Title: Leonorenlieder
Author: Johann Christian Günther
Editor: Conrad Höfer
Release date: April 15, 2014 [eBook #45404]
Language: German
Credits: Produced by Norbert H. Langkau, Norbert Müller and the
Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net
von
Johann Christian Günther
Herausgegeben von Conrad Höfer
Im Insel-Verlag
zu Leipzig
Betrachtet man genau, was der deutschen Poesie fehlte, so war es ein Gehalt und zwar ein rationeller; an talenten war niemals Mangel. Hier gedenken wir nur Günthers, der ein Poet im vollen Sinne des Worts genannt werden darf. Ein entschiedenes Talent, begabt mit Sinnlichkeit, einbildungskraft, Gedächtnis, Gabe des Fassens und vergegenwärtigens, fruchtbar im höchsten Grade, rhythmisch bequem, geistreich, witzig und dabei vielfach unterrichtet; genug, er besaß alles, was dazu gehört, im Leben ein zweites leben durch Poesie hervorzubringen, und zwar in dem gemeinen, wirklichen Leben. Wir bewundern seine große Tüchtigkeit, in gelegenheitsgedichten alle Zustände durchs Gefühl zu erhöhen und mit passenden Gesinnungen, Bildern, historischen und fabelhaften Überlieferungen zu schmücken. Das rohe und Wilde daran gehört seiner Zeit, seiner Lebensweise und besonders seinem Charakter oder, wenn man will, seiner charakterlosigkeit. Er wußte sich nicht zu zähmen, und so zerrann ihm sein Leben wie sein Dichten.
Leonorens Antwort
Das vorliegende Bändchen der Inselbücherei bietet eine beschränkte Auswahl aus den Werken des deutschen Dichters, der wie kein anderer seiner Zeit als Künstler und als Mensch unsere Teilnahme verdient. Der tiefere Einblick in sein Werden, den vielfache und eindringende literarische Forschung eröffnet hat, zeigt uns einerseits einen Künstler, der aus anfänglicher Gebundenheit zu selbstherrlicher und höchst persönlicher poetischer Gestaltung seines Erlebens emporsteigt und in seinen besten Schöpfungen einen wundervollen Zusammenklang des ureigensten Fühlens mit seinem dichterischen Ausdruck erreicht hat. Anderseits aber hat diese Forschung uns — Goethes Urteil berichtigend — eine klare Anschauung verschafft von dem Ringen einer von Grund aus edlen und durch und durch wahrhaftigen menschlichen Persönlichkeit, die alles und jedes mit einer ihr eingeborenen Leidenschaftlichkeit ergriff und an deren tragischem Schicksal doch wohl die Verhältnisse eine größere Schuld tragen, als man bisher anzunehmen geneigt war. Was Christian Günther in letzter Linie fehlte, was er aber bei längerer Lebensdauer sicherlich in einem gewissen Grad noch hätte erlangen können, war die Kraft der Beschränkung, der Selbstbesinnung, die den zerstörenden Affekt zu überwinden weiß, war die Fähigkeit, das Dasein nach künstlerischem Maß zu formen; und dadurch unterscheidet er sich von dem Großen, dessen Urteil über ihn diesem Bändchen voransteht und mit dem von allen vorgoethischen Lyrikern nur er allein verglichen werden darf.
Das menschlich Erschütterndste bietet uns Günther in jenen großen Rechenschafts- oder Bekenntnisgedichten, zu deren Abfassung er sich in kritischen Augenblicken seines Lebens gedrängt fühlte. Sie in ihrem ganzen Umfang in dieser Sammlung abzudrucken, erschien mit Rücksicht auf den Raum untunlich. Eine Auswahl aber würde dem Verständnisse des[S. 89] Dichters kaum förderlich sein, so wurde auf ihre Wiedergabe verzichtet. Das konnte um so mehr geschehen, als sie doch in erster Linie biographisches und psychologisches Interesse erwecken, während des Poeten künstlerische Reife im eigentlichen Lied, dem weltlichen wie dem geistlichen, und ganz speziell im Liebeslied erreicht scheint. Die vorliegende Sammlung beschränkt sich daher auf die Wiedergabe einer Gruppe von Liebesliedern, und zwar sucht sie den poetischen Niederschlag in Auswahl zu umfassen, den zwei bestimmte Liebesverhältnisse in der Dichtung Günthers erfahren haben. Auszuscheiden waren deshalb alle Gedichte, die sich auf die Jugendliebe zu Flavia beziehen, ebenso die anakreontisch tändelnden Rosilislieder aus dem Anfang der Leipziger Zeit und nicht minder die nur durch ihre formale Glätte imponierenden Phillisgedichte, denen eben keine wahre Leidenschaft, sondern nur ein durch die bittere Not gebotener Brautstand zur Quelle dient.
