Title: Oesterreich im Jahre 2020: Socialpolitischer Roman
Author: Josef von Neupauer
Release date: July 8, 2015 [eBook #49395]
Most recently updated: October 24, 2024
Language: German
Credits: Produced by Jana Srna, Matthias Grammel, Norbert H. Langkau
and the Online Distributed Proofreading Team at
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domain material at Austrian Literature Online.)
Verlag von E. Pierson in Dresden und Leipzig.
Die Waffen nieder!
Eine Lebensgeschichte von Bertha v. Suttner.
Neunte Auflage.
Zwei Bände. Brosch. M 6.—, eleg. geb. M 8.—.
Auszüge aus den Urtheilen der Presse:
“Als in diesem Jahre die schönen, stillen Herbsttage waren, saß ich in einem Walde bei Krieglach und las ein Buch: “Die Waffen nieder” von Bertha von Suttner. Ich las zwei Tage daran und diese zwei Tage sind ein Ereigniß in meinem Leben. Als die Lektüre zu Ende war, hatte ich den einen lebhaften Wunsch, dieses Buch möchte in alle Kultursprachen übersetzt, in alle Büchereien aufgenommen, in alle Schulen eingeführt werden. Es giebt Gesellschaften zu Verbreitung der Bibel; möge sich auch eine Gesellschaft bilden zur Verbreitung dieses merkwürdigen Buches, welches ich geneigt bin, ein epochemachendes Werk zu nennen.”
P. K. Rosegger. “Heimgarten”, November 1891.
... Das herrliche Werk wird, ich bin überzeugt, ein Standard-werk werden. Seit Frau von Staël haben wir keine so mächtige weibliche Feder aufzuweisen.
Friedrich v. Bodenstedt (Wiesbaden).
Es ist dies ein Buch, das nach jeder Richtung im schönsten Sinne des Wortes veredelt, in dem es den ganzen Zauber, aber auch den unvergänglichen Werth echter Liebe klarlegt.
Aus dem “Bertha v. Suttner” überschriebenen und
vom Reichraths-Abgeordneten Carneri gezeichneten
Feuilleton der “Neuen Freien Presse”. 15./3. 1890.
... Darum gehört ihr Buch zu den gelungensten, die je geschrieben worden sind.
O. Neumann-Hofer
in einem Feuilleton des “Berliner Tageblatt”.
Ich will das Buch nicht preisen, nennen will ich es. Von Hand zu Hand will ich es reichen! Wie ein Evangelium soll es Jünger finden, die es in die Welt tragen!
Hans Land (in seinem am 13. Februar 1890 im Saale der
Wilhelmstr. 118 zu Berlin öffentlich gehaltenem Vortrage).
... Bei den Schilderungen des Krieges gewinnt ihre Darstellung eine Erhabenheit, die an die größten Meister der Weltliteratur gemahnt.
Balduin Groller,
“Neue Illustr. Ztg.”, 2. März 1890.
... Es ist ein muthiges und ein kluges Buch, das Frau von Suttner geschrieben hat.
Max Harden, “Die Nation”, 1890, Nr. 22.
“Ein Kulturroman”.
Das ist nicht nur ein Buch: es ist ein Ereigniß.
Heinrich Hart, “Tägliche Rundschau”.
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen.
Socialpolitischer Roman
von
Dr. Josef von Neupauer.
Motto. It is better to fight
for the good, than to rail at
the ill.
Dresden und Leipzig.
E. Pierson's Verlag.
Alle Rechte vorbehalten.
Unbefugter Nachdruck wird gerichtlich verfolgt.
Seite | ||
Kapitel | I. | 1 |
Kapitel | II. | 6 |
Kapitel | III. | 25 |
Kapitel | IV. | 29 |
Kapitel | V. | 42 |
Kapitel | VI. | 71 |
Kapitel | VII. | 77 |
Kapitel | VIII. | 98 |
Kapitel | IX. | 115 |
Kapitel | X. | 136 |
Kapitel | XI. | 153 |
Kapitel | XII. | 162 |
Kapitel | XIII. | 170 |
Kapitel | XIV. | 193 |
Kapitel | XV. | 203 |
Kapitel | XVI. | 233 |
Kapitel | XVII. | 263 |
Kapitel | XVIII. | 280 |
It is better to fight
for the good, than to rail at the ill.
Ich habe die Ehre, mich zum drittenmal einem verehrungswürdigen Publikum vorzustellen. Ich nenne mich Julian West und habe bekanntlich 113 Jahre, von 1887 bis 2000 nach Christi Geburt, verschlafen, erwachte in Boston in Dr. Leetes Hause, wo ich die wunderbaren Veränderungen anstaunte, welche die Erneuerung der Gesellschaftsordnung im 20. Jahrhunderte in meinem Vaterlande bewirkt hatte, und träumte mich dann in einer wüsten Nacht wieder in das Boston vom Jahre 1887 zurück.
Mit diesen Eindrücken hat mich ein gewisser Edward Bellamy seinen Lesern vorgeführt und mich gegen gutes Honorar meine Erlebnisse erzählen lassen.
Dann wachte ich wieder im verjüngten Boston auf, wurde als Professor der Geschichte am Shawmut-College dort angestellt, sollte meine Zuhörer mit Haß gegen die Periode des Wettbewerbs erfüllen, was mir nicht gelingen wollte, da jedermann mit der Gegenwart unzufrieden war, und lernte nach Beendigung meiner ersten Vorlesung einen Mr. Forest kennen, der von allen der Unzufriedenste war, weil [S. 2] man ihn vom Professor der Geschichte zum Pedell degradirt hatte, und wurden mir von diesem die Augen geöffnet über die abscheulichen Zustände, die der Communismus in den Vereinigten Staaten gezeitiget hatte, und er belehrte mich nicht nur über die Mängel des Communismus, sondern er unterwies mich auch, wie wir den Mängeln unserer ehemaligen Gesellschaftsordnung hätten abhelfen können, ohne sie ganz zu untergraben.
Ich habe Herrn Forest ebenso gläubig zugehört wie früher dem Dr. Leete; und wurde ich dann von einem gewissen Richard Michaelis in Chicago neuerdings mit Honorar angestellt und demselben Publikum vorgeführt, das ich das erstemal zu unterhalten die Ehre hatte, wobei ich bemüht war, die gänzliche Haltlosigkeit meiner früheren Auffassung klar zu machen. Ich endete meinen damaligen Bericht mit der Darstellung, wie Dr. Leete erschlagen, seine Tochter vergewaltigt und Mr. Forest in Vertheidigung seines Gegners Dr. Leete geschlachtet wurde, womit ich auf Wunsch des Mr. Richard Michaelis schlagend bewies, daß die Klagen, die Mr. Forest vorbrachte, gerecht waren; denn wie hätte ein ungerechter Mann es über sich vermocht, seinen Feind zu vertheidigen, der durch die Hand eines Dritten fallen sollte! —
Ich war nun ebenso überzeugt, daß der Communismus die erbärmlichste Einrichtung sei, als ich vorher für denselben geschwärmt hatte, und ich bedauerte, daß Mr. Forest im Kampfe gefallen war, da ich [S. 3] Arm in Arm mit ihm das 21. Jahrhundert gerne hätte in die Schranken fordern mögen.
Nun ereignete sich aber das Verwunderliche, daß Mr. Forest sich doch erholte und langsam von seinen furchtbaren Wunden genas. Ich pflegte ihn wie meinen Bruder und las ihm Bücher und Briefe vor, um ihm seine Lage zu erleichtern. So auch einen Brief aus Tulln, einem unbekannten kleinen Orte in Oesterreich, den wir auf keiner Karte finden konnten.
In diesem Briefe sprach ein gewisser Zwirner den Wunsch aus, Mr. Forest kennen zu lernen, da er in einer alten Zeitung, “Boston Gazette”, einen Vortrag abgedruckt gelesen hatte, den Mr. Forest, als er noch Professor war, über die Cultur des 19. Jahrhunderts gehalten hatte, und es ihn interessirt hätte, sich mit dem gelehrten Manne zu unterhalten. Er begreife zwar nicht seinen Haß gegen den Communismus, eine Gesellschaftsform, die ihn vollkommen befriedige, denn auch Oesterreich sei längst dazu übergegangen, aber geschichtliche Forschung böte viel Interesse und er selbst befasse sich mit der Aufhellung der ein wenig in Vergessenheit geratenen Cultur des 19. Jahrhunderts. Er habe Vieles, was sich darauf bezog, aus den europäischen Bibliotheken ermittelt, aber er wünsche, sein Material mit jenem des Mr. Forest zu vergleichen, und meine, Mr. Forest könnte seine Sommerferien zu einem Besuche in Oesterreich benützen. Als Professor müsse ihm der Staat die Mittel zu einer Reise nach Europa zu wissenschaftlichen Zwecken anweisen, während er selbst, [S. 4] der nur ein junger Landmann sei und keinen Namen unter den Gelehrten sich erwerben konnte, weder so laugen Urlaub, noch die Mittel zur Reise beanspruchen dürfe.
Der Arme glaubte Mr. Forest noch im Besitze einer fetten Professur und hatte nicht gelesen, daß derselbe längst war abgesetzt worden.
Indessen gefiel dem Reconvalescenten der Vorschlag, da er Europa noch nicht besucht hatte und es ihm nicht ohne Interesse war, dem zufriedenen Oesterreicher ebenso die Augen zu öffnen, wie er mir gethan, und er beauftragte mich, bei der Regierung um Ausfolgung der Mittel einzuschreiten, welche ihm und mir, den er mitnehmen wollte, die Reise nach Oesterreich ermöglichen sollten. Man mußte sich mit Reisegeld versehen, da zwischen Amerika und Europa keine Reciprocität für den Reiseverkehr bestand, wie sie die Continentalstaaten in Europa untereinander vereinbart hatten. Ich bezweifelte, daß die Regierung uns das Reisegeld anweisen würde. Aber unserem Wunsche wurde entsprochen, denn Mr. Forest war wieder in Gunst, weil er Dr. Leete, ein einflußreiches Mitglied der Regierungspartei, vertheidigt hatte, und was mich betrifft, so dachte man längst, mich von meiner Stelle am Shawmut-College zu entfernen, weil ich nicht mehr mit der anfänglichen Parteilichkeit für den Communismus docirte, andererseits aber das Auditorium sich größtenteils verlaufen hatte. Zudem hatten wir unser Gesuch für die Ferienmonate eingebracht und so bezahlte uns [S. 5] die Staatskasse 3000 Dollars Reisegeld und beurlaubte uns die Regierung für die beiden Monate Juli und August 2020 zur Reise nach Europa.
Um in einem deutschen Lande reisen zu können, suchten wir uns einige Kenntniß der deutschen Sprache vorher anzueignen und verkehrten viel mit eingewanderten Deutschen, die in Boston lebten, und mit 1. Juli 2020 verließen wir Boston und Amerika, um nach glücklicher Ueberfahrt am 13. Juli 2020 die österreichische Grenze bei Salzburg zu überschreiten.
Ich übergehe die Erlebnisse auf der Reise bis Salzburg, welche für den Leser kein Interesse hätten, weil es sich nur um unsere Beobachtungen in Oesterreich handelt.
Wir kamen am 13. Juli 2020 Abends 6 Uhr in Salzburg, einer reizend gelegenen Kreisstadt, an, welche einmal ziemlich volkreich war und gegenwärtig nur etwa 1500 bleibende Einwohner zählt, aber immer an 2500 bis 3000 Fremde beherbergt. Es haben in solchen Städten viele Pensionisten ihren Wohnsitz, die ihn aber, durch keine Berufspflichten gebunden, jederzeit beliebig mit einem anderen Wohnorte vertauschen können, daher sie nicht eigentlich Einheimische genannt werden können.
Die beurlaubten Bürger, welche ihren Urlaub zu einer Reise benützen, halten sich meist einige Tage in diesen Städten auf, um einigen Theatervorstellungen beizuwohnen und die Merkwürdigkeiten zu besehen. Reisende Ausländer, welche die Reisetaxe dritter Klasse bezahlen oder solchen gleichgehalten werden, haben das Recht, in den Kreisstädten [S. 7] abzusteigen und liefern auch ein großes Contingent der wechselnden Bewohnerschaft der Kreisstädte. Auch die Heilanstalten höherer Ordnung und die Mittelschulen für Technik, Landwirthschaft und Gewerbe führen manche Kranke und Schüler in die Kreisstädte, wo in früherer Zeit, als die stehenden Heere noch nöthig waren, auch meist drei Bataillone Militär garnisonirten. Die stabile Bevölkerung betreibt Gärtnerei, Industrie, Hauswirthschaft, Krankenpflege und Unterricht. Es ist ferners an jedem Kreisorte je ein Staatsbeamter für die Angelegenheiten der Gemeinde, des Bezirkes und des Kreises ansässig und hat der Kreisbeamte einige Hülfsbeamte nach Bedürfniß zur Seite. Jedem der drei Staatsbeamten ist ein vom Volke gewählter sogenannter Tribun oder Volksbeamter zur Seite gesetzt, der die Interessen der Einzelnen, Gemeinden, Bezirke und des Kreises wahrzunehmen hat. Ebenso ist an jedem Kreisorte je ein Pädagog und je ein Arzt für die Angelegenheiten der Gemeinde, des Bezirkes und des Kreises bestellt und zerfallen die Kreise in beiläufig zwanzig Bezirke und jeder Bezirk in etwa zwanzig Gemeinden. — Dazu kommen ein ziemlich zahlreicher Lehrkörper, einige weibliche Aerzte und viele Specialisten des ärztlichen Standes, so besonders Operateure, welche im Verbande der Kreisregierung stehen, aber, wenn es sich um Kranke handelt, die nicht oder nicht schnell genug nach der Kreisstadt gebracht werden können, an den Wohnort des Kranken abgehen müssen und welchen die [S. 8] schnellsten Beförderungsmittel jederzeit zur Verfügung stehen.
Am Kreisorte ist eine permanente Bühne mit meist wechselndem Personale und, als wir dort ankamen, war eben eine Operngesellschaft in Salzburg, welche mehrere berühmte Sänger und Sängerinnen zählte.
Beiläufig will ich hier noch bemerken, daß am Kreisorte die Trauungen gefeiert werden, daß dort häufig die Versammlungen der Verwaltungsbeamten, Aerzte und Lehrer tagen und jede Woche irgend ein Wettbewerb nach Art der olympischen Spiele abgehalten wird, wobei man sich um die Palme in den verschiedensten Künsten und Geschicklichkeiten bewirbt. Der Kreisort beherbergt eine permanente Ausstellung der industriellen und landwirthschaftlichen Produkte und ein historisches Museum, welches die Fortschritte seit 50 Jahren veranschaulicht.
Wir wurden zuerst dem Staatsbeamten für die Gemeindeangelegenheiten vorgestellt, der unsere Papiere prüfte und sich erkundigte, nach welcher Klasse wir reisen wollten. Es richte sich danach die Kategorie der Städte, in welchen wir Aufenthalt nehmen dürfen, die Beherbergung, Verpflegung und die Verkehrsmittel, deren wir uns bedienen können. Wir erhielten einen gedruckten Prospekt zu unserer Orientirung und entschieden uns für die erste und reichste Klasse, welche uns überall Zutritt eröffnete und wofür wir 25 Mark in Geld pro Tag zu erlegen hatten. Wir bezahlten für 20 Tage 1000 Mark zusammen und wurden ersucht, unsere sonstige Baarschaft [S. 9] in Verwahrung zu geben, da im ganzen Lande niemand berechtigt sei, Geld anzunehmen oder etwas zu verkaufen. In die uns ausgestellte Aufenthaltskarte wurde eingetragen, daß wir 1000 Mark Reisegebühr erlegt und außerdem 9000 Mark in Gold deponirt hätten und berechtigt seien, bis 2. August 2020 abends 6 Uhr als Reisende erster Klasse in Oesterreich uns aufzuhalten, vorbehaltlich einer etwaigen Verlängerung, die wir mit der Staatsverwaltung vereinbaren könnten. — Wir erhielten sodann eine gedruckte Belehrung in deutscher und englischer Sprache, wie wir uns in Oesterreich zu benehmen hätten, um nicht gegen Gesetz und Sitte zu verstoßen, wie auch die gesetzlichen Folgen, welche Contraventionen nach sich ziehen würden, daraus entnommen werden konnten, und wurden uns dann zwei prachtvolle Zimmer in den Wohngebäuden angewiesen, welche eine berückende Aussicht gegen die Berge boten.
Nachdem wir uns gereinigt und mit einem Bade erfrischt hatten, erhielten wir die Einladung des Kreisbeamten, seinem Empfange nach der Oper beizuwohnen. Wir stärkten uns mit einem Imbiß im Gemeindehause, wohnten einer Oper von Mozart bei, der in Salzburg noch im 21. Jahrhundert als berühmtester Landsmann verehrt wird, und wurden nach Beendigung der Oper, die vor dichtgefülltem Hause aufgeführt wurde, von dem Personale des Hauses nach den Empfangssälen des Kreisbeamten gewiesen, die in einem Gebäude nahe der Oper, zu [S. 10] welchem man durch einen gedeckten Gang gelangen konnte, gelegen waren. — Ich will nicht bei der Schönheit dieses Baues und der Empfangsräume verweilen, noch die Menge der Besucher erwähnen, da ich mir näheres für später vorbehalte, wo die Hilfsquellen zur Sprache kommen werden, über die Oesterreich im 21. Jahrhundert verfügt. Nur will ich sagen, daß wir verwundert waren, die ersten Sängerinnen nach der Oper mit funkelnden Steinen an Brust und Hals am Arme höflicher Herren beim Kreisbeamten erscheinen zu sehen, was wir damals mit der communistischen Gesellschaftsordnung nicht zu vereinbaren wußten.
Als wir zur Ruhe gingen, machte man uns aufmerksam, daß die Züge in der Richtung nach Wien um 6 Uhr und um 9 Uhr morgens von Salzburg abfahren, und wählten wir den zweiten Zug.
Am nächsten Morgen warfen wir von unseren Fenstern einen Blick über die herrliche Gegend und sahen überall auf Feldern und Wiesen rüstig arbeiten, Lieder erklangen von den Gefilden und schien ein gewisser Wetteifer alle zu beleben. Wir frühstückten im Speisesaale, wo uns ein allerliebstes Mädchen mit dem Nöthigen versorgte, unternahmen einen Spaziergang in die ihrer Schönheit wegen berühmte Umgebung der Stadt und reisten um 9 Uhr ab, nachdem uns eine freundliche Hausgenossin, welche das Geschäft einer Aufwärterin im Fremdenpalaste besorgte, noch einen Gruß des Kreisbeamten und [S. 11] des Gemeindebeamten gemeldet hatte. Man darf aber nicht glauben, daß wir uns irgendwelche Freiheiten gegen dieses “Kammerkätzchen” oder eine geringschätzige Behandlung hätten erlauben dürfen. Unsere gedruckte Belehrung bedrohte uns für einen solchen Fall mit unverzüglicher Entfernung aus Oesterreich, wie uns auch kundgethan war, daß jedes Mädchen und jede Frau in Oesterreich ohne Rücksicht auf deren Beruf Anspruch auf ritterliche Höflichkeit erhebt.
Bahnhof, Waggons, Dienstuniformen des Eisenbahnpersonals zeigten edle Einfachheit und feinen Geschmack. Nach Vorweisung unserer Aufenthaltskarte wurden wir vom Oberschaffner nach dem besten Coupé gewiesen, in welchem wir einige Professoren fanden, die ihre Ferienreise machten. Der Zug war voll besetzt mit Leuten jeden Berufes, die kürzere und längere Strecken zurücklegten, wozu ihnen eine Reiselegitimation des Beamten ihrer Heimath das Recht gewährte. Einigemal war der Andrang von Reisenden etwas zu groß und dann mußten jüngere Leute ohne Rang sich begnügen, in den Gängen und zwischen den Sitzen zu stehen, aber es wurde wieder Platz und so dauerte die Unbequemlichkeit nicht lange. Wer sich nicht fügen wollte, hatte die Wahl, auszusteigen und zurückzubleiben, was nichts auf sich hatte, weil man überall angenehm wohnt und mit allem gut versorgt ist und man ja doch nur zum Vergnügen reist. Die wenigen Personen, die im Dienste reisen, haben allerdings Anspruch [S. 12] auf alle erdenklichen Bequemlichkeiten und unaufgehaltene Beförderung.
Wir hatten unterwegs zweimal kalten Imbiß mit Erfrischungen nach unserer Wahl, erhielten auf unseren Wunsch, da wir uns scheuten, mit den Reisenden deutsch zu conversiren, englische Bücher und Zeitungen aus der fahrenden Bibliothek zum Gebrauche und kamen um 4 Uhr über die Sct. Pöltener Zweiglinie nach Tulln, wo uns der Schaffner einem am Bahnhofe anwesenden Herrn als die beiden Amerikaner vorstellte. Es war Herr Zwirner, der, obwohl er englisch an Mr. Forest geschrieben, doch nur deutsch mit uns sprechen wollte und uns zu unserer Aufklärung mittheilte, der Schaffner, der uns schon in Wels um das nächste Ziel unserer Reise gefragt und erfahren hatte, daß wir noch heute zu Herrn Zwirner in Tulln wollten, habe, wie das immer geschehe, wenn es sich um Fremde handelt, von Linz aus den Kreisbeamten in Sct. Pölten und dieser den Bezirksbeamten in Tulln telegraphisch von unserer Ankunft und dem Zwecke unseres Besuches verständigt. Demnach sei er, Zwirner, der in den nahegelegenen Bergen arbeitete, rechtzeitig von unserer Ankunft benachrichtigt worden, damit die Fremden den Zweck ihrer Reise ohne Umwege erreichen sollten.
Wir begaben uns nach unseren Zimmern, die in gastfreundlicher Absicht so gewählt waren, daß wir die Aussicht über die Donau und den Tullnerboden mit den angrenzenden waldbewachsenen Höhen genießen [S. 13] und sehen konnten, daß das ganze Land wie ein Garten bebaut ist. Zwirner wollte uns gleich mit dem Landstriche, der vor uns lag, bekannt machen. Das Gebiet zwischen der linker Hand strömenden Donau und den Bergen, die sich rechter Hand in sanften Bogen bis meilenweit vor uns nach Osten erstreckten, nennt man den Tullnerboden. Er ist flach, wie eine Tenne und unendlich fruchtbar. Links, jenseits der Donau, sieht man ausgedehnte Auen und weiterhin anmuthige Berge, die sich weit hinaus im Osten mit den diesseitigen Bergen zu kreuzen scheinen. Doch windet sich dort die Donau, deren Lauf man nicht mehr verfolgen kann, in südöstlicher Richtung zwischen den Bergreihen durch. Unsere Bergkette ist von einem scharf abfallenden Berge abgeschlossen. “Auf diesem Berge,” sagte Zwirner, “steht die alte Ruine Greifenstein, zwei volle deutsche Meilen von hier, und links davon, noch eine Viertelmeile weiter und schon jenseits der Donau gelegen, seht ihr den mächtigen Bau des Schlosses Kreuzenstein, vormals gräflich Wilczekscher Besitz und jetzt, wie alle alten Burgen und Schlösser, zur Civilliste geschlagen. Der Kaiser läßt sich aber dort von altersher von einem Mitgliede der Familie Wilczek vertreten.” — Zwirner nannte uns die Ortschaften, die vor uns lagen. Die Straße rechter Hand führe nach Staasdorf, das wir nahe vor uns sahen, und nach Ried, das wir nicht sehen könnten, im Gebirge. Am Saum der Gebirge, von Staasdorf nach Osten vor uns, nannte er uns die Ortschaften Chorherrn, Tulbing, Königstetten und [S. 14] näher zu uns liegen in dieser Richtung Frauenhofen und Nietzing, an der Donau stromabwärts Langlebarn, Muckendorf, Zeiselmauer, dann im fernen Osten Wördern und Sct. Andrä, welches sich wieder an die Berge lehnt; von da zurück, halbwegs nach Königstetten, Wolfpassing. — Tulln sei Bezirksvorort und alle diese Ortschaften, ein großer Theil des rechtsseitigen Waldgebietes und viele Ortschaften nach Süden und Westen, die von unseren Fenstern aus nicht zu sehen waren, gehörten zu diesem Bezirke. Jenseits im Osten beginne der Klosterneuburger Bezirk. Wir sahen keine Kirchthürme, aber die aus mächtigen, castellartigen Gebäuden bestehenden Dörfer waren wohlgepflegt, mit Ziergärten, Parkanlagen und Obstgärten eingerahmt und von großen Wirthschaftsgebäuden begleitet, die überall abseits angelegt waren. Eigentlicher Wald war auf dem Tullner Boden nicht zu sehen, aber die Berge waren herrlich bewaldet. Von den Bergkuppen nannte uns Zwirner nur den Tulbinger Kogel zwischen Tulbing und Königstetten, den wir näher kennen lernen sollten. In Königstetten sahen wir auch ein großes Schloß mit weit ausgedehnten Gärten und Park, das nach Zwirners Mittheilungen zur Civilliste gehörig sei und wo heuer ein Fürst Hochberg Hof halte.
Zwirner verließ uns und wir machten uns für den Mittagstisch bereit, stürzten uns vorher noch in ein Schwimmbecken, um uns nach dem heißen Tage etwas abzukühlen, und gingen um 5 Uhr mit Zwirner zu Tische. Er führte uns in den mächtigen [S. 15] Speisesaal des Gemeindepalastes, der an 1500 Quadratmeter fassen mochte und wie sich einer in jeder Gemeinde und jedem Quartier findet. Dort stellte uns Zwirner dem Beamten vor, der in diesem Saale, in welchem sich die ganze Gemeinde zur Mahlzeit versammeln kann und auch, bei der Hauptmahlzeit meist zu zwei Dritteln versammelt ist, präsidirte, und dieser verkündete dann mit lauter Stimme, daß die Herren Julian West und N. Forest aus Boston in Amerika zu Besuch hier seien, was nicht übergroße Verwunderung erregte, wohl aber von einigen mit einem freundlichen “Cheer” beantwortet wurde.
Zwirner führte uns an seinen Tisch, an dem nur unverheirathete junge Leute saßen, mit welchen wir uns bald im Gespräche befanden, da man uns ermunterte, von Amerika zu erzählen. Nach dem Essen geleitete uns Zwirner in den Park, der die Wohnhäuser umgibt, und bot uns Cigarren an, die wir gerne annahmen. Wir sprachen unsere Verwunderung aus, daß Zwirner nicht selbst auch rauchte, worauf er sagte: “Die Österreicher rauchen nicht.”
Da stieß mich Mr. Forest mit dem Ellenbogen: “Da hat man die Freiheit; den Oesterreichern verbietet die wohlweise Regierung das Rauchen, als ob sie kleine Kinder wären.” Zwirner verstand nicht, was Mr. Forest englisch zu mir sagte, aber er erbat sich lächelnd Aufklärung, da er meine, etwas von “Austria” vernommen zu haben, und fügte zugleich bei, er wolle nicht annehmen, daß wir von etwas [S. 16] gesprochen hätten, was Mr. Forest zu verbergen wünsche, da dies in Österreich als ungesellig gelte und man wohl in Amerika nicht anders denken dürfte. Ich gestand ihm, daß wir Gegner des Communismus seien und im Rauchverbot eine unerhörte Bevormundung erblickten.
“Ihr irrt, liebe Freunde!” sagte hierauf Zwirner, “in Oesterreich lebt ein freies Volk, und niemand kann uns das Rauchen verbieten.” — “Weshalb wagt ihr aber dann nicht zu rauchen?” war meine Frage. — “Das mag einer Erklärung bedürfen,” sagte Zwirner. “Oesterreich war einstens das gesegnete Land der Raucher; die österreichische Regierung hatte das Tabakmonopol im Lande und erzeugte ungeheure Mengen von Cigarren, Rauch- und Schnupftabak im Jahre. Sie begünstigte das Rauchen, weil damals, vor 150 Jahren, das Tabakmonopol große Summen abwarf. Als dann nach und nach die Gemeinwirthschaft eingeführt wurde, hatte die Regierung Mittel genug zur Verfügung, um alle staatlichen Bedürfnisse zu befriedigen, und es wurde die Frage aufgeworfen, ob denn das Rauchen ein wirkliches oder eingebildetes Bedürfniß sei. Man stritt hin und her und es gab Provinzen, die für das Rauchen waren, und andere wollten es abschaffen. Die Regierung wollte nichts von Gewalt wissen und meinte, nur der Jugend könne der Genuß von Tabak verwehrt werden, wenn man das für zweckdienlich halte.
Da sich, wie gesagt, einige Provinzen für das [S. 17] Rauchen, andere dagegen ausgesprochen, schlug die Regierung vor, daß man das Rauchen zwar den Erwachsenen freigeben, aber eine besondere Krankheits- und Mortalitätsstatistik für Raucher und Nichtraucher führen solle. So geschah es und wurden die Nichtraucher für die Ersparnisse an Rauchtabak mit anderen Genüssen entschädigt. Es stellte sich nun klar heraus, daß das Rauchen manche specifische Krankheiten im Gefolge habe und daß der Raucher jährlich 3-8 Tage seines Lebens zusetze, je nach der Menge und Stärke des verbrauchten Tabaks und der Widerstandsfähigkeit der Constitution. — Da verminderte sich nach und nach die Zahl der Raucher, den jungen Leuten verwehrte man den Tabak ganz und gar, und es fand sich, daß die Leute nicht nur gesünder waren, als vorher, sondern auch jährlich das Dreifache jenes Aufwandes in Ersparung gebracht wurde, den die Versorgung des Volkes mit neuen Büchern und die gesammte Bibliotheksverwaltung verursacht.”
“Nun aber, wie kommt es, daß wir doch mit Cigarren bewirthet werden?” fragte ich.
“Wir sind gastfreundlich und sehen jährlich 400 000 Ausländer in unseren Grenzen. Wir suchen jedem Fremden die Annehmlichkeiten seiner Heimath zu bieten und nur für Fremde haben wir Tabak.”
Mr. Forest schwieg für diesmal und hoffte auf eine bessere Gelegenheit, über die communistische Sache zu triumphiren.
Zwirner schlug nun vor, einen Plan für die nächsten Tage zu entwerfen. “Wir haben,” sagte [S. 18] er, “Dienstag, den 14. Juli 2020 und, da wir mitten in der Ernte sind, kann ich mich nicht beurlauben lassen. Für nächsten Sonntag stehe ich euch ganz zur Verfügung, aber an Wochentagen muß ich mich bis 4 Uhr meinem Berufe widmen. Da wir günstiges Wetter haben, schlage ich euch für morgen einen Ausflug auf das Kahlengebirge vor und am Donnerstag findet im Prater ein Kreiswettrennen statt, welches in den Nachmittagsstunden abgehalten wird, und damit ließe sich ein Besuch der Rotunde verbinden. Für später können wir dann weitere Pläne machen. Am Kahlenberge könnte ich euch morgen nachmittags abholen.”
Wir gingen auf den Plan ein und Zwirner verließ uns, um das Nöthige im Gemeindepalaste zu besorgen. Man stellte uns nämlich Karten aus, womit wir wegen unserer Verpflegung für Mittwoch und Donnerstag an die Verwaltung der Wirthschaften am Kahlenberge und im Prater angewiesen wurden, da es gebräuchlich sei, daß jeder dort seine Mahlzeiten einnehme, wo er beherbergt wird.
Nun führte uns Zwirner in sein Wohnzimmer, um dort in Ruhe mit uns Gedanken auszutauschen über das, was uns hauptsächlich beschäftigte. Seine Stube war einfach, aber hell, rein, gut gelüftet und für die jetzige Jahreszeit angenehm kühl. Das Mobiliar schien sehr spärlich und einfach, aber es fehlte nichts, was zur Bequemlichkeit dient. Die Stube lag im dritten Stockwerke nach einer Seite, wo besondere Ruhe herrschte, und Zwirner hatte diese [S. 19] Lage gewählt, weil er beschaulich war und gerne seine Muße mit Studien verbrachte. Wir sahen eine ungeheuere Menge von Büchern aufgestapelt, viele auch in englischer Sprache, dann viele Jahrgänge alter Zeitungen und Fachschriften, welche Aufschluß geben über den Stand der Socialwissenschaft im 19. Jahrhundert, über die Statistik damaliger Zeit und über die Bewegung, die damals durch alle Völker ging, und wie ein Wetterleuchten das Nahen eines erfrischenden Gewitters verkündete. Zwirner klärte uns darüber auf, wie er in den Besitz des Materials gelangt sei. Er sagte, daß niemand Privateigenthum habe und alle Bücher in öffentlichen Bibliotheken verwahrt würden. Wien habe zehn große öffentliche Bibliotheken, jede mit Millionen von Bänden, da dort nach und nach alle Privatbibliotheken Aufnahme fanden und seit Einführung der Gemeinwirthschaft alljährlich eine halbe Million Bände den Centralbibliotheken zuwüchsen.
Die Wiener Bibliotheken umfaßten unter anderem alle Unica und bezögen seit Jahren alles, was auf dem ganzen Erdkreise jährlich erschienen, ohne einen Unterschied der Sprache. Mit allen communistischen Staaten stehe die Regierung im Büchertausche und beziehe auf diesem Wege alljährlich viele Tausende von Werken, da beispielsweise Deutschland allein jährlich 12 000 Werke herausgebe gegen etwa 7000 Werke im 19. Jahrhundert.
Gemeiniglich sende man sich nur ein Probeexemplar zu, finde aber die Reichsbibliotheksverwaltung, [S. 20] daß das Volk an etwas Interesse nehmen dürfte oder daß die Verbreitung eines Werkes nützlich sei, so bestelle man eine große Anzahl von Exemplaren, auch bis zu hundert, so daß jeder Kreis mit einem Exemplar versorgt werden könne. Am Schlusse des Jahres verrechne man sich wechselseitig und rechne man gemeiniglich Band für Band, den Band zu 500 Seiten, die Seite zu 250 Worten. Den inneren Werth eines Werkes ziehe man nicht in Betracht, weil es sich ja doch nur um einen Abdruck handle und die Staaten untereinander den Grundsatz beobachten, daß Wissenschaft und Kunst international seien.
“Und die Schriftsteller erhalten auch kein Honorar?” warf ich ein.
“Diese erhalten natürlich kein Honorar in Geld, da die Geldwirtschaft abgeschafft ist, aber man hat von alter Zeit her den Gebrauch, für geistige Arbeit von höherem Werthe besondere Vortheile und Begünstigungen einzuräumen.”
“Wie bemißt man aber diese und wer schätzt den Werth der Arbeit ab?”
“Den Werth der Arbeit schätzt die Regierung ab, wie man im 19. Jahrhundert die Verdienste eines Staatsbeamten abschätzte und entlohnte, theils durch Beförderung, theils durch Auszeichnungen, theils doch auch durch Prämien!”
“Da kann man sich die Protectionswirthschaft vorstellen,” fluchte Mr. Forest, “und wer gegen die Regierung schreibt oder den Ministern nicht den [S. 21] Hof macht, wird natürlich umsonst auf Belohnung warten.”
“Man schreibt in Österreich nicht für und nicht gegen die Regierung, denn, nachdem der Classenstaat durch Verstaatlichung des Besitzes sich in einen Volksstaat verwandelt hat, haben alle politischen Fragen an Bedeutung verloren und es kann höchstens Verdienst oder Verschulden Einzelner in Frage kommen, wobei Wissenschaft und Kunst nicht betheiligt sind. Allerdings ist bei der Bewerthung geistiger Arbeit ein sicheres Urtheil nicht zu gewinnen, aber es wird damit folgendermaßen gehalten. Man unterscheidet in der Literatur Wissenschaft und Kunst. In der Wissenschaft handelt es sich um Forschung und Mittheilung ihrer Ergebnisse oder um bloße Tradition. Erstere veröffentlicht der Forscher in den Fachblättern oder in selbstständigen Werken. Gehört er dem officiellen Verbande der wissenschaftlichen Körperschaften, also einer Akademie, einer Hochschule oder einem vom Staate eingerichteten wissenschaftlichen Institute an, so gilt das Ergebniß seiner Forschung als geistiges Eigenthum des Staates, der ihm Unterhalt gewährt und alle Forschungsbehelfe zur Verfügung stellt. Das schließt aber nicht aus, daß für epochemachende Entdeckungen besondere Entlohnungen in munificenter Weise bewilligt werden, wie es überhaupt mit der Belohnung besonderer Verdienste gehalten wird.”
“Wie kann das doch mit den communistischen Principien in Übereinstimmung gebracht werden und [S. 22] wie stimmt das mit der Forderung der Gleichheit?” fragte Forest.
“Wir halten Gleichheit nicht für eine Forderung des Communismus in dem Sinne, daß Mann für Mann dasselbe genießt. Wir verstehen unter Gleichheit einmal die Festhaltung der gleichen Würde für jeden Menschen. Jeder ist Mensch und das ist der höchste Adelsbrief. Gleichheit herrscht ferner darin, daß jeder eine vollkommene Erziehung und eine vollkommene Ausbildung erhält, so daß alle seine geistigen und leiblichen Anlagen zur vollen Entfaltung gelangen, gleichviel, wer sein Vater oder seine Mutter wäre. Wir verstehen ferner unter Gleichheit, daß jedem in seinem Berufe alle jene Erleichterungen gewährt werden, die ihn in den Stand setzen, das Höchste zu leisten. Nur durch höhere Leistungen kann sich der Mensch noch ein wenig über seine Mitmenschen erheben. Die Geburtsvorrechte wurden eben deshalb abgeschafft, damit jeder nach Verdienst geehrt und entlohnt werden kann. Das heißt, damit die natürliche Ungleichheit zu voller Entfaltung soll gelangen können hat man alle künstliche und aus der Knechtung entstandene Ungleichheit abgeschafft.”
“Wir sind ferners der Überzeugung, daß, wenn man jedem die gleiche Gelegenheit bietet, das Höchste zu leisten, wozu ihn die Natur befähigt hat, darin allein auch wieder der angemessene Lohn liegt; denn, wenn man einem Manne, der zweimal so stark ist, [S. 23] als sein Nebenmann und daher zweimal so große Lasten bewegt, auch zweimal soviel Nahrung gibt, so ist das eher gleich, als wenn man diesen verschiedenen Leuten genau gleichviel Nahrung zumessen wollte. Keinesfalls bewirkt das eine sociale Ungleichheit und so wenig man daran denken könnte, einer hundertpferdigen Dampfmaschine genau so viele Kohlen zuzuführen, wie einer einpferdigen, ebensowenig könnte man jedem Arbeiter genau und mechanisch dieselbe und gleichviel Nahrung zumessen.”
“Erwägen wir aber genauer, welcher Art die Güter sind, auf welche hervorragende Künstler, Forscher und Erfinder vorzugsweise Anspruch erheben werden, so werden sie wohl unter den Begriff geistiger Nahrung fallen. Das Volk also, der Abnehmer aller geistigen und materiellen Werthe, die durch Menschenarbeit geschaffen werden, hat selbst ein Interesse daran, daß höheres Verdienst auch höheren Lohn findet. Er stellt sich nämlich als produktive Auslage dar.”
“Unsere verhältnismäßige Gleichheit folgt weit genauer dem Verdienste, als die Gesellschaftsordnung des 19. Jahrhunderts, die Milliarden des Jahresproduktes an Leute verschwendete, welche überhaupt gar nichts leisteten. Aber wir meinen, daß jeder Arbeiter, schaffe er mit den Händen oder mit dem Kopfe oder mit den Nerven, wo z. B. gespannte Aufmerksamkeit notwendig ist, sich einigermaßen aufreibt, einen Theil seines Lebens einsetzt, und das eben in verschiedenem Maße, nach Art und Menge [S. 24] seiner Leistung, und nach diesem Verhältnisse muß der Lohn abgestuft werden. Wie man dem Acker selbst wieder gibt, was man ihm in der Landwirthschaft entzieht, wie man den Ackergaul selbst verschieden füttert, je nachdem er mehr oder weniger angestrengt arbeitet.”
Da unterbrach ihn das Glockenzeichen, das zur Abendmahlzeit rief, und wir pilgerten, ehe wir noch erfahren hatten, wie es mit der Kunst in der Literatur gehalten wird, nach dem großen Speisesaale. Unser Weg führte am Schwimmbecken vorüber, in dem sich noch Jung und Alt beiderlei Geschlechts tummelte, und durch den Blumengarten, der den Zwischenraum der Häuser ausfüllt. Wir fanden den Speisesaal hell erleuchtet und kaum zur Hälfte gefüllt. Man kam und ging und die hübschesten jungen Mädchen dienten als Heben von Tisch zu Tisch.
Wir wollen nun mit wenigen Worten der beiden nächsten Tage gedenken, wo wir uns mehr überlassen waren, weil Zwirner sehr hart arbeiten mußte. Wir fuhren den nächsten Tag auf den Kahlenberg, wohin die Eisenbahn und eine Zahnradbahn, die vor 150 Jahren erbaut, seither aber sehr verbessert worden war, führt und von wo wir zuerst Wien, mit viel weniger Thürmen, als im 19. Jahrhundert, geschmückt und nicht erweitert, wie man damals dachte, sondern eher zusammengerückt — so lehrten Bilder an den Wänden des Speisesaales — sahen, und wir waren verwundert, überall Grünes zwischen die Häusergruppen gemengt zu sehen, mehr als das sonst in einer Großstadt der Fall ist. Von einer großen Terrasse sahen wir hinab auf die schimmernde Stadt und die umliegenden Weingärten, links die Donau mit dem fruchtbaren Marchfelde und blauen Gebirgen in weiter Ferne und rechts, vom Bergrücken ausgehend, auf dem wir standen, wohl in zwanzig Farbentönen, immer duftiger und blauer werdend, abgestuft, ein herrliches Gewoge bewaldeter Berge, die, zu [S. 26] immer mächtigerer Höhe ansteigend, sich bis weit nach Süden hinziehen, wo der berühmte Schneeberg deutlich sichtbar ist. Es sind weitläufige Wohngebäude und Wirthschaften auf dem Kahlenberge zu sehen; eine alte Kirche, die da gestanden haben soll, ist nicht mehr erhalten und führen Waldwege im Bogen nach einer zweiten Bergkuppe, zwischen uns und der Donau gelegen, welche Leopoldsberg genannt wird und auch bewohnt ist. Die Wohnhäuser dienen alten Leuten, die Gefallen daran haben, Winter und Sommer zum Aufenthalte und werden oft Tausende von Besuchern hinaufgeführt, die sich einige Stunden erlustigen, auch wohl bis spät in die Nacht bleiben und nicht selten im großen Saale sich mit Musik und Tanz vergnügen, wie auch sehr oft Männergesang ertönt, zur Uebung oder zur eigenen Lust oder um fremde Besucher zu ehren, die sich eben in Wien befinden und eine Einladung auf diesen Berg annehmen. Daß alles für Staatsrechnung geht, ist selbstverständlich.
Die weiten Wälder, von Wiesen unterbrochen, bieten Tausenden genußreiche Gelegenheit, sich zu ergehen und dem Ballspiel, Cricket oder Lawn tennis zu huldigen, wozu die Erfordernisse reichlich vorhanden sind. Es ist ein Aussichtsthurm hier und in einer Stunde etwa kann man auf herrlichen Wegen den Hermannskogel erreichen, auf welchem auch ein uralter Thurm steht, dessen Entstehungsgeschichte der Castellan erzählt. Wir legitimirten uns in der Wirthschaft auf dem Kahlenberge mit der Anweisung des [S. 27] Tullner Beamten und wurden mit allem versorgt. Wir ließen Zwirner telephonisch benachrichtigen, daß wir gleich nach dem Mittagstisch nach Payerbach fahren wollten, um die herrliche Nacht auf dem Schneeberg zu verbringen. Man versah uns, als wir aufbrachen, mit einer Tasche, in der wir die nöthigsten Reiseerfordernisse und Mundvorrath mitnahmen, und wurden ersucht, Tasche und Reiserequisiten in Tulln abzugeben, von wo sie wieder gelegentlich zurückgebracht würden.
Ein Amerikaner, den wir zufällig trafen, schloß sich an und über die Zahnradbahn, Franz-Josefs-Bahn und Südbahn kamen wir um zehn Uhr nach Payerbach, wanderten im Mondschein nach Reichenau und von da auf den Schneeberg, wo wir ein wenig ruhten und zum Aufgang der Sonne geweckt wurden. Mit vielen anderen Besuchern genossen wir das erhebende Naturschauspiel, ruhten dann wieder und kamen gegen Mittag nach Payerbach, um direkt in den Prater zu fahren. Dort kamen wir eben gegen Ende des Wettrennens an, das ebenso verlief, wie anderwärts und zu anderer Zeit, nur durfte nicht gewettet werden und die zahllosen Frauen und Mädchen waren nicht demi-reputation.
Nun waren wir doch froh, zu unserem verspäteten Mittagessen zu kommen, das uns angewiesen war, denn unser Mundvorrath war verbraucht und wir wollten nicht, was wir recht wohl hätten thun können, uns in einen beliebigen Speisesaal begeben, da wir Abweisung fürchteten. Recht müde kamen wir gegen [S. 28] neun Uhr nach Tulln und ließen uns das Abendbrot schmecken. Zwirner gab uns das Versprechen, die Rückstellung der Reiseeffekten zu veranlassen, was ja sehr leicht sei, da kaum ein Tag vergehe, daß nicht jemand mindestens nach Nußdorf ginge, und von dort nähmen dergleichen die Schaffner der Zahnradbahn mit.
Wir wunderten uns, daß da Ordnung möglich sei, und Zwirner sagte, wenn die Sachen in drei Tagen nicht kämen, würde man gewiß nach Tulln telephoniren, und wo könnte denn ein Reisender die Sachen, welche offenbar nicht ihm gehören, hinschaffen? Sie würden ihm abgenommen werden und sicher immer wieder an ihren Ort kommen, denn die Centralstellen vermitteln alle Anfragen und Communicationen.
Zwirner erklärte uns das Fernsprechwesen. Es seien schon ursprünglich alle Ortschaften mit den Bezirksvororten, diese mit den Kreisvororten und diese mit den Provinzstädten durch Fernsprechleitungen verbunden worden. In Wien liefen alle Leitungen zusammen und die Kreisstädte hätten auch telegraphische Verbindung mit den Provinzstädten und diese mit Wien. Die Leitung führe überall von Kanzlei zu Kanzlei, könne aber auch von den Einzelnen benützt werden. Eigenes Bedienungspersonal sei nicht nothwendig, da die Telephone überall dort angebracht seien, wo das Anrufen von irgend jemand gehört werden muß.
Es war ein heller Nachmittag und ein Gewitter hatte die Luft abgekühlt.
Ich sagte, daß ich den amerikanischen Gesandten besuchen müsse, da ich sein Landsmann sei, und Zwirner erwiderte darauf, daß er sich erkundigen wolle, ob der amerikanische Gesandte Abendempfang habe. Er begab sich nach dem Gemeindepalaste und kam bald mit der Nachricht zurück, der amerikanische Gesandte habe sich für den Abend beim Fürsten Hochberg zum Besuche angesagt und er werde sich übrigens freuen, mit seinen Mitbürgern Mssrs. West und Forest dort zusammenzutreffen. Zwirner habe nun beim Fürsten Hochberg, wo übrigens seine Schwester Hausgenossin sei, angefragt, ob es angenehm wäre, wenn er mit den Herren West und Forest aus Boston dort den Abend zubringen würde, hauptsächlich in der Absicht, den amerikanischen Gesandten dort zu begrüßen. Der Fürst habe zustimmend geantwortet.
Zwirner bemerkte, daß wir nicht begriffen, was ein Fürst in einem communistischen Staate zu suchen [S. 30] habe und wie sich diese geselligen Verhältnisse erklären ließen, und sagte: “Die Stellung des Adels werde ich euch ein andermal erklären, aber es ist ganz natürlich, daß wir den amerikanischen Gesandten aufsuchen, wo er eben seinen Abend zubringt, und daß wir uns beim Fürsten Hochberg zu diesem Zwecke einladen. Hat man nicht eben geschäftliche oder, wie wir sagen, dienstliche Besprechungen mit jemand zu pflegen, so sucht man sich abends zu treffen, weil der Abend im ganzen Reiche für gesellige Zusammenkünfte bestimmt ist. Die Last, Empfangsabende zu halten, fällt überall dem Verwaltungsbeamten zu, aber in Wien empfängt der Kaiser oder sein Vertreter täglich und ebenso empfangen die Minister, einige Volkstribunen und der Adel. Wir haben 200 adelige Familien, deren Oberhäupter diese Repräsentationspflichten erfüllen müssen und so gewissermaßen kleine Succursalen des kaiserlichen Hofes vorstellen. Es hat zwar jedes städtische Quartier seinen Palast, wo jedermann seinen Abend angenehm verbringen kann, aber in Wien strömen berühmte Menschen aus aller Herren Länder zu vielen Tausenden zusammen, und will man Berühmtheiten treffen, so ist es am besten, man geht zu Hofe oder in diese kleineren adeligen Cirkel. Bei Hofe ist das Gewühl der Besucher betäubend und man geht gerne einmal, aber sehr ungern zweimal hin. Dagegen sind die Empfänge des Adels außerordentlich angenehm. In dem Palaste eines solchen Magnaten können sich nur etwa zweihundert Personen versammeln. [S. 31] Man verliert sich nicht, jedermann kann beachtet werden, sich aber auch, wenn es ihm beliebt, der Beschaulichkeit hingeben, man findet die schönsten Frauen, deren wir jetzt eine Legion haben, und die interessantesten Männer, viele Künstler und Gelehrte und niemand beklagt sich, er habe je dort einen Abend verloren. Ich muß beim Fürsten Hochberg ebenso aufgenommen werden, wie jeder andere Bewohner des Reiches oder Fremde, aber man sagt sich immer vorher an, weil die Räume nicht besonders groß sind und man dort ungemüthliches Gedränge vermeiden will. Das Haus des Fürsten Hochberg ist übrigens auch mein Haus, die Erfrischungen, die in seinem Hause herumgereicht werden, bestreitet das gesammte Volk und ich bin bei Hochberg ebenso zu Hause, wie in Tulln oder sonstwo im weiten Reiche. Unter der Anfrage, ob mein Besuch angenehm wäre, ist nichts anderes zu verstehen, als eine Erkundigung, ob die Zahl der angemeldeten Besucher eine bestimmte Grenze nicht schon überschritten hat. In früheren Zeiten allerdings konnte eine abschlägige Antwort auch aus anderen Gründen erfolgen. Als die neue Gesellschaftsordnung begründet wurde und man mit der degradirten Bevölkerung aus dem 19. Jahrhunderte zu rechnen hatte, besaß der Adel das heute kaum je mehr ausgeübte Recht, allen jenen den Zutritt zu verwehren, welche einer solchen Gesellschaft nicht hätten zur Zierde gereichen können. In drei Generationen seit 1930 ist aber der Charakter des Volkes so verändert worden, daß der Adel wohl [S. 32] jeden Einheimischen in seinen Cirkeln zulassen kann.”
“Wie hält man es aber mit den Fremden?”
“Wenn ein verdächtiger Fremde sich bei Hochberg zu Besuch melden würde, so würde der Fürst sich beim Quartierbeamten vorher Belehrung einholen und man würde den Mann etwa mit einer Ausrede und einem Theaterbillete auf andere Gedanken bringen. Für uns hat sich längst ein natürliches Gefühl der Schicklichkeit herausgebildet, welches uns lehrt, Störungen aus dem Wege zu gehen und Empfindlichkeiten zu schonen. So gibt es Leute, welche wegen zwischen ihnen bestehender Abneigung nirgends zusammentreffen dürfen, da sie nur zu leicht in Streit gerathen oder doch mindestens nebeneinander des geselligen Abends nicht froh werden könnten. Dem Zusammentreffen solcher Personen wird immer geschickt ausgewichen und ist der Fernsprecher für uns eine wahre Wohlthat, weil sich die verantwortlichen Beamten jederzeit davon unterrichtet halten, welche Gefahren etwa zu besorgen sind.”
Eben fuhr ein schmucker Junge eine Kutsche, mit zwei Pferden bespannt, vor und wir stiegen ein, um uns zu Hochberg zu begeben. Der junge Pferdelenker hatte sich die Begünstigung ausgebeten, so oft als möglich mit der Lenkung der Pferde betraut zu werden, weil ihm das besonderes Vergnügen bereite. Er war der Sohn des Arztes und man sagte uns, daß er mit den Pferden, die diese Tage nicht waren eingespannt worden, nachdem er uns zu Hochberg [S. 33] gebracht haben würde, spazieren fahren wolle und dann werde er uns wieder abholen, da der Empfang um 11 Uhr zu Ende sei.
Die Fahrt ging nicht nach dem Stadtpalast der Hochbergs, da der Hof und der Adel bereits seit anfangs Mai die Landhäuser und Schlösser bezogen hatten, und der Fürst Hochberg hatte auf Wunsch des kaiserlichen Obersthofmeisteramtes die Repräsentation im kaiserlichen Lustschlosse zu Königstetten übernommen, wo auch einige Künstler und Gelehrte, gewesene Minister und einige Berühmtheiten aus dem deutschen Reiche Gäste des Kaisers waren. Es ging dort lustig zu und abends versammelte sich eine täglich wechselnde Gesellschaft von Fremden, die von Wien auf Besuch herauskamen, und von Beamten und Aerzten aus der Nachbarschaft, die sich gerade einen Abend frei machen konnten. Daher fuhren auf derselben Straße auch mehrere Wagen, die beinahe zugleich mit uns gegen 7 Uhr in der Einfahrtshalle des Schlosses hielten.
Das Schloß war im 19. Jahrhunderte Eigenthum eines Grafen Bray und dann von der Civilliste übernommen und neu aufgebaut worden. Es war damals ein jämmerliches Haus, zwischen Hütten eingekeilt. Jetzt steht es prächtig und frei da und der Blumenteppich an dessen Vorderseite ist ebenso herrlich, als der weitausgedehnte Park, der sich rückwärts zum Theile den Berg hinan zieht. Auch das Dorf war im 19. Jahrhunderte armselig und die kaum 1200 Seelen zählende Gemeinde in mehr als [S. 34] zweihundert elenden Hütten vertheilt, zwischen welchen schmutzige Straßen liefen.
Im ersten Empfangssaale eilte der Fürst Hochberg auf uns zu, uns zu begrüßen und willkommen zu heißen, nachdem ein Student, der die Ferien im Schlosse zubringt und eine Art von Secretariat führt, um dem Fürsten die Repräsentationspflichten etwas zu erleichtern, ihm unsere Namen genannt und den Zweck unseres Besuches in Oesterreich, wie auch den Hauptzweck unseres Erscheinens bei diesem Empfangsabende gemeldet hatte. “Very glad to see you here; the Embassador will be here this moment. In the mean while my daughter will keep you company and I shall have a talk with you afterwards.” Damit enteilte der Fürst anderen gemeldeten Besuchern entgegen. Die Tochter des Fürsten, Lori Hochberg, lud uns zu sich in eine Fensternische, wo wir Platz nahmen, und nachdem die junge Dame einige Worte englisch mit uns gesprochen, streifte ihr Blick unseren Freund Zwirner und sie richtete an ihn die Frage: “Werden wir englisch conversiren?” Darauf sagte Zwirner, daß er nicht englisch verstehe, daß wir uns aber ganz gut in deutscher Sprache verständlich machen könnten. Darauf sagte die Prinzessin, sich der deutschen Sprache bedienend: “Ihr müßt wissen, daß wir in Oesterreich in einem wahren Babel leben. Als unser Land die neue Gesellschaftsordnung annahm, waren vier Hauptsprachstämme im Reiche vertreten, und acht Sprachen wurden gesprochen. Man einigte sich unter Franz [S. 35] Josef dem Standhaften, die deutsche Sprache als allgemeines Verständigungsmittel mindestens für die Gebildeten gelten zu lassen, was übrigens damals viel bestritten wurde. Seither hat sich ganz Oesterreich mit Vorliebe auf Sprachstudien geworfen und ist niemand im Lande, der nicht wenigstens zwei Sprachen geläufig spräche, viele sprechen aber an fünf und sechs lebende Sprachen, wie uns auch die Geschichte überliefert, daß Franz Josef der Standhafte mit jedem Bürger seines Reiches in der Sprache verkehrte, die diesem geläufig war, und als er einmal bei einem officiellen Anlasse eine croatische Ansprache mit einer deutschen Rede beantwortete, soll es einen Sturm im Wasserglase gegeben haben und der damalige Ministerpräsident für die Länder der ungarischen Krone mußte Rede stehen.”
Diese jetzt zu einer Nationaltugend gewordene Polyglottie sei der Hauptgrund, weshalb seit 40 Jahren die Fremden aus allen Welttheilen Oesterreich und gerade Wien mit Vorliebe aufsuchten und die 30 Hochschulen in Wien, worunter auch an mehreren Vorlesungen in fremden Sprachen gehalten würden, von Studierenden aus Australien ebenso, wie aus China, Japan und Persien, Süd- und Nord-Amerika und sogar aus den Colonien in Ostafrika besucht würden.
Wir waren noch nicht zu Worte gekommen, was uns recht lieb war, denn wir wurden überall überschüttet mit Aufklärungen und Freundlichkeiten und fürchteten, recht ungeschickte Dinge zu sagen, aber [S. 36] jetzt erlaubte ich mir doch, einzuwerfen, daß wir verwundert gewesen seien, daß Zwirner nicht englisch verstehe, da er uns doch in englischer Sprache geschrieben habe. — Das erkläre sich wohl leicht, sagte Zwirner. Er habe gewiß ebensoviel Sprachentalent als irgend ein anderer Oesterreicher, aber, da sein Beruf der eines landwirthschaftlichen Arbeiters sei, habe er sich die englische Sprache nicht für seine Berufsausbildung eigen machen müssen, sondern seine Privatstudien hätten ihn darauf geführt. Der Volksunterricht führe jeden in alle Zweige menschlichen Wissens so weit ein, daß er auf autodidactischem Wege sein Wissen bereichern könne, wie es ihm gutdünkt. Da er sich nun mit dem Studium des Standes der socialen Frage im neunzehnten Jahrhunderte zu seinem Vergnügen befasse, habe er die Nothwendigkeit empfunden, die Zeitungen, Pamphlete und socialpolitischen Werke Englands und Amerikas aus jener Zeit zu durchforschen, und dazu sei ihm die Kenntnis der englischen Sprache, aber nur insofern nothwendig gewesen, daß er fließend lesen und schreiben lernen mußte, was ihm nach jahrelangen Bemühungen auch gelungen sei.
Mit dem romanischen Sprachenstamme sei er vertraut, da er sich als zweite Landessprache die italienische Sprache gewählt habe, und nachdem die englische Sprache eine Mischung von deutschen und romanischen Wörtern und Formen sei, habe er sich mit Hülfe der Grammatiken und Wörterbücher in der Gemeindebibliothek von Tulln und durch jahrelanges [S. 37] Lesen von englischen Büchern eine vollkommene Vertrautheit mit dieser Sprache erworben. Da er aber niemals jemand habe englisch sprechen hören, verstehe er kaum ein einziges englisches Wort, das man zu ihm spricht.
“Das ist erstaunlich Prinzessin!” wendete ich mich an diese, die darauf bemerkte: “Ihr dürft mich nicht Prinzessin heißen, denn die Töchter der adeligen Geschlechter gehören nicht dem Adel an und vermählen sich auch niemals mit Adeligen.” Dabei streifte sie wieder unseren Freund Zwirner mit einem temperamentvollen Blicke, der mir schon mehrmals aufgefallen war. “Nennt mich also Lori Hochberg,” schloß das schöne Mädchen. Lori war eine imposante Erscheinung; lange kastanienbraune Flechten hingen über den Rücken herab, die funkelnden Augen und der schwellende Mund verriethen das zur Liebe geschaffene Weib und als ich jetzt meine Augen auch mit Wohlgefallen auf Zwirner ruhen ließ, ward es mir klar, daß das ein prächtiges Paar geben würde. Zwirner war ein schöner Mann von wahrer Hünengestalt und edler Haltung und nichts deutete auf seinen Beruf, als etwas starke und große Hände, die übrigens heute in Stulphandschuhen staken. Seine Tracht erinnerte an altdeutsche Bilder und war aus kurzgeschorenem Sammt von verschiedenen Farben zusammengesetzt; die Beine waren bis zu den Knieen mit Gamaschen aus feinem Leder bekleidet und den breitkrämpigen Hut zierten Federn von verschiedenem Wildgeflügel.
Auch Zwirner schien seine Augen gerne über die schöne Gestalt Loris gleiten zu lassen, die er zum erstenmale sah. Aber er war durch Loris Benehmen nicht beunruhigt; im Gegentheile schwebte auf seinen Lippen immer ein Anflug von ganz leiser Ironie, die aber nichts verletzendes hatte.
“Ich hatte noch nicht Zeit,” sagte er, “unsere amerikanischen Freunde über die Stellung unseres Adels, die Umgangsformen in Oesterreich und über unsere Auffassung von der Gleichheit der Menschen vollständig aufzuklären. Das will ich besorgen und deine Bemerkungen ergänzen. Doch bitte ich dich, liebe Freundin, den Gästen Aufschluß zu geben, welche Besuche heute erwartet werden, die ihnen interessant sein könnten.”
Wir wurden wieder in's Gespräch gezogen und da wir Lori unseren Beifall zu erkennen gaben, daß man in Oesterreich so verschiedenartige und geschmackvolle Trachten zu Gesicht bekomme, was sie wieder mit einem lächelnden Blicke auf Zwirners Prachtgestalt beantwortete, nahm sie eine Mappe von dem Tischchen, neben welchem sie Platz genommen hatte, und sagte: “Vergleicht nur einmal diese Trachten aus dem 19. Jahrhunderte und das verkrüppelte Menschengeschlecht jener Tage mit unseren heutigen Volkstypen.” — Zwirner war damit vollkommen vertraut, da ihn seine Studien längst darauf geführt hatten, und er erzählte übrigens, daß man sich damals selbst über die zeitgenössische Tracht lustig machte und daß man die ungeschlachten cylinderförmigen [S. 39] Hüte “Ofenröhren” nannte und die lächerlich verschnittenen Röcke “Frack”. —
Mittlerweile waren viele Besucher vorgefahren und obwohl alle durch unseren Saal verkehrten, hatte man uns nicht gestört, weil Lori niemand ermunterte, sich uns zu nähern, und die Besucher suchten daher den Fürsten in den nächsten Sälen auf, wo sich lautes Gespräch vernehmen ließ. Als aber der amerikanische Gesandte, ein verdrießlich aussehender Diplomat in lächerlicher Uniform, mit Miß Flower, seiner bleichsüchtigen Tochter, am Arme eintrat, erhob sich Lori, um uns bekannt zu machen. Die Begegnung war nur eine flüchtige und endete nach einigen Worten damit, daß die Flowers weiter pilgerten und wir unsere früheren Sitze wieder einnahmen.
Die Fenster waren geöffnet und eine balsamische Luft strömte von den weitläufigen Gärten herein, über die sich Dämmerung zu verbreiten anfing. Jetzt erklangen die Geigen im Tanzsaale und mit den Worten: “Die Zigeuner”, erhob sich Lori, was Zwirner nicht anders verstehen konnte, als daß er sie zum Tanze führen könne. Während sie seinen Arm nahm, rief sie uns freundlich zu: “Werft einen Blick in den Tanzsaal oder streift durch die Gärten, wir werden nur zum Schein zum Tanze antreten, der an einem Sommerabende nicht ernst genommen werden kann.”
Wir folgten dem schönen Paare und bewunderten den Tanzsaal, der, mit weißem Stuck ausgelegt und [S. 40] ohne Aufdringlichkeit mit Vergoldungen verziert, im elektrischen Lichte strahlte und nicht übermäßig heiß war, weil alle Fenster nach dem Parke offen standen. Wir entzogen uns bald dem Gewühle, um Loris Rathe zu folgen und uns in den Gärten zu ergehen, in welchen Glühlichter in den Bäumen und Gesträuchen funkelten, Cascaden und Springbrunnen plätscherten und einzelne Gruppen von Besuchern plaudernd lustwandelten.
Da wir uns nach dem Schlosse zurückwandten und unter den säulengetragenen Vorbau traten, dessen Boden mit schönem Mosaik, — man nennt das in Oesterreich Terazzo — bekleidet war, kamen uns Lori und Zwirner entgegen, die, ein wenig vom Tanze erhitzt, sich noch etwas näher gekommen schienen. Ein vorübergehender junger Freund der Familie wurde gebeten, nachzusehen, ob unser Wagen schon vorgefahren sei, und als er mit der Nachricht zurückkam, der junge Stirner, — so der Name unseres Rosselenkers —, erwarte uns mit Ungeduld, weil die Pferde nicht stillestehen wollten, verabschiedeten wir uns von Lori mit der Bitte, uns dem Fürsten zu empfehlen, dessen Gastfreundschaft wir genossen. “So ist es wohl nicht”, entgegnete Lori lachend, “Herr in diesem Hause sind die Völker Oesterreichs, aber ich werde den Vater in eurem Namen grüßen.” Zwirner schüttelte sie herzlich die Hand, nicht ohne ihm lächelnd in's Auge zu blicken, uns winkte sie freundlich zu und schon war sie nach dem Garten verschwunden. Wir stiegen in den Wagen und auf [S. 41] der Heimfahrt in einer köstlichen Sommernacht stellten wir Zwirner zur Rede über sein Verhältniß zu Lori. Er sagte, er habe Lori heute zum erstenmale gesehen, und, da beide unvermählt seien und heirathen könnten, wäre eine Vermählung nur davon abhängig, daß sie sich liebgewännen. “Lori zeigte mir soviel Wohlgefallen, als schicklicherweise geschehen konnte, und ohne solche Aufmunterung würde kein junger Mann es wagen, einem Mädchen seine Liebe zu gestehen. Aber so entzückend ich auch Lori finde, so ist es doch allgemeine Sitte nur langsam sich zu nähern und sich nicht vom ersten Anblicke ganz gefangen nehmen zu lassen. Die Ehe wird bei uns ernst genommen, soviel man auch unverheiratheten und verwittweten Leuten durch die Finger sieht. Davon aber ein andermal, denn das Thema können wir heute nicht erschöpfen.”
Eben fuhren wir vor unserem Wohnhause vor und da es schon Mitternacht war und wir statt des Abendbrotes bei Hochberg mit etwas Thee und Aufschnitt waren versorgt worden, gingen wir zu Bette, ohne noch in den Speisesaal zu gehen, wo wir noch Licht sahen.
Am anderen Morgen, Samstag, schliefen wir etwas länger und da die Fremdenzimmer in dem Flügel der Wohnhäuser untergebracht sind, in welchem die alten Leute wohnen, welche Ruhe haben wollen, so hörten wir nicht den Schall der Gongs, womit sonst überall Jung und Alt allmorgentlich um 5 Uhr spätestens aus den Federn gejagt wird.
Der Morgen war heiter und wir gingen, nachdem wir das Wohnhaus verlassen hatten, schwimmen, kamen aber schon um 7 Uhr in den Speisesaal, wo ein Dutzend hübscher Mädchen den Dienst versahen und jenen das Frühstück brachten, die sich verspätet hatten. Da wir an Zwirners Tische Platz nehmen wollten, kam ein alter Herr zu uns, nannte sich Dr. Kolb und entbot uns einen Gruß von Freund Zwirner, der schon längst über Feld gefahren sei und uns heute nicht mehr sehen könne, da er abends zu Hochberg wolle und uns eine Wiederholung des Besuches dort nicht zumuthen könne.
