Title: Wunderwelten
Author: Friedrich Wilhelm Mader
Illustrator: Willi Egler
Release date: December 26, 2015 [eBook #50770]
Language: German
Credits: Produced by Jens Sadowski
Wunderwelten
Wie Lord Flitmore eine seltsame Reise zu den Planeten unternimmt und durch einen Kometen in die Fixsternwelt entführt wird.
Erzählung
für Deutschlands Söhne und Töchter
von W. Mader
Illustriert von W. Egler
Verlag für Volkskunst / Rich. Keutel / Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten.
Kunstdruckerei des Verlags für Volkskunst, Rich. Keutel, Stuttgart.
Seite | ||
Personenverzeichnis | VI | |
Vorwort | VII | |
1. | Ein kühnes Unternehmen | 1 |
2. | Sannah, das Weltschiff | 5 |
3. | Eine wunderbare Entdeckung | 10 |
4. | Die Fahrt ins Leere | 13 |
5. | Im Weltenraum | 20 |
6. | Am Mond vorbei | 27 |
7. | Eine ernste Gefahr | 34 |
8. | Die großen Astronomen | 38 |
9. | Der Mars | 43 |
10. | Eine Landung auf dem Mars | 46 |
11. | Die Schrecken des Mars | 50 |
12. | Eine Entdeckungsreise auf dem Mars | 56 |
13. | Die Marsbewohner | 61 |
14. | Eine Marskatastrophe | 68 |
15. | Im Meteorenschwarm | 79 |
16. | Ein Konzert in der Sannah | 88 |
17. | Die Asteroiden | 93 |
18. | Die Planetoideninsel | 97 |
19. | Der Komet | 102 |
20. | Die Seeschlange | 110 |
21. | Jupiter | 115 |
22. | Ein Besuch auf dem Saturn | 120 |
23. | Eine unfreiwillige Polarreise | 126 |
24. | Eine Nacht auf dem Ringplaneten | 132 |
25. | Eine seltsame Welt | 139 |
26. | Ein Kampf um die Sannah | 146 |
27. | Vom Kometen entführt | 155 |
28. | Die Geheimnisse der äußersten Planeten | 162 |
29. | Eine Reise ins Unendliche | 164 |
30. | Schimpansenstreiche | 171 |
31. | Verloren im Weltraum | 176 |
32. | Der Riesenkraken | 184 |
33. | Ohne Luft! | 192 |
34. | Ein verhängnisvoller Zusammenstoß | 195 |
35. | Ein Wunder | 199 |
36. | In der Fixsternwelt | 204 |
37. | Eine neue Erde | 209 |
38. | Die Wunder Edens | 214 |
39. | Sonderbare Naturgesetze | 219 |
40. | Eine neue Tierwelt | 228 |
41. | Eine paradiesische Nacht | 237 |
42. | Höhere Wesen | 245 |
43. | Im Hause des Gastfreunds | 255 |
44. | Neue Erkenntnisse | 260 |
45. | Heliastra | 268 |
46. | Überirdische Klänge | 272 |
47. | Im Reiche des Friedens | 277 |
48. | Eine Reise auf dem Planeten | 282 |
49. | Münchhausens Fabeln | 286 |
50. | Abschied | 290 |
51. | Der Planet des Fremdartigen | 295 |
52. | Eine Weltkatastrophe | 299 |
53. | Durch die Sonne | 303 |
54. | Der Planet Merkur | 309 |
55. | Zurück zur Erde! | 314 |
56. | Sannah | 318 |
Nachweise | 329 |
1. | Lord Charles Flitmore. | ||
2. | Mietje, Lady Flitmore, geborene Rijn, seine Gattin. | ||
3. | Professor Heinrich Schultze. | ||
4. | Kapitän Hugo von Münchhausen. | ||
5. | Heinz Friedung. | ||
6. | John (Johann) Rieger, Flitmores Diener. | ||
Zwei Schimpansen: Dick und Bobs. | |||
—— | |||
7. | Ein alter Marsbewohner. | ||
—— | |||
8. | Gabokol. | ||
9. | Bleodila, seine Gattin. | ||
10. | Fliorot, sein Sohn. | ||
11. | Glessiblora | } | seine Töchter. |
12. | Heliastra | ||
Im Schlußkapitel: | |||
13. | Doktor Otto Leusohn. | ||
14. | Sannah, geborene Rijn, seine Gattin. | ||
15. | Hendrik Rijn. | ||
16. | Helene, seine Gattin, Doktor Leusohns Schwester. | ||
17. | Tipekitanga, die Zwergprinzessin. | ||
18. | Amina, ein Somalimädchen. | ||
19. | Piet Rijn, Hendriks, Mietjes und Sannahs Vater. | ||
20. | Frans | } | weitere Söhne Piet Rijns. |
21. | Klaas | ||
22. | Danie |
Den vollen Gewinn von dieser Erzählung wird nur die schon gereiftere Jugend haben, die mit Verständnis und gewiß auch mit lebhaftem Interesse die Wunder der Sternkunde kennen lernen wird. Das ganze Gebiet der Astronomie soll ihr im Laufe der Erzählung in der Hauptsache erschlossen werden.
Nun werden aber auch wohl jüngere Leser, für welche die wissenschaftlichen Gespräche vielleicht noch zu hoch sind, die seltsamen Erlebnisse und Entdeckungen der Weltall-Reisenden lesen wollen. Diese mögen getrost die Stellen überschlagen, die ihnen noch nicht verständlich erscheinen, namentlich in Kapitel 8, 15, 18, 26, 32 und 48.
Sollte einem oder dem andern Kritiker einiges über die Grenzen des Wahrscheinlichen (natürlich nicht des „Möglichen“) hinauszugehen scheinen, so möge er sich aus den Nachweisen überzeugen, ob nicht die Wissenschaft selber die Phantasie stützt.
Eschelbach, im Juli 1911.
Der Verfasser
Professor Dr. Heinrich Schultze lehnte sinnend in seinen Sessel zurück. Vor ihm auf dem mit Büchern und Papieren bedeckten Schreibtisch lag ein Brief, der seine Gedanken beschäftigte.
Da läutete es an der Eingangstüre seiner Wohnung und kurz darauf pochte es gewaltig an die Studierzimmertüre.
„Herein!“ rief der Professor, sich erhebend.
Die Türe öffnete sich und es erschien ein ältlicher, doch frisch und blühend aussehender Mann von stattlicher Leibesfülle.
„Kapitän Münchhausen!“ rief Schultze und eilte überrascht und erfreut, auf den Mann zu, ihm beide Hände entgegenstreckend. „Welcher günstige Monsun führt Sie von Australien nach Berlin und just in dieser Stunde? Ich bin starr! Denken Sie, soeben weilten meine Gedanken bei Ihnen in Adelaide und ich wünschte mir, Sie herzaubern zu können.“
„Nun! Der Zauber ist gelungen!“ lachte Münchhausen: „da bin ich. Und was mich herführt? Sie wissen, ich halte das untätige Herumsitzen auf dem Kulturboden nicht lange aus. Na! habe ich gedacht: schaust einmal nach, was der olle Schultze macht; vielleicht plant er wieder irgend ein famoses Unternehmen; da muß ich dabei sein! Und plant er keins, so will ich ihn aufrütteln und wir planen eines miteinander. He! Wie steht’s damit, Professorchen?“
„Ich sage Ihnen, Sie kommen wie gerufen. Da, setzen Sie sich her, altes Haus.“
Unterdessen drückte der Professor auf den Knopf der elektrischen Klingel und beauftragte den hierauf erscheinenden Diener, eine Flasche Wein und zwei Gläser zu bringen und alsdann im Eßzimmer einen kalten Imbiß zu richten: „Das Feinste, was wir haben,“ mahnte er: „Der Kapitän ist Feinschmecker.“
„Oho!“ lachte dieser: „Habe ich mir nicht Termiten, Raupen und Rohrratten schmecken lassen, wenn es darauf ankam? Ich nehme alles wie es kommt.“
„Jetzt kommt aber etwas Besseres als afrikanische Hungerkost, alter Freund; und ich weiß, Sie nehmen das Bessere gerner an als das Schlechtere.“
„Ein Narr, wer’s nicht tut! Aber nun, Professor, was planen Sie?“
„Ich habe eigentlich gar nichts geplant; aber ein andrer: Sie erinnern sich wohl noch Lord Flitmores?“
Münchhausen lachte, daß es dröhnte: „Auf so eine Frage kann doch nur ein weltfremder Professor verfallen! „Erinnern“ ist gut! Wenn man mit einem Manne, wie der Lord, solche Abenteuer erlebt, solche Kämpfe durchfochten und solche herrliche Stunden durchkostet hat, wie wir zwei beide, dann soll man ihn wohl vergessen können? Verzeihen Sie, Professor, aber Ihre Frage ist ... na, wie soll ich sagen?“
„Dumm!“ ergänzte Schultze, seinerseits lachend: „Sie haben recht, oller Seebär. Also! Hier habe ich einen Brief von Flitmore erhalten. Er schreibt, er habe eine kaum glaubliche Entdeckung gemacht.“
„Kaum glaublich? Hören Sie, dem glaube ich alles, dem traue ich das Wunderbarste zu nach den Proben seines Erfindergenies, die er uns in Afrika gegeben.“
„Das stimmt! Aber hören Sie: er schreibt, seine Entdeckung hebe die trennenden Räume des Weltalls auf und gestatte Reisen nach dem Mond, nach den Planeten, vielleicht gar in die Fixsternwelt. Und nun ladet er mich ein, ihn auf seiner ersten Fahrt zu begleiten. Was halten Sie davon? Sollte er nicht doch ein wenig übergeschnappt sein?“
„O, daß Sie Männer der Wissenschaft keine neue, erstaunliche Entdeckung ohne Zweifel begrüßen können! Wenn die Professoren darüber zu entscheiden hätten, alle genialen Erfinder kämen ins Irrenhaus! Ich sagte Ihnen, dem Lord traue ich alles zu. Er ist ein Genie. Telegraphieren Sie ihm nur gleich, ob er mich mitnimmt? Ha! das gibt eine Reise! Das ist noch nie dagewesen, außer in der Phantasie kühner Schriftsteller: Da muß ich mit!“
„Das ist es ja gerade: Lord Flitmore bittet mich, ihn zu begleiten, da er weiß, daß ich mich in den letzten Jahren ganz auf die Astronomie geworfen habe und er meine Veröffentlichungen auf diesem Gebiet mit Interesse und Beifall verfolgte, wie er schreibt. Dann aber fragt er nach Ihnen und nach Ihrer Adresse. Er ist voll Bewunderung für das Automobil, das Sie erfanden, und mit dem wir Australien durchforschten.“
„Ja, ja, die Lore!“ schmunzelte der Kapitän: „Sie war kein übler Gedanke. Aber nach dem Mond — ne! Das hätte sie doch nicht geleistet“.
Kapitän Münchhausen bei Professor Schultze.
„Also, bei Ihren technischen Kenntnissen und Ihrer Erfindungsgabe auf diesem Gebiet glaubt der Lord keinen besseren Ingenieur und Kapitän für sein Weltschiff finden zu können, als Sie, und wäre höchlichst erfreut, Sie für das Unternehmen gewinnen zu können.“
„Topp!“ rief Münchhausen begeistert: „Wann reisen wir?“
„Holla!“ lachte Schultze: „Nicht so eilig, alter Freund! Sie sind ein unüberlegter Jüngling. Bedenken Sie,“ fuhr er ernst werdend fort: „Das Wagnis ist mehr als kühn: es geht auf Tod und Leben. Der Lord verfehlt nicht, dies ausdrücklich hervorzuheben: kein Mensch kann wissen, welche Gefahren und welch ungeahnte Katastrophen dem Erdenbürger drohen, der seinen heimischen Planeten verläßt und sich über die Atmosphäre in die Leere des Weltenraums erhebt.“
„Ging es etwa in Afrika und Australien und wo wir sonst noch forschten, nicht auch auf Tod und Leben? Ahnten wir im voraus die Gefahren, denen wir entgegengingen?“
„Wohl! Aber es waren irdische Gefahren.“
Der Kapitän zuckte die Achseln: „Hören Sie, Sie tifteliger Professor: Todesgefahr ist Todesgefahr, ob sie nun auf der Erde oder über der Erde droht, ist meines Erachtens völlig einerlei: mehr als unser Leben können wir hier oder dort nicht verlieren. Aber wer soll noch sonst mit? Auf die Reisegesellschaft kommt bei so etwas viel an.“
„Eine große Gesellschaft wird es nicht werden: zunächst wird die Gattin des Lords ihn begleiten.“
„Schau, schau! Mietje! Allen Respekt! Ein beherztes Frauenzimmer ist sie stets gewesen, das hat sie uns damals in Ophir zur Genüge bewiesen.“
Schultze aber fuhr fort: „Ferner Flitmores Diener, John Rieger.“
„Freut mich, freut mich! Eine edle, treue Seele und ein gelungener Mensch. Er befindet sich also immer noch in des Lords Diensten?“
„Allerdings, und er hat sich zum tüchtigen Mechaniker ausgebildet, wie ihn Flitmore als eifriger Automobilfahrer braucht. Endlich will noch mein junger Freund Heinz Friedung sich uns anschließen. Ich riet ihm vergebens ab: er ist Feuer und Flamme für die Weltreise.“
„Hören Sie, Professor, den jungen Mann habe ich in mein Herz geschlossen seit wir unsre Reise nach den Unnahbaren Bergen mit ihm machten. Das gibt eine famose Reisegesellschaft! Was treibt denn unser Heinz seither und wo weilt er?“
„Er hat sich auf die Sprachwissenschaften geworfen und lebt hier in Berlin als Privatdozent. Er beginnt, sich einen Namen zu machen und hat, wie er mir anvertraute, eine epochemachende Entdeckung auf seinem Gebiet gemacht, doch verrät er noch nichts Näheres davon.“
Der Diener meldete, daß der Imbiß bereit stehe.
Die Beiden tranken ihre Gläser leer und begaben sich nach dem Speisezimmer.
Eine Woche später landeten Schultze, Münchhausen und Heinz Friedung in Brighton und fuhren dann mit der Bahn nach Lord Flitmores Besitzung, die sich in der Grafschaft Sussex befand.
Ein prächtiges altes Schloß, von einem ausgedehnten Park umgeben, an den Felder, Wiesen und Waldungen stießen — ein ganzes kleines Königreich — wurde den Ankömmlingen als des Lords Residenz bezeichnet.
Von weitem schon konnte man über die Baumwipfel eine Riesenkugel emporragen sehen, die im Sonnenschein glitzerte.
„Das ist des Lords Weltschiff!“ rief Heinz Friedung.
Schultze schüttelte den Kopf: „Dies Fahrzeug muß ein fabelhaftes Gewicht haben,“ meinte er: „Wie sich Flitmore damit in die Luft erheben will oder gar über die Atmosphäre, ist mir rein unerfindlich.“
Der Kapitän aber entgegnete: „Brauchen Sie auch nicht zu erfinden, Professor! Seien Sie getrost, das Genie unsres englischen Freundes hat zweifellos die Aufgabe gelöst, sonst hätte er uns nicht zur Fahrt eingeladen.“
Lord Flitmore hatte die Gäste um diese Stunde erwartet und kam ihnen mit seiner jugendlichen Frau bis an das Parktor entgegen.
Er war ein hochgewachsener Mann mit rötlichem Backenbart. Eine ernste Würde verlieh ihm etwas Steifes, echt Englisches; doch das war nur äußerlich: obgleich er nicht viel Worte machte und seine Begrüßung ziemlich trocken klang, merkte man doch die warme Herzlichkeit und die aufrichtige Freude heraus.
Mietje, seine Gattin, eine geborene Burin aus Südafrika, gab sich keinerlei Mühe, ihre Gefühle hinter gemessener Würde zu verbergen: sie kam den Freunden mit strahlendem Lächeln entgegen und schüttelte allen kräftig die Hand.
Schultze und Münchhausen waren alte Bekannte des Lords von Afrika her; an Heinz wandte sich der Engländer mit den Worten:
„Sie, Herr Friedung, sind mir auch schon lange bekannt und wert, wenn ich Sie auch persönlich noch nie traf; haben Sie doch in den Schilderungen der australischen Reise meiner Freunde stets eine hervorragende und sympathische Rolle gespielt.“
Für die Ankömmlinge war ein wahres Festmahl gerichtet und sie wurden fürstlich bewirtet; dann gab es noch gar vieles zu berichten über ihre Erlebnisse und Arbeiten in der Zeit, da sie den Lord nicht mehr gesehen. Punkt zehn Uhr jedoch hielt Flitmore seine häusliche Abendandacht, worauf sich alles zur Ruhe begab.
Am andern Morgen nach dem Frühstück führte der Lord seine Gäste auf die weite Wiese, auf der die gewaltige Kugel ruhte, die schon bei ihrer Ankunft das Erstaunen unsrer Freunde geweckt hatte.
„Das also ist Ihr Luftschiff?“ bemerkte der Professor, als sie bewundernd an der mächtigen Sphäre hinaufblickten.
„Weltschiff,“ verbesserte Flitmore: „Ein Luftschiff ist an die Atmosphäre gefesselt, wir aber wollen mit diesem Fahrzeug den Luftraum verlassen, wenigstens die Lufthülle, die unsern Erdball umgibt; darum können wir füglich von einem ‚Luftschiff‘ nicht mehr reden: Die ganze Welt, der unendliche Raum steht diesem Vehikel offen.“
„Sie haben recht,“ gab Schultze zu. „Also ‚Weltschiff‘.“
Der Engländer aber fuhr fort:
„Ich habe übrigens meiner Kugel einen eigenen Namen gegeben. Der schöne Gedanke, den Sie hatten, Herr Kapitän, als Sie Ihr Automobil Lore tauften, hat mir eingeleuchtet, und so gab ich meiner Erfindung den Namen ‚Sannah‘.“
„Zu Ehren Ihrer liebenswürdigen Schwägerin, der mutigen Gattin unsres Freundes Doktor Leusohn in Ostafrika?“ fragte Schultze.
„Gewiß!“ fiel Mietje ein: „Wir kamen beide sofort auf den Gedanken, den Namen meiner fernen Schwester für das Gefährt zu wählen, das uns auf einer Reise voll unbekannter Gefahren zur Heimat werden soll.“
„Freut mich!“ rief Münchhausen: „Mit Sannah bin ich mit besonderer Vorliebe gereist, und ich bin überzeugt, diese neue Sannah wird ihrem Namen Ehre machen, uns Treue beweisen und die Reise so angenehm wie möglich gestalten.“
„Aus was für einem Stoff besteht eigentlich Ihr Weltschiff?“ fragte nun Heinz Friedung: „Es glitzert ja wie Glimmer.“
„Diese schimmernde Hülle ist Flintglas,“ erklärte Flitmore; „Wir müssen damit rechnen, daß wir auf unsrer Fahrt Temperaturen antreffen werden, die nicht nur unser Leben, sondern auch unser Fahrzeug vernichten könnten. Gegen die Kälte des Weltraums, die ich übrigens nicht für gar so schlimm halte, wie man meistens annimmt, schützt uns die elektrische Heizung.
Wir können aber auch durch Weltnebel und kosmische Staubwolken mit einer solchen Geschwindigkeit sausen, daß Sannah in Weißglut geriete, wie die Meteore, die in unsre Atmosphäre stürzen; das Gleiche wird ihr drohen, wenn wir uns der Sonne oder einem andern glühenden Weltkörper nähern. Ich habe daher die Hülle meines Weltschiffes genau so herstellen lassen, wie die Wandungen der feuerfestesten Kassenschränke und auch diese Hülle noch mit dem unverbrennlichen Flintglas überkleidet, so daß wir hoffen dürfen, ohne Schaden auch längere Zeit hindurch uns den höchsten Temperaturen aussetzen zu dürfen.“
„Aber die Fenster?“ warf Schultze ein.
„Ich habe allerdings sechs große Fenster, die aus sehr dickem Glas bestehen und einen Ausblick nach allen Seiten gestatten. Unter jeder dieser Scheiben befindet sich ein mächtiges Fernrohr, da wir mit bloßem Auge meist nicht viel zu sehen bekämen. Sobald wir jedoch einer Hitze ausgesetzt würden, die meinen Fenstern gefährlich werden könnte, genügt der Druck auf einen Knopf im Innern des Schiffes, um im Augenblick sämtliche Fenster mit einem Schutzdeckel völlig dicht zu schließen, wie mit einem Augenlid.“
„Ungeheure Größenverhältnisse hat Ihr Weltschiff, das muß ich sagen!“ bemerkte der Kapitän bewundernd.
„Eigentlich sind sie gering“, erwiderte der Engländer: „Ein Zeppelinsches Luftschiff zum Beispiel hat noch ganz andre Maße. Meine Kugel hat 45 Meter im Durchmesser; um den Mittelpunkt befindet sich ein Raum von 15 Metern in der Länge, Breite und Höhe, der somit 3375 Kubikmeter Rauminhalt hat. Hier sind die Reisevorräte verstaut in mehreren pyramidenförmigen Abteilungen mit der Spitze nach unten, das heißt nach dem Mittelpunkte zu.
Dieser Mittelraum bildet die Grundlage für die einzelnen Zimmer, die von ihm nach sechs Seiten hin ausstrahlen bis an die Hülle hin. Jedes dieser Zimmer, 5 Meter breit und etwa 3 Meter hoch, so daß sich allemal 5 solcher Säle übereinander befinden, deren äußerster als Wohn- und Beobachtungszimmer dient; leiterartige Treppen führen von einem Stockwerk zum andern. Die obersten Zimmer sind 15 Meter lang, die andern werden nach dem Zentrum zu etwas kürzer.
Abgesehen von den äußersten Gemächern, die sich unmittelbar unter der Wölbung der Kugelhülle befinden, bietet jede dieser dreißig Aufenthaltsgelegenheiten einen Raum von 200 bis 225, im ganzen etwas über 6000 Kubikmetern. Außer den Wohn- und Schlafzimmern habe ich hier Werkstätten eingerichtet: eine Schreinerei, eine Schmiede, ein chemisches Laboratorium; die übrigen Räume dienen abwechselnd zum Aufenthalt, wenn die verbrauchte Luft in den andern erneuert werden muß.
Die äußersten Kammern unter der Oberfläche sind durch besondere Gänge miteinander verbunden, die ich Meridiangänge benenne, weil sie gleichsam als innere Längen- und Breitengrade im Innern der Kugel verlaufen.“
„Auch außen haben Sie, scheint es, Meridiane angebracht“, bemerkte Münchhausen.
„Sie meinen die Rampen?“ fragte der Lord: „Diese kleinen Geländer, die ich für bestimmte Zwecke für vorteilhaft hielt, strahlen allerdings auch von einem Punkte aus und kreuzen sich wieder im entgegengesetzten Punkte, stellen also füglich Längengrade dar.
Den sechs Sälen, die sich unmittelbar unter der äußeren Umhüllung der Kugel befinden, gab ich aus praktischen Gründen besondere Namen: zu oberst befindet sich das Zenithzimmer, zu unterst das Antipodenzimmer; in der Mitte, dem Äquator, wenn Sie wollen, zeigt sich vor uns das Nordpolzimmer, dem hinten das Südpolzimmer entspricht; rechts das Ostzimmer, links das Westzimmer. Wie Sie sehen, verfuhr ich etwas unwissenschaftlich mit diesen Benennungen, da ich Nordpol und Südpol auf den Äquator verlegte. Aber das ist ja alles bloß Übereinkommen: betrachten Sie die Linie, die vom Zenithzimmer über das Ost- und Antipodenzimmer zum Westzimmer läuft als Äquator, so stimmt die Sache wieder und wir haben zwei einander senkrecht schneidende Äquatorlinien, aus dem einfachen Grunde, weil meine Kugel nicht in Grade eingeteilt ist, aus der wir eine andere Bezeichnung für den Längsäquator hernehmen könnten und weil ich meine Rampenmeridiane vom Zenith- statt von einem Polzimmer ausgehen ließ.“
„Mit all den genannten Räumen aber“, warf Schultze ein, „ist der Raum Ihrer Kugel noch lange nicht ausgenützt.“
„Gewiß nicht! Mein Weltschiff hat einen Umfang von 141,3 Metern, eine Oberfläche von 6358,5 Quadratmetern und einen Inhalt von 47688,75 Kubikmetern. Rechnen wir den Raum der 30 Zimmer, der Vorratskammern und der Meridiangänge ab, auf die zusammen etwa 10000 Kubikmeter kommen, so verbleiben noch beinahe 38000 Kubikmeter; von diesen werden etwa 30000 durch die Stahlkammern ausgefüllt, die gepreßten Sauerstoff enthalten und ungefähr 8000 sind mit Ozon angefüllt; denn was wir vor allem brauchen, ist Luft, gesunde, stets erneuerte Luft.“
„Sie erwähnten vorhin die elektrische Heizung“, nahm der Kapitän wieder das Wort: „Ich darf wohl annehmen, daß auch Küche, Schmiedewerkstatt und chemisches Laboratorium nur auf elektrischem Wege geheizt werden, um jede Rauchentwicklung zu vermeiden.“
„Ganz richtig“, bestätigte Flitmore.
„Wie aber beschaffen Sie die elektrische Kraft?“
Der Lord lachte: „Sie kennen ja meine mächtigen Batterien von Afrika her, Kapitän. Aber ich gestehe ehrlich, die Hauptsache für die elektrische Speisung meiner Sannah verdanke ich Ihnen. Sie haben ja kein Geheimnis aus Ihrer wunderbaren Erfindung gemacht, dem ausgezeichneten Akkumulator, der Ihre Lore trieb. Nun, solche Akkumulatoren, System Münchhausen, nehme ich mehrere mit und erzeuge, wie Sie, die nötige Reibungselektrizität durch eine Maschine hauptsächlich mit Handbetrieb, so weit meine Batterien nicht dazu ausreichen sollten.“
Nach diesen Erklärungen lud Flitmore seine Gäste ein, die Innenräume zu besichtigen, was diese unter seiner Führung mit regstem Interesse taten.
Sie fanden alles mit größter Zweckmäßigkeit und Behaglichkeit eingerichtet; was ihnen zunächst auffiel, war, daß sämtliche Einrichtungsgegenstände als Tische, Stühle, Bettstellen usw. aus Kautschuk hergestellt waren, wie auch Wände, Decken und Fußböden sich mit dicken Gummiplatten ausgelegt erwiesen; was aber aus Holz und Metall bestand: Hobelbank, Amboß, Herd usw. war am Fußboden festgeschraubt.
„Diese Vorsicht glaubte ich nicht außer acht lassen zu dürfen“, erklärte der Lord, „da wir nicht wissen können, welchen Erschütterungen unsre Sannah ausgesetzt sein kann, wenn sie etwa mit einem Meteoriten zusammenstoßen sollte oder etwas unsanft auf irgend einem Weltkörper zum Landen käme.“
Die Besichtigung nahm mehrere Stunden in Anspruch. Als nun alles eingehend betrachtet und bewundert worden war, nahm Heinz Friedung das Wort:
„Verzeihen Sie, Lord Flitmore“, sagte er: „Sie sehen uns alle überzeugt, daß kein Fahrzeug umsichtiger und zweckmäßiger für eine kosmische Reise ausgerüstet sein könnte, als Ihre herrliche Sannah; aber welche Wunderkraft soll sie in den Weltraum schleudern? Das ist das Rätsel, das ich vergeblich zu lösen versuche. Dürfen wir etwas davon erfahren oder ist es ein Geheimnis?“
„Sie haben recht“, erwiderte Flitmore: „Ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig. Es handelt sich hier um eine Entdeckung, die ich zufällig machte, und die mir erst den Gedanken und die Möglichkeit eines solchen Unternehmens gab.
Sie kennen die Schwerkraft und ihre Gesetze und wissen auch, daß die Wissenschaft keine Ahnung davon hat, was diese Schwerkraft ihrem Wesen nach eigentlich ist. Die Anziehungskraft der Weltkörper ist ja wohl eine Erklärung für die Schwerkraft, aber wir wissen eben geradesowenig, was die Anziehungskraft ist und worauf sie beruht. Würde sie auf der Umdrehung oder Rotation beruhen, so müßten wir zum Beispiel gegen die Erdachse angezogen werden, während tatsächlich die Anziehung gegen den Mittelpunkt der Erde sich richtet: es ist eine Zentripetalkraft. Möglicherweise hängt diese Kraft mit dem Magnetismus zusammen und dieser wieder mit der Elektrizität.
Nun wissen Sie, daß es eine positive und eine negative Elektrizität gibt: was die eine anzieht, stößt die andre ab; so gibt es einen positiven und einen negativen Magnetpol, einen Nord- und einen Südpol, und der Zentripetalkraft entspricht eine Zentrifugalkraft. Mit andern Worten, außer der Anziehung gibt es auch eine Abstoßung, und letztere Kraft nenne ich „Fliehkraft“.
Es ist klar, daß, wenn unsre Erde neben ihrer Anziehungskraft auch eine abstoßende Kraft besitzt, erstere bei weitem überwiegen muß in Bezug auf ihre Wirkung auf alle irdischen Körper; denn sämtliche Körper, auf welche die Abstoßungskraft überwiegend wirken würde, müßten sofort von der Erde abgestoßen werden, wären also nicht mehr da. Aus diesem einfachen Grunde bleibt uns diese zweite Kraft verborgen.
Nun habe ich aber durch zufällige Kombinationen eine Elektrizität oder einen magnetischen Strom entdeckt, der diese Fliehkraft darstellt.
Wird der Strom geschlossen, so werden die von ihm durchströmten Körper von der Erde abgestoßen und das mit um so größerer Kraft, je stärker der Strom ist. Bei unterbrochenem Strom tritt die Anziehungskraft der Erde wieder in ihre Rechte.
Meine „Fliehkraft“ ist sozusagen die umgekehrte Schwerkraft, ein Magnetismus, der vom Erdmagnetismus abgestoßen wird, und der seinerseits auf diesen abstoßend wirkt.
Das ist das ganze Geheimnis. Alle Versuche, die ich anstellte, hatten den gleichen Erfolg; jeder Körper, den ich mit Fliehkraft lud, und wenn er sonst noch so schwer war, erhob sich in die Luft mit wachsender Geschwindigkeit und verschwand auf Nimmerwiedersehen. Sie begreifen, daß mir diese Entdeckung den Gedanken nahelegen mußte, ein Fahrzeug herzustellen, das mittelst der Fliehkraft sich dem Bereich der Anziehungskraft unsres Erdballs entziehen könnte.“
Mit großer Verwunderung lauschten unsre Freunde diesen überraschenden Ausführungen und Schultze meinte kopfschüttelnd: „Na, wir werden ja sehen!“
Es war eine helle Nacht, wenngleich der Mond nur die Hälfte seines beleuchteten Angesichts zeigte, als die kühne Reisegesellschaft ihre abenteuerliche Fahrt antrat. Flitmore ließ noch einige letzte Vorratskisten und Gebrauchsgegenstände in der Sannah verstauen. Auch die von ihm erfundene und in Afrika erprobte Nährmaschine nahm er für alle Fälle mit. In Kolben und Metallgefäßen verwahrte er die chemischen Stoffe, aus denen er mittels der Maschine Tabletten von hohem Nährwert erzeugen konnte. Dies hatte den Vorzug, daß in kleinen Behältern, die nur sehr wenig Raum einnahmen, die Mittel zur Verköstigung auf viele Monate mitgenommen werden konnten. Überdies vermochte er mit seiner Maschine bei einer Landung aus jedem Erdreich, das die für den Pflanzenwuchs nötigen Bestandteile enthielt, diese Bestandteile auszusondern und zu verarbeiten, genau wie es die Pflanzen tun, die Mehl und genießbare Früchte erzeugen. Wozu aber die Halme, Gesträuche und Bäume Monate oder wenigstens Wochen benötigen, das brachte die Nährmaschine in wenigen Stunden zuwege. So schloß diese geniale Erfindung eine Hungersnot aus, auch wenn die reichen Lebensmittelvorräte erschöpft werden sollten, im Falle die Reise sich über alle Erwartungen hinaus verlängern würde.
Besonders wichtig war dem Lord auch sein photographischer Apparat, mit dem er nach dem neuesten Verfahren Lichtbilder in natürlichen Farben herzustellen verstand.
Heinz trug seine geliebte Violine in ihrem Kasten bei sich: er war ein Meister im Geigenspiel und die Zartheit und Gefühlsinnigkeit seines Strichs übertraf selbst das, was man von berühmten Virtuosen zu hören gewohnt ist. Überdies blies er gelegentlich auch Piston mit ebensolch vollendeter Meisterschaft.
Flitmore selber war ein begeisterter Kenner und Freund der Musik. Er spielte nicht weniger als drei Instrumente mit gleicher Fertigkeit, das Klavier, das Cello und die Posaune.
Da Lady Flitmore auf dem Klavier Vorzügliches leistete, John Rieger, der Diener, Flöte blies und selbst Kapitän Münchhausen nicht unmusikalisch war, konnte man hoffen, in der Sannah Konzerte aufzuführen, die sich überall hätten hören lassen dürfen.
Der Lord hatte daher nicht versäumt, für solche willkommene Veranstaltungen in der Sannah ein eigenes, glänzend ausgestattetes Musikzimmer einzurichten, das sogar einen Flügel enthielt, dazu Blas- und Streichinstrumente aller Art, ein ganzes Orchester. Für die nötigen Noten und Partituren war selbstverständlich reichlich gesorgt: da sollte keine Langeweile aufkommen!
Alle waren vor der Eingangspforte der Sannah versammelt, zum Einsteigen bereit, als Flitmores treuer Diener John noch als Letzter erschien, und zwar begleitet von zwei kräftigen Affen, die der Lord den erstaunten Gefährten folgendermaßen vorstellte:
„Sie sehen hier zwei dienstbare Geister, die Schimpansen Dick und Bobs. Der erstere verdankt seinen Namen einem schlechten Wortspiel, da er in der Tat etwas fettleibig ist, also in deutscher Sprache als „Dick“ bezeichnet werden kann; der zweite hat eine auffallende Ähnlichkeit mit Lord Roberts, dem Feldmarschall, den wir bekanntlich „Bobs“ heißen.
Die Tiere sind äußerst intelligent und gelehrig und sind vorzüglich eindressiert auf das Treiben der Maschine zur Speisung des elektrischen Akkumulators. Sie mögen uns ferner von Nutzen sein, wenn das Schicksal uns auf einen Weltkörper verschlagen sollte, der mit Pflanzenwuchs gesegnet wäre. Da wir in solchem Fall gewärtig sein müssen, lauter uns völlig unbekannte Früchte dort vorzufinden, werden uns die Schimpansen davor bewahren, irgend etwas Giftiges oder Schädliches zu genießen; denn darin ist ihr Instinkt untrüglich.“
Mit vor Erwartung klopfenden Herzen betraten unsre Freunde die unterste Kammer der Sannah, die eher ein Saal zu nennen war, wie alle ihre Räume. Nun mußte es sich bald zeigen, ob eine Erhebung in den unendlichen Raum möglich sei. Und wenn es geschah, — was würden ihrer für Überraschungen, für Gefahren dort warten?
„Charles“, sagte Mietje zu ihrem Gatten: „Ich will mich in das oberste Stockwerk begeben und unsre Annäherung an den Mond beobachten.“
„Vortrefflich“, stimmte Flitmore ihr zu: „Wollen Sie vielleicht so freundlich sein, meine Frau zu begleiten, Heinz? Wir wollen unterdessen betrachten, wie die Erde aussieht, während wir uns von ihr entfernen. Wenn da nichts mehr zu sehen ist, kommen wir auch nach oben, und das wird bald der Fall sein; denn nach meinen Berechnungen werden wir schnell die Geschwindigkeit des Lichts erreichen, 300000 Kilometer in der Sekunde.“
„Na, na!“ rief der Professor zweifelnd.
„Steigen Sie die Treppe hinauf, Sie alter Zweifler“, sagte der Lord; „wie Sie sehen, befindet sich Okular und Spiegel des Teleskops dort oben in der Nähe der Decke. Es ist dies freilich etwas unbequem für den Beobachter, aber was wollte ich machen, wo es gilt nach unten Ausschau zu halten.“
„Wissen Sie auch, was oben und unten ist?“ rief Heinz, der eben durch die obere Luke in der Decke das Gemach verließ, dem Lord herab.
Niemand begriff, was er damit meinte; aber der Gedanke, der dem jungen Gelehrten soeben aufgeblitzt war und ihn zu dieser merkwürdigen Frage gebracht hatte, hatte seine volle Berechtigung, wie die Zurückbleibenden binnen Kurzem erfahren sollten.
Heinz hatte inzwischen die Luke hinter sich verschlossen und stieg mit Lady Flitmore weiter hinan von Stockwerk zu Stockwerk, bis die 14 drei Meter hohen Treppen überwunden waren und sie im obersten Saal anlangten.
Flitmore verschloß während dieser Zeit den Eingang zum untersten Raume hermetisch und überzeugte sich, ob alles in Ordnung und nichts vergessen worden sei.
Der Professor saß bereits auf dem obersten Absatz der Stiege am Okular des Fernrohrs.
„Nun denn, in Gottes Namen und im Vertrauen auf des Allmächtigen Schutz!“ rief der Lord feierlich: „Meine Herren, ich schließe den Strom.“
Da geschah etwas völlig Unerwartetes.
Mietje und Heinz vernahmen in diesem Augenblick ein dumpfes Geräusch, das sich durch das ganze Fahrzeug fortpflanzte.
„Was bedeutet das?“ fragte die Dame.
„Es purzelt alles durcheinander“, sagte Heinz lachend: „die Herren lernen jetzt oben und unten aus praktischer Erfahrung unterscheiden, sie sind jedenfalls alle herabgestürzt.“
„Wieso?“ frug Mietje erschrocken: „Hat mein Mann den Eingang nicht rechtzeitig verschlossen? Unmöglich! Sie meinen doch nicht, daß sie herausgestürzt sind, während die Sannah sich erhob?“
„Nein, nein! Überhaupt bei der guten Auspolsterung der Räume hat es keine Gefahr, und was wir vernommen haben, ist nur das Durcheinanderpoltern der Kisten und Ballen in den unteren Vorratskammern; denn aus den gummibelegten Sälen kann kein Ton bis zu uns dringen.“
Die Lady schüttelte den Kopf; sie begriff nicht recht und dachte nur, die Abfahrt sei mit einem starken Ruck erfolgt, der dort unten einiges durcheinandergeworfen habe. Freilich, ganz unerklärlich blieb es dann immer noch, daß hier oben auch nicht die geringste Erschütterung zu spüren gewesen war.
Was war geschehen?
Die Männer dort unten waren sich selbst nicht klar darüber, während das Ereignis sich mit einer erschreckenden Plötzlichkeit abspielte.
Dem Professor auf seinem Sitz am Plafond war es plötzlich, als habe er einen Purzelbaum gemacht und stehe nun auf dem Kopf; und doch hatte er sich nicht geregt.
Im gleichen Augenblick kollerten Lord Flitmore und sein Diener die Treppe herauf oder vielmehr herunter, wie es nun aussah, und kamen auf Schultze zu liegen.
Wie eine Bombe platzte gleichzeitig Münchhausen herab, glücklicherweise in einiger Entfernung, so daß seine Leibesfülle keinen der andern traf, sonst hätte es ein Unglück gegeben.
Dank seinem Fettpolster und dem Guttaperchaüberzug der Decke nahm er bei dem Sturz aus drei Meter Höhe keinen Schaden.
Sämtliche Möbel des Zimmers stürzten ebenfalls herab und kamen zum Teil auf die zappelnden Männer zu liegen und über alles hinweg turnten die erschreckten Schimpansen.
„Da hört sich aber doch alle Wissenschaft auf!“ grollte Schultze, als Flitmore und John die glücklicherweise so gummiweichen Sessel von sich abgewälzt hatten und den Professor von der Last ihrer eigenen Körper befreiten.
Besichtigung des Weltschiffs.
Alle drei richteten sich auf und Schultze stellte mit Befriedigung fest, daß keiner verletzt war.
Dann sah er sich um.
„Weiß der Kuckuck!“ rief er, „wir stehen auf dem Plafond. Wahrhaftig, die Decke ist zum Fußboden und der Fußboden zur Decke geworden. Schauen Sie doch: die Treppe hängt verkehrt herab und das Teleskop ist nach oben gerichtet. Da! Sehen Sie! Die Erde schwebt über uns, ah! herrlich!“
In der Tat bot die mondbeschienene Erde einen prächtigen Anblick; sie entfernte sich mit rasender Geschwindigkeit und schon sah man durch das große Fenster die Umrisse der britischen Inseln wie auf einer Landkarte sich aus dem weißglänzenden Meer erheben.
„Na! So helfen Sie doch mir erst auf die Beine“, rief Münchhausen unwirsch, während er sich vergeblich bemühte, den großen Kautschuktisch von sich zu wälzen, der seinen Bauch beschwerte.
Lachend befreiten ihn Schultze und John und richteten ihn dann mit großer Anstrengung auf.
„Ich hab’s!“ rief in diesem Augenblick der Lord. „Nein! daß ich auch das nicht in Rechnung zog! Wahrhaftig, Heinz Friedung beschämt uns alle. Hat er uns nicht noch zugerufen: „Wissen Sie auch, was oben und unten ist?“ Er allein hat die Folgen geahnt, die aus der Loslösung von der Anziehungskraft der Erde sich ergeben mußten.“
„Schafskopf, der ich bin!“ rief Schultze und glaubte im Augenblick selber an die Richtigkeit seiner Behauptung: „Das ist ja sonnenklar! Stößt die Erde uns ab, so ist auch die Richtung nach der Erde für uns nicht mehr unten, sondern oben! Lord, entweder müssen Sie die Einrichtung Ihrer sämtlichen Zimmer völlig umändern oder Sie müssen zusehen, ob Sie ihre ganze Sannah zu einer Umdrehung veranlassen können, sonst stehen Ihre sämtlichen Stiegen auf dem Kopf.“
„Das ist meine geringste Sorge“, erwiderte Flitmore. „Die Treppen sind leiterartig und leicht gebaut, bestehen aus Aluminium und lassen sich aushaken. Wir können sie ohne große Mühe umdrehen; aber ich sorge, ob Mietje und Heinz keinen Schaden nahmen, und wie wird es in meinem chemischen Laboratium aussehen! Die Röhren und Gläser alle in Scherben. Schade! Ein Glück, daß die elektrischen Glühbirnen an den Wänden und nicht an den Plafonds angebracht waren, sonst ragten sie jetzt aus dem Fußboden empor und wären durch die stürzenden Möbel zertrümmert worden.“
Es wurde beschlossen, zunächst nach der Lady und Heinz zu sehen.
Die Deckenluken waren nun zu Falltüren im Fußboden geworden und die Treppen, die zu Aufstieg berechnet waren, galt es nun hinabzuklettern. Hiezu mußten sie erst ausgehängt und umgedreht werden, eine Arbeit, die zwar Mühe kostete, aber doch gelang.
Bei dem Abstieg jedoch kamen neue Überraschungen: die Decken und Fußböden der Zimmer erschienen durchaus nicht eben noch wagrecht: sie zeigten bedenkliche Neigungen und Steigungen. Als die ersten fünfzehn Meter überwunden waren, hörte der Abstieg überhaupt auf: von da ab waren Decke und Fußboden der Zimmer nicht einfach vertauscht, sondern zu Seitenwänden geworden; die Decken- und Fußbodenluken waren hier einfache Türen und es bedurfte gar keiner Treppe mehr, um sie zu erreichen. Anfangs zeigten sich die neuen Fußböden, die bisher Zimmerwand gewesen waren, nach unten geneigt, im späteren Verlauf jedoch wurden sie mehr und mehr zu ansteigenden schiefen Ebenen und zuletzt schien auf einmal wieder alles in Ordnung, man konnte die folgenden Treppen belassen, wie sie waren, und statt des Abstiegs begann nun ein Aufstieg zu den letzten fünf Zimmern. — Kapitän Münchhausen schüttelte den Kopf, während er keuchend seine Leibesfülle die Treppen emporschleppte: „Ihre Sannah ist rein verhext, Lord!“ rief er: „Ich komme aus diesen Verhältnissen nicht mehr draus.“
„Sonderbar, in der Tat, sonderbar“, gestand Flitmore.
„Nein! Ganz natürlich,“ belehrte der Professor überlegen; denn sein fleißiges Nachdenken hatte ihn des Rätsels Lösung finden lassen. „Unsre Sannah ist sozusagen selbständig geworden, ein von der Anziehungskraft der Erde emanzipiertes Frauenzimmer, ganz modern! Sie hat nun ihre eigene Zentripetalkraft und ihr Mittelpunkt ist für uns fortan jederzeit unten und ihre Oberfläche überall oben. Sie ist ein Planet für sich oder sagen wir ein Planetoid; sie ist in die Reihe der Weltkörper eingetreten, großartig, was?“
„Sie haben recht, Professor!“ stimmte Flitmore zu. „Und, sehen Sie, in diesen oberen Räumen ist alles in Ordnung geblieben, nur daß sich Decke und Fußboden gegen den Mittelpunkt neigen. Ein Glück, daß mein chemisches Laboratorium sich hier befindet. Da ist kein Stück beschädigt, nur etwas zusammengerutscht sind die Sachen, alles gegen die Mitte hin. Wir müssen zusehen, wie wir uns mit dieser Lage der Dinge zurechtfinden und uns so bequem als möglich einrichten. Es ist wahrhaftig fatal, daß ich diese Folgerungen in meine Berechnungen nicht einbezogen habe, sonst hätte ich Fußböden und Decken sämtlich als konzentrische Kugeln angeordnet und so allein wäre unter den obwaltenden Verhältnissen alles topfeben. Jetzt ist die Sache durch und durch verpfuscht.“
„Na, schadet nichts, lieber Lord!“ tröstete der Kapitän: „Große Unannehmlichkeiten entstehen uns daraus nicht, nur einige Arbeit, bis Sie in Ihrer Schreinerei die Hobelbank vom Plafond abgeschraubt haben und in der Schmiede den Amboß von der Wand, bis schließlich alles in die gebührende Lage zurückversetzt ist.“
Oben angekommen, fanden sie Mietje und Heinz vergnügt beieinander. Heinz hatte der Lady inzwischen den Vorgang erklärt, wie er sich ihn ganz richtig bedacht hatte, und beide freuten sich, daß alles ohne Schaden für die andern abgelaufen war.
Über den Erklärungen und dem Geplauder, das sich nun lebhaft erhoben hatte, war die Beobachtung der Weiterfahrt völlig vergessen worden, bis Mietje daran erinnerte.
„Paßt auf!“ sagte sie: „Wir nähern uns mit rasender Geschwindigkeit dem Mond.“
Alle schauten nach oben.
„Allerdings,“ sagte Heinz, „er sieht schon ganz stattlich aus, aber merkwürdig düster.“
„Hollah!“ rief Schultze: „Das ist ja unsre Erde! Dunkel erscheint sie in der Tat; aber die Umrisse von Europa und Afrika lassen sich ganz deutlich unterscheiden.“
Es war wirklich ein entzückender Anblick! Die Erde erschien als flache Scheibe, etwa zehnmal so groß als die scheinbare Größe des Vollmonds, und die mondbeleuchteten Kontinente zeigten sich wie auf einem Erdglobus: Europa, Afrika und ein Teil von Asien waren ganz zu übersehen und über Indien und Persien leuchtete schon die Morgensonne, so daß die Küsten deutlich dem staunenden Auge erschienen.
„Was ist das wieder für ein Spuk!“ polterte der Kapitän: „Ich meine doch, hier sollten wir den Ausblick direkt auf den Mond haben und die Erde ließen wir auf der andern Seite! Werter Lord, Sie haben mich sozusagen als Kapitän und Steuermann Ihrer Sannah angeheuert, aber mit solch einem vertrackten Fahrzeug weiß ich wahrhaftig nicht umzugehen. He, Professor! Sie Alleswisser, wie erklären Sie nun wieder diese Absonderlichkeit?“
„Herrlich!“ erwiderte Schultze begeistert: „Als echter Planet, der sich seiner Bedeutung im Weltall bewußt ist, dreht sich unsre Sannah um ihre eigene Achse und das in ungefähr zwei Erdenstunden. Passen Sie auf, in einer Stunde etwa sehen wir da oben wieder den Vollmond aufleuchten, und sobald wir außer dem Bereich des Erdschattens sind, wechseln bei uns Tag und Nacht stündlich; wir brauchen uns aber nur zu rechter Zeit in ein andres Zimmer unter der Oberfläche unsres Planeten zu begeben, um ewigen Tag zu genießen und unendliche Nacht, ganz nach Belieben!“
„Ich muß gestehen,“ sagte Flitmore, „das alles kommt mir ganz überraschend; meine astronomischen Kenntnisse sind nicht weit her und ich habe diese Umstände nicht in Rechnung gezogen.“
„In der Tat,“ lachte Schultze! „Auch über die Fortbewegungsgeschwindigkeit Ihrer Sannah täuschten Sie sich. Mit der Lichtgeschwindigkeit ist es einmal sicher nichts; sonst hätten wir den Mond schon längst hinter uns.“
„Halt!“ wandte der Lord ein: „Sie vergessen, daß wir uns noch in der Anfangsgeschwindigkeit befinden, die beständig wächst; überdies habe ich mit Absicht nur einen ganz schwachen Strom unsre Hülle durchkreisen lassen, damit wir unsern Nachbarn, den Mond, mit Muße betrachten können.“
„Wissen Sie, was uns begegnen wird?“ fragte der Professor „Wir werden als Bewohner eines regelrechten Planeten den Gesetzen der Gravitation unterworfen werden, das heißt unsere Sannah wird in elliptischer Bahn um die Sonne kreisen und dann sind wir hilflose Gefangene bis wir nach Verbrauch unseres Sauerstoffvorrats ein klägliches Ende nehmen.“
„Sie sind ein unheimlicher Prophet, Herr Professor,“ rief Mietje: „Hoffentlich wird Ihre Voraussage nicht in Erfüllung gehen.“
Schultze zuckte die Achseln: „Die Gravitationsgesetze erleiden keine Ausnahme; jeder Weltkörper ist ihnen unterworfen; und da unser Weltschiff zu solch einem Weltkörper im unendlichen Raume geworden ist, muß er wohl samt uns allen ein Opfer dieser Gesetze werden.“
„Was ist denn das, wenn ich mir zu fragen die Erlaubnis herausnehmen darf,“ nahm nun John Rieger, der Diener, das Wort, „diese verhängnisreiche Kraft, woselbst Sie Gravisionskraft nennen?“
„Das ist diejenige Kraft,“ klärte der Professor den Wißbegierigen auf, „die alle Planeten, das heißt die Weltkörper, die sich um die Sonne drehen, in ihren Bahnen erhält. Der unsterbliche Isaak Newton hat als erster die Gesetze dieser Kraft festgestellt, die im Grunde nichts anderes ist, als die Schwerkraft: alle Weltkörper ziehen einander an und je größer ihre Masse ist, desto stärker ist ihre Anziehungskraft.“
„Dann aber müßte doch sozusagen einer auf den andern fallen,“ warf Rieger ein: „voraussichtlich die kleinen auf die größeren, wie zum Beispiel der Mond auf die Erde und die Erde auf die Sonnen.“
„Sehr scharfsinnig bemerkt, mein Sohn!“ lobte Schultze; „aber der Mond wird nicht bloß von der Erde, sondern auch von der Sonne angezogen und alle Weltkörper ziehen einander gegenseitig an. Dazu bewirkt die Anziehungskraft die elliptische Bewegung der Planeten um die Sonne und durch diese Eigenbewegung überwinden sie wieder bis zu einem bestimmten Grad die Anziehungskraft, so daß es eben diese Kraft ist, die in ihren Folgen das Weltall im Gleichgewicht erhält. Allerdings kommen auch Störungen in der regelmäßigen Umlaufbahn vor, wenn zwei Himmelskörper sich auf ihren Wegen nähern und dadurch eine verstärkte Anziehung aufeinander ausüben. Dadurch wird die Berechnung sehr verwickelt.
So hat man berechnet, daß die Erde mindestens elf Bewegungen ausführt: 1. dreht sie sich in 24 Stunden um sich selbst, das nennt man ihre Rotation; 2. bewegt sie sich um die Sonne mit einer Geschwindigkeit von 29450 Metern, also beinahe 30 Kilometern, in der Sekunde; 3. eilt sie mit dem ganzen Sonnensystem dem Sternbild des Herkules oder der Leier zu; 4. schwingt die Erdachse; 5. verändert sich die Form der Erdbahn um die Sonne, indem sie sich bald der Kreisform nähert, bald wieder der Form einer langgestreckten Ellipse; 6. dreht sich diese Ellipse selber in ihrer eigenen Ebene in einer Periode von 21000 Jahren; 7. dreht sich die Erdachse in 25765 Jahren in einem Kreis; 8. die Anziehungskraft des Mondes, dem wir auch Ebbe und Flut verdanken, läßt den Pol des Äquators in 18 Jahren und 8 Monaten eine kleine Ellipse beschreiben, da der Mond eine Anschwellung der Erdmasse am Äquator hervorruft, die eine Art Ebbe und Flut auch des festen Landes darstellt; 9. die Lage des Schwerpunktes unseres Erdballs verändert sich allmonatlich ebenfalls infolge der Mondanziehung; 10. die Planeten, namentlich Jupiter und Venus, verursachen Störungen der Erdbahn; 11. der Mittelpunkt der jährlichen Umdrehung der Erde um die Sonne liegt nicht im Mittelpunkt der letzteren, sondern ist veränderlich. Es wäre übrigens leicht, noch mehr Bewegungen auszurechnen.“
„Du siehst, John,“ sagte Flitmore lachend, „wenn du in einem fahrenden Schnellzug auf und ab spazierst, die Hände schlenkernd und dabei die Finger bewegend, so machen deine Finger 15 Bewegungen mit und der Bazillus, der in deinem kreisenden Blute deiner Fingerspitze schwimmt, gar 17.“
„Aber was sagen Sie, Lord, zu der Befürchtung unseres Professors, daß wir nun ewig um die Sonne kreisen werden?“ fragte Heinz Friedung.
„Damit hat es keine Gefahr,“ erwiderte Flitmore. „Schultze ließ einen Hauptumstand außer acht. Ich habe überhaupt eine besondere Ansicht über die Gravitation; ich glaube, daß zwei Kräfte dabei tätig sind, eine Anziehungskraft und eine gegenseitige Abstoßungskraft, wie man ja auch annimmt, daß die Moleküle und Atome eines Körpers einander zwar anziehen aber doch nicht berühren, weil sie einander auch abstoßen. Der Ausgleich dieser beiden einander entgegenwirkenden Kräfte bestimmt meiner Ansicht nach den gegenseitigen Abstand, den die Himmelskörper einhalten; so erkläre ich mir auch, daß die flüchtigen Stoffe der Kometen bei der Annäherung an die Sonne bis zu einem gewissen Punkt angezogen, von da ab aber abgestoßen werden und so die Kometenschweife bilden.
Für uns aber ist die Hauptsache, daß der Strom, der in der Sannah kreist, die Anziehungskraft überhaupt aufhebt und nur die Fliehkraft wirken läßt, so daß kein Weltkörper uns in seinen Bannkreis zwingen kann, so lange der Strom geschlossen bleibt.“
„Das ist in der Tat richtig,“ gab Schultze zu. „Aber hören Sie, noch eins erscheint mir rätselhaft: wir befinden uns jedenfalls schon längst im leeren Raum, außerhalb der irdischen Atmosphäre, deren Höhe auf etwa 180 Kilometer geschätzt wird ...“
„Erlauben Sie, daß ich Sie hier unterbreche,“ bat Flitmore: „Wie stellen Sie sich unsere irdische Lufthülle überhaupt vor?“
„Nun,“ erwiderte der Professor: „Man ist der Ansicht, als ob es eine scharfe Abgrenzung der Atmosphäre gegen den Raum überhaupt nicht gebe, sondern bloß einen allmählichen Übergang durch stets zunehmende Verdünnung der Luft.“
„Ganz richtig!“ sagte der Lord: „Aber die Astronomen oder Astrophysiker, die diese schöne Theorie aufstellen, vergessen offenbar, daß die Erde bei ihrem Dahinsausen durch den Raum ihre Lufthülle mit sich nimmt. Wie wollen wir uns das erklären, wenn diese Hülle gar keine feste Grenze hat?“
„Das stimmt!“ meinte Heinz: „Es ist klar, daß die Anziehungskraft der Erde auf die obersten, dünnsten Luftschichten am schwächsten wirkt; in einer bestimmten Höhe muß die Attraktion nicht mehr genügen, um die in den leeren Raum übergehende unendlich verdünnte Luft festzuhalten und somit muß sie alles zurücklassen, was über diese Grenze hinausgeht; wäre also die Atmosphäre ursprünglich ohne bestimmte Grenze gewesen, so müßte sie doch alsbald durch die Fortbewegung der Erde zu einer scharfen Abgrenzung gelangt sein.“
„Ganz meine Ansicht,“ bestätigte Flitmore: „Ich gehe noch weiter; es wäre anzunehmen, daß die Erde immer mehr von ihrer Atmosphäre an den leeren Raum verlöre und die Masse derselben beständig abnehmen müßte.“
„Das leuchtet mir ein,“ meinte Schultze: „Jedenfalls muß die Lufthülle der Erde gegen den Raum scharf abgegrenzt sein, da sie mit der Erde durch die Leere saust.“
„Doch nicht!“ widersprach der Lord.
„Oho!“ rief Schultze verwundert: „Wie wollen Sie dann aus der Klemme kommen?“
„Sehr einfach,“ erklärte der Engländer: „Die Lufthülle der Erde ist nie und nirgends vom raumerfüllenden Stoff scharf unterschieden, weil eben dieser Stoff, der den Raum erfüllt, und den man Äther nennt, nichts anderes ist als Luft.“
„Da hört sich aber doch alle Wissenschaft auf!“ lachte der Professor. „Damit werden Sie in der wissenschaftlichen Welt schwerlich durchdringen.“
„Möglich! Aber das ist meine Überzeugung. Ein ganz allmählicher Übergang der Atmosphäre in den umgebenden Raum ist nur dann möglich, wenn der Raum eben die gleichen Stoffe enthält, wie die Luft, freilich in äußerst dünner Verteilung. So mag die Erde einerseits beständig etwas von ihren obersten dünnsten Luftschichten an den Raum verlieren, sie wird aber andererseits auch beständig aus dem durcheilten Raum wieder Ersatz anziehen.“
„Bravo!“ rief Heinz: „Diese Theorie allein scheint mir genügend zu erklären, wieso die Erde ihre Lufthülle durch die Jahrtausende in gleicher Dichte und stets erneuerter Reinheit bewahren kann.“
„So ist es,“ bestätigte der Lord: „Und weiter folgt daraus, daß jeder Weltkörper entsprechend seiner Masse und Anziehungskraft, sowie seiner Rotations- und Umlaufgeschwindigkeit sich aus dem Raum eine Atmosphäre angezogen haben muß, die eben durch seine Attraktion verdichtet und an seiner Oberfläche am dichtesten geworden ist.“
„Das hieße also: kein Weltkörper ohne Lufthülle?“ fragte Schultze.
„Das wäre allerdings die notwendige Folge meiner Annahme.“
„Lassen wir das dahingestellt,“ fuhr der Professor kopfschüttelnd fort: „Das Rätsel, von dem ich reden wollte, ist dies: da wir uns im leeren Raum, oder, wie Sie wollen, in äußerst verdünnter ätherischer Luft befinden, muß in unserer Umgebung eine Temperatur herrschen, die dem absoluten Nullpunkt nahe kommt, das heißt 273 Grad unter Null. Nun mag die Schutzhülle unserer Sannah noch so vorzüglich sein, ebenso Ihr Heizungssystem; wir müßten dennoch den Einfluß einer so ungeheuren Kälte spüren. Ich aber spüre nichts Derartiges, vielmehr ist es stets gleichmäßig behaglich warm.“
„Über die Temperaturverhältnisse des Raumes sind wir völlig im unklaren,“ entgegnete der Engländer: „Die beständige Abnahme der Temperatur ist schon innerhalb der Erdatmosphäre widerlegt, in welcher bekanntlich die große Inversion stattfindet: die unterste Luftschicht ist 3 bis 4 Kilometer hoch und befindet sich in steter Unruhe und Bewegung; über ihr befindet sich eine ruhigere, trockene, kalte Luftschicht, in der die Temperatur bis zu 85 Grad unter Null abnimmt. In einer Höhe von 10 Kilometern aber beginnt die dritte, sehr gleichmäßige, ruhige und trockene Schicht, die wieder wärmer ist und bei 14 Kilometer Höhe 52 bis 57 Grad unter Null aufweist. Die Theorie der ‚Strahlung‘ von Licht und Wärme halte ich für eine völlig verfehlte: sie müßte zu ganz unmöglichen Folgerungen führen. Bedenkt man, mit welcher Geschwindigkeit die Erde durch den Raum eilt, so daß in jedem Augenblick neue, zuvor im Raum verlorene Sonnenstrahlen sie treffen, so müßte man annehmen, daß sie überhaupt kein Licht und keine Wärme von der Sonne empfangen könnte, falls nicht der Raum, den sie durchwandert, erleuchtet und erwärmt wäre. Meiner Ansicht nach pflanzt sich Licht und Wärme in der Weise fort, daß die erleuchteten und erwärmten Stoffteile des Raumes sie einander durch Berührung weitergeben, meinetwegen als Schwingungen. Je dünner die Materie ist, desto rascher gibt sie die Schwingungen weiter und desto weniger speichert sie an Licht und Wärme auf; je dichter sie ist, desto mehr absorbiert oder verschluckt sie, speichert davon in sich auf oder wirft die Strahlen zurück, wobei es auf die Art des Stoffes ebenfalls ankommt, auf seine Leitungsfähigkeit, Färbung und so weiter.“
„Sie haben recht, Lord,“ mischte sich nun Kapitän Münchhausen in das Gespräch: „Auf den höchsten Berggipfeln, die infolge der mangelnden Erdwärme ewig in Eis und Schnee starren, brennt die Sonne viel heißer als unten in der dichten Atmosphäre. Warum? Die dünne Luft gibt ihre Wärme rascher ab, wobei sie sich selber weniger durch Aufspeicherung erwärmt; der Raum, durch den wir fliegen, ist jedenfalls weit kälter als die Bergluft, aber durchaus nicht so bodenlos kalt, wie man annimmt, und bei Tag werden wir es erfahren, daß die Sonnenstrahlen uns tüchtiger einheizen als irgendwo auf der Erde.“
„Und da eine Hälfte unserer Sannah stets Sonnenlicht genießen wird,“ fügte Heinz bei, „so denke ich, werden wir nie unter zu starker Abkühlung zu leiden haben.“
„Damit rechne auch ich,“ schloß Flitmore: „Ich glaube, wir werden, solange wir uns im Bereiche der Sonnenwärme befinden, überhaupt keiner Heizung mehr bedürfen; im Gegenteil, die Schutzhülle meines Weltschiffs wird uns vor unerträglicher Hitze bewahren müssen.“
Unsere Freunde richteten nun ihr Augenmerk wieder auf den Mond, der sein weißes Licht aufs neue durch das große Deckenfenster sandte; denn Sannah hatte inzwischen eine zweite Umdrehung vollendet.
Er erschien nun als eine ungeheure Kugel, so nah, wie er durch das stärkste irdische Fernrohr nicht gesehen werden kann.
„Wir stürzen geradewegs auf ihn zu!“ rief Lady Flitmore nicht ohne Besorgnis.
„Beruhige dich, Mietje,“ tröstete ihr Gatte: „Die Fliehkraft gestattet nicht, daß wir an seiner Oberfläche zerschellen, er muß uns abstoßen, ehe wir ihm nahe kommen. Wenn wir übrigens wollten, könnten wir ihm einen Besuch abstatten: ich brauchte nur den Strom abzustellen.“
„Ich stimme nicht dafür,“ erklärte Münchhausen: „Er sieht durchaus nicht einladend aus, dieser Sehnsuchtstraum der Poeten.“
„Und ob wir dort atmen könnten,“ meinte Schultze: „Er soll ja keine Atmosphäre besitzen.“
„Was das betrifft,“ entgegnete der Lord, „so halte ich vorerst an meiner vorhin geäußerten Meinung fest, daß jeder Weltkörper seine Lufthülle besitzt.“
„Doch hat man nie mit Sicherheit Dämmerungserscheinungen auf ihm beobachten können,“ warf der Professor ein.
„Das beweist gar nichts,“ widersprach Flitmore hartnäckig: „Erstens wollen mehrere Astronomen Dämmerungserscheinungen auf dem Mond erkannt haben; zweitens gibt es in reiner Luft, wie Tyndall nachwies, überhaupt keine Dämmerungserscheinungen, diese rühren vielmehr von kleinen Partikelchen in der Atmosphäre her; so kennen zum Beispiel auch tropische Länder auf der Erde keine Dämmerung, und die Luft wollen Sie ihnen doch nicht absprechen? Daß der Mond keine Wolkenbildungen zeigt, beweist bloß den Wassermangel auf seiner Oberfläche. Andrerseits erscheint oft ein Stern vor der Mondscheibe, ehe er hinter derselben verschwindet, was sich am leichtesten durch die atmosphärische Lichtbrechung erklären läßt.“
Einladend sah allerdings die Mondlandschaft nicht gerade aus, wie der Kapitän sehr richtig bemerkt hatte: alles erschien starr, öde und tot, ohne eine Spur von Pflanzenwuchs und Wasserläufen. Aber hochinteressant erschien der Anblick und fesselte denn auch die Augen der Beobachter.
Die Gebirge erhoben sich zu ungeheurer Höhe über ihre Umgebung und überall zeigten sich die dem Monde eigentümlichen Ringkrater mit ihren himmelhohen steilen Rändern. Einzelne Erhebungen mochten eine absolute Höhe von 10000 Metern erreichen.
Besondere Aufmerksamkeit wandten der Professor und der Lord dem Krater Linné zu, der von Lohrmann als ein Schacht von zehn Kilometer Durchmesser beschrieben und von Beer und Mädler als solcher mit besonderer Deutlichkeit beobachtet wurde, 1866 aber plötzlich verschwand. An seiner Stelle erschien später ein kleines Kraterchen, das auch die beiden Beobachter der Sannah erblickten.
Gerne hätten sie auch den Doppelkrater Messier betrachtet, der sich ebenfalls in merkwürdiger Weise verändert haben soll: bei nicht weniger als 300 Beobachtungen von 1829 bis 1837 waren beide Krater rund und einander gleich; heutzutage zeigt der eine Krater eine elliptische Form und die Zwischenwand der beiden Schlünde ist durchbrochen.
Man glaubt auch hie und da ein wogendes Nebelmeer in diesem Krater gesehen zu haben, vielleicht Rauchwolken. Für unsere Freunde war der Messier unsichtbar, weil das Mare foecunditatis, wo er sich befindet, in dunkle Nacht gehüllt war.
Von mehreren Kratern sah man helle Strahlen ausgehen. Namentlich zeigte sich diese merkwürdige Erscheinung an dem großartigsten Ringgebirge des Mondes, dem Tycho, von welchem mehrere hundert getrennte Streifen bis zu 1200 Kilometer Länge ausstrahlten.
Schultze glaubte in diesen rätselhaften Gebilden erstarrte Lavaströme zu erkennen mit glatter glänzender Oberfläche. Dafür spricht der Umstand, daß sie nur bei voller Beleuchtung durch die Sonne sichtbar sind.
Flitmore dagegen wies darauf hin, daß die Strahlen meist erst in einiger Entfernung von den Kraterwällen begannen und dann über Ebenen, Krater, Berge und Täler ununterbrochen hinwegliefen, um dann plötzlich am Fuße irgendeiner Erhebung zu enden oder sich allmählich in einer Ebene zu verlieren. Das stimmte doch nicht recht zu der Theorie der Lavaströme.
Dagegen erkannten beide Forscher deutlich das Wesen der rätselhaften Rillen, die teils gerade, teils gekrümmt, bald vereinzelt, bald sich verzweigend oder einander schneidend, sich in den Ebenen und um die Berge herum zeigten, manchmal auch einen Berg durchbrechend. Sie erwiesen sich als mehr oder weniger breite klaffende Sprünge in der Mondoberfläche.
Mondandschaft.
Mehr als einmal wurden auch Neubildungen auf dem Monde beobachtet, und unsere Freunde hatten das Glück, eine solche unter ihren Augen entstehen zu sehen: in der großen Ebene des Mare imbrium tat sich auf einmal der Boden auf, Rauch und Glut brach hervor und es bildete sich binnen weniger Minuten ein Krater, von dem aus ein Schlamm- oder Lavastrom sich in die Umgebung ergoß.
„Schade, daß die Astronomen auf der Erde den neuen Vulkan nicht sehen können,“ meinte Flitmore bedauernd: „Er ist zu klein für ihre Instrumente.“
„Wir haben den Vorgang beobachtet, das genügt!“ triumphierte Schultze.
„Ja,“ mischte sich Heinz darein; „Falls wir je wieder die Erde erreichen und Kunde von diesem Vorgang dorthin bringen können.“
„Damit wäre ein alter Streit entschieden,“ sagte der Professor, „wenn man uns nämlich Glauben schenkt, was immerhin sehr zweifelhaft bleibt.“
„Was für merkwürdige Farben!“ bemerkte nun Lady Flitmore und wies auf die Gegend des Oceanus procellarum hin.
In der Tat zeigten sich dort ausgedehnte Flecken von hellgrüner und gelblicher Färbung.
„Sollte da am Ende dennoch Pflanzenwuchs vorhanden sein?“ wagte Heinz zu vermuten.
„Achtung, meine Herren!“ rief jetzt der Lord: „Wir werden nun einen Anblick bekommen, den kein irdisches Auge noch genossen hat. Bekanntlich kehrt der Mond der Erde stets nur ein und dieselbe Seite zu, weil er sich genau in der gleichen Zeit um seine Axe wie um die Erde dreht. Nur infolge seiner Libration, das heißt seiner geringen Axenschwankung, sehen wir bald auf der einen, bald auf der andern Seite einen kleinen Teil der von uns abgekehrten Hälfte.
Nun ist der Moment gekommen, wo wir am Erdtrabanten vorbeifliegen und seine rätselhafte Rückseite zu Gesicht bekommen werden, und zwar aus verhältnismäßiger Nähe; denn wir sind ihm bis auf 10000 Kilometer nahegekommen, während er 400000 Kilometer von der Erde entfernt ist.“
Alle waren aufs höchste gespannt auf den Anblick, den die geheimnisvolle Rückseite des Mondes ihnen gewähren würde, obgleich Schultze meinte, sie werde nicht viel verschieden sein von dem, was man bisher geschaut.
Zur Beobachtung mußte ein andres Zimmer aufgesucht werden, da infolge der Umdrehung der Sannah der Mond für das Zimmer, in welchem sich die Gesellschaft befand, gerade unterging.
Der Lord beschloß, sich dem Monde noch weiter zu nähern, damit alle Einzelheiten der zu erwartenden Erscheinungen mit voller Deutlichkeit beobachtet werden könnten. Er stellte daher den Zentrifugalstrom ab und mit rasender Geschwindigkeit stürzte die Sannah dem Monde zu.
Das nächste, was entdeckt wurde, war die Fortsetzung der farbigen Flecke, die sich durch das Teleskop nun deutlich als grüne Matten und dürre Grassteppen erkennen ließen.
„Was ist das?“ rief Lady Flitmore auf einmal erschreckt aus.
Durch das Fenster fiel ein leuchtender Schein.
Der Lord sah auf und eilte dann mit einem Satz an die Stromschaltung, um die Fliehkraft wieder in Tätigkeit zu setzen.
„Was war’s?“ fragte Heinz.
„Wir sind in die Mondatmosphäre eingedrungen,“ erklärte der Engländer, „und bei der Geschwindigkeit unsres Sturzes begannen die Metallränder der Fenstereinfassung trotz des Flintglasschutzes zu glühen; doch die Gefahr ist beseitigt; wir erheben uns bereits wieder über die Atmosphäre.“
„Sie ist also vorhanden, diese vielbezweifelte Mondluft,“ sagte Schultze.
„Daran ist nicht mehr zu zweifeln; aber sehen Sie!“ erwiderte Flitmore.
Die Mondoberfläche war kaum noch hundert Kilometer entfernt; so hoch erhob sich der dichtere Teil ihrer atmosphärischen Hülle. Und nun zeigten sich Landschaftsbilder von entzückender Pracht.
Auch hier herrschten die sonderbaren Ringgebirge vor; aber sie waren bewaldet.
Die Entfernung gestattete nicht, mit bloßem Auge die Natur dieser Wälder zu erkennen, das Fernrohr jedoch offenbarte ganz eigentümliche Baumformen, wie sie auf der Erde kaum zu finden sind. Die meisten dieser Gewächse glichen ungeheuren Grasbüscheln auf hohen Stämmen, so daß sie palmenartig aussahen; doch hatten die Bäume nur selten eine eigentliche Krone; meist waren es wagrechte Äste, die ihr buschiges Ende nach allen Seiten hin ausstreckten.
Riesenfarnen und Nadelbäume von demselben eigentümlichen Bau waren an andern Stellen zu sehen; die Wedel standen wagrecht von den Stämmen ab und neigten sich zum Teil nach unten, so daß unter dem Stamm kein Schatten zu finden sein konnte, abgesehen vom spärlichen Schatten des Stammes selber und seines Astholzes; in ziemlicher Entfernung erst umgab den Baum ein Kreis von schattigen Stellen.
In den Ringkratern leuchteten häufig kleinere oder größere Seen; Wasserfälle und Bäche stürzten die steilen Bergwände herab, größere Flußläufe und Meere waren jedoch nicht zu sehen: die Bäche ergossen sich in kleine Binnenseen oder versandeten in der Ebene; vielfach schienen auch Sümpfe die Niederungen zu bedecken.
Von lebenden Wesen war nichts zu entdecken und Schultze sprach die Vermutung aus, daß eine Tier- und Vogelwelt jedenfalls vorhanden sein dürfte, allein wahrscheinlich nur in einer geringen Anzahl von Exemplaren von bescheidenster Größe, so daß auf solche Entfernung nichts davon zu erkennen sei.
Wolkenbildungen schienen auch auf dieser Seite des Mondes überhaupt nicht vorzukommen, was bei dem Mangel an bedeutenderen Wasserflächen nicht gerade verwunderlich war. Dagegen stiegen da und dort Nebelschleier auf, die dazu dienen mochten, das Land zu befeuchten und die Quellen zu speisen.
Leider war der größte Teil der Mondscheibe auf dieser Seite in Nacht gehüllt, so daß es unbekannt blieb, ob nicht noch unbekannte Wunder, vielleicht gar Spuren menschenähnlicher Geschöpfe in den verborgenen Gegenden zu schauen gewesen wären.
„Einen langen Tag und eine lange Nacht haben die etwaigen Mondbewohner,“ sagte Schultze. „Sie währen 14¾ unsrer Erdentage; um so kürzer ist ihr Jahr, denn es dauert eben nur einen Tag und eine Nacht, im ganzen 29½ Erdentage.
Auf dieser Seite des Mondes wird die Erde niemals geschaut, während sie auf der andern, jedenfalls unbelebten und unbewohnbaren Seite des Mondes unbeweglich am Himmel steht, ohne jemals auf- oder unterzugehen oder ihre Lage zu verändern. Sie erscheint dreizehnmal größer als uns auf Erden der Mond erscheint und macht innerhalb 24 Stunden alle Mondphasen durch. Welch herrlichen Anblick und welch strahlendes Licht gewährt sie dort, wo wahrscheinlich niemand sie zu bewundern vermag!“
Lord Flitmore beschloß, von nun ab die Fahrt in die Welträume aufs äußerste zu beschleunigen und stellte den vollen Zentrifugalstrom ein; dann wurde eine Mahlzeit eingenommen, die John als Allerweltskünstler inzwischen bereitet hatte.
Da die Weltallreisenden dringendes Ruhebedürfnis verspürten, wurde beschlossen, daß sich nun jeder in sein eigenes Schlafgemach zurückziehen solle, um einige Stunden des Schlafes zu pflegen.
Bei den zahlreichen Räumen, die Lord Flitmores Sannah enthielt, hatte nämlich jeder ein besonderes und sehr geräumiges Schlafzimmer zur Verfügung.
Zuvor aber wurde der Wachdienst geregelt.
Es wurde allgemein anerkannt, daß eine ständige Wache unerläßlich sei, einmal weil bei einer Fahrt von solch rasender Geschwindigkeit, wie sie jetzt ausgeführt wurde, unbekannte Gefahren jederzeit drohten; sodann weil besonders interessante Erscheinungen sich bieten konnten, die sich niemand gerne hätte entgehen lassen mögen.
Die Schlafzeit wurde auf 8 Stunden festgesetzt, und da Mietje darauf bestand, ihren Wachdienst gleich den Männern zu versehen, wurde jede „Nacht“, wenn man die Zeit des Schlafes so nennen wollte, in drei Wachen eingeteilt, so daß auf jeden alle 48 Stunden eine Wache von etwa 2¾ Stunden kam; gewiß keine übermäßige Leistung, da er hernach schlafen konnte, so lange es ihm behagte.
Der jeweilige Wachhabende hatte die Runde durch alle Beobachtungszimmer zwei- oder dreimal zu machen, um alle Himmelsrichtungen zu beobachten. Sah er eine Gefahr oder etwas besonders Merkwürdiges, so war er verpflichtet, das elektrische Läutwerk erklingen zu lassen, das in allen Gemächern zugleich ertönte und von jedem Zimmer aus durch den Druck auf einen Knopf in Tätigkeit gesetzt werden konnte.
Lord Flitmore übernahm die erste Wache.
Mit ungeheurer Geschwindigkeit stürzte die Sannah ins Leere.
An der Abnahme der scheinbaren Größe des Mondes berechnete der Lord, daß sie etwa 100 Kilometer in der Sekunde zurücklegte.
„Die Geschwindigkeit wird sich mit der Zeit noch verdoppeln, vielleicht verdreifachen,“ murmelte er; „aber damit wird sie auch ihre höchste Eile erreicht haben. Im gegenwärtigen Tempo würden wir in neun Tagen die Marsbahn kreuzen, mit 300 Kilometern in der Sekunde in drei Tagen; dann würden wir drei Wochen benötigen, um die Jupiterbahn zu erreichen, weitere 25 Tage, um nach dem Saturn zu gelangen, dann 55 Tage bis zum Uranus und etwa 62 Tage bis zum Neptun, im ganzen fünfeinhalb Monate. Das würde elf Monate ausmachen, bis wir wieder zur Erde zurückgelangten, und so lange kann ich wohl hoffen, daß unsere Luftvorräte ausreichen, ganz abgesehen von der Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit, sie auf irgend einem Planeten erneuern zu können, wodurch wir in Stand gesetzt würden, noch unbestimmte Zeit auf die Besichtigung und Erforschung der Planeten zu verwenden, deren Natur unserer Konstitution einen Aufenthalt auf ihrer Oberfläche gestatten würde. So könnten wir also ohne besonderes Risiko bis an die Grenzen unseres Sonnensystems reisen.“
„Prächtig!“ rief eine Stimme.
„Oho, Sie sind’s, Professor?“ sagte der Lord, sich umwendend. „Sie sind zu früh dran; erst in einer halben Stunde kommt die Wache an Sie.“
„Na! Ich habe die zwei Stunden famos geschlafen und fühle mich ganz munter; so wollte ich Ihnen die letzte Zeit Ihrer Wache Gesellschaft leisten; aber Sie werden müde sein; legen Sie sich nur gleich, wenn Sie wollen, ich bin ja auf dem Posten.“
„Ich fühle nichts von Müdigkeit; ich bin es gewohnt, lange zu wachen.“
„Also bis zum Neptun können wir reisen, wenn ich Sie recht verstand? Das ist ja famos!“
„Für mich bedeutet es vielmehr eine Enttäuschung: ich wünschte die Welträume jenseits unsres Sonnensystems zu erforschen; aber das scheint nun ausgeschlossen, denn wir würden bei einer Geschwindigkeit von nur 300 Kilometern in der Sekunde so beiläufig 4500 Jahre brauchen, um den nächsten Fixstern Alpha Centauri zu erreichen.“
„Na, wissen Sie, Lord, wenn wir uns hier in der Unendlichkeit bewegen, außerhalb des Bereichs irdischer Naturgesetze, so ist es ja wohl gar nicht ausgeschlossen, daß wir einige tausend Jahre alt werden,“ scherzte Schultze.
„Und auf leibliche Nahrung und Atmung in gesunder Luft dabei verzichten können,“ ergänzte Flitmore. „Kann sein! Denn was ein Professor für möglich hält, muß sein können. Aber ich fürchte, wir würden an Langerweile zu Grunde gehen, wenn wir viereinhalb Tausend Jährlein durch den leeren Raum reisen wollten.“
„Hören Sie, Lord,“ sagte Schultze unvermittelt: „Die Sonne wird merkwürdig klein!“
Er hatte einen Blick zum Fenster hinausgeworfen und zu seiner Verblüffung bemerkt, daß die Sonnenscheibe kaum noch halb so groß erschien, wie gewöhnlich und auch an Glanz in ähnlichem Verhältnis abgenommen hatte.
Bei einer Geschwindigkeit von 360000 Kilometern in der Stunde war diese Erscheinung ein Rätsel: vier bis fünf Tage von 24 Stunden hätte normalerweise die Fahrt währen müssen, bis die Sonne in solcher Entfernung sich zeigte.
Flitmore wunderte sich zunächst nicht weiter über des Professors Bemerkung: „Ja,“ sagte er, „wir entfernen uns immer mehr von unserm Zentralgestirn.“
Dabei blickte auch er zum Fenster empor.
„Halloh!“ rief er nun aber ganz verblüfft: „Was soll das bedeuten?“
Er griff sich an die Stirn, als zweifle er, ob er wache oder träume.
„Lord, die Sannah macht nicht 300, sondern 15000 Kilometer in der Sekunde,“ rief Schultze aus: „Auf diese Weise erreichen wir Alpha Centauri bereits in 90 Jahren; wenn übrigens die Geschwindigkeit Ihres wunderbaren Weltschiffes im gleichen Tempo noch weiter zunimmt, wie anzunehmen ist, so können auch 90 Tage daraus werden.“
„Ausgeschlossen, völlig ausgeschlossen!“ sagte nun Flitmore ruhig und bestimmt, ging hin und unterbrach den Zentrifugalstrom.
„Was machen Sie da?“ frug der Professor.
„Es war die höchste Zeit, daß wir die Sachlage entdeckten,“ erklärte der Lord: „Wir müssen bereits über die Marsbahn hinausgekommen sein. Hätte ich mich zur Ruhe gelegt und Sie hätten die Bedeutung der auffallenden Erscheinung nicht erkannt, so wären wir rettungslos verloren gewesen. Ja, verloren im unendlichen Raum! Es handelt sich hier nicht um eine fabelhafte Geschwindigkeit unseres Fahrzeugs, sondern um die rasende Schnelligkeit, mit der unser Sonnensystem durch das Weltall saust. Da wir die Anziehungskraft für uns aufgehoben hatten, nahm uns das Sonnensystem auf seiner Fahrt nicht mit, sondern drohte, uns hinter sich zurück im Raum zu lassen.“,
„Erlauben Sie, Lord! Die Sonne soll sich freilich mit ihren Trabanten auf das Sternbild des Herkules zu bewegen, aber nur mit 16 Kilometern in der Sekunde, so daß diese Bewegung gegen die 300 Sekundenkilometer der Sannah kaum in Betracht kommt und keinesfalls unsre rasche Entfernung von der Sonne erklärt.“
„Sie haben recht, Professor; aber da ist eine Bewegung, die kein irdischer Astronom erkennen konnte, die aber geahnt und vermutet worden ist, und die sich in diesem Augenblick enthüllt hat: Die ganze Fixsternwelt, innerhalb deren sich die einzelnen Systeme bewegen, wie etwa unser Sonnensystem nach dem Herkules, bildet wiederum ein großes System, das offenbar mit 15000 oder noch mehr Sekundenkilometern wie ein Strom durch die Unendlichkeit des Raums dahinfährt und diese Strömung ist es, die drohte uns unser Sonnensystem in kurzer Zeit zu entführen, so daß wir im Leeren zurückgeblieben wären, fern von allen Weltkörpern, die uns hätten anziehen oder abstoßen können und uns so die Aussicht gewährt hätten, irgendwo zu landen.“
„Nanu! So hätten wir eben zuwarten müssen, bis der große Weltenstrom neue Welten in unsre Nähe geführt hätte.“
„Ein guter Gedanke; aber wer weiß, wie viele tausend Jahre wir darauf hätten warten müssen. Jedenfalls zog ich es vor, uns wieder dem Einfluß der Anziehungskraft zu überlassen, da es zunächst für unsre Sicherheit notwendig erscheint, unser Sonnensystem nicht zu verlassen. Jetzt werden wir voraussichtlich in die Attraktionssphäre des Mars geraten und müssen aufpassen, daß wir nicht unsanft auf ihn herabstürzen. Ich werde mich daher nicht zur Ruhe begeben, um meine Maßregeln rechtzeitig treffen zu können.“
Unsre Freunde hatten beschlossen, ihre Zeitrechnung nach irdischem Maßstab einzuteilen, um jeglicher Verwirrung der Begriffe zu entgehen, und so war es, wie die Uhren der Sannah anzeigten, 8 Uhr morgens, als sich alle um den Frühstückstisch im Nordpolzimmer versammelten.
Die Schlafgemächer befanden sich sämtlich in den inneren Räumen, die auf künstliche Beleuchtung angewiesen waren; die vier Säle, die sich in der Äquatorlinie der Sannah befanden, hatten stets abwechselnd eine Stunde Tag und eine Stunde Nacht; im Südpolzimmer dagegen herrschte zur Zeit beständige Nacht, im Nordpolzimmer unaufhörlich Tag. Aus diesem Grunde wurde letzteres zum gewöhnlichen Aufenthaltsort gewählt.
Schultze berichtete eingehend über die Vorkommnisse der vergangenen Nacht und schloß mit den Worten: „Die Tatsache, daß die Erde mit dem Mond so rasch aus unserem Gesichtskreis entschwand, sowie daß das ganze Sonnensystem uns zu entfliehen drohte, ist der erste praktische Beweis für die Richtigkeit des kopernikanischen Systems.“
„Wieso?“ fragte Heinz Friedung erstaunt: „Ich meinte, nichts von der Welt stehe so sicher wie dieses System und es sei längst schon als zweifellos richtig erwiesen!“
„Da sieht man die Schulweisheit!“ lachte der Professor: „Was einer glaubt, verkündigt er, sei es aus Unwissenheit, sei es aus Einbildung, gewöhnlich als zweifellose Wahrheit. So werden den Schülern und selbst den Studenten die anerkannten wissenschaftlichen Vermutungen als felsenfest stehende Wahrheiten verkündigt. Meist lassen sie sich dadurch täuschen, und so kommt es, daß die große Menge sowie auch die von ihrer eigenen Unfehlbarkeit überzeugten Gelehrten glauben, jeden verhöhnen und als ungebildet und rückständig brandmarken zu dürfen, der ihren Glauben nicht teilt und an dem zweifeln zu dürfen glaubt, was als modernster Standpunkt der Wissenschaft gilt.
Es ist wahr, das kopernikanische System ist überaus einleuchtend und erklärt am besten alle astronomischen Erscheinungen auf der Wissensstufe, auf der wir zur Zeit stehen; ja, unser ganzes Physikalisches Begriffssystem beruht auf der Voraussetzung seiner Richtigkeit. Aber zweifellos bewiesen ist diese Richtigkeit so wenig, wie irgend eine andre sogenannte „wissenschaftliche Wahrheit“. Es ist sehr unwahrscheinlich, aber durchaus nicht undenkbar, daß ein kommendes, fortgeschritteneres Gechlecht wieder zum ptolomäischen Weltsystem zurückkehrt. Dann müßte allerdings die gesamte astronomische Wissenschaft umgearbeitet und eine neue Physik erfunden werden, die sich auf der ptolomäischen Anschauung aufbauen würde. Wie gesagt, es ist unwahrscheinlich, daß dies geschehen wird, aber durchaus nicht unmöglich, denn unsre Wissenschaft baut sich lediglich auf Vermutungen auf, nicht auf Wissen: Tatsachen sind keine Wissenschaft, sondern erst die stets unsichern Schlüsse, die wir aus den Tatsachen folgern.“
„Mit Verlaub, Herr Professor,“ begann nun John Rieger, der stets bestrebt war, seine Bildung zu vermehren: „Was ist das eigentlich, das polemische und das koperganische Weltsystem, wenn ich mir solche Frage aus Unbescheidenheit zu stellen gestatten darf?“
„Gewiß darfst du das, und ich will dich gerne aufklären: Claudius Ptolomäus war ein berühmter Sternkundiger im zweiten Jahrhundert vor Christus und lebte in der Stadt Alexandria in Ägypten. Er glaubte, die Erde bilde den Mittelpunkt der Welt und stehe unbeweglich fest, während Sonne, Mond und Sterne sich um sie bewegten, wie es ja für uns den Anschein hat. Diese Meinung nennt man das ptolomäische Weltsystem, an das man noch 1500 Jahre nach Christus allgemein glaubte.
Nikolaus Kopernikus war ein polnischer Priester, der ein Buch schrieb, auf dem unsere jetzigen Anschauungen beruhen, und das im Jahre 1543 erschien. Hier erklärt er nicht nur, daß die Erde sich um ihre Achse dreht, woraus Tag und Nacht entstehen, sondern daß sie auch in einem Jahre sich um die Sonne bewegt, die den stillstehenden Mittelpunkt unseres Sonnensystems bilde, um den sich auch die andern Planeten oder Wandelsterne drehen. Ja, er entdeckte auch eine dritte Bewegung der Erde, die Schwankung ihrer Achse, die er Deklination nannte, durch welche bewirkt wird, daß das Erdenjahr nicht völlig mit einer scheinbaren Umdrehung des Himmels zusammenfällt, so daß die Tag- und Nachtgleichen etwas zu früh eintreten. Die Ansicht des Kopernikus nennt man das kopernikanische Weltsystem.“
„Na!“ meinte John geringschätzig: „Der Ptolomäus muß ja ein ganz törichter und ungebildeter Mensch gewesen sein und was der Kopernikus behauptet hat, ist nichts besonderes: Das weiß ja jedes Kind, daß sich die Erde um die Sonne dreht!“
„Weil man es ihm in der Schule sagt, mein Freund. Aber du mußt bedenken, dem Kopernikus hat es niemand gesagt, der hat es aus sich selbst heraus gefunden.“
„Halt, Professor!“ widersprach der Lord: „Es ist eine uralte Weisheit der Ägypter, die Kopernikus aufwärmte, wodurch jedoch sein Verdienst nicht geschmälert sein soll. Schon in den ältesten Zeiten gab es große Geister, die auffallend richtige Begriffe über die Erde und unser Sonnensystem besaßen. Sie scheinen dieselben von den ägyptischen Priestern überkommen zu haben und diese vielleicht von den Chaldäern. Aber das Verdienst dieser scharfen Denker ist es, daß sie diese damals so unglaublichen Wahrheiten als richtig erkannten und auf Grund derselben wissenschaftliche Großtaten vollbrachten.
Denken Sie an die Cheopspyramide, die 3000 Jahre vor Christus erbaut wurde und deren Maße in überraschend genauem Verhältnis zum Umfang der Erde und zu einigen erst in neuester Zeit wieder entdeckten astronomischen Entfernungsmaßen stehen. Ihre Kanten sind nach den vier Himmelsrichtungen gerichtet, und in der königlichen Leichenkammer befindet sich ein Spiegel, der durch einen langen, geneigten Tunnel unaufhörlich nach dem Polarstern blickt. Wer solche Berechnungen auszuführen vermochte, besaß Fähigkeiten und wissenschaftliche Kenntnisse, eine Beobachtungsgabe und eine Denkkraft, die auch von den ersten Größen unserer modernen Astronomie Kopernikus, Keppler, Galilei und Isaak Newton nicht übertroffen wurde.“
„Sie haben recht“, gab Schultze zu: „Die Alten hatten gewaltige Geister, die ohne unsre modernen Hilfsmittel, ohne Teleskop und Spektralanalyse, beinahe so viel erreichten, wie unsre modernsten wissenschaftlichen Größen mit all den Vorteilen der Riesenarbeit ihrer Vorgänger und der vollkommensten Instrumente.
Schon der griechische Weltweise Bion lehrte 500 Jahre vor Christus die Kugelgestalt der Erde und behauptete, es müsse auf unsrer Erde Gegenden geben, auf denen es sechs Monate lang Tag und sechs Monate Nacht sei. Eratosthenes von Alexandria rechnete den Umfang der Erde mit verblüffendem Scharfsinn und erstaunlicher Genauigkeit aus, wobei er zu annähernd demselben Ergebnis kam, wie lange vor ihm die Chaldäer.
Der Geograph Strabo ahnte Amerika, da er sagte, es könne noch zwei oder mehrere unbekannte Kontinente auf der Erdkugel geben. Aristarch wagte es, die Entfernung und Größe des Mondes und der Sonne zu berechnen, wobei er die Größe des Mondes und die Entfernung der Sonne fast genau so angab, wie wir sie heute erforscht haben: das waren Maßstäbe, die für jene Zeiten geradezu ungeheuerlich erscheinen mußten. Posidonius lieferte eine wahrhaft wunderbare Berechnung der Erdatmosphäre und der Lichtbrechung, und ebenso erstaunlich ist seine Berechnung der Größe der Sonne: wir ahnen nicht, mit welchen Mitteln er solche verblüffende Ergebnisse erreichte.
Auch Apollonius von Pergä war ein solcher Geistesriese, der den Begriff der Parallaxe entdeckt haben soll, das heißt die Methode zur Berechnung der Entfernung der Gestirne. Hipparch berechnete den Schattenkegel des Mondes mit großer Genauigkeit und schloß daraus auf die Entfernung von Sonne und Mond.
Pythagoras lehrte die Bewegung der Erde als Ursache der scheinbaren Bewegung der Gestirne; Aristarch erkannte, daß die Erde sich um die Sonne drehe und daß die Fixsterne sich in ungeheurer Entfernung von uns befinden. Dies alles scheint übrigens Demokrit schon 400 Jahre vor Christus erkannt zu haben.
Archimedes hatte schon die ersten Ideen von der Gravitation. Aber all diese kühnen Fortschritte lagen hernach jahrhundertelang brach und vergessen, bis Kopernikus sein großes Werk schrieb, zu dessen Prophet sich der unglückliche Giordano Bruno aufwarf.
Dann kam Tycho Brahe, der große Beobachter, dem Kepler so viel verdankte. Johann Kepler stellte die berühmten Gesetze der Planetenbewegung auf, ihre elliptische Bahn um die Sonne, das Gesetz ihrer Bewegungsgeschwindigkeit im Verhältnis zu ihrer Bahn und das Gesetz des Verhältnisses ihrer Umlaufzeit zu ihrer mittleren Entfernung zur Sonne.
Galilei benutzte als erster das Fernrohr, entdeckte die Monde des Jupiter und die Mondphasen der Venus; Cassini berechnete die Entfernung der Sonne aus ihrer Parallaxe beim Durchgang des Mars; Römer und Leverrier maßen die Geschwindigkeit des Lichts, Newton stellte die Gesetze der Gravitation auf; Kant und Laplace brachten das Weltall mit seinen Bewegungsgesetzen in ein großartiges System und erklärten seine Entstehung, Entwicklung und seine Zukunft. Endlich entdeckte Herschel den Planeten Uranus, Piazzi, Gauß und Olbers die Planetoiden, wiederum Herschel die Eigenbewegung der Fixsterne und das Vorhandensein von Doppelsternen; er war es auch, der die Nebelflecke studierte.
