Title: Unter Palmen und Buchen. Erster Band.
Author: Friedrich Gerstäcker
Release date: November 20, 2013 [eBook #44239]
Language: German
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Erster Band.
Unter Buchen.
Gesammelte Erzählungen
von
Friedrich Gerstäcker.
Leipzig,
Arnoldische Buchhandlung.
1865.
Inhaltsverzeichniß.
Seite | |
Eine alltägliche Geschichte | 1 |
Die Vision | 16 |
Folgen einer telegraphischen Depesche | 131 |
Der Polizeiagent | 140 |
Eine Heimkehr aus der weiten Welt | 274 |
Wenn wir einmal sterben | 289 |
Es war auf einem Balle in der Erholung, daß Dr. Kuno Brethammer Fräulein Bertha Wollmer kennen lernte – oder vielmehr zum ersten Male sah, und sich sterblich in sie verliebte.
Bertha Wollmer trug ein einfaches weißes Kleid, einen sehr hübschen Kornblumenkranz im blonden Haar und sah wirklich allerliebst aus. Aber es bleibt immer ein gefährlich Ding, wenn sich ein Mann eine Hausfrau auf einem Balle sucht. Der Ballsaal sollte der letzte Ort dazu sein, denn dort ist Alles in Licht gehüllt, und er wird geblendet und berauscht, wo er gerade Augen und Verstand nüchtern und besonnen auf dem rechten Fleck haben müßte.
Diesmal hatte aber Dr. Brethammer seine Wahl nicht zu bereuen, denn Bertha Wollmer war nicht allein ein sehr hübsches Mädchen, das sich mit Geschmack zu kleiden wußte, sondern auch außerdem wacker und brav, ein wirklich edler Charakter und eine, wie sich später herausstellte, vortreffliche Wirtschafterin. – Der Doctor hätte auf der Welt keine bessere Lebensgefährtin finden können.
Gegen ihn selber ließ sich eben so wenig einwenden. Er war etwa 34 Jahre alt, Advocat mit einer recht guten Praxis, hatte also sein Auskommen, galt in der ganzen Stadt für einen braven, rechtschaffenen Mann, schuldete keinem Menschen einen Pfennig und als er, vierzehn Tage später, um Bertha Wollmer anhielt, sagte das Mädchen nicht nein, und Vater und Mutter sagten ja, worauf dann noch in der nächsten Woche die Verlobungskarten ausgeschickt wurden. Zwei Monate später fand die Hochzeit statt.
So lebten die beiden Leute viele Jahre glücklich miteinander, und Dr. Brethammer sah mit jedem Tage mehr ein, daß er eine außerordentlich glückliche Wahl getroffen und Gott nicht genug für sein braves Weib danken könne. Er liebte sie auch wirklich recht von Herzen, aber – wie das oft so im Leben geht – das, was sein ganzes Glück hier bildete, wurde ihm – durch Nichts gestört – endlich zur Gewohnheit und er vernachlässigte, was er hätte hegen und pflegen sollen.
Es mag sein, daß seine Liebe zu der Gattin deshalb nie geringer wurde, aber er vernachlässigte auch die Form, die in einem gewissen Grade in allen Lebensverhältnissen nöthig ist: er war oft rauh mit seiner Frau, ja heftig, und wenn er auch dabei nicht die Grenzen überschritt, die jeder gebildete Mensch inne halten wird, that er ihr doch oft – gewiß unabsichtlich – recht wehe. Ja manchmal, wenn ihm ein heftiges Wort entfahren war, hätte er es von Herzen gern widerrufen mögen, aber – das ging leider nicht an, denn – er durfte sich an seiner Autorität nichts vergeben.
Nur zu einer Entschuldigung ließ er sich herbei: »Du weißt, ich bin jähzornig,« sagte er, »wenn's aber auch oft ein Bischen rauh herauskommt, so ist es ja doch nicht so schlimm gemeint und eben so rasch vergessen.«
Ja, das war allerdings der Fall; er hatte es eben so rasch vergessen, aber sie nicht, und wenn sie ihm auch nie ein unfreundlich Gesicht zeigte, wenn sie ihn immer bei sich entschuldigte und sein oft mürrisches Wesen auf die Sorgen und den Aerger schob, den er außer dem Hause gehabt – ein kleiner Stachel blieb von jeder dieser Scenen in ihrem Herzen zurück, so viel Mühe sie sich selber gab, die Erinnerung daran zu bannen; einen kleinen Nebelpunkt ließ jede solche Wolke zurück, die an der Sonne ihres häuslichen Glücks, sei es noch so schnell vorübergezogen, und in einsamen Stunden konnte sie oft recht traurig darüber werden.
Sie hatten zwei Kinder mitsammen, an denen der Vater mit großer und wirklich inniger Liebe hing – und doch, wie wenig gab er sich mit ihnen ab! – Es ist wahr, am Tage war er sehr viel beschäftigt und mußte sich oft gewaltsam die Zeit abringen, um nur zum Mittagsessen zu kommen, aber Abends um sechs Uhr hatte er dafür auch jedes Geschäft abgeschüttelt, und dann wäre ihm allerdings Zeit genug geblieben bei Frau und Kindern zu sitzen, um sich seines häuslichen Glückes zu freuen, aber – »er mußte dann doch ein wenig Zerstreuung haben« – wie er sich selbst vorlog – er mußte den Geschäftsstaub abschütteln und mit einem »Glas Bier« hinunterspühlen, und das geschah am besten im Wirthshaus, wo man nicht gezwungen war zu reden – wenn man nicht reden wollte – wo man einmal eine Partie Scat oder Billard spielte, um die ärgerlichen Geschäftsgedanken aus dem Kopf zu bringen – und wie die Ausreden alle hießen, mit denen er allein sich selber betrog, denn seine Frau fühlte besser den wahren Grund.
Er amüsirte sich nicht zu Haus. Er hatte seine Frau und Kinder unendlich lieb und würde Alles für sie gethan, jedes wirklich große Opfer für sie gebracht haben aber – er verstand nicht, sich mit ihnen zu beschäftigen, und suchte deshalb Unterhaltung bei Karten und Billard.
Und wie verständig und lieb betrug sich seine Frau dabei! Er mochte noch so spät Abends zum Essen kommen, nie zeigte sie ihm ein unfreundliches Gesicht, nie frug sie ihn, wo er heute so lange gewesen. Die Kinder – wenigstens das jüngste – waren dann schon meist zu Bett gebracht; er konnte ihnen nicht einmal mehr »gute Nacht« sagen, und ärgerlich über sich selber – so sehr er auch vermied es sich selber einzugestehen – verzehrte er schweigend sein Abendbrod.
Das waren die Momente, wo ihm der älteste Knabe ängstlich aus dem Weg ging, denn hatte er irgend etwas versäumt, und der Vater erfuhr es in einer solchen Stunde, dann konnte er sehr böse und sehr heftig werden – und die arme Mutter litt besonders schwer darunter.
Wie oft nahm er sich vor, die Abende in seiner Familie, bei den Seinen zuzubringen, und er wußte ja, wie sich seine Frau darüber gefreut haben würde. So lieb und gut sie dabei mit den Kindern war, so sorgsam sie auf Alles achtete, was dem Gatten eine Freude machen oder zu seiner Bequemlichkeit dienen konnte, so verständig war sie in jeder andern Hinsicht, und es gab Nichts, worüber sich nicht ihr Mann hätte mit ihr unterhalten mögen, Nichts, worin sie nicht im Stande gewesen wäre, einen vernünftigen Rath zu ertheilen. Er kannte und schätzte diese Eigenschaften an ihr – er liebte sie dafür nur desto mehr, aber – wenn der Abend, wenn die Zeit kam, wo er wußte, daß sich die Spieltische besetzten oder die gewöhnliche quatre tour zusammenkam, dann ließ es ihn nicht länger zu Hause ruhn.
Seine Frau war die letzten Jahre kränklich geworden, da sie aber nie gegen ihn klagte und ein häufiger wiederkehrendes Unwohlsein stets so viel als möglich vor ihm verbarg, um ihm die wenigen kurzen Stunden nicht zu verbittern, die er bei ihnen zubrachte, achtete er selber nicht viel darauf, oder hielt es doch keineswegs für gefährlich. Er hatte in der That sehr viel zu thun und den Kopf zu Zeiten voll genug – nur seiner Frau daheim hätte er es nicht sollen entgelten lassen. Sobald er das aber ja einmal fühlte, wollte er es auch stets wieder gut machen, und überhäufte sie mit Geschenken – ja, wo er einen Wunsch an ihren Augen ablesen mochte, erfüllte er ihn – soweit er eben mit Geld erfüllt werden konnte – nur seine Abende widmete er ihr nicht. – Er wollte auch eine Erholung haben, wie er meinte, und in seiner Heftigkeit gegen die Seinen mäßigte er sich eben so wenig.
»Ihr müßt mich nehmen, wie ich nun einmal bin,« sagte er in einer halben Abwehr, in halber Entschuldigung; »Ihr wißt wie's gemeint ist,« und damit war die Sache für ihn abgemacht, aber nicht für die Frau.
Er war auch jetzt zu Zeiten, in Gegenwart Fremder heftig gegen sie, und fuhr sie rauh an. Er meinte es wirklich nicht so bös, wie die Worte klangen, aber es trieb ihr doch manchmal die Thränen in die Augen, so sehr sie sich auch dagegen stemmte, ihm zu zeigen, wie weh er ihr gethan.
So verging der Winter. Es war eine neue Gesellschaft in X. gegründet worden und Brethammer Vorstand dabei. Das Local wurde mit einem Ball eröffnet, und er hätte seine Frau gern dort mit eingeführt, ja er kaufte ihr ein ganz prachtvolles Ballkleid und that wirklich Alles, um sie zu überreden, ihm die Freude zu machen. Sie sagte ihm jetzt, daß sie unwohl sei, aber er wollte es ihr nicht glauben, und erst als sie ihm mittheilte, wie viel sie den letzten Herbst gelitten, und wie große Mühe sie sich gegeben, es nicht zu zeigen, erschrak er, und jetzt fiel ihm auch ihr bleicheres Aussehen, fielen ihm die eingefallenen Wangen auf. Aber er nahm es trotzdem leicht. Sie war schon oft unwohl gewesen und hatte sich immer wieder erholt, auch diesmal würde es sicher vorübergehen, wenn sie sich nur schonte. Es war unter solchen Umständen jedenfalls das Vernünftigste, daß sie nicht auf den Ball ging.
Der Winter verging, Bertha wurde in der That nicht kränker, aber sie blieb leidend, und ihr Gatte gewöhnte sich zuletzt an diesen Zustand. Er hatte anfangs seine Heftigkeit gemäßigt und sich Gewalt angethan – und ach, wie dankbar war ihm Bertha dafür! – auf die Länge der Zeit aber vergaß er das wieder – es war ja nicht mehr nöthig. Seine quatre tour und Scatpartie versäumte er aber nie und amüsirte sich ganz vortrefflich dabei. Kam er dann Abends nach Haus – ob er sich auch einmal um eine halbe oder ganze Stunde verspätet hatte – fand er den Tisch gedeckt, und war es so spät geworden, daß die Kinder zu Bett geschickt werden mußten, so setzte sich sein Weib mit ihm allein zum Essen nieder.
Im Frühjahr schienen Bertha's Leiden heftiger wiederzukehren, und der Arzt kam fast täglich, aber auch er sah keine Gefahr darin. Er wußte selber nicht, daß Bertha ihr Leiden leichter nahm, als es wirklich war, oder vielleicht mehr vor ihm verbarg, als sie hätte thun sollen; aber sie fürchtete, dem Gatten das Haus dadurch noch ungemüthlicher zu machen, und trug deshalb lieber Alles allein.
Eines Abends, im Mai, saß Dr. Brethammer wieder am Kartentisch und zwar in einem Garten, etwa drei Viertelstunden Wegs von X. entfernt, wohin die kleine Gesellschaft bei schönem Wetter allabendlich auswanderte, als ein Bote hereingestürzt kam und ihm einen kleinen Zettel überreichte. Es standen nur wenige Worte darauf:
»Komm zu mir. – Bertha.« Aber die Worte waren mit zitternder Hand geschrieben, und den Mann überkam, als er sie gelesen, eine ganz sonderbare Angst.
Was konnte da vorgefallen sein? war Bertha krank geworden? daß sie fortwährend krank gewesen, wollte er sich gar nicht gestehen, aber der Bote wußte weiter nichts. Man hatte ihn auf der Straße angerufen und gut bezahlt, damit er so schnell wie möglich diesen Brief übergeben sollte. – Mitten im Spiel hörte der Doctor auf, ein Beisitzender mußte dasselbe übernehmen, und so rasch ihn seine Füße trugen, eilte er in die Stadt zurück. Und er hatte nicht zu sehr geeilt – unten im Hause traf er sein Mädchen, die eben aus der Apotheke kam und verweinte Augen hatte.
»Was um Gotteswillen ist vorgefallen – meine Frau –?«
»O gehen Sie hinauf, gehen Sie hinauf!« rief das Mädchen. »Sie hat so danach verlangt, Sie noch einmal zu sehen.«
Der Mann wußte nicht, wie er die Treppe hinauf kam. Der Arzt stand neben dem Bett, streckte ihm die Hand entgegen, drückte sie leise und verließ das Zimmer, und neben dem Bett kniete der Unglückliche, die kalte Hand seines treuen Weibes mit Küssen und Thränen bedeckend.
»Mein Kuno,« flüsterte die zitternde Stimme, »o wie lieb das von Dir ist, daß Du noch einmal gekommen bist – mir ist nur so kurze Zeit geblieben – das Alles brach so schnell herein.«
»Bertha, Bertha, Du kannst – Du darfst mich nicht verlassen,« schluchzte der Mann und schlang seinen Arm krampfhaft um sie.
»Du thust mir weh,« bat sie leise, »fasse Dich Kuno, es muß sein – ich muß fort von Dir und den Kindern – o sei gut mit ihnen, Kuno – sei nicht so rauh und heftig mehr – sie sind ja lieb und brav, und Du, – hast sie ja auch so lieb.«
Der Mann konnte nicht sprechen. In der leisen, mit bebender Stimme gesprochenen Bitte lag ein so furchtbarer Vorwurf für ihn, daß er seinen Gefühlen, seiner Reue, seiner Zerknirschung nicht mehr Worte geben konnte. Nur seine Stirn preßte er neben die Sterbende auf das Bett, und ihre Hand lag auf seinem Haupt und drückte es leise an sich.
»Kuno,« hauchte ihre Stimme nach einer langen Pause wieder.
»Bertha, meine Bertha!« rief der Mann, sein Antlitz zu ihr hebend, »fühlst Du Dich besser?«
»Leb wohl!«
»Bertha!« stöhnte der Unglückliche, »Bertha!«
»Mach mir den Abschied nicht schwer,« bat die Frau, »die Kinder habe ich schon geküßt, ehe Du kamst – ich wollte noch mit Dir allein sein. Laß mich ausreden,« flehte sie, »mir bleibt nicht mehr viel Zeit und das Sprechen wird mir schwer – leb wohl, Kuno – habe noch Dank – tausend Dank für all das Liebe und Gute, was Du mir gethan – sei mir nicht bös, wenn ich vielleicht –«
»Bertha, um Gottes willen, Du brichst mir das Herz –«
»Es ist gut – es ist vorbei – es wird Licht um mich – leb' wohl Kuno – sei gut mit den Kindern – auf Wiedersehen!«
»Bertha!« – – es war vorbei. Der Mann knieete neben der Leiche seiner Frau, und es war ihm, als ob das Weltall ausgestorben wäre und er allein und trostlos in einer Wüste stände.
Die nächsten drei Tage vergingen ihm wie ein Traum. Fremde Leute kamen und gingen ein und aus im Hause; er sah sie, wie man gleichgültige Menschen auf offener Straße vorbeipassiren sieht, und selbst als sie die Leiche in den Sarg legten, blieb er still und theilnahmlos. Die Kinder kamen über Tag zu ihm, hingen an seinem Hals und weinten; er preßte sie fest an sich und küßte sie und blieb dann wieder allein bei der Geschiedenen.
Endlich kam die Stunde, wo der Sarg fortgeschafft werden mußte, und jetzt war es, als ob er sich dem widersetzen wolle. Aber es traten eine Masse Leute in's Zimmer; Freunde von ihm dazu, die herzlich mit ihm sprachen und ihm zuredeten, daß er sich den Unglücksfall nicht so schwer zu Herzen nehmen solle. Er hörte ihre Trostgründe gar nicht, aber er fühlte, daß was hier geschah – eben geschehen mußte, und duldete Alles.
Nach dem Begräbniß kehrte er mit seinen Kindern nach Haus zurück, schloß sich hier in sein Zimmer ein und weinte sich recht von Herzen aus. Danach wurde ihm etwas leichter – und es ist ein altes und wahres Sprüchwort – die Zeit mildert jeden Schmerz, denn das Menschenherz wäre sonst nicht im Stande zu tragen, was nach und nach ihm aufgehoben bleibt. Die Zeit mildert jeden Schmerz, aber – die Zeit mildert und sühnt keine Schuld.
Den Verlust der Gattin hätte er ertragen – mit bitterem Weh wohl, es ist wahr, denn er hatte sie treu und innig geliebt, aber mit Jahr und Tag wäre die schwere Stunde des Verlustes, das Gefühl, nie mehr ihr treues Auge wieder schauen zu können, mehr in den Hintergrund getreten, und ihm nur die Erinnerung an ihre Liebe und Treue geblieben. Jetzt aber nagte ein anderes Gefühl an seinem Herzen, nicht allein das Gefühl der Schuld, nein auch die Reue über vergangene Zeit mit dem Bewußtsein, diese nie zurückbringen, das Versäumte nie, nie wieder nachholen oder ungeschehen machen zu können, und das bohrte sich ihm in's Herz, nicht mit der Zeit weichend, nein, mit den wachsenden Jahren fester und fester und unzerstörbarer.
Draußen die Welt merkte Nichts davon; er war immer ernst und abgeschlossen für sich gewesen, und daß er sich jetzt vielleicht noch etwas zurückgezogener hielt, konnte nicht auffallen, aber daheim in seiner jetzt verödeten Klause, da stieg die Erinnerung an die Geschiedene mahnend vor ihm empor, und je weniger Vorwürfe sie ihm je im Leben gemacht hatte, desto mehr machte er sich jetzt selber.
Wieder und wieder malte er sich die Stunden aus die er mit vollkommen gleichgültigen Menschen draußen bei den Karten oder hinter dem Wirthstische verbracht, während seine Bertha daheim mit einer wahren Engelsgeduld auf ihn wartete, und so lieb, so freundlich ihn empfing, wenn er endlich zurückkehrte. Wieder und wieder malte er sich die einzelnen Fälle aus, wo er rauh und heftig gegen sie gewesen, die nie ein rauhes und heftiges Wort zu irgend einer Erwiderung gehabt, und vor Scham und Reue hätte er in die Erde sinken mögen, wenn er sich jetzt überlegte, wie er damals immer – immer Unrecht gehabt, und das nur, wenn er es auch früher eingesehen, nicht früher hatte eingestehen mögen.
Aber das Alles kam jetzt zu spät – zu spät für ihn wenigstens. Er hatte einen Schatz gehalten, und mißachtet, bis er von ihm genommen wurde – keine Reue brachte ihn je zurück, und daß er sich jetzt elend und unglücklich fühlte, war nur die Strafe für eine begangene Sünde.
Für ihn war es zu spät – aber noch nicht für Viele, die diese Zeilen lesen. Viele, viele halten in gleicher Weise einen ähnlichen Schatz – und vernachlässigen, mißhandeln ihn ebenso, und es war der Zweck dieser Zeilen, daß sie sich den Moment jetzt, da es noch für sie Zeit ist, ausmalen möchten, wo die Gattin plötzlich, unvorbereitet abgerufen wurde, und die Reue des Mannes dann zu spät kam, und nie, nie wieder gut gemacht werden konnte.
In Alburg, einer nicht ganz unbedeutenden deutschen Stadt, lebte der Justizrath Bertling in glücklicher und zufriedener Ehe mit seiner jungen Frau.
Bertling war ein ruhiger, behäbiger Charakter, der die Welt gern an sich kommen ließ, und nichts weniger liebte als unnütze und unnöthige Aufregungen. Er hatte auch in der That besonders deshalb sein Junggesellenleben aufgegeben, um sein Haus gemüthlich zu machen, und sich – bisher vermißte – Bequemlichkeiten zu verschaffen; aber er liebte nichtsdestoweniger seine Frau von ganzem Herzen und fühlte sich glücklich in ihrem Besitz.
Auguste paßte auch vortrefflich für ihn, und zwar nicht etwa durch eine Aehnlichkeit ihres Charakters, sondern eher durch einen Gegensatz, durch welchen sich die beiden Gatten vollständig ergänzten, denn man darf ja nicht glauben, daß zu einer glücklichen Ehe stets gleiche Neigungen und Ansichten, gleiche Tugenden und Fehler gehören. Auguste war denn auch, während ihr Mann ganz entschieden dem praktischen und realen Leben angehörte, weit mehr schwärmerischer Natur, ohne jedoch im Geringsten überspannt zu sein. Unermüdlich thätig in ihrem Hausstand, beschäftigte sie sich aber auch gern mit Lectüre, und vorzüglich mit solcher, die einer ideellen Richtung angehörte. Sie phantasirte vortrefflich auf dem Piano, und liebte es sogar, selbst noch nach ihrer Verheirathung – was ihr Gatte entschieden mißbilligte – bei mondhellen Nächten im Garten zu sitzen.
Lebhaft und heiter dabei, mit einem warmen Gefühl für alles Schöne, wob sie bald mit diesen Tugenden und Vorzügen einen ganz eigenen Zauber um ihre Häuslichkeit, dem sich ihr Gatte nicht entziehen konnte und wollte, so daß er bald von anderen Frauen, ihren Männern gegenüber, als das Muster eines vortrefflichen Ehemannes aufgestellt wurde.
So hatten die jungen Leute – denn der Justizrath zählte kaum ein und dreißig und seine Frau erst zwanzig Jahr – etwa zwei Jahre in glücklicher, durch nichts gestörte Ehe gelebt, als eine schwere Krankheit – ein damals in Alburg umgehendes Nervenfieber – die junge Frau erfaßte und lange Wochen auf das Lager warf.
Ihr Mann wich in dieser Zeit fast nicht von ihrer Seite und nur die wichtigsten Geschäfte konnten ihn abrufen – ja oft versäumte er selbst diese und ganze Nächte hindurch wachte er neben ihrem Bett. Allerdings paßte ihm das nicht zu seinem sonst gewohnten, bequemen Leben, aber die Angst, sein Weib durch irgend eine Vernachlässigung zu verlieren, oder auch nur ihren Zustand gefährlicher zu machen, ließ ihn das Alles nicht achten, und so ward ihm denn auch endlich die wohlverdiente Freude zu Theil, die schlimmste Krisis überstanden und die geliebte Frau nach und nach genesen zu sehen. Aber es dauerte lange – sehr lange, bis sie sich wieder vollständig von dem überstandenen Leiden erholen konnte.
Der Körper gewann dabei noch verhältnißmäßig am Schnellsten die frühere Frische wieder, wenn auch die Wangen bleicher, die Augen glänzender schienen, als sie sonst gewesen. Sie hatte aber in ihrer Krankheit besonders viel phantasirt und dabei oft ganz laut und deutlich die tollsten, wunderlichsten Dinge gesprochen. Darum bedurfte es weit längerer Zeit, ehe der Geist wieder Herr über diese Träume wurde, die sich mit der Erinnerung früherer wirklich erlebter Scenen so vermischten, daß sie oft anhaltend nachdenken mußte, um das Wahre von dem Falschen und Eingebildeten oder nur Geträumten zu sondern und auszuscheiden.
Auch das gab sich nach und nach oder stumpfte sich doch wenigstens ab. Die Erinnerungen an diese Träume wurden unbestimmter, wenn auch einzelne von ihnen noch manchmal wiederkehrten und sie oft, mitten in der Nacht, plötzlich und ängstlich auffahren machten, ja sogar wieder bestimmte Bilder und Eindrücke annahmen.
Bertling behagte das nicht recht, denn er wurde dadurch ein paar Mal sehr nutzloser Weise alarmirt. Einmal – und noch dazu in einer sehr kalten Nacht – behauptete seine Frau nämlich bei ihrem plötzlichen Erwachen, es wäre Jemand im Zimmer und unter das Sopha gekrochen – sie habe es deutlich gehört, ja sogar den Schatten durch das Zimmer gleiten sehen. Bertling protestirte gegen die Möglichkeit, aber es half ihm nichts; um seine Frau nur endlich zu beruhigen, mußte er aufstehen und die Sache untersuchen, was er denn gründlich mit Hülfe einer Elle that. Natürlich fand er nicht das geringste Verdächtige, vielweniger einen dort versteckten Menschen, und Beide lachten nachher über dies kleine Abenteuer, – aber der Justizrath trug doch einen Schnupfen davon, der ihn sogar auf ein paar Tage zwang das Bett zu hüten.
Das andere Mal wollte Auguste im Nebenzimmer ein verdächtiges Flüstern gehört haben und wenn sich auch dieses nach sorgfältiger nächtlicher Untersuchung, die der Justizrath im Schlafrock, in der Linken das Licht, in der Rechten den Feuerhaken, vornahm, als unbegründet herausstellte, so wurde der Mann doch durch diesen verschiedentlich erweckten Verdacht endlich selber so mißtrauisch gemacht, daß er sich für weitere derartige Fälle stillschweigend rüstete. Er holte nämlich ein Paar alte, schon lange zur Rumpelkammer verurtheilte Sattelpistolen hervor, reinigte und lud sie und gab ihnen einen Platz in der obersten Schieblade seiner Kommode, um sie bei einer etwa wieder vorzunehmenden Patrouille wenigstens bei der Hand zu haben.
Wochen vergingen indeß, ohne daß sich eine derartige Scene wiederholt hätte, und Bertling beruhigte sich endlich vollständig mit dem Gedanken, daß jene Ideen nur die Nachwehen der überstandenen Krankheit gewesen seien; der jetzt kräftig gewordene Körper nun aber alle derartigen Phantasiebilder ausgestoßen, und für die Zukunft unmöglich gemacht habe.
Auguste war in der That wieder so frisch und lebenslustig als je geworden, wenn ihre Gesichtsfarbe auch etwas »intressanter« als früher geblieben sein mochte. Sie sah bleicher aus, als sie sonst gethan, aber keineswegs kränklich oder leidend und besuchte auch wieder gern und oft Gesellschaften und Bälle, wobei es manchmal einige Schwierigkeiten hatte, den etwas phlegmatischen Gatten für solche Vergnügungen mitzubegeistern.
Auch gestern Abend war in der »Erholung« ein brillanter Ball gewesen, auf dem Auguste bis vier Uhr morgens getanzt, während ihr Gatte, als treuer Gefährte, bis etwa um zwei Uhr Whist gespielt, und noch ein paar Stunden in einer bequemen Sophaecke verträumt hatte. Heute sollte dafür recht früh zu Bett gegangen werden, und die beiden Eheleute saßen Abends allein zusammen in der Stube am Theetisch.
Es war im Februar, aber ein ganz entsetzlich naßkaltes und stürmisches Wetter. Noch vor wenigen Tagen hatte harter Frost die Erde gedeckt; heute peitschte der Regen die kaum aufgethauten Fenster und die Windsbraut heulte zwischen den Giebeln und riß an Thüren und Fensterflügeln, wie zornig darüber, daß es einen Platz geben solle, in den man ihr, der Gewaltigen, den Eintritt verweigere.
Und wie das draußen durch die Straßen fegte! Der Justizrath war aufgestanden und ans Fenster getreten, denn die Unterhaltung wollte heute nicht recht fließen. Seine Frau war abgespannt, klagte über ein leichtes Kopfweh und Brennen in den Augen und war schon ein paar Mal, wie krampfhaft zusammengefahren – jedenfalls in Folge des gestrigen Balles.
Unten brannten die Gaslaternen, aber sie erleuchteten die Straße nicht, sondern warfen nur einen matten, flackernden Schein auf das schmutzige, von halbgeschmolzenem Eis bedeckte Pflaster, denn selbst die Glasscheiben schützten die Flammen nicht vor diesem Sturm, der sie rastlos hin und her wehte und manchmal auszulöschen drohte. Die Straße selbst war menschenleer, denn wer heute nicht nothgedrungen mußte, verließ wohl nicht das schützende Haus, um sich einem solchen Unwetter preiszugeben. Nur dann und wann floh ein einzelner später Wanderer entweder mit dem Wind durch aufspritzenden Schmutz und Schlamm dahin, oder kämpfte – den Oberkörper weit vorn über gebeugt – gegen den Sturm, und dem Wetter in die Zähne, seine beschwerliche Bahn.
In langen Zwischenpausen rollte auch wohl einmal ein festgeschlossener Wagen vorüber, aber das Geräusch desselben machte die gleich nachher wieder eintretende Oede nur noch fühlbarer, als daß es sie unterbrochen hätte.
Der Himmel war mit schweren jagenden Wolken bedeckt, und der hinter ihnen stehende Vollmond konnte nicht mehr thun, als daß er manchmal ihre riesigen, beweglichen Massen in einem matten Phosphorschimmer sichtbar werden ließ. Aber selbst dies geschah nur auf Momente, und jedes Mal darnach war es, als ob der Sturm nur Athem geholt und neue Kraft gewonnen hätte, um so viel rasender zum Kampf herbei zu eilen.
»Merkwürdig, wie das da draußen tobt und gießt,« brach der Justizrath endlich das lange Schweigen indem er den Rauch seiner Cigarre gegen die Fensterscheiben blies. »Das ist nun Februar mit Mondschein im Kalender wo man eigentlich eine hellkalte, ruhige Winternacht zu fordern hätte. 'S ist aber gerade, als ob die ganze Welt ihre Jahreszeiten umdrehte, denn eingehalten werden sie wahrlich nicht mehr zur rechten Zeit.«
Er hatte sich dabei wieder dem Tische zugedreht, und sah jetzt wie seine Frau mit gespannter Aufmerksamkeit auf dem Sopha saß, als ob sie auf irgend etwas horche. Zu gleicher Zeit drang, durch die Wände und Decke aber gedämpft, der Ton einer Menschenstimme zu ihnen herüber, die jedenfalls ein geistliches Lied in lang gezogenen, schnarrenden Tönen sang. Der Justizrath lachte.
»Das ist der verrückte Schuhmacher über uns, der jedesmal bei einem Sturm, aber besonders bei einem Gewitter, den Herr Zebaoth anschreit, und sich als größten Sünder des ganzen Weltalls denuncirt. Wenn diese Narrheit nicht auch ihre komische Seite hätte, könnte es Einem wirklich unheimlich dabei werden.«
Der Justizrath hatte Recht. Die Stimme klang in der That unheimlich in diesem Aufruhr der Elemente und wenn der Wind dazu durch den Schornstein heulte und in die Schlüssellöcher pfiff, gab es einen Dreiklang, der Einem hätte das Haar zu Berge treiben können. Die Frau schauderte auch in sich selbst zusammen, allein sie erwiderte kein Wort, und der Justizrath, dem ihr Zucken nicht entging, fuhr fort:
»Man kann nur gar nichts dagegen machen; nicht einmal polizeilich verbieten darf ich es ihm, denn geistliche Lieder zu singen ist eben nichts Strafbares, und daß der Mensch so eine gellende Stimme hat, lieber Gott, dafür kann er nichts; ich bezweifle sogar, daß er es selber weiß. Uebrigens – es ist ihm vielleicht in anderer Weise beizukommen, denn seine Frau soll sich auch mit Kartenschlagen und allem möglichen anderen abergläubischen Hocuspocus beschäftigen, und wenn ich darin einmal einen Halt dafür bekomme, dann wollen wir der Geschichte rasch ein Ende machen.«
»Was war das?« flüsterte die Frau und fuhr wie erschreckt halb von ihrem Sitz empor.
»Was? – das Klappern?« sagte der Justizrath, »wahrscheinlich hat wieder Jemand die Hausthür unten aufgelassen und was nicht festgenagelt ist, rasselt bei dem Sturm hin und her. Das wird eine vergnügte Nacht werden.«
»Es war mir als ob Jemand klopfe –«
»Nun jetzt kommt kein Besuch mehr,« lachte der Mann, »und wenn –«
In dem Augenblick war es, als ob der Sturm seinen ganzen Angriff nur auf diesen Punkt concentrirt hätte. Mit einem wahren Wuthgeheul fuhr es den Schornstein herunter, und riß draußen an den Fenstern. Zu gleicher Zeit flog die Stubenthür auf und der kalte Zug strömte voll ins Zimmer, daß die Lampe hoch und düster aufflackerte.
»Alle Wetter!« rief der Justizrath, erschreckt zur Thür springend und diese wieder schließend, »das wird denn doch beinah zu toll und das alte Nest so windschief, daß weder Fenster noch Thüren länger in ihren Fugen bleiben. Wenn der Wirth das nicht spätestens bis zum Frühjahr aus dem Grunde wieder herstellen läßt, kündige ich ihm wirklich das Logis. Man kann ja die Stuben auch fast gar nicht mehr erheizen.«
Die Frau war, als die Thür aufflog, allerdings erschreckt zusammengefahren, hatte sich aber nicht weiter gerührt und saß jetzt still und regungslos. Nur mit ihrem Blick strich sie langsam, als ob sie irgend Jemandem mit den Augen folge, von der Thür fort, durchs Zimmer, bis zu dem Stuhl am Ofen, auf dem er stier und fest haften blieb.
Ihr Mann hatte nicht gleich auf sie geachtet. Er zog die neben der Thür befindliche Klingel, um das Dienstmädchen herbeizurufen und befahl diesem dann nach der Hausthür hinunter zu sehen, wie auch den Hausmann zu bitten, daß er dieselbe heute Abend verschlossen halte. Man konnte es ja wahrlich hier oben im Hause vor Zug nicht aushalten.
Darnach trat er in die Stube zurück, und es fiel ihm jetzt auf, daß seine Frau noch keine Silbe über die Störung geäußert hatte. Wie er sich ihr aber zuwandte, konnte ihm auch unmöglich der stiere, staunende Blick entgehen, den Auguste noch immer unverwandt auf den einen Punkt gerichtet hielt. Unwillkürlich sah er rasch dort hinüber, es ließ sich aber nicht das geringste Außergewöhnliche erkennen. Dort stand nur ein leerer Stuhl, und darüber hing ein alter Kupferstich, der eine Prügelscene aus irgend einer holländischen Dorfschenke darstellte.
»Nun?« sagte er endlich und jetzt selber erstaunt – »was hast Du nur?«
Statt aller Antwort und ohne den Blick von dem festgehaltenen Punkt zu nehmen, hob die junge Frau langsam den rechten Arm in die Höhe und deutete mit dem Zeigefinger auf die Stelle.
»Ja aber mein Kind –« wiederholte der Mann bestürzt, denn er konnte sich das wunderliche Betragen der Frau nicht erklären – »ich begreife noch immer nicht, was Du willst. Was ist denn dort, und weshalb deutest Du auf den Stuhl und siehst so bestürtzt aus, als ob Dir ein Geist erschienen wäre?«
»Siehst Du ihn nicht?« sagte die Frau leise, ohne ihre Stellung auch nur um eines Haares Breite zu verändern.
»Wen denn?« rief Bertling halb ärgerlich und halb erschreckt noch einmal den Kopf nach der bezeichneten Richtung zu drehend.
»Den fremden Mann,« erwiderte die Frau, die Worte aber viel mehr hauchend als sprechend, »der dort auf dem Stuhl am Ofen sitzt.«
»Den fremden Mann? – aber Kind, ich bitte Dich um Gotteswillen.«
»Sprich nicht so laut. Wenn er die Augen zu mir hebt, ist es immer, als ob mir ein Messer durch die Seele ginge.«
»Aber wie sollte denn der hierher gekommen sein,« lachte Bertling gutmüthig – »sei doch vernünftig.«
»Wie die Thür aufging,« flüsterte die Frau »trat er herein, ging still am Ofen vorüber und setzte sich dort nieder – aber siehst Du ihn denn nicht?«
»Mein liebes Herz« suchte sie der Justizrath zu beschwichtigen – »wenn dort irgend Jemand auf dem Stuhle säße, so müßte ich ihn allerdings auch sehen, nicht wahr? Aber ich sehe Nichts als den leeren Stuhl. Komm Schatz, das ist wieder einer von Deinen häßlichen Träumen – schüttle ihn ab – Nun? – ist er noch da?« setzte er lachend hinzu, als die Frau wie warnend die Hand gegen ihn hob.
»Pst! sei ruhig!« sagte sie tonlos – »jetzt regt er sich. Er sieht Dich an.«
Bertling wurde es, dieser so bestimmt ausgesprochenen Ueberzeugung gegenüber, selber ein wenig unheimlich zu Muthe, wenn er auch recht gut wußte, daß das Ganze weiter Nichts sein konnte als eines jener verworrenen Traumbilder, von denen er gehofft hatte, daß sie bei seiner Frau nie mehr wiederkehren würden. Möglicher Weise hatten aber hier verschiedene Factoren zusammengewirkt, um den Geist der noch nicht vollständig Genesenen zu überreizen und krankhaft aufzuregen. Die Abspannung nach der gestern durchschwärmten Nacht – das heutige Unwetter mit dem fatalen Klappern der Fenster und Thüren, der heulende Sturm, der da oben seine Gesangbuchverse abwimmernde Schuhmacher, vielleicht ein flüchtiges Unwohlsein mit in den Kauf; wer konnte denn wissen wie das Alles auf sie eingewirkt hatte und es blieb deshalb vor allen Dingen nöthig, sie von der Nichtexistenz ihres Traumbildes thatsächlich zu überzeugen – nachher beruhigte sich ihre Einbildungskraft schon von selber.
»Aber mein liebes Herz,« sagte er endlich – »so mach' doch nur einmal diesem häßlichen Traum ein Ende – – –«
»Traum?« rief aber jetzt die Frau ungeduldig, wenn auch immer noch mit vorsichtig gedämpfter Stimme – »was Du nur mit Deinem Traum willst. Man träumt doch nur wenn man schläft, doch schlafe ich jetzt oder schläfst Du?«
»Aber ich selber sehe doch gar Nichts.«
»Nichts? Siehst Du denn nicht den kleinen grauen Mann dort neben dem Ofen sitzen, wie er den rechten Arm auf der Stuhllehne liegen hat und hier herüber sieht? Was er nur will. –«
»Aber meine liebe Auguste so sei doch vernünftig,« rief der Justizrath, durch den Zustand wirklich beängstigt. »So überzeuge Dich doch nur selber.« –
»Quäle mich nur nicht,« bat die Frau – »von was soll ich mich denn überzeugen? Sehe ich ihn denn nicht da sitzen? – Daß sie ihn nur hereingelassen haben.«
»Nun gut,« rief Bertling, der wohl einsah, daß bloße Vernunftgründe nicht das Geringste fruchten würden, »dann will ich Dir beweisen, daß Du Dich irrst, und nachher wirst Du mir doch Recht geben. Sitzt er noch da?«
Die Frau nickte mit dem Kopf.
»Schön,« sagte Bertling, indem er entschlossen um den Tisch herum ging und der bezeichneten Stelle zuschritt, »dann wollen wir doch einmal sehen wie er sich jetzt benimmt.«
Der Blick der Frau haftete aber nicht mehr auf dem Stuhl, sondern hob sich ein wenig und strich dann wieder langsam durch die Stube und zur Thür zurück.
»Nun sieh,« sagte ihr Mann jetzt, indem er sich – wenn auch mit einem unbehaglichen Gefühl auf denselben Stuhl niederließ, auf dem das Traumbild sitzen sollte – »Du wirst mir doch jetzt zugeben, daß der Stuhl vollkommen leer war, oder Dein grauer Herr müßte mich sonst auf dem Schooß haben. – Nun? – was siehst Du denn jetzt wieder nach der Thür?«
»Ja er ist fort,« lachte die Frau still vor sich hin. »Wie Du nur um den Tisch herumgingst, stand er auf, glitt wieder der Thür zu – und hinaus.«
»Aber die Thür ist ja noch fest zu. Er kann doch nicht –«
Bertling hatte kaum Zeit zuzuspringen und seine Frau aufzufangen, denn ihr gehobener Arm sank matt am Körper herab, und die ganze Gestalt schien in sich selbst zusammenzubrechen. Sie konnte nicht ohnmächtig sein, aber es war als ob nach der gehabten Aufregung eine völlige Erschlaffung ihrer Glieder einträte. Er hatte sie auch kaum aufgehoben und auf das Sopha gelegt, als sie in einen festen Schlaf fiel.
Der aber dauerte nicht lange. Schon nach kaum einer Viertelstunde wachte sie wieder auf und sah sich etwas verstört im Zimmer um.
»Hab ich mich denn hier zum Schlafen niedergelegt?« sagte sie leise und sinnend – »es muß ja schon spät sein.«
Bertling hielt es für das Beste, von dem stattgefundenen Anfall heute Abend gar nichts zu erwähnen, da er nicht wissen konnte, wie es die Leidende aufnehmen würde. Wenn sie morgen wieder frisch und munter war, wollte er es ihr erzählen, und sie lachte dann wahrscheinlich selbst darüber.
»Es ist halb zehn, mein Kind,« sagte er, »und Du bist müde von der gestern durchschwärmten Nacht. Ich glaube es ist das Beste wir gehen zur Ruhe.«
»Ja,« sagte die Frau nach einer kleinen Pause, in der sie, wie überlegend, vor sich niedersah – »ich muß wirklich hier eingeschlafen sein, denn ich habe schon geträumt. – Was einem doch dabei für wunderliche Dinge durch den Kopf ziehen. – Ich werde lieber schlafen gehen.«
Am nächsten Morgen schien Auguste die gestrige Erscheinung vollständig vergessen zu haben; sie erwähnte wenigstens kein Wort davon, und Bertling hatte sich in der Nacht ebenso überlegt, die ganze Sache weiter gar nicht zu berühren. Es würde sie nur beunruhigt haben, und konnte doch zu weiter nichts nützen. Er hätte freilich gern gewußt, ob ihr jede Erinnerung an die eingebildete Traumform verschwunden sei – und fast vermuthete er das Gegentheil, denn sie blieb an diesem Tag besonders nachdenkend, hörte manchmal mitten in ihrer Arbeit auf und sah eine Weile still vor sich nieder. Aber er mochte sie auch nicht fragen, denn hatte sie es wirklich vergessen, so mußte sie dadurch nur mißtrauisch gemacht werden.
Auch der Arzt, mit dem er darüber sprach, rieth ihm in keinerlei Weise auf jenen Zustand hinzudeuten. Solche Erscheinungen kämen – wie er meinte – im geistigen Leben der Frauen gar nicht so selten vor, stumpften sich aber, wenn man ihnen Ruhe ließe, gewöhnlich mit der Zeit von selber ab. Das einzige wirksame Mittel dagegen sei Zerstreuung – leichte, am besten humoristische Lectüre, geselliger Verkehr etc. – Sie dürfte nicht zuviel allein gelassen werden, dann wichen diese Zustände auch von selber wieder.
Bertling irrte sich übrigens, wenn er glaubte, jene eingebildete Erscheinung wäre spurlos und vielleicht unbewußt an seiner Frau vorübergegangen. Unmittelbar nach ihrer halben Ohnmacht besann sie sich allerdings nicht gleich darauf und schlief in ihrer damaligen Abspannung auch bald ein. Aber selbst schon in der Nacht kam ihr die Erinnerung des scheinbar Erlebten, und am nächsten Morgen, als das schon fast verschwommene Bild wieder klarer und deutlicher vor ihre Seele trat, malte sie sich die Einzelheiten mehr und mehr im Stillen aus, bis sie auch die kleinsten, unbedeutendsten Umstände wieder scharf und bestimmt herausgefunden hatte. – Aber sie erwähnte gegen ihren Gatten nichts davon.
Einmal wollte sie ihn nicht ängstigen, weil er jenem Phantasiegebild vielleicht zu viel Wichtigkeit beigelegt hätte, und dann – war sie selber noch nicht einmal mit sich im Klaren, ob es wirklich ein Phantasiegebild gewesen sei oder nicht. Sie fürchtete auch den Spott ihres Mannes, wenn sie ihm nur eine Andeutung gemacht hätte, daß sie eine solche Erscheinung für möglich halte, und grübelte dabei im Stillen weiter über das Geschehene.
In dieser Zeit, in welcher sie sich auch immer noch etwas angegriffen fühlte, ging sie wenig aus und da ihr Mann durch eine Masse dringender Geschäfte über Tag abgehalten wurde, ihr Gesellschaft zu leisten, las sie viel – jetzt aber am liebsten Bücher, die sich mit dem geistigen Leben des Menschen beschäftigten und oft Dinge besprachen, die ihr in ihrem überdieß aufgeregten und reizbaren Zustand weit besser fern gehalten wären. So kam ihr auch das Buch der Seherin von Prevorst in die Hände, und gab ihrem, schon außerdem zum Uebernatürlichen neigenden Sinn, nur noch mehr Nahrung.
Wenn es überhaupt auf Erden Menschen gab, die mit jener, von anderen Sterblichen nur geahnten Welt in unmittelbarer Verbindung standen, die mit ihren körperlichen Augen das sehen konnten was um sie her bestand, während es der Masse verborgen und unsichtbar blieb, warum sollte sie dann nicht auch zu diesen gehören können? – warum sollte gerade das, was sie deutlich und klar geschaut hatte, nur allein bei ihr eine Täuschung der Sinne gewesen sein? Daß aber etwas Aehnliches nicht allein möglich, sondern schon wirklich an den verschiedensten Orten geschehen sei, davon liefert ihr gerade die Seherin von Prevorst den sichersten Beweis, denn das Buch brachte beglaubigte Thatsachen, und immer fester wurzelte bei ihr die Ueberzeugung, daß auch sie zu jenen bevorzugten Wesen gehöre.
Keineswegs erweckte aber dies, sich nach und nach bei ihr bildende Bewußtsein, ihre Furcht vor dem, was ihr etwa noch begegnen könne. Im Gegentheil freute sie sich viel eher einer solchen Kraft, und beschloß sogar mit ruhigem kalten Blut Alles zu prüfen, was ihr in solcher Art an übernatürlichen Gebilden auftauchen und sichtbar werden sollte.
Trotz dieser geistigen Stärke, die sie gewonnen zu haben glaubte, litt aber doch ihr Körper unter der fast gewaltsam hervorgerufenen Aufregung, und wenn auch Bertling den wahren Grund nicht ahnte, konnte ihm doch nicht entgehen, daß seine Frau in der letzten Zeit sichtbar bleicher und leidender geworden sei. Er schrieb das aber dem vielen Stuben sitzen zu, und bat sie mehr an die frische Luft zu gehen und sich Bewegung zu machen. Ja er drang sogar in sie – was er sonst nie gethan – ihre verschiedenen Freundinnen einmal wieder aufzusuchen, und dann und wann auch bei sich zu sehen, da er mit Recht von einer solchen Zerstreuung wohlthätige Wirkung für sie hoffte.
Auguste, wenn sie auch nicht das Bedürfniß danach fühlte, beschloß doch seinen Wunsch zu erfüllen. Die langen Stunden, die sie daheim allein saß, wurden ihr selber zuletzt drückend, und außerdem hatte sie ja manche Bekannte, mit der sie recht gern verkehrte und wo sie wußte, daß sie gern gesehen war.
Am Besten von Allen hatte sie stets mit einer Jugendfreundin, der jetzigen Hofräthin Janisch, harmonirt; Pauline Janisch war eine prächtige junge Frau, aufgeweckt dabei und lebenslustig, und da sie in müssigen Stunden auch gern ein wenig schwärmte und ganz vorzüglich für alles Uebersinnliche leicht empfänglich war – ohne sich aber davon beherrschen zu lassen – fühlte sie sich zu dieser besonders hingezogen.
Pauline wohnte in der nämlichen Straße mit ihr; als sie dieselbe aber heute aufsuchte, bewegte sie sich in dem zwar kleinen, doch gewählten Kreis einer Caffeegesellschaft, wo allerdings nichts Uebersinnliches gesprochen wurde. Nur über die allergebräuchlichsten Themata solcher Zusammenkünfte fand eine Verhandlung statt, als da sind: Theater und was dazu gehört – nämlich das Privatleben der Bühnenmitglieder – Dienstboten-Noth, Sittengeschichte der Stadt mit Vorlage einzelner, besonders hervorzuhebender Beispiele, und Klagen über die Vergnügungen und Beschäftigungen der Männer außer dem Haus.
Erst das eintreffende Tageblatt gab der Unterhaltung – nachdem man zwei Verlobungsanzeigen und ein Heirathsgesuch gründlich betrachtet und erschöpft hatte – eine andere Wendung, und zwar durch einen wunderlichen Vorfall in der Stadt selber, der in dieser Nummer eine Erwähnung fand.
Ein in der äußersten Vorstadt gelegenes Haus nämlich, das früher einmal zu einer Knopffabrik benutzt worden, jetzt aber schon seit mehreren Jahren, durch das Scheitern des Unternehmens leer und verödet stand, war vor Zeiten in den Ruf gekommen, daß es dort umgehe, und man hatte sich Monde lang die merkwürdigsten Geschichten davon erzählt. Anderes kam aber dazwischen, das ganze Gebäude wurde außerdem nicht mehr benutzt, und da Niemand darin wohnte, schlief auch das Gerücht endlich ein, bis der jetzige Eigenthümer vor ganz kurzer Zeit die ziemlich vom Wetter mitgenommenen Baulichkeiten an einen Fremden verkaufte, der dort eine Kammergarnspinnerei anlegen wollte.
Jetzt erinnerte man sich allerdings wieder lebhaft der früheren Gerüchte, die aber in den ersten Wochen auch nicht die geringste Bestätigung fanden. Der Fabrikant war mit zwölf oder sechszehn Arbeitern dort eingezogen und die Leute, die größtentheils noch nicht einmal von den Gerüchten gehört haben konnten, hatten die Nächte, die sie dort zugebracht, vortrefflich und ungestört geschlafen. – Es dachte schon Niemand mehr an die früheren Spuckgeschichten.