Während wir uns an das Frühstück machten, sagte Dr. Kolb, er wolle uns Gesellschaft leisten, [S. 43] was der Hauptberuf der alten Herren den Fremden gegenüber sei, und er bäte, aus dem Metropolitananzeiger, der nur für Wien und Umgebung herausgegeben werde, uns zu informiren, was uns von den abendlichen Genüssen am meisten Vergnügen bereiten könne. Er habe gehört, daß wir Geschichtsforscher seien und wenn uns ein halb wissenschaftlicher Vortrag Interesse bieten könne, so empfehle er die Rubrik: “Wissenschaftliche Vorträge” zu studiren. Der Vorschlag gefiel uns und wir nahmen jeder ein Heft zur Hand, um nach einiger Berathung einen Vortrag des Professors Lueger über Franz Josef den Standhaften und seine Zeit im alten Universitätsgebäude am Franzensring zu wählen. Dr. Kolb zollte dem Vorschlage Beifall und empfahl uns, in seiner Begleitung nach Wien zu fahren und einmal eine erste Rundfahrt zu unternehmen, da wir dieser Stadt viele Tage würden widmen müssen. Da ferners der Vortrag um sieben Uhr abends beginne und kaum vor halb zehn Uhr geschlossen würde, so wolle er uns ein Quartier in der Stadt besorgen, wo wir die Nacht zubringen könnten. Er wolle sich uns ganz widmen und uns am nächsten Morgen, Sonntags, zurückbringen. Das war uns angenehm und Dr. Kolb entfernte sich auf kurze Zeit, um bald darauf mit der Nachricht zurückzukommen, Wien sei einer bevorstehenden Regatta wegen überfüllt, und er habe uns daher nicht in den der Universität zunächst gelegenen Quartieren Herberge verschaffen können, aber im Dritten Gumpendorfer Quartier hätte er drei [S. 44] Schlafzimmer belegt. Solche Festlichkeiten lockten immer viele Menschen nach Wien, aber trotzdem würde in den Sommermonaten Platz genug sein, da Hof und Adel, Studenten und Lehrkräfte, ja auch viele Pensionisten fortzögen, um heim zu eilen oder in den Bergen kühle Wohnungen aufzusuchen. Diese Zeit aber benütze man doch wieder, um junge Leute aus allen Theilen des Reiches nach Wien zu bringen. Man halte es für bildend, die Jugend mit der Weltstadt bekannt zu machen; es gebe das auch Gelegenheit, Fleiß zu belohnen und Unfleiß zu bestrafen, da jede Gemeinde einen Theil der zur Wiener Reise bestimmten Altersklasse strafweise ausschließe, und in Vielen werde ein wahrer Feuereifer für die Schule wachgerufen, wenn sie das herrliche Wien zum erstenmal schauen und hören, daß die besten Schüler an die Hochschule kämen und dann fünf Jahre in der Hauptstadt zubringen könnten.
Die Eisenbahn brachte uns bald nach dem Franz-Josefs-Bahnhofe und Dr. Kolb rieth uns, die Straßenbahn, und nicht die Stadtbahn zu benützen, die man am Ausgange des 19. Jahrhunderts gebaut, aber dann wieder theilweise verlegt habe, um die Störungen zu beseitigen, welche dadurch in die harmonischen Veduten waren gebracht worden. Wir folgten seinem Rathe und bestiegen einen Straßenbahnwagen, der den Weg von dort zum Schottenring, dann im Kreise um den ganzen Ring machte und wieder zu seinem Ausgangspunkte zurückkehrte. Solche Wagen gingen von jedem äußeren Bahnhofe aus, weil sich [S. 45] die Gepflogenheit herausgebildet hatte, daß jeder Ankömmling seinen ersten Besuch mit dieser Rundfahrt einleite; denn es war eine über den ganzen Erdkreis verbreitete Legende, daß man nichts Schöneres sehen könne.
Wir nahmen auf der Imperiale des Wagens Platz, der weder mit Pferden bespannt war, noch von einer barbarischen, qualmenden Straßenlocomotive bewegt, sondern pneumatisch betrieben wurde, indem der neben dem Kutscher angebrachte Windkessel an jeder Haltstelle aus den pneumatischen Röhren mit Druckluft versorgt wurde.
Wir bemerkten, daß die Stadt beinahe aus gleichen Quartieren zusammengesetzt war; sie glichen in ihrer Hauptanlage Tulln und anderen kleinen Gemeinden. Vier große Wohngebäude umschlossen immer einen Palast, der für Verwaltung, Lese- und Speisesäle bestimmt war; dazwischen liefen Gartenanlagen mit Schwimmbassins und nur zwei oder drei Flügel der äußeren Gebäude reichten bis zu den Straßen, die zum großen Theile mit Straßenbahnwagen befahren wurden. Lastwagen fuhren nirgends auf der Straße und Equipagen schossen nur zuweilen an uns vorüber, wie auch einige Radfahrer lautlos vorbeiglitten. Nur die Ringstraße bildete, wie in alter Zeit, eine breite gepflasterte Fläche. Sonst waren überall schmale Trottoirs angebracht und in vielen Straßen, welche von Equipagen gar nicht befahren werden durften, war nur eine ununterbrochene Gartenanlage zu sehen. Es fielen die Straßenbahnschienen, die in die Wiesenplätze [S. 46] gelegt waren und die Schlangenwege kreuzten, kaum auf. Um diesen Betrieb zu ermöglichen, liefen vor den Rädern Schienenräumer einher, welche nicht nur Steinchen auswarfen, sondern auch Gräser und Halme beiseite schoben. Die Wechsel konnte der Wagenlenker während des Fahrens von seinem Sitze aus stellen, da vor jeder Weiche ein Riegel zwischen den Schienen angebracht war, der durch vom Sitze aus verstellbare, am Wagen angebrachte Bolzen nach rechts oder links geschoben werden konnte.
Als wir in die Ringstraße einbogen, sahen wir uns gegenüber das schöne ehemalige Börsengebäude, von Theophil Hansen erbaut, unverwittert in rother Farbe leuchten und da man schon seit mehr als hundert Jahren dort nicht mehr schacherte, war das Haus in ein Unterrichtsgebäude verwandelt worden, wie das ehemalige Polizeigebäude rechter Hand jetzt als Studentenherberge dient. Dr. Kolb machte uns auf die Ballustrade aufmerksam, welche die ehemalige Börse krönt, und sagte, wir hätten bei Leibe nicht zu fürchten, daß die Säulchen brächen und den Vorübergehenden auf die Köpfe fielen, denn man baue in Wien für die Ewigkeit. Er deutete auf das ehemalige Polizeigebäude gegenüber und erzählte, dort stände aus alter Zeit im Hofe ein grün gestrichener Wagen mit Gittern und Zellenwänden, dessen Bestimmung man sich nicht klar machen könne; man vermuthe, daß er zum Transporte von Thieren gedient habe. Es sei ein Ausschreiben ergangen, dieses historische Räthsel zu lösen. Er belehrte uns übrigens, [S. 47] daß von den Wohngebäuden, die im 19. Jahrhunderte an der Ringstraße standen, nur mehr wenige vorhanden wären, da viele Häuser reicher Bürger längst niedergerissen und öffentliche Gebäude an deren Stelle errichtet worden seien. Eine Ausnahme bildete das Sühnhaus, übrigens ein Stiftungshaus zur Erinnerung an den schrecklichen Brand eines Theaters, das an derselben Stelle stand. Das Sühnhaus ist ein schöner Bau, entworfen von Meister Schmidt, dem Dombaumeister des 19. Jahrhunderts. “Hier seht ihr die Votivkirche, vom Architekten Ferstel entworfen. Dieser Bau wurde vom nachmaligen Kaiser Max, von welchem ihr wohl heute abend in der Vorlesung hören werdet, gegründet zur Erinnerung an die Errettung des Kaisers Franz Josef, den ein politischer Schwärmer mit Mordwaffen angefallen hatte, und hier steht schon die gleichfalls vom Baumeister Ferstel stammende älteste deutsche Universität dieser Stadt, in der man neben wirklichen Wissenschaften nur mehr Geschichte der Theologie und Geschichte der Jurisprudenz vorträgt, weil diese angeblichen Wissenschaften nur Requisite des Classenstaates waren. Die Rampe beweist deutlich, daß die Studenten des 19. Jahrhunderts mit Vieren in die Vorlesung fuhren.”
“Wie haltet ihr es jetzt mit der Religion?” wollte Mr. Forest fragen; aber Dr. Kolb bat uns, ihn nicht zu unterbrechen, weil es gelte, die Wandelbilder zu erläutern.
“Hier links das sogenannte Burgtheater, von [S. 48] Meister Hasenauer, — man nannte diese Herren im verrückten 19. Jahrhunderte alle Barone oder Freiherren. Der junge Mann, der dort hoch oben auf der Mauer sitzt, als wäre er von des Nachbars Garten herübergestiegen, wo er Kirschen gestohlen, ist der Gott Apollo, und da wir zu nahe am Theater vorüberfahren, entgehen euch kostbare Merkwürdigkeiten, die auf dem Dache angebracht sind. Nämlich ein allerliebstes Lusthäuschen, um das sich ein munterer Blasengel dreht, der im Uebereifer immer dorthin bläst, wohin ohnedies der Wind zieht. Ferners stehen auf zwei Dachreitern je zwei waghalsige Genien, welche Kränze zum Kaufe auszubieten scheinen, aber nicht herabsteigen, sondern uns hinauflocken wollen. Im Hintergrunde des Parkes rechter Hand steht das ehemalige Rathhaus mit dem Reiterbild Franz Josef des Standhaften über dem Portal und dem kupfernen Wächter auf der Thurmspitze. Auch vom Gemeinderathe und Bürgermeister jener entschwundenen Epoche weiß man nichts mehr. Die Archive aber erzählen wunderliche Dinge über die städtische Verwaltung und die kleinlichen Geschäfte, welche von einer Unzahl von Magistratsräthen, Sekretären und Praktikanten besorgt werden mußten. Der Rathssaal ist noch erhalten und die Castellane zeigen den Sitz, von dem aus Dr. Karl Lueger, ein Ahne unseres Professors, gegen den damaligen Bürgermeister, Dr. Johann Nepomuk Prix, der auch als Baron gestorben sein soll, donnerte, aber vergeblich, denn Dr. Karl Lueger war immer Führer [S. 49] einer Minorität, die er sich unter den verschiedensten Bezeichnungen zusammenzutrommeln wußte. Da er aber weder im Rathhause auf den Bürgermeisterstuhl, noch im Abgeordnetenhause, das wir hier sehen, auf die Ministerbank kommen konnte, hat er in alten Tagen alle Mandate eigensinnig von sich gewiesen. — Das Abgeordnetenhaus ist auch von Theophil Hansen erbaut, den ich euch als Erbauer des ehemaligen Börsengebäudes nannte. Im ehemaligen Rathhause wohnen heute die obersten Volkstribunen mit ihren Sekretären und das Abgeordnetenhaus dient zuweilen zu parlamentarischen Versammlungen, wenn das Volk über größere technische Projekte nicht durch gemeindeweise Abstimmung entscheiden will und aus jedem Kreise drei Abgeordnete mit Vollmacht entsendet.”
“Sonst tagen unausgesetzt gelehrte Versammlungen und europäische Congresse in diesem Bau, weil die Sitzungssäle und Conferenzzimmer dazu geeignet sind. Man erzählt sich übrigens, daß die Sitzungssäle im vorigen Jahrhunderte gänzlich umgebaut werden mußten, weil eine Spezialität dieses Hauses die war, daß man in jenen Sälen sein eigenes Wort nicht verstand, geschweige denn einer längeren Rede hätte folgen können. Auch das ehemalige Abgeordnetenhaus ist von vorzüglichem Material erbaut und ihr müßt nicht glauben, daß die Stufen, die da hinanführen, oder die Postamente etwa dem Wetter nicht trotzen könnten oder gar große Stücke herausfielen und häßliche Löcher entstünden, wenn es friert. Allerdings [S. 50] wird das meiste im Winter in warme Decken gehüllt und mit Brettern bedeckt, was aber auch einen reizenden Anblick gewährt. Der Bau hat auch eine meteorologische Bestimmung, denn inmitten der Marmorbildsäulen, die um den Rand des Daches herumstehen, hat man eine gewaltige Esse angebracht, aus der immer dicker Rauch hervorqualmt, den der Wind der einen oder der anderen Statuenkolonne in den Rücken weht. Daran kann sich der Wiener an den Fingern abzählen, woher der Wind weht, und schlägt der Wind dann um, so steigen die Hauswärter hinauf und machen die Statuen wieder blank. Hier links schimmert durch die Bäume des Volksgartens die Statue des Dichters Grillparzer herüber, etwas sonderbar von einem Ofenschirm begleitet, mit dem man sich aber gerne aussöhnt, wenn man die herrlichen Hautreliefs darauf von Meister Weyr betrachtet. Und nun kommen wir zur Hofburg, in welcher der Kaiser residirt, mit dem Forum, den Museen, und im Hintergrunde, an der Stelle des ehemaligen Hofstallgebäudes, seht ihr den Centralregierungspalast. Die Museen hat der berühmte Baumeister Semper entworfen und auch theilweise gebaut, den Bau aber nach seinem Tode Meister Hasenauer beendet. Von diesem wahrscheinlich, dessen Phantasie immer das Beste auf den Dächern anzubringen wußte, stammen die großen Kuppeln, die je von vier reizenden Kindern begleitet sind, welche wahrscheinlich die Aufgabe haben, sich zu großen Kuppeln auszuwachsen und dann der Reihe nach [S. 51] einzurücken, wenn die großen einstürzen. Statuen sieht man überall. Entweder sind sie als Säulenheilige auf ungeheuren Postamenten angebracht und legen rühmliche Proben von Schwindelfreiheit ab, oder sie stehen knapp hinter der Dachrinne am Rande der Dächer und sehen neugierig auf die kleinen Leute herunter, welche auf der Straße herumlaufen. Es ist das gewissermaßen ökonomisch, denn man erspart die Tafel, auf welche man zu schreiben pflegt: “Man bittet, die Statuen nicht zu berühren und ihnen nicht mit den Schirmen die Nasen abzustoßen.” Die Anordnung der Statuen hatte im 19. Jahrhundert offenbar einen militärischen Charakter. Auf dem Abgeordnetenhause sind sie in Linien ausgezogen und man meint, den Major anreiten zu sehen, der mit dem Säbel winkt, der Flügelmann solle das Knie und der dritte Mann dort die rechte Hand hereinnehmen. Bei der Votivkirche stehen die Heiligen und Apostel eingepreßt nebeneinander, als gälte es ein Carré zu bilden, um gegen eine berittene Legion Teufel Stand zu halten. Das wird aber, ich zweifle nicht, in den Gesetzen der Schönheit vollkommen begründet sein.”
“Uebrigens, Freunde,” sagte Dr. Kolb lachend, “wir lieben unser Wien und wenn wir einiges daran tadeln, hoffen wir, daß unsere Gäste die Schönheiten nicht übersehen werden, von welchen zu sprechen uns nicht zusteht. Wir haben in Wien zwar eine böse Zunge, aber ein gutes Herz und in bösen Zeiten [S. 52] haben sich die Wiener oft mit einem Scherz über großes Unglück hinweggeholfen.”
“Wie ihr seht, ist das ganze ungeheuere Forum, das früher durch Mauern und ein monumentales Thor abgetheilt war, mit Reiterstatuen und mit den Bildsäulen berühmter Männer besetzt, die im Wettstreit ihre Nebenbuhler besiegt und erste Preise davongetragen haben. Es regt das nicht wenig den Ehrgeiz an. Lasset euch nicht die herrlichen und weltberühmten Mosaiken entgehen, die die ganze Fläche dieses Riesenraumes durchziehen und an welchen fünfzig Jahre gearbeitet wurde.”
Nun zeigte uns Dr. Kolb auf einem polychromen Kunstblatte die Abbildungen der Mosaiken, die wir später auf unserer Fußwanderung näher in Augenschein nehmen sollten, und wir fuhren an der alten Oper, einem nicht sehr geschmackvollen großen Baue, und vielen neu errichteten öffentlichen Bauten vorbei, die einen viel großartigeren Charakter zeigten, als die Bauten der älteren Periode, dann den Donaukanal entlang wieder zur alten Börse zurück, um nun auszusteigen und im nächstgelegenen Quartier, wo wir uns legitimirten, das zweite Frühstück einzunehmen. Dann pilgerten wir zu Fuß nach der Votivkirche, besahen den Hofraum der Universität mit den zahllosen Standbildern und Büsten berühmter Lehrer, erfreuten uns im Rathhausparke an den Spielen der Kinder, die da zu tollen pflegen, betraten das alte Rathhaus und den Sitzungssaal, wo auf dem Pulte des Dr. Lueger die letzte Rede dieses Mannes, [S. 53] der sich seinerzeit als Volksredner und durch unermüdliche parlamentarische Thätigkeit großes Ansehen erworben hatte, angeheftet zu lesen war, und hörten in einem Berathungssaale des alten Abgeordnetenhauses von der Gallerie aus den Verhandlungen eines hygienischen Congresses zu, zu welchem einem Anschlage zufolge nur Männer Zutritt hatten, um dann das Forum in Augenschein zu nehmen. Dr. Kolb führte uns vor eine in der Mitte des Forums aufgestellte im Sonnenlichte spiegelnde Säule und sagte: “Das ist die Schandsäule der begrabenen Wirthschaftsordnung, die auf Privatbesitz und Handel aufgebaut war.” — Diese Säule hat einen Durchmesser von einem Meter[A] und eine Höhe von 9,23475 Meter und ist aus purem Golde. Die Inschrift lautet:
“Diesen werthlosen Goldklumpen hat Oesterreich im Jahre 1893 aus Frankreich und England bezogen und sich dafür zu einem Jahrestribut an Nahrungsmitteln für 50000 Menschen verpflichtet.”
“Diese Säule, deren Bewachung im 19. Jahrhunderte eine Armee erfordert hätte, steht unangefochten und unbewacht seit dem Jahre 1943 auf dieser Stelle. Am Fuße dieser Säule hat jeder Regent bei Antritt der Regierung vor versammeltem Volke den Schwur zu leisten, daß er die Rückkehr zur alten Wirthschaftsordnung verhindern und nach keinem persönlichen Eigenthume streben wolle.”
Wir wunderten uns, daß man das Gold nicht doch ausmünze, um Waaren aus Amerika oder China zu beziehen, wo noch Gold im internationalen Handel verwendet wird, aber Dr. Kolb belehrte uns darüber, daß nunmehr auch das Gold, wie ehemals das Silber nur in beschränktem Maße ausgemünzt werde und demnach auch das Gold als Metall keinen erheblichen Werth mehr habe. Würden aber die europäischen Staaten ihre alten Goldvorräthe auf den Markt bringen, so müßte das Metall auch im Welthandel auf ein Fünftel herabsinken. Man behalte sich also vor, das vorhandene Gold zu Schmuck und Geräthen zu verarbeiten, aber vorläufig thue es bessere Dienste in der greifbaren Demonstrirung seiner Werthlosigkeit.
Es war nahezu 5 Uhr, als wir mit dieser Besichtigung [S. 55] zu Ende gekommen waren, und als wir den Straßenbahnwagen besteigen wollten, händigte uns ein Fremdenführer, deren es überall auf der Straße gibt und die angesehene Leute sind, welche in Pension stehen und für die Erlaubniß, sich in Wien niederzulassen, kleine Nebendienste verrichten, je ein Prachtalbum mit der Aufschrift: “Erinnerung an Wien” ein, in welchem herrliche Bilder aus Wien, besonders die polychromen Darstellungen der Mosaiken des Forums, enthalten sind. Auf dem Album war der Tag unseres dortigen Besuches eingetragen und mit der Unterschrift der obersten Staatsverwaltung beglaubigt, daß dieses Album dem fremden Gaste, — dessen Namen einzutragen frei stand, — am Tage seines Besuches auf dem Forum war ausgehändigt worden.
Wir fuhren in unser Quartier, wo wir viele Amerikaner trafen, speisten, badeten und dann ein wenig auf unseren Zimmern ruhten, um nach halb sieben Uhr wieder den Waggon zu besteigen und nach der alten Universität zu fahren. Wir kamen durch die berühmte Säulenhalle, welche glänzend erleuchtet war, über die rechtsseitige Stiege mit den breiten Absätzen und broncenen Candelabern in einen Corridor, wo Fürst Hochberg grüßend an uns vorüberhuschte, der die venia legendi hatte und von Königstetten hereingefahren war, um einen Vortrag über Buddhaismus zu halten und lenkten unsere Schritte nach dem Saale XXXIX, wohin eben viele Besucher strömten. Die Sitzplätze, etwa hundert, [S. 56] füllten sich rasch und lautlos, denn es war keine Vorlesung für Studirende, sondern für das große Publikum, und mit dem Schlage sieben Uhr trat Professor Lueger eilends ein und bestieg sein Pult an der Schmalwand, wohin scharfes Licht fiel, während im selben Augenblicke der Saal sich verfinsterte.
Der Professor begann:
“Geehrte Zuhörer! Ich habe heute einen Vortrag über Franz Josef den Standhaften zu halten, der über 70 Jahre, vom Jahre 1848 bis tief in das 20. Jahrhundert hinein, regierte und als 18 jähriger Jüngling die Regierung unseres Reiches übernahm. Er war vom besten Willen beseelt, ritterlich gesinnt und, da er das Reich in größter Unordnung vorfand und selbes aus einer beinahe mittelalterlichen Verfassung in eine ganz veränderte Gestaltung hinüberzuführen hatte, nahm er den Wahlspruch an: ‘Viribus unitis.’ — Wie ihr sehen werdet, behielt er, was er sich vorgesetzt hatte, zwar unverrückt im Auge, aber das Ziel schien lange unerreichbar und viele verzweifelten an dem Unternehmen, mitten unter Staaten, die nach dem damaligen Zuge der Zeit sich national abrundeten, ein Reich zu kitten, das ein Endchen Italien, ein Stück Deutschland und ein großes Stück Slavien umfaßte und ein ugrofinnisches Reich eingeschlossen umfing, welches zwar keine centrifugale Tendenz haben konnte, aber allen Verschmelzungsversuchen einen störrischen Nacken entgegensetzte und auf seinem Territorium Deutsche und Slaven minorisirte, wie man damals ironisch sagte, nämlich [S. 57] den Willen der geringeren Zahl einer uneinigen Mehrheit auf constitutionellem Wege tyrannisch aufzwang. Wir lachen heute über die politischen Winkelzüge von damals, da wir gelernt haben, über die nationalen Unterschiede hinwegzukommen; aber es ist ein psychologisch merkwürdiges Bild, dieser zähe und gleichmüthige Fürst im Kampfe mit so vielen Nationen und Natiönchen, die alle nach der Hegemonie trachteten oder eifersüchtig darauf waren, dem Uebergewichte anderer zu entgehen, und wie der Schiffer oft, um die Ladung zu retten, Ballast auswerfen muß, hat Kaiser Franz Josef I., der wegen seines Sieges über unglaubliche Schwierigkeiten nach seinem Tode mit dem geschichtlichen Namen “der Standhafte” ausgezeichnet wurde, oft Opfer bringen müssen, nicht ohne mehr als einmal am Rande von Klippen in stürmischer Zeit vorüberzusegeln, die ihm das Steuer brachen, während die Masten über Bord fielen.”
Nach dieser Einleitung entwickelte der Professor die Geschichte Oesterreichs bis zum Regierungsantritte des Kaisers Franz Ferdinand, der bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhundertes hinein regierte und der vierte Vorfahr des gegenwärtig regierenden und im Jahre 1980 geborenen Kaisers Rudolf Max war. Der Redner schilderte den Sieg Franz Josefs über die italienische und ungarische Insurrektion und den vorübergehenden Sieg über die Politik der Hohenzollern, ging dann zur Vermählung des Kaisers Franz Josef mit der bairischen Prinzessin Elisabeth über, zergliederte die Politik des Ministers [S. 58] Bach, der zuerst vergöttert wurde und nach seinem Sturze in völlige Vergessenheit gerieth, zeigte die Oktroyierung, dann Aufhebung der ersten Gesammtverfassung, den grollenden Widerstand der ungarischen Nation, erwähnte den Mordanfall des Ungarn Libeny, der Anlaß bot, die Entstehung der nahegelegenen Votivkirche zu erwähnen, die man vom Hörsaale aus im Abendlicht träumerisch stehen sah, und sagte dann, daß die Regierung bis zum Jahre 1859 erfolgreich schien, als Sardinien im Vereine mit Frankreich, das der verschmitzte Napoleon III. regierte, in Waffen aufstand und Kaiser Franz Josef, nachdem er mit der Schlacht bei Solferino den Feldzug verloren glaubte, mit Verlust einer Provinz Frieden schloß. Wir hörten dann die ersten Versuche schildern, zu constitutionellen Formen wirklich überzugehen, den Trotz der Ungarn, die ihre alte Sonderverfassung begehrten, die Sistierung der Verfassung, den unglücklichen Feldzug gegen Italien und Preußen und dann wieder die erneuerte Aufnahme der bis dahin erfolglosen Bestrebungen. Daran knüpften sich einige höchst dramatische Episoden aus dem Leben des Kaisers und aus der Geschichte seiner Familie, die Verbrennung einer Prinzessin aus der Familie des Erzherzogs Albrecht, das verunglückte Unternehmen des Erzherzogs Ferdinand Max, der auszog, ein Reich in Amerika zu gründen, und, als Aufwiegler verurtheilt, bei Queretaro den Ehrgeiz mit dem Leben bezahlte, die Figur der Kaiserin Charlotte, welche ihr Leben im Wahnsinn endete, den plötzlichen und [S. 59] nie ganz aufgeklärten Tod des hoffnungsvollen Kronprinzen Rudolf, wodurch der Kaiser um den einzigen direkten männlichen Erben gebracht wurde, und wir sahen den berühmten Habsburger unter all diesen Stürmen ungebrochen auf dem hin- und hergeworfenen Schiffe ausharren, über seiner Pflicht seines unermeßlichen persönlichen Leids vergessend, bis ihn neue Keulenschläge des Schicksals trafen, als er, großmüthig seinen nicht schuldlosen Gegnern die Hand zum Bunde reichend, in den fürchterlichsten Krieg verwickelt wurde, den die Welt gesehen, und wie er, obwohl er am Schlusse wieder siegreich seine Stellung behauptete, mit blutendem Herzen sehen mußte, wie russische Reiterschaaren im gesegneten Oesterreich hausten, ganze Provinzen verwüstet wurden, rauchende Trümmer ganz Polen und halb Ungarn bedeckten und die Bevölkerung des eben wieder aufblühenden Reiches decimirt wurde, so daß Oesterreich erst zu Anfang des 21. Jahrhunderts wieder die Bevölkerungsziffer vom Jahre 1890 erreichte. Während dieses letzten Sturmes, der auch Deutschland, Frankreich und Italien an den Rand des Abgrundes brachte und die Thorheit der Oesterreich feindlichen Politik ein zweitesmal erwies, war Oesterreich so erschöpft worden, daß die alte Gesellschaftsordnung sich nicht mehr halten ließ und eine neue eingeleitet werden mußte, die dem Staate unerschöpfliche Hilfsquellen eröffnete, weil sie dem Selbsterhaltungstriebe der Staaten alle jene wirthschaftliche Macht verlieh, welche vordem in den Händen einer tollen Plutokratie [S. 60] dazu diente, kindische Privatlaunen zu befriedigen.
Die fesselnde Schilderung dieser merkwürdigen Regierungsepoche verfolgte das Auditorium mit ungetheilter Aufmerksamkeit, und nachdem die ganz natürliche Veränderung der Gesellschaftsordnung in ihrer Entstehung, ihrem Fortschritte und ihrer schließlich siegreichen Durchführung dargelegt worden war, folgte eine psychologische Skizze des Monarchen jener Epoche die als ein philosophisches Cabinetstück zu betrachten war und frenetischen Beifall entfesselte. Der Vortragende zeigte die Ursachen, warum dieser merkwürdige Fürst solange und am meisten in Oesterreich verkannt wurde und welche Charakterstärke und welches antike Pflichtgefühl dazu gehörte, unter solchen Verhältnissen auszuharren. So groß auch nach dem Urtheile aller Zeitgenossen und dem Zeugnisse aller, die mit dem Kaiser arbeiteten, seine vielseitigen Talente und seine politische Begabung waren, so war doch sein Charakter noch weit mehr anzustaunen. Die unerreichte Selbstbeherrschung und die Versöhnlichkeit dieses Monarchen, wodurch mehr als ein boshafter Gegner überwunden wurde, sowie die Arbeitskraft und Ausdauer, die Franz Josef I. in persönlichen und öffentlichen Angelegenheiten bewies, haben ihm den Beinamen des Standhaften erworben.
Zum Schluße erwähnte Professor Lueger, wie wir von Dr. Kolb wissen, ein Urenkel des Dr. Karl Lueger, dessen Andenken uns Chroniken und Spottlieder seiner Gegner erhalten haben, einer [S. 61] Legende über das Haus Habsburg. Er sagte, man behaupte, daß schon Kaiser Josef II. und nach seinem Beispiele Kaiser Franz Josef I. eine geheime Geschichte ihrer Regierung und der damit zusammenhängenden politischen Ereignisse und Familienerlebnisse schrieben, die niemand als dem jeweilig regierenden Familienoberhaupte zugänglich war. Sie wurde mit dem umfassendsten Urkundenmateriale belegt und der regierende Fürst suchte in den begleitenden Memoiren sich selbst auf das gewissenhafteste klar zu machen und den Nachfolgern zu überliefern, inwieweit Irrthum, Uebereilung und Leidenschaft des Regenten Antheil hatten an den Unglücksfällen, die das Reich und das Haus trafen. So bildete sich die Dynastie selbst und erzog sich zu einem Amte, das an Schwierigkeit seines gleichen nicht hatte auf dem ganzen Erdenrunde und seit Entstehung des Menschengeschlechtes. Die beschränkten Zeitgenossen des Monarchen hatten aber diese Schwierigkeiten niemals in Rechnung gezogen, sondern Erfolg an Erfolg gemessen, als ob jede Aufgabe gleich schwierig wäre.
Take it all in all, he was a man!
Der Professor schloß und verabschiedete sich mit einer freundlichen Handbewegung; der Saal erglänzte wieder in strahlendem Lichte und wir wollten eben über die Rampe nach einem Straßenbahnwagen eilen, als wir vom Hauspersonale benachrichtigt wurden, daß ein heftiger Regen niederprassle und wir über Stiege VI den Ausgang nach der Universitätsstraße [S. 62] nehmen möchten, wo die Waggons unter einer gedeckten Vorhalle anfuhren. Es waren über fünfzig bereit, welche alle Besucher der Abendvorlesungen, an tausend Fahrgäste, aufnehmen konnten, und wir theilten uns nach einem sinnreichen Verfahren in Gruppen nach Quartieren, wozu anwesende Ordner die Anleitung gaben. Als die Gumpendorfer Quartiere an die Reihe kamen, nahmen wir Platz, um heimzufahren. In der Mitte der Gumpendorfer Quartiere hielten wir unter einer gedeckten Halle aus Eisen und Glas und kamen durch eine unterirdische gedeckte Verbindung nach unserem Quartier. Man sagte uns, daß man von jedem Hause nach jedem Hause, auch zu den Palästen in der ehemaligen inneren Stadt, dem jetzigen Adelsviertel, bei schlechtem Wetter trockenen Fußes kommen könne und daß die Straßenbahnwagen zwar nicht über die Grenze des Adelsviertels verkehrten, aber zur Zeit der Empfänge Wagen genug aufgestellt seien, welche die Gäste von den Aussteigehallen nach der Burg oder den Palästen der Adeligen beförderten. Es sei das zwar eine nicht geringe Arbeit, da oft an 50,000 Menschen zu befördern wären, aber es seien über 1000 Wagen zur Verfügung und sie hätten nur kurze Strecken zurückzulegen. Uebrigens gehe man daran, die Tramway durch dieses Viertel, das nur ein großer, mit Palästen gezierter Park sei, zu führen, da man die Erfahrung gemacht habe, daß dieses Verkehrsmittel pneumatisch betrieben und [S. 63] die Schienen durch Gärten geführt werden könnten, ohne diese zu verunstalten.
Nach dem Abendmahle stiegen wir über eine der hohen Treppen in das erste Stockwerk, wo wir uns leicht zurecht fanden, weil der Grundriß aller dieser öffentlichen Gebäude ähnlich ist, und gelangten in den Bibliothekssaal, der die Mitte des ersten Stockwerkes einnimmt und von kleineren Sälen umgeben ist, welche in den Gemeinden großentheils als Schulzimmer benützt werden, aber in den hauptstädtischen Quartieren als Spielzimmer, kleinere Lesecabinete und zu Vorlesungen vor kleinem Auditorium dienen. Der Bibliothekssaal, der seinem eigentlichen Zwecke nur entzogen wird, wenn wichtige politische Versammlungen der ganzen Gemeinde oder Schlußabstimmungen stattfinden, ist hoch hinauf mit Bücherschränken bekleidet, in welchen sich auch Repositorien für Karten und Stiche befinden, und der in diesem Saale angestellte Ordner zeigte uns, daß die Bibliothek schon 10136 Bände zähle. Wir nahmen einige amerikanische Zeitungen und Bücher, womit wir uns in ein leerstehendes Nebengemach zurückzogen, um zu lesen. Es erregte unsere Aufmerksamkeit, daß dieser kleine Saal, zu dem nur eine einzige Thüre führte, eine kleine Bibliothek enthielt, und in den Kästen sich nur blau gebundene Werke befanden. Dr. Kolb sagte uns, daß alle Bücher, die etwas enthalten, was vor Kindern und jungen Leuten geheimgehalten werden müsse, in blauen Bänden zur Aufstellung käme und daß auch solche Zeichnungen [S. 64] und dergleichen auf dieselbe Art kennbar gemacht würden. Solche Bücher, Zeichnungen, Modelle &c. würden in der kleinen Bibliothek verwahrt, zu welcher die jüngeren Leute und Kinder keinen Zutritt hätten, und es könne aus dieser Bibliothek nur an zuverlässige Personen etwas verliehen werden. Die Frauen wieder bänden ihre Geheimliteratur roth und in ihren Privatlesesaal hätten auch Männer keinen Zutritt. Uebrigens stehe der Antrag in Verhandlung, Kindern gegenüber größere Offenheit walten zu lassen, da man erwarte, daß sich auch da die Vernünftigkeit eines Abhärtungssystemes erweisen werde, vorausgesetzt, daß es schon vor Eintritt der Pubertät zur Geltung kommt.
Wir geriethen nach einer Weile wieder in ein Gespräch mit Dr. Kolb, der uns Aufschluß über das Bibliothekswesen und den Bücherverlag gab. Er sagte, die Reichscentralbibliotheksverwaltung zähle 300 ständige Beamte. Diese könnten aber natürlich nicht die unermeßliche Menge der immer aus dem Auslande zuströmenden Werke lesen und sich so auf dem Laufenden erhalten, daß sie jedermann Aufschluß geben könnten, der sich über einen Zweig der Wissenschaft oder Literatur orientiren wolle. Sie hätten genug mit der Katalogisierung und alljährlichen Ergänzung der gedruckten Kataloge und deren Neuherausgabe, welche alle 10 Jahre stattfindet, zu thun, auch liege ihnen die Bücherversendung aus den Centralbibliotheken und die Oberaufsicht über die Provinzbibliotheksverwaltungen ob, die wieder in [S. 65] einem ähnlichen Verhältnisse zu den Kreisbibliotheken stünden. Die Kataloge seien gedruckt, umfaßten viele Bände und würden in jedem Lesesaale aufgestellt. Wie Gemeinde-, Bezirks-, Kreis- und Provinzbibliotheken zu dotieren sind, ergebe sich von selbst aus bibliothekstechnischen Grundsätzen und würden übrigens aus jeder Bibliothek Bücher versendet, wenn sie entbehrt werden können. In Wien sei ein Röhrensystem errichtet, wodurch es möglich wird, in kürzester Zeit Bücher aus den Hauptbibliotheken in die Lesesäle der Quartiere zu befördern. Dazu bediene man sich der Pneumatik. Die Menschenarbeit bestehe nur darin, die Bücher in die Wagen zu legen und diese in die Mündung der Röhren einzuführen. Jede Centralbibliothek habe 35 Lesesäle zu bedienen. In den Gebäuden der Centralbibliotheken selbst seien zahlreiche Arbeitszellen errichtet, in welchen Gelehrte, Künstler und auch andere Personen sich eine Handbibliothek zusammenstellen lassen können, um ungestört arbeiten zu können.
Wir berechneten, wieviele Bücher Oesterreich brauche, wenn mehr als 40000 Lesesäle, die Oesterreich besitzt, mit so großen Mengen von Büchern dotirt sind, und noch so bedeutende Reservoirs in großen Centralbibliotheken bestehen, aber Dr. Kolb sagte, daß die Landgemeinden durchaus einen geringeren Bibliotheksstand hätten und nur die Bezirksbibliotheken, deren es 2000 gäbe, reichhaltig ausgestattet seien. — Zwirner habe ihm übrigens erzählt, daß nach seinen Forschungen schon im 19. Jahrhunderte [S. 66] Deutschland allein jährlich über 6000 Werke von oft vielen Bänden und großen Auflagen druckte und man also wohl auf eine Jahresproduktion von 10 Millionen Bänden jährlich in Deutschland für jene Epoche schließen könne. Die vergleichsweise Bücherarmut jener Zeit sei nur daraus erklärlich, daß die Bücher meist jahrelang bei Buchhändlern müssig standen, dann kaum einmal gelesen wurden und wieder in Privatbücherregalen verstaubten, während jetzt jeder Band aus der Buchbinderei in die Bibliothek wandert. Die Jahresproduktion betrage jetzt in Oesterreich alljährlich 40 Millionen Bände, also etwa viermal soviel, als im 19. Jahrhunderte in Deutschland, und etwa 20 Millionen Bände würden jährlich ausgemustert und wieder in die Papierfabriken geliefert, daher der Jahreszuwachs 20 Millionen Bände beiläufig betrage, und da dieser Zuwachs in den letzten 20 Jahren constant blieb, so ergebe das allein für diese Jahre 400 Millionen Bände und erhöhe sich die Mannigfaltigkeit der Werke erstaunlich durch den internationalen Tausch, beziehungsweise internationalen Buchhandel, der meist 5 Millionen Bände im Jahre betrage. Es belaufe sich die Zahl der jährlich aufgestellten inländischen und ausländischen Werke auf 50000. — Außerordentlich verschieden allerdings sei die Zahl der Exemplare, da man von manchen Werken 45000 Exemplare auflege, von vielen ausländischen Werken aber nur ein einziges beziehe. Wir bestritten die Möglichkeit, die Jahreskataloge im Drucke zu veröffentlichen, [S. 67] aber Dr. Kolb versicherte, er habe bei Zwirner einen Waarenkatalog von einem gewissen Rix in Wien aus dem 19. Jahrhunderte gesehen, worin Kinderspielwaaren und anderer Tand bis zu einem Preise von 5 Kreuzern verzeichnet waren. Viel mehr als das könne man für die Literatur thun. Uebrigens werden chinesische, japanische und andere Werke der fremdesten Literaturen meist nur summarisch der Zahl und dem Gegenstande nach am Schluße des Katalogs erwähnt.
Wir glaubten, eine Jahresproduction von 40 Millionen Bänden müßte die nationalen Papiervorräthe erschöpfen, aber auch das widerlegte Dr. Kolb, indem er darauf verwies, daß man den Papierverbrauch in Oesterreich schon im Jahre 1890 auf 3-1/2 Kilogramm per Kopf der Bevölkerung berechnete und jetzt betrage er 5 Kilogramm per Kopf. Da nun der Papierverbrauch per Band durchschnittlich nicht einmal ein halbes Kilogramm betrage, sei es leicht ausführbar, für jeden Kopf der Bevölkerung einen Band jährlich zu präliminiren.
Das führte uns noch einmal auf das Verlagswesen, worüber uns Zwirner erschöpfende Mittheilungen nicht gemacht hatte. Dr. Kolb sagte, es seien für den öffentlichen Verlag 3000 Werke mit 40 Millionen Einzelbänden jährlich präliminirt und sei das Verlagsrecht gewissermaßen budgetmäßig auf Civilliste, Reich, Provinzen, Kreise aufgetheilt und könne sogar jede Gemeinde nach einem 40 jährigen Turnus einen Band auf Rechnung des öffentlichen [S. 68] Verlags in 1000 Exemplaren drucken lassen. Der Verfasser reiche also das Manuscript der Centralregierung ein, welche die ausgestoßenen Manuscripte an die Provinzverwaltungen gebe und so weiter. Aber der Verfasser könne sich auch direct an die Civilliste oder einen Kreis, eine Gemeinde &c. wenden. Wer seit fünf Jahren Mitglied des literarischen Vereines sei, könne 1000 Exemplare eines einbändigen Werkes auch in Druck legen, ohne jemandes Erlaubniß einzuholen.
Das verhalte sich so. Wie schon erwähnt, können die Bibliotheken ihre Arbeit unmöglich vollkommen bewältigen. Sie würden zwar von Professoren und Studenten unterstützt, aber auch das genüge nicht und man habe daher einen literarischen Verein gegründet, der jetzt weit über 50000 Mitglieder in allen Theilen des Reiches zähle und sich nach Sprachen Wissenschaften und Literaturzweigen in Sectionen und Unterabtheilungen gliedere.
Die Regierung stelle dem Vereine ein Centralbureau, das sich derzeit in St. Pölten befinde, eine Druckerei und Buchbinderei und jährlich eine bestimmte Menge Druckpapier zur Verfügung und könne der Verein einmal jährlich 100 Werke auswählen, die auf Rechnung des öffentlichen Verlages gedruckt werden, er könne aber auch selbst Werke drucken. Letztere Werke müßten die Mitglieder, welche sie verfaßt haben, selbst setzen und es machten daher nicht viele von dem Verlagsrechte Gebrauch.
Der Verein habe dagegen der Regierung gewisse [S. 69] Dienste zu leisten. Sie weise den Mitgliedern Manuskripte zur Begutachtung und die ausländischen Werke zur Bearbeitung für die Bibliothekszwecke zu. Alle Vereinsthätigkeit sei aber freie Wirksamkeit und könne in die geregelte Arbeitsleistung nicht eingerechnet werden.
Es war Mitternacht und wir ergingen uns noch im Mondscheine im Garten und Dr. Kolb, der als alter Herr aufstehen kann, wann es ihm gefällt, war so gut, uns noch Gesellschaft zu leisten, wobei er uns auf die Straße führte und zeigte, daß eben jetzt der Lastenverkehr beginne, der Waaren und Vorräthe von den Bahnhöfen in die Quartiere bringe und dann den Unrath wegschaffe, was täglich geschehe. Der letztere Dienst gehe nur junge Leute der bestimmten Altersklassen an, aber die meisten hauptstädtischen Dienstleistungen würden, wie wir schon gehört hatten, von den alten Herren des Arbeiterberufes besorgt. Es lebten an 60-70000 solcher Pensionisten in Wien, welche aber meist wieder nach einigen Jahren auf diese Art von Pfründe verzichteten, weil die Oesterreicher es nicht lange in einer Großstadt aushielten. Von jenen Pensionisten hätte jeden Tag in der Woche der siebente Theil Dienst, trüge gewisse Abzeichen und besorge neben der Aufsicht auf den Straßen und in den öffentlichen Gebäuden manche hauswirthschaftliche Arbeiten, den Briefdienst u. s. w., insbesondere auch die Schneesäuberung und die Lenkung der Wagen und Pferde. Jeder Aeltere wähle sich den Standort, der ihm gefällt, und die [S. 70] Jüngeren müßten die zugewiesenen Arbeiten übernehmen.
Eben waren die Unrathsgefäße weggefahren worden und die jüngeren Männer, die den Dienst hatten, entstiegen den unterirdischen Canälen. Dr. Kolb regte den Gedanken an, daß wir uns die Canäle besehen sollten. Einer der jungen Männer stieg wieder hinab und wir folgten auf einer eisernen Leiter. Die durch das ganze Quartier verzweigten Canäle sind mehr als mannshoch, ganz trocken betonirt, können mit Glühlampen erleuchtet werden und, was uns verwunderte, es war merklich übler Geruch kaum wahrzunehmen. Die Canäle stehen nämlich mit mächtigen Essen in Verbindung, in welchen immer Feuer unterhalten wird, und außerdem setzt man vor dem Abstieg in den Canal einen mächtigen Ventilator in Bewegung.
Dr. Kolb empfahl sich jetzt und sagte, er müsse am nächsten Tage früh nach Tulln zur Vorbereitung der Regatta fahren, und es stehe uns frei, mitzufahren oder uns an eine andere Begleitung weisen zu lassen oder auf eigene Faust zu flanieren. Letzteres wollten wir wagen und Mr. Forest sagte leise zu mir, er hätte längst gewünscht, die Begleitung los zu werden, die uns offenbar jeden Einblick in die Gebrechen der Zustände entziehe.
Es war Sonntag Morgen und wir hatten uns vorgesetzt, in Wien zu wandern, um verläßliche Informationen einzuholen, und zum Mittagessen nach Tulln zu fahren, weil abends die interessante Regatta stattfinden sollte. Wir fanden auch am Sonntag alles in Bewegung, alle öffentlichen Säle und Gebäude vom frühesten Morgen an geöffnet, denn Wien war die Stadt geworden, in der man sich nicht langweilen wollte. Obgleich wir recht müde waren, pilgerten wir doch nach den Museen. Die Ordner auf den Straßen gaben uns genau die Richtung an und da sie sahen, wir seien Fremde und rauchten nicht, fragte uns ein alter Herr, ob wir denn keine Cigarren hätten. Mr. Forest witterte einen Versuch, ein Trinkgeld zu ergattern, aber eingedenk der Vorschriften, die wir gedruckt in der Tasche hatten, wagte er sich doch nicht mit einem Versprechen hervor und sagte nur, wir hätten keinen Vorrath mehr. Der Alte bat sich die Aufenthaltskarten aus und sagte dann, damit könnten wir in jedem Speisesaale Cigarren beziehen, da man ja [S. 72] wisse, daß die Fremden rauchten. Wir meinten, wir seien in Tulln im regelmäßigen Aufenthalte, aber man beruhigte uns, man nehme es nicht so genau, sonst wäre es ja nicht gemüthlich. So wandten wir uns zum nächstgelegenen Speisesaale und erhielten richtig Cigarren für den Tag, nachdem die Daten der Aufenthaltskarte waren notirt worden. Das war uns sehr lieb, wir mußten aber jetzt im Freien bleiben, denn in den Gebäuden ist das Rauchen verboten, es wäre denn in der eigenen Wohnstube. Als wir unsere Cigarren geraucht hatten, besuchten wir die Museen, in denen sich viele Tausende drängten, weil an Sonntagen auch Leute von den benachbarten Dörfern in die Stadt strömen, und wir bewunderten nicht nur die reichhaltigen Sammlungen, sondern auch die herrlichen altersgrauen Gebäude mit den Kuppelsälen und Deckengemälden. Wir forderten einen Katalog, der uns bereitwillig mit der Bitte verabfolgt wurde, ihn beim Weggehen zurückzustellen, weil er nicht zum Verkaufe bestimmt sei. Wollten wir jedoch einen Katalog mit nach Hause nehmen, was wohl der Mühe werth wäre, weil auch interessante Abbildungen und Farbendrucke darin enthalten seien, so müßten wir uns an die Hausverwaltung wenden. Wir verlangten aber für heute nicht darnach, denn es drängte die Zeit und wir wollten lieber früher nach Tulln kommen. Auch waren wir betäubt und hatten uns bisher zu wenig Ruhe gegönnt. Unsere Anfragen bei diesem und jenem, ob man hier [S. 73] zufrieden sei, hatten zu nichts geführt und obwohl Mr. Forest immer Furcht vor Spionen und verkappten Oberbeamten witterte, konnte ich doch an den heiteren Gesichtern und dem ganzen Getümmel erkennen, daß es da Unzufriedene wirklich nicht gebe.
Wir bestiegen einen Straßenwagen, kamen auf den Franz-Josefs-Bahnhof und gelangten ziemlich früh nach Tulln. Nach dem Lunch gingen wir, da wir noch zwei Stunden bis zum Mittagstisch hatten, nach dem Centralrudersporthause, das von der eisernen Brücke etwas stromabwärts dastand, ein schöner Bau mit Empfangssälen, Berathungszimmern und Archiven, an den Wänden Trophäen mit den Namen der einzelnen Sieger und der preisgekrönten Ortschaften. Wir fanden da Zwirner und Dr. Kolb, die alle Hände voll zu thun hatten und uns nur flüchtig begrüßen konnten.
Ruderer in allen Farben, mit bloßem Halse und Armen, hatten hin und her zu laufen und zu ordnen und wurden unzählige Boote in's Wasser gelassen, Ruder eingeseift, Wimpel aufgesteckt und man sah in der Ferne den Rauch von Dampfern, welche Gäste aus Wien brachten, die den Ruderern zur Seite fahren wollten.
Ein kräftiger Junge, selbst Ruderer, belehrte uns über die Farben. Es wäre hier, wie bei Wettrennen, Bicyclefahren &c. jeder Kreis, ja jeder Bezirk erkennbar. Einheimische seien mit den Farben vollkommen vertraut, Fremden gebe man eine Karte [S. 74] mit Provinzen und Kreisen, woraus man die Farben entnehme. Der Knabe hatte eine dunkelrothe Mütze, hellrotes Wamms und eine dunkelorangefarbige Schärpe. Er sagte, die Farben seien von dunkelroth beginnend nach dem Prisma geordnet und zwar: dunkelroth, hellroth, dunkelorange, hellorange, dunkelgelb u. s. f., dann endlich weiß und schwarz, insgesamt vierzehn Farben. Dann kämen in derselben Ordnung zwei aufeinanderfolgende Farben, als dunkelroth-hellroth, hellroth-dunkelorange, u. s. w. bis zu schwarzroth wieder 14 Farben. Da nun Niederösterreich die erste Provinz des Reiches sei, sei die Kappe dunkelroth und da Sct. Pölten der zweite Kreis sei, — Wien bilde den ersten, — sei das Wamms hellroth, nachdem Tulln der dritte Bezirk im Kreise St. Pölten sei, sei die Schärpe dunkelorangefarbig. So sei der Bezirk außer Zweifel. Das genüge den meisten, aber das letzte Abzeichen zeige sogar die Gemeinde an, nämlich das Band, das von den Schultern flattert.
Da Alles vorbereitet war, luden Zwirner und Dr. Kolb die ganze Menge von Gästen zum gemeinsamen Mahle auf dem großen Wiesenplane vor dem Gemeindepalaste.
Da kamen Kinder, Mädchen und Frauen zur Begrüßung, der Bezirksbeamte hielt eine Ansprache, mit einem Hurrah ging's zu Tische und da fehlte es nicht an Jubel und Trinksprüchen aller Art, wobei vor allen Zwirner gefeiert wurde, dem man zutraute, daß er im Einzelkampfe den Meisterpreis erringen [S. 75] werde. Die erschienenen Ruderer waren alle Meister in der Kunst, wohl trainirt und hatten bei kleineren Wettkämpfen Preise errungen, und nur die fünf tüchtigsten Vereine waren zum Start erschienen. Es sollte das Clubwettfahren von der Eisenbahnbrücke bis Greifenstein gehen, wo die ersten Tribünen errichtet waren, und nach einiger Rast sollten drei Matadore, worunter Zwirner, von der Krümmung, die die Donau bei dem ehemaligen und längst verfallenen Dorfe Höflein beschreibt, bis zur neuen Donaubrücke bei Klosterneuburg um die Wette rudern. Beim Clubruderwettfahren kam es nicht darauf an, welchem Club das erste Boot angehörte, sondern welcher Club im Durchschnitte siegte, was schwierig zu bestimmen war, daher gewiegte Schiedsrichter aufgestellt waren. Sie nahmen übrigens Momentphotographien auf, wodurch die Beurtheilung erleichtert wurde.
An vielen Punkten an der Donau waren optische Signale aufgestellt, die sich bis zum Tullner Gemeindepalaste fortpflanzten, um den Verlauf telegraphisch nach Sct. Pölten und von dort über Wien weiter in die Provinzvororte zu melden; die Provinzvororte gaben die einlaufenden Nachrichten an die Kreise weiter und so fort, so daß man im ganzen Reiche Nachrichten hatte, und hieß es bald: “Graz hat Vorsprung,” dann: “Linz kommt heran,” und “Pest überholt alle,” bis zuletzt Tulln, wie erwartet, von den Schiedsrichtern als Sieger erklärt wurde. Zwirner stieg aus dem Boote und eilte die [S. 76] Treppe der Frauentribüne hinan, um den Seinigen den Frauendank zu bringen, den eine Erzherzogin überreichte.
Aber das Interessanteste stand uns bevor, denn wir wußten, daß der Sieger im Einzelkampfe den Preis aus der Hand der Lori Hochberg empfangen solle, und wir waren froh, daß unser Dampfer das rechte Ufer entlang fuhr, weil wir gerade vor der Tribüne anhalten sollten. Zwirner siegte um zwei Bootlängen und kam vor unseren Augen zur Tribünentreppe, um von Lori einen Kranz von goldenen Lorbeerblättern zu empfangen, wofür ihm die Sitte gestattete, die Hand der krönenden Dame zu küssen. Mit donnerndem Bravorufen von den Booten und Schiffen, der Brücke, die dicht voll Menschen war, den Ufern und Tribünen wurde der Sieger gefeiert, der noch seine Anordnungen wegen vorläufiger Bergung der Boote traf und dann mit den Genossen und uns Begleitern den Zug bestieg, der ihn erwartete.
Wir zweifelten nicht, daß der Lorbeerkranz, der übrigens in den Trophäensaal wanderte, für Zwirner mehr bedeute, als nur eben einen Siegespreis.
Zwirner war von vielerlei Geschäften in Anspruch genommen, weil Deputirte aller Hauptrudervereine da waren, Statuten und Preisausschreiben berathen werden sollten und internationale Verhandlungen schwebten wegen einer Regatta, die den Sieg unter allen Meistern Europas für die nächsten drei Jahre entscheiden und welche im nächsten Jahre am Rhein stattfinden sollte. Wir nahmen daher seinen Vorschlag gerne an, Reisen und Ausflüge auf eigene Faust zu unternehmen.
Wir besuchten den Badeort Baden und kamen dann auf den Semmering, wo noch ein altes Hôtel der vormals bestandenen Südbahngesellschaft steht. Wir sahen auf Photographien, die noch aufbewahrt waren, die ursprüngliche Anlage, die natürlich sehr erweitert und verschönert worden war, wie auch ein kaiserliches Lustschloß jetzt am schönsten Punkte steht, wo heuer ein Graf Coronini Hof hielt. Wir hätten uns kaum an diesem schönen Platze aufhalten können, der meist überfüllt ist, wenn nicht viele Gäste eines Festes wegen nach Graz gefahren wären. Man [S. 78] bat uns aber, nicht länger als bis zum nächsten Abend zu bleiben, weil der Aufenthalt für Leute von schwacher Gesundheit bestimmt sei, die hier Stärkung fänden.
In Bruck an der Mur, einem reizend gelegenen kleinen Orte, brachten wir eine Nacht zu. Um ein Uhr ertönten alle Gongs. Wir fuhren erschreckt auf und hatten nur noch Zeit, über die Stiege hinabzustürzen, da unser Wohnhaus in hellen Flammen stand. Kein Leben wäre in Gefahr gekommen, da überall Nachtwache gehalten und jedermann rechtzeitig gewarnt werden soll. Pflichtvergessenheit hatte das Uebel aber vergrößert. Alle waren guten Muthes; man half das Feuer localisiren und eine tapfere, todesmuthige freiwillige Feuerwehr, wohl ausgerüstet, rettete, was zu retten war.
Aber wir Armen! Wir hatten von unserer ganzen Habe nur das Hemd und die Socken gerettet und waren in Verzweiflung, deren Eingeständniß nur mit Lachen beantwortet wurde. Einige Männer nahmen uns, um uns vor den Frauen zu verbergen, in die Mitte, führten uns in ein gesichertes Gebäude, und ehe wir uns dessen versahen, waren wir mit neuer Wäsche und Kleidern aus den Vorräthen versehen und der Verwaltungsbeamte bat uns anzugeben, was uns sonst abhanden gekommen wäre. Wir hatten Ersatz, aber nicht das geringste persönliche Eigenthum mehr. Wie sollten wir nach Amerika kommen? Doch fühlten wir uns geborgen und begriffen, daß der Communismus auch sein [S. 79] Gutes habe. Nun erfuhren wir aber, daß uns alles, was noch fehlte, in Graz ersetzt werde, wo wir ja doch einige Stunden verweilen würden.
Wir wurden auch unterrichtet, daß die bezahlte Reisegebühr auch als Versicherung für Zufälle gelte und wir nach unserer Wahl beim Austritte aus Oesterreich die uns zur Verfügung gestellten Sachen, die besser und schöner waren, als was uns verbrannt war, behalten oder baaren Ersatz begehren könnten, der nach unserer Schätzung werde bezahlt werden.
Endlich fertigte uns noch der Ortsbeamte eine Interimsreisekarte aus. Da unsere Karten verbrannt waren, und er sagte uns zu, daß wir Duplicate unserer Reiselegitimationen in zwei Tagen aus Salzburg in Graz zugestellt erhalten würden.
Noch in der Nacht wurde Gericht gehalten über die schuldtragenden Personen. Es waren drei angeklagt. — Ein 15jähriges Mädchen hatte sich spät nachts, nachdem es sich entkleidet hatte, im Spiegel beguckt und dabei war das Licht dem Vorhange zu nahe gekommen. Da entstand das Feuer. Eine Matrone, welche in den Schlafsälen der unmündigen Mädchen die Aufsicht hatte, war auf ihrer Runde nach diesem Gemache gekommen und hatte auf die Bitten der kleinen Uebelthäterin versucht zu löschen und es unterlassen, das Haus und die Verwaltung zu alarmieren, was mit einem Drucke auf eine elektrische Klingel hätte bewirkt werden sollen. Der junge Mann endlich, welcher auf dieser Seite die [S. 80] Nachtwache hatte, war im Garten auf einer Bank eingeschlafen.
Die Angeklagten wurden vor den Verwaltungsbeamten gerufen, der die Disciplinargewalt hatte. Ein Verbrechen lag nicht vor und es kam daher die Jurisdiction ihm zu. Der Sachverhalt war in wenigen Minuten festgestellt, da viele Zeugen zugegen waren.
Die jungen Leute, welchen nur Nachlässigkeit zur Last fiel, kamen gelinde durch. Es wurden ihnen die Sonntage auf ein Jahr und die Ferien auf drei Jahre gestrichen. Der junge Mann sollte auf die Hochschule kommen, da man ihn zum Verwaltungsdienste hatte ausbilden wollen; daraus konnte nun wohl nichts mehr werden, weil dieser Beruf Aufmerksamkeit, Ordnungssinn und Pflichttreue voraussetzt.
Die Matrone aber wurde am härtesten bestraft, weil sie im Amte war und die Schuld einer Person hatte verhehlen wollen, die unter ihrer Aufsicht stand.
Sie traf zunächst dieselbe Strafe, wie die beiden anderen, außerdem aber verlor sie das Amt und dessen Vortheile, und wurde zu dreijährigem Nachdienen verurtheilt. Das seit vielen Jahren vorwurfsfrei bekleidete Amt gab ihr gesetzlichen Anspruch, nach dem vollendeten sechzigsten Lebensjahre in Ruhestand versetzt zu werden, und ihre Zeit wäre in zwei Jahren um gewesen. Nun sollte sie nicht nur weitere fünf Jahre dienen, wie der einfache Arbeiter, sondern [S. 81] noch drei Jahre nachdienen, also erst nach vollendetem achtundsechzigsten Jahre arbeitsfrei werden.
Sie brach in Thränen aus und bat um Milderung. Der Beamte solle bedenken, daß ihr Sohn ein berühmter Arzt in Graz sei und sich bald vermählen werde; sie habe gehofft, zu ihm ziehen zu können und Enkel auf ihren Knieen zu wiegen. Sie habe doch nur aus Herzensgüte gefehlt.
Der Beamte entgegnete ihr, daß ein anvertrautes Amt gewissenhaft geübt werden müsse, und sie selbst müsse wünschen, daß Strenge walte, denn auch ihr Leben sei jederzeit von der Pflichttreue anderer abhängig. Sie habe das Leben von mehr als zweihundert Menschen in Gefahr gebracht und der Schade, der hätte verhütet werden können, sei auf mindestens 300 Arbeitsjahre zu schätzen.
Da traten die beiden jungen Uebelthäter vor und erboten sich, je vier Jahre Arbeitszeit auf sich zu nehmen, damit die Alte davon befreit werde.
Der Beamte lachte über diesen Vorschlag und sagte, sie seien junges Blut und dächten leichtsinnig von einer Last, die sie für ihre alten Tage auf sich nehmen. Er wisse, wie man ganz anders davon denke, wenn man alt geworden. Auch hingen sie noch von jenen ab, in deren Gewalt sie stünden, und dann stehe es nicht in Uebereinstimmung mit den Gesetzen, daß Freiwillige für einen Straffälligen eintreten. Endlich sei es der Verwaltung nicht gleichgiltig, wann die Arbeit geleistet werde, die einen theilweisen Ersatz schaffen soll.
Die Matrone erklärte nun, an den Bezirksbeamten berufen zu wollen, und bat den Tribun, sich ihrer Berufung anzuschließen. Da dieser aber die Bitte abschlug, hatte die Arme geringe Hoffnung, daß ihre Berufung Erfolg haben werde. Viele bezeigten ihr Mitleid, aber man fand das Urtheil doch gerecht und nicht übermäßig hart.
Die obdachlos Gewordenen waren schon versorgt und theilweise in benachbarten Ortschaften untergebracht und für den zweiten Tag waren schon alle Arbeitsleute bestellt, um den Bau in kürzester Frist wiederherzustellen.
In Graz erhielten wir alles Versprochene pünktlich übergeben.
Nichts von der Adelsberger Grotte, dem herrlichen Miramare, den Kriegsschiffen.
Oesterreich hat kein Heer mehr, da längst ein Abrüstungstraktat in Europa besteht; aber man unterhält eine sehr bedeutende Seewehr. Alle Continentalstaaten, welchen im Osten Rußland gegen Subsidien und Mannschaften vollen Schutz sichert, haben einen Küstenschutzverband verabredet und unterhalten nicht nur Küstenbefestigungen, sondern auch eine starke Marine, theils zum Schutze gegen England, das von Gibraltar bis zum rothen Meere aus allen Meeren und Inseln verdrängt worden ist, theils zum Schutze gegen die Raubstaaten in Argentinien und China, von wo aus die Piraterie schamlos betrieben wird.
Wir erkundigten uns, ob die Seeleute für den Handels- und Marinedienst ausgehoben würden, und [S. 83] erfuhren, daß man dazu, wie auch für die Truppen, welche in Sibirien dienen, nur jene Freiwilligen nehme, welche dafür die geringste Entschädigung fordern. Natürlich könnten sie kein Handgeld fordern, aber sie begnügten sich meist damit, daß ihnen ein Friedensjahr für 18, ein Kriegsjahr für 24 Monate gerechnet würde.
Auch von Abbazzia und dem großen Feuerwerke, das dort zu Ehren fremder Gäste stattfand, brauchen wir wohl nicht zu berichten. Wohl aber will ich einiges von unserem kurzen Besuche am kaiserlichen Hoflager auf der Insel Lacroma erwähnen.
Wir fuhren am Freitag um drei Uhr auf einer kaiserlichen Yacht vom Festlande auf die Insel hinüber. Der Hof mied sonst die südlichen Gegenden in den Sommermonaten, aber auf den Wunsch der Frauen der kaiserlichen Familie hatte man heuer versucht, den Aufenthalt im Süden dadurch erträglich zu machen, daß man der Natur trotzte. Man schlief vom Morgen bis zum Abende und stand um sechs Uhr abends auf. Die ganze Insel und die weitläufigen Schloßgebäude waren die Nacht über feenhaft beleuchtet. Man hielt die Mittagstafel um zwei Uhr morgens.
Der Kaiser und die Kaiserin blieben auf den Schlössern incognito und verkehrten wie geladene Gäste. Die Repräsentation führte diesmal ein Graf Andrassy mit seiner reizenden jungen Frau. Es war aber bereits für Samstag die Uebersiedlung des Hoflagers nach der Rosenburg bei Horn festgesetzt.
Da die Bewohner der Schloßgebäude noch im tiefsten Schlafe lagen, führte mich, — Forest hatte sich einem anderen Begleiter angeschlossen, — eine Aufwärterin, die Tochter des Schloßverwalters, Anselma, in die kaiserlichen Gemächer, die den Besuchern geöffnet waren. Eine Brise vom Meere her kühlte die Luft ab und wir durchwanderten die weitläufigen Räume. Anselma lüftete zuweilen die schweren Verhänge, um mich nach den Gärten und Wäldern blicken zu lassen.
Dann kamen wir nach dem Cabinete, wo der Kaiser seine Amtsgeschäfte erledigt, und dem Secretariate. In das Arbeitszimmer des Kaisers und das Secretariat führen die elektrischen Drähte. In letzterem zeigte mir meine Führerin die Phonographen mit einer Anzahl von einzulegenden Rollen und sie sagte, daß um sieben Uhr abends die Sitzung des Ministerrathes und der Reichstribunen am Forum in Wien begänne und da finde eine genaue Aufnahme der Referate und abgegebenen Voten durch die Phonographen statt. Jene würden von den Secretären im Nu schriftlich übertragen und beinahe gleichzeitig mit den Verhandlungen vom Cabinetschef dem Kaiser vorgelesen, der seine Entscheidungen bekannt gebe und oft Aufklärungen fordere, oder Aufschub anordne, wenn er schriftliche Vorlagen für nöthig halte.
Die Amtsgeschäfte des Kaisers werden meist in einer Stunde erledigt.
Ich erkundigte mich, um was sich diese Verhandlungen [S. 85] drehten, und Anselma sagte, es würden immer die wichtigsten Vorkommnisse der letzten Tage besprochen. Sie könne mir darüber Aufschluß geben, da man keine Amtsgeheimnisse kenne und vor den Hausgenossen verhandle, die in den Amtsräumen beschäftigt sind. Gestern sei der Brand in Bruck a. d. Mur zur Sprache gekommen und habe besondere Aufmerksamkeit erregt, weil seit vielen Jahren kein so großes Schadenfeuer sich ereignet habe und die bedenkliche Thatsache vorlag, daß amtliche Pflichten verletzt wurden. Man hatte vom frühen Morgen an Berichte über das Ereigniß auf telegraphischem Wege eingeholt und der Statthalter in Graz war persönlich nach der Unglücksstätte abgegangen. Das Ministerium habe befunden, daß der Verwaltungsbeamte ohne alles Verschulden sei und daß sowohl sein Disciplinarerkenntniß, als auch seine Verfügungen wegen Wiederherstellung der Gebäude und ununterbrochenen Betriebes der Produktion volle Anerkennung verdienen, weshalb seine Beförderung bei nächster Gelegenheit ihm zugesagt wurde.
Meine Begleiterin zeigte mir zahllose Kunstwerke der verschiedensten Art und machte mich aufmerksam, daß alles, was die Privatgemächer des Kaisers bergen, von der Hand der Mitglieder der kaiserlichen Familie herrühre. Seit Jahrhunderten erlerne jeder Erzherzog ein Gewerbe und die Erzeugnisse seiner Arbeit, wohl selten ohne Beihilfe geschulter Arbeiter zu Stande gebracht, werden in den Wohnungen der Familie aufgespeichert. Aber auch der Kunst widmeten sich [S. 86] viele Erzherzoge und zähle die Familie der Habsburger nicht nur Schriftsteller und Compositeure, sondern auch Maler, Bildhauer, Medailleure. Dazu die Kunstfertigkeiten der Frauen.
Man hörte klingeln und Anselma lud mich ein, die Gemächer zu verlassen, weil sich der Kaiser eben ankleide, und dann den Weg in sein Arbeitszimmer nehme. Sie führte mich auf mein Zimmer und ich setzte mich in Stand, um mich beim Frühstücke einführen zu lassen.
