Title: Das Exemplar
Author: Annette Kolb
Release date: November 27, 2013 [eBook #44298]
Most recently updated: October 23, 2024
Language: German
Credits: Produced by Jens Sadowski
1913
S. Fischer, Verlag, Berlin
Zweite Auflage
Alle Rechte, besonders das der Übersetzung, vorbehalten.
Copyright 1913 by S. Fischer, Verlag, Berlin
Zwei Monate aus Mariclées seltsamem Leben seien hier preisgegeben und der Vorhang weit davon zurückgeschlagen; dann falle er wieder zu, und sie mag wieder ihres Weges ziehen. Man nannte sie Mariclée. Niemand wußte, wer sie zuerst so nannte, aber keiner nannte sie anders. Und es war bezeichnend, denn sie hatte etwas Namenloses, Unzuständiges, wie es auch stets ihr Los war, mit gesellschaftlich denkbar verschiedensten Leuten in Kontakt zu kommen und selbst keinem einzigen Kreis anzugehören. Dies führte so weit zurück, als sie sich erinnern konnte, und fügte sich so allerorts, als müßte es so sein.
Denn in unserem Leben stehen wir wie inmitten einer Landschaft, und mögen unsere Schicksale noch so bereichert wiederkehren, sie weisen doch einen höchst gleichartigen Charakter auf; wie etwa ein Gletscher nicht auf einer Düne steht: diese Art von Uniformität, meine ich, trägt unser Leben zur Schau.
Und das ihre glich einer Bergstraße. Wo nur ein Ausblick lag, da würde sie stehen; da zog sich ihr Weg hin, doch lenkte er nie bis ins gelobte Land hinein. Nur eines anzuführen: Mariclée kam leicht in Palästen zu wohnen, wie die Steinnelke gern an steilen Anhängen wächst. Aber sie hatte kein Geld. An ihr war alles wie hingeflogen und wieder abgerissen: ihr Verhältnis zum Leben, zur Natur, zu den Menschen, zu sich selbst. Sie stand sich nicht sehr nahe. Und darum gehörte sie zu jenen heute nicht mehr seltenen Menschen, von denen behauptet wird, daß sie nicht lieben können.
Mariclée hatte viele Freunde und dachte sie diese zu einer Garbe zusammengestellt, so hielt sie eine Probe der verschiedensten, seltensten Blumen, die’s heute gibt. Denn auch dies war ihr Geschick, daß sie spät oder früh, dauernd oder flüchtig auf ihrem Wege blühten. Darum stand sie zu ihnen wie ein Kunstsammler zu seinen Raritäten: daher ihr Spleen, vielleicht auch ihre Blasiertheit. Denn wer die Menschen ihrem Wert nach liebt, der schätzt den einen gegen den anderen ab, und das schrankenlose Aufgehen in einem einzigen vermag er nicht mehr.
Doch auch die besten Auktionen haben ihre Glanznummern. Und plötzlich war es über sie gekommen, daß sie im August des Jahres 1909 nach London fuhr, um nach Jahren ein Wunderexemplar ihrer Sammlung wieder vorzunehmen. Allein es fing gleich damit an, daß sie einander verfehlten. Das „Exemplar“ — es soll nicht anders heißen in dieser halb leidenschaftlichen, halb kuriosen Geschichte — hatte sich eingefunden, aber Mariclée hatte sich unbegreiflicherweise im Datum geirrt und traf erst am folgenden Morgen ein. Jetzt mußte sie zehn Tage bleiben, wenn sie ihn erwarten wollte.
Es war ihr erster Abend. Wie mit einem gelben, welken Schleier umwob die Hitze den Himmel und den träumerischen Park von St. James. Über die Brücke gebeugt, hingen ihre Blicke an den Wasserflächen und tauchten unter wie gebannt. Die Schwäne glitten, nie emporblickend, dahin, und so schwermütig und weit vibrierte da die müde Stunde, so riesig waren ihre Schauer, daß Mariclée sich hastig losriß und zur Ablenkung, und weil sie London überblicken wollte, das Dach des ersten Motorwagens bestieg, der ihr entgegenfuhr.
Allein er trug sie unversehens in eine entsetzliche Welt. Denn jene selbe Gleichförmigkeit, die ihr an den glatten, großfenstrigen Häusern der Reichen so würdig, stilvoll und motiviert erschien, wie schmachvoll ist sie in den Slums! Und Sklaven waren das, die hier mit gemordeter Phantasie, ja, wie Geblendete in solch unerhörten Häusern zu wohnen einwilligten, an denen nicht ein Fenster, nicht eine Tür von der des Nachbarn sich unterschied, sondern die in ihrer schmählichen Gleichförmigkeit wie Sträflinge dastanden, ihre meilenlangen, niedrigen Reihen verzweifelt ausgestreckt, Händeringende, Lebendig-Begrabene, Bilder der Hölle!
In dieser Woche sollten viele Leute an Hitze sterben, ihr aber war am nächsten Morgen, als sei London eine riesengroße gelbe Schlange, die sie unbarmherzig immer fester an sich drücken und ersticken wollte. Aber es war etwas anderes: es hatte sie so hart und unvorbereitet getroffen, das Exemplar verfehlt zu haben, daß sie, um den Schlag aufzuhalten, sich sagte, sie spüre ihn nicht, die Verzögerung passe ihr sogar. Nun rächte sich die Lüge. Was wollte sie in London und was nützte ihr jetzt die zierliche, nahe an Westminster gelegene Wohnung, die ihr von Freunden überlassen worden war? Selbst die Sonne konnte es ihr nicht mehr recht machen, ob sie grell schien oder wie durch Alabaster: Spleen, Neurasthenie sind ja nichts anderes als ein Erkranken unserer Eindrücke, und jeder ist da sein eigener Arzt und weiß allein, ob er dem Leiden gebieten kann, oder ob es über ihn hinschlägt und wie eine Sturzwelle ihn hinabreißt. Mariclée hatte einen Brief an eine irische Dame in Hampstead — einem Vororte — ganz zu unterst in ihrem Koffer liegen, denn sie hatte nie beabsichtigt, sich seiner zu entledigen. Statt dessen gab sie ihn nun auf der Stelle auf. Sonst war — im August — von allen ihren Bekannten nur der deutsche Botschaftsrat in London und ihm hatte sie ihr Hiersein erst recht zu kaschieren gedacht, statt dessen stürzte sie ans Telephon und es fiel ihr ein Stein vom Herzen, als sie die wohlbekannte Stimme hörte und er sie für denselben Abend zu sich lud. Sie nahm sogleich einen Hansom und blickte mit fiebernden, wie erweiterten Augen in den gelb verglühenden Tag.
Bei ihm sah es übrigens auch recht verlassen aus: sein Hausstand unterwegs und alle Möbel in Überzügen. Aber die rationelle Art, mit der Mariclée ihm jetzt eine Menge Eindrücke, von denen sie nichts zu wissen glaubte, Beobachtungen und Vergleiche mitzuteilen hatte, frappierte sie. Sie hatte doch geglaubt, sie sei krank! Und jetzt ging sie so munter das weite Zimmer auf und nieder, blieb wieder stehen, rauchte Zigaretten vor dem Kamine, warf sich in einen Armstuhl, sprang wieder auf, und war ganz Bewegtheit und Bewegung, wie der vom Windstoß gekräuselte See.
„Ich finde London verändert wieder,“ rief sie. „Wie individuell, wie wesenhaft ist doch die Seele einer Stadt. Diese hier gleicht einer Blume, die sich jetzt voll entfaltete, einem vollen Kelche, einer fast überreifen Frucht. Neu ist auch in dem alten Zauber, der alten Glut, die über London ausgegossen liegt, der nachsommerliche Puls. Aber die Worte wie überschrittener Höhepunkt, absteigende Linie sind hier viel zu bequem! Der Maßstab des Altertums ist an unsere Ära nicht anzuwenden, in uns liegt ein zu großer Vorrat treibender Kräfte der Umwandlung und der Verjüngung. Auch unsre gefährlichsten Phasen führen nicht mehr zum Verfall.“ Und dabei erhob sie sich, denn gewagte Dinge pflegte sie immer sehr bestimmt zu sagen; hier lag ihre ganze Sicherheit.
„Ein Etwas auf diesem Boden,“ fuhr sie fort, „heimelt mich immer so unsäglich an. Man ist hier viel weniger intellektuell, aber wie viel vergeistigter ist dennoch das Tierische. Auserlesene Organismen dürfen sich gewiß am glücklichsten potenzieren, wo das äußerliche Leben den adligsten Zuschnitt findet, als hätten die Engländer nicht nur mehr ästhetischen Sinn, sondern ästhetischere Sinne. Auge, Nerv und Sensibilität des Gebildeten erfahren so im vornherein mehr Würdigung und Schonung, weil die Zivilisation in ihrer untersten Stufe — der dienenden Klasse — um einige Schichten höher fundiert. Ich ließ mir heute von einer housemaid eine Adresse aufschreiben und war von ihrer schönen, ja eleganten Schrift gerührt.“
„Dafür ist bei uns die Mittelklasse entschieden schmucker geraten,“ sagte der Botschaftsrat. „Hier nennt man ja auch middle-class,“ sagte Mariclée, „was wir auf deutsch untergeordnet heißen würden. Wie anders bei uns! Insofern ist es zutreffend, dies überfüllte London leer zu nennen, wenn die vornehmen Leute nicht zugegen sind. Ich habe noch keine schönen Menschen gesehen.“
Und immer lebhaft, immer von neuem angeregt, fuhr sie zu plaudern fort. Wie ein Feuer, das zusammensank, und dann plötzlich wieder zu knistern, zu prasseln und zu lodern anfängt, so war sie jetzt mächtig in Schwung geraten, die Dinge nahmen wieder ihre rechten Verhältnisse an, und ihr Spleen und alles was sie selber betraf, schrumpfte zu einem so unwichtigen Punkte ein, daß sie ihn nicht mehr gewahrte. Die beiden aßen dann allein in dem großen Speisesaal am verkleinerten Tisch und im Raum verloren wie auf einer Bühne. Der Faden ging ihnen nie aus, und sie waren einander zugetan und vertraut. Allein sie waren zu jung, um nicht zu fühlen, daß der Rahmen etwas zu romantisch war für die Situation, weil sie nie aneinander dachten.
Dies war Mariclées zweiter Abend in London.
Tags darauf gedachte sie einer Freundin, auf welche sie sich bisher nicht hatte besinnen wollen. Denn ihre Wege lagen so abseits. König Eduard verbrachte alljährlich eine Woche bei ihr; sie hielt auf einem der schönsten Schlösser Englands großen Staat, und Mariclée scheute aus vielen Gründen das Drum und Dran eines solchen Besuches. Und nun schrieb sie ihr doch. „Wie gerne würde ich kommen,“ schrieb sie ihr, „sofern es sich in einem Tage machen läßt, denn leider ist es mir ganz unmöglich zu übernachten.“ Nachträglich riß sie den Brief noch einmal auf, um die Worte „ganz unmöglich“ zweimal zu unterstreichen.
Diese wenn auch noch fiktive Unterbrechung ihrer Tage mußte sie sich jetzt schaffen, denn der Spleen saß ihr immer tiefer im Nacken. Wem er nie widerfuhr, wie könnte der begreifen, daß eine ledigliche Stimmung in dem Maße unsere Energie lähmen darf? Ein paar vor uns liegende Tage nehmen da die bedrohliche, unübersehbare Länge finsterer Jahreszeiten an, und man entschließt sich nicht eine Straße hinabzugehen, weil einem vor der weiten Reise graut. In Westminster Abbey hatte Mariclée die Flucht ergriffen, weil in dem grasigen Hofe das Sonnenlicht so qualvoll stille auf dem Gemäuer lag und die etwas rudimentäre englische Gotik (sie feiert keine heimlichen Minnelieder in luftigen Balustraden, tröstlichen Pfeilern und Koloraturen) ihr das Herz zermalmte. Ihre Fenster sahen auf einen grünen Hof, eine gotische Kirche und ein paar Bäume. Und auch hier steigerte sich der helle Tagesschein, der darüber leuchtete, zu einem so kranken, unerträglich wehen Licht, daß sie die schweren Vorhänge gesenkt hielt, um es auszuschließen. Mariclée lag im Dunkeln auf dem Diwan ihres geborgten Salons, als plötzlich ein Pfiff ihre stillen Räume durchdrang. Sie stürzte an die Tube. Der Liftjunge meldete einen Besuch und fragte an, ob sie empfing.
Es war die Dame aus Hampstead, die als Antwort des eingesandten Empfehlungsbriefes erschien und ehe Mariclée die Vorhänge zurückschlagen konnte, stand sie schon an der Schwelle. Sie war sehr provinzlerisch, hatte Zähne, vor denen man sehr erschrak, und auf ihrem Hute schwankten rote, lächerliche Blumen. Aber den Ausschlag gab eine anheimelnde Begrenztheit, die Mariclée unverweilt zu Herzen ging. Sie war die Gutherzigkeit in Person, hielt sich nicht lange auf, und lud Mariclée ein, den morgigen Sonntag nach Hampstead zu fahren und den Nachmittag und Abend mit ihrer Familie zu verbringen. Gewiß, natürlich, mit Vergnügen würde sie kommen. Es war ein kurzer Besuch und weil ihr bangte, so schnell wieder allein zu bleiben, und sie ihren Brief aufgeben wollte, gab sie dem Gast zur naheliegenden Victoriastation das Geleite. Erst auf der Straße im Sonnenlicht bemerkte sie deren erhitztes und ermüdetes Gesicht. Sie hatte die Mühe nicht gescheut, in dieser Glut so weit zu ihr herauszufahren und Mariclée hatte nicht einmal daran gedacht, ihr eine Tasse Tee anzubieten. Dies war unverzeihlich. Allein es stand geschrieben, daß sie sich mit dieser Familie stets schlecht benehmen würde.
Und der Sonntag kam: auf heißen, bleiernen Sonnenrädern kreiste er über die Stadt. Mariclée mußte an Münchener Freunde denken, die ein junges Krokodil in einem Glaskasten aufgezogen hatten: an einem schönen Frühlingsmorgen stellten sie ihn auf die Veranda, und vergaßen ihn dort; die Sonne prallte gegen das Glas, und nach Verlauf von ein paar Stunden lag hier, verdurstet und verdorrt, ein in dem kalten Deutschland vor Hitze verendetes Krokodil. Und so ward ihr die Einsamkeit, der sie sich zur Unzeit in die Arme geworfen hatte, zum erstickenden Glaskasten.
Sie wohnte in einem sogenannten mansion das heißt, es fehlte die persönliche Bedienung, aber läutete man, oder blies in die Tube, so meldete sich ein Stubenmädchen oder ein Liftboy oder ein Kellner, und wer nicht ausgehen mochte, konnte zu Hause essen, vorausgesetzt, daß er auf den Sonntag nicht vergaß. Als sie da um zwei Uhr klingelte, hieß es, die Küche sei gesperrt und sie hätte nichts bestellt. Sich aber in den heißen Häuserozean zu stürzen, und nach einem Hotel zu fahnden, dazu fehlte ihr ganz und gar die Kraft. Zur Teezeit würde sie ja in Hampstead sein, und so lange hielt sie es schon aus. Später beim Umkleiden fror sie, woraus sie schloß, daß es kühler geworden sei, und sie zog sich herbstlicher an.
Aber draußen wehte keine Luft, nur heißer Benzinhauch, und die Häuser begannen zu schwanken und zu brausen, und wie Wellen sich zu häufen, unbarmherzig und uferlos. Die Dächer glitzerten, die Fenster blendeten . . . so kam sie nach Hampstead. Das Haus der irischen Familie aber war luftig und groß, der kühle Salon fast ein Saal. Er überblickte einen flachen, reizenden Garten, und schweres Silber schimmerte vom Teetisch. Mariclée warf einen raschen Blick auf die hot-cakes und nahm sich vor, eine hübsche Anzahl davon zu essen, aber sie brachte, so vorzüglich sie waren, kaum das erste hinunter und zerbröckelte es mit etwas zitterigen Fingern.
Die Familie war sehr zahlreich und bestand aus alten Eltern und gereiften Söhnen und Töchtern. Nach dem Tee wurde gefragt, ob sie lieber zur Hampsteader Heide oder zum Tennisklub ginge. Ach! sie schielte nach dem Garten! aber der Tennis, sie merkte es gleich, stand auf dem Vergnügungsprogramm des Tages und so zog sie denn mit, und in der Sonne, auf einem unbequemen Klappstuhl placiert, sah sie den Spielenden zu. Was sie da vor Augen hatte, war gute Bourgeoisie, abseits des Snobismus, wie der Eleganz. Wer immer zu ihr sprach, sprach ihr mit einer herzhaften Breitspurigkeit, die wir fast schamlos fänden, ausschließlich vom Wetter. Aber Wetter, Politik und Sport sind eben die drei brennenden Themen in England. Und dann war von diesen spielenden Männern keiner von des Gedankens Blässe angekränkelt; sie fanden im Ballwerfen nicht Erholung, sondern Beschäftigung, und selbst die schon Ergrauten hatten etwas von sympathischen Kindern an sich. Nur für den Schneider machte es einen Unterschied.
Mariclée saß in ihrem heißen Kleide in der Sonne, unbeweglich mit aufgespanntem Schirm und von den Wettergesprächen grenzenlos ermattet, als plötzlich ein neues Klubmitglied in Gestalt eines Franzosen auf dem Platze erschien. Darob entstand nun — der Entente cordiale zum Trotz — allgemeine Verwirrung und Konsternation. Ein Ring des Schweigens zog sich um ihn; verstohlene Blicke gingen hin und her, zögernde Mienen umgaben ihn: er war wie unter die Wilden geraten. Mit einer Geste selbstloser Entschlossenheit legte endlich eine Spielerin ihr Rakett hin und begann mit dem neuen Ankömmling ein wundervolles Gespräch. Der Franzose, der sehr höflich, aber aus Bordeaux war, gab sich erst alle Mühe zu verstehen, dann aber zu vertuschen, wie wenig er von dem entlegenen Französisch dieser Engländerin erriet, und statt ihr beizuspringen, hielt Mariclée ihren Schirm etwas tiefer und horchte so ergötzt, daß sie alle ihre Leiden darüber vergaß.
Als es endlich kühl und angenehm im Freien wurde, brach alles auf, um sich für den Abend umzuziehen. Sie indessen blieb wieder in dem luftigen Salon, bald von diesen, bald von jenen Mitgliedern der Familie unterhalten. Und jetzt sprach man nicht mehr vom Wetter zu ihr, sondern von den Kriegsplänen der Deutschen gegen England. Sie raffte sich auf, sie abzuleugnen, und voll Eifer zu versichern, daß wir die Engländer liebten. Dann fragte alles, ja wozu wir dann in so wütendem Tempo unsere Kriegsschiffe bauten?
„Weil es nichts Rückständigeres gibt, als die Gegenwart,“ sagte sie plötzlich. Der Satz gehörte nur weitläufig hierher, aber sie hatte ihn irgendwo einmal mit Erfolg geäußert, und half sich schnell damit aus. Die Worte fingen nämlich jetzt an denselben Tanz aufzuführen, wie vordem die Dächer und Häuser. Mein Gott! dachte sie, wann essen diese Menschen zu Abend? Jetzt wollte gar der Hausherr den Gedanken näher erörtert haben, und seine Tochter setzte hinzu: o, sie hätte schon vernommen, was für eine geistreiche und interessante Person sie sei. Mariclée wollte etwas darauf erwidern, aber statt dessen streckte sie die Hand aus, und fiel zurück.
Es war jedoch keine Ohnmacht. Denn sie sah genau, wie die alte Mutter dieser gereiften Söhne und Töchter ihrem Manne und ihren Kindern ein Zeichen gab, daß sie das Zimmer verlassen sollten; und sie blieb allein mit ihr zurück. Mariclée sprach eine Zeitlang nichts, dann sagte sie, es sei die Hitze, die ihr solche Kopfschmerzen gebe. Aber die Alte wollte nicht dulden, daß sie sich aufrichtete, sondern hieß sie schweigen, und ergriff ihre Hand. Dabei murmelte sie Worte wie zu sich selbst, mit einer leisen, veränderten Stimme. Mariclée betrachtete sie mit einem Male voll Neugier. Ihre Schlichtheit hatte etwas so Edles — wem in aller Welt glich nur diese Frau? an wen erinnerte dies gebleichte Haupt und diese unbewegte und versteinerte Gestalt? Ja wahrhaftig, jetzt hatte sie’s, sie hatte etwas rein Antikes, sie gemahnte an die alte Schaffnerin der Odyssee.
Mariclée sank wieder zurück und ließ sie gewähren, ihre Hände streicheln und ihre Worte murmeln. Denn ihre Gedanken wanderten jetzt weit von hier. Ach wie ferne stand ihr dieses Haus, und diese gütige Alte! und sofern das Leben ein Wandern ist, hatte sie nicht Jahre winterlichen Bodens überschritten, und war sie nicht traurig und fremd wie Demeter unter diesem Dache eingekehrt? Sie weinte nicht, ihre Züge verhielten sich ja unbeweglich: es war nur als quoll ein heißer Saft tropfenweise aus ihren geschlossenen Augen. Warum hatte sie ein falsches Datum angegeben? welch freudloser Stern hatte es so gewollt? und was hatte sie vermocht, sich selber vorzulügen, daß es sie nicht beträfe? Nichts fällt ja so schwer auf unsere Schultern zurück, als wie ein abgeworfenes Kreuz.
Dies war ihr vierter Tag in London. Jedoch der Wein und der Schinken, den es an diesem Abend gab, blieben ihr unvergeßlich.
Bis jetzt war Mariclées Reise ein fortwährendes Fiasko gewesen, und zwar gleich von der Überfahrt an. Sie hatte sich nicht vorgesehen, und alle Einzelkabinen besetzt gefunden. Im Ankleideraum aber boten — wie auf Order hier eingeschifft — die häßlichsten Damen des Kontinents ein wahrhaft tückisches Bild. Und die Abscheulichste, mit hornharten, zielsicheren Augen, seifte und striegelte ihre Arme, die Sünderin, als wären sie schön. Mariclée wich vor ihrem Anblick erschrocken zurück und floh an Deck. Denn lieber als mit den häßlichen Frauen verbrachte sie die kalte Nacht (das schöne Wetter setzte erst am folgenden Tage ein) ohne Mantel auf einer harten Bank. Dort hatten sie gegen Morgen recht trübselige Träume heimgesucht . . . .
Am Montag zog die Sonne wieder am wolkenlosen, gelb umdunsteten Himmel, wie inmitten eines Strahlenkranzes, auf und drückte wie eine feurige Krone auf London hernieder. Auf den Simsen der Fenster lag überall ein feiner Ruß, doch standen am Vormittag ihre Zimmer im angenehmsten Licht, und ganz erfüllt von Londons penetrantem und rauchigem, jedoch so stimulierendem Geruch. Freilich durfte man jetzt nicht denken: ein paar Stunden von hier, da frohlockt eine beschauliche Luft, da summen Bienen, da atmen Wälder und das glückliche Meer — — — und wie sie eben dennoch daran dachte, pfiff und klingelte es wieder in ihrer Wohnung, und ein kleiner Telegraphenjunge stand mit einer Depesche vor ihrer Tür. Jene Freundin, auf die sie sich nicht hatte besinnen wollen, von der sie sich vergessen glaubte, und der sie dann doch geschrieben hatte, lud sie dringend bis zum Samstag zu sich ein. Mariclées Herz stockte vor Freude. Vor Sonntag hatte sie keine Aussicht das Exemplar in London zu sehen. Wie sich das traf! Auch zauderte sie keinen Augenblick, schrieb eine Zusage und reichte sie dem Boten. Erst als er mit ihrer Antwort abgezogen war, fiel ihr das dickunterstrichene „ganz unmöglich“ aus ihrem Briefe ein.
Den Abend verbrachte sie mit dem Botschaftsrat. „Eigentlich wollte ich morgen nach Glenford,“ teilte sie ihm mit.
„Wie amüsant!“ sagte er.
„O nein!“ seufzte Mariclée. „Wenn viele Gäste dort sind, setzen sie des Abends ihre Tiaren auf, und meine Situation ist dann unhaltbar. Fürs erste wäre ich natürlich die einzige, die nicht ihre eigene Jungfer brächte. Wie stehe ich dann da?“
„Ich versichere Sie, wegen Ihrer Pretiosen ladet Sie niemand ein.“
„Wie herzlos Sie oft reden!“ sagte sie. Aber er ließ sich nicht aus seiner Ruhe bringen.
„Ich bin auf Ihre Eindrücke gespannt,“ gab er zurück.
„Aber ich kenne den Schauplatz, und weiß, was ich riskiere.“
„Ich meine, daß Sie es dennoch riskieren sollten,“ sagte er.
Und sie sprachen von etwas anderem.
Von allen gedankenlosen Aussprüchen ist der gedankenloseste: „Les extrêmes se touchent“. Zum mindesten bei Individuen. Wo Kontraste sich berühren, geschieht es immer durch irgendwelche geheime Ähnlichkeiten. So bestand zwischen den Beiden infolge ihrer Kontraste eine Kluft, aber die Gleichheit ihrer Interessen war ein starkes Band.
Mariclée war vorhin einem sehr komischen Herrn begegnet, der mit fliegenden Frackschößen seiner Mahlzeit entgegeneilte. Von ihm erzählte sie nun. Er schien so ohne jeglichen Vorbehalt und auf so groteske Weise mit dem Leben einverstanden und eine so froschhafte Befriedigung machte sich auf seinem alten Gesichte breit, daß zu ihm gehalten selbst der dümmste Deutsche denkerisch veranlagt schien. Und sie vertieften sich wieder in ihr übliches Gespräch. Er meinte, selbst die gescheiten Engländer dächten sehr oft nicht. „Aber,“ rief sie, „wie haben es dafür die paar Nachdenklichen hier schön! Und wie früh gelangen sie zur Macht. Sie haben nicht wie bei uns wider die überhitzte Intellektualität jener Legion von Halbgescheiten anzukämpfen.“
Von draußen wogte und brauste die mächtige Stadt wie von der Ferne herein. Mariclée hatte sich behaglich in eine Sofaecke zusammengerollt und starrte vor sich hin. „Ich habe eine große Entdeckung gemacht,“ hub sie an, „aber es ist so hart, daß ich für meine Entdeckungen nie etwas bekomme!“
„Was denn für eine Entdeckung?“ forschte er.
„Ich entdeckte etwas, indem ich etwas wissen wollte,“ sagte sie. „Ich wollte wissen warum die deutsche Dummheit sich so gar nicht zur englischen Borniertheit verhält, da der englische und der deutsche Geist einander doch so zugänglich, so verwandt, ja in mancher Hinsicht fast identisch sind. Während der französische und der deutsche Geist solche Not haben einander zu durchdringen, und zwar am fühlbarsten wohl in der Politik, wo Ihr beim besten Willen vor Reibereien zwischen der Gloriole Française und dem deutschen Starrsinn nicht vom Flecke kommt. Dies Kompliment muß ich Euch en passant schon machen.“
„Aber die Entdeckung?“
„Ferner wollte ich wissen,“ fuhr sie fort, „warum dagegen bei so großer Divergenz des Geistes die Sottise française und die Bêtise allemande so stammverwandt sind, und so ausgezeichnet harmonieren, daß sie die reine Terz abgeben! Dies ist meine Entdeckung. Was geben Sie mir dafür?“ und sie streckte lachend die Hand aus. Denn Mariclée wurde stets sehr aufgeräumt, wenn man auf ihre Worte achtete. Vor leidlich klugen Leuten konnte sie nicht bestehen. Es bedurfte wirklichen Scharfsinns, denn sie war allzu elektrisch: wer nicht fest auf die Klinge drückte, vernahm keinen Ton.
Als sie nach Hause kam, lag schon ein Brief ihrer Freundin vor, der genaue Angaben betreffs ihres Zuges enthielt, und ebensowenig wie das Telegramm auf das bewußte „ganz unmöglich“ einging. Sie las ihn noch unten in der Halle. „Es wird, wie’s wird,“ dachte sie, „zum Absagen ist es zu spät.“ Und sie betrat den Fahrstuhl, vor dessen Tür ein Junge wartete. Den Dienst besorgten zwei Liftboys, von welchen der eine häßlich war und untersetzt, der andere einen eleganten Kopf auf einem hochgewachsenen Körper trug. O Macht der Schönheit! Immer zog sich ihr Herz zusammen, wenn sie der Häßliche hinaufzog.
Früh am nächsten Nachmittag fuhr sie statt in einem Taxameter aus Liebhaberei in einem Hansom zur Bahn, weil es sie jedesmal optimistisch stimmte, wenn sie in diesem so geschmackvollen und würdigen Vehikel einherzog. Der Londoner Himmel sah aus, als ob er überhaupt nie wieder zu regnen, noch je ein Wölkchen aufzubringen gedächte. Ihr Hansom fuhr recht gemächlich, so daß sie Zeit hatte, eine Revision ihres Geldbestandes vorzunehmen. Denn Mariclée notierte nie eine Ausgabe, weil es sie deprimierte, und ihre Rechenkünste beschränkten sich darauf, daß sie hin und wieder zusammenzählte, was ihr noch blieb. Man hatte ihr versichert, in England sei es akzeptiert dritter Klasse zu fahren, selbst für die reichsten Leute; sie fand das zwar im höchsten Grade merkwürdig von diesen reichen Leuten, allein die Fahrt war teuer, sie trug sich noch mit ungewissen Plänen, und mußte in petto die sehr bedächtige Ameise spielen, wollte sie auf ein Weilchen den Schein der zirpenden Grille vertreten. Sie lief also erst auf den Perron, sah mit Späherblicken umher, und musterte alle Reisenden. Es war ein denkbar philiströses Publikum, und sie löste beruhigt eine Karte; kaum schritt sie aber wieder den Zug entlang, als eine Dame vor ihr stand, die genau aussah, als führe sie nach Glenford. Ihr Haar war wundervoll aufgebaut, in der Hand hielt sie ein Safrantäschchen (ihre Tiara?) und nicht nur eine Jungfer, es summte auch, halb Hofprediger, halb Monsignore, der distinguierteste aller Kammerdiener um sie her. Mariclée wollte an das andere Ende des Zuges gehen, aber der Schaffner beschied sie, daß nur ein einziger Wagen bis nach Ollerton lief. Es war derselbe, den die Dame bestieg. Ihre Reisegefährten, ein borstiger alter Brite und seine unschöne ältliche Tochter waren vielleicht sehr reich, elegant waren sie nicht. Sie sahen aus als bewohnten sie in irgendeinem geisttötenden Nest ein phantasieloses Cottage. Und so war es auch. Als der Zug vor einem öden, roten Städtchen hielt, befanden sich die beiden offenbar zu Hause. Statt ihrer zog jetzt eine große Hutschachtel in das sehr schäbige und schmutzige Kupee, gefolgt von einem Fräulein in Filosellhalbhandschuhen und mit zerstochenen Fingern. Aber vielleicht war sie sehr reich und nähte nur zu ihrem Vergnügen. Die Dame mit der Tiaratasche fuhr noch immer mit. Schon wurde Leicester ausgerufen. Da — o unverhoffte Freude! Wahrhaftig sie entstieg dem Zuge, auf Nimmerwiedersehen überschritt sie die Plattform, von ihrer Jungfer, ihrem päpstlichen Legaten und Mariclées Segenswünschen gefolgt. Bald darauf kam ein Fluß und ein Hügel, der sich ganz für sich allein am Ufer hinzog und hier stieg auch das Fräulein mit der Hutschachtel aus und Mariclée war allein. Wie eine schimmernde Schale breitete sich das Land vor ihren Blicken aus, und der Tag schien in seinem eigenen Glanze versunken. Die Sonne goß jetzt ermattet Ströme silbernen Lichtes über die umfriedeten Äcker und die in biblischer Ruhe gelagerten Schafe. Und die umflitterten Bäume, das wellige Land, die schwimmenden Fernen, sie alle schienen zum Meere hinzuwallen oder zu rufen: „Als eine Insel liegen wir im Meeresschoß!“
In den leeren Wagen drang bald darauf der Abend mit köstlicher Frische herein; niemand störte sie mehr. Der Zug fuhr durch das versonnene Land wie im Traume dahin und erfüllte die stille Luft mit seinem Gerausch. Wälder tauchten empor, Dörfer, verlorene Städtchen richteten sich auf, doch unaufhaltsam eilte er jetzt an ihnen vorbei. Über den schlicht gepolsterten Sitzen hing ein Spiegel. Mariclée band sich einen neuen Schleier um, und fing an sich zu richten. Ihr halb gejagter, halb duldender Blick machte ihr nichts weis. Sie wußte, das Wesen, das sie da mit so ernster Miene ansah, war jetzt doch in seinem Element und liebte es halb als Heldin, halb als Abenteuerin sich zu fühlen. Bald kam es jetzt, das prunkende, ewig umdüsterte Haus, Englands berühmtes Geisterschloß mit seinen trauernden Fenstern. Würde man ihr wieder dasselbe Zimmer geben? sie erschrak bei dem Gedanken. Weiß Gott! der Gespenster hatte sie vergessen.
Der Zug näherte sich wieder einer kleinen Station, aber statt durchzufahren hielt er diesmal an. Ein Lakai im langen weißen Mantel lief hin und her, während ein großer Herr in hellem Überrock auf jemanden zu warten schien. Es stieg aber niemand aus.
Da riß ein Schaffner an ihrer Türe, rief heftig: „Ollerton“ und im Nu sprang Mariclée heraus. Die Station war erweitert worden, sie hatte sie nicht wieder erkannt. Geschwind war sie beim Gepäckwagen und zeigte dem weißen Lakaien ihren Koffer, der mit großer Eile ausgeladen wurde. Schmerzlich fielen ihr dabei alle Gegenstände ein, die in ihrem Kupee für die nächste Millionärin, die dort einsteigen würde, zurückblieben: ein Sonnenschirm, ein Täschchen, Handschuhe und ein Buch. Sie hatte noch Zeit. Sollte sie sie schnell aus der bekannten Dichterklasse hervorholen? Nein, gewiß nicht. Dazu war sie viel zu feig. Stand der Herr noch hinter ihr? hatte er sie gesehen, oder hatte er sie nicht gesehen? Aber natürlich hatte er sie gesehen. Sie war ja das einzige, was auf dieser Plattform zu sehen war. Nicht nur, daß er sie gesehen hatte, er sah sie an.
Mit einem halben Lächeln nähertretend, zog er den Hut und sie erwiderte seinen Gruß.
Wenige Schritte vor ihnen stand ein Auto, der weiße Lakai hatte sich schon zum Chauffeur geschwungen und sie stiegen ein.
„Ein heißer Tag,“ begann er. „Ich war über Land und kam von einer anderen Seite.“
Das Auto fuhr, leise schwirrend wie ein Pfeil.
Plötzlich sagte Mariclée: „Ich hoffe nur, mein Gepäck ist nicht zurückgeblieben!“
Er drückte an den Knopf, ließ sofort halten, versicherte sich, daß alles in Ordnung war und sie fuhren wieder zu. Er hatte es so angelegentlich getan, daß sie ihm hätte danken sollen, und es lag ihr auf der Zunge. Aber etwas hielt sie zurück und sie schwieg; denn es war ihr nicht gegeben, zwei Dinge auf einmal zu tun und die Art, wie er sich einer so geringfügigen Sache als wäre sie von großer Wichtigkeit, annahm, hatte sie zu sehr frappiert. Denn die „Manier“ war unverkennbar die des Don Juan.
Sie flogen im hellen Abendlicht die weite Schloßallee entlang, perlmutterfarbene Wolken schwammen am sonnenlosen Himmel über die Wälder hin. Und wie damals ging ein Rufen, Schlagen, Wehen, wie von Tieresstolz über Boden und Gezweig. Wie damals tauchte wieder aus einer Mulde, und keinem unbefugten Auge sichtbar, ein riesengroßer, schweigsamer und strenger Bau empor, der auf finsteren Gedanken, wie auf Pfeilern gegründet schien; — hinter einer breiten kurzen Brücke zuerst der niedere Teil des ehemaligen Konvents, und unter steinernen, wappentragenden Löwen, der offene Eingang in der gedämpften, gemütlichen Pracht seiner kostbar ausgeschlagenen Wände.
„Sind viele Gäste hier?“ fragte Mariclée mit verhaltenem Atem.
Sie hatte im Park helle Silhouetten und wallende Hüte bemerkt.
„Für den Augenblick fast niemand.“
„Aber wer ist das Mädchen?“ Und sie deutete auf eine hohe Gestalt mit einem bebänderten Schleierhut, die ruhigen Schrittes dem Portale zuging.
„Das ist Ihre Freundin,“ sagte er. Sie hatte jedoch schon eine verheiratete Tochter.
Einen Augenblick später begrüßten sie sich. „Und dasselbe Zimmer sollst du wieder haben,“ verkündete sie ihr. Mariclée nickte wie jemand, dem man etwas mitteilt, was er schon weiß. Denn vom Moment an, wo sie wieder über diese Schwelle gezogen war, hatte sie dies gewußt.
Don Juan zeigte sich bei Tische, wo er Mariclées Nachbar war, als ein ungewöhnlich begabter und vielseitiger Mann und wie einer selbstgefällig seine Hand ausstreckend, geschliffenes Glas im Lichte dreht und wendet, so drehte und wendete er ihr alle Fazetten seines Geistes zu und ließ sie funkeln und gefiel sich mit viel Natürlichkeit und noch mehr Geschick an seinem eigenen Feuer. Es trug niemand eine Tiara und sie waren nur zu sechs: Don Juan und Mariclée, ihre Freundin, deren Gatte Lord S., seine Mutter und seine Schwester. Mariclée hatte nicht gedacht je wieder hier zu sein, und wie fühlte sie sich doch wieder mit ihren innersten Fibern an dies prunkvolle und interessante Haus gewöhnt, als sei etwas von ihrem Geiste all die Weil in diesen Mauern zurückgeblieben. Wie hatten sie selbst die Schauer der oberen Zimmer wieder angeheimelt, da sie die alten Eindrücke so unverändert wiederfand. Die Pracht der Möbel, der Gobelins und Kamine war es ja nicht allein, denn in Museen sieht man vereinzelt, wie ausgestopft, solche Stücke. Sondern überall das Zusammentönen und -leben dieser stillen Truhen, dieser alten Teppiche, dieser seidenen Draperien und Quasten, mit den schlanken Fachkästen und Stühlen und dem kunstvoll so rein und naiv gewundenen oder skulptierten Holz. Wo an den niedern Wänden der Raum nicht von den Wappen mit den ausgehauenen Löwen ausgefüllt, oder köstliche Schreine eingelassen waren, zogen sich durch jene oberen Zimmer hindurch früh mittelalterliche Gobelins. Lange Prozessionen schritten da einher, Könige, Bischöfe und Heilige; edle Jungfrauen blickten rührend und ernst, und hinter dem Stuartbett heute wie damals eine geheimnisvolle schöne, eine große, weinende Gestalt. Alles dies hatte sie schon erlebt und ihr stilles Wiedererkennen war ein inneres Grüßen. Ob es die Gespenster schon wußten, daß sie wieder gekommen war?
Man hatte sich nach Tische in den großen Saal verfügt, und Mariclée war mit ihrer Kaffeetasse an das äußerste Ende gegangen, und staunte wie die Beauvais, die alten Möbel und Bilder, die ausgeschüttete Pracht kostbarer Dinge hier wie zu leuchtender Musik zusammenflossen, als sie plötzlich merkte, daß Don Juans schwerer Blick auf ihr ruhte. Aber sie hielt ihn aus und lächelte ein wenig, ein Lächeln, das ihn intrigierte, weil er es nicht verstand.
Und dann saßen sie alle beisammen und man sprach für den Rest des Abends von nichts anderem mehr, als von Politik. Es war der Sommer, in dem es in ganz England nur ein einziges Thema gab: Das Budget; und Mariclée dachte für den Rest des Abends nur mehr an dies Budget, das sie nichts anging.
Es war schon vorgeschrittene Nacht, als sie auf ihr Zimmer kam. Der weiche Glanz der mächtigen Hänglaternen vermochte so wenig wie die Morgenstrahlen die Düsterkeit dieser Gänge zu verscheuchen, als könnten Jahrhunderte nichts daran rücken. Sie dachte an den jungen Mann, der damals ihr gegenüberwohnte. Was mochte wohl aus ihm geworden sein? Da öffnete sich dieselbe Türe und Leporello glitt mit einer Wasserkanne aus dem Zimmer seines Herrn: sie sah im Fluge schimmernde Spiegel, anheimelndes Kerzenlicht, und wohl an die zwanzig Schuhe am Boden hingereiht. Ach, morgen früh würde er Glenford schon verlassen! sollte sie denn wieder wie damals diesen Flügel ganz allein bewohnen? Aber gottlob, neue Gäste waren ja erwartet! mochten sie drei Diademe übereinander tragen!
Und sie betrat ihr Zimmer; blickte auf ihr Bett, auf die maskierte Türe. Wie illusorisch war die Zeit! es gibt vergangene Dinge, die nicht vorüber sind, ob wir sie auch vergaßen. Und eine Nacht von ihren damaligen Nächten war geblieben. Denselben Ton, dieselbe Stimmung nahm sie wieder mit innerem Erblassen wahr. Aber sie traf ihre Maßregeln, drehte das Licht nicht ab, sondern umflorte es mit einer rosa seidenen Schärpe.
Am nächsten Morgen hörte sie die Stimme ihrer Freundin, die vom Garten aus nach ihr rief. Sie folgte ihr und beide gingen plaudernd die Terrassen auf und nieder, als Don Juan aus dem Hause trat und sich zu ihnen gesellte; es hatte sich ein Irrtum mit seinem Zuge herausgestellt und vor Nachmittag konnte er nicht fahren.
Die Sonne stieg höher und sie setzte sich mit den beiden unter einen Baum, dessen mächtiges Gezweige einen weiten Schattenring am Rasen zog. Sie gerieten bald sehr eifrig ins Gespräch. Das intellektuelle Prestige der Deutschen ist in England ebenso enorm, wie ihre Unbeliebtheit; so viel hatte Mariclée schon heraus. „Daß die Engländer die Deutschen nicht kennen,“ sagte sie, „ist nämlich gar nicht wahr: Deutsche und Franzosen kennen einander nicht, aber zwischen uns und England besteht nichts anderes, als ein durch das Tantengetratsch der Zeitungen immerwährend hin- und hergetragner Bruderhaß. Wenn wir einmal zu einer Verständigung kommen, gibt es eine Familienfeier, wie sie kolossalischer nie dagewesen ist.“
„Und inzwischen das Tempo, mit dem ihr eure Dreadnoughts beschleunigt!“ warf ihre Freundin ein.
„Und inzwischen euer Argwohn!“ seufzte Mariclée.
„Unser sehr berechtigter Argwohn,“ schloß Don Juan.
Und wohin sie in England kam, es hallte ihr über die Deutschen nirgends ein anderer Ton entgegen!
Zum Schluß natürlich — wie wäre es anders möglich gewesen? — sprachen sie von Liebe.
Es war zuvor von Politik die Rede gewesen, und es reizte Mariclée, Don Juan gegenüber die These zu verfechten, die Politik sei eine passionelle Ader und ein großer Staatsmann könne nicht zugleich eine Laufbahn als homme à bonnes fortunes verfolgen; sie zitierte dabei Bismarck, Beaconsfield und Gladstone.
Don Juan, der wie so viel andere Konservative, bei den letzten Wahlen seinen Sitz im Parlament verloren hatte, wollte dies nicht gelten lassen. Er nannte Goethe und Napoleon; allein sie ließ den einen ebensowenig als einen wirklichen homme à femmes gelten (Napoleon nämlich) wie den andern als eigentlichen Staatsmann. Er sammelte flugs andere Leute und schickte englische Politiker ins Treffen, deren Biographie sie nicht genügend kannte. Übrigens war er bezaubernd. Es ist hart zu sagen, aber nicht die Liebe, die man hegt, sondern etwas so Abhängiges, wie die Liebe, die man einflößte, diese ist die abtönende und feilende Kraft, die so wenig für unseren Wert, aber so einzig für unsere Geltung entscheidet. Was ihn trug, war nicht sein eigenes Feuer, noch die Gefühle, die er etwa empfand, sondern es war die Gewalt, welche ihm die Frauen zugestanden, und der Reflex ihres Blutes, nicht das Spiel seines eigenen, hing ihm wie ein Purpur an. So war es nur natürlich, daß er die Liebe als etwas so Unentrinnbares hinstellte. „Unentrinnbar?“ wiederholte fragend Mariclée und ließ ihre Blicke in die Ferne schweifen. „Ist sie so einfach? Unser Hang in eure Arme zu sinken ist doch ebenso elementar wie unsere Scheu euch zu verfallen. Ihr glaubt nicht recht daran, weil es ein Zug ist, der euch fehlt. Denn ihr seid uns zwar untreu, jedoch nicht abgeneigt.“
Es amüsierte sie so, ihm das zu sagen.
Und diesmal widersprach er nicht, nur wollte er diesen „Zug“ sehr einfach auf einen Instinkt der Selbsterhaltung zurückleiten; die Liebe griffe so ungleich mächtiger in unsere Organismen ein, daß die Natur selbst in größerer Zurückhaltung Schutz suche. Aber dies war den Freundinnen doch nicht subtil genug. Freilich destillierten sich die höchsten Dinge aus den primitivsten, aber wie ein Grundstein die erste Bedingung zu schwebenden Pfeilern sei. Man brauche ihn nicht zu sehen und für das Bild des Ganzen sei er unbeträchtlich.
Und so disputierten sie hin und her, um sich dann wieder auf irgendeinen Scherz des Don Juan hin zu einigen, bis sie die Luncheon-Glocke unterbrach.
Bei diesen Luncheons fand Mariclée vor allem zwei Dinge nach Wunsch: daß man seinen Hut aufbehielt (man zog meist bis gegen Abend damit herum) und daß man sich selbst bediente. Der butler und sein Generalstab erschienen nur zu Anfang, reichten einiges herum und zogen dann wieder ab. Auf den mächtigen Seitentischchen brannten Flämmchen unter den silbernen langstieligen Kasserolen und warfen Reflexe auf die farbigen Teller, das Gold und Silber der Bestecke, die feierlichen Platten, die da warteten. Nichts aber von allen Speisen schien ihr so prächtig zu einem Stilleben geeignet, wie zerlegte grouse. Die Teile schichteten sich mit so satter Kompaktheit auf, der Ton des Fleisches, mit seiner, wie in sich ruhenden Fülle, war so souverän, daß zu ihm gehalten solch alltägliche Dinge wie Indiane oder Fasane jede künstlerische Berechtigung verloren. Es war das Ideal.
Mariclée ging eben mit ihrem Teller spazieren, als eine junge und sehr elastische Gestalt, die ganz mit Schleiern und hellen Tüchern bedeckt schien, zur Tür hereinwehte. Es war die Herzogin von R. . . Sie sah aus, als käme sie von einem Ritt durch die Wüste und sei soeben vom Höcker ihres Kamels herabgeglitten; es stand aber nur ihr Auto draußen auf dem Kies und sie war gekommen, um den Don Juan darin mitzunehmen. Erst als sie den Schleier von ihrem Gesichte zurückschlug, sah Mariclée, daß die Jugend von ihr entwichen war. Wenn aber eine junge Schönheit uns entzückt, so haben die Reize einer schön gebliebenen Frau etwas, das uns begeistert. Ist die Zeit etwas so Niedriges, dachte sie bei ihrem Anblick, daß alles, was ihr widersteht, so edel wirkt?
Es kam auf der Stelle und unter großem Wehklagen die politische Lage zur Sprache. Daß Tags zuvor ein englischer Pair im Parlament übel bestanden hatte und die Liberalen die besseren Führer aufwiesen, war ein Grund mehr, gegen sie erbittert zu sein. Der Name Churchill, der in Deutschland so bereitwillige Erwähnung findet, war in diesen Kreisen geächtet. Er hatte soeben in einer glänzenden und insolenten Rede die Herzöge arg zerzaust, und diese immens reichen Herren, die Roseberry those poor but honest dukes zu nennen gewagt hatte, ironisiert. „And we are so poor!“ klagte die Herzogin.
Man war von Tisch aufgestanden und hatte sich in die Halle verfügt, denn es war dort am kühlsten. Mariclée schlich indes in die Bibliothek, um diese Rede, die ihr entgangen war, nachzulesen. Sie brauchte eine ganz Weile, um sie herauszufinden, vergrub sich dann mit ihrer Zeitung in einen tiefen Lehnstuhl und machte sich gewissenhaft darüber. Da ging plötzlich die Türe auf, und Don Juan trat herein.
„Ich komme mich zu verabschieden“, sagte er. Und wie er vortrat und lächelnd auf sie zukam, und ihre Hand faßte, und sie hielt und die Hoffnung aussprach ihr wieder zu begegnen, so daß unwillkürlich ihre Haltung der seinigen entsprach, und sie ihn ansehen und ein wenig lachen mußte, — das Ganze war ein Meisterstück. Weiß doch ein Frauenkünstler so geschickt mit ihnen umzugehen wie ein Virtuos mit seiner Geige. Zwar kannte sie ja die Art, und das Prinzip war überall dasselbe: selbst nach flüchtiger Begegnung leichthin den Schein anzunehmen, als sei ein Eindruck hingenommen worden, einzig zu dem Zwecke, daß ein Eindruck hinterbliebe.
Aber aber — — — zufällig war ihr schon der Don Juan Deutschlands und Frankreichs, Don Juan d’Austria, ja sogar der Süditaliens begegnet. Und nichts sieht einem Erleben so ähnlich wie ein Erkennen.
Mariclée ging in die Halle zurück und fand dort ihre Freundin im Gespräch mit der Herzogin, die, wieder ganz verschleiert, aussah wie Scheherazade. Als die beiden Frauen sie gewahrten, lächelten sie, als müßten sie lächeln, weil sie daherkam, da sie eben von ihr sprachen. Mariclée bemerkte es, aber an keinem Ort der Welt fühlte sie sich so sicher. Ihre Freundin besaß eine starke Eigentümlichkeit, ohne daß man je versucht gewesen wäre, sie eigentümlich zu nennen. Sie hatte so viel in der Welt gelebt, daß eine natürliche Anlage die Menschen zu behandeln, wie es ihnen am wohlsten tat, sich bei ihr so ausgebildet hatte, daß es kaum mehr eine Intuition, schon mehr ein Instinkt zu nennen, war. Sie hatte Routine wie ein anderer eine Glatze, sie war taktvoll, wie ein anderer korpulent ist, das heißt es war ihr zur Natur geworden. So verfuhr sie mit Mariclée unwillkürlich, als wäre diese von Glas, und in der Tat war sie, obwohl gar nicht empfindlich, im höchsten Grade zerbrechlich. Ließ man sie im Stiche, so fiel sie allsogleich um, und wenn sie nicht sehr behutsam zwischen zwei Fingern gehalten wurde, lag sie gleich in Scherben. Dann war sie weder Seele noch Leib, nur mehr ein sichtbares Stück Unbehagen, das sich nach Unsichtbarkeit sehnte, ungefüge und erloschen.
Don Juan hatte der schönen Herzogin in den Wagen geholfen und entschwand mit ihr durch dieselbe Allee, durch die er tags zuvor mit Mariclée einherzog. Sie folgte jetzt der Freundin, die sie vom Peristyle aus gerufen hatte und trat mit ihr ins Freie. Der Ausblick war hier von einer unerhörten Düsterkeit. Hatte sich Glenford mit dieser Landschaft oder diese Landschaft mit Glenford in Einklang gesetzt? Sie gemahnte an die machtvollen und zugleich unerbittlich verfallenen Shakespeareschen Königsdramen. Und welcher Meister hatte diese flachen Beete, diese Senkungen und diese in ihrer Gepflegtheit so selbstherrlichen Plane gelegt, die bis an den Saum der tiefen Wälder reichten, und den gesteigerten Ton dieser Natur noch erhöhten? Mariclée dachte an die erwarteten Gäste. Wo blieben sie nur?