Es bleiben nach dieser Ausscheidung und nachdem auch auf alle Freundschafts- und Geselligkeitslieder verzichtet worden ist, die Gedichte an Leonore übrig, die einem Schweidnitzer Mädchen gewidmet sind, das durch seine charaktervolle Tüchtigkeit und seine hingebende Treue dem Geliebten in allen Krisen seines bewegten Lebens ein starker sittlicher Halt gewesen ist und das Günther mit allen Fasern seines Herzens und mit aller Kraft des Guten in ihm geliebt hat. Als er nach der endlichen Erkenntnis der völligen Aussichtslosigkeit des Verhältnisses ihr das Wort der Treue zurückgegeben, da ist auch die tragische Wendung seines Schicksals nahegerückt, die dann zuletzt durch die unversöhnliche Härte des Vaters entschieden wird. Die Reihe der an Leonore gerichteten Gedichte enthält nicht nur das Beste, was Günther geschaffen, sondern sie zeigt auch in reizvoller Weise das allmähliche Wachsen der dichterischen Kraft und Kunst ihres Schöpfers. Aus den Banden des schlesischen Schwulstes, der in den ersten Gedichten bei einzelnen Motiven und in bezug auf die Sprache noch stark[S. 90] merkbar ist, führt die Entwicklung über die Anakreontik und die Nachahmung der Neulateiner zu inhaltlicher und formaler Selbständigkeit, die etwa in den von Ende August 1719 ab entstandenen Gedichten erreicht ist.
Um der Kontrastwirkung willen ist in dem vorliegenden Heftchen in die eben gekennzeichnete Entwicklungsreihe eingeschoben eine Anzahl der an die Leipziger Leonore gerichteten Lieder (S. 33-45), die sich anfangs als Ausdruck einer leichten und leichtfertigen Liebelei geben und nach Form und Inhalt abhängig erscheinen vom anakreontischen Zeitgeschmack und von einer spezifischen Leipziger Tradition, die sich bis weit ins 17. Jahrhundert zurück verfolgen läßt, die aber dann, als unvermutet die Tändelei sich in eine wahre Leidenschaft wandelt, als aus stärkster psychischer Spannung heraus entstanden erscheinen und wirkliche künstlerische Qualitäten besitzen, wenn sie auch die späteren Leonorenlieder weder an Innigkeit und Tiefe des Gefühls, noch an Schlichtheit und Wahrhaftigkeit des sprachlichen Ausdrucks zu erreichen vermögen.
Die chronologische Anordnung der Gedichte folgt fast ausschließlich den Forschungen von Carl Enders, der hoffentlich die kritische Ausgabe der Werke Günthers bald erscheinen läßt.
Es seien noch ein paar kurze erläuternde Hinweise auf einige in den Gedichten erwähnte Namen gestattet. S. 12, Str. 1: Striegau in Schlesien ist Günthers Vaterstadt; Anspielung auf den Tod eines Schweidnitzer Schulfreundes, der von einem Mitschüler erstochen worden war. Str. 3: Johannchen ist die Vertraute der Liebe zwischen Günther und Leonore. An sie sind auch die Strophen 5-8 auf S. 16 gerichtet. S. 20, Z. 7 v. u.: Diese Freundin oder besser Friedensstörerin ist nicht mit Johannchen zu verwechseln; wer sie war, wissen wir nicht. S. 41: Pfeifer ist ein Leipziger Freund Günthers, bei dem die Liebenden sich heimlich trafen. S. 46, Str. 1: Philirinde ist die Leipziger Leonore, die aus der Lindenstadt Stammende.
Gedruckt bei Breitkopf und Härtel in Leipzig.
Anmerkungen zur Transkription
Rechtschreibung und Zeichensetzung des Originaltextes wurden übernommen, nur offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert.