aber die Anscheinungen waren gegen ihn; die Gemüter waren wider ihn eingenommen; und die Furcht, sich den Unwillen seiner Feinde zu zuziehen, hielt die wenigen, welche besser von ihm dachten, zurück, sich seiner öffentlich anzunehmen. In diesen Umständen stellte ich mich als sein Verteidiger dar. Da ich von seiner Unschuld überzeugt war, so würkten alle diese Betrachtungen, wodurch sich seine übrigen Freunde abschrecken ließen, bei mir gerade das Widerspiel. Ganz Athen wurde aufmerksam, da es bekannt wurde, daß Agathon, des Stratonicus Sohn, auftreten würde, die Sache des schon zum voraus verurteilten Lysias zu führen. Die Zuneigung, welche das Volk zu mir trug, veränderte auf einmal die Meinung, die man von dieser Sache gefaßt hatte; die Athenienser fanden eine Schönheit, von der sie ganz bezaubert waren, in der Großmut und Herzhaftigkeit, womit ich (wie sie sagten) mich für einen Freund erklärte, den alle Welt verlassen und der Wut und übermacht seiner Feinde preis gegeben hatte. Man tat nun die eifrigsten Gelübde, daß ich den Sieg davon tragen möchte, und der Enthusiasmus, womit einer den andern ansteckte, wurde so groß, daß die Gegenpartei sich genötigt sah, den Tag der Entscheidung so weit hinauszusetzen, als sie für nötig hielten, um die erhitzten Gemüter sich wieder abkühlen zu lassen. Sie sparten inzwischen keine Kunstgriffe, wodurch sie sich des Ausgangs zu versichern glaubten; allein der Erfolg vereitelte alle ihre Maßnehmungen. Die Zujauchzungen, womit ich von einem großen Teil des Volkes empfangen wurde, munterten mich auf; ich sprach mit einem gesetztern Mut, als man sonst von einem jungen Menschen erwarten konnte, der zum ersten mal vor einer so zahlreichen Versammlung redete; und vor einer Versammlung, wo der geringste Handwerksmann sich für einen Kenner und rechtmäßigen Richter der Beredsamkeit hielt. Die Wahrheit tat auch hier die Würkung, die sie alle mal tut, wenn sie in ihrem eigenen Lichte und mit derjenigen Lebhaftigkeit, welche die eigene überzeugung des Redners gibt, vorgetragen wird; sie überwältigte alle Gemüter. Lysias wurde losgesprochen, und Agathon, der nunmehr der Held der Athenienser war, im Triumph nach Hause begleitet. Von dieser Zeit erschien ich öfters in den öffentlichen Versammlungen; die Leidenschaft, welche das Volk für mich gefaßt hatte, und der Beifall, der mir, wenn ich redete, entgegen flog, machten mir Mut, nun auch an den allgemeinen Angelegenheiten Teil zu nehmen; und da das Glück beschlossen zu haben schien, mich nicht eher zu verlassen, bis es mich auf den Gipfel der Republikanischen Größe erhoben haben würde; so machte ich auch in dieser neuen Lauf-Bahn so schnelle Schritte, daß in kurzem die Gunst, worin ich bei dem Volk stund, das Ansehen der Mächtigsten zu Athen im Gleichgewicht erhielt; und daß meine heimlichen Feinde selbst, um dem Volk angenehm zu sein, genötigt waren, öffentlich die Zahl meiner Bewunderer zu vermehren. Der Tod meines Vaters, der um diese Zeit erfolgte, beraubte mich eines Freundes und Führers, dessen Klugheit mir in dem gefahrvollen Ozean des politischen Lebens unentbehrlich war. Ich wurde dadurch in den Besitz der großen Reichtümer gesetzt, mit denen er nur dadurch dem Neid entgangen war, weil er sie mit großer Bescheidenheit gebrauchte. Ich war nicht so vorsichtig. Der Gebrauch, den ich davon machte, war zwar an sich selbst edel und löblich; ich verschwendete sie, um Gutes zu tun; ich unterstützte alle Arten von Bürgern, welche ohne ihre Schuld in Unglück geraten waren; mein Haus war der Sammel-Platz der Gelehrten, der Künstler und der Fremden; mein Vermögen stund jedem zu Diensten, der es benötigt war: aber eben dieses war es, was in der Folge meinen Fall beförderte. Man würde mir eher zu gut gehalten haben, wenn ich es mit Gastmählern, mit Buhlerinnen und mit einer immerwährenden Abwechslung prächtiger und ausschweifender Lustbarkeiten durchgebracht hätte. Indes stund es eine geraume Zeit an, bis die Eifersucht, welche ich durch eine solche Lebens-Art in den Gemütern der Angesehensten unter den Edeln zu Athen erregte, es wagen durfte, in sichtbare Würkungen auszubrechen. Das Volk, welches mich vorhin geliebet hatte, fing nun an, mich zu vergöttern. Der Ausdruck, den ich hier gebrauche, ist nicht zu stark; denn da ein gewisser Dichter, der sich meines Tisches zu bedienen pflegte, sich einst einfallen ließ, in einem großen und elenden Gedicht mir den Apollo zum Vater zu geben, so fand diese mir selbst lächerliche Schmeichelei bei dem Pöbel (dem ohnehin das Wunderbare allemal besser als das Natürliche einleuchtet) so großen Beifall, daß sich nach und nach eine Art von Sage unter dem Volk befestigte, welche meiner Mutter die Ehre beilegte, den Gott zu Delphi für ihre Reizungen empfindlich gemacht zu haben. So ausschweifend dieser Wahn war, so wahrscheinlich schien er meinen Gönnern aus der untersten Klasse; dadurch allein glaubten sie die mehr als menschliche Vollkommenheiten, die sie mir zuschrieben, erklären, und die ungereimten Hoffnungen, welche sie sich von mir machten, rechtfertigen zu können. Denn das Vorurteil des großen Haufens ging weit genug, daß viele öffentlich sagten, Athen könne durch mich allein zur Gebieterin des ganzen Erdbodens gemacht werden, und man könne nicht genug eilen, mir eine einzelne und unumschränkte Gewalt zu übertragen, von welcher sie sich nichts geringers als die Wiederkehr der göldenen Zeit, die gänzliche Aufhebung des verhaßten Unterscheids zwischen Armen und Reichen, und einen seligen Müßiggang mitten unter allen Wollüsten und Ergötzlichkeiten des Lebens versprachen.
Bei diesen Gesinnungen, womit in größerm oder kleinerm Grade der Schwärmerei das ganze Volk zu Athen für mich eingenommen war, brauchte es nur eine Gelegenheit, um sie dahin zu bringen, die Gesetze selbst zu Gunsten ihres Lieblings zu überspringen. Diese zeigte sich, da Euböa und einige andre Insuln sich des ziemlich harten Joches, welches ihnen die Athenienser aufgelegt hatten, zu entledigen, einen Aufstand erregten, worin sie von den Spartanern heimlich unterstützt wurden. Man konnte (diejenige Theorie, welche man zu Hause erwerben kann, ausgenommen) des Kriegs-Wesens nicht unerfahrner sein, als ich es war. Ich hatte das Alter noch nicht erreicht, welches die Gesetze zu Bekleidung eines öffentlichen Amts erfoderten; wir hatten keinen Mangel an geschickten und geübten Kriegs-Leuten; ich selbst wandte alles Ansehen, das ich hatte, an, um einen davon, den ich, seines moralischen Charakters wegen, vorzüglich hoch schätzte, zum Feld-Herrn gegen die Empörten erwählen zu machen; aber das alles half nichts gegen die warme Einbildungs-Kraft des lebhaftesten und leichtsinnigsten Volks in der Welt. Agathon, welchem man alle Talente zutraute, und von welchem man sich berechtigt hielt, Wunder zu erwarten, war allein tauglich, die Ehre des Atheniensischen Namens zu behaupten, und die hochfliegenden Träume der politischen Müßiggänger zu Athen, welche bei diesem Anlaß in die Wette eiferten, wer die lächerlichsten Projekte machen könne, in die Würklichkeit zu setzen. Diese Art von Leuten war so geschäftig, daß es ihnen gelang, den größesten Teil ihrer Mitbürger mit ihrer Torheit anzustecken. Jede Nachricht, daß sich wieder eine andere Insul aufzulehnen anfange, verursachte eine allgemeine Freude; man würde es gerne gesehen haben, wenn das ganze Griechenland an dieser Sache Anteil genommen hätte; auch fehlte es nicht an Zeitungen, welche das Feuer größer machten, als es war, und endlich so gar den König von Persien in den Aufstand von Euböa verwickelten, um dem Agathon einen desto größern Schau-Platz zu geben, die Athenienser durch Heldentaten zu belustigen und durch Eroberungen zu bereichern. Ich wurde also (so sehr ich mich entgegensträubte) mit unumschränkter Gewalt über die Armee, über die Flotten, und über die Schatz-Kammer, zum Feld-Herrn gegen die abtrünnigen Insuln ernannt; und da ich nun einmal genötigt war, dem Eigensinn meiner Mitbürger nachzugeben, so entschloß ich mich, es mit einer guten Art zu tun, und die Sache von derjenigen Seite anzusehen, welche mir eine erwünschte Gelegenheit zu geben schien, den Anfang zur Ausführung meiner eigenen Entwürfe zu machen. Da ich wußte, daß die Insulaner gerechte Klagen gegen Athen zu führen hatten, und eine Regierung nicht lieben konnten, von der sie unterdrückt, ausgezogen, und mit Füßen getreten wurden; so gründete ich meinen ganzen Plan ihrer Beruhigung und Wiederbringung auf den Weg der Güte, auf Abstellung der Mißbräuche, wodurch sie erbittert worden waren, auf eine billige Mäßigung der Abgaben, welche man gegen ihre Freiheiten und über ihr Vermögen, von ihnen erpreßt hatte; und auf ihre Wiedereinsetzung in alle Rechte und Vorteile, deren sie sich als Griechen und als Bunds-Genossen, vermöge vieler besondern Verträge, zu erfreuen haben sollten. Allein ehe ich von Athen abreisen konnte, war es um so nötiger, die Gemüter vorzubereiten und auf einen Ton zu stimmen, der mit meinen Grund-Sätzen und Absichten übereinkäme, da ich sahe, wie lebhaft die ausschweifenden Projekte, womit die Eitelkeit des Alcibiades sie ehemals bezaubert hatte, bei dieser Gelegenheit wieder aufgewacht waren. Ich versammelte also das Volk, und wandte alle Kräfte der Rede-Kunst, welche bei keinem Volk der Welt so viel vermag, als bei den Atheniensern, dazu an, sie von der Gründlichkeit meiner Entwürfe zu überzeugen, von welchen ich sie so viel sehen ließ, als zu Erreichung meiner Absicht nötig war. Nachdem ich ihnen die Größe und den Flor, wozu die Republik, vermöge ihrer natürlichen Vorteile und innerlichen Stärke, gelangen könne, mit den reizendesten Farben abgemalt hatte; bemühte ich mich zu beweisen, daß weitläufige Eroberungen, außer der Gefahr, womit sie durch die Unbeständigkeit des Kriegs-Glücks verbunden seien, den Staat endlich notwendiger Weise unter der Last ihrer eigenen Größe erdrücken müßten; daß es einen weit sichern und kürzern Weg gebe, Athen zur Königin des Erdbodens zu machen, indem etwas unleugbares sei, daß allezeit diejenige Nation den übrigen Gesetze vorschreiben werde, welche zu gleicher Zeit die klügste und die reichste sei; daß der Reichtum allezeit Macht gebe, so wie die Klugheit den rechten Gebrauch der Macht lehre; daß Athen in beidem allen andern Völkern überlegen sein werde, wenn sie auf der einen Seite fortfahre, die Pfleg-Mutter