Als nun noch im Jahre 1838 die erste Fixsternparallaxe berechnet wurde, was uns in den Stand setzte die Entfernung und Größe der Himmelskörper außerhalb unsres Sonnensystems zu berechnen, waren die großen astronomischen Entdeckungen zu Ende, wenn wir absehen von den wunderbaren Enthüllungen durch die Spektralanalyse.“
„Danke, weisester aller Professoren!“ sagte Münchhausen lachend: „Sie haben uns da einen Vortrag gehalten, der wahrhaftig ein Abriß der Geschichte der Astronomie in den letzten 10000 Jahren genannt werden darf. Aber in einem Punkte irren Sie: Sie haben sozusagen die großen astronomischen Entdeckungen für abgeschlossen erklärt, und vergessen, daß sie eben jetzt erst recht anfangen, seit wir ausgezogen sind, das Weltall persönlich zu erforschen.“
„Und jetzt haben wir die beste Gelegenheit zu solchen Entdeckungen,“ sagte Mietje, die soeben eingetreten war. Sie hatte einen Rundgang durch die Beobachtungszimmer gemacht, wie er abwechselnd jede halbe Stunde ausgeführt wurde, um vor unliebsamen Überraschungen sicher zu sein.
„Was gibt’s?“ fragte Flitmore.
„Wir nähern uns dem Mars mit großer Geschwindigkeit“, erwiderte seine Gattin.
Flitmore stand auf: „Lassen Sie uns sehen, meine Herren“, sagte er, und alle folgten ihm in eines der Äquatorialzimmer, von dem aus die Lady den Planeten beobachtet hatte.
Die Sannah, die seit der vergangenen Nacht, wenn man von einer Nacht reden konnte, nicht mehr von dem Strom der Fliehkraft durchkreist wurde, befand sich in der Anziehungssphäre des Planeten, der seit lange den Beobachtungseifer und die Phantasie der Astronomen am meisten angeregt hat.
Man war ihm schon so nahe, daß man die größeren Gebilde seiner Oberfläche deutlich unterscheiden konnte, ohne das Fernrohr zu benutzen.
„Da hört sich ja alle Wissenschaft auf!“ war das erste, was Schultze überrascht und enttäuscht ausrief: „Soll das wirklich der Mars sein? Wo sind denn die Kanäle, meine geliebten Kanäle, die ich so fleißig beobachtet und mit solcher Zärtlichkeit studiert habe, das Wunder, das Rätsel des Mars?“
Von Kanälen war in der Tat keine Spur zu sehen.
Flitmore meinte, zum Professor gewendet: „Ich habe nie recht an jene merkwürdigen Kanalbildungen glauben können und vermutete, daß es sich um optische Täuschung handle. Der Mars ist bedeutend kleiner als unsre Erde, sein Halbmesser beträgt wenig mehr als die Hälfte des ihrigen; seine Polarregionen sind von ungeheurer Ausdehnung, namentlich im Winter. Und nun sollen die mutmaßlichen Bewohner des kleinen bewohnbaren Erdstrichs das Land mit einem gewaltigen Netz ungeheurer Kanäle durchzogen haben?“
„Warum nicht?“ fragte Schultze eigensinnig: „Wenn es die Bewässerung des Landes verlangte.“
„Bei den ausgedehnten Eis- und Schneemassen der Pole, den ungeheuren Schneefällen im Winter und angesichts der meist äußerst raschen Schneeschmelze im Frühling kann ich an Wassermangel auf dem Mars nicht glauben.“
„Na! Aber die Kanäle sollten doch den Wasserzufluß regeln, ihn über das ganze Land verteilen und Überschwemmungen verhüten.“
„Ganz schön, wenn es Kanäle von vernünftigen Größenverhältnissen wären und von vernünftigem Verhalten. Aber diese angeblichen Kanäle zeigten eine Breite von 60 bis 300 Kilometern: ich bitte Sie, was soll das? Das sind ja unsinnige Maße für einen Kanal! Wenn sie nun aber wenigstens beständig so geblieben wären, aber da wurde ein und derselbe Kanal einmal breiter, dann wieder schmäler; mit Vorliebe verdoppelte er sich plötzlich, oft innerhalb 24 Stunden, ebenso rasch konnte die Verdoppelung wieder verschwinden und hie und da der ursprüngliche Kanal ebenfalls; dann wieder verschwand ein alter Kanal und zwei neue erschienen an seiner Stelle.“
„Ja, ja! das waren eben die Rätsel dieser merkwürdigen Kanäle,“ beharrte der Professor.
„Und nun ist ihr Rätsel gelöst,“ lachte Flitmore: „Sie sind einfach gar nicht vorhanden, diese famosen Kanäle.“
„Das muß ich allerdings zugeben“, gestand der Gelehrte zu: „Aber die Sache ist nur umso rätselhafter.“
Doch auch ohne diese geheimnisvollen Gebilde erschien die Landschaft merkwürdig genug: weiß leuchtete der Nordpol mit seinen Eis- und Schneefeldern; das schneefreie Land gegen den Äquator erschien rötlichgelb unterbrochen von dunkelgrün bewachsenen Streifen; einige kleine Meere oder große Seen trennten streckenweise die Kontinente und breite Flüsse zogen silbergraue Bänder durch die Ebenen.
Überhaupt erschien fast alles eben. Größere Gebirge waren keinesfalls vorhanden und kleinere Erhebungen ließen sich aus der Höhe, in welcher sich die Sannah befand, nur an den Schatten erkennen, die sie warfen; wo jedoch die Sonne die Täler voll erleuchtete, konnte Berg und Tal überhaupt nicht unterschieden werden.
Inzwischen stürzte das Weltschiff mit blitzartiger Schnelle gegen den Planeten und man sah alles von Sekunde zu Sekunde wachsen.
Flitmore beeilte sich daher, den Zentrifugalstrom zu schließen; ehe die Sannah in die atmosphärische Hülle des Planeten gelangte, damit ihre Außenwandungen nicht etwa durch die ungeheure Reibung in Glut versetzt würden.
Der Sturz verlangsamte sich nun zusehends, bis die abstoßende Kraft die Fallgeschwindigkeit überwand und das Weltschiff zunächst ganz langsam zu steigen begann.
„Wollen wir eine Landung auf dem Mars unternehmen?“ fragte nun der Lord.
„Hurrah!“ rief Schultze begeistert.
„O ja, bitte!“ schmeichelte Mietje.
„Ich bin dabei!“ sagte Münchhausen: „die Kerkerhaft behagt mir auf die Dauer nicht, wenn sie auch erst zwölf Stunden währt.“
„Das wird herrlich!“ rief Heinz seinerseits begeistert.
„Und was sagst du, John?“ wandte sich Flitmore an den Diener.
„Sir, ich habe nichts dareinzureden, was Ihre unmaßgebliche Entschließungswillkür betrifft; aber was meine Spezialität in dieser Fragesache betreffen möchte, so wäre es mir besonders genehm, freie Luft zu schöpfen, obwohl sozusagen die Luft hier innen ausgezeichnet für die Atmungsorkane ist.“
„Also, wir landen“, entschied der Lord, „da es einstimmig gewünscht wird; die Schimpansen können wir ja nicht um ihre Meinung befragen und so müssen Dick und Bobs sich der Mehrheit fügen.“
Gleichzeitig unterbrach er wieder die Fliehkraft; sobald ihm jedoch die Sturzgeschwindigkeit in bedenklichem Maße zuzunehmen schien, schloß er wieder den Strom auf einige Sekunden.
Durch dieses abwechselnde Öffnen und Schließen wurde ein langsames Fallen ermöglicht, das noch durch die Marsatmosphäre gemildert wurde, sobald man diese erreicht hatte.
Sobald die Anziehungskraft des Mars auf die Sannah wirkte, verlangsamte sich ihre Umdrehungsgeschwindigkeit und als sie sich zuletzt auf den Planeten herabsenkte, hörte ihre Eigenbewegung ganz auf und ihr Schwerpunkt wurde in den Mittelpunkt der Marskugel verlegt; diesmal hatte Flitmore diese Änderungen vorausgesehen und dafür gesorgt, daß die Gesellschaft nicht wieder durch einen Sturz gegen die Wände oder gegen die Decke überrascht wurde.
Der Stoß, den die Landung verursachte, war im oberen Raume, wo sich alle zu dieser Zeit aufhielten, kaum spürbar.
„Wir werden vom Nord- oder Südpolzimmer aus aussteigen müssen“, erklärte der Lord: „dort liegen die Ausgangspforten neben den Fenstern bei unsrer jetzigen Lage in wagrechter Linie, das heißt parallel zur Marsoberfläche, und mittels einer Strickleiter können wir hinabsteigen.“
„Lassen Sie mich als Ersten die Sannah verlassen“, bat Heinz.
„Nein, junger Freund!“ widersprach Schultze: „Ich werde zuerst hinausgehen; wir kennen die Zusammensetzung der Marsatmosphäre nicht. Wer weiß, ob sie nicht auf unsre Lungen eine gefährliche, vielleicht tödliche Wirkung ausübt.“
„Eben deswegen will ich ja die erste Probe machen“, sagte Heinz.
„Nichts da!“ polterte Kapitän Münchhausen: „Ich will zuerst hinaus; meine Lungen sind die verschiedensten Dünste gewöhnt und können am ehesten etwas aushalten.“
„Sie?“ lachte der Professor: „Seien Sie froh, wenn Sie in normaler Luft schnaufen können! Überhaupt könnten Sie in der Öffnung stecken bleiben oder uns durch Ihr Gewicht die Strickleiter ruinieren. Sie kommen jedenfalls zuletzt daran.“
„Ich gehe voran!“ entschied Flitmore: „Es ist dies sowohl mein Recht als meine Pflicht, da ich der Unternehmer der Weltfahrt bin.“
„Unter keinen Umständen darfst du dich einer solchen Gefahr aussetzen, Charles“, wandte nun Mietje ein: „Ich bitte dich, laß mich den ersten Versuch machen; ich kann ja gleich wieder zurück, wenn ich spüre, daß da giftige Gase sind.“
„Wenn die Herrschaften gütigst zu gestatten belieben wollten,“ ließ sich der biedere John vernehmen, „so ist das alles nicht in der Richtigkeit, als daß vielmehr meine Person den Anfang zu machen hat, indem daß mein etwaiger Verlust auch am wenigsten wertvoll wäre.“
Aber Heinz Friedung machte diesem edlen Wettstreit ein Ende durch folgende vernünftige Bemerkung:
„Wir haben ja die beiden Affen, Dick und Bobs; schieben wir die vor: für sie ist auch am wenigsten Gefahr vorhanden, da ihr Instinkt sie davor bewahren wird, das Fahrzeug zu verlassen, wenn sie draußen keine gesunde Luft wittern.“
„Das ist die beste Lösung,“ stimmte der Lord zu: „daran hätten wir auch gleich denken können! Übrigens bin ich überzeugt, daß die Lufthülle des Mars sich höchstens in der Dichtigkeit von der irdischen unterscheidet.“
Die luftdicht schließende Tür des Südpolzimmers, in das man sich begeben hatte, wurde geöffnet; ein angenehmer frischer Luftzug strich herein. Vergnügt schwangen sich Dick und Bobs durch die Öffnung und turnten an den Rampen, die an der äußeren Hülle der Sannah angebracht waren, hinab.
„Es ist also keine Gefahr,“ sagte Flitmore und befestigte mit Johns Hilfe die Strickleiter, um dann als erster, von seiner treuen Gattin gefolgt, den Abstieg zu wagen.
Nach Mietje kam Heinz und dann der Professor.
Schultze rief dem Kapitän zu: „Daß Sie sich nicht unterstehen, die Strickleiter zu betreten, ehe wir andern alle den sichern Erdboden erreicht haben, denn sonst könnte es uns schlimm ergehen, wenn die Stricke unter Ihrer Last reißen oder die Sprossen krachen und Ihre beträchtliche Masse auf uns herabstürzt.“
Aber Flitmore hatte bei Ankauf der Strickleitern Münchhausens Gewicht in Betracht gezogen. Wohl ächzten die Seile und die Sprossen bogen sich knarrend, als der Kapitän sie hinter John betrat; aber sie hielten vorzüglich.
„Na! Daß Sie nicht in der Türöffnung stecken blieben, nimmt mich Wunder,“ lachte Schultze, als alle glücklich unten waren.
Flitmore aber erklärte: „Da ich von vornherein auf die Begleitung unsres werten Kapitäns hoffte, habe ich sämtliche Türenmaße nach seinen leiblichen Verhältnissen berechnet.“
„Das war vernünftig und edel von Ihnen, Lord,“ erkannte Münchhausen in gutmütiger Heiterkeit an: „Freilich, unserm bösen Professor hätte es Spaß gemacht, mich hilflos und elend im Türrahmen stecken bleiben zu sehen.“
Inzwischen sah sich die Gesellschaft neugierig auf ihrem neuen Aufenthaltsort um.
Als erstes war ihnen aufgefallen, daß der Erdboden merkwürdig weich war: die Sannah hatte sich ziemlich tief in ihn eingegraben und bei jedem Schritt sank man ein.
Die Landschaft erschien sanft gewellt und die Bodenwellen liefen meist parallel und geradlinig, wurden aber zuweilen von langen Hügelrücken gekreuzt, die in andrer Richtung verliefen.
Zwischen den Erhöhungen befanden sich mehr oder weniger breite ebene Flächen, die versumpft zu sein schienen und mit einem Gewirr von dunkeln Pflanzen bedeckt waren. Die Hügelrücken waren zum Teil kahl, meist aber mit Buschwerk und Wäldern bedeckt, vielfach auch mit Präriegras; nirgends aber sah man frisches Grün: die Gräser, die Blätter der Pflanzen und Bäume waren durchweg gelb und rot oder rotbraun, so daß alles ein herbstliches Aussehen hatte, obgleich in diesen Marsbreiten zur Zeit erst der Frühsommer begann.
Da sich übrigens der Abend bereits herabsenkte, wurde John beordert, aus dem Weltschiff Zelte und Eßwaren herbeizuschaffen; denn alle freuten sich darauf, im Freien zu kampieren.
Brennholz war reichlich vorhanden; Feuer wurden entzündet zur Bereitung eines warmen Mahles und zur Abhaltung etwaiger wilder Tiere.
Alle, auch Mietje, waren mit Gewehren und Dolchmessern bewaffnet und mit Explosionskugeln versehen.
Flitmore wies auf die langgestreckten Sümpfe: „Sehen Sie, Professor,“ sagte er: „Diese endlos erscheinenden dunkeln Streifen, die teils neben einander her laufen, teils einander kreuzen, können sehr wohl bei großer Entfernung den Eindruck von Kanälen machen.“
Im Kampf mit den Würmern.
„Aber die Veränderlichkeit der beobachteten Gebilde erklären sie nicht,“ wandte Schultze ein.
„Vielleicht finden wir auch dafür noch eine Lösung,“ meinte Heinz.
„Die Marsluft ist übrigens ganz herrlich,“ rühmte der Kapitän tiefatmend: „Ich schlage vor, daß wir hier einen Luftkurort und eine Sommerfrische gründen: ausgezeichnete Geschäfte werden wir damit machen.“
Mietje erhub nun die Frage: „Wie lange wird die Nacht hier dauern.“
„Nicht viel länger als eine gewöhnliche Erdennacht,“ belehrte sie Schultze: „Der Mars dreht sich um seine Achse in 24 Stunden, 37 Minuten und 22½ Sekunden. Dagegen sind die Jahreszeiten dahier verhältnismäßig lang: ein Marsjahr hat 668 Marstage, was etwa 682 Erdentagen entspricht. Auf der nördlichen Halbkugel, auf der wir uns befinden, hat der Frühling 191, der Sommer 181, der Herbst 149, der Winter 117 Marstage; auf der südlichen Halbkugel sind Frühling und Sommer viel kürzer, nämlich 149 und 147 Tage, aber auch viel heißer, weil der Planet in dieser Zeit der Sonne am nächsten kommt; der Herbst und Winter mit 191 und 181 Tagen sind dagegen dort um so kälter, da sie mit der Sonnenferne des Mars zusammenfallen.“
Nach eingenommenem Mahl wurden die Nachtwachen verteilt, und dann begab man sich zur Ruhe.
Heinz hatte die zweite Nachtwache.
Ihm war etwas unheimlich zumut auf diesem fremden Weltkörper, der völlig neue und unbekannte Gefahren bergen mochte. Eigentliche Angst hatte der junge Mann zwar nicht, dazu besaß er zuviel persönlichen Mut, verbunden mit körperlicher und geistiger Gesundheit; aber eines eigentümlichen, beklemmenden Gefühls konnte er sich nicht erwehren.
Das Lager befand sich auf einem breiten Hügelrücken, auf dem die Sannah gelandet war und der sich ins Unendliche zu erstrecken schien. Ebenso unendlich hatte bei Tageslicht der Sumpf ausgesehen, der die etwa 200 Kilometer breite Vertiefung zwischen dieser und der nächsten Hügelkette ausfüllte.
Und diese sumpfige Niederung schien bei Nacht in unheimliche Lebendigkeit zu geraten.
Bestimmte Laute konnte der junge Wächter nicht vernehmen, wohl aber ein dumpfes Gemeng von Tönen, als ob da Tausende von Geschöpfen raschelten und plätscherten.
Unwillkürlich kamen dem Aufhorchenden die unsterblichen Verse aus Schillers Taucher in den Sinn:
„Da unten aber ist’s fürchterlich,
Und der Mensch versuche die Götter nicht
Und begehre nimmer und nimmer zu schauen,
Was sie gnädig bedecken mit Nacht und Grauen.“
„Das Auge mit Schaudern hinunter sah,
Wie’s von Salamandern und Molchen und Drachen
Sich regt’ in dem furchtbaren Höllenrachen.
Schwarz wimmelten da, in grausem Gemisch,
Zu scheußlichen Klumpen geballt,
Der stachlichte Roche, der Klippenfisch,
Des Hammers greuliche Ungestalt.
— — — — — — — — — — — — — — —
Und schaudernd dacht’ ich’s, — da kroch’s heran,
Regte hundert Gelenke zugleich ...
Soweit war Heinz in seinen Gedanken gekommen, da kroch wirklich etwas heran. Es schien eine Schlange zu sein, an und für sich kein besonders großes Tier, etwa armsdick und ungefähr drei Meter lang; aber als der Schein des Feuers den glatten, feuchten, rötlichen Leib erleuchtete, kam es dem Jüngling doch wie ein grauenerregendes Ungeheuer vor; denn es glich einem Regenwurm, und für einen solchen war seine Größe doch geradezu riesenhaft.
Der spitz zulaufende Kopf zeigte zwei äußerst kleine, blasse Augen, die kaum als solche zu erkennen waren; der Mund glich nur einem runden Loch und schien zum Saugen und nicht zum Beißen bestimmt.
Der widerliche Wurm kroch geradenwegs auf Heinz zu und kümmerte sich nicht um das Feuer. Hinter ihm tauchte ein zweiter auf und dann ein dritter, — ja der ganze Abhang schien sich zu beleben: in Scharen rückte das Gewürm an, als habe der Sumpf seine Heere ausgesandt, die unberufenen Eindringlinge auf dem Mars zu vernichten.
Zunächst sandte Heinz dem vordersten Wurm eine Explosionskugel in den Leib, die ihm jedoch nur eine kleine Wunde beibrachte, da sie in der weichen Masse auf keinen Widerstand traf und daher überhaupt nicht zum Platzen kam.
Der Wurm krümmte und wand sich, schnellte dann aber plötzlich vor und ringelte sich um des Schützen Fuß, in raschen Windungen an ihm hinaufkriechend.
Von Schauer und Ekel erfaßt, griff der junge Mann nach seinem Dolchmesser und bearbeitete das Tier mit Stichen und Schnitten; allein er sah sich auf einmal von allen Seiten angegriffen: da erhob sich ein schlüpfriges Haupt, dort ein zweites und drittes; und sie wanden sich an ihm empor, all diese unheimlichen Geschöpfe und so viel Köpfe er abschnitt, seine eigenen Kleider in der Eile der Abwehr zerfetzend, die Zahl war zu groß, er konnte nicht mit ihnen fertig werden!
Ein stechender Schmerz im Nacken ließ ihn nach hinten greifen: er berührte den kalten schleimigen Leib eines der Würmer, der sich dort festgesogen hatte und ihm das Blut aussaugte; und schon hing ein andrer der gräßlichen Köpfe an seiner Wange.
Heinz warf sich zu Boden und wälzte sich wie wahnsinnig umher; aber er kam nicht los: nur immer neue schlüpfrige Ringe spürte er sich um seine Glieder ziehen.
Flitmore war durch den Schuß geweckt worden und trat aus seinem Zelt. Mit lautem Hallo weckte er die Genossen und stürzte sich selber mit dem Messer auf das überall sich ringelnde Gewürm; denn mit dem Gewehr war hier nichts anzufangen, das sah er gleich.
Es gelang dem Lord, den jungen Freund frei zu machen; aber er selber war bereits von einigen der Würmer umschlungen und auch Heinz wurde alsbald wieder angefallen.
Laut kreischend stürzte Mietje aus ihrem Zelt: die widerlichen Sumpftiere waren dort eingedrungen und eines davon hing an ihrem weißen Arm.
Aber wie sah es hier draußen aus! Sie schauderte, denn überall trat ihr Fuß auf ähnliche ekelhafte Geschöpfe, die sich krümmten und an ihr emporwanden.
Inzwischen war auch Schultze auf dem Plan aufgetaucht. Die wimmelnden und sich bäumenden Geschöpfe, die den Boden bedeckten, erregten zunächst sein wissenschaftliches Interesse.
„Das sind ja Ringelwürmer von fabelhafter Größe“, rief er aus: „Lumbriciden oder Regenwürmer, nichts andres! Wirklich kolossale Geschöpfe! Aber eigentlich nichts Auffallendes: gab es Schalentiere, Schneckenarten von riesenhaften Formen, warum nicht auch Nacktschnecken und Würmer? Ich vermute sogar, daß ähnliche Geschöpfe zur Zeit der Ammoniten auch die Erde bevölkerten; Spuren ihres Daseins konnten sie natürlich nicht hinterlassen, da sie knochenlose Weichtiere sind.“
„Helfen Sie uns lieber, Professor“, keuchte Heinz: „Später wollen wir dann meinetwegen eine wissenschaftliche Unterhaltung über diese Höllenbrut beginnen, falls wir mit heiler Haut davonkommen.“
„Sie haben recht“, sagte Schultze: „das scheinen ja in der Tat ganz verflixte Kumpane zu sein: sie gehen ja geradewegs auf mich los! Aber meine Hochachtung, junger Freund! Sie kämpfen wahrhaftig nach Schwabenart. Bravo! Das war wieder ein Schwabenstreich!“
„Der wackre Schwabe forcht sich nit!“ zitierte Münchhausen, der nun ebenfalls, gleichzeitig mit John, auf der Bildfläche auftauchte: „Zur Rechten sieht man, wie zur Linken, einen halben Türken hinuntersinken.“
Heinz hatte wirklich mit einem wohlgezielten Hieb den Leib eines Ringelwurms in der Mitte durchgetrennt, so daß das Zitat gut paßte.
„Wenn nur die andern kalter Graus packte“, meinte der junge Held, der sich am Ende seiner Kräfte fühlte: „Aber da hat es gute Wege!“
„Hu, hu! Mich packt der kalte Graus!“ schrie Münchhausen, dem sich eines der Tiere um den Hals schlang. Er riß es los und schleuderte es zu Boden, um es mit der Wucht seiner breiten Füße zu Brei zu zertreten.
Der Professor und der Diener waren bereits in den wütendsten Kampf verwickelt: sie hieben wie rasend mit den Messern um sich; allein der Sumpf mußte Tausende dieser Ungeheuer beherbergen und alle just auf den Lagerplatz der Unseligen loslassen; der Kampf schien aussichtslos.
Was waren diese Geschöpfe? Weichtiere, die ein Fußtritt, ein Dolchhieb unschädlich machte! Sie besaßen keine Tatzen, keine Krallen, kein Gebiß; sie waren nicht gefährlicher als Blutegel: aber ihre unerschöpfliche Zahl machte sie unüberwindlich, und unsre Freunde sahen ein gräßliches Ende vor Augen. Viel lieber hätten sie mit den wildesten Raubtieren, mit Löwen, Tigern, mit einem Rudel Elefanten oder einer Büffelherde gekämpft.
Die Schimpansen Dick und Bobs hausten mörderisch unter den Angreifern: sie schienen rasend vor Wut. Sie warfen sich auf den Boden und würgten, zerrissen mit vier Händen zugleich, während sie gleichzeitig mit ihrem scharfen Gebiß Dutzende der Lumbriciden unschädlich machten.
Aber was half’s? Immer neue Scharen rückten an!
Münchhausen, der sich ohnehin nur schwerfällig bewegen und nicht leicht bücken konnte, hatte sofort erkannt, daß seine wirksamste Waffe in seinem kolossalen Körpergewicht bestand.
Er führte einen wahren Indianertanz auf, sprang so hoch er nur immer konnte und zerquetschte unter seinen gewaltigen Fußsohlen alles zu Brei, was sich unter ihm regte.
Es wäre ein Anblick zum Totlachen gewesen, wie der dicke Kapitän umherhopste, als wolle er sich zur Ballettänzerin ausbilden, wenn nicht das Gefährliche der Lage alle Lust zur Heiterkeit erstickt hätte.
Münchhausen floß der Schweiß in Strömen herab, und doch war sein Gehüpfe umsonst: auch er fühlte sich umringelt und umwunden, und nun glitt er gar auf dem gar zu schlüpfrig gewordenen Boden aus, fiel hin und rollte mitten unter das blutdürstige Ungeziefer, nicht ohne eine ganze Anzahl davon plattzudrücken.
Die Kämpfenden, die alle mehr oder weniger Blut lassen mußten, waren erschöpft, und noch immer kroch es in dichten Massen den Abhang herauf. Wenn sie sich nur zu der Strickleiter hätten flüchten und in dem Weltschiff bergen können! Aber sie hatten ihr Lager wohl hundert Meter weit davon aufgeschlagen und zwischen ihnen und der Sannah wimmelte es von dichten schwarzen Massen, die sich über einander zu türmen schienen.
Da erschollen schrille, heißere Schreie in der Luft; dann dumpfe Flügelschläge, und gespenstisch rauschten mächtige schwarze Gestalten herab.
Im Schein des immer noch hochaufflackernden Feuers ließen sich einige dieser neuen Geschöpfe, die sich in dessen Nähe niedergelassen hatten, erkennen.
Sie boten keinen ermutigenden Anblick, vielmehr erschienen sie selber als schreckliche Ungeheuer: es waren Vögel, die nichts Vogelähnliches hatten als die ungeheuren Fledermausflügel. Am ehesten erinnerten sie an den Pterodaktylus der irdischen Urzeit; ein plumper Kopf mit tiefeingeschnittenem Rachen und scharfen Zähnen gab ihnen Ähnlichkeit mit diesem erstaunlichen Vogel. Ihre Größe übertraf die des Adlers um das Doppelte; das Merkwürdigste jedoch war, daß sie vier Füße besaßen, die mit gewaltigen Krallen bewehrt waren.
So unheimlich und gefährlich diese Vögel aussahen, wenn man sie überhaupt als Vögel bezeichnen konnte, so erschienen sie doch als Retter in höchster Not; denn sie räumten mit fabelhafter Gewandtheit und Mordgier unter den Ringelwürmern auf und kamen in solchen Scharen, daß sie sich auch der wimmelnden Mengen gewachsen zeigten.
Sie ließen sich namentlich am Rande des Hügels nieder und packten mit ihren Krallen und Zähnen alles, was da heraufkriechen wollte. Und nun, da keine neuen Nachschübe kamen, nahm die Zahl der Angreifer auf der Höhe sichtlich ab und mit neuem Mut ließen unsre Freunde wieder ihre Messer arbeiten.
Endlich erhob kein Wurm mehr sein drohendes Haupt, wenn auch die verstümmelten Leiber am Boden sich ringelten und wanden, zuckten und schnellten, als ob sie überhaupt nicht völlig tot zu kriegen seien.
Schultze eilte auf Münchhausen zu, der immer noch auf dem Boden umherrollte und nicht auf die Beine kommen konnte. Und jetzt, da die Gefahr beseitigt schien, lachte der Professor aus vollem Halse über den erheiternden Anblick: Da wälzte sich der runde Kapitän wie eine Tonne auf stürmischer See; an seinem Haupte hingen zwei Würmer gleich Schmachtlocken zu beiden Seiten herab und um seinen Hals wand sich ein allerdings geköpftes Tier wie ein dickes Halstuch.
Trotz seiner Heiterkeit beeilte sich Schultze doch, den dicken Freund von seinen Peinigern zu befreien und ihm mit Unterstützung des inzwischen ebenfalls herbeigeeilten Heinz auf die Beine zu helfen.
Dann ging es an das Verpflastern und Verbinden der Wunden, die merkwürdigerweise nur äußerst klein waren. Alle hatten mehr oder weniger Blut hergeben müssen, Münchhausen aber war entschieden am stärksten angezapft worden.
„Tut nichts!“ meinte er humorvoll: „Ich habe Vorrat und die Biester haben bei mir mehr Fett als Blut geholt, wie ich vermute; das kann mir bloß gut tun. Ich fühle mich geradezu erfrischt und erleichtert.“
„Aber einen Tanz haben Sie aufgeführt, Kapitän“, lachte Schultze: „Ich sage Ihnen, eine ägyptische Bauchtänzerin ist nichts dagegen.“
„Kunststück!“ sagte Münchhausen: „Wo hat eine ägyptische Tänzerin auch solch stattlichen Bauch?“
John übernahm die Wache, während sich die andern wieder zur Ruhe niederlegten.
Am Morgen wurden zunächst die Zelte wieder ins Weltschiff gebracht; denn ein zweitesmal auf dem Mars im Freien zu nächtigen, dazu verspürte niemand mehr Lust.
Das Frühstück wurde in der Nähe der Sannah eingenommen fern von den immer noch zuckenden Leibern der erlegten Lumbriciden auf dem nächtlichen Schlachtfeld.
„Ich schlage eine Entdeckungsreise auf dem Mars vor“, begann Schultze, als der Imbiß vertilgt war.
Alle waren damit einverstanden.
„John“, sagte Flitmore, „du bleibst als Wache zurück; man weiß ja nicht, was hier vorkommt. Am besten begibst du dich auf die oberste Plattform, wo du nach allen Seiten hin weite Ausschau halten kannst. Erblickst du etwas Verdächtiges, so läßt du die große Sirene ertönen.“
Als Rieger sich mit der pneumatisch betriebenen Sirene auf der Höhe der Kugel befand, marschierte die kleine Gesellschaft ab; Bobs wurde mitgenommen, während Dick dem Wächter Gesellschaft leistete.
Drunten im Sumpf sah man nichts von den widerlichen Geschöpfen, die er beherbergte; aber an den Bewegungen der Pflanzendecke konnte man deutlich erkennen, daß der Morast von gelenkigen Bewohnern wimmelte.
Inzwischen ging man auf dem Höhenrücken einem nahen Walde zu, der aus niedrigen, rotbelaubten Bäumen bestand.
Diese Bäume erweckten besonders Schultzes lebhaftes Interesse, denn sie zeigten ganz eigentümliche Formen. Die meisten hatten weder Äste noch Zweige; die großen Blätter entsproßten an langen, dicken Stielen direkt dem Stamm, der sich an der Spitze in ein Bündel solcher beblätterter Stiele auflöste.
Die Blätter waren meist rund und tellergroß, andre kleeblattförmig, aus drei vereinigten Rundscheiben bestehend; wieder andre zeigten dreieckige, viereckige und mehreckige Bildung, boten also einen Anblick, der Erdbewohnern völlig neu und ungewohnt war.
Ein dreibeiniges Tier.
Einzelne Baumarten, die reich verästelt waren, hatten Doppelblätter, die sich gleich Austernschalen auf- und zuklappten und offenbar den Insektenfang betrieben.
Übrigens war von Insekten nur wenig zu sehen: einige merkwürdige Mücken, durchsichtig wie Glas, und Käfer ohne Beine, die fliegenden Raupen und fliegenden Würmern glichen und sich am Boden und an den Bäumen auch gleich solchen fortbewegten, ja geflügelte Schnecken, die einen bläulichen Schleim aussonderten, zweibeinige Ameisen und Spinnen, das waren die Wunder, die Schultze seinen Sammlungen einverleibte.
Auch Vögel waren nur in wenigen Arten vertreten: sie hatten alle die Eigentümlichkeit, vierbeinig zu sein, ein Anblick, der den an irdische Geschöpfe gewöhnten Augen äußerst sonderbar vorkam. Dazu gesellte sich der Umstand, daß diese Vögel nicht gefiedert waren, sondern einen behaarten oder mit Schuppen bedeckten Leib hatten, der aber in wunderbaren bunten Farben von metallischem Glanze strahlte. Die Schnäbel wiesen meist ein gezahntes Gebiß auf und die Flügel bestanden vorwiegend aus fächerartig übereinandergreifenden langen und starken Schuppen oder dünnen Hornscheiben.
Als die Wanderer eine Lichtung betraten, rauschte es im Gebüsch und das erste Wild, das sie auf dem Mars erblickten, zeigte sich ihren Augen.
Es erschien ebenso seltsam wie die Insekten- und Vogelwelt. Groß war es nicht, kaum größer als ein Esel; aber es hatte ein schreckliches Gebiß, wie überhaupt der platte, lange Kopf an ein Krokodil erinnerte. Von der Mitte des Hauptes stieg ein äußerst scharfes Horn senkrecht empor und zu beiden Seiten über den Ohren ragten zwei kürzere Hörner wagrecht hervor, die Spitzen nach vorne gebogen. Das Seltsamste aber war: Dieses gefährlich aussehende Tier war dreibeinig! Es hatte zwei Vorderfüße, aber nur einen Hinterfuß am Ende des nach hinten sich birnenförmig zuspitzenden Leibes.
Späterhin wurden noch verschiedene Tierarten getroffen, alle klein, aber scharf bewehrt, und alle dreibeinig wie das zuerst geschaute.
„Da hört sich doch aber alle Wissenschaft auf!“ rief der Professor ein über das anderemal: „Vierbeinige Vögel, dreibeinige Säugetiere und zweibeinige Insekten! Das glaubt mir ja drunten auf der Erde kein Mensch, selbst wenn ich die wohlpräparierten Beweisstücke auf den Tisch der Wissenschaft niederlege!“
„So seid ihr Professoren!“ tadelte Münchhausen: „Wenn ihr so ungefähr innehabt, wie die Naturprodukte auf eurer kleinen Erde aussehen, so glaubt ihr, das ganze unendliche Weltall erschöpft zu haben und bildet euch ein, die unerschöpfliche Natur sei nie und nirgends imstande, etwas zu schaffen, das nicht aufs Haar mit dem übereinstimmt, was sie euch auf eurem weltverlorenen kleinen Sandkörnchen vor die Nase zu führen beliebt.“
Schultze bedauerte unendlich, daß er nicht den Vögeln und Insekten und Pflanzenproben, die er sich aneignete, auch ein Exemplar jeder Tiergattung beifügen konnte. Dafür gelangen dem Lord mehrere Momentaufnahmen, so daß die eigenartige Tierwelt wenigstens in getreuen photographischen Abbildungen mitgenommen werden konnte. Ein besonders merkwürdiges Säugetier, das zum Transport nicht zu schwer schien, erlegte Heinz auf des Professors Bitte mit einem wohlgezielten Schuß.
Dieses Wild hatte die Größe eines Ebers, einen schlanken, beweglichen, doch starknackigen Hals, auf dem sich hoch oben ein rundlicher, possierlicher Kopf mit einer breiten Schnauze wiegte; es war dreibeinig wie alle anderen Marssäuger und aus seinem Schädel wuchsen starke spitzige Hörner wie die Stacheln eines Igels, im ganzen 15 Stück, wie nach der Erlegung festgestellt wurde.
„Ich danke! Wenn solch ein Vieh mit gesenktem Kopf auf einen losstürmt!“ sagte Münchhausen.
„Ja, das würde Ihre geschätzte Leibeswölbung in ein Sieb verwandeln,“ lachte der Professor.
„Ich bin nur begierig, wie die Marsbewohner aussehen,“ fuhr der Kapitän fort: „Sind die Insekten hier zweibeinig, so vermute ich, daß die Menschen zum mindesten sechsbeinig sind; denn daß die Natur hier besonders mit der Zahl der Beine verblüffende Experimente macht, dürfte nach all dem Gesehenen feststehen.“
„An die Marsmenschen glaube ich nicht,“ sagte Schultze.
„Hören Sie, Professor, was Sie glauben, ist völlig belanglos, indem Sie ein Mann der Wissenschaft sind. Haben Sie etwa an vierbeinige Vögel, dreibeinige Wildsäue und zweibeinige Spinnen geglaubt, ehe Sie solche hier sahen?“
„Nee! Das freilich nicht; aber — — —“
„Nichts ‚aber‘! Wenn Sie also an keine sechsbeinigen Marsmenschen glauben, so spricht das sehr für deren Vorhandensein, und ich gedenke unter allen Umständen, wenn wir auf die Erde zurückkehren, sehr viel und sehr Unterhaltendes von diesen Marsmenschen zu erzählen, auch wenn wir keine zu sehen bekommen, und da hoffe ich, daß Sie mir nie widersprechen werden, da Sie doch nun deutlich gesehen haben, daß eben das, woran Sie nicht glauben, der Wirklichkeit entspricht.“
Inzwischen war das Ende des Waldes erreicht, der nur etwa zwei Kilometer in der Breite maß.
An dieser Stelle verband ein von der Seite her kommender Hügelwall die Anhöhen, auf denen die Wanderer marschierten, mit den parallel laufenden Hügelstreifen.
Diese quer laufende Kette war besonders breit und konnte als Hochebene bezeichnet werden; sie war aber durchaus nicht völlig eben, sondern zeigte mehrere gebirgsartige Erhebungen, die allerdings nirgends viel mehr als zwei- bis dreihundert Meter Höhe erreichen mochten.
Es wurde beschlossen, rechts abzubiegen und das nächstgelegene dieser kleinen Gebirge näher zu untersuchen.
Nach einer halbstündigen Wanderung war der Fuß der Berge erreicht. Nach einer weiteren halben Stunde die erste Anhöhe erklommen.
Der Ausblick, der sich hier unseren Freunden bot, überzeugte sie sofort, daß die Sage von den Marsmenschen keine reine Phantasie der Astronomen sein konnte; denn vor ihren Blicken öffnete sich ein Hochtal, das von einer ganzen Anzahl von Bauten erfüllt war, die zweifellos vernunftbegabten Wesen ihren Ursprung verdankten.
Auch diese Bauwerke hatten ihre auffallenden Eigentümlichkeiten: zum ersten waren sie schmal und hoch, turmartig aufgeführt; zum zweiten erschienen sie alle dreieckig, zum dritten sahen sie wie aus einem Guß gefertigt aus.
Der Professor, der für alles eine Erklärung suchte und auch gleich bei der Hand hatte, ließ sich also vernehmen:
„Die Marsbewohner bauen offenbar in die Höhe wie die Newyorker, jedenfalls auch aus demselben Grund: sie müssen an Platz sparen. In der Tat erreicht die gesamte Oberfläche des Mars noch keine drei Zehntel der Erdoberfläche; da überdies die schrecklichen breiten Sümpfe einen großen Teil des Festlandes einzunehmen scheinen, so müssen sie an Bauplatz sparen. Dreieckig sind die Häuser aufgeführt, um den Orkanen und den Wasserfluten bei der Schneeschmelze wirksamen Widerstand bieten zu können; daß sie so glatt und ungegliedert aussehen, weist auf eine besondere Masse hin, mit der die Baumeister die Gebäude von außen gleichmäßig bestreichen, auf einen Mörtel, der vielleicht dem Mars eigentümlich ist.“
„Scharfsinnig, wie immer, Professor!“ lachte der Kapitän. „Aber gestatten Sie mir diesmal, den Zweifler zu spielen: wir haben auf unserer ganzen Wanderung weder Dörfer noch Städte, ja nicht einmal angebautes Land getroffen oder auch nur von ferne erblickt. Also haben die Marsbewohner noch keinen Mangel an Bauplätzen; zum andern dürfte in diesem geschützten Tale kaum je ein heftiger Orkan wehen, auch ist es so hoch gelegen, daß keine Wasserfluten es bedrohen. Abgesehen von diesen Kleinigkeiten mögen Sie ja immerhin recht haben.“
„Na!“ sagte Schultze: „Sie oller Zweifler! Lassen wir das einstweilen dahingestellt und untersuchen wir die Häuser. Verlassen oder ausgestorben scheint ja die Stadt zu sein.“
Das, was Schultze eine „Stadt“ nannte, waren etwa hundert zumeist gleich geformte Bauwerke von mäßigem Umfang. Sie leuchteten in allen Regenbogenfarben, eines blau, das andere rot, das dritte grün; einige schneeweiß, andere schwarz; daneben gelbe, braune, orangerote, violette Türme in allen Farbenabstufungen.
Im Innern erwiesen sie sich sämtlich ganz ähnlich angelegt; statt einer Treppe führte ein gewundener Gang empor, von schmalen Seitenfenstern erhellt. Ganz oben befand sich ein dreieckiges Gemach, in welchem auf erhöhten Matten — Leichen lagen.
Ja, nur Leichen!
„Eine Begräbnisstätte, ein Friedhof,“ rief Heinz aus.
„Wenigstens eine Totenstadt,“ entgegnete Schultze, „da von Gräbern und Begräbnis hier nicht die Rede ist.“
Die Leichen waren alle in lange Gewänder von einem eigentümlichen glatten und sehr schmiegsamen Stoffe gekleidet, der keine Fäden, kein Gewebe erkennen ließ. Entweder war dieser auf Erden unbekannte Stoff aus einer äußerst zähen Gummiart papierdünn gewalzt, wobei der Gummi jegliche Elastizität verloren hatte, oder er war aus einem nur den Marsbewohnern bekannten Material gegossen.
Die Gewänder glänzten auch in den verschiedensten lebhaften Farben. Die Körper unterschieden sich nicht wesentlich von menschlichen Körpern; sie waren aber alle sehr klein, schlank und zierlich und jedenfalls wiesen sie eine Rasseneigentümlichkeit auf, die auf Erden nicht zu finden war. Diese Eigentümlichkeit bestand im Wesentlichen in einer auffallenden Schädelform: man hätte meinen können, jedes dieser Häupter trage eine Kappe; denn über der Stirne eingeschnürt, saß eine zweite mäßig gewölbte und dichtbehaarte Schädelkammer.
„Zwei Stockwerke!“ rief Münchhausen in ehrlichem Staunen: „Ein zweistöckiges Gehirn haben diese Marsiten besessen! Nein, müssen die gescheit gewesen sein!“
Die rosige Haut des Gesichts und der Hände, so weich und zart sie aussah, erwies sich nichtsdestoweniger bei der Berührung als ungeheuer zäh, wie Leder oder wie die Haut eines Elefanten.
Schultze machte, nicht aus sträflicher Neugier, sondern aus wissenschaftlichem Interesse, einen Versuch, die Haut einer Hand mit seinem Dolche zu ritzen; doch als er schließlich auch alle Gewalt anwendete, es gelang ihm nicht, das Gewebe zu verletzen; das Messer hinterließ nur eine vertiefte Spur, die bald wieder verschwand.
„Die waren ausgerüstet für den Kampf ums Dasein!“ sagte er: „die scharfen Hörner der wilden Tiere, die Klauen und Gebisse der Vögel und die blutsaugerischen Schnauzen des Gewürms konnten ihnen nichts anhaben. Um so mehr dürfen wir erwarten, bald auf lebende Marsbewohner zu stoßen: ein solches Geschlecht stirbt nicht aus!“
Der Professor kannte die Schrecken des Mars noch allzuwenig!
Flitmore photographierte das Innere der Leichenhalle, sowie einige besonders charakteristische Mumien. Nach Verlassen der Totenstadt nahm er auch diese von einer Anhöhe aus auf; dann verließen unsere Freunde den Ort durch ein gewundenes, bergabführendes Tal.
Am Ausgange der Schlucht lehnte an der Bergwand ein niedriger, dreieckiger Bau aus „Gußstein“; denn so hatte Schultze das steinerne Material, das gleichmäßig glatt war und keine Lücken aufwies, benannt. Er vermutete, daß die Marsbewohner eine besondere Steinart wie Lava zu schmelzen verstünden, im flüssigen Zustand färbten und dann ihre Häuser in einem Block in Erdformen gossen.
Dafür sprach der Umstand, daß die Bauten in der Totenstadt eine beschränkte Anzahl von Formen aufwiesen, die in genau den gleichen Abmessungen immer wiederkehrten. Der Bruch einzelner beschädigter Steine zeigte, daß die Färbung den ganzen Stein durchdrang und daß tatsächlich nirgends eine Fuge vorhanden war, sondern alles aus einem Block bestand.
Vor dem neuentdeckten Hause nun saß ein steinaltes Männlein, dessen Doppelschädel den Eindruck machte, als trage er eine Mütze aus Eisbärenfell; denn schneeweis war sein dichtes Pelzhaar, das zottig herabhing, jedoch nicht länger als es bei einem Tierpelz zu wachsen pflegt.
Ein ebenso zottiger kurzer Bart umrahmte sein Gesicht.
Mit den großen, gescheiten Augen betrachtete er die Ankömmlinge, offenbar sehr interessiert, aber durchaus nicht mit der Verwunderung oder gar dem Entsetzen, welche diese sich geschmeichelt hatten, bei dem ersten Marsbewohner zu erregen, der ihre fremdartige Erscheinung gewahren würde.
Als sie sich ihm nahten, erhob er sich langsam. Ein leuchtendes rotes Gewand umfloß seine schlanken Glieder.
Und nun zeigte Schultze den unentwegten Professor: er redete den Marsgreis im elegantesten Latein an, das ihm zur Verfügung stand; denn er dachte, Latein sei eine Weltsprache, die von gebildeten Wesen überall verstanden werden müsse. Er bedachte nicht, daß die alten Römer, so unternehmungslustig sie waren, die Grenzen ihres Reichs doch nicht über den Erdball ausgedehnt hatten.
Übrigens war der Marsite stocktaub, wie er durch ein beredtes Berühren seiner Ohren und sein trüblächelndes Kopfschütteln zu verstehen gab.
Da er jedoch an Schultzes beweglichen Lippen erkannt hatte, daß dieser ihn anredete, mochte er meinen, die seltsamen Besucher sprächen die Marssprache; denn er ließ einige wohllautende Worte vernehmen, merkte aber bald an des Professors Kopfschütteln, daß man ihn nicht verstand.
Da deutete er auf die Gruppe, die ihn anstaunte, und erhob den Blick gen Himmel. Gleichzeitig streckte er den Arm empor und wies auf einen blassen Stern.
Das war die Erde!
Da die Erde dem Mars weit näher steht als die Sonne, und diese ihm infolge ihrer Entfernung nicht so blendend leuchtet, wie uns, konnte man die Erde hier bei Tageslicht am Himmel stehen sehen.
So sehr Lord Flitmore an Selbstbeherrschung gewohnt war, die Gebärde des Greises brachte ihn doch aus der Fassung.
„Allmächtiger!“ rief er aus: „Sollte man das für möglich halten? Dieser Marsmensch vermutet, daß wir von der Erde her kommen! Offenbar ist ihm das Vorhandensein von Menschen dort bekannt und man rechnete hier damit, eines Tages einen Besuch vom Nachbarsterne her zu erhalten.“
„Nein! Welche Hilfsmittel müssen diese Marsmenschen besitzen!“ meinte Schultze verwundert.
„Ich glaube fast, ihre Augen ersetzen ihnen das beste Teleskop,“ bemerkte Heinz: „Sehen Sie doch nur, wie der Mann seine Augen weit heraustreten läßt, wenn er nach der Erde schaut, und wie tief er sie in die Höhlen zurückzieht, wenn er uns betrachtet.“
In der Tat bemerkten jetzt alle dieses seltsame Augenspiel, je nachdem der Marsite den Blick auf nähere oder entferntere Gegenstände richtete.
Der Marsgreis.
„Fragen Sie doch den Alten, wo wir noch mehr Seinesgleichen treffen können,“ wandte sich Münchhausen ironisch an Schultze, der mit seinem Latein zu Ende war nach dem ersten vergeblichen und etwas törichten Verständigungsversuch.
Heinz Friedung aber bewies, daß er einer solchen Aufgabe gewachsen war: er unternahm es, die gewünschte Auskunft zu erhalten.
Das griff der intelligente junge Mann folgendermaßen an:
Er wies auf die eigene Brust und streckte den Daumen der geschlossenen linken Hand empor; dann deutete er der Reihe nach auf Flitmore, Mietje, Schultze und Münchhausen, jedesmal einen weiteren Finger der Linken ausstreckend.
Der Marsite folgte aufmerksam diesem Gebärdenspiel, das besagen wollte: „Wir sind fünf.“
Als Heinz dann seine Hand wieder schloß, zeigte der Alte, daß er begriffen habe und des Zählens mächtig sei; denn mit einer Handbewegung wies er auf die Gruppe und streckte dann fünf Finger aus, als wollte er sagen: „Das stimmt, ihr seid zu fünft.“
Jetzt zeigte Hans auf den Marsiten und streckte wieder den Daumen allein vor. Das hieß: „Du bist nur einer.“ Dann sah sich der junge Mann forschend und fragend nach allen Seiten um mit hilflosen Handbewegungen, aus denen der Marsbewohner sofort die Frage erriet: „Wo sind die andern Bewohner des Mars?“
Da schüttelte er den Kopf und eine tiefe Traurigkeit überzog seine milden Züge: eindringlich streckte er den einen Daumen empor, berührte seine Brust, wies dann mit dem Arm im Kreise umher, immer kopfschüttelnd und zugleich die Hand verneinend schwenkend, als wollte er sagen: „Ich bin allein da! Sonst ist nirgends mehr jemand vorhanden.“
Erstaunt glotzten unsere Freunde ihn an; da winkte er ihnen, ihm zu folgen.
Er führte sie an den Rand des Hügels und deutete in den Sumpf hinab.
Da sahen sie schaudernd die Spitzen von Gebäuden aus dem schwarzen Schlamme emporragen und die traurigen Gebärden des Greises sagten: „Alle sind verschlungen von den Wassern, alle modern im Sumpf oder dienen den Sumpfwürmern zum Fraß.“
Dann raffte sich der Alte auf, deutete auf seine Gäste und dann hinauf zur Erde, ihnen mit heftigen Handbewegungen begreiflich machend: „Fliehet, fliehet! Sonst ereilt euch das gleiche Schicksal!“
Dieses gräßliche Geschick verdeutlichte er noch dadurch, daß er wieder hinab in den Sumpf zeigte, dann die Handfläche wagrecht über den Boden hielt und sie ruckweise am eigenen Körper immer höher steigen ließ, bis er sie hoch über den Kopf hob.
„Er will andeuten, daß die Gewässer plötzlich steigen und hoch über unsere Köpfe weggehen können,“ erklärte der Lord.
„Allerdings,“ bestätigte Schultze: „Die Astronomen haben des öfteren derartige Katastrophen auf dem Mars beobachtet: Das Land wird urplötzlich vom Meere verschlungen, und die Verteilung von Kontinenten und Meeren nimmt eine ganz neue Gestaltung an.“
„So werden wir hier nicht mehr viel zu entdecken haben,“ meinte Münchhausen: „Der Mann kennt sich jedenfalls am besten aus auf dem Mars und wir werden gut tun, seine Warnung nicht in den Wind zu schlagen.“
In diesem Augenblick dröhnte der Klang der Sirene von der Sannah durch die Lüfte.
„Halloh! Das ist ein bedenkliches Zeichen!“ rief Flitmore.
„Was mag da los sein?“ fragte Mietje besorgt.
„Jedenfalls gilt es, schleunigst umzukehren“, mahnte der Kapitän.
Heinz faßte den Marsiten bei der Hand und wies ihm das in der Ferne hoch aufragende Weltschiff, ihm bedeutend, er möge mit ihnen flüchten.
Der Mann aber schüttelte bloß traurig das Haupt und schwenkte die Hand gegen den Sumpf hinab. Da war nichts zu machen: dort lagen alle seine Lieben, bei ihnen wollte er sein Grab finden!
Flitmore unterließ nicht, den letzten Zeugen einer ausgestorbenen Menschenwelt zu photographieren; dann schieden unsre Freunde bedauernd von dem Greise und beeilten sich, die Sannah wieder zu erreichen; denn der Ton der Sirene hatte ihnen verkündigt, daß dort etwas nicht in Richtigkeit sein mußte.
Am Waldsaum machten sie Halt, um von den mitgenommenen Vorräten ein kurzes Mahl zu halten; denn der Hunger hatte sich mächtig eingestellt und Münchhausen hatte erklärt, mit leerem Magen komme er keinen Schritt weiter, nachdem er heute Nacht so gründlich angezapft worden sei.
Bobs, der Schimpanse, pflückte sich die goldgelben pyramidenförmigen Früchte der Bäume am Waldrand und verzehrte sie mit so sichtlichem Behagen, daß der Kapitän sich nicht enthalten konnte, auch davon zu kosten. Er fand sie von solch köstlichem Wohlgeschmack, daß auch die Übrigen zugriffen und einen großen Vorrat davon mitnahmen.
In zwanzig Minuten war das Wäldchen durchschritten, da man sich nicht wieder durch seine Merkwürdigkeiten aufhalten ließ.
Als John die Heimkehrenden aus dem Walde heraustreten sah, kletterte er rasch an der Sannah hernieder und ging ihnen entgegen.
„Was ist’s? Was gibt’s?“ rief ihm Heinz von ferne zu. „Ist etwas passiert, sahst du eine Gefahr nahen, daß du das Notsignal gabst?“
„O, meine Herren!“ rief Rieger, der keuchend dahertrabte: „Die Sannah ist sozusagen heil und wohlbehalten, indem ihr nichts passiert ist; aber es ist ein schreckliches Wunder geschehen, was ich von weitem erblickt habe, und das ich befürchten mußte, wenn es in der Nähe sich ähnlich ereignen dürfte, es nicht zum wenigsten unser Weltende herbeizuführen vermöglich wäre.“
„Was sahst du denn so Entsetzliches?“ forschte der Lord seelenruhig.
„Dort, weit dort drüben ist ein ganzer Bergzug sozusagen im Boden verschwunden und dann ist ein andrer aus der Tiefe heraufgestiegen und das Wasser und Gewürm floß an ihm herab.“
„Das scheint ein Erdbeben gewesen zu sein!“ meinte Schultze.
„Merkwürdig, daß wir nichts davon spürten“, warf Münchhausen ein.
„O, die Sannah hat nicht unbeträchtlich gewackelt“, erklärte der Diener.
„Wenn die Wellenbewegung des Bebens sich senkrecht gegen diese parallelen Hügelzüge richtete, so ist es nicht auffallend, daß sie bald so abgeschwächt wurde, daß sie uns nicht mehr erreichte“, erläuterte der Professor. „Überhaupt zeigen Erdstöße oft eine auffallend scharfe Abgrenzung: ein Tal, ein Flußbett gebietet ihnen häufig Halt. Es kommt vor, daß eine Stadt auf der einen Seite eines Flusses einstürzt, während man im jenseitigen Stadtteil die Erschütterung kaum spürt.“
„Mag sein! Aber ich stimme dafür, daß wir den Mars schleunigst verlassen, der bei Tag so unheimlich und gefährlich zu sein scheint, wie bei Nacht.“
Dieser Meinung des Kapitäns wurde kein Widerspruch entgegengesetzt; aber mit der schleunigen Abreise hatte es noch gute oder besser „schlimme“ Wege.
So weit das Auge sah, schien plötzlich die ganze Marsoberfläche in Bewegung geraten zu sein. In der Luft dröhnte und donnerte es, der Erdboden krachte, eine rötliche Staubwolke erfüllte die Luft, so daß eine Zeitlang nichts mehr zu erkennen war; dann fegte ein plötzlich daherbrausender Orkan die Wolke hinweg; doch schien sie nur in die oberen Luftschichten getrieben worden zu sein; denn eine blutig-fahle Dämmerung lagerte über dem Grunde.
Ein Schrei des Entsetzens entrang sich unwillkürlich aller Lippen; nur Flitmore blieb stumm und anscheinend ruhig.
Dann standen die Erschreckten wie erstarrt.
Bobs, der Affe, allein sprang in rasenden Sätzen der Sannah zu, die er erreichte und an der er zu seinem Kameraden Dick emporklomm.
Unsre Freunde aber sahen gewaltige Wogen auf sich zukommen.
Anfangs glaubten sie, es seien richtige Wasserwellen, das Meer sei seinem Bette entstiegen, sie zu verschlingen.
Bald aber erkannten sie, daß das Land selber mit seinem leichten weichen Erdboden diese Wellen warf: Hügel verschwanden und neue Hügelketten tauchten auf, um wieder zu versinken und sich wieder zu erheben.
Und mit unheimlicher Geschwindigkeit nahten diese Erdwogen. An ein Erreichen des Weltschiffs, das noch zweihundert Meter entfernt war, war nicht mehr zu denken.
Der Boden wankte unter den Füßen der Schreckgelähmten.
Jetzt ein heftiger Stoß, der alle durcheinander warf; die Erde versank zu ihren Füßen: sie lagen in der Tiefe; aber der Grund hob sich wieder und sie mit ihm. Nur Münchhausens rundliche Masse kollerte alsbald wieder von der Höhe hinab: sein kugelförmiger Körper fand nirgends Halt und blieb in beständiger rollender Bewegung.
Noch mehrmals wurden die Daliegenden hilflos gehoben und gesenkt von der Wellenbewegung der Erde; dann wurde die Erschütterung schwächer und sie fanden sich in einer breiten Mulde liegend.
„Hinauf, hinauf!“ rief Flitmore, der sich zuerst emporraffte und Mietje beim Arm faßte, sie mit Hünenkraft den steilen Abhang emporschleifend.
Es war die höchste Zeit! Brausend kam es die Mulde herauf: ein Strom von Schlamm, ein dichtes Pflanzengewirr und eine wimmelnde Masse von zappelnden Würmern mit sich führend.
Wer von dieser Woge erreicht wurde, der war verloren: aus diesem Chaos hätte keiner mehr seine Glieder zu befreien vermocht.
Mit knapper Not entkam der Professor der zähen Flut, die sich heranwälzte, als er kaum auf halber Höhe des Abhangs angelangt war. Von dem aufspritzenden Schlamm wurde er über und über bedeckt.
Heinz und John, unmittelbar vor ihm, reichten ihm hilfreich die Hand. Der Lord und Mietje befanden sich schon oben in vorläufiger Sicherheit.
„Wo ist der Kapitän?“ rief Flitmore, das Brausen im Grunde überschreiend.
„Da liegt er gottlob!“ schallte Heinzens Stimme.
Ja, da lag er zu oberst auf der Bodenwelle. Bei der letzten Wellenbewegung war es seinen verzweifelten Anstrengungen geglückt, sich an einem kleinen Erdhügel festzukrallen und so war er zuguterletzt emporgehoben worden, ohne wieder herabzurollen. Sonst wäre der Unselige unbedingt verloren gewesen; denn aus dem Grunde der Mulde hätte er sich nicht so rasch emporarbeiten können wie die andern und da entschieden Sekunden über Leben und Tod.
Da lag er nun und bot wiederum einen Anblick, der unter minder grauenhaften Umständen die größte Heiterkeit entfesselt hätte; denn es sah zu gelungen aus, wie er noch krampfhaft, beinahe zärtlich das rettende Erdhügelchen umarmt hielt, als wolle er es nicht wieder von sich lassen.
Endlich brachte ihn der Zuspruch und die tätliche Hilfe von Flitmore und Heinz wieder auf die Beine, wobei John ihn mit kräftigen Armen von hinten im Gleichgewicht hielt.
Aber nun war guter Rat teuer für alle: dort drüben ragte die Sannah aus dem Sumpf, in den sie versenkt worden war. Gähnend öffnete sich die Türe hart über dem Sumpfspiegel, auf dem die Strickleiter von Morast überzogen schwamm.
Ein Glück, daß die Öffnung nicht tiefer zu liegen gekommen war, sonst wäre der Schlamm ins Innere geflutet und keine Aussicht mehr gewesen, überhaupt in das Fahrzeug zu gelangen.
Allerdings schien auch so keine Möglichkeit hiezu vorhanden, so einladend das Tor herübergähnte: ein Sumpfarm von dreißig Meter Breite trennte die Gesellschaft von der Sannah und das war ein unüberwindliches Hindernis.
„Wenn wir nur die Strickleiter herüberziehen könnten!“ meinte Flitmore nachdenklich; „sie ist fünfzig Meter lang, und wir brauchen sie nur straff anzuspannen, um hinüberturnen zu können.“
Alle strengten nun ihre Gehirnkraft an, um ein Mittel zu ersinnen, dieses Ziel zu erreichen.
„Wenn die Affen so gescheit wären“, seufzte Mietje nach langem Stillschweigen: „die könnten uns das Ende der Leiter wohl herüberschaffen: die Schlammasse ist dick genug und soviele Wurzeln und verwirrte Pflanzen ragen daraus hervor, daß die Schimpansen bei ihrem geringen Körpergewicht kaum darin versinken würden.“
„Ja! Wenn ... wenn ...!“ erwiderte der Lord: „Aber wie willst du ihnen das begreiflich machen? Marsmenschen sind sie noch lange nicht.“
Immerhin pfiff er den Affen, ohne sich darüber klar zu sein, was es helfen könne, wenn sie herkamen.
Die Schimpansen hatten stets mit Neugier herübergeblickt; es schien ihnen offenbar nicht in der Ordnung, daß sie von ihren Herren völlig getrennt waren.
Als nun Flitmores wohlbekannter Pfiff erscholl, dem sie zu folgen gewohnt waren, kletterten sie an den Rampen herab bis zum Sumpfspiegel. Hier aber machten sie unschlüssig Halt: der Boden schien ihnen verdächtig.
Nochmals pfiff der Lord.
Nun wagte sich Bobs auf die trügerische Fläche. Er hielt sich mit einer Hand an der Strickleiter fest und versuchte die ragenden Wurzeln und Pflanzen als Brücke zu benutzen; dabei schleppte er die Strickleiter bis zum halben Weg mit sich; da er aber eine Mittelsprosse und nicht das Ende erfaßt hatte, war nun die Strickleiter straff gespannt und er konnte nicht weiter, ohne sie loszulassen.
Ein dritter Pfiff Flitmores hatte nur zur Folge, daß er los ließ und nun vollends frei herüberturnte, was ihm bei seiner Gewandtheit auch gelang.
Inzwischen nahte sich auch Dick, der nun an der Strickleiter eine Brücke bis zur Mitte des Sumpfes fand. Hier verließ auch er sie und kam vollends glücklich ans Ufer.
„Nur fünfzehn Meter!“ seufzte der Kapitän.
„Wollen Sie’s riskieren?“ höhnte Schultze: „Untergehen werden Sie ja wohl kaum.“
„Das nicht,“ lachte Münchhausen gutmütig, „aber bis zur Mitte meiner Konstitution einsinken, das ist sicher. Was könnte es Ihnen helfen, wenn ich als lebendige Kugelboje im Morast schwämme?“
„Ich muß hinüber, ich bin die Leichteste“, sagte Mietje in plötzlichem Entschluß.
„Du?“ rief ihr Gatte mit einem Ton der Besorgnis in der Stimme.
„Ja, ich! Irgendwie müssen wir aus dieser Notlage herauskommen, und das ist nicht möglich, wenn nicht jemand das Wagnis unternimmt. Das geringste Körpergewicht gibt die beste Aussicht auf das Gelingen und somit bin ich die Geeignetste dazu; denn sinke ich unter, so würde das jedem von euch umso sicherer widerfahren.“
„Nein, nein! Dieses heldenmütige Opfer können wir nie und nimmer annehmen“, widersprach der Kapitän.
„Doch, doch! Bobs wird mich führen, und so gescheit und treu ist er schon, daß er mich hält, wenn er mich sinken sieht.“
„Wir müssen dich anseilen“, sagte Flitmore, der einsah, daß etwas gewagt werden mußte und daß seine mutige Gattin allerdings am ehesten Aussicht hatte, den Sumpf ohne ernsten Unfall beschreiten zu können.
„Gut“, sagte Mietje, „so bitte ich die Herren einen Augenblick wegzusehen.“
Sie trug unter dem Kleide einen Unterrock aus starker Leinwand. Dieses entbehrlichen Kleidungsstückes entledigte sie sich rasch und schnitt es in Streifen mit der Scheere, die sie als praktische Hausfrau in einem handlichen Nähetui stets bei sich trug.
Die aneinandergeknüpften Streifen gaben ein Seil, das stark genug war, sie im Notfall ans Ufer zurückzuziehen.
Nun ergriff die junge Heldin Bobs Arm und schob den Schimpansen voran auf den Morast.
Der Affe zeigte sich verständig und lenksam und schritt gewandt aus, die haltbarsten Unterlagen geschickt auswählend.
Mietje, die sich des besseren Haltes wegen ihrer Schuhe und Strümpfe entledigt hatte, konnte sich nicht wie der Schimpanse mit den Füßen an den schwankenden Wurzeln und Ranken anklammern: um so fester klammerte sie sich am Arme ihres Beschützers fest, während die Männer am Ufer das Seil straff hielten, das ihr unter den Schultern festgebunden worden war.
Es war übrigens ein kurioses Schauspiel, die zarte Lady am Arme des Affen dahinschreiten zu sehen; doch richtete sich die Aufmerksamkeit der am Ufer Stehenden lediglich auf ihre Tritte. Oft erbebten sie, wenn sie sahen, daß ihr Fuß einsank; aber die Dame war so behende, daß sie jedesmal schon den andern Fuß auf irgend einen festeren Punkt gesetzt hatte und ihr Körpergewicht rasch auf diesen verlegte, ehe der eine Fuß nur Zeit fand, tiefer einzusinken.
Ein langsames, zögerndes Ausschreiten wäre ihr Verderben gewesen; durch dieses flinke Vorwärtshüpfen, das Bobs kaum gewandter zuwege brachte, gelang es ihr auch sehr zweifelhafte Stützpunkte im Fluge zu benutzen, sie nur als flüchtiges Sprungbrett für den nächsten Schritt verwertend.
„Bei allen Feen und Elfen!“ konnte der Kapitän sich nicht enthalten, bewundernd auszurufen: „Lord, ich glaube, ihre Gattin würde mit ebensolcher Eleganz über das Meer hinweghüpfen: bis ein Fuß einsinken will, ist er schon ganz wo anders.“
„Nicht wahr, da staunen Sie, stattlicher Hugo“, spöttelte Schultze: „Sie möchte ich an Stelle der Lady sehen, wie leichtfüßig Sie durch den Morast stapfen würden. Daß Sie ja hüpfen können, trotz einem Ballettmädel, haben Sie uns heut Nacht bewiesen, edler Würmlizertreter.“
Jetzt atmeten alle auf; Mietje hatte die Strickleiter erreicht und zog das in den Sumpf gesunkene Ende aus dem Schlamm; aber der hierdurch veranlaßte Aufenthalt auf dem unsicheren Boden sollte ihr verhängnisvoll werden.
Sie stand auf einem dünnen Gewirr verflochtener Lianen und Wurzeln, das alsbald zu sinken begann, wie sie sich bückte und mühsam die Strickleiter aus dem Sumpf zog: eine schwere Arbeit, da Pflanzen und — o Graus! auch dicke Würmer an den Sprossen hingen.
Die Männer am Ufer zogen sofort das Seil an, als sie Mietje sinken sahen; diese aber rief ihnen ein energisches: „Halt, halt!“ zu.
Es wäre eine schlimme Sache für die arme junge Frau gewesen, am Strick durch diesen Morast mit all seinem Wirrwarr geschleift zu werden, und sie wäre sicher in bös zerfetztem und zerschundenem Zustand drüben angekommen. Daran dachte sie jedoch nicht: es war ihr lediglich darum zu tun, so nahe am Ziel den Erfolg ihres gefährlichen Unternehmens nicht in Frage zu stellen.
Bangend sahen ihr die Männer am Ufer zu, bereit, sofort das Seil anzuziehen, sobald Mietje in dringende Lebensgefahr geriete. Sie stak schon bis zu halbem Leibe im Schlamm, als sie endlich die Strickleiter so weit emporgezogen hatte, daß sie bis ans Ufer reichen konnte.
Aber was war das? Sie band ja das Seil los, das ihr den letzten Halt geben sollte.
„Mietje, was tust du? Was fällt dir ein?!“ rief Flitmore mit unverkennbarem Schrecken.
„Das Gescheiteste!“ rief die Lady zurück.
Sie band rasch das Ende des Stricks an einer Sprosse fest und schrie dann hinüber: „Jetzt, schnell! Ziehet kräftig an.“
Mit fieberhafter Eile ließen die Männer das Seil durch ihre Hände gleiten, bis die Strickleiter sich straffte: sie reichte nun gerade bis ans Ufer.
Inzwischen war Mietje bis an den Hals im Schlamm versunken, hielt sich aber mit emporgestreckten Armen an einer Sprosse fest.
Als nun die Männer die Leiter zu fassen bekamen und aus allen Kräften anzogen, wurde die aufopfernde Heldin wieder soweit emporgezogen, daß sie nur noch bis zur Brust im Moraste stak.
Dieses Straffen der Strickleiter war ein schweres Stück Arbeit gewesen!
Nun wurde das Ende der Leiter so fest als möglich an einem starken Busch angebunden. Zu aller Vorsicht mußte Münchhausen es noch mit seinem ganzen Körpergewicht beschweren und der Professor sich bereithalten, im Notfall auch noch zuzugreifen; denn nun turnten der Lord und sein Diener, sowie Heinz gleichzeitig auf der unsicheren Brücke über den Sumpf, galt es doch, Mietje aus ihrer schrecklichen Lage zu befreien.
Schrecklich war ihre Lage in der Tat: sie konnte kaum noch festhalten; ihre ermüdeten Arme waren schmerzhaft gespannt und die sich krampfenden Finger wollten sich an einem fort loslösen. Ein Glück war es, daß sie nicht frei in der Luft hing, sonst hätten ihre Kräfte unbedingt versagt, ehe Hilfe kam. Der zähe Brei, in dem sie steckte, minderte doch einigermaßen das Körpergewicht, das an ihren Armen hing und ihr die Hände aus den Gelenken zu reißen drohte.
Aber sie fühlte, wie trotz der äußersten Anspannung ihrer Willens- und Muskelkraft alle Energie sie verließ: tausend Arme schienen sie in den Sumpf zu ziehen, immer lockender wurde die Versuchung, loszulassen und sich nicht weiter der schrecklichen Marter auszusetzen, die alle Todesfurcht einschläferte, so daß Sinken, Ersticken, Einschlafen ihr als Erlösung erschien.
Bei alledem gab sie keinen Laut von sich; aber das Blut hämmerte in ihren Schläfen, es wurde schwarz um sie her, ihre Finger lösten sich: das war das Ende!
Dies war ihr letzter dunkler, aber gar nicht schreckhafter Gedanke; dann hatte sie das Bewußtsein verloren.
Aber in dem Augenblick, da sie mit schwindendem Bewußtsein die Sprosse losließ, hatte Flitmore sie erreicht und ihre Handgelenke mit eiserner Gewalt umklammert.
Hinter ihm krochen auch schon Heinz und John heran; denn nur kriechend konnte man sich auf der schwanken Brücke fortbewegen.
„Ich halte sie“, keuchte der Lord; „jetzt sehet zu, wie wir sie heraufbringen.“
Das war keine einfache noch leichte Aufgabe!
Heinz, der ein äußerst gewandter Turner war, hakte seine Füße in der Strickleiter ein und ließ sich, den Kopf nach unten, hinab, während er in den Knieen hing.
Dann faßte er die Lady mit beiden Händen um die Taille und hob sie mit unsäglicher Anstrengung aus dem Schlamm.
„Ich habe sie!“ stöhnte er endlich: „Sie können loslassen, Lord.“
Flitmore ließ die Handgelenke los, die er zwischen zwei Sprossen durch ergriffen hatte; denn durch den engen Zwischenraum konnte er selbstverständlich seine Gattin nicht emporziehen.
Schnell flocht er seine Beine zwischen Sprossen und Stricken fest und und wies John an, ein Gleiches zu tun.
Jetzt beugten beide den Oberkörper auf der gleichen Seite hinab und faßten Mietjes leblosen Körper unter den Armen. Es war höchste Zeit; denn Heinz hätte ihn in seiner schwierigen Lage keine Minute mehr halten können.
Flitmore und Rieger zogen nun die Ohnmächtige auf die Strickleiter, wo sie dieselbe zunächst ausstreckten, um frische Kräfte zu schöpfen.
Inzwischen hatte auch Heinz sich wieder heraufgeschwungen.
Jetzt konnte die Lady, wenn auch nicht ohne Schwierigkeit, vollends zur Sannah verbracht werden, wo es Flitmores Bemühungen bald gelang, sie wieder zum Bewußtsein zu bringen.
Nun durften auch Schultze und Münchhausen die Reise antreten.
Der Kapitän bewegte sich voran, der Professor schob nach.
Ersterer hatte es schwer; denn seine runde Wölbung machte ihm das Kriechen auf der schmalen Leiter beinahe unmöglich.
Es war ein köstlicher Anblick, diese Körpermasse sich langsam und schwerfällig auf dem schwankenden Stege vorschieben zu sehen.
Auf der Mitte angelangt, erklärte der Kapitän mit lauter, aber höchst kläglicher Stimme: „’s ist aus! Ich bin am Ende meiner Kräfte. Hier bleibe ich und wenn ich hier übernachten muß und in den Sumpf kollere.“
„Machen Sie keine schlechten Witze, Kapitän“, mahnte Schultze von hinten: „Ich schiebe Sie ja aus allen Kräften.“
„Ach, was richten Sie aus? Das ist, als ob eine Mücke einen Elefanten schieben wollte! Ich sage Ihnen, ich bin schachmatt.“
„Sie freuen mich, Allerwertester! Was soll denn aus mir werden? Soll ich etwa über Sie hinwegturnen? Im Bergkraxeln bin ich ganz und gar nicht bewandert und zum mindesten müßte ich einen Alpenstock haben, wollte ich es wagen, diese gefährliche Kletterpartie zu unternehmen.“
„Ha! Gefühlloser Schurke! Bin ich aus Granitquadern gebaut? Bin ich ein rauher Felsblock, daß Sie die Eisenspitze eines Gebirgsstockes in meine Flanken bohren wollen? Das lassen Sie sich beikommen und wie eine Lawine rolle ich mit Ihnen ins Verderben!“
„Nee! ein rauher Felsbrocken sind Sie nicht“, lachte der Professor belustigt: „Rauh sind Sie nur innerlich, oller Seebär; außen sind Sie nur allzuglatt und wohlgerundet, das ist ja gerade das Fatale; ein Absturz wäre mir sicher, wollte ich die Kletterei unternehmen. Also, voran!“
„Keinen Schritt mehr!“
„Aber ich kann doch nicht hier übernachten.“
„So kehren Sie um.“
„Was? So nahe dem rettenden Hafen soll ich umkehren und mich in der Nacht mit den blutdürstigen Würmern herumbalgen? Vorwärts, vorwärts! Es dämmert schon.“
Flitmore hatte inzwischen John gesandt, der nun den Kapitän erreichte und anseilte.
So, gezogen und geschoben, gelangte er endlich in die Sannah zur großen Erleichterung des Professors, der sich nun auch geborgen sah.
Alle Anstrengungen, die Strickleiter vom Busch loszureißen, um sie in das Weltschiff zu ziehen, waren vergeblich.
„Lassen wir sie zurück“, erklärte der Lord, „ich habe ja noch andre.“
„Nein!“ widersprach Heinz: „Die Brücke, die uns das Leben rettete und um die Lady Flitmore ihr Leben wagte, an der sie so heldenmütig die gräßlichsten Folterqualen ertrug, darf nicht im Stiche gelassen werden: ich mache sie los!“
Flitmore schüttelte den Kopf: „Und Sie? Sie werden es schwer haben auf der losen Leiter zurückzukehren.“
„Lassen Sie mich machen, es wird alles gut gehen!“
Wirklich kletterte Heinz zurück.
Er schnitt ein Stück des leinenen Seiles ab, band es an den Teil des Seiles, der die Leiter mit dem Busch verband und glimmte es an. Dann kletterte er rasch zurück und erreichte auch wirklich die Sannah, ehe die weiterglostende Lunte das Seil angesteckt und durchgebrannt hatte.
Sobald letzteres der Fall war, ließ sich die Strickleiter leicht einziehen.
Nun waren alle im Weltschiff wieder beieinander; Bobs hatte sich schon dorthin gemacht, als Mietje ihn losließ, um die Strickleiter aus dem Moraste zu ziehen. Dick war über die Brücke als Erster geturnt, sobald sie hergestellt worden war.
Inzwischen war es Nacht geworden; beide Marsmonde leuchteten am Himmel: Phobos, der bei einer Umlaufszeit von nur 7½ Stunden manchmal in einer Nacht zweimal erscheint, und Deimos, der dem Mars nicht jede Nacht aufglänzt, da er 30¼ Stunde Umlaufszeit hat. Beide sind dem Planeten sehr nahe, woraus sich ihre überaus kurze Umlaufszeit erklärt.
Flitmore schloß die Türe und ließ den Zentrifugalstrom durch das Weltschiff strömen.
Die Sannah erhob sich mit wachsender Geschwindigkeit, und, wie unsre Freunde sahen, gerade zu rechter Zeit; denn unter ihnen geriet das monderhellte Land auf einmal wieder in Bewegung. Ein besonders heftiger Erdstoß mußte es erschüttert haben; denn plötzlich kam von ferneher eine haushohe dunkle Woge: das Meer brauste heran und verschlang das schwankende Land, so weit man sehen konnte, und mit ihm auch zweifellos den letzten Bewohner des Mars.
„Schade, daß wir uns so rasch vom Mars entfernen,“ sagte Schultze bedauernd: „Es wäre äußerst interessant und lehrreich gewesen, bei Tageslicht aus nächster Nähe die Veränderungen zu beobachten, die das Erdbeben auf der Oberfläche des Planeten hervorgerufen hat.“
„Wir haben keine Eile,“ entgegnete Flitmore, „da wir ja nun in Sicherheit sind, und es ist uns ein Leichtes, über Nacht in der Marsatmosphäre zu verweilen. Ich übernehme die erste Nachtwache und werde den Strom alle zehn Minuten unterbrechen, so daß wir wieder sinken; Herr Friedung soll es in der zweiten Wache ebenso machen und Sie, Professor, übernehmen die Morgenwache und vollführen das gleiche Manöver; nur müssen Heinz und Sie wohl aufpassen, daß Sie den Strom nicht allzulange unterbrechen, damit uns nicht etwa eine unsanfte, vielleicht gefährliche Landung begegnet.“
Die beiden versprachen alle Vorsicht und bewiesen sie hernach auch, so daß die Sannah beim Anbruch des Morgens sich nur wenige Kilometer über der Marsoberfläche befand.
Es war ein überraschendes Bild, das sich nun unsern Freunden bot: der Meeresgrund hatte sich gehoben und das bisherige Festland, das sich gesenkt hatte, war vom Meer bedeckt, wenigstens zum größten Teile.
Nun zeigte sich aber deutlich, daß ähnliche Katastrophen den unseligen Mars schon früher heimgesucht hatten, denn das neue, dem Meeresgrund entstiegene Festland war mit Städten und Dörfern aus buntem Gestein übersät, die aus dem Schlamm hervorleuchteten, der sich in ihren Gassen und um sie her abgesetzt hatte.
„Nun begreife ich erst, wie die ganze Marsbevölkerung nach und nach zugrunde gehen konnte!“ sagte Schultze. „Noch eine oder zwei so gewaltige Verheerungen, und auch das Tierleben wird auf dem Planeten erloschen sein bis auf das Seegetier und die gräßlichen Sumpfwürmer. Höchstens die Vögel mögen noch dem Verderben entgehen.“
Nun wurde die Marsbahn endgültig verlassen und Flitmore schlug vor, nach dem Jupiter, dem Koloß unter den Planeten, zu fahren und dann dem Saturn einen Besuch abzustatten, ehe die Rückreise nach der Erde angetreten werde.
Damit waren alle einverstanden.
Zunächst wurde jetzt daran gegangen, die einzelnen Zimmer den Schwerpunktverhältnissen der Sannah anzupassen, denn ihre Rotation hatte wieder begonnen und es galt allerlei Möbel und Gerätschaften in den Zimmern, die auf einen andern Schwerpunkt eingerichtet waren, von den Wänden oder der Decke zu lösen und sie am Fußboden festzuschrauben.
Kurz darauf geriet die Sannah in einen Meteorschwarm.
Flitmore hatte behufs Verlangsamung der Fahrt den Fliehstrom abgestellt, als ein Gepolter losging; anfangs waren es nur einzelne kleine Meteoriten, die die Umhüllung des Schiffes trafen, bald aber prasselte es auf sie hernieder wie ein regelrechtes Hagelwetter. Beschädigt wurde die solide Hülle nicht, denn die Meteore waren wohl auch nicht größer als Hagelkörner; um aber jeglicher Gefahr aus dem Wege zu gehen, ließ der Lord rasch wieder den Strom durch die Sannah kreisen und alsbald bewährte sich die Wirkung der Fliehkraft, denn die Meteore wichen dem Weltschiff von ferne aus infolge der abstoßenden Wirkung, die sie auf alle der Schwerkraft unterworfenen Körper ausübte.
Flitmore lud die Reisegesellschaft ein, sich in ein auf der Nachtseite gelegenes Zimmer zu begeben: „Ich denke, daß wir auf der Schattenseite ein herrliches Schauspiel von leuchtenden Sternschnuppen und Meteoren genießen werden,“ meinte er.
„Sie vergessen,“ warf Schultze ein, „daß die Meteoriten nur beim Eintritt in die Atmosphäre aufleuchten, infolge der Reibung mit derselben.“
Der Lord lächelte: „Ich vergesse nichts: schauen wir leuchtende Meteore, so ist dies ein neuer Beweis für meine Theorie, daß eben der ganze Weltraum mit verdünnter Luft erfüllt ist.“
„Aber müßte dann nicht auch die Erde in Glut geraten?“ fragte Heinz.
„Sie ist geschützt durch ihre atmosphärische Hülle, die sie vor der Reibung mit den Stoffen des Raums bewahrt, und die Lufthülle selber bleibt deshalb vor zu starker Reibung bewahrt, weil sie einen Teil der Weltatmosphäre mit sich fortreißt und diese Bewegung mit der zunehmenden Höhe nur immer schwächer wird, so daß die Reibung der Erdatmosphäre mit der Weltatmosphäre an keinem Punkte stark auftreten kann, da jede neue Schicht nur um sehr wenig geringere Bewegung aufweist als die darunter liegende.“
Sannah im Meteorenschwarm.
Mochte dem sein, wie ihm wollte, jedenfalls war es Tatsache, daß man ganze Schwärme von kleineren und größeren Meteoren zu sehen bekam: ein entzückendes Feuerwerk.
„Sie haben ja recht behalten, Lord,“ gestand Schultze nun ein: „Aber rätselhaft bleibt es mir, warum, wenn doch offenbar die Reibung an der dünnen Weltatmosphäre genügt, um die Meteore zu entzünden, die irdischen Sternschnuppen erst dann zum Leuchten kommen, wenn sie in die Erdatmosphäre eintreten?“
„Die Sache ist sehr einfach: weil sie eben zuvor keiner oder doch nur einer geringen Reibung ausgesetzt sind. Sehen Sie, ich erkläre mir den Vorgang so: die Meteorschwärme haben ja wohl ihre Eigenbewegung, aber wahrscheinlich teilt die Weltatmosphäre in ihrer Bahn diese Bewegung, möglicherweise hat auch jedes noch so kleine Meteor seine eigene Lufthülle, die es aus der Raumatmosphäre an sich zieht; dadurch wird die Reibung aufgehoben oder auf ein geringes Maß beschränkt.
Gerät aber die Erde in einen solchen Meteorschwarm, so läßt die Anziehungskraft der Erde die Meteore mit rasender Geschwindigkeit stürzen; beim Eintritt in die dichtere Erdatmosphäre werden sie ihrer Lufthülle plötzlich beraubt, der Widerstand der Luft streift sie ihnen gleichsam ab, und nun entsteht die Reibung, die sie in plötzliche Glut versetzt.
Wenn wir nun hier leuchtende Meteore sehen, so ist der Fall allerdings insofern ein anderer, als keine dichtere Atmosphäre das Aufglühen veranlaßt, jedenfalls aber ein ungemein beschleunigter Sturz. Diese Meteore müssen in die Anziehungssphäre eines Planeten, vielleicht des Jupiter, geraten sein und stürzen nun mit solch rasender Geschwindigkeit durch den Raum ihm zu, daß der Widerstand der verhältnismäßig ruhenden Weltatmosphäre sie ihrer Lufthülle beraubt, falls wir eine solche annehmen wollen, jedenfalls aber ihre Reibung an der Weltatmosphäre stark genug wird, sie in Weißglut zu versetzen.“
John Rieger lauschte mit offenem Munde diesen großartigen Ausführungen seines Herrn, die ihm um so mehr Ehrfurcht einflößten, als er nicht das mindeste davon begriff.
Aber bildungsdurstig, wie er stets war, wandte er sich an Professor Schultze, der es besser verstand, sich seinem Verständnis anzupassen.
„Mit untertänigst gnädigstem Verlaub, Herr Professor,“ hub er an: „Sie reden da so viel äußerst Belehrendes von den Motoren oder Sternschuppen; aber wenn Sie einmal die gütigste Liebenswürdigkeit hätten, mich genauestens aufzuklären, was diese leuchtenden Motoren von Grund aus sind, so wäre ich Ihnen vorzugsweise verbunden.“
„Sehr gern, mein Freund!“ erwiderte der Professor bereitwilligst: „Wie du ganz richtig bemerkt hast, sind Meteore und Sternschnuppen im Grunde dasselbe. Es sind kleinere oder größere Körper, die im Weltraum sich befinden. Wenn nun die Erde in ihre Nähe kommt, werden sie von ihr angezogen und sie stürzen mit größerer oder kleinerer Geschwindigkeit in die Lufthülle der Erde. Je rascher sie hereinstürzen, desto mehr erhitzen sie sich, aber um so mehr verlieren sie auch an Fallkraft, so daß sie weiter unten nicht schneller stürzen als diejenigen, die von Anfang an langsamer fielen.
Die Erhitzung mag mehrere tausend Grad betragen; dabei kommen sie zum Leuchten und schmilzen an der Oberfläche, wogegen sie im Innern ziemlich kalt bleiben. Wenn sie die Erde erreichen, sind sie durchaus nicht besonders heiß, was eben daher kommen mag, daß ihr Sturz je tiefer desto langsamer wird.
Die meisten aber kommen gar nicht bis zur Erde herab, weil sie hoch oben schon so heiß werden, daß sie sich in Gase auflösen: Das sind dann Sternschnuppen. Gelangen sie jedoch bis zur Erde, so sind es Meteore. So nennt man sie aber auch, wenn sie besonders groß und hell erscheinen; übertreffen sie an Glanz die hellsten Sterne, so heißt man sie Boliden; verbreiten sie einen ganz außerordentlichen, oft taghellen Glanz, so bezeichnet man sie als Feuerkugeln; solche treten aber nur sehr selten und immer vereinzelt auf, während Sternschnuppen und Meteore in ganzen Schwärmen vorkommen.
Natürlich willst du nun wissen, woher diese Dinger eigentlich stammen. Manche behaupten, Meteoriten, d. h. kleine Meteore, kämen vom Mond. Sicher aber ist, daß die Sternschnuppen und Meteorschwärme von Kometen herrühren. Erstens einmal sind ihre Bahnen denen der Kometen durchaus ähnlich; zweitens aber hat man schon beobachtet, daß Kometen, die der Sonne oder dem Jupiter zu nahe kamen, sich in Meteorschwärme aufgelöst haben.
Dafür ist besonders der berühmte Bielakomet ein lehrreiches Beispiel. Dieser kam 1846 dem Jupiter zu nahe und zersprang dadurch in zwei Stücke, die 1852 zu richtiger Zeit wiederkehrten, aber 1858, als sie wieder erscheinen sollten, nirgends zu finden waren. Seither hat man ihn nicht wieder gesehen; als jedoch die Erde 1872 und 1885 seine Bahn kreuzte, geriet sie in einen Meteorschwarm, der als prächtiger Sternschnuppenhagel das Auge entzückte. Das waren die Überreste des stolzen Kometen. Diesen Meteorschwarm nannte man die Leoniden, weil er aus dem Sternbild des Löwen zu kommen schien; zuletzt ist auch dieser Meteorschwarm verschwunden.“
„Das leuchtet mir spezifisch ein,“ sagte John befriedigt, „daß die Motore von den Kometen herkommen; denn man nennt doch die Kometen „Haarsterne“, weil sie sozusagen eine goldene Mähne haben. Aber aus solchen goldenen, leuchtenden Haarverhältnissen dürften vermutungsweise auch goldene, leuchtende Schuppen fallen, und das sind dann die so richtig benannten Sternschuppen.“
Alle lächelten über diese gelungene, echt volkstümliche Wortableitung; der Professor aber sagte lachend:
„Brav, mein Sohn! Bleibe nur bei dieser Erklärung, so behältst du alles am besten inne; denn Schuppen oder Schnuppen sind in Grunde Schnuppe und Schuppen können zwar lästig sein, aber so ein hartnäckiger Schnuppen ist doch noch weit unangenehmer. Aber noch weißt du nicht, aus was für Stoffen die Meteore eigentlich bestehen. Sie enthalten allerlei: Kieselsäure, Magnesia, Eisen, Nickel, Kupfer, Wasserstoff, Sauerstoff, auch Kohlenstoff und zweifellos organische Bestandteile, das heißt Spuren von Pflanzen oder lebenden Wesen, die uns Kunde geben, daß auch andere Welten solche besitzen, wie wir jetzt ja auf dem Mars mit eigenen Augen sehen; manchmal findet man sogar Diamanten im Innern eines Meteorsteins. Meistens sind es größere oder kleinere Eisenblöcke.“
„Ja,“ mischte sich der Lord in die Auseinandersetzung: „und drei solche hat der berühmte Nordpolforscher Peary gestohlen!“
„Gestohlen?“ fragte Heinz erstaunt.
„Jawohl. Dieser Peary fand bei den Eskimos eiserne Werkzeuge. Überrascht hievon, erkundigte er sich, woher das Eisen stamme. Man antwortete ihm stets: „Vom Eisenberg!“ Wo sich aber dieser rätselhafte Eisenberg befand, wußten nur die ältesten Männer des Stammes und diese verrieten ihr Geheimnis nicht.
Auf späteren Reisen erwarb sich Peary nach und nach das Vertrauen der Eskimos in so hohem Grade, daß sie endlich seinem Drängen nachgaben und ihn zu dem rätselhaften Eisenberg führten, der aus drei gewaltigen Meteoren bestand. Die Eskimos hatten ihnen Namen gegeben: „Die Zehn“, „Das Weib“ und „Den Hund“ nannten sie diese Eisenklötze, die für sie ein ganz unschätzbares Kleinod waren, das einzige Eisen in den arktischen Regionen! Aufs gemeinste hat Peary das ihm entgegengebrachte Vertrauen mißbraucht. Unter großen Schwierigkeiten ließ er die drei Meteore, ja alle drei! heimlich an Bord schaffen und beraubte so die armen Eskimos, die wahrhaftig hart genug ums Dasein zu kämpfen haben, ihres kostbarsten Schatzes, den sie so lange unter strengstem Geheimnis gehütet hatten. In Newyork erhielt er 200000 Mark für seinen Raub. Ob er wohl das Sündengeld mit gutem Gewissen eingesackt hat?“
„Das ist allerdings ein Schurkenstreich erster Güte!“ eiferte Schultze empört: „In meinen Augen hat Peary seinen Ruhm damit aufs schmählichste befleckt.“
„Und sehen Sie, so ist unsere europäische und amerikanische Christenmoral,“ fuhr der Lord fort: „Jedermann weiß, was dieser Peary da verübt, und doch feiert man ihn, ja man bewundert noch die Kühnheit und List, mit der er die Eskimos hintergangen und bestohlen hat. Hätte er einem Amerikaner solche Wertgegenstände geraubt, so käme er dafür ins Zuchthaus.“
„Ja ja! Aber so arme Eskimos bestehlen, das ist ja wohl etwas anderes, eine Heldentat!“ fügte Schultze grimmig bei.
Als der Professor seine Empörung über die Schuftigkeit eines berühmten Mannes einigermaßen überwunden hatte, fühlte er sich bewogen, John noch eine besonders interessante Mitteilung über die Meteoriten zu machen:
„Du siehst,“ sagte er, „es fallen zu Zeiten recht stattliche Eisenblöcke vom Himmel; manchmal geht ein ganzer Hagel von Meteoren nieder. Vom Jahr 823 wird berichtet, daß in Sachsen durch einen solchen Meteorhagel Menschen und Vieh erschlagen und 35 Dörfer vom Feuer verzehrt worden sind. Der berühmte Arzt und Chemiker Avicenna beschreibt genau Meteoritenfälle, die um 1010 in Ägypten, Persien und anderwärts niedergingen. Am 1. Oktober 1304 fielen bei Friedeburg an der Saale feurige Steine wie Hagel und richteten großen Schaden an. Am 7. November 1492 fiel bei Ensisheim ein 260 Pfund schweres Meteor, von dem ein Stück noch heute in der dortigen Kirche hängt. Am 4. September 1511 ereignete sich bei Crema ein ungeheurer Steinregen, der die Sonne verfinsterte. Es stürzten etwa 1200 Meteore herab, darunter solche von 260 und 120 Pfund; sie erschlugen Vögel, Vieh und Fische, auch einen Mönch.
Und ähnliche Fälle kamen noch zu Dutzenden in Deutschland, Frankreich, Spanien und Italien vor, wobei mehrfach Menschen ums Leben kamen. Eine ganze Anzahl derselben wurde ausführlich beschrieben, oft von einwandfreien Gelehrten und Professoren; sogar wissenschaftliche Kommissionen untersuchten die Aerolithen, und trotzdem wollte die Wissenschaft nicht daran glauben; ja die französische Akademie der Wissenschaften erklärte es feierlich für einen Blödsinn, wenn man behaupte, es könnten Steine vom Himmel fallen. Allerdings wurde sie durch einen alsbald erfolgenden großartigen Steinregen in Frankreich gründlich blamiert; aber man sieht daraus, wie zäh die Zweifelsucht beschränkter Köpfe ist, die sich für Leuchten der Welt halten. Es ist heute nicht anders, es gibt jetzt noch genug Vertreter dieser wissenschaftlichen Beschränktheit, die vor den augenfälligsten Tatsachen wie der Vogel Strauß den weisheitgeschwollenen Kopf in den Sand stecken, sobald ihnen etwas über den Horizont geht: solche Kleingeister spötteln heute über die Wünschelrute, das Hellsehen, die Weissagungen der Propheten und wollen gar die Geschichtlichkeit eines Jesus leugnen, genau wie jene Akademiker an keine Meteoriten glauben wollten; es ist die Sorte, die nie ausstirbt und gegen welche Götter selbst vergebens kämpfen!“
„Sachte, sachte, Professorchen,“ lachte Münchhausen: „Sie sind auch nicht immer gläubig und haben sich schon manchmal mit Ihren Zweifeln verrannt.“
„Gebe ich zu! Aber hernach sehe ich es ehrlich ein und hülle mich nicht in Eigensinn und überlegenes Lächeln.“
„Am meisten,“ nahm der Lord das Wort, „belustigen mich die Gelehrten, die aus erhabenem wissenschaftlichen Wirklichkeitssinn jede Möglichkeit leugnen, ein Mensch könne Zukünftiges vorhersagen. Aus dieser vorgefaßten Meinung heraus geben sie sich unendliche Mühe, mit einem fabelhaften Aufwand von Phantasie und Mangel an Logik die prophetischen Weissagungen der Bibel wegzuerklären, und dann erzittern sie, wenn sie zu dreizehnt am Tische sitzen, weil das ein kommendes Unglück bedeuten soll, oder wenn ihnen eine schwarze Katze über den Weg läuft: ja, eine Zahl und eine Katze halten sie für Propheten und den prophetischen Geist begreifen sie nicht! Nirgends sieht man es so deutlich bewiesen: Da sie sich für weise hielten, sind sie zu Narren worden!“
„So ist es immer,“ sagte der Kapitän mit ungewohntem Ernst: „Ich habe es mein ganzes Leben lang beobachtet: wer die ewigen Wahrheiten nicht glauben will, verliert die Fähigkeit des klaren Denkens, hält Phantasien für Beweise und glaubt den kläglichsten Blödsinn.“
„Allerdings,“ sagte Flitmore: „Dabei merkt aber der Ärmste gar nicht, daß auch seine vermeintliche Weisheit nur Glaube ist, wenn auch ein unvernünftiger; vielmehr glaubt und behauptet er, auf dem Boden unfehlbarer wissenschaftlicher Ergebnisse zu stehen.“
„Wer an „unfehlbare wissenschaftliche Ergebnisse“ überhaupt glauben kann,“ schloß Schultze, „dem ist schon nicht zu helfen: er leidet an einem Verstandes- oder Willensfehler. Ein gebildeter Mensch, der zu klarem Denken fähig ist, muß einsehen, daß es wohl Ergebnisse der Beobachtung gibt, aber niemals zweifellose Ergebnisse der Wissenschaft. Wobei zu bemerken ist, daß auch die reinen Beobachtungsergebnisse, selbst wenn sie Jahrzehnte hindurch von den verschiedensten Beobachtern bestätigt werden, durchaus keine Gewähr der Richtigkeit bieten, wie schon die berühmten Marskanäle beweisen.“
John Rieger konnte diesen Erörterungen nicht recht folgen; er hatte aber noch eine Frage betreffend der Meteore auf dem Herzen, die er jetzt anbrachte, als die Herren schwiegen: „Sie haben so viele Vorkommnisse von Steinregen benannt, Herr Professor, aber alle aus alter Zeit. Heutzutage dürfte wohl so etwas überhaupt nicht mehr vorkommen in unserm aufgeklärten Zeitalter?“
„Da sehe einmal einer den Zweifler!“ polterte Schultze lachend: „Also auch du bist noch nicht überzeugt, mein Sohn Brutus, daß die Meteorfälle auf Erden Tatsache sind? Höre: auch heutzutage kommen sie häufig vor. So ist zum Beispiel bei Mugello in der Nähe von Florenz am 3. Februar 1910 ein Hagel von Meteoriten in glühendem Zustand niedergegangen, die Straßen, Felder und Weinberge bedeckten und die Kulturen vielfach zerstörten. Nach diesem Feuerregen zerriß plötzlich der Dunstschleier und es zeigte sich ein Komet von strahlendem Glanze.“
„Und das ist wirklich und wahrhaftig geschehen?“
„Wirklich und wahrhaftig: es stand in allen Zeitungen und ist so gut bezeugt, daß ein gebildeter Mensch es glauben muß.“
„Ja, dann glaube ich es natürlich und selbstverständlich auch,“ sagte Rieger selbstbewußt.