Der Verkehr war zwanglos. Graf und Gräfin Andrassy wurden so behandelt, als wären sie die Herren des Schlosses. Der Kaiser, dessen Ansprache man abzuwarten hatte, sprach mit mir, als ihm mein Name auf seinen Wunsch war genannt worden, ungezwungen über Amerika. Er sprach von dem Präsidenten unserer Union, “seinem brüderlichen Freunde,” und erkundigte sich nach den Eindrücken, die ich in Oesterreich gewonnen. Ich sagte, daß ich davon sehr befriedigt sei und weit mehr Aesthetik im öffentlichen Leben fände, als bei uns. Das freue ihn zu hören, sagte der Kaiser; es sei, fügte er lächelnd bei, wie die Geschichte berichtet, nicht immer so gewesen. Gerade die Aufgabe des Monarchen sei es, auf Wohlanständigkeit im geselligen und öffentlichen Leben hinzuwirken. Denn politische Aufgaben habe die Staatsverwaltung kaum je mehr zu lösen. Der Reichthum von Jahrhunderten, den die Dynastie und der Adel im Auftrage des Volkes verwalte, müsse dazu dienen, den Schönheitssinn bei allen zu entwickeln, [S. 87] so daß dieser auch alle Umgangsformen und die Beziehungen unter den Staatsbürgern beherrsche. “Das leiseste Unrecht, ja eine bloße Rücksichtslosigkeit verletzt unser Gefühl und man beeilt sich, jedem Genugthuung zu geben, bevor er sie gefordert; man könnte sagen, wir haben ein verweichlichtes Gemüth. — Aber entschuldige, junger Freund, ich muß jetzt die Gräfin Andrassy zu mir bitten, um zu fragen, wie sie geruht hat.” — Wie ich mich grüßend erhob, schritt eben die Gräfin, dem freundlichen Nicken des Kaisers folgend, auf ihn zu.
Später sah ich den Kaiser im Gespräche mit Arbeitern aus mehreren Provinzen, die zur Besichtigung der Insel und Baulichkeiten gekommen waren und gleich jedem anderen Oesterreicher Zutritt am Hoflager hatten. Ich verstand nicht, wovon die Rede war, da der Kaiser nach alter Habsburger Sitte mit jedem in dessen Muttersprache spricht.
Die Habsburger müssen ein Gehirn haben, das hundertjährige Anpassung an eigenthümliche Bedürfnisse ganz absonderlich entwickelt hat. Auch der gegenwärtige Kaiser spricht zehn lebende Sprachen und beherrscht sie in Rede und Schrift. Er war von frühester Jugend auf von Männern und Frauen umgeben, die in den verschiedensten Idiomen mit ihm verkehrten; er lebte abwechselnd unter den verschiedensten Völkern seines Landes, er liest, schreibt, verhandelt in allen diesen Sprachen, und auch in einigen der wichtigsten außerösterreichischen Cultursprachen mit voller Sicherheit. Dazu besitzt er ein [S. 88] ungewöhnliches Personengedächtniß und Menschenkenntniß. Man behauptet, daß er die Namen, persönlichen Verhältnisse und den Beruf von mehr als zwanzig Tausend Bewohnern Oesterreichs kenne und nur in den seltensten Fällen bedürfe es einer Nachhilfe der Personen, die seine Umgebung bilden, um sein Gedächtniß auf die richtige Fährte zu bringen, wenn er jemanden nach langen Jahren wieder sieht. Man liest es ihm an den Augen ab, wenn es nothwendig ist.
Eben hörte ich ihn lustig ausrufen: “Ei, die Gräfin Taaffe! Schon wieder ausgekniffen von Ellischau?”
“Wir haben eine gar zu lederne Gesellschaft in Ellischau zusammengewürfelt bekommen,” sagte die junge Dame heiter. Aber der Kaiser hielt ihr lachend den Mund zu; er fürchtete einen medisanten Bericht und dergleichen durfte der Monarch gar nicht anhören. Es war aber nur eine Verlegenheitsausrede der allerliebsten Frau, einer jugendlichen schlanken Blondine. Sie war von der Kaiserin wiederholt zu geheimen Berathungen berufen worden. Die Kaiserin beabsichtigte, ihrem Gemahl ein Bildwerk aus Marmor nach ihren Ideen meiseln zu lassen. Sie war eine Schwester des Grafen Eduard Taaffe und dessen Frau eine Schwester des Künstlers, der die Arbeit auszuführen gebeten wurde.
Es sollte das Bildwerk eine dahinschreitende Venus vorstellen, die von Liebesgöttern ihrer Gewänder beraubt wird. Von den Räubern war ihr einer in [S. 89] den Nacken geflogen, kniet auf ihren Schultern und verschließt ihr mit seinen Kinderhänden die Augen. Die Göttin greift nach seinen Armen, um sich zu befreien, und diesen Augenblick benutzen die Mitverschworenen, ihr die Schulterbänder, den Gürtel und die Schuhriemen zu lösen.
Die Fürstin wollte mit dem Meister nicht selbst verkehren; sie fürchtete, es könnte, wenn auch unbeabsichtigt, eine Porträtstatue aus dem Kunstwerke werden, was der Kaiser übel vermerkt haben würde. Beschreibungen, Zeichnungen und Modelle wanderten hin und her und der Künstler — wir kannten ihn genau — hatte sich der Sache mit allem Eifer bemächtigt. Seine Ideen vervollständigten die Angaben der Kaiserin und führten daher zu Controversen.
Der Künstler wollte, daß die Ideenassociation des Beschauers berücksichtigt werde. Man solle denken können, daß die Göttin ihren Weg ungehindert fortsetzen werde, von bewundernden Amoretten umflattert. Das bedingte eine andere Einrichtung der Gewandung, als die Kaiserin geplant hatte, und der Künstler wollte noch einen Zephyr zu Hilfe nehmen, der die lose Gewandung an die Glieder der Göttin weht und die Hülle entführen helfen soll.
Von diesen Machenschaften wußte der Kaiser nichts und es war bereits ein herrlicher Block von milchweißem Marmor aus Griechenland für die Civilliste erworben worden, worüber die Beamten des Hofes und der Centralregierung unter Beiziehung [S. 90] des Hoftribunes — die Ungarn nannten ihn den Tribun a latere — verhandelt hatten.
Eigenthümlich war das Auftreten der Hausgenossen. Es war schwierig, die alte Hofetiquette zu brechen und die Gleichberechtigung der Menschen zur vollen Geltung zu bringen, obgleich ja Christus gezeigt hatte, wie das Bedienen der Mitmenschen mit der vollen Menschenwürde zu vereinbaren sei, da er seinen Dienern die Füße wusch. Es war noch immer nicht erreicht worden, daß die aufwartenden Personen in der Gesellschaft gleich berechtigt verkehren konnten. Es waren alle Arbeiten der Hofhaltung durch mancherlei Behelfe veredelt worden. Man hatte ferner nur wohlgestaltete Mädchen und Jünglinge im Alter von fünfzehn bis zwanzig Jahren an den Hof gezogen, die ein gewisses Maß von Ehrerbietung schon wegen ihrer Jugend bezeigen durften. Die Kleidung war natürlich würdig und erinnerte nichts weniger als an eine untergeordnete Stellung. In heißen Landstrichen liebte man, die Tracht der Römer und Griechen zu verwenden, wo es anging. Nur wenn die Hausgenossen Dienst hatten, legte man sich gegenseitig etwas Reserve auf. Niemand aber versäumte, jeden Wunsch mit einer freundlichen Bitte einzuleiten, und der Kaiser selbst vergaß nie, jede Handreichung mit einem “Danke, lieber Freund” oder “Vielen Dank, schönes Kind” zu erwidern. Hatten die Hausgenossen ihren dienstfreien Tag, so verkehrten sie seit einigen Jahren vollauf gleichberechtigt in der Gesellschaft. Das verdankte man dem Einflusse [S. 91] des Hoftribuns, der ein Ungar war und seit Jahren darum gekämpft hatte, daß man das Ceremoniell umändere, denn er pflegte zu sagen: “Jeder Ungar ist ein König.”
Der Kaiser aber wurde durch diesen edlen Stolz seiner Mitbürger nicht herabgewürdigt, sondern offenbar erhöht.
Nach dem Frühstück schlenderten wir in den Anlagen umher, machten Bootfahrten in Gesellschaft vieler Herren und Frauen, die uns, weil wir fremde waren, auszeichneten, und wir sahen den Fischern zu, welche ihre Netze auswarfen. Weit hinaus in's Meer warfen die Bogenlichter ihren hellen Schein, als wir endlich gegen elf Uhr heimkehrten, um an der Gesellschaft theilzunehmen. Es versammelten sich über hundert Personen im großen Park, wo auf einem weiten Platze kostbare Teppiche aufgebreitet waren, auf welchen man sich, wenn man nicht auf Stühlen oder Bänken Platz nehmen wollte, im Halbkreise lagerte.
Im Mittelpunkte der Gesellschaft saßen Kaiser und Kaiserin, dann Graf und Gräfin Andrassy, die mittlerweile zur Besichtigung einer Ausstellung nach dem Festlande gefahren waren, und dem Programme gemäß wurde ein berühmter Vorleser eingeladen, das Werk eines Dichters, der anwesend war, vorzutragen. Es war eine poetische Erzählung aus dem neunzehnten Jahrhunderte, von unbeschreiblicher Feinheit der Charakteristik und der Darstellung.
Als die Vorlesung beendet war, leitete der Kaiser [S. 92] die Debatte ein und so sehr er auch das Werk lobte, sprach er doch einige Bedenken aus. Der Dichter vertheidigte sich und eröffnete Gesichtspunkte, die dem Kaiser entgangen waren. Man wollte das Urtheil der Frauen hören und eine junge Frau fand mehreres unzart. Das gab nun Anlaß, zu erörtern, ob der Dichter es an Zartheit hatte fehlen lassen oder ob er innerhalb der Grenzen des reinsten Schönheitssinnes nur berichtet habe, was zum Verständnisse der Zeit und der Menschen jener Periode, sowie, um den Gang der Handlung zu begreifen, nothwendig war.
Das Gespräch drohte allgemein zu werden, aber der Kaiser bat, einen parlamentarischen Vorgang einzuhalten, da es sich um ein Werk handle, welches Hoffnung habe, bei der nächsten Preisvertheilung den Lorbeer zu erringen. Literaten, Professoren und besonders auch Schauspieler wurden aufgefordert, ihre Anschauung zu äußern.
Der Vorleser selbst sprach sich rühmend aus. Er sagte, daß gerade er zu einem Urtheile berufen sei, da sich ein gutes Werk leichter lese und es den Vorleser mit fortreiße. Das gelte besonders von einem neuen Werke, das der Recitator noch nicht kennt. Wäre irgend etwas dunkel, irgend eine Andeutung zu schwer zu verstehen oder etwas am unrechten Orte beschrieben, so würde der Vorleser auf Schwierigkeiten stoßen, eine vollendete Wiedergabe zu bieten; auch lese sich nur das leicht, was mit [S. 93] vollendeter Beherrschung der Sprache verfaßt und auf einen fließenden Vortrag berechnet sei.
Da nun der Dichter noch einiges zu seinen Gunsten vorbrachte und manchen Tadel siegreich widerlegte, schlug der Kaiser vor, man solle über die Frage abstimmen, ob hier ein Meisterwerk vorliege, an dem nichts zu tadeln sei. Alle stimmten für den Dichter, an den die Gräfin Andrassy herantrat, um ihm Glück zu wünschen.
Es wurde jetzt das zweite Frühstück gereicht und man stellte dann Bilder. — Zwischen zwei hochstämmigen Bäumen schlossen sich zwei mächtige Teppiche, hinter welchen die Aufstellung vor sich ging. So oft sich die Teppiche öffneten, bot sich ein entzückendes Bild, in welchem bekannte Scenen aus der griechischen Göttersage dargestellt waren. Die Frauenschönheit feierte Triumphe und umgaukelte unsere Sinne mit einer für Amerikaner unerhörten Freiheit. Ein unermeßlicher Schatz von Juwelen und Prachtgewändern, Gefäßen und Waffen bildete das Beiwerk.
Als der Vorhang für die Aufstellung des letzten Bildes zugezogen wurde, hörte man geschäftig hin und her laufen, es wurde gehämmert und die Pause verlängerte sich eine gute Weile. Man war in gespannter Erwartung. Als die Vorhänge sich öffneten, bot sich uns ein überraschender Anblick dar.
Es war die Darstellung der Anpreisung einer Sklavin, die römischen Patriciern zum Kaufe angeboten wird, nach einem alten Bilde. Durch einen [S. 94] großen Rahmen und die getroffenen Anordnungen, welche den Raum hinter dem Rahmen abschlossen, als spielte die Scene in einem Gemache, war der Eindruck hervorgerufen, als hätte man das herrliche Gemälde wirklich vor sich. Linker Hand stehen die Verkäufer, einer hinter dem andern, gemeine Menschen, den Blick auf die Käufer gerichtet. Der vordere von den Beiden zieht der Sklavin das Gewand vom Leibe, welches sie festzuhalten sucht, und hält sie roh am Arme, um sie zu verhindern, daß sie sich schamhaft abwende. Der alte Römer, der ihr gegenüber sitzt, ein schönes Gefäß auf den Knieen haltend, mit einem breiten unedlen Kopfe, hat ein verlegenes Lächeln auf den Lippen, und verräth Bewunderung und mühsam unterdrückte Begierde. Hinter ihm auf der rechten Seite des Bildes, der Sklavin zugewendet, steht ein junger Mann, ein Knie auf den Stuhl gebogen, dessen Lehne er mit beiden Händen hält. Auch sein edles Gesicht ist in den Anblick der reizenden Sklavin versunken. Diese Figur stellte ein junger Prinz vor, der das ganze in's Werk gesetzt.
Die Sklavin war die liebreizende Anselma, die herrliche leuchtende Gestalt der Jungfrau war ebenso entzückend, wie die edle Haltung, die Scham und Keuschheit zum Ausdrucke brachte.
Unser Athem stockte, kein Laut ließ sich vernehmen und geraume Zeit blieb das Bild stehen, um uns Muße zu lassen, alle Einzelnheiten zu bewundern. Es schien, daß man der schönen Anselma freigestellt hatte, die Dauer der Vorstellung zu bestimmen, [S. 95] denn wir glaubten, sie etwas flüstern zu hören, als die Vorhänge rasch zugezogen wurden.
Jubelnder Beifall erscholl. Der junge Patricier kam in seiner römischen Gewandung hervor, während Anselma nach ihrer Wohnung gebracht wurde, und der Kaiser befahl ihm, Anselma zu bitten, den Dank des Monarchen entgegenzunehmen, sobald sie sich würde angekleidet haben.
Das Bild wurde besprochen und ebenso die Kunst des Malers, wie die Sorgfalt der Darstellung und die Schönheit Anselmas gerühmt. Nun kam sie, von dem jungen Manne geleitet, in einem herrlichen Gewande aus elfenbeinfarbigem Stoffe, das nur die Arme unverhüllt ließ, und als sie vor den Kaiser trat, sagte er: “Herzlichen Dank, schöne Anselma, für die Gnade, die du uns erwiesen.” — Doch die Kaiserin erhob sich mit den Worten. “Nicht so, lieber Rudolf, können wir soviel Liebreiz, Anmuth und Güte abdanken;” und sie faßte Anselma an den Schultern, um sie zu küssen. Dann schob sie die Jungfrau vor den Kaiser, daß auch er sie küssen solle, und das that er mit den Worten: “Sind wir nicht Schwester und Bruder?” — “Das sind wir,” sagte Anselma, “so lehrt es uns Jesus von Nazareth und meine Eltern haben mich von frühester Jugend an ermahnt, mich nicht geringer zu halten, als irgend jemand, der auf Erden wandelt.” — “Daran erkenne ich meinen Perger!” sagte der Kaiser lachend, “treu wie Gold, aber voll trotzigen Selbstbewußtseins!” — Darauf ergriff nun ihrerseits [S. 96] die Jungfrau die Hände des Kaisers mit den Worten: “Du hast vorhin Deine Schwester geküßt; ich mache von meinem Rechte Gebrauch und küsse meinen Bruder.” — Darauf bog sie sich über den Kaiser. Wir waren begierig, zu sehen, wie sich der Fürst benehmen würde. Er sagte: “Wohlan, ich will Dich schirmen, wie ein Bruder und wer Dich kränkt oder beleidigt, an dem will ich mit eigenen Händen Rache nehmen.” So fand sich der stolze Fürst in die ihm bereitete Lage und benahm dem Vorgange alles Zweideutige.
Es trat jetzt Prinz Lobkowitz an das Mädchen heran, das der Liebling aller geworden war. Es nahm erröthend seinen Arm und er entführte uns die Liebreizende. Da ich meinem Nachbar, einem jungen Künstler zuflüsterte, daß man in Amerika ein Mädchen für beschimpft hielte, das eine solche Rolle in Gegenwart von Männern übernehme, sagte dieser es sei dies auch in Oesterreich bis jetzt nie erhört worden, aber es sei nicht zu zweifeln, daß Anselma nicht ohne die Einwilligung der Frauencurie gehandelt habe, die wohl in Anbetracht des künstlerischen Vorwurfes zugestimmt habe. Darum sei auch Anselma vor jedem Tadel sicher und habe keine Unehre zu fürchten.
Die Gesellschaft brach auf, um auf verschiedenen Wegen nach dem Schlosse zu pilgern, wo die Tafel bereitet war. Man speiste diesmal nicht im Garten, sondern es hatte der Haushofmeister die Tafel im Schlosse rüsten lassen. Es waren schon geraume [S. 97] Zeit bedrohliche Wetternachrichten aus Spanien, dem südlichen Frankreich und Italien eingelaufen und nach der Windrichtung war nicht zu zweifeln, daß bald ein Ungewitter losbrechen würde, obgleich wir noch Sterne am Himmel sahen.
Nach dem zweiten Gange prasselte auch ein Regenschauer, begleitet von Donner und Blitz, nieder und da man in den Sälen tafelte, die der Wetterseite gegenüber lagen, konnte man das Naturschauspiel bei offenen Fenstern genießen. Die berühmte meteorologische Reichsanstalt auf der Hohen Warte bei Wien hatte das Auftreten des Gewitters in Lacroma um fünf Minuten zu früh berechnet.
Wir aber reisten bei Morgengrauen ab, weil uns interessante Dinge nach Tulln riefen.
Wir setzten uns am nächsten Abend, Samstags, mit Zwirner im Parke unter einen schattigen Baum und baten um die längst versprochenen Aufschlüsse über die Frauen. Zwirner sagte Folgendes: Man habe ursprünglich in den Tag hinein gelebt und die vorsorgliche Regierung habe sich begnügt, täglich den Geburtenüberschuß bekannt zu geben und allmonatlich eine Uebersicht des wachsenden Mißverhältnisses der Erwachsenen und der erziehungsbedürftigen Jugend ziffermäßig nachzuweisen.
Man begriff sofort, daß man zum Rechten sehen und daß das Volk über eine Gesetzgebung in Ehesachen schlüssig werden müsse. Ein Grübler verwies auf die Bemerkungen Platos in seinem Buche vom Staate und auf die Lehren Christi im Evangelium Matthäus 19, 11. 12, welche er auf seine Weise auslegte. Man verlangte Gesetze und in allen Gemeinden berieth man hin und her, um den richtigen Ausweg zu finden. Da entstand nun die Frauencurie. Die stimmberechtigten Mädchen und Frauen wollten sich in diesen Fragen nicht überstimmen lassen [S. 99] und forderten Abstimmung nach Curien. Diese Curien stimmten später auch noch abgesondert über Mutterrechte und einen Gesammtcodex für den Verkehr der Geschlechter.
Es wurde ermittelt, daß zur Zeit der alten Gesellschaftsordnung von sechs, sieben oder acht Frauenspersonen im Alter von 16-45 Jahren jährlich nur eine ein Kind zur Welt brachte. Man kannte die ältere Literatur für und wider den Malthusianismus und kannte die Geschichte des Verkehrs der beiden Geschlechter seit Onan, dem Gatten Thamars.
Nach mehrmonatlichen Verhandlungen, Anhörung der Aerzte, und nachdem auch festgestellt worden war, daß durch die vermehrten Geburten vor allem eine bedenkliche Vermehrung der Cretins, Krüppel und voraussichtlich Arbeitsunfähigen herbeigeführt wurden, wurde unter Annahme vieler Detailgesetze beschlossen, daß nur die gesündesten Mädchen und Jünglinge in einer bestimmten, verhältnismäßigen Anzahl zur Ehe zugelassen werden sollten und die anderen Mädchen, wenn sie ein illegitimes Kind zur Welt brächten, in Strafe zu nehmen seien.
“Nun sehen wir doch endlich die Tyrannei eingestanden,” rief Mr. Forest frohlockend aus.
“Es handelte sich um ein offenbares Volksinteresse und die Gesetze wurden vom Volke selbst vorgeschlagen und angenommen und es waren doch unter den Gesetzgebern die von der Ehe Ausgeschlossenen in der Mehrheit, also ist von einer Unfreiheit keine Rede. Uebrigens werdet ihr hören, daß ich nur von einer [S. 100] vorübergehenden Phase unserer Gesetzgebung im vorigen Jahrhundert spreche.”
“Aber wie kann ein solches Gesetz aufrecht erhalten werden und welche Unsittlichkeiten muß das im Gefolge habe?”
Zwirner sagte, die künftigen Ehefrauen seien zu jener Zeit, wie auch heute noch, schon als kleine Kinder ausgewählt worden, da die Aerzte ein scharfes Auge hätten für Konstitution und Gesundheit und da auch die Sektionen der Voreltern bekannt wären. Auch auf Schönheit sehe man und nun ließe man den künftigen Ehefrauen die Haare frei wachsen, den anderen schneide man die Haare kurz, und so wüchsen sie auf und erführen in einem Alter, wo noch jedes Verständniß mangelt, was ihnen bestimmt sei. So spielten sie auch ihre Rollen und es falle bis zu einem bestimmten Alter nicht auf, wenn etwa, späterer Beobachtungen wegen, das eine Mädchen, das Flechten trug, geschoren würde, einem anderen, das geschoren war, die Haare in Flechten wüchsen. “Sind die Mädchen einmal schon nahezu reif zur Ehe, haben sie schon Pläne im Kopfe und sich den Hochzeitstag ausgemalt, dann sind allerdings schonende Mittheilungen und Vorstellungen erforderlich, wenn ein Irrthum zu corrigiren ist; aber es muß sich jedes Mädchen fügen. Man sieht sie, ehe die Flechten fallen, mit rothen Augen und sie verlangen auch wohl, vorher in die Fremde gebracht zu werden, weil sie sich vor ihren Gespielinnen schämen, den Haarschmuck zu verlieren, der ihr Stolz war.”
“Wenn eine künftige Braut eines Fehltrittes überwiesen wird, begegnet ihr dasselbe strafweise, es wäre denn, daß ein junger Mann, gewiß der Mitschuldige, vorausgesetzt, daß ihm die Ehe verstattet ist, sich innerhalb acht Tagen erböte, die Ehe mit ihr einzugehen.”
“Nun muß ich auf die ältere Periode unseres gegenwärtigen Volkslebens zurückgreifen und jener Gesetzgebung erwähnen, die außer Kraft gesetzt wurde. Wegen der Geburt eines illegitimen Kindes verfiel damals das Mädchen, wegen Ehebruches die verheirathete Frau, in öffentliche Strafe. Die härteste Strafe war damals, daß man die Schuldige zum Büßerhemde verurtheilte. Es war aus grauer Leinwand und hat den ganzen Leib eingehüllt, nur Mund und Augen sind freigeblieben. In ihrer Schlafkammer allein durfte die Sünderin es ablegen, außer ihrer Kammer nie und außer ihrer Kammer durfte auch niemand mit ihr verkehren, noch über andere, als dienstliche Angelegenheiten mit ihr sprechen. Bei Abstimmungen oder Belustigungen mußte sie hinter allen zurückbleiben. Sonst ist ihr kein Leid widerfahren, aber das Erscheinen dieser Person hatte etwas erschütterndes.”
“Die Schuldigen selbst haben sich bald daran gewöhnt und, wenn es ihnen zu hart schien, konnten sie ja, was wir jedem erlauben, der mit seinem Lose in der Gesellschaft unzufrieden ist, ausscheiden und sich ihren Antheil am Nationalvermögen herausgeben lassen, womit sie aber auf die Vortheile der Gesellschaft [S. 102] verzichteten, und mußten sie dann zusehen, wie sie sich selbst fortbrächten, oder sie konnten in die Colonieen, die wir in Afrika haben, auswandern und so ihr Büßerhemd loswerden. Auch in den Colonieen genießt der Oesterreicher volle Versorgung vom Staate, er ist nicht seinem guten Glücke überlassen und er beginnt dort wie hier mit geregelter Arbeit und gesicherter Lebensstellung, wie wir auch jedem auf Wunsch Grund und Boden und ein Haus in der Colonie zu Lehen geben, wenn er allein oder in Familie leben will. Allein dort ist die Sterblichkeit für Einwanderer so groß, daß wir es für Mord halten würden, jemand zur Auswanderung dorthin zu zwingen. Wollte die Sünderin mit ihren Kindern sonst wohin auswandern, so ermöglichte es der Staat, aber die Liebe zur Heimath ist so groß, daß zu jener Zeit beinahe alle diese schönen Sünderinnen das Büßerhemd vorzogen. Junge Leute wandern übrigens unternehmungslustig zuweilen aus, bevor sie mit den Gesetzen in Widerspruch gerathen, und will ich nur noch bemerken, daß wir wegen Mord oder anderer großer Verbrechen niemals Strafe verhängen, wenn der Verbrecher die Verbannung selbst wählt. Wir wollen, daß die Verbannung härter scheinen solle, als selbst der Tod.”
“Nun muß ich weiters erwähnen, daß übrigens auch damals das Gesetz gegen illegitime Geburten nur im Nothfalle angewendet wurde, wenn nämlich deren Zahl derart überhand nahm, daß es wirklich bedrohlich wurde. Einige tausend solcher Geburten, [S. 103] besonders wenn die Kinder doch kräftig und gesund waren, erschienen nicht als eine Last, die zu großer Strenge berechtigt hätte; es sollte nur Nothwehr geübt werden, wenn große Uebelstände drohten. Sehr oft also wurde ein solches Mädchen nur mit einem Verweise der ältesten Frau im Orte entlassen.”
“Allein selbst diese schonende Anwendung eines Gesetzes, das an eine böse Vergangenheit erinnerte, war unsern Vätern ein Gräuel und so fand sich bald ein Ausweg. Die Hauptgrundsätze sollten beibehalten werden; Fortpflanzung der kräftigsten Menschen innerhalb einer Grenze, die kein zu rasches Anwachsen der Bevölkerung erwarten ließ, Kinderlosigkeit der von der Ehe ausgeschlossenen Mädchen, Ahndung des Ehebruches einer Frau, die nicht die Scheidung erwirkt hatte; aber wir hoben die alten Strafgesetze auf.”
“Die Frauencurie, von der wir noch zu sprechen haben werden und die ihre geheime Organisation hat und von weiblichen Aerzten vortrefflich und auch über manche uns geheim gebliebene Naturgesetze berathen ist, stellte den Antrag, wir sollten jene Strafgesetze aufheben und alle verwirkten Strafen erlassen; sie wolle sich dafür verbürgen, daß, was das Gesetz beabsichtige, ohne solche Strafen erreicht werde, man möge es aber der Frauencurie überlassen, das so zu bewirken, wie sie es für gut hielte.”
“Aber bei der Auswahl der künftigen Ehefrauen, dem Abschneiden und Wachsenlassen der Haare möge es wie von altersher verbleiben, nur verlange man, daß die Begutachtung der Gesundheit von Mädchen [S. 104] nicht von den Aerzten allein, sondern von ihnen in Gemeinschaft mit einer Vertrauensperson der Frauencurie und einer Vertrauensperson der Mutter des Mädchens geschehe, und darauf ist man eingegangen. Wir können damit ganz zufrieden sein; es ist zur feststehenden Sitte geworden, daß kein weibliches Geschöpf das Gesetz übertritt, und ist übrigens das Frauenleben zum Theile ein Geheimniß für uns.”
“Die Frage, was die Nothwendigkeit, das Geschlechtsleben mit den gesellschaftlichen Bedürfnissen in Einklang zu bringen, für Folge für die Sittlichkeit mit sich bringe, könnt ihr euch ja zum Theile selbst beantworten, da mir Dr. Kolb erzählt, daß darüber vor euch im hygienischen Congresse verhandelt wurde. Wir pflegen nicht davon zu sprechen, da es Dinge giebt, die man heilig hält und die eine Besprechung bloß der Neugierde wegen nicht gestatten. Wer dazu berufen ist, mag darüber in gelehrten Versammlungen zum Zwecke der Förderung des öffentlichen Wohles sprechen, oder in gleicher Absicht in Fachblättern schreiben, aber ein Gesprächsstoff allgemeiner Art ist dergleichen nicht. Entbindet mich daher von der Aufgabe, mich auf Einzelheiten einzulassen, die unserem Zartgefühle widerstreben. Wir geben uns aber nicht für Heilige aus, wir verabscheuen nichts mehr als den Pharisäismus, wir schweigen nicht, weil wir Gott danken, daß wir nicht sind, wie diese und jene, sondern weil wir uns die Freude am Weibe nicht selbst zerstören wollen.”
“Im Allgemeinen nur sagen wir, daß man von [S. 105] den Menschen nichts Unmögliches, also Unvernünftiges, hoffen darf; es ist uns nicht gestattet, jemand Lasten aufzubürden, die wir selbst mit dem Finger nicht berühren möchten. Unter vielen Uebeln das kleinste zu wählen, ist in sittlicher Beziehung genug, und Aufgabe der Menschen ist, vorwärts zu streben und unablässig auch für das kleinste Uebel wieder Abhilfe zu suchen, sei es auch, daß wir doch wieder nur ein neues, wenn auch kleineres Uebel fänden. Wir können nur sagen, daß einerseits aus religiöser Schwärmerei, die manche alte Männer zu verbreiten suchen, andererseits aus Schamhaftigkeit sich sehr viele Mädchen von der Geschlechtsliebe ganz zurückziehen. Aber es bestehen gerechte Zweifel, ob das selbst für jene, die der Ehe entsagen mußten, sittlich gerechtfertigt ist. Es wird behauptet, daß sie sich dadurch das Leben verkürzen, und die Schwachheit des anderen Geschlechtes, der unvermählten Männer, erheischt ja auch Schonung.”
“Wie ihr bemerken werdet, sind unsere Mädchen und Wittwen gleichweit von Prüderie, wie von Frechheit entfernt, und ist uns eine anmuthige Geschichte aus dem Ende des vorigen Jahrhunderts überliefert. Ein fremder Prinz, der für Frauenschönheit schwärmte, war in der Hofburg abgestiegen und unser damaliger Kronprinz hörte, daß jener besonders das goldblonde Loreleyhaar vergöttere. Noch am selben Morgen hatte der Kronprinz festgestellt, daß Oesterreich über 150 der schönsten Mädchen mit langen goldblonden Haaren besitze, die im Alter von 15-18 Jahren [S. 106] ständen, und auf seine Einladung waren alle am nächsten Morgen mit ihren Müttern in Wien angekommen. Am Abend, als die Versammlung im großen, weißen Marmorsaale conversirte, wurde die Mitte des Saales geräumt und Hof und Gäste sich im Kreise auf Stühlen niederzulassen eingeladen, worauf sich Feenmusik hören ließ und durch die geöffnete Saalthüre eine Schaar von Elfen in weißer Tracht und Geschmeide tanzenden Schrittes hereinschwebte, mehrmals den Saal langsam umkreiste und wieder verschwand. Die Mädchen kleideten sich sofort um, um heimzufahren. Niemand durfte folgen. Aber man war wie gelähmt davon, zu sehen, daß die jungen Damen, welchen die goldenen Haare frei um den Rücken flatterten, nicht nur die nackten Füße in goldschimmernden Sandalen stecken hatten, sondern daß auch ihr künstlich drapirtes mattweißes Oberkleid, nur auf der rechten Schulter von einer Agraffe festgehalten, die linke Achsel und Brust frei ließ. Der Kronprinz hatte diese Oberkleider, die ja nicht an den Leib zu schneidern waren, mittlerweile anfertigen lassen und Geschmeide und Sandalen gab es von den Bühnen und in der Schatzkammer in Menge. Die jungen Damen und ihre Mütter waren, an dem Vorschlage überrascht, nach kurzem Besinnen darauf eingegangen und so war es gelungen.
Die Kronprinzessin schmollte, der Kaiser zweifelte, ob man nicht zu weit gegangen sei, aber der fremde Prinz erging sich in lebhaften Danksagungen.
Das Reichsblatt berichtete alles getreulich und [S. 107] die Curien der Frauen und Mädchen traten sofort zusammen, um zu berathen, was zu thun sei. Die Frauenzeitung, welche von Frauen redigirt und gedruckt, in gut verschlossenen Couverts verschickt, nur von Frauen und Mädchen gelesen wird und in die noch nie ein Männerauge einen Blick geworfen hat, muß vielerlei Bemerkungen und Anträge enthalten haben, bis nach vierzehn Tagen das Verdict der Frauen und Mädchen Oesterreichs verlautbart wurde. Die Elfen und ihre Mütter wurden von aller Schuld freigesprochen, da sie überrascht worden waren. Gerade auf Betreiben der älteren Frauen wurde auch erkannt, die Schicklichkeit sei doch nicht verletzt und man befürchte keine üblen Folgen, da man strenges Regiment führe und nicht dulden werde, daß dergleichen zu weit gehe. Auch wüßte jedes Mädchen in Oesterreich, Bewerber in gebührende Schranken zu weisen, aber daß dergleichen einem fremden Prinzen zu Ehren geschehen und man glauben könnte, von solchem müsse sich eine Oesterreicherin mehr gefallen lassen, als von ihres gleichen, das habe empört und man beauftragte das Reichstribunat, dem Kronprinzen die Mißbilligung auszusprechen. Es verfügte sich auch der älteste Reichstribun im Auftrage seiner Collegen zum Kronprinzen, der die Mittheilung achtungsvoll anhörte und bat, die Frauen und Mädchen in Kenntniß zu setzen, daß er sich schuldig bekenne und dergleichen nicht wieder thun wolle, aber um die Gunst nachsuche, wieder zu Gnaden aufgenommen zu werden. Das meldete wieder pflichtschuldigst die [S. 108] Reichszeitung und zum Zeichen der Versöhnung wurde beschlossen, der Kronprinzessin ein Spitzentuch zu klöppeln, wie ein schöneres noch niemals zu sehen gewesen.”
“In Anlehnung an jene Scene hat sich für die jährliche Brautschau, wo die Ehecandidaten beider Geschlechter, insgesammt unbewacht, aber gewiß in strenger Zucht und Ehren, verkehren, eine Sitte, oder nennen wir es eine Unsitte, herausgebildet, von welcher man aber Fremden nichts verrathen darf.”
Zwirner schien aber seine Gedanken jetzt nicht bei uns zu haben.
Wir schwiegen und gedachten unserer Liebesabenteuer auf der Reise nach Abbazzia. Denn so ganz unbegnadet verläßt ein Reisender nicht leicht das gastfreie Land, wo jede unschädliche Freiheit Duldung findet. Die Wittwen und die Mädchen mit verschnittenen Haaren verkehren frei mit jungen Männern, ohne aber lästige Zudringlichkeit zu dulden. Es ist auch nicht im geringsten anstößig, wenn sie Fremde oder männliche Genossen auf ihre Stube laden, um mit ihnen ungestört zu plaudern, mit ihnen ein Buch zu lesen, ihnen Stickereien oder Zeichnungen zu zeigen und hört man überall in den Frauencorridoren, viele von ihnen wohnen in ihnen besonders vorbehaltenen Corridoren, schäckern, lachen und plaudern und weiß man auch, daß solchen Besuchen eine Einladung vorausgegangen sein muß, so weiß man doch auch, daß daraus noch nicht das geringste gefolgert werden kann und es sich in der Regel nur um eine Höflichkeit [S. 109] handelt. Es gilt das auch keineswegs schon als eine Aufmunterung und meistens folgt dem leisesten Zeichen von Galanterie, die Wünsche verrathen läßt, auf welche die Schöne nicht eingehen will, eine deutliche, aber nicht unfreundliche Ablehnung. Es bleibt die Antwort aus, das Lächeln macht einem leichten Stirnrunzeln Platz, auch heißt es wohl: “Ergehen wir uns lieber im Garten”, und wird dann die Einladung auf die Stube schwerlich wiederholt. Unter zehnmal mag es aber doch einmal vorkommen, daß man fühlt, man dürfe langsam weiter gehen, und so ist es mir, vielleicht auch Mr. Forest, ja auch einmal ergangen, aber wehe mir, wenn jemand hätte errathen können, wer mir hold gewesen. Ich hätte unfehlbar abreisen müssen; Oesterreicher aber, die nicht schweigen können, werden in Bann gethan und Fluch derjenigen, die einem solchen Gunst erweist. Sie wäre vervehmt.
Ich dürfte nicht einmal verrathen, an welchem Orte mir Heil widerfahren war. Das wäre eine schöne Sache, wenn die Welt erführe, die Frauen in dieser oder jener Gegend seien entgegenkommender, als wo anders. Es sehe jeder, wie er's treibe.
Man fühlt es bald heraus, wo man Hoffnung hat, Gunst zu finden, obgleich die Anzeigen einem Dritten nicht erkennbar sind. Nur die Frauen scheinen sich immer zu verstehen; ihre Wege kreuzen sich nie. Dann aber ist es nicht gestattet, täppisch zuzugreifen. Die kleinste Gunst will erworben und erstritten sein; es entspinnt sich ein Kampf, zu dem sich zwar beide [S. 110] Theile stellen, der aber den Sieg verzögert, oft lange verzögert. Das brennendste Verlangen muß der begehrende Mann zu zähmen wissen, will er der Gunst theilhaft werden, deren sich nur jener erfreut, der weiß, und gesteht, daß er sie nicht verdient und daß sie ihm nur als Geschenk gewährt werden kann. Dieses lang hingehaltene Warten erhöht aber auch das Glück und wir lernen in diesem Lande die käufliche Gunst hassen. Wie kann sich ein Mann so erniedrigen, ein Weib zu umarmen, das, von Allen verachtet, sich selbst verachtet?
Giebt uns aber nach langem Zögern ein Blick der Umworbenen Vollmacht, die Thüre zu verriegeln, dann entschädiget uns auch eine unvergleichliche Liebesglut für die Selbstbeherrschung, die wir uns auferlegen mußten, und wer die Umarmung eines Weibes genossen hat, das sich seiner Würde bewußt bleibt, wird niemals an einer Hetäre Gefallen finden.
Eines noch sei erwähnt. Zu ganz hoffnungslosem Werben verleitet uns die Oesterreicherin nie. Das grausame Spielen mit Gefühlen, die unerwidert bleiben sollen, hält das Weib hier zu Lande für eine Verruchtheit. — Die ganze Gesellschaft in Oesterreich durchweht ein so homogener Zug eines lebendigen Gefühls für Würde und Wahrhaftigkeit, daß jeder, der diese Luft einathmet, erzogen wird und er sich bald zurechtfindet in diesem Liede ohne Worte: “Liebe und Frauengunst”, ein Lied, das in Vergessenheit gerathen war in der traurigen Epoche, [S. 111] in der das feile Weib mit dem gleichermaßen feilen Manne verächtliche Buhlschaft trieb.
Man hörte “Zwirner” rufen und dieser erhob sich mit den Worten: “Kommt mit auf meine Stube, wir haben Versammlung.” — Es erwarteten ihn dort acht Altersgenossen, die uns begrüßten und nachdem man fehlende Stühle aus den Nebengemächern herbeigeschafft hatte, wählte man Zwirner zum Obmanne, der die Versammlung eröffnete. Er begann: “Ihr wißt, Freunde, daß zwei Gesetzesvorschläge in Berathung stehen; die Aufhebung des Adels und die Beseitigung der Monarchie. Die nach der Verfassung erforderlichen zwanzig, beziehungsweise vierzig Bezirke haben zugestimmt und der Antrag ist genügend unterstützt. Die Verfassung schreibt vor:” — Zwirner hatte die Verfassungsurkunde mit den beigedruckten Voten sachkundiger Forscher vor sich liegen und es ging daraus hervor, daß der erste Antrag sofort mit einfacher Stimmenmehrheit angenommen werden kann, der Beschluß aber im Falle eingelegten Vetos über ein Jahr erneuert werden muß. Dann kann das Veto nicht wiederholt werden; wird der Antrag aber bei der ersten oder zweiten Abstimmung vom Volke verworfen, so darf er vor Ablauf von zehn Jahren nicht wieder eingebracht werden.
Der zweite Antrag erfordert zur Annahme eine volle Zweidrittelmajorität und es ist zwar kein Veto zulässig, der Beschluß tritt aber erst nach fünf Jahren, [S. 112] wenn es sich bloß um die Absetzung des Kaisers handelt, nur mit Zustimmung der kaiserlichen Familie in Kraft und kann mittlerweile widerrufen werden. Auch setzt der Vollzug des Beschlußes auf Abschaffung der Monarchie voraus, daß innerhalb der nächsten fünf Jahre eine neue Verfassung mit einer Mehrheit von zwei Dritteln aller Stimmen genehmigt wird, wider welchen Beschluß aber auch kein Veto stattfindet.
Die Debatte wurde eröffnet und wurden viele Meinungen vorgebracht.
Ein junger Mann schrie laut, daß der Adel überflüssig sei, die Monarchie könne beibehalten werden. Der Redner war auffallend vernachlässigt und unreinlich und wir erfuhren später, daß er nie in die Adelscirkel sei zugelassen worden, was aber allgemein gebilligt worden war, daher das Tribunat sich seiner nicht annahm.
Ein anderer sagte, es lägen Voten der Professorencollegien und Studentenverbindungen vor, daß man sich an diese Zirkel gewöhnt habe und man sie nicht missen wolle.
Die meisten Stimmen sprachen sich dahin aus, daß der Adel Functionen verrichte, die nicht entbehrt werden könnten und wozu andere Volksgenossen nicht besser geeignet wären. Einige beklagten die Höhe der Civilliste, aber andere fanden nichts zu bemerken; man sehe ja klar, wie sie verwendet werde. Von der Aufhebung der Monarchie wollte niemand hören. Ein Antrag auf Verminderung der Civilliste wurde [S. 113] nicht in Verhandlung gezogen, weil es sich jetzt um andere concrete Angelegenheiten handle und die Verhandlung in diesem Stadium nicht gestört werden solle. Die Mehrheit war gegen beide Anträge.
Als sich Zwirner erhob, fragte ich: “Was sollen nun diese neun Stimmen?” — Zwirner erwiderte hierauf: “Dieselbe Berathung haben alle anderen Genossen und Genossinnen in Oesterreich heute gepflogen und ich werde in einer Stunde mit den Obmännern meiner Section zusammentreten. Jede Gemeinde und jedes Quartier hat sechs bis zehn Sectionen weiblicher und männlicher Staatsbürger, die sich in Urversammlungen gliedern, deren einer ihr beigewohnt habt. Die Obmänner der Urversammlungen berathen dann, tauschen die Berichte über die Urversammlungen aus, erwähnen der vorgebrachten Argumente, vergleichen die Stimmen für und wieder und stellen dann fest, wie viel schwankende Stimmen abgegeben wurden. — Nach eingehender Berathung wird das wahrscheinliche Stimmenergebnis der Sectionen festgestellt und es wählt jede Section den Obmann, der mit den Obmännern der übrigen Sectionen zusammentritt, um noch einmal zu berathen. Der letzteren Versammlung wohnen die Beamten und Tribunen bei und kann die Berathung auch mehreremale an die Urversammlungen zurückgeleitet werden, wenn bis zum vorausbestimmten Abstimmungstage noch genügend Zeit übrig ist. Der Endabstimmung gehen meist noch Versammlungen des ganzen Bezirkes voraus, in welchen man Redner anhört, und [S. 114] kann die Versammlung jedem Redner das Wort entziehen.”
Ich sagte nun: “Und wenn die Regierung die Abstimmung hintertreibt?”
“Das kann sie nicht, weil die Einleitung der Abstimmung Sache des Tribunats ist.”
Ich sah Forest an und dieser war offenbar in Verwirrung. “Und was mag das Endergebniß sein?”'
“Ich habe gar keinen Zweifel, daß Adel und Monarchie beibehalten werden, denn das Volk ist conservativ, wenn es Einrichtungen gilt, die sich nicht als offenbar schädlich erwiesen haben.”
Nun erwähnte Mr. Forest der Bücher von Bellamy, und Michaelis[B] und sagte, daß man in Amerika zu ganz anderen Ergebnissen gekommen sei. Darauf sagte Zwirner, es werde sich empfehlen, daß wir ihm die Bücher zum lesen geben, und er werde dann seine Meinung sagen.
Er ging in die Sectionsversammlung und überließ uns unseren Gedanken.
Der Sonntagmorgen brach an und gab zunächst wenig Hoffnung auf einen vergnügten Tag, da regnerisches Wetter war und man sich auf die Nothwendigkeit gefaßt machte, die geplanten Ausflüge aufzugeben. Viele hatten zwar vor, nach Wien zu fahren und Museen oder die Ausstellung der neuen Bilder zu besuchen, welche von den Bewerbern um den Malerpreis waren eingesandt worden und welche nach Zuerkennung der Preise am zweitnächsten Sonntage ihre Rundreise um die Kreisstädte machen sollten, weshalb sie dann jahrelang für die Bewohner von Wien und Umgebung nicht mehr zu sehen waren, und es bot ein großes Interesse, sich darüber zu streiten, wer wohl den ersten Preis erlangen würde.
Diesmal hatte sich eines der schönsten Mädchen erklärt, es wolle dem Sieger in diesem Wettstreite seine Hand reichen, wenn es ihm gefalle, ein Anerbieten, das sich nicht zurückweisen ließ, das aber nicht gebilligt wurde, weil es frivol schien, auf das ungewisse sich zu binden, und es ebenso Mißfallen hätte [S. 116] erregen müssen, wenn die Uebermüthige dann ihr Wort nicht erfüllt hätte. Aber man vermuthete, daß es gerade kein Anerbieten auf's Gerathewohl gewesen, sondern daß die Schöne im unerschütterlichen Glauben lebte, der Preis könne nur dem Künstler zufallen, der die Hunnenschlacht eingeliefert hatte, und daß dies der Mann war, auf den sie ein Auge geworfen.
Es gab auch sonst in Wien Gelegenheit genug, sich zu unterhalten, und ebenso konnte man nach St. Pölten fahren, wo es immer etwas für Schaulustige zu sehen gab und heute ein interessantes Stück gegeben wurde, zu welchem man wohl eine Karte erhalten konnte. Die Rückfahrt konnte nach dem Theater noch immer erfolgen und stand der Besuch der Städte an arbeitsfreien Tagen jedermann frei, wenn es sich nicht darum handelte, dort zu übernachten. Die zurückgelegten Eisenbahnmeilen mußte man sich einrechnen lassen.
Die Nachbarorte von Wien waren etwas begünstigt, daher bei einem Wohnungstausche alles nach den Gemeinden des St. Pöltener und des Wienerneustädter Kreises drängte und es ebenso eine Belohnung für große Verdienste war, wenn jemand vom Arbeiterberufe dorthin versetzt wurde, wie es umgekehrt zu den Strafen gerechnet wurde, wenn eine unerbetene Versetzung in entferntere Gemeinden verfügt wurde. Es waren daher auch meistens besonders tüchtige Leute in den Gemeinden dieser Kreise anzutreffen.
Allein die Besuche in Wien blos für den Abend waren doch oft nicht besonders lohnend, denn da alle Arbeiter in drei bis vier Jahren einmal nach Wien beurlaubt wurden und diese Besucher aus entfernteren Gegenden natürlich für alle Genüsse den Vorzug vor jenen hatten, die jeden Sonntag wieder kommen konnten, so konnten diese ihren Zweck in Wien oft verfehlen.
Man schätzte die durchschnittliche Bevölkerung der Hauptstadt auf 350 Tausend. Es waren außer dem Adelsquartiere 350 Wohnquartiere, die für je 1000 Bewohner reichlich Raum hatten; aber zur Noth konnten auch 1200 in jedem Quartiere Aufnahme finden, was 420000 Anwesende ergab. Es kam auch bei besonders interessanten Festen, wenn eine Krönung oder ungewöhnliche Centennarfeier stattfand, vor, daß jedes Plätzchen besetzt war.
Die Bevölkerung bestand größtentheils aus vorübergehenden Besuchern aus der Provinz und dem Auslande. Die täglich nach Wien verkehrenden Züge brachten durchschnittlich 20000 Besucher und eben so viele mochten abreisen. Da die Fremden im Durchschnitte 7 Tage in der Residenz bleiben, so ergab das 140000 wechselnde Besucher. Die Hochschulen hatten an 60000 Studirende, worunter auch etwa 15000 Mädchen inscribirt waren, und dazu konnte man 20000 Professoren, Gelehrte, Künstler und Beamte an den wissenschaftlichen und Kunstanstalten rechnen, dann 70000 Pensionisten des Arbeiterberufes, [S. 118] was schon 290000 ergab, und rechnete man noch Hof, Adel, Beamte, andere Pensionisten, hauswirthschaftliche Arbeiter und Handwerker, worunter besonders viele die verschiedenen Kunstgewerbe als Beruf betrieben, so hatte man 350 Tausend. Diese alle waren für den Abend zu versorgen, an welchem sich niemand langweilen sollte.
Es war also, wie ersichtlich, abgesehen von der Geselligkeit, die man zu Hause fand, niemand in Verlegenheit, seine Zeit auch auswärts und insbesondere auch in der Kreisstadt oder in Wien angenehm zu verbringen, wenn etwa der Sonntag verregnet wurde, und man wartete in Geduld ab, ob es sich aufhellen würde. Aber Zwirner war verstimmt. Er sagte, er wolle mit uns zu Pferde den Kahlenberg besuchen und wir möchten uns ihm überlassen, der Mittag wäre auch vergeben. Es fiel uns auf, daß ihn das Regenwetter so mißgelaunt machte und wir sahen, daß er recht vergnügt aufsprang, als der erste Sonnenstrahl sich zum Fenster hereinstahl und bald darauf die Wolken sich zerstreuten und ein klarer Himmel uns einlud, in's Freie zu gehen. Jetzt war es umso besser, weil es weniger heiß war, und wir bestiegen also um 1/2-8 Uhr morgens unsere Pferde, die uns ohne Schwierigkeit waren angewiesen worden, da wir als bevorzugte Fremde einen Anspruch darauf hatten und übrigens die meisten sich der Eisenbahnen bedienten.
Wir sahen, daß Zwirner, der sein Pferd in scharfen Trab setzte, nicht den beliebten Weg über [S. 119] Tulbing einschlug, sondern gegen Königstetten einlenkte, und begriffen alles, als wir von weitem zwei Frauen auf herrlichen Goldfüchsen gewahrten, die uns zu erwarten schienen. Und so war es auch. — Zwirner hatte eine Verabredung mit Lori und seiner Schwester, die noch schöner als ihre Freundin war und sich durch lange aschblonde Flechten auszeichnete. Wir schätzten sie in dem Alter, in welchem Oesterreicherinnen sich zu vermählen lieben. Sie nahm uns rechts und links und unterhielt uns auf das reizendste mit ganz guter englischer Conversation, wobei sie nicht verfehlte, von älteren amerikanischen Autoren, Bret Harte, Prescott, Lawrence Gronlund und anderen zu sprechen. Sie mochte beabsichtigt haben, was sich scheinbar wie von selbst ergab, daß nämlich Zwirner und Lori hinter uns zurückbleiben und sich aussprechen sollten.
Kaum hatten wir Königstetten hinter uns, als die Straße sich rechts nach dem Gebirge wandte und in zahllosen Windungen, die oft beinahe wieder zum Ausgangspunkt zurückführten, die Höhe langsam erklomm. So hatten wir abwechselnd die Berge vor uns, dann wieder den Ausblick in's Thal und auf die Donau und wir hielten zuweilen die Pferde an, als wollten wir die Fernsicht genießen, in Wahrheit aber, um Freund Zwirner zu necken. Aber wenn die schöne Mary auch zwischen uns stille hielt und die Namen der Dörfer nannte, die wir zu unseren Füßen sahen, so glitt doch dann ein feines Lächeln über ihr allerliebstes Gesicht, wenn die Zurückgebliebenen [S. 120] in Gehörweite kamen, und sie wandte ihr Pferd der Straße zu, uns rechtzeitig entführend.
Die Straße führte lange so fort und wir konnten oft vier und fünf Wegschlingen hinter uns überblicken. Die kleinen waldigen Berge, zwischen denen kleine Mulden lagen, die entweder mit Wein bepflanzt waren oder frische Matten trugen, verschoben sich in einem fort und boten die abwechslungsreichsten Bilder. Lange blieb der Tulbinger Kogel rechter Hand sichtbar, endlich aber hatte die Straße die Höhe des Bergüberganges erreicht und führte tief in ein waldreiches Gebiet, von wo kein Ausblick mehr auf den Tullner Boden zu gewinnen war. Zwischen Wäldern und Wiesen ging es mehr als zwei Stunden fort und wir setzten die Pferde ab und zu in scharfen Trab. Endlich verließen wir die Heerstraße, um einen köstlichen Waldweg einzuschlagen, der hoch mit abgefallenem Laub bedeckt, unter jungen Bäumen fortführte, die nur selten ein Stückchen Himmel freiließen und eine herrliche lichtgrüne Wölbung bildeten. Die Bäume mochten in den letzten 150 Jahren wohl oft abgeholzt worden und wieder aufgewachsen sein.
Jetzt führte der Weg wieder in's Freie und auf hochgelegene Wiesen und Mary erzählte uns, daß nach den alten Karten da einstmals ein Bauernhof zum Steinriegel müsse gestanden haben, daß aber solche abgelegene Gehöfte selten mehr vorkämen, weil sich nicht leicht jemand entschließe, dem abwechslungsreichen [S. 121] Leben in der Gemeinde zu entsagen und weil solche Gebäude doch zum Schlupfwinkel für Feinde der Gesellschaft dienen könnten, wenn sie nicht regelmäßig bewohnt würden.
Nun führte unser Weg wieder durch Wald und dann kam ein reizendes langgestrecktes und vielfach gewundenes Thälchen, gebildet von einem schmalen Wiesenstreifen, der auf beiden Seiten von niederen Hügeln begleitet war, die, dicht mit Eichen und Buchen bestanden, förmliche von Grün strotzende Mauern bildeten. Jetzt hatten wir den Gebirgsstock erreicht, dessen nordöstliches Ende der Kahlenberg und Leopoldsberg bilden, und nachdem wir auf einer viel gekrümmten Straße eine ansehnliche Höhe erklommen hatten, ritten wir am Fuße des Hermannskogels herum und dann auf dem Gebirgskamme über Wiesen und durch herrliche Wälder nach dem Endziele unseres Ausfluges, das wir erst nach Mittag erreichten.
Wir ließen die Pferde, welche ziemlich angestrengt worden waren, in den Stall führen und wählten, um unseren Lunch einzunehmen, Plätze auf der Terrasse, von wo man den Ausblick über Wien hat. Da Lori und Mary, wie auch Zwirner, hier wohl bekannt waren, bedurfte es keiner Legitimation und wir erinnerten uns noch unseres ersten Besuches hier oben.
Die drei Oesterreicher traten an die Brüstung, blickten nach der Riesenstadt vor uns und wiesen, im Gespräche vertieft, auf den Tribunatspalast, [S. 122] der ihre Aufmerksamkeit zu erregen schien und allerdings mit seinen Thürmen aus dem Häusermeer besonders hervorragt.
Sieh' da, die schöne Selma kam, uns das Frühstück zu bringen. Sie grüßte uns heiter. — Wir erkundigten uns, ob die Sachen zurückgekommen wären, die wir uns bei unserem ersten Besuche ausgeborgt hatten, und Selma bejahte und sagte, man habe ihr auch den Gruß bestellt, den ich ihr entrichten ließ. Es sei aber allzu bequem gewesen, das anderen zu überlassen; man führe ja täglich an zwanzig Gespräche zwischen Tulln und dem Kahlenberge, da hätte ich mich wohl auch einmal hinsetzen und mich mit Selma “verbinden” lassen können. Ich entschuldigte mich lachend und sagte, wir hätten mittlerweile eine Reise nach Abbazzia und Lacroma gemacht, sonst würde ich wohl die angenehme Gelegenheit benützt haben. Lächelnd ging sie ihrer Wege, nachdem sie Lori und Mary, welche sich jetzt zu uns wandten, die Hand gereicht hatte. Nach dem Lunch streiften wir über Wiesen und Wälder und wieder zogen sich Lori und Zwirner mit Vorliebe seitwärts. Aber nun schlossen wir uns einem Lawn-tennis-Spiele an, obwohl unsere Freunde mit den anderen Spielgenossen nicht bekannt zu sein schienen. Als aber ein hübscher junger Mann, der wohl ein Auge auf Mary Zwirner geworfen haben mochte, vorschlug, daß wir mit ihm und seinen Genossen einen Tisch für Mittag bestecken sollten, sagte Mary, die seine Aufmerksamkeiten [S. 123] nicht beachtete, daß wir in Königstetten speisen wollten.
Nun war es nahezu drei Uhr geworden und wir sollten in Königstetten um fünf Uhr zur Tafel erscheinen. Zwirner und die beiden Mädchen waren etwas beunruhigt. Man hatte nicht bedacht, daß die Entfernung groß war und unsere Pferde schon mehr als fünf Stunden, die edlen Pferde aus dem Marstall von Königstetten mehr als vier Stunden gegangen waren und daß es jetzt gelte, einen scharfen Trab einzuschlagen, wenn wir Königstetten rechtzeitig erreichen wollten, worauf die Oesterreicher sehr bedacht schienen.
Wir befürchteten den Pferden zu viel zuzumuthen, und Zwirner ging mit mir nach dem Stalle, um sich umzusehen. Er erkundigte sich, was sonst für Pferde hier wären, und erfuhr, daß der Arzt und die Lehrer, im ganzen eine Gesellschaft von acht Personen, aus Klosterneuburg zu Pferde heraufgekommen wären. — Zwirner suchte den Arzt auf und erkundigte sich, ob die Klosterneuburger Pferde schon einen weiten Weg gemacht hätten, worauf sich ergab, daß das nicht der Fall war, und die Gesellschaft erbot sich, uns fünf gute Traber zu überlassen und unsere Pferde zu übernehmen, die den Weg nach dem nahen Klosterneuburg umso leichter machen konnten, als die Gesellschaft erst spät abends aufbrechen wollte. Da die jungen Leute jetzt Ferien hätten, würden sich dann am nächsten Tage recht gerne einige von ihnen bereit finden lassen, unsere Pferde [S. 124] nach Hause und die anderen dafür zurückzubringen.
So wurde denn aufgebrochen, und als wir Klosterneuburg hinter uns und die Höhen gegen Kierling erreicht hatten, ging es größtentheils im scharfen Trabe, zuweilen im Galopp über St. Andrä nach Königstetten. Auch dieser Weg war anmuthig und besonders der Abschnitt zwischen Kierling und St. Andrä bot eine reizende Abwechslung. Die Freundinnen waren nun voraus und es war ein Genuß, die herrlichen Gestalten der Mädchen zu schauen, die frohgemuth dahinritten. Wir folgten mit Zwirner, und Lori rief diesem zurück, daß der Fürst und die Fürstin heute aus besonderer Ursache, wie sie lächelnd betonte, zu Hause geblieben seien und daher Mary nicht, wie beabsichtigt war, die Repräsentation führen werde.
Zwirner ließ die Freundinnen etwas vorausreiten und erklärte uns die Stellung seiner Schwester im Hause Hochberg. Er sagte: “die Heirathskandidatinnen werden in gewisser Beziehung wie Priesterinnen heilig gehalten und die anderen Mädchen sind damit ganz einverstanden und auch von Jugend auf an den Gedanken gewöhnt, daß ihnen ein anderer Beruf bestimmt wäre, den man in früherer Zeit hätte etwa ein “Dienen” nennen können. Es liegt im Interesse aller, die Frauenschönheit zu pflegen und den künftigen Gattinnen und Müttern die Schönheit nicht durch Arbeiten zu verkümmern, die doch immer Spuren zurücklassen müssen, wenn [S. 125] selbst alle Kunst angewendet wird, das Gemeine vom Menschen fernzuhalten. Aber die gänzliche Veränderung der Lebensformen hat auch die Beziehungen der Menschen verändert. Jeder erhebt Verdienste und Vorzüge seiner Mitmenschen in den Himmel und thut sich etwas auf andere zugute, die ihm nahestehen, und da es der ganzen Gemeinde zur Ehre gereicht, wenn eine goldene Rose einer Schwester zufällt, so setzen alle Mädchen einen Stolz darein, etwas dazu beizutragen, daß die Schöneren aus ihrem Kreise nichts von ihrer Schönheit einbüßen, und sie selbst verbreiten den Ruf derjenigen, welche sie unter anderen Verhältnissen mit Mißgunst betrachten würden. Dann fällt ja den anderen wieder das Los zu, auf einem anderen Gebiete hervorzuragen, und nicht durch hämisches Herabsetzen der Mitmenschen, sondern durch möglichste Pflege und Entwicklung jener Vorzüge, die einem jedem zu Theil geworden sind, sucht man glücklich zu werden. Darum sind die von der Ehe ausgeschlossenen Mädchen gerne bereit, sich in die Arbeiten zu theilen, welche einstens verachtet waren, und oft ist nachgewiesen worden, daß es keinen Menschen gibt, der nicht auf irgend einem Gebiete sich auszeichnen könnte. — So ist nun Mary als die schönste von den Schönen in Tulln von ihren Schwestern verzogen worden. Man hat ihren Ruf verbreitet und ihr Zeit gegönnt, ihre gesellschaftlichen Talente zu pflegen, ohne welche Schönheit ein unnützes Ding wäre. Sie ist unzählige male [S. 126] zum Kreisbeamten geladen worden, wo man die Gesellschaft auch mit schönen Mädchen zu zieren bedacht ist, und so wurde sie mit den Hochbergs bekannt, die, wie das sehr häufig vorkömmt, sie baten, in die Familie einzutreten, um an der Hausverwaltung und Repräsentation theilzunehmen, welcher die eigentlichen Familienmitglieder allein nicht gewachsen sind, da die Aufgabe, so vielen Gästen aufzuwarten, eine größere Zahl von Hausgenossen erheischt. Man affiliirt so dem adeligen Hause allerhand ganz und gar unentbehrliche Hilfskräfte, die in freundschaftlicher Weise angeworben werden müssen, weil im Lande niemand für Lohn dient.” — Wir fragten, weshalb Mary dann am ersten Freitag nicht zu sehen gewesen, und erfuhren, daß sie damals die Hausverwaltung übernommen und in den Wirthschaftsräumen zu schaffen hatte, auch gar nicht aufgelegt gewesen sei, sich zu zeigen.
Mit diesem Gespräche ritten wir in den Schloßhof ein, wo galante Herren, es waren besonders viele Künstler für die Sommermonate hier, den Mädchen von den Pferden halfen. Man gab uns Gelegenheit, uns ein wenig zurückzuziehen, und dann ging es zu Tische.
Im großen Saale waren lange Tafeln aufgestellt, und wir waren an dreißig Personen beim Speisen. Das Gespräch war anregend und wir lernten wieder manche interessante Leute kennen.
Da erhob sich gegen Ende der Tafel Fürst Hochberg, um uns zu verkünden, daß zwei glückliche Paare [S. 127] unter uns seien. Professor Lueger habe der reizenden Freundin des Hauses, Mary Zwirner, und deren Bruder seiner eigenen Tochter Lori Hochberg die Liebe gestanden und beide seien erhört worden, und wenn auch die Ceremonie der Brautschau nicht vorausgegangen sei und solche Verbindungen — man möchte sagen: ohne Concurrenz — nicht ganz nach den Sitten des Landes seien, wisse man doch, daß sich den Herzen nicht gebieten lasse, und er lade die Anwesenden ein, das Glas auf das Wohl der künftigen Eheleute zu leeren. — Es war Champagner in den Gläsern und die Mädchen, die uns aufwarteten, fielen den beiden Bräuten um den Hals, wie auch Fürst und Fürstin Hochberg Mary herzlich küßten und beglückwünschten, als wäre sie ihre eigene Tochter. So erklärte sich, was uns am Morgen aufgefallen war, und wir begriffen, daß Zwirner heute seinen olympischen Gleichmuth verloren hatte. Denn Lori war ein herrliches Weib und offenbar dazu angethan, stürmische Liebe zu fordern und zu gewähren.
Zwirner, welcher sich mit Lori nach dem Essen im Garten erging und oft Arm in Arm mit ihr Wege einschlug, auf welchen wir ihnen offenbar nicht folgen sollten, wollte heute nicht aufbrechen, und die Fürstin mußte sich unser annehmen.
Diese Frau war nicht mehr jung, aber auch ihr fehlte es nicht an Spuren vergangener Schönheit. Sie war in einem Dorfe bei Salzburg geboren und es gereichte ihr zum Vergnügen, zu hören, daß wir [S. 128] dort einen Tag zugebracht hätten. Sie erinnerte sich nicht ohne Wehmuth der jungen Tage in jenem Paradiese und schilderte uns die Berge, in welchen sie viele Jahre gewandert war. Besonders rühmte sie die Aussicht von der Schmitterhöhe und, da sie hörte, daß wir die Rückreise über Zell am See und Wörgl nehmen wollten, um über die Schweiz zu reisen, empfahl sie uns, diesen Berg zu besteigen der gar nicht beschwerlich sei. Uebrigens sei die Hohe Salve vielleicht noch vorzuziehen. — Sie unterließ nicht, zu erwähnen, daß man auf allen diesen Bergen übernachten könne.
Mich langweilte das Gespräch mit der Fürstin, die uns nur unterhalten wollte, weil es die Höflichkeit gebot, und ich überließ ihr daher meinen geduldigen Freund Forest, indem ich vorschützte, daß ich einen Handschuh suchen wolle, den ich auf einer Bank im Parke müsse haben liegen lassen. Und so wandte ich meine Schritte nach einem stillen Plätzchen, wo man vom Schlosse aus nicht gesehen werden konnte, aber einen herrlichen Ausblick über das Thal genoß. Dort wollte ich mich ein wenig mit mir selbst beschäftigen und ließ mich auf einer Bank nieder, die neben dem Kieswege zur Ruhe einlud.
Da hörte ich hinter mir ein Seidenkleid rauschen, eine warme klangvolle Stimme ließ sich vernehmen und ich erkannte Loris mir wohlbekanntes Organ. Sollte ich bleiben oder fliehen? — Es war zu spät, das Knirschen im Kiese hätte mich verrathen [S. 129] und ich hoffte, die Liebesleute würden ihre Schritte bald weiterlenken.