Da erzählte man sich in der Stadt, sämmtliche Arbeiter in der Fabrick hätten ihrem Brodherren den Dienst gekündigt. Es wurde dem anfangs widersprochen, aber das Gerücht fand immer festeren Boden bis denn das Tageblatt heute die Nachricht ganz sicher bestätigte. Es geschah das durch die Aufforderung des Fabrikherrn, um neue Arbeiter herbeizurufen, da sich die bisherigen, wie hier gedruckt stand, »durch abergläubischen Unsinn hätten bewegen lassen, seinen Dienst zu quittiren.«
Es blieb jetzt keinem Zweifel mehr unterworfen, daß die bisherigen Gerüchte nicht gelogen haben konnten, sondern etwas Wahres an der Sache sein müsse und die Aufregung der kleinen Gesellschaft wurde noch erhöht, als sich plötzlich herausstellte, daß sie selbst in ihrer Mitte ein Individuum entdeckten, das ihnen von dem, jetzt jedes andere Interesse verschlingenden Platz die genauesten und direktesten Nachrichten geben konnte.
Es war das die Frau Präsident Cossel, eine schon ältliche Dame mit etwas rother Nase, aber einem sehr entschieden energischen Zug um den Mund. Die Dame hielt sich auch in der That nie bei Vermuthungen auf, sondern sprach stets was sie wußte oder nicht wußte auf das aller Bestimmteste aus. Widerspruch duldete sie nie und wenn man behauptet, daß die Haare den Charakter des Menschen darthun, so mochte das recht gut auch bei der Frau Präsidentin ihre Bestätigung finden, denn eben so starr und fest gerollt wie die vier falschen Locken, die sie vorgebunden trug, war ihr Gemüth.
»Es ist richtig – ich weiß es; es spukt drüben,« sagte sie, indem sie ihre Tasse zum vierten Mal zum Füllen reichte, und ihre schönen Zuhörerinnen zweifelten viel weniger an der, jetzt als unumstößlich festgestellten Thatsache, als daß sie sich wunderten, wie die Frau Präsidentin diesen doch sicher höchst interessanten Fall so lange still bei sich getragen und wirklich erst auf äußere Veranlassung von sich gegeben habe.
Die Frau Präsidentin wohnte aber dem besagten Fabrikgebäude schräg gegenüber, und konnte also, als allernächste Nachbarin desselben – wenn irgend Jemand, Näheres darüber wissen. Die Neugier der Damen war – hierbei sehr verzeihlich – auf das Höchste gespannt.
»Es ist richtig! Ich weiß es! Es spukt drüben!« – Gegen die Thatsache war Nichts mehr einzuwenden, und es blieb jetzt nur noch übrig die Einzelheiten derselben zu erfahren. Die Frau Präsidentin wußte Alles.
Die ersten Nächte waren die neu eingezogenen Leute vollkommen unbelästigt geblieben, nur zu bald aber brach plötzlich – und natürlich genau um Mitternacht – ein donnerndes Getöse im ganzen Hause los, daß den Insassen das Haar auf dem Kopfe sträubte. Ketten klirrten über die Treppen, die Balken krachten, als ob furchtbare Gewichte darauf geworfen würden, die Thüren schlugen auf und zu, die Fenster klapperten – und das bei sternenheller Nacht und todter Windstille – und ein unheimlich flackernder Schein zuckte aus einer Stube in die andere durch das ganze Haus. Das Nämliche wiederholte sich in den folgenden Nächten, nur mit der Zugabe, daß den Schlafenden die Decken weggerissen wurden. Allerdings glaubten die Leute anfangs an einen Schabernack, den ihnen muthwillige Gesellen spielten, und um kein Aufsehen zu erregen, wurde die Polizei heimlich von dem Unfug in Kenntniß gesetzt und traf in einer der Nächte kurz vor zwölf Uhr dort ein, um die Urheber auf frischer That zu ertappen. Ja ihr Aufpassen half ihnen nichts, denn erwischen konnten sie Niemand, während gerade ihnen am tollsten mitgespielt wurde. Es schlug ihnen die Hüte vom Kopf und die Stöcke aus der Hand, und die Leute verließen – wie die Frau Präsidentin behauptete – in Entsetzen das Haus.
Von der Nacht an waren die übrigen Arbeiter aber auch nicht mehr zu halten, und obgleich der Fabrikherr – aus leicht zu errathenden Gründen – ein tiefes Stillschweigen über alles Vorgefallene beobachtete, und die Leute selber sich ebenfalls schienen das Wort gegeben zu haben, nichts über die Sache verlauten zu lassen, war doch das allein der wahre Thatbestand.
»Und woher es die Frau Präsidentin wußte?« – wie die etwas muthwillige Frau Hofräthin Janisch frug. – Die Dame blitzte sie zwischen den Locken hervor mit einem wahren Dolchblick an.
»Woher ich das weiß, Frau Hofräthin?« wiederholte sie, und absichtlich mit etwas gehobener Stimme – »ich denke, ich habe meine Quellen – selbst wenn mein Mann nicht Präsident wäre, Sie wissen doch wohl – oder sollten es wenigstens wissen, daß es zwischen Ehegatten kein Amtsgeheimniß giebt. – Aber noch mehr,« setzte sie plötzlich mit geheimnißvollem Ton hinzu, »Sie wissen doch, daß sich der junge Belldan gestern Morgen um's Leben gebracht hat?«
»Ei gewiß,« sagte die Frau Kreisräthin Barthels, »das ist ja stadtbekannt. Er soll ein paar falsche Wechsel ausgestellt haben, und wie ihn sein Vater aus dem Hause stoßen wollte, ging er in das Holz und schoß sich eine Kugel durch den Kopf.«
»Bah,« sagte die Frau Präsidentin mit einer wegwerfenden Bewegung und ganz entschiedener Betonung der nächsten Worte, »der junge Mensch hat nie falsche Wechsel gemacht, aber aus Uebermuth die letzte Nacht in dem Spukhaus geschlafen und darnach – konnte er nicht länger leben.«
Was er dort gesehen hatte vermochte die Frau freilich selber nicht zu sagen, aber schon die Andeutung war interressant genug, um eine weitere Besprechung derselben außer Frage zu stellen und das Gespräch, einmal in diese Bahn gelenkt, blieb nun natürlich in dem nämlichen Gleis und ging von dem Spukhaus auf Gespenstergeschichten und Erscheinungen im Allgemeinen über.
Der Abend rückte dabei heran, aber die Gesellschaft protestirte von der kleinen lebhaften Hofräthin dabei warm unterstützt, gegen die Forderung der Präsidentin, Licht herbeizuschaffen. Es ging Nichts über eine solche Unterhaltung in der Dämmerung und als jetzt die Gaslaterne draußen auf der Straße angezündet wurde, und ein ordentlich unheimliches Streiflicht in das düstere Zimmer warf, rückten die Damen nur desto näher zusammen und die Frau Kreisräthin behauptete, es gäbe doch gar kein wonnigeres Gefühl in der Welt, als »wenn es Einen so ein Bischen gruselte.«
Nur Auguste, Bertlings Frau, hatte bis jetzt keinen Antheil an dem Gespräch genommen, als vielleicht hie oder da einmal eine Frage einzuwerfen, aber deshalb mit nicht weniger Aufmerksamkeit den verschiedenen Geschichten gelauscht, die bald von dieser bald von jener Dame zum Besten gegeben wurden und natürlich alle mit jener übersinnlichen Welt in Verbindung standen.
In Alburg wurde auch noch das Tischklopfen und die Geisterschrift mit Hülfe einer besondern mit Bleistift verbundenen Vorrichtung leidenschaftlich getrieben und viele Damen beschäftigten sich heimlich damit – öffentlich durften sie es ja nicht, weil man das vollkommen Nutzlose dieser Experimente lange eingesehen hatte, und die auslachte, die es trotzdem noch ausübten. Eine Masse von Beispielen wurden jetzt von entzifferten Briefen, von Zahlen, Nachrichten Entfernter, Schutzgeistern und all derartigen Ergebnissen der Zauberkunst erwähnt, dann sprang das Gespräch auf Ahnungen, Doppelgänger, Erscheinungen über und die Frau Präsidentin erklärte mit ihrer gewöhnlichen Bestimmtheit – was die Thatsache außer allen Zweifel stellte, – daß ihr erster Mann – Gott habe ihn selig – ihr zwei Mal schon erschienen sei: Das erste Mal als sie sich wieder verlobt habe. – Das zweite Mal bei – einer andern Gelegenheit – sie sagte nicht welcher – und beide Male in seinem grauen Schlafrock mit rothem Futter und hellblauen Quasten wie »der Selige« immer daheim gekleidet gewesen.
Auguste lehnte schweigend in ihrem Fauteuil, anscheinend theilnahmlos, aber mit ihrem Geist in reger Thätigkeit, und vor ihrem innern Auge stieg die Gestalt wieder empor, die sie an jenem Abend gesehen hatte. – Aber sie erwähnte kein Wort davon; es war das ihr eigenes Geheimniß, und es kam ihr der Gedanke, als ob sie jenes Wesen erzürnen müsse, wenn sie sein Dasein einem andern Menschen verrathe. So ganz mit sich selber beschäftigte sie sich dabei, daß sie ordentlich erschrak, als die kleine Gesellschaft plötzlich aufbrach, um in ihre eigenen Wohnungen zurückzukehren. Es war sieben Uhr und damit Zeit geworden daheim den Herren Ehegatten das Abendbrot zu bereiten. Der Caffee hatte überhaupt, durch solch Gespräch gewürzt, weit länger gedauert, als das sonst je der Fall gewesen.
Die lebhafte Scene des Ankleidens und Abschiednehmens verdrängte jetzt auch bald all die düsteren Gedanken und Bilder, die den ganzen Abend über dem kleinen Kreis geschwebt. Es war Licht gebracht, und die Meisten hatten schon lange den ganzen heraufbeschworenen Spuk vergessen, – Auguste nicht.
Sie nahm Abschied von der Freundin und ging die wenigen Schritte nach ihrer eigenen Wohnung, kaum etwas mehr als über die Straße hinüber, – allein immer aber war ihr Geist noch mit jenem Traumbild beschäftigt, das ihr durch die Unterhaltung da drüben wieder in ihrer ganzen Schärfe vor der Seele stand.
Still und schweigend stieg sie die Stufen hinan – die Vorsaalthür war offen – auf dem Vorsaal selbst brannte kein Licht, aber die Gasflamme der Treppe warf ihren Schein durch das über der Thür angebrachte Fenster. Sie wußte bestimmt, ihr Mann war jetzt zu Haus und in seiner Stube, wo er gewöhnlich bis zum Abendbrot allein arbeitete. Sie ging durch ihr eigenes Zimmer nach seiner Thür, öffnete dieselbe, stand einen Moment in sprachlosem Entsetzen auf der Schwelle und brach dann mit einem halblautem Schrei und ehe ihr Gatte zuspringen und sie halten konnte, bewußtlos in sich zusammen.
Der Justizrath war an dem Abend beschäftigt gewesen, eingelaufene Actenstücke durchzusehen und zu erledigen. Die Zeit verging ihm dabei so rasch, daß er die Abwesenheit seiner Frau – die er überdies bei Freund Janisch gut aufgehoben wußte, gar nicht bemerkte.
Im Verlauf seiner Arbeit war er auch genöthigt gewesen ein paar Briefe zu schreiben, die noch vor sieben Uhr auf die Post mußten. Er hatte das Mädchen damit fortgeschickt und saß wieder über seinen Papieren als es draußen klingelte und er selber hingehen mußte, um zu öffnen.
Draußen stand ein Fremder – anständig angezogen, ein kleiner schmächtiger Mann in dunkler Kleidung, der mit dem Hute in der Hand sehr bescheiden frug, ob er die Ehre habe den Herrn Justizrath Bertling zu sprechen.
»Mein Name ist Bertling, was steht zu Ihren Diensten?«
»Würden Sie mir gestatten ein paar Worte allein an Sie zu richten?« frug der kleine Mann, wie schüchtern, und seine weiten, glänzenden Augen hafteten dabei fragend auf dem Justizrath.
Diesem war die Störung eben nicht besonders gelegen, aber der Fremde sah so bescheiden und anspruchslos aus und seine Frage klang so dringend, daß er ihm die Bitte auch nicht abschlagen mochte.
»Dann sein Sie so gut und kommen Sie mit in mein Zimmer,« sagte der Justizrath und ging seinem, etwas späten Besuch voran, ohne jedoch die Vorsaalthür wieder zuschließen.
Im Studierzimmer Bertlings brannte die Lampe etwas düster, aber doch hell genug, um die Züge des Fremden ziemlich deutlich erkennen zu können. Er hatte eine hohe Stirn, von der er das schwarze schon dünn gewordene Haar zurückgestrichen trug, und ein paar große sprechende Augen, aber seine Züge sahen bleich und leidend aus; die Backenknochen traten auffallend hervor und in dem ganzen Wesen des Mannes lag etwas Scheues und Gedrücktes. Der Justizrath nöthigte ihn durch eine Bewegung mit der Hand auf das Sopha, aber der Fremde schien diese Ehre abzulehnen, denn er ließ sich auf dem nächsten Stuhl am Ofen nieder, und zwar seitwärts, um dem Justizrath sein Gesicht zuzukehren und dabei legte er den rechten Arm über die Lehne des nämlichen Stuhles.
Bertling entging übrigens nicht, daß sich sein Besuch durch irgend etwas gedrückt fühlte, und theils aus angeborener Gutmüthigkeit, theils mit dem Wunsch die unwillkommene Störung so viel als möglich abzukürzen, sagte er freundlich:
»Und mit was kann ich Ihnen dienen?«
Der Fremde hatte noch keine Zeit zum Antworten gehabt, als nebenan eine Thür ging und da Bertling, der recht gut wußte, daß das Mädchen kaum von der Post zurück sein konnte, eben aufstehen wollte, um nachzusehen, wer da wäre, öffnete sich die Seitenthür – seine Frau stand auf der Schwelle, hob langsam den rechten Arm und brach dann, ohne weiter ein Wort, eben nur einen halblauten Schrei ausstoßend, besinnungslos zusammen.
In tödtlichem Schreck sprang ihr Gatte zu, hob ihren Kopf auf sein Knie, strich ihr in seiner Herzensangst die Stirn, rieb ihr die Schläfe und rief sie mit allen Liebesnamen, um sie zum Leben zurückzubringen. Als das aber Alles vergeblich blieb, hob er sie auf und trug sie auf ihr eigenes Sopha im nächsten Zimmer und sprang dann zurück nach der Lampe. Er wollte dabei den Fremden bitten, ihm sein Anliegen ein ander Mal vorzutragen, aber der Stuhl war leer – der Fremde fort – er hatte ihn gar nicht weggehen sehen, aber auch jetzt wahrlich keine Zeit, sich weiter um ihn zu bekümmern. Er trug die Lampe hinüber und rieb Stirn und Schläfe seiner Frau mit Eau de Cologne.
Glücklicher Weise kam auch jetzt das Mädchen, das recht frisches Wasser bringen mußte, und nach wenigen Minuten schlug Auguste die Augen wieder auf. Anfangs freilich schaute sie noch scheu und wie furchtsam umher, als sie sich aber in ihrem eigenen Zimmer fand, beruhigte sie sich bald und lehnte jetzt nur noch etwas bleich und erschöpft im Sopha.
»Aber ich bitte Dich um Gottes Willen, liebes Kind, was hattest Du denn nur auf einmal« frug jetzt Bertling durch diese plötzliche Ohnmacht nicht wenig beunruhigt – »warst Du denn schon vorher unwohl?«
»Nein,« sagte die Frau leise, »mir fehlte gar nichts, aber – als ich in Dein Zimmer kam –«
»Ich habe heut Nachmittag sehr viel geraucht,« ergänzte Bertling, »und der rasche Wechsel aus der frischen Luft in den Tabacksqualm hat vielleicht den Unfall herbeigerufen.«
»Nein,« wiederholte die Frau mit dem Kopf schüttelnd, »das – das war es nicht – ich war vollkommen gesund – an den Tabacksgeruch bin ich ja auch gewöhnt, aber – als ich in Dein Zimmer trat sah ich –«
»Aber was denn mein süßes liebes Herz,« bat der Mann, »so sprich doch nur; Du ängstigt mich ja noch viel mehr durch Dein Schweigen. – Was sahst Du denn?«
»Denselben grauen Mann,« hauchte die Frau mit kaum hörbarer Stimme »– den ich bei dem Sturm in Deinem Zimmer sah –«
»Aber liebes, liebes Kind,« bat der Mann erschreckt und zugleich beunruhigt, daß seine Frau jenes Traumbild, wie er im Stillen gehofft, nicht etwa vergessen habe, sondern noch voll und scharf im Gedächtniß trage – »sieh nur, was für einen tollen Streich Dir Deine Einbildungskraft gespielt hat. Das war ja doch kein Gespenst, was Du gesehen, sondern ein Mensch von Fleisch und Blut, der kurz vor Dir zu mir kam und mich zu sprechen wünschte.«
»So hast Du ihn diesmal auch gesehen?« rief die Frau rasch und erschreckt.
»Gewiß,« lächelte Bertling, »und er ist auch gar nicht wie ein Geist eingetreten, sondern hat draußen geklingelt und ich habe ihm selber die Vorsaalthür aufgemacht.«
»Und ist er noch bei Dir?« rief die Frau, sich rasch im Sopha aufrichtend.
»Nein,« lautete die Antwort – »wie Du ohnmächtig wurdest, muß er fortgegangen sein, denn als ich nach der Lampe zurücksprang, war er verschwunden.«
»Verschwunden?«
»Nun hoffentlich nicht in die Luft,« lachte Bertling, aber doch etwas verlegen, denn es fiel ihm jetzt auf einmal ein, daß der Fremde in seinem ganzen Wesen wirklich etwas Räthselhaftes gehabt habe, und dabei merkwürdig rasch aus dem Zimmer gewesen sei. Wie war er nur hinausgekommen, denn er erinnerte sich nicht gesehen oder gehört zu haben, daß die Thür geöffnet wurde, was ihm doch kaum hätte entgehen können – »er – er wird fortgegangen sein, als er sah, daß ich mich nicht weiter mit ihm abgeben konnte.«
Seine Frau erwiderte nichts darauf. Sie schaute eine ganze Weile sinnend vor sich nieder, endlich sagte sie leise:
»Er saß auf dem nämlichen Stuhl, auf dem ich ihn damals gesehen habe – genau so wie in jener Nacht, mit dem rechten Arm auf der Lehne – er trug den nämlichen grauen Rock und sah eben so bleich aus und hatte dieselben großen geisterhaften Augen.«
»Aber liebe, liebe Auguste« bat der Mann, jetzt wirklich beunruhigt, »so gieb Dich doch nur nicht solch thörichten kindischen Gedanken hin, und mische nicht eine wirklich menschliche, wahrscheinlich sehr unbedeutende Persönlichkeit, mit Deinen Traumbildern zusammen. – Uebrigens,« setzte er rasch hinzu – »muß ihm ja auch die Rieke auf der Treppe begegnet sein, denn sie kam unmittelbar nach Dir – Rieke!« rief er dann zur Thür hinaus – »Rieke!«
»Jawohl –«
»Kommen Sie einmal einen Augenblick herein.«
Die Gerufene steckte den Kopf zur Thür herein.
»Soll ich was?«
»Wie Sie vorhin zurückkamen, ist Ihnen da Niemand im Haus begegnet?«
»Doch, Herr Justizrath –«
»Nun siehst Du, liebes Kind – und wie sah er aus?«
»Er!« sagte die Köchin etwas erstaunt – »es war die Heßbergern, dem Schuhmacher seine Frau von oben, die noch einmal unten in den Laden ging, um für ihren Mann Branntewein zu holen. Der kriegt Abends immer Durst, und sie trinkt dann auch mit.«
»Unsinn,« brummte der Justizrath – »was geht mich die Frau an – ich will wissen, ob Sie im Haus keinem Mann begegnet sind?«
»Einem Mann?«
»Einem anständig gekleideten Herrn in einem grauen oder dunklen Rock, der hier oben bei mir war?«
»Ich habe Niemanden gesehen,« sagte das Mädchen erstaunt mit dem Kopf schüttelnd »und so lange ich hier oben bin, ist auch Niemand fortgegangen, denn ich habe die Thür gleich hinter mir zugeriegelt und die Kette vorgehangen.«
Die Frau nickte leise vor sich hin, Bertling aber, ärgerlich darüber, daß er eine verfehlte Zeugenaussage veranlaßt, rief:
»Nun, denn ist er vorher gegangen; die Rieke kann ihm auch eigentlich gar nicht begegnet sein, denn er muß doch eine ganze Weile früher die Stube verlassen haben. So viel bleibt sicher, in den Boden hinein ist er nicht verschwunden – gehen Sie nur wieder an Ihre Arbeit Rieke – es ist gut –.«
Die Rieke zog sich an das Heiligthum ihres Heerdes zurück, griff dort die Wassereimer auf und ging nach dem Brunnen hinunter, um frisches Wasser zu holen. Unten im Haus begegnet ihr des Schusters Frau und das Mädchen, mit dem eben bestandenen Examen noch im Kopf sagte zu dieser:
»Haben Sie denn vorhin einen Mann gesehen, Heßbergern, der von uns herunterkam, wie Sie aus dem Haus gingen?«
»Ich? – nein,« sagte die Frau – »was für einen Mann?«
»Ja ich weiß es auch nicht, er soll einen grauen Rock angehabt haben.«
»Und was ist mit dem?«
»Gott weiß es,« brummte die Rieke – »er muß auf einmal weggewesen sein und Niemand hat ihn fortgehen sehen, und jetzt glaub ich, ängstigt sich die Frau darüber und ist sogar ohnmächtig geworden. – Na Nichs für ungut« und damit schwenkte sie mit ihren Eimern zur Thür hinaus.
Der Justizrath ging indessen ein paar Mal im Zimmer auf und ab, aber er dachte dabei nicht an den vollkommen gleichgültigen Fremden, sondern der Zustand seiner Frau beunruhigte ihn immer ernsthafter. So reizbar und erregt war sie noch nie gewesen, und während er geglaubt, daß sie all die alten Phantasieen längst und für immer vergessen hätte, fühlte er jetzt daß sie dieselben grade im Gegentheil still bei sich getragen und darüber vielleicht die ganze Zeit gebrütet habe. Wie um Gottes Willen konnte er ihr das nur aus dem Kopf bringen!
»Es ist doch merkwürdig« sagte die Frau endlich nach längerer Pause, »daß zwei Personen denselben Gegenstand gesehen haben sollten.«
»Gegenstand – Thorheit!« brummte aber der Justiz-Rath. »Thu' mir den einzigen Gefallen, liebes Kind, und sprich nicht von Gegenständen, wo es sich um eine einfache vollkommen gleichgültige Persönlichkeit handelt. Gedulde Dich nur eine kurze Zeit, der Mensch kommt wahrscheinlich morgen früh wieder zu mir, und dann erlaubst Du mir wohl, daß ich ihn Dir vorstellen darf –«
»Und bist Du wirklich überzeugt, daß es ein Mensch war?«
»Aber Auguste –«
»Hast Du ihn berührt?«
»Ich? – hm ich kann mich nicht besinnen – es war auch keine Gelegenheit dazu da, denn einem fremden Menschen giebt man doch nicht gleich die Hand – aber er ist doch wie andere Sterbliche hereingekommen.«
»Hat er sich selber die Thür aufgemacht?«
Der Justizrath sann einen Augenblick nach – »Nein« sagte er dann, »das konnte er nicht, sie war ja verschlossen – aber er muß sie selber wieder aufgemacht haben, um hinaus zu kommen; das wirst Du mir doch zugeben.«
Auguste war aufgestanden, ging auf den Justizrath zu, legte ihren rechten Arm um seinen Nacken und ihr Haupt an seine Brust lehnend, sagte sie leise und bittend:
»Sei nur nicht böse, Theodor, sieh ich kann ja Nichts dafür; und ich – mir möchte das Herz selber darüber brechen, aber – ich fühle es deutlich in mir, es ist eine Ahnung aus jener Welt, gegen die wir nicht ankämpfen können, mag sich der Verstand auch dawider sträuben wie er will. – Wenn mir der graue Mann zum dritten Mal erscheint – so sterb ich.«
»Auguste, ich bitte Dich um Gottes Willen« rief jetzt der Mann in Todesangst, indem er sie fest an sich preßte – »gieb nicht solchen furchtbaren Gedanken Raum. Sieh Kind, man hat ja Beispiele, daß Menschen nur allein einer solchen fixen Idee erlegen sind, wenn sie sich erst einmal in ihrem Geiste festgesetzt hatte. Erst war Trübsinn, dann Schwermuth die Folge und im Körper nahm Schwäche zu, je mehr jene Idee im Hirn seine verderblichen Wurzeln schlug.«
»Aber Du sprichst immer von einer Idee, Theodor,« sagte die Frau – »habe ich denn die Gestalt nicht zwei Mal deutlich gesehen, so deutlich, wie ich Dich selber hier vor mir sehe?«
»Das zweite Mal, ja, das gebe ich zu,« sagte der Mann in verzweifelter Resignation, und jetzt nur bemüht diese Phantasie durch Vernunftgründe zu bannen – »denn das unglückselige Menschenkind, das gerade in der Zeit zu mir kommen mußte – und ich wollte, Gott verzeih mir die Sünde, er hätte sonst was gethan – saß wirklich da. Aber das erste Mal, liebes gutes Herz mußt Du mir doch zugeben, daß es nur das Spiegelbild einer Deiner Träume gewesen sein kann.«
Die Frau antwortete nicht, schüttelte aber nur leise und kaum merklich mit dem Kopf.
»Sieh, liebes Kind,« fuhr Bertling, der die Bewegung an seiner Schulter fühlte, fort: »Du wirst mir doch zugeben, daß ein Geist – wenn wir wirklich annehmen wollen, es gäbe derartige Wesen, denen verstattet sei auf der Erde herumzuwandern und Unheil anzustiften – körperlos sein muß, also nur ein Hauch, verdichtete Luft höchstens. Was aber keinen Körper hat, kann man ja doch nicht sehen, wenigstens nicht mit unseren Augen, die ja doch auch nur körperlich sind.«
»Ich antworte Dir darauf durch ein anderes Beispiel,« sagte die Frau, sich von seiner Schulter emporrichtend. »Wir wissen doch, daß die Sterne am Himmel stehen, aber trotzdem sieht sie das Menschenauge am Tag nicht, mag der Himmel so rein sein wie er will – aber man hat Vorrichtungen für das Auge, wodurch man sie doch erkennen kann, und warum sollte nicht das Auge einzelner Menschen so beschaffen sein, daß sie einzelne Dinge sehen können, die Anderen unsichtbar bleiben.«
»Aber die Sterne sind auch Körper, liebes Herz, und noch dazu ganz respectable.«
»Du weichst mir aus,« rief die Frau, »und ich leugne, daß unser Auge nur allein für Körper geschaffen ist. Der Schatten ist kein Körper und wir sehen ihn doch.«
»Aber nur, wenn er auf einem Körper liegt, doch nie allein und selbständig in der Luft.«
»Ich habe auch jene Gestalt nicht frei in der Luft gesehen,« sagte die Frau, die fest entschlossen schien, den einmal gefaßten Gedanken auch festzuhalten, »sondern vielleicht nur auf dem Hintergrund der Wand –«
»Du bringst mich noch zur Verzweiflung, Herz, mit Deinem Gespenst,« sagte Bertling, während ein tiefer Seufzer seine Brust hob – »wer Dir nur in aller Welt die tollen Gedanken in den Kopf gesetzt haben kann.«
»Und nennst Du eine feste, innige Ueberzeugung mit diesem Namen, Theodor?«
»Meine liebe Auguste,« flehte der Mann dringend, »mißverstehe mich nicht. Ich will Dir ja bei Gott nicht wehe thun, aber wie in aller Welt soll ich Dich nur überzeugen, daß – daß Du Dich wirklich und wahrhaftig geirrt und ein körperliches Wesen mit einem geistigen in eine ganz unglückselige Verbindung bringst? – Aber das hätte Alles nichts zu sagen, Herz, denn von diesem Irrthum hoff' ich Dich mit der Zeit zu überzeugen; nur Das beunruhigt mich, und noch dazu in der peinlichsten Weise, daß sich bei Dir eine – ich weiß gar nicht, wie ich es nennen soll – eine solche unglückselige Idee festgesetzt hat, die Du für eine Ahnung nahen Todes hältst. Wenn Du mich nur ein ganz klein wenig liebst, so bekämpfe diesen Gedanken mit allen Kräften, und von dem Uebrigen fürchte ich Nichts für Dich. Willst Du mir das versprechen?«
»Aber lieber Theodor,« fragte die Frau – »kann man denn eine Ueberzeugung noch bekämpfen?«
Der Mann seufzte recht aus voller Brust. Endlich sagte er:
»Dagegen läßt sich nicht streiten, und wir können nur hoffen, daß der liebe Gott noch Alles zum Besten wendet. Ich selber werde mir aber jetzt die größte Mühe geben, um Dir den Patron, der mich heute Abend mit seinem Besuch beehrte, als ein sehr körperliches Wesen vorzustellen, und wenn ich erst einmal eine Flanke Deines Luftschlosses niedergerannt habe, dann hoffe ich auch mit dem Uebrigen fertig zu werden. Bis dahin bitte ich Dich nur um eins und das mußt Du mir versprechen: Dich nicht absichtlich trüben Gedanken hinzugeben, sondern sie, so viel das nur irgend in Deinen Kräften steht, zu bewältigen – das Uebrige findet sich dann. Thust Du mir den Gefallen?«
»Von Herzen gern,« sagte die Frau seufzend, »ach Du weißt ja nicht, Theodor, wie furchtbar schmerzlich mir selber das Gefühl ist und ich will ja gern Alles thun um es zu ersticken.«
»Dann wird auch noch Alles gut gehen, mein Kind,« erwiderte mit erleichtertem Herzen Bertling, indem er sie an sich zog und küßte – »und nun gilt es vor allen Dingen, meinen flüchtig gewordenen Besuch aufzutreiben, und da mir die Polizei zu Gebote steht, hoffe ich, daß das nicht so schwer sein soll.«
»Ich fürchte, Du wirst ihn nicht finden,« sagte Auguste.
»Das laß meine Sorge sein,« lächelte ihr Mann – »und nun wollen wir Thee trinken.«
Bertling stand sonst nicht gern vor acht Uhr Morgens auf, und liebte es seinen Caffee im Bett zu trinken. Er gehörte auch zu den ruhigen Naturen, die sich durch kein Ereigniß, durch keine Sorge den Nachtschlaf rauben lassen, sondern Alles, was sie bedrücken oder quälen könnte, über Tag abmachen. Heute war er aber doch schon um sieben Uhr auf den Füßen und vollständig angezogen, und ging jetzt selber aus, um vor allen Dingen der Polizei eine genaue Personalbeschreibung seines gestrigen Besuches zu geben, wie ebenfalls eine gute Belohnung auf dessen Ausfindigmachung zu setzen. Natürlich durfte der Mann, wenn wirklich gefunden, durch Nichts belästigt werden; nur seinen Namen und seine Wohnung wollte er wissen, und ihn dann selber aufsuchen.
Die Polizei entwickelte auch eine ganz besondere Thätigkeit, denn zehn Thaler waren nicht immer so leicht zu verdienen. Nach allen Seiten breiteten sich ihre Diener aus und hatten auch in der That schon den ersten Tag in den verschiedenen Revieren einige zwanzig Leute aufgetrieben, die der gegebenen Beschreibung allenfalls entsprachen, den Justizrath aber in nicht geringe Verlegenheit setzten. Er bekam nämlich dadurch einige zwanzig Adressen von ihm völlig unbekannten Leuten, die in den verschiedensten Theilen der Stadt sämmtlich die 3te oder 4te Etage zu bewohnen schienen und wohl oder übel mußte er seine Wanderung danach beginnen, denn zu sich citiren konnte er sie natürlich nicht.
Wie man sich denken kann, fand er auch die Hälfte von ihnen nicht einmal beim ersten Besuch zu Haus, und wenn er sie fand, sah er sich wieder und wieder getäuscht, denn der Rechte war nicht unter ihnen. Vier Tage lang aber setzte er mit unverdrossener Mühe seine Versuche fort, immer aufs Neue getäuscht, aber immer auf's Neue hoffend, daß ihm der nächste Name den Gesuchten vorführen würde.
Dabei hegte er noch immer den stillen Glauben, daß der Mann, der an jenem Abend jedenfalls etwas von ihm gewollt, vielleicht sogar von selber wiederkehren würde – aber er sah sich darin ebenso getäuscht, wie in seinen eigenen Versuchen ihn aufzufinden. Der räthselhafte Mensch schien wie in den Boden hinein verschwunden.
Am Meisten beunruhigte ihn dabei seine Frau. Sie wußte recht gut, wen er die ganzen Tage über, mit Vernachlässigung aller seiner nothwendigsten Geschäfte, gesucht habe; nie aber, wenn er körperlich ermattet und geistig abgespannt zum Mittags- oder Abendbrot heim kam, frug sie ihn nach dem Resultat seiner heutigen Suche – sie schien das schon vorher zu wissen, sondern nickte nur immer still und schweigend mit dem Kopf, als ob sie hätte sagen wollen: Es ist ja natürlich – wie kannst Du ein Wesen in der Stadt finden wollen, das gar nicht auf der Erde körperlich existirt – und dem Justizrath war es dann jedesmal, als ob er wie ein Maschinenwerk frisch aufgezogen wäre, und die Zeit gar nicht erwarten könne, in der er wieder anfinge zu laufen.
Er war heute Nachmittag aber erst um vier Uhr fortgegangen, weil einige nothwendige Arbeiten erledigt werden mußten, um sieben Uhr hatte er außerdem eine Sitzung und seiner Frau gesagt, daß er heute nicht vor neun Uhr nach Hause kommen könne – wäre er aber im Stande sich früher loszumachen, so thäte er es sicher. Dann ging er jedoch zu Janisch hinüber und bat die junge Frau, ob sie heute Nachmittag nicht ein wenig die Freundin besuchen könne. Sie sei heute so merkwürdig niedergeschlagen, und da er durch nothwendige Geschäfte abgehalten wäre, würde es ihm eine große Beruhigung sein, wenn sie ihr Gesellschaft leisten wollte.
Die stets heitere und freundliche Hofräthin versprach das von Herzen gern, ja meinte, sie hätte es sich heute sogar schon selber vorgenommen gehabt, Augusten aufzusuchen, da sie – einen Scherz vorhabe bei dem sie ihre Mitwirkung wünsche.
»Sie sind ein Engel,« sagte der Justizrath mit einer, an ihm ganz ungewohnten Galanterie, denn durch die freundliche Zusage schien sich ihm eine Last vom Herzen zu wälzen, und vollständig versichert, daß seine Frau jetzt für den Nachmittag und Abend Zerstreuung und also keine Zeit habe, ihren trüben Gedanken nachzuhängen, ging er mit Ernst und gutem Willen auf's Neue an die undankbare Arbeit, eine unbestimmte Persönlichkeit, von der er weder Namen, Stand noch Wohnung wußte, in der ziemlich weitläufigen Stadt aufzusuchen.
Die Hofräthin Janisch hielt indessen Wort; kaum eine halbe Stunde später war sie drüben bei der Freundin und hatte ihr so viel zu erzählen und plauderte dabei so liebenswürdig, daß Auguste das sonst so schwer auf ihr lastende Gefühl endlich ganz vergessen zu haben schien. Bertling würde seine herzinnige Freude daran gehabt haben, wenn er sie in dieser Zeit hätte sehen können.
Indessen war die Dämmerung hereingebrochen. Eben aber wie Licht gebracht werden sollte, sagte Pauline:
»Hör einmal, liebes Herz, ich – ich habe etwas vor, bei dem Du mir helfen sollst – willst Du? – es ist nur ein Scherz.«
»Von Herzen gern, was ist es?«
»In Eurem Hause wohnt eine Frau – nun wie heißt sie doch gleich – eine Frau Heßling oder –«
»Heßberger? Das ist die Schuhmachers Frau, gleich über uns. Meinst Du die?«
»Ganz recht. Ihr Mann arbeitet für uns und die Frau – aber Du darfst mich nicht auslachen, Schatz – die Frau soll ganz vortrefflich Karten schlagen können.«
Auguste lächelte. »Ich habe auch schon davon gehört,« nickte sie leise vor sich hin, »und der Mann hat dabei die komische Eigenschaft, daß er das für eine Kunst des Teufels hält, es der Frau aber doch nicht verbietet, weil sie Geld damit verdient. Um aber das Unheil abzuwenden, das dadurch auf ihn fallen könnte, singt er jedes Mal, so lange die Frau mit solch unheiliger Beschäftigung hantirt, im Nebenzimmer und mit lauter Stimme geistliche Lieder, die in der Nähe schauerlich klingen müssen, denn schon aus der oberen Etage herunter haben sie uns oft zur Verzweiflung getrieben. Bei Gewittern macht er es ebenso.«
»Das stimmt Alles,« lächelte Pauline, »und jetzt wollte ich Dir nur mittheilen, Schatz, daß ich gesonnen bin, Dich diesen musikalischen Ohrenschmaus ganz in der Nähe genießen zu lassen.«
»Mich,« frug Auguste erstaunt – »was hast Du denn vor?«
»Nichts weniger« lachte Pauline, »als mir von Frau Heßberger heute Abend die Karten legen zu lassen und in dem dunklen Buche des Schicksals zu lesen, während ihr Gatte durch ein paar passende oder unpassende Gesangbuchverse die bösen Geister fern hält.«
»Aber Pauline –«
»Und Du sollst mich begleiten,« rief diese muthwillig – »ich will mich nicht umsonst schon die ganze Woche darauf gefreut haben.«
Auguste schüttelte nachdenkend mit dem Kopf – es war ihr nicht ganz recht; die Aufforderung kam ihr aber auch so unerwartet und plötzlich, daß sie nicht gleich einen richtigen Grund wußte, sie abzulehnen.
»Man soll doch eigentlich nicht mit den Geheimnissen der Zukunft sein Spiel treiben« sagte sie endlich leise.
»Aber Herzensschatz,« lachte Pauline, »Du glaubst doch nicht etwa, daß Frau Heßberger, die den ganzen Tag über Schuhe einfaßt, oder ihrem Gatten den Pechdrath zu seiner Arbeit zurecht macht, Abends eine wirkliche Sybille würde und mehr von den Geheimnissen der Zukunft errathen könnte, als wir anderen armen Sterblichen auch?«
»Wozu dann aber einen solchen Versuch machen?«
»Verstehst Du denn keinen Spaß?« lachte Pauline – »ich freue mich wie ein Kind darauf, ihre geheimnißvollen Zubereitungen zu sehen und die Orakelsprüche, während ihr Gatte den Teufel fern hält, – aus ihrem Munde zu hören. So was erlebt man doch nicht alle Tage, und bequemer wie wir es von hier aus haben, bekommt man es auch sobald nicht wieder.«
»Aber was sollen die Leute dazu sagen, wenn wir hinauf zu der Frau gehen?«
»Und wer braucht es zu erfahren? – Deine Rieke schickst Du ein paar Wege in die Stadt, wobei sie immer so viel für sich selber zu besorgen hat, daß sie doch vor einer Stunde nicht wieder kommt, und in der Hälfte der Zeit haben wir unseren Besuch gemacht.«
»Und wenn die Frau selber darüber plaudert?«
»Das thun derartige Leute nie, denn sie wissen, daß sie sich dadurch ihre ganze Kundschaft vertreiben würden. Wo es aber ihren eigenen Nutzen betrifft, sind solche Menschen klug genug. Thu mirs nur zu Gefallen, Auguste; ich habe mich schon so lange darauf gefreut und kann doch nicht gut allein hinauf gehen.«
»Wenn es mein Mann erfahren sollte, würde er böse darüber werden – ich kenne Bertling.«
»Lachen wird er,« rief Pauline »wenn wir ihm nachher die ganze Geschichte erzählen – es giebt ja doch einen Hauptspaß und Du darfst ihn mir nicht verderben. Außerdem brauchst Du Dir ja auch gar Nichts prophezeihen zu lassen, wenn Du irgend glaubst, daß es Deinem Mann – den ich übrigens für vernünftiger halte – fatal sein könnte. Du gehst nur als Ehrendame mit, setzest Dich ruhig auf einen Stuhl – oder wenn der nicht da sein sollte, auf einen Schusterschemel und hörst zu.«
Auguste lächelte still vor sich hin, als sie sich das Bild im Geist herauf beschwor, die muntere Freundin ließ auch mit Bitten nicht nach, und wußte alle ihre Bedenken so geschickt und mit solchem Humor zu beseitigen, daß sie sich endlich nicht länger weigern konnte und mochte, und Pauline sprang jetzt, fröhlich in die Hände schlagend ordentlich wie ein Kind, das ein neues Spielzeug bekommen hat, in der Stube herum.
Ein Auftrag für Rieke, um diese zu entfernen, war bald gefunden und kaum sahen sie das Mädchen über die Straße gehen, als die beiden Frauen ihre Tücher umhingen und in die dritte Etage hinanstiegen.
Nach der Frau Heßberger aber brauchten sie nicht lange zu fragen, denn gleich rechts von der Treppe war die enge, dunkle Küche, in der die Dame eben beschäftigt schien die Abendsuppe anzurichten. Eine gewöhnliche Küchenlampe verbreitete ein mattes trübes Licht in dem niederen, eben nicht besonders sauber gehaltenen Raum, in den aber des Schusters Frau ganz vortrefflich hineinpaßte und sich auch wohl darin zu fühlen schien.
Wie sie die leichten Schritte auf der Treppe hörte, nahm sie aber mit der Rechten, während die Linke noch immer in der Suppe rührte, die Lampe auf und hielt sie über den Kopf, um darunter hinweg besser erkennen zu können, wer der fremde Besuch sei. – Unerwartet kam er ihr ja überhaupt nicht, denn es geschah gar nicht etwa so selten, daß sie von den verschiedensten Damen der Stadt und zwar von Damen jeden Ranges in der Gesellschaft, gerade um diese Zeit des Abends, oder auch noch später, aufgesucht und mit ihrer Kunst in Anspruch genommen wurde – und sie verdiente mehr damit wie ihr Mann, trotz allem Fleiß, mit Ahle und Draht.
Auguste schämte sich fast ein wenig des Besuchs und hielt sich noch immer scheu zurück, ihre keckere Freundin aber, die überhaupt die Leitung des Ganzen übernommen hatte, trat auf die Frau zu und wollte eben ihr Anliegen vortragen, als die Kartenschlägerin sie jeder Ansprache überhob, indem sie mit einer Höflichkeitsbewegung, die als ein Mittelding zwischen Knix und Verbeugung gelten konnte, sagte:
»Nun, da kommen Sie ja doch noch, Frau Hofräthin; habe Sie schon eine halbe Stunde erwartet, und dachte beinah es wäre etwas dazwischen gekommen. Bitte treten Sie näher Frau Justizräthin – freut mich ja recht sehr, Sie auch einmal oben bei mir zu sehen.«
Auguste erschrak beinahe, denn sie stand noch in dem halbdüsteren Vorsaal und zum Theil von der Freundin gedeckt, Pauline aber wandte ihr halblachend den Kopf zu und sagte dann:
»Schön, meine liebe Frau Heßberger, daß Sie uns erwartet haben; dann ist wohl auch bei Ihnen Alles hergerichtet?«
»Alles, beste Frau Hofräthin, Alles,« erwiderte aber Frau Heßberger, ohne sich außer Fassung bringen zu lassen. »Das versteht sich doch aber auch von selbst, wenn man so vornehmen Besuch erhofft; die Stühle sind schon zum Tisch gerückt; habe weiter nichts drin zu thun, wie nur die Lichter anzuzünden.«
Pauline wurde selber ein wenig stutzig, die Frau ließ ihr aber keine Zeit zu weiteren Fragen und nur mit den Worten: »Erlauben Sie, daß ich vorangehe« – öffnete sie die Thür zur Werkstätte, in welcher ihr Gatte und ein Lehrjunge hinter ein paar erleuchteten Glaskugeln arbeiteten.
Der alte Heßberger, eine kleine untersetzte Gestalt mit einer schwarzen, Gott weiß wie alten, fettglänzenden Mütze und eine Brille auf, kauerte auf seinem Schemel und schaute, als sich die Thür öffnete, von seiner Arbeit gar nicht auf. Mürrisch sah er vor sich nieder, und machte auch nicht den geringsten Versuch selbst zu irgend einer Art von Gruß. Der Besuch galt nicht ihm, so viel wußte er recht gut, weshalb also brauchte er sich darum zu kümmern.
Auch selbst der Lehrjunge warf nur einen raschen und scheuen Blick nach den Damen hinüber, denn der gegenüber sitzende Meister beobachtete ihn über die Brille weg dann und wann, und ein, auf dem offenen Gesangbuch dicht neben ihm liegender Knieriem mochte wohl eine versuchte Neugier von seiner Seite schon manchmal auf frischer That ertappt und bestraft haben.
Es ist möglich, daß das mürrische Temperament des Alten die einzige Ursache dieser Gleichgültigkeit war, viel wahrscheinlicher aber, daß er es eher aus Rücksichten für den Besuch selber unterließ, von diesem die geringste Notiz zu nehmen, oder nehmen zu lassen, denn er wußte recht gut, daß die Damen, die solcher Art bei Nacht und Nebel zu seiner Frau kamen, nicht erkannt und am Liebsten gar nicht gesehen sein wollten – warum ihnen also nicht darin willfahren, da sie doch immer gut bezahlten.
Die Frau bog indessen rasch zwischen einem Haufen der verschiedensten Leisten und Lederstücke und dem Ofen hindurch nach der dort befindlichen Thür, öffnete diese und entzündete zwei auf dem mit einer alten verwaschenen Caffeeserviette bedeckten Tisch stehende Talglichter; Auguste und Pauline waren ihr indeß gefolgt, und ehe sie die Thür hinter ihnen schloß, rief sie nur noch dem Lehrjungen zu, die Suppe für den Meister herein zu holen und drehte dann den Schlüssel im Schloß um.
Pauline, während ihre Freundin kaum aufzuschauen wagte, sah sich indessen in dem kleinen Gemach um, das allerdings nicht glänzend genannt werden konnte, aber doch sehr zu seinem Vortheil gegen Küche und Werkstätte abstach.
Es war ein nicht sehr großes Gemach, das allem Anschein nach zum Wohn- und Schlafzimmer der Eheleute diente. Zwei Betten standen – Fuß- und Kopfende an der einen Wand, durch nichts als ein paar alte Decken von buntem Kattun verhüllt. An den Fenstern hingen aber Gardinen, ja standen sogar zwei Blumentöpfe mit den ersten Kindern des Frühlings, Primeln und Hyacinthen, und an beiden Seiten des kleinen Spiegels, aus dem eine Ecke fehlte, waren ein paar schauerliche Oelgemälde angebracht, die jedenfalls »Herrn und Madame Heßberger« im Sonntagsstaat – vielleicht als junge Eheleute darstellen sollten. Waren sie indessen mit der Zeit so nachgedunkelt, oder verhüllte die jetzige Düsterheit des Gemachs ihre vielleicht sonst sichtbaren Umrisse: in diesem Augenblick ließ sich auf dem einen Bilde Nichts als die Contour eines Kopfes und ein riesiges Jabot erkennen, während auf dem anderen nur die weit ausflügelnde Haube der Frau und eine Hand sichtbar blieb, in der sie ein weißes Taschentuch emporhielt.
Unter dem Spiegel hingen noch ein paar Silhouetten in unkennbaren Formen.
Daß die Frau übrigens auf einen Besuch vorbereitet gewesen, wenn sie das überhaupt nicht jeden Abend war, zeigte in der That die ganze Vorrichtung des Tisches neben dem für die beiden Gäste zwei gepolsterte Stühle mit altmodischen hohen Lehnen standen und auf diese nöthigte auch die Frau Heßberger ihren Besuch und sagte freundlich:
»Setzen Sie sich, meine Damen, Sie brauchen mir gar Nichts vorher zu sagen, ich weiß schon ohnedies weshalb Sie hergekommen sind – bitte nehmen Sie Platz, und wir wollen dann gleich einmal versuchen ob ich Ihnen helfen kann.«
»Und wissen Sie wirklich was ich Sie fragen will, Frau Heßberger?« frug Pauline, die in dem Augenblick doch etwas von ihrer vorherigen Ausgelassenheit verloren zu haben schien.
»Warum sollt ich nicht, Frau Hofräthin, warum sollt ich nicht und wie könnte ich mich unterfangen Zukünftiges voraus zu sagen, wenn ich nicht das Vergangene und wirklich Geschehene wüßte –«
»Aber ich begreife nur nicht –«
»Lieber Gott« sagte des Schusters Frau, mit einem frommen Blick nach oben, »wir begreifen Manches nicht auf dieser Welt, Frau Hofräthin, und leben in unserer Unschuld so in den Tag hinein. – Wenn man aber ein Bischen tiefer sehen lernt, Frau Hofräthin, dann bekommt man eine andere Meinung von der Sache – Gottes Wege sind wunderbar.«
Es war ordentlich als ob das das Stichwort für ihren Gatten im Nebenzimmer gewesen wäre, denn in demselben Moment begann er mit seinem schauerlich näselnden Ton, das gewöhnliche Präservativmittel gegen den bösen Feind und dessen Einwirkungen, irgend ein endloses Lied aus dem Gesangbuch. Der würdevolle Vortrag wurde aber heute leider durch etwas gestört; der Schuhmacher hatte nämlich noch keine Zeit bekommen, um seine Suppe zu essen, und daß er Beides mit einander zu verbinden suchte, that dem Einen Eintrag und ließ ihn das Andere nicht recht genießen – aber es mußte eben gehen.
Die Frau, ohne auf den plötzlichen Gesangsausbruch auch nur im Mindesten zu achten, holte indessen von dem kleinen Tisch unter dem Spiegel, auf dem einige vergoldete Tassen, zwei blaue Glasvasen mit Schilfblüthen und ein paar grell bemalte Gypsfiguren standen, ein Spiel ziemlich oft gebrauchter Karten, mit denen sie sich in einer Art von geschäftsmäßiger Eile auf einen hohen Rohrschemel setzte und dabei links und rechts auf die Lehnstühle wieß, um die Damen dadurch einzuladen Platz zu nehmen.