Die Reise war bisher so ergebnisreich verflossen, daß unsere Freunde noch nicht dazu gekommen waren, ein richtiges Konzert zu veranstalten, wenn auch hie und da ein halbes Stündchen durch vereinzelte musikalische Vorträge verklärt worden war. So war John einigemal aufgefordert worden, seine Flöte hören zu lassen oder hatte der Lord mit seiner Gattin vierhändig gespielt, — lauter erhebende Genüsse. Ganz besonders aber entzückte alle Heinz’ wunderbares Geigenspiel.
Der junge Schwabe liebte es namentlich, im Dunkeln zu spielen, sei es, daß er aus dem Gedächtnis seine Lieblingsschöpfungen großer Meister wiedergab, sei es, daß er phantasierte.
Wie überirdische Musik klang dieses wundersame Phantasieren durch den dunkeln Raum.
„Woher haben Sie nur diese Töne?“ fragte Lady Flitmore einmal: „Das ist ja die reinste Sphärenmusik!“
„Mir ist’s auch, als vernähme ich die Harmonie der Sphären,“ erwiderte Heinz nachdenklich: „Hören Sie nichts? Fliegen wir nicht durch den Raum, der von der wunderbarsten aller Harmonien erfüllt ist? Und mir ist’s, als riefe mir von einem fernen Stern eine melodische Stimme und locke mich durch ihren bezaubernden Gesang. Das sind Klänge aus höheren Wunderwelten, die ich vernehme, eine überirdische Musik, aber was ist dagegen mein schwaches, armseliges Spiel? Wohl ist es beseelt von den himmlischen Harmonien, doch nimmer ist es imstande, auch nur eine Ahnung von ihrem Zauber zu vermitteln.“
„O, Sie geben uns mehr als eine Ahnung davon,“ hatte dann der Lord gesagt; denn ihm, wie allen andern kamen die Töne wahrhaft überirdisch vor, die der junge Künstler seinem herrlichen Instrumente entlockte.
Heute nun wurde zum erstenmale ein regelrechtes Konzert veranstaltet, bei dem alle mitwirken sollten, abgesehen von Schultze, dem jegliche musikalische Ausbildung mangelte: „Gleich meinen Vettern, den Schimpansen,“ sagte er lachend.
Wie wir wissen, verstand sich Heinz nicht bloß auf die Violine, sondern auch aufs Pistonblasen; der Lord betätigte sich außer auf dem Klavier noch auf dem Cello und der Posaune; Mietje war eine vorzügliche Pianistin und John ein nicht zu verachtender Flötenbläser: es ließ sich also je nach Wunsch und Bedarf ein abwechslungsreich gestaltetes Orchester zusammensetzen.
Münchhausen behauptete, sehr musikalisch zu sein, erklärte aber: „Um die Klaviatur zu malträtieren oder die Saiten zu kratzen, fehlt es mir an der nötigen Beweglichkeit und Gelenkigkeit; Blasinstrumente kann ich wegen meiner fatalen Kurzatmigkeit nicht pusten, aber das Paukenschlagen verstehe ich vorzüglich und weiß ein Gefühl, eine Stimmung, eine Melodik hineinzulegen, daß ich mich anheischig machen wollte, in einem Paukensolo Ihnen die herrlichsten Schöpfungen unserer größten Meister in einer Weise vor Ohren zu führen, daß Sie gestehen müßten, kein Instrument reicht in seiner Wirkungsfähigkeit an die Pauke heran, und kein anderes ist so geeignet, den feinsten seelischen Stimmungsgehalt eines Musikwerks wiederzugeben, wie eben dieses Instrument der Instrumente.“
„Oho!“ lachte der Lord: „Das ist mir wirklich neu! Kapitän, Sie sind ein musikalisches Genie und eröffnen der Musik ganz neue Bahnen und Aussichten. Wahrhaftig! ein Paukenvirtuos, wer hat je von einem solchen gehört? So sei Ihnen denn die Pauke anvertraut, als dem Würdigsten unter uns.“
„Münchhausen“, sagte Schultze: „Was wollen Sie überhaupt mit einer Pauke? Sie reichen ja doch nicht mit ihren kurzen Armen um Ihre Leibeswölbung herum und können das von Ihnen so gepriesene Instrument überhaupt nicht treffen: Sie treffen höchstens Ihren eigenen Bauch und das ist ja auch eine Pauke, die jede künstliche Pauke entbehrlich macht. Überdies wird es für Sie eine äußerst zuträgliche Massage sein, wenn sie diese größte und herrlichste aller Pauken schlagen, mit der die Natur und Ihr guter Appetit Sie begabt hat.“
„Oho!“ protestierte der Kapitän: „Schultze, Sie sind schief gewickelt! Sie treiben da Ihren Spott mit einem Titanen der Musik, Sie, der Sie von Musik überhaupt nichts verstehen und bei unserem Konzert einzig und allein das verständnislose Publikum abzugeben vermögen. Allerdings gebe ich zu, daß dies ein notwendiger Bestandteil jedes richtigen Konzertes ist.“ —
„Nun, nun,“ eiferte der Professor: „Wenn ich auch nicht gerade Sachverständiger auf dem Gebiete des Kontrapunkts und der Harmonielehre bin, und nicht unterscheiden kann, ob Sie Beethoven oder Wagner pauken ...“
„Muß jeder feinhörige Mensch sofort an meinem Paukenschlag heraushören!“ unterbrach Münchhausen.
„Nanu! Wenn ich so fein auch nicht höre, so habe ich doch die größte Freude an der Musik und werde als verständnisloses Publikum doch ein dankbarer und begeisterter Hörer sein.“
„Bravo!“ rief Mietje, „als solchen kennen wir Sie, und für Sie wird denn auch das ganze Konzert gegeben.“
Unter den Virtuosen, die hier versammelt waren, hatte jeder seine besondere Vorliebe für diesen oder jenen großen Komponisten.
Lady Flitmore zog Schubert, Schumann, Mendelssohn und Chopin vor; ihr Gatte hielt Bach, Beethoven, Händel, Haydn und Weber für die Bedeutendsten; Heinz neigte mehr zu Wagner, Bruckner, Hugo Wolff und Grieg; Münchhausen begeisterte sich für Mozart, Brahms und Gluck, während John für Meyerbeer und Richard Strauß schwärmte.
Doch waren alle vielseitig und unparteiisch genug, um auch der andern Größe anzuerkennen und ihnen gern zu huldigen.
Am meisten bewies das Heinz, der trotz seiner Vorliebe für Wagner doch auch von Sebastian Bach so eingenommen war, daß er diesen weltumfassenden Geist durch mehrere kleine Gedichte gepriesen hatte, zu denen ihn die Töne des Meisters begeisterten.
Die Choralphantasie über „Komm heil’ger Geist, Herre Gott!“ hatte beispielsweise folgende Verse bei ihm ausgelöst:
Ich denk’ ihm nach,
Ob ich’s möge erfassen,
Was sie ahnen lassen.
Was reißt ihn fort
Über irdische Sphären
Zu den Himmelsheeren?
Heilige Glut,
Von Gott selber entzündet,
Die da Liebe kündet;
Liebe zu Gott,
Die in seligen Schauern
Sprengt die irdischen Mauern;
Liebe zu Dir,
O Du Heiland der Seelen,
Die in Schulden sich quälen.
Töne von Bach,
Sprengt die Ohren der Tauben,
Daß sie weinen und glauben;
Öffnet und hellt
Doch die Augen der Blinden,
Ihren Heiland zu finden
Und die selige Welt!
Ein andermal ließ er sich also vernehmen:
Sebastian Bach! Die Welt versinkt dem Geist,
Der schauernd lauschet deinen mächt’gen Tönen;
Und überwältigt ahnt er, was es heißt,
Zu hören die Vollkommenheit des Schönen.
O Bach, wie wird uns erst im Himmel sein,
Wenn wir verzückt, von sel’gen Engelchören
Getragen, deine Meisterwerke hören,
So heilig ernst und so vollkommen rein!
Und die unvergleichlichen Passionsoratorien gaben Heinz die nachfolgenden Verse ein:
O heil’ge Wundertöne
Zum heil’gen Gotteswort,
Wie reißet eure Schöne
Die Herzen mit sich fort!
Der Erdenwelt entrücket,
Knie ich erschauernd da:
Es schaut mein Geist verzücket
Das Kreuz auf Golgatha.
Und was ich zitternd höre
So herzergreifend schön,
Das sind der Engel Chöre
Aus lichten Himmelshöhn;
Dazwischen Menschenstimmen
Voll Leidenschaft und Wut,
Die gegen Den ergrimmen,
Der sie erkauft mit Blut.
Doch unaussprechlich milde
Ertönt durch all den Hohn
Die Stimme durchs Gefilde
Vom ew’gen Gottessohn:
Das sind nicht ird’sche Sänge!
Wie alles bebt und rauscht!
O Bach, du hast die Klänge,
Dem Himmel abgelauscht!
Vom heil’gen Geist durchdrungen,
Ins Paradies entrückt,
Hast du uns nachgesungen,
Was Engel dort entzückt!
So verklärten sich diese Melodien in des jungen Künstlers Geist, wenn er ihnen als andächtiger Zuhörer lauschte. Wirkte er aber selber mit, wie heute, so legte er seine ganze Seele in den Ton, versenkt in die Gefühle, die des Meisters Geist beseelten, da er sein Werk schuf.
Die Klänge rauschten in harmonischer Fülle durch den Saal und dann erstarben sie in einem Pianissimo von einer Zartheit, das geradezu wunderbar wirkte; alle standen unter dem Banne einer heiligen Andacht und Schultze fühlte sich tief ergriffen und lauschte mit aller Anspannung, um ja keinen der leisesten Töne sich entgehen zu lassen.
„Bum!“ ein dumpfer Paukenschlag erscholl dröhnend durch das entzückende Pianissimo; wie eine Bombe zerstörend platzte er herein und zerschmetterte die klassischen Harmonien.
Was fiel dem Kapitän in seiner Ecke ein! War er ganz aus dem Konzept gekommen? Das war ja eine Roheit, ein Verbrechen an Beethovens unsterblichem Werke! So dachten alle, obgleich sie nicht aufsahen: Der Fehler war ja gewiß absichtslos, warf aber ein schlimmes Licht auf Münchhausens Musikverständnis.
Aber was war das? Noch schwebte das Pianissimo nach der unzeitgemäßen Störung elfenhaft durch die Räume, als die Pauke plötzlich ein wahres Kanonenfeuer eröffnete: „Bum, bum, bum-bum-bum!“ Mit schwerem Geschütz wurde das zarte Meisterwerk zusammengeschossen.
Nun sahen alle empört nach der Ecke. Da lag der Kapitän, in seinen Sessel zurückgesunken, und rieb sich, aus tiefem Schlaf erwachend die Augen: auch seine klassische Ruhe war durch den Donner der Pauke zerstört worden.
An seinem vielgerühmten Instrument aber stand Dick, ein äußerlich würdiger Stellvertreter des Entschlummerten, leider aber ein völlig unfähiger Paukenvirtuos. Dieser heillose Schimpanse hatte den Schlegel ergriffen, der dem Kapitän entsunken war und bearbeitete nun das Trommelfell mit wuchtigen, höchst temperamentvollen, aber durchaus unpassenden Schlägen.
Der Zauber der Stimmung war rettungslos dahin: ein unwiderstehliches Gelächter erschütterte den Saal; Münchhausen aber rief, sich ermunternd:
„Da sieht man’s, da hört man’s mit Ohren, daß die Pauke in der Tat das wichtigste Instrument in einem Konzerte ist: wer sie nicht zu handhaben versteht, ruiniert das erhabenste Meisterwerk mit tötlicher Sicherheit.“ Und er entriß dem verblüfften Schimpansen den mißbrauchten Schlegel.
Am folgenden Tag, den Tag zu 24 Stunden berechnet, kam die Sannah mitten unter die Planetoiden.
„Die Entdeckung dieser Planetoiden oder kleinen Planeten, die man auch Asteroiden nennt,“ belehrte Professor Schultze, „hat wieder einmal gezeigt, daß die von der Wissenschaft aufgestellten Naturgesetze niemals als etwas für alle Zeiten Gewisses und Feststehendes gelten können. In der Tat glaubte man bisher, die Planeten bewegten sich nahezu in der gleichen Ebene um die Sonne, und hielt dies für eines der großen Naturgesetze. Da entdeckte man diese Zwergplaneten, deren exzentrische Bahnen die Hinfälligkeit des angeblichen Gesetzes bewiesen.
Andererseits war ihre Entdeckung die glänzendste Bestätigung eines andern Naturgesetzes, das 1772 von Titius aufgestellt und später von Bode und Wurm genauer bestimmt wurde: es sollte danach zwischen den Abständen der Planeten von der Sonne ein bestimmtes gesetzmäßiges Verhältnis bestehen; nun aber zeigte sich zwischen Mars und Jupiter eine Lücke: nach dem Titiusschen Gesetze hätte sich dort ein Planet finden sollen. Und wirklich entdeckte Piazzi in Palermo am 1. Januar 1801 den kleinen Planeten Ceres, der aber bald durch seine Annäherung an die Sonne den Blicken entschwand.
Hätte nicht der große Mathematiker Gauß eine geniale Methode erfunden, durch die aus nur drei Beobachtungen eines Planeten seine Bahn berechnet werden kann, so hätte niemand gewußt, wo der neue Planet wieder aufgefunden werden könnte, und auch alle später entdeckten Planetoiden wären der astronomischen Beobachtung wieder entschlüpft. Allein nach der Gaußschen Berechnung konnte Olbers am 1. Januar 1802 die Ceres wieder auffinden und entdeckte im nächsten Jahre noch die Pallas, ebenfalls in der Lücke zwischen Mars und Jupiter. 1804 und 1805 wurden noch Juno und Vesta gefunden und 40 Jahre später entdeckte Hencke die Asträa; von da ab fand man noch mehrere Hundert solcher Wandelsternchen.
Eine solch verblüffende Bestätigung der Titiusschen Gesetzes schien dessen unumstößliche Richtigkeit zu beweisen und die Astronomie gewann dadurch auch bei den Laien ein Ansehen als einer Wissenschaft von unbezweifelbarer Zuverlässigkeit: ihre mathematischen Gesetze ließen ja selbst das Unbekannte mit Sicherheit feststellen.
Leider warf die Entdeckung des Planeten Neptun das ganze schöne Gesetz über den Haufen, denn die Entfernung dieses unbequemen Gesellen stimmte einfach nicht dazu. So mußte man einsehen, daß ein Naturgesetz, wenn es noch so glänzend sich bewährt, doch etwas zweifelhaftes bleibt.“
„Es wurde doch aber bloß ein Planet zwischen Mars und Jupiter vermutet,“ warf Mietje ein: „wie kommt es, daß man sie zu Hunderten fand?“
„Das ist auch so ein Rätsel,“ erläuterte der Professor: „Anfangs war man geneigt, zu glauben, es handle sich um einen großen Planeten, der durch eine Explosion oder durch den Zusammenstoß mit einem Kometen in kleine Stücke zertrümmert worden sei. Gegenwärtig findet die Ansicht mehr Anerkennung, daß der Planet schon bei seiner Entstehung durch die Nähe des dicken Jupiter in der Entwicklung gehindert worden sei, und an seiner Stelle gleich eine Menge kleinerer Weltkörper entstanden seien, oder daß diese eine Art Spritzschaum bei Entstehung des Sonnensystems darstellen. Sie sind außerordentlich klein und man könnte zum Beispiel mit einem Eilzug innerhalb zwei Stunden um die ganze Atalanta herumfahren. Übrigens erschwert ihre Lichtschwäche die Beobachtung von der Erde aus ungeheuer und man kommt zu keiner sicheren Feststellung ihrer Massen und Maße.“
„Umso wertvoller sind unsere Beobachtungen aus nächster Nähe,“ sagte Flitmore: „Schauen Sie, Professor, da kommen wir wieder an einem dieser Zwerge vorbei.“
„Ah!“ rief Schultze, „das ist interessant: keine Spur von Kugelform! Ein durch den Raum sausendes Felsgebirge ist’s. Es mag 300 Kilometer lang, 50 Kilometer breit und höchstens 4 Kilometer dick sein, abgesehen von seinen Zacken und Spitzen.“
„Merken Sie wohl, diese Planetoiden haben keine Rotation, sie drehen sich nicht um ihre Achse.“
„Bei solchen formlosen Klumpen,“ lachte Münchhausen, „ist eine Achse überhaupt nicht vorhanden.“
Eine längere Beobachtung der merkwürdigen Weltkörper ergab tatsächlich, daß von einer Umdrehung nichts zu bemerken war. Wenn je eine solche stattfand, so mußte sie ganz außerordentlich langsam vor sich gehen.
Heinz bemerkte noch: „Alles, was wir hier sehen, weist so regellose Formen auf, daß ich schon daraus schließen möchte, daß wir es trotz aller neuesten Ansichten dennoch mit den Splittern eines Planeten zu tun haben, und schon der Mangel an Kugelformen legt auch den Mangel einer Rotation nahe.“
„Nun sehen Sie,“ begann der Lord wieder: „Weil diese Planetoiden keine oder doch nur eine äußerst langsame Umdrehung ausführen, sind sie nicht imstande, sich mit einer atmosphärischen Hülle zu umgeben; dadurch entsteht bei ihrem Umlauf um die Sonne ihre starke Reibung an der Weltatmosphäre, und so kommt es, daß sie glühen und leuchten. Besäßen sie den Schutz einer Lufthülle, so müßten sie bei ihrem geringen Durchmesser längst zu Eis erstarrt sein.“
Das leuchtete ein, um so mehr als späterhin eine ganze Anzahl dunkler Planetoiden entdeckt wurde, die eine sichtliche rasche Rotation aufwiesen und auch die Form von meist stark abgeplatteten Kugeln zeigten. Diese hatten sich offenbar infolge ihrer Umdrehung um die eigene Achse mit einer atmosphärischen Hülle umgeben, die sie vor der Reibung im Weltraum schützte, so daß sie erstarren konnten.
Allein nicht ohne boshaften Triumph machte der Professor bald eine Entdeckung, die ihn zu dem Ausruf veranlaßte: „Und dennoch, weiser Lord, geht Ihre geniale Theorie in die Brüche, da sehen Sie hin! Hier ist ein Planetoid von sphärischer Form, der ganz lustig um seine Achse wirbelt, also nach Ihnen die Schutzhülle einer Atmosphäre genießt, und dennoch leuchtet er, wenn auch etwas matt.“
Flitmore beobachtete den seltsamen Weltkörper. Sphärisch war er kaum zu nennen, denn er erschien so plattgedrückt, daß er eher einem Schweizerkäse glich, allerdings einem oben und unten rundlich aufgewölbten. Die Rotation war unverkennbar, denn man konnte Bergspitzen am Rande erkennen, die innerhalb einer Viertelstunde merklich ihre Lage veränderten. Es ließ sich daraus eine Umdrehungszeit von 5 Stunden ausrechnen. Daß der Planet eigenes Licht besaß, war unzweifelhaft.
Der Lord schüttelte den Kopf: „Wenn sich dieser Asteroid in Glut befände, dann allerdings wäre meine Ansicht widerlegt, wenn er nicht etwa erst vor kurzer Zeit entstanden oder durch einen Zusammenstoß plötzlich erhitzt sein sollte. Es ist ja gar nicht unwahrscheinlich, daß mitunter die Anziehungskraft eines solchen rotierenden Körpers bewirkt, daß ein größerer Brocken, der in seine Nähe kommt, auf ihn stürzt und sich mit ihm vereinigt, wobei er durch die Heftigkeit des Anpralls vorübergehend zur Leuchtglut gelangen würde. Ich vermute jedoch eher, daß dieses Leuchten ein phosphoreszierendes ist oder von leuchtenden Substanzen, Radium und dergleichen herrührt. Ich meine, die Sache ist es wert, daß wir uns durch den Augenschein überzeugen und auf dem Streitobjekt landen.“
„Lord“, mahnte Schultze: „Sie würden dabei riskieren, daß die Sannah in Glut gerät und wir alle elendiglich verbrennen.“
„Sollte es uns zu heiß werden,“ lachte Flitmore, „so machen wir uns einfach aus dem Staube.“
Da eine rechtzeitige Flucht jede Gefahr ausschließen konnte, entschlossen sich alle, den Landungsversuch zu unternehmen und der Herr des Weltschiffs stellte den Zentrifugalstrom ab.
Als die Sannah auf dem Planetoiden landete, begab sich der Lord mit Schultze in den untersten Raum, dessen Wände auf der Oberfläche des Weltkörpers aufruhten. Hier wollte er abwarten, ob eine merkliche Erhitzung der Wandungen stattfinde, ehe der Ausstieg gewagt wurde.
Der Professor hielt immer wieder die Hand an den Boden; denn er glaubte, es müsse eine gewaltige Steigerung der Temperatur erfolgen; aber er konnte nichts dergleichen wahrnehmen und auch das angelegte Thermometer stieg innerhalb einer halben Stunde um nur einen Grad.
„Entweder ist die Schutzhülle der Sannah von ganz wunderbarer Vortrefflichkeit“, sagte Schultze erstaunt, „oder Sie behalten recht, Lord. Zu Eis erstarrt ist der Planetoid aber keinesfalls; Wärme strahlt er unter allen Umständen aus; denn die Temperatur steigt, wenn auch kaum merklich.“
„Ich denke, wir können es wagen, uns ins Freie zu begeben“, meinte der Engländer: „Es fragt sich nur noch, wie die Luftverhältnisse sind.“
Sie erstiegen nun das Nordpolzimmer, in dem die andern ihrer harrten. Die Lucke wurde vorsichtig geöffnet und Dick gegen den Spalt geschoben. Der Affe wich nicht zurück, im Gegenteil, er drängte den Kopf gegen die Öffnung, ein Zeichen, daß keinerlei giftige Gase einströmten.
Nun öffnete der Lord die Türe weit und Dick und Bobs sprangen vergnügt hinaus, um alsbald an den Rampen hinabzuklettern.
Flitmore trat unter die Türe und sah hinaus. Die Seite des Planetoiden, auf der die Sannah festlag, war von der Sonne abgewendet, das heißt es herrschte zur Zeit Nacht auf ihr; allein es war durchaus nicht dunkel dort unten!
Große dunkle Flächen zeigten sich allerdings, aber sie schwammen wie Inseln in einem leuchtenden Meer. Taghelle herrschte freilich nicht; aber ein wunderbares, entzückendes sanftes Schimmern in allen Farbenabstufungen: hier glänzte alles in grünem Schein, dort glühte es rot, dort wieder blau und violett; an einzelnen Stellen brach ein milchweißes Licht hervor, das seine Strahlengarben hoch emporsandte, gleich einem elektrischen Scheinwerfer.
Da und dort schwammen buntdurchleuchtete Nebelwolken über dem Boden. Ein leiser Luftzug trieb sie zuweilen weiter, und je nach der Färbung der Strahlen, die vom Grunde aufstiegen, über den sie schwebten, wechselte auch ihre Farbe in zauberschönem Spiel.
Eine würzige, lauwarme Luft wehte dem Lord entgegen und als er sah, daß die Schimpansen den Erdboden erreicht hatten und sich ohne irgend ein Zeichen von Mißbehagen, vielmehr seelenvergnügt auf dem leuchtenden Boden tummelten, hakte er die Strickleiter ein und ließ sie hinabfallen.
Dann stieg er als erster in die Tiefe.
Ein lautes „Ah!“ des Entzückens erscholl aus Mietjes Munde, als sie hinter ihm aus der Türe trat und auch die Nachfolgenden hielten überraschte Ausrufe der Bewunderung nicht zurück.
„Alles in bengalischer Beleuchtung zur Feier unserer Ankunft!“ rief Münchhausen, als er mühsam aber mit begierigem Eifer die schwanke Strickleiter hinabkletterte, die unter seiner Last knirschte und stöhnte.
Bald waren alle unten versammelt. Es schien eine Wiese zu sein, die sie betreten hatten und das Gras leuchtete in grünem Schimmer von innen heraus; aber auch der Erdboden selber, wo er zwischen den Gräsern sichtbar wurde, phosphoreszierte in weißem und gelblichem Schimmer: alles schien durchleuchtet!
Flitmore brach zuerst das Schweigen.
„Laßt uns dieser Wunderwelt, dir wir entdeckten und die uns einen neuen Einblick in die schöpferische Allmacht gewährt, einen Namen geben! Mietje, nach dir möchte ich den lieblich und herrlich zugleich erschimmernden Stern benennen.“
„Nein, mein Lieber!“ verwahrte sich Mietje entschieden: „Weder fühle ich mich würdig einer solch außerordentlichen Pracht meinen Namen leihen zu lassen, noch ist der schlichte Klang dieses Namens geeignet, diese herrliche, strahlende Welt zu kennzeichnen: sie bedarf eines klangvollen Namens.“
„Nun, so sollst du jedenfalls das Recht haben, den Namen zu wählen,“ sagte ihr Gatte und fügte höflich hinzu: „Falls die Herren nichts dagegen haben.“
„Das wäre noch schöner!“ rief Schultze: „Wir haben weder ein Recht dazu, noch wüßten wir eine würdigere Wahl zu treffen.“
„Nun denn!“ ließ sich Mietje vernehmen: „Ich trage im Herzen das Bild einer stolzen und zugleich anmutigen Prinzessin, einer Heldin, der wir alle, außer Herrn Friedung, der nicht das Glück hat, sie zu kennen, unendlich viel verdanken, einer edlen Seele, die wir bewundern, eines goldnen Herzens, das wir lieben lernten. Wie seh ich ihr leuchtendes Auge im Geiste mich anblitzen und wie schmeichelt sich mir der Klang ihres Namens ins Ohr.“
„Tipekitanga!“ rief Münchhausen begeistert. „Brava, brava! Unsre Tipekitanga verdient wahrhaftig solche Ehre!“
Wir müssen hier bemerken, daß der Kapitän der italienischen Sprache mächtig war und daher einer Dame gegenüber nicht das männliche „Bravo!“ gebrauchte, wie es bei Unwissenden üblich ist, sondern das einzig richtige „Brava“, das einem weiblichen Wesen zukommt, dem man Beifall spendet.
Auch der Professor und der Lord waren mit Mietjes Vorschlag einverstanden und ersterer bemerkte:
„Es ist überhaupt ein besonders glücklicher Gedanke, diesem Planetoiden den Namen einer Zwergprinzessin beizulegen, sind doch diese Weltkörper die Zwerge unter den Planeten und der von uns betretene scheint mir in seinem leuchtenden Geschmeide eine Prinzessin unter den Asteroiden zu sein.“
Nachdem nun diese Frage zu allgemeiner Genugtuung erledigt war, wurde eine Entdeckungsreise auf dem neugetauften Planeten unternommen.
„Gehen wir nach Westen,“ schlug der Lord vor: „Ich vermute, daß der Anblick dieser Lichtwelt bei Nacht am reizendsten ist und wir gehen in dieser Richtung der Sonne aus dem Wege.“
Auch dieser Vorschlag fand keinen Widerspruch, und so wanderten unsre Freunde durch die leuchtenden Auen, von einem Entzücken ins andre geratend.
Der grünen Wiese schloß sich eine blumige Au an: die roten, gelben und blauen Blumen strahlten jede ihr eigentümliches Licht aus; man glaubte, den leuchtenden Saft in den Stengeln emporsteigen und in dem feinen Geäder der Blütenblätter kreisen zu sehen.
Das weiße Licht entstrahlte dem Boden an Stellen, die des Pflanzenwuchses bar waren und die aus leuchtender Kreide oder Kalkstein zu bestehen schienen.
Dann kamen Gebüsche und Stauden mit zartviolettem Blattwerk, Bäume, zwischen deren mattlichten Blättern orangerote und goldgelbe, auch purpurne und silbergraue Früchte förmlich strahlten und gleich venezianischen Laternen die Umgegend erhellten.
Wunderbar erschien vor allem das Silberleuchten der Bäche, die sich durch die Auen schlängelten und der weißaufblitzende Schaum der Wasserfälle, die sich von felsigen Hügeln herabstürzten. Diese massiven Felsen, die sich aus der Ebene erhoben, stellenweise auch als tafelartige Flächen in der Ebene selber lagen, bildeten die dunkeln Flecken, die unsern Freunden gleich zu Anfang aufgefallen waren. Sie erhöhten in ihrem Teil den Reiz des Ganzen und der zauberhafte Eindruck des farbenbunten Lichtes hätte sicher Einbuße erlitten, wenn nicht die Schatten es wirksam unterbrochen und gehoben hätten.
Märchenschön erschienen die Teiche und Seen, deren Gewässer in verschiedenen Farben vom lichtesten Blau bis zum dunkelsten Violett, vom zartesten Rosa bis zum düstersten Purpur glühten. Über ihnen schwebten die beweglichen, durchleuchteten Nebelwolken, die sich, vom Nachthauch getrieben, in zerflatternden Streifen über Wiesen und Auen hinzogen.
Die Berge, die stellenweise zu überklettern waren, zeigten sich stets von mäßiger Höhe und boten keine besonderen Schwierigkeiten. In der Regel war das Gestein dunkel; doch auch hier waren Schichten selbstleuchtender Mineralien eingesprengt und einen besonders feenhaften Anblick gewährte es, wenn man über Geröll dahinwanderte, das aus lichtsprühenden Steinchen aller Färbungen bestand: es war, als schritte man über Diamanten Rubine, Saphire und andre Edelsteine hinweg, die im eigenen Glanze funkelten und bei jedem Tritt bunt durcheinanderrollten mit melodischem Klingen und wunderbarem Geblitz und Geflimmer. Flitmore machte fleißig farbige photographische Aufnahmen, die sich späterhin als von wunderbarer Wirkung erwiesen und ein herrliches und dauerndes Andenken an die buntleuchtende Pracht der Tipekitanga bildeten.
Nach fünfstündiger Wanderung, die nur durch eine halbstündige Frühstücksrast unterbrochen worden war, sahen unsre Freunde die Sonne hinter sich emporsteigen.
Wie Flitmore richtig vermutet hatte, löschte ihr Glanz den Hauptreiz des Wunderplaneten aus.
Zwar erschienen die leuchtenden Farben auch jetzt noch von einer Pracht, mit der nichts auf der Erde sich vergleichen ließ und man konnte das eigene Licht des Erdbodens, des Wassers und der Pflanzen ganz deutlich unterscheiden. Aber das feenhafte Schauspiel, das sie im nächtlichen Dunkel boten, war es nun doch nicht mehr.
Wie in einem Märchentraum waren die Wandrer bisher dahingewandelt, schwelgend in nie geahnter Seligkeit des Schauens. Jetzt brachte das altgewohnte Licht des Tagesgestirns das Erwachen, doch konnte es nicht die Eindrücke verwischen, die sich ihnen unauslöschlich eingeprägt hatten.
Aber was war das? Vor ihnen ragte die Sannah aus leuchtenden grünen Matten!
Nicht mehr als eine Stunde brauchten sie, um wieder auf dem Platze zu stehen, von dem aus sie die herrliche Rundreise angetreten hatten.
In fünf Stunden hatte die Tipekitanga ihre Umdrehung um ihre Achse vollendet, nicht viel mehr als sechs Stunden hatten die Wandernden gebraucht, um den Planetoiden im Äquator in seinem ganzen Umfang zu umschreiten: wahrhaftig eine Zwergprinzessin unter den Planeten!
Noch einige Stunden ergingen sich unsre Freunde im Tageslicht auf der paradisischen Tipekitanga. Sie kosteten nun auch die leuchtenden Früchte, nachdem das Beispiel der Affen, die ganze Massen davon mit Gier vertilgten, sie versichert hatte, daß keine Gefahr dabei sei.
Diese Früchte erwiesen sich nicht bloß als erfrischend und saftig, von köstlichem und sehr verschiedenem Wohlgeschmack, sondern es schien eine eigentümliche, stärkende und belebende Kraft von ihnen auszugehen: nach ihrem Genuß fühlte man sich in äußerst gehobener Stimmung, eine niegekannte Lebensfreudigkeit beseligte die Gemüter und neue Kräfte schienen die Adern zu schwellen.
Selbst Münchhausen rühmte: „Ich fühle mich so frisch und leicht, als sei meine ganze Körperlast geschwunden und ich könnte mich als ätherisches Wesen in die Lüfte erheben.“
Alle mußten lachen, wenn sie die Masse des Kapitäns betrachteten und dabei hörten, daß er sich einem ätherischen Wesen verglich.
„Na, einen Luftballon könnten Sie ja immerhin vorstellen,“ meinte Schultze: „Tun Sie ihren Gefühlen keinen Zwang an und schweben Sie immer mal empor, wir alle freuen uns auf den köstlichen Anblick.“
Mit dem Schweben des Dicken hatte es aber noch gute Wege. Von den herrlichen Früchten wurden reiche Vorräte in die Sannah geschafft, obgleich man nicht wissen konnte, wie lange sie sich halten würden.
Inzwischen waren die kurzen Tagesstunden verflogen und die Wiesen und Fluren leuchteten wieder in ihrem vollen Zauber.
Am Himmel aber stieg ein strahlender Komet auf, den zuvor niemand beobachtet hatte.
„Er weist uns den Weg zur Weiterfahrt!“ sagte Flitmore.
Alle begaben sich wieder in das Weltschiff, der Strom wurde eingeschaltet und der bunte Glanz unter ihnen floß zusammen in einem milden Schimmer. Allmählich wurde die Tipekitanga wieder der still leuchtende Stern, wie sie ihn zuerst erblickt hatten und flog auf ihrer Bahn vor aller Augen davon in die dämmernden Fernen.
Um so prächtiger strahlte der neue Komet, dem sich jetzt die allgemeine Aufmerksamkeit ungeteilt zuwendete.
John Rieger, der gebildete Schwabensohn, wandte sich wieder einmal an den Professor in seinem unstillbaren Durst nach Aufklärung. Bei ihm hieß es auch: „Zwar weiß ich viel, doch möcht’ ich alles wissen.“ Und so begann er denn in seiner gewählten Sprechweise:
„Hochwertester Herr Professor, falls es Ihnen nicht zu geringwertig erscheinen dürfte, möchte ich Sie mit Vergnügen ersuchen, ob Sie nicht geneigt sein wollten, mir einen wissenschaftlichen Vortrag zu halten, wie Sie es so vorzüglich verstehen, über einige Punkte der asternomischen Wissenschaft, in denen ich mich noch sozusagen in verhältnismäßiger Unwissenheit befinde.“
„Wenn ich dir dienen kann, teuerster Sohn, so bin ich stets bereit,“ erwiderte Schultze: „Laß hören, was für einen Gegenstand du erläutert haben möchtest.“
„Nichts andres, als eben die Kometen, was nämlich eigentlich solch ein Haarstern von Natur ist und wo er her kommen tut und warum er überhaupt einen Schwanz hat?“
„Ja, lieber Freund, das sind zum Teil verfängliche Fragen: so ganz Gewisses weiß man ja darüber überhaupt nicht und die Gelehrten sind noch lange nicht einig; doch will ich dir gerne kund tun, wie es mit all dem nach dem heutigen Stande der Wissenschaft steht.
Wo die Kometen herkommen, ist verhältnismäßig am einfachsten zu beantworten: einige gehören unserem Sonnensystem an und kehren regelmäßig wieder, das sind etwa 6000 Stück, von denen allerdings die wenigsten mit bloßem Auge sichtbar sind. Sie haben eine elliptische Bahn; aber während die Ellipse, welche die Planeten um die Sonne beschreiben, beinahe ein Kreis ist, gleicht die Bahn der Kometen einer Parabel: sie verläuft fast geradlinig bis an ihr Ende, das heißt bis zur Stelle, wo der Komet sich wendet, um wieder an seinen Ausgangspunkt zurückzukehren. Die Umlaufzeit dieser Kometen ist zum Teil sehr kurz, sie können alle drei bis sechs Jahre wiederkehren; sie kann aber auch sehr lang sein wie beim donatischen Komet, wo sie 1900 oder beim großen Komet von 1881, wo sie gar 3000 Jahre beträgt.
„Die Kometen mit kurzer Umlaufzeit sind meist nur mit dem Fernrohr zu sehen, was daher kommen mag, daß sie durch ihre häufige Annäherung an die Sonne immer mehr aufgelöst und somit immer lichtschwächer werden.
„Nun gibt es aber auch Kometen, die aus unermeßlichen oder gar unendlichen Fernen kommen, gleichsam Boten aus der Fixsternwelt; das sind diejenigen, deren Bahn eine Parabel oder einen Hyperbelast beschreibt und sich daher ins Unendliche erstreckt. Die Parabelbahnkometen kehren in die Gegend zurück, aus der sie gekommen sind, die Hyperbelbahnkometen in andre Himmelsgegenden. Bei der Annäherung an die Sonne krümmen sie ihre Bahn sehr stark infolge der Sonnenanziehung, wenden sich um die Sonne herum und entschwinden dann wieder auf Nimmerwiedersehen aus unserm Sonnensystem.
Doch eben die Anziehungskraft der Sonne oder auch eines Planeten, namentlich des gewaltigen Jupiter, kann einen derart störenden Einfluß auf die Bahn solcher Kometen ausüben, daß sie aus einer parabolischen oder hyperbolischen zu einer elliptischen wird. Dann hat unser Sonnensystem den Weltenbummler sozusagen eingefangen und er muß nun immer wiederkehren in regelmäßiger Umlaufszeit.
Aber auch umgekehrt kann die elliptische Bahn eines Kometen in eine parabolische oder hyperbolische verwandelt werden und dann ist er für uns verloren. So ist zum Beispiel der Lexellsche Komet, der 1770 von Messier entdeckt wurde in eine schlimme Balgerei mit dem Jupiter geraten, dem er allzunahe kam. Lexell berechnete seine Umlaufszeit zu 5½ Jahren; auch stellte es sich heraus, daß dieser Komet erst 1667 durch eben den Jupiter für unser Sonnensystem eingefangen worden war.
Im Jahre 1779 näherte sich der Frechling wiederum dem Jupiter und entblödete sich nicht, sogar zwischen dessen Monden hindurchzugehen. Der mit Recht entrüstete Planet warf den Eindringling zum zweitenmal aus seiner Bahn, so daß er nun eine Umlaufzeit von 27 Jahren hatte.
Im Frühjahr 1886 machte der Lexellkomet einen neuen Annäherungsversuch und hielt sich volle acht Monate in der Nähe des großen Planeten auf. Hiedurch wurde seine Bahn wiederum verändert und er erhielt eine Umlaufzeit von sieben Jahren. So wurde er 1889 wieder sichtbar: aber es läßt sich vorausberechnen, daß der unverschämte Geselle den Jupiter nicht in Ruhe läßt, bis diesem die Geduld reißt und er ihn endgültig aus unserm Sonnensystem hinausschmeißt wegen wiederholten Hausfriedensbruches.
Über die Bahnen der Kometen ist noch zu sagen, daß sie nicht wie die der Planeten nur mäßig gegen die Erdbahn geneigt sind, sondern die verschiedensten Neigungswinkel aufweisen. Bei einem Neigungswinkel von 0 bis 90 Grad zur Erdbahn ist der Komet rechtläufig, das heißt er bewegt sich in gleicher Richtung wie die Erde um die Sonne. Beträgt aber die Neigung 90 bis 180 Grad, so bewegt er sich in entgegengesetzter Richtung zur Erde und wird ‚rückläufig‘ genannt.“
„Ja, aber wie ist es mit den Schweifverhältnissen?“ fragte der wißbegierige John weiter.
„Ja so! Von Hause aus haben die Kometen keinen Schweif und sind sehr lichtschwach, obgleich sie zweifellos eigenes Licht ausstrahlen. Erst wenn sie sich unsrer Sonne nähern, leuchten sie immer heller auf und senden eine oder mehrere, oft pendelartig schwingende Ausstrahlungen der Sonne zu, die sich unter starker Verbreiterung zurückbiegen und den Kometenkern mit einer strahligen Nebelmasse umhüllen, die man ‚Koma‘ nennt.
Die umgebogenen Ausstrahlungen setzen sich fort in dem der Sonne stets abgewendeten Schweif, der allein dem bloßen Auge sichtbar ist und oft eine Länge von vielen Millionen Kilometern erreicht. Bei der Sonnennähe oder kurz darauf erreicht er seine größte Länge und Helligkeit. Je mehr sich der Komet von der Sonne entfernt, desto schwächer und kürzer wird sein Schweif, bis er samt Koma und Ausstrahlungen verschwindet und nur noch eine matte, runde Nebelmasse, ein leichtes Wölkchen übrig bleibt, wie vor der Annäherung an die Sonne.
Kometen, die der Sonne nicht nahe kommen, bilden nur eine runde oder auch unförmliche Nebelmasse, matt und verwaschen, ohne Schweifbildung.
Bis jetzt ist noch kein Komet beobachtet worden, dessen Perihel oder Sonnennähepunkt weiter als die Jupiterbahn von der Erde entfernt wäre; das beweist nicht, daß es nicht auch solche gibt, sondern nur, daß sie uns nicht sichtbar werden wegen allzu geringer Leuchtkraft.
Manche Kometen entwickeln mehrere mehr oder wenig gekrümmte Schweife. So breitete der Komet von 1744 sechs fächerförmige Schweife aus; er war so hell, daß man ihn mit bloßem Auge zur Mittagszeit in der Nähe der Sonne sehen konnte.“
John war noch nicht befriedigt und fragte weiter: „Wieso aber eigentlich, falls doch die Kometen von Natur aus schweiflos sind, wächst ihnen ein solcher, wenn sie zur Sonne gelangen?“
„Das macht die anziehende Kraft der Sonne, mein Bester. Allerdings begreift man noch nicht zur Genüge, warum die Ausstrahlungen, die anfangs der Sonne zustreben, zurückgebogen werden und so den der Sonne abgewendeten Schweif bilden, dessen Krümmung abhängt von dem Verhältnis der abstoßenden Kraft zur Bahngeschwindigkeit des Kometen. Vielfach wird angenommen, das Sonnenlicht übe diese abstoßende Wirkung aus, andre denken an elektrische Erscheinungen. Es können da viele Kräfte wirksam sein, die wir noch nicht kennen. Wenn sich zum Beispiel der Schweif in mehrere auseinandergehende Büschel spaltet, scheinen schwächere, seitlich wirkende Kräfte wirksam zu sein. Man beobachtet zuweilen auch im Schweif eine wolkenähnliche Verdichtung, die selber wie ein kleiner Komet aussieht, der ebenfalls eine Mähne besitzt. Auch plötzliche Lichtausbrüche kommen vor, seltener eine plötzliche Lichtabnahme.“
„Meine Fliehkraft erklärt alles,“ warf der Lord ein: „Die vom Kometen ausgestoßenen Stoffe sind mit Zentrifugalkraft geladen und werden daher von der Sonne abgestoßen.“
„Mag sein!“ sagte Schultze achselzuckend und fuhr dann fort: „Was nun den Stoff betrifft, aus dem die Kometen bestehen, so scheint er von äußerst geringer Dichte zu sein; wenigstens der Schweif muß eine äußerst dünn verteilte Staub- oder Dampfwolke sein; denn die Sterne schimmern unverdunkelt und ohne Lichtbrechung hindurch.
Die Spektralanalyse wies Natrium- und Eisenlinien nach, namentlich auch Kohlenwasserstoff und Kohlenoxyd; es ist also immerhin möglich, daß so ein Kometenschweif Petroleum enthält und andere Stoffe, auch giftige Gase, die gefährlich werden könnten, wenn sie in die Erdatmosphäre eindrängen. Andrerseits scheint ihre geringe Dichtigkeit jede Gefahr wieder auszuschließen. Jedenfalls hat die Erde im Jahre 1861 den Schweif des Halley-Kometen durchkreuzt ohne Schaden zu nehmen, ja ohne daß es nur irgendwer merkte; erst nachträglich wurde die Tatsache bekannt. In früheren Zeiten freilich glaubte man, die Kometen gingen von irdischen Dünsten aus und brächten Pest und Seuchen; auch als Kriegsruten, die großes Blutvergießen und andere schwere Katastrophen anzeigen sollten, wurden sie angesehen.“
„Ganz ausgeschlossen ist es trotzdem nicht,“ meinte der Lord, „daß unter ungünstigen Verhältnissen die Luft der Erde durch Kometengase vergiftet werden könnte, so daß alles Leben in einem Augenblicke zu Grunde ginge. Was uns vor diesem Schicksal bewahrt, ist meiner Ansicht eben der Umstand, daß die Fliehkraft die Erde veranlaßt, diese Stoffe von sich abzustoßen. Sternschnuppenregen und Meteorfälle aber belehren uns, daß diese abstoßende Kraft auch überwunden werden kann, und dies hängt wahrscheinlich mit der Geschwindigkeit des Zusammentreffens ab. Begegnet zum Beispiel die Erde dem Schweife eines sich mit außerordentlicher Geschwindigkeit bewegenden rückläufigen Kometen, so erfolgt der Zusammenstoß mit großer Plötzlichkeit, da beide einander entgegensausen und sich so die Geschwindigkeit der Erde zu der des Kometen addiert. In diesem Fall dürfte der abstoßenden Kraft die Zeit fehlen, in Wirksamkeit zu treten.“
„Wie ist es aber,“ fragte nun Mietje, „wenn ein Weltkörper, sagen wir die Erde, mit dem Kern oder Kopf des Kometen zusammenstößt?“
„Das ist eine Frage für sich,“ erwiderte der Professor. „Im allgemeinen ist ja die Sache für den Kometen selber am gefährlichsten. Wir sehen ja, wie die Annäherung an die Sonne einen Teil seines Kerns in flüchtige Bestandteile auflöst, die beispielsweise beim Kometen von 1843 einen Schweif von 320 Millionen Kilometern bildete. Ziehen nun die Kometen den Schweif auch wieder ein, so erleiden sie doch enorme Verluste an Materie und werden so immer geringer an Masse, bis sie sich schließlich ganz auflösen.
Bekanntlich kam der Bielasche Komet 1845/1846 dem Jupiter so nahe, daß man einen Zusammenstoß erwartete; doch erlitt der große Planet keinen sichtlichen Schaden, während der Komet in zwei Teile gespalten wurde, die späterhin ganz verschwanden oder vielmehr einen Meteorschwarm bildeten, durch den die Erde des öfteren dahinging, bis auch er schließlich ausblieb.
Der Septemberkomet von 1882, dessen Vorübergang vor der Sonne Finlay und Elkin am Kap der Guten Hoffnung am lichten Tage beobachten konnten, ging durch die Glutatmosphäre der Sonne. Wie erstaunt war man in Amerika, hernach zu entdecken, daß er nicht weniger als sieben Junge gekriegt hatte, die ihm folgten, wie die Küchlein der Gluckhenne.
Andrerseits kann aber nicht geleugnet werden, daß der Zusammenstoß mit dem Kern eines Kometen auch ernste Gefahren in sich bergen kann. Manche Kometen bewegen sich mit solch ungeheurer Geschwindigkeit, daß ein Anprall ihrer festen Masse, wenn sie von irgendwie bedeutender Ausdehnung ist, den getroffenen Planeten in Glut versetzen müßte. Der Komet von 1843 vollzog seine Wendung um die Sonne mit solch fabelhafter Schnelligkeit, daß er binnen weniger Stunden von der einen Seite nach der andern gelangte. Dagegen ist die Geschwindigkeit unsrer Erde mit 30 Kilometern in der Sekunde ein Schneckentempo. Welche Geschwindigkeit erst die Bestandteile seines 320 Millionen Kilometer langen Schweifes an dessen Ende hiebei entwickeln mußten, übersteigt unsre Fassungskraft.“
„Ich meine aber,“ wandte Heinz ein, „man hält neuerdings auch den Kern der Kometen für eine nebelartige, gasförmige Masse ohne Festigkeit.“
„Das ist angesichts der Tatsachen eine ganz unhaltbare Ansicht,“ widersprach Schultze: „Denken Sie doch, daß die Meteore, die auf die Erde fallen, zum Teil Eisenblöcke von ungeheurem Gewichte sind. Und diese Brocken scheinen nicht einmal dem Kern, sondern dem Schweif der Kometen zu entstammen, in dem man oft stark verdichtete Lichtknoten beobachtet.
Allerdings glaubt man, daß die Erde 1872 und 1885 mit den beiden Köpfen des Biela-Kometen zusammenstieß, da der Schweif eine ganz andre Bewegungsrichtung hatte als die damals niedergehenden Sternschnuppen oder Meteorschwärme. Sollte das richtig sein, so ist immerhin zu berücksichtigen, daß es sich hier um einen durch Jupiter zertrümmerten und in Auflösung begriffenen Kometen handelte.
Daß es aber überhaupt einem Kometen möglich ist, so nahe am Jupiter vorbeizukommen oder gar durch die glühende Korona der Sonne zu sausen, wie es auch vorkommt, ohne völlig in Dunst aufgelöst zu werden, beweist, daß er äußerst widerstandsfähige feste Bestandteile besitzen muß.“
„Hiefür kann ich auch einen Beweis beibringen,“ bestätigte Flitmore. „Ich besuchte vor Jahren die sogenannte Teufelsschlucht in Arizona. Das ist ein ovaler Kraterring, der sich 40 bis 50 Meter über die umgebende Hochfläche erhebt; sein Durchmesser beträgt 1300 Meter von Ost nach West, 1200 von Süd nach Nord. Der innere Schlund fällt 200 Meter tief schroff ab, der Kessel ist also um 150 Meter tiefer als die Ebene rings umher; früher muß er noch viel tiefer gewesen sein, aber Schutt und Geröll ist jahrhundertelang hinabgerollt, denn das Gefüge des Gesteins ist stark aufgelockert.
Nun haben Bohrungen ergeben, daß unter den Schuttmassen das Gestein völlig zersprengt und in zelligen Bimsstein verwandelt ist. Der zerpulverte Sandstein ist mit feinverteiltem Nickeleisen vermengt und in einer Tiefe von 250 Metern unter der jetzigen Talsohle stieß man auf feste Eisenmassen, die sich als Meteoreisen herausstellten.
Rings um den Krater findet man ganze Massen von Meteoreisensteinen, deren Gewicht von einem Gramm bis zu 460 Kilogramm schwankt und die außer dem vorwiegenden Nickeleisen Verbindungen von Phosphor, Schwefel, Kohlenstoff, auch Diamanten enthalten.
Man ist nun in wissenschaftlichen Kreisen zu der Überzeugung gelangt, daß hier ein fester Brocken eines Kometen vor Zeiten auf die Erde niederstürzte und zwar von West-Nord-West in einem Winkel von 70 Grad. Der Block hatte wahrscheinlich 150 Meter Durchmesser. Er schlug ein 350 Meter tiefes Loch in die Erde, wobei die entwickelte Hitze von etwa 2000 Grad Celsius den Sandstein in Bimsstein umschmolz. Die emporspritzenden Gesteinstrümmer bildeten den Kraterwall um den Kessel.“
„Da haben wir’s!“ sagte Schultze: „Ebensogut können Felsblöcke von mehreren Kilometern Durchmesser in solch einem Kometenkopf enthalten sein oder noch größere Massen. Der Zusammenprall würde unter Umständen nicht bloß alles Leben auf dem getroffenen Teil der Erde vernichten, sondern die Umdrehung unsres Planeten könnte eine Änderung erleiden, wodurch die Länge von Tag und Nacht eine völlig andre werden müßte; zudem könnte die Erdachse sich derart verschieben, daß die Meere sich gegen den neuen Äquator stürzen und das Festland verschlingen würden.“
„Hoffen wir, daß dies Theorien bleiben,“ ließ sich nun Münchhausen vernehmen. „Jedenfalls aber wollen wir uns inachtnehmen, daß nicht etwa unsre teure Sannah mit dem Kometen dort drüben in nähere Berührung kommt.“
„Davor schützt uns die Fliehkraft,“ versicherte Flitmore. Er ahnte nicht von ferne, daß gerade das Gegenteil der Fall sein sollte.
Das Gespräch über die Kometen war während des Mittagsmahls geführt worden; deshalb hatte sich Münchhausen so wenig daran beteiligt, denn wenn er an der gewaltigen und doch so angenehmen Arbeit war, seinen Appetit zu stillen, ließ er die andern behaupten, was sie wollten, das war ihm alles Nebensache.
John fühlte sich durch die neuen Lichter, die ihm über die Kometen aufgesteckt worden waren, so erleuchtet, daß er zum Schluß begeistert äußerte: „Die Asternomie ist doch sozusagen die hochwohllöblichste Wissenschaft, indem daß sie das höchste Lob verdient, sowohl von wegen ihres Verstandes der unbekanntesten und schwierigsten Probleme, sowie von wegen der besonderen Interessantheit und Wichtigkeit ihrer Entdeckungstatsachen.“
„Lieber Freund,“ widersprach der Kapitän, den letzten Bissen mit einem Schluck Wein begießend: „Es fehlt der Astronomie nur ein einziger Buchstabe, um das Lob zu verdienen, das du ihr spendest. Weil ihr aber dieser Buchstabe fehlt, kommt sie erst in zweiter Linie.“
„Und was wäre dann, wenn Sie mir gütigst zu fragen gestatten, hochverehrtester Herr Kapitän, dieser Buchstaben?“ fragte John verwundert.
„Das G,“ erwiderte Münchhausen überzeugt: „Über die Astronomie und alle andern Wissenschaften geht die Gastronomie.“
„Die Gasternomie?“ wiederholte John, hochaufhorchend. „Verzeihen Sie bescheidenst, wenn mir das leider vollständig unbekannt zu sein der Fall ist, daß es auch eine sobenannte Wissenschaft gibt, wo ich doch der schmeichelhaften Meinung war, alle Wissenschaften zu kennen, aus welchem Grunde ich Ihnen besonders zu Dankbarkeit verpflichtet wäre, wenn Sie mich auch diese Wissenschaft lernen wollten.“
„Die lernt man nicht, die genießt man, mein Sohn; es ist eine Wissenschaft, die einem angeboren sein muß; sie beschäftigt sich mit dem Eßbaren und Trinkbaren und lehrt, was gut schmeckt und bekömmlich ist, sowie was man zu tun hat, um besonders schmackhafte Speisen und Getränke zu bereiten. Ihr Lehrbuch ist das Kochbuch, das aber ohne angeborenes Genie geringen Wert hat. Übrigens genügt es, die leiblichen Genüsse recht zu schätzen und zu genießen, um ein tüchtiger Gastronom zu sein, wenn man auch ihre Zubereitung nicht selber verstünde. Schau, ohne Astronomie und alle andern Wissenschaften kann der Mensch leben und glücklich sein, nicht aber ohne Essen und Trinken; ja, ohne diese notwendigste aller Beschäftigungen wäre er gar nicht imstande, irgend einer andern Wissenschaft sich hinzugeben; daher ist die Gastronomie die Grundlage und Seele aller andern Wissenschaften.“
„Das dürfte ja wohl sozusagen stimmen,“ meinte Rieger nachdenklich: „Und mit hungrigem Magen bin ich auch nicht für die Wissenschaften aufgelegt.“
„Also!“ triumphierte Münchhausen: „die wichtigste Frage ist nicht die, wie schnell sich ein Weltkörper bewegt, wie weit er von uns entfernt ist und was für Stoffe ihn zusammensetzen, sondern ob es auf ihm auch etwas Gutes zu essen gibt, und das kann uns die Astronomie nicht enthüllen.“
„Viel wichtiger erscheint mir,“ sagte Mietje lachend, „zu wissen, was für Geschöpfe auf einem Planeten hausen, dem wir einen Besuch abstatten wollen; denn solchen scheußlichen Ringelwürmern wie auf dem Mars möchte ich doch nicht wieder begegnen.“
„Kleinigkeit!“ brummte der Kapitän: „Geben Sie mir eine gute Mahlzeit und ich pfeife auf alle Lumbriciden und andere Ungeheuer.“
„Na, na!“ spöttelte Schultze: „Auf dem Mars ist Ihnen das Pfeifen doch vergangen; Sie schienen wenigstens bereits aus dem letzten Loch zu pfeifen, als Sie „unter Larven die einzige fühlende Brust“ sich am Boden wälzten.“
„Unsinn! Wer wie ich schon die Seeschlange bekämpft und besiegt hat, sollte sich vor solch harmlosem Gewürm fürchten?“
„Die Seeschlange? Die echte, fabelhafte Seeschlange?“ fragte Heinz neugierig.
„Gewiß! Ein Ungeheuer, zwanzig Meter lang und dick wie eine Hochwaldtanne.“
„Bitte, erzählen Sie uns doch dieses bemerkliche Abenteuer, wenn ich mir die Unbescheidenheit erlauben darf,“ bat John.
„Ja, das war eine schlimme Geschichte,“ hub der Kapitän schmunzelnd an. „Also! Wir fuhren auf der Höhe von Kap Horn, als der zweite Steuermann, Petersen hieß er, auf mich zukommt und sagt: ‚Kapitän, dort taucht der Rücken eines Wals aus dem Wasser.‘
Ich schaue hin: ‚Nee,‘ sag ich, ‚das sind Delphine‘, denn ich sah fünf Rücken in einer Reihe hintereinander über dem Meeresspiegel. ‚Vorhin war es bloß einer,‘ versicherte Petersen, ‚aber jetzt scheint es mir selber, es sind Delphine.‘
Die Geschöpfe bewegten sich, doch man sah weder Kopf noch Schwanz auftauchen und plötzlich rufe ich: ‚Kinder, das sind auch keine Delphine; das sind die Rückenwölbungen eines einzigen Ungeheuers: es ist die Seeschlange!‘
Das gab ein Hallo, ein Laufen und Schreien! Die Seeschlange aber, sobald sie sich erkannt sah, gab ihr Versteckspiel auf und hob den scheußlichen Kopf über das Wasser. Sie wuchs empor wie ein Riesenmast und bald wiegte sich ihr Haupt über dem Schiff. Die sonst nicht so furchtsamen Matrosen stürzten alsbald feige davon und verkrochen sich in den Lucken. Ich allein blieb auf dem Posten und das entsetzliche Reptil streckte den Hals nach mir aus, den gewaltigen Rachen aufsperrend.“
„Natürlich! Ein so fetter Bissen mußte ihr willkommen sein!“ lachte Schultze.
„Bitte!“ verwahrte sich der Kapitän: „Ich war damals noch jugendlich schlank und äußerst behende, wie Sie bald sehen werden. Sie wählte mich nur deshalb zum Opfer, weil ich eben der einzige war, der sich noch an Deck befand.
Wohl war mir nicht zumute, das gestehe ich, wie dieser mörderische Rachen mir entgegengähnte. Hoch in den Lüften wölbte sich der dicke Hals zu einem Bogen, während das Haupt der Schlange sich zu mir herabsenkte.
Ich springe beiseite; der Kopf fährt mir nach. Ich, in der Verzweiflung, setze mit gewaltigem Schwung über den Leib des Ungetüms weg, dort wo er am Bordrand auflag. Die Seeschlange fährt mit ihrem Haupte um ihren eigenen Leib herum, immer hinter mir her.
Da, im Momente der äußersten Gefahr, kommt mir ein rettender Gedanke. Der Oberkörper des Reptils bildete nun einen Ring über dem Verdeck und mit der Kühnheit der Verzweiflung springe ich durch diesen gräßlichen Ring hindurch mit gleichen Füßen. Keine Zirkuskünstlerin hätte es besser machen können.
Was ich gehofft hatte, trat ein. Die Schlange in ihrer gedankenlosen Verfolgungswut fährt mir auch diesmal mit dem Kopfe nach, der somit durch den Ring schlüpft, der durch ihren eigenen Oberleib gebildet wurde. Das gab eine regelrechte Schleife.
Der Kapitän und die Seeschlange.
Nun renne ich aus Leibeskräften das Verdeck entlang. Das Scheusal will mich verfolgen; aber nun zieht sich die Schleife zu, es gibt einen Knoten, der sich eng um den Hals der Seeschlange zusammenzieht. Zu spät merkt sie diesen fatalen Umstand, es gelingt ihr nicht mehr, den dicken Kopf zurückzuziehen; ihre wütenden Bewegungen ziehen den Knoten bloß immer fester an, bis sie schließlich jämmerlich erstickt, von der Schleife des eigenen Körpers erdrosselt.
Schlaff hing das widerliche Haupt mit hervorquellenden Augen herab und mit dumpfem Fall stürzte der Oberkörper des gigantischen Reptils auf das Schiffsdeck, während der Schweif noch eine Weile krampfhaft das Meer peitschte.
Ich rief die zitternden Matrosen herauf und sagte ihnen: „Da, ziehet das Vieh vollends an Bord, wir wollen es dem ozeanographischen Museum auf den Falklandsinseln stiften. Wie ihr seht, habe ich die Schlange gut gefaßt und trotz ihres gewaltigen Sträubens einen Knoten in ihren Hals geschlungen, daß sie elendiglich ersticken mußte.“
Ich sage Ihnen, die Matrosen, die den so einfachen und natürlichen Hergang nicht ahnten, bekamen nun vor mir einen wahrhaft abergläubischen Respekt, vertrauten und folgten mir blindlings. Das hatte ich meinem gewandten Sprung und der Unvorsichtigkeit der Seeschlange zu danken.“
„Er lebe hoch!“ rief Schultze lachend und alle stimmten mit ein und stießen an auf den gewaltigen Helden und Drachentöter, dessen fabelhafte Geistesgegenwart, wie der Lord schalkhaft bemerkte, die ganze Reisegesellschaft getrost allen kommenden Gefahren entgegensehen lassen könne.
Die Sannah näherte sich dem größten aller Planeten, dem Jupiter, und Flitmore begünstigte die Annäherung durch zeitweise Unterbrechung des Zentrifugalstroms.
„Seien Sie vorsichtig!“ warnte Münchhausen: „Ich habe großen Respekt vor dem obersten aller olympischen Götter und fürchte sehr, er könnte uns einen Streich spielen, wie dem unseligen Biela-Kometen, wenn wir uns ihm allzu naseweis nähern. Stellen Sie sich das Unglück vor, wenn sein gewaltiger Einfluß unsre Sannah in zwei Hälften teilen würde, vielleicht just während wir uns in unsern verschiedenen Schlafkojen eines sorglosen Schlummers erfreuen. Dann würde unsre schöne Gesellschaft getrennt und wir könnten uns vielleicht nie wieder zusammenfinden.“
„Beruhigen Sie sich,“ lachte der Lord: „Ich werde mich hüten, dem Jupiter Anlaß zu solch grausamer Maßregel zu geben. Wir wollen ihn uns nur etwas aus der Nähe betrachten.“
„Wollen wir nicht auch auf ihm landen, wie auf dem Mars und der reizenden Tipekitanga?“ fragte Lady Flitmore eifrig.
„Das hängt ganz davon ab, wie die Verhältnisse des Planeten sich uns darstellen.“
„Hat er überhaupt eine Atmosphäre?“ erkundigte sich Heinz.
„Vermutlich sogar eine sehr dichte,“ belehrte Schultze, „denn er zeigt ein sehr starkes Albedo.“
„Die Astronomen der Erde sind sogar im Zweifel, ob ihre Teleskope ihnen überhaupt die Oberfläche des Jupiter zeigen,“ mischte sich der Lord ein: „Sie rechnen mit der Möglichkeit, daß das, was sie sehen, nur Kondensationsprodukte, das heißt Verdichtungserscheinungen seiner Lufthülle sind. Jedenfalls läßt sich von ihm keine Karte entwerfen, wie vom Mars; denn das, was man erblickt, ist äußerst veränderlich. Nur zwei dunkle Streifen bleiben dauernd sichtbar.“
John aber hatte vorhin den Professor von einem „Albedo“ reden hören, das war ihm ein völlig unbekanntes Wort, zumal es das Vorhandensein einer dichten Lufthülle beweisen sollte. Er konnte das nicht hingehen lassen, er mußte sich auch hierüber belehren und fragte daher:
„Herr Professor, um keine langwierigen Umschweife zu machen, gestatten Sie mir wohl, infolge Ihrer unabsehbaren Liebenswürdigkeit, geradeheraus eine Frage an Sie zu richten, die mir für meine Bildungsvollkommenheit unabgängig zu sein scheint; weil Sie nämlich soeben sich äußerten, als habe der Jupiter ein starkes Torpedo, so ist mir das von den Kriegsschiffen her bekannt aber nicht begreifbar, wieso das mit den atmosphärischen Verhältnissen wesentlich zu tun habe; das muß wohl eine ganz andre Art von Torpedo sein.“
„Ja, mein Sohn!“ lachte der Professor: „Es ist eine durchaus andre Art von Torpedo und schreibt sich Albedo. Albedo ist nämlich das mittlere Verhältnis der ausgestrahlten Lichtmenge eines Körpers zur eingestrahlten.“
„Ach so!“ erwiderte John zögernd; offenbar war ihm die Sache sehr unklar. Er hatte ein sehr schwaches Albedo, denn das Licht, das Schultzes Weisheit in ihn einstrahlte, strahlte nur sehr unvollkommen aus seinen Zügen zurück.
„Ich will dir das näher erläutern,“ sagte der praktische Engländer. „Siehst du, wenn die Sonne auf einen schwarzen Stoff scheint, so saugt dieser das meiste Licht auf oder absorbiert es, wie die Gelehrten sagen, damit man sie nicht so leicht verstehen soll. Der schwarze Stoff wirft nur wenig von dem Licht zurück, das ihn bestrahlt; er hat also ein schwaches Albedo. Fällt dagegen der gleiche Sonnenstrahl auf einen Spiegel, so wirft dieser das Licht fast ungeschwächt zurück, er blitzt so hell, daß du nicht hineinsehen kannst; er hat also ein sehr starkes Albedo.
Nun weiß man, wie viel Sonnenlicht den Jupiter oder sonst einen Planeten trifft und wie hell er uns demnach erscheinen müßte, wenn er das ganze Licht ungeschwächt auf uns zurückstrahlte. Je geringer nun sein Glanz im Verhältnis zu diesem eingestrahlten Licht ist, desto geringer ist sein Albedo und umgekehrt.
Die Erde hat eine Lufthülle, die so dünn ist, daß sie das meiste Licht durchläßt und wenig davon zurückwirft; erst der Erdboden wirft das Licht zurück, das ihn trifft, aber nur einen Teil davon, das meiste verschluckt er. Darum hat die Erde ein schwaches Albedo. Wäre sie mit einer Schneedecke bedeckt, dann würde ihr Albedo weit stärker, da der Schnee das Licht reichlich zurückstrahlt.
Eine recht dichte, dunstige und wolkige Lufthülle wirft das Licht ebenfalls stark zurück. Wenn daher ein Planet ein starkes Albedo hat, das heißt im Verhältnis zu seiner Bestrahlung durch die Sonne recht hell erscheint, nimmt man an, er habe eine besonders dichte Atmosphäre; dies ist vor allem bei Venus der Fall. Mars hat ziemlich das gleiche Albedo wie die Erde, und Merkur ist der einzige Planet, der ein geringeres Albedo aufweist, also eine dünnere Luft zu haben scheint.
Allerdings muß man dabei nicht vergessen, daß eine spiegelnde Oberfläche, eine Schneedecke oder etwa eigenes Licht, das der Planet noch ausstrahlen könnte, ebensogut das starke Albedo erzeugen können wie eine dichte Atmosphäre; völlige Sicherheit mangelt also auch diesen Schlüssen.“
„Hören Sie, Lord,“ bruddelte Schultze, sich höchst ärgerlich stellend: „Sie haben mich als Astronomen der Expedition angeworben; wenn Sie aber selber in der Astronomie so gründlich bewandert sind, dann sehe ich nicht ein, was für einen Zweck ich hier habe!“
„Beruhigen Sie sich,“ lachte Flitmore: „Mit einigen astronomischen Kenntnissen habe ich mich freilich versehen, da ich in die Sternenwelt reisen wollte; aber ich bin durchaus nicht auf dem ganzen Gebiete so beschlagen, wie Sie. Übrigens schadet es bei solcher Fahrt gar nichts, wenn mehrere oder alle Teilnehmer etwas von dieser Wissenschaft los haben. He! Münchhausen, entscheiden Sie als Sachverständiger in ganz ähnlichem Fall. Braucht ein Schiffskapitän vom Steuern eines Schiffes nichts zu verstehen?“
„Wo denken Sie hin!“ rief der Kapitän: „Einem solchen könnte das Kommando über ein Schiff nicht anvertraut werden; gründlich muß er’s verstehen und im Notfall selber das Steuerruder führen können.“
„Ist dann nicht ein Steuermann überflüssig, da der Kapitän ja seine Arbeit versehen könnte?“
„Unsinn! Einen ersten und einen zweiten Steuermann sogar braucht er höchst notwendig.“
„Da haben Sie’s, Professor,“ lachte der Engländer: „Das ist hier ein ganz ähnlicher Fall.“
Bald näherte man sich dem großen Planeten, der zwölfhundertundsiebzigmal größer als die Erde ist und fünfmal so weit von der Sonne entfernt als sie, nämlich 773 Millionen Kilometer.
In 9 Stunden 55½ Minuten dreht sich dieser Koloß um sich selbst, seine Tage sind also nicht halb so lang wie die irdischen; dagegen beträgt seine Umlaufzeit um die Sonne beinahe 12 Erdenjahre, nämlich 11 Jahre, 314 Tage, 20 Stunden und zwei Minuten.
Seiner schnellen Rotation entspricht die kolossale Abplattung seiner Pole, die nicht weniger als ein Sechzehntel beträgt.
Bei der Annäherung spürte man selbst in den geschützten Räumen der Sannah, daß Jupiter eine starke Wärme ausströmte, weshalb sich Flitmore nur vorsichtig seiner Anziehungskraft aussetzte und das Weltschiff sich abwechselnd senken und wieder entfernen ließ.
Währenddessen konnte man den Planeten genau beobachten.
Zunächst sah man leuchtendes Gewölk, das von einem rasenden Orkan dahingetrieben wurde, rascher als Jupiter selber sich um seine Achse dreht.
Wo die zerrissenen Wolken Durchblicke gestatteten, zeigte sich ein wogendes Meer von Glut, zwischen dem sich wenige dunkle Streifen erstarrten Gesteins hinzogen.
„Das stimmt,“ sagte Schultze, „zu der Berechnung der Dichtigkeit des Planeten, die sich als ¼ der Erddichte ergab, also nur 11/3 die Dichte des Wassers beträgt, woraus zu schließen war, daß Jupiter sich in flüssigem Zustande befindet. Ebenso ließ sein helles Strahlen auf eigenes Licht schließen und der unscharfe, zum Teil durchsichtige Rand auf eine wechselnde Dunsthülle.“
„An eine Landung ist hier also nicht zu denken, meine Liebe,“ wandte sich der Lord an seine Gattin.
„Nun denn auf dem Saturn!“ meinte diese.
„Dort dürfte es auch nicht besser aussehen, Mylady,“ wendete der Professor ein: „Der beringte Planet hat die geringste Dichtigkeit von allen, nur 1/8 der Erddichte und ¾ der Dichtigkeit des Wassers.“
„Na,“ behauptete Münchhausen heiter, „noch flüssiger als das Wasser soll er sein? Dann besteht er am Ende aus steifem Grog! Da laßt uns hin!“
Mit Interesse wurden noch die vier Jupitermonde betrachtet, die nach Schultzes Belehrung in einem Tag, 18 Stunden und 27 Minuten, 3 Tagen, 13 Stunden und 13 Minuten, 7 Tagen, 3 Stunden und 42 Minuten und in 16 Tagen, 16 Stunden und 32 Minuten um den Planeten sich drehen.
Der erste, innerste, dem Jupiter nächste Mond war von einer starken Wolkenschicht umgeben; doch sah man an den leuchtend durchschimmernden Stellen und den dunkeln Flecken, die sich darin zeigten, daß er in der Erstarrung begriffen war und auf seiner glutflüssigen Oberfläche Schlackeninseln schwammen. Er ist etwas größer als der Erdenmond.
Der zweite, bläulichweiß schimmernde Trabant, fast genau so groß wie unser Mond, zeigte ebenfalls glutflüssige und erstarrte Stellen.
Der dritte, größte und hellste befand sich in gleichmäßiger Rotglut, die meist ins Gelbliche spielte. Er war außerordentlich stark abgeplattet und rotierte sehr schnell.
Der vierte Jupitermond, der zuweilen als der lichtschwächste erscheint, zuweilen aber alle andern überstrahlt, war von einer leuchtenden, scharfbegrenzten Wasserdampfhülle umgeben.
„Diese Monde,“ bemerkte Schultze, „gewähren den kurzen Jupiternächten eine äußerst zweifelhafte Beleuchtung, da die drei innersten stets vom Schattenkegel verfinstert werden und auch sonst mit unsrem irdischen Mondlicht nicht konkurrieren können.“
Da die Hitze allmählich unerträglich wurde, mußte die Fliehkraft in voller Stärke eingeschaltet werden, damit die Sannah möglichst schnell aus dem Bereiche des ungastlichen Planeten gelangte.
Als dies erreicht war, verlangsamte Flitmore wieder den Flug. Er wollte doch auch den Saturn näher in Augenschein nehmen, und da dieser Planet auf seiner Bahn just ziemlich weit entfernt war, galt es diesmal, das Sonnensystem sich ein wenig von der Sannah entfernen zu lassen, bis Saturn sich soweit genähert hatte, daß man sich im Bereich seiner Anziehungskraft befand.
Das konnte ein paar Tage dauern, wenn mit Ein- und Ausschalten des Stroms zielbewußt abgewechselt wurde; und das war notwendig, denn bei stetig eingeschaltetem Strom wäre das Sonnensystem in kürzester Frist der Sannah entschwunden, diese wäre nicht bloß über die Saturnbahn, sondern über die Neptunbahn hinausgeflogen und hätte bald kein Mittel mehr gehabt, in das Sonnensystem zurückzukehren, weil sie über die Anziehungssphäre der Sonne und ihrer Planeten hinausgekommen sein würde.
Wäre dagegen umgekehrt die Fliehkraft dauernd abgestellt worden, so hätte das Weltschiff der Anziehungskraft der Sonne oder eines Planeten erliegen müssen, vielleicht auch wäre es den Gravitationsgesetzen gemäß selber wie ein Planet um die Sonne gekreist.
Diese Wartezeit wurde zu allerlei Arbeiten in den verschiedenen Werkstätten benutzt; photographische Aufnahmen wurden entwickelt und musikalische Unterhaltungen veranstaltet; auch versammelte man sich fleißig zu gemütlicher Unterhaltung oder las ein Buch aus der reichhaltigen Bibliothek vor, die der umsichtige Lord mitgenommen hatte. Vor allem aber mußte Schultze astronomische Vorträge halten, da Mietje, Münchhausen und Heinz Friedung das Bedürfnis empfanden, ihre Kenntnisse auf dem Gebiet, das bei dieser Weltfahrt das wichtigste war, zu ergänzen, ganz abgesehen natürlich von John Rieger, der den Vorträgen mit besonderer Andacht lauschte und am fleißigsten das von vornherein verkündigte Recht benutzte, den Redner jederzeit mit Fragen zu unterbrechen.
In diesen Tagen wurde Münchhausens Geburtstag mit besonderem Glanze gefeiert und Küche und Keller mußten das Beste dazu liefern, was sie besaßen, beziehungsweise was Lady Flitmores und Johns Kochkunst hervorzuzaubern vermochten. Denn wenngleich der Kapitän auch zu entbehren, ja zu hungern vermochte, wenn es darauf ankam, so fühlte er sich doch am aufgeräumtesten bei einer vollbesetzten Tafel mit auserlesenen Genüssen und köstlichen Weinen.
Die Krone des Festmahls bildeten aber immer noch die unvergleichlichen Früchte der Tipekitanga, die auch den Vorzug aufwiesen, sich völlig frisch zu erhalten. Sie büßten weder ihre Leuchtkraft noch ihre Nährkraft und ihren Wohlgeschmack ein.
Endlich kam der Saturn in Sicht und die Sannah wurde seiner Anziehungskraft überlassen.
Schultze benutzte die Gelegenheit zu einer kleinen Repetition über das, was er schon in seinen Vorträgen über den ringumkreisten Planeten gesagt hatte.
„Wie gesagt,“ führte er dabei aus, „ist Saturn nicht einmal so dicht wie das Wasser. Er hat zweifellos eine Atmosphäre und ist der zweitgrößte Planet, 780mal so groß wie die Erde. Seine Rotationsdauer beträgt nur 10¼ Stunden, also hat er wenig mehr als 5 Stunden Tag und 5 Stunden Nacht bei Tag- und Nachtgleiche am Äquator. Um so länger dauert sein Jahr, nämlich nach irdischer Rechnung 29 Jahre, 166 Tage, 5 Stunden und 16½ Minuten.“
„Herrlich!“ rief Münchhausen aus: „Da lassen wir uns nieder; bedenken Sie, wenn da einer hundert Jahre alt wird, so ist das gleich 2900 und etlichen Erdenjahren. Da kann Methusalah nicht daran hin!“
„Nur wird es mit dem Niederlassen einige Schwierigkeiten haben,“ meinte der Professor: „Sie könnten sich da in eine schöne Sauce hineinsetzen, vielleicht in steifen Grog, wie Sie vermuteten; darin würden Sie sich ja wohl ganz gut konservieren.“
„Ganz famos!“ bestätigte der Kapitän.
„Nun, wir werden ja bald sehen, wie die Terrainverhältnisse dort sind,“ fuhr Schultze fort: „Sollte die so undichte Masse glutflüssig sein wie auf dem Jupiter, so werden Sie ja wohl auf eine Niederlassung darin verzichten.“
„Unbedingt!“ gab Münchhausen zu: „Doch hoffe ich nicht, daß der alte Saturn mir solch eine Enttäuschung bereiten wird.“
„Wie gesagt, wir werden das bald sehen“, wiederholte der Professor. „Das Interessanteste am Saturn sind jedenfalls seine Ringe; auch hat er bekanntlich nicht weniger als acht Monde; doch weil wir ja eben im Begriff sind, das alles selber zu schauen, will ich mich nicht weiter darüber verbreiten, da ich, wenn es je nicht stimmte, was ich darüber zu sagen weiß, doch nur der Blamierte wäre.“
Die Sannah war über die Saturnbahn hinausgekommen, als der Planet in ihre Nähe kam und so senkte sie sich zunächst gegen seine Nachtseite.
Flitmore hatte erwartet, daß die Saturnringe aus Nebelmasse beständen, obgleich er es nicht für unmöglich hielt, daß sie auch aus festen Stoffen gefügt sein könnten oder, wie auch angenommen wird, aus einer dichten Wolke sehr kleiner Trabanten.
Er trachtete danach, den innersten der drei Saturnringe, der verhältnismäßig dunkel ist und verschwommene Umrisse aufweist, zu erreichen; dies gelang ihm auch.
Dieser Ring ist trotz seiner Breite der schmälste der drei; er ist nicht ganz so breit wie der äußere helle Ring und weniger als halb so breit wie der mittlere.
Die Sannah fand festen Grund und ruhte auf ihm auf.
Es war gerade Zeit zur Nachtruhe und alle begaben sich schlafen bis auf die jeweiligen Wachhabenden.
Als am andern Morgen alle beim Frühstück versammelt waren, nahm Kapitän Münchhausen folgendermaßen das Wort:
„Professor, Sie haben behauptet, die Saturnnacht dauere durchschnittlich 5 Stunden. Warum wird es denn gar nicht Tag? Oder sollten wir den kurzen Tag verschlafen haben?“
„Das nicht“, erwiderte Schultze, „aber wir befinden uns auf dem Ring, auf dem die Verhältnisse wesentlich andre sind. Hier dauert nämlich Tag und Nacht je ein halbes Saturnjahr, das sind 14¾ Erdenjahre. Während dieser etwas dauerhaften Nacht ist der Ring auf das schwache Licht der acht Saturnmonde und auf dasjenige des Saturns selber angewiesen, der ihm, entsprechend seiner Rotation, periodisch leuchtet.“
„Hollah!“ wetterte der Kapitän: „Und da warten wir nun wohl hier ab, bis es Tag wird.“
„Allerdings,“ schaltete Flitmore ein: „Aber beruhigen Sie sich, Kapitän, die Sannah sitzt an einem Punkte des Rings, dem schon in zwei Stunden die Sonne aufgehen wird, nachdem er sie seit fast 15 Jahren nicht mehr gesehen.“
Dies bestätigte sich: zwei Stunden darauf ward es Tag; freilich, die Sonne leuchtete weit nicht mit dem Glanze, mit dem sie die Erde bescheint, ist sie doch von Saturn neunmal weiter entfernt als von der Erde.
Nun wurde ein Abstieg auf den Ring gewagt. Er zeigte sich aus sehr leichten schwammigen Stoffen gefügt und wies zahlreiche Löcher und Risse auf, die durch und durch gingen.
Ganz entzückend und wahrhaft großartig war die Aussicht auf die ungeheure Saturnkugel, die mächtige Gebirgszüge aufwies.
Auch der Ring war durchaus nicht eben, sondern zeigte mannigfaltige Erhebungen, zum Teil recht stattliche Berge; aber die Wanderung wurde jäh unterbrochen durch einen Riß, der den Ring in seiner ganzen Breite durchlief.
Späterhin beobachteten unsre Freunde, daß alle drei Ringe durch zahlreiche mehr oder weniger breite Spalten in einzelne Stücke geteilt waren, die einander nicht berührten, daß aber diese Risse sich mehr und mehr schlossen unter dem ausdehnenden Einfluß der Sonnenhitze.
Das ließ sich leicht feststellen, da die Teile des Rings, die schon längere Zeit Tag hatten, zunehmend schmälere und schließlich gar keine Lücken mehr aufwiesen, während auf der Nachtseite der Ringe die Klüfte sich fortschreitend verbreiterten.
„Herrlich! Großartig! Wunderbar!“ rief Schultze einmal über das andre: „Wie ganz anders vermögen wir doch nun die Dinge dahier zu erkennen, als die armen erdfernen Astronomen mit ihren besten Instrumenten. Wenn ich nur bedenke, wie lange es dauerte, bis überhaupt erkannt wurde, daß Saturn von einem Ring umgeben ist. Zwar hat ihn schon Galilei durch das erste von einen Astronomen benutzte Fernrohr gesehen, doch glaubte er, es handle sich um Auswüchse, die mit dem Planeten zusammenhingen. Erst Huygens, der auch den ersten Satelliten des Saturn entdeckte, nämlich den sechsten seiner acht Monde, erkannte, daß es ein Ring sei, der frei um den Planeten schwebe, und Herrschel konnte dann die Rotationsdauer des Ringes oder vielmehr der Ringe berechnen, die annähernd die gleiche ist, wie die ihres Zentralkörpers.“
Da auch in der entgegengesetzten Richtung bald eine Spalte ein weiteres Vordringen unmöglich machte, auch die Erforschung der Ringe wenig Interessantes mehr zu bieten schien, wurde beschlossen, sich alsbald auf den Planeten selber zu begeben.
Bald sank die Sannah unter die niedre Luftschicht, die um die Ringe lagerte und nach kurzem, aber ungeheuer raschem Sturz trat sie in die Saturnatmosphäre ein.
Hier verlangsamte Flitmore sofort die Fallgeschwindigkeit, und das Weltschiff schwebte träge zur Oberfläche nieder.
„Mylord,“ fragte währenddessen John seinen Herrn, „warum gehen wir nie in die untern Zimmer, wenn wir einen Abstieg unternehmen? Da könnten wir so schön alles aus der Vogelprospektiefe beobachten, wie wir näher und näher kommen; hier oben aber sehen wir nichts als den Ring, der sich von uns entfernt.“
Man sieht, daß John sich seinem Herrn gegenüber keiner so gewählten Sprache befleißigte, wie wenn er den gelehrten Professor anredete; das kam aber nicht etwa von einem Mangel an Respekt, sondern weil er aus langjähriger Erfahrung wußte, daß der Lord viele Redensarten nicht leiden mochte.
Flitmore gab seiner treuen Dienerseele folgende Auskunft: „Siehst du, John, um den Fall der Sannah nicht zum verderblichen Sturz werden zu lassen, muß ich die Fliehkraft abwechselnd ein- und ausschalten. Dadurch wird aber jedesmal für die unteren Räume und die Seitenzimmer der Schwerpunkt verändert: schalte ich die Zentrifugalkraft ein, so werden wir gegen den Mittelpunkt unsres Fahrzeugs gezogen, schalte ich sie aus, so zieht uns der Saturn an. Du wirst dich erinnern, was dies zur Folge hatte, als wir die Erde verließen. Hier wäre es genau so: im untern Zimmer würden wir abwechselnd von der Decke auf den Fußboden stürzen und umgekehrt; in den Polzimmern würden wir zwischen der dem Saturn zugekehrten Seitenwand und dem Fußboden hin- und hergeschleudert. Hier oben aber liegt der Mittelpunkt der Sannah genau wie der Mittelpunkt des Planeten zu unsern Füßen und meine Manöver verändern den Schwerpunkt in keiner Weise. Das ist der Grund, weshalb wir hier wie bei unserm Abstieg auf den Mars und die Tipekitanga auf die Beobachtung des Geländes, dem wir uns nähern, verzichten müssen, so schade dies auch ist.
Du weißt ja, daß ich diesen Umstand beim Bau des Schiffes nicht in Betracht gezogen habe und selber von der alles auf den Kopf stellenden Wirkung der Fliehkraft überrascht wurde; sonst hätte ich Vorsorge getroffen, daß wir wenigstens durch außen angebrachte Spiegel in den Stand gesetzt worden wären, von diesem unserm Zenithzimmer aus zu betrachten, was unter uns liegt.“
Ein sanfter Ruck zeigte an, daß die Saturnoberfläche erreicht war. Die Sannah ruhte auf.
Daß diese Oberfläche weder flüssig noch glühend war, hatte man schon vom Ring aus feststellen können, sonst wäre der Plan einer Landung selbstverständlich ausgeschlossen gewesen.
Begierig zu schauen, welche neuen Wunder sich ihnen hier offenbaren würden, verließen unsere Freunde das Fahrzeug durch das Nordpolzimmer, nachdem die Lucke geöffnet und die Strickleiter hinabgelassen worden war.
Es war Nacht, als die Gesellschaft auf dem Saturn landete; aber da sich alle sehnten, ins Freie zu kommen, wurden die Zelte errichtet, diesmal aber in unmittelbarer Nähe der Sannah, damit ein sofortiger Rückzug angetreten werden konnte, falls je ein gefährliches Abenteuer drohen sollte; die schreckliche Nacht auf dem Mars war ja allen noch gar zu frisch in Erinnerung.
Holz- und Reisigvorräte barg die Sannah zur Genüge, der Lord hatte sich für alle Fälle vorgesehen. So brauchte man nicht in der Dunkelheit nach Brennmaterial zu suchen.
Ein Feuer wurde entfacht und nach gehaltener Mahlzeit suchten bald alle die Ruhe auf bis auf Heinz, der die erste Wache übernommen hatte.
Nach zwei Stunden löste ihn John ab und diesen nach weiteren zwei Stunden Münchhausen.
Der Kapitän freute sich kindlich auf den ersten Sonnenaufgang auf dem Saturn, und daß er der erste sein sollte, der diese neue Welt aus nächster Nähe bei Tageslicht schauen sollte.
Aber merkwürdig, es wollte nicht tagen! Als seine zwei Dienststunden zu Ende waren, war es noch so finster wie zuvor. Er rechnete aus, daß die Nacht nun schon mehr als acht Stunden währte; da die Rotationsdauer des Saturn 10¾ Stunden beträgt, hätte es eigentlich schon wieder gegen Abend gehen sollen.
Es war ausgemacht worden, daß Münchhausen gleich nach Tagesanbruch alle wecken sollte, aber der Tag brach nicht an und er wartete noch eine Stunde; er hatte sich so sehr darauf gefreut, allein als Erster die Sonne aufleuchten zu sehen.
Endlich weckte er den Professor.
„Hören Sie,“ fuhr er den Schlaftrunkenen an: „Ich pfeife auf die ganze astronomische Wissenschaft und auf die Ihrige insbesondere. Es ist nichts mit den kurzen Saturnnächten. He! wissen Sie, wie lange diese Nacht schon währt? Neun volle Stunden!“
Schultze hatte sich ermuntert und sah auf die Uhr.
„Wahrhaftig!“ brummte er, „das stimmt!“ Dann schaute er hilflos zum Himmel, als könnte er doch irgendwo die Sonne entdecken, trotz der hier unten herrschenden Finsternis.
„Da hört sich doch alle Wissenschaft auf!“ fuhr es ihm heraus.
„Jawohl, alle Wissenschaft hört auf und blamiert sich angesichts der Tatsachen,“ grollte Münchhausen. „Wissen Sie gewiß, daß auf dem Saturn die Nacht nicht auch 15 Jahre dauert wie auf seinen Ringen?“
„Unsinn!“ rief der Gelehrte, obgleich er selber nicht mehr wußte, wo er dran war: „Das trifft ja wohl für die Polarzonen zu, nicht aber für diese Breiten.“
Unterdessen hatten sich auch die andern erhoben und wunderten sich, daß es noch nicht Tag werden wollte.
Schultze war nachdenklich, während man das Frühstück einnahm: er repetierte innerlich seine Kenntnisse des Saturn.
Plötzlich rief er: „Ich habs! Es herrscht hier eine Sonnenfinsternis, verursacht durch den Ring des Planeten.“
„Na! dann wird sie ja bald vorübergehen,“ sagte Münchhausen aufatmend; denn die rätselhafte Dunkelheit hatte ihm wirkliche Beklommenheit verursacht. „Freilich,“ fügte er bei, „für heute ist es nun schon nichts mehr mit dem Sonnenschein; es muß ja bald wieder Nacht werden; aber in sechs bis sieben Stunden werden wir das Tageslicht wieder schauen.“
„Wo denken Sie hin!“ widersprach Schultze. „Davon kann keine Rede sein: Diese saturnischen Finsternisse dauern mehrere Erdenjahre. Ich vermute, wir befinden uns hier etwa unter 23½ Grad Breite und haben dann mit einer Sonnenfinsternis von zehn Jahren zu rechnen.“
„Sie freuen mich!“ polterte der Kapitän: „Und da sollen wir wohl hier abwarten, bis der Ringschatten sich gefälligst entfernt oder die Sonne uns geschwind höhnisch durch eine seiner Lücken anlächelt, um dann wieder zu verschwinden? Oder sollen wir den vertrackten Weltkörper bei Fackelbeleuchtung untersuchen?“
„Nein!“ lachte Flitmore: „Wir steigen einfach wieder auf und landen auf einem günstigeren Breitengrade.“
„Ein ungastlicher Planet scheint Saturn doch zu sein,“ meinte Mietje: „In manchen Gegenden fast 15 Jahre Nacht, dann noch 10 Jahre Sonnenfinsternis, das gibt ja 25 Jahre Dunkelheit und nur 5 Jahre Tageshelle!“
„Das stimmt allerdings je nach der Zone,“ bestätigte Schultze: „Aber trösten Sie sich, es gibt ja lichtreichere Gegenden, und wir halten uns nicht gar zu lange hier auf.“
Die Weiterreise wurde sofort angetreten.
„Leider,“ bemerkte der Lord, als man wieder im Zenithzimmer versammelt war, „ist die Sannah nicht als lenkbares Luftschiff gebaut. Das erkenne ich jetzt als verhängnisvollen Fehler an. Mit ein paar Motoren ausgerüstet, könnte sie ihren Weg in der Atmosphäre nach Belieben suchen, während wir es so dem Zufall überlassen müssen, wo wir landen. Sobald ich nämlich die Fliehkraft einschalte, nimmt unser Weltschiff weder an der Rotation noch an dem Umlauf des Saturn mehr teil. Das erstere ist ja belanglos, denn durch seine Umdrehung um die Axe kehrt uns der Planet nur abwechselnd eine andere Seite zu und es macht nichts aus, ob wir auf dieser oder jener niedergehen.
Durch seinen Umlauf auf seiner Bahn um die Sonne aber saust der Saturn unter uns weg, sobald wir durch den Zentrifugalstrom von seiner Anziehungskraft gelöst sind; es fehlen uns die Mittel, diese Bewegung genau zu berechnen, und so können wir unsern Landungsort nicht nach Belieben bestimmen.“
Das erwies sich denn auch als fatal, denn als sich der Lord nach einiger Zeit zum Niedergehen entschloß, befand sich die Sannah in der Nordpolarzone des Saturn.
Als die Lucke geöffnet wurde, strömte eine so eisig kalte Luft herein, daß sich alle mit den wärmsten Pelzhüllen versahen, ehe sie ins Freie hinaustraten.
Ein herrlicher Anblick blendete ihre Augen, als sie an der Strickleiter hinabstiegen: unabsehbar dehnte sich eine Eis- und Schneewüste, unterbrochen von phantastisch gezackten und wildzerklüfteten Eisbergen, die im Glanze der Sonne in allen Farben flimmerten, je nachdem sich das Licht im Kristall brach.
In der Ferne ragte ein ganzes Gebirge empor, das lebhaft an die Gletscherketten der Alpen erinnerte; kurz, es war eine Landschaft voll Großartigkeit, die ein Gefühl der Andacht in aller Herzen erweckte.
Doch hatte ein längerer Aufenthalt hier keinen Zweck: die Eiswüsten des Saturns gedachten unsere Freunde nicht zu erforschen, so lange sie hoffen konnten, interessantere Gebiete für ihre Entdeckungen zu finden. Immerhin mußte die entzückende Polarlandschaft auf einigen photographischen Platten ihre größten Reize festhalten lassen.