Es kam anders: “Liebster, lassen wir uns auf dieser Moosbank nieder und wiederhole mir das Gelöbniß der Treue.” — “Gerne spreche ich davon, daß mich nichts mehr von dir reißen kann und wir kein anderes Glück kennen wollen, als ein gemeinsames. Aber es scheint mir, daß du nicht das rechte Wort gefunden, wenn du Wiederholung eines Gelöbnisses forderst. Was euch die Keuschheit und Jungfräulichkeit ist, ist dem Manne Wahrhaftigkeit und wir fordern unerschütterliches Vertrauen. Nicht ein Schatten von Zweifel an mir soll deine Seele beflecken, da wir uns versprochen haben.” — “Ich zweifle auch nicht an dir, ich will mich aber berauschen an deinen Verheißungen, daß du ganz und gar nur mein sein willst, daß du die Welt und die Gottheit, die Wahrhaftigkeit und das Schöne, die Kinder selbst, mit welchen uns Mutter Natur beschenken wird, nur in und mit mir, um unser beider willen lieben willst. Ich habe es immer hart gefunden, wenn ich die Worte Christi las: “Mann und Weib seien zwei in einem Fleische.” In welch grausamer Nacktheit stellt er uns das Band vor Augen, das uns an unseren Gatten knüpft. Aber doch nur um das Gebot wechselseitiger, alles umfassender Gattentreue zu begründen und beglückend ist das unermeßliche Opfer, das die Ehe von uns Jungfrauen fordert, wenn sich auch die Seelen der Gatten verbinden. Wir wollen auch zwei sein in [S. 130] einem Fühlen und in einem Denken. Nie könnte ich mich entschließen, die jungfräuliche Hoheit zum Opfer zu bringen, ausgenommen einem Manne, dem ich die ganze Welt bedeute, der mit mir nur ein einziges Ich bildet. Ganz fordere ich dich und nur dafür gebe ich mich Dir. So heiß auch das Blut in meinen Adern tobt, so hätte doch Sinnlichkeit niemals den Sieg davon getragen über das göttliche Gefühl jungfräulicher Unantastbarkeit. Aber als ich dich zum erstenmale erschaute, ward es mir klar, was die griechische Göttersage bedeutet, daß die Göttinnen zuweilen aus dem Olymp herabsteigen, um einen Sterblichen zu beglücken. Es ist nicht Hochmuth, Geliebter, wenn ich empfinde, als käme ich so zu Dir herab. Nur das Verlangen treibt mich, ein Glück zu gründen, dem nichts zu vergleichen ist, und um dieses Glück zu zeugen und es im Mitempfinden zu genießen und zu vermehren, streife ich ab, was mich über die Menschen erhöht hat. Da ich in deinem Glücke glücklich sein will, kann das Gut nicht groß genug sein, das ich dir mitbringe. Darum danke ich dir auch, daß deine Lippen mich nicht entweiht haben, und weder Auge, noch Mund mit kühner Anmaßung mich beleidigten. Die Stunde der Vereinigung soll dir und in dir mir einen Himmel öffnen.”
“Ich opfere dir meine Gottheit auf und mache dadurch dich zu meinem Gotte, mich zu deiner Magd, aber, um im menschheitlichen Sinne glücklich zu werden und ohne jeden äußeren Zwang, aus eigener Wahl.”—
Nach kurzem Schweigen sagte Freund Zwirner:
“So nehme ich dich auch als das kostbarste, das der Mensch auf seinem Lebenswege finden kann. Aber der Mann gehört doch auch dem Staate und der Welt an.”
“Das sollst auch du, lieber Mann, aber lasse mich an allem theilnehmen, was du erstrebst. Wir müssen nicht nur für unsere persönlichen Interessen gemeinsame Ziele, sondern auch für die Gesellschaft gemeinsame Ideale haben und zu solcher Einigkeit zu gelangen, ehrlich bestrebt sein. Lasse mein Bild dich umschweben, wo immer du bist, und trenne dich nicht von mir, was immer du unternimmst.”
“So wird es sein,” antwortete Zwirner, “auch ich trete nicht mit anderen Gesinnungen in die Ehe. Du weißt doch, Göttliche, wie wir uns erkennen gelernt haben. Ich habe schon oft deine Gedanken wieder darauf gelenkt. Wie ich in der Nacht nach unserer ersten Begegnung, als ich mit mir allein war, dich immer mir zur Seite, dein strahlendes Auge auf mich gerichtet sah. In diesen wachen Träumen enthülltest du dich mir, alle Reize deines süßen Leibes, die Schönheit deines Empfindens, die Reinheit deines Herzens, dein ganzes Selbst glaubte ich vor mir zu sehen und schon in jener Nacht vermählte ich mich dir. Ich hatte keine Ruhe mehr und gleich am folgenden Abende kam ich wieder und bekannte, daß mich dein Bild nicht mehr verlassen habe. Du auch hattest nur von mir geträumt und [S. 132] mich im Traume zu deinem Gatten gemacht und du wußtest, daß ich wieder kommen und um dich werben würde.”
“Da kam eine Woche der Prüfung. Je mehr wir verkehrten und unsere Gedanken austauschten, umso sicherer fühlten wir, daß wir uns nicht getäuscht. Du sagtest mir schon damals wie heute, wie groß du dir das Glück der Ehe vorstelltest und wie die Verbindung der Gatten alles, alles umfassen müsse. So ließest du mich die ganze Welt durch dein Auge sehen und ich ließ dich in mein Herz blicken. Ich fand, daß wir seien wie ein Augenpaar, immer zugleich daran, das Welträthsel zu lösen; niemals suchen die beiden Augen verschiedene Ziele. Und da jubeltest du, daß ich in diesem Bilde den wahren Sinn der Ehe entdeckt. Du verfolgtest den Gedanken weiter und zeigtest mir, wie die Augen, weil sie niemals an ein und dieselbe Stelle im Raume rücken können, der Seele zwei Botschaften bringen, aber doch nur, um die Dinge besser zu erforschen, als es ein Auge allein vermöchte, und wie die Seele die beiden Bilder zu einer Einheit verbinde. Und so sollten wir zu einer Anschauung der Welt gelangen, die dem Einsamen verschlossen bleibt. Auch wir sollten unsere Anschauungen zu einer Einheit verschmelzen lernen. Und sinnig bemerktest du, wie die beiden Augenbilder stark von einander abweichen, wenn wir auf das nächste schauen, und wie sie sich decken, wenn wir uns in das Anschauen der Gestirne versenken; wir sollten [S. 133] daher das unendlich Große, das Ewige und nur dem Geiste nahe nicht aus den Augen lassen.”
“Und so lernten wir an unserem Weltbilde uns selbst wechselseitig erkennen.”
“Nachdem das vorausgegangen, sollte da noch eine Selbsttäuschung möglich sein? Wie könnte uns das Glück irgendwo fehlen, wo wir zusammen weilen?”
“Ich träume für und für von einem unverwelklichen Glücke, das ich in deinen Armen und in einer alles umfassenden Lebensgemeinschaft mit dir finden werde.”
Und da hatten sie sich erhoben und ihre Stimmen erstarben in der Entfernung. — Nun verließ ich meinen Ruheplatz und als ich später im Schlosse den jungen Leuten begegnete, schämte ich mich, daß ich mich zum Mitwisser solcher Seelenergüsse gemacht. Lori reichte mir unbefangen die Hand und wir schieden.
Zwirner war auf dem Heimwege in Gedanken verloren.
Ich erinnerte mich, als wir nach Tulln kamen, daß ich mich mit Selma sollte “verbinden” lassen, und ging nach dem Telephone im Gemeindepalaste, der beinahe verödet war. Ich ließ mich mit dem Kahlenberge in Verbindung setzen und fragte nach Selma, die mich bald darauf anrief und mich begrüßte. — “Schöne Selma, ich freue mich, mit dir zu plaudern.”
“Du kommst mir gerade recht, sage mir doch, [S. 134] was haben denn Lori und Zwirner so gedrängt, nach Königstetten zu kommen?” — “Das ist ein Geheimniß.”
“Warum nicht gar, in Oesterreich hat man keine Geheimnisse.”
“O doch, ich selbst habe ein gar liebes Geheimniß, das ich mit nach Hause nehme.”
“Du scheinst mir ein lockerer Zeisig zu sein.”
“O gar nicht, ich bin im Gegentheile recht beständig.”
“Ich traue dir zu, daß du in nichts beständig bist, als in der Unbeständigkeit.”
“Falscher Verdacht, aber immerhin will ich mich von dir unterweisen lassen, wenn ich noch der Vervollkommnung bedarf.”
“Danke für das Vertrauen, ich habe einen Schüler, dem ich mich ganz widme und der erstaunliche Fortschritte gemacht hat, und wenn ich seine Erziehung vollendet habe, will ich mich zur Ruhe setzen und keine Schüler mehr annehmen.”
“Da bin ich wohl zu spät gekommen?”
Nun höre ich ganz deutlich einen Schmatz durch das Telephon. Den glaube ich erwidern zu sollen; darauf mehrstimmiges Gelächter, und da ich etwas verdrießlich ‘Selma’ rufe, antwortet eine Baßstimme: “Selma ist abgerufen worden, was beliebt?” — “O es ist nichts von Belang; wer spricht?” — “Martin, der gelehrige Schüler.” — “So, so; gute Nacht euch beiden,” — “Wir danken schön.” — “Schluß!” — “Grrrrrg.”—
Ich hätte mir das ersparen können, denn als ich mich recht besann, erinnerte ich mich nicht nur an herrliche über den Rücken fließende dunkle Haare, sondern auch an einen Goldreif an Selmas Ringfinger und ich erfuhr später, daß Selma mit Martin die Flitterwochen auf dem Kahlenberge verbrachte und daß sie entschieden hatte, sie wollten sich nicht ganz dem verliebten Getändel hingeben, sondern in der Wirthschaft Aushilfe leisten. Meine Wege würden mich mit dem Paare wohl nicht mehr zusammenführen und ich dachte, daß das kleine Mißverständniß bald in Vergessenheit gerathen werde.
Von nun an war es klar, daß Zwirner, dem zu Liebe wir über den Ocean gekommen waren, für uns verloren sei. Wir widmeten den folgenden Tag, da auch Dr. Kolb nicht daheim war, obgleich es uns an gastfreundschaftlicher Begleitung nicht gemangelt hätte, einer Besichtigung von Tulln, beziehungsweise der wenigen Gebäude, die diesen Ort ausmachten. Den Mittelpunkt bildete, wie überall, der Gemeindepalast, dessen Erdgeschoß als Speisesaal diente. In den Pavillons an den vier Ecken führten Treppen empor und das obere Stockwerk enthielt in der Mitte einen großen Lesesaal, der von etwa 16 kleineren Sälen umgeben war. Die Mauern, welche den Lesesaal bildeten, waren im Erdgeschosse von mächtigen Säulen gestützt. Um den Gemeindepalast herum standen vier weitläufige, drei Stock hohe Gebäude, deren jedes ein Kreuz bildete, in dessen Mitte die Stiege angebracht war. Diese Gebäude standen so, daß je zwei ihrer Flügel parallel mit den verlängerten Baulinien der Mauern des Gemeindepalastes lagen und die zwei anderen Flügel [S. 137] sich ins Freie hinaus erstreckten. Aus einem der Stockwerke konnte man durch einen verschließbaren Gang nach dem Gemeindepalaste gelangen. Die geselligen Bedürfnisse der Gemeinde erheischten, daß man geschützt vor Regen und Wind von den Wohnhäusern nach dem Gemeindepalaste verkehren konnte. Die vier Wohngebäude enthielten im Ganzen 1024 Wohneinheiten, die zu größeren oder kleineren Wohnungen, gemeinschaftlichen Schlafsälen und besonderen Stuben abgetheilt waren, so daß man den mannigfaltigsten Bedürfnissen gerecht werden konnte. Auch eine besondere Krankenabtheilung bestand. Die Funktionäre, Beamten, Aerzte und Lehrer waren insofern etwas bevorzugt, als sie geräumigere Wohnungen mit besserem Mobilar und besondere Empfangsräume für ihre Freunde hatten.
Die Räume zwischen den Wohnhäusern und dem Palaste waren mit Rasen, Blumen und Sträuchern geziert und die Abschnitte, welche sich außerhalb bildeten, waren theils zu Schwimmbecken, theils zu Spielplätzen und Speisegärten verwendet, theils hatte man geschlossene Gärten mit Glashäusern angelegt. In den zwei Schwimmbecken konnte man bei warmem Wetter immer Badende sehen.
Tulln als Bezirksort hatte noch einen zweiten Palast, ähnlich dem Gemeindepalaste, in welchem Bezirksversammlungen abgehalten wurden, eine Musik-, Zeichnen- und Modellirschule untergebracht war, größere Wohnungen für den Bezirksbeamten, Bezirksarzt und Bezirkspädagogen sich befanden und [S. 138] große Gesangs- und Musikfeste, auch theatralische Vorstellungen geringerer Art gegeben werden konnten. In diesem Palaste fanden auch die Berathungen der Beamten, Aerzte und Pädagogen des Bezirkes statt. Es hatte Tulln noch zwei große Wohnhäuser für Pensionisten und Fremde, welche Häuser im Nothfalle zu Spitalszwecken bei Epidemieen eingerichtet werden konnten.
Unter dem großen Speisesaale des Gemeindepalastes war ein Geschoß, welches für Küche und Wirthschaftsräume, Keller, Wäscherei und gedeckte Bäder, dann zum Turnen bestimmt war. In dieser von der Straße abseits liegenden Wohnansiedlung wurde nicht gearbeitet, ausgenommen für die Hauswirthschaft. Die großen Stallungen lagen ziemlich entfernt und waren nicht zu sehen. Dort waren auch die Scheuern, Fabriksräume u. s. w. Dorthin wandten wir unsere Schritte.
Der Viehstand einer solchen Gemeinde ist natürlich sehr groß, da an 400 Rinder, 70 Pferde und viele andere Hausthiere im Durchschnitte auf eine Gemeinde entfallen.
In Tulln gab es keine andere Industrie, als eine Schuhmacherwerkstätte, welche wir besichtigten. Die Fabrik arbeitete nur für den Bezirk Tulln und hatte also an 40,000 Fußbekleidungen im Jahre zu liefern. Dazu sind, obschon alle erdenklichen Maschinen im Betriebe sind, zwischen 60 und 80 Arbeiter erforderlich, worunter viele Frauen und Mädchen. Viele Arbeitsplätze standen leer und man [S. 139] sagte uns, daß während der Ernte die Industriearbeiter auf dem Felde aushülfen, während die landwirthschaftlichen Arbeiter im Winter sich an den Industriearbeiten betheiligten. Es käme aber auch vor, daß, wenn es gelte, von Sturm oder Regen bedrohte Früchte zu retten, alles, auch Kinder, Lehrer und Greise, aufs Feld liefen und nur einige Wärter bei den kleinsten Kindern und den Kranken zurückblieben.
Vom Staate ist in jeder Werkstätte ein Fabriksleiter bestellt, welcher dafür zu sorgen hat, daß soviel als möglich an Arbeitskräften und Material gespart wird. Seine statistischen Arbeiten, deren Ergebnisse er mit jenen anderer Fabriken vergleichen kann, geben ihm Anhaltspunkte für seine Aufgabe. Von den Arbeitern wählt die Bevölkerung die geschicktesten aus, deren Aufgabe es ist, die Beschuhung anzupassen und daher genaue Maße zu nehmen. Man hat für gut befunden, auch über diese Maße eine Art von Statistik anzulegen, woraus sich manches für die Wissenschaft und die Verwaltung Wissenswerthe ergibt.
Ebenso wird es mit der Schneiderei für Männer und Frauen gehalten, die mehr Arbeiter erfordert. Die jährlich erzeugten Stoffe werden über Bestellung der Gemeinden angefertigt und zwar nach Mustern, welche in allen Bezirken eingesehen werden können. Die Verwaltung sorgt dafür, daß die Anforderungen nicht das Verhältniß überschreiten. Die Fabriken haben aber nur die Aufträge der Regierung auszuführen. Die Vertheilung ist in allen Stücken, also [S. 140] auch bei den Stoffen, principiell eine gleiche, wenn auch der Dienst oder Beamtenrang und die Körpergröße einige Unterschiede bedingen.
Auch hier ist das Verhältniß dasselbe. Der Fabriksleiter wird vom Staate bestellt und ist für die Oekonomie verantwortlich; die Bevölkerung aber wählt die Arbeiter aus, welche die Kleider dem Wunsche und dem Wuchse der Einzelnen anpassen. Es kann die Hauptvertheilung durch Vereinbarungen der Gemeindeglieder verändert werden, wie ja auch sonst eine Art Tausch stattfinden kann. Die Centralverwaltung theilt die Stoffe nach statistischen Daten auf die Provinzen, die Provinzverwaltung auf die Kreise, die Kreisverwaltung auf die Bezirke auf und unterliegen die weiteren Vertheilungen zunächst genauen Vorschriften. Ueberschreitet eine Gemeinde ihren Antheil an Stoffen und Arbeitskräften nicht, so kann sie auftheilen, wie sie will. Das ganze Vertheilungsgeschäft erfolgte anfänglich nach sehr rigorosen Bestimmungen, man ist aber später laxer geworden, da man fand, daß das Verrechnungswesen selbst große Arbeit verursache und der Nutzen ein geringer sei. Da sich eine Art Gewohnheitsrecht gebildet hat, wonach die Ziffern im großen sich wenig unterscheiden, so ist in diesem Punkte für die Regierung nicht allzuviel zu thun, aber der Verbrauch wird doch regelmäßig in den statistischen Tabellen verlautbart, damit allem Unterschleife vorgebeugt werde.
Aehnlich verhält es sich auch mit anderen Vertheilungen von Material für Privatthätigkeit. So [S. 141] von Wolle und Zwirn, Leder, Papier, Schreib- und Zeichenrequisiten und dergleichen. Alle Abfälle und abgenützten Materialien fallen in der Regel wieder an den Staat. Ausnahmsweise kann jemandem gestattet werden, einen Lieblingsrock über die Dauer zu behalten, wenn er noch Dienst thun kann, aber die Regel ist, daß der Staat alles wieder zurückfordert und verwendet.
Die Gemeinden bedürfen auch allerhand Werkzeuge und Instrumente für Liebhabereien, Spiel und Musik. Es ist gleichgiltig, was die Gemeinden haben wollen, wenn sie nur ihre Ansprüche verhältnißmäßig stellen und die Gesammtforderungen den Arbeitskräften und Materialvorräthen nicht widersprechen.
Da wir die Pracht bei öffentlichen Festen etwas verwunderlich fanden und fragten, wie denn der Aufwand bestritten werden könne, sagte uns der Leiter der Schuhmacherwerkstätte, daß seit 80 Jahren keine Unze Gold oder Silber gegraben und kein Edelstein angeschafft worden sei. Wenn es den Amerikanern gefiele, das alte Silberbergwerk Pribram, in welches man jetzt die jungen Leute führe, um ihnen das harte Loos der Arbeiter der älteren Periode zu schildern, — auf Salz, Kohle, Eisen, Blei, Kupfer und dergl. wird übrigens heute auch noch gebaut, — wieder in Betrieb zu setzen, würde die Regierung es erlauben und keinen Pacht fordern. Ebenso könne man die Opalgruben in Ungarn ausbeuten, es lege niemand Werth darauf. Die ungeheueren [S. 142] Vorräthe an Gold und Silber in Barren und Münzen aus der alten Zeit reichten für alle Ewigkeit für technische Zwecke und für die Schatzkammern aus. Die alten Juwelen und Schmuckgegenstände seien in Schatzkammern aufgetheilt und würden nur zuweilen in kunstreichere Fassungen gebracht. Die Civilliste habe immer Künstler in diesem Fache zur Verfügung. Eine Vermehrung finde nicht statt, da für Hoffeste, das Theater und die Vermählungsfeierlichkeiten ganz unermeßliche Vorräthe aus alter Zeit aufgestapelt seien. So sei es auch noch mit vielerlei Stoffen. Seide, Sammt und Gobelins würden übrigens noch angefertigt; da sie aber nicht Einzelnen, sondern dem Volke angehören, sei für zahllose Festlichkeiten auch in kleineren Orten gesorgt.
Ich sagte, daß wir Zwirner jetzt wiederholt in beinahe reicher Tracht gesehen hätten, worauf unser neuer Freund erwiderte, der gehe jetzt auf Freiersfüßen und suche seine Festkleider hervor, die sonst oft jahrelang nicht getragen würden und auf Decennien berechnet seien. Die Arbeitskleider, wie wir sehen könnten, seien sehr einfach und billig und die gewöhnlichen Gesellschaftskleider, die man zu schonen trachte, auch. Man halte mehr auf Reinlichkeit und Körperschönheit, in der Tracht auf Geschmack und Mannigfaltigkeit, als auf Kostbarkeit. Die alten, lächerlich gemusterten Stoffe, seien ganz außer Gebrauch gekommen. Junge und schlanke Mädchen und Frauen wüßten sich auch sehr geschmackvoll in losen [S. 143] Kleidern zu schmücken, die nicht an den Leib gepaßt und nur geschürzt und drapirt würden, was verstatte, allerhand Tausch und Wechsel vorzunehmen, und unendlich viel Arbeit erspare. Auch nützten sich solche Kleider weniger ab und die Schönen gefielen den jungen Männern besser in dieser reizenden Tracht, als etwa im barbarischen Mieder und Reifrocke, wovon zur heilsamen Abschreckung überall die lächerlichsten Bilder zu sehen seien, wie man überhaupt nicht müde werde, die Cultur der früheren Periode zu schildern. Was sie Schönes hatte, haben wir hundertfältig auch, und was barbarisch war, ist verschwunden. Wir glauben jetzt zu wissen, was Christus meinte, als er sagte: ‘Wer vom Himmelreiche wohlunterrichtet ist, ist einem Hausvater zu vergleichen, der Altes und Neues aus seinem Schatze hervorbringt.’[C]
Wir grüßten und kamen nach dem Rudersporthause, wo wir seit dem Ruderfeste nicht mehr gewesen waren. Ein alter Herr, der dort allerlei Schreibereien besorgte, und ein eifriger Ruderer war, zeigte uns das Museum, das Archiv und den Trophäensaal und gab uns Aufschluß über die Einrichtung der Vereine und deren Unterstützung durch den Staat. Er sagte, daß man für die unerläßliche Deckung der leiblichen Bedürfnisse, aber auch — innerhalb gewisser Grenzen — der idealen Bedürfnisse durch geregelte Arbeit vorgesehen habe, daher [S. 144] jedermann täglich eine gewisse Anzahl von Stunden durch so und so viele Jahre, das sei nach dem Berufe verschieden, arbeiten müsse, was das Volk von ihm fordere.
Allein man habe gefunden, daß der Mensch eigentlich arbeitsbedürftig sei und, kaum von der Arbeit gekommen, wieder etwas schaffen wolle. Dadurch sei nun der Gedanke angeregt worden, nicht nur Einzelnen, wie das auch früher geschehen, gewisse Materialien zur freien Arbeit zu überlassen, sondern auch Vereine ins Leben zu rufen und denselben große Mittel anzuweisen, um eine gewisse Thätigkeit zu entwickeln, die ja offenbar nützlich sei.
So habe man den Rudervereinen Häuser gebaut, die Anfertigung von Booten nach ihren Angaben ermöglicht, den Mitgliedern zweckmäßige Kleider zur Verfügung gestellt, ihnen den Druck einer Zeitung auf Staatskosten gestattet, Preise bewilligt und der Centralleitung eine Million Eisenbahnfahrtmeilen zur Vertheilung unter die Mitglieder angewiesen, damit sie zu Berathungen und Uebungen, sowie zu den Wettbewerbungen Reisen unternehmen könnten, die dem Einzelnen nicht in seine gewöhnlichen Reisen eingerechnet werden. Es sei durch diesen Sport das Menschenmaterial verbessert worden; die Leute würden breitschulteriger und der Brustkorb dehne sich aus, was immer mehr im Volkstypus sich auspräge. Dr. Kolb predige immer, diesen Sport zu fördern, weil er offenbar der menschlichen Gestalt zum Vortheile gereiche.
Eben kam Dr. Kolb hinzu und bestätigte das. Er erzählte, daß die Gemeinde Tulln ihn gebeten habe, — von seiner Kunst wolle er später einmal sprechen, er sei Bildhauer, — eine Statue des Zwirner zu entwerfen, durch deren Aufstellung man ihn und mehr noch seine Frau erfreuen wolle, wenn sie nach den Flitterwochen einrückten. Er habe einen ganz hübschen Entwurf gemacht und hoffe, daß man ihm diesmal seine Arbeit in Stein gießen werde, was ihm für große Werke besser gefalle, als Bronce, mit der man auch ein wenig sparen müsse. Er wolle an der Zwirnerstatue den linken Arm auf ein schlankes und überragendes Ruder gestützt und den rechten Arm, wie weithin auf die sich sammelnden Boote weisend, ausgestreckt darstellen. Die Rudertracht verstatte ihm, den prächtigen Nacken und die Muskeln der Arme zu bilden, und er habe den Gedanken, die gegenwärtige Braut des Zwirner, die bald seine Frau sein werde, in den Brautgewändern, ohne Zweifel griechischen, anliegenden Kleidern, nackten mit Sandalen bekleideten Füßen, nackten Schultern und Armen, die Rose im Haare, darzustellen. Dann könne man die Statuen im Parke von Tulln aufstellen und kommenden Geschlechtern eine Erinnerung an ein Paar prächtiger Menschen sichern.
Wir wurden allesammt zu Tische gerufen, wo heute viel von Zwirner die Rede war, der wieder in Königstetten und seit der Verlobung beurlaubt war. Nach Tisch aber ertönte von den Gongs ein für diese Fälle bestimmtes Zeichen, worauf alles [S. 146] hinauseilte und sich auf das gegebene Signal in die Häuser, Wirthschaftsräume, Stallungen und Werkstätten vertheilte. Es war eben ein Wagen eingefahren und Fürst Hochberg, vom Gemeindebeamten empfangen, stieg aus, um eine Musterung vorzunehmen, wozu er von der kaiserlichen Kanzlei heute den Auftrag erhalten hatte. Er ließ sich die Inventarsverzeichnisse vorlegen und mittlerweile mußte alles an seinen Platz gebracht werden. Es wurden die sämmtlichen Inventarstücke und Vorräthe, Bücher, Werkzeuge und der Viehstand durchgemustert, und da mehrere Stücke abgängig waren, die Aufklärung ertheilt, daß dies und jenes an Nachbargemeinden verliehen, zwei Thiere in eine Thierheilanstalt abgegeben worden seien u. s. w. Mittlerweile war der Kreisbeamte von St. Pölten herübergekommen und einige Techniker aus verschiedenen Orten erschienen, da es sich darum handelte, nicht nur die eiserne Eisenbahnbrücke einer Generalprobe und Prüfung zu unterziehen, sondern auch aus den Acten zu ermitteln, ob die vom Gesetze vorgeschriebenen regelmäßigen Prüfungen genau waren vorgenommen worden. Alles befriedigte den Fürsten und da er den Wagen wieder besteigen wollte, sagte der Beamte, die Gemeinde wolle, da er eben hier sei, die Gelegenheit benutzen, der Familie Hochberg und dem jungen Brautpaare ein Fest zu geben, und man bitte den Fürsten, da zu bleiben; es seien Einladungen an die Fürstin und die jungen Leute abgegangen, die man endlich in Sieghartskirchen ausfindig gemacht habe.
Da kamen schon die Fürstin im Wagen und bald darauf Zwirner mit Lori und Mary mit Professor Lueger zu Pferde, und da es schon spät war, bereitete man sich zum Abendmahle vor. Der Beamte sagte aber, der Fürst und die Fürstin würden diesmal wohl auch ein Stück Nacht opfern müssen. Das wolle man sich nicht gereuen lassen, sagte der Fürst lachend.
Die Fürstin hatte, bevor sie von Königstetten wegfuhr, für Stellvertretung gesorgt. Denn es muß immer, wo officielle Geselligkeit mehrere Menschen vereinigt, jemand repräsentieren. Diesmal hatte die Fürstin eine in Königstetten zu Gaste anwesende Tragödin gebeten, die Stelle der Hausfrau zu übernehmen, da sie sich dazu vortrefflich eignete, denn sie war gewaltig würdevoll und gab auf der Bühne immer die Königinnen.
Beim Abendmahle fehlte niemand als die Kranken und die Säuglinge, zu deren Wartung einige ältere Mädchen waren strafweise bestimmt worden. Sie wären natürlich gar zu gerne mit dabei gewesen, da sie sich aber etwas in der Schule hatten zu Schulden kommen lassen, was noch nicht gebüßt war, war diese Gelegenheit erwünscht.
Natürlich darf man sich kein üppiges Mahl vorstellen, denn die Oesterreicher leben mäßig aus ästhetischem Gefühle, aus Gesundheitsrücksichten und weil jedermann satt werden muß. Trotzdem kam zum Thee nicht nur Aufschnitt, wie sonst oft, mindestens an Sonntagen, sondern auch Backwerk, Früchte [S. 148] und Eis, und am Schlusse, da es galt, den Brautleuten ein Hoch auszubringen, wurden 5 Hektoliter vom besten Klosterneuburger angefahren, mit dem die Gemeinde sehr sparsam umgehen muß, weil die besseren Weine nicht eben im Ueberflusse wachsen.
Nach kurzer Pause, während welcher sich der Saal geleert hatte, bat man die Gäste zu den Spielen im Riesensaale des Bezirkspalastes. Dieser Saal war mittels ansteigender Gerüste in ein Amphitheater verwandelt worden und man belehrte uns, daß man der vielen Regatten und anderer Feste wegen beim Rudersporthause zerlegbare Tribünen, die dort in einem Hofe aufgeschichtet seien, für Tausende von Zuschauern habe, und man habe sie zu diesem Zwecke benützt, wie auch viele Hunderte von Operngläsern vertheilt werden konnten, die zur letzten Regatta von den Wiener Bühnen waren geschickt und noch nicht abgeholt worden.
Alles nahm Platz, unten die Kinder, oben die Erwachsenen nach der Größe. Die Kleinen waren übrigens größtenteils von anderen Gemeinden, denn während der Ferien ziehen die Kinder mit ihren Wärterinnen viel herum, um schon in jungen Jahren die Welt kennen zu lernen.
Im freien Raume in der Mitte war ein grasgrüner Teppich ausgebreitet und mit kleinen Gewächsen darauf gewissermaßen eine waldige Gegend markirt, die eine Matte umsäumt. Nun schoß von der Decke ein greller Strahl elektrischen Lichtes herab, der nur diesen Raum, der als Bühne diente, scharf [S. 149] beleuchtete, während der ganze übrige Theil des Saales ganz finster war, und so konnten die verschiedenen Acteure aus der Finsterniß auftauchen und wieder darin verschwinden und die Illusion wurde nicht gestört. Es konnten aber viele Hunderte von Menschen das Schauspiel genießen.
Erst kamen gutgeschulte kleine Schauspieler aus Klosterneuburg, die, als Zwerge verkleidet, eine allerliebste kleine Feerie aufführten. Dann eine reizende Tänzerin, als Bajadere gekleidet. Sie war Mitglied der Ballettruppe, aber beurlaubt und in Tulln zu Hause. —
Dann kamen braune Gesellen, bei deren Anblick wir Lori rufen hörten: “Die Zigeuner!” — Man hatte längst keine Zigeuner mehr, da jedermann seßhaft werden und sich in die neue Ordnung der Dinge einleben mußte, aber die Spielweise der Zigeuner hatte sich in Ungarn erhalten, wie auch ihr Aussehen und ihre Kleidung aus Bildern noch erkennbar waren, und da hatten sich Berufsmusiker, die den großen Orchestern angehörten und auch Unterricht ertheilten, zusammengethan und einige Zigeunerkapellen gebildet, die, um sich und anderen ein Vergnügen zu machen, zuweilen, aber aus freien Stücken und selbstverständlich ohne Entgeld, abends, bald hier, bald dort mit Geige und Hackbrett aufspielten. Lori war eine große Liebhaberin von dieser Art Musik, daher man sie bei deren Erscheinen immer: “Die Zigeuner” rufen hörte, und darum kamen sie gerne ihr zu Liebe.
Als diese einige Musikstücke zum besten gegeben hatten und wieder abzogen, kam nach kurzer Pause aus dem Dunkel eine komische Figur ins Licht gewirbelt und nachdem sie einigemal im Kreise herum blitzschnell Räder geschlagen, daß man nicht ausnehmen konnte, was es sei, stand der sonderbare Kauz plötzlich aufrecht da, mit aufgerecktem Halse und gravitätischer Grandezza. Man hatte dergleichen nie gesehen und wußte nicht, was man davon halten solle. Er hatte die Haare nach drei Seiten wie zu Flammen aufgebürstet, das Gesicht weiß gefärbt, dagegen Wangen und Lippen mit abscheulicher rother Farbe bekleckst und hochaufgezogene Augenbrauen gemalt. Er stak in einer weißen Kleidung mit faustgroßen schwarzen Knöpfen und begann wie ein Hahn herumzustolziren und dummes Zeug zu reden, wobei er sich ab und zu ein paarmal in der Luft überschlug und dann wieder steif und aufrecht stand. Da kam aus dem Dunkel eine Fidel sammt Bogen in den Lichtkegel geflogen, die er geschickt auffing und, scheinbar kindisch darüber erfreut, zu spielen versuchte. Er that, als ob er es nicht verstünde, vervollkommnete sich aber zusehends und kam endlich in ein verrücktes Tempo, wobei er vor Freude Luftsprünge zu machen anfing und endlich, sich überschlagend und zugleich fortspielend, immer toller wurde und plötzlich mit einem Satze im Dunkel verschwand. Alles lachte und fragte sich, was das wäre. Ich konnte bestätigen, daß dergleichen zu meiner ersten Zeit von herabgekommenen Leuten aufgeführt wurde, [S. 151] ich wisse aber nicht, wie die Tollheit daher gekommen. Im Verlassen des Hauses erfuhr ich denn, das sei der jüngere Bruder Zwirners, ein bildsauberer und äußerst gelenker Bursche. Selbstverständlich lebten die Eltern Zwirners nicht mehr, denn sonst hätte ich das verehrte Publicum mit ihnen bekannt machen müssen. Der Junge nun hätte bei seinem Bruder unter den alten Sachen Bilder und Beschreibungen gesehen, aus welchen er diese Eulenspiegelei entnommen und sich insgeheim eingeübt habe, um auch einmal etwas zum allgemeinen Vergnügen beizutragen. Er durfte dafür, nachdem er sein Gesicht blank gescheuert hatte, Lori auf den Mund küssen.
Nachdem man sich verabschiedet hatte, fuhren die Hochbergs mit dem Professor und Mary heim.
Spät am Abend noch benützte der Beamte von Tulln eine zufällige Begegnung, um mir zu sagen, die Vorsteherin der Frauencurie habe ihn beauftragt, die Freiheit zur Sprache zu bringen, die ich mir gegen Selma erlaubt. Diese selbst habe für nöthig erachtet, das Vorkommniß ihren Schwestern mitzutheilen, und man glaube, daß ich nicht ganz ohne Vorwurf sei. Es sei schon nicht ganz zu billigen, daß ich mich irgend einer Gunst berühmte, die ich erfahren; es sei das etwas rücksichtslos gegen die Frauen im allgemeinen, und man meine, daß Selma unrecht gehandelt habe, darauf mit einem Scherze zu antworten, sie würde am besten gethan haben, es zu überhören. Aber die anmaßende Galanterie gegen eine verheirathete Frau, wozu ich mich im Verlaufe [S. 152] der Conversation verleiten ließ, sei denn doch nicht wohl zu entschuldigen. Ich sagte darauf, daß Selma verheirathet sei, hätte ich nicht gewußt. Darauf bemerkte der Beamte, die Instruction belehre mich doch darüber, daß verheirathete Frauen, welche den goldenen Reif am Finger tragen, auf besondere Zurückhaltung Anspruch hätten. Ich schützte vor, daß ich darauf nicht geachtet habe, aber darauf wurde mir geantwortet, es wäre doch das Klügste, im Zweifel eher größere Zurückhaltung zu beobachten, als sich Freiheiten anzumaßen, die übel aufgenommen werden könnten. Es sei übrigens das Ganze ohne Folgen geblieben, denn der junge Ehemann habe keinen Anstoß genommen und halte alles für recht, was seine vergötterte Selma thue, und es sei nur zu wünschen, daß ich in Hinkunft die Empfindlichkeit der Frauen mehr schonen möge.
Gleich jenem Kronprinzen in der Fabel schwur ich, in Hinkunft vorsichtiger zu sein und ließ Selma und die Frauen im allgemeinen bitten, mir Vergebung zu gewähren.
Heute, am Tage vor der Hochzeit, wollten wir ruhen und lagen viel im Walde und auf schattigen Stellen der Wiesen, stürzten uns auch einigemale in die Donau an Stellen, wo man baden durfte, ruderten ein Boot und verlebten einige Stunden der Beschaulichkeit. Da plauderte ich einmal wieder vertraulich mit Mr. Forest. Er erkundigte sich nun, wie es im Jahre 1887 gewesen sei, im Vergleiche mit heute. Ich hatte damals Reisen in Europa gemacht und kannte die Zustände des 19. Jahrhunderts auch in diesem Theile der Erdkugel.
Ich gab meine Meinung folgendermaßen kund: Damals würde die Lori eine hochnasige Comtesse, geheimen Sünden ergeben und sehr fromm gewesen sein und schließlich, wenn sie etwa arm war, einen Cavalier um seines Reichthums willen geheirathet und sich für das, was ihm abging, bei einem Stallknechte schadlos gehalten haben. Die Hochbergs würden ebenso vor dem Kaiser gekrochen sein, wie die Bauern verachtet haben, und wenn ein Prinz an Lori Gefallen gefunden hätte, würde sie sich vor [S. 154] ihrer Verheirathung ihm pflichtschuldigst, aber ohne Liebe und wie eine Dirne hingegeben und damit den Wunsch ihres Herrn Vaters erfüllt haben, der sich das zur Ehre anrechnete, was er wieder in fürstlicher Herablassung seinem Schloßverwalter als Gunst erwies.
Zwirner wäre ein roher Holzhauer, der zwar rechtschaffen wäre, aber vielleicht doch in's Criminal käme, wenn es ihn juckte, einmal ein Stück Wild im Hochberg'schen Parke zu schießen.
Mary wäre vielleicht eine ehrsame Bauerndirne ohne Bildung und Geschmack, viel wahrscheinlicher aber, da sie ungewöhnlich schön und Wien nicht weit ist, ein lichtscheues Geschöpf, das sich bei Tage nicht sehen lassen kann, krank, dem Trunke ergeben, mit heiserer Stimme und verachtet, obgleich nicht ein Tüpfelchen schlechter, als alles um sie herum. Doctor Kolb wäre ein Quacksalber, der den reichen Leuten für theueres Geld zu Diensten steht, aber den Armen an die Klinik verweist; er würde sich am besten mit geheimen Krankheiten befassen, die er eher schonungsvoll pflegen, als heilen würde, und nicht ein Recept würde er schreiben, ohne sich am nächsten Tage ein kleines Douceur beim Apotheker zu holen, der dafür den dreifachen Preis nehmen würde. Wenn eine Freundin heirathete, würde er nicht eine Photographie — ich hatte zufällig etwas von seiner Absicht wegen eines Hochzeitsgeschenkes für Lori erfahren —, sondern, da nur Werth hatte, was viel Geld kostete, seinen Einkünften gemäß eine silberne [S. 155] Theekanne oder ein Porzellanservice schicken und die Empfängerin würde ihm sehr freundlich danken, sich aber im Stillen über seinen schlechten Geschmack und die Knauserei ärgern.
Dem kleinen Zwirner würde es am besten von allen gehen, vorausgesetzt, daß er sich ganz dem Gewerbe widmen und sein Lebtag nur Purzelbäume schlagen wollte.
Denke man an die Photographien, die Dr. Kolb von seinen weiblichen Statuen mache, so hatte das Europa von damals sein Gegenstück in schmachvollen Photographien, die allen feineren Sinnes baar, das Roheste auf das Roheste darstellen, und würden Hunderte davon leben, diese Photographien geheim herumzuzeigen und zu verkaufen, am liebsten an junge Leute, denen es recht zum Schaden gereicht und die ihren Eltern das Geld aus der Lade stehlen, um recht hohe Preise für solche schöne Sachen zu bezahlen.
Wollten sich die Dorfbewohner einen guten Tag machen, so würden sie sich betrinken und dann wechselseitig halb todt schlagen. Aber — nicht wahr “Mr. Forest? — damals war es doch schöner!”
“Das will ich nicht behaupten, aber auch damals hätte man ja das alles bleiben lassen können!”
Ich erwiderte darauf, daß ich wieder an der Richtigkeit seiner, des Mr. Forest, Anschauungen zu zweifeln angefangen hätte und, wenn ich noch hundert Jahre lebte, hoffte, die Wahrheit zu ergründen.
Wir gingen dann zu Dr. Kolb ins Atelier. [S. 156] Er war Bildhauer aus Liebhaberei und hatte im Bezirkspalaste neben der Modellirschule einen großen Saal für seine Zwecke angewiesen erhalten, da man seine Kunst für nützlich hielt und ihn auf alle Weise unterstützen wollte. Es stand neben ihm ein Modell — nun ein Modell — aber ohne mütterliche Begleitung, denn es war ein Riesenkerl, der, selbst ein Ruderer, Schultern und Arme hatte, die zur Zwirnerstatue vortrefflich paßten. Den Kopf Zwirners hatte Dr. Kolb unzähligemale nach der Natur modellirt, daher er eine Portraitstatue machen konnte, obgleich Zwirner nicht erfahren sollte, was im Werke sei. Während der Arbeit, die wesentlich nur mehr im Vollenden des Nackens, der Schultern mit den Schlüsselbeinen, der Arme und Hände bestand, plauderte Dr. Kolb mit uns und da wir unsere Verwunderung über die gestrige Improvisation der Abendunterhaltung aussprachen, sagte er, wo viele Hände zusammenwirken, vollbringe der Mensch Erstaunliches. Er bat uns, während er arbeitete, unter den zahllosen Statuen und Büsten auf den niederen Schemeln Platz zu nehmen, auf welche er seine lieben Modelle zu stellen pflegte, und erbot sich, uns eine Geschichte zu erzählen. Wir sahen eine Statue, die, ganz mit Tüchern verhüllt, im Hintergrunde stand.
“In Gutenstein,” fing er an, “lebt heute noch ein Ingenieur, der in jungen Jahren die unglaublichsten Dinge vorschlug und auch ausführte, und dem man sich seiner Findigkeit wegen gerne zu [S. 157] Diensten stellte, wenn er ein Projekt ausgesonnen hatte. Da war er eines Tages, — es war ein Freitag Abend, — mit einigen Freunden im Parke von Gutenstein, wohin sie sich ein kleines Fäßchen Bier gerollt hatten, das sie, auf die Wiese gelagert, zu vertilgen beschlossen hatten. Nun kam die Rede auf viele große Dinge, die schon durch das Zusammenwirken vieler rasch wären ausgeführt worden, und der Ingenieur vermaß sich, alles zu übertreffen. Man lachte und sagte, man wolle es auf eine Probe ankommen lassen, und als das Bier alle geworden, gingen die jungen Leute in der Nacht ihrer Wege. Sie waren ihrem Freunde zu Liebe aus verschiedenen Gemeinden gekommen, ihn zu beglückwünschen, weil er in Kürze sich vermählen sollte. Alle waren Techniker und am nächsten Tage bei der Tafel erhielten sie, jeder von ihnen an seinem Orte, ein versiegeltes Packet von dem Ingenieur, — sein Name war Schneider, — zugesandt, worauf stand, der Empfänger solle sich mit so vielen Männern und Jünglingen, als er auftreiben könne, um 6 Uhr beim Telephon einfinden und dann erst das versiegelte Packet eröffnen.”
“Das thaten nun die Empfänger auch, und da alles gespannt war, was denn der Teufelsschneider wieder ausgeheckt habe, blieben alle jungen und alten Männer auf Meilen in die Runde zu Hause, obschon sonst am Samstage alles mobil wurde und auf Ausflüge sann, besonders nahe dem Schneeberg, den in solchen Nächten viele Tausende erstiegen. [S. 158] Zwischen 6 und 7 Uhr löste sich das Räthsel. Schneider hatte beschlossen, auf eine Nebenkuppe des Schneeberges, die bisher von den Touristen war vernachlässigt worden, in 24 Stunden nicht nur ein Touristenhaus zu zaubern, sondern auch einen ganz neuen Aufstieg dahin zu machen, der, in Serpentinen sachte ansteigend, für Fußgänger und Saumthiere zu brauchen sein sollte. Jeder von den Freunden hatte für seine Section, in welcher er die Arbeiten leiten sollte, an zehn Gehilfen zu ernennen und zu instruieren. In den versiegelten Packeten waren die zehn Sectionen der Wegstrecke von dem bergkundigen Erfinder auf das klarste angegeben und fand sich auch der Plan des Touristenhauses mit Zeichnungen aller Werkhölzer und genauen Anweisungen beigegeben, welche Materialien erforderlich seien und wie viele Tragthiere man brauche, um alles richtig auszuführen, und welche Werkzeuge man mitnehmen müsse, wobei auch Dynamitpatronen nicht vergessen waren, da an gewissen Stellen Sprengungen erforderlich waren. Aber man brauche 5000 Arbeiter, legte der Erfinder dar, denn die gesammte Länge des Weges betrage des sanften Anstieges wegen 15 000 laufende Meter und er wolle im Durchschnitte keinem mehr als 3 Meter der Wegstrecke zumuthen. Die am Fuße des Berges hatten aber 7 Meter herzustellen und jene, die bis zur Spitze zu wandern hatten, brauchten nur 2 oder 1 Meter zu übernehmen. Für jede Gemeinde war die Stelle angegeben, wo sie zu arbeiten habe, und so genau [S. 159] waren die einzuschlagenden, oft nur dem Schneider bekannten Wege, auf welchen zur Arbeitsstelle zu gelangen sei, angegeben, daß man sich auch im Finstern hätte zurechtfinden können. Es war aber eine mondhelle Nacht. Die Zimmerleute, Tischler, Schlosser und Glaser sollten in der ersten Hälfte der Nacht oder mindestens bis 4 Uhr Morgens alles fertig machen und die Hütte in ihren einzelnen Theilen hinaufschaffen, was nicht schwierig sei, da bis dahin der Weg schon gangbar sein müsse. Freilich müßten viele zusammenarbeiten und die Beamten, die ja eine Art Dispositionsfond für solche Zwecke besaßen, trockenes Holz und die Dampfsäge sammt anderen Holzbearbeitungsmaschinen zur Verfügung stellen. Da aber in Neunkirchen eine große Bautischlerei mit allen Maschinen sei, könne es nicht fehlen, daß der Plan gelinge. Die Maurer brauchten nur gelöschten Kalk in Truhen mitzunehmen, die ja von zwei Saumthieren getragen werden könnten. Sand, Stein und Wasser fänden sie im Ueberflusse und bedürfe es ja nur unbedeutender Fundamente.”
“Man jubelte und ging an's Werk und schleppte auch aus den Vorräthen die ganze Einrichtung sammt Kochherd mit. Morgens holte sich der Schlaue, der in der Nacht vom Freitag auf Samstag rastlos an seinen Plänen und Instruktionen gearbeitet hatte, vom Samstag auf Sonntag aber ganz ruhig in seinem Bette schlief, sein Bräutchen ab und sagte, er wolle ihr ihre Morgengabe heute schon geben. Da sie reisefertig war und er durch das Telephon [S. 160] erfahren hatte, alles sei gelungen, führte er sie den neuen Serpentinenweg hinan, von jenen, die noch die letzte Hand ans Werk zu legen hatten, stürmisch applaudirt, bis zur Schutzhütte, leerte ein Glas Wein, das er dann 200 Meter tief in einen Abgrund schleuderte, auf das Wohl seiner Braut und sagte. ‘Nun, Freunde! tauft die Hütte ‘zur schönen Schneiderin’ und entweiht mir sie nicht bis zum Ablauf meiner Flitterwochen, die ich hier mit meiner Kathi verleben will. Dann gehört das Haus der ganzen Welt.’ — Das fand man gerecht, und, nachdem er sich vermählt hatte, zog er mit Proviant, Büchern und Bildern und einem Photographenapparate mit ihr hinauf und verjubelte einen Monat. Als er zurückkam, zeigte er zahllose photographische Ansichten, die er aufgenommen hatte, und man begriff nicht, was der Teufelskerl gemacht hatte; denn es war doch keine Seele bei ihnen und auf allen Bildern war er mit seiner jungen Frau abgebildet; da sah er ihr kochen zu, dort schnitt sie einem Huhn, das sie verzehren wollten, den Kragen ab, dann wieder speisten sie oder tranken sich fröhlich zu, hier neckten sie sich, dann hielt er ihr eine Strafpredigt und sie schien ganz unbändig zerknirscht, bald darauf wieder lag er wie verzweifelt vor ihr auf den Knieen und sie drehte ihm ärgerlich den Rücken, und so ging es fort; auf allen schönen Plätzen und Ruhebänken und Aussichtspunkten waren Schneider und Schneiderin verewigt, und an einem Abgrunde stand er gar, als wollte er sich hinabstürzen, und [S. 161] sie zog aus Leibeskräften an seinen Rockschößen. Nachdem man sich den Kopf zerbrochen hatte, wie das zugegangen, zeigte Schneider, wie er mit Häckchen, Bindfaden, Rollen und Steinen, die als Gewichte dienten, es zu Stande gebracht hatte, daß sich die Klappe des Apparates zur bestimmten Zeit blitzschnell von selbst öffnete und wieder schloß, und so hatte er, nachdem er den Apparat eingestellt hatte, Zeit, seine Stelle einzunehmen und mit seiner Frau das gewünschte Stück zu spielen. Aber die Freunde behaupteten, Schneider verheimliche einen Theil seiner Bilder, man wisse, daß er 100 Platten mitgenommen, und es wären nur 97 Aufnahmen da. Das sei gegen den Communismus, er müsse auch die drei anderen Bilder zeigen. Frau Schneider wurde unmerklich roth, er aber schwur hoch und theuer, das sei Verläumdung, bei seinem Kampfe mit seiner Frau am Abgrunde seien drei Platten hinabgestürzt und wenn sie es nicht glaubten, möchten sie nur nachspringen.”
“Da habt ihr die Entstehungsgeschichte vom Schutzhause zur schönen Schneiderin, die ihr gesehen haben müßt, als ihr auf dem Schneeberge übernachtetet.”
Das hatten wir auch. Wir glaubten dem Erzähler alles aufs Wort.
Wir fuhren am Mittwoch den 29. Juli 2020 nach Wien, wo heute die Vermählung der 100 Schönsten stattfinden sollte. Die Nächstbetheiligten waren schon früh in Kutschen voraus gefahren und wir gelangten vom Franz Josefs-Bahnhofe aus auf einem Straßenbahnwagen bis zum Burgtheater, wo wir ausstiegen und durch den Rathhauspark zum Palaste des Tribunats wanderten, um über eine Prachtstiege in den großen Festsaal emporzusteigen, wo man uns neben vielen Broncestatuen die des Dr. Johann Nepomuck Prix, des ersten Bürgermeisters von Groß-Wien, zeigte. Wir stellten uns mit den anderen Zusehern im Kreise der Fensterseite gegenüber auf und ließen von den Thüren her Gänge frei für den Einzug der Bräute. Auf der Gallerie wimmelte es von Frauen aller Art, die Eintrittskarten erobert hatten, und uns gegenüber war unter einem Zelte von rothem, goldgesticktem Sammt und vergoldeten Zeltstangen ein Thron aufgerichtet, zu dem man über Stufen aus seltenem [S. 163] Holze, auf denen ein kostbarer Teppich lag, hinaufschritt.
Es war eben 2 Uhr; die Thurmuhr schlug dröhnend und man hörte drei Schläge an der Saalthüre, die aufsprang und hinter Hellebardieren und den Tribunen in ihrer Amtsfesttracht schritt der Unterrichtsminister im rothen Talare mit dem rothen Barett auf den weißen Haaren, die Amtskette mit zahllosen Diamanten auf der Brust, herein, gefolgt von hohen Beamten und Hellebardieren, die den Schluß machten. Die Julisonne spielte in den Bäumen im Parke und durch die mächtigen Fenster sah ich das Burgtheater, über dem der verdächtige Apollo thront, uns gegenüber stehen.
Nachdem der Unterrichtsminister, der heute die Stelle des Kaisers vertrat, sich niedergelassen und die Begleitung und die Hellebardiere ihre Plätze eingenommen, wurde das Zeichen gegeben und zwei Saalthüren öffneten sich, durch welche die Bräute, geführt von ihren Auserwählten und zu beiden Seiten geleitet von einem Schwarm von Ehrenfräulein, eintraten und einen engeren Kreis um den Thron bildeten. Der junge Mann stand hinter seiner Braut und weiter zurück die Ehrenfräulein. Die Bräute trugen das Haar in Flechten. Die Tracht war griechisch, das Oberkleid an beiden Schultern aufgeknüpft, und hatte man heute Goldbrocat gewählt. Das an den Hüften aufgeschürzte Oberkleid bildete dort etwas überhängende Falten und floß bis zu den Knöcheln; an den nackten Füßen trugen sie reichgezierte [S. 164] Sandalen und mit Geschmeide an Hals und Armen war man nicht sparsam umgegangen, da nicht nur die Brautschatzkammer zur Verfügung stand, sondern das Obersthofmeisteramt auf Befehl des Kaisers die ganze kaiserliche Schatzkammer geplündert hatte. Schon seit drei Tagen waren die Bräute zur Probebekleidung gekommen, denn das Schmücken einer Braut war eine Kunst, welche nur wenige verstanden, und tagelang wählte man unter dem Schmucke herum, bis man das richtige gefunden hatte, das zu Haar- und Hautfarbe am besten stand. Jede einzelne Braut war in der Eigenart ihrer Schönheit auf das sinnigste geziert. Da nicht eine Braut im Saale war, die nicht Rosenkönigin gewesen wäre, hatten sie alle die goldene Rose im Haare und man war geblendet von der Schönheit, die hier zu schauen war. Vergebens suchten Perlen und Diamanten uns irre zu machen, wir sahen nur Hälse und Schultern, kräftige Arme im schönsten Ebenmaße, die Haut schimmernd vom reinsten matten Weiß bis zum hellen Bernstein und ein Königreich hätte man geben können für das allerkleinste Muttermal oder eine Sommersprosse. In allen Farben spielten die Haare, aber das Schwarz überwog; nur unsere Mary Zwirner hatte aschblonde Haare.
Nun hielt der Unterrichtsminister sitzend, etwas vorgebeugt, die Ansprache und beglückwünschte erst die jungen Männer, welche so herrliche Frauen heimführten, aber auch die Bräute, die Freude an ihren Männern erleben würden. Den Bräuten sagte er, [S. 165] daß sie eine schwere Bürde auf sich nähmen und viel zu leiden haben würden, aber es beseelige sie der Gedanke, daß in ihnen das Geschlecht fortleben werde, und das Vaterland sei dankbar. Niemand stehe höher in Ehren im Vaterlande, als die Mutter, von blühenden Kindern umgeben, und es würde ihnen an solchen nicht fehlen. Oesterreich habe sich seiner Frauen nicht zu schämen. Schönheit, Anmuth, Kraft und Geschmeidigkeit zierten ihren Leib und Grazie entzücke in ihren Bewegungen und ihrem Mienenspiele, aber die hundert Freundinnen, die hier vor ihm stünden, hätten ihresgleichen nicht auf dem Erdenrund; die Gottheit sei in ihnen lebendig geworden und diese Stunde sei für alle, die anwesend seien, eine weihevolle.
Er ließ die Ehepaare, welche ein Herold beim Namen aufrief und der Reihe nach vor ihn hintraten, nachdem er die Stufen herabgeschritten war, den Ringwechsel vollziehen, und entließ jedes Paar mit den Worten: “Von dieser Stunde an seid ihr Mann und Frau.”
Als die Ceremonie vorüber war und die Ehepaare mit den Ehrenjungfrauen den Saal verlassen hatten, stürzte alles nach den Ausgängen, um auf die Straße zu kommen und ein Plätzchen nahe dem Burgtheater uns zu sichern, denn nun kam der Brautfestzug, der sich um die Ringstraße bewegen sollte. Voran die Herolde mit silbernen Trompeten, aus welchen ab und zu Fanfaren klangen, dann die Ehrenfräulein auf weißen Pferden, endlich die herrlichen [S. 166] 100 Brautwagen, von Isabellen gezogen, mit glänzendem Geschirre, von schönen und reichgekleideten Jünglingen gelenkt und in jedem saß die liebliche Braut neben ihrem Erwählten in großer Bewegung und sich beständig verneigend, während der von Glück strahlende Gatte den Freunden winkte und grüßte, die Rechte aber nicht wollte von der Schulter seiner Frau nehmen, der er am liebsten um den Hals hätte fallen mögen. Da der Zug sich sehr langsam bewegte, um all' den Tausenden von Zuschauern Zeit zur Bewunderung der Schönen zu lassen, eilten wir, als der Zug, in dessen Mitte der Unterrichtsminister, umgeben von berittenen Tribunen und Beamten fuhr, kaum vorüber war, durch das Gedränge voraus und konnten gerade noch auf den Stufen des Monumentes der Kaiserin Maria Theresia einen Platz erobern, als die ersten Wagen auf dem Forum anlangten und links einbogen, um im Halbkreise unter den Fenstern der dreitheiligen kaiserlichen Burg vorüberzufahren, die mit Teppichen und Gewächsen geschmückt war. Dort in der Mitte auf einem weiten Balcon stand der Kaiser, der vom Hoflager auf der Rosenburg bei Horn hereingefahren war, und die Kaiserin mit den Prinzen und Prinzessinnnen und alle Fenster waren besetzt mit Hofbeamten und Adeligen, fremden Gesandten und den Hausgenossen des Kaisers, von den Ehrendamen und Castellanen bis zu den Wagenlenkern und Köchen mit ihren Gehilfen und Gehilfinnen. Alle schwenkten die Tücher und man sah einige Bräute in Thränen [S. 167] ausbrechen. So ging es weiter über die Ringstraße bis wieder zur Burg zurück, wo mittlerweile die Tafel gedeckt wurde, weil die jungen Eheleute und das ganze Gefolge, worunter wir uns auch mischen durften, beim Kaiser zu Tische waren.
Im Riesensaale, der, nachdem man, um das Tageslicht auszuschließen, die Fenster geschlossen hatte, hell erleuchtet worden war, waren die Tafeln aufgerichtet. Das Mahl verlief fröhlich und war nicht nur eine große Pracht entfaltet, sondern es fehlte auch nicht an Musik, welche der Natur des Festes angepaßt war. Nach dem dritten Gange erhob sich der Kaiser und alle Tischgenossen folgten seinem Beispiele. Mit weithin tönender Stimme sprach der Fürst den Trinkspruch: “Ich leere mein Glas zum Preise und zur Ehre der Frauenschönheit, die in so vielen und mannigfaltigen Gestalten hier verkörpert ist, und zum Ruhme der jungen Frauen, die das kostbare Gut göttlicher Schönheit vererben auf kommende Geschlechter, ihren Ehegenossen zum Entzücken, ihren Kindern zum Segen und dem menschlichen Geschlechte zur Vervollkommnung, — hoch die jungen Frauen!”
Die Männer fielen ein und die Frauen verneigten sich lächelnd. Der Kaiser ließ das Glas an das seiner Nachbarin, der Fürstin Anselma Lobkowitz, anklingen. Diese erwiderte: “Dank Dir, dem Fürsten so vieler edler Völker, die den vaterländischen Boden besitzen, im gleichen Ansehen und durch redliche Arbeit habsburgischer Kaiser in wechselseitigem Vertrauen und Frieden vereint. Dir und deinem Hause [S. 168] hängen wir an und unsere Söhne und Enkel, solange dein Haus den Völkern Treue bewahrt. Habsburg hoch!” — “Habsburg hoch!” scholl es von Aller Lippen. — Der Kaiser sah lächelnd auf die freimüthige Sprecherin.
Nun erhob sich Zwirner zur Rechten der Kaiserin, Lori an der Hand haltend: “Unsere Frauen vererben mit uns vereint den kommenden Geschlechtern Schönheit und Kraft. Ein Erbe wollen wir Männer vor Allem auf sie übertragen, Treue und Verehrung den Frauen und Treue der bürgerlichen Gesellschaft, jene Pflichttreue, worin uns die Habsburger bisher Wegweiser gewesen. — Dem wir Alle dienen, Oesterreich, hoch!” — Begeistert fielen alle ein und nun machte man der Tafel, an welcher nur wenige Schüsseln, aber vortreffliche Weine gereicht wurden, bald ein Ende, denn die Ehemänner wollten nach Hause fahren.
Die Nacht war schon hereingebrochen und die Kutschen geschlossen und es steht uns frei, Betrachtungen anzustellen, ob da vielleicht das Küssen schon angegangen.
Unserem Freunde war für die Honigmonde ein allerliebster Pavillon im Schloßparke von Königstetten, versteckt im rückwärts gelegenen Theile unter hohen Linden, eingeräumt und dieser Theil weit herum in Bann gethan, daß niemand bei schwerer Strafe eindringen dürfe, ausgenommen die Freundinnen, die gerufen wurden, um die Mahlzeiten aufzustellen und die Gemächer in Stand zu halten. Wir konnten [S. 169] weder Zwirner noch Lori mehr zu Gesichte bekommen und erwarteten, daß sie uns ganz vergessen würden. Wir mußten uns an Dr. Kolb als Vertreter unseres Freundes genügen lassen, der uns für den nächsten Tag versprach, uns über einige Zweifel Aufschluß zu geben.
Zwirner, der anderes zu thun gehabt, habe ihm die Bücher von Bellamy und Michaelis zum Lesen überlassen und er wisse uns Bescheid zu geben.
Am nächsten Tage wanderten wir mit Dr. Kolb über Tulbing ins Gebirge, wo wir, das sei im Vorbeigehen bemerkt, später von einer Höhe aus den verzauberten Pavillon unserer Freunde ein wenig durch dichtes Baumgezweige schimmern sahen, und widmeten einige Stunden der Besprechung jener Frage, die uns hierhergeführt hatte.
Dr. Kolb leitete seine Erörterungen mit einem Ueberblicke über die Bücher von Bellamy und Michaelis ein und wies nach, daß Bellamy viele Irrthümer begangen hätte, aber Michaelis noch weit mehr und daß offenbar beide fehlerhaft berichtet hätten. Das Fernsprechwesen diene nach Bellamy nur zu kindischen Spielereien, nicht als Hilfsmittel der Produktion und Vertheilung; die größeren Städte ließen auf zerstreute Farmen schließen, welchen alle geistige Kultur fehlen müsse, und wenn Dr. Leete mir berichtet habe, daß die Waaren durch pneumatische Röhren in die Dörfer befördert würden, so habe er mir offenbar einen Bären aufgebunden. Aus solchen Verhältnissen müsse sich nothwendig eine [S. 171] Schichtung im Volke ergeben zwischen überfeinerten und rohen Elementen, die sich nicht verstehen und anfeinden, daher man sich den Anfall des Fest auf Dr. Leete recht wohl erklären könne.
So, wie Bellamy, oder eigentlich ich als seine Puppe gesehen, könne Amerika im Jahre 2000 nicht ausgesehen haben und ebenso irrig seien die Anschauungen gewesen, die Michaelis den Mr. Forest habe äußern lassen. Bellamy habe unmögliche Dinge gesehen und Einrichtungen bewundert, die herzlich schlecht waren, aber nicht schlecht, weil sie communistisch waren, sondern schlecht, weil der Communismus nicht vollständig zum Durchbruch gekommen und das neue Prinzip möglichst ungeschickt angewendet worden war. “Auch sehen wir aus Bellamys Berichte wohl, wie es Dr. Leete ergeht, er gibt uns aber gar keinen Aufschluß über die Lage des Bauern- und Arbeiterstandes, über die Vertheilung der Bevölkerung, den Volksunterricht und vieles andere. Die Reste von Privatwirthschaft verwirren alle Verhältnisse, ohne irgend einen Nutzen zu gewähren. Das Eigenthum muß ganz abgeschafft, oder richtiger, alles muß Collektiveigenthum werden und wenn auch die Arbeitstheilung und damit die Berufstheilung nicht nur beibehalten, sondern bis ins kleinste hinein durchgeführt und noch weit über das dem 19. Jahrhunderte bekannte Maß vervollkommnet werden muß, so dürfen die einzelnen Berufe sich nicht wie hinterlistige Gegner gegenüber und in demselben Interessenkonflikte stehen, in dem früher die Individuen standen. [S. 172] Es hat sich ja auch unter den von Zwirner geprüften Werken des 19. Jahrhunderts ein Buch von Dr. Theodor Hertzka, ‘Die Gesetze der sozialen Entwicklung’ betitelt, vorgefunden, wo neben scharfsinniger Kritik der landläufigen Lehren die abstrusesten Vorschläge enthalten waren, wie alle Berufe, die doch auf eigene Rechnung arbeiten und Eigenthümer der Produkte bleiben sollten, schuldig wären, darüber Rechnung zu legen, damit die ganze Welt sollte erfahren können, in welchem Berufe die höchsten Dividenden abfallen und jeder sein armes Gewerbe sollte aufgeben und dem lukrativsten beitreten können.”
“Es waren unklare Gedanken, die Eigennutz und Uneigennützigkeit durcheinander warfen, und immer zeigte sich ein Angstgefühl, daß der Wettbewerb erlöschen könnte. Man sah nicht, daß damals ein Wettbewerb für Spekulanten und Raubritter bestand, daß aber die ehrliche Arbeit keinen Lohn fand und der Wettbewerb der Arbeiter nur den Taschen der Unternehmer zugute kam und am Ende immer wieder zu verschärfter Sklaverei der Arbeiter führte, daher diese mit vollem Rechte, weil ihr eigenes Leben daran hing, besonderen Fleiß ihrer Kameraden mit ihrem Hasse verfolgten.”
“Auch war es ein Zeichen großer Begriffsverwirrung, daß man damals keinen Unterschied zwischen materieller und geistiger Produktion, zwischen jener menschlichen Thätigkeit, welche die bereits erworbene Kultur ausbeutet, und jener, welche dem Fortschritte dient und der Menschheit neue Bahnen eröffnet, machte [S. 173] und daß man nicht erkannte, daß die eine Art menschlicher Thätigkeit nur fruchtbar ist, wenn sie geregelt wird, die andere nur fruchtbar, wenn sie freien individuellen Impulsen folgt, und daß es ebenso absurd ist, alle menschliche Thätigkeit zu regeln, wie es absurd ist, für alle menschliche Thätigkeit Freiheit und Individualismus in Anspruch zu nehmen. Da aber dem Fortschritte und der geistigen Cultur offenbar nur ein kleiner Theil der wirthschaftlichen Mittel zugewendet werden kann, so war es ja auch offenbar, daß die überwiegende Masse der menschlichen Arbeit eine gebundene und kollektive sein müsse, wie sie es ja auch damals schon, aber nicht zum Vortheile des Volkes und der arbeitenden Classe, sondern zum Vortheile einer kleinen Zahl glücklicher Unternehmer wirklich war. Der Erfolg des Großbetriebes wies auf die absolute Nothwendigkeit hin, die mechanische Arbeit der Menschen zu regeln.”
“Für den Fortschritt allerdings mußte ein Wettbewerb fortdauern.”
“Wir haben einen Wettbewerb, aber nur in der edelsten Form. Ich bin längst arbeitsfrei, das heißt, ich brauche keine geregelte Arbeit mehr zu leisten, weil ich als Arzt diente und daher, da Aerzte einen verantwortlichen Beruf haben und Tag und Nacht zur Verfügung stehen müssen, schon mit 47 Lebensjahren meine Dienstzeit abgeleistet hatte. Es sind seither drei Jahre verflossen und ich habe mich immer noch mit Liebe meinem früheren Berufe gewidmet, nur nicht mit der Gebundenheit eines Beamten [S. 174] und mit einer Einschränkung, die mir erlaubt, dem Vaterlande auch andere Dienste zu leisten, auf die es kein Recht mehr hätte. Wo man erfährt, daß ich mich im Orte oder in der Nähe aufhalte, lassen mich Schwerkranke oder ihre Angehörigen bitten, am Krankenbette zu erscheinen, und ist mein Rath manchesmal von Nutzen gewesen, denn die geschicktesten Collegen sind oft in einem einzelnen Falle mit Blindheit geschlagen, wie es mir ja auch oft ergangen. Ich betheilige mich oft an gelehrten Congressen, erstatte Gutachten über allgemeine Einrichtungen, diene als Sachverständiger in Rechtsfällen und schreibe Artikel für die Fachblätter. Aber das geschieht nur mehr aus Liebe zur Sache und zum Vaterlande und weil ich sehe, daß sich alle anderen Leute, die sich zur Ruhe gesetzt haben, nützlich machen, und weil wir Aerzte überdies genau wissen, daß man dadurch sein Leben verlängert. Es ergeht jedem übel, der nach beendeter Dienstzeit in Trägheit und Genußsucht verfällt.”