„Komische Leute!“ sagte da plötzlich Lady S. „Man hat doch seine Tage so ausgerechnet. Unsere Freunde wollen am Freitag kommen, aber Samstag fahren wir ja selber nach Schottland. Ich kann sie natürlich nicht haben.“
Da warf Mariclée einen stummen Blick zu den Bäumen empor, die wie starke Tore gegen Norden die Mulde versperrten. Heute ist Mittwoch, dachte sie, also drei Nächte! Im übrigen ließ sie sich nichts merken, sondern zeigte sich gesprächig und heiter, erzählte und ließ sich erzählen, aber abends dehnte sie das Zusammensein möglichst lange hinaus. Die anderen hatten sich schon eine gute Weile zurückgezogen, als sie mit der Freundin die weite Treppe hinaufging. Auf dem Freiplatz trennten sie sich und Mariclée wollte in ihren stillen Gang einbiegen, da durchschauerte sie ein plötzlicher Frost. Im selben Augenblick fühlte sie sich am Arme erfaßt!
„Du fürchtest dich!“ rief ihre Freundin.
Aber Mariclée machte sich auf der Stelle von ihr los.
„Wovor denn?“ fragte sie mit dem natürlichsten Lachen der Welt.
„Keine Torheiten. Es ist doch so einfach, daß ich dir eine Jungfer schicke!“
„Und ich muß dich wirklich bitten, mich damit zu verschonen, ich fürchte mich kein bißchen. Wovor soll ich mich fürchten?“
Und sie tanzte den Gang hinab.
„Ich würde es dir wirklich sagen,“ lachte sie noch an der Türe. Und sie schlüpfte in ihr Zimmer hinein. Dort sank sie in einen Stuhl. Das mit der Jungfer war nämlich durchaus nicht so einfach; sie wußte von früher her genug törichte Stücke von den Glenfordschen Leuten. Man hatte das ganze Personal längst unter Dach nach einer anderen Himmelsrichtung untergebracht. Und dann hatte sie kein Verlangen, ihre Gespensterfurcht so fraternisieren zu lassen. Denn sie tat sich etwas darauf zugute. Allein sie glaubte wahrhaftig, wenn Don Juan nur noch bis zum Abend geblieben wäre, sie hätte sich zu seinen Füßen gestürzt, damit er sie nicht allein ließe. Denn sie verging vor Angst. Zwar nur von jener Türe drang sie wieder auf sie ein. Warum war sie jetzt maskiert? Und von neuem dachte sie an den Marquis von Chandieu, der bei ihrem letzten Besuch ihr Nachbar gewesen war, und sie immer so eindringlich nach ihren Eindrücken befragt hatte. Aber damals hatte sie keine zu verzeichnen, es war alles erst nach seiner Abreise geschehen. Wie stolz hatte sie ihn damals angehört! Wie hatte sie sich innerlich gebrüstet, wenn er ihr seine gestörten, schlaflosen Nächte gestand, während sie so gänzlich unangefochten von derlei Nervositäten blieb. Was war aus ihm geworden? Warum hatte sie all die Zeit hindurch niemals an ihn gedacht? Und warum, da sie ihn so vergessen hatte, war er ihr mit einem Male so gegenwärtig, als müßte sie aufstehen und den Gang überschreiten und ihm erzählen, wie alles über sie gekommen und sie eins geworden war mit ihm in ihrer Angst, aber viel später, erst eine Woche nachdem er so plötzlich verreiste, und sie allein in diesen Gängen und dieser Flucht von Gemächern zurückblieb. Und plötzlich überkam sie eine große Reue, daß sie es nie getan hatte, und sie nahm sich vor (des Nachts faßte sie immer sehr viele Vorsätze) es nachzuholen. Es würde das erste sein, daß sie sich morgen nach ihm erkundigte.
Sie rückte ihren Schreibtisch zurecht, und bereitete sich vor, ihre Briefschulden zu tilgen. Denn seitdem sie nach London gefahren war, hatte sie keinem Menschen geschrieben. Sie faßte geschäftliche und Freundesbriefe ab und warf sie dann auf den Tisch. Von Zeit zu Zeit blickte sie auf und sah auf die Türe. Nur eines hätte sie nie ertragen: das Licht zu verlöschen und dieser Türe den Rücken zu kehren. Erst als der Morgen graute, legte sie sich auf das Bett und dort wollen wir sie eine Weile schlafen lassen und erzählen, was für Erinnerungen es denn waren, die sich für sie an dieses Zimmer ketteten.
Als sie vor ein paar Jahren zum erstenmal nach Glenford fuhr, hatte sie nicht nur von seinen Ländereien, dem langen Saale mit den elf nach Westen stehenden Fenstern, der Minnesängergalerie, Straffords berühmtem Porträt, und all den Bildern und historischen Schätzen vernommen, sondern auch von den Gespenstern, die seit Jahrhunderten hier umgehen sollen. Die Aussicht auf eine Bekanntschaft mit ihnen wollte sie mit gespannter, aber heiterer Neugierde erfüllen. Steht doch selbst der Leichtgläubigste solchen Dingen skeptisch gegenüber, weil er fühlt, daß sein Leben alles Gespenstige so siegreich ausscheidet, wie das Licht die Finsternis; und darum macht es ihm Spaß, wenn er von jenen leeren Schemen — zu welchen er zwar selbst über Nacht gehören kann — wie von etwas „Wirklichem“ Kunde erhält.
Schlaflos war sie damals die Nacht hindurch via Ostende gefahren. Draußen graute kaum merklich der Tag über ein baumloses, flaches, unsäglich trübes Land. Hie und da streckte eine Windmühle wie verzweifelt ihre bretternen Arme aus und erhöhte noch den Eindruck von Verlassenheit und Öde. Und in jenem unendlichen, schattenhaften Grau, das den Himmel und die trauernde Ebene erfüllte, wollte endlich auch ihr Bewußtsein ruhen und versinken. Aber kaum eine Minute lang!
Denn als sie erwachte, lag nach wie vor matte, unklare Dämmerung über das Land gebreitet, und zugleich rief ihre erschrocken ausgestreckte Hand ein anderes Bild in ihr wach, das unvergeßlich, sie wußte es wohl! zwischen ihr und der Außenwelt entstanden war.
Welcher Unhold hatte sie da so unvermittelt und so willenlos über eine so fremde Schwelle geführt?
Durch ein hoch und ohne Sims in der Mauer angebrachtes Fenster schien das Abendlicht unsäglich bange in ein schmales, verließartiges Zimmer schräg herein; und sie erblickte da in einem hohen Lehnstuhl, der aber nicht entfernt bis zu dem Fenster reichte, die Umrisse einer zarten und kostbar gekleideten, aber schon sehr alten Frau: — zwei langgestreckte seidne Locken, deren Enden sich ätherisch lösten, umschimmerten ihre klaren Züge; ihre reizende Hand hing ernst und traurig herab, und den Blick hielt sie gespannt, erwartungsvoll auf Mariclée gerichtet. Als diese aber, seltsam zu ihr hingezogen, nähertrat und in der sinkenden Dämmerung sie zu erkennen suchte, da zerfiel, zersetzte, zerfetzte sich ihr Angesicht vor ihren Augen zu dem eines grauen, unnennbaren Gespenstes, und schaudernd streckte sie die Hand aus, um den furchtbaren Anblick von sich abzuwehren.
Am Abend dieses selben Tages war sie in Glenford. Und der Zufall fügte, daß gleich während des Diners von den Gespenstern des Schlosses gesprochen wurde, ein Thema, das in Gegenwart der Eigentümer für gewöhnlich ausgeschaltet blieb. Dies rief nun unverzüglich ihre eigenen Erinnerungen wach; ihr, meinte sie, hätten Glenfords Gespenster wohl besondere Ehren zugedacht, da ihr ja schon eines bis übers Meer entgegenfuhr. Und lebhaft schilderte sie das seltsame Gemach, seine eigentümliche Lage und das Gesicht, das sie am Morgen dieses Tages erlebte, hielt aber betroffen mitten in ihrer Erzählung inne, als sie die plötzliche Stille und die überraschten, gespannten Mienen rings um sie her bemerkte.
Einer der Gäste, ein Herr von Chandieu, ging nach Tische auf sie zu und bot sich ihr als Führer an für ihren morgigen Rundgang durch das Schloß. Er bestand darauf mit einer eigentümlichen Bestimmtheit, als gälte es einen Vertrag, oder meinetwegen ein Engagement für einen Walzer, den man aber, einmal vergeben, nicht mehr mit einem anderen tanzen dürfe.
So zogen sie denn Tags darauf durch die herrlichen, doch so umdüsterten, ja wie untröstlichen Gemächer. Und von der schweren Stimmung, die darin herrschte, überkommen, fühlte jeder sich allein und vergaß des anderen, vergaß sich selber, und verstummte. Denn wie in sehnsüchtiger Abendröte, atmete und verweilte hier noch die weite Vergangenheit. Als sie endlich die Plattform eines breiten, turmförmigen Vorbaues betraten, der den Übergang bildet zwischen dem Schloß und der noch älteren Abtei, sagte Chandieu: „Noch ein Zimmer muß ich Ihnen zeigen,“ und deutete auf die Wand. Eine Eckmauer höhlte sich hier zu verschiedenen Windungen und Stufen und führte plötzlich zu einer Versenkung und einer Türe. Sie traten ein, zwischen den Quadern verborgen hineingebaut, hing da wie ein Lift ein hohes schmales Gelaß. Schwermütig fiel das Licht durch ein hoch und ohne Sims in der Mauer angebrachtes Fenster, und ein hoher Lehnstuhl, der aber nicht entfernt bis zu dem Fenster reichte, stand davor. Mariclée begegnete Chandieus fragendem, gespanntem Blick und erschrak. Zu genau war ihr schon der Anblick, die unheimliche Lage dieser Kammer und ihre bange Atmosphäre bekannt!
Indes erfüllte es sie mit unbeschreiblicher Genugtuung, daß die teilweise Bestätigung eines gespenstigen Traumes sie nicht ängstigte, um so mehr als die Inhaber der sogenannten Stuartzimmer sich über ihre schlaflosen Nächte unumwunden äußerten. Dabei wußte man von diesen Räumen sowie von dem anstoßenden Prunksaal, den der König während seines jährlichen Besuches bewohnte, gar nichts Schauerliches zu berichten. Sie hingegen wohnte auf der Ostseite nicht nur ganz allein, sondern ihre Türe führte direkt in das große, in gelbem Damast und Silber ausgeschlagene Paradezimmer, das für die „schwersten Gespensterfälle“ notorisch war.
Nach einigen Tagen reisten die anderen Gäste, und mit ihnen Chandieu, ab, und infolgedessen stand nun der ganze obere Teil des rechten Schloßflügels leer; Mariclées Freunde forderten sie wiederholt auf, in ein anderes, bewohnteres Stockwerk umzuziehen, allein sie weigerte sich auf das entschiedenste, denn jetzt war alles so schauerlich und schön, und es gefiel ihr erst recht. Sie besaß indes für Geister offenbar doch keine Attraktion. Denn weder „das Mädchen“, noch „der Mönch“, noch der „cuddling ghost“, noch die alte Dame, die sie doch kennen mußte, bemühten sich zu ihr.
Da eines Nachts fuhr sie aus tiefem Schlafe von diesem Bette empor, warf sich mit einem Satze blindlings gegen die Ausgangstüre, drehte dort blitzschnell das Licht auf, und stürzte dann zu Boden. Verwundert blickte sie in dem hellerleuchteten Raume umher. Was war geschehen? sie konnte sich auf nichts besinnen. Warum lag sie zu Boden? und warum fühlte sie ihren Blick umtrauert, wie ein vom Nebel umdüstertes Licht? Warum? Nur ein Gedanke: Licht zu schaffen, hatte ja in ihr gelebt. Aber welch höllisches Entsetzen hatte sie dann niedergeworfen und jagte sie von neuem, bevor sie es faßte? — Ach, jenes Licht, sie hatte es entfachen müssen, damit sie die Erschütterung ertrug, die ihr jetzt das Bewußtsein brachte! sie war nicht erwacht, sie war geweckt worden.
Erst als Tageshelle ihr Zimmer erfüllte, löschte sie, und trat ans Fenster. Allein die Frühluft, die jetzt so froh zu ihr hereindrang, verscheuchte nicht, wie sie es hoffte, die Grauen dieser Nacht. Der silberne Morgenhimmel lehrte ihr nur, daß sie den Mut nicht finden würde, ja daß ein unheimlich seltsamer Widerwille sie erfüllte, ihre untatsächlichen Erfahrungen zu bekennen, als hafte etwas Totenhaftes an ihr, weil sie sie erlebte. Und darum blieb sie in diesem Zimmer und schwieg. Aber sie ließ ihre Lichter immer bis zum Sonnenaufgang brennen, und die Furcht vor einem Erwachen, wie sie mit Bestimmtheit glaubte, es in seiner Unnatur ein zweites Mal nicht zu ertragen, hielt Nacht für Nacht ihre Wachheit rege. Und sie saß aufrecht und horchte. — Gerührt vernahm sie das Rauschen der Bäume, oder wenn ein Nachtvogel sich bewegte. Und sie horchte entsetzt — wie ein Scheinlebender — auf den unhörbaren Lärm, auf die feindselige Luft, und durch alle Ritzen und Gänge hindurch die zerrüttete Ruhe. Welcher Sinn war in ihr erwacht für die finsteren Flammen, lechzend wie das Leben reißender Tiere vom Leben Verstoßener? für dies Wehen wie von Schmerzensfaltern, der schweren Raupe des Verbrechens entflattert! Denn es schien, als dürsteten sie nach ihr, als richte sich ihr Ansturm gegen eine verwundbare oder gefahrvolle Stelle, eine Bresche in ihrem innersten Selbst.
Dabei hing es oft an einem Haar, daß sie über alles dies nur lachte.
So drehte sie eines Nachts das Licht ungeduldig wieder ab und lag vor Müdigkeit wie eine Schnecke zusammengerollt, ganz jenem Gefühl des raschen Versinkens anheimgegeben, das uns umfängt, wenn der Schlaf, wie ein guter Riese, unser Bewußtsein davon trägt.
Allein wie eine unrechte Beute ließ er sie jäh fallen. — In der Schnelligkeit, mit der sie nach dem Lichte auffuhr und ans Fenster stürzte, hatte sie Decken und Tücher mit fortgerissen: ihr Blut wie in Flucht geschlagen, hämmerte in ihren Schläfen, als dränge es den Augenhöhlen zu entströmen, und in dem glänzenden Gemache, wie in einer Zelle eingemauert, fühlte sie sich von der Nacht, die beglückt da draußen flutete, geschieden. Und wie das erste Mal, kam jener unbeschreibliche und haßerfüllte Schatten eines Hauches von jener Tür. —
Aber wir müssen zu Mariclée zurückkehren, denn sie ist schon erwacht. Ein leises Klopfen scheuchte sie aus dem Schlafe und gleich darauf ertönte eine Glocke. Es half ihr nichts, nach ihrer Uhr zu sehen; sie hatte wieder einmal vergessen sie aufzuziehen. Sie eilte sich nun so gut sie konnte, denn die Mutter des Hausherrn, die mit ihrer Tochter im Erdgeschoß wohnte, war eine sehr alte, aber sehr pünktliche Dame, und Mariclée wollte nicht später als sie erscheinen. Da sie jetzt allein auf diesem Stockwerk hauste, nahm sie zum Ankleiden, wie früher, das Badezimmer in Beschlag. Es lag den Königszimmern gegenüber, man mußte den Gang hinaufgehen und dann rechts einbiegen. Wenn Gäste in Glenford waren und Stimmen, Seidengeknister und huschende Zofen die Atmosphäre erhellten, die wie ein schwerer Himmel diese Räume überhing, dann gewannen sie einen Zauber, eine faszinierende, schaurige Heimlichkeit, die in der Welt vielleicht nicht ihresgleichen hatte. Ein herumliegender Atlasschuh, ein hypermoderner Hut, ein Parfüm wurde hier zur ergreifenden Note, und Schritte konnten wie beruhigende Orgelklänge verklingen. Aber wehe, wenn das Leben an diesen verwunschenen Gestaden nicht länger brandete. Vergangenes herrschte dann wieder, grübelte und versank in sich selbst, schwarze Wolken sammelten sich wieder und die erdrückte Luft preßte, wie einen Todesschweiß der Berührung weichende und sprachlose Dinge aus! Untilgbarer Haß lauerte hinter den Baldachinen, ohnmächtige Wut hing sich an die altertümlichen Pfosten, an das Holz und an die damastenen Wände. Öffnete sich aber die Türe, trat ein Mensch in diesen finsteren Kreis, so entstand jener gewaltige, unhörbare Tumult, und dann rang es in allen Ecken den Kreis zu sprengen, die Schatten gerieten in Aufruhr und überall gierte es so heiß, gierte so traurig ein Gesicht, eine Gebärde zu werden. Und keine Sonne, kein frohlockendes Wölkchen, kein Vogelgezwitscher linderte die Qual.
Lord S. saß allein beim Frühstück, als Mariclée etwas atemlos hereintrat. Die zweite Glocke war längst ertönt.
„Wie spät ist es denn?“ fragte sie.
Er war ihr sichtlich überrascht entgegengekommen.
„Es ist noch früh,“ sagte er. „Aber ich gehe auf die Jagd. Und nun hat man Sie mit dem Gong so aufgeschreckt. Er galt nur mit.“
„Ach, das macht gar nichts,“ sagte Mariclée und setzte sich gegen das Licht, um ihre übernächtigen Augen zu schonen. Sie war sehr zufrieden, denn ihr Plan war alsbald gefaßt. Ihrer Freundin gegenüber gewisse Eindrücke zu besprechen, hatte sie sich niemals entschließen können. Sie hatte den sehr deutlichen Verdacht, daß man sie damit beunruhigen konnte. Mit einem Manne war es anders.
„Ja, danke,“ sagte sie, da er für sie sorgte. „Ich fange mit einem Pfirsich an.“ Sie hatte einen wahren Heißhunger nach ihrer schlaflosen Nacht. „Aber verdiene ich zu leben, da ich nie weiß, wie lange es her ist? Wann bin ich hier gewesen? vor zwei Jahren oder vor zehn? Alles bleibt mir so lebhaft, nur zerrinnt mir die Zeit, hier hängt ein Bild anders als damals“, und sie deutete auf die Wand.
„Hören Sie noch von Chandieu?“ fragte sie weiter. „Was treibt er, und was ist aus ihm geworden?“
„Denken Sie,“ sagte Lord S., „er ist tot, er starb vor ungefähr einem Monat in der Schweiz. Wir hörten es erst kürzlich.“
„Tot!“ rief Mariclée. „Mein Gott! so jung! was hat ihm gefehlt? er ist tot!“ wiederholte sie bestürzt. Und jetzt hielt sie nichts mehr zurück: „Ich hatte seltsame Gespräche mit ihm,“ gestand sie.
„Was hat er Ihnen gesagt?“
„Er klagte über seine Nächte und forschte immer nach den meinen. Sie wissen, ich wohnte ihm gegenüber, und er schüttelte den Kopf, wenn ich ihm sagte, daß ich sie eine nach der anderen in größter Seelenruhe durchschlief. Aber ich weiß nicht,“ fuhr sie scheinbar zögernd fort, „ob es mir gestattet ist, von solchen Dingen mit Ihnen zu sprechen?“
„Aber natürlich! Wie kommt es, daß Sie zweifeln?“
„Man warnte mich, daß Ihnen Erörterungen über diese Dinge nicht willkommen seien, und daß ich sie vermeiden sollte,“ rückte sie wieder unverblümt heraus.
„Wer hat Ihnen das gesagt?“
„Ich habe es oft gehört. Auch Chandieu machte mich darauf aufmerksam.“
„Chandieu hat vor seinem Tode das merkwürdige Geständnis abgelegt,“ sagte jetzt Lord S., „er habe in Glenford ein Gespenst gesehen und angesprochen.“
„Das hat er mir nie gesagt!“ rief Mariclée. Aber sie wollte sich der Mitteilung würdig erzeigen, indem sie kein zu großes Wesen daraus machte. „Glauben Sie denn an solche Sachen?“ fragte sie.
„Ich muß gestehen,“ sagte er, „ich habe nie eine Wahrnehmung gemacht, welche die Gespensterchronik dieses Hauses bereichern könnte.“
„Ach,“ sagte Mariclée, „sobald man diesen Dingen mit Worten kommt, tritt so viel Unsinn ans Tageslicht, daß sie zerfließen. Ob es an ihrer Wesenlosigkeit oder an der Plumpheit des Wortes liegt, das ist mir noch nicht klar. Aber eines wissen wir alle: Glenford besäße ohne seine Schauer nie einen so unerhörten Reiz.“
Er nickte. „Ich glaube es selbst; und was Sie über mich sagen hörten,“ fuhr er dann fort, „trifft nicht für mich, es traf nur für meinen Vorgänger zu. Solange mein Onkel lebte, blieben hier gewisse Fragen auf das bestimmteste unterdrückt, und er duldete nicht, daß man sie vor ihm debattierte. So wurde allerdings seine Abneigung für den Ton dieses Hauses bestimmend.“
„Im großen Ganzen sicher die richtige Haltung. Aber was hat Chandieu gestanden?“ Sie brannte darauf, mehr zu hören.
„Nichts, als was ich Ihnen sagte, und dies erst am Tage, an dem er starb.“
„Was hätte wohl Ihr Onkel zu einem solchen Geständnis gesagt?“
„Er hätte keine Notiz davon genommen. Hierin war er wirklich sehr eigen. Selbst wo er sich gezwungen sah, etwas zu konstatieren, ließ er es ohne Kommentar. So wollte er anfangs den Flügel für sich nehmen, in welchem Sie, glaube ich, wohnen, weil ihm dort die Aussicht am besten gefiel. Seine besondere Vorliebe galt dem gelben Zimmer.“
„Das in gelbem Damast und Silber ausgeschlagene,“ unterbrach sie, „das in meines führt?“
„Mein Onkel wollte es zu seinem Schlafzimmer machen, und hätte es sicherlich behalten; er besaß jedoch einen Hund, von dem er sich nicht trennen wollte, und was ihn nötigte auszuziehen, war nur dieses Tier. Es hatte plötzlich voll Entsetzen auf eine Stelle des Zimmers hingestarrt, und wurde von einem solchen Beben aller Glieder befallen, daß es nur flehentlich winseln und sich sträuben konnte, aber nicht mehr imstande war zu gehen, noch sich auf den Füßen zu halten. Man trug es endlich hinaus und von dem Tag an wehrte es sich, mit allen Zeichen einer wütenden Angst, in dieses Zimmer zu treten, und weder durch Schläge noch durch Lockungen brachte mein Onkel das sonst so gefügige Tier über die Schwelle.“
Sie fragte nicht, nach welcher Richtung es geschaut hatte, sie konnte sich so gut denken, auf welche Stelle es seine hilflosen Augen gerichtet hielt, als es in seiner armen Hundeseele zusammenbrach. Die Schreckenstüre, die sie von jenem Zimmer schied . . .
„Wie grauenhaft!“ entfuhr es ihr und sie fügte dann schnell hinzu: „Wie lang ist es her?“
„O an die dreißig Jahre mindestens.“
„Eine sehr lebendige Geschichte für einen toten Hund,“ versuchte sie zu scherzen.
„Sie haben ja gar nichts gegessen!“ sagte Lord S.
„Was Sie mir erzählten, war wirklich zu spannend,“ und sie erhob sich rasch. Denn sie wollte ihn nicht länger von seiner Jagd zurückhalten. „Ich möchte gerne mit Ihrer Mutter frühstücken. Sie wird gleich erscheinen und ich will sie in der Halle erwarten.“ Damit ging sie zur Türe und sie trennten sich.
Mariclée vergrub sich in einen Lehnstuhl.
„Daß ich das alles gerade heute zu hören bekam, dachte sie, war wirklich nicht nötig.“ Sie nahm eine Zeitung, ließ sie ungelesen zu Boden fallen, und sah mit müden Augen umher. Wie war Chandieu in diese Halle verliebt gewesen, in diese tiefen Fenster, die Rüstungen, das Gebälk, und da oben die alte Minnesängergalerie, eines der Schaustücke des Landes.
Dies also war der junge Mann gewesen, den sie für einen ziemlich oberflächlichen Weltmann gehalten hatte. Wenn man auch die Sache selbst, die allzu dunkel war, ganz außer acht ließ und nur sein Geständnis — und dies war nicht anzuzweifeln — im Auge behielt, so hatte er auf jeden Fall einen Mut bewiesen, dessen sich Mariclée, mit ihrem Stich ins Heroische, noch immer unfähig wußte. Denn traulich scheinende, mit rosa Seide umwundene Lampen waren freilich nicht die Szenerie, gewisse Phänomene zu fördern, so erfahren war sie jetzt schon, daß sie dies wußte. Und sie stellte sich Chandieu vor, wie er in der Dunkelheit aushielt. — Aber plötzlich riß ihr der Faden. „Ich habe ja noch zwei Nächte,“ dachte sie, „für diese langweilige Sippe.“
Es war Schlag halb 10 Uhr, als die alte Dame, von ihrer Tochter begleitet, die Halle betrat, in der Mariclée auf sie wartete. 85 Jahre trug diese Erde sie, doch schien sie nicht dem Leben, sondern der etwas bleibenderen Region eines Romans entnommen. In ihr war eine Vereinfachung, welche die Vielfältigkeit des Lebens nie so ungebrochen gestattet, und man wurde ganz träumerisch, ja man fühlte sich wie beschattet in ihrer Nähe. Denn sie hatte das friedvoll Umgrenzte, das in sich selbst Beruhende und dabei Spendende des Baumes. Sie hatte auch feine Weisheit, die von nichts zu wissen braucht, die nie banal und doch für jedermann vorhanden ist. Ihr Leben mußte ein merkwürdig geschütztes gewesen sein, aber daß es dabei so hinaufwuchs, war ihr Verdienst. Mariclée war als ein recht fremder Vogel diesem Baume zugeflogen, ein Grund mehr, um sein Gezweige schützend über ihn zu breiten, denn irgendwie war das ein einsamer, vielgewanderter und recht zerflatterter Vogel. Nahm sie ihren Tee nicht zu stark? war sie nicht müde? das sollte sie lieber essen wie das. Sie hatte da ein hübsches Kleid, und es stand ihr! Und bei allem, was die alte Dame äußerte, nickte sie mit ihrem großen ehrwürdigen Kopf, der ihr nicht mehr recht solide auf den Schultern saß. Mariclée kannte sie erst seit zwei Tagen. Wenn sie nicht bei einem ihrer Kinder zu Gaste war, lebte sie in ihrem schönen Londoner Hause mit dieser unverheirateten Tochter, die eine so närrische Liebe zu ihr hatte, daß sie sie nie auch nur auf einen Tag verließ, so daß man sich unwillkürlich fragte, was einmal aus ihr werden würde. Das ältliche Fräulein hatte außerdem noch eine Leidenschaft; die des Schießens. Jeden Morgen zog sie gemessenen Schrittes, in einem sehr städtischen Hute, sonst ganz wie Amor bewaffnet, mit Köcher und Bogen aus und übte sich stundenlang auf einem eigens für sie ausgesteckten Terrain. Mariclée versprach, sie später dort zu treffen und ging indessen nach einer anderen Seite.
Wohin man von dem Schlosse aus sah, das diese weiten Parkländer, diese offenen Haine und Äcker beherrschte, erstreckte sich unübersehbar ein alter, heilig gehaltener Boden, dehnten sich Wälder, die kein fremder Fuß betrat, und im nächsten Umkreis, bis zu dem nahen See, Plane mit zauberhaften Bäumen, Terrassen, die nur ein tiefes Schönheitsbedürfnis so ins Leben rufen und erhalten konnte; und links die schattige und stets geheimnisvolle Straße. Und von hier bis zu jener Straße drang unaufhörlich und hold der Turteltauben matter Ruf. Mariclée durchstreifte einen großen Wald, in dessen Lichtungen das Wild sich rudelweise lagerte. Große runde Rehaugen starrten sie fremd und ein wenig feindlich an, und alle Köpfe wandten sich neugierig dem Wege zu, den sie verfolgte. So gelangte sie bis zu einem niederen Tor, das aller Verlassenheit der Erde gewidmet schien. Aber es gemahnte sie an die Zeit, und daß sie nicht wußte, wie spät es war. Da fing sie an zu laufen, bis sie wieder zu den Gärten zurückfand, und von weitem die Bogenschützin noch erblickte. In einiger Entfernung saß unter einem Zelt die alte Dame. „Ah!“ sagte Mariclée und lagerte sich neben ihr am Boden, „ich bin so gelaufen, wieviel ist die Uhr und kann ich eine Viertelstunde hier rasten?“ Die Alte reichte ihr ein Kissen; Mariclée schob es unter den Kopf und starrte in den alabastermilden Himmel. „Es war schön im Walde,“ sagte sie, „und wie weich ist in diesem Lande das Licht. Aber wie grimmig sehen Glenfords Mauern in den Mittag hinein!“
„Ja, es ist ein finsteres Schloß,“ sagte die Alte.
„Ich glaube, wenn es Gespenster gibt, so gibt es welche, die gar nicht so schlimm, und andere, die ganz abominabel sind. Am ärgsten ist der Mönch des gelben Paradezimmers, an ihm starb jener Mann.“
„Woher wissen Sie das?“
„Ja, das weiß ich ganz bestimmt.“
„Fürchten Sie sich da oben ganz allein?“ fragte die Alte, die das Fürchten nicht kannte.
„Nein,“ sagte Mariclée gedehnt und schüttelte den Kopf, „ich genieße es.“ Dann fügte sie hinzu, indem sie zu ihr aufsah: „ich wüßte gerne, ob Sie abergläubisch sind.“
„Ich grüße stets eine Elster, die einzeln vorüberfliegt: One for sorrow, Two for mirth, Three for a wedding, Four a birth“, rezitierte sie und nickte jedesmal mit dem Kopfe.
„Ich möchte gerne einen Mann ertappen, wie er gerade vor einer einschichtigen Elster den Hut abnimmt.“
„O Kind,“ erwiderte die Alte, „deshalb ist ein Ding noch lange nicht töricht, weil es sich mit einem Manne nicht wohl verträgt.“
Gibt es etwas schöneres, dachte Mariclée, wie so ein mütterliches, altes Weib?
Aber die Tochter hatte ihr Spiel beendet und Mariclée war wieder aufgesprungen, denn sie hatte nur Zeit, sich umzuziehen.
Zum Lunch erschienen zwei Fräuleins, Töchter eines gewesenen Botschafters, denen es das Leben nicht mehr recht machen konnte. Sie waren beide baumlang und nicht sympathisch. Die eine war ältlich, die andere noch leidlich schön, aber im Begriff zu verblühen. Mariclée wünschte der jüngeren einen Mann und beide zum Hause hinaus. Denn sie hatten sich in Amerika, dem letzten Posten ihres Vaters, eine höchst unangenehme Sprechweise angewöhnt, die auf die Nerven ging. Sie sahen Glenford zum ersten Male und kreischten vor Bewunderung bei jedem Stück, ja im großen Saale schrien sie wie am Spieß. Mariclée bekam starkes Herzklopfen von ihren Organen, sie war müde von ihrem Spaziergang und ihrer schlaflosen Nacht. Aber die beiden Damen wollten das Schloß ansehen der Länge und der Quere nach, nicht nur die Kapelle und alle Zimmer, sondern auch die Souterrains und alles Porzellan. Arbeit genug für zwei Stunden, aber sie führten einen großen Vorrat von Bewunderung mit. Lady S. fühlte sich plötzlich von Mariclée am Ärmel gezupft:
„Bitte, führe sie nicht in mein Zimmer,“ flüsterte sie, „bei mir liegt alles so herum,“ und sie schlich hinauf, warf sich auf ihr Bett und schlief sofort ein.
Als sie etwas verspätet zum Tee herunterkam, waren die beiden Damen noch da und der Quell ihrer Bewunderung sprudelte noch immer. Dafür trug die Miene der Frau des Hauses deutliche Symptome von Erschöpfung zur Schau. Mariclée konstatierte es mit Bedauern, aber ohne Gewissensbisse, denn sie war der Meinung, daß solche Leiden nicht besser werden, indem man sie teilt. Auch harrte schon ein Diener, mit Mänteln bepackt, im Hintergrund, die jüngere hatte einen kleidsamen Schleier über ihren weitläufigen Federhut geworfen und als sie sich jetzt wirklich erhoben und, wenn auch unter einem neuen Schwall von Worten, wirklich verabschiedeten und wirklich zur Türe gingen, war Mariclées Lächeln und ihr Händegruß von bezaubernder Wärme. Denn sie wünschte ja allen Menschen das Beste.
Die beiden fuhren durch dieselbe Allee von dannen, durch welche gestern Don Juan mit der schönen Herzogin entschwand. „Und jetzt Mariclée, ich bitte dich, gehen wir spazieren,“ sagte Lady S. Und sie nahmen ihren Weg durch die entzückenden Gärten; aber sie kamen nicht weiter als bis zum Fluß. Inmitten blauer Glyzinen, blauer Gladiolen, einem Dunstkreis langstieliger blauer Lavendel stand eine marmorne Bank. Hier machten sie Halt und hier vergaßen sie weiter zu gehen.
Mariclée hatte indessen wieder einen Plan. Sie starrte in den sinkenden Tag nur von dem einen Gedanken erfüllt: Wie lenke ich das Gespräch unauffällig auf das Exemplar? Er gehörte aber den Kreisen ihrer Freundin an, und er war in Glenford gewesen, seitdem sie ihn nicht mehr gesehen hatte: sie wußte es von ihm selbst. „Mein Gott!“ sagte sie, „was für ein blauer Abend, welch köstliche Stunde! Sieh diese blaue Libelle.“ Es ist doch so leicht, dachte sie, ich brauche das Gespräch nur auf gemeinsame Bekannte zu lenken. Allein sie mußte doch einen gewaltigen Anlauf nehmen, um seinen Namen zu nennen, denn sie hatte Angst vor dem, was sie jetzt hören würde; sie dachte nicht an seine Ehe, aber an seine Gesundheit; denn sie wußte, wie krank er war. Noch kein halbes Jahr war es her, daß sie auf der Welt nichts anderes wie englische Zeitungen las, um Nachrichten über seinen Zustand zu erfahren. Und durfte sie von einer Besserung lesen, so las sie bald darauf von einem Rückfall. Dabei konnte sie sich durch nichts anderes, als diese greulichen Blätter informieren: sein Zusammenbruch war unmittelbar nach seiner Heirat erfolgt und von seinen neuen Leuten, bei denen er todkrank darniederlag, kannte sie niemand. Jetzt erfuhr sie, daß er sich mit dem Haus eines der reichsten Herzöge Englands alliiert hatte, und mitten in ihre Spannung kam ihr das Lachen: Er war kein Snob, aber dies sah ihm so ähnlich.
„Jetzt geht es aber wieder vorwärts mit ihm?“ fragte sie.
„Ach nein! Man trägt ihn ja noch die Treppen hinauf.“
„Das kann doch nicht gut sein!“ rief Mariclée. „Er fuhr doch erst kürzlich nach London.“
„Es wundert mich sehr,“ sagte die Freundin, „daß er imstande war.“
Mariclées Herz hatte zu schlagen aufgehört. Und dann entstand in ihr ein betäubendes Brausen, als setzten von allen Seiten viele dumpfe Glockenschläge ein, die ihr ganzes Innere erfüllten.
„Und ich habe ihn verfehlt, ich habe ihn verfehlt, ich habe ihn verfehlt!“
Aber sie fragte nicht mehr. Sie wollte nichts hören. Am Sonntag würde er bestimmt wieder nach London zurückkommen. Er hatte es ihr ja geschrieben. Es ging ihm eben viel besser, als man es noch wußte. Daß es ihm so viel besser ging, war eben das Neueste. Sie ließ keinen anderen Gedanken in sich aufkommen.
„Was hast du denn in London getrieben? Im August?“ fragte die Freundin.
„Es war wirklich sehr heiß!“
„Und trotzdem fährst du jetzt wieder hin?“
„Vielleicht nur für einen Tag,“ erwiderte Mariclée errötend.
„Du weißt,“ fügte sie, nur um etwas zu sagen, schnell hinzu, „meine Pläne sind immer sehr unentschieden, ich weiß nie, was ich morgen tue, ich armes Kätzchen.“
„O, du bist gar kein armes Kätzchen!“
„Was? Ich tu dir nicht einmal leid?“ fragte Mariclée, die jetzt um jedes andere Thema froh war.
„Du tust mir kein bißchen leid, ich finde dich sehr beneidenswert.“
Mariclée riß die Augen auf.
„O bitte,“ sagte sie fast beleidigt, „so beneide mich halt. Aber du bist nicht anspruchsvoll, das muß ich schon sagen. Und um was, wenn ich fragen darf? Um die ganze Liste von Dingen, die mir versagt sind?“
„Vielleicht,“ entgegnete die andere, „ja vielleicht. Die anderen sind alle so absolut abhängig von diesen Dingen und du bestehst nicht nur ohne sie, nein, du bringst es sogar fertig zu balanzieren.“
„Was bleibt mir übrig,“ seufzte sie, „vom Seil zu stürzen, oder darauf zu tanzen.“
Aber die andere schüttelte den Kopf. „Was soll man dir wünschen?“ fragte sie. „Was möchtest du eigentlich?“
„Nichts,“ sagte Mariclée, plötzlich sehr ernst geworden. „Nichts, denn ich möchte alles und es würde mir nicht genügen, es zu haben, sondern ich möchte es behalten. Aber mein Bewußtsein der Zeit ist so akut, daß ich sie immer höre, und wie mit hundert Augen überall sehe, wie alles der Reihe nach, ihrer Strömung weicht und von ihr fortgerissen wird, so daß ich mich schon fragte: wie halten es die Glücklichen aus?“
Mariclées Freundin war eine gescheite Frau, die ihre nachdenklichen Anwandlungen hatte, aber solche Exkurse waren ihr zu deutsch. Wenn Mariclée anfing, solche Fäden auszuwerfen, verlor sie die Geduld.
„Ich wünsche dir einen Mann,“ sagte sie, „du solltest jetzt wirklich bald heiraten.“
Mariclée, immer bereit einzulenken, rollte ihren Faden wieder auf und warf ihn beiseite.
„Aber ich brenne doch darauf,“ versicherte sie. „Nur ist es müßig. Ich werde so wenig einen Mann ziehen, wie das große Los. Paß nur auf.“
„Deine Einstellung auf den Haupttreffer ist aber auch nicht glücklich, ich habe dir immer gesagt . . . .“
„Dabei gefalle ich euch ja so gut.“
Mariclée lachte, aber zugleich trieb es sie wieder ihren Gedankengängen zu. „Irgendwie bin ich im vornherein für den Mann verdorben,“ sagte sie. „Das ist’s. Denn die Dinge, die in meinen Kopf nicht hineinwollen, sind die, welche sich von selbst verstehen und die andere gar nicht zu lernen brauchen; die Begrenzung in der Liebe, so einfache Rechenexempel z. B. wie Einen Mann zu lieben, glaubst du, ich brächte mir das bei? Entweder ist kein Mann der Liebe wert, oder ich will nicht sagen viele, aber doch eine gewisse Anzahl. Gesetzt nun, ein recht annehmbarer, ja sagen wir sogar un parti inespére, hätte ein Heim mit mir gegründet — weißt du, auf wen ich heute eifersüchtig wäre? O mit nichten auf andere Frauen, die ihn fesseln würden, sofern sie reizend wären.“
„Du weißt nicht, was du daherredest,“ unterbrach sie die Freundin.
„Bitte sehr, ich habe meinen Abnormitäten das exakte Maß genommen und ich weiß es; ich wäre nicht auf andere Frauen eifersüchtig,“ wiederholte sie, „und um so weniger, je reizender sie wären, aber auf die liebenswerten Männer wäre ich eifersüchtig, die ich indes kennen gelernt hätte, und denen ich kein unverkürztes Interesse zuwenden dürfte, weil ich doch an den einen gebunden wäre. Denn das Gebundensein, das ists! Das ist das Todesband, das uns an alle Endlichkeiten knüpft. Die Befriedigung, das Lustgefühl, niemandem zu gehören, ist aber so überbietend, daß man ebenso übermächtig daran hängen kann, wie ein anderer am Genuß. Es ist jammerschade, daß keine Vergleiche möglich sind. Ja, es frägt sich, wer mehr zurückbehält, der alle Dinge auskostet, oder dem es glückt, sich von keinem fangen zu lassen. Auf seiten des Verzichtes liegt nur leider das Odium der Moral, aber man wird bald dahinter kommen, daß er nicht Sache der Tugend ist, sondern der Liebhaberei, genau wie das Klettern, ein Sport, dem des Fliegers vergleichbar, der vom Boden losgerissen, auf der Luft dahinzieht. So ist der Wüstling für den andern, wie der andere für den Wüstling, ‚l’ingénu‘.“
Sie hatte sich während dieses Monologes weit zurückgelehnt und sah zum Abendhimmel empor.
Und was zog da unversehens, jedoch zu ihrer Rechten, am Horizonte auf? Es war der Mond, den sie zum ersten Male in seinem neuen Kreislauf gewahrte. Die halb gefüllte Scheibe noch kaum erkennbar, da es noch tagte. Mariclée war leider, wir dürfen sie nicht besser machen, eine unendlich abergläubische Person, die blindlings alles glaubte, was man ihr sagte. So hatte sie einmal gehört, und glaubte seitdem erprobt zu haben und war überzeugt, daß man den jeweiligen Mond zuerst von links erblicken müsse, um Zeit seines Verlaufes günstiger Tage gewärtigen zu dürfen.
Sie gingen wieder durch die Gärten zurück, die Sinne vom Duft der vielen Blumen benommen. Der Hauch entschlafener Rosen aber zog noch weiter, fernab der Beete, durch die still gewordene Luft bis zu den großen Rasenflächen vor dem Schlosse, und wie magisch zu den paradiesischen Bäumen hingezogen, die dort standen, und aus deren undurchdringlichem Gezweig der matte Ruf der Turteltauben unaufhörlich drang. In dieser holden Welt ragten Glenfords Mauern, rauh und unversöhnlich, die fahle Front wie in sich selbst versunken, und die schaurigen Fenster noch untröstlicher und böser, wenn sie in der Abendsonne blinkten.
Übergehen wir die folgende Nacht, und sehen wir am nächsten Nachmittag nach unserer Heldin, als sie, selbst einem flüchtigen Schatten nicht unähnlich, in die Halle glitt, und zu ihrer heftigen Bestürzung einen Brief, in der Hand des Exemplars, liegen sah. Dies konnte nur Schlimmes bedeuten, denn er schrieb nie, wenn er anders konnte, und niemals, um zu schreiben. Daß Mariclée eine große Anzahl Briefe von ihm besaß, dankte sie einzig dem Umstand, daß er sich nicht entschließen konnte, die ihrigen zu missen. Allerdings konnte es geschehen, daß er nur ein paar Sätze, wie auf einen Anlauf hin und aufs Geradewohl geschrieben, an sie gehen ließ, allein sie wußte, daß es etwas Unerhörtes für ihn war, einen Briefwechsel mit irgend jemand aufrecht zu erhalten, so daß sie sich mit solchen Notsignalen begnügte. Heute aber hatte er keinerlei Veranlassung, sie wagte kaum seinen Brief zu öffnen und zögerte, bevor sie ihn las. Und es war, wie sie befürchtete. Er hatte einen Rückfall erlitten und fragte nun, ob sie es möglich machen könnte, ihre Pläne umzugestalten, und in vierzehn Tagen in London zu sein. Bis dahin glaubte er bestimmt dort eintreffen zu können.
Mariclées erster Gedanke war ihre Wohnung. Sie stand ihr nur für den Monat August zur Verfügung, wohin würde sie ziehen?
„Mariclée! Maricleia!“ rief es draußen. Es war die Freundin, die im Wagen zu einer Ausfahrt auf sie wartete, um noch eine Plauderstunde mit ihr zu haben, denn für den Abend waren Gäste erwartet, und der morgige Vormittag kam, nicht mehr in Betracht. Mariclée eilte hinaus und stieg mit heiterer Miene zu ihr ein. Im Erleben von Enttäuschungen hatte sie schon früh eine bemerkenswerte Routine erlangt und die soeben empfundene saß zu tief, um mir nichts dir nichts emporzutreiben. Auf der Rückfahrt aber, als plötzlich ein klagender Wind über die Farren hinwehte, und ein großes Rauschen den Wald erfüllte, den sie eben hinter sich ließen und die halb gefüllte Mondesscheibe langsam über die dunstumwobenen, blauen, bläulichen, violetten Fernen aufzog, die nach dem Meer zu wallen schienen, da dachte Mariclée an das heiße, rußige London, nach dem sie nun umsonst gefahren war, zu dem sie nun umsonst zurückfuhr, an den einzigen Zweck ihrer Fahrt, deren Erfüllung sich immer mehr hinausschob, immer unsicherer zu werden drohte, sie dachte wie wenig Geld sie hatte, und daß keine Aussicht war, diese Reise nochmals zu unternehmen, falls sie fehlschlug, und mit einem Male mußte sie schnell über etwas lachen, um die allzu nahen Tränen zurückzudrängen.
Aber auch die Freundin schien nachdenklich geworden:
„Ich weiß nicht, was dich um diese Jahreszeit in London halten kann,“ sagte sie ganz unvermittelt, „und ich frage dich nicht, aber bist du dort wenigstens gut aufgehoben?“
„Ich habe mich entschlossen, gleich nach Irland zu fahren, und erst im September länger in London zu bleiben,“ erwiderte Mariclée, die erst sehr rot und dann sehr blaß geworden war. „Es ist jetzt doch zu heiß.“
„Sieh dann in mein Haus. Es ist zwar geschlossen, aber die Lage ist viel angenehmer, und man weiß doch, wo du steckst.“
„Ich danke dir sehr,“ sagte Mariclée. Sie war stumm vor Freude. Ein schönes Haus in einer schönen Umgebung. Aber davon lebte sie ja!
„Das wäre also abgemacht. Du steigst bei mir ab. Es ist mir eine Beruhigung.“
„Liebst du mich denn?“ fragte Mariclée schüchtern.
„Ich bin dir wirklich sehr ergeben,“ erwiderte die Freundin.
Sehr, spontan, doch nie sentimental, gebot sie über keinerlei Gefühlsvokabularien und ihre Gestalt — eine der schönsten ihrer Zeit —, die nie das Mittelbare eines Bildes, sondern stets, selbst in der Bewegung wie eine Statue wirkte, war das getreue Abbild ihrer Seele. Auch um diese konnte man ringsherum gehen, nirgends war sie Larve oder Wand, nirgends eingekeilt. Sie besaß sich ganz, doch ohne sich zu kennen, denn über die Form ihres Geistes war viel mehr zu sagen, wie über ihre Intellektualität, und Mariclée hatte viel von ihr gelernt. Sie entwarf jetzt drollige Schilderungen ihrer Melancholien in dem großen Mietshaus — empfand sie es doch stets als eine Befreiung, wenn sie sich selbst zum besten haben konnte — mußte aber dabei des schönen Knaben gedenken, der, einen finsteren Lift auf- und niederziehend, seine Tage dort vertrauerte. Denn er war hilfbereit und dabei flink wie ein Page zu ihr gewesen, hatte ihr beim Packen geholfen, ihre Koffer geschlossen und zugeschnallt, ihre Schlüssel gefunden und sie zur Eile gemahnt, so daß sie ohne ihn nie rechtzeitig zur Bahn gekommen wäre. Sie erzählte nun von ihm, wie leicht er sicherlich seinen Dienst in einem großen Hause erlernen würde und wie dekorativ er sei; denn sie hätte ihm gerne zu einem besseren Dasein verholfen. Die Freundin riet ihr aber, ihn erst zu verhören und dann seinen Namen der alten Haushälterin zu geben, die ihr Haus in London bestellte und ihn wohl unterzubringen wüßte.
Auch Mariclées letzte Nacht möchte der kluge Leser sicher lieber übergehen. Er setzt voraus, daß sie die Lichter doch wiederum nicht löschte. Dennoch müssen wir ihr noch einmal auf ihr Zimmer folgen.
Ihre Nachtwache eröffnete sie diesmal damit, daß sie den Brief des Exemplars beantwortete, aber statt ihm gelassen, wie er sie fragte, zu erwidern, artete ihr Brief in eine wilde, unordentliche Epistel aus.
„Ich bin der lebende Monat März,“ brach sie sehr unnötigerweise aus. „Immer Knospen haltend, die mir verkümmern, gleich immer einen neuen Büschel, kaum daß mir der eine in der Hand verwelkte. Ach, ich bin es müde. Ja, ich werde in London sein. Ich habe ja nur mir selbst Vorwürfe zu machen, ich weiß es wohl,“ fuhr sie fort, „und meine Klagen sollten nur Ihrer Krankheit gelten, von der ich so wenig weiß, und auf die ich nie eingehe, weil Sie mir nie davon sprechen.“ Aber dann schrieb sie ihm: „Sie wissen, wie sehr ich es hasse, mich in einem Zimmer wiederzufinden, das ich schon einmal bewohnte, weil es mir wie ein Spiegel ist, in dem ich mich wohl oder übel selber konfrontieren muß. Ich war mir selbst hier auf der Lauer, und dabei erschien mir das Wesen, das ich damals war, zarter, feiner, durchsichtiger und edler, als das Wesen, das ich heute bin. Denn ich habe zwar die alten Ängste wiedergefunden, von denen ich Ihnen erzählte, und über die wir uns oft zusammen unterhielten, doch ohne ihr Gefühl. Denn ich liebte, ja ich liebte jene Grauen, und wenn auch nicht der Mut, so lebte doch in mir der Wunsch, ein leidenschaftliches Begehren, mich ihnen anheimzustellen; ich empfand, welche Schmach es sei, sich vor dem zu fürchten, was man selbst über Nacht zu werden bestimmt ist, aber ich bin stumpf und tot für sie geworden, die ich ihnen doch indes um viele Tage näher gerückt, und näher bin dem Tage, der mich zu ihnen gesellen wird. Ach! warum,“ brach sie wieder ab, „sind Sie immer krank!“
Und obwohl sie wußte, daß er einen so fassungslosen Brief nur mißbilligen würde, und wie wenig er angezeigt war, schrieb sie dennoch dahin. Denn die Nächte in diesem Zimmer hatten ihr recht zugesetzt und sie war nicht mehr auf ihrer Höhe.
Als von dem leeren Gange draußen zwölf Glockenschläge erdröhnten, warf sie die Feder hin und erhob sich. Nur noch einige Stunden, dann war es Morgen. Und plötzlich warf sie sich vor ihrem Bette längs der maskierten Türe hin, rang die Hände und eine Flut von Tränen entströmte ihren Augen. Und sie tat den Schwur, falls sie ein drittes Mal in dieses Haus einkehren würde, jenem Schatten, der, wie sie zu fühlen glaubte, nur auf eine Möglichkeit lauerte, auf sie loszustürzen, mit dem alten Mitgefühl, ja wie mit bräutlich geöffneten Armen zu stehen, und wenn es etwas wie eine Hilfe gab, etwas wie diese Hilfe zu sein. Nur heute flehte sie gleichsam zu ihm selbst. Nur heute kann ich es nicht, denn sieh! mein Geist ist solchen Dingen zu sehr abgewandt, und zu sehr auf ein Leben gerichtet, das, immerwährend gefährdet, alle Spannung meiner Seelenkräfte erheischt und „heute ist nicht meine Stunde“.
Mariclée hatte eine Art, sich den „Dingen“ gegenüber engagiert zu fühlen, und einsehen gelernt, daß in ihr das Leben nicht wohl eingedämmt war, sondern an irgendeiner schadhaften oder eingerissenen Stelle immerwährenden Einlaß für jede Strömung beließ, und sie hatte entdeckt, daß es viel weniger warm in ihr pulsierte als ihr Herz. Ob auf Grund eines Defektes oder einer Qualität, hätte sie nicht zu sagen gewußt, aber sie wußte, daß sie das Leben auf eine etwas geisterhafte Weise vergötterte, und sie glaubte den okkulten Dingen, welche sie doch scheute, sich nicht entziehen zu dürfen, infolge der Schatten, von welchen sie selbst wie befleckt war.