Plötzlich rief Mietje aus, indem sie verwundert den Himmel betrachtete: „Wo ist denn der Ring? Er scheint verschwunden zu sein: von einem Horizont zum andern kann ich keine Spur mehr von ihm entdecken!“
Alle schauten auf und Münchhausen erklärte: „Das ist ja ein schöner Reinfall! Da sind wir am Ende auf einen ganz andern Planeten geraten, wohl gar auf einen vergletscherten Saturnmond. So geht es, wenn man ins Blaue hineinfährt und nicht einmal Ausschau halten kann, wohin man sich bewegt und was sich unter einem befindet! Oder ist der Saturngürtel verhext und kann sich unsichtbar machen mittelst der berühmten radioelektrischen Strahlen Manfreds von Rothenfels? Heda, Professorchen, lassen Sie Ihre wissenschaftliche Bogenlampe strahlen, wenn angesichts dieses rätselhaften Verschwindens bei Ihnen nicht, wie gewöhnlich, alle Wissenschaft sich aufhört!“
„I wo denn?“ erwiderte Schultze kühl: „Da hört sich die Wissenschaft doch gar nicht auf, ganz im Gegenteil! Das weiß jeder angehende Astronom, daß die Saturnringe auf dem größten Teil der Polarzone überhaupt nicht zu sehen sind, aus dem einfachen Grunde, weil sie unter dem Horizont stehen. Weiter südlich würden wir nur den äußeren Ring erblicken und erst beim Überschreiten des Polarkreises würden allmählich auch die inneren Reifen auftauchen: es ist also alles in Ordnung und war gar nicht anders zu erwarten.“
Eine merkwürdige Tatsache fiel Heinz hier noch auf, als er einen losen Eisblock zu heben versuchte: Der stattliche Brocken erwies sich als ganz unglaublich leicht im Verhältnis zu seiner Masse; da dies weder von einer geringeren Anziehungskraft des Planeten herrühren konnte, noch das Eis eine losere Struktur zeigte, als es beim irdischen Eise der Fall ist, mußte angenommen werden, daß das Eis auf dem Saturn und demnach wahrscheinlich auch das Wasser dort an und für sich weit weniger Gewicht oder Dichtigkeit habe als auf der Erde.
Nachdem sich alle von der seltsamen Leichtigkeit des Blocks überzeugt und das gleiche auch an andern Eisstücken festgestellt hatten, begaben sie sich wieder ins Innere ihres Fahrzeugs.
„Wir dürfen nicht mehr so planlos landen,“ erklärte der Engländer: „Wir müssen ein Mittel ersinnen, das uns aus der Lage befreit, hiebei nur ein Spielball des Zufalls zu sein. He, Professor! Strengen Sie Ihren großen Geist an und setzen Sie uns in den Stand, unsere Landungsstelle nach eigenem Gutdünken auszuwählen!“
Bevor Schultze recht begonnen hatte, sein Gehirn anzustrengen, trat Heinz Friedung mit folgendem Vorschlag hervor:
„Spannen wir ein Netz unmittelbar unter dem Fenster unseres Antipodenzimmers aus. In dieses Netz kann sich ein Beobachter legen; wird die Fliehkraft ausgeschaltet, so liegt er eben auf dem Bauch über dem Fenster, ist der Strom geschlossen, so fällt er auf den Rücken weich in das Netz zurück. Jedenfalls kann er andauernd die Saturnoberfläche im Auge behalten und uns im Zenithzimmer durch elektrische Klingelzeichen verständigen, ob wir steigen, fallen oder uns endgültig niederlassen sollen. Drei verabredete Zeichen genügen hiefür. Da übrigens außer dem elektrischen Läutewerk auch ein Telephon in jedem Zimmer vorhanden ist, kann er, wenn etwas Besonderes zu melden sein sollte, auch telephonische Nachricht geben.“
„Ausgezeichnet!“ lobte Schultze: „Den Beobachtungsposten will ich einnehmen.“
„Nichts da!“ protestierte Münchhausen: „Ich freue mich schon lange darauf, als Erster zu schauen, wie der Saturn aus nächster Nähe aussieht. Die Sonnenfinsternis hat mich um diese Hoffnung betrogen, jetzt will ich wenigstens als Beobachter im Mastkorb mein Ziel erreichen, wozu ich mich als alter Seemann auch am besten eigne.“
Der Professor schüttelte lachend den Kopf: „Ihr spezifisches Gewicht, edler Hugo, macht die Sache zu gefährlich; wie Spinnwebe würden die stärksten Netze reißen, wollten Sie sich ihnen anvertrauen.“
„O,“ sagte Flitmore, „ich habe eine Hängematte an Bord, die aus so starken Baststricken geflochten ist, daß selbst unseres Kapitäns paar Zentner sie nicht aus der Fassung bringen können; auch ist sie so groß, daß sie ihm Raum genug bietet, also gönnen wir ihm das Vergnügen.“
Der Professor hätte zwar auch gern die ersten Entdeckungen gemacht, doch wollte er sie dem älteren Freunde nicht streitig machen, und so wurde denn Münchhausen mit einem Feldstecher bewaffnet im „Mastkorb“, wie er sich ausdrückte, untergebracht, sobald das Netz an Ort und Stelle befestigt war.
Dann wurde die Fliehkraft eingeschaltet und der Kapitän schwebte, auf dem Rücken liegend, in der Hängematte unmittelbar unter dem Fenster, das sich von dem eisigen Grunde trennte, auf dem es bis jetzt aufgeruht hatte.
So schaute er hinauf in die Eisgefilde, die über ihm zu schweben schienen und mit ihren Bergen und Schroffen drohend genug aussahen. Es war ein eigentümlicher, unheimlicher Anblick, diese blitzenden Massen so über sich herabhängen zu sehen, als müßten sie niederstürzen und alles zermalmen. Immerhin wußte Münchhausen ja zur Genüge, daß dies alles nur so schien, weil die Sannah nun ihren eigenen Schwerpunkt in ihrem Zentrum besaß, und daß der Saturn seine Oberfläche fest genug halten würde.
Münchhausen war eifrig auf seinem Posten, stets die elektrische Kontaktbirne in der Hand. Gab er ein kurzes Klingelzeichen, so stellte Flitmore oben die Fliehkraft ab und der Kapitän fiel mit dem dicken Bauch auf die Fensterscheibe, die glücklicherweise so massiv war, daß sie noch heftigere Stöße unbeschädigt ausgehalten hätte.
In solchem Falle machte es Münchhausen den Eindruck, als hätte sich die Welt mit Blitzgeschwindigkeit umgedreht: der Planet, zu dem er bisher aufgeschaut hatte, weil er über ihm schwebte, schien nun plötzlich unten zu sein und es galt, von der über ihm schwebenden Sannah auf ihn hinabzublicken.
Gab Münchhausen dann wieder die zwei Klingelzeichen, die das Einschalten des Stromes bedeuteten, so plumpste er gleich darauf rücklings in die Hängematte zurück und sah das Fenster und den Saturn urplötzlich wieder über sich.
Dieser fortwährende und ganz unvermittelte Wechsel, der jedesmal wieder verwirrend wirkte und für einen Augenblick alle Orientierung lahmlegte, hätte einen Unkundigen an aller Wirklichkeit und am eigenen Verstande verzweifeln lassen können.
Man stelle sich’s vor, was das für ein Gefühl sein muß, wenn die Decke, zu der man aufschaut, innerhalb einer Sekunde auf einmal zum Fußboden wird, auf dem man liegt, und dann wird sie eben so plötzlich wieder zur Decke über einem; und so wechselt es alle paar Minuten, ohne daß man selber seine Lage verändern würde oder daß der Raum, in dem man sich befindet, sich drehte: das Weltall scheint jedesmal völlig mit einem umzukippen, und dabei wird man nur mit einem kleinen Ruck wie ein Ball auf und ab geschleudert: man fällt jedesmal nach oben und liegt jedesmal unten!
Dem Kapitän machte schließlich dieses Zauberspiel einen köstlichen Spaß; davon merkten die dort im Zenithzimmer rein gar nichts, für sie blieb der Fußboden unverrückt unten und die Zimmerdecke oben; kein Ruck zeigte ihnen die Änderung des Schwerpunkts an.
„Ein Glück, daß ich und nicht der Professor oder sonst eine unerfahrene Landratte auf diesem Posten liegt“, dachte Münchhausen: „die bekämen die Seekrankheit im höchsten Grade; mir altem Seebär jedoch bekommt die Bewegung vorzüglich.“
Und aus lauter Lust an der Sache gab er die Zeichen viel häufiger als notwendig gewesen wäre.
Bald aber machte er eine fatale Entdeckung: Die Sannah blieb stets dem Nordpol des Planeten zugewendet und konnte unmöglich mehr südlichere Gegenden des Saturn erreichen. Er hatte das Weltschiff in seiner ganzen Länge passiert, und sobald der Fliehstrom eingeschaltet wurde, entfernte er sich auf seiner Bahn, während die Schließung des Stroms nur ein Stürzen gegen den Pol bewirkte.
„Wir sollten uns am Südpol befinden,“ brummte der Kapitän, „dann würde der Weltkörper unter uns durchpassieren und wir könnten uns niederlassen, sobald etwa der Äquatorialgürtel unter uns stünde. Nun aber ist er bereits völlig unter uns weg und kehrt nicht wieder um; da sehe ich nicht, was noch zu machen ist.“
Er teilte diese Beobachtung durch das Telephon dem Lord mit.
Nun wurde droben beraten und ihm dann das Ergebnis der Beratung mitgeteilt.
„Glücklicherweise,“ erklärte Schultze durchs Telephon, „ist der Saturn zur Zeit ganz nahe dem Ende seiner Bahn und muß binnen wenigen Stunden seine Wendung vollziehen. Da wir nun in der günstigen Lage sind, uns auf der Innenseite seiner Bahn zu befinden, das heißt zwischen ihm und der Sonne, so werden wir jetzt den Strom ununterbrochen wirken lassen. So wird die Sannah in einer Sehne den Bogen abschneiden, den der Planet in den nächsten Stunden beschreibt, und sich einem Punkte seiner rückläufigen Bahn nähern, den er bald darauf passieren muß. Dann müssen Sie scharf aufpassen, wenn der Planet sich uns wieder nähert, damit wir uns rechtzeitig seiner Anziehungskraft aussetzen und ihn in der Folge durch geeignetes Öffnen und Schließen des Stroms soweit an uns vorbeiziehen lassen, bis wir in seinen Äquatorialgegenden landen können. Kommen Sie jetzt herauf zum Abendessen; Sie können dann ruhig fünf Stunden schlafen, denn wir werden etwa sieben Stunden brauchen, um den Scheitel der Ellipse durch einen möglichst kurzen Bogen abzuschneiden.“
Sechs Stunden später befand sich Münchhausen wieder auf seinem Auslug und sah nun in der Tat, wie Saturn von der andern Seite heransauste; die Sannah hatte ihn durch Abschneiden des Scheitelbogens seiner ellyptischen Bahn überholt.
Nun galt es zunächst die Fliehkraft auszuschalten, um nicht wieder zurückgeworfen zu werden durch die abstoßende Kraft in Bezug auf den nahenden Planeten.
Dann begann wieder das abwechselnde Schließen und Öffnen des Stromes entsprechend den Klingelzeichen des Kapitäns und damit das lustige Ballspiel, das die Sannah mit seinem rundlichen Körper betrieb, ihn zwischen dem Fenster und der Hängematte hin- und herschleudernd, je nachdem der Schwerpunkt des Weltschiffes nach innen in dessen Mittelpunkt, oder nach außen in den Mittelpunkt Saturns verlegt wurde.
Diese wechselnden Manöver verhüteten einerseits den vorzeitigen Sturz auf die Oberfläche des Planeten, andrerseits die allzugroße Entfernung von ihm: man blieb, nachdem die Ringe überholt worden waren, von jetzt ab innerhalb der Saturnatmosphäre.
Als die Südpolarzone vorübergeglitten war, erschienen dem beobachtenden Kapitän die Ringe als schmale Kreise; bei der Annäherung des Äquators war bald nicht mehr viel weiter als die Kante des innersten Ringes zu sehen.
Vor allem aber wurden die Blicke des Kapitäns gefesselt durch die landschaftlichen Bilder, die vorüberflogen, teils erhabene großartige Szenerien, teils ungemein liebliche Idyllen: Hochgebirge und Meere, mächtige Ströme, Flüsse und Seen, sanftgeschwungene Hügelketten, grüne Ebenen, Wiesen und geschlängelte Bäche; dann wieder schroffe Felsen und gähnende, nachtschwarze Schluchten.
Als die Sannah die Äquatorialzone erreichte, gab Münchhausen durch dreimaliges, langgezogenes Klingeln das Zeichen zur Landung.
Eine reizende, hügeldurchzogene Ebene war es, in welcher das Weltschiff sich niederließ; aber wiederum sank die Nacht herein, als die Gesellschaft die Strickleiter herabließ und den festen Boden betrat.
Von den acht Monden Saturns, deren Umlaufzzeit entsprechend ihrem Abstand vom Zentralkörper wächst, und beim innersten nur 22½ Stunden, beim äußersten aber nicht weniger als 79 Tage beträgt, standen die vier innersten gleichzeitig am Himmel; doch ihr schwacher Schein genügte nicht, um den Glanz einer irdischen Vollmondnacht hervorzuzaubern. Die schmale Kante des Ringes war dunkel; die innerste Kante wird überhaupt nie von der Sonne erhellt, und die beleuchtete Ringfläche zeigt sich nur bei Tag, nie aber des Nachts.
Mietje übernahm diesmal die erste Wache und Münchhausen bestand auf der zweiten, gegen deren Ende der Anbruch des Morgens erfolgen mußte, da hier eine Sonnenfinsternis zur Zeit nicht herrschte, wie Schultze versicherte, und wie man vor der Landung hatte beobachten können, als noch die Sonne am Himmel stand.
Man wollte sich diesmal mit einem dreistündigen Schlafe begnügen, um sich ja nichts von dem kurzen Tage entgehen zu lassen.
Lady Flitmore, auf die nur noch eine Stunde Schlafes gekommen wäre nach ihrer zweistündigen Wache und die durchaus nicht gewillt war, den Saturnmorgen zu verschlafen, beschloß, sich überhaupt nicht zur Ruhe zu legen, sondern dem Kapitän bei dessen Wachzeit Gesellschaft zu leisten: sie hatte in Voraussicht dieses Falles vor dem Abstieg einige Stunden geschlafen und fühlte sich frisch und munter genug, um zehn, und, wenn es sein sollte, zwanzig Stunden zu wachen, ohne zu ermüden.
Alles lag im Schlaf; nur Lady Flitmore saß als treue Wächterin in der Nähe des flackernden Feuers, von Zeit zu Zeit ein Scheit nachlegend.
Eine kleine Erhöhung des Erdbodens diente ihr als Sitz. Der Grund bestand hier aus kahlem Felsgestein, das sich merkwürdig warm anfühlte, so daß Mietje es nicht für nötig gefunden hatte, eine Decke über ihren Sitz zu breiten, zumal der Fels gar nicht hart erschien: sie glaubte, es müsse eine Art Bimsstein sein und das bestätigte ihr die auffallende Leichtigkeit einzelner umherliegender Steine. Ein Block von der Größe eines Riesenkürbisses, den sie versuchsweise aufnahm, wollte ihr so leicht wie ein Gummiball erscheinen.
Es fiel ihr dabei ein, wie merkwürdig leicht auch das Eis am Pol befunden wurde und sie mußte denken, daß dem ein dem Saturn eigentümliches Naturgesetz zu Grunde liegen müsse.
Dann schweiften ihre Blicke umher. Die kahle Stelle war nur von geringer Ausdehnung; sie wurde von einem mannshohen Dickicht eingesäumt, das aus Schilf oder Röhricht zu bestehen schien und über welches in der Ferne ein Wald hochragender Bäume unheimlich finster herüberschaute.
Sie sah zum Himmel empor: da grüßten sie die bekannten Sternbilder so traut, daß ihr auf einmal zumute wurde, als befinde sie sich auf der heimatlichen Erde und die ganze Weltallreise sei bloß ein Traum gewesen. War sie nicht auch so sonderbar, wie es sonst nur im Träumen vorkommt?
Aber mitten unter diesen altbekannten Sternbildern teilte ein dunkler schmaler Bogen das ganze Himmelsgewölbe in zwei ungleiche Teile. Das war die Kante des Rings, der ihr zweifellos bewies, daß sie sich auf einem fremden Planeten befand, und das sagten ihr auch die vier Monde, die in ungleicher Größe und verschiedener Lichtstärke am Himmel hinwandelten, und deren einer soeben vom Schatten seines Zentralgestirns verdunkelt wurde.
Dort strahlte auch der Komet, den sie von der Tipekitanga aus erstmals erschaut hatte, in beinahe unheimlich blendendem Goldglanz.
Und siehe! Drunten am Horizont tauchte ein fünfter Mond auf! Ja, es war eine fremde Welt! Trotz der Sternbilder, die um kein Haar anders aussahen als am irdischen Himmel, war sie doch von der Erde entsetzlich weit entfernt! Wie hatte ihr Gatte gesagt? 1260 Millionen Kilometer, mehr als achtmal so weit als der Abstand der Erde von der Sonne beträgt!
Sie schauderte, als sie sich diese ungeheure Zahl ins Gedächtnis zurückrief, und doch, was bedeutete sie gegenüber der Entfernung jener Fixsterne dort oben? So gut wie nichts! Die schienen weder näher noch ferner gerückt.
Aus diesen Gedanken wurde sie durch einen Schatten emporgeschreckt, der den Schein des Feuers verdunkelte.
Dort flatterte ein Vogel mit kaum hörbarem Flügelschlag. Er umkreiste die Flammen, näherte und entfernte sich, flog auf und schwebte wieder herab.
„Ein Adler,“ dachte die Lady, die ungeheure Spannweite seiner Flügel mit den Blicken messend.
Aber merkwürdig genug erschienen diese Fittiche: Das war kein Gefieder, auch keine Fledermausflügel waren es, diese dünnen, buntgefleckten Segel mit dem breiten, scharfumrissenen Rand.
Mietje schüttelte den Kopf: „Wäre nicht seine ungeheure Größe, man könnte diesen Vogel für eine Motte, einen Nachtfalter halten,“ sprach sie halblaut vor sich hin.
Da gesellten sich zu dem ersten ein zweiter und ein dritter. Lautlos umkreisten sie das Feuer, dessen Lohe von dem Luftzug ihres Flügelschlags gepeitscht, niederduckte, um gleich darauf um so lebhafter emporzuzüngeln.
Jetzt kam einer dieser unheimlichen Vögel ganz nahe an der jungen Frau vorbei. Er hatte einen eigentümlichen dicken Kopf mit einem Elefantenrüssel von dem Umfang eines Spritzenschlauchs, zwei runde walnußgroße Glotzaugen, zwischen denen sich zwei Wedel bewegten, gleich riesigen Fühlern. Der Leib war zylinderförmig und stark behaart; starr wie Igelstacheln standen die Haare empor, das Merkwürdigste aber waren die sechs dünnen Beine, die das seltsame Geschöpf an den Leib gezogen hielt.
Mietje faßte ein Grauen vor diesen Ungeheuern und sie riß ein brennendes Scheit aus dem Feuer, um sie abwehren zu können, wenn sie sich ihr nähern sollten.
Sie sollte auch alsbald in die Lage kommen, sich gegen einen Angriff zu verteidigen; denn einer der Vögel flog geradewegs auf sie zu.
Mit dem brennenden Ende des Prügels schlug sie aus allen Kräften auf den widerlichen Kopf. Dieser schien keinen Schädel zu besitzen, sondern aus weicher Masse zu bestehen, denn der Schlag erschütterte die Waffe nicht und erzeugte auch keinen weiteren Ton als ein dumpfes Aufklatschen. Aber betäubt sank der Vogel zu Boden und als Mietje ihr Scheit auf seinen Kopf preßte, wurde derselbe alsbald zu einer formlosen Masse zerquetscht.
Jetzt erschien Münchhausen auf der Bildfläche. Es war eigentlich noch nicht ganz an der Zeit, daß er zur Ablösung kam; doch hatte er in Erwartung der Entdeckungen, die er als Erster zu machen hoffte, nur unruhig geschlafen und war frühzeitig erwacht.
„Was haben Sie denn da für ein Scheusal erlegt, Sie kriegerische Heldin?“ fragte, er erstaunt den zuckenden Leib am Boden betrachtend. „Fürwahr! da flattert ja noch so eines daher. Ha! das hat es auf meine Nase abgesehen. Nein, mein Freund, die leuchtet nicht für dich!“ und gleichzeitig schmetterte er das zudringliche Ungetüm mit dem Flintenkolben zu Boden.
Der dritte Vogel war inzwischen wieder verschwunden.
Kopfschüttelnd untersuchte der Kapitän die erlegten Geschöpfe.
„Eine Art Schmetterlingsflügel,“ sagte er, „zwei Fühlhörner, ein Rüssel, sechs hornumpanzerte Beine und im ganzen Leibe kein Knochen, — alles Brei! Lady Flitmore, das sind Nachtfalter; Sie lachen mich aus, aber mit vollstem Unrecht. Ich glaube ja selber nicht, was ich sage, aber es ist dennoch so und nicht anders. Motten sind diese Scheusale, ungeheure Schwärmer! Sie sehen wahrhaft erschrecklich aus und es war mir keineswegs behaglich zumut, als dieser zweigehörnte Vogel mir nach der Nase trachtete; aber ich glaube nicht, daß diese Nachtvögel imstande sind, unsereinem das Geringste anzuhaben. Sehen Sie, sie sind von Butter; ein schwacher Druck genügt, ihren Leib zu einer unförmlichen Masse zu zerquetschen.“
Das war allerdings offensichtlich und Mietje war geneigt, sich ihrer Furcht zu schämen; aber das Unbekannte erregt stets ein gewisses Grauen, und der Kapitän selber hatte sich ja von den Riesenfaltern einen nicht geringen Schrecken einjagen lassen.
„Sehen Sie,“ erklärte er, „das ist ganz menschlich; das Niegesehene erschreckt zunächst jeden; denn wer kann wissen, was einem von ihm droht. Das, was man daheim schon kannte, heimelt einen an; was aber der Heimat fremd ist, erscheint unheimlich. So zeigt uns schon die Entwicklung des Sprachgebrauchs, daß wir einem allgemein und uralt menschlichen Gefühl erlagen, dessen wir uns nicht zu schämen brauchen, wenn wir nachträglich erkannten, daß der unheimliche Spuck im Grunde recht harmlos war und daß wir einen Heldenkampf auf Leben und Tod mit wehrlosen Nachtfaltern geführt haben.
Aber nun begeben Sie sich zur Ruhe auf diesen Schrecken hin, meine Wache beginnt.“
„Fällt mir nicht ein, mich jetzt zu legen,“ lachte Mietje. „Ich leiste Ihnen Gesellschaft; ich bin begierig, den ersten Morgen auf diesem Planeten tagen zu sehen.“
„Um so angenehmer für mich,“ meinte Münchhausen; „aber wollen wir uns nicht setzen?“ und damit ließ er sich auf seine Fettpolster plumpsen.
Der Tag begann zu grauen. Rosige Wölkchen schwebten über dem Horizont und bald darauf leuchteten die fernen Berggipfel auf, vom flüssigen Gold der ersten Sonnenstrahlen umrandet.
Münchhausen und Mietje schauten umher.
Welch eine sonderbare Landschaft! Berg und Tal, Hügel und Ebenen, Wasserfälle und Bäche, — nun, das mutete nicht besonders fremdartig an, obgleich ein kleiner Wasserfall, der im nahen Hintergrund über einen niedern Felsblock herabschäumte, bereits ein Rätsel aufgab.
Das Wasser spritzte nämlich so hoch auf und dichte Schaumflocken schwammen gleichsam in der Luft, daß man dieses Schauspiel wohl begriffen hätte, wenn sich das Wasser aus hundert Meter Höhe herabgestürzt hätte, nicht aber, wo es sich um höchstens drei oder vier Meter handeln konnte.
„Nanu!“ sagte Münchhausen verblüfft: „Dieser Zwerg von einem Wasserfall gebärdet sich ja wahrhaftig, als wollte er mit dem Niagara oder Mosi-oa-tunia, den Viktoriafällen des Sambesi in unlautern Wettbewerb treten.“
Weit befremdlicher aber noch erschien die Pflanzenwelt: was bei Nacht als mannshohes Schilf erschienen war, erwies sich nun bei Tageshelle als Gras. Da ragten grüne Büschel von zwei Meter Höhe, darüber wiegten sich Halme mit mächtigen Samenrispen; die Gräser waren mehr als handbreit, die Halme mehr als daumendick und der Hochwald dahinter schien aus krautartigen Gewächsen zu bestehen mit ungeheuren saftigen Stengeln und Blättern, deren geringste die Bananenblätter weit an Größe übertrafen. Dazwischen schossen Blumen empor, die sich wie Sonnenschirme ausbreiteten oder wie Kirchenglocken herabhingen.
Nirgends aber war ein Gewächs zu sehen, das einem Baume glich; die höchsten Waldriesen, die bis zu sechzig Meter emporstreben mochten, waren knotige Rohre von oft mehreren Metern im Umfang, mit Wedeln und Kolben gekrönt, oder Schachtelhalme und Farnkräuter mit gigantischen Fiederblättern.
Aber schön und überwältigend großartig erschienen diese Büsche von Gras und diese Wälder von Kraut mit ihrer farbenleuchtenden Blütenpracht.
„Wir müssen die Schläfer wecken!“ mahnte die Lady, nachdem sie von ihrer ersten staunenden Bewunderung zu sich zurückkam.
„Ich hätte weit lieber zunächst eine Entdeckungsreise auf eigene Faust gemacht,“ brummte Münchhausen; „aber erstens wäre dies ein heimtückischer Verrat an den Genossen, und zweitens, was das Ausschlaggebende ist, ohne ein ordentliches Frühstück im Leibe bin ich zu einer weltberühmten Forschungsexpedition leiblich unfähig.“
So weckten sie denn die ganze Gesellschaft, die bald, sich die Augen reibend, vor den Zelten erschien.
„Hurrah!“ rief Schultze, als er sich umsah: „Das ist wieder etwas ganz Neues, ganz Überirdisches, diese wogenden Fluren, diese fabelhaften Wälder! Da müssen wir vor allem andern einen Spaziergang hinein machen.“
„Nichts da!“ protestierte der Kapitän: „Alles in der Ordnung! Zuerst ein kräftiges Frühstück, dann bin ich zu allem bereit.“
„Sie haben recht,“ stimmte Flitmore bei: „Es ist besser, wir erledigen zunächst die leiblichen Bedürfnisse; dann können wir den Tag, der ja kurz genug ist, ununterbrochen ausnützen. Das erste Bedürfnis wird übrigens eine erfrischende Waschung sein; dort plätschert ja ein prächtiges Bächlein ganz in unsrer Nähe.“
Das leuchtete allen ein und sie eilten dem nahen Bache zu, um Gesicht und Oberkörper und Glieder darin abzuspülen.
„Nein, wie merkwürdig weich doch dieses Wasser ist, beinahe wie Öl,“ bemerkte Mietje zuerst.
„Es ist wahr, es scheint viel flüssiger zu sein als irdisches Wasser,“ bestätigte Heinz: „Es fließt einem durch die Finger wie Nebel und rinnt wie Spinnenfaden so dünn an der Haut hinab.“
„Und es bildet gar keine rechten Tropfen,“ fügte Schultze hinzu, „nur so feine Sprühstäubchen, wie der Sprühregen im Nebel.“
John rannte die paar Schritte zum Lagerplatz zurück, ergriff ein dünnes Holzscheit, mit dem er wieder angesprungen kam und das er klatschend in den Bach warf.
Wie ein Springbrunnen spritzte das Wasser in feinverteiltem Staub wohl drei Meter hoch empor. Alle staunten sprachlos dies neue Wunder an. Rieger aber rief:
„Das ist ja gar kein Wasser!“ und er wies auf das Holzstück, das wie ein Stück Blei auf den Grund des Baches gesunken war, wo es liegen blieb.
„Da hört sich aber doch endgültig alle Wissenschaft auf!“ rief Schultze: „Das ist frisches, klares Wasser, aber von einer Leichtigkeit, daß es auf unsern schwerfälligen irdischen Gewässern wie Öl oder Spiritus schwimmen würde; es scheint entsprechend flüchtig zu sein und sehr rasch zu verdunsten; das spüre ich schon an dem starken Prickeln, wenn es auf der Haut trocknet. Lady Flitmore, auf dem Saturn würde Ihre größte Wäsche in der halben Zeit trocknen, als auf unsrer mangelhaften Erde!“
Zu Münchhausens Beruhigung schritt man jetzt zur Bereitung des Frühstücks.
Es war überraschend, wie schnell das Wasser zum Sieden kam. Der Professor prüfte seine Wärme mit einem Thermometer: „Dachte ich’s doch!“ rief er aus: „Bloß 52 Grad! Das Saturnwasser kocht also schon bei dieser geringen Temperatur.“
Hierauf machte er sich an die Untersuchung des Grund und Bodens und löste das Gestein mit einem Pickel, den John aus der Sannah herbeischaffen mußte. Die Steinbrocken, die aus dem Boden gehauen wurden, erinnerten in ihrem Bau an Knochen: sie waren voller Hohlräume, schwammig, in Zellen eingeteilt, mit dünnen, doch sehr widerstandsfähigen Wandungen. Die mehr oder minder großen Kammern waren mit Luft oder Gasen gefüllt, während sich überall durch die größeren zusammenhängenden Felsmassen Wasseradern zogen.
Ein Versuch ergab, daß die Mehrzahl der Steine auf dem Wasser des Baches schwamm, obgleich das Wasser selber schon so leicht war.
In der Folge fanden sich auch völlig dichte Gesteinsmassen, die im Wasser untersanken, aber immer noch fabelhaft leicht erschienen.
„Nun ist das Rätsel der geringen Dichtigkeit dieses Planeten gelöst,“ sagte Flitmore: „Die Dichtigkeit, oder was auf das gleiche herauskommt, das spezifische Gewicht des Saturn beträgt 1/8 von dem der Erde, ¾ des Wassers, nämlich des irdischen Wassers.
Man vermutete daher, er müsse sich in glutflüssigem Zustand befinden, wodurch freilich so äußerst geringe Dichtigkeit nicht recht begreiflich wird. Deshalb stellte ja auch unser Kapitän die Theorie auf, der Stoff der Saturnmasse möchte heißer Grog sein.“
„Schade, daß dies nicht zutrifft!“ meinte Münchhausen lachend.
„Nun, an Grog soll es Ihnen sobald nicht fehlen,“ tröstete der Lord. „Wir haben nun hier einen festen, widerstandsfähigen Grund entdeckt, durchaus nicht so weich und elastisch wie die viel dichtere Marserde, und doch von solcher Leichtigkeit, daß diese alles erklärt. Das Wasser hat ein entsprechend geringeres Gewicht als auf Erden, und so scheint auch die Pflanzenwelt aus leichtem Stoff gebaut, der nicht durch seine starre Masse, sondern durch seine elastische Biegsamkeit und die Zähigkeit der Fasern den Stürmen trotzt.“
„Gewiß ist auch die Tierwelt diesen Verhältnissen angepaßt,“ vermutete Schultze. „Brechen wir auf! Ich brenne vor Begier, eine Entdeckungsreise zu unternehmen.“
Als unsere Freunde kurz darauf den Graswald und hinter diesem den Hochwald der Riesenkräuter betraten, fanden sie des Professors Vermutung voll bestätigt: nirgends begegnete ihnen ein Wirbeltier, das einen festen Knochenbau aufgewiesen hätte; nur Insekten, Kerbtiere und Weichtiere waren zu schauen.
Aber welch entsetzliche Ungeheuer waren dies!
Obwohl sie in Einzelheiten ihres Baues und ihrer Formen wesentlich von allen irdischen Arten abwichen, zeigten sie doch im allgemeinen eine in die Augen springende Ähnlichkeit mit solchen, und nach dieser wurden sie denn auch bezeichnet.
Münchhausen erklärte gleich anfangs, man könne dies Geziefer nicht anders unter einem Sammelnamen begreifen, als unter dem Namen „Drachen“; denn als solche müßten sie bei ihrer unnatürlichen Größe und ihrem entsetzenerregenden Anblick gelten.
Da fanden sich denn Schneckendrachen und Raupendrachen und solche, die durch Füße am Vorderleib mit Käferlarven Ähnlichkeit hatten, lauter dicke, plumpe und doch behende Geschöpfe in der Größe von Wieseln, Katzen und Schafen. Dieser Größenvergleich konnte jedoch bei den beiden letzteren nur für die Höhe gelten; die Länge betrug das Doppelte und Dreifache.
Weit grauenhaftere Kriechtiere waren die Asseln und Tausendfüßler mit ihren unzähligen Gliedern, wie Krokodile so groß krochen und wanden sie sich daher und wenn sie sich mit halbem Leibe emporhoben, schwebten ihre gräulichen Häupter und zappelnden Beine so bedrohlich über den Köpfen der Wanderer, daß diese durch wohlgezielte Kugeln sich der Ungeheuer erwehren mußten.
Ameisen- und Wanzendrachen, unheimliche Spinnen, über mannshoch, erschienen noch gefährlicher; die wahren Riesen der Tierwelt des Saturns aber waren die gepanzerten Käfer, die wie Flußpferde, Elefanten und Nashörner daherstapften und mit ihren Zangen nach den fremden Eindringlingen griffen.
Man mußte stets auf der Hut sein; denn diese Tiere kletterten an den mächtigen Stauden umher, die sich oft unter ihrer wenn auch noch so leichten Last beugten; doch Lord Flitmores fleißigen Momentaufnahmen entgingen sie nicht.
Eine Art Hirschkäfer faßte einmal unversehens den Kapitän mit seinen fürchterlichen Kiefern mitten um den Leib. Der Lord war so eifrig beim Photographieren, daß er rasch auch dieses großartige Bild aufnahm, ehe er dem Bedrohten zu Hilfe kam. Heinz Friedung hatte inzwischen durch mehrere Schüsse dem Scheusal den Garaus gemacht; aber die Zangen des toten Tieres mußten erst förmlich abgesäbelt werden, ehe Münchhausen wieder befreit aufatmen konnte und seinen Humor wiedergewann.
„Natürlich, gleich den fettesten Bissen mußte sich dieser Schlecker heraussuchen,“ scherzte er, während ihm noch der Angstschweiß auf der Stirne perlte.
Besonders in acht nehmen mußte man sich auch vor den Heuschrecken und Grashüpfern, die wie Känguruhs umherschnellten.
Auch eine Art riesiger Ohrwürmer machte sich unangenehm.
In den Lüften summten Mücken, Rüsselfliegen und Bremsen mit durchsichtigen Flügeln in Spatzen- bis Taubengröße. Weit gewaltiger waren die Wespen und Hummeln, die geflügelten Ameisen und die stahlglänzenden Libellenarten. Die Riesen der Vogelwelt aber, wenn hier von Vögeln geredet werden durfte, waren die Schmetterlinge, die ganz entzückende Färbungen aufwiesen.
Jetzt aber kroch ein plattleibiges Ungetüm heran mit langen Armen, an deren Ende sich zwei gewaltige Zangen aufsperrten, gleichzeitig schwang es den hoch über seinen Rücken gebogenen vielgliedrigen Schwanz gegen Lady Flitmore. Am Ende dieses Schwanzes befand sich ein scharfer Stachel, der über der Spitze stark verdickt war, offenbar eine Giftdrüse enthaltend.
„Ein Skorpiondrache!“ schrie Münchhausen und legte sein Gewehr an.
Doch wäre er zu spät gekommen, wenn nicht Mietje selber mit großer Kaltblütigkeit dem Angreifer eine Kugel direkt in die geblähte Giftdrüse gesandt hätte, so daß diese platzte, einen gelblichen Saft entleerend, und der Stachel schlaff herabfiel.
Mit der einen Zange jedoch packte der Skorpion den Arm der jungen Frau.
Jetzt kam John zu Hilfe: er war mit einer Axt bewaffnet, um, wo es not tat, die Wege zu bahnen. Mit einem wohlgezielten Hieb trennte er das Zangenglied vom Leibe des Riesenskorpions, der nun von weiteren Angriffen abstand.
Mit großer Anstrengung gelang es dann dem Lord, die krampfhaft geschlossene Zange aufzubrechen und den Arm seiner Gattin aus der Klemme zu befreien. Aber eine schmerzhafte Quetschung trug die mutige Dame als Andenken von dieser Begegnung davon.
Die meisten Waldriesen hatten weiche, biegsame, saftige, doch zähe, elastische Stämme von enormem Umfang, es waren einfach gigantische Kräuter.
Es fanden sich aber auch Stauden, Büsche und Gesträuche mit rohrartigen Zweigen oder von äußerst leichtem Mark erfüllten Stengeln, und schließlich Riesenfarne und Schachtelhalme. Wirkliches Holz jedoch war nirgends vorhanden: alles entsprach in seiner leichten, losen Struktur der geringen Dichte des Planeten.
Dementsprechend waren die köstlichen, saftigen Riesenfrüchte fast durchweg Beeren- und Schotenfrüchte, teils mit Steinen, gleich den Schlehen und Wacholderbeeren, teils den Himbeeren, Brombeeren und Maulbeeren ähnlich oder auch den Stachelbeeren; viele hingen in saftigen Trauben herab oder in Büscheln als enorme Bananen und Bohnen; endlich fanden sich noch haselnußartige Stauden mit hartschaligen, kokosnußgroßen Nüssen.
Eine Nacht auf dem Saturn.
Selbstverständlich wurden all diesen Herrlichkeiten die Namen nur vergleichsweise gegeben nach den irdischen Gewächsen, mit denen sie eine besondere Ähnlichkeit aufwiesen; in Wirklichkeit unterschieden sie sich nicht nur in der Größe, sondern auch in Form und Geschmack wesentlich von allen Beeren der Erde, aber durchaus nicht zu ihrem Nachteil. Den ersten Preis in Bezug auf Aroma und Güte erhielt nach einstimmigem Urteil eine Art Kaktusfeige ohne Stacheln.
Die beiden Schimpansen ließen sich’s wohl sein und kletterten überall empor, wo eine Frucht lockte. Sie waren von Flitmore dazu dressiert, auf Kommando ihre Beute herabzuwerfen, und das kam nun allen zu statten; denn die meisten Früchte hingen so hoch, daß sie vom Boden aus nicht zu erreichen waren, und für gewichtige Menschen war das Erklettern der schwankenden, biegsamen und dabei meist sehr umfangreichen Stengel und Rohre mit besonderen Schwierigkeiten verknüpft.
Auch auf Kämpfe mit den verschiedenen Ungetümen des Urwalds ließen sich die Affen ein, wobei sie manchen Heuschrecken- und Raupendrachen erwürgten und Riesenspinnen und Tausendfüßler zerrissen oder totbissen. Im Handgemenge mit den gepanzerten Käfern aber zogen sie meist den Kürzeren und trugen allerlei Wunden davon; doch wurden sie jedesmal durch die Kugeln der Herren oder durch Johns Axt vor dem Erliegen gerettet.
Der Genuß der aromatischen Beeren, die übrigens mit den leuchtenden Früchten der Tipekitanga nicht wetteifern konnten, wurde durch die zahlreichen widerlichen und recht gefährlichen Geschöpfe beeinträchtigt, die den sonderbaren Wald bevölkerten.
Aber noch etwas andres zwang unsre Freunde zu schleunigster Umkehr.
Das war ein wütender Orkan, der sich ganz unvermittelt erhob und unter dessen Gewalt sich die Krautbäume und Stauden bis zu Boden neigten und so das Weiterkommen beinahe unmöglich machten, ja die Wandrer in Gefahr brachten, niedergeschmettert und erdrückt zu werden.
Das Getier flüchtete sich zum Teil in Erdlöcher, die zahlreich vorhanden waren und der Tätigkeit der Rieseninsekten selber zuzuschreiben sein mochten, zum Teil rettete es sich auf die Wipfel, in denen es sich festkrallte, während der Sturm über sie wegsauste, daß alles wogte, wie ein Meer.
Der Rückzug war schwierig und nicht ungefährlich, und obgleich man gar nicht weit in den Wald eingedrungen war, dauerte es doch lange, bis man ihm wieder entrann; denn mit größter Vorsicht und unter vielen Umwegen mußte denjenigen Pflanzen ausgewichen werden, die sich so tief neigten, daß sie buchstäblich den Boden peitschten.
So furchtbar der Sturm wütete, so knickten doch nur ganz wenige Stengel ein, so elastisch paßte sich diese zyklopische Pflanzenwelt den Verhältnissen an.
Endlich war der Saum des Graswäldchens erreicht, und aufatmend traten unsere Freunde auf die kleine Lichtung hinaus, auf welcher die Sannah vor ihren Blicken emporragte.
Sie gedachten, sofort im Innern des Fahrzeugs Schutz vor dem Orkane zu suchen, der jetzt einen feinen, alle Kleider durchdringenden Sprühregen niederwehte. Dieser Sprühregen, so fein verteilt er war, erfüllte doch die Luft mit einem undurchdringlichen Nebel, so daß es noch vor Sonnenuntergang ziemlich düster wurde und man den Eingang ins Nordpolzimmer zu halber Höhe der Sannah, also 22½ Meter hoch, nicht mehr erblicken konnte.
Der Schimpanse Bobs, als der gelenkigste und zugleich naseweiseste und rücksichtsloseste der ganzen Gesellschaft, turnte als erster an der Strickleiter empor und war schon im Nebel verschwunden, ehe die andern noch zur Stelle waren.
Bald vernahm man aus den verschleierten Höhen ein wütendes Gekreisch.
„Hollah! Dort oben scheint nicht alles in Ordnung zu sein,“ rief Flitmore: „Es war auch ein unverantwortlicher Leichtsinn von mir, unsre Sannah ohne männlichen Schutz in der Einsamkeit eines fremden Planeten zurückzulassen.“
Gleich darauf kollerte ein großer, doch offenbar nicht besonders schwerer Körper an der Strickleiter herab.
„Aha! Da hat sich scheint’s ein solch scheußlicher Saturnkäfer dort oben unnütz gemacht,“ sagte der Kapitän: „Nun, Bobs hat ihm das Unverschämte seines Verhaltens gründlich klar gemacht und ihm den Kopf abgerissen, daß er nur noch lose mit dem widerlichen Leibe zusammenhängt.“
„Nennen Sie diese Geschöpfe nicht scheußlich und widerlich,“ schalt der Professor: „Sie sind hochinteressant!“ und er betrachtete liebevoll mit wissenschaftlichen Augen den Mistkäfer, der zu seinen Füßen lag; denn einem solchen war das Tier von der Größe eines Kalbes am ehesten vergleichbar.
Das Gekreisch des Affen hörte inzwischen nicht auf, und bald sah man Bobs mit kläglicher Miene und blutenden Armen in eiliger Flucht sich an der Strickleiter herabschwingen.
„Oho! Da haben Sie’s, Professor!“ rief Münchhausen: „Von Ihren hochinteressanten Tieren haben sich scheint’s noch mehrere in der Sannah eingenistet! Ich schlage vor, daß Sie sich sofort hinaufbegeben, da Sie den Geschöpfen so zärtliche Gefühle entgegenbringen. Da können Sie Studien machen, ganz ungestört; denn wir werden Ihnen erst folgen, wenn Sie damit zu Ende sind und die Einbrecher als unschädliche Präparate Ihrer Käfersammlung einverleibt haben.“
Schultze machte ein langes Gesicht. Ne! Da traute er sich nicht hinauf, obgleich er nichts sehen konnte als Nebel, da er emporschaute. Aber wenn Bobs sich in die Flucht schlagen ließ, dann war die Sache nicht geheuer.
„Richten wir die Zelte wieder auf, der Sturm läßt nach!“ sagte Flitmore trocken. Der Orkan hatte sämtliche Zelte umgerissen.
„Das heißt, wir sollen die Sannah zunächst ihrem Schicksal überlassen?“ frug Heinz.
„Es hat keinen Zweck, sich in diesem Nebel bei sinkender Nacht in eine unbekannte Gefahr einzulassen und den Kampf mit wütenden Ungeheuern aufzunehmen,“ erwiderte der Lord achselzuckend.
„Aber gegen diesen Sprühregen schützen keine Zeltwände noch Decken,“ gab der Kapitän zu bedenken: „Wir sind schon bis auf die Haut durchnäßt und Lady Flitmore könnte sich bei dieser Gelegenheit eine gefährliche Bronchitis zuziehen.“
„Wissen Sie denn überhaupt, ob es auf dem Saturn Krankheitsbazillen, speziell Schnupfenbazillen gibt?“ warf Schultze ein.
„Pah! Erkälten kann man sich überall“, behauptete Münchhausen, „und davor schützt einen ein trockenes Lager, nicht aber eine gelehrte Bazillentheorie. Ich meinesteils, als alter Seebär, kann Nässe und kalte Luft vertragen. Mir ist es nur um Sie und namentlich die zarte Lady.“
„Zarte Lady!“ lachte Mietje: „Haben Sie mich in Afrika als Wachspuppe kennen gelernt, daß Sie mich meinen in Watte wickeln zu müssen?“
„Das nicht, aber damals waren Sie ein Burenmädchen, jetzt sind Sie eine englische Schloßherrin.“
„Doch nicht verweichlichter als damals: mein Burenblut konnte England mir nicht rauben.“
„Dieses Zeugnis kann ich meiner Gattin ausstellen,“ bestätigte Flitmore: „Sorgen Sie sich nicht um sie.“
„Allein,“ beharrte Münchhausen, dem auch das nasse Lager trotz seiner Seebärennatur, mit der er sich brüstete, höchst unsympathisch erschien: „Allein, da der Professor doch einmal die Bazillenfrage aufwarf, wer kann wissen, ob der Saturn nicht viel gefährlichere Bazillen beherbergt als die Erde? Vielleicht auch ganz riesige!“
„Beruhigen Sie sich,“ sagte Heinz plötzlich, „ich werde das Abenteuer wagen und hoffe das Ungeziefer dort oben auszurotten.“
„Seien Sie nicht tollkühn, junger Mann,“ warnte der Lord: „Es hat keinen Zweck. Warten wir bis morgen, bis wir die Sachlage übersehen können; auch ist zu erwarten, daß die Käfer dann freiwillig den Rückzug antreten, schon um nach Nahrung zu suchen; denn im Nordpolzimmer finden sie nichts, und die Zwischentüren zu öffnen wird ihnen doch nicht gelingen.“
„Ja, lassen Sie’s bleiben, junger Freund,“ mahnte nun auch Schultze: „Bobs wäre nicht geflohen, wenn die Übermacht nicht zu groß wäre.“
„Ich habe meinen Plan, bei dem ich nichts riskiere,“ entgegnete Heinz. „Tollkühnheit ist mir fremd; sehe ich, daß Gefahr für mich besteht, so kehre ich um.“
„Na, na!“ drohte Münchhausen: „In Australien haben Sie mehr als einmal gezeigt, daß Sie keine Todesgefahr scheuen: ich traue Ihrer Vorsicht nicht so ganz.“
„Lassen Sie mich nur machen,“ rief Heinz von der Strickleiter herab, an der er bereits gewandt wie eine Katze emporklomm, um weitere Erörterungen abzuschneiden.
Ihm folgte der Schimpanse Dick, der eine besondere Freundschaft mit dem jungen Mann geschlossen hatte, welcher sich stets gerne und fürsorglich mit dem Affen abgab.
Aber auch John kletterte empor, indem er Heinz nachrief: „Ich gestatte mir mit meiner Wenigkeit auch unbedingt Ihre Nachfolge anzutreten, indem daß wir zu dritt berechnungsweise mehr auszurichten imstande sein dürften, als wenn Sie mit Dick allein eine Schlacht inokulieren wollten.“ Das sollte nämlich „inaugurieren“ heißen, was John als einen vornehmeren Ausdruck für das schlichte deutsche Wort „beginnen“ erkannt hatte.
Heinz erreichte die schwarz gähnende Öffnung des Nordpolzimmers. Es war völlig Nacht geworden und man konnte nichts im Innern des Raumes erkennen, wohl aber hörte man ein Durcheinanderkrabbeln, Knarren und Zirpen, das bekundete, daß da drinnen eine ganze Anzahl ungebetener Gäste sich eingenistet hatte und es nicht geraten gewesen wäre, sich in Nacht und Finsternis in ihre Nähe zu wagen.
Dies hatte er auch vorerst nicht im Sinn; vielmehr ergriff er nun eine der Rampen, die das Weltschiff gleich Meridianen in seinem ganzen Umfang umgaben und sich in seinen Scheitelpunkten kreuzten.
Das Emporsteigen an der Rampe auf der glatten, gewölbten Oberfläche der Kugel war für einen Menschen nicht ungefährlich; allein die Dunkelheit, die jedes Gefühl des Schwindels ausschloß, begünstigte das Wagnis und Heinz war ein gewandter Turner. Auch John Rieger fand keine unüberwindliche Schwierigkeit in der Kletterei, Dick, der Affe, vollends nicht: dem war es ein Spaß.
So langten denn alle drei wohlbehalten oben an, wo sie in einer Höhe von 45 Metern über dem Saturnboden auf dem höchsten Punkte der Sannah standen, also über deren Zenithzimmer.
Tastend fand Heinz den elektrischen Drücker zu seinen Füßen, der die Öffnung der Luke von außen ermöglichte und nun stiegen sie auf der hier mündenden Leitertreppe in den dunkeln Raum hinab, die Lucke hinter sich wieder schließend.
Zunächst drehte Heinz das elektrische Licht auf und sagte zu John: „Vor allem nehmen wir jeder einen der Gummistühle mit, das sollen treffliche Schutzschilde gegen die Zangen und Kiefer der Unholde sein.“
„Aber dann dürfte mit Verlaub das Schießen darunter notleidend werden,“ gab der Diener zu bedenken. „Insofern zum wenigsten ich meinesteils das Schießen mit einem einzigen gebrauchsfähigen Arm fertigzubringen der unumgänglichen Fähigkeit entbehre.“
„Wir schießen auch nur im äußersten Notfall, Freund. Es ist so eine Sache, mit einem weittragenden Gewehr in einem geschlossenen Raum zu schießen; wenn auch die Kugeln angesichts der dicken Kautschukpolster an den Wänden nicht zurückprallen dürften, so könnten wir doch Beschädigungen und Verwüstungen anrichten, die wir besser vermeiden.“
„Aber da wären doch sozusagen Revolver im Waffenschrank, der sich dahier befindet.“
„Ausgezeichnet! Mit denen können wir das Schießen eher wagen. Stecken wir uns jeder solch ein Ding in den Gürtel; aber zuvor laden! Und jetzt, unsre Hauptwaffe muß ein Hirschfänger sein; den nehmen wir in die rechte Hand.“
„Ich würde mit Ihrer gütigsten Gestattung, sofern Sie nichts Wesentliches dagegen einzuwenden haben sollten, das Dolchmesser lieber auch in den Gürtel zu stecken vorziehen und diese Tomashacke, das indianische Beil, zur Hand nehmen, da allerlei praktische Waffengerätschaften aus aller Herren Ländern in diesem Kasten sich in Vereinigung befinden, indem daß ich mit dem Beilhieb besser umzugehen vermag als mit dem Dolchstoß.“
„Wie du willst, John, und den Revolver gebrauchen wir nur im Notfall; mit dem wirst du wohl einhändig schießen können?“
„Dieses zu bejahen werde ich mir wohl schmeicheln dürfen, indem daß ich andernfalls mich als einen ganz besonderen Tollpatsch ausweisen würde.“
„Also! Jetzt in den Gang nach dem Nordpolzimmer! Ich gehe voran, Dick folgt mir und du schließt die Türe, nachdem du das Licht ausgedreht hast; inzwischen erleuchte ich den Korridor. Wenn wir in das Nordpolzimmer kommen, mache ich zuerst Licht dort: das wird die Biester zunächst so blenden und verblüffen, daß sie uns nicht gleich angreifen werden.“
Ehe Heinz die Türe öffnete, die vom Gang in das Nordpolzimmer führte, löschte er das elektrische Licht im ersteren, so daß alles dunkel war, als er den Raum betrat. Dies tat er vorsichtig, sich hinter dem Gummisessel deckend und daran hatte er gut getan; denn hart an der Türe stand ein Tier, das er erst fortdrängen mußte. Hiezu galt es alle Kraft einsetzen, denn der Sechsfüßler sperrte sich gewaltig.
Jetzt drehte der junge Held das elektrische Licht auf und zwar alle Lampen rasch nacheinander, so daß blendende Helligkeit den Raum überflutete.
Rasch übersah er die Sachlage. Ein Dutzend Panzerkäfer von der Größe halbwüchsiger Kälber hatte sich in der Stube eingenistet; außer ihnen befanden sich aber auch vier mächtige Asseln im Zimmer, die Heinz wegen ihrer Gelenkigkeit und Behendigkeit mehr Sorge machten als die Käfer mit ihren Zangen und Kiefern.
Dick gab das Zeichen zum Angriff: beherzt sprang er hervor und setzte auf den Rücken einer Assel die sich unter seinen würgenden Griffen und reißenden Nägeln und beißenden Zähnen krümmte und wand, ohne ihm jedoch beikommen zu können: der Schimpanse machte ihr rasch den Garaus.
Die Käfer standen, wie Heinz richtig vermutet hatte, zunächst geblendet und regten sich nicht. Wie abwehrend stemmten sie die Vorderbeine und sperrten die Kiefer auf.
„Jetzt drauf!“ kommandierte der junge Mann und stürzte auf den nächsten Feind los, ihm den Hirschfänger zwischen die Halsplatten stoßend.
John schwang indessen sein Tomahawk oder seine Tomashacke, wie er sich ausdrückte; er hatte den Schild, der ihn behinderte, weggeworfen und spaltete zunächst einer Assel den weichen Kopf, während Dick, der den Kampf mit den Asseln einem Angriff auf die panzergeschützten Käfer vorzuziehen schien, soeben die dritte zu zerfetzen begann.
Es schien eine völlig gefahrlose Schlacht zu geben, denn schon waren acht der Ungeheuer kampfunfähig gemacht und ein neuntes war zur Lucke hinaus entwichen, ohne daß die Helden mehr als ein paar Quetschungen davongetragen hatten. Außerdem lagen drei Asseln tot und die vierte war nicht mehr zu sehen.
„Nur noch drei Feinde!“ jubelte Heinz: „Der Sieg ist unser!“
Allein er frohlockte zu früh, gerade diese letzten Gegner sollten noch schwere Arbeit machen; ihre Augen hatten sich an das Licht gewöhnt und sie waren auf ihrer Hut.
Mit dem einen befand sich Dick in verzweifeltem Kampf. Der Kerl war auf den Rücken gefallen, aber mit den kräftigen Zangen seiner sechs zappelnden Beine hielt er den Affen fest, kneipte und zwickte den laut kreischenden Vierhänder und schnappte mit den Kiefern nach ihm. Vergeblich suchte der Schimpanse, loszukommen; hätte er sich befreien können, er hätte nur noch an den Rückzug gedacht, wie zuvor Bobs. Er biß wütend um sich und zerbrach mit den Vorderhänden dem Scheusal zwei Beine, aber von hinten wurde er im Schraubstock festgehalten.
Der zweite Käfer war zum Angriff auf Heinz übergegangen. Dieser hatte sich in seiner Siegesgewißheit dessen nicht versehen und alle Vorsicht außer acht gelassen; er hatte bisher so leichtes Spiel gehabt.
Unglücklicherweise umfaßten die Kiefer des Angreifers gerade seinen Hals: sie waren wohl nicht imstande, ihn zu durchbeißen, wohl aber, ihn derart zusammenzupressen, daß der Ärmste erwürgt wurde. „John, John, zu Hilfe!“ konnte er nur noch mit erstickter Stimme stöhnen, dann entfiel ihm der Hirschfänger, mit dem er seinem Gegner einen schwachen Stich versetzt hatte.
Aber John war außerstande, Hilfe zu bringen: auch er befand sich in einer ekligen, wenn auch zunächst nicht lebensgefährlichen Klemme. Am rechten Arm gepackt, konnte er sein mörderisches Beil nicht mehr gebrauchen und tastete mir der Linken krampfhaft nach dem Revolver in seinem Gürtel.
In diesem Augenblick höchster Not erschien Flitmore in der Lucke, gefolgt von Schultze. Die Sorge um Heinz und John hatte ihnen keine Ruhe gelassen. Im Emporklettern wäre es übrigens dem Lord beinahe schlimm ergangen, denn er stieß mit dem flüchtenden Käferriesen zusammen, der ihn fast zu Fall brachte; doch gelang es ihm, das Tier hinunterzustürzen.
Ein Blick zeigte ihm nun, daß die Hauptarbeit getan war, daß aber auch Heinz in dringendster Lebensgefahr schwebte. Er eilte, den Mörder zu köpfen und dann die Zangen des abgetrennten Kopfes gewaltsam von seines jungen Freundes Hals zu lösen. Nun stellte er Wiederbelebungsversuche an dem Ohnmächtigen an.
Indessen war es John gelungen, durch einige Revolverschüsse auch seinem Feinde das Lebenslicht auszublasen und dann mit Mühe seinen Arm aus der Klemme zu befreien.
Der Professor war inzwischen dem Affen zu Hilfe gekommen, der schleunigst den unheimlichen Ort verließ, obgleich die Gefahr nun vorüber war.
Und doch! sie war es noch nicht ganz: auf einmal erscholl ein Schrei des Entsetzens aus Schultzes Munde.
Die vierte der Asseln, die verschwunden schien, war nur an der Wand hinauf gekrochen und stürzte plötzlich von der Decke herab auf den Professor; nicht aus böswilliger Absicht, — sie hatte einfach den Halt verloren.
Aber was tat dies zur Sache? Der unglückselige Gelehrte fühlte sich von einem dicken, ringelnden Leib umwunden, von zahllosen, kribbelnden Füßen umfaßt und wähnte sein letztes Stündlein gekommen.
Nun aber kamen John und Flitmore gleichzeitig herbei und machten das letzte der Scheusale bald unschädlich, dessen zerstückelter Leib sich, mit den enggereihten Beinen zappelnd, am Boden krümmte.
Heinz war wieder zur Besinnung gekommen und griff sich an den Hals; er hatte das Gefühl, als presse eine furchtbare Zange ihn immer noch zusammen. Da war aber nichts mehr vorhanden, nur die Nachwehen des Drucks hatten ihm dies vorgetäuscht. Bald atmete er auch wieder leichter und konnte sich allmählich erheben.
Da trat Mietje mit gezücktem Dolch durch die Außentüre ein: sie fand zum Glück keine Arbeit mehr für ihre Waffe. Hinter ihr tauchte Münchhausen pustend und schweißtriefend auf, so hastig war er emporgeklettert, um den Freunden auch seinerseits Beistand zu leisten.
„Nanu, da komme ich ja wohl zu spät,“ keuchte er: „Schade, schade, daß sich niemand in Lebensgefahr befindet, es wäre mir ein Vergnügen und eine Ehre gewesen, ihn zu retten.“
„Sie haben jetzt das Recht zu scherzen,“ sagte der Lord, „aber unserm heldenmütigen Freund, Heinz Friedung, ging es diesmal buchstäblich an den Kragen und um ein Haar, so wäre es um ihn geschehen gewesen.“
„Wahrhaftig! Sie sind ja ganz blau im Gesicht,“ wandte sich der Kapitän mit lebhafter Teilnahme an den Geretteten, „und Ihr Hals zeigt Strangulationsspuren. Wir müssen Ihnen schleunigst einen Grog brauen!“
Die Tierleichen wurden jetzt hinausgeworfen und möglichst alle die widerlichen Spuren des Kampfes entfernt; dann holte John die Zelte herein und auch die Affen trauten sich wieder in die Sannah und halfen beim Transport.
Die Kämpfer aber wuschen sich und zogen sich um, worauf im Zenithzimmer, fern vom Schlachtfeld, das Nachtmahl eingenommen wurde.
„Wir wollen eine andre Gegend des großen Planeten aufsuchen,“ schlug Flitmore andern Tags vor.
„Das ist ein guter Gedanke,“ sagte Schultze beifällig: „Ich sehe selber ein, die Tierwelt hier in den Tropen ist eklig und unangenehm, so hochinteressant sie auch erscheint. Wohl möglich, daß andre Breiten neue Wunder und weniger Schrecken offenbaren.“
Zunächst wurden noch reichlich Früchte, besonders Nüsse eingesammelt und in die Sannah verbracht, wußte man doch nicht, ob der nächste Landungsplatz ebenso fruchtbar sein würde.
Dann wurden einige leere Behälter mit dem Wasser des Bächleins gefüllt, das sich als herrliches und bekömmliches Trinkwasser erwiesen hatte. In Eimern wurde es an einem Flaschenzug emporgewunden.
Auch diese Vorsicht wurde geübt, weil man nicht voraussehen konnte, wie es mit den Trinkverhältnissen an anderm Orte bestellt sei.
„Hoffentlich entdecken wir auch die Saturnmenschen, das heißt vernünftige Wesen gleich uns,“ äußerte Mietje: „Ich kann mir doch nicht denken, daß ein so ungeheuer großer Weltkörper, der alle Lebensbedingungen für menschliche Wesen bietet, nicht auch von solchen bewohnt sein sollte!“
„Wenn diese Menschen wie die Pflanzen- und Tierwelt der Dichtigkeit des Planeten angepaßt sind,“ scherzte Münchhausen, „so müssen sie äußerst leichtfüßig sein, und dann besteht für uns die Gefahr, daß sie uns als „lästige Ausländer“ ausweisen.“
„Das würde wenigstens Ihnen drohen, Freund Hugo der Dicke,“ meinte Schultze: „Der lästigste Ausländer sind zweifellos Sie und die Saturniten könnten es mit Recht als eine schwere Bedrohung ihres leichten Planeten ansehen, wenn er mit so lästigen Lasten belastet wird.“
„Au!“ rief Münchhausen: „Solche Kalauer bringt doch nur ein geborener Berliner fertig. Ganz der Schultze aus dem Kladderadatsch!“
„Ernstlich geredet,“ begann der Professor wieder, „glaube ich nicht an die Saturniten, da wir bisher auch nicht die Spur von Menschenwerken entdeckten, auch die langen Winter und Sonnenfinsternisse den Aufenthalt dahier nicht besonders menschlich gestalten.“
„Ich neige zu Lady Flitmores Ansicht,“ widersprach ihm Heinz: „Die Menschen könnten ja eben diesen Verhältnissen angepaßt sein, vielleicht sind auch die langen Winter gar nicht besonders streng. Und was die menschlichen Spuren anbelangt, so ist ja die Saturnwelt so ungeheuer groß im Vergleich zu der Erde, daß es rein nichts besagen will, daß einzelne Gegenden sich als unbewohnt, vielleicht von den Saturniten noch unerforscht erweisen.“
„Es steht Ihnen natürlich frei, Ihre eigene Ansicht hierüber zu haben,“ entgegnete Schultze: „Aber mit was wollen Sie dieselbe begründen? Eine unbegründete Theorie schwebt in der Luft.“
„O, ich begründe sie genau wie unsre Lady. Darin sind wir ja doch alle einig, daß diese Wunderwelten mit ihren Pflanzen und lebenden Wesen nur durch den Willen eines persönlichen und vernünftigen Schöpfers hervorgerufen worden sein können?“
„Natürlich! Darüber ist kein Wort zu verlieren,“ ereiferte sich Schultze. „Daß unpersönliche Kräfte Persönlichkeiten hervorzauberten und die vernünftige Weltordnung das zufällige Erzeugnis der Vernunftlosigkeit ist, solchen Blödsinn zu glauben wollen wir dem Halbgebildeten und Denkschwachen überlassen.“
„Also!“ fuhr Heinz fort: „Ein persönlicher, vernünftiger Schöpfer wird nichts ohne Zweck und Bestimmung schaffen. Der Mars zum Beispiel war von menschenähnlichen Wesen bewohnt; er scheint seine Bestimmung vorerst erfüllt zu haben, um auszusterben, vielleicht nur, damit er in späteren Zeiten unter günstigeren Lebensbedingungen einem neuen Geschlecht eine Wohnstätte biete. Der Saturn, der fast 3000mal so groß ist wie der Mars und vernünftigen Wesen weit bessere Lebensbedingungen zu bieten scheint, kann doch unmöglich bloß als Aufenthalt der Rieseninsekten vom Schöpfer gedacht worden sein?“
„Bravo! So meinte ich’s,“ spendete Mietje ihren Beifall.
„Erlauben Sie mir, beiden Parteien recht zu geben,“ mischte sich der Lord in den Streit: „Nordamerika war Jahrtausende lang sehr dünn bevölkert und wies ungeheure unbewohnte Länderstrecken auf, die den Menschen doch ausgezeichnete Lebensbedingungen boten; heute hat es eine sehr dichte Bevölkerung, und das war jedenfalls seine Bestimmung. Dieselbe Bestimmung dürfen wir für Kanada annehmen, das sich erst in unsern Tagen etwas mehr zu bevölkern beginnt; desgleichen weist Südamerika noch die herrlichsten Besiedelungsflächen auf, die zur Zeit völlig oder doch beinahe menschenleer sind.“
„Daraus sehen wir nur,“ fiel Mietje ein, „daß die Bestimmung der bewohnbaren Länder sich erst im Laufe der Zeiten erfüllt.“
„Ganz richtig, meine Liebe! Wenn ihr also mit Recht sagt, Saturn ist für menschenähnliche Wesen bewohnbar und ist also offenbar für solche bestimmt, so könnt ihr daraus noch lange nicht folgern, daß er zur Zeit auch schon seine Bestimmung erfüllt, das heißt, daß jetzt solche Wesen auf ihm leben müssen. Er kann eine Welt sein, die für spätere Besiedelung vorbehalten ist. Vielleicht werden bald seine Ringe vollends in Trümmer gehen und auf seine Oberfläche herabstürzen, so daß einmal die leidigen Sonnenfinsternisse ein Ende haben. Vielleicht wird dadurch auch seine Umlaufszeit beschleunigt; dann hindert nichts, daß er von der Erde aus bevölkert wird, nachdem nun die Mittel gefunden sind, binnen weniger Tage ihn zu erreichen.“
„Dagegen ist nichts einzuwenden,“ meinte Schultze. „Aber, werter Lord, da wir nun zur Abfahrt bereit sind, um eine andre Gegend des Saturn zu besuchen, bitte ich, diesmal mir den Beobachtungsposten anzuweisen. Ich werde mich bemühen, den meistversprechenden Landungsplatz auszuwählen.“
„Halt, halt, Professorchen!“ warnte Münchhausen: „das halten Sie nicht aus. Ich sage Ihnen, da werden Sie zwischen Plafond und Hängematte hin- und hergeworfen, daß Ihnen alle Knochen mürbe werden, da Sie mit keinem so ausgepolsterten, federnden Leib gesegnet sind, wie ich. Sie sind eine Landratte und werden jämmerlich seekrank, das dürfen Sie mir glauben.“
„Ach was, Landratte! Glauben Sie denn, ich könne keine schaukelnde Bewegung vertragen? Bin ich etwa zu Lande nach Amerika, Afrika, Asien und Australien gereist?“
„Na! probieren Sie’s; aber Sie werden noch an mich denken!“
So begab sich der Professor in die Hängematte des Antipodenzimmers und gab das Zeichen zur Abfahrt, worauf er alsbald aus dem Netze flog und mit der Nase auf das Fenster zu liegen kam. Bei jedem Zeichen, das er gab, wechselte er seine Lage zwischen Matte und Zimmerdecke; aber mannhaft ertrug er das Ballspiel, das die Sannah mit seinem Körper aufführte, und fand die jedesmalige Veränderung der Perspektive hochinteressant.
Aber, was war das? Plötzlich verschwand der Saturn wie ein Blitz unter ihm und war nirgends mehr zu sehen!
Schultze rieb sich die Augen, er strengte seine ganze Sehkraft an: entzog ihm nur der plötzliche Einbruch der Nacht den Anblick des Planeten? Aber die Sannah hatte sich ja beim Aufstieg auf der Tagesseite, zwischen der Sonne und der Saturnbahn befunden: so lange die Fliehkraft eingeschaltet war, mußte der Planet dem Weltschiff stets die sonnbeschienene Seite zukehren, weil er sich unter ihm drehte, ohne daß es an seiner Rotation teilnahm.
Bei ständig geschlossenem Strom hätte es immerhin einige Stunden dauern müssen, bis die Nacht eingetreten wäre.
Das also konnte es nicht sein, und doch war weit und breit nichts zu sehen als der dunkle Weltraum; die Sonne leuchtete ja der Sannah auf der andern Seite, im Antipodenzimmer herrschte tiefste Nacht.
So verblüfft war der Professor durch dieses völlig unerwartete und unerklärliche Ereignis, daß er lange Zeit nur seine Augen und sein Gehirn anstrengte, ohne weder etwas sehen zu können, noch des Rätsels Lösung zu finden.
Endlich fiel ihm ein, daß das Vernünftigste wäre, rasch den Strom unterbrechen zu lassen, damit die Sannah durch die Wirkung der Anziehungskraft womöglich dem verschollenen Gestirn wieder nahe komme.
Er gab das entsprechende Zeichen mehrmals: ganz umsonst! Ruhig blieb er im Netze liegen, der Schwerpunkt der Sannah blieb unverändert im Mittelpunkt des Fahrzeugs.
Da mußte etwas nicht in Ordnung sein, vielleicht gelang es dem Lord nicht, die Fliehkraft abzustellen.
„Was ist denn los dort unten?“ fragte jetzt Flitmores Stimme durch das Telephon.
„Ich möchte fragen, was dort oben los ist?“ frug Schultze zurück: „Der Saturn ist verschwunden, völlig weg! Warum unterbrechen Sie den Strom nicht?“
„Er ist unterbrochen! Ich stellte ihn ab, gleich bei Ihrem ersten Zeichen.“
„Dann funktioniert Ihr Schaltungsapparat nicht mehr!“
„Doch! Er ist völlig in Ordnung. Da muß etwas andres im Spiele sein; kommen Sie nur herauf.“
Kopfschüttelnd stieg der Professor aus der Hängematte und begab sich, zuerst absteigend, dann vom Zentrum an aufsteigend, in das Zenithzimmer.
Die Sannah im Kometenschweif.
Hier hatten die Reisenden gleich seit Beginn der Abfahrt ein ganz einzigartiges Schauspiel genossen: trotz des blendenden Sonnenscheins stand der Komet strahlend am Tageshimmel und bot als ein ungeheurer Schweifstern einen entzückenden Anblick.
Flitmore hatte vorgeschlagen, dem Kometen einen Namen zu geben.
„Die Astronomen auf Erden haben ihn ja zweifellos schon benannt,“ sagte er, „aber wir wissen nicht wie und haben vorerst das Recht, ihm zu unserm Hausgebrauch einen Privatnamen zu geben.“
Man kam überein, daß er „Amina“ heißen solle, zu Ehren einer treuen Somalinegerin, mit der man in Afrika so mannigfache Abenteuer bestanden hatte.
Merkwürdigerweise schien der Komet immer näher zu kommen und die Sonne immer ferner zu rücken. Einige leuchtende Körper, gleich Planetoiden, sausten an der Sannah vorbei.
Inzwischen gab Schultze wieder einmal ein Zeichen; Flitmore stellte den Zentrifugalstrom ab. Bald darauf aber ertönte das gleiche Zeichen wiederholt.
„Der Professor kennt sich nicht mehr aus mit den Zeichen,“ lachte Münchhausen.
Und nun kam es zu dem Telephongespräch, infolge dessen Schultze sich hinaufbegab.
Als er eingetreten war, wurden seine auffallenden Beobachtungen lebhaft besprochen, ohne daß man jedoch eine Erklärung fand.
„Nehmen wir unser Mittagsmahl ein!“ schlug Münchhausen vor: „Ein ordentliches Essen schärft den Verstand.“
Der Professor beobachtete vor und während der Mahlzeit den merkwürdigen Kometen; dann begab sich Heinz ins Antipodenzimmer und berichtete durchs Telephon, daß vom Saturn nichts zu sehen und alles in Dunkel gehüllt sei.
„Ich hab’s!“ rief Schultze: „Wir stecken mitten im Kometenschweif und werden mit ihm fortgerissen, und zwar mit einer Geschwindigkeit, die alle menschliche Fassungskraft übersteigt.“
„Hollah!“ rief Flitmore: „Sie mögen recht haben! Beeilen wir uns, die Fliehkraft wieder einzuschalten, daß wir nicht gar auf den Kern der Amina stürzen.“
Und alsbald schloß er den Strom.
Aber die Wirkung war eine völlig unerklärliche: Die Sannah schien sich dem Kopf des Kometen noch beträchtlich zu nähern; dann blieb sie scheinbar unbeweglich an einem Fleck.
Dies konnte man daraus schließen, daß einige Meteorstücke, die sich nun ganz in ihrer Nähe befanden, stets die gleiche Entfernung von ihr beibehielten.
„Dieser scheinbare Stillstand,“ erklärte der Professor, „beweist lediglich, daß wir samt jenen Meteoriten, die einen Bestandteil des Kometenschweifes bilden, unaufhaltsam im Schweife der Amina mit fortgerissen werden.“
Der Lord machte noch einige Versuche mit Ein- und Ausschalten des Stroms, aber diese hatten nur geringe Lageveränderungen der Sannah zur Folge: Der Komet schien sie an einem unsichtbaren Faden festzuhalten.
Trotz der genauesten Untersuchung war nichts zu entdecken, das darauf hätte schließen lassen, daß die Fliehkraft irgendwie nicht mehr richtig in Tätigkeit war.
Niemand wußte Rat, niemand fand eine Erklärung.
Schließlich ließ Flitmore den Strom endgültig eingeschaltet, als sicherstes Mittel, einen Zusammenstoß zu vermeiden und vielleicht, nach Überwindung des rätselhaften Widerstands, vom Kometen loszukommen.
„Die Sannah wird vom Kometen regelrecht entführt, daran ist nicht zu zweifeln!“ sagte er. „Ergeben wir uns in unser Schicksal, bis vielleicht einem von uns eine Erleuchtung kommt oder ein ebenso unbekannter Umstand uns aus der fatalen Lage befreit.“
Die Sannah vollendete ihre Rotation und im Zenithzimmer ward es Nacht.
Nachdem die Wachen verteilt waren, begab man sich mit gemischten Gefühlen zur Ruhe.
Andern Tags kreuzte der Komet Amina, mit der Sannah in seinem Gefolge, die Bahn des Planeten Uranus, der am 13. März 1781 von Herschel entdeckt wurde.
„Uranus ist etwa doppelt so weit von der Sonne entfernt, wie Saturn,“ belehrte Schultze, „nämlich zirka 2850 Millionen Kilometer. Er ist 90mal so groß wie unsere Erde und wird von der Sonne nur schwach erleuchtet und erwärmt, da er 400mal weniger Sonnenlicht empfängt als die Erde, was aber immerhin noch 1500 Vollmonden gleichkommt. Er erscheint gleichförmig und düster und ist wahrscheinlich heißflüssig und daher etwas selbstleuchtend. Seine Dichte ist nahezu die des Wassers und die Schwerkraft beträgt auf ihm ein Zehntel weniger als auf unserm irdischen Planeten.
Er besitzt vier äußerst kleine, lichtschwache Monde mit rückläufiger Bewegung, das heißt, sie drehen sich um ihn von Westen nach Osten. Die Sonne erscheint ihm 360mal kleiner als der Erde.
Sein Äquator scheint nahezu senkrecht zu seiner Bahnebene zu stehen, so daß die Pole in der Bahnebene selber liegen und jeder Punkt auf diesem Weltkörper das gleiche Klima besäße; allerdings ein Klima, das auch auf jedem Punkte den außerordentlichsten Schwankungen unterliegt, denn der längste Tag dauert bei 5 Grad Breite 21/3 Erdenjahre und bei 90 Grad gar 49 Erdenjahre!“
Die Sannah kam dem Uranus ziemlich nahe, aber vergebens hoffte Flitmore, bei Abstellung der Zentrifugalkraft durch die Anziehungskraft des Planeten von der Amina losgerissen zu werden: der Kometenschweif riß das Weltschiff unentwegt mit sich fort.
Doch konnte Schultze wenigstens einige neue Entdeckungen machen: er fand einen Mond des Uranus, und zwar den von Herschel 1787 entdeckten Oberon, mit einem Ring umgeben, ähnlich dem Saturn, eine völlige Neuheit auf astronomischem Gebiete; ferner entdeckte er zwei weitere, sehr kleine dunkle Monde, deren einer zwischen Oberon und Titania, der andre zwischen Ariel und Umbriel kreiste, den zwei innersten Monden, die Lassell 1846 entdeckt hatte.
Nach weiteren zwanzig Stunden schnitt der Komet bereits die Neptunbahn.
„Neptun,“ erläuterte der unermüdliche Professor, „ist weiter von der Sonne entfernt als Saturn und Uranus zusammengenommen, nämlich an die 4470 Millionen Kilometer.
Galle in Berlin entdeckte diesen äußersten Planeten unsres Sonnensystems nach den Berechnungen, die sich aus den Störungen der Uranusbahn ergaben, und die Adams und Leverrier angestellt hatten. Die Entdeckung Neptuns machte dem Bodeschen Gesetz von dem Verhältnis der Planetenentfernungen entgültig ein Ende, obgleich es durch die Entdeckung der Planetoiden so schön bestätigt worden war. Es half nun alles nichts: es stimmte einfach nicht mit der Entfernung des neuen Planeten.
Neptun scheint nur einen Mond zu besitzen, hat anderthalbfache Wasserdichte und ist von einer wolkigen Atmosphäre umgeben. Er empfängt tausendmal weniger Sonnenlicht als die Erde, dafür ist sein Mond, der sich rückläufig bewegt, größer und heller als die Uranusmonde; er umläuft den Neptun in 5 Tagen, 21 Stunden und 4 Minuten. Der Planet selber soll sich in heißflüssigem Zustande befinden.“
Dem Neptun kam die Sannah nicht so nahe, wie dem Uranus; dennnoch konnten drei weitere kleine Monde entdeckt werden, von denen zwei sogar rechtläufig waren: eine neue Gesetzwidrigkeit!
„Mit Neptun hört unser Sonnensystem auf und auch in 10000facher Entfernung ist nichts mehr vorhanden als der leere Weltraum, den nur Kometen und Meteoriten noch durchkreuzen.“
So lautete Schultzes Schlußbehauptung; aber er hatte sich geirrt: in anderthalbfacher Neptunentfernung von der Sonne fand sich eine zehnte Planetenbahn und die Weltreisenden sichteten einen dunklen Planeten, der wenig größer als die Erde sein mochte und der eine starke Libration aufwies.
Getreu der Sitte, die Planeten des Sonnensystems mit römischen Götternamen zu bezeichnen, nannte Flitmore das neue Gestirn „Vulkan“, und zwar „wegen seines hinkenden Gangs“, wie er sich ausdrückte.
Leider konnte der Planet wegen seiner Entfernung und der rasenden Geschwindigkeit, mit welcher der Kometenschweif die Sannah mit sich fortriß, nicht näher untersucht werden.
Die Sannah kreiste in unendlicher Finsternis; die Sonne stand nur noch als kleiner Stern am Himmel, ihre Planeten waren mit dem bloßen Auge nicht mehr sichtbar.
Der Komet allein verbreitete Licht und erhellte die ihm jeweils zugekehrte Seite des Weltschiffs. Seinen Schweif hatte er bald nach Verlassen des Sonnensystems mehr und mehr wieder an sich gezogen, und mit ihm die Sannah, die ihn nun als Trabant in geringer Entfernung umkreiste, und von seinem gewaltigen Kerne außer dem Licht auch mäßige Wärme empfing.
„Je weiter sich ein Komet von der Sonne entfernt, desto geringer wird seine Geschwindigkeit,“ begann Schultze eines Tages. „Das ist die Regel, die ich anfangs auch für die Amina bestätigt fand. Inzwischen ist aber die Geschwindigkeit unsres Kometen wieder so rasend gewachsen, daß sie alle Begriffe übersteigt und die des Lichts weit übertrifft.“
„Bedenken wir, daß die Nägel an unsern Händen und Füßen nur ein Tausendmillionenstel Millimeter in der Sekunde wachsen, während in der gleichen Zeit eine Schnecke 15 Tausendstel Millimeter zurückzulegen pflegt, ein Fußgänger gar 11/10 Meter, so sehen wir, daß ein Mensch im Verhältnis zum Wachstum seiner Nägel viel rascher vorwärtskommt als unser Komet im Verhältnis zu einem gewöhnlichen Fußgänger,“ bemerkte Flitmore lachend.
„Überhaupt, was ist Geschwindigkeit?“ fragte Münchhausen. „Alles ist nur verhältnismäßig; ein Floh übertrifft an Behendigkeit die Schnecke wie die Schwalbe den Kapitän Hugo von Münchhausen.“
„Da haben Sie recht!“ stimmte der Professor lachend zu. „Eins übertrifft das andre, so ist es auch in der geflügelten Welt: Der Geier legt in der Sekunde 15 Meter zurück, die Wachtel 17, die Brieftaube 27, der Adler 31, die Fliege 53, die Schwalbe 67, die Seglerschwalbe gar 89 Meter. Die Elektrizität durchläuft den Kabeldraht mit einer Eile von 4000 Kilometern pro Sekunde, der Voltastrom leistet das Dreifache und in einer oberirdischen Telegraphenleitung erreicht die Elektrizität gar die Geschwindigkeit von 36000 Sekundenkilometern. Das Licht pflanzt sich im Wasser mit 22500 Kilometern Sekundengeschwindigkeit fort, in der Luft mit 100000 und im Weltraum mit 300000 Kilometern. Und doch braucht es vom nächsten Fixstern bis zur Erde 4½ Jahre.
Nun schätze ich jedoch, daß unser Komet etwa das 50fache der Lichtgeschwindigkeit erreicht, so daß er uns innerhalb fünf Wochen in die Fixsternwelt tragen würde! Was bedeutet dagegen der sogenannte Ausreißerstern mit seinen 300 und der große Stern im Arktur mit seinen 4-500 Sekundenkilometern?“
„Wenn uns nur die Luft solange vorhält,“ meinte Mietje bedenklich.
„Wenn es richtig ist, was der Professor ausrechnet, daß wir in fünf Wochen, oder sagen wir auch in zehn, zu den Fixsternen gelangen, so wird, wenn keine besonderen Umstände eintreten, unser Sauerstoffvorrat reichen,“ beruhigte sie der Lord. „Wenn wir dann nur vom Kometen loskommen und auf einem wohnlichen Stern mit gesunder Luft zu landen vermögen.“
„Hurrah! Es geht zu den Fixsternen!“ rief Heinz begeistert. „Das hätte ich mir doch nie träumen lassen.“
„Ja, wir reisen in Gottes Wunderwelt,“ bemerkte Flitmore nachdenklich. „Nun denn! Hat uns nicht der Schöpfer seinen Boten aus der Unendlichkeit gesandt, uns in’s Schlepptau zu nehmen? Vertrauen wir ihm, daß er uns behütet auf einer Fahrt, wie sie noch kein menschliches Wesen gemacht oder auch nur für denkbar gehalten hat.“
Schultze entnahm dem Bücherschrank einen dicken Band und sagte:
„Hier haben Sie ein Werk, edler Lord, das uns wenig Vertrauen zu unsrer Reise machen dürfte, falls sein Verfasser recht behielte.“
Flitmore warf einen Blick auf das Buch und zuckte die Achseln: „Die Weltmaschine von Karl Snyder, ja, ja! Das ist so einer von den kleinen Geistern mit engbeschränktem Horizont, die da glauben, mit ihrem Gehirnchen das Weltall zu umfassen. Ich denke aber, wir wollen unser Vertrauen doch lieber auf Gott setzen und nicht auf Herrn Karl Snyder.“
„Was behauptet denn dieser Mann der Wissenschaft?“ fragte Münchhausen neugierig.
„Einen Mann der Wissenschaft wollen wir ihn doch lieber nicht nennen,“ meinte Schultze lachend: „Er schreibt zwar mit gewaltigem Pathos über die Wissenschaft und prahlt mit ihr, schwebt aber selber doch zu sehr im Nebel seiner Phantasien, als daß er einen festen wissenschaftlichen Boden für seine Füße gewänne. Mit einem Wort, er urteilt aus materialistischer Voreingenommenheit heraus; es steht ihm von vornherein fest, daß es keinen Schöpfer gibt und die göttliche Offenbarung Fabel sei, und so versetzt er dem Christenglauben ohne irgendwelchen Anlaß und vollends ohne irgendwelche stichhaltige Begründung Fußtritt auf Fußtritt, wie ein ungezogener Knabe.“
„Erlauben Sie,“ unterbrach der Lord den Sprechenden und nahm ihm das Buch aus der Hand. „Ich will Ihnen so eine bei den Haaren herbeigezogene Bemerkung vorlesen, die das von unserm Professor Gesagte gut illustriert.“
Er blätterte ein wenig und las dann: „Einen Schritt weiter und die Entdeckungen Galileis, vielleicht auch Keplers und Newtons, konnten vollendet sein, bevor die römische Herrschaft ihr Pflaster auf hellenische Kultur gesetzt und bevor das Evangelium eines rächenden Jehova die Grenzen des kleinen Ländchens Palästina überschritten hat, um Gotteslästerung mit der Wahrheit zu treiben.“
„Bemerken Sie“, sagte Schultze, „daß diese plumpe Bemerkung, wie unser Lord richtig sagte, bei den Haaren herbeigezogen ist: sie hat ja mit den Entdeckungen, von denen die Rede ist, rein nichts zu tun.“
„Jedenfalls zeugt sie entweder von grober Unwissenheit oder von einer Böswilligkeit, die sich um Wahrhaftigkeit rein nicht kümmert“, äußerte Mietje in tiefster Entrüstung: „denn ein Evangelium eines rächenden Jehova ist ja einfach Unsinn; das Evangelium verkündigt die Liebe und Barmherzigkeit eines himmlischen Vaters.“
„Mit Logik und Wahrheit“, sagte Flitmore, „gibt sich der Materialismus nicht ab, da wird alles, was von Fanatikern wider den christlichen Geist der Liebe, wie ihn das Evangelium allein verkündigt, gesündigt wurde, ohne weiteres der christlichen Religion selber in die Schuhe geschoben. Da! Auf Seite 146 wird das Christentum ein ‚verächtlicher, grundloser Aberglaube‘ geheißen, der ‚an Stelle der Kultur der Schönheit und Aufklärung getreten‘ sei. Und gleich auf der nächsten Seite: ‚Nero und die Scheusale in Purpur gingen St. Augustin und den andern Kirchenvätern voran. Das kaiserliche Rom war der Halbschatten, das christliche der Kernschatten‘.“
„Folgerichtigkeit und Vernunft darf man von materialistischer Voreingenommenheit nicht erwarten,“ hub Schultze wieder an. „Es ist ja schön, wie begeistert Snyder die Genies der astronomischen Wissenschaft lobt, namentlich Aristarch und Galilei. Etwas prahlerisch redet er davon, wie herrlich weit die Wissenschaft es gebracht habe und nennt den Menschengeist das wahre Weltwunder. Dem gegenüber klingt es dann geradezu lächerlich, wenn er plötzlich die Saiten umstimmt und der Menschheit mit komischer Salbung predigt, sie solle nicht im Wahne leben, als ob sie irgend etwas sei oder irgend eine Bedeutung habe!“
„Hören Sie weiter,“ sagte der Lord. „Vom mosaischen System der Schöpfung sagt Snyder: ‚Letzteres erhielt sich unter den Völkern Europas nach dem Niedergange der hellenischen Wissenschaft bis zu den letzten Jahren des 17. Jahrhunderts. Nach dem Zeitalter Cassinis und Newtons vermochte es nicht länger mehr einen vernünftigen Geist zu befriedigen‘.“
„Das ist nicht mehr bloß Dummheit, das ist schon mehr freche Lüge,“ polterte Münchhausen entrüstet.
„Vergessen Sie nicht,“ berichtigte Schultze, „daß ein Materialist nur solchen Geistern die Ehre antut, sie vernünftig zu heißen, die sich ebenso wie er vom mechanistischen Aberglauben blenden lassen.“
„Nun,“ meinte Heinz, „ich kann diese Stelle bei Snyder nicht gar so schroff ablehnen; überhaupt empfiehlt es sich wohl, sich in seinen Ausdrücken etwas zu mäßigen, um nicht auf die gleiche Bildungsstufe herabzusteigen, wie diese Menschenkinder. Aber ist es nicht richtig, daß der mosaische Schöpfungsbericht mit den Jahrmillionen nicht vereinbar ist, die von den Geologen für die Entwicklung unsrer Erde ausgerechnet werden?“
„Sehen wir klar, junger Freund!“ mahnte der Lord: „Zunächst berichtet das erste Kapitel der Bibel nicht über die Weltschöpfung. Himmel und Erde sind bereits vor Äonen erschaffen und die Erde war wüste und leer. Hier setzt der Bericht ein mit der Schöpfung von Licht und Leben lediglich in Bezug auf die Erde. Wir wollen nun nicht die Frage aufwerfen, ob die Erde ursprünglich ganz andre Rotationsverhältnisse hatte oder wie sonst die mosaischen Tage sich deuten lassen; auf den Buchstaben kommt es wohl keinem von uns an. Aber da hören Sie, was Dr. Klein in seinen ‚Kosmologischen Briefen‘ sagt.“
Hiebei nahm er ein Büchlein aus dem Regal, aus dem er folgende Stelle vorlas: „Bekanntlich fehlt den Geologen bezüglich der von ihnen in der Erdentwicklung unterschiedenen Perioden so gut wie jeder chronologische Maßstab.“
„Das stimmt,“ fiel der Professor ein; „die Jahrmillionen sind bei Licht besehen ein Schwindel, das heißt alle diesbezüglichen Berechnungen beruhen auf völlig unsichern Voraussetzungen. Wenn man solche Zeiträume nicht zu brauchen glaubte, um die Entwicklungslehre einigermaßen annehmbar zu machen, so hätte man diese Zahlen nie erfunden. Es ist allerdings auch nur eine für den Denkenden durchsichtige Täuschung, wenn man meint, die Entwicklung des Menschen aus der Urzelle dadurch verständlicher zu machen, daß man sie auf viele Millionen Jahre verteilt. Die rasche Verwandlung einer Raupe in einen Schmetterling oder die ganz plötzliche Verwandlung eines Explosionstoffs in flüchtige Gase wären auch nicht verständlicher, wenn sie erst auf langsamem Wege durch Jahrmillionen erfolgten.“
„Ganz richtig“, sagte Flitmore: „Dies sind nun zwar keine Verwandlungen in ganz andre Arten, aber ob eine Verwandlung sich in einer Sekunde oder im Laufe von Äonen vollzieht, ist für den klaren Verstand völlig einerlei; die scheinbare Beseitigung des Unerklärlichen durch die noch dazu unbewiesene Erfindung ungeheurer Zeiträume ist nur eine Eselsbrücke zur Befriedigung derer, die nicht weit denken können.“
„Wie es aber mit den Jahrmillionen steht,“ sagte Schultze wieder, „beweist Ihnen am besten, daß man für die Entstehung der Steinkohle frischweg etliche Millionen Jahre ansetzte, ebenso für die der Diamanten; nun hat man entdeckt, daß im Sumpf versinkende Wälder sich binnen weniger Monate in echte Steinkohle verwandeln und daß für die Erzeugung von Diamanten der Bruchteil einer Sekunde genügt: da haben wir die berühmten Jahrmillionen, sie sind eine Phantasie, die zufällig stimmen kann, wahrscheinlich aber durchaus nicht stimmt.“
„Hören Sie nur weiter,“ sagte der Lord, „es kommt noch schöner: ‚Der Begriff eines Schöpfers war einfach — vielleicht im Dunkel der anfänglichen Unwissenheit denkbar. Das ist nicht mehr länger richtig. Unser modernes Wissen hat die Grenzen der Welt ins Unermeßliche gedehnt; es hat uns die unmeßbar lange Dauer der Zeit enthüllt‘.“
Nun mußten doch alle lachen: die Naivität dieser Behauptungen war ja gar zu köstlich!
„Also die Begriffe von Ewigkeit und Unendlichkeit sollen wir erst dem modernen Wissen verdanken?“ sagte Münchhausen: „Und sie sollen gar den Begriff eines Schöpfers undenkbar machen? O heilige Einfalt!“
Mietje schüttelte den Kopf: „Solche Verirrungen des menschlichen Geistes begreife ich einfach nicht,“ meinte sie. „Der Schöpferglaube war von jeher mit den Begriffen von Ewigkeit und Unendlichkeit verknüpft, und wenn die Wissenschaft Ewigkeit und Unendlichkeit zugeben muß, so stützt sie damit am allerbesten den Schöpferglauben. Muß man nicht den eigenen Verstand absichtlich totschlagen, um imstande zu sein, aus solchen Erkenntnissen gerade das Gegenteil von dem zu folgern, was sie einem vernünftigerweise nahelegen würden?“
„Werte Lady,“ lachte Schultze, „es gibt Ansichten, gegen welche Götter selbst vergebens kämpfen und die gerade der großen Menge derer, die nicht alle werden, am meisten imponieren.“
Flitmore aber fuhr fort mit Vorlesung folgender Stelle: „Das Fernrohr hat uns die Planlosigkeit des Weltalls enthüllt; der Kosmos scheint kein Woher und kein Wohin zu kennen.“
Jetzt fuhr aber der Professor auf: „Nein! Da hört sich doch aber alle Wissenschaft auf! Das ist starker Tabak! Der Plan, dessen unendliche Erhabenheit ein besonders schwächliches Menschenhirnlein nicht verstehen kann, wird in eitlem Hochmutswahn „Planlosigkeit“ genannt? Na! Das ist doch gottlob nur ein Vereinzelter! Die gescheiten Geister, namentlich auch unter den Astronomen, hören nicht auf, die Großartigkeit der Weltordnung zu bewundern.“
„Da haben Sie wieder recht,“ bestätigte der Lord und schlug wieder Dr. Kleins Kosmologische Briefe auf. „Hier heißt es zum Beispiel: ‚Trotz dieser Einseitigkeit aber, (nämlich der Mittel des menschlichen Forschens), erkennen wir, daß die Anordnung der Welt so ist, als wenn sie von einer höchsten Intelligenz, die zugleich über ein unermeßliches Schaffensvermögen gebot, getroffen worden sei. Auch haben die größten Forscher aller Zeiten, die Begründer unsrer heutigen Naturwissenschaft, das Vorhandensein einer solchen Intelligenz angenommen. Die Existenz derselben folgt ebenso unzweifelhaft und notwendig aus dem ganzen Komplexe der Naturerscheinungen, wie das Vorhandensein einer anziehenden Kraft in der Sonne aus der Bewegung der Planeten um dieselbe in geschlossenen Bahnen‘.“
„Und Camille Flammarion,“ fuhr Flitmore fort, ein anderes Büchlein aufschlagend, „sagt in seiner ‚Urania‘: ‚Was ist das für eine sonderbare Eitelkeit, für eine einfältige Anmaßung, uns einzubilden, die Wissenschaft habe ihr letztes Wort gesprochen! ... Die Materie ist nicht, was sie scheint, und kein über die Fortschritte der positiven Wissenschaften unterrichteter Mensch könnte sich heute noch für einen Materialisten ausgeben‘.“
„Bravo!“ rief Schultze: „Nur sind leider die Ununterrichteten und Halbgebildeten, die sich aber selber für hochgebildet halten, in der Mehrzahl, und darum macht der Aberglaube so große Fortschritte in unserer Zeit, wie die Monistenbünde beweisen.“
„Pah!“ sagte Heinz: „Der Wille ist alles: diese Leute wollen der Vernunft nicht glauben, weil sie ihren Trieben unbequem ist, sie wollen lieber den Widersinn glauben, und nur darum machen sie die Augen zu vor der Wahrheit und nennen den Wahn Vernunft.“
„Das mag stimmen,“ gab der Professor zu, „zweifellos aber wird die Gottesleugnung stets der sicherste Beweis einer geringen Intelligenz sein.“
Nun nahm John das Wort, der bisher aufmerksam zugehört hatte: „Also meinen die Herrschaften sozusagen alle, es sei gebildet an die Bibel zu glauben? Ich dachte immer, es sei unter den heutzutägigen Verhältnissen gebildeter, an keinen Gott mehr zu glauben, wie man so oft hört; aber so ganz im Innersten war es mir immer doch so, als wenn dann etwas fehlen müßte, die Hauptsache um zu verstehen, daß etwas da ist und daß etwas sein und geschehen kann; und dann sah ich ja auch, daß meine gnädigste Herrschaft so fromm sind und doch gebildet und vernünftig.“
„Ja, mein Sohn, die Sache ist so: wenn du an keinen Gott glaubst, so werden dir die meisten Leute sagen, du seist sehr vernünftig und hochgebildet; denn die Halbgebildeten sind, wie gesagt, stets in der großen Mehrzahl. Hältst du aber fest am Schöpferglauben, so wird dich diese Mehrzahl verhöhnen, aber die wirklich Gescheiten werden dich für vernünftig und gebildet halten und du wirst es auch sein.“
„Dann will ich doch lieber glauben, wie Sie!“ erklärte der gute Mann.