“Aber ich bin, wie jeder andere, nicht nur Berufsmensch, sondern auch Dilettant und habe mich, wie ihr schon wißt, hauptsächlich der Plastik zugewendet, wobei mir meine anatomischen Kenntnisse zustatten kamen. Ich habe dieser Kunst schon früher gehuldigt, seit Beendigung meiner Dienstzeit aber an hundert Büsten und Statuen in Thon geschaffen, wobei mir von Vortheil war, daß ich für meine Lehrjahre Materiale in Hülle und Fülle hatte und nicht um Stoff zu betteln brauchte. Ich habe bald einen Ruf [S. 175] erlangt und die Staatsverwaltung, wie auch die Civilliste, haben viele meiner Statuen gießen lassen und mir so einen weitbekannten Namen gemacht. Erst in neuerer Zeit habe ich mich daran gewagt, meine Werke in Marmor zu meißeln, und ist ein Werk für eine hohe Frau in Arbeit, von welcher die reizende Idee stammt, welche dem Ganzen zu Grunde liegt.”
“Es wird sehr viel in Bronze gegossen, weil die Feld- und Festungskanonen aufgelassen und auch die zahllosen Glocken größtentheils eingeschmolzen wurden, und es liegen noch einige tausend Uchatius in den Magazinen die darnach lüstern sind, sich in berühmte Männer oder schöne Frauen umgießen zu lassen. Das Ciseliren meiner Werke übernehme ich zwar in der Regel selbst, aber auch das Ciseliren ist zu einer weit verbreiteten Liebhaberei geworden und oft sehe ich in einer Ortschaft Freunde beschäftigt, einen Abguß meiner Statuetten zu ciseliren.”
“Wir haben auch andere Vervielfältigungsverfahren, wie den Steinguß nach einer Methode, die im 19. Jahrhunderte der Firma Matscheko und Schrödl patentirt wurde, deren Werkstätten, zehnfach vergrößert, noch an den südlichen Marken von Wien stehen. Dann hat man auch versucht, von schon ziselirten Bronzestatuen Formen zu machen und mit Hilfe elektrischer und galvanischer Prozesse in den Formen einen metallischen Ueberzug herzustellen, der mit einer Pasta ausgegossen werden kann, die steinhart wird. Wenn dann die Formen abgenommen werden, hat man [S. 176] eine Reproduktion, die die feinste Ciselirung haarscharf wiedergibt, und es ist mir nicht klar, weshalb diesem Abguß nicht dem Originale im Werthe vollkommen gleich gehalten werden sollte. So werden plastische Werke überallhin verbreitet und sie sind nicht mehr blos in Sammlungen zu finden.”
“Wie bemerkt, habe ich schon einen großen Ruf und da die Frauen die Künste verehren, fehlt es mir nicht an Modellen. Die schönsten Mädchen, auch solche, die zur Ehe bestimmt sind, kommen, natürlich unter dem Schutze der Mutter oder Adoptivmutter, in mein Atelier und hat mein Auge Schönheit geschaut, für die es keinen Ausdruck gibt. Als Anatom weiß ich das Entscheidende festzuhalten und wiederzugeben. Ich habe eben mein Meisterstück beendet, das noch niemand sehen darf und womit ich hoffe, — es mag eine Täuschung sein —, einen Meisterpreis zu erringen. Der Wettbewerb für Plastik findet im Dezember statt und bis dahin will ich niemand mein Werk sehen lassen. Ihr sahet ja in meinem Atelier die verhüllte Statue stehen.”
“Es stellt die Braut dar, die, das Haupt soviel als möglich seitwärts gewendet, nur das Antlitz in dem im Ellbogen eingeknickten Arme vergräbt, um wenigstens davon soviel, als ohne Hilfsmittel geschehen kann, in holder Scham zu verbergen, die rechte Hand, wie ganz leise abwehrend, senkt, so tief der Arm reicht, und, man möchte glauben, es zu fühlen, wonneschauernd Schonung heischt. Den jungen Gatten müssen wir uns dazu denken, wie er, vor [S. 177] seiner Göttin zu Boden gesunken, die lieben Füße küßt. Ich schmeichle mir, daß die Haltung der Statue jeden das Bild so ergänzen läßt, und das scheint mir die Aufgabe der Kunst; sie soll keine Räthsel aufgeben, die sich nicht im bloßen Anschauen und mit voller Sicherheit lösen lassen.”
“An fünfzig Modelle habe ich Probe stehen lassen, bis ich das Mädchen fand, das nicht nur unvergleichlich schön war, sondern auch die plastische Haltung in meinem Sinne wiederzugeben schien.”
“Wenn mir nur die Frauencurie nicht den Vorwurf macht, ich hätte die Phantasie nicht bis in das Brautgemach führen dürfen, oder meinem Kunstwerke fehle die Wahrheit, weil kein keusches Weib solche Gunst selbst dem Gatten erweise. Ich aber werde nicht müde, für unsere armen schönheitshungrigen Männer zu wirken.”
“Die Statue,” sagte Mr. Forest, “könnte man wohl eher für eine zur Besichtigung ausgestellte Haremssklavin halten.”
Darauf bemerkte Dr. Kolb, ein wenig ärgerlich: “Das hängt von der Lebensanschauung des Beschauers ab. In unserer Zeit, in welcher wohl eher die Männer in einer Art — allerdings süßer — Sklaverei gehalten werden, wird diese Auslegung nicht leicht sich aufdrängen, und dagegen spricht auch die Rose, die wir unseren schönsten Jungfrauen verleihen, und der im Haare zurückgebliebene Brautschmuck.”
Unsere Lebensanschauung sträubte sich dagegen, die unserem Gesellschafter erwünschte Auslegung so [S. 178] unzweifelhaft zu finden, doch gaben wir unseren Gedanken nicht weiter Ausdruck.
“Was könntest du in Amerika für eine solche Statue bekommen und hier wird man dir gewiß kargen Lohn geben,” bemerkte Mr. Forest.
“Ich will meine Statuen im Lande behalten, der Lohn wäre aber nicht karg, wenn die Kunstrichter und das Volk mit mir zufrieden wären. Ich könnte mir ein Schloß auswählen und Gärten fordern, Pferde und Wagen und ein Dutzend Hausgenossen aussuchen, bis etwa die Geduld der Regierung reißen und man das Volk befragen würde, ob man meiner Unersättlichkeit noch ferner nachgeben solle. Aber wenn ich Lohn verlange, schließe ich mich selbst vom Wettbewerbe um die Ehrensäule aus und ein Communist, der bald hier, bald dort wohnen und den Freuden nachgehen will, hat kein Vergnügen daran, sich mit einem Schlosse an eine kleine Scholle binden zu lassen. Denn das ist eine gerechte Forderung, daß derjenige, welcher etwas ausschließlich für sich verlangt, sich dafür ausschließen läßt von jenem, was allen gemeinsam ist.”
Ich sagte darauf, wir glaubten, von dem Gegenstande, der hier alle Köpfe zu beherrschen scheine, genug zu wissen und daß ja jetzt vielleicht die Antwort auf Mr. Forests Frage folgen könnte, wie man es hier mit Religion halte, und ob denn keine Christen im Lande seien, da man keinen Gottesdienst sehe.
Darauf sagte Dr. Kolb, daß die sichtbare Kirche [S. 179] sich aufgelöst habe und es nur eine unsichtbare gebe. Es scheine geheime Sekten zu geben, die niemand eindringen lassen, den man für freigeisterisch hält, aber sie hätten es aufgegeben, sich gewaltsam aufzudrängen. Die Kirchen seien nach einem stillschweigenden Einverständnisse meist abgetragen worden, Geistliche habe man nicht wieder angestellt und beim letzten Conklave habe man zwar die weißen Wölkchen aufsteigen sehen, die von den nach beendeter Wahl verbrannten Wahlzetteln aus einem bestimmten Schornsteine aufzusteigen pflegen, aber als einige Nobili und Frauen begeistert riefen: “Habemus papam!” seien die Cardinäle unverrichteter Dinge aus dem Conklave gekommen und hätten gesagt: “Papam non habemus.”
“Die Evangelien wurden durchgeprüft und man fand, daß Christus eine öffentliche Gottesverehrung ja gar nicht haben wollte und daß der Kern des Christenthums ist: ‘Liebe Deinen Nächsten, wie dich selbst,’ was in eigenthümlicher, aber wirklich tiefsinniger Ausdrucksweise Paulus mit den Worten bezeichnet: ‘Keiner suche das seinige, sondern das des andern.’ Lange wurde hin- und her gekämpft und dann nahm die Bewegung doch jenen Verlauf, den die Denkenden vermuthet hatten. In Wien sind noch drei Kirchen zu sehen, die Stefanskirche, die Votivkirche und die Kapuzinerkirche, die der alten Kaisergruft wegen fortbesteht. Auf der Eingangsthüre stehen aber die Verse: Was ist das [S. 180] für ein Haus, das ihr mir bauen wollt, und was ist das für ein Ort, da ich ruhen soll?[D]” “Du aber, wenn du betest, gehe in deine Kammer und schließe die Thür zu und bete zu deinem Vater im Verborgenen”[E].
“Habt ihr keinen Religionsunterricht mehr?” fragte ich. Dr. Kolb sagte, daß man das Evangelium Matthäus von einigen für Kinder unpassenden Stellen gereinigt und bedeutend gekürzt habe und daß die Lehren Christi vorgetragen würden, wie eine Legende oder ein Märchen. Dogmen lehre man Kindern gar nicht und die Erzählungen von Christus übten doch eine große Wirkung aus, da man auch zwei Feste daran knüpfe, die das Gemüth der Kinder feierlich stimmen. Man habe den Christbaum mit der Krippe darunter und das Osterfest im dunkel gemachten Bibliothekssaal, in welchem farbige Lichter mehr glühen als leuchten, beibehalten und an letzteres Fest schließe sich die Auferstehung an und ergreifende Gesänge begleiteten die Feier.
“An die Stelle des Dogmas ist die Symbolik getreten und lehrt man — wie Christus erwiderte: >Ich aber sage euch, Elias ist schon wiedergekommen[F]< —, daß Christus in Wirklichkeit schon auferstanden sei, denn in unserem Staate hätten wir das Reich Gottes verwirklicht und die Auserwählten seien bereits eingezogen in das Reich, das ihnen von Anbeginn der Welt bestimmt war, da jeder Hungrige gespeist, jeder Durstige getränkt, jeder Nackte bekleidet, jeder Fremdling beherbergt und jeder Kranke besucht werde.”[G]
Der mächtige Christbaum werde beim Weihnachtsfeste in Stücken in den Saal gebracht und von den Müttern mit Lichtern besteckt und geschmückt. — Spielzeug und Näschereien fehlten nicht und der Abend bringe manches Neue, so insbesondere auch Kleidchen und Bücher. Man lasse noch immer die kleinsten Kinder bei den Glauben, daß alles von dem hoch oben schwebenden Christkinde herbeigezaubert sei. “Wir halten dafür, daß gerade wir Christen und unsere Gegner Pharisäer seien. Wir sind es, die das Christenthum verwirklichen, aber aus Ueberzeugung, nicht nach den Irrlehren der Confessionen.”
“Die Erfahrung wurde gemacht, daß das Einschlafen des öffentlichen Gottesdienstes keine üblen Folgen hatte. Wer ein Bedürfniß empfindet, sich an religiösen Uebungen zu betheiligen, kann in privaten Conventikeln Erbauung suchen oder die zahllosen Erbauungsbücher der früheren Zeit lesen. Das Bedürfniß darnach wird aber niemand durch Schule und Erziehung aufgezwungen. Wir glauben, daß viele unverheirathete Mädchen dieser Schwärmerei sich hingeben, aber es wird nichts davon bekannt. Die staatliche Ordnung ist so mächtig geworden, daß sie einer Unterstützung der Kirche nicht bedarf, religiöse Secten aber niemals gefährlich werden [S. 182] können. Jemand seiner Ueberzeugung oder seiner religiösen Uebungen wegen zu kränken, ist strenge verpönt.”
“Und die Frauenemancipation hat keinen Schaden angerichtet?”
“Sicher nicht. Die Frauen haben sich von allem Anfange an mit großem Tacte ein Gebiet erobert, auf dem sie herrschen, die Liebe und die Familie. Sie haben eingesehen, worin die Familie dem Staate Zugeständnisse machen muß. Dagegen ist in dieser Hinsicht und in der Liebe nichts geregelt worden, was die Frauen nicht einmüthig gebilligt hätten. Es hat sich gewissermaßen von selbst gemacht, daß sie sich eine Art geheimer Nebenregierung errichteten, und der Gebrauch, ihre Ideen über diese Gegenstände in geheimen Berathungen und einer geheimen Zeitung auszutauschen, ermöglicht eine reifliche Erwägung ganz im Sinne der Frauen. — Für alle Feierlichkeiten und Gebräuche gingen die Vorschläge von ihnen aus und sie billigen jede Freiheit, die die Frauen in überwiegender Mehrheit gutheißen. Gegen den Frauentact verstößt keine und die Position, die die Frauen in der Ehe und in der Liebe einnehmen, ist unerschütterlich. Gegen Bewilligung der Aufnahme ihres Curiatsrechtes in die Verfassung haben sie eingewilligt, daß weder der Staatsbeamte, noch der Tribun, noch der Pädagog oder der leitende Arzt aus den Frauen solle gewählt werden können. Dagegen haben sie ihre medicinische Schule, wo nur Frauen tradiren und demonstriren, auch nur [S. 183] Frauen behandelt und weibliche Leichname zergliedert werden, und ihre medicinische Wissenschaft entwickeln sie in ihrer Frauenzeitung. Nur Forschungsergebnisse und Lehrmeinungen, die ohne Zusammenhang mit dem Geschlechtsleben sind, verhandeln sie öffentlich und in den öffentlichen Blättern.”
In allen wirthschaftlichen Fragen sei die Frau natürlich ebenso fähig zu stimmen, wie die Männer, aber auch in Verfassungsfragen und anderen öffentlichen Angelegenheiten seien die Frauen gerade so competent, wie Männer. In gewissen Fällen vertraue sich eine Frau oder ein Mädchen nur dem weiblichen Arzte an und müsse die Frau Doctor sich übrigens der Leitung des ärztlichen Beamten unterwerfen und die amtlichen Geschäfte ihm überlassen, wie auch ihm Aufschlüsse ertheilen. So sei das uralte Unrecht der Hörigkeit der Frau abgeschafft und gerade die Frauen hätten dem Lande zu den möglichst vollkommenen, wenn auch gewiß noch immer verbesserungsfähigen Zuständen des Geschlechtslebens verholfen.
Wir wollten nun hören, ob kein Mißbrauch der kaiserlichen Gewalt und keine Parteilichkeit oder Tyrannei der Beamtenschaft vorkomme. — Darin gerade, sagte unser Gewährsmann, unterscheide sich Europa von Amerika, daß es die Monarchie beibehalten habe und daß die Beamten nicht so, wie man es oft als ein Erforderniß der Freiheit betrachtete, vom Volke, sondern vom Kaiser oder in seinem Namen ernannt werden. Damit hänge auch die Ersprießlichkeit [S. 184] der Monarchie zusammen. Der Kaiser habe vor Allem eine Stelle zu besetzen, auf die sich niemand drängen kann, und er sei in der Lage, sich über die Würdigkeit und Rechtschaffenheit der Beamten ein Urteil zu bilden, das dem Volke großen Schutz gewährt. Das Tribunat habe auch Gelegenheit, über Beamte direct beim Kaiser Klage zu führen, was rascher zum Ziele führe, als eine zeitraubende Volksabstimmung, mit der das Volk gerne verschont bleibe, wenn andere Abhilfe gefunden werden kann. Die Staatsverwaltung müsse sich aber als eine offenbar organische Institution auf eine Organisation stützen und diese sei die Beamtenschaft. Eine Organisation erheische ebenso Stetigkeit, wie Stoffwechsel, das heißt, es müssen unbrauchbare und absterbende Theile rasch ersetzt werden können, ohne das Ganze in Zerfall gerathen zu lassen. Das treffe zu in einem Beamtenkörper, der im Ganzen beharrt, aber immer in der Lage ist, faule Theile abzustoßen und für diese, sowie sonst ausscheidende Elemente, geeigneten Ersatz zu finden. So geartet sei nicht nur die monarchische Beamtenschaft, sondern auch jede Beamtenschaft in einem prosperirenden Privatunternehmen. Ganz im Gegensatze damit stehe ein gewählter Beamtenkörper, der von vier zu vier Jahren oder in anderen Intervallen abtreten und anderen Beamten Platz machen müsse. Das sei der Gipfel der Unvernunft, hervorgegangen aus einem Mißverständnisse, daß es nämlich die Organisation sei, wodurch die Bureaukratie schädlich wirke. Das Volk [S. 185] könne die Ernennung der Beamten getrost der Regierung überlassen, wenn es in der Lage ist, in die Beamtenthätigkeit Einsicht zu gewinnen und den einzelnen Beamten, wie auch die Regierung selbst, zur Rechenschaft zu ziehen. Die Einrichtung des Volkstribunats und die Verwirklichung der Volkssouveränität habe allen Uebeln der Beamtenwirthschaft ein Ende gemacht, ohne die Stetigkeit der Verwaltung zu beeinträchtigen. Der von der Regierung ernannte Beamte habe zwar die eigentliche Entscheidung in allen Fragen der Production, dann der Vertheilung von Arbeit und Gütern, aber er arbeite mit einem vom Volke gewählten und jederzeit absetzbaren Volkstribune, vor dem er keinen seiner Schritte verbergen könne, der von allem Einsicht nehme, der jederzeit an den vorgesetzten Beamten berufen, über alles an das Volk berichten könne.
“Wie halten es aber Monarch und Prinzen mit den Frauen?”
“Was das Privatleben der Glieder des kaiserlichen Hauses anbelangt, so ist es ebenso heilig gehalten, wie das der einfachen Bürger. Oeffentliches Aergerniß aber darf nicht geboten werden. Gerichtsbarkeit unter ihnen kann nur der Kaiser üben und alle sind unverletzlich.” Aber wer ihnen nur im geringsten in etwas ungerechtem oder auch nur unschicklichem diene oder auch nur passive Assistenz leiste, werde von dem Volksgerichte bestraft. Wenn ein Mädchen, eine geschiedene Frau oder eine Witwe mit dem Kaiser oder einem Prinzen ein Liebesverhältniß [S. 186] unterhielte, so würde sie nur dann Tadel treffen, wenn ein Hauch von Käuflichkeit gewittert würde. Auch wolle man keine kaiserlichen Bastarde haben. Glaube man, daß diese Frauen nicht aus Liebe gewähren, sondern um äußeren Vortheil oder gewisse Parteilichkeit, so werde das Volk und vor allem die Frauencurie, sich immer Recht zu verschaffen wissen. — Die Geliebte in seine Nähe zu bringen, sei dem Kaiser oder Prinzen nicht schwierig, da in allen Palästen der kaiserlichen Familie männliche und weibliche Hausgenossen, die der Civilliste zur Last geschrieben werden, angestellt seien. Käme aber eine Ueberführung wegen Käuflichkeit vor, so würde die Schuldige abgerufen und die Fortsetzung des Liebesverhältnisses unmöglich gemacht, indem man sie internirt. — Die Frauen wollten ihre Ehre und Würde corporativ wahren, und das sei von unermeßlichem Werthe.
Da warf Mr. Forest ein, daß man zwar den Mitgliedern der kaiserlichen Familie nicht verwehren könne, in der Liebe dieselbe Freiheit zu genießen, wie der einfache Bürger, aber man scheine es da mit der Heiligkeit der Ehe minder genau zu nehmen, als im Volke. Dr. Kolb bemerkte darauf, es habe sich ja vorhin nur darum gehandelt, ob die Bürger nicht für die Ehre ihrer Frauen und Töchter zu fürchten hätten. Was die Frauen in der kaiserlichen Familie anbelange, so könnten sie jederzeit Schutz gegen Untreue finden, wenn sie die Hilfe der Frauencurie anriefen. Wenn man auch keine Gewalt über [S. 187] den Gatten habe, so habe man doch volle Gewalt über die Mitschuldige. Auch könne die beleidigte Frau ihren Gatten verlassen und das Volk sei reich und mächtig genug, ihr Ersatz für den Hausstand zu bieten, den sie aufgebe.
Er wolle aber noch einiges über die Beamtenschaft auseinandersetzen.
“Die Beamten sind unter der allerstrengsten Aufsicht. — Der nächste Vorgesetzte ist für seine Untergebenen verantwortlich insoferne er nicht beweisen kann, daß er ein Unrecht oder eine Nachlässigkeit nicht habe erfahren oder nicht habe hindern können. Die Beamten sind schon von der Schule her nach Charakter und Begabung genau beschrieben. Sie rücken nur vor, wenn sie sich bewährt haben, und auch eine größere Ungeschicklichkeit kann sie ihre Stelle kosten, in welchem Falle sie Landarbeiter oder Handwerker werden müssen. Der Geist, der im ganzen Beamtenkörper herrscht, erfaßt jedes einzelne Mitglied. Arbeit und Güter werden in den statistischen Ausweisen so genau verrechnet, daß ein Mißbrauch der Stellung gar nicht möglich ist, und wenn man noch weiters in Betracht zieht, daß man annimmt, jede Mehrbelastung oder Minderversorgung eines Menschen müsse auf sein Leben zurückwirken und somit jede Parteilichkeit fühlbar in der mittleren Lebensdauer zum Ausdrucke kommen, so hat man auch darin einen Maßstab für die Beurtheilung der gerechten Amtsverwaltung und einen Antrieb für den Beamten, größte Gerechtigkeit walten zu lassen.”
“Was die Verrechnung betrifft, so kann ich euch nur an einzelnen Beispielen zeigen, wie sie gehandhabt wird und daß die Beamten Unterschleife nicht begehen können, es wäre denn beim Verkehre mit handeltreibenden fremden Staaten, wo ganz besondere Controllmaßregeln Anwendung finden. Ein wichtiger Verrechnungsartikel ist die Milch, weil sie rasch verbraucht wird, und darum wird die Verrechnung der Production von Milch und ihres Verbrauchs täglich veröffentlicht. Jede Gemeinde hat eine Vorsteherin für die Milchwirthschaft, welche unter Controlle ihrer Arbeiterinnen täglich die Menge der gemolkenen Milch und ihre Verwendung feststellt und dem Beamten verrechnet. Soviel ermolken, soviel an die Küche, soviel an die Butter- und Käseerzeugung, soviel an die Bezirksverwaltung abgegeben, soviel Vorrath vom Vortage, bleibt soviel Vorrath für morgen. Ebenso wird die Käse- und Buttererzeugung und die Gewinnung und der Verbrauch der dabei sich ergebenden Abfälle verrechnet. Die Verrechnung wird täglich schriftlich in der Gemeinde, beim Bezirksbeamten und beim Kreisbeamten hinterlegt und zunächst das Bezirkssummarium aufgestellt. Ist die erste Verrechnung richtig — und auf diese hat der Beamte nur einen mittelbaren Einfluß, — so kann nichts mehr gefälscht werden. Das Kreisblatt veröffentlicht nun nach Art einer statistischen Tabelle am nächsten Tage das Kreissummarium und dessen Entstehung aus den Bezirkssummarien, und da die Richtigkeit der letzteren Angaben von jedem Bewohner [S. 189] des Bezirkes aus den Acten constatirt werden kann, so ist diese Verrechnung für den Kreis ebenso zweifellos richtig, wie das Provinz- und Reichssummarium.”
“Da nun zugleich die Bevölkerungsstatistik täglich publicirt wird, so ist jedermann in der Lage, die Vertheilung dieses einen Artikels genau zu prüfen. Andere Verbrauchs- und Gebrauchsgegenstände werden wöchentlich oder monatlich verrechnet, Bauten jährlich. Dieser statistische Theil der Regierungsblätter, die unter Verantwortung des Staatsbeamten und des Volkstribuns für den Kreis, beziehungsweise die Provinz und das Reich erscheinen, liegen in jeder Gemeinde der Circumscription in zehn Exemplaren auf, was vollkommen genügt, um volle Oeffentlichkeit zu verbürgen. Die Statistik fremder Kreise und Provinzen findet man nur am Bezirksorte.”
“Nun aber, welche Sicherheit habt ihr, daß der Monarch nach außen Frieden hält und den Volksrechten nichts vergibt?”
Hierauf sagte Dr. Kolb: “Die Völker des europäischen Festlandes sind bis zur Ostgrenze des russischen Reiches in einen Verband getreten, der gemeinsame Vertheidigung gegen außen und ewigen Frieden im Innern der Union verbürgt.” Die Unionsarmee, über die Rußland, und die Seewehr, über die Oesterreich das Commando führe, werde gemeinsam erhalten und der Beitrag an Truppencontingent und Naturalien nach der Bevölkerungsziffer aufgetheilt. Dagegen haben alle Staaten abgerüstet und [S. 190] auch Rußland sich verbunden, nicht mehr Truppen auszuheben, als percentuell auf dieses Reich entfallen. Europa habe viele Millionen an Gewehren zerstört und das Arsenal für die Wehr zu Land sei in Ostrußland. England sei außerhalb der Union und besitze nichts mehr in den Gewässern von Gibraltar bis Aden. Dieses Seegebiet werde von der Union wie ein Binnensee behandelt, die Einfahrt bei Gibraltar und in das rothe Meer sei allen fremden Handels- und Kriegsschiffen verwehrt und demgemäß befestigt.
“Die innerhalb dieses Gebietes gelegenen Küsten bedürfen gar keiner Befestigungen und befinden sich übrigens in diesem ganz gesicherten Gebiete die Hauptmarinearsenale und die Schiffswerften und es ist gewissermaßen der Exerzirplatz für die Unionsmarine. Fremde Handelsschiffe, die in unseren geschlossenen Meeren ausgeladen werden, werden von Unionsmatrosen übernommen und nach Löschung der Ladung zurückgebracht wie ein Waggon, der die Reichsgrenze passirt. Aber der auswärtige Handel nach den Häfen der geschlossenen Meere hat beinahe ganz aufgehört. Auch die Ostsee ist mare clausum.”
Die türkische Herrschaft sei ganz beseitigt worden und habe Rußland Kleinasien und Arabien in Verwaltung genommen, Italien Egypten, Frankreich das Gebiet von Egypten bis an die Westgrenze von Algier, Spanien den ganzen Westen des nördlichen Afrika. Die Völker der Balkanstaaten hätten vier selbständige christliche Reiche gebildet, die unter der [S. 191] Oberhoheit des Kaisers von Oesterreich ständen, der auch den Befehl über die Marine und den Küstenschutz habe.
Nun müsse nicht nur jedes republikanische Staatsoberhaupt, sondern auch jeder Monarch, der sein Amt antritt, in Gegenwart des Tribunats und, wenn das Volk es verlange, gewählter Deputirter, zuerst den Eid auf die Verfassung, dann den Eid auf die Unionstraktate schwören, wodurch für ewige Zeiten jede Verschiebung der Grenzen ausgeschlossen sei. Zu dieser Eidesleistung erschienen meistens alle Staatsoberhäupter Europas. Den Eid wolle man jetzt durch die Worte ersetzen: “So wahr meine Rede ja, ja und nein, nein ist!” Internationale Streitigkeiten der Unionsstaaten würden durch die nichtbetheiligten Staatsoberhäupter als internationalem Gerichtshof entschieden und sei die unverbrüchliche Beobachtung dieser Erkenntnisse ein Theil der beschworenen Unionspflichten.
“Wir halten eine Gefahr, daß die Union in die Brüche gehen könne, wie weiland der deutsche Bund, für ausgeschlossen, und es ist übrigens auch Vorsorge getroffen, daß das Unionsrecht sich zeitgemäß entwickeln kann. Wir hoffen, daß England bald gezwungen sein wird, der Union beizutreten, und für die allerdings noch ferne Zukunft können wir wohl annehmen, daß ganz Asien für das Collektivprinzip wird gewonnen und dann Europa, Asien und Afrika, welche ja in Wirklichkeit nur einen Continent bilden, zu einem einzigen Staatenbunde werden vereinigt werden.”
Unter diesen Gesprächen war es Nacht geworden und wir gingen im Mondscheine heim, um das Nachtmahl einzunehmen und uns den geselligen Freuden in Tulln hinzugeben. Wir hatten davon, zuviel von anderen Dingen angezogen, bisher wenig kennen gelernt. Es war großes Kinderspiel unter den Linden, woran sich alte Leute gerne als Zuseher betheiligten. In einem Theile des Speisesaales hatte sich das junge Volk für heute die Abhaltung eines Tanzvergnügens ausbedungen und in den kleinen Sälen und Schulzimmern neben dem Bibliothekssaale fanden heute die Schlußberathungen für die Abstimmung über die Anträge auf Aufhebung des Adels und Abschaffung der Monarchie statt, da morgen abends 7 Uhr die Stimmen abgegeben werden sollten. Wir aber gingen auf Anrathen des Dr. Kolb in einen Musiksaal, wo heute Sänger aus Tirol, die eben auf Besuch hier waren, sich hören lassen wollten. Wir hatten hier einen eigenartigen Genuß und haben uns vortrefflich unterhalten. Die Fortsetzung unserer Gespräche wurde aufgeschoben.
Heute hatte uns Dr. Kolb warten lassen und als er sich Abends zu uns gesellte, sagte er: “Denkt, wo ich eben war! Ich bin doch eingedrungen in die verzauberte Höhle unserer Freunde, die sich uns ganz hatten entziehen wollen. Zwirner ist unwohl und Frau Lori, welche übertriebene Besorgnisse hatte, ließ mich bitten, zu kommen. Ihr Mann ist auch in der That nicht fieberfrei, wenn es auch nicht viel auf sich hat. — Ich sage euch, die Leute haben's angenehm! Ein reiner Tempel für Liebende und dazu geschaffen, ungetrübtem Liebesglücke als Hintergrund zu dienen. Der Pavillon enthält nur die vier Zimmer, die solche Glückliche brauchen; keine Treppe, keine Küche, nichts, was an die Alltäglichkeiten des Lebens erinnert. Man tritt ins Plauderstübchen, wo Bücher, Statuen und Bilder uns fesseln, dann in ein Speisezimmer für Zwei, weiter führt der Weg in das Schlafzimmer, von da ins Badezimmer und wieder zurück in's Plauderstübchen. Von jedem Fenster hat man ein anderes entzückendes Bild. Das Lusthäuschen ist auf Kosten der Civilliste für den [S. 194] Kaiser gebaut worden, als er noch Kronprinz war und seine Vermählung für die nächsten Jahre erwartet wurde. Die Tage unseres jetzigen Kronprinzen, der ein netter Junge ist, lassen sich auf dasselbe Schlafzimmer zurückführen, in dem jetzt unser ‘armer’ Freund ein paar Tage seines Honigmondes versäumen muß, und ich will mein Bestes thun, ihn herzustellen. Uebrigens möchten wir uns alle krank zu sein wünschen, wenn Lori an unserem Bette säße. Sie weicht, obwohl es offenbar nicht ans Leben geht, nicht von seiner Seite und forderte von mir, ich solle ihr ohne Verzug ihren Mann wiedergeben, ihren Abgott, der Gesundheit vonnöthen habe. ‘Muß das jetzt sein,’ sagte sie, ‘soll mir die Zeit gestohlen werden, in der ich meinen Mann so an mich ketten will, daß er nicht mehr daran denken kann, meine Fesseln zu brechen? Wir armen Frauen müssen leider abnehmen; wenn wir am reichsten sind, geben wir uns dem, der uns liebt und den wir lieben. Einige Wochen gehören wir zwei nur uns an. An diesem Glücke soll uns nichts verkümmert werden, denn bis zum letzten Athemzuge soll dem Manne die Erinnerung eine verblassende Gegenwart ergänzen.’ — Zwirner protestirte und sagte: ‘Holde, ich möchte immer krank sein und mich von Dir pflegen lassen. Es wird mir so wohl, wenn deine thaufrische Hand über meine Stirne streicht, und auch diese Erinnerung wird mich nicht mehr verlassen.’ Lori bedeckte seinen Mund mit Küssen und vergaß, daß ich hier stand und die allerliebsten Erinnerungen [S. 195] nicht mit dem Bilde eines Dritten vermengt werden sollten. Darum versprach ich, etwas zu schicken, wovon alle Stunden ein Löffel zu nehmen sei, sprach die Hoffnung aus, daß das Unwohlsein höchstens noch eine Nacht währen werde, und verschwand unbegleitet von Lori. Das Mittel ließ ich in der Königstettner Apotheke bereiten und beim Arzte, der sich ja auf mich vollkommen verlassen und auf den Besuch beim Kranken verzichten konnte, füllte ich den ärztlichen Bericht aus.
Beim Scheiden aus dem Zwirnerparadies sah ich noch, daß mein Wunsch von den Hochbergs war erfüllt worden. Es hingen zwei Photographieen im Schlafzimmer, die ich, um die jungen Eheleute zu überraschen, hingesandt hatte. Eine Momentphotographie hatte ich aufgenommen von dem Augenblicke, wo Zwirner von Lori den Lorbeerkranz empfängt, und dann war mir die Schelmerei, die doch keinen Anstoß mußte erregt haben, eingefallen, eine Photographie meiner ‘Braut’ die noch niemand gesehen, mitzusenden, und ich glaube bemerkt zu haben, daß, wenn Zwirner ab und zu lächelnd seinen Blick dahin richtete, Lori ein wenig erröthete. Ich bin aber gewiß, daß sie keine Ahnung hat, ich sei der Bildhauer. Ich muß überlegen, ob ich es Lori nicht schulde, meine Statue zu zertrümmern. Ich hoffe sie aber retten zu können, denn Lori wird mir nicht grollen, wenn sie erfährt, daß ich der Bildner sei, da sie wohl nicht denkt, daß sie sich durch Erröthen verrathen habe. Schwört mir auf der Stelle, zu schweigen, [S. 196] wie ein Grab; Oesterreichern dürfte ich nicht erzählen, was ich gesehen und wie es zusammenhängt.”
“Fast bereue ich jetzt, daß ich in jungen Jahren, entflammt von dem Gedanken, mich ganz der Wissenschaft zu widmen, mich nicht wollte durch die Ehe binden lassen. Mir scheint, ich habe mehr verloren, als gewonnen.”
Wir legten gegen diesen unehrlichen Kampf Verwahrung ein. Wir wollten ein unbefangenes Urtheil über den Staat und die Gesellschaft fällen und wollten uns nicht verwirren lassen durch Erzählungen von Dingen, die wir nicht sehen können. Mr. Forest fügte auch bei, da sei nichts von Gleichheit zu bemerken, wenn Begünstigte ihr eigenes Häuschen für den Spielmonat der Ehe hätten. Aber Dr. Kolb sagte, daß der Pavillon seit den Tagen der jungen Ehe des gegenwärtigen Kaisers schon oft jungen Eheleuten zum Aufenthalte gedient habe, denn der Kaiser halte diese Räume nicht für entweiht, wenn auch andere dort glücklich sind. Und es gebe übrigens überall solche Plätzchen, da die Mehrzahl der Neuvermählten diese poetische Zurückgezogenheit der lärmenden Hochzeitsreise vorzöge, wozu auch Gelegenheit geboten sei, wenn die jungen Eheleute lieber reisen wollten. Geradezu barbarisch wäre es, wenn man die junge Frau am Morgen nach ihrer Vermählung in das Treiben einer communistischen Gemeinde stürzen wollte, wenn sich auch niemand würde beikommen lassen, sie mit einem banalen Scherze zu necken. Von den 100 Bräuten, die sich neulich vermählt, [S. 197] hätte sich gewiß keine zu beklagen, und wollte man Gleichheit in dem Sinne fordern, wie sie die Gegner des Collectivismus schildern, so wäre die Welt allerdings recht armselig. Im Gegentheil sei der Communismus die Quelle des Reichthumes und gerade darum, weil jede Sache allen dient, während nach der alten Gesellschaftsordnung dieser Pavillon für immer wäre abgesperrt worden.
Er sprang auf und rief: “Nun muß ich aber zur Volksabstimmung. Kommt mit!”
Die Abstimmung bereitete sich schon vor. Anzeichen einer großen Bewegung gingen durch die Bevölkerung. Alle Spaziergänger kamen heim, die Badenden stiegen aus dem Wasser, die Kinder wurden unter die Obhut der Mädchen gestellt, welche noch nicht volle achtzehn Jahre alt waren und daher noch kein Stimmrecht besaßen, auf welche man sich aber vollkommen verlassen konnte; auch aus den Ställen und Wirtschaftsräumen und den Krankenstuben kam alles hervor, was stimmberechtigt war, und auch Kranke, die sich weiter schleppen konnten, und Reconvalescenten kamen in den Bibliothekssaal und wurden theilweise hereingetragen, denn niemand soll sich der Abstimmung enthalten. Da wir Fremde waren und in Oesterreich nicht stimmen durften, erhielten wir im Bibliothekssaale als Zuseher und Zeugen einen abgesonderten Platz angewiesen, die Tiroler aber und einige andere Gäste aus Polen und Ungarn sonderten sich auch ab, weil ihre Stimmen besonders gezählt werden mußten. Am Telephon [S. 198] nahmen zwei alte Herren Platz und der Beamte mit dem Tribun bestieg eine erhöhte Bühne, von wo aus er den ersten Antrag und dann den zweiten laut vorlas. Als die Uhr, welche nicht nur die Ortszeit, sondern auch eine gesetzlich festgesetzte mittlere Reichszeit anzeigte, auf 7 Uhr Reichszeit stand, forderte der Beamte die stimmberechtigten Einwohner auf, zunächst über den Antrag Eins abzustimmen, und sollten die “für” nach rechts, die “dagegen” nach links sich aufstellen. Es wurde nun von den beiden Beamten genau ausgezählt und zugleich zählten zwei Vertrauensmänner von einem erhöhten Standpunkte aus die Stimmen ab und traten dann alle vier Stimmenzähler mit den schriftlichen Notizen zusammen und verkündeten einstimmig, daß 810 “Nein” und 198 “Ja” gezählt worden seien, und erklärten sie ferners, daß die beiden Beamten und einer der Vertrauensmänner mit “Nein”, der zweite Vertrauensmann mit “Ja” gestimmt hätten, daher 813 “Nein” und 199 “Ja” abgegeben worden seien. In Tulln schwankte nämlich die Zahl der Stimmberechtigten zwischen 1000 und 1100, weil es als Bezirksvorort eine Einwohnerschaft von nahezu 1500 Köpfen hatte. Dann wurde ebenso die Stimmenabgabe für die zweite Frage eingeleitet.
Nun stimmten die Fremden nach Provinzen und dann wurden die Vertrauensmänner mit den beiden Beamten abgeordnet, die Stimmen im Krankensaale abzunehmen, wodurch noch 13 beziehungsweise 10 verneinende und 8 beziehungsweise 11 bejahende [S. 199] Stimmen ermittelt wurden. Das Totale für Antrag Eins war also 826 zu 207, für Antrag Zwei aber 801 zu 232.
Vor allen Zeugen postirten sich nun der Bezirksbeamte und der Bezirkstribun, welche ihre Stimmen als Ortsinsassen abgegeben hatten, an das Telephon, wo auch die beiden Alten Platz genommen hatten. Jeder dieser vier Männer ergriff nun ein Hörrohr und erwarteten sie die Nachrichten. Zuerst lief Langenlebarn mit 425 “Nein” und 205 “Ja” für Frage Eins ein, dann die Zahlen für Antrag Zwei, immer auch mit besonderer Angabe der Abstimmung der Fremden, und so von Tulbing, Königstetten, dann St. Andrä und so weiter. Nun wurden noch die Abstimmungen von Tulln überallhin zurückgerufen, und es ging dann ein längeres Hin- und Herverbinden der Leitungen zwischen den einzelnen Orten an, wo man sich direct über die Abstimmung erkundigte, bis schließlich jeder Ort des Bezirkes wußte, wie in jedem anderen Orte das Stimmenverhältniß gewesen, und dann rechnete jede Gemeinde für sich. Der Beamte verkündete das Stimmenresultat mit 8350, beziehungsweise 9010 “Nein” und 4110, beziehungsweise 3450 “Ja” und machte die verhältnißmäßig hohe Ziffer der Minoritätsvoten Sensation, da man glaubte, die Anhänger der Anträge würden eine viel größere Niederlage erleiden. Auch die anderen Ortschaften hatten das Ergebniß der Abstimmung im Bezirke genau übereinstimmend angegeben und war also kein Zweifel über die richtige Stimmenzählung. [S. 200] Das Ergebniß wurde sofort nach St. Pölten gemeldet. Man schritt zur Abfassung der Protocolle, die laut verlesen, genehmigt und von dem Beamten und Tribun unterschrieben wurden. Das Protocoll für den Bezirk fertigten der Bezirksbeamte und der Bezirkstribun.
Nun plauderte man eine Weile und verharrte in einer etwas erwartungsvollen Stimmung. Viele hatten mittlerweile das Abendbrot zu sich genommen, als ein Zeichen vom Telephon erscholl und jedermann wieder in den Saal gerufen wurde. Es lief jetzt um neun Uhr die Meldung über das Abstimmungsverhältniß im Kreise ein, und um halb zehn Uhr erfuhr man, wie die Provinz, um zehn Uhr, wie das Reich abgestimmt hatte. Alle Nachrichten wurden in Gegenwart aller Anwesenden laut an die Gemeinden des Bezirkes weiter bekannt gegeben.
Allgemeine Befriedigung wurde laut, als man hörte, daß nur etwa ein Fünftel für Abschaffung des Adels und ein Zwölftel für Aufhebung der Monarchie stimmten und es bestand offenbar im Bezirke eine etwas größere Verstimmung gegen Adel und Monarchie, als anderwärts.
Nun trat Dr. Kolb zu uns und sagte, daß jetzt in allen Kreis- und Provinzstädten besondere Zeitungsblätter gedruckt würden und daß wir am nächsten Morgen um 7 Uhr unfehlbar im Kreisblatte, Provinzialblatte und Reichsblatte den genauen Abstimmungsbericht, wie auch die Statistik derjenigen finden würden, die an fremden Orten gestimmt oder sich der Abstimmung enthalten hätten oder gar zur Abstimmung [S. 201] nicht erschienen seien. So fanden wir es dann auch am anderen Morgen und es stimmten alle gedruckten Daten untereinander ganz genau überein; man hatte sich nirgends verzählt. So war auch genau ersichtlich, wie viele Bürger in jeder Provinz ortsabwesend und wie viele fremd waren, und verglich man alle Ziffern, so fand man genau, daß alle Ortsabwesenden in irgend einer anderen Provinz gestimmt hatten.
Kolb sagte, nirgends wären die Bürger so gewissenhaft, als in Oesterreich, und es gab, abgesehen von etwa 45 000 Oesterreichern, die im Auslande reisten, nur 3 110 Stimmenenthaltungen, während der abgegebenen Stimmen 22 846 010 waren.
Es interessirte meinen Freund, Mr. Forest, das Publicationswesen und da er wußte, daß auch eine Fremdenstatistik publicirt werde und in Tulln, als dem Bezirksorte, alle Kreisblätter aufliegen, nahm er die Nummern vom Juli und zeigte er mir dann ganz befriedigt, daß am 13. Juli 2020 im Bezirke Salzburg, am 14. und 15. im Bezirke Tulln &c. und überall, wo wir die Nacht zubrachten, zwei Amerikaner notirt seien, nur in Wien waren wir mehrere hundert Amerikaner und in Gloggnitz, wohin das Semmeringhotel gerechnet wird, waren unser fünf, und an einigen größeren Orten war eine größere Anzahl verzeichnet. Auch der Chinese war da, auf den wir zweimal gestoßen, und mit der Gesammtzahl der überall ausgewiesenen Fremden stimmte wieder der Gesammtausweis der Einbruchstationen, [S. 202] welche täglich die ankommenden und abreisenden Ausländer anzeigen und mit Hinzurechnung der Ziffer vom Vortage die Gesammtzahl der in Oesterreich reisenden Fremden angeben. Ebenso weiß man genau, wie viele Oesterreicher im Auslande reisen.
Wir blätterten nun in den Zeitungen der Monate Juni und Juli und zwar sowohl in mehreren Kreisblättern, als auch in den Provinzblättern und der Reichszeitung, und fanden überall die heute entschiedenen Fragen erörtert. Jedes solche Blatt besteht aus zwei gesonderten Abtheilungen, der Abtheilung der Staatsverwaltung und der Abtheilung des Volkstribunates, und steht die Redaction dieser Abtheilungen dem Staatsbeamten beziehungsweise dem Tribun für den betreffenden Amtsbezirk zu. Das Tribunat veröffentlicht nicht nur seine eigene Anschauung über schwebende Anträge, sondern es berichtet auch über Probeabstimmungen der Gemeinden, faßt die Berichte der untergeordneten Tribunen zusammen, erwägt Argumente für und wider und ist verpflichtet, auch die Einsendungen Einzelner wenigstens so zu erwähnen, daß neue Argumente und Gesichtspuncte nicht ganz verloren gehen. Insoweit es sich um statistische Daten und andere Beobachtungen handelt, unterläßt es kein Theil, etwa irrige Anführungen des Gegners richtig zu stellen, und ist auch eine solche Richtigstellung oft noch in derselben Nummer zu finden. Bei sehr wichtigen Anträgen werden auch Reden, welche öffentlich gehalten wurden, ganz abgedruckt, wenn es das Tribunat oder die Staatsverwaltung zweckmäßig findet.
In später Nacht nach jener Volksabstimmung saßen wir noch lange auf, um mit Dr. Kolb zu plaudern, denn am nächsten Morgen, Sonntag, den 2. August 2020, wollten wir Tulln verlassen und nach Tirol reisen. Es wäre zwar schon Sonntag Abends unsere vorausbezahlte Reisefrist abgelaufen, aber wir hatten, da wir doch einiges im Salzburgischen und in Tirol sehen wollten, unsere Reise um fünf Tage verlängert. Da wir auch für 3000 Mark Geschenke, darunter eine herrliche Statue von Dr. Kolb, in Bronce gegossen, bestellt hatten, die wohl schon schwimmen mochten, so war bei der Verwaltung in Salzburg auf unser dort deponirtes Guthaben von 9000 Mark dieser Betrag von 3000 Mark und ebenso das Reisegeld für fünf Tage von 250 Mark angewiesen und veranlaßt worden, daß wir unser Restconto von 5750 Mark in Bregenz, wo wir Oesterreich verlassen wollten, in Baarem oder einem Wechsel der österreichischen Staatsverwaltung sollten beheben können.
Die Einkäufe hatten wir im Prater gemacht, [S. 204] wo die Rotunde zu einer großen Waarenhalle war umgestaltet worden. Für Einheimische und die europäischen Staaten war dort keine Verkaufsstelle, wohl aber konnten Fremde aus Staaten, in welchen noch Geldwirthschaft bestand, dort Einkäufe machen. Nach den dort aufgegebenen Bestellungen wurden dann die Aufträge wie von einem Kaufmann ausgeführt, nachdem vorher Zahlung war geleistet worden. Oesterreich handelte damals, wie alle europäischen Staaten, in Mark Gold und die auf diese Art einlaufenden Beträge, welche alljährlich etwa 500 Millionen Mark ausmachten, wurden theils zum Ankaufe von Waaren in Amerika, China, Japan und auf englischen Gebieten verwendet, theils bestritt man davon jene Reisen in solchen Ländern, welche Oesterreicher mit staatlicher Bewilligung dorthin unternahmen. — Diese Reisen wurden meistens Technikern, Künstlern und Gelehrten ermöglicht, es hatten aber besonders verdienstvolle Männer, Erfinder, hohe Staatsbeamte und solche, die es im Tribunat mindestens zum Range eines Provinztribunen gebracht und in dieser Stellung drei Jahre ohne Vorwurf gedient hatten, Anspruch auf Reisegelder in bestimmter Höhe. Der der Staatsverwaltung für diese Zwecke ausgeworfene Credit wurde vom Volke bewilligt und wurden dabei die erfahrungsmäßigen Baareinnahmen, die Menge der Produkte, welche nach dem Auslande waren verkauft worden, der Bedarf an Waaren, die von dort bezogen werden mußten, und anderes in Betracht gezogen. [S. 205] Es wurde da immer ein gewisser Credit für eine Reihe von Jahren ausgeworfen, denn die alljährlichen Abstimmungen über solche Angelegenheiten schienen zu lästig und man verließ sich nicht nur auf die Tribunen, die ja in Fällen von Mißbrauch hätten Abstimmungen veranlassen können, sondern man hielt darauf, daß die Abrechnungen über Baareinnahmen und Baarausgaben allwöchentlich veröffentlicht und ausgewiesen wurde, wozu die Einnahmen verwendet wurden. Auch die Civilliste konnte ihren Antheil am Jahresprodukte innerhalb gewisser Grenzen nach dem Auslande verkaufen und entweder Waaren dafür beziehen oder Auslandsreisen davon bestreiten. Was aber letztere Aufwendung betraf, so mußte ausgewiesen werden, daß ein gewisser Betrag nicht überschritten wurde. Reisen im Unionsgebiete wurden von der Civilliste der einzelnen Länder reciproc zugestanden und der Aufwand wechselweise ausgeglichen oder richtiger, wechselseitige Gastfreundschaft geübt.
Nun wollten wir doch ein wenig nüchtern wie Kaufleute rechnen und prüfen, ob wir billig daraus gekommen wären. Mr. Forest berechnete, was uns unsere Reise in Amerika würde gekostet haben. Er bekannte, daß wir mehr als die Hälfte von dem, was wir in Oesterreich genossen, dort gar nicht würden haben finden können, das Uebrige aber berechnete er für zwei Personen, die Waaren eingeschlossen, auf 2560 Dollars oder 10746 Mk. 97 Pf., so daß uns 6496 Mk. 97 Pf. Profit erwachsen waren.
Dr. Kolb meinte, daß das eine natürliche Folge des Principes sei, nicht durch Kauf und Verkauf zu vertheilen, sondern alles direkt dem Verbrauche und Genusse zuzuführen, wodurch eine viel vollständigere Ausnützung erzielt wird und Handlungskosten erspart werden. Uebrigens sei der Oesterreicher auch gastfreundlich, er habe nichts dagegen, dem Fremden mehr zu bieten, als dieser bezahlt, da man der Meinung sei, daß der Verkehr mit Ausländern an und für sich ein Gewinn sei. Er rege den Geist an, entwickle neue Ideen und es sei auch nicht ohne Nutzen, sich im Auslande Freunde zu machen. Zudem sei der Oesterreicher mit jenen Genüssen übersättigt, die den Ausländer oft entzücken, und da nicht nur die Berufsmenschen für Zerstreuung und Unterhaltung in immer wechselnden Formen sorgen, sondern jeder, der nur die erforderliche Gabe besitzt, das seinige zur Unterhaltung beitrage, so gebe es in Oesterreich vieles, was das Volk nichts koste, im Auslande aber mit theuerem Gelde bezahlt werden müßte. Der hohe Bildungsgrad, der in Oesterreich erreicht wurde, sei die Ursache, daß man sich in diesem Lande gar nicht langweilen könne. Jeder Oesterreicher reise 14 Tage mindestens im Jahre, da man alle Feiertage abgeschafft und dafür jedem das Recht eingeräumt habe, jährlich einen 14tägigen Urlaub anzusprechen. In dieser Zeit stehe ihm das Reisen in Oesterreich frei, wenn auch der Aufenthalt in den Städten beschränkt sei. Aber es sei schon von Interesse, in anderen Provinzen [S. 207] sich umzusehen, andere Gewerbe, Verfahrungsweisen, Spiele und Kunstfertigkeiten kennen zu lernen. Nun kommen die Urlauber aus allen Theilen des Reiches zurück, befruchtet mit neuen Eindrücken und Erfahrungen, was den Erfindungsgeist belebe und dazu führe, daß die mannigfaltigsten Unterhaltungen und Spiele heimgebracht und wieder neues und originelles ausgeheckt werde.
Nun baten wir unseren Freund, uns noch näher zu erklären, weshalb die Monarchie und der Adel bei den veränderten Bedingungen, besonders nachdem es eigentlich keine internationale Politik mehr gebe, doch noch eine Existenzberechtigung hätten, und er sagte, das wolle er uns begreiflich machen. Dr. Kolb hub an: “Ich werde euch die Aufgaben der Monarchie und des Adels in unserem Lande klar machen und dabei auch meine Eigenart und was ich für meinen, erst im höheren Alter freiwillig gewählten Beruf halte, erläutern.
Monarchie und Adel sind bei uns erblich, sie sind ein Restchen aus der alten Zeit des Classenstaates, aber es sei mir erlaubt, für deren Erhaltung doch auch eine Rechtfertigung vorzubringen. Die Aufgabe des Monarchen ist zwar zum Theile auch eine praktische, der Monarch hat die wirthschaftlichen Angelegenheiten des Reiches unter Mitwirkung verantwortlicher Beamten in höchster Instanz zu leiten, auch dort, wo es sich um Ersätze von Provinz zu Provinz oder um Differenzen zwischen Nationalitäten handelt, die oberst richterliche [S. 208] Entscheidung zu fällen. Aber die Hauptfunction des Monarchen und die Aufgabe des Adels ist die Pflege der höchsten idealen Interessen des Volkes. Obwohl, wie wir recht gut wissen, auch die idealen Güter ihre Rückwirkung auf die ökonomische Welt haben und sie immer Ansprüche an die ökonomischen Güter machen oder materiellen Aufwand verursachen, so ist doch die ästhetische Seite des Menschenlebens dem materiellen Leben gewissermaßen entgegengesetzt; sie ist scheinbar immateriell, weil das Materielle im Verhältnisse zum Werthe, die diese Güter für den Menschen haben, unscheinbar und der materielle Nutzen des Aesthetischen nicht in die Augen springend ist. Gewiß concipirt der Dichter sein Gedicht ohne Zuhilfenahme von Materie, ausgenommen insofern das zum Denken und geistigen Schaffen unentbehrliche Organ, sein Gehirn, materiell ist. Will er das Gedicht aber verbreiten, so braucht er Feder, Papier und Tinte, dann Druckerschwärze und Arbeitskräfte, deren Erhaltung wieder materielle Mittel voraussetzt und so findet sich, daß die Kunst, will sie auf andere wirken, auch der Zufuhr materieller Hilfsmittel bedarf. Dagegen kann man nicht sagen, daß sie nicht auch an die materielle Welt das wieder reichlich zurückgibt, was diese ihr zuwendet. Genießen Millionen das, was der Dichter schafft, so belebt das wieder die Lebensfreudigkeit jener Bevölkerung, die in der materiellen Güterproduction wirken muß; die Kunst selbst kann zum Schaffen anspornen, [S. 209] sie zeigt, wie selbst das Handwerk durch die Kunst geadelt wird, wie das z. B. im Liede von der Glocke zum Ausdrucke kommt; sie weist auf den Verband hin, der unter allen Thätigkeiten der verschiedensten Menschen besteht, und, da die Leute, die mit der Hand schaffen, durch die Kunst auch wieder zu edleren Genüssen hingeleitet werden, so kommt sie der Oekonomie insofern zustatten, als sie von jenen gröberen Genüssen ablenkt, welche oft die Menschen erschlaffen machen, unter allen Umständen aber zur Vergeudung materieller Güter führen. Bei den Wissenschaften ist der Verband zwischen der idealen Production und der ökonomischen Welt deutlicher, bei der Kunst ist dieser Zusammenhang beinahe unmerklich und man spricht von rein idealen Gütern, obschon das auf einem Irrthume beruht; denn frei von Materie kann nichts gedacht werden. Immerhin nun ist die ästhetische Seite des menschlichen Lebens das, was am wenigsten Ansprüche an die Materie stellt und doch in der ökonomischen Welt mächtig mitwirkt und die Menschen lehrt, sich die materiellen Güter auf die zweckmäßigste Weise zu Nutzen zu machen. An meinen Statuen erfreuen sich Millionen und ich werde bald sagen können, daß es keinen Oesterreicher giebt, dem ich nicht mit meiner Kunst einige kostbare Augenblicke freudigen Genusses verschafft habe. Und gewiß ist mein Lohn größer, der darin besteht, daß ich kein Dorf in Oesterreich wüsste, wo ich nicht gefeiert würde, wenn ich meinen Fuß hinsetze, als der eines Künstlers der früheren [S. 210] Welt, der mit Kunsthändlern zu schachern, mit Kritikern zu verhandeln hatte, den dann ein reicher Mann mit Geld abfertigte und der oft in recht gemeiner Weise das Geld wieder anzubringen bedacht war. Meine Kunst gehört aller Welt, dafür erobere ich mir aber auch damit die ganze Welt, denn als anerkannter Künstler bin ich überall geehrt, ich reise wohin ich will, ich bin in Madrid ebenso willkommen, wie in Irkutsk, und will ich fremde Welttheile durchstreifen, so wird mir mein Vaterland die Mittel verschwenderisch anweisen, denn ich habe mit meiner Kunst vorausgezahlt und man weiß daß der Künstler schaffen muß, daß ihn sein Genius treibt und daß sich alles, was ich auf Erden sehe, wieder in Statuen umsetzen und dem Vaterlande wieder Gewinn bringen wird. Daß ich diesem Vaterlande nicht untreu werde, das bezweifelt niemand, und da die europäischen Staaten im engsten Verbande stehen, würde auch, was ich den Spaniern oder Schweden schenke, für mein Oesterreich nicht verloren sein. Der Ruhm bleibt aber doch den Meinen, denn nie wird man vergessen können, daß ich hier geboren und hier zum Künstler wurde, und wie ich längst in der Chronik von Tulbing verzeichnet stehe, wo meine Wiege stand, und in der Chronik von St. Pölten, wo ich dauernd als Kreisarzt wirkte, wird mich auch die Geschichte von Tulln erwähnen, wo ich vieler Freunde und eines Bruders wegen, der hier in Arbeit steht, seit drei Jahren am meisten weile und auch am meisten geschaffen habe.”
“Aber das allein ist nicht der Nutzen, den meine Kunst schafft, daß sie Unzähligen Freude macht. Ich begeistere mit meinen Werken für die plastische Schönheit, ich entwickle den Sinn für die Schönheit des Menschenleibes und predige allerorten die Lehre, daß am Menschen nur schön ist, was gesund ist, was kräftig ist und dem Wetter ebenso, wie den Unbilden des Lebens trotzen kann. Ich trage durch Kunstwerke und Lehre dazu bei, eine rechte Freude an schönen Menschenkindern wachzurufen, und so ist es dahin gekommen, daß jene, denen die Ehe versagt ist, sich damit getrösten, daß es eine für alle heilsame Enthaltsamkeit ist, die von ihnen gefordert wird, und daß jene, die in der Ehe leben, sich wie Priester betrachten, die an dem ungeheueren Werke mitarbeiten, eine Menschheit fortzuerhalten, die sich die Erde vollkommen unterwirft und einst alle Gottheitsideale in sich verkörpern wird. Wie das neunzehnte Jahrhundert die innerliche Einheit der Naturkräfte feststellte, haben wir zur Evidenz gebracht, daß die Ideen des Guten, Wahren und Schönen in ihrem Wesen nur ein Gesetz sind und das Gute nichts anderes ist, als das im menschheitlichen Sinne Zweckmäßige oder Oekonomische. Was einst nur wenige träumten, erfüllt jetzt ganz die Phantasie aller. Nicht müde werden unsere Jugendbildner, die Worte des Jesaias einzuprägen:
‘Denn siehe, ich schaffe einen neuen Himmel und eine neue Erde und dessen, was vorher war, [S. 212] wird man nicht gedenken, noch wird es kommen in den Sinn.’
‘Dann wird kein Kind sein, das nur Tage lebt, kein Greis, der seine Zeit nicht erfüllt; denn ein Knabe wird nur nach hundert Jahren sterben und ein Sünder von hundert Jahren verflucht werden.’
‘Sie werden Häuser bauen und bewohnen und Weinberge pflanzen und die Früchte davon genießen.’
‘Sie werden nicht bauen und ein anderer bewohnen, nicht pflanzen und ein anderer davon essen, denn die Tage meines Volkes werden sein wie die Tage des Baumes, und die Werke ihrer Hände werden ein hohes Alter erreichen.’
‘Meine Auserwählten sollen nicht vergebens arbeiten, noch Kinder zeugen mit Schrecken.’[H]
Und auch Petrus hat als das Werk des Zimmermannes von Nazareth uns bezeichnet:
‘Wir erwarten nach seiner Verheißung eine neue Erde, in welcher Gerechtigkeit wohnt.’[I]
Das alles haben wir, wenn nicht vollendet, doch vorbereitet und ich als Künstler gebe meinen Segen dazu; auch die menschliche Gesellschaft ringt nach jenen idealen Formen des Gleichgewichtes und der vollendeten Harmonie, nach denen jeder Künstler auf seinem Gebiete strebt. Ich in meinen gemeiselten Liedern vom schönsten Weibe, das, um schön zu sein, in allen Theilen jene herrliche Ebenmäßigkeit zeigen muß, die doch auch überall wieder, wenn wir es nüchtern betrachten, nur der Ausdruck für die größte Zweckmäßigkeit ist.
So nun ist die ganze Welt materiell und die ganze Welt, anders betrachtet, ideal. Kein Gebilde ohne Materie, keine Materie, die nicht in einem Gebilde gefangen säße. Allein unsere Arbeitstheilung bringt es mit sich, daß vielen auf dem Gebiete des Idealen das Schaffen, allen aber auf diesem Gebiete das Genießen und Empfangen zufällt.
Die Monarchie und der Adel nun sollen vorzüglich das Aesthetische im Leben nach ihrem Vermögen im Gange erhalten und insbesondere in den geselligen Formen zur möglichsten Vollendung bringen. Sie sind gewissermaßen von Geburt dazu berufen, dem Volke als Festordner zu dienen, zu jenen schönen Formen des Verkehres unter den Menschen anzuleiten, die zur Tradition werden müssen, die aber niemals zur Geltung gelangen, wo nicht ein edles Gleichheitsgefühl sich Bahn gebrochen hat. Die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts, wie sie Freund Zwirner, von dem ich vieles lernte, bereits ganz [S. 214] festgestellt hat, zeigt uns, wie die Monarchie sich damals verwandelte. — Zu Ende des achtzehnten Jahrhundertes waren der König von Frankreich und die Königin aus dem Hause der Habsburger auf dem Schaffotte hingerichtet worden. Ein armer Lieutenant erklomm in wenigen Jahren den Thron von Frankreich und wurde der mächtigste Monarch, vor dem die Fürsten zitterten und dessen Wagen gewissermaßen deutsche Fürsten nachliefen wie Schuljungen. Es gab da etwas zu lernen. Dieser Kaiser konnte nicht mit seiner Umgebung verkehren, wie ein Monarch alten Schlages. Als er einmal seinem Secretär Bourienne läutete, erklärte dieser, man könne ihm nicht wie einem Lakaien klingeln, und der Titan mußte die Zurechtweisung sich gefallen lassen. Die Monarchen wurden höflich. Während der König von Spanien noch im 18. Jahrhunderte, wenn seine Höflinge vor ihm kniebeugend defilirten, auf dem Throne saß, die Nase zum Himmel gereckt, um dieses Gewürm nicht zu sehen, verheirathete sich Ende des neunzehnten Jahrhunderts eine deutsche Prinzessin mit einem Arzte, der dritte deutsche Kaiser redete seine Garden mit den Worten: ‘Guten Morgen, Kameraden!’ an und ließ sich die Antwort gefallen: ‘Guten Morgen, Majestät!’ und man veränderte die Formen des Verkehrs sichtlich nach der Richtung, die einen völligen Umschwung im socialen Leben vorbereitete. Zwirner fand in einem Bande der ‘Neuen freien Presse’ aus dem Jahre 1890 einen Bericht, den ich euch hier vorlese:
‘Die englischen Zeitungen berichten eine Anzahl hübscher Züge aus dem Leben des kürzlich verstorbenen Cardinals Newman, dessen Leiche morgen Dienstag den 19. d. M. in Birmingham feierlich beigesetzt werden wird. Binnen kurzem sollen seine Briefe veröffentlicht werden. — Interessant ist seine in den Ansprachen an die Katholiken von Dublin abgegebene Definition eines Gentleman.’
‘Ein Gentleman, sagte Cardinal Newman, ist einer, welcher niemandem einen Schmerz verursacht. Der wahre Gentleman vermeidet alles, was seiner Umgebung mißliebig sein oder was auch nur einen Mißton hervorbringen könnte. Er weiß es so einzurichten, daß die Meinungen nicht aufeinanderplatzen, die Gefühle nicht verletzt werden, kein Verdacht ausgesprochen wird, daß kein Gegenstand berührt wird, der bei dem einen oder dem anderen Trauer oder verletztes Ehrgefühl wachrufen könnte. Er hat das Auge auf jeden einzelnen gerichtet, er ist zärtlich mit den Schüchternen, mitleidvoll gegen die Lächerlichen, er weiß sich immer zu erinnern, mit wem er spricht, über den Dienst, den er jemandem erweist, kommt er leicht hinweg, von sich spricht er nur, wenn er dazu gezwungen wird. Die Erfahrung hat ihn gelehrt, sich so gegen einen Feind zu benehmen, als sollte er dereinst sein Freund werden. Er muß nicht immer richtige Ansichten haben, aber ungerecht ist er nie. Auch wenn er selbst ungläubig ist, wird er den Glauben anderer weder verhöhnen, noch bekämpfen. Er wird alle Religionen toleriren, nicht nur, weil ihn die Philosophie Unparteilichkeit gelehrt hat, sondern auch, weil er das milde, beinahe weibliche Gefühl besitzt, welches eine der schönsten Errungenschaften der Cultur ist.’
Da uns diese Skizze vorgelesen wurde, gedachte ich des Kaisers Rudolf in Lacroma. Der erste Gentleman in Oesterreich war dieser Fürst. Wie erhob er alle zu sich, wie lehrte er alle unbemerkt Unschickliches vermeiden, wie wußte er den gewagten Versuch, zu dem sich Anselma verleiten ließ, vor übler Nachrede sicherzustellen, und wie blieb er, nur noch primus inter pares, so ganz Kaiser.”
Dr. Kolb fuhr nun fort: “Diese Formen nun hatte der bessere Theil der Aristokratie im neunzehnten Jahrhunderte angenommen und so hatte sich die herrschsüchtigste und roheste Kaste in ein Element der Versöhnlichkeit verwandelt, und der Aristokrat von wirklich guter Erziehung war im socialen Leben gewiß von Nutzen. Freilich haben diese Leute oft das, was sie im Stillen doch nur für Herablassung halten mochten, dahin aufgefaßt, der Aristokrat müsse sich mit den Gemeinen gemein machen, und sie suchten nicht das auf, worin der Mensch dem Menschen gleicht, das Recht und die Würde, die ihm die Natur mitgibt, sondern die Degradation, die zwar dem Einzelnen nicht anzurechnen, die ein Erzeugniß der herrschenden Mißstände ist, der gegenüber man duldsam sein muß, an der man aber [S. 217] darum nicht Antheil nehmen darf. Es gab hohe Aristokraten überall, welche die gemeinsten Dirnen zu sich riefen und dem Bänkelsänger um der Rohheit wegen Gehör schenkten, die ihr Gefallen erweckte. Von dieser Versunkenheit mußte der Adel wieder gereinigt, darüber aufgeklärt werden, daß er zu dienen hat, wie jeder andere Stand, aber es wurde auch anerkannt, daß er im Vereine mit der Dynastie eine bevorzugte und erbliche Stellung einnehmen könne, wenn er sich vom wirthschaftlichen Getriebe und von der Ausbeutung des arbeitenden Volkes ganz frei macht, sich auf vom Volke ausgeworfene Mittel beschränkt und selbe nicht für eine exclusive, volksfeindliche Gesellschaft, sondern im Interesse des gesammten Volkes verausgabt, und zwar wesentlich in dem Sinne, daß die Kunst und die Geselligkeit in ihrer edelsten Form gepflegt werden. Man findet, daß zum mindesten die Pflege einer verfeinerten Geselligkeit und die Veranstaltung von Festen im großen Style am besten solchen Menschen anvertraut werden kann, welche, von Jugend auf dazu bestimmt und erzogen, eine gewisse Tradition dafür mitbringen und auch in ihrer äußeren Erscheinung einen gewissen Adel ausgeprägt zeigen. Das hat es möglich gemacht, daß wir Adel und Monarchie beibehalten konnten, und wir haben uns so zusammengewöhnt, daß wir nicht glauben, es werde je ein Antrag auf Abschaffung der Monarchie oder des Adels die erforderliche Stimmenzahl finden. Uebrigens ist die Zahl der adeligen Familien klein und daß [S. 218] man dem Monarchen und dem Adel die richtige Stellung anwies und ihnen im Gesammtleben des Volkes einen Platz vorbehalten konnte, erleichterte den Sieg der neuen Ideen. Denn zur Zeit der Geburtswehen, die diesem Umschwunge vorhergingen, hatte der alte Adel seinen Glanz und Reichthum neben einer täglich wachsenden plebejischen Plutokratie kaum mehr behaupten können und nur durch den Uebergang in das Lager der Reformer konnten die Aristokraten diesem Aufwuchern neben sich Einhalt gebieten und wieder zu einer bevorzugten Stellung gelangen. Uebrigens ist es ein verfassungsmäßiger Grundsatz, daß die Töchter der adeligen Geschlechter sich nicht innerhalb dieser nicht zahlreichen Familien vermählen, und daß diese daher sich immer frisches Blut aus dem Volke holen. Auch findet eine Art von Auslese innerhalb der männlichen Glieder dieser Häuser insofern statt, als mißgebildete Söhne den Adel nicht fortpflanzen.”