In dieser Nacht kam sie auf einen Gedanken zurück, der uns noch zu sagen bleibt. Sie hatte einige Bücher vom Fach genommen, sie mit ihrer Schreibmappe und ihrer Nähschachtel aufs Bett gebracht, und sich häuslich darauf niedergelassen. Dies war bei ihr nichts Sonderliches. Ein Bett, das von ihr bezogen wurde, gewann sehr leicht den Anstrich eines Wohnzimmers, die Bücher lagen wie auf einem Tische darauf verstreut, und man konnte sich zwar denken, daß hier jemand schlief, sofern er einiges beiseite rückte, doch nur so nebenbei. Heute aber wollte ihr kein einziges zusagen, und sie fühlte sich außerstande, zu lesen, die Geschichte des toten Hundes und Chandieus Geständnis fanden mit einem Mal eine Resonanz und einen Nachdruck, die sie ganz erfüllten. Sie sah den armen, irr gewordenen Hund entsetzten Auges auf die Türe starren, schäumen und sich sträuben. Doch was ihr am lebhaftesten dabei vorschwebte, war die Fülle, das köstliche, begehrenswerte Element, das in seinem aufgescheuchten Blute, und seinem lodernden Blick den kurzen, aber alles überbietenden Triumph beging. Er war längst tot, dieser lebenbehauptende Hund, viel toter als das neidisch lechzende Gespenst, dessen Welt ihm so ewig fremd bedünkte. — Denn in der Tat: wie sänftiglich war der Gedanke an den zu Staub zerfallenen Hund, und wie erweiterte sich die Kluft zwischen Mensch und Tier im Tode, der sie doch gleicherweise schlug. „Tod, wo ist dein Stachel?“ schlug da, grell wie eine Flamme, der Sinn jener versteckten Frage in ihr auf. Sie griff zur Bibel, zu müde, sie zu halten, entfiel sie ihr. Doch ihr Geist trieb jetzt, wie von Fittichen getragen, heimischen Bereichen wieder zu. Wenn sie dem Leben gegenüber stets etwas wie im Nachteil sich befand, so durfte sie dafür so stille Buchten des Gedankens in sich bergen, daß sie, die so kümmerlich Umfriedete, stets die Gesicherte und Gerettete war.
Ihre Fühlung zum Christentum hatte zwar viele Wandlungen erfahren, und ließ nie ab, sich umzugestalten und zu verschieben. Für nichts war ihr Auge so hart und so geschärft, wie für die Scheidungen, die hier zwischen Kern und Schale vorzunehmen waren. Ja in ihrem Hang ihn immer reiner zu schälen, konnte sie sich gar nicht genug tun, und immer weitergehend hatte sie auch längst die Frömmigkeit von ihm gesondert, die, ihrer Meinung nach, dem Christentum so wenig inhärierte, wie etwa die Sentimentalität dem Gefühl. Sie galt ihr nur wertvoll als der Moment, dem die mittelalterliche Gotik das verdiente ewige Relief verlieh, aber wie diese zugleich nur eine Phase, und als solche weder festzuhalten, noch wieder zu beleben. Auf ihrer Bahn immer weitergehend, oder besser gesagt, sich immer mehr entfernend, glich ihr Rückzug letzten Endes einer Flucht, auf der sie immer mehr preiszugeben und immer weniger zu retten fand. So erreichte sie glücklich ein Gestade, zu dem auch nicht ein Echo mehr von all den verkehrten Zeitläuften herüberdrang, denen eine zu erhabene Idee naturgemäß zum Opfer fallen mußte; und so war ihr wachsender Indifferentismus nicht der Skepsis, sondern dem Glauben entsprungen. Von übermächtigen Aversionen angetrieben, hatte sie indes vielfach unbewußt und doch mit allen Mitteln unablässig um die Mysterien gerungen, die hinter schwerfälligen Riesendogmen weit versteckt und entzogen sind, bis sie sich einen Christus „herausschälte“, der den meisten sicherlich profan erschienen wäre, ihr aber ein letztes, absolutes Genügen, ein restloses Entzücken gewährte. Denn dieses, schien ihr, wäre ein schlechtes Erlösungswerk, das nicht im Prinzip die endliche Verjährung in sich trüge, und dies wäre ein trauriger Christus, bei dem von dem Gekreuzigten nie abzusehen wäre . . . . Nicht eher, schien ihr, würden die Zeiten sich erfüllen können, als bis dies langsame Geschlecht die zwei Gesichter eines Gottes anerkannte, der infolge seiner Mission sich zwar auch den Einfältigen und Toren und dem gemeinen Volke zuzukehren hatte, aber, wie alle Götter, als ein aristokratischer Gott sein wahres Antlitz nur den adeligsten Geistern entschleierte. Dies aber war sein Überwinderantlitz, das des Grabessprengers, der die entschwundene Antike aus der Versenkung heben und sie von dem Fluch einer vorweg genommenen, daher vergebens vindizierten Lebensfreude erlösen würde. Durch ihn führte ein Pfad zu dem gelobten Land der Griechen und den verbannten Göttern zurück. — Auf ihren Katholizismus, der ihr von anderen Katholiken gern bestritten wurde, tat sie sich nämlich viel zugute. Sie hielt ihn für viel würdiger als den der anderen, die, ohne zu denken, sich bescheiden wollten, während sie den Gedanken, der ihn trug, so stark gefunden hatte, daß sie ihn, wie ein großes Kauffahrteischiff, mit allem befrachtete, was die Welt an geistigen Werten enthielt, und ihm außer den neun Musen con allegria den ganzen Olymp, außerdem die heterogensten Passagiere aufzuladen verstand. Infolge ihrer hohen Meinung von der Tragfähigkeit jenes Gedankens war sie von einem geradezu uferlosen Liberalismus, aber auch eine ganz grimmige Anti-Klerikalistin, und Mönchen und Pfarrern begegnete sie auf der Straße gar nicht gern; wo sie mit einem zusammentraf, was selten genug vorkam, da sie es wohl zu vermeiden wußte, fand sie nach ein paar Worten meist Grund, das Gespräch wieder abzubrechen. Dagegen hatte sie in Rom einen französischen Monseigneur kennen gelernt, einen illustren Gelehrten von europäischem Rufe, der seine Religiosität hinter einer Maske von vollendeter Ironie verbarg, die alle Frömmler erbitterte. Und dabei lavierte er so geschickt, daß die Leuchte seines Ruhms einer Partei erhalten blieb, die immer Miene machte, ihn auszuweisen, und er einen Bau, der nirgends mehr zusammenhielt, und statt niedergerissen und neu errichtet zu werden, nur ein Dach auf seine Schäden setzte, zu schilden fortfuhr, weil er die ewigen Fundamente dieser geborstenen Mauern sondiert hatte.
Mariclée stand reisefertig auf dem Perron. Der allgemeine Aufbruch hatte zu einer kleinen Komplikation geführt, und da die alte Dame mit ihrer Tochter zu dem Landsitz eines ihrer anderen Kinder per Auto gebracht werden sollte, und das andere nach Schottland benötigt war, fuhr Mariclée mit ihr, um dann an einem nördlicheren Punkt ihren Zug nach London einzuholen. Was ihre Fahrplankenntnisse anging, hatte sie noch ein Mißtrauensvotum in Gestalt eines Zettels mitbekommen, auf dem die Zweigstationen, an welchen sie umsteigen mußte, mit allen nötigen Zeitangaben genau aufgeschrieben standen. Doch wollte dies der alten Dame nicht genügen, und sie gab ihr unterwegs die Absicht kund, nicht eher weiterzufahren, als bis sie sie wohlverwahrt in ihrem Kupee gesehen und dem Stationsmeister anempfohlen habe, eine Idee, die nicht angetan war, ihrem Schützling zuzusagen. Mariclée zeigte sich förmlich entrüstet über den Gedanken, drohte sofort auszusteigen, wenn die Greisin sich ihretwegen einer solchen Mühe unterziehen wollte, bat und beschwor sie, davon abzusehen, erreichte aber nur ein freundliches Nicken dieses ehrwürdigen und naiven Kopfes und die Versicherung, es sei ihr nur eine Freude, ihr bis zuletzt das Geleite zu geben, und die Tochter, als die gute Seele, die sie war, echote: es sei nur eine Freude. Da sah Mariclée zum Fenster hinaus und sandte einen mutlosen Blick zum Himmel empor. Er nur wußte: sie mußte jetzt sparen, sparen. Es gehörte zu den sonstigen Unzuständigkeiten des armen Kindes, daß sie stets nur auf das Geld rechnen konnte, das sie gerade besaß. Ging es ihr aus, so mußte sie unerbittlich den Rückzug antreten, und wenn zehn Exemplare tags darauf herbeieilen würden. Nun hatte sie eine ganz hübsche Summe zusammengerafft, die für einige Wochen ausreichend war, aber sie wußte jetzt gar nicht mehr, wie lang ihre Reise sich ausdehnen würde und mußte für Unvorhergesehenes gewappnet sein. Sie ließ jetzt einen letzten Drachen steigen, zwar nicht besonders hoch, denn es war zu aussichtslos, aber mit einem geographischen Interesse, das man sonst nicht an ihr gewohnt war, fragte sie nach der Eisenbahnlinie, zu der sie jetzt fuhren, und wie sie sich zu derjenigen verhielte, auf der sie gekommen war, und dann eine Terz tiefer und etwas mehr Fortepiano, aber mit derselben rein sachlichen Neugier: „Könnte man da eigentlich dritter Klasse fahren?“
Die Mutter hatte ihre Erkundigungen überhört, aber das „o nein!“ der Tochter war mit solcher Überzeugung gesagt, daß Mariclée ihre Frage lieber nicht wiederholte.
„Ich muß, glaube ich, dreimal umsteigen,“ bemerkte sie, nur um etwas zu sagen. Aber das war wiederum Wasser auf eine andere Mühle.
„Sie brauchen sich gar nicht darum zu kümmern,“ sagte die alte Dame, „der Stationschef ist mir bekannt, ich werde mit ihm reden, und er wird Order geben, daß der Schaffner Sie bei jedem Wagenwechsel benachrichtigt.“
„Aber ich bin doch kein Kind!“ rief Mariclée ganz verzweifelt. „Sehen Sie, es steht alles auf meinem Zettel! O ich bitte Sie, bleiben Sie im Wagen, Sie haben noch eine lange Fahrt vor sich. Sie müssen sich schonen! Ich kann nicht dulden . . . .!“
Es war alles in den Wind, und sie gab es auf. Aber am Perron, schnell den Augenblick wahrnehmend, floh sie, wehenden Mantels, zum Schalter, konnte aber nicht so schnell ankommen, denn es war Samstag und infolgedessen der Andrang ziemlich stark. Endlich hatte sie ihr Billet (ein Billet erster Klasse bis zur nächsten Zweigstation), und kehrte zu ihrer stattlichen Suite zurück, bestehend aus den beiden Damen, dem Chauffeur und einem Diener in weißer Livree, und man mußte wohl auch den Schaffner hinzuzählen, der sich zu der Gruppe gesellt und dem man sie schon anempfohlen hatte. Zwar waren sie alle im Begriff gewesen, sich zu zerstreuen, und auf die Suche nach ihr zu gehen.
„Gottlob, da ist sie,“ rief die Tochter.
„Ah! da sind Sie!“ rief die Mutter, „warum entwischten Sie uns. Wir hatten Sie ganz verloren! Wo steckten Sie denn?“
„Ich habe nur schnell mein Billet geholt,“ sagte Mariclée, und weil auch für den geringsten der Tage, ein ausgeworfener Würfel steht, drehte sie sich jetzt selber den Strick.
„Ich bin wirklich sehr gescheit gewesen,“ gestand sie mit einer kindlich neckischen und noch dazu recht falschen Vertrauensseligkeit, „da ich immer alles verliere, nahm ich mein Billet nur bis zur Station, an der ich umsteigen muß,“ (mein Gott, warum erzähle ich das? dachte sie) und fügte im schwankenden Tone hinzu, „denn ich verliere es doch und so verliere ich es nicht.“
Diese ebenso unnötige wie stupide Mitteilung fand die verdiente Wirkung:
„Aber mein bestes Kind, was für ein Gedanke! das ist ja ganz verfehlt! Sie können doch nicht dreimal unterwegs an den Schalter laufen, um eine neue Karte zu lösen, Sie riskieren ja Ihren Anschluß zu verfehlen. Geben Sie her!“
Und schon war sie ihr entwunden und dem Schaffner überreicht, um schleunigst umgetauscht zu werden. Er kam gleich wieder zurück, denn es war jetzt höchste Zeit und der Schalter schon leer.
„Sie schieben das Billet in Ihren Handschuh, so können Sie es nicht verlieren,“ mahnte die Alte.
„O da ist keine Gefahr,“ erwiderte Mariclée, sich selber vergessend „was schulde ich Ihnen?“ fragte sie den Schaffner mit gottergebener Miene. Dann umarmte sie die Damen, dankte ihnen und stieg ein. Im letzten Augenblick lief noch eine ladysmaid mit einem Kistchen Pfirsichen herzu, öffnete eilig den Schlag und stellte es in ihr Kupee. Die Freundin hatte ihre Vorliebe für diese Frucht wahrgenommen, und es für sie verpacken und in den Wagen bringen lassen, woselbst Mariclée es dann vergaß. Nun aber war nicht mehr zu spaßen. Ihre Türe wurde hastig zugeworfen und der Zug setzte sich in Bewegung. „Schluß!“ dachte Mariclée und fiel auf die Polster zurück.
Sie erwog jetzt, ob es nicht ratsamer wäre vor ihrer Londoner Wohnung, in die sie doch nicht mehr zurückkehren würde, nur vorzufahren, ihre Koffer aufzunehmen, und noch gleichen Abends nach Irland weiter zu fahren, vollzog einen Kassensturz, und saß ganz in Gedanken, als der Schaffner mit respektvoller Miene bei ihr eintrat, um ihr den ersten bevorstehenden Wagenwechsel zu verkünden. Er teilte ihr gewissenhaft mit, was auf ihrem Zettel stand und was sie schon wußte, trug ihre Sachen in ein anderes Kupee und blickte von Zeit zu Zeit, wie zu einer Gefangenen, zu ihr hinein, als wollte er sich überzeugen, daß seine hohe Schutzbefohlene noch am Leben sei. Er gestattete ihr auch keinerlei Gefährten und hielt sie scheinbar für zu vornehm, um mit anderen Reisenden in Kontakt zu treten. Als er sie dann zum zweiten Male in einem leeren Wagen installiert hatte, trat er mit einer Verbeugung vor und meldete, daß er selbst zwar nicht mehr weiterführe, statt seiner jedoch sein Kamerad Sorge für sie tragen würde.
Mariclée hatte zu viel Humor, um ihm nicht den Lohn einzuhändigen, den er von einer so hochgestellten Persönlichkeit erwarten durfte, und verabschiedete ihn mit einem herablassenden Kopfnicken. Kaum war er abgetreten, als schon die neue Wache aufzog, und zwei interessant aussehende und sehr typische englische Herren, die bei ihr einsteigen wollten, zurückhielt. Mariclée war sehr enttäuscht: es hätte ihr solche Kurzweil bereitet, sie im stillen zu beobachten und zu studieren. Sie war stets voll Interesse für Menschen, die sie nicht zu kennen brauchte, betrachtete sie mit reger Anteilnahme für ihre Schicksale und ihr Sein, ohne doch je durch eine Miene ihre Spannung zu verraten, und so ganz Publikum verbleibend, daß die von ihr also Dramatisierten wie Bühne und Zuschauerraum distanziert blieben. Es ging ihr mit den Menschen wie mit den Bergen, deren Umrisse in der Ferne oft so viel verlockender sind, und die man so mysteriös ausmalen kann, solang man ihren räumlichen Weitschweifigkeiten und ihren rauhen Furchen nicht zu Leibe rückt. Allein ihre neue Wache nahm es nicht minder genau wie die vorige, und hielt sie streng isoliert. Sie mußte an den Kaiser von Österreich denken, von dem sie gehört hatte, daß ihm die Briefe nie zukamen, die ihm geschrieben wurden, und endlich verkürzte ihr der Schlaf ihre teure und langweilige Fahrt.
Ruß und Hitze lasteten noch schwerer auf London als vor einer Woche. Der Hansom, den Mariclée an der Bahn genommen hatte, stand schon stille und noch immer war sie unschlüssig, was sie tun würde, stieg aus, ließ den Wagen warten, und trat ins Haus. Ein Brief vom Botschaftsrat stellte ihr den ersehnten Einlaß ins Parlament für nächsten Montag in Aussicht und da solche Vergünstigungen in Anbetracht der Suffragetten mit jedem Tage seltener wurden, gab er ihr den Rat, die Gelegenheit nicht unbenützt zu lassen, um so mehr als die nächste Sitzung sehr stürmisch zu werden versprach; er schlug ihr, der Zeitersparnis halber vor, selbst um Mittag auf die Botschaft zu kommen (sie brauchte nur quer durch den Park zu gehen), bis dahin würde ihre Karte ausgefertigt sein, sie könnten zusammen essen, ein Museum besuchen und von dort aus, er in seine Kanzlei, und sie nach dem Parlament fahren; alles so recht nach seiner Art, ganz programmäßig eingerichtet. Mariclée entschloß sich zu bleiben und zog hinauf. Sie fand ihr Zimmer in bester Ordnung und bestellte sich Tee, teils weil sie einen zu nehmen wünschte, teils um eine etwas anheimelndere Atmosphäre zu schaffen. Aber kaum hatte sie sich eine Tasse eingeschenkt, als wieder ein Pfiff die Stille unterbrach und ein telephonischer Fernruf an sie erging. Sie stürzte hinaus, verlangte den Lift, und da er nicht gleich in die Höhe zog, ließ sie sich nicht Zeit, auf ihn zu warten, sondern fing an die steile Treppe, die sonst nur die Leute benutzten, hinunterzulaufen, ohne zu bedenken, wieviel schneller sie doch der Lift, auch wenn er sich einen Augenblick verspätete, die vier Stockwerke hinunter brächte. Schon war er auf ihr Geheiß hinaufgeschnellt und schwirrte pfeilschnell wieder hinab, indes sie ihre Stufen dahinstürmte, und doch nicht vorwärts zu kommen glaubte. Es war wie in einem Traum: immer eine neue steinerne Windung vor sich, die Treppe, die nie ein Ende nahm, und ihre Ungeduld — denn sie wußte: nur Einer konnte auf den Gedanken gekommen sein, nach ihr zu rufen, nur Einer wußte von ihrer heutigen Rückkehr.
Das Telephon war in der Halle, ohne Deckung, nahe am Eingang und höchst unpraktisch angebracht. Es standen Leute herum, und von draußen tönte aller Straßenlärm herein. Mariclée nahm das Rohr und nannte, ein wenig atemlos, ihren Namen. Eine fremde Stimme bat sie einen Augenblick zu warten und dann klang seine Stimme zu ihr hin. Seine Stimme! Diese Stimme, deren Klang fast aus der Welt verklungen, verhallt und fast vergessen, sie nun wieder bis ins Mark durchdrang; ihre Bänder waren nicht zerrissen, fest zusammengefügt zu jenem verwöhnten, melodiösen Organ, vor dem ihr jetzt schwindelte, und das tausend Erinnerungen in ihr wachrief, als läge sie im Sterben! Ach, wie hätte Mariclée da auch vernommen, was er zu ihr sagte?
„Ich verstehe Sie nicht!“ rief sie angstvoll in die Tube. Und jener gemeinsame Bekannte fiel ihr ein, der sie gefragt hatte:
„Ist er schon tot?“
Ha! nichts von Tod, nichts für ihn von solcher Schmach! Er war nicht gestorben. Dies war seine Stimme! O wie sie lebte!
„Ich verstehe Sie nicht!“ rief sie von neuem.
Mochte sie immer ferne dieser ihrer Heimat, in der ihr Herz gleichsam wie angekommen in sich selber rasten durfte, mochte sie trauernden Fußes immer ferne von ihr irren, — wenn dieser Mann nur lebte! — Wenn die Schale, in der die Elemente seines Wesens wie zu einer Götterspende, köstlich gemischt zusammenflossen, nur nicht zerbrach, wenn er nur lebte!
„Ach, ich kann Sie nicht verstehen!“ rief sie und vernahm jetzt deutlich, wie er sagte:
„Es ist umsonst!“
Und statt schnell zu rufen: Ich höre Sie jetzt, schwieg sie, denn ihr Hirn war wie ausgelöscht. Sie lauschte, doch er war verstummt; da hing sie das Rohr wieder ein, wandte sich ab und zog wieder in ihre Wohnung hinauf. Noch lag Sonne über dem grasigen Hofe, vor ihrem Fenster, und die Kirche, deren rauhe, ungefeilte Gotik auch die Jahrhunderte nicht glätten und verfeinern konnte, tat ihr in der Seele weh. Vorm Kamin stand noch das Tischchen mit dem Teegeschirr, allein beim Anblick der gefüllten Tasse durchschauerte sie Ekel, und sie blieb am Fenster und starrte in das Tageslicht, von Bitterkeit gesättigt.
Mariclée verbrachte ihren Sonntag, in Anbetracht des Montag, so gut es ging, und nährte sich von Pfirsichen. Auf diese Weise gedachte sie die überschrittene Bilanz des vorhergehenden Tages ein wenig auszugleichen; zum Frühstück Pfirsiche, mittags Pfirsiche und abends Pfirsiche; das Kistchen mußte schon dran glauben. So brauchte sie es auch nicht noch einmal mitzunehmen. Wie ökonomisch von ihr!
Pünktlich und zu gleicher Zeit, wie viele Abgeordnete, fand sie sich Tags darauf vor den Toren des Parlamentes ein. Diese waren sämtlich von frierenden, geduldig dreinschauenden und überall von Schutzmännern bewachten Suffragetten umlagert, die, mit ihren Vereinsbändern umgetan, den Vorübergehenden Zettel und Traktate entgegenstreckten. Mit Mariclée waren sie besonders dringlich; sie wagte aber nichts anzunehmen, aus Angst sich zu kompromittieren, zudem sie, als einzige Dame, ein gewisses Aufsehen zu erregen schien, und nicht rechts noch links sehend, verleugnete sie mit dem Mut der Feigheit die ganze Gesellschaft. So drang sie, den Abgeordneten auf dem Fuße folgend, von einem Gitter zum anderen, bis zu einer inneren Halle vor, in der alsbald ein Wächter auf sie zukam, und ihr den Einlaß verwehrte. Mariclée hielt ihm gelassen ihre von der deutschen Botschaft ausgestellte Karte entgegen. Er aber schüttelte nur den Kopf.
„Wir müssen uns nach der neuesten Verordnung richten,“ sagte er, „die Suffragetten sind schuld daran.“
„Aber ich bin doch keine Suffragette, ich bin eine Fremde; Sie haben meine Karte nicht gut angesehen.“
Er bedauerte, zuckte die Achseln, allein er wankte nicht. Sie bestand auf ihrem Recht und er auf seinem Verbot. Sie zeigte sich hartnäckig, dann unangenehm, dann unsanft, und schließlich riß ihm die Geduld und er rief: Was rief dieser Mann? Er rief. O Leser, ich muß es im Text wiedergeben.
„But Madam,“ rief er, „I would only be too happy if I could oblige you.“
Man denke! — sie kam von München, der Stadt der hohen künstlerischen Initiativen, zwar auch der lauten Schwadroneure, doch zugleich der stillen, seltenen Größen, dieser reizenden Stadt, die in mancher Hinsicht allen anderen den Rang abläuft, und es in der Tat verdienen würde, als heutiges Athen gepriesen zu werden, wäre sie nicht die Stadt unausgeglichenster Kultur, in der sich Gebildete von Schutzmännern wie Rekruten von einem ungeschlachten Feldwebel angefahren sehen und allgemein gesprochen, die Stellung der „Dame“ jeder Tradition entbehrt.
Mariclée starrte dem zivilisierten Wächter ins Gesicht und machte ohne ein Wort zu sagen kehrt. Es war ja nicht eben angenehm, einen Rückzug durch all die Gitter anzutreten, vor welchen so viel Neugierige Posten standen, und ihren Einzug beobachtet und kommentiert hatten. Sie wunderte sich sehr, niemand kichern zu hören, besonders als sie jetzt eine Flugschrift, die ihr eine Suffragette darbot, höflich dankend, in ihre Tasche schob.
Zwei Monate sind schnell dahin und dennoch viel zu ausgedehnt für ein extenso. Die kostbare Zeit ist das große Wertlose an sich, daher der nichtige Klang des Wortes „Tagebuch“.
Es kann nur wenig interessieren, was Mariclée nach ihrem Ausweis aus dem Parlament mit ihrem letzten Londoner Abend anfing. Im Vertrauen gesagt, da ihr noch Pfirsiche blieben (es war dies ihre Art zu rechnen) fuhr sie in ein Theater, und ihr Staunen über das niedrige Niveau des Stückes war ebenso groß wie über die wundervollen Gestalten der Spieler, und sie mußte sich sagen, daß man in Deutschland ebensowenig ein derartig albernes Werk ertrüge, als man solche Gestalten über die Bühne ziehen sah.
Ohne den schönen Liftjungen wäre sie auch am nächsten Morgen nie rechtzeitig zur Bahn gekommen. Er hatte sich wieder, auf seine schüchterne Art, ganz zu ihren Diensten gestellt, sich um alles gekümmert, wie ein Page sich um sie bemüht, bis er sie dann im Lift zum letzten Male hinunterzog. Und nun starrte sie ihm mit ihren oft so leblosen Augen, die doch alles in sich aufnahmen, ins Gesicht und sagte:
„Kann ich etwas für Sie tun?“
Und er erwiderte: „Ich bin unglücklich in diesem Hause.“
Da ließ sie ihn Namen und Adresse aufschreiben und steckte den Zettel zu sich. Dann durchschritt sie die Halle und verließ dieses Haus, für sie mit einem grasigen Hofe und der freudlosen rohen Gotik eines mittelalterlichen Kirchleins auf immer assoziiert.
Es war eine schlecht gezimmerte Barke, die Mariclée zur irischen Küste hinübertrug. An Deck befand sich ein wunderschönes Mädchen mit einem jungen Mann, die sich große Mühe gaben, nicht verliebt drein zu sehen, und in deren Anblick sie sich sofort, wie in ein Bilderbuch, vertiefte. Nach einer Weile befiel sie jedoch ein bedenkliches Würgen und sie floh nach dem Damensalon, fühlte sich dort besser, streckte sich aber vorsichtshalber auf einem Diwan aus, schloß die Augen und verhielt sich ganz ruhig. So bemerkte sie nicht, daß ihr eine Stewardin gefolgt war, die Handtücher und eine Wasserflasche in den Waschraum brachte und sich dann wieder zurückzog. Erst als die Türe plötzlich aufgerissen wurde, fuhr sie aus einer Art Halbschlaf empor und sah das wunderschöne Mädchen, mit bleichen, verzerrten Zügen (einer Miene, mit der sie in einem fünften Akt Furore gemacht hätte) herein und geraden Wegs in den Waschraum stürzen, wo sie sich einer ganz formidablen Seekrankheit überließ. Sie stöhnte und jammerte und als sie wieder zum Vorschein kam, war ihr Hut ganz verschoben und ihr Haar sehr aufgelöst.
Mariclée bemerkte jetzt, wie völlig unausgerüstet sie war, erhob sich sofort, goß Kölnisches Wasser in ein Glas und stellte ihr Reisenecessäre zur Verfügung. Das Fräulein Wunderschön erzählte ihr nun, sie habe schon so oft diese Fahrt unternommen, ohne je im Leben seekrank zu werden. Übrigens erholte sie sich sehr bald, brachte ihr reizendes Haar in Ordnung, band mit großem Geschick einen höchst kleidsamen Schleier vor, beguckte sich von allen Seiten in Mariclées doppeltem Spiegel, und eilte dann, schnell wie sie gekommen, wieder davon. Mariclée fühlte sich recht elend und legte sich wieder hin. Zu müde, um zu lesen, und nicht mehr imstande zu schlafen, starrte sie zu einer runden Luke empor, durch die man das blaue, aber heftig bewegte Meer seine Wogen treiben sah, und ebenso elementar und unaufhaltsam trieb da in ihr eine Woge von Melancholie die andere. Sie dachte an das Exemplar, wie um an einer Planke sich daran festzuhalten, jedoch umsonst. Er war zu fern, zu unerreichbar, eine zu lange Zeit hatte zwischen ihnen schon geflutet. Schwermut schwoll zu etwas Mächtigerem an, als ihr Gefühl und riß sie noch weiter von ihm weg. Und sie preßte ihre heißen Hände auf ihr verdunkeltes Gesicht und überließ sich dem Unwetter, das in ihr raste. O sterben zu können, ächzte sie, verlöschen zu dürfen. Es löste nur der Anblick des treibenden Meeres durch die runde Luke solche Leidenschaft in ihr aus, aber sie wußte es nicht.
Und indessen fuhr das Schiff, um ihren Weltschmerz unbekümmert, zur irischen Küste hin. Schon machte sich jene Unruhe fühlbar, die einer Landung vorangeht; Mariclée eilte auf den Vorplatz und spähte nach einem Träger, als die Stewardin auf sie zukam, und sie mahnte, es sei gebräuchlich, für Benützung der Handtücher etwas zu entrichten. „Ich brauchte ja keines,“ sagte Mariclée und wollte vorüber. Aber sie hatte es mit einer cholerischen Person zu tun, die sofort die Hände über dem Kopf zusammenschlug.
„O!“ rief sie, „das ist nicht recht.“
„Es war eine andere Dame da,“ sagte Mariclée ungeduldig, wurde aber zugleich entsetzlich rot, verlor die Contenance und fügte hinzu:
„Was kosten denn die Handtücher?“
„Ich stehe hier Posten und habe keine andere Dame nicht gesehen,“ dröhnte die andere. Sie hatte durch ihren exaltierten Ton sofort Aufmerksamkeit erregt, so daß sich Neugierige sammelten, die auf die Landung wartend, nichts Besseres zu tun hatten, als hier aufzupassen; und sie gehörte wohl irgendeiner Predigersekte an, denn, durch das Publikum stimuliert, wollte sie jetzt vor Jehova ihr Recht austragen, und stimmte mit wirklichem Talent ein regelrechtes Exordium an:
„Es ist nicht um des Geldes und es ist nicht um der Tücher willen, aber ich habe keine andere Dame nicht gesehen.“ Sie sagte es wie einen frommen Vers herunter, und Mariclée stand jetzt einfach auf dem Pranger. Die Umstehenden, schien ihr, konnten keinerlei Sympathien für sie hegen, denn sie sah aus wie der Typ der überführten Lügnerin und war rot wie eine Gartenerdbeere. Was wollte sie mit einem solchen Gesicht lange sagen? Je weniger Worte je besser. „Wieviel macht es?“ fragte sie nochmals. Aber so schön hatte es die Alte nicht jeden Tag, und sie nahm die Gelegenheit wahr. „Wahrlich, wahrlich,“ hub sie mit lauter Stimme an, „ich bin arm und geprüft, aber es ist nicht um der Tücher willen.“ Und es klang, als sagte sie: „Lügenhafte Lippen sind dem Herrn ein Greuel.“
O, ich darf nicht mehr allein reisen, dachte Mariclée, ich bin zu absolut hilflos. Und sie zog ihre Börse wie einen Degen; dabei entsann sie sich, daß sie vergessen hatte, zu wechseln und nur mehr Gold besaß. „Wechseln Sie mir,“ sagte sie. Die Landungsbrücke war jetzt gelegt worden; dies interessierte die Umstehenden mehr und schweigend, wie sie sich versammelt hatten, entfernten sie sich. Alsbald verstummte die Stewardin, sie kramte jetzt ganz demütig in einer schmierigen Tasche herum und zog endlich einen Schilling hervor. Mariclée war nun kreideweiß vor Erschöpfung und Zorn. „Schnell,“ sagte sie, „wechseln Sie sofort.“ Die gottesfürchtige Alte lief mit dem Pfunde die Treppe hinab. Mariclée wartete auf ihre Rückkehr, das Schiff leerte sich rasch, und sie stand bald allein. „Der Zug wird gleich abfahren, wir haben Verspätung,“ sagte ein Matrose.
„Ich warte auf die Stewardin.“
„Sie haben kaum Zeit,“ bedeutete er.
„Hier ist meine Tasche, ich komme gleich nach,“ sagte sie, und lief die Treppe hinab. Aber da war nirgends eine Stewardin zu sehen.
„Es sei höchste Zeit,“ erfuhr sie nur. Da verlor sie den Kopf und rannte, ohne ein Wort zu sagen, wieder hinauf, denn der Matrose, der ihre Tasche trug, machte ihr von weitem immerzu Signale und den Zug wollte sie nicht verfehlen. „Ich darf nicht zur Plattform, ich habe Dienst,“ erklärte er.
Da nahm sie ihre Tasche und schleppte sie selbst.
Der Zug stand vor ihr, sie hatte nur ein paar Schritte zu gehen und weil sie voll Schmerz über ihren eingebüßten Dukaten war und überhaupt nichts mit der Menschheit mehr zu tun haben wollte, machte sie am äußersten Ende ein leeres Kupee ausfindig, hob mit einiger Mühe dort ihre Tasche hinein, und wollte eben selbst einsteigen, als sie ganz erbärmlich ausglitt. Sie wußte nicht, daß in Irland die Stufen zu den Eisenbahnwagen tiefer, statt höher, als der Boden gesetzt sind, und nun war sie so unglücklich gestürzt, ihr Fuß so böse zwischen die Stufe und die Versenkung geraten, daß sie sich weder rühren, noch ihn hervorziehen konnte. Er lag wie in einer Falle, und buchstäblich auf die Folter gespannt, sobald sie sich bewegte. Alles lief geschäftig hin und her, doch wie meilenweit von ihr entfernt, und ohne ihrer zu achten. Sie wagte einen verzweifelten Ruck, da glitt ihr Vorderfuß nur noch tiefer hinab. O Gott! dachte sie voll Entsetzen, noch einen Augenblick und er bricht. Es war aus. Das Exemplar immerdar zu verfehlen, mit einem gebrochenen Fuße hier zu stranden, dies war ihre Bestimmung, dazu war sie herübergekommen und damit konnte sie nach Deutschland zurückhinken. Es kam niemand ihr zu helfen, wer half ihr je? Ein drohendes Knacken, ein unerträglicher, ein giftiger Schmerz; sie glaubte die Besinnung zu verlieren; — in dieser Sekunde, was sage ich? diesem Bruchteil einer Sekunde, fühlte sie sich von rückwärts unter beiden Armen gefaßt, leicht und geschickt auf die Beine geholfen und mit heilem Glied der gefahrvollen Klemme entzogen. Sie wollte ihren Retter erkennen, aber dort rannte er schon, einen letzten Koffer zu heben, ein Bürschlein, fast ein Kind, angewiesen Trägerdienste zu leisten. Sie wollte ihn einholen, aber sie konnte kaum auftreten, geschweige denn laufen, ein Schaffner gab ihr ein warnendes Zeichen, halb stieg, halb kroch sie in den Wagen, ihre Türe wurde zugeschlagen und der Zug setzte sich in Bewegung.
Sie hatte ihren Fuß ausgestreckt und saß da wie betäubt, denn sie konnte es noch immer nicht fassen. Es dünkte ihr so unwahrscheinlich, so wunderbar, daß sie gerade in jener Sekunde äußerster Not, und zwar nicht früher, auf daß sie ihrer Drangsal voll bewußt werde, vor dem Schlimmsten verschont geblieben war. Eine heiße Röte stieg in ihr auf, indem sie ihres unbelohnten Retters gedachte, der wie auf ein höheres Geheiß auf sie zuflog, ohne zu wissen was er tat — sie aber wußte wohl, was sie ihm dankte. Sie bedurfte hiezu keines Arztes, ein gesunder Instinkt hatte sie im Moment der Gefahr nur zu hellsichtig gemacht und ihr die Eventualitäten bedeutet, denen sie nun entronnen war. Aber warum eine solche Fügung zu ihren Gunsten? Wo lag der Grund? der Sinn? den Sinn wollte sie haben! Es war alles zu deutlich, zu kraß für einen Zufall gewesen, warum hatte dies nicht geschehen, ein solcher Ruin ihrer Pläne und Hoffnungen sie nicht treffen dürfen? Sie überdachte es noch einmal, rekapitulierte alles von vorn. Warum war es so gekommen? Ja warum? Sie zermarterte sich das Gehirn und konnte es nicht finden.
Draußen zog ein neues, ungewohntes, erstaunliches Land an ihr vorbei, eine wilde, geheimnisvolle Gegend, deren Seele sie befremdete. Ein Bediensteter trat bei ihr ein, meldete, daß ein Speisewagen im Zuge sei und fragte, ob sie zu essen wünsche. Sie starrte ihn verwundert an. Was träumte dieser Mensch?! Essen?! Ja richtig, solche Dinge gab es auch. Aber sie schüttelte den Kopf. Nein. Das störte sie jetzt. Erst mußte sie diese Geschichte ihres Sturzes ins reine bringen. Also wie war es? sie dachte an das Exemplar. Da lag ihr Fuß, zwar mächtig in Schwellung begriffen, aber heil, nicht gebrochen; er bedurfte keines Chirurgen ihn einzurenken, kein Knochen war zersplittert. Denn dies hatte ja nicht sein dürfen. Und als es im Begriff war dennoch zu geschehen, mußte just etwas anderes geschehen dies eine zu verhindern. Aber warum denn? den Sinn wollte sie haben; und Mariclée stieg immer tiefer in ihrem Bewußtsein hinab. Hast du selbst nicht immer geholfen? sagte es ihr. Warst du nicht, ohne zu fragen, ja blindlings, zu helfen immer bereit? und schlug hier nicht, nach dem Gesetz aller Dinge, ein Pendel, so wie er anschlug, und genau wann er mußte, wieder zurück? Denn warst du nicht selbst in jenem rettenden Knaben, der ohne zu fragen dir zu Hilfe kam, und unbelohnt dir enteilte?
Die vierzehn Tage, die Mariclée in Irland zubrachte, lassen wir im Fluge vorüberziehen. Sie liegen außerhalb der Bahn, deren Linien wir hier verfolgen. Denn Mariclée hatte viele Existenzen, ja ein ganz weit verzweigtes, nicht selten sogar ein verstricktes Netz von Existenzen, die uns hier nicht kümmern; und sie war von ihren Zentren so vielfach weggetrieben, daß sie nur selten fühlen durfte, daß sie lebte. Es war deshalb in ihr eine innere Unaufmerksamkeit, welche sie immer wieder meistern mußte, damit sie nicht in die Augen sprang. Sie war nicht zerstreut, sie war abgewandt. Und nie war sie so versonnen und verträumt, so fernab, wie an dem Orte, an dem sie sich jetzt befand. Lassen wir sie also. Wir haben sie ja nicht zu suchen, wo sie nicht wirklich ist. Nur eines einzigen unerwarteten, wenn auch lang vorbereiteten Erlebnisses werden wir gedenken.
Wenn sich Mariclée diese Gegend ansah, geschah es stets mit derselben Verwunderung wie das erste mal; sie konnte den Schlüssel zu ihr nicht finden; und es ging ihr wie mit einem fremden Gesicht, das ein anderes, wohlvertrautes, auf das man sich aber vergebens zu besinnen sucht, mächtig evoziert. Sie meinte erst, das Rätsel läge wohl in ihrer historischen Unkenntnis dieses Landes, und als sie reger geworden, verschlang sie ein Geschichtsbuch um das andere. Als sie aber dann Bescheid wußte und wieder hinaustrat in diese Natur, da wies sie alles zurück, vergaß und verwarf alles was sie darüber gelesen hatte. Und nun erst war sie sich über ihren Eindruck klar. Dieses Land erinnerte sie an Italien, aber es hatte keine Geschichte, das heißt seine Geschichte fügte ihm nichts hinzu. Es gleicht einem Pergament, an dem kein Griffel haften blieb.
Diese Natur schien, wie mit zurückgehaltenem Atem nur einen Laut, nur einen Widerhall zu hegen und elende Geschicke, ununterbrochene Leiden und Kämpfe verwischten sich auf diesem Boden und verwehten, als gehörten sie nicht zu ihm. Und hier erst wußte Mariclée, warum ganz Norditalien, bis hinab nach Rom (weiter war sie nicht gekommen) sie insgeheim irritierte: weil Schritt für Schritt zu viel Geschichte, zu viel Begebenheiten sich vorzudrängen suchten und weil es ermüdete, auf einen solchen Tumult von Dingen, und auf so viele Fußstapfen zu stoßen. Kein gestürzter Sockel, keine Steinplatte, kein noch so schlechtes Madonnenbild, das dem Vorüberziehenden nicht zuzurufen scheint: „Achte mein!“ „ich bin von dieser Schule!“ „ich aus jener Zeit“. Jeder Hügel, jede Straße, jeder Meilenstein von Historie wie durchtränkt, und überall das Gedächtnis eines Namens, eines Mordes, oder eines Affektes perpetuierend; ein zu redseliges, gleichsam ausgeplauschtes Land, mit Daten und Erinnerungen wie ein Kalendarium angefüllt; immer an das Tun von Menschen, die tot oder lebendig stets die gleichen sind, und an das Vergangene und Vergängliche gemahnend, und nie an das, was Mariclée vor allem liebte, an ein Verweilen und ein Stillestehen. So war es denn ein untraditioneller, aber doch sehr deutscher Zug, der ihre Liebe zu Italien mit einer gewissen Abneigung untermischte.
Hier dagegen war alles göttliche Vergessenheit und Öde. Dies wundervolle, tiefbeseelte Land, seine verlassenen Ufer, seine leeren Abhänge und Täler riefen inbrünstig nach edlen Bauten, nach Belebung, und doch liegt nichts Abgestorbenes und nichts Begrenztes in ihrer Melancholie. Diese Höhenzüge atmen nicht die wehe Holdseligkeit der allzu inkrustierten Hügel Fiesoles. Ein stärkerer Trank: die Schale der Vergessenheit wird in dieser ungelehrigen und ungelehrten Atmosphäre gebraut, die sich das Mittelalter, die Renaissance wie den Amerikanismus gleicherweise entgleiten ließ, und die nahe Brandung der Jahrhunderte nicht hört, weil sie, wie eine brausende Muschel, der eigene Rhythmus erfüllt.
Mariclée ging eine herrliche Straße entlang, links vorspringende Felsen, rechts den vielbesungenen Fluß, der in immer weiteren Kurven Inseln umspült, und, als zögere er vor der unendlichen Meerespforte, seine Strömung in Buchten zurückhielt.
Hin und wieder kam ihr ein Auto oder ein Wägelchen, nirgends ein Fußgänger entgegen. Sie sah Wege, die einen Wald von märchenhafter Üppigkeit durchzogen, epheuumrankte Bäume, wie Riesen zusammengerottet.
Mariclée war eine städtische Person, ihr Verhältnis zur Natur sehr kritisch und mittelbar, wechselnd wie das Licht, und alles mit ihrer jeweiligen Stimmung beleuchtend. Diese Gegend aber löste eine ungewohnte Sammlung in ihr aus. Sie dachte an langes, blondes Gelock von goldenen Reifen und Spangen gehalten, an die goldenen Kannen und Becher und die glatten Diademe, die sie in der Dubliner Sammlung sehen würde, und von welchen sie Abbildungen kannte, an eine verlorene Goldschmiedekunst, deren unnachahmliche Arbeit auf ein so adeliges Leben deutete; sie dachte an den Schwung, die köstliche Glätte und Musik normännischer Architektur, an die beglückend reinen Schweifungen ihrer blanken Rotunden, und einzig solche Dinge schwebten ihr hier vor, denn dieser Boden trug nur ein Merkmal, nur ein Echo, wußte nur von Einem: dem Arischen. Dem Arier.
Nicht seinen Evolutionen etwa, noch seiner Geschichte, noch wie er im Lauf der Zeiten sich ausbildete, verbildete, oder etwa wie sein Blut verarmte, sich vermischte, wie seine Werte sich vermünzten, verzettelten, o, wie belanglos zerfiel dies alles vor der allgewaltigen Idee, für die nicht er stand, sondern die ihn hielt. Denn diese Idee war der kastalische Quell, der nur von einem Werden begeistert murmelte, dessen klarer Strahl sich vom Vergänglichen nicht trüben ließ und Gewesenes nicht kannte.
Mariclée sah nicht mehr den vielbesungenen Fluß, noch die traumhafte Färbung seiner Gestade und ihre starke Trauer. Sie stand das Gesicht mit ihren leidenden Händen verhüllt, und ließ den Ansturm ihrer Gedanken über sich ergehen. Sie war sich mit einem Male so klar, warum sie eigentlich lebte.
Einmal besichtigte sie einen Dampfer der White Star Line, der auf dem Wege nach New York einige Stunden in Queenstown hielt, um Passagiere und die Post des ganzen Landes aufzunehmen. Immerzu liefen Männer, mit schweren Säcken bepackt, die schmale, stufenlose Schiffbrücke hinauf, und dachte man, sie seien jetzt endlich zu Ende, so liefen sie schon wieder, einer hinter dem anderen, unter ihrer Last gebückt, mit neuen Säcken einher, und einer, ein Zwerg, war besonders geschäftig und kehrte am öftesten wieder. Mariclée verfolgte sein Tun mit gespannter Aufmerksamkeit, man warnte sie jedoch, daß sie nicht lange auf diesem Schiffe hospitieren dürfe, und nun lief sie eilig wie eine Maus hinauf, hinab, nach allen Richtungen hinein und wieder heraus, durch das Zwischendeck, die Kajüten und in die oberen Säle. Im Rauchzimmer waren an den vier Ecken Schreibtische angeschraubt, und Mariclée, von dem Briefpapier mit den roten Fahnen fasziniert, setzte sich hin und schrieb ein paar Zeilen an das Exemplar. Sie fand es unbegreiflich, daß man unsere Zeit poesielos nannte. Was konnte es Poetischeres geben, als so ein mächtiges Schiff heranziehen zu sehen, und all den erfinderischen Geist, den Fleiß, die angestrengte Arbeit der Vielen zu bedenken, die es zu diesem schönen Ungetüm werden ließen, daß dies starke Meer, selbst im wildesten Sturme ein Ding, von so schwachen Händen gezimmert, nicht mehr bemeisterte.
„Ich stünde gerne mit Ihnen auf einem solchen Schiff.“
Ahnungslos warf Mariclée diese Zeilen hin.
Ihren letzten Tag in Irland verbrachte sie in einem alten, verwitterten Schlößchen, hart am Meere. Sie fuhr durch ein welliges Terrain, wie es bei uns im Gebirge die Almen umgrenzt, ein Hochfeld entlang, das, immer stärker umweht immer feierlicher anstieg; alle Farben wie verwunschen: ein Grün, das ins Saphirne, ein Blau, das ins Smaragdne spielte, und eine silberne Sonne. Sie sah, was ihr noch niemals vorgekommen war, grasende Kühe, die ihre Weideplätze verließen, langsam die hellen Felsblöcke erklommen, und unbeweglich niederschauten, als hätten sie Augen für dieses Land; und plötzlich, in der Ferne, ein heftiges Indigoblau, das wie ein jubelnder Schrei in diesen Farbenhimmel einriß: ein mächtiges gewölbtes Band: das steigende Meer.
Wo bin ich? dachte Mariclée.
Unten im Schlosse traf sie unter den Gästen eine schöne und sehr witzige junge Deutsche an, ihre frühere Institutsgefährtin.
Das Schloß war reizend und altertümlich, hatte eine köstliche Stiege und war von raffiniertem Komfort. Es stand geschützt und behauptete ganz allein einen merkwürdigen, winzigen Hafen.
Bis zum Ufer streckte sich ein sorgfältig gepflegter Garten hin, und leuchtende Blumenbeete so hart am Meer hatten etwas Unwahrscheinliches, Kostbares und Faszinierendes. Es war ein blauer Schimmer über sie gebreitet, und auf den breiten Blättern der niederen Palmengewächse lagen saphirblaue Reflexe. Aber der Tannenwald, der hinter dem Schlosse die Anhöhe hinaufzog, schlug wieder eine andere, sehr unerwartete Note an, und stellte einen gemütlichen, anheimelnden und sehr deutschen Hintergrund. Mariclée wußte garnicht wohin sie schauen sollte.
Als früh am Nachmittage ein Ausflug in der Jacht zum Vorschlag kam, meldeten sich drei oder vier andere Gäste und die Kinder, es wurde also in zwei Booten weiter in den Hafen hinausgerudert, wo sie verankert lag. Sie war sehr klein, man rückte ziemlich enge zusammen, und Mariclée stellte sich vor eine Luke, teils ihr teils den anderen zugewandt und sich mit ihnen unterhaltend. Aber bald kehrte sie sich der Luke immer öfter zu und fand es immer mühsamer sich an den Gesprächen zu beteiligen, als rückten die Sprecher immer weiter von ihr weg. Der Hafen war von niedrigen Bergen umzogen, die man doch keine Hügel nennen konnte, ihre Grate liefen ganz nach Bergesart und auf ihren hellgrünen Abhängen weideten Kühe. Die Jacht schoß an ihnen vorbei, steuerte ins Uferlose hinaus, hob und senkte und legte sich, wie es den Wogen beliebte. Sie passierte eine kleine, schwarze, uferlose Felseninsel, die nie ein Fuß betreten hatte, die aber eine Art Walhalla der Raben zu sein schien. Mit unbeweglich ausgestreckten Schwingen sie umkreisend, sich in das Geklüfte niedersenkend, schwebten sie dann wieder langsam, feierlich empor.
Sie gehörte ihnen; diese Insel war ihr Reich. Mariclée dachte an den Tag zurück, an dem sie als Kind zum ersten Male ein Konzert besuchte; wie sie sich freute, und wie enttäuscht sie dann gewesen war. Sie hatte sich die Klangwirkung eines Orchesters noch idealer ausgemalt. Sie hatte sich die Musik noch schöner vorgestellt! — Aber rauschte hier nicht eben jener früh und unbewußt von ihr erträumte Urquell, aus dem wir unsere Tonwellen schöpften, sie auf Instrumente überleiteten und transponierten? Hier schwoll es an, das mächtige Originalcrescendo, das große Dolente; hier waren die zärtlichen Harfen und die Oboe her, und die Attacca subita der Klarinetten und das Einstimmen der Waldhörner und die bebenden Flöten, die sie gemeint hatte . . . Die Beethovenschen Symphonien heroische Abstraktionen, die Partitur des Tristan eine Bearbeitung und eine Reduktion! und jener dritte Akt, der so golden hervorquoll, hier strömte und blutete er.
Sie lauschte.
Jemand zupfte sie am Ärmel, und sie spürte den Schmerz der Schlafwandlerin, die ein jäher Ruf ins Leben zurückschreckt. Sie wandte sich um, vernahm ganz deutlich, was ihr gesagt wurde, und mischte sich freundlich und geduldig ins Gespräch. Aber sobald es anging, kehrte sie sich wieder der Luke zu und starrte hinaus. Von einem solchen Sturm der Gefühle hatte sie nichts gewußt. Ihr Verhältnis zur Natur war ja so unberechenbar, so morbid und solchen Schwankungen unterworfen! Und nun nahte sie ihr wie ein zwingender Gott; von ihrer Schönheit fortgerissen brach ihr Herz und wie entwurzelt gab sie sich mit aller Wonne und allen Schauern hin, und wandte ihr ein Antlitz zu, das nur der Mann, den sie liebte, je an ihr gesehen hatte.