Pauline hatte im Stillen gehofft in dem Zimmer der Kartenprophetin eine Menge wunderbarer und unheimlicher Dinge zu finden, die mit ihrer Kunst in Verbindung standen – einen schwarzen Kater z. B. der schnurrend neben der Wahrsagerin saß und auf ihre Worte horchte – düstere Tapeten vielleicht und einen Todtenkopf von magischen Zeichen umgeben. Aber von alledem zeigte sich nichts, denn der bunt gemalte Gipspapagei und Napoleon I., die auf dem Tisch unter dem Spiegel standen und sich – beide von einer Größe – einander starr ansahen, konnten doch wahrlich nicht als derartige Symbole gelten. Das ganze Zimmer zeigte überhaupt Nichts, was nicht auch in der Wohnung jedes anderen Handwerkers zu finden gewesen wäre – die Karten selber vielleicht ausgenommen.
Die Aufmerksamkeit der kleinen lebendigen Frau wurde aber bald ausschließlich auf die Karten gelenkt, denn die Frau Heßberger begann jetzt in feierlicher Weise sie zu mischen, und dazu tönte der, nur zeitweise von der Suppe unterbrochene Gesang des Schusters dazwischen – und wie laut die alte Schwarzwälder Uhr an der Wand da mit hinein tickte.
Endlich war das Spiel gehörig vorbereitet und die Frau sagte plötzlich, indem sie die Karten der rechts von ihr sitzenden Hofräthin zum Abheben hinlegte:
»Also Sie wollen vor allen Dingen wissen, meine verehrte Frau Hofräthin, ob Sie etwas Gestohlenes wieder bekommen werden und – wo der Dieb zu suchen ist.«
»Das allerdings« lächelte die kleine Frau – »aber es wird doch wohl nöthig sein zu sagen was es ist.«
»Das sehen wir ja aus den bunten Blättern« erwiderte ruhig die Kartenschlägerin.
»In der That?«
Die Frau antwortete nicht mehr; sie legte in der gewöhnlichen Weise ihre Karten auf den Tisch und während sie sich mit den gerade nicht überreinlichen Fingern der rechten Hand das Kinn strich, betrachtete sie die Kombination der verschiedenen Blätter mit leisem und prüfendem Kopfnicken.
Augustens und Paulinens Blicke hafteten jetzt wirklich mit Spannung auf den Zügen der Alten, die aber ihre Gegenwart ganz vergessen zu haben schien, wie sie selber auch in diesem Augenblick gar nicht mehr das schauerliche Lied des Schuhmachers in der nächsten Stube hörten.
Endlich brach die Alte das Schweigen und sagte:
»Jawohl – ich hab es mir gleich gedacht – das kann nur ein Hausdieb sein – aus dem Secretair heraus –«
»Hat sie Recht?« frug Auguste nur mit einem Blick über den Tisch hinüber die Freundin und diese nickte ihr halbverstohlen zu.
»Nur ein Hausdieb – aber er hat es schlau angefangen – da die Treff Sieben mit der Caro sechs, die den Coeur Buben in der Mitte haben – – aber der Bube selber war es nicht, doch hat er es fortgetragen und es wird nie wieder zum Vorschein kommen –«
»Ja aber beste Frau Heßberger,« sagte Pauline mit einem schelmischen Blick auf die Künstlerin – »daß es Jemand fortgetragen hat, wußte ich schon vorher, und jetzt möchte ich nur erfahren wer; dann ist es doch vielleicht möglich dem gestohlenen Gegenstand auf die Spur zu kommen.«
»Nicht so leicht,« sagte die Frau kopfschüttelnd – »da liegt es, die Caro zehn sagt es deutlich – ein Corallen-Halsband mit goldenem Schloß – das ist leicht versteckt. – Aber der Dieb hat seine Spuren zurückgelassen – da gehen sie Treff zwei, Pike zwei, Treff vier, Pike vier, – deutlich hin zu der Pike-Dame – ich sehe ein Mädchen mit grünem Band auf der Haube, die etwas in die Taschen steckt und dann langsam die Straße hinunter geht. –«
»In den Karten?«
»Dort unten an der Ecke trifft sie mit dem Coeurbuben zusammen – aber den kann ich nicht deutlich erkennen,« fuhr die Frau fort, ohne den Einwurf zu beantworten. »Er ist zu weit entfernt.«
»Also die Pike-Dame mit dem grünen Band auf der Haube,« nickte Pauline lächelnd, »da wäre schon eine ziemlich deutliche Spur gefunden, denn ich kenne eine junge Dame, die ein grünes Band auf der Haube trägt. – Wenn wir nur den Coeur Buben ausfindig machen könnten, dem sie das Gestohlene gegeben hat.«
»Das ist nicht so leicht,« sagte die Kartenschlägerin, die ihre Blätter indessen aufmerksam betrachtet hatte – »hier zieht sich eine lange Linie von Treff und Pike zwischen ihm und Ihrer Karte durch, Frau Hofräthin. – Er kann nur durch die Pike-Dame mit dem grünen Band ermittelt werden.«
»Der Wink ist deutlich genug, und ich werde ihn befolgen,« lächelte die Hofräthin – »herzlichen Dank Frau Heßberger – Sie haben mir gezeigt, daß Sie in Ihrer Kunst Meisterin sind« und dabei drückte sie der geschmeichelten Schusters Frau einen harten Thaler in die Hand.
»Und soll ich Ihnen auch sagen, was Sie wissen möchten, Frau Justizräthin?« wandte sich die Kartenkünstlerin jetzt an Auguste, die ein wohl aufmerksamer, aber bis dahin doch theilnahmloser Zuschauer des Ganzen gewesen war. Sie hatte dabei die über den Tisch gelegten Karten wieder zusammengerafft und fing von Neuem an zu mischen.
»Ich danke Ihnen sehr,« sagte aber Auguste, fast ängstlich, »ich – ich habe meine Freundin nur begleitet.«
»Und doch liegt Ihnen etwas auf dem Herzen, Kind, was Sie um Alles in der Welt davon herunter haben möchten,« fuhr die Frau geschwätzig fort, ohne sich irre machen zu lassen. – »Da heben Sie nur einmal ab, die alte Heßbergern weiß oft mehr, als andere Leute zu glauben scheinen.«
Augusten war es, als ob ihr Jemand einen Stich ins Herz gegeben. – Oh, wohl lag ihr etwas auf dem Herzen – aber was wußte die Frau davon – was konnte sie davon wissen.
»Heben Sie nur ab, Frau Justizräthin,« drängte die Alte »– es ist ja nichts Unrechtes, was man damit thut. – Was wir vom Schicksal nicht erfahren sollen, erfahren wir doch nicht, so viel Mühe wir uns auch damit geben.«
»So thu ihr doch den Willen,« lächelte Pauline – »oder soll ich für Dich abheben?«
»Nein, das muß die Frau Justizräthin selber thun,« wandte aber die Frau ein; »sonst bekommen wir nachher Confusion. So ists recht – danke Ihnen Madamchen; nun wollen wir gleich einmal sehen, ob wir Ihnen nicht helfen können« und in der alten Weise die Karten auslegend, bedeckte Sie mit ihnen den Tisch, schüttelte dabei aber, wie über die Reihenfolge erstaunt, langsam mit dem Kopf.
Auguste hatte fast willenlos ihren Wunsch befolgt, aber das Herz schlug ihr dabei so fieberhaft, die Brust war ihr so beengt, sie hätte jetzt Gott weiß was darum gegeben, nur von hier fort zu sein.
»Hm, hm, hm, hm« murmelte da die Alte vor sich hin, indem sie die Karten prüfend betrachtete und immer stärker dazu mit dem Kopf schüttelte, »das ist ja eine ganz wunderliche Geschichte – da geht Ihr Lebensfaden so glatt durch das halbe Spiel, und da kommt auf einmal ein fremder Mann mit einem grauen Rock dazwischen –.«
Auguste wollte sich krampfhaft von ihrem Stuhl heben, aber sie vermochte es nicht – willenlos brach sie zurück; Pauline jedoch bemerkte zu ihrem Schrecken, daß Leichenblässe ihre Züge deckte, und sie kaum im Stande war, sich noch aufrecht zu halten. Pauline behielt auch in der That nur eben noch Zeit zuzuspringen und sie zu halten, sonst wäre sie unfehlbar von ihrem Stuhl herabgestürzt. Trotzdem wurde sie nicht ohnmächtig; es schien nur als ob eine plötzliche Schwäche über sie gekommen sei und sie bat mit leiser Stimme um ein Glas Wasser. Darnach fühlte sie sich etwas gestärkt, aber jetzt bestand Pauline wieder darauf, daß sie des Schuhmachers Wohnung augenblicklich verließen – machte sie sich doch längst schon insgeheim Vorwürfe darüber, die Freundin überredet zu haben, sie hier herauf zu begleiten.
»Fühlst Du Dich stark genug Herz, mit mir fortzugehen?« frug sie leise, indem sie ihren Arm um Augusten legte.
»Ja, ja,« rief diese rasch und heftig, indem sie sich ohne Hülfe aufrichtete – »komm fort – mir ist es als wenn ich hier sterben müßte.«
»Bitte leuchten Sie uns,« bat Pauline, indem sie dabei Augusten umfaßt hielt.
»Aber beste Frau Hofräthin.«
»Wenn mir die Freundin hier krank wird, mache ich Sie dafür verantwortlich,« rief die kleine Frau heftig. – »Nehmen Sie Ihr Licht, rasch!«
Sie sprach das mit einem so befehlenden, ja drohenden Ton, daß die bis dahin noch so feierliche Frau Heßberger ganz beweglich wurde. Sie griff auch rasch ein Licht auf und während ihr Mann mit dem geleerten Suppennapf neben sich, noch an den letzten Versen seines endlosen Liedes brüllte, schritten die beiden Damen durch die Werkstätte. Aber erst draußen auf der Treppe, als Auguste wieder freie und frische Luft schöpfte, athmete sie auf und schweigend stiegen die Freundinnen in die untere Wohnung, wo sich die Justizräthin erschöpft in einen Stuhl warf.
»Aber lieber Herzensschatz,« nahm hier Pauline das Wort, nachdem sie sich vorher überzeugt hatte, daß sie allein im Zimmer waren – »wie, um Gottes Willen hat Dich das Gewäsch der alten Kaffeeschwester auch nur im Mindesten aufregen können. Du bist doch vernünftig genug an derlei Unsinn nicht wirklich zu glauben.«
»Wir hätten gar nicht hinauf gehen sollen,« sagte Auguste leise – »ich wußte vorher wie es werden würde.«
»Aber soll man sich denn nicht einmal derartige Dinge mit ansehen? Ist es denn nicht interessant zu beobachten wie die Menschen einander betrügen und wie sie betrogen sein wollen?«
»Aber hat sie Dir denn nicht von Deinem verlorenen Schmuck gesagt? Woher konnte Sie das wissen?«
»Woher?« lachte Pauline, »als ob derartiges Volk nicht überall herum spionirte, und mit ein klein wenig Mutterwitz begabt, leicht im Stande wäre, irgend etwas Glaubbares hinzustellen. Die Phantasie der Gläubigen trägt freiwillig dazu bei und der Ruf einer Prophetin ist fix und fertig. – Denkst Du nicht, daß sie bei meinen Dienstboten schon herum gehorcht hat, ja zehn gegen eins möchte ich wetten, daß ein' oder die andere Person schon bei ihr gewesen ist, um sich Raths zu erholen; aber das will ich schon herausbekommen, verlaß Dich darauf.«
»Und die Frau mit der grünen Schleife?«
»Es geht allerdings eine Wäscherin bei uns aus und ein,« sagte die Hofräthin, »die eine grüne Schleife auf der Haube trägt, und der wird sie oft genug begegnet sein. Ich habe aber nicht den geringsten Grund auf die in jeder Hinsicht achtbare Person irgend einen Verdacht zu werfen. Jedenfalls hat sie auch nur ganz auf gut Glück hin die genannt, eben so wie bei Dir den Mann im grauen Rock.«
»Nein, nein,« rief aber Auguste rasch und heftig und warf den Blick dabei scheu umher – »da liegt ein tieferes Geheimniß zum Grunde und das gerade drohte mir da oben die Besinnung zu rauben.«
»Es war so dumpf und heiß in der Stube, daß mir selber fast unwohl geworden ist,« sagte die Hofräthin.
»Der graue Mann existirt,« flüsterte da Auguste »und unerklärlich bleibt es mir, wie sie davon wissen konnte, denn gegen keinen Menschen in der Welt habe ich mich darüber ausgesprochen, als gegen meinen Mann.«
Pauline schüttelte mit dem Kopf, endlich sagte sie:
»Und darf ich wissen, was es damit zu bedeuten hat?«
»Ja,« hauchte Auguste – »aber nicht heute – nicht jetzt Pauline – ich bin schon überdies zu aufgeregt, und fürchte, daß – daß es noch mehr der Fall sein würde, wenn ich – jene wunderliche Erscheinung frisch herauf beschwören wollte. Morgen – morgen früh, wenn die Sonne scheint und alles licht und hell um uns ist – nicht jetzt – nicht jetzt.«
»Gut mein liebes Herz,« sagte Pauline, die gar nicht daran dachte sie jetzt zu drängen – »bis morgen kann ich Dir dann auch vielleicht von mir Auskunft geben, wie weit die Prophezeihung der Schusters Frau wirklich zutrifft und ob sie eben mehr weiß wie andere Leute.«
Auguste erwiderte nichts darauf: sie nickte nur schweigend mit dem Kopf und Pauline fühlte, daß sie ihr keinen größeren Gefallen thun konnte, als sie jetzt allein und ungestört zu lassen. Sie nahm auch kurzen Abschied von ihr und ging, sann aber unterwegs hin und her darüber, was der sonst so ruhigen Freundin geschehen sein müsse, um sie in eine so überreizte Stimmung zu versetzen, denn es war ja nicht möglich, daß die albernen Vermuthungen der Schusters Frau wirklich einen Einfluß auf sie ausgeübt haben sollten. Doch das gedachte sie morgen Alles herauszubekommen – heute ließ sich doch nichts mehr an der Sache thun.
Als der Justizrath an diesem Abend um neun Uhr nach Hause kam, war seine Frau schon zu Bett gegangen. Sie hatte, wie das Mädchen sagte, heftige Kopfschmerzen gehabt und sich zeitig niedergelegt. Als Bertling hinüber ging, schlief Auguste und er trat noch in sein Arbeitszimmer, um die heute eingelaufene Correspondenz zu lesen und zu beantworten – hatte er doch den ganzen Tag keine Zeit dazu gefunden.
Es war bald halb zwölf Uhr, ehe er selber sein Lager suchte und die Frau schlief noch immer, aber unruhig. Sie schien zu träumen, hob den Arm und öffnete die Lippen, sprach aber Nichts und lag gleich darauf wieder still und ruhig. Sie hatte das in der letzten Zeit öfter gethan, auch wohl gesprochen, aber immer nur unzusammenhängende Worte, ohne sich später je eines Traumes bewußt zu sein, und Bertling beunruhigte sich also nicht weiter darüber. Unwillkürlich fiel ihm aber doch wieder jener wunderliche und so geheimnißvoll verschwundene Besuch ein, den er bis dahin vergeblich in der ganzen Stadt gesucht. War nicht die ganze Polizei nach dem Mann im grauen Rock ausgewesen, ohne auch nur auf die entfernteste Spur zu kommen? und schien es nicht fast, als ob er die Stadt in gerade so räthselhafter Weise verlassen hätte, wie damals Bertlings eigenes Zimmer?
Mit den Gedanken suchte der Justizrath sein Lager und war bald, von den vielen Arbeiten dieses Tages ermüdet, sanft eingeschlafen. – Seiner Meinung nach konnte er aber kaum die Augen geschlossen haben, als er seinen Namen rufen hörte:
»Theodor! – Theodor!«
Noch schlaftrunken richtete er sich empor – »Weckst Du mich Auguste?« frug er.
»Und Du kannst schlafen,« sagte die Frau mit vorwurfsvollem aber weichem Ton – »schlafen in der letzten Stunde, die wir noch beisammen sind?«
»Aber Auguste,« sagte der Mann erschreckt und war in dem einen Moment auch vollkommen munter geworden – »was hast Du nur – was sprichst Du da? Sicherlich hast Du geträumt – ich bin ja bei Dir Herz, wache nur ordentlich auf.«
»Ach ich war so glücklich,« sagte da die Frau, mit einem Ton, der ordentlich in seine Seele schnitt – »so glücklich die kurze Zeit mit Dir – und muß nun fort.«
Bertling wußte gar nicht wie er aus dem Bett kam, so rasch fuhr er in seine Kleider und zündete dann ein Licht an.
Auguste lag, die Augen geschlossen, die Arme vor sich ausgestreckt, aber die Hände gefaltet, in ihrem Bett und große helle Thränen liefen ihr über die Wangen. Bertling aber hielt das immer noch für einen einfachen, schweren Traum, der ja augenblicklich weichen mußte, so wie er sie nur weckte.
»Mein liebes Herz,« sagte er, seinen Arm um ihre Schultern legend – »wach auf, Du träumst ja nur –«
»Und hast Du schon Jemanden gesehen, der mit offenen Augen träumt?« sagte sie, sich im Bett aufrichtend und ihn groß ansehend – »Träumst Du denn jetzt?«
»Aber von was sprichst Du?«
Sie antwortete ihm nicht gleich. – Während er sich zu ihr auf die Bettkante setzte, hatte sein Fuß den Stuhl ein klein wenig verschoben und sie schien dem Geräusch zu horchen.
»Ich glaube sie kommen schon,« flüsterte sie scheu und faßte seinen Arm mit allen Kräften.
»Wer, mein Herz? wer?« bat der Mann, der jetzt peinlich besorgt um die Arme wurde, die wie er sich nicht mehr verhehlen konnte mit wachenden Augen phantasirte. »Wer soll denn jetzt mitten in der Nacht zu uns kommen?«
»Mitten in der Nacht? – ja es ist gerade zwölf Uhr vorbei,« flüsterte sie – »das ist die Zeit, in der die schwarzen Männer kommen und mich abholen. – Oh Gott,« seufzte sie dabei – »und jetzt hat mich Alles verlassen – selbst Theodor ist fort und ich allein kann mich ja nicht gegen sie wehren.«
»Aber beste Auguste« rief Bertling bestürzt – »was sprichst Du nur – ich bin ja bei Dir hier.«
»Fort – fort – wer bist Du?« – sagte sie und stieß ihn mit beiden Armen heftig von sich – »was willst Du hier – und wie kommst Du hier herein?«
»Aber ich bin es ja – Dein Theodor – kennst Du mich denn nicht?«
»Deine Stimme ist es – ja,« sagte die Frau, indem sie ihn ein paar Momente ruhig und fest betrachtete – »aber das Gesicht kenne ich nicht – das ist mir fremd – geh fort – geh fort!« und sie warf sich dabei zurück und barg ihr Gesicht im Kissen. Dort lag sie still und regungslos viele Minuten lang und Bertling wußte nicht, was er beginnen sollte. Vorsichtig legte er den Finger auf ihren Arm. – Der Puls ging vollkommen ruhig und eher langsamer als rascher wie gewöhnlich. – Vielleicht schlief sie jetzt ein; er wollte sie wenigstens unter keiner Bedingung stören, setzte das Licht fort, daß es ihr nicht auf die Augen scheinen konnte und ließ sich dann behutsam und geräuschlos auf einem Lehnstuhl nieder, um dort abzuwarten, ob sie noch einmal erwache.
So mochte er über eine Stunde gesessen haben und dachte gerade daran, das Licht auszulöschen und selber wieder zu Bett zu gehen, als er die Frau leise wimmern hörte.
Vorsichtig stand er auf – sie lag noch genau so wie vorher, nur das Gesicht hatte sie mehr nach oben gerichtet, damit sie frei athmen konnte, aber beide Augen hielt sie mit den Händen bedeckt und weinte still und leise.
»Auguste,« sagte der Mann da, indem er wieder zu ihr trat, »was hast Du nur? – Sage es mir – ich bitte Dich darum.«
Sie schien ihn nicht zu hören, aber ihr Weinen wurde heftiger und brach endlich in nicht laute, doch deutliche Klagen aus.
»Fort – fort muß ich von hier, wo ich so glücklich war!« wimmerte sie. – »Ach nur so wenig Jahre durfte ich mit Theodor zusammen sein und jetzt kommen die bösen schwarzen Männer und wollen mich fortschleppen und in die kalte häßliche Erde legen. – Oh was hab ich ihnen nur gethan? – Aber sie hassen mich hier – Alle – Keiner hat mich lieb – Keiner – und der Einzige, der mir gut war, Theodor, hat mich nun auch verlassen.«
»Auguste,« bat Bertling in Todesangst, »Du brichst mir das Herz mit solchen Reden. – Ich bin ja hier – bin bei Dir und werde Dich nie verlassen.« Dabei drückte er sie fest an sich und küßte ihre Stirn aber sie schien jetzt weder seine Worte zu hören, noch seine Berührung zu fühlen. Wieder lag sie viele Minuten lang still und regungslos, und nur das schwere Athmen verrieth, daß sie lebe – endlich fuhr sie leise fort:
»Oh daß Theodor von mir gegangen ist – er war so lieb, so gut mit mir – und ich habe ihn so oft gekränkt, aber es doch nie – nie böse gemeint. – Er mußte es doch wissen, wie ich ihn liebe – und doch ist er fort.«
»Aber ich bin ja bei Dir, Herz – so höre doch nur! hier lege Deine Hand auf mein Gesicht – fühlst Du denn nicht, daß ich bei Dir bin – daß ich Dich nie verlassen werde?«
»Ja – Alle haben mich verlassen,« rief die Frau eintönig – »und jetzt schleichen sich die schwarzen Männer herein und tragen mich fort – und wenn dann Theodor zurückkommt – wie er sich wundern wird, wenn ich nicht mehr da bin! und wie traurig wird er sein, – armer – armer Theodor.«
Bertling war außer sich. Er fühlte, daß alle seine Worte nichts halfen. Die Unglückliche hörte in diesem eigenthümlichen Zustand weder was er sagte, noch fühlte sie den um sie geschlagenen Arm und die heißen Thränen, die auf ihr Antlitz fielen und sich mit den ihrigen mischten.
Wieder lag sie eine halbe Stunde etwa in einem solchen fast bewußtlosen Zustand und mit geschlossenen Augen. Das Licht brannte düster und Bertling schritt leise zu der Lampe, um diese zu entzünden. Er glaubte, daß vielleicht helleres Licht die aufgeregten Sinne eher beruhigen würde. Wie er die Glocke aber wieder aufsetzte, wobei ein leicht klirrendes Geräusch nicht zu vermeiden war, richtete sich die Kranke plötzlich rasch und erschreckt empor und horchte mit weit geöffneten Augen der Thür zu.
»Was hast Du denn Auguste, – Was horchst Du so nach der Thür?« frug ihr Mann um sie zu beschwichtigen. Sie verstand jetzt was er sagte, ja schien ihn auch zu kennen und vergessen zu haben, daß sie früher über seine Abwesenheit geklagt und scheu erwiderte sie:
»Hörst Du denn nicht die Schritte auf der Treppe? – sie kommen um mich abzuholen und unten im Haus steht der graue Mann, der mich auch erwartet. Oh ich wußte ja, daß sie noch kommen würden, wenn es auch schon zwölf Uhr vorbei ist.«
»Aber mein liebes süßes Herz,« bat Bertling, der sich schon dadurch etwas beruhigt fühlte, daß er doch jetzt mit ihr reden konnte. – »Zwölf Uhr vorbei – es ist schon fünf Uhr und die Sonne wird gleich aufgehen.« – Er hoffte sie dadurch, daß er sie glauben mache, es sei Morgen, rascher zu beruhigen. Die Kranke aber schüttelte unwillig mit dem Kopf und rief:
»Täusche mich nicht – es fehlen nur noch ein paar Minuten an halb Zwei – sieh doch nach. –«
Bertling sah unwillkürlich nach seiner Uhr und Auguste hatte vollkommen recht. Sie wußte genau, welche Zeit es war. Ehe er ihr aber noch etwas erwidern konnte, nickte sie ernst und traurig mit dem Kopf und sagte:
»Ja – ja – so muß es sein – Du wirst jetzt oben wohnen und ich unten – und wir werden nie wieder zusammen kommen.«
»Aber, wo willst Du unten wohnen, mein Kind,« lächelte der Mann, der ihre Gedanken abzulenken suchte, – »das untere Logis hat ja der Doktor Pellert gemiethet.«
»Wer spricht denn davon,« sagte sie finster – »in der Erde, mein' ich – wenn sie mich begraben haben. Sie kommen ja gleich.«
»Aber meine Auguste!«
»Und ich war so glücklich« fuhr sie leise, mit zum Herzen dringender Stimme fort – »so unsagbar glücklich – aber nur für eine kurze – kurze Zeit. Jetzt muß es sein und ich will mich auch nicht länger sträuben – ich kann mich ja doch nicht gegen die vier schwarzen Männer wehren.«
»Und bin ich nicht hier Dich zu vertheidigen?«
»Was kannst Du gegen die viere ausrichten!« erwiderte sie kopfschüttelnd, »und sie sind stark – sehr stark. Aber ich habe nicht mehr viel Zeit – hier den Ring nimm mir vom Finger – den schwarzen Ring – den sollst Du Paulinen von mir geben.«
»Aber Auguste.«
»So nimm denn doch den Ring – sie kommen ja,« bat sie mit einer Stimme, die ihm durch Mark und Bein schnitt und es blieb ihm Nichts übrig, als ihrem Wunsch zu willfahren und ihr den Ring abzunehmen; fürchtete er doch sie durch Widerspruch nur noch so viel mehr aufzureizen. Wie er das aber gethan, stürzten ihm selber die Thränen aus den Augen und sie umfassend jammerte er: »Meine liebe – liebe Auguste.«
»Lebe wohl Theodor,« sagte sie da und schlang ihre Arme fest und fast krampfhaft um seinen Nacken – »lebe wohl und tausend, tausend Dank für alles Liebe und Gute, das Du mir gethan. –«
»Aber Du gehst ja nicht von mir – Du bleibst ja bei mir, nie – nie im Leben trennen wir uns mehr,« flüsterte der Mann in Todesangst.
»Es muß ja sein,« tröstete sie ihn leise – »weine deshalb nicht – oh Du hast es ja auch gut – Du kannst draußen im Sonnenlicht, auf der schönen Erde bleiben – aber mich – mich legen sie in das dunkle kalte Grab und ich bin noch so jung – so jung und schon sterben – oh es ist recht, recht hart.«
»Auguste – ich halte das nicht länger aus,« flehte der Mann, dem die Aufregung fast den Athem nahm – »so komm doch nur zu Dir – es ist ja Alles nur ein böser Traum.«
Unten auf der Straße rasselte in diesem Augenblick ein Wagen über das Pflaster; der Schall klang deutlich herauf.
»Da sind sie,« flüsterte die Kranke erbebend – »oh Gott wie schnell sie kommen – wie furchtbar schnell. – Jetzt muß ich fort – oh Gott, oh Gott schon jetzt. Nein ich will nicht – sie sollen mich nicht weg von Dir nehmen – ich will bei Dir bleiben« – und krampfhaft klammerte sie sich um seinen Hals. –
»Du gehst auch nicht fort Herz – nie im Leben lasse ich Dich,« – rief Bertling, – »wir bleiben ja beisammen – oh so komm doch zu Dir. – Hier – hier,« sagte er und griff ein neben dem Bett stehendes Glas Wasser auf, – »trink einmal Auguste – das wird Dir gut thun – trink einen langen Zug – viel – mehr noch, mehr.«
Er hatte sich fast gewaltsam von ihr losgemacht und ihr das Glas an die Lippen gehalten. Wie sie das Wasser daran fühlte nahm sie einen kleinen Schluck und als er es ihr wieder und wieder aufdrang, trank sie mehr, bis sie das ganze Glas geleert. Dabei sah sie ihn mit einem wilden verstörten Blick an.
»Meine Auguste« bat Bertling, ihr Haupt an sich pressend, »ist Dir jetzt besser? – kannst Du Dich besinnen?«
Sie drängte ihn langsam von sich – sah ihn an – blickte im Zimmer umher und sagte leise:
»Was ist denn mit mir vorgegangen?«
»Du hast geträumt Herz – schwer und furchtbar geträumt« rief ihr Gatte, »oh Gott sei ewig Dank, daß es vorüber ist.«
»Geträumt? – von was?« frug die Frau, die jetzt augenscheinlich ihre volle Besinnung wieder erlangt hatte. Bertling hütete sich aber wohl irgend eines ihrer Traum-Bilder auch nur zu erwähnen und ausweichend sagte er:
»Oh nichts, Herz – lauter tolles verworrenes Zeug; wild durch einander hast Du gesprochen von Gesellschaften, Theater, Kleidern, Besuchen und was weiß ich. –«
»Sonderbar,« flüsterte die Frau nachdenkend vor sich hin »ich kann mich doch auf gar Nichts mehr besinnen. Aber mir ist mein Kopf so schwer – so furchtbar schwer und die Augen brennen mir, als ob ich geweint hätte. Wie viel Uhr ist es?«
»Es wird bald zwei Uhr sein.«
»So spät schon und Du bist noch angezogen? – Du hast wohl wieder so lange gearbeitet?«
»Ja – ich hatte so viele Briefe zu schreiben – aber lege Dich jetzt hin und schlafe. Ich will auch zu Bett gehen.«
»Oh wie mir mein Kopf brennt – ich kann gar nicht mehr denken,« sagte die Frau und preßte ihre Stirne mit beiden Händen, – »am Ende werd ich noch krank.«
»Mach Dir keine Sorge mein Herz,« beruhigte sie aber der Mann, »morgen wird schon Alles wieder besser – wieder ganz gut sein. – Gute Nacht, mein Kind. –«
»Gute Nacht, Theodor,« sagte die Frau – legte sich auf die Seite und war auch in wenigen Minuten fest und sanft eingeschlafen.
Am nächsten Morgen, wo aber Auguste völlig gesund und mit keiner Ahnung des Geschehenen, nur mit etwas Kopfschmerzen erwachte, ging Bertling in aller Früh zu seinem Hausarzt, um diesem das Vorgefallene mitzutheilen. Er hatte ihm schon früher einmal von der fixen Idee Augustens gesagt, der Doctor nahm das aber damals – vielleicht auch nur um den Mann nicht zu beunruhigen – außerordentlich leicht und versicherte ihn, daß solche Fälle gar nicht etwa vereinzelt daständen. Es sei ein Blutandrang nach dem Kopf und viel Bewegung in freier Luft – vielleicht auch eine blutreinigende Kur das Beste dagegen. Keinesfalls sollte er sich Sorgen deshalb machen. – Heute jedoch, als der Arzt die Phantasien dieser Nacht erfuhr, in denen der »graue Mann« auch wieder seine Rolle gespielt, zeigte er sich schon bedenklicher und meinte, Gefahr sei nur in so fern vorhanden, daß die Phantasie der Kranken ihr noch einmal – und also zu dem gefürchteten dritten Mal – die Gestalt des Mannes im grauen Rock vorspiegeln könne, ehe man im Stande sei sie zu überzeugen, daß die erste Erscheinung weiter Nichts als ein Phantasiebild, die zweite aber ein wirklich menschliches Individuum gewesen sei – wie das aber zu thun, ohne daß man des Grauen habhaft werde, vermöge er nicht abzusehen, und daß der Graue nicht zu bekommen war, das wußte der Justizrath besser als irgend Jemand in der Stadt. Welche Mühe hatte er sich deshalb nicht schon gegeben und welchen Erfolg damit erzielt? – es war wirklich zum Verzweifeln.
Der Doctor versprach übrigens im Lauf des Vormittags bei der Justizräthin vorzusprechen, um sich selber einmal von ihrem Gesundheitszustand zu überzeugen. Vielleicht ließ sich dann auch das Gespräch – natürlich mit der gehörigen Vorsicht – auf das eigentliche Krankheitsobjekt lenken und möglich, daß ja doch die Vernunftgründe eines Dritten und völlig Unparteiischen irgend einen wohlthätigen Einfluß auf sie ausüben konnten.
Bertling seufzte tief auf, denn er am Besten fühlte das Trügerische einer solchen Hoffnung, aber was anderes ließ sich thun und auch dieser Versuch mußte gemacht werden, wenn er auch nicht das Geringste davon erhoffte. Er fürchtete sich aber, lange von zu Haus fortzubleiben, denn er wußte nicht, wie sich Auguste heute morgen nach der furchtbaren Aufregung der letzten Nacht befinden würde. Er bat also den Doctor seinen Besuch nicht zu lange zu verschieben und schritt dann sehr niedergeschlagen und den Kopf voll trüber, wirrer Gedanken die Straße hinab, in der Richtung seiner eigenen Wohnung zu. Er achtete dabei auch gar nicht auf die ihm Begegnenden und erst als Jemand an ihm vorüber ging, der ihn grüßte, faßte er unwillkürlich an seinen eigenen Hut und warf einen flüchtigen Blick auf ihn, ohne sich jedoch in seinem Gang aufzuhalten. Im Weiterschreiten fiel ihm aber der fast schüchterne Gruß des vollkommen fremden Mannes auf – wo hatte er nur das Gesicht – wie ein Messerstich traf es ihn plötzlich ins Herz – das war der Graue und mit dem Gedanken schon fuhr er auch herum und zurück, ihm nach – daß er dabei gegen eine alte würdige Dame anrannte und sie beinah über den Haufen geworfen hätte, fühlte er kaum, hielt sich wenigstens nicht einmal lange genug, auch nur zu einer Entschuldigung auf, denn mit peinigender Angst erfüllte ihn in dem Moment der Gedanke, daß ihm der Fremde wieder wie damals, selbst unter den Händen weg entschwinden könnte. Wenn er jetzt irgendwo in ein Haus getreten wäre – wenn er die nächste Quergasse erreicht hätte – nein – Gott sei ewig Dank – dort ging er noch und mit wenigen hastigen Schritten war er an seiner Seite.
Der Fremde, als er Jemanden neben sich halten sah, schaute auch zu ihm empor und der Justizrath hätte laut aufjubeln mögen, als er in dem ihm zugewandten Gesicht wirklich den Besuch von jenem Abend erkannte, dessen Züge sich ihm in der Zwischenzeit oh, nur zu scharf und deutlich eingeprägt. Er war aber auch fest entschlossen, den Mann jetzt nicht wieder los zu lassen, bis er ihn seiner Frau gebracht, und wenn er nicht gutwillig ging, ei dann hätte er selbst die Polizei zu Hülfe gerufen, sogar auf die Gefahr hin eine Klage wegen unverschuldeter Gefängnißhaft gegen sich anhängig gemacht zu sehen.
Der Fremde sah dabei etwas erstaunt, ja bestürzt zu ihm auf, denn er ebenfalls hatte den Justizrath gleich beim ersten Begegnen wieder erkannt und begriff jetzt natürlich nicht, was der Mann eigentlich von ihm wolle. Dieser ließ ihm aber nicht lange Zeit darüber nachzudenken und fast unwillkürlich die Hand auf seine Schulter legend (denn wenn er es sich auch nicht selber gestehen mochte, war es doch ein fast unbewußtes Gefühl, das ihn leitete, sich vor allen Dingen zu überzeugen, er habe es wirklich mit einem körperlichen Wesen zu thun), sagte er freundlich:
»Entschuldigen Sie, mein Herr, aber – hatte ich nicht das Vergnügen, Sie vor einiger Zeit einmal Abends auf ganz kurze Zeit bei mir zu sehen? – Ich bin der Justizrath Bertling – wenn Sie sich auf meine Person nicht mehr besinnen sollten?«
Der Mann schien etwas verlegen und sah den Justizrath fast wie scheu an; endlich stotterte er:
»Ich weiß in der That nicht –«
»Ich will Ihrem Gedächtniß zu Hülfe kommen,« fuhr aber der Justizrath in der neu erwachenden Angst fort, daß der Mann leugnen könnte oder er sich doch am Ende in der Person geirrt, »meine Frau kam damals gerade nach Haus und von einem leichten Unwohlsein ergriffen, wurde sie in der Thür ohnmächtig. Sie besinnen sich gewiß.«
»Herr – Herr Justizrath,« stammelte der Mann »ich – ich – kann nicht recht begreifen –«
Bertling, der nicht ohne Grund fürchtete, der Mann könne Bedenken tragen, sein damaliges rasches, und allerdings etwas rätselhaftes Verschwinden einzugestehen, denn wie konnte er wissen, in welchem Zusammenhang das mit der jetzigen Frage stand – suchte ihn nur vor allen Dingen darüber zu beruhigen. – »Lieber Herr,« sagte er, »Sie müssen mir vorher die Bemerkung erlauben, daß ich Ihre Antwort nur als eine mir persönlich erwiesene Gefälligkeit betrachte und ich sehe ein, daß es vorher nöthig ist, Ihnen die Beweggründe meines, Ihnen vielleicht sonderbar erscheinenden Betragens mitzutheilen. Aber wir können das nicht auf offener Straße abmachen, dürfte ich Sie deßhalb bitten mit mir einen kurzen Moment in jenes Caffeehaus zu treten; wir sind dort ungestört und ich gebe Ihnen mein Wort, daß Sie damit ein gutes Werk thun.«
Der Fremde war augenscheinlich in der größten Verlegenheit, wie denn auch sein ganzes Wesen etwas Schüchternes, ja Gedrücktes zeigte. Der Einladung konnte er aber nicht gut ausweichen. Mit einer ziemlich ungeschickten Verbeugung und ohne ein Wort zu erwidern, willigte er ein und schritt neben dem Justiz-Rath dem Caffeehaus zu. Bertling ließ ihn auch dabei nicht aus den Augen, denn er hatte immer noch das unbestimmte Gefühl, als ob ihm der eben so glücklich Aufgefundene durch einen der Trottoirsteine, wie durch eine Versenkung auf dem Theater verschwinden könnte, und wollte sich später keine Vernachlässigung vorzuwerfen haben.
Im Restaurationslocal endlich angelangt, ließ er zwei Tassen Caffee und Cigarren bringen und als Beides vor ihnen stand und der Kellner sich mit seiner Bezahlung zurückgezogen hatte, that Bertling das Vernünftigste, was sich unter diesen Umständen thun ließ und erzählte dem Fremden, ohne vorher eine weitere Frage an ihn zu richten, das seltsame Zusammentreffen eines Traumes seiner Frau mit seiner eignen Erscheinung, wobei sein plötzliches und unbeachtetes Verschwinden natürlich alle die überspannten Ideen der Kranken bestätigen mußte.
Der kleine Mann in dem dunklen Rock schien während dieses Berichtes ordentlich aufzuthauen. Zuerst hatte er die angezündete Cigarre nur schüchtern und mit der äußersten Spitze in den Mund genommen, daß er kaum daran ziehen konnte und seinen Caffee halb kalt werden lassen – jetzt begann er mit augenscheinlichem Behagen den Dampf des guten Blattes einzuziehen und that auch einen Schluck aus seiner Tasse und als der Justizrath ihm endlich gestand, daß er die ganze Stadt schon habe durch Polizei absuchen lassen, um seiner nur habhaft zu werden und seine arme Frau von ihrem unglückseligen Wahne zu befreien, lächelte er sogar still vor sich hin und leerte dabei seine Tasse bis zum letzten Tropfen. Bei der nun wieder an ihn gerichteten Frage des Justizraths, ob er es nicht gewesen sei, der ihn an jenem Abend besucht habe und zu welchem Zweck, wurde er allerdings wieder ein wenig verlegen und sogar roth, aber er leugnete nicht mehr und sagte:
»Wenn Ihnen das eine Beruhigung gewährt, Herr Justizrath, so kann ich Ihnen gestehen, daß ich wirklich an jenem Abend in Ihrer Stube war und nur bedauere –«
»Kellner! Eine Flasche Wein – von Ihrem Besten – bringen Sie Champagner!« rief aber Bertling, der sich in diesem Augenblicke wirklich Mühe geben mußte, dem kleinen Mann nicht um den Hals zu fallen.
»Aber Herr Justizrath –«.
»Thun Sie mir den einzigen Gefallen und trinken Sie ein Glas Wein mit mir,« rief aber dieser in größter Aufregung »und, wenn Sie ein Bad von Champagner haben wollten, ich verschaffte es Ihnen jetzt. Nun aber sagen Sie mir auch, weshalb Sie so rasch verschwanden, mich nicht wieder aufsuchten und wo Sie, vor allen Dingen, die ganze Zeit gesteckt haben, denn kein einziger meiner Spürhunde konnte auch nur auf Ihre Fährte kommen.«
»Lieber Gott,« sagte der kleine Mann mit einem schweren Seufzer – »die Sache ist außerordentlich einfach und leicht erklärt, denn – wenn ich mich auch in einer gedrückten Lage befinde, habe ich doch nicht die geringste Ursache mich derselben zu schämen, da sie mich ohne mein Verschulden getroffen hat.«
»Darf ich es wissen?« frug der Justizrath, während der Kellner Wein und Gläser auf den Tisch stellte – »vielleicht kann ich helfen.«
»Ich stamme aus Königsberg« erzählte der kleine Mann, »und hatte durch Protection eine Anstellung als Lehrer in Mainz erhalten; dort ernährte ich mich aber nur kümmerlich, als ich die Nachricht erhielt, daß in meiner Vaterstadt ein guter Posten für mich offen geworden und ich dort an einem der ersten Gymnasien mit einem ganz vortrefflichen Gehalt einrücken könne. Ich gab meine Stelle in Mainz auf und machte mich auf den Weg. Schon seit längerer Zeit aber kränkelnd, erfaßte mich hier in Alburg ein heftiges Fieber, das eine Weiterreise unmöglich machte. Glücklicher Weise fand ich bei guten Menschen ein Unterkommen aber meine kleine Baarschaft schmolz entsetzlich zusammen und kaum wieder hergestellt, erfaßte mich die Angst, daß ich, wenn ich nicht rechtzeitig am Ort meiner Bestimmung eintreffen könnte, am Ende auch gar die Anstellung verlieren und dann gänzlich brodlos sein würde. Ich schrieb nach Königsberg, erhielt aber von dort nicht so rasche Antwort und in meiner Herzensangst beschloß ich mich an Sie, Herr Justizrath, zu wenden und Sie um ein Darlehn zu ersuchen, das ich Ihnen von meiner Vaterstadt aus leicht zurückerstatten konnte.«
»Aber woher kannten Sie mich?«
»Nicht Sie, Herr Justizrath, aber Sie haben einen Bruder in Königsberg, bei dem ich ein Jahr Hauslehrer war und auf dessen Zeugniß ich mich mit gutem Gewissen berufen durfte. Wie aber der Unfall mit Ihrer Frau Gemahlin stattfand, von dem ich keine Ahnung haben konnte, daß ich selber die unschuldige Ursache gewesen, da fühlte ich doch recht gut, daß das ein sehr schlecht gewählter Moment sei, um ein Darlehn zu erbitten und ich beschloß lieber am nächsten Morgen wieder vorzusprechen. Wie ich Sie mit der ohnmächtigen Dame beschäftigt sah, verließ ich das Zimmer und ging nach Haus.«
»Aber warum kamen Sie nicht am nächsten Morgen?«
»Weil ich noch an dem nämlichen Abend einen Brief von Königsberg erhielt, worin mir angezeigt wurde, daß es mit meinem Eintreffen dort Zeit bis zum Ersten nächsten Monats habe. Jetzt war ich im Stande mir mein Reisegeld vielleicht selber zu verdienen und brauchte Niemanden weiter zu belästigen. Der Mann, bei dem ich die Zeit gewohnt, war Copist, hatte aber in der letzten Zeit so viel drängende Arbeiten erhalten, daß er sich außer Stande sah, sie allein zu beendigen. Ich übernahm einen Theil und da mir noch vierzehn Tage Zeit bleiben, so hoffe ich bis dahin mein Reisegeld wenigstens zusammen gespart zu haben.«
»Und wieviel brauchen Sie dazu?« frug der Justizrath, der bis jetzt der einfachen Erzählung mit der gespanntesten Aufmerksamkeit gefolgt war, ohne den Erzählenden auch nur mit einer Sylbe zu unterbrechen. Nur eingeschenkt und getrunken hatte er dazu und seinen Gast ebenfalls stillschweigend durch Zuschieben des Glases genöthigt.
»Im Ganzen und mit dem, was ich hier noch zu zahlen habe, etwa 20 Thaler, aber 9 davon habe ich mir schon verdient – oh ich bin sehr fleißig gewesen die Zeit über und in den langen Tagen gar nicht aus meinem Zimmer, ja nicht ein einziges Mal an frische Luft gekommen. Nur heute mußte ich ausgehen und war eben im Begriff mir frisches Papier zu holen, denn ich kann nicht gut einen Tag versäumen.«
»Mein lieber Herr,« sagte da der Justizrath, »dagegen werde ich Einspruch erheben. Ihren heutigen Tag müssen Sie mir widmen, aber Sie sollen dadurch nicht zu Schaden kommen. Es gilt hier meine Frau zu überzeugen, daß sie sich durch einen Wahn, durch ein zufälliges Begegnen hat täuschen lassen und wenn Sie mir dazu behilflich sein wollen, so verfügen Sie über meine Casse. Mit Vergnügen steht Ihnen dann Alles zu Diensten, was Sie zu Ihrer Reise und vielleicht noch für sonstige Ausrüstung gebrauchen.«
»Herr Justizrath,« stammelte der Mann.
»Und glauben Sie um Gottes Willen nicht,« setzte Bertling rasch hinzu, »daß Sie mir dadurch zu irgend einem Dank verpflichtet würden; nein im Gegentheil, werde ich mich nachher noch immer als Ihren Schuldner betrachten und sollten Sie je in Verlegenheit kommen, so bitte ich Sie, sich vertrauensvoll an mich zu wenden.«
»Aber war ich nicht selber die Ursache dieses Unfalls?«
»Nein,« versetzte der Justizrath – »in Ihnen repräsentirte sich nur die frühere eingebildete Erscheinung und durch Sie hoffe ich deshalb meine Frau nicht allein zu überzeugen, daß ihre zweite Gespenstervision ein Irrthum war, sondern sie wird, während sie hierin die Täuschung erkennt, auch einsehen, daß das erste Traumbild nur in ihrer Phantasie gewurzelt haben konnte. Also wollen Sie sich mir heute zur Verfügung stellen?«
»Von Herzen gern,« sagte der kleine Mann, der durch den ungewohnten Champagner seine ganze Schüchternheit verloren zu haben schien. »Befehlen Sie über mich und was in meinen Kräften steht, will ich mit Freuden thun, – habe ich doch dadurch auch einen Theil dessen gut zu machen, was ich, freilich vollkommen ahnungslos, selber über Sie herauf beschworen.«
»Gut,« genehmigte Bertling, sich vergnügt die Hände reibend. – »So kommen Sie denn jetzt mit zu meinem Arzt und dort wollen wir das Weitere bereden, wie wir es am Besten anzufangen haben. Den Mittag sind Sie ohnedies mein Gast, wenn wir vielleicht auch noch nicht bei mir zu Hause diniren können. Vorher muß ich aber meine Frau jedenfalls auf Ihre Begegnung vorbereitet haben.«
Der Doctor, eben im Begriff seine Patienten zu besuchen, war nicht wenig erstaunt, den Justizrath mit dem erbeuteten und so lange ersehnten Unruhestifter eintreffen zu sehen, nahm aber auch zu viel Interesse an der Sache, um nicht seine eigenen, selbst sehr nothwendigen Gänge für kurze Zeit aufzuschieben und das Nähere mit dem Justizrath zu bereden. Aufmerksam hörte er zunächst den kurzen Bericht an, der ihm über das Zusammentreffen gegeben wurde und die Frage war nur jetzt, wie Auguste mit ihrem leibhaften Traumbild zusammen gebracht werden konnte, ohne ihr einen neuen Schreck zu verursachen, der diesmal dauernde Folgen haben konnte.
Das zeigte sich denn auch nicht so leicht und die Männer überlegten zusammen eine ganze Weile hin und her, wie es am zweckmäßigsten zu arrangiren wäre. Der Justizrath schlug vor, den »grauen Mann« gleich zum Mittag-Essen mit nach Haus zu nehmen, um im hellen Sonnen-Licht jeden Gedanken an den häßlichen Spuck zu zerstören, – aber dagegen protestirte der Arzt.