der Wissenschaften und aller nützlichen und schönen Künste zu sein; auf der andern aber alle ihre Gedanken darauf richte, sich in der Herrschaft über das Meer fest zu setzen; nicht in der Absicht Eroberungen zu machen, sondern sich in eine solche Achtung bei den Auswärtigen zu setzen, daß jedermann ihre Freundschaft suche, und niemand es wagen dürfe, ihren Unwillen zu reizen; daß für einen am Meer gelegenen Frei-Staat ein gutes Vernehmen mit allen übrigen Völkern, und eine so weit als nur möglich ausgebreitete Handlung, der natürliche und unfehlbare Weg sei, nach und nach zu einer Größe zu gelangen, deren Ziel nicht abzusehen sei; daß aber hiezu die Erhaltung seiner eigenen Freiheit, und zu dieser die Freiheit aller übrigen, sonderheitlich der benachbarten, oder wenigstens ihre Erhaltung bei ihrer alten und natürlichen Form und Verfassung, nötig sei; daß Bündnisse mit seinen Nachbarn, und eine solche Freundschaft, wobei der andere eben so wohl seinen Vorteil finde, als wir den unsrigen, einem solchen Staat weit mehr Macht, Ansehen und Einfluß auf die allgemeine Verfassung des politischen Systems der Welt geben müßten, als die Unterwerfung derselben, weil ein Freund allezeit mehr wert sei, als ein Sklave; daß die Gerechtigkeit der einzige Grund der Macht und Dauer eines Staats, so wie das einzige Band der Gesellschaft zwischen einzelnen Menschen und ganzen Nationen, sei; daß diese Gerechtigkeit fodre, eine jede politische Gesellschaft (sie möge groß oder klein sein) als unsers gleichen anzusehen, und ihr eben die Rechte zu zugestehen, welche wir für uns selbst foderten; daß ein nach diesen Grund-Sätzen eingerichtetes Betragen das gewisseste Mittel sei, sich ein allgemeines Zutrauen zu erwerben, und anstatt einer gewaltsamen, und mit allen Gefahren der Tyrannie verknüpften Oberherrschaft eine freiwillig eingestandene Autorität zu behaupten, welche in der Tat von allen Vorteilen der erstern begleitet sei, ohne die verhaßte Gestalt und schlimmen Folgen derselben zu haben. Nachdem ich alle diese Wahrheiten in ihrer besondern Anwendung auf Griechenland und Athen, in das stärkste Licht gesetzt, und bei dieser Gelegenheit die Torheit der Projekte des Alcibiades und andrer ehrsüchtiger Schwindelköpfe ausführlich erwiesen hatte: Bemühte ich mich darzutun, daß der Aufstand der Inseln, welche bisher unter dem Schutz der Athenienser gestanden, in neuerlichen Zeiten aber durch Schuld einiger böser Ratgeber der Republik, als unterworfene Sklaven behandelt worden seien, die glücklichste Gelegenheit anbiete, auf der einen Seite das ganze Griechenland von der gerechten und edelmütigen Denkungsart der Athenienser zu überzeugen, auf der andern durch eine ansehnliche Vermehrung der Seemacht, wovon die Unkosten durch die größere Sicherheit und Erweiterung der Handelschaft reichlich ersetzt würden, sich in ein solches Ansehen zu setzen, daß niemand jenes gelinde und großmütige Verfahren, mit dem mindesten Schein, einem Mangel an Vermögen sich Genugtuung zu verschaffen, werde beimessen können. Ich unterstützte diese Vorschläge mit allen den Gründen, welche auf die lebhafte Einbildungskraft meiner Zuhörer den stärksten Eindruck machen konnten, und hatte das Vergnügen, daß meine Rede mit einem Beifall, der meine Erwartung weit übertraf, aufgenommen wurde. Außerdem, daß die Athenienser, ihrer Gemütsart nach, sich von Wahrheit und gesunden Grundsätzen eben so leicht einnehmen ließen, als von den Blendwerken einer falschen Staatskunst, wenn ihnen jene nur in einem eben so reizenden Licht, und mit eben so lebhaften Farben vorgetragen wurden, als sie verwöhnt worden waren, von einem jeden, der zu den öffentlichen Angelegenheiten redete, zu fodern; so waren sie gleichgültig, durch was für Mittel Athen zu derjenigen Größe gelangen möge, welche das Ziel aller ihrer Wünsche war; und ein großer Teil der Bürger, denen der Friede mehr Vorteile brachte, als der Krieg, ließen sichs vielmehr wohlgefallen, daß dieses Ziel ihrer Eitelkeit auf eine mit ihrem Privatnutzen übereinstimmigere Art erhalten werde. Meine heimlichen Feinde, welche nicht zweifelten, daß diese Expedition auf eine oder andere Art Gelegenheit zu meinem Fall geben würde, waren weit entfernt, meinen Maßnehmungen öffentlich zu widerstehen; aber (wie ich in der Folge erfuhr) unter der Hand desto geschäftiger, ihren Erfolg zu hemmen, Schwierigkeiten aus Schwierigkeiten hervor zu spinnen, und die mißvergnügten Insulaner selbst durch geheime Aufstiftungen übermütig, und zu billigen Bedingungen abgeneigt zu machen. Die Verachtung, womit man anfangs diesen Aufstand zu Athen angesehen hatte; das ansteckende Beispiel, und die Ränke andrer Griechischen Städte, welche die Obermacht der Athenienser mit eifersüchtigen Augen ansahen, hatten zu wege gebracht, daß indessen auch die Attischen Kolonien, und der größeste Teil der Bundesgenossen kühn genug worden waren, sich einer Unabhänglichkeit anzumaßen, deren schädliche Folgen sie sich selbst unter dem reizenden Namen der Freiheit verbargen; es war die höchste Zeit, einer allgemeinen Empörung und Zusammenverschwörung gegen Athen zuvorzukommen; und meine Landsleute, welche bei Annäherung einer Gefahr, die ihnen in der Ferne nur Stoff zu witzigen Einfällen und Gassenliedern gegeben hatte, sehr schnell von der leichtsinnigsten Gleichgültigkeit zu einer eben so übermäßigen Kleinmütigkeit übergingen, vergrößerten sich selbst das übel so sehr, daß ich genötiget wurde unter Segel zu gehen, ehe die Zurüstungen noch zur Hälfte fertig waren. Ich hatte die Vorsichtigkeit gebraucht, meinen Freund, über welchen mir die Gunst des Volks einen so unbilligen Vorzug gegeben hatte, als meinen Unterbefehlshaber mitzunehmen; die Bescheidenheit, womit ich mich des Ansehens, welches mir meine Kommission über ihn gab, bediente, kam einer Eifersucht zuvor, die den Erfolg unsrer Unternehmung hätte vereiteln können; wir handelten aufrichtig, und ohne Nebenabsichten, nach einem gemeinschaftlich abgeredeten Plan, und das Glück begünstigte uns so sehr, daß in einer einzigen Expedition alle Inseln, Kolonien und Schutzverwandte der Athenienser nicht nur beruhiget, und wieder in die alte Schranken gesetzt, sondern durch die Abstellung alles dessen, wodurch sie unbilliger Weise beschweret worden waren, und durch die Bestätigung ihrer Freiheiten, die ich ihnen bewilligte, mehr als jemals geneigt gemacht wurden, die Freundschaft der Athenienser allen andern Verbindungen, die ihnen angetragen worden waren, vorzuziehen. In allem diesem folgte ich, ohne besondere Verhaltungsbefehle einzuholen, meiner eignen Denkungsart mit desto größter Zuversicht, da ich den ehemaligen Mißvergnügten nichts zugestanden hatte, was sie nicht so wohl nach dem Naturrecht als in Kraft älterer Verträge zu fodern vollkommen berechtiget waren, hingegen durch diese Nachgiebigkeit neue und sehr beträchtliche Vorteile für die Athenienser erkaufte; Vorteile, welche dem ganzen gemeinen Wesen zuflossen, da hingegen aller Nutzen der Unterdrückung, worunter sie geseufzet hatten, lediglich in die Kassen einiger Privatleute und ehmaligen Günstlinge des Volks geleitet worden war.
Ich kehrete also mit dem Vergnügen, Gutes getan zu haben, mit dem Beifall und der lebhaftesten Zuneigung der sämtlichen Kolonien und Bundesgenossen, und mit der vollen Zuversicht, daß ich die Belohnung, die ich verdient zu haben glaubte, in der Zufriedenheit meiner Mitbürger einernten würde, an der Spitze einer dreimal stärkern Flotte, als womit ich ausgelaufen war, nach Athen zurück. Ich schmeichelte mir, daß ich mir durch eine so schleunige Beilegung einer Unruhe, welche so weitaussehend und gefährlich geschienen, einiges Verdienst um mein Vaterland erworben hätte. Ich hatte aus unsern Feinden, Freunde, und aus unsichern Untertanen, zuverlässige Bundesgenossen gemacht, deren Treu desto weniger zweifelhaft sein mußte, da ich ihre Sicherheit und ihren Wohlstand durch unzertrennliche Bande mit dem Interesse von Athen verknüpft hatte; ich hatte, des gemeinen Schatzes zu schonen, mein eignes Vermögen zugesetzt, und durch mehr als hundert ausgerüstete Galeeren, die ich von dem guten Willen der wieder beruhigten Insulaner erhalten, unsrer Seemacht eine ansehnliche Verstärkung gegeben; ich hatte das Ansehen der Athenienser befestiget, ihre Neider abgeschreckt, und ihrer Handlung einen Ruhestand verschafft, dessen Fortdauer nunmehr, wenigstens auf lange Zeiten, von ihrem eigenen Betragen abhing. Das Vergnügen, welches sich über mein Gemüt ausbreitete, wenn ich alle diese Vorteile meiner Verrichtung überdachte, war so lebhaft, daß ich über alle andere Belohnungen, außer dem Beifall und Zutrauen meiner Mitbürger, weit hinaus sah: Aber die Athenienser waren, in dem ersten Anstoß ihrer Erkenntlichkeit, keine Leute, welche Maß halten konnten. Ich wurde im Triumph eingeholt, und mit allen Arten der Ehrenbezeugungen in die Wette überhäuft; die Bildhauer mußten sich Tag und Nacht an meinen Statuen müde arbeiten; alle Tempel, alle öffentlichen Plätze und Hallen wurden mit Denkmälern meines Ruhms ausgeziert; und diejenige, welche in der Folge mit der größesten Heftigkeit an meinem Verderben arbeiteten, waren itzt die eifrigsten, übermäßige und zuvor nie erhörte Belohnungen vorzuschlagen, welche das Volk in dem Feuer seiner schwärmerischen Zuneigung gutherziger Weise bewilligte, ohne daran zu denken, daß mir diese Ausschweifungen seiner Hochachtung in kurzem von ihm selbst zu eben so vielen Verbrechen gemacht werden würden.
Da ich sahe, daß alle meine Bescheidenheit nicht zureichend war, dem überfließenden Strom der popularen Dankbarkeit Einhalt zu tun; so glaubte ich am besten zu tun, wenn ich mich eine Zeitlang von Athen entfernte, und bis die Atheniensische Lebhaftigkeit durch irgend eine neue Komödie, einen fremden Gaukler, oder eine frisch angekommene Tänzerin einen andern Schwung bekommen haben würde, auf meinem Landgut zu Corinth in Gesellschaft der Musen und Grazien einer Muße zu genießen, welche ich durch die Arbeiten eines ganzen Jahres verdient zu haben glaubte. Ich dachte wenig daran, daß ich in einer Stadt, deren Liebling ich zu sein schien, Feinde habe, die indessen, daß ich mich mit aller Sorglosigkeit der Unschuld den Vergnügungen des Landlebens, und der geselligen Freiheit überließ, einen eben so boshaften als wohlausgesonnenen Plan zu meinem Untergang anzulegen beschäftiget seien.