Mariclée fuhr nicht allein nach London, die junge Deutsche reiste denselben Weg. Und sie plauderten, aber als die Dämmerung sank und London näher rückte, hing jede ihren eigenen Gedanken nach. Wie wird es jetzt werden? dachte Mariclée. Schweigend stiegen sie in London aus, als hätten sie durch die bloße Tatsache ihrer Ankunft und die Verschiedenheit ihrer Ziele schon Abschied voneinander genommen. Die Gefährtin hatte einige Stunden Aufenthalt, bevor sie mit dem Nachtzug weiterfuhr, und begleitete Mariclée in ihre neue Behausung. Der Wagen hielt in einer sehr stillen Straße, vor einem regelrechten Palast. Sie zog die Glocke und es dauerte eine Weile, bevor das Tor von einer alten Dienerin geöffnet wurde, die sich verbeugte, als Mariclée ihren Namen nannte. Die beiden traten jetzt in eine tiefe steinerne Halle. Hohe, verhängte Bilder hingen an den Wänden, und der mächtige Lüster, sowie die Armleuchter an den Türen, waren verschleiert. Eine breite, steinerne Treppe und eine kostbar getriebene Eisenrampe füllte den meisten Raum aus, und trotz der geschnitzten Truhen und Stühle, die herumstanden, war die Halle vor allem ein Stiegenhaus, und der Eindruck pompös, aber sehr kahl.
„Gucke!“ sagte die Freundin in ihrem schwäbischen Dialekt.
Es war ein sehr weitläufiger Bau. Sie wurden erst durch mehrere Säle und Vorplätze mit zugedeckten Möbeln und verhängten Spiegeln und Bildern geführt und dann einen schmalen Gang entlang, in ein nicht sehr großes, aber prächtiges Zimmer. Die seidenen Vorhänge hatten einen breiten kornblauen gestickten Rand, auf dem goldeingelegten geschweiften Schreibtisch stand eine mit Briefpapier angefüllte Kassette. Im Kamin brannte ein Feuer mit großem Geprassel.
Mariclée atmete auf. Hier war Stimmung; — der behagliche Raum mitten in diesem geschlossenen Hause, und Farbe und Einrichtung des Zimmers entzückten sie.
„Ich packe schnell für dich aus und bringe deine Sachen in Ordnung,“ sagte die Architektin.
„Und ich fahre dann mit dir zur Station,“ rief Mariclée, „wir essen dort und bleiben zusammen bis zuletzt.“
Sie wußten recht wohl, daß sie Geheimnisse voreinander hatten, aber darin beruhte eben der Reiz ihrer Intimität, daß sie sich so gut kannten, und dabei nichts voneinander zu erfahren wünschten, und daß ihr gegenseitiges Vertrauen so ohne Neugier und Vertraulichkeiten blieb.
„Liverpool Station!“ rief Mariclées Gefährtin dem Kutscher zu, als sie mit ihr wieder aus dem Hause trat und in den Wagen stieg, der mit ihren Gepäckstücken gewartet hatte. Und aus der tiefen Stille ihres Squares drangen sie nun wieder in das dämonische Herz der nächtlichen, lichterbesäten Stadt und in jene rauschenden Straßen, in welchen, wie in geschwellten Adern, Londons gewaltiges Leben umläuft.
Als sie die sehr entlegene Station erreichten, war es höchste Zeit, und von Essen konnte nicht mehr die Rede sein. Die Architektin stieg schnell in ihren Zug, der gleich darauf die Halle verließ, und fuhr einsam in die schwarze Nacht hinaus, während die andere einsam in der schwarzen Stadt zurückblieb.
„Ich heiße Klara,“ sagte die alte Dienerin, als sie am nächsten Morgen mit großem Zeremoniell das Frühstück auftrug. Ihre anderen Mahlzeiten nahm Mariclée außer Hause, aber dieses Frühstück war schon wirklich ein Genuß. Der Aufwand an Silber und gedeckten Silberschüsseln, das Porzellan mit dem optimistischen Tulpenmotiv, die breite, niedrige Teekanne, alles so beschwichtigend! Die alte Klara befehligte noch eine junge Maud, und wenn das Haus geschlossen war, beschränkte sich das Dienstpersonal auf diese zwei. Doch niemals hätte Maud die Lippen geöffnet und zu Mariclée ein Wort gesagt; sondern titulierte Chorführerin war Klara. Sie brachte jetzt die Meldung, daß die Zimmerglocke zum Unglück abgerissen sei, doch würde sie noch heute den Monteur bestellen, um sie zu richten. Indessen konnte sie oder Maud von oben jederzeit hören, falls man sie riefe. Die nächstliegende Türe ging direkt auf die Diensttreppe hinaus. Mariclée wollte aber nicht dulden, daß man ihretwegen etwas reparieren ließ. Tagsüber brauchte sie nichts, heißes Wasser hatte sie ohnedies, und sie konnte ja rufen. Die absolute Abgeschiedenheit in einem so schönen Hause beliebte ihr in der Tat, wie ihr die stille Straße inmitten des belebtesten Viertels behagte. Sie machte sich zum Ausgehen bereit, weihte das schöne Briefpapier damit ein, daß sie dem Exemplar ihre Ankunft meldete, verließ das Haus, warf ihren Brief in den gegenüberliegenden Schalter und sah sich um. Sie wohnte in Grosvenor Street, so glänzend und geschützt, als sich nur wohnen ließ. Wenn sie um die Ecke bog, war sie in Piccadilly, dem Green Park und Ritz gegenüber. Ihre Freundin hatte recht gehabt; hier lebte sichs anders, wie in der Viktoria Street auf den grasigen Hof hinaus, mit der rauhen und schmucklosen Gotik des finsteren Kirchleins. Man sah hübsche und lebensfrohe Gesichter, hyperschlanke und reizende Gestalten.
Eine frühherbstliche Sonne schien weißlich, aber warm hernieder. Mariclée trug ein grünes Kleid, weiße Handschuhe und einen dunkelgrünen Hut mit einer langen schwarzen Feder.
So ging sie leichten Schrittes dahin. Das Wetter war so schön; sie wollte den Weg bis zur Bildergalerie zu Fuß zurücklegen. Als sie vor der deutschen Botschaft vorbeikam, machte sie einen weiten Bogen. Sie hatte jetzt mehrere Bekannte in London, die sie aber vorerst alle zu meiden beabsichtigte, denn wiederum, auch jetzt, noch einmal andere Menschen zu sehen, bevor sie den einen sah, für den sie ausschließlich gekommen war, nein! dies ertrug sie nicht. Morgen früh hatte er ihren Brief, übermorgen würde sie wahrscheinlich die Antwort haben und ihn eventuell überübermorgen sehen. Sie konnte an nichts anderes mehr denken. —
Als sie die Galerie verließ, schlug es drei. Schon so spät! Gottlob. Auf welche Stunde würde wohl der Zeiger deuten, wenn sie ihn wiedersah?
Sie war überzeugt, daß für alles Künftige ein genaues Orarium, zwar nicht ausgegeben, wohl aber ausgefertigt stand. Sehen würde sie das Exemplar, daran zweifelte sie eigentlich nicht, obwohl er ihr inzwischen kein einziges Mal geschrieben hatte. Dies war nun einmal, leider Gottes, seine Art. Aber auch sonst wußte sie gar nichts mehr von ihm. Sie hatte in Irland meist nur irische Zeitungen zu Gesicht bekommen. So war sie doch zugleich von einer gewissen Unruhe erfüllt. — Vor abends wollte sie heute nicht nach Hause zurückkehren. Briefe konnten doch noch keine vorliegen. Und wo sollte sie nun essen? —
Dies war für sie eine sehr wichtige und dadurch sehr komplizierte Frage, daß sie für ihre Mahlzeiten weder viel ausgeben konnte noch wollte, dabei aber, wenn sie allein war, und zumal in England stets nur schöne Lokale in Betracht zog. Die Teehäuser, die es hier alle paar hundert Schritte gab, und die man ihr so warm anempfohlen hatte, waren ja sicherlich anständig, o gewiß! äußerst preiswert, und infolgedessen für jemanden, der nichts besaß, vollkommen angezeigt, sie leugnete es keineswegs; nur ging sie nicht hinein; nur verging ihr alle Lust zu essen, wenn sie vor einem dieser ungedeckten Marmortischchen Platz genommen hatte und umhersah.
O! diese Monotonie! o dieses tearoom Publikum! wie ununterschiedlich, wie unindividuell! Es schien irgendwie eine Beziehung zwischen ihm und den drei ewig selben Kuchensorten zu sein, die Tag aus Tag ein über ganz London hin gebacken werden, und auf der Welt keine vierte und ohne je eine Variante, oder auch nur den Gedanken an eine Variante, weder bei den Konsumenten, noch den Leitern dieser „establishments“. Warum sollte sie da hineingehen? ihr bißchen Geld ausgeben, um sich deprimieren zu lassen? Dies war ganz und gar nicht ihre Art zu rechnen. Aber für heute, in Gottes Namen wollte sie eine solche Bude betreten, sie war so müde, ihre Füße trugen sie nicht weiter, und sie kannte sich noch nicht aus. So ging sie denn hinein, blickte umher und war schon wieder unglücklich.
Wenn wir noch einen Moment bei dieser ihrer gewiß pathologischen Empfindsamkeit verweilen, so geschieht es nur, weil eben hier der Grundton ihres ganzen Wesens lag. Mariclée mußte immer vergessen. — Auf diesem einfachen Leitmotiv baute und gliederte sich bei ihr alles andere auf. Wer dies von ihr wußte, der kannte sie durch und durch, denn alles andere war sie nur beiläufig, von ungefähr, nebenbei, aber nicht wirklich. In anregender Gesellschaft konnte sie für „Außendinge“ von beispielloser Unaufmerksamkeit sein, wie sie dann oft keine Ahnung hatte, was sie aß, aber allein, in einem stimmungslosen Lokal, vor einem ungedeckten Marmortischchen, billigem Porzellan und ungeschliffenen Gläsern — da war sie wie ein Fisch, der auf das Brett geworfen wird, ihrem Lebenselement entrissen und schnappte nach Luft. Denn da gab es für die arme Mariclée nichts zu vergessen —, sondern da wurde sie erinnert. —
Einmal und nicht wieder, dachte sie, indem sie zahlte und mit einem mißmutigen Gesicht das Teehaus verließ. Die Sonne stand noch hoch, es war gerade viertel nach drei. Sie seufzte. So langsam also konnte ihr die Zeit verstreichen, wenn ihr etwas nicht paßte! Ein Ausrufer bot ihr Zeitungen an, sie kaufte an alten was noch aufzutreiben war, nahm eine neue dazu und ging in den Park, um sie im Freien zu lesen . . . . Als sie Whitehall hinunter ging, kam ihr ein Totenwagen, — der hellbraune Sarg in einem gläsernen Kasten weithin sichtbar — in grader Linie entgegen. Und abergläubisch wie sie war, hielt Mariclée inne und atmete für den Augenblick erleichtert und zuversichtlich auf.
Ihre Zeitungen nahm sie dann aufs Geradewohl und ohne auf das Datum zu achten, her; sie wollte vor allen Dingen nachsehen, ob sie eine Nachricht über das Exemplar enthielten, und das erste, wovon sie da las, war die Beisetzung eines seiner nächsten Angehörigen, so daß die Familie, in die er geheiratet hatte, in tiefe Trauer versetzt war. Ihr Herz stand still — nicht ob des Todesfalles; mochten sie wie die Mücken um ihn herum sterben, es kümmerte sie kein bißchen. Aber sie bedachte, daß er am Ende gar nicht war, wo ihr Brief ihn suchte, denn diese Beisetzung war anderwärts, dann durfte sie wiederum auf eine Verzögerung gefaßt sein, dann ging der Tanz von vorne an. Nein, das ertrug sie nicht. Aber das Blatt war ja schon mehrere Tage alt, Gottlob, er konnte zurück sein. Und kränker war er auch nicht, denn er hatte jenem Begräbnis beigewohnt; hier stand es. Und sie faßte sich wieder. Die anderen Blätter brachten nichts mehr über ihn. Mariclée raffte sie zusammen, sie würde sie zu Hause lesen. Jetzt war sie nicht imstande. Ein Fieber, eine Unruhe trieb sie von ihrem Platze fort, zu gehen, rastlos, immerzu, wieder hinaus in die endlose Stadt, wieder zurück in den Park. Und ihre Augen sogen alles ein, das früh verbrannte Laub der Bäume, den stillen Himmel, der darüber hing, das glatte Grau der dunkelnden Paläste, das matte Grün der Rasenflächen, das lichte Schwarz des Teichs. Aber diese Augen trugen wieder den gezogenen, harmvoll matten Glanz des Kranken, der durch eine trennende Scheibe und als ein Verbannter diese Dinge sieht. O Gott, sie liebte sie so sehr, daß sie sie alle vorweg nahm. Und eben darum war sie in ihnen nie enthalten. Wenn aber einer, der es gut mit ihr meinte, da zu ihr hingetreten wäre und freimütig und plumperdings zu ihr gesagt hätte: „Was tun Sie hier? Warum sind Sie gekommen? Was vergeuden Sie Ihre schönsten Jahre und Ihre letzten Groschen, um einer möglichen Versorgung aus dem Wege zu gehen, und statt nach einem braven Mann zu fahnden, übers Meer, einem Vergebenen und für Sie Verlorenen nachzuziehen? Besinnen Sie sich doch! Das Leben ist zu ernst und Ihre Lage zu gefährdet!“ Da hätte Mariclée mit besorgter Miene zugehört, nachdenklich genickt und seufzend zugestimmt, wie sie es tat, als man ihr jene tearooms anempfahl. Denn kein unvernünftiges Wort kam jemals über ihre Lippen. Aber wenn dieser wohlmeinende Freund auch noch gefragt hätte, (was sich vielleicht auch der Leser kopfschüttelnd fragt!) „Was wollen Sie denn eigentlich?“ so hätte sie wieder gelächelt, jenes leichtfertige etwas verschmitzte Lächeln, das in Glenford den Don Juan intrigierte. Was sie wollte? Was sie sich zu wollen erlaubte? Was sie sich herausnahm? Geduld! — Dies Buch ist ja zu keinem anderen Zwecke geschrieben, als um es zu verraten.
Sie ließ sich erst spät mit dem zierlichen Schlüssel, den ihr die alte Klara am Morgen überreicht hatte, in ihren geborgten Palast ein. Alles war still, sie hörte nie ein Flüstern, nie einen Laut, nie einen Tritt, außer von ihrem Zimmer aus, wenn Klara oder Maud auf der Diensttreppe waren. Aber nie trat ihr auf der weiten Marmortreppe jemand anderer entgegen, als in dem hohen Spiegel, an dem sie vorüberzog, ihr eigenes Bild, nie hörte sie auf den glatten Fliesen andere Schritte verhallen, als die ihren.
Am nächsten Morgen blähte ein herbstlicher Windzug ihre Vorhänge auf und zum ersten Male, seitdem sie nach London gekommen war, zeigte sich die Sonne nicht. Sie war beim Ankleiden, als es an ihrer Türe klopfte. Ein gellendes Klingeln scholl durch das ganze Haus und gleich darauf zeigte Klara ihren alten Kopf. Es sei ein Ruf vom Fernamt, und sie nannte zu Mariclées tödlichem Schrecken den Namen des Exemplars. Ob Fräulein Klee heute nachmittag um fünf Uhr den Tee bei ihm nehmen wollte, er würde um diese Stunde in London sein.
„Ich werde kommen,“ sagte sie tonlos. Die alte Klara eilte mit der Antwort hinab.
Mechanisch fuhr sie fort sich zu frisieren, aber ein kreideweißes Gesicht starrte jetzt aus dem Spiegel.
Was sollte sie anziehen?
Dies war ihr erster Gedanke. Sie hatte drei Feierkleider für die geplante Begegnung in Bereitschaft: das grüne, das sie gestern trug, ein weißes, und ein dunkles bleu-ardoise, das Einzige, was sie bei diesem trüben Wetter wählen durfte. Sie zog es an, und sah darin schmal und gerade aus wie eine Kerze. Und wie von einem magischen Reflex berührt, ward ihr Antlitz plötzlich so ganz genau dasselbe wie damals, als sie zuletzt mit ihm zusammen war, genau derselbe Ausdruck, dieselben blauen Irradiationen, die ihre Augen untermalten wie zuletzt, jenes Gesicht, ihr einzig wahres, ein abkunftloses, nur von ihm erkanntes, seltenes Gesicht, das seinige, da es für ihn nur an das Licht trat, wie ein Kronschatz, der nur dem Einen taugt, dem Unbefugten aber schwer und unzugänglich in den Schrein zurücksinkt. Selbst ihr Körper wurde schärfer umrissen, und seine Linien traten beseelter, ihre leichten Schultern flügelhafter noch hervor. Ihre oft so leblosen Augen aber schienen jetzt wie Wachslichter bei Tageshelle, denn etwas Abendliches, etwas, das der Tag bekriegte, und das sich selbst verfechten mußte, behielt sie stets. „Klara! Klara!“ rief sie und stürzte hinaus. Und die alte Chorführerin, von der Lebhaftigkeit ihrer Stimme erschreckt, eilte herbei, als sei ein Unglück geschehen.
„O Klara!“ sagte Mariclée, „ich brauche einen Schleier, wo finde ich ihn am besten? dieser Hut braucht eine Zutat; er sitzt so schlapp!“
„Bei Selfridge, ganz in der Nähe ist alles zu haben,“ versicherte die andere atemlos. „Aber der Hut sitzt schön, meine Gnädige.“ Und sie sah fast ein wenig betroffen zu ihr auf. War dies derselbe freudlose, etwas saturnische Gast, der unter diesem Dache einzog?
„Er muß gehoben werden. Da, von der Seite,“ sagte Mariclée und maß sich mit kritischen Blicken.
Selfridge, ein kalkweißer, weithin sichtbarer Monumentalbau im Geschmack Sardanapals, bot in der Tat alles, Schuhlitzen und einen Wintergarten; auch leidliche Speisesäle in den oberen Stockwerken, wo man à la carte essen konnte. Es stand auch ein einladendes Büfett beim Eingang. Doch graute Mariclée vor den Fleischplatten. Sie war eigentlich hungrig, aber die Angst schnürte ihr den Hals zu: Sie hatte auf die Uhr gesehen, und es war zwei Uhr. In drei Stunden also. — Dieser Speisengeruch war furchtbar. Und glitt da nicht ein Sonnenstrahl die Wände entlang? Eine lichtblaue Fläche hatte sich, wie ein heiterer See, in das stumpfe Himmelsgrau hineingerissen. Sollte sie da nicht schnell nach Hause? stand ihr das grüne Kleid nicht besser? — Gott! — wie der Herr da drüben essen konnte! — was aß er denn? es sah vortrefflich aus; das hätte sie auch gern gegessen, wenn sie hätte essen können. Und mit einem Male schienen ihr all diese essenden Menschen namenlos grotesk. Der Hunger war der große Rattenfänger, die Speisen die Noten, aus denen er seinen Lockruf zusammensetzt, und zwar so, daß man nicht merkt wie man ihm folgt, und stets so viel genauer weiß was man ißt, als daß man ißt. Weil aber Mariclée in Folge ihrer gesteigerten Verfassung heute den Tanz so deutlich sah und die Pfeife nach der man sich in diesem Saale drehte, so deutlich heraushörte, wollte keine Aufforderung an sie gelangen, und sie mußte von dem Tanzboden herab.
Die grauen Wolken hatten indes den lichten Himmelssee wieder verschlungen und die Luft blieb regnerisch. Mariclée eilte nach Hause, wand und befestigte den Schleier auf ihrem Hut und probierte ihn bald so, bald anders. Es war die einzige Beschäftigung, auf die sie sich jetzt konzentrieren konnte. Als dann die fünfte Stunde herannahte, verließ sie das Haus und nahm einen Hansom, der denselben Weg einschlug, den sie Tags zuvor in der Sonne zurücklegte: St. James Street, Trafalgar Place und Whitehall hinab: fünf Uhr, fünf Uhr, fünf Uhr stand auf allen Zifferblättern zu lesen und silbern ertönten fünf Schläge vom Westminsterturm. Mariclée starrte mit der Miene einer Gerichteten auf die grau glasierten Plätze und Straßen als müßte sie Abschied nehmen von allem, was sie erblickte. Die alte Abtei stellte hier einen Abschluß von seltener Majestät, die schöne niedrige Kapelle stark im Vordergrund, und der weitläufige, gebieterische Bau so königlich gelagert. Ein edler, höchst menschenwürdiger Platz, dessen Vorzüge sie jetzt mit geschärftem Auge erfaßte. Bei dem Tore, von welchem aus Karl I. seine letzten Schritte ging, bog jetzt der Wagen in eine stille und imposante Seitenstraße ein, fuhr noch zwei glatte, hochfenstrige Fassaden entlang und hielt. Mariclée, die reichlich Münze bei sich hatte, reichte, um Zeit zu gewinnen, dem Kutscher ein Pfund zum wechseln hin und ließ ihn in ihre Börse stecken, was er für gut erachtete. Sie stand nur dabei. Indessen öffnete sich die Türe des Hauses, bevor sie noch Zeit hatte zu läuten; sie trat in eine reizende Halle, sah zwei Diener in schwarzer Livree, die von ihrem Kommen unterrichtet schienen und ihren Herrn jeden Augenblick erwarteten. Mariclée hatte noch Zeit eine Stiegenrampe zu erblicken, viel zierlicher und schöner als die in Grosvenor Street, dann sah sie nichts mehr, denn in demselben Moment war die Halle von dem Geräusch eines stoppenden Autos erfüllt und Mariclée wandte sich um. Sie sah einen Herrn, dessen Affektation sie nicht minder frappierte wie seine Eleganz, langsam aber scheinbar mühelos die Stufen emporsteigen und ging ein paar Schritte auf ihn zu.
„Halloh, da sind Sie ja!“ sagte sie mit einer völlig unangebrachten erkünstelten und blödsinnigen Degagiertheit.
„Haben Sie gewartet?“ fragte er.
Und sie bemerkten nicht, daß sie einander gar nicht begrüßten.
„Wir hatten eine Panne.“
„Wir!?“
Mariclée starrte wieder auf den Eingang hin und sah eine Dame in tiefer Trauer aus dem Wagen steigen. Bevor sie noch einen Gedanken fassen konnte, schoß ihr alles Blut mit solchem Ungestüm zu Kopfe, daß sie schwankte wie ein Rohr. Er, der indessen ihr Gesicht im Auge behalten hatte, stellte sich alsbald schützend vor sie hin, als wisse er vor ihr von ihrer Bestürzung. Er deutete auf eine gegenüberliegende Türe und ging, ohne ein Wort zu sagen und ohne sich umzusehen, darauf zu, und sie wußte nicht, wie es kam, daß sie dasselbe tat, und daß er Schritt mit ihr hielt und sie geleitete.
Sie betraten das Zimmer, und er schloß die Türe hinter ihr zu; niemand folgte ihnen und sie waren allein. Sie empfand eine große Leere im Kopf und eine große Unsicherheit in den Knien, ging auf einen Lehnstuhl zu, setzte sich aber nur auf die Lehne, als sei sie nur ganz provisorisch hier, und er nahm schräg ihr gegenüber Platz. Warum hat er mir das angetan? dachte sie.
„Wie geht es Ihnen?“ fing sie an, „und was fehlt Ihnen eigentlich?“ Er sprach von einer verschleppten Malaria, aus der die Ärzte nicht klug würden; von einem bösen Fieber, das unversehens immer wiederkehre. Das einzige, was ihm tauge, sei Sonne und staublose Luft. Dies Frühjahr habe er allein mit einer Wärterin auf einer Jacht in Afrika verbracht.
Während sie sprachen, hielten sie die Augen fest aufeinander gerichtet und sahen sich unverwandt, mit ernster, ausdrucksloser Miene, wie zwei große Vögel an.
„Sie haben sich aber nicht verändert,“ sagte Mariclée, die ihn kaum wiedererkannt hätte. Und was machte er für Augen? sie waren ja ganz steif; und diese Unbeweglichkeit, diese Blässe, wie von einer Puppe? Und sie bedachte nicht, wie versteinert sie selber drein sah. Jeder nahm jetzt her, was ihm gerade einfiel. Er erwähnte den Todesfall, der sich so kürzlich erst begeben hatte, machte ein gefühlvolles Gesicht, das sie gar nicht an ihm kannte, und sprach von dem „schweren Kummer“, von dem sie alle betroffen seien. Mariclée spürte einen starken Lachreiz. „Warum lügt er denn so?“ dachte sie.
„Davon weiß ich gar nichts; sind Sie deshalb in Trauer?“ log sie zurück.
Von dem Zimmer, in dem sie saßen, sah sie nichts, bemerkte aber jetzt, daß der Tee auf dem Tischchen vor ihnen serviert war, vergaß gänzlich die Situation, und mechanisch, wie sie es früher oft getan hatte, schenkte sie ihm und dann sich selber eine Tasse ein.
Und nie blickte sie zur Türe hin, als dächte sie mit nichten, daß hier jemand eintreten könnte, als sei dies ihre letzte Sorge, als sei dies keineswegs die Panik, die sie krampfhaft unterdrücken mußte, um ihr letztes Restchen Fassung zu bewahren.
„Wie lange ist es her, seit wir uns nicht mehr sahen?“ fragte sie.
Er wußte es auf den Tag.
„So kurz?“ sagte sie irrsinnig. Sie wollte sagen: „So lang.“ Aber es war ja alles eins.
„Und Ihr Beruf?“
„Ich hoffe ihn wieder aufzunehmen.“
„Wirklich!“ rief sie und leuchtete auf.
Aber sein Gesicht erhellte sich nicht. „Es sind noch lange Wege,“ sagte er.
Da erlosch auch der Strahl in ihren Augen.
Sie war von der Lehne aufgestanden und hatte sich in den Stuhl gesetzt. „Und was tun Sie indes?“
Er zuckte die Achseln: „Vorerst mich pflegen,“ sagte er, „und in drei Wochen nach Amerika fahren.“
„Schon wieder! so weit!“ entschlüpfte es ihr.
Und immer starrten sie sich mit ernsten, ausdruckslosen Augen an, indes ihre steinernen Masken ihre eigene Zwiesprache zusammen führten. „Ich kann mich nicht wohl dispensieren,“ sagte er; „meine Frau wünscht, daß ich sie begleite, und die Seereise ist mir ja zuträglich.“ — Sie nickte; und weil die Angst vor der Türe sie immer stärker würgte und immer mehr verstörte, wußte sie jetzt nichts besseres vorzubringen, als einen albernen Tratsch über eine Dame, die er früher flüchtig gekannt hatte und die sie beide in keiner Weise interessierte.
„Und denken Sie, jetzt läßt sie sich richtig scheiden,“ sagte Mariclée und stellte ihre Tasse verzweifelt wieder hin.
Da kam er ihr zu Hilfe.
„Wie lange werden Sie in London bleiben?“ unterbrach er sie, ohne eine Miene zu verziehen.
„Drei Wochen,“ erwiderte sie unbedacht, weil er vorhin „drei Wochen“ gesagt hatte. Eine jähe Röte stieg ihr zu Gesicht. „Oder vierzehn Tage,“ verbesserte sie. „Ich weiß es noch nicht.“
Er nahm stets den äußersten Termin bei ihr an. Sie hatte es nur zu wohl erfahren, als sie in anderen Städten mit ihm zusammentraf. „Innerhalb drei Wochen wären Sie also noch zu erreichen?“ wiederholte er.
„Ja,“ gab sie bei.
Da öffnete sich die Türe. Mariclée hatte das Gefühl, als lägen ihre Arme und Beine in den vier Ecken des Zimmers verstreut und als müßte sie sie dort holen gehen, in Wahrheit aber schoß sie kerzengerade in die Höhe. Sie hörte, wie das Exemplar sie vorstellte, begrüßte die Eintretende mit großer Natürlichkeit und näherte sich dann dem Fenster. Ihre Haltung war plötzlich tadellos. Etwas appellierte an ihr Selbstbewußtsein oder ihren Stolz und es war, als zöge unvermutet eine andere Fahne auf.
„Wir sprachen von Wiener Bekannten,“ hub sie im leichten, klangvollen Tone an und kehrte vom Fenster zurück. Sie war jetzt die Grazie und Sicherheit selbst. Auch die Steifheit und Spannung im Auge des Exemplars hatte sich gehoben, und ein Gespräch zwischen den Dreien geriet richtig in Fluß. Mariclée zeigte sich lebhaft, ohne von einer eisigen Reserve zu lassen, und brachte es zustande zu lachen, ohne doch jemals zu lächeln. Sie unterhielten sich über die Juden, deren soziale Position in England eine viel gesichertere sei wie am Kontinent, und das Exemplar meinte, es sei eben auch die beste Sorte Juden in diesem Lande zu finden, und streute amüsante und scharfe Bemerkungen ein.
Hin und wieder nahm sie ihre Tasse zur Hand setzte sie aber wieder hin, weil sie fürchtete, man könne das Zittern ihrer Hand bemerken. Sie hätte gerne ihren Tee genommen, und wie die andern etwas dazu genossen, um sich weniger erschöpft zu fühlen, aber von essen konnte jetzt ebensowenig die Rede für sie sein, wie für einen Schatten oder eine Abgeschiedene. Sie nahm statt dessen eine Zigarette — die war nicht so schwer wie eine Tasse — und sie rauchte und erzählte von Irland, und wie ihr die Irländer gefielen und mißfielen und von der Unmenge von Priestern. Indes lag jetzt in der blassen, schwebenden Hand, mit der sie ein wenig gestikulierte, während sie sprach, ein so ergreifender Ausdruck, daß Mariclée, der das Schöne, woher es auch kam, nicht leicht entging, davon betroffen ward und sie senkte; doch das Exemplar hatte sich schon von seinem Platze erhoben, und sie wußte, es war, weil, ohne zu wollen, ihre Hand ihn gerufen hatte.
„Hier ist Feuer,“ sagte er, indem er sie schnell erfaßte. „Ihre Zigarette ist erloschen.“
Und dies war die einzige Begrüßung, die zwischen ihnen stattfand. Mariclée wurde dessen nur wie von ferne gewahr. Sie hatte ja so viel zu tun, um jegliche Gefühle in sich auszuschalten, auf daß die leicht vibrierende Stimme, mit der sie redete, nicht brach. Man kam auf seine verflossene Seereise zurück, während welcher er niemals nach Hause schrieb.
„Er ist ja zu Briefen einfach nicht zu bewegen,“ sagte seine Frau; „schreibt er Ihnen je?“
„Niemals!“ lachte Mariclée und schüttelte den Kopf. Die umfängliche Schachtel, in der sie seine Briefe aufbewahrte, faßte sie zwar längst nicht mehr. Aber konnte sie etwas anderes sagen, als was sie eben von dieser Seite vernahm? Und dann: was waren das für Briefe? Meist flüchtig hingeworfene Zettel. So war es, trotz der überfüllten Kassette fast wahrheitsgetreu zu sagen „Niemals“.
Mitten drin trat auch die Frau einmal zum Fenster hin, um Mariclée, die im Halbdunkel saß, von rückwärts und vom Profil zu mustern, und kehrte dann zu ihrem Platze zurück. Und auch dieses fühlte Mariclée nur wie von fern.
Man sprach noch von diesem und jenem: von deutschen Stücken, für die er eine Vorliebe hegte und von Hauptmanns „Griechischem Frühling“, den Mariclée überall verkündigen und lobpreisen mußte, weil das Buch ihre Marotte war; und endlich von dem kürzlich erfolgten Tode Tyrrels, wobei sie sich über die unversöhnliche Haltung des Klerus mächtig ereiferte. Niemand war in ihre Gedanken besser eingeweiht und mehr von ihnen eingenommen wie das Exemplar, weshalb es ihm oft viel Spaß machte ihr zu widersprechen. So nahm er jetzt, der als Anglikane in solchen Fragen in keiner Weise engagiert war, für die schroffe Haltung der Kirche Tyrrel gegenüber munter Partei, und sie wollte ihm etwas entgegnen, als ein Diener mit der Meldung eintrat, das Auto sei vorgefahren. Da empfand sie den Schmerz des mitten aus tiefem Schlafe jäh Aufgescheuchten und erhob sich; das Exemplar schien von der Unterbrechung keine Notiz nehmen zu wollen, doch mahnte ihn seine Frau, daß es Zeit wäre zu fahren, um nicht in die Nachtluft zu kommen, der er sich nicht aussetzen durfte. Da brach er seinen Äußerungen über Tyrrel mit einer äußerst frivolen, aber so witzigen Wendung die Spitze ab, daß Mariclée ihn ansehen und lachen mußte. Denn zur Wirklichkeit und dem Bewußtsein ihrer Situation kehrte sie erst zurück, als sie wieder in der Halle stand und mit den beiden der offenen Pforte zuschritt.
„Da wir uns nun endlich kennen lernten, werden wir uns hoffentlich wiedersehen,“ sagte seine Frau.
„Ich hoffe es auch,“ erwiderte Mariclée höflich und rasch, doch ohne den Schatten eines Lächelns, denn ihr Gesicht war wieder wie versteinert. Und sie ging die Stufen hinab. Aber da erschien er noch einmal vor dem Hause und trat weiter hervor, als sähe er nach dem Wetter und nickte ihr zu, und blickte sie an mit einem Lächeln, in dem alles lag, und dem alles entglitt, das von den Dingen so wohl Bescheid wußte, das ein so weltweises, so kundiges Lächeln war, mit Idealismen zwar vertraut, doch jeglicher Illusion erstorben, ein so blasses, flickerndes und winterliches Lächeln, daß es Mariclée, der Schutzlosen und Gefährdeten, vom Leben so viel rauher Angefaßten, ins Herz schnitt und sie jeden Tropfen ihres Blutes aufbot, um Sonne in ihr eigenes Lächeln zu weben, und ihn anstrahlte, ohne Trauer, als sei nichts verloren. Dann riß sie ihre Blicke los und zog ihren verlassenen Weg und sah nicht einmal hin, als sein Auto, das ihn an den Meeresstrand zurücktrug, an ihr vorübersurrte. Denn jetzt war kein Licht mehr in ihren Augen und ihre Kräfte waren ausgegeben.
Der Tag schien nur um ein geringes blasser und es dämmerte noch nicht. Aber es war, als ob alle Uhren jetzt verschwunden seien, ihr wenigstens fiel keine mehr ins Auge; sie dachte nicht mehr an die Zeit. Ihre Ernüchterung war grenzenlos. Dies also war der Mensch, der sie so wert dünkte, den sie mit solchen Gefühlen und solchen Gedanken behing, diese Puppe! — Mariclée stieß gegen ein Haus und taumelte. Wahrhaftigen Gottes, er sah aus wie eine Puppe!
Sie stand plötzlich auf dem Trafalgar-Platz, sie wußte nicht wie. Nun, es war wirklich gut, es war sicher ganz vortrefflich, daß sie ihn wiedergesehen hatte. Aber wo hatte sie nur ihre Augen gehabt? Also das war er; — diese Puppe? und wenn sie es nicht selbst gewesen wäre, hätte sie eine große Lachlust verspürt. Was für eine Puppe, sagte sie ganz laut und wiederholte noch einmal, um das Erstaunliche auch auf englisch zu hören: „What a doll!“
„Jetzt nehme ich ein Hansom,“ dachte sie. Aber wozu? Welche Zeit wollte sie denn gewinnen? Es war schon besser, sie ging zu Fuß. Sie durfte das Geld nicht so hinauswerfen. Erst einen Kassensturz, wenn ich bitten darf. Warum hatte sie nicht gesagt: ich kann nur mehr zwei Wochen bleiben, mit zwei Wochen hatte sie doch nur gerechnet. Wie? Was meinte sie da? Was? War das ihr Ernst? Drei Wochen wollte sie nun um dieser Puppe willen? . . . Ach, unterbrach sie sich selbst, nicht denken, jetzt nicht darüber denken . . . später . . .
Und Mariclée tat an diesem Tage tatsächlich etwas Vernünftiges; sie nahm ein Hansom, fuhr nach Hause, warf sich auf ihr Bette, gestattete sich keinen einzigen Gedanken mehr, sondern schlief. Es herrschte völliges Dunkel, als sie erwachte. Sie fühlte sich wie zerschlagen, erhob sich aber rasch, zog ein Abendkleid an und verließ ihr geborgtes Palais. In diesem Mausoleum hielt sie es jetzt nicht aus, und sie mußte ein hübsches Restaurant ausfindig machen; dies war für den Augenblick das Wichtigste. In einer tristen Teebude zu essen hätte sie heute schier umgebracht. Sie fand in einer eleganten Seitenstraße ein sehr hübsches Lokal und zögerte nicht, es zu betreten, denn ihr schwindelte vor Hunger.
Sie hatte sich tags zuvor ein Theaterbillett genommen, aber sie ließ es auf dem Tisch zurück, als sie wieder ging. Ihr graute plötzlich vor dem Zusammensein mit Menschen; sie wollte mit sich allein sein, nachdenken und gehen. Die Luft war linde und still, über den schwarzen Wolkenstreifen, die noch am Himmel zogen, ragten jetzt Sterne in verzweifelt überwältigender Höhe. Mariclée kehrte von den dunkleren Seitenstraßen in die ruhelose Helle Piccadillys zurück, wo die Finsternis auf Schritt und Tritt vor den Lichtern zurückweicht, wie eine starre Kälte, die von mächtigen Feuern unablässig gebrochen und verdrängt wird. Von dem Ansturm der Wagen, die so endlos aufeinander folgten, daß der einzelne so wenig zählte wie in weiten Wäldern der einzelne Baum, wurden ihre Sinne ganz benommen, wie auch von der Gleichförmigkeit des rauschenden Lärms, den sie heute wie eine gesteigerte Stille empfand. Vergebens wartete sie, um die Straße zu passieren, denn nie wollte zwischen den vielen Kolonnen der Wagen, Autos, Omnibusse und Hansoms eine Lücke entstehen; mitunter schwankten hochgetürmte, bunte Stellwagen, mit Pferden bespannt, recht altväterisch einher. Als da einer vorüberzog, dessen Dach ohne Insassen war, machte Mariclée ein Zeichen, ergriff schnell die hilfreiche Hand, die ihr der Kondukteur entgegenstreckte, und kletterte behend zu den oberen Sitzen hinauf, von welchen aus sie unter freiem Himmel, ungestört und ganz für sich allein, die Straßen dominierte. Denn unter freiem Himmel und allein und abgetrennt zu sein war jetzt ihre ganze Sorge. Sie mußte wissen, was die große Stille bedeuten wollte, die mit einem Male in ihrem Innern entstanden war, wie der Wind, der mit einem großen Ruck mitten im Sturm innehält, doch nur weil ihm der Atem ausging, und um desto stärker wieder anzuheben. So traute sie dieser Stille, dieser Glätte eines allzu bewegten Herzens nicht. Was mochte sich in ihm abspielen, daß so seltsame Schauer seinen Gründen entstiegen und immer stärker wiederkehrten? Waren sie von Glück oder Betrübnis aufgeweht? Ihr bangte wie vor einem Vorhang der ihr das eigene Selbst noch vorenthielt und sich nun langsam teilte, sie in ihr Inneres einzulassen. Der Omnibus fuhr durch die grelle Oxfordstreet und Hyde Park entlang. Als er am Ziele war und wendete, stieg der Kondukteur herauf, aber sie löste einfach eine neue Karte, fuhr bald hin, bald her, tief in die Nacht hinein und blieb auf ihrem ambulanten Dach. Anderen Menschen war es wohl zu kühl hier oben, denn niemand störte ihre Einsamkeit. Im Parke, wo sie zusammenstanden, trugen sich die Bäume noch sommerlich, doch ihr Laub hing schon recht herbstlich stille, weil keine neuen Säfte sie mehr durchquillten. Aber was wußte sie da von Wärmegraden, von Stunden oder Jahreszeiten? Und es war nicht Herbst. O nein! die Knospen hingen zum Bersten reif an grünendem Geäst, nur ein Regenschauer mußte noch herniedergehen; denn es war eine Frühlingsnacht; es war nicht Herbst; wer sagte das? man stand im Lenz. „Ach ich Arme!“ dachte sie, „warum bin ich so glücklich?“ und preßte ihre Arme gegen ihr Herz, das sich durch keine Bedenken halten ließ; es hatte an diesem Tage allzuvieles gewaltsam unterdrücken und verdrängen müssen; nun brach es ans Licht und prangte in hellem Flor.
Sie hatte ihn wiedergesehen, und er war nicht gestorben. Die Leute, die vor kaum einem Jahre seinen Tod so sicher in Aussicht stellten, die Londoner Reporter, die vor jedem Redaktionsschluß anfragten, ob er noch nicht zu vermelden sei, sie hatten einmal nicht Recht behalten, und ihr Erzfeind: die Wahrscheinlichkeit war einmal nicht zur Wahrheit geworden, sondern die Schatten, die sich schon das Zeichen gaben und an seiner Schwelle sammelten, hatten wieder von ihr weichen müssen. Sie hatte ihn wiedergesehen, und er war geblieben. Die Götter, die in das Herz des Menschen sehen, hatten sich des ihrigen erbarmt, dessen Blut zu Asche zerronnen wäre, wenn die Dinge ihren Lauf genommen hätten und statt es fortan wie eine Urne zu tragen, hielt sie es jetzt wie einen frohlockenden Zweig, den eine Überfülle aufbrechender Knospen zu sehr beschwert.
Denn in ihr war etwas, das den Tod nicht nur haßte, sondern ihn nicht ertrug. Sie, deren kraftlose Hände einen Schlüssel nicht zu drehen vermochten, der auch nur halbwegs strenge in seinem Schlosse saß, hatte einmal eine verschlossene Türe gesprengt, weil der Schrei, der daraus hervordrang, auf den Hörer augenblicklich eine freche Todesvision übertrug. Und nicht das Erbarmen, sondern einzig die Wut hatte da ihre Kräfte so vertausendfacht und ihre Schnelligkeit so gesteigert, daß sie wie eine Kugel auf das betroffene Wesen hinschoß und mit einem verdunkelten und von Haß entstellten Megärengesicht es seinem Schicksal entriß.
So sehr war sie in das Leben verliebt, daß diese Liebe die Natur in ihr pervertiert hatte — wie etwa eine bourbonische oder florentinische Lilie eine pervertierte zu nennen ist. Mariclée war ein Kind ihrer Zeit; sie mußte das hinnehmen. Bei aller Intensität war kein Geist abschweifender als der ihrige und dem Gegenstande seiner Leidenschaft beständiger entrückt. Im klassisch hergebrachten Sinne liebte sie das Exemplar mit nichten, und sogenannte „Mädchenträume“ hatte sie niemals auf sein Haupt gehäuft. Denn ihr Bereich waren jene Zwischenstadien, die unsere Mütter und Großmütter nicht kennen lernten. Aber heutige Frauen sind insofern die Erfahreneren, als gewisse „Brechungen“ ihres Gefühlslebens viel weiter ausgreifende Strahlungen desselben ermöglichen. Es ist die Zeit, es ist die Zeit!
Denn zum Charakter einer Krankheit gehört es (und es ist ein alter Gemeinplatz, die Liebe eine solche zu nennen), daß sie von einer Phase in die andere übergeht und keinen eigentlichen Stillstand kennt. Manchmal kommt es dann vor, daß sich die Krankheit zurückschlägt, so daß man nicht sogleich zu sagen wüßte, wo denn ihr Herd zu suchen sei, weil sie nirgends ist und überall, und im Moment, in dem sie zurücktritt, dem Ungewitzigten behoben scheint.
Dieser Moment herrscht nun heute in Dingen der Liebe bei uns Europäern fast epidemisch vor. Er ist es, der jener vielberühmten „Temperamentlosigkeit“ unterliegt, die den jüngsten Männern so vielfach eigen scheint und die älteren so sehr befremdet; aber ich möchte fast behaupten: gerade von diesen wird über dieses Thema immer nur das Falscheste vorgebracht. Sie besinnen sich nicht lange, auch das stilisierte einfach für pervers zu halten, und ehemalige Roués sind hier nicht selten unverbesserlich naiv. Was sie indessen als dekadent (das Wort soll alles decken) abfertigen, ist eine Krisis, die macht, daß es wert ist zu leben, wäre es nur, um zuzusehen, wie sie verlaufen, wie die kommende Generation sich zu ihr verhalten, und wie diese daraus hervorgehen wird. Mittlerweile scheinen sie in der Tat überhaupt nicht zu lieben, denen heute die allgewaltige Blindheit der Liebe verloren ging, so daß die Glut ihrer Herzen zurücktrat, als ein schleichendes Fiebern sich in alle Adern ergoß und ihre Wildheit schlug. Was die Besten so ermattete, ist der Vorgeschmack der großen Ernüchterung, das Bewußtsein von der Schalheit der Dinge und die Angst vor dem Sichbescheiden im Überdruß. Die Realität der Liebe verlor da zum ersten Male, seitdem die Welt besteht, gerade für die Liebenden an Wichtigkeit, und die Scheu des Unzulänglichen wurde so zur heutigen Romantik.
Mariclées Element war das Absichtslose. Sie konnte ihr Gefühl nur einem solchen Manne zuwenden, bei dem aus irgendeinem Grunde eine Verwirklichung ihrer Wünsche so ausgeschlossen war wie das Festland von der Meeresinsel. Sie liebte ihn um seines Wertes willen und nichts darüber, damit schoß sie aber gerade über das Ziel hinaus, verlor den Mann aus dem Auge und hing sich an den Menschen. Sie wußte es nicht, aber das Exemplar, das ihr zugesehen hatte, wußte es von ihr. Er hatte ihr die größte Wohltat erwiesen, die ihr von einem Manne zuteil werden konnte: sie vollkommen zu durchschauen, und so lang er lebte, war sie nicht allein.
Denn durch einen Zug ihres eigenen Wesens war sie er selbst, und zwar gerade auf Grund jenes Idealismus, den er für sich nicht mobil machte, und mit dem sie sich einen so unerhörten Luxus gestattete. Ihm war einer der besten Tribünenplätze zugefallen, die im Leben zu haben sind, und alle Vorteile und Genüsse, von den edelsten zu den materiellsten standen ihm zu Gebote. Er hatte sich auch stets um einen solchen Platz bemüht, und sie feilschte darob nicht mit ihm, denn ihr Verzicht auf das Ganze war nur deshalb erfolgt, weil sie mit keiner zweitbesten Lage vorlieb nehmen wollte. Sie flickerte dann lieber zwischen Bühne und Publikum hin und her, ließ sich nirgends eingrenzen und war es zufrieden, sich allem und jedem gegenüber eine vage Zugehörigkeit und einen vagen Protest vorzubehalten. Dies war ihre Geste.
Er hingegen war der typische Zuschauer, für den gespielt, gearbeitet, gelernt, geforscht, Kunst getrieben und immer neues gefunden und entdeckt wird, und für den vor allem alle schönen Dinge vorhanden sind. Er gab sich zu denken nicht sonderliche Mühe, denn just für ihn wurde ja gedacht. Und woher sollen die Romanschriftsteller und Dramaturgen ihre Helden schöpfen, wenn jene Typen aus der Welt verschwänden, welche den Stoff zu ihrem Gestalten liefern?
Ein solcher Held nun war das Exemplar.
Die Gemeinschaft, die zwischen ihm und Mariclée bestand, war ebenso kurios, wie ihre bei den Haaren herbeigezogene erste Begegnung.
Vor einigen Jahren war er durch die Stadt gekommen, in der sie lebte. Und am selben Tage hatte sie eine ehemalige russische Palastdame und Witwe eines vielbereisten Diplomaten aufgesucht, die eine große Schwäche für sie bezeigte und mit der sie sich hin und wieder zerwarf und dann wieder versöhnte. Die alte Dame war sehr tyrannisch und unberechenbar in ihren Launen, hatte sich aber dabei eine vollendete, in Anbetracht ihrer Jahre sehr merkwürdige Grazie bewahrt und schien hier etwas verschlagen mit ihrer Sarskoe-Zelo-Aura, die sie überall mit sich führte, ohne einen rechten Gebrauch dafür zu finden, denn im Vergleich zu seinem früheren Glanze war ihr Leben jetzt sehr windstill und verblaßt.
Als nun Mariclée an jenem Tage bei ihr erschien, wollte sie gleich über sie verfügen, sie ins Theater und für den ganzen Abend in Beschlag nehmen. Aber Mariclée tat ihr prinzipiell keinen Gefallen mehr, weil sie gefunden hatte, daß anders nicht mit ihr auszukommen war. Und als sie merkte, daß ihre scheinbar recht unmotivierte Weigerung andere Besucher, die zugegen waren, unangenehm berührte, weigerte sie sich erst recht. Aber die Gesellschaftsdame, ein junges und recht unglückliches Mädchen, zupfte sie leise am Ärmel, nahm sie geschickt abseits und bat sie flehentlich der alten Dame heute abend zu willfahren. Da witterte Mariclée eine häusliche Szene zwischen den beiden und nahm ihre Absage zurück.
Eine Stunde später saß sie in einem Stück von Björnson, und bemerkte, daß ein Herr in ihrer Nähe öfter zu ihr hersah, doch achtete sie nicht weiter darauf, teils aus Zerstreutheit, teils weil sie ihn nicht kannte. Nach der Vorstellung aber ging er plötzlich auf die alte Dame zu, die ihn mit einem kleinen Freudenschrei willkommen hieß, denn sie kannte ihn vom letzten Posten ihres Mannes her. Mariclée, immer noch recht unbeteiligt, hielt sich jetzt abseits und ließ die beiden in dem engen Gang ein paar Schritte vorausgehen. Aber vor dem Vestibül wandte er sich um, hielt inne und verlangte ihr vorgestellt zu werden. Mariclée stand eine Stufe höher als er und sah jetzt zum ersten Male sein Gesicht; sie stutzte. Sein wundervolles Äußere frappierte sie so sehr, daß sich ihr Gesicht erhellte und sie ihm unwillkürlich ihre Hand entgegenstreckte, aber zugleich blickte sie von ihm weg und starrte ins Leere und lächelte dabei, als sähe sie sich im Geiste sein Bild noch einmal an. Da kam er rasch die Stufe herauf, um ihre Hand zu ergreifen, und sein Lächeln trug ohne eine Spur von Selbstgefälligkeit den deutlichen Reflex des ihren. Und es geschah alles so rhythmisch, als hätte im Hintergrund eine Musik diese flüchtige Begrüßung von Anfang bis zum Ende begleitet. Sie war symbolisch genug. Nur das Leben konnte diese beide trennen: ein Mißverständnis nie.
Trotzdem war er ihr am folgenden Morgen ganz aus dem Sinn. Sie erwartete an diesem Nachmittage die alte Palastdame bei sich zum Tee. Als es läutete, stand sie gerade am Fenster und sah einen Kindertotenwagen dem Hause zufahren. Sie ging in den Salon, ihrem Besuche entgegen und sah das Exemplar auf sie zukommen, wie wenn nichts natürlicher wäre, als daß er heute in Begleitung ihrer alten Gönnerin hier erschiene und sich von ihr hier einführen ließe. Sie war das einzige Wesen, daß er in dieser Stadt kannte.
Von dieser Stunde an war das Unstete, Rastlose und Unsichere von Mariclées Wesen dahin. Die beiden trafen sich fortan bald in kurzen, bald in längeren Zwischenräumen bald in dieser, bald in jener Stadt, bald in Rom, bald in Venedig. Wenn sie gingen, dann war es, als ob ein ehernes Gesetz sie zur Gruppe zusammenschmiedete, und es war nicht als ob zwei, sondern als ob einer ging. Seine Nähe war die Heimat, die alle Einsamkeit von ihr benahm, und in der sie von allen Ungereimtheiten des Lebens rastete. Einmal im Theater, als er die Hand ausstreckte, um ihren Zettel zu nehmen, waren ihr Tränen in die Augen gekommen, weil seine Vollkommenheit sie so beglückte. Denn er war gleichsam ein Übergang zum menschlichen Standbild. Dies Phänomen war durch seine äußere Form im Verein mit der Akuität seines Schönheitssinnes entstanden. Die Harmonie kann so gut wie die Häßlichkeit als „Akkumulator“ am Werke sein. Durch die Schärfe aber, mit der Mariclée diese Harmonie so restlos wahrnahm, hatte sie Teil an ihm, ja „gehörte“ er bis zu einem gewissen Grade ihr.
Und nun stiegen auf dem Wagendache, auf dem wir sie ließen, auch die weit verstreuten, selbst die vergessenen Tage ihrer Zusammenkünfte wie aus einer Versenkung empor, zerfallene Kulissen durften wieder erstehen, der Zeiger rückte bald nach dieser, bald nach jener Stunde ihres Zusammenseins zurück und eine jede durfte wieder aufleben und erblühen. Und über Mariclée war das Glück wie ein Frühlingssturm her und schüttelte und durchschauerte sie. Er lebte, und sie hatte ihn wiedergesehen. Um sie her rauschten jetzt die Bäume, von einem mächtigen Winde aus ihrer Stille aufgescheucht, die Nacht war schon weit vorgeschritten, aber Mariclée nistete noch immer auf ihrem Dache oben wie ein Käuzchen in seinem Felsenloch. Sie ließ sich durch den Schaffner nicht stören, der ab und zu an der Stiege erschien und von dem sie dann eine neue Karte löste. Zum wievielten Male war sie wohl schon Park Lane und jene grotesken Häuser entlang gefahren, die ihr Dasein bald einem undeutlichen Ricordo die Venezia (in englischer Betonung) verdanken, bald — (mit dem gleichen Akzent) von Nürnberg und Albrecht Dürer phantasieren? Fassaden, in welchen sich gewisse angelsächsische Züge mit solcher Drastik verdichten, daß diese zu Kalk und Stein verhärtete Borniertheit nicht niedergerissen, sondern in künftigen Jahren restauriert werden sollte. Denn der dumme Deutsche ist nur ein Ärgernis, dem stupiden Engländer gebührt ein Monument.
Mariclée stieg nicht eher von dem Wagen herunter, als bis er seinen Dienst einstellte, dann ging sie nach Hause und ließ sich mit ihrem kleinen vergoldeten Kammerherrenschlüssel dort ein. Die Diensträume lagen weit ab und niemand konnte sie hören, nur die Stille eines unterirdischen Gewölbes wehte ihr hier entgegen. Sie tastete an der Türe nach den Hähnen, und alsbald entströmte den verhängten Lüstern ein verschwiegenes, weißliches Licht. Mariclée stieg wie im Traume die Steintreppe hinauf und an dem großen Spiegel vorbei, aus dem ihr stets nur ihr eigenes Bild entgegentrat. Doch halt! — wer war das? — das war nicht sie. Welche Gestalt zog da wie auf Wolken einher? Wessen Antlitz? o das war nicht sie! ach ihre Züge waren es, und nicht die ihren, wie die Rose, die am Gartenstrauche hängt, nicht dieselbe ist, die am Hag eines Götterhaines entflammte. So also sah sie im Glücke aus. — Wo war die Unbelebtheit hin, die manchmal wie ein Vorhang ihr weltabgewandtes Antlitz überzog und es umdüsterte? und sie wandte sich ab, denn es schmerzte sie dies herrliche und lichtumflossene Gesicht zu sehen.
Wie brachte sie es nur zuwege, wird sich der Leser denken, auf so geringe Veranlassung hin, einen solchen Maibaum aufzurichten? Welch ein Aufwand von Gefühlen pour si peu! Aber man denke, wie gewaltsam im Moment die ungeheure Freude des Wiedersehens zurückgedrängt worden war, und gleich nach der Zusammenkunft so weit zurückschlug, daß sie das Exemplar mit den vollkommen nüchternen Augen eines gleichgültigen Passanten betrachtete und sogar geneigt gewesen war, die ganze Geschichte von der lächerlichen Seite anzusehen. Denn vergessen wir nicht, daß Mariclée sich leicht an der äußersten Kante der Dinge bewegte.
So dachte sie auf ihrem Omnibus nicht mehr: „Warum hat er mir das getan?“ und prüfte nicht, ob er die Situation herbeigeführt oder nur geduldet hatte. Sie dachte nur: O wie genau wußte er, daß er sie riskieren durfte! Wie genau wußte er, bevor sich jene ominöse Türe öffnete, wie ich mich verhalten würde! O wie gut bin ich bei ihm aufgehoben, und wie gut kennt er mich?
Und so war das ganze Freudenfeuer vor allem eine Reaktion.
Darüber konnte ja am nächsten Morgen kein Zweifel sein, daß es Herbst war. Die alte Klara gab ungeheuer viel auf das Wetter. Wenn sie das Frühstück heraufbrachte, verfehlte sie nie hierüber Bericht zu erstatten, und zwar stets mit dem entsprechenden Mienenspiel: der guten Botschaft voll, wenn die Sonne schien, besorgt, wenn sie sich nicht zeigen wollte, und kopfschüttelnd, wenn es goß. Mariclée hatte von ihrem Bette aus den Blick auf zwei Fenster, wovon das eine groß offen stand, so daß sie beim Aufwachen über die jeweilige Witterung bestens orientiert war, aber sie tat nie dergleichen, da die Alte den meteorologischen Vortrag als ihres Amtes zu erachten schien.
„A very cool day indeed, Madam,“ verkündete sie heute, „and no sun.“ Sie schloß das Fenster und zündete im Kamin ein Feuer an.
Mariclée war etwas gerädert von dem langen Fahren auf den harten Sitzen des Stellwagens, und ihre Augen schienen wie nach einem Fieberanfall etwas glanzlos und erweitert. Aber sonst zeigte sie sich wieder sehr vernünftig. Es war immerhin gut, daß sie bei aller Verstiegenheit jederzeit imstande war zum Bewußtsein der Wirklichkeit zurückzukehren, und sich in den Alltag, ob sie ihm noch so weit davonlief, wieder zu schicken. Es galt jetzt die nächsten drei Wochen so erträglich zu gestalten, als es sich mit ihren beschränkten Mitteln vereinen ließ, denn vorher würde sie das Exemplar keinesfalls sehen. Daran zweifelte sie keinen Augenblick. Sie kannte ihn viel zu gut, um nicht zu wissen, daß er den Moment der Möglichkeit sie noch zu sehen aufs äußerste hinausschieben würde, weil ihm an dieser steten Möglichkeit eines Wiedersehens vielleicht mehr gelegen war als an dem Wiedersehen selbst.
Am liebsten hätte er sie nie aus seiner Nähe gelassen, weil sie ihn am meisten entbehrte, wenn sie mit einer Möglichkeit ihn zu sehen rechnen konnte und dann ausschließlich an ihn dachte. Er wußte, daß ihr zwar kein anderer Mensch, daß ihr aber manche Dinge mehr galten als er. Für eine Idee hätte sie ihn jederzeit verraten und ihn über ein allgemeines Interesse aus dem Auge verloren und vergessen, ja vergessen, selbst ihn!
Der Sinn für die Unwichtigkeit des Einzelnen und die Relativität der Dinge ging ihr nie ganz verloren; hier lag der tragische Zug ihres Wesens: sie war nicht zu umschreinen und sehr früh unfähig geworden restlos in einem Manne aufzugehen. Auf ihre geistige Welt hatte er nicht den leisesten Einfluß. Denn was ihre geistige Position wert war, wußte sie. Sie hatte sich zu führerlos zu ihr durchgerungen und in geistigen Dingen zu bittere Not gelitten. Wenn sie aber den Stolz des Mannes eingehandelt hatte, so war ihr der Stolz der Frau in die Brüche gegangen. Sie fragte sich nicht, als sie jetzt einen Generalkassensturz vollzog, ob denn der ganze Spaß die Opfer wert war, die sie bringen mußte, noch ob er sich mit ihrer Würde vertrug. Sie wäre jederzeit zu einer Reise um die Welt bereit gewesen, um eine halbe Stunde mit dem Exemplar zu verbringen. Seine Verheiratung änderte an ihrer Haltung nicht das mindeste. Ihre Eifersucht war von ihrer Weisheit und ihrem stets regen Überblick so überboten, daß sie es sich zutraute auch die Eifersucht der anderen zu entwaffnen. Solche Dinge nahm sie gar nicht wichtig. Kurz sie war ein Original.
Daß sie aber mit nichten diejenige war, die sie unter anderen Umständen und in einer anderen Epoche geworden wäre, bedarf keines Wortes. Sie war als ein Kind ihrer Zeit vom heutigen Manne gezeichnet. Das Bestimmende für ihre eigenartige Entwicklung war, daß sie sich schon sehr früh von jener Gattung Männern umringt sah, die, kurz umschrieben, keine épouseurs sind, und daß sie gerade solche Typen am stärksten fesselte. Dies war ihr Schicksal; in unseren Tagen durchaus kein seltenes. Als dann dieser Kreis von „Verehrern“ von dem klassischen Liebhaber gesprengt wurde, war es schon zu spät; und ob sie es auch bedauerte, konnte sie nicht mehr zurück. Jene Utopien, die Tolstoi vor 20 Jahren in seiner Kreuzersonate zu Forderungen zu erheben wagte, sind, wenn auch in einer ganz anderen als der moralischen Tonart, im Unterbewußtsein der jüngeren Generationen rege, vielfach zur Tat und unverkennbar zur Neigung geworden. Indem sie keinem gehörte, behielt Mariclée, wie sie glaubte, auf irgendeine mystische und geheimnisvolle Weise auf alle liebenswerten Männer ein Recht. Zwischen der Eingrenzung oder der Einsamkeit blieb keine Wahl. So wuchs sie denn wie ein halb sublimer und halb absurder Protest ins Leben hinein. In einer Welt, in der man alterte und starb — die zwei einzigen Dinge, die sie nie vergessen konnte — tat sie nicht mit. Ja, alterte und starb sie darum weniger? „Ja, weniger,“ war jedesmal auf diese vernünftige Frage das sinnwidrige Echo ihres Herzens.
Kurz, jene Keime, die sonst in der Frau erstickt zu werden pflegen, und denen der Mann nicht Zeit läßt, ja die er vielmehr zu zertreten und mit anderen Trieben aufzupfropfen und zu kreuzen bestrebt ist, sie hatten bei ihr in eben jenen den Frauen gegenüber so sehr passiven Männern Nahrung gefunden und durften durch Mariclées eigene Geistigkeit, sowie durch manch äußere Umstände begünstigt, mit der ganzen Hitze einer sehr elementaren, jedoch sehr umgewerteten Leidenschaft emporschießen und sich entfalten.
Als sie mit dem Exemplar zusammentraf, war die Natur in ihr schon so stilisiert, daß sie auf den Wogen eines grenzenlosen Meeres, in dem sie unter anderen Konstellationen zweifellos versunken wäre, sicheren Fußes wandelte. Wenn aber das Band, das die Beiden vereinte, aus solchen Paritäten geflochten war, daß keine Zeit, keine Mißverständnisse und keine Eifersucht es zerreißen konnten, so hinderte das nicht, daß eine Welt von Dingen täglich daran zerrte und es verhöhnte. In der Theorie war sie ja eine große Utilitarierin; ihr wahres Leben ahnte niemand. Sie verbarg ihren Idealismus wie einen Höcker (und das war er ja auch) und schnürte ihn so geschickt ein, daß kein Mensch außer dem Exemplar sie darauf taxiert hätte. Was aber ihr Dasein recht eigentlich zu einer Prüfung machte, war, daß sie bei aller Verstiegenheit nicht in den Wolken lebte, sondern haarscharf erkannte, wie diese Welt beschaffen war, was vor ihr galt, und was nicht, und es ihr manchmal recht hart fiel, ihre Position, die jeder praktischen Lebensführung Hohn sprach, nicht nur vor sich selber, auch dem Exemplar gegenüber zu behaupten. Gerade weil sie ein Teil von ihm war, jener Teil seines Wesens aber, den er mit schonungsloser Konsequenz verneinte. Insbesondere sein Herz hatte er mit einer harten Kruste künstlichen Eises überzogen, die er eifersüchtig bewachte und um so fester zufrieren ließ, wo sie einmal nachzugeben drohte. O, sie kannte ihn gut! Noch zuletzt, als sie in Paris zusammentrafen, hatte sie deshalb mit ihm gehadert. Die Tuilerien auf und abgehend, waren sie schon mehrmals vor einer dem Louvre zugewandten Statue vorübergegangen, deren Nacktheit sie entzückte.
„Ich möchte nicht mit Ihnen tauschen,“ hatte sie gesagt. „Für den Genuß haben Sie den Enthusiasmus hingegeben, und für einen solchen Handel waren Sie zu gut. Sie sind nicht glücklich.“
„Sind Sie es?“ hatte er mit leichtem Spott gefragt „und sollten Sie Ihre Argumente nicht vorsichtiger wählen?“ „Ich bin allerdings nicht glücklich,“ erwiderte sie da und wollte etwas geltend machen, aber zugleich war ihre Stimme, wie die Saite einer Violine, jäh entzwei gerissen, so daß sie schnell verstummte, da sie nur mehr über gebrochene Laute verfügt hätte. Denn bei ihr war ja das Eis so jämmerlich dünn, daß der leiseste Druck genügen konnte es einzutreiben. So gingen sie eine Weile stumm nebeneinander her; hinter den Champs Elysées schlugen goldene Wolken wie flammende Verheißungen am Himmel auf und wie immer war es, als ob ein ehernes Gesetz sie zusammenschmiedete, daß sie nach einem Rhythmus und wie eine Gruppe wandelten, denn in Wahrheit waren sie Eins. Sein krasser und ungeheuchelter Egoismus war für Mariclée nur eine Lappalie, mit der man nicht ins Gericht ging. Zwar zog er durch die stillschweigende aber unerhörte Dreistigkeit, mit der er Leute, die ihm mißfielen, ablehnte, einen Ring von Feinden, wohin er auch kam. Aber die paar Freunde, die er überall besaß, hielten dafür blindlings zu ihm, denn loyaler war kein Zweiter; und nie war er ein Feigling, nie ein Verräter; im Ganzen ein so reiner Typ, daß er — für die Phantasie — dem Tod kaum eine Angriffsfläche zu bieten hatte.
Was Mariclée indes von der flüchtigen Begegnung, die sie mit ihm gehabt hatte, denken sollte, wußte sie noch immer nicht. Es war das Präludium gewesen, und erst die Fuge würde sie über das Stück, dessen Tonart sich ja in Bälde zeigen mußte, aufklären. Vorerst, dies wußte sie, würde sie weder von ihm hören, noch hegte sie den Wunsch ihm zu schreiben. Der Feuerzauber auf dem Stellwagendach war gründlich verblasen, und sie gestattete sich keinen Gedanken daran, vielmehr begrüßte sie alles, was sie davon ablenkte und zerstreute.
Als sie übrigens ihre Bilanz aufstellte, seufzte sie ein um das andere Mal. Infolge ihres verlängerten Aufenthaltes stand sie finanziell recht schlimm. Für unvorhergesehene Fälle, sowie für die Heimreise hatte sie erst eine reichlich bemessene Summe von ihrer Barschaft abgehoben und als unantastbar in ihren Koffer gesperrt. Dann erst zählte sie zusammen, was ihr zum Leben für die drei nächsten Wochen blieb. Es war herzlich wenig. Für Ausflüge in die Umgegend so gut wie nichts. Wenn sie sehr sparsam umging, konnte sie sich wohl hin und wieder ein Theater leisten und für die Abende, die sie zu Hause blieb, hatte sie den wundervollen Flügel, der im Saale stand, umringt von verhängten Spiegeln und Bildern und den verschleierten Lüstern und Kandelabern, die so feierlich hinter ihren weißen Umhüllungen erstrahlten. Mariclée liebte die Musik über alles. Ohne den schönen Flügel hätte ihr wohl vor ihrer Einsamkeit gebangt. Doch was für ein Gefährte war die Musik!
Bevor sie ausging, telephonierte sie an den Botschaftsrat.
„Ich fahre heute auf zehn Tage nach Schottland,“ hörte sie ihn sagen. „Treffen wir uns doch um zwei Uhr im Berkeleyhotel. Es liegt in Ihrer nächsten Nähe und für mich auf dem Wege.“
„Es paßt mir sehr gut,“ erwiderte Mariclée.
Wie war sie froh, daß sie ihn noch erreicht hatte, sehr froh, als sie ihn in seiner nachdenklichen und schnellen, aber nie eiligen Weise die Straße heraufkommen sah, sehr froh um die Ablenkung. Sie nahmen an einem der kleinen Tische Platz, rechts saß ein fabelhaft elegantes junges Paar, links ein dicker ältlicher Herr.
„Der könnte wirklich Maier heißen,“ bemerkte sie.
„Er heißt auch wahrscheinlich so,“ meinte der Botschaftsrat.
„Er paßt gar nicht nach London,“ sagte sie kopfschüttelnd, „warum der wohl hier sein mag?“
„Es wäre viel interessanter zu wissen, warum Sie hier sind?“ versetzte er lachend, und sah sie von der Seite an.
„O! um den Engländern auf den Busch zu klopfen,“ erwiderte sie lebhaft. „Ich bin noch lange nicht zu Ende mit ihnen. Es gibt doch kein Volk, dessen Eigenheiten so auf die Spitze getrieben sind. Ein Deutscher, der so deutsch wäre, wie ein Engländer englisch sein kann, ist undenkbar. Wir stellen nie in dem Grade eine Rasse, höchstens etwas Typisches dar. Aber hier! welche Bodenzuständigkeit, mein Gott! man denkt an eine Algensorte. Von Jahr zu Jahr werden sich die Leute hier untereinander ähnlicher. Haben Sie schon bemerkt, daß in allen Teehäusern über ganz England dieselben paar Kuchensorten tagaus tagein gebacken werden, so daß also die Mittelklasse überall ganz genau dasselbe ißt, höchst schauderhaft.“ Und sie fing wieder die englische Gotik zu verwünschen an.
„Wo ist hier Innigkeit?“ fragte sie. „Wenn man da an Nürnberg denkt oder an Wien! Erinnern Sie sich jener kleinen Kirche: Maria am Gestade? wie sangesfroh, welches Jubilieren, welche Seligkeit in den schlanken Mauern. Hier muß man sich schon an die glatten, großfenstrigen Fassadenreihen gewisser Wohnhäuser halten, die gerade in ihrer ewigen Gleichförmigkeit so vornehm und gewaltig wirken. Die englische Gotik aber ist rudimentär und finster, wie ein Blutgerüst, wenn man sie mit der unsern und der französischen vergleicht.“
„Waren Sie in Oxford und Cambridge?“ fragte er. „Das müssen Sie sich aber wirklich ansehen, bevor Sie mit der englischen Gotik so samt und sonders aufräumen! und vergessen Sie ja nicht nach Winchester zu fahren. Übrigens sind hierzulande vor allem die normannischen Bauten zu besichtigen. Dort werden Sie finden, was Sie suchen, ohne es weder in Deutschland noch in Österreich anzutreffen,“ und er nannte ihr diesen und jenen Ort, der nur in drei Stunden, während der andere in zwei, der dritte gar nur in einer Stunde von London aus mit der Bahn zu erreichen war.
Es ging Mariclée auf die Nerven, von all diesen Ortschaften zu hören, die sie doch nicht aufsuchen konnte.
„Was ist interessanter?“ fragte sie, „Oxford oder Cambridge?“
„Sehen Sie sich nur beides an,“ riet er. „Und fahren Sie an einem schönen Tag die Themse hinab. Sie werden es sehr genußreich finden.“
„Ich will auch Whitechapel kennen lernen,“ sagte Mariclée, die nach einem anderen Thema suchte.
„Aber ja nicht allein! Unter keinen Umständen ohne einen Detektiv mitzunehmen,“ warnte er. „Ich kann Ihnen eine vorzügliche Adresse geben.“ Er riß einen Zettel aus seinem Blockbuch und reichte ihn ihr hin, und sie tat, als ob sie ihn aufbewahren würde. Ich werde allein gehen oder gar nicht, dachte sie. Meine paar Schillinge helfen mir wahrlich zu keinem Meilenstiefel. Wieviel normannische Bauten werden da für mich heraussehen? — Sie war recht verstimmt.
„Warum so schweigsam?“ sagte er nach einer Weile. „An was denken Sie?“
„An den schönen Flügel, den ich in Grosvenorstreet habe,“ sagte sie und wandte ihm ein liebenswürdiges und heiteres Lächeln zu. Wenn sie sehr einfache Dinge sagte, die sie doch nur selber verstehen konnte, mußte sie lachen. Draußen stand sein Auto mit seinem Diener und seinem Gepäck, um ihn zur Bahn zu befördern.
„Wo darf ich Sie absetzen?“ fragte er.
„Vor einer Bank. Ich habe nur mehr deutsches Geld.“
Sie verabredeten sich für einen Abend der kommenden Woche, und in Haymarket stieg sie aus.
„Geben Sie acht, daß Sie Ihr Geld nicht verlieren.“
„Keine Gefahr,“ sagte Mariclée. „Ich habe mir innere Brusttaschen anfertigen lassen, genau wie an den Herrenjacken. Meine Erfindung,“ fügte sie stolz hinzu.
„Ja, wenn uns die Frauen etwas nachmachen, so nennen sie das erfinden.“
Lachend winkte sie ihm noch einmal zu. Aber in dem Blick, den er ihr nachwarf, lag fast etwas wie Besorgtheit. Sie sah so schutzlos aus, — als müßte ihr in dieser großen Stadt unbedingt etwas zustoßen, wenn niemand sie behütete.
Gegen Abend schien sich das Wetter immer aufzuklären. Mariclée war den ganzen Tag nicht nach Hause gegangen, sondern schwärmte umher. Als sie endlich müden Fußes heimwärts zog, prangte Piccadilly längst in seinem trivialen Lichterornat, und es war Zeit auf die Suche des Restaurants zu gehen, das ihr noch zu entdecken blieb. Denn in das gestrige wollte sie nicht mehr zurückkehren. Wer dort nicht in großer Toilette auftrat, fiel doch etwas aus dem Rahmen. Zwar ein schönes Lokal mußte es sein. Sie lebte — nicht zu Unrecht — der Meinung, daß sie sich nirgends so wohlgemut ein bescheidenes Essen zulegen konnte, wie in einem teuren Restaurant, denn wer in teuren Restaurants verkehrte, den taxierte man nicht auf Sparsamkeit, wenn er noch so sparsam bestellte, wurde also nicht daran erinnert, sondern durfte vergessen . . . . und darin lag ja für sie die Pointe.
Noch irrte sie unschlüssig umher, als sie in Transparenten den Namen eines Weinkellers funkeln sah, vor dessen Eingang ein mächtiger und gallonierter Schweizer Posten stand. Neugierig trat sie ein, ging eine Treppe hinab und betrat einen niederen, nicht übergroßen, aber eleganten Saal, in dem nicht die übliche grelle Beleuchtung vorherrschte, die sie haßte, sondern jedes der runden Tischchen von einer flotten, mit roter Seide umschirmten kleinen Lampe beschienen war. In der Mitte spielte eine Kapelle, frisch aus Oberbayern oder Niedersachsen importiert, für ein sehr zahlreiches, gut situiertes, wenn auch gemischtes Publikum. Leer stand nur ein Erker mit zwei Tischchen, gleich beim Eingang.
Mariclée nahm eins derselben in Beschlag. Ein Kellner stürzte schnellbereit herzu. Aber der Mensch mißfiel ihr. „Ich habe meine Wahl noch nicht getroffen,“ sagte sie eisig. Sie winkte einem anderem, dessen schönes Äußere ihr sofort aufgefallen war. Von dem wollte sie bedient werden. Aber vorerst studierte sie die Speisekarte: die war allerdings reich an Fährnissen und die Preisliste eine ganze Bank von Klippen. Aber Mariclée wußte sie geschickt zu umschiffen. Sie bestellte das billigste Fischlein, das hier emporschwamm, verlangte mit lässiger Stimme Tee und bemerkte im verwöhnten Tone, daß sie kein Brot zu sehen wünsche, sondern Toast. Heikler konnte man nicht mehr sein. Der Jüngling, der sie jetzt bediente, sprach ein sehr einwandfreies Englisch, dennoch hörte Mariclées empfindsames Ohr den Akzent heraus, sah ihm mit leblosen Augen ins Gesicht und sagte auf Deutsch: „Aber bitte schleunig.“ Da leuchtete das Gesicht des armen Jungen auf, er flog wie der Wind, fragte im reinsten Westfälisch nach ihren Wünschen und brachte ihr alles selbst. In so flüchtigen und beiläufigen Begegnungen konnte sie außerordentliche Devotionen auslösen, da sie infolge ihrer geschärften Sinne bei den Leuten deren Grad als Menschen blitzschnell herausspürte und ohne eine Muskel zu verziehen, durch eine undefinierbare Höflichkeit den Menschen in ihnen salutierte. Im Scheine ihrer roten Lampe las sie jetzt ihre Abendzeitung, die sie draußen von einem Ausrufer gekauft hatte, bis ihr das Essen serviert wurde. Man saß in diesem Erker halb im Schatten, halb im Licht, alles übersehend und selbst unbemerkt. Die Kapelle spielte recht brav. Es war das Restaurant ihrer Träume; das Publikum nicht ganz leicht zu qualifizieren; erstklassige Boheme, wie es schien, hin und wieder eine zu Ehren gelangte Kokotte und hauptsächlich Fremde. Sehr international, sehr gut im Stil, sehr lautlos, scherte man sich hier doch den Teufel um jene Art von „High life“, von der im Berkeley oder Ritz kein Pardon gegeben wird. Die Damen, die hier eintraten, erschienen zwar meist im Gesellschaftskleide und mit Herren, trotzdem fiel Mariclée in ihrem Straßenanzug, besonders, wenn sie hübsch in ihrem Erker blieb, in keiner Weise auf. Von dem Tage an kam sie täglich, saß immer in demselben Erker und am selben Tisch, der immer leer war, als sei er für sie reserviert, und immer von dem gleichen Kellner bedient; und sie aß immer, was er ihr vorschlug. „Was soll ich nur essen?“ hatte sie einmal gefragt. Es war so langweilig sich das jedesmal auszudenken, besser gesagt, auszurechnen. Seitdem wußte er es immer für sie, er stellte ihr jeden Tag ein Menü zusammen, das wie durch Zufall stets dieselbe Summe betrug, hier blieb sie oft Stunden hindurch, meistens mit einem Buch, oder sie kritzelte ein paar Briefe, während die Musik ihre Stimmung unterhielt, oder sie vertiefte sich in den Anblick der Leute, die in ihrer Nähe saßen, wie ein Kind in ein Bilderbuch. In ihr steckte ja auch ein ganzes Stück Kaffeehausbummler und alten Sonderlings. Denn nie war ein Mensch weniger aus einem Guß.
So verlebte denn Mariclée in ihrem schlafenden Palast wie von unsichtbaren Händen bedient und in tiefer aber phantastischer Stille ihre Londoner Zeit; der schöne Rahmen ihrer Einsamkeit hielt den Spleen von ihr ab, und der tosende Hintergrund des ewig fluktuierenden Londons hielt sie belebt, ja hatte sogar etwas von einem berauschenden, fast ein wenig gefährlichen Trank. Wenn sie am Flügel saß in dem weiß verhängten Saale, der im Licht der verschleierten Lüster so blaß und so verschwiegen schimmerte, oder in der Halle vor dem großen, unverhüllten Spiegel vorüberflickerte, kam sie sich manchmal vor wie ein Gespenst, das in diesem Hause umging, von seiner Leere angezogen, und sie malte sich aus, wie ein Mensch, der sie hier plötzlich sähe, bebend vor ihrem Anblick zurückträte, und wie sie keine Stimme fände ihn von seinem Grauen zu befreien, und die Brücke bis zu ihm, so nah er ihr stünde, nicht zu schlagen vermöchte, weil sie nicht mehr lebte . . . . Sie malte sich das aus, weil sie es sich so lebhaft vorstellen konnte; denn wie schon angedeutet, war sie so geartet, daß an der großen Tafel des Lebens, obwohl, oder vielleicht weil jeder Platz für sie so denkbar schien, nicht für sie gedeckt und sie bei der Tischordnung übergangen wurde. Sie saß etwas abseits an einem Katzentischchen, wo ihre Beziehung zum Genuß ebenso ausgesprochen blieb wie ihre Distanz. Sie war nicht resigniert, da sie niemals mit den Dingen abschloß, und das Unwiderrufliche ihr noch lange nicht als unentrinnbar galt. Vielmehr erachtete sie ihr äußeres Dasein als eine so dürftige Schale, die von einem ganzen Strom von Möglichkeiten, die von ihr ausstrahlten, so wenig auffing, daß sie es verschmähte mit einem so schlecht bemessenen Quantum sich abzufinden. Sie kam zu ganz anderen Schlüssen: „Man lebt nicht einmal,“ deduzierte sie. So war sie nicht resigniert, sondern zuckte die Achseln und war einverstanden. Es gab so viel andere Dinge. Was aber eine eventuelle Sinnlosigkeit derselben betraf, so lag es nicht in ihrer Natur sie ernstlich in Betracht zu ziehen. Dazu war sie viel zu glaubensselig. Vielmehr hatte sie sich auf dieser Bahn so weit hinausgewagt, daß sich für sie die Grenze zwischen Lebenden und Toten bedenklich verwischte und verschob. So konnte sie fortfahren, sich mächtig über jemanden zu ereifern, ob er auch längst dahin war, und ihre Antipathie war deshalb nicht geschmälert. Andererseits hatte sie manche ihrer Beziehungen, die unbestimmt und gestört oder unterbrochen gewesen waren, durch den Tod des Betreffenden gefestigt und geklärt gefunden, und sie hätte den Tod am liebsten mit einer Blendlaterne abgebildet, so grell und deutlich war der Schein, den er auf das Antlitz dessen, den er traf, gerichtet hielt. Es war seltsam, daß Mariclée, die das Leben so vielfach als Hemmung empfand und die befreiende Aktion des Todes so wohl erfaßte, ihn trotzdem mit einem so glühenden Hasse verfolgte, denn „verfolgte“ war komischerweise das Wort.
Im großen ganzen war sie sich wohl bewußt, daß der Aufenthalt in dem weitläufigen und stillen Palast wiederum nicht das richtige für sie sein konnte, denn sie wurde immer versonnener. Die alte Klara war sich über ihre Schutzbedürftigkeit bald klar geworden. Diese treue alte Seele, zur Kindsfrau wie geboren, fing an sie ganz als ihren Pflegling zu behüten und zu hegen. Es geschah oft, daß Mariclée, wenn sie nicht an den Hausschlüssel erinnert wurde, ihn mitzunehmen vergaß, so daß sie läuten mußte, wenn sie heimkam. Das Augenmerk der Alten galt dann immer ihrem Aussehen: „You look tired, Madam,“ sagte sie oft und blickte sie fürsorglich an. Dadurch wurde Mariclée erst an ihre Müdigkeit gemahnt, und es fiel ihr auf, wie verlassen sie war. Wer schützte sie? Wer hatte je auf ihre Müdigkeit geachtet? oder eine Bürde von ihren Schultern gehoben? wen kümmerte ihre Müdigkeit. „Yes, I am tired, Clara,“ sagte sie.
London war noch leer, aber schon gab es genug Leute, die auf ein paar Tage oder ein paar Stunden in der Stadt auftauchten, wie Wellen her und wieder weggetrieben. Denn sein Londoner Stadthaus als Taubenschlag zu halten, ist ja strikte Mode. Je großartiger es ist, desto intermittierender wird es bewohnt, desto sicherer steht es vom Freitag bis zum Montag leer und die vielen, in allen schönen Vierteln zur Miete oder zum Verkauf ausgebotenen Häuser hatten in der Tat etwas leis erschreckendes, wie erste welke Blätter im sommerlichen Laub.
Eines Morgens — es war ungefähr eine Woche später — entschloß sie sich, kurzerhand nach Oxford zu fahren. Aber kaum war sie dort angekommen, als sie ihre Energie zusammennehmen mußte, um nicht sofort kehrtzumachen, mit dem nächsten Zug wieder zurückzufahren und sich schleunigst in ihre Grosvenorstreet wieder zu vergraben, so schwer fiel ihr, angesichts der toten Straße, die sich von der Bahn aus hinzog, und deren Ende nicht abzusehen war, die Tatsache, daß das Exemplar ihr noch nicht geschrieben hatte, aufs Herz. Ein barscher Wind wirbelte ihr Staub in Mund und Augen, und im kreidigen Licht rollte träg ein Trambahnwagen wie der verkörperte Alltag einher. Vielleicht ist es aus Koketterie, daß sich Oxford dem Ankömmling so öde und schmucklos kündet. Erst als sie in das Herz des alten Städtchens eindrang, wurde sie wie von einem Zaubermantel dahingetragen, und ihr Sinn fing sich an den windschiefen Giebeln, den schwermütigen aber unbeugsamen Glockentürmchen weltweiser Klosterhöfe. Als dann nachmittags die Sonne schien und das Flüßchen von Magdalens College rötete und über Addisons Allee eine purpurne Fahne schwenkte, vergaß sie sogar, daß sie keine gelben Blätter ertrug, denn das goldene Laub schien nur in Schweigen versunken, um tausend Gesängen zu lauschen. Sie stand, erhobenen Hauptes und selbst vom Glorienschein dieser herbstlichen Sonne umwoben, als dicht vor ihr ein Häuflein Studierender heranrückte. Es waren wohl nur die paar ganz fleißigen, die sich schon eingefunden hatten, denn die Ferien waren noch nicht zu Ende. Sie gingen im Gespräch um einen älteren Mann (offenbar einen Lehrer) geschart, und aus ihren Mienen war ersichtlich, daß sich ihr Eifer gerade auf ein wissenschaftliches oder philosophisches Thema konzentrierte. Sie stutzten, als sie Mariclées ansichtig wurden, starrten sie ein wenig verwundert an und zogen schweigend an ihr vorüber. Erst als sie ihr den Rücken gedreht hatten, nahmen sie das Gespräch wieder auf, und sie sah, wie einer der Schüler, dem älteren Manne zugewandt, lebhaft gestikulierte, während dieser ihn reden ließ und aufmerksam zuhörte. Ach! — Ihr war niemals ein Mentor beschieden gewesen! —
Es zog sie wieder ins Haus, um noch einmal durch die Höfe und Gänge und Säle von Magdalen College zu streunen. Hie und da lagen Bücher und Hefte, sonst war alles leer. Als sie zu einer Pforte gelangte, über der zu lesen war, daß fremde Besucher hier umzukehren hatten, reizte es sie natürlich hineinzugehen. Denn Mariclée hielt sich stets für befugt, wenn es irgend anging, solche Inschriften zu mißachten. Der Eingang war nur verboten, aber nicht verschlossen; sie drang nun in Gänge vor, in welchen sich die Studentenzellen aneinanderreihten, und in ein Winkelwerk von kleinen Treppen, Erkern und Stufen und stand plötzlich vor einer Türe, die halb offen stand und den Blick in ein reizvolles und lauschiges Zimmer gewährte. Sie sah einen Kamin, in dem hohe Flammen loderten, eine Teekanne, einen seidenen Flaus, ein vergittertes Fenster mit einem Rosenstock, das auf die Säulengänge des Klosterhofes hinausging, viele Bücher und die Lehne eines tiefen Sessels, in dem ein Jüngling weit zurücksaß, lesend, oder rauchend, oder sinnend, sie wußte es nicht, denn sie sah nur einen braunen Scheitel und eine weiße Stirn. Das andere verdeckte die Tür. Aber die Stimmung dieses Raumes, die roten, von der Sonne beschienenen Rosen am vergitterten klösterlichen Fenster, der Jüngling und das Bild seines Lebens an dieser privilegierten und weihevollen Stätte, bannten da Mariclées ewig schweifenden Geist in sehnsuchtsvolle Träumerei. Denn hier war etwas, was sie an der Wurzel packte, so daß sie sich auf ein Weilchen der Last und Zweifel, die ihr Herz täglich schwerer drückten, nicht mehr entsann. Denn der Grund, warum sie so abseits und so vereinzelt im Leben dastand, lag ja nur darin, daß gewisse Saiten, die bei anderen nur sporadisch oder nur leise anklingen, der eigentliche Grundton ihres Wesens waren. Denn die Abnormität ihres ganzen Gefühlslebens beruhte ja nur darin, daß sie bei einem Dinge oder einem Menschen, der sie zur Leidenschaft hinriß, viel weniger dachte: „O gehörte er mir!“ oder: „O wäre ich sein“ als „O wäre ich er“. Ihre Identität war so locker geschraubt und, wo sich ein Anlaß bot, stets so bereit in die Brüche zu gehen, daß sich gewisse Lücken im Register ihrer Begriffe ergaben und sie nicht recht verstand, was wir mit unserem so begreiflichen Wunsch nach der Kontinuität unseres Bewußtseins sagen wollen, weil ihr nichts so willkommen war, als von diesem Bewußtsein abzusehen, ja sie nie so sehr sie selbst war, als wenn sie auf ein Objekt stieß, mit dem sie ihre Identifikationen feierte. Dies war ihr Ideal der Vereinigung. Und darum stand sie jetzt wie ein weiblicher Faust an der Schwelle dieses Jünglings eine Weile still und konnte sich nicht von ihr trennen und empfand sein Leben und Sein und seine männliche Jugend als etwas so Holdes und Begehrenswertes, daß eine namenlose Sehnsucht sie an seine Nähe ketteten.
„Wer da?“ rief er plötzlich und sprang auf. Da erschrak Mariclée, als wäre sie eine Nachtwandlerin, die im Mondschein auf einer Dachzinne lustwandelt, und bevor er Zeit hatte die Türe zu erreichen, rannte sie wie der Wind die verbotenen Gänge entlang, floh, ohne sich umzusehen, die Treppen und Erker hinab, stob wie der Wind ins Freie und auf die Straße hinaus dem nächsten Wagen zu, der sie geradewegs zur Bahn und ihrem Zuge zurücktrug.
Als sie gegen Abend die Glocke ihres geliehenen Palastes zog, eilte ihr die alte Klara aus ihrem verborgenen Revier entgegen. Sie hatte längst bemerkt, daß Mariclées erster Blick stets auf den Marmortisch gerichtet war, der in der Halle stand und auf dem die tagsüber eingelaufenen Briefe lagen. „No letter, Madam,“ berichtete sie.
Wir wollen während der drei folgenden Wochen nur flüchtig bei Mariclée verweilen. Sie ist dem Leser in ihrer geringen Stetigkeit so wohl vertraut, daß er sich ohne Mühe vorstellen wird, wie sie ihre Londoner Zeit verbrachte. Immer seltener war sie vor dem Flügel des weißverhängten Saales anzutreffen, vielmehr suchte sie sich selber auszureißen und es litt sie immer weniger im Hause. Zum Glück hatte der Botschaftsrat seinen ersehnten Urlaub noch immer nicht erhalten, denn die Gespräche mit ihm waren ihr ein rechter Trost, und sie faßte dann ihre Eindrücke in langen Monologen zusammen. Trotz Oxford hatte sie sich für die englische Gotik nicht erwärmen können, zudem sie sich dort an einem übel restaurierten Turm stieß, der in ihrer Erinnerung das Bild des Städtchens beherrschte. Wenn sie an Oxford dachte, sah sie mit der ihr eigenen Parteilichkeit in erster Linie jenen Turm.
Die Angst mit ihrem Gelde nicht auszureichen hielt sie von weiteren Ausflügen ab. Durch einen Abgeordneten war sie jedoch glücklich ins Parlament eingedrungen und glaubte dort den wahren Grund gefunden zu haben, warum England keine Musik besaß. Seine Sprache war zu moduliert, zu reich an Intonationen; schön gesprochen war sie die herrlichste der Welt; sie schloß die Musik aus, wie jene Gedichte, die sich nicht komponieren lassen, weil sie an sich zu klangvoll sind. Diese Wahrnehmung hatte sie bezeichnenderweise im Parlament und nicht im Theater gemacht; das Pathos ist in der Tat keiner Sprache so gefährlich wie der englischen. Sie kam enttäuscht von einem „König Lear“ zurück, den man in Deutschland viel stilvoller gab, ohne in den Zwischenakten neueste Operettennummern herunterzududeln. Was sie sonst an neueren Stücken sah, war alles von Übel. Hatte sie mit den Londoner Theatern kein Glück, oder war die geistige Nahrung wirklich so bescheiden angesetzt? Sie mußte unwillkürlich wieder an die drei Kuchensorten der tearooms denken. Hier wie dort dieselbe Genügsamkeit. Doch vom Wesen dieses Volkes blieb sie nach wie vor entzückt. „Ich habe eine Entdeckung gemacht!“ verkündete sie dem Botschaftsrat, „aber diesmal eine wirkliche! Wissen Sie, was die Engländer vor allen Dingen sind? was sie weit mehr sind als wir Deutsche, von den Franzosen nicht zu reden?“
„Nun was sind sie denn?“
„Sie sind im hohen Grade sentimental.“
„Ja, das ist sehr wahr,“ sagte er.
Aber eine Woche später konnte man diese Entdeckung in allen Morgenblättern lesen, die Aufregung der Engländer war sogar nicht gering, ja sie standen förmlich auf dem Kopf deswegen, und sie war die Sensation des Tages. Nur hatte Herr Delcassé das Patent darauf, denn er war es, der sie in einer öffentlichen Rede über England den erstaunten Franzosen zur Kenntnis brachte. Mariclées Entrüstung war komisch anzusehen. „Sie sind mein Zeuge!“ rief sie an jenem Abend ihrem Jugendfreunde zu und warf das Blatt erbittert hin, „wer hat das zuerst gesagt? aber ich darf die gescheitesten Lichter aufstecken. Sie fallen alle kopfüber unter den Scheffel.“
Es war ihre letzte Zusammenkunft, denn er hatte den ersehnten Urlaub endlich in der Tasche. Mariclée war es jetzt auch recht, daß er von der Bildfläche verschwand, denn die dritte Woche war nicht mehr fern. Bei diesem Gedanken überlief sie ein so tiefer Schauer, daß sie schnell von Krieg und Frieden sprach und das Gespräch gewaltsam auf die Ereignisse des Tages lenkte.
Die zweite Woche neigte ihrem Ende zu, als sie in der Zeitung las, die Ärzte hätten das Exemplar an die südlichste Küste Englands geschickt, um sich dort von einem neuerlichen und besorgniserregenden Rückfall zu erholen. Da warf sie das Blatt hin und schrieb ihm schnell entschlossen: sie würde noch drei Tage zugeben, aber länger könnte sie ihre Abreise nicht hinausschieben, und sie setzte Tag und Datum ihrer Abreise fest. Auf seine Gesundheit ging sie mit keinem Worte ein. Er konnte das ja nicht leiden.
Dann schrieb sie an ihre Freundin, daß sie statt am 27. September gerne erst am Morgen des 30. führe, um mit Freunden in Paris zusammenzutreffen, die sich nicht früher dort einfinden konnten. Man schrieb jetzt den 20., warum sie gerade den 30, genannt hatte, wußte sie nicht. Es geschah ganz blindlings — hauptsächlich, um einen Schluß zu machen.
Denn sie fühlte, daß sie es nicht viel länger ertrug so ins Ungewisse hinein auf ihn zu warten. Ihre Kräfte hielten nicht mehr stand, gerade weil sie so gewaltsam mit ihnen verfuhr, sich immerwährend zwang bald für dieses, bald für jenes mit Feuereifer Partei zu nehmen und an alles zu denken, nur nie an das, was sie ganz erfüllte und Ziel und Zweck ihres Hierseins war. Dieser stets unterdrückte Gedanke war jetzt wie zu einem Fieberherde geworden, der immer stärkere Schauer in ihre Adern aussandte und sich nicht länger ausschalten ließ.
Mariclée verließ das Haus, um ihre zwei Briefe sofort in den Kasten zu werfen und bog dann, wie gewohnheitsmäßig, in Piccadilly ein. Es war Mittag, und der Tag lag vor ihr leer wie eine Wüste. Die kleine Zeitungsnotiz in ihrer kahlen Trostlosigkeit schwebte vor ihren Augen, nichts anderes klang in ihren Ohren. Aber was war da zu sagen? Er verschmähte es von jeher über Dinge, die unerbittlich waren, eine Silbe zu verlieren. Es war seine hochmütige Art sich mit ihnen auseinander zu setzen. So hatte er auch nie Abschied von ihr genommen, wenn sie auseinandergingen, als sei er der grauenvollen Unsicherheit des Lebens, die nur ein höhnisches Achselzucken verdiente, stets eingedenk. So gab er jetzt wohl das Spiel verloren, ohne ein Wort. Er hatte ganz recht. Sie blieb stehen und starrte in einen Laden. Was für schöne Blumen! dachte sie. Azaleen, mächtige Büsche langstieliger, kaum erschlossener roter Rosen, wie schön, wie lebendig! Warum sterben wir? — Und plötzlich entschloß sie sich da nach Hampstead zu fahren. Die guten Leute, die sie dort einmal so freundlich aufgenommen und erfahren hatten, daß sie wieder in London sei, waren wiederholt gekommen, um sie aufzufordern, sie hatte immer zugesagt und war nie hingegangen. Sie konnte London nicht verlassen, ohne sie aufzusuchen. Und sie nahm den undground, kam aber schon bei der nächsten Station wieder ans Licht. Nein! sie konnte keine Menschen sehen, mit denen sie sprechen mußte. Würde sie denn eine Stimme haben? Sie fühlte, wie unsicher sie in ihrem zugeschnürten Halse saß, und den Flor, der wie Nebelstreifen immer wieder über ihre Augen zog. Dem Botschaftsrat, der sie für den Abend erwartete, hatte sie schon abgesagt. Was kümmerte sie der? Von der Welt, in der sie wandelte, zur seinigen führte kein Steg, keine Brücke mehr. Ein Sturm hatte alles mit fortgerissen und alle mühseligen Dämme durchbrochen! Denn nicht für einen Augenblick konnte sie mehr vergessen. —
„Vielleicht stirbt er,“ sagte sie ganz laut und riß die Augen auf. Sie winkte einem Hansom. Der Kutscher schüttelte den Kopf. Da stieg sie rasch in einen Omnibus. Er war voller Leute. Ja, hier wollte sie bleiben. Sie wollte Menschen um sich haben, viele fremde Menschen, mit denen sie nicht zu reden brauchte, zu ihnen hinrücken, wie eine Frierende an den Feuerstoß. Waren sie nicht tausendmal besser als ihr erbärmliches Los?
Zwar fand sich dieser düstere Ideengang in den munteren Mienen zweier Dämchen, die ihr gegenüber saßen, nicht eben bestätigt. Die eine sah jetzt zum Fenster hinaus, stieß die andere und machte sie auf irgendeine Straßenerscheinung aufmerksam, worauf sie sich beide zugleich gegenseitig anstießen, indem sie hocherfreut verständnisinnige Blicke wechselten. Und mit einem Male kehrte sich die ganze Reihe der Wageninsassen derselben Richtung zu und die übrigen reckten die Hälse, um zu sehen, was es gab.
Mechanisch folgte Mariclée diesen neugierigen Blicken und sah einen Schimmel, der in einem großen Karren stehend, von zwei Pferden gezogen, herannahte. Also das war die Sensation. Es mußten schon recht leere Köpfe sein, die hier zusammensteckten, daß ein so nichtssagender Anblick sie alle so erfüllte. Besonders die beiden Dämchen sahen ganz enthusiasmiert hinaus, als könnten sie sich an diesem dumm und geduldig dreinschauenden Pferd gar nicht genug sehen. Aber nun erinnerte sich Mariclée, daß es in England als ein großes Glückszeichen galt, einem solch einhergezogenen statt einherziehenden Schimmel zu begegnen. Daher die Stimmung, die im Wagen entstanden war. Konnte man sich etwas dümmeres denken? Da mit einem Male gedachte sie der Briefe, die sie vorhin in den Schalter geworfen hatte und die wohl jetzt, vielleicht in eben diesem Augenblicke, ausgehoben wurden. Und der Gedanke durchzuckte sie: wie, wenn er doch käme? . . Sie war also auch nicht besser.
Tags darauf traf ein sehr herzlich gehaltenes Telegramm ihrer Freundin ein. Vom Exemplar nichts. Da ließ sich Mariclée von einem jungen Ehepaar auf ein paar Tage nach Haslemere entführen und machte die Freitag auf Montag Mode mit. Sie war mit der übrigens sehr hübschen Frau von früher her sehr gut bekannt, eine jener Amerikanerinnen, vor deren triumphierender Mitgift die Türen der Londoner Salons sich wie magisch in ihren Angeln drehen. Mariclée war ganz zufällig auf der Straße mit ihr zusammengetroffen, und nun fuhr sie in Charles Street vor, duldete keine Absage, keinen Widerspruch und keine Bedenken, sondern half ihr eilig zusammenpacken, um sie gleich in ihrem Auto mitzunehmen. Dabei machte sie bestürmende Augen, wie ein Kind. Ihr Teint war sehr matt, und eine rote Locke, die sich unter ihrer seidenen Haube gelöst hatte, hing ihr ins Gesicht. Mariclée, die sehr oft nicht wußte, was sie selber wollte, ließ sich überrumpeln. Einesteils graute ihr wieder vor der Einsamkeit, eine Unterbrechung und eine andere Umgebung war ihr willkommen. Sie schärfte beim Abschied der alten Klara ein wohl auf ihre Briefe zu achten (sie ließ sich keinen nachsenden, aus Angst, er könnte verloren gehen), am Samstag gedachte sie sie unter irgendeinem Vorwand anzurufen, Sonntag kam sowieso keine Post, und am Montag früh würde sie ja zurückkehren.
So fuhr sie denn mit.
London lag bald hinter ihnen. Ein rauschender Wind wehte von der Hampsteader Heide herüber, und den fernen Tiefen entstiegen blaue und violette Wolkenbänke. Himmel und Erde schienen sich auf dieser Insel näher anzugehen als andernorts. Mariclée, in ihre Wagenecke gedrückt, machte sich die Bemerkungen über ihr müdes Aussehen wohl zu nutze, indem sie nichts sprach. So war sie allein. Die Straße, die sie fuhren, drang in einen starken Wald und als wieder das offene Land vor ihnen lag, war die Welt von der ersten Pracht der Dämmerung wie neu umhangen. Mariclée nahm sie losgelösten Sinnes und in ungestörter Einsamkeit, als wäre sie ein Flieger, in sich auf. Selbst wenn sie etwas sagte oder sagen hörte, drang es nicht bis zu ihr, so sehr hatte sich ihr Kontakt mit der Natur verstärkt. Es war, als tauschte sie Blicke mit den Dingen, die sie sah. Ein reiner Himmel überhing die Hürden, und gerade vor ihr, flimmerte da nicht die silberne Sichel des Neumonds zu ihrer Linken und traf sie wie ein unerwarteter Gruß? . . . .
In dem Hause ihrer stürmischen Freundin fand sie eine sehr lebensfrohe Gesellschaft vor und plauderte an diesem Abend mit Männern, die einhergingen und sich hielten wie Götter, und sich glichen wie Brüder. Es war seltsam, wie gut sich Mariclée mit solchen Leuten vertrug, und wie leicht sie selbst auf ein Weilchen die Nachdenklichkeit von sich zu bannen und dieselbe Geste anzunehmen wußte wie diese Menschen, die über alle Güter dieser Welt verfügten und von den Slums wußten, wie man von der Milchstraße weiß. Aber während sie sich selbst auf ihrer Bühne bewegte, merkte sie plötzlich, wie schmal sie war; und sie maß sie, so oft sie sie selber beschritt, mit einem halb überlegenen, halb abenteuerlichen Gefühl, weil sie über ihre Ein- und Ausgänge so wohl orientiert war und über die Pfade, die abseits von ihr führten, und in welcher Richtung eine gewisse Folterkammer der Sorgen lag, deren Schatten nicht bis zu dieser Bühne gelangten. Denn nicht einmal die Kulissen derselben durften diese Bevorzugten in der Regel betreten, sondern waren streng an die paar glänzenden Bretter gewiesen, um als ein Blendwerk für andere heraußen zu stehen. Sie erkannte auch, warum das Geld nun einmal alles andere war wie ein Lebenselixir, so daß sich im Verkehr mit den sehr reich Geborenen leicht eine gewisse Dürftigkeit ergab, indem ja ein ganzes Paradies bitterer und süßer, vornehmer und ergreifender, feiner, edler, komischer und kurzweiliger Dinge bei ihnen wegfiel, und man sie mit ihnen nicht besprach, weil sie nichts davon wissen und sie in ihrem gemütlichen wie in ihren gemütsvollen Nuancen nicht verstünden. Und Mariclée, die auf ihre Armut doch so erbittert war, wurde stets von einer stolzen Neidlosigkeit überkommen, wo sie sich mit Millionären zusammengeworfen sah, als sei es irgendwie vornehmer, ihnen nicht zuzugehören.