»Damit setzen Sie Alles auf eine Karte,« rief er heftig aus, »denn Sie können gar nicht wissen, wie sich in dem Geist Ihrer Frau das Bild dieser geglaubten Spukgestalt erhalten oder entwickelt hat; bringen Sie ihr aber jetzt den Mann am hellen Tag, der dann natürlich mit einer höflichen, alltäglichen Verbeugung in's Zimmer tritt, so bürgt uns kein Mensch dafür, daß sie ihn als denselben wieder erkennt, den sie in jener Nacht gesehen und dann ist Alles verloren, denn nachher haben wir kein Mittel weiter, ihr zu beweisen, daß sie sich getäuscht. Unser Pulver ist verschossen und wir müssen der Natur und den Begebenheiten eben ihren Lauf lassen, ohne im Stande zu sein, an irgend einer Stelle hülfreich einzugreifen.«
»Aber was Anderes können wir thun?« rief der Justizrath – »der Gefahr, daß sie ihn nicht wieder erkennt, sind wir ja doch immer ausgesetzt.«
»Doch nicht immer,« sagte der Doctor, der ein paar Minuten mit raschen Schritten in seinem Zimmer auf- und abgegangen war – »ich glaube, ich weiß einen Ausweg.«
»Mein lieber Doctor –«
»Lassen Sie mich einmal sehen,« fuhr dieser fort. – »Jetzt habe ich keine Zeit, denn ich muß meine Patienten besuchen; vor Dunkelwerden können wir aber auch gar nichts in der Sache thun, und bis dahin bin ich in Ihrem Hause und bei Ihrer Frau. Bis dahin aber darf auch dieser Herr Ihrer Frau nicht vor Augen kommen. Speisen Sie zusammen im Hôtel – eine Ausrede ist bald gefunden, machen Sie, was Sie wollen, aber bringen Sie ihn nicht vor der Abenddämmerung in Ihr Haus.«
»Und dann?«
»Dann führen Sie ihn heimlich, ohne daß Ihre Frau etwas davon erfährt, in Ihr Zimmer, zünden wie gewöhnlich Ihre Lampe an, die auch ein wenig düster brennen darf und lassen sich den Herrn dann auf den nämlichen Stuhl setzen, auf dem er an jenem Abend gesessen hat und zwar genau in der nämlichen Stellung, den rechten Arm über der Lehne. – Ich glaube, Sie erwähnten das gegen mich.«
»Ja wohl. –«
»Schön. Sie selber kommen dann zu uns herüber, oder geben mir ein Zeichen daß Alles bereit ist und überlassen das Andere mir. Wollen Sie es so machen?«
»Bester Doctor, ich füge mich in Allem Ihrem Willen,« sagte der Justizrath, »aber – halten Sie es nicht für möglich, daß Auguste durch die plötzliche Wiederholung der Erscheinung zum Tod erschrecken könnte?«
»Natürlich darf sie den Herrn da nicht unvorbereitet antreffen,« rief der Doctor – »doch Sie wollen das ja mir überlassen. Außerdem werde ich noch vorher zu der kleinen Hofräthin Janisch gehen, sie in das Geheimniß einweihen und sie bitten uns zu unterstützen. Für jetzt ersuche ich Sie aber, mich zu entschuldigen, denn meine Zeit ist gemessen.«
»Und Sie vergessen nicht, noch vor Dunkelwerden zu mir zu kommen?«
»Ich vergesse nie etwas,« sagte der Doctor, nahm seinen Hut und stieg ohne Weiteres voran die Treppe hinunter.
Der Justizrath war jetzt ein wenig in Verlegenheit, was er mit seinem Schutzbefohlenen oder eigentlich Gefangenen, bis zum Mittagsessen anfangen solle, noch dazu da er auch gern einmal nach Haus gegangen wäre und ihn dorthin doch nicht mitnehmen konnte. Ueberließ er ihn aber bis dahin sich selbst, so war er der Gefahr ausgesetzt, ihn nicht wieder zu finden und das durfte er unter keiner Bedingung riskiren. Da blieb ihm nur ein Ausweg, mit dem Fremden in dessen Behausung zu gehen, um sich selber zu überzeugen, wo er wohne und wieder zu finden wäre.
Das geschah denn auch und nachdem Bertling in einer vollkommen abgelegenen Straße vier steile dunkle Treppen hinauf geklettert war, konnte er mit einiger Ruhe seinen eigenen Geschäften nachgehen. Er band dem kleinen Mann aber noch einmal auf die Seele, das Haus um keinen Preis zu verlassen, bis er selber zurückkäme, was aber bald geschehen würde, da er ihn um ein Uhr zum Mittagessen abhole.
Seine Frau fand der Justizrath noch ziemlich abgemattet, aber doch ruhig; sie hatte von dem, was sie die vorige Nacht mit wachenden Augen geträumt, keine Ahnung und sie fühlte nur die Folgen der unnatürlichen Aufregung, ohne sich dieser im Geringsten bewußt zu sein.
Um ein Uhr oder etwas vorher, entschuldigte sich Bertling, daß er mit einem Geschäftsfreund zu Mittag speisen müsse, da sie Beide, außer der Zeit, sehr beschäftigt wären, und er Vielerlei mit ihm zu besprechen hätte – zu sich hätte er ihn aber heute nicht einladen mögen, da Auguste doch noch so angegriffen sei.
Auguste dankte ihm dafür, denn sie befand sich in der That nicht in der Stimmung einen fremden Besuch zu empfangen; sie fühlte sich auch nie wohler, als wenn sie allein gelassen wurde und ihr Mann versprach ihr ja auch außerdem noch vor Abend wieder zu Haus zu sein und dann heute ganz bei ihr zu bleiben.
Sie aß allein auf ihrem Zimmer und legte sich dann ein wenig auf das Sopha, um auszuruhen; der Kopf that ihr weh und das Herz war ihr so schwer, als ob irgend ein nahendes Unheil sie bedrohe. Sie fing auch fast an, den dämmernden Abend zu fürchten und bereute schon, Theodor nicht gebeten zu haben, noch vor der Zeit zurück zu kehren. – Aber sie durfte auch nicht so kindisch sein. Wenn er seine Geschäfte besorgt hatte, kam er ja ohnedies schon immer von selber nach Hause.
Sie sollte aber ihren Nachmittag heute nicht allein verbringen, denn etwa um fünf Uhr kam Pauline herüber. Wenn diese aber auch lachend das Zimmer der Freundin betrat, erschrak sie doch sichtlich über deren bleiches Aussehen, über ihre tiefliegenden Augen und den schmerzlichen Zug um den Mund. Auf ihre theilnehmenden Fragen gab ihr Auguste aber nur ausweichende Antworten; sie scheute sich selbst der Freundin gegenüber das einzugestehen, was ihr die Brust beengte und ihr Herz mit einer wohl unbestimmten, aber nichts desto weniger peinigenden Angst erfüllte und Pauline, die das herausfühlte, war freundlich genug, auf ihren Wunsch einzugehen. Ihr lag aber jetzt besonders daran, die Freundin zu zerstreuen, und ohne daß Auguste es merkte, wußte sie das Gespräch auf das Abenteuer mit der Kartenschlägerin zu bringen. Nicht mit Unrecht glaubte sie, daß jene Aufregung wesentlich dazu beigetragen hatte, sie niederzudrücken, und war das wirklich der Fall, so kannte sie ein Mittel sie wieder aufzurichten.
»Denke Dir nur Schatz,« lachte sie, ganz wieder in ihrer, alten fröhlichen Laune, »ich bin jetzt unserer Kartenschlägerin auf die Spur gekommen.«
»Auf die Spur? – wie so?«
»Oder ich habe wenigstens einen Beweis erhalten, was es mit ihrer Kunst für eine Bewandniß hat.«
»In der That? – aber durch was?« frug Auguste gespannt.
»Du erinnerst Dich doch,« fuhr Pauline fort, »daß ich bei ihr anfragen wollte, wo ein mir gestohlenes Corallen-Halsband hingekommen sei und wo ich den Dieb zu suchen hätte. Sie ließ mich aber die Frage gar nicht stellen, denn jedenfalls hatte sie am Brunnen von unseren Mägden erfahren, daß ich das Halsband vermisse. In den letzten drei Tagen war auch wirklich bei uns von nichts Anderem gesprochen worden, und meine Köchin, wie ich es mir gedacht, schon bei der Alten gewesen, um sie um Rath zu fragen.«
»Also wirklich,« sagte Auguste.
»Du weißt auch, daß sie meinen Verdacht auf irgend eine Dame mit grünen Haubenbändern lenken wollte.«
»Allerdings – hatte sie sich geirrt?«
»Das Komische bei der Sache ist das,« lachte Pauline, »daß gar Niemand das Halsband gestohlen hat, sondern daß ich es heute morgen selber in einer kleinen Schieblade meines Secretairs fand, wohinein ich es neulich, wahrscheinlich in großer Zerstreutheit gelegt.«
»Gott bewahre, folglich konnte die »Dame« mit den grünen Haubenbändern auch nicht der Dieb sein. Jetzt hab' ich der Sache aber näher nachgeforscht und von meinen Leuten erfahren, daß die alte Frau Heßberger eine ganz besondere Wuth auf meine Wäscherin hat, weil diese sie irgend einmal, wer weiß aus welchem Grund, ich glaube wegen Verleumdung, verklagt hat, und die Alte fünf Thaler Strafe zahlen mußte. Die Schusters-Frau scheint eine ganz durchtriebene Person zu sein und ich glaube, es ist sehr unnöthig, daß ihr liebenswürdiger Gatte, während sie ihre Kunst ausübt, geistliche Lieder singt, um den Teufel fernzuhalten, es scheint Alles sehr natürlich zuzugehen. –«
»Aber woher wußte sie –« wollte Auguste fragen, brach aber rasch und plötzlich mitten darin ab.
»Was, mein Herz?« frug Pauline – »etwa das, was sie Dir von einem grauen Mann sagte? Das wolltest Du mir ja heute erzählen und ich bin fest überzeugt, wir kommen der Sache ebenfalls auf die Spur. – Sieh mein Herz, mit all den Geistergeschichten läuft es ja doch jedesmal auf blinden Lärm hinaus, denn auch das was uns die Frau Präsidentin damals als Thatsache von der Kammgarnspinnerei erzählte, hat sich als ein einfacher Betrug herausgestellt.«
»Als Betrug?«
»Gewiß und gestern Abend haben sie die Thäter erwischt. Aber nun erzähle mir auch, was Dich drückt.«
Auguste zögerte noch, aber sie hatte der Freundin einmal versprochen, ihr das Geheimniß mitzutheilen und es that ihr selber wohl, irgend Jemand zu haben, dem sie ihr Herz vollkommen ausschütten konnte. So erzählte sie denn auch jetzt, während der Abend schon wieder zu grauen begann, von der ersten Erscheinung, die sie in ihres Mannes Zimmer gehabt und wollte eben zu dem zweiten Begegnen mit dem unheimlichen Wesen übergehen, als sie laute Stimmen auf dem Vorsaal hörten.
»Die Frau Justizräthin zu Haus?« – Es war des Doctors Stimme, die Magd erwiderte etwas darauf und gleich darauf klopfte es an die Thür.
Es war der Arzt, der seine Patientin zu besuchen kam. Er freute sich übrigens sie so wohl und munter zu finden und meinte, nach ein paar hingeworfenen Fragen: – »Aber wie mir scheint, habe ich die Damen in einer wichtigen Unterhaltung gestört – thut mir leid, aber wir Aerzte kommen oft ungelegen.«
»In einer Unterhaltung,« sagte da Pauline, »die auch Sie angeht, lieber Doctor, denn sie betrifft Augustens Krankheit ebenfalls mit – bitte, erzähle weiter, liebes Herz.«
»Aber Pauline,« sagte die Frau erschreckt, »das ist nicht Recht. Das was ich Dir erzählte, war nur für Dich bestimmt.«
»Aber mein gutes Kind,« sagte die junge Frau »wenn ich nicht sehr irre, so hat gerade diese Phantasie auf Dein körperliches Befinden den größten und zwar nachtheiligsten Einfluß ausgeübt, und wie kann Dich ein Arzt wieder herstellen, wenn er nicht die Ursache Deiner Krankheit erfährt.«
»Ich danke Ihnen, Frau Hofräthin, daß Sie mir da beistehen,« sagte der Doctor »und bitte Sie nun selber, beste Frau, mir nichts vorzuenthalten. Außerdem wissen Sie, wie ich Ihnen und Ihrem Mann zugethan bin und schon als Freund des Hauses, als der ich mich doch betrachten darf, ersuche ich Sie dringend mir Alles mitzutheilen.«
Die Justizräthin sträubte sich noch ein wenig, aber es half ihr Nichts; der Doctor versicherte sie dabei, daß ihr eigener Mann ihm schon einen Theil vertraut habe, er wisse also doch einmal, um was es sich handele und solcher Art gedrängt, erzählte Auguste denn das zweite, räthselhafte Begegnen jener Erscheinung, ja verhehlte sogar nicht, daß sie von einer Wiederholung derselben das Schlimmste fürchte.
Der Doctor hatte ihr schweigend zugehört – draußen wurde wieder eine Thür geöffnet und sein scharfes Ohr vernahm leise Schritte im Vorsaal. Er wußte, der Justiz-Rath war mit dem Mann im grauen Rock eingetroffen. Der Abend brach dabei immer mehr herein und der Doctor bat, daß man die Lampe anzünden möge, da eben die Dämmerstunden die besten Hülfsgenossen solcher Phantasien seien. Pauline fügte jetzt auch noch die Geschichte der Kartenschlägerin hinzu, zu der der Doctor nur lächelnd den Kopf schüttelte; endlich aber sagte er:
»Also, Sie fürchten eine dritte Erscheinung, liebe Frau Justizräthin, weil Sie durch die zweite die Bestätigung der ersten erhalten haben?«
»Ja,« hauchte die Frau.
»Sie würden auch« – fuhr der Doktor fort, »wie Sie mir ja selber gestanden haben, ohne die zweite geneigt gewesen sein, die erste als eine bloße Phantasie, als eine Ueberreizung Ihrer Nerven anzusehen, nicht wahr?«
»– Ja –« erwiderte die Frau wieder, doch etwas zögernd.
»Schön,« nickte der Doctor vor sich hin, »wenn ich nun hier mit meinem Zauberstab« und er hob seinen Stock, den er noch in der Hand hielt, »Ihnen selber die Erscheinung zum dritten und letzten Mal heraufbeschwören würde, wobei ich Ihnen zugleich beweisen könnte, daß wir es mit nichts Anderem, als einem vollkommen compacten Wesen aus Fleisch und Blut zu thun haben, – würden Sie mir dann zugestehen, daß Sie sich geirrt, und daß solche Erscheinungen im Allgemeinen, und hier auch im Besondern, nie und nimmer als etwas Anderes betrachtet werden dürfen, wie als krankhafte Ausgeburten der Phantasie?«
»Jene Erscheinung heraufbeschwören?« frug Auguste ordentlich erschreckt.
»Ja – aber nicht etwa aus dem Boden, wie einen Geist, sondern wie es sich gebührt, die Treppe herauf,« lachte der Doctor. »Würden Sie mir versprechen, sich recht tapfer dabei zu halten und ehe Sie uns wieder ohnmächtig werden, erst einmal genau zu prüfen, ob Sie es mit einem Geist oder einem wirklichen Menschen zu thun haben?«
»Ich begreife Sie nicht,« – stammelte die Frau.
»Ist Ihr Mann nicht zurückgekehrt?« sagte der Doctor und horchte nach dessen Thür hinüber – »ich dächte, ich hätte ihn in seiner Stube gehört – he Justizrath?« rief er, indem er aufstand und an jene Thür klopfte.
»Ja ich komme gleich« – antwortete Bertlings Stimme.
»Und wann soll ich ihn sehen?« rief die Frau, die sich einer leichten Anwandlung von Furcht nicht erwehren konnte.
»Wann? – jetzt gleich, wenn Sie wollen,« lachte der Arzt. »Vorher muß ich Ihnen aber noch bemerken, daß der berühmte Mann im grauen Rock, vor dem Sie einen solchen Respect haben, richtig aufgefunden ist – denn was spürte die Polizei nicht heraus, wenn man ihr nur ihre Zeit läßt – und er hat sich als ein vollkommen achtbares, aber auch eben so harmloses Individuum herausgestellt, das damals nicht etwa ein überirdischer Auftrag, sondern ein sehr irdisches Verlangen nach einer kleinen Summe Geldes zu Ihrem Gatten getrieben hatte. Der gute Mann ist aber etwas schüchterner Natur und da Sie bei seinem Anblick ohnmächtig wurden, hielt er sich für überflüssig und ging seiner Wege. Diesmal wird er aber nicht verschwinden und ich frage Sie jetzt noch einmal, fühlen Sie sich in diesem Augenblick stark genug, Ihrem vermutheten Gespenst nicht allein noch einmal zu begegnen, sondern ihm auch guten Abend zu sagen und nachher sogar eine Tasse Thee mit ihm zu trinken?«
»Doctor – wenn Sie mir die Ueberzeugung geben könnten!« rief die Frau, indem sie von ihrem Stuhl emporsprang.
»Schön« sagte der Doctor, »dann bitte, geben Sie mir Ihren Arm. – Sie sind ja sonst ein vernünftiges Frauchen,« setzte er herzlich hinzu, »und werden sich doch wahrhaftig Ihren klaren Verstand nicht von einer bloßen Einbildung todtschlagen lassen. – Also jetzt kommt die Geisterbeschwörung und danach hoffe ich Sie wieder so munter und heiter zu sehen, wie nur je.«
Er ließ ihr auch keine Zeit zu weiteren Einwendungen, nahm ihren Arm und führte sie der Thür von ihres Gatten Zimmer zu.
»Können wir eintreten?« rief er hier, indem er anklopfte.
»Nur herein!« tönte des Justizraths frische Stimme, allein als der Doctor die Thür aufwarf, fühlte er wie die Justizräthin an seinem Arm zusammenzuckte. Pauline war jedoch schon an ihre andere Seite getreten, um sie im Nothfall zu unterstützen. Aber die junge Frau hatte nicht zu viel versprochen, wenn sie sagte, daß sie sich stark fühlte und doch gehörte viel Willenskraft dazu, dem was sie bis dahin für eine furchtbare Wirklichkeit gehalten – eine Botschaft aus der Geisterwelt – jetzt wieder, genau wie an jenem Abend, zu begegnen und ruhig dabei zu bleiben.
Auf dem Tisch stand die Lampe und warf ihren düsteren Schein über das kleine Gemach, links neben dem Tisch saß der Justizrath – rechts neben dem Ofen, den rechten Arm über die Stuhllehne, das etwas bleiche Antlitz der Thür zugedreht – Auguste mußte tief Athem holen, denn ein unsagbares Etwas schnürte ihr die Brust zusammen, – saß der Mann im grauen Rock, genau wie sie ihn an jenem Abend gesehen, in jeder Miene, in jeder Falte seines Rockes.
»So meine liebe Frau Justizräthin«, rief aber der Doctor jetzt – »hier habe ich also das Vergnügen Ihnen unseren Buzemann, unser Schreckgespenst vorzustellen. Herrn Conrad Wohlmeier aus Königsberg – Herr Wohlmeier, Frau Justizräthin Bertling – bitte reichen Sie ihr die Hand, damit sie nicht etwa glaubt, Sie beständen blos aus Kohlenstoff und Stickstoffgas.«
Der kleine Mann war etwas verlegen von seinem Stuhl aufgestanden und der ihn noch immer starr ansehenden Frau die Hand entgegenreichend, sagte er:
»Frau Justizräthin, es sollte mir unendlich leid thun, wenn Sie mich für einen Geist gehalten haben. – Ich bin nur ein armer Gymnasiallehrer, der –«
»Bravo«! rief der Doctor lachend aus, »das war eine vortreffliche Rede, die Sie da gehalten haben, und nun, meine liebe Frau Justizräthin, sind Sie jetzt überzeugt, daß Sie Ihrem guten Mann ganz nutzlos eine Menge Sorge und Noth gemacht und sich selber in besonders thörichter Weise gequält und geängstigt haben?«
»Lieber Doctor – wie soll ich Ihnen danken?« sagte die Frau, während Bertling auf sie zu ging und sie umarmte und küßte.
»Und jetzt!« rief Pauline lachend aus, »wollen wir auch noch den letzten Zeugen herein holen, der eine ganz vortreffliche Erklärung abgeben kann, woher die Frau Heßberger etwas von dem Mann im grauen Rock gewußt« – und damit sprang sie nach der Thür des Doctors, um die Rieke herein zu rufen – aber die Thür war fest verschlossen und der Schlüssel abgezogen. –
»Nun was ist das?« frug sie – »die Thür ist ja zu.«
»Hm, ja,« lachte der Justizrath, aber doch etwas verlegen, »da ich – da ich doch nicht wissen konnte, wie die Sache heute ablief, so –«
»So hat er die Thür abgeschlossen, daß ihm der Geist nicht wieder davonlaufen konnte!« jubelte der Doctor – »das ist vortrefflich. Justizrath, Sie sind ein Schlaukopf.«
Die Rieke wurde indessen hereingeholt und bestätigte, was sie schon an dem Nachmittag der Justizräthin gestanden, daß sie an jenem Abend die Frau Heßberger unten im Haus getroffen und sie gefragt habe, ob sie keinen Mann in einem grauen Rock gesehen, der so plötzlich weg gewesen wäre und über den sich die Frau so geängstigt hätte, daß sie ohnmächtig geworden wäre. Danach konnte sich die Kartenschlägerin wohl denken, daß die Erwähnung jenes Mannes noch frisch in der Erinnerung der Justizräthin sein würde und in der Art solcher Frauen benutzte sie das geschickt genug.
Der Doctor schwur übrigens, daß er der Gesellschaft da oben über kurz oder lang das Handwerk legen lassen werde, denn er versicherte, daß ihm in letzter Zeit schon verschiedene Fälle vorgekommen wären, wo sie mit ihren so genannten Prophezeihungen Unheil gestiftet oder den Leuten sehr unnöthiger Weise Kummer und Herzeleid bereitet hätten.
Unter der Zeit deckte die Rieke den Tisch und die kleine Gesellschaft setzte sich dann unter Lachen und heiteren Gesprächen – die Justizräthin zwischen den Doctor und »den Mann im grauen Rock« – zu dem frugalen aber fröhlichen Mahle nieder. Von dem Abend an aber verließen jene bösen Träume die Justizräthin, denn zu fest hatte sie an die Erscheinung geglaubt, um nicht jetzt, wo ihr der unleugbare Beweis des Gegentheils geworden, auch nicht die ganze Gespensterfurcht fallen zu lassen. Der Justizrath aber, seinem Wort getreu, und nur zu glücklich, sein liebes Weib von jenem unheilvollen Gedanken geheilt zu sehen, beschenkte den kleinen Lehrer noch an dem nämlichen Abend so reichlich, daß er am nächsten Morgen, jeder Sorge enthoben, seine Heimreise und dann seine Stellung in der Vaterstadt antreten konnte.
Telegraphische Depesche
Dr. A. Müller Leipzig –straße 15.
Herzlichsten Glückwunsch – heutigen Geburtstag noch oft wiederkehren – Alle wohl – tausendmal grüßen – Inniger Freundschaft.
Mehlig.
Obige Depesche war Morgens Früh, sieben Uhr in Berlin aufgegeben worden, gelangte durch den Drath nach Leipzig und wurde dem erst gestern angestellten Depeschenträger Lorenz als erste Besorgung zur augenblicklichen Beförderung übergeben.
Lorenz lief was er laufen konnte, warf am richtigen Haus angelangt, noch einen flüchtigen Blick auf die Adresse, zog dann die Klingel an der Hausthür, und wurde ohne Weiteres eingelassen.
Wie er die Hausflur betrat, öffnete sich rechts eine Thür. Ein ältliches Fräulein mit weißer Haube und Schürze kam heraus, und trug einen Präsentirteller in der Hand, auf dem das, wahrscheinlich eben gebrauchte Kaffeeservice stand; Lorenz trat auf sie zu.
»Telegrafische Depesche!« sagte er und hielt ihr das Couvert mit dem rothen Streifen entgegen.
»Jesus Maria und Joseph!« schrie die Dame, schlug in blankem Entsetzen die Hände über den Kopf zusammen und ließ das ganze Kaffeeservice auf die Erde fallen.
»Bitte tausendmal um Entschuldigung,« sagte Lorenz, indem er sich bückte und die halbe Kaffeekanne aufhob, den Präsentirteller aber liegen ließ.
»Von wem ist sie denn?« schrie aber die Dame, ohne selbst in dem Augenblick des zerbrochenen Geschirrs zu achten.
»Ja das weeß ich Sie werklich nich,« sagte Lorenz, »aber sie is für den Herrn Doctor Müller.«
»Doctor Müller? – Sie Ungeheuer Sie, was bringen Sie mir denn da das entsetzliche Papier?« rief die Dame mit vor Zorn gerötheten Wangen.
»Aber ich bitte Sie um tausend Gottes Willen mein bestes Mamsellchen!«
»Jetzt kann mir Ihr Telegraph mein Service bezahlen,« zürnte aber die schöne Wüthende, »das ist ja ärger wie Einbruch und Diebstahl! oh, das herrliche Porcellan!« Sie kniete neben den Scherben nieder und begann die auseinander gesprengten Stücke, allerdings vergebens, wieder zusammenzupassen. Lorenz wurde es aber unheimlich und wenn er auch nicht recht begriff weshalb die Dame so erschreckt sei, hielt er dies doch für einen passenden Moment sich aus dem Staub zu machen. Doctor Müller wohnte jedenfalls oben. In Gedanken behielt er auch die halbe Kaffeekanne bis zur Treppe in der Hand, dort legte er sie aber vorsichtig auf die erste Stufe und stieg dann rasch hinauf in die Bel-Etage.
Hier mußte er wieder klingeln. Ein Dienstmädchen öffnete ihm die Thür.
»Telegrafische Depesche!« sagte Lorenz und hielt ihr das Papier entgegen. Kaum war aber das Wort heraus, als das Mädchen ihm die Thür wieder vor der Nase zuschlug und er hörte nur noch wie sie drin über den Gang stürzte und in ein Zimmer hineinschrie: »O Du lieber Gott eine telegraphische Depesche.« Ein lauter Schrei antwortete – ängstlich hin und wiederlaufende Schritte wurden drinnen laut und Niemand schien sich weiter um Lorenz zu bekümmern.
»Hm,« dachte dieser, »das is mer doch eene kuriose Geschichte – was se nur derbei haben? – wenn se nich bald kommen, bimmele ich noch eenmal.«
Schon hatte er die Hand zum zweitenmale nach der Klingel ausgestreckt, als es drinnen wieder laut wurde. Deutlich konnte er die Schritte einer Anzahl von Personen hören, die auf die Saalthür zukamen und diese wurde endlich wieder halb geöffnet.
Wenn Lorenz nicht selber so erschreckt gewesen wäre, hätte er gern gelacht, denn auf dem Gang drinnen stand die wunderlichste Procession, die er in seinem ganzen Leben gesehen. Vorn ein Herr mit einem dicken rothen Gesicht und feuerrothem Backenbart, einem sehr schmutzigen Schlafrock, darunter die zusammengebundenen Unterhosen und ein Paar niedergetretene Pantoffeln. Hinter ihm stand eine Dame, ebenfalls im höchsten Morgennegligée mit weißer Nachtjacke und Unterrock. Rechts und links von diesen beiden drängten sich zwei Dienstboten herbei, Neugierde und Furcht in den bleichen Gesichtern und vier oder fünf Kinder schauten dazu mit den noch ungewaschenen und ungekämmten Köpfen vor, wo sie irgend Raum finden konnten diese durchzuschieben.
»Telegrafische Depesche für Herrn Doctor Müller,« sagte Lorenz, um diesmal keine Verwechslung des Namens möglich zu machen.
»Müller? – Holzkopf!« schrie aber der Herr im Schlafrock und warf die Thür von innen wieder dermaßen in's Schloß, daß Lorenz kaum Zeit behielt zurückzuspringen.
Etwas erstaunt blieb er, mit seiner Depesche in der Hand, jetzt an der Schwelle stehn, fing aber doch nun an zu glauben, daß die ganze Sache irgend etwas Furchtbares und Gefährliches in sich trage, das mit den geheimnißvollen Telegraphendrähten natürlich in directer Verbindung stehen mußte, und daß jetzt mehr als je daran liege, die richtige Person dafür zu finden. Vor allen Dingen suchte er deshalb, ehe er sich weiteren Mißverständnissen aussetzte, die Wohnung des besagten Doctor Müller ausfindig zu machen und der Zeitungsjunge, der eben das Tageblatt brachte, diente ihm dabei als untrügliche Quelle.
»Doctor Müller?« sagte dieser – »eine Treppe höher, können gleich das Tageblatt mit hinaufnehmen – doch Treppen genug zu laufen.«
Lorenz übernahm die Besorgung und befand sich bald zu seiner innigen Beruhigung an der rechten Thür. Ein kleines weißes Schild mit dem Namen des Dr. Müller darauf zeigte ihm, daß er sein Ziel erreicht habe.
An dieser Vorsaalthür war keine Schelle. Er klopfte erst ein paar Mal, und da ihm Niemand antwortete, drückte er die Klinke nieder und trat ein. Auf dem Vorsaal sah er auch Niemanden und die Küche stand leer, in der nächsten Stube hörte er aber Stimmen, ging dort hinüber und klopfte an.
Wie sich die Thür öffnete glänzte ihm ein mit Blumen, Torten und Geschenken bedeckter Tisch entgegen und eine junge allerliebste kleine Frau frug ihn freundlich was er wünsche. Lorenz, der außerordentlich gutmüthigen Herzens war, dachte aber mit Zagen an die Verwirrung, die er parterre und im ersten Stock schon angerichtet hatte und wünschte, mit dem unbestimmten Bewußtsein, daß er der Träger irgend einer furchtbaren Nachricht wäre, diese der jungen hübschen Frau so vorsichtig als möglich beizubringen.
»Ach heren Se,« sagte er deshalb – »erschrecken Sie nich – es is Sie was vom Telegrafen.«
Die junge Frau sah ihn stier an, hob langsam den rechten Arm in die Höh und brach mit dem kaum hörbaren Schrei: »Er ist todt!« bewußtlos zusammen. Ihr Gatte hatte auch in der That kaum Zeit sie aufzufangen und vor einem vielleicht schlimmen Sturze zu bewahren.
»Um Gottes Willen, was ist?« frug er dabei den wie halb vom Schlag gerührten Depeschenträger »eine Telegraphische Depesche? – woher?«
»Nun, da Sie's doch schon einmal wissen,« sagte Lorenz, inniges Mitleid in den erschreckten Zügen – »es is Sie richtig vom Telegrafen.«
Der junge Mann trug sein armes, bewußtloses Frauchen auf das Sopha, wo er sie den Händen der jammernd herbeistürzenden Schwiegermutter übergab. Das Kind, das die Wärterin auf dem Arme trug, fing dabei an zu schreien, die Köchin war ebenfalls herein gekommen und stand schluchzend und händeringend an der Thür und mit zitternden Händen erbrach jetzt Dr. Müller die Depesche, deren Buchstaben ihm im Anfang vor den Augen flirrten und tanzten. Endlich las er leise vor sich hin:
Herzlichen Glückwunsch – heutigen Geburtstag – noch oft wiederkehren – Alle wohl – tausendmal grüßen – liebe Frau auch. Inniger Freundschaft.
Mehlig.
Erst am Schluß und wie ihm das Bewußtsein dämmerte um was es sich hier handele, knitterte er das Papier in der Hand zusammen, drehte einen Ball daraus und schleuderte diesen mit aller Gewalt auf den Boden.
»Ist er todt?« sagte Lorenz in theilnehmendem Mitgefühl.
»Gehen Sie zum Teufel,« rief Dr. Müller in leicht verzeihlichem Aerger – »Sie und Ihre telegraphische Depesche – solchen Glückwunsch möcht ich mir nächstes Jahr noch einmal zum Geburtstag wünschen – meine arme Frau kann den Tod davon haben.«
»Bitte tausendmal um Entschuldigung,« sagte Lorenz, Niemand bekümmerte sich aber mehr um ihn, denn die Uebrigen waren jetzt sämmtlich um die Ohnmächtige beschäftigt, so daß er die Gelegenheit für passend hielt, sich so rasch und unbemerkt als möglich zu entfernen. Durch das Haus mußte er aber noch einmal förmlich Spießruthen laufen.
»Ach Sie Unglücksvogel,« sagte das Kindermädchen, das ihm mit einer Vase frischen Wassers, um der Frau zu helfen, an der Thür begegnete.
»Das nächste Mal erkundigen Sie sich vorher nach dem Namen, Sie Dingsda« – sagte der Herr in dem schmutzigen Schlafrock, der an der Saalthür in der ersten Etage ganz besonders auf ihn gewartet haben mußte, als er dort rasch und geräuschlos vorbeigleiten wollte, und unten in der Hausflur saß die Mamsell noch immer bei den Scherben, die sie vergebens zusammenpaßte.
Auch diese empfing ihn wieder mit einer Fluth von Vorwürfen, Lorenz aber hielt sich nicht auf und floh aus dem Haus hinaus, als ob er hätte stehlen wollen und dabei erwischt worden wäre.
Erst nach langer Zeit gewöhnte er sich auch an diese unausbleiblichen Folgen derartiger Depeschen, und als ich ihn neulich sprach, hatte er sogar eine Art statistischer Tabelle aufgestellt, nach der er berechnet haben wollte, daß durchschnittlich auf je vier telegraphische Depeschen – denn nicht alle laufen so unglücklich ab, – eine Ohnmacht und zwei zerbrochene Tassen, nur auf die sechste oder siebente aber ein ernstlicher Unfall folge.
»S'is was Scheenes um en Telegrafen,« sagte er dabei, »aber Gott bewahre Eenen vor ener telegrafischen Depesche!«
Es war im Juli des Jahres 18–, als der von Cassel kommende Schnellzug in Guntershausen hielt und dort solch eine Unzahl von Passagieren vorfand, daß die Schaffner kaum Rath und Aushilfe wußten. Alle Welt befand sich aber auch gerade in dieser Zeit unterwegs und die Züge – da das andauernd schlechte Wetter bisher die Reisenden zurückgehalten – waren bei dem ersten warmen Sonnenstrahl gar nicht auf einen so plötzlichen Andrang berechnet gewesen.
Uebrigens machte man möglich, was eben möglich zu machen war. Alle vorhandenen Wagen wurden eingeschoben, jeder noch freie Platz dritter Klasse – zum großen Aergerniß mit Hutschachteln und Reisetaschen reich bepackter Damen – auf das gewissenhafteste ausgefüllt und dann in die zweite, ja sogar selbst in die erste Klasse hineingeschoben was eben hineinging. Die nächsten Stationen nahmen ja auch wieder Reisende ab, und nach und nach regulirte sich alles.
Durch diesen Aufenthalt hatte sich der Schnellzug aber auch um eine gute halbe Stunde verspätet und war eben zum Abfahren fertig, als noch ein leichter Einspänner angerasselt kam und ein einzelner Herr, eine kleine lederne Reisetasche in der Hand, heraus und darauf zusprang.
»Zu spät,« rief ihm der Oberschaffner entgegen und gab den verhängnißvollen schrillenden Pfiff; »wir haben alle Personenwagen besetzt.«
Der Fremde, der augenscheinlich kein Neuling auf Reisen war, warf einen raschen, prüfenden Blick über die lange Wagenreihe und sah Kopf an Kopf in den Fenstern – aber die Schiebethür des Packwagens stand noch halb geöffnet.
»Dann werde ich mich bis zur nächsten Station bei den Koffern einquartiren,« lachte er und ohne die Einwilligung des Schaffners abzuwarten, der übrigens auch nichts dagegen hatte, sprang er auf den Wagentritt und in den Packwagen hinein. Bei einem solchen Andrang von Personen mußte sich ein jeder helfen so gut er eben konnte.
»Das ist eigentlich nicht erlaubt –« sagte der Packmeister; aber der Fremde kannte genau die Sprache, die hier alleinige Geltung hatte, und dem Packmeister ein Stück Geld in die sich unwillkürlich öffnende Hand drückend, lachte er:
»Ich führe ganz vortreffliche Cigarren bei mir und wenn ich nicht im Wege bin, erlauben Sie mir wohl eine Viertelstunde Ihnen hier Gesellschaft zu leisten.«
»Haben Sie denn ein Billet?« frug der Mann und sein Gefühl sagte ihm, daß er ein großes Silberstück in der Hand hielt.
»Noch nicht – ich bin eben erst, wie der Zug abgehen wollte, mit einem Einspänner von Melsungen herüber gekommen. Mein Billet nehme ich auf der nächsten Station.«
»Na da setzen Sie sich nur da drüben auf den Koffer, in Treysa gibt's Platz,« bemerkte der Packmeister, während der Fremde seine Cigarrentasche herausnahm und sie dem Manne hinhielt.
»Mit Erlaubniß – danke schön« – die Bekanntschaft war gemacht, der Zug überdies in Bewegung und der Passagier, bis ein anderer Platz für ihn gefunden werden konnte, rechtsgültig untergebracht.
Eine Cigarre wirkt überhaupt oft Wunder und die Menschen, die sich diesen Genuß aus ein oder dem andern Grunde versagen, wissen und ahnen gar nicht, wie sehr sie sich oft selber dadurch im Lichte stehen. Mit einer Cigarre ist jeder im Stande, augenblicklich auf indirecte Art eine Unterhaltung anzuknüpfen, indem man nur einen Reisegefährten um Feuer bittet. Ist dieser in der Stimmung, darauf einzugehen, so giebt er die eigene Cigarre zum Anzünden. Paßt es ihm aber nicht, so bleibt ihm immer noch ein Ausweg – er reicht dann dem Bittenden einfach ein Schwefelholz. Der Empfänger dankt, zündet seine Cigarre an, wirft das Holz weg und betrachtet sich als abgewiesen.
Mit einer dargebotenen Cigarre gewinne ich mir außerdem das Herz unzähliger Menschen, die der nicht rauchende Reisende in gemeiner Weise durch schnöde Fünf- und Zehn-Groschenstücke gewinnen muß. – Sitz' ich auf der Post neben dem Postillion auf dem Bock, so öffnet mir eine Cigarre sein ganzes Herz; ich erfahre nicht allein die außerordentlichen Eigenschaften seiner Pferde, sondern auch die Familiengeheimnisse des Posthalters und erweiche ich dasselbe sogar noch mit einem Glase Bier, so liegt sein eigenes Innere offen vor mir da. Selbst der gröbste Schaffner wird rücksichtsvoll, sobald er die ihm dargereichte Cigarrentasche erblickt – man soll nämlich derartigen Leuten nie eine einzelne Cigarre hingeben, weil sie außerordentlich mißtrauisch sind und leicht Verdacht schöpfen können, man führe besondere »Wasunger« Sorten bei sich für solchen Zweck und das verletzt ihr Ehrgefühl.
Auch der Packmeister war gesprächig geworden – die Cigarre schmeckte ausgezeichnet – und erzählte von dem, was ihm natürlich am nächsten lag, von der ewigen unausgesetzten Plackerei, so daß man seines Lebens kaum mehr froh werden könnte. Die ganze Welt reise jetzt – wie er meinte – in die Bäder. Er reiste auch in einem fort – alle Wochen drei Mal in die Bäder, kam aber nie hin und hatte kaum Zeit, sich Morgens ordentlich zu waschen, viel weniger zu baden. In seinem Packwagen stecke er dazu wie eine Schnecke in ihrem Haus, nur daß die Schnecke nicht ununterbrochen Koffer und Hutschachteln ein- und auszuladen hätte. »Sehen Sie« – setzte er dann hinzu – »so gewöhnt man sich aber daran, daß ich schon Nachts in meinem eigenen Bett – wenn ich meine Nacht daheim hatte und ich schlafe dicht am Bahnhof – im Traum, sowie ich nur die verdammte Locomotive pfeifen hörte, Bettdecke und Kopfkissen in die Stube hineingefeuert habe, weil ich glaubte, es wäre Station und ich müßte ausladen. Es ist Sie ein Hundeleben.«
Wieder pfiff diese nämliche Locomotive. Der Zug hielt an einer der kleinen Stationen und drei Koffer gingen hier ab, und ein anderer Koffer mit zwei Reisesäcken und eine Kiste kam hinzu. Der Fremde mußte aber noch sitzen bleiben, denn der Aufenthalt dauerte zu kurze Zeit, um ein Billet lösen zu können.
»Ich begreife nicht,« sagte der Fremde, »wie Sie sich da immer so zurecht finden, daß Sie gleich wissen was expedirt wird und was dableibt. Kommt da nicht auch oft ein Irrthum vor?«
»Doch selten,« meinte der Packmeister, indem er seine bei der Expedition ausgegangene Cigarre wieder mit einem Schwefelhölzchen anzündete – »man bekommt Uebung darin. Nur heute wär mir's in dem Wirrwarr bald schief gegangen, denn in Guntershausen hatte ich aus Versehen den nämlichen Koffer hinausgeschoben, auf dem Sie da sitzen. Glücklicherweise kriegte ihn der Eigenthümer noch zur rechten Zeit in die Nase – und das bischen Spectakel, was der machte! Aber es war ja noch kein Malheur passirt und so schoben wir ihn wieder herein. Den Packmeister möchte ich überhaupt sehen, dem nicht schon einmal ein falscher Koffer entwischt ist – der Telegraph bringt das aber alles wieder in Ordnung. – Staatseinrichtung das mit dem Telegraphen.«
Der Fremde hatte sich, während der Mann sprach fast unwillkührlich den Koffer angesehen, auf dem er saß, und stand jetzt auf und las das kleine Messingschild. Es enthielt nur die zwei Worte »Comte Kornikoff.«
»Und wie sah der Herr aus, dem der Koffer gehörte?« frug er endlich.
»Oh, ein kleines, schmächtiges Männchen,« meinte der Packmeister, »mit einem pechschwarzen Schnurrbart und einer blauen Brille.«
»Wohin geht denn der Koffer heute?«
»Nach Frankfurt – ich war ja ganz confus und glaubte, er ginge nach Cassel, weil ich gestern den Packwagen dorthin hatte.«
Wieder pfiff die Locomotive und während der Packmeister von seinem Geschäft in Anspruch genommen wurde, betrachtete der Fremde das Schild noch genauer, aber er sprach nichts weiter darüber und da sie gleich darauf in Treysa hielten, mußte er dort aussteigen und ein Billet lösen. Hier war auch eine große Zahl von Passagieren abgegangen und Platz genug geworden.
»Wohin fahren Sie?«
»Die vorderen Wagen.«
Der Fremde schritt an der Reihe hinauf und sah in die verschiedenen Coupés hinein. In dem einen saß ein Herr und eine Dame. Der Herr trug eine blaue Brille. Er öffnete sich selber die Thür, stieg ein, grüßte und nahm dann in der einen Ecke Platz.
Der Herr mit der blauen Brille schien das nicht gern zu sehen – er schaute aus dem Wagenfenster als ob er einen Schaffner herbeirufen wollte, und warf dann einen forschenden Blick auf den Fremden. Dieser aber kümmerte sich nicht darum, legte seine kleine Reisetasche in das Netz hinauf und machte es sich dann vollkommen bequem.
»Bitte, Ihr Billet, mein Herr –«
»Hier –«
»Sie haben aber erste Klasse.«
»Es sitzen einige Damen erster Klasse,« sagte der Fremde, »und da ich den Herrn da rauchen sah, nahm ich hier Platz. Die Dame wird mir wohl das Anzünden einer Cigarre erlauben.«
Die letzten Worte waren, wie halb fragend an die Dame gerichtet, deren Gesichtszüge sich aber nicht im Geringsten dabei veränderten. Sie mußte den Sinn derselben gar nicht verstanden haben.
Der Schaffner coupirte das Billet und die Passagiere waren allein; da aber der Fremde der Artigkeit Genüge leisten wollte, nahm er seine Cigarrentasche heraus und aus dieser eine Cigarre und sagte dann noch einmal, sich an den Herrn wendend:
»Die Dame scheint meine Frage nicht verstanden zu haben. Sie erlaubt mir wohl, daß ich rauche?«
»Sprechen Sie Englisch?« frug der Herr in dieser Sprache zurück – »ich verstehe kein Deutsch –«
»Ich muß sehr bedauern,« sagte der Fremde achselzuckend, aber wieder in deutscher Sprache. Die Unterhaltung war dadurch unmöglich geworden, die Pantomine indeß zu deutlich gewesen und der Herr mit der blauen Brille reichte dem, wie es schien eben nicht willkommenen Reisegefährten seine brennende Cigarre zum Anzünden, die dieser dankend annahm und dann zurückgab.
Die Dame hatte den Kopf halb abgewandt und sah zu dem geöffneten Fenster hinaus. Der Fremde warf unwillkürlich den Blick nach ihr hinüber und mußte sich gestehen, daß er selten, wenn je in seinem Leben, ein schöneres Gesicht, regelmäßigere Züge, feurigere Augen und einen tadelloseren Teint gesehen habe. Und wie schön mußte das Mädchen oder die Frau erst sein, wenn sie lächelte, denn jetzt zog eine Mischung von Trotz und Stolz – vielleicht der Unwille über des Fremden Gegenwart, die fein geschnittenen Lippen zusammen und gab dem lieben Antlitz etwas Finsteres und Hartes, was ihm doch sonst gewiß nicht eigen war.
Ein kurzes Gespräch entspann sich jetzt zwischen dem Herrn und der Dame, auf welches der Fremde aber nicht zu achten schien, denn er nahm ein Eisenbahnbuch aus der Tasche und blätterte darin. Die Dame sagte, ohne jedoch den Blick von der Landschaft wegzuwenden, ebenfalls in englischer Sprache:
»Wer ist der Fremde?«
»Ich weiß es nicht,« lautete die Antwort, »aber wir brauchen uns seinetwegen nicht zu geniren; er versteht kein Englisch.«
»Aber er sieht englisch aus.«
»Bewahre,« lachte der Mann – »er hat auch nicht ein einziges englisches Stück Zeug an seinem Körper – die Reisetasche ist ebenfalls deutsch, gerade so wie sein Handbuch.«
»Er ist lästig, wir hätten erster Classe fahren sollen.«
»Liebes Herz, das schützt uns nicht vor Gesellschaft, denn der Herr hat ebenfalls ein Billet erster Classe und ist nur hier eingestiegen, weil er mich rauchen sah.«
»Dein fatales Rauchen.« – Die Unterhaltung stockte und der Herr mit der blauen Brille warf noch einen prüfenden Blick nach seinem Reisegefährten hinüber, der aber gar nicht auf ihn achtete und sich vollständig mit seiner Cigarre und seinem Buch beschäftigte. Nur dann und wann hob er den Blick und schaute nach beiden Seiten auf die Landschaft hinaus und streifte dann damit, wenn auch nur flüchtig, den Fremden.
Es war eine kleine, aber zierliche schlanke Gestalt, sehr elegant, aber fast zu sorgfältig gekleidet, auch mit mehr Schmuck als ein wirklich vornehmer Mann zu zeigen pflegt. Die Hände aber hatten etwas wirklich Aristokratisches – sie waren weiß und zart geformt und wenn er den Mund zum Sprechen öffnete, zeigte er zwei Reihen auffallend weißer Zähne. Sein Haar war braun und etwas gelockt, der Schnurrbart aber von tiefer Schwärze, jedenfalls gefärbt. Die Augen ließen sich nicht erkennen, da sie von der blauen Brille bedeckt wurden. Trotzdem aber, daß er nur englisch zu sprechen schien, war er vollkommen nach französischer Mode gekleidet. Nur die junge Dame trug in ihrem Putz und Reiseanzug den entschieden englischen Charakter, wie auch entschieden englische Züge. Ihren Begleiter würde man weit eher für einen Franzosen als für einen Sohn Albions gehalten haben.
Mehrere Stationen blieben die Drei allein in ihrem Coupé. Die Dame war müde geworden und hatte – soweit es die Bewegung des Wagens erlaubte – ein wenig geschlafen. In Gießen aber kamen noch eine Anzahl Passagiere hinzu und zwei von diesen, ein Herr und eine Dame, stiegen in dies nämliche Coupé. Wieder ein Paar Engländer und die Dame, wenn auch schon ziemlich in den Jahren, doch mit den unvermeidlichen, langen Hobelspahnlocken, die ihr vorn fast bis zum Gürtel nieder hingen; der Herr mit einem breitränderigen, schwarzen Filzhut, einem kleinen, sehr mageren Schnurrbart und einer Cigarre im Munde – lauter continentale Reiseerinnerungen, die wieder fallen müssen, sobald der Eigenthümer derselben den Boden seines Vaterlandes aufs neue betritt.
Wenn sich die beiden Herren aber auch ziemlich kalthöflich gegeneinander verneigten, so schienen die Damen dagegen schon beim ersten Blick die gemeinsame Nationalität erkannt zu haben, und kaum saß die Neuhinzugekommene, als sie auch ein lebhaftes Gespräch mit ihrer jungen Nachbarin begann, an dem sich diese ebenfalls zu freuen schien, denn ihr Gemahl oder Begleiter hatte sie wenig genug unterhalten.
Engländer auf dem Continent – wie könnte es ihnen auch an Stoff zur Unterhaltung fehlen – Vereinigt sie nicht ein gemeinsames Leid und Elend? Werden sie nicht gleichmäßig von allen Wirthen, Kellnern, Droschkenkutschern, Gepäckträgern und Lohnbedienten geprellt, und kann ein wirklicher Engländer ohne Lohnbedienten auf dem Continent durchkommen, denn spricht er je die Sprache des Landes, auf dem er eine freie Zeit zubringen will? – Unter hunderten kaum einer.
Das Gespräch – sowie nur die ersten Fragen über woher und wohin erledigt waren, drehte sich auch nur um diesen Gegenstand, und der Herr mit dem breitkrämpigen Hut nahm bald lebhaften Theil daran.
Er kam mit seiner Frau natürlich von London, hatte vier Wochen zur Reise bestimmt, zwei davon schon nützlich verwandt, und schien fest entschlossen, auch die andern beiden noch daran zu setzen, um sich in jeder nur erreichbaren Stadt Deutschlands über die Wirthe im Einzelnen und das Volk im Allgemeinen zu ärgern, und dann mit dem stolzen Bewußtsein nach Hause zurückzukehren, daß es doch nur ein England in der Welt gäbe.
Die junge Frau kam, wie sie sagte, mit ihrem Mann von Hannover, wo sie ein Jahr bei Freunden zugebracht. Sie beabsichtigten jetzt auf einen Monat nach Frankfurt oder auch vielleicht in ein benachbartes Bad zu gehen, um ihre Gesundheit, die durch den längeren Aufenthalt in dem rauhen Lande angegriffen sei, wieder herzustellen.
»Und wo werden Sie in Frankfurt wohnen?«
Sie wußten es noch nicht – der Herr mit dem breiträndrigen Hut schlug die »Stadt Hull« als ein sehr billiges, ihm besonders empfohlenes Gasthaus vor. Uebrigens könne man ja vorher über den Preis von »board and lodging« akkordiren – er thäte das immer, wenn es auch ein wenig »schäbig« aussehe – den deutschen Wirthen gegenüber sei man sich das aber schuldig.
Beide Parteien beschlossen deshalb, in Stadt Hull zu übernachten und gemeinschaftlich zu essen – »es sei das billiger.« Morgen konnte man dann auch zusammen einen Lohnbedienten nehmen, und sparte dadurch die halbe Auslage – der morgende Tag würde überhaupt ein sehr angestrengter werden, denn es gab in Frankfurt – nach Murray – eine Unmasse von Sehenswürdigkeiten, die nun einmal durchgekostet werden mußten, wenn man nicht die Reise umsonst gemacht haben wollte.