Inzwischen sauste die Sannah weiter durch den Raum und es war kein Ende abzusehen.
Um die elektrische Heizung und Beleuchtung zu ermöglichen, sowie zur Entwicklung der Fliehkraft, mußte der elektrische Akkumulator täglich zweimal frisch geladen werden.
Dies besorgten die Affen so pünktlich und mit so viel Eifer, daß der Lord sie ohne jede Aufsicht die Arbeit ausführen lassen konnte, die den Tieren das reinste Vergnügen war.
Allerdings hatte Flitmore die elektrische Krafterzeugungsanlage auch genial eingerichtet: er hatte zwei große zylinderförmige Käfige herstellen lassen, wie diejenigen, die man in kleinerer Ausführung gefangenen Eichhörnchen zur Verfügung zu stellen pflegt. Wenn dann die Eichhörnchen an den Stäben emporspringen, dreht sich die Käfigwalze um ihre Axe und die kleinen Tiere sind unermüdlich in ihrer Beweglichkeit, mit der sie das Gitter in rasche Drehbewegung versetzen.
Genau so war es den Schimpansen offensichtlich der höchste Genuß, sich in ihren Drehkäfigen zu tummeln, ohne daß sie ahnten, daß sie damit eine verdienstvolle Arbeit verrichteten; denn die sinnreiche Konstruktion verwendete die rasche Rotation der Käfige zur Erzeugung elektrischer Energie, die im Akkumulator sich aufspeicherte.
Eines Tages erschollen aus dem Musikzimmer wunderbare Töne, eigentlich gräßliche Mißakkorde, wie wenn ein unmündiges Kind auf einem Klavier herumhämmert, und doch entwickelte der Missetäter eine derartige Fingergewandtheit, daß man auf einen geübten Pianisten hätte schließen mögen, den eine tolle Laune oder plötzlich eingetretener Wahnsinn zu solchen Orgien veranlaßte.
Unsre Freunde waren im Zenithzimmer versammelt bis auf den Diener, der einen Rundgang zu machen hatte; sie waren in Bücher vertieft oder beschäftigten sich mit ihren Gedanken. Bei dieser Katzenmusik aber horchten alle auf.
„Sollte sich John auf dem Flügel üben wollen?“ rief Mietje: „So hübsch er Flöte spielt, so fremd ist ihm die Klaviatur; aber wie er ohne alle Kenntnis solche Griffe unternehmen kann, wobei ihm doch die Mißklänge die eigenen musikalischen Ohren zerreißen müssen, ist mir ein Rätsel.“
„Du irrst, meine Liebe,“ sagte der Lord, „John ist niemals so keck, daß er das Instrument berühren würde; du weißt, er hat sich noch nie eine ungebührliche Freiheit herausgenommen; darin ist er äußerst bescheiden, beinahe zu ängstlich.“
„Das ist Geisterspuck,“ sagte Münchhausen dumpf, „denn im Musikzimmer ist es just Mitternacht.“
„Horch! Da schrillt ja gar die Posaune dazwischen! Es ist ein Duett,“ bemerkte Heinz.
„Unbegreiflich!“ murmelte der Lord.
„Na! Sehen wir nach,“ meinte Schultze, begierig auf die Lösung des Rätsels.
„Ach! Wollten Sie nicht lieber zuvor einige scharfsinnige Hypothesen aufstellen, die geeignet wären, dieses Phänomen wissenschaftlich zu erklären, bestes Professorchen,“ bat Münchhausen ironisch.
„Damit Sie mich nachher wieder auslachen können mit meiner Wissenschaft, oller Spötter? Nee, das gibt’s nicht! Ich selber stelle den Augenschein über alle theoretischen Erklärungsversuche.“
„Na, denn man zu!“ rief der Kapitän und ging voran, während alle ihm folgten.
Jetzt erscholl ein wahrer Höllenlärm aus dem Musiksaal.
„Da spielt einer mindestens sechshändig!“ lachte Heinz.
„Nein! Und die Posaune! Das sind ja unerhörte Töne!“ rief die Lady und hielt sich die Ohren zu.
Im Musikzimmer leuchtete eine elektrische Glühbirne, bei deren Schein man Bobs vom Flügel aufspringen sah, während es Dick just gelang, die mißhandelte Posaune vollends ganz auseinander zu reißen.
Bobs war es diesmal in seinem Drehkäfig langweilig geworden, und dem Schlaukopf war es gelungen, die Türe von außen zu öffnen, indem er zwischen den Gitterstäben hindurch über die hölzerne Seitenwand hinabtastete, bis er den Riegel fand, den er zurückschob.
Als er sich in Freiheit sah, öffnete er auch Dicks Gefängnis, und zu allen Schandtaten aufgelegt, begab er sich mit seinem gleichgesinnten Gefährten in das weiter unten gelegene Musikzimmer. Das Öffnen der Verbindungstüren war den intelligenten Affen längst kein Geheimnis mehr.
Hier nun faßten die beiden Verschwörer den schwarzen Plan, einmal selber eine musikalische Unterhaltung zu veranstalten, statt immer bloß als untätige Hörer Professor Schultze Konkurrenz zu machen.
Bobs öffnete den Flügel ohne Schwierigkeit; er versäumte auch nicht, ein Notenheft auf die Pultleiste zu stellen, freilich waren es Noten fürs Cello, doch das berührte ihn nicht, zumal er das Heft verkehrt aufstellte.
Dann hockte er sich auf den Klavierstuhl nieder und begann die Tasten mit einer Virtuosität zu bearbeiten, die seiner ihm natürlich eigenen affenartigen Geschwindigkeit alle Ehre machte.
Dick öffnete inzwischen bedächtig den Instrumentenkasten; das hatte er dem Lord trefflich abgeguckt. Er betrachtete sich die verschiedenen Musikerzeuger und griff dann nach der Posaune, deren Metallglanz ihm in die Augen stach.
O, er wußte genau, wo man das Ding in den Mund nehmen mußte und daß der untere Teil möglichst geschwind auf- und abgeschoben werden mußte, und es gelang ihm richtig durch heftiges Prusten einige entsetzliche Töne hervorzuzaubern, wobei er das Mundstück zu schanden biß.
Als nun aber die ganze Gesellschaft im Zimmer erschien, ahnten die Affen eine Art des Beifalls, die ihnen höchst unsympathisch war; sie nahmen daher schleunigst Reißaus und flüchteten in das anstoßende chemische Laboratorium, wo sie die Regale erkletterten, nicht ohne einige Kolben mit ätzenden Flüssigkeiten herabzustoßen.
Münchhausen folgte ihnen auf dem Fuß und drohte mit einem Stock zu Bobs hinauf, der die Zähne fletschte und höhnisch grinste, als wollte er sagen: „Na, Dicker! Du drohst umsonst: bei deiner Leibesfülle wirst du’s wohl bleiben lassen, mir nachklettern zu wollen.“
Dieser sichtliche Hohn mußte natürlich den Kapitän ärgern.
„Warte, du Spötter!“ rief er und ergriff das Gestell eines Spiritusbrenners, daß er mit solcher Gewandtheit emporschleuderte, daß die drei Eisenfüße sich schmerzhaft in des Schimpansen schutzlosen Leib einbohrten. Es gab zwar keine Wunde, aber es tat weh!
Bobs kreischte laut auf; er fand das rücksichtslos und anmaßend von einem Menschen, der gar nicht sein Herr war und weder Klavier noch Posaune spielte. Er sann auf Rache.
Da stand ein großer Kolben neben ihm. Er hätte ihn auf den Attentäter werfen können; aber so plump handelte Bobs auch nicht in berechtigter Erregung. Er riß den Glasstöpsel heraus, erfaßte die dicke Flasche und goß ihren Inhalt auf den Untenstehenden herab, der sich eben niederbeugte, um ein neues Wurfgeschoß aufzulesen.
„Zu Hilfe, zu Hilfe! Das Untier mordet mich! Bobs überschüttet mich mit Vitriol; er verbrennt mir meinen schutzlosen Schädel!“ schrie der Begossene.
Erschreckt eilte Heinz herbei: er glaubte schon den Kapitän in jämmerlich verbranntem Zustand zu finden, vielleicht des Augenlichts beraubt, denn es befanden sich tatsächlich mehrere Kolben mit Schwefelsäure auf den Regalen.
Ein Blick auf Münchhausens triefenden Schädel jedoch beruhigte ihn sofort; auch sagte ihm seine für chemische Dünste geschärfte Nase alsbald, daß es sich lediglich um Weingeist handelte, der allerdings auf der Kopfhaut ordentlich brennen mochte, namentlich auch infolge seiner starken Verdunstung ein Kältegefühl erzeugend, das, zumal wenn noch Schreck und Einbildung dazu kamen, als fürchterliche Verbrennung empfunden werden konnte.
„Beruhigen Sie sich, Kapitän,“ rief Heinz dem Geängstigten zu: „es ist glücklicherweise bloß Spiritus.“
„Ich pfeife auf Ihren Spiritus! Vitriol ist’s oder irgend eine andre Säure, die mich meines kostbaren Haarschmucks vollends beraubt, falls sie mir nicht den ganzen Skalp vom Schädel wegätzt.“
„Ich garantiere Ihnen, daß nichts dergleichen passiert; aber Sie triefen wie eine Wasserratte! Hier ist ein Handtuch, trocknen Sie sich ab und dann werden Sie sich wohl den Kopf waschen und die Kleider wechseln müssen.“
Das war allerdings notwendig. Münchhausen entfernte sich wie ein begossener Pudel und Schultze rief ihm noch lachend den Trost nach: „Bobs meinte es gut mit Ihnen, Weingeist stärkt ja wohl die Kopfhaut und befördert einen üppigen Haarwuchs.“
„Jetzt haben Sie gut lachen,“ sagte Heinz zum Professor, als Münchhausen das Gemach verlassen hatte: „Aber ich sage Ihnen, mir ist der kalte Schrecken in die Glieder gefahren, als ich den Ärmsten so jammern hörte. Sehen Sie, da steht Schwefelsäure, Salzsäure, Karbolsäure und eine Menge andrer gefährlicher Flüssigkeiten. Künftig muß ich das Laboratorium stets abschließen und den Schlüssel zu mir nehmen; die Affen hätten da ein furchtbares Unglück anrichten können.“
„Können sie immer noch,“ meinte Schultze und sah zu den beiden Schimpansen empor, die zu oberst zwischen den Kolben kauerten.
Nun aber rief Flitmore die beiden Missetäter und sie kamen alsbald ganz demütig und zahm herab, gewohnt, ihrem Herrn aufs Wort zu folgen.
Strafe mußte sein, das erforderten des Lords Erziehungsgrundsätze; und so wurden die sichtlich zerknirschten Sünder auf zwölf Stunden in Einzelhaft gesteckt. Sie kannten die dunkeln, engen Kästen gar wohl und wußten, daß die Einsperrung wohlverdiente Strafe war; denn sie sprangen freiwillig hinein mit zerknirschten Mienen, duckten sich nieder und ließen sich ohne Widerstreben einschließen.
Als man wieder im Wohnzimmer versammelt war, erschien bald auch Münchhausen in trockener Kleidung. Er blieb dabei, daß die Flüssigkeit, die so brannte, Vitriol gewesen sei: „Glücklicherweise hat sich meine Haut als säurefest erwiesen,“ fügte er bei, „und auch meine Kleider haben weiter keinen Schaden erlitten; ein ganz vorzüglicher Stoff, sage ich Ihnen!“
Tage- und wochenlang raste die Sannah mit dem Kometen dahin und diese Fahrt durch die anscheinende Leere begann immer mehr etwas Beklemmendes und Beängstigendes auf die Gemüter auszuüben.
Wo war man? Wohin eilte man? Im Unendlichen! Ins Endlose!
Niemand verhehlte sich die furchtbare Gefahr, in der alle schwebten, das schreckliche Schicksal, das ihnen drohte.
Vorerst gelang es ja immer noch mittelst der reichen Vorräte an gepreßtem Sauerstoff und Ozon eine gesunde Luft in den Zimmern zu erhalten. Aber niemand konnte wissen, wie lange diese Fahrt noch dauern werde und ob sie überhaupt zu einem Ziele führe.
Ja, nach menschlicher Voraussicht schien es höchst unwahrscheinlich, daß in absehbarer Zeit ein Weltkörper erreicht werden könne, der menschlichen Wesen die notwendigsten Lebensbedingungen gewähren würde. Wer wußte denn überhaupt, ob es solche in der Fixsternwelt gebe, der man zueilte?
Nur das Vertrauen, daß sie unter höherem Schutze standen, und daß ein Gott sie lenke, der auch in der Unendlichkeit Wege weiß, hielt die Ärmsten noch aufrecht, die sich wie Gefangene in den Räumen ihres Fahrzeugs vorkamen.
Wer konnte wissen, ob es nicht eine lebenslängliche Haft werden sollte, die allerdings nicht lange dauern konnte, da binnen weniger Wochen ihr Leben verlöschen mußte, wenn keine Erlösung kam.
Dann sah wohl eins das andre sterben, ohne ihm helfen zu können, und zuletzt war alles still und tot! Eine kleine Kugel mit menschlichen Leichnamen irrte dann durch das Weltall, um schließlich vielleicht in eine ferne Sonne zu stürzen und in einem Augenblick in glühende Gase aufgelöst zu werden mit allem, was sie enthielt!
Schimpansenstreiche.
John allein blieb im Innersten ganz ruhig und vergnügt, weil er nicht so klar sah und meinte, sein Herr wisse wohl, wo er hinfahre und wo er landen werde.
Inzwischen sparte Flitmore die Sauerstoffvorräte so viel als möglich, um die Endkatastrophe so weit hinauszuschieben, als es nur immer anging. Die Folge davon bekamen alle zu spüren: es war eine schlechte, sauerstoffarme Luft, die ihre Lungen bedrückte und auch der Stimmung sehr wenig zuträglich war.
Wahrhaftig! So mußte es den Unseligen zumute sein, die in einem Unterseeboot eingeschlossen waren, durch einen Unfall verhindert, an die Meeresoberfläche zurückzusteigen und dem langsamen Erstickungstod ins Auge sehend!
Mit allerlei Arbeiten, mit Unterhaltung, Konzerten und Lesen guter Bücher wurde die Zeit verbracht; aber immer wieder schweiften die Gedanken ab, gefangen von der bangen Frage: was wird aus uns werden?
Schultze beobachtete immer wieder den Sternhimmel und stellte Berechnungen an, eine Arbeit, die ihm, wenn auch wenig Trost, so doch einige Ablenkung gewährte.
„Wir fahren auf das Sternbild des Centauren zu,“ sagte er eines Tages nach Abschluß einiger Beobachtungen und Berechnungen, „und zwar direkt auf den Stern Alpha Centauri, der dem irdischen Sonnensystem, so viel man bis jetzt weiß, der nächste ist. Die Annäherung läßt sich schon mit bloßem Auge wahrnehmen: Alpha Centauri ist deutlich als Doppelstern erkennbar; mehrere Sternbilder sehen schon wesentlich anders aus, als sie sich von der Erde aus ausnehmen, und einige Sterne gewinnen an Größe und Lichtstärke ganz sichtlich.“
„Es ist für uns von großem Interesse, wenigstens die Richtung unserer Fahrt kennen zu lernen,“ meinte Flitmore: „Aber haben Sie auch die Aberration in Betracht gezogen?“
„Ich habe daran gedacht, aber in diesem Falle kann eine Aberration gar nicht stattfinden, da die Sannah sich direkt nach dem Sterne Alpha bewegt.“
„Was ist denn das, wenn ich mir zu fragen die Erlaubnis herausnehmen darf, die Aperition?“ frug John.
„Da die Erde sich mit ungeheurer Geschwindigkeit durch den Weltraum bewegt,“ erklärte der Professor, „so ändert sich der Standpunkt des Beobachters mit der Erde fortwährend. Richtet man nun ein Fernrohr auf einen Stern, so braucht der Lichtstrahl, der das äußerste Ende des Teleskops, das Objektiv, trifft, einige Zeit, um bis zum untern Ende, dem Okular, zu gelangen.
Diese Zeit ist zwar sehr kurz, aber doch ist die Erde inzwischen weitergeeilt und die Richtung des Fernrohrs hat sich verschoben. Um daher den Stern überhaupt durch das Fernrohr sehen zu können und ihn dauernd zu beobachten, muß man dem Rohr eine andere Richtung geben, als die Strahlen des Sternes eigentlich verfolgen: das Okular muß in der Richtung der Erdbewegung um so viel zurückliegen, als sich die Erde vorwärts bewegt in der Zeit, die das Licht braucht, um den Weg vom Objektiv bis zum Okular zurückzulegen. Dadurch tritt eine scheinbare Verschiebung des Sternes ein, das heißt, man sieht ihn nicht genau an der Stelle des Himmels, wo er sich eigentlich befindet, oder vielmehr befand, als das Licht von ihm ausging, das jetzt unser Auge trifft.
Wenn sich nun der Beobachter geradewegs auf den Stern zu bewegt, so findet keine Aberration statt; am größten ist diese, wenn man sich in senkrechter Linie zu den von ihm ausgehenden Strahlen fortbewegt.“
„Wir reisen also nun zu solch einem Stern?“ fragte John weiter: „Können wir bald dort sein?“
Schultze lächelte achselzuckend: „Was heißt bald? Weißt du, wie weit diese Fixsterne von der Erde entfernt sind? Alpha Centauri soll ihr am nächsten stehen, und doch berechnet man seine Entfernung auf 4½, mindestens aber 3½ Lichtjahre.“
„Was ist das, wenn Sie gestatten, ein Lichtjahr?“
„Das ist der Weg, den das Licht in einem Jahre zurücklegt, nämlich die Kleinigkeit von 9463 Milliarden Kilometern.“
„Und das nennen Sie dann eine Kleinigkeit? Das tun Sie wohl sozusagen aus Spaßhaftigkeit?“
„Ja, ja, mein Sohn; denn solche Zahlen sind so ungeheuerlich, daß man seinem Humor etwas aufhelfen muß, wenn man von ihnen redet, sonst steht einem der Verstand still. Oder willst du dir etwa eine Vorstellung davon machen, was das bedeutet: Alpha Centauri ist 30000 bis 40000 Milliarden Kilometer von der Erde entfernt?“
John schüttelte hilflos den Kopf: „Und das sollte sozusagen unser nächster Fixstern sein?“
„Jawohl! Es kann ja welche geben, die dem Sonnensystem näher stehen, doch man hat bis jetzt keinen entdeckt, das heißt keine geringere Entfernung durch Messungen festgestellt. Alpha Centauri ist 9000mal weiter von der Erde entfernt als Neptun, also 277000mal so weit wie die Sonne. Ein Expreßzug würde 1250000 Jahre brauchen, um ihn zu erreichen.“
Rieger machte große Augen. „Eine Million Jahre?“ stammelte er: „Und da sollen wir hin?“
„Warum denn nicht? Nur daß wir einige Millionen mal schneller reisen als ein Expreßzug. Die Amina, unser Komet, ist ein flinkeres Beförderungsmittel, wie du siehst. Wenn ich übrigens vorhin von Kleinigkeiten redete, so ist das nicht bloß Spaß gewesen, denn Sirius, der helle Hundsstern, ist acht bis neun Lichtjahre von der Erde entfernt, 1300mal so hell und 40000 bis 50000mal so groß wie unsere Sonne; der Polarstern ist 40 Lichtjahre, Canopus, der hellste Stern am südlichen Himmel, gar 269 Lichtjahre entfernt, er leuchtet 10000 bis 15000mal so hell als die Sonne und ist 1½ Millionen mal so groß; das ist das mindeste: er kann auch hundert-, tausend- oder millionenmal größer sein; das entzieht sich unserer Berechnung. Deneb im Schwan kann ebenso groß oder noch größer sein als Canopus, und das gilt auch von Rigel, dem hellsten Stern im Sternbild des Orion, an seiner untern Ecke rechter Hand.
Dieser prachtvolle Stern von rein weißem Licht mag 500 Lichtjahre entfernt sein, also 30 Millionen mal so weit als die Sonne, die er 20000mal an Lichtstärke übertrifft. Wenn wir auf einem Blatt Papier die Entfernung von der Erde zur Sonne mit 1 Millimeter bezeichneten, so brauchten wir einen Bogen von 30 Kilometer Länge, um den Abstand Rigels im gleichen Verhältnis einzuzeichnen. Begreifst du nun, daß die Entfernung von Alpha Centauri eine Kleinigkeit ist?“
„Allerdings, sozusagen nach der Verhältnismäßigkeit betrachtet.“
„Nun gibt es aber möglicherweise unter den Fixsternen riesige Sonnen, gegen die auch diese unausdenklichen Kolosse nur Sonnenstäubchen sind; denn von den 100 Millionen Fixsternen, die vorhanden sein mögen, sind uns nur etwa von 60 die Parallaxen bekannt.“
John, der begierig jedes ihm unbekannte Wort aufschnappte und nach seiner Weise verketzerte, fragte wißbegierig: „Und was dürfte dann unter dieser benannten ‚Polaraxe‘ zu verstehen sein?“
„Ja, wie soll ich dir das jetzt klar machen? Siehst du den Punkt hier mitten an der Decke? Also von einem Ende dieses Saales richte ich ein Fernrohr dorthin, du eines vom andern Ende aus. Diese Fernrohre sind gegen einander geneigt in einem Winkel, dessen Spitze der beobachtete Punkt ist. Nun, dieser Winkel, den die Linien bilden, die von dem Punkte durch unsere beiden Fernrohre gehen, im Verhältnis zu der Entfernung dieser von einander, ist die Parallaxe des Punktes. Wir können also ebenso sagen, seine Parallaxe ist der Neigungswinkel, den unsere beiden auf den Punkt gerichteten Teleskope zusammen bilden im Verhältnis zu ihrer Entfernung von einander.
Wenn wir nun die Entfernung von einem Ende des Saales bis zum andern kennen und die Winkel, die unsere Fernrohre mit dem ebenen Fußboden bilden, messen, so können wir die Höhe des Dreiecks berechnen, das der Punkt an der Decke mit den beiden Punkten bildet, an denen die durch unsere Teleskope gehenden Strahlen des beobachteten Punktes den Fußboden treffen. Wir können also ausrechnen, wie weit der betreffende Punkt vom Fußboden entfernt ist.
Nun siehst du wohl, mein Freund, daß wenn wir statt des Punktes an der Decke durch unsere Fernrohre einen Stern betrachten, der Tausende von Millionen Kilometer entfernt ist, die Neigung unserer Rohre gegen einander so unendlich klein wird, daß sie gleich Null erscheint. Wir können also für den Stern keine Parallaxe finden.
Je weiter wir jedoch von einander entfernt sind, desto mehr werden sich die Teleskope gegen einander neigen, wenn wir sie auf denselben Punkt richten. Man könnte also hoffen, die Parallaxe eines Sterns zu finden, wenn man ihn in der gleichen Sekunde auf zwei weit von einander entfernten Punkten der Erde beobachtet, deren gegenseitiger Abstand bekannt ist, und wenn beide Beobachter den Winkel messen, den die Richtung ihrer Teleskope mit der Ebene bildet. Ebensogut kann man dies erreichen, wenn ein einzelner Beobachter von demselben Ort aus den Stern zu verschiedener Nachtzeit beobachtet, wenn die Umdrehung der Erde seinen Standpunkt um etliche tausend Kilometer verschoben hat.
Aber solche Entfernungen erwiesen sich zu klein, es war keine meßbare Neigung der Beobachtungsrichtungen zu einander festzustellen; also die Fixsterne zeigten keine merkliche Parallaxe.
Nun wählte man eine weit größere Grundlinie des Dreiecks: man beobachtete die Sterne in Zwischenräumen eines halben Jahres. Bei der ersten Beobachtung befand sich dann der Beobachter am einen Ende der Erdbahn, bei der zweiten am andern; das bedeutete einen Abstand von 300 Millionen Kilometern der beiden Beobachtungspunkte von einander.
Groß war die Verblüffung, als auch da keine meßbare Parallaxe der Fixsterne zu finden war! Erst mittelst äußerst verfeinerter Instrumente gelang es Struve 1836 und Bessel 1839 die erste Fixsternparallaxe zu messen. Man fand für den Stern 61 im Schwan auf diese Weise eine Entfernung von 9½ Lichtjahren. Bessel dankte seinen Erfolg dem von Fraunhofer hergestellten vorzüglichen Heliometer. Das ist derselbe Fraunhofer, dem wir vorzüglich auch die Fortschritte der Spektralanalyse verdanken.“
John schnappte auch dieses Wort sofort auf und sagte bescheiden:
„Wenn es Ihnen nicht zuviel sein dürfte, Herr Professor, meine Wenigkeit auch über diesen mir noch dunkeln Punkt aufzuklären, so wäre ich besonders dankbar, was ich schon lange wünschte, zu erfahren, was es mit dieser Speck-Strahl-Anna-Liese für eine Bewandernis hat.“
„Auch das sollst du wissen,“ lachte Schultze: „Schau, wenn man einen Lichtstrahl durch geschliffenes Glas gehen läßt, so löst er sich auf in farbige Bänder und Streifen. Das nennt man nun ein Spektrum. Je schmäler der Lichtstrahl ist, desto deutlicher ist sein Spektrum und da beobachtet man zwischen den farbigen Bändern mehr oder weniger breite dunkle Linien, die sogenannten „Fraunhoferschen Linien“, benannt nach ihrem Entdecker. Ferner unterbrechen auch helle und farbige Linien das Spektrum, und Kirchhoff und Bunsen wiesen nach, daß man aus diesen Streifen, Linien und Bändern genau die Stoffe erkennen kann, die sich als glühende Gase in einer Lichtquelle befinden; sogar nach Menge und Mischung können sie erkannt werden.
Auf diese Weise weiß man die Stoffe, welche in der Sonne und den Sternen enthalten sind: Das Spektroskop verrät sie uns.
Aber noch mehr hat es uns verraten. Wenn eine Lichtquelle sich rasch bewegt, so verschieben sich die Spektrallinien gegen das violette Ende des Farbenspektrums, wenn sich die Lichtquelle nähert, gegen das rote Ende, wenn sie sich entfernt. Daraus hat man bei den Fixsternen, die sich auf die Erde zu oder von ihr weg bewegen, sogar die Schnelligkeit der Bewegung berechnen können.“
„Ich meinte aber, die Fixsterne bewegen sich nicht,“ wandte John ein.
„Das glaubte man wohl früher; jetzt aber weiß man, daß sie ihre Eigenbewegung haben. Diese läßt sich auch durch das Teleskop beobachten, wenn sie senkrecht zur Gesichtslinie gerichtet ist. Da gibt es Sterne, die schon in 200 Jahren um eine Vollmondsbreite am Himmel vorrücken, was in Wirklichkeit Millionen und aber Millionen Kilometer bedeutet, angesichts ihrer großen Entfernung. So scheint Arcturus zum Beispiel mit 670 Kilometern in der Sekunde hinzurasen, was tausendmal schneller ist als das schnellste Geschoß; auch Alpha Centauri hat eine große Eigenbewegung.“
„Aha!“ rief John verklärt: „Jetzt verstehe ich, warum man sie Fixsterne heißt: weil sie wohl so fix dahinsausen.“
Alle lachten über diese großartige Entdeckung. John aber ließ sich nicht drausbringen.
„Wie sieht es denn aber wohl aus auf dem Alphasaurus, zu dem wir hinfliegen?“ fragte er jetzt.
„Dieser Stern ist der dritthellste am Firmament, aber nur von der südlichen Erdhalbkugel aus zu sehen. Er gleicht unserer Sonne an Helligkeit, Größe und Hitze.“
„Dann müssen wir ja aber verbrennen,“ rief John entsetzt.
„Allerdings, wenn wir ihm zu nahe kämen,“ mischte sich nun Flitmore in die Verhandlung; „allein wir wollen hoffen, daß dies nicht der Fall sein wird. Auf ein paar Millionen Kilometer kann ja der Professor unsere Richtung nicht so genau bemessen. Da ist es immerhin möglich, daß wir auf einem dunkeln Sterne landen.“
„Wieso? Dunkle Sterne gibt es sozusagen auch?“ rief John, aufs neue überrascht.
„Gewiß!“ bestätigte der Lord: „Unsere Erde ist ein solcher Stern, ebenso die Planeten, soweit sie kein eigenes Licht mehr ausstrahlen. Der Erde leuchten sie ja sehr hell, oft heller als die strahlendsten Fixsterne; aber das kommt nur daher, daß sie der Erde verhältnismäßig nahe sind und ihr im Glanze des Sonnenscheins erscheinen, der sie erhellt.
Aus der Entfernung, in der wir uns jetzt befinden, sehen wir keinen einzigen der Planeten unseres Sonnensystems mehr; ebensowenig sehen wir von der Erde aus die dunkeln Weltkörper der Fixsternwelt, die kein eigenes Licht mehr haben.“
„Ja, aber wie kann man in diesem vorausgesetzten Falle wissen, daß ihr Vorhandensein eine Existenz hat?“
Flitmore wollte antworten, aber Münchhausen unterbrach ihn: „Nehmen Sie es nicht übel, Lord, aber das Mittagessen dampft auf dem Tisch und die Lady möchte es schmerzen, wenn wir ihr Kunstwerk erkalten ließen, ehe wir ihm die gebührende Ehre angetan haben.“
„Ihnen wäre dies gewiß auch sehr schmerzlich!“ lachte der Lord, „aber Sie haben recht; alles hat seine Zeit. Also, John, gedulde dich, nach dem Essen will ich dir auseinandersetzen, woher man weiß, daß es dunkle Sterne gibt, auch wenn man sie nicht sehen kann.“
Johns Wißbegier wurde aber diesmal nicht so pünktlich befriedigt, wie er es von seines Herrn Zuverlässigkeit hätte erwarten dürfen.
Das war aber nur einem außerordentlichen Umstand, einem unvorhergesehenen Ereignis zuzuschreiben, das für die Sannah und ihre Insassen leicht hätte verhängnisvoll werden können.
Gegen Ende der Mahlzeit nämlich ließ sich plötzlich ein heftiges Geprassel vernehmen, unterbrochen von donnernden Schlägen, die das Weltschiff in seinen Grundfesten erschütterten. Es war offenbar ein Hagel von Meteoriten, der auf die Sannah niederging.
Glücklicherweise waren die ersten Steine, die auf die Umhüllung sausten, klein, und der Lord konnte durch einen Druck auf den entsprechenden elektrischen Knopf die metallenen Schutzplatten oder Augendeckel über sämtlichen Fensterlinsen schließen, so daß eine Zertrümmerung oder Beschädigung derselben verhütet wurde.
Bald aber prallten so ansehnliche Brocken auf die Oberfläche des Fahrzeugs auf, daß man das Schlimmste befürchten mußte und selbst Münchhausen seine gastronomische Tätigkeit unterbrach.
Als das Gepolter und Gedonner aufhörte, machte der Lord mit John, Heinz und dem Professor einen Rundgang durch die Sannah, um genau zu untersuchen, ob die Decke nirgends beschädigt und durchschlagen worden sei. Zu seiner großen Beruhigung und Befriedigung fand er, daß die treffliche Metallhülle dem wuchtigen Hagel durchweg standgehalten hatte und keinerlei Verletzung erkennen ließ. Außen hatte sie ja gewiß Beulen, Schrammen und Schrunden davongetragen, danach konnte man zur Zeit nicht sehen, denn dort draußen gähnte der leere Raum. Die Hauptsache aber blieb, daß der Mantel nirgends durchlöchert war und so die kostbare Luft nicht entweichen konnte.
Als die Männer von ihrem Rundgang zurückkehrten, hatte Münchhausen auch seine Mahlzeit beendet, die er nach Überwindung des ersten Schreckens fortgesetzt hatte.
„Ihre Ruhe ist beneidenswert,“ sagte Schultze kopfschüttelnd: „Während wir, von der Sorge um unser Leben getrieben, nachsehen, ob die Sannah kein verhängnisvolles Loch davongetragen habe, lassen Sie sich’s ruhig schmecken, als sei nichts geschehen und nichts zu befürchten.“
„Sie halten das ja wohl für sträflichen Leichtsinn und tadelnswerte Gefräßigkeit,“ erwiderte der Kapitän: „In Wahrheit jedoch ist es vernünftige Philosophie und Überlegung. Denn, sagen Sie selber: wenn Sie zu viert ausziehen, nach einem etwaigen Schaden zu sehen, wozu soll ich als fünftes Rad am Wagen mittrotteln? Und schließlich, entweder die Sannah hat eine gefährliche Verletzung davongetragen oder nicht. Ist sie unbeschädigt, so wäre die Unterbrechung meiner Mahlzeit zum mindesten überflüssig gewesen, wäre jedoch ein gefährliches Leck vorgefunden worden, so hätte sie auch da rein gar nichts helfen können; im Gegenteil, mit leerem Magen steht man einer Gefahr viel hilfloser und schwächlicher gegenüber als mit dem Gefühl der Sättigung, das einen zu ruhigerer Überlegung befähigt.“
„Na! Allenfalls hätten Sie mit wohlgefülltem Wanst unter Umständen auch ein großes Loch mit Ihrer werten Persönlichkeit verstopfen können, bis wir es kalfatert hätten, um den Luftaustritt zu verhindern,“ höhnte Schultze.
„Spotten Sie nicht,“ mahnte der Kapitän würdig, „zu solcher Aufopferung wäre ich stets bereit gewesen und auf ähnliche Art habe ich sogar schon einmal ein großes Schiff vor dem sichern Untergang gerettet.“
„Oho! Erzählen Sie!“ rief Flitmore, sich in einen Sessel werfend.
„Gerne!“ erklärte Münchhausen bereitwillig. „Es ist gar nicht so lange her: meine zunehmende Leibesfülle erschwerte mir bereits meinen Dienst als Schiffskapitän, als mein stattliches Schiff eines Tages auf ein unterseeisches Riff aufstieß, das auf keiner Seekarte verzeichnet war. Wir bekamen ein Leck von solcher Größe, daß trotz allen Pumpens der untere Schiffsraum sich fabelhaft rasch mit Wasser anfüllte. Unser Untergang schien unvermeidlich, denn eine Küste, wo wir hätten landen können, war nicht in Sicht. Die Felsspitze, die uns so verhängnisvoll geworden war, mußte einer einsamen unterseeischen Insel angehören.
Ich begab mich mit dem Schiffszimmermann und zwei Matrosen hinunter, um zu sehen, ob dem Leck denn gar nicht beizukommen sei; doch es befand sich schon völlig unter Wasser. Auf einem schmalen Balken turnte ich über dem gurgelnden Naß gegen die Schiffswand, als ich plötzlich ein schlangenähnliches Wesen da unten herumplätschern zu sehen vermeinte. Bald tauchten drei, vier solcher Schlangen von etwa sechs Meter Länge auf. Kein Zweifel! Ein Riesenkraken, auch Polyp oder Tintenfisch genannt, streckte seine schrecklichen Fangarme durch das Leck ins Schiffsinnere; sein Leib, so weich und elastisch er war, konnte wegen seiner kolossalen Dicke nicht eindringen.
Plötzlich schnellte so ein Riesenarm auf mich zu, und wie ich erschreckt ausweichen will, verliere ich das Gleichgewicht und stürze ins Wasser.
Sofort umklammert mich das Seeungeheuer mit seinen sämtlichen Fangarmen und sucht mich zu sich hinauszuziehen. Glücklicherweise war nun wiederum ich zu dick. Mein Bauch wurde gegen das Loch gepreßt, das er völlig verstopfte, während ich den Kopf noch über Wasser halten konnte.
Meine Begleiter sprangen alsbald ins Wasser mir zu Hilfe: sie wollten mit ihren Messern die Fangarme des Polypen durchschneiden und mich so aus der erstickenden Umarmung befreien. Ich aber hatte sofort erkannt, daß uns hier der einzige Weg zur Rettung des Schiffes gewiesen war, und ich bedachte mich keinen Augenblick, mein Leben zu opfern, wenn es sein sollte, um Fahrzeug und Mannschaft zu retten.
Ich rief daher den Matrosen zu, sie sollten ihre Messer in Ruhe lassen, dagegen starke Taue an die einzelnen Glieder des Kraken binden. Sie wußten nicht recht, was das sollte, doch, gewohnt, mir blindlings zu folgen, führten sie die schwierige und nicht ungefährliche Arbeit aus.
„Nun ziehet die Leinen straff an,“ rief ich, als die Sache soweit war, „und knüpft sie an einem Längsbalken fest, daß die Fangarme gestreckt werden!“ Mit Hilfe einiger weiterer herbeigeeilter Mannschaften wurde dies ausgeführt und der Tintenfisch mußte mich aus der Umklammerung frei geben, als seine Glieder mit aller Gewalt angezogen und gestrafft wurden.
Halbtot fischte man mich aus dem Wasser und ich verlor das Bewußtsein, während man mich an Deck trug, wozu nicht weniger als sechs Mann erforderlich waren.
Der Polyp aber saß fest und sein weicher, kolossaler Leib war durch die strammgezogenen Seile derart in das Leck gezwängt, daß es völlig verstopft wurde und kein Tropfen Wasser mehr eindringen konnte.
Bis ich aus meiner Ohnmacht erwachte, war das Wasser schon soweit ausgepumpt, daß der Zimmermann an die beschädigte Stelle gelangen und sie kalfatern konnte, wobei gemäß dem Fortschreiten der Arbeit dem Kraken die Arme einzeln abgetrennt wurden, bis er mit Verlust seiner Glieder das Weite suchen konnte und die letzte Lücke hinter ihm vernagelt wurde. Nun war das Schiff gerettet, und meiner Leibesfülle war dies in letzter Linie zu danken; denn wäre ich so schlank gewesen, wie Sie, meine Herren, so hätte mich das widrige Scheusal mit Leichtigkeit durch das Loch hinausgezogen, ich wäre eines elenden Todes gestorben und mein Schiff mitsamt der Mannschaft wäre rettungslos zugrunde gegangen.“
„Ein Hoch auf Ihren segensreichen Körperumfang!“ rief Schultze, sein Glas füllend und erhebend.
„Und auf Ihre edle Opferfreudigkeit,“ fügte Flitmore hinzu, ebenfalls mit dem schmunzelnden Kapitän anstoßend und in die allgemeine Heiterkeit einstimmend.
„Das war sozusagen ein großartig zu nennendes Abenteuer,“ meinte John, „aber wenn ich mir nun erlauben darf, Mylord, Sie daran zu erinnern, so haben Sie mir versprochen, zu erklären, wie man wissen kann, daß außer den leuchtenden Sonnensternen auch noch dunkle Sterne vorhanden sein dürften, trotzdem man sie nicht sehen kann.“
Flitmore gab bereitwilligst Auskunft, indem er begann: „Zunächst kann man es vermuten, denn die Fixsterne sind doch lauter leuchtende, glühende Sonnen, meist viel größer als unsre irdische Sonne. Wenn nun um diese mehrere dunkle Planeten kreisen, warum nicht auch um die Millionen andrer Sonnen im Weltraum?
Sodann unterscheidet man drei Klassen von Fixsternen je nach ihrer Lichtstärke. Die erste Klasse umfaßt die weißleuchtenden Sterne, die sich noch in höchster Glut befinden, also wohl die jüngsten sind. Zu diesen gehören Regulus im Löwen, Sirius im großen Hund, Wega in der Leier. Auch die blauen Sterne gehören hierher.
Die zweite Klasse umfaßt die gelben Sterne, ähnlich unsrer Sonne, die schon von niedererer Temperatur und Helligkeit sind. In die dritte Klasse rechnet man die rotglühenden Sterne und die orangeroten.
Zwischen diesen Klassen und in denselben gibt es aber alle möglichen Zwischenstufen und Übergänge, und manche Astronomen unterscheiden noch eine vierte Klasse der blutroten Sterne von geringer Helligkeit und eine fünfte, die nur einige wenige Sterne umfaßt, die das Spektrum des Wasserstoffs geben.
Die erste Klasse umfaßt die meisten Fixsterne, die zweite etwa die Hälfte der ersten, die dritte ungefähr den achten Teil. Daraus schließt man, daß ein Stern doppelt so lang im ersten als im zweiten Zustand bleibt und in diesem viermal so lang als im dritten. Diese Ansicht übersieht jedoch völlig, daß uns die hellsten Sterne aus einer Entfernung sichtbar sein können, aus der das Licht weniger heller Weltsonnen gar nicht mehr bis zu uns dringt, daß wir also auch so rechnen können: aus der entferntesten Region des sichtbaren Weltalls leuchten uns nur die Sterne erster Klasse, die andern sehen wir nicht; aus der mittleren Region werden uns auch die Sterne zweiter Klasse noch sichtbar und nur aus der uns nächsten Region auch noch schwächer leuchtende. Natürlich kommt dabei auch noch die Größe der Sterne in Betracht, da wir einen Stern zweiter Klasse vielleicht noch aus einer Entfernung erkennen können, aus der uns ein millionenmal kleinerer Stern erster Klasse nicht mehr zu Gesichte kommt.
Das kommt daher, daß das Licht im Raum nicht ungeschwächt vordringt, sondern mit der Entfernung zunehmend an Glanz einbüßt: der im Raum enthaltene Stoff schluckt etwas von dem ihn durcheilenden Lichte an; das nennt man Absorption. Und gerade diese Lichtabsorption, für die man verschiedene Beweise hat, gibt uns die Gewißheit, daß der Raum nicht leer ist, sondern von einem Stoff erfüllt, der Licht aufzusaugen vermag.
Es ist nun klar, daß auf eine bestimmte Entfernung hin das Licht eines Sternes schließlich völlig aufgesogen sein muß, und so nimmt man an, daß Sterne, die über 16000 Lichtjahre von uns entfernt sind, überhaupt kein Licht mehr so weit zu bringen vermögen und uns daher ewig unsichtbar bleiben.
Was also über diese Lichtgrenze unsrer Welt hinausgeht, bleibt uns unbekannt; kein Fernrohr, und wäre es millionenmal stärker als wir sie bauen, vermöchte den Schleier zu lüften, keine photographische Platte wäre dazu imstande, und wenn sie millionenmal empfindlicher wäre als die Platten, die uns jetzt schon Sterne nachweisen, die man mit dem besten Teleskop nicht zu finden vermag.
Nun aber zurück zu den dunkeln Welten: sehen wir, daß die Fixsterne sich in den verschiedensten Stufen der Glut befinden, manche schon im Erlöschen begriffen, was liegt näher, als daß auch Millionen schon längst erloschener Weltkörper im Raume sich bewegen, die uns das schwache Licht, das sie von ihren Sonnen empfangen, nicht zu Gesicht bringen können? Dazu kommt noch unser Glaube an des Schöpfers Weisheit und Güte: sollte er Millionen Sonnen erschaffen haben ohne einen Zweck? Oder sollten sie nicht vielmehr dienen, Welten zu erleuchten und zu erwärmen, die von den Wundern Gottes überfließen, und wo lebendige Wesen sich ihres Daseins freuen?
Einige Astronomen nehmen an, daß das Weltall Tausende von Millionen Sonnen und Hunderttausende von Millionen dunkler Welten besitze und zwar solche von ungeheurer Größe. Sie glauben auch nicht, daß der Raum von drei- bis viereinhalb Lichtjahren, der unser Sonnensystem von der Fixsternwelt trennt, eine weltenleere Einöde sein könne, sondern daß einige Millionen dunkler Körper sich darin finden könnten, so große sogar, daß unser Sonnensystem sich um sie drehe. Denn nichts beweist uns, daß sich leuchtende und nichtleuchtende Weltkörper nicht auch um ein erloschenes dunkles Gestirn drehen können, sofern es groß genug ist.
Dies alles sind ja zunächst nur Vermutungen, wenn auch solche, die die größte Wahrscheinlichkeit für sich haben. Aber wir haben auch Beweise für das Vorhandensein solcher dunkler Weltkörper.
Wenn ein dunkler Trabant zwischen uns und seiner Sonne vorübergeht, so werden wir ja für gewöhnlich davon nichts merken können, weil bei der ungeheuren Entfernung die Verfinsterung allzu gering ist, sobald er wesentlich kleiner ist als seine Sonne, was wir ja gewiß als das Gewöhnliche annehmen müssen. Dennoch gibt es Fixsterne, die uns erkennen lassen, daß ein dunkler Trabant sie umkreist; das sind die sogenannten veränderlichen Sterne, aber das soll dir der Professor erklären, ich habe es nicht so im Kopf.“
„Gerne!“ erklärte Schultze bereitwillig. „Veränderliche Sterne heißt man diejenigen, deren Helligkeit zu Zeiten abnimmt, um dann aber wieder zuzunehmen. Man unterscheidet da den Miratypus, den Lyratypus und den Algoltypus.“
„O, wie fein das klingt!“ unterbrach John: „Miratyphus, Liratyphus und Alkoholtyphus.“
Das herzliche Gelächter, das seine Repetition der melodischen Namen erweckte, nahm er gewohntermaßen nicht übel.
Der Professor aber machte weiter: „Der Stern Mira, das heißt ‚Der Wunderbare‘, im Walfisch strahlt gelegentlich als Stern erster oder zweiter Größe, aber nur wenige Wochen lang. 70 Tage später ist er schon so lichtschwach, daß er nur noch im Fernrohr sichtbar ist, noch weiter an Glanz abnehmend. Späterhin nimmt sein Licht wieder zu und zwar viel rascher, als es zuvor abgenommen. Nachdem er dem bloßen Auge wieder sichtbar geworden, erreicht er in 40 Tagen seinen höchsten Glanz. Diese Perioden dauern durchschnittlich 333 Tage von einem Höhepunkt zum andern, sind aber nicht ganz regelmäßig, auch der Glanz des Sterns erreicht nicht immer die gleiche Höhe.
Man nimmt daher an, Mira sei eine erlöschende Sonne, die sich wie unsre Sonne periodisch mit vielen Flecken überzieht, nur noch mit viel mehr. Wenn unsre Sonne einmal so weit kommt, muß alles Leben auf Erden zu Grunde gehen. Auch die Spektralanalyse beweist die Ähnlichkeit dieses Wundersterns mit der Sonne.
Heute kennt man hunderte von veränderlichen Sternen vom Miratypus, die meist in Perioden von 300 bis 400 Tagen ihr Licht wechseln. Manche aber sind völlig unregelmäßig, bleiben jahrelang unveränderlich oder leuchten binnen weniger Stunden mit großer Schnelligkeit hell auf. Das scheint auf gewaltige Umwälzungen hinzuweisen, die sich dort abspielen.
Der Stern Beta in der Leier zeigt den sogenannten Lyratypus; der Lichtwechsel geht ziemlich pünktlich vor sich, seine Stärke aber nimmt nicht gleichmäßig zu, sondern geht zwischenhinein wieder herunter. Man nimmt an, daß wir es hier mit halberstarrten Sonnen zu tun haben, die uns abwechselnd ihre erkalteten und ihre unregelmäßig verteilten glutflüssigen Oberflächenteile zuwenden.
Zwischen diesen beiden Typen gibt es noch allerlei merkwürdige Abweichungen, wie zum Beispiel der besonders wundersame Stern S im Schwan, der 2 Monate lang unverändert bleibt, dann rasch um das 12 bis 14fache an Glanz zunimmt, einmal 5, das andremal 10 Tage lang so hell bleibt, um darauf nach einer Woche wieder so schwach zu leuchten wie zuvor. Aber das geschieht nicht regelmäßig, sondern öfters zeigt er wieder andre Perioden.
Ein andrer Stern wechselt in der fabelhaft kurzen Periode von 4 Stunden und 13 Sekunden, was darauf hindeutet, daß er sich in dieser Zeit um seine Achse dreht oder von einem andern Stern mit solch ungeheurer Geschwindigkeit umkreist wird.
Dies führt uns zur dritten Klasse der veränderlichen Sterne, derer vom Algoltypus. Diese zeigen ein rein weißes Licht, können also keine erlöschenden Sonnen sein, auch sind ihre Perioden von genauester Pünktlichkeit.
Algol im Perseus bleibt 2½ Tage unverändert als Stern zweiter Größe gleich dem Polarstern; dann nimmt seine Leuchtkraft erst langsam, dann immer schneller ab; nach 4½ Stunden ist er nur noch ein Sternchen dritter bis vierter Größe, nimmt aber sofort wieder zu und ist nach weiteren 4½ Stunden so hell wie zuvor.
Hiefür gibt es nur eine Erklärung: Algol wird uns verfinstert durch einen dunklen Weltkörper, der ihn in 2 Tagen, 20 Stunden, 48 Minuten und 55 Sekunden umläuft, denn so viel beträgt die Periode.
Dieser dunkle Begleiter muß seiner Sonne sehr nahe sein und beinahe so groß wie sie, sonst könnte er uns, wie schon gesagt, seine Sonne auf solch ungeheure Entfernung hin nicht verfinstern; natürlich muß auch seine Bahn unsere Gesichtslinie kreuzen, daher ist es erklärlich, daß man nur etwa 20 veränderliche Sterne vom Algoltypus kennt. Bei allen sind die Perioden sehr kurz, zwischen 20 Stunden und 9½ Tagen.
Störungen weisen darauf hin, daß Algol mehr als einen Trabanten hat, und wir dürfen hier ganze Sonnensysteme vermuten, aber auch dort, wo kein dunkler Begleiter sich uns durch seine Größe und geringe Entfernung von seiner Fixsternsonne verrät.
Schließlich verrät uns auch das Spektroskop dunkle Trabanten der Fixsterne dadurch, daß die Linien ihres Spektrums genau innerhalb der Lichtwechselperiode sich verschieben.“
„Aus alledem,“ sagte Flitmore, „siehst du, daß dunkle und wohl auch bewohnbare Weltkörper zur Genüge vorhanden sein müssen. Gott gebe nur, daß wir zu rechter Zeit einen solchen auffinden und glücklich dort zu landen vermögen.“
Fünf Monate dauerte schon die unheimliche Reise der Sannah mit dem Kometen und noch war Alpha Centauri so weit entfernt, daß sich nicht sagen ließ, wann man in seine Nähe kommen werde. Nun wurde öfters des Lords Nährmaschine in Tätigkeit gesetzt, damit die zusammenschmelzenden Lebensmittelvorräte gespart werden konnten. Sie lieferte denn auch eine sehr nahrhafte, stärkende und auch schmackhafte Kost, die freilich auf die Dauer die natürlich entstandenen Nahrungsmittel nicht vollwertig hätte ersetzen können.
„Leider erweist sich Ihre Vermutung über die Geschwindigkeit Aminas als unrichtig,“ sagte Flitmore eines Tages zu Schultze.
„In der Tat,“ erwiderte der Professor, „ich habe sie bedeutend überschätzt. Wenn man keine sichern Unterlagen für eine Berechnung besitzt, kann man sich leicht um das zehn- und hundertfache verrechnen bei solch fabelhaften Zahlen.“
„Ein schlechter Trost,“ seufzte der Lord; „was aber noch bedenklicher ist, auch ich habe zu optimistisch gerechnet, wenn ich glaubte, meine Sauerstoffvorräte würden elf Monate ausreichen: wir sind nicht viel mehr als halb so lange unterwegs, und bis auf eine kleine Kammer sind schon alle geleert; Ozon haben wir überhaupt keines mehr.“
„Wie lange kann uns die Luft noch reichen?“ fragte Münchhausen.
Der Lord zuckte die Achseln: „Bei äußerster Sparsamkeit, und zwar bei alleräußerster, drei Wochen; dann ist es aus mit uns.“
„Sparen wir!“ sagte der Kapitän trocken.
„Das werden wir tun; aber es wird eine böse Zeit werden und wer weiß, ob es uns etwas hilft!“
Von jetzt ab wurde der geringe Rest an Sauerstoff so ängstlich zu Rate gehalten, daß die Luft in der Sannah für die Lungen kaum noch brauchbar war.
Die Folgen zeigten sich auch bald bei allen: an mehr als die notwendigste Tätigkeit war nicht mehr zu denken, da eine furchtbare Mattigkeit und Erschlaffung sich der Ärmsten bemächtigte. Röchelnd und nach Luft schnappend lagen sie umher und überließen sich so viel als möglich der bleiernen Schläfrigkeit, die sie gefangen hielt; denn im Schlaf verbrauchten sie am wenigsten von der kostbaren Luft.
Je mehr sich der Hunger nach Luft steigerte, desto weniger wollte ihnen Essen und Trinken mehr schmecken. Bleich und eingefallen, Gespenstern gleich, schlichen sie durch die Räume, wenn sie sich vom Lager erhoben, suchend, ob nicht irgendwo bessere Luft zu finden sei; aber sie war überall verbraucht und vergiftet.
Nicht mehr von Tag zu Tag, nein, von Stunde zu Stunde steigerten sich jetzt die Qualen, und die Wächter hatten die schwere Pflicht, mit äußerster Willensanspannung den Schlaf zu überwinden, um die erstickenden Genossen rechtzeitig wecken zu können: sonst wäre schließlich niemand mehr aufgewacht!
„Erfinden Sie etwas, um künstlichen Sauerstoff herzustellen oder um die verbrauchte Luft wieder für die Atmung tauglich zu machen,“ keuchte der Kapitän: „Mit mir geht’s zu Ende, Lord!“
Flitmore lächelte schwach und wehmütig und sah nach Mietje, die mit geschlossenen Augen krampfhaft zuckend im Sessel lehnte. „Ja, wenn ich das zu erfinden vermöchte! Hilft uns Gott nicht, so sind wir alle verloren. Aber bald muß die Hilfe kommen: ich habe ja berechnet, daß uns der Sauerstoff bei dem gegenwärtigen Verbrauch noch vier Tage reichen kann; aber ich sehe ein, so geht es nicht weiter, wir brauchen unbedingt bessere Luft, es ist die höchste Zeit. Und so muß die Sparsamkeit ein Ende haben; ich bin entschlossen, den ganzen Rest unsres Vorrats auf die nächsten 24 Stunden zu verteilen. Dann leben wir noch einmal auf, ein letztesmal. Was dann weiter kommt, steht in des Allmächtigen Hand!“
Mit diesen Worten schlich sich der Lord weg, um die Ventile zu öffnen, die den gepreßten Sauerstoff in das einzige noch bewohnte Zimmer strömen lassen sollten.
Die Lady erhob sich wie im Traum und verließ mühsam das Gemach.
Heinz, dem nichts Gutes ahnte, folgte ihr. Er fand sie in einer Stube, in der die beiden Schimpansen erstickend am Boden lagen: man hatte die Affen, so leid es einem tat, entfernen müssen, daß sie nicht auch noch halfen, ihren menschlichen Leidensgefährten das letzte bißchen Luft wegzuatmen.
„Was haben Sie im Sinn?“ fragte Heinz die Lady.
Diese sah ihn müde an: „Was liegt an mir? Es kommt vor allem darauf an, die Männer am Leben zu erhalten, bis Gott ihnen Rettung sendet. Ich will ihnen nicht die letzten Aussichten nehmen.“
„Sie wollen hier ersticken?“ rief Heinz entsetzt.
„Hier oder dort, das ist doch einerlei,“ sagte die Lady lächelnd.
„Aber hier ist es in einer Stunde aus mit Ihnen; dort können Sie noch 24 Stunden aushalten, und zwar in verhältnismäßig guter Luft, da der Lord die Luft gründlich verbessern will.“
„Gehen Sie, vielleicht wird dadurch Ihr Leben verlängert bis die Hilfe kommt, und die wird nicht ausbleiben, dessen bin ich sicher.“
„Nein, Lady! Ein solches Opfer können wir nicht annehmen, auch ist es zwecklos.“
„Wer weiß?“
„Nun, so bleibe ich auch da; dann ....“
Weiter kam er nicht, ein furchtbarer Stoß erschütterte die Sannah, ein Krachen und Knistern erscholl und pflanzte sich wie rollender Donner durch die Metallhülle weiter. Alle Räume erbebten. Dann wurde es still.
„Gott sei uns gnädig! Was war das?“ schrie Lady Flitmore.
„Wenn nur kein Unglück die andern betroffen hat!“ rief Heinz.
Und so schnell ihre schwachen Kräfte es ihnen erlaubten, eilten sie zurück in das Zenithzimmer.
„Was ist geschehen?“ rief ihnen hier Münchhausen entgegen.
„Das wollten wir Sie fragen,“ gab Heinz zurück.
„Wo ist mein Gatte?“ forschte Mietje besorgt.
„Da kommt er!“ sagte Schultze aufatmend.
Der Lord trat ein. Todesblässe bedeckte sein Antlitz.
„Gottlob! Dir ist nichts passiert!“ rief die Lady, alles andre vergessend.
„Wir wollen uns auf unser Ende vorbereiten,“ erwiderte Flitmore dumpf: „Es ist keine Hoffnung mehr für uns, mit dem Leben davonzukommen, die nächsten Stunden bringen den Tod.“
„Kein Sauerstoff mehr da?“ fragte der Kapitän.
„Ein großes Meteor hat die Sannah gestreift und ihre Umhüllung zertrümmert und zwar mußte es gerade unsre letzte Sauerstoffkammer sein, deren Decke durchlöchert wurde. Natürlich ist alles in den leeren Raum entwichen. Als ich die Ventile öffnen wollte, erfolgte gerade der Krach. Ich ahnte, was geschehen und blickte durch das Seitenwandfenster in den Raum, der durch das Licht des Kometen erhellt wurde, das durch die zertrümmerte Decke eindringt.“
Eine tiefe Niedergeschlagenheit bemächtigte sich aller. Nur John entfernte sich stillschweigend. Er wußte eigentlich selber nicht, warum; doch gedachte er, sich den Schaden zu besehen und einen Rundgang durch das Weltschiff zu machen, um festzustellen, ob sonst alles in Ordnung sei.
In Ordnung! Ja, wenn nur Luft dagewesen wäre! Es war eine mühsame Wanderung durch die sauerstoffleeren Räume und oft drohten dem Diener die Kräfte zu versagen; doch heldenmütig schleppte er sich weiter.
Im Nordpolzimmer sah er die beiden Schimpansen sterbend am Boden liegen. Sie dauerten ihn.
Er richtete die treuen Tiere auf, die sich krampfhaft an ihn festklammerten.
„Ihr sollt nicht so lange leiden müssen,“ sagte er: „Wir wollen alle drei hinaussteigen, wo gar keine Luft ist, dann sind wir gleich tot!“
Gleichzeitig begab er sich zur Lucke, um sich mit den Affen in den leeren Raum zu stürzen, denn er war der Meinung, sie würden hinabfallen; die Anziehungskraft des Mittelpunktes der Sannah, die ihn an der Oberfläche der Umhüllung festhalten würde, hatte er nicht begriffen.
Es waren durchaus keine Selbstmordgedanken, die John zu diesem anscheinend so verzweifelten Schritte trieben; klare Gedanken vermochte er überhaupt nicht mehr zu fassen, da das Blut dumpf in seinen Schläfen hämmerte, seine Lunge keuchte und röchelte, und seine Kiefer umsonst nach Luft schnappten. Ein dunkler Nebel umfing seine Sinne. Aber der gleiche Gedanke, der Mietje bewogen hatte, sich opfern zu wollen, dämmerte auch im Hintergrunde von Johns Seele, als er zur Lucke hinaufkletterte: er wollte von dem letzten Restchen Luft seinem Herrn nichts mehr wegatmen. Und dann war es noch das Mitleid mit Dick und Bobs, die ein rasches Ende finden sollten.
Unterdessen sahen die andern im Zenithzimmer einem langsamen, schrecklichen Ende entgegen. Immerhin konnte es nicht lange mehr dauern, so würde eine wohltätige Bewußtlosigkeit eintreten und ihnen das Gefühl der letzten Qualen ersparen.
Lord Flitmore war gefaßt und in den göttlichen Willen ergeben.
Heinz und Mietje zeigten sich ebenfalls ruhig: schwer wurde ihnen nur, daß sie sich nicht für die andern opfern konnten, das hatte jetzt keinen Zweck mehr.
Der Kapitän war der Unruhigste: ihm paßte das Ersticken durchaus nicht und er sehnte sich nach einer frischen Seebrise. So murmelte er denn hie und da etwas vor sich hin, das nicht danach klang, als habe er mit der schnöden Welt bereits abgeschlossen. Doch er war kein Hasenfuß und kein Zweifler; gewiß fand er sich auch noch in sein Schicksal, er mußte nur zuvor noch einiges überwinden.
Im Stillen bewunderte er Professor Schultze: der schien auf einmal alles vergessen zu haben und so schwer auch er mit dem Luftmangel kämpfte, in den letzten Viertelstunden seines Lebens noch ganz von wissenschaftlichem Eifer beseelt zu sein.
Der Zusammenstoß hatte seine Wißbegierde erregt und er forschte angestrengt nach dessen Gründen.
„Es ist klar,“ sagte er endlich mit schwacher Stimme: „Ein neuer Komet ist die Ursache des Verhängnisses, dieser neue Komet ist durch den Schweif der Amina gefahren und ein fester Bestandteil seines eignen Schweifes hat unsre Sannah getroffen.
Auch sind wir vom Kopfe unsres Kometen viel weiter entfernt als bisher: es scheint zwischen den beiden Haarsternen ein heftiger Kampf um unsre Wenigkeit entbrannt zu sein: der neue Komet will uns mit sich fortreißen, die Amina will uns nicht freigeben! Es wäre wirklich interessant, zu erleben, welcher von beiden es gewinnt: kommt die Sannah los vom Kometen Amina, so führt sie der andre Komet wahrscheinlich zurück nach unserm irdischen Sonnensystem.“
„Wirklich hochinteressant,“ sagte der Kapitän spottend. „Nur schade, daß wir das Ende des Kampfes nicht erleben und daß die Rückfahrt in unser Sonnensystem uns ziemlich einerlei sein kann; denn was kümmert’s uns, wo unser großer Sarg landet. Ja, wenn Sie uns verkünden könnten, daß irgend in der Nähe ein Hoffnungsstern uns leuchtet, daß wir innerhalb einer halben Stunde irgendwo landen können, das ließe ich mir gefallen, da hätten Ihre Beobachtungen doch einen vernünftigen Zweck.“
In abgebrochenen Sätzen, oft unterbrochen durch das vergebliche Suchen nach mehr Luft, hatte Münchhausen diese Rede hervorgestoßen. Schultze aber erwiderte etwas kleinlaut:
„In letzterer Beziehung allerdings sieht es schlimm aus: Alpha Centauri ist uns zwar verhältnismäßig sehr nahe gekommen, es lassen sich sogar schon leuchtende Trabanten seines Sonnensystems unterscheiden; doch einige Tage brauchten wir noch mindestens, um einen davon zu erreichen, selbst wenn wir nicht jetzt auch noch dadurch aufgehalten würden, daß zwei Kometen sich um uns balgen.“
„Also aussichtslos!“ brummte Münchhausen; und nun ward es wieder stille im Zimmer. Man hörte nur noch Stöhnen und Röcheln.
Flitmore beugte sich über seine Gattin. Sie hatte das Bewußtsein verloren und würde es wohl auch nicht wieder erlangen. Es wäre zwecklos und grausam gewesen, sie wieder zur Besinnung zurückrufen zu wollen.
Heinz schaute mit erlöschenden Blicken umher; er vermißte John: „Rieger fehlt!“ hauchte er.
Niemand erwiderte hierauf etwas.
Schultze blickte immer noch zum Fenster hinaus.
Plötzlich verdunkelte sich dieses; ein Schatten fiel darauf und nun wurde der Professor auf einmal lebendig, durch das höchste Erstaunen aufgeregt.
„Da hört sich doch aber alle Wissenschaft auf!“ keuchte er: „Da steht ja John Rieger, die treue Dienerseele! Mitten im luftleeren Raum! Ja, er lebt noch, er bewegt sich, er scheint ganz munter! Das ist ja die reinste Unmöglichkeit.“
Inzwischen war John außen auf die dicke Scheibe niedergekniet, winkte und klopfte aus Leibeskräften.
„Er tut ganz verzweifelt! Natürlich, er hält es keine Minute mehr aus ohne Luft. Wie er aber auch da hinauskommt und warum?“ machte Schultze kopfschüttelnd weiter. „Soll ich ihn einlassen?“
„Natürlich!“ sagte Flitmore.
„Meinetwegen!“ stimmte der Kapitän bei: „Obgleich uns die letzte Luft entweichen wird, wenn wir die Lucke öffnen.“
„Da ist ja auch Bobs! Nein, der tanzt ja ordentlich und schlägt Purzelbäume!“ rief Heinz verwundert, während der Professor sich anschickte, eiligst die Lucke zu öffnen, um John einzulassen, den er im Todeskampfe wähnte.
Doch noch ehe Schultze geöffnet, hatte Rieger sich besonnen, daß ja die Türen auch von außen aufgemacht werden konnten.
Es eilte ihm offenbar ungeheuer und er konnte es nicht abwarten, bis die da drinnen ihm den Zugang frei legten; er drückte auf den Knopf und langsam drehte sich die dicke Metallplatte in ihren Scharnieren.
Nun mußte die Luft vollends in den leeren Raum entweichen, aber was machte das schließlich aus, sie war ja Gift und ein rasches Ende konnte nur willkommener sein als ein langwieriger Todeskampf.
Aber da geschah ein Wunder!
Schultze, der der Öffnung ganz nahe stand, spürte einen frischen Luftzug hereinwehen!
Obgleich sich da selbstverständlich alle und jede Wissenschaft aufhörte, sprach er doch kein Wort, sondern sperrte Mund und Nase auf, um die köstliche, belebende Luft in seine Lungen aufzunehmen.
„Nein! Herrscht bei Ihnen eine abscheuliche Stickluft,“ rief John herein, indem er den Kopf in die Lucke steckte: „Kommen Sie doch schnell alle heraus.“
„Kannst du denn schnaufen im luftleeren Raum?“ rief der Kapitän von unten: er war empört, denn es schien ihm, als treibe der Diener einen höchst unangebrachten Scherz mit ihnen. Vielleicht hatte er den Verstand verloren, der arme John! Oder war er schon ein Verstorbener, ein Geist, der keiner Luft bedarf? Münchhausen jedenfalls brauchte noch Luft zum Leben, das spürte er nur zu sehr!
John aber rief herab: „Es herrschen ja sozusagen die herrlichsten atemsphärischen Verhältnisse hier draußen! Wirklich, werter Herr Kapitän, eine köstliche Atemsphäre, und das Merkwürdigste ist, man fällt gar nicht herunter von der Sannah: ich bin vom Nordpolfenster bis hier heraufgestiegen, wie ich der Meinung nach gesagt haben würde, aber in Wirklichkeit konnte ich von einer Steigung nichts verspüren: überall war ich oben und wenn ich dann meinte, ich müsse mit größter Vorsichtigkeit an der Rampe hinunterklettern, weil es überall rund hinunter ging, so war das auch wieder gar nicht so und keinerlei Redensart von einem vorhandenen Abstieg, sondern immer nur oben. Die Affen springen um die ganze Sannah rings herum, daß man meint, jetzt fallen sie, jetzt stürzen sie ganz ins Weite; aber sie bleiben unentwegtermaßen in vollster Aufrichtigkeit ihrer leiblichen Haltung.“
Den letzten Teil seiner sprudelnden Rede hielt John an Professor Schultze hin, der inzwischen hinausgeklettert war und nur atmete, atmete.
Jetzt nahm er endlich das Wort: „Daß man um die ganze Sannahkugel herumlaufen kann, ohne in den Weltraum zu fallen, das hat seine Richtigkeit und selbstverständlich befinden wir uns an ihrer Oberfläche überall oben. Aber daß im luftleeren Weltraum eine so tadellose Luft vorhanden ist, das kann absolut nicht stimmen und geht nicht mit rechten Dingen zu: Da hört sich ja einfach alle Wissenschaft auf!“
Nun war es heraus!
Jetzt aber wandte er sich zurück und rief in die Stube hinab:
„Was wollt Ihr denn dort unten noch länger mit der Atemnot kämpfen? Macht, daß ihr herauskommt: tatsächlich ist hier draußen eine Luft, die lebendig und gesund macht! Es ist zwar selbstverständlich ein unmöglicher Umstand und die reinste Torheit, es zu glauben, aber ich versichere euch, es ist doch so, tatsächlich so!“
Unterdessen hatte der frische Luftzug von oben seinen Weg nach unten gemacht und war auch Flitmore, Heinz und Münchhausen in die Nasen gedrungen.
Da raffte sich der Kapitän auf und bewegte seine Leibesmasse schwerfällig empor, um die köstliche Atmosphäre aus erster Hand zu genießen.
Als er mit Kopf und Brust aus der Lucke emporgetaucht war, blieb er atemlos stehen und stützte sich mit den Armen auf den Türrahmen. Und jetzt atmete und pustete er wie eine Dampfmaschine.
„He!“ mahnte Schultze: „Machen Sie, daß Sie vollends herauskommen!“
Münchhausen schüttelte den Kopf: „Muten Sie mir keine übermenschlichen Anstrengungen zu. Hier will ich verschnaufen. Ah, herrlich, köstlich!“
„Aber Mensch! Wenn Sie mit Ihrem Bauch die ganze Lucke verstopfen, müssen ja die dort unten elendiglich umkommen! Haben Sie denn gar kein Mitleid mit Ihren Nebenmenschen?“
„Ja so!“ stammelte der Kapitän beschämt: „Da dachte ich ja gar nicht daran vor lauter Lebensluft, die mir zuströmt.“ Und nun krabbelte er vollends heraus.
Jetzt kamen der Lord und Heinz nach, die Mietje an die freie Luft emportrugen.
Die Lady war noch immer ohnmächtig, als sie aber draußen in die sauerstoff- und ozonreiche Luft gebettet wurde, kam sie bald zu sich und fühlte sich nach kurzer Zeit so gekräftigt, daß sie sich zu erheben vermochte.
Nun wurde ein Spaziergang rings um das Weltschiff gemacht, ein köstlicher Spaziergang! Dabei wurden sämtliche irgend vorhandenen Lucken geöffnet, um die verdorbene Luft entweichen und die frische Atmosphäre einströmen zu lassen.
„Und sagen, daß wir um ein Haar allesamt elend erstickt wären, da uns die Lebensluft doch rings umgab!“ sagte Münchhausen. „Gestorben wären wir, nur weil wir nicht wußten, daß es eigentlich gar keine Not hatte! Hätte John nicht zufällig, oder besser durch göttliche Fügung, den Gang ins Freie angetreten, unsre Unwissenheit hätte uns das Leben gekostet.“
„Es ist aber auch rein unerklärlich, wie wir in einen mit Luft erfüllten Winkel des Weltraums geraten konnten,“ meinte der Professor. „Es war gewiß niemand zuzumuten, daß er auf diesen himmelfern liegenden Gedanken käme.“
„Doch!“ widersprach Flitmore nachdenklich: „Eigentlich hätte ich daran denken, ja es bestimmt wissen sollen. Sie haben da wieder ein Beispiel dafür, Professor, wie wir Menschen, die wir uns so gar gescheit dünken, mit Blindheit geschlagen sind, und oft nicht einmal die nächstliegenden vernünftigen Folgerungen zu ziehen vermögen aus dem, was wir bereits erkannten.“
„Wieso denn?“
„Nun, ich setzte Ihnen doch auseinander, daß meiner Ansicht nach der Stoff, der den Weltraum erfüllt, nichts andres sein kann als verdünnte Luft und daß jeder Planet oder vielmehr jeder rotierende Körper durch eine Umdrehung und Anziehungskraft die Luft um sich her verdichtet und sich so mit einer Lufthülle umgeben muß.
Welcher Schluß lag nun näher, als daß dies auch bei unsrer Sannah der Fall sein müsse? Warum sollte sie sich nicht auch mit einer Atmosphäre umgeben, die sie aus dem Weltraum an sich riß?“
„Nein!“ rief Schultze, sich an die Stirn schlagend: „Solch ein alter Esel, wie ich bin! Und solch einen Menschen tituliert man Professor! Die Sache ist ja sonnenklar! Bei unsern Landungen merkten wir natürlich nichts davon, weil wir die Sannah erst verließen, wenn sie sich in der Atmosphäre eines Weltkörpers befand. Aber hätten wir in der Zwischenzeit nur auch ein einzigesmal eine Lucke ein klein wenig geöffnet, so wäre uns frische Luft entgegengeströmt!“
„Natürlich,“ sagte der Lord wieder, „das wagten wir nicht, daran dachten wir überhaupt nicht, weil wir stets im Wahne befangen waren, dort außen gebe es keine Luft, die wir atmen könnten, vielmehr umlaure uns Tod und Verderben und lediglich der luftdichte Abschluß aller Lucken, der das Entweichen der Innenluft verhindre, schütze uns vor dem Erstickungstod.“
„Ich konnte das ja natürlich nicht ahnen,“ sagte Münchhausen, „aber daß unser Lord und vor allem Sie, allerweisester unter den Professoren, nicht so weit dachten, das ist eine Schmach für die ganze Menschheit. Was? Da halten Sie uns eingeschlossen wie in einem Bergwerk oder in einem Unterseeboot, bis wir beinahe erstickt sind, statt zu sagen: Na, Kinder! Machen wir die Pforten auf, spazieren wir hinaus, ein wenig frische Luft schöpfen? Heinrich Schultze, Sie reden immer vom Aufhören aller Wissenschaft, wenn Sie nur erst einmal des Wissens Anfänge inne hätten!“
„Wenn ich mir erlauben darf, richtig verstanden zu haben“, mischte sich John jetzt in die Unterhaltung, „so schiene mir aus Ihren respekttiefen Reden ersichtlich zu sein, als ob diese Luft auch sonst früher vorhanden gewesen sein müßte.“
„Gewiß,“ sagte Flitmore, „seit unsrer Abfahrt von der Erde besitzt unsre Sannah eine regelrechte Atmosphäre, die sich unaufhörlich aus dem Raumstoff ergänzt und erneuert.“
„Ah!“ rief Lady Flitmore: „Da hätten wir ja schon öfters solche prächtige Spaziergänge im Freien machen können. Schade, daß wir’s nicht wußten; aber jetzt wollen wir’s nicht wieder versäumen.“
„Nein, meine Liebe,“ sagte der Lord. „Vor allem aber wollen wir Gott danken, daß er uns das, was uns zuvor nur als eine Annehmlichkeit erschienen wäre, im Augenblick der äußersten Not erkennen lehrte, da es unser aller Leben rettete!“
Entzückend war der Wandel im Freien wahrhaftig zu nennen; nicht nur wegen der gesunden Luft, die begreiflicherweise anfangs allen das Wichtigste war, sondern auch wegen der wechselnden Aussicht, die man auf den Sternhimmel genoß.
Die Oberfläche der Kugel mit ihren etwas mehr als 63½ Ar bot Raum genug, sich zu ergehen; der Umfang von 141,3 Metern gestattete, in zwei Minuten die ganze Sannah in beliebiger Richtung völlig zu umwandeln.
So konnte man den gesamten Sternhimmel bewundern.
Am nächsten standen der Sannah noch die beiden Kometen; doch schien es, als ob beide sich nach entgegengesetzten Richtungen hin von ihr entfernten: somit wäre das Weltschiff aus der gezwungenen Gefolgschaft der Amina befreit worden, offenbar dadurch, daß der neue Komet die Sannah ebenfalls angezogen hatte, ohne sie jedoch ganz mit sich fortreißen zu können, da die Anziehungskraft des ersten sie noch genügend zurückhielt.
Die meisten Sternbilder am nördlichen und südlichen Himmel erschienen durchaus nicht viel anders, als von der Erde aus gesehen; die Entfernung dieser Gestirne war so groß, daß die 3½ Lichtjahre, die man ihnen näher, bezw. ferner gekommen war, gar nicht in Betracht kamen.
Diejenigen Sternbilder jedoch, denen man sich wesentlich genähert hatte, (das heißt eigentlich nur einzelnen ihrer Sterne), erschienen ziemlich verändert oder stark verschoben.
Man befand sich hier im Reiche der Fixsterne, und doch eigentlich wieder nur in der Nähe eines fremden Sonnensystems, von dem die Fixsternwelt ebenso fern schien wie von der Erde aus.
Schultze gab dieser Beobachtung folgendermaßen Ausdruck:
„Wir sind dem Sonnensystem Alpha Centauri ganz nahe und doch weit entfernt, etwa im Sternbild des Centauren uns zu befinden, wie es sich der Erde darstellt; denn die andern Sterne dieses Sternbildes sind uns meist himmelfern und scheinen von hier aus auch einer abgelegenen Fixsternwelt anzugehören.“
„Von der Erde aus betrachtet, sind wir hier unter den Fixsternen; von hier aus betrachtet aber sind uns die Fixsterne ebenso entlegen wie der Erde, wogegen uns die irdische Sonne einen Bestandteil des Fixsternhimmels auszumachen scheint.“
Die frische Luft regte den Appetit mächtig an und Münchhausen war der erste, der dies bemerkte.
„Wie wäre es,“ sagte er, „wenn wir für heute unsern Luftwandel einstellten und zunächst eine ausgiebige Stärkung zu uns nähmen? Mir ist, als hätte ich seit acht Tagen nichts gegessen.“
„Unsre Mahlzeiten sind in letzter Zeit allerdings etwas zu kurz gekommen,“ lachte Flitmore; „der Mangel an Lebensluft und Stoffwechsel ließ keinen rechten Hunger aufkommen.“
„Nicht einmal bei mir,“ bestätigte der Kapitän.
„Was viel sagen will!“ spottete Schultze.
„Komm, John!“ gebot Lady Flitmore: „Eilen wir in die Küche, ein Festmahl zu bereiten, so rasch wir eines zustande bringen; wir müssen heut unser aller Geburtstag feiern.“
„Brava!“ rief Münchhausen; „brava, Mylady, das ist ein genialer Gedanke. In der Tat sind wir heute alle zu neuem Leben wiedergeboren.“
Mietje begab sich mit John hinab und die andern folgten.
Während erstere sich in die Küche begaben, blieben letztere im Zenithzimmer.
„Ich glaube,“ sagte hier Flitmore, „ich habe nun auch eine Erklärung dafür gefunden, warum der Komet Amina uns entführt hat:
Sie wissen, meine Herrn, daß nach meiner Ansicht alle Körper mit Anziehungskraft und Fliehkraft ausgestattet sind und sich demnach gleichzeitig anziehen und abstoßen, so daß sie sich einander bis zu der Entfernung nähern, wo Anziehung und Abstoßung sich ausgleichen und einander aufheben.
Nun scheint mir in der Kometenmaterie die Fliehkraft zu überwiegen. Daher kommt es, daß die durch die Sonnennähe aufgelösten Massen dieses Stoffes mit solcher Wucht von der Sonne abgestoßen werden, daß sie einen Schweif von vielen Millionen Kilometern bilden.“
„Das würde auch erklären,“ fügte Schultze bei, „warum ein Komet, wenn er, durch die Geschwindigkeit seines Laufes die Zentrifugalkraft bis zu einem gewissen Grade unwirksam machend, dem Jupiter sehr nahe kommt oder gar die Korona der Sonne durchsaust, zwar zertrümmert und aufgelöst werden kann, niemals aber auf diese Weltkörper fällt.“
„Auch das!“ stimmte der Lord zu. „Nun aber zieht Fliehkraft die Fliehkraft an: nur so ist es begreiflich, daß ein Komet seinen ungeheuren Schweif mit sich führen und späterhin wieder einziehen kann, während die Weltkörper, die etwa diesen Schweif kreuzen, nichts davon mitnehmen, eben weil die Fliehkraft in ihm vorherrscht.“
„Aber die Sternschnuppenregen und Meteorsteinfälle?“ wandte Heinz ein. „Tatsächlich werden eben doch Teile eines Kometen oder seines Schweifes von der Erde angezogen.“
„Gewiß!“ gab Flitmore zu: „Wir müssen uns eben vorstellen, daß zwar die Fliehkraft in den Kometen überwiegt, einzelne Bestandteile aber doch positiv magnetisch sind: gerade das könnte die lockere Schweifbildung erklären, da sich dann Bestandteile darin finden würden, die einander bis zu einem gewissen Grade abstoßen müßten. Jedenfalls wäre klar, warum der Komet unsre mit Fliehkraft geladene Sannah anziehen und mit sich fortreißen mußte.“
„Ich begreife,“ sagte der Professor: „Und teils die rasende Geschwindigkeit der Fahrt, teils das Vorhandensein anziehender Elemente im Schweife verhinderte es, daß wir durch Ausschalten des Stroms freikommen konnten.“
„So stelle ich es mir allerdings vor,“ sagte der Lord. „Nun hat uns der andre Komet aus dem Anziehungsbereich der Amina fortgerissen, ohne uns jedoch festhalten zu können, weil die mit einander streitenden Kräfte unsre Sannah schließlich an die Grenze der Anziehungssphäre beider Kometen brachten. Und nun werde ich mich beeilen, den Zentrifugalstrom auszuschalten, damit wir von dem Sonnensystem Alpha Centauri angezogen werden und, wenn wir einen günstigen Planeten entdecken, dort landen können.“
Da dies allgemein für das Beste gehalten wurde, stellte Flitmore alsbald die Fliehkraft ab.
Dem Festmahl, das nun aufgetragen wurde, sprachen alle wacker zu und es entwickelte sich eine behagliche und heitere Stimmung, die nach den ausgestandenen Leiden und Todesängsten doppelt erquickte.
Dann ergab man sich einem köstlichen Schlaf, wie man ihn schon lange nicht mehr genossen hatte.
Als unsre Freunde am andern Morgen im Zenithzimmer zum Frühstück sich vereinigten, flutete heller Sonnenschein durchs Fenster, ein Wunder, das mit größter Überraschung und einem wahren Jubelausbruch begrüßt wurde; denn seit dem Verlassen des irdischen Sonnensystems war das blasse Licht des Kometen und der Schein der elektrischen Glühbirnen der Sannah das einzige Licht gewesen, das man gekannt.
Sofort nach beendigtem Mahl eilten alle ins Freie, um das neue Schauspiel zu genießen.
Die Oberfläche der Sannah strahlte im hellsten Sonnenglanz. Ihre Flintglasbekleidung verhinderte jedoch eine allzugroße Erhitzung. Es war wie der plötzliche Einzug warmen, sonnigen Frühlings nach langer, frostiger Winternacht!
„Da sind ja sozusagen zwei Sonnen!“ rief John aufs höchste überrascht, „wenn ich mir erlauben darf, mich nicht wesentlich zu täuschen, was nicht der Fall sein dürfte.“
Alle sahen empor nach den blendenden Tagesgestirnen, die allerdings zu zweit, anscheinend dicht neben einander am Himmel leuchteten.
So merkwürdig dies aussah, lange konnte man nicht hinblicken: die Augen hielten den Glanz nicht aus.
„Das stimmt,“ sagte Schultze: „Alpha Centauri ist ein Doppelstern.“ Und alsbald hielt er einen Vortrag über Doppelsterne, der hier ganz am Platze war.
„Das Vorhandensein solcher Doppelsterne,“ sagte er, „ist erst seit einigen Jahrzehnten bekannt. Allerdings hatte das Fernrohr den Astronomen schon lange enthüllt, daß da, wo man mit bloßem Auge einen einzigen Stern zu sehen vermeint, in Wirklichkeit zwei oder gar mehrere sein können, und der neblige Schimmer der Milchstraße löste sich unter dem Teleskop in dichte Massen zahlloser Sterne auf, so daß Herschel anfangs vermutete, alle Sternnebel müßten sich in genügend starken Instrumenten als solche Sternenhäufungen erweisen. Aber alle diese Sterne erscheinen nur wegen ihrer perspektivischen Lage und unendlichen Entfernung einander so nahe zu sein, daß sie für das bloße Auge zu einem zusammenhängenden Gebilde werden. In Wirklichkeit sind sie durch Himmelweiten von einander getrennt und sind durchaus nicht das, was man Doppelsterne und mehrfache Systeme nennt.
Die wirklichen Doppelsterne sind zwei Sonnen eines Sonnensystems, deren eine die andere umkreist. Bessel war der erste, der im Jahre 1847 verkündigte, Sirius im großen Hunde, sowie Procyon im kleinen Hunde müßten dunkle Begleiter haben.
Zwanzig Jahre später wurde der Begleiter des Sirius, den Bessel durch bloße Berechnung erraten hatte, von Alvon Clark entdeckt. Er schien halb so groß wie Sirius, also 12 bis 15 mal so groß wie unsere Sonne, aber 10000mal lichtschwächer, immerhin noch selbstleuchtend, sonst wäre er unsichtbar geblieben. Seine Entfernung von Sirius ist gleich der des Uranus von unserer Sonne.
Bessel hatte aus den ganz eigentümlichen Bewegungen des Sirius die Umlaufzeit seines Begleiters auf 50 Jahre berechnet; sie wurde denn auch neuerdings mit 50,38 Jahren bestimmt.
Die Doppelsterne“ umkreisen einander meist in sehr langgestreckten Ellipsen. Die Umlaufzeit der Doppelsterne, die durch die sichtbare Veränderung ihrer Lage bestimmt werden konnte, beträgt im Mindestmaß 5,7 Jahre. Doppelsterne mit noch kürzerer Umlaufzeit stehen einander zu nahe, um auch mit den besten Teleskopen noch getrennt gesehen werden zu können.
Hier hat uns denn das Spektroskop neue Enthüllungen gebracht; man sah in den Spektren einiger Sterne periodische Doppellinien auftreten, die mit Sicherheit offenbarten, daß uns hier zwei Körper Licht sandten, von denen sich einer auf uns zu, der andere von uns weg bewegte. Aus der Verschiebung dieser Linien konnte man die Umlaufszeit nach Sekundenkilometern berechnen, selbst ohne die Entfernung der betreffenden Himmelskörper zu kennen.
Alle spektroskopisch entdeckten Doppelsterne haben sehr kurze Umlaufzeiten von einem Tag bis zu 3 Jahren.
So wurde der Polarstern als Doppelstern mit viertägiger Periode und bloß 3 Kilometer Sekundengeschwindigkeit erkannt, sein Begleiter muß ihm also äußerst nahe sein.
Man hat Tausende solcher Doppelsterne entdeckt und kann getrost sagen, sie scheinen die Regel zu bilden und ein Sonnensystem, wie das irdische, mit einer einfachen Sonne, ist eine Ausnahme. Diese Sterne gehören sozusagen dem Algoltypus an, oder wie Freund John sagt, dem Alkoholtyphus, nur daß ihre Begleiter nicht dunkel sind, sondern selbstleuchtende Sonnen, manche allerdings schon im Erlöschen begriffen, wie bei Sirius.
Es gibt aber nicht bloß Doppelsterne, sondern auch vielfache Systeme, wie auch schon die Nebelflecke ein bis vier Zentralkerne aufweisen. Man hat bis zu neunfachen Systemen entdeckt und wenn diese mehrfachen Systeme verhältnismäßig selten erscheinen, so können sie nichtsdestoweniger sehr zahlreich sein, da die kleineren Sonnen, so leuchtend sie sein mögen, uns in solcher Entfernung nicht mehr sichtbar werden können.
Ein dreifacher Stern, Gamma in der Andromeda, ist ein funkelnder Edelstein, der zu den herrlichsten des Himmels gehört. Schon kleine Fernrohre offenbaren uns seine ganze Schönheit: sein Hauptstern leuchtet in goldgelbem Lichte wie ein Topas, sein Nebenstern, der wieder doppelt ist, strahlt in wundervollem blauem Glanz, ein blitzender Saphir.
Auch das Spektroskop hat uns solche vielfache Systeme enthüllt: man findet, daß periodisch sich verdoppelnde Linien sich in weiteren Perioden nochmals spalten und so vierfache Systeme verraten.
Was nun die Doppelsonne anbelangt, die wir hier vor Augen haben, so scheinen uns die beiden Gestirne von hier aus recht nahe bei einander; in Wirklichkeit sind sie 25mal weiter von einander entfernt als unsere Erde von ihrer Sonne, also beinahe so weit als unser äußerster Planet Neptun von der Erde entfernt ist, da er 29 Sonnenentfernungen von dieser hat.
Während Neptun sich in 165 Jahren um die Sonne bewegt, braucht die Nebensonne unseres Alpha Centauri 81 Jahre, um ihr Zentralgestirn zu umkreisen, welches etwa die doppelte Größe der irdischen Sonne hat.“
„Und nun,“ sagte Flitmore, „möge dieses Doppelsonnensystem der Fixsternwelt uns seine Gotteswunder offenbaren!“
Im Hochtale Edens.
Die Sannah stürzte auf Alpha Centauri zu. Je näher sie den beiden Sonnen kam, desto größer erschienen diese und desto weiter ihr Abstand von einander.
Auf dem Wege zu ihnen aber befand sich ein weiß leuchtender Stern, den Schultze durch das Fernrohr als einen dunkeln Planeten erkannte, der im Lichte seiner beiden Zentralsonnen erstrahlte und Phasen zeigte wie der Mond. Der Professor berechnete seinen Umfang auf das Doppelte des Erdumfangs und seine Umdrehungszeit auf 50 Stunden.
„Das soll unser nächstes Ziel sein,“ erklärte Flitmore: „Wir haben nach dieser ungeheuerlichen Reise wohl alle das Bedürfnis, einen Ruhepunkt im Weltall zu suchen, und wenn wir finden, daß dieser verheißungsvolle Planet uns die notwendigsten Lebensbedingungen bietet, so soll er für die nächste Zeit unser Aufenthaltsort sein; dann sind wir vorerst geborgen.“
„Ja,“ ergänzte Münchhausen, „und können uns den Kopf zerbrechen, wie wir es anstellen sollen, den Weg zu unserer armseligen Erde zurückzufinden! Mich beschleicht wenigstens öfters ein stilles, wehmütiges Heimweh nach unserem fernen Planeten; aber Gott allein weiß, ob wir ihn jemals wiedersehen werden! Offen gestanden, mir täte es leid, wenn er uns ewig entrückt bleiben sollte.“
„Schade wäre es,“ gab Schultze zu, „schon deshalb, weil wir das Wissen der staunenden Menschheit dann nicht durch den Bericht unserer großartigen Entdeckungen bereichern könnten; auch könnte es dann Jahrhunderte dauern, bis wieder einer auf unseres Lords großartige Erfindung käme und der Verkehr zwischen der Erde und den Planeten ihres Sonnensystems angebahnt würde. Andererseits eilt es mir jedoch durchaus nicht mit der Heimkehr, denn ich ahne, daß uns noch die wunderbarsten Entdeckungen bevorstehen.“
„Glauben Sie, daß der Planet, dem wir uns nähern, bewohnt sein könnte?“ fragte Mietje, der es am meisten Freude gemacht hätte, wieder mit Wesen menschlicher Art zusammenzutreffen und die mit einem Gefühl des Grauens an den Saturn zurückdachte und nicht minder an den Mars, wo nur Ungeheuer und widerliche Scheusale eine sonst öde Welt bevölkerten.
„Möglich ist alles,“ entgegnete der Professor bestimmt. „Selbst Snyder, der nur an die allmächtige tote Natur und an die Allweisheit ihrer Unvernunft glaubt, kann nicht umhin, zu erklären: „Nur ein Tor könnte glauben, daß im unendlichen Raume die schrankenlos schaffenden Gewalten des Weltalls zur Bildung einer einzigen bewohnten, von einer Sonne erleuchteten Welt geführt hätten.“ Der große Geometer Lambert ging noch weiter und sagte, da uns das Mikroskop offenbare, daß auf der Erde alles bewohnt sei, müsse auch im Weltall alles irgendwie Bewohnbare bewohnt sein.“
„Ja, das Bewohnbare!“ warf Heinz ein: „Das haben wir ja auf dem Mars und Saturn selber gesehen, obgleich auf ersterem die vernünftigen Wesen ausgestorben scheinen, auf letzterem noch nicht vorhanden sein dürften. Aber wir werden doch annehmen müssen, daß auch in den Verhältnissen der unzähligen Planeten unendliche Verschiedenheit herrscht: auf dem einen mag unerträgliche Hitze, auf dem andern unmenschliche Kälte das Leben unmöglich machen; einer kann allzuschroffe klimatische Unterschiede, ein anderer eine ungünstig beschaffene Atmosphäre haben und was dergleichen mehr ist.“
„Gewiß! Das geben wir alles zu,“ meinte Schultze: „Das alles schließt aber das Leben nicht aus, nicht einmal das Vorkommen vernünftiger Wesen. Denken Sie doch daran, wie es schon auf Erden Lebewesen gibt, die ungeheure Kälte- oder Hitzegrade unbeschädigt zu ertragen vermögen. Früher war man der Ansicht, das Vorkommen von Lebewesen in größeren Meerestiefen sei schon infolge des ungeheuren Wasserdrucks unbedingt ausgeschlossen. Heute weiß man, daß ein sehr mannigfaltiges Leben auf dem Meeresgrunde herrscht, und daß die Tiefseegeschöpfe eben in wunderbarer Weise den Bedingungen angepaßt sind, unter denen sich ihr Leben abspielt. So sagt denn auch der eben genannte Lambert, die lebenden Wesen auf den verschiedensten Weltkörpern werden eben auch den dort herrschenden Verhältnissen entsprechend gebaut und eingerichtet sein, und dagegen läßt sich einfach nichts einwenden.“
„Immerhin hat Lambert eine kühne Phantasie entwickelt,“ sagte Flitmore: „Ich will ja gewiß nichts dawider sagen, auch die kühnsten Phantasien können mit der Wirklichkeit zusammentreffen. Er scheint sich etwa gedacht zu haben, daß die Menschen nach dem Tode mit einem Leibe versehen würden, der ihnen das Fortleben auf andern Weltkörpern gestatte, und daß sie dann eben dahin kämen, wo der für sie geeignetste Ort sei. So meinte er zum Beispiel, die Kometen wären der geeignetste Aufenthaltsort für Astronomen und Jahrhunderte müßten ihnen dort sein wie uns kurze Stunden.“
„Unrecht kann ich ihm nicht geben,“ erwiderte der Professor: „Verdanken wir es nicht einem Kometen, daß wir bis in die Fixsternwelt vordringen konnten? Welch ein erhebender Gedanke für einen Sternkundigen, mit einem Kometen die unergründlichen Tiefen des Welltalls in nie endender Fahrt zu durchreisen und immer neue Entdeckungen machen zu können, oft aus nächster Nähe zu schauen, was er auf Erden kaum ahnen konnte!
Gauß wies sogar den Gedanken nicht von der Hand, man könne sich mit den Mondbewohnern in Verkehr setzen, dadurch, daß man durch die Bodenkultur auf einer größeren Ebene der Erde die Figur des pythagoräischen Lehrsatzes darstelle, indem durch breite Streifen hellgelber Kornfelder schwarze Waldvierecke eingerahmt würden. Ja, man vermutete schon im Ernst, die Marsbewohner bemühten sich, uns ähnliche Zeichen zu geben.
Nüchterner zeigt sich Klein, wenn er sagt, wahrscheinlich sei nur eine verhältnismäßig geringe Anzahl von Planeten mit vernünftigen Wesen bevölkert; da aber die Zahl der Planeten nach Hunderten von Millionen zählen dürfte, könne dies immerhin eine ganz bedeutende Zahl sein. Er sagt ferner: ‚Viele darunter mögen von Wesen bewohnt sein, die uns selbst in geistiger Beziehung weit überragen. Hier dürfen wir unserer Phantasie frei die Zügel schießen lassen und überzeugt sein, daß die Wissenschaft keinerlei Beweis weder für noch gegen die Richtigkeit eines ihrer Gebilde liefern werde‘.“
„Und dabei ist zu berücksichtigen,“ schaltete Flitmore ein, „daß Klein lediglich solche Weltkörper in Betracht zieht, die menschlichen Wesen wie uns ohne besondere Anpassung die nötigen Lebensbedingungen gewähren würden.“
„Für uns kommen zunächst auch nur solche in Betracht,“ sagte Schultze: „Jedenfalls können wir zur Zeit keinem Planeten einen Besuch abstatten, auf dem wir nicht leben und atmen können, und mag er mit noch so wunderbar angepaßten Lebewesen bevölkert sein, für uns ist es ausgeschlossen, sie kennen zu lernen, so lange es uns an der notwendigen Anpassung fehlt.“
„Höchstens von der Sannah aus könnten wir sie beobachten,“ meinte Heinz.