An diesem Abend tanzte, rauchte, lachte und flirtete sie, schwirrte mit federleichten Schritten über den Saal und brachte es zustande und es tat ihr wohl, sich in ein anderes Wesen hineinzuträumen und zu vergessen, wer sie war. Unter den Gästen befand sich eine junge Frau in einem fabelhaften blauen Atlaskleid, mit schwarzen Reflexen wie hineingemalt. Sie pflegte von Freitag auf Montag ihrem alternden Gatten auszureißen und hatte die an sich recht simple Methode ein Achselband, das sich nie verschob, zurechtzurücken und eine Locke, die sich niemals löste, aus der Stirn zu streichen. In absehbarer Zeit würde sie ja diese Geste verlernen müssen. Infolge der schönen Dinge aber, auf die sie deutete, war sie vorläufig noch berückend. Mariclée, die an ihr vorübertanzte, fing einen unvorsichtigen, verheißungsvollen, um Erfüllungen wissenden Blick auf, folgte im Fluge seiner Richtung und sah zwei andere Augen, die sich füllten wie das Herz einer Nelke, ein Hin und wieder, blitzartig schnell und nicht einzuholen.
„Solche Blicke zu werfen!“ dachte die tanzende Mariclée. Warum hatte sie sich um diese Kunst betrügen lassen, sie, die niemand etwas schuldete? Der Wortlaut der Zeitungsnotiz brauste jetzt wieder in ihren Ohren. Was war da noch zu hoffen? — Vielleicht trug man ihn die Treppen auf und nieder, wie vergangenes Jahr. Vielleicht hatte man ihm ihren Brief nicht nachgesandt, vielleicht war er zu krank ihn zu lesen.
Sie warf sich in einen Stuhl und ihr Partner setzte sich zu ihr. Er war ihr Tischherr gewesen und sein Äußeres hatte sie mehr frappiert als seine Worte. Wenn nur unsere deutschen Männer so aussähen! dachte sie. Welche Gestalt, welche Zeichnung. Er erzählte ihr jetzt vom Burenkrieg und daß er so viele Kameraden dort verlor. Und er haßte die Deutschen.
Mariclée schüttelte den Kopf. „Woher stammt unsere heutige Unrast, unser die ganze Welt umspannendes Heimweh?“ seufzte sie. „Halbheit ist überall und rückständig sind wir alle. Auf die Dauer ist heute jeder Ort verschlagen und dem Gefühl entlegen.“
„Oh!“ räumte er auf. „I dont find that at all.“
Mariclée lachte und sah ihm ins Gesicht.
Aber wo war die Dame in dem schweren Atlaskleid, das flammende Blau mit den schwarzen Reflexen fehlte im Bilde wie der starre Guß des Rockes, glatt wie Erz, der ihre edlen Maße besang.
Der Saal lag im Erdgeschoß, ein paar weit auslaufende, breite Marmorstufen führten direkt in den Park, das Wetter war so milde, daß die Flügeltüren offenstanden.
„Sie haben die berühmte Fontäne im Park noch nicht gesehen?“ sagte ihr Partner nach einer Weile, „darf ich sie Ihnen zeigen?“
„Jetzt?“ rief sie erstaunt. „Es ist ja dunkel.“
Sie glaubte ein leises Befremden in seinen Augen zu lesen, und weil ihr nichts so verhaßt war, als für eine Naive zu gelten: „Wo ist sie denn?“ setzte sie schnell hinzu.
„Wollen wir gehen?“ fragte er. Und Mariclée nahm ihren Umhang, der irgendwo in der Ecke des Saales lag. Er war von breiten Bändern wie ein Schäferhut gehalten und sie warf ihn über ihre schöne Achsel. Wie sie, halb ihrem Begleiter zugewandt, die Stufen hinunterging, hoben sich ihre Umrisse mit verräterischer Leichtigkeit von der hell erleuchteten Türe ab. Denn der kühne Mangel an Gewicht und Schwere, der ihr inneres Wesen kennzeichnete, lag auch in ihren Linien. Sie drangen jetzt in die stillen Alleen ein, und wovon hätten sie gesprochen, wenn nicht von Liebe. Mariclée, die sich sehr gerne über dieses Thema unterhielt, äußerte mit ihrer modulierten Stimme Dinge, die sie nie geäußert und nie gedacht und die sehr durchdacht und kundig klangen. Den Brunnen hörte man schon rauschen. Er lag in einem weiten flachen Rasenviertel, und ein hoher Strahl, den er emporsandte, fiel müßig plätschernd zurück. Das Merkwürdige daran war sein effektvolles à l’italienne, in einer offenen Balustrade mündendes Bassin, und daß man wie aus einer Waldespforte unerwartet zu ihm trat.
Aber noch unerwarteter war der Anblick, der sich ihnen hier darbot; ein zweites Paar: die Dame im schweren Atlaskleid, die sich küssen ließ. Mariclée wollte zurücktreten, aber die beiden verfolgten schon ihren Weg weiter in den Park sichtlich ohne eine Ahnung, daß man sie gesehen hatte.
„Ich bin froh,“ sagte Mariclée leise, „daß wir keine Störenfriede gewesen sind.“ Eigentlich hatte sie große Lust zu lachen. Er indessen lachte nicht, noch sprach er, und sein Gesicht schien schärfer und lebendiger geworden. Da graute ihr. Es war, als zögen sich eiserne Maschen um ihr Herz, und als senkte sich ein unsichtbares Visier über ihre umschatteten Züge. Aber zum Unglück versah sie sich der Putten nicht, die an den Eckstufen der Balustrade kauerten, glitt aus und wäre gefallen, hätte sie nicht ein starker, schnell bereiter Arm gehalten. Sie fand ihr Gleichgewicht sogleich wieder, aber statt ihr seine Stütze zu entziehen, trat er härter an sie heran und drückte sie an sich. Da, im Nu sich bäumend, wandte sie ihm, ohne ein Wort zu sagen, ein Antlitz zu, das für sich selber sprach, grau, fahl und schroff, wie eine Bergesfurche, einen Blick voll Abneigung, ja voll Haß. Und er ließ sie los, als wäre sie eine Schlange.
Aber Mariclée hatte sich schon gefaßt.
„Ein Springbrunnen ist doch wirklich nicht der geeignete Platz,“ sagte sie mit erkünsteltem Spott; „daß es uns ginge, wie den beiden vorhin, die unsere Schritte nicht hörten. Was dächte man!?“
„Was dachten wir?“ sagte er.
„Aber da war doch anzunehmen“ . . . . . sie brach schnell ab. „Ich bin die wildfremde, gestern erst Gekommene. Ist das deutsch? würde man fragen, ja schlimmer: man würde lachen.“
Sie konnte ihm doch nicht gestehen, daß sie selber es war, der solche Dinge, über die sie so schön theoretisieren konnte, in der Praxis unmöglich erschienen, weil sie durch ihr Geschick von je darum betrogen wurde und sie unwiederbringlich hinter ihr lagen, ohne daß sie sie je erfuhr.
„Wollen wir gehen?“ fragte er.
Aber Mariclée hatte jetzt Augen wie ein Luchs. Bevor sie mit ihm durch diese schwarze enge Waldespforte weiterzog, mußte sie ihm etwas Geschicktes, Trennendes zu sagen finden. Aber die rechten Worte standen ihr nicht zu Gebote.
Aus dem Rasen-Viereck stach eine weiße Steinbank hervor. Ein wenig hinkend, als könnte dies ihre Kontenance verstärken, ging sie darauf zu.
„Bleiben wir doch einen Augenblick,“ schlug sie vor. Von ihrer Abneigung, ihrem schnell bereiten Haß wußte sie nichts mehr. Sie begriff so wohl, daß man mit diesem Manne ein paar Tage, ein paar Wochen, ein paar Monate glückliche Zeiten lebte, und daß man ihm nicht widerstand. Es ging ihr nur wie an jenem Tage bei Selfridge: aus irgendeinem Grunde durfte sie wieder nicht mittun und mußte vom Tanzboden herab.
So wenig subtil er war, hatte ein Etwas in ihrer Haltung sein Mißtrauen doch erregt.
„Haben Sie jemandem die Treue geschworen?“ fragte er mit leisem Hohne. „O ich bin selbst die Hintergangene!“ lachte Mariclée. „Meine Moralitäten haben keine moralische Basis.“
Zwischen den schwarzen Tannen sahen die Sterne mit fast böser, fast bedrohlicher Nähe herab.
„Ungeliebt hinabzufahren,“ ja das war ihr schwermütiges Verlangen geworden. Aber warum log sie und machte sich schlecht? als sei es schmählich zur Treue an sich selbst gezwungen zu sein? Sie atmete auf, als jetzt unter der dunklen Waldespforte die Dame im Atlaskleid mit ihrem Gefährten sichtbar wurde. Etwas eilig rief und winkte sie ihnen von ihrer Bank aus zu.
„Hatte ich nicht recht?“ sagte sie dann leise. „Wer bürgt uns, daß sie uns die Diskretion vergolten hätten, die ihnen von uns widerfahren wird?“ und sie sah ihn mit einem trügerischen Lächeln an, als sei ihr nur die Gelegenheit nicht günstig genug gewesen.
Aber auch die Dame war sehr froh um die Begegnung. Es machte sich doch viel besser zu viert zurückzukehren!
Das große, luftige Turmzimmer, welches Mariclée in diesem Hause bewohnte, hatte sie gleich auf den ersten Blick merkwürdig angeheimelt. Irgendwie hatte es Stimmung, man wußte nicht warum. Von der schönen Landschaft allein, mit welcher der weitausspringende Erker gleichsam in unmittelbarem Kontakte stand, konnte sie nicht herrühren, denn die blumigen Vorhänge waren jetzt zugezogen, und doch behielt das Zimmer seinen eigentümlichen Zauber. Mariclée öffnete die Fenster und stieß die Läden zurück. In London hing die Nacht so totenstill, man fühlte nur die unbewegte, vom Ruße ewig durchsickerte Luft. Wie strömte sie hier! Wie rauschte der Nachtwind auf weiten Flügeln einher! Oder war es der Morgenwind? Man trennte sich so spät in diesem Schlosse. Selbst jetzt saßen unten noch einige beisammen, ein greller Lichtstrahl ergoß sich vom Saale aus über den Rasen und den sandigen Vorplatz und Stimmen drangen herauf. Smartness war hier das Hausgesetz; das einzige, auf das es ankam. Smartness bis zum Point d’Honneur, bis zur fixen Idee. Es war schon fast nicht mehr smart, so smart zu sein; aber für ein oder das andere Mal, von Freitag auf Montag fand Mariclée ein solches Leben unterhaltlich und wert gekannt, wenn auch nicht gelebt zu werden. — Auf ihrem Bette lagen, wie üblich, wieder eine Anzahl Bücher, und gewohnheitsmäßig versuchte sie zu lesen, streckte aber alsbald den Arm nach der zierlich umschirmten Lampe aus, um sie auszudrehen, und schlief augenblicklich ein.
Plötzlich, wie auf einen inneren Stoß hin, und von einem leisen, unerklärlichen Schrecken erfüllt, riß sie die Augen auf. Sie lag jetzt im Dunkeln, den Blick auf die weite Sternenbahn, die vor den offenen Erkerfenstern still feierlich vorüberzog. Und in der Ferne, und schon wie abgekehrt, der wissende, erbleichte Mond.
Sie war so schläfrig gewesen. Warum war sie so schnell erwacht? des kühlen Luftzuges wegen, den sie spürte? O nein! — ihre Wangen, ihre Hände fieberten. Welch holder Dämon war an ihr Lager hingetreten und hatte ein Bild entfacht, entschwundene Hoffnung wieder zu beseelen? Ein Bild: weiter nichts. Aber Mariclée war etwas von einer Sibylle; und es konnte nicht anders sein, als daß die Gabe zu träumen in ihr erstarken durfte und jener „leere Raum“, den es nicht gibt, in ihr entstand, der allein sich eignet, den Reflex des Künftigen und jene vorausgeworfenen Schatten aufzunehmen, welche als die sicheren Herolde den Dingen vorauseilen, die noch nicht geschehen und schon unentrinnbar sind. Aber das Bild? — — Das Bild war einfach ein Riesenleuchter gewesen, aus welchem unvermittelt, ohne daß eine Kerze darin stak, eine Flamme aufschlug, warm, grell und ohne Rauch. Diese Feuergarbe aber war es, deren beglückender Hauch Mariclées kummervolles Herz zum Stocken brachte, daß sie leise aufgeschreckt den Atem anhielt und erwachte.
Aber sie überdachte nichts, denn der Schlaf hielt sie jetzt im Banne. Das Grün, Braun und Grau war noch ein und dieselbe nächtliche Wand: unsichtbar fiel der hohe Brunnenstrahl hernieder, und Baum und Hügel hoben sich von der dunklen Luft nicht ab. Nur die Umrisse der Putten und der Statuen des Gartens fingen schon an, sachte um ihr Dasein zu ringen, wie das Weiß der Wände in Mariclées luftigem Zimmer, das weiße Kleid, das vom Stuhle hing und ihr weißes Bett. Und plötzlich, wie bei einer Puppe, die, aufgerichtet, ihre Lider zurückschlägt, standen wieder ihre Augen auf einen inneren geheimnisvollen Ruck hin offen. Sie sah ihre Hand, die mit geisterhafter Blässe von der weißen Decke herabhing. Sie war kalt von der Luft, aber es hatte noch eine andere Bewandtnis mit ihr. Welches Band? welche Erinnerung? Und dann? was weiter? . . . . . aber sie brauchte nicht lange zu suchen. Soeben hatte sie Rosen in Menge gehalten, diese Hand, die jetzt so leer herabhing, und sich nach Rosenstöcken ausgestreckt und nach Rosen gegriffen, die sich nicht wehrten, sondern deren lange Stiele ihr gleichsam in die Finger folgten, daß diese sie schon gepflückt hielten, bevor sie sie noch brachen. Es waren langstielige, halb erschlossene, heftige Rosen, wie die, welche Mariclée vor zwei Tagen in einem Londoner Schaufenster bewundert hatte. Mit der Linken hielt sie einen großen Busch solcher Rosen an ihr Herz, während die Rechte, die jetzt so leer von der Decke herabhing, immerzu nach neuen roten, dornenlosen Rosen griff und noch ganz erfüllt schien von ihrer Blätterfülle, ihrem Atem, ihrer duftenden Seele, so lebendig war das Bild, so wesenhaft jene Rosen gewesen. Und jetzt durchlief ein Schauer Mariclées Adern. „Ich werde ihn sehen,“ dachte sie, und schloß die Augen, wie um noch einmal zu dem entschwundenen Pfade zwischen den geträumten Rosenstöcken zurückzufinden. Draußen aber ballten sich jetzt die Schatten und schoben zusammen wie zum Streit und begannen den Rückzug. Die Wipfel spürten schon die Helle des nahenden Tages, der Steg unterschied sich vom Strauche, und die Wege kannten sich wieder aus.
Da zum dritten Male taten sich vor Mariclée die hörnenen Tore des Traumes, die uralten, mitleidig auf, sie einzulassen, und wiesen sie zu einem Flusse hin, der unter einem sonnigen Himmel seinen blau leuchtenden Strom in Eile dahintrieb. Sie aber ging bange und traurig am Ufer entlang, ohne den Grund ihrer Schwermut zu wissen. Dennoch ging sie leichten Fußes ihren schönen Pfad. Weiße Wolken überzogen die Sonne und tönten das Licht zu jener seelenvollen, süßen, herben, holden Fülle ab, mit der nur ein österreichischer oder deutscher Himmel Wege, Wälder, eine Tanne, einen Felsen überhängt. Und immerzu steigerte sich das magische Leben der Landschaft. Mit einem Male verengte sich der grünende Pfad, ein Strauch fing sich an ihr Kleid und hielt sie zurück. Sie wandte sich, um ihn loszumachen, da hingen an den Spitzen der nackten braunen Hecke kleine goldgelbe Strahlenblumen von einem so balsamischen Duft, daß sie leise erschreckend den Atem anhielt und erwachte.
Zugleich aber fielen jetzt die Fesseln des Schlafes von ihr; sie fuhr empor und stürzte ans Fenster und grüßte mit weiten Augen den silbernen Himmel, das Herz von Hoffnung so geschwellt, daß es hinaustrieb mitten in ein glückliches Meer. —
Es war einer jener strahlend schönen Tage, wie sie der September mitunter zur Nachfeier des Sommers noch aufbringt. Während die Gäste, um Golf zu spielen, sich ziemlich nach allen Richtungen entfernten, nahm Mariclée den Augenblick wahr, schlich sich davon und zog die leere, sonnenbeschienene Landstraße hinab, um mit ihren drei Träumen allein zu sein; denn sie hallten noch so mächtig in ihr nach, daß sie in ihnen wie in einer Wolke einherging. Die warme, rauchlose Flamme, die aus dem Leuchter schlug, wellte in ihr empor, und sie dachte an die Rosen, den Fluß und die braune Hecke mit den kleinen, balsamisch duftenden Blüten. Im Sarntal hatte es einmal ein Fluß so eilig gehabt, sie erinnerte sich wohl. Und weißes Geball hatte sich immerzu vor die Sonne gestellt und mit ihrem Lichte gespielt.
Wie man sich manchmal an einem Wochentage mit der Empfindung trägt, daß es Sonntag sei, so war ihr an diesem Septembermorgen immer, als sei es März; Ende März, in der Gegend von Meran. Dort sprossen solche gelben Strahlenblüten an den Spitzen der Hecken; und Mariclée hielt inne vor einem Strauch, den eine laute Biene umsummte; ihr war, als müßten sie hier hervorbrechen, goldgelb, balsamisch und mit derselben Plötzlichkeit wie in der vergangenen Nacht. Aber der Strauch war welk, seine Blätter still und müde und bereit zu fallen; — es war ein Mißton mitten in ihrer Stimmung voll seltsamer Weihe, als sie sich darauf besann. „O Gott!“ dachte sie erschrocken, „wie bin ich von der Wirklichkeit verlassen!“ — Aber dann fand sie oder besser verlor sich wieder. Die Sonne, vor welcher die Hirngespinste der Nacht bis in den fernsten Winkel des Gedächtnisses spurlos zu verwehen und verblassen pflegen, schlug die ihrigen nicht in Flucht. Vielmehr traten sie jetzt mit der Schärfe und Deutlichkeit des Schattenrisses hervor.
Wie sie da im mittäglichen Schein einsam ihres Weges zog, dachte sie glücklichen Herzens an ein Wiedersehen, und es war für sie ausgemacht, daß es nahe bevorstand. Nichts beirrte sie in dem Glauben. Es machte sie nicht stutzig, daß sie es in ihrer gegenwärtigen Verfassung so schlecht ertrug, mit Menschen zusammen zu sein und ihre Stimmen zu hören oder mit ihnen zu sprechen. — Als sie jetzt eine Gruppe, die ihr vom Schlosse zu sein schien, von ferne auftauchen sah, machte sie eilig kehrt, bevor sie von ihr erblickt werden konnte.
„Wem laufen Sie denn davon?“ rief ihr da eine lachende Stimme zu. Und das Liebespaar der Fontäne, das unbemerkt hinter ihr hergegangen war, vertrat ihr den Weg. Die Dame trug jetzt ein luftiges Strandkleid, und er, mit weißen Schuhen und einem lichtgrauen Hut, hatte sich ihr nicht minder hochsommerlich angepaßt.
„Ich wollte es nur mit jenem Wäldchen versuchen,“ erklärte Mariclée, „es wird wirklich zu heiß auf der Straße.“ Und sie deutete auf einen schattigen Weg, der dem Parke zuzulaufen schien und den beiden im Rücken lag; denn sie dachte nicht anders, als daß es ihnen auch nur willkommen wäre, allein weiter zu gehen; die aber nahmen sie sofort, wie auf Verabredung, in ihre Mitte. (Es machte sich doch viel besser, zu dritt wieder aufzutauchen!)
„Nein! uns entwischen Sie nicht!“ rief die Dame im Strandkleid. Und jetzt regnete es auf Mariclée neugierige Fragen ein, die sich natürlich alle auf die Deutschen und Deutschland bezogen. Da zäumte sie ihr stets gewilltes Paradepferd und predigte über ihren im ganzen Lande mit Zischen aufgenommenen Text, auf dem sie immer beharrte: Die Liebe der Deutschen für England. Auf die Wahrheit dieses Textes kam es ihr auch gar nicht an, sondern auf die für sie unumstößliche Tatsache, daß unsere nationalen Eigentümlichkeiten sich zu sehr zugespitzt hatten, um eine weitere Steigerung zuzulassen. So konnte man vor allen Dingen nicht mehr französischer, nicht mehr englischer werden . . . . . . Mariclée suchte die Zukunft Europas nicht auf dem Wasser, sondern im Blut. War es denkbar, daß in einem täglich kleiner werdenden Erdteil stammverwandte Völker, deren so geteilte Qualitäten der endlichen Kreuzung dringend bedurften, allen Ernstes daran dachten, sich zu bekriegen?
Es war jedoch, als trieben die Beiden ein neues Spiel mit ihrer Leidenschaft, indem sie als Variante ihres gegenseitigen Interesses ein gemeinsames vom Zaune brachen. Mariclée war zu dünn besaitet, um es nicht herauszufühlen; sie kam sich zwischen den Beiden vor wie der Block unter dem Schaukelbrett und mit einem Male ließ sie los, hörte auf, den unbewegten Mittelpunkt zu bilden, störte das Gleichgewicht und unterbrach das Spiel. Plötzlich aufblickend, ergriff sie den Arm der Dame, hing sich ein und sagte nichts mehr. Sie fühlte sich heimisch zwischen diesen Beiden und es lag nun einmal nicht in ihr zu moralisieren. Den Nächsten auf seine Moralität hin zu prüfen war ein Unterfangen, für das ihr Talent und Interesse gleicherweise fehlten. Die Moralität des anderen war alles, nur kein Standpunkt. Wie seine Lunge, sein Pulsschlag oder seine Post, war sie nur für ihn selbst unendlich wichtig und existierte nur für ihn. Sein Glück aber, das Glück, wo immer sie es gewahrte, das existierte auch für sie, mit dem hielt sie Gemeinschaft, und das steckte sie an. Denn das Glück, während es währte, hatte geradezu etwas, das der Zeit zu gebieten schien und sie irgendwie gänzlich überbot, so daß ihr Herz sich daran fangen konnte und seinen Rhythmen hingab.
Auf der Schattenseite des Hauses warteten indes ein paar Gäste, in tiefen Korbstühlen vergraben, auf die Rückkehr der anderen und sahen lächelnd das seltsame Trio einherziehen.
„Cornelia und mein Vetter, die schon wieder von dem deutschen Mädchen nach Hause gebracht werden,“ bemerkte eine Dame. „Es ist doch zu spaßhaft für Worte!“
„Sie hat eben eine Mission,“ sagte ein Herr; „verirrte Schafe zu suchen und heimzutragen; das ist doch sehr schön.“
„Arme Cornelia!“ lachte eine Dritte. „Warum stieß sie das Fräulein nicht in den Bach?“
Mariclée übersah von weitem die Situation.
„Ich wurde gefunden und in die Mitte genommen,“ verkündete sie.
„Sie rissen mir aus,“ sagte jetzt ihr gestriger Partner verbindlich, doch ohne sich um sie zu bemühen.
„Nein, Sie ließen mich im Stich,“ gab sie lächelnd zurück. Sie wußte ganz gut, daß sie es mit ihm verdorben hatte.
Auf dem Marmortisch in Grosvenorstreet lagen am Montag morgen eine Anzahl Briefe und Zeitungen. Aber die alte Klara hätte ebensogut sagen können: „No letters, Madam“, denn das Exemplar hatte kein Zeichen gegeben.
Mariclée suchte sich weiszumachen, daß ihr Mut deshalb nicht gesunken sei. Und nur noch wenige Tage, dann würde es sich ja zeigen; — dann war der Dreißigste. — So lange und keine Stunde länger würde sie sich gedulden.
Zum luncheon hatten sie zwei Dollarprinzessinnen eingeladen. — Ach nein. Dafür dankte sie. Sie wollte ein paar Zeilen schreiben und sie dann hinüberschicken. Das war zunächst ihre Beschäftigung. Und dann? Ja, was wollte sie dann tun? Daran hatte sie nicht gedacht. Sie hatte nicht weiter als an den Marmortisch gedacht und an den Brief, den sie darauf zu finden hoffte und der nicht gekommen war. Ja, wohin sollte sie nun fliehen vor der Ungewißheit, die sie verfolgte? Wie weit würden sie ihre Füße tragen in den Wüstensand der Verlassenheit, dem sie sich anheimstellte?
War es nicht wieder ein Palliativ, sich den kreischenden Stimmen der Multi-Millionärinnen auszusetzen, statt dem höhnisch grellen Widerhall der Wirklichkeit, der anfing, gegen ihre drei Träume so mächtig zu detonieren? Darauf durfte sie jetzt nicht hören. Nein! Sparsam mußte sie jetzt mit ihren Kräften umgehen. Schon schmerzte sie das Tageslicht, schon wandelte sich ihr Herz wie zu einem heißen Stein; das alte Fieber brach von neuem aus; und Asche, Asche mußte sie nun unermüdlich auf ihre Sorge, ihre Zweifel, ihre brennenden Gedanken schütten.
Sie zog sich um und eilte etwas verspätet ins Ritzhotel, in dem die zwei Dollarprinzessinnen wohnten. Die eine war die Tochter eines immens reichen amerikanischen Schlächters, und um ihre soziale Stellung hätte sie manche bayrische Standesherrin beneiden können. Die zwei Damen warteten schon in der Halle, in Gesellschaft eines englischen Offiziers und eines Herrn aus dem Gefolge des Königs, beide sympathisch, unwissend und schön. Indes, — ob geistvoll, ob borniert, im Ritz spielte das keine Rolle, alles war fürs Auge. Die Sinne waren eingelullt wie von Musik angesichts der Leute, die wie heimlich beleuchtete Schatten hier vorüberzogen. Diese Frauensilhouetten so stilisiert, so künstlich, daß tief hineingesetzte, gewagte, ja selbst häßliche Hüte auf diesen einzig auf den Effekt hergerichteten Köpfen einen erhöhten, fast ein wenig perversen Charme gewannen, und das Hohe, das Erhabene, das in seiner edlen Glätte Erhebende war hier der Boden des Lebens; vom deutschen Gedankenhimmel war man hier fern genug, und auf ihn verzichtete man. Auch Mariclée war es da auf ein Weilchen immer, als ob sie ihn nicht vermißte.
So verlief denn ihr Essen recht beschaulich, und sie zog dann noch mit in das Atelier eines jener Modemaler, schlecht und recht, wie es deren zu allen Zeiten und in allen Ländern gibt, um ein Kinderporträt, das eben Furore machte, anzusehen. Es stellte ein kleines Mädchen dar und war ein richtiges Salonstück, hübsch, gefällig und wertlos.
„Ist sie reich?“ flüsterte einer der Herren.
„Aber sehen Sie doch ihre Haarschleife an!“ erwiderte Mariclée, „nur die Bandenden einer Millionärin halten sich so steil aufrecht.“ —
„Dann will ich auf sie warten,“ erklärte er.
Die Dollarprinzessinnen hatten sich indes in ein Gespräch vertieft, über das alles andere vergessen war. Die eine hatte nämlich in Bondstreet einen wundervollen Schlafrock entdeckt; und die andere wollte ihn auch. Der Preis war für die eine der Prinzessinnen (deren Vater kein Schlächter war) denn doch zu hoch, und so einigten sie sich als gute Freundinnen, daß die eine ihn kaufen wollte, die andere ihn kopieren dürfte. Um wie viel billiger als das Original die Kopie sich belaufen würde, rechneten sie nun auf Schilling und Pence mit einer Präzision und einem Eifer aus, der Mariclée überraschte und verdroß. Sie war noch immer so naiv, bei reichen Leuten eine ihrem Vermögen entsprechende Distanz ihres Zahlensinnes vorauszusetzen, ja diese Distanz recht eigentlich als ihr vornehmstes und beneidenswertes Privilegium anzuerkennen. Sie war deshalb starr über eine so kleinkrämerhafte Genauigkeit und plötzlich von einem solchen Überdruß und Ekel vor diesen gesättigten und tellerflachen Existenzen überkommen, einer Scham, in dieser profanen Bilderwerkstatt mit diesen Müßiggängern herumzustehen, daß sie das Zusammensein mit ihnen nicht mehr ertrug und ihnen ganz abrupt unter irgendeinem Vorwand ausriß.
Es war noch früh am Nachmittag. Wohin wollte sie nun? und was war stark genug, ihr eine Ablenkung zu schaffen? Zu Hause konnte sie nicht bleiben, sie mußte ihren Gedanken aus dem Weg. Wie sie da ihre Treppe emporstieg und ihr Spiegelbild ihr entgegentrat, wußte sie’s; heute oder nie würde sie die Fahrt nach Whitechapel unternehmen. Oft schon hatte sie sich ein Herz zu diesem Gange fassen wollen und es immer wieder aufgeschoben. Sie lief auf ihr Zimmer, warf sich rasch in einen dunklen, kurzen Rock und einen Mantel, nahm einen Stock und stürmte wieder davon. Mariclées sich Umziehen war sehr leicht ein sich Verkleiden; wer sie vorhin im Ritz gesehen, hätte sie kaum wiedererkannt in dem weltfremden Wesen, das mit großen, entschlossenen Schritten wie ein Seminarist einherging. Sie bestieg das Dach eines Omnibusses, fuhr erst Piccadilly und die schönen Stadtteile entlang, dann in die City und hinein in eine immer gedrängtere, einzig vom Trafik überfüllte, drückende Welt. Sie wogte, grau in grau, in den sich häufenden Gassen, wie eine im engen Bett hochtreibende Flut.
Auf einem düsteren Platze machte der Omnibus kehrt, und Mariclée mußte umsteigen. Während sie auf einen anderen wartete, verfinsterte sich der Himmel, und es fing an zu regnen. Ein Gefühl unendlicher Verlassenheit senkte sich wie ein Nebel auf sie herab. Ein Überdruß hatte sie hierher getrieben. Aber welchen Becher hielt sie sich jetzo hin? Und alle Warnungen ihrer Freunde, ja nicht allein eine solche Gegend aufzusuchen, fielen ihr nunmehr aufs Herz. Aber die Dinge waren nun einmal da, damit man seine Schlüsse daraus zöge, und was für einen Sinn hätte das hier umzukehren? Suchte sie nicht Kontraste, mußte sie nicht eine Ablenkung haben? — Als ein hoher Wagen einherpolterte, stieg sie rasch ein, aber schon dachte sie an ihr Haus in Grosvenorstreet, wo die alte Klara für sie sorgte und sie hegte, wie an den Olymp. Es stiegen jetzt seltsame, äußerst schmutzige Leute ein, polnische Juden, schwatzende Frauen mit großen Ohrringen, ohne Hut, nicht frisiert und schmierig. Und auch die Bevölkerung schien eine ganz andere, viel dunklere geworden. Die Straße, auf die sie jetzt hinaussah, dünkte ihr der richtige Übergang zu dem Orte, zu dem sie fuhr. Sie war sehr breit, mit niederen trostlosen Häusern. Zwei Hansoms, obwohl schon alt und abgedankt, nahmen sich wie degradiert hier aus; und überall mündeten von dieser Straße aus, schwarzen Schlünden gleich, finstere Gäßchen, eng wie zwischen den Lagunen. Jetzt mußte bald die Brücke kommen, denn sie hatte sich eingebildet, Whitechapel läge von der übrigen Welt durch eine Brücke getrennt. Aber da hielt der Wagen, und da stand schon „Whitechapel“, der berüchtigte Name, in grellen Lettern an allen Ecken zu lesen. Es hatte nichts Schreckliches, es war nur schrecklich durch seine Öde; alles Heitere, alles Behagliche verwiesen. Die Häuser zogen sich in schmählicher Gleichförmigkeit wie Reihen von Sträflingen hin. Warum dieser unwürdige Stempel einer ganzen Stadt aufgedrückt? wie ehrlos war eine solche Unfreudigkeit! Welchen Sinn hatte das? Sie blickte umher, unschlüssig, wohin sie sich wenden sollte, und ging dann eine der finsteren Gassen hinab. Doch bevor sie noch ein Dutzend Häuser entlang gegangen war, hielt sie inne; auch ohne die Warnungen ihrer Freunde hätte sie hier gezögert und wäre umgekehrt. Das Herz schlug ihr im Halse; sie erkannte ihre Unvorsichtigkeit. Selbst von Schutzmännern schienen diese höllischen Gassen gemieden. Ein Stoß, und man verschwand auf immer in einem dieser schwarzen, hohläugigen Eingänge. Ein Weib mit einem großen Bündel im Arm hatte sie schon erspäht und trat aus einem Winkel hervor. Wie vor einem Abgrund trat sie jetzt zurück; es saßen ihr mit einem Male tausend Augen im Kopfe, und sie merkte die Gefahr. Sie lief nicht, ihre Füße waren wie Blei, sondern mit angestrengten Schritten und nur einen einzigen Gedanken im Kopf steuerte sie wieder dem Rande der breiten Straße zu, hielt sich an deren Ecke wie an einem Geländer fest und sah dann, denn hier glaubte sie sich geborgen, wieder hinab. Zwei Männer schlappten einher, so ganz in ihr elendiges Gespräch vertieft, daß sie nicht aufblickten und Mariclée sie ungestört betrachten konnte. Der eine horchte gespannt, der andere gestikulierte, unsäglich geschäftig, in einem Anzug, der viel zu lang an den Beinen, viel zu kurz an den Ärmeln war, und die Gliedmaßen der beiden, ihre Schritte, die Art, wie sie ihre Daumen, ihre Finger, ihre Lippen bewegten, wie sie lachten, ihre tierisch scharfen und zugleich verblödeten Augen, alles war infam. Mußte man nicht an einen Riß in der Gattung glauben, der solche Menschen vom Menschen schied? Indes war das Weib mit dem großen Bündel im Arm auf Mariclée zugekommen und bettelte sie an. Sie gab ihm schnell einen Penny und rückte weiter weg; allein es hielt sich an ihrer Seite. Da warf Mariclée einen Blick auf das Bündel, aus dem ein sechs bis acht Monate altes Kind zufrieden hervorsah. Dieser Anblick aber war es, vor dem sie alsbald die Flucht ergriff und wie in sinnloser Angst einem Omnibus zulief, der gerade einherfuhr. An jenen beiden Männern war etwas grotesk Harmloses im Vergleich, und lieber hätte sie noch einen ganzen Troß solch niedriger Subjekte einhergehen, wie dieses Kind einhertragen sehen. Allein das Weib mit seiner Teufelsbrut folgte ihr schnell auf den Fersen, löste mit ihrem Penny eine Fahrkarte und setzte sich neben sie, als gehörten sie zusammen. Voll Ekel zog Mariclée ihren Rock straffer um ihre Knie, aber dann fielen ihre Blicke wieder auf das entsetzliche Kind, dessen kaum ans Licht gebrachte Züge auch nicht einen Hauch von Unschuld umwehte, das sich vielmehr mit jedem Atemzuge an eine Welt der Verruchtheit und der Verbrechen festzusaugen schien. Diese rüsselhafte Nase, dieses bestialische Kinn behaupteten sich schon mit einer wüsten Sicherheit, als schmiede es ein viel festerer Ring als andere kleine Lebewesen an die Kette der Erscheinungen.
Ein Haß auf dies widerliche Stück Fleisch, ein Verlangen, die Erde davon zu säubern, edle Mütter zu rächen, sei’s nur, um wieder freier atmen zu können, erfüllte sie ganz. Wie duldeten wir die Schmach, solche Kreaturen als unseresgleichen ans Licht hervorkriechen, zeugen zu lassen? Und plötzlich von neuem gebannt, vertiefte sie sich wieder in den Anblick dieser Fleisch gewordenen Gemeinheit, in der ein ewiger Gedanke mit verwegener Deutlichkeit nach Äußerung rang; denn ein abertausendjähriger Funke hatte sich hier zu neuem Leben entzündet. Ja, an solchen Eltern hatte sein verworfenes Feuer Nahrung, seinen niedrigen Herd erzwingen müssen. Denn Blut war Alles. — Die furchtbare Verantwortung für das, was es war, lastete schwerer auf diesem Kinde als auf dem Weib, das es zur Welt gebracht, und schaudernd erfaßte da Mariclée allen Makel der Geburt. —
Das Weib indessen, für Gedankenübertragung nicht empfänglich, wollte den Ausflug an ihrer Seite noch weiter ausdehnen und verlangte wieder einen Penny. Sie aber, in der Verwirrung, der Empörung, gab dem Kondukteur ein Zeichen, der es auf der Stelle auswies, und so stieß sie es von sich.
Bald darauf läutete sie vor ihrem schönen Hause. Die Halle, die steinerne Treppe mit der Rampe aus getriebenem Eisen erstrahlten in dem weißlichen Licht der verschleierten Lüster. Klara öffnete ihr, blickte sie fürsorglich an und verschwand hinter einem Pfeiler im Labyrinth der unteren Gänge. Schweigsam hatte sie einen nichtigen Brief vom Tische genommen und stieg ihre einsame Stiege hinauf, auf der ihr nie ein anderes Wesen entgegentrat als in dem hohen Spiegel ihr eigenes Bild. In ihrem schönen Zimmer brannte die Lampe im silbern umfransten Schirm und warf seelenvolle Scheine auf die blauen Vorhänge mit der breiten Borte daran, die Mariclée so liebte. Sie waren jetzt zugezogen; im Kamin loderten Flammen, und das heiße Bad war schon bereitet. Sie las den Brief — eine Einladung nach Brighton für nächsten Sonntag — und warf ihn dann ins Feuer. Nächsten Sonntag — — da war sie nicht mehr hier. Aber etwas anderes, wichtigeres als ihre eigenen Kümmernisse und Sorgen, auch eine andere Trauer als die eigene, lag ihr für den Augenblick im Sinn. Wir deuteten schon darauf hin, daß sie eigentlich nur ein bedingtes Leben hatte und es immer irgendwie entlehnen mußte wie der Schatten sein Dasein dem Lichte. Sie glich einer Orgel, die stumm und tot an ihrem Platze steht, bis sie einer in Betrieb setzt, dann aber die weite Luft durchbraust. Und jetzt waren bei ihr mit solcher Allmacht sämtliche Register gezogen, daß sie den leitenden Sopran, die Stimme ihres Ichs, verschlangen. Sie selbst hörte sie nicht mehr heraus! Im Dunkeln liegend und wie zerschlagen, hoffte sie in dieser Nacht vergebens auf den Schlaf, um die Spannung ihres Hirns zu lösen. Mit aufgestütztem Arm und glühenden Augen starrte sie ins Leere. Sie wurde den furchtbaren Eindruck jenes Weibes nicht los, sie erlebte den Schrecken immer aufs neu, den sie erfahren hatte, als sie den scheußlichen Kopf erblickte, der so zufrieden aus dem Bündel hervorsah. Was war ihr jenes Weib, dessen Dasein sie als eine solche Erniedrigung empfand? Es bestand kein Kontakt; Welten trennten es von ihr, und sie begriff die Hartnäckigkeit nicht, mit der ihr Geist daran haften blieb. Aber Mariclée war eine sehr zentrische Natur. Die paar Ideen, die ihr im Kopfe saßen, hatten den Zug nach allem, was sich auf sie zurückführen ließ, und hoben es auf ihre Geleise; es lief nichts nebenher. Daher ihre Talentlosigkeit, ihr absoluter Stumpfsinn für so viele Dinge. Jene paar Ideen waren zu sehr ihre Leidenschaften. Sie stand und fiel mit ihnen, sie gehörten ihr so ganz! Wir sahen sie bei aller Unerfahrenheit in Dingen der Politik so unbeeinflußbar wie in Dingen der Religion. So hatte sie sich in den Kopf gesetzt, daß es für unsere Nationen an der Zeit sei, nunmehr statt der Territorien die Qualitäten ihrer Nachbarn zu erobern, da wir alle anfangen, uns selber langweilig zu werden und uns zu wiederholen.
Und sicher war es ein im Grunde sehr einwandfreies Gefühl, das sie antrieb, die Religion ins Profane zu setzen, und sie wußte genau, warum sie Rokokokirchen mit theatralischen Draperien und die weltlichen Mozartmessen so liebte. Was sie aber jetzt nicht wußte, während sie im Dunkel liegend und mit aufgestütztem Arm ins Leere starrte, das war der Grund, warum jenes Weib mit dem schauderhaften Bündel im Arm ihr Gehirn so aufwühlte und ihr jedes andere Bild verstellte. Was war hier? — welcher Konnex? und sie mühte sich vergebens, den Faden zu erhaschen. — Da mit einem Male leuchtete ihr von einem ganz anderen als dem dogmatischen, ja dem dogmatischen sogar tief entfremdeten Standpunkt die Jungfräulichkeit der Mutter des göttlichsten Menschen ein; — keineswegs als Wunder, sondern als mystische Notwendigkeit. Dies Mysterium — so absurd, sobald man es in Worte kleidete, so widerwärtig, sobald man es als Dogma ausschrie und dem rohen Glauben des ungebildeten Volkes überantwortete — weitete sich ihr da zum glitzernden Strome und erfüllte sie mit unaussprechlicher Genugtuung.
So hatte sie ihn endlich, den Kontrast, nach dem sie dürstete.
Sie war nicht länger böse auf die Dollarprinzessinnen und auf den Modemaler, die sie auf ihrer Jagd nach Sensationen einer falschen Fährte zugetrieben hatten. Denn auch der Modemaler, auch die Dollarprinzessinnen waren gemein.
Aber war jenes Weib, dem es verlangte, an Mariclées Seite Londons schöne Stadtteile zu befahren, nicht auch symbolisch für die Gärung, die sich in diesem Lande bereitete? Wer die „Liaisons Dangereuses“ liest, dem wird vor allem eines klar: der Zusammenbruch einer Gesellschaft und eines Regimes, das unmöglich noch weiter auf die Spitze getrieben werden konnte. So liegen zwischen dem Frankreich der Valois und dem der Revolution noch wahre Kontraste, zwischen der Revolution und Trianon aber nur mehr wahre Extreme. Wer aber im letzten Dezennium Englands Werdegang verfolgte, fühlt auch hier die Unausbleiblichkeit eines Umschwungs. Um in London rohen Kontakten zu begegnen, muß man sie aufsuchen, wo sie noch relegiert sind: in den Slums; und diese Slums schreien zum Himmel, es ist wahr. Viele glauben, daß sie durch die jetzt herrschende Partei vielleicht etwas gemildert, daß es aber dann gewiß mit dem Aufwand und der Pracht Londons vorbei sein wird. Schon jetzt sähen sich viele Reiche so schwer betroffen, daß sie gezwungen seien, ihre Häuser in der Stadt zu schließen. Aber wenn die Dämme, welche das sordide London von dem prunkenden scheiden, durch die neue Strömung niedergerissen und verwischt würden, wäre es in seiner Schönheit, seinem eigensten Reize gemordet. Denn das Gewaltige, das Drückende, das Süperbe an London ist die interessante Blässe seines Angesichtes, es sind die tiefen Schatten, aber dann wieder die edle, köstliche Glätte der Stirn, die göttliche Sicherheit des Blicks. Verödeten hier die Straßen und Paläste der Reichen, so stünden die Londoner Armen ihrer blauen Blume, ihrer einzigen Romantik beraubt. Schon war es auszudenken. An Dublin konnte man ja sehen, welche Physiognomie Paläste annehmen, deren Räume Schustern und Flickschneidern zu Parteiwohnungen zufielen. Es waren rein ästhetische Gründe, die eine sozialistische Strömung in diesem Lande befürchten ließen. Wieviel einzigartige, altvererbte, herrische Pracht stand hier gefährdet? aber Mariclée fühlte wohl, daß Londons drückende Aura von nichts anderem herrührte als von jenen Slums, die wie eine Schuld darauf lasten und sich wohl einmal als das Verhängnis dieser Stadt erweisen würden. Denn in keiner anderen eröffneten sich der Ungleichheit menschlicher Daseinsbedingungen untröstlichere Perspektiven.
In Griechenland sollen durch die vielen Abholzungen und durch den Suez-Kanal die klimatischen Verhältnisse eine gänzliche Änderung erfahren haben. Wälder waren schön und nützlich, Brennholz war notwendig. In der Tat; es war für das Klima von ganz Europa von größter Wichtigkeit, was sich da in diesem Wetterwinkel der Kultur vollziehen würde.
„Ich werde Samstag abreisen,“ teilte sie am nächsten Morgen der alten Klara mit und sagte hiermit, was sie wohl jetzt zwanzigmal des Tages dachte: am Samstag würde sie der Tortur ein Ende machen. Es war wieder kein Brief vom Exemplar gekommen. Dafür erkundigte sich ein belgischer Arzt, den sie kürzlich kennen gelernt hatte, ob er ihr seinen heutigen Vormittag zur Verfügung stellen dürfe. Erhielt er bis zehn Uhr keine Absage, so würde er sie abholen. Sie schickte Klara an das Telephon, um sich entschuldigen zu lassen, aber er war nicht mehr zu Hause. Mochte er immerhin kommen. Es war ja so gleichgültig. Auch aus Weimar hatte sie einen Brief: Was denn mit ihr sei? Von ihren Freunden wisse keiner etwas von ihr. War sie denn verschollen?
Ja verschollen fühlte sie sich allerdings, in ihrer Unfähigkeit, auf solche Zurufe zu erwidern. Ganz verschollen einem Lande, das sie in ein paar Tagen wiedersehen würde. Und ein Schauer lief ihr durch alle Glieder.
Es war wie in einem Märchen. Einerseits: die Wirklichkeit, die Wahrscheinlichkeit, die Tatsache der schlechten Zeitungsnachricht und ihres unbeantworteten Briefes und andererseits? — — ja andererseits ein im Karren gezogener Schimmel, ein von links erblickter Neumond und der gläserne Berg ihrer drei Träume. Es war schon sehr komisch. Da fehlte nur noch die Windmühle des Don Quichote. Mariclée fuhr erschrocken auf. „I leave on saturday“, wiederholte sie der alten Klara, die eben eingetreten war. „Yes, Madam, I am sorry, Madam“, erwiderte diese und meldete den Arzt.
Ihre Züge belebten sich nicht, als sie ihm entgegenkam. Aber er kannte sie zu wenig, um die Abneigung zu lesen, die so deutlich darin lag; denn sie war ungehalten, daß er so ohne weiteres bei ihr erschien. Sie hatte diesen beweglichen Herrn mit seinem regelmäßigen Gesicht und seinem langweiligen Bart bei sehr guten Freunden angetroffen, ihn aber ihres Wissens nicht aufgefordert, sie zu besuchen. Sie war in solchen Dingen sehr zurückhaltend, vollends in einem fremden Hause.
Welche Galerie wünschte sie zu besichtigen. „Gar keine,“ erwiderte sie. In ihr war jetzt nicht mehr die Stille, eine Statue, ein Bild, auch nur eine getriebene Phiole würdig aufzunehmen. Auch war ihr dieser da nicht der richtige Gefährte. Ach nein! Dann schon lieber unter die brüllenden Löwen, die kreischenden Kolibris, die Wildkatzen und die Flamingos. Und sie schlug ihm den zoologischen Garten vor, den sie noch nicht besichtigt hatte.
So verließen sie denn zusammen das Haus. Das Wetter änderte sich jetzt mit jedem Tage und die Luft war heute nebelig und feucht. Im Richmond Park fröstelten die Bäume und wußten nichts mehr von Sommer. Fast niemand in dem großen London war bei dieser Witterung auf den Gedanken verfallen, den traurigen Garten aufzusuchen, welcher die Tiere aller Zonen versammelte. Ein schlechter Scherz für ihren Gefährten, der sich jetzt der Patienten erinnerte, die er hätte besuchen sollen. Aber er erwies sich als ein sehr kundiger Führer und Mariclée überschüttete ihn mit Fragen. Die Eisbären waren heute munterer als die Antilopen, und die Giraffen hingen die Hälse. „Eigentlich ist es doch ein furchtbar grausames Potpourri,“ sagte Mariclée, als sie von den Schlangen hinüber zu den Papageien wandelten, die ärgerlich auf ihren Stangen saßen und mit wegwerfendem Schnabel über das schlechte Wetter schimpften. Und sie wanderten hin und her, denn Mariclée war unermüdlich. Vor dem schwarzen, desolaten Käfig eines Steinadlers aber blieb sie wie gebannt, vertiefte sich in die Wesenheit des gefangenen Tieres und in sein herrisches, glanzloses Auge. Man wußte ja nie im voraus, was sie gleichgültig lassen, was sie ergreifen würde. Und nun war sie ins Herz getroffen vom Blick dieses Vogels, der so beharrlich wegsah von den Menschen, wie ein gefangener König, der es verschmäht, seine Henker anzusehen. So starrte der Adler trüben, abgewandten Auges geradeaus; der kleine Kopf stak zwischen dem göttlich kühnen Flügelpaar und regte sich nicht. Und vor diesen grandios gezeichneten Flügeln, vor diesem trüben Auge zog sein entschwundenes Reich an ihr vorbei. Ein unendlicher Himmel, die fernen zackigen Alpen taten sich ihr auf. Bergseen, die in der Tiefe blitzten, Klüfte, Täler und Auen und darüber selig kreisend, mit der Sonne, den Wolken verwandt, diese weltbeherrschenden Schwingen, die sich nur mehr ausbreiteten, um eine schmachvolle Enge zu messen. „Es ist zu entsetzlich,“ schrie sie auf und umklammerte mit kalten Fingern die Eisenstäbe des Käfigs. Der Adler sah beharrlich nach einer anderen Seite hin und weg von den Leuten, die da zu ihm hineinsahen, der Arzt aber zog seine Uhr. Er hatte genug. Was für ein sentimentaler Tor war er gewesen, daß er sich von einem sinnlosen Interesse, einer ganz ungerechtfertigten Sympathie hinreißen ließ und seinen Vormittag opferte, seine Kranken im Stich ließ, um diesen lächerlichen Spaziergang zu unternehmen? So viel alberne Fragen hatte ihm ja sein Lebtag noch kein Frauenzimmer gestellt. Und ihr Äußeres hatte er so bestechend gefunden und sie für begabt und geistreich gehalten; sie war ja kein bißchen hübsch und zum Weinen dumm. Von nichts hatte sie einen Begriff und alles wollte sie wissen. Wie denn das sei mit den Pestbazillen und wie sie aussähen und ob man sie dann in Flaschen aufhebe und was der Unterschied sei zwischen Bazillen und Mikroben und was ansteckender sei? Und ob ein Allopath nie einen Homöopathen zu einer Konsultation hinzuzöge und warum nicht? und „nein, wirklich?“ und so in einem fort. „Ich fürchte sehr,“ sagte er, „daß meine Zeit jetzt um ist, da ich meine Sprechstunde nicht versäumen darf.“
„Aber natürlich nicht!“ rief Mariclée. „Ich habe Sie schon viel zu lange in Anspruch genommen. Es tut mir so leid.“ Und sie steuerten wieder dem Ausgang zu. Es war aber ein anderes Tor als das, durch welches sie gekommen waren. London (was man in London nicht für möglich halten möchte), London war hier wirklich zu Ende. Man sah keine Häuser mehr, nur eine Straße und von weitem im nebeligen Tag eine seltsame Kutsche, die nur sehr langsam sich näherte.
„Wir müssen links gehen,“ sagte der Arzt. „Ich bin ein schlechter Führer gewesen; hier sind wir ganz aus der Welt.“
„Was kommt denn da drüben für ein Wagen auf uns zu?“ fragte sie und strengte ihre Augen an.
„Mit dem können wir nicht fahren, das ist ein Wagen, der die Toten über Land fährt.“
„O!“ sagte Mariclée erschrocken (Aber Gott sei Dank! er fuhr ihnen ja entgegen).
Der Arzt schaute sich um.
„So, jetzt bin ich wieder im Bilde,“ meinte er. „Wir gehen nach jener Seite hin, der Mauer entlang, und kommen so bald auf den Platz.“
Aber wenn sie das taten, so hatten sie ja den Wagen im Rücken; er fuhr ihnen dann nach. Nimmermehr!
„Wir müssen uns hier leider trennen,“ sagte sie. „Ich gehe nach rechts.“
„Nein, nein! durchaus nicht,“ entgegnete er lebhaft. „Das wäre ein großer Umweg. Sie dürfen sich mir anvertrauen. Ich bin schon öfter hier gewesen und kenne die Gegend.“ Und er wollte voraus gehen. Aber nicht einen Schritt tat Mariclée nach dieser Richtung hin. Sie fühlte sich in ziemlicher Bedrängnis aber keinen Augenblick unschlüssig.
„Herr Doktor,“ sagte sie sehr förmlich, „ich danke Ihnen für Ihre Führerschaft, es war sehr gütig, mir Ihren Vormittag zu widmen, ich fürchte, daß ich Sie nur allzu lange aufhielt. Und nun adieu, auf Wiedersehen. Hier müssen sich leider unsere Wege trennen. Ich gehe nach rechts.“
„Wie meinen?“ sagte er. Seine Augen waren ganz klein geworden, und seine Nase trat jetzt mächtig hervor.
Mariclée sah ein, daß sie ihm eine Erklärung geben mußte. „Nun ja,“ gestand sie, „ich bin abergläubisch. Wenn wir nach links gehen, fährt jener Wagen, der uns entgegenfährt, hinter uns her, und das möchte ich vermeiden.“
„Ich muß meine Sprechstunde einhalten und habe mich schon verspätet,“ erwiderte er eisig.
„Aber gewiß, natürlich!“ rief sie, „Sie dürfen keinerlei Rücksichten auf mich nehmen. Ich finde mich schon zurecht. Bitte, lassen Sie sich nicht aufhalten,“ sagte sie fast flehentlich.
„Dies kann nicht Ihr Ernst sein,“ versetzte er.
„Doch, doch! ich bin einmal so!“ versicherte sie.
„Aber Sie müssen nicht so sein!“ gab er ihr zurück, unfähig, seine Gereiztheit länger zu bemeistern. „Es gibt Dinge, die man einfach nicht tut. Sie können nicht allein die Landstraße umherirren; ich habe aber keine Zeit mehr. Dies ist zu unvernünftig. Bitte, kommen Sie jetzt!“
Aber da kam er ganz an die Unrechte. Es war jetzt an ihr, sich über einen so unritterlichen Ton zu ärgern. Sie fand eine Dame, als die Schwächere, stets so wohl ermächtigt einem Herrn gegenüber, dem sie in keiner Weise verpflichtet war, zu tun, was ihr beliebte, daß er alsbald im Unrecht war, wenn er dies Recht in Frage stellte. Und was hatte ihr denn dieser zu befehlen? Sie hatte ihn doch nicht gerufen après tout. Was maßte er sich an?
„Adieu, Herr Doktor,“ entließ sie ihn. „Ich bedaure unendlich, aber hier kreuzen sich unsere Wege.“
Und sie machte es jetzt wie der Steinadler und sah von ihm weg. „Wie Sie wünschen,“ erwiderte er, zog den Hut und entfernte sich, gefolgt von dem Wagen, dem sie jetzt entgegen ging. Sie erreichte auch ihrerseits bald einen Platz, von dem aus ein Omnibus in die Stadt zurückfuhr. Der Umweg war nicht so schrecklich. Sie stieg auf das Dach und genoß ihr Alleinsein. London schien im Nebel ein wenig zusammenzurücken und schaute heimlicher drein. An den Straßenenden, die man sonst nicht übersah, lagerte er wie ein Ballen zusammengerollt. Und siehe da, während Mariclée auf ihrem Dach so dahin fuhr, tauchten aus dem Nebel, wie aus einer weißen Decke, wiederum zwei schwarze, reich behangene und betrottelte Pferde empor, die ihr einen gläsernen Wagen, darin ein brauner Sarg mit silbernen Beschlägen lag, entgegenzogen. Und als sie die letzte Strecke zu Fuße ging und von Oxfordstreet in Daviesstreet einbog, da, o mein Gott, noch einmal kam ein solch düsterer Wagen auf sie zu und versperrte ihr den Weg. Ein Strahl der Hoffnung, ja des Jubels durchzuckte sie. Sie eilte nach Hause, riß atemlos an der Klinge. Die alte Klara sah in ihr müdes Gesicht und fing den gespannten Blick ihrer Augen. „No letter, Madam“, berichtete sie.
In den Tagen, die nun folgten, kam Mariclée mit sich selbst arg ins Gedränge. Zwar fühlte sie sich im Besitz der verschiedenen Omen, deren glückliche Vorbedeutung sie für wohl erprobt erachtete, aber sie mußte sich dieselben immer wieder ins Gedächtnis rufen, da sie vor dem Sinnfälligen allzu deutlich versagten. Diese Aufgabe wurde stündlich schwerer. Denn weder schrieb das Exemplar, noch stand ein Wort über ihn in den Zeitungen. Es war als hätte er nie existiert. Und stündlich erforderte es einen stärkeren Nervenverbrauch, ihren Mut und ihre Erwartungen rege zu erhalten und an den guten Ausgang einer Schlacht zu glauben, deren Streitkräfte sie aus so imaginären Mitteln besorgen mußte. Hinter ihrem sonderbaren Stab verschanzt, ignorierte sie ihrerseits die Wirklichkeit so gut sie konnte, aber was waren das für Reitergeneräle, die sie den herausfordernden Tatsachen entgegenschickte.
Stundenweise behauptete sich ihre Zuversicht noch sehr gut. Das geschah meist des Abends. Sie aß dann wie üblich in ihrem Erker, bestellte, was ihr der Kellner vorschlug, und verbrachte Stunden im Schein ihrer rot umschirmten Lampe, las, kritzelte ein paar Briefe und ließ sich von der spielenden Kapelle in ihren Hoffnungen bestärken. Die Musik gab ihr ja immer recht. Aber des Morgens, wenn sie lang vor Tagesanbruch mit offenen Augen müde da lag und fieberhaft auf die Schritte der alten Klara horchte und diese endlich, endlich die Diensttreppe heraufkam und bei ihr klopfte und das Frühstücksbrett hereinbrachte, auf dem der Brief nie lag, den sie erwartete; — dann, o dann erfüllte sich ihr Zimmer mit einem so kalkigen Tagesschein, sein milchiges, rußiges Weiß negierte so unerbittlich, was sie noch hoffte, und dann konnte es wohl sein, daß sie das Gesicht wieder in die Kissen vergrub und ihr Dasein verwünschte und nicht mehr wußte, wie sie es aufnehmen sollte mit diesem mörderischen Morgenlicht, aus dem ihr nur ein ewiges Nein, nicht nur für alles, was sie vertrat, auch für alles, was sie war, entgegenströmte. In Wirklichkeit entsprach es ja nicht ihrem Wesen, so zu sein; es drängte sie nur die Not, ihre Fahne auf Halbmast zu hissen.
Ob sie indes auch fortfuhr mit dem Vernunftwidrigen zu paktieren, so verriet doch ihr äußeres Gebaren nichts von ihrer inneren Zerrissenheit. Sie machte ein paar Einkäufe, erkundigte sich nach den Schiffen, wählte ihre Reiseroute, beantwortete ihre Briefe. Einer ihrer Bekannten wünschte von H. B., dem Parlamentarier und Schriftsteller von Ruf, das Übersetzungsrecht zu erlangen. Er wandte sich an Mariclée, die in London vielleicht ausfindig machen könnte, wo der Mann steckte, und sie hatte alsbald Erkundigungen eingezogen und ihm dann geschrieben. Auch ein paar Besuche machte sie. Die alte Dame, die sie in Glenford so bemuttert hatte, war seit kurzem wieder in der Stadt, und Mariclée ging zu ihr, sich zu verabschieden.
„Aber was fehlt Ihnen? Sie sehen so blaß und angegriffen aus!“ sagte die gütige Alte und sah ihr mit ihren schon etwas erblindeten Augen ins Gesicht. Und dann kam die Tochter dazu und fiel ihr um den Hals und die Herzlichkeit der beiden Damen tat ihr wohl, denn sie war so allein. Aber mitten drin durchfuhr sie ein Frost, von einer Unruhe gepackt riß sie sich los, warf sich in ein Auto und fuhr wieder heim. Jetzt, jetzt! hatte er sicher geschrieben! sicher lag jetzt ein Brief von ihm in dem Kasten, oder er hatte angerufen und das Telephon gellte durch das Haus und vielleicht war Maud nicht zugegen und die alte Klara hörte es nicht.
Aber es lag kein Brief für sie in der Halle, und es hatte niemand nach ihr gefragt.
Auch der Donnerstag Morgen brachte nichts als die Antwort des Parlamentariers, der ihr seinen Besuch für den Nachmittag in Aussicht stellte. Nur das Exemplar antwortete nicht. Die Spannung zwischen Zuversicht und Zweifel zehrte sie auf; sie lebte nur mehr von einer Post zur anderen. Aber morgen, Freitag, würde sich bestimmt etwas ereignen. Sie würde ihn sehen, bevor sie London verließ. Es war nicht anders denkbar. Hatte sie der böse Traum, der sie an Bord des Schiffes heimsuchte, als sie nach England fuhr, etwa betrogen? Wie erschrak sie damals. Und wie genau war er der vorausgeworfene Reflex all der Prüfungen gewesen, die damals ihrer warteten.
Gegen Abend ließ sich der Parlamentarier bei ihr melden, und sie ging in den weiß verhängten Saal, ihn zu empfangen. Die geschäftliche Frage war schnell erledigt. Mariclée hob dann eine kleine Erzählung: „Das Gasthaus zum Löwen“ hervor, die er geschrieben hatte und die eine sehr hochgegriffene Auffassung der Unsterblichkeit zu ebenso kindlich gewagtem, wie entzückendem Ausdruck brachte. Und war es, daß er sich angeregt fühlte, weil sie, die Fremde, Ferne, gerade jene paar Seiten seiner Werke herausgriff, auf die er am meisten Wert legte und die ihn am stärksten enthielten, er erhob sich, ging auf und nieder und sprach sich aus. Er war noch jung, sehr Mann von Welt und mütterlicherseits Franzose. Das Ideelle in ihm erstrebte jederzeit das Knappe und die Form. Allem Vagen war er abhold; auch für das Unendliche vindicierte er den Zirkel und die Linie. Als Mariclée auf Oxford zurückkam und wie sehr sie die jungen Leute beneide, die sich in jenen unvergeßlichen Stübchen aufs Leben vorbereiten durften, brach er in Klagen über die heutige Erziehung aus. Die wahre Hauptsache für diese bevorzugten Jünglinge, die wahre Vorbedingung für ihren Oxforder Aufenthalt, sei das Geld, ein hoher jährlicher Zuschuß. Man konnte sich kaum eine Jugend denken, die weniger versprach, zu starken, überwindenden Naturen, wie England sie brauchte, heranzureifen. Selbst von diesem weihevollen Ort ebbte die geistige Atmosphäre wie der Idealismus zurück. Eine verweichlichte Generation wüchse in dem ehrwürdigen College heran. „Wie pessimistisch Sie sind!“ sagte Mariclée.
Sie hatte von seiner schönen Frau, seinen jungen Söhnen und seiner Stellung im Leben und in der Welt gehört. Aber weil der Mensch ganz ohne Kummer nicht auskam, hatte dieser hier die Zukunft seines Landes zu seiner Kümmernis erhoben. Der Tor! Sie hörte nicht mehr auf seine Worte hin. Eine Wunde, die sie sich verheimlicht hatte, war durch seine Anwesenheit in diesem Saale aufgerissen worden. Und im Nu stand ihr Gesicht von Tränen überströmt. Neidlos ließ sie den anderen ihr Glück! Aber einen anderen als diesen Fremdling hatte sie hier im Saale zu sehen gehofft, mit dieser Hoffnung war sie in dies Haus gezogen. Hatte sie so Unmögliches verlangt? Und unbeweglich, gesenkten Hauptes saß sie jetzt da, versteinert und von ihrer Betrübnis wie von einem Nebel umhüllt und sprach kein Wort. Ihr Besucher aber hielt plötzlich im Reden inne und sah in dem stillen, weißverhängten Saale umher.
„Bei wem bin ich hier eigentlich?“ fragte er.
Da erschrak sie und blickte auf und nannte mit der heiseren Stimme einer Kranken den Namen der Freundin, welche ihr dies Haus geliehen hatte.
„Aber es dunkelt,“ fügte sie hinzu, erhob sich und ging zur Türe, um das Licht aufzudrehen; ein wenig zögernd zwar, wegen ihres verstörten Gesichtes. Er kam ihr aber zuvor und nahm Abschied, bevor die verschleierten Lüster erstrahlten.
Mariclée wartete, bis die Mittagsstunde vorüber war, dann ging sie aus. Sie bog wie gewöhnlich in Piccadilly ein, aber statt wie sonst an den Läden vorüberzugehen machte sie heute allerlei Einkäufe. Weder nach Cambridge noch nach Brighton, noch nach den Orten mit den normannischen Bauten, die ihr der Botschaftsrat genannt hatte, war sie gefahren; denn das Geld für „unvorhergesehene Fälle“ hatte sie nie anzurühren gewagt. Jetzt warf sie es hinaus. Es gab ja keine unvorhergesehenen Fälle für sie mehr. Sie schenkte sich ein altes Döschen, vor dem sie oft stehen geblieben war, hielt sich eine Weile bei einem Taschner auf und kaufte sich einen silbernen Spiegel. Nur von dem Blumenladen, in dem wieder große Büsche heftiger Rosen prangten, wandte sie sich ab. Warum nur die Rosen, von denen man träumte, so viel herrlicher waren als die wirklichen? Aber sie hielt sich bei diesem Gedanken nicht auf.
Er hatte ihr nicht geschrieben, und ihre Hoffnung war dahin.
Wie vernünftig sie mit einem Male geworden war! Sie faßte die Dinge ganz grob und höhnisch ins Auge, wie sie der graue Tag jetzt zeigte. Im Spiegel eines Auslagefensters, der eine Schar von Hüten zur Vervielfältigung brachte, sah sie sich von Profil und etwas in die Länge gezogen einhergehen; und jene alte Behauptung fiel ihr ein, daß an jedem Menschen eine Ähnlichkeit mit einem Tiere nachzuweisen sei. Sie, mit ihrem langen Kopfe, glich sicherlich einem Pferde und was an Dummheit in ihr lag, war richtige Pferdedummheit. Nicht wo das Tor, sondern wo die Bretterlatte stand, just da rannte sie an und wollte hindurch. So hatte sie geglaubt, von Sachlagen absehen, ein so ausgemachtes Faktum wie die Ehe des Exemplars einfach ignorieren zu können. Er selbst belehrte sie nun durch sein Schweigen, daß es unzulässig war, sich den Dingen gegenüber nicht zu verhalten.
Mariclée blieb bald vor diesem, bald vor jenem Laden stehen, lediglich weil ihr der Mut fehlte, ihre Schritte zu lenken. Wohin sollte sie sich auch wenden? Lagen ihr nicht alle Länder, alle Meeresstraßen, die weite Welt verschlossen, da keine Wege mehr zu ihm führten? Irgendwie entglitten ihr da die Zügel. Es war nicht mehr die reinliche Scheidung ihrer Gedanken, deren sie sich sonst so mächtig zeigte. Trieb ihr der eine Zorneshitze durch alle Adern, so konnte sie gleich darauf vor Bangigkeit erstarren. In wilder Unordnung, bald in Flucht geschlagen, dann wieder im Ansturm, schossen sie jetzt von einer Bahn in die entgegengesetzte und prallten jäh wieder zurück.
Auf Mariclées seltsames und nicht ganz ungefährliches Doppelleben wurde ja schon hingewiesen. Das Stürmische und Elementare ihrer Natur, von ihrer starken Gedanklichkeit getrennt, hatte jene merkwürdige stille Bucht in ihr erzeugt, in der Kommendes sich zu spiegeln vermochte, wie heranziehende Wolken in einem Teich. Es war nach ihrer Meinung nur folgerichtig, daß der Traumsinn sich in ihr entfaltet hatte. Daran konnte auch der heutige Zusammenbruch nichts ändern, daß es ihr bisher nie widerfuhr, aus der Legion von Bildern, die an ihrem schlafenden Gehirn vorüberzogen, das hohle herauszugreifen oder auf das Bedeutsame nicht zu merken. Denn dieses ließ im Vorüberziehen das unbewegte Etwas, das sie in sich hegte, wie magisch beschattet und von einem Echo umhallt, das sich noch immer als untrüglich erwies. Ja nichts anderem dankte sie wohl letzten Endes jenen seltsam saturierten Unterton, jene Fülle und Resonanz, die ihr Wesen gleichsam mit einer Oktave bereichert hatten; alles Dinge, die sich zwar der Äußerung entzogen, zu denen sie aber nichtsdestoweniger zurückgriff und die ihre Atmosphäre kreierten. Aber war sie jetzt nicht zertrümmert, jene magisch beschattete „stille Station“, und waren nicht alle Wege, die zu ihr liefen, verschüttet? Es hatte sie einmal ein junger Mann zu Tische geführt, mit dem sie übereingekommen war, daß zu glauben oder nicht zu glauben vor allem Temperamentssache sei. „Ich fühle mich zwar hin und wieder zu glauben versucht,“ sagte er, „aber es sind nur Momente und es entspricht nicht meiner Natur. Nie bin ich so sehr ich selbst“, und dabei leuchtete sein Auge fast fanatisch auf, „als indem ich mich jeder, auch der vagesten Unsterblichkeitstheorie verschließe.“ Es war jedenfalls viel leichter, sich eine elegante Maske zu bewahren, indem man den Glauben, als indem man die Skepsis in sich selbst unterdrückte. Denn nicht glauben war ein Glaube wie ein anderer!
Bei ihr war es umgekehrt. Sie hatte sich so weit eingelassen mit ihrer Glaubensseligkeit, sich auf dieser Bahn so weit hinausgewagt, daß Momente absoluten Nichtglaubens, wie sie jetzt für sie gekommen waren, sie ihres Seins förmlich entwurzeln und ihr die geistige Fassung rauben mußten. Sie blickte umher und die Häuser, die Läden, die Wagen, die Passanten, der Regen, der herniederrauschte, alles Positive nahm eine unerbittliche Richtermiene an. Vor allen Dingen, die sich feststellen ließen, war sie als zu leicht befunden und konnte nicht bestehen. Die Schecks, die sie hielt, hatten am Tage der Abrechnung keine Gültigkeit; es war der Ruin. Ein wilder Überdruß brach über sie herein. Doch wie? was ging in ihr vor? So durfte sie nicht aus den Fugen geraten. Nun ja, sie hatte ihre Kalkulationen auf eine falsche Basis gestellt, aber davon erholt man sich. Sie würde den Verlust wettzumachen, ja daraus zu lernen wissen. Aber ein Entsetzen, ein tiefer Schwindel erfaßte sie. So durfte sie jetzt nicht denken. Warum gab sie den Tag verloren, bevor er zu Ende war? Warum hielt sie nicht stand? O wie unwert zeigte sie sich des Außerordentlichen, das sich heute noch ereignen konnte! Und so war denn wieder das Unwahrscheinliche, an das sie sich jetzt klammern, die in der Luft hängende und abgebrochene Stelle, auf die sie ihren Fuß setzen konnte, das morsche Seil, das sie selbst ausgeworfen, an das sie sich in letzter Stunde halten mußte, um nicht zu zerschellen.
Es war zwei Uhr. Sie ging in das Berkeleyhotel. Es war ja vollkommen gleichgültig, wo sie heute aß. Sie fuhr einige Male mit der Gabel in ihrem Teller herum, doch ohne sie zum Munde zu führen, weil sich etwas in ihrem Halse so energisch dagegen sperrte, und schob den Teller beiseite. Wenn nichts geschah, wollte sie heute abend fahren. Geschehen? — — — was sollte geschehen? Aber war er ihr nicht entgegengeeilt an jenem Unglückstage, als sie ihm das falsche Datum zu wissen gab? O hier war etwas, das sich nicht reimte. War es denkbar, daß er sie heute ohne ein Wort verloren gab? Denn daß sie dann für immer aus seinem Leben glitt, wußte er genau. Sie stützte den Ellbogen auf und starrte ins Leere. Der Kellner trat herzu, verbeugte sich diskret und nannte eine andere Platte. „Nein, nichts mehr;“ doch als er Kaffee vorschlug, nickte sie, und er stellte ein braunes Kännchen vor sie hin, das dreimal ihre kleine Tasse füllte. Sie leerte es ganz, zahlte und ging. Draußen standen viele Hansoms, auf die der Regen herniederklatschte; die paar Minuten bis zu ihrer Wohnung erschienen ihr so weit, das Gehen eine so aufreibende Qual. Sie stieg ein und war gleich darauf zu Hause.
Als sie aus dem Wagen sprang, verhing sich ihr Kleid so ungeschickt, daß ein mörderischer Riß den dünnen Stoff fast bis ans Knie zerfetzte. Obwohl es aber das bleuardoise Kleid war, auf das sie so große Stücke hielt, achtete sie kaum darauf und zog hastig die Glocke. Den Schlüssel vergaß sie jetzt fast jedes Mal. Klara, die ihren triefenden Schirm entgegennahm, hatte nichts zu vermelden, als daß ein abscheuliches Wetter sei und daß es regnete. Der Marmortisch war leer.
„Wenn möglich,“ sagte Mariclée, „möchte ich heute noch den Nachtzug nehmen.“
Klara erbot sich, beim Packen behilflich zu sein.
„Danke ein wenig später; ich werde rufen.“
Sie sah noch die Alte hinter einem Pfeiler der unteren Gänge verschwinden, dann stieg sie die Treppe hinauf und trat in ihr Zimmer. Nicht eher brach es über sie herein.
Auch war es nicht, obwohl sie laut lachte und sprach, wie wenn ein Wahnsinniger irr daherredet, der sein eigenes Lachen nicht weiß, sondern wie jemand, der noch einen Gefährten bei sich hat, den er zum besten hält und dessen groteske Figur er durchschaut.
Über ihr nasses und zerrissenes Kleid stolpernd, warf sie es ab, riß einen ärmellosen, langen Umhang vom Haken und ging im Zimmer umher.
„Sieh da!“ rief sie, „welch spaßhafte Reise! Ist sie zu Ende? sind die Koffer gepackt, oder gibt es noch etwas zu träumen?“
Und sie öffnete die Türe, als beengte sie der Raum, und ging wieder mit leichten, beschwingten Schritten die Treppe hinab und herauf, durch den weiß umhängten Saal und ins Zimmer zurück. Mit ihren bloßen Armen, den schlanken, fast überlangen, focht sie in der Luft, und immerzu summend, oder lachend, oder sich selbst apostrophierend, strich sie durch das Haus. Auf einige Stunden gehörte es ja noch ihr, die Alte würde sich nicht ungerufen zeigen, und niemand schaute ihr zu. So gewährte sie dem Sturme, der über sie her war. So beugt sich ihm der Baum und streicht sein weites Geäst, wie gefaltete Segel, wenn ihm inmitten seines aufgewirbelten Laubes die Sinne vergehen; und so gab auch sie sich ihm preis, ja wie ein von Winden gepeitschter Baum, bald sich neigend, bald hoch aufgerichtet, ließ sie sich endlich wie ein gefällter Stamm quer über ihr Bett hin stürzen.
Und dann fuhr sie wieder empor, weil es sie von neuem durch die Säle und Gänge dahintrieb. Etwas in ihr war ins Wanken geraten und sie fühlte jene Hirngespinste, die sie mit so vermessener Willkür in die reale Welt hinüber zog, mit den feinsten Fasern ihres Ichs unheilbar verstrickt. Was sie da aufgebaut hatte, war sie selbst, und aus den eingestürzten Trümmern mußte sie sich jetzt selber hervorziehen. Sie hatte sich mit dem Absurden zu weit engagiert (dies war Menschen wie Dingen gegenüber ihr Fehler), vom Absurden entlehnte sie Name und Stand; Absurditäten waren ihr Rückhalt. Sie selber war sinnlos, wenn das Absurde sie nicht länger schildete. Mit einem Wort, sie fühlte sich ihres geistigen Inhalts beraubt. Die bereichernde Oktave war nur ein gerissenes Pedal, ein dröhnender und lächerlicher Mißklang. Inmitten dieses Wirrsales suchte sie vergebens nach einem Halt. Da alles trog, fiel jetzt auch jene grundlose Zuversicht von ihr, als sei das Befinden des Exemplars, trotz der beunruhigenden Zeitungsnachricht, ganz beruhigend. Hatte es ihr nicht der Mond zugeblinzelt, und hatten es ihr nicht ihre Träume versichert? und dies und jenes? — hatten sich nicht seit jenem sorgenvollen Tage alle Dinge übler Vorbedeutung, wie auf ein geheimnisvolles Kommando hin, von ihren Blicken ferngehalten? Wohl nur, damit ihr endlich die Augen aufgingen und sie endlich die richtige Lehre zöge?
Sie hielt plötzlich inne. Und wiederum geschah es, wie wenn der Sturmwind mit einem Ruck aussetzt, als sei er in die Erde gefahren und erstickt. So schlug plötzlich eine Sorge all ihre Gedanken in Bann. Wie stand es mit ihm? . . . . Vielleicht wußten es die Leute in seinem verlassenen Stadthaus. Sie hatte niemals angefragt, weil eine begreifliche Scheu sie zurückhielt, aber auch weil sie es besser zu wissen vermeinte. Nun wählte sie rationellere Mittel, um sich zu erkundigen. Denn sie wollte Gewißheit.
Schon stand sie unten (das Telephon war in der Halle angebracht) und verlangte die Nummer.
„Wer da?“ hörte sie alsbald eine männliche Stimme.
Es war zu schnell; sie erschrak und es entstand eine Pause.
„Sind die Herrschaften hier?“ fragte sie dumm.
Wie? hörte sie recht?
„Hier?“ sagte sie bebend; „der Herr ist hier?“
„Der Herr ist in Cornwall.“
Ihr Sein hing an der Stimme, die da herüberdrang, wie an einem ausgeworfenen Seil.
„Er ist nicht hier?“ fragte sie.
„Nein, in Cornwall.“
„Sagten Sie nicht, er sei hier?“
„Die anderen Herrschaften sind hier. Der Herr ist in Cornwall.“
Sie hing das Rohr wieder ein; sie wußte kein Wort mehr zu sagen und fragte nicht, wie es ihm ging. Was frommte es ihr, dies heute zu wissen? Wer gab ihr morgen Ausschluß über sein Befinden? War er für sie nicht tot? Die Augen saßen ihr wie Feuerbälle tief in den Höhlen und brannten vor Sehnsucht.
„Welch ein Ende!“ rief sie laut. Da schreckte sie ein Geräusch, schnell verhallte Schritte dicht hinter ihr. Wer hatte sich hierher geschlichen, ihre Jammergestalt zu belauschen? Aber niemand trat hinter den Pfeilern zurück, die kahlen Mauern waren schattenlos geblieben, die Halle war leer.
Nur draußen auf der Straße war einer gekommen, vor der Pforte stehen geblieben und wieder vorübergezogen. Etwas Weißes schimmerte durch den Kasten: ein Brief aus Cornwall.
„So sehe ich mich denn, so leid es mir ist, am letzten Tage noch genötigt, von meiner Londoner Reise abzusehen und direkt nach Southampton zu fahren, um mich morgen früh um zehn Uhr mit der „Adriatic“ einzuschiffen. Denn auch ich verlasse morgen England“ . . . .
Es war kein langer Brief: die übliche nüchterne Fassung und die Worte abgezählt wie in Telegrammen. Warum lag da Mariclées Kopf plötzlich wie hingeschlagen auf dem Marmortisch? Was war anders geworden? welcher Vorhang zerrissen? welches Tor gesprengt? War’s ein chiffrierter Brief, der anders lautete, als er hieß? standen Dinge zwischen den Zeilen, die nur sie entziffern konnte? Nein! Nichts. — Er war keiner, der dunkle Worte schrieb oder Rätsel zu lösen aufgab. Aber ebensowenig lag es in seiner Natur, etwas Unbedachtes zu äußern, und das Zwecklose war ihm so konträr wie einer Katze das Schwimmen. Wenn er ihr mitteilte, daß seine Abreise für denselben Tag wie die ihrige festgesetzt sei, und ihr Schiff und Stunde angab, so geschah dies, damit sie ihre Folgerungen daraus zöge. (Sie kannte ihn zu gut!) Es geschah weder, um sie zu rufen (so radikalen Maßnahmen war er spinnefeind) noch um ihr zu sagen: „Tue dies,“ wohl aber: „es ist das einzige, was sich eventuell noch tun ließe.“ Und indem er es in ihre Hand gab, machte er nicht nur das Unmögliche möglich, er setzte sie wieder in Amt und Würden ein, was sie erst für wohl überlegt erachtet, und was sich dann mit Spott und Hohn wider sie gekehrt hatte, war wieder der richtige Weg. Ach! hätte sie doch standgehalten und sich dieser frohen Wendung würdiger gezeigt! Sie war wieder ganz in ihrem Element, wieder von der Zauberluft umflossen, deren sie bedurfte, um zu atmen. Wie ein Fischlein, das noch eben jämmerlich im Sande zuckte und das ein gutes Geschick in die Wellen zurückwarf. Ihr Plan, blitzschnell gefaßt, saß ihr schon fertig im Kopfe. Wie gewagt, wie schwierig er auszuführen war, wollte sie jetzt nicht bedenken: das kam später. Vorerst durfte sie keinen Augenblick verlieren, vielleicht kam alles schon zu spät. Sie flog auf ihr Zimmer, um sich anzuziehen, konnte sich aber an Schnelle nicht genugtun, so daß sie ihre Sachen, die ihr doch zur Hand lagen, nirgends sah. Nichts zeigte sich als eine dünne Bluse mit kurzen Ärmeln, und wo steckten denn ihre Handschuhe? War denn alles verhext? sie fand nur ein altes, zerrissenes Paar, das sie weggeworfen hatte, fuhr aber zugleich in ihren Mantel, ließ die Handschuhe fallen und hob in der Eile nur den einen auf. Himmel! und wo war ihr Schirm? Richtig! den hatte ihr Klara abgenommen.
„Klara! Klara!“ rief sie in den Gang. Aber bis die ihre Treppe heraufkam, das war zu lang! soviel Zeit durfte sie nicht verlieren. Ohne zu warten griff sie rasch nach ihrem weißen Sonnenschirm; der grüne (zwar lehnte er in der Ecke) war einfach unauffindbar! und stürmte die Treppe hinab, auf die Straße. Klara sah nur mehr ein paar aufgerissene Schubfächer, in denen blindlings alles durcheinander lag, als hätte ein Affe darinnen getobt. Mariclée war längst unterwegs. Sie ging nicht, sie rannte. Kein freier Wagen fuhr ihr entgegen, und sie ließ sich nicht Zeit, sich nach einem umzusehen. Wenn sie nur nicht zu spät kam! Wenn nur das Schiff in einem französischen Hafen einlief! Wenn sie nur genügend Geld besaß! Sie ahnte ja nicht, was auch die kürzeste Fahrt auf einem großen Dampfer kostete. Vielleicht das Zehnfache! was wußte sie? Ach, warum hatte sie das unnütze Döschen gekauft und den sinnlosen Spiegel und heute morgen soviel Geld hinausgeworfen! Hier war er jetzt, der „unvorhergesehene Fall“, um dessentwillen sie auf so viele Dinge verzichtet und sie nicht gesehen hatte. Und nun? — Ein Glück, daß sie sich beim Taschner nicht entschloß. Barmherziger Himmel! wenn sie auch noch das Köfferchen gekauft hätte. Sie lief mit ihrem weißen Sonnenschirm unter dem strömenden Regen Piccadilly entlang. Die Leute drehten sich um, und es wunderte sie gar nicht. „Es ist mir ganz egal,“ dachte sie. „Wer kennt mich?“ Aber es war wirklich kein Aufzug. Und dieses Ärmelarrangement! Die der Bluse waren an sich kurz, besonders die des Mantels reichten nicht bis zur Hand. Die eine, im defekten Handschuh, welche den Schirm hielt, trug in höchst uneleganter Weise das Gelenk und eine unbedeckte Spanne des Armes zur Schau. Die andere hing rot und verfroren herab. Bei Cooks zögerte sie einen Augenblick, bevor sie eintrat, und erwog, ob sie den Schirm nicht lieber preisgeben und draußen vor der Ladentüre stehen lassen sollte; dann ging sie doch mit ihm hinein. Wußte sie denn, wie die Würfel für sie fallen würden? und vielleicht mußte sie besten Falles bis ins Allerkleinste sparen und brauchte den Schirm zum Heimweg. Im übrigen war sie jetzt zu größeren Opfern bereit. Sie zog ihre bloße Hand möglichst weit zurück, so daß es aussah, als ob sie keine hätte, trat an den nächsten Schalter hin und erkundigte sich, ob die Dampfer, die von Southampton nach Amerika fuhren, unterwegs in einem französischen Hafen anhielten.
„Das kommt ganz auf den Dampfer an.“
„Ich meine die ‚Adriatic‘.“
„Bitte sich auf Schalter 10 zu informieren.“
„Ich möchte gerne morgen mit der ‚Adriatic‘ nach Frankreich fahren,“ sagte sie dort, „falls sie in einem französischen Hafen hält.“
Der Hüter von Schalter Nr. 10 war ein Allesbesserwisser.
„Das wäre höchst unpraktisch,“ erklärte er.
„Ach, das macht nichts!“ sagte Mariclée.
„Da wählen Sie die Route Dover-Calais . . .“
„Aber nein!“ unterbrach sie ihn. „Ich will nach Southampton, kann ich von dort aus nach Frankreich?“
„Es ist nicht üblich,“ sagte er mißbilligend, „und außerdem natürlich auch teurer.“
„Um wieviel ist es teurer.“
„Um, das Doppelte.“
„Nur!“ rief sie strahlend.
Der Kommis glotzte sie verständnislos an.
Wir sagten schon, daß Mariclées Äußeres ein sehr unterschiedliches und trügerisches war. Hin und wieder realisierte sie den Typ einer dem Luxuszug soeben entstiegenen Straniera di distinzione und dies, wo immer sie sich auch befand, denn ganz heimisch war sie ja in keinem Lande. Aber heute, mit ihrem triefenden Sonnenschirm, ihrem alten, zu kurzen Handschuh und dem ungefähren und eilig aufgesetzten Hut, ließ ihre Erscheinung jenes sehr bestimmte Etwas, das die retuschierende letzte Hand einer Jungfer verleiht, entschieden vermissen.
„Kann ich mit der ‚Adriatic‘ nach Frankreich fahren?“ fragte sie jetzt mit schlecht verhehlter Ungeduld.
„Ich weiß es nicht,“ erwiderte der Kommis, „bitte sich an Schalter 16 zu wenden.“
„Hält die ‚Adriatic‘ in einem französischen Hafen?“ fing Mariclée auf Schalter 16 wieder an. Würde sie es denn nie erfahren?
„Jawohl; in Cherbourg,“ drang es wie aus einer Engelsposaune zu ihr. Ah! sie wußte es ja!
„Kann ich bis Cherbourg mit diesem Schiffe fahren?“
„Bedaure: unsere Liste ist seit einer halben Stunde geschlossen. Wenn Sie aber in Dover . . .“
„Ach nein! ich will nicht nach Dover, er ist doch in Southampton,“ rief sie mit flackernder Stimme. „Ich möchte Freunden, die mit der ‚Adriatic‘ fahren, das Geleite bis Cherbourg geben,“ verbesserte sie und sank in einen Stuhl. Was tat sie? wie benahm sie sich denn? Auf Schalter 16 hatte sie es aber mit einem ebenso gefälligen wie taktvollen Menschen zu tun, der, ohne eine Miene zu verziehen, auf einen Ausweg sann. „Ein Billett für die ‚Adriatic‘ kann ich Ihnen leider nicht geben, wenn Sie aber auf gut Glück morgen früh mit dem Extrazug der Passagiere nach Southampton fahren, so könnte es immerhin sein, daß Sie für die kurze Strecke an Ort und Stelle noch zugelassen werden. Aber Sie müßten es eben riskieren. Und ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Sie keinerlei Gepäck mitnehmen dürfen.“
Er reichte ihr einen Zettel — für sie ein kostbares Blatt — auf dem in rotem und schwarzem Druck alle Verhaltungsmaßregeln für die Passagiere der „Adriatic“ verzeichnet standen.
„Würden Sie meine Koffer nach Paris befördern?“
„Gewiß, sehr gern.“ Und er verwies sie nochmal an einen anderen Schalter, wo ihr ein Graubart mit einer Hornbrille alle nötigen Aufschlüsse erteilte. Und dann verließ sie das schalterreiche Lokal. „Was für ein prachtvolles Institut!“ dachte sie.
Aber die alte Klara, die auf ihr stürmisches Läuten herbeieilte, war wirklich entsetzt über den Schirm. Zum Glück hatte sie auch etwas zu vermelden. Die Tochter ihrer Freundin war hier gewesen, um Mariclée zu besuchen. Sie wohnte gleich um die Ecke und ließ sie bitten, noch vor sechs Uhr zu ihr zu kommen, da sie später schon wieder fortführe. „Ich will sogleich hin,“ rief Mariclée, „und ich fahre erst morgen früh, Klara, und meine Koffer werden morgen früh von Cook geholt. Wir brauchen uns um gar nichts zu kümmern.“
Sie lief hinauf sich umzuziehen, aber auf ihrer Uhr war es schon nahezu sechs. Da rückte sie nur ihren Hut zurecht, nahm andere Handschuhe und eilte wieder fort. Sie war mit dieser Tochter ihrer Freundin während ihres vorletzten Aufenthaltes in Glenford nur flüchtig zusammengetroffen, liebte sie aber sehr. Denn sie tanzte so hübsch, war fabelhaft elegant, witzig und graziös, eigentlich immer bereit, die Dinge nicht eben ins Lächerliche, wohl aber ins Muntere zu ziehen, und es hatte Mariclée frappiert, daß sie bei starker Äußerlichkeit einen Grad von fine-feeling und innerem Ernst besaß, von dem sie selber noch nichts wußte. Indes war sie über ihren Besuch ziemlich erstaunt. Denn sie standen ganz außer Kontakt, Mariclée wußte von ihr nur, daß sie kürzlich geheiratet und außer ihrem Londoner Hause auch ein wundervolles Besitztum geerbt hatte. Kurz, sie hatte sie zwar sehr reizend gefunden, aber vergessen und sich besonders von ihr vergessen geglaubt. Sie hieß Dorothy. Nur gut, dachte sie, daß ich den Namen noch weiß.
„Endlich!“ rief Dorothy, als Mariclée bei ihr eintrat. „Ich gab dich schon auf,“ und schloß sie in ihre Arme.
Dorothy hatte, um sie zu empfangen, einen Hut aufbehalten (oder aufgesetzt?), dessen kühne Schweifung ihr wirklich sehr beglückend stand. Es gibt schöne Brünetten, die aussehen, als ob ein Mondenstrahl sie beschiene, Blonde, die etwas Sonnenlichtes an sich haben, Dorothy aber schien von der wechselvollen Helle einer Kaminflamme beleuchtet, so tief war das Leben, das ihr Gesicht und die Linien ihrer Gestalt umstrahlte.
„Laß mich dich anschauen, und schau mich nicht an, ich komme so verhetzt zu dir!“ sagte Mariclée. Es war ihr sehr arg, daß sie in der Eile schon wieder zu kurze Handschuhe angezogen hatte — und daß schon wieder ein Stückchen Arm aus dem Mantel hervorsah — und Dorothy hatte sich so schön gemacht! Sie war so stilvoll in ihrem engen Rock, der ihre, wie aus Elfenbein gemeißelten, so geistvoll schmalen Hüften (es gibt so stupide Schlankheiten) so edel zur Geltung brachte. „Woher wußtest du denn, daß ich hier bin?“ fragte Mariclée. „Ich wußte nichts. Ich sah dich heute mittag im Berkeley. Als ich auf dich zugehen wollte, warst du weg. Ich mußte dich aber sehen.“ „Mochtest du mich denn?“ fragte Mariclée verwundert.
„Aber ich liebte dich doch innig,“ rief Dorothy, „und nun fährst du morgen auf eine Woche mit mir!“
„O nein!“ sagte sie fröstelnd. „Ich muß morgen nach Cherbourg.“
Sie dachte des morgigen Tages. O was dächten ihre Freunde, die sich ihr so treu und so vertrauensvoll erzeigten, wenn sie von ihrem Plane Kenntnis hätten und wenn sie wüßten, welch unmögliche Situation sie herbeizuführen sich bereitete.
„Was hast du?“ fragte Dorothy.
Von den Aufregungen des Tages saßen ihr die Augen tellergroß in den tief umschatteten Höhlen und sie war so plötzlich erbleicht. „Ich ärgere mich über meine kurzen Handschuhe,“ sagte sie lachend. Aber mit einem Male vertiefte sich ihr Gespräch. Und wieder staunte Mariclée über den Gehalt, den seelenvollen Ernst dieses Dämchens, das aussah, als lebte es nur für seine untadeligen Kleider. Als sie von ihr schied, folgte sie ihr noch bis unter das Tor ihres Hauses. „Gott schütze dich!“ rief sie ihr plötzlich mit so spontanem Nachdruck zu, daß Mariclée stutzte. „Wie sie das sagte!“ dachte sie betroffen, aber es widerfuhr ihr ja nicht selten, daß Freunde, die Abschied von ihr nahmen, sich wie von einer Sorge um sie überkommen fühlten.
Eine Stunde später saß sie ratlos inmitten ihrer ausgestreuten Sachen „Es hilft uns nichts, Klara,“ sagte sie, „wir müssen das grüne Leinenkleid heraußen lassen.“ Das bleuardoise war ja hin, das, welches sie trug, nicht hübsch genug; außerdem aber hatte sie nur Sommerfähnchen mit. Selbst wenn sich morgen, wider Erwarten, ein strahlend schönes Wetter einstellen sollte, war das grüne Leinenkleid für den 30. September nicht mehr am Platz; goß es aber und war es kalt und stürmisch wie heute, so konnte sie ja als verirrter Sommertag auf dem windumbrausten Schiffe ihres Effektes sicher sein. Nun, dachte sie grimmig, dann paßt es ja vortrefflich zu der Situation, die ist ja auch unmöglich.
Sie dachte ja keinen Augenblick daran, von ihrem Vorhaben abzustehen, aber einesteils war ihr die ganze Sache dennoch gräßlich. Sie kam sich vor wie am Vorabend einer Schlacht. Es war der Kampf mit dem Goliath der Konvention, mit dem sie es morgen aufzunehmen hatte. Gnad Gott mir armen David! dachte sie. Was hatte ihr doch die scherzhafte Dorothy so inbrünstig nachgerufen? „Gott schütze dich.“
Der alten Klara war sie indessen beim Packen nur im Wege; spät wurde es auch, am besten sie ging essen. Bevor sie aber das Haus verließ, trat sie ans Telephon, die Frau ihres Freundes anzurufen. Denn dies gehörte mit zu ihrem Plan. Es ging nicht an, daß sie meuchlings auf dem Schiffe vor ihr erschiene. Sie mußte vorher Kenntnis davon haben. Diesmal antwortete eine Jungfer. Ihre Herrin war beim Ankleiden. Da atmete Mariclée auf und hing, ohne ihren Namen zu nennen, das Rohr wieder ein.
Und dann verbrachte sie ihren letzten Abend wie üblich vor einem rotumschirmten Tischchen ihres unterirdischen Restaurants und aß, was ihr der Kellner vorschlug, und wenn die Kapelle ihre Weisen spielte, dann dachte sie an ihr morgiges Glück und ihre überstandene Not und wie alles sich zuletzt so wundersam gefügt hatte. Aber während der Pausen überfiel sie Bangigkeit und Furcht, und sie war ihrer Sache, ja ihrer selbst nicht mehr sicher.
Setzte dann die Musik wieder ein, so schöpfte sie wieder Mut.
Die Dämmerung war noch fern, als Klara eintrat, um Mariclée zu wecken. Aber diese lag schon lange mit offenen Augen, die Arme unter dem Kopf gekreuzt und von einer merkwürdigen Unlust erfüllt, dem Fatum dieses Tages entgegenzugehen. Es war ihr nicht anders, als stünde sie vor einem schwierigen Examen, dem sie sich natürlich nicht zu entziehen gedachte, dessen Termin sie aber am liebsten verschöbe. Das erste, was sie heute überstehen mußte, war, vor der Abfahrt am Perron auf die Frau des Exemplars zuzugehen, um sie mit einer kurzen, wenn auch nicht interessanten Geschichte von angeblichen Freunden in Cherbourg zu überraschen.
Es war auch nicht leicht. —
Klara meldete ein trübes regnerisches Wetter und trug mit dem üblichen Pomp das Frühstück herein: die Teekanne mit dem beschwichtigenden Tulpenmuster, das schöne Silbergerät, den heißen Toast.
Aber Mariclée, die ihr Tags zuvor eingeschärft hatte, daß sie den Frühzug um keinen Preis der Welt verfehlen dürfte, konnte sich nun kaum entschließen aufzustehen. Sie richtete sich empor und fiel wieder zurück. Ja sie säumte noch mitten im Anziehen und starrte verträumt in das Kaminfeuer, das warme Reflexe auf die blauen Vorhänge malte und auf die mächtige Borte daran, die sie so liebte. „Sie werden den Zug verfehlen,“ mahnte Klara besorgt. Aber sie war immer noch wie abwesend, als realisierte sie noch immer nicht, daß sie sich sputen mußte. Endlich stand sie fertig da in ihrem unzeitgemäßen Leinenkleid, den Mantel am Arm, dünn wie ein Faden, denn die Spannung der letzten Woche hatte sie vollends aufgezehrt, und mit dem gezogenen Blick. Die Autodroschke wartete schon lange. Auch der Chauffeur machte ein bedenkliches Gesicht, als Mariclée ihm beim Einsteigen erklärte, daß er sie bis um acht Uhr nach Charing Croß bringen müsse. Bevor sie um die Ecke bog, wandte sie sich im Fluge noch einmal grüßend nach Klara um, die, im Frühnebel unter dem Tore stehend, noch bis zuletzt ihre pedantischen kleinen Verbeugungen vollzog und erst zurücktrat, als der seltsame Vogel, der dies leere Haus mit so unruhigem Flügelschlag erfüllte, ganz ihren Blicken entschwunden war. Und nun trieb Mariclée, halb stehend, den Chauffeur zu immer größerer Eile an. Ihre Saumseligkeit war einer namenlosen Angst gewichen. Ja sie begriff sich selber nicht mehr. Hatte sie denn vergessen, was von dem heutigen Tage abhing? War doch ihre Bangigkeit ein paradiesischer Zustand gewesen im Vergleich zu der Zerrissenheit, in die sie zurückfallen mußte, falls sie den Zug nicht erreichte. Was forderte sie das Unheil heraus? War ihr denn nur unter Fährnissen wohl?
Und ihre Panik schien sich ihm mitgeteilt zu haben; er fuhr wie der Teufel durch die leeren Straßen, als hinge seine Chauffeurehre davon ab, daß er sie vor einem Zuspätkommen bewahre. „We’ll just do it,“ murmelte er.
Die Schalter standen schon alle leer. „High time“ sagte der Billetteur, indem er ihr die letzte Karte verabreichte: Erster Klasse natürlich: dies gehörte ja mit zu ihrem Plane. Es hatte sich zum Glück (Mariclée wußte auf einmal nicht mehr, ob es ein Glück war) eine große Stockung beim Aufladen des Gepäcks ergeben, so daß noch eine Anzahl Koffer die Plattform übersäten und mehrere Gruppen noch nicht Miene machten einzusteigen. Das erste, was sie da erblickte, war die Frau des Exemplars, in einem Ring von Freunden und Verwandten, die sich zum Abschied eingefunden hatten. Diese Gruppe hielt sich vor einem reservierten Salonwagen, und schwarzbetreßte Lakaien schlenkerten in ihren langen Trauerlivreen hin und her, mit Handtaschen und Hutschachteln, auf denen an Herzogskronen kein Mangel war. Ja von den Lakaien flankiert, wurde noch eine ganze Ladung bekrönter Koffer (daß man ordentlich Respekt kriegte) den Perron entlang zum Gepäckwagen gefahren; es war also noch Zeit. Mariclée sicherte sich erst einen Platz und näherte sich dann langsam der Gruppe, in deren Mitte die Dame mit ihren Freunden und Freundinnen plauderte.
Denn jetzt mußte es sein. Sie mußte alle Befangenheit und Schüchternheit hintansetzen, den geeigneten Augenblick wahrnehmen und auf sie zugehen. Sonst konnte sie nicht auf das Schiff. Die Sekunden verstrichen; sie kreiste um den Ring und fand nicht den Mut ihn zu sprengen. Da fing sie einen gewollt flüchtigen Blick auf, der ihr keinen Zweifel ließ: man hatte sie erkannt, und tat nur nicht dergleichen. Und Mariclée fühlte sich mit einem Male grenzenlos verlassen auf der Welt und grenzenlos allein. Eben ihre Schutzlosigkeit war es aber, die ihr nun plötzlich den Mut und die Festigkeit verlieh, deren sie bedurfte. Für sich selber mußte sie stehen, denn für sie trat keiner in die Schranken. Und sie trat näher, streckte ihren Arm aus und legte ohne ein Wort ihre schmale Hand auf den Arm der Dame. Es geschah mit der leisen Bestimmtheit, mit der ein Detektiv einen hohen Staatsbeamten arretiert. Und man begriff sofort und trat aus dem Kreis. Mariclée aber wandte sich um und drehte der Gesellschaft den Rücken, um durch keine erstaunten Mienen aus der Fassung zu geraten.
„Ich rief Sie gestern zweimal an,“ sagte sie, „um den Namen Ihres Schiffes zu erfahren. Da ich in Cherbourg Freunde aufsuchen muß, dachte ich dasselbe zu nehmen, um die Strecke mit Ihnen und Ihrem Manne zu fahren.“ Ihre Stimme war farblos wie Wasser. „O es ist verwünscht, es ist entsetzlich!“ dachte sie.
„Aber wie schade!“ erwiderte die andere prompt, „niemand hat mir das ausgerichtet.“
Mariclée schritt von der Gruppe weiter weg und ihrem eigenen Kupee zu. „Von Ihrem Manne selbst bin ich natürlich wieder ohne Nachricht geblieben,“ nahm sie wieder auf und sah ins Weite mit einem ruhigen, unbeteiligten Lächeln und einer beschaulichen Ironie, von der man allerdings nicht wußte, wogegen sie sich richtete. Vor ihrem Kupee hielt sie inne. Es sprach jetzt eine Gelassenheit und Sicherheit aus ihr, die um so zwingender waren, als sie auf nichts und wieder nichts fundierten. Das reine Trapez.
„Wir fahren mit der ‚Adriatic‘.“
„Ich weiß es,“ versetzte Mariclée. „Durch das Telephon,“ setzte sie hinzu, „aber es war zu spät und ich konnte keinen Platz mehr erhalten.“
„Aber das ist wirklich sehr schade,“ sagte die andere wieder. „Könnten Sie es nicht versuchen und doch mitfahren?“
„Ich zweifle, daß es möglich sein wird. Nun, vielleicht doch; auf gut Glück. Aber ich darf Sie Ihren Freunden nicht länger entziehen. Vielleicht auf Wiedersehen.“
Sie drückte ihr die Hand und stieg schnell ein. Zwei amerikanische Damen hatten sich dort schon breit gemacht und ihr behäbiges Gekreische angestimmt. Mariclée starrte sie geistesabwesend an, aber kaum hatte sie in ihrer Ecke Platz genommen, als die junge Frau wieder vor der offenen Wagentüre erschien; sie war zurückgekehrt, um ihr noch etwas zu sagen. Mariclée erhob sich sofort und trat zum Schlage hin.