Der Herr mit der blauen Brille hatte sich nicht sehr an der Unterhaltung betheiligt. Er schien keine Freude daran zu finden. Auch die Aufforderung, gemeinsam in Stadt Hull zu logiren, beantwortete er zweideutig, während die junge Dame augenblicklich bestimmt zusagte. Dann lehnte er sich in seine Ecke zurück und schlief – er verhielt sich wenigstens von da an vollkommen ruhig, wenn man auch der blauen Brillengläser wegen nicht einmal sehen konnte, ob er nur die Augen geschlossen hielt.
Es war indessen dunkel geworden – die übrigen Passagiere wurden ebenfalls müde, und nur auf der vorletzten Station unterbrach der Schaffner noch einmal die Stille, indem er die Billete nach Frankfurt abforderte.
Der Fremde mit der blauen Brille schien wirklich eingeschlafen zu sein. Er fuhr, als ihn der Schaffner, der neben ihm durch das Fenster sah, auf die Schulter klopfte, ordentlich wie erschreckt in die Höhe und sah sich wild und verstört um – er hatte jedenfalls geträumt, und suchte dann, als er begriff was man von ihm wolle, in der Westentasche nach seinem Billet.
Ein kleiner weißer Streifen Papier fiel dabei auf die Erde und der Fremde mit der Reisetasche, der jenem schräg gegenüber saß, stellte den Fuß darauf. Dann war wieder alles still; der mit der blauen Brille lehnte sich in seine Ecke zurück und sein halbes Vis-à-vis nahm sein Taschentuch heraus, ließ es wie zufällig fallen und hob den Zettel damit auf – es war der Gepäckschein.
Bald darauf rasselte der Zug mit einem markdurchschneidenden Pfeifen – daß Einem die eigene Lunge weh that, wenn man es nur hörte – in den Frankfurter Bahnhof ein, und der Fremde mit der kleinen Reisetasche war der erste, der aus dem Wagen sprang und zu dem Güterkarren eilte. Hatte er indessen unredliche Absichten dabei gehabt, so sollte er die vereitelt sehen, denn es dauerte eine Ewigkeit, bis der, wie es schien, wohlgemerkte Koffer, auf den der Schein lautete, zum Vorschein kam, und bis dahin war der rechtmäßige Eigenthümer schon ebenfalls herbei gekommen und erkannte sein Gepäck. Vergebens suchte er indessen in allen Taschen nach seinem Schein und fluchte auf deutsch, englisch und französisch, daß ihm die Beamten sein Gepäck nicht ohne denselben ausliefern wollten.
Der Fremde hatte sich etwas zurückgezogen und stand im Schatten eines Pfeilers – jedenfalls machte er da die Entdeckung, daß der Herr mit der blauen Brille nicht allein vollkommen gut deutsch, sondern auch französisch sprach, und sich in beiden Sprachen erbot, seine Koffer zu öffnen und dadurch zu beweisen, daß er der Eigentümer sei.
Der Inspektor kam endlich heran und ersuchte ihn sehr artig, nur so lange zu warten, bis das übrige Gepäck fortgenommen sei; wenn er dann die passenden Schlüssel producire, möge er seine Koffer mit fortnehmen.
Der Fremde zeigte Anfangs viel Ungeduld, und erklärte mit dem nächsten Zuge nach Mainz noch weiter zu wollen, der Inspektor bedeutete ihm aber, daß er dann hätte besser auf seinen Gepäckschein Acht geben sollen – den Zug nach Mainz erreiche er indessen doch nicht mehr, da derselbe schon vor einer Viertelstunde abgegangen, weil sich der Schnellzug verspätet habe. Es blieb ihm zuletzt kein anderer Ausweg, als dem gegebenen Rath zu folgen, und als seine Koffer wirklich zurückgeblieben, und er sich durch seine Schlüssel als der rechtmäßige Eigenthümer legitimiren konnte, bekam er endlich sein Gepäck und ließ es – einen großen und einen kleineren Koffer – in die durch die Dame schon in Besitz genommene offene Droschke schaffen.
Dicht dahinter hielt noch eine verschlossene Droschke ohne Gepäck; sonst hatten sämmtliche Wagen, selbst die Omnibusse, schon die Bahn verlassen, und der Kutscher fuhr jetzt, auf die Anweisung des Reisenden, nicht nach der Stadt Hull, sondern nach dem »Hôtel Methlein.«
Die andere Droschke folgte in etwa zwanzig Schritt Entfernung nach, und hielt, als die erste in den Thorweg einfuhr. Ein Reisender mit einer kleinen Reisetasche in der Hand stieg aus, befahl dem Droschkenkutscher zu warten, und betrat dann zu Fuß das nämliche Hotel.
Dort angekommen legte der Reisende nur eben in dem ihm bezeichneten Zimmer sein geringes Gepäck ab, bestellte sich unten im Speisesaal etwas zu essen und verließ dann noch einmal das Hotel, um nach dem Telegraphenbureau zu fahren. Dort gab er folgende Depesche auf:
Mr. Burton, Union Hôtel, Hannover.
Ist ein Graf Kornikoff ein Jahr in Hannover gewesen? – Fremdenliste nachsehen. Kommen Sie so rasch als möglich hierher. – Bin ich abgereist, liegt ein Brief im Hotel. –
H.
Dann kehrte er ins Hotel zurück und verzehrte sein Abendbrod, das ihm der Kellner brachte.
Der Saal war leer; nur vier Herren saßen an einem Tisch und schienen, schon ziemlich angetrunken, den Geburtstag des einen zu feiern, der mit schwerer Zunge noch eine Flasche moussirenden Rheinwein bestellte. Um den Fremden bekümmerte sich Niemand.
Dieser aß das ihm vorgesetzte Beefsteak, trank seine Flasche Wein dazu und wartete es ruhig ab, bis ihm der Kellner das Fremdenbuch brachte. In dasselbe schrieb er sich ein als W. Hallinger, Particulier aus Breslau und blätterte dann die Seiten nach den dort eingetragenen Namen durch.
Ganz zuletzt – dicht über seinem eigenen Autograph – standen seine Reisegefährten eingetragen: »Comte Kornikoff und Frau, aus Petersburg – von Hannover nach Frankfurt.«
Der Kellner hatte dabei bemerkt Nr. 6 und 7.
»Wollen Sie morgen früh geweckt sein?« frug ihn der Portier, als er seine Flasche beendet und seine Cigarre ausgeraucht hatte, und eben im Begriff stand zu Bett zu gehen.
»Wann geht der erste Zug?«
»Wohin?«
»Nach Mainz oder Wiesbaden.«
»Sechs Uhr.«
»Gehen da noch mehrere Passagiere ab?«
»Jawohl,« erwiederte der Portier, auf die für den Hausknecht bestimmte Tafel zeigend – »Nr. 5, Nr. 17 und Nr. 37 lassen sich wecken. Soll ich Sie ebenfalls notiren?«
»Ach, ich weiß nicht; ich bin müde heut Abend. Ich werde wohl erst mit dem zweiten Zug fahren.«
»Sehr wohl, mein Herr – Kellner, Licht auf Nr. 8. Angenehme Ruhe.«
Der Fremde stieg auf sein Zimmer hinauf und sah vor Nr. 7 ein Paar Herrenstiefeln und ein Paar lederne Damenschuhe stehen. Im Hotel schlief aber schon alles; es war spät geworden, da sich der Zug überhaupt verspätet hatte und der »Particulier Hallinger« suchte ebenfalls sein Lager.
Am nächsten Morgen war der Fremde, der sich in dem Fremdenbuch als Particulier Hallinger eingeschrieben hatte, trotzdem daß er nicht geweckt wurde, ziemlich früh wieder munter, aber es schlug 8 Uhr, und die Stiefel und die Damenschuhe standen noch immer vor Nr. 7, ohne hereingeholt zu sein. Erst gegen neun Uhr schienen die Insassen jenes Zimmers ordentlich munter zu werden, und um halb zehn Uhr wurde Kaffee bestellt. Aber erst gegen zwölf Uhr ging der Herr aus, und zwar allein – die Dame blieb auf ihrem Zimmer. Wie der Kellner aussagte, fühlte sich die Dame nicht ganz wohl, und wollte heute ausruhen – er hatte wenigstens nicht in das Zimmer gedurft, und das Stubenmädchen mußte den Kaffee hinein tragen. Wahrscheinlich lag sie noch im Bette.
Der Fremde blieb übrigens den ganzen Tag zu Haus, und schickte nur einen Brief an Messrs. Burton & Burton, London, 12 Fleetstreet durch den Hausknecht auf die Post. Thatsache war übrigens, daß er sich ungemein für seine Nachbarschaft zu interessiren schien, denn als der Herr wieder nach Hause kam, rückte er sich leise einen Stuhl an die verschlossene Verbindungsthür und horchte stundenlang mit einer merkwürdigen Ausdauer dem da drüben gehaltenen Gespräch, jedoch ohne besonderen Nutzen. Die laut gesprochenen Worte waren vollständig gleichgültiger Natur, und das andere konnte er eben nicht verstehen.
Zu Mittag aß er an der Table d'hôte, aber von Nr. 6 oder 7 ließ sich niemand dabei blicken. Die Dame schien sich noch angegriffen von der Reise zu fühlen und Beide speisten auf ihrem Zimmer.
Erst Nachmittags begegnete er dem »Grafen Kornikoff« auf der Treppe und dieser sah ihn etwas überrascht durch seine blaue Brille an. Der Fremde heuchelte aber vollständige Gleichgültigkeit, nahm nicht die geringste Notiz von ihm, und that wenigstens so, als ob er ihn gar nicht wieder erkenne.
So verging der Tag, ohne daß die beiden Reisenden Miene gemacht hätten, Frankfurt wieder zu verlassen. Der Oberkellner, mit dem sich Herr Hallinger über die »bildschöne junge Frau« unterhielt, wußte wenigstens nicht das Geringste davon. Abends aber, als der Schnellzug von Hannover erwartet wurde, ging Hallinger hinaus auf den Bahnhof, und brauchte, als der Zug endlich einlief, auch nicht lange nach dem Erwarteten zu suchen. Dieser hatte ihn schon von seinem Coupé aus bemerkt und kam rasch auf ihn zu.
»Hamilton! nun, was Neues?«
»Ich glaube, ich bin auf der richtigen Spur, Mr. Burton,« sagte dieser, indem er achtungsvoll seinen Hut berührte. »Aber wo ist Ihr Gepäck?«
»Nichts als die Reisetasche hier.«
»Desto besser, auf der Jagd darf man nicht unnöthigen Plunder mitschleppen. Kommen Sie, ich habe schon eine Droschke«.
»Gehen wir nicht lieber zu Fuß?«
»Es ist zu weit – und fahren ist sicherer.«
»Und was haben Sie nun entdeckt?« frug der junge Engländer, als Beide eingestiegen waren und davon rasselten – die Unterhaltung wurde auch in englischer Sprache geführt.
»Das will ich Ihnen mit kurzen Worten sagen,« berichtete der fälschlich als deutscher Particulier eingetragene Fremde. »Durch einen reinen Zufall war ich genöthigt, ein Paar Stationen in einem Packwagen zu fahren, und fand dort einen Koffer, dessen Messingschild den Namen »Comte Kornikoff« trug.«
»Und Sie glauben, daß jener Schuft Kornik dahinter stecke?«
»Durch den Namen allein wäre ich vielleicht nicht einmal darauf gefallen,« fuhr Hamilton fort, »aber das französische Wort Comte war jedenfalls später zu dem Namen gravirt, denn es nahm nicht den Raum ein, den ihm der Graveur gegeben hätte, wenn er es von Anfang an darauf gesetzt. Ebenso schien das off hinzugefügt.«
»Und die Beschreibung des Eigenthümers paßt?« rief Mr. Burton rasch.
»Ja und nein. Wohl in der Gestalt, aber sonst nicht ganz; der dunkelblonde Backenbart fehlt«.
»Der kann abrasirt sein.«
»Das ist möglich – aber er trägt einen vollkommen schwarzen Schnurrbart und eine blaue Brille«.
»Der Schnurrbart ist vielleicht gefärbt.«
»Das vermuthe ich selber. – Die Dame ist bei ihm.«
»Miss Fallow?«
»Unter dem Namen der Gräfin Kornikoff natürlich, – wenn das nämlich der von uns Gesuchte ist. Sie kennen ihn doch genau?«
»Als ob er mein leiblicher Bruder wäre. Er war ja sieben Jahre in meines Vaters Haus und die beiden letzten als Hauptcassirer, wo er sich – wer weiß durch was, verleiten ließ, diesen bedeutenden Kassendiebstahl zu begehen.«
»Wahrscheinlich durch eben diese junge Dame,« sagte Hamilton, »von der ich ganz allerliebste Sachen gehört habe. Ihr eigentlicher Name ist Lucy Fallow, Tochter eines Schneidermeisters in London, aber die Eltern sind beide todt. Es sollen ganz ordentliche Leute gewesen sein. Das junge Mädchen hatte, ihres anständigen Benehmens wegen und da sie wirklich nicht ungebildet ist, ein Paar Jahr mit einer vornehmen Familie reisen können, und dann später auch noch hie und da Unterricht in Musik gegeben. Dadurch kam sie auch in Lady Clives Haus, von wo aus sie jetzt beschuldigt wird, einen sehr werthvollen Schmuck entwendet zu haben.«
»Der sich dann vielleicht in ihrem Koffer findet.«
»Beinah hätte ich diese beiden Koffer erwischt,« lächelte Hamilton leise vor sich hin, »aber ich durfte kein Aufsehen erregen, bis ich nicht durch Sie hier Gewißheit über die Persönlichkeit erlangen konnte. Die Dame kennen Sie nicht selber?«
»Nein – ich habe sie nie gesehen.«
»Und von einem Grafen Kornikoff in Hannover auch nichts gehört?«
»Nicht das Geringste. Kein Mensch wußte dort etwas von ihm, und er stand nicht einmal in einem Fremdenblatt. Er kann nur durchgereist sein, und Sie werden gewiß die richtige Spur gefunden haben. Uebrigens müssen wir vorher die nöthigen Schritte auf der Polizei thun.«
»Ist schon alles geschehen,« sagte Hamilton. »Ich habe den Verhaftsbefehl für das Pärchen schon in der Tasche, und den Burschen mit seiner Donna fest, sowie Sie mir nur bestätigen, daß er der Rechte ist.«
»Ich hätte im Leben nicht geglaubt,« sagte Mr. Burton, »daß Sie dem Betrüger sobald auf die Spur kämen. Es geht alles nach Wunsch. Apropos, haben Sie denn die Dame auch zu sehen bekommen?«
»Ich bin ja mit ihnen in einem Coupé gefahren,« lachte Hamilton, »und sie ahnten dabei wahrscheinlich nicht, daß sie einen geheimen Polizisten bei sich im Wagen hatten. Nun ich denke, wir werden noch länger Reisegefährten bleiben. Aber da sind wir – jetzt haben wir nur darauf zu sehen, daß uns die Herrschaften nicht etwa morgen in aller Früh durchbrennen. Wollen wir gleich auf Ihr Zimmer gehen?«
»Ich muß erst etwas essen; ich bin ganz ausgehungert.«
»Schön – dann kommen Sie mit in den Speisesaal, wir finden ihn um diese Zeit fast leer.«
Sie bogen rechts ein, um den Saal zu betreten. Als aber Hamilton die Hand nach der Thür ausstreckte, öffnete sich diese, und Graf Kornikoff trat heraus, warf einen flüchtigen Blick auf die Beiden und schritt dann langsam über den Vorsaal, der Treppe zu.
»Das war er,« flüsterte Hamilton seinem Begleiter zu – »wenn er Sie nur nicht erkannt hat.«
Unwillkührlich drehte Burton den Kopf nach ihm um, konnte aber die schmächtige Gestalt des Herrn nur noch sehen, wie er eben um die Ecke bog, ohne jedoch dabei zurückzuschauen.
»Das glaub ich kaum,« sagte Burton, »denn der Moment war zu rasch, und dann hätte er doch auch jedenfalls irgend ein unwillkürliches Zeichen der Ueberraschung gegeben. In der Verkleidung und mit der blauen Brille und dem schwarzen Schnurrbart würde ich selber aber nie im Leben diesen Mr. Kornik vermuthet haben. Wenn Sie sich nur nicht geirrt, denn in dem Fall versäumen wir hier viel Zeit.«
»Ist es denn nicht wenigstens seine Gestalt?« frug Hamilton.
»Die nämliche Gestalt allerdings,« bestätigte Burton, »aber das Gesicht konnte ich – unvorbereitet wie ich außerdem war – unmöglich in der Geschwindigkeit erkennen. Wann geht der erste Zug morgen früh?«
»Erst um sechs Uhr.«
»Ah, dann ist ja voller Tag,« sagte Burton, »und im schlimmsten Fall halten wir ihn mit Gewalt zurück. Wäre es aber nicht besser, wir äßen auf unserem Zimmer?«
»Jetzt kommt er nicht mehr herunter,« meinte Hamilton. »Jedenfalls setzen Sie sich mit dem Rücken der Thür zu, und wenn er dann ja noch einmal den Saal betreten sollte, so werde ich bald sehen, was er für ein Gesicht dabei macht.«
Hamilton hatte übrigens Recht. Graf Kornikoff ließ sich nicht mehr blicken und als die Beiden ihr Abendbrod beendet hatten, gingen sie auf Mr. Burtons Zimmer hinauf, das einen Stock höher als Hamiltons lag, um dort noch Manches zu besprechen.
Burton hatte sich jedoch vorher, auf Hamiltons Rath unter einem französischen Namen in das Fremdenbuch eingetragen, um doch jede nöthige Vorsicht zu gebrauchen. Auch verabsäumte der schlaue Polizeibeamte nicht, vor Schlafengehen noch einmal die Tafel des Portiers zu revidiren, ob sich vielleicht Nr. 6 oder 7 darauf befand, um früh geweckt zu werden. Das war aber nicht der Fall, und Hamilton glaubte jetzt selber, daß jener Herr, wenn es wirklich der Gesuchte gewesen, Mr. Burton in dem Moment ihres augenblicklichen und unerwarteten Begegnens nicht erkannt haben konnte. Er brauchte also auch Nichts zu überstürzen.
Mitternacht war lange vorüber, als sich Hamilton endlich erschöpft und ziemlich ermüdet auf sein Lager warf, aber trotzdem befand er sich schon um fünf Uhr angekleidet wieder draußen auf dem Gang, denn heute sollte er ja den Lohn seiner Bemühungen ernten, und die Zeit durfte ihn nicht lässig finden.
Das Schuhwerk stand indeß noch immer friedlich dort draußen, des Hausknechts gewärtig, aber die Bewohner des Zimmers mußten auf sein – sollten sie doch am Ende heute morgen abfahren wollen? »Nein, mein lieber Mr. Kornik,« lachte der Engländer still vor sich hin, »da wir Sie so hübsch in der Falle haben, wollen wir auch Acht geben, daß Sie uns nicht wieder durch die Finger schlüpfen.«
In dem Augenblick wurde in Nr. 7 die Klingel gezogen und Hamilton trat in seine Stube zurück, ließ aber die Thür angelehnt. Er horchte – aber er konnte nicht hören, daß irgend jemand ein Wort sprach. Ein Paar Stühle wurden gerückt und Schiebladen ziemlich geräuschvoll auf- und zugemacht, aber keine Sylbe wurde laut. Hatte sich das junge Ehepaar vielleicht gezankt?
Draußen klopfte der Kellner an Nr. 7 an.
»Walk in.«
Die Thür öffnete sich.
»Do you speak english?« lautete die Frage der Dame.
Der Kellner antwortete leise einige Worte, die Hamilton nicht verstehen konnte, aber die Frage mußte verneinend beantwortet sein, denn die Dame erwiderte gleich darauf heftig:
»So send somebody with whom I can speak.«
Der Kellner – Hamilton sah durch die Thürspalte, es war ein ganz junger Bursch, der augenscheinlich gar nicht wußte, was die Dame von ihm wollte – eilte wieder die Treppe hinab. »Aber alle Wetter, wo stak denn Mr. Kornik, der doch ganz vortrefflich deutsch sprach?«
Hamilton erschrak. Hatte der Verbrecher wirklich gestern Abend Burton erkannt und sich selber in Sicherheit gebracht? Darüber mußte er Gewißheit haben – aber seine Stiefeln standen noch vor der Thür. War er vielleicht krank geworden?
Er stieg rasch die Treppe hinunter zum Portier, den er auch schon auf seinem Posten fand.
»Ah, Portier, wissen Sie vielleicht, wann der Herr auf Nr. 7 wieder abreisen wird?«
»Auf Nr. 7?«
»Graf Kornikoff, glaube ich –«
»Ah – ja der Herr Graf, kann ich wirklich nicht sagen. Er wollte heute Abend wieder kommen.«
»Wieder kommen?«
»Ja – er ist heute Morgen halb zwei Uhr mit Extrapost nach dem Taunusgebirg gefahren.«
»The devil he is,« murmelte Hamilton leise und verblüfft vor sich hin, »und hat er Gepäck mitgenommen?« frug er laut.
»Nur eine Reisetasche – die Dame ist ja noch hier.«
»Natürlich – ich habe die Tasche ja an den Wagen getragen.«
»Aber wann, um Gottes Willen, schlafen Sie denn?«
»Ich? – nie,« lächelte der Mann in voller Ruhe. Aber Hamilton hatte andere Dinge im Kopf, als sich mit dem Portier zu unterhalten. Mit wenigen Sätzen war er oben an Mr. Burtons Zimmer, den er auch schon vollständig angekleidet und seiner wartend traf.
»Er ist fort,« rief er diesem ganz außer Athem entgegen, »richtig durchgebrannt. Er muß Sie gestern Abend erkannt haben. Der Lump ist mit allen Hunden gehetzt.«
»Und was jetzt?«
»Ich muß augenblicklich nach, denn der Postillon, der ihn gefahren hat, wird zurück sein und weiß jedenfalls die Station. Dort findet sich dann die weitere Spur.«
»Mit der Donna?«
»Nein, die ist zurückgeblieben, die überlasse ich jetzt Ihnen. Wahrscheinlich hat sie auch einen Theil von Ihres Vaters Geldern in Verwahrung – jedenfalls den Schmuck. – Hier ist der Verhaftsbefehl für Kornik und seine Begleiterin – mir kann er doch nichts helfen, denn er gilt, von den Frankfurter Behörden ausgestellt, nur für das hiesige Gebiet. Das ist eine verzweifelte Wirthschaft in Deutschland, wo ein Mann in einer einzigen Stunde in drei verschiedener Herren Länder sein kann.
»Aber wie bekomme ich heraus, ob das auch in der That jene berüchtigte Miss Fallow ist, bester Hamilton? Die Flucht des Grafen, wenn er wirklich geflohen, bleibt allerdings sehr verdächtig und ich zweifle kaum, daß Sie auf der richtigen Fährte sind, aber es – wäre doch eine ganz fatale Geschichte, wenn wir es nicht mit den rechten Leuten zu thun hätten, und jetzt einer wildfremden und ganz unschuldigen Dame Unannehmlichkeiten bereiteten.«
»Machen Sie sich deshalb keine Sorgen!« lachte Hamilton. »Daß ich Ihnen aus diesem Grafen Kornikoff den richtigen und unverfälschten Kornik herausschäle, darauf können Sie sich fest verlassen, und dies junge, wirklich wunderhübsche Geschöpf, was ihn begleitet, hätte sich dem Lump auch nicht an den Hals geworfen, wenn sie nicht schon vorher durch ein Verbrechen mit einander verbunden gewesen wären. Nein, die einzige Sorge, die ich habe, ist die, daß Ihnen die junge Dame einmal ebenso eines Morgens unter den Händen fortschlüpft, wie ich mir in fabelhaft alberner Weise habe den Hauptschuldigen entwischen lassen, und wenn ich ihn nicht wieder bekäme, wäre das ein Nagel zu meinem Sarg. Aber noch hab' ich Hoffnung – ich kenne den Herrn jetzt, denn ich habe ihn mir genau angesehen und wenn er sich wirklich auch den schwarzen Schnurrbart abrasirte und die blaue Brille in die Tasche steckte, so denke ich ihm doch auf den Hacken zu sitzen, ehe er es sich versieht.«
»Er wird direkt über die Grenze nach Frankreich fliehen.«
»Daran habe ich auch schon gedacht, denn Geld genug hat er bei sich, aber dagegen hilft der Telegraph. An die beiden Grenzstationen werde ich jetzt vor allen Dingen genau telegraphiren, und wenn ich da nur ein Wort mit einfließen lasse, daß der Herr mit dem Revolutionscomité in London in Verbindung stände, passen sie auf wie die Heftelmacher.«
»Und sie wollen dem Kornik nach?«
»Augenblicklich, so wie ich die Depeschen befördert habe. Ich nehme jetzt ohne weiteres Extrapost und treffe ich ihn, so telegraphire ich ungesäumt.«
»Und ich lasse unterdessen die Dame verhaften?«
»Das ist das Sicherste. Sie können ja Bürgschaft leisten, wenn es verlangt werden sollte. Auf dem Gerichte finden Sie auch Jemand, der englisch spricht.«
»Abscheuliche Geschichte,« murmelte der junge Burton zwischen den Zähnen, »daß uns der Lump auch gestern Abend gerade so zur unrechten Zeit in den Weg laufen mußte.«
»Das ist jetzt nicht zu ändern,« rief aber der weit entschiednere Hamilton – »wir haben immer noch Glück gehabt, das Volk Hühner so rasch anzutreffen und zu sprengen. Jetzt halten Sie nur Ihren Part fest, und ich glaube Ihnen garantiren zu können, daß ich meine Hälfte ebenfalls zur rechten Zeit einbringe.«
»Und wissen Sie gewiß, daß Kornik die Stadt verlassen hat?«
»Gar kein Zweifel – aber das erfahre ich ja auch gleich auf der Post. Jetzt wollen wir nur noch einmal hinunter und sehen, ob wir nichts mehr von der Donna zu hören bekommen.«
Es war in der That das Einzige, was sie thun konnten. Sie fanden die Thür aber wieder geschlossen und Hamilton wandte sich unten an den Oberkellner, um womöglich etwas Näheres zu erfahren.
»Ach, Oberkellner, meine Rechnung – ich reise ab.«
»Zu Befehl, mein Herr –«
»Apropos, was war denn das heute Morgen für ein Lärm auf Nr. 7? Meine schöne Nachbarin schien ja sehr in Eifer.«
Der Oberkellner lächelte.
»Der Herr Gemahl hat die Nacht eine kleine Extrafahrt gemacht und die Dame scheint eifersüchtig zu sein.«
»Es scheint als ob er heimlich auf und davon gegangen wäre,« sagte Mr. Burton leise zu Hamilton. Dieser zuckte die Achseln.
»Gott weiß es,« erwiderte er, »aber das werden Sie jetzt herausbekommen. Lassen Sie sich nur nicht etwa von Thränen rühren, denn wir haben es hier mit einer abgefeimten Kokette zu thun, der auch Thränen zu Gebote stehen, wenn sie dieselben braucht. Ich aber darf keinen Augenblick Zeit mehr verlieren. Auf die Koffer in Korniks Zimmer legen Sie augenblicklich Beschlag und lassen sie visitiren. Kornik hat wahrscheinlich alle Papiere entfernt und mitgenommen; aber in der Eile bleibt doch noch manchmal ein oder die andere Kleinigkeit zurück, die leicht zum Verräther wird.«
»Und wenn sie sich weigert? – wenn sie sich auf ihren Rang, vielleicht sogar auf einen, wer weiß wie erhaltenen Paß beruft? Die Behörden hier werden sie in Schutz nehmen.«
»Gott bewahre,« sagte Hamilton, »Sie haben ja das Duplicat unserer englischen Vollmachten mit der Personalbeschreibung der beiden Verbrecher in Händen. Korniks Flucht hat ihn dabei schon verdächtig gemacht und das wenigste, was man Ihnen zugestehen kann, ist eine Durchsuchung der Effecten im Beisein eines Polizeibeamten, und dann die Detenirung der Person selber in Frankfurt, bis ich mit ihrem Helfershelfer zurückkomme. In dem Fall können Sie dieselbe meinetwegen – natürlich unter polizeilicher Aufsicht – so lange hier im Hotel lassen.«
»Eine unangenehme Geschichte bleibt es immer,« sagte Mr. Burton, mit dem Kopf schüttelnd.
»Unangenehm, by George,« lachte Hamilton – »bedenken Sie, daß 20,000 Pfd. Sterling Ihres Geschäfts dabei auf dem Spiel stehen, von dem Schmuck, der ebenfalls auf 3000 taxirt ist, gar nicht zu reden. Und nun ade; hoffentlich bringe ich Ihnen bald den Patron selber. Verlassen Sie nur die Stadt nicht« – und mit den Worten rasch zu dem kleinen Stehpult tretend, hinter welchem sich der Oberkellner befand, berichtigte er seine Rechnung und sprang gleich darauf draußen in eine Droschke, um seine Verfolgung anzutreten.
Mr. Burton blieb in einer nichts weniger als behaglichen Stimmung zurück, denn er hatte ganz plötzlich die Leitung einer Angelegenheit bekommen, in der er bis jetzt nur gedacht hatte als Zeuge, und vielleicht als Kläger aufzutreten.
James Burton war überhaupt der Mann nicht, in irgend einer Angelegenheit entschieden und selbständig zu handeln; er verhielt sich am liebsten passiv.
In einer der ersten bürgerlichen Familien seines Vaterlandes erzogen, in den besten Schulen herangebildet, in der besten Gesellschaft aufgewachsen, war er von edlem, offenem Charakter, dem sich ein gesunder Verstand und ein weiches Herz paarte. Das letztere lief ihm aber nur zu oft mit dem ersteren davon, und selber unfähig eine unrechtliche Handlung zu begehen, gab es für ihn auch nichts Schrecklicheres auf der Welt, als solche einem anderen zuzutrauen.
Nichtsdestoweniger bekam er es hier mit einer nicht wegzuläugnenden Thatsache zu thun, denn William Kornik, von seinem Vater mit Wohlthaten überhäuft und in eine ehrenvolle und einträgliche Stellung gebracht, hatte das Vertrauen seines Hauses auf eine so nichtswürdige Weise getäuscht und mißbraucht, daß ein Zweifel an seiner Unehrlichkeit nicht mehr stattfinden konnte. Gegen diesen würde er auch mit rücksichtsloser Strenge vorgegangen sein, aber jetzt bekam er plötzlich den Auftrag, gegen eine Frau einzuschreiten, deren Betheiligung an dem Raub allerdings wahrscheinlich, aber keineswegs völlig erwiesen war. Und doch sah er auch recht gut ein, daß Hamilton Recht hatte, wenn er verlangte, die jedenfalls sehr verdächtige Person wenigstens so lange fest und unter Aufsicht zu halten, bis er mit dem wirklichen Verbrecher zurückkehren könne. Nur daß ihm dazu der Auftrag geworden, war ihm fatal, und er hätte vielleicht eine große Summe Geldes gegeben, um sich davon loszukaufen, aber das ging eben nicht, und es blieb ihm nichts andres übrig, als sich der einmal übernommenen Pflicht nun auch nach besten Kräften zu unterziehen. Er hoffte dabei im Stillen, daß die Dame sehr stolz und frech gegen ihn auftreten würde, und war fest entschlossen, sich nicht einschüchtern zu lassen. Um den verbrecherischen Erwerb des Geldes mußte sie ja wissen, sie wäre sonst nicht heimlich mit ihm geflohen, und wenn sich dann auch noch herausstellte, daß sie den Schmuck der Lady Clive entwendet hatte, dann brauchte er auch weiter kein Mitleiden mit ihr zu haben, und jede Rücksicht hörte von selbst auf.
Nichtsdestoweniger konnte er sich doch nicht entschließen, die Höflichkeit soweit außer Acht zu lassen, als sich vor zwölf Uhr bei ihr melden zu lassen. Aber er traute ihr deshalb doch nicht; denn Mr. Kornik war ihm auf viel zu rasche Art abhanden gekommen, um nicht etwas Aehnliches auch von seiner Frau oder Gefährtin zu fürchten. Er ging deshalb, sehr zum Erstaunen des Portiers, der gar nicht wußte, was er von dem unruhigen Gast denken sollte, und ihn frug, ob er vielleicht Zahnschmerzen habe, die langen Stunden theils auf dem Vorsaal, theils auf der Treppe auf und ab – denn das verzweifelte Haus hatte ja zwei Ausgänge – und horchte verschiedene Male oben an der Thür, um sich zu versichern, daß nicht der zweite Vogel ebenfalls heimlich ausgeflogen sei.
Aber diese Furcht schien grundlos zu sein. Das Stubenmädchen, dem er auf der Treppe begegnete, brachte das Frühstück hinauf, ein Glas Madeira und ein Beefsteak, die verlassene Frau nahm also noch substantielle Nahrung zu sich, und als es endlich auf sämmtlichen Frankfurter Uhren – was bekanntlich eine lange Zeit dauert – zwölf geschlagen hatte, faßte er so viel Muth, der Dame seine Karte hinaufzuschicken und anfragen zu lassen, ob er das Vergnügen haben könne, ihr seine Aufwartung zu machen.
Das klang allerdings nicht wie das Vorspiel einer criminellen Untersuchung, aber die gewöhnlichen Gesetze der Höflichkeit durften doch auch nicht außer Acht gelassen werden. Höflichkeit schadet nie, und man hat dadurch oft schon mehr erreicht, als durch sogenannte gerade Derbheit, was man im gewöhnlichen Leben auch wohl Grobheit nennt.
Die Antwort lautete umgehend zurück, daß die Dame sich glücklich schätzen würde, ihn zu begrüßen und nur noch um wenige Minuten bäte, um ihre Morgentoilette zu beenden.
Die wenigen Minuten dauerten allerdings noch eine reichliche halbe Stunde, aber Mr. Burton war gar nicht böse darüber, denn er bekam dadurch nur noch so viel mehr Zeit sich zu sammeln, und sich ernstlich vorzunehmen, diese Person allerdings mit jeder Artigkeit, aber auch mit jeder, hier unumgänglich nöthigen Strenge zu behandeln. Was half es auch, Rücksicht auf ein Wesen zu nehmen, das sich an einen Menschen wie diesen Kornik soweit weggeworfen hatte, sogar Theilnehmerin seiner Verbrechen zu werden. Dabei überlegte er sich auch, daß es weit besser sein würde, im Anfang keine einzige Frage derselben zu beantworten, sondern vor allen Dingen erst alles herauszubekommen, was sie wußte. Volle Aufrichtigkeit konnte allein ja auch jetzt ihre Strafe mildern und ihrem Vergehen das Gehässige der Verstocktheit nehmen, und durch ihr Geständniß bekamen sie außerdem gleich ein Hauptzeugniß gegen den jetzt noch flüchtigen Verbrecher.
Mitten in diesen Betrachtungen wurde er durch die Klingel auf Nr. 7 gestört, die den Kellner herbeirief. – Dieser erschien gleich darauf wieder und meldete Herrn Burton, die Dame erwarte ihn.
Also der Augenblick war gekommen, und mit festen Schritten stieg er die Treppe hinan. Wußte er doch auch schon vorher, wie er die Dame finden würde, die so ewig lang gebraucht hatte, ihre Toilette zu machen: im vollen Staat natürlich, um ihm zu imponiren und jede Frage nach einer begangenen Schuld gleich von vorn herein abzuschneiden. Aber er lächelte trotzig vor sich hin, denn er wußte, daß eine derartige plumpe List bei ihm nicht das Geringste helfen würde. Er ließ sich eben nicht verblüffen.
Mit festen Schritten stieg er die Stufen hinan und klopfte an – aber doch nicht zu laut. »Walk in,« hörte er von einer fast schüchternen Stimme rufen, und als er die Thür öffnete, blieb er ordentlich bestürzt auf der Schwelle stehen, denn vor sich sah er das lieblichste Wesen, das er in seinem ganzen Leben noch mit Augen geschaut.
Mitten in der Stube stand die junge Fremde – nicht etwa in voller Toilette, mit Schmuck und Flittertand behangen, wie er eigentlich gehofft hatte sie zu finden, sondern in einem einfachen, schneeweißen Morgenanzug, der ihre Schönheit nur um so reizender erscheinen ließ, und während ihr blaues Auge feucht von einer halbzerdrückten Thräne schien, streckte sie dem Eintretenden die Hand entgegen und sagte, mit vor Bewegung zitternder Stimme:
»Sie sendet mir der liebe Gott, mein Herr – Ihr Name ist mir zwar fremd, aber aus Ihrer Karte sehe ich, daß Sie ein Landsmann sind, also ein Freund, der mich in der größten Noth meines Lebens trifft, und mir gewiß, wenn er nicht helfen kann, doch rathen wird.«
»Madam,« sagte der junge Burton, durch diese keineswegs erwartete Anrede ganz außer Fassung gebracht, indem er die ihm gereichte Hand nahm und fast ehrfurchtsvoll an seine Lippen hob, »ich – ich begreife nicht recht – ich gestehe, daß ich – Sie entschuldigen vor allen Dingen meinen Besuch.«
»Ich würde Sie darum gebeten haben,« sagte die junge Frau herzlich, »wenn ich gewußt hätte, daß ein Landsmann mit mir unter einem Dache wohnt; aber das Fremdenbuch, das ich mir heute Morgen bringen ließ, zeigte keinen einzigen englischen Namen – doch ich darf nicht selbstsüchtig sein,« unterbrach sie sich rasch – »Sie sind da – ich sehe in dem edlen Ausdruck Ihrer Züge, daß ich auf Ihren Beistand rechnen kann, und nun erst vor allen Dingen, Ihre Angelegenheit. Lösen Sie mir das Räthsel, das Sie, einen vollkommen Fremden, gerade in dieser Stunde zu mir hergeführt – und bitte, nehmen Sie Platz – oh verzeihen Sie der Aufregung, in der Sie mich gefunden, daß ich Sie schon so lange hier im Zimmer habe stehen lassen.«
Damit führte sie ihn mit einfacher Unbefangenheit zu dem kleinen mit rothem Plüsch überzogenen Sopha und nahm dicht neben ihm Platz, so daß es dem jungen Manne ganz beklommen zu Muthe wurde. Auch die Frage diente nicht dazu, ihm seine ruhige Ueberlegung wieder zu geben, denn konnte er dem Wesen neben ihm jetzt mit kalten, dürren Worten sagen, daß er hierher gekommen sei, um sie des Diebstahls zu bezüchtigen und in Haft zu halten? Es war ordentlich als ob ihm die innere Bewegung die Kehle zusammenschnürte und er brauchte geraume Zeit, um nur ein Wort des Anfangs zu finden.
Die junge Frau an seiner Seite ließ ihm dabei vollkommen Zeit sich zu fassen, und nur wie schüchtern blickte sie ihn mit ihren großen seelenvollen Augen an. Und diese Augen sollten jemals die Helfershelfer eines Verbrechens gewesen sein? Es war nicht möglich; Hamilton hatte den größten nur denkbaren Mißgriff gemacht, und ihn selber jetzt in eine Lage gebracht, wo er mit Vergnügen tausend Pfund Sterling bezahlt hätte, um nur mit Ehren wieder heraus zu sein.
Endlich fühlte er aber doch, daß er nicht länger schweigen konnte, ohne sich lächerlich zu machen, und begann, wenn auch anfangs noch mit leiser, unsicherer Stimme.
»Madam – Sie – Sie müssen mich wirklich entschuldigen, wenn ich Sie von vornherein mit einer Frage belästige, die – die eigentlich Ihren – Ihren Herrn Gemahl betrifft – dem auch – dem auch vorzugsweise mein Besuch galt; denn ich würde nicht gewagt haben, Sie zu stören. Aber – seine so plötzliche Abreise – und mitten in der Nacht hat einen Verdacht erweckt, der –«
»Einen Verdacht?«
»Uebrigens,« lenkte Burton ein, da ihm plötzlich wieder beifiel, daß er ja vorher Alles hatte hören wollen, was die Dame ihm sagen würde, um danach sein eigenes Handeln zu regeln – »hängt alles vielleicht mit dem zusammen, wegen dessen Sie selber meinen Rath verlangen, und wenn Sie nur die Freundlichkeit haben wollten –«
»Aber einen Verdacht?« – sagte die junge Dame rasch und erschreckt, indem sie ihre zitternde Hand auf seinen Arm legte und in der gespanntesten Erwartung mit ihren schönen Augen an seinen Lippen hing. – »Welcher Verdacht könnte auf ihm ruhen? – In welcher Verbindung können Sie mit ihm stehen? Oh, spannen Sie mich nicht länger auf die Folter – machen Sie mich nicht unglücklicher, als ich es schon bin. Ach, ich hatte ja gehofft, daß Sie gerade mir Hülfe und Trost bringen sollten; tragen Sie nicht dazu bei, meine Unruhe durch längeres Schweigen noch zu vermehren.«
Mr. Burton fand sich so in die Enge getrieben, daß er schon gar keinen möglichen Ausweg mehr sah. Er war ja auch eigentlich verpflichtet zuerst zu sprechen. Er hatte eine Unterredung mit ihr erbeten, nicht sie mit ihm, und wenn ihn auch ein wahrhaft verzweifelter Gedanke einmal einen Moment erfaßte, sich aus der ganzen Geschichte durch irgend eine Ausrede hinaus zu lügen, fiel ihm doch ums Leben nicht das Geringste, auch nur einigermaßen Glaubwürdige bei. Es blieb ihm also nichts übrig, als der jungen Dame – natürlich so schonend wie das nur irgend geschehen konnte – die Wahrheit zu sagen, und dabei war er auch im Stande zu sehen, welchen Eindruck die Beschuldigung auf sie machen würde – danach wollte er dann handeln.
»Madam,« sagte er, aber noch immer verlegen – »beruhigen Sie sich – es wird sich ja noch alles aufklären. – Ich selber – ich bin ja fest überzeugt, daß Sie der – unangenehmen Sache, um die es sich handelt, vollständig fern stehen. – Es ist auch noch nicht einmal ganz fest bestimmt, ob ihr Herr – Herr Gemahl auch wirklich jene Persönlichkeit ist, die wir suchen – die ganze Sache kann ja möglicher Weise ein Irrthum sein, und nur der dringende Verdacht, den mein Begleiter gegen mich ausgesprochen hat, veranlaßt mich –«
»Aber ich verstehe Sie gar nicht,« sagte die junge Dame, und sah dabei gar so lieb und doch so entsetzlich unglücklich aus, daß ihm ordentlich das eigene Herz weh that.
»Ich muß deutlicher reden,« fuhr Mr. Burton fort, der sie nicht länger in dieser Aufregung lassen durfte. »Also hören Sie. Mein Name ist James Burton. Ich bin seit diesem Jahre Theilhaber der Firma meines Vaters Burton & Burton in London. Seit sieben Jahren hatten wir einen jungen Mann in unserm Geschäft, einen Polen, Namens Kornik, der sich durch seine Geschicklichkeit und Umsicht so in meines Vaters Vertrauen einschlich, daß er ihn vor zwei Jahren zu unserm Hauptcassirer machte. Mein Vater wußte nicht, daß er eine Schlange in seinem Busen nährte. Vor etwa acht Tagen verschwand dieser Mensch plötzlich aus London und zwar an einem Sonnabend Abend, wodurch er etwa vierzig Stunden Vorsprung bekam, denn da nicht der geringste Verdacht auf ihm lastete, fiel auch sein Ausbleiben am Montag Morgen nicht so rasch auf, wie das sonst vielleicht der Fall gewesen wäre. Nur weil mein Vater fürchtete, daß er könne unwohl geworden sein, schickte er in seine Wohnung hinüber, die sich unmittelbar neben uns befand, und hörte hier zu seinen Erstaunen, daß Mr. Kornik sowohl Sonnabend als auch Sonntag Abend nicht nach Hause gekommen sei.«
»Aber was, um Gottes Willen, habe ich mit dem allen zu thun?« unterbrach ihn die junge Dame, erstaunt mit dem Kopf schüttelnd.
»Erlauben Sie mir,« fuhr Mr. Burton, in der Erinnerung an das Geschehene wärmer werdend fort: »Der erste Gedanke meines Vaters war, daß ihm ein Unglück begegnet sein könne; ein anderer Commis aber in unserem Haus mußte doch etwas bemerkt haben, was ihm verdächtig vorkam. Er bat uns dringend, keine Zeit zu versäumen und die Kasse zu revidiren, und da stellte sich denn bald das Entsetzliche heraus, daß eine sehr bedeutende Summe fehlte, die, nach den über Tag eingegangenen Erkundigungen, gegen 20,000 Pfd. Sterling betrug.«
»Mein Vater wandte sich augenblicklich an die Polizei, und ein sehr gewandter Detective, der uns besuchte, und der zur Verfolgung bestimmt wurde, gerieth noch an dem nämlichen Tag auf eine andere Spur, die, wie er meinte, sicherer zur Entdeckung des Verbrechers führen konnte. Derselbe war nämlich, wie der Polizeiagent sehr rasch herausbrachte, mit einer jungen sehr – ge – sehr gewandten Dame bekannt geworden und als an dem nämlichen Tag eine andere Klage gegen diese einlief, daß sie in dem Haus einer Lady, wo sie Stunden gab, einen werthvollen Schmuck entwandt haben sollte, ebenfalls aber nirgends aufzufinden war, und seit dem nämlichen Abend fehlte, wie jener Kornik – so blieb zuletzt kein Zweifel, daß beide mitsammen geflohen sein mußten.«
»Jetzt war kein Augenblick mehr zu verlieren um der Verbrecher habhaft zu werden. Lady Clive – so hieß jene Dame – setzte selber eine namhafte Summe für den Polizeibeamten aus; da dieser aber weder die Dame noch unsern frühern Kassirer persönlich kannte, entschloß ich mich ihn zu begleiten, und wir begannen gemeinschaftlich unsere etwas ungewisse Fahrt.«
»Und jetzt?« frug die Fremde, anscheinend in größter Spannung.
»Indessen,« fuhr Mr. Burton fort, »wurde kein mögliches Mittel versäumt um die beiden aufzufinden, falls sie sich noch in England aufhalten sollten. Zugleich telegraphirten wir an die nächsten Hafenplätze. Mein ganz vortrefflicher und gewandter Begleiter war aber schon auf eine Spur gekommen, die ihn nach Hamburg führte. Mit dem Hamburg Packet waren nämlich am Sonnabend Abend zwei Personen abgegangen, die der Beschreibung vollkommen entsprachen. Einer der Kassenleute in dem Office des Dampfboots behauptete sogar, Kornik an jenem Abend mit einer Reisetasche an dem Landungsplatz des Dampfboots gesehen zu haben. Wir folgten augenblicklich, verloren aber die Spur in Hamburg wieder, und glaubten sie erst in Hannover – freilich, wie sich später erwies, irrthümlich – wieder zu finden. Dort ließ mich Mr. Hamilton zurück, während er selber, von einer Art polizeilichen Instinkts getrieben, nach Frankfurt vorauseilte und hierher zu – zufälliger Weise – mit Ihnen und Ihrem Herrn Gemahl die Reise in einem Coupé machte.«
Ein leises Zittern flog über den Körper der Frau, aber ihre Züge verriethen keine Spur von Ueberraschung, und nur mit mehr erstaunter als bewegter Stimme sagte sie:
»Und jetzt?« –
»Und jetzt,« fuhr Mr. Burton verlegen fort, »glaubte er, durch mehrere sonderbar zusammentreffende Umstände jenen aus London mit unserem Geld entflohenen Kornik in dem – Sie dürfen mir nicht zürnen, denn Sie haben die volle Wahrheit verlangt – in dem – Grafen Kornikoff wieder zu finden, da sich dieser heute Nacht so heimlich –«
»Heiliger Gott der Welt!« rief die junge Frau, entsetzt emporspringend: »reden Sie nicht aus. Darf ich denn meinen Ohren trauen? In dem Grafen Kornikoff vermuthen Sie den entsprungenen Verbrecher? Und dann ist, Ihrer Meinung nach – seine Begleiterin jene Diebin des Diamantenschmucks?«
»But Madam!« rief Mr. Burton, ebenfalls erschreckt von seinem Sitz aufspringend, »ich sage Ihnen ja« –
»O mein Vater im Himmel, selbst das noch,« rief aber das schöne Weib, die Arme wie flehend emporstreckend, »auch das noch – auch das noch in meinem Jammer und Elend. – Aber kommen Sie,« fuhr sie leidenschaftlich fort, indem Sie plötzlich wieder Mr. Burtons Arm ergriff und ihn fast mit Gewalt zu ihrem Koffer zog – »ich bin nur ein armes schwaches Weib, hilflos und ohne Schutz im fremden Lande – aber Sie haben vielleicht ein Recht, der Spur eines verübten Verbrechens nachzuforschen. Ich habe nichts als meinen ehrlichen Namen, aber den kann ich, Gott sei Dank, mir erhalten und Ihnen bin ich noch dazu verpflichtet, mir die Gelegenheit zu geben mich zu rechtfertigen. Mir schwindelt der Kopf, wenn ich mir denke, daß Sie auch nur eine Stunde länger mich in einem so furchtbaren Verdacht haben sollten.«
»But, my dear Madam,« rief Burton, jetzt vergebens bemüht, zu Worte zu kommen. Die Frau ließ ihn nicht.
»Nein, nein,« fuhr sie immer erregter fort und schloß mit vor Eifer zitternden Händen ihren Koffer auf, warf den Deckel zurück und riß die dort sorgfältig und glatt eingepackten Stücke wild und leidenschaftlich heraus. »Da – hier – hier ist alles was ich auf der Welt mein nenne – da meine Wäsche – da meine Kleider,« fuhr sie fort die genannten Sachen, ohne daß es Burton verhindern konnte, über den Boden streuend, »hier mein Schmuck – eine dürftige Korallenkette mit einem goldenen Kreuzchen, das Erbtheil meiner seligen Mutter – und wie ich früher ihren Tod beklagte, jetzt danke ich Gott, daß sie diese Stunde nicht erlebte. – Hier meine –« sie konnte nicht weiter – ihr Gefühl überwältigte sie. Sie richtete sich auf und wollte zum nächsten Stuhl schwanken, aber sie vermochte es nicht und wäre zu Boden gesunken, wenn sie nicht James Burton in seinen Armen aufgefangen hätte.