Wir waren mit diesen Erklärungen ziemlich zufriedengestellt, wenn auch ein Amerikaner von Monarchie und Adel nichts wissen will, und wir erkundigten uns, wie man es in Oesterreich mit Schwachen, Kranken und Krüppeln halte.
“Habt ihr nicht in der Schuhmacherwerkstätte jenen verstümmelten Mann gesehen,” sagte Dr. Kolb, “der auf einem eigens für ihn gebauten Stuhle sitzt und eine Nähmaschine bedient, die durch den Motor betrieben wird? Denn beide Beine sind ihm hoch über den Knieen von einer Maschine weggerissen [S. 219] worden. Er arbeitet genau und unermüdlich und stellt seinen Mann, er sagt, er wolle seine Zeche selbst bestreiten. Unmerklich kommt ihm alles heran, was er braucht und die fertige Arbeit verschwindet, denn andere thun für ihn, was er nicht selbst besorgen kann, weil er keine Beine hat. Ehe er sich's versieht, hat ihn jemand auf die Schulter genommen, wenn es zur Arbeit oder zur Mahlzeit geht. Immer ist jemand in der Nähe wachsam, seine Wünsche zu errathen oder ihm, was er nöthig hat, zu besorgen, und so geht's zu Tische und dann im Rollstuhle wohin es ihn gelüstet. Man setzt ihn in seinen eigenen Schwimmsattel, wenn er baden geht. Doch ist er niemand zur Last, denn tausend Arme und Hände sind's, die ihm dienen. Man liest ihm von den Augen ab, was er will, und man weiß, daß er immer dabei zu sein verlangt, wenn die Mädels und Burschen tanzen, denn er sagt, er habe sich so in die anderen hineindenken gelernt, daß er meine, er selber tanze wie toll, wenn es sich im Wirbel um ihn dreht.”
“Was ihr aber nicht gesehen habt, das will ich euch jetzt verrathen. Er hat auch sein Weib, sein eigenes liebes Weib. Es ist das jene Stepperin, die mehr noch als alle anderen die Augen auf ihm hat, die sich nicht am meisten an ihn herandrängt, aber gewiß immer einspringt, wenn der Arme plötzlich durch Zufall irgendwo allein bleibt, die ihm die besten Bissen zuträgt und mit der größten Fröhlichkeit um ihn herum sich zu schaffen macht, als [S. 220] gäbe es kein größeres Glück, als die Beine an den Mann gebracht zu haben. Sie war in jungen Jahren schwächlich und sollte nicht heirathen und war recht verdrossen. Da erholte sie sich, ihre Lunge kräftigte sich, sie wurde das Bild der Gesundheit und als man sie jetzt unter die künftigen Ehefrauen einreihen wollte und ihr die Zöpfe wachsen ließ, trotzte sie und schnitt sich die Haare immer wieder ab. Man meinte, sie entsage aller Liebe und wolle der Gesellschaft nicht die Kränkung vergeben, daß man sie zurückgesetzt hatte. Da brachte man den blutenden Mann aus dem Maschinensaale, auch verstümmelt und halb, wie das Weib, das den Mann nicht haben soll, den es liebt, und Kinder zeugen und in den Armen geliebter Menschen sterben. Während der langen Leiden, die der Operation nachfolgten, pflegte sie den Armen in den Stunden, die ihr die Arbeit freigab. Sie kam anfangs häufig, dann immer öfter, schließlich wich sie nicht von seinem Bette und fing an, mit ihm zu scherzen und zu lachen, daß er alles Unglücks vergaß und ein lustiger Mann wurde, der derjenigen spottete, die Beine brauchen, um sich durch's Leben zu helfen. Sie war die erste, die ihn im Rollstuhle ins Freie brachte, aber sie machte doch auch anderen Mädchen gerne Platz, damit es dem Verstümmelten nicht an Freundinnen gebräche. Wir Communisten wollen uns nicht immer nur an einen hängen wir wollen alles besitzen und alle zu Freunden haben. Und so hielt sie sich in der Reserve und lehrte alle, wie [S. 221] sie es ihm am besten machen konnten. Und da der arme Jakob nicht der Welt nachlaufen konnte, wie wir alle, lief die Welt dem Jakob nach und er wurde der fröhlichste Mensch in Tulln, dem es an nichts gebrach und der nur wünschen durfte, auf einen hohen Berg zu gelangen, um sicher zu sein, dahin gebracht zu werden.”
“Und nun brach sich der Trotz der schönen Anna. Jetzt ist der Mann hergestellt und versorgt, jetzt soll er auch sein Weib haben. Nicht nach den Gesetzen der Gesellschaft, nein, ihr eigenes Gesetz wollte sie machen, der gerade sollte glücklicher werden, als alle anderen; das jetzt in Schönheit, Gesundheit und Fröhlichkeit strahlende Weib sollte er besitzen, gerade der sollte jetzt vor allen begünstigt sein und sie erklärte ihm, er müsse ihr Mann werden. “So wie ich es will, Jakob, ich will es so, gerade du sollst ein Liebesglück genießen, wie ein Olympier; nimm mich und ich werde es niemals in meinem Leben bereuen.” Und er nahm sie guten Muths, er vertraute, daß sie ihm, was sie ihm in dieser Stunde bot, niemals wieder rauben würde. Und so geschah es; sie sind ein glückliches Paar und niemals sah man sie verdrießlich oder besorgt, eifersüchtig oder gleichgültig. Der Fremde sieht es kaum, daß die zwei Mann und Weib sind. Es hat sie niemand getraut und sie haben keine Kinder, aber sie hängen so fest zusammen, als wären sie nur ein Leib. — Man machte mit ihnen auch eine Ausnahme. Es ist Liebesleuten, die nicht gesetzlich verheirathet [S. 222] sind, sonst das Zusammenwohnen nicht gestattet. Auch nächtliche Zusammenkünfte werden strenge geahndet. Aber in diesem Falle, wo so viele Gründe der Billigkeit zusammentrafen und wo es sich um die Pflege eines Mannes handelte, der auf die Hilfe anderer angewiesen war, gestattete man, was sonst verpönt war. Die Gesellschaft hatte ja auch auf einen Mann Rücksicht zu nehmen, der in der Arbeit war verstümmelt worden.”
“So verstehen wir die Nächstenliebe und so weiß sich der, dem die gesellschaftliche Ordnung nicht ganz gerecht werden kann, sein eigenes Glück zu zimmern. Wüchsen dem Jakob die Beine, es wäre vielleicht aus mit seinem und seiner Anna Glücke. Und nun, Freunde, hören wir Dr. Leete und Mr. Forest.”
“Dr. Leete hat dich, lieber West, wie folgt belehrt:”
“Ich muß auch noch erwähnen, sagte er, daß wir für diejenigen, welche in geistiger oder körperlicher Hinsicht zu schwach sind, als daß sie billigerweise in das Hauptheer der Arbeiter eingereiht werden könnten, eine besondere Classe haben, die außer Zusammenhang mit den anderen ist, eine Art Invalidencorps, dessen Mitgliedern leichtere, ihren Kräften angemessene Arten von Arbeiten zugewiesen werden. Alle unsere geistig oder körperlich Kranken, alle unsere Taubstummen, Lahmen, Blinden und Krüppel und selbst unsere Irrsinnigen gehören zu diesem Invalidencorps und tragen dessen Abzeichen. Die Stärksten unter ihnen leisten oft beinahe die volle Mannesarbeit, die Schwächsten natürlich nichts, aber keiner, der irgend etwas thun kann, will die Arbeit ganz aufgeben. In ihren lichten Augenblicken beeifern sich sogar unsere Irren, zu thun, was sie können.”
“Die Idee des Invalidencorps ist wirklich gut,” sagte ich. “Selbst ein Barbar aus dem neunzehnten Jahrhunderte muß das einsehen. Sie ist eine sehr schöne Art, die Mildthätigkeit zu verhüllen, und muß für die Gefühle der die Gaben Empfangenden sehr wohlthuend sein.” — “Mildthätigkeit!” wiederholte Dr. Leete. — “Meinten Sie, daß wir die Classe der Untauglichen, von der wir sprechen, als Gegenstände der Mildthätigkeit ansehen?”[J]
“Wie hölzern ist die Versorgung der Untauglichen aufgefaßt, wie grausam, alle Krüppel zu einem besonderen Corps mit besonderen Abzeichen zusammenzuthun, und wo bleibt da das wahre Mitgefühl, wenn man die Leute nur eben abfüttert, wie abgerackerte Hausthiere? — Und was sagtest du, lieber Forest?”
“Nun hat ohne Zweifel,” fuhr Forest mit großem Nachdrucke fort, “jedermann ein natürliches Recht auf die Früchte seiner Thätigkeit. Wir nehmen aber dem tüchtigen Arbeiter des ersten Grades einen Theil seiner Arbeitserzeugnisse fort, um sie einem faulen Kerl aus der sechsten Abtheilung zu geben. Das ist natürlich offenbare Räuberei, die sich nicht einmal unter dem schäbigen Mäntelchen eines “Regierungsgrundsatzes” verbirgt; denn durch die Einteilung der Arbeiter in sechs Abtheilungen wegen verschiedener Befähigung erkennen wir ja ausdrücklich an, daß es mit der Gleichheit nichts ist! Demnach werden alle diejenigen, welche diese Beraubung der Fleißigen zu Gunsten der Faulen nicht als Handlung höchster Staatsweisheit bewundern mögen, als Feinde der besten Gesellschaftsordnung verdammt, von welcher die Geschichte der Menschheit uns meldet?”[K]
“Schäme dich, lieber Freund, dieser Anwandlung von Brutalität! Unter uns ist keiner, der nicht morgen in die Lage des armen Jakob gerathen kann. Ueberall kommen wir mit Maschinen in Berührung, die Eisenbahn schleppt uns mit großer Sicherheit herum, aber wir haben doch alljährlich über hundert Eisenbahnunfälle und die Statistik beweist, daß alle Jahre einer unserer Mitbürger die zwei Beine geradeso verliert, wie unser Jakob. Der Kaiser ist so wenig sicher davor, wie der Tischler, der mit den besonders bösen Holzbearbeitungsmaschinen zu thun hat, oder ein Eisenbahnbediensteter. Was wir diesen Armen thun, thun wir uns selbst, wir wissen, daß der Oesterreicher glücklich ist, wenn er auch zum Krüppel wird. Und wir wissen noch etwas, daß, so groß auch das Glück ist, das uns die Gesellschaft als solche sichert, immer noch das beste das ist, was ein liebendes Herz allein uns sein und uns allein bieten will.”
“Aber auch der Faule, von dem die Parasiten des neunzehnten Jahrhundertes mit so großer Verachtung sprachen, ist nicht mehr schuldig, als der Krüppel. Die moralische Welt ist genau so an die strengsten Gesetze gebunden, wie die materielle. Was immer an uns schlecht ist, ist uns von Geburt aus mitgegeben oder durch die Erziehung erworben. Keiner von uns thut, was seine Laune ist, sondern er thut, was er nicht lassen kann. Alle Eigenschaften der Menschen so auszunützen, daß sie der Gesellschaft doch wieder zum Vortheile gereichen, das ist die Aufgabe der Verwaltung. Wo sie das aber nicht kann, müssen wir unserer Mitbürger Gebrechen tragen lernen, wie die üble Ausdünstung eines Kranken. Wir fahren dabei auch am besten, wir bringen keine Opfer, wenn wir alle versorgen.”
“Läßt sich die moralische Krankheit heilen, wozu wir ja auch ein System von Disciplinarstrafen anwenden können und in früheren Zeiten oft angewendet haben, dann werden wir nicht anstehen, es zu thun, aber da wir moralische Krankheiten genau so wie physische ansehen und angeborene den erworbenen gleichstellen, so lassen wir niemand zu Grunde gehen und die Gesellschaft hat davon nur Vortheil. Wenn aber jemand fände, das sei ungerecht oder Räuberei, wie du das bezeichnest, so hüten wir uns, ihm Gewalt anzuthun.”
“Nun, wie verfahrt ihr dann?” frug Mr. Forest.
“Wir erlauben ihm wie jedem anderen auszuwandern, aber wir vertreiben ihn nicht gegen seinen Willen aus dem Lande. Wir geben ihm auch, wenn er es wünscht, seinen Theil am Volksvermögen ein und einhalbmal heraus, nach seiner Wahl Grund und Boden, Wohnung oder Baumaterialien, Werkzeuge und Sämereien, und dann lassen wir ihn, indem wir ihn von unseren räuberischen Vertheilungen ausschließen, machen was er will, er behält seine Producte und wir die unseren. Er bleibt auf seinem Besitze und wir betreten ihn nicht.”
Dr. Kolb lächelte ironisch und Mr. Forest schwieg.
“Und jetzt noch eine Reminiscenz aus dem 19. Jahrhunderte. Wir lesen in dem Jahrgange der “Heimat” vom Jahre 1891 die folgende kleine Mahnung aus der Feder der damals viel gefeierten Dichterin Karoline Bruch-Sinn:”
“Wie lassen wir doch unsere Mitmenschen verkümmern! Ich hatte in der Stadt zu thun und nahm den Weg durch die Währingerstraße, durch ein Gewühl von Wagen, Reitern und Fußgängern. Da, was humpelt über den Weg? Ich war starr — und nun laß dir beschreiben, lieber Leser, wie es unseren Brüdern geht. Dort drüben vom anatomischen Institutsgebäude herüber schwang sich ein armer Schelm. Der starke knochige Mann, er mochte 30 Jahre zählen, schmutzig und verrissen, hatte keine Beine. Kaum drei Zoll lang waren die Stümpfe, die über den Rumpf hinabhingen. Und der Arme hatte es eilig, er lief wie ein Wiesel; ja er lief, glaub' es mir, lieber Leser! Die Hände hinter sich in den Straßenkoth gestemmt, schleudert der Unselige seinen Rumpf nach vorne, zieht die Arme wieder nach und schlendert den unförmlichen Sack, auf dem ein leibhaftiger Menschenkopf sitzt, weiter so fort, und jetzt geht es quer über die Straße vor den Passanten vorbei, jetzt entgeht er einer Escadron Cavallerie, dort streift ihn der Huf eines Tramwaypferdes, dann hätte ihn fast ein Karrenrad gefaßt und jetzt ist er herüber und wirft sich vor meinen Füßen auf das Trottoir, um weiter zu eilen gegen die Nußdorferstraße, wohin ich ihm entsetzt folge. Er kann nicht achten, wohin er seine Hände setzt, jetzt in eine Kothpfütze, dann auf die scharfen Schienen, hier in den Pferdemist, dort in den Auswurf eines Kranken. Und das ist ein Mensch, wie wir. Ich muß wissen, was ihm geschehen. Endlich bei einem elenden Häuserreste der Sechsschimmelgasse hält er vor einer Thüre, ein zänkisches Weib öffnet und mit den Worten: “Da kommt das Scheusal” läßt sie ihn in ihre Wohnung ein.”
“Und der Mensch hat gearbeitet sein Leben lang, ist von einer Maschine erfaßt und verstümmelt worden und war unglücklich, daß man ihn an seinen Wunden nicht sterben ließ. Eine Wohlthat wäre es ihm gewesen, hätte man ihn mitleidig verbluten lassen. Nein, die medicinische Wissenschaft hatte ihn nöthig, die Klinik requirirte ihn als “Lehrmittel”, man heilte ihn, damit man am Armen lerne, wie man den Reichen gesund machen kann, und dann warf man ihn auf die Straße und die Unfallskasse bezahlte ihm zu wenig zum leben und zuviel zum sterben. Und nun ist er sich zum Eckel, den Seinigen zur Last. Wir aber sitzen auf den Stühlen, die er gemacht hat, und recken die Glieder, ohne zu denken, wie er sich durch's Leben schleppen muß.”
“Und Freunde, was hat die Dichterin damit gutes gethan? Nichts, denn wir lesen in der folgenden Nummer der “Heimat,” daß die Erzählung der mitfühlenden Frau confiscirt worden war.”
Wir gingen einige Zeit schweigend unseres Weges, denn längst hatten wir uns aufgemacht und den Park von Tulln verlassen, um die herrliche Nacht einem Spaziergange in die Wälder zu widmen, wobei wir unvermerkt gar weit gewandert waren. Wir hatten Tulbing schon hinter uns und stiegen die Anhöhe hinan, als wir am Fuße des Tulbinger Kogels laut singen und scherzen hörten, und da eben der Mond sein mildes Licht zu verbreiten anfing, folgten wir dem Rathe des Dr. Kolb und erstiegen die Höhe dieses Berges. Es mochte etwa halb zwei Uhr morgens sein, als wir aus dem Walde in eine Lichtung heraustraten, auf der heiters Leben herrschte. Es war ein Zeltlager errichtet worden und etwa hundert junge Leute beiderlei Geschlechtes aus verschiedenen Dörfern der Nachbarschaft hatten sich hier zusammengethan, um einen [S. 229] Theil der Nacht bei Spiel und Tanz zu verbringen und den Morgen zu erwarten, dann aber ein wenig auszuruhen und erst gegen Mittag etwa das Lager wieder abzubrechen. Pferde weideten am Rande des Gehölzes, welche die Zelte, Decken und Kissen heraufgebracht hatten, und es fehlte auch nicht an Erfrischungen und Proviant.
Eine Weile sahen wir dem fröhlichen Treiben zu und lauschten den Wechselgesängen, die Jünglinge und Mädchen bei solchen Gelegenheiten erschallen lassen, und erfuhren von Dr. Kolb, daß solche fröhliche Gelage sehr beliebt seien und man dazu gerne die Nacht von Samstag auf den Sonntag benütze, weil an diesem die Arbeit ruht. Die Zelte rührten meist von der ehemaligen Heeresausrüstung her und dienten jetzt hauptsächlich für die Beherbergung der Arbeiter, welche bei Flußregulierungen, Kanal- oder Straßenbauten oder bei Erbauung neuer Ansiedlungen beschäftigt wären, deren jährlich in Oesterreich über zweihundert errichtet werden müssen, um für die nachwachsende Bevölkerung Wohnungen zu schaffen.
Man schlug uns vor, uns an den Spielen zu betheiligen und den Aufgang der Sonne, die dort über der Burg Kreuzenstein heraufkomme, abzuwarten, und da wir die für den nächsten Morgen beschlossene Abreise vorschützten, beredete man uns, diesen Gedanken fahren zu lassen und noch einen Tag zuzugeben, da wir durch nichts gebunden seien.
Die frische Morgenluft war so verlockend, daß wir uns überreden ließen und den Rest der Nacht mit den Anderen verjubelten. Dr. Kolb aber war etwas ermüdet und legte sich in einem Zelte schlafen.
Man schlug Pfänderspiele vor und die Burschen waren nicht eifersüchtig, wenn die Amerikaner ihre Pfänder ziemlich oft mit einem Kusse auslösen mußten. So gingen etwa zwei Stunden herum, als der Mond zu erblassen anfing, die Sterne erloschen und nun auch wir die lärmende Unterhaltung einstellten. Es bildeten sich Gruppen und mancher, der liebte, legte seinem Mädchen den Arm um den Nacken. Alles sah nach Osten, nicht mit abergläubischen Geberden, aber in feierlicher Erwartung des Naturschauspieles, das sich vorbereitete. — Auch Dr. Kolb kroch aus seinem Zelte und einzelne Schläfer wurden aufgeweckt, denn um diese Zeit wollte keiner fehlen. Die Vögel, die schon längst den Wald mit Gezwitscher und Gesängen erfüllt hatten, verstummten jetzt auch und ein frisches Lüftchen strich über unsere Köpfe hin. Der Himmel war schon hell, aber zu unseren Füßen lag das Thal im Morgengrauen und die fernen Berge hoben sich dunkel vom Himmel ab.
Die leuchtenden Wölkchen am östlichen Horizonte glitzerten, von der noch verborgenen Sonne beschienen, in blendendem Licht. Sie drängten sich der Sonne entgegen, wie die Höflinge erwartungsvoll an der Thüre des Erscheinens ihres Königs gewärtig sind.
Jetzt erstrahlte eine Bergspitze um die andere, die höchste voran, in hellem Morgenroth, das sich leuchtend von dem Gewoge dunkler Bergreihen abhob. Noch einige Secunden und aufschwebte die mächtige Feuerkugel, die bald darauf frei am Himmel thronte. Ein lautes Freudengeschrei begrüßte sie, die, wie die Erde, das gemeinsame Erbtheil aller ist, und wußte man doch, daß viele, viele Tausende auf allen Bergen Oesterreichs und weit hinaus über die Grenzen des Reiches jetzt desselben Schauspieles froh wurden. Nichts belebt die Liebe zur Natur so mächtig, als die Ruhe und Sorglosigkeit, welche das Leben des Communisten begleitet. Das war die Frühmesse im Tullner Gebiete.
Und jetzt war überall Tag und die Sonne spiegelte sich in der Donau dort unten. Der Hahn, der auch eine Zeit geschwiegen, rief jetzt, als verkündete er die Beendigung dieser wahrhaft ergebenden Feier, sein kräftiges: “Ite, missa est” und der Ruf pflanzte sich von Dorf zu Dorf, so weit man hören konnte, fort. Und so war es fünf Uhr geworden; jetzt erschollen die Gongs in den Dörfern, alle Schläfer zu wecken, und bald sah man dort, weit unten, die Menschen sich regen, ab und zu auch hörte man sie rufen.
Aber in Königstetten sahen wir deutlich unter den Linden ein weißes Morgenkleid flattern und wir priesen den glücklich, dem eine andere Sonne [S. 232] aufgegangen war, die nicht jedem dasselbe bedeutet.
Nun legten sich die anderen zur Ruhe und wir traten mit Dr. Kolb den Rückweg an.
Als wir nach Tulln gekommen waren, fühlten auch wir das Bedürfniß, etwas auszuruhen, und so ließen wir den Plan, schon diesen Morgen abzureisen fahren und verschliefen einen Theil des Vormittags. Dann fuhren wir auf den Rath des Dr. Kolb, der sich uns bisher schon zuviel geopfert hatte, nach Klosterneuburg mit der Absicht, abends der Eröffnung und Besiedelung einer neuen Gemeinde im Bezirke, nämlich des früher verfallen gewesenen und jetzt wieder aufgebauten Dorfes Höflein a. d. Donau beizuwohnen.
Klosterneuburg, berühmt wegen seines vortrefflichen Weines, ist gegenwärtig Vorort eines Bezirkes und zählt etwa 1500 Einwohner. Aus alter Zeit steht nur noch die Abtei mit der Kirche, die aber ohne Priester und Mönche sind. Wir besuchten den weitausgedehnten Klosterbau, der gegenwärtig nur zur Aufbewahrung bibliographischer Raritäten und historischer Urkunden dient und ein unermeßliches Material birgt. Alle europäischen Staaten haben nicht nur ihre Archive der historischen Forschung geöffnet, [S. 234] sondern auch ihre Urkundenschätze, theils im Facsimile, theils in modernen Lettern gedruckt, vervielfältigt und sich dadurch gegenseitig zugänglich gemacht. Dieser unermeßliche Urkundenschatz ist im Bezirke Klosterneuburg in den verschiedenen Gemeinden aufgetheilt und lockt unzählige Forscher nach diesem Bezirke. Die Centralsammlung aber befindet sich im ehemaligen Kloster von Klosterneuburg und füllt dort alle Räume und auch die ehemalige Kirche, in welcher riesige Schränke aufgestellt sind, die bis zur Decke reichen. Zahlreiche Beamte verwalten den Schatz und ist jedermann die Forschung dort freigegeben. Wir besuchten den Bau und wurden von einem Castellane auch in den Kreuzgang geführt, der noch erhalten ist. Nebst einigen Grabmälern fesselte uns ein prachtvolles Marmorbildniß, Maria, die, in Trauer aufgelöst, den Leichnam ihres gekreuzigten Sohnes auf dem Schooße liegen hat, darstellend. Unser Führer machte uns auf die Schönheit des Meisterwerkes aufmerksam, fügte aber bei, daß das Kunstwerk den Evangelien widerspreche, da Maria zur Zeit der Kreuzigung nicht in Jerusalem gewesen sei und überhaupt mit Christus, seit er das Lehramt angetreten, keine Gemeinschaft gehabt habe. Es könne kaum einem Zweifel unterliegen, daß Maria der allmächtigen Secte der Pharisäer angehört und darum Christo die Gesellschaft seiner Brüder vorgezogen habe, die nach Johannes Gegner Christi waren. Darum sagte Christus verzweifelnd, daß er nirgends weniger gelte, als in [S. 235] seiner Familie, darum sagte er, wenn man seiner Mutter und Brüder erwähnte, nur jene seien ihm Mutter und Brüder, die den Willen Gottes thun, und daraus erkläre sich, daß die Seinigen, zu welchen auch seine Mutter gehörte, ihn in Gewahrsam nehmen wollten und aussprengten, er sei wahnsinnig. So auch berichteten die Evangelien nichts davon, daß Christus nach der Auferstehung nach seiner Mutter verlangt habe, wohl aber, daß er seine Freundinnen und Schüler zu sehen begehrte.[L]
Wir mußten uns von dem eifrigen Bibelforscher verabschieden, denn wir hatten auf Zureden unserer Freunde die Absicht gefaßt, der Eröffnung der Gemeinde Höflein beizuwohnen, welche für vier Uhr den 2. August 2020 angesetzt war. Da die Zeit schon vorgeschritten war, entlehnten wir von der Verwaltung ein paar Zweiräder und kamen gerade noch zu rechter Zeit an, um der Eröffnungsfeierlichkeit beizuwohnen.
Da die Bevölkerung in Oesterreich sich jährlich um mehr als 200 000 Seelen vermehrt, werden alljährlich etwa 200 Gemeinden neu aufgebaut, um die Bevölkerungsüberschüsse aufzunehmen. Man zieht es vor, in dieser Weise vorzugehen, statt die Gemeinden zu vergrößern, weil durch eine solche Ausdehnung der Gemeinden die Verwaltung erschwert und mancherlei, insbesondere das Schulwesen, in Verwirrung gebracht würde. Die Besiedlung geschieht im Wege der freiwilligen Anmeldung und da es einerseits immer Unzufriedene gibt, welche durch eine Veränderung ihre Lage zu verbessern hoffen, andererseits aber bei der stets fortschreitenden Cultur die jüngeren Ansiedlungen meistenteils Annehmlichkeiten bieten, [S. 237] die in den älteren noch nicht eingeführt werden konnten, so ist die Zahl der Anmelder immer weit größer als die der frei werdenden Wohnstellen. Die allgemeinen Grundsätze für die Auswahl der neuen Ansiedler sind folgende: Zunächst wählt die Regierung für die Verwaltung, den ärztlichen Dienst und das Lehrfach besonders tüchtige Männer aus, weil es schwieriger ist, unter einer neu zusammengewürfelten Bevölkerung den Dienst erfolgreich zu versehen, als in einer Gemeinde, in welcher die Mehrzahl der Bewohner zusammen aufgewachsen ist, und unter einer längeren stabilen Verwaltung bereits sich Ordnung eingelebt hat. Sodann ist man bedacht, für die Produktionszweige welche in der neuen Gemeinde betrieben werden sollen, tüchtige Leiter und Vorarbeiter zu gewinnen. Auch sollen alle Lebensalter dergestalt vertreten sein, daß die verschiedensten Aufgaben der Erziehung, des Unterrichtes und der Versorgung sofort die ganze Administration beschäftigen. Das wird auch dadurch erreicht, daß man überall die Ueberzähligen zur Uebersiedlung bestimmt und auf diese Art ein gewisses Gleichgewicht auch dort herstellt, wo es gestört wurde. Darum findet man nirgends überfüllte Schulklassen und die Lehrer können ihren Schülern überall eine ziemlich gleiche Sorgfalt widmen. Endlich werden die der neuen Gemeinde näher wohnhaften Anmelder vor jenen bevorzugt, welche aus größerer Ferne her zuwandern wollen, damit doch eine möglichst homogene [S. 238] Bevölkerung größere Gewähr eines friedlichen Zusammenlebens biete.
Da das Gemeindegebiet von Höflein an der Donau nicht groß ist und wenig Gelegenheit zur Viehzucht bietet, hatte man eine große electrotechnische Fabrik dort errichtet. Diese Industrie machte ohnehin eine Erweiterung nothwendig. Dagegen war der Viehstand gering und rechnete man nicht nur auf keine Ueberschüße von Milch zur Butter- und Käsebereitung, sondern man erwartete, daß auch der tägliche Bedarf an roher Milch aus dem fruchtbaren Gebiete des Tullner Bodens würde theilweise zugeführt werden müssen. Große Obstculturen waren bereits auf dem Gemeindegebiete, das von Nachbargemeinden abgetrennt werden mußte, errichtet, und war also Obstbau ein wichtiger Produktionszweig. Besonders Beerenobst wurde hier reichlich gewonnen und lieferten die Johannisbeeren auch ein erfrischendes Getränk.
Die hierher bestimmten Thiere waren bereits zugetrieben und theilweise auch der Eisenbahn zugeführt worden und sollten die Wärter die Thiere heute noch dem Wartepersonale der neuen Gemeinde übergeben und dann abreisen.
Die Fabrik und die Stallungen standen hart an der Bahn auf der Flußseite. Aber die Wohnungsansiedlung war an beiden Abhängen des malerischen Margarethenthales, das gerade der Eisenbahnstation gegenüber liegt und sich durch sehr milde Luft und vortreffliches Trinkwasser auszeichnet, aufgebaut worden, so zwar, daß man von den Wohnhäusern [S. 239] über die ihres hohen Alters und ihrer romantischen Lage wegen erhaltene Kirche einen entzückenden Ausblick über die Donau genießen konnte. Das Bett des tiefen Baches, der sich murmelnd durch das Thal windet, war zwischen den Bauten hindurch über die selbe verbindenden Gärten geleitet worden und hatte man, um weitere Aushöhlungen zu verhindern, das Gerinne gepflastert und die Ufer durch Faschinen und Mauerwerk versichert. Reizende Brücken verbanden die Ufer und es führten von der Wohnungsansiedlung steile Wege über steinerne Stufen, die theilweise von Eisengeländern begleitet waren, in die Obstgärten, welche sich höher und höher hinanzogen.
Als wir um 4 Uhr den großen Speisesaal betraten, stellte der Bezirksbeamte von Klosterneuburg den Ortsbeamten der versammelten Gemeinde vor, worauf dieser die Leitung der Eröffnungsverhandlung übernahm. Er stellte den Gemeindegenossen nun seinerseits den Arzt, den Pädagogen und die Lehrer, dann die Produktionsleiter vor und ließ ein gedrucktes Verzeichnis der Gemeindemitglieder unter Anführung ihres Berufes, Alters, der bisherigen Ortsangehörigkeit, der Verwandtschaft und solcher Daten vertheilen, welche es jedem möglich machen sollten, sich bald bekannt zu machen und für die Wahl des Tribuns, welche noch heute Abend stattfinden sollte, vorzubereiten. Auch sollten die neuen Gemeindemitglieder nach Rang und Alter sich die Wohnzimmer auswählen und sich heute in Urversammlungen und Sectionen einzeichnen, damit sofort [S. 240] auch für die Berathung öffentlicher Angelegenheiten die erforderliche Constituirung erfolgen könne.
Der Beamte hielt dann eine Ansprache, in der er die neuen Gemeindegenossen ermahnte, Frieden zu halten, sich wechselseitige Förderung zu gewähren und die Bestrebungen der Verwaltung zu unterstützen. Er erinnerte daran, daß an dieser Stelle in früheren Zeiten bereits eine Gemeinde bestanden habe, die allerdings arm war und dann in Verfall gerathen sei; man habe aber doch alle darauf bezüglichen Daten, Kirchenbücher, Baupläne, Volkszählungsacten und dergleichen zu sammeln nicht unterlassen, und verweise er übrigens auf ein Bildniß, das im Bibliothekssaale hänge und einen Mann darstelle, der deshalb Interesse einflöße, weil er schon im neunzehnten Jahrhunderte, wo die sociale Bewegung kaum in Fluß gerathen war, kräftig eingegriffen und durch eine gedruckte Flugschrift: “Die weißen Sclaven der Tramway” auf die hartherzige Ausbeutung des Bedienungspersonales der Straßenbahn mit dem Finger hingewiesen und großen Erfolg gehabt habe. Er habe auch mit Hinweisung auf die Statistik, die damals freilich noch in den Windeln lag, die Ungerechtigkeit und Unhaltbarkeit der damaligen Zustände beleuchtet und so unserer Epoche, soviel es seine Stellung zuließ, vorgearbeitet.
Hierauf wurde dem Andenken dieses Mannes ein donnerndes Hoch ausgebracht und mit Befriedigung vernommen, daß die erwähnte Flugschrift und andere von demselben Manne, dem damaligen Pfarrer [S. 241] Rudolf Eichhorn, herrührende Aufsätze und Schriften gesammelt wurden, und jetzt den Grundstock des neuen Gemeindearchives bildeten.
Der Beamte verkündete dann noch, daß der heutigen Eröffnungsfeierlichkeit zwei amerikanische Gäste, die er den Gemeindegenossen vorstellte, beiwohnten und Antheil an der Mittagstafel nehmen würden, worauf ein kräftiges “Cheer” erscholl. Endlich wurde bekannt gemacht, daß die Bezirksverwaltung anläßlich der heutigen Feier und in der Absicht, aus dem Feste zugleich ein Verbrüderungsfest unter den neuen Gemeindegenossen zu machen, einige Fässer köstlichen Klosterneuburger Weines übersandt habe, der zwar nicht hundert Jahre alt sei, aber aus dem besten aller bisherigen Weinjahre, dem Jahre 1985, stamme.
Da die neuen Gemeindegenossen bereits alle Wohnräume in Augenschein genommen hatten, wurden sie aufgefordert, während des Mittagessens ihre Wünsche auf ein neben jedem Teller aufliegendes Blatt Papier zu schreiben, und werde dann noch vor Schluß der Tafel die Vertheilung der Wohnräume bekannt gegeben werden. Mit einem Hurrah auf den Kaiser, das Vaterland und den Völkerfrieden ging es dann zu Tische. Das Personal für die Bedienung der Küche und der Wohnhäuser war für heute ausnahmsweise aus den benachbarten Gemeinden herangezogen worden und sollten alle Arbeiten von heute Abend an an die theils ernannten, [S. 242] theils hierzu erwählten Angehörigen der neuen Gemeinde übergehen.
Denn nach dem Grundgedanken der staatlichen Organisation wurde die ökonomische Leitung des Küchenwesens einem von der Staatsverwaltung ernannten Organe übertragen, die Leitung der Speisenbereitung aber besorgten solche Personen, die von den Gemeindegenossen gewählt wurden.
Nach Schluß der Tafel besichtigten wir alle Räume, durch welche die Ankömmlinge streiften, um alles noch genauer in Augenschein zu nehmen, und bevor noch die Berathungen wegen der Wahl des Tribuns begannen, verließ ich, nachdem ich mit Mr. Forest verabredet hatte, daß wir um acht Uhr nach Tulln fahren wollten, die Ansiedlung, um den Berg hinanzusteigen, von wo aus ein weiter Ausblick über die Gegend jenseits der Donau zu gewinnen war. Immer höher stieg ich hinan, ab und zu mich zurückwendend, um das immer mehr sich ausdehnende Gebiet zu meinen Füßen zu betrachten.
Sieh! was kommt dort für ein schwarzer Krauskopf langsam herab? Giulietta, ich will's verrathen; meine Giulietta. Sie reichte mir fröhlich die Hand zog mich mit fort und sagte, sie habe mich heute schon gesehen, als die Amerikaner der Gemeinde vorgestellt wurden. Nun gings an ein wechselseitiges Ausfragen und Giulietta bekannte, daß sie weit weg von ihrer Heimath verlangt habe, um eines Mannes willen, den sie liebte, und den sie nicht besitzen solle. Er hätte sich in ihrer Heimath vermählt und obgleich [S. 243] sie wußte, daß sie entsagen müsse, und auch längst entsagt hätte, auch die glückliche junge Frau ihr eine liebe Freundin sei, so habe sie es doch nicht über sich vermocht, neben diesem glücklichen Paare auszuharren, und so habe sie gebeten, weit weg versetzt zu werden, um leichter zu vergessen. Das habe die Verwaltung berücksichtigen müssen und viele, die sich in gleicher Lage befänden, versuchten dasselbe Heilmittel, immerhin oft mit Erfolg. Wie wir so dahin schlenderten, schlug ihr Ernst bald wieder in fröhliche Heiterkeit um, sie sprach von tausend Dingen, von der Reise, die sie zurückgelegt, und den Eindrücken in ihrer neuen Heimat, von der Neugierde, sich in Wien umzusehen, und vielem anderen. Dann erinnerte sie sich, gehört zu haben, daß der heutige Tag für unsere Abreise bestimmt gewesen. Ich sagte, daß ich ungern aus Oesterreich scheide, und sie frug, wie in Gedanken weit hinaus ins Thal blickend, aber mit einem leisen Anfluge von Heiterkeit die sich doch nicht auf einen Gegenstand in jener Ferne beziehen konnte, ob ich nicht noch ein wenig zurückzuhalten wäre. Und da ich wirklich zu halten war, nahm ich ihre Hand und sagte, ich sei schon entschlossen, meine Abreise aufzuschieben. Darauf eine kurze Pause und dann drückte ich das liebe Händchen leise und nach einem ganz kurzen Intervalle kam der Druck zurück. — — — Und so kamen wir dann als gute Freunde, die sich wiedergefunden, ins Dorf hinab.
Mr. Forest hatte eine Botschaft hinterlassen, er [S. 244] wolle mich in Tulln treffen. Das hatte gute Weile. — Und er?
Hier sei es erlaubt, meine Erinnerung an Mittheilungen einzuschalten, die ich in Giuliettens Heimat erhalten hatte und die erklären, weshalb diese blühende Schönheit sich die Ehe versagen mußte. Sie hatte das siebzehnte Jahr erreicht, als ihr Mutter und Vater im rüstigen Alter starben. Die Leichenöffnung ergab, daß beide vom Krebs befallen waren, und zwar hatte er beiden dasselbe Organ zerstört. Da in früheren Zeiten die Leichenöffnung noch nicht allgemein war, war die Constitution der Vorfahren nicht in Betracht gezogen worden, als die Eltern Giuliettens sich vermählten. Es wurden aber die Krankengeschichten mehrere Generationen zurück verfolgt und noch wohl erhaltene Photographien verglichen und ging das Gutachten der Aerzte und des Lehrkörpers dahin, daß die erbliche Uebertragung auf die Nachkommen der betreffenden Familien wahrscheinlich sei. Trotz Einsprache Giuliettens und ihrer Wahlmutter wurde ihr und ihren Brüdern und Schwestern die Ehe versagt.
Die Ansiedler wurden zur Wahl berufen, von welcher Giulietta nicht fern bleiben durfte. Ich benützte die Zeit und erbat mir von einer jugendlichen Aufwärterin, die in Abwesenheit ihrer stimmberechtigten Schwestern geschäftig ihres Amtes waltete, die [S. 245] Zuweisung einer Badekammer. Auch wünschte ich, da der Tag glühend heiß gewesen und ich nicht aus den Kleidern gekommen war, frische Wäsche, weshalb die Kleine mir pedantisch Kragenweite und Aermellänge abmaß und mich mit allem Nöthigen versah, auch mit einer Tasche aus Wachstaffet für meine Siebensachen. So kühlte ich mich im Staubbad und kam wie neugeboren in den Garten. Da die Wahl soeben beendet war, strömten die Ansiedler aus dem Verwaltungsgebäude und eben schlug es sieben Uhr.
Ich fragte nach Giuliettens Wohngemach. Die Zimmerwärterin war wohl verständigt worden, daß ich kommen würde, denn sie ließ mich bei Giulietten ein, ohne ihre Erlaubniß einzuholen. Diese war guter Dinge. Sie hatte sich schon wohnlich eingerichtet. Blumen in Töpfen standen am Fenster, alles war nach ihrem Geschmacke zurechtgerückt, das Bett, mit dem Kopfende an der Wand, ragte in die Mitte des Zimmers, eine kunstreich gestickte seidene Decke war darüber gebreitet, die Kissen waren gleichfalls geziert und alles, was zum Schmucke dient, Vorhänge, schwere Teppiche auf dem Ruhebette, gestickte Kissen, waren Erzeugnisse vieljährigen Fleißes meiner geliebten Giulietta, welche sie aus ihrer Heimat hatte mitbringen dürfen.
Beim Eintritte in das Zimmer wurde man das Bett nicht gewahr, weil ein großer dreitheiliger Wandschirm davor stand. Die Rahmen waren aus Holz geschnitten und mit zierlichem Laubwerke umgeben. Die Füllungen waren aus reizendem Strohgeflechte [S. 246] von Giuliettas Hand. Vor dem Wandschirme stand ein Schaukelstuhl, mit Stickereien belegt. An den Wänden waren schöne Photographien mit Darstellungen von Landschaften aus ihrer Heimat und Bildnisse ihrer Eltern angebracht. Auch hier wiesen die Holzrahmen außerordentlich feine Schnitzereien auf. Sie nannte mir den Künstler, mit dem sie an der Adria aufgewachsen war.
Mit Stolz zeigte mir Giulietta eine herrliche, in Holz ausgeführte Arbeit desselben Künstlers, eine jugendliche Nymphe, die Hände rückwärtsgelegt, und an eine Säule gelehnt, wie sie das Gevögel zu ihren Füßen betrachtet, das die gestreuten Körner aufpickt. Im Munde hat sie ein Weizenkorn, nach dem ein Sperling lüstern blickt, der ihr auf die Schultern geflogen war und bei der nächsten Wendung des Kopfes als begünstigter Liebling darnach haschen zu dürfen hofft.
Die prachtvollen Glieder der Nymphe erschauend warf ich betroffen und zürnend einen Blick auf das Antlitz meiner Schönen und prüfte die Umrisse ihrer jugendlichen Gestalt. Giulietta beantwortete den eifersüchtigen Zweifel, den ich nicht ausgesprochen, indem sie lächelnd sagte: “Der Künstler, ein dalmatinischer Fischer, der seine Ferien alljährlich an den Bildhauerschulen verbringt, aber weder Heimat noch Beruf verlassen will, ist mein Wahlbruder nach den Sitten südlicher Länder. Er weiht mir sein Leben und seine Kunst ohne Wunsch für sich. Ich bin [S. 247] überall seines Schutzes und seiner Rache sicher, wenn ich sie gegen einen Beleidiger anrufe.”
Auch ein paar feingeschliffene Kristallgläser standen auf dem Tische.
Wir saßen am geöffneten Fenster einander gegenüber und plauderten. Manchmal näherte ich meinen Mund ihren Lippen, aber sie bog sich zurück oder hielt mir die Rosenfinger entgegen. Nur einmal that sie, als vergäße sie sich, und da ich die Gelegenheit erhaschte, stellte sie sich böse.
Giulietta nahm, während wir schwätzten, eine Knüpfarbeit zur Hand und da sie sah, daß mich brennender Durst quälte, ließ sie mich eine Caraffe aus der Wasserleitung neben der Thüre mit frischem Wasser füllen, und träufelte mir etwas Fruchtsaft in mein Glas, mir so gewissermaßen Gastfreundschaft in ihrem engen Heim anbietend. Als ich auf ihren Wunsch das Fläschchen mit Fruchtsaft in ihren Schrank stellte, strömte mir der Duft von Rosenblättern entgegen, die sie zwischen ihre Hemdchen und Schürzen gestreut hatte.
Ich suchte meine Giulietta auf ein gefährliches Gebiet zu lenken, erwähnte die Gallerien in Wien und sprach von den Meistern, deren Werke man dort bewundern kann. Von den Bildern Bordones und seinen üppigen Frauen, kam ich auf Rubens' Bilder, dann zu Tizians Diana und Kallisto, um endlich zu Corregios Io zu gelangen, und versuchte ich auf diese Art dem Gespräche eine Wendung zu geben, die Giulietta außer Fassung bringen sollte. Aber [S. 248] die Schöne ging den Weg dieser Vorstellungen ohne merkliche Erregung mit, indem sie mich beständig im Zaume hielt und mich fühlen ließ, daß ich meine Worte auf die Wagschale legen müsse.
Sie war mit den Bildern nicht unvertraut. Zwar war ihr von ihrem Besuche in Wien nichts im Gedächtnisse geblieben. Sie war damals ein unreifes Kind und man hatte zu jener Zeit den Grundsatz, der später für irrthümlich gehalten wurde, Kinder in Bildersammlungen nicht zu führen, in welchen, wie man glaubte, die Phantasie vergiftet werden könnte. Aber jede Gemeinde hatte zahlreiche Stiche in der Bibliothek und die Sammlungen der Bezirksvororte waren sogar sehr reich. Von jenen Bildern, insbesondere von Correggios Meisterwerken, gab es mehrere Reproductionen und Giulietta hatte sie genau studirt und verglichen. Tizians Diana und Kallisto verwarf sie, die Bilder Rubens' waren nicht nach ihrem Geschmacke, obgleich sie das Genie des Malers bewunderte.
Ich bemerkte, daß Correggios Io das anstößigste Bild sei, das ich kenne. Giulietta sagte, sie theile diese Meinung gar nicht. Das Anstößige entziehe sich dem Beschauer und es wäre eine armselige Phantasie, die es sich hinzudächte. “Dagegen welch zarte Poesie in diesem Doppelbilde. Die nach Regen lechzende Erde als liebendes und empfangendes Weib darzustellen und die Umarmungen des Mannes zu idealisiren durch das Naturbild des allbelebenden Elementarvorganges.” —
Hier flog eine Wolke über die Stirne meiner Freundin, die aus dem Kreislaufe der sich immer verjüngenden Natur ausgeschlossen war. Aber meine Berechnung hatte fehlgeschlagen, denn ich hatte mein Gegenüber nicht mit einer neuen Vorstellung überfallen, sondern auf einen Gegenstand gebracht, mit dem sie vertraut war.
Ich schämte mich meiner Niederlage, aber ich schätzte Giulietta umso höher wegen der Feinheit ihrer Empfindung. Es war etwas eigenes um diese mit ein wenig Seelenschmerz versetzte sprühende Lebenslust.
Sie verlangte, ich solle ihr von meinen Bekannten hier erzählen, mit welchen sie bald auch im geselligen Kreise zusammenkommen würde. Da ich von meinem Mißgeschicke mit Selma — nicht ohne einigen Rückhalt — berichtete, machte sie ein ernstes Gesicht und meinte, ich sei zu gelinde bestraft worden. Die Erwähnung des Liebesglückes der Neuvermählten machte sie verdrießlich, ein Schatten legte sich auf ihre Stirne, und um sie zu zerstreuen, sprang ich schnell ab und schilderte die Streiche des kleinen Gauklers, der so putzige Kunststücke aufgeführt hatte. Jetzt lachte sie. Sie sagte aber dann: “Wir lieben es nicht, wenn einer von uns die Menschengestalt dem Gelächter preisgibt. Wir sind Halbgötter und nicht Hanswurste.”
Ich nannte Dr. Kolb unter meinen Freunden und da wollte sie mehr wissen. Sein Ruf war in ihre Heimath gedrungen, wo die Kunst höher in Ehren stand als irgendwo und besonders die Bildhauerkunst [S. 250] war gefeiert. Da wußte ich nun, wo ich zu verharren hatte. Ich schilderte auch das verhüllte Bildwerk nach den Mittheilungen meines Freundes; ich verfolgte den begehrenswerten Feind mir gegenüber und brachte ihn in immer größeres Gedränge; schon schossen Feuerblitze aus ihren Augen, ihr Busen wogte stärker, die Lippen bebten, Unruhe bemächtigte sich der Schönen; ich drang immer mehr auf sie ein.
Da unterbrach sie mich, als wollte sie, daß ich innehalten sollte, und sagte: “Freund, eine Bitte! Ich sah im Garten eine halb geöffnete köstliche Rose. Du wirst sie leicht finden. Der Strauch blüht neben der Statue der Göttin der Fruchtbarkeit. Ein Insect hat sich in den innersten Blättern verstrickt, aus welchen es vergeblich den Ausweg sucht, denn ich habe ein Stück eines Spinnegewebes darüber gebreitet. Bringe mir die Rose und den Gefangenen.”
Als ich mich jetzt erhob und über sie beugte, bog sie sich zwar zu mir aufschauend zurück, aber sie breitete, um ihre Wehrlosigkeit zu bekennen, die Arme weit auseinander und drückte ihre Hände an die Mauer, an der sie saß, und da sich unsere Lippen festsogen, ergoß sich sengendes Feuer aus den Sternen der Italienerin in meine Augen. Wie verheißungsvoll ist doch eine Bitte aus schönem Frauenmund!
Ich stürmte in den Garten hinab, konnte aber das Gesuchte eine geraume Zeit nicht finden. Da ich die Statue erblickte, standen Frauen im Gespräche dort und ich wollte den Raub lieber verschieben. Endlich schnitt ich verstohlen die kostbare Rose, die [S. 251] das Insect noch in ihrem Kelche gefangen hielt, ab und jagte zu Giulietten zurück.
Jetzt aber war mattes Licht im Gemache, das von Wohlgeruch erfüllt war, und Giulietta stand im herabfließenden Hausgewande einer stolzen Römerin, an den Seiten bis zur Hüfte geöffnet, vor meinen entzückten Augen, die noch den Anblick der rosigen Zehen eines göttlichen Frauenfußes erhaschten, der unter dem Saume hervorguckte; und schon lagen wir Brust an Brust. Ihre weichen Arme umstrickten meinen Hals, sie küßte mich stürmisch und dann barg sie ihren Kopf an meinem Busen.
Da erspäht mein Blick zwei Knöpfe auf ihren Schultern. Ich löse sie, das Gewand gleitet mir aus den Fingern. Ich hebe dies köstliche Geschenk der Natur auf meine Arme, trage die Herrliche auf ihr Lager, lege die Rose auf den schimmernden Busen, den ich mit Küssen bedecke, und so überläßt sich dieser Prachtleib mit geschlossenen Augen, das selige Lächeln des Beglückens auf den Lippen, im Wonneschauer erbebend, meinen Umarmungen.
Es war halb neun Uhr, als ich in den Speisegarten kam. Es dämmerte schon und ich suchte einen einsamen Tisch, an dem ich mich niederließ. Lauter Lärm wogte um mich herum, weil die neuen Ansiedler suchten, mit einander bekannt zu werden. Die Mütter nannten mit Stolz die Namen ihrer Kinder; diese jagten sich zwischen den Tischen herum und [S. 252] ab und zu hörte man einen warnenden Ruf, dem sogleich aufhorchend entsprochen wurde. Die Aufwärterin, ein junges Mädchen, trat an meinen Tisch, um meine Wünsche zu erfragen. — Bald brachte sie das Abendbrod und ein Glas feurigen Weines. “Du bist unser Gast aus Amerika?” — “Ja wohl.” — “Wie gefallen dir Land und Leute?” — “Vortrefflich, besonders die Leute.” — “Eure tausendjährigen Bäume fehlen uns allerdings.” — Und sie wandte sich zum gehen.
Ich sah mit Wohlgefallen auf die Kinder, die sich in meiner Nähe tummelten. Die Tracht der Kinder war einfach. Bis zum Alter der Selbständigkeit unterschied man die jungen Leute nicht in der Kleidung, etwa nach dem Range der Eltern, und bis zum Eintritte in die Schule trugen Knaben und Mädchen eine ganz einfache Sommertracht, die doch reizend stand. Meistens trugen sie an den Füßen etwas, was halb Schuh, halb Sandale war. Kurze Höschen und ein von einem Gürtel zusammengehaltenes Röckchen von weißem, dünnen Stoff ohne Aermel, dann ein großer Basthut waren die ganze Kleidung, Beine und Arme nackt, der Hals frei; Reinlichkeit, Schönheit und Frohsinn gewannen ihnen alle Herzen. —
Ich sehnte mich nach Giulietta, die herabzukommen versprochen hatte. Wo blieb sie? —
Wir hatten oft dem Treiben der Jugend zugesehen. Die jungen Leute waren, bis die Eltern von der Arbeit nach Hause kommen, in Schaaren, beiläufig [S. 253] nach dem Alter gesondert, unter Aufsicht von Frauen oder Mädchen, die älteren Knaben auch oft unter den Befehlen der Lehrer. Es wurde alles mögliche gespielt, nur nicht Krieg. Man spielte Besuch, Schule, Hochzeit, Gericht und Strafe, Häuserbauen, Pfänder, Charaden. Die älteren Knaben versuchten sich im Vortrage über aufgeworfene Fragen, dann wurde gerungen oder um die Wette gelaufen, und dann wählten sich die Knaben vorerst eine Preisrichterin, welche der Sieger küssen durfte.
Bald zerstreuten sich die Kinder auf Befehl der Erzieherin, um in den Wäldern Schwämme und Erdbeeren zu suchen, bald sammelten sie sich wieder auf ein Häuflein, um einer Erklärung oder einer Geschichte zu lauschen, deren jede Erzieherin viele Hunderte für jedes Alter wußte. Dann durfte wieder ein halberwachsenes Mädchen den Bübchen etwas vorlesen, und dann ging es wieder weiter. Regen und Sonnenbrand kümmerte sie gar wenig und wenn sie nach einigen Stunden heimkamen, hatten sie oft das ganze Gemeindegebiet durchstreift.
Große Aufmerksamkeit wendete man daran, den Ortssinn zu entwickeln. Ehe die Kinder in die Schule kamen, hatten sie schon jeden Weg und Steg im ganzen Bezirke inne, wußten überall die kürzesten Verbindungen zu finden, lernten sich in fremden Gegenden orientiren und hatten einen Begriff von der Größe ihres Vaterlandes, das man sie lehrte, als ihren Besitz zu betrachten. Auch mit den heimischen Thieren und Pflanzen und dem Nutzen, den [S. 254] sie gewähren, waren sie vom zartesten Alter auf vertraut, wie man auch nicht versäumte, sie am nächtlichen Himmel mit den Sternbildern bekannt zu machen und ihre Liebe zur Natur und insbesondere zur Heimat zu wecken. —
Himmlische Giulietta, zögere nicht länger! — —
Das Erziehungspersonal hatte nur ein beschränktes Strafrecht. Dieses stand der Mutter oder Wahlmutter zu und einem störrigen Kinde wurde angedroht, daß man vor der Mutter Klage führen würde. Dieser wurde dann nach Tisch berichtet und sie verhängte oft die strengste Strafe, nachdem die Erzieherin und etwa andere Kinder Zeugnis abgelegt hatten. War sie zu nachsichtig, so vermied man, ihr Verhalten vor den Kindern zu rügen, aber die Sache kam dann vor den Pädagogen, der seinen Einfluß geltend machte. Nur im Nothfalle wurde von dem Rechte Gebrauch gemacht, der Mutter das Erziehungsrecht abzunehmen. —
Giulietta kam noch immer nicht. — Ich träumte von ihrer Herrlichkeit. Seit ich Anselma geschaut, war ich erst kundig geworden, welchen Inbegriff von Schönheit ein Frauenleib in sich schließt. Giulietta war der Typus der österreichischen Frauen. Augen und Haare waren vom schönsten Glanze, die etwas gebräunte, fleckenlose Haut hatte einen Perlenschimmer und stellenweise leuchtete das blaue Geäder hervor, an der Außenseite der feinen Hände aber trat es deutlich und kräftig zu Tage. Die gleichförmigen enggeschlossenen weißen Zähne bedeckte zum guten Theile [S. 255] das korallenrothe Zahnfleisch, die breiten Schultern verbanden sich mit zart geschwungenen Bögen, weder zu flach, noch zu steil, dem schlanken Halse, und all diese Pracht war in beständiger anmuthiger Bewegung, wie auch das Mienenspiel unaufhörlich Rede und Gegenrede begleitete. Das Leibchen trug sie wie ein kreuzweise geschlungenes Busentuch, nicht viel mehr als ein Flor; es verrieth die jugendlichen Formen in den Umrissen, stellenweise auch in der Farbe, und es konnte wohl Giulietta noch viele Jahre des Mieders entrathen, das die Oesterreicherin erst trägt, wenn sie zu verblühen beginnt.
Es ist unter ihnen Tradition, daß Mäßigkeit in Allem, besonders in der Liebe — aber auch in der Enthaltsamkeit — die Schönheit bewahrt und daß auch heftige Gemüthsbewegung, Kränkung, Eifersucht, Zorn den Zauber vom Frauenleib nimmt. Auch dieser Glaube ist heilbringend. Und davon geleitet, überließ sich Giulietta nicht allzusehr dem Kummer, der sie doch immer an verlorenes größeres Glück gemahnte. —
Giulietta war noch nicht herabgekommen. Sehnsucht nach ihrem Anblicke quälte mich. —
Sie war zur Vorsteherin einer Strohflechtschule bestimmt worden, da sie in dieser Arbeit eine außerordentliche Geschicklichkeit erworben hatte. Diese Industrie beschäftigte tausende von Mädchen und Frauen im Lande und es sollte eine Schule in Höflein unterhalten werden. Wenn mein Liebling pädagogische und ökonomische Fähigkeiten zeigte, so konnte sie es zum Range eines Pädagogen bringen, [S. 256] womit große Vortheile, insbesondere ein sechswöchentlicher Urlaub, Arbeitsbefreiung vom zurückgelegten fünfzigsten Lebensjahre und etwas größerer Aufwand für Kleidung und Wohnung verbunden waren. Ihrer Schönheit, Anmuth und Bildung wegen hatte die Verwaltung den Auftrag erhalten, ihr allwöchentlich den Zutritt zu den geselligen Abenden der Residenz oder der höheren Beamten anzuweisen, worauf andere nur einigemale des Jahres und während der kurzen Ferien Anspruch hatten. Es war überhaupt Grundsatz der Staatsverwaltung, solche Mädchen, die in ihren Hoffnungen getäuscht worden waren und den Bedürfnissen der Gesellschaft ein so schweres Opfer bringen mußten, durch jede mit der Gerechtigkeit vereinbare Bevorzugung zu entschädigen. Dabei wirkte nicht nur die Frauencurie mit, die sich außer Stande erklärte, ihre Zusagen zu erfüllen, daß die weibliche Hälfte der Gesellschaft sich den allgemeinen Bedürfnissen unterordnen wolle, wenn nicht die größte Rücksicht für die Opfer dieser Interessen geübt würde, sondern es war in allen Theilen der Bevölkerung das Gefühl vorherrschend, daß solche Mädchen besondere Rücksichten verdienen, und mußte es das Bestreben aller werden, Giulietten mit ihrem Schicksale auszusöhnen. —
Wo bleibst Du, Berückende? Willst Du mich verschmachten lassen? Welches Bild gaukelt vor meinen Sinnen? — —
Vor kaum vierundzwanzig Stunden hatte sie ihr Tagewerk in Triest beendet und mit dem nächsten [S. 257] Morgen um sechs Uhr sollte sie ihr neues Amt antreten. Es war wohl vorauszusetzen, daß Giulietta bald ein gern gesehener Gast im Schlosse zu Königstetten sein und im freundschaftlichen Verkehre mit Dr. Kolb stehen würde, wodurch sie in Kurzem mit vielen bedeutenden Personen des Bezirkes bekannt werden konnte. Die Sonntage brachte das kunstsinnige Mädchen wohl in den zahlreichen Museen der Residenz zu und auch an italienischer Musik konnte sie sich satt hören, die in Wien eifrig gepflegt wurde. Es soll uns nicht bange sein um Giuliettens Zukunft. — Noch eine Aufgabe hatte sie übernommen. —
Ein Kleid rauscht in meiner Nähe, ich erwache aus meinem Traume. — Sie ist es nicht.
Wie in allen deutschen Gemeinden gab es auch in Höflein viele Gemeindegenossen, die einige Jugendjahre in einer italienischen Gemeinde zugebracht hatten, um sich die italienische Sprache eigen zu machen, wie andere der ungarischen oder einer slavischen Sprache mächtig waren. Denn es war in Oesterreich beinahe zum Gesetze geworden, daß die Angehörigen aller Nationen sich die deutsche Sprache und die Deutschen wieder eine zweite Reichssprache aneigneten, um die lebendige Verbindung aller Nationen unter einander herzustellen. Und dadurch war Oesterreich in gewisser Hinsicht der geistige Mittelpunkt der Welt geworden, wo alle Völker der Erde ihre geistigen Schätze austauschten und verbanden.
Ja, man hatte auch allen orientalischen Völkern eine Heimstätte errichtet und es wurde allen Culturnationen des Erdkreises ermöglicht, eine Hochschule in Oesterreich zu unterhalten. Die Chinesen, Japanesen und Perser, Araber und Türken hatten ebenso, wie Spanier, Franzosen und Engländer, Dänen und Schweden, Russen und Finnländer, in Wien Hochschulen, die mit den österreichischen Anstalten wetteiferten, und an welchen Oesterreicher gemeinschaftlich mit den Gästen fremder Länder Unterricht ertheilten und genossen.
Die Deutschen aber, welche eine zweite Reichssprache sich eigen gemacht hatten, suchten in ununterbrochener Uebung zu bleiben und unterhielten nach Sprachen gegliederte Vereine, von welchen die Literatur dieser Sprachen verfolgt wurde. Giulietta nun, die ihre Muttersprache in herrlicher Vollkommenheit sprach und schrieb und die italienische Poesie leidenschaftlich liebte und auch selbst improvisirte, sollte dem italienischen Club präsidiren. So hatte sie mir in ihrem Stübchen mitgetheilt. —
Ich fuhr auf aus meinen Träumen. — Es wogte noch fröhliches Leben um mich herum. Alle mieden, wie auf Verabredung, meinen Tisch und wenn die Kinder in meine Nähe kamen, wurden sie weggerufen. Man hatte offenbar bemerkt, daß ich allein sein wolle, und da, wie es schon finster zu werden beginnt, tritt dort Giulietta aus ihrem Wohnhause. Ein züchtiges, hellfärbiges Kleid umschloß die Gestalt der schönen Sünderin, ein goldschimmernder [S. 259] Gürtel hielt sie umfangen und im Haare trug sie die noch frische Rose mit dem Gefangenen. Gemächlichen Schrittes näherte sie sich mir und ließ sich mit freundlichem Nicken an meiner Seite nieder.
Die Aufwärterin trat an unseren Tisch und fragte nach Giuliettens Begehren: “Bist du nicht Schwester Giulietta aus Triest?”
“Das bin ich, ich heiße Giulietta Chiari. Wie nennst du dich, Kleine?”
“Ich heiße Josepha Ohnewas und bin von Klosterneuburg herübergekommen. Der Verwaltungsbeamte hat mir aufgetragen, dich für morgen abends in seine Empfangsgemächer zu laden. Er will einige hervorragende Glieder der neuen Gemeinde zusammenführen, damit sie engere Bekanntschaft knüpfen.” — “Sage ihm meinen Dank, ich werde gerne kommen. Und nun reiche mir deine Hand, freundliche Botin, und werde mir eine treue Freundin.” — “Das will ich dir sein,” sagte sie mit einem Händedrucke. —
“Was ist das für ein furchtsames Bübchen?” fragte Giulietta, indem sie freundlich den Knaben am Kinn faßte, der, ängstlich ihr in die Augen schauend, sich an Josephas Rockfalten hielt. — “Es ist meiner Schwester Kind. Sie ist vor wenigen Tagen gestorben, ihr Mann schon früher, und nun ist der Kleine verwaist.” — “Willst du ihn unter deinen Schutz nehmen?” — “Es soll ihm eine Wahlmutter bestellt werden. Ich wurde befragt, ob ich ihn an Sohnesstatt nehmen wolle, aber ich sähe es lieber, wenn diese Sorge nicht auf mich fiele, denn ich werde [S. 260] in einigen Jahren meine eigene Familie gründen und ich halte es nicht für gut, wenn die Mutter eigener Kinder auch Verpflichtungen für ein fremdes Kind zu erfüllen hat.” — “Wolltest du mich zur Mutter haben?” fragte Giulietta den Knaben; dieser aber sagte: “Du bist nicht meine Mutter!” — Giulietta und Josepha sahen sich an, als ob sie sich dieselbe Frage stellen wollten. Diese sagte dann: “Ich habe Vertrauen zu dir. Möchtest du Mutterpflichten auf dich nehmen?” — “Es wäre eine Wohlthat für mich,” sagte Giulietta seufzend. “Doch laß mich den Knaben einige Tage beobachten und besprechen wir uns darüber. Wir müssen uns erst kennen lernen.” — “Ich will es mir bedenken und wir können dann dem Verwaltungsbeamten einen Vorschlag machen. Einstweilen ist Peterchen in meiner Obhut.” — Damit schied Josepha.
Giulietta saß sinnend neben mir. Zuweilen sahen wir uns an, wir sprachen aber nicht.
Nach einer Weile bediente Josepha auch Giulietta und da diese sah, daß mein Glas noch unberührt war, trank sie mir freundlich lächelnd zu. Sie nippte, ich aber leerte mein Glas auf einen Zug bis auf die Neige. Sie sah ernst auf mein leeres Glas und verband damit wohl einen sinnigen Gedanken. Wir verharrten im Schweigen, aber sie ließ es geschehen, daß ich verstohlen ihr dankerfüllt das Händchen drückte. Es war jetzt badefrisch und frostig; ich hätte es gerne warmgehaucht, wenn es hätte ungestraft geschehen können.
Der Tag war gewichen, Stern um Stern flackerte auf, dort im Westen einer im wechselnden Lichte, als ahmte er das Funkeln der Augen meiner Giulietta nach. Es wurde stiller um uns, die Tische wurden abgeräumt. Alles war zur Ruhe gegangen; Giulietta sprach auch jetzt nicht, aber sie schien zu glauben, daß sie den Gast nicht verlassen dürfe. Sie nahm jetzt zögernd, als wäre sie nach einem Kampfe mit sich selbst zu einem Entschlusse gelangt, die Rose aus dem Haare, befreite den Gefangenen und lächelte mir, Vergebung kündend, zu. — Nun sagte ich mit einem Händedrucke — ein Kuß war mir hier durch strenge Sitte verwehrt —: “Gehe auch zur Ruhe, Liebste.” Sie erhob sich, freundlichen Gruß im Auge, und ging. Unter der Thüre wandte sie sich noch einmal langsam um, winkte grüßend und verschwand. Bald darauf erhellte sich das Fenster ihres Gemaches, sie wurde noch einmal sichtbar, dann, nach kurzem Verweilen, fielen die Blenden. — Zu dieser Stunde in ihr Gemach zu dringen, war mir durch unerbittliche Satzungen verboten.