Alles, womit ich mir bei der schärfsten Prüfung meines öffentlichen und Privatlebens in Athen, bewußt bin, mein Unglück, wo nicht verdient, doch befödert zu haben, ist Unvorsichtigkeit, oder der Mangel an einer gewissen Republikanischen Klugheit, welche nur die Erfahrung geben kann. Ich lebte nach meinem Geschmack, und nach meinem Herzen, weil ich gewiß wußte, daß beide gut waren, ohne daran zu denken, daß man mir andre Absichten bei meinen Handlungen andichten könne, als ich wirklich hatte. Ich lebte mit einer gewissen Pracht, weil ich das Schöne liebte, und Vermögen hatte; ich tat jedermann gutes, weil ich meinem Herzen dadurch ein Vergnügen verschaffte, welches ich allen andern Freuden vorzog; ich beschäftigte mich mit dem gemeinen Besten der Republik, weil ich dazu geboren war, weil ich eine Tüchtigkeit dazu in mir fühlte, und weil ich durch die Zuneigung meiner Mitbürger in den Stand gesetzt zu werden hoffte, meinem Vaterland und der Welt nützlich zu sein. Ich hatte keine andere Absichten, und würde mir eher haben träumen lassen, daß man mich beschuldigen werde, nach der Krone des Königs von Persien, als nach der Unterdrückung meines Vaterlands zu streben. Da ich mir bewußt war niemands Haß verdient zu haben, so hielt ich einen jeden für meinen Freund, der sich dafür ausgab, um so mehr, als kaum jemand in Athen war, dem ich nicht Dienste geleistet hatte. Aus eben diesem Grunde dachte ich gleich wenig daran, wie ich mir einen Anhang mache, als wie ich die geheimen Anschläge von Feinden, welche mir unsichtbar waren, vereiteln wolle. Denn ich glaubte nicht, daß die Freimütigkeit, womit ich, ohne Galle oder übermut, meine Meinung bei jeder Gelegenheit sagte, eine Ursache sein könne, mir Feinde zu machen. Mit einem Wort, ich wußte noch nicht, daß Tugend, Verdienste und Wohltaten gerade dasjenige sind, wodurch man gewisse Leute zu dem tödlichsten Haß erbittern kann. Eine traurige Erfahrung konnte mir allein zu dieser Einsicht verhelfen; und es ist billig, daß ich sie wert halte, da sie mir nicht weniger, als mein Vaterland, die Liebe meiner Mitbürger, meine schönsten Hoffnungen, und das glückselige Vermögen, vielen Gutes zu tun, und von niemand abzuhängen, gekostet hat."
Agathon wird von Athen verbannt
"Der Zeitpunkt meines Lebens, auf den ich nunmehr gekommen bin, führt allzuunangenehme Erinnerungen mit sich, als daß ich nicht entschuldiget sein sollte, wenn ich so schnell davon wegeile, als es die Gerechtigkeit zulassen wird, die ich mir selbst schuldig bin. Es mag sein, daß einige von meinen Feinden aus Beweggründen eines republikanischen Eifers gegen mich aufgestanden sind, und sich durch meinen Sturz eben so verdient um ihr Vaterland zu machen geglaubt haben, als Harmodius und Aristogiton durch die Ermordung der Pisistratiden. Aber es ist doch gewiß, daß diejenige, welche die Sache mit der größesten Wut betrieben, keinen andern Beweggrund hatten, als die Eifersucht über das Ansehen, welches mir die allgemeine Gunst des Volkes gab, und welches sie, nicht ohne Ursache, für ein Hinternis ihrer ehrgeizigen und gewinnsüchtigen Absichten hielten. Die meisten glaubten auch, daß sie Privatbeleidigungen zu rächen hätten. Einige nährten noch den alten Groll, den sie bei meinem ersten Auftritt in der Republik gegen mich faßten, da ich meinen rechtschaffenen Freund, den Wirkungen ihrer Bosheit entriß; andere schmerzte es, daß ich ihnen bei der Wahl eines Befehlshabers gegen die Empörten Inseln vorgezogen worden war; viele waren durch den Verlust des Vorteils, welchen sie von den ungerechten Bedrückungen derselben gezogen hatten, beleidiget worden. Bei diesen allen half mir nichts, daß ich keine Absicht gehabt hatte sie zu beleidigen, und daß es nur zufälliger Weise dadurch geschehen war, daß ich meiner überzeugung und meinen Pflichten gemäß gehandelt hatte. Sie beurteilten meine Handlungen aus einem ganz andern Gesichtspunkte, und es war bei ihnen ein ausgemachter Grundsatz, daß derjenige kein ehrlicher Mann sein könne, der ihren Privatabsichten Schranken setzte. Zum Unglück für mich, machten diese Leute einen großen Teil von den Edelsten und Reichesten in Athen aus. Hiezu kam noch, daß ich meiner immer fortdauernden Liebe zu Psyche, die vorteilhaftesten Verbindungen, welche mir angeboten worden waren, aufgeopfert, und mich dadurch der Unterstützung und des Schutzes beraubet hatte, den ich mir von der Verschwägerung mit einem mächtigen Geschlechte hätte versprechen können. Ich hatte nichts, was ich den Ränken und der vereinigten Gewalt so vieler Feinde entgegen setzen konnte, als meine Unschuld, einige Verdienste, und die Zuneigung des Volks; schwache Brustwehren, welche noch nie gegen die Angriffe des Neides, der Arglist und der Gewalttätigkeit ausgehalten haben. Die Unschuld kann verdächtig gemacht, und Verdiensten selbst durch ein falsches Licht das Ansehen von Verbrechen gegeben werden; und was ist die Gunst eines enthusiastischen Volkes, dessen Bewegungen immer seinen überlegungen zuvorkommen; welches mit gleichem übermaß liebet und hasset, und wenn es einmal in eine fiebrische Hitze gesetzt ist, gleich geneigt ist, dieser oder einer entgegengesetzten Direktion, je nachdem es gestoßen wird, zu folgen? Was konnte ich mir von der Gunst eines Volkes versprechen, welches den großen Beschützer der griechischen Freiheit im Gefängnis hatte verschmachten lassen? Welches den tugendhaften Aristides, bloß darum, weil er den Beinamen des Gerechten verdiente, verbannet, und in einer von seinen gewöhnlichen Launen so gar den Socrates zum Gift-Becher verurteilt hatte, weil er der weiseste und tugendhafteste Mann seines Jahrhunderts war. Diese Beispiele sagten mir sogleich bei der ersten Nachricht, die ich von dem über mir sich zusammenziehenden Ungewitter erhielt, zuverlässig vorher, was ich von den Atheniensern zu erwarten hätte; sie machten, daß ich ihnen nicht mehr zutraute, als sie leisteten; und trugen nicht wenig dazu bei, mich ein Unglück mit Standhaftigkeit ertragen zu machen, in welchem ich so vortreffliche Männer zu Vorgängern gehabt hatte.
Derjenige, den meine Feinde zu meinem Ankläger auserkoren hatten, war einer von diesen witzigen Schwätzern, deren feiles Talent gleich fertig ist, Recht oder Unrecht zu verfechten. Er hatte in der Schule des berüchtigten Gorgias gelernt, durch die Zaubergriffe der Rede-Kunst den Verstand seiner Zuhörer zu blenden, und sie zu bereden, daß sie sähen, was sie nicht sahen. Er bekümmerte sich wenig darum, dasjenige zu beweisen, was er mit der größesten Dreistigkeit behauptete; aber er wußte ihm einen so lebhaften Schein zu geben, und durch eine zwar willkürliche, aber desto künstlichere Verbindung seiner Sätze die Schwäche eines jeden, wenn er an sich und allein betrachtet würde, so geschickt zu verbergen, daß man, so gar mit einer gründlichen Beurteilungs-Kraft, auf seiner Hut sein mußte, um nicht von ihm überrascht zu werden. Der hauptsächlichste Vorwurf seiner Anklage sollte, seinem Vorgeben nach, die schlimme Verwaltung sein, deren ich mich als Ober-Befehlshaber in der Angelegenheit der empörten Schutz-Verwandten schuldig gemacht haben sollte; denn er bewies mit großem Wort-Gepränge, daß ich in dieser ganzen Expedition nichts getan hätte, das der Rede wert wäre; daß ich vielmehr, anstatt die Empörten zu züchtigen und zum Gehorsam zu bringen, ihren Sachwalter vorgestellt; sie für ihren Aufruhr belohnt; ihnen noch mehr, als sie selbst zu fodern die Verwegenheit gehabt, zugestanden; und durch diese unbegreifliche Art zu verfahren, ihnen Mut und Kräfte gegeben hätte, bei der ersten Gelegenheit sich von Athen gänzlich unabhängig zu machen; er bewies (sage ich) alles dieses nach den Grund-Sätzen einer Politik, welche das Widerspiel von der meinigen war, aber den Leidenschaften der Athenienser und eines jeden andern Volks allzusehr schmeichelte, um nicht Eingang zu finden. Er hatte noch die Bosheit, nicht entscheiden zu wollen, ob ich aus Unverstand oder geflissentlich so gehandelt habe; doch erhub er auf der einen Seite meine Fähigkeiten so sehr, und legte so viel Wahrscheinlichkeiten in die andere Waag-Schale, daß sich der Ausschlag von selbst geben mußte. Dieses führte ihn zu dem zweiten Teil seiner Anklage, welcher in der Tat (ob er es gleich nicht gestehen wollte) das Hauptwerk davon ausmachte. Und hier wurden Beschuldigungen auf Beschuldigungen gehäuft, um mich dem Volk als einen Ehrsüchtigen abzumalen, der sich einen Plan gemacht habe, sein Vaterland zu unterdrücken, und unter dem Schein der Großmut, der Freigebigkeit und der Popularität, sich zum unumschränkten Herrn desselben aufzuwerfen. Eine jede meiner Tugenden war die Maske eines Lasters, welches im Verborgenen am Untergang der Freiheit und Glückseligkeit der Athenienser arbeitete. In der Tat hatte die Beredsamkeit meines Anklägers hier ein schönes Feld, sich zu ihrem Vorteil zu zeigen, und seinen Zuhörern das republikanische Vergnügen zu machen, eine Tugend, welche mir zu große Vorzüge vor meinen Mitbürgern zu geben schien, heruntergesetzt zu sehen. Indessen, ob er gleich keinen Teil meines Privat-Lebens (so untadelhaft es ehemals meinen Gönnern geschienen hatte) unbeschmutzt ließ; so mochte er doch besorgen, daß die Kunstgriffe, deren er sich dazu bedienen mußte, zu stark in die Augen fallen möchten. Er raffte also alles zusammen, was nur immer fähig sein konnte, mich in ein verhaßtes Licht zu stellen; und da es ihm an Verbrechen, die er mir mit einiger Wahrscheinlichkeit hätte aufbürden können, mangelte, so legte er mir fremde Torheiten, und selbst die ausschweifenden Ehren-Bezeugungen zur Last, welche mir in der Flut meines Glückes und meiner Gunst bei dem Volk aufgedrungen worden waren. Ich mußte itzt so gar für die elenden Verse Rechenschaft geben, womit einige Dichter, denen ich aus einem vielleicht zu weit getriebenen Mitleiden erlaubte, mir täglich um die Essens-Zeit ihren Besuch abzustatten, mir die Dankbarkeit ihres Magens, auf Unkosten ihres Ruhms und des meinigen, zu beweisen gesucht hatten. Man beschuldigte mich in ganzem Ernst, daß ich übermütig und gottlos genug gewesen sei, mich für einen Sohn des delphischen Apollo auszugeben; und mein Ankläger ließ diese Gelegenheit nicht entgehen, über meine wahre Geburt Zweifel zu erregen, und, unter vielen scherzhaften Wendungen, die Meinung derjenigen wahrscheinlich zu finden, welche (wie er sagte) benachrichtigt zu sein glaubten, daß ich mein Dasein den verstohlenen Liebes-Händeln irgend eines delphischen Priesters zu danken hätte. In dieser ganzen Rede ersetzte ein von Bosheit beseelter Witz den Abgang gründlicher Beweise; aber die Athenienser waren schon lange gewohnt, sich Witz für Wahrheit verkaufen zu lassen, und sich einzubilden, daß sie überzeugt würden, wenn ihr Geschmack belustigt und ihre Ohren gekitzelt wurden. Sie machte also allen den Eindruck, und vielleicht noch mehr, als meine Feinde sich davon versprochen hatten. Die Eifersucht, welche sie in den Gemütern anblies, verwandelte die übermäßige Zuneigung, deren Gegenstand ich zwei Jahre lang gewesen war, in einer Zeit von zwo Stunden in den bittersten Haß. Die Athenienser erschraken vor dem Abgrund, an dessen Rand sie sich, durch ihre Verblendung für mich, unvermerkt hingezogen sahen.—Sie erstaunten, daß sie meine Unfähigkeit zur Staats-Verwaltung, meine Begierde nach einer unumschränkten Gewalt, meine weit aussehenden Absichten, und mein heimliches Verständnis mit ihren Feinden nicht eher wahrgenommen hätten; und da es nicht natürlich gewesen wäre, die Schuld davon auf sich selbst zu nehmen, so schrieben sie es lieber einer Bezauberung zu, wodurch ich ihre Augen eine Zeitlang zu verschließen gewußt hätte. Ein jeder glaubte nun, durch die verderblichen Anschläge, welche ich gegen die Republik gefaßt habe, von der Dankbarkeit vollkommen losgezählt zu sein, die er mir für Dienste oder Wohltaten schuldig sein mochte; welche nun als die Lockspeise angesehen wurden, womit ich die Freiheit, und mit ihr das Eigentum meiner Mitbürger, wegzuangeln getrachtet. Kurz: Eben dieses Volk, welches vor wenigen Monaten mehr als menschliche Vollkommenheiten an mir bewunderte, war itzt unbillig genug, mir nicht das geringste Verdienst übrig zu lassen; und eben diejenigen, welche auf den ersten Wink bereit gewesen wären, mir die Oberherrschaft in einem allgemeinen Zusammenlauf aufzudrängen, waren itzt begierig, mich einen Anschlag, den ich nie gefaßt, gegen eine Freiheit, deren sie sich in diesem Augenblicke selbst begaben, mit meinem Blute büßen zu sehen. Mein Urteil war zu eben der Zeit, da mir die gewöhnliche Frist zur Verantwortung gegeben wurde, durch die Mehrheit der Stimmen schon gefällt; und das Vergnügen, womit ich von einer unzählbaren Menge Volks ins Gefängnis begleitet wurde, würde vollkommen gewesen sein, wenn die Gesetze gestattet hätten, mich, anstatt dahin, ohne weitere Prozeß-Förmlichkeiten, zum Richt-Platz zu führen.