Das war eine böse Situation für den jungen Mann – der warme Körper der jungen Frau ruhte an seinem Herzen, und vergebens suchte er sie durch tausend Trostesworte ins Leben zurückzurufen. – Und wie ihr Herz dabei schlug – er wußte sich keines Rathes, als sie aufs Sopha zu tragen – und als er sie in die Höhe hob, trafen seine Lippen unwillkührlich auf die ihrigen und ruhten einen Moment darauf. Endlich raffte er sich empor. Er wollte nach Hilfe rufen, aber er wagte es nicht – was mußten die Leute im Hotel davon denken, wenn er in einer solchen Situation mit der jungen Dame getroffen wurde? Auf dem Waschtisch stand ein Glas Eau de Cologne – damit benetzte er ihr Taschentuch, hielt es ihr unter die Nase und rieb ihr Schläfe und Puls, und als das alles nicht helfen wollte, tauchte er das Handtuch in kaltes Wasser und legte es ihr um die Stirn. Aber es dauerte wohl zehn Minuten, ehe er sie zum Bewußtsein zurückrief, und als sie endlich erwachte, befand sie sich in einem so furchtbar überreizten Zustande, daß sie den über ihr lehnenden Arm des jungen Mannes ergriff, ihre Stirn dagegen lehnte und bitterlich weinte.
Mr. Burton that das unter solchen Umständen Zweckmäßigste – er ließ sie sich ausweinen und es gewährte ihm sogar einige Beruhigung, daß er sie dabei mit seinem linken Arm stützen und halten konnte. Aber diese Schwäche dauerte nicht lange. Die junge Frau zeigte eine ungemeine Willenskraft, dieses augenblickliche Erliegen ihres Körpers zu bewältigen, und mit leiser Stimme sagte sie:
»Ich danke Ihnen – ich fühle mich stärker – es ist vorbei. Lassen sie mich jetzt Alles wissen – o verhehlen Sie mir nichts – ich muß es ja erfahren und dann habe auch ich Ihnen ein Geständniß abzulegen. – Ich fühle, daß Sie es gut mit mir meinen. Zürnen sie mir nicht, meiner Heftigkeit wegen.«
»Oh, daß ich Ihnen beweisen könnte, wie innigen Antheil ich an Ihrem Schicksal nehme,« rief Mr. Burton bewegt aus.
»Und wo ist ihr Begleiter jetzt?« frug die junge Frau, die noch immer halb von seinem Arm gehalten wurde.
»Ich weiß es nicht,« sagte Mr. Burton mit einer gewissen Genugthuung, ihr darauf keine bestimmte Antwort geben zu können. »Er folgt jenem Grafen Kornikoff, um sich sicher zu stellen, ob er es in diesem mit dem vermutheten Kornik zu thun hat. Nun aber sagen sie auch mir, dear Madam – wie kommen Sie in die Gesellschaft jenes Mannes? – wie lernten Sie ihn kennen, und hatten Sie keine Ahnung, daß er ein Betrüger sei?«
»Ich kann es mir jetzt noch nicht denken,« rief die Unglückliche – »es ist nicht möglich – er hätte ja, wenn es wahr wäre, ein tausendfaches Verbrechen an mir selber verübt. O lassen Sie mich noch an seine Unschuld glauben.«
»Wie gern wollte ich Sie in dieser Täuschung lassen,« sagte Mr. Burton, »aber ich muß gestehen, daß viele, viele Umstände dagegen sprechen.«
»Dann finden wir auch in seinem Koffer Aufschluß über das Vergehen,« rief da die Dame plötzlich, indem sie sich vom Sopha emporrichtete. »Er hat sein ganzes Gepäck zurückgelassen und nicht allein zu Ihrer, nein auch zu meiner Genugthuung muß ich jetzt darauf bestehen, daß Sie es auf das Genaueste untersuchen.«
Mr. Burton wollte sie davon zurückhalten, weil er nicht mit Unrecht fürchtete, daß sie sich dabei aufs neue zu sehr aufregen würde, aber sie bestand fest darauf und da ihm selber daran lag, das hinterlassene Eigenthum jenes Menschen nachzusehen, gab er endlich ihrem Wunsche nach. Vergebens aber durchsuchten sie jetzt den ganzen, ziemlich geräumigen Koffer; es fand sich nichts, was irgend einen Aufschluß hätte geben können. Ganz unten aber in der Ecke lag ein zusammengedrücktes Papier – ein altes Couvert, in das ein Paar alte Hemdknöpfchen und eine Westenschnalle eingewickelt waren, und auf dem Couvert stand die Adresse:
W. Kornik Esqre
Care of Messrs. Burton & Burton – London.
Mr. Burton entfaltete das Couvert, las es, und reichte es dann schweigend, aber mit einem beredten Blick der Dame. Diese aber hatte kaum das Auge darauf geworfen, als sie mit leiser, entsetzter Stimme sagte:
»Vater im Himmel! also doch,« und ihr Antlitz in ihren Händen bergend, stand sie wohl eine Minute still und schweigend und wie ineinandergebrochen. Endlich richtete sie sich wieder empor, und dem jungen Mann noch einmal die Hand entgegenstreckend, sagte sie:
»Ich danke Ihnen, Mr. Burton – danke Ihnen recht von Herzen, daß Sie den Schleier gelüftet haben, der mich von einem Abgrund trennte. Wenn Sie aber jetzt Ihrer Güte gegen mich die Krone aufsetzen – wenn Sie mich für ewig verpflichten wollen, dann lassen Sie mich jetzt nur für eine kurze Stunde allein, um mich zu sammeln. Ich kann jetzt nicht danken – ich bin es nicht im Stande – meine Glieder versagen mir den Dienst. In einer Stunde kommen Sie wieder zu mir, dann sollen Sie alles erfahren, was mich betrifft, und wir können dann vielleicht gemeinschaftlich berathen, was zu thun, wie Ihnen – wie mir zu helfen ist. Wollen Sie mir das versprechen?«
»Madam,« sagte Mr. Burton mit tiefem Gefühl, und jetzt vollständig überzeugt, daß dies liebliche Wesen nie und nimmer eine Mitschuldige sein könne, – »Sie haben ganz über mich zu befehlen und was in meinen Kräften steht, mich Ihnen nützlich zu machen, soll gewiß geschehen. Fassen Sie Muth, und vor Allem, fassen Sie Vertrauen zu mir und ich hoffe, es soll noch alles gut werden. Ich lasse Sie jetzt allein – in einer Stunde bin ich wieder bei Ihnen – vielleicht ist auch bis dahin schon Nachricht über den Flüchtling eingetroffen. – Sorgen Sie nicht,« setzte er aber herzlich hinzu, als er dem wehmüthigen Blick begegnete, der auf ihm haftete. – »Sie haben einen Freund gefunden.« – Und die Hand, die er noch immer in der seinen hielt, an seine Lippen pressend, durchrieselte es ihn ordentlich wie mit süßen Schauern, als er einen leisen Druck derselben zu fühlen glaubte. Aber er ließ sie los, verbeugte sich vor der jungen Dame ehrfurchtsvoll und stieg dann rasch in sein Zimmer hinauf, um die Erlebnisse der letzten Stunde noch einmal an seiner Erinnerung vorüberziehen zu lassen.
Hamilton warf sich an dem Morgen, nachdem er sechs verschiedene telegraphische Depeschen aufgegeben, in einer ganz verzweifelten Stimmung in sein Coupé, denn von dem zurückgekehrten Postillon hatte er erfahren, daß dieser den Passagier um 4 Uhr heute Morgen in Soden vor der Post abgesetzt, und er konnte jetzt den Zug benutzen, um diesen Platz so rasch als möglich zu erreichen. Aber wieder und wieder machte er sich selber dabei die bittersten Vorwürfe, daß er die Flucht des schon ganz sicher geglaubten Verbrechers nur seinem eigenen Leichtsinn, seiner eigenen bodenlosen Unachtsamkeit verdanke, denn wie dieser einmal Mr. Burton selber begegnet sei, mußte er wissen, daß er sich verrathen sah und deshalb keinen Augenblick versäumen dürfe, um sich der ihm drohenden Gefahr zu entziehen. Und das hatte er übersehen – er, der sich selber für so schlau und in seinem Fach geschickt gehalten – auf so plumpe Weise, nur durch die Geistesgegenwart des Diebes, der durch keine Bewegung verrathen, daß er seinen Verfolger erkannt habe, hatte er sich täuschen und überlisten lassen.
Und wie war es jetzt möglich, in diesem Gewühl von Fremden einen einzelnen Menschen wieder ausfindig zu machen, der weiter nichts zu thun brauchte, als sich einen anderen Rock zu kaufen, die blaue Brille abzulegen, den schwarzen Schnurrbart zu rasiren, um aufs neue völlig unkenntlich zu sein; und daß er derartige Vorsicht nicht versäumen würde, darüber durfte er kaum in Zweifel sein.
Das Einzige, was ihn noch einigermaßen beruhigte, war, daß sie wenigstens die Dame unter sicherer Aufsicht hatten; denn es schien nicht wahrscheinlich, daß sich der Flüchtling so leicht und für immer von dem schönen, verführerischen Wesen getrennt haben sollte, nur um sich selber in Sicherheit zu bringen. In irgend einer Verbindung mit ihr blieb er gewiß, oder suchte eine solche auf eine oder die andere Art wieder anzuknüpfen, und wenn dann Mr. Burton nur einigermaßen seine Schuldigkeit that, so lief er ihnen schon dadurch wieder ins Netz.
Allerdings hätte Kornik die Dame schon recht gut in dieser Nacht entführen können – es wäre das eben so leicht gewesen als allein zu entfliehen, aber er mußte auch wissen, daß er den Verfolger dann dicht auf den Hacken gehabt hätte und so leicht er jetzt hoffen konnte, ihn über die Richtung zu täuschen, die er genommen, so ganz unmöglich wäre das in der Begleitung seiner Frau gewesen, die seine Bewegung nicht allein hemmte, sondern auch eine viel breitere und leichter erkennbare Spur hinterließ. Schon mit all dem Gepäck wäre er nicht von der Stelle gekommen.
Das alles aber machte es, je mehr er darüber nachdachte, nur soviel wahrscheinlicher, daß er Deutschland nicht schon verlassen habe. Nur aus dem Weg mußte er sich für kurze Zeit halten, und wo konnte er das besser thun, gerade in der Saison, als in irgend einem der zahllosen Seitenthäler des Rheins oder der benachbarten Gebirge, wo eine Unmasse von Fremden herüber und hinüber strömte, und ein einzelner Mann völlig unbeachtet in der Menge verschwand.
Aber trotzalledem gab Hamilton die Hoffnung nicht auf. Das gehetzte Wild hatte allerdings einen Vorsprung gewonnen, aber die Fährte war doch noch warm – es lag keine Nacht darauf und er selber war gerade der Mann dazu, ihr mit allem nur erdenkbaren Eifer zu folgen. Es stand ja auch nicht allein ein reicher Lohn auf dem Erfolg, nein, seine Ehre als Detective auf dem Spiel, den schon gehaltenen Verbrecher nicht wieder entschlüpfen zu lassen, und er gab sich selber das Wort, nicht Mühe nicht Kosten zu scheuen, um ihn wieder zurück zu bringen.
In Soden angekommen erkundigte er sich aber vergebens auf dem Bahnhof nach einem Herrn, der nur irgend zu seiner Beschreibung paßte. Es war freilich auch nicht wahrscheinlich, daß er sich dort gezeigt habe, denn nach Frankfurt würde er nicht so rasch zurückkehren, aber Hamilton wollte sich von jetzt an keine Vorwürfe mehr machen, auch nur das Geringste versäumt zu haben. Einquartirt hatte sich der Herr aber dort nicht, so viel lag außer Zweifel; mit dem Mustern der Gasthäuser brauchte er deshalb keine Zeit zu verlieren und das Wichtigste blieb, die Straßen zu untersuchen, die von hier aus in die Berge und besonders nach dem Rhein zu führten.
Das aber zeigte sich bald als ein sehr schwierig Stück Arbeit, denn es hielten sich viele Fremde in Soden auf, und bei dem wundervollen Wetter besuchte ein großer Theil derselben in früher Morgenstunde die benachbarten Berge. Wer wollte da den Einzelnen controlliren, der sich zwischen ihnen befunden hatte? Außerdem gab es eine Legion von Führern in dem Badeort, die sich theilweis unterwegs, oder da und dort einquartirt befanden; es wäre rein unmöglich gewesen, sie alle aufzusuchen und einzeln auszufragen.
Hamilton ließ aber deshalb den Muth nicht sinken. Unermüdlich streifte er Straße auf, Straße ab und frug bald da, bald dort in den Häusern. Nur in einem, in dem letzten Häuschen, das auf dem Weg nach Königstein lag, hörte er, daß ein einzelner Herr dort sehr früh vorbeigegangen sei, ob er aber einen Schnurrbart gehabt oder eine blaue Brille und Gepäck getragen, wer sollte das jetzt noch wissen? Ein Führer hatte ihn nicht begleitet.
Das war keine Spur und Hamilton wollte sich schon kopfschüttelnd abwenden, um in Soden erst etwas zu Mittag zu essen und dann seine Versuche zu erneuern, als ein kleines Mädchen, das dabei gestanden hatte, sagte:
»Ja, en Schnorres hat er schon gehat, un en Täschche aa ungerm Arm getrage.«
»Einen Schnorres? was ist das?« frug Hamilton.
»Nu Hoor unner der Nas,« sagte die Frau.
»Ja un ganz schwarz war er« – sagte die Kleine.
»So mein Kind,« sagte Hamilton, der sie aufmerksam betrachtete, »also ein Täschchen hat er unter dem Arm getragen? groß?«
»Na – kleen – vun Ledder – en hibsch Täschche.«
»Und der ist dort hinaus zu gegangen?«
Die Frau bestätigte das – eine Brille schien er aber nicht aufgehabt zu haben; das Kind wollte wenigstens nichts derartiges bemerkt haben und eine blaue Brille wäre ihm gewiß aufgefallen.
Das war allerdings eine Spur, wenn auch nur eine außerordentlich schwache, Hamilton beschloß aber doch, ihr zu folgen und ohne weiter einen Moment Zeit zu verlieren, drückte er dem Kinde ein Geldstück in die Hand und eilte dann so rasch er konnte nach Soden wieder auf die Post, um dort Extrapost nach Königstein zu nehmen. Nur so viel Zeit gönnte er sich, um etwas zu essen und zu trinken, so lange die Pferde angespannt wurden – dann ging es vorwärts, was die Thiere laufen konnten.
In Königstein selber – denn unterwegs, so oft er sich auch nach dem Gesuchten erkundigte, erhielt er doch keine Auskunft – war die Nachforschung nicht so schwer. Es gab dort nur zwei halbwegs anständige Wirthshäuser und in dem einen erfuhr er denn auch, daß ein einzelner Herr mit einem sehr schwarzen Schnurrbart und etwas brauner Gesichtsfarbe da gefrühstückt habe, dann aber weiter gegangen sei, ohne daß sich natürlich irgend Jemand um ihn bekümmert hätte. Eine lederne kleine Reisetasche mit Stahlbügel führte er bei sich, eine Geldtasche hatte er umhängen, und auch noch einen Riemen umgeschnallt gehabt – das wollte der Wirth deutlich gesehen haben – weiter wußte er nichts.
»In was für Geld hat er seine Zeche bezahlt?«
»In Gulden und Kreuzern – der Landesmünze.«
Hamilton war nicht halb sicher, daß er wirklich auf der Spur des Gesuchten sei, aber was blieb ihm jetzt anderes übrig, als ihr, da er sie einmal aufgenommen, auch weiter zu folgen, er würde sich sonst immer wieder Vorwürfe gemacht haben, eine wahrscheinliche Bahn aufgegeben zu haben, um dafür wild und verloren in der Welt herumzusuchen.
Von hier aus schien der Flüchtling aber wirklich den Waldweg eingeschlagen zu haben, denn auf keiner Straße war er mehr gesehen worden, auch konnte er sich keinen Führer genommen haben, denn das hätte sich jedenfalls ausgesprochen. Wohin jetzt? Es war bald Abend, als Hamilton erschöpft in das Gasthaus zurückkehrte, wo er mit einer Flasche Wein und der Eisenbahnkarte vor sich, seinen weiteren Schlachtplan überlegte. Er fühlte dabei recht gut, daß er von jetzt an auf gut Glück weiter suchen müsse. Nur eine Andeutung seines zukünftigen Weges fand er in der Richtung, in welcher Königstein von Soden lag – direkt nach dem Lahnthal zu, und der beschloß er auch jetzt zu folgen. Allerdings mochte sich der Flüchtige rechts oder links abgewandt haben, um entweder Gießen oder den Rhein zu erreichen. Das letztere blieb aber immer das Wahrscheinlichste.
Zu Fuß gedachte er aber die Tour nicht zu verfolgen, und er beschloß deshalb, hier zu übernachten, und am nächsten Morgen mit einem Einspänner, womöglich noch vor Tag, aufzubrechen. Dazu war es aber nöthig, noch heute Abend einen Wagen zu bestellen. Ein Mann wurde ihm da bezeichnet, der einen Einspänner zu vermiethen hätte. Zu dem ging er ungesäumt und erkundigte sich.
»Ja, mein lieber Herr,« sagte dieser achselzuckend, »wenn Sie ein paar Stunden früher gekommen wären, so hätten Sie mit einem andern Herrn fahren können, der dieselbe Tour macht. Der hat aber meinen einzigen Einspänner mitgenommen. Das Pferd hätte Sie beide prächtig fortgebracht.«
»Ein einzelner Herr?« frug Hamilton rasch, »heute Mittag?«
»Jawohl – etwa um elf Uhr.«
»Und wie sah er aus?«
»Ja, lieber Gott, wie sah er aus – wie ein Berliner, mit einem schwarzen Schnurrbart und einer Reisetasche.«
»Und haben Sie nicht einen zweispännigen Wagen?«
»Thut mir leid – die Pferde sind jetzt alle draußen. Wenn Sie aber das dran wenden wollen, warum nehmen Sie nicht Postpferde?«
»Ist denn eine Poststation hier im Ort? Ich hatte keine Ahnung davon, denn ich bin im Gasthaus vorgefahren.«
»Ja gewiß, und die müssen Ihnen Pferde schaffen.«
Hamilton hörte nichts weiter und saß, kaum eine Viertelstunde später wieder in seiner Extrapost. Jetzt zweifelte er auch keinen Augenblick mehr, daß er auf der richtigen Spur sei und versprach dem Postillon ein tüchtiges Trinkgeld, wenn er ordentlich zufahren würde.
Auf der nächsten Station fand er aber seine Nachtfahrt schon unterbrochen. Die Wege kreuzten sich hier, und er durfte nicht weiter fahren, aus Furcht, die falsche Straße einzuschlagen. Er mußte dort übernachten, aber schon vor Tag war er wieder auf, und wie er nun die Gewißheit erlangte, daß der Flüchtige die Straße nach Norden eingeschlagen, folgte er derselben mit Extrapost und versprach dem Postillon ein fürstliches Trinkgeld, wenn er den Gesuchten einholte, ehe er die Eisenbahn erreichte.
Das wäre freilich nicht möglich gewesen, wenn Kornik sich verfolgt gewußt und dann keine Zeit versäumt hätte. Er schien sich aber vollkommen sicher zu fühlen, denn als sie nach Camburg kamen, hörten sie daß er dort geschlafen hätte und ziemlich spät Morgens wieder aufgebrochen sei.
Jetzt galt es, ihm den Vorsprung abzugewinnen und näher und näher rückten sie auch hinan, bis sie dicht vor Limburg einem rückreitenden Postillon begegneten, der ihnen sagte, daß sie die Extrapost voraus vielleicht noch vor der Stadt einholen könnten, wenn sie die Pferde nicht schonten.
Und wahrlich sie schonten die Pferde nicht, was sie laufen konnten, liefen sie. Aber nach der Bahn zu führte der Weg steil thalab, der unglückselige Wagen hatte keinen Hemmschuh und mußte mit der Kette eingelegt werden; zu rasch durfte er da nicht fahren, wenn er nicht riskiren wollte ein Rad zu brechen. Als sie endlich Limburg dicht vor sich sahen, war die verfolgte Extrapost nirgend zu erkennen, wohl aber pfiff gerade der von Gießen kommende Zug in den Bahnhof ein, und hielt dort gerade lang genug, daß ihn Hamilton, als er mit seinen, ordentlich mit Schaum bedeckten Thieren heranrasselte, konnte wieder davonkeuchen sehen. – Er war zu spät gekommen.
Es war ein verzweifelter Moment, aber Hamilton nicht der Mann, sich dadurch beirren zu lassen. Daß Kornik diesen Zug benutzt hatte, daran zweifelte er keinen Augenblick, sowie er nur auf dem Bahnhof anfuhr und ihn nicht traf. Zum Ueberfluß fanden sie aber auch noch die Extrapost, die ihn hierher gebracht, und der Postillon derselben bestätigte, daß der Herr, den er gefahren, mit dem letzten Zug »nach dem Rhein« abgegangen sei.
Es war 5 Uhr 55 – der nächste Zug ging 6 Uhr 30 – also noch eine halbe Stunde Zeit. Hamilton fuhr mit seinem Wagen gleich vor dem Polizeigebäude vor, die Herrn hatten es sich aber schon bequem gemacht, und er fand nur noch einen Aktuar, der Schriftstücke in einer Privatsache durchsah.
Glücklicherweise schien dies ein ziemlich intelligenter Mann, der seinen Bericht aufmerksam anhörte. Als er ihn beendigt hatte, sagte er:
»Mein lieber Herr – dieser Zug, der eben Limburg verlassen hat, geht allerdings heute Abend noch nach Coblenz, aber ich weiß nicht, ob der Herr, dem Sie nachsetzen, gerade ein Interresse daran haben kann, Coblenz diese Nacht zu erreichen. Er kann natürlich nicht ahnen, daß Sie ihm so dicht auf den Fersen sitzen – vorausgesetzt nämlich, daß es wirklich der Richtige ist, und wenn Sie meinem Rath folgen wollen, so thun Sie, was ich Ihnen jetzt sage. Fahren Sie mit dem nächsten Zug nach Ems – nicht weiter – besuchen Sie dort heute Abend – mit jeder nöthigen Vorsicht natürlich, den Spielsaal, und finden Sie dann – was ich aber bezweifele – Ihren Mann nicht, dann nehmen Sie heute Abend noch in Ems einen Wagen, den Sie für Geld überall bekommen können, fahren direkt nach Coblenz, und passen morgen früh an den Bahnzügen auf. Ich wenigstens, wenn ich an Ihrer Stelle einen solchen Patron zu verfolgen hätte, würde genau so handeln, und wenn ich nicht sehr irre, gut dabei fahren.«
»Ems ist nassauisch, nicht wahr?« frug Hamilton.
»Allerdings,« sagte der Aktuar.
»Könnten Sie dann,« fuhr Hamilton fort, indem er seine Legitimationspapiere aus der Tasche holte, »mir auf Grundlage dieser Schriftstücke einen Verhaftsbefehl für das betreffende Individuum ausstellen?«
Der Aktuar sah die Papiere, bei denen sich eine in Hamburg beglaubigte Uebersetzung befand, aufmerksam durch und sagte dann lächelnd:
»Eigentlich, und nach unserem gewöhnlichen Gerichtsverfahren würde die Sache mehr Umstände machen, und nicht so rasch beseitigt werden können, unter den obwaltenden Verhältnissen aber denke ich, daß ich die Verantwortlichkeit auf mich nehmen kann. Sie müssen mit dem nächsten Zug fort, wenn Sie den Gesuchten nicht versäumen wollen. Setzen Sie sich einen Augenblick; ich denke, wir können das alles noch in Ordnung bringen.«
Der alte Aktuar war ein wahres Juwel. Hamilton hätte sich an keinen besseren Menschen wenden können. In kaum zehn Minuten hatte er einen Verhaftsbefehl für die Nassauischen Lande gegen jenen Mr. Kornik ausgestellt. Und nicht einmal einen Kreuzer mehr als die üblichen und nicht zu vermeidenden Sporteln wollte er dafür nehmen, und wie gern hätte ihm der junge Mann seine Arbeit zehn- und zwanzigfach bezahlt!
Jetzt war alles in Ordnung – Hamilton beschloß, den ihm gegebenen Rath gewissenhaft zu befolgen, und dem alten Herrn auf das herzlichste dankend, eilte er so rasch er konnte nach dem Bahnhof zurück.
Seine Zeit war ihm auch nur eben knapp genug zugemessen; kaum hatte er dort sein Billet gelöst, so wurde der Zug schon signalirt; zehn Minuten später braußte er heran, hielt, nahm seine wenigen Passagiere auf und keuchte in ruheloser Hast weiter, das freundliche Lahnthal hinab.
Aber Hamilton hatte kein Auge für die liebliche Scenerie, die ihn umgab – so war er in seine eigenen Gedanken vertieft, daß er ordentlich emporschrak als sie in den ersten Tunnel eintauchten. Nur das Bild des Flüchtigen schwebte vor seiner Seele, und selbst daß er Schlaf und Ruhe entbehrt hatte, um diesen zu erreichen und einzuholen, fühlte er nicht. Der Zug flog mit reißender Schnelle dahin, aber ihm kam es noch immer vor, als ob er in seinem Leben nicht so langsam gefahren wäre. Jetzt glitten sie an den grünen Hängen des freundlichen Thales dahin – jetzt wieder öffnete der Berg seinen Schlund, um sie in seine düstere Tiefe aufzunehmen, und aufs neue schossen sie hinaus in den dämmernden Abend. Aber Hamiltons Augen schienen für das alles keine Sehkraft zu haben, so theilnahmlos, so unbewußt selbst streifte sein Blick darüber hin, bis endlich der schrille Pfiff der Locomotive die Nähe der Station Ems anzeigte und eine Masse Spaziergänger, Herren zu Fuß und Damen und Kinder auf Eseln, in der unmittelbaren Nähe der Bahn sichtbar wurden. Es war spät geworden und die Leute eilten jetzt nach Haus, denn so heiß die Tage auch sein mochten, die Nächte blieben kühl und frisch genug.
Aber diese kümmerten den Polizeimann nicht, der recht gut wußte, daß der, den er suchte, sich nicht unter ihnen befand, selbst wenn es noch hell genug gewesen wäre, einzelne Physiognomien der da draußen Wandernden zu erkennen, an denen sich nur die lichten Kleider unterscheiden ließen.
Der Zug hielt, aber selbst jetzt noch war Hamilton einen Augenblick unschlüssig, ob er nicht lieber sitzen bleiben und bis nach Oberlahnstein und Coblenz mitfahren solle; denn ließ es sich denken, daß der Flüchtige gerade hier ausgestiegen sei? Derartige Menschen sind allerdings furchtbar leichtsinnig, und der alte Aktuar hatte am Ende doch Recht gehabt, wenn er ihm rieth, die Spielbank jedenfalls einmal ein Paar Stunden zu besuchen. Verloren war immer kaum viel Zeit dabei, denn kam er jetzt auch nach Coblenz, so mußte er doch die Nacht dort liegen bleiben, um bei dem Abgang des ersten Morgen-Zuges erst am Bahnhof zu sein. Er folgte also dem Rath des alten Mannes, stieg aus und ging in das dicht am Bahnhof gelegene Hotel zum Guttenberg, um dort erst etwas andere Toilette zu machen. Er wollte sich nämlich nicht der Gefahr aussetzen, daß er von dem schlauen Verbrecher zuerst erkannt würde, denn er zweifelte keinen Augenblick daran, daß Kornik ihn an jenem Abend eben so gut bemerkt habe, wie seinen Begleiter Burton, und ihm deshalb jetzt eben so rasch ausweichen würde, wie jenem.
In seiner Tasche trug er einen leichten hellen Sommerrock, den zog er an, setzte eine hellgrüne Brille auf und borgte sich noch außerdem vom Kellner einen Cylinderhut. Mit dieser ganz geringen Veränderung seiner Toilette, die er dadurch vervollständigte, daß er ein weißes Halstuch statt seines bisher getragenen schwarzen nahm, fühlte er sich ziemlich sicher, wenigstens nicht gleich auf den ersten Blick erkannt zu werden. Kornik hatte ihn ja überhaupt nur die kurze Zeit im Coupé gesehen, und ihn dabei keineswegs seiner Beachtung so besonders werth gehalten. Dann aß er etwas und hielt es nun an der Zeit, das jetzt besonders frequentirte Kurhaus zu besuchen.
Es war indessen völlig Nacht geworden; unterwegs traf er nur noch einzelne Leute, die vom Kurhaus weg über die Brücke in ihre am andern Ufer liegende Quartiere gingen, das Kurhaus selber aber war noch hell und brillant erleuchtet und auch in der That der einzige Platz in dem ganzen Badeort, den man Abends besuchen konnte und wo man Gesellschaft fand. Die anderen zahllosen Hotels schienen nur zum Essen zu dienen, denn in ihren Sälen versetzten riesige Tische, deren Zwischenraum vollständig mit Stühlen ausgefüllt war, jeden nur einigermaßen möglichen Platz. Man konnte sich in keinen von ihnen wohnlich fühlen.
Das Kurhaus dagegen vereinigte alles, was sich von Pracht und Eleganz nur denken ließ – ein reichhaltiges Lesezimmer mit bequemen Fauteuils, einen prachtvollen Saal zu Concerten oder Spiel- und Tanzplätzen der Kinder und Damen, und dann den unheilvollen Magnet für die Spieler, die grünen Tische, von denen der verführerische Klang des Metalls in alle harmlosen Spiele und Vergnügungen hinübertönte, und seine Opfer erbarmungslos an- und nachher auszog.
Es ist eine Schmach für Deutschland, daß wir noch diese vergoldeten Schandhöhlen in unseren Gauen dulden – es ist eine doppelte Schmach für die Regierungen, die sie begünstigen und gestatten, und alle die Opfer, die jährlich fallen, müssen einst auf ihren Seelen brennen.
Napoleon III. hat die Spielhöllen aus seinem Reich verbannt, und die Spieler damit über die Grenzen getrieben. Geschah das aber nur deshalb, daß sie in Deutschland ihre gesetzliche Aufnahme finden sollten? und müssen wir nicht vor Scham erröthen, wenn wir dieses französische Unwesen mit französischen Marken und Marqueuren im Herzen unseres Vaterlandes eingenistet finden? Aber es ist so. Trotz der gerechten Entrüstung, die allgemein darüber herrscht, müssen wir jetzt geschehen lassen, daß andere Nationen die Achseln darüber zucken und uns bedauern oder – verachten, müssen wir es geschehen lassen, sage ich, denn
Wenn wir es denn aber trotz allem und allem unter unseren Augen so frech fortgeführt sehen, so gehört es sich, daß sich jeder rechtliche Mann wenigstens dagegen verwahrt, diese Schandbuden gut zu heißen. Das Ausland möge erfahren, daß die deutsche Nation unschuldig ist an diesem Werk, und keinen Silberling von dem Blutgeld verlangt, das es einzelnen Fürsten einbringen mag. Hammerschlag auf Hammerschlag folge auf das Gewissen der Vertreter deutscher Nation, bis sie endlich wach gerüttelt werden – sie sollen sich wenigstens nicht beklagen dürfen, daß man sie nicht geweckt hätte.
Hamilton dachte freilich an nichts derartiges, als er das hell erleuchtete Portal betrat, an welchem ein gallonirter Portier und ein sehr einfach gekleideter Polizeidiener – zur Wache, daß das heilige Spiel nicht etwa gestört würde – auf Posten standen. Der Portier wollte übrigens Schwierigkeiten machen, als er Hamiltons hellen Rock sah – er schien ihm für die Spielhölle nicht anständig genug gekleidet, aber neben ihm schritt eine bis auf den halben Busen decoltirte Französin frech vorüber, welcher der Lakai eine tiefe, ehrfurchtsvolle Verbeugung machte. Hamilton wußte indessen, welchen Zauber in einem solchen Fall ein Guldenstück ausüben würde, und der augenblicklich zahm gewordene Portier schmunzelte auch so vergnügt darüber hinweg, daß seinem Eintritt nichts weiter im Wege stand.
Wenige Secunden später befand er sich, von dem jetzt dienstbaren Geist willig geleitet, im Lesecabinet, aus dem eine Thür unmittelbar in den großen Spielsaal führte.
Dort saßen nur ihm vollkommen fremde Menschen, ein langbeiniger Engländer, der gewissenhaft die Times durcharbeitete, ein kleiner beweglicher Franzose, der über dem Charivari schmunzelte, und ein Paar andere Badegäste, die gleichgültig und aus Langeweile die verschiedenen continentalen Zeitungen durchblätterten.
Er hielt sich dort nicht auf und öffnete die Thür, die in den Spielsalon führte, aber anfangs nur halb, um erst einen Ueberblick über die verschiedenen Gestalten zu gewinnen, und nicht früher gesehen zu werden, als er selber sah. Aber es hätte dieser Vorsicht nicht einmal bedurft, denn die dort Befindlichen hatten nur Ohr für den monotonen Ruf des Croupiers, nur Auge für den grünen Tisch, und die darauf genähten bunten Lappen. Wer kümmerte sich von allen denen um den einzelnen Fremden, wenn er nicht selber als stark Spielender – mit Glück oder Unglück blieb sich gleich – ihr Interesse für einen Augenblick in Anspruch nahm.
Hamilton trat an die Spieler dicht hinan, um die einzelnen Gesichter derselben mustern zu können – aber er fand kein bekanntes darunter. Es war ein buntes Gemisch von leidenschaftlich erregten, abstoßenden Physiognomien, unter denen sich nur hie und da die kalten speculirenden Züge alter abgefeimter, und ruhig ihre Zeit abwartender Spieler, auszeichneten. Auch viele »Damen« standen dicht von den Uebrigen gedrängt am Tisch, wenn solche Frauenzimmer den Namen von Damen überhaupt verdienen. Eine von diesen saß sogar neben dem Croupier – es war der Lockvogel der Gesellschaft, ein junges, üppiges Weib, tief decoltirt, mit dunklen vollen Locken und reichem Brillantschmuck; andere drängten, jede Weiblichkeit bei Seite lassend, zwischen die ihnen nur unwillig Raum gebenden Zuschauer hinein, um ihr Geld in wilder Hast auf eine Nummer zu schieben.
Hamiltons Blick streifte gleichgültig darüber hin, und wie er sich langsam selber um den Tisch bewegte, entging kein irgendwo eingeschobener Kopf seinem forschendem Auge. Da hörte er auch in einem kleineren Nebenzimmer das Klimpern des Geldes und die monotonen Worte: »le jeu est fait« – denen lautlose Stille folgte, und wollte eben auch jenes Gemach betreten, als er wie festgewurzelt auf der Schwelle blieb, denn dort stand Kornik – bleich wohl jetzt, von der Erregung des Spiels, und mit gierigem Blick an der abgezogenen Karte hängend – aber unverkennbar derselbe, mit dem er an jenem Tag gefahren. Er hatte es auch nicht einmal für nöthig gehalten, den verrätherischen Schnurrbart abzurasiren, oder sein Haar anders zu tragen, er mußte sich heute Abend hier vollkommen sicher fühlen. Nur die blaue Brille fehlte.
Im ersten Moment fürchtete Hamilton fast sich zu bewegen, daß nicht der Blick des Verbrechers ihn vor der Zeit traf. Aber es war das eine vollkommen nutzlose Angst, denn der Spieler hatte nur Augen für die vor ihm abgezogenen Karten – weiter existirte in diesem Moment keine Welt für ihn. Vorsichtig zog sich der Polizeiagent deshalb wieder zurück, bis er sich im Nebenzimmer gedeckt wußte, schritt dann durch den Saal und auf den dort stationirten Polizeidiener zu.
Mit wenigen Worten machte er diesem auch begreiflich was er wollte – derartige kleine Zwischenfälle kamen gar nicht etwa so selten in diesen Spielhöllen vor – und überraschte dabei den Portier auf das angenehmste, indem er ihm zwei große Silberstücke – er sah gar nicht nach, was – in die Hand drückte, mit dem Auftrag, so rasch als irgend möglich Polizeimannschaft zur Hülfe herbeizuholen. Die befand sich übrigens stets in der Nähe. Ein verzweifelter Spieler hatte sich wohl schon dann und wann einmal, zum Letzten und Aeußersten getrieben, an der heiligen Kasse selber vergriffen und nachher sein Heil in rascher Flucht gesucht, und dagegen mußten die Herren freilich geschützt werden. Wenn auch ein Raub, war das Geld doch ein gesetzlich gewonnener, und die Regierung fühlte sich verpflichtet, dessen Schutz zu überwachen.
Hamilton traute indessen seinem Mann da drinnen noch lange nicht genug, um ihn länger, als unumgänglich nöthig war, sich selber zu überlassen; er war ihm damals in Frankfurt auf zu schlaue Weise durch die Finger geschlüpft, während er ihn eben so sicher geglaubt wie gerade jetzt. Aber er selber kannte die Leidenschaft des Spiels noch viel zu wenig, um zu wissen, daß er in diesem einen viel sicheren Bundesgenossen hatte, als in einem schönen Weibe, und als er in Begleitung des Polizeidieners jenes Zimmer wieder betrat, stand Kornik noch eben so fest und regungslos, eben so nur in dem einen Gedanken der Karten absorbirt, an seinem Tisch, wie er ihn vorhin verlassen.
Der Polizeibeamte übereilte sich aber jetzt nicht im geringsten. Er wußte, daß ihm sein Opfer nicht mehr entgehen konnte, und hielt es für viel gerathener, den Herrn nicht früher zu beunruhigen, als er der herbeigerufenen Hilfe sicher war. Nur seine grüne Brille nahm er ab.
»Welcher ist es denn?« flüsterte ihm der dicht hinter ihm gehende Polizeidiener zu. Hamilton machte eine beschwichtigende Bewegung mit der Hand und trat dann, von jenem gefolgt, an Kornik hinan. Er stand jetzt so nahe bei ihm, daß seine Schulter die des Polen berührte, der aber nicht daran dachte, auch nur den Kopf nach ihm umzudrehen.
Jetzt hatte derselbe gerade gewonnen; es standen vielleicht 40 oder 50 Louisd'or auf dem grünen Tisch – er ließ den Satz stehen, die Karten fielen und der Croupier zog mit seiner hölzernen Schaufel das Gold ein.
Mit einem leisen, zwischen den Lippen gemurmelten Fluch schob sich Kornik seine Geldtasche vor, um wahrscheinlich neue Summen auf die trügerischen Blätter zu setzen, als er eine Hand auf seiner Schulter fühlte und Hamilton mit ruhiger, aber absichtlich lauter Stimme sagte:
»Sie sind mein Gefangener, im Namen der Königin.«
Der Pole wandte ihm jetzt rasch und erschreckt sein Antlitz zu und Leichenblässe deckte im Nu seine Züge, als er das nur zu wohl gemerkte Gesicht des Mannes aus Frankfurt neben sich sah. Aber auch nicht für ein Moment verlor er seine Geistesgegenwart, und dem Blick desselben kalt und ruhig begegnend, sagte er:
»Das Spiel hat Ihnen wohl den Verstand verwirrt – stören Sie mich nicht,« und in die Geldtasche greifend, wollte er, ohne den Fremden weiter zu beachten, sich wieder über den Tisch beugen, als sich Hamilton aber, seiner Sache zu gewiß, an den Polizeidiener wandte und sagte:
»Verhaften Sie den Herrn – ich werde Sie augenblicklich auf das Bureau begleiten.«
»Keine Störung hier, meine Herren, wenn ich bitten darf,« rief plötzlich ein kleines hageres Männchen, das schon bei den ersten Worten an den Spieltisch getreten war. »Wenn Sie etwas mit einander auszumachen haben, ersuche ich Sie, in ein Nebenzimmer zu treten.«
»Ich werde Sie nicht um Erlaubniß fragen, wenn ich Ihre Wirthschaft hier für einen Augenblick unterbreche,« sagte Hamilton trotzig – »ich habe ein Recht diesen Mann zu verhaften, wo ich ihn finde.«
»Dann führen Sie ihn ab, Polizeidiener,« sagte der Kleine in seinem braunen Rock ruhig – »oder ich mache Sie für jede Unordnung hier verantwortlich.«
»Ich habe mit den Herrn nichts zu thun,« rief der Pole trotzig, »was wollen Sie von mir? – lassen Sie mich los.«
Eine Anzahl von Menschen sammelte sich um die beiden, und die Spieler zogen ihr Geld ein, weil sie vielleicht einen Kampf und dadurch die Sicherheit ihrer Bank gefährdet fürchteten, denn es gab leider eine Menge von Menschen, die das dort aufgethürmte Geld für gestohlen hielten, und sich wenig Gewissen daraus gemacht hätten, es fortzuraffen.
»Bitte, meine Herren, gehen Sie in ein Nebenzimmer,« drängte aber jetzt nochmals der kleine Braune, »Sie sind dort vollkommen ungestört – Jean, Bertrand hierher – sorgen Sie für Ordnung.«
Der Pole warf den Blick umher; er sah sich augenscheinlich nach einem Weg zur Flucht um, aber Hamiltons Hand hatte seinen Arm wie eine Schraube gefaßt und der Polizeiagent sagte mit leiser, aber drohender Stimme:
»Es hilft Ihnen nichts. Flucht ist für Sie unmöglich. Sie sind mein Gefangener; ergeben Sie sich gutwillig, Sie haben keinen Ausweg mehr, und Wiederstand kann Ihre Lage nur verschlimmern.«
Es war einen Augenblick, als ob sich der Pole den drohenden Worten nicht fügen wolle, und fast unwillkürlich zuckte er mit der Hand empor. Aber ein umhergeworfener Blick mußte ihn überzeugen, daß er mit Gewalt nichts ausrichten könne, denn eine Menge von Neugierigen, die sich im benachbarten Salon umhergetrieben, hörten kaum die in einem Spielsaal ganz ungewohnten, lauten Stimmen, als sie hereindrängten, und den einzigen Ausgang vollständig verstopften.
Der eine Blick genügte, und verächtlich lächelnd aber mit voller Ruhe sagte der Mann:
»Hier herrscht jedenfalls ein Irrthum. Ich bin Graf Kornikoff, hier ist mein russischer Paß, und ich stelle mich damit unter den Schutz unseres Gesandten. Nassau ist mit dem russischen Thron verwandt und wird dessen Unterthanen nicht ungestraft beleidigen lassen.«
Mit den Worten nahm er ein Papier aus seiner Brusttasche und hielt es Hamilton vor.
»Es kann sein,« sagte dieser, »daß Ihr Paß in Ordnung ist. Die gefährlichsten Charaktere haben gewöhnlich die besten Pässe. In dem Falle werden Sie sich aber um so weniger weigern mir zu folgen, da ich bereit bin, Ihnen vollständige Genugthuung zu geben, wenn ich Sie ohne hinreichenden Grund verhaftet habe. Die Herren hier werden mir aber zugeben, daß man, auch selbst mit einem guten Paß versehen, doch stehlen kann, und auf die Klage eines Diebstahls verhafte ich Sie hiermit.«
»Gut denn, führen Sie ihn fort und übernehmen dabei die Verantwortung für alle Folgen,« sagte der kleine Herr mit dem braunen Rock ungeduldig – »aber Sie sehen doch ein, daß Sie hier das Spiel und Vergnügen völlig dabei unbetheiligter Herren und Damen nicht länger stören dürfen. Herr Polizeicommissar, ich bitte Sie, daß Sie diesem Unfug ein Ende machen, oder ich werde mich morgen ernstlich bei der Behörde deshalb beklagen.«
Der Polizeicommissar war in der That herbeigekommen, und Hamilton, der ihn an seiner Uniform erkannte, frug ihn leise:
»Wer ist denn dieser kleine Tyrann?«
»Einer der Spielpächter,« sagte der Mann mit einem verächtlichen Blick auf den Braunen, und setzte dann laut hinzu, »beklagen Sie sich bei wem Sie wollen, Monsieur, Sie werden uns aber hier wohl noch erlauben, unsere Schuldigkeit zu thun, selbst wenn Ihre achtbare Gesellschaft einen Augenblick gestört werden solle. Und Sie, mein Herr,« wandte er sich an den Gefangenen, »folgen Sie uns jetzt auf das Bureau – ich werde die Sache dort untersuchen.«
»Sie werden mir bezeugen, daß ich nicht den geringsten Wiederstand geleistet habe,« sagte der Pole ruhig – »kommen Sie, meine Herren. Ich wünsche noch an dem Spiel hier Theil zu nehmen, und je eher wir diese fatale Sache beendigen, desto besser.«
Damit wandte er sich entschlossen dem Ausgang zu – die Leute gaben ihm Raum und wenige Secunden später standen sie am Ausgang des Kurhauses.
»Es wäre besser, wir legten ihm Handschellen an,« sagte Hamilton, sich zu dem Polizeicommissar überbiegend.
»Er kann uns hier nicht entschlüpfen,« erwiederte dieser kopfschüttelnd – »und ich möchte keine Gewaltmaßregeln gebrauchen, bis ich die Sache näher untersucht habe.«
Der Pole schritt ruhig und festen Schrittes zwischen zwei Polizisten dahin – dicht hinter ihm folgte Hamilton mit dem Commissar, und eine Anzahl von Neugierigen schloß sich dem Zuge an, um zu sehen, was die Sache für ein Ende nähme. So schritten sie langsam durch den Kurgarten dem kleinen viereckigen Regierungsgebäude zu, das dicht an der Brücke liegt, und der Gefangene schien selber nichts sehnlicheres zu wünschen, als diese Scene bald zu Ende gebracht zu sehen.
»Haben wir noch weit?« frug er einen der ihn escortirenden Leute.
»Oh bewahre,« sagte dieser, indem er mit dem ausgestreckten Arm auf das vor ihnen liegende Gebäude zeigte, »das ist das Haus.« In demselben Moment stieß er aber auch einen Schrei aus, denn ein schwerer Schlag, jedenfalls mit einem sogenannten »life preserver« geführt, schmetterte ihn bewußtlos zu Boden, während der Gefangene mit flüchtigen Sätzen über die schmale Brücke hinüber eilte.
Aber er hatte flüchtigere Füße hinter sich. Wie ein Tiger auf seine Beute, so schoß Hamilton hinter ihm drein, und noch ehe er das Ende der Brücke erreichte, streckte er schon den Arm aus, um ihn am Kragen zu packen. Da wandte sich der zur Verzweiflung getriebene Verbrecher, und einen Revolver vorreißend, drückte er ihn gerade auf die Brust seines Verfolgers ab.
Hamilton wäre verloren gewesen, aber zu seinem Glück versagte die Schußwaffe, und ehe Kornik zum zweiten Male abdrücken konnte, schmetterte ihn der Schlag des Polizeimanns zu Boden. Aber selbst damit begnügte sich dieser nicht, und mit einer ganz außerordentlichen Gewandtheit faßte er ihm beide Hände, legte sie zusammen und wenige Secunden später knackten die vortrefflichen Darbies oder Handschellen in ihr Schloß und er wußte jetzt, daß er seinen Gefangenen sicher hatte.
»Alle Wetter,« sagte der nachkeuchende Polizeicommissar, »das war doch gut, daß Sie schneller laufen konnten.«
»Wenn Sie meinem Rath gefolgt wären, konnte uns das erspart werden,« meinte Hamilton finster, »denn ich verdanke mein Leben jetzt nur einem schlechten Zündhütchen.«
»Er hat schießen wollen?«
»Dort liegt der Revolver – Sie sehen, daß Sie es hier mit einem gefährlichen Verbrecher zu thun haben.«
»Da wollen wir ihn doch lieber binden.«
»Bitte, bemühen Sie sich nicht weiter – er ist fest und sicher. Sein Sie nur so gut und lassen ihn jetzt durch Ihre Leute in festen Gewahrsam bringen.«
Mr. Burton befand sich an dem Morgen in einer fast fieberhaften Aufregung, denn wie er schon lange jeden Glauben an die Mitschuld des armen – oh so wunderbar schönen Weibes abgeschüttelt hatte, gingen ihm andere Pläne wild und wirr durch den Kopf. Immer aufs neue malte er sich den Augenblick aus, wo er sie in seinem Arm gehalten, wo seine Lippen zum ersten Mal in Angst und Liebe die ihrigen berührt, und nur der Gedanke quälte ihn noch, in welchem Verhältniß sie zu dem unwürdigen Menschen gestanden haben, wie sie mit ihm bekannt werden konnte. Hatte er sie unter seinem falschen Namen getäuscht? – ihrer Familie heimlich vielleicht entführt? – alle ihre Klagen schienen darauf hinzudeuten, wie verworfen mußte er dann – wie elend sie, die arme Unschuldige, Verrathene sein? und war es da nicht seine Pflicht, – wo er wenn auch selber unschuldiger Weise, all diesen Jammer über sie gebracht – ihr auch wieder zu helfen so gut er konnte? Er schien fest entschlossen, und von dem Augenblick an fühlte er sich auch wieder ruhiger und zufriedener.
James Burton, kaum zum Mannesalter herangereift, war ein seelensguter Mensch mit weichem, für alles Gute und Schöne leicht empfänglichem Herzen. Er hatte dabei – in den glücklichsten und unabhängigsten Verhältnissen erzogen – noch nie Gelegenheit bekommen, den Täuschungen und Wiederwärtigkeiten des Lebens zu begegnen. Weil er selber gut und ohne Falsch war, hielt er alle Menschen für eben so rechtlich und brav, und selbst an Korniks Schuld hatte er so lange nicht glauben mögen, bis auch der letzte Zweifel zur Unmöglichkeit wurde. Wie leicht vertraute er da diesen lieben treuen Augen – wie glücklich fühlte er sich selbst, daß es ihm verstattet gewesen, jenem holden Wesen den Schmerz und die furchtbare Seelenqual erspart zu haben, von dem zwar geschickten und tüchtigen, aber auch vollkommen rücksichtslosen Polizeimann examinirt zu werden. Er schämte sich jetzt fast vor sich selber, daß er ihr auch nur verstattet hatte, ihren Koffer auszupacken – wie niedrig mußte sie von ihm denken! – aber er war ja auch gar nicht im Stande gewesen, sie daran zu verhindern, so leidenschaftlich erregt zeigte sie sich nur bei der Möglichkeit eines Verdachts. Aber natürlich – wenn er sich in ihre Stelle dachte, würde er genau so gehandelt haben.