„Kein übler Gedanke,“ war des Professors beifällige Erwiderung. „Jedenfalls glaubten viele große Astronomen an die Bewohntheit der Planeten sogar im irdischen Sonnensystem: Huyghens, Littrow und viele andere halten sie für sehr wahrscheinlich und heute noch kann nichts Entscheidendes dagegen vorgebracht werden.“
Anderntags war man dem neuen Planeten so nahe gekommen, daß man schon an den Schattenflecken und an den Zacken seines Randes die Gebirge erkennen konnte, die sich teilweise zu ganz ungeheuren Höhen erhoben; weite blitzende Flächen verrieten die Meere, und gegen Abend nach irdischer Zeitrechnung entdeckte man die Färbung des bewachsenen Landes und erschaute spiegelnde Seen und silberglänzende Flußläufe.
Flitmore erkannte die Notwendigkeit, durch zeitweise Unterbrechung des Zentrifugalstroms die Annäherung, die mit wachsender Geschwindigkeit erfolgte, zu verzögern.
Er gönnte sich nur kurze Ruhe, während welcher Heinz das Weltschiff abwechselnd sinken und steigen ließ. Dann löste der Lord den jungen Mann in seinem Wächteramt ab und übernahm selber die letzten Maßregeln, um eine sanfte, gefahrlose Landung zu sichern.
Als Flitmore annehmen konnte, daß die Sannah schon ziemlich tief in die Atmosphäre des Planeten gesunken sei, schaltete er den Fliehstrom ein und begab sich nach außen. Bei ausgeschaltetem Strom wäre das Hinausgehen gefährlich gewesen, weil nicht mehr der Mittelpunkt der Sannah, sondern derjenige des Planeten die Schwerkraft durch seine Anziehung beeinflußt hätte, und somit ein Absturz vom Weltschiff dem Unvorsichtigen hätte drohen können.
Als der Lord hinaustrat, stieg die Sannah unter dem Einfluß der Zentrifugalkraft zunächst noch mit mäßiger Geschwindigkeit empor.
Es war eine köstliche Luft, die da draußen wehte, ja sie schien Flitmore etwas ganz besonders Einschmeichelndes und Belebendes zu besitzen, wie keine Luft, die seine Lungen bisher geatmet hatten. Ein unbeschreibliches Wohlgefühl erfüllte ihn, als er diesen balsamischen Äther einsog, der von fremden, wunderbar wonnevollen Wohlgerüchen durchdrungen schien.
Da war kein Zweifel, das war nicht mehr die gewöhnliche Lufthülle der Sannah, das war eine ganz neue, unbekannte Atmosphäre, der man sich jedoch ohne alle Bedenken anvertrauen durfte.
Nachdem der Lord dies festgestellt, eilte er wieder zurück, so gerne er länger draußen geweilt hätte. Es galt jetzt, rasch und umsichtig die Landung zu vollziehen, dann konnte man ja diesen köstlichen Äther zur Genüge genießen.
Flitmore weckte Schultze.
„Ich möchte Sie bitten, Herr Professor,“ sagte er, „nach den Klingelzeichen, die ich Ihnen geben werde, den Strom ein- und auszuschalten; ich will mich in das Antipodenzimmer ins Beobachtungsnetz begeben, von wo ich die Landschaft unter uns überschauen kann. So kann ich dafür sorgen, daß wir an einem günstigen Platze landen.“
Als der Lord sich auf seinen Posten begeben hatte, sah er, daß das Weltschiff über einem Hochgebirge schwebte, dessen Kamm schon so nahe war, daß man über seine Ränder hinweg die umgebende Landschaft nicht mehr zu erschauen vermochte: nur in weiten Fernen erblickte man hügeldurchzogene Ebenen und ausgedehnte Meere, ohne weitere Einzelheiten erkennen zu können.
Er besann sich, ob er nicht wieder aufsteigen wollte, bis die Rotation des Planeten ebenes Land unter die Sannah gebracht hätte; doch war es schließlich nicht einerlei, wo man landete? Und unter ihm lachte ein so himmlisch entzückender See, umgeben von märchenschönen Ufern in leuchtender Blütenpracht, daß er dachte, es könne wohl kaum einen schöneren Fleck geben als eben den, welchen der Schöpfer ihm hier vor Augen führte.
So gab er denn die Zeichen zum Einschalten der Fliehkraft nur so weit es notwendig war, um den Absturz zu mildern, und nach wenigen Minuten sank die Sannah sanft nieder auf eine blumenreiche Aue am Ufer des Sees.
Das Fenster des Antipodenzimmers berührte den Boden; Flitmore konnte nichts mehr sehen, eine kaum merkbare Erschütterung zeigte die glattvollzogene Landung an: das Weltschiff hatte festen Fuß gefaßt und ruhte sicher auf dem fremden Planeten.
Nun begab sich Flitmore hinauf und fand die ganze Gesellschaft ermuntert und voll Begier, zu schauen, was sich ihr nun offenbaren würde.
„Ah! Herrlich! Köstlich! Wunderbar!“ klang es in Verzückung von aller Lippen, als die Luft voll herber Frische und gleichzeitig erfüllt von beinahe betäubenden aromatischen Düften durch die geöffnete Türe hereinflutete.
Die ganze Gesellschaft eilte hinaus, die Strickleiter hinabzuklimmen und die Landschaft, die sie von unten her anlachte, übte einen solchen Zauber auf sie aus, daß sie wirklich nicht wußten, ob das ein Traumbild sei oder Wirklichkeit seine könne.
Übrigens überkam alle das seltsame Gefühl, als ob der Abstieg einen ganz außerordentlichen Kraftaufwand erfordere und wirklich eine Kletterpartie darstelle, die mühsam und ermüdend hätte sein müssen, wenn der ozonreiche Äther, den sie atmeten, sie nicht mit solcher morgenfrischer Jugendkraft und überschwellender Lust, die neuen Kräfte zu betätigen, erfüllt hätte, daß ihnen jede Anstrengung ein wahres Wonnegefühl verursachte und von Ermattung keine Rede sein konnte.
Münchhausen, der letzte beim Abstieg, empfand diese fremdartigen, erhebenden Gefühle am deutlichsten, wie es bei seinen schwerfälligen Körperverhältnissen begreiflich war.
„Ich schwebe!“ rief er wonnetrunken aus: „Ich fühle mich leichter als eine Feder! In meiner zartesten Jugend fühlte ich mich nie so frisch. Ich bin mehr als verjüngt, wirklich neugeboren: so wenig Gewicht spüre ich mehr, daß ich kaum herabkomme; es ist mir, als könnte ich fliegen!“
Man mußte lachen, wenn man seine wuchtige, massige Gestalt ansah und ihn so von Leichtigkeit und Flugfähigkeit reden hörte und Schultze rief ihm zu:
„Na! Eine Kugel, wie Sie, Kapitän, sich schwebend vorzustellen, ist ein unbezahlbarer Gedanke! Verzeihen Sie mir meine unhöfliche Heiterkeit, aber ich kann nichts dawider. Nein! Wenn uns Lady Flitmore entschwebte, so wäre dies höchst bedauerlich und schmerzlich für uns, doch nicht so gar erstaunlich bei der Leichtigkeit, die wir hier, wie es scheint, alle verspüren; aber Ihr Entschweben macht uns noch keine grauen Haare.“
„Na, na!“ bruddelte Münchhausen in komischer Entrüstung, als er jetzt den Boden betrat: „Sie bleiben doch stets unvernünftig, einsichtslos und zweifelsüchtig, oller Professor! Warten Sie nur ab, ob Sie nicht noch zu Ihrer Beschämung oder zu Ihrem Entsetzen das Wunder erleben, daß Kapitän Hugo von Münchhausen Ihren Blicken entschwebt gleich einer luftigen Sylphide, so gerne Sie ihn zurückhalten möchten.“
Der Kapitän als luftige Sylphide! Dieser Vergleich war gar zu köstlich, um nicht ein allgemeines schallendes Gelächter zu erwecken.
Münchhausen stimmte zwar mit ein, protestierte aber doch weiter: „Wegen meiner etwas kugeligen Gestalt trauen Sie mir das Fliegen nicht zu? Da sieht man wieder, wie wenig Logik die Menschen haben! Was ist denn runder, voller, kugeliger als ein Luftballon? Kann der etwa deshalb nicht steigen und schweben, he?“
„Ja, Kapitän,“ entgegnete Heinz: „Aber Sie sind doch nicht durch Wasserstoff zu solcher Fülle gebläht?“
„Viel mehr als luftiges Gas wird meine Leibeshülle zur Zeit nicht enthalten,“ behauptete der Schalk: „Wenigstens fühle ich mich ganz leer und ausgehungert, obgleich es eine Schande ist, dies zu gestehen angesichts dieser paradiesischen Landschaft. Jedenfalls werde ich ihren ganzen Zauber erst dann voll zu würdigen verstehen, wenn ein ordentliches Frühstück mir den nötigen Halt gegeben haben wird. He, John! Du hast doch die Eßvorräte nicht vergessen.“
„Nein, wertester Herr von Kapitän,“ beeilte sich dieser zu versichern: „Wie könnte ich mir gestatten dürfen, solcher Pflichtvergessenheit mich schuldig machen zu können: schon habe ich allbereits den Semaphor angesteckt.“
Dabei wies er auf den dickbauchigen Samowar, die russische Teekochmaschine.
„Semaphor ist wieder gut!“ lachte Schultze: „Du bist doch ein urgelungener Kerl, John. Ein Semaphor ist nämlich ein Zeichentelegraph und ein Samowar nicht ganz genau dasselbe.“
„Ach, Herr Professor,“ entschuldigte sich Rieger: „Diese chinesischen Ausdrücke kann ich sozusagen nicht genau behalten, weil die chinesische Sprache in meiner Schule nicht gelernt wurde und Sie verstehen ja schon, ob ich nun Semaphor oder Samopher sage, was ja ziemlich einerlei klingt.“
Der gebildete Diener wußte nämlich, daß der Tee aus China stammt und glaubte daher, der fremdartige Name der Teemaschine müsse chinesisch sein.
„Er hat gar nicht so unrecht mit dem Semaphor,“ nahm ihn der Kapitän in Schutz: „Die aufsteigenden Dämpfe des biedern Kessels sind wahrhaftig telegraphische Zeichen, die von ferne einen köstlichen Labetrank ankündigen.“
Bald saßen alle mit dampfenden Teetassen und kräftiger Zuspeise zur Hand da, obgleich sie außer dem Kapitän vor lauter Entzücken über die Wunder ihrer Umgebung kaum ein leibliches Bedürfnis verspürten.
Das Auge mußte aber auch trunken sein von der Pracht und Lieblichkeit, die ihm hier in unendlicher Mannigfaltigkeit entgegenstrahlte.
Da war zunächst die Flur, auf deren weichem Teppich man lagerte.
„Ein weicher Teppich,“ das war hier keine bloße Redensart: tatsächlich waren diese fein gefiederten Gräser in ihrem durchsichtig leuchtenden Grün so weich wie Flaum und Daunen.
Und die Blumen dieser herrlichen Wiesen! In allen Farben leuchteten sie; doch was ihnen den ganz besondern Reiz gab, war ihre unendliche Zartheit, die selbst die Frühlingsblüten der Erde in Schatten stellte. Wie ein Lichthauch, wie ein körperloser Duft, so wiegten sich diese Sterne und Kelche in der balsamischen Luft, die von ihren tausend Wohlgerüchen erfüllt war.
So durchsichtig zeigten sich die Blütenblätter, daß man tatsächlich wie durch feinstes buntes Glas den Hintergrund deutlich durchschimmern sehen konnte; je nachdem aber das Licht auffiel, wurde es in den zartesten Farben zurückgeworfen, so daß farbige Strahlenbündel von den Blüten auszugehen schienen, obgleich sie nichts von eigener Leuchtkraft besaßen und sich hiedurch von den Wunderblumen der Tipekitanga wesentlich unterschieden; dennoch erschienen sie, wenigstens bei Tag, unendlich reizvoller als diese.
Diese fremdartige und doch so über die Maßen entzückende Durchsichtigkeit schien überhaupt der Pflanzenwelt des paradiesischen Planeten ihre besondere Eigenart zu verleihen. Dort erhoben sich Büsche mit großen, prächtigen Blumen, gleich Glocken herniederhängend, gleich Tellern und Schalen schwebend, gleich kleinen Ballons oder Seifenblasen in runden, ovalen, zylindrischen oder zusammengesetzten Formen emporstrebend; im Hintergrunde ragten Wälder von früchtebeladenen Bäumen empor, teils schlanke, teils knorrige Stämme mit Zweigen voll Anmut im Schwunge der Linien, mit Blättern gleich durchbrochenen Spitzen in allen erdenklichen Musterungen; und das alles blinkte und glitzerte, wo es das Licht zurückwarf, während es vollkommen durchsichtig erschien, wo die Strahlen hindurchdrangen.
Dabei wirkten diese durchsichtigen Formen vielfach wie Kristalle und Prismen, brachen tausendfach die Lichter in allen Regenbogenfarben, wodurch je nach der eigenen Färbung des Gegenstands und der Farbe der durchscheinenden Strahlen die wundersamsten Tönungen und zartesten Mischungen zustande kamen, so daß selbst die tiefsten Schatten das Auge durch ihren Farbenreichtum erfreuten.
Und nun erst der See, dieses lachende Himmelsauge! Ein Blau von einer auf Erden nie zu schauenden Tönung, ein Hauch, ein Duft von Saphir schien seine Grundfarbe auszumachen und hart am Ufer war er so durchsichtig, daß die bunten Sandkörner am Grunde einzeln zu sehen waren; wo sich aber die Farbenstrahlen, die sich rings in der Luft kreuzten und mischten, in seinen Wassern spiegelten, da entstanden Flächen von verschiedenster Färbung und das Auge irrte umher und wußte nicht, wo es am schönsten sei, und dann wurde es wieder gefesselt von dem Goldglanz, von dem Silberschimmer, von dem Rosenhauch da und dort, als ob es sich nicht mehr loszureißen vermöchte von dem märchenschönen Anblick.
Aber es mußte wieder los: die Inseln und Inselchen, der wunderbare Linienschwung der Ufer, die Buchten und Landzungen, die fernen jenseitigen Küsten, die Hügelränder und die erhabenen Felsenmauern mit ihren zackigen Kämmen und seltsamen Formen, — das alles heischte sein Recht und nötigte zu immer neuen Ausrufen des Staunens.
In jedem Augenblick glaubte irgend wer in der Gesellschaft etwas Neues entdeckt zu haben, das alles bisher Geschaute in Schatten stellte, und man machte einander aufmerksam darauf und Augen und Seelen feierten einen ununterbrochenen Festtag beseligenden Genießens.
„Eden, Eden!“ rief Flitmore aus, der völlig aus seiner gewohnten kaltblütigen Ruhe gerissen war. „Welch andre Benennung könnten wir finden, um diesem Paradiese seinen gebührenden Namen zu geben? Und wäre der ganze Planet sonst eine trostlose, abschreckende Wüste, dieser eine Fleck rechtfertigt es, daß wir ihn mit dem Namen des Landes bezeichnen, das den Garten des Paradieses umschloß.“
„Recht haben Sie,“ rief der Professor seinerseits: „Eden soll dieser neue Planet heißen!“
Stunden vergingen, ehe der Bann des Schauens und Bewunderns soweit gebrochen war, daß Heinz den Vorschlag machen konnte, nun endlich eine Entdeckungswanderung zu unternehmen, da man lange genug der Ruhe gepflogen habe.
Alle waren damit einverstanden, denn eine jugendliche Unternehmungslust, gepaart mit neugierigem Forschungstrieb, beseelte selbst die älteren Herren. Nur der Kapitän erhob wieder Einspruch, indem er die Uhr zog.
„Wir sitzen nun hier geschlagene vier Stunden,“ sagte er: „Die Zeit ist uns freilich wie im Fluge vorbeigegangen, da wir genug zu schauen und zu genießen hatten. Nur an meinem Magen ging sie nicht spurlos vorüber. Es ist lange her seit dem Frühstück und ich stimme für ein Mittagsmahl.“
„Sie unverbesserlicher Genießer!“ schalt der Professor. Flitmore aber sagte: „Unser Freund hat recht, erledigen wir zuvor dieses leibliche Bedürfnis, dann können wir unsre Entdeckungsreise um so länger ausdehnen. Es wäre schade, wenn eintretender Hunger uns frühzeitig zu deren Unterbrechung oder gar zur Rückkehr nötigte.“
So wurde denn zuvor das Mittagsmahl bereitet und getafelt unter steter Heiterkeit und in dauernd gehobener Stimmung, eine Wirkung, welche der wunderbaren Luft und der herrlichen Landschaft wohl mit Recht zugeschrieben werden konnte.
John war zuerst mit Stillung seines Appetits fertig, während der Kapitän noch mit vollen Backen kaute.
„Es wäre mir doch eine interessant zu prüfende Frage,“ hub der Diener des Lords an, „ob hier das Holz von unserer Erde im Wasser ebenso untersinkt, wie auf dem Saturn der Fall sich augenscheinlich ereignete.“
Damit warf er ein Holzscheitchen weit hinaus in den Bach, der den Abfluß des Sees zu bilden schien, denn man befand sich hier am äußersten Ende des letzteren.
Alle sahen dem Scheite nach. Aber höchstes Erstaunen spiegelte sich in ihren Mienen und Schultze sprang auf die Beine mit dem Rufe: „Da hört sich doch aber alle Wissenschaft auf!“
Das Holz war nicht etwa untergesunken, aber es schwamm auf dem Bach zurück, geradewegs in den See hinein; das heißt es schwamm bergauf!
„Sollte eine solche Sinnestäuschung möglich sein?“ fragte Heinz: „Der Bach scheint doch ein ziemliches Gefäll zu besitzen und nun erweist er sich als ein Zufluß zum See und nicht als ein Abfluß: das Gelände muß also dorthinzu ansteigen und nicht abwärts gehen, wie es doch aussieht.“
Der Professor war hart an den Bachrand getreten.
„Von Sinnestäuschung kann keine Rede sein,“ sagte er kopfschüttelnd. „Wir stehen hier vor einem Rätsel: Der Bach hat zweifellos Gefäll und zwar ziemlich starkes Gefäll nach dem Talausgang zu; aber sein Wasser fließt tatsächlich in den See, er bildet keinen Abfluß, sondern einen Zufluß zum See, und zwar einen Zufluß von unten her; mit andern Worten, er strömt bergan. Das ist einfach allen Naturgesetzen zuwider, aber Tatsache ist es doch!“
Die andern traten näher und überzeugten sich von der Richtigkeit dessen, was Schultze behauptete: man sah, wie der Grund sich gegen den Talausgang bedeutend senkte und konnte doch deutlich die Strömung des Wassers erkennen, die in entgegengesetzter Richtung lief. Auch weitere Versuche mit Blättern und Zweigen, die in den Bach geworfen wurden, bestätigten dies.
„Das ist um den Verstand zu verlieren!“ grollte der Professor, der sich nicht beruhigen konnte: „Wie soll man so etwas erklären?“
„Verzichten wir vorerst auf eine Erklärung,“ meinte Flitmore: „Gewöhnen wir uns vielmehr gleich an den Gedanken, daß die Naturgesetze unserer kleinen Erdenwelt nicht auf allen Welten gleiche Gültigkeit haben.“
Münchhausen allein war sitzen geblieben; er konnte die Reste seines Mahles nicht im Stiche lassen, weil zufällig einmal das Wasser aufwärts floß, was ja weiter nicht gefährlich sein konnte und ihn daher ziemlich kalt ließ.
Schultze in seiner ratlosen Aufregung über das haarsträubende Wunder, das seiner Ansicht nach jedermann alles andere hätte vergessen lassen sollen, empörte sich heillos über Münchhausens bodenlose Gleichgültigkeit.
Er schrie daher den Kapitän etwas unwirsch an: „Und Sie können dabei noch so ruhig sitzen bleiben und weiter essen, als ob es sich um die natürlichste Sache der Welt handle? Wenn Sie Ihren Leib mit solchen Massen anfüllen, können Sie zuletzt mit der Last Ihres vollen Magens keinen Schritt mehr gehen.“
„O,“ erwiderte Münchhausen seelenruhig und erhob sich; „nicht mehr gehen, meinen Sie? Hüpfen kann ich, tanzen, springen, wenn Sie wollen, das Essen hat mich rein gar nicht beschwert, wie es ja bei meiner Mäßigkeit auch nicht anders denkbar ist; im Gegenteil, ich fühle mich noch leichter als zuvor, seit ich wieder etwas im Magen habe. Da, sehen Sie!“
Und, um zu beweisen, wie leicht er sich fühle, machte der Dicke einen für seine Körperverhältnisse sehr gewagten Luftsprung.
Schultze blickte starr vor Entsetzen, Flitmore sah mit ernster Würde drein, aber Heinz, Mietje und John brachen in ein krampfhaftes Gelächter aus; denn solch ein Anblick überbot doch alles, was sie je Komisches gesehen.
Münchhausen schnellte nämlich wohl drei Meter hoch in die Luft: Der Luftballon war fertig! Majestätisch schwebte sie in der Höhe, diese menschliche Kugel und langsam senkte sie sich wieder herab.
Da gestattete sich Flitmore, ohne eine Miene zu verziehen, ein Scherzwort: „Sie sind die reinste Seifenblase geworden, Kapitän,“ rief er, „wenn Sie uns nur nicht zerplatzen!“
Münchhausen aber langte sprachlos wieder auf der Erde an; er sah sich nach allen Seiten um, rieb sich die Augen und war offenbar der Meinung, sich in einem Traumzustand zu befinden, da der Traum schon öfters sogar seine Körperschwere aufgehoben und ihm den holden Wahn vorgetäuscht hatte, er fliege frei und leicht durch die Lüfte.
„Ich hab’s!“ rief Heinz: „Haben Sie nicht auch Jules Vernes Buch „Hektor Servadac“ gelesen, Herr Professor? Da wird ja eine ganz ähnliche Erscheinung geschildert, die ganz einfach aus der geringeren Anziehungskraft zu erklären ist. Offenbar hat der Planet „Eden“ eine sehr geringe Anziehungskraft, weshalb die Schwerkraft wesentlich verringert, beinahe aufgehoben wird. Daraus ließe sich dann auch das rätselhafte Verhalten des Baches einigermaßen erklären.“
„Junger Freund,“ sagte Schultze, „auf dieser Erklärung werden Sie selber nicht beharren, wenn Sie ein wenig überlegen: mag Anziehungskraft und Schwerkraft noch so gering sein, so wird das Wasser doch nimmermehr bergauf fließen. Übrigens kann die Anziehungskraft unseres Planeten überhaupt keine so geringe sein: seiner Masse nach zu urteilen, müßte sie sogar größer sein als die irdische, obgleich ich zugeben will, daß wir über das Wesen der Schwerkraft eigentlich so gut wie nichts wissen, also auf die Richtigkeit solcher Schlüsse trotz vieler Scheinbeweise nicht bauen können; dennoch will ich eher glauben, daß wir sämtlich durch unseren langen Aufenthalt in der Sannah so stark mit Fliehkraft geladen sind, daß unsere Schwere dadurch beinahe überwunden wird.“
Natürlich glaubte der gute Professor selber nicht an eine solche Möglichkeit, die überdies das Verhalten des Baches um nichts verständlicher machte; aber irgend einen Erklärungsversuch mußte er als Mann der Wissenschaft doch beitragen, und wenn in solchem Falle kein gewichtiger zur Hand ist, so muß vorerst auch der schwächste genügen, um das wissenschaftliche Gewissen zu beschwichtigen, das, wenn irgend möglich, nichts Unerklärliches gelten lassen will.
In diesem Augenblick erschienen Dick und Bobs, die bisher auf eigene Faust in der Umgegend Entdeckungen gemacht und sich an den herrlichen Früchten der Wälder Edens gelabt hatten.
Und siehe da! Die Schimpansen kamen sozusagen durch die Luft geflogen, denn sie machten fünf bis sechs Meter hohe Sätze und mochten mit jedem dieser Sprünge ihre 25 Meter zurücklegen.
„Hollah! das ist ja fidel!“ rief Heinz übermütig: „Sind wir alle mit derselben Fliehkraft geladen wie die Schimpansen und der Kapitän, so können wir ja einen fabelhaften Indianertanz aufführen!“ Und gleichzeitig machte er einen Satz, der ihn drei Meter hoch durch die Luft über die Köpfe der andern wegführte.
Das war ungemein lustig anzusehen, so verblüffend und unglaublich es erschien; es war aber auch gar zu verführerisch, an sich selbst zu erproben, ob man mit der gleichen wunderbaren Flugfähigkeit begabt sei, und so machten auch John und Schultze den Versuch, und selbst Lady Flitmore konnte nicht widerstehen, raffte ihr Kleid zusammen und sprang.
„Nein, wie herrlich!“ rief sie.
In der Tat konnte es ein wonnigeres Gefühl kaum geben, als dieses leichte, mühelose Emporsteigen in die balsamischen Lüfte und dann dieses sanfte Herabschweben. Alle körperliche Schwere schien abgestreift und wie ein freier, beseligter Geist kam man sich vor.
Der Lord allein stand da und schaute, doch mit sichtlichem Vergnügen, den gelungenen Flugversuchen seiner Genossen und seiner Gattin zu; dazwischen setzte er den photographischen Apparat in Tätigkeit und machte eine Momentaufnahme um die andere.
Auch Münchhausen beteiligte sich mit Eifer an dem heiteren Gehüpfe, nachdem er sich überzeugt hatte, daß es kein Traum war, sondern daß er wirklich gleich allen andern eine neue, reizvolle Fähigkeit besaß. Besonders ergötzlich erschien sie den Gefährten gerade an ihm, und oft blieben sie stehen, um den fidelen Anblick der fliegenden Tonne zu genießen, wobei ihnen der biedere Kapitän ihr herzliches aber nie spöttisches oder böse gemeintes Gelächter durchaus nicht übel nahm.
Als nun alle eine Pause machten, rief Münchhausen:
„He, würdiger Lord! Halten Sie allein es unter Ihrer Würde, an solchem großartigen Ballett sich zu beteiligen? Das gibt es nicht! Herunter von dem Piedestal Ihrer Erhabenheit und hinauf mit Ihnen ins paradiesische Luftrevier! Eine geschlagene Viertelstunde bieten wir Ihnen zum Ergötzen und zur Erheiterung das niegesehenste Schauspiel, jetzt wollen wir unsererseits uns an Ihren Sprüngen weiden.“
„Ja, Lieber!“ sagte Mietje: „Versuche es doch auch einmal, ich sage dir, ein herrlicheres Gefühl kann es nicht geben.“
Flitmore war bei all seiner Würde nicht der Pedant oder Geck, sich nicht auch in belustigenden Darbietungen zeigen zu können. Er ließ sich nicht lange auffordern, sondern führte eine Reihe so wunderbarer Bockssprünge aus, daß begeisterter, wenn auch sehr heiterer Beifall der Zuschauer ihn belohnte.
„Jetzt aber,“ mahnte diesmal Münchhausen zuerst, „nach diesen für die Verdauung äußerst wohltätigen Übungen, wollen wir doch wohl die geplante Entdeckungsreise antreten.“
John mußte zur Vorsicht, in Erinnerung an das fatale Vorkommnis auf dem Saturn, die Türe des Polzimmers schließen, durch das man die Sannah verlassen hatte. Einen Wächter zurückzulassen hielt man nicht für nötig: Keiner sollte von der vermutlich so interessanten Wanderung ausgeschlossen sein.
Nun ging es zunächst dem engen Taleingang zu, durch den sich der Bach heraufwand.
Jeder der Wanderer hatte eine Tasche umhängen, welche außer Lebensmitteln auch ein zusammengerolltes Zelttuch und die auseinandergenommenen Aluminiumzeltstangen enthielt.
Als der Bach durchschritten war, dehnte sich vor den Augen der Wanderer eine entzückende Fernsicht aus.
Zur Rechten setzte sich das Gebirge noch fort in langer Kette von kahlen Felsen und bewachsenen Hängen und Gipfeln, allmählich in weiter Ferne zu niedrigen Hügelketten herabsinkend, deren Ende in den Horizont verlief.
Von dieser Seite her kam der Bach in sanfter Steigung herauf.
Geradeaus fiel das Hochgebirge in steilen Stufen ab, die jedoch bei einiger Vorsicht den Abstieg gestatteten.
Zur Linken stürzten die Felswände großenteils senkrecht in bodenlose Tiefe.
Schultze schätzte die Höhe, auf der man sich befand, auf 6000 bis 7000 Meter.
„Ich bezweifle,“ sagte er, „ob wir in drei Tagemärschen das Tiefland erreichen können.“
„Wir haben durchaus keine Eile,“ erwiderte Flitmore.
„Gewiß nicht, wenn uns die Lebensmittel nicht ausgehen,“ gab der Professor zu.
„Solche haben wir allerdings bloß auf vier Tage mitgenommen,“ sagte der Lord: „Doch zweifle ich nicht, daß die Wälder, die da und dort auf unserem Wege liegen, uns genießbare Speise in Hülle und Fülle bieten werden.“
„Das ist allerdings anzunehmen, und wir werden uns ja bald genug davon überzeugen können, ob dem so ist,“ gab Schultze zu: „Andrerseits befürchte ich, daß wir dort unten einer ganz unerträglichen Hitze ausgesetzt sein werden, da die Temperatur auf diesen Höhen so milde ist, während man sie unter ewigem Eis und Schnee begraben erwarten dürfte.“
„Das werden wir ja auch sehen,“ versetzte Mietje: „Vorerst werden solche Erwägungen uns nicht abhalten dürfen, den Abstieg zu unternehmen.“
Inzwischen ließen die Wanderer ihre Blicke weithin schweifen; zunächst aber erregte eine Erscheinung in verhältnismäßiger Nähe Heinz’ Aufmerksamkeit und Verwunderung.
„Über die Felswände dort drüben,“ sagte er und wies zur Linken, „stürzt sich ein mächtiger Wasserfall herab: ich meine doch, die Wasser Edens fließen bergauf?“
„Wirklich!“ rief Schultze: „Das Gewässer tobt und rast, schäumt und schießt in die Tiefe, ganz wie auf der Erde! Da hört sich doch alle Wissenschaft auf!“
Münchhausen lachte herzlich: „Da haben wir’s einmal wieder!“ sagte er: „Vor kaum einer Stunde gebärdete sich der Professor wie rasend, weil einmal ein Bach bergauf fließt, und jetzt erscheint es ihm bereits unbegreiflich, wieso einer bergab fließen könne!“
„Ja,“ sagte Schultze gekränkt, „das gebietet doch die Vernunft: sind hier einmal die Naturgesetze auf den Kopf gestellt, so muß das doch auch für alle Fälle gelten, aber einmal so, einmal anders, das ist wissenschaftlich einfach unzulässig.“
„Nanu! Hier soll eben Ihre Wissenschaft vollends gründlich zu Schanden werden,“ lachte der Kapitän.
In der fernen Ebene konnte man Hügel und Täler, Flüsse und Seen erkennen. Unter anderem auch einen sehr großen See mit mehreren Inseln.
Zur Linken war die Meeresküste nicht sehr fern: mit teils steilen, teils sanft geneigten, stellenweise auch ganz flachen Ufern zog sie sich bis zum Horizont hin, durch Buchten und Fjorde, Landzungen und Vorgebirge, in wunderbarer Schönheit gezeichnet, gezackt und geschwungen und öfters scharf eingeschnitten.
Auch mehrere Inseln tauchten aus den Fluten des Ozeans auf, darunter sehr ausgedehnte und manche mit Gebirgsmassen von erstaunlicher Höhe, die wie dunkle Riesen drohend emporragten.
Schneegipfel waren nirgends zu erkennen.
Die Hügelketten und Berge des Flachlandes schienen meist bewaldet oder mit saftiggrünen Matten bedeckt zu sein. Durch das Fernglas konnte man Waldungen und Wiesenflächen, oft weite Prärien auch in der Ebene unterscheiden. Große Strecken machten den Eindruck bebauten Landes; doch konnte dies auf so weite Entfernung nicht mit Sicherheit festgestellt werden.
Spuren von menschlichen Ansiedelungen waren nicht zu entdecken; wohl aber merkwürdige Felsbildungen in den Tälern und Ebenen, wie auch auf einzelnen Höhen: Blöcke, Türme, Zacken und Schroffen, die vereinzelt aufstrebten, aber meist so dicht beieinander standen, daß sie den Eindruck von Dörfern und Städten dem unbewaffneten Auge leicht vortäuschten.
Soweit orientiert, begannen unsere Freunde den Abstieg in gerader Richtung, da sich rechts die Höhenzüge unabsehbar hinzogen, links aber senkrecht standen.
Hier, geradeaus, war es möglich hinunterzukommen; doch Vorsicht mußte geübt werden, da es an jähen Abstürzen nicht mangelte.
Als sie mit dem Abwärtsklettern begannen, hatten sie wieder das gleiche Gefühl, wie am Morgen, als sie auf der Strickleiter die Sannah verließen: es schien ihnen, als koste jeder Schritt eine besondere Anstrengung, als gälte es ein unsichtbares Hindernis zu überwinden, ja, als gehe es nicht eigentlich bergab, sondern sehr steil aufwärts; aber die Anstrengungen ermüdeten nicht, sondern erregten vielmehr ein besonderes Vergnügen, als tue hier dem ausgeruhten Körper die Mühe so wohl, wie sonst die Ruhe dem erschöpften Leibe tut.
„Kapitän, nehmen Sie sich in acht!“ rief plötzlich Schultze besorgt: „Sie werden noch abstürzen mit Ihrer Tollkühnheit, Ihr Bauch kriegt das Übergewicht!“
„Pah!“ rief Münchhausen zurück, der hart am Rande einer Felswand stand, die beinahe überhängend an die 50 Meter abstürzte. „Ich spüre keinen Hauch von Schwindel, obgleich ich sonst durchaus nicht schwindelfrei bin, seit ich an Alter und Umfang zunehme. Schwindel ist ja eigentlich eine Schande für einen alten Seebär, und ich freue mich ordentlich, ihn hier los zu sein. Übrigens kriegt mein Bauch niemals das Übergewicht, er ist ja so leicht wie ein Luftballon, wie Sie jetzt wissen dürften.“
Dabei machte der Unvorsichtige eine ungeschickte Bewegung, die an solch ausgesetzter Stelle lebensgefährlich war, und tatsächlich, er glitt aus und stürzte ins Leere.
Ein Schrei des Entsetzens entfuhr aller Munde, nur der Lord blieb stumm; aber die Leichenblässe, die sein Antlitz überflog, verriet, daß er nicht minder erschrocken war als die andern.
Der Sturz ins Leere war übrigens nur der unwillkürliche Gedanke, der den erschreckten Zuschauern hatte kommen müssen: in Wahrheit erfolgte gar kein Sturz, sondern Münchhausen, der selber erbleichte, als er den Boden unter den Füßen verlor, schwebte sanft hinab und landete nach etwa 10 Sekunden am Fuße des Felsens, ohne auch nur mit den Füßen hart aufzustoßen.
Flitmore fand zuerst seine Fassung wieder: „Wie schwer können wir uns doch von alt eingewurzelten Vorstellungen losmachen!“ sagte er. „Haben wir es nicht selber erst vor Kurzem zur Genüge erprobt, wie leicht die Luft hier unsere Körper trägt, wie schnell wir emporkommen und wie gemächlich das Niedersinken erfolgt? Und doch konnten wir die Folgerungen daraus nicht ziehen.“
„Ja, das ist doch etwas anderes,“ meinte seine Gattin: „Vom ebenen Boden aufspringen erscheint gefahrlos, nicht aber von einer Anhöhe in einen Abgrund setzen.“
„Und doch ist es nichts anderes, da wir ja so hoch sprangen, daß unter irdischen Bedingungen der Sturz auf den Erdboden zurück verhängnisvoll hätte werden müssen,“ entgegnete der Lord.
„Ja, Toren sind wir!“ bestätigte Schultze: „Da plagen wir uns mit einem beschwerlichen Abstieg, der zwar nicht ermüdet, aber äußerst langwierig werden muß, und könnten doch wissen, wie leicht wir hier schwebend hinab können. Nun aber man los!“
Aber der Professor mußte nun an sich selber erfahren, daß Lady Flitmore doch nicht so unrecht gehabt hatte mit ihrer Bemerkung; denn als er den weniger schroffen Seitenhang verließ und an den Rand der jähen Felsmauer trat, wagte er doch nicht den Sprung ins Leere: die neue Erkenntnis konnte nicht so schnell die Scheu vor solchem Wagnis überwinden.
Da trat Flitmore vor und ohne zu zögern machte er den entscheidenden Schritt. Und siehe da! er schwebte so gelinde hinab wie der Kapitän.
Natürlich! Das mußte doch so sein!
Mietje folgte ihrem Gatten auf dem Fuße, wie sie es auch getan hätte, wenn es sich um eine weniger unbedenkliche Sache gehandelt hätte.
Da schämte sich Schultze seiner Schwäche und hüpfte hinaus, noch ehe Heinz und John mit Dick und Bobs heran waren.
Bald waren alle um Münchhausen versammelt und schüttelten ihm anerkennend die Hand, als ob es Absicht und Wagemut gewesen wäre, die ihn veranlaßt hätten, ihnen das dankenswerte Beispiel zu geben.
Nun ging der Abstieg rasch von statten, weil er nur noch in Luftsprüngen vollzogen wurde und bei steilen Absätzen in einem Hinabschweben, das dem Fluge gleich kam.
Diese Art der Fortbewegung hatte überdies etwas so ungemein Reizendes und Wohliges, daß die Stimmung so angeregt und heiter war, wie kaum je die glänzendste Feststimmung auf der alten Erde.
Man war schon ziemlich weit unten, als die erste Rast gemacht wurde, nicht etwa um auszuruhen, denn von Ermattung spürte niemand etwas, sondern weil der Kapitän erklärte, es sei wieder hohe Zeit zu einem Imbiß.
Außerdem verlangte auch Schultze einen Aufenthalt, da man den ersten Wald erreicht hatte, dessen Pflanzen- und Tierwelt er näher in Augenschein nehmen wollte; denn der liebliche Vogelgesang und sonstige Laute, die aus dem Walde ertönten, bewiesen, daß hier Leben zu treffen sei, während das paradiesische Tal auf der Höhe trotz seiner wunderbaren Schönheit kein lebendes Wesen zu beherbergen schien, wenigstens hatte sich keines blicken lassen.
Die Baumstämme, die der Professor beim Betreten des Waldes zunächst untersuchte, zeigten ein festes und zähes Gefüge; ob man aber den Stoff, aus dem sie sich aufbauten, Holz nennen sollte, erschien sehr zweifelhaft, denn es war ein durchsichtiger Stoff wie Harz oder Bernstein, das heißt eben nur seiner Durchsichtigkeit nach; sonst war er faserig wie Holz und ließ sogar Schichtungen gleich Jahresringen erkennen, die Rinde jedoch bestand nur aus einer dünnen, zähen Haut, die völlig transparent war.
Die Färbung dieser Stämme ging vom Goldgelben bis zum Dunkelbraunen, vom Kristallklaren bis zum Silberweißen.
Die Blätter waren meist grün in den verschiedensten Abstufungen, auch gelb oder rötlich und unterschieden sich in der Färbung nicht wesentlich von den irdischen; nur waren sie eben auch durchsichtig und dann von den verschiedensten anmutigen Formen, vielfach gehäkelten Spitzen ähnlich.
An Schatten fehlte es nicht, trotz der Durchsichtigkeit des Laubes und der Stämme: Die Dichtigkeit der Kronen schwächte das Licht an vielen Stellen derart, daß nur ein schwacher Farbenschimmer auf dem Boden spielte, der im Vergleich zu den lichteren Stellen als tiefer aber bunter Schatten erschien.
Auch Nadelbäume fanden sich, und diese waren von ganz besonderem Reiz, weil ihre feinen Nadeln, die wie von Glas aussahen, je nach der Art alle Regenbogenfarben aufwiesen. So konnte man von roten, gelben, rosafarbenen, orangeroten, violetten, goldenen, silbernen, himmelblauen und dunkelblauen Tannen und Fichten reden, wenn man diese irdischen Namen auf die Nadelhölzer Edens übertragen wollte.
Kein Baum war ohne eßbare Früchte; auch diese waren alle durchsichtig und völlig genießbar, wie die Schimpansen bewiesen, die alle samt den Kernen verzehrten.
Die Früchte waren von verschiedenster Größe und Färbung; vom Umfang eines Riesenkürbisses bis zu dem einer Pflaume waren alle Zwischenstufen vertreten. Bei den größten glich oft der Kern schon einer Kokosnuß. Diese Kerne waren meist mehlreich und sehr nahrhaft; sie konnten Zwieback und Brot vollständig ersetzen und schmeckten weit kräftiger und angenehmer als diese.
Das Fruchtfleisch war meist sehr saftig und genügte, jedes Durstgefühl zugleich mit dem Hunger zu stillen; bei etlichen Arten war es zuckersüß, bei andern ohne Süßigkeit, stets aber aromatisch und von entzückendem Wohlgeschmack; die Nadelbäume trugen eßbare Zapfen von ziemlicher Trockenheit, die teilweise an Schokolade, teilweise zu ihrem unbedingten Vorteil an nichts Irdisches erinnerten.
Schließlich entdeckten unsre Freunde noch, daß auch die Zweige und Blätter der Bäume und Büsche eßbar waren. Auch dies wurde ihnen durch das Behagen verraten, mit dem Dick und Bobs sie zerknabberten.
Gewöhnlich entsprach ihr Geschmack so ziemlich dem der Frucht, doch eine angenehme Säure gab ihm eine willkommene Abwechslung.
Ganz besonders begeistert war Münchhausen von der Entdeckung einer oder vielmehr einiger Arten von Früchten, die er alsbald „Grogfrüchte“ benannte, und die er fortan mit wunderbarem botanischen Scharfblick sofort überall herauserkannte. Es waren dies eigentlich Beeren, aber Riesenbeeren von Orangengröße, die an niederen Stauden wuchsen. Schon Stengel und Blätter dieser Büsche fühlten sich warm, beinahe heiß an; die Beeren enthielten einen wirklich heißen, würzigen Saft von unterschiedlichem Aroma, der sehr stark roch und schmeckte, als sei es tatsächlich Grog oder Punschbowle; er stieg jedoch nicht zu Kopf, übte dagegen eine ungemein belebende und kraftschwellende Wirkung aus.
Der Kapitän unterschied zwischen steifen und weniger steifen Grogfrüchten; den ersteren gab er bei weitem den Vorzug.
Natürlich lernten unsre Freunde nicht alle diese Genüsse auf einmal kennen: die Menge und Mannigfaltigkeit war zu groß; aber es dauerte verhältnismäßig kurze Zeit, bis sie alles durchgekostet hatten und nun nach Lust und Belieben ihre Wahl treffen konnten; denn sie dachten nicht mehr daran, irgend welche andre Nahrung zu sich zu nehmen, als die, welche ihnen Edens Wälder und Gefilde boten und die durch nichts weder an Güte noch Bekömmlichkeit zu übertreffen schien.
Giftpflanzen oder irgendwie schädliche Gewächse gab es auf diesem gesegneten Planeten anscheinend überhaupt nicht.
Gleich beim Eintritt in den Wald machten sie auch Bekanntschaft mit dessen Insekten- und Vogelwelt.
Erstere zeigte nichts Widerliches oder Schreckliches, es waren harmlose Käfer und Kriechtiere, Mücken und Schmetterlinge, die sich sowohl durch schöne Formen wie durch prächtige Farben auszeichneten und als besondere Merkwürdigkeit eine ähnliche Transparenz zeigten wie die Pflanzen und Blüten. Sie glitzerten, schimmerten und schillerten, blitzten, flimmerten und flirrten wie leuchtende Edelsteine.
Die Vögel hatten kein Gefieder, sondern bloß ein buntes Flaumkleid, das aber lebhaft gefärbt und wunderbar schön gezeichnet war; auch ihre Flügel waren federlos und konnten im Bau am ehesten mit Schmetterlingsflügeln verglichen werden, nur daß sie ebenfalls mit Flaum behaart und im Ruhezustand nicht emporgerichtet, sondern an den Leib angelegt waren, auch die entsprechende Wölbung zeigten.
Wo Menschen beinahe fliegen konnten, mußten sich diese Vögel auch mit so einfachen Flugwerkzeugen bis in die höchsten Höhen erheben können.
Alles in allem, eigentümlich war auch die Vogel- und Insektenwelt Edens; aber so ganz fremdartig erschien sie den Erdenbewohnern doch nicht, und vor allem, sie hatte nichts Abstoßendes, Unheimliches oder Gefährliches, im Gegenteil hervorragende Reize, die Auge und Herz erfreuten.
Ganz besonders galt das letztere, das Herzerfreuende, von dem ungemein lieblichen Gesang der Vögel, mit dem weder die Nachtigall noch sonst ein gefiederter Sänger der Erde wetteifern konnte. Das waren richtige Melodien, die da ertönten, und zwar erhebende und einschmeichelnde Weisen! Man hätte wohl kaum die Arten nach ihren melodischen Motiven unterscheiden können, höchstens an der Klangfarbe ihres Organs, denn keine Art war an besondere Tonfolgen gebunden: es war ein wirklich individuelles Konzert; jeder war Komponist und beherrschte die ganze Tonleiter und brachte immer neue, einfache, aber doch bezaubernde Weisen hervor, und nie tönten diese von verschiedenen Seiten störend durcheinander; es schien, als werde der jeweilige Einzelsänger respektiert und die andern begleiteten ihn nur mit harmonischen Untertönen.
Noch nicht lange hatten unsre Freunde diesen Zauberflöten gelauscht, sich gleichzeitig an den ersten köstlichen Früchten erlabend und die lebendigen Edelsteine bewundernd, die im durchsichtigen Moose umherkrochen und hüpften, oder von Blume zu Blume schwirrten, als plötzlich Mietje einen leisen Schrei ausstieß.
Alle wandten sich nach ihr hin, denn bisher hatte jeder seine eigenen Beobachtungen angestellt.
Aber was sahen sie nun!
Ein großer Vierfüßler, am ehesten einem riesigen Löwen vergleichbar, war lautlos in die Lichtung getreten und hatte ohne weiteres sein mächtiges, mähnenumwalltes Haupt auf ihren Schoß gelegt!
Und Lady Flitmore? Sie streichelte ihn!
Der erste Schrecken, den das Erscheinen des gewaltigen Tieres natürlich in ihr erwecken mußte, hatte ihr den leichten Ausruf entlockt; sie hatte den Löwen, wie ihn später unsre Freunde der Ähnlichkeit halber nannten, aber erst bemerkt, als er unmittelbar von der Seite her an sie herantrat und ehe sie noch aufspringen oder sich irgend besinnen konnte, hatte das Tier sich schon niedergelegt, den Kopf in ihren Schoß schmiegend.
Wie es nun mit den großen, klugen und so sanften, harmlosen Augen zu ihr aufblickte, war eine solche Ruhe über sie gekommen und zugleich ein solches Wohlgefallen an dem schönen, stolzen und anscheinend so gutmütigen Geschöpf, daß sie unwillkürlich begann, dies anschmiegende königliche Haupt zu streicheln und zu liebkosen.
Flitmore, besonnen, wie er meist auch in den gefährlichsten Augenblicken war, erhob sich ganz langsam, um das Tier nicht zu erschrecken, dessen vermutlich wilde Natur ja immer noch zum Ausbruch kommen konnte.
Er zog für alle Fälle den Revolver und ging sachte auf seine Gattin zu; der Löwe erhob das Haupt.
„Laß ihn!“ bat Mietje den Gatten.
„Ich tue ihm nichts, wenn er nicht gefährlich wird,“ beruhigte sie der Lord.
Dabei legte er dem Löwen die Linke auf das Haupt.
Das Tier sah ihn nur an.
Jetzt griff ihm der Lord unter den Kiefer, stets bereit, ihm eine Kugel ins Auge zu jagen, sobald er böse Absichten zeigen würde.
Das Tier aber zeigte sich verständig und lenksam. Ein leiser Druck genügte, es sich erheben zu lassen, und ein schwacher Schub von der Seite her veranlaßte es, ganz gemütlich umzukehren und wieder im Walde zu verschwinden.
„Ach!“ sagte Mietje. „Ich bin ganz froh!“
„Das glaube ich, Lady,“ fiel Schultze ein, „wahrhaftig, das glaube ich, daß Sie froh sind, dieses gefährliche Raubtier auf so gute Art los geworden zu sein; wir alle haben für Sie gezittert und gebebt.“
„Nein!“ sagte Mietje: „Sie mißverstehen mich, Herr Professor; dieses gutmütige Geschöpf flößte mir nur im ersten Augenblick einen kleinen Schrecken ein, ehe ich seine Harmlosigkeit aus seinen Augen erkannte. Nein, nein also! Ich wollte sagen, ich bin so froh, daß auch die Säugetiere auf diesem, Planeten denen auf der Erde gar nicht so unähnlich zu sein scheinen. Ich weiß nicht, aber auf dem Mars und dem Saturn kam mir die Welt ganz unheimlich vor, und das war doch noch in unserm Sonnensystem. Da war ich schon darauf gefaßt, wenngleich ohne mich darauf zu freuen, daß es in der entfernten Fixsternwelt noch weit seltsamer und grauenvoller aussehen werde.“
„Ein Glück,“ meinte Münchhausen, „daß, sofern wir aus dem Geschauten weitere Schlüsse ziehen dürfen, diese Tierwelt Edens wenigstens an Raubgier, Blutdurst und damit an Gefährlichkeit der irdischen Raubtierwelt bei weitem nachzustehen scheint.“
„Lassen wir die Vorsicht nicht aus den Augen,“ mahnte Flitmore. „Diesmal lief es gut ab; doch niemand kann uns gewährleisten, daß wir nicht bedenklichere Begegnungen erleben.“
„Vor den Löwen Edens fürchte ich mich schon nicht mehr,“ meinte die Lady zuversichtlich. „Das wäre ja schnöder Undank und verwerfliches Mißtrauen!“
Beim Weiterwandern durch den Wald wurden noch zahlreiche Vertreter der Säugetierwelt angetroffen; doch zunächst lauter harmlos aussehende Geschöpfe, die sich alle durch auffallende Schönheit und Lieblichkeit auszeichneten. Das verstand sich aber nicht bloß von der Färbung und prächtigen Zeichnung der Felle und der Anmut und Eleganz der Glieder, sondern namentlich von den Gesichtszügen, deren kluger Ausdruck und ungemein freundlicher Blick sofort für sie einnahm. Da waren Tiere, die an den Hirsch, das Reh, das Zebra, die Antilope, die Giraffe, das Pferd, an Hunde, Katzen und Eber erinnerten oder an andere irdische Arten; aber alle übertrafen ihre Erdenvettern durch die Vollkommenheit ihrer Formen, den Reiz ihres Haarkleides und die Schönheit ihrer sanften Angesichter. Irgendwelche Scheu schien ihnen völlig unbekannt.
Plötzlich blieb John starr und regungslos stehen.
Vor ihm bäumte sich eine große Schlange mit wunderbar schillerndem bunten Leibe empor. Er war auf sie getreten und erwartete nun jeden Augenblick den Biß des Reptils, das sich krümmte und wand und den mit scharfen Zähnen bewehrten Rachen schmerzvoll aufsperrte:
In der Betäubung des Schreckens dachte er gar nicht daran, wegzutreten, um das Tier von seiner Last zu befreien und vielleicht seiner Rache zu entgehen.
Nun wand sich der leuchtend gestreifte Leib an seinen Beinen empor und wieder hinab; aber die Schlange biß nicht, sondern stöhnte nur.
Ein Zuruf Flitmores brachte John endlich zur Besinnung; er sprang zur Seite, und das Reptil, vom Gewicht seines schweren Fußes befreit, glitt lautlos an ihm hinab und kroch langsam davon.
„Wahrhaftig, hier scheint auch das giftigste Geschöpf seine Schrecken verloren zu haben,“ rief Schultze: „So hättest du einer irdischen Schlange mal kommen sollen, Johann! Da wärest du nicht ohne Schaden davongekommen.“
Nun trat die Gesellschaft hinaus in die glitzernde Savannah, aber erstaunt, erschrocken und zugleich entzückt hemmten sie den Fuß.
Was für kolossale Tiere weideten da! Mammutähnliche Elefanten, Einhörner, den Fabelwesen alter Sagen gleich, Büffel und Giraffen, Kamele, Riesenbären, gefleckte und gestreifte Tigerkatzen, Panther und Leoparden, Löwen und Wölfe, Schafe und Ziegen wanderten da umher, miteinander und durcheinander, und weideten friedlich und gemütlich die durchsichtigen Halme ab oder langten sich Früchte von den hohen Stauden und den Bäumen am Waldsaume.
Das war eine unabsehbare bunte Herde, die sich hier tummelte und labte, in der weiten Ebene zerstreut!
Wohlgemerkt, diese Geschöpfe zeigten eine so in die Augen fallende Ähnlichkeit mit den genannten irdischen Arten, daß unsre Freunde nicht in Verlegenheit kamen, ihnen sofort die entsprechenden Namen beizulegen; andrerseits aber wiesen sie doch wieder wesentliche Unterscheidungsmerkmale auf, namentlich auch wieder dadurch, daß sie eine höhere, edlere Stufe darzustellen schienen, oder, wie Mietje sich ausdrückte, es war die Tierwelt der Erde, zum Teil mit ihren ausgestorbenen Arten, in idealisierter, vollkommenerer Form.
John tritt auf eine Schlange.
„Wagen wir uns wohl da mitten durch?“ fragte Münchhausen.
„Voran!“ kommandierte der Lord: „Von diesen Geschöpfen droht uns keine Gefahr.“
Heinz aber bemerkte: „Immer mehr rechtfertigt dieser Planet den Namen, den wir ihm beim ersten Anblick beilegten. Ist das nicht das Paradies, wie die kühnste Phantasie es nur träumen kann und wie es der Prophet Jesaja so wunderlieblich beschreibt?“
„Allerdings! Jesaja im elften Kapitel, im sechsten bis neunten Vers, sowie im letzten Verse des fünfundsechzigsten Kapitels wird uns das Bild beschrieben, das wir hier schauen,“ bestätigte der bibelfeste Lord.
„Und wie sagt der 114. Psalm?“ fügte seine nicht minder beschlagene Gattin hinzu: „Die Berge hüpfeten wie die Lämmer, die Hügel wie die jungen Schafe. Mir machte diese Stelle stets den Eindruck des Allzuunwahrscheinlichen, aber meint man hier nicht wahrhaftig, Berge und Hügel hüpfen zu sehen?“
Wenn man sah, welche meterhohen Sätze die Mammute und andre Riesentiere mit spielender Leichtigkeit ausführten, und mit welch offenbarer Lust sie sich von Zeit zu Zeit an diesen seltsamen Luftsprüngen ergötzten, so mußte man Mietje recht geben: das waren tanzende Berge und hüpfende Hügel! Und dieses sonderbare Schauspiel gab dem so herzerhebenden Bilde friedlicher Eintracht sein erheiterndes Gepräge. Aber der Humor wirkte hier durchaus nicht als Herabwürdigung des Erhabenen, sondern nur als Verklärung des beseligenden Gefühles, das die paradiesische Szene in den Herzen der Wanderer erweckte.
Wie ein Märchentraum erschien die Wanderung durch diesen blütenreichen Edengarten unsern Freunden.
Sie scheuten sich bald nicht im mindesten, selbst die gewaltigsten und raubtierähnlichsten der Tiere zu berühren und zu streicheln, was diese verständnisvoll und mit einer gewissen Zärtlichkeit erwiderten, sei es, daß sie die liebkosenden Hände sanft leckten, sei es, daß sie mit Haupt oder Rüssel sich herabneigend den fremden Freunden anschmiegend ihr Wohlwollen zu erkennen gaben; und dabei mäßigten sich auch die behendesten, muskelkräftigsten und massigsten dieser Geschöpfe so rücksichtsvoll in ihren Bewegungen, daß man daraus die bewußte Sorgfalt erkennen konnte, ja keinen Schaden zuzufügen.
Hätte etwa so ein Mammut mit seinem Rüssel eine etwas temperamentvolle Liebesbezeugung ausführen wollen, wie er es seinen Kameraden oder Familiengliedern gegenüber tat, so wäre selbst Münchhausens solide Masse zu Boden geschleudert worden.
Aber alle diese Tiere wußten das richtige Maß einzuhalten.
Die zweite Sonne neigte sich ihrem Untergange zu, — die erste war schon vor einer Stunde hinter dem Horizont verschwunden, — als unsre Freunde endlich daran dachten, ihr Lager aufzuschlagen.
Die Früchte des Waldes hatten Hunger und Durst so nachhaltig gestillt, daß selbst der Kapitän während der stundenlangen, meist sprungweise ausgeführten Wanderung, kein einzigesmal die Notwendigkeit einer Mahlzeit betont hatte. Und dabei war er einer der eifrigsten im Hüpfen, wobei es ihm ganz besonderen Spaß machte, über den hohen und breiten Rücken der größten Kolosse hinwegzusegeln.
Auch während des Aufschlagens der Zelte zeigte er sich noch unermüdlich in Ausübung dieses erheiternden Sports; denn um den Lagerplatz herum weideten just einige riesige Pelzelefanten.
John und Heinz pflöckten die Zelte ein, während die übrigen der Zirkusvorstellung zuschauten, die Münchhausen gab, mehr zu seinem eigenen Vergnügen, als um seine Gefährten zu belustigen.
Lautes Bravo und stürmisches Beifallsklatschen belohnten seine gelungensten Sprünge.
Die Glanznummer der Vorstellung aber bildete ein Kunststück, das er zum Schlusse noch vorführte, und zwar ganz gegen seine Absicht, es stand durchaus nicht in seinem Programm!
Er hatte sich hinter einem gewaltigen Mammutbullen aufgestellt und schnellte empor, um den Riesen in seiner ganzen Länge zu überspringen.
Nun fiel es aber im selben Augenblick dem Mammut ein, seinerseits einen Luftsprung zu machen, und so kam es, daß Münchhausen mitten in seiner Luftreise auf den Rücken des emporsegelnden Tieres zu stehen kam.
Eine Sekunde lang ritt er so als echter Kunstreiter stehend durch die Luft; doch hatten seine Füße keinen festen Halt, er schwankte und wäre kopfüber hinabgestürzt, hätte er nicht die Geistesgegenwart gehabt, die kurzen Beine auszuspreizen, sodaß er alsbald rittlings auf dem seltenen Reittier saß.
Es war ein großartiges Bild! Der Lord versäumte nicht, es auf einer photographischen Platte zu verewigen.
„Ein Koloß auf dem andern!“ jubelte Schultze.
John und Heinz hielten in der Arbeit inne, um das unvergleichliche Schauspiel mitzugenießen.
Stolz um sich blickend, als habe er einen Drachen gebändigt und mit kühner Absicht zu einer Luftfahrt bestiegen, so saß der Kapitän oben auf dem kolossalen Dickhäuter, einer Kugel gleich, die kurzen Beine wagrecht ausgestreckt, da er mit ihnen den breiten Rücken des Ungetüms nicht umklammern konnte.
Jetzt landete Freund Mammut und mit einer Gewandtheit, die ihm niemand zugetraut hätte, sprang Münchhausen auf die Beine und setzte mit elegantem Schwunge von der Höhe herab auf den Erdboden. Jubel und Lachen und nicht endenwollendes Beifallklatschen empfingen ihn nach solchem Bravourstück, so daß das Mammut sich verwundert umsah und die Mähne schüttelte, es mochte denken: „Bei denen ist es auch nicht mehr ganz richtig im Oberstübchen!“
Nun half Mietje John und Heinz Früchte einsammeln für das Nachtessen, denn an solchen fehlte es nicht in der Nähe, und die verschiedenen Grogfrüchte sollten den warmen Tee vorteilhaft ersetzen.
Es dämmerte, als man sich zum Imbiß lagerte.
„Nun,“ sagte Münchhausen, „Sie meinten, wir würden drei Tage brauchen, um die Ebene zu erreichen, verehrtes Professorchen! Wir haben sie nicht nur erreicht, sondern schon ein gutes Stück durchwandert am ersten Marschtage.“
„Kunststück!“ meinte Schultze. „Ich dachte an eine irdische Fußwanderung, Schritt für Schritt; nachdem aber Sie, erfindungsreicher Seebär, uns als lebendiger Luftballon die geniale Kunst der Hüpf- und Schwebereise vorgemacht und beigebracht haben, hätten wir noch viel weiter kommen können, wenn wir uns nicht so viel unterwegs aufgehalten hätten. Auch ist die Länge des Tags in Betracht zu ziehen, der, wie ich hiemit feststelle, vom Aufgang der ersten bis zum Untergang der zweiten Sonne volle 27 Stunden gedauert hat!“
„Merkwürdig, daß wir uns so gar nicht müde fühlen,“ bemerkte Mietje, „nach einem so langen und ereignisreichen Tag. Ich wenigstens fühle keine Spur von Ruhe- oder Schlafbedürfnis.“
„So scheint es uns allen zu gehen,“ meinte der Lord. „Ich glaube, wir haben uns eben schon der Eigentümlichkeit des Planeten angepaßt; dazu mag uns die köstliche Luft und die erfrischende, belebende Kraft der Früchte geholfen haben; wir werden wohl hier dauernd weit leistungsfähiger sein als auf der Erde, entsprechend den doppelt so langen Tagen.“
„Brauchen wir gar nicht,“ warf der Kapitän ein, „wozu solch’ kolossale Leistungsfähigkeit, da einen hier alles so gar nicht anstrengt noch ermüdet?“
„Ich habe nur eine Sorge,“ sagte Heinz. „Wie werden wir die lange Nacht herumbringen, die doch von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang 23 Stunden währt, wenn wir so gar nicht müde sind?“
„Wir legen uns eben erst schlafen, wenn wir das Bedürfnis dazu fühlen,“ schlug Mietje vor.
„Einverstanden!“ stimmte der Professor zu. „Wir pflegen der Unterhaltung und studieren die Wunder der Nächte Edens, bis es uns Zeit scheint zur Ruhe zu gehen.“
„Wertester Herr Professor,“ fragte nun John, „welche Jahreszeit dürften wir hier wohl haben? Nach den Blüten sieht es wie Frühling aus, sonst aber wie Sommer; andrerseits aber, falls ich mir diese nicht unhöfliche Bemerkung zu erlauben mir gestatten darf, ist es hier in der Ebene nicht so furchtbar heiß, wie Sie die Vermutung aussprachen, als wir noch oben waren.“
„Offen gestanden, über die Jahreszeit vermag ich noch keinen sicheren Aufschluß zu geben,“ entgegnete Schultze. „Ich vermute, wir stehen zu Beginn des Frühlings, jedenfalls aber haben wir nahezu Tag- und Nachtgleiche.“
„Entschuldigen der Herr Professor, aber ich bitte, noch einmal nicht unhöflich sein zu dürfen, wenn ich verstanden zu haben glaubte, der Tag sei heute vier Stunden länger als die Nacht.“
„Allerdings, mein Sohn; aber nur deshalb, weil wir hier zwei Sonnen haben, die gegenwärtig in Opposition zu einander stehen, das heißt am weitesten von einander entfernt sind auf ihrer Bahn, so daß stets mehr als die Hälfte des Planeten erleuchtet ist und die zweite Sonne noch fast zwei Stunden scheint, wenn die erste schon untergegangen ist. Stehen die Sonnen in Konjunktion, also einander am nächsten, wobei die eine vorübergehend die andere verdecken kann, so gehen sie uns gleichzeitig auf und unter; vielleicht wird es dann auch viel heißer. Über den Verlauf der Jahreszeiten Edens können wir aber noch nichts wissen, kennen wir ja nicht einmal die Länge des Jahrs, das vielleicht nur sechs, vielleicht bis zu tausend Erdenmonate dauert. Eines aber scheint mir gewiß, große Unterschiede in der Temperatur herrschen hier nirgends; denn wenn bei 6000 Meter Höhendifferenz so gut wie gar nichts davon zu merken ist, wenn in solcher Höhe dort oben eine so herrliche Pflanzenwelt vorkommt, dann kann auch Winterkälte und Sommerhitze kein Übermaß entwickeln, sonst hätten wir droben irgendwelche Gletscherspuren sehen müssen, hier unten aber fände sich keine so mannigfaltige Tierwelt in einer Gegend, die den Polen näher steht als dem Äquator.“
Inzwischen hatte die Dämmerung eingesetzt.
„Ah!“ rief Mietje plötzlich, „die Natur sorgt uns für Abendunterhaltung!“
„Prächtig!“ schmunzelte der Kapitän.
„Hochinteressant!“ rühmte der Professor. „In der Tat, nicht uneben!“
Die Riesentiere.
Und als nun auch Heinz sein „Großartig!“ beigesteuert hatte, fühlte sich John verpflichtet auch seinen Beifall zu äußern, indem er ausrief: „Wirklich important!“
Imposant war allerdings das Feuerwerk, das sich in der Dämmerstunde entwickelte: kleinere und größere Feuerfliegen und Leuchtkäfer erhoben sich in die Luft; da sah man Funken, Sterne und Flammen teils aufblitzen und verschwinden, teils ununterbrochen flimmern.
Das Neue und besonders Herrliche aber war das Farbenspiel dieser lebendigen Meteore und Sternschnuppen; denn gelbes, rotes, blaues und grünes Licht ging je nach ihrer Art von ihnen aus.
Auch auf dem Boden wurde es lebendig und hell: da krochen die Funken und Laternchen der Glühwürmer und leuchtenden Schnecken und Ameisen durcheinander, als rollten und rieselten selbstleuchtende Edelsteine, Topase, Rubinen, Smaragde, Amethyste und Saphire dahin.
„Es ist mir unbegreiflich,“ bemerkte Münchhausen, dem höchst poetisch zumute wurde, „wie es Schriftsteller, ja solche, die Dichter sein wollen und zu sein glauben, heutzutage fertig bringen, ‚der Dämmer‘ zu sagen, statt ‚die Dämmerung‘. Der Dämmer! Welch ein Wort! Ohr, Gemüt und Vernunft wird gleicherweise dadurch beleidigt und die traute Stimmung und Vorstellung der zarten Dämmerung geht dabei völlig verloren, wird sozusagen totgeschlagen mit einem groben Knüppel in der Faust eines Tölpels. Sehen Sie doch diese weichen Schleier, die von unsichtbaren Elfenhänden in der dunkelnden Luft ausgebreitet werden; wie dämpft dieses schleiernde Weben die farbigen Lichtstrahlen unsrer nächtlichen Feuerwerker! Und nun soll man sich dieses zartwebende, sachthändige, leisschwebende und schleierumwallte Wesen als eine männliche Persönlichkeit vorstellen? Nein! ich bitte Sie, was ist das für eine Geschmacklosigkeit, Stilwidrigkeit, ja für ein Blödsinn! He, Professorchen! Können Sie sich etwa die liebliche, einschmeichelnde Dämmerung durch einen Mann verkörpert denken, den Dämmer?“
„Ne, Kapitän, wenn ich mir denken sollte, Hugo von Münchhausen, so elegant er zu schweben versteht, senke sich von Schleiern umwogt hernieder und wollte mich mit ruhespendenden Elfenhänden liebkosen als schmeichelnde Dämmerung, ich wäre aus allen Märchenträumen gerissen.“
„Münchhausen als Fee der geheimnisvollen Dämmerung ist gut! Ausgezeichnet! Diese Vorstellung stimmt mich heiter!“ sagte Flitmore lachend.
Heinz aber meinte: „Wer es zuwege bringt, diesen neumodischen Ausdruck ‚der Dämmer‘ zu gebrauchen, beweist damit ohne weiteres, daß ihm nicht nur jegliches Sprachgefühl, sondern auch aller Sinn für Poesie abgeht, was allerdings für die große Mehrzahl unsrer Versemacher zutrifft; denn zu keiner Zeit gab es so viele Dichter und so wenig Poeten wie heutzutage.“
„Darum verhöhnen sie auch die Poesie als hohles Pathos, weil sie die Göttin nicht ehren dürfen, deren Gunst, Geist und hoher Flug ihnen versagt blieb, falls sie nicht ihre eigene Wertlosigkeit einsehen und eingestehen wollen!“ fügte Münchhausen noch hinzu.
„O, meine Herrschaften, ein Nordlicht!“ rief plötzlich John und wies nicht nach Norden, wohl aber nach Osten.
„Das ist ja ein Mond!“ berichtigte der Professor. „Wahrhaftig, ein würdiger Mond für eine Nacht im Paradiese!“
Der Mond, der über die Berge tauchte, hatte eine unbeschreiblich liebliche und duftige Rosafärbung. Nur die zartesten unter den wilden Rosenblüten oder der blühende Hauch, der ein luftiges Wölkchen vor Sonnenaufgang über dem Meere der italienischen Riviera in rosigen Schimmer taucht, hätte zum Vergleich herangezogen werden können.
Bald schwebte der Mond, der etwa doppelt so groß erschien, wie der Trabant der Erde, frei am tiefdunkeln Himmel zwischen den blitzenden Sternen. Und nun ergoß er sein entzückendes Rosenlicht über die ganze Landschaft.
Auf einmal schien ein neues Leben zu erwachen, nachdem es sich kaum ein Stündchen über die Zeit der Dämmerung zur Ruhe gelegt hatte: Vögel durchschwirrten die Luft und ließen wundervolle sanfte Weisen ertönen, Grillen zirpten in melodischen, einschmeichelnden Weisen; kleinere Tiere, den Hasen, Wieseln und Igeln ähnlich, letztere mit bunten durchsichtigen Stacheln, tummelten sich lustig umher, spielend und sich balgend, hüpfend und tanzend und seltsame Purzelbäume schießend.
Kurz, es gab wieder genug zu sehen, zu hören und zu bewundern, wenn nicht schon der Zauber der magischen, bengalischen Mondbeleuchtung genügt hätte, um alle wach zu halten: wer hätte eine solche feenhafte, ja wahrhaft paradiesische Nacht stumpfsinnig verschlafen mögen.
Aber auch neue Blumen erschlossen ihre Kelche, äußerst zarte, feingeformte Gebilde, meist leuchtend weiß mit goldgelben Staubfäden, doch vom Mondlicht rosig überhaucht; auch hellblaue und hellrote Winden, silberschimmernde Kapuzinerkresse und andere Blüten öffneten sich dem Rosenmond und hauchten Düfte aus, deren Süßigkeit alle Wohlgerüche des Tages weit zu überbieten schienen.
Acht Stunden leuchtete der rosa Mond; kaum aber war er untergegangen, so stieg ein etwas kleinerer Mond von lichtblauer Farbe am entgegengesetzten Horizonte auf.
Sein mildes Licht wirkte ungemein beruhigend. Es wurde überall still; die Tierwelt begann zu schlafen und auch die Kelche der Nachtblumen schlossen sich.
Aber wieder sprangen neue Blüten auf, große Dolden, bunte Mohnhäupter, und ein einschläfernder Wohlgeruch gesellte sich zum einschläfernden Lichte.
Auch unsere Freunde wurden still und fühlten schließlich das Verlangen nach Schlaf.
Schultze leitete mit folgenden Worten den allgemeinen Rückzug in die Zelte ein: „Wenn die beiden Monde sich jede Nacht so pünktlich ablösen, wie heute, so hat dieses Paradies stets zwei Nächte, von denen die erste für das Vergnügen und die höchste Beseligung, die zweite erst für den Schlaf bestimmt zu sein scheint. Nun haben wir auch die blaue Nacht vier Stunden lang bewundert; legen wir uns zur Ruhe, wir haben noch zehn Stunden bis Sonnenaufgang.“
„Danken wir dem allgütigen Gott,“ sagte der Lord, „der uns diese neuen Wunder seiner Allmacht zu schauen würdigte; vor allem aber wollen wir ihn preisen, daß er uns auf einer so lieblichen Friedenswelt landen ließ, die keine Schrecken noch Gefahren zu bergen scheint. Trotzdem wollen wir bei allem Gottvertrauen nicht lässig und leichtfertig sein und nicht versäumen, die Wachen zu halten, wie die Vorsicht es uns gebietet; denn es ist eben doch ein unbekannter Planet, auf dem wir uns befinden und der außer dem Guten und Schönen, das wir kennen lernten, noch viel des Unbekannten bergen wird, von dem wir noch nicht wissen, wie es sich uns darstellen mag.“
„Lassen Sie mich die erste Wache übernehmen,“ bat Heinz, „ich fühle noch gar kein Schlafbedürfnis.“
„Gut! Nach drei Stunden wecken Sie mich, die mittlere Wache will ich selber übernehmen,“ sagte Flitmore.
„Und die Morgenwache bitte ich mir aus,“ erklärte der Professor, „schon der astronomischen Beobachtungen wegen, die für uns von Wert sein können.“
Dabei blieb es, und alle, bis auf Heinz Friedung, zogen sich zurück.
Nach anderthalb Stunden seiner Wache sollte der jugendliche Wächter entdecken, daß der Planet Eden nicht bloß zwei Nächte besaß, wie Schultze festgestellt hatte, sondern deren drei!
Der blaue Mond neigte sich nämlich zur Rüste, als ein neuer Mond aufging, diesmal ein dunkelgrün gefärbter. Er war wesentlich kleiner als die beiden andern, etwa gerade so groß wie der Mond unserer Erde, der scheinbaren Größe nach.
Eine halbe Stunde lang standen beide Monde gleichzeitig am Himmel; dann leuchtete nur noch der grüne Mond mit geheimnisvoll mattem Licht. Offenbar war diese dritte, die grüne Nacht, erst die rechte Nacht des tiefen Schlafes; die blaue Nacht war sozusagen der Spätabend, der den ersten Schlaf auf die Lider senkte.
Alles blieb still, wie ausgestorben, kaum ein Lüftchen wehte den Dufthauch aus den zahllosen Blüten herüber.
Heinz wurde ordentlich schläfrig und ließ sich nach drei Stunden, von denen nur eine ganz in die grüne Nacht gefallen war, gar nicht ungern durch Flitmore ablösen, dem während seiner Wache nur der dunkelgrüne Satellit Edens leuchtete.
Drei Stunden später kam der Professor an die Reihe. Noch drei weitere Stunden stand der dritte Mond am Himmel; als er hinter dem Horizont verschwand, trat die Morgendämmerung ein.
Schultze vermerkte also: Erster Sonnenaufgang (Alpha Centauri) als erste Stunde gesetzt; zweiter Sonnenaufgang nach zwei Stunden (Begleitsonne); erster Sonnenuntergang zu Ende der 25. Stunde (Alpha Centauri geht unter); mit Ende der 27. Stunde geht die Begleitsonne unter (25 Stunden nach ihrem Aufgang); folgt eine Stunde Dämmerung; zu Beginn der 29. Stunde geht der rosa Mond auf, der acht Stunden leuchtet, bis zum Ende der 36. Stunde, worauf sofort, zu Beginn der 37. Stunde, der blaue Mond erscheint, der sechs Stunden am Himmel steht; nach 41½ Stunden taucht der grüne Mond auf, eine halbe Stunde vor Untergang des blauen, und braucht 7½ Stunden, um das Firmament zu durchmessen. Zu Ende der 49. Stunde endlich geht auch er unter, worauf eine einstündige Morgendämmerung eintritt, bis nach Verfluß der 50. Stunde Alpha Centauri als erste Sonne wieder aufgeht.
Dies war der Verlauf, wie er sich zu dieser Jahreszeit abspielte unter der Breite des Planeten Eden, wo sich unsre Freunde in der ersten, wundersamen Nacht ihres dortigen Aufenthalts befanden.
In der Morgendämmerung fühlte sich Schultze schläfrig werden; ein Wunder war das nicht, hatte er doch gestern an die 40 Stunden gewacht und hernach nur 6 Stunden des Schlafs gepflogen.
Da hatte er eine wunderliebliche Erscheinung, ein märchenschönes Traumbild, das ihn umgaukelte.
Es war ihm, als sehe er durch die Wimpern seiner fast geschlossenen Augenlider eine Elfe heranschweben.
Zuerst tauchte ein herziges Gesichtchen zwischen dem glitzernden Blattwerk des nahen Gebüsches auf, halb schelmisch, halb scheu vorlugend.
Dann teilte sich das Blattwerk mit kaum hörbarem Rascheln und die ganze Gestalt schlüpfte heraus, sich über der Erde wiegend, ohne sie je zu berühren.
Die Erscheinung glich nach Größe, Gestalt und jugendlichem Aussehen einem sechzehnjährigen Mädchen, aber von einer Zartheit der Formen und Durchsichtigkeit der Haut, die das vollkommenste irdische Geschöpf plump und grob erscheinen lassen mußten.
Das Gesicht war von unbeschreiblicher Anmut und Vollkommenheit, und die großen Augen leuchteten in einem Blau, das auf Erden seinesgleichen nicht hatte.
Der duftige Hauch des rosigen Mondes schien die weiße Blütenhaut zu durchschimmern, und die durchsichtigen Blättchen der Heidenrose erreichten diese lebensvolle Zartheit der Färbung nicht.
Goldleuchtendes Haar, feiner als Seide, wallte von dem blühenden Haupte herab und rahmte das feine Oval des Gesichtchens ein.
Ein luftiges, anschmiegendes Gewand, wie aus Nebel gewoben, floß von den Schultern hernieder und umwogte die zierliche Gestalt in wunderbar grünem Schimmer.
Langsam näherte sich dieses Feenkind eines Märchentraumes, wich öfters wieder zurück, wie ein schüchternes Mägdlein wohl tut; zuletzt aber schwebte es ganz heran und beugte sich über den Professor herab, dem ganz wunderlich zumute wurde.
Er riß die Augen plötzlich weit auf. Da erschrak das reizende Elfchen und flog ins Gebüsch zurück gleich einem Meteor so geschwind.
Und die Zweige rauschten und klirrten und Vögel schwirrten auf.
Schultze sprang auf und rieb sich die Augen; wie ein Nebelstreif vom Winde entführt verschwand die lichte Erscheinung; aber er wachte doch! War das wirklich ein Traumbild gewesen?
„Na, mein Lieber, was starren Sie egal ins Gebüsch?“ fragte der Kapitän, der sich bereits aufgetakelt hatte. „Sehen Sie eine Schlange oder ein Gespenst?“
„Ich sehe nichts,“ erwiderte der Professor, sich dem Freunde zuwendend, „wohl aber habe ich etwas gesehen; gespenstisch sah es nicht aus, eher eine kleine Schlange, aber eine ganz reizende, sage ich Ihnen!“
„Was will das heißen unter den Wundern Edens,“ lachte Münchhausen; „Sie tun gerade, als hätten wir noch nichts Wunderbares und Reizendes erblickt!“
Schultze schwieg; er war doch zu unsicher, ob er nicht alles geträumt habe. Das würde sich ja wohl noch zeigen.
Bald war alles munter. Rasch nahm man ein Frühstück ein von den köstlichen Früchten Edens; alle brannten vor Begierde, die Entdeckungsreise fortzusetzen und vielleicht noch größere Wunder, etwa gar menschliche Spuren zu entdecken, das heißt Zeugnisse für das Vorhandensein vernünftiger Wesen; denn wie sollte ein solches Paradies seine Bestimmung erfüllen, wenn es nicht von solchen bewohnt war?
Jeder hängte seine Tasche um, die sein Zelt mit den zerlegbaren Aluminiumstäben und einige Vorräte und nützliche Gegenstände enthielt, und nun wurde das Gebüsch durchschritten, das den Lagerplatz umsäumte und in dem die liebliche Erscheinung verschwunden war, die den Professor beglückt hatte, von der er aber kein Wörtlein mehr verriet.
Als das Gebüsch durchschritten war, sahen die Wanderer, daß sie sich auf einer Hochebene befanden, deren Rande sie sich näherten.
Was aber ihre Schritte hemmte und ihre Blicke fesselte, war der Anblick zweier menschlicher Wesen, die sich in emsiger Tätigkeit befanden.
Gabokol und Fliorot schmiedend.
Der eine war ein erwachsener Mann mit braunen Locken, die auf die Schultern herabfielen, und einem dunklen Vollbart. Ein weißes, faltiges Gewand umwallte seinen Leib gleich einer Toga bis zu den Knöcheln herab; sein Antlitz hatte etwas Durchgeistigtes, Verklärtes, Friedestrahlendes, so daß es ein Gefühl des Vertrauens, ja der unwillkürlichen Zuneigung erwecken mußte, selbst wenn die edelgeschnittenen Züge nicht von so außerordentlicher, echt männlicher Schönheit gewesen wären.
Zarter, aber nicht minder schön und herzgewinnend erschien der Jüngling an seiner Seite: was waren gegen eine solch herrliche Gestalt die Antinous- oder Adonisideale menschlicher Kunst?
Ein blaues Gewand umhüllte die prächtigen Glieder, sich ihren Formen anschmiegend.
Die beiden wendeten alle ihre Aufmerksamkeit ihrer Arbeit zu, die eine Art Schmiedekunst zu sein schien: von einer Felsplatte stieg eine goldgelbe Flamme empor, deren Natur nicht zu erkennen war. Holz, Kohlen oder sonst ein Feuerungsmaterial war nirgends zu sehen; die Flamme schien aus dem Felsen selber hervorzubrechen.
In diese Stichflamme hielt der Jüngling metallene Stäbe und Barren, bis sie weißglühend erschienen, was in sehr kurzer Zeit der Fall war. Dann übergab er sie dem Manne, der wohl sein Vater war, und der nun das weiche Metall teils freihändig, teils mit allerlei merkwürdigen Instrumenten, Zangen und Hämmern nach Belieben formte.
„Diese Leute sind leichtsinnig, sie gehen höchst unvorsichtig mit dem Feuer um, das doch eine ungeheure Hitze entwickeln muß,“ flüsterte der Professor, „man muß es ihnen sagen!“
„So sagen Sie’s ihnen,“ entgegnete Münchhausen ironisch, „vielleicht in Ihrer Allerweltssprache, dem Lateinischen, wie seinerzeit auf dem Mars.“
Schultze schwieg. Der Kapitän hatte recht; wie sollte er sich mit diesen Bewohnern einer fremden Welt verständigen?
„Übrigens, sehen Sie!“ bemerkte Mietje, „die beiden kommen jeden Augenblick mit dem Saum und den Falten ihrer strahlenden Gewänder in die Flammen hinein. Darauf scheinen sie gar nicht zu achten, und der Stoff fängt auch nicht Feuer, wird nicht einmal angesengt.“
„Wenn ich mir eine Meinung gestatten darf,“ warf nun John ein, „so ist dies sozusagen alles Hokus-pokus, ein Blendungswerk und gar kein brennbares Feuer; denn, wie Sie sehen, greift der Alte in das weißglühende Eisen mit den Händen, als sei es kalt anzufassen.“
„Aber er biegt es und formt es,“ entgegnete Heinz; „es muß also doch bis gegen den Schmelzpunkt erhitzt sein.“
„Diese Edeniten,“ erklärte Flitmore, „scheinen ein Schutzmittel zu kennen, das die Stoffe unverbrennlich und die Haut unempfindlich gegen die Hitze macht.“
Bei einer Wendung, die er machte, gewahrte der Schmied die Ankömmlinge. Langsam ließ er das Eisen sinken, das er in der Hand hielt und legte es dann weg.
Er schien überrascht, so seltsame, niegeschaute Wesen zu erblicken, die doch ihm und seinen Artgenossen nach Bau der Glieder und des Gesichtes glichen, dagegen aus weit gröberem Stoff geschaffen zu sein schienen und der Vollkommenheit ermangelten, die seine und seines Sohnes Schönheit erreicht hatte.
Es war ja aber auch möglich, daß andere Edeniten auch weniger schön und zart gebaut waren als eben diese beiden; jedenfalls geriet der Mann in kein maßloses Erstaunen, wie man es hätte erwarten können, namentlich zeigte er keine Spur von Schrecken, vielmehr schien seine Überraschung eine freudige zu sein.
„Fliorot!“ rief er seinem Sohne zu, der nun ebenfalls aufblickte und ebenso angenehm erstaunt schien; ja der Jüngling klatschte vor Lust in die Hände.
Wie der Anblick dieser Menschen etwas Überirdisches darbot, so übertraf ihre Stimme an Wohlklang alles, was die Erde an herrlichen Tönen kennt; Glocken- oder Orgelklang schien zu schallen, als der wundersame Mann das eine Wort „Fliorot“ ausrief; und die helle Jubelstimme des Knaben mochte am ehesten mit der klingenden Orgelpfeife verglichen werden, die man Voxhumana, Menschenstimme, heißt, aber „Engelsstimme“ nennen dürfte.
„Jammerschade, daß wir uns mit diesen herrlichen Menschen, wie wir sie wohl nennen dürfen, nicht verständigen können!“ bedauerte Schultze.
„Wie hat sich denn Kolumbus mit den Indianern zurechtgeholfen?“ fragte der Kapitän.
„Das ist wahr,“ sagte Flitmore. „Die Entdecker der verschiedenen Küsten Amerikas kamen nie in ernste Verlegenheit, wenn es galt, sich mit den Eingeborenen in Verkehr zu setzen, und sehr rasch lernten sie deren Sprachen; wenigstens fanden sich alsbald begabte Sprachgenies, die als Dolmetscher dienen konnten.“
„Sollten wir nicht so viel zu Wege bringen, wie jene?“ fragte Mietje.
„Na, wie wär’s Professorchen,“ spöttelte Münchhausen, „wenn Sie’s wiederum mit Ihrem alten Latein versuchten?“
„Ne, ne!“ wehrte dieser lachend ab, „wir haben ja einen jungen Sprachgelehrten unter uns; Heinz Friedung mag sein Heil probieren!“
„Sehr gerne!“ sagte Heinz ernst, ohne mit einer Wimper zu zucken.
Schultze sah ihn groß an. „Na! Ich mache nur Spaß, natürlich! Sie glauben doch nicht im Ernst, mit einer irdischen Sprache hier anzukommen? Und wenn Sie alle Dialekte der Erde kennen würden und der Reihe nach probierten, 40 Billionen Kilometer von der Erde entfernt wird nicht ein einziger davon verstanden, dafür garantiere ich Ihnen.“
„Herumprobieren wäre freilich zwecklos,“ erwiderte Heinz, „aber es gibt Naturgesetze, die Ihnen nicht bekannt sind, Herr Professor.“
„Um so mehr wohl Ihnen, junger Freund?“ lachte Schultze etwas ironisch. Bildete sich der sonst so bescheidene Heinz gar ein, gelehrter zu sein als der vielgereiste und hochstudierte Professor Heinrich Schultze aus Berlin?
Inzwischen waren die beiden Edeniten mit leichtschwebendem Gang, kaum die Erde mit den bloßen Füßen berührend, herangekommen.
Heinz Friedung redete sie an.
„We nom tu?“ fragte er kühn.
Schultze lächelte belustigt über diese offenbar von Heinz selber erfundene, improvisierte Sprache. Und das sollten die Bewohner der Fixsternwelt gar kapieren?
Aber der Edenite sah Heinz überrascht, doch sichtlich unsicher an.
Sein Sohn dagegen brach in einen Jubelruf aus; ihm schien ein plötzliches Verständnis aufzuleuchten und, wie um seinem Vater zu erklären, was Heinz hatte sagen wollen, rief er jenem zu: „Wai nuomi itu?“
„Nuoma Gabokol,“ sagte jetzt der Mann.
„Ud itu?“ wandte sich Heinz jetzt an den Jüngling. Der Vater aber verbesserte: „Onde itu.“
„Fliorot!“ erwiderte der Gefragte.
„Pa?“ frug Heinz den Alteren weiter.
„Migu Pa,“ sagte der, auf sich weisend: „Seit failo-mig.“
Vollständig verblüfft lauschten die Erdenbewohner, wie dieser grüne junge Mann Heinz offenbar eine Unterhaltung mit Wesen angeknüpft hatte, deren Sprache kein Mensch verstehen konnte.
Schultze rief wahrhaft entsetzt: „Da hört sich doch aber alle und jede Wissenschaft auf! Wenn einer auf Erden etliche Tausend Kilometer weit reist, so darf er darauf schwören, daß er auch nicht ein Sterbenswörtchen der Sprache versteht, die von den Eingeborenen des von ihm erreichten fremden Landes geredet wird, es sei denn, er habe die Sprache mühsam erlernt; und Sie wollen sich mir nichts dir nichts mit Leuten verständigen, die 40 Billionen Kilometer von unserem Planeten entfernt leben?“
Münchhausen schüttelte sich vor Lachen: „Ein köstlicher Scherz!“ rief er. „Merken Sie nicht, Professorchen, daß dieser Erzschalk von Friedung uns zu Narren hält und nur so tut, als ob er täte?“
„Aber dann würden ihm diese Leute doch nicht ernsthaft Rede und Antwort stehen!“ warf Mietje ein.
„Die Sache ist ganz in Ordnung,“ sagte Heinz. „Ich habe zwar selbstverständlich die Sprache dieser Edenbewohner nie gehört noch gelernt, daher kann ich sie auch nicht richtig treffen. Doch kann ich sie immerhin so annähernd reden, um mich verständlich zu machen. Ich sagte ‚we‘ und es heißt ‚wai‘; ich sagte ‚nom‘ und es heißt ‚nuomi‘, in der ersten Person ‚nuoma‘; ich sagte ‚tu‘ und es heißt ‚itu‘; ebenso muß es ‚onde‘ heißen statt ‚ud‘, wie ich sagte. Doch traf ich in der Regel die Konsonanten richtig, so daß ein intelligenter Edenite mich verstehen muß, und bereits lernte ich außer den genannten berichtigten Formen einige neue Wörter: ‚migu‘ heißt ‚ich‘, ‚seit‘ heißt ‚dieser‘, ‚failo‘ aber ‚Sohn‘ und ‚mig‘ ‚mein‘. Wenn ich mit drei Sätzen schon so weit kam, so darf ich hoffen, in wenigen Tagen schon ein wissenschaftliches Gespräch in der klangvollen Sprache Edens mit genügendem Verständnis führen zu können.“
„Na! Was wollen Sie denn nun von diesen Herren erfahren haben?“ fragte der Kapitän, noch stark zweifelnd.
„O, nicht viel, aber immerhin das, was ich zunächst erfragte. Wir haben vor uns Vater und Sohn, ‚Pa onde failo‘; der Vater heißt ‚Gabokol‘, was so viel wie ‚offenes Auge‘ bedeuten dürfte; der Sohn heißt ‚Fliorot‘, was ich mit ‚fliegendes oder flüchtiges Rad‘ erklären möchte. Dies ist vorerst alles!“
„Aber wie zum Kuckuck wollen Sie uns dieses Wunder erklären?“ rief Schultze. „Ich habe große Wunder erlebt, aber dies scheint mir doch das seltsamste von allen! Vierzig Billionen Kilometer, ich sage Ihnen, vierzig Billionen Kilometer trennen die Erde von Eden, und Sie kommen jung und grün von der Erde und reden ohne weiteres die Edeniten an, und Sie werden verstanden und Sie verstehen! Das übersteigt meine Fassungskraft!“
„Na, so grün, wie Sie vermuten, bin ich eben doch nicht, Herr Professor,“ lachte Heinz. „Sehen Sie, die ganze Sache ist die: ich habe das Geheimnis der Entstehung der menschlichen Sprache entdeckt, und nach und nach gelang es mir, alle Lautgesetze zu finden, auf denen die Wortbildungen beruhen. Da es sich um Naturgesetze handelt und nicht um willkürliche Wortbildungen, konnte ich mir sagen, daß überall, wo Wesen sich finden, die ähnlich gebaut sind wie wir Menschen, sie auch ihre Sprache ganz von selber nach den gleichen Gesetzen bilden mußten wie wir Menschen.
Nun redete ich die Edeniten sozusagen in der Ursprache an; ich bildete die Worte aus den Lauten, die für den Begriff bezeichnend sind, den sie bedeuten sollen. Wenn nun die Sprache Edens sich nicht gar zu künstelnd von der Urform entfernte, so mußte ich verstanden werden, und letzteres war denn auch der Fall. Passen Sie auf! Wenn ich sage ‚We nom tu?‘ so begreifen Sie vielleicht nicht gleich, daß ‚nom‘ bedeuten soll ‚heißt‘; denken Sie aber an das französische ‚nommer‘ oder an ‚Name‘, so leuchtet es Ihnen wohl ein, daß ‚We nom tu?‘ besagen soll: ‚Wie heißt du?‘ Die Edeniten sagen nun: ‚Wai nuomi itu?‘ Aber, wie gesagt, die entscheidenden Laute sind ihnen bekannt, so daß sie auch meine mangelhafte Frage begriffen. ‚W‘ ist einmal der Fragelaut: wer, wie, wo, was, wann und so weiter; auf englisch where, why, who und so fort; im Lateinischen und Französischen tritt qu an die Stelle. D oder T, zuweilen S, ist der deutende Laut, also auch der Laut für ‚du, dich‘ und so weiter, er bezeichnet den, die oder das, auf die ich deute; und so könnte ich Ihnen für jeden beliebigen Begriff sagen, welcher Laut dem Menschen ganz unwillkürlich, mit Naturnotwendigkeit in den Mund kommen mußte, wenn er den betreffenden Begriff durch einen Laut ausdrücken wollte. Dies ergibt die Gesetze der Entstehung der Sprache, die ich entdeckte, und nach denen ich die Worte bildete, die von den fremdesten Wesen leicht begriffen werden müssen, falls sie eine menschenähnliche Sprache reden.“
„Ein genialer Gedanke bleibt es immerhin, daß Sie gleich darauf kamen, diese irdischen Kenntnisse in dieser Weise hier auf die Probe zu stellen,“ lobte Flitmore.
Die Edeniten hatten aufmerksam gelauscht, doch sicher nichts oder nur gar wenige Worte verstanden; es gehören einfachere Sätze her, als sie dieses Gespräch enthielt, um eine wildfremde Sprache lediglich durchs Gehör kennen zu lernen.
Nun nahm Gabokol das Wort, sich an Heinz wendend.
„Er ladet uns ein, ihm zu folgen,“ erklärte der junge Mann.
„Angenommen!“ sagte Flitmore, und die Gesellschaft vertraute sich der Führung der neuen Bekannten an.
Diese atmeten tief ein und erhoben sich in die Luft, durch die sie nun schwebten, ohne wieder den Boden zu berühren.
Unsre Freunde konnten wohl kolossale Luftsprünge machen, aber sich dauernd in der Schwebe zu erhalten, gelang ihnen nicht.
Als die Edeniten dies merkten, ließen sie sich herab und Gabokol fragte in seiner Sprache Heinz: „Warum wollt ihr nicht fliegen?“
„Wir können es nicht!“
Der Mann schien höchlichst überrascht; aber fortan begnügten er und sein Sohn sich höflich damit, die Gäste springend zu begleiten.
Fliorot interessierte sich sehr für die beiden Schimpansen und fragte, ob das die kleinen Söhne der Lady seien.
Mietje stieß einen Schrei des Entsetzens aus, als ihr Heinz diese Frage übersetzte. Dieser aber klärte Fliorot auf, daß die Affen Tiere und keine Menschen seien, auch nicht reden könnten.
Hierauf untersuchten die beiden Edeniten die Schimpansen mit größter Verwunderung.
„Na!“ meinte Münchhausen: „Diese Edenmenschen stammen offenbar von keinen Affen ab, da solche hier gar nicht bekannt sind. Professor Häckel darf froh sein, daß er nie auf den Lehrstuhl einer hiesigen Universität berufen wird; hier fielen seine Phantasien vollends in sich zusammen, auch fände er zu intelligente Zuhörer, um mit seiner Weisheit Anklang zu finden.“
Man war an den Rand der Hochebene gelangt.
Unten dehnte sich ein liebliches Flußtal, und zu beiden Seiten des Flusses ragten vereinzelte Felsblöcke von verschiedener Form, Größe und Höhe zu Hunderten empor.
Unsre Freunde erkannten bald, daß sie es mit künstlichen Gebilden zu tun hatten, und zwar mit den Wohnhäusern der Edeniten. Die Felsen zeigten Fenster, Galerien und Balkone; oben hatten sie meist flache Dächer, die jedoch von Türmen, Säulen und Zacken überragt oder eingefaßt wurden.
Breite Straßen und engere Gassen zogen sich zwischen den Häusergruppen hindurch.
Heinz erkundigte sich nach dem Grund solcher Bauweise und zeichnete auf einen Marmorblock einige Wohnhäuser, wie sie auf Erden gebaut zu werden pflegten.
Gabokol erklärte, das komme ihm sehr gekünstelt vor. Sie nähmen sich die Baukunst des Schöpfers in der Natur zum Vorbild.
Alle mußten gestehen, daß diese rauhen, zackigen Bauten mit ihren Galerien, Bogen und Türmen ein ganz hervorragend schönes, abwechslungsreiches und großartiges Stadtbild ergaben.
Die Stadt glich einem Bienenkorbe; über den Dächern, durch die Straßen, zu den Fenstern aus und ein flogen und schwebten Menschen in leuchtenden farbigen Gewändern, wie aus Duft gewoben, Männer und Frauen, Knaben und Mädchen, auch kleine Kinder.
Man konnte sich nicht satt sehen an diesem farbenfrohen Bilde, an diesen anmutigen Bewegungen.
Als unsre Freunde später diese Stadtbewohner aus der Nähe sahen, entdeckten sie, daß Gabokol und Fliorot durchaus nicht ausnahmsweis schöne Exemplare ihrer Rasse waren, sondern daß vollkommene Schönheit, Anmut und Grazie, dazu Adel der Gesinnung, der sich in den Zügen spiegelte, die allgemeinen Merkmale aller Edeniten waren.
Dabei zeigten sie sich nicht etwa besonders ähnlich, sondern die persönliche Verschiedenheit der Gestalten und Gesichter schien eher noch mannigfaltiger als auf der Erde; und doch konnte man hier niemand in das liebliche Antlitz oder gar in die sonnigen Augen sehen, ohne ihn auf den ersten Blick liebgewinnen zu müssen.
Für heute wurde nicht in die Stadt hinabgestiegen oder vielmehr geschwebt; denn Gabokols Wohnung war gleichsam ein Landhaus, das auf einer Stufe des Bergrandes sich erhob, der sich ins Tal hinabsenkte.
Das Haus stand in einem Garten von unerhörter Pracht und Lieblichkeit. Jetzt erst sahen unsre Freunde den ganzen Reichtum an Formen und Farben, den die Blumen, Gesträuche und Schlingpflanzen Edens aufwiesen.
Auch die fremdartigen Gemüse hielten sie anfangs für Zierpflanzen, bis ihnen späterhin die Hausfrau alles erklärte.
Ganz entzückend war der Geflügelhof; denn Fasanen, Pfauen und Perlhühner reichten mit ihren Farben und Zeichnungen weit nicht heran an die verschiedenen Arten eierlegender Haushühner, Enten und Gänse, die hier wimmelten. Auch die Eier dieser Vögel Edens übertrafen an Wohlgeschmack weit diejenigen ihrer irdischen Basen und erschienen überdies gefärbt wie leuchtende Ostereier oder gesprenkelt wie die schönsten Eier der Singvögel auf Erden.
Heinz, der immer rascher und tiefer in die eigentümlichen Geheimnisse der Sprache Edens eindrang, machte stets den Dolmetscher; aber schon begannen auch die andern alle dies und jenes zu verstehen, nachdem sie einmal darauf aufmerksam gemacht worden waren, daß die natürliche Lautverwandtschaft den besten Schlüssel liefere. Merkwürdigerweise war es John, der bei weitem am raschesten auffaßte, jedenfalls weil er sich am unbefangensten dem angeborenen Sprachinstinkt überließ.
Gabokol versicherte einmal über das andre, wie er sich freue und die Seinigen sich freuen würden, die lieben Gäste aus einer andern Welt beherbergen zu dürfen. Er werde jedem ein eigenes Zimmer anweisen; denn hier sei man so sehr gewohnt, Gäste zu beherbergen, je öfter und je mehr desto lieber, — so daß jedes Haus zu drei Vierteilen aus Gastzimmern zu bestehen pflege.
Eine Haustüre war nicht vorhanden; man stieg, wie bei allen Häusern Edens, durch das Dach ein; da die Villa einstöckig war, gelang allen der etwas hohe Sprung. Gabokol und Fliorot schwebten voran.
„Ma!“ rief Gabokol, als sie das Innere der Wohnung betraten.
Alsbald erschien eine Lichtgestalt, ein Wesen von einem Zauber der Anmut, Jugendfrische und Schönheit, wie niemand bisher ähnliches geschaut, abgesehen von Schultze, der sich von seiner Morgenwache her einer noch weit lieblicheren Erscheinung erinnerte.
Aber schon die Hausfrau, die unsern Freunden entgegenschwebte, bewies, daß auch auf Eden das weibliche Geschlecht das schönere war, so vollkommen sich auch die männliche Schönheit darstellen mochte.
„Bleodila“, stellte Gabokol seine Gattin vor, mit Betonung des O des klangvollen Namens, den Heinz als „die Blühende“ übersetzte, entschieden ein Name, der dieser Frauenblume angemessen war.
Bleodila war sehr erfreut, fremde Gäste bei sich zu schauen, und führte sie in die Wohnstube, deren Wände aus Bergkristall bestanden und mit Edelsteinen in künstlerischen Blumenmustern verziert waren.
Hier wurden unsre Freunde eingeladen, in bequemen Sesseln aus buntem, durchsichtigen Binsengeflecht sich niederzulassen.
Für das Gewicht plumper Erdenmenschen waren diese zarten Geflechte zwar nicht berechnet; doch erwiesen sie sich als so zäh, daß sie sogar Münchhausens Last aushielten, ohne zusammenzubrechen.
Der Kapitän benützte in der Folge immer den gleichen Sessel, den größten und stärksten natürlich. Die kugelige Form, die selbige Sitzgelegenheit infolgedessen annahm und die von ihrer ursprünglichen und allen auf Eden üblichen Formen seltsam abwich, machte den Lehnstuhl seinen Besitzern zu einem dauernden Andenken an den Besuch des dicken Kapitäns.
Als die Gäste Platz genommen, rief die jugendfrische Hausmutter ihre älteste Tochter herein; es herrschte die Sitte in Eden, die Hausgenossen nicht schockweise, sondern einzeln, in angemessenen Pausen den Gästen vorzustellen.
Die kleine Fee, die nun erschien und die zwanzig Jahre zählte, war von einem blaßrosa Kleide umflort und ihr braunes Haar ringelte sich in seidenen Wellen über den Rücken hinab.
Elfenerscheinung.
Unsre Freunde fragten sich bei ihrem Anblick, ob es denn möglich sei, daß sich immer noch größere Schönheit und zartere Lieblichkeit offenbare, denn zuvor hatten sie gemeint, die Frau des Hauses stelle den Höhepunkt aller überhaupt möglichen Reize dar; nun aber fanden sie dieselbe durch ihre Tochter noch weit übertroffen.
Nur Schultze wußte, daß es auf diesem Planeten noch entzückendere Lieblichkeit gab, als sogar Glessiblora sie offenbarte.
Den Namen dieses taufrischen Mädchens, Glessiblora, mit dem Ton auf dem I der zweiten Silbe, dolmetschte Heinz mit „Glanzblume“.
Erst eine Viertelstunde später wurde auch Heliastra, die Jüngste, gerufen.
„Sie ist erst siebzehn und ein kleiner Schelm, ein lustiger Kobold,“ erklärte der Vater, ehe sie erschien, und Heinz übersetzte ihren Namen mit „Flimmersternchen“, wörtlich „Hellstern“
Von ferne vernahm man schon das silberne Lachen der Nahenden; denn mit nichts konnte der Wohllaut dieser hellen Stimme füglich verglichen werden, wenn nicht mit dem Klang silberner Glöckchen.
Und nun erschien Heliastra in der Öffnung, welche die Tür vertrat; denn eigentliche, verschließbare Türen gab es in Eden nicht.
Unter dem Eingang hemmte sie den schwebenden Schritt, und wie sie so dastand, umwallt von goldglänzendem Haar, im dunklen Türrahmen, da erschien sie wahrlich wie ein heller, flimmernder Stern.
Unsre Freunde schauten alle nach der siebzehnjährigen Elfe hin: solch ein wunderliebliches Gesichtchen, solch ein Blau der lieben, lustigen Augen, solch durchsichtige Blütenweiße der Haut, von duftigem Rosenschimmer durchhaucht, kurz, einen solchen Schmelz der Schönheit, Anmut und Jugend hatten sie nicht nur niemals erschaut, sondern wären auch nie imstande gewesen, sich derart vollkommene Reize in der Phantasie auszumalen.
Nur allein wieder Schultze hatte schon ähnliches gesehen, ja nicht nur ähnliches: er erkannte in Heliastra sofort die holdselige Erscheinung, die ihn bei seiner Morgenwache begrüßte, als er halb eingenickt war und nicht recht wußte, ob er schlief oder wachte.
Die Kleine hatte ihn ebenfalls erkannt. Nachdem sie die fremden Gäste ohne Befangenheit gemustert und besonders Heinz Friedungs bewundernde Blicke durch ein bezauberndes Lächeln und freundliches Zunicken erwidert hatte, schwebte sie direkt auf den Professor zu und machte vor ihm eine tiefe Verbeugung, dann lachte sie ihm hell ins Gesicht.
„Heliastra!“ rief Bleodila mit sanfter Zurechtweisung ihrer Jüngsten zu.
„O Ma,“ erwiderte diese: „Wir kennen uns schon; als ich heute Morgen Pa und Fliorot zur Schmiede begleitete, flog ich ein wenig umher und fand das Lager der Fremden; dieser würdige Herr hielt Wache davor; ich glaubte aber, er schlafe und wollte mich nähern, da sah er mich so groß an, daß ich erschrak und forthuschte, allein ich glaube, er war noch viel mehr erschrocken.“ Und sie lachte wieder ihr herzerquickendes Lachen.
Als Heliastra merkte, daß Heinz ihre Sprache verstand, begann sie eine lebhafte Unterhaltung mit ihm und fragte ihn neugierig aus über die Welt, von der die Fremdlinge kamen. Wenn der junge Mann dann wieder ein Wort recht verketzerte, lachte sie mit einer Unwiderstehlichkeit, die auf die ganze Gesellschaft ansteckend wirkte.
„Ich kann mir nicht helfen,“ sagte sie, wie sich entschuldigend, zu Heinz. „Es macht mir gar zu großes Vergnügen, welch sonderbare Worte du oft gebrauchst oder wie seltsam du andere aussprichst und veränderst. Es ist ja erstaunlich, wie du unsere Sprache reden kannst, die du heute zum erstenmal hörst, so gescheite Männer gibt es bei uns gar nicht; aber ich bitte dich, lerne nur ja nicht ganz richtig sprechen, du würdest mich um ein gar zu großes Vergnügen bringen.“
Heinz mußte nun auf Gabokols Bitte erklären, wie er überhaupt dazu gekommen war, sich mit den Edeniten verständigen zu können.
Selbst die Mädchen folgten mit gespanntem Interesse und völligem Verständnis seinen Auseinandersetzungen über die Gesetze der Entstehung der menschlichen Sprache.
Gabokol drückte ihm zum Schluß seine hohe Bewunderung aus und bat ihn, einen Vortrag über diesen Gegenstand in der Hauptstadt zu halten. „Du wirst dadurch bei uns ein berühmter Mann werden, denn unsre Gelehrten haben wohl herausgefunden, daß alle Sprachen unsres Planeten ursprünglich miteinander verwandt sind, aber über die Anfänge der Sprache überhaupt haben sie sich vergeblich den Kopf zerbrochen und sind zu der Ansicht gekommen, das sei ein für den menschlichen Verstand unlösbares Rätsel.
Nun denke dir, welches Licht deine neue Erkenntnis verbreiten wird, welchen Dienst du unsrer Wissenschaft leistest und welchen neuen Anstoß du ihr gibst. Und einen großen Respekt wird man hier bekommen vor dem so viel größeren Scharfsinn der Erdenbewohner.“
Heinz lächelte, versprach aber, den Vortrag zu halten, sobald er die Sprache des Landes genügend beherrsche.
Nun trugen die Töchter des Hauses das Mittagsmahl auf, zur großen Befriedigung des Kapitäns.
Unsre Freunde lernten hiebei neue, ungeahnte Genüsse kennen, nämlich die herrlichen Gemüse Edens und die ganz vorzüglichen Mehlspeisen und Backwaren, die verrieten, daß die Edeniten Getreidesorten besaßen, die verschiedenartige Mehle lieferten und zwar ungleich köstlichere als die Erde sie kennt.
Fleischgenuß war hier unbekannt: niemals wäre jemand auch nur der Gedanke gekommen, ein Tier gewaltsam zu töten oder gar einen Tierleib zu verzehren. Allerdings, bei der unerschöpflichen Auswahl an auserlesenen Speisen wäre es Torheit gewesen, noch Fleischkost einzuführen, die wahrscheinlich den Edeniten gar nicht zuträglich gewesen wäre, keinesfalls aber zur Verbesserung des Speisezettels hätte beitragen können.
Keiner unserer Freunde vermißte Fisch, Geflügel und Braten, so viel wohlschmeckender erschienen allen die Gerichte Edens in ihrer unendlichen Abwechslung.
Eier, Milch, Butter, Käse und Honig waren die einzigen Speisen, die dem Tierreich entnommen wurden, und auch sie übertrafen alles Irdische; namentlich gab es die verschiedensten Arten von Eiern, von Honig und von Milch, und aus den verschiedenen köstlichen Milcharten wurden auch die verschiedensten Arten von Butter und Käsen hergestellt, von denen jede ihre besonderen unnachahmlichen Vorzüge aufwies.
Die Getränke bestanden teils aus Wasser, das auch in verschiedenen Zusammensetzungen dem Erdboden entsprudelte, teils aus süßen und herben Fruchtsäften, die nichts Berauschendes an sich hatten und doch die Gemüter erhoben und die Stimmung verklärten, die Phantasie anregten und belebten, weit mehr als die alkoholischen Getränke der Erde.
Die Folge auch des reichlichsten Genusses dieser Edenweine war niemals eine ungute, im Gegenteil, Kraft und Körperfrische sowie die geistige Regsamkeit wurden stets durch sie gehoben.
Heinz erlernte fabelhaft schnell die Sprache der Edeniten. Er konnte sich jetzt schon ganz fließend unterhalten. Schwierigkeiten machten nur die Begriffe, die entweder der irdischen oder der Welt Edens fremd waren. Aber durch Umschreibungen und Erläuterungen gelang es, auch solche mit der Zeit begreiflich zu machen.
Gabokol und die Seinen zeigten dabei einen hervorragenden Scharfsinn und nahmen bald mit vollstem Verständnis eine ganze Reihe von „Fremdwörtern“ auf, mit denen Heinz ihre Sprache bereicherte, weil es dieser an den entsprechenden Ausdrücken fehlte. Dabei handelte es sich lediglich um Dinge, die den Erdenmenschen geläufig, den Edeniten aber völlig unbekannt waren, nicht zum Schaden der letzteren.
So hielt es zu Anfang schwer, den Gastfreunden verständlich zu machen, was unter Gift, Vergiftung, Verwundung, Krankheit, Schmerzen, Haß, Bosheit und anderen Leiden und Lastern zu verstehen sei.
Und doch war es notwendig, solche Dinge zu berühren, wollte man sich über die Verhältnisse Edens belehren oder über diejenigen der Erde Auskunft geben. Es waren daher größtenteils Fremdwörter von recht übler Bedeutung, die von den Edeniten gelernt und schmerzlich staunend begriffen werden mußten, wenn sie sich mit der fremden Welt, aus der ihre Gäste kamen, vertraut machen wollten und ihnen andererseits klar machten, inwiefern sich Eden von jener unterschied.
Auch die andern machten rasche Fortschritte in der Sprache Edens, und Flitmore sprach den Wunsch aus, einen Besuch in der Stadt so lange hinauszuschieben, bis sie so weit wären, das Notwendigste zu verstehen und sich selber verständlich zu machen.
Es wurden daher in den nächsten Tagen nur Ausflüge auf die nahe Hochebene unternommen und auch einige Aussichtspunkte besucht, von denen aus man weit ins Land schauen konnte.
Eine der ersten Fragen, die Schultze an Gabokol richtete, war die, wie es komme, daß das Wasser hier zum Teil bergauf, zum Teil aber bergab fließe.
„Bei uns steigt immer das Leichtere nach oben,“ erwiderte der Mann verwundert, „und das Schwere strebt hinab; ist das nicht so auf der Erde?“
„Im allgemeinen wohl,“ erwiderte der Professor. „So wird zum Beispiel Öl, auf den Grund eines Baches gebracht, an die Oberfläche des Wassers steigen; dann aber fließt es nicht den Bach hinauf, sondern hinab, ebenso fließt sowohl Öl als Wasser auf festem Grund, falls dieser geneigt ist, bergab.“
„Auch wenn es leichter ist als der feste Grund?“ fragte Fliorot erstaunt.
„Ja! Es befindet sich eben dann in einem andern Mittel, in der Luft, und weil es schwerer ist als diese, drängt es zur Tiefe.“
Gabokol schüttelte den Kopf. „Das ist merkwürdig und widerspricht den Naturgesetzen, wie wir sie kennen. Wir haben dichtes Wasser, das schwerer ist als Erd- und Felsboden: das sinkt hinab. Wird es aber durch Wärme und Verlust aufgelöster fester Bestandteile leichter als der feste Untergrund, so strebt es so hoch als nur möglich empor und fließt auch selbstverständlich bergauf. Die Meere haben schweres Salzwasser: die bleiben immer in der Tiefe.
Unser Planet hat auch eine sehr schwere Luft und geringe magnetische Kraft; auf unsern Monden ist das ganz anders, da fühlt man sich schwer an den Boden gefesselt; möglich, daß dort auch das Wasser niemals bergauf fließen könnte, wenn es dort überhaupt Wasser gäbe.“
„Könnt ihr bis zu euren Monden fliegen?“ erkundigte sich Mietje.
„Wir können es wohl, tun es aber nicht ohne Not; denn zu einem Aufenthalt für Lebende sind sie nicht geeignet. Es fehlt ihnen an Pflanzen und an Wasser, sie gleichen leuchtenden Edelsteinen, sind aber tot und nur ein Platz für die Toten. Auch macht ihre starke Anziehungskraft das Wandern und Fliegen dort sehr beschwerlich.“
„Wie macht ihr es überhaupt, daß ihr fliegen könnt?“ wandte sich Münchhausen an Fliorot.
„Wir atmen die Luft in unsere Fluglunge ein,“ erwiderte dieser. „Probiere es doch einmal: sobald sie mit Luft gefüllt ist, schwebt man von selber empor und sinkt erst wieder, wenn man die Klappe öffnet. Wir können das schon als kleine Kinder, warum macht ihr’s nicht ebenso?“
„Aus dem einfachen Grunde, weil wir eine so praktische zweite Lunge nicht besitzen,“ entgegnete der Kapitän.
„Das dachte ich mir,“ fiel nun Bleodila, die Hausfrau, ein. „Bei uns ist diese innere Einrichtung ein Vorzug, den wir vor den Tieren haben, die nur springen können oder Flügel besitzen müssen um zu fliegen.“
„Und durch die Anfüllung euerer Ballonlunge werdet ihr so leicht, daß ihr bis zu den Monden fliegen könnet?“ fragte Mietje weiter.
„Nein, das nicht!“ antwortete ihr der Hausvater anstelle seiner Gattin: „Weiter oben wird die Luft so dünn und leicht, daß sie uns nicht mehr trägt; wollen wir höher gelangen, so müssen wir Fahrzeuge benutzen, die durch die abstoßende Kraft emporgetrieben werden, bis wir die Kraft abstellen und, von dem Monde angezogen, auf seine Oberfläche gelangen.“
„Aha! Meine Fliehkraft!“ rief Flitmore. „Und weiter als bis zu euren Monden reist ihr mit derselben nicht?“
„Das können wir nicht: Die Zwischenluft bis zum grünen Mond, der uns der nächste ist, genügt kaum mehr zum atmen; den blauen haben nur wenige kühne und ausdauernde Fahrer erreicht; den rosa Mond aber, der doppelt so weit entfernt ist, konnte noch keiner erreichen: Die Luft wird zuvor so dünn, daß man umkehren muß, sonst müßte man sterben.“
„Wenn ihr aber in einem verschlossenen Behälter voller Luft aufsteigen würdet?“ meinte der Lord.
Gabokol sann nach: „Das wäre ein Gedanke! Das hat noch niemand versucht,“ sagte er: „Seid ihr so bis zu uns gekommen?“
„Ja!“ bestätigte Flitmore kurz.
„Ein weiter Weg!“ meinte Fliorot und sah zum Himmel empor.
„Unsere Erde kannst du nicht sehen!“ lachte Schultze, der der Richtung seiner Blicke folgte und nicht umhin konnte, sich höchlichst zu verwundern, daß der Knabe wenigstens genau zu wissen schien, wo er die Erde am Firmament zu suchen hätte, falls sie sichtbar gewesen wäre. Aber freilich, mit dem stärksten Teleskop hätte man diesen kleinen dunklen Planeten von hier aus niemals entdecken können.
Fliorot aber erwiderte: „O doch, ich sehe sie ganz genau. Ich kenne die Lage eueres Sonnensystems gut. Ihr habt nur eine Sonne. Zuerst kommen zwei kleine Planeten ...“
„Merkur und Venus,“ sagte Heinz.
„Dann kommt euere Erde, wie ihr sie nennt,“ fuhr Fliorot fort, „ich sehe sogar ihren Mond.“
„Ja, Fliorot hat scharfe Augen,“ bestätigte Gabokol: „Ich selber kann bei Tageslicht den Mond eurer Erde nicht erkennen, nur bei Nacht.“
„Da hört sich aber doch alle Wissenschaft auf!“ rief Schultze, der staunend beobachtete, wie die Augen des Knaben ein wenig vorgetreten waren und sich in weite Ferne richteten. „Das ist ja eine Sehkraft, die unsere stärksten Fernrohre weit in den Schatten stellt und gegen die auch diejenige des letzten Marsbewohners nichts besagen will! Ist dieser Jüngling imstande, Erde und Mond als zwei getrennte Körper zu unterscheiden, so ist das eine Augenparallaxe, die über das Märchenhafte hinausgeht. Seine Augen müssen es vermögen, die Neigung zweier Linien zu einander zu unterscheiden, die auf einen Kilometer nur 9 Millimeter beträgt!“
Gabokol führte nun unsere Freunde zu seiner Schmiede und erklärte ihnen, wie die Flamme aus der Vereinigung zweier Gase entstand, die er durch Mischung von Metallen und Säuren im Erdboden erzeugte.
Er hatte ein Luftschiff in Arbeit, das aus äußerst leichten Metallen gebaut wurde und das allgemeine Verkehrsmittel auf dem Planeten bildete, wie er erklärte, wenn es sich darum handelte, rascher vorwärts zu kommen, als durch persönlichen Flug, oder auch Lasten zu befördern.
Als Triebkraft diente ein Magnetismus, den er Parallelkraft nannte, weil er die damit geladenen Fahrzeuge in wagrechter Richtung über der Oberfläche des Planeten hintrieb.
Fliorot interessierte sich sehr für Heinz’ Revolver. Als der Freund ihn ernstlich mahnte, vorsichtig mit der gefährlichen Schußwaffe umzugehen, lachte er; und ehe es jemand hindern konnte, schoß er sich eine Kugel mitten durch den Arm.
Den Schreckensruf unserer Freunde begriffen die Edeniten nicht. Der Arm war allerdings durchbohrt, auch der Knochen durchschlagen. Doch schloß sich die Wunde so augenblicklich ohne irgend welche Blutung, daß keine Spur mehr zu sehen war. Auch die Knochen waren offenbar so elastisch, daß sie ohne Schaden durchbohrt werden konnten. Ein Schmerzgefühl war den Edeniten unbekannt, und selbst völlig abgetrennte Glieder wuchsen, wie Bleodila versicherte, augenblicklich wieder fest, wenn man die Schnittflächen aneinander legte.
Doch kamen solche Verwundungen bei den elastischen Gliedmaßen und der äußerst widerstandsfähigen, wenn auch noch so zart aussehenden Haut äußerst selten vor.
„Krankheiten kennt ihr auch nicht?“ wandte sich Mietje an Glessiblora: „Gifte gibt es hier keine, wie ihr sagt, und das stärkste Feuer vermag eure Haut nicht anzugreifen, gibt es denn da bei euch überhaupt einen Tod?“
„Ja,“ erwiderte das Mädchen, „sterben müssen wir alle. Ein Jahr dauert bei uns etwa zehn eurer Erdenjahre und 300 bis 500 unserer Jahre ist die gewöhnliche Lebensgrenze.“
„Also 3000 bis 5000 Jahre!“ rief Münchhausen.
„Selten stirbt jemand in zarterem Alter,“ bestätigte Heliastra. „Man ist dann alt und müde und sehnt sich nach dem höheren, vollkommeneren Leben, das Gott uns nach dem Tode verheißen hat.“
„Fühlen wir unser Ende herannahen,“ fügte Bleodila hinzu, „so treten wir gewöhnlich alsbald die Reise nach dem grünen Mond an, dem Reich der Toten. Dort schläft man nach wenigen Tagen ein, ohne wieder aufzuwachen. Entschlummert aber einer schon hier, ehe er an die letzte Reise dachte, was sehr selten vorkommt, so bringen wir seinen Leib hinauf, wo er dann bald austrocknet und zu Staub zerfällt.“
„Ihr glaubt also, wie wir, an ein ewiges Leben?“ fragte Flitmore.
Gabokol sah ihn verwundert an: „Natürlich!“ sagte er: „Was hätte es für einen Sinn, wenn das Leben mit dem Tode aus wäre?“
„Nun, ihr habt doch sicher auch in diesem Leben eine Aufgabe zu erfüllen,“ meinte Schultze.
„Gewiß! Sehr viele! Arbeit gibt es genug an uns und andern, für uns und für andere; denn wir müssen doch immer besser werden und unsern Planeten immer besser machen. Wollten wir zum Beispiel an der Verbesserung unserer Weltkugel nicht ernstlich und fleißig arbeiten, so müßten unsere Nachkommen bald zum Teil verhungern: bis jetzt ist nämlich nur ein Streifen rings um den Planeten fruchtbar und bewohnt; alles andere ist Wüste, es fehlt an Pflanzen und Erde.
Unsere Hauptarbeit besteht nun darin, das nackte Gestein zu zermahlen, es mit pflanzlichen Stoffen und chemischen Bestandteilen zu mengen und so eine gute Erde herzustellen, mit der wir kahle Flächen bedecken, die dann eingesät werden und Urwälder und Prärien bilden, welche zunächst von der Tierwelt in Beschlag genommen werden können, bis sich später die Bevölkerung ausdehnt.
Nächst unseren häuslichen Arbeiten, der Herstellung von Verkehrsmitteln und dem Landbau, beteiligt sich jedermann auch an dieser Riesenarbeit, künftigen Geschlechtern ihre Wohnsitze zu schaffen.“
„Nun also,“ sagte der Professor: „So könntet ihr ja sagen, das ist der Zweck unseres Lebens, unsern Nachkommen den Boden zu bereiten, und in ihnen leben wir fort. Ähnlich sprechen so manche auf Erden, die an kein Fortleben nach dem Tode glauben wollen.“
„Und diese Nachkommen?“ fragte Bleodila: „Sie würden auch einige hundert Jahre sich des Errungenen erfreuen und ihrerseits für die Kommenden vorarbeiten, um dann ins ewige Nichts zu versinken, und so ginge es fort, bis der Planet tot wäre mit allen, die je auf ihm gestrebt und gewirkt? Und dann? Dann wäre es völlig einerlei, ob je hier vernünftige Wesen gelebt und gearbeitet haben oder nicht!“
„Ja,“ stimmte die kleine Heliastra der Mutter bei. „Wenn mit dem Tode alles aus wäre, so wäre zuletzt unser ganzes Leben zwecklos und sinnlos, wir wären das Puppenspiel eines unverständigen Schöpfers; aber gottlob, die Macht, die uns erschaffen hat und erhält, ist Weisheit und Liebe; darum allein können wir uns des Lebens freuen und auch dem Ende getrost und fröhlich entgegensehen.“
„Und was erhofft ihr vom Ende?“ fragte Heinz.
Heliastras Augen leuchteten: „Das Leben ist schön bei uns, wunderschön! Aber welche Schranken sind uns überall gesteckt, wie viel möchten wir wohl ausführen und können es nicht! Wer treu gewesen ist im Wirken seines endlichen Lebens, dem werden höhere Aufgaben und Kräfte anvertraut, wie wir glauben: ja, ein neueres, höheres und schöneres Leben wird diesem mangelhaften Leben folgen, das glauben und hoffen wir!“
„Unser Glaube ist der,“ fügte Gabokol hinzu: „Wer sich bewährt hat, dem wird Gott eine seiner unzähligen Welten überweisen und ihm sagen: nun magst du nach eigenen Gedanken und nach eigener Lust schaffen. Ich gebe dir ein Maß von Schöpferkraft, wie es deinen Bedürfnissen entspricht; ich ordne dir andere Geister bei, denen noch keine so hohe Macht anvertraut werden kann, die dir aber treu und willig zu Diensten sein werden. Nun schaffe dir eine Welt nach deinen Gedanken, Pflanzen, Tiere, vernünftige Wesen, wie deine Phantasie solche erfindet, stelle Naturgesetze auf, wie du sie für zweckmäßig hältst und wenn du des Rats bedarfst, so darfst du ihn jederzeit bei mir holen. Ja, wir glauben, daß die Natur und Lebewelt auf unserem Planeten und wir selbst auf diese Weise geschaffen worden sind von einem großen, seligen Geist, dem Gott hier sein Schöpfungsgebiet angewiesen hat; denn vollkommene Geschöpfe, wie Gott selber sie erschaffen hätte, sind wir noch nicht. Aber im neuen Leben wird er selbst uns zur Vollkommenheit vollenden, wie der Meister des Schülers Arbeit verbessert und zur Vollendung bringt.“
„Ihr glaubt also alle an einen Gott, von dem in letzter Linie die ganze sichtbare Schöpfung ausgeht?“ fragte Mietje.
Bleodila sah sie verständnislos an: „Ja, was sollten wir denn sonst glauben?“ fragte sie. „Etwa, diese ganze Welt mit ihren wunderbaren Geschöpfen und uns selbst, sei von selber entstanden?“ und sie brach in ein herzliches Gelächter aus, in das ihre beiden Töchter einstimmten, so daß es wie der Klang eines Glockenspiels durch die zitternden Lüfte schallte.
„Ihr habt recht, daß ihr lacht,“ sagte Mietje; „niemand macht sich so lächerlich, wie der Zweifler am Dasein Gottes.“
„Nichts ist wahrer als dies,“ stimmte der Lord bei: „Die Gottesleugnung wird stets der sicherste Beweis geringer Verstandesgaben sein und der Unfähigkeit, vernünftig zu denken. Allerdings entstammt der plumpe Aberglaube an die ewige, allmächtige Natur und ihren aus dem Nichts gezauberten Gesetzen dem unlautern Willen und nie der wissenschaftlichen Überlegung. Aber diese Leute, die das Opfer ihres Verstandes bringen, weil sie nicht glauben wollen, die Geist und Sinne absichtlich verschließen, um der allein vernünftigen Erkenntnis den Eingang zu verwehren, sind um so bejammernswertere Toren und tun sehr Unrecht daran, den Vogel Strauß zu belächeln, der den Kopf in den Sand steckt, meinend, nun sei auch das nicht da, was er nicht mehr sieht, nicht sehen will.“
„Unsere Philosophen,“ sagte Gabokol, „haben auch schon über das Welträtsel nachgedacht. So beschränkt war freilich keiner, am Dasein eines Schöpfers zu zweifeln. Aber die Frage nach der Ewigkeit des Sichtbaren warfen sie auf. Da kamen sie denn zu folgenden Erkenntnissen: entweder das Sichtbare war immer da, das heißt von jeher vom ewigen Schöpfer hervorgebracht; dann wird es auch immer sein, und die Vergänglichkeit ist nur etwas Scheinbares, als ein Übergang in andere, zweifellos, höhere Daseinsformen; das wäre eine beständige Entwicklung, ein ewiger Fortschritt.“
„Wenn aber das Sichtbare einen zeitlichen Anfang hätte?“ warf Schultze ein.
„Dann könnte es ja wohl auch ein Ende haben,“ erwiderte der Edenite; „allein es ist klar, daß wenn einmal ein Anfang war, auch späterhin immer wieder ein neuer Anfang möglich ist; ja es wäre unsinnig zu glauben, daß es in der Ewigkeit der Zeiten nur einmal zu einem einzigen Anfang gekommen wäre und dann für alle Zeiten Ende und Tod. Wir schließen daraus, daß auch das Einzelne nie ein endgültiges Ende nehmen kann, sondern daß ihm ein neuer Anfang sicher ist. Der Anfang des Sichtbaren setzt also nicht sein Ende voraus, sondern vielmehr seine ewige Erneuerung.“
Es war wunderbar, wie die Lebensluft Edens Körper und Geist frisch erhielt, stärkte und belebte!
Was ließ sich doch alles an einem Tage ausführen, kam doch zum siebenundzwanzigstündigen Sonnentag nach einer Dämmerstunde die achtstündige Rosennacht, in der noch keine Müdigkeit oder Schläfrigkeit aufkam!
Man ging zur Ruhe, wenn der blaue Mond bereits einige Stunden geleuchtet hatte; man erhob sich gestärkt und munter, ehe der grüne Mond sich zum Untergang neigte: acht bis neun Stunden Schlafs genügten allen Bedürfnissen, so daß der Tag, das heißt die Zeit des Wachens, mehr als 40 Stunden währte.
Was man bei der hier so gesteigerten Auffassungsfähigkeit in wenigen Tagen lernen konnte, merkten unsre Freunde besonders daran, daß sie bald die Sprache Edens verstanden und redeten, als sei sie ihnen von Kind auf bekannt gewesen. Freilich wäre dies nicht möglich gewesen, wenn nicht eben die Verwandtschaft mit der irdischen und namentlich mit der deutschen Sprache, die der menschlichen Ursprache so besonders nahe steht, gewesen wäre.
Eines Abends, als der Rosenmond sein märchenschönes Licht über die Landschaft ergoß, saß die nun so vertraute Gesellschaft auf dem Dache des Hauses.
Gabokol führte mit Schultze und Flitmore ein ernstes Gespräch, dem John andächtig lauschte, sich hier und da eine seiner wohlgesetzten Fragen gestattend.
Mietje unterhielt sich mit Bleodila und der gesetzten Glessiblora über das Leben und Treiben der Frauenwelt Edens.
Fliorot lauschte den fabelhaften Erzählungen des Kapitäns Münchhausen, der an dem Knaben einen eifrigen Zuhörer gefunden hatte.
Etwas abseits saßen Heinz und Heliastra und betrachteten den leuchtenden Sternhimmel, der freilich den Augen der Jungfrau einer höheren Welt noch viel reichere Wunder offenbarte als dem Jüngling der irdischen Fernen.
„Ich liebe die Sterne so sehr!“ sagte die kleine Elfe: „Wie viel leuchtende Sonnen hat doch Gott erschaffen und wie unzählig mögen die Wesen sein, die ihres Glanzes sich freuen! Den helleren Sternen haben wir Namen gegeben und ebenso den Bildern, die durch verschiedene einander scheinbar nahestehende Sterne entstehen, wenn man sie vereint betrachtet.“
„Genau so haben auch wir auf der Erde es gemacht,“ erwiderte Heinz lächelnd.
„Nein! wie merkwürdig!“ rief Heliastra erfreut: „Sieh einmal, dort am Horizont stehen vier Sterne, die einen viereckigen Leib bilden, von dem ein langer Hals emporstrebt; wir nennen das Sternbild, das wohl das deutlichste am Himmel ist, Ligela, nach dem langhalsigen Tier, das ihr Giraffe nennt, wie heißet denn ihr’s?“
Heliastra hatte sich von Heinz fleißig in seiner Sprache unterweisen lassen und wußte schon alle Namen derjenigen irdischen Geschöpfe, die mit denen Edens einige Ähnlichkeit hatten.
„Wir nennen dies Sternbild den Wagen oder den Großen Bären,“ erklärte der Jüngling: „Es gehört auch bei uns zu den bekanntesten.“
Heliastra schüttelte das Goldköpfchen: „Ligela klingt schöner,“ meinte sie; „aber schau, dort drüben sind drei Sterne in einer Reihe und zwei darunter; dieses Bild nennen wir den Thron, Sissal, und den hellen Stern rechts unten Helor.“
„Wir heißen den letzteren Rigel, nehmen aber zum Sternbild noch jene beiden oberen Sterne, links Beteigeuze, rechts Bellatrix, und heißen das ganze Gebilde Orion.“
„Orion! Nein, welch schöner, klangvoller Name!“ rief das Mädchen. „Aber paß auf: die beiden Sterne, die ihr Beteigeuze und Bellatrix benennt, wir aber Fluir und Saila, rechnen wir zum langgestreckten Bild der Schlange, Slipilil; ihr Kopf ist dort links das strahlende Gestirn Glorhel.“
„Das ist Sirius im großen Hund,“ erläuterte Heinz.
„Und das Schwanzende,“ fuhr Heliastra fort, „ist dort rechts der helle Stern, an den sich mehrere kleinere in schönem Schwung anschließen; ersteren heißen wir Glizil.“
„Das ist Aldebaran im Stier und die kleine Gruppe die Hyaden.“
Noch eine ganze Reihe von Stern- und Sternbildernamen erklärten sich die beiden gegenseitig, wobei es sich freilich erwies, daß die Astronomen Edens meist andre Gruppierungen festgestellt hatten, als die irdischen. Genau übereinstimmend erfanden sich außer dem großen Bären nur die besonders scharf begrenzten Bilder der Kassiopeia, die ein großes lateinisches W bildet und der Wage; diese beiden nannte Heliastra „Doppeldreieck“ und „Amboß“ oder Dutri und Kolgor.
Immer wieder mußte Heinz dann von der Erde und den Menschen erzählen, und Heliastra lauschte seinen Berichten wie Wundermären aus einer fernen Märchenwelt.
Und wenn er von den Leiden, Fehlern und Leidenschaften der irdischen Geschöpfe berichtete, von den Schrecken und Gefahren, von Unglück und Verbrechen, die den Frieden und das Glück der Erdenbewohner trübten, da offenbarte sich ihm das tiefe Gemüt, das sich hinter dieses Sonnenkindes schelmischem Wesen barg.
Denn die Liebliche empfand ein so tiefes Mitleid mit ihren fernen Brüdern und Schwestern, daß ihre Himmelsaugen in Tränen schwammen; und die Sünde und Verworfenheit kam ihr noch als das allerbemitleidendste Elend vor, unter dem die armen Geschöpfe zu leiden hätten.
„O,“ rief sie aus: „Wie viel höhere und edlere Aufgaben, Arbeit und Tätigkeit ist doch euch zugewiesen, die ihr Schmerzen zu lindern, Übel zu bekämpfen und Schlechtes zu überwinden habt! Wir streben ja auch der Veredlung und Vollkommenheit zu, aber die Schwierigkeiten, mit denen ihr zu rechnen habt, sind uns unbekannt: bei euch muß das Leben ein wahres Heldentum sein. Nur einmal möchte ich auch hineinversetzt werden in all dies bejammernswerte Elend, um mit euch kämpfen und siegen zu können.“
„O, wünsche das nicht!“ sagte Heinz, das zarte Geschöpf in seiner verklärten Begeisterung wehmütig betrachtend: „Wie viel glücklicher seid doch ihr!“
„Meinst du? Ich fühlte mich wohl wunschlos glücklich, so lange ich nichts ahnte von Leiden, wie du sie zu schildern weißt. Nun aber ist ein heißer Wunsch, ein brennendes Verlangen in meiner Seele erwacht: ist es nicht das höchste Glück, trösten, lindern, helfen zu dürfen, wo das Elend zum Himmel schreit?“
„Und dann Undank ernten und von denen, mit denen man es so gut meinte, verhöhnt und gequält zu werden, wie es unserm Heiland ging?“
„Glaubst du nicht, es sei das Schönste, auch Unrecht zu leiden, nach dem Vorbild des Gottessohns, von dem du so himmlisch Großes und Herrliches zu erzählen weißt? Und dann weiß ich doch, du und deine Freunde, ihr würdet nicht spotten und mir mit Undank vergelten; ihr wäret meine treuen Mithelfer und Mitdulder. O, Freund, es müßte wahrhaft schön sein!“
Heinz betrachtete voll Bewunderung dieses ätherische Wesen, das sein beneidenswertes Glück mit Freuden geopfert hätte, um Lichtstrahlen zu spenden denen, die ihre Finsternis mehr liebten als das Licht!
Ja, wer an der Seite solch einer Seele hätte arbeiten können an der Beglückung der Gequälten und Verirrten!
Heinz hatte schon den Wunsch empfunden, für immer in dieser neuen Welt des Friedens zu weilen und nie wieder in das Elend der Erde zurückzukehren. Aber die hochherzige Gesinnung dieses Mädchens ließ ihn sich seiner eigennützigen Fluchtgedanken schämen: nein! er mußte zurückkehren auf die Erde als ein Kämpfer für Licht und Glück!
Es fand sich, daß die Photographie den Edeniten nicht unbekannt war.
In Gabokols Wohnung waren die Wände vielfach mit Bildern geschmückt, teils Porträts, teils Landschaftsbilder oder belebte Szenen aus Welt und Leben. All diese Darstellungen erschienen so überaus lebendig und naturwahr, so zart und leuchtend in den feinsten Farbenabstufungen, daß unsre Freunde sich nicht genug wundern konnten über die hohe Stufe, welche die Kunst der Maler hier erreicht habe.
Bald erfuhren sie jedoch, daß es sich nur zum geringsten Teil um Gemälde handelte, daß vielmehr die meisten dieser Kunstwerke nichts andres waren als Lichtbilder in natürlichen Farben.
Gabokol selber besaß einen photographischen Apparat, den er Flitmore bereitwilligst erläuterte. Die Linse war durchaus dem menschlichen Auge nachgebildet und wurde auch wie dieses eingestellt, wobei sie Bilder von unnachahmlicher Schärfe lieferte. Die Platten bestanden aus durchsichtiger Baumrinde und waren mit einem licht- und farbenempfindlichen Stoffe überzogen, der ebenfalls genau dem entsprechenden Stoff im Auge des Menschen nachgeahmt war. So entstand schon auf der Platte ein farbiges Bild, das durch ein verblüffend einfaches Verfahren festgehalten wurde. Von dieser ersten Platte konnten dann beliebig viele Vervielfältigungen ausgeführt werden, wobei man stets dieselben dünnen Platten benutzte: ein besonderes Material für die Abzüge war durchaus entbehrlich.
Gabokol schenkte dem Lord einen solchen Apparat und Flitmore war nun imstande, die Wunder Edens in einer Weise festzubannen, wie es keine irdische Kunst vermocht hätte.
Heinz durfte die Wunderkamera benutzen so oft er wollte; während aber der Lord vorzugsweise Landschaften, Tier- und Pflanzenbilder aufnahm, bevorzugte der Jüngling Porträtaufnahmen. Namentlich wurde er nicht müde, Heliastra allein oder mit ihrer anmutigen Schwester in immer neuen Stellungen zu photographieren und die Mädchen kamen ihm hiebei mit freundlichster Geduld entgegen.
Musik war den Edeniten ein Lebensbedürfnis; sie besaßen eigenartige Instrumente von unbeschreiblichem Wohlklang und einer Mannigfaltigkeit der Tonfarben, die ganz wunderbare Effekte ermöglichte. Das durchsichtige Holz der Bäume und Rohre, aus dem hauptsächlich die Instrumente gefertigt wurden, schien für diesen Zweck weit geeigneter als alle irdischen Holz- oder Metallarten; auch der stärkste metallische Klang, Orgel- und Glockentöne, war gewissen Holzarten eigen.
John war außer sich vor Freude über eine Flöte, die ihm Fliorot verehrte, und aus welcher der musikalische Diener Weisen hervorzuzaubern vermochte, die ihm alles Irdische zu übertreffen schienen.
Völlig in himmlische Sphären versetzt fühlten sich aber unsre Freunde, wenn Gabokol und Fliorot mit Bleodila, Glessiblora und Heliastra ihre herrlichen Gesänge erschallen ließen: das waren Stimmen, die den Traum einer Sphärenmusik tatsächlich verwirklichten; es war zu wenig gesagt, wenn man den Baß der Männer mit Orgelklängen vergleichen wollte und die Reinheit der Mädchenstimmen mit Silberglocken: jeder irdische Vergleich mußte hier verblassen und man konnte nur an die unbekannten Chöre der himmlischen Heerscharen denken. Und der Umfang dieser Stimmen war geradezu unglaublich: kein menschlicher Baß und kein irdischer Tenor konnte in solche Tiefen hinab, in solche Höhen hinaufsteigen; und die weiblichen Stimmen schienen in unendliche Räume entschweben zu können, wo sie zu ätherischen Klängen sich verflüchtigten.
Und welch fremdartige Melodien! Seltsam und niegehört den Erdenbewohnern und doch so heimatlich vertraut, als ob die in Träume des Entzückens gewiegte Seele die Lieder eines verlorenen Paradieses vernehme, das einst ihre selige Heimat war.
Merkwürdigerweise besaßen die Edeniten keinerlei Saiteninstrumente und so war ihnen Heinz’ Geige etwas völlig Neues.
Immer wieder wurde der Jüngling gebeten, ihnen irdische Weisen vorzuspielen. Anfangs sträubte er sich, denn ihm schien auch das Höchste, was Erdenkunst erreicht hat, kaum wert, sich hören zu lassen vor Ohren, die eine Sphärenmusik gewohnt waren; so glaubte er, sein Spiel müsse den Gastfreunden minderwertig erscheinen, und nur aus Höflichkeit bäten sie ihn, sein schwaches Talent ihnen vorzuführen.
Heinz photographiert Heliastra und Glessiblora.
Bald aber merkte er, daß er sich darin irrte; höfliche Verstellung und Schmeichelei war diesen Menschen fremd und sie hielten mit ihrem Urteil nicht zurück, wenn ihnen ein Musikstück nicht gefiel.
Aber das Violinspiel an und für sich und die wunderbare Vortragsweise des jungen Künstlers übte einen mächtigen Zauber auf sie aus, und Heinz mußte außerdem erkennen, daß die unsterblichen Tondichtungen irdischer Meister sich durchaus nicht zu scheuen brauchten, auch in höheren Welten zu Gehör gebracht zu werden, daß sie vielmehr hier ein noch höheres Verständnis fanden und entsprechenden Genuß vermittelten.
Heliastra besonders konnte sich an diesen Klängen einer fernen Welt nicht satthören.
„Unsre Musik ist schön,“ sagte sie, „und wir haben große Tonmeister gehabt und besitzen deren noch solche. Ihre Schöpfungen heiligen unsre Andacht und geben unserm Jubel Flügel; aber unsrer Musik fehlt etwas: ja, ihr mangelt der Reiz, der mich an der euren so völlig gefangen nimmt, die Wehmut, der Schmerz, die himmlische Sehnsucht, die geben euren Tonschöpfungen eine Seele, eine Wärme und Tiefe des Gefühls und Ausdrucks, daß ich glaube, selbst die Engel und Verklärten im Himmel könnten sich ihrem Banne nicht entziehen, noch ihnen ohne Bewegung und innerste Erschütterung lauschen. O, was muß das für eine Welt sein, wo der Schmerz sich in solchen Tönen verklärt und die Sehnsucht so ergreifenden Ausdruck findet!“
Gabokol begeisterte sich so sehr für die Violine, daß er beschloß, den Versuch zu machen, ein ähnliches Instrument herzustellen.
Er wählte das Holz eines Baumes, dessen Klangfarbe ihm zu diesem Zweck am passendsten erschien, und als Saiten zog er Pflanzenfasern auf, die sich vorzüglich hiezu eigneten. Im Bau ahmte er die Geige seines jungen Freundes aufs genaueste nach.
Er kam rasch mit der Arbeit zustande und nun erwies es sich, daß sowohl Holz als Saiten ungeahnte Vorzüge vor den irdischen Materialien aufwiesen.
Heinz versuchte sich sofort auf dem neuen Instrument: es war eine richtige Violine, aber sie ermöglichte eine solche Zartheit und wiederum eine solche Kraft des Tones und war von einem Zauber der Klangfarbe und Reinheit, daß keine Stradivari, Guarneri oder Amati sich entfernt mit ihr hätte vergleichen können.
Auch die Edeniten erkannten sofort, daß dies neue Instrument dem schon bisher so bewunderten Spiel ihres Freundes noch erhöhte Kraft und Schönheit, vertiefte Wärme und Innigkeit verlieh.
Daher bot Gabokol sein so überraschend gelungenes Kunstwerk Heinz zum Geschenk an, eine Gunst, die mit Jubel und Dankbarkeit angenommen wurde.
In der Folge baute Gabokol noch mehrere Violinen, die alle die gleichen trefflichen Eigenschaften besaßen, obgleich es sich auch hier zeigte, daß jedes neue Instrument seine besondere Eigenart in der Klangfärbung aufwies.
Dieser Erfolg bewog unsre Freunde, ihren Gastgeber auch in die besonderen Geheimnisse andrer Saiteninstrumente einzuweihen und so entstanden Cellos, Gitarren, Mandolinen, Zithern, Harfen und sogar ein Saitenklavier.
„Heute ist der siebte Tag,“ sagte Gabokol eines Morgens. „Wollt ihr nicht heute mit uns zum erstenmal die Stadt besuchen? Es ist bei uns von jeher eine Vorschrift, daß wir uns am siebten Tage versammeln, um Gott zu loben, ihn anzubeten und von seinem Willen und unsrer ewigen Bestimmung zu hören, was der Priester des Ewigen uns verkündigt. Wir lassen an diesem Tage alle Arbeit ruhen und sind fröhlich miteinander.“
„Ja, es ist der schönste Tag,“ fügte Bleodila hinzu.
„Merkwürdig!“ rief Mietje: „Auch wir pflegen den siebten Tag als Gottes heiligen Tag zu feiern.“
„Das ist herrlich!“ meinte Bleodila. „Und wir sehen daraus wieder, daß ihr unsern Gott als den euren erkennt.“
So begaben sich alle einträchtig hinab in das Tal.
Der Versammlungsraum befand sich am äußersten Ende der Stadt, das heißt, es war das nächste Gebäude und war vor allen andern durch seine Höhe, Ausdehnung und Herrlichkeit ausgezeichnet. Statt der rauhen Felswände, wie die meisten Wohngebäude sie aufwiesen, sah man hier glänzend polierten Marmor und Säulen von durchsichtigen Edelsteinen, die meist von den Monden Edens herabgeholt worden waren, wie Gabokol erklärte.
Die ganze Einwohnerschaft der Stadt versammelte sich hier: würdige Greise mit edlen Zügen, trotz ihres oft vielhundertjährigen Alters runzellos und von vollendeter Schönheit, Männer, Frauen, Jünglinge, Jungfrauen, Knaben und Mädchen, ja ganz kleine Kinder schwebten herein und alle leuchteten in verklärter Freude.
Das Erscheinen der Fremdlinge von einem entfernten Planeten erregte Aufsehen, namentlich bei der Jugend; doch selbst die kleinsten Kinder zeigten keine aufdringliche Neugier.
Immerhin waren zu Anfang Tausende von Blicken auf die Ankömmlinge gerichtet; denn alle hatten zwar schon von den seltsamen Gästen gehört, aber nur ganz wenige hatten sie geschaut bei zufälligen Begegnungen auf deren einsamen Spaziergängen, und Besuche im Hause Gabokols hatte man aus zarter Rücksicht in den letzten Tagen absichtlich vermieden, um abzuwarten, bis die irdischen Besucher selber den Anfang machten, sich unter den Leuten zu zeigen.
Sobald jedoch der Priester in den Altar trat, erfüllte ungeteilte Andacht alle Gemüter und nun erscholl tausendstimmiger Gesang von einer Reinheit und Musik, daß es unsren Freunden war, als hörten sie das Lob der himmlischen Heerscharen.
Dann wurde ein gemeinsames Gebet gesprochen, worauf der Priester von der Herrlichkeit und Güte des Schöpfers redete und von dem Dank und den Pflichten seiner Geschöpfe.
Noch mehrmals erscholl der Orgel- und Glockenton der überwältigenden Gesänge.
Heinz konnte sich nicht versagen, ein Loblied, das ihm besonders gefiel, in deutschen Versen niederzuschreiben. Seine allerdings schwache Übersetzung, die in unserer viel ärmeren Sprache weder der Gedankenkraft noch der Klangfülle des Urtextes gerecht werden konnte, lautete folgendermaßen:
Gott, Du Herr der Ewigkeiten,
Wer mag Deinen Ruhm verbreiten?
Wer mag preisen Deine Stärke,
Wer kann fassen Deine Werke?
Wunder schufst Du allerorten
Mit des Geistes Lebensworten,
Und vor Deiner Allmacht Zeugen
Muß der kühnste Geist sich beugen.
Was Du willst, das muß entstehen,
Was Du schiltst, das muß vergehen;
Aus dem Nichts riefst Du das Leben,
Hast dem Staube Geist gegeben;
Und Du hältest in den Gleisen
Welten, die um Welten kreisen:
Aus den unbegrenzten Fernen
Leuchtet uns ein Meer von Sternen.
Licht aus unerschöpftem Lichte
Strahlt von Deinem Angesichte,
Leuchtet aus der Sonnen Gluten,
Fleußt aus ungehemmten Fluten
Auf die Werke Deiner Liebe,
Weckt des Lebens reiche Triebe:
In dem All ist keine Stätte,
Die nicht ihre Wunder hätte.
O, daß ich in neuen Weisen
Deine Größe könnte preisen!
O, daß all mein Reden wäre
Nur ein Lob zu Deiner Ehre!
Meine Werke von Dir zeugten,
Meine Sinne Dir sich beugten!
Mach mich frei von eitlen Dingen,
Nur von Dir allein zu singen!
Als der erhebende Gottesdienst zu Ende war, trat der greise Priester geradewegs auf unsre Freunde zu und sprach:
„Wir haben gehört, daß ihr Fremdlinge einer fernen Gotteswelt den ewigen Schöpfer kennt und anbetet gleich uns. Das ist uns eine hohe Freude! Nun wäre es dieser ganzen Gemeinde ein besonderes Fest und gewiß dem Allgütigen angenehm, wenn in diesem Heiligtum zum erstenmale in fremder Zunge von Gottesgeschöpfen eines weltfernen Planeten Gottes Lob erklänge; darum, wenn ihr uns erfreuen wollt, eines eurer frommen Lieder zu singen, so wären wir euch dankbar.“
„Ein feste Burg!“ sagte Flitmore kurz zu seinen Begleitern.
Und ohne sich zu besinnen stimmten sie den Choral an. Es schien ihnen, als seien ihre Stimmen zu Strömen gewachsen, so brauste das Lied aus wenigen Kehlen durch die Hallen dahin, und der Gesang bewährte seinen heiligen Zauber auch in dieser höheren Welt, denn unter lautloser Stille lauschten ihm die Tausende mit Andacht und sichtlicher Ergriffenheit.
Als nun die ganze Gemeinde das Gotteshaus verließ, machten unsre Freunde in Begleitung ihrer Wirte Besuche bei mehreren den letztern befreundeten Familien und folgten zuletzt der Einladung des Provinzfürsten zum Mittagsmahl.
Hierauf machten sie einen Ausflug vor die Stadt und bewunderten die prächtigen Kulturen: die wogenden Getreidefelder mit ihren durchsichtigen Goldähren, die Gemüse- und Nutzpflanzungen, die Viehweiden.
In Scharen schwebten die festlich gekleideten Edeniten in der Umgegend umher und es war ein himmlischer Anblick, sie so leicht dahingleiten zu sehen, umflossen von ihren spinnwebzarten Gewändern, die in allen Regenbogenfarben leuchteten. Noch höheren Genuß bereitete es, diese vollkommenen Gestalten und diese von Schönheit, Anmut und Herzensfreundlichkeit strahlenden Gesichter zu bewundern. Und doch mußte sich Heinz sagen, so reizende Mädchen und Jungfrauen sich darunter befanden, das heißt solche von besonders hervorragender Anmut und Schönheit, denn reizend waren eigentlich alle Edeniten zu nennen, so fand sich doch keine, die Heliastra an bezaubernder Lieblichkeit gleich gekommen wäre, sie blieb die Perle Edens.
Da und dort spielte die Jugend unter Silberlachen und Scherzen; das war ein Wirbeln und Hüpfen, Fliehen und Haschen auf der Erde und in den Lüften, und die Spiele waren alle so sinnig und voll der spannendsten Zwischenfälle, daß man stundenlang mit dem lebhaftesten Interesse dem bunten Treiben zusehen konnte.
Als dann abends der Rosenmond aufglänzte, wurde in einem großen, herrlichen Parke vor der Stadt ein Fest zu Ehren der fremden Gäste gehalten.
Die ganze Stadt, jung und alt, beteiligte sich daran.
Während des köstlichen Gastmahls hielt der Fürst eine Ansprache, in welcher er die Bedeutung des Ereignisses hervorhob, daß zum erstenmale ein Verkehr und freundschaftliche Beziehungen zwischen den Bewohnern entfernter Planeten angebahnt worden seien. Er rühmte das Genie dieser Erdenbürger, die solches zustande gebracht, ihren Mut, der das Unerhörte gewagt habe, und die göttliche Güte, die sie beschützte und geleitete auf einer Fahrt durch unendliche Welträume.
Heinz, als derjenige, der allein die Sprache Edens bereits vollkommen beherrschte, erwiderte in glänzender Rede, und Gabokol und die Seinen, vor allem Heliastra, bewunderten die Gewandtheit seiner Ausführungen und den Glanz seiner Bilder, sowie den edlen Flug seiner Phantasie und den Geist seiner Gedanken.
Sie waren ordentlich stolz auf ihre Gäste, und als jubelnder Beifall den jungen Redner lohnte, erhob sich Heliastra begeistert und mit tränenschimmernden Augen und drückte einen Kuß ihrer Rosenlippen auf des Freundes Mund, das höchste Zeichen der Anerkennung, das ein Edenite zu spenden vermochte.
Der erneute Beifall und Jubel, der dieser Tat folgte, zeigte deutlich, daß das ganze Volk sich dieser Huldigung anschloß.
Heinz fühlte sich wie im Traum, umflossen von rosigem Mondlicht, geehrt und beglückt durch die Anerkennung von Wesen, die er mit Recht für hoch über sich stehend ansah, vor allem aber durch die verwirrende Gunstbezeugung des holdseligsten aller Geschöpfe, saß er da, wie verklärt.
Heliastra las ihm die Gedanken aus den Augen und nahm ihn bei der Hand.
„Komm!“ sagte sie, „wir wollen eine Weile die Einsamkeit aufsuchen, ich sehe, deine Seele verlangt nach Stille.“
Heinz ließ sich von ihr führen.
Sie traten durch ein Gebüsch an die Ufer eines stillen Sees, der im rosigen Schein der Mondnacht magisch leuchtete.
Bunte Schwäne, Enten und Wildgänse plätscherten in seinen friedlichen Fluten; Reiher, Flamingos, Ibisse, Pfauen und Pelikane belebten in ihrem strahlenden Flaumkleide die Ufer, lauter Vögel, die zwar den entsprechenden irdischen Arten ähnlich waren, doch in Formen und Farben weit vollkommener und entzückender erschienen als diese.
Riesenechsen, eine Art Krokodile, mit perlmutterschimmernden Schuppen lagen am Strand oder lugten aus dem rosenschimmernden Spiegel.
Heinz folgte dem Beispiel seiner Gefährtin, die diese prächtigen Eidechsen zärtlich streichelte; hier hatten auch diese gewaltigen Amphibien nichts Feindseliges noch Schreckhaftes; man sah es ihren sanften Augen schon an, wie fromm und friedlich sie waren.
Der rosa Mond versank hinter dem Horizont und sein blauer Gefährte löste ihn ab.
Da schlang Heliastra den zarten Arm um ihres Gefährten Hals und sagte: „Komm, laß uns nun wieder zu den Freunden zurückkehren; die Stunde der Heimkehr naht, und morgen wollen wir ja die große Reise nach der Hauptstadt des Landes antreten.“
Sie kehrten in den Kreis der festlichen Menge zurück und bald darauf erfolgte der allgemeine Aufbruch unter herzlichen Abschiedszurufen.
Am folgenden Tag wurde die geplante Reise unternommen, auf der unsere Freunde einen Teil des großen Planeten kennen lernen und Heinz in der Hauptstadt seinen Vortrag über die Entstehung der Sprache halten sollte.
Der König des Landes und die Lehrer an der Universität waren durch ausgesandte Schallwellen von dem bevorstehenden Besuch verständigt worden.
Als Fahrzeug diente das gewöhnliche Beförderungsmittel der Edeniten, eine Art großen Bootes mit verdeckten Schlafräumen und offenem Verdeck, das, durch die sogenannte Parallelkraft getrieben, in geringer Höhe über dem Erdboden durch die Luft flog.
Die Fluggeschwindigkeit, die sich bis auf 500 Stundenkilometer steigern ließ, so daß der ganze Planet in 160 Stunden umkreist werden konnte, wurde auf 100 Kilometer ermäßigt, damit die Reisenden alles bequem zu schauen vermöchten.
Die ganze Familie Gabokol gab ihnen das Geleite, ebenso der Provinzfürst, der es sich zur Pflicht und Ehre anrechnete, sie persönlich dem König vorzustellen.
„Unser Land ist das größte und bedeutendste des Planeten,“ erklärte der Fürst während der Fahrt. „Die Könige der andern Länder haben sich freiwillig unter die Oberhoheit unsres Königs gestellt, so daß dieser der oberste Herr über die zweihundert Millionen Einwohner unserer Weltkugel ist. Freilich gibt es da nicht viel zu regieren, da er den andern Herrschern volle Freiheit läßt und nie Grund hat, einzuschreiten; auch in den andern Ländern denkt nie ein Bürger daran, seine Pflichten zu vernachlässigen; so kommt die höchste Gewalt eigentlich nur für die einheitliche Leitung der gemeinsamen Arbeiten in Betracht, und da ist es freilich notwendig, zielbewußt und nach dem gleichen Plane zu wirken, damit die bewohnbare Zone unseres Planeten gleichmäßig verbreitert werde und die wachsende Bevölkerung stets Platz finde, sich auszudehnen.
Abgesehen von den zahlreichen Dialekten, haben wir nur vier eigentliche Sprachen, die auffallend von einander verschieden sind. Die Hauptstadt unseres Landes liegt auf der nördlichen Halbkugel, jenseits des Äquators, etwa 20 Flüge von hier entfernt, was nach euren Maßen 6000 Kilometer ausmachen dürfte.“
Die Edeniten rechneten nach „Flügen“, das heißt nach der Strecke, welche sie gewöhnlich ohne Rast in einem Zuge zurücklegen konnten, und die 300 Kilometer nach Erdenmaß betrug.
Das Luftboot flog über Landschaften von wunderbarem Reize hinweg; Täler und Ebenen, Flüsse und Ströme, Hügel, Felsen und Hochgebirge, große Städte und idyllische Dörfer wurden überflogen, und als nach vierzigstündigem Flug der rosa Mond unterging, landete die Reisegesellschaft am Ufer eines brausenden, herrlichen Meeres.
Dieses wurde am folgenden Tage in 20stündiger Fahrt überflogen und am jenseitigen Ufer ragte die Landeshauptstadt hart an der Küste empor, eine Großstadt von anderthalb Millionen Einwohnern.
Der Rest des Tages, sowie die beiden folgenden Tage wurden der Besichtigung der hochinteressanten Ansiedelung gewidmet.
Noch am Tage ihrer Ankunft wurden unsere Freunde dem Könige auf dessen Wunsch vorgestellt.
Er empfing sie mit der gleichen Herzlichkeit und Einfachheit, wie es jeder Bürger des Landes tat.
Besonders erfreut waren die Gelehrten der Hochschule, die Erdenbewohner kennen zu lernen, und unsere Freunde hatten tausend Fragen zu beantworten, wobei ihnen stets versichert wurde, welchen Dank man ihnen schulde, da sie die Wissenschaft der Edeniten in ungeahntem Maße bereicherten.
Als Heinz seinen Vortrag hielt, konnte der größte Raum der Hauptstadt die Zuhörer nicht fassen, und er mußte seine Ausführungen noch dreimal wiederholen, um nach und nach die Mehrzahl der Wißbegierigen zu befriedigen.
Die Gelehrten versicherten, daß ihnen ein neues Licht für ihre Sprachforschungen aufgegangen sei, und Schultze mußte bei sich denken, daß hier oben neue Wahrheiten offenbar nicht unter dem Hohn und leidenschaftlichen Widerspruch von Fachgelehrten zu leiden hatten, deren Eitelkeit nicht zugeben will, daß ihre bisherigen Forschungsergebnisse falsch waren.
Besonders interessant war unsern Freunden ein Besuch der Sternwarte. Die Edeniten besaßen auch Fernrohre, die jedoch auf ganz anderen Prinzipien beruhten als die irdischen und ihnen eine ungleich bessere Kenntnis der Sternenwelt ermöglichten.
Freilich verdankten sie letzteres hauptsächlich der wunderbaren Einrichtung ihrer Augen, konnten sie doch schon mit bloßem Auge Welten erkennen, die unsern Fernrohren und selbst der photographischen Platte ewig verborgen bleiben.
Die Astronomen waren höchlichst erstaunt, zu vernehmen, daß die Erdenmenschen kaum 2000 Sterne mit unbewaffnetem Auge zu erkennen vermochten und daß der Sternkatalog, den Hipparch vor 2100 Jahren entwarf, nur 1080 Sterne enthielt, obgleich er alle einigermaßen hellen Sterne verzeichnete.
Schultze berichtete ihnen weiter, daß Argelander mittels des Fernrohrs etwa 360000 Sterne bestimmte und in seinem Katalog verzeichnete, eine Arbeit, der er fast sein ganzes langes Leben widmete, und daß man gegenwärtig an der Arbeit sei, auf photographischem Wege eine Mappierung der Sterne vorzunehmen, die noch etwa hundert Erdenjahre in Anspruch nehmen dürfte und die über 20 Millionen Sterne enthalten werde, von denen drei Millionen ihrer Lage nach auf den Platten ausgemessen werden sollen.
Die Gelehrten zeigten Schultze einen Sternkatalog mit genauen Karten, der über 500 Millionen Sterne enthielt, unter diesen auch das irdische Sonnensystem mit sämtlichen Planeten und ihren Monden.
Ihre langen Nächte und ihr langes Leben gestatteten ihnen eben auch neben der Vorzüglichkeit ihrer Sehwerkzeuge, Aufgaben zu lösen, die den Menschen unmöglich wären.
Während die irdischen Astronomen nur durch die Spektralanalyse mit Sicherheit festzustellen vermögen, ob ein Nebelfleck, der auch durch das stärkste Fernrohr als solcher erscheint, in Wirklichkeit ein Sternnebel sei, oder aber ein Sternhaufe, eine große Zahl Sterne, die durch ihre scheinbare Nähe infolge der großen Entfernung nicht mehr als einzelne Sterne von einander unterschieden werden, konnten die Sternkundigen Edens mittelst ihrer Fernrohre Nebel und Sternhaufen deutlich unterscheiden.
Auch sie waren der Ansicht, daß die meist spiralförmigen Nebel die Werkstätte des Schöpfers seien, in der durch Verdichtung des weltenbildenden Stoffs neue Sterne, ja ganze Sonnensysteme gebildet würden, die sich aus dem häufig erkennbaren Zentralkern und den vielfach beobachteten anderweitigen Lichtknoten in der Nebelmasse herausbilden.
Schultze hielt auf Wunsch den Astronomen einen öffentlichen Vortrag über den Stand und die Errungenschaften der irdischen Astronomie; dabei führte er auch an, was David Gill in seiner berühmten Rede über die Bewegung und Verteilung der Sterne im Raume sagt: „Wir haben die Milchstraße als zwei majestätische Sternströme erkennen gelernt, die nach entgegengesetzten Richtungen wandern; der eine dieser Ströme führt das irdische Sonnensystem mit sich in unendliche Weiten, der andere wandert der Erde entgegen. Die Milchstraße löst sich im Fernrohr in Haufen unzähliger Sterne auf, die zum Teil in dichten Schwärmen beieinander stehen und mit geballten Nebelflecken erfüllt sind, zum Teil von dunkeln, gewundenen Kanälen unterbrochen erscheinen.“
„Eure Hauptsonne,“ fuhr der Professor fort, „wandert im Sternenstrom mit einer Schnelligkeit von 184 Kilometern in der Sekunde; unsere Erde mit ihrem ganzen Sonnensystem bewegt sich auf das Sternbild des Herkules oder der Lyra zu mit einer Geschwindigkeit von wahrscheinlich ebensoviel als die Umdrehungsgeschwindigkeit unsrer Erdkugel um die Sonne beträgt, nämlich 29450 Meter in der Sekunde oder etwa 30 Kilometer, den zehnten Teil eines ‚Fluges‘ nach eurer Rechnung im Zeitraum ‚Zwei‘, wie ihr unsere Sekunden benennt.
Die Spektralanalyse, wie David Gill in seiner angeführten Rede sagt, hat uns die Sterne enthüllt als gewaltige Schmelztiegel des Schöpfers, in denen er den Stoff unter den Bedingungen des Drucks, der Hitze und Umgebung gestaltet in einer Mannigfaltigkeit und einem Größenmaßstabe, die alle Begriffe seiner Geschöpfe übersteigen.“
Drei Wochen dauerte der Aufenthalt in der Hauptstadt, dann wurde die Rückreise auf einem andern Wege angetreten, wobei unsere Freunde auch die ungeheuren Felsenwüsten Edens zu Gesicht bekamen, die keine Erde und daher auch keinen Pflanzenwuchs hatten, und an deren Bedeckung mit Erde emsig gearbeitet wurde.
Immer inniger schlossen sich unsere Freunde an die Familie Gabokol an; die Zuneigung war eine gegenseitige und erstreckte sich auf alle Glieder; dennoch fühlten sich die einzelnen wieder zu einzelnen besonders hingezogen.
So verkehrte Lord Flitmore am liebsten mit Gabokol. Die beiden bauten gemeinsam photographische Apparate und Musikinstrumente, machten Ausflüge, um die reizenden Landschaftsbilder und merkwürdigsten Tiere zu photographieren und unterhielten sich über die Kunst Edens und der Erde.
Mietje war mit Bleodila ein Herz und eine Seele; sie steckten beieinander in Küche, Haus und Garten und tauschten vornehmlich ihre Hausfrauenerfahrungen aus.
Professor Schultze hatte in Glessiblora die andächtigste Zuhörerin, die sich für die Fortschritte und Eigenart irdischer Wissenschaften am lebhaftesten interessierte.
Heinz und Heliastra fühlten sich wiederum besonders zu einander hingezogen, hatten ihre kleinen Geheimnisse miteinander und gingen oft gemeinsam ihre eigenen Wege, sich für alles Reine, Hohe und Edle begeisternd, das ihre Gespräche verklärte.
Kapitän Münchhausen aber hatte Fliorot zum gewöhnlichen Gesellschafter erwählt, denn der Knabe lauschte mit Andacht und Begierde auf die fabelhaften Berichte und Schilderungen, die der alte Seebär von seiner irdischen Heimat mitzuteilen verstand.
Saß man beieinander, so ergaben sich die Gruppen von selber nach den eben enthüllten besonderen Zuneigungen. John allein pendelte zwischen zwei Extremen hin und her, einmal mit Glessiblora Bildung und Belehrung beim Professor suchend, das andremal neben Fliorot sich an des Kapitäns Abenteuern ergötzend.
Verstummte einmal die Unterhaltung der andern, so horchte man allgemein auf den Kapitän, der unerschöpflich war und nie verstummte, abgesehen natürlich von den Mahlzeiten, wo er im Gegenteil unergründlich, das heißt unersättlich schien.
Diese Bemerkung hatte Professor Schultze gemacht, indem er sagte: „Münchhausen, Sie sind beim Essen ein Danaidenfaß, welches bekanntlich bodenlos war und nie voll wurde, so viel man hineinschöpfte; beim Erzählen aber sind Sie die reine Charybdis, von der Schiller sagt: Und will sich nimmer erschöpfen noch leeren.“
„Na, was sind denn Sie dann, Professor?“ erwiderte Münchhausen. „Die Scylla! Denn wer meinem immerhin unterhaltenden Redeschwall entrinnen will, der wird kopfüber von Ihren langweiligen und ebenso endlosen wissenschaftlichen Strudeln verschlungen.“
Hierauf fuhr der Kapitän in seinem Berichte fort, den er just dem wißbegierigen Fliorot erstattete.
„Also, wie ich dir erzählte, ermöglichte ich unsere Reise zu euch dadurch, daß ich unser Weltschiff vom Kometen Amina ins Schlepptau nehmen ließ.
Die Kometen sind eigentlich besonders zu diesem Zweck erschaffen und stellen sozusagen die Weltpostverbindungen zwischen den einzelnen Sonnensystemen dar; ich war früher Kapitän zur See, als ich aber das Umherreisen auf den beschränkten irdischen Meeren satt hatte, nahm ich eine Stelle als Weltkapitän an und habe öfters Reisen mit Kometen gemacht, so daß ich mich vorzüglich auf ihre Steuerung verstehe. Jeder Komet hat nämlich ein Steuer, in welchem seine sogenannte Gravitationskraft liegt. Man braucht diese nur zu verrücken, so nimmt der Komet eine andere Fahrtrichtung.
Die Astronomen auf Erden haben sich oft gewundert, daß ein Komet plötzlich eine ganz andere Richtung einschlug, als sie berechnet hatten. Sie schrieben dies dann dem Einfluß des Jupiter zu. Dieser Jupiter war in Wirklichkeit ich, da ich dem Kometen durch eine Wendung des Steuers oder der Gravitationskraft eine neue Bahn anwies, um das Reiseziel zu erreichen, dem ich zustrebte.
Die Fahrt mit einem solchen Kometen ist äußerst praktisch, wenn man in die weit entfernten Sonnensysteme reisen will, denn diese Weltenbummler entwickeln eine unerhörte Geschwindigkeit.
Zusammenstöße und Unfälle sind dabei freilich nicht zu vermeiden und es ist auch mir vorgekommen, daß ein von mir kommandierter Komet bei solcher Gelegenheit in mehrere Stücke zerschellt wurde; dann blieb mir nichts übrig, als eben auf einem der Bruchteile weiterzureisen, denn ein Untergehen wie im Meer ist dabei ausgeschlossen; Stürme und Wogen und ersäufende Wassermassen gibt es ja im Raum nicht, so daß schließlich die Gefahren nicht so groß sind wie bei der Meeresschiffahrt, außer man würde in das Flammenmeer einer Sonne stürzen, was aber bei richtiger Steuerung leicht zu vermeiden ist, wenn man nur eine gute Sternkarte besitzt.
Als mir nun Lord Flitmore das Kommando über sein Weltschiff Sannah anvertraute, beschloß ich sofort, es am Schweife eines geeigneten Kometen festzubinden, da ich vermöge meiner Kenntnisse der Weltraumverhältnisse einsah, daß wir bei der geringen Fortbewegungsgeschwindigkeit unseres Fahrzeugs Jahrhunderte gebraucht hätten, um euren Planeten zu erreichen, dem unser Besuch gelten sollte.
Es gelang mir denn auch, mit dem Kometen Amina zusammenzutreffen und ihn zu entern. Mit einer langen Leine band ich die Sannah an seinem Schweife fest und bestieg dann den Kometen selber, um ihn hierherzusteuern. Erst als wir im Bereich eures Sonnensystems angelangt waren, kappte ich das Tau und ließ den Kometen führerlos weiterziehen, während wir hier landeten.“
Fliorot lachte; er kannte ja Natur und Bahnen der Kometen zu gut, um nicht zu verstehen, daß Münchhausen scherzte; aber er hatte Gefallen an diesen abenteuerlichen Späßen, wenn sie auch nicht immer besonders geistreich waren.
„Du versprachst mir aber von den wunderbaren Tieren eurer Erde zu erzählen,“ mahnte er jetzt.
„Ja so! Nun denn, so höre. Eure Tiere hier oben sind ja ganz behende Wesen, aber an die Tierwelt unsrer Erde reichen sie noch lange nicht heran.
Schau, da haben wir Tiere mit langen Rüsseln wie eure Mammuts, sie haben sechs Beine und können an glatten, senkrechten Wänden hinaufklettern ohne je zu fallen, ja wenn sie an einer überhängenden Wand mit den Beinen nach oben und dem Kopf nach unten stehen, fallen sie nicht herunter. Sie haben auch durchsichtige Flügel wie eure Vögel und fliegen in ganzen Schaaren in der Luft herum.
Auch flügellose Rüsseltiere besitzen wir, die noch ganz andere Sprünge machen als eure hüpfenden Kolosse; denn diese springen höchstens dreimal so hoch als sie selber sind, die unsrigen aber sechzig- bis hundertmal so hoch.“
Heinz und Heliastra am See.
Fliorot riß die Augen weit auf. Hier, wo es sich um Geschöpfe handelte, die ihm unbekannt waren, konnte er nicht beurteilen, ob der Kapitän im Scherz oder im Ernst redete und glaubte deshalb von ihm erwarten zu dürfen, daß er die lautere Wahrheit sage; denn Späße, die jedermann als solche durchschaute, galten den Edeniten als harmlos und wurden oft zur Erheiterung erfunden, aber jemandes Unkenntnis oder Leichtgläubigkeit auszubeuten, um ihm einen Bären aufzubinden, wäre bei diesem wahrheitsliebenden Volke unerhört gewesen.
Fliorot zweifelte daher diesesmal nicht an der Zuverlässigkeit von Münchhausens Berichten und rief aus:
„Nein! Diese wunderbaren Geschöpfe möchte ich einmal sehen!“
„Schämen Sie sich, Kapitän,“ sagte Schultze. „Wenn Sie uns Ihre seltsamen Geschichten erzählen, so ist das ja ganz spaßhaft, da wir in der Lage sind, Wahrheit und Schwindel zu unterscheiden. Daß Sie aber diesen jungen Mann, dem die irdischen Dinge unbekannt sind, derart anschwindeln, halte ich weder für schön noch zweckmäßig. Sie werden ihn ebensogut in Erstaunen versetzen können, wenn Sie ihm unsere Tierwelt naturgetreu schildern.“
„Oho!“ rief Münchhausen. „Ich selber würde es für töricht und unschön halten, meinem jungen Freund unnötigerweise falsche Anschauungen beizubringen, wo es sich um Dinge handelt, die ihm fremd sind. Mit dem Kometen war ja das anders, da wußte er selber Bescheid, aber wenn ich ihm von der Erde erzähle, halte ich mich grundsätzlich streng an die Wahrheit.“
„Fabelhafte Behauptung! Das also nennen Sie Wahrheit, wenn sie die hüpfenden Mammuts dieses Planeten dadurch überbieten wollen, daß sie von irdischen Rüsseltieren mit sechs Beinen und mit Flügeln erzählen, Tieren, die mit dem Kopf nach unten an einer überhängenden Felswand festzusitzen vermögen? Und von solchen, die sechzig- bis hundertmal so hoch springen als ihre Körperhöhe beträgt?“
„Sie setzen mich wahrhaftig in Erstaunen, Professor,“ erwiderte Münchhausen mit geheuchelter Verwunderung. „Ich meine, Sie sind Doktor der Naturwissenschaften und Professor der Zoologie? Ist es wirklich möglich, daß Sie trotzdem so unwissend auf diesen Gebieten sind, daß Ihnen nicht einmal die alltäglichsten Geschöpfe bekannt sind, die sonst jedes Kind auf Erden kennt, während sie hier auf Eden ihresgleichen nicht haben? Sollte man es glauben? Professor Schultze weiß nichts von Schnaken und Flöhen!“
Jetzt hatte der Kapitän die Lacher auf seiner Seite und Schultze bekannte kleinlaut: „Na, oller Witzbold, mit Ihnen ist schlecht anbinden; diesmal haben Sie mich eklig hereingelegt.“
Es war eine schöne, ja eine selige Zeit, die unsere Freunde auf Eden verbrachten.
Immer besser lernten sie die verklärten Menschen dort oben kennen, immer höher sie schätzen, und im Umgang mit diesen durch und durch edlen Wesen schien es ihnen, als streiften sie selber alle irdischen Mängel mehr und mehr ab.
Auch rein körperlich hatten sie dieses Gefühl; denn so gesund, wohl und frisch, so geistig angeregt und lebendig hatten sie sich in ihrem Leben nie gefühlt, wie in den Wochen und Monaten, die sie hier zubrachten.
Noch mehrere Reisen unternahmen sie und wurden mit den schönsten landschaftlichen Reizen, mit der Tier- und Pflanzenwelt vertraut.
Eines Tages aber erklärte Flitmore, es sei nun Zeit, an den Abschied zu denken, und, da man keinen Kometen zur Heimreise benützen könne, müsse man sich darauf gefaßt machen, daß diese mehrere Jahre dauern könne.
Gabokol, Bleodila, Fliorot und Glessiblora suchten vergeblich unsere Freunde zu überreden, länger zu verweilen, oder, noch besser, ihren Aufenthalt dauernd nach Eden zu verlegen.
„Wenn Gott will, ist dies nicht unser letzter Besuch hier,“ sagte Flitmore: „das nächstemal bringen wir euch dann allerlei irdische Dinge mit, die euch zwar nicht bereichern aber doch interessieren können. Nun aber ruft uns die Pflicht: unsere Entdeckungen, namentlich die Möglichkeit eines Verkehrs mit fernen Welten, sind für unsere Brüder auf Erden von größter Wichtigkeit: wir dürfen ihnen das nicht verloren gehen lassen.“
Alle, besonders aber Heinz, wunderten sich, daß Heliastra allein keinen Versuch machte, sie zum Dableiben zu bewegen; ja, den jungen Friedung berührte dieser Umstand besonders schmerzlich: er hatte doch so gute Freundschaft mit dem Mädchen geschlossen, so daß der Gedanke an die Trennung ihm beinahe das Herz brechen wollte.
Als Gabokol nun sah, daß die Abreise seiner Gäste beschlossene Sache sei, sagte er:
„Wie ihr erzähltet, hat ein Komet euch hierher geführt. Ich habe ja dein Weltschiff genau angesehen und kennen gelernt, Freund Flitmore, aber es hat einen bedenklichen Mangel: Durch die Fliehkraft wird es von den Weltkörpern abgestoßen, ihr besitzt aber kein Mittel, die Fahrt zu lenken und müßtet es daher dem Zufall überlassen, ob ihr in euer Sonnensystem zurückkehren werdet oder euch noch weiter von ihm entfernt.
Ich will dein Fahrzeug mit der Parallelkraft ausrüsten; die Einrichtung nimmt höchstens acht Tage in Anspruch. Die Parallelkraft hat für euch ganz bedeutende Vorzüge: erstens könnt ihr im Raum die Geschwindigkeit eurer Fahrt mit ihrer Hilfe wesentlich steigern, zweitens widerstrebt sie weder der Fliehkraft noch der Anziehungskraft, sie kann also ausgenützt werden sowohl so lange dein Strom eingeschaltet, als auch wenn er abgestellt ist. Der dritte und wichtigste Vorteil aber ist, daß du deiner Sannah eine beliebige Fahrtrichtung geben, also geradewegs auf euer Sonnensystem zusteuern kannst. Gott kann euch ja selbstverständlich auch ohne diese Naturkraft so schnell und sicher heimführen, wie er euch hierherlenkte; aber er will, daß wir die Mittel benutzen, die seine Güte uns gab und erkennen lehrte.“
„Du nimmst eine schwere Sorge von meinem Herzen,“ erwiderte Flitmore; „ich verhehlte mir nicht, welche vielleicht unüberwindlichen Schwierigkeiten der Mangel an Lenkbarkeit meines Fahrzeuges uns auf der Rückfahrt bereiten werde. Nun lernte ich ja bei euch die wunderbaren Eigenschaften der Parallelkraft kennen und verstehe jetzt auch damit umzugehen. Wenn du als erfahrener Mann die Einrichtung übernehmen willst, so steigerst du noch die Dankbarkeit, die wir dir und euch allen schulden.
Und dann habe ich noch eine Bitte: wie du weißt, enthält meine Sannah sehr große Räume. Auf der Hinfahrt dienten sie vor allem der Aufspeicherung großer Sauerstoffvorräte behufs Erneuerung der Luft.
Nun haben wir ja die Erfahrung gemacht, daß das Weltschiff sich im Raum mit einer eigenen Lufthülle umgibt, die sich selbständig erneuert. Dagegen müssen wir für reichliche Speisevorräte sorgen, da unter Umständen die Rückfahrt mehrere Jahre in Anspruch nehmen kann ....“
„Seid ohne Sorge!“ unterbrach ihn Bleodila: „Allen Frauen der Stadt wird es eine Freude sein, eure Vorratsräume mit Mehl, Gemüse- und Obstkonserven, sowie mit Milch, Butter, Käse und Eiern anzufüllen, daß ihr zehn Jahre daran zu zehren habt; ihr wißt, daß wir Verfahren kennen, durch welche selbst Eier und Milch sich jahrelang frisch erhalten.“
„Auch Honig und Holz sollt ihr haben, da unser Baumholz ja so schmackhaft und nahrhaft ist, wie die Früchte und sich auch ohne besondere Behandlung hält und sein köstlicher Saft euch einen unerschöpflichen Trank bietet,“ setzte Fliorot hinzu.
„Nun, dann sind wir wohl geborgen, wenn Gottes Gnade uns begleitet, wie ich nicht zweifle,“ sagte Mietje mit feurigem Dank.
Jetzt trat Heliastra vor: „Auch ich habe eine Bitte auf dem Herzen,“ sagte sie, während eine holde Röte ihr Antlitz durchleuchtete: „eine Bitte an euch, liebe Freunde: nehmt mich mit auf eure Erde!“
Alle standen starr. Auch Gabokol und Bleodila, Fliorot und Glessiblora waren völlig aus der Fassung.
Heinz aber durchflutete es wie ein unausdenkbares Glück; doch gleich darauf dachte er, es sei ja zu schön, um wahr zu werden, und weder dürften sie das liebliche Mädchen seinem glücklichen Planeten entführen, noch würden seine Eltern es je von ihren Herzen reißen können.
Mietje war die erste, die es aussprach: „Kind, liebes Kind, wie dürften wir es wagen, dich ins Ungewisse mitzunehmen und aus deinem Paradies in das Elend unserer Erde zu entführen.“
Heliastra lächelte: „Wißt ihr nicht, daß Gott überall ist? Wo ist da das Ungewisse? Und sehet, das ist meine Sehnsucht, der brennende Wunsch meines Herzens, euer Schicksal zu teilen und euch zu helfen, das Leid eurer Erde zu mildern.“
„Es ist ein edles Ziel, das meine Tochter sich setzt,“ sagte Gabokol nachdenklich: „Es muß Gott wohlgefällig sein.“
„Nein, nein!“ rief Heinz schmerzlich: „Gott weiß, wie mir das Herz blutet, wenn ich von dir scheiden soll; aber hier bist du glücklich und glücklich sollst du bleiben und nie in die Welt der Leiden kommen. Gerne will ich mich mein Leben lang in Sehnsucht nach Dir verzehren, wenn ich dich nur glücklich weiß!“
„So sehr hast du mich lieb?“ fragte Heliastra und ihre Himmelsaugen leuchteten ihn an.
„Ja, über alles bist du mir wert: nie werde ich dich vergessen!“
„Und meinst du, ich werde noch glücklich sein, wenn du nicht mehr bei mir bist? Mein Glück ist fortan auf eurer Erde, dort laßt es mich finden. Oder ist es unmöglich, daß ich deine Gattin werden könnte?“
„Du! Meine Gattin? Du wolltest aus deinen Sternenhöhen herabsteigen, mich armseligen Erdensohn unaussprechlich glücklich zu machen? Aber nein! Es darf ja nicht sein!“
„Ich sehe wohl, wie es steht,“ sagte nun Gabokol wieder, „und ich sehe, was Gottes Wille ist. Ja, Gott fordert von uns ein Opfer, das er noch von keinem auf unserem Planeten gefordert hat. Heliastra, du willst uns den Schmerz fühlen lehren, der uns bisher unbekannt gewesen! Aber sollte Gott nicht alles von uns fordern dürfen, dem wir alles verdanken? Die sich lieben, sollen mit einander verbunden bleiben, das ist der höchste Gotteswille. Und wenn es uns auch schmerzt, wie wollten wir solch unerhörten Frevel begehen, wider Gottes Willen zu handeln?“
„Gabokol hat recht,“ sagte Bleodila mit Tränen in den Augen. „Eure Ankunft und euer Hiersein war uns Freude; euer Scheiden bringt uns Schmerz, größeren als wir je geahnt! Wußten wir denn, was Schmerz ist, denen auch das Scheiden im Tod nur ein Vorausgehen in die höhere Seligkeit bedeutet? Nun, so sei uns Heliastra, so jung sie ist, als eine in die Seligkeit Vorangegangene. Willst du sie haben zu deinem Weib, junger Freund, so dürfen wir sie nicht zurückhalten.“
Heinz wußte nicht, wie ihm war, als er seine Arme ausbreitete und die leichte Elfengestalt sich an ihn schmiegte.
„So willst du immer bei mir bleiben?“ flüsterte er, sie zaghaft küssend.
„Immer bei dir!“ sagte sie mit heller Glockenstimme und strahlte ihn warm an.
Während der nächsten Tage richtete Gabokol die Sannah, die Flitmore herabgelenkt hatte, für die Parallelkraft ein, flickte auch das Loch, das ihr der Meteorit beigebracht hatte. Die Bewohner der Stadt zogen inzwischen unaufhörlich in Scharen herbei, um die Innenräume mit unerschöpflichen Vorräten zu füllen, namentlich auch mit allerlei Sämereien für die Erde, obgleich Schultze stark bezweifelte, daß dort die Wunderpflanzen Edens gedeihen könnten.
Dann wurde die feierliche Hochzeit von Heinz Friedung mit Heliastra gefeiert und der greise Priester der Stadt gab das Paar im Namen des allmächtigen Gottes zusammen und segnete es ein.
Die ganze Stadt nahm Teil an dieser außerordentlichen Feier und zwar nicht nur äußerlich, sondern mit liebenden und fürbittenden Herzen. Alle bewunderten Heliastras Entschluß und wünschten ihr Gottes reichsten Segen dazu.
Dann wurde ein Freudenfest gefeiert, wie es bei solchen Anlässen üblich war. Zum Schlusse, als der Rosenmond dem blauen Monde Platz machte, nahm die rosige Gattin Abschied von ihren Freundinnen und Bekannten.
Am andern Morgen verabschiedete sie sich auch von den Ihrigen, deren Gottvertrauen und Fügsamkeit in den göttlichen Willen ihnen half, den Trennungsschmerz getrost zu überwinden.
Auch unsere Freunde nahmen herzlichen, dankbaren und gerührten Abschied.
Heliastra aber war voll strahlender Freudigkeit, als sie mit ihrem Gatten das Fahrzeug betrat, das sie führen sollte in die Welt ihrer Sehnsucht, die Welt, wo es Schmerzen zu lindern und Tränen zu trocknen gibt.
„Gott sei mit euch und lasse euch wiederkehren!“ riefen die Zurückbleibenden den Scheidenden nach, als die Sannah, von der Fliehkraft getrieben, emporschoß, und Heinz und Heliastra aus der offenen Lucke ein letztesmal herniederwinkten.
Es war Abend, als die Sannah emporstieg.
Zum letztenmal grüßte das rosige Licht des schönsten der Monde unsere Freunde und die engelschöne Frau, die von Kind auf in seinem Rosenschimmer fröhlich gewesen war.
Rasch, mit wachsender Geschwindigkeit entfernte sich das Weltschiff, getrieben durch die doppelte Kraft der Abstoßung und des Vorwärtstriebes.
Bald entschwand das Sonnensystem Alpha Centauri den Blicken der Reisenden, das heißt, seine Planeten begannen nur noch als Sterne am Nachthimmel zu flimmern.
Nur Heliastra mit ihren Sonnenaugen vermochte noch alles groß und deutlich zu sehen und sogar den blauen Mond zu erkennen, der nun dort unten, oder dort oben, wie es hier jetzt schien, aufgegangen war.
Sie allein war es aber auch, die vom entgegengesetzten Zimmer aus genau angeben konnte, welcher winzige Stern die irdische Sonne sei, so daß Flitmore gleich von Anfang an der Sannah die rechte Fahrtrichtung geben konnte.
Dann begaben sich alle zur Ruhe bis auf John, der die erste Wache hatte.
Münchhausen übernahm nach drei Stunden die mittlere Wache und schließlich der Professor die dritte und letzte.
Gegen Morgen sah er, wie die Sannah sich einem mächtigen dunklen Weltkörper näherte, wenn von einer Annäherung bei einer Entfernung von immerhin einigen Millionen Kilometern die Rede sein konnte.
Auch „Morgen“ und „Tag“ waren bloße Zeitbegriffe geworden, seit die Doppelsonne Alpha Centauri wieder zu zwei Fixsternen geworden war, die nach und nach für das Auge zu einem einzigen verschmolzen. Da nicht, wie auf dem Hinweg, wenigstens ein schwachschimmernder Komet einiges Licht von außen gab, mußte das Weltschiff seine ganze, vielleicht Jahre dauernde Reise nach dem irdischen Sonnensystem in beständiger Nacht ausführen: Tageshelle oder gar Sonnenschein war ausgeschlossen.
Das war keine angenehme Aussicht!
Es war Zeit, die andern zu wecken, soweit diese überhaupt sich das Wecken ausgebeten hatten und nicht von selber zur bestimmten Zeit aufwachten.
Der Professor drückte auf die verschiedenen Kontaktknöpfe, die in den entsprechenden Schlafräumen die elektrische Klingel ertönen ließen.
Flitmore erschien zuerst.
„Lord,“ sagte Schultze: „es befindet sich hier in unserer Bahn ein dunkler Weltkörper, also ein Gestirn, das der Erde näher steht als Alpha Centauri. Wollen wir ihm nicht nahen, um zu schauen, wie es dort aussieht?“
„Lang aufhalten unterwegs wollen wir uns nicht,“ sagte Flitmore lachend: „Unsere Heimfahrt dürfte so wie so lang genug werden! Andererseits kommt es bei einer Fahrt, die voraussichtlich Jahre dauert, auf ein paar Tage mehr oder weniger nicht an.“
Heinz war inzwischen mit Heliastra erschienen und fügte hinzu:
„Da überdies unsere Reise, so viel wir wissen, durch eine trostlose Öde geht, auf der wir bis zum irdischen Planetensystem nicht darauf rechnen dürfen, irgend etwas anzutreffen, so sollten wir uns diese voraussichtlich letzte Gelegenheit, etwas Neues zu schauen, nicht entgehen lassen.“
„Das ist wahr!“ sagte der Lord: „Also stellen Sie die Fliehkraft ab, Herr Professor.“
Auch die anderen waren nun eingetreten, und das Frühstück wurde eingenommen, während die Sannah, von dem dunkeln Weltkörper angezogen, auf ihn zustürzte.
Als sie der Oberfläche des geheimnisvollen Gestirns nahe gekommen war, ließ Flitmore einen ganz schwachen Zentrifugalstrom durch ihre Metallhülle kreisen, welcher der Anziehungskraft der Kugel genau die Wage hielt, so daß die Sannah in der Schwebe gehalten wurde und sich stets im gleichen Abstand oder in der gleichen Höhe halten mußte.
Hierauf wurde die Parallelkraft, ebenfalls in bescheidenem Maße, in Tätigkeit gesetzt, und das Weltschiff fuhr mit der geringen Geschwindigkeit von 50 Kilometern in der Stunde über der Oberfläche des neuen Planeten dahin.
Alle begaben sich in das Antipodenzimmer, um von dort aus die Landschaft zu ihren Füßen beobachten zu können.
Sie sah finster und düster aus: keine Sonne, kein Mond leuchtete diesem Weltkörper; nur ein blutiger, nordlichtartiger Schimmer drang aus seiner Atmosphäre herab, offenbar ausgehend von selbstleuchtenden Stoffen oder Bakterien, die sich in der Luft befanden.
Bei dieser Beleuchtung war wenig zu erkennen; aber was zu sehen war, machte einen widerlichen, unheimlichen Eindruck.
Das Land schien ziemlich eben zu sein und durchweg einen morastigen Charakter zu tragen.