So glücklich meinen Feinden ihr Anschlag von statten gegangen war, so glaubten sie doch, sich meines Untergangs noch nicht genugsam versichert zu haben; sie fürchteten die Unbeständigkeit eines Volks, von welchem sie allzuwohl wußten, wie leicht es in entgegengesetzte Bewegungen zu setzen war. Es blieb möglich, daß ich mit einer bloßen Verbannung auf einige Jahre durchwischen konnte; und diese ließ eine Veränderung der Szene besorgen, bei welcher weder ihr Haß gegen mich, noch ihre Sicherheit, ihre Rechnung fanden. Man mußte also noch eine andere Mine springen lassen, durch die mir, wenn ich einmal aus Athen vertrieben wäre, alle Hoffnung, jemals wieder zurückzukommen, abgeschnitten würde. Man mußte beweisen, daß ich kein Bürger von Athen sei; daß meine Mutter keine Bürgerin, und Stratonicus nicht mein Vater gewesen; daß er mich, in Ermanglung eines Erben von seinem eigenen Blute, aus Haß gegen denjenigen, der es, den Gesetzen nach, gewesen wäre, angenommen und unterschoben habe; und daß also die Gesetze mir kein Recht an seine Erbschaft zugestanden. Da es zu Athen an Leuten niemal fehlt, welche gegen eine proportionierte Belohnung alles gesehen und gehört haben, was man will; und da alle diejenigen gestorben waren, welche der Wahrheit das beste Zeugnis hätten geben können: so war es meinen Gegnern ein Leichtes, alles dieses eben so gut zu beweisen, als sie meine Staats-Verbrechen bewiesen hatten. Es wurde also eine neue Klage angestellt. Derjenige, der sich zum Kläger wider mich aufwarf, war ein Neffe von meinem Vater, durch nichts als durch die lüderlichste Lebens-Art bekannt, wodurch er sein Erb-Gut schon vor einigen Jahren verprasset hatte. Seine Unverbesserlichkeit hatte ihn endlich der Freundschaft meines Vaters, so wie der Achtung aller rechtschaffenen Leute, beraubt; und dieses Umstands bediente er sich nun, mich um eine Erbschaft zu bringen, die er, als der nächste Erbe, eh mich Stratonicus für seinen Sohn erklärte, in seinen Gedanken schon verschlungen hatte. Die Geschicklichkeit des Redners, dessen Dienste er zu Ausführung seines Bubenstücks erkaufte, der mächtige Beistand meiner Feinde, die Umstände selbst, in denen er mich unvermutet überfiel, und vornehmlich die Gefälligkeit seiner Zeugen, alle die Unwahrheiten zu beschwören, welche er zu seiner Absicht nötig hatte: Alles dieses zusammen genommen, versicherte ihn des glücklichen Ausgangs seiner Verräterei; und die Reichtümer, die ihm dadurch zufielen, waren in den Augen eines gefühllosen, Elenden, wie er war, wichtig genug, um mit Verbrechen, die ihn so wenig kosteten, erkauft zu werden.
Dieser letzte Streich, der vollständigste Beweis, auf was für einen Grad die Wut meiner Feinde gestiegen war, und wie gewiß sie sich des Erfolgs hielten, ließ mir keine Hoffnung übrig, die ihrige zu Schanden zu machen. Denn alle meine vermeinten Freunde, bis auf wenige, deren guter Wille ohne Vermögen war, hatten, so bald sie mich vom Glück verlassen sahen, mich auch verlassen; andere, welche zwar von dem Unrecht, das mir angetan wurde, überzeugt waren, hatten den Mut nicht, sich für eine Sache, welche sie nicht unmittelbar anging, in Gefahr zu setzen; und der einzige, dessen Charakter, Ansehen und Freundschaft mir vielleicht hätte zu statten kommen können, befand sich seit einiger Zeit am Hofe des jungen Dionysius zu Syracus. Ich gestehe, daß ich, so lange die ersten Bewegungen dauerten, mein Unglück in seinem ganzen Umfang fühlte. Für ein redliches, und dabei noch wenig erfahrnes Gemüt ist es entsetzlich zu empfinden, daß man sich in seiner guten Meinung von den Menschen betrogen habe, und sich zu der abscheulichen Wahl genötiget zu sehen, entweder in einer beständigen Unsicherheit vor der Schwachheit der einen, und vor der Bosheit der andern zu leben, oder sich gänzlich aus ihrer Gesellschaft zu verbannen. Aber die Kleinmütigkeit, welche eine Folge meiner ersten melancholischen Betrachtungen war, dauerte nicht lange. Die Erfahrungen, die ich seit meiner Versetzung auf den Schauplatz einer größern Welt, in so kurzer Zeit gemacht hatte, weckten die Erinnerungen meiner glücklichen Jugend in Delphi mit einer Lebhaftigkeit wieder auf, worin sie sich mir unter dem Getümmel des Städtischen und politischen Lebens niemals dargestellt hatten. Die Bewegung meines Gemüts, die Wehmut, wovon es durchdrungen war, die Gewißheit, daß ich in wenigen Tagen von allen den Gunstbezeugungen, womit mich das Glück so schnell, und mit solchem übermaß überschüttet hatte, nichts, als die Erinnerung, die uns von einem Traum übrig bleibt, und von allem, was ich mein genannt hatte, nichts als das Bewußtsein meiner Redlichkeit, aus Athen mit mir nehmen würde; setzten mich auf einmal wieder in diesen glückseligen Enthusiasmus, worin wir fähig sind, dem äußersten, was die vereinigte Gewalt des Glücks und der menschlichen Bosheit gegen uns vermag, ein standhaftes Herz und ein heiters Gesicht entgegen zu stellen. Der unmittelbare Trost, den meine Grundsätze über mein Gemüt ergossen, die Wärme und neubeseelte Stärke die sie meiner Seele gaben, überzeugten mich von neuem von ihrer Wahrheit. Ich verwies es der Tugend nicht, daß sie mir den Haß und die Verfolgungen der Bösen zugezogen hatte; ich fühlte, daß sie sich selbst belohnt. Das Unglück schien mich nur desto stärker mit ihr zu verbinden; so wie uns eine geliebte Person desto teurer wird, je mehr wir um ihrentwillen leiden. Die Betrachtungen, auf welche mich diese Gesinnungen leiteten, lehrten mich, wie geringhaltig auf der Waage der Weisheit, alle diese schimmernden Güter sind, welche ich im Begriff war, dem Glück wieder zurückzugeben, und wie wichtig diejenige seien, welche mir keine republikanische Kabale, kein Dekret des Volks zu Athen, keine Macht in der Welt nehmen konnte. Ich verglich meinen Zustand in der höchsten Flut meines Glückes zu Athen mit der seligen Ruhe des kontemplativen Lebens, worin ich in einer glücklichen Unwissenheit des glänzenden Elends und der wahren Beschwerden einer beneideten Größe, meine schuldlose Jugend hinweggelebt; worin ich meines Daseins, und der innern Reichtümer meines Geistes, meiner Gedanken, meiner Empfindungen, der eigentümlichen und von aller äußerlichen Gewalt unabhängigen Wirksamkeit meiner Seele froh geworden war,—und glaubte bei dieser Vergleichung, alles gewonnen zu haben, wenn ich mich, mit freiwilliger Hingabe der Vorteile, die mir indessen zugefallen waren, wieder in einen Zustand zurückkaufen könnte, den mir meine Einbildungskraft mit ihren schönsten Farben, und in diesem überirdischen Lichte, worin er dem Zustande der himmlischen Wesen ähnlich schien, vormalte. Der Gedanke, daß diese Seligkeit nicht an die Haine von Delphi gebunden sei, daß die Quellen davon in mir selbst lägen, und daß eben diese vermeintlichen Güter, welche mir mitten in ihrem Genuß so viel Unruhe zugezogen, und mich in einem immerwährenden Wirbel von mir selbst hinweggerissen hatten, die einzigen Hinternisse meines wahren Glücks gewesen seien.—Dieser Gedanke setzte mich in eine Entzückung, die mich, zum Erstaunen meiner wenigen noch übriggebliebenen Freunde, gegen alle Bitterkeiten meines widrigen Schicksals unempfindlich machte; und dieses ging zuletzt so weit, daß ich nach dem Tage meiner Verurteilung ganz ungeduldig wurde.