Die Stunde, die sie erbeten hatte, um sich nur von den ersten furchtbaren Eindrücken der über sie hereingebrochenen Catastrophe zu sammeln, verging ihm in diesen Gedanken rascher, als er es selbst geglaubt. Gewissenhaft aber bis zur letzten Minute ausharrend, stieg er dann wieder zu ihr hinab, klopfte leise an, und sah sich dem zauberischen Wesen noch einmal gegenüber.
Zeit zum Aufräumen schien sie allerdings noch nicht gefunden zu haben, denn die umhergestreuten Sachen der beiden Koffer lagen noch immer so wild und wirr durch einander, wie er sie verlassen hatte. Aber wer mochte ihr das verdenken? Auch in ihrem leichten, reizenden Morgenanzug war sie noch; – wenn unsere Seele zerrissen ist, wie können wir da an den Körper denken?
Trotzdem schien sie sich gesammelt zu haben. Sie sah etwas bleich aus, aber sie war ruhiger geworden, und dem Eintretenden lächelnd die Hand entgegenstreckend, sagte sie herzlich:
»Oh wie danke ich Ihnen, daß Sie, um den ich es wahrlich nicht verdient habe, mir diese zarte Rücksicht gezeigt. In dem Gedanken fand ich auch allein meinen Trost, daß Gott mich doch noch nicht verlassen haben könnte, da er Sie mir zugeführt.«
»Verehrte – liebe Frau,« sagte Burton bewegt, »sein Sie unbesorgt. Wenn auch in einem fremden Lande, steht Ihnen doch jetzt ein Landsmann zur Seite, und ich habe mir nur erlaubt, Sie jetzt noch einmal zu stören, um mit Ihnen gemeinschaftlich zu berathen, welche Schritte wir am besten thun können, um – das Geschehene gerade nicht ungeschehen zu machen, das ist nicht möglich, aber Sie doch jedenfalls aus einer Lage zu befreien, die Ihrer unwürdig ist. Um mir das zu erleichtern, muß ich Sie aber bitten, mir Ihr volles Vertrauen zu schenken. Nur dann bin ich im Stande die Maßregeln zu ergreifen, die für Sie die zweckmäßigsten sein würden. Daß es dabei nicht an meinem guten Willen fehlt, davon können Sie sich versichert halten.«
»Mein volles Vertrauen soll Ihnen werden,« sagte die junge Frau, leicht erröthend – »aber bitte, setzen Sie sich zu mir, Sie sollen alles erfahren – und nun,« fuhr sie fort, während sich Burton neben ihr auf dem Canapé niederließ, indem sie ihre Hand auf seinen Arm legte – »erzählen Sie mir vorher ausführlich, wie Sie dem Verbrecher auf die Spur gekommen sind, und welche Hoffnung Sie jetzt haben, ihn seiner Strafe zu überliefern. Es ist das Einzige jetzt, worauf ich hoffen kann, daß sein Geständniß Ihnen beweisen muß, wie doppelt nichtswürdig er an mir selber dabei gehandelt.«
»Aber, verehrte Frau,« sagte Burton etwas verlegen – »schon vorher theilte ich Ihnen alles mit, und der Eindruck, den die traurige Erzählung auf Sie machte –«
»Vorher,« sagte die junge Frau – »und in der entsetzlichen Aufregung, in der ich mich befand, tönten die Worte nur wie Donnerschläge an mein Ohr – ich begriff wohl ihre Furchtbarkeit, aber nicht ihren Sinn und vieles ist mir dabei unklar geblieben – besonders, welche Spur Sie jetzt von dem Verbrecher haben, daß Sie hoffen können ihn einzuholen, und wer der Herr ist, der ihn verfolgt.«
Der Bitte, während diese Augen so treu und vertrauend in die seinen schauten, konnte Burton nicht wiederstehen. Es war ihm dabei sogar Bedürfniß geworden, sich – ihr gegenüber – seines bisherigen eigenen Verhaltens wegen zu rechtfertigen, wobei er hervorhob, daß er mit der Verfolgung der Dame eigentlich gar nichts zu thun und Lady Clive im Leben nicht gesprochen habe, noch persönlich kenne. Auch von dem Schmuck selber wußte er nichts, als was ihm Hamilton darüber beiläufig mitgetheilt.
»Und jetzt?« frug die junge Dame weiter, die der Erzählung mit der gespanntesten Aufmerksamkeit gefolgt war – »wo jener Betrüger – dem Gott verzeihen möge, was er an mir gethan, und wie er mich doppelt verrathen hat – wo jener Betrüger geflohen ist, haben Sie noch Hoffnung, ihn wieder zu ereilen?«
»Allerdings,« sagte Burton – »Mr. Hamilton, mein Begleiter, ist einer der schlauesten und gewandtesten Detectivs Englands. Er spricht drei oder vier verschiedene fremde Sprachen, und hat schon daheim die scheinbar unmöglichsten Dinge ausgeführt. Dieser Kornik hatte außerdem viel zu kurzen Vorsprung, um mich nicht fest glauben zu machen, daß ihn Hamilton ereilt, da er noch dazu die unbegreifliche Unvorsichtigkeit beging, von hier mit Extrapost zu fliehen. Wir finden das aber so oft im Leben, daß schlechte Menschen irgend ein Verbrechen mit der größten und raffinirtesten Schlauheit ausführen, und jede Kleinigkeit, jeden möglichen Zufall dabei berücksichtigen, und nachher, wenn ihnen alles nach Wunsch geglückt, sich selber auf die plumpste Weise dabei verrathen.«
»Aber ehe er ihn eingeholt hat, kehrt er nicht hierher zurück?«
»Ich glaube kaum,« sagte Mr. Burton, »doch fehlt mir darüber jede Gewißheit. Er wird mir unter allen Umständen in der nächsten Zeit schon telegraphiren, denn ich habe ihm versprechen müssen, hier zu bleiben, bis er zurückkehrt.«
»Und glauben Sie, daß er den Verbrecher, wenn er ihn einholen sollte – mit hierher bringt?«
»Ich zweifle kaum – aber auch darüber bin ich nicht im Stande, Ihnen eine bestimmte Auskunft zu geben. Nur davon dürfen wir überzeugt sein, daß Mr. Hamilton alles in der praktischsten Weise ausführen wird, denn er versteht sein Fach aus dem Grunde. Hat er die Spur gefunden, so ist Mr. Kornik auch verloren.«
Es schien fast, als ob die junge Dame um einen Schatten bleicher wurde – und wer konnte es ihr verdenken, daß ihr die Erinnerung an den Mann, der sie so furchtbar hintergangen, entsetzlich war? Endlich sagte sie leise:
»Wenn sich das alles bestätigt, was Sie mir erzählt, verehrter Herr – und ich kann kaum mehr daran zweifeln, dann verdient er die Strafe, die ihn erreichen wird, im vollem Maße. Aber wie er auch Ihr Haus betrogen und hintergangen haben mag, es ist nichts im Vergleich mit dem, was er an mir und meinem zukünftigen Leben verbrochen.«
»Aber wie konnte er Sie so lange täuschen?« frug Burton und erröthete dabei fast selber über die Frage.
»Du lieber Gott,« seufzte die Unglückliche – »was weiß ein armes unerfahrenes Mädchen von der Welt? Er kam in meiner Eltern Haus, in das ihn zuerst mein Bruder eingeführt – es mögen jetzt zwei Monate sein – und sein offenes, heiteres Wesen gewann ihm mein Herz – sein angemaßter Rang schmeichelte meiner Eitelkeit. Er erzählte mir dabei von seinen Gütern in Polen, und wie glücklich – wie selig ihn mein Besitz machen würde, und ich – war schwach genug, es ihm zu glauben. Aber mein Vater verweigerte seine Einwilligung. Er kannte die Menschen besser, als seine thörichte Jenny. Er verlangte von Kornikoff den Ausweis eines hinreichenden Vermögens sowohl, wie die Erlaubniß seiner eigenen Eltern zu unserer Verbindung, und dieser, ungeduldig und stürmisch, drang in mich, mit ihm zu fliehen.«
Jenny barg beschämt ihr Antlitz in ihren Händen und James Burton hörte der Erzählung mit einiger Verlegenheit schweigend zu. Er hätte das liebliche Wesen so gern getröstet, aber es fielen ihm in diesem Augenblick um die Welt keine passenden Worte dafür ein und es entstand dadurch eine kurze peinliche Pause. Endlich fuhr die junge Frau, aber jetzt tief erröthend, fort:
»Schon unterwegs fing ich an, an dem Charakter meines Bräutigams zu zweifeln. Wir entkamen glücklich auf einem Dampfer, der nach Hamburg bestimmt war, und er hatte mir versprochen, daß jenes Fahrzeug in Helgoland anlegen würde, wo wir uns trauen lassen könnten – aber es legte nicht an, und in Hamburg, wo er ausging, um einen Geistlichen zu suchen, wie er sagte, kehrte er ebenfalls unverrichteter Sache zurück, versicherte mich aber, er habe bestimmt gehört, daß wir hier in Frankfurt – einer freien deutschen Stadt – unser Ziel leicht erreichen könnten. Ich folgte ihm auch hierher – immer noch als Braut – nicht als Gattin« – setzte sie mit leiser, kaum hörbarer Stimme hinzu – »und ich danke jetzt Gott, daß ich standhaft blieb und meinem guten Engel mehr folgte als jenem Teufel.«
Es wäre unmöglich, die Gefühle zu schildern, die James Burtons Seele bei dieser einfachen und doch so ergreifenden Erzählung bestürmten; sein Herz schlug hörbar in der Brust, und fast seiner selbst unbewußt, ergriff er mit zitterndem Arm die Hand seiner Nachbarin, die sie ihm willenlos überließ.
»Gott sei Dank,« flüsterte er endlich mit bewegter Stimme – »so brauche ich mir auch länger keine Vorwürfe zu machen, denn unser Erscheinen hier war ja dann nur zu Ihrem Heil.«
»Ihnen verdanke ich meine Rettung,« sagte da Jenny herzlich, und wie sie sich halb dabei zu ihm überbog, umfaßte er mit seinem Arm die bebende Gestalt des Mädchens. Aber nicht einmal auf ihre Stirn wagte er einen Kuß zu drücken, aus Furcht sie zu beleidigen, und sich gewaltsam aufrichtend, rief er leidenschaftlich bewegt aus:
»Dann ist auch noch alles, alles gut. Trocknen Sie Ihre Thränen, mein liebes, liebes Fräulein – die Versöhnung mit Ihren Eltern übernehme ich – übernimmt mein Vater, Sie kehren zu ihnen zurück und die Erinnerung an das Vergangene soll eine fröhliche Zukunft Sie vergessen machen.«
»Und auch Sie wollen nach England zurück?« frug rasch die junge Fremde.
»Gewiß,« rief Burton – »sobald ich nur Nachricht von Hamilton habe. Aber noch heute schreibe ich nach Haus – wie heißen Ihre Eltern, mein bestes Fräulein – was ist Ihr Vater? Halten Sie diese Fragen nicht für bloße Neugierde; es giebt keinen Menschen auf der Welt, der jetzt ein innigeres Interesse an Ihnen nähme, als ich selber.«
»Mein Vater,« sagte Jenny leise, »ist Geistlicher, der Reverend Benthouse in Islington. Vielleicht ist Ihnen der Name bekannt. Er hat viel geschrieben.«
»Das nicht,« sagte Hamilton erröthend, »denn ich muß leider zu meiner Schande bekennen, daß ich mich bis jetzt, und in jugendlichem Leichtsinn weniger mit einer religiösen Lectüre befaßt habe, als ich vielleicht gesollt – aber erlauben Sie, daß ich mir den Namen notire – und jetzt,« sagte er, als er sein Taschenbuch wieder einsteckte, »verlasse ich Sie. Wir dürfen den müßigen Leuten hier im Hotel Nichts zu reden geben – schon Ihrer selbst wegen, aber Sie sollen von nun an auch nicht mehr allein sein. Ich werde augenblicklich ein Kammermädchen für Sie engagiren, die Ihnen zugleich Gesellschaft leisten kann. Junge Mädchen, der englischen Sprache mächtig, sind gewiß genug in Frankfurt aufzutreiben; der Wirth kann mir da jedenfalls Auskunft geben. Keine Widerrede, Miß,« setzte er lächelnd hinzu, als sie sich – wie es schien mit dem Plan nicht ganz einverstanden zeigte – »Sie stehen von nun an, bis ich Sie Ihren Eltern wieder zurückführen kann, unter meinem Schutz, und da müssen Sie sich schon eine kleine Tyrannei gefallen lassen.«
»Aber wie kann ich Ihnen das, was Sie jetzt an mir thun, nur je im Leben wieder danken,« sagte das junge Mädchen gerührt – »womit habe ich das alles verdient?«
»Durch Ihr Unglück,« erwiederte Burton herzlich, indem er ihre Hand an seine Lippen hob, und wenige Minuten später fand er sich schon unten mit dem Wirth in eifrigem Gespräch, um eine passende und anständige Person herbeizuschaffen.
Das ging auch in der That weit rascher, als er selber vermuthet hatte. Ganz unmittelbar in der Nähe des Hotels wohnte ein junges Mädchen, die schon einige Jahre in England zugebracht und – wenn sie sich auch nicht auf längere Zeit binden konnte, doch gern erbötig war, die Stelle einer Gesellschafterin für kurze Zeit zu übernehmen. Mr. Burton führte sie selber der jungen Dame zu, und Elisa zeigte sich als ein so liebenswürdiges, einfaches Wesen, daß ein Zurückweisen derselben zur Unmöglichkeit wurde.
Den übrigen Theil des Tages verbrachte James Burton in einer unbeschreiblichen Unruhe, denn immer und immer war es ihm, als wenn er bei seiner jungen Schutzbefohlenen nachfragen müsse, ob ihr nichts fehle, ob sie nicht noch irgend einen Wunsch habe, den er ihr befriedigen könne, und ordentlich mit Gewalt mußte er sich davon zurückhalten, sie nicht weiter zu belästigen.
Am allerliebsten hätte er auch in der Stadt eine Unmasse von Sachen für sie eingekauft, um sie zu zerstreuen oder ihr eine Freude zu machen. Aber das ging doch unmöglich an, denn das hätte jedenfalls ihr Zartgefühl verletzt – er durfte es nicht wagen. Eine ordentliche Beruhigung gewährte es ihm aber, zu wissen, daß das arme verlassene Wesen jetzt jemand habe, gegen den es sich aussprechen konnte, und er begnügte sich an dem Tage nur einfach damit, die Hälfte der Zeit vollkommen nutzlose Fensterpromenade zu machen, denn es ließ sich dort niemand blicken, und die andere Hälfte unten im Haus und auf der Treppe auf und ab zu laufen, um wenigstens ihre Thür anzusehen.
Wenn er es sich auch noch nicht gestehen wollte, so war er doch bis über die Ohren in seine reizende Landsmännin verliebt.
Am nächsten Morgen war er allerdings zu früher Stunde wieder auf, aber erst um zwölf Uhr wagte er es, sich zu erkundigen, wie Miß Benthouse geschlafen hätte.
Sie empfing ihn mit einem freundlichen Lächeln, aber – sie sah nicht so wohl aus wie gestern. Ihre Wangen waren bleicher, ihre Augen zeigten, wenn auch nur leicht schattirte Ringe – sie schien auch zerstreut und unruhig und Burton, voller Zartgefühl, glaubte darin nur eine Andeutung zu finden, daß sie allein zu sein wünsche und empfahl sich bald wieder. Vorher aber frug sie ihn noch, ob er keine Nachricht von Mr. Hamilton erhalten habe, was er verneinen mußte.
Jetzt aber, mit der Furcht, daß sie erkranken könne – und nach all den letzten furchtbaren Aufregungen schien das wahrlich kein Wunder – wich er fast gar nicht mehr von ihrer Schwelle, und der Portier selber, der eigentlich alles wissen soll, wußte nicht aus dem wunderlichen Fremden klug zu werden.
Dieser ruhte auch nicht eher, bis er gegen Abend die neue Gesellschafterin einmal auf dem Gange traf, um sie nach dem Befinden der jungen Dame zu fragen.
»Sie scheint ungemein aufgeregt,« lautete die Antwort derselben – »sie hat keinen Augenblick Ruhe, und wohl zehn Mal schon gesucht mich fortzuschicken, um allein zu sein. Sie ist jedenfalls recht leidend und ich werde eine unruhige Nacht mit ihr haben.«
»Mein liebes Fräulein,« sagte Burton, dadurch nur noch viel mehr beunruhigt – »ich bitte Sie recht dringend, sie nicht einen Augenblick außer Acht zu lassen. Stoßen Sie sich nicht an das geringe Salär, was Sie gefordert haben, es wird mir eine Freude sein, Ihnen jede Mühe nach meinen Kräften zu vergüten.«
»Ich thue ja gern schon von selber, was in meinen Kräften steht,« sagte das junge Mädchen freundlich – »die Dame wird gewiß mit mir zufrieden sein. Verlassen Sie sich auf mich – ich werde treulich über sie wachen.«
So verging der Abend und nur noch einmal schickte Miß Benthouse zu Mr. Burton hinüber, um zu hören, ob er noch keine Nachricht bekommen habe. Er mußte es wieder verneinen und wäre gern noch einmal zu ihr geeilt, aber Elisa sagte ihm, daß sich die junge Dame aufs Bett gelegt hätte, um besser ruhen zu können, und er durfte sie da nicht stören.
Es war zwölf Uhr geworden, und er wollte sich eben zu Bett begeben, als es an seiner Thür pochte. Er öffnete rasch, denn er fürchtete eine Botschaft, daß sich Jennys Krankheitszustand verschlimmert hätte, aber es war nur der Diener des Telegraphenamtes, der ihm – unter dem Namen, mit dem er sich in das Fremdenbuch eingetragen – eine Depesche brachte. Sie mußte von Hamilton sein.
Er hatte sich nicht geirrt. Sie enthielt die wenigen, aber freilich gewichtigen Worte, von Ems aus datirt:
»Ich habe ihn – morgen früh komme ich – Hamilton.«
»Gott sei Dank,« rief Burton jubelnd aus, »jetzt nehmen die Leiden dieses armen Mädchens bald ein Ende.«
Am nächsten Morgen ließ er sich schon in aller Frühe erkundigen, wie Miss Benthouse geschlafen hätte – sie schlief noch, und Elise kam selber heraus, um ihm das zu sagen. Gern hätte er sie auch jetzt die Nachricht wissen lassen, die er noch gestern Nacht durch den Telegraphen bekommen, aber er fürchtete, das durch eine Fremde zu thun – er wollte es ihr lieber selbst sagen, wenn er sie um zwölf Uhr wieder besuchte.
Um die Zeit bis dahin zu vertreiben, frühstückte er unten und las die Zeitungen.
So war endlich die lang ersehnte Stunde herangerückt, und unzählige Mal hatte er schon nach der Uhr gesehen. Er war in sein Zimmer gegangen, um noch vorher Toilette zu machen und wollte eben hinuntergehen, als es stark an seine Thür pochte, und auf sein lautes »Walk in« – diese sich öffnete und Hamilton auf der Schwelle stand.
»Well Sir,« lachte dieser, »how are you?«
»Mr. Hamilton,« rief Burton, fast ein wenig bestürzt über die so plötzliche Erscheinung des Mannes. »Schon wieder zurück? – das ist fabelhaft schnell gegangen.«
»So? beim Himmel! Sie machen gerade ein Gesicht, Sir, als ob es Ihnen zu schnell gegangen wäre,« lächelte Hamilton. »Aber ich habe wirklich Glück gehabt – die Einzelheiten erzähle ich Ihnen jedoch später und nur für jetzt so viel, daß ich ihn in Ems beim Spiel erwischte und ihn dort auch fest und sicher sitzen habe. Mit Ausnahme von etwa zweitausend Pfund, die er verreist oder verspielt, oder zum Theil auch wohl hier seiner Donna zurückgelassen hat, fand sich noch alles Geld glücklich bei ihm, was jetzt unter Siegel bei den Gerichten deponirt ist – Apropos – die Dame haben Sie doch noch hier?«
»Allerdings,« sagte Burton etwas verlegen, »aber Mr. Hamilton, mit der Dame –«
»Machen wir natürlich keine Umstände,« unterbrach ihn Hamilton gleichgültig, »und schaffen sie einfach nach England zurück. Dort mögen die Gerichte dann das saubere Pärchen confrontiren. Mr. Burton, ich gebe Ihnen mein Wort, ich wäre meines Lebens nie wieder froh geworden, wenn ich diesen Hauptlump, diesen Kornik nicht erwischt hätte. Haben Sie denn indessen bei der Person hier etwas gefunden, und hat sie nicht auch etwa Lust gezeigt, durchzubrennen?«
»Mein lieber Mr. Hamilton,« sagte Burton jetzt noch verlegener als vorher – »ich habe – während Sie abwesend waren, eine Entdeckung anderer Art gemacht, die als ziemlich sicher feststellt, daß die – junge Dame an der ganzen Sache vollkommen unschuldig ist.«
»Sie befindet sich doch noch hier im Hotel und in Nr. 7?« frug Hamilton rasch und fast wie erschreckt.
»Allerdings,« bestätigte Burton, »aber nicht als Gefangene. Miss Jenny Benthouse ist die Tochter eines englischen Geistlichen – ihr Vater wohnt in Islington – sie wurde von jenem Burschen unter seinem falschen Namen und unzähligen Lügen entführt, und ich – werde sie jetzt ihren Eltern zurückgeben.«
»So?« sagte Hamilton, der dem kurzen Bericht aufmerksam zugehört hatte, während es aber wie ein verstecktes Lächeln um seine Lippen zuckte – »aber bitte entschuldigen Sie einen Augenblick, ich bin gleich wieder bei Ihnen. Apropos, Sie haben so vollständige Toilette gemacht. Wollten Sie ausgehen?«
»Nein – auf keinen Fall eher wenigstens, als bis wir uns über diesen Punkt verständigt haben.«
»Gut, dann bin ich gleich wieder da« – und mit den Worten glitt er zur Thür hinaus und unten in den Thorweg, wo ein Paar Lohndiener standen.
»Sind Sie beschäftigt?« redete er den einen an.
»Ich stehe vollkommen zu Befehl.«
»Schön – dann haben Sie die Güte und bleiben Sie bis auf weiteres in der ersten Etage, wo Sie Nr. 7 und 6 scharf im Auge behalten. Sollte dort eine Dame ausgehen wollen – Sie verstehen mich – so rufen Sie mich, so rasch Sie möglicher Weise können, von Nr. 26 ab. Sie haben doch begriffen, was ich von Ihnen verlange?«
»Vollkommen.«
»Gut – es soll Ihr Schade nicht sein – der Portier unten braucht übrigens nichts davon zu wissen – und indessen schicken Sie mir einmal einen Kellner mit einer Flasche Sherry und zwei Gläsern und einigen guten Cigarren auf Nr. 26.«
Mit den Worten stieg er selber wieder die Treppe hinauf, horchte einen Augenblick an Nr. 7, wo er zu seinem Erstaunen Stimmen vernahm, und kehrte dann zu Mr. Burton zurück, der mit untergeschlagenen Armen, und offenbar sehr aufgeregt, in seinem Zimmer auf und ab ging.
»Unsere junge Dame da unten scheint Besuch zu haben,« sagte er – »ich hörte wenigstens eben Stimmen in ihrem Zimmer.«
»Bitte, setzen Sie sich, Mr. Hamilton,« bat ihn James Burton, »wir müssen über diese Sache, die das höchste Zartgefühl erfordert, erst ins Klare kommen, nachher ist alles andere, was wir zu thun haben, Kleinigkeit.«
»Sehr gut,« sagte Hamilton – »ah, da kommt auch schon der Wein. Bitte, setzen Sie nur dorthin. Mr. Burton, Sie müssen mich entschuldigen, aber ich habe unterwegs solch nichtswürdiges Zeug von Cigarren bekommen, daß ich eine ordentliche Sehnsucht nach einem guten Blatt fühle – nehmen Sie nicht auch eine? – und ein Glas Wein thut mir ebenfalls Noth, denn ich habe die ganze Nacht keine drei Stunden geschlafen und überhaupt eine abscheuliche Tour gehabt.«
»Und wie erwischten Sie diesen Kornik?«
»Das alles nachher – jetzt bitte erzählen Sie mir einmal vor allen Dingen, welche wichtige Entdeckung Sie hier indeß gemacht haben,« und mit den Worten setzte er sich bequem in einem der Fauteuils zurecht, zündete seine Cigarre an und sippte an seinem Wein.
Mr. Burton nahm ebenfalls eine Cigarre und es war fast, als ob er nicht recht wisse, wie er eigentlich beginnen solle. Aber der Beamte mußte alles erfahren, er durfte ihm nichts verschweigen, schon Jennys wegen, und nach einigem Zögern erzählte er jetzt dem Agenten die ganzen Umstände seines Zusammentreffens mit der jungen Dame, und gerieth zuletzt dabei so in Feuer, daß er selbst die kleinsten Umstände mit einer Lebendigkeit und Wahrheit wiedergab, die er sich selber gar nicht zugetraut hätte.
Hamilton unterbrach ihn mit keinem Wort. Nur den Namen von Jennys Vater ließ er sich genau angeben und notirte ihn, und während James Burton weiter sprach, nahm er Dinte und Feder, schrieb etwas in sein Taschenbuch und riß das Blatt dann heraus. Auf demselben stand nichts weiter als eine telegraphische Depesche, die also lautete:
Burton und Burton, London. Existirt in Islington Reverend Benthouse – religiöser Schriftsteller – ist ihm kürzlich eine Tochter entführt – Antwort gleich. Hamilton.
Mr. Burton dann um Entschuldigung bittend, daß er ihn einen Augenblick unterbreche, stand er auf und verließ das Zimmer. Am Treppengeländer rief er den Lohndiener an.
»Geben Sie diese Depesche an den Portier zur augenblicklichen Besorgung auf das Telegraphenamt. Hier ist der Betrag dafür und das für den Boten. Nichts bemerkt bis jetzt?«
»Nicht das Geringste.«
»Gut – Sie bleiben auf Ihrem Posten.«
Als er in das Zimmer zu Mr. Burton zurückgekommen war, nahm er seinen alten Platz wieder ein und ließ seinen Gefährten ruhig auserzählen, ohne ihn auch nur mit einem Wort darin zu stören. Erst als er vollkommen geendet hatte und der junge Mann ihn mit sichtlicher Erregung ansah, um sein Urtheil über die Sache zu hören, sagte er ruhig:
»Und wissen Sie nun, my dear Sir, welches der gescheuteste Streich war, den Sie in der ganzen Zeit meiner Abwesenheit gemacht haben?«
»Nun?« frug Burton gespannt.
»Daß Sie der jungen Dame eine Gesellschafterin gegeben haben.«
»Ich durfte sie nicht so lange allein und ohne weibliche Begleitung lassen,« rief Burton rasch.
»Nein,« sagte Hamilton, und ein eigenes spöttisches Lächeln zuckte um seine Lippen – »sie wäre Ihnen sonst schon am ersten Tage durchgebrannt, gerade wie ihr Begleiter mir.«
»Mr. Hamilton –«
»Mr. Burton,« sagte Hamilton ernst, »zürnen Sie mir nicht, wenn ich vom Leben andere Anschauungen habe als Sie, glauben Sie einem Manne, der in diesen Fach mehr Erfahrungen gesammelt hat, als Sie vielleicht für möglich halten. Danken Sie aber auch Gott, daß ich gerade Ihnen jetzt zur Seite stehe, denn Sie wären sonst von einer erzkoketten und durchtriebenen Schwindlerin überlistet worden und hätten nachher, außer dem Schaden, auch für den Spott nicht zu sorgen gebraucht.«
»Mr. Hamilton,« sagte Burton gereizt, »Sie mißbrauchen Ihre Stellung gegen mich, wenn Sie unehrbietig von einer Dame sprechen, die gegenwärtig unter meinem Schutze steht.«
»Mein lieber Mr. Burton,« sagte Hamilton vollkommen ruhig – »lassen Sie uns vor allen Dingen die Sache kaltblütig besprechen, denn die Polizei darf, wie Sie mir zugestehen werden, keine Gefühlspolitik treiben.«
»Die Polizei ist gewohnt,« sagte Burton, »in jedem Menschen einen Verbrecher zu suchen.«
»Bis er uns nicht wenigstens das Gegentheil beweisen kann,« lächelte Hamilton – »aber jetzt lassen Sie mich auch einmal reden, denn Sie werden mir zugeben, daß ich Ihrem Bericht ebenfalls mit der größten Aufmerksamkeit gefolgt bin.«
»So reden Sie, aber hoffen Sie nicht –«
»Bitte verschwören Sie nichts, bis Sie mich nicht gehört haben.« Und ohne seines Begleiters Unmuth auch nur im Geringsten zu beachten, erzählte er ihm jetzt seine Verfolgung des flüchtigen Verbrechers, sein Auffinden desselben und dessen Gefangennahme. Er setzte hinzu, daß Kornik, nachdem man die bedeutende Summe von Banknoten und andere hinreichende Beweise für seine Schuld bei ihm gefunden, völlig gebrochen gewesen war und alles gestanden hatte. Ebenso sagte er aus, daß er mit einer jungen Dame, Lucy Fallow, von London geflüchtet sei, obgleich er von dem Raub des Brillantschmucks nichts wissen wollte.
»Und legen Sie den geringsten Werth auf das Zeugniß eines solchen Schurken?« frug Burton heftig.
»Was die Aussage über den Brillantschmuck betrifft, nein,« erwiederte ruhig der Polizeimann, »denn ich bin fest davon überzeugt, daß er darum gewußt hat, und erwartete sogar, denselben bei ihm zu finden. Er fand sich aber auch nicht einmal in der Reisetasche, die der Herr, wie sich später auswies, beim Portier des Kurhauses deponirt hatte. Die Dame hat ihn also noch jedenfalls in Besitz.«
»Aber ich habe Ihnen ja schon dreimal gesagt, daß ich nicht allein ihren Koffer, sondern auch den dieses Kornik bis auf den Boden durchwühlt habe und nicht das geringste Schmuckähnliche hat sich gefunden, als eine Korallenschnur mit einem kleinen Kreuz daran – ein Andenken ihrer verstorbenen Mutter.«
Hamilton pfiff leise und ganz wie in Gedanken durch die Zähne.
»Mein bester Mr. Burton,« sagte er dann, »auf Ihr Durchsuchen der Koffer, in Gegenwart jener Sirene, gebe ich auch keinen rothen Pfifferling – ich werde das Ding selber besorgen.«
»Und ich erkläre ihnen, Mr. Hamilton,« sagte Burton mit finster zusammengezogenen Brauen, »daß Sie das nicht thun werden. Sie haben Ihren Auftrag erfüllt; der Verbrecher ist geständig in Ihren Händen, und meine Gegenwart dabei nicht länger nöthig, so werde ich denn, noch heut Nachmittag, in Begleitung der jungen Dame, die Rückreise nach England antreten.«
»Mit der Vollmacht für ihre Verhaftung in der Tasche,« lächelte Hamilton.
»Diese Vollmachten,« rief Burton leidenschaftlich, indem er die beiden Papiere aus der Tasche nahm, in Stücke riß, und vor Hamilton niederwarf, »sind auf eine Verbrecherin ausgestellt, nicht auf Miss Benthouse. Da haben Sie die Fetzen und jetzt stehe ich frei und unabhängig hier und will sehen, wer es wagen wird die junge Dame zu beleidigen.«
Hamilton erwiederte kein Wort. Schweigend erhob er sich, las die auf den Boden geworfenen Stücke auf, legte sie in ein Packet zusammen und steckte sie in seine Tasche.
»Ist das Ihr letztes Wort, Mr. Burton?« sagte er endlich, indem er vor dem jungen Manne stehen blieb – »wollen Sie sich nicht erst einmal die Sache eine Nacht ruhig überlegen? Bedenken Sie, in welche höchst fatale Lage Sie nur Ihrem Vater gegenüber kämen, – von Lady Clive und den englischen Gerichten gar nicht zu reden – wenn es sich später doch herausstellen sollte, daß Sie sich geirrt haben.«
»Es ist mein letztes Wort,« sagte der junge Mann bestimmt; »denn ich muß meine Schutzbefohlene diesem schmähligen Verdacht entziehen, der auf ihr lastet. Um 4 Uhr 20 geht der Schnellzug nach Köln ab; diesen werde ich benutzen, und es versteht sich von selbst, daß ich auch jede Verantwortung für diesen Schritt einzig und allein trage.«
Hamilton war aufgestanden und ging mit raschen Schritten in dem kleinen Gemach auf und ab. Endlich sagte er ruhig:
»Sie wissen doch, Mr. Burton, welchen Doppelauftrag ich von London mit bekommen habe und wie ich, wenn ich danach handle, nur meine Pflicht thue.«
»Das weiß ich, Mr. Hamilton,« sagte Burton, durch den viel milderen Ton des Polizeimannes auch rasch wieder versöhnend gestimmt, »und ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich Ihnen deshalb keinen Groll nachtragen werde. Aber auch mir müssen Sie dafür zugestehen, daß ich – wo mir keine Pflicht weiter obliegt – mein Herz sprechen lasse.«
»Es ist ein ganz verzweifeltes Ding, wenn das Herz mit dem Verstande durchgeht« – sagte Hamilton trocken.
»Haben Sie keine Furcht, daß das bei mir geschieht.«
»So erfüllen Sie mir wenigstens die Bitte,« wandte sich Hamilton noch einmal an den jungen Mann, »den ersten Schnellzug nicht zu benutzen und den Abend abzuwarten. Ich habe vorhin nach London telegraphirt – warten Sie erst die Antwort ab, Mr. Burton; es ist auch Ihres eigenen Selbst wegen, daß ich Sie darum ersuche.«
»Ich bin alt genug, Mr. Hamilton,« lächelte James Burton, »auf mein eigenes Selbst vollkommen gut Acht zu geben. Es thut mir leid, Ihren Wunsch nicht erfüllen zu können, denn mir brennt der Boden hier unter den Füßen. Um 4 Uhr 20 fahre ich und werde dann daheim meinem Vater Bericht abstatten, mit welchem Eifer und günstigem Erfolg Sie hier unsere Sache betrieben haben. In London hoffe ich Sie jedenfalls wiederzusehen.«
Es lag eine so kalte, abweisende Höflichkeit in dem Ton, daß Hamilton die Meinung der Worte nicht falsch verstehen konnte: Mr. Burton wünschte allein zu sein und Hamilton sagte, ihn freundlich grüßend:
»Also auf Wiedersehen, Mr. Burton,« und verließ dann, ohne ein Wort weiter, das Zimmer.
James Burton sah nach seiner Uhr – es war schon fast zwei geworden, ohne daß er Jenny gesehen – was mußte sie von ihm denken? Aber jetzt konnte er ihr auch gute Nachricht bringen, und ohne einen Moment länger zu säumen, griff er nach seinem Hut und eilte hinab.
Auf dem Gang wanderte ein Lohndiener hin und her, der stehen blieb, als er auf die Thür zuging. Er hielt aber einen Moment davor, ehe er anklopfte, denn er hörte eine ziemlich heftige Stimme, die in Aerger zu sein schien. War das Jenny? – hatte vielleicht Hamilton gewagt? – er klopfte rasch an. Es war jetzt plötzlich alles ruhig da drinnen. Da ging die Thür auf und Elise schaute heraus, um erst zu sehen wer klopfe. Sie öffnete, als sie den jungen Mann erkannte.
Jenny stand an ihrem Koffer, emsig mit Packen beschäftigt, als er das Zimmer betrat, und erröthete leicht, aber sie begrüßte ihn desto freundlicher und gab auch über ihr Befinden hinlänglich befriedigende Antwort.
Elise zog sich in die Nebenstube zurück und Jenny frug jetzt, mit ihrem alten, gewinnenden Lächeln:
»Und so lange haben Sie mich auf Ihren Besuch warten lassen? Ich wußte vor langer Weile gar nicht, was ich angeben sollte und habe deshalb meine Sachen wieder zusammengepackt.«
»Aber nicht meine eigene Unachtsamkeit hielt mich von Ihnen entfernt, Miss Jenny,« sagte Burton herzlich, »sondern eine wichtige Verhandlung, die ich mit unserem Agenten hatte. Mr. Hamilton ist zurückgekehrt.«
»In der That?« sagte die junge Dame, aber jeder Blutstropfen wich dabei aus ihrem Gesicht, und so vielen Zwang sie sich anthat, mußte sie doch die Stuhllehne ergreifen, um nicht umzusinken.
»Aber weshalb erschreckt Sie das?« sagte Burton erstaunt. »Die Erinnerung an jenen Elenden, den jetzt seine gerechte Strafe ereilen wird, mag Ihnen peinlich sein, aber sie darf nie wieder als Schreckbild vor Ihre Seele treten.«
»Und er hat ihn gefunden?« sagte Jenny, sich gewaltsam sammelnd – »oh, wenn ich nur das Schreckliche vergessen könnte?«
»Er hat ihn nicht nur gefunden,« bestätigte der junge Mann, »sondern der Unglückliche hat auch sein ganzes Verbrechen eingestanden. Was half ihm auch Leugnen seiner Schuld, wo man die Beweise derselben in seinem Besitz fand?«
»Und jetzt?«
»Lassen wir den Elenden,« sagte Burton freundlich, »Mr. Hamilton, der mit allen nöthigen Papieren dazu versehen ist, wird seine Weiterbeförderung nach England übernehmen. Ich selbst reise heute Nachmittag mit dem Schnellzug nach London ab, und da Sie Ihren Koffer schon gepackt haben,« setzte er lächelnd hinzu – »so biete ich Ihnen, mein werthes Fräulein, an, in meiner Begleitung und unter meinem Schutz nach England zurückzukehren.«
»Sie dürfen sich mir wie einem Bruder anvertrauen,« sagte James Burton herzlich, »und ich bürge Ihnen dafür, daß ich durchführe, was ich unternommen – trotz allen Hamiltons der Welt,« setzte er mit leisem Trotz hinzu.
»So wiedersetzte sich der Herr dem, daß ich Sie begleiten dürfe?« fragte rasch und mißtrauisch die Fremde.
»Lassen wir das,« lächelte aber Burton, »ich bin mein eigener Herr und in meiner Begleitung steht Niemandem ein Recht zu, Sie auch nur nach Paß oder Namen zu fragen. Und Sie gehen mit?«
»Wie könnte und dürfte ich einer solchen Großmuth entgegenstreben?« sagte das junge Mädchen demüthig – »ich vertraue Ihnen ganz.«
»Herzlichen, herzlichen Dank dafür,« rief Burton bewegt, »und Sie sollen es nicht bereuen. Jetzt aber lasse ich Sie allein, um noch alles Nöthige zu ordnen, denn ich muß selbst noch packen und die Wirthsrechnung, wie Ihrer Gesellschafterin Honorar, in Ordnung bringen. Sie müssen mir auch schon gestatten, für die kurze Zeit unserer Reise Ihren Cassirer zu spielen. Beruhigen Sie sich,« setzte er lächelnd hinzu, als er ihre Verlegenheit bemerkte – »ich gleiche das später schon alles mit Ihrem Herrn Vater wieder aus, und werde Sorge tragen, daß ich nicht zu Schaden komme. Also auf Wiedersehen, Miss – aber beeilen Sie sich ein wenig, denn wir haben kaum noch anderthalb Stunden Zeit bis zu Abgang des Zuges,« und ihre Hand leicht an seine Lippen hebend, verließ er rasch das Zimmer.
Sobald er unten mit dem Wirth abgerechnet und seine Sachen gepackt hatte, wollte er noch einmal Hamilton aufsuchen, um von diesem Abschied zu nehmen. Es that ihm fast leid, ihn so rauh behandelt zu haben. Der Polizeiagent war aber, gleich nachdem er ihn verlassen, ausgegangen und noch nicht zurückgekehrt.
Eigentlich war ihm das lieb, denn er fühlte sich ihm gegenüber nicht recht behaglich; zu reden hatte er überdies weiter nichts mit ihm, und was Kornik betraf, so besaß er ja selber alle die nöthigen Instruktionen und Vollmachten. Er hatte ja nur die Reise nach dem Continent mitgemacht, um die Identität seiner Person zu bestätigen – jetzt, mit all den vorliegenden Beweisen und dem eigenen Geständniß des Verbrechens war seine Anwesenheit unnöthig geworden.
Die Zeit bis halb vier Uhr verging ihm auch mit den nöthigen Vorrichtungen rasch genug – jetzt war alles abgemacht und in Ordnung, und ebenso fand er Jenny schon in ihrem Reisekleid, aber in merkwürdig erregter Stimmung. Sie sah bleich und angegriffen aus, und drehte sich rasch und fast erschreckt um, als er die Thür öffnete.
»Sind Sie fertig?«
»Und gehen wir wirklich?«
»Zweifeln Sie daran? Es ist alles bereit, und bis wir am Bahnhof sind und unser Gepäck aufgegeben haben, wird die Zeit auch ziemlich verflossen sein – Miss Elise,« wandte er sich dann an das junge Mädchen, indem er ihr ein kleines Packet überreichte – »Ihre Anwesenheit ist auf kürzere Zeit in Anspruch genommen, als ich selbst vermuthete, so bitte ich denn, dieses für Ihre Mühe als Erinnerung an uns zu betrachten. Und nun,« fuhr Burton fort, als sich das junge Mädchen dankend und erröthend verbeugte – indem er die Klingelschnur zog – »mag der Hausknecht Ihr Gepäck hinunterschaffen. Eine Droschke wartet schon auf uns, und ich will selber recht von Herzen froh sein, wenn wir erst unterwegs sind.«
Draußen wurden Schritte laut – es klopfte an.
»Herein!« rief Burton – die Thür öffnete sich und auf der Schwelle, seinen Hut auf dem Kopf, stand – Hamilton und warf einen ruhigen, forschenden Blick über die Gruppe.
Er sah den Ausdruck der Ueberraschung in Burtons Zügen, aber sein Auge haftete jetzt fest auf der jungen Dame an seiner Seite, deren Antlitz eine Aschfarbe überzog.
»Sie entschuldigen, meine Herrschaften,« sagte der Polizist mit eisiger Kälte, »wenn ich hier vielleicht ungerufen oder ungewünscht erscheinen sollte, aber meine Pflicht schreibt es mir so vor. Mein Herr – Sie sind mein Gefangener, im Namen der Königin!«
»Ihr Gefangener?« lachte Burton trotzig auf, aber Hamilton trat zur Seite und drei Polizeidiener standen hinter ihm, während er auf Burton zeigend, zu diesen gewandt, fortfuhr:
»Den Herrn da verhaften Sie und führen ihn auf sein Zimmer oder bewachen ihn hier, bis Ihr Commissär kommt. Er wird sich nicht wiedersetzen, denn er weiß, daß er der Gewalt weichen muß – im schlimmsten Fall aber brauchen Sie Gewalt, und jene Dame dort –«
Die junge Fremde hatte mit starrem Entsetzen den Eintritt des nur zu rasch wiedererkannten Reisegefährten bemerkt, und im ersten Moment war es wirklich, als ob der Schreck sie gelähmt und zu jeder Bewegung unfähig gemacht hätte. Wie aber des Furchtbaren Blicke auf sie fielen, schien es auch, als ob sie erst dadurch wieder Leben gewönne, und ehe sie Jemand daran verhindern konnte, glitt sie in das Nebenzimmer, neben dessen Thür sie stand, warf diese zu und schob den Riegel vor.
»Einer von Ihnen auf Posten draußen, daß sie uns nicht entwischt,« rief Hamilton rasch, indem er nach der Thür sprang, aber sie schon nicht mehr öffnen konnte – »und alarmiren Sie die Leute unten, daß sie vor den Fenstern von Nr. 6 Wache halten.«
»Mr. Hamilton, Sie werden mir für dieses Betragen Rede stehen!« rief Burton außer sich »– wer giebt Ihnen ein Recht, mich zu verhaften?«
»Mein bester Herr«, rief Hamilton, indem er vergebens versuchte, die Thür aufzudrücken – »von einem Recht ist hier vorläufig gar keine Rede. Sie weichen nur der Gewalt. Alles andere machen wir später ab.«
»Aber ich dulde nicht –« rief Burton und wollte sich zwischen ihn und die Thüre werfen, um die Geliebte zu schützen.
»Halt, mein Herzchen!« riefen aber die Polizeidiener, ein Paar baumstarke Burschen, indem sie ihn mit ihren Fäusten packten – »nicht von der Stelle, oder es setzt was.«
»Um Gottes Willen«, rief Elise, zum Tod erschreckt, »was geht hier vor?«
»Mein liebes Fräulein,« sagte Hamilton, sich an sie wendend in deutscher Sprache – »beunruhigen Sie sich nicht – gar nichts was Sie betreffen könnte. Gehen Sie ruhig nach Hause, Sie haben nicht die geringste Belästigung zu fürchten. Soviel kann ich Ihnen aber sagen, daß jene Dame keine Begleitung weiter nach England braucht, da ich das selber übernehmen werde. – Ah, da ist der Herr Commissär – Sie kommen wie gerufen, verehrter Herr – das hier,« fuhr er fort, indem er auf James Burton zeigte – »ist jener Kornik, von dem ich Ihnen sagte, und seine Dulcinea hat sich eben in dies Zimmer geflüchtet, von wo aus sie uns aber ebenfalls nicht mehr entwischen kann.«
»Kornik? – ich?« rief Burton, indem er sich wie rasend unter dem Griff der Polizeidiener wand – »Schuft Du – ich selber bin hergekommen, jenen Kornik zu verhaften.«
»Und wo haben Sie die Beweise?« sagte Hamilton ruhig in englischer Sprache.
»In Deiner eigenen Tasche sind sie,« schrie Burton wie außer sich – »das Papier, das ich Dir vor die Füße warf.«
Hamilton achtete gar nicht auf ihn.
»Herr Commissär,« sagte er, sich an den Polizeibeamten wendend – »jener Herr da, dem ich von England aus nachgesetzt bin, hat sich schon unter fremdem Namen in das hiesige Gasthofsbuch geschrieben. Sie haben meine Instruktionen und Vollmachten gelesen. Sie werden Sorge dafür tragen, daß er uns nicht entwischt, während ich jetzt die Dame herbeizuschaffen suche.« Und ohne weiter ein Wort zu verlieren nahm er den dicht neben ihm stehenden kleinen Koffer und stieß ihn mit solcher Kraft und Gewalt gegen die Füllung der Thür, daß diese vor dem schweren Stoß zusammenbrach. Im nächsten Moment griff er durch die gemachte Oeffnung hindurch und schloß die Thür von innen auf.
Wie es schien, hatte aber die junge Fremde gar keinen Versuch zur Flucht gemacht. Sie stand, ihre Mantille fest um sich her geschlungen, mitten in der Stube, und den Verhaßten mit finsterem Trotz messend, sagte sie:
»Betragen Sie sich wie ein Gentleman, daß Sie zu einer Lady auf solche Art ins Zimmer brechen?«
»Miss«, erwiederte der Polizeibeamte kalt, »ich bin noch nicht fest überzeugt, ob ich es hier wirklich mit einer Lady zu thun habe. Vor der Hand sind Sie meine Gefangene. Im Namen der Königin, Miss Lucy Fallow, verhafte ich Sie hier auf Anklage eines Juwelendiebstahls.«
»Und welche Beweise haben Sie für eine so freche Lüge?« rief das junge Mädchen verächtlich.
»Danach suchen wir eben«, lachte Hamilton, jetzt, da ihm der Ueberfall gelungen war, wieder ganz in seinem Element – »Herr Commissär, haben Sie die Güte gehabt, die Frauen mitzubringen?«
»Sie stehen draußen.«
»Bitte, rufen Sie die beiden herein – ich wünsche die Gefangene genau durchsucht zu haben, ob sie den bewußten Schmuck an ihrem Körper vielleicht verborgen hat. Wir beide werden indeß die Koffer revidiren.«
Eine handfeste Frau – die Gattin eines der Polizeidiener, trat jetzt ein, von einem anderen jungen Mädchen, wahrscheinlich ihrer Tochter, gefolgt, beide aber von einer Statur, die für einen solchen Zweck nichts zu wünschen übrig ließ, und Hamilton betrat jetzt wieder das Zimmer, in dem Burton dem englisch sprechenden Commissär seine eigene Stellung erklärte und ihn dringend aufforderte, nicht zu dulden, daß zwei unschuldige Menschen in so niederträchtiger Weise behandelt würden. Seine Erklärung aber, die er dabei gab, daß er seine Vollmacht selber zerrissen habe, der falsche Namen, unter dem er selber zugestand sich in das Fremdenbuch eingetragen zu haben, und die Thatsache, die er nicht läugnen konnte oder wollte, daß Hamilton wirklich ein hochgestellter Polizeibeamter in England sei, sprachen zu sehr gegen ihn. Der Commissär zuckte die Achseln, bedauerte, nur nach den Instruktionen handeln zu können, die er von oben empfinge, und ersuchte Mr. Burton dann in seinem eigenen Interesse, sich seinen Anordnungen geduldig zu fügen, da sonst für ihn daraus die größten Unannehmlichkeiten entstehen könnten.
Er wollte ihn jetzt auch auf sein eigenes Zimmer führen lassen, als Hamilton zurückkehrte und den Commissar ersuchte, dem Herrn zu erlauben, hier zu bleiben. Er wünsche, daß er Zeuge der Verhandlung sei.