An einzelnen Stellen stiegen leuchtende Dämpfe oder Nebel aus dem Sumpfe auf, die einen leichenfahlen, schwefelgelben Schimmer verbreiteten; dazwischen schossen bläuliche und grünliche Stichflammen empor, durch welche die nächste Umgebung ebenfalls mit einem matten Schein erhellt wurde, der etwas Grausiges an sich hatte, als seien es höllische Fackeln, die eine Welt des Entsetzens beleuchteten.
Ja, eine Welt des Entsetzens! Was waren das für Bäume und Pflanzen! Alle schienen lebendig und zugleich abscheuerregend: Gräser, die sich wie ekles Gewürm am Boden hinwanden, krümmten und schlängelten in krampfhaften Zuckungen, als strebten sie vergebens, sich von der moderigen Erde zu lösen, in der sie wurzelten! Vielverzweigte Bäume, deren kahle, blattlose Äste sich ringelten wie Riesenschlangen oder Polypenarme, in beständiger Bewegung, sich lang ausstreckend, sich zurückziehend, Wellen, Bogen, Ringe und Schleifen bildend, sich verwirrend und verschlingend, als befänden sich die lebendigen Zweige jedes Baumes in mörderischem Kampfe miteinander.
Und unten im Sumpf wimmelte es von scheußlichem Getier: weißliche Maden, größer als Elefanten, sperrten zahnbewehrte Kiefer auf; Riesenspinnen, deren plumper, kugeliger Leib oben und unten und an den Seiten mit langen, dünnen, haarigen Beinen besetzt war, so daß sie sich beständig um sich selbst drehen konnten und stets mit einer Anzahl Füße krochen, die andern zappelnd empor oder rings von sich streckend; grünliche Kröten, groß wie Büffel, die ihre häßlichen Augen auf dünnen, wurmartigen Stielen weit hinausstreckten; dünnbeinige Stechmücken von Giraffenhöhe, die mit ihren langen, durchsichtigen Rüsselröhren den andern Tieren das Leben aussaugten oder von diesen geschnappt und zerquetscht wurden.
Alles kroch durcheinander, alles kämpfte miteinander: nicht nur Tier mit Tier, sondern auch Pflanzen und Tiere befanden sich in unaufhörlichem mörderischem Kampfgemenge.
Da biß ein Riesenwurm mit Krokodilsrachen einem Baume die Äste ab und diese Äste schnellten und zuckten und wanden sich in Krämpfen am Boden, während aus dem sich wie im gräßlichsten Schmerz verkrümmenden Stumpfe ein dicker, grünlichschwarzer Saft hervorquoll.
Dort war eines der Riesentiere von den zahllosen Armen eines Baumes erfaßt worden und suchte vergebens, in verzweifeltem Ringen, sich aus der tödlichen Umarmung zu befreien: es wurde erdrückt, erstickt und zu einer unförmlichen Masse zerquetscht.
Und dann schossen wieder dünne Würmer wie Pfeile aus dem Morast, fuhren durch die Luft und bohrten sich in den Leib eines nicht minder widerlichen Tieres, um schließlich ganz in seiner Masse zu verschwinden und in seinem Innern ihr gräßliches, mörderisches Zerstörungswerk zu beginnen.
Schauerlich war es anzusehen, wenn so ein Riesentier, das selber grauenhaft aussah, in rasendem Schmerz emporsprang, wie wahnsinnig umherkreiselte und zuletzt im Todeskampf zusammenbrach, während plötzlich sein unförmlich angeschwellter Leib sich überall öffnete und ein Gewimmel schlangenartiger Würmer enthüllte, die es bei lebendigem Leibe von innen heraus verzehrten.
Und dann schlängelten sich wieder fahle Flammen durch die drängenden Massen, versengten und verzehrten die Leiber, die vergebens suchten, sich zu flüchten: auch diese höllischen Feuerschlangen schienen lebendig zu sein und ihre Opfer mit Mordgier zu verfolgen.
Heliastra war totenbleich und voller Entsetzen: „Sieht es so auf der Erde aus?“ fragte sie beklommen.
„Nein,“ tröstete sie Heinz: „Solch ein gräßliches Schauspiel erfüllt auch uns Menschen mit Entsetzen.“
„Ja!“ bestätigte der Professor: „Selbst wissenschaftliche Forschung erlahmt dahier und wendet sich ab von diesen Greueln. Das ist ein Reich der Finsternis im vollsten Sinne des Wortes und ich schlage vor, ihm den Namen „Scheol“ zu geben, wie die Hebräer ihr Höllenreich nannten.“
„Es ist genug,“ sagte Flitmore: „Lieber durch die ewige Nacht des öden Raums, als solch ein Schauspiel länger mit ansehen!“ Und er schaltete die volle Fliehkraft ein.
„Wenn ich mir erlauben darf, auch eine Beobachtung meinerseits gemacht zu haben,“ begann John, als die Sannah sich vom Planeten des Grauens entfernte, „so sehe ich dort einen andern schwarzen Erdball daherkommen, sozusagen herabstürzen.“
„Das könnte uns gefährlich werden,“ rief Schultze, in der von John bezeichneten Richtung hinaussehend: „Es scheint in der Tat ein Zusammenstoß zweier gewaltiger Körper bevorzustehen. Ich schätze Scheol auf die zehnfache Größe der Erde, und der mit rasender Geschwindigkeit auf ihn herabstürzende Weltkörper scheint nahezu ebensogroß.“
Der Lord sprach kein Wort, schaltete aber die Parallelkraft in vollster Stärke ein und die Sannah entfernte sich mit Lichtgeschwindigkeit von der bedrohlichen Stelle.
Auf einmal wurde es hell; ein Licht, wie von zehn Sonnen auf einmal, erfüllte den Raum mit blendendem Glanze: Die beiden Weltkugeln waren auf einandergeprallt und in weniger als einer Sekunde hatten sie sich zu einer weißglühenden Masse vereinigt, von der flammende Stücke nach allen Richtungen hinausgeschleudert wurden und Stichflammen von Millionen Kilometer Höhe emporschlugen.
Alles Leben mit seinem grausigen Kampf mußte auf dem Scheol in einem Augenblick vernichtet worden sein; aber den Insassen der Sannah drohte das gleiche Schicksal: das Weltschiff war in glühende Gase gehüllt, eine Stichflamme hatte es erreicht; gleichzeitig aber wurde es, wie von dem Druck einer ungeheuerlichen Explosion emporgeschleudert mit einer Geschwindigkeit, die alles übertraf, was sie bisher geleistet.
Durch und durch wurde das Fahrzeug erschüttert und eine Zeitlang lagen alle, plötzlich zu Boden geschleudert, durcheinander. Nur Heliastra schwebte in ihrer Leichtigkeit über dem Boden und half nun den Gestürzten auf die Beine.
Jetzt erst ließ sich ein fürchterliches Krachen, Rollen und Donnern vernehmen. Noch einmal erbebte die Sannah in allen Fugen, vom erschütterten Weltstoff geschüttelt. Eine furchtbare Hitze entwickelte sich in dem Antipodenzimmer und alle flüchteten auf Tod und Leben in die innersten Räume des Fahrzeugs.
Hier war es noch auszuhalten, und die unausdenkbare Wucht, mit der das Weltschiff von den zusammengeprallten Planeten fortgeschleudert wurde, brachte es in kürzester Zeit aus dem Bereiche der Stichflamme, so daß es sich allmählich wieder abkühlte, ohne ernstlichen Schaden genommen zu haben.
„Wir haben eine Weltkatastrophe erlebt,“ sagte nun Flitmore, „wie sie gar nichts so Seltenes ist.“
„Allerdings,“ bestätigte der Professor: „Seit uns der Fixsternhimmel näher bekannt ist und man gelernt hat, auf derartige Erscheinungen zu achten, hat man das Aufleuchten neuer Sterne öfters beobachten können.
Charakteristisch für diese Erscheinungen ist die Nova Persei, das heißt der neue Stern, der im Jahre 1901 im Sternbild des Perseus aufleuchtete. Er erschien zunächst als Stern 12. Größe, wurde innerhalb dreier Tage zu einem Stern erster Größe, dem hellsten am ganzen Firmament außer Sirius: sein Licht hatte um das 250000fache zugenommen, nahm aber dann ab, bis es wieder so schwach war, daß der Stern als zwölfter bis dreizehnter Größe erschien. Er muß mindestens 100 Lichtjahre von der Erde entfernt gewesen sein und umgab sich nach dem Ausbruch mit einer Nebelhülle, die wenigstens das 1400fache des Erdbahndurchmessers umfaßte und Verdichtungsstreifen und Lichtknoten aufwies, die sich, gering geschätzt, mit mehr als 3000 Sekundenkilometern Geschwindigkeit fortbewegten.“
„Diese neuen Sterne entstehen also durch das Aufleuchten zweier dunkler Weltkörper, wenn sie sich durch einen Zusammenstoß erhitzen?“ fragte Heinz.
„Eigentlich glaubt man das weniger,“ entgegnete Schultze, „da dann das rasche Erkalten und Erblassen innerhalb weniger Wochen oder Monate unerklärlich wäre.“
„Wie erklärt man dann diese Vorfälle?“ mischte sich nun Mietje in die Erörterung.
„Sehr verschieden!“ sagte Schultze. „Die einen meinen, es handle sich um erloschene Sonnen, die für uns unsichtbar wurden, nachdem sie sich mit einer Erstarrungskruste umgaben, plötzlich aber wieder aufleuchten, wenn die innere Glut die Kruste vorübergehend durchbricht. Auch das Einstürzen eines großen Meteors könnte das plötzliche Aufleuchten verursachen.
Wilsing nimmt an, daß die sehr große Annäherung zweier ungefähr gleichgroßer Sterne eine Flutwelle in der Atmosphäre und dem feurigflüssigen Innern des einen hervorrufe. Dadurch würde ein Teil seiner Oberfläche fast von seiner ganzen Lufthülle entblößt, und die innern Glutmassen würden die dünne Erstarrungsdecke durchbrechen.
Seeliger im Gegenteil glaubt, daß ein erkalteter Weltkörper, in eine Wolke kosmischen Staubes eindringend, durch die Reibung an seiner Oberfläche in Glut gerade. Diese Vermutung stimmt allerdings nicht zu unsern Erfahrungen, nach welchen jedes Gestirn seine Lufthülle besitzt, die es vor solcher Reibung schützt.
Übrigens haben wir ja nun beobachten können, wie ein oder vielmehr zwei Weltkörper durch Zusammenstoß aufleuchten können; auf der Erde wird man am 12. Mai 1913 die Erscheinung des neuen Sterns gewahren, und dann wollen wir ja sehen, welche Erklärungen die irdischen Astronomen diesem Phänomen zu geben belieben.“
„Gestatten mir gütigst der Herr Professor eine Fragestellung in aller Rücksicht der Bescheidenheit,“ bat John.
„Nur zu, mein Sohn! Was quält dich für ein Schmerz?“
„Der Herr Professor haben sich doch zu äußern beliebt, wie ich schon mehrfach hören konnte, daß sich neue fixe Sterne in den komischen Nebeln bilden?“
„Ganz richtig, guter Freund! Aber nicht in den komischen, sondern in den kosmischen Nebeln. Siehst du, man nennt auf griechisch die Welt ‚Kosmos‘, und da ein gebildeter Deutscher Griechisch, Lateinisch und Französisch redet, nur kein Deutsch, so spricht er von kosmischen Nebeln, wo er ebensogut Weltnebel sagen könnte. Wie du also ganz richtig bemerkt hast, aus diesen Weltnebeln bilden sich Fixsterne.“
„Und die leuchten dann aber doch lange Zeit?“
„Gewiß! Tausende, Hunderttausende, vielleicht Millionen von Jahren.“
„Nun denn, Sie sagen, alle neuen Sterne verlieren sozusagen sehr schnell ihr starkes Licht; aber es sollten doch auch neue Sterne aus den Nebeln entstehen, die man vorher nicht gesehen hat, und die dann immer leuchten als Fixsterne?“
„Ja, weißt du, diese Bildung neuer Sterne aus Nebeln braucht jedenfalls Hunderttausende von Jahren.“
Hier fiel Flitmore ein: „Und doch hat John recht; warum soll gerade in unserer Zeit keine derartige Sternbildung zur Vollendung kommen? Niemals noch ist ein uns bekannter Fixstern erloschen, niemals noch ein neuer erschienen. Herrscht wirklich das beständige Werden und Vergehen im Weltall, wie man es annimmt, so ist diese Tatsache unerklärlich. Jedenfalls glaube ich, die Zeit der großen Sonnenschöpfungen ist vorüber.“
„Das ist eine sehr anfechtbare Ansicht,“ widersprach der Professor, „es vollzieht sich eben nur alles so langsam, daß für uns nichts davon zu merken ist.“
Die furchtbare Explosion, welche der Zusammenstoß der beiden dunklen Weltkörper zur Folge hatte, schleuderte die Sannah, wie wir hörten, mit unheimlicher Gewalt in den Weltraum.
Dies erwies sich als ein ungeahntes Glück; denn das Weltschiff behielt diese Geschwindigkeit tagelang bei mit nur langsamer Abnahme, und so legte es in wenigen Tagen einen Weg zurück, zu dem es sonst ebensoviel Jahre gebraucht hätte.
Man konnte dies an der rasenden Geschwindigkeit beobachten, mit der man sich dem irdischen Sonnensystem näherte.
Noch keine vier Wochen waren verflossen, seit unsre Freunde Eden verlassen hatten, als sie bereits die Neptunbahn kreuzten.
Nun aber zeigte sich eine neue Gefahr.
„Wir stürzen geradewegs auf die Sonne zu,“ sagte Flitmore.
„Und die Fliehkraft?“ fragte Schultze.
„Ich fürchte sehr, daß sie uns nichts hilft,“ erwiderte der Lord. „Die Gewalt, mit der die Sannah in ihrer Bahn dahingeschleudert wird, ist stärker als die stärkste Zentrifugalkraft, die wir entwickeln können.“
„Nun, dann wird sie auch stärker sein als die Anziehungskraft der Sonne,“ meinte der Professor.
„Das gebe Gott!“ sagte Flitmore, „denn sonst sind wir verloren.“
Die Sonne kam näher und näher; schon war die Uranus- und Saturnbahn durchschnitten, ohne daß man diese Planeten zu Gesichte bekam, da sie sich an entfernten Stellen ihrer Bahn befanden. Jupiter sah man nur von ferne, von den Planetoiden, Mars und der Erde, war nichts zu sehen, als man ihre Bahnen kreuzte; dagegen kam die Sannah der Venus sehr nahe, dem hellen Morgen- und Abendstern, der, wenn er sich von der Sonne entfernt, der Erde heller leuchtet als alle andern Gestirne und selbst bei Tage gesehen werden kann, wenn man seine Lage am Himmel genau kennt; der einzige Stern, der bemerkbare Schatten wirft, wenn der Mond nicht stört.
Schultze konnte seine bisher unbekannte Umdrehungszeit feststellen. Bekanntlich herrscht hierüber eine solche Unklarheit unter den irdischen Astronomen, daß man sie teils zu 24 Stunden, teils zu ebensoviel Tagen, ja bis zu 225 Erdentagen annahm.
Der Professor fand nun eine Rotationszeit der Venus von etwa 700 Stunden oder 30 Erdentagen.
Ihr Jahresumlauf beträgt 224 Erdentage.
Es erwies sich, daß ihre eine Hälfte ewigen Tag, die andere ewige Nacht hat, und die Nachtseite zeigte eine matte Erleuchtung. Ihre Atmosphäre war sehr dicht und vielfach stark bewölkt; ihre Oberfläche bildete eine vollkommene Wüste, eine trostlose Einöde von gleichmäßigem weißen Glanz.
„An Größe und Masse,“ sagte der Professor, „ist dieser Planet unsrer Erde sehr ähnlich, empfängt aber doppelt so viel Sonnenlicht als diese. Ihre Bahn ist nahezu kreisförmig; sie hat das stärkste Albedo, das heißt, von allen Planeten strahlt sie das meiste von all dem Licht zurück, das sie empfängt; vielleicht hat sie noch etwas eigenes Licht. Der Erde zeigt sie Phasen wie der Mond.“
„Schmerzlich ist es, daß wir von hier aus die Erde nicht erreichen können,“ seufzte Heinz. „Wir sind ihr doch so nah: 40 Millionen Kilometer! Was will das heißen?“
„Ja, ja!“ sagte Schultze: „Da hilft uns alles Bedauern nichts, wir werden fortgerissen ohne Erbarmen!“
Die Sannah kreuzte die Merkurbahn.
Die Sonne erschien wie ein ungeheurer Feuerball.
Flitmore schützte die Fenster der Sannah durch geschwärzte Scheiben, so daß man mit dem bloßen Auge in die Gluten schauen konnte. So gelang es, die Sonnenflecken als ungeheure Schlackeninseln zu erkennen, die in einem Meer von Glut schwammen, das sie zeitenweise wieder auflöst.
Hoch empor stiegen die glühenden Massen der sogenannten Sonnenfackeln und die flammenartigen Protuberanzen oder Sonnenflammen, die aus brennenden Gasen, meist glühendem Wasserstoff bestehen. Teilweise zeigten sie auch die Form von Feuersäulen und Glutwolken.
Ein wogendes Meer von Gluten und Flammen, wie von Orkanen gepeitscht, so stellte sich die Sonne dar. Ungeheure Explosionen und Eruptionen oder Ausbrüche ereigneten sich von Zeit zu Zeit; dann wurden Feuergarben und Flammenstrahlen in wenigen Minuten bis zu einer Höhe von 75000 Kilometern emporgeschleudert mit einer Geschwindigkeit von 173 Kilometern in der Sekunde.
Und auf dieses wildtobende Feuermeer stürzte die Sannah unaufhaltsam zu mit rasender Geschwindigkeit!
Aber auch in diesen Augenblicken des Schreckens, da aller Gemüter von der Sorge eines drohenden Untergangs erfüllt waren, abgesehen von Heliastra, die mit kindlicher Neugier das schauerlich schöne Schauspiel bewunderte; auch in diesen bangen Augenblicken zeigte Schultze den kühlen Gelehrten, denn, wahrhaftig! er hielt einen wissenschaftlichen Vortrag über die Sonne.
„Dieses Gestirn,“ sagte er, „das unsrer Erde Licht, Leben und Wärme spendet, ist 300000mal heller als der Vollmond; doch kommt der Erde nur der 2735millionenste Teil ihres Lichts und ihrer Wärme zugute. Ihr Äquatorialdurchmesser beträgt 1390300 Kilometer gegen 12755 Kilometer des irdischen Durchmessers. In der Sonne hätten 1300000 Erdkugeln Platz, dennoch wiegt sie nur so viel wie 324400 Erden, denn sie ist nicht viel dichter als Wasser.
In der Sonne kommen fast die gleichen Stoffe vor wie auf der Erde, das hat uns das Spektroskop geoffenbart.
Die äußerste Umgebung des Sonnenballs oder vielmehr seiner Atmosphäre bildet die Korona, sie besteht, wie wir deutlich sehen können, aus breiten Strahlenbüscheln, die sich zum Teil mehr als einen Sonnendurchmesser weit in den Raum erstrecken und oft eigentümlich gekrümmt erscheinen.
Diese Korona kann man von der Erde aus am besten bei Sonnenfinsternissen beobachten, sie bildet dann einen schmalen Lichtring von blendender Helligkeit rings um die verfinsternde Mondscheibe; diesen Ring umgibt ein zwölfmal so breites Band von perlmutterartigem Glanz, aus dem weit hinaus in den Weltraum jene Strahlen schießen, die übrigens auf den Photographien gar nicht oder kaum erscheinen; dieses Band wird von einer noch breiteren Lichtzone umschlossen, die sich mit schnell abnehmender Helligkeit ohne sichtbare Begrenzung im Himmelsraum verliert.
Unter der Korona sehen wir die sogenannte Chromosphäre, einen rosafarbenen Ring, der aus den leichtesten uns bekannten Gasen, dem Wasserstoff und dem Helium gebildet wird.
Die innerste atmosphärische Hülle der Sonne endlich ist die Photosphäre, die aus glühenden Metalldämpfen besteht und die eigentliche Lichtspenderin ist. Diese sehen wir überzogen mit einem Netzwerk, das aus einer Unzahl feiner Poren und Linien besteht, die sich fortwährend verändern. Sie scheinen eine Art Schäfchen- oder Cirruswölkchen, deren kleinstes freilich die Größe eines irdischen Weltteils besitzt; man nennt diese Erscheinung ‚die Granulation‘ der Sonnenoberfläche.“
„Hören Sie, Professor!“ sagte Münchhausen unwirsch: „Was soll uns jetzt diese hochinteressante Belehrung. Ich meine, es wird hier innen schon abscheulich heiß und wir werden in kurzem zu Staub verbrennen. Wissen Sie ein Mittel dagegen, das wäre besser als Ihre gesamte sonstige Weisheit.“
„Die Hitze der Sonne ist nicht so groß als man sich gewöhnlich einbildet,“ erwiderte Schultze kühl. „Sie dürfte etwa 7000 Centigrad betragen, also das Doppelte der Hitze der Kohlenspitzen einer elektrischen Bogenlampe.“
„Heiß genug, um uns in Asche zu verwandeln!“ brummte der Kapitän.
Der Professor zuckte die Achseln. „Alles, was ich Ihnen zum Troste sagen kann, ist, daß der große Komet von 1843 die glühende Korona der Sonne durchraste, 5 Millionen Kilometer in drei Stunden, also 570 Kilometer in der Sekunde zurücklegend. Er kam dabei der Sonne bis auf den zehnten Teil ihres Durchmessers nahe.“
„Und stürzte nicht hinein?“ fragte Heinz.
„Nein! Davor bewahrte ihn die Gewalt seines Schwungs. Ähnlich ging es mit den Kometen von 1882 und 1883. Sie entwickelten dabei alle eine enorme Helligkeit, ja man sah sie bei Tage dicht neben der Sonne, und der Komet von 1882 verschwand, als er vor die Sonne trat; er war also genau so hell wie sie. Dabei entwickelten jene Kometen Eisendämpfe, ein Beweis, daß auch ein Teil ihrer festen Bestandteile sich unter der Einwirkung der Hitze der Korona in glühende Gase auflöste. Endlich zersprang der Komet von 1882 beim Passieren der Korona in mehrere Stücke.“
„Ein schöner Trost, den Sie uns da geben!“ knurrte der Kapitän.
„Sind der Herr Professor der unmaßgeblichen Ansicht, daß wir in diesen furchtbar anzusehenden Flammenofen trotz der geschwärzten Scheiben mitten hinein plumpsen dürften?“ fragte Rieger ängstlich.
„Nein!“ erwiderte Schultze bestimmt. „Das glaube ich keinesfalls; denn unsre Geschwindigkeit übertrifft die des Kometen von 1843 um weit mehr als das Hundertfache.“
„Aber daß die Sannah in Weißglut gerät oder sich in glühende Dämpfe auflöst, zum mindesten samt uns allen in Stücke zerspringt, das glauben Sie?“ polterte Münchhausen.
„Da unser Weltschiff keine feste, dichte Masse bildet,“ entgegnete der Professor, „scheint es am wahrscheinlichsten, daß es sich in ein Dampfwölkchen auflöst. Offen gestanden, ich halte unsre letzte Stunde für gekommen; doch dürfen Sie mir glauben, wir werden nichts davon spüren, in weniger als einer Sekunde wird alles vorüber sein.“
Flitmore drückte auf einen Knopf und augenblicklich schlossen sich sämtliche Augendeckel der Sannah, das heißt die dicken Schutzplatten legten sich von außen dicht über die Fenster. Gleichzeitig ließ der Lord die elektrische Beleuchtung aufstrahlen und sagte: „Begeben wir uns in den allerinnersten Raum, in den Mittelpunkt der Sannah, in zehn Minuten haben wir die Glutatmosphäre der Sonne erreicht und jagen durch Feuer und Flammen. Dann gnade uns Gott!“
In Eile stürzten alle in den innersten Vorratsraum, den eine einzige elektrische Glühbirne erhellte. Alle Lucken wurden geschlossen, nachdem sie passiert waren.
Hier sprach der Lord ein kurzes, markiges Gebet, eine Bitte um Rettung, zugleich aber auch den Ausdruck der Ergebung in den göttlichen Willen, falls ihr Ende beschlossen sein sollte; das Vertrauen auf die göttliche Barmherzigkeit und die Aufnahme aller in das himmlische Reich trug er mit solcher Einfachheit und Glaubensfreudigkeit vor, daß sich alle über die Schrecken des Todes erhoben fühlten und keinerlei Angst mehr empfanden vor dem, was ihnen drohte. Mietje stimmte die beiden letzten Verse des herrlichen Liedes „O Haupt, voll Blut und Wunden“ an, und die andern sangen ergriffen mit. Dann trat Stille ein.
John setzte sich zu Füßen seines Herrn nieder, als wollte er damit zum Ausdruck bringen, wie er als getreuer Diener ihm in den Tod folgen wolle. Mietje lehnte ihr Haupt an ihres Gatten Schulter, Münchhausen faßte kräftig Schultzes Rechte und hielt sie fest. Heliastra schmiegte sich in Heinz’ Arme und fühlte sich geborgen, während ihr junger Gemahl bereit war, mit ihr die Reise in ein besseres Leben anzutreten.
Die beiden Schimpansen Dick und Bobs kauerten in einer Ecke und wußten von nichts; doch verhielten sie sich, ganz gegen ihre Gewohnheit, so regungslos, als ahnten sie doch etwas Außerordentliches.
Auf einmal wurde es furchtbar heiß; die Luft schien zu glühen und erstickend legte es sich auf aller Brust.
Da stand Flitmore auf und sprach ein warmes Dankgebet für die Errettung aus furchtbarer Todesgefahr.
Die andern wußten es sich nicht zu erklären, wie der Lord dazu kam, ein Dankgebet zu sprechen, während sie sich mitten im Flammenofen der Sonne wähnten; denn erst jetzt begann die Hitze beinahe unerträglich zu werden.
Nur Professor Schultze sah so klar wie Flitmore.
„Wir sind unversehrt hindurchgekommen!“ sagte er aufatmend; „aber wie mag die Sannah aussehen?“
„Sind wir denn schon außer Gefahr?“ fragte Mietje ungläubig.
„Gewiß, meine Liebe,“ sagte der Lord, „die Lebensgefahr bestand darin, daß sich unser Fahrzeug infolge der ungeheuren Hitze sofort in Dampf aufgelöst hätte. Die Wärme, die wir nun aber spüren und die allerdings sehr lästig ist und auf die Dauer nicht auszuhalten wäre, beweist uns, daß wir die Korona der Sonne bereits durchflogen und hinter uns haben. Wäre die Katastrophe eingetreten, so hätten wir gar nichts gespürt, so plötzlich wäre alles gekommen; diese allmählich sich steigernde Hitze jedoch weist darauf hin, daß die Sannah an ihrer Oberfläche sehr heiß wurde, ohne jedoch wesentlich Schaden gelitten zu haben. Durch die feuerfeste Umhüllung und die dicke Guttaperchaauspolsterung aller Räume, sowie die in diesen enthaltene Luft ist die Temperatur in diesen untersten Gelassen nur langsam und verhältnismäßig wenig gestiegen.“
„Das glaube ich“, sagte Münchhausen: „Sind doch nach allen Seiten hin nicht weniger als 7 Zimmer oder Stockwerke von je drei Meter Höhe zwischen uns und der äußeren Umhüllung, 7 Säle mit gummibelegten Decken und Fußböden, so daß uns 14 Schichten von geringster Wärmedurchlässigkeit beschützen, getrennt durch 7 drei Meter hohe Lufträume, ganz abgesehen von der starken Außenhülle.“
„Aber ist es nicht möglich, daß wir uns noch in den Flammen befinden?“ fragte nun Heliastra: „Dann würde die Hitze ganz allmählich steigen, aber wir würden sie bald nicht mehr aushalten.“
„Ganz ausgeschlossen!“ sagte Schultze. „Bei der rasenden Eile unsrer Fahrt mußten wir schon längst wieder aus der Sonnenkorona ausgetreten sein, ehe die Temperaturerhöhung in ihrem allmählichen Fortschreiten sich hier unten bemerkbar machte.“
„Dann aber möchte ich ganz ergebenst die bescheidene Bemerkung aussprechen,“ sagte John, „daß wir nach oben gehen in die frische Luft, denn ich schwitze, wenn es zu sagen gestattet sein sollte, wie ein sogenannter Magister!“
„Geduld, Geduld, mein Sohn!“ lachte Schultze. „Das müssen wir nun schon eine Weile aushalten. Zum ersten sind wir der Sonne noch so nahe, daß ein Spaziergang ins Freie vorerst ganz ausgeschlossen ist, wenn wir nicht braten sollen; zum zweiten ist die Hitze in den oberen Gemächern zweifellos weit schlimmer als hier im untersten; sie müßte wachsen, je höher wir steigen. Wir müssen erst eine gründliche Abkühlung abwarten.“
„Da werden wir wohl noch lange Geduld haben müssen,“ meinte Heinz, „denn die Sonne dürfte bei ihrer Nähe derart auf die Sannah brennen, daß von einer Abkühlung vorerst überhaupt keine Rede sein wird.“
„In zwei Stunden,“ sagte der Lord, „können wir ohne Sorge den Aufstieg wagen. Erstens muß eine verhältnismäßige Abkühlung selbstverständlich eintreten, da der Temperaturunterschied doch ein ganz gewaltiger ist zwischen der Korona selber und ihrer bloßen Nähe; zweitens entfernen wir uns mehr als blitzschnell von der Sonne; drittens dreht sich ja unsre Sannah um sich selbst und kehrt stets nur eine Seite der Sonne zu; die von der Sonne abgekehrte Seite wird sich aber sehr rasch und stark abkühlen. Endlich übt die bloße Bestrahlung durch die Sonne, wenn diese auch noch sehr nahe ist, ihre Einwirkung nur in sehr geringem Maße bis in die Innenräume aus.“
Es zeigte sich, daß der Lord recht hatte; die furchtbare Hitze nahm verhältnismäßig rasch ab und nach zwei Stunden konnten unsre Freunde bereits ins Zenithzimmer hinaufsteigen, das gerade von der Sonne abgewendet war und Nacht hatte.
Allerdings herrschte dort noch eine gelinde Backofenhitze, aber dadurch, daß sämtliche Verbindungstüren der Innenräume geöffnet wurden, konnte ein starker kühlender Luftzug erzeugt werden; überdies konnte man auf der Nachtseite auch die Außenlucken öffnen und es strömte eine zwar mehr als laue, aber doch frische Luft ein, die nach der ausgestandenen Hitze den Eindruck wohltuender Kühle machte.
Durch die Lucke des Zenithzimmers stieg Flitmore ins Freie hinaus, um zu sehen, was die Umhüllung der Sannah bei der Fahrt durch die Glutatmosphäre der Sonne gelitten habe.
Er fand, daß der Flintglasbelag fast vollständig abgesprungen war; die äußerste Metallumhüllung war geschmolzen, aber fast beinahe überall noch dicht, da sie nach Verlassen der Sonnenkorona rasch wieder erstarrt war; an einzelnen Stellen freilich zeigten sich Löcher, da war die Umhüllung in ihrer ganzen Dicke durchgeschmolzen. Doch das wollte nun nicht viel besagen, denn einer ähnlichen Hitze würde man ja wohl nicht wieder standzuhalten haben.
Als der Lord ins Zimmer zurückkehrte, sagte Mietje: „Mir ist es immer noch ein Rätsel, wie wir so unbeschädigt durch die flammende Sonnenatmosphäre kommen konnten.“
„Ein Wunder göttlicher Bewahrung ist es gewiß!“ sagte ihr Gatte. „Aber das natürliche Mittel, durch das er uns hindurchhalf, ist die ungeheure Geschwindigkeit, mit der er unser gebrechliches Fahrzeug seine Bahn durcheilen ließ. Du hast ja wohl selber schon probiert, meine Liebe, wie du deinen Finger unbeschädigt, ja ohne nur auch eine Wärmeempfindung zu verspüren, durch die Flamme eines Lichtes bringen kannst, wenn du es schnell genug ausführst. Ganz so kurz verweilten wir nun freilich nicht in den Sonnenflammen, aber doch auch gewiß nicht mehr als zwei Minuten, und für diese kurze Zeit genügte unsre Schutzhülle, um den Gluten stand zu halten, die schon einige Zeit brauchten, um nur die Flintglashülle zu sprengen. Daß die Hitze im Innern nicht unerträglich wurde, obgleich das Metall an der Außenfläche angeschmelzt wurde, darf uns nicht wundernehmen, wenn wir uns erinnern, daß dies auch bei Meteoren der Fall ist.“
In blendendem Glanze strahlte der Planet Merkur durch das offene Fenster des Zenithzimmers. Die Sannah mußte ganz in seiner Nähe vorbei und er schien mit ungeheurer Schnelligkeit sich zu nahen.
Dieser Planet, der zu 3/8 ewige Nacht und zu 3/8 ewigen Tag hat, während der vierte Teil seiner Oberfläche allein den Wechsel von Tag und Nacht kennt, die im Durchschnitt 44 Erdentage währen, kehrte beinahe seine volle erleuchtete Seite der Nachtseite der Sannah zu.
Um ihn dauernd beobachten zu können, sowie um sich nicht der Sonnenhitze auszusetzen, begaben sich unsre Freunde, entsprechend der Umdrehung der Sannah, jedesmal in dasjenige Zimmer, das gerade Mitternacht hatte. Jede halbe Stunde mußte ein solcher Zimmerwechsel vorgenommen werden.
Schultze fühlte sich veranlaßt, einige Belehrungen über den Merkur loszulassen:
„Die große Sonnennähe dieses Planeten,“ sagte er, „hat seiner Beobachtung von der Erde aus die größten Schwierigkeiten entgegengesetzt. Aus den Veränderungen, die Schröter an den Spitzen der Merkursichel, den sogenannten Hörnern, wahrzunehmen glaubte, berechnete Bessel seine Umdrehungsdauer zu 24 Stunden. Dagegen schloß Schiaparelli 1883 aus Flecken und Streifen, die er wahrnahm, auf eine Rotationsdauer von 88 Tagen; das heißt, Merkur würde der Sonne stets dieselbe Seite zukehren, wie der Mond der Erde, und würde sich in der gleichen Zeit um sich selbst drehen, wie um die Sonne.
Allein es wurde nachgewiesen, daß jede Kugel mit glatter, gleichmäßig gefärbter Oberfläche bei unvollständiger Beleuchtung dunkle Streifen zeigt, die auf einer notwendig eintretenden Sinnestäuschung beruhen, so daß Schiaparellis Berechnungen fragwürdig erscheinen, weil sie auf die Beobachtung eben dieser Streifen sich aufbauten.
Merkur zeigt der Erde wechselnde Lichtgestalten oder Phasen wie der Mond, aber wie Venus zeigt er sich vollbeleuchtet, wenn er der Erde am entferntesten steht, und erscheint daher am hellsten, wenn er, nur halb beleuchtet, der Erde näher tritt. Aber auch dann ist er nur einem guten Auge sichtbar infolge seiner Kleinheit und Sonnennähe; doch wurde er im Altertum und im Mittelalter von unsern helläugigen Vorfahren gut beobachtet.
Die Lichtgrenze seiner Oberfläche zeigt sich sehr verwaschen, was auf eine ziemlich dichte Atmosphäre hinweist. Seine Bahn ist die exzentrischste aller Planetenbahnen, das heißt, sie entfernt sich am meisten von der Kreisform und erscheint oval.
Seine Dichtigkeit ist anderthalbmal so groß als die der Erde, so daß man ihn als eine Kugel von Gußeisen ansehen könnte. Seine Oberfläche beträgt etwa das Dreifache des gesamten russischen Kaiserreichs. Seine Masse ist nur 1/12 der Erdmasse, die Schwerkraft auf ihm beträgt nur 3/5 derjenigen der Erde. Er empfängt siebenmal mehr Sonnenlicht als diese und dürfte wohl unter unerträglicher Hitze auf der Sonnenseite und grauenhafter Kälte auf der Nachtseite leiden. Venus leuchtet ihm bei ihrer größten Nähe 600mal schwächer als unser Vollmond.“
So viel wußte Schultze in aller Kürze zu sagen. Was nun von der Sannah aus von der Oberfläche des Planeten gesehen wurde, war hochinteressant: er erschien als glatte Scheibe, durchaus nicht ohne Hügel und Berge, aber auch diese waren gleich glatten, wenig hervorragenden Halbkugeln, die keinen Schatten warfen, weil das Licht durch die spiegelnden Flächen tausendfach zurückgeworfen wurde und alles erleuchtete.
Auch Pflanzenwuchs, ja Hochwälder waren zu sehen, aber Stämme, Zweige und Blätter glitzten und spiegelten dermaßen, daß sie auf größere Entfernung völlig in dem Meer von weißem Licht verschwanden.
„Wenn da Tiere und Menschen leben,“ meinte Schultze, „so sind sie jedenfalls ebensolche spiegelnde Wesen und diese Eigenschaft schützt sie dann wohl vor der schädlichen Einwirkung allzuhoher und allzuniedriger Temperaturen.“
Rasch entfernte man sich von dem Planeten, der mit größerer Geschwindigkeit als alle andern seine Bahn um die Sonne durchläuft; die Sannah näherte sich wieder der Venusbahn, doch die Venus war fern: die Sonne stand zur Zeit zwischen ihr und dem Weltschiff.
Lord Flitmore stellte die Fliehkraft und Parallelkraft vollständig ab.
Die Eigengeschwindigkeit der Sannah war noch so ungeheuer, daß die Anziehungskraft der nahen Sonne nicht genügte, um sie in ihrem Laufe aufzuhalten, noch weniger natürlich die Anziehungskraft Merkurs.
Es war daher zu befürchten, daß das Weltschiff das irdische Sonnensystem wieder verlassen könnte; doch hoffte der Lord, dadurch, daß er alle Triebkräfte abstellte, so viel zu erreichen, daß die Anziehung durch die Sonne und das ganze Planetensystem die Fahrgeschwindigkeit derart hemme, daß sie bei Kreuzung der Erdbahn soweit verringert sein könnte, um ein Sinken der Sannah auf die Erde zu ermöglichen.
Leider war dies jedoch nicht der Fall; auch war die Erde auf ihrer Bahn viel zu weit von der Stelle entfernt, wo unsre Freunde diese Bahn durchschnitten, um eine Einwirkung auf das Fahrzeug ausüben zu können.
Erst die Nähe des Mars zeigte die gewünschte Wirkung: die Fahrt verlangsamte sich merklich.
Dennoch ging es auch über die Marsbahn hinaus dem Jupiter zu.
Als Flitmore merkte, daß nun die Eigengeschwindigkeit der Sannah so weit geschwächt war, daß dieser mächtigste der Planeten sie anzog, stellte er die Fliehkraft wieder ein mit dem Erfolg, daß das Weltschiff nun, von Jupiter abgestoßen, zurückgeschleudert wurde.
Wieder ging es am Mars vorbei und auch hier wirkte die Fliehkraft in der Weise, daß die Sannah im Bogen an dem Planeten vorbeieilte und sich wieder der Erdbahn näherte. Diesmal trat auch der günstige Umstand ein, daß die Erde in Verfolgung ihrer Bahn auf die Stelle zueilte, an welcher unsre Freunde diese schneiden mußten.
„Jetzt oder nie!“ sagte Flitmore und unterbrach aufs neue den Zentrifugalstrom, damit die Erde womöglich das Weltschiff zu sich herabzwingen möchte.
Heliastra betrachtete mit freudiger Neugier die im Sonnenglanze leuchtende Weltkugel, das Land ihrer Sehnsucht, ihrer erbarmenden Liebe.
In schräger Richtung stürzte die Sannah abwärts, der heimatlichen Erde zu, und man konnte bereits mit bloßem Auge die Meere und Küsten, Gebirge und größeren Flüsse unterscheiden.
Heinz begab sich mit seiner holden Gattin auf die Oberfläche des Fahrzeugs hinaus und sie sahen auf die Kugel hinab, die sich zu ihren Füßen ausdehnte. Um besser Ausschau halten zu können, stiegen sie, sich an der Rampe festhaltend, hinab und setzten sich in eine Art Beobachtungskorb, den Flitmore neuerdings für solche Zwecke neben dem Eingang zum Südpolzimmer angebracht hatte.
„Was sind das für hohe Berge?“ fragte Heliastra. „Und wie kommt es, daß ihre Gipfel so weiß erscheinen wie Milch und blitzen wie Diamanten?“
„Das ist das Himalayagebirge, die höchste Bergkette unsrer Erde; seine Spitzen sind bedeckt mit ewigem Schnee und Eis, denn in solchen Höhen ist es bei uns sehr kalt, so daß das Wasser und die Niederschläge fest werden und diese dir unbekannten Kristalle bilden, die wir Eis und Schnee nennen.“
„O, wie schön blau leuchten eure Meere!“ rief Heliastra entzückt. „Ganz wie bei uns! Und wie wunderbar grün sind alle diese Länder. Habt ihr keine so schrecklichen Wüsten wie unser Planet?“
„Wüsten haben wir auch; siehst du diese rötlichen und grauen Flecken rechts und links hinter den Gebirgszügen? Das sind die mongolische Wüste im großen Chinesischen Reich und die Steppen des Sirdarja im südwestlichen Sibirien. Und dort hinten in weiter Ferne könntest du die Eiswüsten der Nordpolarländer glitzern sehen, wenn wir uns auf der andern Seite befänden. Aber allerdings besteht euer Weltkörper, bis auf den paradiesischen mittleren Gürtel, aus einer einzigen öden, kahlen Felswüste, die ausgedehnter ist als die ganze Oberfläche unserer Erde. Darin haben wir doch etwas vor euch voraus, unsere Wüsten erstrecken sich auf verhältnismäßig kleine Gebiete.“
„Da arbeitet ihr gewiß auch emsig an ihrer Fruchtbarmachung wie wir?“
„Durch Erbohrung von Quellen wird allerdings einiges in dieser Richtung versucht, doch sind wir weit davon entfernt, so Gewaltiges zu leisten, wie deine Brüder dort oben.“
Heliastra sah nach dem südlichen Himmel.
„Ich sehe meine Heimat!“ sagte sie. „Ein kleiner Stern. Ich sehe auch ihren Rosenmond, ein winziges Pünktchen! Wenn du meine Augen hättest, könntest du sie auch erblicken. Wie weit, wie weit sind wir von dort. Aber Gottes Welt umfaßt unsere Erde, die ihr Eden nanntet, wie die eure; es ist doch ein einziges großes Gottesreich und da reist man von einem Land zum andern.“
„Hast du kein Heimweh?“ fragte Heinz teilnahmvoll.
„Heimweh bei dir?“ frug das Elfenkind zurück, und lachend strahlten ihn die Blauaugen an. „Nein! Bei dir wird immer meine Heimat sein, und wie freue ich mich doch auf die Welt, wo ich soviel mehr tun kann in helfender und tröstender Liebe, als es in unserm schmerzlosen Lande möglich wäre.“
„Du bist ein Engel!“ rief Heinz und küßte die Anschmiegende beseligt.
„Was ist dort für eine große Insel?“ fragte die Holde nun wieder.
„Das ist Australien,“ erklärte ihr Gatte. „Siehst du, auch dort kannst du eine ausgedehnte Wüste erkennen; da wäre ich selbst einmal beinahe verdurstet und elend ums Leben gekommen, wenn mich nicht Gott im letzten Augenblick zum rettenden Wasser hätte gelangen lassen.“
„Du Ärmster,“ sagte Heliastra und ihre Augen leuchteten ihn an voll himmlischen Mitleids.
„Und das große Land dort drüben ist Afrika,“ fuhr Heinz fort. „Dort leben meine Brüder und meine Schwester Sannah. Aber schau, vor uns tauchen die Eisgebirge des Südpols auf! Wir kommen der Erde immer näher. Ich fürchte, wir landen im Eismeer!“
Das war allerdings zu besorgen; denn dorthin führte ihr schräger Sturz die Sannah.
„Herein!“ rief Flitmore durch die Lucke den beiden zu. „Der Aufenthalt dort draußen wird gefährlich. Ich muß von jetzt ab abwechselnd meinen Fliehstrom ein- und ausschalten, auch mit der Parallelkraft arbeiten, damit wir uns einen günstigen Landungsplatz aussuchen können, und da könntet ihr einmal aus eurem Mastkorb geschleudert werden.“
Gehorsam begab sich das junge Ehepaar hinein ins Südpolzimmer und die Lucke wurde geschlossen.
Auf der Erde wurde es Abend. Die Heimkehrenden nahmen eine letzte Nachtmahlzeit in der Sannah zu sich, dann beorderte sie Flitmore zur Ruhe.
Er selber wollte diese Nacht wachen und die Landung bei günstiger Gelegenheit bewerkstelligen. Er hatte dabei einen besonderen Plan, eine Überraschung für alle; wie er hoffte, eine freudige Überraschung auch für andere Erdenwesen, die ihm lieb waren.
In der Stille der Nacht lenkte der Lord sein getreues Weltschiff in rascher Fahrt über Flüsse, Gebirge und Seen. Der Vollmond beleuchtete die Landschaft und Flitmore kannte sich darin aus.
Endlich hatte er seinen Landungsplatz gefunden und die Sannah senkte sich auf eine grüne Wiese herab.
Der Engländer sah auf die Uhr.
„Noch vier Stunden bis Sonnenaufgang,“ murmelte er. „So will ich denn auch noch einen Schlaf tun, um recht frisch zu sein, wenn uns ein schöner Morgen aufleuchtet.“
Er weckte John. „Halte du diese Nacht vollends Wache. Wir befinden uns bereits auf festem Erdboden und es wird nichts vorkommen. Sobald die Sonne aufgeht, weckst du zuerst mich, dann die andern.“ So sprechend legte er sich zur Ruhe.
John öffnete die Lucke des Südpolzimmers und sah hinaus. Er war doch neugierig, wo man sich befand. Seinen Herrn hatte er nicht fragen mögen, da dieser von selber nichts gesagt hatte.
Was war das für eine Landschaft? Merkwürdig bekannt kam sie Rieger vor. Aber England war das nicht, noch weniger Deutschland; es konnte nichts andres als Afrika sein!
Da wiegten schlanke Palmen ihre Wedel in der Vollmondnacht, dort dämmerten dichte Bananenhaine und nicht ferne glitzerte der Spiegel eines Sees, an dessen linkem Ufer im Osten eine Hochgebirgslandschaft aufragte.
„Das ist sozusagen nichts andres als der Albert-Edward-Njansa,“ sprach John zu sich selbst, „und dieses Dach in der Nähe zwischen den Baumwipfeln dürfte die Farm des alten Herrn Piet Rijn sein. Nein! Das wäre sozusagen eine Überraschung für meine Lady Mietje und auch für den Herrn Professor und dann erst für die Familie des Herrn Rijn und Fräulein Helene — ach nein! Frau Rijn muß man ja jetzt sagen, Frau Hendrik Rijn! Und für ihren Herrn Gemahl, den lieben Herrn Hendrik! Wenn das wäre! Und die tapfere Zwergprinzessin ist ja wohl auch bei ihnen. Nein! Wie ich mich freuen würde, die kleine schöne Tipekitanga wieder einmal zu sehen!“
Er mußte sich überzeugen und begab sich in das nächste Gemach, das jetzt nordwärts schaute. Richtig! Da ragte die Gletscherkuppe des Ruwenzori gewaltig empor und glänzte im Mondlicht.
Kein Zweifel! Man befand sich unmittelbar in der Besitzung des Buren Piet Rijn an den Ufern des Albert-Edward-Sees! John lächelte vor sich hin; das war ein feiner Gedanke seines Herrn, seinen Schwiegervater aufzusuchen.
In der Farm Piet Rijns regte es sich zu derselben Zeit. Eine junge blühende Frau hatte sich von ihrem Lager erhoben und schaute zum Fenster hinaus.
Sie rieb sich die Augen: was war das für eine ungeheure Kugel, die über die Baumwipfel im Osten emporragte? Wie glitzerte die gewölbte Oberfläche im Mondschein?
Die junge Dame war Sannah, die Tochter des Farmers Piet Rijn, die zur Zeit mit ihrem Gemahl, Doktor Otto Leusohn, einem deutschen Arzt, der sich in Ostafrika niedergelassen hatte, zu Besuch auf der väterlichen Farm weilte.
Sie huschte an das Bett ihres Gatten und weckte ihn mit einem Kuß.
„Otto,“ sagte sie, „ich hatte einen so merkwürdigen Traum, als ob eine große, große Kugel durch die Luft daherkäme, und, denke dir, wer herausstieg?“
„Nun?“
„Meine Schwester Mietje und unser Schwager Charles Flitmore!“
„Ein schöner Traum in der Tat,“ sagte Leusohn lachend, da er gleich völlig munter geworden war, wie es sich für einen Arzt ziemt. „Und nun glaubst du wohl, er werde sich noch diese Nacht erfüllen?“
„Ich weiß nicht! Aber wie ich zum Fenster hinausschaue, sehe ich die Kugel meines Traumes über die Baumwipfel ragen.“
„Das wäre!“ rief Leusohn erstaunt und sprang aus dem Bett. Ein Blick durch das Fenster überzeugte ihn, daß da allerdings etwas Fremdes und Merkwürdiges ganz in der Nähe lagerte.
„Wollen wir hingehen und sehen, was es ist?“ fragte Sannah.
„Ich bin dabei!“ erwiderte ihr Mann.
Während seine junge Frau sich eiligst ankleidete, klopfte er an die dünne Bretterwand, die das Schlafgemach vom Nachbarzimmer trennte.
„Was ist los?“ fragte dort eine schlaftrunkene Stimme.
„Ich weiß nicht,“ antwortete Leusohn; „aber jedenfalls hat sich etwas ganz Seltsames zugetragen. Sannah und ich wollen der Sache auf den Grund gehen, willst du uns nicht begleiten, Hendrik.“
„Selbstverständlich!“ rief dieser zurück. „Ich mache mich gleich fertig.“
„Und ich gehe natürlich auch mit euch,“ rief eine helle Frauenstimme aus dem Nebengemach. Das war Leusohns Schwester Helene, die Gemahlin Hendrik Rijns.
Als Hendrik und Helene vollständig angekleidet waren und ihr Schlafzimmer verließen, kam ihnen im Vorgemach eine schlanke Mädchengestalt entgegen.
Es war eine auffallend hübsche, wohlgewachsene kleine Negerin von lichter Hautfarbe und mit prächtigen blitzenden Augen. In Wahrheit war sie kein kleines Mädchen mehr, wie es auf den ersten Blick scheinen mochte, sondern eine ausgewachsene Dame, aber aus dem Geschlecht der Zwerge. Trotz ihrer vornehmen Geburt, denn sie war eine königliche Prinzessin, diente sie Helene als getreue Kammerzofe und Mädchen für alles, namentlich auch als Begleiterin auf Jagdausflügen; gab es doch keine so treffliche Jägerin mehr in ganz Afrika wie das liebliche Zwergfräulein.
„Ihr wollt in die Nacht hinaus?“ fragte die Kleine. „Tipekitanga wird mit euch gehen.“
„Das ist recht, du treue Seele,“ lobte Helene Rijn und streichelte ihr die zarte Wange.
Jetzt erschien auch Doktor Leusohn mit seiner Gattin, die von ihrer Dienerin Amina, einer auffallend hübschen Somalinegerin, begleitet wurde.
Sannah begrüßte ihren Bruder Hendrik und ihre Schwägerin Helene mit einem Kuß; auch Otto Leusohn küßte seine liebe Schwester und seinen Schwager herzlich, dann erzählte er den Traum seiner Frau und die wunderbare Erscheinung, die man vom Fenster aus beobachten konnte.
Währenddessen hatten sie sich schon ins Freie begeben und eilten in der Richtung dahin, in der man zu der rätselhaften Kugel gelangen mußte.
Als sie aus dem Ölpalmenwäldchen hinaustraten auf die freie Grassteppe, standen sie staunend still; vor ihnen ragte der dunkle Koloß, eine ungeheure schwarze Kugel. Der Mond war untergegangen und so sah die dunkle Masse finster und drohend aus, als könnte sie im nächsten Augenblick daherrollen und die Menschlein zu ihren Füßen zermalmen.
„Die Kugel meines Traumes!“ rief Sannah.
„Deinem Traume nach müßte sich aber Mietje in ihrem Innern befinden,“ sagte Leusohn.
„Da oben schaut ja ein Mann heraus,“ rief nun Helene.
Die dunkle Gestalt, die sich aus einer Lucke der Sphäre herausbeugte, ließ nun auch ihre Stimme vernehmen:
„Wenn ich mir gestatten darf, Sie an Ihrer mir immer noch wohlbekannter Weise in lieblichster Erinnerung befindlichen Stimme erkennen zu dürfen und Sie mir dieses nicht für übel aufzunehmen belieben, so wären ja dieses Sie, Fräulein Helene oder vielmehr, weil ich mich darin immer wieder verspreche, Frau Rijn und Herr Hendrik, sowie Fräulein Sannah oder sozusagen jetzt Frau Doktor Leusohn mit ihrem wertesten Herrn Gemahl?“
Helene lachte hell auf. „Nein! Solche Redensarten führt kein Mensch auf der Welt,“ sagte sie, „als einzig und allein Johann Rieger, Lord Flitmores edler Diener.“
„Oho!“ rief Leusohn. „Dann hast du doch wohl einen prophetischen Traum gehabt, liebe Sannah! Wenn John da Auslug hält, dann dürften Schwager Charles und Mietje auch nicht ferne sein.“
„Nein, diese Freude!“ jubelte John. „Aber entschuldigen Sie, wenn ich meine bescheidene Persönlichkeit für einen Augenblick zurückzuziehen in die Lage mich versetzt fühlen muß, indem daß die Sonne bereits ihren Aufgang hält, wo ich verpflichtet bin, meinen gnädigen Lord zu wecken.“
John verschwand und drunten plauderten die jungen Menschen ganz aufgeregt und glücklich durcheinander: was war das für ein wunderbarer Bau, und wie konnte Flitmore mit ihm von England nach Afrika reisen? Aber die Hauptsache war: er war gekommen und Mietje mit ihm, ein unerwarteter und gar so lieber Besuch!
Zehn Minuten später beleuchtete schon die aufgehende Sonne das Weltschiff, als Flitmore und Mietje in der Lucke erschienen.
„Hurrah!“ rief Leusohn: „Da sind sie ja!“
„Hurrah!“ antwortete der Lord: „Und ihr habt uns entdeckt? Willkommen, Schwager Otto, willkommen, Schwager Hendrik! Willkommen, meine lieben Schwägerinnen Helene und Sannah: die große Sannah kam, euch zu grüßen.“
„Nein, daß ihr auch gerade hier seid, Sannah und Otto!“ jubelte Mietje herab: „Das ist gar zu schön! Und da ist ja auch unsre Zwergprinzessin und die treue Amina!“
„Jambo, jambo!“ riefen die beiden Negermädchen frohlockend hinauf.
Inzwischen hatte John die Strickleiter befestigt und der Lord und seine Gattin beeilten sich hinabzusteigen. Gleich hinter ihnen erschien Professor Schultze.
Mietje und Sannah flogen einander in die Arme; Flitmore küßte herzlich seine Schwäger und Schwägerinnen und sogar die kleine Zwergprinzessin, die solcher Ehre wohl wert war. Ebenso innig begrüßte Lady Flitmore, als sie sich aus der Schwester Armen herausgefunden, ihren Bruder Hendrik und dessen Gattin, sowie den Doktor, ihren Schwager, und alsdann Tipekitanga und Amina.
Inzwischen hatte auch der Professor sich der Gruppe genähert und wurde mit kräftigem Händeschütteln von den alten lieben Bekannten begrüßt, mit denen er einst auf afrikanischem Boden so manches Abenteuer erlebt hatte.
Heinz und Heliastra waren mittlerweile ebenfalls der Sannah entstiegen.
Sie waren hier noch unbekannt und blieben etwas abseits stehen; doch wurden sie bald bemerkt und hohes Staunen erfüllte Hendrik und Leusohn und deren Gattinnen, als sie die wunderliebliche Gestalt und das in überirdischer Schönheit strahlende Gesicht des fremden Mädchens erschauten.
Sie verstummten und fühlten sich von einem seltsamen Zauber gefangen genommen, der von dem engelgleichen Wesen ausging, das von einem schneeweißen, zarten Gewebe umflossen vor ihnen stand. Sie bewunderten diese blendende Erscheinung mit wahrer Andacht und frommer Scheu: sie erschien wie ein Geschöpf aus einer andern vollkommeneren Welt, denn wie konnte die Erde solche himmlische Reize hervorbringen? Und sie hatten recht mit dieser Ahnung: Heliastra kam ja wirklich aus höheren Sphären.
Aber neben diesem Gefühl ehrfürchtiger Bewunderung wallte zugleich in aller Herzen eine beseligende Liebe zu der Fremden auf: sie fühlten sich ganz wunderbar zu ihr hingezogen. Die Reinheit, Milde und herzgewinnende Freundlichkeit, die aus diesem lieblichen, rosenschimmernden Antlitz lachte, vor allem aber aus den großen Augen, deren zartes Blau auf Erden nicht seinesgleichen hatte, mußten ja alle Seelen gefangen nehmen.
Heliastra ihrerseits schaute mit liebendem Wohlgefallen auf die Gruppe, ihr Herzchen klopfte vor freudiger Aufregung und wogte besonders ihren neuen irdischen Schwestern entgegen. Wie schön und wie lieb sahen sie aus, wenn sie auch nicht so ätherisch waren wie Glessiblora und die andern Mädchen Edens! Selbst ihre dunkelfarbigen Erdenschwestern, die feingliederige Tipekitanga und die rundliche Amina kamen ihr reizend vor.
„Wer ist dies himmlische Geschöpf?“ stammelte endlich Sannah mit fliegenden Pulsen.
„In Wahrheit ein himmlisches Geschöpf!“ sagte Mietje: „Denn wir haben sie aus der himmlischen Welt der Fixsterne geholt. Und wie lieb und edel sie ist, werdet ihr bald selber erfahren.“
„Aus der himmlischen Welt der Fixsterne?“ rief Helene ratlos. Was sollten diese rätselhaften Worte bedeuten? Und doch! sie fühlte, daß ein überirdisches Geheimnis allein der Wahrheit entsprechen konnte; denn daß auf ein irdisches Wesen eine solche Anmut ausgegossen sein könnte, schien ihr je länger je mehr völlig undenkbar.
„Es ist so,“ bestätigte der Lord: „Heliastra ist ein Gast aus den himmelweiten Fernen der Fixsternwelt. Wie das alles zusammenhängt, werden wir euch hernach erklären. Nun aber will sie unsre arme Erde als ihre Heimat betrachten: eine edle Sehnsucht zog sie zu uns herab und die Liebe ihres Herzens zu unserm edlen Freund Heinz Friedung, der ein Los gezogen hat, wie es noch keinem Sterblichen zuteil wurde, außer etwa mir, der ich eine Mietje Rijn zur Gattin gewann.“
„Frevler!“ rief Lady Flitmore und legte ihre kleine Hand auf des Lords Mund: „Wie kannst du es wagen, mich mit einer Heliastra zu vergleichen!“
„Das ist Heinz Friedung, der mit Ihnen Australien bereiste?“ wandte sich nun Doktor Leusohn an Schultze.
„Gewiß! Eine Seele von einem Menschen und ein Held! Niemand hätte ich ein solch goldenes Glück so freudig gegönnt, wie gerade ihm.“
„Herzlich willkommen!“ rief Leusohn und umarmte den jungen Mann, der ihm aus des Professors Briefen längst bekannt und lieb war; ebenso stürmisch begrüßte Hendrik den neuen Freund, worauf auch Sannah und Helene ihm die Hand schüttelten.
Dann eilten die jungen Frauen auf Heliastra zu; doch hielt sie immer noch eine andächtige Scheu zurück, der Holden eine Zärtlichkeit zu erweisen, zu der sie ihr Herz trieb. Sie fühlten sich unwürdig so hoher Gunst und streckten ihr zaghaft die Hand entgegen.
Heliastra aber schlang lächelnd ihre Elfenarme nach einander um Sannahs und Helenes Hals und drückte warm ihre feinen Rosenlippen auf ihren Mund. „Seid ihr nicht meine lieben Schwestern?“ fragte sie dann errötend.
„Wenn wir es sein dürfen, mit Stolz und Freude!“ erwiderte Helene und Sannah fügte hinzu: „Ich glaube, ich werde niemand so lieb haben können, wie dich, ausgenommen natürlich meinen lieben Mann.“
„Ja, mein lieber Heinz geht auch bei mir allen andern vor,“ sagte Heliastra mit einem zärtlichen Blick auf ihren Gatten: „Aber dann sollt gleich ihr kommen. O, ich habe so viel Liebe, es reicht für euch und die ganze Welt!“
Das ganze Gespräch wurde auf deutsch geführt, das Heliastra bereits fließend sprach, und das aus ihrem Munde wie himmlische Musik und Glockengeläute klang.
Dann ging sie leichtfüßig auf Tipekitanga und Amina zu, die scheu bewundernd beiseite standen, umarmte und küßte auch sie und sprach: „Ihr seid doch auch meine lieben Schwestern von der Erde?“
Amina war ganz stumm vor Glück und großer Verlegenheit, zugleich aber hob sich ihr Herz in seligem Stolz.
Tipekitanga aber sah die himmlische Schwester mit einem strahlenden Blicke an und flüsterte nur: „O, liebe, liebe Herrin!“
Hierauf reichte Heliastra Hendrik und Leusohn das durchsichtige Händchen mit warmer Herzlichkeit; die Männer aber wagten nicht, fest zuzugreifen, so zart erschien ihnen diese Elfenhand, auf die sie einen ehrerbietigen Kuß drückten.
Da aber plötzlich wurde es in der Höhe laut und der Zauberbann, den Heliastras Erscheinung ausübte, wurde für eine Weile gebrochen.
„O, schnöde Erde! O, jämmerliche, erbärmliche Menschheit!“ grollte es herab. „Also da sind wir wieder gelandet auf dem armseligsten aller Planeten? Und da unten begrüßen sie sich und kein Mensch denkt an mich, Kapitän Hugo von Münchhausen, den berühmten Abu Baten, Pascha seiner Königlichen Hoheit des Khedive von Ägypten! Mich, mich lassen sie die Begrüßungsszene verschlafen! Mich, die gewichtigste Persönlichkeit von allen, behandeln sie als eine zu vernachlässigende Größe? Komm, Heliastra, du Engelskind aus einer bessern Welt! Laß uns mit einander diesen undankbaren Erdboden wieder verlassen und zurückkehren in die seligen Sphären!“
„Halloh! Münchhausen, unser herrlicher Kapitän, der schreckliche Abu Baten!“ rief es unten durcheinander.
Dieser stürmische Jubel versöhnte den zürnenden Koloß und er turnte mit erheiternder Gewandtheit die Strickleiter herab.
Als er keuchend den Erdboden erreichte, umringten ihn die Freunde und Freundinnen und grüßten ihn mit solch herzlicher Freude, daß er erklärte: „Na Kinder! Wenn ihr mich denn doch so gern habt, so will ich mich, wenn auch schweren Herzens, entschließen, wieder diesen heillosen Planeten zu bevölkern!“
Nun erst kam auch der bescheidene John herab, gefolgt von den Schimpansen Dick und Bobs, und auch er wurde aufs freundlichste willkommen geheißen.
„Ah! Da steht ja auch unsre herrliche Zwergprinzessin!“ rief Münchhausen: „Komm an mein Herz, liebes Mädchen, fliege in meine Arme, reizende Tipekitanga! Dein alter Onkel sehnt sich danach, dich an seine treue Brust zu drücken!“
„Halt, halt!“ lachte Leusohn, als der Kapitän wirklich Miene machte, die zarte Gestalt zu umarmen: „Sie würden ja unsre kleine Heldin erdrücken und erwürgen. Für solch zerbrechliche Wesen sind Ihre Liebkosungen denn doch zu gefährlich.“
„Sie haben recht, wie immer, weiser Doktor,“ sagte Münchhausen und ließ die Arme wieder sinken. „Na, dann gib mir dein Patschhändchen, vortrefflichstes aller Prinzeßchen!“ Und er drückte ihr vorsichtig die kleine Hand.
Nun erschien auf einmal Piet Rijn, der greise Bure, auf der Bildfläche, gefolgt von seinen übrigen Söhnen Frans, Klaas und Danie.
Frans hatte von der Farm aus das Weltschiff in der Morgensonne strahlen sehen, und da bald bemerkt wurde, daß Hendrik und Leusohn mit ihren Frauen und deren Dienerinnen ausgeflogen waren, beschloß der würdige Alte, nachzusehen, was dort drüben los sei.
Hocherfreut umarmte er seine Tochter Mietje und seinen Schwiegersohn, den Lord, begrüßte herzlich den Professor und ebenso Heinz und Münchhausen, die Flitmore ihm vorstellte. Von letzterem besonders hatte er ja durch seine Söhne, sowie Sannah, Helene und Leusohn des Rühmlichen genug erfahren. Ebenso freudig bewegt begrüßten die Brüder Mietje, den Lord und dessen Gefährten. Auch John wurde nicht vergessen.
Mit hoher Bewunderung wurde auch die Perle der Gesellschaft, Heliastra, willkommen geheißen, dann begab man sich gemeinsam nach dem Wohnhause der Familie Rijn.
Unterwegs schimpfte Münchhausen: „Nein, es ist doch ein wahres Elend auf dieser Erde! Wie leichtfüßig war ich doch auf dem Planeten Eden! Ach! Wenn ich an dieses Hüpfen und Schweben denke! Und jetzt? Eine Schinderei ist es, solch einen stattlichen Leib, wie ich ihn besitze, schwerfällig über den Erdboden zu schleppen!“
Auch Heliastra hatte bemerkt, daß es sich auf Erden nicht so leicht wandelte, wie in ihrer heimischen Welt. Sie machte einen Versuch, sich wie dort in die Lüfte zu erheben, aber damit war es hier nichts! Mit einer leisen, bedauernden Enttäuschung in der Stimme sagte sie zu ihrem Gatten: „Heinz, hier kann ich nicht mehr fliegen!“
„Wenn nur unsere Seelen fliegen!“ erwiderte er tröstend.
Doch Heliastras heiteres Gemüt überwand rasch die Enttäuschung. Zu was wollte sie fliegen, wenn es ihrem Heinz doch versagt war? Und sie schwebte so leichtfüßig über den Erdboden, dahin, wie kein Menschenkind es vermochte.
„Wie eine Elfe!“ dachte Sannah.
Helene und Sannah eilten nun voraus in die Farm, um mit Aminas und Tipekitangas Hilfe einen tüchtigen Morgenimbiß zu bereiten, zu dem John noch Früchte und Konserven von Eden aus der Sannah holen mußte, die hohes Staunen erregten und den unkundigen Erdenkindern einen nie geahnten Genuß bereiteten.
Inzwischen wurde lebhaft geplaudert und zunächst in aller Kürze von der wundersamen Weltfahrt berichtet.
Wie ein Märchen klangen diese Berichte, und Leusohn meinte: „Wenn uns Kapitän Münchhausen das alles erzählte, so wüßte ich ja, wo ich daran bin; so aber kenne ich mich wahrhaftig nicht mehr aus! Und das alles soll wirkliche, selbsterlebte Wahrheit sein und kein wunderbarer Traum?“
„Hast du schon solche Früchte und Baumzweige gesehen und gekostet?“ fragte Helene ihren zweifelnden Bruder. „Gibt es Milch und Honig, Butter und Fruchtsäfte auf der weiten Erde, wie diese paradiesischen Genüsse, die uns aus einer fernen Welt gebracht und aufgetischt worden sind?“
„Und vor allem,“ fügte Sannah hinzu, als ihr Gatte seiner Schwester daraufhin nichts zu erwidern wußte, „ist dieses engelgleiche Wesen, Heliastra, nicht ein augenscheinlicher Beweis für die Wahrheit alles dessen, was unsere staunenden Ohren vernehmen?“
„Ihr habt recht, meine Lieben,“ gab nun der Doktor zu, „und wenn ich mich überzeugt habe, daß ich das alles nicht selber träume, dann muß ich es ja schließlich glauben. In der Tat zweifle ich lebhaft, ob nicht selbst unseres Kapitäns großartige Phantasie zu schwach wäre, solche Wunder auszudenken.“
„Oho!“ verwahrte sich Münchhausen. „Warten Sie ab, bis ich zu erzählen beginne, etwa von den sechsbeinigen Marsmenschen und dergleichen!“
„Und mir zu Ehren hast du dein märchenhaftes Fahrzeug „Sannah“ geheißen?“ fragte Leusohns Gattin ihren Schwager Flitmore.
„Gewiß! Und sie hat dir Ehre gemacht; sie hat sich treu und zuverlässig erwiesen,“ lautete die Antwort.
Tipekitanga aber strahlte vor Stolz und Glück, als sie erfuhr, daß auch sie einer so außerordentlichen Ehrung gewürdigt worden war, und daß ein kleiner, aber an Wundern und zauberischen Reizen reicher Weltkörper ihren Namen erhalten hatte. Ebenso stolz war Amina, daß ein Komet nach ihr benannt worden war.
Mehrere Wochen blieben unsere Freunde auf Piet Rijns Farm, glücklich inmitten ihrer Lieben, dann nahmen sie Abschied, doch nicht auf immer.
Sie bestiegen noch einmal die Sannah; Münchhausen wurde in Adelaide abgesetzt; Professor Schultze, Heinz und Heliastra verließen endgültig das Weltschiff, als es Berlin erreichte.
Kurz darauf landete Lord Flitmore mit Mietje und John nebst den treuen Schimpansen vor seinem Schloß in England, um zunächst hier zu verweilen, später aber die Sannah zu einer neuen Weltfahrt praktischer auszurüsten unter Benutzung aller Erfahrungen, die auf ihrer ersten Reise gemacht worden waren, die er nur als eine Probefahrt ansah.
Ein nochmaliger Besuch des Planeten Eden war für den Lord und Mietje vor allem eine ausgemachte Sache; dies waren sie schon Heinz und Heliastra schuldig, denen sie versprochen hatten, sie in ein paar Jahren dorthin mitzunehmen, damit die Tochter Edens ihren Eltern und Geschwistern berichten könne von dem segensreichen Wirken ihrer erbarmenden Liebe auf der fernen Erdenwelt.
Im übrigen war Lord Flitmore entschlossen, noch mehrere Weltschiffe nach dem Muster der Sannah zu bauen, um einen regen Verkehr der Erde mit den Planeten und der Fixsternwelt anzubahnen.
Bei der nächsten Reise würde also vermutlich gleich eine wohlbemannte Flotte von der Erde in den Weltraum sich erheben, und das schönste und am vollkommensten ausgestattete dieser Weltschiffe sollte auch den schönsten und würdigsten Namen tragen, den Namen „Heliastra“.
Als Quellen für die astronomischen Tatsachen, die in die Erzählung verflochten sind, dienten mir hauptsächlich:
1. Einige Artikel aus Zeitungen und wissenschaftlichen Zeitschriften.
2. Carl Snyder. „Die Weltmaschine“. Erster Teil: Der Mechanismus des Weltalls. Autoris. deutsche Übersetzung von Dr. Hans Kleinpeter. Leipzig 1908. J. A. Barth. 451 S.
3. Dr. Hermann J. Klein. Kosmologische Briefe über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Weltbaues. Für Gebildete. 3. Aufl. 1891. Leipzig. Ed. H. Mayer. 308 S.
4. Prof. Dr. Walter F. Wislicenus. Prof. an der Universität Straßburg. Astrophysik. 2. Aufl. Leipzig. G. J. Göschen. 1903. 152 S.
5. A. F. Möbius. Astronomie. 8. Aufl. bearbeitet von Prof. H. Cranz. Stuttg. G. J. Göschen. 1894. 148 S.
6. Prof. Dr. Zech. Himmel und Erde. Eine gemeinfaßliche Beschreibung des Weltalls. München. R. Oldenbourg. 1870. 293 S.
7. Dr. M. Wilh. Meyer. Sonne und Sterne. Stuttgart. Kosmos, Franckh. 1907. 106 S.
8. Hermann J. Klein. Das Sonnensystem. 2. Aufl. Braunschweig. Vieweg. 1871. Bd. I 351 S. Bd. II 371 S.
9. J. J. von Littrow. Die Wunder des Himmels. 5. Aufl. Stuttg. Gustav Weise. 1866. 1024 S.
10. Camille Flammarion. Urania. Übers. v. Karl Wenzel. Pforzheim. O. Riecker. 1894. 234 S.
In folgendem bezeichne ich der Kürze halber Quelle 2 mit Sn. (Snyder), 3 mit K. B. (Kosmologische Briefe), 4 mit W. (Wislicenus), 5 mit M. (Möbius), 6 mit Z. (Zech), 7 mit Me. (Meyer), 8 mit K. (Klein), 9 mit L. (Littrow), 10 mit F. (Flammarion).
Kapitel 4. Geschwindigkeit des Lichts Sn. 29. 273. 275-76. Me. 87. Z. 46. M. 89-92 usw.
Kapitel 5. Anziehungskraft, Schwerkraft, Gravitation M. 94-100. L. 677-700. Z. 140-144. Sn. 243-251. Erdbewegungen Sn. 224, 277, 307-308. F. 191-195. Höhe der Atmosphäre M. 28. Absoluter Nullpunkt (-273°) K. B. 225. Große Inversion: „Daheim“ Nr. 9, Jahrg. 1909 (28. Nov. 1908) Sammlerdaheim. Kälte im Weltraum K. B. 224-225.[1] Theorie über die Gravitation aus Anziehung und Abstoßung, über die Erfüllung des Weltraums mit verdünnter Luft und über die Strahlung — vom Verfasser aufgestellt.
[1] „Zur Guten Stunde“ 1909, Heft 21, S. 500-502. (Felix Linke: „Vom Luftmeer der Erde.“)
Kapitel 6. Lufthülle des Monds L. 464-465. W. 87-88. Dämmerungserscheinungen K. B. 214 (Tyndall), 213-219. Sterne vor der Mondscheibe L. 465. Wasserlosigkeit K. I 122-123. L. 464-465. Allgemeines über den Mond und seine Ringgebirge K. I. 100-134. W. 63-105. L. 450-483. K. B. 197-235. Z. 167-183. M. 53-68. Gebirge bis zu 10000 Meter Z. 171. Veränderungen (Krater Linné und Messier) K. I 119-120. K. B. 204-206. 209-212. W. 94. Strahlenerscheinungen W. 81-82. Rillen W. 80-81. Neubildungen W. 96-97. Farben und Pflanzenwuchs K. B. 216-223. 225. W. 97-98. Libration Z. 172. L. 468. Entfernung des Mondes von der Erde Sn. 29. 337 usw. Rückseite des Mondes L. 457-458.
Kapitel 8. Richtige Begriffe über die Erde und die Planeten im Altertum Sn. 61. Aristarch Sn. 86-90. 107. Bion Sn. 66-69. Apollonius von Pergä Sn. 90-91. Hipparch Sn. 90-91. Pythagoras Sn. 99. Eratosthenes Sn. 74-78. Archimedes Sn. 120-122. Strabo Sn. 78-79. Posidonius Sn. 92-94. Demokrit Sn. 126-138. Cheopspyramide Sn. 70. Kopernikus Sn. 163. L. 164-168. Giordano Bruno Sn. 176. Möglichkeit der Unrichtigkeit des Kopernikanischen Systems Sn. 161 (Anmerkg. des Herausgebers). Keppler und seine Gesetze Sn. 180-184. L. 179-202. M. 79-80. Galilei Sn. 190-202. Newton Sn. 245. 249 (243-251). M. 94-100. L. 677-700. Z. 140-144. Cassini Sn. 221-223. Römer und Leverrier Sn. 223. Herschel Sn. 307-311. 290-291. Laplace Sn. 283-288. Bessel Sn. 318-319.
Kapitel 9. Nichtexistenz der Marskanäle entdeckt von Prof. Hale (amerik. Astronom). Sitzung der engl. Astron. Gesellsch. Staats-Anz. f. Württ., Nr. 2, 4. Jan. 1910. Deutsche Reichspost, Nr. 3, 5. Jan. 1910. „Wie es auf dem Mars aussieht“ (Bewohnbarkeit) nach Prof. Edward S. Morse im „World Magazine“ (Das Neue Blatt, Berlin, 1906, Nr. 52, S. 822). Entfernung des Mars Sn. 337. Mars K. B. 249-263 (Atmosph., Umlaufzeit, Halbmesser, Dichtigkeit, Rotation, Jahreszeiten, Schneefälle, Bewölkung, rote Farbe, Kanäle und ihre Veränderungen). W. 119-127. Z. 154-155. M. 108-110. K. I. 135-140. L. 150. 384-388.
Kapitel 10. Tage und Jahreszeiten auf dem Mars K. B. 250-251.
Kapitel 11. Riesige Regenwürmer der Vorwelt sind sehr wahrscheinlich. Heute noch finden sich auf der Insel Kwidscheri im Kiwusee Regenwürmer von mehr als 40 cm Länge und reichlich Daumendicke (Benhamia spec.). Siehe: Adolf Friedrich Herzog zu Mecklenburg: „Ins innerste Afrika“, S. 184-185.
Kapitel 14. Marsmonde M. 93-94 usw.
Kapitel 15. Sternschnuppen und Meteore K. B. 149-180. W. 139-140. Z. 93-106. M. 125-130. K. I. 246-249. L. 706-709. Kometenähnliche Bahnen der Meteorschwärme Sn. 256. Auflösung des Bielakometen Sn. 266 (siehe auch Kapitel 18). Meteoriten innen kalt bei geschmolzener Oberfläche Sn. 421. K. B. 149-151. Boliden und Feuerkugeln K. B. 154. Meteore scheinen aufgelöste Kometen K. B. 168. Meteoriten können vom Monde stammen, Sternschnuppen nur von Kometen K. B. 175-178. Stoffe der Meteore K. B. 178-180. Geschichtliche Meteorfälle K. I. 263-344. Peary raubt den Eskimos ihre Meteoreisensteine. General-Anzeiger Pforzheim, 22. Febr. 1910, Nr. 44. Unterhaltungsbeilage zur Deutschen Reichspost, 2. März 1910, Nr. 50. Diamanten in Meteorsteinen. General-Anzeiger Pforzheim, 22. Febr. 1910, Nr. 44. Meteoritenregen in Mugello. Deutsche Reichspost, 7. Febr. 1910, Nr. 30.
Kapitel 16. Asteroïden oder Planetoïden Z. 156-160. M. 82-87. K. I. 141-154. L. 388-412. K. B. 264-266. W. 111-113. Sn. 292-295. Lufthülle und nichtrotierende Brocken, eigene Theorie des Verfassers. Atalanta. K. B. 265. Die Entdeckung der Planetoïden Z. 156-159. M. 82-83. Sn. 292-293. K. I. 141-142. L. 390-405. Gauß L. 391-392. Sn. 292-293.
Kapitel 18. Kometenbahnen K. B. 109-110. Schweif: „Kometen und der Halleysche Komet“ von J. Franz, Breslau (Deutsche Revue, herausgegeben von Richard Fleischer. Stuttg., Leipzig. Deutsche Verlags-Anstalt. Januar 1910). Diesem Aufsatz sind auch über alle nachfolgenden Punkte Einzelheiten entnommen. Schweif, ferner: Gen.-Anz. Pforzh., 1. Beiblatt zu Nr. 27, 2. Febr. 1910 (auch Abstoßung). K. B. 122 (auch elektr. Abstoßung). M. 119. K. I. 239-242. L. 496-502. Masse: D. Revue und Pf. Gen.-Anz. wie oben. K. B. 114. 117. 124-125. M. 135-137. K. I. 245-246. L. 303-305. Kern: D. Revue und Pf. Gen.-Anz. wie oben, Unterhaltungsbeil. z. D. Reichspost, 9. Febr. 1910, Nr. 32 usw. Zusammenstoß mit einem Kometen: D. Revue und D. Reichspost wie oben. Laplace. L. 532-534 usw. Frühere Kometenerscheinungen: Unterh.-Beil. z. D. Reichspost, Nr. 303, 28. Dez. 1909. Halley-Komet: D. Revue wie oben. M. 123. K. I. 257-259. L. 510-523. Bielakomet: M. 124. K. I. 252-255. L. 525-532. Septemberkomet 1882: M. 123. K. B. 139-140. Balgerei mit dem Jupiter und Lexell-Komet: M. 123. Z. 88-89. K. B. 133-134. Geschwindigkeit der Kometen: Sn. 262 usw. Kometen ferner: Z. 87-92. M. 116-118. K. I. 189-239. L. 493-570. W. 134-139. Leipziger Illustr. Zeitg., Nr. 3456, 23. Sept. 1909 (Halley-Komet). Sn. 257-268. Teufelsschlucht in Arizona: Unterh.-Beil. z. D. Reichspost, 12. Febr. 1910, Nr. 35.
Kapitel 19. Jupiter: Sn. 338. K. B. 266-288. W. 128-129. Z. 160-161. M. 111. K. I. 155-160. L. 413-422. Jupitermonde: W. 130. M. 88-94. K. I. 160-166. Albedo: W. 85. 110-111.
Kapitel 20-22. Saturn: W. 131-133. K. B. 289-296. K. I. 167-179. L. 422-438. Z. 162-164. M. 114-115. Dichtigkeit = spezif. Gewicht: W. 8. Saturnmonde und ihre Entdeckung: Sn. 235. M. 92-93. K. I. 175-179.
Kapitel 26. Uranus: Sn. 289-290. K. B. 297-300. W. 134. Z. 164. M. 116. K. I. 180-182. L. 438-439. 4 Uranusmonde: W. 134. K. I. 182-184. M. 93. L. 439-440. Neptun: Sn. 291-294. 299-300. 28-29. K. B. 301-302. W. 134. Z. 164. M. 116. K. I. 185-187. L. 441-443. 752-772. Neptunmond: W. 134. M. 93. K. I. 187-188.
Kapitel 27. Die wörtlich angeführten Stellen siehe: Sn. 146-147. 115. 349. 350. 447. 381. 383. K. B. 182. 27-28. F. 77. 115. Verschiedene Geschwindigkeiten: Zeitungsnotiz. Sn. 325. Z. 46.
Kapitel 28. Aberration: Z. 44-55. Sn. 277. Z. 48-50. L. 121-136. Zahl der Fixsterne: Me. 59-61 usw. Parallaxe: Sn. 317-319. Z. 36-44. Me. 8-10. K. II. 146-158. L. 100-110. Entfernungen der Fixsterne und nächster Fixstern: Sn. 29. 319-320. 338. 353. M. 136. Sirius, Arktur, Canopus, Rigel, Deneb: Sn. 321-323. Rigel: Pforzh. Beobachter, Beiblatt zu Nr. 56, 7. März 1895. Spektralanalyse: Sn. 245. 330-331. W. 9-11. 29-36. Z. 22-30. K. II. 322-371. L. 292-299. Me. 77-79. Einteilung der Fixsterne: Sn. 332. K. B. 9-16. W. 140-142. Me. 65. K. II. 18-36. 339-354. Eigenbewegung der Fixsterne: Sn. 333-334. M. 145-148. K. II. 111-145. L. 586-590. Me. 74-80. Dunkle Sterne: Sn. 177. 343-344. 352. 364. 369. Me. 73. M. 141. Lichtabsorption: Me. 63. K. II. 319-321. L. 583-584. K. B. 16. Veränderliche Sterne: Me. 66-68 (Miratypus). 68-69 (Lyratypus). 70-72 (Algoltypus). M. 139-140. K. II. 74-99. 345 (Miratypus). 352 (Algol). L. 573-574. 624-635. (Mira 627-628. Algol 628-629.) Unendlichkeit jenseits unsrer Erkenntnis: Me. 103-106.
Kapitel 32. Doppelsterne: Sn. 351. 352-354. 355-356. Me. 73-82. M. 141-143. K. II. 47-51. 159-227. L. 590-623. Vielfache Systeme: Sn. 357. Me. 73-82. M. 143.
Kapitel 33. Bewohnbarkeit der Planeten: Sn. 176-177. K. B. 112-113. 207-209 (Korrespondenz mit den Mondbewohnern). 397. L. 443-449.
Kapitel 35. Edison: „Wie unwissend sind wir! Wir wissen nicht, was Schwere ist; auch kennen wir nicht die Natur der Wärme, des Lichts und der Elektrizität .....“ (Pforzh. Gen.-Anz., 14. Jan. 1910, Nr. 11.)
Kapitel 38. Die Gesetze der Entstehung der menschl. Sprache hat der Verfasser entdeckt.
Kapitel 43. David Gill: „Rede über die Bewegung und Verteilung der Sterne im Raum.“ Jahrbuch der Naturkunde. 1909. (Leipzig, Karl Prochaska.) Mappierung der Sterne: Me. 61. Sternnebel: W. 149-152. Z. 61-67. Me. 92-97. M. 144-145. K. II. 232-294. 354-361. L. 635-664. Zahl der Sterne: Me. 59-61 usw. Milchstraße: Me. 98-103. K. II. 295-302. L. 581-582 usw.
Kapitel 46. Neue Sterne: Sn. 362. K. B. 16-19. W. 146-149. Me. 84-91. M. 140. K. II. 100-110.
Kapitel 47. Venus: Württemberger Zeitung, 9. Sept. 1909, Nr. 211, S. 17, „Der Glanz der Venus“. Sn. 225. 337. K. B. 245-248. W. 111. 118-119. Z. 152. 154. M. 106-107. K. I. 62-74. L. 150. 360-384. Die Sonne: Entfernung: Sn. 28. 29. 338. M. 46. Me. 10. Flecken: K. B. 60-80. W. 15-20. 51-52. Me. 25-34. 48-49. K. I. 10-17. 19-27. L. 306-326. Fackeln: K. B. 80-82. W. 20-22. Me. 25-34. K. I. 17-18. L. 306. 326. Eruptionen: K. B. 95-96. Protuberanzen: K. B. 82-83. 90-91. W. 23-26. Me. 25-34. K. I. 36-39. L. 338-343. Photosphäre: Me. 24. K. I. 19-22. L. 306. 327-328. Chromosphäre: K. B. 85-90. W. 23-26. Me. 24. 38. Korona: W. 26-27. Me. 25. 34-36. K. I. 31-36. L. 337-343. Helligkeit: W. 37. Wärme: Me. 15. Granulation: Me. 23. Stoffe der Sonne: Me. 37-38. Größe, Dichte, Gewicht usw.: Me. 22.
Kapitel 48. Meteore innen kalt, wenn auch außen geschmolzen: Sn. 421. K. B. 149-151. Merkur: K. B. 240. M. 106-107. W. 117-118. Z. 152-153. K. I. 56-61. L. 149. 351-360.
Kapitel 50. Die hier neu auftretenden Personen sind den Lesern der Erzählungen „Im Lande der Zwerge“, „Nach den Mondbergen“ und „Ophir“ schon bekannt.
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Zu dem Grundproblem meiner Erzählung finde ich nachträglich noch eine Rechtfertigung in „Hans Dominik: Die Technik des zwanzigsten Jahrhunderts“, wo wir auf Seite 74 lesen: „Kennen wir aber erst das Wesen der Schwerkraft, so werden wir sie auch bald zu beherrschen wissen. Und dann können wir den Blick von unserm Planeten fortwenden, können als Beherrscher der Schwerkraft und im Besitze neuer, unermeßlicher Energiequellen an die Eroberung unsers Sonnensystems, an die Besiedlung andrer Planeten denken. Was vor kurzem noch eine Ausgeburt der Phantasie erschien, kann über Nacht Realität gewinnen.“ Dem füge ich bei, daß die Beherrschung und Überwindung der Schwerkraft gelingen kann, auch ohne daß wir zuvor ihr Wesen erkennen, beherrschen wir doch die elektrische Kraft usw., ohne über ihr Wesen sichere Kenntnis zu besitzen.
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Im Lande der Zwerge
Abenteuer und Kämpfe unter den Zwergvölkern des innersten Afrikas. — Erzählung für Deutschlands Söhne und Töchter von Wilhelm Mader. Mit zahlreichen Illustrationen.
Preis Mark 4.50.
Auf Grund wissenschaftlicher Forschungsergebnisse führt uns der Verfasser die Pracht der afrikanischen Tropenwelt mit Wesen und Sitten der schwarzen und weißen Bewohner vor Augen, namentlich der hochinteressanten Zwergvölker Innerafrikas. Das alles erfahren wir in lebendigem Erleben, teilnehmend an den Jagdabenteuern und merkwürdigen Schicksalen einer Gesellschaft von Forschungsreisenden, deren männliche und weibliche Mitglieder der Leser liebgewinnen muß. Die erstaunlichen Rätsel, die uns auf Schritt und Tritt begegnen und die Spannung aufs höchste steigern, finden ihre zum Teil nicht minder erstaunlichen, stets aber einleuchtenden und wissenschaftlich wohl begründeten Lösungen. — Obgleich das Buch eine abgeschlossene Erzählung bildet, wird gewiß jeder Leser begierig sein, die ferneren Schicksale der sympathischen Helden zu erfahren, wie sie in den anschließenden Büchern „Nach den Mondbergen“ und „Ophir“ in beständiger Steigerung geschildert werden, wo namentlich die edelmütige, heldenhafte kleine Zwergprinzessin Tipekitanga eine glänzende Rolle spielt.
Verlag für Volkskunst, Richard Keutel, Stuttgart
Nach den Mondbergen
Eine abenteuerliche Reise nach den rätselhaften Quellen des Nils. — Erzählung für Deutschlands Söhne und Töchter von Wilhelm Mader. Mit zahlreichen Illustrationen.
Preis Mark 4.50.
Nicht etwa um eine Fahrt nach dem Mond handelt es sich, sondern um eine Reise nach den rätselhaften Nilquellen, die den geheimnisvollen „Mondbergen“ der Alten entspringen. Den Albert-Edward-See entlang, durch Ruanda, über die Virunga-Vulkane, den Kiwu und Tanganjika zieht sich die Reise bis zum Lokinga-Gebirge und macht den Leser mit Land und Leuten nach den neuesten Forschungen gründlich vertraut, aber stets in lebendig unterhaltender und anschaulicher Weise. Reich an fesselnden und spannenden Ereignissen, erreicht die Erzählung ihren Höhepunkt in den Schlußkapiteln, die dem Leser die Geheimnisse der Nilquellen enthüllen, ihre überwältigenden Wunder vor Augen führen und die Rätselfragen, die seine Erwartung spannten, in großartiger Weise zur Lösung bringen. Erheiternd wirkt zwischenhinein namentlich die mit köstlichem Humor gezeichnete Gestalt Kaschwallas, des schwarzen Falstaff.
Die Erzählung ist in sich abgeschlossen, bildet aber die Fortsetzung zu „Im Lande der Zwerge“ und wird selber fortgesetzt und abgeschlossen durch „Ophir“, das dem Leser die ferneren Abenteuer der ihm liebgewordenen Afrikaforscher schildert.
Verlag für Volkskunst, Richard Keutel, Stuttgart
„Ophir“
Abenteuer und Kämpfe auf einer Reise in das Sambesigebiet und durch das fabelhafte Goldland Ophir. Erzählung für Deutschlands Söhne und Töchter von Wilhelm Mader. Mit zahlreichen Illustrationen.
Preis Mark 4.50.
Diese dritte und letzte der Erzählungen des Verfassers, die uns in gediegenster Weise mit den Wundern Zentralafrikas vertraut machen, ist, wie die andern, als selbständige, abgeschlossene Erzählung gegeben; doch bildet sie zugleich die Fortsetzung und den Abschluß der vorhergehenden („Im Lande der Zwerge“ und „Nach den Mondbergen“). — Umfangreicher als die beiden andern, läßt auch sie den Leser vom ersten bis zum letzten Kapitel nicht los: all die Rätsel des alten biblischen Ophir, südlich vom Sambesi, die Irrfahrten, Abenteuer und wundersamen Erlebnisse der heldenmütigen Forscher fesseln und steigern die Erwartung von einer Episode zur andern. Das Buch enthält ganz großartige Schilderungen, wie beispielsweise: die Überlistung der Sklavenjäger, die Fahrt durch die Stromschnellen des Sambesi und namentlich die mit staunenswerter Phantasie geschilderten „springenden Wasser“ mit den Geheimnissen, die sie beschützen: das sind Wirkungen von ganz einzigartiger Gewalt! Der schwarze Kaschwalla und der dicke Kapitän Hugo von Münchhausen sorgen dafür, daß der Leser über dem Staunen und Ergriffensein das Lachen nicht verlernt, während die Taten der Zwergprinzessin zur Bewunderung hinreißen. Wer die Stunden, die er dem Lesen von „Ophir“ widmete, nicht zu den genußreichsten seines Lebens zählt, dem ist nicht mehr zu helfen! Dem Genuß aber hält der Gewinn, den der Leser daraus schöpft, die Wage.
Verlag für Volkskunst, Richard Keutel, Stuttgart
Preßstimmen über die Jugenderzählungen von W. Mader
Ein vorzügliches Buch für die reifere Jugend, das in glücklichster Weise Phantasie und Wirklichkeit verbindet, belehrend, aufklärend, fesselnd von Anfang bis zu Ende. Der Bilderschmuck ist ausgezeichnet. Wir stellen es neben den Robinson und über den Lederstrumpf.
(Christlicher Bücherschatz.)
Der Verfasser führt in Gebiete, die noch in keiner Jugendschrift beschrieben worden und die auch dem Gebildeten nahezu unbekannt sind. Namentlich aber um seines sittlichen Gehalts willen ist das Buch christlichen Eltern für ihre Söhne warm zu empfehlen.
(Quellwasser fürs deutsche Haus.)
Mader vereinigt ein ganz erstaunlich ausgebreitetes und sicheres Wissen mit einer geradezu bewundernswerten Einbildungskraft .... Wie Mader beides zu befriedigen sucht, den Wissensdurst und den Hunger der Einbildungskraft der Jugend, das verdient sicher ernste Beachtung. Und wenn unsereiner im Alter auch noch gerne solche Bücher für Knaben liest, so braucht er sich darum nicht zu schämen.
(Evangelisches Kirchenblatt für Württemberg.)
— — So ergibt sich wieder ein durch und durch spannendes Buch, ein Buch, das der Naturwissenschaft gleichsam vorauseilt und sich doch von ihr nicht so berückt zeigt, um dadurch religiöse und sittliche Werte in den Schatten stellen zu lassen. Die Freunde des El Dorado werden das neue Buch Maders ihren Kindern gewiß wieder gerne auf den Weihnachtstisch legen; ja es wird wahrscheinlich noch eine größere Verbreitung finden.
(Kirchlicher Anzeiger für Württemberg.)
— — Das Ganze ist in packender, spannender Weise geschildert. Die Spannung wächst von Kapitel zu Kapitel und man legt das Buch nicht eher aus der Hand, bis das letzte Kapitel zu Ende ist. W. Mader besitzt die Gabe zu schildern, seine Feder zeichnet ein wunderbares Bild nach dem andern, ferne fremde Welten mit all dem geheimnisvollen Zauber, der sie umgibt, tun sich dem Lesenden auf und nehmen sein ganzes Interesse gefangen .... Für die Knabenwelt kann neben El Dorado kaum ein passenderer Lesestoff für den Weihnachtstisch empfohlen werden.
(Generalanzeiger Reutlingen.)
— — Auch wissenschaftlich ist das Buch von hohem Wert. Der Verfasser stellt darin ganz neue, einfach großartige technische Probleme auf, die er mit überzeugender Einfachheit löst. Durch eine Art Münchhausenscher Abenteuer, die mit köstlichem Humor dargestellt sind, werden die vielen Begebenheiten der Erzählung angenehm gewürzt ....
(Deutschlands Jugend, Berlin.)
— — Die mannigfaltigen und unerklärlichen Abenteuer und Erlebnisse, die das Leben der kleinen Gesellschaft täglich ausfüllen und die sie bekannt machen mit dem Leben im australischen Busch, sind ungemein spannend geschildert und dabei so lebendig, daß der Leser die Begebenheiten mitzuerleben vermeint.
(Ulmer Tagblatt.)
Anmerkungen zur Transkription
Der Originaltext ist in Fraktur gesetzt. Im Original g e s p e r r t hervorgehobener Text wurde in einem anderen Schriftstil markiert. Textstellen, die im Original in Antiqua gesetzt sind, wurden in einer anderen Schriftart markiert.
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