Allein eben diese Denkart, welche mir so viel Gleichgültigkeit gegen den Verlust meines Ansehens und Vermögens gab, machte, daß ich das Betragen der Athenienser in einem moralischen Gesichtspunkt ansah, aus welchem es mir Abscheu und Ekel erweckte. Meine Feinde schienen mir durch die Leidenschaften, von denen sie getrieben wurden, einigermaßen entschuldiget zu sein: Aber das Volk, welches bei meinem Umsturz nichts gewann, welches so viele Ursachen hatte, mich zu lieben, welches mich wirklich so sehr geliebt hatte, und itzt durch eine bloße Folge seiner Unbeständigkeit und Schwachheit, ohne selbst recht zu wissen, warum, sich dummer Weise zum Werkzeug fremder Leidenschaften und Absichten machen ließ; dieses Volk wurde mir so verächtlich, daß ich kein Vergnügen mehr an den Gedanken fand, ihm Gutes getan zu haben. Diese Athenienser, die auf ihre Vorzüge vor allen andern Nationen der Welt so eitel waren, stellten sich meiner beleidigten Eigenliebe, als ein abschätziger Haufen blöder Toren dar, die sich von einer kleinen Rotte verschmitzter Spitzbuben bereden ließen, weiß für schwarz anzusehen; die bei aller Feinheit ihres Geschmacks, wenn es darauf ankam, über die Versifikation eines Trinklieds, oder die Füße einer Tänzerin zu urteilen, weder Kenntnis noch Empfindung von Tugend und wahrem Verdienst hatten; die bei der heftigsten Eifersucht über ihre Freiheit, niemals größere Sklaven waren, als wenn sie ihr schimärisches Palladium am tapfersten behauptet haben; die sich jederzeit der Führung ihrer übelgesinntesten Schmeichler mit dem blindesten Vertrauen überlassen, und nur in ihre tugendhaftesten Mitbürger, in ihre zuverlässigsten Freunde, das größeste Mißtrauen gesetzt hatten. Sie verdienen es, sagte ich zu mir selbst, daß sie betrogen werden; aber diesen Triumph sollen sie nicht haben, zu erleben, daß Agathon sich vor ihnen demütige. Sie sollen fühlen, was für ein Unterschied zwischen ihm und ihnen ist; sie sollen fühlen, daß er nur desto größer ist, wenn sie ihm alle diese kindischen Zieraten von Flittergold, womit sie ihn, wie Kinder, eine auf kurze Zeit geliebte Puppe, umhängt haben wieder abnehmen; und eine zu späte Reue soll sie vielleicht in kurzem lehren, daß Agathon ihrer leichter, als sie des Agathons entbehren können. Du siehest, schöne Danae, daß ich mich nicht scheue, dir auch meine Schwachheiten zu gestehen. Dieser Stolz, der zu einer desto riesenmäßigern Gestalt aufschwoll, je mehr mich die Athenienser zu Boden drücken wollten, hatte ohne Zweifel einen guten Teil von eben der Eitelkeit in sich, welche ich ihnen zum Verbrechen machte; aber vielleicht gehört er auch unter die Triebfedern, womit die Natur edle Gemüter versehen hat, um dem Druck widerwärtiger Zufälle mit gleich starker Reaktion zu widerstehen, und sich dadurch in ihrer eigenen Gestalt und Größe zu erhalten. Die Athenienser rühmten ehmals meine Bescheidenheit und Mäßigung zu einer Zeit, da sie alles taten, was mich diese Tugenden verlieren machen konnte; diese Bescheidenheit hatte mit dem Stolz, der ihnen itzt so anstößig an mir war, daß er vielleicht mehr, als alle Bemühungen meiner Feinde zu meinem Fall beitrug, einerlei Quelle; ich war mir eben so wohl bewußt, daß ich ihre Mißhandlungen nicht verdiente, wie ich ehmals fühlte, daß die Achtung übertrieben war, die sie mir bewiesen; desto bescheidener, je mehr sie mich erhuben; desto stolzer und trotziger, je mehr sie mich herunter setzen wollten.
Meine Freunde hatten sich inzwischen in der Stille so eifrig zu meinem Besten verwendet, daß sie mir Hoffnung machten, alles könne noch gut gehen, wenn ich mich entschließen könne, meine Apologie nach dem Geschmack, und der Erwartung des Volks einzurichten. Ich sollte mich zwar von Punkt zu Punkt so vollständig rechtfertigen, als es immer möglich wäre; aber am Ende sollte ich mich doch den Atheniensern auf Gnade oder Ungnade zu Füßen werfen; meinen Feinden dürfte ich nach aller Schärfe des Selbstverteidigungs—und Wiedervergeltungsrechts begegnen; aber den Atheniensern sollte ich schmeicheln, und anstatt ihre Eigenliebe durch den mindesten Vorwurf zu beleidigen, sollte ich bloß ihr Mitleiden zu erregen suchen. Es ist zu vermuten, daß der Erfolg diesen Rat meiner Freunde, der sich auf die Kenntnis des Charakters eines freien Volks gründete, gerechtfertiget hätte: Wenigstens ist gewiß, daß die erste Bewegungen dieser Unbeständigen bereits angefangen hatten, dem Mitleiden und den Regungen ihrer vormaligen Liebe zu weichen. Ich lase es, da ich das Gerüste bestieg, von welchem ich zu dem Volk redete, in vieler Augen, wie sie nur darauf warteten, daß ich ihnen einen Weg zeigen möchte, mit guter Art, und ohne etwas von ihrer demokratischen Majestät zu vergeben, wieder zurück zu kommen. Aber sie fanden sich in ihrer Erwartung sehr betrogen. Die Verachtung, womit mein Gemüt beim Anblick dieses Volkes erfüllt wurde, welches mich vor wenigen Tagen mit so ausschweifender Freude ins Gefängnis begleitet hatte, und das Gefühl meines eigenen Wertes, waren beide zu lebhaft; die Begierde, ihnen gutes zu tun, welche die Seele aller meiner Handlungen und Entwürfe gewesen war, hatte aufgehört; ich würdigte sie nicht, eine Apologie zu machen, die ich für eine Beschimpfung meines Charakters und Lebens gehalten hätte; aber ich wollte ihnen zum letztenmal die Wahrheit sagen: Ehmals, wenn es darum zu tun gewesen war, sie von ihren eignen wahren Vorteilen zu überzeugen, hatte ich aller meiner Beredsamkeit aufgeboten; aber itzo, da die Rede bloß von mir selbst war, verschmähte ich den Beistand einer Kunst, worin der Ruf mir einige Geschicklichkeit zuschrieb. In diesem Stücke blieb ich meinem gefaßten Vorsatz getreu; aber nicht der Kürze und Gelassenheit, die ich mir vorgeschrieben hatte; der Affekt, in den ich unvermerkt geriet, machte mich weitläufig und etlichemal bitter.
Meine Rede enthielt eine zusammengezogene Erzählung meines ganzen Lebenslaufs in Athen; der Grundsätze, welchen ich in der Republik gefolgt war; und meiner Gedanken von dem wahren Interesse der Athenienser. Ich ging bei dieser Gelegenheit ein wenig strenge mit ihren Urteilen und Lieblingsprojekten um; und sagte ihnen, daß ich in der Sache der Schutzverwandten eine Probe gegeben hätte, nach was für Maximen ich jederzeit in Verwaltung des Staats gehandelt haben würde; und da diese Maximen so weit von ihrer Gemütsbeschaffenheit und Denkart entfernt wären: So würden sie sehr weislich handeln, einen Menschen aus ihrem Mittel zu verbannen, welcher nicht gesonnen sei, der Wahrheit und den Pflichten eines allgemeinen Freunds der Menschen zu entsagen, um ein guter Bürger von Athen zu sein.
Der Schluß meiner Rede liegt mir noch so lebhaft im Gedächtnis, daß ich ihn, zu einer Probe des Ganzen, wiederholen will. 'Die Götter', (sagte ich) 'haben mich zu einer Zeit, da ich es am wenigsten hoffte, meinen Vater finden lassen: Sein Ansehen und seine Reichtümer gaben mir viel weniger Freude, als die Entdeckung, daß ich mein Leben einem rechtschaffenen Mann zu danken hatte. Athen wurde durch ihn mein Vaterland. Ich sah es als den Platz an, den mir die Götter angewiesen, um das Beste der Menschen zu befödern. Das Interesse dieser einzelnen Stadt, war in meinen Augen ein zu kleiner Gegenstand, um dem allgemeinen Besten der Menschheit vorgesetzt zu werden; aber ich sah beides so genau mit einander verknüpft, daß ich nur alsdenn gewiß sein konnte, jenes wirklich zu erhalten, wenn ich dieses beföderte. Nach diesen Grundsätzen habe ich in meinem öffentlichen Leben gehandelt, und diese Handlungen, deren sich selbst belohnendes Bewußtsein mir in eine bessere Welt, den unvergänglichen Wohnplatz der tugendhaften Seelen, folgen wird; diese Handlungen haben mir euern Unwillen zugezogen. Die Athenienser wollen auf Unkosten des menschlichen Geschlechts groß sein; und das werden sie so lange sein wollen, bis sie in Ketten, welche sie sich selbst schmieden, und deren sie würdig sind, sobald sie über Sklaven gebieten wollen, allen ihren Ehrgeiz auf den rühmlichen Vorzug einschränken werden, die besten Sprachlehrer, und die gelenkigsten Pantomimen in der Welt zu sein. Aber Agathon ist nicht dazu gemacht, euern Lauf auf diesem Wege, den die Gefälligkeit eurer Redner mit Blumen bestreut, beschleunigen zu helfen. Mein Privatleben hat euch bewiesen, daß die Grundsätze, nach welchen ich eure öffentlichen Handlungen zu leiten gewünscht hätte, die Maßregeln meines eigenen Verhaltens sind. Mein Vermögen hat mehr zum Gebrauch eines jeden unter euch, als zu meinem eigenen gedienet. Ich habe mir Undankbare verbindlich gemacht, und diese Erfahrung lehrt mich, Güter mit Gleichgültigkeit zurückzulassen, welche ich übel anwendete, da ich sie am besten anzuwenden glaubte. Dieses, ihr Athenienser, ist alles, was ich zu meiner Verteidigung zu sagen habe. Ihr seid nun, weil euch die Menge eurer Arme zu meinen Herren macht, Meister über meine Umstände, und wenn ihr wollt, über mein Leben. Verlangt ihr meinen Tod, so meldet mir nur, was ich in euerm Namen, dem weisen und guten Socrates sagen soll, zu dem ihr mich schicken werdet. Begnügt ihr euch aber, mich aus euern Augen zu verbannen, so werde ich mit dem letzten Blicke nach einem einst geliebten Vaterland, eine Träne auf das Grab eurer Glückseligkeit fallen lassen; und, indem ich aufhöre ein Athenienser zu sein, in der Welt, die mir offen steht, in einem jeden Winkel, wo es der Tugend erlaubt ist, sich zu verbergen, ein besseres Vaterland finden.'
Es ist leicht zu vermuten, schöne Danae, daß eine Apologie aus diesem Ton nicht geschickt war, mir ein günstiges Urteil auszuwirken. Die Erbitterung, die dadurch in den Gemütern der meisten erregt wurde, welche das angenehme Schauspiel, mich vor ihnen gedemütiget zu sehen, zu genießen erwartet hatten, war auf ihren Gesichtern ausgedrückt. Dem ungeachtet sah ich niemal eine größere Stille unter dem Volk, als da ich aufgehört hatte zu reden. Sie fühlten, wie es schien, wider ihren Willen, daß die Tugend auch ihren Hässern Ehrfurcht einpräget; aber eben dadurch wurde sie ihnen nur desto verhaßter, je stärker sie den Vorzug fühlten, den sie dem beklagten, verlassenen und von allen Auszierungen des Glücks entblößtem Agathon über die Herren seines Schicksals gab. Ich weiß selbst nicht, wie es zuging, daß mir mein guter Genius aus dieser Gefahr heraushalf: Aber, wie die Stimmen gesammelt wurden, so fand sich, daß die Richter, gegen die Hoffnung meiner Ankläger sich begnügten, mich auf ewig aus Griechenland zu verbannen, die Hälfte meiner Güter zum gemeinen Wesen zu ziehen, und die andre Hälfte meinen Verwandten zuzusprechen. Die Gleichgültigkeit, womit ich mich diesem Urteil unterwarf, wurde in diesem fatalen Augenblick, der alle meine Handlungen in ein falsches Licht setzte, für einen Trotz aufgenommen, welcher mich alles Mitleidens unwürdig machte; doch erlaubte man meinen Freunden, sich um mich zu versammeln, mir ihre Dienste anzubieten, und mich aus Athen zu begleiten: welches ich, ungeachtet mir eine längere Frist gegeben worden war, noch in eben der Stunde, mit so leichtem Herzen verließ, als wie ein Gefangener den Kerker verläßt, aus dem er unverhofft in Freiheit gesetzt wird. Die Tränen der wenigen, welche mein Fall nicht von mir verscheucht hatte, und meiner guten Hausgenossen, waren das einzige, was bei einem Abschiede, den wir auf ewig von einander nahmen, mein Herz erweichte; und ihre guten Wünsche alles, was ich von den Wirkungen ihrer mitleidigen und dankbaren Sorgfalt annahm.