Ohne weiteres ging er jetzt daran, den Koffer der Dame auf das genaueste zu revidiren; obgleich sich aber, in einem geheimen Gefach darin, eine Menge der verschiedensten Schmuck- und Werthsachen vorfanden, waren die gesuchten Brillanten doch nicht dabei. Auch in Korniks Koffer ließ sich keine Spur davon entdecken. Fortgebracht konnte sie dieselben aber nicht haben, da sie ja gerade, im Begriff abzureisen, überrascht war, also gewiß auch alles werthvolle Besitzthum bei sich trug. Außerdem wußte Hamilton genau, daß sie – wenigstens seitdem er zurückgekehrt war – kein Packet auf die Post gegeben hatte, also trug sie es wahrscheinlich am Körper versteckt.
Aber auch diese Vermuthung erwies sich als falsch. Die Frau kehrte, während der Gefangenen unter Aufsicht des jungen Mädchens gestattet wurde, wieder ihre Toilette zu machen, in das Zimmer zurück, und brachte nur ein kleines weiches Päckchen mit, das sie bei ihr verborgen gefunden hatten. Sie überreichte es dem Commissär, der es öffnete und englische Banknoten zum Werth von etwa achthundert Pfund darin fand. Vier Noten von 100 Pfund Sterling waren darunter.
»Da bekommen wir Licht,« rief aber Hamilton rasch, als er sie erblickte – »von den Hundert Pfund-Noten habe ich die Nummern, und die wollen wir nachher einmal vergleichen. Vorher aber werden wir das Zimmer untersuchen müssen, in daß sich Madame geflüchtet hat. Möglich doch, daß sie die Zeit benutzte, in der sie dort eingeschlossen war, um ein oder das andere in Sicherheit zu bringen.«
»Ich habe alles genau nachgesehen,« sagte die Frau des Polizeidieners kopfschüttelnd – »in alle Polster hineingefühlt und die Gardinen ausgeschüttelt, selbst in den Ofen gefühlt und den Teppich genau nachgesehen. Es steckt nirgends was.«
»Kann ich eintreten?« rief Hamilton an die Thür klopfend, denn er war nicht gewohnt sich auf die Aussagen Anderer zu verlassen. Das junge Mädchen, das zur Wache dort geblieben war, öffnete. Die junge Fremde stand fertig angezogen, aber todtenbleich, wieder mitten im Zimmer und ihre Augen funkelten dem Polizeibeamten in Zorn und Haß entgegen. Hamilton war aber nicht der Mann, davon besondere Notiz zu nehmen. Das erste, was er that, war, die Jalousieen aufzustoßen, um hinreichend Licht zu bekommen, dann untersuchte er Tapeten und Bilder – auch hinter den Spiegel sah er, rückte sich den Tisch zu den Fenstern und stieg hinauf, um oben auf die Gardinen zu fühlen. Er fand nichts, aber er ruhte auch nicht – der Teppich zeigte nicht die geringsten Unebenheiten. – Er rückte das Sopha ab und fühlte daran hin – aber es ließ sich kein harter Gegenstand bemerken.
Wie seine Hand an der mit grobem Kattun bezogenen Hinterwand des Sophas hinfuhr, gerieth sein Finger in eine nur wenig geöffnete Nath. Er zog das Sopha jetzt ganz zum Licht, die Rückseite dem Fenster zugewandt, nahm sein Messer heraus und trennte ohne Weiteres die Nath bis hinunter auf. Während er mit dem rechten Arm in die gemachte Oeffnung hineinfuhr, streifte sein Blick die Gestalt der Gefangenen, die augenblicklich gleichgiltig auszusehen suchte, aber es konnte ihm nicht entgehen, daß sie seinen Bewegungen mit der gespanntesten Aufmerksamkeit folgte.
»Ah, Mylady,« rief er da plötzlich, indem seine Finger einen fremdartigen Gegenstand trafen – »ob ich es mir nicht gedacht habe, daß Sie die Ihnen verstattete Zeit hier im Zimmer auf geschickte Weise benutzen würden. Sie sehen mir gerade danach aus, als ob Sie nicht zu den »Grünen« gehörten – was haben wir denn da? – eine reizende Kette und da hängt auch ein Ohrring darin – da wird der andere ja wohl auch nicht weit sein – es kann nichts helfen, der Tapezierer muß wieder gut machen, was ich jetzt hier verderbe« – und er riß, ohne weitere Rücksicht auf den Schaden, den er anrichtete, Werg und Kuhhaare heraus, bis er den gesuchten Ohrring, der etwas weiter hinabgefallen war, fand. Auch eine Broche, aus einem einzigen großen Brillant bestehend, kam mit dem Werg zu Tag.
»Leugnen Sie jetzt noch, Madame?« sagte Hamilton, indem er sich aufrichtete und der Verbrecherin das gefundene Geschmeide entgegenhielt. Aber die Gefragte würdigte ihn keines Blicks; schweigend und finster, wie er sie damals im Coupé gesehen, starrte sie vor sich nieder, und nur die rechte Hand hielt sie krampfhaft geballt, die Zähne fest und wild zusammengebissen und die Augen, die von solchem Liebesreiz strahlen konnten, sprühten Feuer.
»Haben Sie etwas gefunden?« rief ihm der Commissär entgegen.
»Alles was wir suchen,« erwiederte Hamilton ruhig – »aber ist denn der Lohndiener noch nicht vom Telegraphenamt zurück?«
»Eben gekommen. Er wartet im anderen Zimmer auf Sie.«
»Gott sei Dank – jetzt treffen alle Beweise zusammen,« rief Hamilton aus. »Ich ersuche Sie indeß, Herr Commissär, diese junge Dame in sehr gute Obhut zu nehmen, denn sie ist mit allen Hunden gehetzt.«
»Haben Sie keine Angst – wir werden das saubere Pärchen sicher verwahren.«
»Den Herrn kann ich Ihnen vielleicht abnehmen,« lächelte der Polizeiagent, indem er in das benachbarte Zimmer trat und dort die für ihn eingetroffene Depesche in Empfang nahm. Er erbrach sie und las die Worte:
»In Islington giebt es keinen Geistlichen Benthouse. – In ganz London nicht.
Burton.
Mr. Hamilton, Telegraphenbureau Frankfurt a. M.«
Hamilton trat zum Tisch, auf den er den Schmuck und die telegraphische Depesche legte, dann nahm er aus seiner Tasche die Liste der gestohlenen Banknoten, die er mit den bei der jungen Dame gefundenen verglich und einige roth anstrich, dann fügte er diesen noch ein anderes Papier bei, die genaue Beschreibung des im Hause der Lady Clive gestohlenen Schmucks, und als er damit fertig war, sagte er freundlich zu Burton:
»Dürfte ich Sie jetzt einmal bitten, Mr. Burton, sich diese kleine Bescheerung anzusehen? Es wird interessant für Sie sein. – Lassen Sie den Gefangenen nur los, meine Herren.«
»Sie werden sich nie Ihres nichtswürdigen Betragens wegen entschuldigen können,« sagte Burton finster, indem er aber doch der Aufforderung Folge leistete.
»Auch dann nicht?« frug Hamilton, »wenn ich Sie überzeuge, daß Sie einer großen – einer recht großen Gefahr entgangen sind?« frug Hamilton.
»Der Gefahr, das Schlimmste zu erleben, was ein anständiger Mann, außer dem Verlust seiner Ehre, erleben kann – sich lächerlich zu machen.«
»Mr. Hamilton –«
»Bitte, lesen Sie hier die Depesche Ihres Herrn Vaters – seine Antwort auf meine Anfrage von heute Morgen. – So – und hier haben Sie die Nummern der aufgefundenen Banknoten – und hier endlich die genaue Beschreibung des Schmucks, von Lady Clives eigener, sehr zierlicher Hand. Zweifeln Sie jetzt noch daran, daß Sie es nicht mit einer Miss Jenny Benthouse, sondern mit der leichtfertigen Lucy Fallow zu thun hatten? – Pst – lieber Freund, die Sache ist abgemacht« – sagte aber der Agent, als er sah, wie bestürzt der junge Burton diesen nicht wegzuläugnenden Beweisen gegenüber stand. – »Nur noch einen Blick werfen Sie jetzt auf die junge Dame,« fuhr er dabei fort, während er zugleich die Thür aufstieß und nach der trotzig und wild dastehenden Gestalt des Mädchens zeigte. – »Glauben Sie, das jene Dame Ihnen bis London gefolgt wäre, und nicht vorher Mittel und Wege gefunden hätte, Ihnen unterwegs zu entschlüpfen? Uebrigens habe ich schon von Ems aus, so wie ich Korniks Geständniß erhielt, nach London an Lady Clive telegraphirt und sie gebeten, mir Jemanden zur Recognoscirung des jungen Frauenzimmers herzusenden. Der kann schon, wenn sie ihn rasch befördert hat, morgen Mittag eintreffen, und dann, nachdem jeder Vorsicht Genüge geleistet und die äußerste Rücksicht genommen ist, um nicht eine Unschuldige zu belästigen, werden Sie mir doch zugeben, Mr. Burton, daß ich meine Pflicht erfüllt habe.«
James Burton schwieg und sah ein Paar Secunden still vor sich nieder; aber sein besseres Gefühl gewann doch die Oberhand. Er sah ein, daß er sich von einer Betrügerin hatte täuschen lassen, und Hamilton die Hand reichend, sagte er herzlich:
»Ich danke Ihnen, Sir – ich werde Ihnen das nie vergessen.«
»Ein desto schlechteres Gedächtniß werde ich dann für unser letztes kleines Intermezzo haben,« lachte der Polizeiagent, die dargebotene Hand derb schüttelnd, »und nun, mein lieber Mr. Burton, reisen Sie, wenn Sie meinem Rath folgen wollen, so rasch Sie mögen, nach England zurück. Für die beiden Schuldigen werde ich schon Sorge tragen, und in sehr kurzer Zeit denke ich Ihnen nachzufolgen.«
Dem Commissär erklärte Hamilton bald den Zusammenhang der Verhaftung Mr. Burtons, den er dadurch nur hatte so lange aufhalten wollen, bis er die Beweise von der Schuld jener Person beischaffte – das war geschehen und er selber brachte jetzt die an dem Morgen von Burton zerrissene und von ihm wieder sorgfältig zusammengeklebte Vollmacht zum Vorschein, die als beste Legitimation für ihn dienen konnte.
Am nächsten Tag traf richtig ein Polizeibeamter, der Miss Lucy Fallow persönlich kannte, in Frankfurt ein, und Hamilton erhielt die Genugthuung, seinen ersten Verdacht völlig bestätigt zu finden. Gleich danach reiste James Burton allein ab, während Hamilton noch einige Tage brauchte, bis er die Uebersendung der Wertpapiere und Banknoten durch die Nassauische Regierung nach England reguliren konnte. Dann erst folgte er mit seinen Gefangenen nach England, von denen er aber nur das Mädchen hinüberbrachte.
Kornik machte unterwegs einen verzweifelten Fluchtversuch und sprang, während der Zug im vollen Gange war, zwischen Lüttich und Namür aus dem Fenster des Waggons; aber er verletzte sich dabei so furchtbar, daß er starb, ehe man ihn auf die nächste Station transportiren konnte.
Was auch Andere dagegen sagen mögen; es ist schon der Mühe werth eine größere Reise zu unternehmen, nur um wieder zu kommen.
Manche Freude, manches Glück blüht uns »armen Sterblichen« hier auf dieser schönen Welt, keine aber so voll und reich und herrlich, als die Freude des Wiedersehens nach langer Trennung – keine so rein und selig, als die Rückkehr in das Vaterland. Soll ich dir deshalb, lieber Leser, erzählen wie mir zu Muthe war, als ich nach einer Abwesenheit von 39 Monden von Weib und Kind, zurück in die Heimath kehrte? – Ich will's versuchen.
Ich kam damals – im Juni 52 – nach einer ununterbrochenen Seereise von 129 Tagen direct von Batavia. Siebzehn von den 129 hatten wir uns allein bei faulem Wetter in Canal und Nordsee herumgetrieben – 17 Tage auf einer Strecke, die wir recht gut hätten in dreien zurücklegen können. Und so dicht dabei an der heimischen Küste; es war eine verzweifelte Zeit; doch sie ging auch vorbei, und endlich, endlich rasselte der Anker in die Tiefe.
Das ist ein wunderbar ergreifender Ton, den man nicht allein hört, sondern auch fühlt, denn das ganze Schiff rasselt und zittert mit, und wie die Eisenschaufel nur den Boden berührt und mit einem Ruck festhakt, fühlt man sich auch daheim.
Ich war daheim! ob Bremen, ob Sachsen, ob Oestreich, solchen Unterschied kennt man nur innerhalb der verschiedenen Grenzpfähle: für uns Deutsche da draußen ist alles nur ein Deutschland, ein Vaterland, und wie die Matrosen nach oben liefen, die Segel festzumachen, und die Kette indessen, soweit das anging, eingezogen und um die Winde geschlagen wurde, hing mein Blick an dem grünen Ufer des Weserstrandes, an dem Mastenwald des nicht fernen Bremerhafens, und konnte sich nicht losreißen von dem lieben, lieben Bild.
Aber nicht lange sollte mir Zeit zum Schauen bleiben. Der Lootse hatte uns schon gesagt, daß wir wahrscheinlich noch zeitig genug nach Bremerhafen kämen, um das Nachmittags-Dampfboot nach Bremen zu benutzen. Alle unsere Sachen waren gepackt. Jetzt dampfte das Boot aus dem Hafen heraus und legte bei – jetzt kam ein kleines Boot vom Ufer ab, uns hinüber zu führen. Kisten und Koffer wurden Hals über Kopf hinunter gehoben, kaum blieb mir noch Zeit, den Seeleuten, mit denen ich so lange Monde als einziger Passagier verlebt, die Hand zu schütteln, und schon glitten wir über den stillen Strom, dem, unserer harrenden, Dampfer zu.
An Bord fanden wir eine große Gesellschaft von Herren und Damen und hier zum ersten Mal dachte ich daran, daß ich ja in Bremerhafen, ehe ich die »Stadt« selber betrat, meine etwas sehr mitgenommene Toilette hatte erneuen wollen. Mein Schuhwerk besonders befand sich in höchst traurigen Umständen, und meine besten Schuh waren querüber vollständig aufgeplatzt. Aber das ging jetzt nicht mehr an – wer kannte mich auch und wo behielt ich Zeit mich jetzt um solche Dinge zu bekümmern? – Den Strom hinauf glitten wir, der für mich der Erinnerungen so viele trug, und wie Dorf nach Dorf hinter uns blieb, wie die Sonne tiefer und tiefer sank, und hie und da schon einzelne Hügel aus dem flachen Land hervorschauten, grüßten mich die Nachtigallen, die lieben Waldsänger unserer Heimath mit ihrem zaubrisch süßen Sang.
Und weiter flog das Boot; hinter dem Rad stand ich, aus dem die Wellen schäumten, horchte den Nachtigallen am Ufer, und schaute nach den alten gemüthlichen Dorfkirchthürmen hinüber, bis von weitem, aber schon mit einbrechender Dunkelheit, die Thürme der alten Handelsstadt Bremen herüber blickten.
Jetzt hielt das Boot; dicht unter den dunkeln Häusermassen lagen wir, in welche nur schmale schräge Einschnitte – kleine Gäßchen, die zum Ufer hinunterführen – einliefen; Karrenführer kamen an Bord, denen ich mein Gepäck übergab, und wenige Secunden später stand ich zum ersten Mal wieder nach 129 Tagen draußen auf Pflaster, auf deutschem Grund und Boden, und es war mir zu Muthe, als ob ich hätte über den Boden fliegen können.
Von da an war jeder Schritt, den ich weiter that, ein Genuß für mich und langsam, ganz langsam verfolgte ich im Anfang meinen Weg, den frohen Becher nun auch ordentlich auszukosten.
In vielen Häusern war schon Licht angezündet, und die Leute saßen drin bei ihrem Abendbrod, hie und da aber standen sie auch noch plaudernd, und sich des schönen Sommerabends freuend, in den Thüren – auch deutsch sprachen sie, gutes ehrliches deutsch, nicht mehr malayisch oder holländisch, oder englisch, französisch, spanisch oder was sonst noch, was ich seit den letzten Jahren gewohnt war, vor fremden Thüren zu hören – die Männer rauchten lange Pfeifen, die Frauen strickten lange Strümpfe, und die Kinder hetzten sich über den Weg hinüber und herüber, und lachten und jubelten.
So wanderte ich mitten zwischen ihnen durch, noch ein Fremder und Heimathloser in der weiten Stadt, und doch vielleicht der glücklichste Mensch, den in diesem Augenblick ganz Bremen umschloß.
Jetzt hatte ich endlich das Handlungshaus erreicht, in dem ich Briefe für mich von daheim finden sollte. – Die ersten wieder seit langer, langer Zeit, denn die letzten Briefe, die ich vor sechs Monaten in Batavia erhalten, waren noch außerdem über sechs Monate alt gewesen.
Der Chef war nicht zu Haus, aber ein junger Mann vom Geschäft, dem ich meinen Namen nannte, sagte: »er glaube, daß ein Brief für mich oben liegen müsse,« und wie entsetzlich langsam ging er die Treppe hinauf, danach zu suchen. – Endlich waren wir oben – zwei, drei Gefache suchte er durch – da war er richtig – ich hielt ihn fest in der Hand und weiß wahrhaftig nicht, wie ich wieder aus dem Haus und durch die Stadt in mein Hotel gekommen bin; aber ich sah die Leute nicht mehr, die vor den Häusern standen, oder an ihren hellerleuchteten Tischen saßen. So rasch mich meine Füße trugen, eilte ich in den Lindenhof, ließ mir ein Zimmer geben, bestellte Licht und Thee und saß kaum zehn Minuten später am geöffneten Fenster vor den lieben, lieben Zeilen, die mir Kunde von den Meinen brachten. – Dann erst gab ich mich den übrigen Genüssen hin, und wer nicht selber einmal solang von daheim fort und besonders so viele Wochen, ja Monate hintereinander auf See gewesen, wird schwer begreifen können, mit welch behaglichem Gefühl den seemüden Wanderer alle jene tausend Kleinigkeiten erfüllen, die wir im gewöhnlichen Leben gar nicht mehr beachten, und deren Dasein wir oft nur bemerken, wenn sie einmal fehlen.
Erstlich die Annehmlichkeit von frischem Fleisch, frischer Butter, Milch und Eiern – dann das Bewußtsein, daß das Theezeug fest auf dem Tisch stand, und nicht brauchte in hölzerne Gestelle eingestemmt zu werden – und doch war ich mit meiner Tasse noch im Anfang außerordentlich vorsichtig. Dazu das Geräusch rollender Wagen auf dem Pflaster unten, das Schlagen der großen Thurmuhren, das ich in einer Ewigkeit nicht gehört, das Lachen und Plaudern der Menschen unten auf dem großen freien Platz, und kein Schaukeln dabei, kein Hin- und Wiederwerfen – Alles das genoß ich einzeln und mit vollem geizenden Bewußtsein dieser wenigen Momente, und wenn es mir auch im Anfang noch manchmal so vorkommen wollte, als ob der Lehnstuhl auf dem ich saß leise hin und herschwankte, – das alte Gefühl noch von dem Schiffe her – überzeugte ich mich doch bald, daß das nur Täuschung sei.
Indessen war es dunkel und still draußen in der Stadt geworden; wieder und wieder hatte ich den Brief gelesen und lag jetzt in meinem Stuhl am offenen Fenster, eine ganze Welt voll Seligkeit im Herzen.
Unten wurden murmelnde Menschenstimmen laut – ich hatte sie schon eine Weile wie im Traum gehört, aber nicht darauf geachtet; auch ein paar Laternen sah ich über den Platz kommen. Da plötzlich klangen von vier kräftigen Männerstimmen die Töne des herrlichen Mendelssohn'schen Liedes:
zu mir herauf, das erste deutsche Lied und Männerchor wieder, das ich seit langen Jahren hörte, und wie hatte ich mich danach gesehnt. – Neben mir öffnete sich ein Fenster – es fiel mir jetzt wieder ein, daß eine berühmte Opernsängerin meine Nachbarin war, die hier in Bremen gastirt hatte und morgen früh wieder abreiste. Der Kellner hatte mir davon gesprochen, als er das Theegeschirr hinausnahm.
Und jetzt verklangen die Töne, um wieder mit einem anderen, lebendigeren Liede zu beginnen; aber voll und weich klangen sie zu mir herauf – voll und weich war mir das Herz dabei geworden und – ich brauche mich deshalb nicht zu schämen, daß mir die hellen Thränen in den Bart liefen.
Noch immer saß ich so, und die Sänger waren schon lange fortgezogen; die Uhren in der Stadt brummten die zehnte Stunde, als ein anderer, nicht so harmonischer Ton all' die schwermüthigen Gedanken im Nu verscheuchte.
»Tuht!« blies der Nachtwächter unten und sang sein melancholisch Lied, und ich sah den dunklen Schatten des Mannes unten mit schwerem Schritt über den Platz schreiten, folgte ihm mit den Augen so weit ich konnte, und horchte auf die, aus ferneren Stadttheilen herüberschallenden Antworten noch lange, lange. – Und dann kamen Nachtschwärmer, die einen Hausschlüssel hatten und ich hörte wie die Thüren auf- und wieder zugemacht wurden – und dann schlugen die Uhren wieder ein Viertel, Halb, drei Viertel und Elf. Immer konnte ich mich noch nicht losreißen von dem Platz am Fenster, bis ich endlich lange nach elf mein weiches Lager suchte. Und wie herrlich schlief ich, denn meine alte Seegras-Matratze an Bord hatte ich in den vier Monaten so hart wie ein Bret gelegen, und das weiche Roßhaarbett bot einen neuen Genuß.
Am nächsten Morgen war ich früh auf den Füßen, Manches zu besorgen, meine mitgebrachten Kisten auf die Fracht zu geben und liebe Freunde zu besuchen. Eine Zeitung hatte ich noch nicht in die Hand bekommen und das Einzige, was ich bis jetzt von einer politischen Neugestaltung der letzten 8 Monate wußte, war die Wahl Louis Napoleons zum Präsidenden der Republik. Ein Fischerboot im Canal, das wir wegen Zeitungen anriefen, hatte uns ein altes Stück englischer Zeitung – halb durchgerissen, mit einer tüchtigen Steinkohle als Gewicht hineingewickelt – zugeworfen – darauf fanden wir einen Theil der Einzugsfeierlichkeiten des neuen Präsidenten beschrieben – das war Alles was wir von Europa überhaupt erfuhren – und sonderbarer Weise gleich das Wichtigste.
Freund Andree, den ich in Bremen antraf, ersetzte mir aber alle Zeitungen, denn mit kurzen bündigen Worten gab er mir einen flüchtigen, aber vortrefflichen Ueberblick des Geschehenen – du lieber Gott, es war wenig Tröstliches, das ich erfuhr – wie traurig sah es in dem armen Deutschland aus, und was war aus der Freiheit, aus den Freiheiten geworden, die wir 48 erträumt. Der alte Fluch der Uneinigkeit hatte wieder seine giftigen Früchte getragen, und Alles was ich aus dem Sturm der letzten Jahre gerettet fand – und das überhaupt der Mühe des Aufhebens lohnte, war: die Erinnerung an das Parlament; das Bewußtsein, daß wir ein solches wirklich gehabt hatten, daß es also nicht zu den Schattenbildern gehörte und uns einmal, es möchte nun dauern so lange es wollte, wieder werden mußte. – Jetzt freilich feierte der Bundestag wieder seine Ferien wie vordem – ein Dorn im Fleisch der Deutschen, ein Spott und Hohn für das Ausland. – Die deutschen Schiffe, die noch draußen auf der Rhede von Bremerhafen unter der schwarz-roth-goldenen Flagge lagen, warteten auf den Hammer des Auctionators, die Schmach von Schleswig-Holstein und Olmütz brannte auf unserem Herzen und – was ich außerdem von Bekannten und Freunden hatte, saß im Zuchthaus oder war verbannt. Tröstliche Nachrichten für einen Heimkehrenden; aber es überraschte mich kaum. Als ich Deutschland im März 49 verließ, saß der mit den deutschen Farben bewimpelte Staatskarren schon fest im Schlamm, und man brauchte damals kein Prophet zu sein, ihm sein Schicksal vorher zu sagen. Das Alles hatte sich jetzt erfüllt, die Reaction grünte und blühte, und wie in der Argentinischen Republik, that es den würdigen Staatsmännern nur leid, daß sie nicht auch Wald und Himmel mit ihren respectiven Landesfarben schwarz und weiß oder schwarz und gelb oder weiß und blau anstreichen konnten.
Was half's! Es mußte ertragen werden, und nur die Hoffnung konnte uns selbst unser damaliger Zustand nicht rauben.
In Bremen besorgte ich so rasch als möglich was ich zu besorgen hatte, fuhr dann nach Hamburg hinüber, dort einige von Sidney herübergeschickte Sachen, meist Indianische Waffen, in Empfang zu nehmen, und eilte nun, so rasch mich Dampf und Eisenschienen bringen konnten, nach Leipzig, meine damals in Wien lebende Familie wieder zu sehen.
Unterwegs mußte ich erst noch an der Preußischen Grenze eine Paßplackerei überwinden. Mein Paß war seit drei Monaten verfallen und außerdem in einem Zustand, wie ihn ein Preußischer Grenzbeamter wohl kaum je unter Händen gehabt. In Brasilien und besonders in der Argentinischen Republik wie in Batavia, selbst von den französischen Behörden auf Tahiti war freilich allen Anforderungen, die selbst ein deutsches Postbüreau stellen konnte, genügt; an allen übrigen Landungsplätzen hatte sich aber kein Mensch um einen Paß bekümmert, und ich war nicht leichtsinnig genug gewesen, mir unnöthige Laufereien und Geldausgaben zu machen. Nur um die ganze Route auf dem Paß zu haben visirte ich ihn mir, aus angeborenem Pflichtgefühl, dort selbst, und diese Mißachtung eines officiellen Visum schien die Polizeibeamten am meisten zu erschüttern. Trotzdem behandelten sie mich humaner als ich erwartet hatte, und mit einem sanften Verweis über mein rücksichtsloses Handeln: »Aber lieber Herr, Sie reisen in der ganzen Welt herum und lassen nirgends visiren,« wurde mir erlaubt, meine Reise ungehindert fortzusetzen.
In Leipzig, wo ich einen Tag bleiben mußte, kam ich Abends spät an, und wollte noch meinen dort wohnenden Schwager aufsuchen. Seine Adresse hatte ich; ich wußte nämlich die Straße und Hausnummer, es war aber schon so dunkel, daß ich die Nummer nicht mehr erkennen konnte, und die vollkommen menschenleere Quergasse langsam niederschreitend, hoffte ich an irgend einem Haus einen Menschen zu finden, den ich fragen konnte.
Da verließ Jemand vor mir eine Thür und ging die Straße hinab; es war ein Mann in Hemdsärmeln, jedenfalls ein Markthelfer, mehr konnte ich in der Dunkelheit nicht erkennen. Als ich ihn eingeholt, frug ich ihn, ob er nicht zufällig wisse, in welcher Gegend hier Nr. 22 liege.
»Ja wohl, Herr Gerstäcker,« sagte der Mann so ruhig, als ob er mir noch gestern und alle Tage hier in derselben Straße begegnet wäre, und wir jetzt hellen Sonnenschein und nicht finstere Nacht gehabt hätten. Es lag ordentlich etwas Geisterhaftes in dieser Nennung meines Namens unter solchen Umständen, und unwillkührlich frug ich, »aber kennen Sie mich denn?« – »Na, werd' ich Sie nicht kennen,« sagte der Mann – »da drüben ist gleich das Haus.« – Incognito hätte ich hier nicht reisen können.
Den nächsten Tag verbrachte ich, wie schon gesagt, in Leipzig, um vor allen Dingen einen neuen Paß nach Oestreich zu bekommen. Ein merkwürdiges Gefühl war es mir aber dabei, durch die alten bekannten Straßen zu gehen und in den Läden, in den Fenstern die nämlichen Menschen mit der nämlichen Beschäftigung zu sehen, wie ich sie vor langen Jahren verlassen hatte. Die waren nicht fort gewesen in der ganzen Zeit; die hatten Tag für Tag ihrem Beruf an derselben Stelle obgelegen und während mir eine Fluth von Erinnerungen durch die Seele ging, kannte die ihre kein anderes Bild, als diese selben engen Straßen boten.
So sitzen hier Leute, die ich mich besinnen kann auf der nämlichen Stelle gesehen zu haben, als ich noch, ein Knabe, da in die Schule ging. Sie kamen mir damals schon alt und ehrwürdig vor und sahen heute genau noch so aus; nur daß sie früher keine grauen Haare hatten. Dieselben Menschen sind immer dageblieben, und wo bin ich indessen herumgewandert – was hab' ich erlebt – was gesehen – und wie drängt es mich noch immer neuen Scenen entgegen zu eilen, während diese still und genügsam in dem engen Kreise sich bewegen, den ihnen die eigene Wahl oder das Schicksal angewiesen. Und wenn wir sterben, ruhen wir vielleicht neben einander, und die Erinnerung ist todt und fort.
Und soll ich dir, freundlicher Leser, jetzt erzählen, wie ich nach Brünn kam, bis wohin mir meine Frau mit dem Kind entgegen fahren wollte – wie ich mich von Nachtfahrten und übermäßiger Anstrengung zum Tod erschöpft in meinen Kleidern auf das Bett geworfen hatte, den um Mitternacht eintreffenden Zug dann zu erwarten? Wie mich der Kellner nicht geweckt, und plötzlich mitten in der Nacht Frau und Kind, die ich in 39 Monden nicht gesehen, im Zimmer standen, und wie der kleine, indessen vierjährig gewordene Bursch, seine Aermchen um meinen Nacken legte und mit seiner lieben Stimme flüsterte: »du weggelaufener Papa?« – Es geht nicht – es geht wahrhaftig nicht, Worte sind nicht im Stande das zu beschreiben; das muß erlebt, empfunden sein, und – ich möchte gleich wieder auf Reisen gehen, nur um den Augenblick noch einmal zu erleben.
Oft, wenn ich in meinem Zimmer sitze und mein Blick über die aus allen Welttheilen zusammengetragenen Gegenstände schweift, die mir so lieb sind, weil sich an jedes einzelne eine, oft freudige, oft bittere Erinnerung knüpft, fällt mir eine Scene aus früherer Zeit ein.
In einem großen alten Hause in ** hatte ein alter Herr viele lange Jahre hindurch so abgeschlossen gelebt, daß er mit Niemandem da draußen – wenigstens nie direkt – in Berührung kam. Eine alte Haushälterin und ein alter Gärtner besorgten seine Arbeiten, und nur Abends, wenn in dem obersten Erkerstübchen, wo die alte Haushälterin schlief, Licht angezündet wurde, sah man, daß die Leute drinnen noch lebten, denn sonst ließ sich den ganzen Tag keine Seele, weder an einem der dicht verhangenen Fenster noch in der Thür blicken.
Der Eigenthümer selber verließ seine Wohnung nie – einen Tag im Jahre ausgenommen – am ersten Weihnachtsfeiertag, und dann auch nur – mochte es wettern und stürmen, wie es wollte – um hinaus auf den Gottesacker zu gehen und daselbst ein Grab zu besuchen. Allerdings hatten sich die Müßiggänger in der Stadt schon die größte Mühe gegeben, um herauszubekommen, wer unter dem kleinen einfachen Hügel ruhe, an dem der Greis eine volle Stunde betete – aber vergebens. Kein Kreuz, keine Tafel kündete den Namen. Der frühere Todtengräber war gestorben, aus dem Buch, das er mit wunderlichen Zeichen und Figuren geführt, ließ sich nichts Bestimmtes mehr herausfinden, und die Leute sahen sich gezwungen, ihre eigenen Geschichten darüber zu ersinnen. Es läßt sich denken, daß die abenteuerlichsten Gerüchte die Stadt durchliefen – aber auch nur eine Zeit lang. Wie der alte Herr Jahr nach Jahr das nämliche trieb, dabei Niemandem etwas in den Weg legte, wurde man es endlich müde, sich um ihn zu bekümmern, und erst sein Tod erweckte die schon fast vergessenen Gerüchte von Neuem – allein auch sein Tod brachte keine Aufklärung über sein früheres Leben.
Wie es mit dem Testament gewesen war, weiß ich nicht mehr, nur soviel erinnere ich mich, daß die Erben keineswegs zufrieden sein mußten, denn große Legate waren den Dienern vermacht, und die außerordentlich einfache und dadurch fast werthlose Einrichtung des Hauses sollte in dessen Räumen selber öffentlich versteigert werden.
Nach alle dem läßt es sich denken, daß ein großer Theil der Bewohner von ** neugierig war, die Räume zu betreten, die bis jetzt von dem alten wunderlichen Mann als unnahbares Heiligthum verschlossen und verriegelt gehalten waren. Die von dem Magistrat herbeorderten Beamten hatten wirklich ihre Noth, die zudringlichen Gaffer in ihren Schranken zu halten, damit sich im Gedränge nicht auch verworfenes Gesindel mit einschlich und die Hand an fremdes Eigenthum legte.
Stube nach Stube wurde deshalb nur derart geöffnet, daß man eine andere erst aufschloß, wenn die in der einen befindlichen Gegenstände verkauft und ihren jetzigen Besitzern überwiesen waren. Dadurch bekamen es die Neugierigen endlich satt, sich nur herumstoßen und drängen zu lassen, ohne weiter etwas zu sehen, als öde Zimmer und altmodische Möbel und Schränke. Nach und nach verliefen sich die Meisten und es blieben fast nur Solche zurück, die wirklich Lust zu kaufen hatten.
So gelangten wir endlich, nachdem eine Masse von Schränken, Tischen, Stühlen, alten Bildern, zu Spinneweb gewaschenen Gardinen und hundert andern Kleinigkeiten verkauft oder vielmehr um einen Spottpreis verschleudert waren, in die Studirstube des alten Mannes – wenn ein Platz so genannt werden kann, in dem ein nur wenig benutzter Schreibtisch und ein kleines dürftiges Regal mit einigen zwanzig, meist französischen und holländischen Büchern stand.
Der Verstorbene war augenscheinlich kein Gelehrter gewesen, das aber hier jedenfalls der Platz, wo er seine meiste Zeit, die langen Jahre seiner Einsamkeit, träumend und durch nichts gestört verbracht, und es überkam mich ein eigenes und drückendes Gefühl, als ich die kalten, gleichgültigen Gesichter sah, die sich hier jetzt mit prüfenden Blicken in dem engen Raum umschauten und die Gegenstände taxirten. Es war mir, als ob ein Grab entweiht würde, das Grab einer Seele, deren Träume bis jetzt hier eingesargt gewesen.
Aber was kümmerte das die Käufer oder den Auctionator, der Stück nach Stück ruhig und gleichmüthig unter den Hammer brachte! Vor dem Tische stand ein alter, mit Leder überzogener Lehnstuhl, über dem Tisch hing ein kleines, ziemlich mittelmäßig ausgeführtes Bild, eine Landschaft mit einer alten knorrigen Eiche im Vordergrund, die an dem Ufer eines Weihers stand. Unter der Eiche lag ein Frauenhut und ein Brief. In dem Lehnstuhl war der alte Mann gestorben, und auf dem Tisch stand ein kleines flaches Mahagonikästchen.
Ein Jude kaufte den Tisch, den Lehnstuhl und nachher das Kästchen auch, das Bild, da Niemand darauf bieten wollte, bekam er zu. In dem Kästchen stak der Schlüssel, er öffnete es, es lagen einige Sachen darin, und er wühlte mit der Hand darin herum. Als ihm das Kästchen zugeschlagen war, drehte er es um und schüttete den Inhalt auf den Boden. Es enthielt auch nichts Aufhebenswerthes: ein paar trockene, schon fast verkrümelte Blumen, ein Stückchen Holz mit ein paar dürren Blättern, ein paar Streifen vergilbtes Papier mit unleserlichen Zügen, ein kleines blauseidenes Band, einen zerschnittenen Handschuh und noch eine Anzahl anderer, eben so werthloser verwitterter Dinge. Was sollte der Käufer mit dem Plunder machen? er wurde später mit dem übrigen Staub und Gerumpel hinaus gekehrt, und doch war er das Heiligthum eines ganzen Lebens gewesen.
Und wenn wir einmal sterben?
In meinem Zimmer hängen eine Unmasse von werthlosen Dingen, Waffen aus allen Welttheilen von Stein, Holz, Stahl, Wallroß- und Haifischzähnen, und wenn ich einmal sterbe, finden sie vielleicht ihren Weg in ein Naturaliencabinet, wo dann der Aufseher mit Hülfe des Katalogs den Besuchern erklären kann: das Stück stammt dort, jenes von da her, diese Waffen führen die australischen Eingebornen, jene sind auf den Südseeinseln, in Afrika, in Californien, in Südamerika, in China, in Java daheim – das bleibt Alles, denn die Erinnerung ist todt, die ihnen jetzt Leben verleiht.
Jenes alte lederne Jagdhemd, mit seinen indianischen Ausfranzungen, habe ich aus selbsterlegten Hirschdecken auch selber gegerbt und genäht und manches lange Jahr getragen; jenes alte Messer führte ich zweiundzwanzig Jahr in Freud und Leid; jene Bolas holte ich mir aus den chilenischen Cordilleren, und wie der Blick darauf fällt, sitze ich wieder bei dem tollen Trinkgelage jener Stämme, sehe die mit trübem Aepfelwein gefüllten Kuhhörner im Kreis herumgehen und die junge dicke Kazikentochter mir gegenüber, die mir jenes Diadem von bunten Perlen gab. Die Lanze dort schleuderte einst ein australischer Wilder nach mir; jene Mumienhand steckte mir ein junger ägyptischer Epigone unter den Tempelsäulen von Karnak in die Tasche, da ich sie ihm nicht um den üblichen Sixpence abkaufen wollte; jenen Bogen erhandelte ich von einem californischen Indianer um selbstgegrabenes Gold aus seinen Bergen. Mit diesen Stücken trockenen Guiavenholzes rieb sich ein bildschönes Mädchen auf Tahiti einst Feuer, um ihre Cigarre daran anzuzünden; jenen Wallfischzahn brach ich selber aus dem Kiefer eines frischgefangenen Cachelot; den Tabaksbeutel aus dem Fuß eines Albatroß arbeitete ich mir inmitten eines furchtbaren Sturmes am Cap Horn; das Hirschgeweih da oben holte ich mir aus der Bandong-Ebene in Java, und jene kleinen ungeschickt geschnittenen Figuren aus vegetablischem Elfenbein kaufte ich auf dem Markt zu Quito.
Und welche Unzahl von Kleinigkeiten, die ein Anderer unbedingt zum Kehrichthaufen verdammen würde, bilden die Schätze, die ich um mich her aufgehäuft! Vier Steinbrocken, die jeder Geologe verächtlich bei Seite werfen würde: ein gewöhnliches Stück Kalkstein mit ein paar dunklen Flecken darauf – die Schweißtropfen meines ersten starken Gemsbocks, den ich hoch am Karwendelgebirg in Tyrol in voller Flucht durch's Herz schoß; ein gewöhnlicher Kieselstein, aus den Wassern des Pozuzu in Peru – die Erinnerung an den Uebergang jenes reißenden Bergstromes, an einer einzelnen wilden Rebe; ein kleines Stück Granit vom 16,000 Fuß hohen Gipfel der Cordilleren in Peru; ein anderes verwittertes Gestein vom höchsten Paß der La Plata-Staaten nach Chile; eine gelbe Feder vom Kopf eines Kakadu, des ersten, leider nicht des einzigen, den ich im australischen Wald erlegen und verzehren mußte, um nicht zu verhungern; ein langes Stück Koralle, das ein australisches Mädchen als einzigen Schmuck und Kleidungsstück durch den Nasenknorpel trug; ein rothes Band, das ich, in dem jetzt verschütteten Mendoza, im Knopfloch führen mußte, um unter Rosa's Regierung einen Paß auf der Polizei zu bekommen; der alte hölzerne Quirl und Löffel, mit dem ich in Ecuador tagtäglich, lange Monate hindurch meine Chocolade quirlte und rührte; selbstgewaschenes Gold aus Californien; Silber aus Cerro de Pasco, der höchsten Stadt der Welt; Wüstensand aus Aegypten; künstliche Federblumen aus Brasilien, und was mein Schreibtisch an geheimen Schätzen birgt, an trockenen Blumen und an Liebeszeichen aus der Jugendzeit, Du lieber Gott, was Anderes ist das, als was der Trödler dort in dem alten Haus, aus jenem Mahagonikasten auf die Erde schüttete: – und doch ein Lebensalter hindurch mit dem eigenen Herzblut erkauft und gehegt und gepflegt!
Und wer von uns Allen hat nicht solche Liebeszeichen, wem von uns Allen ruft nicht ein Band, ein trocknes Blatt, ein alter, wieder und wieder gelesener Brief alte Liebe und, wenn auch schmerzliche, Erinnerungen der Seele wach? und wenn wir einmal sterben? dann kommen rauhe Hände und zerstören diese »Leichen unserer Erinnerung,« denn das Leben fehlt ihnen, was ihnen diese für uns eingehaucht.
Und können wir uns deshalb von ihnen trennen? Nein, es ist nicht möglich, denn sie bilden einen Theil, und zwar den edelsten Theil unseres Selbst; sie sind die kleinen unscheinbaren, aber trotzdem unzerreißbaren Glieder jener Kette, die uns an die Heimath binden. Sie sind die Tröster in mancher bitteren, sorgenschweren Stunde, die Märchenerzähler unserer eigenen Jugend, und wie der Mensch, wenn ihm die Hoffnung genommen würde, zum Selbstmörder werden müßte, und wie er deshalb die Hoffnung hegt und pflegt, weil er mit ihr die Brücke zu seiner Zukunft baut, so hält er auch die kleinen Zeichen fest als theure Gaben der Vergangenheit.
Wohl wäre es besser, wir selber vernichteten diese kleinen unscheinbaren Liebesboten, wenn wir einmal fühlen, daß unser Ende naht; aber wer fühlt das? Wer mag es sich bis zum letzten entscheidenden Augenblick wohl eingestehen: Jetzt ist vorbei, jetzt weist der Zeiger auf die letzte Stunde? Nicht Einer aus Tausenden. Noch mit zitternder Hand, mit schon halbgebrochenem Auge fällt unser Blick darauf, und wenn wir dann sterben, dann fliegt mit unsrer Seele auch die Seele unserer Reliquien – Gott nur weiß wohin, und unsere Leichen werden Staub.
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Seitenangabe
originaler Text
geänderter Text
Seite 1
als er, vierzehn Tage später, um Bertha Vollmer anhielt
als er, vierzehn Tage später, um Bertha Wollmer anhielt
Seite 3
und wenn sie ihn auch nie ein unfreundlich Gesicht
und wenn sie ihm auch nie ein unfreundlich Gesicht
Seite 14
freundlich ihn empfing, wenn er endlich znrückkehrte
freundlich ihn empfing, wenn er endlich zurückkehrte
Schatz gehalten, und mißachtet, bis er von ihn genommen
Schatz gehalten, und mißachtet, bis er von ihm genommen
Seite 15
wo die Gattin plötzlich, unvorbereiiet abgerufen wurde
wo die Gattin plötzlich, unvorbereitet abgerufen wurde
Seite 21
ein ganz entsetzlich naßkaltes und stürmischs Wetter
ein ganz entsetzlich naßkaltes und stürmisches Wetter
Seite 36
ihre verschiedenen Freundinen einmal wieder aufzusuchen
ihre verschiedenen Freundinnen einmal wieder aufzusuchen
Seite 39
sie selbst in ihrer Mittee in Individum entdeckten
sie selbst in ihrer Mitte ein Individuum entdeckten
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als das sie sich wunderten
als daß sie sich wunderten
diesen doch sicher höchsten interessanten Fall
diesen doch sicher höchst interessanten Fall
erst auf äußere Veranlassang von sich gegeben
erst auf äußere Veranlassung von sich gegeben
E ist richtig! Ich weiß es! Es spukt drüben!
Es ist richtig! Ich weiß es! Es spukt drüben!
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sagte die Frau Präsidentin mit einer einer wegwerfenden Bewegung
sagte die Frau Präsidentin mit einer wegwerfenden Bewegung
von der kleinen lehhaften Hofräthin dabei warm unterstützt
von der kleinen lebhaften Hofräthin dabei warm unterstützt
Seite 47
Drittes Kapitel
Drittes Capitel
Seite 48
um den Justizrath sein Gesicht zuzukehren
um dem Justizrath sein Gesicht zuzukehren
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neben nur einen halblauten Schrei ausstoßend
eben nur einen halblauten Schrei ausstoßend
Seite 54
Bertling aber, ärgerlich darüber, das er eine verfehlte
Bertling aber, ärgerlich darüber, daß er eine verfehlte
Seite 69
wie ein Kind, daß ein neues Spielzeug bekommen hat
wie ein Kind, das ein neues Spielzeug bekommen hat
Seite 72
beobachtete ihn über die Brlle weg
beobachtete ihn über die Brille weg
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während ihre Freundin kam aufzuschauen wagte
während ihre Freundin kaum aufzuschauen wagte
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An den Feustern hingen aber Gardinen
An den Fenstern hingen aber Gardinen
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denn die Frau Heßbeger begann jetzt in feierlicher Weise
denn die Frau Heßberger begann jetzt in feierlicher Weise
Seite 81/82
sonst bekommen wir nach-ihre Confusion
sonst bekommen wir nachher Confusion
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abgelegenen Straße vier steilen dunklen Treppen hinauf geklettert
abgelegenen Straße vier steile dunkle Treppen hinauf geklettert
Seite 118
wußte sie das Gespäch auf das Abenteuer
wußte sie das Gespräch auf das Abenteuer
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»Du errinnerst Dich doch,« fuhr Pauline fort
»Du erinnerst Dich doch,« fuhr Pauline fort
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mit vor Zorn gerrötheten Wangen
mit vor Zorn gerötheten Wangen
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»Bitte tausendmal um Entschnldigung,« sagte Lorenz
»Bitte tausendmal um Entschuldigung,« sagte Lorenz
sagte das Kindermädchen, das ihm mit einer Lase frischen Wassers
sagte das Kindermädchen, das ihm mit einer Vase frischen Wassers
Seite 141
werde ich ich mich bis zur nächsten Station bei den Koffern
werde ich mich bis zur nächsten Station bei den Koffern
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die Cigarre schmeckte ausgezeichet
die Cigarre schmeckte ausgezeichnet
Seite 150
Reiseanzug den entschieden englichen Charakter
Reiseanzug den entschieden englischen Charakter
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Engländer auf den Continent
Engländer auf dem Continent
Gepäckträgern und Lohnbedienteu geprellt
Gepäckträgern und Lohnbedienten geprellt
Seite 155
nach seinem Schein uud fluchte auf deutsch
nach seinem Schein und fluchte auf deutsch
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kein anderer Ausweg, als den gegebenen Rath zu folgen
kein anderer Ausweg, als dem gegebenen Rath zu folgen
Seite 164
Gewißheit über die Persönlichkiet erlangen konnte
Gewißheit über die Persönlichkeit erlangen konnte
Seite 173
meine Hälfte ebenfalls zur rechteu Zeit einbringe
meine Hälfte ebenfalls zur rechten Zeit einbringe
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um ihre Morgentoilete zu beenden
um ihre Morgentoilette zu beenden
Seite 181
in voller Toilete, mit Schmuck und Flittertand
in voller Toilette, mit Schmuck und Flittertand
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verzeihen Sie der Aufregumg, in der Sie
verzeihen Sie der Aufregung, in der Sie
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schon gar keinen möglicheu Ausweg mehr sah
schon gar keinen möglichen Ausweg mehr sah
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Ich habe nichts als meinem ehrlichen Namen
Ich habe nichts als meinen ehrlichen Namen
Seite 196
diesen Platz so rasch als möglich zu erreicheu
diesen Platz so rasch als möglich zu erreichen
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Unachtsamkeit verdanke, den wie dieser einmal
Unachtsamkeit verdanke, denn wie dieser einmal
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ob er aber einen Schnurrbatt gehabt
ob er aber einen Schnurrbart gehabt
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als ein kleines Mädchen, daß dabei gestanden
als ein kleines Mädchen, das dabei gestanden
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»J gewiß, und die müssen Ihnen Pferde schaffen.«
»Ja gewiß, und die müssen Ihnen Pferde schaffen.«
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und borgte sich noch außerden vom Kellner
und borgte sich noch außerdem vom Kellner
Seite 213
alle harmlosen Spiele nnd Vergnügungen hinübertönte
alle harmlosen Spiele und Vergnügungen hinübertönte
Seite 214
wollten wir alle zusammen schmeißeu
wollten wir alle zusammen schmeißen
der Lakai eine tiefe, erfurchtsvolle Verbeugung machte
der Lakai eine tiefe, ehrfurchtsvolle Verbeugung machte
Seite 216
jede Weiblichket bei Seite lassend
jede Weiblichkeit bei Seite lassend
Seite 217
das Klimpern des Geldes und die montonen Worte
das Klimpern des Geldes und die monotonen Worte
Seite 234
aber es fielen ihm in diesen Augenblick
aber es fielen ihm in diesem Augenblick
Seite 236
und die Erinnnerung an das Vergangene soll
und die Erinnerung an das Vergangene soll
Seite 242
nehmen die Leiden dieses armen Mädchen bald ein Ende
nehmen die Leiden dieses armen Mädchens bald ein Ende
Seite 243
zweitausend Pfund, die er vereist oder verspielt
zweitausend Pfund, die er verreist oder verspielt
Seite 251
zusammengezogenen Braunen, daß Sie daß nicht thun
zusammengezogenen Brauen, daß Sie das nicht thun
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haben Sie mich auf Ihrem Besuch warten lassen
haben Sie mich auf Ihren Besuch warten lassen
Seite 262
weiter nach England braucht, da ich daß selber
weiter nach England braucht, da ich das selber
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Ein Fischerboot im Canal, daß wir wegen Zeitungen
Ein Fischerboot im Canal, das wir wegen Zeitungen
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geschnittenen Figuren aus vegetablischen Elfenbein
geschnittenen Figuren aus vegetablischem Elfenbein
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Und könnnen wir uns deshalb von ihnen trennen?
Und können wir uns deshalb von ihnen trennen?