„Ich bin überzeugt, daß Sie ohne jede Schwierigkeit mit uns nach Cherbourg fahren könnten! Steigen Sie doch einfach auf das Schiff. Es wäre zu schade. Hätte ich es nur früher gewußt.“
Sie hat wirklich Rasse, dachte Mariclée, und bevor sie etwas erwiderte, stieg sie augenblicklich, zudem sie viel größer war, die paar Stufen ihres Kupees nochmal herunter. Und nun trugen die beiden — es war fast spaßhaft — jene unvergleichlich ausgesuchte Haltung zur Schau, mit der Potentaten unter sich die erwiesenen Aufmerksamkeiten unverzüglich vergelten, und dabei eine so restlose Höflichkeit an den Tag legen, daß sie jeglichen Gefühles entraten darf, da sie ja, der Länge und Breite nach, an Stelle desselben tritt. Sie wechselten nur ein paar Worte. Dann trat die eine zu ihrem Salonwagen zurück, die andere stieg wieder ihre paar Stufen hinauf; gleich darauf wurden die Türen allenthalben zugeworfen und der Zug setzte sich in Bewegung.
Und nun fingen vor Mariclées benommenen Sinnen die Bäume zu wallen, die Hecken zu beben und zu laufen an; und es setzte ein großes Steeplechase aller Dinge für sie ein. Dem immer schneller rasenden Zuge jagten Äcker und Wege entgegen und zogen sich blitzschnell zurück, rote Dächer nahmen das Garaus, Brücken tauchten empor und verschwanden sogleich. Das Wetter wußte noch immer nicht, was es für ein Gesicht zu Mariclées grünem Leinenkleid machen sollte. Die flüchtende Landschaft war auf einmal von einer warmen Sonne so festlich umwoben, daß die beiden Amerikanerinnen, rüstige Vierzigerinnen, ans Fenster eilten und die erfreuliche Wandlung mit vielen „o my’s“ konstatierten. Aber ehe man sich versah, war die Luft von neuem verfinstert, Scharen streitsüchtiger Wolken hielten Kriegsrat und beherrschten den Himmel. Jetzt stob ein mächtiger Baum hart auf Mariclées Fenster heran, in dieser Sekunde schoß mit tückischer Plötzlichkeit eine Elster aus seiner Krone auf, und zugleich waren Baum und Elster verschwunden. „One for sorrow,“ dachte sie. Ein Kummer stand ihr ja heute unweigerlich bevor: die endgültige Trennung von dem kranken Manne, dem sie entgegenfuhr. Aber dazwischen lag die Tatsache, daß sie ihn sehen und seine Stimme hören würde, mit anderen Worten: ein ganzes Leben, eine Welt, welche diesen Abend in so vage Ferne rückte, daß sie an ihn so wenig zu denken brauchte wie an ihr Sterben, so dehnbar wurden die Begriffe der Zeit. Was sie hingegen nicht fertig brachte, war, Jahre hindurch an einen Menschen zu denken, den sie nie sah. Darum war sie eigentlich gekommen. In der Abwesenheit verkümmerten ihre Gefühle; sie, die mit der Zeit solche Künste trieb, vermochte sich nie über den Raum hinweg zu setzen und niemandem war er weniger urbar. Die Ferne ließ bei ihr keine Täuschungen zu. Ihrer vergaß sie nie. Nie konnte sie der Trennung vergessen, wenn sie des fernen Freundes gedachte. Sie lebte von seiner Nähe, nicht von Erinnerungen; ja gerade ihre Erinnerungen bedurften seiner Nähe, um aufzuflammen. Erinnerungen allein machten sie so unglücklich, daß sie lieber die Asche der Vergessenheit darüber schüttete. Denn Mariclée hatte ein affektives Augenpaar, ein affektives Gehör, wie der Maler eine extra Sehkraft, der Musiker ein extra Ohr. Diese Perversion ihrer Sinnesfähigkeiten, wenn man es so nennen darf, machte sie zu einem der glücklichsten, aber auch der unglücklichsten Geschöpfe.
Je näher nun die ersehnte Stunde rückte, je wilder wurde ihre Freude, je größer aber zugleich ihre zweifelnde Angst, und ihre Seele wurde das getreue Abbild des ewig wechselnden, bald verklärten, bald stürmisch trostlosen Himmels. Der Beweis, daß er sie rief, ihr Kommen herbeiwünschte und erwartete, fehlte ihr total. Sie zog seinen Brief hervor. Da standen sie, die paar trockenen Worte, die, wohl nur weil sie gerade das Naheliegendste waren, was dem Fiebermüden zu sagen einfiel, sein Schiff und die Stunde seiner Abfahrt nannten. Vielleicht war er ahnungslos, war entsetzt, daß sie kam und ihn, den Ruhebedürftigen, eigenmächtig in eine unerhörte Situation versetzte. Solche Erwägungen fielen ihr furchtbar beklemmend aufs Herz. Daß die zuvorkommende Haltung seiner Frau nur eine denkbar momentane Geltung hatte, darüber war sie sich nach einer halben Stunde, als der erste sehr ästhetische Eindruck der kleinen Szene verflogen war, vollkommen klar. Sie hatte keine Ahnung, wieviele von den Personen, die mit ihr den Salonwagen umstanden, mit eingestiegen waren. Es konnte sehr wohl sein, daß man sich nebenan die Zeit damit vertrieb, indem man Tränen über sie lachte. Vielleicht konnten sie alle vor Lachen gar nicht zu Worte kommen, sondern verschluckten sich, sobald sie etwas sagen wollten und platzten aus, sobald sie sich nur ansahen, über die komische Figur, die da drüben in ihrer grünen Leinenrobe mit tellergroßen Augen in die Landschaft starrte und einem Herrn nachfuhr, dem sie geschrieben hatte und der ihr, wie sie selbst mit einem irrsinnigen Lächeln eingestand, gar keine Antwort gab, sondern schleunigst über den Ozean setzte. Ja, waren denn diese Leute von Stein, daß sie nicht lachten? Aber nur getrost! sie lachten schon, bis Southampton, und ohne Unterlaß. Was schuldeten sie ihr? Von dem Knäuel, der in den Wagen einstieg, fuhren einige wohl nur des Geleites halber mit und kehrten dann wieder in die Stadt zurück. Vielleicht war sie heute abend das Spottgedicht der Londoner Salons. So etwas konnte doch nur aus Germany kommen. Nicht nur sich und ihre Nation, auch ihre sämtlichen Freunde blamierte sie; es war der Dank für das schöne Haus, das man ihr geliehen hatte.
Sie fuhr mit der Hand an die Augen — allein es war kein Bild, das sich verscheuchen ließ. Man konnte ja nicht sagen, wie die Sache war, sie war so ganz wie man sie ansah. „Sie ist mir gräßlich!“ — dachte sie.
Als der Zug in Southampton hielt, eilte sie an das andere Ende, um ja von den Insassen des Salonwagens niemandem zu begegnen. Und dann? . . . Dann tat sie mechanisch, was alle anderen Passagiere taten und schloß sich ihnen an. Sie wußte nicht, wie es geschah, daß sie mit einem Male mitten in einem endlosen Gänsemarsch eine Schiffsleiter hinaufstieg, vor sich und im Rücken eine unübersehbar lange Menschenreihe. Es regnete. Langsam, Schritt für Schritt rückte sie vor, jeglichen Gedanken unterdrückend. Sie war wie zermalmt. Nur eines wußte sie: nicht ihr Wille allein hatte sie hieher getrieben; der war viel zu schwach. Ein anderer Wille, eine fremde Macht hatte die Schritte, die sie jetzt ging, für sie gezählt, und sie war ihr nur gefolgt, wie man dem Windstoß und dem Strome folgt. So hatte sie haarklein alles getan, was ihr widerstrebte, was sie desavouierte, wogegen ihr Innerstes sich sträubte; sie wußte es erst jetzt. Nicht anders schreitet einer zum Richtplatz, wie sie jetzt schritt. Vor und hinter sich geradezu sich stauende Reihen, in deren Mitte sie, wie von Hellebarden eingeschlossen, gesenkten Blickes weiterging. Hier gab es kein Zurück. Grotesker Weise (aber sie konnte es nicht hindern) schwebte ihr jetzt Karl I. vor, wie er Whitehall am Tage seiner Hinrichtung verließ. Tor und Mauern standen noch, von welchen aus er mit gemessenen Schritten — als wäre es sein Wille, weil es sein Verhängnis war — jenen letzten Gang vollendete. Wie stark, dachte sie da, ist doch das Echo aller Dinge, deren Lauf das Schicksal allzu deutlich leitete. Jene Schritte Karls I. sind noch nicht verhallt. Und in ihrer Not fuhr sie fort, an ihn zu denken . . .
Schon hatte sich die Vorhut ihrer Reihe als ein kleiner Strom über das Deck des schwarz umrauchten Schiffes ergossen. Und nun stand sie selbst am Deck — und nun war sie nur mehr von einem Wunsche beseelt, dem Manne, für den sie gekommen war, nicht zu begegnen. Ohne sich umzusehen lief sie eilends eine Treppe hinab, sich in den unteren Räumen zu verbergen. Ihn machte sie mit einem Male verantwortlich; er hätte Mittel und Wege finden müssen, ihr diese bittere Wallfahrt zu ersparen! sie sah nur mehr die eine Seite, fühlte nur die erlittene Kränkung, und daß sie Besseres von ihm verdiente, als diese problematische Haltung, aus der er sie die beliebigen Schlüsse ziehen ließ. Es geziemte ihr nicht, dies gesenkte Visier. Sie war es müde. Sie warf sich in die Sofaecke eines kleinen dunklen Rauchsalons und saß, das Gesicht in den Händen vergraben. Es war nicht statthaft, daß sie ihm hier entgegentrat. Jetzt, nachdem sie so weit gegangen war — ja gerade deshalb — fühlte sie, daß es unmöglich sei und sie es niemals über sich brächte, einen Schritt weiter zu tun. Diesen Moment hatte sie nicht vorbedacht, aber die Sache war ihr einfach vergällt. Sie hatte genug. Dies alles — so dünkte ihr — schoß ja weit über das Ziel ihrer Gefühle hinaus. In ihr lag nun einmal nicht der ideale Stumpfsinn, die göttliche Blindheit der Liebe. Die Götter hatten ihr die versagt. War sie nicht heiß und kalt in einem Atem, wie ein Julitag am Rande einer Schlucht? O sich ohne Überzeugung so zu exponieren! — war es möglich! Sie raste; ihren Tod, einen Sturm, den Untergang des ganzen Schiffes wünschte sie in ihrer blinden Wut herbei. Nein; sie wollte ihn nicht sehen. Hier wollte sie sich bis Cherbourg verborgen halten und ungesehen ans Land gehen. Mochte er dann glauben, daß sie sich eines anderen besonnen hatte und nicht gekommen war. Aber es ging ja nicht. Wie wollte sie dies ausführen? und es war auch unerträglich. Nein! einen anderen Ausweg gab es noch. Sie stürzte an die Lukarne. Noch lag die Brücke an — noch wurden Säcke und Koffer hinüberbefördert, wenn sich auch alle Passagiere schon an Bord befanden. Niemand hatte sie noch gesehen. Fort von diesem verhaßten Schiff, zurück ans Ufer, die traurigen Brüche ihres Selbstgefühles zu retten. Es war noch Zeit, der Weg stand noch offen. Sie stürmte die Treppe hinauf, sah nicht rechts noch links, steuerte flugs der Schiffsbrücke zu. Noch ein kleiner Vorplatz — sie durchquerte ihn rasch — da vertrat ihr einer den Weg, — er, der sie in allen Gründen so wohl kannte, daß er auch wußte, was jetzt in ihr vorging, daß es an ihm war, den letzten Schritt zu tun und ihr zuvorzukommen, wenn er sie sehen wollte. Er stand vor der Brücke, als ob er den Zugang bewachte und beim Anblick seines fahlen und wieder um so vieles kränker gewordenen Gesichtes wich aus ihrem eigenen alles Blut zurück, daß es blässer noch und kränker aussah als das seine. Sie konnte nicht begreifen, warum das Schiff so heftig schwankte und sich mit einem Male in Fahrt befand, da ja die Brücke noch daran hing. Und sie hatte plötzlich das Gefühl, eine hölzerne Gliederpuppe zu sein, alle ihre Sehnen wie gezimmert. Jetzt bemerkte sie auch, wie seine Frau herzutrat, aber ihr Anblick gemahnte sie mit unheimlicher Lebendigkeit an eine Möwe, ja an das unruhig Ruhevolle der Möwen, die das Schiff umflogen, und alsbald schien es ihr sehr wichtig, ihre Mär von den Freunden in Cherbourg unverzüglich herzusagen. Er nahm sie ruhigen Blicks entgegen, und dies verwirrte sie. Denn die Sensation, ihm etwas vorzulügen, war allzu neu; und zu ihrem Entsetzen merkte sie jetzt, daß sie alle Substantive zweimal aussprach. Nicht daß sie stotterte, sondern sie erstickte an den langen Worten und sagte sie noch einmal. Tiefer konnte man nicht mehr sinken. Es zuckte um ihre Mundwinkel, und es zuckte um die seinen und um die der „Möwe“. Mariclée hätte gern das Zeichen zu einem Gelächter gegeben. Allein es saß ihr etwas im Halse, das sie am Lachen behinderte, wie es ihr das Sprechen erschwerte, „da sie mich in Cherbourg Cherbourg erwarten erwarten“, schloß sie ihren Speech. Warum habe ich ihm das erzählen wollen? dachte sie; jetzt bin ich still.
Und nun näherten sich auch noch zwei Damen in Trauerkleidung, die sie schon am Londoner Bahnhof gesehen hatte. Aber die „Möwe“ ging auf sie zu. Da nahm Mariclée den Augenblick wahr und dem Manne zugewandt, sagte sie schnell, leise, fast zischend: „Was weiß sie? was ist zu denken, was ist gesagt?“ —
„Nichts, kein Wort, niemals, nie ein Wort,“ klang es ebenso leise, scharf, gedrängt und fast erschrocken. Und an seinem versteinerten Ausdruck merkte sie, daß er über ihre Fassungslosigkeit erstaunt war. Und zugleich fühlte sie, daß er sie wirklich gerufen und erwartet hatte. Da fiel ihr die Last vom Herzen. —
„Es zieht hier fürchterlich,“ sagte sie fließend; „hier können wir nicht bleiben.“
Und sie gingen und fanden eine geschützte, mit einem Segeltuch überhangene Ecke an der Flanke des Schiffes, und sein junger Diener brachte zwei tiefe Stühle, beide mit einer Etikette versehen, und spannte sie aus. Das Schiff strich jetzt geschmeidig wie eine Feder über das glatte Meer, und sie waren allein.
O nicht mit einem Worte der Situation gedenkend, vielmehr gänzlich absehend von allem, was sich auf ihr Leben und ihre Personen bezog, als seien Dinge wie ihr Kommen oder sein Befinden viel zu ungegenwärtig und die Wirklichkeit wirklich nicht wichtig noch interessant genug, um sie zu bemerken. Vielmehr lösten sie sich los vom Unabänderlichen und trotzten dem bannenden Geschick und streiften seine Fesseln ab.
Nicht nur dieser Augenblick, für Mariclée stand jetzt die ganze Welt in diesem Augenblicke still, und ihr Gehirn glich einer ausgelöschten Tafel, die nichts vom Leben, nichts von allem behielt, was ihr das Leben schuldig blieb. Es war getilgt. Höchstens, daß ein Schauer, ein plötzliches Beben ihrer Lippen mitten in einem sehr unverfänglichen Satz, ein Zittern ihrer strahlenden Hände verriet, was ihr diese teuer erkaufte Stunde wert bedünkte, in der sie nistete wie ein Adler, von göttlicher Öde umrauscht. Die Leiter, die sie zu ihr emportrug, stieß sie da leichtsinnigen Fußes zurück, der harten Sprossen nicht eingedenk. Kein Windeshauch sollte sie mahnen an das Tal, dem sie entflogen war, noch an die Leine, an der sie hing. Vergessen! Sie feierte Orgien der Vergessenheit! Alles vergessen, was alles sie von diesem Manne, ach selbst von dieser Stunde schied. Schon waren die zwei eleganten Frauen in Trauerkleidung wieder in Sicht, und die eine, sehr repräsentativ von ihrem Witwenschleier umsteckt, fixierte Mariclée mit Augen, die undurchsichtig glänzten wie Kieselsteine in einem Bach.
„Wer ist die Dame?“ fragte sie.
„Meine Schwiegermutter.“ Es klang aber nicht anders, als wenn er gesagt hätte: eine Mücke.
Da fühlte auch sie sich befugt die Mücke zu ignorieren. Aber wo blieb nur die „Möwe“? und sie erkundigte sich.
„Ich fürchte, sie hat sich schon hingelegt;“ und er teilte ihr mit, daß sie sich die ersten Stunden immer sehr schonen müßte, um der Seekrankheit vorzubeugen.
„Zum Glück fährt das Schiff so ruhig,“ sagte Mariclée, „man merkt es kaum. Nur von dem Geschmack bin ich etwas enttäuscht. Gar so wunderschön kann ich es nicht finden, wie man es preist.“
Sie sprachen wie Leute, die sich täglich sehen können und sagen, was ihnen gerade einfällt.
„Es verdrießt mich,“ unterbrach sie ihn einmal, „daß Sie mir widersprechen, auch wenn Sie im Grunde ganz meiner Meinung sind.“
„Und ich verarge Ihnen geradezu die apodiktische Art, mit der Sie Dinge behaupten, deren Begründung Sie dann schuldig bleiben.“
„Ich weiß, worauf Sie anspielen;“ — und da er schwieg:
„Mein Aberglaube,“ sagte sie und sah in die Luft.
„Ich kann ihn nicht leiden,“ gab er zu. „Wissen Sie noch, wie Sie einmal in Venedig vor dem Schalter kehrt machten und Ihren Brief nicht mehr aufgeben wollten, weil zufällig drei Klosterfrauen davor standen?“
„Nicht zufällig,“ sagte sie, „jener Brief war eine große Dummheit.“
„Das kann schon sein.“
Aber sie ließ sich nicht beirren.
„Früher hatte jede Gilde ihre Tracht, aber das ist vorbei. Läuft der Richter in seiner Toga über die Gasse? Er wäre bald genug ein Ärgernis. Je höher das Amt, je mehr verpönt es heute das Kostüm. Nur die Livree hat sich erhalten.
O,“ fuhr sie lebhaft fort, „nie und nimmer ist etwas sinnlos.
Warum bringt der Kaminkehrer Glück? doch einzig und allein, weil sich Habitus und Gewerbe bei ihm so glücklich decken und es so motiviert ist, daß er mit einer Leiter und so berußt einhergeht.“
Er lachte sein verwöhntes, melodiöses und gedehntes Lachen, das sich an seinem eigenen Klange fing.
„Ich freilich,“ gestand er plötzlich, „vertrage das Religiöse nur sehr verkappt.“
„Es ist die Zeit der großen Marodeure,“ sagte Mariclée, „Gerhart Hauptmann wirbt dem Gottmenschen neue Proselyten und Uhde wurde zum Doktor der Theologie ernannt.“
„Nein wirklich!“ rief er, „wie entzückend!“
„Und es gibt Akte von Habermann, die gesungene Choräle sind.“
„Auf welchen Text?“
Aber Mariclée war um die Antwort nicht verlegen.
„Auferstehung des Fleisches,“ sagte sie.
„Aber wir müssen uns wirklich einen anderen Platz aussuchen,“ sagte er dann. „Hier ist ja die Aussicht überall versperrt.“
In der Tat war in dieser geschützten Ecke das Segeltuch so tief herabgelassen, daß nur ein schmaler Streifen Meeres zwischen Dach und Geländer hervorsah.
Mariclée bemerkte es erst jetzt. An das Meer hatte sie nicht mehr gedacht.
Und nun zogen sie auf die andere Seite des Schiffes hinüber. Liegesessel aller Art standen hier schon in Reih und Glied, aber gerade in der Mitte fand sich noch Raum, und er ließ die beiden Stühle herüber bringen. Die zwei Damen in Trauerkleidung folgten jetzt in einiger Entfernung, um sich am äußersten Ende derselben Flanke zu etablieren. Sonst war es ziemlich leer am Deck, die Passagiere sahen sich noch in ihren Kabinen um.
Das Meer lag hier dem Blicke offen und siehe da, es war ein warmer, herrlich lichter Tag. Die Sonne, hold verschleiert, wie in zärtlicher Erwartung, hielt den unendlichen Himmel sanft umschimmert.
Das seltsame Paar blickte schweigend nach derselben Richtung, wo ein schmaler Streifen Land immer mehr zurücktrat. Zu ihren Füßen trieben beschattete Wogen ihren mattsilbernen Schaum.
Warum gedachte da Mariclée des Tages in Venedig, da er sie vor die Statue des Colleoni geführt und Worte der Begeisterung vor sich hingemurmelt hatte, während sie von der Statue zu ihm hinübersah, weil es sie frappierte, wie sehr alles, was er von dem Standbild sagte, für ihn selber galt.
Er war so ganz Körper, — so unkörperlich! Auch sein Bild zog jenen ewigen Bannkreis, der, man wußte nicht wie — dem Tode zuwiderlief und ihn verneinte und zurückwies.
Zwar hatte sich die Krankheit an ihn gewagt, er war nicht mehr so schön, ach nein! Die Schultern kamen ein wenig schmäler heraus, die Schläfen waren ein wenig eingesunken, das Relief fing an zu verblassen. Trotzdem blieb seine Marke jenes unvergänglich stolze Etwas, das die Statue des Colleoni charakterisierte und sich dem Tode entzog. . . .
„Nun?“ sagte er, und wandte sich ihr zu.
„Ja, hier ist es freilich schöner.“
Eine warme, windstille Luft begleitete das Schiff und das Meer war Musik. Aber so glatt! dachte sie. Da kann man unmöglich lang seekrank bleiben.
Bald darauf flog die „Möwe“ am anderen Ende, wo die zwei schwarzen Tanten saßen, wieder auf und bildete dort eine Gruppe, bei der man unwillkürlich an die drei Damen der „Zauberflöte“ denken mußte. Dann trat sie näher und gesellte sich zu ihnen, die ausgestandenen Nöte standen auf ihrer blassen Stirn und ihren zusammengezogenen Brauen geschrieben, und der Hut hing ihr am Arme, als scheue sie dessen Last. Am Geländer lehnend, zog sie ein kleines, silbernes Teesieb hervor; es war nach einem neuen praktischen System hergestellt, und sie hatte es aus London mitgebracht.
„Soll ich Ihnen auch so eines schenken?“ sagte sie zu Mariclée.
Da ertönte ein Gong.
„Es ist schon das zweite Zeichen,“ und sie packte ihr Sieb zusammen.
„Mein Gott!“ rief Mariclée erschrocken, „ich habe ganz mein Billett vergessen. Da muß ich mich gleich umsehen.“
Sie stand auf und entfernte sich sofort.
Denn schon wieder näherten sich die zwei Schwarzen und dabei wurde ihr immer sehr schwül. Dank den englischen Sitten ließ sich ja eine Vorstellung vermeiden, vorausgesetzt natürlich, daß es keine ungeschickte Karambolage gab.
Die Büros waren um die Mittagszeit geschlossen und es dauerte eine Weile, bevor der Beamte erschien. Nun erzählte sie wieder einmal ihr Märchen von Cherbourg. Zum Glück konnte sie sich auf Cook berufen, woselbst man ihr geraten hatte, sich auf das Schiff zu schmuggeln, falls in Southampton keine Zeit mehr sei, um ein Billett zu lösen. Aber so viel der Ausreden hätte es gar nicht bedurft. Sie mußte einfach ihren Namen in ein großes Buch eintragen und ein Pfund entrichten, und die Sache war erledigt. „Man ist eben auf einem englischen Schiff“, dachte sie.
Aber die ganze Sache hatte doch ziemlich lange gedauert, und als sie endlich — zögernd — den Speisesaal betrat, war die Table d’hote im vollen Schwung. Sie aber trat jetzt nur bis zu einer Säule hart am Eingang vor und blieb dort stehen. Denn sie war nicht auf dies Schiff gekommen, sie hatte nicht diese karg bemessenen Stunden einem feindseligen Schicksal abgerungen, um mit seinen Angehörigen, die sie gar nichts angingen, banale Redensarten auszutauschen. Nein, dafür dankte sie. Sie wollte gar nicht wissen, wo sie Platz genommen hatten, und darum (es war schwer, sie zu übersehen, da sie ganz in der Nähe saßen) blickte sie zerstreut nach einer anderen Seite hin. Es war ein heikler Moment, aber sie hatte diese unmögliche Situation gestartet, damit er ihr helfe, sie zu ermöglichen. Diese ganze herzogliche Sippe, diese Schwiegermutter, die sich Airs gab wie die Königin der Nacht, und diese andere Base, die starr und sprachlos wie mit gelähmten Gesichtsmuskeln herüberstarrte, mußte er mit ihr, der Rechtlosen, der Entäußerten, verleugnen, auf daß sich diese verkehrte Welt auch drehe. Dies forderte sie von ihm, sie die niemals forderte, denn dies war ihr Tag. Und hier mußte er sie holen, wenn er wollte, daß sie aß. Und darum blieb sie bei ihrer Säule stehen und sah geradeaus, wie sie es von dem Steinadler gelernt hatte, und wartete in aller Ruhe, bis er kam. Mein Gott! wie stupide das Geklapper der Teller und Gabeln und Messer klang! und wie stark, wie „immerdar“ dies blind groteske Unisono sich behauptete. Rührte doch von allen, die da saßen, in sechzig Jahren kaum einer noch ein Glied. Es war wie ein Spuk, und unbeteiligt und wie abwesend sah sie darüber weg, als ginge sie das ganze Treiben in diesem Saale nichts an. Aber da stand er schon an ihrer Seite.
„Ich sehe noch ein freies Tischchen; wollen wir dort essen gehen?“ fragte er mit jenem eigentümlichen gedehnten Singsang, der seiner Stimme unterlief, wenn ihm etwas behagte. Verwegene Dinge waren ja stets nach seinem Sinn. O, sie kannte ihn gut! Solche Fanfaren fanden ihn ja stets am Platze. Er entfaltete dann eine Eleganz in der Willkür, die jede Niederlage ausschloß. Als geistiger Haudegen hatte dieser unkriegerische Mann nicht seinesgleichen. Was immer er tat, nahm er mit so hinreißender Sicherheit vor, daß es den Stempel des einzig Tunlichen erhielt. Langsam zogen sie bis zur Mitte des niedrigen Saales und nahmen dort Platz. Er strich einiges aus dem Menü und verlangte das andere, ohne sie zu fragen, was sie wünschte, ganz wie sie es früher immer hielten. Er wußte welche Unbequemlichkeit, ja welche Beschwerde es ihr bereitete, sich mit einer Speisekarte einzulassen, wenn sie mit ihm zusammen war. Nicht nur, daß sie stets zur Vereinfachung dasselbe aß wie er, sondern er legte auch stets auf ihren Teller, was er für gut befand, und reichte ihn ihr dann hin. Über solche Dinge, oder wenn sie, wie es meistens geschah, fast alles stehen ließ, wurde nie ein Wort verloren. Er kannte sie zu genau. Es war nicht, daß sie nicht wußte, was sie aß. Nur durfte sie nichts ablenken. Ihr Mißverhältnis zum Essen entstand nur durch jene Hemmungen, die mehr oder minder bei allen Menschen vorkommen und sich bei ihr nur besonders leicht einzustellen pflegten. Bei ihr genügte eben sehr wenig, um den Konnex zu stören. Und die Nähe dieses Mannes, die ihr die restlose Erfüllung ihres eigenen Seins gewährte, mußte in ihr jeden Sinn der Stunde, und was im weitesten Sinne damit zusammenhängt, vollends betäuben. Zu einer Mahlzeit stand sie dann wie zu einem weit weggerückten Tisch, und nicht ohne Mühe mußte sie sich immer neu darauf besinnen. Denn dann war für sie das Essen das Allerunwirklichste und Vergessenste. Indessen aß sie pflichtschuldig an einem scharf mit Curry gewürzten Reis, und einmal kam die „Möwe“ und machte die beiden aufmerksam, wie gut er zubereitet sei. Die farblos schattenlose Freundlichkeit, die sie ihr bezeigte, empfand Mariclée jedesmal als eine ganz unbewußt aufoktroyierte und dabei so wenig auf sich selbst beruhende wie der sonnige Reflex, der an der Mauer niedergleitet. Es war eben das Bannende, das von ihm ausging, das gleicherweise auch ihr selbst die Schüchternheit benahm. Übrigens sprachen sie bei Tisch nur wenig, aber in den geringfügigsten Gesten — sei es, daß er sein Glas hinstellte oder sie mit ihrer Gabel spielte — waren sie stets ganz enthalten und ganz dem Bewußtsein zugewandt, daß sie beisammen waren.
„Wollen Sie auf mich warten, wo wir zuletzt saßen, indes ich mich hinlege?“ fragte er zu Ende des Mahles. „Ich bin sehr müde,“ und er lehnte sich zurück. Der Ton schnitt ihr ins Herz, und sie erschrak über seine Blässe. Sein Befinden ist nicht meine Sache, dachte sie, was geht es mich an? was kümmerts mich? und ließ den Dolch in sich eindringen. Sie wollte etwas sagen, aber sie nickte nur, denn ihre Stimme war zerbrochen. Es war zu schrecklich, an seine Krankheit erinnert zu werden. Und sie erhob sich, ging aber nicht gleich hinauf, sondern durchwanderte ruhelos die Säle und Gänge des Schiffes, schrieb auch an einen Mann, mit dem sie öfters in Streit geriet, dessen lautere Gesinnung sie aber heute ganz unvermittelt so klar durchschaute, daß sie, einem Impulse folgend, sich mit ihm versöhnte. — Und dann ging sie an Deck, nahm ihren früheren Stuhl wieder ein und wartete. Das Wetter war unvergleichlich. Ein wundervoller Himmel zerfloß ins Meer und das Meer, ganz der Sonne hingegeben, ruhte schillernd, mit ihr spielend, und verbuhlt und ward ganz sich selbst, wie eine Muschel. Töne nennt man solche Farben, dachte Mariclée geschwellten Herzens, und ihre Knie zitterten. Ist das alles so schön, oder sehe ich es nur, weil mein Tag so vor mir schillert und mich betört? Denn ihr Glück war zu fragil, um nicht alles, was es bedräute, auszuscheiden und klar wie ein Tautropfen und kostbar wie eine Perle sich zu schließen. Und weil es so eingedämmt und karg bemessen war — hatten ihr nicht die Henker vorgeschwebt, als sie die Leiter dieses Schiffes emporstieg? — darum war sie jetzt eins mit ihrem Glück, in ihm verweilend und von ihm durchschillert, wie diese Sonne und dies Meer. Er wird bald kommen, dachte sie, und nahm die Zeitung, die auf seinem Stuhle lag, und verhüllte sich das Gesicht.
Aber mitten in dem Überschwang ewig unausgesprochenen Gefühles wurde sie von dessen Einsamkeit geschreckt. War der eine nicht stets das Geheimnis des anderen geblieben? hatten sie sich über ihre Beziehungen jemals geäußert? ihren Bund je zugestanden? War es möglich? flüsterte ihr jetzt die Stimme des Versuchers zu, war dies so bis ins letzte zu ertragen? Denk an später; an alltäglichere Tage, wo dieser dir vergeudet scheinen wird, an die Stürme, die ein Zweifel in dir entfesselte. Wenn die Türme und Dächer von Cherbourg in diesen reinen Himmel ragen werden, ragt zwischen euch der Tod. Es ist zu Ende. Und du wirst nicht wissen, flüsterte die Stimme, ob er dich erwartete, ob er dich wirklich rief, es fehlt dir der Beweis, nimm die Gewißheit mit ans Land; es wird sich keine Gelegenheit mehr bieten. O, flüsterte die Stimme, wisset, wie ihr zueinander steht! scheidet, lebt, sterbet nicht also.
Von plötzlicher Unruhe erfaßt, blickte sie auf. Wo weilte er so lange? Es waren jetzt ziemlich viel Passagiere an Deck. Am anderen Ende tauchte die Möwe auf, und wieder war es die kleine Gruppe schwarz verschleierter Gestalten, die an die drei Damen der „Zauberflöte“ erinnerte. Wie aus einem feindlichen Lager sahen sie zu ihr herüber und hielten sich ihr fern, und auch die Möwe näherte sich ihr nicht. Sie grollt mir doch! dachte Mariclée naiv und sah wieder ins Meer hinaus, das schon wieder neue Weisen leuchtend verströmen ließ; und es gelang ihr, die kleine finstere Gruppe am anderen Ende so weit zu vergessen, daß sie sich, etwas fieberhaft, die Dinge memorierte, die sie ihm sagen wollte.
„So lassen Sie uns denn ein paar spannende Momente erleben.“
Es war seine Stimme, und er stand ganz plötzlich hinter ihr und ließ sich in seinem Stuhle nieder. Sein Aussehen war viel besser geworden, und man hätte ihn kaum für einen Kranken gehalten. Er hielt ein Buch, dessen Gravüren er ihr zeigen wollte, und die Art, wie er die Hand ausstreckte, es zu öffnen, die Bewegung seines Arms, dies alles war ihr so wohl vertraut und trug sie hin zu dem Garten Roms, wo heilig beschattet die Statue Meleagers in ihrer holden Nacktheit ragt, denn hier wie dort atmete dieselbe Vollendung, und es war das unnachahmlich Plastische an ihm, in dem ihr Herz sich sonnte, wie es mit seinem Lachen, in dem so viel Glockenmetall anschlug, seinen Kultus trieb. Aber wie überbietend war doch die Feinheit feiner Männer, daß seine Nähe, ja sein Anblick sie von der Unmöglichkeit, ihre Stellung zueinander auch nur von fern zu streifen, sogleich so heftig überzeugte! und welch verletzender Gedanke war das von ihr gewesen, mitten in einem Zauberkreis die verfemten Worte auszurufen, die ihn nur sprengen konnten? Wie ferne lagen sie ihr schon, jene vorgefaßten Worte, jäh geschreckten Vögeln gleich, die nie mehr wiederkehren.
Er aber war es jetzt, der in Anbetracht der kurz bemessenen Zeit nach einem vorgefaßten Plan unverweilt von himmelweiten Dingen zu reden anfing und sie lockte, reizte, ihr in allem widersprach, alles widerlegte (denn alles läßt sich widerlegen), doch nur zum Scheine, um sie anzufeuern. Wie schnell war sie da vom Abstrakten hingerissen, immer schärfer, immer heimatlicher wurde ihre Luft. Sie war am Ziel. Aug in Aug feierten sie ihr Fest, indes ihre Hände, die seine und die ihre, die sich kannten, nachbarlich auf den breiten Kanten ihrer Stühle ruhten. Und sie wars zufrieden, ihren Pakt ewig ungenannt zu lassen.
„Nein!“ sagte sie einmal, „ich bin nicht Ihrer Meinung. Für nichts ist man so verantwortlich wie für seine Geburt. Ich sehe die Verantwortlichkeit der Kinder für ihre Väter.“
Indessen ging die Königin der Nacht in Begleitung ihrer Damen am Deck spazieren, stets an dem ungeraden Paar vorüber, wobei sie nie verfehlte, Mariclée mit ihren Kieselsteinaugen zu fixieren. Diese merkte es wohl, doch a distance, nicht anders als sie das Mittagessen bemerkt hatte. Hin und wieder näherte sich auch die Möwe und stand, am Geländer lehnend, vor den beiden; und dann sprach man über die Ereignisse des Tages und über die letzte Rede im Parlament und erörterte die Aussichten der Konservativen. Der Vater der Möwe hielt halb Schottland für sich allein umzäunt, es läßt sich also denken, was man in seiner Umgebung von der demokratischen Strömung und von Leuten wie Lloyd George und Churchill hielt. Mariclée wunderte sich nur ein wenig, da sie doch immer wiederkehrte, daß sie sich nie setzte; aber es war ja ihr Stuhl, den Mariclée so ohne weiteres in Beschlag hielt; doch fiel es ihr nicht ein, die Etikette, die daran hing, anzusehen. Denn was hätte sie bedacht? was hätte sie gewußt? Ein Diener brachte Tee und sie nahm ihn, nahm den Kuchen, den er dazu reichte. Sobald die beiden allein waren, griffen sie jedoch unverzüglich ihre eigenen Gespräche, die sie so zwanglos fallen ließen, wenn man sie unterbrach, ebenso zwanglos wieder auf. Und der Strahlenring um Mariclées Augen weitete sich immer mehr und verschlang ihr ganzes Gesicht, auf dem sein starker Blick immer voller, aber auch immer schweigsamer verweilte.
Da mit einem Male geriet diese ganze verwunschene Welt ins Schwanken; der lichte Himmel, das holde Meer waren nicht länger endlos: schmale Stifte schrieben in der Ferne seltsam blasse Zeichen in die Luft, liefen im Spitz, im Zickzack, zogen ein Viereck — waren’s Türme, war’s ein Blutgerüst? „Ah!“ sagte sie, „da ist Cherbourg.“ Und es klang leicht und gefällig, als sei es ihr willkommen.
„Es liegt noch ferne,“ sagte er, „wollen wir nicht hinuntergehen?“ Sie erhob sich sogleich. Denn jetzt war sie erwacht; und sie ertrug es nicht, Cherbourgs höllische Tore heranziehen zu sehen. Ihre Jacke zuknöpfend stand sie vor ihm, sein Blick glitt ihre Gestalt entlang und blieb dann an ihrem Gesichte haften; und sie ertrug ihn, mit einer Miene von Leblosigkeit wie umflort. Und er stand langsam auf, und sie gingen zusammen. Nichts mehr von Hölzernheit in ihr. Hoch aufgerichtet, wie getragen, schritt sie an seiner Seite, die klar wie mit dem Silberstift umrissene Gestalt gleichsam noch größer und geschmeidiger; und obwohl die Macht, die einst wie mit ehernen Ringen ihre Schultern aneinanderschmiedete, daß sie wie ineinander wuchsen und eine Gruppe bildeten, wenn sie gingen, sie jetzt mit gleicher Schärfe auseinanderhielt, entstrahlte dennoch ihren Linien ein so analoger Geist, daß sie als ein geschlossenes Bild hinzogen, nach Einem Rhythmus wie zuvor.
Nicht, daß sie einander glichen. Vielmehr stand scheinbar nichts in stärkerem Kontraste zu dem zwar hypersensiblen aber doch stahlharten und in allen Genüssen so versierten und aller Lüste so kundigen Mann, der es verstanden hatte, dies spröde Dasein so zu meistern — sein Sturz tat nichts zur Sache —, daß es wie ein dressiertes Pferd nach seiner Willkür karakolieren und, dem Sporn des Reiters folgend, mit zierlichen Schritten über die unebene Bühne des Lebens tanzen lernte, — nichts konnte ihm unähnlicher sein wie diese Jongleuse der Entsagungen, scheinbar sagte ich, in Wahrheit glich ihm nichts so sehr. Denn sie schied sich vom Wettbewerb des Lebens aus, nicht weil ihr dessen Güter nicht wert bedünkten, sondern weil sie sich nicht bescheiden wollte, und verwegenste Anmaßung war so sehr das wahre Grundmotiv ihrer wie seiner Attitüde, daß sie ineinander enthalten, und der eine an Stelle des anderen denkbar war . . . .
Als sie nun zur Treppe gelangten, die zu den unteren Sälen führte, vertrat ihm die Königin der Nacht den Weg, und Mariclée hörte zum ersten Male ihre Stimme.
„Der Arzt hat das Treppensteigen strengstens verboten,“ sagte sie.
„Ich gehe sie doch hinunter,“ gab er ihr mit einem sonoren Nebenklang zurück, der sie unweigerlich beiseite schob.
Mariclée machte Miene umzukehren. „Ich habe doch den Lift,“ sagte er schneidend. Da folgte sie ihm.
Unten stand ein niedlicher Flügel, den er alsbald öffnete, und während sie ihm die paar Stücke vortrug, um die er sie bat, lag ihr nichts anderes im Sinn. Aber nicht lange und sie drehte sich auf ihrem Stühlchen um, denn er stand hinter ihr. Denn die Zeit, die ihnen blieb, war nur mehr nach Minuten gezählt, und sie wollte ihn sehen. So lachte sie etwas gezwungen und sah ihn mit angestrengten Blicken an, die, seltsam umblaut, Lasten zu ziehen und sich zu schleppen schienen. Da sie sich nicht länger auf ihr entlegenes Gerede, das sie selber nie betraf, konzentrieren konnten, war jetzt ihr Ton merklich salonmäßiger und oberflächlicher geworden. Aber während Mariclée ihrer Stimme wundervoll gebot, verrieten sie jetzt ihre strahlenden Hände — ja mehr noch, sie gewährte ihnen — und ob sie sich senkten oder gleichsam wider ihr eigenes Leid erhoben und schwebten und wieder zurückfielen, immer sagten sie aus, was sie verschwieg und hielten ihre eigene Zwiesprache mit dem Schatten von Freudelosigkeit, ja von Bedrängnis, der sich jetzt über die gelassenen Züge des kranken Mannes senkte.
Ein Steward erschien an der Türe: „Cherbourg,“ rief er herein und verschwand. Es war, wie wenn schnell und lugüber eine Elster vom Aste aufstiegt und sich sogleich wieder verbirgt.
„Es wird noch eine Weile dauern. Sie werden sehen,“ sagte er. Aber sie schritt schon dem Ausgang zu.
„Nein, nein; es ist Zeit.“ Es war ihr in der Tat, als hätte sie Eile. Und sie verließen den Saal.
„Hier ist der Lift, Sie dürfen nicht weitergehen,“ sagte sie. Aber er folgte ihr die schmalen Gänge des Zwischendecks entlang, die eine erdrückende und heiße Luft erfüllte.
„Sie müssen gehen,“ sagte sie und hielt inne. Aber er stellte sich taub. Da gingen sie weiter ohne ein Wort.
Und obwohl jene Macht, die sie einst, und wenn die Straße, die sie gingen, noch so weit war, so magnetisch zusammenschloß, daß sie als eine Gruppe wandelten, sie jetzt so magnetisch schied, daß sich zwischen den eng zusammengepreßten Wänden ihre Schultern, die sich kannten, niemals auch nur streiften, gingen sie dennoch nach Einem Rhythmus und wie aus Einer Form gegossen. Denn in Wahrheit waren sie Eins.
So zogen sie tief hinab, wo sich die dunstigen Räume immer niedriger schichteten und die Flanke des Schiffes sich rundete und auslief, hier gähnte ein gewaltiges Loch. Es war ein Spalt, groß wie ein Scheuneutor und ein Gebrause wie von einer Mühle. Denn hier lag die Barkasse dem Dampfer an. Aber den Zugang blockierte noch die Mannschaft, und es war ein großes Hin und Her. Denn das Schiff war nicht in den Hafen eingelaufen, sondern hielt sich an der Mündung, und was es an Briefsäcken aufnahm und an Frachten ablud, vermittelte das Boot.
„Es wird noch eine ganze Weile dauern, bevor Sie es besteigen müssen,“ versicherte er wieder und führte sie zu einem kleinen Mauervorsprung, der eine Art von Loggia bildete. Hier stellten sie sich auf. Die Brise umwehte sie, und sie hatten das Ufer im Rücken, auf daß sie es ein letztes Mal vergaßen. Vor ihnen das prunkende Meer, das seine Wogen glatt und einsam entrollte, und die verlassene Ferne.
Hier standen sie jetzt, ohne sich ein Wort zu sagen. Was hätten sie gesagt? Die schmale Stelle auf diesem Mauervorsprung war jetzt ihre Welt. Darüber hinaus gab es keinen Fleck mehr, der sie zusammen trüge. Versunken und ungangbar alle Stätten, alle Wege, jede Spanne Bodens, den ihre Füße je gemeinsam wandelten. Soweit sie reichte, diese Welt der ewigen Verweigerungen, Unzulänglichkeiten und Verzichte, bot sie keinen Raum, enthielt keine Luft, die sie je wieder vereinigt sah. Und da geschah es, daß sich Mariclées Gesicht zu höchster Harmonie zusammenschloß, zum eigenen Ideale werden durfte und seine eigene Vollendung feierte; und ganz sich selber ward, indem es sich, sowie die Stunde, die es zeitigte, unendlich überbot. Und irgendwie war es sein Gesicht, indem es in dieser Vollkommenheit nur seinem Auge, und nur von ihm wachgerufen, sich entfaltete. Wie jene Nymphäen des Mississippi, die unter Baldachinen mannesschwerer Riesenblätter bis zu jener einen Julinacht verschlossen harren, in der ihre gekrönte Blüte, die gewaltigste und zarteste der Erde, der überhitzten, der erwartungsvollen Flut entstrahlt und ihren Wert in einer Nacht vergeudet, daß, wer sie später suchte, sie nicht mehr erkenne. Ein solches Antlitz wandte sie jetzt im Scheiden dem Manne zu, und zu solcher Schönheit malte, schmückte, krönte es in dieser Stunde die Natur. Sie standen geschützt und ungesehen und unbelauscht, zwischen ihnen nur die Luft, und diese Luft hing zwischen ihnen wie ein Schwert.
Da fiel ein Schatten in diese Welt. Mit welchem Grauen fühlte sich da Mariclée an die Wirklichkeit erinnert! Wie tödlich erblaßte sie, bevor sie den Mut fand, sich diesem Schatten, von dem sie sich gerufen fühlte, zuzuwenden. Sie sah die Möwe. — Wie eine Gejagte, geängstigten, zerflatterten Blickes, war sie auf der Suche hier unten aufgeflogen.
„O wie krank wirst du morgen sein!“ brach sie aus.
Aber Mariclée durchschaute sie wie Glas. Sie sah die Sorge, die Eifersucht, den Verdruß, sah vor allem, sie die Virtuosin, wie ungewohnt er dieses Wesen traf, so daß es gar nicht wußte, wie es sich zu ihm stellen sollte; — sah es, — und war gerührt. Denn Verdruß zuzufügen, schlug so wenig in ihr Fach, daß sie, die Zerbrochene, tausendfach Beraubte, imstande war, in diesem Augenblicke, nur der Not Rechnung zu tragen, die sie hier verschuldete — denn zu nehmen war so wenig ihre Art.
„Sie hat recht. Sie werden sich nur verderben,“ und ohne ihn anzusehen ging sie rasch auf sie zu: „Leben Sie wohl!“ sagte sie und ergriff ihre Hand. Aber jedes Wort, das sie da sprach, tönte wie gesungen, und die Dominante gab jetzt wieder jener seltsame Umschlag des allzu mächtig zurückgedrängten Gefühles, das im höchsten Affekt ihren Blick zu dem eines ausdruckslosen toten Statuenauges schlug.
So kam es, daß sie jetzt, das schmale Handgelenk der „Möwe“ erfassend, es leicht und zärtlich drückte und lächelnd zurückhielt, wie der Liebhaber die Hand der Geliebten. Ein Zeuge hätte schwören dürfen, daß sie nur für sie auf dieses Schiff gekommen war, so verschwenderisch und so entzückend war die Anmut, mit der sie Abschied von ihr nahm.
Und ihm? — Ihm drückte sie nur flüchtig die Hand, sah ihn nur flüchtig an und hatte sich schon abgewandt von ihm, war schon unter dem Tor, — sprang schon in die Barkasse. Und nicht lange, so stieß diese von dem mächtigen Dampfer ab, der wieder ins weite Meer hinauszuziehen begann, und hob und senkte sich in seinem heftig bewegten Strom. Mariclée lehnte am Maste, und wie sie also hoch aufgerichtet, wie eine Erkorene, stand, von der scheidenden Sonne umleuchtet und umflossen, glich sie einem jungen Kriegsheld am Abend einer Schlacht. Und in der Tat war das Gefühl, das sie jetzt zum ersten Male trug, ein Gefühl des Sieges. Ja — es war ihr Tag gewesen, ihr fielen alle seine Ehren und Würden zu. Jeder Zweifel war verschwunden. Sie begriff nicht, wie sie ihn jemals hegen konnte. Etwa weil sie das Spiel nur des hohen Einsatzes halber wagte, den Gewinst jedoch verschmähte? — Denn nirgends lebte der Mann, der von ihr sagen konnte: „Diesen Vorteil erstrebte sie von mir,“ noch die Frau, die von ihr sagen durfte: „Jenes unternahm sie wider mich.“ Keiner war sie je eine Rivalin gewesen. Denn darin eben setzte sie einen unbeugsamen und unerhörten Stolz. Von einem andern wußte sie nichts. Verwegenste Situationen geziemten ihr nur. Und deshalb trieb es sie hin und wieder mit solcher Macht, dieser lächerlichen Welt, und dem, was sich als ihre Mächte und Konventionen so großen Respekt verschaffte, eins ins Gesicht zu schlagen. Und sie wußte, daß sie es durfte. Weil sie nichts wollte. Weil sie von einem Wettbewerbe ausgeschieden war, dessen Preise so ungereimt und so zu Unrecht verwilligt wurden oder bestenfalls die schmähliche Marke der Vergänglichkeit und des Verfalles trugen. Wenn sie da einsprang, war das Absichtslose stets ihr Banner, ihre Geste und ihr Hohn. In ihren Verzichten — und diese waren bei ihr stets die Voraussetzung — lag ihr still geheimnisvolles Anrecht auf jene Männer, die sie durchschaut hatten, und darum verwand sie keiner.
Zwischen Dampfer und Barkasse drängte sich die Flut. Mariclée sah zu dem überfüllten Deck empor, von wo aus alle Blicke dem ziehenden Boote folgten. Schon zeigte man dort oben jene eigentümliche Neugierde der Passagiere für alles, was mit einer Landung zusammenhängt. Und bald genug entdeckte sie ihn, für den sie gekommen war, über das Geländer gebeugt und an seiner Seite die Möwe, die ihr zuwinkte. Aber Mariclée nahm keine Notiz von ihr und rührte sich nicht. Nur an der Unbeweglichkeit, mit der sie zu ihm hinstarrte, erkannte er, daß sie ihn sah.
Und der gewaltige Bau begann — scheinbar langsam — seine Straße zu ziehen und hob sich immer schärfer vom Himmel ab. Schön und furchtbar stand er jetzt über den Fluten getürmt. Es drängten sich immer mehr Wellen zwischen der Barkasse und ihm. Schon fing er an sich zu verkleinern, und mit einem Male beschleunigte er die Fahrt. Ja es war, als führe er geradewegs in die Sonne hinein, die wie ein goldenes Tor mit weit geöffneten Flügeln am Rand des Ozeans stand. Da färbte sich das Meer und huldigte ihr mit gesteigerten Akkorden, und so umrauschte es die beiden Schiffe, die in der verklärten Luft einander entschwanden.
Aber Mariclée, unbeweglich am Maste gelehnt, hielt ihren Blick zu dem Manne emporgerichtet, der über dem Geländer gebeugt zu ihr niedersah. „Da zieht er hin!“ dachte sie. Und plötzlich preßte sich ein Gitter so enge um ihr Herz, daß es sich zwischen den eisernen Stäben krampfte und brach.
So endete ihr Tag. So trennte sie das Meer.
Allein das goldene Tor der Sonne ist zerflossen, und vor dem leeren Himmel erbleichte schon das Meer. Es ist der Abend des 30. September. Die Zeit ist um. Zwei Monate von Mariclées seltsamem Leben, so sagten wir, seien hier preisgegeben und der Vorhang weit davon zurückgeschlagen. Dann mag sie wieder ihres Weges ziehn.
Ende
Druck von W. Drugulin, Leipzig
Anmerkungen zur Transkription
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