Ich befand mich nun wieder ungefähr in eben den Umständen, worin ich vor einigen Jahren unter dem Zypressenbaum im Vorhofe meines noch unbekannten Vaters zu Corinth gelegen war. Die großen Veränderungen, die manchfaltigen Szenen von Reichtum, Ansehen, Gewalt und äußerlichem Schimmer, durch welche mich das Glück in dieser kurzen Zwischenzeit herumgedreht hatte, waren nun wie ein Traum vorüber; aber die wesentlichen Vorteile, die von allen diesen Begegnissen in meinem Geist und Herzen zurückgeblieben waren, überzeugten mich, daß ich nicht geträumt hatte. Ich fand mich um eine Menge nützlicher und angenehmer Kenntnisse, um die Entwicklung meiner Fähigkeiten, um das Bewußtsein vieler guten Handlungen, und um eine Reihe wichtiger Erfahrungen, reicher als zuvor. Ich hatte den Geist der Republiken, den Charakter des Volks, und die Eigenschaften und Wirkungen vieler mir vorher unbekannten Leidenschaften kennen gelernt, und Gelegenheiten genug gehabt, vieler irrigen Einbildungen los zuwerden, welche man sich von der Welt zu machen pflegt, wenn man sie nur von Ferne, und ohne selbst in ihre Geschäfte eingeflochten zu sein, betrachtet. Zu Delphi hatte man mich (zum Exempel) gelehrt, daß sich das ganze Gebäude der Republikanischen Verfassung auf die Tugend gründe; die Athenienser lehrten mich hingegen, daß die Tugend an sich selbst nirgends weniger geschätzt wird, als in einer Republik; den Fall ausgenommen, da man ihrer vonnöten hat; und in diesem Fall wird sie unter einem jeden Tyrannen eben so hoch geschätzt, und oft besser belohnt. überhaupt hatte mein Aufenthalt in Athen, die erhabene Theorie von der Vortrefflichkeit und Würde der menschlichen Natur, wovon ich eingenommen war, sehr schlecht bestätiget; aber ich fand mich nichts desto geneigter von ihr zurückzukommen. Ich legte alle Schuld auf die Contagion allzugroßer Gesellschaften, auf die Mängel der Gesetzgebung, auf das Privatinteresse, welches bei allen policierten Völkern, durch ein unbegreifliches Versehen ihrer Gesetzgeber, in einem beständigen Streit mit dem gemeinen Besten liegt. Kurz, ich dachte darum nicht schlimmer von der Menschheit, weil sich die Athenienser unbeständig, ungerecht und undankbar gegen mich bewiesen hatten; aber ich faßte einen desto stärkern Widerwillen gegen eine jede andere Gesellschaft, als eine solche, welche sich auf übereinstimmende Grundsätze, Tugend und Bestrebung nach moralischer Vollkommenheit gründete. Der Verlust meiner Güter, und die Verbannung aus Athen schien mir die wohltätige Veranstaltung einer für mich besorgten Gottheit zu sein, welche mich dadurch meiner wahren Bestimmung habe wiedergeben wollen. Es ist sehr vermutlich, daß ich durch Anwendung gehöriger Mittel, durch das Ansehen meiner auswärtigen Freunde, und selbst durch die Unterstützung der Feinde der Athenienser, welche mir gleich anfangs meines Prozesses, heimlich angeboten worden war, vielleicht in kurzem wieder Wege gefunden haben könnte, meine Gegner in dem Genuß der Früchte ihrer Bosheit zu stören, und im Triumphe wieder nach Athen zurück zu kehren. Allein solche Anschläge, und solche Mittel schickten sich nur für einen Ehrgeizigen, welcher regieren will, um seine Leidenschaften zu befriedigen. Mir fiel es nicht ein, die Athenienser zwingen zu wollen, daß sie sich von mir gutes tun lassen sollten. Ich glaubte durch einen Versuch, der mir durch ihre eigene Schuld mißlungen war, meiner Pflicht gegen die bürgerliche Gesellschaft ein Genüge getan zu haben, und nun vollkommen berechtiget zu sein, die natürliche Freiheit, welche mir meine Verbannung wieder gab, zum Vorteil meiner eigenen Glückseligkeit anzuwenden. Ich beschloß also den Vorsatz, welchen ich zu Delphi schon gefaßt hatte, nunmehr ins Werk zu setzen, und die Quellen der morgenländischen Weisheit, die Magier, und die Gymnosophisten in Indien zu besuchen, in deren geheiligten Einöden ich die wahren Gottheiten meiner Seele, die Weisheit und die Tugend, von denen, wie ich glaubte, nur unwesentliche Phantomen unter den übrigen Menschen herumschwärmten, zu finden hoffte.
Aber eh ich auf die Zufälle komme, durch welche ich an der Ausführung dieses Vorhabens gehintert, und in Gestalt eines Sklaven nach Smyrna gebracht wurde; muß ich mich meiner jungen Freundin wieder erinnern, die wir seit meiner Versetzung nach Athen aus dem Gesichte verloren haben."
Agathon endigt seine Erzählung
"Die Veränderung, welche mit mir vorging, da ich aus den Hainen von Delphi auf den Schauplatz der geschäftigen Welt, in das Getümmel einer volkreichen Stadt, in die unruhige Bewegungen einer zwischen der Demokratie und Aristokratie hin und her treibenden Republik, und in das moralische Chaos der bürgerlichen Gesellschaft, worin Leidenschaften mit Leidenschaften, Absichten mit Absichten, in einem allgemeinen und ewigen Streit gegen einander rennen, und unter dem unharmonischen Zusammenstoß unförmlicher Mißgestalten, nichts beständiges, noch gewisses ist, nichts das ist, was es scheint, noch die Gestalt behält die es hat.—Diese Veränderung war so groß, daß ich ihre Wirkung, auf mein Gemüt durch nichts anders zu bezeichnen weiß, als durch die Vergleichung mit der Betäubung, worin nach meinem Freunde, Plato, unsre Seele eine Zeit lang, von sich selbst entfremdet, liegen bleibt, nachdem sie aus dem Ozean des reinen ursprünglichen Lichts, der die überhimmlischen Räume erfüllet, plötzlich in den Schlamm des groben irdischen Stoffes heruntergestürzt worden ist. Die Menge der neuen Gegenstände, welche von allen Seiten auf mich eindrang, verschlang die Erinnerung derjenigen, welche mich so viele Jahre umgeben hatten; und zuletzt hatte ich fast Mühe, mich selbst zu überreden, daß ich eben derjenige sei, der im Tempel zu Delphi den Fremden die Merkwürdigkeiten desselben gewiesen und erklärt hatte. So gar das Andenken meiner geliebten Psyche wurde eine Zeit lang von diesem Nebel, der meine Seele umzog, verdunkelt; allein dieses dauerte nur so lange, bis ich des neuen Elements, worin ich itzt lebte, gewohnt worden war; denn da vermißte ich ihre Gegenwart desto lebhafter wieder, je größer das Leere war, welches die Beschäftigungen und selbst die Ergötzungen meiner neuen Lebensart in meinem Herzen ließen. Die Schauspiele, die Gastmähler, die Tänze, die Musikübungen, konnten mir jene seligen Nächte nicht ersetzen, die ich in den Entzückungen einer zauberischen Schwärmerei, an ihrer Seite zugebracht hatte. Aber, so groß auch meine Sehnsucht nach diesen verlornen Freuden war, so beunruhigte mich doch die Vorstellung des unglücklichen Zustands noch weit mehr, worein die rachbegierige Eifersucht der Pythia sie vermutlich versetzt hatte. Den Ort ihres Aufenthalts ausfindig zu machen, schien beinahe eine Unmöglichkeit; denn entweder hatte die Priesterin sie (fern genug von Delphi, um uns alle Hoffnung des Wiedersehens zu benehmen,) verkaufen, oder gar an irgend einer entlegnen barbarischen Küste aussetzen und dem Zufall Preis geben lassen. Allein da der Liebe nichts unmöglich ist, so gab ich auch die Hoffnung nicht auf, meine Psyche wieder zu bekommen. Ich belud alle meine Freunde, alle Fremden, die nach Athen kamen, alle Kaufleute, Reisende und Seefahrer mit dem Auftrag, sich allenthalben, wohin sie kämen, nach ihr zu erkundigen; und damit sie weniger verfehlt werden könnte, ließ ich eine unzählige Menge Kopeien ihres Bildnisses machen, das ich selbst, oder vielmehr der Gott der Liebe mit meiner Hand, in der vollkommensten ähnlichkeit, nach dem gegenwärtigen Original, gezeichnet hatte, da wir noch in Delphi waren; und diese Kopeien teilte ich unter alle diejenigen aus, welche ich durch Verheißung großer Belohnungen, anzureizen suchte, sich für ihre Entdeckung Mühe zu geben. Ich gestehe dir so gar, daß das Verlangen meine Psyche wieder zu finden, (anfänglich wenigstens) der hauptsächlichste Beweg-Grund war, warum ich mich in der Republik hervorzutun suchte. Denn, nachdem mir alle andre Mittel fehlgeschlagen hatten, schien mir kein andres übrig zu bleiben, als meinen Namen so bekannt zu machen, daß er ihr zu Ohren kommen müßte; sie möchte auch sein, wo sie wollte. Dieser Weg war in der Tat etwas weitläufig; und ich hätte zwanzig Jahre in einem fort größere Taten tun können, als Hercules und Theseus, ohne daß die Hyrcanier, die Massageten, die Hibernier, oder die Lästrigonen, in deren Hände sie inzwischen hätte geraten können, mehr von mir gewußt hätten, als die Einwohner des Mondes. Zu gutem Glück fand der Schutz-Geist unsrer Liebe einen kürzern Weg, uns zusammenzubringen; aber in der Tat nur, um uns Gelegenheit zu geben, auf ewig von einander Abscheid zu nehmen."-Hier fuhr Agathon fort, der schönen Danae die Begebenheiten zu erzählen, die ihm auf seiner Wanderschaft bis auf die Stunde, da er mit ihr bekannt wurde, zugestoßen, und wovon wir dem geneigten Leser bereits im ersten und zweiten Buche dieser Geschichte Rechenschaft gegeben haben; und nachdem er sich auf Unkosten des weisen Hippias ein wenig lustig gemacht, entdeckte er seiner schönen Freundin (welche seine ganze Erzählung nirgends weniger langweilig fand, als an dieser Stelle,) alles, was von dem ersten Augenblick an, da er sie gesehen, in seinem Herzen vorgegangen war. Er überredete sie mit eben der Aufrichtigkeit, womit er es zu empfinden glaubte, daß sie allein dazu gemacht gewesen sei, seine Begriffe von idealischen Vollkommenheiten und einem überirdischen Grade von Glückseligkeit zu realisieren; daß er, seit dem er sie liebe, und von ihr geliebet sei, ohne seiner ehemaligen Denkungs-Art ungetreu zu werden, von dem, was darin übertrieben und schimärisch gewesen, bloß dadurch zurückgekommen sei, weil er bei ihr alles dasjenige gefunden, wovon er sich vorher, nur in der höchsten Begeisterung einer Einbildungs-Kraft einige unvollkommene Schatten-Begriffe habe machen können; und weil es natürlich sei, daß die Einbildungs-Kraft, als der Sitz der Schwärmerei, zu würken aufhöre, so bald der Seele nichts zu tun übrig, als anzuschauen und zu genießen. Mit einem Wort: Agathon hatte vielleicht in seinem Leben nie so sehr geschwärmt, als itzt, da er sich in dem höchsten Grade der verliebten Betörung einbildete, daß er alles das, was er der leichtgläubigen Danae vorsagte, eben so gewiß und unmittelbar sehe und fühle, als er ihre schönen, von dem ganzen Geist der Liebe und von aller seiner berauschenden Wollust trunknen Augen auf ihn geheftet sah, oder das Klopfen ihres Herzens unter seinen verirrenden Lippen fühlte. Er endigte damit, daß er ihr aus seiner ganzen Erzählung begreiflich gemacht zu haben glaube, warum es, nachdem er schon so oft bald von den Menschen, bald vom Glücke, bald von seinen eigenen Einbildungen betrogen worden, entsetzlich für ihn sein würde, wenn er jemals sich in der Hoffnung betrogen fände, so vollkommen und beständig von ihr geliebt zu werden, als es zu seiner Glückseligkeit nötig sei. Er gestund ihr mit einer Offenherzigkeit, welche vielleicht nur eine Danae ertragen konnte, daß eine lebhafte Erinnerung an die Zeiten seiner ersten Liebe, zugleich mit der Vorstellung aller der seltsamen Zufälle, Veränderungen und Katastrophen, die er in einem Alter von fünf und zwanzig Jahren bereits erfahren habe, ihn auf eine Reihe melancholischer Gedanken gebracht, worin er Mühe gehabt habe, seine gegenwärtige Glückseligkeit für etwas wirkliches, und nicht für ein abermaliges Blendwerk seiner Phantasie, zu halten. "Eben das übermaß derselben", sagte er, "eben dies ist es, was mich besorgen machte, jemals aus einem so schönen Traum aufzuwachen.—Kannst du mich verdenken, liebenswürdige Danae, o du, die durch die Reizungen deines Geistes, auch ohne diese Liebe-atmende Gestalt, ohne diese Schönheit, deren Anschauen himmlische Wesen dir gegenüber anzufesseln vermögend wäre, durch die bloße Schönheit deiner Seele, und den magischen Reiz eines Geistes, der alle Vorzüge, alle Gaben, alle Grazien in sich vereinigt, meinen Geist aus dem Himmel selbst zu dir herunterziehen würdest.—Könntest du mich verdenken, daß ich, vor dem Gedanken, deine Liebe jemals verlieren zu können, wie vor der Vernichtung meines ganzen Wesens, erzittre?—Laß mich, laß mich die Gewißheit, daß es nie geschehen werde, daß es unmöglich sei, immer in deinen Augen lesen, immer von deinen Lippen hören, und in deinen Armen fühlen; und wenn diese vergötternde Bezauberung jemals aufhören soll, so nimm, im letzten Augenblick, alle deine Macht zusammen, und laß mich vor Entzückung und Liebe zu deinen Füßen sterben."-Von der Antwort, womit Danae diese Ergießungen einer glühenden Zärtlichkeit erwiderte, läßt sich das Wenigste mit Worten ausdrücken; und dieses kann sich, nach allem, was wir bereits von ihren Gesinnungen für unsern Helden gesagt haben, der kaltsinnigste von unsern Lesern so gut vorstellen, als wir es ihm sagen könnten—oder sich's auch nicht vorstellen, wenn es ihm beliebt. Daß sie ihm übrigens sehr höflich für die Erzählung seiner Geschichte gedankt, und eine ungemeine Freude darüber empfunden habe, in diesem Sklaven, der die Alcibiaden und den liebenswürdigen Cyrus selbst aus ihrem Herzen ausgelöscht hatte, den ruhmvollen Agathon, den Mann, den das Gerüchte zum Wunder seiner Zeit gemacht hatte, zu finden; und daß sie ihm hierüber viel schönes gesagt haben werde—verstehst sich von selbst. Dieses und alles, was eine jede andere, die keine Danae gewesen wäre, in den vorliegenden Umständen auch gesagt hätte, wollen wir, nebst allen den feinen Anmerkungen und Scherzen, wodurch sie in gewissen Stellen seine Erzählung unterbrochen hatte, überhüpfen, um zu andern Dingen, die in ihrem Gemüte vorgingen, zu kommen, welche der größeste Teil unserer Leserinnen (wir besorgen es, oder hoffen es vielmehr,) nicht aus sich selbst erraten hätte, und welche wichtig genug sind, ein eigenes Kapitel zu verdienen.
Ein starker Schritt zur Entzauberung unsers Helden
Die vertrauliche Erzählung, welche Agathon seiner zärtlichen Freundin von seinem ganzen Lebens-Lauf gemacht; die Offenherzigkeit, womit er ihr die innersten Triebfedern seiner Seele aufgedeckt; und die vollständige Kenntnis, welche sie dadurch von einem Liebhaber erhalten hatte, an dessen Erhaltung ihr so viel gelegen war; ließen sie gar bald einsehen, daß sie vielleicht mehr Ursache habe, über die Beständigkeit seiner Liebe beunruhigt zu sein, als er über die Dauer der ihrigen. So schmeichelhaft es für ihre Eitelkeit war, von einem Agathon geliebt zu sein; so hätte sie doch für die Ruhe ihres Herzens lieber gewollt, daß er keine so schimmernde Rolle in der Welt gespielt hätte. Sie besorgte nicht unbillig, daß es schwer sein würde, einen jungen Helden, der durch so seltene Talente und Tugenden zu den edelsten Auftritten des geschäftigen Lebens bestimmt schien, immer in den Blumen-Fesseln der Liebe und eines wollüstigen Müßiggangs gefangen zu halten. Nun schien zwar die Art seiner Erziehung, der sonderbare Schwung, den seine Einbildungs-Kraft dadurch erhalten, seine herrschende Neigung zur Unabhängigkeit und Ruhe des spekulativen Lebens, welche durch die Streiche, die ihm das Glück in einer so großen Jugend bereits gespielt, eine neue Stärke bekommen hatte; und der Hang zum Vergnügen, welcher, im Gleichmaß mit der außerordentlichen Empfindlichkeit seines Herzens, die Ruhm-Begierde und die Ambition bei ihm nur zu subalternen Leidenschaften machte—alles dieses schien ihr zwar in dem Vorhaben, ihn der Welt zu rauben, und für sich selbst zu behalten, nicht wenig beförderlich zu sein; aber eben diese schwärmerische Einbildungs-Kraft, eben diese Lebhaftigkeit der Empfindungen schienen ihr, auf einer andern Seite betrachtet, mit einer gewissen natürlichen Unbeständigkeit verbunden zu sein, von welcher sie alles zu befürchten hätte. Konnte sie, mit aller Eitelkeit, wozu sie das Bewußtsein ihrer selbst und der allgemeine Beifall berechtigte, sich selbst bereden, daß sie diese idealische Vollkommenheit würklich besitze, welche die bezauberten Augen ihres enthusiastischen Liebhabers an ihr sahen? Und da nicht sie selbst, sondern diese idealische Vollkommenheit der eigentliche Gegenstand seiner Liebe war, auf was für einen unsichern Grund beruhete also eine Hoffnung, welche voraussetzte, daß die Bezauberung immer dauern werde? Diese letzte Betrachtung machte sie zittern;—denn sie fühlte mit einer immer zunehmenden Stärke, daß Agathon zu ihrer Glückseligkeit unentbehrlich geworden war.—Aber (so ist die betrügliche Natur des menschlichen Herzens!) eben darum, weil der Verlust ihres Liebhabers sie elend gemacht haben würde, hatten alle Vorstellungen, welche ihr mit seinem beständigen Besitz schmeichelten, doppelte Kraft ein Herz zu überreden, welches nichts anders suchte, als getäuscht zu sein. Sie bildete sich also ein, daß der Hang zu demjenigen, was man die Wollust der Seele nennen kann, den wesentlichsten Zug von der Gemüts-Beschaffenheit unsers Helden ausmache. Seine Philosophie selbst schien ihr diese Meinung zu bestätigen, und, bei aller ihrer Erhabenheit über den groben Materialismus des größten Haufens der Sterblichen, in der Tat mit den Grundsätzen des Aristippus, welche vormals ihre eigenen gewesen waren, in dem nämlichen Punkt zusammenzulaufen. Der ganze Unterscheid schien ihr darin zu liegen, daß dieser die Wollust, welche er zum letzten Ziel der Weisheit machte, mehr in der angenehmen Bewegung der Sinnen, den Befriedigungen eines geläuterten Geschmacks, und den Ergötzlichkeiten eines von allen unruhigen Leidenschaften befreiten geselligen Lebens—Agathon hingegen, diese feinere Wollust, von welcher er in den stillen Hainen des Delphischen Tempels sich ein so liebenswürdiges Phantom in den Kopf gesetzt hatte, mehr in den Vergnügen der Einbildungs-Kraft und des Herzens suchte; eine Philosophie, bei welcher er (nach der scharfsinnigen Beobachtung unsrer Schönen) so gar von Seiten der sinnlichen Lust mehr gewann, als verlor; indem diese von den verschönernden Einflüssen einer begeisterten Einbildung und den zärtlichen Rührungen und Ergießungen eines gefühlvollen Herzens ihren mächtigsten Reiz erhält. Dieses als gewiß vorausgesetzt, glaubte sie von der Unbeständigkeit, welche sie, nicht ohne Grund, als eine Eigenschaft einer allzuwürksamen und hoch gespannten Einbildungs-Kraft ansah, nichts zu besorgen zu haben; so lange es ihr nicht an Mitteln fehlen würde, seinen Geist und sein Herz zugleich und, mit einer solchen Abwechslung und Mannigfaltigkeit zu vergnügen, daß eine weit längere Zeit, als die Natur dem Menschen zum Genießen angewiesen hat, nicht lange genug wäre, ihn eines so angenehmen Zustandes überdrüssig zu machen. Sie hatte Ursache, dieses um so mehr zu glauben, da sie aus Erfahrung wußte, daß die Würksamkeit der Einbildungs-Kraft desto mehr abnimmt, je weniger leeres der Genuß wirklicher Vergnügungen im Herzen zurückläßt, und je weniger ihm Zeit gelassen wird, etwas angenehmers als das Gegenwärtige zu wünschen.
Es ist dermalen noch nicht Zeit, daß wir über diese Grundsätze der schönen Danae unsere eigenen Gedanken sagen. Sie mochten, von einer Seite betrachtet, richtig genug sein; aber wir besorgen sehr, daß sie sich in dem Gebrauch der Mittel, wodurch sie ihren Zweck zu erhalten hoffte, von der Liebe betrogen finden werde. In der Tat liebte sie zu aufrichtig und zu heftig, um gute Schlüsse zu machen; und ihr Herz führte sie nach und nach, ohne daß sie es gewahr wurde, weit über die Grenzen der Mäßigung weg, bei welcher sie sich anfangs so wohl befunden hatte. Vielleicht mochte auch eine geheime Eifersucht über die gute Psyche (so wenig sie gleich, aller Wahrscheinlichkeit nach, zu befürchten hatte, daß sie jemals persönlich auftreten, und das Herz ihres Liebhabers von ihr zurückfodern werde) sich mit ins Spiel gemischt, und sie begierig gemacht haben, so gar die Erinnerung an die Freuden seiner ersten Liebe, welche ihr vielleicht noch allzulebhaft zu sein schien, aus seinem Gedächtnis auszulöschen. So viel ist gewiß, daß sie (vor lauter Begierde, unsern Helden mit Glückseligkeiten zu überschütten,) ihm eine grenzenlose Liebe zu zeigen, und ihn einen solchen Grad von Wonne, über welchem dem Herzen nichts zu wünschen, und der Phantasie nichts zu denken übrig bliebe, erfahren zu machen,—einen Weg einschlug, auf welchen sie ihres Zwecks fast notwendig verfehlen mußte. Der vortreffliche Brief des liebenswürdigsten Moralisten der neuern Zeiten, des Saint Evremond, in den Briefen der Ninon Lenclos an den Marquis von Sevigne, überhebt uns der Mühe, dem unerfahrnen Teil unserer schönen Leserinnen zu erklären, wie es zugehe, daß die Liebe von allzuvieler Nahrung abzehrt; und daß ein unvorsichtiges übermaß von Zärtlichkeit gerade das gewisseste Mittel ist, einen Ungetreuen zu machen. Wir wollen sie also auf die bemeldete Unterweisung eines der besten Kenner des menschlichen Herzens verwiesen haben, und uns begnügen, ihnen zu sagen, daß Agathon, nachdem er (dem neuen Plan seiner mehr zärtlichen als behutsamen Geliebten zufolge) etliche Wochen lang von allem, was die Liebe süßes und entzückendes hat, mehr erfahren hatte, als selbst die glühende Einbildungs-Kraft des Marino fähig war, seinen Adon in den Armen der Liebes-Göttin genießen zu lassen, unvermerkt in eine gewisse Mattigkeit der Seele verfiel, welche wir nicht kürzer zu beschreiben wissen, als wenn wir sagen, daß sie vollkommen das Widerspiel von der Begeisterung war, worin wir ihn bisher gesehen haben. Man würde sich vermutlich sehr irren, wenn man diese Entgeisterung einer so unedeln Ursache beimessen wollte, als diejenige war, welche den verachtenswürdigen Helden des Petronius nötigte, seine Zuflucht zu den Beschwörungen und Brenn-Nesseln der alten Enothea zu nehmen. Nach allem, was wir von unserm Helden wissen, kann kein Verdacht von dieser Art auf ihn fallen. Wir finden weit wahrscheinlicher, daß die wahre Ursache davon in seiner Seele lag, und aus einer überfüllung mit Vergnügen, auf welche notwendig eine Art von Betäubung folgen mußte, ihren Ursprung nahm. Unsere Seele (mit Erlaubnis derjenigen Philosophen, welche von der grenzenlosen Kapazität und Unersättlichkeit ihrer Begierden so viel schönes zu sagen wissen,) ist doch nur eines gewissen Maßes von Vergnügen fähig, und kann einen anhaltenden Zustand von Entzückung eben so wenig ertragen, als eine lange Dauer des äußersten Schmerzens. Beides spannt endlich ihre Nerven ab, und bringt sie zu einer Art von Ohnmacht, in welcher sie gar nichts mehr zu empfinden fähig ist. Was indessen auch die Ursache einer für die Absichten der Danae so nachteiligen Veränderung gewesen sein mag; so ist gewiß, daß die Würkungen derselben in kurzer Zeit so sehr überhand nahmen, daß Agathon selbst Mühe hatte, sich in sich selbst zu erkennen, oder zu begreifen, wie es mit dieser seltsamen Verwandlung der Szene zugegangen sei. Ein magischer Nebel schien vor seinen erstaunten Augen wegzufallen; die ganze Natur zeigte sich ihm in einer andern Gestalt, verlor diesen reizenden Firnis, den ihr der Geist der Liebe gegeben hatte; diese Gärten, vor wenigen Tagen der geliebte Aufenthalt aller Freuden und Liebes-Götter, diese elysischen Haine, diese mäandrischen Rosen-Gebüsche, worin die lauschende Wollust sich so gerne verborgen hatte, um das Vergnügen zu haben, sich erhaschen zu lassen—erweckten itzt durch ihren Anblick nichts mehr, als jeder andre schattichte Platz, jedes andre Gebüsche; die Luft, die er atmete, war nicht mehr dieser süße Atem der Liebe, von dem jeder Hauch die Flammen seines Herzens stärker aufzuwehen schien; Danae war bereits von der idealischen Vollkommenheit zu dem gewöhnlichen Wert einer jeden andern schönen Frau herabgesunken; und er selbst, der vor kurzem sich an Wonne den Göttern gleich geschätzet hatte, fing an, sehr starke Zweifel zu bekommen: Ob er in dieser weibischen Gestalt, worein ihn die Liebe verkleidet hatte, den Namen eines Mannes verdiene? Man wird nicht zweifeln, daß in diesem Zustand die Erinnerungen dessen, was er ehemals gewesen war—der wundervolle Traum, den er je länger je mehr für die Würkung irgend eines wohltätigen Geistes, und vielleicht des abgeschiedenen Schattens seiner geliebten Psyche selbst, zu halten bewogen war—die Stimme der Tugend, die er einst angebetet, und welcher er alles aufgeopfert hatte—und die Vorwürfe, die sie ihm schon vor einiger Zeit über ein in müßiger Wollust unrühmlich dahinschmelzendes Leben zu machen angefangen,—gute Gelegenheit hatten, sein Herz, dessen beste Neigungen selbst auf ihrer Seite waren, mit vereinigter Stärke wieder anzugreifen. Sie hatten es fast gänzlich wieder eingenommen, als er erst deutlich gewahr wurde, wohin ihn die Betrachtungen, denen er sich überließ, notwendig führen mußten. Er erschrak, da er sah, daß ihm nichts als die Flucht von dieser allzureizenden Zauberin seine vorige Gestalt wieder geben könne. Sich von Danae zu trennen! auf ewig zu trennen!—Dieser Gedanke benahm seiner Seele auf einmal alle die Stärke wieder, welche sie wieder in sich zu fühlen anfing, und weckte alle Erinnerungen, alle Empfindungen seiner entschlummerten Leidenschaft wieder auf. Sie, die ihn so inbrünstig liebte,—sie, die ihn so glücklich gemacht hatte—zu verlassen—für alle ihre Liebe, für alles was sie für ihn getan hatte, und auf eine so verbindliche, so edle Art getan hatte, den Qualen einer mit Undank belohnten Liebe preis zu geben -: Nein, zu einer so niederträchtigen, so häßlichen Tat, (wie diese in seinen Augen war) konnte sich sein Herz nicht entschließen. Die Tugend selbst, welcher er seine eigene Befriedigung aufzuopfern bereit war, konnte ein so undankbares und grausames Verfahren nicht gut heißen—Wir überlassen es der Entscheidung kalter Sitten-Lehrer: ob die Tugend das konnte, oder nicht; aber unser Held war von dem letztern so lebhaft überzeugt, daß er, anstatt auf Gründe zu denken, womit er die Sophistereien der Liebe hätte vernichten können, in vollem Ernst auf Mittel bedacht war, das Interesse seines Herzens und die Tugend, welche ihm nicht unverträglich zu sein schienen, auf immer mit einander zu vereinigen.
Die zärtliche Danae hatte inzwischen, wie leicht zu erachten ist, die Veränderung, welche in der Seele unsers Helden vorgegangen war, im ersten Augenblick, da sie merklich wurde, wahrgenommen. Allein die gute Danae war weit entfernt, seinem Herzen die Schuld davon zu geben; sie betrog sich selbst über die wahre Ursache, und glaubte, daß die Veränderung des Orts, und vielleicht eine kleine Entfernung, ihm in kurzem alle die Lebhaftigkeit der Empfindung wieder geben würde, die er verloren zu haben schien. Die Wiederkehr in die Stadt, wo sie einander nicht immer sehen würden, wo ihre Liebe sich zu verbergen genötigt sein, und dadurch den Reiz eines geheimen Verständnisses erhalten würde, die Zerstreuungen des Stadt-Lebens, die Gesellschaft, die Lustbarkeiten, würden ihn (glaubte sie) bald genug wieder so feuerig als jemals wieder in ihre Arme führen. Sie überredete ihn also, mit ihr nach Smyrna zurückzugehen, obgleich die schöne Jahrs-Zeit noch nicht ganz zu Ende war. Hier wußte sie, (ohne daß es schien, daß sie Hand dabei habe,) eine Menge Gelegenheiten zu veranstalten, wodurch sie einander seltner wurden; wenn sie sich wieder allein befanden, flog sie ihm zwar eben so zärtlich in die Arme, als ehemals; aber sie vermied alles, was zu jener allzuwollüstigen Berauschung (in welche sie ihn, wenn sie wollte, durch einen einzigen Blick setzen konnte) geführt hätte, und tat es mit einer so guten Art, daß er keinen besondern Vorsatz dabei gewahr werden konnte: Kurz, sie wußte die feurigste Liebe unvermerkt so geschickt in die zärtlichste Freundschaft zu verwandeln, daß Agathon, welcher weder Kunst noch Absicht unter ihrem Betragen argwohnte, ganz treuherzig in die Schlinge fiel, und in kurzem wieder so zärtlich und dringend wurde, als ob er erst anfangen müßte, sich um ihr Herz zu bewerben. Zwar war es nicht in ihrer Gewalt, ihm diese Begeisterung mit allem ihrem zauberischen Gefolge wieder zu geben, welche, wenn sie einmal verschwunden ist, nicht wieder zu kommen pflegt; aber die Lebhaftigkeit, womit ihre Reizungen auf seine Sinnen, und die Empfindungen der Dankbarkeit und Freundschaft auf sein Herz würkten, brachten doch ungefähr die nämliche Phänomena hervor; und da man gewohnt ist, gleiche Würkungen gleichen Ursachen zu zuschreiben, so ist es nicht unbegreiflich, wie beide sich eine Zeitlang hierin betrügen konnten, ohne nur zu vermuten, daß sie betrogen würden.
Es ist sehr zu vermuten, daß es bei dieser schlauen Mäßigung, wodurch die schöne Danae die Folgen ihrer vorigen Unvorsichtigkeit wieder gut zu machen wußte, um unsern Helden geschehen gewesen wäre; und daß seine Tugend unter diesem zweifelhaften Streit mit seiner Leidenschaft, bei welchem wechselsweise bald die eine, bald die andere die Oberhand behielt, endlich gefällig genug worden wäre, sich mit ihrer schönen Feindin in einen vielleicht nicht allzurühmlichen Vergleich einzulassen, und die Glückseligkeit der liebenswürdigen Danae dadurch auf immer sicher zu stellen; wenn nicht der unglücklichste Zufall, der ihr mit einem so sonderbaren Mann, als Agathon war, nur immer begegnen konnte, sie auf einmal mit seiner Hochachtung alles dessen beraubt hätte, was sie noch im Besitz seines Herzens erhalten hatte. Eine einst geliebte Person behält (auch wenn das Fieber der Liebe vorbei ist) noch immer eine große Gewalt über unser Herz, so lange sie unsere Hochachtung nicht verloren hat. Agathon war zu edelmütig, die schöne Danae für die Schwachheit, welche sie gegen ihn gehabt hatte, (das einzige, was die Hochachtung hätte vermindern können, welche sie durch so viele schöne Eigenschaften des Geistes und des Herzens verdiente,) dadurch zu bestrafen, daß er ihr deswegen nur das mindeste von der seinigen entzogen hätte. Aber so bald es dahin gekommen war, daß er sich in seiner Meinung von ihrem Charakter und moralischen Werte betrogen zu haben glaubte; so bald er sich gezwungen sah, sie zu verachten; hörte sie auf, Danae für ihn zu sein; und durch eine ganz natürliche Folge wurde er in dem nämlichen Augenblick wieder Agathon.
Ende dieses Project Gutenberg Etextes "Geschichte des Agathon", Teil 1 von Christoph Martin Wieland