Jetzt erhob ich mich, ging nach den Ställen, zeigte meine Aufenthaltskarte vor und bat die Stallwache um ein feuriges Pferd. So jagte ich, mein Bündelchen am Sattelknopfe befestigt, im Sturme nach meinem Quartier, den flackernden Stern vor mir. Ein junger Mann, der die Nachtwache hatte, grüßte mich, als ich von den Ställen nach der Ansiedlung kam. Ich dankte schweigend und ging nach dem Bibliothekssaale, der, wie alle anderen Räume, [S. 262] offen stand, drehte eine Glühlampe auf und schrieb einige Zeilen an Giulietta. Ich kündete ihr, daß unsere Wege auseinander gingen, ich ihrer aber niemals vergessen würde. Ich bekannte mich unwürdig der königlichen Gunst, mit der sie mich beglückt.
Den Brief warf ich in den Briefkasten für die östliche Fahrt und nun suchte ich mein Lager auf.
Nun war es aber Ernst — wir reisten ab. Mr. Forest und ich hatten uns von dem Beamten verabschiedet und harrten am Bahnhofe des Zuges, der von Wien her kommen sollte, und nun kamen sie alle, unsere neuen Freunde, uns die Hand zu reichen. Die vielen lieben Mädchen und Frauen, die uns bei Tische und sonst bedient hatten, nicht wie Diener, sondern wie Freundinnen und Schwestern, auch Anna, die wir näher kennen gelernt hatten, mit ihrem Jakob, den sie im Rollstuhle vor sich herschob, und der jüngere Zwirner und gar viele liebe Gesichter. Von der schönen Anna forderte ich resolut einen Abschiedskuß und sie sah zuerst Jakob ins Gesicht und dann bot sie mir ihren Mund, aber sie sagte, ein Abschiedskuß sei es nicht. Aufklärungen gab sie nicht. Und wie wir so inmitten vieler Freunde standen, kam Dr. Kolb eilends heran, sich zu verabschieden und uns auch etwas zu überbringen. Es war Zwirners Brief und ein Angebinde.
Zwirner schrieb, er bedauere, uns nicht mehr sehen zu können; er hoffe aber auf Briefe aus Amerika [S. 264] und auf ein Wiedersehen. Dr. Kolb habe ihm oft von uns geschrieben und er sei darüber beruhigt, daß wir in Oesterreich gut aufgehoben gewesen. Auch hätte uns Dr. Kolb ebenso, wie er, über alles Auskunft geben können und habe sie auch gegeben. Er selbst lebe in süßer Gefangenschaft und wolle auch unsertwegen nicht ausbrechen. Wir möchten das Angebinde annehmen, das uns Dr. Kolb überreichen werde, und fänden wir die glücklichen jungen Eheleute erstens im Plauderstübchen und zweitens im Speisezimmer. Auf Nummer drei und vier dürften wir Anspruch nicht erheben. Neben seiner Unterschrift standen die Worte: “Auch ich bin euch gut und wünsche euch das Beste. Aber meinen Gefangenen gebe ich nicht heraus. Seid mir gegrüßt. Lori Zwirner.” — Das Angebinde waren zwei gleiche Cartons mit Photographieen. Das Carton war in schönem gepreßtem Leder ausgeführt und zeigte vorne vier Medaillons und in der Mitte ein Schild in Bronce. Die Medaillons enthielten kunstreich geschnittene Brustbilder unserer Freunde: Zwirner, Dr. Kolb, Lori und Mary und das Mittelschild die Landschaft, auf die wir so oft von unserem Fenster aus geblickt hatten. Dr. Kolb erklärte uns, daß die Liebhaberei, Medaillen zu schneiden, weit verbreitet sei, und schöne Köpfe, wie die hier dargestellten, zögen oft die Aufmerksamkeit der Künstler in diesem Fache auf sich. Dann erhält das Modell natürlich ein kunstvoll gearbeitetes Exemplar. Von diesen Bildnissen hatte man galvanoplastische Copien gemacht [S. 265] und auf den Cartons angebracht. Ebenso beiläufig verhalte es sich mit der Landschaft und die Cartons selbst seien auf Wunsch des Zwirner angefertigt worden und die Verwaltung habe gestattet, das Ganze den Fremden als Angebinde zu widmen. Die Photographien waren theils von Zwirner eingesandt, theils nach seinem Wunsche besorgt worden. Zwei allerliebste Bilder aus dem “Gefängnisse” in Königstetten, einige Bilder aus dem schon erwähnten Schneideralbum, die Bildnisse des Ehepaares Lueger, des Dr. Kolb, dann der schönen Anna und des Jakob und — vorher mußten wir aber Treue geloben — der “Braut”.
Eben kam der Zug heran. Noch ein rasches Händeschütteln, ein Winken, und wir waren im Wagen, der uns entführen sollte.
Lange fuhren wir schweigend dahin und als wir Tulln aus dem Gesichte hatten, begehrten wir nach Büchern und lehnten uns zurück, um uns in Lectüre zu vertiefen.
Fort ging's nach St. Pölten, wo wir umzusteigen hatten, und weiter über Linz und Salzburg, wo wir diesmal nicht wieder anzuhalten gedachten.
Die Reise ging Tag und Nacht weiter und kamen wir am 4. August morgens nach Meran und von da mittels Wagens und zum Theile zu Fuße gegen 4 Uhr auf die Ortlerspitze. Am Fuße des Gletschers fanden wir im Unterkunfthause viele Fremde und darunter über fünfzig Engländer und Amerikaner. Vom Ortler sprechen wir nicht, er steht am selben [S. 266] Flecke, wie im neunzehnten Jahrhunderte, und herrscht über alle Berge wie ehemals.
Wir blieben vom 4. August abends bis zum 6. August morgens und setzten dann unsere Reise über Finstermünz und Landeck nach Bregenz fort.
Bevor wir von Oesterreich Abschied nehmen, will ich noch einige Informationen zusammenfassen, welche ich an verschiedenen Orten mir verschaffte und welche in meinem bisherigen Reisebericht keine Aufnahme fanden.
Was die Familie anbelangt, so ist sie durch die Antheilnahme des Staates an der Erziehung keineswegs beseitigt. So lange die Eltern, insbesondere die Mutter, das Recht auf die Erziehung nicht durch Nachlässigkeit oder Mißbrauch verwirken, steht ihnen dieses Recht vorzugsweise zu. Nur eine Oberleitung und Aufsicht haben die staatlichen Organe und wenn die Eltern durch Arbeit oder Abwesenheit oder andere Gründe verhindert sind, die Kinder zu beaufsichtigen, oder ihre erziehliche Thätigkeit auszuüben, geht die Erziehung an die staatlichen Organe über. Bei der Wahl der Aufsichtspersonen und Kinderpflegerinnen haben die Mütter einen entscheidenden Einfluß. Ebenso sind sie es, welche die Pflegerinnen wählen, wenn die Kinder an anderen Orten Erziehung oder Unterricht genießen; sie können testamentarisch Adoptivmütter für den Fall ihres Todes delegiren, sie vertreten die Kinder gegen den Staat und die staatlichen Organe, [S. 267] durch sie werden Belohnungen und Strafen zugetheilt und auch sonst werden die Kinder mit allen ihren Bedürfnissen und Wünschen an die Mutter gewiesen, soweit das überhaupt angeht. Die Weisungen des Arztes bezüglich der körperlichen Erziehung und die des Pädagogen bezüglich der Ausbildung des Geistes und Herzens müssen sie befolgen und das Erziehungsrecht kann ihnen entzogen werden, wenn sie sich Nachlässigkeit oder Mißbrauch zu Schulden kommen lassen. Es steht den Eltern frei, die arbeitsfreie Zeit mit den Kindern in ihren Zimmern zuzubringen und sich dem öffentlichen und gesellschaftlichen Leben zu entziehen, insoferne darunter die Erziehung nicht leidet. Einblick in dieses Privatleben konnten wir nicht gewinnen, weil wir fremd waren und in den Familienkreis nicht gezogen wurden.
Der Volksschulunterricht beginnt mit dem vollendeten sechsten und endet mit dem vollendeten achtzehnten Lebensjahre. Der Unterricht in den ersten vier Jahrgängen wird Kindern beiderlei Geschlechtes von den weiblichen Aufsichtsorganen ertheilt. Erst vom fünften Jahrgange an werden die Geschlechter getrennt unterrichtet und zwar von eigentlichen Fachlehrern in Classen, die selten mehr als 25 Schüler zählen. Jede Gemeinde hat mit Einschluß des Pädagogen, der die Oberleitung des Erziehungswesen hat, acht Volksschullehrer, und zwar sind diese Lehrkräfte für die Mädchenclassen den Frauen und Mädchen entnommen, unterstehen aber auch dann einem Manne, der das Erziehungswesen leitet. Benachbarte Gemeinden [S. 268] sind immer so zu zweien verbunden, daß die Mädchen aus der einen und die Knaben aus der anderen den Unterricht in der Nachbargemeinde empfangen, und werden sie entweder unter gemeinsamer Aufsicht hin- und wieder zurückgebracht oder die Mütter wählen ihnen eine Pflegemutter, bei welcher sie untergebracht werden.
Der Unterricht ist mit productiver Arbeit verbunden und steckt sich das Ziel, nicht nur in alle Zweige des Wissens einzuführen und zum Selbstunterrichte zu befähigen, sondern auch zur Arbeit im Felde und in der Industrie zu qualificieren. In den Ferien werden gemeinschaftliche Ausflüge und Reisen unternommen. Die Schüler älterer Jahrgänge müssen sich am Unterrichte der jüngeren Kinder betheiligen, mit ihnen correpetiren und üben und sind alle Kinder ununterbrochen unter Aufsicht erwachsener Personen. Bei der Berufswahl hat die Mutter,[M] in ihrer Verhinderung der Vater, mitzuwirken, und müssen ihnen alle erforderlichen Informationen ertheilt werden. Der Uebergang zu einem wissenschaftlichen Berufe ist von dem Erfolge der Studien abhängig.
Mit Beendigung des achtzehnten Lebensjahres endet der Schulunterricht und tritt mit der Verpflichtung zur vollen Arbeitsleistung auch Selbständigkeit und Stimmrecht in öffentlichen Angelegenheiten ein.
Der Arzt einer jeden Gemeinde und eines jeden Quartiers hat für die Verhütung und Heilung aller Krankheiten, Beobachtung aller auf die Gesundheit Bezug habenden Daten, dann für Hygiene zu sorgen, Einfluß auf die Vertheilung von Arbeit und Gütern zu üben und die Bevölkerungs-, Mortalitäts- und Morbilitätsstatistik aufzustellen. Er hat alle Gemeindemitglieder einmal des Jahres genau zu untersuchen und tägliche Berichte an den Bezirksarzt zu erstatten, wobei insbesondere Befund und Diagnose für jeden Kranken vorzulegen sind. In zweifelhaften Fällen hat er Abordnung eines Specialarztes zu beantragen und bei chirurgischen Fällen alle bis zum Eintreffen des Operateurs erforderlichen Maßnahmen zu beobachten. Der Gemeindearzt kann vom Krankenbette nie ferngehalten, wohl aber die Beiziehung eines anderen Arztes vom Kranken oder dessen Angehörigen beantragt werden. Der Arzt hat die Geburtshilfe und die Pflege der Zähne, wofür geeignetes ärztliches Personal geringerer Art bestellt ist, zu überwachen, den Einfluß der Arbeit und Lebensweise auf Gesundheit und Lebensdauer zu beobachten, die Ernährungsfrage zu studiren und alle Leichname zu seciren.
Die europäischen Continentalstaaten bilden einen [S. 270] gemeinsamen Sanitätsbezirk und werden alle von auswärts kommenden Reisenden einer so genauen Untersuchung unterzogen, daß die Einschleppung von Krankheiten ganz unmöglich ist.
Der Staatsbeamte für die Gemeinden und Quartiere hat die eigentliche Executive, da die Oberbehörden sich zumeist auf Ueberwachung, Entscheidung von Berufungen und allgemeine Leitung zu beschränken haben. Nur das Zeitungswesen gehört in den Bereich der höheren Beamten. Die Beamten repräsentiren auch bei der offiziellen Geselligkeit und können diese Function auch bestimmten anderen Personen übertragen. Sie haben das Disciplinarstrafrecht. Bei schweren Vergehen und Verbrechen gegen das Staatseigenthum, die persönliche Sicherheit und gegen den Staat erkennen Schwurgerichte unter Leitung pensionirter Beamten, welche das Richteramt als Ehrenamt ausüben. Die Gesetzgebung ist einfach und werden die Gesetze in den Volksschulen gelehrt.
Prozesse wegen Ersatzleistung für besondere Belastung — z. B. anläßlich eines Elementarereignisses oder wegen sonstiger Verkürzungen — werden gleichfalls von Schwurgerichten, welche aus Pensionisten des Arbeiterstandes zusammengesetzt sind, unter Leitung höherer pensionirter Beamten entschieden. Ueber Ersatzleistungen von Provinz zu Provinz oder Streitigkeiten zwischen Nationalitäten entscheidet der Kaiser persönlich. Jederzeit gehen Vergleichsversuche voraus. Die Disziplinarstrafen bestehen in Entziehung von solchen Genüssen, welche nicht zum nothwendigen [S. 271] Unterhalte gehören, Herabsetzung des Ranges, Verweigerung des Urlaubes, Verlängerung der Arbeitszeit, die Strafen wegen Vergehen und Verbrechen in der Versetzung in Strafgemeinden, Entziehung des Stimmrechtes, und wird bei den allerschwersten Verbrechen die Todesstrafe verhängt. Den Disciplinarstrafen kann man sich durch Ausscheidung aus dem gesellschaftlichen Verbande gegen Anweisung von Grund und Boden, Baumaterialien, Werkzeugen und Sämereien, den schwereren Strafen durch Auswandern oder freiwillige Verbannung in die österreichische Colonie in Afrika entziehen. Die Arbeit ist bei weitem nicht so vermindert worden, als Bellamy oder sonst ein socialistischer Theoretiker des neunzehnten Jahrhunderts gelehrt hat. Die volle Arbeitsleistung beginnt nicht mit dem 21., sondern mit dem 19. Lebensjahre und dauert für einfache Arbeiter bis zum beendeten 65. Lebensjahre, kürzer für geschickte Arbeiter, Productionsleiter, Lehrer, Aerzte und Beamte. Die tägliche mittlere Arbeitszeit war Anfangs zehn Stunden an 300 Tagen im Jahre und sank erst allmählig auf neun und acht Stunden. Es hat sich erwiesen, daß eine noch weiter herabgesetzte Arbeitszeit nicht genügt hätte, um den Aufwand für eine rationelle physische und geistige Versorgung des Volkes zu bestreiten. Es war nothwendig, den ganz verwilderten Zustand der Gewässer und Waldbestände zu verbessern und zu diesem Ende enorme Investirungen vorzunehmen. Zur Erhöhung des Bodenertrages waren gleichfalls sehr große Anlagen [S. 272] zu schaffen und es mußten nach und nach für die ganze Bevölkerung neue Wohnungsansiedlungen erbaut werden, welche Arbeiten sechzig Jahre in Anspruch nahmen. Oesterreich ist nun vom Welthandel ganz unabhängig und tauscht Güter mit dem Auslande nur aus, wo es zur Vermehrung des Volkswohlstandes dienlich erscheint. Es besitzt zweijährige Reserven von allen Bodenproducten. Die ökonomischen Vortheile des neuen Wirthschaftssystems sind übrigens unermeßliche. Beste Ausnützung aller Arbeitskräfte, größte Stetigkeit der Production, Ersparung der Handelskosten oder jener volkswirthschaftlichen Arbeit, welche den Umsatz der Güter durch Kauf und Verkauf bewirkt, vielfach höhere Ausnützung der Gebrauchsgüter, Ersparung an Capital, bessere Verwerthung der Fäcalien durch stärkere Besiedlung der landwirthschaftlichen Flächen, vollständigere, raschere und kostenlose Gewinnung aller Abfallstoffe, wechselseitige Unterstützung der industriellen und landwirthschaftlichen Arbeit, vor allem aber Erhöhung der körperlichen und geistigen Kräfte des Volkes und demgemäß nicht nur Belebung des Erfindungsgeistes, sondern auch vielfach raschere Einführung erprobter Erfindungen.
Was das Eigenthum betrifft, so herrschen folgende Grundsätze. Die Socialisten des neunzehnten Jahrhunderts, sagt man, seien gemeiniglich von der Ansicht ausgegangen, der Arbeiter müsse Eigenthümer des Arbeitsproductes sein und dadurch in die Lage gesetzt werden, den vollen Ertrag seiner Arbeit aus dem Producte zu ziehen. Da es nun aber klar war, [S. 273] daß, wenn der einzelne Arbeiter für sich producirt, alle Vortheile der Großproduction verscherzt werden, wollte man dem dadurch abhelfen, daß die Arbeiter sich zu Genossenschaften vereinigen. Da auch das nicht viel versprach, da niemand gezwungen werden konnte, einer Vereinigung beizutreten, bestehende Vereinigungen nicht gezwungen werden konnten, neue Mitglieder aufzunehmen, so wollte man Zwangsgenossenschaften derart begründen, daß alle Angehörigen eines Gewerbes auf einem bestimmten Gebiete für gemeinschaftliche Rechnung arbeiten sollten. Dadurch wieder mußte ein Interessenconflict zwischen den einzelnen Productionszweigen entstehen. Wären die Bauern zu einer solchen Genossenschaft vereinigt, so könnten sie alle Gewerbsleute aushungern und in die drückendste Abhängigkeit versetzen, weil die Nahrungsmittel unentbehrlich sind, die Befriedigung aller anderen Bedürfnisse aufgeschoben werden kann. Da wollte man wieder festsetzen, daß jene Produzenten, die ihre Producte zurückhalten, um eine Preissteigerung herbeizuführen, sollten gezwungen werden können, ihre Producte zu verkaufen.[N] — Wozu sollte nun der Producent Eigenthümer seines Productes bleiben, wenn man ihn dann wieder sollte zwingen können, zu verkaufen? Das hätte übrigens gerade bei den landwirthschaftlichen Producten gar keinen Sinn, denn der Bauer braucht Vorräthe für den Hausbedarf und für die Bestellung der Felder, und [S. 274] wer könnte ihm festsetzen, wie viel er verkaufen müsse und wie viel er für sich behalten könne. Alle Versuche, die Wirthschaftsordnung nach dem Principe zu regeln, daß jeder einzelne oder einzelne Berufsgenossenschaften über das ganze Reich oder nach Provinzen, Kreisen &c. für eigene Rechnung produciren sollten, mußten scheitern. Zudem ergeben sich vielerlei Wechselfälle, Viehseuchen, Hagel, Feuer u. s. w., gegen welche wieder Versicherung gewährt werden sollte, und die Verwirrung wurde immer größer, abgesehen davon, daß alles dahinzielte, noch mehr Vertheilungsarbeit hervorzurufen, als man damals ohnehin schon für den Güterumsatz und ein höchst mangelhaftes Versicherungswesen aufwenden mußte.
Eine niemals genügend untersuchte Frage war auch die, wie es mit den Wohngebäuden zu halten wäre. Da der Staat nicht selbst produciren sollte, so konnte er auch auf die Niederlassung der Staatsbürger nicht nur keinen Einfluß nehmen, sondern er konnte nicht einmal rathen, wohin sich jemand wenden sollte, der in die Production eintritt. Man bildete sich auch ein, jeder müsse sein eigenes Haus haben. Abgesehen davon, daß das äußerst unökonomisch ist, daß diese planlose Aufbauung zahlloser Häuser auch die größte Verwirrung in viele öffentliche Anstalten, Schulen, Straßen, Beleuchtung bringen mußte, war auch an ein öffentliches Leben, geordnete Geselligkeit, eine verläßliche Volksabstimmung nicht zu denken, wenn die Ansiedlung nur nach individuellen Impulsen [S. 275] sich ausdehnten oder verkümmerten. Und nun, was sollte derjenige thun, der ein Haus gebaut oder erworben hatte, um hier ein Geschäft zu betreiben, wenn er in seinem Berufe nicht fortkommen konnte? Man wollte ihm freien Uebertritt zu anderen Gewerben oder den Wechsel des Wohnsitzes aus Erwerbsgründen ermöglichen; nun war er aber Eigenthümer eines Hauses, das sollte er mit Verlust verkaufen oder es vermiethen und einem Dritten die Verwaltung überlassen. Es war doch klar, daß es vor allem galt, die Glieder des Volkes gegen die Wechselfälle im wirthschaftlichen Leben zu schützen, und man bereitete ihnen unter dem lockenden Namen “Freiheit” zahllose neue Gefahren, eine Zerfahrenheit und Verwirrung, die größer war, als man je erlebt hatte.
Eine Versicherung war überdies zu gewähren für Zufälle, durch die jemand erwerbsunfähig wurde. Es war also auch der Nichtarbeiter zu versorgen. Wenn nun die Arbeitsproducte Eigenthum der Producenten waren, wie sollte da der Erwerbsunfähige erhalten werden? Man mußte wieder die Producenten besteuern, also auch aus diesem Grunde einen Theil ihres Eigenthumes ihnen nehmen. Und wie sollten die Productionsmittel an die Producenten gelangen, wenn sie Staatseigenthum sind, was die Socialisten forderten? Sollte jeder einen gleichen Antheil an Grund und Boden und einen gleichen Antheil an Maschinen erhalten und was waren gleiche Antheile bei der außerordentlichen Verschiedenheit der Ertragsfähigkeit des Bodens? Oder sollte [S. 276] verpachtet werden? Mit Wohn- und Wirthschaftsgebäuden oder ohne selbe, an Einzelne oder Genossenschaften, auf wie lange, unter welchen Bedingungen? Und wer sollte investieren, wie sollte man Raubwirthschaft verhindern?
Das war alles unausführbar; ausführbar war nur die Nachahmung bes Großbetriebes, wie er im neunzehnten Jahrhundert mit so großem Erfolge gedieh, aber nicht für Rechnung eines Einzelnen oder eines Unternehmers, sondern für Rechnung des Staates, der die Niederlassungen nach statistischen Daten erbaute und besiedelte, die Bevölkerung nach dem Arbeitsbedürfnisse vertheilte, die Arbeiten anordnete und vertheilte, producirte, was das Volk brauchte und alle wirthschaftlichen Gefahren auf sich nahm. Jeder mußte nach Kräften an der Herstellung der Gesammtproduction mitwirken und erhielt dafür die Versorgung aus dem Gesammtproducte zugewiesen.
Der Staat also blieb Eigenthümer der Materie durch alle Stadien der Production und betrachtete die Arbeiter, wie sie ehemals der Unternehmer betrachtet hatte; der Arbeiter war besitzlos und blieb besitzlos, das Product gehörte ebenso dem Staate, wie der Grund und Boden und die Urstoffe, und der Arbeiter erhielt nur das zugewiesen, was er verbrauchen mußte, und zwar nur zum Verbrauch, nicht zur Ansammlung von Vorräthen.
Der Unterschied aber gegen früher war der, daß der Staat wieder nur die Gesammtheit der Arbeiter war, daß der Arbeiter als stimmberechtigter Bürger [S. 277] im Staate herrschte und daß das ganze Product unter die Arbeiter vertheilt werden mußte nach Grundsätzen, die die Gesammtheit der Arbeiter guthieß. Es entfielen alle Abgaben an Parasiten.
Da der arbeitenden Bevölkerung die Wichtigkeit tüchtiger und gewissenhafter Beamten, Lehrer und Aerzte, die Notwendigkeit der Monarchie, die Nützlichkeit der Adelsinstitution, der Ermunterung des Erfindungsgeistes, der Forschung und der Künste, die Notwendigkeit ferners der höheren Entlohnung fleißiger Arbeiter und gewisser gefährlicher und gesundheitsschädlicher Arbeiten einleuchtete, bewilligte sie, daß ein gewisser Bruchtheil des Productes dazu verwendet wurde, aber das sollte ein Zehntel des Gesammtproductes nicht übersteigen, und so konnte niemals eine erhebliche Beeinträchtigung des Einzelnen herbeigeführt werden.
Ein Zehntel des Gesammtproductes war in Oesterreich die Arbeit von 2 200 000 Arbeitern und es ist evident, daß das nicht nur ausreichen mußte, um Krone und Adel, wofür nur ein Procent ausgeworfen wurde, sondern daß es auch genügen mußte, Beamte, Lehrer und Aerzte zu erhalten, die etwas mehr als ein Procent der Bevölkerung ausmachen und auf welche drei bis vier Procent des Productes verwendet werden konnten, was bei ungleicher Vertheilung unter den betreffenden Personen wieder eine glänzende Dotirung der höchsten Stellen verstattete. Der Rest von fünf Procent wieder war übergenug, um Künste und Wissenschaft zu fördern, Erfinder zu [S. 278] belohnen und eine Abstufung in der Entlohnung unter den Arbeitern nach Fleiß, Geschicklichkeit und Opferwilligkeit zu begründen, und endlich, um das Capital zu erhalten und zu vermehren. Der Staat nun konnte aber doch nicht alle Materie bis zum gänzlichen Verbrauche festhalten, weil dadurch jede freie Thätigkeit selbst auf dem Gebiete der geistigen Production wäre unterbunden worden. Das Volk bewilligte also, daß ein Theil des Productes unter der Bezeichnung Consumtibilien vertheilt werde. Auf diese Weise baute Schneider sein Schutzhaus, erzeugte man Photographien, Statuen, Schnitzereien, Modelle für neu erfundene Gegenstände, Werkzeuge und Maschinen &c. &c. An solchen Consumtibilien mußte man gewissermaßen das Eigenthum erwerben können, wenn auch kein volles, denn in Wahrheit gab der Staat sein Eigenthum an nichts auf. Wer in freien Stunden, und nicht im Auftrage des Staates, ein Bild malte, eine Zeichnung anfertigte, ein Werkzeug oder eine Maschine nach seiner Erfindung herstellte, war, da ihm alles dazu erforderliche zum Verbrauche war überlassen worden, ebenso berechtigt, daran zu ändern, es umzugestalten oder auch es dem Verbrauche auszusetzen, als wäre es sein Eigenthum, aber doch nur in Folge einer Gestattung des wirklichen Eigenthümers, der immer der Staat blieb. — Dieser konnte sein Eigenthum auch jederzeit wieder geltend machen, dem Gebrauche und Verbrauche Einhalt zu thun und die Sache wieder zurückfordern, wie dem Staate auch zweifellos das Recht zustand, [S. 279] hinterlassene Briefe eines berühmten Mannes in Anspruch zu nehmen, wenn sie durch die Geschichte des Briefschreibers einen Werth erlangten. Auch war es Niemand erlaubt, etwas ohne Bewilligung des Staates ins Ausland zu schaffen oder irgend etwas zum Gegenstande des Handels zu machen oder gar in der Absicht, jemand zu corrumpiren, anderen geschenkweise zu überlassen. Das wäre nicht nur strafbar gewesen, sondern der geschenkte Gegenstand wäre auch zurückgefordert worden.
Dabei konnte aber die Staatsverwaltung auch nicht willkürlich, sondern immer nur nach dem Volkswillen verfahren. Hätte bei der Vertheilung von Consumtibilien Dr. Kolb soviel Erz, Feuerungsmaterial &c. auf seinen Antheil erhalten können, um eine Statue zu gießen, so würde er oder seine Familie oder die Gemeinde, ein Freund, eine Geliebte bis auf weiteres im ausschließlichen Genusse der Statue verblieben sein, aber die Statue bliebe Eigenthum des Staates und von diesem hinge es ab, ob die Statue etwa auch auf Erben übergehen dürfe.
Wir kamen nachmittags nach Bregenz. Der Bodensee bot im hellen Sonnenscheine einen entzückenden Anblick. Tausende von Booten aller Größen drängten sich an den Ufern, in der Ferne sah man zahlreiche Dampfer, welche heute viele Tausende von den schweizerischen und deutschen Ufern des Sees herangebracht hatten, laviren.
Es war Donnerstag der 6. August, der Vorabend unserer Abreise aus dem uns liebgewordenen Oesterreich. Vom Bahnhofe bis zu den schönen Gebäuden der Stadt und die Ufer entlang war ein Gedränge von Menschen zu sehen, worunter auch Fremde aller Zungen und aus allen Welttheilen. Wir eilten zu Tische, denn in kurzem stand die Ankunft des Kaisers und des kaiserlichen Hofes bevor. Die Nachrichten liefen von Zeit zu Zeit ein, wie der kaiserliche Zug die Stationen durchfuhr und nun eilten viele zum Bahnhofgebäude, den Monarchen zu empfangen.
Die Kaiserin am Arme, gefolgt vom Kronprinzen und dessen jüngeren Brüdern, dann von zahlreichen Erzherzogen und Prinzessinnen und dem Hofstaate, [S. 281] schritt der Fürst, begrüßt und grüßend über den mit Teppichen belegten kurzen Weg nach dem mächtigen Portale des herrlichen Baues, der heute eröffnet werden sollte. Er war noch verschlossen und am Eingange harrten die Baumeister und die Werkleute in alterthümlicher Tracht, die kunstreich angefertigten Schlüssel in den Händen, um, nachdem einige der Feier angemessene Reden gewechselt worden waren, die Thore zu öffnen, über deren Schwelle voran der Kaiser und die Kaiserin schritten und ihnen nach die Prinzen und Prinzessinnen, dann hohe Beamte und Mitglieder des Adels, Einheimische und Fremde flutheten und in kurzem beinahe den Riesensaal füllten. Der Seeseite gegenüber an der Längswand, von wo aus man durch hohe Fenster und Glasthüren in einen herrlichen Wintergarten blickte, war eine erhöhte Bühne, mit Teppichen bedeckt, aufgerichtet, welche der Kaiser mit seiner Familie, dem Adel und den hohen Beamten hinanstieg und, nachdem der Saal gefüllt und Ruhe eingetreten war, nahm der Kaiser, die Kaiserin zur Rechten und den Kronprinzen zur Linken, auf dessen goldgelockten Kopf er seine Hand legte, das Wort, um eines Ereignisses in seiner Familie zu gedenken, das Anlaß zum Baue des Palastes und zur heutigen Feier bot.
Am selben Tage vor drei Jahren war der Kronprinz, der jetzt in blühender Gesundheit neben dem Kaiser stand, im Bodensee, wo er, noch des Schwimmens unkundig, badete, von einer Welle ergriffen und in den See, der ziemlich bewegt war, hinausgetragen [S. 282] worden. Händeringend stand die Mutter am Ufer und zwei Schiffer stürzten sich ins Wasser, um den Prinzen zu retten. Sie wollten nichts von Dank wissen und sagten freimüthig, es sei ihnen um das Menschenkind, nicht um den Prinzen gewesen, und der Kaiser, darum nicht weniger dankbar, beschloß, zur Erinnerung an diese That der Nächstenliebe die Stadt Bregenz mit einem Palaste zu beschenken, der auf Kosten der Civilliste erbaut werden sollte. Nachdem der Kaiser noch einmal den Rettern, die weder genannt werden wollten, noch bei der heutigen Feier erschienen waren, den Dank ausgesprochen, erklärte er, den Bau nunmehr den Einwohnern der Stadt zu übergeben, damit sie hier sollten frohe Stunden verleben und den vielen Gästen, die das ganze Jahr über hier zusammenströmten, bereiten können.
Dann gab der Kaiser, der stehend und unbedeckten Hauptes gesprochen, das Wort dem obersten Beamten der Provinz, der die Festrede hielt, in welcher er die Nächstenliebe pries und schilderte, was sie schon Großes in Oesterreich vollbracht habe.
Nach Beendigung der Festrede intonirten die anwesenden Sänger eine passende Cantate, worauf man den Rundgang im herrlichen Baue antrat, der in den letzten drei Jahren ausgeführt worden war und, wie wir Amerikaner sagen würden, mehr als zwei Millionen Mark gekostet hatte. In Oesterreich schätzte man den Bau auf zweitausend Arbeitsjahre.[O]
Die Gesammtanordnung war dieselbe, die alle diese Bauten zeigten. Doch war das Geschoß, welches den großen Saal enthielt, höher, als gewöhnlich und erreichte eine Höhe von sechzehn Metern. Die Pfeiler zwischen den bis zur Decke reichenden Fenstern und die Säulen, welche die Decke und den darüber errichteten Bau trugen, waren mit Stuck bekleidet, die Stuckadorung der Gesimse und der Decke war weiß mit Gold und an den Pfeilern sah man, gestützt von Consolen, die Büsten des Kaisers und der Kaiserin, dann der Prinzen, endlich die der Reichstribunen und der Provinzialtribunen des Jahres. Die Büsten der Lebensretter durften nicht aufgestellt werden, weil diese es nicht gestatteten.
Der Ausblick nach der Seeseite war ebenso entzückend, wie der Blick nach dem gegenüberliegenden Wintergarten, der mit Palmen und anderen Gewächsen geziert war. Auch der Bibliothekssaal war reich geschmückt und war dort die Statue des Dichters Hermann von Gilm aufgestellt. Diesen großen Saal, der sechshundert Quadratmeter maß, umgaben sechzehn kleinere Säle, die in den verschiedensten Stilarten auf das herrlichste ausgestattet und eingerichtet [S. 284] waren, und befanden sich dort zahllose Broncen, Marmorbildwerke und Gemälde.
Für die Ventilation hatte man ein neues System angewendet, das nach vielen Versuchen und Verbesserungen allgemein anwendbar war gemacht worden. Man erzeugte durch Maschinen, die im Dachraume angebracht waren, große Kälte in einem geschlossenen Raume, in dem die von außen eingeführte Luft stark abgekühlt wurde, und diese wurde dann durch im Mauerwerke und den Säulen angebrachte Röhren zum Fußboden der Säle und dem des großen Speisesaales geleitet.
Dagegen waren die hohen Saalfenster an den Decken der zu ventilirenden Räume zu öffnen und zog dort die verdorbene und erwärmte Luft umso rascher ab, weil die am Fußboden nachströmende kältere und schwerere Luft sie verdrängte. Die Luft, die man den Räumen zuführte, wurde aus dem angrenzenden Fichtenwalde eingesaugt und duftete auf das köstlichste.
Auch von außen bot der Bau einen schönen Anblick. Die Thürme an den vier Ecken, welche die Stiegen enthielten, waren mit Epheu umrankt und ragten hoch über den Bau hinweg, oben mit einer Brustwehr abgeschlossen. Auch die Hauptmauern des Baues waren weit über das obere Geschoß hinaufgeführt und über dem eigentlichen Dache eine flache Bühne aus starker Construction errichtet, welche theils mit Erde bedeckt, theils gepflastert, einen reizenden Garten bildete, in dessen Mitte der obere Theil des [S. 285] Bibliothekssaales emporragte. Zum Baue gehörte auch noch ein Schatz von Glas und Porzellan, Tafelsilber und Tafelwäsche, sowie die kostbare Einrichtung der Küche und der unterirdisch angebrachten Bäder.
Nachdem der Bau in allen Theilen war besichtigt worden, strömte nach und nach alles zu den drei großen Ausgängen, die nach dem See führten, und da sah man zuerst den Kaiser, die Kaiserin und die Prinzen und dann das Gefolge und die Sänger, Fremde und Einwohner heraustreten, um über den Vorplatz und die Treppen nach den Schiffen zu gelangen. Zuerst füllte sich das reich geschmückte kaiserliche Boot und dann die Sängerpontons. Es waren drei berühmte Sängervereine zum heutigen Feste gekommen. Voran der Wiener Verein, der noch immer den ersten Platz behauptete und dessen Leitung in den Händen eines Mannes lag, dessen Aeußeres kaum den Künstler verrathen hätte. Ein breites etwas rothbrüchiges Gesicht, eine große knochige Gestalt, ein etwas verkürztes Bein waren Merkmale, die an einen berühmten Sänger aus alter Zeit erinnerten, dessen Name und Gedenken den Oesterreichern überliefert waren. Aber auch die Stimme war dieselbe, ein entzückender lyrischer Tenor, der, sobald er nur anschlug, sich schon alle Herzen gewann. Der Name des Sängers war Rieger.
Dann waren hier die Kölner, die lange rangen, es den Wienern zuvorzuthun, aber auch mit der [S. 286] zweiten Stelle zufrieden sein konnten, und der dritte Verein war der Berner Sängerbund.
Die Pontons für die Sänger waren auf großen Booten, die die schwere Last zu tragen vermochten, errichtet und konnte jedes über vierhundert Sänger fassen. Die Fortbewegung geschah durch eine verstellbare Schiffschraube, die vom Verdecke aus mit der Hand in Bewegung gesetzt werden konnte. Diese Pontons schwammen langsam in den See hinaus, das kaiserliche Boot und einige andere Boote in die Mitte nehmend und von außen von tausenden kleiner Boote und den Dampfern umschwärmt. Die Berner eröffneten das Sängerfest, dann folgten die Kölner und dann harrte man erwartungsvoll des altberühmten Sanges der Wiener. Ein mächtiger Chor begann und nachdem er leise verhallt war erhob sich der himmlische Tenor des Wiener Meisters in getragenen, anschwellenden und wieder verklingenden Weisen. Nach wenigen Tönen hatte diese herrliche Stimme alle Herzen bezaubert, aller Lärm erstarb und nicht nur die Menschen lauschten athemlos, auch der Wind und die Wellen, die eben noch spielten, schienen sich zu legen, kein Ruder rührte sich und die Vögel des Himmels ließen sich auf den Booten nieder, um zu hören. Andächtig folgte man den Tönen, die, vom Wasser getragen, so leise sie auch klangen, doch weithin hörbar waren.
Da plötzlich ein markerschütternder Schrei: “Jakob, mein Jakob!” und da man sich nach einem Boote mitten zwischen den Sängerschiffen wandte, sah man [S. 287] auch die Kaiserin erschreckt und mit herzbrechendem Jammer sich nach dem Wasser neigen. Doch der Kaiser gebot mit einer Handbewegung Ruhe, daß kein Ruder ins Wasser tauche und kein Boot in dem fürchterlichen Gedränge sich bewege, und sieh', da taucht ein Blondkopf neben dem Sängerschiffe auf, der Kronprinz erfaßt die Planken, die sicheren Halt bieten, und indem er sich hinaufschwingt, zieht er aus dem See den halbtodten Jakob nach, der unfehlbar hätte ertrinken müssen, wenn der Prinz sich nicht, ehe ihn die Kaiserin zurückhalten konnte, ins Wasser gestürzt und das eigene Leben gewagt hätte, — und dort, wo tausende von Booten eingekeilt und sich stoßend, das Emporkommen erschwerten. Allgemeiner Jubel erscholl und die arme Anna, die schon fürchtete, den Schützling zu verlieren, fiel der Kaiserin und dem Kronprinzen um den Hals. Eine mächtige Bewegung pflanzte sich über den See und bis ans Ufer fort, als man erfuhr, was vorgegangen war. Sie nahmen den armen Jakob, der sich bald erholte, auf das kaiserliche Schiff und nachdem man die Geretteten ans Land gerudert hatte, um ihnen trockene Kleider zu besorgen, traten die ersten Sänger zusammen, um sich auf das Lied zu einigen, das für diese Stunde sich am besten zu eignen schien. Es war das Lied: Freiheit, Gleichheit und Menschenliebe, das die drei Chöre vereint erschallen ließen. Voran die Berner die Strophe von der Freiheit, wo dem Chore eine mächtige Baßstimme folgte, dann die Kölner die Strophe von der Gleichheit, die ein sympathischer [S. 288] Bariton pries, und am Ende die Wiener, welche abwechselnd mit dem Tenor die Menschenliebe besangen.
Mittlerweile flammten auf den Bergen in Vorarlberg und der Schweiz die Freudenfeuer auf, die der alten Sitte gemäß den Kaiser begrüßten und deren Schein vortrefflich zu der Stimmung paßte, welche sich über so viele hier verbreitet hatte.
So hatten wir am letzten Abende unseres Aufenthaltes in Oesterreich Zeuge sein können, wie der Kronprinz für seine Rettung den einzigen Dank abstattete, der dem empfangenen Dienste ebenbürtig war. Und da nun, spät am Abende, nachdem längst alle Schiffe waren beleuchtet worden, die gesammte Flotte den Bernern, die nach Rorschach fuhren, das Geleite gab, schlossen wir uns an und kehrten erst um Mitternacht nach Bregenz in unsere Quartiere zurück.
Des anderen Morgens ließ mir die schöne Anna sagen, ich möge sie besuchen und ihr Hilfe bringen. Jakob liege im Fieber und wenn er ab und zu zu sich komme, zeige er eine unbegreifliche Melancholie. Er beklage, daß er nicht den Tod im See gefunden, und härme sich ab, daß seine Anna, an einen Krüppel gekettet, ihr Leben vertrauere, wie er sich ausdrückte. Hier theile niemand die Sorge um ihn mit der Gefährtin und da er jetzt krank liege, bedrücke ihn der Gedanke, daß sie sich ihm opfere. Gewiß habe sie längst bereut, wolle aber ihrem Worte nicht untreu werden. Der Freund möge kommen und versuchen, ob er rathen könne.
Ich hatte noch einige Stunden vor unserer Abreise vor mir und bat Mr. Forest, die Geschäfte mit der Verwaltung abzumachen, während ich zu dem unglücklichen Paare eilte. Gerade gingen die Kaiserin und der Kronprinz, dem das kalte Bad nicht geschadet hatte, vom Krankenbette weg. Erstere grüßte freundlich und erinnerte sich, daß wir nun schon zum dritten male zusammentrafen. Dem Kronprinzen reichte ich die Hand, indem ich seiner muthigen That rühmend gedachte. Er ergriff sie zögernd und befangen.
Als ich bei Anna eintrat, fand ich die zwei in Verzweiflung. Jakob ließ sich nicht überreden. Das Opfer sei unnatürlich. Da zog ich ein uraltes vergilbtes Zeitungspapier aus der Tasche und bat um die Erlaubniß, ihnen daraus vorlesen zu dürfen. Er lächelte wehmüthig und willigte ein. Folgendes war meine Erzählung.
Eine Storchengeschichte.
Auf einem holsteinischen Gute, so erzählt die ‘Kieler Zeitung,’ ereignete sich vor elf Jahren, daß ein Storch im Kampfe mit einem eifersüchtigen Nebenbuhler dermaßen verletzt wurde, daß er flügellahm vom Neste herabpurzelte. Trotz sorgsamer Pflege, die dem armen Invaliden zu Theil wurde, gelang es nicht, ihn so weit wieder herzustellen, daß er seine Schwingen gewohntermaßen gebrauchen konnte. Vielmehr wanderte Meister Rothbein von jetzt an trübselig auf dem Hofe umher, drückte sich in Scheunen und Ställen herum und schien an seinem Schicksale schwer zu tragen.
Gleichwohl blieb er am Leben und als seine Kameraden sich im Spätsommer aufmachten, um ihre Winterheimath am Nilstrome aufzusuchen, sah Peter — so hatte man den Verunglückten getauft — ihnen sehnsüchtig und traurig nach, fand sich aber schließlich in das Unvermeidliche. Der Winteraufenthalt wurde ihm von dem Hofbesitzer nach Möglichkeit erleichtert; um für Peter die erforderliche Nahrung allezeit bereit zu halten, ließ man Fische von einem benachbarten Küstenorte kommen und so gewöhnte sich der rothbeinige Invalide im Laufe der Jahre so sehr an seine Lage, daß er ganz zahm wurde und seinem Herrn, freilich auch nur diesem, überallhin folgte. Die traurige Zeit während der elf Jahre war für Peter nur immer diejenige, wann im Frühjahr seine Kameraden aus Afrika heimkehrten und es sich auf den Dächern im behaglichen Neste bequem machten. Dann stand er in der Regel auf dem höchsten Punkte des Gehöftes, dem Mistberge, und blickte traurig und liebeskrank zu den Glücklicheren seines Geschlechtes empor, die auf dem Dache ihre Zurüstungen zum Ehe- und Familienleben trafen. Vor zwei Jahren nun sollte auch für Peter eine glücklichere Zeit anbrechen; ein freundlicher Sonnenstrahl fiel in das Einerlei seines verkümmerten Daseins. Ein junges Storchenfräulein schwebte an einem schönen Frühlingstage auf die Einsamkeit des Misthaufens hernieder und — mitleidig, wie gute Mädchen nun einmal sind — fand sie Gefallen an dem Krüppel und kam seinem Liebeswerben freundlich entgegen.
Ja die barmherzige Storchenlady ließ sich sogar bereit finden, entgegen ihrer Gewohnheit, auf dem Dachfirste zu nisten, mit einem Bau auf ebenem Boden in der Nähe eines Lusthauses fürlieb zu nehmen. So verlebte denn Peter an der Seite eines geliebten Weibes einen glücklichen Sommer, wurde Vater mehrerer Kinder und Alles wäre in bester Ordnung gewesen, wäre nicht der Herbst gekommen. Als die Zugzeit herankam, siegte auch in Peters Gattin das Heimweh über Liebe und Treue und eines schönen Tages flog sie sammt ihren Kindern davon, ihren Peter in der Einsamkeit zurücklassend. Der arme Strohwittwer war den Winter über mehr denn je in sich gekehrt und war schier untröstlich, als im nächsten Frühjahre seine junge Frau nicht zu ihm zurückkehrte. Hatte die Ungetreue ihn so schnell vergessen? Eifersucht vergrößerte die Qual seines Herzens. Doch was half's? Er mußte sich in sein Schicksal fügen. Und der Sommer verging und wieder kam der Winter und nach ihm der neue Frühling. Wie alljährlich stand Peter vor einigen Wochen auf seinem Mist und verfolgte den Flug der heimkehrenden Freunde. Da, wer beschreibt seine Freude, kommt's rauschend herabgeflogen und vor ihm nach anderthalbjähriger Trennung steht frisch und gesund die verloren geglaubte Gattin.
Alles schien in Ordnung, nur auf dem flachen Erdboden schien das wiedervereinigte Paar nicht wieder bauen zu wollen. Der Hofbauer merkte das an Peters vergeblichen Versuchen, auf das Dach des Lusthauses zu gelangen, und ließ sofort eine bequeme Leiter bauen. Diese wurde von Peter auch richtig benutzt und heute nistet das Paar einträchtig auf dem Dache des Pavillons. In der Umgegend aber gehen schon jetzt die Leute Wetten ein, ob die Storchenmadame ihren Peter auch in diesem Jahre wieder verlassen wird oder nicht.
“Nun, Jakob, was sagst Du zu dieser Erzählung, die über 100 Jahre alt ist?”
Jakob war nachdenklich geworden und sprach lange nicht: “Sollte es wahr sein, daß das Thier selbst daran Freude findet, sich dem Unglücklichen zu opfern? So wärst Du meine Störchin,” sagte er heiterer auf seine Anna blickend. — “Es ist wohl so,” sagte diese lächelnd, “ich habe nichts lieberes auf der Welt, als dich. Was wir lieben, machen wir uns zum Schatze und ihn zu verlieren, ist unser Verderben.”
Nach einigem Besinnen sagte Jakob: “Wenn du meine Störchin bist, mußt du mich als deinen Storch gelten lassen. Was wäre dir denn von mir geblieben, wenn ich ertrunken wäre? Storch und Störchin hielten beisammen aus, aber sie hatten ihr Nest.” Anna wurde ernst und antwortete nicht. Jakob sagte dann wieder: “Lasse deinen Trotz fahren, liebes Weib, lasse dich mit mir regelrecht trauen und schenke mir Kinder, dann zweifle ich nicht mehr.”
Anna jubelte auf: “Aber Beine müssen die Jungen haben,” und damit fiel sie dem Kranken um den Hals. “Natürlich, denn wo fände sich eine Zweite wie du?” —
Jakob in den Armen haltend blickte Anna jetzt lustig zu mir auf und rief: “Nicht blos unsertwillen habe ich dich herüberbitten lassen. Ein Brief ist für dich eingelangt und er duftet nach Rosen, er wird von Frauenhand sein.”
Sie gab mir ein Schreiben, das ich sofort erbrach. Es war von Giulietta. Hier folgt es:
“Lieber Julian! Ich empfing deinen Brief aus Tulln. Er war frostiger, als ich denken mochte, obschon ich nicht zweifelte, was der Ausgang meines Romanes sein müsse. Freilich ist ja die Geschraubtheit des Amerikaners mit Schuld daran. Euch fehlen die Grazien. Ich mache dir keinen Vorwurf. Ich bereue nicht, was ich gethan; ich habe eine süße Stunde genossen und dir bereitet, aber ich habe auch erfahren, daß wir Frauen anders lieben, als ihr. Wir wollen erhalten, ihr wollt vermehren und verändern, ihr seid unersättlich.
Ich hatte am Sonntag kein Ziel, keine Absicht leitete mich; aber unvermerkt verband sich, da ich mich dir hingab, mit dem Entzücken des Augenblickes die Vorstellung von einem dauernden Glücke. Ich hoffte nicht, denn du machtest mir keine Hoffnungen, aber es schien, als ob das Glück werth wäre, festgehalten zu werden.
Hätte ich kühl überlegt, so hätte ich nicht geirrt, [S. 294] aber wie könnten wir Frauen überlegen, wenn wir liebend beglücken!
Wie bald wurde ich gewahr, daß du nicht vom selben Wunsche erfüllt bist, wie ich, und daß du nicht daran denkest, die Schwierigkeiten zu überwinden, die uns Frauen niemals abhalten, Liebe zu vergelten. Kein Mann wird Giulietta mehr umarmen. Ich habe nicht von dir, ich habe von der Liebe Abschied genommen, nicht ohne das Gefühl eines Menschen, der das bessere Gut verliert und sich an ein geringeres klammert, aber nur um zu erfahren, daß ihm auch dieses versagt ist. Gräme dich aber nicht darüber. Ganz ohne bange Zweifel konntest du nicht abgereist sein und ich will dich beruhigen. Es ist mir genug geblieben, daß du ohne Gewissensbisse in dein Land zurückkehren kannst. Ich bereue nicht und die Gewißheit, einem lieben Menschen eine Stunde seligen Entzückens geschaffen zu haben, bleibt mir doch.
Nun sieh' aber, was mir ein günstiges Schicksal gewährt hat. Peterchen wird doch mein Söhnlein. Ich habe ihn beobachtet und mir über ihn berichten lassen. So klein der Kerl ist, so weiß man doch, daß er gute Anlagen und das beste Gemüth hat. In so jungen Jahren vergißt er seine Mutter doch leicht und er wird an mir hängen. Der Verwaltungsbeamte hat ihn mir überlassen, nachdem Josefa und andere Verwandte dazu riethen.
Der Abend beim Beamten verlief sehr angenehm. Man hat gesungen und getanzt und ich bin gebeten [S. 295] worden, zu improvisieren. Die Italiener lieben es, über ein aufgeworfenes Thema Gedichte zu rezitiren, die der Augenblick gebiert.
Ich hatte großen Beifall und freute mich, unter Deutschen meine göttliche Sprache zur Geltung zu bringen.
Die Empfangsräume der Mitglieder des Vorstandes der Gemeinde — wozu wir auch die Lehrer rechnen — sind, dem Fortschritte und dem Aufschwunge unseres Staatswesens entsprechend, ganz besonders prächtig. Sie reichen durch zwei Stockwerke des Wohnhauses, in dem ich meine Stube habe, und sie bilden zwei große und zwei kleine Säle, von welchen man auf einer Seite in einen reizenden kleinen Garten gelangen kann, und auf einer anderen Seite in einen blumengeschmückten Glassaal. Der schönste Saal ist mit Stuckmarmor, Spiegeln, Broncecandelabern und Lustern reich verziert. Die Herren vom Vorstande haben sich darüber geeinigt, daß sie hier abwechselnd ihre Abende geben werden. Jeder bestimmt seine Einladungen nach seinem Gutdünken. Es wird zwar niemand ganz ausgeschlossen, aber der Zutritt wird nicht ganz gleichmäßig vertheilt werden. Diesmal war auch ein Erzherzog auf kurze Zeit zu sehen, der im Auftrage gekommen war, die neue Gemeinde zu begrüßen.
Dr. Kolb war da. Ein gesprächiger Mann. Es machte ihm Freude, zu hören, daß ich von ihm weiß und daß ich die Bildhauerkunst hoch schätze. Auch die Arbeiten meines Wahlbruders haben ihm sehr [S. 296] gefallen. Er vertraute mir an, daß er den Auftrag habe, — er sagte mir nicht, von wem, — eine Venus in Marmor auszuführen. Ich solle ihm Modell stehen. Werde mir nicht eifersüchtig, kein Mann soll mich mehr schauen. Der Künstler aber erklärte mir den Vorwurf und er ist nicht von der Art, daß ich seinem Wunsche nicht willfahren könnte. Peterchen wird nackt ausgezogen und mir als Amor in den Nacken gesetzt, um mir die Augen zuzuhalten. Wir streiten uns darum, ob der kleine Gott auf den Schultern knieen oder rittlings hingesetzt werden soll. Wir neigen jetzt dem letzteren Gedanken zu.
Ich wollte einige alte Toilettestücke verwenden, um die den Absichten des Künstlers entsprechende Kleidung anzufertigen. Aber er wehrte mir; man brauche da nicht zu sparen, der Stoff müsse von der Art sein, daß der Faltenwurf schön ausfalle. Es werde eine Bekleidungskünstlerin aus der Residenz kommen und man werde es sich etwas kosten lassen, um etwas wahrhaft Schönes zustande zu bringen.
Wir — Dr. Kolb und ich — werden uns oft treffen, denn ich soll mehr als andere Mädchen von der Geselligkeit in meiner neuen Heimath und wohl auch in der Residenz genießen.
So magst du, Lieber, voraussetzen, daß Giulietta geachtet und glücklich leben wird.
Lebe wohl und gedenke deiner Giulietta.” —
Ich verabschiedete mich von Anna und Jakob, die mir dankten, daß ich Anlaß gegeben hatte zu einem Wiederaufleben ihres Liebesglückes. Als ich [S. 297] in meine Wohnung kam, las ich den lieben Brief noch einmal. Es war mir wirklich ein Stein vom Herzen, zu wissen, daß mich Giulietta ganz und gar und ohne Kränkung frei gegeben hatte. Sie maß mir keine Schuld bei und so konnte ich ohne Schuldbewußtsein aus Oesterreich scheiden. Bei blankem Himmel fuhren wir mit vielen Schweizern, Franzosen und Engländern auf dem Dampfer nach dem schweizerischen Ufer.
So endete unsere Reise.
Hier sei es mir gestattet, noch einer Nachricht zu gedenken, die ich nach Jahresfrist empfing und die mir Giuliettens Wesen noch deutlicher machte. Meine Schwester Ellen ging nämlich auch nach Oesterreich, um sich das Land anzusehen, von dem ich gerne erzählte. Sie brachte den letzten Theil des Winters 2021 in Wien zu und blieb dann noch einige Wochen, um auch auf dem flachen Lande sich umzusehen. Sie hatte mit Lydia, der Tochter eines eingewanderten Amerikaners, Freundschaft geschlossen, und diese erleichterte ihr die Nachforschungen, die sie anstellen wollte.
Hier traf sie, ohne es zu wollen, mit Giulietta zusammen und den Theil ihres Reiseberichtes, der sich auf diese Begegnung bezieht, lasse ich hier folgen.
In Höflein angekommen bat ich meine Begleiterin, [S. 298] mich mit den Frauen und Mädchen bekannt zu machen, und wir wanderten daher nach dem Parke, wo zu dieser Stunde lebhaftes Treiben herrschte. Unter einem mächtigen Baume war eine große Anzahl von Damen versammelt und nachdem Lydia sich genannt hatte, stellte sie mich vor: “Miß Lydia West aus Boston.” — Man erinnerte sich, daß im vergangenen Jahre ein Amerikaner meines Namens in dieser Gegend weilte, und ich bekannte, daß er mein Bruder sei und daß ich durch seine Schilderungen bewogen worden war, gleichfalls dieses Land zu besuchen, um es kennen zu lernen und mich insbesondere über die Stellung der Frauen aufzuklären.
Die Vorsteherin der Frauencurie, welche anwesend war, sagte mir alle Aufschlüsse zu, die ich wünschen möge. Ein Mädchen von strahlender Schönheit und stark sinnlichem Gepräge sah mir forschend ins Angesicht, als ich mein Verlangen kundgeben, und, indem sie mir die Hand entgegenstreckte, sagte sie: “Liebe Schwester, gestatte, daß ich dir meinen Namen nenne; ich heiße Giulietta Chiari und will dir helfen, deine Wißbegierde zu befriedigen.” Ich dankte lächelnd und wandte mich anderen Frauen zu.
Als sich nach einer Weile die Gruppe aufzulösen begann, schob Giulietta ihren Arm in den meinen und sagte: “Erlaube jetzt, daß ich dich entführe nach jenem Hain.” — Sie rief einen Knaben, der in der Nähe spielte, und als sich Peterchen langsam erhoben hatte und herangetrippelt war, brachen wir nach dem schattigen Wäldchen auf. Lydia verabschiedete [S. 299] sich von mir und rief mir zu, daß wir beim Abendessen um neun Uhr uns finden und dann beim Einbruche der Nacht heimkehren wollten.
Da mich Giulietta mit sich fortzog, fragte sie: “Sage mir, Schwester Ellen, ist dir mein Name bekannt?” Ich antwortete mit einem ehrlichen nein! und sie sagte, nachdem sie sich umgesehen hatte, um sich zu überzeugen, ob Peterchen seiner “Mama” folge. “So ist dein Bruder doch verschwiegen.” — “Hast du ihn näher gekannt?” — “Gewiß, und was er pflichtgemäß verschwiegen, will ich dir ohne Scheu anvertrauen, denn wir Schwestern haben keine Geheimnisse unter uns.”
Giulietta versprach, mich am nächsten Donnerstage in die Versammlung der Frauencurie in Höflein einzuführen, und schilderte ihre Verfassung und Wirksamkeit. Jeden Donnerstag nach Tische versammelt sich die Frauencurie im großen Bibliothekssaale und ist zu dieser Zeit das ganze Stockwerk Männern und jungen Leuten verschlossen. Die Frauencurie besteht aus allen Mädchen und Frauen, die das achtzehnte Lebensjahr vollendet haben. Sie bestellt eine Vorsteherin und einige Lehrerinnen, welche die Pflicht haben, heranwachsende Mädchen zur geeigneten Zeit in die Geheimnisse des Geschlechtslebens einzuweihen und sie in allem zu unterrichten was erforderlich ist, um sich die Achtung der Männer und den Frieden unter den Frauen zu erhalten. “Innerhalb dieser Grenzen aber lassen wir umso größere Freiheit walten. Auch die staatlichen Gesetze [S. 300] betreffend die Ehe, die Zeugung, die Familie, die Erziehung und die Rechte der Mutter und Ehefrau sind Gegenstand des Unterrichtes. So auch der Inbegriff aller jener Geheimnisse, die es uns erleichtern, den Bedürfnissen der Gesellschaft zu entsprechen.”
“Nun liebe Freundin, haben die Bekenntnisse, die du mir versprochen, eine Beziehung zu dem Frauenleben?”
“Gewiß und sie werden umso größeren Eindruck auf dich machen, weil dein Bruder in meine Erzählungen verflochten ist. Sage ihm auch, wenn du zurückkommst in dein Land, daß ich ihn der Pflicht der Verschwiegenheit entbinde, wenn er dir seinerseits Bekenntnisse machen will, um dir noch bessere Einsicht in unsere Verhältnisse zu gewähren.”
Wir ließen uns abseits vom Wege auf eine Bank nieder und Peterchen, der sich neben einem Bache ins Gras legte, verfiel alsbald in Schlaf.
Ich sagte zu Giulietten mit einem Blicke auf den Knaben: “Bist du denn verheirathet?”
“Nein, der Knabe ist verwaist und ich bin seine Pflegemutter. Das hängt ein wenig mit der Begegnung zusammen, die ich mit deinem Bruder hatte.”
Giulietta erzählte mir ihre Lebensgeschichte; ich bat sie aber, darüber hinwegzugehen, denn darüber hatte mir Julian berichtet, nur hatte er mir keinen Namen genannt.
“Sage mir aufrichtig, liebe Schwester, hat er [S. 301] sich auch der Gunst berühmt, die ihm jene Ungenannte erwiesen?”
“Ich kann diese Frage wahrheitsgemäß verneinen.”
“Nun,” sagte Giulietta, “mir ist es nicht verwehrt, davon zu sprechen, denn es ist nur mein Geheimniß. Höre.”
“An einem heißen Julitage badete ich in einer etwas abgelegenen Bucht des Meeres bei Triest, als ich in einiger Entfernung einen Mann gewahr wurde, der sich in den Fluthen tummelte. Ich war damals gegen meinen Willen frei geworden eines Versprechens, das mich seit zwei Jahren an einen Jugendfreund band. Die Bewerbungen anderer junger Männer, welchen mein Schicksal bekannt war, hatte ich zurückgewiesen, eben weil ich ihnen vorher mit der Hoheit einer für die Ehe geweihten Jungfrau begegnet war und sie nicht den Gedanken fassen sollten, aus meinem Unglücke Vortheil zu ziehen. Aber das Weib regte sich in mir, das Verlangen, zu beglücken und darin selbst mein Glück zu finden, brach zuweilen hervor und die Natur erinnerte mich daran, daß sinnliche Begierden Gewalt über uns haben. Meiner Rechte war ich mir bewußt und so wurde das Verlangen nach den Umarmungen jenes Fremdlings immer stärker. Dein Bruder, jener Fremdling, ist ein Apollo und da er sich mit dem Wasser balgte, bald mit mächtigen Stößen die Fluthen theilte, bald untertauchte, dann wieder emporschnellte, verlor ich mich in Betrachtung, ließ mich vom Wasser [S. 302] tragen und legte meine Wange auf die glatte Fläche, ohne meine Glieder mehr zu bewegen, als nöthig war, um nicht unterzusinken. Nun wurde jener Mann auf mich aufmerksam und wie er errathen haben mochte, daß dort ein Weib bade, wandte auch er seinen Blick nicht mehr von mir. Er näherte sich langsam, nicht ohne mir Zeit zu lassen, mich zu flüchten, und da ich die Gelegenheit nicht ergriff, meine Augen auch nicht von ihm ließen, steuerte er endlich an meine Seite und grüßte achtungsvoll. Er bat um die Erlaubniß, in meiner Nähe zu bleiben, und nun durchmaßen wir die Bucht und schwätzten von unserer Heimath und dergleichen. Julian schlug mir vor, ins weite Meer hinauszuschwimmen, und da ich sah, daß er sich in den Schranken zu halten wisse, die wir den Bewerbungen der Männer setzen, willigte ich ein, sagte aber scherzhaft, ich wolle mich versichern, daß er mich nicht etwa auf der weiten Wasserwüste allein verschmachten lasse, wenn er meine Gesellschaft würde satt haben. Ich band einen Kahn, in welchem ich meine Kleider abgelegt hatte, vom nahen Ufer los, zog die lange Leine hervor und knüpfte sie an seinen linken Fuß. Er lachte und zog das Fahrzeug, als er mit mir ins Meer hinausschwamm, sich nach. Obwohl er nun nur ein Bein zum Schwimmen frei hatte, ging es doch rasch vorwärts, denn Julian ist von herkulischer Kraft und wunderbarer Gewandtheit, was ich in der Erregtheit, die ich fortwuchern ließ, mit Wohlgefallen bemerkte. Bald waren wir soweit ins Meer hinausgekommen, [S. 303] daß wir kaum mehr die Ufer unterscheiden konnten, und Julian regte den Gedanken an, daß wir uns jetzt von den Fluthen tragen lassen und das Gesicht dem Himmel zuwenden sollten. Obwohl mein Schwimmkleid den Oberkörper nicht verhüllte, wies ich diesen Vorschlag nicht zurück und so lagen wir nun eine Weile wie Gatten auf einem endlos weiten Brautbette. Julian verschlang mich mit den Augen, hielt aber immer auf Armeslänge von mir, und so schwelgten wir im wechselseitigen Anschauen. Nun näherte ich mich selbst und schob meinen Arm unter des Gefährten Schultern. Er that desgleichen, aber da wir so verstrickt neben einander lagen, wagte der Genosse dieser süßen Stunde doch nicht, seine Lippen den meinigen zu nähern, und so zog ich ihn jetzt an meine Brust und besiegelte mit einem Kusse das Bündniß, nach dem wir beide verlangten. Und denke, auch jetzt noch beschränkte sich sein Mund auf meine Lippen und darum vergrub ich meine Finger in seine Haare und lenkte ihn sanft nach meinem Busen: Da erfaßte ihn wilde Begierde — und doch, da ich sagte: “Julian, sei vernünftig, laß mich die Zeit wählen,” riß er sich los und wir trennten uns wieder. Nur seine Augen ließen nicht mehr von mir und zu unbefangenem Plaudern konnte ich ihn nicht mehr bringen.”
“Ich war jetzt seiner Selbstbeherrschung gewiß und so forderte ich ihn bald auf, den Kahn heranzuziehen. Wir nahmen in selbem Platz und Julian ruderte mich ans Land.”
“Als wir uns dem Ufer näherten, bat Julian um die Erlaubniß, mir die Dienste einer Zofe zu leisten, und ich erlaubte ihm, mich zu bekleiden.”
“An jenem Abend genoß ich das Liebesglück in seinen Armen; das erste Mal in den Armen eines Mannes!”
“Welcher Sturm des Genießens, welche Leidenschaft! Ich hätte mich wahrlich willig erdrücken lassen. Das Weib fühlt sich in diesem Augenblicke dem Universum verbunden und glaubt, in sich zusammenzufassen alles Liebesglück, das unzählbare Menschen in Aeonen genossen.”
“Eine Woche später trafen wir hier zusammen. — Ich hatte mich von meiner Heimath losgerissen und war am Tage der Eröffnung dieser jungen Gemeinde hier eingetroffen. Der Zufall führte uns auf dem Gelände zusammen. Er warb noch einmal um meine Gunst, indem er sich eines Fingers bemächtigte und ihn zärtlich drückte. Nach kurzem Besinnen erwiderte ich den Druck und gab ihm so meine Einwilligung zu erkennen, ihm wieder anzugehören.”
Während dieser Erzählung hatten wir unseren Ruheplatz verlassen und Giulietta hatte ihren Schützling in ihre Arme genommen. Der hatte ein paarmal im Schlafe aufgeredet, dann lag er wie ein Mehlsack an ihrer Brust, das Gesicht auf ihrer Schulter. Wir betraten Giuliettens Stube und nachdem sie Peter in seinem Bettchen niedergelegt, den [S. 305] Schlummernden entkleidet und ihm zärtlich die Wange geküßt hatte, fuhr sie fort.
“In diesem Stübchen warb dein Bruder wieder um mich. Er war weniger rücksichtsvoll als in Triest. Ich mußte ihn mehr als einmal zurechtweisen.”
“Endlich siegte sein Werben über meine Zurückhaltung und da ich ihm willfahren wollte, entließ ich ihn auf kurze Zeit aus meiner Gegenwart unter dem Vorwande, daß ich nach einer Rose begehrte, die er mir aus dem Garten holen solle.”
“Ich hatte dort eine herrliche Rose gesehen, in deren innerstem Kelche ein Insekt, halbbetäubt vom Dufte, wie taumelnd nach einem Auswege suchte. Es kam mir vor, wie ein verliebter Mann, der seinen Wunsch erfüllt sah und nun nach Freiheit begehrt. Ich wollte es nicht entkommen lassen und meinte, es solle im Uebermaße des Wohlgeruches den Tod finden. So nahm ich ein Stück vom Spinnengewebe, das sich von einem Zweige der Rose zum andern spann, und versperrte ihm alle Auswege. Dieser Rose erinnerte ich mich und Julian sollte sie mir bringen. Als er, schönen Lohnes sicher, davon gerannt war, um die Rose zu holen, bereitete ich mich und mein kleines Gemach vor, ihn zu empfangen. Da er wieder kam und sich an meine Brust warf, wurde er die Gelegenheit gewahr, die ich ihm bot; er bemächtigte sich ihrer und holte sich aus der losen Hülle seine Najade hervor. Da er sah, daß ich unserer ersten Zusammenkunft gedacht, hob er mich mit einem Freudenrufe in seine Arme [S. 306] und bettete mich auf meinem Lager. Noch einmal schwelgten wir im Entzücken des Liebesgenusses. Aber da kam dann eine Enttäuschung. Es bemächtigte sich meiner ein süßes Gewöhnen, ich suchte nach dauerndem Glücke, ich träumte davon, mich immer wieder aufs Neue zu berauschen, ich glaubte, wir sollten uns immer angehören. Er konnte ja hier bleiben oder mich nach Amerika mitnehmen. Ich war mir nicht klar, wie es werden sollte, aber ich wurde für einen Augenblick Sclavin einer Leidenschaft.”
“Als wir uns später im Garten begegneten, mochte er ebenso, wie ich, gedacht haben, was werden solle. Ich glaubte aber zu bemerken, daß seine Neigung zu mir weniger ernst sei; ich zweifelte daran, daß er meine Gunst nach ihrer ganzen Größe zu schätzen wisse, und da nahm ich die Rose aus meinem Haare und entließ das Insekt. Er deutete die symbolische Handlung offenbar richtig, protestirte nicht, und ich war überzeugt, daß er der Freiheit, die ich ihm eröffnete, sich bemächtigen wolle. So schieden wir und ich suchte mein Verlangen niederzukämpfen.”
“Von meinem Fenster sah ich noch, wie er, vorgebeugt und innerlich zerrissen, nach meiner Stube blickte. Aber bald darauf hörte ich auf der Landstraße einen Reiter davon stürmen und ich wurde Herr über meine Schwäche.”
“Und hast du deine Ruhe wieder erlangt, liebe Giulietta?”
“Es hat mich einen Kampf gekostet, aber ich [S. 307] habe deinen Bruder großmüthig freigegeben und der Liebe ganz entsagt. Seit dem Liebesfeste in Triest schien mir, als hätte ich den Gipfel des Glückes erreicht und als ob die zweite Hälfte des Lebens nur noch geringen Werth hätte. Ich hätte damals aus dem Uebermaße des Glückes willig in das Reich der Schatten hinüberschlummern mögen. Und als ich dann sah, daß die Liebe, losgelöst von der reinen Freude des Mutterglückes, nicht dauernd befriedigen kann, beschloß ich, ihr zu entsagen.”
“Kann man das, wenn man vom Kelche der Liebe gekostet?”
“Mir war es möglich, denn ich hatte zweimal mit aller Gluth geliebt und war zweimal um das Glück betrogen worden.”
“Und hast du dich wirklich wiedergefunden?”
“Das habe ich. Mein väterlicher Freund Dr. Kolb pflegt zu sagen, unsere Gesellschaftsordnung sei einem gesunden Organismus zu vergleichen, der einen mächtigen Heiltrieb in sich birgt. Alle Wunden vernarben schnell. Bei mir hat dazu dieser kleine Schatz viel beigetragen.” — Giulietta wies auf ihren schlummernden Schützling und erzählte mir, daß sie den Knaben das erstemal gesehen habe, als sie mit Julian das letztemal im Garten gesessen. Sie habe ihn adoptirt und lebe jetzt nur der Pflicht, einen rechten Menschen aus diesem Kinde zu machen. “Dr. Kolb nennt das einen antiseptischen Verband,” sagte Giulietta lachend.
Es war mittlerweile dunkel geworden und als [S. 308] Giulietta Licht gemacht hatte, sah ich verwundert, daß ihre Stube reizend decorirt war und viele Kunstschätze barg. Eine in Holz geschnitzte Nymphe erkannte ich, da mir Julian davon erzählt. “Ich sehe daß Julian viel an Dich gedacht hat, denn von dieser Nymphe sprach er oft und gerne, und niemals wollte er sagen, wo er dies Meisterwerk gesehen. Aber ich bemerke da vielerlei was er mir wohl würde beschrieben haben, wenn es ihm bekannt gewesen wäre. Du nimmst wohl eine hohe Stellung im Staate ein, da dich solche Pracht umgiebt?”
“Nein, Ellen, ich bin nur Vorsteherin einer Unterrichtsanstalt für die Strohflechterei, in welchem Berufe ich mir wohl große Verdienste erworben habe, weil ich ebenso erfinderisch als ökonomisch bin. Aber diese kleine Schatzkammer verdanke ich nicht meiner Stellung.”
“War Julian nie hier?”
“Doch, unsere Schäferstunde haben wir hier genossen und gerade darum möchte ich die Stube nie vertauschen. Aber ich war erst aus Italien angekommen, was da angesammelt ist, hat sich nach und nach zusammengefunden. Zuerst sandte mir ein gewesener Arzt, Dr. Kolb, der jetzt ein großer Bildhauer ist, diese Broncefigur, eine Venus. Ich habe sie redlich verdient, denn ich stand ihm Modell zu der Marmorstatue, die er auf Wunsch der Kaiserin anfertigte, welche damit den Gemahl zu Weihnachten überraschte. Mit ihrer Erlaubniß hat der Künstler das Werk in verkleinertem Maße copirt und mir diesen [S. 309] reizenden Bronceguß übersandt. Aber das kostbarste in meinem Besitze ist diese Glastafel.”
Sie nahm eine Glastafel vom Fenster und hielt sie gegen das Licht, um mich das merkwürdigste Kunstwerk sehen zu lassen.
“Das hat der Bruder meiner verstorbenen Mutter, Matteo Folco, gemacht. Er ist der berühmteste Glasschleifer des Kontinents und seiner Arbeiten hätte sich der erste Gemmenschneider der alten Welt nicht zu schämen. Die Civilliste hatte ihn angeworben und er bedang sich viele Vortheile aus. Er hat sich und seine Kunst außerordentlich vervollkommt und viele Schüler ausgebildet. Mit fünfundvierzig Jahren wurde er vertragsmäßig in Ruhestand versetzt, und die Civilliste hat ihn bis an sein Ende zu erhalten und ihm alle Vortheile zu gewähren, die er früher genossen hat. Er arbeitet jetzt nur, wenn es ihm Freude macht, und alle seine neuen Werke stehen für dreißig Jahre zu seiner alleinigen Verfügung. Erst nach dieser Zeit fallen sie an die Civilliste. Er mag sie in seinem Besitze behalten, oder Freunden und Verwandten überlassen, oder verdienten Männern widmen, das ist seine Sache. Da ich sein Liebling bin und er gerade mir auch, weil ich Kränkung erlitten, nach seinem Vermögen eine Freude bereiten wollte, hat er mir dies Kunstwerk übersandt. Sieh nur, diese Pracht! Adam und Eva im Paradiese, die Menschheit in ihren Anfängen. Glücklich, in der Hoffnung ewigen Lebens auf dieser Erde; nicht von Sorge, Krankheit, Arbeit [S. 310] oder Schuld bedrückt, Urbilder menschlicher Schönheit. In trauter Gemeinschaft schreiten sie durch das hohe Gras, Adam mit Früchten des Waldes beladen, Eva mit Blumen tändelnd, die beiden Gruppen unseres Reichthums vertretend, das Nützliche und das Schöne. Dem entspricht auch die Riesenkraft des Urvaters und die Anmuth seiner Genossin. Das Paradies zeigt uns den Urwald, die reich bewachsene Flur, die strotzende Ueppigkeit des Pflanzenwuchses und alles Gethier umgibt das Menschenpaar, ihm unterthan. Welche Fülle der Formen und Gestalten hat der Künstler hier in den Bereich seiner Darstellung ziehen können. Herrlich sieht man dort zur Rechten zwischen Bergen in das weite Meer hinaus und in den leicht gekräuselten Wellen spiegelt sich die Sonne, welche eben emporsteigt. Der Rand ist mit farbigen Ranken und Blumen aus gesponnenem Glase umgeben. Die Spiegelscheibe, die Matteo nöthig hatte, könntest Du in Amerika für dreißig Cents kaufen; was aber hat die Kunst des Oheims daraus gemacht! Er selbst hat niemals etwas von dieser Vollendung und diesem Reichtum geschaffen. Der beste Zeichenkünstler in Oesterreich hat ihm das Bild entworfen und die Arbeit von zwei Jahren ist darauf gewendet worden. Ein englischer Lord hat zehntausend Pfund Sterling dafür geboten. Aber mir steht natürlich kein Recht zu, das Werk zu veräußern, wie ich auch kein Geld besitzen darf, und der Civilliste ist es gar nicht feil. Es wäre auch dem Volke gegenüber nicht zu verantworten, wenn man [S. 311] das Meisterwerk außer Landes gehen ließe. Im Gegentheile ist auch die Civilliste eifersüchtig darauf, daß kein Matteo Folco in ihren Sammlungen fehle.”
“Und du verbirgst diesen Schatz neidisch?”
“Nein, das wäre eine Sünde; alles, was schön ist, soll genossen werden. In ganz Europa ist bekannt, daß hier diese Merkwürdigkeit zu sehen ist, und kein Reisender versäumt es, hier abzusteigen.”
“Da müssen dir doch die Besuche lästig werden.”
“Wenn ich alle empfangen müßte, die hierher pilgern, das wäre eine Qual! Aber es hängt von mir ab, wen ich zu meiner Stunde vorlassen will. Das Werk wird meistens in den Stunden besichtigt, die ich in der Schule verbringe. Nur berühmte Männer und schöne Frauen, die ich begünstigen will, lasse ich in den Stunden vor, die ich für den Empfang gewählt habe.”
“Das mag dir viel Anregung bieten.”
“Es wird mir vielleicht noch lästig werden, aber jetzt macht mir der Besuch merkwürdiger Menschen noch viel Vergnügen. Für nächste Woche erwarte ich den Besuch des Kaisers und der Kaiserin. Die Erzherzoge waren alle da; aber den Kaiser haben die Jagden und die Empfänge in der Hofburg bisher abgehalten. Nun hat mich die Kaiserin bitten lassen, Tag und Stunde für den kaiserlichen Besuch zu bestimmen. Ich ließ sagen, daß ich sie am nächsten Sonntage um 12 Uhr erwarte, es müsse aber der Kronprinz mitkommen und mir erlaubt sein, ihn zu [S. 312] küssen. Wir sind nämlich dem Prinzen sehr zugethan, weil er den Jakob aus dem Wasser gezogen.”
“Davon erzählte mir Julian.”
“Er soll ein allerliebster Junge sein und ich freue mich, ihn bei mir zu sehen. Die Kaiserin versprach, den Prinzen mitzubringen, meinte aber, den Kuß sollte ich erlassen. Ihr Sohn sei im vierzehnten Jahre, man wolle ihm die Unbefangenheit bewahren. Aber ich bestehe auf meinen Bedingungen; es wird ihm nicht schaden, wenn er bei Zeiten küssen lernt.”
“Du scheinst mir eine Egoistin zu sein.”
“Ellen, wo denkst du hin! Der Prinz muß es sich zur Ehre rechnen, wenn ihn ein schönes Mädchen küßt, und die Kaiserin hat auch nachgegeben.”
“Bei uns würde man einen Dollar Eintrittsgeld bezahlen.”
“Das kann ich mir denken. Nun aber habe ich doch auch allerhand Vortheile. Man sendet mir mancherlei schöne Sachen aus allen Theilen Europas. Teppiche, Vasen, Broncen, kostbare Möbel, Vorhänge und Tapeten haben sich nach und nach angehäuft. Es ist nicht das Kunstwerk allein, das mir Freunde macht, man will mir, so gut es geht, wettmachen, was ich verloren. Freilich ersetzen mir die zahllosen Tropfen von Liebe, die die Mitmenschen auf mich niederträufeln lassen, das weite Meer des Glückes nicht, das ich einmal geträumt habe, aber ich wäre eine Närrin, wollte ich die Freundlichkeiten zurückweisen. — So hat sich nach und nach alles hier [S. 313] verändert, nur das Bett lasse ich mir nicht vertauschen.”
Und unverwandt den Blick auf diese Lagerstätte gerichtet, wandte sie ihr Antlitz mit einem reizenden Lächeln mir zu und küßte mich beinahe inbrünstig.
“Frachtgut,” sagte sie dann, mich etwas coquett anlachend. —
“Ich will es an die Adresse befördern,” sagte ich darauf. “Aber sage, Giulietta, soll Julian wiederkommen?”
“Um Gotteswillen, nein. Das Meer, das uns zusammengeführt, liegt jetzt zwischen uns und so soll es bleiben. Siehst du, ich denke mir, daß Julian sich nicht entschließen konnte, sein Vaterland zu verlassen, und daß er zu gewissenhaft war, mich zur Expatriirung zu bestimmen. Darin liegt ja doch noch keine Kränkung, wenn man es nicht vermag, dem Geliebten das Vaterland zu ersetzen, das Größte was der Mensch besitzt. Käme er wieder, so begänne vielleicht eine neue Reihe von Enttäuschungen, welchen ich nicht gewachsen wäre. Und andererseits denke ich, wenn ich bei dem mein Glück nicht fand, dem ich das kostbarste Geschenk darbrachte, das ich nicht wieder bieten kann, wie sollte ich bei irgend einem Manne auf jene nie verlöschende Gluth der Leidenschaft rechnen, ohne die mir die Liebe eine Unwürdigkeit scheint.”
Ich stellte jetzt die Frage:
“Hast du der Gesellschaft vergeben?”
“Das habe ich allerdings. Zuweilen träume ich [S. 314] von dem Glücke, das ich mir in jungen Jahren ausgemalt. Mein Giacopo sitzt wieder zu meinen Füßen, er flüstert von unseren Hoffnungen, und rasch zieht Bild um Bild an meiner Seele vorüber. Die Vorbereitung der Trauung, die süße Bangigkeit der Braut, die Hochzeitsfeierlichkeit, die Besitzergreifung vom heißersehnten Glück, die zärtliche Besorgtheit des jungen Gatten; jetzt glaube ich, daß sich ein neues Glück ankünde, ich sehe den Mann frohlocken über meine Botschaft, dann umstehen Frauen mein Bett, bereit, mir beizustehen und jetzt will ich den Sprößling an meine Brust drücken. Da grinst mir ein sieches, unschönes Geschöpf entgegen und mit einem Angstruf werde ich wach. Mache ich dann Licht und sehe den blühenden Schützling neben mir sorglos schlummern, so fühle ich mich wie erlöst.”
“Dr. Kolb pflegt zu sagen: Gut und bös, schön und häßlich streiten sich um die Materie, ohne welche nichts ist. Wir müssen alle Materie für die Schönheit gewinnen, die Erde muß ein Himmel werden. Ich bin dem Schönen zu sehr ergeben, daß ich mich ihm in den Weg stellen möchte.”
Nach einer Pause sagte ich, um Giulietta aus ihren Träumereien zu reißen:
“Julian wird mich fragen, was aus seinen Bekannten geworden ist.”
“Man erinnert sich gerne an ihn und ich kann mir denken, was ihn interessiert. Dr. Kolb hat zwar nicht mit seiner ‘Braut,’ wohl aber mit der ‘Venus’ den ersten Preis errungen, ist Akademiker geworden [S. 315] und hat vom Staate unbeschränkte Mittel angewiesen erhalten, seine Kunst zu pflegen. Er will Tulln nicht verlassen, hat dort aber einen Kreis von Schülern um sich versammelt, die ihn in der Ausführung großer Werke unterstützen. Anna hat noch am Tage der Abreise deines Bruders sich mit Jacob trauen lassen. Da die kaiserliche Familie noch in Bregenz war, nahm diese an den Hochzeitsfeierlichkeiten theil und der Kronprinz selbst überbrachte Anna einen herrlichen Blumenstrauß. Jacob war zur Stunde gesund geworden, denn er wollte wohl noch am selben Tage für Nachkommen sorgen. Und Anna hofft auch, am 7. Mai Mutter zu werden. Jacob ist jetzt sehr stolz. — Die Hochzeitsferien brachten die ‘jungen’ Eheleute auf dem Rigikulm zu; der Kaiser hat den Aufwand zu Lasten der Civilliste übernommen. — Aber Jacob wollte auch mit seiner Anna die ‘Jungfrau’ besteigen. Das hatte einige Schwierigkeiten. Es müssen zwölf gewandte Bergsteiger mit eigenem Geräthe zusammenwirken, um den Verstümmelten auf solche Höhe zu schaffen. Das Geräthe übersandte man von Tulln aus und im Berner Touristenvereine fanden sich auf Empfehlung des Schwestervereines von St. Pölten ein Dutzend junge Männer, die das Wagniß unternahmen und glücklich durchführten.”
“Lori ist zweite Vorsteherin der Krippe in Tulln und hat nach dem Zeugnisse des Arztes eine vollendete Geschicklichkeit und Kenntniß in der Pflege der Neugeborenen erworben, unter welche wohl noch im April ihr eigener Sprößling wird aufgenommen [S. 316] werden. Ihren Mann haben sie zum Tribun erwählt und er zeichnet sich durch Besonnenheit, Festigkeit und persönliche Würde vor allen seinen Amtsgenossen aus.”
“Martin ist Wagenlenker am kaiserlichen Hofe und Selma oberste Verwalterin der Kleiderkammer unserer Kaiserin.”
“Die jüngere Schwester der Lori ist die Braut des Erzherzogs Adolf geworden. Die Hochberg'schen Mädchen sind zur Liebe geschaffen, aber wehe dem Manne, der nicht Treue hielte. Der Erzherzog ist etwas verliebter Natur. Ich sah ihn in den ersten Tagen meines Hierseins beim Verwaltungsbeamten. Er fand später oft einen Vorwand, unsere Montagabende zu besuchen und bald verrieth er sich: er hatte Gefallen an mir gefunden. Obgleich er ein schöner junger Mann ist, wollte ich meinem Vorsatze nicht untreu werden, und ich ermunterte ihn nicht. Als er eines Abends immer nur mit mir tanzte und sich noch einmal um einen Tanz bewarb, willigte ich zwar ein, aber unter der Bedingung, daß er demnächst einen allgemeinen Tanzabend in Höflein besuche und mit allen Mädchen ohne Unterschied tanze. Das sagte er lachend zu, aber er kam nicht mehr zum Montagempfange. Als nun im Dezember die Wintertanzabende begannen und wir im tollsten Tanze begriffen waren, hörten wir auf der beschneiten Landstraße lustiges Schellengeklingel und schon hielt ein Zug Schlitten vor dem Gemeindepalast und Erzherzog Adolf entstieg mit [S. 317] vielen Herren und prächtigen Mädchen den Pelzen und warmen Decken, um an unserem Feste theilzunehmen. Der Prinz begrüßte mich hochachtungsvoll und sagte, er wolle sein Wort einlösen, und so tanzte er denn auch mit allen Mädchen und jungen Frauen, nur nicht mit mir. Er sagte, den jungen Männern habe er Ersatz mitgebracht für das, was sie an ihn und die Herren seiner Begleitung verlören. Die Wiener Mädchen waren durchweg hervorragende Schönheiten der Residenz, allen voran die jugendliche Schwester des Erzherzogs. Sie unterhielten sich vortrefflich, etwas ungezwungener vielleicht, als auf den Bällen in Wien, und Erzherzog Adolf verabschiedete sich am Morgen mit einem Händekuße von mir und sagte, er habe sich Hoffnungen auf meine Gunst gemacht, halte aber seine Bewerbungen für abgelehnt. Ich erwiderte ihm daß ich keinem Manne Gehör schenken würde und meine Zurückhaltung ihn nicht kränken solle. Als die Gesellschaft heimfuhr, stiegen einige junge Männer zu Pferde und geleiteten die Gäste mit Fackeln bis Klosterneuburg. Die Mädchen riefen ihnen zum Abschiede zu, sie hätten sich königlich unterhalten.”
“Ich erzähle mehr als billig von mir, liebe Ellen aber es ist mir, als spräche ich mit Julian.”
“Von Mary Lueger hast du mir noch nichts berichtet.”
“Mary! Sie ist eine Convertitin geworden.”
“Wie soll ich das verstehen?”
“Mary war voll Liebenswürdigkeit und voll Herzlosigkeit. [S. 318] In den ersten Monaten ihrer Ehe spielte sie mit ihren Manne wie die Katze mit der Maus. Lächelnd beobachtete sie seine Werbungen, lächelnd ergab sie sich ihm, lächelnd ruhte ihr forschendes Auge auf ihm, wenn er seine Lust gebüßt hatte. Es wollte sich kein rechtes Glück in der Ehe einstellen. Sie glaubte ihn unzufrieden und mit Tändeleien und Coquetterien führte sie ihren Mann immer wieder zu sich zurück, wenn es schien, er werde gleichgiltig. Es kam zu keiner Aussprache. Es erweckte aber doch einiges Mißbehagen in Marys Gemüth, da sie zu entdecken glaubte, daß Lueger sich unglücklich fühle. Sie war sich klar darüber, daß ihr Mann nicht nur Leidenschaft fühlen, sondern auch erwecken wolle. Sie war aber von Natur kalt und glaubte, da sie seine Frau wurde, es wäre genug, wenn sie den stürmischen Mann gewähren ließe. Sie fühlte aber später doch, die “Lebensart” fordere etwas mehr, und es widerstrebte ihr, eine Dissonanz in ihrem Verkehre mit dem Manne ihrer Wahl aufkommen zu lassen. Aus purer Güte und geselliger Gentilliezza spielte sie jetzt ein wenig die Sinnliche. Sie lächelte weniger, zeigte sich unruhig, schien sich in seinen Armen zu erwärmen, drückte ihm dankbar die Hand und da sie früher mit ihren Reizen Verschwendung trieb, wurde sie zurückhaltend, als wünsche sie den Mann zu größerer Leidenschaft aufzustacheln. Dieser zeigte sich freudig überrascht, die erste Leidenschaft kehrte zurück und je stürmischer er wurde, umso weniger konnte sie es über sich bringen, die [S. 319] Maske fallen zu lassen und einzugestehen, daß sie sich verstellt habe. Im Gegentheil, je glühender der Mann wurde, umso größere Wollust heuchelte die Frau. Da, im vierten Monate der Ehe, löste sich der Bann. Eines Tages, fühlte Mary in den Umarmungen ihres Gatten wirkliche Wollust, ein elektrischer Schlag durchzuckte ihren weißen Leib und sie sah mit Sehnsucht und Verehrung auf ihren Mann. Immer mächtiger wurde ihr Liebesbedürfniß, sie umschlang den Gatten mit einer Gluth, die ihm bisher fremd war, und einmal, da er gleichgiltig schien, warf sie sich vor ihm auf die Kniee und warb in sinnloser Begierde um seine Liebe. Er streichelte ihr erst mitleidig die Haare und da sie nicht müde wurde, seine Sinnlichkeit herauszufordern, zog er sie endlich entzückt in seine Arme und es folgte eine jener süßen Stunden, in denen sich zwei Menschen alles sind.”
“Lori hatte ihre Freude daran, als ihr Mary bekannte, sie sei jetzt von Sinnlichkeit beherrscht, wie jede andere Frau. Es habe ja so kommen müssen, sagte Lori, Kälte sei unnatürlich an einer Frau.”
“Seid ihr so offen gegenseitig?” fragte ich.
“Die Frauen untereinander schenken sich jedes Vertrauen. Uns Unvermählten gegenüber sind sie sonst verschlossen, wie auch wir den verheiratheten Frauen gegenüber eine geschlossene Kaste bilden. Wir tauschen unsere Erfahrungen sonst nur theoretisch aus und lassen Offenheit nur walten, wo sie durch die Gesetze geboten ist, die wir uns selbst gegeben.”
“Welcher Art sind diese Gesetze?” fragte ich.
“Sie zielen darauf ab, die Männer uns unterthan zu erhalten in allem, was die Liebe betrifft. Sie sollen nicht erkalten, aber auch nicht in stumpfe Sinnlichkeit verfallen, es soll ihnen nicht gelingen, Uneinigkeit unter uns zu säen. Kein Ehemann darf Gehör finden, wenn er sich von seiner Frau wendet, ausgenommen, er erwirkt die Scheidung und wird von der Frauencurie schuldlos befunden.”
“Fürchtet ihr nicht die Geschwätzigkeit der Männer, wenn ihr untereinander keine Geheimnisse habt?”
“Wir führen ein strenges Regiment. Es ist vorgekommen, daß ein Unersättlicher sich, um eine Umworbene willfähriger zu machen, auf Gunstbezeugungen berief, die ihm andere Mädchen erwiesen. Das wurde hart geahndet. Ein solcher Rebell wurde für ein halbes Jahr unter Bann gethan und wir kehrten ihm alle den Rücken, bis er seine Strafe abgebüßt hatte.”
“Sollte sich da keine Schwache unter euch finden, die den Verbrecher heimlich begünstigt?” entgegnen ich.
“Das halte ich für unmöglich. Jede einzelne von uns hat heiligen Respect vor der Curie.”
“Und woran ist denn die Vervehmung erkennbar?”
“Wir haben genügende Mittel, uns untereinander zu verständigen, unsere Rache verfolgt den Verbrecher bis an die äußerste Grenze des Reiches.”
“Und wie bist du, eine Unvermählte, hinter die Geheimnisse Marys gekommen?” forschte ich weiter.
“Ich bin exemt” sagte Giulietta. “Ich gelte für eine Philosophin und Gelehrte in Liebessachen, die sich darüber nur aus wissenschaftlichem Interesse informirt, daher ich auch zu Rathe gezogen werde und Anwartschaft habe, zur Vorsteherin gewählt zu werden. Ich vereinige auch eine große Summe von Erfahrungen in mir. Ich bin halb und halb Frau, denn ich war nahe daran, mich zu vermählen. Ich habe die Liebe gekostet und bin dann doch Vestalin geworden. Seither habe ich die Frauenliebe in den edelsten und abschreckendsten Formen zum Gegenstande des Studiums gemacht. In unserer Frauenbibliothek habe ich alles durchforscht, was auf die Liebe Bezug hat; Geschichte, Dichtung, Psychologie und Physiologie habe ich unermüdlich ausgebeutet, um die Frage zu erschöpfen, was Leib und Seele in der Liebe gewirkt, genossen und gelitten haben. Und gerade diese theoretische Befassung mit dem großen Räthsel “Liebe” hat mich gefeit gegen jede Versuchung, meinem Vorsatze untreu zu werden. Ich habe viele Vorträge in der Frauencurie gehalten, und da man erfahren hat, wie sehr meine Wissenschaft und Lehre meinen Schwestern nützlich werden kann, tragen mir alle Bausteine zu für den Aufbau meiner Theorieen. Allerdings habe ich mir das Vertrauen aller erworben, da ich keinen Mißbrauch mache von dem, was man mir mittheilt.”
“Unter diesen Umständen wage ich nicht zu forschen, wie Marys Eheroman weiter verlaufen.”
“Ich rechne darauf, daß du und Julian mich [S. 322] nicht blosstellen werdet. Amerika ist weit und du bist gewiß nicht weniger gewissenhaft, als sich dein Bruder erwiesen hat.”
“Mary und Lueger wurden die verliebtesten Eheleute, die man sich vorstellen kann. Mary, welche vorher kalt wie Eis war, fürchtete, in unersättliche Sinnlichkeit zu verfallen und sich gegen alle anderen Reize des Lebens abzustumpfen. Auch regte sich die Eifersucht, bevor noch ihr Mann ihr den geringsten Anlaß zu Befürchtungen gegeben, und eines Tages, als Lueger mit seiner Frau tändelte, zog sie einen scharfgeschliffenen Dolch hervor und ließ ihn die Inschrift lesen, die darauf eingeprägt war: ‘Jeder, der ein Weib, mit Begierde nach ihr, ansieht, hat schon die Ehe gebrochen mit ihr in seinen Herzen.’ Betroffen sah er auf und seine blonde, gleichmütige, immer freundliche Mary war ganz verändert. Sie küßte ihren Mann und sagte: ‘Ebenso heilig, wie dir die Gattenrechte deiner Brüder sein sollen, muß dir auch das Recht sein, das ich auf dich habe. Gieb mir je Anlaß, an dir zu zweifeln, und, ich schwöre es dir zu, diese Waffe wird das Band lösen, das dich an mich kettet.’ Er umarmte sie stürmisch und versprach ihr Treue auch in Gedanken.”
“Mary wurde nun gewahr, daß sie von einem Fehler in den entgegengesetzten verfallen war. Sie wurde ungesellig, abstoßend gegen andere Männer, sie schloß sich mit ihrem Manne ein, und unsere ‘Medizinschwester,’ wie wir die Frau Doktor nennen, machte ihr Vorstellungen. Die junge Frau wurde [S. 323] bleich, die Augen verloren den Glanz, sie war oft in Gedanken verloren, wenn ihr Mann abwesend war, es drohte Gefahr, daß ihr Nervensystem erschüttert werde, und da rieth ich zu theoretischen Studien über die Liebe. Ich sagte, sie solle ihren Mann auffordern, ihr Geschichtsvorträge über die Liebe und Ehe zu halten. Er sammelte Material und that ihr ihren Willen. Gewöhnt, die Geschichte mit philosophischem Geiste zu erfassen und zu tradieren, wurden diese Vorträge ihm und seiner Frau zu einer heilsamen Belehrung und mittlerweile hatte ich Mary auch unser reichhaltiges Materiale erschlossen, und so hielt auch sie dem Gatten Vorträge, in welchen zu seiner Ueberraschung neue historische Bilder und philosophische Theoremen zu einem Ganzen verwebt waren, wobei Mary aber gewissenhaft allem auswich, was zu unseren Geheimlehren gehört. Die Eheleute vermieden es, die Folgerungen auszusprechen, die sie aus der Wissenschaft auf das eigene Eheleben zogen, aber Erkenntniß macht weise, und sie fanden von selbst den Weg zu der Ausgeglichenheit im Leben, welche zu dauerndem Glücke erforderlich ist.”
Nun that sich die Thüre auf und ein paar Prachtmenschen traten ein. Giulietta erhob sich: “Professor Lueger und Frau; Miß Ellen West.” Die Beiden standen eine Weile vor mir; Mary, sich an den Arm ihres Mannes hängend und den Kopf in zärtlicher Vertraulichkeit an seine Schulter gelehnt, betrachtete mich und sagte dann, mir die Hand entgegenstreckend: [S. 324] “Wie ähnlich unserem Freunde Julian. Wie geht es ihm und was macht Mr. Forest, der stumme Begleiter?” Da ich Antwort geben wollte, kamen Dr. Kolb und Lori. Ich erkannte sie nach den Medaillons, die ich gesehen, und rief erfreut ihre Namen, bevor Giulietta sie mir vorgestellt hatte. “Ich habe, bevor wir uns in das Wäldchen verloren, Auftrag gegeben, die Freunde für den Abend zu mir zu bitten; sie würden Julians Schwester bei mir finden,” erklärte sie. “Sie haben ihre Verabredungen für den Abend gerne fahren lassen, nur Zwirner ist durch Amtsgeschäfte verhindert. Macht es euch bequem, wir werden uns mit Stühlen versorgen müssen!”
Eben kam Lydia, die einige Bekannte aufgesucht hatte, und von Giulietta geladen worden war, und dann ein hübsches, halbwüchsiges Mädchen, mit dem Giulietta einiges bei Seite zu verabreden hatte. Bald darauf brachte man ein paar Tischchen und Stühle und während wir Frauen Platz nahmen, lud Giulietta die Männer ein, sich ein Tabouret in die Fensternische zu rücken; sie wisse, daß die Freunde das Schachspiel lieben, sie möchten ein Match machen.
Da Mary, die neben mir saß, bemerkte, daß mein Auge teilnahmsvoll auf Lori gerichtet war, flüsterte sie mir ins Ohr: “Ich habe auch seit ein paar Monaten Hoffnung auf Nachkommenschaft.” Die böse Frau hatte ein halbes Jahr gegen ihren Beruf gesündigt, war aber, wie in allem anderen, [S. 325] auch darin zur Pflicht zurückgekehrt. “Ich necke meinen Mann damit, daß ich ihm drohe, den Schlingel, wenn es ein Knabe ist, Boanerges zu taufen, denn er wird gewiß ein großer Redner vor dem Herrn. Die Luegers kommen immer mit viel Geschrei auf die Welt.”
Mittlerweile — Giulietta hatte mit Lori geplaudert — kam das Mädchen von vorhin mit einer großen Last von nützlichen und angenehmen Dingen. Der Oesterreicher kann in der Regel seine Mahlzeiten einnehmen, wo es ihm beliebt. Unsere Bewirthung machte also Giulietten keine Auslagen. Aber in Fällen, wo Fremde oder auswärtige Freunde irgendwo zu Gaste sind, pflegt die Verwaltung auch ein übriges zu thun, so weit die Vorräthe reichen. Es waren also viele köstliche Dinge gebracht worden. Den großen Samowar füllte Giulietta mit Wasser aus der Leitung und dann ging sie daran, den Punsch zuzubereiten, der uns in fröhliche Stimmung versetzen sollte. Dazwischen hatte Giulietta mit Peter zu thun, der aufgewacht war. Sie kleidete ihn an, rückte ihn im Kinderstühlchen an unseren Tisch, ließ ihn seine schwierigsten Worte sagen und das Bilderbuch erläutern und ging dann wieder an ihre Arbeit. Wir plauderten eine Weile und dann rief Giulietta: “Fertig! Laßt jetzt die Königin in Bedrängniß allein auf Rettung sinnen und kommt herüber, wir brauchen Männer, die uns den Hof machen.”
Die Herren übersiedelten zu uns und während [S. 326] wir uns ans Genießen machten, warf Dr. Kolb die Frage auf, was der Sommer bringen solle.
“Da wir jetzt so gute Freunde geworden sind, lieber Professor, so plane ich für den Sommer Reisen und Ausflüge mit dir. Ich habe bei der Hofcentralverwaltung angefragt; man stellte mir für das Frühjahr die Wahl zwischen Gödöllö, Abbazzia und Miramar frei, im Hochsommer ein Schloß in den Karpathen oder Amras. Was sagst du zu Amras? Es hat eine reizende Lage auf dem Mittelgebirge; der Garten, den Erzherzog Karl Ludwig anlegen ließ, ist jetzt mit uralten Bäumen bewachsen, und außerordentlich poetisch ist der alte Park in den Bergen und Schluchten hinter dem Schlosse mit zahllosen Brücken und Grotten und einem verwirrenden auf und ab wohlgepflegter Wege, die oft einer tief unter dem anderen sich kreuzen.”
“Ich glaube,” sagte Mary, “du machst die Rechnung ohne den Wirth, Doktor. Willst du mit meinem Manne sein, so mußt du dir das alles aus dem Kopfe schlagen.”
“Ich wüßte nicht, Mary,” sagte der Professor “daß wir andere Pläne hätten.”
“Deine kleine Frau hat schon an den Sommer gedacht.”
“Laß hören, ich bin neugierig.”
“Vor allem kannst du ja nicht über deine Zeit verfügen, wie Dr. Kolb, du mußt deine Vorlesungen pünktlich einhalten, kein Tag wird dir geschenkt und zum ersten September hast du wieder einzutreffen. [S. 327] Für die Ferien habe ich meinen Plan festgelegt — das heißt, wenn mein gnädiger Herr mir huldvoll beistimmen will, — und Dr. Kolb rathe ich, im Frühjahre nach Schottland oder den schwedischen Fjords zu reisen und im Juni das Nordkap zu besuchen, der Mitternachtssonne wegen; vielleicht interessieren ihn diese Naturschönheiten auch, wenn er sich schon sattgesehen an den Herrlichkeiten, die er an seinen Modellen zwischen dem Kinn und den Knöcheln zu suchen gewöhnt ist.”
“Jeder bleibe bei seinem Leisten,” sagte Dr. Kolb lachend, “die Mitternachtssonne gebührt den Malern.”
“Und im Herbste schicke ich unseren Doctor auf eine Studienreise nach Griechenland und Kleinasien.”
“Das läßt sich hören,” sagte dieser, “und was ist's mit den Ferienplänen?”
“Ich glaube,” sagte Mary, “mein Mann könnte sich nicht auf sechs Wochen von seiner armen Frau trennen.”
“Bewahre; du mußt mitkommen, sage nur wohin du willst.”
“O bitte, das geht nicht so, deine Frau hat ein Amt.”
“Ich weiß, Frau Bibliothekarin, aber es gibt ja Urlaube.”
“Ich habe mit dem Verwaltungsbeamten gesprochen, aber er will nur von vierzehn Tagen wissen. Er sagt, ich hätte nicht mehr Anspruch, und” — sagte der Schelm, wie zögernd und nachdenklich vor sich [S. 328] hinblickend, — “mein Einfluß reicht nicht so weit, einen österreichischen Beamten zu verführen.”
“Vierzehn Tage, das geht nicht, was fangen wir mit vierzehn Tagen an!”
“Deine kluge Frau hat alles bedacht. Es wird vielleicht meinem Herrn Gemahl belieben, sich der Tage zu erinnern, die er mit seiner Braut in Königstetten verbrachte. Die Hochbergs residieren heuer wieder dort, ihre zweite Tochter vermählt sich und der einzige Sohn ist bei seinem Regimente in Sibirien; da wollen die alten Leute den Sommer in der Nähe Loris verbringen und bis dahin haben sie ja auch ein Enkelchen in Tulln.”
“Du hast recht, ich werde mit der Fürstin sprechen; wir lassen uns dein Zimmerchen zum ehelichen Gemache umgestalten. Weißt du noch, wie ich dir dort zuweilen vorlesen durfte? den wilden Jäger, Ekkehard —” “— und was ich dir losem Werber anderes vorzulesen verwehrte.” “Das stimmt, Gestrenge, — und wie ich im übrigen mit unverzeihlicher Härte behandelt wurde.” — “Ja;” sagte Mary, “aber du sollst heuer dort allein wohnen.” “Was soll das heißen?” “Scheidung von Tisch und Bett, mein Lieber,” sagte Mary lachend. “Divorçons!” “Eine neue Variante,” sagte Lueger schmunzelnd. Mary verrieth nur unmerklich, daß das Wort ihre Heiterkeit errege, und wir blickten so harmlos, wie nur immer möglich. Lori warf nun ein: “Es wird nicht zu hart ausfallen.” “Siehst du,” erklärte jetzt Mary, “ich habe allerlei ausgebrütet. [S. 329] Du sollst deine Ferien haben und ich will dir die Kette etwas verlängern, aber aus den Augen laß ich dich nicht. Ich werde in Tulln wohnen.”
“Und die Bibliothek in Wien besorgen? Wie reimt sich das zusammen?”
“Frage Lori.”
“Wenn du einverstanden bist, guter Professor, so tauscht Mary für die Ferienwochen mit der Bibliotheksverwalterin in Tulln. Ich habe das auf ihren Wunsch ins Reine gebracht. Es ist eine ziemlich alte Wittwe, die den Wunsch hat, einmal Wien recht nach Herzenslust zu genießen. Ihre Tochter ist dort verheirathet und außerdem haben wir Veranstaltungen getroffen, daß ihr alle möglichen Annehmlichkeiten bereitet werden.”
“Das wäre ja vortrefflich, die Verwaltung wird das gewiß erlauben.”
“Hat schon!” sagte Mary.
“Aber jetzt sehe ich nicht ein, wozu die Trennung,” sagte Lueger. “Bleibe bei mir in Königstetten, der Fürst läßt dich täglich nach Tulln fahren und im Wagen zurückbringen.”
“Ich danke schön,” sagte Mary, “du weißt, in welchem Zustande ich mich befinden werde zu jener Zeit. Meinst du, die schöne Mary hat Lust, unter den Damen in Königstetten zu erscheinen mit verzerrtem Gesichte und entstelltem Leibe? — Das nicht. Aber vielleicht wird es,” sagte sie mit heuchlerischer Miene, die Arme über der Brust gekreuzt und das Haupt demüthig vor ihrem “Herrn” gesenkt, “meinem [S. 330] Gebieter gefallen, einmal nächtlicher Weile sich aus dem Schlosse wegzustehlen und seine “Magd” zu Tulln aufzusuchen.”
“Vortrefflich! Bei der eigenen Frau fensterln!” lachte der Professor.
“Und wenn sich eine Vermummte abends im Schlosse einschleicht, beim Professor eindringt und demüthig an der Thüre stehen bleibt?”
“Dann wird sie der Professor nicht wieder fortlassen, bis die Lerchen zu schlagen anfangen.”
“Und wenn die Schwestern aus dem Schlosse mir dann klatschen kommen, das wird ein “Jux” werden.”
“Die Sommerpläne wollen wir uns überlegen,” sagte der Professor.
Schweigend hatte man den letzten Reden Marys zugehört und Dr. Kolb war aufgestanden, um einige ihm noch unbekannte Kunstgegenstände zu betrachten. Giulietta brachte das Gespräch plötzlich auf ein anderes Thema und Mary nahm daran unbefangen, aber etwas ernst theil. Peter war nach seinem Mahle wieder eingeschlafen und von Giulietta zu Bette gebracht worden.
Da es Zeit zum Aufbruche war, stellte man noch einige Fragen an mich, wie es Julian gehe, was sein Beruf wäre, ob er bald heirathen würde und ich sollte Vergleiche anstellen zwischen Oesterreich und Amerika. Ich sagte, ich sei zu patriotisch, als daß ich Vergleiche ziehen möchte, die meinem Vaterlande nicht zum Vortheile gereichen könnten, und man drang nicht weiter [S. 331] in mich. Die Kleine kam wieder und sagte, der Verwaltungsbeamte habe uns Wagen gesandt, weil wir den letzten Zug versäumten, und als wir uns von Giulietta verabschiedet hatten und die Treppe hinabgestiegen waren, standen zwei Wagen bereits vor dem Hause. Höflein ist halbwegs zwischen Wien und Tulln gelegen und wir hatten zwei Stunden scharfen Fahrens vor uns. Es war nur ein junger Mann da, die Pferde zu lenken, und da Dr. Kolb seine Dame nicht verlassen durfte, übernahm jener dieses Gefährte und bat Lueger, unseren Wagen zu fahren. Mary wollte Protest einlegen; die Nachtluft sei gefährlich; aber der Professor war gut versorgt und mußte sich fügen, wenn wir nicht hier bleiben wollten. Es war niemand zu finden, dem man die Wagenlenkung hätte übertragen können.
Der junge Mann gab noch seine Weisungen, nach welchem Stalle Pferde und Wagen zu bringen seien, und wir nahmen Platz.
Mary sagte: “Jetzt können wir englisch sprechen.” Ich nahm dankbar an und erwähnte, daß wir einen recht frohen Abend verbracht hätten. “Wenn ich mich nur nicht gegen das Gefühl meiner Schwestern vergangen hätte,” sagte Mary unbefangen. “Du hättest Lori nicht an ihr Aussehen erinnern sollen,” sagte Lydia. “Das war es wohl nicht; Lori hat wohl selbst das Gefühl, daß sie jetzt nicht viel unter fremde Leute gehen möchte. Aber man hat gewiß gefunden, daß ich zu frei geredet.” “Seid ihr so streng?” “Es ist schwierig, die richtige Linie einzuhalten und [S. 332] nicht langweilig zu werden. Man findet, man dürfe die Männer nicht an leichtfertige Reden gewöhnen; sie würden nur zu leicht in Rohheit verfallen. Ich bin schon einigemale getadelt worden. Auch sollen Eheleute alles aus dem Spiele lassen, was an ihr vertrautes Leben erinnert.” “Ich habe aber schon sehr vertrauliche Mittheilungen aus Frauenmund hierzulande gehört.” “Das mag sein, zu zweien oder in einer Curiatsversammlung. Gewiß nicht vor Männern oder aus muthwilligem Scherze.” “Das ist wohl richtig. Wird das Vorkommniß Folgen haben?” “Ich glaube, unsere Vorsteherin wird mir Vorstellungen machen, aber das geschieht mit größter Schonung.” “Wer wird ihr denn davon Mittheilung machen?” “Giulietta. Es war ja ihr Territorium und sie ist eine Haarspalterin.” “Führt das nicht zu Verdruß zwischen ihr und dir? Eine Denunciation!” “Das haben wir unter uns abgemacht; in der Curie darf alles zur Sprache gebracht werden und niemand darf eine Beschwerde, wenn sie auch ungerecht befunden wird, nachtragen.” “Die Geheimnisse des Ehelebens sind doch gewiß unantastbar,” sagte ich inquisitorisch. “Nicht so ganz unbedingt, ausgenommen sie bleiben eben unentdeckt.” “Was gehen die die Curie an?” “Ich will dir von meinen Erlebnissen erzählen und du magst daraus entnehmen, welche Gewalt die Curie über uns hat. Ich wollte keine Kinder haben. Ich war zu eitel und es fehlte mir an Muth und Selbstverleugnung. Zum mindesten wollte ich Frist haben. Das wurde [S. 333] mir nun von der Vorsteherin vorgehalten. Sie sagte, ich hätte auf die Ehe verzichten sollen, wenn es mir an Standhaftigkeit fehle. Mein Mann habe das Recht, zu fordern, daß ich ihm Kinder schenke, und auch die Gesellschaft rechne darauf. Ich brauchte Ausflüchte und schützte Zufall und Schwäche vor. Die Vorsteherin ließ sich aber nicht irre machen. Die Frau Doctor habe mir einige Besuche gegen meinen Willen gemacht, die Ursache meiner Unfruchtbarkeit sei nicht zweifelhaft. Diese Angelegenheit wurde wiederholt erörtert, immer mit großer Schonung, und die würdige alte Frau hatte mehrere Monate Geduld. Da vollzog sich dann ein Umschwung in meinem Gemüthe; mein Mann sprach wiederholt von seiner Hoffnung, Vater zu werden, und so — wurde er es auch,” sagte Mary mit reizendem Lächeln, “das heißt in spe.” “Entstehen aus solchen Einmengungen dritter Personen keine Mißhelligkeiten?” “Wir sind von früher Jugend daran gewöhnt, uns der Frauencurie zu unterwerfen, und die Vorsteherin ist immer eine Frau, die sich die Liebe und das Vertrauen aller zu erhalten weiß. Sie schont auch die Empfindlichkeit auf das sorgfältigste und wir haben uns unserer kleinen Fehler nicht zu schämen, weil niemand davon frei ist.” “Diese Institution erinnert an die Beichte,” sagte ich. “Doch mit einem sehr wichtigen Unterschiede. Wir werden zu keiner Selbstanklage verhalten, wir werden nicht von einer ordinirten Person, sondern von einer selbstgewählten Vorsteherin beraten und [S. 334] vielleicht zuweilen getadelt und es darf sich kein Mann in Dinge mischen, welche ihm wahrlich Scheu und Ehrfurcht einflößen sollten.” “Es kann aber doch vorkommen, daß die Vorsteherin nicht das Vertrauen aller Schwestern ihrer Gemeinde hat.” “Gewiß, dann bezeichnet man eine Schwester der Vorsteherin als Vertraute und diese bedient sich ihrer als Vermittlerin.”
Eben hielt der Wagen vor meinem Wohnhause und ich verabschiedete mich.
Ich folge dem Beispiele Tolstois, wenn ich, wie er in der Kreuzersonate, dem vorstehenden Buche ein Nachwort folgen lasse. Denn es entspricht unserer Zeit, die an der Wende einer neuen Weltordnung angelangt ist, daß eine Vision vorangeht und ihre Deutung nachfolgt.
Meine Vision wendet sich nicht nur gegen Bellamy und Michaelis, sondern auch gewissermaßen gegen Tolstoi und ganz besonders gegen seinen sonderbaren Posdnyschew. Tolstoi hat zwar den barbarischen Reinheitsfanatismus seines Helden im Nachworte gemildert, aber er findet das Ideal des Christenthums nicht in der Menschenliebe, sondern in der Vergeistigung und Entmaterialisirung des Menschen. Er sagt mit Recht, das Christenthum setze ein Ideal, das in seiner Vollkommenheit nie erreichbar sein wird, uns aber darum doch immer vorzuschweben hat. Dessen nächste Wirkung muß, wie ich meine, sein, uns über den das Christenthum überwuchernden Pharisäismus hinüberzuhelfen. Das christliche Ideal ist aber im Sinne Tolstois nicht die Liebe, sondern [S. 336] die Askese, wenn auch nicht die Askese im gottesdienstlichen Sinne, so doch die Askese im Sinne einer unnöthigen Verleugnung der thierischen Natur des Menschen. Nach Tolstoi hätte Christus gesagt: “Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, dich selbst aber hasse.”
Hierin ist Leo XIII. Tolstoi weit überlegen, denn in seiner Encyklika de conditione opificum, die in der Erörterung der socialen Frage herzlich unbedeutend ist, sagt Leo XIII. doch, daß der Mensch auch Thier sei, und zwar, daß die thierische Natur in ihrer Ganzheit und Vollkommenheit zum Wesen des Menschen gehöre (Absatz 4). Und das entspricht auch ganz der Lehre Christi. Christus hat dem Menschen, der ißt und trinkt, volle Gerechtigkeit widerfahren lassen. Die Pharisäer waren es, die Christus einen Fresser und Weinsäufer schalten und Christus antwortete darauf: “Jawohl, des Menschen Sohn ißt und trinkt.” Er vergab sogar der öffentlichen Sünderin. “Ihr werden viele Sünden verzeihen werden, denn sie hat viel geliebt.”[P] Johannes sagt von ihm: (11, 5.) “Jesus aber liebte die Martha und ihre Schwester Maria und den Lazarus.” Christus sagte: Meine Lehre ist in Wahrheit Brod und Wein, Nahrung und Getränke, und nicht im mystischen Sinn. Er setzte das gesellige Abendmahl als einzige religiöse Handlung ein und seine Anforderung geht schließlich nur auf wirthschaftliche [S. 337] Arbeit, denn wenn er beim letzten Gerichte verdammend ruft: Ich war hungrig und du hast mich nicht gespeist, ich war durstig und du hast mich nicht getränkt, ich war ein Fremdling und du hast mich nicht beherbergt, ich war nackt und du hast mich nicht bekleidet, ich war krank und im Gefängnisse und du hast mich nicht besucht, — so sagt Christus doch nichts anderes, als daß der Mensch gerade als Thier Forderungen an den Menschen zu stellen und daß dieser gerade als Thier und Arbeiter Schulden zu zahlen hat, und diese wirthschaftlichen Verpflichtungen sind es, die den wahren Cultus des Christenthums ausmachen. Der Gottesdienst geht bei Christus in Menschendienst, der Menschendienst in Arbeit auf und diese Anforderungen setzen gerade die Fortdauer des thierischen Menschen mit seinen thierischen Bedürfnissen bis ans Ende der Zeiten voraus und dort ist das Ideal des Christenthums gewiß nicht zu suchen, wo es Tolstoi zu finden glaubt.
Wenn Christus sagt: Mann und Weib sind zwei in einem Fleische, so gibt er der Geschlechtsliebe einen gerade wegen der materiellen Fassung charakteristischen Ausdruck und bestätigt die Berechtigung der Animalität auch in der Liebe, und da er sagt, jener, die viel geliebt, wird auch viel vergeben werden, bestätigt er weiter, daß auch darin sich die Nächstenliebe bekunden kann und immer wird.
Sagt er: ‘Nicht was zum Munde eingeht, sondern was zum Munde herausgeht, verunreinigt den Menschen, denn was zum Munde hineingeht, kommt in den Magen [S. 338] und nimmt seinen natürlichen Ausgang, aber, was zum Munde herausgeht, kommt aus dem Herzen und verunreinigt den Menschen,’ so sagt Christus damit ganz offenbar, nicht durch die Paarung verunreinigt sich der Mensch, sondern durch die Paarung ohne Liebe. Posdnyschew sucht die Dissonanz am unrechten Orte; nicht die Verunreinigung durch einen sinnlichen Genuß ist abscheulich, sondern die Fälschung der Liebe darin, daß man nur eigene Befriedigung sucht, nicht zugleich, ja mehr noch, die des anderen. Ich habe nicht ohne Grund, und ohne Zögern, Julian West sagen lassen, daß die Oesterreicherin der Zukunft dem Fremden gegenüber Gastfreundschaft gewährt, und niemand wird mich überzeugen, daß darin Frivolität liegt, oder, daß ich darin den Boden des Christenthums verlassen habe. Weßhalb sollen wir härter sein gegen die Oesterreicherin, die nicht gebunden ist, als Christus gegen die Ehebrecherin?
Aber eine egoistische Liebe, eine Liebe, die mit Geld bezahlt und sich mit Geld bezahlen läßt, eine Liebe, die nicht fragt, welchen Schaden wirst du davon haben, oder ob ein Herz davon brechen wird, mit einem Worte der Egoismus in der Liebe, dessen Abscheulichkeit Posdnyschew richtig erkannt hat, eine solche Liebe ist dem Christenthume, der Nächstenliebe zuwider.
Allerdings ist eine Askese aus Menschenstolz, wie sie Tolstoi imaginirt, edler, als eine Askese aus pietistischem Hasse gegen das Fleisch. Aber Reinlichkeit ist nicht Reinheit und das hat Christus [S. 339] classisch gelehrt mit dem, was er vom Händewaschen sagt. Die bloße Paarung ohne alle Liebe ist vielleicht um ein Geringes unästhetischer, als gieriges Essen, oder unmäßiges Trinken, aber die Liebe, angetrieben von dem Verlangen, zu beglücken, ist gewiß nicht unrein und der Instinkt, der uns lehrt, uns zurückzuziehen, wenn wir lieben, und unser Glück vor anderen zu verbergen, zeugt keineswegs von schlechtem Gewissen oder davon, daß wir einer bloß verzeihlichen Schwäche opfern, sondern er weist uns darauf hin, ganz und gar in der Geliebten aufzugehen. Und ich sage in meinem Sinne absichtlich: der Geliebten, denn wehe der Frau, die aufhörte, die Geliebte zu sein.
Auch August Bebel in seinem kostbaren Buche: “Die Frau und der Socialismus”, verkennt das Christenthum, wenn er lehrt, das Christenthum predige die Verachtung der Frau, es verlange Enthaltsamkeit und Vernichtung des Fleisches.[Q] — Christus, der dem Weibe volle Gleichberechtigung zuerkannte, da er, über Moses hinausgehend, auch dem Weibe ein Recht auf Gattentreue zusprach, Christus, dem so viele Frauen nachfolgten, bei dessen Kreuzigung nur Frauen ausharrten, der der Ehebrecherin selbst keine andere Zurechtweisung ertheilte, als: “Geh' und sündige nicht mehr,” dessen Freundschaft zu Maria und Martha eine so menschlich edle war, soll Verachtung der Frauen gepredigt haben, [S. 340] und er, dessen Schlußlehre war: “Gebt den Menschen zu essen und zu trinken, kleidet sie, beherbergt sie und besucht sie, wenn sie krank sind, anderen Gottesdienst gibt es nicht” — er soll Vernichtung des Fleisches gefordert haben, als ob nicht gerade dessen Erhaltung allein das Endziel jener Werke nicht der Liebe, sondern der christlichen Gerechtigkeit, der productiven Arbeit wäre? Dabei will ich aber nicht unterlassen, zu bemerken, daß im Sinne Christi jener uns ernährt, kleidet und beherbergt, der seine Hände rührt, nicht der Parasit, der blos seinen Beutel aufmacht. Christus wird verlästert von jenen, die ihn einen Asketen schelten. Noch einmal, er lehrt, daß der Menschensohn ißt und trinkt. Gewiß ist, daß er sagt: “Geht alle hin, verlasset Güter und Häuser, Weiber und Kinder um des Himmelreiches willen,” aber er fügt hinzu, “dann werdet ihr hundert Güter und Häuser, und hundert Kinder haben und das ewige Leben dazu.”
Mein Roman zeigt, daß, wer alles verläßt in dem Sinne, wie es Christus versteht, nämlich zur Begründung des Collectivismus, reicher wird und nicht ärmer, und ein Bild dafür ist der verstümmelte Jacob, der mehr Beine hatte, als irgend einer seiner Volksgenossen. Christus fordert, daß wir das Himmelreich suchen, aber er lehrt, daß die Aufgabe des Himmelreiches sei, Nahrung, Kleidung und Wohnung nach Gerechtigkeit zu vertheilen[R], daß es also eine irdische [S. 341] und höchst praktische Einrichtung ist. Das Christenthum ist helle Freude am Leben, das Christenthum ißt und trinkt nicht nur, es liebt auch, und die Aesthetik des Christenthums ist nicht Enthaltsamkeit sondern göttergleiche Mäßigkeit und vor Allem Gerechtigkeit gegen unsere Tafelgenossen.
Auch Paulus, leider neben Johannes der erste Dogmatiker, versteht das Christenthum in meinem Sinne. Auch er ist liberal gegen die animalische Natur des Menschen und sagt im ersten Briefe an die Corinther 6, 12: “Alles ist mir erlaubt, aber nichts soll die Herrschaft über mich erhalten,” und nach diesen Grundsätzen lasse ich die Oesterreicher der Zukunft leben; diese Lehre des Paulus ist nicht pietistisch, sondern philosophisch.
Wie thöricht es ist, das helle, lebensfreudige Christenthum der Askese anzuklagen, zeigt Paulus an die Colosser 2, 20. 21. 22. 23. Paulus spottet über die pharisäische Lehre: “Rühret nicht an, kostet nicht, tastet nicht an,” und tadelt, “den selbstgewählten Dienst und die Verdemüthigung und Nichtschonung des Lebens, dem man keine Ehre gibt zur Sättigung des Fleisches.”
Askese zu üben ist ganz und gar nicht christlich und Askese zu fordern geradezu unchristlich.
Irregeführt ist Bebel durch das, was Christus von der Ehe sagt, indem dieser bestätigt, daß es nicht gut heirathen sei. Allein Christus sprach in Räthseln und gerade an diesem Orte erklärte Christus, daß er nicht sagen könne, was er denke. “Wenige verstehen [S. 342] dieses Wort” und “wer es fassen kann, der fasse es.” Es ist also gewiß gerade diese Lehre Christi am wenigsten wörtlich zu nehmen und Bebel nimmt sie gerade so brutal wörtlich, wie die russischen Skopzen. Ich glaube, daß Christus nicht im entferntesten meinte, alle sollen verschnitten sein, und daß er unter Verschneidung zwar eine Entsagung, aber keine asketische Entsagung verstand. Ich glaube, Christus meinte, daß sein “Reich” unmöglich sei, wenn alle Familien gründen wollen, er setzte voraus, daß viele, aber keineswegs, daß alle dem Familienglücke entsagen würden, damit das “Reich” bestehen könne. Die Entsagung betrifft also die Zeugung, nicht die Liebe. Auch ich glaube, daß der sociale Staat unmöglich ist, wenn nicht ein großer Theil des Volkes der Familie gänzlich entsagt. Ob aber diese Annahme richtig ist, wird erst die Erfahrung zeigen, wenn die neue Ordnung wird eingeleitet sein. Alle Beobachtungen unter den heutigen Verhältnissen sind trügerisch. Aber die Beschränkung der Zeugung war zu allen Zeiten und bei allen Völkern bekannt und selbst bei jenen, die noch im Naturzustande leben, wie Azara von Wilden in Südamerika berichtet. Es giebt zwingende Verhältnisse, die alle Theorie und aprioristische Moral zu Schanden machen und darum möge man ein endgiltiges Urtheil über vieles aufschieben, was ohne Anstellung vielfältiger Beobachtungen nicht beurtheilt werden kann.
Malthusianismus scheint gewiß verwerflich zu [S. 343] sein, aber eine Propagation bis an die Grenze der von der Natur gebotenen Möglichkeit halte ich für ein Absurdum. Doch wir brauchen Erfahrungen, die unter der heutigen Weltordnung nicht gesammelt werden können.
Auch darüber hat sich Bebel in seinem Buche: “Die Frau und der Socialismus” ausgesprochen, aber seine Lehre halte ich, ich halte sie für eine irrthümliche. Wenn er Spencer citirt, der sagte: “Immer und überall sind Vervollkommnung und Fortpflanzungsfähigkeit einander entgegengesetzt,” so bleibt noch immer die Frage, ob Spencer nicht hätte sagen müssen: “Immer und überall sind Vervollkommnung und Fortpflanzungswille einander entgegengesetzt,” denn aus der thatsächlichen Vermehrung eines Volkes auf dessen Fortpflanzungsfähigkeit zu schließen, ist absurd. Was bisher aber alle Sociologen übersehen zu haben scheinen, ist das, daß es sich nicht darum handelt, wieviele Menschen die Erde und, da man doch nicht die Auswanderung zur Regel machen kann, wieviele Menschen die heimathliche Erde ernähren kann. Nicht die Erde ernährt die Menschen, sondern die produktive Bevölkerung und der Mensch lebt ja nicht allein vom Brode. Die Frage ist daher, wie viele Kinder ein Erwachsener erziehen und verpflegen kann. Mit Hilfe von ausgebeuteten Lohnsklaven allerdings kann man auch zehn und zwanzig erziehen und ernähren, aber jeder für sich? Können wir, wenn die Kinder sich verdreifachen, sie erziehen und ihnen Häuser bauen? [S. 344] Da von sechs Kindern, die geboren werden könnten, nur eins geboren wird[S], so muß doch ein anderer Factor auf die Zahl der Geburten einwirken, als blos die Begrenztheit des natürlichen Zeugungsvermögens. Da liegt ein noch ungelöstes Räthsel und eine Seite der Frage, die noch nicht ins Auge gefaßt worden ist.
Damit widerlegt sich auch, was Bebel mit Berufung auf Liebig Seite 259 und 260 ausführt. Denn durch rasche Vermehrung der Geburten vermehren sich vorerst nur die Zehrer, aber nicht die arbeitenden Hände, und ohne diese vermehrt sich ja auch die Bodenrente nicht, noch weniger aber vermehren sich die Wohnhäuser.
Oswald Schmidt, Leipzig-Reudnitz.
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Wie einst im Mai. M. 2.—.
Victor Wodiczka.
Bellicosus. 2 Bde. M. 6.—.
Oswald Schmidt Leipzig-Reudnitz.
[A] Nach dem spezifischen Gewichte des Goldes von 19,32 und dem österreichischen Gesetze vom 2. August 1892 R. G. Bl. No. 126 hat ein Cubikdecimeter puren Goldes einen Werth von 63369,60 Kronen und wurde der österreichische Finanzminister mit Gesetz vom selben Tage R. G. Bl. No. 130 ermächtigt, ein Golddarlehen von 183,456,000 alten österreichischen Goldgulden oder 4369 Millionen Kronen für Valutazwecke zu kontrahiren. Feingold in dieser Menge ergibt eine kreisrunde Säule von ein Meter Durchmesser und 9,23475 Meter Höhe.
Die Zinsen des erwähnten Darlehns wurden auf neun Millionen Gulden veranschlagt und müssen durch den Export von Brodfrüchten und Schlachtvieh aufgebracht werden, entziehen daher dem Vaterlande die Nahrungsmittel für 50000 gut genährte oder 200000 kümmerlich genährte Menschen.
Auch in Peru zur Zeit seiner Eroberung durch Pizarro galt das Gold für werthlos, weil es nicht zu Geld ausgemünzt wurde. Man deckte die Paläste mit Goldplatten ein und die Soldaten trugen goldene Rüstungen.
[B] “Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf 1887” von Bellamy, Universalbibliothek Nr. 2661, 2662, und “Ein Blick in die Zukunft” von Richard Michaelis, U.-B. Nr. 2800.
[C] Matthäus 13, 52.
[D] Jesaias 66, 1. Apostelgeschichte 7, 48. 49.
[E] Matthäus 6, 6.
[F] Matthäus 11, 14. und 17, 12.
[G] Matthäus 25, 34-45.
[H] Jesaias 65, 17. 20. 21. 22. 23.
[I] Petrus II, 3, 13. Jesaias betrachtete die noch heute geltende Wirthschaftsordnung als eine verderbliche und solche, die auf Ausbeutung der Menschen durch die besitzenden Klassen beruht und er weissagt eine künftige andere und bessere Gesellschaftsordnung. Daraus, nämlich aus der Erkenntniß der Ungerechtigkeit der Besitzherrschaft erklärt sich der Kampf Christi gegen die Reichen und die Begriffe “diese Welt” und die “andere Welt” bezeichnen den Gegensatz der herrschenden und der künftigen Weltordnung.
[J] Ein Rückblick. — Seite 104.
[K] Ein Blick in die Zukunft. — Seite 27.
[L] Johannes 7, 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. Marcus 3, 21. Matthäus 13, 57. 58., Marcus 6, 4. Matthäus 12, 46. 47. 48. 49. 50. Marcus 3, 31. 32. 33. 34. 35. Lucas 8, 19. 20. 21., besonders die Apostelgeschichte 1, 14. — Es ist merkwürdig, daß Christus nach der Hochzeit zu Kanaan und einem kurzen Besuche in Kapharnaum niemals mehr mit Maria zusammen war und diese immer mit den “ungläubigen” Brüdern ging, auch nach dem Tode Christi mit den Brüdern zugleich auftrat, und die Art, wie Christus jeder Erinnerung an Maria auswich, ist in Matthäus 12, 50. Marcus 3, 35. Lucas 8, 21. einerseits und Lucas 11, 28. andererseits in eine eigenthümlich indirecte Form gekleidet, was mit dem Satze übereinstimmt, daß ein Prophet nirgends weniger gelte, als in seinem Hause und in seiner Verwandtschaft. — Lucas 11, 28. läßt keine andere Deutung zu, als Maria könne nicht selig gepriesen werden, weil sie das Wort Gottes nicht höre und dasselbe nicht beobachte. Dann stimmt es genau mit jenem anderen Worte “wer ist mir Mutter und Brüder, nicht Maria ist meine Mutter und nicht ihre Begleiter sind meine Brüder, sondern jene sind es, die den Willen Gottes thun.” Siehe noch Matthäus 27, 55. 56. Marcus 15, 40. 41. Lucas 23, 49. — Dagegen muß man offenbar annehmen, daß Johannes 19, 25. 26. 27. nicht historisch richtig, sondern nur bildlich zu nehmen ist, was schon daraus hervorgeht, daß ja Johannes nach dem Zeugnisse der Synoptiker entflohen war. Matthäus 28, 10. Marcus 16, 9. Lucas 23, 55. 56. und 24, 1. 2. 9. 10. — Johannes 20, 2. 4. und 8. zeigt deutlich das Motiv, welches die abweichenden Berichte dieses Evangelisten erklärt. Siehe auch Johannes 13, 23. dann 18, 15. 16. 19, 27. al. 2, 21, 20. 23.
[M] Wie aus Morgan “Die Urgesellschaft” hervorgeht, ist ursprünglich die Mutter das Haupt der Familie und die weibliche Abstammung für die Verwandtschaft entscheidend gewesen und erst mir Einführung des Sondereigenthumes wurde die Abstammung von väterlicher Seite entscheidend. Die Rückkehr zum Gesammtbesitze muß naturgemäß wieder den Einfluß der Mutter zum entscheidenden in der Familie und im Erziehungswesen machen.
[N] Michaelis, Ein Blick in die Zukunft, Seite 83.
[O] Die Civilliste war in Oesterreich mit einem Prozent vom Gesammtproducte oder, was dasselbe war, vom Arbeitsaufwande, durch das Volk bewilligt worden und da 55% der Bevölkerung produktiv waren, das Volk somit 22 Millionen Arbeiter stellte, war die Civilliste gleich 220 000 Arbeitsjahren, daher der gedachte Bau, dessen Herstellung sich auf drei Jahre vertheilte, nur einen geringen Theil der öffentlichen Bauten bildete, die die Civilliste auf sich nahm. Sie war für Hof und Adel ausgeworfen und diente den Volksinteressen.
[P] Lucas 7, 47.
[Q] Seite 41 der 10. Auflage.
[R] Matthäus 6, 33.
[S] Nach der Volkszählung der im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder Oesterreichs betrug am 31. Dezember 1880 die Zahl der Frauenspersonen im Alter von 15 bis 45 Jahren 5 123 884 und im Jahre 1882 die Zahl der Geburten 873 522. Bliebe aber selbst dieses Geburtenprocent von nur vier zu hundert der Gesammtbevölkerung (circa 22 Millionen) constant und würde die Sterblichkeit, was erwartet werden muß, wenn eine rationelle Ernährung und Pflege aller Volksgenossen eintritt, auf 1.5 % sinken, also der Jahreszuwachs auf 2.5 % steigen, so würde sich die Bevölkerung in circa 30 Jahren verdoppeln, in 60 Jahren aber vervierfachen. Wer wird die erforderlichen Wohnhäuser bauen? Kann die Arbeit dieser Vermehrung folgen, dann allerdings wird sie zum Segen werden. Je enger wir wohnen können, um so beglückender der Communismus.