The Project Gutenberg eBook of Geschlecht und Charakter: Eine prinzipielle Untersuchung This ebook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this ebook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you will have to check the laws of the country where you are located before using this eBook. Title: Geschlecht und Charakter: Eine prinzipielle Untersuchung Author: Otto Weininger Release date: February 14, 2016 [eBook #51221] Most recently updated: October 23, 2024 Language: German Credits: E-text prepared by Peter Becker, Jana Srna, Norbert H. Langkau, and the Online Distributed Proofreading Team (http://www.pgdp.net) from page images generously made available by Austrian Literature Online (http://www.literature.at) *** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK GESCHLECHT UND CHARAKTER: EINE PRINZIPIELLE UNTERSUCHUNG *** Note: Images of the original pages are available through Austrian Literature Online. See http://www.literature.at/viewer.alo?objid=12020&page=1&viewmode=fullscreen +------------------------------------------------------------------+ | Anmerkungen zur Transkription | | | | Gesperrter Text ist als _gesperrt_ dargestellt, kursiver Text | | als ~kursiv~ und Fettschrift als $fett$. | | | | Eine Liste der Änderungen befindet sich am Ende des Buchs. | +------------------------------------------------------------------+ GESCHLECHT UND CHARAKTER Eine prinzipielle Untersuchung von DR. OTTO WEININGER Wien und Leipzig Wilhelm Braumüller K. u. K. Hof- U. Universitäts-Buchhändler 1903 GESCHLECHT UND CHARAKTER. GESCHLECHT UND CHARAKTER Eine prinzipielle Untersuchung von DR. OTTO WEININGER [Illustration] Wien und Leipzig. Wilhelm Braumüller K. U. K. Hof- und Universitäts-Buchhändler. 1903. VORBEHALTEN. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Übersetzung Druck von Friedrich Jasper in Wien. VORWORT. Dieses Buch unternimmt es, das Verhältnis der Geschlechter in ein neues Licht zu rücken. Es sollen nicht möglichst viele einzelne Charakterzüge aneinandergereiht, nicht die Ergebnisse der bisherigen wissenschaftlichen Messungen und Experimente zusammengestellt, sondern die Ableitung alles Gegensatzes von Mann und Weib aus _einem_ einzigen Prinzipe versucht werden. Hiedurch unterscheidet es sich von allen anderen Büchern dieser Art. Es verweilt nicht bei diesem oder jenem Idyll, sondern dringt bis zu einem letzten Ziele vor; es häuft nicht Beobachtung auf Beobachtung, sondern bringt die geistigen Differenzen der Geschlechter in ein System; es gilt nicht den Frauen, sondern der Frau. Zwar nimmt es stets das Alltäglichste und Oberflächlichste zu seinem Ausgangspunkt, aber nur, um alle konkrete Einzelerfahrung zu _deuten_. Das ist hier nicht »induktive Metaphysik«, sondern schrittweise psychologische Vertiefung. Die Untersuchung ist keine spezielle, sondern eine prinzipielle; sie verachtet das Laboratorium nicht, wenn ihr auch seine Hülfsmittel dem tieferen Probleme gegenüber beschränkt erscheinen vor dem Werke der selbstbeobachtenden Analyse. Auch der Künstler, der ein weibliches Wesen darstellt, kann Typisches geben, ohne sich vor einer experimentellen Merkergilde durch Zahl und Serie legitimiert zu haben. Der Künstler verschmäht nicht die Erfahrung, er betrachtet es im Gegenteile als seine _Pflicht_, Erfahrung zu gewinnen; aber sie ist ihm nur der Ausgangspunkt eines Versenkens in sich selbst, das in der Kunst wie ein Versenken in die Welt erscheint. Die Psychologie nun, welche hier der Darstellung dient, ist eine durchaus philosophische, wenn auch ihre eigentümliche Methode, die allein durch das eigentümliche Thema sich rechtfertigt, es bleibt, vom trivialsten Erfahrungsbestande auszugehen. Der Philosoph aber hat nur eine der Form nach vom Künstler verschiedene Aufgabe. Was diesem Symbol ist, wird jenem Begriff. Wie Ausdruck und Inhalt, so verhalten sich Kunst und Philosophie. Der Künstler hat die Welt eingeatmet, um sie auszuatmen; für den Philosophen ist sie ausgeatmet, und er muß sie wieder einatmen. Indes hat alle Theorie notwendig immer etwas Prätentiöses; und so kann derselbe Inhalt, der im Kunstwerk wie Natur erscheint, hier, im philosophischen Systeme, als eng zusammengezogene Behauptung über ein Allgemeines, als These, die dem Satz vom Grunde untersteht und den Beweis antritt, viel schroffer, ja beleidigend wirken. Wo die Darstellung antifeministisch ist -- und das ist sie fast immer -- dort werden auch die Männer ihr nie gerne und mit voller Überzeugung zustimmen: ihr sexueller Egoismus läßt sie das Weib immer lieber so sehen, wie sie es haben wollen, wie sie es lieben wollen. Und wie sollte ich nicht erst auf die Antwort gefaßt sein, welche die Frauen für mein Urteil über ihr Geschlecht haben werden? Daß die Untersuchung an ihrem Ende gegen den _Mann_ sich kehrt, und, freilich in einem tieferen Sinne, als die Frauenrechtlerin ahnt, _ihm_ die größte Schuld zumißt, das wird ihrem Verfasser wenig fruchten, und ist von einer Beschaffenheit, die ihn zu allerletzt beim _weiblichen_ Geschlechte könnte rehabilitieren helfen. Zum Schuldproblem aber gelangt die Analyse, weil sie von den vordersten und nächstliegenden Phänomenen bis zu Punkten aufsteigt, von denen nicht nur ein Einblick in das Wesen des Weibes und seine Bedeutung im Weltganzen, sondern auch der Aspekt auf sein Verhältnis zur Menschheit und zu deren letzten und höchsten Aufgaben sich öffnet, von wo zum Kulturproblem eine Stellung gewonnen und die Leistung der Weiblichkeit für das Ganze der ideellen Zwecke eingeschätzt werden kann. Dort also, wo Kultur- und Menschheitsproblem zusammenfallen, wird nicht mehr bloß zu erklären, sondern auch zu werten versucht; ja dort fallen Erklärung und Wertung von selbst zusammen. Zu solcher Höhe des Ausblickes gelangt die Untersuchung gleichsam gezwungen, ohne von Anfang an auf sie loszusteuern. Auf dem empirisch-psychologischen Boden selber ergibt sich ihr allmählich die Unzulänglichkeit aller empirisch-psychologischen Philosophie. Ihr Respekt vor der Erfahrung wird hievon nicht beeinträchtigt, denn stets wird vor dieser die Ehrfurcht nur erhöht und nicht zerstört, wenn der Mensch in der Erscheinung -- freilich dem Einzigen, das er erlebt -- jene Bestandteile bemerkt, die es ihm zur Gewißheit machen, daß es nicht _bloß_ Erscheinung gibt, wenn er jene Zeichen in ihr wahrnimmt, die auf ein Höheres, _über_ ihr Gelegenes weisen. Daß ein solcher Urquell ist, läßt sich feststellen, auch wenn kein Lebender je zu ihm vordringen wird. Und bis in die Nähe dieses Quells will auch dieses Buch leiten, und nicht eher rasten. Innerhalb des Engpasses, in welchem die gegensätzlichen Meinungen über die Frau und ihre Frage bis nun immer aufeinander gestoßen sind, hätte es freilich nie gewagt werden dürfen, solch hohes Ziel anzustreben. Aber das Problem ist eines, das mit allen tiefsten Rätseln des Daseins im Zusammenhange steht. Nur unter der sicheren Führung einer _Weltanschauung_ kann es, praktisch und theoretisch, moralisch oder metaphysisch aufgelöst werden. Es sind nur Keime einer solchen Gesamtauffassung, die in diesem Buche sichtbar werden, einer Auffassung, die den Weltanschauungen _Platos_, _Kantens_ und _des Christentums_ am nächsten steht. Aber die wissenschaftliche, psychologisch-philosophische, logisch-ethische Grundlegung mußte ich mir zu einem großen Teile selbst schaffen. Vieles zwar, dessen nähere Ausführung nicht möglich war, gedenke ich demnächst eingehend zu begründen. Wenn ich dennoch gerade auf diese Partien des Buches hier ausdrücklich verweise, so ist es, weil mir an der Beachtung dessen, was über die tiefsten und allgemeinsten Probleme in ihm ausgesprochen ist, noch mehr liegt, als an dem Beifall, welchen die besondere Anwendung auf die Frauenfrage allenfalls erwarten könnte. Sollte es den philosophischen Leser peinlich berühren, daß die Behandlung der höchsten und letzten Fragen hier gleichsam _in den Dienst_ eines Spezialproblemes von nicht übergroßer Dignität gestellt scheint: so teile ich mit ihm das Unangenehme dieser Empfindung. Doch darf ich sagen, daß durchaus das Einzelproblem des Geschlechtsgegensatzes hier mehr den Ausgangspunkt als das Ziel des tieferen Eindringens bildet. So erfloß reicher Gewinn aus seiner Behandlung auch für das Problem der Genialität, des Unsterblichkeitsbedürfnisses und des Judentumes. Daß die umfassenden Auseinandersetzungen schließlich dem Spezialproblem zugute kommen, weil es in um so mannigfachere Beziehungen tritt, je mehr das Gebiet sich vergrößert, das ist natürlich. Und wenn sich in diesem weiteren Zusammenhange herausstellt, wie gering die Hoffnungen sind, welche Kultur an die Art des Weibes knüpfen kann, wenn die letzten Resultate eine vollständige Entwertung, ja eine Negation der Weiblichkeit bedeuten: es wird durch sie nichts vernichtet, was _ist_, nichts heruntergesetzt, was _an sich_ einen Wert _hat_. Müßte mich doch selbst ein gewisses Grauen vor der eigenen Tat anwandeln, wäre ich hier wirklich nur Zerstörer, und bliebe nichts auf dem Plan! Die Bejahungen des Buches sind vielleicht weniger kräftig instrumentiert worden: wer hören kann, wird sie wohl aus allem zu vernehmen wissen. Die Arbeit zerfällt in zwei Teile: einen ersten, biologisch-psychologischen, und einen zweiten, psychologisch-philosophischen. Vielleicht wird mancher dafürhalten, daß ich aus dem Ganzen besser zwei Bücher hätte machen sollen, ein rein naturwissenschaftliches und ein rein introspektives. Allein ich mußte von der Biologie mich befreien, um ganz Psychologe sein zu können. Der zweite Teil behandelt gewisse seelische Probleme recht anders, als sie jeder Naturforscher heute wohl behandeln würde, und ich bin mir bewußt, daß ich hiedurch auch die Aufnahme des ersten Teiles bei einem großen Teile des Publikums gefährde; gleichwohl erhebt dieser erste Teil in seiner Gänze den Anspruch auf eine Beachtung und Beurteilung seitens der Naturwissenschaft, was der zweite, mehr der inneren Erfahrung zugekehrte, nur an wenigen Stellen vermag. Weil dieser zweite Teil aus einer nichtpositivistischen Weltanschauung hervorgegangen ist, werden von manchen beide für unwissenschaftlich gehalten werden (obwohl der Positivismus dortselbst eine strenge Widerlegung erfährt). Hiemit muß ich mich einstweilen abfinden, in der Überzeugung, der Biologie gegeben zu haben, was ihr gebührt, und einer nichtbiologischen, nichtphysiologischen Psychologie das Recht gewahrt zu haben, welches ihr für alle Zeiten bleiben wird. Vielleicht wird man der Untersuchung an gewissen Punkten vorwerfen, daß sie nicht genug der _Beweise_ bringe; allein eben dies däucht mich ihre geringste Schwäche. Denn was könnte in diesem Gegenstande »Beweisen« wohl heißen? Es ist nicht Mathematik und nicht Erkenntnistheorie (die letztere nur an zwei Stellen), was hier abgehandelt wird; es sind erfahrungswissenschaftliche Dinge, und da kann höchstens der Finger gelegt werden auf das, was _ist_; was man sonst hier _beweisen_ nennt, ist ein bloßes Zusammenstimmen der neuen Erfahrungen mit den alten; und da bleibt es sich gleich, ob das neue Phänomen vom Menschen experimentell erzeugt wird oder schon aus der Schöpferhand der Natur fertig vorliegt. Der letzteren Beweise aber bringt diese Schrift eine große Zahl. Das Buch ist endlich, soweit ich das zu beurteilen vermag, (in seinem Hauptteile) nicht ein solches, das man nach einmaliger flüchtiger Lektüre verstehen und in sich aufnehmen könnte; zur Orientierung des Lesers und zum eigenen Schutze will ich selber diesen Umstand hier anmerken. Je weniger ich in beiden Teilen (vornehmlich im zweiten) Altes, längst Bekanntes wiederholt habe, desto mehr mußte ich dort, wo ich mit früher Ausgesprochenem und allgemeiner Anerkanntem in Übereinstimmung mich fand, auf alle Koinzidenzen hinweisen. Diesem Zwecke dienen die Literaturnachweise des Anhanges. Ich habe mich bemüht, die Citate in genauer und für Fachmänner wie für Laien brauchbarer Gestalt wiederzugeben. Dieser größeren Ausführlichkeit wegen, und um die Lektüre des Textes nicht ein fortwährendes Stolpern werden zu lassen, sind sie an den Schluß des Buches verwiesen. Dem Herrn Universitätsprofessor Dr. Laurenz _Müllner_ statte ich geziemenden Dank ab für die wirksame Förderung, welche er mir hat zuteil werden lassen; Herrn Professor Dr. Friedrich _Jodl_ für das freundliche Interesse, welches er meinen Arbeiten von Anbeginn entgegenbrachte. Ganz besonders fühle ich mich auch den Freunden verpflichtet, welche mich bei der Korrektur des Buches unterstützten. INHALTSVERZEICHNIS. Seite Vorwort V-XI Inhaltsverzeichnis XIII-XXII Erster (vorbereitender) Teil: $Die sexuelle Mannigfaltigkeit$ 1-93 Einleitung 3-6 Über Begriffsentwicklung im allgemeinen und im besonderen. Mann und Weib. Widersprüche. Fließende Übergänge. Anatomie und Begabung. Keine Sicherheit im Morphologischen? I. Kapitel: »Männer und Weiber« 7-13 Embryonale Undifferenziertheit. Rudimente beim Erwachsenen. Grade des »Gonochorismus«. Prinzip der Zwischenformen. M und W. Belege. Notwendigkeit der Typisierung. Resumé. Älteste Ahnungen. II. Kapitel: Arrhenoplasma und Thelyplasma 14-30 Sitz des Geschlechtes. _Steenstrups_ Ansicht befürwortet. Sexualcharaktere. Innere Sekretion. Idioplasma -- Arrhenoplasma -- Thelyplasma. Schwankungen. Beweise aus erfolgloser Kastration. Transplantation und Transfusion. Organotherapie. Individuelle Unterschiede zwischen den einzelnen Zellen. Ursache der sexuellen Zwischenformen. Gehirn. Knabenüberschuß der Geburten. Geschlechtsbestimmung. Vergleichende Pathologie. III. Kapitel: Gesetze der sexuellen Anziehung 31-52 Sexueller »Geschmack«. Wahrscheinlichkeit eines Gesetzmäßigen. Erste Formel. Erste Deutung. Beweise. Heterostylie. Interpretation derselben. Tierreich. Weitere Gesetze. Zweite Formel. Chemotaxis? Analogien und Differenzen. »Wahlverwandtschaften.« Ehebruch und Ehe. Folgen für die Nachkommenschaft. IV. Kapitel: Homosexualität und Päderastie 53-62 Homosexuelle als sexuelle Zwischenformen. Angeboren oder erworben, gesund oder krankhaft? Spezialfall des Gesetzes. Alle Menschen mit der Anlage zur Homosexualität. Freundschaft und Sexualität. Tiere. Vorschlag einer Therapie. Homosexualität, Strafgesetz und Ethik. Distinktion zwischen Homosexualität und Päderastie. V. Kapitel: Anwendung auf die Charakterologie 63-78 Das Prinzip der sexuellen Zwischenformen als ein kardinaler Grundsatz der Individualpsychologie. Simultaneität oder Periodizität? Methode der psychologischen Untersuchung. Beispiele. Individualisierende Erziehung. Gleichmacherei. Morphologisch-charakterologischer Parallelismus. Die Physiognomik und das Prinzip der Psychophysik. Methodik der Varietätenlehre. Eine neue Fragestellung. Deduktive Morphologie. Korrelation und Funktionsbegriff. Aussichten. VI. Kapitel: Die emanzipierten Frauen 79-93 Frauenfrage. Emanzipationsbedürfnis und Männlichkeit. Emanzipation und Homosexualität. Sexueller Geschmack der emanzipierten Frauen. Physiognomisches über sie. Die übrigbleibenden Berühmtheiten. W und die Emanzipation. Praktische Regel. Männlichkeit alles Genies. Die Frauenbewegung in der Geschichte. Periodizität. Biologie und Geschichtsauffassung. Aussichten der Frauenbewegung. Ihr Grundirrtum. Zweiter oder Hauptteil: $Die sexuellen Typen$ 95-461 I. Kapitel: Mann und Weib 97-105 Bisexualität und Unisexualität. Man ist Mann _oder_ Weib. Das Problematische in diesem Sein und die Hauptschwierigkeit der Charakterologie. Das Experiment, die Empfindungsanalyse und die Psychologie. _Dilthey._ Begriff des empirischen Charakters. Ziel und Nicht-Ziel der Psychologie. Charakter und Individualität. Problem der Charakterologie und Problem der Geschlechter. II. Kapitel: Männliche und weibliche Sexualität 106-116 Problem einer weiblichen Psychologie. Der Mann als Psychologe des Weibes. Unterschiede im »Geschlechtstrieb«. Im »Kontrektations-« und »Detumeszenztrieb«. Intensität und Aktivität. Sexuelle Irritabilität der Frau. Größere Breite des Sexuallebens bei W. Geschlechtliche Unterschiede im Empfinden der Geschlechtlichkeit. Örtliche und zeitliche Abhebung der männlichen Sexualität. Unterschiede im Bewußtseinsgrade der Sexualität. III. Kapitel: Männliches und weibliches Bewußtsein 117-130 Empfindung und Gefühl. Ihr Verhältnis. _Avenarius'_ Einteilung in »Elemente« und »Charaktere«. Auf einem frühesten Stadium noch nicht durchführbar. Verkehrtes Verhältnis zwischen Distinktheit und Charakterisierung. Prozeß der Klärung. Ahnungen. Grade des Verstehens. Vergessen. Bahnung und Artikulation. Die Henide als das einfachste psychische Datum. Geschlechtlicher Unterschied in der Artikulation der Inhalte. Sensibilität. Urteilssicherheit. Das entwickelte Bewußtsein als männlicher Geschlechtscharakter. IV. Kapitel: Begabung und Genialität 131-144 Genie und Talent. Genial und geistreich. Methode. Verständnis für mehr Menschen. Was es heißt: einen Menschen verstehen? Größere Kompliziertheit des Genies. Perioden im psychischen Leben. Keine Herabwürdigung der bedeutenden Menschen. Verstehen und Bemerken. Innerer Zusammenhang von Licht und Wachsein. Endgültige Feststellung der Bedingungen des Verstehens. Allgemeinere Bewußtheit des Genies. Größte Entfernung vom Henidenstadium; danach höherer Grad von Männlichkeit. Nur Universalgenies. W ungenial und ohne Heldenverehrung. Begabung und Geschlecht. V. Kapitel: Begabung und Gedächtnis 145-181 Artikulation und Reproduzierbarkeit. Gedächtnis an Erlebnisse als Kennzeichen der Begabung. Erinnerung und Apperzeption. Anwendungen und Folgerungen. Fähigkeit des Vergleichens und Beziehens. Gründe für die Männlichkeit der Musik. Zeichnung und Farbe, Grade der Genialität; das Verhältnis des Genius zum ungenialen Menschen. Selbstbiographie. Fixe Ideen. Erinnerung an das Selbstgeschaffene. _Kontinuierliches und diskontinuierliches Gedächtnis._ Einheit des biographischen Selbstbewußtseins nur bei M. Charakter der weiblichen Erinnerungen. Kontinuität und Pietät. Vergangenheit und Schicksal. _Vergangenheit und Zukunft._ _Unsterblichkeitsbedürfnis._ Bisherige psychologische Erklärungsversuche. Wahre Wurzel. Innere Entwicklung des Menschen bis zum Tode. Ontogenetische Psychologie oder theoretische Biographie. _Die Frau ohne jedes Unsterblichkeitsbedürfnis._ -- Fortschritt zu tieferer Analyse des Zusammenhanges mit dem Gedächtnis. _Gedächtnis und Zeit._ Postulierung des Zeitlosen. _Der Wert als das Zeitlose._ Erstes Gesetz der Werttheorie. Nachweise. Individuation und Dauer als konstitutiv für den Wert. _Wille zum Wert._ Das Unsterblichkeitsbedürfnis als _Spezialfall_. Unsterblichkeitsbedürfnis des Genies, zusammenfallend mit seiner Zeitlosigkeit durch sein universales Gedächtnis und die ewige Dauer seiner Werke. Das Genie und die Geschichte. Das Genie und die Nation. Das Genie und die Sprache. Die »Männer der Tat« und die »Männer der Wissenschaft« ohne Anrecht auf den Titel des Genius; anders Philosoph (Religionsstifter) und Künstler. VI. Kapitel: Gedächtnis, Logik, Ethik 182-196 Psychologie und Psychologismus. Würde des Gedächtnisses. Theorien des Gedächtnisses. Übungs- und Associationslehren. Verwechslung mit dem Wiedererkennen. Gedächtnis nur dem Menschen eigen. Moralische Bedeutung. Lüge und Zurechnung. Übergang zur Logik. Gedächtnis und Identitätsprinzip. Gedächtnis und Satz vom Grunde. Die Frau alogisch und amoralisch. Intellektuelles und sittliches Gewissen: intelligibles Ich. VII. Kapitel: Logik, Ethik und das Ich 197-211 Die Kritiker des Ich-Begriffes: _Hume_, _Lichtenberg_, _Mach_. Das _Mach_sche Ich und die Biologie. Individuation und Individualität, Logik und Ethik als Zeugen für die Existenz des Ich. -- Erstens die Logik: die Sätze der Identität und des Widerspruches. Die Frage ihres Nutzens und ihrer Bedeutung. Die logischen Axiome als identisch mit der begrifflichen Funktion. Definition des logischen Begriffes als Norm der Essenz. Die logischen Axiome als eben diese Norm der _Essenz_, welche _Existenz_ einer Funktion ist. Diese Existenz als das absolute Sein oder das Sein des absoluten Ich. _Kant_ und _Fichte_. Logizität als Norm. Denkfreiheit neben Willensfreiheit. -- Zweitens die Ethik. Zurechnung. Das Verhältnis der Ethik zur Logik. Die Verschiedenheit der Subjektsbeweise aus der Logik und der Ethik. Eine Unterlassung _Kant_ens. Ihre sachlichen und ihre persönlichen Gründe. Zur Psychologie der Kantischen Ethik. _Kant_ und _Nietzsche_. VIII. Kapitel: Ich-Problem und Genialität 212-238 Die Charakterologie und der Glaube an das Ich. Das Ich-Ereignis: _Jean Paul_, _Novalis_, _Schelling_. Ich-Ereignis und Weltanschauung. Selbstbewußtsein und Anmaßung. Die Ansicht des Genies höher zu werten als die der anderen Menschen. Endgültige Feststellungen über den Begriff des Genies. Die geniale Persönlichkeit als der vollbewußte Mikrokosmus. Natürlich-synthetische und sinnerfüllende Tätigkeit des Genies. Bedeutung und Symbolik. Definition des Genies im Verhältnis zum gewöhnlichen Menschen. Universalität als Freiheit. Sittlichkeit oder Unsittlichkeit des Genies? Pflichten gegen sich und gegen andere. Was Pflicht gegen andere ist. Kritik der Sympathiemoral und der sozialen Ethik. Verständnis des Nebenmenschen als einzige Forderung der Sittlichkeit wie der Erkenntnis. Ich und Du. Individualismus und Universalismus. Sittlichkeit nur unter Monaden. Der genialste Mensch als der sittlichste Mensch. Warum der Mensch ζῷον πολιτικόν ist. Bewußtsein und Moralität. Der »große Verbrecher.« Genialität als Pflicht und Gehorsam. Genie und Verbrechen. Genie und Irrsinn. Der Mensch als Schöpfer seiner selbst. IX. Kapitel: Männliche und weibliche Psychologie 239-279 Seelenlosigkeit des Weibes. Geschichte dieser Erkenntnis. Das Weib gänzlich ungenial. Keine männlichen Frauen im strengen Sinne. Unbegriffliche Natur des Weibes, aus dem Mangel des Ich zu erklären. Korrektur der Henidentheorie. Weibliches Denken. _Begriff und Objekt._ _Begriff und Urteil._ _Wesen des Urteils._ Das Weib und die Wahrheit als Richtschnur des Denkens. _Der Satz vom Grunde und sein Verhältnis zum Satz der Identität._ _Amoralität, nicht Antimoralität des Weibes._ _Das Weib und das Einsamkeitsproblem._ Verschmolzenheit, nicht Gesellschaft. Weibliches Mitleid und weibliche Schamhaftigkeit. Das Ich der Frauen. Weibliche Eitelkeit. Mangel an Eigenwert. Gedächtnis für Huldigungen. Selbstbeobachtung und Reue. Gerechtigkeit und Neid. Name und Eigentum. Beeinflußbarkeit. -- Radikale Differenz zwischen männlichem und weiblichem Geistesleben. Psychologie ohne und mit Seele. Psychologie eine Wissenschaft? Freiheit und Gesetzlichkeit. Die Grundbegriffe der Psychologie transcendenter Natur. _Psyche und Psychologie._ Die Hilflosigkeit der seelenlosen Psychologie. Wo »Spaltungen der Persönlichkeit« allein möglich sind. Psychophysischer Parallelismus und Wechselwirkung. Problem der Wirkung psychischer Sexualcharaktere des Mannes auf das Weib. X. Kapitel: Mutterschaft und Prostitution 280-313 Spezielle weibliche Charakterologie. Mutter und Dirne. Anlage zur Prostitution angeboren, aber nicht allein entscheidend. Einfluß des Mannes. Versehen. Verhältnis beider Typen zum Kinde. Die Frau polygam. Ehe und Treue. Sitte und Recht. Analogien zwischen Mutterschaft und Sexualität. Mutter und Gattungszweck. Die »alma« mater. Die Mutterliebe ethisch indifferent. Die Dirne außerhalb des Gattungszweckes. Die Prostituierte und die sozial anerkannte Moral. Die Prostituierte, der Verbrecher und Eroberer. Nochmals der »Willensmensch« und sein Verhältnis zum Genie. Hetäre und Imperator. Motiv der Dirne. Koitus Selbstzweck. Koketterie. Die Empfindungen des Weibes beim Koitus im Verhältnis zu seinem sonstigen Leben. Mutterrecht und Vaterschaft. Versehen und Infektionslehre. Die Dirne als Feindin. Bejahung und Verneinung. Lebensfreundlichkeit und Lebensfeindlichkeit. Keine Prostitution bei den Tieren. Rätsel im Ursprung. XI. Kapitel: Erotik und Ästhetik 314-341 Weiber und Weiberhaß. Erotik und Sexualität. Platonische Liebe und Sinnlichkeit. Problem einer _Idee_ der Liebe. -- Die Schönheit des Weibes. Ihr Verhältnis zum Sexualtrieb. Liebe und Schönheit. Der Unterschied der Ästhetik von der Logik und Ethik als Normwissenschaften. Wesen der Liebe. Projektionsphänomen. Schönheit und Sittlichkeit. Schönheit und Vollkommenheit. Natur und Ethik. _Naturschönheit und Kunstschönheit._ Naturgesetz und Kunstgesetz. Naturzweckmäßigkeit und Kunstzweckmäßigkeit. Die Einzelschönheit. Die Geschlechtsliebe als Schuld. Haß und Liebe als Erleichterungen des moralischen Strebens. Die Schöpfung des Teufels. Liebe und Mitleid. Liebe und Schamhaftigkeit. Liebe und Eifersucht. Liebe und Erlösungsbedürfnis. Das Weib in der Erotik Mittel zum Zweck. Problem des Zusammenhanges von Kind und Liebe, Kind und Sexualität. Grausamkeit nicht nur in der Lust, sondern noch in der Liebe. Liebe und Mord. Liebe als Feigheit, Unrecht, Irrtum. Der Madonnenkult. Die Madonna eine gedankliche Konzeption des Mannes; ohne Grund in der realen Weiblichkeit. Widerstreben gegen die Einsicht in das wahre Weib. Die Liebe des Mannes zum Weibe als Spezialfall. Das Weib nur sexuell, nicht erotisch. Der Schönheitssinn der Frauen. Schön und hübsch. Liebe und Verliebtheit. Wodurch der Mann auf die Frau wirkt. Das Fatum des Weibes. Einordnung der neuen Erkenntnis unter die früheren. Die Liebe als bezeichnend für das Wesen der Menschheit. Warum der Mann das Weib liebt. Möglichkeiten. XII. Kapitel: Das Wesen des Weibes und sein Sinn im Universum 342-402 Gleichheit oder Gleichstellung. P. J. _Moebius_. Sinnlosigkeit oder Bedeutung der Weiblichkeit. _Kuppelei._ Instinktiver Drang. Der Mann und die Kuppelei. Welche Phänomene noch weiter Kuppelei sind. Hochwertung des Koitus. Der eigene Geschlechtstrieb ein Spezialfall. Mutter -- Dirne. Das Wesen des Weibes nur in der Kuppelei ausgesprochen. Kuppelei = Weiblichkeit = universale Sexualität. System von Einwänden und Widersprüchen. Notwendigkeit der Auflösung. Beeinflußbarkeit und Passivität. Unbewußte Verleugnung der eigenen Natur als Folge. _Organische Verlogenheit_ des Weibes. _Die Hysterie._ Psychologisches Schema für den »Mechanismus« der Hysterie. Definition der letzteren. Zustand der Hysterischen. _Eigentümliches Wechselspiel: die fremde Natur als die eigene, die eigene als die fremde._ Der »Fremdkörper«. Zwang und Lüge. Heteronomie der Hysterischen. Wille und Kraft zur Wahrheit. Der hysterische Paroxysmus. Was abgewehrt wird. Die hysterische Konstitution. _Magd und Megäre._ Die Megäre als Gegenteil der Hysterika. Die Wahrheitsliebe der Hysterika als _ihre_ Lüge. Die hysterische Keuschheit und Abneigung gegen den Geschlechtsakt. Das hysterische Schuldbewußtsein und die hysterische Selbstbeobachtung. Die Visionärin und Seherin im Weibe. Die Hysterie und die Unfreiheit des Weibes. Sein Schicksal und dessen Hoffnungslosigkeit. Notwendigkeit der Zurückführung auf ein letztes Prinzip. Unterschiede zwischen Mensch und Tier, zwischen Mann und Frau. Übersichtstafel. Das zweite oder höhere _Leben_, das metaphysische _Sein_ im Menschen. Analogien zum niederen Leben. Nur im Manne ewiges Leben. Das Verhältnis beider Leben und die Erbsünde. Geburt und Tod. Freiheit und Glück. Das Glück und der Mann. Das Glück und die Frau. Die Frau und das Problem des Lebens. _Nichtsein des Weibes._ Hieraus zunächst die _Möglichkeit_ von Lüge und Kuppelei, Amoralität und Alogizität erschlossen. Nochmals die Kuppelei. Gemeinschaft und Sexualität. Männliche und weibliche Freundschaft. Kuppelei wider Eifersucht. Kuppelei identisch mit Weiblichkeit. Warum die Frauen Menschen sind. Wesen des Geschlechtsgegensatzes. Gegensätze: _Subjekt -- Objekt = Form -- Materie = Mann -- Weib._ Kontrektation und Tastsinn. Deutung der Heniden. Non-Entität der Frau; als Folge universelle Suszeptibilität. Formung und Bildung der Frau durch den Mann. Trachten nach Existenz. Geschlechtsdualität und Weltdualismus. Die Bedeutung des Weibes im Universum. Der Mann als das Etwas, die Frau als das Nichts. Das psychologische Problem der Furcht vor dem Weibe. Die Weiblichkeit und der Verbrecher. Das Nichts und das Nicht. Die Schöpfung des Weibes durch den Verbrecher im Manne. Das Weib als die bejahte Sexualität des Mannes. Das Weib als die Schuld des Mannes. Die Liebe. Deduktion der Weiblichkeit. XIII. Kapitel: Das Judentum 403-441 Unterschiede unter den Männern. Zurückweisung der hierauf gegründeten Einwände. Die Zwischenformen und die Rassenanthropologie. Amphibolie der Weiblichkeit mit dem Judentum. Das Jüdische als Idee. Der Antisemitismus. Richard _Wagner_. Keine Identität mit der Weiblichkeit; Übereinstimmungen mit dieser: Eigentum, Staat, Gesellschaft, Adel, _Mangel an Persönlichkeit und Eigenwert_, _Amoralität ohne Antimoralität_, _Gattungsleben_, Familie, _Kuppelei_. Einzige Art einer Lösung der Judenfrage. Gottesbegriff des Juden. Seelenlosigkeit, kein Unsterblichkeitsbedürfnis. _Judentum in der Wissenschaft._ Der Jude als Chemiker. Der Jude genielos. _Spinoza._ Der Jude nicht monadenartig veranlagt. Der Engländer und der Jude. Die Engländer in Philosophie, Musik, Architektur. Unterschiede. Humorlosigkeit des Juden. _Wesen des Humors._ Humor und Satire. Die Jüdin. Nicht-Sein, völlige Veränderungsfähigkeit, Mittelbarkeit beim Juden wie beim Weibe. Größte Übereinstimmung und größte Differenz. Aktivität und Begrifflichkeit des Juden. Tiefstes Wesen des Judentums. Glaubenslosigkeit und innere Haltlosigkeit. Der Jude nicht amystisch, sondern unfromm. Mangel an Ernst, Begeisterungsfähigkeit und Eifer. Innerliche Vieldeutigkeit. Keinerlei Einfalt des Glaubens. Innere Würdelosigkeit. Der Jude als der Gegenpol des Helden. -- Christentum und Judentum. Ursprung des Christentums. Problem des Religionsstifters. Der Religionsstifter als Vollzieher einer eigenen Reinigung vom Verbrechen und von der Gottlosigkeit. In ihm allein eine völlige Neugeburt verwirklicht. Er als der Mensch mit dem tiefsten Schuldgefühl. Christus als Überwinder des Judentums _in_ sich. Christentum und Judentum als letzte Gegensätze. Der Religionsstifter als der größte Mensch. Überwindung alles Judentumes, eine Notwendigkeit für jeden Religionsstifter. -- Das Judentum und die heutige Zeit. Judentum, Weiblichkeit; Kultur und Menschheit. XIV. Kapitel: Das Weib und die Menschheit 442-461 Die Idee der Menschheit und die Frau als Kupplerin. Der Goethe-Kult. Verweiblichung der Männer. Virginität und Keuschheit. Männlicher Ursprung dieser Ideale. Das Unverständnis der Frau für die Erotik. Ihr Verständnis der Sexualität. Der Koitus und die Liebe. Die Frau als Gegnerin der Emanzipation. Askese unsittlich. Der Geschlechtsverkehr als Mißachtung des Nebenmenschen. Problem des Juden = Problem des Weibes = Problem der Sklaverei. Was sittliches Verhalten gegen die Frau ist. Der Mann als Gegner der Frauenemanzipation. Ethische Postulate. Zwei Möglichkeiten. Die Frauenfrage als die Menschheitsfrage. Untergang des Weibes. -- Enthaltsamkeit und Aussterben des Menschengeschlechtes. Furcht vor der Einsamkeit. Die eigentlichen Gründe der Unsittlichkeit des Geschlechtsverkehres. Die irdische Vaterschaft. Forderung der Aufnahme der Frauen unter die Menschheitsidee. Die Mutter und die Erziehung des Menschengeschlechtes. Letzte Fragen. Anhang: $Zusätze und Nachweise$ 463-597 ERSTER (VORBEREITENDER) TEIL. DIE SEXUELLE MANNIGFALTIGKEIT. Einleitung. Alles Denken beginnt mit _Begriffen von mittlerer Allgemeinheit_ und entwickelt sich von ihnen aus nach zwei Richtungen hin: nach Begriffen von immer höherer Allgemeinheit, welche ein immer mehr Dingen Gemeinsames erfassen und hiedurch ein immer weiteres Gebiet der Wirklichkeit umspannen; und nach dem Kreuzungspunkte aller Begriffslinien hin, dem konkreten Einzelkomplex, dem Individuum, welchem wir denkend immer nur durch unendlich viele einschränkende Bestimmungen beizukommen vermögen, das wir definieren durch Hinzufügung unendlich vieler spezifischer differenzierter Momente zu einem höchsten Allgemeinbegriff »Ding« oder »etwas«. Daß es eine Tierklasse der Fische gibt, die von den Säugetieren, den Vögeln, den Würmern unterschieden ist, war lange bekannt, bevor man einerseits unter den Fischen selbst wieder Knorpel- und Knochenfische schied, anderseits sie mit den Vögeln und Säugetieren durch den Begriff des Wirbeltieres zusammenzufassen sich veranlaßt sah, und die Würmer dem hiedurch geeinten größeren Komplexe gegenüberstellte. Mit dem Kampf ums Dasein der Wesen untereinander hat man diese Selbstbehauptung des Geistes gegenüber einer durch zahllose Ähnlichkeiten und Unterschiede verwirrenden Wirklichkeit verglichen.[1] Wir _erwehren_ uns der Welt durch unsere Begriffe.[2] Nur langsam bringen wir sie in deren Fassung, allmählich, wie man einen Tobsüchtigen zuerst über den ganzen Körper fesselt, notdürftig, um ihn wenigstens nur auf beschränkterem Orte gefährlich sein zu lassen; erst dann, wenn wir in der Hauptsache gesichert sind, kommen die einzelnen Gliedmaßen an die Reihe und wir ergänzen die Fesselung. _Es gibt zwei Begriffe, sie gehören zu den ältesten der Menschheit, mit denen diese ihr geistiges Leben seit Anbeginn zur Not gefristet hat._ Freilich hat man oft und oft kleine Korrekturen angebracht, sie wieder und wieder in die Reparaturwerkstätte geschickt, notdürftig geflickt, wo die Reform an Haupt und Gliedern not tat; weggenommen und angestückelt, Einschränkungen in besonderen Fällen gemacht und dann wieder Erweiterungen getroffen, wie wenn jüngere Bedürfnisse sich nur nach und nach gegen ein altes, enges Wahlgesetz durchsetzen, indem dieses einen Riemen nach dem anderen aufschnallen muß: aber im ganzen und großen glauben wir doch noch mit ihnen in der alten Weise auszukommen, mit diesen Begriffen, die ich hier meine, den Begriffen _Mann und Weib_. Zwar sprechen wir von mageren, schmalen, flachen, muskelkräftigen, energischen, genialen »Weibern«, von »Weibern« mit kurzem Haar und tiefer Stimme, von bartlosen, geschwätzigen »Männern«. Wir erkennen sogar an, daß es »unweibliche Weiber«, »Mannweiber« gibt und »unmännliche«, »weibliche« »Männer«. Bloß auf eine Eigenschaft achtend, nach welcher bei der Geburt die Geschlechtszugehörigkeit jedes Menschen bestimmt wird, wagen wir es also sogar, Begriffen Bestimmungen beizufügen, durch welche sie verneint werden. Ein solcher Zustand ist logisch unhaltbar. Wer hat nicht im Freundeskreis oder im Salon, in wissenschaftlicher oder in öffentlicher Versammlung die heftigsten Diskussionen über »Männer und Frauen«, über die »Befreiung des Weibes« angehört und mitgemacht? Gespräche und Debatten, in denen mit trostloser Regelmäßigkeit »die Männer« und »die Weiber« einander gegenübergestellt wurden, als wie weiße und rote Kugeln, von denen die gleichfarbigen keine Unterschiede mehr untereinander aufweisen! Nie wurde eine individuelle Behandlung der Streitpunkte versucht; und da jeder nur individuelle Erfahrungen hatte, war naturgemäß eine Einigung ausgeschlossen, wie überall dort, wo verschiedene Dinge mit dem gleichen Worte bezeichnet werden, Sprache und Begriffe sich nicht decken. Sollten wirklich alle »Weiber« und alle »Männer« streng voneinander geschieden sein und doch auf jeder Seite alle untereinander, Weiber einerseits, Männer anderseits sich in einer Reihe von Punkten vollständig gleichen? Wie ja bei allen Verhandlungen über Geschlechtsunterschiede, meist natürlich unbewußt, vorausgesetzt wird. Nirgends in der Natur ist sonst eine so klaffende Unstetigkeit; wir finden stetige Übergänge von Metallen zu Nichtmetallen, von chemischen Verbindungen zu Mischungen; zwischen Tieren und Pflanzen, zwischen Phanerogamen und Kryptogamen, zwischen Säugetieren und Vögeln gibt es Vermittlungen. Zunächst nur aus allgemeinstem praktischen Bedürfnis nach Übersicht teilen wir ab, halten gewaltsam Grenzen fest, hören Arien heraus aus der unendlichen Melodie alles Natürlichen. Aber »Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage« gilt von den alten Begriffen des Denkens wie von den ererbten Gesetzen des Verkehrs. Wir werden es nach den angeführten Analogien auch hier von vornherein für unwahrscheinlich halten dürfen, daß in der Natur ein _Schnitt_ geführt sei zwischen allen Masculinis einerseits und allen Femininis anderseits, und ein lebendes Wesen in dieser Hinsicht einfach so beschreibbar, daß es diesseits oder jenseits einer solchen Kluft sich aufhalte. Nicht einmal die Grammatik ist so streng. Man hat in dem Streite um die Frauenfrage vielfach _den Anatomen_ als Schiedsrichter angerufen, um durch ihn die kontroverse Abgrenzung der _unabänderlichen_, weil _angebornen_, gegen die _erworbenen_ Eigenschaften der männlichen und weiblichen Sinnesart vornehmen zu lassen. (Sonderbar genug war es, von seinen Befunden die Entscheidung abhängig zu machen in der Frage der natürlichen Begabung von Mann und Weib: als ob, wenn _wirklich_ alle andere Erfahrung hier keinerlei Unterschied hätte feststellen können, zwölf Deka Hirn plus auf der einen Seite ein solches Resultat zu widerlegen vermöchten.) Aber die besonnenen Anatomen geben, um ausnahmslose Kriterien gefragt, in jedem Falle, handle es sich nun um das Gehirn oder sonst um irgend ein Organ des Körpers, zur Antwort: _durchgehende_ sexuelle Unterschiede zwischen _allen_ Männern einerseits und _allen_ Frauen anderseits sind nicht nachweisbar. Wohl sei auch das Handskelett der Mehrzahl der Männer ein anderes als das der Mehrzahl der Frauen, doch sei mit Sicherheit weder aus den skelettierten noch aus den mit Muskeln, Bändern, Sehnen, Haut, Blut und Nerven aufbewahrten (isolierten) Bestandteilen das Geschlecht mit Sicherheit bestimmbar. Ganz das Gleiche gelte vom Thorax, vom Kreuzbein, vom Schädel. Und wie steht es mit dem Skeletteil, bei dem, wenn überhaupt irgendwo, strenge geschlechtliche Unterschiede hervortreten müßten, was ist's mit dem Becken? Das Becken ist doch der allgemeinen Überzeugung nach im einen Fall dem Geburtsakt angepaßt, im anderen nicht. Aber nicht einmal beim Becken ist mit Sicherheit ein Maßstab anzulegen. Es gibt, wie jeder von der Straße her weiß -- und die Anatomen wissen da auch nicht mehr -- genug »Weiber« mit männlichem schmalen und genug »Männer« mit weiblichem breiten Becken. Also ist es nichts mit den Geschlechtsunterschieden? Da wäre es ja fast geraten, Männer und Weiber überhaupt nicht mehr zu unterscheiden?! Wie helfen wir uns aus der Frage? Das Alte ist ungenügend, und wir können es doch gewiß nicht entbehren. Reichen die überkommenen Begriffe nicht aus, so werden wir sie nur aufgeben, um zu versuchen, uns neu und besser zu orientieren. I. Kapitel. „Männer” und „Weiber”. Mit der allgemeinsten Klassifikation der meisten Lebewesen, ihrer Kennzeichnung schlechtweg als Männchen oder Weibchen, Mann oder Weib, kommen wir den Tatsachen gegenüber nicht länger aus. Die Mangelhaftigkeit dieser Begriffe wird von vielen mehr oder weniger klar gefühlt. Hier ins Reine zu kommen, ist zunächst das Ziel dieser Arbeit. Ich schließe mich anderen Autoren, welche in jüngster Zeit über zu diesem Thema gehörige Erscheinungen geschrieben haben, an, wenn ich zum Ausgangspunkt der Betrachtung die von der Entwicklungsgeschichte (Embryologie) festgestellte Tatsache _der geschlechtlichen Undifferenziertheit der ersten embryonalen Anlage_ des Menschen, der Pflanzen und der Tiere wähle. Einem menschlichen Embryo beispielsweise kann man, wenn er jünger als fünf Wochen ist, das Geschlecht nicht ankennen, zu dem er sich später entwickeln wird. Erst in der fünften Fötalwoche beginnen hier jene Prozesse, welche gegen Ende des dritten Monates der Schwangerschaft zur Entwicklung einer ursprünglich beiden Geschlechtern gemeinsamen Genitalanlage nach einer Seite hin und weiter zur Gestaltung des ganzen Individuums als eines sexuell _genau definierten_ führen.[3] Die Einzelheiten dieser Vorgänge sollen hier nicht näher beschrieben werden. Zu jener _bisexuellen Anlage_ eines jeden, auch des höchsten Organismus, läßt sich sehr gut das _ausnahmslose Beharren_, der Mangel eines völligen Verschwindens der Charaktere des anderen Geschlechtes _beim noch so eingeschlechtlich entwickelten_ pflanzlichen, tierischen und menschlichen Individuum in Beziehung bringen. Die geschlechtliche Differenzierung ist nämlich nie eine vollständige. _Alle Eigentümlichkeiten des männlichen Geschlechtes sind irgendwie, wenn auch noch so schwach entwickelt, auch beim weiblichen Geschlechte nachzuweisen; und ebenso die Geschlechtscharaktere des Weibes auch beim Manne sämtlich irgendwie vorhanden, wenn auch noch so zurückgeblieben in ihrer Ausbildung._ Man sagt, sie seien »rudimentär« vorhanden. So, um gleich den Menschen, der uns weiterhin fast ausschließlich interessieren wird, als Beispiel anzuführen, hat auch die weiblichste Frau einen feinen Flaum von unpigmentierten Wollhaaren, »Lanugo« genannt, an den Stellen des männlichen Bartes, auch der männlichste Mann in der Entwicklung stehen gebliebene Drüsenkomplexe unter einer Brustwarze. Im einzelnen nachgegangen ist man diesen Dingen vor allem in der Gegend der Geschlechtsorgane und ihrer Ausführwege, im eigentlichen »Tractus urogenitalis«, und hat bei jedem Geschlechte alle Anlagen des anderen im rudimentären Zustande in lückenlosem Parallelismus nachweisen können. Diese Feststellungen der Embryologen können, mit anderen zusammengehalten, in einen systematischen Zusammenhang gebracht werden. Bezeichnet man nach _Häckel_ die Trennung der Geschlechter als »_Gonochorismus_«, so wird man zunächst bei verschiedenen Klassen und Arten verschiedene _Grade_ dieses Gonochorismus zu unterscheiden haben. Nicht nur die verschiedenen Arten der Pflanzen, sondern auch die Tierspezies werden sich durch die _größere oder geringere Latenz_ der Charaktere des zweiten Geschlechtes voneinander abheben. Der extremste Fall der Geschlechtsdifferenzierung, also stärkster Gonochorismus, liegt für dieses erweiterte Blickfeld im _Geschlechtsdimorphismus_ vor, jener Eigentümlichkeit z. B. mancher Asselarten, daß Männchen und Weibchen innerhalb der nämlichen Spezies sich äußerlich voneinander nicht weniger, ja oft mehr unterscheiden, als selbst Mitglieder zweier differenter Familien und Gattungen. Bei Wirbeltieren kommt danach nie so ausgeprägter Gonochorismus vor, als ihn z. B. Krustaceen oder Insekten aufweisen können. Es gibt unter ihnen nirgends eine so vollständige Scheidung von Männchen und Weibchen, wie sie im sexuellen Dimorphismus vollzogen ist, vielmehr überall unzählige Mischformen der Geschlechter, selbst sogenannten »abnormen Hermaphroditismus«, ja bei den Fischen sogar Familien mit ausschließlichem Zwittertum, mit »normalem Hermaphroditismus«. Es ist nun von vornherein anzunehmen, daß es nicht nur extreme Männchen mit geringsten Resten der Weiblichkeit und auf der anderen Seite extreme Weibchen mit ganz reduzierter Männlichkeit und in der Mitte zwischen beiden gedrängt jene Zwitterformen, zwischen jenen drei Punkten aber nur leere Strecken geben werde. Uns beschäftigt speziell der Mensch. Doch ist fast alles, was hier über ihn zu sagen ist, mit größeren oder geringeren Modifikationen auch auf die meisten anderen Lebewesen mit geschlechtlicher Fortpflanzung anwendbar. Vom Menschen aber gilt ohne jeden Zweifel folgendes: _Es gibt_ unzählige Abstufungen _zwischen Mann und Weib_, »_sexuelle Zwischenformen_«. _Wie die Physik von idealen Gasen spricht_, d. h. solchen, die genau dem _Boyle-Gay-Lussac_schen Gesetze folgen (in Wirklichkeit gehorcht ihm kein einziges), und von diesem Gesetze ausgeht, um im konkreten Falle die Abweichungen von ihm zu konstatieren: _so können wir einen idealen Mann M und ein ideales Weib W, die es in der Wirklichkeit nicht gibt, aufstellen als sexuelle Typen_. Diese Typen _können_ nicht nur, sie _müssen_ konstruiert werden. _Nicht allein das »Objekt der Kunst«, auch das der Wissenschaft ist der Typus, die platonische Idee._ Die wissenschaftliche Physik erforscht das Verhalten des _vollkommen_ starren und des _vollkommen_ elastischen Körpers, wohl bewußt, daß die Wirklichkeit weder den einen noch den anderen ihr je zur Bestätigung darbieten wird; die empirisch gegebenen Vermittlungen zwischen beiden dienen ihr nur als Ausgangspunkt für diese Aufsuchung der typischen Verhaltungsweisen und werden bei der Rückkehr aus der Theorie zur Praxis als Mischfälle behandelt und erschöpfend dargestellt. _Und ebenso gibt es nur alle möglichen vermittelnden Stufen zwischen dem vollkommenen Manne und dem vollkommenen Weibe_, Annäherungen an beide, die selbst nie von der Anschauung erreicht werden. Man achte wohl: hier ist nicht bloß von bisexueller _Anlage_ die Rede, sondern von _dauernder_ Doppelgeschlechtlichkeit. Und auch nicht bloß von den sexuellen _Mittel_stufen, (körperlichen oder psychischen) Zwittern, auf die bis heute aus naheliegenden Gründen alle ähnlichen Betrachtungen beschränkt sind. In dieser Form ist also der Gedanke durchaus neu. Bis heute bezeichnet man als »sexuelle Zwischenstufen« nur die sexuellen _Mittel_stufen: als ob dort, mathematisch gesprochen, eine _Häufungsstelle_ wäre, _$mehr$ wäre als eine kleine Strecke auf der überall $gleich$ dicht besetzten Verbindungslinie zweier Extreme_! Also Mann und Weib sind wie zwei Substanzen, die in verschiedenem Mischungsverhältnis, ohne daß je der Koeffizient einer Substanz Null wird, auf die lebenden Individuen verteilt sind. _Es gibt in der Erfahrung nicht Mann noch Weib_ könnte man sagen, _sondern nur männlich und weiblich_. Ein Individuum A oder ein Individuum B darf man darum nicht mehr schlechthin als »Mann« oder »Weib« bezeichnen, sondern ein jedes ist nach den Bruchteilen zu beschreiben, die es von _beiden_ hat, etwa: { α M { β W A { α' W B { β' M wobei stets 0 < α < 1, 0 < β < 1, 0 < α' < 1, 0 < β' < 1. Die genaueren Belege für diese Auffassung -- einiges Allgemeinste wurde vorbereitend in der Einleitung angedeutet -- sind zahllos. Es sei erinnert an alle »Männer« mit weiblichem Becken und weiblichen Brüsten, fehlendem oder spärlichem Bartwuchs, mit ausgesprochener Taille, überlangem Kopfhaar, an alle »Weiber« mit schmalen Hüften[4] und flachen Brüsten, mageren Nates und Femurfettpolstern, tiefer rauher Stimme und einem Schnurrbart (zu dem die Anlage viel öfter ausgiebig vorhanden ist, als man sie gemeiniglich bemerkt, weil er natürlich nie belassen wird; vom Barte, der so vielen Frauen nach dem Klimakterium wächst, ist hier nicht die Rede) etc. etc. Alle diese Dinge, _die sich bezeichnenderweise fast immer am gleichen Menschen beisammen finden_, sind jedem Kliniker und praktischen Anatomen aus eigener Anschauung bekannt, nur noch nirgends zusammengefaßt. Den umfassendsten Beweis für die hier verfochtene Anschauung liefert aber die große Schwankungsbreite der Zahlen für geschlechtliche Unterschiede, die innerhalb der einzelnen Arbeiten wie zwischen den verschiedenen anthropologischen und anatomischen Unternehmungen zur Messung derselben ohne Ausnahme anzutreffen ist, die Tatsache, daß die Zahlen für das weibliche Geschlecht nie dort anfangen, wo jene für das männliche aufhören, sondern stets in der Mitte ein Gebiet liegt, in welchem Männer und Frauen vertreten sind. So sehr diese Unsicherheit der Theorie von den sexuellen Zwischenstufen zugute kommt, so aufrichtig muß man sie im Interesse wahrer Wissenschaft bedauern. Die Anatomen und Anthropologen von Fach haben eben eine wissenschaftliche Darstellung des sexuellen Typus noch gar nicht angestrebt, sondern wollten immer nur allgemein in gleichem Ausmaße gültige Merkmale haben, und hieran wurden sie durch die Überzahl der Ausnahmen immer verhindert. So erklärt sich die Unbestimmtheit und Weite aller hieher gehörigen Resultate der Messung. Gar sehr hat der Zug zur Statistik, der unser industrielles Zeitalter vor allen früheren auszeichnet, in dem es -- offenbar der schüchternen Verwandtschaft mit der Mathematik wegen -- seine Wissenschaftlichkeit besonders betont glaubt, auch hier den Fortschritt der Erkenntnis gehemmt. Den _Durchschnitt_ wollte man gewinnen, nicht den _Typus_. Man begriff gar nicht, daß es im Systeme reiner (nicht angewandter) Wissenschaft nur auf diesen ankommt. Darum lassen denjenigen, welchem es um die Typen zu tun ist, die bestehende Morphologie und Physiologie mit ihren Angaben gänzlich im Stich. Es wären da alle Messungen wie auch alle übrigen Detailforschungen erst auszuführen. Was existiert, ist für eine Wissenschaft auch in laxerem (nicht erst in Kantischem) Sinne völlig unverwendbar. Alles kommt auf die Kenntnis von M und W, auf die richtige Feststellung des idealen Mannes und des idealen Weibes an (ideal im Sinne von typisch, ohne jede Bewertung). Wird es gelungen sein, diese Typen zu erkennen und zu konstruieren, so wird die Anwendung auf den einzelnen Fall, seine Darstellung durch ein quantitatives Mischungsverhältnis, ebenso unschwer wie fruchtbar sein. Ich resumiere den Inhalt dieses Kapitels: es gibt keine kurzweg als ein- und bestimmt-geschlechtlich zu bezeichnenden Lebewesen. Vielmehr zeigt die Wirklichkeit ein Schwanken zwischen zwei Punkten, auf denen selbst kein empirisches Individuum mehr anzutreffen ist, _zwischen_ denen _irgendwo_ jedes Individuum sich aufhält. Aufgabe der Wissenschaft ist es, die Stellung jedes Einzelwesens zwischen jenen zwei Bauplänen festzustellen; diesen Bauplänen ist keineswegs eine metaphysische Existenz neben oder über der Erfahrungswelt zuzuschreiben, sondern ihre Konstruktion ist notwendig aus dem heuristischen Motive einer möglichst vollkommenen Abbildung der Wirklichkeit. -- -- Die Ahnung dieser Bisexualität alles Lebenden (durch die nie ganz vollständige sexuelle Differenzierung) ist uralt. Vielleicht ist sie chinesischen Mythen nicht fremd gewesen; jedenfalls war sie im Griechentum äußerst lebendig. Hiefür zeugen die Personifikation des Hermaphroditos als einer mythischen Gestalt; die Erzählung des Aristophanes im platonischen Gastmahl; ja noch in später Zeit galt der gnostischen Sekte der Ophiten der Urmensch als mannweiblich, ἀρσενόθηλυς. II. Kapitel. Arrhenoplasma und Thelyplasma. Die nächste Erwartung, welche eine Arbeit zu befriedigen hätte, in deren Plan eine universelle Revision aller einschlägigen Tatsachen gelegen wäre, würde sich auf eine neue und vollständige Darstellung der anatomischen und physiologischen Eigenschaften der sexuellen Typen richten. Da ich aber selbständige Untersuchungen zum Zwecke einer Lösung dieser umfassenden Aufgabe nicht angestellt habe, und eine Beantwortung jener Fragen für die _letzten_ Ziele dieses Buches mir nicht notwendig erscheint, so muß ich auf dieses Unternehmen von vornherein Verzicht leisten -- ganz abgesehen davon, ob es die Kräfte eines einzelnen nicht bei weitem übersteigt. Eine Kompilation der in der Literatur niedergelegten Ergebnisse wäre überflüssig, denn eine solche ist in vorzüglicher Weise von _Havelock Ellis_ besorgt worden. Aus den von ihm gesammelten Resultaten die sexuellen Typen auf dem Wege wahrscheinlicher Schlußfolgerungen zu gewinnen, bliebe hypothetisch und würde der Wissenschaft nicht eine einzige Neuarbeit zu ersparen vermögen. Die Erörterungen dieses Kapitels sind darum mehr formaler und allgemeiner Natur, sie gehen auf die biologischen Prinzipien, zum Teil wollen sie auch jener notwendigen Arbeit der Zukunft die Berücksichtigung bestimmter einzelner Punkte ans Herz legen und so derselben förderlich zu werden versuchen. Der biologische Laie kann diesen Abschnitt überschlagen, ohne das Verständnis der übrigen hiedurch sehr zu beeinträchtigen. Es wurde die Lehre von den verschiedenen Graden der Männlichkeit und Weiblichkeit vorderhand rein anatomisch entwickelt. Die Anatomie wird aber nicht nur nach den Formen fragen, in denen, sondern auch nach den Orten, an denen sich Männlichkeit und Weiblichkeit ausprägt. Daß die Sexualität nicht bloß auf die Begattungswerkzeuge und die Keimdrüsen beschränkt ist, geht schon aus den früher als Beispielen sexueller Unterschiedenheit erwähnten Körperteilen hervor. Aber wo ist hier die Grenze zu ziehen, mit anderen Worten, wo steckt das Geschlecht und wo steckt es nicht? Ist es bloß auf die »primären« und »sekundären« Sexualcharaktere beschränkt? Oder reicht sein Umfang nicht viel weiter? Es scheint nun eine große Anzahl in den letzten Jahrzehnten aufgefundener Tatsachen zur Wiederaufnahme einer Lehre zu zwingen, welche in den vierziger Jahren des XIX. Jahrhunderts aufgestellt wurde, aber wenig Anhänger fand, da ihre Konsequenzen dem Begründer der Theorie selbst ebenso wie ihren Bestreitern einer Reihe von Forschungsergebnissen zu widersprechen schienen, die zwar nicht jenem, aber diesen als unumstößlich galten. Ich meine unter dieser Anschauung, welche, mit einer Modifikation, die Erfahrung uns gebieterisch abermals aufnötigt, die Lehre des Kopenhagener Zoologen Joh. Japetus Sm. _Steenstrup_, der behauptet hatte, _das Geschlecht stecke überall im Körper_. Ellis hat zahlreiche Untersuchungen über fast alle Gewebe des Organismus excerpiert, die überall Unterschiede der Sexualität nachweisen konnten. Ich will erwähnen, daß der typisch männliche und der typisch weibliche »Teint« sehr voneinander verschieden sind; dies berechtigt zur Annahme sexueller Differenzen in den Zellen der Cutis und der Blutgefäße. Aber auch in der Menge des Blutfarbstoffes, in der Zahl der roten Blutkörperchen im Kubikcentimeter der Flüssigkeit sind solche gesichert. _Bischoff_ und _Rüdinger_ haben im Gehirne Abweichungen der Geschlechter voneinander festgestellt, und Justus und Alice _Gaule_ in der jüngsten Zeit solche auch in vegetativen Organen (Leber, Lunge, Milz) aufgefunden. Tatsächlich wirkt auch _alles_ am Weibe, wenn auch gewisse Zonen stärker und andere schwächer, »_erogen_« auf den Mann, und ebenso _alles_ am Manne sexuell anziehend und erregend auf das Weib. Wir können so zu der vom formal-logischen Standpunkt hypothetischen, aber durch die Summe der Tatsachen fast zur Gewißheit erhobenen Anschauung fortschreiten: _jede Zelle des Organismus ist_ (wie wir vorläufig sagen wollen) _geschlechtlich charakterisiert, oder hat eine bestimmte sexuelle Betonung_. Unserem Prinzipe der Allgemeinheit der sexuellen Zwischenformen gemäß werden wir gleich hinzufügen, _daß diese sexuelle Charakteristik verschieden hohe Grade haben kann_. Diese sofort zu machende Annahme einer verschieden starken Ausprägung der sexuellen Charakteristik ließe uns auch den Pseudo- und sogar den echten Hermaphroditismus (dessen Vorkommen für viele Tiere, wenn auch nicht mit Sicherheit für den Menschen, seit _Steenstrups_ Zeit über allen Zweifel erhoben worden ist) unserem Systeme leicht eingliedern. _Steenstrup_ sagte: »Wenn das Geschlecht eines Tieres wirklich seinen Sitz allein in den Geschlechtswerkzeugen hätte, so könnte man sich noch zwei Geschlechter in einem Tiere gesammelt, zwei solche Geschlechtswerkzeuge an die Seite voneinander gestellt denken. Aber das Geschlecht ist nicht etwas, welches seinen Sitz in einer gegebenen Stelle hat, oder welches sich nur durch ein angegebenes Werkzeug äußert; es wirkt durch das ganze Wesen, und hat sich in jedem Punkte davon entwickelt. In einem männlichen Geschöpfe ist jeder, auch der kleinste Teil männlich, mag er dem entsprechenden Teile von einem weiblichen Geschöpfe noch so ähnlich sein, und in diesem ist ebenso der allerkleinste Teil nur weiblich. Eine Vereinigung von beiden Geschlechtswerkzeugen in einem Geschöpfe würde deshalb dieses erst zweigeschlechtlich machen, wenn die Naturen beider Geschlechter durch den ganzen Körper herrschen und sich auf jeden einzelnen Punkt davon geltend machen könnten -- etwas, das sich infolge des Gegensatzes beider Geschlechter nur als eine gegenseitige Aufhebung voneinander, als ein Verschwinden alles Geschlechtes in einem solchen Geschöpfe äußern könnte.« Wenn jedoch, und hiezu scheinen alle empirischen Tatsachen zu zwingen, _das Prinzip der unzähligen sexuellen Übergangsstufen zwischen M und W auf alle Zellen des Organismus ausgedehnt wird_, so entfällt die Schwierigkeit, an der _Steenstrup_ Anstoß nahm, und das Zwittertum ist keine Naturwidrigkeit mehr. Von der völligen Männlichkeit an in allen Vermittlungen bis zu deren gänzlichem Fehlen, welches mit dem Vorhandensein der absoluten Weiblichkeit zusammenfiele, sind danach _unzählige verschiedene sexuelle Charakteristiken_ jeder einzelnen Zelle denkbar. Ob diese Graduierung in einer Skala von Differenzialien wirklich unter dem Bilde _zweier realer_, jeweils in anderem Verhältnis zusammentretender Substanzen zu denken ist, oder ein _einheitliches_ Protoplasma in unendlich vielen Modifikationen (etwa räumlich verschiedenen Anordnungen der Atome in großen Molekülen) anzunehmen ist, darüber tut man gut, sich jeder Vermutung zu enthalten. Die erste Annahme wird physiologisch nicht gut verwendbar sein -- man denke an eine männliche oder weibliche Körperbewegung und die dann notwendige Duplizität in den bestimmenden Verhältnissen ihrer realen, physiologisch doch immer einheitlichen Erscheinungsform; die zweite erinnert zu sehr an wenig geglückte Spekulationen über die Vererbung. Vielleicht sind beide gleich weit von der Wahrheit entfernt. Worin die Männlichkeit (Maskulität) oder Weiblichkeit (Muliebrität) einer Zelle eigentlich bestehen mag, welche histologischen, molekular-physikalischen oder gar chemischen Unterschiede jede Zelle von W trennen mögen von jeder Zelle von M, darüber ist eine Aussage auch auf dem Wege der Wahrscheinlichkeit heute empirisch nicht zu begründen. Ohne also irgend einer späteren Untersuchung vorzugreifen (die wohl die Unableitbarkeit des spezifisch Biologischen aus Physik und Chemie zur Genüge eingesehen haben wird), läßt sich die Annahme _verschieden_ starker sexueller Betonungen auch für alle _Einzelzellen_, nicht bloß für den _ganzen_ Organismus als ihre Summe, mit guten Gründen verteidigen. Weibliche Männer haben meist auch eine insgesamt weiblichere Haut, die Zellen der männlichen Organe haben bei ihnen schwächere Tendenzen zur Teilung, worauf das geringere Wachstum makroskopischer Sexualcharaktere unbedingt zurückweist, u. s. w. Nach dem verschiedenen Grade der makroskopischen Ausprägung der sexuellen Charakteristik ist auch die Einteilung der Sexualcharaktere zu treffen; ihre Anordnung fällt im großen zusammen mit der Stärke ihrer erogenen Wirkung auf das andere Geschlecht (wenigstens im Tierreiche). Um nicht von der allgemein angenommenen _John Hunter_schen Nomenklatur abzuweichen und jede Verwirrung zu vermeiden, nenne ich _primordiale Sexualcharaktere_ die männliche und die weibliche Keimdrüse (Testis, Epididymis, Ovarium, Epoophoron); _primäre_ die inneren Adnexe der Keimdrüsen (Samenstränge, Samenbläschen, Tuba, Uterus, die ihrer sexuellen Charakteristik nach erfahrungsgemäß von jener der Keimdrüsen zuweilen weit differieren) _und_ die »äußeren Geschlechtsteile«, nach welchen allein die Geschlechtsbestimmung des Menschen bei der Geburt vollzogen und damit in gewisser Weise über sein Lebensschicksal (wie sich zeigen wird, nicht selten unrichtig) entschieden wird. Alle Geschlechtscharaktere _nach_ den primären haben das Gemeinsame, daß sie für die Zwecke der Begattung nicht unmittelbar mehr erforderlich sind. Als _sekundäre Geschlechtscharaktere_ sind zunächst am besten scharf zu umgrenzen diejenigen, welche erst _zur Zeit der Geschlechtsreife_ äußerlich sichtbar auftreten und nach einer fast zur Gewißheit erhobenen Anschauung ohne eine »innere Sekretion« bestimmter Stoffe aus den Keimdrüsen in das Blut sich nicht entwickeln können (Wuchs des männlichen Bartes und des weiblichen Kopfhaares, Brüsteentwicklung, Stimmwechsel u. s. w.). _Praktische_ Gründe mehr als theoretische empfehlen die weitere Bezeichnung erst auf Grund von Äußerungen oder Handlungen zu erschließender angeborener Eigenschaften, wie Muskelkraft, Eigenwilligkeit beim Manne, als _tertiärer Sexualcharaktere_. Durch relativ zufällige Sitte, Gewöhnung, Beschäftigung hinzugekommen sind endlich die accessorischen oder _quartären_ Sexualcharaktere, wie Rauchen und Trinken des Mannes, Handarbeit des Weibes; auch diese ermangeln nicht, gelegentlich ihre erogene Wirkung auszuüben, und schon dies deutet darauf hin, daß sie viel öfter, als man vielleicht glaubt, auf die tertiären zurückzuführen sind und möglicherweise bisweilen tief noch mit den primordialen zusammenhängen. Mit dieser Klassifikation der Sexualcharaktere soll nichts für eine _wesentliche_ Reihenfolge präjudiziert und gar nichts darüber entschieden sein, ob die geistigen Eigenschaften im Vergleiche zu den körperlichen primär oder von ihnen bedingt und erst im Laufe einer langen Kausalkette aus ihnen abzuleiten sind; sondern nur die Stärke der anziehenden Wirkung auf das andere Geschlecht[5], die zeitliche Reihenfolge, in welcher sie diesem auffallen und die Rangordnung der Sicherheit, mit der sie von ihm erschlossen werden, dürfte hiemit für die meisten Fälle getroffen sein. Die »sekundären Geschlechtscharaktere« führten zur Erwähnung der inneren Sekretion von Keimstoffen in den Kreislauf. Die Wirkungen dieses Einflusses wie seines durch Kastration künstlich erzeugten Mangels hat man nämlich vor allem an der Entwicklung oder dem Ausbleiben der _sekundären_ Geschlechtscharaktere studiert. Die »innere Sekretion« übt aber zweifellos einen Einfluß auf _alle_ Zellen des Körpers. Dies beweisen die Veränderungen, welche zur Zeit der Pubertät im _ganzen_ Organismus und nicht bloß an den durch sekundäre Geschlechtscharaktere ausgezeichneten Partien erfolgen. Auch kann man von vornherein die innere Sekretion aller Drüsen nicht gut anders auffassen, als auf alle Gewebe _gleichmäßig_ sich erstreckend. _Die innere Sekretion der Keimdrüsen komplettiert also erst die Geschlechtlichkeit des Individuums._ Es ist demgemäß in jeder Zelle eine _originäre sexuelle Charakteristik anzunehmen_, zu der jedoch die innere Sekretion der Keimdrüsen _in einem gewissen Ausmaße als ergänzende Komplementärbedingung hinzukommen muß, um ein bestimmt qualifiziertes, fertiges Masculinum oder Femininum hervorzubringen_. Die Keimdrüse ist das Organ, in welchem die sexuelle Charakteristik des Individuums _am sichtbarsten_ hervortritt, und in dessen morphologischen Elementareinheiten sie am leichtesten nachweisbar ist. Ebenso muß man aber annehmen, daß die Gattungs-, Art-, Familieneigenschaften eines Organismus in den Keimdrüsen am vollzähligsten vertreten sind. Gleichwie anderseits _Steenstrup_ mit Recht gelehrt hat, daß das Geschlecht überall im Körper verbreitet und nicht bloß in spezifischen »Geschlechtsteilen« lokalisiert sei, so haben _Naegeli_, _de Vries_, _Oscar Hertwig_ u. a. die ungemein aufklärende Theorie entwickelt und mit wichtigen Argumenten sehr sicher begründet, daß _jede_ Zelle eines vielzelligen Organismus Träger der _gesamten $Art$_eigenschaften ist, und diese in den Keimzellen nur in einer besonderen ausgezeichneten Weise zusammengefaßt erscheinen -- was vielleicht einmal allen Forschern selbstverständlich vorkommen wird angesichts der Tatsache, daß jedes Lebewesen durch Furchung und Teilung aus _einer_ einzigen Zelle entsteht. Wie nun die genannten Forscher auf Grund vieler Phänomene, die seitdem durch zahlreiche Erfahrungen über Regeneration aus beliebigen Teilen und Feststellungen chemischer Differenzen in den homologen Geweben verschiedener Spezies vermehrt worden sind, die Existenz des _Idioplasma_ als der _Gesamtheit_ der spezifischen Arteigenschaften auch in allen jenen Zellen eines Metazoons anzunehmen berechtigt waren, die nicht mehr unmittelbar für die Fortpflanzung verwertet werden -- so können und müssen auch _hier_ die Begriffe eines _Arrhenoplasma_ und eines _Thelyplasma_ geschaffen werden, _als der zwei Modifikationen, in denen jedes Idioplasma bei geschlechtlich differenzierten Wesen auftreten kann_, und zwar nach den hier grundsätzlich vertretenen Ansichten wieder nur als _Idealfälle_, als Grenzen, _zwischen_ denen die empirische Realität liegt. Es geht demnach das wirklich existierende Protoplasma, vom idealen Arrhenoplasma sich immer mehr entfernend, durch einen (realen oder gedachten) Indifferenzpunkt (= Hermaphroditismus verus) in ein Protoplasma über, das bereits dem Thelyplasma näher liegt, um sich diesem bis auf ein Differenziale zu nähern. Dies ist aus der Summe des Vorausgeschickten nur die konsequente Folgerung, und ich bitte die neuen Namen zu entschuldigen; sie sind nicht dazu erfunden, um die Neuheit der Sache zu steigern. Der Nachweis, daß _jedes_ einzelne Organ und weiter _jede einzelne Zelle_ eine Sexualität besitzt, die auf irgend einem Punkte zwischen Arrhenoplasma und Thelyplasma anzutreffen sein wird, daß also jeder Elementarteil ursprünglich in bestimmter Weise und bestimmtem Ausmaß sexuell charakterisiert ist, dieser Nachweis läßt sich auch durch die Tatsache leicht führen, daß selbst im _gleichen_ Organismus die verschiedenen Zellen nicht immer die gleiche und sehr oft nicht eine gleich _starke_ sexuelle Charakteristik besitzen. Es liegt nämlich durchaus nicht in allen Zellen eines Körpers der gleiche Gehalt an M oder W, die gleiche Annäherung an Arrhenoplasma oder Thelyplasma, ja es können Zellen des gleichen Körpers auf verschiedenen Seiten des Indifferenzpunktes zwischen diesen Polen sich befinden. Wenn wir, statt Maskulität und Muliebrität immer auszuschreiben, verschiedene Vorzeichen für beide wählen und, noch ohne tückische tiefere Hintergedanken, dem Männlichen ein positives, dem Weiblichen ein negatives Vorzeichen geben, so heißt jener Satz in anderer Ausdrucksform: in den Zellen des nämlichen Organismus kann die Sexualität der verschiedenen Zellen nicht nur eine verschiedene absolute Größe, sondern auch ein verschiedenes Vorzeichen haben. Es gibt _sonst_ ziemlich wohlcharakterisierte Masculina mit nur ganz schwachem Bart und ganz schwacher Muskulatur; oder fast typische Feminina mit schwachen Brüsten. Und anderseits recht weibische Männer mit starkem Bartwuchs, Weiber, die bei abnorm kurzem Haar und deutlich sichtbarem Bartwuchs gut entwickelte Brüste und ein geräumiges Becken aufweisen. Mir sind ferner Menschen bekannt mit weiblichem Ober- und männlichem Unterschenkel, mit rechter weiblicher und linker männlicher Hüfte. Überhaupt werden von der lokalen Verschiedenheit der sexuellen Charakteristik am häufigsten die beiden, auch sonst nur im idealen Falle symmetrischen Körperhälften rechts und links von der Medianebene betroffen; hier findet man in dem Grade der Ausprägung der Sexualcharaktere, z. B. des Bartwuchses, eine Unzahl von Asymmetrien. Auf eine ungleichmäßige innere Sekretion läßt sich aber dieser Mangel an Konformität (und eine absolute Konformität gibt es in der sexuellen Charakteristik nie), wie schon gesagt, kaum schieben; das Blut muß zwar nicht in gleicher Menge, aber doch in gleicher Mischung zu allen Organen gelangen, in nichtpathologischen Fällen stets in einer den Bedingungen der Erhaltung angemessenen Qualität und Quantität. Wäre also nicht eine ursprüngliche, vom Anfang der embryonalen Entwicklung an feststehende, in jeder einzelnen Zelle im allgemeinen verschiedene sexuelle Charakteristik als die Ursache dieser Variationen anzunehmen, so müßte ein Individuum einfach durch eine Angabe darüber, wie gut beispielsweise seine Keimdrüsen dem Typus des Geschlechtes sich annähern, vollauf sexuell beschrieben werden können, und die Sache läge viel einfacher, als sie in Wirklichkeit ist. Die Sexualität ist aber nicht in einem fiktiven Normalmaß gleichsam ausgegossen über das ganze Individuum, so daß mit der sexuellen Bestimmung _einer_ Zelle auch alle anderen erledigt wären. Wenn auch _weite_ Abstände in der sexuellen Charakteristik zwischen verschiedenen Zellen oder Organen _desselben_ Lebewesens eine Seltenheit bilden werden: als den _allgemeinen_ Fall muß man die _Spezifität_ derselben für jede einzelne Zelle ansehen; man wird aber dabei immerhin daran festhalten können, daß sich viel häufiger Annäherungen an eine vollkommene Einförmigkeit der sexuellen Charakteristik (durch den ganzen Körper hindurch) finden, als ein Auseinandertreten zu beträchtlichen graduellen Differenzen zwischen den einzelnen Organen, geschweige denn zwischen den einzelnen Zellen vorzukommen scheint. Das Maximum der hier möglichen Schwankungsbreite müßte erst durch eine Untersuchung im einzelnen festgestellt werden. Träte, wie dies die populäre, auf _Aristoteles_ zurückgehende Ansicht und auch die Anschauung vieler Mediziner und Zoologen ist, mit der _Kastration_ eines Tieres regelmäßig ein Umschlag nach dem entgegengesetzten Geschlechte hin ein, wäre z. B. mit der Entmannung eines Tieres auch schon eo ipso als Folge seine völlige Verweiblichung gesetzt, so wäre das Bestehen eines von den Keimdrüsen unabhängigen primordialen Sexualcharakters jeder Zelle wieder in Frage gestellt. Aber die jüngsten experimentellen Untersuchungen von _Sellheim_ und _Foges_ haben gezeigt, daß es einen vom weiblichen durchaus verschiedenen Typus des Kastraten gibt, daß Entmannung nicht ohne weiters identisch ist mit Verweiblichung. Freilich wird man gut tun, auch in dieser Richtung zu weitgehende, radikale Folgerungen zu vermeiden, man darf keinesfalls die Möglichkeit ausschließen, daß eine zweite, latent gebliebene Keimdrüse des anderen Geschlechtes nach Beseitigung oder Atrophie einer ersten Keimdrüse sozusagen die Herrschaft über einen in seiner sexuellen Charakteristik in gewissem Maße schwankenden Organismus gewinne. Die häufigen, freilich wohl allgemein etwas zu kühn (als durchgängige Annahme männlicher Charaktere) interpretierten Fälle, in denen, nach der Involution der weiblichen Geschlechtsorgane im Klimakterium, an einem weiblichen Organismus äußere sekundäre Sexualcharaktere des Masculinums sichtbar werden, wären das bekannteste Beispiel hiefür: der »Bart« der menschlichen »Großmütter«, alte Ricken, die bisweilen einen kurzen Stirnzapfen erhalten, die »Hahnenfedrigkeit« alter Hennen u. s. w. Aber selbst ganz ohne senile Rückbildungen oder operative äußere Eingriffe scheinen derartige Verwandlungen vorzukommen. Sichergestellt als die _normale_ Entwicklung sind sie für einige Vertreter der Gattungen Cymothoa, Anilocra, Nerocila aus den zur Gruppe der Cymothoideen gehörigen, auf Fischen schmarotzenden Asseln. Diese Tiere sind Hermaphroditen eigentümlicher Art: an ihnen sind männliche und weibliche Keimdrüse dauernd gleichzeitig vorhanden, aber nicht gleichzeitig funktionsfähig. Es besteht eine Art »Protandrie«: jedes Individuum fungiert zuerst als Männchen, später als Weibchen. Zur Zeit ihrer Funktionstüchtigkeit als Männchen besitzen sie durchwegs männliche Begattungsorgane, die nachher abgeworfen werden, wenn die weiblichen Ausfuhrwege und Brutlamellen sich entwickelt und geöffnet haben. Daß es aber auch beim Menschen solche Dinge gibt, scheinen jene äußerst merkwürdigen Fälle von »Eviratio« und »Effeminatio« zu beweisen, von welchen die sexuelle Psychopathologie aus dem erwachsenen Alter reifer Männer erzählt. Man wird also um so weniger das tatsächliche Vorkommen der Verweiblichung in gänzliche Abrede stellen dürfen, wenn für diese eine so günstige Bedingung wie die Exstirpation der männlichen Keimdrüse geschaffen wird.[6] Daß aber der Zusammenhang kein allgemeiner und notwendiger ist, daß Kastration ein Individuum durchaus nicht _mit Sicherheit_ zum Angehörigen des anderen Geschlechtes macht -- dies ist wieder ein Beweis, wie notwendig die allgemeine Annahme ursprünglich arrhenoplasmatischer und thelyplasmatischer Zellen für den ganzen Körper ist. Das Bestehen der originären sexuellen Charakteristik jeder Zelle und die Ohnmacht der auf sich allein angewiesenen Keimdrüsensekrete wird weiter erwiesen durch die gänzliche Erfolglosigkeit von Transplantationen männlicher Keimdrüsen auf weibliche Tiere. Zur strikten Beweiskraft dieser letzteren Versuche wäre es freilich vonnöten, daß die exstirpierten Testikel einem möglichst nahe verwandten weiblichen Tier, womöglich einer Schwester des kastrierten Männchens, eingepflanzt würden: das _Idioplasma_ dürfte nicht _auch noch_ ein zu verschiedenes sein. Es würde nämlich hier wie sonst viel darauf ankommen, die Bedingungen des Erfolges in möglichst reiner Isolation wirken zu lassen, um ein möglichst eindeutiges Resultat zu erhalten. Versuche auf der _Chrobak_schen Klinik in Wien haben gezeigt, daß zwischen zwei (wahllos ausgemusterten) weiblichen Tieren beliebig vertauschte Ovarien in der Mehrzahl der Fälle atrophieren und nie die Verkümmerung der sekundären Charaktere (z. B. der Milchdrüsen) aufzuhalten vermögen: während bei Entfernung der eigenen Keimdrüse von ihrem natürlichen Lager und ihrer Implantation an einem davon verschiedenen Orte im _selben_ Tiere (das somit sein eigenes Gewebe behält) im Idealfalle die _völlige_ Entwicklung der sekundären Geschlechtscharaktere _ebenso_ möglich ist, wie wenn gar kein Eingriff erfolgt. Das Mißlingen der Transplantation auf kastrierte Geschlechtsgenossen ist vielleicht hauptsächlich in der mangelnden Familienverwandtschaft begründet: das idioplasmatische Moment müßte in erster Linie beachtet werden. Diese Dinge erinnern sehr an die Erfahrungen bei der _Transfusion_ heterologen Blutes. Es ist eine praktische Regel der Chirurgen, daß man verlorenes Blut (bei Gefahr schwerer Störungen) nicht nur durch das Blut der gleichen Spezies und einer verwandten Familie, sondern auch durch das Blut eines gleichgeschlechtlichen Wesens ersetzen muß. Die Parallele mit den Transplantationsversuchen springt in die Augen. Sollten aber die hier vertretenen Ansichten sich behaupten, so werden die Chirurgen, soweit sie überhaupt transfundieren und nicht Kochsalzinfusionen bevorzugen, vielleicht nicht bloß darauf achten müssen, ob das Ersatzblut einem möglichst stammverwandten Tiere entnommen ist. Es fragt sich, ob dann die Forderung zu weit ginge, daß nur das Blut eines Wesens von möglichst gleichem Grade der Maskulität oder Muliebrität Verwendung finden dürfte. Wie diese Verhältnisse bei der Transfusion ein Beweis für die eigene sexuelle Charakteristik der Blutkörperchen, so liefert, wie erwähnt, der gänzliche Mißerfolg aller Überpflanzungen männlicher Keimdrüsen auf Weibchen oder weiblicher Keimdrüsen auf Männchen noch einen Beweis dafür, daß die innere Sekretion _nur auf ein ihr adäquates Arrhenoplasma oder Thelyplasma wirksam ist_. In Anknüpfung hieran soll schließlich noch des organotherapeutischen Heilverfahrens mit einem Worte gedacht werden. Es ist nach dem obigen klar, daß und warum, wenn die Transplantation möglichst geschonter ganzer Keimdrüsen auf andersgeschlechtliche Individuen keinen Erfolg hatte, auch ebenso z. B. die Injektion von Ovarialsubstanz in das Blut eines Masculinums höchstens Schaden anrichten konnte. Aber anderseits erledigen sich ebenso eine Menge von Einwürfen _gegen_ das _Prinzip_ der Organotherapie damit, daß Organpräparate von _Nicht_-Artgenossen naturgemäß nicht immer eine volle Wirkung ausüben können. Durch die Nichtbeachtung eines biologischen Prinzipes von solcher Wichtigkeit wie die Idioplasmalehre haben sich die ärztlichen Vertreter der Organotherapie vielleicht manchen Heilerfolg verscherzt. Die Idioplasmalehre, die auch jenen Geweben und Zellen den spezifischen Artcharakter zuschreibt, welche die reproduktive Fähigkeit verloren haben, ist allerdings noch nicht allgemein anerkannt. Aber daß zumindest in den Keimdrüsen die Arteigenschaften versammelt sind, wird jedermann einsehen müssen, und damit auch zugeben, daß gerade bei Präparaten aus den Keimdrüsen die möglichst geringe verwandtschaftliche Entfernung erstes Postulat ist, sofern diese Methode mehr erstrebt, als ein gutes Tonikum zu liefern. Parallelversuche zwischen Transplantation von Keimdrüsen und Injektionen ihrer Extrakte, etwa ein Vergleich zwischen dem Einfluß des ihm selbst oder einem nahe verwandten Individuum entnommenen und auf einen Hahn irgendwo, z. B. in seinen Peritonealraum transplantierten Hodens _mit_ dem Einfluß intravenöser Injektionen von Testikularextrakt in einen anderen kastrierten Hahn, wobei dieser Extrakt ebenfalls aus den Hoden verwandter Individuen gewonnen sein müßte -- solche Parallelversuche wären hier vielleicht mit Nutzen auszuführen. Sie könnten möglicherweise auch noch lehrreiche Aufschlüsse bringen über die passendste Darstellung und Menge der Organpräparate und der einzelnen Injektionen. Es wäre auch _theoretisch_ eine Feststellung darüber erwünscht, ob die inneren Keimdrüsensekrete mit Stoffen in der Zelle eine chemische Verbindung eingehen, oder ob ihre Wirkung bloß eine katalytische, von der Menge eigentlich doch unabhängige ist. Die letztere Annahme kann nach den bisher vorliegenden Untersuchungen noch nicht ausgeschlossen werden. Die Grenzen des Einflusses der inneren Sekretion auf die Gestaltung des definitiven geschlechtlichen Charakters waren zu ziehen, um die gemachte Annahme einer originären, _im allgemeinen_ für jede Zelle graduell verschiedenen, von Anfang an bestimmten sexuellen Charakteristik gegen Einwände zu sichern.[7] Wenn diese Charakteristiken auch in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle für die verschiedenen Zellen und Gewebe desselben Individuums nicht sonderlich dem Grade nach verschieden sein dürften, so gibt es doch eklatante Ausnahmen, die uns die Möglichkeit großer Amplituden vor Augen rücken. Auch die einzelnen Eizellen und die einzelnen Spermatozoiden, nicht nur verschiedener Organismen, auch in den Follikeln und in der Spermamasse _eines_ Individuums, zur selben Zeit und mehr noch zu verschiedenen Zeiten, werden Unterschiede in dem Grade ihrer Muliebrität und Maskulität zeigen, z. B. die Samenfäden verschieden schlank, verschieden schnell sein. Freilich sind wir über diese Unterschiede bis jetzt sehr wenig unterrichtet, aber wohl nur, weil niemand bisher diese Dinge in gleicher Absicht untersucht hat. Doch hat man -- und dies ist eben das Interessante -- in den Hoden von Amphibien neben den normalen Entwicklungsstufen der Spermatogenese regelrechte und wohlentwickelte _Eier_, nicht ein einziger einmal, sondern verschiedene Beobachter zu öfteren Malen, gefunden. Diese Deutung der Befunde wurde zwar bestritten und von einer Seite nur die Existenz abnorm großer Zellen in den Samenkanälchen als feststehend zugegeben, aber der Sachverhalt wurde später unzweifelhaft festgestellt. Allerdings sind Zwitterbildungen gerade bei den betreffenden Amphibien ungemein häufig; dennoch ist diese eine Tatsache genug Beweis für die Notwendigkeit, mit der Annahme annähernder Konformität des Arrhenoplasma oder Thelyplasma in _einem_ Körper _vorsichtig_ zu sein. Es scheint entlegen und gehört doch ganz in die gleiche Kategorie von Übereilung, wenn ein menschliches Individuum, bloß weil es bei der Geburt ein, wenn auch noch so kurzes, etwa gar epi- oder hypospadisches männliches Glied zeigt, ja selbst noch bei doppelseitigem Kryptorchismus als »Knabe« bezeichnet und ohne weiters als solcher angesehen wird, obwohl es in den übrigen Körperpartien, z. B. cerebral, weit näher dem Thelyplasma als dem Arrhenoplasma steht. Man wird es da wohl noch einmal zu lernen trachten müssen, selbst feinere Abstufungen der Geschlechtlichkeit schon bei der Geburt zu diagnostizieren. Als Resultat dieser längeren Induktionen und Deduktionen können wir nun wohl die Sicherung der originären sexuellen Charakteristik, die a priori nicht für alle Zellen auch desselben Körpers gleich oder auch nur ungefähr gleich gesetzt werden darf, betrachten. Jede Zelle, jeder Zellkomplex, jedes Organ hat einen bestimmten Index, der seine Stellung zwischen Arrhenoplasma und Thelyplasma anzeigt. Im großen und ganzen freilich wird _ein_ Index für den _ganzen_ Körper geringen Ansprüchen an Exaktheit genügen. Wir würden indes verhängnisvolle Irrtümer im Theoretischen, schwere Sünden im Praktischen auf uns laden, wenn wir hier mit solcher inkorrekter Beschreibung auch im Einzelfalle ernstlich alles getan zu haben glaubten. _Die verschiedenen Grade der ursprünglichen sexuellen Charakteristik zusammen mit der_ (bei den einzelnen Individuen wahrscheinlich qualitativ und quantitativ) _variierenden inneren Sekretion $bedingen$ das Auftreten der sexuellen Zwischenformen_. Arrhenoplasma und Thelyplasma, in ihren unzähligen Abstufungen, sind die _mikro_skopischen Agentien, die im Vereine mit der »inneren Sekretion« jene _makro_skopischen Differenzen schaffen, von denen das vorige Kapitel ausschließlich handelte. Unter Voraussetzung der Richtigkeit der bisherigen Darlegungen ergibt sich die Notwendigkeit einer ganzen Reihe von anatomischen, physiologischen, histologischen und histochemischen Untersuchungen über die Unterschiede zwischen den _Typen_ M und W in Bau und Funktion _aller_ einzelnen Organe, über die Art, wie Arrhenoplasma und Thelyplasma sich in den verschiedenen Geweben und Organen besonders differenzieren. Die Durchschnittskenntnisse, die wir bis jetzt über all das haben, genügen selbst dem modernen Statistiker kaum mehr. Wissenschaftlich ist ihr Wert ganz gering. Daß z. B. alle Untersuchungen über sexuelle Unterschiede im Gehirn so wenig Wertvolles zu Tage fördern konnten, dafür ist auch dies ein Grund, daß man nicht den _typischen_ Verhältnissen nachgegangen ist, sondern sich mit dem, was der Taufschein oder der oberflächlichste Aspekt der Leiche über das Geschlecht sagte, zufrieden gab und so jeden Hans und jede Grete als vollwertige Repräsentanten der Männlichkeit oder Weiblichkeit gelten ließ. Man hätte, wenn man schon psychologischer Daten nicht zu bedürfen glaubte, doch wenigstens, da Harmonie in der sexuellen Charakteristik der verschiedenen Körperteile häufiger ist als große Sprünge derselben zwischen den einzelnen Organen, sich einiger Tatsachen bezüglich der übrigen Körperbeschaffenheit versichern sollen, die für Männlichkeit und Weiblichkeit in Betracht kommen, wie der Distanz der großen Trochanteren, der Spinae iliacae ant. sup. etc. etc. Dieselbe Fehlerquelle -- das unbedenkliche Passierenlassen sexueller Zwischenstufen als maßgebender Individuen -- ist übrigens auch bei anderen Untersuchungen nicht verstopft worden; und diese Sorglosigkeit kann das Gewinnen haltbarer und beweisbarer Resultate auf lange Zeit hintanhalten. Schon wer z. B. den Ursachen des _Knabenüberschusses bei den Geburten_ nachspekuliert, dürfte diese Verhältnisse nicht ganz außer Acht lassen. Namentlich wird sich aber ihre Nichtberücksichtigung an jedermann rächen, der das _Problem der geschlechtsbestimmenden Ursachen_ lösen zu wollen sich unterfängt. Bevor er nicht jedes zur Welt gekommene Lebewesen, das ihm zum Objekt der Untersuchung wird, auch auf seine Stellung zwischen M und W geprüft hat, wird man seinen Hypothesen oder gar seinen Beeinflussungsmethoden zu trauen sich hüten dürfen. Wenn er nämlich die sexuellen Zwischenstufen einerseits bloß in der bisherigen äußerlichen Weise unter die männlichen oder unter die weiblichen Geburten einreiht, so wird er Fälle _für_ sich in Anspruch nehmen, die bei tieferer Betrachtung _gegen_ ihn zeugen würden, und andere Fälle als Gegeninstanzen betrachten, die es tatsächlich nicht sind: ohne den idealen Mann und das ideale Weib entbehrt er eben eines festen Maßstabes, den er an die Wirklichkeit anlegen könnte, und tappt im ungewissen, oberflächlichen Schein. _Maupas_ z. B., dem die experimentelle Geschlechtsbestimmung bei Hydatina senta, einem Rädertierchen, gelungen ist, hat noch immer 3-5% an abweichenden Resultaten erzielt. Bei niedrigerer Temperatur wurde die Geburt von Weibchen erwartet, und doch ergab sich dieser Satz von Männchen; entsprechend kamen bei hoher Temperatur gegen die Regel etwa ebensoviel Weibchen heraus. Es ist anzunehmen, daß dies sexuelle Zwischenstufen waren, sehr arrhenoide Weibchen bei hoher, sehr thelyide Männchen bei tiefer Temperatur. Wo das Problem viel komplizierter liegt, z. B. beim Rinde, um vom Menschen zu schweigen, wird der Prozentsatz der übereinstimmenden Resultate kaum je so groß sein wie hier und deshalb die richtige Deutung durch von den sexuellen Zwischenstufen herrührende Störungen viel schwerer beeinträchtigt werden. Wie Morphologie, Physiologie und Entwicklungsmechanik, so ist auch eine vergleichende _Pathologie_ der sexuellen _Typen_ vorderhand ein Desiderat. Freilich wird man hier wie dort aus der Statistik gewisse Schlüsse ziehen dürfen. Wenn diese erweist, daß eine Krankheit beim »weiblichen Geschlechte« sehr erheblich häufiger sich findet als beim »männlichen«, so wird man hienach im allgemeinen die Annahme wagen dürfen, sie sei eine dem Thelyplasma eigentümliche, »idiopathische« Affektion. So dürfte z. B. Myxödem eine Krankheit von W sein; Hydrokele ist naturgemäß eine Krankheit von M. Doch können selbst die am lautesten sprechenden Zahlen der Statistik hier so lange vor theoretischen Irrtümern nicht mit Sicherheit bewahren, als nicht von dem Charakter irgend eines Leidens gezeigt ist, daß es in unauflöslicher, funktioneller Beziehung an die Männlichkeit oder an die Weiblichkeit geknüpft ist. Die _Theorie_ der betreffenden Krankheiten wird auch darüber Rechenschaft zu geben haben, _$warum$_ sie »fast ausschließlich bei einem Geschlechte auftreten«, d. h. (in der hier begründeten Fassung) warum sie entweder M oder W zugehören. III. Kapitel. Gesetze der sexuellen Anziehung. _Carmen_: »L'amour est un oiseau rebelle, Que nul ne peut apprivoiser: Et c'est bien en vain qu'on l'appelle, S'il lui convient de refuser. Rien n'y fait; menace ou prière: L'un parle, l'autre se tait; Et c'est l'autre que je prefère; Il n'a rien dit, mais il me plaît. ............. L'amour est enfant de Bohême Il n'a jamais connu de loi.« $?$ In den alten Begriffen ausgedrückt, besteht bei sämtlichen geschlechtlich differenzierten Lebewesen eine auf Begattung gerichtete Anziehung zwischen Männchen und Weibchen, Mann und Weib. Da Mann und Weib aber nur Typen sind, die in der Realität nirgends rein sich vertreten finden, so werden wir hievon nicht mehr so sprechen können, daß die geschlechtliche Anziehung ein Masculinum schlechtweg und ein Femininum schlechtweg einander zu nähern suche. Über die Tatsachen der sexuellen Wirkungen muß aber auch die hier vertretene Theorie, wenn sie vollständig sein soll, Rechenschaft geben können, ja es muß auch ihr Erscheinungsgebiet sich mit den neuen Mitteln besser darstellen lassen als mit den bisherigen, wenn jene vor diesen ihren Vorzug behaupten sollen. Wirklich hat mich die Erkenntnis, daß M und W in allen _verschiedenen_ Verhältnissen sich auf die Lebewesen _verteilen_, zur Entdeckung eines ungekannten, bloß von einem Philosophen einmal geahnten _Naturgesetzes_ geführt, eines _Gesetzes der sexuellen Anziehung_. Beobachtungen des Menschen ließen es mich gewinnen, und ich will daher von diesem hier ausgehen. Jeder Mensch hat, was das andere Geschlecht anlangt, einen bestimmten, ihm eigentümlichen »Geschmack«. Wenn wir etwa die Bildnisse der Frauen vergleichen, die irgend ein berühmter Mann der Geschichte nachweislich geliebt hat, so finden wir fast immer, daß alle eine beinahe durchgängige Übereinstimmung aufweisen, die äußerlich am ehesten hervortreten wird in ihrer _Gestalt_ (im engeren Sinne des _Wuchses_) oder in ihrem _Gesichte_, aber sich bei näherem Zusehen bis in die kleinsten Züge -- ad unguem, bis auf die Nägel der Finger -- erstrecken wird. Ganz ebenso verhält es sich aber auch sonst. Daher die Erscheinung, daß jedes Mädchen, von welchem eine starke Anziehung auf den Mann ausgeht, auch sofort die Erinnerung an jene Mädchen wachruft, die schon früher ähnlich auf ihn gewirkt haben. Jeder hat ferner zahlreiche Bekannte, deren Geschmack, das andere Geschlecht betreffend, ihm schon den Ausruf abgenötigt hat: »Wie einem die gefallen kann, verstehe ich nicht!« Eine Menge Tatsachen, welche den bestimmten besonderen Geschmack jedes Einzelwesens auch für die Tiere außer allen Zweifel setzen, hat _Darwin_ gesammelt (in seiner »Abstammung des Menschen«). Daß Analoga zu dieser Tatsache des bestimmten Geschmackes aber selbst bei den Pflanzen sich deutlich ausgeprägt finden, wird bald besprochen werden. Die sexuelle Anziehung ist fast ausnahmslos nicht anders als bei der Gravitation eine gegenseitige; wo diese Regel Ausnahmen zu erleiden scheint, lassen sich beinahe immer differenziertere Momente nachweisen, welche es zu verhindern wissen, daß dem _unmittelbaren_ Geschmacke, der fast stets ein wechselseitiger ist, Folge gegeben werde; oder ein Begehren erzeugen, wenn dieser unmittelbare erste Eindruck nicht dagewesen ist. Auch der Sprachgebrauch redet vom »Kommen des Richtigen«, vom »Nichtzueinanderpassen« zweier Leute. Er beweist so eine gewisse dunkle Ahnung der _Tatsache, daß in jedem Menschen gewisse Eigenschaften liegen, die es nicht ganz gleichgültig erscheinen lassen, $welches$ Individuum des anderen Geschlechtes mit ihm eine sexuelle Vereinigung einzugehen geeignet ist; daß nicht jeder »Mann« für jeden anderen »Mann«, nicht jedes »Weib« für jedes andere »Weib«, ohne daß es einen Unterschied macht, eintreten kann_. Jedermann weiß ferner aus eigener Erfahrung, daß gewisse Personen des anderen Geschlechtes auf ihn sogar eine direkt _abstoßende_ Wirkung ausüben können, andere ihn kalt lassen, noch andere ihn reizen, bis endlich (vielleicht nicht immer) ein Individuum erscheint, mit dem vereinigt zu sein in dem Maße sein Verlangen wird, daß die ganze Welt _daneben_ für ihn eventuell wertlos wird und verschwindet. Welches Individuum ist das? Welche Eigenschaften muß es besitzen? Hat wirklich -- und es ist so -- jeder Typus unter den Männern einen ihm entsprechenden Typus unter den Weibern zum Korrelate, der auf ihn sexuell wirkt, und umgekehrt, so scheint zumindest hier ein gewisses Gesetz zu walten. Was ist das für ein Gesetz? Wie lautet es? »Gegensätze ziehen sich an«, so hörte ich es formulieren, als ich, bereits im Besitze der eigenen Antwort auf meine Frage, bei verschiedenen Menschen hartnäckig auf das Aussprechen eines solchen drang und ihrer Abstraktionskraft durch Beispiele zu Hilfe kam. Auch dies ist in gewissem Sinne und für einen kleineren Teil der Fälle zuzugeben. Aber es ist doch zu allgemein, zerfließt unter den Händen, die Anschauliches erfassen wollen, und läßt keinerlei mathematische Formulierung zu. Diese Schrift nun vermißt sich nicht, _sämtliche_ Gesetze der sexuellen Anziehung -- es gibt ihrer nämlich mehrere -- aufdecken zu wollen, und erhebt somit keineswegs den Anspruch, jedem Individuum bereits sichere Auskunft über dasjenige Individuum des anderen Geschlechtes geben zu können, das seinem Geschmack am besten entsprechen werde, wie dies eine vollständige Kenntnis der in Betracht kommenden Gesetze allerdings ermöglichen würde. Nur ein einziges von diesen Gesetzen soll in diesem Kapitel besprochen werden, da es in organischem Zusammenhange mit den übrigen Erörterungen des Buches steht. Einer Anzahl weiterer Gesetze bin ich auf der Spur, doch war dieses das erste, auf das ich aufmerksam wurde, und das, was ich darüber zu sagen habe, ist relativ am fertigsten. Die Unvollkommenheiten im Beweismaterial möge man in Erwägung der Neuheit und Schwierigkeit der Sache mit Nachsicht beurteilen. Die Tatsachen, aus denen ich dieses Gesetz der sexuellen Affinität ursprünglich gewonnen, und die große Anzahl jener, die es mir bestätigt haben, hier anzuführen, ist jedoch glücklicherweise in gewissem Sinne überflüssig. Ein jeder ist gebeten, es zunächst an sich selbst zu prüfen, und dann Umschau zu halten im Kreise seiner Bekannten; besonders empfehle ich eben jene Fälle der Erinnerung und Beachtung, wo er ihren Geschmack nicht verstanden oder ihnen gar einmal allen »Geschmack« abgesprochen hat, oder wo ihm dasselbe von ihrer Seite widerfahren ist. Jenes Mindestmaß von Kenntnis der äußeren Formen des menschlichen Körpers, welches zu dieser Kontrolle nötig ist, besitzt jeder Mensch. Auch ich bin zu dem Gesetze, das ich nun formulieren will, auf eben dem Wege gelangt, auf welchen ich hier zunächst habe verweisen müssen. Das Gesetz lautet: »_Zur sexuellen Vereinigung trachten immer ein $ganzer$ Mann (M) und ein $ganzes$ Weib (W) zusammen zu kommen, $wenn auch auf die zwei verschiedenen Individuen in jedem einzelnen Fall in verschiedenem Verhältnisse verteilt.$_« Anders ausgedrückt: Wenn m_{μ} das Männliche, w_{μ} das Weibliche ist in irgend einem von der gewöhnlichen Auffassung einfach als »Mann« bezeichneten Individuum μ und w_{ω} das Weibliche, m_{ω} das Männliche dem Grade nach ausdrückt in irgend einer sonst oberflächlich schlechtweg als »Weib« gekennzeichneten Person ω, so ist bei jeder _vollkommenen Affinität_, d. h. im Falle der _stärksten_ sexuellen Attraktion: (Ia) m_{μ} + m_{ω} = C(onstans)_{1} = M = dem idealen Manne und darum natürlich gleichzeitig auch (Ib) w_{μ} + w_{ω} = C_{2} = W = dem idealen Weibe. Man mißverstehe diese Formulierung nicht. Es ist _ein_ Fall, _eine einzige_ sexuelle Relation, für die beide Formeln Geltung haben, von denen aber die zweite aus der ersten unmittelbar folgt und nichts Neues zu ihr hinzufügt; denn wir operieren ja unter der Voraussetzung, daß jedes Individuum so viel Weibliches hat, als ihm Männliches gebricht. Ist es _ganz_ männlich, so wird es ein _ganz_ weibliches Gegenglied verlangen; ist es ganz weiblich, ein ganz männliches. Ist in ihm aber ein bestimmter größerer Bruchteil vom Manne _und_ ein keineswegs zu vernachlässigender anderer Bruchteil vom Weibe, so wird es zur Ergänzung ein Individuum fordern, das seinen Bruchteil an Männlichkeit zum Ganzen, zur Einheit komplettiert; damit wird aber _zugleich_ auch sein weiblicher Anteil in ebensolcher Weise vervollständigt. Es habe z. B. ein Individuum { ¾ M, μ { _also_ { ¼ W. Dann wird sein bestes sexuelles Komplement nach diesem Gesetze jenes Individuum ω sein, welches sexuell folgendermaßen zu definieren ist: { ¼ M, ω { _also_ { ¾ W. Man erkennt bereits in dieser Fassung den Wert größerer Allgemeinheit vor der gewöhnlichen Anschauung. Daß Mann und Weib, als sexuelle Typen, einander anziehen, ist hierin eben nur als _Spezialfall_ enthalten, als jener Fall, in welchem ein imaginäres Individuum X { 1 . M { 0 . W sein Komplement in einem ebenso imaginären Y { 0 . M { 1 . W findet. Niemand wird zögern, die Tatsache des bestimmten sexuellen Geschmackes zuzugeben; damit ist aber auch die Berechtigung der Frage nach den _Gesetzen_ dieses Geschmackes anerkannt, nach dem Funktionalzusammenhang, in welchem die sexuelle Vorliebe mit den übrigen körperlichen und psychischen Qualitäten eines Wesens steht. Das Gesetz, welches hier aufgestellt wurde, hat von vornherein nicht das geringste _Un_wahrscheinliche an sich: es steht ihm weder in der gewöhnlichen noch in der wissenschaftlich geeichten Erfahrung das geringste _entgegen_. Aber es ist an und für sich auch gewiß nicht »selbstverständlich«. Es könnte ja -- _denkbar_ wäre es, da das Gesetz selbst bis jetzt nicht weiter ableitbar ist -- auch lauten: m_{μ} - m{ω} = Const., d. h. die _Differenz_ im Gehalte an M eine konstante Größe sein, nicht die Summe, also der männlichste Mann von _seinem_ Komplemente, welches dann gerade in der Mitte zwischen M und W läge, ebensoweit entfernt stehen wie der weiblichste Mann von dem seinen, das wir in diesem Falle in der extremen Weiblichkeit zu erblicken hätten. _Denkbar_ wäre das, wie gesagt, doch ist es darum nicht in der Realität verwirklicht. Folgen wir also, in der Erkenntnis, daß wir ein empirisches Gesetz vor uns haben, dem wissenschaftlichen Gebote der Bescheidung, so werden wir vorderhand nicht von einer »Kraft« sprechen, welche die zwei Individuen wie zwei Hampelmännchen gegeneinander laufen läßt, sondern in dem Gesetze nur den Ausdruck eines Verhältnisses erblicken, das in jeder stärksten sexuellen Anziehung in ganz gleicher Weise zu konstatieren ist; es kann nur eine »Invariante« (_Ostwald_), eine »Multiponible« (_Avenarius_) aufzeigen, und das ist in diesem Falle die stets gleich bleibende Summe des Männlichen wie die des Weiblichen in den beiden einander mit größter Stärke anziehenden Lebewesen. Vom »ästhetischen«, vom »Schönheits«-Moment muß _hier_ ganz abgesehen werden. Denn wie oft kommt es vor, daß der eine von einer bestimmten Frau ganz entzückt ist, ganz außer sich über deren »außerordentliche«, »berückende« Schönheit, und der andere »gern wissen möchte«, was an der Betreffenden »denn nur gefunden werden könne«, da sie eben nicht auch _sein_ sexuelles Komplement ist. Ohne hier den Standpunkt irgend einer normativen Ästhetik einnehmen oder für einen Relativismus der Wertungen Beispiele sammeln zu wollen, kann man es aussprechen, daß sicherlich nicht nur vom rein ästhetischen Standpunkte _Indifferentes_, sondern selbst _Unschönes_ vom verliebten Menschen schön gefunden wird, wobei unter »rein-ästhetisch« nicht ein Absolut-Schönes, sondern nur _das Schöne_, d. h. das nach Abzug aller »sexuellen Apperzeptionen« _ästhetisch Gefallende_ verstanden werden soll. Das Gesetz selbst habe ich in mehreren hundert Fällen (um die niederste Zahl zu nennen) bestätigt gefunden, und alle Ausnahmen erwiesen sich als scheinbare. Fast ein jedes Liebespaar, dem man auf der Straße begegnet, liefert eine neue Bestätigung. Die Ausnahmen waren insoferne lehrreich, als sie die Spur der anderen Gesetze der Sexualität verstärkten und zu deren Erforschung aufforderten. Übrigens habe ich auch selbst eine Anzahl von Versuchen in folgender Weise angestellt, daß ich mit einer Kollektion von Photographien rein-ästhetisch untadeliger Frauen, deren jede einem bestimmten Gehalte an W entsprach, eine Enquête veranstaltete, indem ich sie einer Reihe von Bekannten, »zur Auswahl der Schönsten«, wie ich hinterlistig sagte, vorlegte. Die Antwort, die ich bekam, war regelmäßig dieselbe, die ich im voraus erwartete. Von anderen, die bereits wußten, worum es sich handelte, habe ich mich in der Weise prüfen lassen, daß sie mir Bilder vorlegten, und ich aus diesen die für sie Schönste herausfinden mußte. Dies ist mir immer gelungen. Anderen habe ich, ohne daß sie mir vorher unfreiwillige Stichproben davon geliefert hatten, ihr Ideal vom anderen Geschlechte zuweilen mit annähernder Vollständigkeit beschreiben können, jedenfalls oft viel genauer, als sie selbst es anzugeben vermochten; manchmal wurden sie jedoch auch auf das, was ihnen _miß_fiel -- was die Menschen im allgemeinen viel eher kennen als das, was ihnen gefällt -- erst aufmerksam, als ich es ihnen sagte. Ich glaube, daß der Leser bei einiger Übung es bald zu der gleichen Fertigkeit wird bringen können, die einige Bekannte aus einem engeren wissenschaftlichen Freundeskreis, von den hier vertretenen Ideen angeregt, bereits erlangt haben. Freilich wäre hiezu eine Erkenntnis der anderen Gesetze der sexuellen Anziehung sehr erwünscht. Als Proben auf das Verhältnis wirklicher komplementärer Ergänzung ließen sich eine Menge spezieller Konstanten namhaft machen. Man könnte z. B. auf den Gedanken geraten, die Summe der Haarlängen zweier Verliebter sei immer gleich groß. Doch wird dies schon aus den im zweiten Kapitel erörterten Gründen nicht immer zutreffen, indem nicht alle Organe eines und desselben Wesens gleich männlich oder gleich weiblich sind. Überdem würden solche heuristische Regeln bald sich vermehren und dann schnell zu der Kategorie der schlechten Witze herabsinken, weshalb ich hier von ihrer Anführung lieber absehen mag. Ich verhehle mir nicht, daß die Art, wie dieses Gesetz hier eingeführt wurde, etwas Dogmatisches hat, das ihm bei dem Mangel einer exakten Begründung um so schlechter ansteht. Mir konnte aber auch hier weniger daran liegen, mit fertigen Ergebnissen hervorzutreten, als zur Gewinnung solcher anzuregen, nachdem die Mittel, die mir zur genauen Überprüfung jener Sätze nach naturwissenschaftlicher Methode zur Verfügung standen, äußerst beschränkte waren. Wenn also auch im einzelnen vieles hypothetisch bleibt, so hoffe ich doch im folgenden mit Hinweisen auf merkwürdige Analogien, die bisher keine Beachtung gefunden haben, die einzelnen Balken des Gebäudes noch durcheinander stützen zu können: einer »rückwirkenden Verfestigung« vermögen vielleicht selbst die Prinzipien der analytischen Mechanik nicht zu entbehren. Eine höchst auffällige Bestätigung erfährt das aufgestellte Gesetz zunächst durch eine Gruppe von Tatsachen aus dem Pflanzenreiche, die man bisher in völliger Isolation betrachtet hat und denen demgemäß der Charakter der Seltsamkeit in hohem Grade anzuhaften schien. Wie jeder Botaniker sofort erraten haben wird, meine ich die von _Persoon_ entdeckte, von _Darwin_ zuerst beschriebene, von _Hildebrand_ benannte Erscheinung der _Ungleichgriffeligkeit_ oder _Heterostylie_. Sie besteht in folgendem: Viele dikotyle (und eine einzige monokotyle) Pflanzenspezies, z. B. Primulaceen und Geraniaceen, besonders aber viele Rubiaceen, lauter Pflanzen, auf deren Blüte sowohl Pollen als Narbe funktionsfähig sind, aber nur für Produkte fremder Blüten, die also in morphologischer Beziehung androgyn, in physiologischer Hinsicht jedoch diözisch erscheinen -- diese alle haben die Eigentümlichkeit, _ihre Narben und Staubbeutel auf verschiedenen Individuen zu verschiedener Höhe zu entwickeln_. Das eine Exemplar bildet ausschließlich Blüten mit langem Griffel, daher hochstehender Narbe und niedrigen Antheren (Staubbeuteln): es ist nach meiner Auffassung das weiblichere. Das andere Exemplar hingegen bringt nur Blüten hervor mit tiefstehender Narbe und hochstehenden Antheren (weil langen Staubfäden): das männlichere. Neben diesen »dimorphen« Arten gibt es aber auch »trimorphe«, wie Lythrum salicaria, mit dreierlei Längenverhältnissen der Geschlechtsorgane: außer der Blütenform mit langgriffeligen und der mit kurzgriffeligen findet sich hier noch eine mit »mesostylen« Blüten, d. i. mittellangen Griffeln. Obwohl nur dimorphe und trimorphe Heterostylie den Weg in die Kompendien gefunden haben, ist auch damit die Mannigfaltigkeit nicht erschöpft. _Darwin_ deutet an, daß, »wenn kleinere Verschiedenheiten berücksichtigt werden, _fünf_ verschiedene Sitze von männlichen Organen zu unterscheiden seien«. Es besteht also auch die hier unleugbar vorkommende _Dis_kontinuität, die Trennung der verschiedenen Grade von Maskulität und Muliebrität in verschiedene Stockwerke nicht _allgemein_ zu Recht, auch in diesem Falle haben wir hie und da _kontinuierlichere sexuelle Zwischenformen_ vor uns. Anderseits ist auch dieses diskrete Fächerwerk nicht ohne frappante Analogien im Tierreich, wo die betreffenden Erscheinungen als ebenso vereinzelt und wunderbar angesehen wurden, weil man sich der Heterostylie gar nicht _entsann_. Bei mehreren Insektengattungen, nämlich bei Forficuliden (Ohrwürmern) und Lamellicornien (und zwar bei Lucanus cervus, dem Hirschkäfer, bei Dynastes hercules und Xylotrupes gideon) gibt es _einerseits_ viele Männchen, welche den sekundären Geschlechtscharakter, der sie von den Weibchen am sichtbarsten scheidet, die Fühlhörner zu sehr großer Länge entwickeln; die _andere_ Hauptgruppe der Männchen hat nur relativ wenig entwickelte Hörner. _Bateson_, von dem die ausführlichere Beschreibung dieser Verhältnisse herrührt, unterscheidet darum unter ihnen »high males« und »low males«. Zwar sind diese beiden Typen durch kontinuierliche Übergänge miteinander verbunden, aber die zwischen ihnen vermittelnden Stufen sind selten, die meisten Exemplare stehen an der einen oder der anderen Grenze. Leider ist es _Bateson_ nicht darum zu tun gewesen, die sexuellen Beziehungen dieser beiden Gruppen zu den Weibchen zu erforschen, da er die Fälle nur als Beispiele diskontinuierlicher Variation anführt; und so ist nicht bekannt, ob es zwei Gruppen auch unter den Weibchen der betreffenden Arten gibt, die eine verschiedene sexuelle Affinität zu den verschiedenen Formen der Männchen besitzen. Darum lassen sich auch diese Beobachtungen nur als eine morphologische Parallele zur Heterostylie, nicht als physiologische Instanzen für das Gesetz der sexuellen Anziehung verwenden, _für das die Heterostylie in der Tat sich verwerten läßt_. Denn in den heterostylen Pflanzen liegt vielleicht eine völlige Bestätigung der Ansicht von der allgemeinen Gültigkeit jener Formel innerhalb aller Lebewesen vor. Es ist von _Darwin_ nachgewiesen und seither von vielen Beobachtern in gleicher Weise konstatiert worden, daß bei den heterostylen Pflanzen Befruchtung fast nur dann Aussicht auf guten Erfolg hat, ja oft nur in dem Falle möglich ist, wenn der _Pollen der makrostylen Blüte_, d. i. derjenige von den niedrigeren Antheren, auf die _mikrostyle Narbe_ eines anderen Individuums, welches sodann lange Staubfäden hat, übertragen wird, oder der aus hochstehenden Staubbeuteln stammende _Pollen einer mikrostylen Blüte_ auf die makrostyle Narbe einer anderen Pflanze (mit kurzen Filamenten). So lang also in der einen Blüte der Griffel, d. h. so gut weiblich in ihr das weibliche Organ entwickelt ist, so lang muß in der anderen, von der sie mit Erfolg empfangen soll, das männliche, der Staubfaden sein, und umso kürzer in der letzteren der Griffel, dessen Länge den Grad der Weiblichkeit mißt. Wo dreierlei Griffellängen vorhanden sind, da fällt die Befruchtung nach derselben erweiterten Regel am besten aus, wenn der Pollen auf diejenige Narbe übertragen wird, die auf einer anderen Blüte in derselben Höhe steht wie der Staubbeutel, aus welchem der Pollen stammt. Wird dies nicht eingehalten, sondern etwa künstliche Befruchtung mit nicht-adäquatem Pollen herbeigeführt, so entstehen, wenn diese Prozedur überhaupt von Erfolg begleitet ist, fast immer nur kränkliche und kümmerliche, zwerghafte und durchaus unfruchtbare Sprößlinge, die den Hybriden aus verschiedenen Spezies äußerst ähneln. Den Autoren, welche die Heterostylie besprochen haben, merkt man es insgesamt an, daß sie mit der gewöhnlichen Erklärung dieses verschiedenartigen Verhaltens bei der Befruchtung nicht zufrieden sind. Diese besagt nämlich, daß die Insekten beim Blütenbesuch gleich hoch gestellte Sexualorgane mit der gleichen Körperstelle berühren und so den merkwürdigen Effekt herbeiführen. _Darwin_ gesteht jedoch selbst, daß die Bienen alle Arten von Pollen an jeder Körperstelle mit sich tragen; es bleibt also das _elektive_ Verfahren der weiblichen Organe bei Bestäubung mit doppelt und dreifach verschiedenen Pollen nach wie vor aufzuhellen. Auch scheint jene Begründung, so ansprechend und zauberkräftig sie sich ausnimmt, doch etwas oberflächlich, wenn eben mit ihr verständlich gemacht werden soll, warum künstlicher Bestäubung mit inadäquatem Pollen, sogenannter »_illegitimer Befruchtung_«, so schlechter Erfolg beschieden ist. Jene ausschließliche Berührung mit »legitimem« Pollen müßte dann die Narben _durch Gewöhnung_ nur für den Blütenstaub dieser einen Provenienz aufnahmsfähig haben werden lassen; aber es konnte soeben _Darwin_ selbst als Zeuge dafür einvernommen werden, daß diese Unberührtheit durch anderen Pollen vollkommen illusorisch ist, indem die Insekten, welche als Ehevermittler hiebei in Anspruch genommen werden, tatsächlich viel eher eine _unterschiedslose Kreuzung_ begünstigen. Es scheint also die Hypothese viel plausibler, daß der Grund dieses eigentümlich auswählenden Verhaltens ein anderer, tieferer, in den Blüten selbst ursprünglich gelegener ist. Es dürfte sich hier wie beim Menschen darum handeln, daß die sexuelle Anziehung zwischen jenen Individuen am größten ist, _deren eines ebensoviel von M besitzt wie das andere von W_, was ja wieder nur ein anderer Ausdruck der obigen Formel ist. Die Wahrscheinlichkeit dieser Deutung wird ungemein erhöht dadurch, daß in der männlicheren, kurzgriffeligen Blüte die Pollenkörner in den hier höher stehenden Staubbeuteln auch stets größer, die Narbenpapillen kleiner sind als die homologen Teile in der langgriffeligen weiblicheren. Man sieht hieraus, daß es sich kaum um etwas anderes handeln kann als um verschiedene Grade der Männlichkeit und Weiblichkeit. Und unter dieser Voraussetzung erfährt hier das aufgestellte Gesetz der sexuellen Affinität eine glänzende Verifikation, indem eben im Tier- und im Pflanzenreiche -- an späterem Orte wird hierauf zurückzukommen sein -- Befruchtung _stets dort_ den besten Erfolg aufweist, _wo die Eltern die größte sexuelle Affinität zueinander gehabt haben_.[8] Daß im _Tierreich_ das Gesetz in voller Geltung besteht, wird erst bei der Besprechung des »konträren Sexualtriebes« zu großer Wahrscheinlichkeit erhoben werden können. Einstweilen möchte ich hier nur darauf aufmerksam machen, wie interessant Untersuchungen darüber wären, ob nicht auch die größeren, schwerer beweglichen Eizellen die flinkeren und schlankeren unter den Spermatozoiden stärker anziehen als die kleineren, dotterreichen und zugleich weniger trägen Eier, und diese nicht gerade die langsameren, voluminöseren unter den Zoospermien an sich locken. Vielleicht ergibt sich hier wirklich, wie L. _Weill_ in einer kleinen Spekulation über die geschlechtsbestimmenden Faktoren vermutet hat, eine Korrelation zwischen den Bewegungsgrößen oder den kinetischen Energien der beiden Konjugationszellen. Es ist ja noch nicht einmal festgestellt -- freilich auch sehr schwierig festzustellen -- ob die beiden Generationszellen, nach Abzug der Reibung und Strömung im flüssigen Medium, eine Beschleunigung gegeneinander aufweisen oder sich mit gleichförmiger Geschwindigkeit bewegen würden. So viel und noch einiges mehr könnte man da fragen. Wie schon mehrfach hervorgehoben wurde, ist das bisher besprochene Gesetz der sexuellen Anziehung beim Menschen (und wohl auch bei den Tieren) nicht das einzige. Wäre es das, so müßte es ganz unbegreiflich scheinen, daß es nicht schon längst gefunden wurde. Gerade weil sehr viele Faktoren mitspielen, weil noch eine, vielleicht beträchtliche, Anzahl anderer Gesetze erfüllt sein muß[9], darum sind Fälle von _unaufhaltsamer_ sexueller Anziehung so _selten_. Da die bezüglichen Forschungen noch nicht abgeschlossen sind, will ich von jenen Gesetzen hier nicht sprechen und bloß der Illustration halber noch auf einen weiteren, mathematisch wohl nicht leicht faßbaren der in Betracht kommenden Faktoren hinweisen. Die Erscheinungen, auf die ich anspiele, sind im einzelnen ziemlich allgemein bekannt. Ganz jung, noch nicht 20 Jahre alt, wird man meist durch ältere Frauen (von über 35 Jahren) angezogen, während man mit zunehmendem Alter immer jüngere liebt; ebenso ziehen aber auch (Gegenseitigkeit!) die ganz jungen Mädchen, der »Backfisch«, ältere Männer oft jüngeren vor, um später wieder mit ganz jungen Bürschlein nicht selten die Ehe zu brechen. Das ganze Phänomen dürfte viel tiefer wurzeln, als es nach der anekdotenhaften Art aussehen möchte, in der man meist von ihm Notiz nimmt. Trotz der notwendigen Beschränkung dieser Arbeit auf das eine Gesetz wird es im Interesse der Korrektheit liegen, wenn nun eine bessere mathematische Formulierung, die keine unwahre Einfachheit vortäuscht, versucht wird. Auch ohne alle mitspielenden Faktoren und in Frage kommenden anderen Gesetze als selbständige Größen einzuführen, erreichen wir diese äußerliche Genauigkeit durch Hinzufügung eines Proportionalitätsfaktors. Die erste Formel war mir eine »ökonomische« Zusammenfassung des _Gleichförmigen_ aller Fälle sexueller Anziehung von _idealer_ Stärke, soweit das geschlechtliche Verhältnis durch das Gesetz überhaupt bestimmt wird. Nun wollen wir einen Ausdruck herschreiben für die _Stärke der sexuellen Affinität_ in jedem denkbaren Falle, einen Ausdruck übrigens, der, seiner unbestimmten Form wegen, _zugleich die allgemeinste Beschreibung des Verhältnisses zweier Lebewesen überhaupt, selbst von verschiedener Art und von gleichem Geschlechte_, abgeben könnte. Wenn { α M { β W X { und Y { { α' W { β' M wobei wieder α 0 < β < 1 α' β' irgend zwei beliebige Lebewesen sexuell definieren, so ist die Stärke der Anziehung zwischen beiden A = k/(α - β) . f(t) (II) worin f(t) irgend eine empirische oder analytische Funktion der Zeit bedeutet, während welcher es den Individuen möglich ist, aufeinander zu wirken, der »_Reaktionszeit_«, wie wir sie nennen könnten; indes k jener Proportionalitätsfaktor ist, in den wir alle bekannten und unbekannten Gesetze der sexuellen Affinität hineinstecken, und der außerdem noch von dem Grade der Art-, Rassen- und Familienverwandtschaft, sowie von Gesundheit und dem Mangel an Deformationen in beiden Individuen abhängt, schließlich mit ihrer größeren räumlichen Entfernung voneinander kleiner wird, der also noch in jedem Falle besonders festzustellen ist. Wird in dieser Formel α = β, so wird A = ∞; das ist der extremste Fall: es ist die sexuelle Anziehung als Elementargewalt, wie sie mit unheimlicher Meisterschaft in der Novelle »Im Postwagen« von _Lynkeus_ geschildert ist. Die sexuelle Anziehung ist etwas genau so Naturgesetzliches wie das Wachstum der Wurzel gegen den Erdmittelpunkt, die Wanderung der Bakterien zum Sauerstoff am Rande des Objektträgers; man wird sich an eine solche Auffassung der Sache freilich erst gewöhnen müssen. Ich komme übrigens gleich auf diesen Punkt zurück. Erreicht α - β seinen Maximalwert lim (α - β) = Max. = 1, so wird lim A = k . f(t). Es ergeben sich also hier als ein bestimmter _Grenzfall_ alle sympathischen und antipathischen Beziehungen zwischen Menschen überhaupt (die aber mit den _sozialen_ Beziehungen im engsten Sinne, als konstituierend für gesellschaftliche Rechtsordnung, nichts zu tun haben), soweit sie nicht durch _unser_ Gesetz der sexuellen Affinität geregelt sind. Indem k mit der Stärke der verwandtschaftlichen Beziehungen im allgemeinen wächst, hat A unter Volksgenossen z. B. einen größeren Wert als unter Fremdnationalen. Wie f(t) hier seinen guten Sinn behält, kann man am Verhältnis zweier zusammenlebender Haustiere von ungleicher Spezies sehr wohl beobachten: die erste Regung ist oft erbitterte Feindschaft, oft Furcht vor einander (A bekommt ein _negatives_ Vorzeichen), später tritt oft ein freundschaftliches Verhältnis an deren Stelle, sie suchen einander auf. Setze ich ferner in A = (k . f(t))/(α - β) k = 0, so wird A = 0, d. h. zwischen zwei lebenden Individuen von allzu verschiedener Abstammung findet auch keinerlei merkliche Anziehung mehr statt. Da der Sodomieparagraph in den Strafgesetzbüchern nicht für nichts und wieder nichts enthalten sein dürfte, da sexuelle Akte sogar zwischen Mensch und Henne schon zur Beobachtung gelangt sind, sieht man, daß k innerhalb sehr _weiter_ Grenzen größer als Null bleibt. Wir dürfen also die beiden fraglichen Individuen nicht auf dieselbe Art, ja nicht einmal auf die gleiche Klasse beschränken. Daß alles Zusammentreffen männlicher und weiblicher Organismen nicht Zufallssache ist, sondern unter der Herrschaft bestimmter Gesetze steht, ist eine neue Anschauung, und das Befremdliche in ihr -- es wurde vorhin daran gerührt -- zwingt zu einer Erörterung der tiefen Frage nach der geheimnisvollen Natur dieser sexuellen Anziehung. Bekannte Versuche von Wilhelm _Pfeffer_ haben gezeigt, daß die Spermatozoiden verschiedener Kryptogamen nicht bloß durch die weiblichen Archegonien in natura, sondern ebenso durch Stoffe angezogen werden, die entweder von diesen auch unter gewöhnlichen Verhältnissen wirklich ausgeschieden werden, oder künstlich hergestellt sind, und oft sogar durch solche Stoffe, die mit den Samenfäden sonst nie in Berührung zu treten Gelegenheit hätten, wenn nicht die eigentümliche Versuchsanlage dies vermittelte, weil sie in der Natur gar nicht vorkommen. So werden die Spermatozoiden der Farne durch die aus den Archegonien ausgeschiedene Äpfelsäure, aber auch durch synthetisch dargestellte Äpfelsäure, ja sogar durch Maleinsäure, die der Laubmoose durch Rohrzucker angezogen. Das Spermatozoon, das, wir wissen nicht wie, durch Unterschiede in der Konzentration der Lösung beeinflußt wird, bewegt sich nach der Richtung der stärkeren Konzentration hin. _Pfeffer_ hat diese Bewegungen _chemotaktische_ genannt und für jene ganzen Erscheinungen wie für andere Fälle asexueller Reizbewegungen den Begriff des _Chemotropismus_ geschaffen. Vieles spräche nun dafür, daß die Anziehung, welche das Weibchen, beim Tiere vom Männchen durch die Sinnesorgane aus der Ferne perzipiert, auf das Männchen ausübt (und vice versa), als eine der chemotaktischen in gewissen Punkten analoge zu betrachten sei. Sehr wahrscheinlich ist ein Chemotropismus die Ursache jener energischen und hartnäckigen Bewegung, welche die Samenfäden auch der Säugetiere, _entgegen_ der Richtung der von innen nach außen, vom Körper gegen den Hals der Gebärmutter zu flimmernden Wimpern der Uterusschleimhaut, ganze Tage hindurch ohne jede äußere Unterstützung selbständig verfolgen. Mit unglaublicher, fast rätselhafter Sicherheit weiß allen mechanischen und sonstigen Hindernissen zum Trotz das Spermatozoon die Eizelle aufzufinden. Am eigentümlichsten berühren in dieser Hinsicht die ungeheuren Wanderungen so mancher Fische; die Lachse wandern viele Monate lang, ohne Nahrung zu sich zu nehmen, aus dem Meere gegen die Wogen des Rheins stromaufwärts, um nahe seinem Ursprung an sicherer, nahrungsreicher Stätte zu laichen. Anderseits sei an die hübsche Schilderung erinnert, die P. _Falkenberg_ von dem Befruchtungsvorgang bei einigen niederen Algen des mittelländischen Meeres entwirft. Wenn wir von den Linien der Kraft sprechen, die zwei ungleichnamige Magnetpole gegeneinander bewegt, so haben wir es hier nicht minder mit einer solchen Naturkraft zu tun, die mit unwiderstehlicher Gewalt das Spermatozoon gegen das Ei treibt. Der Unterschied wird hauptsächlich darin liegen, daß die Bewegungen der _leblosen_ Materie Verschiebungen in den Spannungszuständen _umgebender Medien_ voraussetzen, während die Kräfte der _lebenden_ Materie in den Organismen selbst, als wahren _Kraftzentren_, lokalisiert sind. Nach _Falkenbergs_ Beobachtungen überwanden die Spermatozoiden bei ihrer Bewegung nach der Eizelle hin selbst die Kraft, die sie sonst dem einfallenden Lichte entgegengeführt hätte. Stärker als die _$photo$taktische_ wäre also die _$chemo$taktische Wirkung, Geschlechtstrieb genannt_. Wenn zwei nach unseren Formeln schlecht zusammenpassende Individuen eine Verbindung eingehen und später das wirkliche Komplement des einen erscheint, so stellt sich die Neigung, den früheren notdürftigen Behelf zu verlassen, auf der Stelle mit naturgesetzlicher Notwendigkeit ein. _Der Ehebruch ist da_: als Elementarereignis, als Naturphänomen, wie wenn FeSO_{4} mit 2 KOH zusammengebracht wird und die SO_{4}-Ionen nun sofort die Fe-Ionen verlassen und zu den K-Ionen übergehen. Wer moralisch billigen oder verwerfen wollte, wenn in der _Natur_ ein Ausgleich von Potentialdifferenzen zu erfolgen droht, würde vielen eine lächerliche Figur zu spielen scheinen. Dies ist ja auch der Grundgedanke der _Goethe_schen »Wahlverwandtschaften«, wie er dort als tändelndes Präludium, voll ungeahnter Zukunftsbedeutung, im vierten Kapitel des ersten Teiles von denen entwickelt wird, die seine tiefe schicksalsschwere Wahrheit nachher an sich selbst erfahren sollen; und diese Darlegung ist nicht wenig stolz darauf, die erste zu sein, welche jenen Gedanken wieder aufnimmt. Dennoch will sie, so wenig es Goethe wollte, den Ehebruch verteidigen, ihn vielmehr nur begreiflich machen. Es gibt _im Menschen_ Motive, die dem Ehebruch erfolgreich entgegenwirken und ihn verhindern können. Hierüber wird im zweiten Teile noch zu handeln sein. Daß auch die niedere Sexualsphäre beim Menschen nicht so streng in den Kreis der Naturgesetzlichkeit gebannt ist wie die der übrigen Organismen, dafür ist immerhin schon dies ein Anzeichen, daß der Mensch in _allen_ Jahreszeiten sexuell ist und bei ihm die Reste einer besonderen Brunstzeit im Frühjahr viel schwächer sind als selbst bei den Haustieren. Das Gesetz der sexuellen Affinität zeigt weiter, freilich neben radikalen Unterschieden, noch Analogien zu einem bekannten Gesetze der theoretischen Chemie. Zu den vom »Massenwirkungsgesetz« geregelten Vorgängen ist nämlich unsere Regel insofern analog, als z. B. eine stärkere Säure sich vornehmlich mit der stärkeren Base ebenso verbindet wie das männlichere mit dem weiblicheren Lebewesen. Doch besteht hier mehr als ein Novum gegenüber dem toten Chemismus. Der lebendige Organismus ist vor allem keine homogene und isotrope, in beliebig viele, qualitativ gleiche Teile spaltbare Substanz: das »principium individuationis«, die Tatsache, daß alles, was lebt, als Individuum lebt, _ist identisch mit der Tatsache der Struktur_. Es kann also hier nicht wie dort ein größerer Teil die eine, ein kleinerer die andere Verbindung eingehen und ein Nebenprodukt liefern. Der Chemo_tropismus_ kann ferner auch ein _negativer_ sein. Von einer gewissen Größe der Differenz α - β an in der Formel II erhalten wir eine negative, d. h. entgegengesetzt gerichtete Anziehung, das Vorzeichen hat zu wechseln: _sexuelle Abstoßung liegt vor_. Zwar kann auch beim toten Chemismus _dieselbe_ Reaktion mit _verschiedener Geschwindigkeit_ erfolgen. Nie aber kann, nach den neuesten Anschauungen wenigstens, etwa durch einen Katalysator statt des absoluten Fehlens (in unserem Falle sozusagen des Gegenteils) einer Reaktion diese selbe Reaktion in längerer oder kürzerer Zeit bewirkt werden; sehr wohl dagegen eine Verbindung, die sich von einer gewissen Temperatur an bildet, bei einer höheren sich wieder zersetzt und umgekehrt. Ist hier die _Richtung_ der Reaktion eine Funktion der Temperatur, so dort oft eine solche der Zeit. In der Bedeutung des Faktors t, der »Reaktionszeit«, liegt nun aber wohl die letzte Analogie der sexuellen Anziehung zum Chemismus, wenn man solche Vergleiche zu ziehen nicht von vornherein allzu schroff ablehnt. Man könnte auch hier an eine Formel für die _Reaktionsgeschwindigkeit_, die verschiedenen Grade der Schnelligkeit, mit denen die sexuelle Reaktion zwischen zwei Individuen sich entwickelt, denken und etwa gar A nach t zu differenzieren versuchen. Doch soll die Eitelkeit auf das »mathematische Gepränge« (_Kant_) niemand verleiten, an so komplizierte und schwierige Verhältnisse, an Funktionen, deren Stetigkeit eben sehr fraglich ist, schon mit einem Differentialquotienten heranzurücken. Was gemeint ist, leuchtet wohl auch so ein: sinnliches Verlangen kann zwischen zwei Individuen, die längere Zeit beisammen, besser noch: _miteinander eingesperrt_ sind, sich auch entwickeln, wo vorher keines oder gar Abstoßung vorlag, ähnlich einem chemischen Prozesse, der sehr viel Zeit in Anspruch nimmt, ehe merklich wird, daß er vor sich geht. Zum Teil hierauf beruht ja wohl auch der Trost, den man ohne Liebe Heiratenden mitzugeben pflegt: Das stelle sich »schon später« ein; es komme »_mit der Zeit_«. Man sieht: viel Wert ist auf die Analogie mit der Affinität im toten Chemismus nicht zu legen. Es schien mir aber _aufklärend_, derartige Betrachtungen anzustellen. Selbst ob die sexuelle Anziehung unter die Tropismen zu subsumieren ist, bleibt noch unentschieden, und keineswegs ist, auch wenn es für die _Sexualität feststände_, damit auch schon _implicite_ etwas über die _Erotik_ ausgemacht. Das Phänomen der Liebe bedarf noch einer anderen Behandlung, die ihm der zweite Teil zu geben versuchen soll. Dennoch bestehen zwischen den Formen, in denen leidenschaftlichste Anziehung selbst unter Menschen auftritt, und jenen Chemotropismen noch unleugbare Analogien; ich verweise auf die Schilderung des Verhältnisses zwischen Eduard und Ottilie eben in den »Wahlverwandtschaften«. Mit der Nennung dieses Romanes war bereits einmal ein kurzes Eingehen auf das Problem der Ehe gegeben, und einige Nutzanwendungen, welche aus dem Theoretischen dieses Kapitels für die Praxis folgen, sollen ebenfalls zunächst an das Problem der Ehe geknüpft werden. Das für die sexuelle Anziehung aufgestellte eine Gesetz, dem die anderen sehr ähnlich gebaut zu sein scheinen, lehrt nämlich, daß, weil unzählige sexuelle Zwischenstufen existieren, es auch immer _zwei_ Wesen geben wird, die _am besten_ zueinander passen. _Insofern_ ist also die Ehe gerechtfertigt und »freie Liebe«, von diesem biologischen Standpunkte aus zu verwerfen. Freilich wird die Frage der Monogamie durch andere Verhältnisse, z. B. durch später zu erwähnende Periodizitäten wie auch durch die besprochene Veränderung des Geschmackes mit zunehmendem Alter, wieder bedeutend kompliziert und die Leichtigkeit einer Lösung vermindert. Eine zweite Folgerung ergibt sich, wenn wir uns der Heterostylie erinnern, insbesondere der Tatsache, daß aus der »illegitimen Befruchtung« fast lauter entwicklungsunfähige Keime hervorgehen. Dies legt bereits den Gedanken nahe, daß auch bei den anderen Lebewesen die stärkste und gesündeste Nachkommenschaft aus Verbindungen hervorgehen werde, in denen wechselseitige geschlechtliche Anziehung in hohem Ausmaße besteht. So spricht auch das Volk längst von den »Kindern der Liebe« in ganz besonderer Weise, und glaubt, daß diese schönere, bessere, prächtigere Menschen werden. Aus diesem Grunde wird, selbst wer keinen speziellen Beruf zum Menschenzüchter in sich fühlt, schon um der Hygiene willen die bloße Geldheirat, die sich von Verstandesehe noch erheblich unterscheiden kann, mißbilligen. Ferner dürfte auf die Tierzucht, wie ich nebenbei bemerken will, die Beachtung der Gesetze sexueller Anziehung vielleicht einen ziemlichen Einfluß gewinnen. Man wird zunächst den sekundären Geschlechtscharakteren, und dem Grade ihrer Ausbildung in den beiden zu kopulierenden Individuen mehr Aufmerksamkeit als bisher schenken. Die künstlichen Prozeduren, die man vornimmt, um Weibchen durch männliche Zuchttiere auch dann belegen zu lassen, wenn diese an jenen wenig Gefallen gefunden haben, verfehlen gewiß im einzelnen ihren Zweck keineswegs, sie sind aber im allgemeinen stets von irgend welchen üblen Folgen begleitet; die ungeheuere Nervosität beispielsweise der durch Unterschiebung falscher Stuten gezeugten Hengste, die man, trotz jedem modernen jungen Mann, mit Brom und anderen Medikamenten füttern muß, geht sicherlich in letzter Linie hierauf zurück, ähnlich wie an der körperlichen Degeneration des modernen Judentums nicht zum wenigsten der Umstand beteiligt sein mag, daß bei den Juden viel häufiger als irgend sonstwo auf der Welt die Ehen der Heiratsvermittler und nicht die Liebe zustande bringt. _Darwin_ hat in seinen auch hierfür grundlegenden Arbeiten durch sehr ausgedehnte Experimente und Beobachtungen festgestellt, was seither allgemein bestätigt worden ist: daß sowohl ganz nahe verwandte Individuen als auch anderseits solche von allzu ungleichem Artcharakter einander sexuell weniger anziehen als gewisse »unbedeutend verschiedene«, und daß, wenn es trotzdem dort zur Befruchtung kommt, der Keim entweder in den Vorstadien der Entwicklung abstirbt oder ein schwächliches, selbst meist nicht mehr reproduktionsfähiges Produkt entsteht, wie eben auch bei den heterostylen Pflanzen »_legitime_ Befruchtung« _mehr_ und _besseren_ Samen liefert als alle anderen Kombinationen. _Es gedeihen also stets am besten diejenigen Keime, deren Eltern die größte sexuelle Affinität gezeigt haben._ Aus dieser Regel, die wohl als allgemein gültig zu betrachten ist, folgt die Richtigkeit des bereits aus dem Früheren gezogenen Schlusses: Wenn schon geheiratet wird und Kinder gezeugt werden, dann sollen diese wenigstens nicht aus der Überwindung einer sexuellen Abstoßung hervorgegangen sein, die nicht ohne eine Versündigung an der körperlichen und geistigen Konstitution des Kindes geschehen könnte. Sicherlich bilden einen großen Teil der unfruchtbaren Ehen die Ehen ohne Liebe. Die alte Erfahrung, nach der beiderseitige sexuelle Erregung beim Geschlechtsakte die Aussichten der Konzeption erhöhen soll, gehört wohl auch teilweise in diese Sphäre und wird aus der von Anfang an größeren Intensität des Sexualtriebes zwischen zwei einander wohl ergänzenden Individuen leichter verständlich. IV. Kapitel. Homosexualität und Päderastie. In dem besprochenen Gesetze der sexuellen Anziehung ist zugleich die -- langgesuchte -- Theorie der konträren Sexualempfindung, d. i. der sexuellen Hinneigung zum eigenen (nicht oder nicht nur zum anderen) Geschlechte enthalten. Von einer Distinktion abgesehen, die später zu treffen sein wird, läßt sich kühnlich behaupten, daß jeder Konträrsexuelle auch anatomisch die Charaktere des anderen Geschlechtes aufweist. Einen rein »psychosexuellen Hermaphroditismus« gibt es nicht; Männer, die sich sexuell von Männern angezogen fühlen, sind auch ihrem äußeren Habitus nach weibliche Männer, und ebenso zeigen jene Frauen körperlich männliche Charaktere, die andere Frauen sinnlich begehren. Diese Anschauung ist vom Standpunkte eines strengen Parallelismus zwischen Physischem und Psychischem _selbstverständlich_; ihre Durchführung fordert jedoch Beachtung der im zweiten Kapitel erwähnten Tatsache, daß nicht alle Teile _desselben_ Organismus die gleiche Stellung zwischen M und W einnehmen, sondern verschiedene Organe verschieden männlich oder verschieden stark weiblich sein können. _Es fehlt also beim sexuell Invertierten nie eine anatomische Annäherung an das andere Geschlecht._ Schon dies würde genügen, um die Meinung derer zu widerlegen, welche den konträren Sexualtrieb als eine Eigenschaft betrachten, die von den betreffenden Individuen im Laufe des Lebens erworben wird und das normale Geschlechtsgefühl überdeckt. An eine solche Erwerbung durch äußere Anlässe im Laufe des individuellen Lebens glauben angesehene Forscher, _Schrenck-Notzing_, _Kraepelin_, _Féré_; als solche Anlässe betrachten sie Abstinenz vom »normalen« Verkehr und besonders »Verführung«. Was ist es aber dann mit dem ersten Verführer? Wurde dieser vom Gotte Hermaphroditos unterwiesen? Mir ist diese ganze Meinung nie anders vorgekommen, als wenn jemand die »normale« sexuelle Hinneigung des typischen Mannes zur typischen Frau als künstlich erworben ansehen wollte, und sich zur Behauptung verstiege, diese gehe stets auf Belehrung älterer Genossen zurück, die _zufällig_ einmal die Annehmlichkeit des Geschlechtsverkehres entdeckt hätten. So wie der »Normale« ganz von selbst darauf kommt, »was ein Weib ist«, so stellt sich wohl auch beim »Konträren« die sexuelle Anziehung, welche Personen des eigenen Geschlechtes auf ihn ausüben, im Laufe seiner individuellen Entwicklung durch Vermittlung jener ontogenetischen Prozesse, die über die Geburt hinaus das ganze Leben hindurch fortdauern, von selbst ein. Natürlich wird eine _Gelegenheit_ hinzukommen müssen, welche die Begierde nach der Ausübung homosexueller Akte hervortreten läßt, _aber diese kann nur aktuell machen_, was in den Individuen in größerem oder geringerem Grade bereits längst vorhanden ist und nur der Auslösung harrt. _Daß bei sexueller Abstinenz_ (um den zweiten angeblichen Grund konträrer Sexualempfindung nicht zu übergehen) _eben noch zu etwas anderem gegriffen werden kann als zur Masturbation, das ist es, was die Erwerbungstheoretiker erklären müßten_; aber daß _homosexuelle_ Akte angestrebt und ausgeführt werden, muß in der Naturanlage bereits begründet sein. Auch die heterosexuelle Anziehung könnte man ja »erworben« nennen, wenn man es einer ausdrücklichen Konstatierung bedürftig fände, daß z. B. der heterosexuelle Mann irgend einmal ein Weib oder zumindest ein weibliches Bildnis gesehen haben muß, um sich zu verlieben. Aber wer das konträre Geschlechtsgefühl acquiriert sein läßt, gleicht gar einem Manne, der hierauf ausschließlich reflektierte und die ganze Anlage des Individuums, in Bezug auf die allein doch ein bestimmter Anlaß seine bestimmte Wirkung entfalten kann, ausschaltete, um ein an sich nebensächliches Ereignis des äußeren Lebens, eine letzte »Komplementärbedingung« oder »Teilursache« zum alleinigen Faktor des ganzen Resultates zu machen. Ebensowenig als die konträre Sexualempfindung erworben ist, ebensowenig ist sie von den Eltern oder Großeltern _ererbt_. Dies hat man wohl auch kaum behauptet -- denn dem widerspräche alle Erfahrung auf den ersten Blick --, sondern nur eine durchaus neuropathische Konstitution als ihre Bedingung hinstellen wollen, eine allgemeine hereditäre Belastung, die sich im Nachkommen eben auch durch Verkehrung der geschlechtlichen Instinkte äußere. Man rechnete die ganze Erscheinung zum Gebiete der Psychopathologie, betrachtete sie als ein Symptom der Degeneration, die von ihr Betroffenen als Kranke. Obwohl diese Auffassung nun viel weniger Anhänger zählt als noch vor etlichen Jahren, seitdem ihr früherer Hauptvertreter _v. Krafft-Ebing_ in den späteren Auflagen seiner »Psychopathia sexualis« sie selbst stillschweigend hat fallen lassen, so ist doch noch immer die Bemerkung nicht unangebracht, daß die Menschen mit sexueller Inversion in allem übrigen ganz gesund sein können und sich, accessorische soziale Momente abgerechnet, nicht weniger wohl fühlen wie alle anderen gesunden Menschen. Fragt man sie, ob sie sich überhaupt wünschen, in dieser Beziehung anders zu sein, als sie sind, so erhält man gar oft eine verneinende Antwort. Daß man die Homosexualität gänzlich isolierte und nicht in Verbindung mit anderen Tatsachen zu bringen suchte, ist schuld an all diesen verfehlten Erklärungsversuchen. Wer die »sexuellen Inversionen« als etwas Pathologisches oder als eine scheußlich-monströse geistige Bildungsanomalie betrachtet (die letztere ist die vom Philister sanktionierte Anschauungsweise) oder sie gar als ein angewöhntes Laster, als das Resultat einer fluchwürdigen Verführung auffaßt, der bedenke doch, _daß unendlich viele Übergänge führen vom männlichsten Masculinum über den weiblichen Mann und schließlich über den Konträrsexuellen hinweg zum Hermaphroditismus spurius und genuinus und von da über die Tribade, weiter über die Virago hinweg zur weiblichen Virgo. Die Konträrsexuellen_ (»beiderlei Geschlechtes«) _sind im Sinne der hier vertretenen Anschauung als Individuen zu definieren, bei denen der Bruch α um 0·5 herum schwankt_, also sich von α' (vgl. S. 10) nicht weit unterscheidet, die also ungefähr ebensoviel vom Manne als vom Weibe haben, ja öfters mehr vom Weibe, obwohl sie als Männer, und vielleicht auch mehr vom Manne, obwohl sie als Weiber gelten. Entsprechend der nicht immer gleichmäßigen Verteilung der sexuellen Charakteristik über den ganzen Körper ist es nämlich sicher, daß häufig genug Individuen bloß auf Grund eines primären männlichen Geschlechtscharakters, auch wenn der Descensus testiculorum erst später erfolgt, oder Epi- oder Hypospadie da ist, oder später Azoospermie sich einstellt, oder auch wenn (beim weiblichen Geschlechte) Atresia vaginae bemerkt wird, unbedenklich in das eine Geschlecht eingereiht werden, welches jener Charakter angibt, z. B. eine männliche Erziehung genießen, zum Militärdienst u. s. w. herangezogen werden, _obwohl bei ihnen α < 0·5, α' > 0·5_ ist. Das sexuelle Komplement solcher Individuen wird demgemäß scheinbar auf der diesseitigen Hälfte sich befinden, auf der nämlichen, auf der sie selbst sich jedoch nur aufzuhalten _scheinen_, indes sie tatsächlich bereits auf der jenseitigen stehen. Übrigens -- dies kommt meiner Auffassung zu Hilfe und wird anderseits erst durch sie erklärt -- es gibt keinen Invertierten, der _bloß_ konträrsexuell wäre. Alle sind von Anfang an nur _bisexuell_, d. h. es ist ihnen sowohl der Geschlechtsverkehr mit Männern als mit Frauen möglich. Es kann aber sein, daß sie selbst später aktiv ihre einseitige Ausbildung zu einem Geschlechte begünstigen, einen Einfluß auf sich in der Richtung der Unisexualität nehmen, und so schließlich die Hetero- oder die Homosexualität in sich zum Überwiegen bringen oder durch äußere Einwirkungen in einem solchen Sinne sich beeinflussen lassen; obwohl die Bisexualität hiedurch nie erlischt, vielmehr immer wieder ihr nur zeitweilig zurückgedrängtes Dasein zu erkennen gibt. Daß ein Zusammenhang der homosexuellen Erscheinungen mit der bisexuellen Anlage jedes tierischen und pflanzlichen Embryo besteht, hat man mehrfach, und in jüngster Zeit mit steigender Häufigkeit eingesehen. Das Neue in _dieser_ Darstellung ist, daß für sie die Homosexualität nicht einen Rückschlag oder eine unvollendete Entwicklung, eine mangelhafte Differenzierung des Geschlechtes bedeutet wie für jene Untersuchungen, daß ihr die Homosexualität überhaupt keine Anomalie mehr ist, die nur vereinzelt dastünde und als Rest einer früheren Undifferenziertheit in die sonst völlig vollzogene Sonderung der Geschlechter hereinragte. _Sie reiht vielmehr die Homosexualität als die Geschlechtlichkeit der sexuellen Mittelstufen ein in den kontinuierlichen Zusammenhang der sexuellen Zwischenformen_, die ihr als einzig real gelten, indes die Extreme ihr nur Idealfälle sind. Ebenso wie nach ihr alle Wesen auch _heterosexuell_ sind, so sind ihr darum _alle auch homosexuell_. Daß in _jedem_ menschlichen Wesen, entsprechend dem _mehr_ oder _minder_ rudimentär gewordenen _anderen_ Geschlecht, auch die Anlage zur Homosexualität, wenn auch noch schwach, vorhanden ist, wird besonders klar erwiesen durch die Tatsache, daß im Alter _vor_ der Pubertät, wo noch eine verhältnismäßige Undifferenziertheit herrscht, wo noch nicht die innere Sekretion der Keimdrüsen vollends über den Grad der einseitigen sexuellen Ausprägung entschieden hat, jene schwärmerischen »Jugendfreundschaften« die Regel sind, die nie eines sinnlichen Charakters ganz entbehren, und zwar sowohl beim männlichen wie beim weiblichen Geschlecht. Wer freilich über jenes Alter _hinaus_ noch sehr von »Freundschaft« mit dem eigenen Geschlecht übermäßig schwärmt, hat schon einen starken Einschlag vom anderen in sich; eine noch weit vorgerücktere Zwischenstufe markieren aber jene, die von Kollegialität zwischen den »beiden Geschlechtern« begeistert sind, mit dem anderen Geschlecht, das ja doch nur das ihrige ist, ohne über die eigenen Gefühle wachen zu müssen, kameradschaftlich verkehren können, von ihm zu Vertrauten gemacht werden, und ein derartiges »ideales«, »reines« Verhältnis auch anderen aufdrängen wollen, die es weniger leicht haben, rein zu bleiben. Es gibt auch keine Freundschaft zwischen Männern, die ganz eines Elementes von Sexualität entbehrte, so wenig damit das Wesen der Freundschaft bezeichnet, so _peinlich_ sie vielmehr gerade dem Gedanken an die Freundschaft, so _entgegensetzt_ sie der _Idee_ der Freundschaft ist. Schon daß keine Freundschaft zwischen Männern werden kann, wenn die äußere Erscheinung gar keine Sympathie zwischen beiden geweckt hat, weil sie dann eben einander nie näher treten werden, ist Beweis genug für die Richtigkeit des Gesagten. Sehr viel »Beliebtheit«, Protektion, Nepotismus zwischen Männern geht auf solche oft unbewußt geschlechtliche Verhältnisse zurück. Der sexuellen Jugendfreundschaft entspricht vielleicht ein analoges Phänomen bei älteren Männern: dann nämlich, wenn mit einer greisenhaften Rückbildung der im Mannesalter einseitig entwickelten Geschlechtscharaktere die latente Amphisexualität wieder zu Tage tritt. Daß so viele Männer von 50 Jahren aufwärts wegen verübter »Unsittlichkeitsdelikte« gerichtlich belangt werden, hat möglicherweise dies zur Ursache. Endlich sind homosexuelle Akte in nicht geringer Zahl auch bei Tieren beobachtet worden. Die Fälle (nicht alle) hat aus der Literatur in verdienstvoller Weise F. _Karsch_ zusammengestellt. Leider geben die Beobachter kaum je etwas über die Grade der »Maskulität« und »Muliebrität« bei diesen Tieren an. Dennoch kann kein Zweifel sein, daß wir es hier mit einem Beweise der Gültigkeit unseres Gesetzes auch für die _Tierwelt_ zu tun haben. Wenn man Stiere längere Zeit in einem Raume eingesperrt hält, ohne sie zu einer Kuh zuzulassen, so kann man mit der Zeit konträrsexuelle Akte zwischen ihnen wahrnehmen; die einen, die weiblicheren, verfallen früher, die anderen später darauf, manche vielleicht auch nie. (Gerade beim Rinde ist die große Zahl sexueller Zwischenstufen bereits festgestellt.) Dies beweist, daß eben die Anlage in ihnen vorhanden ist, sie nur vorher ihr Bedürfnis besser befriedigen konnten. Die gefangen gehaltenen Stiere benehmen sich eben nicht anders, als es so oft in den Gefängnissen der Menschen, in Internaten und Konvikten, hergeht. Daß die Tiere ebenfalls nicht nur die Onanie (die bei ihnen so wie beim Menschen vorkommt), sondern auch die Homosexualität kennen, darin erblicke ich, nachdem es auch unter ihnen sexuelle Zwischenformen gibt, eine der stärksten Bestätigungen des aufgestellten Gesetzes der sexuellen Anziehung. _Das konträre Geschlechtsgefühl wird so für diese Theorie keine Ausnahme von dem Naturgesetze, sondern nur ein Spezialfall desselben._ Ein Individuum, das ungefähr zur Hälfte Mann, zur Hälfte Weib ist, verlangt eben nach dem Gesetze zu seiner Ergänzung ein anderes, das ebenfalls von beiden Geschlechtern etwa gleiche Anteile hat. Dies ist der Grund der ja ebenfalls eine Erklärung verlangenden Erscheinung, daß die »Konträren« fast immer nur _untereinander_ ihre Art von Sexualität ausüben, und nur höchst selten jemand in ihren Kreis gerät, der nicht die gleiche Form der Befriedigung sucht wie sie -- die sexuelle Anziehung ist wechselseitig -- und _sie_ ist der mächtige Faktor, der es bewirkt, daß die Homosexuellen einander immer sofort erkennen. So kommt es aber auch, daß die »Normalen« im allgemeinen von der ungeheueren Verbreitung der Homosexualität keine Ahnung haben, und, wenn er plötzlich von einem solchen Akte hört, der ärgste »normalgeschlechtliche« Wüstling zur Verurteilung »solcher Ungeheuerlichkeiten« ein volles Recht zu besitzen glaubt. Ein Professor der Psychiatrie an einer deutschen Universität hat noch im Jahre 1900 ernstlich vorgeschlagen, man möge die Homosexuellen einfach kastrieren. Das therapeutische Verfahren, mit welchem man heute die sexuelle Inversion zu bekämpfen sucht (wo man überhaupt einen solchen Versuch unternimmt), ist zwar minder radikal als jener Rat, aber es offenbart auf dem Wege der Praxis die völlige Unzulänglichkeit so mancher theoretischer Vorstellungen über die Natur der Homosexualität. Heute behandelt man nämlich -- wie begreiflich, geschieht dies hauptsächlich von Seite der Erwerbungstheoretiker -- die betreffenden Menschen hypnotisch: man sucht ihnen die Vorstellung des Weibes und des »normalen« aktiven Koitus mit demselben auf suggestivem Wege beizubringen und sie daran zu gewöhnen. Der Erfolg ist eingestandenermaßen ein minimaler. Das ist von unserem Standpunkt aus auch selbstverständlich. Der Hypnotiseur entwirft dem zu Behandelnden das _typische_ (!!) Bild des Weibes, das diesem seiner ganzen, angeborenen, gerade seiner unbewußten, durch Suggestion schwer angreifbaren Natur nach ein Greuel ist. Denn nicht W ist sein Komplement, und nicht zum ersten besten Freimädchen, das ihm nur um Geld zu Gefallen ist, darf ihn der Arzt schicken, um so diese Kur, welche den Abscheu vor dem »normalen« Koitus im Behandelten im allgemeinen noch vermehrt haben wird, angemessen zu krönen. Fragen wir unsere Formel nach dem Komplemente des Konträrsexuellen, so erhalten wir vielmehr gerade das allermännlichste Weib, die Lesbierin, die Tribade. _Tatsächlich ist diese auch nahezu das einzige Weib, welches den Konträrsexuellen anzieht, das einzige, dem er gefällt._ Wenn also eine »Therapie« der konträren Sexualempfindung unbedingt sein muß und auf ihre Ausarbeitung nicht verzichtet werden kann, so ergibt diese Theorie den Vorschlag, den Konträren an die Konträre, den Homosexuellen an die Tribade zu weisen. Der Sinn dieser Empfehlung kann aber nur der sein, _beiden_ die Befolgung der (in England, Deutschland, Österreich) noch in Kraft stehenden Gesetze gegen homosexuelle Akte, die eine Lächerlichkeit sind und zu deren Abschaffung diese Zeilen ebenfalls beitragen wollen, möglichst leicht zu machen. Der zweite Teil dieser Arbeit wird es verständlich werden lassen, _warum_ die aktive Prostituierung eines Mannes durch einen mit ihm vollzogenen Sexualakt wie die passive Selbsthingabe des anderen Mannes zu einem solchen so viel intensiver als eine Schmach empfunden wird, als der sexuelle Verkehr des Mannes mit der Frau beide zu entwürdigen scheint. _An und für sich besteht aber ethisch gar keine Differenz zwischen beiden._ Trotz all dem heute beliebten Geschwätze von dem verschiedenen Rechte für verschiedene Persönlichkeiten gibt es nur eine, für alles, was Menschenantlitz trägt, gleiche allgemeine Ethik, so wie es nur eine Logik und nicht mehrere Logiken gibt. Ganz verwerflich hingegen und auch mit den Prinzipien des Strafrechtes, das nur das Verbrechen, nicht die Sünde ahndet, völlig _unvereinbar_ ist es, dem Homosexuellen seine Art des Geschlechtsverkehres zu verbieten und dem Heterosexuellen die seine zu gestatten, wenn beide mit der gleichen Vermeidung des »öffentlichen Ärgernisses« sich abspielen. _Logisch_ wäre einzig und allein (vom Standpunkte einer reinen Humanität und eines Strafrechtes als nicht bloß »abschreckenden« sozialpädagogischen Zwecksystems sehe ich in dieser Betrachtung überhaupt ab), die »Konträren« Befriedigung dort finden zu lassen, wo sie sie suchen: untereinander. Diese ganze Theorie scheint völlig widerspruchslos und in sich geschlossen zu sein und eine völlig befriedigende Erklärung aller Phänomene zu ermöglichen. Nun muß aber die Darstellung mit Tatsachen herausrücken, die jener sicher werden entgegengehalten werden, und auch wirklich die ganze Subsumtion dieser sexuellen »Perversion« unter die sexuellen Zwischenformen und das Gesetz ihres Geschlechtsverkehres umzustoßen scheinen. Es gibt nämlich wirklich und ohne allen Zweifel, während für die invertierten Frauen die obige Darlegung vielleicht ausreicht, Männer, die sehr wenig weiblich sind und auf die doch Personen des eigenen Geschlechtes eine sehr starke Wirkung ausüben, eine stärkere als auf andere Männer, die vielleicht viel weiblicher sind als sie, eine Wirkung ferner, die auch vom männlichen Manne auf sie ausgehen kann, eine Wirkung endlich, die oft stärker sein kann als der Eindruck, den irgend eine Frau auf jene Männer auszuüben imstande ist. Albert _Moll_ sagt mit Recht: »Es gibt psychosexuelle Hermaphroditen, die sich zu beiden Geschlechtern hingezogen fühlen, die aber bei jedem Geschlechte nur die typischen Eigenschaften dieses Geschlechtes lieben, und anderseits gibt es psychosexuelle [?] Hermaphroditen, die nicht beim einzelnen Geschlechte die typischen Eigenschaften dieses Geschlechtes lieben, sondern denen diese Eigenschaften gleichgültig, zum Teile sogar abstoßend sind.« Auf diesen Unterschied bezieht sich nun die in der Überschrift dieses Kapitels getroffene _Distinktion zwischen Homosexualität und Päderastie_. Die Trennung beider läßt sich wohl begründen; als homosexuell ist derjenige Typus von »Perversen« bezeichnet, welcher sehr thelyide Männer _und_ sehr arrhenoide Weiber bevorzugt, nach dem besprochenen Gesetze; der _Päderast hingegen kann sehr männliche Männer, aber ebensowohl sehr weibliche Frauen lieben_, das letztere, _$soweit$ er $nicht$ Päderast ist. Dennoch wird die Neigung zum männlichen Geschlechte bei ihm stärker sein und tiefer gehen als die zum weiblichen._ Die Frage nach dem Grunde der Päderastie bildet ein Problem für sich und bleibt für diese Untersuchung gänzlich unerledigt. V. Kapitel. Anwendung auf die Charakterologie. Vermöge der Tatsache, daß zwischen Physischem und Psychischem eine wie immer geartete Korrespondenz besteht, ist von vornherein zu erwarten, daß dem weiten Umfange, in welchem unter morphologischen und physiologischen Verhältnissen das Prinzip der sexuellen Zwischenstufen sich nachweisen ließ, psychologisch eine mindestens ebenso reiche Ausbeute entsprechen werde. Sicherlich gibt es auch einen psychischen Typus des Weibes und des Mannes (wenigstens stellen die bisherigen Ergebnisse die Aufsuchung solcher Typen zur Aufgabe), Typen, die von der Wirklichkeit nie erreicht werden, da diese von der reichen Folge der sexuellen Zwischenformen im Geistigen ebenso erfüllt ist wie im Körperlichen. Das Prinzip hat also die größte Aussicht, sich den _geistigen_ Eigenschaften gegenüber zu bewähren und das verworrene Dunkel etwas zu lichten, in welches die psychologischen Unterschiede _zwischen den einzelnen Menschen_ für die Wissenschaft noch immer gehüllt sind. Denn es ist hiemit ein Schritt vorwärts gemacht im Sinne einer differenzierten Auffassung auch des geistigen Habitus jedes Menschen, man wird auch von dem _Charakter_ einer Person wissenschaftlich nicht mehr sagen, er sei _männlich_ oder er sei _weiblich schlechthin_, sondern darauf achten und danach fragen: _wieviel Mann_, _wieviel Weib_ ist in einem Menschen. Hat _er_ oder hat _sie_ in dem betreffenden Individuum dies oder jenes getan, gesagt, gedacht? Eine _individualisierende_ Beschreibung aller Menschen und alles Menschlichen ist hiedurch erleichtert, und so liegt die neue Methode in der eingangs dargelegten Entwicklungsrichtung aller Forschung: alle Erkenntnis hat seit jeher, von Begriffen mittlerer Allgemeinheit ausgehend, nach zwei divergierenden Richtungen auseinandergestrebt, dem allem Einzelnen gemeinschaftlichen Allgemeinsten nicht allein entgegen, sondern ebenso der allereinzelnsten, individuellsten Erscheinung zu. Darum ist die Hoffnung wohl begründet, welche von dem Prinzip der sexuellen Zwischenformen die stärkste Förderung für die noch ungelöste wissenschaftliche Aufgabe einer Charakterologie erwartet, und der Versuch berechtigt, es methodisch zu dem Range eines _heuristischen Grundsatzes_ in der »Psychologie der individuellen Differenzen« oder »differentiellen Psychologie« zu erheben. Und seine Anwendung auf das Unternehmen einer Charakterologie, dieses bisher fast ausschließlich von Literaten bepflügten, wissenschaftlich noch recht verwahrlosten Feldes, ist vielleicht um so freudiger zu begrüßen, als es unmittelbar aller quantitativen Abstufungen fähig ist, indem man sozusagen den Prozentgehalt an M und W, den ein Individuum besitzt, auch im Psychischen aufzusuchen sich nicht wird scheuen dürfen. Daß diese Aufgabe mit einer _anatomischen_ Beantwortung der Frage nach der sexuellen Stellung eines Organismus zwischen Mann und Weib noch nicht gelöst ist, sondern _im allgemeinen_ noch eine besondere Behandlung erfordert, selbst wenn _im speziellen_ hier viel öfter Kongruenz als Inkongruenz sich nachweisen ließe, ist bereits mit den Ausführungen des zweiten Kapitels über die Ungleichmäßigkeiten gegeben, welche selbst zwischen den einzelnen _körperlichen_ Teilen und Qualitäten des nämlichen Individuums untereinander betreffs des _Grades_ ihrer Männlichkeit oder Weiblichkeit bestehen. Das Nebeneinander von Männlichem und Weiblichem im gleichen Menschen ist hiebei nicht als völlige oder annähernde _Simultaneität_ zu verstehen. Die wichtige neue Hinzufügung, welche an dieser Stelle notwendig wird, ist nicht nur eine erläuternde Anweisung zur richtigen psychologischen Verwertung des Prinzipes, sondern auch eine bedeutungsvolle Ergänzung der früheren Ausführungen. _Es schwankt oder oszilliert nämlich jeder Mensch zwischen dem Manne und dem Weibe in ihm hin und her_; wenn auch diese Oszillationen bei dem einen abnorm groß, bei dem anderen klein bis zur Unmerklichkeit sein können, _sie sind immer da_ und offenbaren sich, wenn sie von einiger Erheblichkeit sind, auch durch ein wechselndes körperliches Aussehen der von ihnen Betroffenen. Diese _Schwankungen der sexuellen Charakteristik_ zerfallen, den Schwankungen des Erdmagnetismus vergleichbar, in regelmäßige und unregelmäßige. Die regelmäßigen sind entweder kleine Oszillationen: z. B. fühlen manche Menschen am Abend männlicher als am Morgen; oder sie gehören in das Reich der größeren und großen _Perioden_ des organischen Lebens, auf die man kaum erst aufmerksam zu werden begonnen hat, und deren Erforschung Licht auf eine noch gar nicht absehbare Menge von Phänomenen werfen zu sollen scheint. Die unregelmäßigen Schwankungen werden wahrscheinlich durch äußere Anlässe, vor allem durch den sexuellen Charakter des Nebenmenschen, hervorgerufen. Sie bedingen gewiß zum Teile jene merkwürdigen Phänomene der _Einstellung_, welche in der Psychologie einer _Menge_ die größte Rolle spielen, wenn sie auch bis jetzt kaum die gebührende Beachtung gefunden haben. Kurz, die _Bisexualität_ wird sich nicht in einem einzigen Augenblicke, sondern kann sich psychologisch nur im _Nacheinander_ offenbaren, ob nun diese Differenz der sexuellen Charakteristik in der Zeit dem Gesetze einer Periodizität gehorche oder nicht, ob die Schwingung nach der Seite des einen Geschlechtes hin eine andere Amplitude habe als die Schwingung nach dem anderen Geschlechte hin, oder ob der männliche dem weiblichen Schwingungsbauche gleich sei (was durchaus nicht der Fall zu sein braucht, im Gegenteile nur ein Fall unter unzähligen gleich möglichen ist). Man dürfte also wohl bereits prinzipiell, noch vor der Erprobung durch den ausgeführten Versuch, zuzugeben geneigt sein, daß das Prinzip der sexuellen Zwischenformen eine bessere charakterologische Beschreibung der Individuen ermöglicht, indem es das Mischungsverhältnis zu suchen auffordert, in dem Männliches und Weibliches in jedem einzelnen zusammentreten, und die Elongation der Oszillationen zu bestimmen gebietet, deren ein Individuum nach beiden Seiten hin fähig ist. Wir geraten aber nun vor eine Frage, bezüglich welcher die Darstellung sich _hier_ entscheiden muß, indem von ihrer Beantwortung der Gang der weiteren Untersuchung fast ausschließlich abhängt. Es handelt sich darum, ob diese zuerst das unendlich reiche Gebiet der sexuellen Zwischenstufen, _die sexuelle Mannigfaltigkeit im Geistigen_, durchmessen und an besonders geeigneten Punkten zu möglichst getreuen Aufnahmen der Verhältnisse zu gelangen suchen soll, oder ob sie damit zu beginnen hat, _die sexuellen Typen_ festzulegen, die psychologische Konstruktion des »idealen Mannes« und des »idealen Weibes« vorzunehmen und zu vollenden, bevor sie die verschiedenen Möglichkeiten ihrer empirischen Vereinigung in concreto untersucht und prüft, wie weit die auf deduktivem Wege gewonnenen Bilder sich mit der Wirklichkeit decken. Der erste Weg entspricht der Entwicklung, welche die Gedanken nach der allgemeinen Anschauung psychologisch immer nehmen, indem die Ideen aus der Wirklichkeit, die sexuellen Typen nur aus der allein realen sexuellen Mannigfaltigkeit geschöpft werden können: er wäre induktiv und analytisch. Der zweite würde vor dem ersten den Vorzug der formal logischen Strenge haben: er wäre deduktiv-synthetisch. Diesen anderen Weg habe ich aus dem Grunde nicht einschlagen wollen, weil die Anwendung zweier bereits wohl definierter Typen auf die konkrete Wirklichkeit jedermann leicht in voller Selbständigkeit machen kann, indem sie nur die (für jeden Fall ohnedies stets neu und besonders zu gewinnende) Kenntnis des _Mischungsverhältnisses_ beider voraussetzt, um schon die Möglichkeit zu gestatten, Theorie und Praxis zur Deckung zu bringen; sodann weil (gesetzt auch, es würde die außerhalb der Kompetenz des Verfassers liegende Form historisch-biographischer Untersuchung gewählt) Gesagtes immerfort zu wiederholen wäre, und dem Interesse an den Einzelpersonen aller, der Theorie kein Gewinn mehr aus dieser Verzweigung ins Detail erwüchse. Der erste, der induktive Weg ist darum nicht gangbar, weil in diesem Falle die Menge der Wiederholungen auf den Teil entfiele, welcher die Tafel der Gegensätze der sexuellen Typen entrollen würde, und zudem das vorhergehende Studium der sexuellen Zwischenstufen und die es begleitende Präparation der Typen langwierig, zeitraubend und ohne Nutzen für den Leser wäre. Eine andere Erwägung mußte also die Einteilung bestimmen. Da die morphologische und physiologische Erforschung der sexuellen Extreme nicht meine Sache war, wurde nur das Prinzip der Zwischenformen, dieses aber nach allen Seiten hin, denen es Aufklärung bringen zu können schien, also auch vom biologischen Standpunkte aus behandelt. So bekam das Ganze der vorliegenden Arbeit seine Gestalt. Die eben erwähnte Betrachtung der Zwischenstufen bildet ihren ersten Teil, während der zweite die rein _psychologische Analyse von M und W_ in Angriff nehmen und so weit und tief als möglich fortzuführen trachten wird. Die konkreten Fälle wird sich, in Anwendung der eventuell daselbst zu gewinnenden Erkenntnisse, ein jeder selbsttätig immer zusammensetzen und sie mit den dort zu gewinnenden Anschauungen und Begriffen leicht abbilden können. Dieser zweite Teil wird sich auf die bekannten und gangbaren Meinungen über die geistigen Unterschiede zwischen den Geschlechtern nur sehr wenig stützen können. Hier jedoch will ich, bloß der Vollständigkeit halber und ohne der Sache eine besondere Wichtigkeit beizumessen, die sexuellen Zwischenstufen des psychischen Lebens in aller Kürze an einigen Punkten auftreten lassen, Punkten, die nur ein paar insgemein bekannte Eigentümlichkeiten, welche hier noch keiner näheren Analyse unterzogen werden sollen, in einigen Modifikationen sichtbar werden lassen. Weibliche Männer haben oft ein ungemein starkes Bedürfnis zu heiraten, mögen sie (was ich erwähne, um Mißverständnissen vorzubeugen) materiell noch so glänzend gestellt sein. Sie sind es auch, die, wenn sie können, fast immer sehr jung in die Ehe treten. Es wird ihnen oft besonders schmeicheln, eine berühmte Frau, eine Dichterin oder Malerin, die aber auch eine Sängerin oder Schauspielerin sein kann, zur Gattin zu haben. Weibliche Männer sind ihrer Weiblichkeit gemäß auch körperlich eitler als die anderen unter den Männern. Es gibt auch »Männer«, die auf die Promenade gehen, um ihr Gesicht, welches, als Weibergesicht, die Absicht seines Trägers meist hinreichend verrät, bewundert zu fühlen und dann befriedigt nach Hause zu gehen. Das Urbild des Narciß ist ein solcher »Mann« gewesen. Dieselben Personen sind natürlich auch, was Frisur, Kleidung, Schuhwerk, Wäsche anlangt, ungemein sorgfältig, ihrer momentanen Körperhaltung und ihres Aussehens an jedem bestimmten Tage, der kleinsten Einzelheiten ihrer Toilette, des vorübergehendsten Blickes, der von anderer Menschen Augen auf sie fällt, sich fast ebenso bewußt, wie W es stets ist, ja in Gang und Geberde oft geradezu kokett. Bei den Viragines hingegen nimmt man oft grobe Vernachlässigung der Toilette und Mangel an Körperpflege wahr; sie sind mit dem Ankleiden oft viel schneller fertig als mancher weibliche Mann. Das ganze »Gecken«- oder »Gigerl«tum geht, ebenso wie zum Teile die Frauenemanzipation, auf die jetzige Vermehrung dieser Zwittergeschöpfe zurück; das ist alles mehr als »bloße Mode«. Es fragt sich eben immer, _warum_ etwas zur Mode werden kann, und es gibt wohl überhaupt weniger »bloße Mode«, als der oberflächlich _kritisierende_ Zuschauer wähnt. Je mehr von W eine Frau hat, desto weniger wird sie den Mann _verstehen_, umso stärker jedoch wird er _in seiner geschlechtlichen Eigentümlichkeit_ auf sie _wirken_, um so mehr Eindruck als Mann auf sie machen. Dies ist nicht nur aus dem bereits erläuterten Gesetze der sexuellen Anziehung zu verstehen, sondern geht darauf zurück, daß eine Frau um so eher ihr Gegenteil aufzufassen in der Lage sein wird, je reiner weiblich sie ist. Umgekehrt wird einer, je mehr von M er hat, desto weniger W zu _verstehen_ in der Lage sein, desto _eindringlicher_ jedoch werden die Frauen ihrem ganzen _äußeren_ Wesen nach, in ihrer Weiblichkeit, sich ihm _darstellen_. Die sogenannten »Frauenkenner«, d. h. solche, die nichts mehr sind als nur »Frauenkenner«, sind darum alle zum guten Teile selbst Weiber. Die weiblicheren Männer wissen denn auch oft die Frauen viel besser zu behandeln als Vollmänner, die das erst nach langen Erfahrungen und, von ganz bestimmten Ausnahmen abgesehen, wohl überhaupt nie völlig erlernen. An diese paar Illustrationen, welche die Verwendbarkeit des Prinzipes an Beispielen veranschaulichen sollen, die absichtlich der _trivialsten_ Sphäre der tertiären Geschlechtscharaktere entnommen wurden, möchte ich die naheliegenden Anwendungen schließen, die sich mir aus ihm für die Pädagogik zu ergeben scheinen. _Eine_ Wirkung nämlich erhoffe ich vor allem von einer allgemeinen Anerkennung des Gemeinschaftlichen, das diesen und den früheren Tatsachen wie so vielen anderen noch zu Grunde liegt: _eine mehr individualisierende Erziehung_. Jeder Schuster, der den Füßen das Maß nimmt, muß das Individualisieren besser verstehen als die heutigen Erzieher in Schule und Haus, die nicht zum lebendigen Bewußtsein einer solchen moralischen Verpflichtung zu bringen sind! Denn bis jetzt erzieht man die sexuellen Zwischenformen (insbesondere unter den Frauen) im Sinne einer möglichst extremen Annäherung an ein Mannes- oder Frauenideal von konventioneller Geltung, man übt eine geistige Orthopädie in der vollsten Bedeutung einer Tortur. Dadurch schafft man nicht nur sehr viel Abwechslung aus der Welt, sondern unterdrückt vieles, was keimhaft da ist und Wurzel fassen könnte, verrenkt anderes zu unnatürlicher Lage, züchtet Künstlichkeit und Verstellung. Die längste Zeit hat unsere Erziehung uniformierend gewirkt auf alles, was mit einer männlichen, und auf alles, was mit einer weiblichen Geschlechtsregion zur Welt kommt. Gar bald werden »Knaben« und »Mädchen« in verschiedene Gewänder gesteckt, lernen verschiedene Spiele spielen, schon der Elementarunterricht ist gänzlich getrennt, die »Mädchen« lernen unterschiedslos Handarbeiten etc. etc. _Die Zwischenstufen kommen da alle zu kurz._ Wie mächtig aber die Instinkte, die »Determinanten« ihrer Naturanlage, in derartig mißhandelten Menschen sein können, das zeigt sich oft schon _vor_ der Pubertät: Buben, die am liebsten mit Puppen spielen, sich von ihrem Schwesterlein häkeln und stricken lehren lassen, mit Vorliebe Mädchenkleidung anlegen und sich sehr gerne mit weiblichem Vornamen rufen hören; Mädchen, die sich unter die Knaben mischen, an deren wilderen Spielen teilnehmen wollen und oft auch von diesen ganz als ihresgleichen, »kollegial« behandelt werden. Immer aber kommt eine durch Erziehung von außen unterdrückte Natur _nach_ der Pubertät zum Vorschein: männliche Weiber scheren sich die Haare kurz, bevorzugen frackartige Gewänder, studieren, trinken, rauchen, klettern auf die Berge, werden passionierte Jägerinnen; weibliche Männer lassen das Haupthaar lang wachsen, sie tragen Mieder, zeigen viel Verständnis für die Toilettesorgen der Weiber, mit denen sie vom gleichen Interesse getragene kameradschaftliche Gespräche zu führen imstande sind; ja sie schwärmen denn auch oft aufrichtig von freundschaftlichem Verkehr zwischen den beiden Geschlechtern, weibische Studenten z. B. von »kollegialem Verhältnis« zu den Studentinnen u. s. w. Unter der schraubstockartigen Pressung in eine gleichmachende Erziehung haben Mädchen und Knaben gleich viel, die letzteren später mehr unter ihrer Subsumtion unter das gleiche _Gesetz_, die ersteren mehr unter der Schablonisierung durch die gleiche _Sitte_ zu leiden. Die hier erhobene Forderung wird darum, fürchte ich, was die Mädchen betrifft, mehr passivem Widerstand in den _Köpfen_ begegnen als für die Knaben. Hier gilt es vor allem, sich von der gänzlichen Falschheit der weit verbreiteten, von Autoritäten des Tages weitergegebenen und immer wiederholten Meinung von der _Gleichheit aller »Weiber«_ (»es gibt keine Unterschiede, keine Individuen unter den Weibern; wer eine kennt, kennt alle«) gründlich zu überzeugen. _Es gibt unter denjenigen Individuen, die W näher stehen als M_ (den »Frauen«), _zwar bei weitem nicht so viele Unterschiede und Möglichkeiten wie unter den übrigen_ -- die größere Variabilität der »Männchen« ist nicht nur für den Menschen, sondern im Bereiche der ganzen Zoologie eine allgemeine Tatsache, die insbesondere von _Darwin_ eingehend gewürdigt worden ist -- _aber noch immer Differenzen genug_. Die psychologische Genese jener so weit verbreiteten irrigen Meinung ist zum großen Teile die, daß (vgl. Kapitel III) jeder Mann in seinem Leben nur _eine_ ganz bestimmte Gruppe von Frauen _intimer_ kennen lernt, die _naturgesetzlich_ alle untereinander viel Gemeinsames haben. Man hört ja auch von Weibern öfters, aus der gleichen Ursache und mit noch weniger Grund: »die Männer sind einer wie der andere«. So erklären sich auch manche, gelinde gesagt, _gewagte_ Behauptungen vieler Frauenrechtlerinnen über den Mann und die angeblich unwahre Überlegenheit desselben: daraus nämlich, _was für_ Männer gerade _sie_ in der Regel näher kennen lernen. _In dem verschieden-abgestuften Beisammensein von M und W_, in dem wir ein _Hauptprinzip aller wissenschaftlichen Charakterologie_ erkannt haben, sehen wir somit auch eine von der speziellen Pädagogik zu beherzigende Tatsache vor uns. Die Charakterologie verhält sich zu jener Psychologie, welche eine »Aktualitätstheorie« des Psychischen eigentlich allein gelten lassen dürfte, wie Anatomie zur Physiologie. Da sie stets ein theoretisches und praktisches Bedürfnis bleiben wird, ist es notwendig, unabhängig von ihrer erkenntnistheoretischen Grundlegung und Abgrenzung gegenüber dem Gegenstande der allgemeinen Psychologie, Psychologie der individuellen Differenzen treiben zu dürfen. Wer der Theorie vom psychophysischen Parallelismus huldigt, wird mit den prinzipiellen Gesichtspunkten der bisherigen Behandlung insoferne einverstanden sein, als für ihn, ebenso wie ihm Psychologie im engeren Sinne und Physiologie (des Zentralnervensystems) Parallelwissenschaften sind, _Charakterologie zur Schwester die Morphologie haben muß_. In der Tat, von der Verbindung von Anatomie und Charakterologie und der wechselseitigen Anregung, die sie voneinander empfangen können, ist für die Zukunft noch Großes zu hoffen. Zugleich würde durch ein solches Bündnis der _psychologischen Diagnostik_, welche Voraussetzung jeder _individualisierenden Pädagogik_ ist, ein unschätzbares Hilfsmittel an die Hand gegeben. Das Prinzip der sexuellen Zwischenformen, und mehr noch die Methode des _morphologisch-charakterologischen Parallelismus_ in ihrer _weiteren_ Anwendung gewähren uns nämlich den Ausblick auf eine Zeit, wo jene Aufgabe, welche die hervorragendsten Geister stets so mächtig angezogen und immer wieder zurückgeworfen hat, wo die _Physiognomik_ zu den Ehren einer wissenschaftlichen Disziplin endlich gelangen könnte. Das Problem der Physiognomik ist das Problem einer konstanten Zuordnung des _ruhenden_ Psychischen zum _ruhenden_ Körperlichen, wie das Problem der physiologischen Psychologie das einer gesetzmäßigen Zuordnung des _bewegten_ Psychischen zum _bewegten_ Körperlichen (womit keiner speziellen _Mechanik_ der Nervenprozesse das Wort geredet ist). Das eine ist gewissermaßen _statisch_, das andere eher rein _dynamisch_; prinzipielle Berechtigung aber hat das eine Unternehmen ebensoviel oder ebensowenig wie das andere. Es ist also methodisch wie sachlich ein großes Unrecht, die Beschäftigung mit der Physiognomik, ihrer enormen Schwierigkeiten halber, für etwas so _Unsolides_ zu halten, wie das heute, mehr unbewußt als bewußt, in den wissenschaftlichen Kreisen der Fall ist und gelegentlich, z. B. gegenüber den von _Moebius_ erneuerten Versuchen _Galls_, die Physiognomie des geborenen Mathematikers aufzufinden, zu Tage tritt. Wenn es möglich ist, nach dem Äußeren eines Menschen, den man nie gekannt hat, sehr viel Richtiges über seinen Charakter aus einer unmittelbaren Empfindung heraus, nicht auf Grund eines Schatzes bewußter oder unbewußter Erfahrungen, zu sagen -- und es gibt Menschen, die diese Fähigkeit in hohem Maße besitzen -- so kann es auch kein Ding der Unmöglichkeit sein, zu einem wissenschaftlichen System dieser Dinge zu gelangen. Es handelt sich nur um die begriffliche Klärung gewisser starker Gefühle, um die Legung des Kabels nach dem Sprachzentrum (um mich sehr grob auszudrücken): eine Aufgabe, die allerdings oft ungemein schwierig ist. Im übrigen: es wird noch lange dauern, bis die offizielle Wissenschaft die Beschäftigung mit der Physiognomik nicht mehr als etwas höchst _Unmoralisches_ betrachten wird. Man wird auf den psychophysischen Parallelismus genau so eingeschworen bleiben wie bisher und doch zu gleicher Zeit die Physiognomiker als Verlorene betrachten, als Charlatane, wie bis vor kurzem die Forscher auf hypnotischem Gebiete; trotzdem es keinen Menschen gibt, der nicht unbewußt, keinen hervorragenden Menschen, der nicht bewußt Physiognomiker wäre. Der Redensart: »Das sieht man ihm an der Nase an« bedienen sich auch Leute, die von der Physiognomik als einer Wissenschaft nichts halten, und das Bild eines bedeutenden Menschen wie das eines Raubmörders interessiert gar sehr auch alle jene, die gar nie das Wort »Physiognomik« gehört haben. In dieser Zeit der hochflutenden Literatur über das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, da der Ruf: »Hie Wechselwirkung!« von einer kleinen, aber mutigen und sich mehrenden Schar dem anderen Ruf einer kompakten Majorität: »Hie psychologischer Parallelismus!« entgegengesetzt wird, wäre es von Nutzen gewesen, auf diese Verhältnisse zu reflektieren. Man hätte sich dann freilich die Frage vorlegen müssen, _ob nicht die Setzung einer wie immer gearteten Korrespondenz zwischen Physischem und Psychischem eine bisher übersehene, apriorische, synthetische Funktion unseres Denkens ist_, was mir wenigstens dadurch sicher verbürgt scheint, daß eben jeder Mensch die Physiognomik _anerkennt_, insoferne jeder, _unabhängig_ von der _Erfahrung_, Physiognomik _treibt_. So wenig _Kant_ diese Tatsache bemerkt hat, so gibt sie doch seiner Auffassung recht, daß über das Verhältnis des Körperlichen zum Geistigen sich _weiter_ wissenschaftlich nichts beweisen noch ausmachen läßt. Das Prinzip einer gesetzmäßigen Relation zwischen Psychischem und Materiellem _muß daher als Forschungsgrundsatz heuristisch acceptiert werden_, und es bleibt der Metaphysik und Religion vorbehalten, über die Art dieses Zusammenhanges, _dessen Tatsächlichkeit a priori für jeden Menschen feststeht_, noch nähere Bestimmungen zu treffen. Ob nun Charakterologie in einer Verbindung mit Morphologie gehalten werde oder nicht, für sie allein wie für das Resultat des koordinierten Betriebes beider, für die Physiognomik, dürfte es Geltung haben, daß die beinahe gänzliche Erfolglosigkeit der bisherigen Versuche zur Begründung solcher Wissenschaften zwar auch sonst tief genug in der Natur des schwierigen Unternehmens wurzelt, daß aber immerhin dem Mangel an einer adäquaten Methode nicht zum geringsten Teile dieses Mißlingen zugeschrieben werden muß. Dem Vorschlag, den ich im folgenden an Stelle einer solchen entwickle, verdanke ich die sichere Leitung durch manches Labyrinth; ich glaube daher nicht zögern zu sollen, ihn einer allgemeinen Beurteilung zu unterbreiten. Die einen unter den Menschen haben die Hunde gern und können die Katzen nicht ausstehen, die anderen sehen nur gerne dem Spiel der Kätzchen zu, und der Hund ist ihnen ein widerliches Tier. Man ist in solchen Fällen, und mit vielem Rechte, stets sehr stolz darauf gewesen, zu fragen: _Warum_ zieht der eine die Katze vor, der andere den Hund? Warum? Warum? Diese Fragestellung scheint jedoch gerade hier nicht sehr fruchtbar. Ich glaube nicht, daß _Hume_, und besonders _Mach_ recht haben, wenn sie keinen besonderen Unterschied zwischen _simultaner_ und _succedaner_ Kausalität machen. Gewisse zweifellose formale Analogien werden da recht gewaltsam übertrieben, um den schwanken Bau des Systems zu stützen. Das Verhältnis zweier Erscheinungen, die in der Zeit regelmäßig aufeinander_folgen_, mit einer regelmäßigen Funktionalbeziehung verschiedener _gleichzeitiger_ Elemente zu identifizieren, geht nicht an: Nichts berechtigt in Wirklichkeit, von Zeit_empfindungen_ zu sprechen, und gar nichts, einen den anderen Sinnen koordinierten Zeitsinn anzunehmen; und wer wirklich das Zeitproblem erledigt glaubt, wenn er die Zeit und den Stundenwinkel der Erde nur eine und dieselbe Tatsache sein läßt, der übersieht zum wenigsten dies, daß, sogar im Falle als die Erde plötzlich mit ungleichförmiger Geschwindigkeit um ihre Achse sich zu drehen anfinge, wir doch nach wie vor die eben apriorische Voraussetzung eines gleichförmigen Zeitablaufes machen würden. Die Unterscheidung der Zeit von den materialen Erlebnissen, auf welcher die Trennung der succedanen von der simultanen Abhängigkeit beruht, und damit die Frage nach der _Ursache_ von _Veränderungen_, die Frage nach dem _Warum_ sind wohlberechtigt und fruchtbringend, wo Bedingendes und Bedingtes in _zeitlicher_ Abfolge _nacheinander_ auftreten. In dem oben als Beispiel individualpsychologischer Fragestellung angeführten Falle jedoch sollte man in der empirischen Wissenschaft, welche als solche das regelmäßige Zusammensein einzelner Züge in einem Komplexe keineswegs durch die metaphysische Annahme einer _Substanz erklärt_, nicht sowohl nach dem Warum forschen, sondern zunächst untersuchen: _Wodurch unterscheiden sich Katzen- und Hundeliebhaber_ noch? Die Gewöhnung, stets diese Frage nach den korrespondierenden _anderen_ Unterschieden zu stellen, wo zwischen Ruhendem _ein_ Unterschied bemerkt worden ist, wird nicht nur der Charakterologie, wie ich glaube, von großem Nutzen sein können, sondern auch der reinen Morphologie und somit naturgemäß die Methode ihrer Verbindung, der Physiognomik, werden. _Aristoteles_ ist es bereits aufgefallen, daß viele Merkmale bei den Tieren nie unabhängig voneinander variieren. Später haben, zuerst bekanntlich _Cuvier_, sodann _Geoffroy_ St. _Hilaire_ und _Darwin_ diese Erscheinungen der »Korrelation« zum Gegenstande eingehenden Studiums gemacht. Das Bestehen konstanter Beziehungen kann hie und da leicht aus einem einheitlichen Zwecke verstanden werden: so wird man es teleologisch geradezu erwarten, daß, wo der Verdauungskanal für Fleischnahrung adaptiert ist, auch Kauapparate und Organe für das Ergreifen von Beute vorhanden sein müssen. Warum aber alle Wiederkäuer auch Zweihufer und im männlichen Geschlechte Hörnerträger sind, warum Immunität gegen gewisse Gifte bei manchen Tieren stets mit einer bestimmten Haarfarbe einhergeht, warum unter den Tauben die Spielarten mit kurzem Schnabel kleine, die mit langem Schnabel große Füße haben, oder gar, warum weiße Katzen mit blauen Augen immer taub sind, solche Regelmäßigkeiten des Nebeneinander sind weder aus einem einzigen offenbaren Grunde noch auch unter dem Gesichtspunkte eines einheitlichen Zweckes zu begreifen. Damit ist natürlich nicht gesagt, daß die Forschung nun prinzipiell in alle Ewigkeit mit der bloßen Konstatierung eines steten Beisammenseins sich zu begnügen habe. Das wäre ja so, als würde jemand zum ersten Male wissenschaftlich vorzugehen behaupten, indem er sich darauf _beschränke, vorzufinden_: »Wenn ich in einen Automaten ein Geldstück werfe, so kommt eine Schachtel Zündhölzer heraus«; was darüber gehe, sei Metaphysik und von Übel, das Kriterium des echten Forschers sei Resignation. Probleme der Art, woher es komme, daß langes Kopfhaar und zwei normale Ovarien sich fast ausnahmslos in denselben Menschen vereinigt finden, sind von der größten Bedeutung; aber sie fallen eben nicht in den Bereich der _Morphologie_, sondern in den der _Physiologie_. Vielleicht ist ein _Ziel_ einer _idealen Morphologie_ mit der Anschauung gut bezeichnet, daß diese _in einem deduktiv-synthetischen Teile_ nicht jeder einzeln existierenden Art und Spielart nachkriechen solle in Erdlöcher und nachtauchen auf den Meeresgrund -- das ist die Wissenschaftlichkeit des Briefmarkensammlers -- sondern aus einer _vorgegebenen Anzahl_ qualitativ und quantitativ genau bestimmter Stücke in der Lage sein werde, den _ganzen_ Organismus zu konstruieren, nicht auf Grund einer Intuition, wie dies ein _Cuvier_ vermochte, sondern in strengem Beweisverfahren. Ein Organismus nämlich, von dem man ihr irgend eine Eigenschaft genau bekanntgegeben hätte, müßte für diese Wissenschaft der Zukunft bereits noch durch eine andere, nun nicht mehr willkürliche, sondern damit in ebensolcher Genauigkeit bereits bestimmbare Eigenschaft beschränkt sein. In der Sprache der Thermodynamik unserer Tage ließe sich das ebensogut durch die Forderung ausdrücken, daß für eine solche _deduktive_ Morphologie der Organismus nur eine endliche Zahl von »Freiheitsgraden« besitzen dürfte. Oder man könnte, eine lehrreiche Ausführung _Machs_ benützend, verlangen, daß auch die organische Welt, sofern sie wissenschaftlich begreifbar und darstellbar, eine solche sei, in der zwischen n Variablen eine Zahl von Gleichungen bestehe, die kleiner sei als n (und zwar gleich n-1, wenn sie durch ein wissenschaftliches System _eindeutig_ bestimmbar sein soll; die Gleichungen würden bei geringerer Zahl zu unbestimmten Gleichungen werden, und bei einer größeren Zahl könnte der durch eine Gleichung ausgesagten Abhängigkeit von einer zweiten ohne weiters widersprochen werden). Dies ist die logische Bedeutung des Korrelationsprinzipes in der Biologie: es enthüllt sich als die Anwendung des _Funktionsbegriffes_ auf das Lebendige, und darum liegt in der Möglichkeit _seiner_ Ausbreitung und Vertiefung die Hoffnung auf eine theoretische Morphologie hauptsächlich begründet. Die kausale Forschung ist damit nicht ausgeschlossen, sondern erst auf ihr eigenstes Gebiet verwiesen. Im _Idioplasma_ wird sie wohl die Gründe jener Tatsachen aufzufinden trachten müssen, die dem Korrelationsprinzipe zu Grunde liegen. Die Möglichkeit einer _psychologischen_ Anwendung des Prinzipes der korrelativen Abänderung liegt nun in der »differentiellen Psychologie«, in der _psychologischen Varietätenlehre_, vor. Und die eindeutige Zuordnung von anatomischem Habitus und geistigem Charakter wird zur Aufgabe der _statischen Psychophysik oder Physiognomik_. Die Forschungsregel aller drei Disziplinen wird aber die Frage zu sein haben, worin sich zwei Lebewesen, die in einer Beziehung ein differentes Verhalten gezeigt haben, _noch_ unterscheiden. Die hier geforderte Art der Fragestellung scheint mir der einzig denkbare »Methodus inveniendi«, gleichsam die »Ars magna« jener Wissenschaften, und geeignet, die ganze Technik des Betriebes derselben zu durchdringen. Man wird nun, um einen charakterologischen Typus zu ergründen, nicht mehr bloß durch die nur bohrende Frage nach dem Warum, unter möglichst hermetischer Absperrung, in einem Loche hartes Erdreich aufzugraben sich mühen, nicht wie jene stereotropischen Würmer _Jacques Loebs_ an einem Dreikant immer von neuem sich verbluten, nicht durch Scheuklappen die Aussicht auf das erreichbare Daneben sich versperren, um geradeaus in der Tiefendimension dem aller nur _empirischen_ Wissenschaft unerforschlichen Grunde nachzuschnaufen. Wenn jedesmal, ohne irgend welche Nachlässigkeit oder Rücksicht auf Bequemlichkeit, beim Sichtbarwerden _einer_ Differenz der Vorsatz gefaßt wird, auf die _anderen_ Differenzen zu achten, die nach dem Prinzipe unausweichlich _noch_ da sein müssen; wenn jedesmal den unbekannten Eigenschaften, welche mit der zur Abhebung gelangten in Funktionalzusammenhang stehen, »ein Aufpasser im Intellekte bestellt« wird, dann ist die Aussicht, die neuen Korrelationen zu entdecken, bedeutend vermehrt: ist nur die Frage gestellt, so wird sich die Antwort, je nach der Ausdauer und Wachsamkeit des Beobachters und der Gunst des ihm zur Prüfung beschiedenen Materials, früher oder später einstellen. Jedenfalls wird man, im bewußten Gebrauche dieses Prinzipes, nicht mehr lediglich darauf angewiesen sein zu warten, bis endlich einem Menschen durch die glückliche Laune einer gedanklichen Konstellation das konstante Beisammensein zweier Dinge im selben Individuum _auffällt_, sondern man wird lernen, immer _sofort_ nach dem ebenfalls vorhandenen _zweiten_ Ding zu _fragen_. Denn wie sehr ist nicht bisher alle Entdeckung auf den Zufall einer günstigen Konjunktur der Vorstellungen in dem Geiste eines Menschen beschränkt gewesen! Welch große Rolle spielt hier nicht die Willkür der Umstände, die zwei heterogene Gedankengruppen im geeigneten Moment zu jener gegenseitigen Kreuzung zu führen vermögen, aus der das Kind, die neue Einsicht und Anschauung, einzig geboren werden kann! Diese Rolle zu vermindern, scheint die neue Fragestellung und der Wille, sie in jedem Einzelfalle zu befolgen, außerordentlich befähigt. Bei der Succession der Wirkung auf die Ursache ist die psychologische Veranlassung zur Frage aus dem Grunde eher da, weil jede Verletzung der Stabilität und Kontinuität in einem vorhandenen psychischen Bestande unmittelbar beunruhigend wirkt, eine »Vitaldifferenz setzt« (_Avenarius_). _Wo gleichzeitige Abhängigkeit besteht, fällt aber diese Triebkraft weg._ Darum könnte diese Methode dem Forscher selbst inmitten seiner Tätigkeit die größten Dienste leisten, ja den Fortschritt der Wissenschaft insgesamt beschleunigen; die Erkenntnis von der heuristischen Anwendbarkeit des Korrelationsprinzipes es wäre eine Einsicht, die fortzeugend immer neue Einsicht könnte gebären helfen. VI. Kapitel. Die emanzipierten Frauen. Im unmittelbaren Anschluß an die differentiell-psychologische Verwertung des Prinzipes der sexuellen Zwischenformen muß zum ersten Male auf jene Frage eingegangen werden, deren theoretischer und praktischer Lösung dieses Buch recht eigentlich gewidmet ist, soweit sie nicht theoretisch eine Frage der Ethnologie und Nationalökonomie, also der Sozialwissenschaft im weitesten Sinne, praktisch eine Frage der Rechts- und Wirtschaftsordnung, der sozialen Politik ist: auf die _Frauenfrage_. Die Antwort, welche dieses Kapitel auf die Frauenfrage geben soll, ist indes nicht eine, mit der für das Ganze der Untersuchung das Problem erledigt wäre. Sie ist vielmehr bloß eine vorläufige, da sie nicht mehr geben kann, als aus den bisherigen Prinzipien ableitbar ist. Sie bewegt sich gänzlich in den Niederungen der Einzelerfahrung, von der sie nicht zu allgemeinen Grundsätzen von tieferer Bedeutung sich zu erheben trachtet; die praktischen Anweisungen, die sie gibt, sind keine Maximen eines sittlichen Verhaltens, das künftige Erfahrung regulieren sollte oder könnte, sondern nur aus vergangener Erfahrung abstrahierte technische Regeln zu einem sozialdiätetischen Gebrauche. Der Grund ist, daß hier noch keineswegs an die Erfassung des männlichen und weiblichen Typus geschritten wird, die Sache des zweiten Teiles verbleibt. Diese provisorische Betrachtung soll nur diejenigen charakterologischen _Ergebnisse des Prinzipes der Zwischenformen bringen, welche für die Frauenfrage von Bedeutung sind_. Wie diese Anwendung ausfallen wird, liegt nach dem Bisherigen ziemlich offen zu Tage. Sie gipfelt darin, daß _Emanzipationsbedürfnis und Emanzipationsfähigkeit einer Frau nur in dem Anteile an M begründet liegt, den sie hat_. Der Begriff der Emanzipation ist aber ein _vieldeutiger_, und seine Unklarheit zu steigern lag im Interesse aller jener mit dem Worte oft verfolgten praktischen Absichten, die theoretische Einsichten zu vertragen nicht vermochten. Unter der Emanzipiertheit einer Frau verstehe ich weder die Tatsache, daß in ihrem Hause sie das Regiment führt und der Gatte keinen Widerspruch mehr wagt, noch den Mut, ohne schützenden Begleiter zur Nachtzeit unsichere Gegenden zu passieren; weder ein Hinwegsetzen über konventionelle gesellschaftliche Formen, welche der Frau das Alleinleben fast verbieten, es nicht dulden, daß sie einem Manne einen Besuch abstatte, und die Berührung sexueller Themen durch sie selbst oder durch andere in ihrer Gegenwart verpönen; noch schließlich die Suche nach einem selbständigen Erwerb, sei als Mittel zu diesem nun die Handelsschule oder das Universitätsstudium, das Konservatorium oder die Lehrerinnenbildungsanstalt gewählt. Vielleicht gibt es noch weitere Dinge, die samt und sonders unter dem großen Schilde der Emanzipationsbewegung sich bergen, doch soll auf diese vorderhand nicht eingegangen werden. Die Emanzipation, die ich im Sinne habe, ist auch nicht der Wunsch nach der äußerlichen Gleich_stellung_ mit dem Manne, sondern _problematisch_ ist dem hier vorliegenden Versuche, zur Klarheit in der Frauenfrage zu gelangen, der _Wille_ eines _Weibes_, dem Manne _innerlich gleich zu werden_, zu seiner geistigen und moralischen Freiheit, zu seinen Interessen und seiner Schaffenskraft zu gelangen. Und was nun behauptet wird, ist dies, _daß W gar kein Bedürfnis und dementsprechend auch keine Fähigkeit zu dieser Emanzipation hat. Alle wirklich nach Emanzipation strebenden, alle mit einem gewissen Recht berühmten und geistig irgendwie hervorragenden Frauen weisen stets zahlreiche männliche Züge auf, und es sind an ihnen dem schärferen Blicke auch immer anatomisch-männliche Charaktere, ein körperlich dem Manne angenähertes Aussehen, erkennbar._ Nur den _vorgerückteren_ sexuellen Zwischenformen, man könnte beinahe schon sagen jenen sexuellen Mittelstufen, die gerade noch den »Weibern« beigezählt werden, entstammen jene Frauen der Vergangenheit wie der Gegenwart, die von männlichen und weiblichen Vorkämpfern der Emanzipationsbestrebungen zum Beweise für die großen Leistungen von _Frauen_ immer mit Namen angeführt werden. Gleich die erste der geschichtlichen Abfolge nach, gleich _Sappho_ ist _konträr_sexuell, ja von ihr schreibt sich die Bezeichnung eines geschlechtlichen Verhältnisses zwischen Frauen mit dem Namen der sapphischen oder lesbischen Liebe her. Hier sehen wir, wie uns die Erörterungen des dritten und vierten Kapitels zugute kommen für eine Entscheidung in der Frauenfrage. Das charakterologische Material, welches uns über die sogenannten »bedeutenden Frauen«, also über die de facto Emanzipierten, zu Gebote steht, ist zu dürftig, seine Interpretation zu vielem Widerspruche ausgesetzt, als daß wir uns seiner mit der Hoffnung bedienen könnten, eine _zufriedenstellende_ Lösung zu geben. Wir bedurften eines Prinzipes, welches die Stellung eines Menschen zwischen M und W unzweideutig festzustellen gestattete. Ein solches Prinzip wurde gefunden in dem Gesetze der sexuellen Anziehung zwischen Mann und Weib. Seine Anwendung auf das Problem der Homosexualität ergab, daß die zur Frau sexuell hingezogene Frau eben ein halber Mann ist. Damit ist aber für den historischen Einzelnachweis der These, daß der Grad der Emanzipiertheit einer Frau mit dem Grade ihrer Männlichkeit identisch ist, so ziemlich alles gewonnen, dessen wir bedürfen. Denn Sappho _leitet_ die Reihe jener Frauen, die auf der Liste weiblicher Berühmtheiten stehen und die zugleich homo- oder mindestens bisexuell empfanden, _nur ein_. Man hat Sappho von philologischer Seite sehr eifrig von dem Verdachte zu reinigen gesucht, daß sie wirkliche, das bloß Freundschaftliche übersteigende Liebesverhältnisse mit Frauen unterhalten habe, als ob dieser Vorwurf, wenn er gerechtfertigt wäre, eine Frau sittlich sehr stark herabwürdigen müßte. Daß dem keineswegs so ist, daß eine unsinnliche homosexuelle Liebe gerade das Weib mehr ehrt als das heterosexuelle Verhältnis, das wird aus dem zweiten Teile noch klar hervorgehen. Hier genüge die Bemerkung, daß die Neigung zu lesbischer Liebe in einer Frau eben _Ausfluß ihrer Männlichkeit, diese aber Bedingung ihres Höherstehens ist_. _Katharina II. von Rußland_ und die Königin _Christine von Schweden_, nach einer Angabe die hochbegabte taubstummblinde _Laura Bridgman_, sowie sicherlich die _George Sand_ sind zum Teil bisexuell, zum Teil ausschließlich homosexuell, ebenso wie alle Frauen und Mädchen von auch nur einigermaßen in Betracht kommender Begabung, die ich selbst kennen zu lernen Gelegenheit hatte. Was nun aber jene große Zahl emanzipierter Weiber betrifft, über die keine Zeugnisse lesbischen Empfindens vorliegen, so verfügen wir hier fast immer über andere Indizien, welche beweisen, daß es keine willkürliche Behauptung und auch kein engherziger, für das männliche Geschlecht eben _alles_ zu reklamieren gieriger, habsüchtiger Egoismus ist, wenn ich von der Männlichkeit aller Frauen spreche, die man sonst mit einigem Rechte für die höhere Befähigung des Weibes anführt. Denn wie die bisexuellen Frauen entweder mit männlichen Weibern oder mit weiblichen Männern in geschlechtlichem Verkehre stehen, so werden auch die heterosexuellen Frauen ihren Gehalt an Männlichkeit noch immer dadurch offenbaren, daß ihr sexuelles Komplement auf Seite der Männer nie ein echter Mann sein wird. Die berühmtesten unter den vielen »Verhältnissen« der _George Sand_ sind das mit _Musset_, dem weibischesten Lyriker, den die Geschichte kennt, und mit _Chopin_, den man sogar als den einzigen weiblichen Musiker bezeichnen könnte -- so weibisch ist er.[10] _Vittoria Colonna_ ist weniger berühmt durch ihre eigene dichterische Produktion geworden als durch die Verehrung, die _Michel Angelo_ für sie gehegt hat, der sonst nur zu Männern in erotischem Verhältnis gestanden ist. Die Schriftstellerin _Daniel Stern_ war die Geliebte desselben _Franz Liszt_, dessen Leben und Lebenswerk durchaus immer etwas Weibliches an sich hat, dessen Freundschaft für den auch nicht vollkommen männlichen und jedenfalls etwas päderastisch veranlagten _Wagner_ fast ebensoviel Homosexualität in sich schloß, wie die schwärmerische Verehrung, die dem letzteren von König _Ludwig_ II. von _Bayern_ entgegengebracht wurde. Von Mme. _de Stael_, deren Schrift über Deutschland vielleicht als das bedeutendste Buch von Frauenhand angesehen werden muß, ist es wahrscheinlich, daß sie in sexuellen Beziehungen zu dem homosexuellen Hauslehrer ihrer Kinder, zu _August Wilhelm Schlegel_, gestanden ist. _Klara Schumanns_ Gatten würde man bloß dem Gesichte nach zu gewissen Zeiten seines Lebens eher für ein Weib halten, denn für einen Mann, und auch in seiner Musik ist viel, wenn auch nicht immer gleich viel, Weiblichkeit. Wo alle Angaben über die Menschen fehlen, zu welchen eine sexuelle Beziehung bestand, oder solche Personen überhaupt nicht genannt werden, da ist oft reichlich Ersatz in kleinen Mitteilungen, die über das Äußere berühmter Frauen auf uns gelangt sind: sie zeigen, wie die Männlichkeit jener Frauen auch physiognomisch in Antlitz und Gestalt zum Ausdruck kommt und bestätigen auf diese Weise, ebenso wie die von jenen Frauen erhaltenen Porträts, die Richtigkeit der hier vertretenen Anschauung. Es ist die Rede von _George Eliots_ breiter, mächtiger Stirn: »ihre Bewegungen wie ihr Mienenspiel waren scharf und bestimmt, es fehlte ihnen aber die anmutige weibliche Weichheit«; von dem »_scharfen_, geistvollen Gesicht _Lavinia Fontanas_, das uns seltsam anmutet«. Die Züge der _Rachel Ruysch_ »tragen einen Charakter von fast männlicher Bestimmtheit an sich«. Der Biograph der originellsten Dichterin, der _Annette von Droste-Hülshoff_, berichtet von ihrer »elfenhaft schlanken, zarten Gestalt«; und das Gesicht dieser Künstlerin ist von einem Ausdruck strenger Männlichkeit, der ganz entfernt an _Dantes_ Züge erinnert. Die Schriftstellerin und Mathematikerin _Sonja Kowalewska_ hatte, ebenso wie schon Sappho, einen abnorm geringen Haarwuchs des Kopfes, einen geringeren noch, als die Dichterinnen und Studentinnen von heutzutage ihn gewöhnlich haben, die sich regelmäßig, wenn die Frage nach den geistigen Leistungen des Weibes aufgeworfen wird, zuerst auf sie berufen. Und wer im Gesichte der hervorragendsten Malerin, der _Rosa Bonheur_, auch nur _einen_ weiblichen Zug wahrzunehmen behauptete, der wäre durch den Klang des Namens in die Irre geführt. Sehr männlich von Ansehen ist auch die berühmte _Helene Petrowna Blavatsky_. Von den noch lebenden produktiven und emanzipierten Frauen habe ich mit Absicht keine erwähnt, sondern geschwiegen, obwohl _sie_ mir, wie den Anreiz zu manchen der ausgesprochenen Gedanken, so auch die allgemeinste Bestätigung meiner Ansicht geliefert haben, daß das echte Weib, daß W mit der »Emanzipation des Weibes« nichts zu schaffen hat. Die historische Nachforschung muß dem Volksmund recht geben, der ihr Resultat längst vorweggenommen hat: »Je länger das Haar, desto kürzer der Verstand«. Dieses Wort trifft zu mit der im zweiten Kapitel gemachten Einschränkung. Und was die emanzipierten Frauen anlangt: _Nur der Mann in ihnen ist es, der sich emanzipieren will._ Es hat einen tieferen Grund, als man glaubt, warum die schriftstellernden Frauen so oft einen Männernamen annehmen: sie fühlen sich eben beinahe als Mann, und bei Personen wie _George Sand_ entspricht dies völlig ihrer Neigung zu männlicher Kleidung und männlicher Beschäftigung. Das Motiv zur Wahl eines männlichen Pseudonyms muß in dem Gefühle liegen, daß nur ein solches der eigenen Natur korrespondiert; es kann nicht in dem Wunsche nach größerer Beachtung und Anerkennung von Seite der Öffentlichkeit wurzeln. Denn was Frauen produzieren, hat seit jeher, infolge der damit verbundenen geschlechtlichen Pikanterie, mehr Aufmerksamkeit erregt als, ceteris paribus, die Schöpfungen von Männern, und ist, wegen der von Anfang an immer tiefer gestimmten Ansprüche, stets nachsichtiger behandelt, wenn es gut war, stets unvergleichlich höher gepriesen worden, als was Männer gleich Gutes geleistet hatten. So ist das besonders heutzutage, und es gelangen noch fortwährend Frauen durch Produkte zu großem Ansehen, von denen man kaum Notiz nehmen würde, wenn sie männlichen Ursprunges wären. Es ist Zeit, hier zu sondern und auszuscheiden. Man nehme nur zum Vergleiche die männlichen Schöpfungen, welche die Literatur-, Philosophie-, Wissenschafts- und Kunstgeschichte gelten lassen und gebrauche diese als Maßstab: und man wird die immerhin nicht unbeträchtliche Zahl jener Frauen, die als bedeutende Geister immer wieder angeführt werden, gleich auf den ersten Schlag kläglich zusammenschrumpfen sehen. In der Tat gehört sehr viel Milde und Laxheit dazu, um Frauen wie _Angelika Kauffmann_ oder _Mme. Lebrun_, _Fernan Caballero_ oder _Hroswitha von Gandersheim_, _Mary Somerville_ oder _George Egerton_, _Elizabeth Barrett Browning_ oder _Sophie Germain_, _Anna Maria Schurmann_ oder _Sibylla Merian_ auch nur ein Titelchen von _Bedeutung_ beizulegen. Ich will davon nicht reden, wie sehr auch die früheren, als Beispiele der Viraginität genannten Frauen im einzelnen überschätzt werden; ich will auch das Maß des Ruhmes nicht kritisieren, den die lebenden weiblichen Künstlerinnen geerntet haben. Es genüge die allgemeine Feststellung, daß keine einzige unter _allen_ Frauen der Geistesgeschichte auch nur mit männlichen Genien fünften und sechsten Ranges, wie ihn, um Beispiele anzuführen, etwa _Rückert_ unter den Dichtern, _van Dyck_ unter den Malern, _Schleiermacher_ unter den Philosophen einnehmen, in concreto wahrhaft verglichen werden kann. Scheiden wir die hysterischen Visionärinnen, wie _die Sibyllen_, die _Pythien von Delphi_, die _Bourignon_ und die _Klettenberg_, _Jeanne de la Motte Guyon_, _Johanna Southcott_, _Beate Sturmin_, oder die _heilige Therese_ vorderhand aus, so bleiben nun noch Fälle wie die der _Marie Bashkirtseff_. Diese ist (soweit ich es nach der Erinnerung an ihr Bild zu sagen vermag) allerdings von ausgesprochen weiblichem Körperbau gewesen, bis auf die Stirn, die mir einen etwas männlichen Eindruck gemacht hat. Aber wer in der Salle des Étrangers im Pariser Luxembourg ihre Bilder neben denen des von ihr geliebten _Bastien-Lepage_ hat hängen sehen, der weiß, daß sie den Stil desselben nicht anders und nicht minder vollkommen angenommen hat als Ottilie die Handschrift Eduards in Goethes »Wahlverwandtschaften«. Den langen Rest bilden jene zahlreichen Fälle, wo ein allen Mitgliedern einer Familie eigentümliches _Talent_ zufällig in einem _weiblichen_ Mitgliede am stärksten hervortritt, ohne daß dieses im geringsten genial zu sein braucht. Denn nur das Talent wird vererbt, nicht das Genie. _Margaretha van Eyck_ und _Sabine von Steinbach_ geben hier nur das Paradigma ab für eine lange Reihe jener Künstlerinnen, von denen nach Ernst _Guhl_, einem den kunstübenden Frauen außerordentlich gewogenen Autor, »uns ausdrücklich überliefert wird, daß sie durch Vater, Mutter oder Bruder zur Kunst angeleitet worden sind, oder daß sie, mit anderen Worten, den Anlaß zum Künstlerberuf in der eigenen Familie gefunden haben. Es sind deren zweihundert bis dreihundert, und wieviele Hunderte mögen noch außerdem durch ganz ähnliche Einflüsse zu Künstlerinnen geworden sein, ohne daß die Geschichte deren Erwähnung tun konnte!« Um die Bedeutung dieser Zahlenangaben zu würdigen, muß man in Betracht ziehen, daß _Guhl_ kurz vorher »von den beiläufig tausend Namen, die uns von weiblichen Künstlern bekannt sind«, spricht. Hiemit sei die historische Revue über die emanzipierten Frauen zum Abschluß gebracht. Sie hat der Behauptung, daß echtes Emanzipationsbedürfnis und wahres Emanzipationsvermögen in der Frau Männlichkeit voraussetzt, _recht_ gegeben. Denn die ungeheuere Überzahl jener Frauen, die sicherlich nicht im geringsten der Kunst oder dem Wissen _gelebt_ haben, bei denen diese Beschäftigung vielmehr an die Stelle der üblichen »Handarbeit« tritt und in dem ungestörten Idyll ihres Lebens nur einen _Zeitvertreib_ bedeutet -- und alle jene, denen gedankliche wie künstlerische Tätigkeit nur eine ungeheuer angespannte _Koketterie_ vor mehr oder weniger bestimmten Personen männlichen Geschlechtes ist -- diese beiden großen Gruppen durfte und mußte eine reinliche Betrachtung ausscheiden. Die übrig bleibenden erweisen sich dem näheren Zusehen insgesamt als sexuelle Zwischenformen. Zeigt sich aber das Bedürfnis nach Befreiung und Gleichstellung mit dem Manne nur bei männlichen Frauen, so ist der Schluß per inductionem _gerechtfertigt_, daß W _keinerlei Bedürfnis nach der Emanzipation empfindet_, auch wenn einstweilen diese Folgerung, so wie es hier ausschließlich geschehen ist, nur aus der geschichtlichen Einzelbetrachtung und nicht aus einer Untersuchung der psychischen Eigenschaften von W selbst abgeleitet wird. Stellen wir uns demnach auf den hygienischen (nicht ethischen) Standpunkt einer der natürlichen Anlage angemessensten Praxis, so würde sich das Urteil über die »Emanzipation des Weibes« so gestalten. Der _Unsinn_ der Emanzipationsbestrebungen liegt in der _Bewegung_, in der _Agitation_. Durch diese vor allem verleitet, fangen, wenn von Motiven der Eitelkeit, des Männerfanges abgesehen wird, bei der großen imitatorischen Veranlagung der Frauen auch solche zu studieren, zu schreiben u. s. w. an, die nie ein originäres Verlangen danach gehabt haben; denn da es eine große Anzahl von Frauen wirklich zu geben scheint, die aus einem gewissen inneren Bedürfnis heraus eine Emanzipation suchen, wird von diesen auf jene das Bildungsstreben _induziert_ und so das Frauenstudium zur _Mode_, und eine lächerliche Agitation der Frauen unter sich läßt schließlich _alle_ an die Echtheit dessen glauben, was der guten Hausfrau so oft nur Mittel zu Demonstrationszwecken gegen den Mann, der Tochter so oft nur eine ostentative Kundgebung gegen die mütterliche Gewalt ist. Das praktische Verhalten in der ganzen Frage hätte demnach, ohne daß diese Regel (schon ihres fließenden Charakters halber) zur Grundlage einer Gesetzgebung gemacht werden könnte und dürfte, folgendes zu sein: _Freien Zulaß zu allem, kein Hindernis in den Weg derjenigen, deren wahre psychische Bedürfnisse sie, stets in Gemäßheit ihrer körperlichen Beschaffenheit, zu männlicher Beschäftigung treiben_, für die Frauen mit _männlichen_ Zügen. _Aber weg mit der $Partei$bildung, weg mit der $unwahren$ Revolutionierung, weg mit der ganzen Frauen$bewegung$_, die in so vielen widernatürliches und künstliches, im Grunde verlogenes Streben schafft. Und _weg_ auch mit der abgeschmackten Phrase von der »völligen Gleichheit«! Selbst das männlichste Femininum hat wohl kaum je mehr als 50 Prozent an M und _diesem $Feingehalte$_ dankt sie ja doch ihre ganze Bedeutung oder besser all das, was sie eventuell bedeuten _könnte_. Man darf keineswegs, wie dies nicht wenige intellektuelle Frauen zu tun scheinen, aus manchen (wie schon bemerkt, ohnedies nicht typischen) Einzelerfahrungen über den Mann, die sie zu sammeln Gelegenheit hatten, und aus denen ja nicht die Parität, sondern gar die Superiorität des weiblichen Geschlechtes hervorginge; allgemeine Folgerungen ziehen, sondern muß, wie _Darwin_ dies vorschlug, die Spitzen hier und die Spitzen dort miteinander vergleichen. Aber »wenn je ein Verzeichnis der bedeutendsten Männer und Frauen auf dem Gebiete der Dichtkunst, Malerei, Bildhauerei, Musik, Geschichte, Naturwissenschaft und Philosophie hergestellt und unter jedem Gegenstand ein halbes Dutzend Namen verzeichnet würden, so könnten beide Listen nicht den Vergleich miteinander bestehen«. Erwägt man nun noch, daß die Personen auf der weiblichen Liste, genau besehen, auch nur wieder für die _Männlichkeit des Genies_ Zeugnis ablegen würden, so ist zu erwarten, daß die Lust der Frauenrechtlerinnen, die Zusammenstellung eines solchen Verzeichnisses zu wagen, noch geringer werden dürfte, als sie bisher es gewesen ist. Der übliche Einwurf, der auch jetzt erhoben werden wird, lautet dahin, daß die Geschichte nichts beweise, da die Bewegung erst Raum schaffen müsse für eine ungehemmte, volle geistige Entwicklung der Frau. Dieser Einwand verkennt, daß es emanzipierte Frauen, eine Frauenfrage, eine Frauenbewegung zu _allen_ Zeiten gegeben hat, wenn auch in den verschiedenen Epochen mit verschiedener Lebhaftigkeit; er übertreibt immens die Schwierigkeiten, welche den nach geistiger Bildung strebenden Frauen von Seite des Mannes irgendwann gemacht wurden, und auch angeblich gerade jetzt wieder bereitet werden[11]; er übersieht schließlich wiederum, daß auch heute nicht das wirkliche Weib die Forderung der Emanzipation erhebt, sondern daß dies durchwegs nur männlichere Frauen tun, die ihre eigene Natur mißdeuten und die Motive ihres Handelns nicht einsehen, wenn sie im Namen des Weibes zu sprechen glauben. Wie jede andere Bewegung der Geschichte, so war auch die Frauenbewegung überzeugt, daß sie erstmalig, neu, noch nie dagewesen war; ihre Vorkämpferinnen lehrten, daß bislang das Weib in Finsternis geschmachtet habe und in Fesseln gelegen sei, während es nun erst sein natürliches Recht zu begreifen und zu beanspruchen beginne. Wie für jede andere geschichtliche Bewegung, so hat man aber auch für die Frauenbewegung Analogien weiter und weiter zurückverfolgen können; nicht nur in _sozialer_ Beziehung gab es im Altertum und im Mittelalter eine Frauenfrage, sondern auch für die _geistige_ Emanzipation waren zu längst entschwundenen Zeiten produktive Frauen durch ihre Leistungen selbst wie männliche und weibliche Apologeten des weiblichen Geschlechtes durch theoretische Darlegungen tätig. So ist denn jener Glaube ganz irrig, der dem Kampfe der Frauenrechtlerinnen so viel Eifer und Frische verliehen hat, daß bis auf die letzten Jahre die Frauen noch nie Gelegenheit zur ungestörten Entfaltung ihrer geistigen Entwicklungsmöglichkeiten gehabt hätten. Jakob _Burckhardt_ erzählt von der Renaissance: »Das Ruhmvollste, was damals von den großen Italienerinnen gesagt wird, ist, daß sie einen männlichen Geist, ein männliches Gemüt hätten. Man braucht nur die völlig männliche Haltung der meisten Weiber in den Heldengedichten, zumal bei Bojardo und Ariosto, zu beachten, um zu wissen, daß es sich hier um ein bestimmtes Ideal handelt. Der Titel einer »Virago«, den unser Jahrhundert für ein sehr zweideutiges Kompliment hält, war damals reiner Ruhm.« Im XVI. Jahrhundert wurde den Frauen die Bühne freigegeben, es sah die ersten Schauspielerinnen. »Zu jener Zeit wurde die Frau für fähig gehalten, gleich den Männern das höchste Maß von Bildung zu erreichen.« Es ist die Zeit, da ein Panegyrikus nach dem anderen auf das weibliche Geschlecht erscheint, Thomas _Morus_ seine völlige Gleichstellung mit dem männlichen verlangt, und _Agrippa von Nettesheim_ die Frauen sogar hoch über die Männer erhebt. Und jene großen Erfolge des weiblichen Geschlechtes wurden wieder verloren, die ganze Zeit tauchte unter in eine Vergessenheit, aus der sie erst das XIX. Jahrhundert wieder hervorholte. Ist es nicht sehr auffallend, daß die Frauenemanzipationsbestrebungen in der Weltgeschichte in konstanten Intervallen, in gewissen sich gleich bleibenden zeitlichen Abständen aufzutreten scheinen? Im X. Jahrhundert, im XV. und XVI. und jetzt wieder im XIX. und XX. hat es allem Ermessen nach viel mehr emanzipierte Weiber und eine stärkere Frauenbewegung gegeben als in den dazwischen liegenden Zeiten. Es wäre voreilig, hierauf schon eine Hypothese zu gründen, doch muß man immerhin die Möglichkeit ins Auge fassen, daß hier eine gewaltige Periodizität vorliegt, vermöge deren in regelmäßigen Phasen mehr Zwittergeburten, mehr Zwischenformen auf die Welt kommen als in den Intervallen. Bei Tieren sind solche Perioden in verwandten Dingen beobachtet worden. Es wären das unserer Anschauung gemäß Zeiten von minderem Gonochorismus; und es würde die Tatsache, daß zu gewissen Zeiten mehr männliche Weiber geboren werden als sonst, als Pendant auf der Gegenseite verlangen, daß in der gleichen Zeit auch mehr weibliche Männer auf die Welt gebracht werden. Und dies sehen wir in überraschendem Maße ebenfalls zutreffen. Der ganze »sezessionistische Geschmack«, der den großen, schlanken Frauen mit flachen Brüsten und schmalen Hüften den Preis der Schönheit zuerkennt, ist vielleicht hierauf zurückzuführen. Die ungeheuere Vermehrung des Stutzertums wie der Homosexualität in den letzten Jahren kann ihren Grund nur in einer größeren Weiblichkeit der jetzigen Ära haben. Und nicht ohne tiefere Ursache sucht der ästhetische wie der sexuelle Geschmack dieses Zeitalters Anlehnung bei dem der Präraphaeliten. Wenn es im organischen Leben solche Perioden gibt, die den Oszillationen im Leben des einzelnen gleichen, aber sich über mehrere Generationen hinweg erstrecken, so eröffnet uns dies eine weitere Aussicht auf das Verständnis so mancher dunkler Punkte auch in der menschlichen Geschichte, als es die prätentiösen »Geschichtsauffassungen«, die sich in der jüngsten Zeit so gehäuft haben, insbesondere die ökonomisch-materialistische Ansicht, anzubahnen vermocht haben. Sicherlich ist von einer _biologischen_ Betrachtung auch der menschlichen _Geschichte_ noch unendlich viel Aufschluß in der Zukunft zu erwarten. Hier soll nur die Nutzanwendung auf den vorliegenden Fall gesucht werden. Wenn es richtig ist, daß zu gewissen Zeiten mehr, zu anderen weniger hermaphroditische Menschen geboren werden, so wäre als die _Folge_ dessen vorauszusehen, daß die Frauenbewegung größtenteils _von selbst sich wieder verlaufen_ und nach längerer Zeit erst wieder zum Vorschein kommen würde, um wieder unter- und emporzutauchen in einem Rhythmus ohne Ende. Es würden eben die Frauen, die sich selbst emanzipieren _wollten_, bald in größerer, bald in weit geringerer Anzahl _geboren_ werden. Von den ökonomischen Verhältnissen, welche auch die sehr weibliche Frau des kinderreichen Proletariers in die Fabrik oder zur Bauarbeit drängen können, ist hier natürlich nicht die Rede. Der Zusammenhang der industriellen und gewerblichen Entwicklung mit der Frauenfrage ist viel lockerer, als er, besonders von sozialdemokratischen Theoretikern, gewöhnlich hingestellt wird, und noch viel weniger besteht ein enger ursächlicher Konnex zwischen den Bestrebungen, die auf die geistige, und jenen, die auf die wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit gerichtet sind. In Frankreich z. B. ist es, obwohl es drei der hervorragendsten Frauen hervorgebracht hat, niemals einer Frauen_bewegung_ recht eigentlich gelungen, Wurzel zu fassen, und doch sind in keinem Lande Europas so viele Frauen selbständig geschäftlich tätig als eben dort. Der Kampf um das materielle Auskommen hat also mit dem Kampfe um einen geistigen Lebensinhalt, wenn wirklich von Seite einer Gruppe von Frauen ein solcher geführt wird, nichts zu tun und ist scharf von ihm zu scheiden. Die Prognose, welche dieser letzteren Bewegung, der auf dem geistigen Gebiete, gestellt wurde, war keine erfreuliche; sie ist wohl noch trostloser als die Aussicht, die man ihr auf den Weg mitgeben könnte, wenn mit einigen Autoren eine _fortschreitende_ Entwicklung des Menschengeschlechtes zu _völliger_ sexueller _Differenzierung_, also einem ausgesprochenen Geschlechts-Dimorphismus entgegen, anzunehmen wäre. Die letztere Meinung scheint mir aus dem Grunde unhaltbar, weil im Tierreich durchaus nicht eine mit der höheren systematischen Stellung _zu_nehmende Geschlechtertrennung sich verfolgen läßt. Gewisse Gephyreen und Rotatorien, viele Vögel, ja selbst unter den Affen noch der Mandrill tun einen viel stärkeren Gonochorismus kund, als er beim Menschen, vom morphologischen Standpunkte aus, sich beobachten läßt. Während aber diese Vermutung eine Zeit voraussagt, wo wenigstens das _Bedürfnis_ nach der Emanzipation _für immer_ erloschen sein und es nur mehr komplette Masculina und komplette Feminina geben würde, verurteilt die Annahme einer periodischen Wiederkehr der Frauenbewegung das ganze Streben der Frauenrechtlerinnen in grausamster Weise zu einer schmerzlichen Ohnmacht, es läßt ihr gesamtes Tun unter dem Aspekte einer Danaidenarbeit erscheinen, deren Erfolge mit der fortschreitenden Zeit wieder von selbst in das gleiche Nichts zerrinnen. Dieses trübe Los könnte der Emanzipation der Frauen gefallen sein, wenn diese immer weiter ihre Ziele nur im _Sozialen_, in der historischen Zukunft der _Gattung_ suchte und ihre Feinde blind unter den Männern und in den von Männern geschaffenen rechtlichen Institutionen wähnte. Dann freilich müßte das Korps der Amazonen formiert werden, und es wäre nie ein Dauerndes gewonnen, wenn jenes geraume Zeit nach seiner Bildung immer wieder sich auflöste. Insoferne bietet die Renaissance und ihr spurloses Verschwinden den Frauenrechtlerinnen eine Lehre. Die wahre Befreiung des Geistes kann nicht von einem noch so großen und noch so wilden Heere gesucht werden, um sie muß das einzelne Individuum für sich allein kämpfen. Gegen wen? Gegen das, was im eigenen Gemüte sich dawiderstemmt. _Der größte, der einzige Feind der Emanzipation der Frau ist die Frau._ Dies zu beweisen, ist Aufgabe des zweiten Teiles. ZWEITER ODER HAUPTTEIL. DIE SEXUELLEN TYPEN. I. Kapitel. Mann und Weib. »All that a man does is physiognomical of him.« _Carlyle._ Freie Bahn für die Erforschung alles wirklichen Geschlechtsgegensatzes ist durch die Erkenntnis geschaffen, daß Mann und Weib nur als Typen zu erfassen sind und die verwirrende Wirklichkeit, welche den bekannten Kontroversen immer neue Nahrung bieten wird, allein durch ein Mischungsverhältnis aus jenen zwei Typen sich nachbilden läßt. Die einzig realen sexuellen Zwischenformen hat der erste Teil dieser Untersuchung behandelt, und zwar, wie nun hervorgehoben werden muß, nach einem etwas schematisierenden Verfahren. Die Rücksichtnahme auf die allgemein biologische Geltung der entwickelten Prinzipien führte das dort mit sich. Jetzt, da, noch viel ausschließlicher als bisher, _der Mensch_ das Objekt der Betrachtung werden soll und die psychophysiologischen Zuordnungen der introspektiven Analyse zu weichen sich anschicken, bedarf der universelle Anspruch des Prinzipes der sexuellen Zwischenstufen einer gewichtigen Restriktion. Bei Pflanzen und Tieren ist das Vorkommen des echten Hermaphroditismus eine gegen jeden Zweifel erhärtete Tatsache. Aber selbst bei den Tieren scheint oft das Zwittertum mehr eine Juxtaposition der männlichen und weiblichen Keimdrüse in einem Individuum als ein Ausgeglichensein beider Geschlechter in demselben, eher ein Zusammensein beider Extreme denn einen gänzlich neutralen Zustand in der Mitte zwischen denselben zu bedeuten. Vom _Menschen_ jedoch läßt sich _psychologisch_ mit vollster Bestimmtheit behaupten, daß er, zunächst wenigstens in einer und derselben Zeit, _notwendig $entweder$ Mann $oder$ Weib sein muß_. Damit steht nicht nur im Einklang, daß fast alles, was sich für ein Masculinum oder Femininum schlechtweg hält, auch sein Komplement für »_das_ Weib« oder »_den_ Mann« schlechthin ansieht.[12] Es wird jene Unisexualität am stärksten erwiesen durch die in ihrer theoretischen Wichtigkeit _kaum zu überschätzende_ Tatsache, daß auch im Verhältnisse zweier homosexueller Menschen zueinander immer der eine die körperliche und psychische Rolle des Mannes übernimmt, im Falle längeren Verkehres auch seinen männlichen Vornamen behält oder einen solchen annimmt, während der andere die des Weibes spielt, seinen weiblichen Vornamen entweder bewahrt oder einen solchen sich gibt oder noch öfter -- dies ist bezeichnend genug -- ihn vom anderen erhält. Also es füllt in den sexuellen Relationen zweier Lesbierinnen oder zweier Urninge immer die eine Person die männliche, die zweite die weibliche Funktion aus, und dies ist von größter Bedeutung. Das Verhältnis Mann-Weib erweist sich hier als _fundamental_ an der _entscheidenden_ Stelle, als etwas, worüber nicht hinauszukommen ist. _Trotz allen sexuellen Zwischenformen $ist$ der Mensch am Ende doch $eines$ von beiden, $entweder$ Mann $oder$ Weib._ Auch in dieser ältesten empirischen Dualität steckt (nicht bloß anatomisch und keineswegs im konkreten Falle in regelmäßiger genauer Übereinstimmung mit dem morphologischen Befunde) eine tiefe Wahrheit, die sich nicht ungestraft vernachlässigen läßt. Hiemit scheint nun ein Schritt gemacht, der von der größten Tragweite ist, und allem Ferneren so segensreich wie verhängnisvoll werden kann. Es ist mit einer solchen Anschauung ein _Sein_ statuiert. Die _Bedeutung_ dieses _Seins_ zu erforschen ist freilich eben die Aufgabe, welche der ganzen folgenden Untersuchung anheimfällt. Da aber mit diesem problematischen _Sein_ an die Hauptschwierigkeit der Charakterologie unmittelbar gerührt ist, wird es gut sein, ehe daß eine solche Arbeit in naiver Kühnheit begonnen werde, über dieses heikelste Problem, an dessen Schwelle aller Wagemut bereits stockt, eine kurze Orientierung zu versuchen. Die Hemmnisse, mit denen jedes charakterologische Unternehmen zu kämpfen hat, sind allein schon wegen der Kompliziertheit des Stoffes enorme. Oft und oft ereignet es sich, daß der Weg, den man durch das Waldesdickicht bereits gefunden zu haben glaubt, sich verliert im undurchdringlichen Gestrüppe, der Faden nicht mehr herauszulösen ist aus der unendlichen Verfilzung. Das schlimmste aber ist, daß betreffs der Methode einer systematischen Darstellung des wirklich entwundenen Stoffes, anläßlich der prinzipiellen Deutung auch erfolgreicher Anfänge, sich wieder und wieder die ernstesten Bedenken erheben und gerade der Typisierung sich entgegentürmen. In dem Falle des Geschlechtsgegensatzes z. B. erwies sich bis jetzt die Annahme einer Art Polarität der Extreme und unzähliger Abstufungen zwischen denselben als die einzig brauchbare. Es scheint so auch in den meisten übrigen charakterologischen Dingen -- auf einige komme ich selbst noch zu sprechen -- etwas wie Polarität zu geben (was schon der Pythagoreer _Alkmaion von Kroton_ geahnt hat); und vielleicht wird auf diesem Gebiete die _Schelling_sche Naturphilosophie noch ganz andere Genugtuungen erleben als die Auferstehung, welche ein physikalischer Chemiker unserer Tage ihr bereitet zu haben vermeint. Aber ist die Hoffnung berechtigt, durch die Festlegung des Individuums auf einem bestimmten Punkte in den Verbindungslinien je zweier Extreme, ja durch unendliche Häufung dieser Verbindungslinien, durch ein unendlich viele Dimensionen zählendes Koordinatensystem das Individuum selbst je zu erschöpfen? Verfallen wir nicht, nur auf einem konkreteren Gebiet, bereits in die dogmatische Skepsis der _Mach_-_Hume_schen Ich-Analyse zurück, wenn wir die vollständige Beschreibung des menschlichen Individuums in Form eines _Rezeptes_ erwarten? Und führt uns da nicht eine Art _Weismann_scher Determinanten-Atomistik zu einer Mosaik-Psychognomik, nachdem wir uns von der »Mosaik-Psychologie« eben erst zu erholen beginnen? In neuer Fassung stehen wir hier vor dem alten und, wie sich zeigt, noch immer lebendig zähen Grundproblem: Gibt es ein einheitliches und einfaches Sein im Menschen, und wie verhält es sich zu der zweifellos neben ihm bestehenden Vielheit? Gibt es eine Psyche? Und wie verhält sich die Psyche zu den psychischen Erscheinungen? Man begreift nun, warum es noch immer keine Charakterologie gibt: Das Objekt dieser Wissenschaft, der Charakter, ist seiner Existenz nach selbst problematisch. Das Problem aller Metaphysik und Erkenntnistheorie, die höchste Prinzipienfrage der Psychologie, ist auch das Problem der Charakterologie, das Problem »vor aller Charakterologie, die als Wissenschaft wird auftreten können«. Wenigstens aller erkenntniskritisch über ihre Voraussetzungen, Ansprüche und Ziele unterrichteten und aller über Unterschiede im _Wesen_ der Menschen Belehrung erstrebenden Charakterologie. Diese, sei's drum, unbescheidene Charakterologie will mehr sein als jene »Psychologie der individuellen Differenzen«, deren erneute Aufstellung als eines Zieles der psychologischen Wissenschaft durch L. William _Stern_ darum doch eine sehr verdienstvolle Tat war; sie will mehr bieten als ein Nationale der motorischen und sensorischen Reaktionen eines Individuums, und darum soll sie nicht gleich zu dem Tiefstand der übrigen modernen psychologischen Experimentalforschung herabsinken, als welche sie ja nur eine sonderbare Kombination von statistischem Seminar und physikalischem Praktikum vorstellt. So hofft sie mit der reichen seelischen Wirklichkeit, aus deren völligem Vergessen das Selbstbewußtsein der Hebel- und Schraubenpsychologie einzig erklärt werden kann, in einem herzlichen Kontakte zu bleiben und fürchtet nicht, die Erwartungen des nach Aufklärung über sich selbst dürstenden Studenten der Psychologie durch Untersuchungen über das Lernen einsilbiger Worte und den Einfluß kleiner Kaffeedosen auf das Addieren befriedigen zu müssen. So traurig es als Zeichen der übrigens allgemein dumpf empfundenen prinzipiellen Unzulänglichkeit der modernen psychologischen Arbeit ist, so begreiflich ist es doch, wenn angesehene Gelehrte, die sich unter einer Psychologie mehr vorgestellt haben als eine Empfindungs- und Assoziationslehre, vor der herrschenden Öde zu der Überzeugung gelangen, Probleme wie das Heldentum oder die Selbstaufopferung, den Wahnsinn oder das Verbrechen müsse die reflektierende Wissenschaft auf ewig der Kunst, als dem einzigen Organe ihres Verständnisses, überlassen und jede Hoffnung aufgeben, nicht sie besser zu verstehen als jene (das wäre anmaßend einem _Shakespeare_ oder _Dostojewskij_ gegenüber), wohl aber, sie ihrerseits auch nur systematisch zu begreifen. Keine Wissenschaft muß, wenn sie unphilosophisch wird, so schnell verflachen wie die Psychologie. Die Emanzipation von der Philosophie ist der wahre Grund des Verfalles der Psychologie. Gewiß nicht in ihren Voraussetzungen, aber in ihren Endabsichten hätte die Psychologie philosophisch bleiben sollen. Sie wäre dann zunächst zu der Einsicht gelangt, _daß die Lehre von den Sinnesempfindungen mit der Psychologie direkt überhaupt nichts zu tun hat_. Die empirischen Psychologien von heutzutage gehen von den Tast- und Gemeinempfindungen aus, um mit der »Entwicklung eines sittlichen Charakters« zu endigen. Die Analyse der Empfindungen gehört aber zur Physiologie der Sinne, jeder Versuch, ihre Spezialprobleme in eine tiefere Beziehung zu dem übrigen Inhalte der Psychologie zu bringen, muß mißlingen. Es ist das Unglück der wissenschaftlichen Psychologie gewesen, daß sie von zwei Physikern, von _Fechner_ und von _Helmholtz_, am nachhaltigsten sich hat beeinflussen lassen und so verkennen konnte, _daß sich zwar die äußere, aber nicht so auch die innere Welt aus baren Empfindungen zusammensetzt_. Die zwei feinsinnigsten unter den empirischen Psychologen der letzten Jahrzehnte, William _James_ und Richard _Avenarius_, sind denn auch die beiden einzigen, die wenigstens instinktiv gefühlt haben, daß man die Psychologie nicht mit dem Hautsinn und Muskelsinn anfangen dürfe, während alle übrige moderne Psychologie mehr oder minder Empfindungskleister ist. _Hier_ liegt der von _Dilthey_ nicht scharf genug bezeichnete Grund dafür, daß die heutige Psychologie zu den Problemen, die man als eminent psychologische sonst zu bezeichnen gewohnt ist, zur Analyse des Mordes, der Freundschaft, der Einsamkeit u. s. w., _gar nicht gelangt_, ja -- hier verfängt nicht die alte Berufung auf ihre große Jugend -- zu ihnen gar nicht gelangen _kann_, da sie in einer ganz anderen Richtung sich bewegt, als in einer, die sie am Ende doch dahin führen könnte. Darum hat die Losung des Kampfes um eine _psychologische Psychologie_ in erster Linie zu sein: _Hinaus mit der Empfindungslehre aus der Psychologie!_ Das Unternehmen einer Charakterologie in dem oben bezeichneten weiteren und tieferen Sinne involviert vor allem den Begriff des _Charakters_ selbst, als den Begriff eines konstanten einheitlichen Seins. Wie die schon im 5. Kapitel des I. Teiles zum Vergleich herangezogene Morphologie die bei allem physiologischen Wechsel gleich bleibende _Form_ des Organischen behandelt, so setzt die Charakterologie als ihren Gegenstand ein Gleichbleibendes im psychischen Leben voraus, das in jeder seelischen Lebensäußerung in analoger Weise nachweisbar sein muß, und ist so vor allem jener »Aktualitätstheorie« vom Psychischen entgegengesetzt, die ein Bleibendes schon darum nicht anerkennen mag, weil sie auf jener empfindungsatomistischen Grundanschauung beruht. Der Charakter ist danach nicht etwas hinter dem Denken und Fühlen des Individuums Thronendes, _sondern etwas, das sich in $jedem$ Gedanken und $jedem$ Gefühle desselben offenbart_. »Alles, was ein Mensch tut, ist physiognomisch für ihn.« Wie _jede_ Zelle die Eigenschaften des _ganzen_ Individuums in sich birgt, so enthält _jede_ psychische Regung eines Menschen, nicht bloß einzelne wenige »Charakterzüge«, _sein ganzes Wesen_, von dem nur im einen Momente diese, im anderen jene Eigentümlichkeit mehr hervortritt. Wie es weiter gar keine isolierte Empfindung gibt, sondern stets ein Blick_feld_ und ein Empfindungsganzes da ist, als das dem Subjekte gegenüberstehende Objekt, als die _Welt_ des Ichs, von welcher nur einmal der eine, ein anderes Mal der andere Gegenstand sich deutlicher abhebt: _so steckt in jedem Augenblicke des psychischen Lebens der $ganze$ Mensch_, und es fällt nur in jeder Zeiteinheit der Accent auf einen anderen Punkt seines Wesens. _Dieses überall in dem psychischen Zustande jedes Augenblickes nachweisbare $Sein$ ist das Objekt der Charakterologie._ So würde diese erst die notwendige Ergänzung der bisherigen empirischen Psychologie bilden, die, in merkwürdigem Gegensatze zu ihrem Namen einer _$Psycho$logie_, bisher fast ausschließlich den Wechsel im Empfindungsfelde, die Buntheit der _Welt_, in Betracht gezogen und den Reichtum des Ich ganz vernachlässigt hat. Damit könnte sie auf die allgemeine Psychologie als die Lehre von dem Ganzen, das aus der Kompliziertheit des Subjektes und der Kompliziertheit des Objektes resultiert (die beide aus diesem Ganzen nur durch eine eigentümliche Abstraktion isoliert werden konnten), befruchtend und regenerierend wirken. So manche Streitfragen der Psychologie -- vielleicht sind es gerade die prinzipiellsten Fragen -- vermag überhaupt nur eine charakterologische Betrachtung zur Entscheidung zu bringen, indem sie zeigt, _warum_ der eine diese, der andere jene Meinung verficht, darlegt, weshalb sie differieren, wenn sie über das gleiche Thema sprechen: daß sie über denselben Vorgang und denselben psychischen Prozeß aus keinem anderen Grunde verschiedener Ansicht sind, als weil dieser bei jedem die individuelle Färbung, die _Note_ seines Charakters erhalten hat. So ermöglicht gerade die psychologische _Differenzen_lehre erst die _Einigung_ auf dem Gebiete der _Allgemein_psychologie. Das formale Ich wäre das letzte Problem der dynamischen, das material erfüllte Ich das letzte Problem der statischen Psychologie. Indessen wird ja bezweifelt, daß es überhaupt Charakter gibt; oder wenigstens sollte das vom konsequenten Positivismus im Sinne von _Hume_, _Mach_, _Avenarius_ geleugnet werden. Es ist danach leicht begreiflich, warum es noch keine Charakterologie gibt als Lehre vom bestimmten Charakter. Die Verquickung der Charakterologie mit der Seelenlehre ist aber ihre schlimmste Schädigung gewesen. Daß die Charakterologie _historisch_ mit dem Schicksal des Ichbegriffs verknüpft worden ist, gibt allein noch kein Recht, sie _sachlich_ an dasselbe zu binden. Und nur wer dogmatisch sich auf den Standpunkt des absoluten Phänomenalismus stellt und glaubt, dieser allein enthebe aller Beweislasten, die, schon mit seiner Betretung, von selbst allen anderen Standpunkten aufgebürdet seien, der wird das _Sein_, das die Charakterologie behauptet, und das noch durchaus nicht mit einer metaphysischen _Essenz_ identisch ist, ohne weiteres abweisen. Die Charakterologie hat sich gegen zwei schlimme Feinde zu halten. Der eine nimmt den Charakter als gegeben und leugnet, daß, ebenso wie die künstlerische Darstellung, die Wissenschaft sich seiner bemächtigen könne. Der andere nimmt die Empfindungen als das allein Wirkliche an, Realität und Empfindung sind ihm eins geworden, die Empfindung ist ihm der Baustein der Welt wie des Ich, und für diesen gibt es keinen Charakter. Was soll nun die Charakterologie, die Wissenschaft vom Charakter? »De individuo nulla scientia«, »Individuum est ineffabile«, so tönt es ihr von der einen Seite entgegen, die am Individuum festhält; von der anderen, die auf der Wissenschaftlichkeit allein besteht und nicht »die Kunst als Organ des Lebensverständnisses« sich gerettet hat, muß sie es wieder und wieder vernehmen, daß die Wissenschaft nichts wisse vom Charakter. Zwischen solchem Kreuzfeuer hätte die Charakterologie sich zu behaupten. Wen wandelt da nicht die Furcht an, daß sie das Los ihrer Schwestern teilen, eine ewig unerfüllte Verheißung bleiben werde wie die Physiognomik, eine divinatorische Kunst wie die Graphologie? Auch diese Frage ist eine, welche die späteren Kapitel zu beantworten werden suchen müssen. Das Sein, welches die Charakterologie behauptet, ist seiner einfachen oder mehrfachen Bedeutung nach von ihnen zu untersuchen. Warum diese Frage ganz allgemein gerade mit der Frage nach dem psychischen Unterschiede der _Geschlechter_ so innig sich berührt, das wird freilich erst aus ihren letzten Resultaten hervorgehen. II. Kapitel. Männliche und weibliche Sexualität. »Die Frau verrät ihr Geheimnis nicht.« _Kant._ »Mulier taceat de muliere.« _Nietzsche._ Unter Psychologie überhaupt ist gewöhnlich die Psychologie der Psychologen zu verstehen, und die Psychologen sind ausschließlich Männer: noch hat man, seit Menschen Geschichte aufzeichnen, nicht von einem _weiblichen_ Psychologen gehört. Aus diesem Grunde bildet die Psychologie des Weibes ein Kapitel, welches der Allgemeinpsychologie nicht anders angehängt wird als die Psychologie des Kindes. Und da die Psychologie von Männern in regelmäßiger, aber wohl kaum bewußter ausschließlicher Berücksichtigung des Mannes geschrieben wird, ist die Allgemeinpsychologie Psychologie der »Männer« geworden, und wird das Problem einer Psychologie der Geschlechter immer dann erst aufgeworfen, wenn der Gedanke an eine Psychologie des Weibes auftaucht. So sagt _Kant_: »In der Anthropologie ist die weibliche Eigentümlichkeit mehr als die männliche ein Studium für den Philosophen.« Die Psychologie der Geschlechter wird sich immer decken mit der Psychologie von W. Die Psychologie von W jedoch wird ebenfalls nur von Männern geschrieben. Man kann also mit Leichtigkeit sich auf den Standpunkt stellen, daß sie wirklich zu schreiben ein Ding der Unmöglichkeit sei, da sie Behauptungen über fremde Menschen aufstellen müsse, die keine Verifikation durch deren eigene Beobachtung ihrer selbst erhalten haben. Gesetzt, W könnte sich selbst je mit der erforderlichen Schärfe beschreiben, so ist damit noch nicht ausgemacht, ob sie den Dingen, die uns hauptsächlich interessieren, _dasselbe_ Interesse entgegenbrächte; ja, und wenn sie selbst noch so genau sich erkennen könnte und wollte -- setzen wir den Fall -- so fragt sich's noch immer, ob sie je _über_ sich zu reden zu bringen sein würde. Es wird sich im Laufe der Untersuchung herausstellen, daß diese drei Unwahrscheinlichkeiten auf eine gemeinsame Quelle in der Natur des Weibes zurückweisen. Diese Untersuchung kann nur in dem Anspruch unternommen werden, daß jemand, ohne selbst Weib zu sein, über das Weib richtige Aussagen zu machen imstande sei. Es bleibt also jener erste Einwand einstweilen bestehen, und da seine Widerlegung erst viel später erfolgen kann, hilft es nichts, wir müssen uns über ihn hinwegsetzen. Nur so viel will ich bemerken. Noch hat nie -- ist auch dies nur eine Folge der Unterdrückung durch den Mann? -- beispielsweise eine schwangere Frau ihre Empfindungen und Gefühle irgendwie, sei es in einem Gedichte, sei es in Memoiren, sei es in einer gynäkologischen Abhandlung, zum Ausdruck gebracht; und Folge einer übergroßen Schamhaftigkeit kann das nicht sein, denn -- _Schopenhauer_ hat hierauf mit Recht hingewiesen -- es gibt nichts, was einer schwangeren Frau so fern läge wie die Scham über ihren Zustand. Außerdem bestünde ja an sich die Möglichkeit, nach dem Ende der Schwangerschaft aus der Erinnerung über das psychische Leben zu jener Zeit zu beichten; wenn dennoch das Schamgefühl damals von Mitteilung zurückgehalten hätte, so entfiele ja nachher dieses Motiv, und das Interesse, das solchen Eröffnungen von vielen Seiten entgegengebracht würde, wäre für viele wohl sonst Grund genug, das Schweigen zu brechen. Aber nichts von alledem! Wie wir sonst nur Männern wirklich wertvolle Enthüllungen über die psychischen Vorgänge im Weibe danken, so haben auch hier bloß Männer die Empfindungen der schwangeren Frau geschildert. Wie vermochten sie das? Wenn auch in jüngster Zeit die Aussagen von Dreiviertel- und Halbweibern über ihr psychisches Leben sich mehren, so erzählen diese doch mehr von dem Manne als von dem eigentlichen Weibe in ihnen. Wir bleiben demnach nur auf eines angewiesen: _auf das, was in den Männern selbst Weibliches ist_. Das Prinzip der sexuellen Zwischenformen erweist sich hier in gewissem Sinne als die Voraussetzung jedes wahren Urteils eines Mannes über die Frau. Doch wird sich später die Notwendigkeit einer Beschränkung und Ergänzung dieser Bedeutung des Prinzipes ergeben. Denn es ohne weiteres anwenden, müßte dazu führen, daß der weiblichste Mann das Weib am besten zu beschreiben in der Lage sei, und konsequent würde daraus weiter folgen, daß das echte Weib sich selbst am besten durchschauen könne, was ja eben sehr in Zweifel gezogen wurde. Wir werden also schon hier darauf aufmerksam, daß ein Mann Weibliches in bestimmtem Maße in sich haben kann, ohne darum in gleichem Grade schon eine sexuelle Zwischenform darzustellen. Umso merkwürdiger erscheint es, daß der Mann gültige Feststellungen über die Natur des Weibes solle machen können; ja, da wir diese Fähigkeit, bei der außerordentlichen Männlichkeit vieler offenbar ausgezeichneter Beurteiler der Frauen, selbst M nicht absprechen zu können scheinen, bleibt das Recht des Mannes, über die Frau[13] mitzusprechen, ein desto merkwürdigeres Problem, und wir werden uns der Auflösung des prinzipiellen methodischen Zweifels an diesem Rechte später um so weniger entziehen können. Einstweilen betrachten wir jedoch, wie gesagt, den Einwurf als nicht gemacht und schreiten an die Untersuchung der Sache selbst. _Worin liegt der wesentliche psychologische Unterschied zwischen Mann und Weib?_ so fragen wir drauf los. Man hat in der größeren Intensität des Geschlechtstriebes beim Manne diesen Urunterschied zwischen den Geschlechtern erblicken wollen, aus dem sich alle anderen ableiten ließen. Ganz abgesehen, ob die Behauptung richtig, ob mit dem Worte »Geschlechtstrieb« ein Eindeutiges und wirklich Meßbares bezeichnet ist, so steht doch die prinzipielle Berechtigung einer solchen Ableitung wohl noch sehr in Frage. Zwar dürfte an allen jenen antiken und mittelalterlichen Theorien über den Einfluß der »unbefriedigten Gebärmutter« beim Weibe und des »semen retentum« beim Manne ein Wahres sein, und es hat da nicht erst der heute so beliebten Phrase bedurft, daß »alles« nur »sublimierter Geschlechtstrieb« sei. Aber auf die Ahnung so vager Zusammenhänge läßt sich keine systematische Darstellung gründen. Daß mit größerer oder geringerer Stärke des Geschlechtstriebes andere Qualitäten ihrem Grade nach bestimmt sind, ist in keiner Weise sicherzustellen versucht worden. Indessen die Behauptung, daß die Intensität des Geschlechtstriebes bei M größer sei als bei W, ist _an sich falsch_. Man hat ja auch wirklich das Gegenteil ebenso behauptet: es ist _ebenso falsch_. In Wahrheit bleibt die Stärke des Bedürfnisses nach dem Sexualakt unter Männern selbst gleich starker Männlichkeit noch immer verschieden, ebenso, wenigstens dem Anscheine nach, unter Frauen mit dem gleichen Gehalte an W. Hier spielen gerade unter den Männern ganz andere Einteilungsgründe mit, die es mir zum Teil gelungen ist aufzufinden und über die vielleicht eine andere Publikation ausführlich handeln wird. Also in der größeren Heftigkeit des Begattungstriebes liegt, entgegen vielen populären Meinungen, _kein_ Unterschied der Geschlechter. Dagegen werden wir einen solchen gewahr, wenn wir jene zwei analytischen Momente, die Albert _Moll_ aus dem Begriffe des Geschlechtstriebes herausgehoben hat, einzeln auf Mann und Weib anwenden: den _Detumescenz-_ und den _Kontrektationstrieb_. Der erste resultiert aus den Unlustgefühlen durch in größerer Menge angesammelte reife Keimzellen, der zweite ist das Bedürfnis nach körperlicher Berührung eines zu sexueller Ergänzung in Anspruch genommenen Individuums. Während nämlich M beides besitzt, Detumescenz- wie Kontrektationstrieb, ist bei W ein eigentlicher Detumescenztrieb gar nicht vorhanden. Dies ist schon damit gegeben, daß im Sexualakte nicht W an M, sondern nur M an W etwas abgibt: W _behält_ die männlichen wie die weiblichen Sekrete. Im anatomischen Bau kommt dies ebenfalls zum Ausdruck in der Prominenz der männlichen Genitalien, die dem Körper des Mannes den Charakter eines Gefäßes so völlig nimmt. Wenigstens kann man die Männlichkeit des Detumescenztriebes in dieser morphologischen Tatsache angedeutet finden, ohne daran sofort eine naturphilosophische Folgerung zu knüpfen. Daß W der Detumescenztrieb fehlt, wird auch durch die Tatsache bewiesen, daß die meisten Menschen, die über ⅔ M enthalten, ohne Ausnahme in der Jugend der Onanie auf längere oder kürzere Zeit verfallen, einem Laster, dem unter den Frauen nur die mannähnlichsten huldigen. W selbst ist die Masturbation fremd. Ich weiß, daß ich hiemit eine Behauptung aufstelle, der schroffe gegenteilige Versicherungen gegenüberstehen. Doch werden sich die scheinbar widersprechenden Erfahrungen sofort befriedigend erklären. Zuvor jedoch harrt noch der Kontrektationstrieb von W der Besprechung. Dieser spielt beim Weibe die größte, weil eine alleinige Rolle. Aber auch von ihm läßt sich nicht behaupten, daß er beim einen Geschlechte größer sei als beim anderen. Im Begriffe des Kontrektationstriebes liegt ja nicht die Aktivität in der Berührung, sondern nur das Bedürfnis nach dem körperlichen Kontakte mit dem Nebenmenschen überhaupt, ohne daß schon etwas darüber ausgesagt wäre, wer der berührende und wer der berührte Teil ist. Die Konfusion in diesen Dingen, indem immer _Intensität des Wunsches_ mit dem _Wunsch nach Aktivität_ zusammengeworfen wird, rührt von der Tatsache her, daß M in der ganzen Tierwelt W gegenüber, ebenso mikrokosmisch jeder tierische und pflanzliche Samenfaden der Eizelle gegenüber stets der _aufsuchende_ und _aggressive_ Teil ist, und der Irrtum nahe liegt, ein _unternehmendes Verhalten_ behufs Erreichung eines Zweckes und den _Wunsch_ nach dessen Erreichung aus einander regelmäßig und in einer konstanten Proportion folgen zu lassen, und auf eine Abwesenheit des Bedürfnisses zu schließen, wo sich keine deutlichen motorischen Bestrebungen zeigen, dieses zu befriedigen. So ist man dazu gekommen, den Kontrektationstrieb für speziell männlich anzusehen und gerade ihn dem Weibe abzusprechen. Man versteht aber, daß hier noch sehr wohl _innerhalb_ des Kontrektationstriebes eine Unterscheidung getroffen werden muß. Es wird sich fernerhin noch ergeben, daß M in sexueller Beziehung das Bedürfnis hat, _anzugreifen_ (im wörtlichen _und_ im übertragenen Sinne), W das Bedürfnis, _angegriffen zu werden_, und es ist klar, daß das weibliche Bedürfnis, bloß weil es nach Passivität geht, darum kein geringeres zu sein braucht als das männliche nach der Aktivität. Diese Distinktionen täten den häufigen Debatten not, welche immer wieder die Frage aufwerfen, bei welchem Geschlechte der Trieb nach dem anderen wohl größer sein möge. Was man bei der Frau als Masturbation bezeichnet hat, entspringt aus einer anderen Ursache als aus dem Detumescenztriebe. W ist, und damit kommen wir auf einen wirklichen Unterschied zum ersten Male zu sprechen, _sexuell viel erregbarer als der Mann_; seine _physiologische Irritabilität_ (nicht Sensibilität) ist, was die Sexualsphäre anlangt, eine viel stärkere. Die Tatsache dieser leichten sexuellen Erregbarkeit kann sich bei der Frau entweder im _Wunsche_ nach der sexuellen Erregung offenbaren oder in einer eigentümlichen, sehr reizbaren, ihrer selbst, wie es scheint, keineswegs sicheren und darum unruhigen und heftigen _Scheu_ vor der Erregung durch Berührung. Der Wunsch nach der sexuellen Excitation ist insoferne ein wirkliches Zeichen der leichten Erregbarkeit, als dieser Wunsch nicht etwa einer jener Wünsche ist, welchen das in der Natur eines Menschen selbst gegründete _Schicksal_ nie Erfüllung gewähren kann, sondern im Gegenteile die hohe Leichtigkeit und Willigkeit der Gesamtanlage bedeutet, in den Zustand der sexuellen Erregtheit überzugehen, der vom Weibe möglichst intensiv und möglichst perpetuierlich ersehnt wird und nicht, wie beim Manne, mit der in der Kontrektation erreichten Detumescenz ein natürliches Ende findet. Was man für Onanie des Weibes ausgegeben hat, sind nicht wie beim Manne Akte mit der immanierenden Tendenz, den Zustand der sexuellen Erregtheit aufzuheben; es sind vielmehr lauter Versuche, ihn herbeizuführen, zu steigern und zu prolongieren. -- Aus der Scheu vor der sexuellen Erregung, einer Scheu, deren Analyse einer Psychologie der Frau eine keineswegs leichte, vielleicht sogar die schwierigste Aufgabe stellt, läßt sich desgleichen mit Sicherheit auf eine große Schwäche in dieser Beziehung schließen. Der Zustand der sexuellen Erregtheit bedeutet für die Frau nur die höchste Steigerung ihres Gesamtdaseins. _Dieses ist immer und durchaus sexuell. W geht im Geschlechtsleben, in der Sphäre der Begattung und Fortpflanzung, d. i. im Verhältnisse zum Manne und zum Kinde, vollständig auf_, sie wird von diesen Dingen in ihrer Existenz vollkommen ausgefüllt, während M _nicht nur_ sexuell ist. Hier liegt also in Wirklichkeit jener Unterschied, den man in der verschiedenen _Intensität_ des Sexualtriebes zu finden suchte. Man hüte sich also vor einer Verwechslung der _Heftigkeit_ des sexuellen Begehrens und der Stärke der sexuellen Affekte mit der _Breite_, in welcher geschlechtliche Wünsche und Besorgnisse den männlichen oder weiblichen Menschen ausfüllen. _Bloß die größere Ausdehnung der Sexualsphäre über den ganzen Menschen bei W_ bildet einen spezifischen Unterschied von der schwersten Bedeutung zwischen den geschlechtlichen Extremen. Während also W von der Geschlechtlichkeit gänzlich ausgefüllt und eingenommen ist, kennt M noch ein Dutzend anderer Dinge: Kampf und Spiel, Geselligkeit und Gelage, Diskussion und Wissenschaft, Geschäft und Politik, Religion und Kunst. Ich rede nicht davon, ob es einmal anders war; das soll uns wenig bekümmern; damit ist es wie mit der Judenfrage: man sagt, die Juden seien erst das geworden, was sie sind und einmal ganz anders gewesen. Mag sein: doch das wissen wir hier nicht. Wer der Entwicklung so viel zutraut, mag immerhin daran glauben; bewiesen ist von jenen Dingen nichts, gegen die eine historische Überlieferung steht da immer gleich eine andere. Aber wie heute die Frauen sind, darauf kommt es an. Und stoßen wir auf Dinge, die unmöglich von außen in ein Wesen können hineinverpflanzt worden sein, so werden wir getrost annehmen, daß dieses sich von jeher gleich geblieben ist. Heute nun zumindest ist eines sicher richtig: W befaßt sich, eine scheinbare Ausnahme (Kapitel 12) abgerechnet, mit außergeschlechtlichen Dingen nur für den Mann, den sie liebt, oder um des Mannes willen, von dem sie geliebt sein möchte. Ein Interesse für diese Dinge _an sich_ fehlt ihr vollständig. Es kommt vor, daß eine echte Frau die lateinische Sprache lernt; dann ist es aber nur, um etwa ihren Sohn, der das Gymnasium besucht, auch hierin noch unterstützen und überwachen zu können. Lust aber an einer Sache und Talent zu ihr, das Interesse für sie und die Leichtigkeit ihrer Aneignung sind einander stets proportional. Wer keine Muskeln hat, hat auch keine Lust zum Hanteln und Stemmen; nur wer Talent zur Mathematik hat, wird sich ihrem Studium zuwenden. Also scheint selbst das _Talent_ im echten Weibe seltener oder weniger intensiv zu sein (obwohl hierauf wenig ankommt: die Geschlechtlichkeit wäre ja auch im gegenteiligen Falle zu stark, um andere ernstgemeinte Beschäftigung zuzulassen); und darum mangelt es wohl auch beim Weibe an den Bedingungen zur Bildung interessanter Kombinationen, die beim Manne eine Individualität wohl nicht ausmachen, aber modellieren können. Dem entsprechend sind es ausschließlich weiblichere Männer, die in einem fort hinter den Frauenzimmern her sind und an nichts Interesse finden als an Liebschaften und an geschlechtlichem Verkehre. Doch soll hiemit keineswegs das Don Juan-Problem erledigt, oder auch nur ernstlich berührt sein. _W ist nichts als Sexualität, M ist sexuell und noch etwas darüber._ Dies zeigt sich besonders deutlich in der so gänzlich verschiedenen Art, wie Mann und Weib ihren Eintritt in die Periode der Geschlechts_reife_ erleben. Beim Manne ist die Zeit der Pubertät immer krisenhaft, er fühlt, daß ein Fremdes in sein Dasein tritt, etwas, das zu seinem bisherigen Denken und Fühlen hinzukommt, ohne daß er es _gewollt_ hat. Es ist die physiologische Erektion, über die der Wille keine Gewalt hat; und die erste Erektion wird darum von jedem Manne rätselhaft und beunruhigend empfunden, sehr viele Männer erinnern sich ihrer Umstände ihr ganzes Leben lang mit größter Genauigkeit. Das Weib aber findet sich nicht nur leicht in die Pubertät, es fühlt sein Dasein von da ab sozusagen potenziert, seine eigene Wichtigkeit unendlich erhöht. Der Mann hat als Knabe gar kein Bedürfnis nach der _sexuellen_ Reife; die Frau erwartet bereits als ganz junges Mädchen von dieser Zeit _alles_. Der Mann begleitet die Symptome seiner körperlichen Reife mit unangenehmen, ja feindlichen und unruhigen Gefühlen, die Frau verfolgt in höchster Gespanntheit, mit der fieberhaftesten, ungeduldigsten Erwartung ihre somatische Entwicklung während der Pubertät. Dies beweist, daß die Geschlechtlichkeit des Mannes nicht auf der geraden Linie seiner Entwicklung liegt, während bei der Frau nur eine ungeheuere Steigerung ihrer _bisherigen_ Daseinsart eintritt. Es gibt wenig Knaben dieses Alters, welche den Gedanken, daß sie sich verlieben oder heiraten würden (heiraten überhaupt, nicht im Hinblick auf ein bestimmtes Mädchen), nicht höchst lächerlich finden und indigniert zurückweisen; indes die kleinsten Mädchen bereits auf die Liebe und die Heirat überhaupt wie auf die Vollendung ihres Daseins erpicht zu sein scheinen. Darum wertet die Frau bei sich selbst und bei anderen Frauen nur die Zeit der Geschlechtsreife positiv; zur Kindheit wie zum Alter hat sie kein rechtes Verhältnis. Der Gedanke an ihre Kindheit ist ihr später nur ein Gedanke an ihre Dummheit, der Aspekt, unter dem sich ihr das eigene Alter im voraus darstellt, ist Angst und Abscheu. Aus der Kindheit werden durch eine positive Bewertung von ihrem Gedächtnis nur die sexuellen Momente herausgehoben, und auch diese sind im Nachteile gegenüber den späteren unvergleichlich höheren Intensifikationen ihres Lebens -- welches eben ein Sexualleben ist. Die Brautnacht endlich, der Moment der Defloration, ist der wichtigste, ich möchte sagen, der Halbierungspunkt des ganzen Lebens der Frau. Im Leben des Mannes spielt der erste Koitus im Verhältnis zu der Bedeutung, die er beim anderen Geschlechte besitzt, überhaupt keine Rolle. Die Frau ist _nur_ sexuell, der Mann ist _auch_ sexuell: sowohl räumlich wie zeitlich läßt sich diese Differenz noch weiter ausspinnen. Die Punkte seines Körpers, von denen aus der Mann geschlechtlich erregt werden kann, sind gering an Zahl und streng lokalisiert. Beim Weibe ist die Sexualität diffus ausgebreitet über den ganzen Körper, jede Berührung, an welcher Stelle immer, erregt sie sexuell. Wenn also im zweiten Kapitel des ersten Teiles die bestimmte sexuelle Charakteristik des _ganzen_ männlichen wie des _ganzen_ weiblichen Körpers behauptet wurde, so ist dies nicht so zu verstehen, als bestünde von jedem Punkte aus die Möglichkeit gleichmäßiger sexueller Reizung beim Manne ebenso wie beim Weibe. Freilich gibt es auch bei der Frau lokale Unterschiede in der Erregbarkeit, aber es sind hier nicht wie beim Manne alle übrigen körperlichen Partien gegen den Genitaltrakt scharf geschieden. Die morphologische Abhebung der männlichen Genitalien vom Körper des Mannes könnte abermals als symbolisch für dieses Verhältnis angesehen werden. Wie die Sexualität des Mannes _örtlich_ gegen Asexuelles in ihm hervortritt, so findet sich dieselbe Ungleichheit auch in seinem Verhalten zu verschiedenen _Zeiten_ ausgeprägt. Das Weib ist _fortwährend_, der Mann nur _intermittierend_ sexuell. Der Geschlechtstrieb ist beim Weibe immer vorhanden (über jene scheinbaren Ausnahmen, welche man gegen die Geschlechtlichkeit des Weibes stets ins Feld führt, wird noch sehr ausführlich zu handeln sein), beim Manne _ruht_ er immer längere oder kürzere Zeit. Daraus erklärt sich nun auch der _eruptive_ Charakter des männlichen Geschlechtstriebes, der diesen so viel auffallender erscheinen läßt als den weiblichen und zu der Verbreitung des Irrtumes beigetragen hat, daß der Geschlechtstrieb des Mannes intensiver sei als der des Weibes. Der wahre Unterschied liegt hier darin, daß für M der Begattungstrieb sozusagen ein pausierendes Jucken, für W ein unaufhörlicher Kitzel ist. Die ausschließliche und kontinuierliche Sexualität des Weibes in körperlicher und psychischer Hinsicht hat nun aber noch weiterreichende Folgen. Daß die Sexualität nämlich beim Manne nur einen Appendix und nicht alles ausmacht, ermöglicht dem Manne auch ihre _psychologische_ Abhebung von einem Hintergrunde und somit ihr _Bewußtwerden_. So kann sich der Mann seiner Sexualität gegenüberstellen und sie losgelöst von anderem in Betracht ziehen. Beim Weibe kann sich die Sexualität nicht durch eine zeitliche Begrenzung ihrer Ausbrüche noch durch _ein_ anatomisches Organ, in dem sie äußerlich sichtbar lokalisiert ist, _ab_heben von einer _nicht_sexuellen Sphäre. Darum _weiß_ der Mann um seine Sexualität, während die Frau sich ihrer Sexualität schon darum gar nicht bewußt werden und sie somit in gutem Glauben in Abrede stellen kann, _weil sie nichts ist als Sexualität, weil sie die Sexualität selbst ist_, wie in Antizipation späterer Darlegungen gleich hinzugefügt werden mag. Es fehlt den _Frauen_, weil sie _nur_ sexuell sind, die zum _Bemerken_ der Sexualität wie zu allem Bemerken notwendige _Zweiheit_; indessen sich beim stets mehr als bloß sexuellen _Manne_ die Sexualität nicht nur anatomisch, sondern auch _psychologisch_ von allem anderen abhebt. Darum besitzt er die Fähigkeit, zur Sexualität selbständig in ein Verhältnis zu treten; er kann sie, wenn er sich mit ihr auseinandersetzt, in Schranken weisen oder ihr eine größere Ausdehnung einräumen, er kann sie negieren oder bejahen: zum Don Juan wie zum Heiligen sind die Möglichkeiten in ihm vorhanden, er kann die eine oder die andere von beiden ergreifen. Grob ausgedrückt: der Mann hat den Penis, aber die Vagina hat die Frau. Es ist hiemit als wahrscheinlich deduziert, daß der Mann seiner Sexualität sich bewußt werde und ihr selbständig gegenübertrete, während der Frau die Möglichkeit dazu abzugehen scheint; und zwar beruft sich diese Begründung auf eine größere Differenziertheit im Manne, in dem Sexuelles _und_ Asexuelles auseinandergetreten sind. Die Möglichkeit oder Unmöglichkeit, einen bestimmten einzelnen Gegenstand zu ergreifen, liegt aber nicht in dem Begriffe, den man mit dem Worte Bewußtsein gewöhnlich verbindet. Dieser scheint vielmehr zu inkludieren, daß, _wenn_ ein Wesen Bewußtsein hat, es _jedes_ Objekt zu dessen Inhalt machen könne. Es erhebt sich also hier die Frage nach der _Natur des weiblichen Bewußtseins überhaupt_, und die Erörterungen über dieses Thema werden uns erst auf einem langen Umweg zu jenem hier so flüchtig gestreiften Punkte wieder zurückführen. III. Kapitel. Männliches und weibliches Bewußtsein. Bevor auf einen Hauptunterschied des psychischen Lebens der Geschlechter, soweit dieses die Dinge der Welt zu seinen Inhalten macht, näher eingegangen werden kann, müssen einige psychologische Sondierungen vorgenommen und einige Begriffe festgelegt werden. Da die Anschauungen und Prinzipien der herrschenden Psychologie ohne Rücksicht auf dieses spezielle Thema sich entwickelt haben, so wäre es ja nur zu verwundern, wenn ihre Theorien ohne weiteres auf dessen Gebiet sich anwenden ließen. Zudem gibt es heute noch keine _Psychologie_, sondern bis jetzt nur _Psychologien_; und der Anschluß an eine bestimmte Schule, um, nur unter Zugrundelegung ihrer Lehrmeinungen, das ganze Thema zu behandeln, trüge wohl viel mehr den Charakter der Willkür an sich als das hier einzuschlagende Verfahren, welches, in möglichstem Anschluß an bisherige Errungenschaften, doch die Dinge, soweit als nötig, von neuem in Selbständigkeit ergründen will. Die Bestrebungen nach einer vereinheitlichenden Betrachtung des ganzen Seelenlebens, nach seiner Zurückführung auf einen einzigen Grundprozeß haben in der empirischen Psychologie vor allem in dem Verhältnis sich geoffenbart, das von den einzelnen Forschern zwischen _Empfindungen_ und _Gefühlen_ angenommen wurde. _Herbart_ hat die Gefühle aus den Vorstellungen abgeleitet, _Horwicz_ hingegen aus den Gefühlen erst die Empfindungen sich entwickeln lassen. Die führenden modernen Psychologen haben die Aussichtslosigkeit dieser monistischen Bemühungen hervorgehoben. Dennoch lag diesen ein Wahres zu Grunde. Man muß, um dieses Wahre zu finden, eine Unterscheidung zu treffen nicht unterlassen, welche, so nahe sie zu liegen scheint, in der heutigen Psychologie merkwürdigerweise gänzlich vermißt wird. Man muß das erstmalige Empfinden einer Empfindung, das erste Denken eines Gedankens, das erste Fühlen eines Gefühles selbst auseinanderhalten von den späteren Wiederholungen desselben Vorganges, bei welchen schon ein Wiedererkennen erfolgen kann. Für eine Anzahl von Problemen scheint diese Distinktion, obgleich sie in der heutigen Psychologie leider nicht gemacht wird, von bedeutender Wichtigkeit. Jeder deutlichen, klaren, plastischen _Empfindung_ läuft ursprünglich, ebenso jedem scharfen, distinkten Gedanken, bevor er _zum ersten Male_ in Worte gefaßt wird, ein, freilich oft äußerst _kurzes, Stadium der Unklarheit voran_. Desgleichen geht jeder noch nicht geläufigen _Assoziation_ eine mehr oder minder verkürzte Spanne Zeit vorher, wo bloß ein dunkles Richtungsgefühl nach dem zu Assoziierenden hin, eine allgemeine Assoziationsahnung, eine Empfindung von Zugehörigkeit zu etwas anderem vorhanden ist. Verwandte Vorgänge haben besonders _Leibniz_ sicherlich beschäftigt und gaben, mehr oder weniger gut beschrieben, Anlaß zu den erwähnten Theorien von Herbart und Horwicz. Da man als einfache Grundformen der _Gefühle_ insgemein nur Lust und Unlust, eventuell noch mit _Wundt_ Lösung und Spannung, Beruhigung und Erregung ansieht, ist die Einteilung der psychischen Phänomene in Empfindungen und Gefühle für die Erscheinungen, die in das Gebiet jener Vorstadien der Klarheit fallen, wie sich bald deutlicher zeigen wird, zu eng und darum zu ihrer Beschreibung nicht verwendbar. Ich will daher, um hier scharf zu umgrenzen, die allgemeinste Klassifikation der psychischen Phänomene benützen, die wohl getroffen werden konnte: es ist die von _Avenarius_ in »Elemente« und »Charaktere« (der »Charakter« hat in dieser Bedeutung nichts mit dem _Objekte der Charakterologie_ gemein). _Avenarius_ hat den Gebrauch seiner Theorien weniger durch seine, bekanntlich vollständig neue, Terminologie erschwert (die sogar viel Vorzügliches enthält und für gewisse Dinge, die er zuerst bemerkt und bezeichnet hat, kaum entbehrlich ist); was der Annahme mancher seiner Ergebnisse am meisten im Wege steht, ist seine unglückliche Sucht, die Psychologie aus einem gehirnphysiologischen Systeme abzuleiten, _das er selbst nur aus den psychologischen Tatsachen der inneren Erfahrung_ (unter äußerlicher Zuziehung der allgemeinsten biologischen Kenntnisse über das Gleichgewicht zwischen Ernährung und Arbeit) _gewonnen hatte_. Der psychologische zweite Teil seiner »Kritik der reinen Erfahrung« war die Basis, auf der sich in ihm selbst die Hypothesen des physiologischen ersten Teiles aufgebaut hatten; in der Darstellung kehrte sich das Verhältnis um, und so mutet dieser erste Teil den Leser an wie eine Reisebeschreibung von Atlantis. Um dieser Schwierigkeiten willen muß ich den Sinn der Avenariusschen Einteilung, die für meinen Zweck sich am geeignetsten erwiesen hat, hier kurz darlegen. »_Element_« ist für Avenarius das, was in der Schulpsychologie »Empfindung«, »Empfindungsinhalt« oder »Inhalt« schlechtweg heißt (und zwar sowohl bei der »Perzeption« als bei der »Reproduktion«), bei Schopenhauer »Vorstellung«, bei den Engländern sowohl die »impression« als die »idea«, im gewöhnlichen Leben »Ding, Sache, Gegenstand«: _gleichviel, ob äußere Erregung eines Sinnesorganes vorhanden ist oder nicht, was sehr wichtig und neu war_. Dabei ist es, für seine wie für unsere Zwecke, recht nebensächlich, wo man mit der sogenannten Analyse Halt macht, ob man den _ganzen_ Baum als »Empfindung« betrachtet oder nur das einzelne Blatt, den einzelnen Stengel, oder (wobei meistens stehen geblieben wird) gar nur deren Farbe, Größe, Konsistenz, Geruch, Temperatur als wirklich »Einfaches« gelten lassen will. Denn man könnte ja auf diesem Wege noch weiter gehen, sagen, das Grün des Blattes sei schon Komplex, nämlich Resultante aus seiner Qualität, Intensität, Helligkeit, Sättigung und Ausdehnung, und brauchte erst diese als Elemente gelten zu lassen; ähnlich wie es den Atomen oft geht: schon einmal mußten sie den »Ameren« weichen, jetzt wieder den »Elektronen«. Seien also »grün«, »blau«, »kalt«, »warm«, »hart«, »weich«, »süß«, »sauer« _Elemente_, so ist _Charakter_ nach Avenarius jederlei »Färbung«, »_Gefühlston_«, mit dem jene auftreten; _und zwar $nicht nur$_ »angenehm«, »schön«, »wohltuend« und ihre Gegenteile, sondern auch, was Avenarius zuerst als psychologisch hieher gehörend erkannt hat, »befremdend«, »zuverlässig«, »unheimlich«, »beständig«, »anders«, »sicher«, »bekannt«, »tatsächlich«, »zweifelhaft« etc. etc. _Was_ ich z. B. vermute, glaube, weiß, ist »_Element_«; _daß_ es just _vermutet_ wird, nicht _geglaubt_, nicht _gewußt_, ist _psychologisch_ (nicht logisch) ein »_Charakter_«, _in_ welchem das »Element« gesetzt ist. Nun gibt es aber ein Stadium im Seelenleben, auf welchem auch diese umfassendste Einteilung der psychischen Phänomene _noch nicht_ durchführbar ist, _zu früh kommt_. _Es erscheinen nämlich in ihren Anfängen alle »Elemente« wie in einem verschwommenen Hintergrunde_, als eine »rudis indigestaque moles«, _während Charakterisierung (ungefähr also = Gefühlsbetonung) zu dieser Zeit das Ganze lebhaft umwogt_. Es gleicht dies dem Prozesse, der vor sich geht, wenn man einem Umgebungsbestandteil, einem Strauch, einem Holzstoß aus weiter Ferne sich nähert: den ursprünglichen Eindruck, den man von ihm empfängt, diesen ersten Augenblick, in dem man noch lange nicht weiß, was »_es_« eigentlich ist, diesen Moment der ersten stärksten Unklarheit und Unsicherheit bitte ich zum Verständnis des Folgenden vor allem festzuhalten. _In diesem Augenblicke nun sind »Element« und »Charakter« absolut ununterscheidbar_ (_untrennbar_ sind sie stets, nach der sicherlich zu befürwortenden Modifikation, die _Petzoldt_ an _Avenarius'_ Darstellung vorgenommen hat). In einem dichten Menschengedränge nehme ich z. B. ein Gesicht wahr, dessen Anblick mir durch die dazwischen wogenden Massen _sofort_ wieder entzogen wird. Ich habe keine Ahnung, wie dieses Gesicht aussieht, wäre völlig unfähig, es zu beschreiben oder auch nur _ein_ Kennzeichen desselben anzugeben; und doch hat es mich in die lebhafteste Aufregung versetzt, und ich frage in angstvoll-gieriger Unruhe: wo hab' ich dieses Gesicht nur schon gesehen? Erblickt ein Mensch einen Frauenkopf, der auf ihn einen sehr starken sinnlichen Eindruck macht, für einen »Augenblick«, so vermag er oft sich selbst gar nicht zu sagen, was er eigentlich gesehen hat, es kann vorkommen, daß er nicht einmal an die Haarfarbe genau sich zu erinnern weiß. Bedingung ist immer, daß die Netzhaut dem Objekte, um mich ganz photographisch auszudrücken, genügend _kurze_ Zeit, _Bruchteile_ einer Sekunde lang, _exponiert_ war. Wenn man sich irgend einem Gegenstande aus weiter Ferne nähert, hat man stets zuerst nur ganz vage Umrisse von ihm unterschieden; dabei aber überaus lebhafte Gefühle empfunden, die in dem Maße zurücktreten, als man eben näher kommt und die Einzelheiten schärfer ausnimmt. (Von »Erwartungsgefühlen« ist, wie noch ausdrücklich bemerkt werden soll, hier nicht die Rede.) Man denke an Beispiele, wie an den ersten Anblick eines aus seinen Nähten gelösten menschlichen Keilbeins; oder an den mancher Bilder und Gemälde, sowie man einen halben Meter inner- oder außerhalb der richtigen Distanz Fuß gefaßt hat; ich erinnere mich speziell an den Eindruck, den mir Passagen mit Zweiunddreißigsteln aus Beethovenschen Klavierauszügen und eine Abhandlung mit lauter dreifachen Integralen gemacht haben, ehe ich noch die Noten kannte und vom Integrieren einen Begriff hatte. Dies eben haben _Avenarius_ und _Petzoldt_ _übersehen_: daß alles _Hervortreten der Elemente_ von _einer gewissen Absonderung der Charakterisierung_ (der Gefühlsbetonung) _begleitet ist_. Auch einige von der experimentellen Psychologie festgestellte Tatsachen kann man zu diesen Ergebnissen der Selbstbeobachtung in Beziehung bringen. Läßt man im Dunkelzimmer auf ein im Zustande der Dunkeladaptation befindliches Auge einen momentanen oder äußerst kurze Zeit währenden _farbigen_ Reiz einwirken, so hat der Beobachter nur den Eindruck schlechtweg der Erhellung, ohne daß er die nähere Farbenqualität des Lichtreizes anzugeben vermag; es wird ein »Etwas« empfunden ohne irgend welche genauere Bestimmtheit, ein »Lichteindruck überhaupt« ausgesagt; und die präzise Angabe der Farbenqualität ist selbst noch dann nicht leicht möglich, wenn die Dauer des Reizes (natürlich nicht über ein gewisses Maß) verlängert wird. Ebenso geht aber jeder wissenschaftlichen Entdeckung, jeder technischen Erfindung, jeder künstlerischen Schöpfung ein verwandtes Stadium der Dunkelheit voran, einer Dunkelheit wie jener, aus welcher _Zarathustra_ seine Wiederkunftslehre an das Licht ruft: »Herauf, abgründlicher Gedanke, aus meiner Tiefe! Ich bin dein Hahn und Morgengrauen, verschlafener Wurm: auf, auf! meine Stimme soll dich schon wachkrähen!« -- Der Prozeß in seiner Gänze, von der völligen Wirrnis bis zur strahlenden Helle, ist in seinem Verlaufe vergleichbar mit der Folge der Bilder, die man passiv empfängt, wenn von irgend einer plastischen Gruppe, einem Relief die feuchten Tücher, die es in großer Anzahl eingehüllt haben, eines nach dem anderen weggenommen werden; bei einer Denkmalsenthüllung erlebt der Zuschauer ähnliches. Aber auch, wenn ich mich an etwas erinnere, z. B. an irgend eine einmal gehörte Melodie, wird dieser Prozeß _wieder_ durchgemacht; freilich oft in äußerst verkürzter Gestalt und darum schwer zu bemerken. _Jedem_ neuen Gedanken geht ein solches Stadium des »_Vorgedankens_«, wie ich es nennen möchte, vorher, wo fließende geometrische Gebilde, visuelle Phantasmen, Nebelbilder auftauchen und zergehen, »schwankende Gestalten«, verschleierte Bilder, geheimnisvoll lockende Masken sich zeigen; Anfang und Ende des ganzen Herganges, den ich in seiner Vollständigkeit kurz den Prozeß der »_Klärung_« nenne, verhalten sich in gewisser Beziehung wie die Eindrücke, die ein stark Kurzsichtiger von weit entfernten Gegenständen erhält mit und ohne die korrigierenden Linsen. Und wie im Leben des einzelnen (der vielleicht stirbt, ehe er den ganzen Prozeß durchlaufen hat), so gehen auch in der Geschichte der Forschung die »_Ahnungen_« stets den klaren Erkenntnissen voran. Es ist derselbe Prozeß der Klärung, _auf Generationen verteilt_. Man denke z. B. an die zahlreichen griechischen und neuzeitlichen Antizipationen der _Lamarck_schen und _Darwin_schen Theorien, derentwegen die »Vorläufer« heute bis zum Überdruß belobt werden, an die vielen Vorgänger von _Robert Mayer_ und _Helmholtz_, an all die Punkte, wo _Goethe_ und _Lionardo da Vinci_, freilich vielleicht die vielseitigsten Menschen, den späteren Fortschritt der Wissenschaft vorweggenommen haben u. s. w., u. s. w. Um solche Vorstadien handelt es sich regelmäßig, wenn entdeckt wird, dieser oder jener Gedanke sei gar nicht neu, er stehe ja schon bei dem und dem. -- Auch bei allen Kunststilen, in der Malerei wie in der Musik, ist ein ähnlicher Entwicklungsprozeß zu beobachten: vom unsicheren Tasten und vorsichtigen Balancieren bis zu großen Siegen. -- Ebenso beruht der gedankliche Fortschritt der Menschheit auch in der Wissenschaft fast allein auf einer besseren und immer besseren Beschreibung und Erkenntnis _derselben_ Dinge, es ist der Prozeß der _Klärung, über die ganze menschliche Geschichte ausgedehnt_. Was wir neues bemerken, es kommt _daneben_ nicht eigentlich sehr in Betracht. Wie viele Grade der Deutlichkeit und Differenziertheit ein Vorstellungsinhalt durchlaufen kann bis zum völlig distinkten, von keinerlei Nebel in den Konturen mehr getrübten Gedanken, das kann man stets beobachten, wenn man einen schwierigen neuen Gegenstand, z. B. die Theorie der elliptischen Funktionen, durch das Studium sich anzueignen sucht. Wie viele _Grade des Verstehens_ macht man da nicht an sich selbst durch (insbesondere in Mathematik und Mechanik), bis alles vor einem daliegt, in schöner Ordnung, in vollständiger Disposition, in ungestörter und vollkommener Harmonie der Teile zum Ganzen, offen dem mühelosen Ergreifen durch die Aufmerksamkeit! Diese Grade entsprechen den einzelnen Etappen auf dem Wege der Klärung. Der Prozeß der Klärung kann auch _retrograd_ verlaufen: von der völligen Distinktheit bis zur größten Verschwommenheit. Diese _Umkehrung_ des Klärungsverlaufes ist nichts anderes als der Prozeß des _Vergessens_, der nur in der Regel über eine längere Zeit ausgedehnt ist und meist bloß durch Zufall auf dem einen oder anderen Punkte seines Fortschreitens bemerkt wird. Es verfallen gleichsam ehedem wohlgebahnte Straßen, für deren Pflege nichts durch »Reproduktion« geschehen ist; wie aus dem jugendlichen »Vorgedanken« der in größter Intensität aufblitzende »Gedanke«, so wird aus dem »Gedanken« der altersschwache »Nachgedanke«: und wie auf einem lange nicht begangenen Waldweg von rechts und links Gräser, Kräuter, Stauden hereinzuwuchern beginnen, so verwischt sich Tag für Tag die deutliche Prägung des Gedankens, der nicht mehr gedacht wird. Hieraus wird auch eine praktische Regel verständlich, die ein Freund[14] sehr oft bestätigt gefunden hat: wer irgend etwas _erlernen_ will, sei es ein Musikstück oder ein Abschnitt aus der Geschichte der Philosophie, wird im allgemeinen nicht ohne Unterbrechung sich dieser Aneignungsarbeit widmen können, und jede einzelne Partie des Stoffes wiederholt durchnehmen müssen. Da fragt es sich nun, wie groß sind am zweckmäßigsten die Pausen, zwischen dem einen Male und dem nächsten zu wählen? Es hat sich nun herausgestellt -- und es dürfte allgemein so sein -- daß mit einer Wiederholung begonnen werden muß, solange man sich _noch nicht wieder_ für die Arbeit _interessiert_, so lange man sein Pensum noch halbwegs _zu beherrschen glaubt_. Sowie es einem nämlich genugsam entschwunden ist, um wieder zu interessieren, neugierig oder wißbegierig zu machen, sind die Resultate der ersten Einübung schon zurückgegangen und kann die zweite die erste nicht gleich verstärken, sondern muß einen guten Teil der Klärungsarbeit von frischem auf sich nehmen. Vielleicht ist im Sinne der Siegmund _Exner_schen Lehre von der »Bahnung« einer sehr populären Anschauung gemäß, wirklich als der physiologische Parallelprozeß der Klärung, anzunehmen, daß die Nervenfasern, eventuell ihre Fibrillen, erst durch (entweder länger anhaltende oder häufig wiederholte) Affektion für die Reizleitung _wegsam_ gemacht werden müssen. Ebenso würde natürlich im Falle des Vergessens das Resultat dieser »Bahnung« rückgängig gemacht, die durch sie herausgebildeten morphologischen Strukturelemente im einzelnen Neuron infolge mangelnden Geübtwerdens atrophieren. Die _Avenarius_sche Theorie den obigen verwandter Erscheinungen -- _Avenarius_ würde Unterschiede der »Artikulation« oder »Gliederung« in den Gehirnprozessen (den »unabhängigen Schwankungen des Systems C«) zur Erklärung dieser Dinge angenommen haben -- überträgt denn doch wohl zu einfach und wörtlich Eigenschaften der »abhängigen Reihe« (d. i. des Psychischen) auf die »unabhängige« (physische), als daß sie speziell der Frage der psychophysischen Zuordnung irgendwie für förderlich gelten könnte. Dagegen erscheint der Ausdruck »artikuliert«, »gegliedert« zur Beschreibung des Grades der Distinktheit, mit welchem die einzelnen psychischen Data gegeben sind, wohl geeignet, und sei hiemit seine spätere Verwendung für diesen Zweck vorbehalten. Der Prozeß der Klärung mußte hier in seinem ganzen Verlauf verfolgt werden, um Umfang und Inhalt des neuen Begriffes kennen zu lernen; doch ist für das jetzt Folgende nur das Initialstadium, der Ausgangspunkt der Klärung, von Wichtigkeit. An den Inhalten, die weiterhin den Prozeß der Klärung durchmachen, ist, so hieß es, im allerersten Momente, in dem sie sich präsentieren, auch die _Avenarius_sche Unterscheidung von »Element« und »Charakter« _noch nicht durchführbar_. Es wird also derjenige, welcher diese Einteilung für alle Data der _entwickelten_ Psyche acceptiert, für die Inhalte in jenem Stadium, _wo eine solche Zweiheit an ihnen noch nicht unterscheidbar ist_, einen eigenen Namen einzuführen haben. Es sei, ohne alle über den Rahmen dieser Arbeit hinausgehenden Ansprüche, für psychische Data auf jenem primitivsten Zustande ihrer Kindheit das Wort »_Henide_« vorgeschlagen (von ἕν, weil sie noch nicht Empfindung und Gefühl als _zwei_ für die Abstraktion isolierbare analytische Momente, noch keinerlei Zweiheit erkennen lassen). _Die absolute Henide ist hiebei nur als ein Grenzbegriff zu betrachten._ Wie oft _wirkliche_ psychische Erlebnisse im _erwachsenen_ Alter des Menschen einen Grad von Undifferenziertheit erreichen, der ihnen diesen Namen mit Recht eintrüge, läßt sich so rasch nicht mit Sicherheit ausmachen; aber die Theorie an sich wird hiedurch nicht berührt. Eine Henide wird es im allgemeinen genannt werden dürfen, was, bei verschiedenen Menschen verschieden häufig, im Gespräche zu passieren pflegt: man hat ein ganz bestimmtes Gefühl, wollte eben etwas ganz Bestimmtes _sagen_; da bemerkt z. B. der andere etwas, und »es« ist nun weg, nicht mehr zu erhaschen. Später wird aber durch eine Assoziation plötzlich etwas reproduziert, von dem man sofort ganz genau weiß, daß es _dasselbe_ ist, was man früher nicht beim Zipfel fassen konnte: ein Beweis, daß es _derselbe_ Inhalt war, nur in anderer _Form_, _auf einem anderen Stadium der Entwicklung_. Die Klärung erfolgt also nicht nur im Laufe des ganzen individuellen Lebens nach dieser Richtung hin, sie muß auch für jeden Inhalt wieder von neuem durchgemacht werden. Ich besorge, daß jemand eine nähere Beschreibung dessen verlangen möchte, was ich mit der Henide eigentlich meine. Wie sehe eine Henide aus? Das wäre ein völliges Mißverständnis. Es liegt im Begriffe der Henide, daß sie sich nicht näher beschreiben läßt, als ein dumpfes Eines; _daß später die Identifikation mit dem völlig artikulierten Inhalte erfolgt, ist ebenso sicher, wie daß die Henide dieser artikulierte Inhalt selbst noch nicht ganz ist_, sich von ihm irgendwie, durch den Grad der Bewußtheit, durch den Mangel an Reliefierung, durch das Verschmolzensein von Folie und Hauptsache, durch den Mangel eines »Blickpunktes« im »Blickfelde« unterscheidet. Also einzelne Heniden kann man nicht beobachten und nicht beschreiben: _man kann nur Kenntnis nehmen von ihrem Dagewesensein_. Es läßt sich übrigens _prinzipiell_ in Heniden genau so gut denken, leben wie in Elementen und Charakteren; jede Henide ist ein Individuum und unterscheidet sich sehr wohl von jeder anderen. Aus später zu erörternden Gründen ist anzunehmen, daß die Erlebnisse der ersten Kindheit (und zwar dürfte dies für die ersten 14 Monate ausnahmslos für das Leben _aller_ Menschen zutreffen) Heniden sind, wenn auch vielleicht nicht in der absoluten Bedeutung. Doch rücken die psychischen Geschehnisse der ersten Kindheit wenigstens nie weit aus der Nähe des Henidenstadiums heraus; für den Erwachsenen indessen gibt es stets eine Entwicklung vieler Inhalte über jene Stufe empor. Dagegen ist in der Henide offenbar die Form des Empfindungslebens der niedersten Bionten, und vielleicht sehr vieler Pflanzen und Tiere zu sehen. Von der Henide ist _dem Menschen_ die Entwicklung nach einem vollständig differenzierten, plastischen Empfinden und Denken hin möglich, wenn auch dieses nur ein nie ganz ihm erreichbares Ideal darstellt. Während die absolute Henide die Sprache überhaupt noch nicht gestattet, indem die Gliederung der Rede nur aus der des Gedankens folgt, gibt es auch auf der höchsten dem Menschen möglichen Stufe des Intellektes noch Unklares und darum Unaussprechliches. Im ganzen also will die Henidentheorie den zwischen Empfindung und Gefühl um die Würde des höheren Alters geführten Streit schlichten helfen, und an Stelle der von _Avenarius_ und _Petzoldt_ aus der Mitte des Klärungsverlaufes herausgegriffenen Notionen »Element« und »Charakter« eine _entwicklungsgeschichtliche_ Beschreibung des Sachverhaltes versuchen: auf Grund der fundamentalen Beobachtung, daß erst mit dem Heraustreten der »Elemente« diese von den »Charakteren« unterscheidbar werden. Darum ist man zu »Stimmungen« und zu allen »Sentimentalitäten« nur disponiert, wenn die Dinge sich nicht in scharfen Konturen darstellen, und ihnen eher ausgesetzt in der Nacht als am Tage. Wenn die Nacht dem Lichte weicht, wird auch die Denkart der Menschen eine andere. In welcher Beziehung steht nun aber diese Untersuchung zur Psychologie der Geschlechter? Wie unterscheiden sich -- denn offenbar wurde zu solchem Zwecke diese längere Grundlegung gewagt -- M und W mit Rücksicht auf die verschiedenen Stadien der Klärung? Darauf ist folgende Antwort zu geben: _Der Mann hat die gleichen psychischen Inhalte wie das Weib in artikulierterer Form; wo sie mehr oder minder in Heniden denkt, dort denkt er bereits in klaren, distinkten Vorstellungen, an die sich ausgesprochene und stets die Absonderung von den Dingen gestattende Gefühle knüpfen. Bei W sind »Denken« und »Fühlen« eins, ungeschieden, für M sind sie auseinanderzuhalten. W hat also viele Erlebnisse noch in Henidenform, wenn bei M längst Klärung eingetreten ist._[15] Darum ist W sentimental, und kennt das Weib nur die Rührung, nicht die Erschütterung. Der größeren Artikulation der psychischen Data im Manne entspricht auch die größere Schärfe seines Körperbaues und seiner Gesichtszüge gegenüber der Weichheit, Rundung, Unentschiedenheit in der echten weiblichen Gestalt und Physiognomie. Ferner stimmen mit dieser Anschauung die Ergebnisse der die Geschlechter vergleichenden Sensibilitätsmessungen überein, die, entgegen der populären Meinung, bei den _Männern_ eine durchgängig größere Sinnesempfindlichkeit schon am _Durchschnitt_ ergeben haben und solche Differenzen sicherlich in noch viel höherem Maße hätten hervortreten lassen, wenn die _Typen_ in Betracht gezogen worden wären. Die einzige Ausnahme bildet der Tastsinn: die taktile Empfindlichkeit der Frauen ist feiner als die der Männer. Das Faktum ist interessant genug, um zur Auslegung aufzufordern, und eine solche wird auch später versucht werden. Zu bemerken ist hier noch, daß hingegen die Schmerzsensibilität des Mannes eine unvergleichlich größere ist als die der Frau, was für die physiologischen Untersuchungen über den »Schmerzsinn« und seine Scheidung vom »Hautsinn« von Wichtigkeit ist. Schwache Sensibilität wird das Verbleiben der Inhalte in der Nähe des Henidenstadiums sicherlich begünstigen; geringere Klärung kann aber nicht als ihre unbedingte Folge dargetan werden, sondern läßt sich mit ihr nur in einen sehr wahrscheinlichen Zusammenhang bringen. Ein zuverlässigerer Beweis für die geringere Artikulation des weiblichen Vorstellens liegt in der größeren _Entschiedenheit im Urteil_ des Mannes, ohne daß diese _allein_ aus der geringeren Distinktheit des Denkens beim Weibe sich schon völlig _ableiten_ ließe (vielleicht weisen beide auf eine gemeinsame tiefere Wurzel zurück). Doch ist wenigstens dies eine sicher, daß wir, so lange wir dem Henidenstadium nahe sind, meist nur genau wissen, wie sich eine Sache _nicht_ verhält, und das wissen wir immer schon lange, bevor wir wissen, _wie_ sie sich verhält: hierauf, auf einem Besitzen von Inhalten in Henidenform, beruht wohl auch das, was _Mach_ »instinktive Erfahrung« nennt. Nahe dem Henidenstadium reden wir noch immer um die Sache herum, korrigieren uns bei jedem Versuche sie zu bezeichnen und sagen: »Das ist auch noch nicht das richtige Wort.« Damit ist naturgemäß Unsicherheit im Urteilen von selbst gegeben. Erst mit vollendeter Klärung wird auch unser Urteil bestimmt und sicher; _der Urteilsakt selbst setzt eine gewisse Entfernung vom Henidenstadium voraus_, selbst wenn durch ihn ein analytisches Urteil, das den geistigen Besitzstand des Menschen nicht vermehrt, ausgesprochen werden soll. Der entscheidende Beweis aber für die Richtigkeit der Anschauung, welche die Henide W, den differenzierten Inhalt M zuschreibt und hier einen fundamentalen Gegensatz beider erblickt, liegt darin, daß, wo immer ein neues Urteil zu fällen und nicht ein schon lange fertiges einmal mehr in Satzform auszusprechen ist, _daß in solchem Falle stets W von M die Klärung ihrer dunklen Vorstellungen, $die Deutung der Heniden erwartet$_. Es wird die in der Rede des Mannes sichtbar werdende Gliederung seiner Gedanken dort, wo die Frau ohne helle Bewußtheit vorgestellt hat, _als ein (tertiärer) männlicher Geschlechtscharakter von ihr geradezu erwartet, gewünscht und beansprucht, und wirkt auf sie wie ein solcher_. _Hierauf_ bezieht es sich, wenn so viele Mädchen sagen, sie wünschten nur einen solchen Mann zu heiraten, oder könnten zumindest nur jenen Mann _lieben_, _der gescheiter sei als sie_; daß es sie befremden, ja sexuell _abstoßen_ kann, wenn der Mann dem, was sie sagen, einfach recht gibt und es nicht gleich besser sagt als sie; kurz und gut, warum eine Frau es eben als _Kriterium der Männlichkeit_ fühlt, daß der Mann ihr auch geistig überlegen sei, von dem Manne mächtig angezogen wird, dessen Denken ihr imponiert, und damit, ohne es zu wissen, das entscheidende Votum gegen alle Gleichheitstheorien abgibt. _M lebt bewußt, W lebt unbewußt._ Zu diesem Schlusse für die Extreme sind wir nun berechtigt. _W empfängt ihr Bewußtsein von M_: die Funktion, das Unbewußte bewußt zu machen, ist die sexuelle Funktion des typischen Mannes gegenüber dem typischen Weibe, das zu ihm im Verhältnis idealer Ergänzung steht. Hiemit ist die Darstellung beim _Problem der Begabung_ angelangt: der ganze theoretische Streit in der Frauenfrage geht heute fast nur darum, wer geistig höher veranlagt sei, »die Männer« oder »die Frauen«. Die populäre Fragestellung erfolgt ohne Typisierung; hier wurden über die Typen Anschauungen entwickelt, die auf die Beantwortung jener Frage nicht ohne Einfluß bleiben können. Die Art dieses Zusammenhanges bedarf jetzt der Erörterung. IV. Kapitel. Begabung und Genialität. Da über das Wesen der genialen Veranlagung sehr vielerlei an vielen Orten zu lesen ist, wird es Mißverständnisse verhüten, wenn noch vor allem Eingehen auf die Sache einige Feststellungen getroffen werden. Da handelt es sich zunächst um die Abgrenzung gegen den Begriff des Talentes. Die populäre Anschauung bringt Genie und Talent fast immer so in Verbindung, als wäre das erste ein höherer oder höchster Grad des letzteren, durch stärkste Potenzierung oder Häufung verschiedener Talente in einem Menschen aus jenem abzuleiten, als gäbe es zumindest vermittelnde Übergänge zwischen beiden. Diese Ansicht ist vollständig verkehrt. Wenn es auch vielerlei Grade und verschieden hohe Steigerungen der Genialität sicherlich gibt, so haben diese Stufen doch gar nichts zu tun mit dem sogenannten »Talent«. Ein Talent, z. B. das mathematische Talent, mag jemand von Geburt in außerordentlichem Grade besitzen; er wird dann die schwierigsten Kapitel dieser Wissenschaft mit leichter Mühe sich anzueignen imstande sein; aber von Genialität, was dasselbe ist wie Originalität, Individualität und Bedingung eigener Produktivität, braucht er darum noch nichts zu besitzen. Umgekehrt gibt es hochgeniale Menschen, die kein spezielles Talent in besonders hohem Grade entwickelt haben. Man denke an _Novalis_ oder an _Jean Paul_. Das Genie ist also keineswegs ein höchster Superlativ des Talentes, es ist etwas von ihm durch eine ganze Welt Geschiedenes, beide durchaus heterogener Natur, nicht aneinander zu messen und nicht miteinander zu vergleichen. Das Talent ist vererbbar, es kann Gemeingut einer Familie sein (die _Bachs_); das Genie ist nicht übertragbar, es ist nie generell, sondern stets individuell (_Johann Sebastian_). Vielen leicht zu blendenden mittelmäßigen Köpfen, insbesondere aber den _Frauen_, gilt im allgemeinen geistreich und genial als dasselbe. Die Frauen haben, wenn auch der äußere Schein für das Gegenteil sprechen mag, in Wahrheit gar keinen Sinn für das Genie, ihnen gilt jede Extravaganz der Natur, die einen Mann aus Reih und Glied der anderen sichtbar hervortreten läßt, zur Befriedigung ihres sexuellen Ehrgeizes gleich; sie verwechseln den Dramatiker mit dem Schauspieler, und machen keinen Unterschied zwischen Virtuos und Künstler. So gilt ihnen denn auch der geistreiche Mensch als der geniale, _Nietzsche_ als der Typus des Genies. Und doch hat, was mit seinen Einfällen bloß jongliert, alles Franzosentum des Geistes, mit wahrer geistiger Höhe nicht die entfernteste Verwandtschaft. Menschen, die nichts sind als eben geistreich, sind unfromme Menschen; es sind solche, die, von den Dingen nicht wirklich erfüllt, an ihnen nie ein aufrichtiges und tiefes Interesse nehmen, in denen nicht lang und schwer etwas der Geburt entgegenstrebt. Es ist ihnen nur daran gelegen, daß ihr Gedanke glitzere und funkle wie eine prächtig zugeschliffene Raute, nicht, daß er auch etwas beleuchte! Und das kommt daher, weil ihr Sinnen vor allem die Absicht auf das behält, was die anderen zu eben diesen Gedanken wohl »sagen« werden -- eine Rücksicht, die durchaus nicht immer »rücksichtsvoll« ist. Es gibt Männer, die imstande sind, eine Frau, die sie in keiner Weise anzieht, zu heiraten -- bloß weil sie _den anderen_ gefällt. Und solche Ehen findet man auch zwischen so manchen Menschen und ihren Gedanken. Ich denke z. B. an eines lebenden Autors boshafte, anflegelnde, beleidigende Schreibweise: er glaubt zu brüllen und bellt doch nur. Leider scheint auch Friedrich _Nietzsche_, in seinen späteren Schriften (so erhaben er sonst über den Vergleich mit jenem ist), an seinen Einfällen manchmal vor allem das interessiert zu haben, was seinem Vermuten nach die Leute recht chokieren mußte. Er _ist_ oft gerade dort am eitelsten, wo er am rücksichtslosesten _scheint_. Es ist die Eitelkeit des Spiegels selbst, der von dem Gespiegelten brünstig Anerkennung erfleht: Sieh, wie gut, wie _rücksichtslos_ ich spiegle! -- In der Jugend, so lange man selbst noch nicht gefestigt ist, sucht ja wohl ein jeder sich dadurch zu festigen, daß er den anderen anrempelt; aber leidenschaftlich-aggressiv sind ganz große Männer doch immer nur aus Not. Nicht sie gleichen dem jungen Fuchs auf der Suche nach seiner Mensur, nicht sie dem jungen Mädchen, das die neue Toilette vor allem darum so entzückt, weil ihre »Freundinnen« sich $so$ darüber ärgern werden. Genie! Genialität! Was hat dieses Phänomen nicht bei der Mehrzahl der Menschen für Unruhe und geistiges Unbehagen, für Haß und Neid, für Mißgunst und Verkleinerungssucht hervorgerufen, wieviel Unverständnis und -- wieviel Nachahmungstrieb hat es nicht ans Licht treten lassen! »Wie er sich räuspert und wie er spuckt ...« Leicht trennen wir uns von den Imitationen des Genius, um uns ihm selbst und seinen echten Verkörperungen zuzuwenden. Aber wahrlich! Wo hier auch die Betrachtung den Anfang nehmen möge, bei der unendlichen, ineinanderfließenden Fülle wird immer nur ihre Willkür den Ausgangspunkt wählen können. Alle Qualitäten, die man als geniale bezeichnen muß, hängen so innig miteinander zusammen, daß eine vereinzelte Betrachtung ihrer, die nur allmählich zu höherer Allgemeinheit aufzusteigen plant, zur denkbar schwierigsten Sache wird: indem die Darstellung stets zu vorzeitiger Abrundung des Ganzen verführt zu werden fürchten muß, und sich in der isolierenden Methode nicht behaupten zu können droht. Alle bisherigen Erörterungen über das Wesen des Genius sind entweder biologisch-klinischer Natur und erklären mit lächerlicher Anmaßung das bißchen Wissen auf diesem Gebiete zur Beantwortung der schwierigsten und tiefsten psychologischen Fragen für hinreichend. Oder sie steigen von der Höhe eines metaphysischen Standpunktes _herab_, um die Genialität in ihr System _aufzunehmen_. Wenn der Weg, der hier eingeschlagen werden soll, nicht zu allen Zielen _auf einmal_ führt, so liegt dies eben an seiner Natur eines Weges. Denken wir daran, um wieviel besser der große Dichter in die Menschen sich hineinversetzen kann als der Durchschnittsmensch. Man ermesse die außerordentliche Anzahl der Charaktere, die _Shakespeare_, die _Euripides_ geschildert haben; oder denke an die ungeheuere Mannigfaltigkeit der Personen, die in den Romanen _Zolas_ auftreten. _Heinrich von Kleist_ hat nach der Penthesilea ihr vollendetes Gegenteil, das Käthchen von Heilbronn geschaffen, _Michel Angelo_ die Leda und die delphische Sibylle aus seiner Phantasie heraus verkörpert. Es gibt wohl wenige Menschen, die so wenig darstellende Künstler waren wie Immanuel _Kant_ und Joseph _Schelling_, und doch sind sie es, die über die Kunst das Tiefste und Wahrste geschrieben haben. Um nun einen Menschen zu erkennen oder darzustellen, muß man ihn _verstehen_. Um aber einen Menschen zu verstehen, muß man mit ihm Ähnlichkeit haben, man muß so sein wie er, um seine Handlungen nachzubilden und würdigen zu können, muß man die psychologischen Voraussetzungen, die sie in ihm hatten, in sich selbst nachzuerzeugen vermögen: _einen Menschen verstehen, heißt ihn in sich haben_. Man muß dem Geist gleichen, den man begreifen will. Darum versteht ein Gauner nur immer gut den anderen Gauner, ein gänzlich harmloser Mensch wieder vermag nie jenen, stets nur eine ihm ebenbürtige Gutmütigkeit zu fassen; ein Poseur erklärt sich die Handlungen des anderen Menschen fast immer als Posen und vermag einen zweiten Poseur rascher zu durchschauen als der einfache Mensch, an den der Poseur seinerseits nie recht zu glauben imstande ist. _Einen Menschen verstehen heißt also: er selbst sein._ Danach müßte aber jeder Mensch sich selbst am besten verstehen, und das ist gewiß nicht richtig. Kein Mensch kann sich selbst je verstehen, denn dazu müßte er aus sich selbst herausgehen, dazu müßte das Subjekt des Erkennens und Wollens Objekt werden können: ganz wie, um das Universum zu verstehen, ein Standpunkt noch außerhalb des Universums erforderlich wäre, und einen solchen zu gewinnen, ist nach dem Begriffe eines Universums nicht möglich. Wer sich selbst verstehen könnte, der könnte die Welt verstehen. Daß dieser Satz nicht nur vergleichsweise gilt, sondern ihm eine sehr tiefe Bedeutung innewohnt, wird sich aus der Darstellung allmählich ergeben. Für den Augenblick ist sicher, daß man sein tiefstes eigenstes Wesen nicht selbst verstehen kann. Und es gilt auch wirklich: man wird, wenn man überhaupt verstanden wird, immer nur von anderen, nie von sich selbst verstanden. Der andere nämlich, der mit dem ersten eine Ähnlichkeit hat und ihm in anderer Beziehung doch gar nicht gleich ist, dem kann diese Ähnlichkeit zum Gegenstande der Betrachtung werden, er kann sich im anderen, oder den anderen in sich _erkennen_, darstellen, _verstehen_. _Einen Menschen verstehen heißt also: $auch$ er sein._ Der geniale Mensch aber offenbarte sich an jenen Beispielen eben als der Mensch, welcher ungleich mehr Wesen versteht als der mittelmäßige. _Goethe_ soll von sich gesagt haben, es gebe kein Laster und kein Verbrechen, zu dem er nicht die Anlage in sich verspürt, das er nicht in irgend einem Zeitpunkte seines Lebens vollauf verstanden habe. Der geniale Mensch ist also komplizierter, zusammengesetzter, reicher; _und ein Mensch ist um so genialer zu nennen, je mehr Menschen er in sich vereinigt_, und zwar, wie hinzugefügt werden muß, _je lebendiger_, mit je größerer _Intensität_ er die anderen Menschen in sich hat. Wenn das Verständnis des Nebenmenschen nur wie ein schwaches Stümpchen in ihm brennte, dann wäre er nicht imstande, als großer Dichter in seinen Helden das Leben einer mächtigen Flamme gleich zu entzünden, seine Figuren wären ohne Mark und Kraft. Das Ideal gerade von einem künstlerischen Genius ist es, in allen Menschen zu leben, an alle sich zu verlieren, in die Vielheit zu _emanieren_; indes der Philosoph alle anderen _in sich_ wiederfinden, sie zu einer Einheit, die eben immer nur _seine_ Einheit sein wird, zu _resorbieren_ die Aufgabe hat. Diese Proteus-Natur des Genies ist, ebensowenig wie früher die Bisexualität, als Simultaneität aufzufassen; auch dem größten Genius ist es nicht gegeben, zu gleicher Zeit, etwa an einem und demselben Tage, das Wesen aller Menschen zu verstehen. Die umfassendere und inhaltsvollere Anlage, welche ein Mensch geistig besitzt, kann nur nach und nach, in allmählicher Entfaltung seines ganzen Wesens sich offenbaren. Es hat den Anschein, daß auch sie in einem bestimmten Ablauf gesetzmäßiger _Perioden_ zum Vorschein kommt. Diese Perioden wiederholen sich aber im Laufe des Lebens nicht in der gleichen Weise, als wäre jede nur die gewöhnliche Wiederholung der vorhergegangenen, sondern sozusagen in immer höherer Sphäre; es gibt nicht zwei Momente des individuellen Lebens, die einander ganz gleichen; und es existiert zwischen den späteren und den früheren Perioden nur die Ähnlichkeit der Punkte der höheren mit den homologen der niederen Spiralwindung. Daher kommt es, daß hervorragende Menschen so oft in ihrer Jugend den Plan zu einem Werke fassen, nach langer Pause im Mannesalter das Jahre hindurch nicht vorgenommene Konzept einer Bearbeitung unterziehen und erst im Greisenalter nach abermaligem Zurückstellen es vollenden: es sind die verschiedenen Perioden, in die sie abwechselnd treten und die sie stets mit anderen Gegenständen erfüllen. Diese Perioden existieren bei jedem Menschen, nur in verschiedener Stärke, mit verschiedener »Amplitüde«. Da das Genie die meisten Menschen mit der _größten_ Lebendigkeit in sich hat, _wird die Amplitüde der Perioden um so ausgesprochener sein, je bedeutender ein Mensch in geistiger Beziehung ist_. Hochstehende Menschen hören daher meist von Jugend auf von Seiten ihrer Erzieher den Vorwurf, daß sie fortwährend »von einem Extrem ins andere« fielen. Als ob sie sich dabei besonders wohl befinden würden! Gerade beim hervorragenden Menschen nehmen solche Übergänge in der Regel einen ausgesprochen krisenhaften Charakter an. _Goethe_ hat einmal von der »wiederholten Pubertät« der Künstler gesprochen. Was er gemeint hat, hängt innig mit diesem Gegenstande zusammen. Denn gerade die starke Periodizität des Genies bringt es mit sich, daß bei ihm immer erst auf sterile Jahre die fruchtbaren und auf sehr produktive Zeiten immer wieder sehr unfruchtbare folgen -- Zeiten, in denen er von sich nichts hält, ja von sich _psychologisch_ (nicht logisch) weniger hält _als von jedem anderen Menschen_: quält ihn doch die Erinnerung an die Schaffensperiode, und vor allem -- wie _frei_ sieht er sie, die von solchen Erinnerungen nicht Belästigten, herumgehen! Wie seine Ekstasen gewaltiger sind als die der anderen, so sind auch seine Depressionen fürchterlicher. Bei jedem hervorragenden Menschen gibt es solche Zeiten, kürzere und längere; Zeiten, wo er in völliger Verzweiflung an sich selbst sein, wo es bei ihm zu Selbstmordgedanken kommen kann, Zeiten, wo zwar auch eine Menge Dinge ihm auffallen können, und vor allem eine Menge Dinge sich ansetzen werden für eine spätere Ernte; wo aber nichts mit dem gewaltigen Tonus der produktiven Periode erscheint, wo, mit anderen Worten, _der Sturm sich nicht einstellt_; Zeiten, in denen wohl über solche, die trotzdem fortzuschaffen versuchen, gesagt wird: »Wie der jetzt herunterkommt!« »Wie der sich völlig ausgegeben hat!« »Wie der sich selbst kopiert!« etc. etc. Auch seine anderen Eigenschaften, nicht bloß ob er überhaupt, sondern auch der Stoff, in welchem, der Geist, aus welchem heraus er produziert, sind im genialen Menschen einem Wechsel und einer starken Periodizität unterworfen. Er ist das eine Mal eher reflektierend und wissenschaftlich, das andere Mal mehr zu künstlerischer Darstellung disponiert (_Goethe_); zuerst konzentriert sich sein Interesse auf die menschliche Kultur und Geschichte, dann wieder auf die Natur (man halte _Nietzsches_ »Unzeitgemäße Betrachtungen« neben seinen »Zarathustra«); er ist jetzt mystisch, nachher naiv (solche Beispiele haben in jüngster Zeit _Björnson_ und _Maurice Maeterlinck_ gegeben). Ja, so groß ist im hervorragenden Menschen die »Amplitüde« der Perioden, in denen die verschiedenen Seiten seines Wesens, die vielen Menschen, die in ihm intensiv leben, aufeinander succedieren, daß diese Periodizität auch physiognomisch sich deutlich offenbart. Hieraus möchte ich die auffallende Erscheinung erklären, daß bei begabteren Menschen der Ausdruck des Antlitzes viel öfter wechselt als bei Unbegabten, ja daß sie zu verschiedenen Zeiten oft unglaublich verschiedene Gesichter haben können; man vergleiche nur die von _Goethe_, von _Beethoven_, von _Kant_, von _Schopenhauer_ aus den verschiedenen Epochen ihres Lebens erhaltenen Bilder! _Man kann die Zahl der Gesichter, die ein Mensch hat, geradezu als ein physiognomisches Kriterium seiner Begabung ansehen._ Menschen, die stets ein und dasselbe Gesicht _völlig_ unverändert aufweisen, stehen auch intellektuell sehr tief. Hingegen wird es den Physiognomiker nicht wundern, daß begabtere Menschen, die auch im Verkehr und Gespräch immer neue Seiten ihres Wesens offenbaren, über die darum das Nachdenken nicht so bald ein fertiges Urteil gewinnt, diese Eigenschaft auch durch ihr Aussehen bewahrheiten. Man wird vielleicht mit Entrüstung die hier entwickelte _vorläufige_ Vorstellung vom Genie zurückweisen, weil sie als notwendig postuliere, daß ein _Shakespeare_ auch die ganze Gemeinheit eines Falstaff, die ganze Schurkenhaftigkeit eines Jago, die ganze Rohheit eines Caliban in sich gehabt habe, somit die großen Menschen moralisch erniedrige, indem sie ihnen das intimste Verständnis auch für alles Verächtliche und Unbedeutende imputiere. Und es muß zugegeben werden, daß nach dieser Auffassung die genialen Menschen von den zahlreichsten und heftigsten Leidenschaften erfüllt und selbst von den widerlichsten Trieben nicht verschont sind (was übrigens durch ihre Biographien überall bestätigt wird). Aber jener Einwurf ist trotzdem unberechtigt. Dies wird aus der späteren Vertiefung des Problems noch hervorgehen; einstweilen sei darauf hingewiesen, daß nur eine oberflächliche Schlußweise ihn als die notwendige Folgerung aus den bis jetzt dargelegten Prämissen betrachten kann, die vielmehr allein schon sein Gegenteil mehr als wahrscheinlich zu machen genügen. _Zola_, der den Impuls zum Lustmord so gut kennt, hätte trotzdem nie einen Lustmord begangen, und zwar darum, _weil in ihm selber eben so viel anderes $noch$ ist_. Der wirkliche Lustmörder ist die Beute seines Antriebes; in seinem Dichter wirkt der ganze Reichtum seiner vielfältigen Anlage dem Reize entgegen. Er bewirkt, daß _Zola_ den Lustmörder viel besser als jeder wirkliche Lustmörder sich selbst _kennen_, daß er aber eben damit ihn _erkennen_ wird, wenn die Versuchung wirklich an ihn herantreten sollte; und damit steht er ihr bereits gegenüber, Aug' in Auge, und kann sich ihrer erwehren. Auf diese Weise wird der verbrecherische Trieb im großen Menschen _vergeistigt_, zum Künstlermotiv wie bei _Zola_, oder zur philosophischen Konzeption des »Radikal-Bösen« wie bei _Kant_, darum führt er ihn nicht zur verbrecherischen _Tat_. Aus der Fülle von Möglichkeiten, die in jedem bedeutenden Menschen vorhanden sind, ergeben sich nun wichtige Konsequenzen, welche zur Theorie der Heniden, wie sie im vorigen Kapitel entwickelt wurde, zurückleiten. _Was man in sich hat, $bemerkt$ man eher, als was man nicht versteht_ (wäre dem anders, so gäb' es keine Möglichkeit, daß die Menschen miteinander verkehren könnten -- sie wissen meistens gar nicht, wie _oft sie_ einander mißverstehen); dem Genie, das so viel mehr _versteht_ als der Dutzendmensch, wird also auch mehr _auffallen_ als diesem. Der Intrigant wird es leicht bemerken, wenn ein anderer ihm gleicht; der leidenschaftliche Spieler sofort wahrnehmen, wenn ein zweiter große Lust zum Spiele verrät, während dies den anderen, die anders sind, in den meisten Fällen lange entgeht: »der Art ja versiehst du dich besser«, heißt es in _Wagners_ »Siegfried«. Vom komplizierteren Menschen aber galt, daß er jeden Menschen besser verstehen könne als dieser sich selber, vorausgesetzt, daß er dieser Mensch ist und zugleich noch etwas mehr, _genauer, wenn er diesen Menschen $und dessen Gegenteil$, alle beide, in sich hat. Die Zweiheit ist stets die Bedingung des Bemerkens und des Begreifens_; fragen wir die Psychologie nach der kardinalsten Bedingung des Bewußtwerdens, der »Abhebung«, so erhalten wir zur Antwort, daß hiefür die notwendige Voraussetzung der _Kontrast_ sei. Gäbe es nur ein einförmiges Grau, so hätte niemand ein Bewußtsein, geschweige denn einen Begriff von Farbe; absolute _Ein_tönigkeit eines Geräusches führt beim Menschen raschen $Schlaf$ herbei: _Zweiheit (das $Licht$, das die Dinge scheidet und unterscheidet) ist die Ursache des wachen Bewußtseins._ Darum kann niemand sich selbst verstehen, wenn er auch sein ganzes Leben ununterbrochen über sich nachdächte, und immer nur einen anderen, dem er zwar ähnlich, aber der er nicht ganz ist, sondern von dessen Gegenteil er ebensoviel in sich hat wie von ihm selbst. Denn in dieser Verteilung liegen die Verhältnisse für das Verstehen am günstigsten: der früher erwähnte Fall _Kleistens_. _Endgültig bedeutet also einen Menschen verstehen soviel als: ihn $und$ sein Gegenteil in sich haben._ Daß sich ganz allgemein stets Gegensatz_paare_ im selben Menschen zusammenfinden müssen, um ihm das Bewußtwerden auch nur _eines_ Gliedes von jedem Paare zu gestatten, dafür liefert die Lehre vom Farbensinn des Auges mehrere physiologische Beweise, von denen ich nur die bekannte Erscheinung erwähne, daß die Farbenblindheit sich immer auf _beide_ Komplementärfarben erstreckt; der Rotblinde ist auch grünblind, und es gibt nur Blaugelbblinde und keinen Menschen, der blau empfinden könnte, wenn er für gelb unempfänglich wäre. Dieses Gesetz gilt im Geistigen überall, es ist das Grundgesetz alles Bewußtwerdens. Zum Beispiel wird, wer immer sehr zum Frohmut, auch zum Umschlag in Trübsinn eher veranlagt sein als ein stets gleichmäßig Gestimmter; und wer für jederlei Feinheit und Subtilität so viel Sinn hat wie _Shakespeare_, auch die ungeschlachteste Derbheit, weil gleichsam als seine Gefahr, am sichersten empfinden und auffassen. Je mehr menschliche Typen und deren Gegensätze ein Mensch in seiner Person vereinigt, desto weniger wird ihm, da aus dem Verstehen auch das Bemerken folgt, _entgehen_, was die Menschen treiben und lassen, desto eher wird er _durchschauen_, was sie fühlen, denken und eigentlich wollen. _Es gibt keinen genialen Menschen, der nicht ein großer Menschenkenner wäre_; der bedeutende Mensch blickt einfacheren Menschen oft im ersten Augenblick bis auf den Grund, und ist nicht selten imstande, sie sofort völlig zu charakterisieren. Nun hat aber unter den meisten Menschen der eine für dies, der andere für jenes einen nur mehr oder minder einseitig entwickelten Sinn. Dieser kennt alle Vögel und unterscheidet ihre Stimmen aufs feinste, jener hat von früh auf einen liebevollen und sicheren Blick für die Pflanzen; der eine fühlt sich von den übereinandergeschichteten tellurischen Sedimenten erschüttert (_Goethe_), der andere erschauert unter der Kälte des nächtigen Fixsternhimmels (_Kant_); manch einer findet das Gebirge tot und fühlt sich gewaltig nur vom ewig bewegten Meere angesprochen (_Böcklin_), ein zweiter kann zu dessen immerwährender Unruhe kein Verhältnis gewinnen und kehrt unter die erhabene Macht der Berge zurück (_Nietzsche_). So hat jeder Mensch, auch der einfachste, etwas in der Natur, zu dem es ihn hinzieht, und für das seine Sinne schärfer werden denn für alles übrige. Wie sollte nun der genialste Mensch, der, im idealen Falle, diese Menschen alle in sich hat, mit ihrem Innenleben nicht auch ihre Beziehungen und Liebesneigungen zur Außenwelt in sich versammeln? So wächst in ihn die Allgemeinheit nicht nur alles Menschlichen, sondern auch alles Natürlichen hinein; _er ist der Mensch, der zu den meisten Dingen im intimsten Rapporte steht_, dem das meiste auffällt, das wenigste entgeht; der das meiste versteht, und es am tiefsten versteht schon darum, weil er es mit den vielfältigsten Dingen zu vergleichen und von den zahlreichsten zu unterscheiden in der Lage ist, am besten zu messen und am besten zu begrenzen weiß. _Dem genialen Menschen wird das meiste und all dies am stärksten $bewußt$._ Darum wird zweifellos auch seine Sensibilität die feinste sein; dies darf man aber nicht, wie es, in offenbar einseitigem Hinblick auf den Künstler, geschehen ist, bloß zu Gunsten einer verfeinerten Sinnesempfindung, größerer Sehschärfe beim Maler (oder beim Dichter), größerer Hörschärfe beim Komponisten (_Mozart_) auslegen: das Maß der Genialität ist weniger in der Unterschiedsempfindlichkeit der Sinne, als in der des Geistes zu suchen; anderseits wird jene Empfindlichkeit oft auch mehr nach innen gekehrt sein. So ist das geniale Bewußtsein am _weitesten_ entfernt vom Henidenstadium; es hat vielmehr die größte, grellste Klarheit und Helle. _Genialität offenbart sich hier bereits als eine Art höherer Männlichkeit; $und darum kann W nicht genial sein$._ Dies ist die folgerechte Anwendung des im vorigen Kapitel gewonnenen Ergebnisses, daß M bewußter lebe als W, auf den eigentlichen Ertrag des jetzigen Kapitels: dieses gipfelt in dem Satze, daß _Genialität identisch ist mit höherer, weil allgemeinerer Bewußtheit_. Jenes intensivere Bewußtsein von allem wird aber selbst erst ermöglicht durch die enorme Zahl von Gegensätzen, die im hervorragenden Menschen beisammen sind. _Darum ist zugleich Universalität das Kennzeichen des Genies._ Es gibt keine Spezialgenies, keine »mathematischen« und keine »musikalischen Genies«, auch keine »Schachgenies«, _sondern es gibt $nur$ Universalgenies. Der geniale Mensch läßt sich definieren als derjenige, der $alles$ weiß, ohne es gelernt zu haben._ Unter diesem »Alleswissen« sind selbstverständlich nicht die Theorien und Systematisierungen gemeint, welche die Wissenschaft an den Tatsachen vorgenommen hat, nicht die Geschichte des spanischen Erbfolgekrieges, und nicht die Experimente über Diamagnetismus. Aber nicht erst aus dem Studium der Optik erwächst dem Künstler die Kenntnis der Farben des Wassers bei trübem und heiterem Himmel, und es bedarf keiner Vertiefung in eine Charakterologie, um Menschen einheitlich zu gestalten. Denn je begabter ein Mensch ist, über desto mehr _hat_ er immer _selbständig_ nachgedacht, zu desto mehr Dingen hat er ein persönliches Verhältnis. Die Lehre von den Spezialgenies, die es gestattet, z. B. vom »Musikgenie« zu reden, das »in allen anderen Beziehungen unzurechnungsfähig« sei, verwechselt abermals Talent und Genie. Der Musiker kann, wenn er wahrhaft groß ist, in der Sprache, auf die ihn die Richtung seines besonderen Talentes weist, genau so universell sein, genau so die ganze innere und äußere Welt durchmessen wie der Dichter oder der Philosoph; solch ein Genie war _Beethoven_. Und er kann in ebenso beschränkter Sphäre sich bewegen wie ein mittelmäßiger wissenschaftlicher oder künstlerischer Kopf; solch ein Geist war _Johann Strauß_, den es merkwürdig berührt, ein Genie nennen zu hören, so schöne Blüten eine lebhafte, aber sehr eng begrenzte Einbildungskraft in ihm auch getrieben hat. _Es gibt_, um nochmals darauf zurückzukommen, _vielerlei Talente, aber es gibt nur $eine$ Genialität_, die ein beliebiges Talent wählen und ergreifen mag, um in ihm sich zu betätigen. Es gibt etwas, das allen genialen Menschen als _genialen_ gemeinsam ist, so sehr auch der große Philosoph vom großen Maler, der große Musiker vom großen Bildhauer, der große Dichter vom großen Religionsstifter sich sonst unterscheiden mögen. Das Talent, durch dessen Medium die eigentliche Geistesanlage eines Menschen sich offenbart, ist viel mehr Nebensache, als man gewöhnlich glaubt, und wird aus der großen Nähe, aus welcher kunstphilosophische Betrachtung leider so oft erfolgt, in seiner Wichtigkeit meist weit überschätzt. Nicht nur die Unterschiede in der Begabung, auch die Gemütsart und Weltanschauung kehren sich wenig an die Grenzen der Künste voneinander, diese werden übersprungen, und so ergeben sich dem vorurteilsloseren Blick oft überraschende Ähnlichkeiten; er wird dann, statt _innerhalb_ der Musikgeschichte, respektive der Geschichte der Kunst, der Literatur und Philosophie nach Analogien zu blättern, lieber ungescheut z. B. _Bach_ mit _Kant_ vergleichen, Karl Maria v. _Weber_ neben _Eichendorff_ stellen, und _Böcklin_ mit _Homer_ zusammenhalten; und wenn so die Betrachtung reiche Anregung und große Fruchtbarkeit gewinnen kann, so wird das auch dem psychologischen Tiefblick schließlich zugute kommen, an dessen Mangel alle Geschichtsschreibung von Kunst wie von Philosophie am empfindlichsten krankt. Welche organischen und psychologischen Bedingungen es übrigens sind, die ein Genie entweder zum mystischen Visionär oder etwa zum großen Zeichner werden lassen, das muß als unwesentlich für die Zwecke _dieser_ Schrift beiseite bleiben. _Von jener Genialität aber_, die, bei allen oft sehr tief gehenden Unterschieden zwischen den einzelnen Genies, eine und dieselbe bleibt und, nach dem hier aufgestellten Begriffe, überall manifestiert werden kann, _ist das Weib ausgeschlossen_. Wenn auch die Frage, ob es rein wissenschaftliche, und ob es bloß handelnde, nicht nur künstlerische und philosophische Genies geben könne, erst in einem späteren Abschnitt zur Entscheidung gebracht werden soll: man hat allen Grund, vorsichtiger zu verfahren mit der Verleihung des Prädikates genial, als man dies bisher gewesen ist. Es wird sich noch deutlich zeigen: will man überhaupt vom Wesen der Genialität eine Vorstellung sich bilden und zu einem Begriffe derselben zu gelangen suchen, so _muß_ die Frau als ungenial bezeichnet werden; und trotzdem wird niemand der Darstellung nachsagen dürfen, sie hätte im Hinblick auf das weibliche Geschlecht irgend einen willkürlichen Begriff erst konstruiert und ihn nachträglich als das Wesen der Genialität hingestellt, um nur den Frauen keinen Platz _innerhalb_ derselben gönnen zu müssen. Hier kann auf die anfänglichen Betrachtungen des Kapitels zurückgegriffen werden. Während die Frau der Genialität kein Verständnis entgegenbringt, außer einem, das sich eventuell an die Persönlichkeit eines noch lebenden Trägers knüpfte, hat der Mann jenes tiefe Verhältnis zu dieser Erscheinung an sich, das _Carlyle_ in seinem noch immer so wenig verstandenen Buche Hero-Worship, Heldenverehrung, genannt und so schön und hinreißend ausgemalt hat. In der Heldenverehrung des Mannes kommt abermals zum Ausdruck, daß _Genialität an die Männlichkeit geknüpft ist, daß sie eine ideale, potenzierte Männlichkeit vorstellt_[16]; denn das Weib hat kein originelles, sondern ein ihr vom Manne verliehenes Bewußtsein, sie lebt unbewußt, der Mann bewußt: am bewußtesten aber der Genius. V. Kapitel. Begabung und Gedächtnis. Um von der Heniden-Theorie auszugehen, sei folgende Beobachtung erzählt. Ich notierte gerade, _halb_ mechanisch, die Seitenzahl einer Stelle aus einer botanischen Abhandlung, die ich später zu exzerpieren beabsichtigte, als ich etwas in Henidenform dachte. Aber was ich da dachte, wie ich es dachte, was da an die Tür der Bewußtheit klopfte, dessen konnte ich mich schon im nächsten Augenblick trotz aller Anstrengung nicht entsinnen. Aber gerade darum ist dieser Fall -- er ist typisch -- besonders lehrreich. _Je plastischer, je geformter ein Empfindungskomplex ist, desto eher ist er reproduzierbar._ Deutlichkeit des Bewußtseins ist erste Bedingung der Erinnerung, der _Intensität_ der Bewußtseinserregung ist das _Gedächtnis_ an die Erregung proportional. »Das wird mir unvergeßlich bleiben«, »daran werde ich mein Lebtag denken«, »das kann mir nie mehr entschwinden« sagt ja der Mensch von Ereignissen, die ihn heftig aufgeregt haben, von Augenblicken, aus denen er um eine Einsicht klüger, um eine wichtige Erfahrung reicher geworden ist. Steht also die Reproduzierbarkeit der Bewußtseinsinhalte im geraden Verhältnis zu ihrer Gliederung, so ist klar, _daß an die absolute Henide überhaupt keine Erinnerung möglich sein wird_. Da nun die Begabung[17] eines Menschen mit der Artikulation seiner gesamten Erlebnisse wächst, so wird einer, _je begabter er ist, desto eher an seine $ganze$ Vergangenheit, an alles, was er je gedacht und getan, gesehen und gehört, empfunden und gefühlt hat, sich erinnern können_, mit desto größerer Sicherheit und Lebhaftigkeit wird er alles aus seinem Leben reproduzieren. _Das universelle Gedächtnis an alles Erlebte ist darum das sicherste, allgemeinste, am leichtesten zu ergründende Kennzeichen des Genies._ Es ist zwar eine verbreitete und besonders unter allen Kaffeehausliteraten beliebte Lehre, daß _produktive_ Menschen (weil sie _Neues_ schüfen) kein Gedächtnis hätten: aber offenbar nur, weil darin die einzige Bedingung der Produktivität liegt, die bei ihnen erfüllt ist. Freilich darf man diese große Ausdehnung und Lebendigkeit des Gedächtnisses beim genialen Menschen, die ich zunächst als eine Folgerung aus dem Systeme ganz dogmatisch einführe, ohne sie aus der Erfahrung neu zu begründen, nicht mit dem raschen Vergessen des gesamten gymnasialen Geschichtsstoffes oder der unregelmäßigen Verba des Griechischen widerlegen wollen. _Es handelt sich um das Gedächtnis für das Erlebte, nicht um die Erinnerung an das Erlernte_; was zu Prüfungszwecken studiert wird, davon wird immer nur der kleinste Teil behalten, jener Teil, welcher dem speziellen Talente des Schülers entspricht. So kann ein Zimmermaler ein besseres Gedächtnis für Farben haben als der größte Philosoph, der beschränkteste Philologe ein besseres Gedächtnis für die vor Jahren auswendig gelernten Aoriste als sein Kollege, der vielleicht ein genialer Dichter ist. Es verrät die ganze Jämmerlichkeit und Hilflosigkeit der experimentellen Richtung in der Psychologie (noch mehr aber die Unfähigkeit so vieler Leute, die, mit einem Arsenal von elektrischen Batterien und Sphygmographiontrommeln im Rücken, gestützt auf die »Exaktheit« ihrer langweiligen Versuchsreihen, nun in rebus psychologicis vor allen anderen gehört zu werden beanspruchen), daß sie das Gedächtnis der Menschen durch Aufgaben, wie das Erlernen von Buchstaben, mehrzifferigen Zahlen, zusammenhanglosen Worten prüfen zu können glaubt. An das eigentliche Gedächtnis des Menschen, jenes Gedächtnis, welches in Betracht kommt, wenn ein Mensch die Summe seines Lebens zieht, reichen diese Versuche so wenig heran, daß man sich unwillkürlich zu der Frage gedrängt sieht, ob jene fleißigen Experimentatoren von der Existenz dieses anderen Gedächtnisses, ja eines psychischen _Lebens_ überhaupt, etwas wissen. Jene Untersuchungen stellen die verschiedensten Menschen unter ganz uniformierende Bedingungen, denen gegenüber nie _Individualität_ sich äußern kann, sie _abstrahieren_ wie geflissentlich gerade vom Kern des Individuums, und behandeln es einfach als guten oder schlechten Registrierapparat. Es liegt ein großer Tiefblick darin, daß im Deutschen »bemerken« und »merken« aus der nämlichen Wurzel gebildet ist. Nur was _auffällt_, von selbst, infolge angeborner Beschaffenheit, wird _behalten_. Wessen man sich erinnert, dafür muß ein ursprüngliches Interesse vorhanden sein, und wenn etwas vergessen wird, dann war die Anteilnahme an ihm nicht stark genug. Dem religiösen Menschen werden darum religiöse Lehren, dem Dichter Verse, dem Zahlenmystiker Zahlen am sichersten und längsten haften bleiben. Und hier kann auf das vorige Kapitel in anderer Weise zurückgegriffen und die besondere Treue des Gedächtnisses bei hervorragenden Menschen noch auf einem zweiten Wege _deduziert_ werden. Denn je bedeutender ein Mensch ist, desto mehr Menschen, desto mehr Interessen sind in ihm zusammengekommen, desto umfassender also muß sein Gedächtnis werden. Die Menschen haben im allgemeinen durchaus _gleich_ viel äußere Gelegenheit zu »perzipieren«, aber die meisten »apperzipieren« von der unendlichen Menge nur einen unendlich kleinen Teil. Das Ideal von einem Genie müßte ein Wesen sein, dessen sämtliche »Perzeptionen« ebensoviele »Apperzeptionen« wären. Ein solches Wesen gibt es nicht. Es ist aber auch kein Mensch, der nie _ap_perzipiert, sondern immer bloß perzipiert hätte. Schon darum muß es alle möglichen _Grade_ der Genialität geben[18]; zumindest ist _kein männliches_ Wesen ganz ungenial. Aber auch vollkommene Genialität bleibt ein Ideal: _es existiert kein Mensch ohne alle und kein Mensch mit universaler Apperzeption_ (als welche man das vollkommene Genie weiter bestimmen könnte). Der Apperzeption als der Aneignung ist das Gedächtnis als der Besitz, seinem Umfang wie seiner Festigkeit nach, proportioniert. So führt denn auch eine ununterbrochene Stufenfolge vom ganz diskontinuierlichen, bloß von Augenblick zu Augenblick lebenden Menschen, dem kein Erlebnis etwas _bedeuten_ könnte, weil es auf kein früheres sich würde beziehen lassen -- einen solchen Menschen gibt es aber nicht -- bis zum völlig kontinuierlich Lebenden, dem _alles unvergeßlich_ bleibt (so intensiv wirkt es auf ihn ein und wird von ihm aufgefaßt), _und den es ebensowenig gibt_: selbst das höchste Genie ist nicht in jedem Augenblicke seines Lebens »genial«. Eine erste Bestätigung dieser Anschauung von dem Zusammenhange zwischen Gedächtnis und Genialität, wie der Deduktion dieses Zusammenhanges, die hier versucht wurde, liegt in dem außerordentlichen, die Besitzer oft selbst verblüffenden _Gedächtnis für scheinbar nebensächliche Umstände, für Kleinigkeiten_, das begabtere Menschen auszeichnet. Bei der Universalität ihrer Veranlagung hat nämlich alles eine, ihnen selbst oft lange unbewußte, _Bedeutung_ für sie; und so bleiben sie hartnäckig an ihrem Gedächtnisse kleben, prägen sich diesem ganz von selbst unverlöschbar ein, ohne daß im allgemeinen die geringste Mühe an die spezielle Erinnerung gewendet oder die Aufmerksamkeit in den Dienst dieses Gedächtnisses noch besonders gestellt würde. Darum könnte man, in einem erst später zu erhellenden tieferen Sinne, bereits jetzt den genialen Menschen als denjenigen bestimmen, der die Redensart nicht kennt, und weder sich selbst noch anderen gegenüber zu gebrauchen vermöchte, dies oder jenes Ereignis aus entlegener Zeit sei »gar nicht mehr wahr«. Es gibt vielmehr für ihn _nichts_, das ihm nicht mehr wahr wäre, auch wenn, ja vielleicht gerade _weil_ er für alles, was im Laufe der Zeit anders geworden ist, ein deutlicheres Gefühl hat als alle anderen Menschen. Als das beste Mittel zur objektiven Prüfung der Begabung, der geistigen Bedeutung eines Menschen läßt sich darum dies empfehlen: man sei längere Zeit mit ihm nicht beisammen gewesen und fange nun von dem letzten Zusammensein zu sprechen an, knüpfe das neue Gespräch an die Gegenstände des letzten. Man wird gleich zu Beginn gewahr werden, wie lebhaft er dieses aufgenommen, wie nachhaltig es in ihm fortgewirkt hat, und sehr bald sehen, wie treu er die Einzelheiten bewahrt hat. Wie vieles unbegabte Menschen aus ihrem Leben vergessen, das kann, wer Lust hat, zu seiner Überraschung und seinem Entsetzen nachprüfen. Es kommt vor, daß man mit ihnen vor wenigen Wochen stundenlang beisammen war: es ist ihnen nun entschwunden. Man kann Menschen finden, mit denen man vor einigen Jahren acht oder vierzehn Tage lang, zufällig oder in bestimmten Angelegenheiten, sehr viel zu tun hatte, und die nach Ablauf dieser Zeit _an nichts mehr_ sich zu erinnern vermögen. Freilich, wenn man ihnen durch genaue Darstellung alles dessen, worum es sich handelte, durch Wiederbelebung der Situation in allen ihren Details, zu Hilfe kommt, so gelingt es immer, falls diese Bemühung lange genug fortgesetzt wird, zuerst ein schwaches Aufleuchten des fast völlig Erloschenen und allmählich eine Erinnerung herbeizuführen. Solche Erfahrungen haben es mir sehr wahrscheinlich gemacht, daß die theoretisch immer zu machende Annahme, es gebe kein völliges Vergessen, sich auch empirisch, und zwar nicht bloß durch die Hypnose, nachweisen lassen dürfte, wenn man nur dem Befragten mit den richtigen Vorstellungen an die Hand zu gehen weiß. _Es kommt also darauf an, daß man einem Menschen aus seinem Leben, aus dem, was er gesagt oder gehört, gesehen oder gefühlt, getan oder erlitten hat, möglichst wenig erzählen könne, das er nicht selbst weiß._ Hiemit ist zum ersten Male ein Kriterium der Begabung gefunden, welches leichter Überprüfung von seiten anderer zugänglich ist, _$ohne$ daß schon $schöpferische$ Leistungen des Menschen vorliegen müssen_. Wie vielfacher Anwendung in der Erziehung es entgegengeht, mag unerörtert bleiben. Für Eltern und Lehrer dürfte es gleich wichtig sein. Vom Gedächtnisse der Menschen hängt, wie natürlich, auch das Maß ab, in welchem sie in der Lage sein werden, sowohl Unterschiede als Ähnlichkeiten zu bemerken. Am meisten wird diese Fähigkeit bei jenen entwickelt sein, in deren Leben immer die ganze Vergangenheit in die Gegenwart hineinreicht, bei denen alle Einzelmomente des Lebens zur Einheit zusammenfließen und aneinander verglichen werden. So kommen gerade sie am vornehmlichsten in die Gelegenheit, _Gleichnisse_ zu gebrauchen, _und zwar gerade mit dem Tertium comparationis, auf das es gerade ankommt_; denn sie werden aus dem Vergangenen immer dasjenige herausgreifen, was die stärkste Übereinstimmung mit dem Gegenwärtigen aufweist, indem beide Erlebnisse, das neue und das zum Vergleiche herangezogene ältere, bei ihnen _artikuliert_ genug dazu sind, um keine Ähnlichkeit und keinen Unterschied vor ihrem Auge zu verbergen; und darum eben auch, was längst vorbei ist, gegen den Einfluß der Jahre hier sich behaupten konnte. Nicht umsonst hat man daher die längste Zeit in dem Reichtum eines Dichters an schönen und vollkommenen Gleichnissen und Bildern einen besonderen Vorzug seiner Gattung erblickt, seine Lieblingsgleichnisse aus dem Homer, aus Shakespeare und Klopstock immer wieder aufgeschlagen oder bei der Lektüre mit Ungeduld erwartet. Heute, da Deutschland seit 150 Jahren zum ersten Mal ohne großen Künstler und ohne großen Denker ist, indes dafür bald niemand mehr aufzutreiben sein wird, der nicht »geschrieben« hätte, heute scheint das ganz vorüber; man sucht nach derartigem nicht, man würde auch nichts finden. Eine Zeit, die in vagen, undeutlich schillernden Stimmungen ihr Wesen am besten ausgesprochen sieht, deren Philosophie in mehr als einem Sinne das Unbewußte geworden ist, zeigt zu offensichtlich, daß nicht ein wahrhaft Großer in ihr lebt; denn Größe ist Bewußtsein, vor dem der Nebel des Unbewußten schwindet wie vor den Strahlen der Sonne. Gäbe ein einziger dieser Zeit ein Bewußtsein, wie gerne würde sie all ihre Stimmungskunst, deren sie sich heute noch berühmt, dahingeben! -- Erst im vollen Bewußtsein, in welchem in das Erlebnis der Gegenwart alle Erlebnisse der Vergangenheit in größter Intensität hineinspielen, findet Phantasie, die Bedingung des philosophischen wie des künstlerischen Schaffens, eine Stelle. Demgemäß ist es auch gar nicht wahr, daß die Frauen mehr Phantasie haben als die Männer. Die Erfahrungen, auf Grund deren man dem Weibe eine lebhaftere Einbildungskraft hat zusprechen wollen, entstammen sämtlich dem sexuellen Phantasieleben der Frauen; und die Folgerungen, die allein mit Recht hieraus gezogen werden könnten, gestatten eine Behandlung in diesem Zusammenhange noch nicht. Die absolute Bedeutungslosigkeit der Frauen in der _Musikgeschichte_ läßt sich wohl noch auf weit tiefere Gründe zurückführen: doch beweist sie zunächst den Mangel des Weibes an Phantasie. Denn zur musikalischen Produktivität gehört unendlich viel mehr Phantasie als selbst das männlichste Weib besitzt: viel mehr als zu sonstiger künstlerischer oder wissenschaftlicher Tätigkeit. Nichts Wirkliches in der Natur, nichts Gegebenes in der sinnlichen Empirie entspricht einem Tonbilde. Die Musik ist wie ohne Beziehungen zur Erfahrungswelt: es gibt keine Klänge, keine Accorde, keine Melodien in der Natur, sondern hier hat erst der Mensch auch die letzten Elemente noch selbständig zu erzeugen. Jede andere Kunst hat deutlichere Beziehungen zur empirischen Realität als sie, ja die ihr, was man auch dagegen sagen mag, _verwandte_ Architektur betätigt sich bis zuletzt an einem Stoffe; obwohl sie mit der Musik die Eigenschaft teilt, daß sie (vielleicht sogar mehr noch als diese) von sinnlicher _Nachahmung_ frei ist. Darum ist auch Baukunst eine durchaus männliche Sache, der weibliche Baumeister eine fast nur Mitleid weckende Vorstellung. Desgleichen rührt die »verdummende« Wirkung der Musik auf schaffende und ausübende Musiker, von der man öfter sprechen hört (besonders kommt hier die reine Instrumentalmusik in Betracht), nur davon her, daß noch der Geruchssinn dem Menschen mehr zur Orientierung in der Erfahrungswelt dienen kann als der Inhalt eines musikalischen Werkes. Und eben diese gänzliche Abwesenheit aller Beziehungen zur Welt, die wir sehen, tasten, riechen können, macht die Musik nicht besonders geeignet für Äußerungen weiblichen Wesens. Zugleich erklärt diese Eigenart seiner Kunst, warum der schöpferische Musiker der Phantasie im allerhöchsten Grade bedarf und warum der Mensch, welchem Melodien einfallen (ja vielleicht gegen sein Sträuben zuströmen), noch viel mehr Gegenstand des Staunens seitens der anderen Menschen wird als der Dichter oder der Bildhauer. Die »weibliche Phantasie« muß wohl eine von der männlichen gänzlich verschiedene sein, wenn es ihrer ungeachtet keine Musikerin gibt, welche für die Musikgeschichte auch nur so weit in Betracht käme, wie etwa _Angelika Kauffmann_ für die Malerei. Wo irgend es deutlich auf kraftvolle Formung ankommt, haben die Frauen nicht die kleinste Leistung aufzuweisen: nicht in der Musik und nicht in der Architektur, nicht in der Plastik und nicht in der Philosophie. Wo in vagen und weichen Übergängen des Sentiments noch ein wenig Wirkung erzielt werden kann, wie in Malerei und Dichtung, wie in einer gewissen verschwommenen Pseudo-Mystik und Theosophie, dort haben sie noch am ehesten ein Feld ihrer Betätigung gesucht und gefunden. -- Der Mangel an Produktivität auf jenen Gebieten hängt also auch zusammen mit der Undifferenziertheit des psychischen Lebens im Weibe. Namentlich in der Musik kommt es auf das denkbar artikulierteste Empfinden an. Es gibt nichts Bestimmteres, nichts Charakteristischeres, nichts _Eindringlicheres_ als eine _Melodie_, nichts, was unter jeder Verwischung stärker litte. Deshalb _erinnert_ man sich an Gesungenes um so viel leichter als an Gesprochenes, an die Arien immer besser als an die Rezitativen, und kostet der Sprechgesang dem Wagnersänger so viel Studium. Hier mußte darum länger verweilt werden, weil in der Musik nicht wie anderswo die Ausrede der Frauenrechtler und -Rechtlerinnen gilt: der Zugang zu ihr sei den Frauen zu kurze Zeit erst freigegeben, als daß man schon reife Früchte von ihnen fordern dürfe. Sängerinnen und Virtuosinnen hat es immer, bereits im klassischen Altertum, gegeben. Und doch ...... Auch die schon früher häufige Übung, Frauen malen und zeichnen zu lassen, hat bereits seit etwa 200 Jahren in erheblichem Maße sich gesteigert. Man weiß, wie viele Mädchen ohne Not heute zeichnen und malen lernen. Also auch hier ist lange schon kein engherziger Ausschluß mehr wahrzunehmen, _äußere_ Möglichkeiten wären reichlich vorhanden. Wenn trotzdem so wenige Malerinnen für eine Geschichte der Kunst ernsthaft in Betracht kommen, so dürfte es an den _inneren_ Bedingungen gebrechen. Die weibliche Malerei und Kupferstecherei kann eben für die Frauen nur eine Art eleganterer, luxuriöser _Handarbeit_ bedeuten. Dabei scheint ihnen das sinnliche, körperliche Element der Farbe eher erreichbar als das geistige, formale der Linie; und dies ist ohne Zweifel der Grund, daß zwar einige Malerinnen, aber noch keine Zeichnerin von Ansehen bekannt geworden ist. Die Fähigkeit, einem Chaos Form geben zu können, ist eben die Fähigkeit des Menschen, dem die allgemeinste Apperzeption das allgemeinste Gedächtnis verschafft, sie ist die Eigenschaft des männlichen Genies. Ich beklage es, daß ich mit diesem Worte »Genie«, »genial« immerfort operieren muß, welches, wie erst von einem bestimmten jährlichen Einkommen ab an den Staat eine gewisse Steuer zu zahlen ist, »die Genies« als eine bestimmte Kaste streng abgrenzt von jenen, die es gar nicht sein sollen. Die Bezeichnung »Genie« hat vielleicht gerade ein Mann erfunden, der sie selbst nur in recht geringem Maße verdiente; den größeren wird das »Genie-Sein« wohl zu selbstverständlich vorgekommen sein; sie werden wahrscheinlich lang genug gebraucht haben, um einzusehen, daß man überhaupt auch nicht »genial« sein könne. Wie denn _Pascal_ außerordentlich treffend bemerkt: Je origineller ein Mensch sei, für desto origineller halte er auch die anderen; womit man _Goethes_ Wort vergleiche: Vielleicht vermag nur der Genius den Genius ganz zu verstehen. Es gibt vielleicht nur sehr wenige Menschen, die gar nie in ihrem Leben »genial« gewesen sind. Wenn doch, so hat es ihnen vielleicht nur an der Gelegenheit gemangelt: an der großen Leidenschaft, an dem großen Schmerz. Sie hätten nur einmal etwas intensiv genug zu erleben brauchen -- allerdings ist die Fähigkeit des Erlebens etwas zunächst subjektiv Bestimmtes -- und sie wären damit, wenigstens vorübergehend, genial gewesen. Das Dichten während der ersten Liebe gehört z. B. ganz hieher. Und wahre Liebe ist völlig Zufallssache. Man darf schließlich auch nicht verkennen, daß ganz einfache Menschen in großer Erregung, im Zorn über irgend eine Niedertracht, Worte finden, die man ihnen nie zugetraut hätte. Der größte Teil dessen, was man gemeinhin »_Ausdruck_« nennt, in Kunst wie in prosaischer Rede, beruht aber (wenn man sich des früher über den Prozeß der Klärung Bemerkten erinnert) darauf, daß ein Individuum, das begabtere, Inhalte geklärt, gegliedert aufweist zu einer Zeit, wo das andere, minder hoch veranlagte, sie noch im Henidenstadium oder in einem sich nahe daranschließenden besitzt. Der Verlauf der Klärung wird durch den Ausdruck, welcher einem zweiten Menschen gelungen ist, ungemein _abgekürzt_, und daher das Lustvolle, auch wenn wir _andere_ einen »guten Ausdruck« finden sehen. Erleben zwei ungleich Begabte dasselbe, so wird bei dem Begabteren die Intensität groß genug sein, daß etwa die »Sprechschwelle«[19] erreicht wird. Im anderen aber wird der Klärungsprozeß hiedurch nur erleichtert. Wäre wirklich, wie die populäre Ansicht glaubt, das Genie vom nichtgenialen Menschen durch eine dicke Wand getrennt, die keinen Ton aus einem Reiche in das andere dringen ließe, so müßte jedes Verständnis der Leistungen des Genies dem nichtgenialen Menschen _völlig_ verschlossen sein, und dessen Werke könnten auf ihn auch nicht den leisesten Eindruck hervorbringen. _Alle Kulturhoffnungen vermögen demnach nur auf die Forderung sich zu gründen, daß dem nicht so sei._ Und es ist auch nicht so. _Der Unterschied liegt in der geringeren Intensität des Bewußtseins, er ist ein quantitativer, kein prinzipieller, qualitativer._[20] Umgekehrt aber hat es recht wenig Sinn, jüngeren Leuten die Äußerung einer Meinung darum zu verweisen und ihr Wort darum geringer zu werten, weil sie weniger Erfahrung hätten als ältere Personen. Es gibt Menschen, die wohl tausend Jahre und darüber leben könnten, ohne eine einzige _Erfahrung_ gemacht zu haben. Nur unter Gleichbegabten hätte jene Rede einen guten Sinn und eine volle Berechtigung. Denn während der geniale Mensch schon als Kind ein intensiveres Leben führt als alle anderen Kinder, während ihm, je bedeutender er ist, an eine desto frühere Jugend auch ein Entsinnen möglich ist, ja in extremen Fällen schon vom dritten Jahre seiner Kindheit angefangen ihm die vollständige Erinnerung von seinem ganzen Leben stets gegenwärtig bleibt, datieren die anderen Menschen ihre erste Jugenderinnerung erst von einem viel späteren Zeitpunkt; ich kenne welche, deren früheste Reminiszenz überhaupt in ihr achtes Lebensjahr fällt, _die von ihrem ganzen vorherigen Leben nichts wissen, als was ihnen erzählt wurde_; und es gibt sicherlich viele, bei denen dieses erste intensive Erlebnis noch weit später anzusetzen ist. Ich will nicht behaupten und glaube es auch gar nicht, daß man die Begabungen zweier Menschen ganz ausnahmslos danach allein bereits gegeneinander abschätzen könne, wenn dieser vom fünften, jener erst vom zwölften Jahre an sich an alles erinnert, die früheste Jugenderinnerung des einen in den vierzehnten Monat nach seiner Geburt fällt, die des zweiten erst in sein drittes Lebensjahr. Aber im allgemeinen und außerhalb zu enger Grenzen wird man die angegebene Regel wohl immer zutreffen sehen. Vom Zeitpunkt der ersten Jugenderinnerung verfließt gewiß auch beim hervorragenden Menschen noch immer eine längere oder kürzere Strecke bis zu jenem Moment, von dem an er an _alles_ sich erinnert, jenem Tage, von dem an er eben endgültig zum Genie geworden ist. Die meisten Menschen hingegen haben den größten Teil ihres Lebens einfach vergessen; ja viele wissen oft nur, _daß kein anderer Mensch für sie gelebt hat die ganze Zeit hindurch_: aus ihrem ganzen Leben sind ihnen nur bestimmte Augenblicke, einzelne feste Punkte, markante Stationen gegenwärtig. Wenn man sie sonst um etwas fragt, so wissen sie nur, d. h. sie rechnen es sich in der Geschwindigkeit aus, daß in dem und dem Monat sie so alt waren, diese oder jene Stellung bekleideten, da oder dort wohnten und so und so viel Einkommen hatten. Hat man vor Jahren zusammen mit ihnen etwas erlebt, so kann es nun unendliche Mühe kosten, das Vergangene in ihnen zur Auferstehung zu bringen. Man mag in solchem Falle einen Menschen mit Sicherheit für unbegabt erklären, man ist zumindest befugt, ihn nicht für hervorragend zu halten. Die Aufforderung zu einer Selbstbiographie brächte die ungeheuere Mehrzahl der Menschen in die peinlichste Verlegenheit: können doch schon die wenigsten Rede stehen, wenn man sie fragt, was sie gestern getan haben. Das Gedächtnis der meisten ist eben ein bloß sprungweises, gelegentlich assoziatives. Im genialen Menschen _dauert_ ein Eindruck, den er empfangen hat; ja eigentlich _steht nur er überhaupt unter Eindrücken_. Damit hängt zusammen, daß wohl alle hervorragenden Menschen, wenigstens zeitweise, _an fixen Ideen leiden_. Der psychische Bestand der Menschen mit einem System von eng einander benachbarten Glocken verglichen, so gilt für den gewöhnlichen Menschen, daß jede nur klingt, wenn die andere an sie mit ihren Schwingungen stößt, und nur auf ein paar Augenblicke; für das Genie, daß eine einzige, angeschlagen, gewaltig ausschwingt, nicht leise tönt, sondern voll, das ganze System mitbewegt, und nachhallt, oft das ganze Leben lang. Da diese Art der Bewegung aber oft infolge gänzlich geringfügiger, ja lächerlicher Anstöße beginnt, und manchesmal gleich intensiv in unerträglicher Weise wochenlang zäh beharrt, so liegt hierin wirklich eine Analogie zum Wahnsinn. Aus verwandten Gründen ist auch _Dankbarkeit_ so ziemlich die seltenste Tugend unter den Menschen; sie merken sich wohl manchesmal, wieviel man ihnen geliehen hat; aber in die Not, in der sie waren, in die Befreiung, die ihnen wurde, mögen und können sie sich nicht mehr zurückdenken. Führt Mangel an Gedächtnis sicher zum Undank, so genügt dennoch selbst ein vorzügliches Gedächtnis allein noch nicht, um einen Menschen dankbar zu machen. Dazu ist eine spezielle Bedingung mehr erforderlich, deren Erörterung nicht hieher gehört. Aus dem Zusammenhange von Begabung und Gedächtnis, der so oft verkannt und verleugnet worden ist, weil man ihn nicht dort suchte, wo er zu finden gewesen wäre: _in der Rückerinnerung an das eigene Leben_, läßt sich noch eine weitere Tatsache ableiten. Ein Dichter, der seine Sachen hat schreiben _müssen_, ohne Absicht, ohne Überlegung, ohne erst zur eigenen Stimmung das Pedal zu treten; ein Musiker, den der Moment des Komponierens überfallen hat, so daß er wider Willen zu schaffen genötigt war, sich nicht wehren konnte, selbst wenn er lieber Ruhe und Schlaf gewünscht hätte: ein solcher wird, was in diesen Stunden geboren wurde, all das, was nicht auch nur im kleinsten _gemacht_ ist, sein ganzes Leben lang im Kopfe tragen. Ein Komponist, der keines seiner Lieder und keinen seiner Sätze, ein Dichter, der keines seiner Gedichte auswendig kennt -- und zwar ohne sie, wie das _Sixtus Beckmesser_ von _Hans Sachs_ sich vorstellt, erst »recht gut memoriert« zu haben -- der hat, des kann man sicher sein, auch nie etwas wahrhaft Bedeutendes hervorgebracht. Bevor nun die Anwendung dieser Aufstellungen auf das Problem der geistigen Geschlechtsunterschiede versucht werde, ist noch eine Unterscheidung zu treffen zwischen Gedächtnis und Gedächtnis. Die einzelnen zeitlichen Momente seines Lebens sind nämlich dem begabten Menschen in der Erinnerung nicht als diskrete Punkte gegeben, nicht als durchaus getrennte Situationsbilder, nicht als verschiedene Individuen von Augenblicken, deren jeder einen bestimmten, von dem des nächsten, wie die Zahl eins von der Zahl zwei, getrennten Index aufweist. Die Selbstbeobachtung ergibt vielmehr, daß allem Schlafe, aller Bewußtseinsenge, allen Erinnerungslücken zum Trotze die einzelnen Erlebnisse in ganz rätselhafter Weise _zusammengefaßt_ erscheinen; die Geschehnisse folgen nicht aufeinander wie die Ticklaute einer Uhr, sondern sie laufen alle in einen einheitlichen Fluß zusammen, in dem es keine Diskontinuität gibt. Beim ungenialen Menschen sind dieser Momente, die aus der ursprünglich diskreten Mannigfaltigkeit so zum geschlossenen Kontinuum sich vereinigen, nur wenige, ihr Lebenslauf gleicht einem Bächlein, keinem mächtigen Strom, in den, wie beim Genie, aus weitestem Gebiete _alle_ Wässerlein zusammengeflossen sind, _aus_ dem, heißt das, vermöge der _universalen Apperzeption_ kein Erlebnis _ausgeschaltet_, _in_ den vielmehr _alle_ einzelnen Momente _aufgenommen_, rezipiert sind. Diese _eigentliche_ Kontinuität, die den Menschen erst ganz dessen vergewissern kann, daß er _lebt_, daß er da, daß er auf der Welt ist, allumfassend beim Genius, auf wenige wichtige Momente beschränkt beim Mittelmäßigen, _fehlt $gänzlich$ beim Weibe_. Dem Weibe bietet sich, wenn es rückschauend, rückfühlend sein Leben betrachtet, dieses nicht unter dem Aspekt eines unaufhaltsamen, nirgends unterbrochenen Drängens und Strebens dar, es bleibt vielmehr immer nur an einzelnen Punkten _hängen_. Was für Punkte sind das? Es können nur diejenigen sein, für welche W ihrer Natur nach ein Interesse hat. Worauf dieses Interesse ihrer Konstitution ausschließlich geht, wurde im zweiten Kapitel zu erwägen begonnen; wer sich an dessen Ergebnisse erinnert, den wird die folgende Tatsache nicht überraschen: W verfügt _überhaupt_ nur über _eine_ Klasse von Erinnerungen: es sind die mit dem Geschlechtstrieb und der Fortpflanzung zusammenhängenden. An den Geliebten und an den Bewerber; an die Hochzeitsnacht, an jedes Kind wie an ihre Puppen; an die Blumen, die sie auf jedem Balle bekommen, Zahl, Größe und Preis der Bouquets; an jedes Ständchen, das ihr gebracht, an jedes Gedicht, das (wie sie sich einbildet) auf sie geschrieben wurde, an jeden Ausspruch des Mannes, der ihr imponiert hat, vor allem aber -- mit einer Genauigkeit, die ebenso verächtlich ist als sie unheimlich berührt -- _an jedes Kompliment ohne Ausnahme_, das ihr im Leben gemacht wurde. Das ist $alles$, woran das _echte_ Weib aus seinem Leben sich erinnert. _Was aber ein Mensch nie vergißt, und was er sich nicht merken kann, das ermöglicht am besten die Erkenntnis seines Wesens, seines Charakters._ Es wird später noch genauer als jetzt zu untersuchen sein, _worauf_ es deutet, daß W gerade _diese_ Erinnerungen hat. Großer Aufschluß ist gerade von der unglaublichen Treue zu erwarten, mit welcher die Frauen an alle Huldigungen und Schmeicheleien, an sämtliche Beweise der Galanterie sich erinnern, die ihnen seit frühester Kindheit entgegengebracht worden sind. Was man gegen die hiemit vollzogene Einschränkung des weiblichen Gedächtnisses auf den Bereich der Sexualität und des Gattungslebens einwenden kann, ist mir natürlich klar; ich muß darauf gefaßt sein, alle Mädchenschulen und sämtliche Ausweise aufmarschieren zu sehen. Diese Schwierigkeiten können indes erst später behoben werden. Hier möchte ich nur dies nochmals zu bedenken geben, daß es, bei allem Gedächtnis, welches für die psychologische Erkenntnis der Individualität ernstlich in Frage käme, um Gedächtnis für Erlerntes nur dort sich handeln könnte, wo Erlerntes wirklich Erlebtes wäre. Daß es dem psychischen Leben der Frauen an Kontinuität (die hier nur als ein nicht zu übersehendes psychologisches Faktum, sozusagen im Anhang der Gedächtnislehre, nicht als spiritualistische oder idealistische These eingeführt wurde) gebricht, dem kann erst weiter unten eine Beleuchtung, dem Wesen der Kontinuität nur in Stellungnahme zu dem umstrittensten Probleme aller Philosophie und Psychologie eine Ergründung werden. Als Beweis für jenen Mangel will ich vorläufig nichts anführen als die oft bestaunte, von _Lotze_ ausdrücklich hervorgehobene Tatsache, daß die Frauen sich viel leichter in neue Verhältnisse fügen und sich ihnen eher anpassen als die Männer, denen man den Parvenu noch lange anmerkt, wenn kein Mensch mehr die Bürgerliche von der Adeligen, die in ärmlichen Verhältnissen Aufgewachsene von der Patrizierstochter auseinanderzukennen vermag. Doch muß ich auch hierauf später noch ausführlich zurückkommen. Übrigens wird man nun begreifen, warum (wenn nicht Eitelkeit, Tratschsucht oder Nachahmungslust dazu treibt) nur bessere Menschen Erinnerungen aus ihrem Leben niederschreiben, und wie ich hierin eine Hauptstütze des Zusammenhanges von Gedächtnis und Begabung erblicke. Nicht als ob jeder geniale Mensch auch eine Autobiographie abfassen würde: um zur Selbstbiographie zu schreiten, dazu sind noch gewisse _spezielle_, sehr tief liegende psychologische Bedingungen nötig. Aber umgekehrt ist die Abfassung einer _vollständigen_ Selbstbiographie, wenn sie aus originärem Bedürfnis heraus erfolgt, stets ein Zeichen eines höheren Menschen. Denn gerade im wirklich _treuen_ Gedächtnis liegt auch die Wurzel der _Pietät_. Ein bedeutender Mensch, vor das Ansinnen gestellt, seine Vergangenheit um irgend welcher äußerer materieller oder innerer hygienischer Vorteile willen preiszugeben, würde es zurückweisen, auch wenn ihm die größten Schätze der Welt, ja _das Glück selbst_, fürs Vergessen in Aussicht gestellt würden. Der Wunsch nach dem Trank aus dem Lethestrom ist ein Zug mittlerer und minderer Naturen. Und mag ein wahrhaft hervorragender Mensch nach dem _Goethe_schen Worte gegen eben abgelegte eigene Irrtümer sehr streng und heftig auch dort sein, wo er _andere_ an ihnen festhalten sieht, so wird er doch sein vergangenes Tun und Lassen nie belächeln, über seine frühere Denk- und Lebensweise sich niemals lustig machen. Die heute so sehr ins Kraut geschossenen »Überwinder« verdienen rechtens alles andere eher denn diesen Namen: Menschen, die anderen spöttisch erzählen, was sie einst alles geglaubt, und wie sie all das »überwunden« hätten, denen war es mit dem Alten nicht Ernst, denen ist am Neuen ebensowenig gelegen. Ihnen kommt es immer nur auf die Instrumentation, nie auf die Melodie an; kein Stadium von all den »überwundenen« war wirklich in ihrem Wesen tief gegründet. Dagegen beobachte man, mit welch weihevoller Sorgfalt große Männer in ihren Selbstbiographien selbst den scheinbar geringfügigsten Dingen einen Wert beilegen: denn für sie ist Gegenwart und Vergangenheit gleich, für jene keine von beiden wahr. Der hervorragende Mensch fühlt, wie _alles_, auch das Kleinste, Nebensächlichste, in seinem Leben eine Wichtigkeit gewonnen, wie es ihm zu seiner Entwicklung mitverholfen hat, und _daher_ die außerordentliche _Pietät_ seiner Memoiren. Und eine solche Autobiographie wird sicherlich nicht etwa auf einmal, einem anderen Einfall vergleichbar, unvermittelt niedergeschrieben, der Gedanke hiezu entsteht in ihm nicht plötzlich; sie ist für den großen Menschen, der eine schreibt, sozusagen immer fertig. Gerade weil das bisherige Leben ihm immer ganz gegenwärtig ist, darum empfindet er seine neuen Erlebnisse als für ihn bedeutsam, darum hat er und eigentlich nur er ein _Schicksal_. Und davon rührt es zunächst auch her, daß gerade die bedeutendsten Menschen immer viel _abergläubischer_ sein werden als mittelmäßige Köpfe. Man kann also zusammenfassend sagen: _Ein Mensch ist um so $bedeutender$, je mehr alle Dinge für ihn $bedeuten$._ Im Laufe der ferneren Untersuchung wird diesem Satze, außer der Universalität der verständnisvollen Beziehung und der erinnernden Vergleichung, noch ein tieferer Sinn allmählich unterlegt werden können. Wie es in diesen Hinsichten mit dem Weibe steht, ist nicht schwer zu sagen. Das echte Weib kommt nie zum Bewußtsein eines Schicksals, seines Schicksals; das Weib ist nicht heroisch, denn es kämpft höchstens für seinen Besitz, und es ist nicht tragisch, denn sein Los entscheidet sich mit dem Lose dieses Besitzes. Da das Weib ohne Kontinuität ist, kann es auch nicht pietätvoll sein; in der Tat ist Pietät eine durchaus männliche Tugend. Pietätvoll ist man zunächst _gegen sich_, und Pietät gegen sich Bedingung aller Pietät gegen andere. Aber eine Frau kostet es recht wenig Überwindung, über ihre Vergangenheit den Stab zu brechen; wenn das Wort Ironie am Platze wäre, so könnte man sagen, daß nicht leicht ein Mann sein vergangenes Selbst so ironisch und überlegen betrachten wird, wie die Frauen dies oftmals -- nicht nur nach der Hochzeitsnacht -- zu tun pflegen. Es wird sich noch Gelegenheit finden, darauf hinzuweisen, wie die Frauen eigentlich das Gegenteil von all dem wollen, dessen Ausdruck die Pietät ist. Was endlich die Pietät der Witwen anlangt -- doch von diesem Gegenstande will ich lieber schweigen. Und der Aberglaube der Frauen schließlich ist psychologisch ein durchaus anderer als der Aberglaube hervorragender Männer. Das Verhältnis zur eigenen Vergangenheit, wie es in der Pietät zum Ausdrucke kommt und auf dem kontinuierlichen Gedächtnis beruht, das selbst wieder nur durch die Apperzeption ermöglicht ist, läßt sich noch in weiteren Zusammenhängen zeigen und zugleich tiefer analysieren. _Damit nämlich, ob ein Mensch überhaupt ein Verhältnis zu seiner Vergangenheit hat oder nicht, hängt es außerordentlich innig zusammen, ob er ein Bedürfnis nach Unsterblichkeit fühlen oder ob ihn der Gedanke des Todes gleichgültig lassen wird._ Das Unsterblichkeitsbedürfnis wird zwar heute recht allgemein sehr schäbig und von oben herab behandelt. Das Problem, das aus ihm erwächst, macht man sich nicht etwa bloß als ein ontologisches, sondern auch als ein psychologisches schmachvoll leicht. Der eine will es, zugleich mit dem Glauben an die Seelenwanderung, damit erklärt haben, daß in vielen Menschen Situationen, in welche sie sicherlich zum ersten Male geraten sind, das Gefühl erwecken, als hätten sie dieselben schon einmal durchlebt. Die andere, heute allgemein adoptierte Ableitung des Unsterblichkeitsglaubens aus dem _Seelenkult_, wie sie sich bei _Tylor_, _Spencer_, _Avenarius_ findet, wäre von jedem anderen Zeitalter als dem der _experimentellen_ Psychologie a priori zurückgewiesen worden. Es sollte doch, meine ich, jedem Denkenden völlig unmöglich erscheinen, daß etwas, woran so vielen Menschen gelegen, wofür so gekämpft und gestritten worden ist, bloß das letzte Schlußglied eines Syllogismus bilden könnte, dessen Prämisse etwa die nächtlichen Traumerscheinungen Verstorbener gewesen wären. Und welche Phänomene zu erklären ist wohl jene felsenfeste Meinung von ihrem Weiterleben nach dem Tode ersonnen worden, die _Goethe_, die _Bach_ gehabt haben, auf welches »Pseudoproblem« läßt sich das Unsterblichkeitsbedürfnis zurückführen, das aus _Beethovens_ letzten Sonaten und Quartetten zu uns spricht? Der Wunsch nach der persönlichen Fortdauer muß gewaltigeren Quellen entströmt sein als jenen rationalistischen Springbrunnen. Dieser tiefere Ursprung hängt mit dem Verhältnisse des Menschen zu seiner Vergangenheit lebhaft zusammen. _Im Sichfühlen und Sichsehen in der Vergangenheit liegt ein mächtiger Grund des Sichweiterfühlen-, Sichweitersehenwollens._ Wem seine Vergangenheit wert ist, wer sein Innenleben, mehr als sein körperliches Leben, hochhält, _der wird es auch an den Tod nicht hingeben wollen_. Daher tritt primäres, originelles Unsterblichkeitsbedürfnis bei den größten Genien der Menschheit, den Menschen mit der reichsten Vergangenheit, am stärksten, am nachhaltigsten auf. Daß _dieser_ Zusammenhang der Unsterblichkeitsforderung mit dem Gedächtnis _wirklich_ besteht, erhellt daraus, was Menschen, die aus Todesgefahr errettet werden, von sich übereinstimmend aussagen. Sie durchleben nämlich, wenn sie auch sonst nie viel an ihre Vergangenheit gedacht haben, nun plötzlich auf einmal mit rasender Geschwindigkeit ihre ganze Lebensgeschichte nochmals, und erinnern sich innerhalb weniger Sekunden an Dinge, welche Jahrzehnte lang ihnen nicht ins Bewußtsein zurückgekommen sind. Denn das Gefühl dessen, was ihnen bevorsteht, bringt -- abermals vermöge des Kontrastes -- all das ins Bewußtsein, was nun für immer vernichtet werden soll. Wir wissen ja sehr wenig über die geistige Verfassung Sterbender. Es gehört auch ein mehr als gewöhnlicher Mensch dazu, um zu erkennen, was in einem Sterbenden vorgeht; anderseits sind Verscheidende aus den dargelegten Gründen gerade von besseren Menschen meistens gemieden. Aber es ist wohl gänzlich unrichtig, die in so vielen Todkranken plötzlich auftretende Religiosität nur auf die bekannte Erwägung »vielleicht doch, sicher ist sicher« zurückzuführen; und sehr oberflächlich, anzunehmen, bloß die sonst nie beachtete tradierte Höllenlehre gewinne nun plötzlich gerade in der Todesstunde so viel Kraft, daß es dem Menschen unmöglich werde, mit einer Lüge zu sterben.[21] Denn dies ist das Wichtigste: Warum fühlen Menschen, die ein durch und durch verlogenes Leben geführt haben, nun plötzlich den Drang nach der Wahrheit? Und warum macht es auch auf denjenigen, der nicht an _Strafen_ im Jenseits glaubt, einen so entsetzlichen Eindruck, wenn er vernimmt, ein Mensch sei _mit_ einer Lüge, _mit_ einer unbereuten Schlechtigkeit _verschieden_, warum hat beides, sowohl die Verstocktheit bis zum Schlusse, als auch die Umkehr vor dem Tode, die Dichter so oft mächtig gereizt? Die Frage nach der »Euthanasie der Atheisten«, die man im XVIII. Jahrhundert so häufig aufwarf, ist also keine ganz sinnlose, und nicht bloß ein historisches Kuriosum, als welches sie von Friedrich Albert _Lange_ behandelt wurde. Ich erwähne dies alles nicht allein, um eine Möglichkeit zu erörtern, welcher kaum der Rang einer Vermutung zukommt. Undenkbar nämlich scheint es mir, da viel mehr Menschen »genial« sind, als es »Genies« gibt, nicht zu sein, daß die quantitative Differenz in der Begabung vor allem in dem Zeitpunkte zum Ausdruck komme, in welchem die Menschen zum Genie werden. Für eine größere Anzahl fiele dieser Augenblick mit ihrem natürlichen Tode zusammen. Wurden wir schon früher dahin geführt, die genialen Menschen nicht etwa, wie die Steuerzahler von einem bestimmten jährlichen Einkommen ab, als von allen anderen Menschen durch eine scharfe Grenze getrennt anzusehen, so vereinigen sich diese neuen Betrachtungen mit jenen alten. Und ebenso wie die erste Kindheitserinnerung des Menschen nicht mit einem, den früheren Lauf der Dinge unterbrechenden, _äußeren_ Ereignis verknüpft ist, sondern plötzlich, unscheinbar, _infolge einer inneren Entwicklung_, für jeden früher oder später ein Tag kommt, _an welchem das Bewußtsein so intensiv wird_, daß eine Erinnerung bleibt, und von nun an, je nach der Begabung, mehr oder weniger zahlreiche Erinnerungen beharren -- _ein Faktum, das allein die ganze moderne Psychologie umstößt_ -- so _bedürfte_ es bei den _verschiedenen Menschen verschieden vieler Stöße_, um sie zu genialen zu machen, _und nach der Zahl dieser Bewußtseinsstöße, deren letzter in der Todesstunde erfolgte_, wären die Menschen ihrer Begabung gemäß zu klassifizieren. Bei dieser Gelegenheit will ich noch darauf hinweisen, wie falsch die Lehre der heutigen Psychologie ist (für die das menschliche Individuum eben nur wie ein besserer Registrierapparat in Betracht kommt und keinerlei von _innen_ kommende, ontogenetische geistige Entwicklung besitzt), daß im jugendlichen Alter die größte Anzahl von Eindrücken behalten werden. Man darf die erlebten Impressionen nicht mit dem äußerlichen und fremden Gedächtnisstoff verwechseln. Diesen nimmt das Kind gerade deshalb um so viel leichter auf, weil es noch so wenig von Gemütseindrücken beschwert ist. Eine Psychologie, die in so fundamentalen Dingen der Erfahrung zuwiderläuft, hat allen Anlaß zur Einkehr, zur Umkehr. Was hier versucht wurde, ist kaum eine Andeutung von jener _ontogenetischen Psychologie_ oder _theoretischen Biographie_, die über kurz oder lang die heutige Wissenschaft vom menschlichen Geiste zu verdrängen berufen ist. -- Jedes Programm enthält implicite eine Überzeugung, jedem Ziele des Willens gehen bestimmte Vorstellungen realer Verhältnisse voran. Der Name »theoretische Biographie« soll das Gebiet gegen _Philosophie_ und _Physiologie_ besser als bisher abstecken, und die biologische Betrachtungsweise, welche von der letzten Richtung in der Psychologie (_Darwin_, _Spencer_, _Mach_, _Avenarius_) einseitig hervorgekehrt und zum Teil arg übertrieben worden ist, doch dahin _erweitern_, daß eine solche Wissenschaft über den _gesamten_ gesetzmäßigen _geistigen Lebensverlauf als Ganzes_, von der Geburt bis zum Tode eines Menschen, Rechenschaft zu geben hätte, wie über Entstehen und Vergehen und alle einzelnen Lebensphasen irgend einer Pflanze. Und _Biographie_, nicht Bio_logie_, sollte sie genannt werden, weil ihre Aufgabe in der Erforschung gleichbleibender Gesetze der _geistigen_ Entwicklung des _Individuums_ liegt. Bisher kennt alle Geschichtsschreibung jeglicher Gattung nur Individualitäten, βίοι. Hier aber würde es sich darum handeln, allgemeine Gesichtspunkte zu gewinnen, Typen festzuhalten. _Die Psychologie müßte anfangen, $theoretische Biographie$ zu werden._ Im Rahmen einer solchen Wissenschaft könnte und würde alle bisherige Psychologie aufgehen, und erst dann nach dem Wunsche Wilhelm _Wundts_ eine fruchtbare Grundlage für die Geisteswissenschaften wirklich abgeben. Es wäre verfehlt, an dieser Möglichkeit darum zu verzweifeln, weil die heutige Psychologie, welche eben jene ihre eigentliche Aufgabe als ihr Ziel noch gar nicht begriffen hat, auch völlig außerstande ist, den Geisteswissenschaften das Geringste zu bieten. Hierin dürfte, trotz der großen Klärung, welche _Windelbands_ und _Rickerts_ Untersuchungen über das Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften mit sich gebracht haben, doch eine Berechtigung liegen, _neben_ der neuen Einteilung der Wissenschaften in »Gesetzes-« und »Ereignis«-Wissenschaften, in »nomothetische« und »idiographische« Disziplinen, die _Mill_sche Zweiteilung von Natur- und Geisteswissenschaften beizubehalten. -- -- Mit der Deduktion des Unsterblichkeitsbedürfnisses, welche dieses in einen Konnex mit der kontinuierlichen Form des Gedächtnisses und der Pietät brachte, stimmt es vollständig überein, daß _den Frauen jegliches Unsterblichkeitsbedürfnis völlig abgeht_. Auch ist hieraus mit Sicherheit zu entnehmen, wie sehr jene unrecht haben, welche in dem Postulat der persönlichen Fortexistenz bloß einen Ausfluß der Todesfurcht und des leiblichen Egoismus sehen, und hiemit eigentlich der populärsten Meinung über allen Ewigkeitsglauben Ausdruck geben. Denn die _Angst_ vor dem Sterben findet sich bei Frauen wie bei Männern, das _Unsterblichkeitsbedürfnis_ ist auf diese beschränkt. Die von mir versuchte Erklärung des psychologischen Wunsches nach Unsterblichkeit ist indessen bislang mehr ein Aufzeigen einer Verbindung, die zwischen ihm und dem Gedächtnisse besteht, als eine wahrhaft strenge _Ableitung_ aus einem höheren Grundsatze. Daß hier eine Verwandtschaft da ist, wird man immer bewahrheitet finden: je mehr ein Mensch in seiner _Vergangenheit_ lebt -- _nicht_, wie man bei oberflächlichem Hinsehen glauben könnte, in seiner _Zukunft_ -- desto intensiver wird sein Unsterblichkeitsverlangen sein. Ebenso kommt bei den Frauen der Mangel an dem Bedürfnis eines Fortlebens nach dem Tode mit ihrem Mangel an sonstiger Pietät gegen die eigene Person überein. Dennoch scheint, wie diese Abwesenheit bei der Frau noch nach einer tieferen Begründung und Ableitung beider aus _einem_ allgemeineren Prinzipe verlangt, so auch beim Manne das Beisammensein von Gedächtnis und Unsterblichkeitsbedürfnis auf eine _gemeinsame_, noch bloßzulegende Wurzel beider hinzuweisen. Denn was bisher geleistet wurde, war doch nur der Nachweis, daß und wie sich das Leben in der eigenen Vergangenheit und ihre Schätzung mit der Hoffnung auf ein Jenseits im selben Menschen zusammenfinden. Den tieferen Grund dieses Zusammenhanges zu erforschen, wurde noch gar nicht als Aufgabe betrachtet. Nun aber ist auch an deren Lösung heranzutreten. * * * * * Gehen wir von der Formulierung aus, die wir dem universellen Gedächtnis des bedeutenden Menschen gaben. Ihm sei alles, das längst Entwirklichte wie das eben erst Entschwundene, _gleich wahr_. Hierin liegt, daß das einzelne Erlebnis nicht mit dem Zeitmoment, in dem es gesetzt ist, so wie dieses Zeitatom selbst verschwindet, untergeht, daß es nicht an den bestimmten Zeitaugenblick _gebunden_ bleibt, sondern ihm -- eben durch das Gedächtnis -- _entwunden_ wird. _Das Gedächtnis macht die Erlebnisse zeitlos_, es ist, schon seinem Begriffe nach, _Überwindung der Zeit_. An Vergangenes kann sich der Mensch nur darum erinnern, weil das Gedächtnis es vom _Einfluß_ der Zeit _befreit, die Geschehnisse, die überall sonst in der Natur $Funktionen$ der Zeit sind, hier im Geiste $über$ die Zeit $hinaus$gehoben hat_. Doch hier steigt scheinbar eine Schwierigkeit vor uns auf. Wie kann das Gedächtnis eine Negation der Zeit in sich schließen, da es doch anderseits gewiß ist, daß wir von der Zeit nichts wüßten, wenn wir kein Gedächtnis hätten? Sicherlich wird uns immer und ewig nur durch Erinnerung an Vergangenes zum Bewußtsein gebracht, _daß_ es einen Ablauf der Zeit _gibt_. Wie kann also von dem, was so enge zusammenhängt, das eine das Gegenteil und die Aufhebung des anderen bedeuten? Die Schwierigkeit löst sich leicht. Eben _weil_ ein beliebiges Wesen -- es braucht nicht der Mensch zu sein -- _wenn_ es mit Gedächtnis ausgestattet ist, _mit seinen Erlebnissen nicht einfach in den Zeitverlauf eingeschaltet_ ist, darum kann ein solches Wesen dem Zeitverlauf gegenübertreten, ihn _auffassen_, ihn zum Gegenstande der Betrachtung machen. Wäre das einzelne Erlebnis dem übrigen Zeitverlauf anheimgegeben, würde es ihm verfallen und nicht aus ihm gerettet werden durch das Gedächtnis, müßte es mit der Zeit sich ändern wie eine abhängige Variable mit ihrer Unabhängigen, stünde der Mensch mitten im zeitlichen Fluß des Geschehens _darinnen_, so könnte dieser ihm nicht _auffallen_, nicht _bewußt_ werden -- _Bewußtsein setzt Zweiheit voraus_ -- er könnte nie das Objekt, der Gedanke, die Vorstellung des Menschen sein. Man muß _irgendwie_ die Zeit _überwunden_ haben, um über sie _reflektieren_, man muß irgendwie _außerhalb der Zeit stehen_, um sie _betrachten_ zu können. Dies gilt nicht nur von jeder besonderen Zeit -- _in_ der Leidenschaft selbst kann man _über_ die Leidenschaft nicht nachdenken, man muß erst zeitlich über sie hinausgekommen sein -- sondern ebenso vom _allgemeinen Begriffe_ der Zeit. _Gäbe es nicht ein Zeitloses, so gäbe es keine Anschauung der Zeit._ Gedenken wir, um dieses Zeitlose zu erkunden, vorläufig dessen, _was_ durch das Gedächtnis der Zeit wirklich entrückt wird. Als solches hat sich all das ergeben, was für das Individuum _von Interesse ist oder eine Bedeutung_ hat, oder, wie kurz gesagt werden soll, _alles, was für das Individuum einen $Wert$ besitzt_. Man erinnert sich nur an solche Dinge, die für die Person einen, wenn auch oft lange unbewußten, $Wert$ gehabt haben: $dieser Wert gibt ihnen die Zeitlosigkeit$. _Man vergißt alles, was nicht irgendwie, wenn auch oft unbewußt, von der Person $gewertet$ wurde._ Der Wert ist also das Zeitlose; und umgekehrt: ein Ding hat destomehr Wert, je weniger es Funktion der Zeit ist, je weniger es mit der Zeit sich ändert. In alles auf der Welt strahlt sozusagen nur so viel Wert ein, als es zeitlos ist: $nur zeitlose Dinge werden positiv gewertet$. _Dies ist_, wenn auch, wie ich glaube, noch nicht die tiefste und allgemeinste Definition des Wertes und keine völlige Erschöpfung seines Wesens, doch _das erste $spezielle$ Gesetz aller Werttheorie_. Eine eilende Rundsicht wird genügen, um es überall nachzuweisen. Man ist immer geneigt, die Überzeugung desjenigen gering zu schätzen, der erst vor kurzem zu ihr gelangt ist, und wird auf die Äußerungen eines Menschen überhaupt nicht viel Wert legen, dessen Ansichten noch im Flusse begriffen sind und sich fortwährend ändern. Eherne Unwandelbarkeit hingegen wird stets Respekt einflößen, selbst wenn sie in den unedlen Formen der Rachsucht und des Starrsinns sich offenbart; ja auch, wenn sie aus leblosen Gegenständen spricht: man denke an das »aere perennius« der Poeten und an die »Quarante siècles« der Pyramiden Ägyptens. Der Ruhm oder das gute Angedenken, die ein Mensch hinterläßt, würden durch die Vorstellung sofort _ent_wertet, daß sie nur kurze Zeit, und nicht lange, womöglich ewig, währen sollten. Ein Mensch vermag ferner nie positiv zu werten, daß er sich immerfort ändert; gesetzt, er täte dies in irgend welcher Beziehung, und es würde ihm nun gesagt, daß er jedesmal von einer neuen Seite sich zeige, so mag er freilich dessen sogar froh und stolz auf diese Eigenschaft sein können, doch ist es natürlich nur die Konstanz, die Regelmäßigkeit und Sicherheit dieser Andersheiten, deren er sich dann freute. Der Lebensmüde, für den es keinen Wert mehr gibt, hat eben an _keinem Bestande_ mehr ein Interesse. Die Furcht vor dem Erlöschen einer Familie und dem Aussterben ihres Namens gehören ganz hieher. Auch jede soziale Wertung, die etwa in Rechtssatzungen und Verträgen sichtbar wird, tritt, ob auch Gewohnheit, tägliches Leben an ihnen Verschiebungen vornehmen mögen, von Anbeginn mit dem Anspruch auf zeitlose Geltung selbst dann auf, wenn ihre Rechtskraft ausdrücklich (ihrem Wortlaute nach) nur bis zu einem bestimmten Termin erstreckt wird: denn gerade hiemit erscheint die Zeit als Konstante speziell _gewählt_, und nicht als Variable angesehen, in Abhängigkeit von welcher die vereinbarten Verhältnisse stetig oder unstetig sich irgend ändern könnten. Freilich wird auch hier zum Vorschein kommen, daß ein Ding um so höher gewertet wird, je länger seine Dauer ist; denn niemand glaubt, wenn zwischen zwei rechtlichen Kontrahenten ein Pakt auf sehr kurze Zeit geschlossen wird, daß den beiden viel an dem Vertrage liege; sie selbst, die ihn geschlossen haben, werden in diesem Falle nicht anders gestimmt sein, und von Anfang an, trotz allen Akten, sich vorsehen und einander mißtrauen. In dem aufgestellten Gesetze liegt auch die wahre Erklärung dafür, daß die Menschen _Interessen über ihren Tod hinaus_ haben. Das Bedürfnis nach dem Wert äußert sich in dem allgemeinen Bestreben, die Dinge von der Zeit zu emanzipieren, und dieser Drang erstreckt sich selbst auf Verhältnisse, die »_mit der Zeit_« früher oder später _doch_ sich ändern, z. B. auf Reichtum und Besitz, auf alles, was man »irdische Güter« zu heißen pflegt. Hierin liegt das tiefe psychologische Motiv des _Testamentes_, der Vermachung einer _Erbschaft_. Nicht aus der Fürsorge für die Angehörigen hat diese Erscheinung ihren Ursprung genommen. Auch der Mann ohne Familie und ohne Angehörige macht sein Testament, ja gerade er wird sicher im allgemeinen mit weit größerem Ernst und tieferer Hingabe zu dieser Handlung schreiten als der Familienvater, der seine Spuren mit dem eigenen Tode nicht so gänzlich aus Sein und Denken der anderen ausgelöscht weiß. Der große Politiker und Herrscher, besonders aber der Despot, der Mann des Staatsstreiches, dessen Regiment mit seinem Tode endet, sucht diesem Wert zu verleihen, indem er Zeitloses mit ihm verknüpft: durch ein Gesetzbuch oder eine Biographie des Julius Cäsar, allerhand große geistige Unternehmungen und wissenschaftliche Kollektivarbeiten, Museen und Sammlungen, Bauten aus hartem Fels (Saxa loquuntur), am eigentümlichsten durch Schaffung oder Regulierung eines Kalenders den Moment zu verewigen strebt. Aber er sucht auch seiner Macht selbst, schon für seine Lebzeiten, möglichste Dauer zu verleihen, nicht allein in wechselseitiger Sicherung durch Verträge, in Herstellung nie wieder zu verwischender verwandtschaftlicher Beziehungen vermöge diplomatischer Heiraten: sondern vor allem durch Wegräumung alles dessen, was den ewigen Bestand seiner Herrschaft bloß durch sein freies Dasein noch je in Frage stellen könnte. So wird der Politiker zum Eroberer. Die psychologischen und philosophischen Untersuchungen zur Werttheorie haben das Gesetz der Zeitlosigkeit gar nicht beachtet. Allerdings waren sie zum großen Teile von den Bedürfnissen der Wirtschaftslehre beeinflußt und suchten selbst auf diese überzugreifen. Doch glaube ich darum nicht, daß das neuentwickelte Gesetz in der politischen Ökonomie keine Geltung habe, weil es hier viel öfter als in der Psychologie durch Komplikationen verundeutlicht wird. Auch wirtschaftlich hat alles desto mehr Wert, je dauerhafter es ist. Wessen Konservierungsfähigkeit sehr eingeschränkt ist, so daß es etwa nach einer Viertelstunde zu Grunde ginge, wenn ich es nicht kaufte, das werde ich überall dort, wo nicht durch feste Preise der moralische _Wert_ des geschäftlichen Unternehmens über zeitliche Schwankungen emporgehoben werden soll, zu später Stunde, etwa vor Einbruch der Nacht, um billigeres Geld erhalten. Man denke auch an die vielen Anstalten zur Bewahrung vor dem Zeiteinfluß, zur Erhaltung des Wertes (Lagerhäuser, Depots, Keller, Réchauds, alle Sammlungen mit Kustoden). Es ist selbst hier ganz unrichtig, den Wert, wie es von den psychologischen Werttheoretikern meist geschieht, als dasjenige zu definieren, was geeignet sei, unsere Bedürfnisse zu befriedigen. Denn auch die Launen des Menschen gehören zu seinen (momentanen) Bedürfnissen, und doch gibt es nichts aller Werthaltung mehr Entgegengesetztes als eben _die Laune_. Die Laune _kennt_ keinen Wert, sie verlangt nach ihm höchstens, um ihn im nächsten Augenblicke zu zerbrechen. _So ist das Moment der Dauer aus dem Wertbegriff nicht zu eliminieren._ Selbst die Erscheinungen, welche man nur mit Hilfe der _Menger_schen Theorie vom »Grenznutzen« erklären zu können vermeint hat, ordnen sich meiner Auffassung unter (ohne daß diese natürlich im geringsten sich anmaßt, an sich etwas für die Nationalökonomie leisten zu können). Daß Luft und Wasser keinen Wert haben, liegt nach ihr nämlich daran, _daß nur irgendwie individualisierte, geformte Dinge_ positiv gewertet werden können: denn alles Geformte kann formlos gemacht, kann zerstört werden, und braucht _als solches_ nicht zu _dauern_. Ein Berg, ein Wald, eine Ebene ist noch zu formen durch Umfassung und Begrenzung, und darum selbst im wüstesten Zustande noch Wertobjekt. Die Luft der Atmosphäre und das Wasser auf und über der Erdoberfläche vermöchte niemand in Grenzen zu fassen, sie sind diffus und uneingeschränkt verbreitet. Wäre ein zauberkräftiger Mann imstande, die atmosphärische Luft, die den Erdball umgibt, wie jenen Geist aus dem orientalischen Märchen auf einen relativ kleinen Raum der Erde zu komprimieren, oder könnte es jemand gelingen, die Wassermassen derselben in einem großen Reservoir unter Verhinderung der Verdunstung einzusperren: beide hätten sofort _Form_ gewonnen, und wären damit auch der Wertung unterworfen. Wert wird von einer Sache also nur dann prädiziert, wo ein, wenn auch noch so entfernter, Anlaß zur Besorgnis vorhanden ist, daß sie mit der Zeit sich ändern könne; _denn der Wert wird nur in Relation zur Zeit gewonnen, im Gegensatze zu ihr aufgestellt_. Wert und Zeit erfordern sich also gegenseitig wie zwei korrelative Begriffe. Wie tief eine solche Auffassung führt, wie gerade sie konstitutiv sogar für eine _Weltanschauung_ werden kann, dies möchte ich _hier_ nicht weiter verfolgen. Es genügt für den vorgesetzten Zweck, zu wissen, daß jeder Anlaß, von Wert zu reden, gerade dort wieder entfällt, wo keine Gefährdung durch die Zeit mehr möglich ist. Das Chaos kann, auch wenn es ewig ist, nur negativ gewertet werden. _Form $und$ Zeitlosigkeit_ oder _Individuation $und$ Dauer_ sind die beiden analytischen Momente, welche den Wert zunächst schaffen und begründen. So ist denn jenes Fundamentalgesetz der Werttheorie durchgängig, auf individualpsychologischem und sozialpsychologischem Gebiete, zur Darstellung gebracht. Und nun kann in successiver Wiederaufnahme der eigentlichen Untersuchungsgegenstände erledigt werden, was noch von früher her, obwohl besondere Aufgabe dieses Kapitels, rückständig ist. Als erste Folgerung darf aus dem Vorhergehenden diese gezogen werden, daß es ein _Bedürfnis nach Zeitlosigkeit, einen $Willen zum Wert$_, auf allen Gebieten menschlicher Tätigkeit gibt. Und dieser Wille zum Wert, der mit dem »_Willen zur Macht_« an Tiefe sich zu messen keine Scheu tragen möge, geht, wenigstens in der Form des Willens zur Zeitlosigkeit, dem individuellen Weibe ganz und gar ab. Die alten Frauen pflegen in den seltensten Fällen Bestimmungen über ihre Hinterlassenschaft zu treffen, was damit zusammenhängt, daß die Frauen kein Unsterblichkeitsbedürfnis besitzen. Denn es liegt über dem Vermächtnis eines Menschen die Weihe eines Höheren, Allgemeineren, und dies ist auch der Grund, warum es von den anderen Menschen _geachtet_ wird. _Das Unsterblichkeitsbedürfnis selbst ist nur ein besonderer Fall des allgemeinen Gesetzes, daß nur zeitlose Dinge positiv gewertet werden._ Hierin liegt sein Zusammenhang mit dem Gedächtnis begründet. Die Remanenz, welche die Erlebnisse eines Menschen bei ihm haben, ist der Bedeutung proportional, die sie für ihn gewinnen können. So paradox es klingt: $der Wert ist es, der die Vergangenheit schafft$. Nur was positiv gewertet wurde, nur das bleibt im Schutze des Gedächtnisses vor dem Zahn der Zeit bewahrt; _und so darf auch das individuelle psychische Leben als Ganzes, soll es positiv bewertet werden, nicht Funktion der Zeit, es muß über die Zeit erhaben sein durch eine über den körperlichen Tod hinausgehende ewige Dauer_. Hiemit sind wir dem innersten Motiv des Unsterblichkeitsbedürfnisses unvergleichlich näher gerückt. Die völlige Einbuße an Bedeutung, die das individuell erfüllte, lebensvoll gelebte Leben erleidet, wenn es mit dem Tode für immer restlos zu Ende sein soll, die _Sinnlosigkeit_ des _Ganzen_ in solchem Falle, dies spricht mit anderen Worten auch _Goethe_ zu _Eckermann_ aus (4. Februar 1829), führt zur Forderung nach Unsterblichkeit. Das intensivste Verlangen nach Unsterblichkeit hat das Genie. Und auch dies fällt zusammen mit allen anderen Tatsachen, die bisher über seine Natur aufgedeckt wurden. _Das Gedächtnis ist vollständige Besiegung der Zeit nur dann, wenn es, wie im universellen Menschen, in der universellen Form auftritt. Der Genius ist somit der eigentlich zeitlose Mensch_, wenigstens ist dies und nichts anderes sein Ideal von sich selbst; er ist, wie gerade sein sehnsüchtiges und dringendes Begehren nach Unsterblichkeit beweist, eben der Mensch mit dem stärksten Verlangen nach Zeitlosigkeit, _mit dem mächtigsten Willen zum Werte_.[22] Und nun tut sich vor dem geblendeten Auge eine fast noch wunderbarere Koinzidenz auf. Die Zeitlosigkeit des Genius wird nicht allein im Verhältnis zu den einzelnen Augenblicken seines Lebens kund, sondern auch in seiner Beziehung zu dem, was man aus der Zeitrechnung als seine Generation herausgreift und im engeren Sinne »seine Zeit« nennt. _Zu dieser hat er nämlich de facto gar keine Beziehungen._ Nicht die Zeit, die ihn braucht, schafft den Genius, er ist nicht ihr Produkt, nicht aus ihr zu erklären, und man erweist ihm keine Ehre, ihn mit ihr zu entschuldigen. _Carlyle_ hat mit Recht darauf hingewiesen, wie vielen Epochen nur der bedeutende Mensch not tat, wie dringend sie seiner bedurften, und wie er doch nicht erschienen ist. Das Kommen des Genius bleibt ein Mysterium, auf dessen Ergründung der Mensch in Ehrfurcht verzichte. Und wie die _Ursachen_ seines Auftretens nicht in seiner Zeit gefunden werden können, so bleiben auch, diese Übereinstimmung ist das zweite Rätsel, _dessen $Folgen$ nicht an eine bestimmte Zeit geknüpft. Die Taten des Genius leben ewig, an ihnen wird durch die Zeit nichts geändert._ Durch seine Werke ist dem bedeutenden Menschen eine Unsterblichkeit auf Erden beschieden, und so ist er in _dreifacher Weise zeitlos_: seine universale Apperzeption oder ausnahmslose Wertung aller seiner Erlebnisse enthebt diese in seinem Gedächtnis der Vernichtung mit dem Augenblick; aus der Zeit, die seinem Werden vorangeht, ist er nicht emporgewachsen; und nicht der Zeit, in der er tätig ist, und auch keiner anderen, früher oder später ihr folgenden, fällt anheim, was er geschaffen hat. Hier ist nun der glücklichste Ort, die Besprechung einer Frage einzufügen, die beantwortet werden muß, obwohl sie, merkwürdig genug, noch kaum von jemand aufgeworfen scheint. Sie betrifft nichts anderes als, ob das, was Genie genannt zu werden verdient, auch unter den Tieren (oder Pflanzen) sich findet. Es besteht nun, außer den bereits entwickelten Kriterien der Begabung, deren Anwendung auf die Tiere wohl kaum die Anwesenheit dermaßen ausgezeichneter Individuen unter ihnen ergeben dürfte, auch sonst genügende Berechtigung zu der, später noch zu begründenden, Annahme, daß es dort nichts irgendwie Ähnliches gebe. _Talente_ dürften im Reiche der Tiere vorhanden sein wie unter den noch-nicht-genialen Menschen. Aber das, was man vor _Moreau de Tours_, _Lombroso_ und _Max Nordau_ immer als den »göttlichen Funken« betrachtet hat, das haben wir allen Grund auf die Tiere nicht auszudehnen. Diese Einschränkung ist nicht Eifersucht, nicht ängstliche Wahrung eines Privilegs, sondern sie läßt sich mit guten Gründen verteidigen. Denn was wird durch das Erstauftreten des Genies _im Menschen_ nicht alles erklärt! Der ganze »objektive Geist«, mit anderen Worten, _daß der Mensch allein unter allen Lebewesen eine $Geschichte$ hat_! Die ganze menschliche Geschichte (darunter ist natürlich Geistes- und nicht z. B. Kriegsgeschichte zu verstehen), läßt sie sich nicht am ehesten begreifen durch das Auftreten des Genies, der Anregungen, die von ihm ausgingen, und der Nachahmung dessen, was das Genie tat, durch mehr _pithekoide_ Wesen? Des Hausbaues, des Ackerbaues, vor allem aber der _Sprache_! Jedes Wort ist von _einem_ Menschen zuerst geschaffen worden, von einem Menschen, der über dem Durchschnitt stand, wie dies auch heute immer noch ausschließlich geschieht (von den Namen für neue technische Erfindungen muß man hiebei freilich absehen). Wie sollte es denn auch wohl sonst entstanden sein? Die Urworte _waren_ »onomatopoetisch«: in sie kam ohne den Willen des Sprechenden, durch die bloße Heftigkeit der spezifischen Erregung, ein dem Erreger Ähnliches hinein; und alle anderen Worte sind ursprünglich Tropen, sozusagen Onomatopoesien zweiter Ordnung, Metaphern, Gleichnisse: alle Prosa ist einmal Poesie gewesen. _Die meisten Genies sind also unbekannt geblieben._ Man denke nur an die Sprichwörter, selbst an die heute trivialsten, wie: »eine Hand wäscht die andere«. Ja, das hat doch vor vielen Jahren _ein_ geistvoller Mann zum ersten Male gesagt! Anderseits: wie viele Citate aus klassischen Autoren, aus den allergelesensten, wie viele _Worte Christi_ kommen uns nicht heute vollkommen unpersönlich-sprichwörtlich vor, wie oft müssen wir uns erst darauf besinnen, daß wir in diesem Falle den Urheber kennen! Man sollte darum nicht von der »Weisheit der Sprache«, von den Vorzügen und den glücklichen Ausdrücken »des Französischen« reden. Ebensowenig wie das »Volkslied« ist die Sprache von einer Menge geschaffen worden. Mit jenen Redensarten sind wir gegen so viele _einzelne_ undankbar, um ein Volk überreich zu beschenken. Der Genius selbst, der sprachschöpferisch war, gehört vermöge seiner Universalität nicht bloß der Nation an, aus der er stammt und in deren Sprache er sein Wesen ausgedrückt hat. Die Nation orientiert sich an ihren Genien und bildet nach ihnen ihren Idealbegriff von sich selbst, der darum nicht der Leitstern der Hervorragenden selber, wohl aber jener aller anderen sein kann. Aus verwandten Gründen aber wäre auch mehr Vorsicht geboten, wenn, wie so oft, Psychologie der Sprache und Völkerpsychologie ohne kritische Voruntersuchung als zusammengehörig behandelt werden. Weil die Sprache von einzelnen großen Männern geschaffen ist, darum liegt in ihr wirklich so viel erstaunliche Weisheit verborgen; wenn ein so inbrünstig tiefer Denker wie _Jakob Böhme_ Etymologie treibt, so will dies doch etwas mehr sagen, als so mancher Geschichtsschreiber der Philosophie begreifen zu können scheint. Von _Baco_ bis Fritz _Mauthner_ sind alle _Flach_köpfe _Sprachkritiker_ gewesen.[23] Der Genius ist es hingegen, der die Sprache nicht kritisiert, sondern hervorgebracht hat und immer neu hervorbringt, wie auch all die anderen Geisteswerke, die im engeren Sinne den Grundstock der Kultur, den »objektiven Geist« bilden, soweit dieser wirklich _Geist_ ist. So sehen wir, _daß der zeitlose Mensch jener ist, der die Geschichte schafft: Geschichte kann nur von Wesen geschaffen werden, die außerhalb ihrer Kausalverkettung stehen._ Denn nur sie treten in jenes unauflösliche Verhältnis zum absolut Zeit_losen_, zum Werte, das ihren Produktionen einen ewigen Gehalt gibt. Und was aus allem Geschehenen in die Kultur eingeht, geht in sie ein unter dem Gesichtspunkte des ewigen Wertes. Legen wir jenen Maßstab der dreifachen Zeitlosigkeit an den Genius an, so werden wir am sichersten auch bei der nun nicht mehr allzu schwierigen Entscheidung geleitet werden, wem das Prädikat des Genies zuzusprechen ist, und wem es aberkannt werden muß. _Zwischen_ der populären Meinung, die beispielsweise _Türck_ und _Lombroso_ vertreten, welche den Begriff des Genies bei jeder über den Durchschnitt stärker hinausragenden intellektuellen oder werklichen Leistung anzuwenden bereit ist, und der Exklusivität jener Lehren _Kant_ens und _Schelling_s, welche einzig im schaffenden Künstler das Walten des Genius erblicken wollen, liegt, obwohl in der Mitte, doch zweifelsohne diesmal das Richtige. _Der Titel des Genius ist nur den großen Künstlern und den großen Philosophen_ (zu denen ich hier auch die seltensten Genien, die großen _Religionsstifter_ zähle[24]) _zu vindizieren_. Weder der »große Mann der Tat« noch »der große Mann der Wissenschaft« haben auf ihn Anspruch. Die »_Männer der Tat_«, die berühmten Politiker und Feldherren, mögen wohl einzelne Züge haben, die an das Genie erinnern (z. B. eine vorzügliche Menschenkenntnis, ein enormes Personengedächtnis); auf _ihre_ Psychologie kommt diese Untersuchung noch einmal zu sprechen; aber mit dem Genius kann sie nur verwechseln, wer schon durch den äußeren Aspekt von Größe allein völlig zu blenden ist. Das Genie ist in mehr als einem Sinne ausgezeichnet gerade durch den _Verzicht_ auf alle Größe _nach außen_, _durch reine innere Größe_. Der wahrhaft bedeutende Mensch hat den stärksten Sinn für die _Werte_, der Feldherr-Politiker ein fast ausschließliches Fassungsvermögen für die _Mächte_. Jener sucht allenfalls die Macht an den Wert, dieser höchstens den Wert an die Macht zu knüpfen und zu binden (man erinnere sich an das oben von den Unternehmungen der Imperatoren Gesagte). Der große Feldherr, der große Politiker, sie steigen aus dem Chaos der _Verhältnisse_ empor wie der Vogel Phönix, um zu verschwinden wie dieser. Der große Imperator oder große Demagog ist der einzige Mann, der ganz in der Gegenwart lebt; er träumt nicht von einer schöneren, besseren Zukunft, er sinnt keiner entflossenen Vergangenheit nach; er knüpft sein Dasein an den Moment, und sucht nicht auf eine jener beiden Arten, die dem Menschen möglich sind, _die Zeit zu überspringen_. Der echte _Genius_ aber macht sich in seinem Schaffen nicht abhängig von den konkret-zeitlichen Bedingungen seines Lebens, die für den Feldherr-Politiker stets das Ding-an-sich bleiben, das, was ihm zuletzt Richtung gibt. So wird der große Imperator _zu einem Phänomen der Natur_, der große Denker und Künstler steht außerhalb ihrer, er ist eine Verkörperung des Geistes. Die Werke des Tatmenschen gehen denn auch meist mit seinem Tode, oft schon früher, und nie sehr viel später, spurlos zu Grunde, nur die Chronik der Zeit meldet von dem, was da geformt wurde, nur um wieder zerstört zu werden. Der Imperator schafft keine Werke, an denen die zeitlosen, ewigen _Werte_ in ungeheuerer Sichtbarkeit für alle Jahrtausende zum Ausdruck kommen; denn dies sind die Taten des Genius. $Dieser$, nicht der andere, $schafft$ die Geschichte, weil er nicht _in sie_ gebannt ist, sondern _außerhalb ihrer_ steht. _Der bedeutende Mensch hat eine Geschichte, den Imperator hat die Geschichte._ Der bedeutende Mensch zeugt die Zeit, der Imperator wird _von_ ihr gezeugt und -- getötet. Ebensowenig wie der große Willensmensch besitzt der große _Wissenschaftler_, wenn er nicht zugleich großer Philosoph ist, ein Recht auf den Namen des Genius, heiße er sonst _Newton_ oder _Gauß_, _Linné_ oder _Darwin_, _Kopernikus_ oder _Galilei_. Die Männer der Wissenschaft sind nicht universell, denn es gibt Wissenschaft nur vom Fache, allenfalls von Fächern. Das liegt keineswegs, wie man glaubt, an der »fortschreitenden Spezialisierung«, die es »unmöglich mache, alles zu beherrschen«: es gibt unter den Gelehrten auch im XIX. und XX. Jahrhundert noch manch ebenso staunenerregende Polyhistorie, wie sie _Aristoteles_, oder wie sie _Leibniz_ besaß; ich erinnere an _Alexander v. Humboldt_, an _Wilhelm Wundt_. Jener Mangel liegt vielmehr im Wesen aller Wissenschaft und Wissenschaftler tief begründet. Das 8. Kapitel erst wird die letzte Differenz, die hier besteht, aufzudecken versuchen. Indes ist man vielleicht bereits hier zu dem Zugeständnis geneigt, auch der hervorragendste Mann der Wissenschaft sei keine so allumfassende Natur wie selbst jene Philosophen es waren, die an der äußersten Grenze dessen stehen, wo die Bezeichnung genial noch statthat (ich denke an _Schleiermacher_, _Carlyle_, _Nietzsche_). Welcher bloße Wissenschaftler fühlte in sich ein unmittelbares Verständnis _aller_ Menschen, _aller_ Dinge, oder auch nur die Möglichkeit, ein solches in sich und aus sich selbst heraus je zu verwirklichen? Ja, welchen anderen Sinn hätte denn die wissenschaftliche Arbeit der Jahrtausende, als diese unmittelbare Einsicht zu _ersetzen_? Dies ist der Grund, warum alle Wissenschaftler _notwendig_ immer »Fachmänner« sind. Es kennt auch nie ein Wissenschaftler, der nicht Philosoph ist, selbst wenn er noch so Hervorragendes leistete, jenes kontinuierliche, nichtsvergessende Leben, das den Genius auszeichnet: eben wegen seines Mangels an Universalität. Schließlich sind die Forschungen des Wissenschaftlers immer in den Stand der Kenntnisse seiner Zeit gebannt, er übernimmt einen Fonds von Erfahrungen in bestimmter Menge und Gestalt, vermehrt und verändert ihn um ein Geringes oder Größeres, und gibt ihn weiter. Aber auch von _seinen_ Leistungen wird vieles weggenommen, vieles muß hinzugefügt werden, sie dauern als Bücher fort in den Bibliotheken, aber nicht als ewige, der Korrektur auch nur in _einem_ Punkte entrückte Schöpfungen. Aus den berühmten Philosophien dagegen spricht wie aus den großen Kunstwerken ein Unverrückbares, Unverlierbares, eine _Weltanschauung_ zu uns, an welcher der Fortschritt der Zeiten nichts ändert, die je nach der Individualität ihres Schöpfers, welche in ihr sichtbar zum Ausdruck gelangte, _immer_ ihm verwandte Menschen findet, die ihr anhangen. Es gibt _Platoniker_ und _Aristoteliker_, _Spinozisten_ und _Berkeleyaner_, _Thomisten_ und Anhänger _Brunos_ noch heute, aber es gibt keinen _Galileianer_ und keine _Helmholtzianer_, nirgends _Ptolemäer_, nirgends _Kopernikaner_. Es ist darum ein Unfug und verdirbt den Sinn des Wortes, wenn man von »Klassikern der exakten Wissenschaften« oder »Klassikern der Pädagogik« ebenso spricht, wie man mit gutem Recht von klassischen Philosophen und klassischen Künstlern redet. Der große Philosoph also trägt den Namen des Genius mit Verdienst und Ehre; und wenn es auch des Philosophen größter Schmerz in Ewigkeit bleibt, daß er nicht Künstler ist -- denn aus keinem anderen Grunde wird er Ästhetiker -- so neidet doch nicht minder der Künstler dem Philosophen die zähe und wehrhafte Kraft des abstrakten systematischen Denkens -- nicht umsonst werden Prometheus und Faust, Prospero und Cyprian, der Apostel Paulus und der »Penseroso« ihm Problem. Darum, däucht mir, sind beide einander gleich zu achten, und hat keiner vor dem anderen allzuviel voraus. Freilich heißt es auch in der Philosophie mit dem Begriffe der Genialität nicht so verschwenderisch umzugehen, als dies gewöhnlich zu geschehen pflegt; sonst würde meine Darstellung mit Recht den Vorwurf der Parteilichkeit gegen die »positive Wissenschaft« auf sich laden, einer Parteilichkeit, die mir selbstverständlich fern liegt, da ich einen solchen Angriff ja zunächst als gegen mich selbst und einen großen Teil dieser Arbeit gekehrt empfinden müßte. _Anaxagoras_, _Geulincx_, _Baader_, _Emerson_ als geniale Menschen zu bezeichnen, geht nicht an. Weder unoriginelle Tiefe (_Angelus Silesius_, _Philo_, _Jacobi_) noch originelle Flachheit (_Comte_, _Feuerbach_, _Hume_, _Mill_, _Herbart_, _Locke_, _Karneades_) sollte auf die Anwendung des Begriffes ein Recht erwirken können. Die Geschichte der Kunst ist heute in gleicher Weise wie die der Philosophie voll der verkehrtesten Wertungen; ganz anders die Geschichte der ihre eigenen Ergebnisse fortwährend berichtigenden und nach dem _Umfang_ dieser _Verbesserungen_ wertenden Wissenschaft. Die Geschichte der Wissenschaft verzichtet auf die Biographie ihrer wackersten Kämpfer; ihr Ziel ist ein System überindividueller Erfahrung, aus dem der einzelne verschwunden ist. In der Hingabe an die Wissenschaft liegt darum die _größte_ Entsagung: denn durch sie verzichtet der einzelne Mensch als solcher auf _Ewigkeit_. VI. Kapitel. Gedächtnis, Logik, Ethik. Die Überschrift, welche ich diesem Kapitel voranstelle, ist sofort und mit Leichtigkeit einem schweren Mißverständnis ausgesetzt. Es könnte nach ihr scheinen, als huldige der Autor der Ansicht, die logischen und ethischen Wertungen seien Objekte ausschließlich der empirischen Psychologie, psychische Phänomene ganz so wie die Empfindung und das Gefühl, Logik und Ethik also spezielle Disziplinen, Unterabteilungen der Psychologie und aus ihr, in ihr zu begründen. Ich bekenne gleich und vollständig, daß ich diese Anschauung, den »Psychologismus«, für gänzlich falsch und verderblich halte; falsch, weil das Unternehmen nie gelingen kann, wovon wir uns noch überzeugen werden; verderblich, weil es nicht einmal so sehr die hiedurch kaum berührte Logik und Ethik als die Psychologie zu Grunde richtet. Der Ausschluß der Logik und Ethik von der _Begründung_ der Psychologie und ihr Verweis in einen Appendix der letzteren ist das Korrelat zu dem Überwuchern der Empfindungslehre, und hat mit dieser zusamt all das auf dem Gewissen, was sich heute als »empirische Psychologie« präsentiert: jenen Haufen toter Gebeine, denen kein Feinsinn und kein Fleiß mehr Leben einhaucht, in denen vor allem die wirkliche _Erfahrung_ nicht wiederzuerkennen ist. Was also die unglücklichen Versuche betrifft, Logik und Ethik auf den Stufenbau einer, gleichgültig mit welchem Mörtel, zusammensetzenden Psychologie, als das zarte, jüngste Kind des Seelenlebens, zu setzen, so trage ich wenigstens kein Bedenken, gegen _Brentano_ und seine Schule (_Stumpf_, _Meinong_, _Höfler_, _Ehrenfels_), gegen Th. _Lipps_ und G. _Heymans_, gegen die ebenfalls dahin zu zählenden Meinungen von _Mach_ und _Avenarius_, hier mich prinzipiell jener anderen Richtung anzuschließen, deren Positionen heute von _Windelband_, _Cohen_, _Natorp_, F. J. _Schmidt_, besonders aber von _Husserl_ verteidigt werden (der selbst früher Psychologist war, seither aber zu der festesten Überzeugung von der Unhaltbarkeit dieses Standpunktes gelangt ist), jener Richtung, welche gegen die psychologisch-genetische Methode _Humes_ den transcendental-kritischen Gedanken _Kant_ens geltend macht und hochzuhalten weiß. Da aber die vorliegende Arbeit keine ist, welche mit den allgemeinen, überindividuell gültigen Normen des Handelns und Denkens und den Bedingungen des Erkennens sich beschäftigte, da sie vielmehr, ihrem Ausgangspunkt wie ihrem Ziele nach, eben _Unterschiede_ zwischen Menschen festzustellen trachtet, und nicht für beliebige Wesen (selbst für »die lieben Engelein« im Himmel) gültig zu sein beansprucht, wie die Philosophie _Kant_ens ihren Grundgedanken nach, so durfte und mußte sie bisher psychologisch (nicht psycho_logistisch_) sein, und wird es weiter bleiben, ohne an den Stellen, wo sich die Notwendigkeit herausstellen sollte, zu verabsäumen, selbst eine formale Betrachtung zu wagen, oder wenigstens darauf hinzuweisen, daß da oder dort das alleinige Recht der logischen, kritischen, transcendentalen Methode zustehe. Der Titel dieses Kapitels rechtfertigt sich anders. Die langwierige, weil gänzlich neu zu führende Untersuchung des vorigen hat gezeigt, daß das menschliche Gedächtnis zu Dingen in intimer Beziehung steht, mit denen man es einer Verwandtschaft bisher nicht für würdig gehalten zu haben scheint. Zeit, Wert, Genie, Unsterblichkeit -- all dies vermochte sie mit dem Gedächtnis in einem merkwürdigen Zusammenhange zu zeigen, dessen Existenz man offenbar noch gar nicht vermutet hat. Dieses fast völlige Fehlen aller Hinweise muß einen tieferen Grund haben. Er liegt, so scheint es, in den Unzulänglichkeiten und Schlampereien, welche die Theorien des Gedächtnisses immer wieder sich haben zu Schulden kommen lassen. Hier lenkt zunächst die schon in der Mitte des XVIII. Jahrhunderts von Charles _Bonnet_ begründete, im letzten Drittel des XIX. Jahrhunderts besonders durch Ewald _Hering_ (und E. _Mach_) in Schwung gekommene Lehre den Blick auf sich, welche im Gedächtnis des Menschen nichts weiter sieht als die »allgemeine Funktion der organisierten Materie«, auf neue Reize, die vorangegangenen Reizen mehr oder weniger gleichen, anders, leichter und schneller zu reagieren als auf erstmalige Irritation. Diese Theorie glaubt also die menschlichen Gedächtnisphänomene durch die sonstige Erfahrung der Übungsfähigkeit lebender Wesen schon erschöpft, für sie ist das Gedächtnis eine Anpassungserscheinung nach _Lamarck_schem Muster. Gewiß, es besteht ein Gemeinsames zwischen dem menschlichen Gedächtnis und jenen Tatsachen, z. B. gesteigerter Reflexerregbarkeit bei gehäufter Wiederholung der Erregungen; das identische Element liegt in dem Fortwirken des ersten Eindruckes über den Moment hinaus, und das 12. Kapitel wird auf den tiefsten Grund dieser Verwandtschaft noch einmal zurückkommen. Es ist aber daneben doch ein abgrundtiefer Unterschied zwischen der Stärkung eines Muskels durch Gewöhnung an wiederholte Kontraktion, zwischen der Anpassung des Arsenikessers oder des Morphinisten an immer größere Quantitäten des Giftes hier, und der Erinnerung des Menschen an seine früheren Erlebnisse dort. Auf der einen Seite ist die Spur des Alten nur im Neuen verfolgbar, auf der anderen treten früher erlebte Situationen wieder, ganz als die _alten_, hervor in das Bewußtsein, so wie sie selbst waren, mit aller Individuation ausgestattet, nicht zu bloßer Nachwirkung auf den neuen Moment durch ein Residuum nutzbar gemacht. Die Identifikation beider Phänomene wäre so ungereimt, daß auf eine weitere Besprechung dieser allgemein-biologischen Ansicht verzichtet werden kann. Mit der physiologischen Hypothese hängt die Associationslehre als Theorie des Gedächtnisses _historisch_ durch _Hartley_ und _sachlich_ durch den _Begriff der Gewöhnung_ zusammen. Sie leitet _alles_ Gedächtnis aus dem mechanischen Spiel der Vorstellungsverknüpfungen nach ein bis vier Gesetzen ab. Dabei _übersieht sie, daß das Gedächtnis (das kontinuierliche des Mannes) im Grunde eine Willenserscheinung ist_. Ich kann mich auf etwas besinnen, wenn ich es wirklich _will_, entgegen beispielsweise meiner Schlafsucht, wenn ich nur wahrhaft entschlossen bin, diese zu unterdrücken. _In der Hypnose, durch welche Erinnerung an alles Vergessene erzielt werden kann, tritt der Wille des Fremden an die Stelle des allzu schwachen eigenen_ und liefert so wieder den Beweis, daß es der _Wille_ ist, _welcher die zweckmäßigen Associationen aufsucht, daß alle Association durch die tiefere Apperzeption herbeigeführt wird_. Hier mußte einem späteren Abschnitt vorgegriffen werden, welcher das Verhältnis zwischen Associations- und Apperzeptionspsychologie klarzustellen und die Berechtigung beider abzuwägen suchen wird. Mit der Associationspsychologie, welche das psychische Leben zuerst zerspaltet, und wähnt, im Tanze der einander die Hände reichenden Bruchstücke es dann noch zusammenleimen zu können, hängt wiederum enge jene dritte Konfusion zusammen, die, ungeachtet des von _Avenarius_ und besonders von _Höffding_ ungefähr zur gleichen Zeit mit so viel Recht erhobenen Einspruches, noch immer das _Gedächtnis_ mit dem _Wiedererkennen_ zusammenwirft. Das Wiedererkennen eines Gegenstandes braucht durchaus nicht auf der gesonderten Reproduktion des früheren Eindruckes zu beruhen, wenn auch in einem Teile der Fälle im neuen Eindrucke die Tendenz zu liegen scheint, auf der Stelle den älteren wachzurufen. Aber es gibt _daneben_ ein mindestens ebenso häufig vorkommendes _unmittelbares_ Wiedererkennen, in welchem nicht die neue Empfindung _von sich selbst wegführt_ und wie mit einem Streben verknüpft erscheint, sondern wo das Gesehene, Gehörte etc. nur mit einer spezifischen _Färbung_ (»tinge« würde _James_ sagen) auftritt, mit jenem »Charakter«, den _Avenarius_ »das Notal«, _Höffding_ »die Bekanntheitsqualität« nennt. Wer in die Heimat zurückkehrt, dem scheinen Weg und Steg »bekannt«, auch wenn er nichts mehr zu benennen und sich gar nicht leicht zurechtzufinden weiß, und keines besonderen Tages gerade gedenkt, an dem er hier gegangen; eine Melodie kann mir »bekannt vorkommen«, ohne daß ich weiß, wann und wo ich sie gehört habe. Der »Charakter« (im _Avenarius_schen Sinne) der _Bekanntheit_, der _Vertrautheit_ etc. schwebt hier sozusagen über dem Sinneseindruck selbst, die Analyse weiß nichts von Associationen, deren »Verschmelzung« mit meiner neuen Empfindung, nach der Behauptung einer anmaßenden Pseudo-Psychologie, jenes unmittelbare Gefühl erst _erzeugen_ soll, und sie vermag diese Fälle sehr gut von jenen anderen zu unterscheiden, wo schon leise und kaum merklich (in Henidenform) das ältere Erlebnis wirklich associiert wird. Auch individualpsychologisch ist diese Distinktion eine Notwendigkeit. Im hochstehenden Menschen ist das Bewußtsein einer nicht interrupten Vergangenheit fortwährend so lebendig, daß er, etwa beim Wiedererblicken eines Bekannten auf der Gasse, sofort die letzte Begegnung als selbständiges Erlebnis reproduziert, während im weniger Begabten das einfache Bekanntheitsgefühl, das ihm ein Wiedererkennen ermöglicht, oft auch dann _allein_ auftritt, wenn er jenes Zusammensein, sogar in seinen Einzelheiten, noch recht gut sich zu vergegenwärtigen vermöchte. Stellen wir nun noch, zum Abschlusse dessen, die Frage, ob die anderen Organismen außer dem Menschen ebenfalls jene, von allem Ähnlichen wohl zu unterscheidende Fähigkeit besitzen, frühere Augenblicke ihres Lebens wieder _in ihrer Gänze aufleben zu lassen_, so ist diese Frage mit der größten Wahrscheinlichkeit im verneinenden Sinne zu beantworten. Die Tiere könnten nicht, wie sie es tun, stundenlang regungslos und ruhig auf einem Flecke verharren, wenn sie an ihr vergangenes Leben zurückdächten oder eine Zukunft in Gedanken vorausnähmen. Die Tiere haben Bekanntheitsqualitäten und Erwartungsgefühle (der die Heimkehr des Herrn nach zwanzig Jahren begrüßende Hund; die Schweine vor dem Tore des Metzgers, die zur Belegung geführte rossige Stute), aber sie besitzen keine Erinnerung und keine Hoffnung. _Sie vermögen wiederzuerkennen_ (mit Hilfe des »Notals«), _aber sie haben kein Gedächtnis_. Ist so das Gedächtnis als eine besondere, mit niederen Gebieten psychischen Lebens nicht zu verwechselnde Eigenschaft dargetan, scheint es zudem ausschließlicher Besitz des Menschen zu sein, so wird es nicht mehr wundernehmen, daß es mit jenen höheren Dingen, wie dem Wert- und Zeitbegriff, dem keinem Tiere eignenden Unsterblichkeitsbedürfnisse, der nur dem Menschen möglichen Genialität, in einem Zusammenhange steht. Und wenn es einen einheitlichen Begriff vom Menschen gibt, ein tiefstes _Wesen_ der Menschheit, das in allen besonderen Qualitäten des Menschen zum Ausdrucke kommt, so wird man es geradezu _erwarten_ müssen, daß auch die logischen und ethischen Phänomene, die den anderen Lebewesen allem Anscheine nach ebenso abgehen wie das Gedächtnis, mit diesem irgendwo sich berühren werden. Diese Beziehung heißt es nun aufsuchen. Es kann zu dem Behufe von der wohlbekannten Tatsache ausgegangen werden, daß _Lügner_ ein schlechtes Gedächtnis haben. Vom »pathologischen _Lügner_« steht es fest, daß er nahezu überhaupt »kein Gedächtnis hat«. Auf den männlichen Lügner komme ich im folgenden noch einmal zu sprechen; er bildet nicht die Regel unter den Männern. Faßt man hingegen ins Auge, was früher über das Gedächtnis der Frauen gesagt wurde, so wird man es neben die angeführte Erscheinung der mangelnden Erinnerungsgabe verlogener Männer stellen dürfen, wenn so viele Sprichwörter und Erzählungen, wenn Dichtung und Volksmund vor der Lügenhaftigkeit des Weibes warnen. Es ist klar: einem jeden Wesen, dessen Gedächtnis ein so minimales wäre, daß, was es gesagt, getan, erlitten hat, später nur im dürftigsten Grade von Bewußtheit ihm noch gegenwärtig bliebe, einem jeden solchen Wesen muß, wenn ihm die Gabe der Sprache verliehen ist, die Lüge leicht fallen, und dem Impulse zu ihr wird, wenn es auf die Erreichung praktischer Zwecke ankommt, von einem so beschaffenen Individuum, dem nicht der wahre Vorgang mit voller Intensität vorschwebt, schwer widerstanden werden können. Und noch stärker muß sich diese Versuchung geltend machen, wenn das Gedächtnis dieses Wesens nicht von jener kontinuierlichen Art ist, die nur der Mann kennt, sondern wenn das Wesen, wie W, sozusagen nur in Augenblicken, diskret, diskontinuierlich, zusammenhanglos lebt, in den zeitlichen Ereignissen _aufgeht_, statt _über_ ihnen zu _stehen_, oder den Zeitablauf wenigstens zum _Problem_ zu erheben; wenn es nicht, wie M, alle seine Erlebnisse auf einen einheitlichen _Träger_ derselben bezieht, sie von _diesem auf sich nehmen läßt_, wenn ein _»Zentrum« der Apperzeption fehlt_, dem alle Vergangenheit stets in einheitlicher Weise zugezählt wird, _wenn das Wesen sich nicht_ als _eines und selbes in allen seinen Lebenslagen fühlt und weiß_. Es kommt zwar wohl auch bei jedem Manne vor, daß er sich einmal »nicht versteht«, ja bei sehr vielen Männern ist es, wenn sie an ihre Vergangenheit zurückdenken, ohne daß dies mit den Phänomenen der psychischen Periodizität in Verbindung gebracht werden dürfte[25], die Regel, daß sie die Substitution ihrer gegenwärtigen Persönlichkeit für den Träger jener älteren Erlebnisse nicht leicht auszuführen vermögen, daß sie nicht begreifen, wie sie dies oder jenes damals denken oder tun konnten; _und doch wissen und fühlen sie sehr wohl, daß sie es trotzdem gedacht und getan haben, und zweifeln nicht im mindesten daran_. Dieses Gefühl der Identität in allen Lebenslagen fehlt dem echten Weibe völlig, da sein Gedächtnis, selbst wenn es -- das kommt in einzelnen Fällen vor -- auffallend gut ist, _stets alle Kontinuität vermissen läßt_. Das Einheitsbewußtsein des Mannes, der sich in seiner Vergangenheit oft nicht versteht, äußert sich in dem _Bedürfnisse sich zu verstehen_, und diesem Bedürfnis _immaniert die $Voraussetzung$_, daß er stets _ein und derselbe_ trotz seines Sichjetztnichtverstehens gewesen ist; die Frauen verstehen sich, wenn sie an ihr früheres Leben zurückdenken, _nie, haben aber auch kein Bedürfnis sich zu verstehen_, wie man schon aus dem geringen Interesse entnehmen kann, das sie den Worten des Mannes entgegenbringen, der ihnen etwas über sie selbst sagt. _Die Frau interessiert sich nicht für sich_ -- darum gibt es keine weibliche Psychologin und keine Psychologie des Weibes von einem Weibe -- und ganz unfaßbar wäre ihr das krampfhafte, echt männliche Bemühen, die eigene Vergangenheit als eine _logische_ Folge von _kontinuierlichem_, lückenlos kausal geordnetem, nicht sprunghaftem Geschehen zu interpretieren, Anfang, Mitte, Ende des individuellen Lebens zueinander in Beziehung zu bringen. Von hier aus aber ist auch die Brücke zur Logik durch einen Grenzübergang zu schlagen möglich. Ein Wesen, das, wie W, das absolute Weib, sich nicht in den aufeinanderfolgenden Zeitpunkten als identisch wüßte, hätte auch keine Evidenz der Identität seines Denkobjektes zu verschiedenen Zeiten; da, wenn beide Teile, der Veränderung unterworfen sind, sozusagen das absolute Koordinatensystem fehlt, auf das Veränderung bezogen, mit Hilfe dessen Veränderung einzig bemerkt werden könnte. Ja ein Wesen, dessen Gedächtnis nicht einmal so weit reichte, um ihm die psychologische Möglichkeit zu gestatten, das Urteil zu fällen, ein Gegenstand oder ein Ding sei trotz des Zeitablaufes mit sich selbst identisch geblieben, um es also z. B. zu befähigen, irgend eine mathematische Größe in einer längeren Rechnung als dieselbe zu verwenden, einzusetzen und festzuhalten; _ein solches Wesen würde im extremen Falle auch nicht imstande sein, vermöge seines Gedächtnisses die unendlich klein gesetzte Zeit zu überwinden, welche (psychologisch) jedenfalls erforderlich ist, um von A zu sagen, daß es im nächsten Momente doch noch A sei, um das Urteil der Identität A = A zu fällen, oder den Satz des Widerspruches auszusprechen, der voraussetzt, daß ein A nicht sofort dem Denkenden entschwinde; denn sonst könnte es das A vom non-A, das nicht A ist, und das es wegen der Enge des Bewußtseins nicht gleichzeitig ins Auge zu fassen vermag, nicht wirklich unterscheiden_. Das ist kein bloßer Scherz des Gedankens, kein neckisches Sophisma der Mathematik, keine verblüffende Konklusion aus durchgeschmuggelten Prämissen. Zwar bezieht sich sicherlich -- es muß das, um möglichen Einwänden zu begegnen, der folgenden Untersuchung vorweggenommen werden -- das Urteil der Identität immer auf _Begriffe_, nie auf Empfindungen oder Komplexe von solchen, und die Begriffe sind als logische Begriffe zeitlos, sie behalten ihre Konstanz, ob ich sie als psychologisches Subjekt konstant denke oder nicht. Aber der Mensch denkt den Begriff eben nie rein als logischen Begriff, _weil er kein rein logisches, sondern auch ein psychologisches_, »von den Bedingungen der Sinnlichkeit affiziertes« _Wesen ist_, er kann an seiner Statt immer nur eine, aus seinen individuellen Erfahrungen durch wechselseitige Auslöschung der Differenzen und Verstärkung des Gleichartigen hervorgewachsene Allgemeinvorstellung (eine »typische«, »konnotative«, »repräsentative« Vorstellung) denken, _die aber das abstrakte Moment der Begrifflichkeit erhalten und wunderbarer Weise in diesem Sinne verwertet werden kann_. Er muß also auch die Möglichkeit haben, die Vorstellung, in welcher er den de facto _unanschaulichen_ Begriff _anschaulich_ denkt, zu bewahren, zu konservieren; diese Möglichkeit hinwiederum wird ihm nur durch das Gedächtnis gewährleistet. Fehlte ihm also das Gedächtnis, so wäre für ihn auch die Möglichkeit dahin, logisch zu denken, jene Möglichkeit, die sich sozusagen immer nur an einem _psychologischen_ Medium _inkarniert_. Also ist der Beweis streng geführt, daß mit dem Gedächtnis auch die Fähigkeit erlischt, die logischen Funktionen auszuüben. Die Sätze der Logik werden hiedurch nicht tangiert, nur die Kraft, sie anzuwenden, ist dargetan als an jene Bedingung gebunden. Der Satz A = A nun hat _psychologisch_ stets eine Beziehung zur _Zeit_, insoferne er nur im _Gegensatze_ zur Zeit _ausgesprochen_ werden kann: A_{t_{1}} = A_{t_{2}}. _Logisch_ wohnt ihm diese Beziehung freilich nicht inne; wir werden aber noch darüber Aufschluß erhalten, warum er rein logisch _als $besonderes$ Urteil keinen $speziellen$ Sinn_ hat und dieser _psychologischen_ Folie so sehr bedarf. Psychologisch ist demnach das Urteil nur in _Relation zur Zeit_ vollziehbar, als deren eigentliche _Negation_ es sich darstellt. Ich habe aber früher das stetige Gedächtnis als die Überwindung der Zeit, und eben damit als die psychologische _Bedingung_ der Zeit_auffassung_ erwiesen. _So präsentiert sich denn die Tatsache des kontinuierlichen Gedächtnisses als der $psychologische$ Ausdruck des $logischen$ Satzes der Identität._[26] Dem absoluten Weibe, dem jenes fehlt, kann auch dieser Satz nicht Axiom seines Denkens sein. $Für das absolute Weib gibt es kein Principium identitatis (und contradictionis und exclusi tertii).$ Aber nicht nur diese drei Prinzipien; auch das vierte der logischen Denkgesetze, _der Satz vom Grunde_, der von jedem Urteil eine Begründung verlangt, die es für alle Denkenden notwendig mache, hängt mit dem Gedächtnis aufs innigste zusammen. Der Satz vom zureichenden Grunde ist der Nerv, das Prinzip des Syllogismus. Die Prämissen eines Schlusses sind aber psychologisch immer frühere, der Konklusion zeitlich vorhergehende _Urteile_, die vom Denkenden ebenso festgehalten werden müssen, wie die _Begriffe_ durch die Sätze von der Identität und vom Widerspruch gleichsam _geschützt_ werden. Die Gründe eines Menschen sind immer in seiner Vergangenheit zu suchen. Darum hängt die Kontinuität, welche das Denken des Menschen als Maxime gänzlich beherrscht, mit der Kausalität so enge zusammen. Jedes _psychologische_ In-Kraft-Treten des Satzes vom Grunde setzt demzufolge kontinuierliches, alle Identitäten wahrendes _Gedächtnis_ voraus. Da W dieses Gedächtnis so wenig als Kontinuität sonst irgend kennt, _so gibt es für sie auch kein Principium rationis sufficientis_. _Es ist also richtig, daß das Weib keine Logik besitzt._ Georg _Simmel_ hat diese alte Erkenntnis als unhaltbar bezeichnet, weil die Frauen oft mit äußerster, strengster Konsequenz Folgerungen zu ziehen wüßten. Daß die Frau in einem _konkreten_ Falle, wo es ihr _zur Erreichung irgend eines Zweckes_ paßt und dringend notwendig scheint, unerbittlich folgert, ist so wenig ein Beweis dafür, daß sie ein Verhältnis zum Satz vom Grunde hat, wie es ein Beweis für ein Verhältnis zum Satz der Identität ist, daß sie so oft hartnäckig ein und dasselbe behauptet, und immer wieder auf ihr erstes, längst widerlegtes, Wort zurückkommt. _Die Frage ist, ob jemand die logischen Axiome als Kriterien der Gültigkeit seines Denkens, als Richter über das, was er sagt, anerkennt oder nicht, ob er sie zur steten Richtschnur und Norm seines Urteils macht._ Eine Frau nun sieht nie ein, _daß man alles auch begründen müsse_; da sie keine Kontinuität hat, empfindet sie auch kein Bedürfnis nach der logischen Stützung alles Gedachten: _daher die Leichtgläubigkeit $aller$ Weiber_. Also im Einzelfall mögen sie konsequent sein, aber dann ist die Logik nicht Maßstab, sondern Werkzeug, nicht Richter, sondern meistens Henker. Dagegen wird eine Frau durchaus, wenn sie eine Ansicht äußerte, und der Mann so dumm wäre, dies überhaupt ernst zu nehmen und einen Beweis von ihr verlangte, ein solches Ansinnen als unbequem und lästig, als gegen ihre Natur gerichtet empfinden. _Der Mann fühlt sich vor sich selbst beschämt, er fühlt sich schuldig, wenn er einen Gedanken, habe er ihn nun geäußert oder nicht, zu begründen unterlassen hat_, weil er die Verpflichtung dazu fühlt, die logische Norm einzuhalten, die er ein für allemal über sich gesetzt hat. Die Frau erbittert die Zumutung, ihr Denken von der Logik _ausnahmslos_ abhängig zu machen. _Ihr mangelt das intellektuelle Gewissen._ Man könnte bei ihr von »_logical_ insanity« sprechen. Der häufigste Fehler, den man an der weiblichen Rede entdecken würde, wollte man sie wirklich auf ihre Logizität prüfen (was jeder Mann gewöhnlich unterläßt und schon damit seine Verachtung der weiblichen Logik kundgibt), wäre die quaternio terminorum, jene Verschiebung, die eben aus der Unfähigkeit des Festhaltens _bestimmter_ Vorstellungen, aus dem Mangel eines Verhältnisses zum Satze der Identität, hervorgeht. Die Frau erkennt nicht von selbst, daß sie an diesen Satz sich halten müsse, er ist ihr nicht oberstes Kriterium ihrer Urteile. Der Mann fühlt sich zur Logik verpflichtet, die Frau nicht; nur darauf aber kommt es an, nur jenes Gefühl der Schuldigkeit kann eine Bürgschaft dafür bieten, daß von einem Menschen immer und ewig logisch zu denken gestrebt werde. Es ist vielleicht der tiefste Gedanke, welchen _Descartes_ je geäußert hat, und wohl darum so wenig verstanden und meist als schreckliche Irrlehre hingestellt: _daß aller Irrtum eine Schuld ist_. Aber Quell alles Irrtums ist im Leben auch immer ein Mangel an Gedächtnis. So hängen Logik wie Ethik, die sich eben in der Wahrheitsforderung berühren und im höchsten Werte der Wahrheit zusammentreffen, wieder beide auch mit dem Gedächtnis zusammen. Und es dämmert uns auch bereits die Erkenntnis auf, daß _Platon_ so Unrecht nicht hatte, wenn er die Einsicht mit der Erinnerung in Zusammenhang brachte. Das Gedächtnis ist zwar kein logischer und ethischer _Akt_, aber zumindest ein logisches und ethisches _Phänomen_. Ein Mensch z. B., der eine wahrhaft tiefe Empfindung gehabt hat, empfindet es als sein Unrecht, wenn er, sei's auch durch äußeren Anlaß genötigt, eine halbe Stunde darauf schon an etwas ganz anderes denkt. Der Mann kommt sich gewissenlos und unmoralisch vor, wenn er bemerkt, daß er an irgend einen Punkt seines Lebens längere Zeit hindurch nicht gedacht hat. Das Gedächtnis ist ferner schon deshalb moralisch, weil es allein die _Reue_ ermöglicht. _Alles Vergessen hingegen ist an sich unmoralisch._ Darum ist _Pietät_ eben auch _sittliche_ Vorschrift: es ist $Pflicht$, $nichts$ zu vergessen; und nur insofern hat man der Verstorbenen besonders zu gedenken. Darum auch sucht der Mann, aus logischen und ethischen Motiven in gleichem Maße, in seine Vergangenheit Logik zu bringen, alle Punkte in ihr zur Einheit zu ordnen. _Wie mit einem Schlage ist hier an den tiefen Zusammenhang von Logik und Ethik gerührt, den Sokrates und Plato geahnt haben, Kant und Fichte neu entdecken mußten, auf daß er später wieder vernachlässigt würde und den Lebenden ganz in Verlust geriete._ Ein Wesen, das nicht begreift oder nicht anerkennt, daß A und non-A einander ausschließen, wird durch nichts mehr gehindert zu lügen; vielmehr, es gibt für ein solches Wesen gar keinen _Begriff_ der Lüge, weil ihr Gegenteil, die Wahrheit, als das Maß ihm abgeht; ein solches Wesen kann, wenn ihm dennoch Sprache verliehen ist, _lügen, ohne es zu wissen_, ja ohne die Möglichkeit, zu erkennen, daß es lügt, da es des Kriteriums der Wahrheit entbehrt. »Veritas norma sui et falsi est.« Es gibt nichts Erschütternderes für einen Mann, als wenn er, einem Weibe auf eine Lüge gekommen, sie fragt: »Was lügst Du?« und dann gewahren muß, _wie sie diese Frage gar nicht versteht_ und, ohne zu begreifen, ihn angafft, oder lächelnd _ihn_ zu beruhigen sucht -- oder gar in Tränen ausbricht. Denn mit dem Gedächtnis allein ist die Sache nicht erledigt. Es ist auch unter den Männern die Lüge genug verbreitet. Und es kann gelogen werden trotz der _Erinnerung_ an den tatsächlichen Sachverhalt, an dessen Stelle zu irgend welchem Zwecke ein anderer gesetzt wird. Ja, nur von einem solchen Menschen, der, trotz seinem besseren Wissen und Bewußtsein, den Tatbestand fälscht, kann eigentlich _mit Recht_ gesagt werden, daß er lüge. Und es muß ein Verhältnis zur Idee der Wahrheit als des höchsten Wertes der Logik wie der Ethik _da sein_, damit von einer Unterdrückung dieses Wertes zugunsten fremder Motive die Rede sein könne. Wo dieses fehlt, kann man nicht von _Irrtum_ und _Lüge_, sondern höchstens von _Verirrtheit_ und _Verlogenheit_ sprechen; nicht von _$anti$moralischem_, sondern nur von _$a$moralischem_ Sein. _Das Weib also ist $a$moralisch._ Jenes absolute Unverständnis für den _Wert der Wahrheit an sich_ muß demnach tiefer liegen. Aus dem kontinuierlichen Gedächtnis ist, da der Mann ebenfalls, ja eigentlich _nur $er$ lügt_, die Wahrheits_forderung_, das Wahrheits_bedürfnis_, das eigentliche ethisch-logische Grundphänomen, nicht _abzuleiten_, sondern es steht damit nur in engem _Zusammenhange_. Das, was einem Menschen, einem Manne ein aufrichtiges Verhältnis zur Idee der Wahrheit ermöglicht, und was ihn deshalb einzig an der Lüge zu hindern imstande ist, das kann nur etwas von aller Zeit Unabhängiges, durchaus Unveränderliches sein, welches die alte Tat im neuen Augenblick ganz ebenso als wirklich _setzt_ wie im früheren, weil es _es selbst_ geblieben ist, an der Tatsache, daß _es_ die Handlung so vollzogen hat, nichts ändern läßt und nicht rütteln will; es kann nur dasselbe sein, auf das alle diskreten Erlebnisse bezogen werden, und das so ein kontinuierliches Dasein erst schafft; es ist eben dasselbe, das zum Gefühl der _Verantwortlichkeit_ für die eigenen Taten drängt und den Menschen alle Handlungen, die jüngsten wie die ältesten, _verantworten_ zu können trachten läßt, das zum Phänomen der _Reue_, zum _Schuldbewußtsein_ führt, das heißt zur _Zurechnung vergangener Dinge an ein ewig Selbes und darum auch Gegenwärtiges_, zu einer Zurechnung, die in viel größerer Feinheit und Weite geschieht, als durch das öffentliche Urteil und die Normen der Gesellschaft je erreicht werden könnte, einer Zurechnung, die von allem Sozialen gänzlich unabhängig das Individuum an sich selbst vollzieht; weshalb alle Moralpsychologie, welche die Moral auf das soziale Zusammenleben der Menschen begründen und ihren Ursprung auf dieses zurückführen will, in Grund und Boden falsch und verlogen ist. Die Gesellschaft kennt den Begriff des _Verbrechens_, aber nicht den der _Sünde_, sie zwingt zur _Strafe_, ohne _Reue_ erreichen zu wollen; die Lüge wird vom Strafgesetz nur in ihrer, _öffentlichen Schaden_ zufügenden, feierlichen Form des Meineides geahndet, und der Irrtum ist noch nie unter die Vergehungen gegen das geschriebene Gesetz gestellt worden. Die Sozialethik, die da fürchtet, der Nebenmensch komme bei jedem ethischen Individualismus zu kurz, und _darum_ von Pflichten des Individuums gegen die Gesellschaft und gegen die 1500 Millionen lebender Menschen faselt, _erweitert_ also nicht, wie sie glaubt, das Gebiet der Moral, sondern _beschränkt_ es in unzulässiger und verwerflicher Weise. Was ist nun jenes über Zeit und Veränderung Erhabene, jenes »Zentrum der Apperzeption«? »Es kann nichts Mindereres sein, als was den Menschen über sich selbst (als einen Teil der Sinnenwelt) erhebt, was ihn an eine Ordnung der Dinge knüpft, die nur der Verstand denken kann, und die zugleich die ganze Sinnenwelt ..... unter sich hat. Es ist nichts anderes als die _Persönlichkeit_.« Auf ein von allem empirischen Bewußtsein verschiedenes _»intelligibles« $Ich$_ hat das erhabenste Buch der Welt, die »Kritik der praktischen Vernunft«, der diese Worte entnommen sind, die Moral als auf ihren Gesetzgeber zurückgeführt. Hiemit steht die Untersuchung beim Problem des Subjektes, und dieses bildet ihren nächsten Gegenstand. VII. Kapitel. Logik, Ethik und das Ich. Bekanntlich hat David _Hume_ den Ich-Begriff einer Kritik unterzogen, die in ihm nur ein »Bündel« verschiedener, in fortwährendem Flusse und Bewegung befindlicher »Perzeptionen« entdeckte. So sehr auch _Hume_ das Ich hiedurch kompromittiert fand, er trägt seine Anschauung relativ bescheiden vor, und salviert sich dem Wortlaute nach tadellos. Von einigen Metaphysikern nämlich, erklärt er, müsse man absehen, die sich eines anderen Ichs zu erfreuen meinten; er selbst sei ganz gewiß, keines zu haben, und glaube annehmen zu dürfen, daß es auch von den übrigen Menschen (von jenen paar Käuzen natürlich werde er sich wohl hüten, zu reden) gelte, daß sie nichts seien als Bündel. So drückt sich der Weltmann aus. Im nächsten Kapitel wird sich zeigen, wie seine Ironie auf ihn selbst zurückfällt. Daß sie so berühmt wurde, liegt an der allgemeinen Überschätzung Humes, an der _Kant_ die Schuld trägt. Hume war ein ausgezeichneter empirischer Psychologe, aber er ist keineswegs ein Genie zu nennen, wie das meistens geschieht; es gehört zwar nicht eben viel dazu, der größte englische Philosoph zu sein, aber Hume hat auch auf diese Bezeichnung nicht den ersten Anspruch. Und wenn Kant (trotz den »Paralogismen«) den _Spinozismus_ a limine deswegen zurückgewiesen hat, weil nach diesem die Menschen nicht Substanzen, sondern bloße Accidenzen sind, und ihn mit jener seiner »ungereimten« Grundidee schon für erledigt ansah -- so möchte ich wenigstens nicht dafür einstehen, ob er sein Lob des Engländers nicht beträchtlich gedämpft hätte, wäre ihm auch der »Treatise« desselben bekannt gewesen und nicht bloß der spätere »Inquiry«, in welchen, wie man weiß, Hume seine Kritik des Ichs nicht aufgenommen hat. _Lichtenberg_, der nach Hume gegen das Ich zu Felde zog, war schon kühner als dieser. Er ist der Philosoph der Unpersönlichkeit und korrigiert nüchtern das _sprachliche_ »Ich denke« durch ein sachliches »es denkt«; so ist ihm das Ich eigentlich eine Erfindung der _Grammatiker_. Hierin war ihm übrigens Hume doch insofern vorangegangen, als auch er am Schlusse seiner Auseinandersetzungen allen Hader um die Identität der Person für einen bloßen Wortstreit erklärt hatte. In jüngster Zeit hat E. _Mach_ das Weltall als eine zusammenhängende Masse aufgefaßt und die Ichs als Punkte, in denen die zusammenhängende Masse stärkere Konsistenz habe. Das einzig Reale seien die Empfindungen, die im einen Individuum untereinander stark, mit jenen eines anderen aber, welches man _darum_ vom ersten unterscheide, schwächer zusammenhingen. Der Inhalt sei die Hauptsache und bleibe stets auch in anderen erhalten bis auf die wertlosen (!) persönlichen Erinnerungen. Das Ich sei keine reale, nur eine praktische Einheit, _unrettbar_, darum könne man auf individuelle Unsterblichkeit (gerne) verzichten; doch sei es nichts Tadelnswertes, hie und da, besonders zu Zwecken des _Darwin_schen Kampfes ums Dasein, sich so zu benehmen, als ob man ein Ich besäße. Es ist wunderlich, wie ein Forscher, der nicht nur als Historiker seiner Spezialwissenschaft und Kritiker ihrer Begriffe so Ungewöhnliches geleistet hat wie _Mach_, sondern auch in biologischen Dingen überaus kenntnisreich ist und auf die Lehre von diesen vielfach, direkt und indirekt, anregend gewirkt hat, gar nicht auf die Tatsache Rücksicht nimmt, daß alle organischen Wesen zunächst _unteilbar_, also doch irgendwie Atome, Monaden sind (vgl. Teil I, Kap. 3, S. 48). Das ist ja doch der erste Unterschied zwischen Belebtem und Unbelebtem, daß jenes _immer_ differenziert ist zu ungleichartigen, aufeinander angewiesenen Teilen, während selbst der geformte Kristall durchaus gleichgeartet ist. Darum sollte man doch, wenigstens als Eventualität, die Möglichkeit in Betracht ziehen, ob nicht allein aus der Individuation, der Tatsache, daß die organischen Wesen im allgemeinen nicht zusammenhängen wie die siamesischen Zwillinge, auch etwas für das Psychische sich ergibt, _mehr_ Psychisches zu erwarten ist als das _Mach_sche Ich, dieser bloße _Wartesaal_ für Empfindungen. Es ist zu glauben, daß solch ein psychisches Korrelat schon bei den Tieren existiert. Alles, was ein Tier fühlt und empfindet, hat wohl bei jedem Individuum eine verschiedene Note oder Färbung, die nicht nur die seiner Klasse, Gattung und Art, seiner Rasse und Familie eigentümliche ist, sondern in jedem einzelnen Wesen sich von der in jedem anderen unterscheidet. Das Idioplasma ist das physiologische Äquivalent zu dieser _Spezifität_ aller Empfindungen und Gefühle jedes besonderen Tieres, und es sind analoge Gründe wie die Gründe der Idioplasmatheorie (vgl. Teil I, Kap. 2, S. 20 und Teil II, Kap. 1, S. 102 f.), welche die Vermutung nahe legen, daß es einen _empirischen Charakter_ auch bei den Tieren gibt. Der Jäger, der mit Hunden, der Züchter, der mit Pferden, der Wärter, der mit Affen zu tun hat, wird die Singularität nicht nur, sondern auch die Konstanz im Verhalten jedes einzelnen Tieres bestätigen. Also jedenfalls ist schon hier ein über das bloße Rendezvous der »Elemente« Hinausgehendes ungemein _wahrscheinlich_. Wenn nun auch dieses psychische Korrelat zum Idioplasma existiert, wenn sicherlich selbst die Tiere eine Eigenart haben, so hat diese doch immer noch mit dem intelligiblen Charakter nichts zu tun, den wir bei keinem lebenden Wesen vorauszusetzen einen Grund haben, als beim Menschen. Es verhält sich der intelligible Charakter des Menschen, die _Individualität_, zum empirischen Charakter, der bloßen _Individuation_, wie das Gedächtnis zum einfachen unmittelbaren Wiedererkennen. Die Gründe aber, aus denen beim Menschen die Existenz eines solchen noumenalen, transempirischen Subjektes erschlossen werden darf, müssen nun in Kürze dargelegt werden. Sie ergeben sich aus der Logik und der Ethik. In der Logik handelt es sich um die wahre Bedeutung des Prinzipes der Identität (und des Widerspruches; die vielen Kontroversen über deren Vorrang vor einander und die richtigste Form ihres Ausdruckes kommen hier wenig in Betracht). _Der Satz A = A ist unmittelbar gewiß und evident._ Er ist zugleich das Urmaß der Wahrheit für alle anderen Sätze; wenn ihm irgendwo einer widerspräche, so oft in einem speziellen Urteil der Prädikatsbegriff von einem Subjekte etwas aussagte, das dem Begriffe desselben widerspräche, würden wir es für falsch halten; und als Gesetz unseres Richtspruches würde sich uns, wenn wir nachsinnen, zuletzt dieser Satz ergeben. Er ist das Prinzip von wahr und falsch; und wer ihn für eine Tautologie erachtet, die nichts besage und unser Denken nicht fördere, wie dies so oft geschehen ist, von _Hegel_ und später von fast allen _Empiristen_ -- es ist dies nicht der einzige Berührungspunkt zwischen den scheinbar so unversöhnlichen Gegensätzen -- der hat ganz recht, aber die Natur des Satzes schlecht verstanden. A = A, das _Prinzip aller_ Wahrheit, kann nicht selbst eine _spezielle_ Wahrheit sein. Wer den Satz der Identität oder des Widerspruches inhaltsleer findet, hat es sich selbst zuzuschreiben. Er glaubte in ihnen besondere Gedanken zu finden, was er hoffte, war eine Bereicherung seines Fonds an positiven Kenntnissen. Aber jene Sätze sind nicht selbst Erkenntnisse, besondere Denkakte, sondern das _Maß, das an alle Denkakte angelegt wird. Dieses kann nicht selbst ein Denkakt sein, der mit den anderen sich irgend vergleichen ließe. Die Norm des Denkens kann nicht im Denken selbst gelegen sein._ Der Satz von der Identität fügt unserem Wissen nichts hinzu, er vermehrt nicht einen Reichtum, den er vielmehr gänzlich erst _begründet_. _Der Satz von der Identität ist entweder nichts, oder er ist alles._ Worauf bezieht sich der Satz der Identität und der Satz des Widerspruches? Man meint gewöhnlich: auf Urteile. _Sigwart_ z. B., der gar den letzteren nur so formuliert: »Die beiden Urteile, A ist B, und A ist nicht B, können nicht zugleich wahr sein«, behauptet, das Urteil: »Ein ungelehrter Mensch ist gelehrt« involviere deshalb einen Widerspruch, »weil das Prädikat gelehrt einem Subjekte zugesprochen wird, von welchem durch das Urteil, das implicite in seiner Bezeichnung mit dem Subjektsworte ‚ungelehrter Mensch’ liegt, behauptet war, es sei nicht gelehrt; es läßt sich also zurückführen auf die zwei Urteile X ist gelehrt und X ist nicht gelehrt« etc. Der Psychologismus dieser Beweisführung springt ins Auge. Sie rekurriert auf ein _zeitlich_ der Bildung des Begriffes von einem ungelehrten Menschen vorhergehendes Urteil. Der obige Satz aber, A ist nicht non-A, beansprucht Gültigkeit, ganz einerlei, ob es überhaupt andere Urteile gibt, gegeben hat oder geben wird. Er bezieht sich auf den _Begriff_ des ungelehrten Menschen. Diesen Begriff _sichert_ er durch Ausschließung aller ihm widersprechenden Merkmale. _Hierin_ liegt die wahre Funktion der Sätze vom Widerspruch und von der Identität. _Sie sind konstitutiv für die Begrifflichkeit._ Freilich geht diese Funktion bloß auf den logischen Begriff, nicht auf das, was man den »psychologischen Begriff« genannt hat. Zwar ist der Begriff _psychologisch_ stets durch eine anschauliche Allgemeinvorstellung vertreten; dieser Vorstellung immaniert jedoch in einer gewissen Weise das Moment der Begrifflichkeit. Die psychologisch den Begriff repräsentierende Allgemeinvorstellung, an der sich das begriffliche Denken beim Menschen vollzieht, ist nicht dasselbe wie der Begriff. Sie kann z. B. reicher sein (im Falle ich ein Triangel denke); oder sie kann auch ärmer sein (im Begriffe des Löwen ist mehr enthalten, als in meiner Anschauung desselben, während es beim Dreieck umgekehrt ergeht). Der logische Begriff ist die Richtschnur, welcher die Aufmerksamkeit folgt, wenn sie aus der einen Begriff beim Individuum repräsentierenden _Vorstellung_ nur gewisse Momente, _eben die durch den Begriff angezeigten_, heraushebt er ist das Ziel und der Wunsch des psychologischen Begriffes, der Polarstern, zu dem die Aufmerksamkeit emporblickt, wenn sie sein konkretes Surrogat erzeugt: _er ist das Gesetz ihrer Wahl_. Gewiß gibt es kein Denken, das nur rein logisch und nicht psychologisch vor sich ginge: _denn das wäre ja $das$ Wunder_. Rein logisch denkt ihrem Begriffe nach die Gottheit, der Mensch muß immer zugleich psychologisch denken, da er nicht nur Vernunft, sondern auch Sinnlichkeit besitzt, und sein Denken wohl auf logische, d. h. zeitlose Ergebnisse abzweckt, aber psychologisch _in_ der Zeit vor sich geht. Die Logizität ist aber der erhabene Maßstab, der an die psychologischen Denkakte des Individuums von ihm selbst wie von anderen angelegt wird. Wenn zwei Menschen über etwas diskutieren, so sprechen sie vom Begriffe, nicht von den bei jedem verschiedenen individuellen Vorstellungen, die ihn hier und dort vertreten: _der Begriff ist so ein Wert, an dem die Individualvorstellung gemessen wird_. Wie _psychologisch_ die Allgemeinvorstellung entsteht, hat darum mit der Natur des Begriffes _gar nichts_ zu tun, und ist für diese von keinerlei Bedeutung. Den Charakter der Logizität, der dem Begriff seine _Würde_ und seine _Strenge_ verleiht, hat er nicht aus der Erfahrung, welche stets nur schwankende Gestalten zeigt, und höchstens vage Gesamtvorstellungen erzeugen könnte. _Absolute Konstanz_ und _absolute Eindeutigkeit_, die nicht aus der Erfahrung entstammen _können_, sind das Wesen der _Begrifflichkeit_, jener »verborgenen Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele, deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abraten und sie unverdeckt vor Augen legen werden«, wie die »Kritik der reinen Vernunft« sich ausdrückt. Jene absolute Konstanz und Eindeutigkeit bezieht sich nicht auf metaphysische Entitäten: die Dinge sind nicht so weit real, als sie am Begriffe Anteil haben, sondern ihre Qualitäten sind logisch nur so weit ihre Qualitäten, als sie im Inhalte des Begriffes liegen. _Der Begriff ist die Norm der Essenz, nicht der Existenz._ Daß ich von einem kreisförmigen Dinge aussagen könne, es sei gekrümmt, hiezu liegt meine logische Berechtigung im Begriffe des Kreises, welcher die Krümmung als Merkmal enthält. Den Begriff aber als die Essenz selbst, als das »Wesen« zu definieren, ist schlecht: »Wesen« ist hier entweder ein psychologisches Abgehobensein oder ein metaphysisches Ding. Und den Begriff mit seiner Definition gleichzusetzen, verbietet die Natur der Definition, die stets nur auf den Inhalt, nicht auf den Umfang des Begriffes sich bezieht, d. h. nur den _Wortlaut_, nicht den _Kompetenzkreis_ jener _Norm_ angibt, welche das Wesen der Begrifflichkeit ausmacht. Der Begriff als Norm, als Norm der Essenz kann auch nicht selbst Essenz sein; die Norm muß etwas anderes sein, und da sie nicht Essenz ist, so kann sie -- ein drittes gibt es nicht -- nur _Existenz_ sein, und zwar nicht eine Existenz, die das Sein von Objekten, sondern eine Existenz, die das _Sein_ einer _Funktion_ enthüllt. Nun ist aber bei jeder gedanklichen Streitfrage zwischen Menschen, wenn schließlich in letzter Instanz an die Definition appelliert wird, dann eben nichts anderes die _Norm der Essenz_ als die Sätze A = A oder A ≠ non-A. Die Begrifflichkeit, _Konstanz_ wie _Eindeutigkeit_, wird dem Begriffe durch den Satz A = A und durch nichts anderes. Und zwar verteilen sich die Rollen der logischen Axiome hier derart, daß durch das principium identitatis die dauernde Unverrückbarkeit und Insichgeschlossenheit des Begriffes _selbst_ verbürgt wird, indes das principium contradictionis ihn eindeutig gegen alle _anderen_ möglichen Begriffe abgrenzt. _Hiemit ist, zum ersten Male, erwiesen, daß die begriffliche Funktion ausgedrückt werden kann durch die beiden obersten logischen Axiome, und selbst nichts anderes ist als diese._ Der Satz A = A (und A ≠ non-A) ermöglicht also erst jedweden Begriff, er ist der _Nerv_ der begrifflichen Natur oder Begrifflichkeit des Begriffes. Wenn ich endlich den Satz selbst, A = A, ausspreche, so ist offenbar der Sinn dieses Satzes nicht, daß ein _spezielles_ A, das _ist_, ja nicht einmal, daß _jedes_ besondere A _wirklicher_ Erfahrung oder _wirklichen_ Denkens sich selbst gleich sei. Das Urteil der Identität ist _unabhängig_ davon, _ob überhaupt ein A existiert_, d. h. natürlich wieder keineswegs, daß der Satz nicht von jemand Existierendem müsse gedacht werden; _aber er ist unabhängig davon $gedacht$, $ob$ etwas, $ob$ jemand existiert_. Er bedeutet: wenn es ein A gibt (es mag eines geben oder nicht, _auch_ wenn es vielleicht gar keines gibt), so gilt jedenfalls A = A. Hiemit ist nun unwiderruflich eine Position gegeben, ein _Sein_ gesetzt, nämlich das Sein A = A, trotzdem es hypothetisch bleibt, ob A selbst überhaupt _ist_. Der Satz A = A behauptet also, daß etwas _existiert_, und diese Existenz ist eben jene gesuchte Norm der Essenz. Aus der Empirie, aus wenigen oder noch so vielen _Erlebnissen_ kann er nicht stammen, wie _Mill_ glaubte; denn er ist eben ganz unabhängig von der Erfahrung, er gilt sicher, ob diese ein A ihm zeigen werde oder nicht. Er ist von keinem Menschen noch geleugnet worden und könnte es auch nicht werden, da die Leugnung ihn selbst wieder voraussetzte, wenn sie _etwas_, ein _Bestimmtes_ leugnen wollte. _Da nun der Satz ein Sein behauptet, ohne von der Existenz von Objekten sich abhängig zu machen, oder über solche Existenz etwas auszusagen, so kann er nur ein von allem Sein wirklicher und möglicher Objekte verschiedenes Sein, das ist also das $Sein$ dessen ausdrücken, was seinem Begriffe nach nie Objekt werden kann[27]; er wird durch seine Evidenz also die Existenz des Subjektes offenbaren; und zwar liegt dieses im Satz der Identität ausgesprochene Sein nicht im ersten und nicht im zweiten A, sondern im identischen Gleichheitszeichen A ≡ A. Dieser Satz also ist identisch mit dem Satze: ich bin._ Psychologisch läßt sich diese schwierige Deduktion leichter vermitteln, wenn auch nicht ersparen. Es ist klar, daß, um A = A sagen, um die Unveränderlichkeit des Begriffes normierend festsetzen zu können und sie den stets wechselnden Einzeldingen der Erfahrung gegenüber aufrecht zu erhalten, ein Unveränderliches bestehen muß, und dies kann nur das Subjekt sein; wäre ich eingeschaltet in den Kreis der Veränderung, so könnte ich nicht erkennen, daß ein A sich selbst gleich geblieben ist; würde ich mich fortwährend ändern und nicht ein Identisches bleiben, wäre mein Selbst funktionell an die Veränderung geknüpft, so gäbe es keine Möglichkeit, dieser gegenüberzutreten und sie zu erkennen; es fehlte das absolute geistige Koordinatensystem, in Beziehung auf das allein und einzig ein Identisches bestimmt und als solches festgehalten werden könnte. Die Existenz des Subjektes läßt sich nicht _ableiten_, hierin behält _Kant_ens Kritik der rationalen Psychologie vollkommen recht. Aber es läßt sich dartun, wo diese Existenz strenge und unzweideutig auch in der Logik zum Ausdruck gelangt; und man braucht nicht das intelligible Sein als bloße logische Denk_möglichkeit_ hinzustellen, die uns allein das moralische Gesetz später völlig zur Gewißheit zu machen geeignet sei, wie _Kant_ dies tat. _Fichte_ hatte recht, als er in der reinen Logik ebenfalls die Existenz des Ich verbürgt fand, soweit das Ich mit dem intelligiblen _Sein_ zusammenfällt. Das Prinzip aller Wahrheit sind die logischen Axiome, diese statuieren ein _Sein_, und nach diesem richtet sich, nach ihm strebt das Erkennen. Die _Logik_ ist ein Gesetz, dem gehorcht werden soll, und _der Mensch $ist$ erst dann ganz er selbst, wenn er $ganz$ logisch ist_; ja er _ist_ nicht, ehe denn er überall und durchaus nur Logik ist. _In der Erkenntnis findet er sich selbst._ Aller Irrtum wird als Schuld empfunden. Daraus ergibt sich, daß der Mensch nicht irren _mußte_. Er _soll_ die Wahrheit finden; darum _kann_ er sie finden. Aus der Pflicht zur Erkenntnis folgt ihre Möglichkeit, folgt die _Freiheit_ des Denkens und die Siegeshoffnung des Erkennens. In der _Normativität_ der Logik liegt der Beweis, _daß das Denken des Menschen $frei$ ist_ und sein Ziel erreichen _kann_. * * * * * Kürzer und anders kann ich mich bezüglich der Ethik fassen, da diese Untersuchung durchaus auf den Boden der _Kantischen Moralphilosophie_ sich stellt und auch die letzten logischen Deduktionen und Postulate, wie man gesehen hat, in einer gewissen Analogie zu jener durchgeführt wurden. Das tiefste, das intelligible Wesen des Menschen ist eben das, was der Kausalität nicht untersteht, und wählt in Freiheit das Gute oder das Böse. Dies wird ganz in der gleichen Weise kundgetan, durch das Schuldbewußtsein, durch die _Reue_. Niemand hat noch vermocht, diese Tatsachen anders zu erklären; und niemand läßt es sich einreden, daß er diese oder jene Tat hat begehen _müssen_. Im Sollen liegt auch hier der Zeuge für das Können. Der kausalen Bestimmungsgründe, der niederen Motive, die ihn hinabgezogen haben, kann der Mensch sich vollkommen bewußt sein, und er wird doch, _ja gerade dann am gewissesten_, die Zurechnung an sein intelligibles Ich als ein freies, das anders hätte handeln _können_, vollziehen. _Wahrheit, Reinheit, Treue, Aufrichtigkeit sich selbst gegenüber_: das ist die einzig denkbare Ethik. Es gibt nur Pflichten gegen sich, Pflichten des empirischen gegen das intelligible Ich, welche in der Form jener zwei Imperative auftreten, an denen aller Psychologismus immer zu Schanden wird: in der Form der logischen und der moralischen Gesetzlichkeit. Die normativen Disziplinen, die psychische Tatsache der inneren Forderung, die viel mehr verlangt, als alle bürgerliche Gesittung je haben will -- das ist es, was kein Empirismus je wird ausreichend erklären können. Seinen wahren Gegensatz findet er in einer kritisch-transscendentalen, nicht in einer metaphysisch-transcendenten _Methode_, da alle Metaphysik nur hypostasierende Psychologie, Transcendentalphilosophie aber Logik der Wertungen ist. Aller Empirismus und Skeptizismus, Positivismus und Relativismus, aller Psychologismus und alle rein immanente Betrachtungsweise fühlen instinktiv sehr wohl, daß aus Ethik und Logik ihnen die Hauptschwierigkeit erwächst. Daher die fortwährend erneuten und immer vergeblichen Versuche einer empirischen und psychologischen Begründung dieser Disziplinen; und fast wird nur noch ein Versuch vermißt, das principium contradictionis experimentell zu prüfen und nachzuweisen. Logik und Ethik aber sind im Grunde nur eines und dasselbe -- Pflicht gegen sich selbst. Sie feiern ihre Vereinigung im höchsten Werte der Wahrheit, dem dort der Irrtum, hier die Lüge gegenübersteht: die Wahrheit selbst aber ist nur eine. Alle Ethik ist nur nach den Gesetzen der Logik möglich, alle Logik ist zugleich ethisches Gesetz. _Nicht nur Tugend, sondern auch Einsicht, nicht nur Heiligkeit, sondern auch Weisheit ist Pflicht und Aufgabe des Menschen: erst beide zusammen begründen $Vollkommenheit$._ Aber freilich ist aus der Ethik, deren Sätze Heischesätze sind, nicht wie aus der Logik ein strenger logischer Beweis für _Existenz_ schon zu führen. Die Ethik ist nicht im selben Sinne logisches wie die Logik ethisches Gebot. Die Logik rückt dem Ich seine völlige Verwirklichung als absolutes Sein vor Augen; die Ethik hingegen gebietet erst diese Verwirklichung. Die Logik wird von der Ethik aufgenommen und zu ihrem eigentlichen Inhalte, zu ihrer Forderung gemacht. An jener berühmten Stelle der »Kritik der praktischen Vernunft«, da _Kant_ den Menschen als Glied der intelligiblen Welt einführt (»Pflicht! Du erhabener, großer Name ....«), wird man also mit Recht fragen, woher denn Kant wisse, daß das moralische Gesetz von der Persönlichkeit emaniere? Es könne kein anderer, seiner würdiger, Ursprung gefunden werden, ist das einzige, was Kant hierauf zur Antwort gibt. Er begründet es nicht weiter, daß der kategorische Imperativ das vom Noumenon gegebene Gesetz sei, sie gehören ihm offensichtlich von Anfang an zusammen. Das aber liegt in der Natur der Ethik. Diese fordert, daß das intelligible Ich von allen Schlacken des empirischen frei _wirke_, _und so kann durch die Ethik dasselbe Sein erst in seiner Reinheit gänzlich verwirklicht werden_, welches _die Logik verheißungsvoll in der Form eines doch irgendwie bereits Gegenwärtigen uns verkündet_. Aber was für _Kant_ die _Monaden-_, die _Seelenlehre_ im _Gemüte_ bedeutete, wie er an ihr als einzigem Gute von je festhielt, und mit seiner Theorie vom »intelligiblen Charakter«, den man so oft als eine neue Entdeckung oder Erfindung, als ein _Auskunftsmittel_ der Kantischen Philosophie mißversteht, nur das an ihr wissenschaftlich Haltbare festlegen wollte: dies ist aus jener Unterlassung deutlich zu entnehmen. Es gibt _Pflicht_ nur gegen sich selbst; des muß Kant schon in frühester Jugend (vielleicht nachdem er einmal den Impuls zur Lüge verspürt hatte) sicher geworden sein. Wenn von der _Herakles-Sage_, von einigen Stellen _Nietzsches_ und eher noch _Stirners_, aus denen man Kant-Verwandtes herauslesen kann, abgesehen wird, so hat das Prinzip der Kantischen Ethik bloß _Ibsen_ (im »Brand« und »Peer Gynt«) beinahe selbständig gefunden. Gelegentlich sind Äußerungen, wie _Hebbels_ Epigramm »Lüge und Wahrheit«: »Was Du teurer bezahlst, die Lüge oder die Wahrheit? Jene kostet Dein Ich, diese doch höchstens Dein Glück.« oder _Suleikas_ weltbekannte Worte aus dem »Westöstlichen Diwan«: »Volk und Knecht und Überwinder, Sie gesteh'n zu jeder Zeit: Höchstes Glück der Erdenkinder Sei nur die Persönlichkeit. Jedes Leben sei zu führen, Wenn man sich nicht selbst vermißt; Alles könne man verlieren, Wenn man bleibe, was man ist.« Sicher ist es wahr, daß die meisten Menschen irgendwie Jehovah brauchen. Die wenigsten -- es sind die genialen Menschen -- leben gar nicht _heteronom_. Die anderen rechtfertigen ihr Tun und Lassen, ihr Denken und Sein mindestens in Gedanken auch immer vor jemand _anderem_, sei es ein persönlicher Judengott, oder ein geliebter, geachteter, gefürchteter Mensch. Nur _so_ handeln sie in formeller äußerer Übereinstimmung mit dem Sittengesetz. _Kant_ war, wie dies aus seiner ganzen, sich selbst gesetzten, bis ins einzelnste unabhängigen Lebensführung hervorleuchtet, so durchdrungen von seiner Überzeugung, daß der Mensch nur sich selbst verantwortlich ist, daß er diesen Punkt seiner Lehre als den selbstverständlichsten, Anfechtungen am wenigsten ausgesetzten, betrachtete. Und doch hat gerade hier das Schweigen Kantens dazu beigetragen, daß seine Ethik, _die einzige gerade introspektiv-psychologisch haltbare_, die einzige, welche die harte und strenge innere Stimme des Einen nicht durch den Lärm der Vielen undeutlich zu machen sucht, daß diese Ethik tatsächlich so wenig _verstanden_ worden ist. Auch für _Kant_ hat es, darauf läßt eine Stelle in seiner »Anthropologie« schließen, in seinem irdischen Leben einen Zustand gegeben, welcher der »Begründung eines Charakters« vorherging. Aber der Augenblick, in dem es ihm zu furchtbar strahlender Klarheit gelangte: ich habe nur mir selbst Rechenschaft abzulegen, muß niemand anderem dienen, kann nicht in Arbeit mich vergessen; ich steh' _allein_, bin _frei_, bin _mein Herr_: dieser Moment bezeichnet die Geburt der Kantischen Ethik, des heroischesten Aktes der Weltgeschichte. »Zwey Dinge erfüllen das Gemüth mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: _Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir._ Beides darf ich nicht als in Dunkelheiten verhüllt oder im Überschwenglichen, außer meinem Gesichtskreise, suchen und bloß vermuthen; ich sehe sie _vor_ mir, und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewußtsein meiner Existenz. Das erste fängt von dem Platze an, den ich in der äußeren Sinnenwelt einnehme, und erweitert die Verknüpfung, darin ich stehe, ins unabsehlich Große mit Welten über Welten und Systemen von Systemen, überdem noch in grenzenlose Zeiten ihrer periodischen Bewegung, deren Anfang und Fortdauer. Das zweite fängt von meinem unsichtbaren Selbst, meiner Persönlichkeit, an, und stellt mich in einer Welt dar, die wahre Unendlichkeit hat, aber nur dem Verstande spürbar ist, und mit welcher (dadurch aber auch zugleich mit allen jenen sichtbaren Welten) ich mich, nicht wie dort, in bloß zufälliger, sondern allgemeiner und notwendiger Verknüpfung erkenne. Der erstere Anblick einer zahllosen Weltenmenge vernichtet gleichsam meine Wichtigkeit, als eines _thierischen Geschöpfs_, das die Materie, daraus es ward, dem Planeten (einem bloßen Punct im Weltall) wieder zurückgeben muß, nachdem es eine kurze Zeit (man weiß, nicht wie) mit Lebenskraft versehen gewesen. Der zweite erhebt dagegen meinen Wert, als einer _Intelligenz_, unendlich, durch meine Persönlichkeit, in welcher das moralische Gesetz mir ein von der Thierheit und selbst von der ganzen Sinnenwelt unabhängiges Leben offenbart, wenigstens so viel sich aus der zweckmäßigen Bestimmung meines Daseins durch dieses Gesetz, welche nicht auf Bedingungen und Grenzen dieses Lebens eingeschränkt ist, sondern ins Unendliche geht, abnehmen läßt.« So verstehen wir jetzt, nach diesem Beschlusse, diese »Kritik der praktischen Vernunft«. Der Mensch ist _allein_ im Weltall, in ewiger, ungeheuerer _Einsamkeit_. Er hat keinen Zweck außer sich, nichts anderes, wofür er lebt -- weit ist er fortgeflogen über Sklave-sein-wollen, Sklave-sein-können, Sklave-sein-müssen: tief unter ihm verschwunden alle menschliche Gesellschaft, versunken die _Sozial_-Ethik; er ist allein, $allein$. Aber er ist nun eben erst _einer_ und _alles_; und darum hat er auch ein _Gesetz_ in sich, darum _ist_ er selbst alles Gesetz, und keine springende Willkür. Und er verlangt _von sich_, daß er dieses Gesetz _in_ sich, das Gesetz seines Selbst, befolge, daß er _nur_ Gesetz sei, ohne Rück-Sicht hinter sich, ohne Vor-Sicht vor sich. Das ist das Grauenvoll-Große: es hat weiter _keinen Sinn_, daß er der Pflicht gehorche. Nichts ist ihm, dem Alleinen, _All-Einen_ _über_geordnet. Doch der unerbittlichen, keine Verhandlung mit sich duldenden, das ist _kategorischen_ Forderung _in sich_ muß er nachkommen. _Erlösung!_ ruft er[28], Ruhe, nur schon Ruhe vor dem Feind, Frieden, nicht dies endlose Ringen -- und _erschrickt_: selbst im Erlöst-sein-wollen war noch Feigheit, im schmachtenden _Schon!_ noch Desertion, als wäre er zu klein diesem Kampf. _Wozu!_ fragt er, schreit er hinaus ins Weltall -- und _errötet_; denn gerade wollte er wieder das _Glück_, die Anerkennung des Kampfes, den, der ihn belohne, den $anderen$. _Kant_ens einsamster Mensch lacht nicht und tanzt nicht, er brüllt nicht und jubelt nicht: er hat es nicht not Lärm zu machen, weil der Weltraum zu tief schweigt. Nicht die Sinnlosigkeit einer Welt »von ohngefähr« ist ihm Pflicht, sondern _seine_ Pflicht ist ihm _der Sinn des Weltalls_. _Ja_ sagen zu $dieser$ Einsamkeit, das ist das »Dionysische« _Kant_ens; das erst ist Sittlichkeit. VIII. Kapitel. Ich-Problem und Genialität. »Im Anfang war diese Welt allein der Âtman, in Gestalt eines Menschen. Der blickte um sich: da sah er nichts anderes als sich selbst. Da rief er zu Anfang aus: ‚Das bin ich!’ Daraus entstand der Name Ich. -- Daher auch heutzutage, wenn einer angerufen wird, so sagt er zuerst: ‚Das bin ich’ und dann erst nennt er den anderen Namen, welchen er trägt.« (Bṛihadâraṇyaka-Upanishad.) Viele Prinzipienstreitigkeiten in der Psychologie beruhen auf den individuellen charakterologischen Differenzen zwischen den Dissentierenden. Der Charakterologie könnte damit, wie bereits erwähnt, eine wichtige Rolle zufallen: während der eine dies, der andere jenes in sich vorzufinden behauptet, hätte sie zu lehren, _warum_ die Selbstbeobachtung des einen anders ausfällt als die des zweiten; oder wenigstens zu zeigen, durch was alles die in Rede stehenden Personen _noch_ sich unterscheiden. In der Tat sehe ich keinen anderen Weg, gerade in den umstrittensten psychologischen Dingen ins Reine zu kommen. Die Psychologie ist eine Erfahrungswissenschaft, und darum geht nicht wie in den überindividuellen Normwissenschaften der Logik und Ethik das Allgemeine dem Besonderen in ihr vorher, sondern es muß umgekehrt vom individuellen Einzelmenschen ausgegangen werden. Es gibt keine empirische Allgemeinpsychologie; und es war ein Fehler, eine solche ohne _gleichzeitigen_ Betrieb differentieller Psychologie in Angriff zu nehmen. Schuld an dem Jammer ist die Doppelstellung der Psychologie zwischen Philosophie und Empfindungsanalyse. Von welcher der beiden die Psychologen kamen, stets traten sie mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit der Ergebnisse auf. Aber vielleicht sind nicht einmal so fundamentale Fragen, wie diese, ob es einen tätigen _Akt_ der Wahrnehmung, eine _Spontaneität_ des Bewußtseins schon in der Empfindung gebe oder nicht, ohne charakterologische Unterscheidungen gänzlich ins Reine zu bringen. Einen kleinen Teil solcher Amphibolien durch Charakterologie aufzulösen ist, in Hinsicht auf die Psychologie der Geschlechter, eine Hauptaufgabe dieser Arbeit. Die verschiedenen Behandlungen des Ich-Problems hingegen resultieren nicht sowohl aus den psychologischen Differenzen der Geschlechter, sondern zunächst, wenn auch nicht ausschließlich[29], aus den individuellen Unterschieden in der _Begabung_. Gerade die Entscheidung zwischen _Hume_ und _Kant_ ist auch _charakterologisch_ möglich, insoferne etwa, als ich zwischen zwei Menschen entscheiden kann, von denen dem einen die Werke des _Makart_ und _Gounod_, dem anderen die _Rembrandts_ und _Beethovens_ das Höchste sind. Ich werde solche Menschen nämlich zunächst _unter_scheiden nach ihrer Begabung. Und so ist es auch in diesem Falle statthaft, ja notwendig, die Urteile über das Ich, wenn sie von zwei sehr verschieden hoch veranlagten Menschen ausgehen, nicht ganz gleich zu werten. _Es gibt keinen wahrhaft bedeutenden Menschen, der nicht von der Existenz des Ich überzeugt wäre_; ein Mensch, der das Ich leugnet, kann nie ein bedeutender Mensch sein.[30] Diese These wird sich im Laufe des nun Folgenden als eine Behauptung von zwingender Notwendigkeit herausstellen, und auch für die in ihr gelegene Höherwertung der Urteile des Genius eine Begründung gesucht und gefunden werden. Es gibt nämlich keinen bedeutenden Menschen und kann keinen geben, für den nicht im Laufe seines Lebens, im allgemeinen je bedeutender er ist, desto früher (vgl. Kapitel 5), ein Moment käme, in welchem er die völlige Sicherheit gewinnt, ein Ich im höheren Sinne zu besitzen.[31] Man vergleiche folgende Äußerungen dreier sehr verschiedener Menschen und überaus genialer Naturen. _Jean Paul_ erzählt in seiner autobiographischen Skizze »Wahrheit aus meinem Leben«: »Nie vergess' ich die noch keinem Menschen erzählte Erscheinung in mir, wo ich bei der Geburt meines Selbstbewußtseins stand, von der ich Ort und Zeit anzugeben weiß. An einem Vormittag stand ich als ein sehr junges Kind unter der Haustüre und sah links nach der Holzlege, als auf einmal das innere Gesicht: ich bin ein Ich! wie ein Blitzstrahl vom Himmel vor mich fuhr und seitdem leuchtend stehen blieb -- da hatte mein Ich zum ersten Male sich selber gesehen und auf ewig. Täuschungen des Erinnerns sind hier schwerlich gedenkbar, da kein fremdes Erzählen sich in eine bloß im verhangenen Allerheiligsten des Menschen vorgefallene Begebenheit, deren Neuheit allein so alltäglichen Nebenumständen das Bleiben gegeben, mit Zusätzen mengen konnte.« Und offenbar meint ganz das nämliche Erlebnis _Novalis_, der in seinen »Fragmenten vermischten Inhalts« bemerkt: »Darthun läßt sich dieses Factum nicht, jeder muß es selbst erfahren. Es ist ein Factum höherer Art, _das nur der höhere Mensch antreffen wird_; die Menschen aber sollen streben, es in sich zu veranlassen. Philosophieren ist eine Selbstbesprechung obiger Art, eine eigentliche Selbstoffenbarung, Erregung des wirklichen Ich durch das idealische Ich. Philosophieren ist der Grund aller anderen Offenbarungen; der Entschluß zu philosophieren ist eine Aufforderung an das wirkliche Ich, daß es sich besinnen, erwachen und Geyst sein solle.« _Schelling_ bespricht im achten seiner »Philosophischen Briefe über Dogmatismus und Kritizismus«, einem wenig bekannten Jugendwerk, _dasselbe_ Phänomen mit folgenden tiefen und schönen Worten: »Uns allen ... wohnt ein geheimes, wunderbares Vermögen bei, uns aus dem Wechsel der Zeit in unser Innerstes, von allem, was von außenher hinzukam, entkleidetes Selbst zurückzuziehen und da unter der Form der Unwandelbarkeit das Ewige in uns anzuschauen. _Diese Anschauung ist die innerste, eigenste Erfahrung, von welcher alles, alles abhängt, was wir von einer übersinnlichen Welt wissen und glauben. Diese Anschauung zuerst überzeugt uns, daß irgend etwas im eigentlichen Sinne $ist$, während alles übrige nur $erscheint$, worauf wir jenes Wort übertragen._ Sie unterscheidet sich von jeder sinnlichen Anschauung dadurch, daß sie nur durch _Freiheit_ hervorgebracht und jedem anderen fremd und unbekannt ist, dessen Freiheit, von der hervordringenden Macht der Objekte überwältigt, kaum zur Hervorbringung des Bewußtseins hinreicht. Doch gibt es auch für diejenigen, die diese Freiheit der Selbstanschauung nicht besitzen, wenigstens Annäherung zu ihr, mittelbare Erfahrungen, durch welche sie ihr Dasein ahnen läßt. Es gibt einen gewissen Tiefsinn, dessen man sich selbst nicht bewußt ist, den man vergebens sich zu entwickeln strebt. _Jakobi_ hat ihn beschrieben ..... Diese intellektuale Anschauung tritt dann ein, wo wir für uns selbst aufhören, _Objekt_ zu sein, wo, in sich selbst zurückgezogen, das anschauende Selbst mit dem angeschauten identisch ist. _In diesem Moment der Anschauung schwindet für uns Zeit und Dauer dahin: nicht $wir$ sind in der Zeit, sondern die Zeit -- oder vielmehr nicht sie, sondern die reine absolute Ewigkeit ist $in uns$._ Nicht wir sind in der Anschauung der objektiven Welt, sondern sie ist in unserer Anschauung verloren.« Es wird der Immanente, der Positivist, vielleicht nur lächeln über den betrogenen Betrüger, den Philosophen, der solche Erlebnisse zu haben vorgibt. Nun, dagegen läßt sich nicht leicht etwas tun. Ist auch überflüssig. Doch bin ich keineswegs der Meinung, daß jenes »Faktum hoher Art« sich bei _allen_ genialen Menschen in jener mystischen Form eines Eins-Werdens von Subjekt und Objekt, eines einheitlichen Erlebens abspiele, wie _Schelling_ dies beschreibt. Ob es ungeteilte Erlebnisse gibt, in denen der Dualismus schon _während des Lebens_ überwunden wird, wie dies von _Plotin_ und den indischen _Mahatmas_ bezeugt ist, oder ob dies nur höchste Intensifikationen des Erlebens sind, prinzipiell aber gleichartig mit allem anderen -- dies soll uns hier nicht beschäftigen, das Zusammenfallen von Subjekt und Objekt, von Zeit und Ewigkeit, das Schauen Gottes durch den lebenden Menschen weder als möglich behauptet noch als unmöglich in Abrede gestellt werden. Erkenntnistheoretisch ist mit einem _Erleben_ des eigenen Ich nichts anzufangen, und noch niemand hat es je für eine _systematische_ Philosophie zu verwerten gesucht. Ich will daher jenes Faktum »höherer Art«, das sich bei einem Menschen so, beim anderen anders vollzieht, nicht _Erlebnis_ des eigenen Ich nennen, sondern nur als das _Ich-Ereignis_ bezeichnen. Das Ich-Ereignis kennt jeder bedeutende Mensch. Ob er nun in der Liebe zu einem Weibe erst sein Ich finde und sich seines Selbst bewußt werde[32] -- denn der bedeutende Mensch liebt intensiver als der unbedeutende -- oder ob er durch ein Schuldbewußtsein, wieder vermöge eines Kontrastes, zum Gefühle seines höheren echten Wesens gelange, dem er in der bereuten Handlung untreu wurde -- denn auch das Schuldbewußtsein ist im bedeutenden Menschen heftiger und differenzierter als im unbedeutenden; ob ihn das Ich-Ereignis zum Eins-Werden mit dem All, zum Schauen aller Dinge in Gott führe, oder ihm vielmehr den furchtbaren Dualismus zwischen Natur und Geist im Weltall offenbare, und in ihm das Erlösungsbedürfnis, das Bedürfnis nach dem _inneren_ Wunder, wachrufe: immer und ewig ist mit dem Ich-Ereignis zugleich der Kern einer _Weltanschauung_, ganz von selbst, ohne Zutun des denkenden Menschen, bereits _gegeben_. Weltanschauung ist nicht die große Synthese, die am jüngsten Tage der Wissenschaft von irgend einem besonders fleißigen Mann, der durch alle Fächer der Reihe nach sich hindurchgearbeitet hat, vor dem Schreibtisch inmitten einer großen Bibliothek vollzogen wird, Weltanschauung ist etwas Erlebtes, und sie kann _als Ganzes klar und unzweideutig sein_, wenn auch im einzelnen noch so vieles vorderhand in Dunkelheit und Widerspruch verharrt. Das Ich-Ereignis aber ist Wurzel aller Weltanschauung, d. h. aller _Anschauung_ der _Welt_ als _ganzer_, und zwar für den Künstler nicht minder als für den Philosophen. Und so radikal sonst die Weltanschauungen voneinander differieren, eines wohnt ihnen allen, soweit sie den Namen einer Weltanschauung verdienen[33], gemeinsam inne; es ist eben das, was durchs Ich-Ereignis vermittelt wird, der Glaube, _den jeder bedeutende Mensch besitzt: die Überzeugung von der Existenz eines Ich oder einer Seele_, die im Weltall einsam ist, dem ganzen Weltall gegenübersteht, die ganze _Welt anschaut_. Vom Ich-Ereignis an gerechnet wird der bedeutende Mensch im allgemeinen -- Unterbrechungen, vom fürchterlichsten der Gefühle, vom Gefühle des _Gestorbenseins_, ausgefüllt, mögen wohl häufig vorkommen -- _mit Seele_ leben. Aus diesem Grunde, und nicht allein aus hochgestimmtem Hinblick auf eben Geschaffenes schreibt es, wie ich an dieser Stelle beifügen will, sich her, daß bedeutende Menschen immer, in jedem Sinne, auch das größte Selbstbewußtsein haben werden. Nichts ist so gefehlt, als von der »Bescheidenheit« großer Männer zu reden, die gar nicht gewußt hätten, was in ihnen stecke. Es gibt keinen bedeutenden Menschen, der nicht wüßte, wie sehr er sich von den anderen unterscheidet (mit Ausnahme der Depressionsperioden, welchen gegenüber sogar der in besseren Zeiten gefaßte Vorsatz, von nun ab etwas von sich zu halten, fruchtlos bleiben mag), keinen, der sich nicht für einen bedeutenden Menschen hielte, sobald er einmal etwas _geschaffen_ hat -- allerdings auch keinen, dessen Eitelkeit oder Ruhmsucht so gering wäre, daß er sich nicht noch stets überschätzte. _Schopenhauer_ hat sich für viel größer gehalten als _Kant_. Wenn _Nietzsche_ seinen Zarathustra für das tiefste Buch der Welt erklärt, so spielt außerdem wohl noch die Enttäuschung durch die schweigenden Zeitungsschreiber und das Bedürfnis diese zu reizen mit -- allerdings auch keine sehr vornehmen Motive. Aber eines ist allerdings richtig an der Lehre von der Bescheidenheit bedeutender Menschen: bedeutende Menschen sind nie anmaßend. Anmaßung und Selbstbewußtsein sind wohl die zwei entgegengesetztesten Dinge, die es geben kann, und sollten nicht, wie es meistens geschieht, eins für das andere gesetzt werden. Ein Mensch hat immer so viel Arroganz, als ihm Selbstbewußtsein fehlt. Anmaßung ist sicherlich nur ein Mittel, durch künstliche Erniedrigung des Nebenmenschen das Selbstbewußtsein gewaltsam zu steigern, ja so erst zum Bewußtsein eines Selbst zu kommen. Natürlich gilt das von der unbewußten, sozusagen physiologischen Arroganz; zu beabsichtigter Grobheit verächtlichen Subjekten gegenüber mag wohl auch ein hochstehender Mensch der eigenen Würde halber hie und da sich verhalten müssen. Die feste, vollkommene, des _Beweises_ für ihre Person nicht eigentlich bedürftige Überzeugung, daß sie eine Seele besitzen, ist also allen genialen Menschen gemeinsam. Man sollte die lächerliche Besorgnis doch endlich ablegen, welche hinter jedem, der von der Seele als einer hyperempirischen Realität redet, gleich den werbenden Theologen wittert. Der Glaube an die Seele ist alles eher denn ein Aberglaube, und kein bloßes Verführungsmittel aller Geistlichkeit. Auch die Künstler sprechen von ihrer Seele, ohne Philosophie und Theologie studiert zu haben, selbst die atheistischesten, wie _Shelley_, und glauben zu wissen, was sie damit meinen. Oder denkt man, daß »Seele« für sie ein bloßes, leeres, schönes Wort sei, welches sie anderen nachsprechen, ohne zu fühlen? Daß der große Künstler Bezeichnungen anwende, ohne über ein Bezeichnetes, in diesem Falle von denkbar höchster Realität, sich klar zu sein? Der immanente Empirist, der Nur-Physiolog muß aber all das für nichtssagendes Geschwätz halten, oder _Lucrez_ für den einzigen großen Dichter. So viel Mißbrauch sicherlich mit dem Worte getrieben wird: wenn _bedeutende_ Künstler von ihrer Seele zeugen, so wissen sie wohl, was sie tun. Es gibt für sie wie für die großen Philosophen ein gewisses _Grenzgefühl_ der höchsten Wirklichkeit; _Hume_ hat dieses Gefühl sicherlich nicht gekannt. Der Wissenschaftler nämlich steht, wie schon hervorgehoben wurde, und nun bald bewiesen werden soll, _unter_ dem Philosophen und _unter_ dem Künstler. Diese verdienen das Prädikat des Genies, der bloße Wissenschaftler niemals. Es heißt jedoch dem Genius vor der Wissenschaft noch einen weiteren, bisher noch immer unbegründeten Vorzug einräumen, wenn, wie dies hier geschehen ist, seiner Anschauung über ein bestimmtes Problem, bloß weil es seine Anschauung ist, mehr Gewicht beigelegt wird als der Ansicht des Wissenschaftlers. Besteht zu dieser Bevorzugung ein Recht? Kann der Genius Dinge erkunden, die dem Mann der Wissenschaft als solchem versagt sind, kann er in eine Tiefe blicken, welche jener vielleicht nicht einmal bemerkt? Genialität schließt, wie sich zeigte, ihrer Idee nach Universalität ein. Für den ganz und gar genialen Menschen, der eine notwendige Fiktion ist, gäbe es gar nichts, wozu er nicht ein gleich lebendiges, unendlich inniges, schicksalsvolles Verhältnis hätte. Genialität war universale Apperzeption, und hiemit vollkommenes Gedächtnis, absolute Zeitlosigkeit. Man muß aber, um etwas apperzipieren zu können, ein ihm Verwandtes bereits in sich haben. Man bemerkt, versteht und ergreift nur das, womit man irgend eine Ähnlichkeit hat (S. 139 f.). Der Genius war zuletzt, aller Kompliziertheit wie zum Trotze, der Mensch mit dem intensivsten, lebendigsten, bewußtesten, kontinuierlichsten, einheitlichsten Ich. Das Ich jedoch ist das punktuelle Zentrum, die Einheit der Apperzeption, die »Synthesis« alles Mannigfaltigen. Das Ich des Genies muß demnach selbst die universale Apperzeption sein, der Punkt schon den unendlichen Raum in sich schließen: _der bedeutende Mensch hat die $ganze$ Welt $in sich, der Genius ist der lebendige Mikrokosmus$_. Er ist nicht eine sehr zusammengesetzte Mosaik, keine aus einer, doch immer _endlichen_, _Viel_zahl von Elementen aufgebaute chemische Verbindung, und nicht das war der Sinn der Darlegungen des vierten Kapitels über sein innigeres Verwandtsein mit mehr Menschen und Dingen: _sondern er ist alles_. Wie im Ich und durch das Ich alle psychischen Erscheinungen zusammenhängen, wie dieser Zusammenhang unmittelbar erlebt und ins Seelenleben nicht mühsam erst hineingetragen wird durch eine Wissenschaft (die bei allen äußeren Dingen freilich hiezu verhalten ist)[34], wie hier das Ganze durchaus vor den Teilen besteht; so blickt der Genius, in dem das Ich wie das All, als das All _lebt_, auch in die Natur und ins Getriebe aller Wesen als ein Ganzes, er _schaut_ hier die _Verbindungen_ und konstruiert nicht einen Bau aus Bruchstücken. Darum kann ein bedeutender Mensch zunächst schon bloßer empirischer Psychologe nicht sein, für den es nur Einzelheiten gibt, die er im Schweiße seines Angesichtes, durch Associationen, Leitungsbahnen u. s. w. zu verkitten trachtet; ebensowenig aber bloßer Physiker, dem die Welt aus Atomen und Molekülen _zusammengesetzt_ ist. _Aus der Idee des Ganzen heraus, in welcher der Genius fortwährend lebt, erkennt er den $Sinn$ der Teile. Er $wertet$ darum $alles$_, alles in sich, alles _außerhalb_ seiner, wertet es nach dieser Idee; und _nur darum_ ist es für ihn nicht Funktion der Zeit, sondern repräsentiert ihm stets einen großen und ewigen Gedanken. So ist der _geniale_ Mensch zugleich der _tiefe_ Mensch, und nur er tief, nur der Tiefe genial. Darum gilt denn auch wirklich seine Meinung mehr als die der anderen. Weil er aus dem Ganzen seines das Universum enthaltenden Ich schafft, während die anderen Menschen nie ganz zum Bewußtsein dieses ihres wahren Selbst kommen, werden ihm die Dinge sinnvoll, _bedeuten_ sie ihm alle etwas, sieht er in ihnen stets _Symbole_. Für ihn ist der Atem mehr als ein Gasaustausch durch die feinsten Wandungen der Blutkapillaren, das Blau des Himmels mehr als teilweise polarisiertes, an den Trübungen der Atmosphäre diffus reflektiertes Sonnenlicht, die Schlangen mehr als fußlose Reptilien ohne Schultergürtel und Extremitäten. Wenn man selbst alle wissenschaftlichen Entdeckungen, die je gemacht wurden, zusammentäte und von einem einzigen Menschen gefunden sein ließe; wenn alles, was _Archimedes_ und _Lagrange_, _Johannes Müller_ und _Karl Ernst von Baer_, _Newton_ und _Laplace_, _Konrad Sprengel_ und _Cuvier_, _Thukydides_ und _Niebuhr_, _Friedrich August Wolf_ und _Franz Bopp_, was noch so viele andere für die Wissenschaft Hervorragendstes geleistet haben, _selbst wenn all dies $ein$ einziger Mensch im Laufe $eines$ kurzen Menschenlebens geleistet hätte, er verdiente darum doch nicht das Prädikat des Genius_. Denn damit ist noch nirgends in Tiefen gedrungen. Der Wissenschaftler nimmt die Erscheinungen wie sie sinnfällig _sind_, der bedeutende Mensch oder Genius für das, was sie _bedeuten_. Ihm sind Meer und Gebirge, Licht und Finsternis, Frühling und Herbst, Cypresse und Palme, Taube und Schwan _Symbole_, er ahnt nicht nur, er erkennt in ihnen ein Tieferes. Nicht auf Luftdruckverschiebungen geht der Walkürenritt, und nicht auf Oxydationsprozesse bezieht sich der Feuerzauber. Und dies alles ist jenem nur möglich, weil die _äußere_ Welt _in_ ihm reich und stark zusammenhängt wie die _innere_, ja das Außenleben nur wie ein Spezialfall seines Innenlebens sich ausnimmt, Welt und Ich in ihm eins geworden sind, und er nicht Stück für Stück der Erfahrung nach Gesetz und Regel erst aneinanderheften muß. Auch die größte Polyhistorie dagegen addiert nur Fächer zu Fächern und bildet noch keine Gesamtheit. Deshalb also tritt der große Wissenschaftler hinter den großen Künstler oder Philosophen. Der Unendlichkeit des Weltalls entspricht beim Genius eine wahre Unendlichkeit in der eigenen Brust, er hält Chaos und Kosmos, alle Besonderheit und alle Totalität, alle Vielheit und alle Einheit in seinem Innern. Ist mit diesen Bestimmungen auch mehr über die Genialität als über das Wesen des genialen _Schaffens_ ausgesagt, bleiben der Zustand der künstlerischen Ekstase, der philosophischen Konzeption, der religiösen Erleuchtung gleich rätselhaft wie zuvor, sind also damit gewiß nur die _Bedingungen_, nicht der _Vorgang_ eines wahrhaft _bedeutenden_ Produzierens klarer geworden, so sei dennoch hier als endgültige Definition des Genies diese gegeben: $Genial ist ein Mensch dann zu nennen, wenn er in bewußtem Zusammenhange mit dem Weltganzen lebt. Erst das Geniale ist somit das eigentlich Göttliche im Menschen.$ Die große Idee von der Seele des Menschen als dem Mikrokosmus, die tiefste Schöpfung der Philosophen der Renaissance -- wiewohl ihre ersten Spuren schon bei _Plato_ und _Aristoteles_ sich finden -- scheint dem neueren Denken seit _Leibniz_ens Tode ganz abhanden gekommen. Sie wurde hier bis jetzt als bloß für das Genie gültig, von jenen Meistern aber vom Menschen überhaupt als das eigentliche Wesen desselben behauptet. Doch ist die Inkongruenz nur scheinbar. Alle Menschen sind genial, und kein Mensch ist genial. Genialität ist eine _Idee_, welcher dieser näher kommt, während jener in großer Ferne von ihr bleibt, welcher der eine rasch sich naht, der andere vielleicht erst am Ende seines Lebens. Der Mensch, dem wir bereits den Besitz der Genialität zuschreiben, ist nur der, welcher bereits angefangen hat zu sehen, und den anderen die Augen öffnet. Daß sie sodann mit seinem Auge sehen können, beweist, wie sie nur vor dem Tore standen. Auch der mittelmäßige Mensch kann, selbst als solcher, _mittelbar_ zu allem in Beziehung treten; seine Idee des Ganzen ist aber nur ahnungsvoll, es gelingt ihm nicht, sich mit ihr zu identifizieren. Aber er ist darum nicht ohne Möglichkeit, diese Identifikation anderen nachzuleben und so ein Gesamtbild zu gewinnen. Durch Weltanschauung kann er dem Universum, durch Bildung allem einzelnsten sich verbinden; nichts ist ihm gänzlich fremd, und an alle Dinge der Welt knüpft auch ihn ein Band der Sympathie. Nicht so das Tier oder die Pflanze. Sie sind begrenzt, sie kennen nicht alle, sondern nur ein Element, sie bevölkern nicht die ganze Erde, und wo sie eine allgemeine Verbreitung gefunden haben, ist es im Dienste des Menschen, der ihnen eine überall gleichmäßige Funktion angewiesen hat. Sie mögen eine Beziehung zur Sonne oder zum Monde haben, aber sicherlich fehlt ihnen »der gestirnte Himmel« und »das moralische Gesetz«. Dieses aber stammt von der Seele des Menschen her, in der alle Totalität geborgen ist, _die alles betrachten kann, weil sie selbst alles $ist$_: der gestirnte Himmel und das moralische Gesetz, auch sie sind im Grunde eines und dasselbe. Der Universalismus des kategorischen Imperatives ist der Universalismus des Universums, die Unendlichkeit des Weltalls nur das Sinnbild der Unendlichkeit des sittlichen Wollens. So hat dies, den Mikrokosmus im Menschen, schon _Empedokles_, der gewaltige Magus von Agrigent, gelehrt: Γαιη μεν γαρ γαιαν οπωπαμεν, ὑδατι δ'ὑδωρ, Αιθερι δ'αιθερα διον, αταρ πυρι πυρ αιδηλον, Στοργη δε στοργην, νεικος δε τε νεικει λυγρω. Und _Plotinus_: Ου γαρ αν πωποτε ειδεν οφθαλμος ἡλιον ἡλιοειδης μη γεγενημενος, dem es _Goethe_ in den berühmten Versen nachgedichtet hat: »Wär' nicht das Auge sonnenhaft, Die Sonne könnt' es nie erblicken; Läg' nicht in uns des Gottes eig'ne Kraft, Wie könnt' uns Göttliches entzücken?« _Der Mensch ist das einzige Wesen, er ist $dasjenige$ Wesen in der Natur, das zu $allen$ Dingen in derselben ein Verhältnis hat._ In wem dieses Verhältnis nicht bloß zu einzelnen, vielen oder wenigen, sondern zu allen Dingen Klarheit und intensivste Bewußtheit erlangt, wer über alles selbständig gedacht hat, den nennt man ein Genie; in wem es nur der Möglichkeit nach vorhanden, in wem wohl für alles irgend ein Interesse wachzurufen ist, aber nur zu wenigem ein lebhafteres von selbst besteht, den nennt man einfach einen Menschen. _Leibnizens_ wohl selten recht verstandene Lehre, daß auch die niedere Monade ein Spiegel der Welt sei, ohne aber sich dieser ihrer Tätigkeit bewußt zu werden, drückt nur dieselbe Tatsache aus. Der geniale Mensch lebt im Zustande allgemeiner Bewußtheit, die Bewußtheit des Allgemeinen ist; auch im gewöhnlichen Menschen ist das Weltganze, aber nicht bis zu schöpferischem Bewußtsein gebracht. Der eine lebt in bewußtem tätigen, der andere in unbewußtem virtuellen Zusammenhang mit dem All; _der geniale Mensch ist der aktuelle, der ungeniale der potentielle Mikrokosmus_. Erst der geniale Mensch ist ganz Mensch; was als Mensch-Sein, als Menschheit (im Kantischen Sinne) in jedem Menschen, δυνάμει, der Möglichkeit nach ist, das lebt im genialen Menschen, ενεργεια, in voller Entfaltung. Der Mensch ist das All und darum nicht, wie ein bloßer Teil desselben, abhängig vom anderen Teile, nicht an einer bestimmten Stelle _eingeschaltet_ in die Naturgesetzlichkeit, _sondern selbst der Inbegriff aller Gesetze, und $eben darum frei$_, wie das Weltganze als das All selbst nicht noch bedingt, sondern unabhängig ist. Der bedeutende Mensch nun, der _nichts_ vergißt, weil er _sich_ nicht vergißt, weil Vergessen funktionelle Beeinflussung durch die Zeit, daher unfrei und unethisch ist; der nicht von einer geschichtlichen Bewegung, als ihr Kind, emporgeworfen, nicht von der nächsten wieder verschlungen wird, weil _alles, alle Vergangenheit und alle Zukunft_, in der _Ewigkeit_ seines geistigen Blickes bereits sich birgt; dessen Unsterblichkeitsbewußtsein am stärksten ist, weil ihn auch der Gedanke an den _Tod_ nicht feige macht; der in das leidenschaftlichste Verhältnis zu den Symbolen oder Werten tritt, indem er nicht nur alles in sich, sondern auch alles außer sich einschätzt und damit deutet: er ist zugleich der _freieste_ und der _weiseste_, $er$ ist der _sittlichste_ Mensch; und nur _darum_ leidet gerade $er$ am schwersten unter allem, was auch in ihm noch unbewußt, noch Chaos, noch _Fatum_ ist. -- Wie steht es nun mit der Sittlichkeit großer Menschen den anderen Menschen gegenüber? Ist dies doch die einzige Form, in welcher, nach der populären Meinung, die Unsittlichkeit nicht anders als in Verbindung mit dem Strafgesetzbuch zu denken weiß, Moralität sich offenbaren kann! Und haben nicht gerade hier die berühmten Männer die bedenklichsten Charaktereigenschaften verraten? Mußten sie nicht oft schnöden Undanks, grausamer Härte, schlimmer Verführertücken sich zeihen lassen? Weil Künstler und Denker, je größer sie sind, desto rücksichtsloser sich selbst die Treue wahren und hiebei die Erwartungen manch eines täuschen, mit dem sie vorübergehende Gemeinschaft geistiger Interessen verknüpfte, und die, ihrem höheren Fluge zu folgen später nicht mehr imstande, den Adler selbst an die Erde binden wollen (_Lavater_ und _Goethe_) -- darum hat man sie als unmoralisch verschrieen. Das Schicksal der _Friederike aus Sesenheim_ ist _Goethe_, obwohl ihn das keineswegs entschuldigt, sicherlich viel näher gegangen als dieser, und wenn er auch glücklicherweise so unendlich viel _verschwiegen_ hat, daß die Modernen, die ihn als den leichtlebigen Olympier _ganz_ zu besitzen glauben, tatsächlich nur jene Flocken von ihm in den Händen halten, die Faustens unsterbliches Teil umgeben -- man darf gewiß sein, daß er selbst am genauesten prüfte, wieviel Schuld ihn traf, und diese in ihrem ganzen Ausmaß bereut hat. Und wenn scheelsüchtige Nörgler, die _Schopenhauers_ Erlösungslehre und den Sinn des Nirwâna nie erfaßt haben, es diesem Philosophen zum Vorwurf machen, daß er auf seinem _Rechte_ auf sein Eigentum, bis zum Äußersten, bestanden hat, so verdient dies, als ein hündisches Gekläffe, gar keine Antwort. Daß der bedeutende Mensch gegen sich selbst am sittlichsten ist, steht also wohl fest: er wird nicht eine fremde Anschauung sich aufzwingen lassen und hiedurch sein Ich unterdrücken; er wird die Meinung des anderen -- das fremde Ich und dessen Ansicht bleiben für ihn etwas vom Eigenen gänzlich Unterschiedenes -- nicht passiv acceptieren, und ist er einmal rezeptiv gewesen, so wird ihm der Gedanke hieran schmerzvoll und fürchterlich sein. Eine bewußte Lüge, die er einmal getan hat, wird er sein ganzes Leben lang _mitschleppen_, und nicht in »dionysischer« Weise leichthin _abschütteln_ können. Am stärksten aber werden geniale Menschen leiden, wenn sie sich selbst erst hinterdrein auf eine Lüge kommen, um die sie gar nicht wußten, als sie sie anderen gegenüber sprachen, oder mit der sie sich selbst belogen haben. Die anderen Menschen, die nicht dieses Bedürfnis nach Wahrheit haben wie er, bleiben eben darum immer viel tiefer in Lüge und Irrtum verstrickt, und dies ist der Grund, warum sie die eigentliche Meinung und die Heftigkeit des Kampfes großer Persönlichkeiten gegen die »_Lebenslüge_« so wenig verstehen. Der hochstehende Mensch, das ist jener, in dem das zeitlose Ich die Macht gewonnen hat, sucht seinen Wert vor seinem intelligiblen Ich, vor seinem moralischen und intellektuellen Gewissen zu steigern. Auch seine Eitelkeit ist zunächst die vor sich selbst: _es entsteht in ihm das Bedürfnis, sich selbst zu imponieren_ (mit seinem Denken, Handeln und Schaffen). Diese Eitelkeit ist die eigentliche Eitelkeit des Genies, das seinen Wert und seinen Lohn in sich selbst hat, und dem es nicht auf die Meinung anderer von ihm darum ankommt, damit es selbst auf diesem Umweg von sich eine höhere gewinne. Sie ist jedoch keineswegs etwas löbliches, und asketisch angelegte Naturen (_Pascal_) werden auch unter dieser Eitelkeit schwer leiden können, ohne doch je über sie hinauszukommen. Zur inneren Eitelkeit wird sich Eitelkeit vor anderen stets gesellen; _aber die beiden liegen miteinander im Kampfe_. Wird nun nicht durch diese starke Betonung der Pflicht gegen sich selbst die Pflichterfüllung den anderen Menschen gegenüber beeinträchtigt? Stehen die beiden nicht in einem solchen Wechselverhältnis, daß, wer sich selbst die Treue wahrt, sie notwendig anderen brechen muß? Keineswegs. Wie die Wahrheit nur eine ist, so gibt es auch nur ein _Bedürfnis_ nach Wahrheit -- _Carlyles_ »Sincerity« -- das man _sowohl_ sich selbst als auch der Welt gegenüber hat oder nicht hat, aber nie getrennt, nie eines von beiden, nicht Weltbeobachtung ohne Selbstbeobachtung, und nicht Selbstbeobachtung ohne Weltbeobachtung: so gibt es überhaupt nur eine einzige Pflicht, nur einerlei Sittlichkeit. Man handelt moralisch oder unmoralisch _überhaupt_, und wer sich selbst gegenüber sittlich ist, der ist es auch den anderen gegenüber. Über nichts sind indessen falsche Vorstellungen so verbreitet wie darüber, was sittliche Pflicht gegen den Nebenmenschen ist, und wodurch ihr erst genügt wird. Wenn ich von jenen theoretischen Systemen der Ethik einstweilen absehe, welche Förderung der menschlichen Gesellschaft als das Prinzip betrachten, das allem Handeln zu Grunde zu legen sei, und die immerhin weniger auf die konkreten Gefühle während der Handlung und auf das empirische im Impulse, als auf das Walten eines generellen sittlichen Gesichtspunktes gehen und insofern doch hoch über aller Sympathiemoral stehen: so bleibt nur die populäre Meinung übrig, welche die Sittlichkeit eines Menschen größtenteils nach dem Grade seiner Mitleidigkeit, seiner »Güte« bestimmt. Von philosophischer Seite haben im Mitgefühle _Hutcheson_, _Hume_ und _Smith_ das Wesen und die Quelle alles ethischen Verhaltens erblickt; eine außerordentliche Vertiefung hat dann diese Lehre in _Schopenhauers_ Mitleidsmoral erhalten. Die _Schopenhauer_sche »Preisschrift über die Grundlage der Moral« verrät indes gleich in ihrem Motto »Moral predigen ist leicht, Moral begründen schwer« den Grundfehler aller Sympathieethik: als welche sie nämlich stets verkennt, daß die Ethik keine sachlich-beschreibende, sondern eine das Handeln normierende Wissenschaft ist. Wer sich über die Versuche lustig macht, genau zu erhorchen, was die innere Stimme im Menschen wirklich spricht, mit Sicherheit zu ergründen, was der Mensch _soll_, der verzichtet auf jede Ethik, die ihrem Begriffe nach eben eine Lehre von den Forderungen ist, welche der Mensch an sich und an alle anderen stellt; und nicht von dem erzählt, was er, diesen Forderungen Raum gebend oder sie übertönend, tatsächlich vollbringt. Nicht was geschieht, sondern was geschehen _soll_, ist Objekt der Moralwissenschaft, alles andere gehört in die Psychologie. Alle Versuche, die Ethik in Psychologie aufzulösen, übersehen, daß jede psychische Regung im Menschen vom Menschen selbst _gewertet_ wird, und das Maß zur Bewertung irgend welchen Geschehens nicht selbst Geschehnis sein kann. Dieser Maßstab kann nur eine _Idee_ oder ein _Wert_ sein, der nie völlig verwirklicht und aus keiner Erfahrung abzuleiten ist, weil _er_ bestehen bleibt, wenn auch alle Erfahrung ihm zuwiderliefe. _Sittliches Handeln kann also nur Handeln nach einer Idee sein._ Es ist hienach nur zwischen solchen Morallehren zu wählen, welche Ideen, Maximen des Handelns aufstellen, und da kommt immer nur zweierlei in Betracht: der ethische Sozialismus oder die »Sozialethik«, die von _Bentham_ und den _Mill_ begründet, und später von eifrigen Importeuren auch auf den Kontinent und sogar nach Deutschland und Norwegen gebracht wurde, und der ethische Individualismus, wie ihn _das Christentum_ und der _deutsche Idealismus_ lehren. Der _zweite_ Fehler aller Ethik des Mitgefühls ist eben der, daß sie Moral begründen, _ableiten_ will, Moral, die ihrem Begriffe nach den letzten Grund des menschlichen Handelns bilden soll, und darum nicht selbst noch erklärbar, deduzierbar sein darf, die Zweck an sich selbst ist und nicht mit irgend etwas außer ihr, wie Mittel und Zweck, in Verbindung gebracht werden darf. Soferne aber dieser Anspruch der Sympathiemoral mit dem Prinzipe jeder bloß deskriptiven und danach notwendig relativistischen Ethik übereinkommt, sind beide Fehler im Grunde eins, und muß diesem Unterfangen immer entgegengehalten werden, daß niemand, liefe er auch das ganze Gebiet aller Ursachen und Wirkungen ab, irgendwo den Gedanken eines höchsten _Zweckes_ in ihm entdecken würde, der allein für alle moralischen Handlungen wesentlich ist. Der Zweckgedanke kann nicht aus Grund und Folge erklärt werden, das Verhältnis von Grund und Folge schließt ihn vielmehr aus. Der Zweck tritt auf mit dem Anspruch, das Handeln zu schaffen, an ihm wird der Erfolg und Ausgang aller Tat gemessen, und auch dann noch immer ungenügend gefunden, wenn selbst alle Faktoren, die sie bestimmten, wohl bekannt sind und noch so schwer ihr Gewicht im Bewußtsein geltend machen. Neben dem Reich der Ursachen gibt es ein Reich der Zwecke, und dieses Reich ist das Reich des Menschen. Vollendete Wissenschaft vom Sein ist eine Gesamtheit der Ursachen, die bis zur obersten Ursache aufsteigen will, vollendete Wissenschaft vom Sollen ein Ganzes der Zwecke, das in einem letzten höchsten Zwecke kulminiert. Wer also das Mitleid ethisch positiv wertet, hat etwas, das gar nicht Handlung war, sondern nur Gefühl, nicht eine Tat, sondern nur ein Affekt (der seiner Natur nach nicht unter den Zweck-Gesichtspunkt fällt), moralisch beurteilt. Das Mitleid mag ein ethisches _Phänomen_, eine Äußerungsweise von etwas Ethischem sein, es ist aber so wenig ein ethischer _Akt_ wie das Schamgefühl oder der Stolz; _man hat zwischen ethischem Akt und ethischem Phänomen wohl zu unterscheiden_. Unter dem ersteren darf nichts verstanden werden als _bewußte Bejahung der Idee durch die Handlung: ethische Phänomene sind unbeabsichtigte, unwillkürliche Anzeichen einer andauernden Richtung des Gemütes auf die Idee._ Nur in den Motivenkampf greift die Idee immer wieder ein und sucht ihn zu beeinflussen und zu entscheiden; in den empirischen Mischungen ethischer mit unethischen Gefühlen, des Mitleids mit der Schadenfreude, des Selbstgefühles mit dem Übermut, liegt noch nichts von einem _Entschlusse_. _Das Mitleid ist vielleicht der sicherste Anzeiger der Gesinnung, aber kein Zweck irgend eines Handelns._ Nur _Wissen_ des Zweckes, _Bewußtsein_ des Wertes gegenüber allem Unwerte konstituiert die Sittlichkeit; hierin hat _Sokrates_ gegenüber allen Philosophen, die nach ihm gekommen sind (nur _Plato_ und _Kant_ haben ihm sich angeschlossen), recht. Ein alogisches Gefühl, wie das Mitleid immer ist, hat keinen Anspruch auf _Achtung_, sondern erweckt höchstens _Sympathie_. Die Frage ist demnach erst zu beantworten, inwiefern ein Mensch sich sittlich verhalten könne gegen andere Menschen. Nicht durch unerbetene Hilfe, die in die fremde Einsamkeit _dringt_ und die Grenzen durchbricht, welche der Nebenmensch um sich zieht, sondern durch die Ehrerbietung, mit der man diese Grenzen _wahrt_; nicht durch _Mitleid_, nur durch _Achtung_. _Achtung_, dies hat _Kant_ zuerst ausgesprochen, bringen wir keinem Wesen auf der Welt entgegen als dem Menschen. Es ist seine ungeheuere Entdeckung, daß kein Mensch sich selbst, sein intelligibles Ich, die Menschheit (das ist nicht die menschliche Gesellschaft von 1500 Millionen, sondern die _Idee_ der _Menschenseele_) in seiner Person oder in der Person des anderen als Mittel zum Zweck gebrauchen kann. »In der ganzen Schöpfung kann alles, was man will, und worüber man etwas vermag, auch _bloß als Mittel_ gebraucht werden; nur der Mensch, und mit ihm jedes vernünftige Geschöpf, ist _Zweck an sich selbst_.« Womit aber erweise ich einem Menschen Verachtung, und wie bezeige ich ihm meine Achtung? Das erste, indem ich ihn _ignoriere_, das zweite, indem ich mich mit ihm _beschäftige_. Wie benütze ich ihn als Mittel zum Zweck, und wie ehre ich in ihm etwas, das Selbstzweck ist? Das eine, indem ich ihn nur als Glied in der Kette der Umstände betrachte, mit denen meine Handlungen zu rechnen haben, das andere, indem ich ihn zu _erkennen_ suche. Erst so, indem man sich für ihn, ohne es ihm gerade zu zeigen, interessiert, an ihn denkt, sein Handeln zu begreifen, sein Schicksal mitzufühlen, ihn selbst zu _verstehen_ sucht, erst dadurch, _nur_ dadurch kann man seinen Mitmenschen _ehren_. Nur wer, durchs eigene Ungemach nicht selbstsüchtig geworden, allen kleinlichen Hader mit dem Mitmenschen vergessend, den Zorn gegen ihn unterdrückend, ihn zu _verstehen_ trachtet, der ist wahrhaft uneigennützig gegen seinen Nächsten; und er handelt sittlich, denn er _siegt_ gerade dann über den _stärksten_ Feind, der das Verständnis des Nebenmenschen am längsten erschwert: über die _Eigenliebe_. Wie verhält sich nun in dieser Hinsicht der hervorragende Mensch? Er, der die meisten Menschen versteht, weil er am universellsten veranlagt ist, der zum Weltganzen in der innigsten Beziehung lebt, es am leidenschaftlichsten objektiv zu erkennen trachtet, er wird auch wie kein zweiter an seinem Nebenmenschen sittlich handeln. In der Tat, niemand denkt so viel und so intensiv wie er über die anderen Menschen (ja über viele auch, wenn er sie nur ein einziges Mal flüchtig erblickt hat), und niemand sucht so lebhaft wie er zur Klarheit über sie zu kommen, wenn er sie noch nicht mit genügender Deutlichkeit und Intensität in sich hat. Wie er selbst eine kontinuierlich von seinem Ich erfüllte Vergangenheit hinter sich hat, so wird er auch darüber sich Gedanken machen, welches das Schicksal der anderen in der Zeit gewesen ist, ehe da er sie noch kennen lernte. Er folgt dem stärksten Zuge des inneren Wesens, wenn er über sie denkt, denn er sucht ja in ihnen nur über sich zur Klarheit, zur Wahrheit zu gelangen. Hier zeigt sich eben, daß die Menschen alle Glieder einer intelligiblen Welt sind, in der es keinen beschränkten Egoismus oder Altruismus gibt. Nur so ist es zu erklären, daß große Männer, wie zu den Menschen _neben_ ihnen, so auch zu allen Persönlichkeiten der Geschichte, die zeitlich _vor_ ihnen gelebt haben, in ein lebendigeres, verständnisvolleres Verhältnis treten, nur _dies_ der Grund, warum der große Künstler auch die geschichtliche Individualität so viel besser und intensiver erfaßt als der bloß wissenschaftliche Historiker. Es gibt keinen großen Mann, der nicht zu _Napoleon_, zu _Plato_, zu _Mohammed_ in einem persönlichen Verhältnisse stünde. _So nämlich erweist er auch denen seine Achtung und wahre Pietät, die vor ihm gelebt haben._ Und wenn so mancher, der mit Künstlern verkehrt hat, sich peinlich berührt fühlte, als er sich später in einer ihrer Schöpfungen wiedererkannte; wenn deshalb so oft über den Dichter die Beschwerde laut wird, daß ihm alles zum Modell werde, so ist das unangenehme Gefühl in solcher Situation nur zu begreiflich; aber der Künstler, der mit der Kleinlichkeit der Menschen nicht rechnet, hat darum kein Verbrechen begangen: er hat, in seiner Weise der unreflektierten Darstellung und Neuerzeugung der Welt, den _schöpferischen Akt des Verständnisses vollzogen; und es gibt kein Verhältnis zwischen Menschen, das reiner wäre als dieses_. Damit dürfte denn auch das sehr wahre, schon einmal erwähnte Wort _Pascals_ an Verständlichkeit gewonnen haben: »A mesure qu'on a plus d'esprit, on trouve qu'il y a plus d'hommes originaux. Les gens du commun ne trouvent pas de différence entre les hommes.« -- Es hängt mit all dem ferner zusammen, daß ein Mensch, je höher er stehen, desto größere Anforderungen bezüglich des _Verstehens fremder_ Äußerungen an sich stellen wird; während der Unbegabte bald etwas zu verstehen glaubt, oft gar nicht einmal fühlt, daß hier etwas ist, das er nicht versteht, den _fremden_ Geist kaum empfindet, der aus einem Kunstwerk, aus einer Philosophie zu ihm spricht; und so höchstens ein Verhältnis zu den Sachen gewinnt, aber nicht zum Nachdenken über den Schöpfer selbst sich aufschwingt. Der bedeutende Mensch, der die höchste Stufe der Bewußtheit erklimmt, identifiziert nicht leicht etwas, das er liest; mit sich und seiner Meinung, während bei geringerer Helligkeit des Geistes sehr verschiedene Dinge ineinander verschwimmen und sich gleich ausnehmen können. Der geniale Mensch ist derjenige, dem sein _Ich_ zum Bewußtsein gelangt ist. Darum kommt ihm auch das Anderssein der anderen am ehesten zur Abhebung, _darum empfindet er im anderen Menschen auch dann dessen Ich, wenn dieses noch gar nicht stark genug war, um jenem selbst zum Bewußtsein zu kommen. Aber nur wer fühlt, daß der andere Mensch $auch ein Ich, eine Monade, ein eigenes Zentrum der Welt ist$, mit besonderer Gefühlsweise und Denkart, und besonderer Vergangenheit, der wird $von selbst davor gefeit$ sein, den Mitmenschen bloß $als Mittel zum Zweck$ zu benützen_, er wird der _Kant_ischen Ethik gemäß auch im Mitmenschen die _Persönlichkeit_ (als Teil der _intelligiblen_ Welt) _spüren, ahnen und darum $ehren$, und nicht bloß an ihm $sich ärgern$. $Psychologische Grundbedingung alles praktischen Altruismus ist daher theoretischer Individualismus.$_ _Hier liegt also die Brücke_, welche vom moralischen Verhalten sich selbst gegenüber zum moralischen Verhalten dem anderen gegenüber führt, jene Vermittlung, deren Mangel in der _Kant_ischen Philosophie von _Schopenhauer_ mit Unrecht als ein Fehler derselben angesehen, und ihr wie ein notwendiges, in ihren wesentlichen Prinzipien begründetes Unvermögen ausgelegt wurde. Die Probe darauf ist leicht zu machen. Nur der vertierte Verbrecher und der Irrsinnige interessieren sich _gar nicht_ auch nur für irgend einen unter ihren Nebenmenschen, sie leben, als ob sie allein auf der Welt wären, sie _fühlen_ die _Anwesenheit_ des _Fremden_ gar nicht. Es gibt also keinen _praktischen Solipsismus_: in wem ein Selbst ist, für den gibt es auch ein Selbst im Nebenmenschen; und nur wenn ein Mensch seinen (logischen und ethischen) Wesenskern eingebüßt hat, reagiert er auch auf den zweiten Menschen nicht mehr so, als ob dieser ein Mensch, ein Wesen mit durchaus eigener Persönlichkeit wäre. _Ich und Du sind eben Wechselbegriffe._ Am stärksten gelangt der Mensch zum Bewußtsein seiner selbst, wenn er mit anderen Menschen beisammen ist. Darum ist der Mensch in Gegenwart anderer Menschen stolzer, als wenn er allein ist, und bleibt es den Stunden seiner Einsamkeit aufgespart, seinen Übermut zu dämpfen. Endlich: wer sich tötet, der tötet gleichzeitig die ganze Welt; und wer den anderen mordet, begeht eben darum das schwerste Verbrechen, weil er in ihm sich gemordet hat. So ist denn jener Solipsismus im Praktischen ein Unding, und sollte lieber _Nihilismus_ genannt werden; wenn kein Du da ist, dann ist auch sicherlich nie ein Ich vorhanden, es bleibt hernach überhaupt -- nichts. Auf die psychologische _Verfassung_ kommt es an, welche es _unmöglich_ macht, den anderen Menschen als Mittel zum Zweck zu gebrauchen. Und da fand sich: _wer seine Persönlichkeit fühlt, der fühlt sie auch in anderen_. Für ihn ist das Tat-tvam-asi keine schöne Hypothese, sondern _Wirklichkeit_. _Der höchste Individualismus $ist$ der höchste Universalismus._ Schwer irrt also der Leugner des Subjektes, Ernst _Mach_, wenn er glaubt, nach dem Verzicht auf das eigene Ich sei erst ein ethisches Verhalten, »welches Mißachtung des fremden Ich und Überschätzung des eigenen ausschließt,« zu erwarten. Es hat sich eben gezeigt, wohin der Mangel eines eigenen Ich im Verhalten zum Nebenmenschen führt. _Das Ich ist Grundbedingung auch aller sozialen Moral._ Gegen eine bloße _Verknotungsstelle_ von »Elementen« werde ich mich, _rein psychologisch_, nie ethisch verhalten können. Als Ideal kann man das _aussprechen_; es ist aber dem praktischen Verhalten ganz entrückt, kann ihm nie als Norm dienen, _weil es die psychologische Bedingung aller Verwirklichung der sittlichen Idee $eliminiert$, während die moralische Forderung eben psychologisch $da ist$_. _Gerade umgekehrt handelt es sich darum, jedem Menschen bewußt zu machen, daß er ein höheres Selbst, eine Seele besitzt, und daß auch die anderen Menschen eine Seele besitzen._ (Dazu wird der größte Teil der Menschheit aber immer einen _Seelenhirten_ benötigen.) Erst hiemit ist ein ethisches Verhältnis zum Nebenmenschen _da, wirklich da_. Dieses Verhältnis aber ist im genialen Menschen in einzigster Weise verwirklicht. Niemand wird mit den Menschen, und darum an den Menschen, mit denen er lebt, so _leiden_ wie er. Denn in bestimmtem Sinne wird sicherlich der Mensch _nur_ »durch Mitleid wissend«. Ist Mitleid auch nicht selbst klares, abstrakt-begriffliches oder anschaulich-symbolisches Wissen, so ist es doch der stärkste Impuls, um zu allem Wissen zu gelangen. Nur durch Leiden _unter_ den Dingen begreift sie der Genius, nur durch Leiden _mit_ den Menschen versteht er diese. Und der Genius leidet am meisten, weil er mit allem und in allem leidet; aber am stärksten leidet er an seinem Mitleiden. Wurde in einem früheren Kapitel das Geniale zu erweisen gesucht als jener Faktor, der den Menschen erst eigentlich über das Tier erhebt, und zugleich damit die Tatsache in Verbindung gebracht, daß nur der Mensch eine Geschichte hat (diese erkläre sich aus der allen Menschen innewohnenden und nur graduell verschiedenen Genialität), so muß hierauf nun noch einmal zurückgegriffen werden. Genialität fällt zusammen mit lebendiger Tätigkeit des intelligiblen Subjektes. Und Geschichte offenbart sich nur im Sozialen, im »objektiven Geiste«, die Individuen an sich bleiben sich ewig gleich und schreiten nicht vor wie dieser (sie sind _das Ahistorische_). So sehen wir hier, wie unsere Fäden zusammenlaufen, um ein überraschendes Resultat zu erzeugen. Ist nämlich -- hierin glaube ich nicht zu irren -- die zeitlose menschliche Persönlichkeit auch Bedingung jedes wahrhaft ethischen Verhaltens auch gegen den Nebenmenschen, _Individualität $Voraussetzung$_ einer _sozialen_ Gesinnung, so wird damit auch klar, warum das »animal metaphysicum« und das »ζῷον πολιτικόν«, das geniale Geschöpf und der Träger einer Geschichte _eines_ sind, ein und dasselbe Wesen, _$nämlich$ der Mensch_. Und so ist auch die alte Streitfrage erledigt, was _früher_ da sei, _Individuum_ oder _Gemeinschaft_: $beide nämlich sind zugleich und miteinander da$. Hiemit betrachte ich denn in jeder Beziehung den Nachweis als geführt, daß Genialität _höhere Sittlichkeit_ überhaupt ist. Der bedeutende Mensch ist nicht nur der sich selbst treueste, der nichts von sich vergessende, der, dem Irrtum und Lüge am verhaßtesten, am unerträglichsten sind; er ist auch der sozialste, der einsamste zugleich der zweisamste Mensch. _Das Genie ist eine höhere Daseinsform überhaupt, nicht nur intellektuell, sondern auch moralisch. Der Genius offenbart ganz eigentlich $die Idee$ des Menschen. Er kündet, was der Mensch ist: das $Subjekt$, dessen $Objekt$ das $ganze$ Universum, und stellt das fest für ewige Zeiten._ Man lasse sich nicht irre machen. _Bewußtsein_, und _nur Bewußtsein_, ist an und für sich moralisch, alles Unbewußte unmoralisch, und alles Unmoralische unbewußt. Das »unmoralische Genie«, der »große böse Mensch« ist deshalb ein Fabeltier; von großen Menschen in bestimmten Augenblicken ihres Lebens als eine Möglichkeit ersonnen, um dann, sehr gegen den Willen der Schöpfer, für furchtsame und schwächliche Naturen einen Wauwau abzugeben, mit dem sie sich und andere Kinder schrecken. Es gibt keinen Verbrecher, der seiner Tat gewachsen wäre, der da dächte und spräche wie der _Hagen_ der »Götterdämmerung« an _Siegfrieds_ Leichnam: »Ja denn, ich hab ihn erschlagen, _ich, Hagen_, schlug ihn zu tot!« _Napoleon_ und _Baco von Verulam_, die man als Gegeninstanzen anführt, werden intellektuell bei weitem überschätzt oder falsch gedeutet. Und zu _Nietzsche_ darf man in diesen Dingen -- wenn er von den Borgias zu reden anfängt -- am wenigsten Vertrauen hegen. Die Konzeption des Diabolischen, des Antichrist, des Ahriman, des »Radikal-Bösen in der menschlichen Natur« ist überaus gewaltig. Mit dem Genie aber hat sie nur insoferne zu schaffen, als sie gerade sein Gegenteil ist. Sie ist eine Fiktion, geboren in den Stunden, da große Menschen gegen den Verbrecher in sich den entscheidenden Kampf gekämpft haben. Universelle Apperzeption, Allgemeinbewußtsein, vollkommene Zeitlosigkeit ist ein Ideal, auch für die »genialen« Menschen; _Genialität ist ein innerer Imperativ_, nie bei einem Menschen je gänzlich vollzogene _Tatsache_. Darum wird zu allerletzt ein »genialer« Mensch, er am allerwenigsten, von sich so einfach zu sagen imstande sein: »Ich _bin_ ein Genie.« Denn Genialität ist, ihrem Begriffe nach, nichts als gänzliche Erfüllung der Idee des Menschen, und darum genial etwas, das jeder Mensch sein _sollte_ und das zu werden _prinzipiell jedem Menschen möglich sein muß_. Denn Genialität ist höchste Sittlichkeit, und darum Pflicht eines jeden. Zum Genie wird der Mensch durch einen höchsten _Willensakt_, _indem er das ganze Weltall in sich bejaht_. Genialität ist etwas, das die »genialen Menschen« _auf sich genommen haben_: es ist die größte Aufgabe und der größte Stolz, das größte Unglück und das größte Hochgefühl, das einem Menschen möglich ist. So paradox es klingt: genial ist der Mensch, wenn er es sein _will_. Nun wird man freilich sagen: sehr viele Menschen möchten sehr gerne »Original-Genies« sein, und es hilft ihnen doch aller Wunsch nicht dazu. Aber wenn diese Menschen, die »es sehr gerne möchten«, eine lebhaftere Ahnung davon hätten, _was_ das, wonach ihr Wunsch verlangt, eigentlich _bedeutet_, wenn ihnen aufgegangen wäre, daß Genialität identisch ist mit _universeller Verantwortlichkeit_ -- und bevor einem etwas ganz klar ist, kann er es ja nur _wünschen_, nicht _wollen_ -- so ist wahrscheinlich, daß die weitaus größte Zahl der Menschen, genial zu werden, _ablehnen_ würde. Aus keinem anderen Grunde auch -- Toren glauben dann an die Nachwirkungen der Venus oder an die spinale Degeneration des Neurasthenikers -- verfallen so viele geniale Menschen dem _Irrsinn_. Es sind diejenigen, denen die Last zu schwer wurde, die ganze Welt gleich dem Atlas auf ihren Schultern zu tragen, und darum immer kleinere, minder hervorragende, nie die allergrößten, nie die stärksten Geister. Das Genie, das zum Irrsinnigen wird, _will nicht mehr Genie sein_; es will statt der Sittlichkeit -- das _Glück_. Denn aller Wahnsinn entsteht nur aus der Unerträglichkeit des an alle Bewußtheit geknüpften Schmerzes; und darum hat _Sophokles_ am tiefsten das Motiv angedeutet, warum ein Mensch auch seinen _Irrsinn wollen_ kann; indem er den Aias, dessen Geist denn auch zuletzt der Nacht verfällt, sagen läßt: ἐν τῷ φρονεῖν γὰρ μηδὲν ἥδιστος βίος. Ich beschließe dieses Kapitel mit den tiefen, an die erhabensten Momente des _Kant_ischen Stiles gemahnenden Worten des _Johann Pico von Mirandola_, für deren Verständnis ich hier vielleicht einiges getan habe. Er läßt, in seiner Rede »Über die Würde des Menschen« die Gottheit zum Menschen also sprechen: »Nec certam sedem, nec propriam faciem, nec munus ullum peculiare tibi dedimus, o Adam: ut quam sedem, quam faciem, quae munera tute optaveris, ea pro voto, pro tua sententia, habeas et possideas. Definita ceteris natura intra praescriptas a nobis leges coercetur; tu nullis angustiis coercitus, pro tuo arbitrio, in cuius manu te posui, tibi illam praefinies. Medium te mundi posui, ut circumspiceres inde commodius quicquid est in mundo. Nec te caelestem, neque terrenum, neque mortalem, neque immortalem fecimus, ut tui ipsius quasi arbitrarius honorariusque plastes et fictor in quam malueris tute formam effingas. Poteris in inferiora quae sunt bruta degenerare, poteris in superiora quae sunt divina, ex tui animi sententia regenerari. O summam Dei Patris liberalitatem, summam et admirandam hominis felicitatem: cui datum id habere quod optat, id esse quod velit. Bruta simul atque nascuntur id secum afferunt e bulga matris, quod possessura sunt. Supremi spiritus aut ab initio aut paulo mox id fuerunt, quod sunt futuri in perpetuas aeternitates. _Nascenti homini omniferaria semina et omnigenae vitae germina indidit Pater_; quae quisque excoluerit, illa adolescent et fructus suos ferent in illo: si vegetalia, planta fiet, si sensualia, obbrutescet, si rationalia, caeleste evadet animal, si intellectualia, angelus erit et Dei _filius_. _Et si nulla creaturarum sorte contentus in unitatis centrum suae se receperit, unus cum Deo spiritus factus, in solitaria Patris caligine qui est super omnia constitutus omnibus antestabit._« IX. Kapitel. Männliche und weibliche Psychologie. »De subjecto vetustissimo ....« _Galilei._ Es ist an der Zeit, zu der eigentlichen Aufgabe der Untersuchung zurückzukehren, um zu sehen, wie weit deren Lösung durch die längeren Einschiebungen gefördert worden ist, die oft ziemlich weit von ihr abzuführen schienen. Die Konsequenzen der entwickelten Grundsätze sind für eine Psychologie der Geschlechter so radikale, daß, auch wer zu den bisherigen Ableitungen seine Zustimmung gegeben hat, vor _diesen_ Folgerungen zurückscheuen dürfte. Es ist noch nicht der Ort, die Gründe dieser Scheu zu analysieren; aber um die nun aufzustellende These gegen alle Einwände, die aus ihr fließen werden, zu schützen, soll sie in diesem Abschnitt noch in ausgiebigster Weise durch zwingende Argumente vollständig gesichert werden. Worum es sich handelt, ist in Kürze dies. Es wurde gefunden, daß das logische und das ethische Phänomen, beide im Begriffe der Wahrheit zum höchsten Werte sich zusammenschließend, zur Annahme eines intelligiblen Ich oder einer Seele, als eines Seienden von höchster, hyperempirischer Realität, zwingen. _Bei einem Wesen, dem, wie $W$, das logische und das ethische Phänomen mangeln, entfällt auch der Grund, jene Annahme zu machen._ Das vollkommen weibliche Wesen kennt weder den logischen noch den moralischen Imperativ, und das Wort Gesetz, das Wort Pflicht, Pflicht gegen sich selbst, ist das Wort, das ihm am fremdesten klingt. Also ist der Schluß vollkommen berechtigt, daß ihm auch die übersinnliche Persönlichkeit fehlt. $Das absolute Weib hat kein Ich.$ Dies ist, in gewisser Beziehung, ein Abschluß der Betrachtung, ein Letztes, wozu alle Analyse des Weibes führt. Und wenn auch diese Erkenntnis, so kurz und bündig ausgesprochen, hart und unduldsam, paradox und von allzu schroffer Neuheit scheint: es ist, in einer solchen Sache, von vornherein kaum wahrscheinlich, daß der Verfasser der erste sei, welcher zu dieser Anschauung gelangt ist; wenn er auch selbständig wieder zu ihr den Weg finden mußte, um das Treffende der früheren ähnlichen Aussagen zu begreifen. Die _Chinesen_ sprechen seit ältester Zeit dem Weibe eine eigene Seele ab. Fragt man einen Chinesen nach der Zahl seiner Kinder, so zählt er nur die Knaben, und hat er bloß Töchter, so erklärt er, kinderlos zu sein.[35] Aus einem ähnlichen Grunde hat wohl _Mohammed_ die Frauen vom Paradiese ausgeschlossen, und die unwürdige Stellung, welche das weibliche Geschlecht in den Ländern islamitischer Religion einnimmt, hiedurch mitverschuldet. Von den Philosophen ist hier vor allem _Aristoteles_ zu nennen. Für ihn ist das männliche Prinzip bei der Zeugung das formende, aktive, der Logos, das weibliche vertritt die passive Materie. Erwägt man nun, wie für _Aristoteles_ Seele mit Form, Entelechie, Urbewegendem zusammenfällt, so ist klar, wie sehr er sich der hier ausgesprochenen Ansicht nähert, obwohl seine Anschauung nur dort zutage tritt, wo er vom Akte der Befruchtung redet; während ihm sonst mit fast allen Griechen außer _Euripides_ es gemeinsam zu sein scheint, daß er über die Frauen selbst nicht nachdenkt, und deshalb nirgends ein Standpunkt in Bezug auf die Eigenschaften des Weibes überhaupt (nicht nur in Ansehung seiner Rolle beim Begattungsakte) von ihm eingenommen wird. Unter den Kirchenvätern scheinen besonders _Tertullian_ und _Origenes_ sehr niedrig vom Weibe gedacht zu haben; indes _Augustinus_ schon durch das innige Verhältnis zu seiner Mutter davon hat abgehalten werden müssen, die Ansichten jener zu teilen. In der _Renaissance_ ist die Aristotelische Ansicht wieder mehrfach aufgenommen worden, z. B. von Jean _Wier_ (1518-1588). Damals scheint man diese überhaupt, gefühlsmäßig und intuitiv, besser verstanden und nicht bloß als Kuriosum betrachtet zu haben, wie das in der heutigen Wissenschaft üblich ist, die freilich noch zu anderen Verbeugungen vor der Aristotelischen Anthropologie sich einmal gewiß wird bequemen müssen. In den letzten Jahrzehnten haben dieselbe Erkenntnis Henrik _Ibsen_ (mit den Gestalten der _Anitra_, _Rita_ und _Irene_) und August _Strindberg_ (»Gläubiger«) ausgesprochen. Am populärsten aber ist der Gedanke von der Seelenlosigkeit des Weibes durch das wundervolle Märchen _Fouqués_ geworden, dessen Stoff dieser Romantiker aus dem, von ihm eifrig studierten, _Paracelsus_ geschöpft hat, und durch E. T. A. _Hoffmann_, _Girschner_ und Albert _Lortzing_, welche es in Musik gesetzt haben. _Undine, die seelenlose Undine, ist die platonische Idee des Weibes._ Trotz aller Bisexualität kommt ihr die Wirklichkeit meist sehr nahe. Die verbreitete Rede: »das Weib hat keinen Charakter« meint im Grunde auch nichts anderes. Persönlichkeit und Individualität, (intelligibles) Ich und Seele, Wille und (intelligibler) Charakter -- dies alles bezeichnet ein und dasselbe, das im Bereiche des Menschen nur M zukommt und W fehlt. Da aber die Seele des Menschen der Mikrokosmus ist, und bedeutende Menschen solche, welche durchaus _mit_ Seele leben, d. h. in denen die _ganze Welt lebendig_ ist, _so muß W absolut $un$genial veranlagt sein_. _Der Mann_ hat _alles_ in sich, und mag nur, nach den Worten _Picos von Mirandola_, dies oder jenes in sich besonders begünstigen. Er kann zur höchsten Höhe hinaufgelangen und aufs tiefste entarten, er kann zum Tiere, zur Pflanze, _er kann auch zum Weibe werden, und darum gibt es weibliche, weibische Männer_. $Aber die Frau kann nie zum Manne werden.$ Hier ist also die wichtigste Einschränkung an den Aufstellungen des ersten Teiles dieser Schrift vorzunehmen. _Während mir eine große Anzahl von Männern bekannt sind, die psychisch fast vollständig, und nicht etwa zur Hälfte nur, Weib sind, habe ich zwar schon sehr viele Frauen gesehen mit männlichen Zügen, aber noch nie auch nur eine einzige Frau, die nicht doch im Grunde Weib gewesen wäre_, wenn auch diese Weiblichkeit unter einer Menge verkleidender Hüllen vor dem Blicke der Person selbst, nicht nur der anderen, oft genug sich verbarg. Man _ist_ (vgl. Kapitel 1 des zweiten Teiles) _entweder_ Mann _oder_ Weib, so viel man auch von beiden Geschlechtern Eigentümlichkeiten haben mag, und dieses _Sein_, das Problem der Untersuchung von Anfang an, bestimmt sich jetzt nach dem Verhältnis eines Menschen zur Ethik und zur Logik; aber während es anatomische Männer gibt, die psychologisch Weiber _sind_, gibt es keine Personen, die körperlich Weiber und doch psychisch Männer _sind_; wenn sie auch in noch so vielen äußerlichen Beziehungen einen männlichen Aspekt gewähren, und einen unweiblichen Eindruck hervorbringen. Darum aber läßt sich mit Sicherheit nun folgende _abschließende_ Antwort auf die Frage nach der Begabung der Geschlechter geben: _es gibt wohl Weiber mit genialen Zügen, aber es gibt kein weibliches Genie, hat nie ein solches gegeben und kann nie ein solches geben_. Wer prinzipiell in solchen Dingen der Laxheit huldigen und den Begriff der Genialität so auftun und erweitern wollte, daß die Frauen unter ihm auch nur ein Fleckchen Raumes fänden, der würde diesen Begriff damit bereits _zerstört_ haben. Wenn überhaupt ein Begriff von Genialität in Strenge und Einheitlichkeit gewonnen und gewahrt werden soll und kann, so sind, wie ich glaube, keine anderen Definitionen von ihm möglich als die hier entwickelten. Wie könnte nach diesen ein seelenloses Wesen Genie haben? Genialität ist identisch mit _Tiefe_; und man versuche nur, tief und Weib wie Attribut und Substantiv miteinander zu verbinden: ein jeder hört den Widerspruch. _Ein weiblicher Genius ist demnach eine contradictio in adjecto_; denn Genialität war ja nur gesteigerte, voll entfaltete, höhere, allgemein bewußte Männlichkeit. Der geniale Mensch hat, wie alles, auch das Weib völlig in sich; aber das Weib selbst ist nur ein Teil im Weltall, und der Teil kann nicht das Ganze, Weiblichkeit also nicht Genialität in sich schließen. Die _Genielosigkeit_ des Weibes folgt unabwendbar daraus, daß das Weib keine Monade und somit kein Spiegel des Universums ist. Zum Nachweise der _Seelenlosigkeit_ des Weibes aber vereinigt sich der größte Teil alles dessen, was etwa in den vorigen Kapiteln zu ermitteln sollte gelungen sein. Das dritte Kapitel zunächst hat gezeigt, daß die Frau in Heniden, der Mann in gegliederten Inhalten lebt, daß das weibliche Geschlecht ein weniger _bewußtes_ Leben führt als das männliche. Bewußtsein ist aber _ein_ erkenntnistheoretischer und zugleich _der_ psychologische Fundamentalbegriff. Erkenntnistheoretisches Bewußtsein und Besitz eines kontinuierlichen Ich, transcendentales Subjekt und Seele sind vertauschbare Wechselbegriffe. Jedes Ich _ist_ nur in der Weise, daß es sich selbst fühlt, sich seiner in seinen Denkinhalten bewußt wird; alles Sein ist Bewußtsein. Aber es ist jetzt zu jener Theorie von den Heniden eine wichtige Erläuterung hinzuzufügen. Die artikulierten Denkinhalte des Mannes sind nicht einfach die auseinandergefalteten und geformten weiblichen, sie sind nicht bloß aktuell, was jene potentiell waren; sondern es steckt in ihnen von allem Anfang an noch ein _qualitativ anderes_. Die psychischen Inhalte des Mannes sind, selbst schon im ersten Henidenstadium, das sie stets zu überwinden trachten, bereits zur _Begrifflichkeit_ angelegt, und vielleicht tendiert selbst _alle Empfindung_ des Mannes von einem sehr frühen Stadium an _zum Begriffe_. Das Weib selbst ist durchaus unbegrifflich veranlagt, in seinem Wahrnehmen wie in seinem Denken. Das Prinzip aller Begrifflichkeit sind die logischen Axiome, und diese fehlen den Frauen; ihnen ist nicht das Prinzip der Identität Richtschnur, welches allein dem Begriff seine eindeutige Bestimmtheit verleihen kann, und sie machen sich nicht das principium contradictionis zur Norm, das einzig ihn, als völlig selbständigen, gegen alle anderen möglichen und wirklichen Dinge abgrenzt. Dieser Mangel an begrifflicher Bestimmtheit alles weiblichen Denkens ermöglicht jene »Sensitivität« der Frauen, die vagen Associationen ein schrankenloses Recht einräumt, und so häufig ganz fernliegende Dinge zum Vergleich heranzieht. Auch die Frauen mit dem besten und am wenigsten begrenzten Gedächtnis kommen über diese Manier der _Synästhesien_ nie hinaus. Gesetzt z. B., durch irgend ein Wort fühlten sie sich an eine bestimmte Farbe, durch einen Menschen an eine bestimmte Speise erinnert -- wie das wirklich bei Frauen oft genug vorkommt: in solchem Falle geben sie sich mit ihrer subjektiven Association vollständig _zufrieden_, sie suchen weder zu ergründen, warum ihnen gerade dieser Vergleich eingefallen, inwiefern er wirklich durch die tatsächlichen Verhältnisse nahegelegt sei, noch trachten sie weiter und eifriger über ihren Eindruck von dem Worte, von dem Menschen ins Klare zu kommen. Diese Genügsamkeit und Selbstzufriedenheit hängt mit dem zusammen, was früher als intellektuelle Gewissenlosigkeit des Weibes bezeichnet wurde, und gleich weiter unten nochmals zur Sprache kommen und in seinem Konnex mit dem Mangel an Begrifflichkeit erläutert werden soll. Jenes Schwelgen in rein gefühlsmäßigen Anklängen, jener Verzicht auf Begrifflichkeit und auf Begreiflichkeit, jenes _Sichwiegen_ ohne _Streben_ nach irgend einer Tiefe charakterisiert den schillernden Stil so vieler moderner Schriftsteller und Maler als einen eminent _weiblichen_. Männliches Denken scheidet sich von allem weiblichen grundsätzlich durch das Bedürfnis nach sicheren Formen, und so ist auch jede »Stimmungskunst« immer notwendig eine _formlose_ »Kunst«. Die psychischen Inhalte des Mannes können aus diesen Gründen nie einfach Heniden des Weibes in bloßer Weiterentwicklung in »expliciter« Form sein. Das Denken des Weibes ist ein Gleiten und ein Huschen zwischen den Dingen hindurch, ein Nippen von ihren obersten Flächen, denen der Mann, der »in der Wesen Tiefe trachtet«, oft gar keine Beachtung schenkt, es ist ein Kosten und ein Schmecken, ein _Tasten_, kein _Ergreifen_ des Richtigen. Darum, weil das Denken des Weibes vornehmlich eine Art _Schmecken_ ist, bleibt auch _Geschmack_, im _weitesten_ Sinne, die vornehmste weibliche Eigenschaft, das Höchste, was eine Frau selbständig erreichen, und worin sie es bis zu einer gewissen Vollendung bringen kann. Geschmack erfordert eine Beschränkung des Interesses auf Oberflächen, er geht auf den Zusammenklang des Ganzen, und verweilt nie bei scharf herausgehobenen Teilen. Wenn eine Frau einen Mann »versteht« -- über Möglichkeit und Unmöglichkeit solchen Verstehens wird noch zu handeln sein -- so _schmeckt_ sie sozusagen -- so geschmacklos gerade dieser Ausdruck sein mag -- _nach_, was er ihr _$vorgedacht$_ hat. Da es auf ihrer Seite hiebei eben nicht zu scharfer Unterscheidung kommen kann, so ist klar, daß an ein Verständnis von ihr selbst oft wird geglaubt werden, wo nur höchst vage Analogien in der Empfindung vorhanden sind. Als maßgebend für die _In_kongruenzen ist hiebei vor allem anzusehen, daß die Denkinhalte des Mannes nicht auf derselben Linie, und nicht etwa nur auf ihr weiter vorgerückt liegen als die des Weibes, sondern daß es _zwei_ Reihen sind, welche auf die gleichen Objekte sich erstrecken, eine begriffliche männliche und eine unbegriffliche weibliche, und eine im Verstehen ausgesagte Identifikation demnach _nicht nur_ zwischen einem entwickelten, differenzierten, späteren, und einem noch chaotischen, ungegliederten, früheren Inhalt _derselben_ Reihe erfolgen kann (wie im Falle des Ausdrucks, S. 154); sondern daß gerade im Verstehen zwischen Mann und Weib ein _begrifflicher_ Gedanke der einen Reihe einem _unbegrifflichen_ »Gefühle«, einer »Henide«, in der anderen gleichgesetzt wird. Die unbegriffliche Natur des Weibes ist aber, nicht minder als seine geringere Bewußtheit, ein Beweis dafür, daß es kein Ich besitzt. Denn erst der Begriff schafft den bloßen Empfindungskomplex zum _Objekt_ um, er macht ihn unabhängig davon, ob ich ihn empfinde oder nicht. Das Dasein des Empfindungskomplexes ist immer vom Willen des Menschen abhängig: dieser schließt das Auge, er verstopft das Ohr und sieht und hört schon nicht mehr, er berauscht sich oder sucht den Schlaf, und vergißt. Erst der _Begriff_ emanzipiert von der ewig subjektiven, ewig psychologisch-relativen Tatsache des _Empfindens_, er schafft die _Dinge_. Durch seine begriffliche Funktion stellt sich der Intellekt selbsttätig ein Objekt _gegenüber_; und umgekehrt kann nur, wo eine begriffliche Funktion da ist, von Subjekt und Objekt gesprochen werden, nur dort sind beide voneinander unterscheidbar; in jedem anderen Falle ist nur ein Haufe ähnlicher und unähnlicher Bilder vorhanden, die ineinander ohne jede Regel und Ordnung verschwimmen und übergehen. Der Begriff schafft also die frei in der Luft schwebenden _Impressionen zu Gegenständen_ um, er zeugt aus der Empfindung ein Objekt, dem das Subjekt gegenübertritt, einen Feind, an dem es seine Kräfte mißt. So ist der Begriff konstitutiv für alle Realität; nicht als ob der Gegenstand selbst nur so weit Realität besäße, als er Anteil hätte an einer jenseits der Erfahrung in einem τόπος νοητός liegenden Idee und nur eine unvollkommene Projektion, ein stets mißlungenes Abbild dieser darstellte: sondern umgekehrt, _insofern sich auf irgend etwas die begriffliche Funktion unseres Intellektes erstreckt, insofern und nur insofern wird es zum realen Ding_. Der _Begriff_ ist das »_transcendentale Objekt_« der _Kant_schen Vernunftkritik, als welches aber stets nur einem _transcendentalen Subjekte_ korrespondiert. Denn nur aus dem Subjekte stammt jene rätselhafte objektivierende Funktion, die jenen _Kant_schen »Gegenstand X«, auf den alle _Erkenntnis_ sich erst _richtet_, selbst _hervorbringt_, und die ja als identisch mit den logischen Axiomen erkannt wurde, in welchen wieder nur das Dasein des Subjektes zum Ausdruck gelangt. Das principium contradictionis nämlich grenzt den Begriff ab gegen alles, was nicht er selbst ist; das principium identitatis ermöglicht seine Betrachtung, als ob er allein auf der Welt wäre. Ich kann nie von einem rohen Empfindungskomplexe sagen, daß er sich selbst gleich sei; in dem Augenblick, wo ich das Urteil der Identität auf ihn anwende, ist er bereits begrifflich geworden. So verleiht erst der Begriff allem Wahrnehmungsgebilde und allem Gedankengespinst seine _Würde_ und seine _Strenge_: _der Begriff $befreit$ jeden Inhalt, indem er ihn $bindet$_. Und hier wird abermals offenbar, wie alle Freiheit Selbstbindung ist, in der Logik wie in der Ethik. Frei wird der Mensch allein, indem er selbst das Gesetz wird: nur so entgeht er der Heteronomie, der Bestimmung durch anderes und durch andere, die unausbleiblich an jede Willkür geknüpft ist. Deshalb ist auch die begriffliche Funktion eine _Selbstehrung_ des Menschen; er ehrt _sich_, indem er seinem Objekte die Freiheit gibt und es verselbständigt, als den allgemeingültigen _Gegenstand der Erkenntnis_, auf den rekurriert wird, wo immer zwei Männer über eine Sache streiten mögen. -- Nur die Frau steht nie Dingen _gegenüber_, sie springt mit ihnen und in ihnen mit sich nach Belieben um: sie kann dem Objekte keine Freiheit schenken, da sie selbst keine hat. Die Verselbständigung der Empfindung im Begriffe ist aber nicht sowohl eine Loslösung vom _Subjekte_, als eine Loslösung von der _Subjektivität_. Der Begriff ist vielmehr eben das, worüber _ich_ denke, schreibe und spreche. Darin liegt der Glaube, daß ich nichtsdestoweniger noch in einer Beziehung zu ihm stehe, und _dieser_ Glaube ist das Wesen des $Urteils$. Wenn die immanenten Psychologisten, _Hume_, _Huxley_, _Mach_, _Avenarius_, sich mit dem _Begriff_ noch so abzufinden suchten, daß sie ihn mit der Allgemeinvorstellung identifizierten, und zwischen logischem und psychologischem Begriff keine Unterscheidung mehr trafen: so ist es hingegen sehr bezeichnend, daß sie das _Urteil_ einfach ignorieren, ja, tun müssen, als ob es nicht da wäre. Sie können, von ihrem Standpunkt aus, für _das allem Empfindungsmonismus Fremde_, das im Urteils_akte_ enthalten ist, keinerlei Verständnis sich gestatten. Im Urteil liegt Anerkennung oder Verwerfung, Billigung oder Mißbilligung bestimmter Dinge, und der Maßstab dieser Billigung -- _die Idee der Wahrheit_ -- kann nicht selbst in den Wahrnehmungskomplexen gelegen sein, die beurteilt werden. Für wen es nichts als Empfindungen gibt, für den sind notwendig alle Empfindungen _gleichwertig_, die Aussichten der einen nicht größer als die der anderen, Baustein einer realen Welt zu werden. So vernichtet gerade der _Empirismus_ die Wirklichkeit der _Erfahrung_, und entpuppt sich der _Positivismus_ trotz des »solid« und »reell« klingenden Titels seiner Firma als der wahre _Nihilismus_ -- wie so manches der Ehrbarkeit volle geschäftliche Unternehmen als ein schwindelhafter Luftbau. Der Gedanke eines _Maßes_ der Erfahrung, der _Wahrheitsgedanke_, kann nicht schon in der _Erfahrung_ gelegen sein. _In jedem Urteil aber liegt gerade dieser Anspruch auf Wahrheit_, es erhebt implicite, auch wenn es mit noch so vielen, subjektiv einschränkenden, Zusätzen versehen wird, die Forderung seiner objektiven Gültigkeit eben in der restringierten Form, die ihm sein Urheber gab. Wer etwas in der Weise eines Urteils ausspricht, wird so behandelt, als verlangte er die allgemeine Anerkennung für das, was er sagt; und erklärt er, daß ihm diese Hoffnung fern gelegen sei, so wird er mit Recht zu hören bekommen, daß er sich eines Mißbrauches der Urteilsform schuldig gemacht habe. Demnach ist es richtig, daß in der urteilenden Funktion der Anspruch auf _Erkenntnis_, das heißt _auf die Wahrheit des Geurteilten_, gelegen sei. Dieser Anspruch auf Erkenntnis besagt nicht mehr und nicht weniger, als daß das Subjekt über das Objekt zu _urteilen_, über es _Richtiges_ auszusagen _vermöge_. Die Objekte, über die geurteilt wird, sind _Begriffe_: der Begriff ist der Gegenstand der Erkenntnis. Der Begriff stellte dem Subjekt ein Objekt _gegenüber_; _durch das Urteil wird wiederum die Möglichkeit einer Verbindung_ und Verwandtschaft _zwischen ihnen behauptet_. Denn die Wahrheitsforderung heißt so viel, daß das Subjekt über das Objekt auch richtig urteilen _könne_; _und so liegt in der Urteilsfunktion der $Beweis$ eines Zusammenhanges zwischen dem Ich und dem All_, ja der Möglichkeit ihrer vollen Einheit; diese Einheit, und nichts anderes, nicht die _Übereinstimmung_, sondern die _Identität_ von Sein und Denken ist _Wahrheit_; nie eine dem Menschen als Menschen je erreichbare _Tatsache_[36], immer nur eine ewige _Forderung_. So ist das Urteilsvermögen, in der Voraussetzung, die ihm am allgemeinsten zu Grunde liegt, nur der trockene _logische Ausdruck der Theorie von der Seele des Menschen als des Mikrokosmus_. Und die viel verhandelte Frage, was vorhergehe, Begriff oder Urteil, wird wohl dahin entschieden werden müssen, daß keinem von beiden eine Priorität vor dem anderen zukomme, vielmehr beide einander notwendig bedingen. Denn alle Erkenntnis geht auf einen Gegenstand, Erkennen aber vollzieht sich in der Form des Urteilens und sein Gegenstand ist der Begriff. Die begriffliche Funktion hat Subjekt und Objekt gespalten, und jenes einsam gemacht: wie alle Liebe, so sucht damit sogleich auch die Sehnsucht des Erkenntnistriebes das Entzweite wieder zu einen. Fehlt einem Wesen, wie dem echten Weibe, die begriffliche, so mangelt ihm deshalb notgedrungen gleichzeitig die urteilende Tätigkeit. Man wird diese Behauptung eine lächerliche Paradoxie nennen, weil ja doch die Frauen genug _sprechen_ (wenigstens hat sich niemand über das Gegenteil beklagt), und alles Sprechen Ausdruck von Urteilen sei. Aber eben dieses letztere ist nicht richtig. Der _Lügner_ z. B., den man gegen die tiefere Bedeutung des Urteilsphänomens gewöhnlich ins Feld führt, _urteilt gar nicht_ (es gibt eine »innere Urteilsform«[37] wie eine »innere Sprachform«), indem er eben, lügend, an das, was er sagt, gar nicht den Maßstab der Wahrheit anlegt; und, wenn er für die Lüge auch noch so allgemeine Anerkennung erzwingen will, eben seine eigene Person hievon ausnimmt und damit die objektive Gültigkeit dahin ist. Wer sich hingegen selbst belügt, fragt vor dem inneren Forum seine Gedanken nicht nach ihren Rechtsgründen, würde sich aber wohl hüten, sie vor einem äußeren zu vertreten. Es kann also jemand die äußere sprachliche Form des Urteils sehr wohl wahren, ohne seiner inneren Bedingung gerecht geworden zu sein. Diese innere Bedingung ist aufrichtige Anerkennung der Idee der Wahrheit als obersten Richters über alle Aussagen, und herzliches Begehren, vor diesem Richter mit jedem Ausspruche, den man tue, bestehen zu können. Man steht aber zur Idee der Wahrheit in einem Verhältnis überhaupt und ein für alle Male, und nur aus einem solchen kann Wahrhaftigkeit sowohl den Menschen, als den Dingen, als auch sich selbst gegenüber fließen. Darum ist die eben getroffene Einteilung in Lüge vor sich und Lüge vor anderen falsch, und wer _subjektiv verlogen_ ist, wie das von der Frau bereits hervorgehoben wurde und noch sehr ausführlich auseinandergesetzt werden wird, der kann auch kein Interesse an der _objektiven_ Wahrheit besitzen. Das Weib hat keinen Eifer für die Wahrheit -- darum ist es nicht _ernst_ -- darum nimmt es auch keinen Anteil an _Gedanken_. Es gibt eine Menge weiblicher Schriftstellerinnen, aber _Gedanken_ vermißt man in allem, was weibliche Künstler je geschaffen haben, und so gering ist diese Liebe zur (objektiven) Wahrheit, daß sie Gedanken meist nicht einmal zu _borgen_ der Mühe wert finden. Kein Weib hat wirkliches Interesse für die Wissenschaft, sie mag es sich selbst und noch so vielen braven Männern, aber schlechten Psychologen, vorlügen. Man kann sicher sein, daß, wo immer eine Frau irgend etwas nicht _ganz_ Unerhebliches in wissenschaftlichen Dingen selbständig geleistet hat (Sophie _Germain_, Mary _Somerville_ etc.), dahinter stets ein Mann sich verbirgt, dem sie auf diese Weise näher zu kommen trachtete; und viel allgemeiner als für den Mann das »Cherchez la femme« gilt für die Frauen ein »Cherchez l'homme«. Bedeutendere Leistungen hat es aber selbst auf dem Gebiete der Wissenschaft von weiblicher Seite nie gegeben. Denn die Fähigkeit zur Wahrheit stammt nur aus dem Willen zur Wahrheit, und ist stets diesem in ihrer Stärke angemessen. Darum ist auch der Wirklichkeitssinn der Frauen, so oft auch das Gegenteil behauptet worden ist, viel geringer als jener der Männer. Ihnen ordnet sich die Erkenntnis stets einem fremden Zwecke unter, und wenn die Absicht auf diesen intensiv genug ist, dann mögen die Frauen sehr scharf und unbeirrt blicken; was Wahrheit an sich und um ihrer selbst willen für einen Wert haben solle, wird eine Frau nie und nimmer einzusehen imstande sein. Wo also Täuschung seinen (oft unbewußten) Wünschen _entgegenkommt_, dort wird das Weib gänzlich unkritisch, und verliert jede Kontrolle über die Realität. Daraus erklärt sich der feste Glaube so mancher Frauen, von sexuellen Attacken bedroht worden zu sein, daraus die ungemeine Häufigkeit der Halluzinationen des Tastsinnes beim weiblichen Geschlechte, von deren intensivem Realitätscharakter der Mann nicht leicht eine Vorstellung sich bilden mag; denn die Phantasie des Weibes ist Irrtum und Lüge, die Phantasie des Mannes hingegen, als Künstlers oder Philosophen, erst höhere Wahrheit. Der Wahrheitsgedanke aber liegt allem, was den Namen _Urteil_ verdient, zu Grunde. Urteilen ist die Form alles Erkennens, und Denken selbst heißt nichts anderes als urteilen. Die Norm des Urteils ist der Satz vom Grunde, gleichwie die Sätze vom Widerspruch und von der Identität den Begriff (als die Norm der Essenz) konstituieren. Daß die Frau den Satz vom Grunde _nicht_ anerkennt, darauf wurde schon hingewiesen. Alles Denken ist Ordnen des Mannigfaltigen zur Einheit; im Satz vom Grunde, der die Berechtigung jedes Urteils von einem logischen Erkenntnisgrunde abhängig macht, liegt der Gedanke der _Einheitsfunktion_ unseres Denkens _mit Bezug_ auf die Mannigfaltigkeit, und _trotz_ derselben; indes die drei anderen logischen Axiome nur ein Ausdruck des _Seins_ der Einheit selbst ohne Beziehung auf eine Mannigfaltigkeit sind. Beide sind darum nicht aufeinander zurückzuführen, _vielmehr ist darin, daß sie zweierlei sind, der formal-logische Ausdruck des Dualismus in der Welt, der Existenz einer Vielheit neben der Einheit zu erblicken_. Jedenfalls hatte _Leibniz_ recht, als er beide unterschied, und jede Theorie, die dem Weibe die Logik abspricht, muß nicht nur vom Satz des Widerspruchs (und der Identität), der sich auf den Begriff bezieht, sondern ebenso vom Satz des Grundes, dessen Gewalt das Urteil untersteht, nachweisen, daß es ihn nicht begreife und ihm sich nicht beuge. In der intellektuellen Gewissenlosigkeit der Frau liegt dieser Nachweis. Hat einmal ein Weib einen theoretischen Einfall, so verfolgt es ihn nicht weiter, es bringt ihn nicht in Beziehung zu anderem, _es denkt nicht $nach$_. Deshalb kann es am wenigsten einen weiblichen Philosophen geben; es fehlt die Ausdauer, die Zähigkeit, die Beharrlichkeit des Denkens und alle Motive zu diesem, und daß eine Frau an _Problemen litte_, davon kann zu allerletzt die Rede sein. Man schweige nur von den Weibern, denen nicht zu helfen ist. Der problematische Mann will erkennen, das problematische Weib will doch nur erkannt werden. Ein _psychologischer_ Beweis für die _Männlichkeit der Urteilsfunktion_ ist dieser, _daß das Urteilen vom Weibe als männlich empfunden wird, und wie ein (tertiärer) Sexualcharakter anziehend auf es_ wirkt. Die Frau _verlangt_ vom Manne stets bestimmte Überzeugungen, die sie übernehme; für den _Zweifler_ im Manne geht ihr jegliches Verständnis, welcher Art immer, ab. Auch erwartet sie stets, daß der Mann _rede_, und die Rede des Mannes ist ihr ein Zeichen von Männlichkeit. Den Frauen ist zwar die Gabe der Sprache, aber nicht so die der Rede verliehen; eine Frau konversiert (kokettiert) oder schnattert, aber sie redet nicht. Am gefährlichsten aber ist sie, wenn sie stumm ist: denn der Mann ist nur allzugeneigt, Stummheit für Schweigen zu nehmen. So ist nicht nur von den logischen Normen, sondern auch von den Funktionen, welche durch diese Grundsätze geregelt werden, von der begrifflichen und der urteilenden Tätigkeit, bewiesen, daß W ihrer entbehrt. Da aber die Begrifflichkeit ihrem Wesen nach darin besteht, einem _Subjekt_ sein Objekt gegenüberzustellen, und im Urteilen die Urverwandtschaft und tiefste Wesenseinheit des Subjektes mit seinem Objekte zum Ausdruck kommt, so muß der Frau abermals der Besitz eines Subjektes aberkannt werden. An den Nachweis der Alogizität des absoluten Weibes hat sich der Nachweis seiner Amoralität im einzelnen zu schließen. Die tiefe Verlogenheit des Weibes, welche aus dem Mangel eines Verhältnisses zur Idee der Wahrheit, wie zu den Werten überhaupt, freilich schon hier sich ergibt, muß noch so eingehend Gegenstand der Besprechung werden, daß hier zunächst andere Momente sollen hervorgekehrt sein. Es gilt dabei unausgesetzt einen besonderen Scharfsinn und eine große Vorsicht; denn es gibt so unendlich viele Imitationen des Ethischen, ja so täuschende Kopien der Moral, daß die Sittlichkeit der Frauen wohl von vielen stets höher als die der Männer wird gewertet werden. Ich habe schon die Notwendigkeit der Distinktion zwischen _a_moralischem und _anti_moralischem Verhalten betont, und wiederhole, daß nur von ersterem, welches eben gar keinen Sinn für die Moral, und gar keine Richtung mit Bezug auf dieselbe involviert, beim echten Weibe die Rede sein kann. Es ist eine aus der Kriminalstatistik wie aus dem täglichen Leben wohl bekannte Tatsache, daß von Frauen unvergleichlich weniger Verbrechen begangen werden als von Männern. Auf diese Tatsache berufen sich denn auch immer die geschäftigen Apologeten der Sittenreinheit des Weibes. Aber bei der Entscheidung der Frage nach der weiblichen Sittlichkeit kommt es nicht darauf an, ob jemand objektiv gegen die Idee gesündigt hat; sondern nur darauf, ob er einen subjektiven Wesenskern hat, der in ein Verhältnis zur Idee treten konnte, und dessen Wert er in Frage stellte, als er fehlte. Gewiß wird der Verbrecher mit seinen verbrecherischen Trieben geboren, aber nichtsdestoweniger fühlt er selbst, trotz aller Theorien von der »moral insanity«, daß er durch seine Tat seinen Wert und sein Recht auf das Leben verwirkt hat; denn es gibt nur feige Verbrecher, und keinen, dessen Stolz und Selbstbewußtsein durch die böse Tat erhöht und nicht vermindert worden wäre, keinen, der es übernähme, sie zu rechtfertigen. Der männliche Verbrecher hat ebenso von Geburt an ein Verhältnis zur Idee des Wertes wie jener andere Mann, dem die verbrecherischen Triebe, die den ersten beherrschen, fast völlig mangeln. Das Weib hingegen behauptet oft im vollen Rechte zu sein, wenn es die denkbar größte Gemeinheit begangen hat; während der echte Verbrecher stumpfsinnig auf alle Vorwürfe _schweigt_, kann eine Frau empört ihrer Verwunderung und Entrüstung darüber Ausdruck geben, daß man ihr gutes Recht, so oder so zu handeln, in Zweifel ziehe. Frauen sind überzeugt _von_ ihrem »Rechte«, ohne je _über_ sich zu Gericht gesessen zu sein. Der Verbrecher geht zwar auch nie in sich, aber er behauptet auch nie sein Recht; er geht vielmehr dem Gedanken des Rechtes hastig aus dem Wege, weil es ihn an seine Schuld erinnern könnte: und hier liegt auch der Beweis, daß er ein Verhältnis zur Idee _hatte_, und nur an seine Untreue gegen sein besseres Selbst nicht erinnert werden will. _Kein Verbrecher hat noch wirklich geglaubt, daß ihm Unrecht geschehen sei durch die Strafe_[38]; die Frau hingegen ist überzeugt von der Böswilligkeit ihrer Ankläger; und, wenn _sie nicht will_, kann ihr niemand beweisen, daß sie Unrecht getan habe. Wenn ihr jemand zuredet, so kommt es freilich oft vor, daß sie in Tränen ausbricht, um Verzeihung bittet und »ihr Unrecht einsieht«, ja wirklich glaubt, dieses Unrecht aufrichtig zu fühlen; aber immer nur, wenn sie dazu die Lust empfunden hat; denn diese Auflösung im Weinen bereitet ihr stets ein gewisses wollüstiges Vergnügen. Der Verbrecher ist verstockt, er läßt sich nicht im Nu umdrehen, wie der scheinbare Trotz einer Frau in ein ebenso scheinbares Schuldgefühl sich verkehren läßt, wenn der Ankläger sie entsprechend zu behandeln versteht. Die einsame Pein der Schuld, die am Bette weinend sitzt und vergehen möchte vor Scham über den Makel, mit dem sie sich beladen hat, die kennt kein Weib, und eine scheinbare Ausnahme (die Büßerin, die den Leib kasteiende Betschwester) wird später ebenfalls zeigen, daß _eine Frau stets nur zu zweien sich sündhaft fühlt_. Ich behaupte also nicht, daß die Frau böse, antimoralisch ist; ich behaupte, _daß sie vielmehr böse gar nie sein kann_; sie ist nur amoralisch, _gemein_. Das weibliche Mitleid und die weibliche Schamhaftigkeit sind die beiden anderen Phänomene, auf welche der Schätzer weiblicher Tugend insgemein sich beruft. Speziell die weibliche Güte, das weibliche Mitgefühl haben zu der schönen Sage von der Psyche des Weibes den meisten Anlaß gegeben, und das letzte Argument alles Glaubens an die höhere Sittlichkeit der Frau ist die Frau als Krankenpflegerin, als barmherzige Schwester. Ich erwähne diesen Punkt ungern und hätte ihn nicht berührt, bin aber durch einen Einwand, der mir mündlich gemacht wurde und dem voraussichtlich weitere folgen werden, hiezu gezwungen. Es ist kurzsichtig, wenn man die Krankenpflege der Frauen für einen Beweis ihres Mitleids hält, indem vielmehr gerade das Gegenteil aus ihr folgt. Denn der Mann könnte die Schmerzen des Kranken nie mitansehen, er müßte unter ihnen so leiden, daß er völlig aufgerieben würde, und wartende Pflege des Patienten wäre ihm ganz unmöglich. Wer Krankenschwestern beobachtet, nimmt mit Erstaunen wahr, daß diese gleichmütig und »sanft« bleiben, selbst unter den furchtbarsten Krämpfen eines Sterbenden; und so ist es gut; denn der Mann, der Qualen und Tod nicht mitmachen kann, wäre dem Kranken ein schlechter Pfleger. Der Mann würde die Qualen lindern, den Tod aufhalten, mit einem Worte, er würde _helfen_ wollen; wo nicht zu helfen ist, da ist kein Platz für ihn, da kann allein die Pflege in ihr Recht treten, und für diese eignet sich nur das Weib. Man ist aber völlig im Unrecht, wenn man die Tätigkeit der Frauen auf diesem Ressort anders als vom utilitaristischen Standpunkt schätzen zu können glaubt. Dazu tritt noch, daß für die Frau das _Problem_ von Einsamkeit und Gesellschaft gar nicht existiert. Sie schickt sich gerade deshalb besonders gut zur Gesellschafterin (Vorleserin, Krankenpflegerin), weil sie nie aus einer Einsamkeit heraustritt in eine Mehrsamkeit. _Dem Manne wird Einsamkeit und Mehrsamkeit immer irgendwie Problem, wenn auch oft nur eine von beiden zur Möglichkeit_. Die Frau verläßt keine Einsamkeit, um den Kranken zu pflegen, wie sie es tun müßte, auf daß ihre Tat wirklich sittlich könnte genannt werden; _denn eine Frau ist $nie$ einsam_, sie kennt nicht die Liebe zur Einsamkeit und nicht die Furcht vor ihr. _Die Frau lebt stets, auch wenn sie allein ist, in einem Zustande der $Verschmolzenheit$ mit allen Menschen, die sie kennt_: ein Beweis, daß sie keine Monade ist, denn alle Monaden haben _Grenzen_. Die Frauen sind ihrer Natur nach unbegrenzt, aber nicht unbegrenzt wie der Genius, dessen Grenzen mit denen der Welt zusammenfallen; sondern sie _trennt_ nie etwas Wirkliches von der Natur oder von den Menschen.[39] Dieses Verschmolzensein ist etwas durchaus _Sexuelles_, und dementsprechend äußert sich alles weibliche Mitleid in _körperlicher Annäherung_ an das bemitleidete Wesen, es ist tierische Zärtlichkeit, es muß streicheln und trösten. Wieder nur ein Beweis für das Fehlen jenes harten Striches, der stets zwischen Persönlichkeit und Persönlichkeit gezogen ist! Die Frau ehrt nicht den Schmerz des Nebenmenschen durch Schweigen, sie glaubt ihn durch Zureden aufheben zu können: so sehr fühlt sie sich mit ihm verbunden, als natürliches, nicht als geistiges Wesen. Und wo die Sexualität erloschen ist, dort fehlt auch jedes Mitleid: im alten Weib ist nie auch nur ein Funken jener angeblichen Güte mehr, und so liefert das Greisenalter der Frau den indirekten Beweis, wie all ihr Mitleid nur eine Form sexueller Verschmolzenheit war, _selbst_ wenn es auf ein gleichgeschlechtliches Wesen sich bezog. Das _verschmolzene_ Leben, eine der wichtigsten und am tiefsten führenden Tatsachen des weiblichen Daseins, ist auch der Grund der Rührseligkeit aller Frauen, jener gemeinen Willigkeit und Leichtigkeit und Schamlosigkeit des Tränenergusses. Nicht umsonst kennt man nur Klageweiber, und achtet einen in Gesellschaft weinenden Mann nicht sehr hoch. Wenn jemand weint, so weint die Frau mit, wie sie stets mitlacht, wenn ein anderer, außer über sie selbst, lacht: und damit ist ein guter Teil des weiblichen Mitleidens auch bereits erschöpft. Nur das Weib jammert so recht andere Menschen _an_, weint sie _an_ und _verlangt_ ihr Mitleid. Hierin liegt einer der stärksten Beweise der psychischen Schamlosigkeit des Weibes. Die Frau provoziert das Mitleid der Fremden, um _mit diesen_ weinen und sich selbst so noch mehr bedauern zu können, als sie es bereits tat. Ja, es ist nicht zu viel behauptet, daß das Weib, auch wenn es allein weint, stets _mit_weine mit anderen, denen es in Gedanken sein Leid klagt, wodurch es selbst sehr heftig gerührt wird. »Mitleid mit sich selbst« ist eine eminent weibliche Eigenschaft: die Frau stellt sich zuerst in eine Reihe mit den anderen, _macht sich zum Objekt des Mitleidens anderer_, und beginnt nun, tief ergriffen, _mit_ ihnen über sich, »die Arme«, mitzuweinen. Aus diesem Grunde schämt sich der Mann vielleicht keiner anderen Regung so sehr, als wenn er sich auf einem Impuls zu diesem sogenannten »Mitleid mit sich selbst« ertappt, _in dem das Subjekt tatsächlich Objekt wird_. Das weibliche Mitleid, an das selbst _Schopenhauer_ geglaubt hat, ist ein Schluchzen und Heulen überhaupt, beim geringsten Anlaß, ohne die schwächste Bemühung, aus Scham die Regung zu unterdrücken; denn wie alles wahre Leiden, so müßte auch wahres Mitleiden, sofern es eben wirklich Leiden wäre, schamhaft sein; ja kein Leid kann so schamhaft sein wie das Mitleid und die Liebe, weil diese beiden am stärksten die unübersteigbaren _Grenzen_ jeder Individualität zum _Bewußtsein_ bringen. Von der Liebe und ihrer Schamhaftigkeit kann erst später gehandelt werden; im _Mitleid_ aber, im echten männlichen Mitleiden, liegt immer Beschämung, Schuldbewußtsein, weil es mir nicht so schlecht geht wie diesem, weil ich nicht er, sondern ein von ihm, auch durch äußerliche Umstände, _getrenntes_ Wesen bin. _Das männliche Mitleid ist das über sich selbst errötende principium individuationis; darum ist alles weibliche Mitleid zudringlich, das männliche versteckt sich._ Was es mit der Schamhaftigkeit der Frauen für eine Bewandtnis habe, das ist hierin zum Teil schon ausgesprochen; zum Teil kann es ebenfalls erst später, mit dem Thema der Hysterie zusammen, abgehandelt werden. Wie man angesichts des naiven Eifers, mit dem alle Frauen, wo die gesellschaftliche Konvention es nur gestattet, ihre Decolletage betreiben, noch an einer angeborenen inneren Schamhaftigkeit als der Tugend des weiblichen Geschlechtes festhalten könne, ist nicht einzusehen: man _ist_ entweder schamhaft oder man _ist_ es nicht, und das ist keine Schamhaftigkeit, die man in gewissen Augenblicken regelmäßig spazieren schickt. Der absolute Beweis für die Schamlosigkeit der Frauen (und ein Hinweis darauf, _woher_ die Forderung der Schamhaftigkeit wohl eigentlich stammen mag, welcher die Frauen äußerlich oft so peinlich nachkommen) liegt jedoch darin, daß Frauen untereinander sich immer ungescheut völlig entblößen, während Männer voreinander stets ihre Nacktheit zu bedecken suchen. Wenn Frauen allein sind, werden eifrige Vergleiche zwischen den körperlichen Reizen der einzelnen angestellt, und oft alle Anwesenden einer genauen und eingehenden Visitierung unterzogen, die nicht ohne Lüsternheit erfolgt, weil stets der Wert, den der Mann auf diesen oder jenen Vorzug legen werde, unbewußt der Hauptgesichtspunkt bleibt. Der einzelne Mann hat kein Interesse für die Nacktheit des zweiten Mannes, während jede Frau auch die andere Frau in Gedanken stets entkleidet, und eben hiedurch die allgemeine interindividuelle Schamlosigkeit des Geschlechtes beweist. Dem Manne ist es peinlich und unangenehm, sich die Sexualität seines Nebenmannes zu vergegenwärtigen; die Frau sucht sofort in Gedanken die geschlechtlichen Beziehungen auf, in denen eine zweite Frau stehen mag, sobald sie diese nur kennen lernt; ja sie wertet die andere immer ausschließlich nach dem »Verhältnis«. Ich komme hierauf noch sehr ausführlich zurück; indessen trifft die Darstellung nun zum ersten Male mit jenem Punkte wieder zusammen, der im zweiten Kapitel dieses Teiles besprochen wurde. Wessen man sich schämt, dessen muß man sich _bewußt_ sein, und wie zur Bewußtheit, so ist auch zum Schamgefühl stets Differenzierung vonnöten. Die Frau, die nur sexuell ist, kann _asexuell zu sein scheinen, weil sie die Sexualität selbst ist_, und hier nicht die Geschlechtlichkeit körperlich und psychisch, räumlich und zeitlich sich _abhebt_ wie beim Manne; die Frau, die stets schamlos ist, kann den Eindruck der Schamhaftigkeit machen, _weil es bei ihr keine Scham zu verletzen gibt_. Und so ist die Frau auch nie nackt oder stets nackt, wie man es haben will: nie nackt, weil sie nie zum echten Gefühle einer Nacktheit wirklich gelangt; stets nackt, weil ihr eben das andere fehlt, das vorhanden sein müßte, um ihr je zum _Bewußtsein_ zu bringen, daß sie (objektiv) nackt ist, und so ein innerer Impuls zur Bedeckung werden könnte. Daß man auch unter Kleidern nackt sein kann, ist freilich etwas, das blödem Blicke nicht einleuchtet, aber es wäre ein schlimmes Zeugnis, das ein Psychologe sich ausstellte, wenn er aus der Tatsache des Gewandes schon auf den geringsten Mangel an Nacktheit schließen wollte. Und eine Frau ist objektiv stets nackt, selbst unter der Krinoline und dem Mieder.[40] Dies alles hängt damit zusammen, was das Wort Ich für die Frau denn eigentlich immer bedeutet. Wenn man eine Frau fragt, was sie unter ihrem Ich verstehe, so vermag sie nichts anderes sich darunter vorzustellen als ihren Körper. Ihr _Äußeres_, das ist das Ich der Frauen. _Machs_ »Zeichnung des Ich« in seinen »Antimetaphysischen Vorbemerkungen« stellt also ganz richtig das Ich des vollkommenen Weibes dar. Wenn E. _Krause_ sagt, die Selbstanschauung Ich sei ohne weiteres ausführbar, so ist das nicht so ganz lächerlich, wie _Mach_ unter der Zustimmung vieler anderer glaubt, denen gerade diese »scherzhafte Illustration des philosophischen ‚Viel Lärm um nichts’« in den Büchern _Machs_ am besten gefallen zu haben scheint. Das Ich der Frauen begründet auch die spezifische Eitelkeit der Frauen. Männliche Eitelkeit ist eine Emanation des _Willens zum Wert_, und ihre _objektive_ Äußerungsform, _Empfindlichkeit_, das Bedürfnis, die Erreichbarkeit des Wertes von niemand in Frage gestellt zu sehen. Was dem Manne Wert und Zeitlosigkeit gibt, ist einzig und allein _Persönlichkeit_. Dieser höchste _Wert_, der nicht ein _Preis_ ist, weil an seine Stelle, nach den Worten _Kant_ens, nicht »auch etwas anderes als _Äquivalent_ gesetzt werden« kann, sondern der »über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet«, ist die _Würde_ des Mannes. Die Frauen haben, trotz _Schiller_, keine Würde -- die _Dame_ wurde ja nur erfunden, um diesen Mangel auszufüllen -- und ihre Eitelkeit wird sich danach richten, was ihnen ihr höchster Wert ist; das heißt, sie wird auf die Festhaltung, Steigerung und Anerkennung körperlicher Schönheit gehen. Die Eitelkeit von W ist somit einerseits ein gewisses, nur ihr eigenes, selbst dem (männlich) schönsten Manne[41] _fremdes_ Behagen am eigenen Leibe: eine Freude, die sich, selbst beim häßlichsten Mädchen, sowohl bei der Selbstbetastung, als bei der Selbstbetrachtung im Spiegel, als auch bei vielen Organempfindungen einzustellen scheint; aber schon hier macht sich mit voller Stärke und mit dem erregendsten Vorgefühl der Gedanke an den Mann geltend, dem diese Reize einst gehören sollen, und beweist wiederum, wie das Weib zwar allein, aber nie einsam sein kann. Anderseits also ist die weibliche Eitelkeit Bedürfnis, den Körper bewundert oder vielmehr _begehrt, vom sexuell erregten Manne begehrt_ zu fühlen. Dieses Bedürfnis ist so stark, daß es wirklich viele Weiber gibt, denen diese Bewunderung, begehrlich von seiten des Mannes, neiderfüllt von seiten der Geschlechtsgenossinnen, zum Leben vollkommen genügt; sie kommen damit aus, andere Bedürfnisse haben sie kaum. Die weibliche Eitelkeit ist also stete Rücksicht auf andere, _die Frauen leben nur im Gedanken an die anderen_. Und auch die Empfindlichkeit des Weibes bezieht sich auf diesen nämlichen Punkt. Nie wird eine Frau vergessen, daß ein anderer sie häßlich gefunden hat; allein nämlich findet ein Weib sich _nie_ häßlich, sondern stets nur _minderwertig_, und auch das nur, indem es an die Triumphe denkt, welche andere Frauen bei den Männern über sie davon getragen haben. Es gibt kein Weib, das sich nicht noch schön und begehrenswert fände, wenn es sich im Spiegel betrachtet; der Frau wird nie, gleich dem Manne, eigene Häßlichkeit zur schmerzvollen Realität, sondern sie sucht bis ans Ende sich und die anderen darüber hinwegzutäuschen. Woher kann nun die weibliche Art der Eitelkeit einzig stammen? Sie fällt zusammen mit dem Mangel des intelligiblen Ich, _des stets und absolut positiv Bewerteten_, sie erklärt sich aus dem Fehlen eines _Eigenwertes_. Da sie keinen _Eigenwert_ für sich selbst und vor sich selbst haben, trachten sie Objekt der Wertung anderer zu werden, durch Begehrung und Bewunderung von deren Seite, einen Wert für Fremde, vor Fremden zu gewinnen. Das einzige, was absoluten, unendlichen Wert auf der Welt hat, ist Seele. »Ihr seid besser denn viele Sperlinge« hat darum Christus die Menschen wieder gelehrt. Die Frau indessen wertet sich nicht danach, wie weit sie ihrer Persönlichkeit treu, wie weit sie frei gewesen ist; jedes Wesen aber, das ein Ich besitzt, kann sich nur so und nicht anders werten. Wenn also die echte Frau, wie dies ganz ohne Zweifel wirklich zutrifft, sich selbst immer und ausnahmslos stets nur so hoch einschätzt, wie den Mann, der sie gewählt hat; wenn sie nur durch den Gatten oder Geliebten Wert erhält und eben darum nicht nur sozial und materiell, sondern ihrer tiefsten Wesenheit nach auf die Ehe gestellt ist: _so kann sie eben keinen Wert an sich selbst besitzen_, es _fehlt_ ihr _der Eigenwert der menschlichen Persönlichkeit_. Die Frauen leiten ihren Wert immer von anderen Dingen ab, von ihrem Geld und Gut, der Zahl und Pracht ihrer Kleider, dem Rang ihrer Loge im Theater, von ihren Kindern, vor allem aber von ihrem Bewunderer, von ihrem Manne; und worauf sich eine Frau im Streit mit der anderen immer zuletzt beruft, und womit sie die andere wirklich am tiefsten zu treffen und am sichersten zu demütigen weiß, das ist die soziale Stellung, der Reichtum, das Ansehen und die Titel, aber auch die Jugendfrische und die vielen Verehrerinnen ihres Mannes; während es einem Manne, und zwar in erster Linie von ihm selbst, zur höchsten Schande angerechnet wird, wenn er sich auf irgend ein Fremdes beruft, und nicht _seinen Wert $an sich$ verteidigt_ gegen alle Angriffe auf denselben. Dafür, daß W keine Seele hat, ist Folgendes ein weiterer Beweis. Während (ganz nach _Goethes_ bekanntem Rezept) W durch Nichtbeachtung von seiten des Mannes ungemein gereizt wird, auch auf ihn Eindruck zu machen -- liegt doch der ganze Sinn und Wert ihres Lebens nur in dieser Fähigkeit -- wird für M das Weib, das ihn unfreundlich und unhöflich behandelt, eo ipso schon antipathisch. Nichts macht M so glücklich, als wenn ihn ein Mädchen liebt; selbst wenn sie ihn nicht von Anbeginn gefesselt hat, ist dann die Gefahr, Feuer zu fangen, für ihn sehr groß. Für W ist die Liebe eines Mannes, der ihr nicht gefällt, nur eine Befriedigung ihrer Eitelkeit, oder eine Beunruhigung und Aufscheuchung schlummernder Wünsche. Die Frau erhebt stets gleichmäßig einen Anspruch auf alle Männer, die es auf der Welt gibt. Ähnliches gilt auch von freundschaftlicher Zuneigung innerhalb desselben Geschlechtes, in der ja doch immer etwas Sexualität steckt. Das Verhalten der empirisch allein gegebenen Zwischenstufen ist in solchem Falle nach ihrer Stellung zwischen M und W besonders zu bestimmen. Also, um auch in diesem Teile ein Beispiel für eine solche Anwendung zu geben: während _jedes Lächeln_ auf dem Munde eines Mädchens M leicht entzückt und entflammt, beachten weibliche Männer wirklich oft nur solche Weiber und Männer, die sich um sie nicht kümmern, fast ganz wie W einen Bewunderer, dessen sie sicher zu sein glaubt, der ihren Eigenwert also nicht mehr steigern kann, sofort stehen läßt. Weshalb ja die Frauen auch nur der Mann anzieht und sie auch nur dem Manne in der Ehe treu bleiben, der noch bei anderen Frauen Glück hat als bei ihnen: denn _sie_ können _ihm_ keinen neuen Wert geben und ihr Urteil dem aller anderen _entgegen_setzen. Beim echten Manne verhält es sich gerade verkehrt. Die Schamlosigkeit wie die Herzlosigkeit des Weibes kommt darin zum Ausdruck, _daß_ es, und _wie_ es davon sprechen kann, daß es geliebt wird. Der Mann fühlt sich beschämt, wenn er geliebt wird, weil er damit beschenkt, passiv, gefesselt, statt Geber, aktiv, frei ist, und weil er weiß, daß er als Ganzes Liebe nie vollständig verdient; und über nichts wird er denn so tief schweigen wie hierüber, auch wenn er zu dem Mädchen selbst nicht in ein intimeres Verhältnis getreten ist, so daß er fürchten müßte, sie durch hierauf bezügliche Äußerungen bloßzustellen. Das Weib _rühmt_ sich dessen, daß es geliebt wird, es prahlt damit vor anderen Frauen, um von diesen beneidet zu werden. Die Frau empfindet die Neigung eines Menschen zu ihr nicht, wie der Mann, als eine Schätzung ihres _wirklichen_ Wertes, als ein tieferes _Verständnis_ für ihr Wesen; sondern sie empfindet diese Neigung als die _Verleihung_ eines Wertes, den sie sonst nicht hätte, als die Gabe einer Existenz und einer Essenz, _die ihr hiemit erst_ wird, und mit welcher sie vor anderen sich legitimiert. _Daraus_ erklärt sich auch das unglaubliche, einem früheren Abschnitt Problem gewordene _Gedächtnis_ der Frauen für _Komplimente_, selbst wenn ihnen diese in frühester Jugend gemacht wurden. Durch Komplimente nämlich _erhalten_ sie erst _Wert_, und _darum verlangen_ die Frauen vom Manne, daß er »_galant_« sei. Die Galanterie ist die billigste Form der Veräußerung von Wert an die Frau, und so wenig sie den Mann kostet, so schwer wiegt sie für das Weib, das eine Huldigung _nie_ vergißt, und bis ins späteste Alter von den fadesten Schmeicheleien zehrt. Man erinnert sich nur an das, was für den Menschen einen Wert besitzt; und wenn dem so ist, mag man erwägen, _was_ es besagt, daß die Frauen gerade für Komplimente das ausgesuchteste Gedächtnis besitzen. Sie sind etwas, das den Frauen Wert nur darum verleihen kann, weil diese keinen urwüchsigen Maßstab des Wertes kennen, keinen absoluten Wert in sich fühlen, der alles verschmäht außer sich selbst. Und so liefert selbst das Phänomen der Courtoisie, der »Ritterlichkeit«, den Beweis, daß die Frauen keine Seele besitzen, ja, daß der Mann gerade dann, wenn er gegen das Weib galant ist, ihm am wenigsten Seele, am wenigsten _Eigenwert_ zuschreibt, und es am tiefsten _gerade dort mißachtet und herabwürdigt_, wo es selbst _am höchsten sich gehoben_ fühlt. -- -- Wie amoralisch das Weib ist, kann man daraus ersehen, daß ihm sofort entschwindet, was es Unsittliches getan hat; und daß es vom Manne, wenn dieser die Erziehung des Weibes sich angelegen sein läßt, immer wieder daran erinnert werden muß: dann allerdings kann es momentan vermöge der eigentümlichen Art der weiblichen Verlogenheit wirklich einzusehen glauben, daß es ein Unrecht begangen habe, und so sich und den Mann täuschen. Der Mann dagegen hat für nichts ein so tiefes Gedächtnis, wie für die Punkte, in denen er schuldig geworden ist. Hier offenbart sich das Gedächtnis wiederum als ein eminent moralisches Phänomen. Vergeben und Vergessen, nicht Vergeben und Verstehen, sind eines. _Wer sich der Lüge erinnert, wirft sie sich auch vor._ Daß das Weib sich seine Gemeinheit nicht verübelt, kommt damit überein, daß es sich ihrer _nie wirklich bewußt wird_ -- hat es doch kein Verhältnis zur sittlichen Idee -- und sie _vergißt_. Darum ist es ganz begreiflich, wenn es sie _leugnet_. Man hält die Frauen, weil bei ihnen das Ethische gar nicht _problematisch_ wird, törichterweise für _unschuldig_, ja man hält sie für sittlicher als den Mann: es kommt das aber nur daher, daß sie noch gar nicht wissen, was unsittlich ist. Denn auch die Unschuld des Kindes kann kein Verdienst sein, nur die Unschuld des Greises wäre eines -- und die gibt es nicht. Aber auch die Selbstbeobachtung ist ein durchaus Männliches -- auf eine scheinbare Ausnahme, die hysterische Selbstbeobachtung mancher Frauen, kann hier noch nicht eingegangen werden -- ebenso wie das Schuldbewußtsein, die Reue; die Kasteiungen, die Frauen an sich vornehmen, diese merkwürdigen Imitationen eines echten Schuldgefühles, werden am gleichen Orte wie die weibliche Form der Selbstbeobachtung zur Sprache kommen. _Das Subjekt der Selbstbeobachtung nämlich ist identisch mit dem moralisierenden: es faßt die psychischen Phänomene nur auf, indem es sie einschätzt._ Es ist ganz in der Ordnung und liegt nur auf der Linie des Positivismus, wenn _Auguste Comte_ die Selbstbeobachtung für in sich widerspruchsvoll erklärt und sie eine »abgründliche Absurdität« nennt. Es ist ja klar, folgt aus der Enge des Bewußtseins und bedarf kaum einer besonderen Hervorhebung, daß nicht zu _gleicher_ Zeit ein psychisches Geschehnis und noch eine besondere Wahrnehmung desselben dasein könne: erst an das »primäre« Erinnerungsbild (_Jodl_) knüpft sich die Beobachtung und Wertung; es ist ein Urteil über eine Art Nachbild, das vollzogen wird. Aber innerhalb lauter _gleichwertiger Phänomene_ könnte nie eines zum Objekte gemacht und bejaht oder verneint werden, wie dies in aller Selbstbeobachtung geschieht. Was hier alle Inhalte betrachtet, beurteilt und wertet, kann nicht in den Inhalten selbst, als ein Inhalt unter anderen, gelegen sein. Es ist das zeitlose Ich, das die Vergangenheit zurechnet wie die Gegenwart, das jene »Einheit des Selbstbewußtseins«, jenes kontinuierliche Gedächtnis erst schafft, welches der Frau abgeht. Denn nicht das Gedächtnis, wie _Mill_, oder die Kontinuität, wie _Mach_ vermutet, bringen den Glauben an ein Ich hervor, das außer diesen keine Existenz habe, sondern gerade umgekehrt wird Gedächtnis und Kontinuität, wie Pietät und Unsterblichkeitsbedürfnis, aus dem Werte des Ich heraus erzeugt, von dessen Inhalten nichts Funktion der Zeit sein, nichts der Vernichtung soll anheimgegeben werden dürfen.[42] Hätte das Weib Eigenwert und den Willen, einen solchen gegen alle Anfechtung zu behaupten, hätte es auch nur das _Bedürfnis_ nach _Selbstachtung_, so könnte es nicht _neidisch_ sein. Wahrscheinlich sind alle Frauen neidisch; der Neid aber ist eine Eigenschaft, welche nur dort sein kann, wo jene Voraussetzungen fehlen. Auch der Neid der Mütter, wenn die Töchter anderer Frauen eher heiraten als ihre eigenen, ist ein Symptom echter Gemeinheit, und setzt, wie übrigens aller Neid, einen völligen Mangel an Gerechtigkeitsgefühl voraus. In der Idee der _Gerechtigkeit_, welche in der Anwendung der Idee der Wahrheit auf das Praktische besteht, berühren sich Logik und Ethik ebenso eng wie im theoretischen Wahrheitswerte selbst. Ohne Gerechtigkeit keine Gesellschaft; der Neid hingegen ist _die_ absolut unsoziale Eigenschaft. Das Weib ist wirklich auch vollkommen _unsozial_; und wenn früher mit Recht alle Gesellschaftsbildung an den Besitz einer Individualität geknüpft wurde, so liegt hier die Probe darauf vor. Für den Staat, für Politik, für gesellige Gemütlichkeit hat die Frau keinen Sinn, und weibliche Vereine, in welche Männer keinen Zutritt erhalten, pflegen nach kurzer Zeit sich aufzulösen. Die Familie endlich ist geradezu _das_ unsoziale, und keineswegs ein soziales Gebilde; Männer, die heiraten, ziehen sich damit schon auch aus den Gesellschaften, denen sie bis dahin als Mitglieder und Teilnehmer angehörten, zurück. Dies hatte ich geschrieben, bevor die wertvollen ethnologischen Forschungen von _Heinrich Schurtz_ veröffentlicht wurden, die an der Hand eines reichen Materiales dartun, daß in den _Männerbünden_ und nicht in der Familie die Anfänge der Gesellschaftsbildung zu suchen seien. _Pascal_ hat wunderbar ausgeführt, wie Gesellschaft vom Menschen nur gesucht wird, weil dieser die Einsamkeit nicht ertragen, sondern sich selbst vergessen will: auch hier sieht man die vollkommene Kongruenz zwischen der früheren Position, durch welche der Frau die Fähigkeit zur Einsamkeit abgesprochen wurde, und der jetzigen, welche ihre Ungeselligkeit behauptet. Hätte die Frau ein Ich, so hätte sie auch einen Sinn für das Eigentum, bei sich wie bei anderen. Der Stehltrieb ist aber bei den Frauen viel entwickelter als bei den Männern: die sogenannten Kleptomanen (Diebe _ohne Not_) sind beinahe ausschließlich Frauen. Denn das Weib hat wohl Verständnis für Macht und für Reichtum, aber nicht für das Eigentum. Auch pflegen die kleptomanen Frauen, wenn sie ihrer Diebstähle überführt werden, sich damit zu verantworten, daß sie angeben, es sei ihnen vorgekommen, als hätte ihnen alles gehört. In Leihbibliotheken sieht man hauptsächlich Frauen aus- und eingehen, und zwar auch solche, die begütert genug wären, mehrere Büchereien zu kaufen; aber es fehlt ihnen eine größere Innigkeit des Verhältnisses zu allem, was ihnen gehört, als zu allem, das sie nur entlehnt haben. Auch hier sieht man den Zusammenhang zwischen Individualität und Sozialität deutlich hervorleuchten: wie man selbst Persönlichkeit haben muß, um fremde Persönlichkeit aufzufassen, so muß der Sinn auf Erwerbung eigenen Besitzes gerichtet sein, wenn fremde Habe nicht berührt werden soll. Inniger noch als das Eigentum ist der _Name_ und ein herzliches _Verhältnis_ zu ihrem Namen mit jeder _Persönlichkeit_ notwendig gegeben. Und hier sprechen die Tatsachen so laut, daß man sich wundern muß, wie wenig diese Sprache im allgemeinen vernommen wird. Die Frauen sind nämlich durch _gar kein_ Band mit ihrem Namen verknüpft. _Beweisend_ hiefür ist allein schon, daß sie ihren Namen aufgeben und den des Mannes annehmen, den sie heiraten, ja diesen Schritt der Namensänderung an sich nie als bedeutsam empfinden, um den alten Namen nicht eine Sekunde trauern, sondern leichten Sinnes den des Mannes annehmen; wie an den Mann nicht ohne tiefen in der Natur des Weibes gelegenen Grund (bis vor kurzem wenigstens) meist auch das Eigentum der Frau übergegangen ist. Es ist auch nichts davon zu merken, daß speziell jene Trennung sie einen Kampf kostete; im Gegenteil, schon vom Liebhaber und Kurmacher lassen sie sich den Namen geben, der _ihm_ gefällt. Und selbst wenn sie einem ungeliebten Mann und diesem nur mit großem Widerstreben in die Ehe folgen, es hat noch nie eine Frau gerade darüber sich beklagt, daß sie von ihrem Namen habe Abschied nehmen müssen, es läßt ihn jede und scheidet von ihm, ohne die geringste Pietät dafür zu verraten, daß _sie_ ehemals so hieß. Im allgemeinen wird vielmehr die eigene Neubenennung bereits vom Liebenden ebenso _gefordert_, wie der neue Familienname des Ehegatten ungeduldig, schon der Neuheit wegen, _erwartet_. Der Name aber ist gedacht als ein Symbol der Individualität; nur bei den allertiefst stehenden Rassen der Erde, wie bei den Buschmännern Südafrikas, soll es keine Personennamen geben, weil das natürliche Unterscheidungsbedürfnis der Menschen voneinander nicht so weit reicht. Das Weib, das im Grund _namenlos_ ist[43], ist dies, weil es, seiner Idee nach, keine _Persönlichkeit_ besitzt. Damit hängt endlich noch die wichtige Beobachtung zusammen, welche zu machen man nie verfehlen wird, sobald man einmal aufmerksam geworden ist. Wenn in einen Raum, in dem ein Weib sich befindet, ein Mann tritt und sie ihn erblickt, seinen Schritt hört oder seine Anwesenheit auch nur ahnt, _so wird sie sofort eine ganz andere_. Ihre Miene, ihre Bewegungen ändern sich mit unglaublicher Plötzlichkeit. Sie »richtet ihre Frisur«, zieht ihre Röcke zusammen und hebt sie, oder macht sich an ihrem Kleide zu schaffen, in ihr ganzes Wesen kommt eine halb schamlose, halb ängstliche Erwartung. Man kann im Einzelfalle oft nur darüber noch im Zweifel sein, ob sie mehr errötet über ihr schamloses Lächeln, oder mehr schamlos lächelt über ihr Erröten. Seele, Persönlichkeit, Charakter ist aber -- hierin liegt eine unendlich tiefe, bleibende Einsicht _Schopenhauers_ -- identisch mit dem freien _Willen_ oder es deckt sich wenigstens der Wille mit dem Ich insofern, als dieses in Relation zum Absoluten gedacht ist. Und fehlt den Frauen das Ich, so können sie auch keinen Willen besitzen. Nur wer keinen eigenen Willen, keinen Charakter in höherem Sinne hat, bleibt, schon durch die bloße Gegenwart eines zweiten Menschen, so leicht _beeinflußbar_, wie das Weib es ist, in funktioneller _Abhängigkeit_ von dieser, statt in freier _Auffassung_ derselben. _Sie_ ist das beste Medium, $M$ ihr bester Hypnotiseur. Aus diesem Grunde allein ist unerfindlich, warum die Frauen gerade als Ärztinnen besonders viel taugen sollen; da doch einsichtigere Mediziner selbst zugeben, daß der Hauptteil dessen, was sie bis heute -- und so wird es wohl bleiben -- zu leisten vermögen, in der suggestiven Einwirkung auf den Kranken besteht. Schon in der ganzen Tierreihe ist W stets leichter hypnotisierbar als M. Und wie die hypnotischen Phänomene doch mit den alltäglichsten in einer nahen Verwandtschaft stehen, erhellt aus dem Folgenden: Wie leicht wird nicht (ich habe schon gelegentlich der Frage des weiblichen Mitleids darauf hingewiesen) W durch Lachen oder Weinen »angesteckt«! Wie imponiert ihr nicht alles, was in der Zeitung steht, wie leicht fällt sie nicht dem dümmsten Aberglauben zum Opfer, wie probiert sie nicht sofort jedes Wundermittel, das ihr eine Nachbarin empfohlen hat! Wem ein Charakter fehlt, dem gebricht es auch an Überzeugungen. Darum ist W leichtgläubig, unkritisch, ganz ohne Verständnis für den Protestantismus. Dennoch hat man, so sicher ein jeder Christ schon als Katholik _oder_ als Protestant vor der Taufe _auf die Welt kommt_, kein Recht, den Katholizismus darum als weiblich anzusehen, weil er den Frauen noch immer eher zugänglich ist, als der Protestantismus. Hier wäre ein anderer charakterologischer Einteilungsgrund in Betracht zu ziehen, dessen Erörterung nicht Sache dieser Schrift sein kann. -- -- So ist denn ein ganz umfassender Nachweis geführt, daß W seelenlos ist, daß es kein Ich und keine Individualität, keine Persönlichkeit und keine Freiheit, keinen Charakter und keinen Willen hat. _Dieses Resultat ist aber für alle Psychologie von kaum zu überschätzender Wichtigkeit._ Es besagt nicht weniger, als _daß die Psychologie von M und die Psychologie von W getrennt zu behandeln sind. Für W scheint eine rein empirische Darstellung des psychischen Lebens möglich, für M muß jede Psychologie nach dem Ich als dem obersten Giebel des Gebäudes in der Weise tendieren, wie Kant dies als notwendig eingesehen hatte._ Die _Hume_sche (und _Mach_sche) Ansicht, nach welcher es nur »~impressions~« und »~thoughts~« (A B C .... und α β γ ...) gibt, und die heute allgemein zur Verbannung der Psyche aus der Psychologie geführt hat, erklärt nicht nur, daß die ganze Welt ausschließlich unter dem Bilde eines Winkelspiegels, als ein Kaleidoskop zu verstehen sei; sie macht nicht nur alles zu einem Tanz der »Elemente«, sinnlos, grundlos; sie vernichtet nicht nur die Möglichkeit, einen festen Standpunkt für das Denken zu gewinnen, sie zerstört nicht nur den Wahrheitsbegriff und damit eben die Wirklichkeit, deren Philosophie sie einzig zu sein beansprucht: sie trägt auch die Hauptschuld an dem Elend der heutigen Psychologie. Diese heutige Psychologie nennt sich mit Stolz die »_Psychologie ohne Seele_«, nach dem ersten, der dies Wort ausgesprochen hat, nach dem vielüberschätzten Friedrich Albert _Lange_. Diese Untersuchung glaubt gezeigt zu haben, daß ohne die Annahme einer Seele den psychischen Erscheinungen gegenüber kein Auskommen zu finden ist: sowohl an den Phänomenen von M, dem eine Seele zuerkannt werden muß, als auch an den Phänomenen von W, die seelenlos ist. Unsere heutige Psychologie ist eine eminent weibliche Psychologie, und gerade darum ist die vergleichende Untersuchung der Geschlechter so besonders lehrreich, nicht zuletzt darum habe ich sie mit dieser Gründlichkeit ausgeführt; denn hier am ehesten kann offenbar werden, was zur Annahme des Ich nötigt, und wie die Konfusion von männlichem und weiblichem Seelenleben (im weitesten und tiefsten Sinne), bei dem Bestreben, eine Allgemeinpsychologie zu schaffen, als der Faktor angesehen werden darf, der am weitesten in die Irre geführt hat, wenn er auch (ja gerade _weil_ er) gar nicht _bewußt_ zur Geltung gebracht worden ist. Freilich erhebt sich nun die Frage, _ist von M überhaupt Psychologie $als Wissenschaft$ möglich? Und hierauf ist vorderhand mit Nein zu antworten._ Ich muß wohl darauf gefaßt sein, an die Untersuchungen der Experimentatoren verwiesen zu werden, und auch wer in dem allgemeinen Experimentalrausch nüchterner geblieben ist, wird vielleicht verwundert fragen, ob diese denn gar nicht zählten. Aber die experimentelle Psychologie hat nicht nur keinen einzigen Aufschluß über die tieferen Gründe des männlichen Seelenlebens gegeben; nicht nur kann niemand an eine mehr als sporadische Erwähnung, geschweige denn an eine systematische Verarbeitung dieser ungeheueren Zahl von Versuchsreihen denken: sondern vor allem ist, wie gezeigt wurde, ihre _Methode_, außen anzufangen und von da in den Kern hineinzudringen, verfehlt; und darum hat sie auch nicht _eine_ Aufklärung über den tieferen innerlichen Zusammenhang der psychischen Phänomene gebracht. Die psychophysische Maßlehre hat überdies gerade gezeigt, wie das eigentliche Wesen der psychischen im Gegensatz zu den physischen Phänomenen darin besteht, daß die Funktionen, durch welche ihr Zusammenhang und ihr Übergehen ineinander allenfalls darstellbar wäre, auch im besten Falle _unstetig_ und darum _nicht differenzierbar_ geraten müßten. Mit der Stetigkeit ist aber auch die prinzipielle Möglichkeit der Erreichbarkeit des unbedingt mathematischen Ideales aller Wissenschaft dahin. Wem übrigens klar ist, daß Raum und Zeit nur durch die Psyche geschaffen werden, der wird nicht von Geometrie und Arithmetik erwarten, daß sie je ihren Schöpfer erschöpfen könnten. Es gibt keine wissenschaftliche Psychologie vom Manne; denn im Wesen aller Psychologie liegt es, das Unableitbare ableiten zu wollen, ihr endliches Ziel müßte, deutlicher gesprochen, dieses sein, _jedem Menschen seine Existenz und Essenz zu beweisen, zu deduzieren_. Dann wäre aber jeder Mensch, auch seinem tiefsten Wesen nach, Folge eines Grundes, determiniert und kein Mensch dem anderen mehr, als einem Mitgliede eines Reiches der Freiheit und des unendlichen Wertes, Achtung schuldig: _im Augenblick, wo ich völlig deduziert, völlig subsumiert werden könnte, hätte ich allen $Wert$ verloren_, und wäre eben _seelenlos_. Mit der _Freiheit_ des _Wollens_ wie des _Denkens_ (denn diese muß man zu jener hinzufügen) ist die Annahme der durchgängigen Bestimmtheit unverträglich, mit welcher alle Psychologie ihr Geschäft beginnt. Wer darum an ein freies Subjekt glaubte, wie _Kant_ und _Schopenhauer_, der mußte die Möglichkeit der Psychologie als Wissenschaft leugnen; wer an die Psychologie glaubte, für den konnte die Freiheit des Subjektes auch nicht eine Denkmöglichkeit mehr bleiben: so wenig für _Hume_ als für _Herbart_ (die zwei Begründer der modernen Psychologie). Aus diesem Dilemma erklärt sich der traurige Stand der heutigen Psychologie in allen ihren Prinzipienfragen. Jene Bemühungen, den _Willen_ aus der Psychologie hinauszuschaffen, jene immer wiederholten Versuche, ihn aus Empfindung und Gefühl abzuleiten, haben eigentlich ganz recht darin, daß der Wille kein _empirisches_ Faktum ist. Der Wille ist in der Erfahrung nirgends aufzutreiben und nachzuweisen, weil er selbst die Voraussetzung jedes empirisch-psychologischen Datums ist. Versuche einer, der am Morgen gern lange schläft, sich in dem Momente zu beobachten, da er den Entschluß faßt, sich vom Bette zu erheben. _Im Entschlusse liegt_ (wie in der Aufmerksamkeit) _das ganze ungeteilte Ich_, und darum fehlt die Zweiheit, die notwendig wäre, um den Willen wahrzunehmen. Ebensowenig wie das Wollen ist das _Denken_ ein Faktum, das man in den Händen behielte, wenn man wissenschaftliche Psychologie treibt. Denken ist urteilen, aber was ist das Urteil für die innere Wahrnehmung? Nichts, es ist ein ganz Fremdes, das zu aller Rezeptivität hinzukommt, aus den Bausteinen, welche die psychologischen Fasolte und Fafners herbeigeschleppt haben, nicht abzuleiten: jeder neue Urteilsakt vernichtet von neuem die mühselige Arbeit der Empfindungsatomisten. Ebenso ist's mit dem _Begriff_. Kein Mensch denkt Begriffe, und doch gibt es Begriffe, wie es Urteile gibt. Und am Ende sind auch _Wundts_ Gegner vollständig im Rechte damit, daß die _Apperzeption_ kein empirisch-psychologisches Faktum, und kein irgendwann wahrnehmbarer Akt ist. Freilich ist Wundt tiefer als seine Bekämpfer -- nur die allerflachsten Gesellen können Assoziationspsychologen sein -- und es ist auch sicherlich begründet, wenn er die Apperzeption mit dem Willen und der Aufmerksamkeit zusammenbringt. Aber sie ist so wenig eine Tatsache der Erfahrung wie eben diese, so wenig wie Urteil und Begriff. Wenn trotzdem alle diese Dinge, wenn Denken und Wollen da sind, nicht hinauszubringen, und jeder Bemühung einer Analyse spottend, so handelt es sich nur um die Wahl, ob man etwas annehmen wolle, das alles psychische Leben erst möglich mache, oder nicht. Darum sollte man dem Unfug ein Ziel setzen, von einer empirischen Apperzeption zu reden, und einsehen, wie sehr _Kant_ recht hatte, als er nur eine _transcendentale Apperzeption_ gelten ließ. Will man aber hinter die Erfahrung nicht zurückgehen, so bleibt nichts übrig als die unendlich ausgespreizte, armselig öde Empfindungsatomistik mit ihren Assoziationsgesetzen; oder die Psychologie wird _methodisch_ zu einem Annex der Physiologie und Biologie, wie bei _Avenarius_, dessen feiner Bearbeitung eines, übrigens recht begrenzten, Stückes aus dem ganzen Seelenleben jedoch nur sehr wenige und recht unglückliche Versuche der Weiterführung gefolgt sind. Somit hat sich, ein wirkliches Verständnis des Menschen anzubahnen, die unphilosophische Seelenkunde als völlig ungeeignet erwiesen, und keine Vertröstung auf die Zukunft vermag sichere Bürgschaft zu bieten, daß ihr dies je gelingen könne. Ein je besserer Psychologe einer ist, desto langweiliger werden ihm diese heutigen Psychologien. Denn sie steifen sich samt und sonders darauf, die Einheit, die alles psychische Geschehen erst begründet, bis zum Schluß zu ignorieren: allwo wir dann regelmäßig noch durch einen letzten Abschnitt unangenehm überrascht werden, der von der Entwicklung einer harmonischen Persönlichkeit handelt. Jene _Einheit_, die allein die wahre _Unendlichkeit_ ist, wollte man aus einer größeren oder geringeren _Zahl_ von Bestimmungsstücken aufbauen; die »Psychologie als Erfahrungswissenschaft« sollte die Bedingung aller Erfahrung _aus_ der Erfahrung gewinnen! Das Unternehmen wird ewig fehlschlagen und ewig erneuert werden, weil die Geistesrichtung des Positivismus und Psychologismus so lange bestehen muß, als es mittelmäßige Köpfe und bequeme, nicht bis zu Ende denkende Naturen gibt. Wer, wie der Idealismus, die Psyche nicht opfern will, der muß die Psychologie preisgeben; wer die Psychologie aufrichtet, der tötet die Psyche. Alle Psychologie will das Ganze aus den Teilen ableiten und als bedingt hinstellen; alles tiefere Nachdenken erkennt, daß die Teilerscheinungen hier aus dem Ganzen als letztem Urquell fließen. _So negiert die Psychologie die Psyche, und die Psyche ihrem Begriff nach jede Lehre von ihr: die Psyche negiert die Psychologie._ Diese Darstellung hat sich für die _Psyche_ und gegen die lächerliche und jämmerliche _seelenlose Psychologie_ entschieden. Ja, es bleibt ihr fraglich, ob Psychologie mit Seele je vereinbar, eine Wissenschaft, die Kausalgesetze und selbstgesetzte Normen des Denkens und Wollens aufsuchen will, mit der Freiheit des Denkens und Wollens überhaupt verträglich sei. Auch die Annahme einer besonderen »psychischen Kausalität«[44] kann vielleicht nichts daran ändern, daß die Psychologie, indem sie zuletzt ihre eigene Unmöglichkeit dartut, durch ein solches Ende den glänzendsten Beweis für das jetzt allgemein verlachte und verlästerte Recht des Freiheitsbegriffes wird erbringen müssen. Hiemit soll aber keineswegs eine neue Ära der rationalen Psychologie ausgerufen sein. Vielmehr ist die Absicht im Anschluß an _Kant_ die, daß die transcendentale _Idee_ der Psyche von Anfang an als Führer beim Aufsteigen in der Reihe der Bedingungen bis zum Unbedingten zu dienen habe, durchaus nicht hingegen »in Ansehung des Hinabgehens zum Bedingten«. Nur die Versuche mußten abgelehnt werden, jenes Unbedingte aus dem Bedingten (am Schlusse eines Buches von 500-1500 Seiten) hervorspringen zu lassen. Seele ist das regulative Prinzip, das aller wahrhaft psychologischen, und nicht empfindungsanalytischen, Einzelforschung vorzuschweben und diese zu leiten hat; weil sonst jede Darstellung des Seelenlebens, auch wenn sie noch so detailliert, liebevoll und verständnisinnig geschrieben ist, in ihrer Mitte gähnend ein großes schwarzes Loch aufweist. Es ist unbegreiflich, wie Forscher, die nie einen Versuch gemacht haben, Phänomene wie Scham und Schuld, Glauben und Hoffnung, Furcht und Reue, Liebe und Haß, Sehnsucht und Einsamkeit, Eitelkeit und Empfindlichkeit, Ruhmsucht und Unsterblichkeitsbedürfnis zu analysieren, den Mut haben, über das Ich kurzerhand abzusprechen, weil sie es nicht vorfinden wie die Farbe der Orange oder den Geschmack des Laugenhaften. Oder wie wollen _Mach_ und _Hume_ auch nur die Tatsache des _Stiles_ erklären, wenn nicht aus der Individualität? Ja, weiter: die Tiere erschrecken nie, wenn sie sich im Spiegel sehen, aber kein Mensch vermöchte sein Leben in einem Spiegelzimmer zu verbringen. Oder ist auch diese Furcht, die Furcht vor dem _Doppelgänger_ (von der bezeichnenderweise das Weib frei ist[45]) »biologisch«, »darwinistisch« abzuleiten? Man braucht das Wort Doppelgänger nur zu nennen, um in den meisten Männern heftiges Herzklopfen hervorzurufen. Hier hört eben alle rein empirische Psychologie notgedrungen auf, hier ist _Tiefe_ vonnöten. Denn wie könnte man _diese_ Dinge zurückführen auf ein früheres Stadium der Wildheit oder Tierheit und des Mangels an Sicherung durch die Zivilisation, woraus _Mach_ die Furcht der kleinen Kinder als eine ontogenetische Reminiszenz erklären zu können glaubt! Ich habe übrigens dies nur als eine Andeutung erwähnt, um die »Immanenten« und »naiven Realisten« daran zu mahnen, daß es auch in ihnen Dinge gibt, von denen ..... Warum ist kein Mensch angenehm berührt und völlig damit einverstanden, wenn man ihn als Nietzscheaner, Herbartianer, Wagnerianer u. s. w. _einreiht_? Wenn man ihn, mit einem Worte, _subsumiert_? Auch Ernst _Mach_ ist es doch gewiß schon passiert, daß ihn ein oder der andere liebe Freund subsumiert hat als Positivisten, Idealisten oder irgendwie sonst. Glaubt er sich richtig beschrieben, wenn jemand sagen wollte, das Gefühl, das man bei solchen durch andere vorgenommenen Subsumtionen habe, gehe bloß auf die fast völlige Gewißheit der _Einzigartigkeit_ des Zusammentreffens der »_Elemente_« in einem Menschen, es sei nur beleidigte Wahrscheinlichkeitsrechnung? Und doch hat dieses Gefühl, genau genommen, nichts von einem Nichteinverstandensein, wie sonst wohl mit irgend einer wissenschaftlichen These. Es ist auch etwas ganz anderes, und darf damit nicht verwechselt werden, wenn jemand selbst es sagt, er sei Wagnerianer. Hierin liegt im tiefsten Grunde immer eine positive Bewertung des Wagnertums, weil man selbst Wagnerianer ist. Wer aufrichtig ist, wer es sein kann, wird zugeben, daß er mit einer solchen Aussage _auch_ eine Erhöhung Wagners vornimmt. Vom anderen Menschen fürchtet man meist, daß er das Gegenteil einer Erhöhung beabsichtige. Daher die Erscheinung, daß ein Mensch sehr viel von sich selbst sagen kann, was ihm von anderen zu hören höchst peinlich wäre, wie _Cyrano von Bergerac_ von den tollsten Sticheleien bekennt: »Je me les sers moi-même, avec assez de verve, Mais je ne permets pas qu'un autre me les serve.« Woher rührt also jenes Gefühl, das selbst tiefstehende Menschen haben? Von einem, wenn auch noch so dunklen Bewußtsein ihres Ich, ihrer Individualität, die dabei zu kurz kommt. _Dieses Widerstreben ist das Urbild aller Empörung._ Es geht endlich auch nicht recht an, einen _Pascal_, einen _Newton_ einerseits höchst geniale Denker und anderseits mit einer Menge beschränkter Vorurteile behaftet sein zu lassen, über die »_wir_« längst hinaus seien. Stehen wir denn wirklich auf unsere elektrischen Bahnen und empirischen Psychologien hin schon ohne weiteres um so viel höher als jene Zeit? Ist _Kultur_, wenn es Kulturwerte gibt, wirklich nach dem Stande der Wissenschaft, die immer nur einen _sozialen_, nie einen _individuellen, nicht-demonstrierbaren_ Charakter hat, nach der Zahl der Volksbibliotheken und Laboratorien zu messen? Ist Kultur denn etwas außerhalb des Menschen, ist Kultur nicht vor allem _im_ Menschen? Und man mag sich noch so erhaben fühlen über einen _Euler_, gewiß einen der größten Mathematiker aller Zeiten, welcher einmal sagt: was _er_, im Augenblick, da _er_ einen Brief schreibe, tue, das würde _er_ genau so tun wie wenn _er_ im Körper eines Rhinozeros steckte. Ich will die Äußerung _Eulers_ auch nicht schlechthin verteidigen, sie ist vielleicht charakteristisch für den Mathematiker, ein Maler hätte sie nie getan. Aber dieses Wort gar nicht zu begreifen, nicht einmal die Mühe zu seinem Verständnisse sich zu nehmen, sich über sie einfach lustig zu machen und _Euler_ mit der »Beschränktheit seiner Zeit« zu entschuldigen, das scheint mir keineswegs gerechtfertigt. Also, es ist, wenigstens für den Mann, auch in der Psychologie _ohne_ den Ich-Begriff nicht dauernd auszukommen; ob _mit_ diesem eine im _Windelband_schen Sinne nomothetische Psychologie, d. h. psychologische Gesetze vereinbar sind, scheint sehr fraglich, kann aber an der Anerkennung jener Notwendigkeit nichts ändern. Vielleicht schlägt die Psychologie jene Bahn ein, die ihr ein früheres Kapitel vorzeichnen zu können glaubte, und wird theoretische Biographie. Aber gerade dann werden ihr die Grenzen aller empirischen Psychologie am ehesten zum Bewußtsein kommen. Daß _im Manne_ für alle Psychologie ein Ineffabile, ein Unauflösliches bleibt, damit stimmt es wunderbar überein, daß _regelrechte Fälle von »duplex« oder »multiplex personality«, Verdoppelung oder Vervielfachung des Ich, $nur bei Frauen$ beobachtet worden sind. Das absolute Weib ist zerlegbar_: der Mann ist in alle Ewigkeit, auch durch die beste Charakterologie nicht völlig zerlegbar, geschweige denn durchs Experiment: in ihm ist ein Wesenskern, der keine Zergliederung mehr zuläßt. W ist ein Aggregat und daher dissoziierbar, spaltbar. Deswegen ist es ungemein komisch und belustigend, moderne Gymnasiasten (als platonische Idee) von der Seele des Weibes, von Frauenherzen und ihren Mysterien, von der Psyche des modernen Weibes etc. reden zu hören. Es scheint auch zu dem Befähigungsnachweis eines gesuchten Accoucheurs zu gehören, daß er an die Seele des Weibes glaube. Wenigstens hören es viele Frauen sehr gerne, wenn man von ihrer Seele spricht, obwohl sie (in Henidenform) wissen, daß das Ganze ein Schwindel ist. _Das Weib als die Sphinx! Ein ärgerer Unsinn ist kaum je gesagt worden. Der Mann ist unendlich rätselhafter, unvergleichlich komplizierter._ Man braucht nur auf die Gasse zu gehen: es gibt kaum ein Frauengesicht, dessen Ausdruck einem da nicht bald klar würde. Das Register des Weibes an Gefühlen, an Stimmungen ist so unendlich arm! Während gar manches männliche Antlitz lange und schwer zu raten gibt. Schließlich werden wir hier auch einer Lösung der Frage: Parallelismus oder Wechselwirkung zwischen Seelischem und Körperlichem? nähergeführt. Für W trifft der psychophysische Parallelismus, als vollständige Koordination beider Reihen, zu: mit der senilen Involution der Frau erlischt auch die Fähigkeit zu geistiger Anspannung, die ja nur im Gefolge sexueller Zwecke auftritt, und diesen dienstbar gemacht wird. Der Mann wird nie in dem Sinne völlig alt wie das Weib, und es ist die geistige Rückbildung hier durchaus nicht notwendig, sondern nur in einzelnen Fällen mit der körperlichen verknüpft; am allerwenigsten endlich ist von greisenhafter Schwäche bei jenem Menschen etwas wahrzunehmen, welcher die Männlichkeit in voller geistiger Entfaltung zeigt, beim Genie. Nicht umsonst sind jene Philosophen, welche die strengsten Parallelisten waren, _Spinoza_ und _Fechner_, auch die strengsten Deterministen. Bei M, dem freien, intelligiblen Subjekte, das sich für Gut oder für Böse _nach seinem Willen_ entscheiden kann, ist der psychophysische Parallelismus, der eine der mechanischen genau analoge Kausalverkettung auch für alles Geistige fordern würde, auszuschließen. So weit wäre denn die Frage, welcher prinzipielle Standpunkt in der Behandlung der Psychologie der Geschlechter einzunehmen ist, erledigt. Es erwächst dieser Ansicht jedoch wieder eine außerordentliche Schwierigkeit in einer Reihe merkwürdiger Tatsachen, die zwar für die faktische Seelenlosigkeit von W noch einmal, und zwar in geradezu entscheidender Weise in Betracht kommen, die aber anderseits von der Darstellung auch die Erklärung eines sehr eigentümlichen Verhaltens der Frau fordern, das seltsamerweise noch kaum jemand ernstlich Problem geworden zu sein scheint. Schon längst wurde bemerkt, wie die Klarheit des männlichen Denkens gegenüber der weiblichen Unbestimmtheit, und später wurde darauf hingewiesen, wie die Funktion der gesetzten Rede, in welcher feste logische _Urteile_ zum Ausdruck kommen, auf die Frau wie ein _Sexualcharakter_ des Mannes wirkt. Was aber W sexuell anreizt, muß eine Eigenschaft von M sein. Ebenso macht Unbeugsamkeit des männlichen Charakters auf die Frau sexuellen Eindruck, sie mißachtet den Mann, der einem anderen nachgibt. Man pflegt in solchen Fällen oft von sittlichem Einfluß des Weibes auf den Mann zu reden, wo doch sie nur das sexuelle Komplement in seinen komplementierenden Eigenschaften voll und ganz sich zu erhalten strebt. Die Frauen verlangen vom Manne Männlichkeit, und glauben sich zur höchsten Entrüstung und Verachtung berechtigt, wenn der Mann ihre Erwartungen in diesem Punkt enttäuscht. So wird eine Frau, auch wenn sie noch so kokett und noch so verlogen ist, in Erbitterung und Empörung geraten, wenn sie beim Manne Spuren von Koketterie oder Lügenhaftigkeit wahrnimmt. Sie mag noch so feige sein: der Mann soll Mut beweisen. Daß dies nur sexueller Egoismus ist, der sich den ungetrübten Genuß seines Komplementes zu wahren sucht, wird allzuoft verkannt. Und so ist denn auch aus der Erfahrung kaum ein zwingenderer Beweis für die Seelenlosigkeit des Weibes zu führen als daraus, _daß die Frauen vom Manne Seele verlangen_, und Güte auf sie wirken kann, obwohl sie selbst nicht wirklich gut sind. Seele ist ein Sexualcharakter, der nicht anders und zu keinem anderen Zwecke beansprucht wird als große Muskelkraft oder kitzelnde Schnurrbartspitze. Man mag sich an der Kraßheit des Ausdruckes stoßen, an der Sache ist nichts zu ändern. -- Die allerstärkste Wirkung endlich übt auf die Frau der männliche _Wille_. Und sie hat einen merkwürdig feinen Sinn dafür, ob das »Ich will« des Mannes bloß Anstrengung und Aufgeblasenheit oder wirkliche Entschlossenheit ist. Im letzteren Falle ist der Effekt ein ganz ungeheuerer. _Wie kann nun aber eine Frau, wenn sie an sich seelenlos ist, Seele beim Manne perzipieren, wie seine Moralität beurteilen, da sie selbst amoralisch ist, wie seine Charakterstärke auffassen, ohne als Person Charakter zu haben, wie seinen Willen spüren, obgleich sie doch eigenen Willen nicht besitzt?_ Hiemit ist das außerordentlich schwierige Problem formuliert, vor dem die Untersuchung weiterhin noch zu bestehen haben wird. Bevor aber seine Lösung versucht werde, müssen die errungenen Positionen nach allen Seiten hin befestigt und gegen Angriffe geschützt werden, die in den Augen mancher imstande sein könnten, sie zu erschüttern. X. Kapitel. Mutterschaft und Prostitution. Der Haupteinwand, welcher gegen die bisherige Darstellung wird erhoben werden, bezieht sich auf die Allgemeingültigkeit des Gesagten für _alle_ Frauen. Bei einigen, bei vielen möge das zutreffen; aber es gebe doch auch andere ... Es lag ursprünglich nicht in meiner Absicht, auf spezielle Formen der Weiblichkeit einzugehen. Die Frauen lassen sich nach mehreren Gesichtspunkten einteilen, und gewiß muß man sich hüten, das, was von einem extremen Typus gilt, der zwar überall nachweisbar ist, aber oft durch das Vorwalten gerade des entgegengesetzten Typus bis zur Unmerklichkeit zurückgedrängt wird, von der Allgemeinheit der Frauen in gleicher Weise zu behaupten. Es sind _mehrere_ Einteilungen der Frauen möglich, und es gibt _verschiedene_ Frauencharaktere; wenn auch das Wort Charakter hier nur im empirischen Verstande angewendet werden darf. Alle Charaktereigenschaften des Mannes finden merkwürdige, zu Amphibolien oft genug Anlaß bietende Analoga beim Weibe (einen interessanten Vergleich dieser Art zieht später dieses Kapitel); doch ist beim Manne der Charakter stets _auch_ in die Sphäre des Intelligiblen getaucht, und dort mächtig verankert; hieraus wird denn die früher (S. 104) gerügte Vermischung der Seelenlehre mit der Charakterologie, und die Gemeinsamkeit im Schicksale beider, wieder eher begreiflich. Die charakterologischen Unterschiede unter den Frauen senden ihre Wurzeln nie so tief in den Urboden hinab, daß sie in die Entwicklung einer Individualität einzugehen vermöchten; und es gibt vielleicht gar keine weibliche Eigenschaft, die nicht im Laufe des Lebens, unter dem Einfluß des männlichen Willens, in der Frau modifiziert, zurückgedrängt, ja vernichtet werden könnte. Was es unter ganz _gleich männlichen_ oder ganz _gleich weiblichen_ Individuen _noch_ für Unterschiede geben möge, diese Frage hatte ich bisher mit Bedacht aus dem Spiele gelassen. Keineswegs, weil mit der Zurückführung psychologischer Differenzen auf das Prinzip der sexuellen Zwischenformen mehr gewonnen gewesen war als _ein_ Leitfaden unter tausenden auf diesem verschlungensten aller Gebiete: sondern aus dem einfachen Grunde, weil jede Kreuzung mit einem anderen Prinzipe, jede Erweiterung der linearen Betrachtungen ins Flächenhafte, störend gewirkt hätte bei diesem ersten Versuche einer gründlichen charakterologischen Orientierung, der weiter kommen wollte als bis zur Ermittelung von Temperamenten oder Sinnestypen. Die spezielle weibliche Charakterologie soll einer besonderen Darstellung vorbehalten bleiben; aber schon diese Schrift ist nicht ohne Hinblick auf individuelle Differenzen unter den Frauen abgefaßt, und ich glaube so den Fehler falscher Verallgemeinerung vermieden, und bisher nur solches behauptet zu haben, was unterschiedslos von allen gleich weiblichen Frauen in gleicher Weise und gleicher Stärke gilt. Nur auf W ganz allgemein ist es bisher angekommen. Da man aber meinen Darlegungen vornehmlich _einen_ Typus unter den Frauen entgegenhalten wird, ergibt sich die Notwendigkeit, bereits hier _ein_ Gegensatzpaar aus der Fülle herauszugreifen. Allem Schlechten und Garstigen, das ich den Frauen nachgesagt habe, wird das Weib als Mutter gegenübergestellt werden. Dieses erfordert also eine Besprechung. Seine Ergründung kann aber niemand in Angriff nehmen, ohne zugleich den Gegenpol der Mutter, welcher die für das Weib diametral konträre Möglichkeit verwirklicht zeigt, heranzuziehen; weil nur hiedurch der Muttertypus eine deutliche Abgrenzung erfährt, nur so die Eigenschaften der Mutter von allem Fremden scharf sich abheben können. _Jener der Mutter polar entgegengesetzte Typus ist die Dirne._ Die Notwendigkeit gerade dieser Gegenüberstellung läßt sich ebensowenig _deduzieren_, wie daß Mann und Weib einander entgegengesetzt sind; wie man dies nur _sieht_ und nicht beweist, so muß man auch jenes _erschaut_ haben, oder es in der Wirklichkeit wiederzufinden trachten, um sich zu überzeugen, ob diese dem Schema sich bequem einordnet. Auf jene Restriktionen, die vorzunehmen sind, komme ich noch zu sprechen; einstweilen seien die Frauen betrachtet als stets von zwei Typen, einmal mehr vom einen, ein andermal mehr vom anderen etwas in sich tragend: _diese Typen sind die Mutter und die Dirne_. Man würde diese Dichotomie mißverstehen, wenn man sie von einer populären Entgegensetzung nicht unterschiede. Man hat oft gesagt, das Weib sei sowohl _Mutter_ als _Geliebte_. Den Sinn und Nutzen dieser Distinktion kann ich nicht recht einsehen. Soll mit der Qualität der Geliebten das Stadium bezeichnet werden, welches der Mutterschaft notwendig vorhergeht? Dann kann es keinerlei dauernde charakterologische Eigentümlichkeit bezeichnen. Und was sagt denn der Begriff »Geliebte« über die Frau selbst aus, als daß sie geliebt wird? Fügt er ihr wirklich eine wesentliche, oder nicht vielmehr eine ganz äußerliche Bestimmung zu? Geliebt werden mag sowohl die Mutter als die Dirne. Höchstens könnte man mit der »Geliebten« eine Gruppe von Frauen haben umschreiben wollen, die ungefähr in der Mitte zwischen den hier bezeichneten Polen sich aufhielte, eine Zwischenform von Mutter und Dirne; oder man hält es einer ausdrücklichen Feststellung für bedürftig, daß eine Mutter zum Vater ihrer Kinder in einem anderen Verhältnis stehe als zu ihren Kindern selbst, und Geliebte eben sei, insoferne sie sich lieben läßt, d. h. dem Liebenden sich hingibt. Aber damit ist nichts gewonnen, weil dies beide, Mutter wie Prostituierte, gegebenenfalls in formal gleicher Weise tun können. Der Begriff der Geliebten sagt gar nichts über die Qualitäten des Wesens aus, das geliebt wird; wie natürlich, denn er soll nur das erste zeitliche Stadium im Leben _einer_ und _derselben_ Frau andeuten, an welches sich später als zweites die Mutterschaft schließt. Da also der Zustand der Geliebten doch nur ein accidentielles Merkmal ihrer Person ist, wird jene Gegenüberstellung ganz unlogisch, indem die Mutterschaft auch etwas Innerliches ist und nicht bloß die Tatsache anzeigt, daß eine Frau geboren hat. Worin dieses tiefere Wesen der Mutterschaft besteht, wird eben Aufgabe der jetzigen Untersuchung. Daß Mutterschaft und Prostitution einander polar entgegengesetzt sind, ergibt sich mit großer Wahrscheinlichkeit allein schon aus der größeren Kinderzahl der guten Hausmütter, indes die Kokotte immer nur wenige Kinder hat, und die Gassendirne in der Mehrzahl der Fälle überhaupt steril ist. Es ist wohl zu beachten, daß nicht das käufliche Mädchen allein dem Dirnentypus angehört, sondern sehr viele unter den sogenannten anständigen Mädchen und verheirateten Frauen, ja selbst solche, die gar nie die Ehe brechen, nicht, weil die Gelegenheit nicht günstig genug ist, sondern weil sie selbst es nicht bis dahin kommen lassen. Man stoße sich also nicht an der Verwendung des Begriffes der Dirne, der ja erst noch zu analysieren ist, in einem viel weiteren Umfange als einem, der bloß auf feile Weiber sich erstreckt. Überdies könnte der Dirnentypus auch dann zum Ausdruck kommen, wenn bloß ein Mann und ein Weib auf der Welt wären, denn er äußert sich bereits in dem spezifisch verschiedenen Verhalten zum einzelnen Manne. Schon die Tatsache der geringeren Fruchtbarkeit enthöbe mich der Pflicht einer Auseinandersetzung mit der allgemeinen Ansicht, welche ein, notwendigerweise tief im Wesen eines Menschen gegründetes Phänomen, wie die Prostitution, ableiten will aus sozialen Mißständen, aus der Erwerbslosigkeit vieler Frauen, und daraufhin spezielle Anklagen gegen die heutige Gesellschaft erhebt, deren männliche Machthaber in ihrem ökonomischen Egoismus den unverheirateten Frauen die Möglichkeit eines rechtschaffenen Lebens so erschwerten; oder auf das Junggesellentum rekurriert, das ebenfalls angeblich nur materielle Gründe habe, und zu seiner notwendigen Ergänzung nach der Prostitution verlange. Oder soll doch angeführt werden: daß die Prostitution nicht bloß bei ärmlichen Gassendirnen zu suchen ist; daß wohlhabende Mädchen zuweilen sich aller Vorteile ihres Rufes begeben, und ein offenes Flanieren auf der Straße versteckten Liebschaften vorziehen -- denn zur _richtigen_ Prostitution _gehört_ die _Gasse_ --; daß viele Stellen in Geschäftsläden, in der Buchhaltung, im Post-, Telegraphen- und Telephondienste, wo immer eine rein schablonenmäßige Tätigkeit beansprucht wird, mit Vorliebe an Frauen vergeben werden, weil W viel weniger differenziert und eben darum bedürfnisloser ist als M, der Kapitalismus aber lange vor der Wissenschaft das weggehabt hat, daß man die Frauen ihrer niedrigeren Lebenshaltung wegen auch schlechter bezahlen dürfe. Übrigens findet selbst die junge Dirne, weil sie teueren Mietzins zu zahlen, eine nicht gewöhnliche Kleidung zu tragen und den Souteneur auszuhalten hat, meist nur sehr schwer ihr Auskommen. Wie tief der Hang zu ihrem Leben in ihnen wurzelt, das bezeugt die häufige Erscheinung, daß Prostituierte, wenn sie geehelicht werden, wieder zu ihrem früheren Gewerbe zurückkehren. Die Prostituierten sind ferner vermöge unbekannter, aber offenbar in einer angeborenen Konstitution liegender Ursachen gegen manche Infektionen oft _immun_, denen »rechtschaffene Frauen« meist unterliegen. Schließlich hat die Prostitution _immer_ bestanden und ist mit den Errungenschaften der kapitalistischen Ära keineswegs relativ gewachsen, ja, sie gehörte sogar zu den _religiösen_ Institutionen gewisser Völker des Altertums, z. B. der Phönizier. Die Prostitution kann also keineswegs als etwas betrachtet werden, wohin erst der Mann die Frau gedrängt hat. Oft genug wird sicherlich ein Mann die Schuld tragen, wenn ein Mädchen ihren Dienst verlassen mußte und sich brotlos fand. Daß aber in solchem Falle zu etwas gegriffen werden kann, wie es die Prostitution ist, muß in der Natur des menschlichen Weibes selbst liegen. Was nicht ist, kann auch nicht werden. Dem echten Manne, den materiell noch öfter ein widriges Schicksal trifft, und welcher Armut intensiver empfindet als das Weib, ist gleichwohl die Prostitution fremd, und männliche Prostituierte (unter Kellnern, Friseurgehilfen etc.) sind immer vorgerückte sexuelle Zwischenformen. Demnach ist die Eignung und der Hang zum Dirnentum ebenso wie die Anlage zur Mutterschaft in einem Weibe organisch, von der Geburt an vorhanden. Damit soll aber nicht gesagt sein, jedes Weib, das zur Dirne wird, sei mit ausschließlich innerer Notwendigkeit dazu geworden. Es stecken vielleicht in den meisten Frauen _beide_ Möglichkeiten, sowohl die Mutter als die Dirne; nur die Jungfrau -- man entschuldige; ich weiß, es ist rücksichtslos gegen die _Männer_ -- nur die Jungfrau, die gibt es nicht. Worauf es in solchen Schwebefällen ankommt, das kann nur der Mann sein, der ein Weib zur Mutter zu machen auf jeden Fall durch seine Person imstande ist; nicht erst durch den Koitus, sondern durch ein einmaliges _Anblicken_. _Schopenhauer_ bemerkt, der Mensch müsse sein Dasein streng genommen von dem Augenblick datieren, da sein Vater und seine Mutter sich ineinander verliebt hätten. Das ist nicht richtig. Die Geburt eines Menschen müßte, im idealen Falle, in den Augenblick verlegt werden, wo _eine Frau $ihn$_, den Vater ihres Kindes, _zum ersten Male erblickt oder auch nur seine Stimme hört_. Die biologische und medizinische Wissenschaft, die Züchtungslehre und die Gynäkologie verhalten sich freilich, seit über sechzig Jahren, unter dem Einflusse von _Johannes Müller_, Th. _Bischoff_ und Ch. _Darwin_, der Frage des »Versehens« oder »Verschauens« gegenüber beinahe durchaus ablehnend. Es wird im weiteren eine Theorie des Versehens zu entwickeln versucht werden; hier möchte ich nur soviel bemerken, daß die Sache denn doch vielleicht nicht so steht, daß es kein Versehen geben dürfe, weil es mit der Ansicht sich nicht vertrage, daß bloß Samenzelle und Ei das neue Individuum bilden helfen; sondern es gibt ein Versehen, und die Wissenschaft soll trachten, es zu erklären, statt es als schlechterdings unmöglich in Abrede zu stellen, und zu tun, als ob sie in erfahrungswissenschaftlichen Dingen je über so viel Erfahrung verfügen könnte, um eine solche Behauptung aufstellen zu dürfen. In einer apriorischen Disziplin, wie der Mathematik, darf ich es ganz ausgeschlossen nennen, daß auf dem Planeten Jupiter 2 × 2 = 5 sei; die Biologie kennt nur Sätze von »komparativer Allgemeinheit« (_Kant_). Wenn ich hier _für_ das Versehen eintreten und in seiner Leugnung eine Beschränktheit erblicken muß, will ich doch keineswegs behauptet haben, daß alle sogenannten Mißbildungen, oder auch nur ein sehr großer Teil derselben in ihm ihren Grund haben. Es kommt vorläufig nur auf die Möglichkeit einer Beeinflussung der Nachkommenschaft ohne den Koitus mit der Mutter an. Und da möchte ich zu sagen wagen[46]: so wie sicherlich, wenn _Schopenhauer_ und _Goethe_ in der Farbenlehre _einer_ Meinung sind, sie schon darum _a priori_ gegen alle Physiker der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft recht haben dürften, ebenso wird etwas, das für _Ibsen_ (»Frau vom Meer«) und _Goethe_ (»Wahlverwandtschaften«) _Wahrheit_ ist, noch nicht _falsch_ durch das Gutachten sämtlicher medizinischer Fakultäten der Welt. Der Mann übrigens, von dem eine so starke Wirkung auf die Frau erwartet werden könnte, daß ihr Kind auch dann ihm ähnlich würde, wenn es nicht aus seinem Samen sich entwickelt hat, dieser Mann müßte die Frau sexuell in äußerst vollkommener Weise ergänzen. Wenn demnach solche Fälle nur sehr _selten_ sind, so liegt dies an der Unwahrscheinlichkeit eines Zusammentreffens so vollständiger Komplemente, und darf keinen Einwand gegen die _prinzipielle Möglichkeit_ solcher Tatsachen bilden, wie sie _Goethe_ und _Ibsen_ dargestellt haben. _Ob_ aber eine Frau jenen Mann trifft, der sie durch seine bloße Gegenwart zur Mutter seines Kindes macht, das ist Zufallssache. _Insofern_ ist für _viele_ Mütter und Prostituierte wohl die _Denkbarkeit_ zuzugeben, daß sich ihre Lose umgekehrt hätten gestalten können. Aber anderseits gibt es nicht nur zahllose Beispiele, in welchen auch ohne diesen Mann die Frau im Mutter-Typus verbleibt, sondern es kommen ebenso zweifellos Fälle vor, wo dieser eine Mann _auftritt_, und doch auch _sein_ Erscheinen die schließliche, endgültige Wendung zur Prostitution nicht zu hindern vermag. Es bleibt demnach nichts übrig, als _zwei_ angeborene, entgegengesetzte Veranlagungen anzunehmen, die sich auf die verschiedenen Frauen in verschiedenem Verhältnis verteilen: die absolute Mutter und die absolute Dirne. _Zwischen_ beiden liegt die Wirklichkeit: es gibt sicherlich kein Weib ohne alle Dirneninstinkte (viele werden das leugnen und fragen, woran denn das Dirnenhafte in vielen Frauen erkennbar sei, die nichts weniger als Kokotten zu sein scheinen; ich verweise diesbezüglich einstweilen nur auf den Grad der Bereitschaft und Willigkeit, sich von irgendwelchem Fremden unzüchtig berühren und diesen an sich anstreifen zu lassen; legt man diesen Maßstab an, so wird man finden, daß es keine absolute Mutter gibt). Ebensowenig aber existiert ein Weib, das aller mütterlichen Regungen bar wäre; obgleich ich gestehen muß, außerordentliche Annäherungen an die absolute Dirne viel öfter gefunden zu haben als solche Grade von Mütterlichkeit, hinter denen alles Dirnenhafte zurücktritt. Das Wesen der Mutterschaft besteht, wie schon die erste und oberflächlichste Analyse des Begriffes ergibt, darin, daß die Erreichung des _Kindes_ der Hauptzweck des Lebens der _Mutter_ ist, indessen bei der absoluten _Dirne_ dieser Zweck für die Begattung gänzlich in Wegfall gekommen scheint. Eine eingehendere Untersuchung wird also vor allem _zwei_ Dinge in Betracht ziehen und sehen müssen, wie sich Dirne und Mutter zu beiden verhalten: die Beziehung einer jeden zum Kinde, und ihre Beziehung zum Koitus. Zunächst scheiden sich beide, Mutter und Dirne, durch der ersteren Verhältnis zum Kinde. Der absoluten Dirne liegt nur am Manne, der absoluten Mutter kann nur am Kinde gelegen sein. Prüfstein ist am sichersten das Verhältnis zur Tochter: nur wenn sie diese gar nie beneidet wegen größerer Jugend oder Schönheit, ihr nie die Bewunderung im geringsten mißgönnt, die sie bei den Männern findet, _sondern sich vollständig mit ihr identifiziert_ und des Verehrers ihrer Tochter sich so freut, als wäre er ihr eigener Anbeter, nur dann ist sie Mutter zu nennen. Die absolute Mutter, der es allein auf das Kind ankommt, wird Mutter durch jeden Mann. Man wird finden, daß Frauen, die in ihrer Kindheit eifriger als die anderen mit Puppen spielten, bereits als Mädchen Kinder sehr liebten und gerne warteten, dem Manne gegenüber wenig wählerisch sind, sondern bereitwillig den ersten besten Gatten nehmen, der sie halbwegs zu versorgen imstande und ihren Eltern und Verwandten genehm ist. Wenn ein solches Mädchen aber, gleichgültig durch wen, Mutter geworden ist, so bekümmert es sich, im Idealfalle, um keinen anderen Mann mehr. Der absoluten Dirne hingegen sind, schon als Kind, Kinder ein Greuel; später benützt sie das Kind höchstens als Mittel, um durch Vortäuschung eines, auf Rührung des Mannes berechneten, Idylles zwischen Mutter und Kind, diesen an sich zu locken. Sie ist das Weib, das _allen_ Männern zu gefallen das Bedürfnis hat, und da es keine absolute Mutter gibt, wird man in jeder Frau mindestens noch die _Spur_ dieser allgemeinen Gefallsucht entdecken können, welche nie auch nur auf einen Mann der Welt verzichtet. Hier nimmt man übrigens eine _formale Ähnlichkeit_ zwischen der absoluten Mutter und der absoluten Kokotte wahr. _Beide_ sind eigentlich in Bezug auf die _Individualität_ des sexuellen Komplementes _anspruchslos_. Die eine nimmt jeden beliebigen Mann, der ihr zum Kinde dienlich ist, und bedarf keines weiteren Mannes, sobald sie das Kind hat: _nur aus diesem Grunde ist sie »monogam« zu nennen_. Die andere gibt sich jedem beliebigen Mann, der ihr zum erotischen Genusse verhilft: dieser ist für sie Selbstzweck. Hier berühren sich also die beiden Extreme, wir mögen somit hoffen, einen Durchblick auf das Wesen des Weibes _überhaupt_ von da aus gewinnen zu können. In der Tat muß ich die allgemeine Ansicht, welche ich lange geteilt habe, völlig verfehlt nennen, die Ansicht, daß das _Weib_ monogam und der _Mann_ polygam sei. _Das Umgekehrte_ ist der Fall. Man darf sich nicht dadurch beirren lassen, daß die Frauen oft lange den Mann abwarten und, wenn möglich, wählen, der ihnen am meisten Wert zu schenken in der Lage ist -- den Herrlichsten, Berühmtesten, den »Ersten unter Allen«. Dieses Bedürfnis scheidet das Weib vom Tiere, welches Wert überhaupt nicht, weder vor sich selbst, durch sich selbst (wie der Mann), noch durch einen anderen, vor einem anderen (wie das Weib) zu gewinnen trachtet. Aber nur von Dummköpfen konnte es im rühmenden Sinne hervorgehoben werden, da es doch am sichersten zeigt, wie die Frau alles _Eigenwertes_ entbehrt. Dieses Bedürfnis nun verlangt allerdings nach Befriedigung; es liegt aber in ihm durchaus nicht der sittliche _Gedanke_ der Monogamie. Der Mann ist in der Lage, Wert zu spenden, Wert zu übertragen an die Frau, er _kann schenken_, er _will_ auch schenken; nie kann er seinen Wert, wie das Weib, als Beschenkter finden. Die Frau sucht also zwar sich möglichst viel Wert zu verschaffen, indem sie ihre Erwählung durch jenen einen Mann betreibt, der ihr den _meisten_ Wert geben kann; der Ehe aber liegen, beim Manne, ganz andere Motive zu Grunde. Sie ist jedenfalls ursprünglich als die Vollendung der idealen Liebe, als eine Erfüllung gedacht, auch wenn es sehr fraglich ist, ob sie so viel je wirklich leisten kann. Sie ist ferner durchdrungen von dem ganz und gar männlichen Gedanken der _Treue_ (die Kontinuität, ein intelligibles _Ich_ voraussetzt). Man wird zwar oft das Weib treuer nennen hören als den Mann; die Treue des Mannes ist nämlich für ihn ein _Zwang_, den er sich, allerdings im _freien_ Willen und mit vollem _Bewußtsein_, auferlegt hat. Er wird an diese Selbstbindung oft sich nicht kehren, aber dies stets als sein Unrecht betrachten oder irgendwie fühlen. Wenn er die Ehe bricht, so hat er sein intelligibles Wesen nicht zum Worte kommen lassen. Für die Frau ist der Ehebruch ein kitzelndes Spiel, in welchem der Gedanke der Sittlichkeit gar nicht, sondern nur die Motive der Sicherheit und des Rufes mitsprechen. Es gibt kein Weib, das in Gedanken ihrem Manne nie untreu geworden wäre, _ohne_ daß es aber darum dies auch schon sich vorwürfe. Denn das Weib geht die Ehe zitternd und voll unbewußter Begier ein und bricht sie, da es kein der Zeitlichkeit entrücktes Ich hat, so erwartungsvoll, so gedankenlos, wie es sie geschlossen hat. Jenes Motiv, das einem _Vertrage_ Treue wahren heißt, kann nur beim Manne sich finden; für die bindende Kraft eines gegebenen Wortes fehlt der Frau das Verständnis. Was man als Beispiele weiblicher Treue anführt, beweist hiegegen wenig. Sie ist entweder die lange Nachwirkung eines intensiven Verhältnisses sexueller Folgsamkeit (_Penelope_) oder dieses Hörigkeitsverhältnis selbst, hündisch, nachlaufend, voll instinktiver zäher Anhänglichkeit, vergleichbar der körperlichen Nähe als Bedingung alles weiblichen Mitleidens (_Das Käthchen von Heilbronn_). Die Ein-Ehe hat also der Mann geschaffen. Sie hat ihren Ursprung im Gedanken der männlichen Individualität, die im Wandel der Zeiten unverändert fortdauert; und demnach zu ihrer vollen Ergänzung stets nur eines und desselben Wesens bedürfen kann. Insoweit liegt in dem Plane der _Ein-Ehe_ unleugbar etwas Höheres und findet die Aufnahme derselben unter die Sakramente der katholischen Kirche eine gewisse Rechtfertigung. Dennoch soll hiemit in der Frage »Ehe oder freie Liebe« nicht Partei ergriffen sein. Auf dem Boden irgendwelcher Abweichungen vom strengsten Sittengesetz -- und eine solche Abweichung liegt in jeder empirischen Ehe -- sind _völlig_ befriedigende Problemlösungen nie mehr möglich: _zugleich_ mit der Ehe ist der Ehe_bruch_ auf die Welt gekommen. _Trotzdem_ kann die Ehe nur vom Manne eingesetzt sein. Es gibt kein Rechtsinstitut weiblichen Ursprungs, alles _Recht_ rührt vom Manne, und nur viele _Sitte_ vom Weibe her (schon darum wäre es ganz verfehlt, das Recht aus der Sitte, oder umgekehrt die Sitte aus dem Recht hervorgehen zu lassen. Beide sind ganz heterogene Dinge). _Ordnung_ in wirre sexuelle Verhältnisse zu bringen, dazu kann, wie nach Ordnung, nach _Regel_, nach Gesetz überhaupt (im praktischen wie theoretischen) nur der Mann -- donna è mobile -- das Bedürfnis und die Kraft besessen haben. Und es scheint ja wirklich für viele Völker eine Zeit gegeben zu haben, da die Frauen auf die soziale Gestaltung großen Einfluß nehmen durften; aber damals gab es nichts weniger als Ehe: die Zeit des _Matriarchats_ ist die Zeit der _Vielmännerei_. -- Das ungleiche Verhältnis der Mutter und der Dirne zum Kinde ist reich an weiteren Aufschlüssen. Ein Weib, das vorwiegend Dirne ist, wird auch in ihrem Sohne zunächst dessen Mannheit wahrnehmen und stets in einem sexuellen Verhältnis zu ihm stehen. Da aber kein Weib ganz mütterlich ist, läßt es sich nicht verkennen, daß ein letzter Rest sexueller Wirkung von jedem Sohne auf seine Mutter ausgeht. Darum bezeichnete ich früher das Verhältnis zur Tochter als den zuverlässigsten Maßstab der Mutterliebe. Sicherlich steht anderseits auch jeder Sohn zu seiner Mutter in einer, wenn auch vor den Blicken beider noch so verschleierten, sexuellen Beziehung. In der ersten Zeit der Pubertät kommt dies bei den meisten Männern, bei manchen selbst noch später hin und wieder, aus seiner Zurückdrängung im wachen Bewußtsein, durch sexuelle Phantasien während des Schlafes, deren Objekt die Mutter bildet, zum Vorschein (»Ödipus-Traum«). Daß aber auch im eigentlichsten Verhältnis der echten Mutter zum Kinde noch ein tiefes, sexuelles Verschmolzenheitselement steckt, darauf scheinen die Wollustgefühle hinzudeuten, welche die Frau bei der Laktation so unzweifelhaft empfindet, wie die anatomische Tatsache feststeht, daß sich unter der weiblichen Brustwarze erektiles Gewebe befindet und von den Physiologen ermittelt ist, daß durch Reizung von diesem Punkte aus Zusammenziehungen der Gebärmuttermuskulatur ausgelöst werden können. Sowohl die Passivität, welche für das Weib aus dem aktiven Saugen des Kindes resultiert, als auch der Zustand inniger, körperlicher Berührung während der Spende der Muttermilch stellen eine sehr vollkommene Analogie zum Verhalten des Weibes im Koitus her; sie lassen es begreiflich erscheinen, daß die monatlichen Blutungen auch während der Laktation pausieren, und geben der unklaren, aber tiefen Eifersucht des Mannes schon auf den Säugling ein gewisses Recht. Das Nähren des Kindes ist aber eine durchaus mütterliche Beschäftigung; je mehr eine Frau Dirne ist, desto weniger wird sie ihr Kind selbst stillen wollen, desto schlechter wird sie es können. Es läßt sich also nicht leugnen, daß das Verhältnis Mutter--Kind an sich bereits ein dem Verhältnis Weib--Mann verwandtes ist. Die Mütterlichkeit ist ferner gleich allgemein wie die Sexualität und den verschiedenen Wesen gegenüber so abgestuft wie diese. Wenn eine Frau mütterlich ist, muß ihre Mütterlichkeit nicht nur dem leiblichen Kinde gegenüber sich offenbaren, sondern auch schon vorher und jedem Menschen gegenüber zum Ausdruck kommen; wenngleich das Interesse für das eigene Kind später alles andere absorbiert und die Mutter im Falle eines Konfliktes durchaus engherzig, blind und ungerecht macht. Am interessantesten ist hier das Verhältnis des mütterlichen Mädchens zum Geliebten. Mütterliche Frauen nämlich sind schon als Mädchen dem Manne gegenüber, den sie lieben, selbst für jenen Mann, der später Vater ihres Kindes wird, Mütter; _er $ist$ selbst schon in gewissem Sinne ihr Kind_. In diesem Mutter und liebender Frau Gemeinsamen[47] offenbart sich uns das tiefste Wesen _dieses_ Weibestypus: es ist der fortlaufende Wurzelstock der Gattung, den die Mütter bilden, das nie endende, mit dem Boden verwachsene Rhizom, von dem sich der einzelne _Mann_ als Individuum _ab_hebt und dem gegenüber er seiner Vergänglichkeit inne wird. Dieser Gedanke ist es, mehr oder weniger bewußt, welcher den Mann selbst das mütterliche Einzelwesen, auch schon als Mädchen, in einer gewissen Ewigkeit erblicken läßt[48], der das schwangere Weib zu einer großen Idee macht (_Zola_). Die ungeheuere _Sicherheit_ der Gattung, aber freilich sonst nichts, liegt in dem _Schweigen_ dieser Geschöpfe, vor dem sich der Mann für Augenblicke sogar klein fühlen kann. Ein gewisser Friede, eine große Ruhe mag in solchen Minuten über ihn kommen, ein Schweigen aller höheren und tieferen Sehnsucht, und er mag so für Momente wirklich wähnen, den tiefsten Zusammenhang mit der Welt durch das Weib gefunden zu haben. Wird er doch beim geliebten Weib dann ebenfalls zum _Kinde_ (_Siegfried_ bei _Brünnhilde_, dritter Akt); zum Kinde, das die Mutter lächelnd betrachtet, für das sie unendlich viel _weiß_, dem sie Pflege angedeihen läßt, das sie zähmt und im Zaum hält. Aber nur auf Sekunden (Siegfried reißt sich von Brünnhilde). Denn was den Mann ausmacht, ist ja nur, was ihn von der Gattung loslöst, indem es ihn über sie erhebt. Darum ist die Vaterschaft durchaus nicht die Befriedigung seines tiefsten Gemütsbedürfnisses, darum ist ihm der Gedanke, in der Gattung auf-, in ihr unterzugehen, entsetzlich; und das fürchterlichste Kapitel, in dem trostärmsten unter den großen Büchern der menschlichen Literatur, in der »Welt als Wille und Vorstellung«, das »Über den Tod und sein Verhältnis zur Unzerstörbarkeit unseres Wesens an sich«, wo diese Unendlichkeit des Gattungswillens als die einzig wirkliche Unsterblichkeit hingestellt ist. Die Sicherheit der Gattung ist es, welche die Mutter mutig und unerschrocken macht im Gegensatz zur stets feigen und furchtsamen Prostituierten. Es ist nicht der Mut der Individualität, der moralische Mut, der aus der Werthaltung der Wahrheit und der Unbeugsamkeit des innerlich Freien folgt, sondern der Lebenswille der Gattung, welche durch die Einzelperson der Mutter das Kind und selbst den Mann schützt. Wie vom Begriffspaare Mut und Feigheit, so ist auch vom Gegensatz Hoffnung -- Furcht die Hoffnung der Mutter, die Furcht der Dirne zugefallen. Die absolute Mutter ist sozusagen stets und in jeder Beziehung »in der Hoffnung«; da sie in der Gattung unsterblich ist, kennt sie auch keine Furcht vor dem Tode, vor dem die Dirne eine entsetzliche Angst hat, ohne im geringsten ein individuelles Unsterblichkeitsbedürfnis zu hegen -- ein Beweis mehr, wie falsch es ist, das Begehren nach persönlicher Fortdauer bloß auf die Furcht vor dem körperlichen Tode und das Wissen um diesen zurückzuführen. Die Mutter fühlt sich dem Manne stets überlegen, sie weiß sich als seinen Anker; indes sie selbst in der geschlossenen Kette der Generationen wohl gesichert, gleichsam den Hafen vorstellt, aus dem jedes Schiff neu ausläuft, steuert der Mann weit draußen allein auf hoher See. Die Mutter ist, im höchsten Alter noch, immer bereit, das Kind zu empfangen und zu bergen; bereits in der Konzeption des Kindes lag psychisch, wie sich zeigen wird, für die Mutter dieses Moment, in der Schwangerschaft tritt das andere des Schutzes und der Nahrung ganz deutlich zu Tage. Dieses Überlegenheitsverhältnis kommt auch vor dem Geliebten zum Vorschein: die Mutter hat Verständnis für das Naive und Kindliche, für die _Einfalt_ im Manne, die Hetäre für seine Feinheiten und sein Raffinement. Die Mutter hat das Bedürfnis, ihr Kind zu lehren, ihm alles zu geben, sei dieses Kind auch der Geliebte; die Hetäre brennt darauf, daß ihr der Mann _imponiere_, sie will ihm selbst erst alles _verdanken_. Die Mutter als Vertreterin des Genus, das sich in jedem seiner Angehörigen auswirkt, ist freundlich gegen alle Mitglieder der Gattung (_selbst jede Tochter ist in diesem Sinne noch die Mutter ihres Vaters_); erst wenn die Interessen der engeren Kinder auf dem Spiele stehen, wird sie, aber dann auch in einem außerordentlichen Grade, exklusiv; die Dirne ist nie so liebreich und nie so engherzig, wie die Mutter es sein kann. _Die Mutter steht ganz unter dem Gattungszweck; die Prostituierte steht außerhalb desselben._ Ja die Gattung hat eigentlich nur diesen einen Anwalt, diese eine Priesterin, die Mutter; der Wille des Genus kommt nur in ihr rein zum Ausdruck, während bereits die Erscheinung der Dirne den Beweis dafür liefert, daß _Schopenhauers_ Lehre, es handle sich in aller Sexualität nur um die Zusammensetzung der künftigen Generation, unmöglich allgemein zutreffen kann. Daß es der Mutter nur auf das Leben ihrer Gattung ankommt, wird auch daraus ersichtlich, daß mütterliche Frauen es sind, die gegen Tiere am meisten Härte beweisen. Man muß beobachtet haben, mit welcher unerschütterlichen Ruhe, wie durchdrungen von der Verdienstlichkeit ihres Amtes die gute Hausfrau und Mutter ein Huhn nach dem anderen schlachtet. Denn die Kehrseite der Mutterschaft ist die Stiefmutterschaft; jede Mutter ihrer Kinder ist Stiefmutter aller anderen Geschöpfe. Noch auffallender als diese Bestätigung fällt für den Zusammenhang der Mutter mit der Erhaltung der Gattung ihr eigentümlich inniges Verhältnis zu allem ins Gewicht, was zur _Nahrung_ dient. Sie kann es nicht ertragen, daß irgend etwas, das hätte gegessen werden können, sei es auch ein noch so geringfügiger Rest, zu Grunde gehe. Ganz anders die Dirne, die nach Willkür, ohne rechten Grund jetzt große Quantitäten an Vorräten zum Essen und Trinken beschafft, um sie dann haufenweise »stehen« zu lassen. Die Mutter ist überhaupt geizig und kleinlich, die Prostituierte verschwenderisch, launisch. Denn die _Erhaltung der Gattung_ ist der Zweck, für den die Mutter lebt; so sorgt sie sich eifrig darum, daß die von ihr Bemutterten sich satt essen, und durch nichts ist sie so zu erfreuen, wie durch einen gesegneten Appetit. Damit hängt ihr Verhältnis zum Brode, zu allem, was Wirtschaft heißt, zusammen. _Ceres_ ist eine gute Mutter: eine Tatsache, die in ihrem griechischen Namen _Demeter_ deutlich zum Ausdruck kommt. So pflegt die Mutter die Physis, nicht aber die Psyche des Kindes[49]. Das Verhältnis zwischen Mutter und Kind bleibt von seiten der Mutter immer ein körperliches: vom Küssen und Herzen des Kleinen bis zu der umgebenden und einwickelnden Sorge für den Erwachsenen. Auch das aller Vernunft bare Entzücken über jedwede Lebensäußerung des kleinen Säuglings ist nicht anders zu verstehen, als aus dieser einzigen Aufgabe der Erhaltung und Hut des irdischen Daseins. Damit ergibt sich hieraus auch, warum die Mutterliebe nicht wahrhaft sittlich hochgeschätzt werden kann. Es frage sich jeder aufrichtig, ob er glaubt, daß ihn seine Mutter nicht ebenso lieben würde, wenn er ganz anders wäre als er ist, ob ihre Neigung geringer würde, wenn er nicht er, sondern ein ganz anderer Mensch wäre! _Hier_ liegt der springende Punkt, und hier sollen die Rede stehen, welche von der moralischen Hochachtung des Weibes um der Mutterliebe willen nicht lassen wollen. Die Individualität des Kindes ist der Mutterliebe ganz gleichgültig, ihr genügt die bloße Tatsache der Kindschaft: _und dies ist eben das Unsittliche an ihr_. In jeder Liebe von Mann zu Weib, auch in jeder Liebe innerhalb des gleichen Geschlechtes, kommt es sonst immer auf ein bestimmtes Wesen mit ganz besonderen körperlichen und psychischen Eigenschaften an; nur die Mutterliebe erstreckt sich wahllos auf alles, was die Mutter je in ihrem Schoße getragen hat. Es ist ein grausames Geständnis, das man sich macht, grausam gegen Mutter und Kind, daß gerade hierin sich offenbart, wie vollkommen unethisch die Mutterliebe eigentlich ist, jene Liebe, die ganz gleich fortwährt, ob der Sohn ein Heiliger oder ein Verbrecher, ein König oder ein Bettler werde, ein Engel bleibe oder zum Scheusal entarte. Nicht minder gemein freilich ist der Anspruch, den so oft die Kinder auf die Liebe ihrer Mutter zu haben glauben, bloß weil sie deren Kinder sind (besonders gilt dies von den Töchtern; indessen sind auch die Söhne in diesem Punkte meist fahrlässig). Die Mutterliebe ist darum unmoralisch, weil sie kein Verhältnis zum fremden _Ich_ ist, sondern ein _Verwachsensein_ von Anfang an darstellt; sie ist, wie alle Unsittlichkeit gegen andere, eine _Grenzüberschreitung_. Es gibt ein ethisches Verhältnis nur _von Individualität zu Individualität_. Die Mutterliebe schaltet die Individualität _aus_, indem sie _wahllos_ und _zudringlich_ ist. _Das Verhältnis der Mutter zum Kinde ist in alle Ewigkeit ein System von reflexartigen Verbindungen zwischen diesem und jener._ Schreit oder weint das Kleine, während die Mutter im Nebenzimmer sitzt, plötzlich auf, so wird die Mutter wie gestochen emporfahren und zu ihm hineineilen (eine gute Gelegenheit, um sofort zu erkennen, was eine Frau mehr ist, Mutter oder Dirne); und auch später teilt sich jeder Wunsch, jede Klage des Erwachsenen der Mutter augenblicklich mit, sie werden auf sie gleichsam fortgeleitet, pflanzen sich auf sie über, und werden unbesehen, unaufgehalten die ihren. _Eine nie unterbrochene Leitung zwischen der Mutter und allem, was je durch eine Nabelschnur mit ihr verbunden war_: das ist das Wesen der Mutterschaft, und ich kann darum in die allgemeine Bewunderung der Mutterliebe nicht einstimmen, sondern muß gerade das an ihr verwerflich finden, was an ihr so oft gepriesen wird: ihre Wahllosigkeit. Ich glaube übrigens, daß von vielen hervorragenderen Denkern und Künstlern dies wohl erkannt und nur verschwiegen worden ist; die früher so verbreitete große Überschätzung _Rafaels_ ist gewichen, und sonst stehen die Sänger der Mutterliebe eben doch nicht höher als _Fischart_ oder als _Richepin_. Die Mutterliebe ist instinktiv und triebhaft: auch die Tiere kennen sie nicht weniger als die Menschen. Damit allein wäre aber schon bewiesen, daß diese Art der Liebe keine echte Liebe, daß dieser Altruismus keine wahre Sittlichkeit sein kann; denn alle Moral stammt von jenem intelligiblen Charakter, dessen die gänzlich unfreien tierischen Geschöpfe entraten. Dem ethischen Imperative kann nur von einem vernünftigen Wesen gehorcht werden; es gibt keine triebhafte sondern nur bewußte Sittlichkeit. Ihre Stellung außerhalb des Gattungszweckes, der Umstand, daß sie nicht bloß als Aufenthaltsort und Behälter, gleichsam nur zum ewigen Durchpassieren für neue Wesen dient und sich nicht darin verzehrt, diesen Nahrung zu geben, stellt die Hetäre in gewisser Beziehung _über_ die Mutter; soweit dort von ethisch höherem Standort überhaupt die Rede sein kann, wo es sich um zwei Weiber handelt. Die Mutter, die ganz in Pflege und Kleidung von Mann und Kind, in Besorgung oder Aufsicht von Küche und Haus, Garten und Feld aufgeht, steht fast immer intellektuell sehr tief. Die geistig höchstentwickelten Frauen, alles, was dem Manne irgendwie _Muse_ wird, gehört in die Kategorie der Prostituierten: zu diesem, dem _Aspasien-Typus_, sind die Frauen der Romantik zu rechnen, vor allem die hervorragendste unter ihnen, _Karoline Michaelis-Böhmer-Forster-Schlegel-Schelling_. Es hängt damit zusammen, daß nur solche Männer sexuell von der Mutter sich angezogen fühlen, die kein Bedürfnis nach geistiger Produktivität haben. Wessen Vaterschaft sich auf leibliche Kinder beschränkt, von dem ist es ja auch zu erwarten, daß er die fruchtbare Frau, die Mutter, erwählen wird vor der anderen. _Bedeutende Menschen haben stets nur Prostituierte geliebt_[50]; ihre Wahl fällt auf das sterile Weib, wie sie selbst, wenn überhaupt eine Nachkommenschaft, so stets eine lebensunfähige, bald aussterbende hervorbringen -- was vielleicht einen tiefen ethischen Grund hat. Die irdische Vaterschaft nämlich ist ebenso geringwertig wie die Mutterschaft; sie ist unsittlich, wie sich später zeigen wird (Kapitel 14); und sie ist unlogisch, denn sie stellt in jeder Beziehung eine Illusion vor: wie weit er Vater seines Kindes ist, dessen ist kein Mensch je gewiß. Und auch ihre Dauer ist doch immer kurz und vergänglich: jedes Geschlecht und jede Rasse der Menschheit ist schließlich zu Grunde gegangen und erloschen. Die so verbreitete, so ausschließliche und geradezu ehrfürchtige Wertschätzung der mütterlichen Frau, die man dann gerne noch für den alleinigen und einzig echten Typus des Weibes auszugeben pflegt, ist nach alledem völlig unberechtigt; obwohl von fast allen Männern zähe an ihr festgehalten, ja gewöhnlich noch behauptet wird, daß jede Frau erst als Mutter ihre Vollendung finde. Ich gestehe, daß mir die Prostituierte nicht als Person, sondern als Phänomen weit mehr imponiert. Die allgemeine Höherstellung der Mutter hat verschiedene Gründe. Vor allem scheint sie, da ihr am Manne an sich nichts oder nur so viel liegt, als er Kind ist, eher geeignet, dem Virginitätsideal zu entsprechen, das, wie sich zeigen wird, stets erst der Mann aus einem gewissen Bedürfnis an die Frau heranbringt; welcher Keuschheit ursprünglich fremd ist, der nach Kindern begehrenden Mutter ganz ebenso wie der männersüchtigen Dirne. Jenen Schein großer Sittlichkeit vergilt ihr der Mann durch die, an und für sich ganz unbegründete, moralische und soziale Erhebung über die Prostituierte. Diese ist das Weib, das sich den Wertungen des Mannes und dem von ihm bei der Frau gesuchten Keuschheitsideale nie gefügt, sondern stets, in verborgenem Sträuben als Weltdame, in passivem leisen Widerstande als Halbweltlerin, in offener Demonstration als Gassendirne, _widersetzt_ hat. _Hieraus allein_ erklärt sich die Sonderposition, die Stellung außer aller sozialen Achtung, ja nahezu außer Recht und Gesetz, welche die Prostituierte heute fast überall einnimmt. Die Mutter hatte es leicht, sich dem sittlichen Willen des Mannes zu unterwerfen, da es ihr nur auf das Kind, auf das Leben der Gattung ankam. Ganz anders die Dirne. Sie lebt wenigstens ihr eigenes Leben ganz und gar[51], wenn sie auch dafür -- im extremen Falle -- mit dem Ausschluß aus der Gesellschaft bestraft wird. Sie ist zwar nicht mutig wie die Mutter, vielmehr feige durch und durch, aber sie besitzt auch das stete Korrelat der Feigheit, die Frechheit, und so hat sie wenigstens die Unverschämtheit ihrer Schamlosigkeit. Von Natur zur Vielmännerei veranlagt, und immer mehr Männer anziehend als bloß den einen Gründer einer Familie, ihren Trieben Lauf lassend und sie wie im Trotze befriedigend, fühlt sie sich als Herrscherin, und die tiefste Selbstverständlichkeit ist ihr, daß sie Macht habe. Die Mutter ist leicht zu kränken oder zu empören, die Prostituierte kann niemand verletzen, niemand beleidigen; denn die Mutter hat als Hüterin des Genus, der Familie eine gewisse _Ehre_, die Prostituierte hat auf alle soziale Ehre verzichtet, und das ist ihr Stolz, darum wirft sie den Nacken zurück. Den Gedanken aber, daß sie keine Macht habe, vermöchte sie nicht zu fassen. (»La maîtresse«.) Sie erwartet es und kann es gar nicht anders glauben, als daß alle Menschen sich mit ihr befassen, nur an sie denken, _für sie leben_. Und tatsächlich ist sie es auch -- sie, das Weib als Dame -- welche die meiste Macht unter den Menschen besitzt, den größten, ja den alleinigen Einfluß ausübt in allem Menschenleben, das nicht durch männliche Verbände (vom Turnverein bis zum Staat) geregelt ist. Sie bildet hier das Analogon zum großen Eroberer auf politischem Gebiet. Wie dieser, wie _Alexander_ und _Napoleon_, wird die ganz große, ganz bezaubernde Dirne vielleicht nur alle tausend Jahre einmal geboren, aber dann feiert sie auch, wie dieser, ihren Siegeszug durch die ganze Welt. Jeder solche Mann steht immer in einer gewissen Verwandtschaft zur Prostituierten (jeder Politiker ist irgendwie _Volkstribun_, und im Tribunat steckt ein Element der Prostitution); wie er ist die Prostituierte, im Gefühle ihrer Macht, vor dem Manne nie im geringsten verlegen, während es jeder Mann gerade ihr und ihm gegenüber immer ist. Wie der große Tribun glaubt sie jeden Menschen, mit dem sie spricht, zu _beglücken_ -- man beobachte ein solches Weib, wenn es einen Polizeimann um eine Auskunft bittet, wenn es in ein Geschäft tritt; gleichgültig ob Männer oder Frauen darin angestellt sind, gleichgültig, wie klein der Einkauf ist, den sie macht: immer glaubt sie Gaben _auszuteilen_ nach allen Seiten hin. Man wird in jedem geborenen Politiker dieselben Elemente entdecken. Und die Menschen, alle Menschen haben _beiden_ gegenüber -- man denke, sogar der selbstbewußte _Goethe_ in seinem Verhalten zu _Napoleon_ in Erfurt -- tatsächlich und unwiderstehlich das Gefühl, _beschenkt_ worden zu sein (_Pandora-Mythus_; _Geburt der Venus_: die aus dem Meer aufsteigt und bereits darbietend um sich blickt). Hiemit bin ich, wie ich im fünften Kapitel[52] versprochen habe, nochmals zu den »Männern der Tat« auf einen Augenblick zurückgekehrt. Selbst ein so tiefer Mensch wie _Carlyle_ hat sie hochgewertet, ja »the hero as king« zuletzt, zuhöchst unter allen Heroen gesetzt. Es wurde schon an jener Stelle gezeigt, warum dies nicht zutreffen kann. Ich darf jetzt weiter darauf hinweisen, wie alle großen Politiker Lüge und Betrug zu brauchen nicht scheuen, auch die größten nicht, _Caesar_, _Cromwell_, _Napoleon_, _Bismarck_; wie _Alexander der Große_ sogar zum Mörder wurde und sich seine Schuld von einem Sophisten nachträglich bereitwillig ausreden ließ. Verlogenheit aber ist unvereinbar mit Genialität; _Napoleon_ hat auf St. Helena von Lüge gesättigte, von Sentimentalität triefende Memoiren geschrieben, und sein letztes Wort war noch die altruistische Pose, daß er stets nur Frankreich geliebt habe. _Napoleon_, die größte Erscheinung unter allen, zeigt auch am deutlichsten, daß die »großen Willensmenschen«, Verbrecher, und demnach keine Genies sind. Ihn kann man nicht anders verstehen als aus der _ungeheuren Intensität, mit der er sich selbst floh_: nur so ist alle Eroberung, im Großen, wie im Kleinen, zu erklären. Über sich selbst mochte Napoleon nie nachdenken, nicht eine Stunde durfte er ohne große äußere Dinge bleiben, die ihn ganz ausfüllen sollten: darum mußte er die Welt erobern. Da er große Anlagen hatte, größere als jeder Imperator vor ihm, brauchte er mehr, um alle Gegenstimmen in sich zum Schweigen zu bringen. Übertäubung seines besseren Selbst, das war das gewaltige Motiv seines Ehrgeizes. Der höhere, der bedeutende Mensch mag zwar das gemeine Bedürfnis nach Bewunderung oder nach dem Ruhme teilen, aber nicht den Ehrgeiz als das Bestreben, alle Dinge in der Welt mit sich als empirischer Person zu verknüpfen, sie von sich abhängig zu machen, um auf den eigenen Namen alle Dinge der Welt zu einer unendlichen Pyramide zu _häufen_. Der große Mensch hat _Grenzen_, denn _er_ ist die Monade der Monaden, und -- dies ist eben jene letzte Tatsache -- gleichzeitig der bewußte Mikrokosmus, _pantogen_, er hat die ganze Welt in sich, er sieht, im vollständigsten Falle, bei der ersten Erfahrung, die er macht, klar ihre Zusammenhänge im All, und er bedarf darum zwar der _Erlebnisse_, aber keiner _Induktion_; der große Tribun und die große Hetäre sind _die_ absolut _grenzenlosen_ Menschen, welche die ganze Welt zur Dekoration und Erhöhung ihres _empirischen_ Ich gebrauchen. Darum sind beide jeder Liebe, Neigung und Freundschaft unfähig, lieblos, liebeleer. Man denke an das tiefe Märchen von dem König, der die Sterne erobern wollte! Es enthüllt strahlend und grell die Idee des Imperators. Der wahre Genius gibt sich selbst seine Ehre, und am allerwenigsten setzt er sich in jenes Wechselverhältnis gegenseitiger Abhängigkeit zum Pöbel, wie dies jeder Tribun tut. Denn im großen Politiker steckt nicht nur ein Spekulant und Milliardär, sondern auch ein Bänkelsänger; er ist nicht nur großer Schachspieler, sondern auch großer Schauspieler; er ist nicht nur ein Despot, sondern auch ein Gunstbuhler; er prostituiert nicht nur, er ist auch eine große Prostituierte. Es gibt keinen Politiker, keinen Feldherrn, der nicht »hinabstiege«. Seine Hinabstiege sind ja berühmt, sie sind seine Sexualakte! _Auch zum richtigen Tribun gehört die Gasse._ Das Ergänzungsverhältnis zum Pöbel ist geradezu konstitutiv für den Politiker. Er kann überhaupt nur Pöbel brauchen; mit den anderen, den Individualitäten, räumt er auf, wenn er unklug ist, oder heuchelt sie zu schätzen, um sie unschädlich zu machen, wenn er so gerieben ist wie _Napoleon_. Seine Abhängigkeit vom Pöbel hat dieser denn auch am feinsten gespürt. Ein Politiker kann durchaus nicht alles Beliebige unternehmen, auch wenn er ein Napoleon ist, und selbst wenn er, was er aber als Napoleon nicht wird, _Ideale_ realisieren wollte: er würde gar bald von dem Pöbel, seinem wahren Herren, eines Besseren belehrt werden. Alle »Willensersparnis« hat nur für den _formalen_ Akt der _Initiative_ Geltung; _frei_ ist das Wollen des Machtgierigen nicht. Auf diese Gegenseitigkeit, diese Relation zu den Massen fühlt sich jeder Imperator hingewiesen, _darum_ sind alle ausnahmslos ganz instinktiv _für_ die Constituante, für die Volks- oder Heeresversammlung, für das allgemeinste Wahlrecht (_Bismarck_ 1866). Nicht Marc Aurel und Diokletian, sondern Kleon, Antonius, Mirabeau, das sind die Gestalten, in denen der echte Politiker erscheint. Ambitio heißt eigentlich Herumgehen. Das tut der Tribun wie die Prostituierte. Napoleon hat in Paris nach _Emerson_ »inkognito in den Straßen auf die Hurras und Lobsprüche des Pöbels gelauscht«. Von _Wallenstein_ heißt es bei _Schiller_ ganz ähnlich. Von jeher hat das Phänomen des großen Mannes der Tat, als ein ganz Einzigartiges, vor allem die Künstler (aber auch philosophische Schriftsteller) mächtig angezogen. Die überraschende Konformität, welche hier entrollt wurde, wird es vielleicht erleichtern, der Erscheinung begrifflich, durch die Analyse, näher zu kommen. _Antonius_ (_Caesar_) und _Kleopatra_ -- die beiden sind einander gar nicht unähnlich. Den meisten Menschen wird die Parallele wohl zuerst ganz fiktiv erscheinen, und doch däucht mich das Bestehen einer engen Analogie über allen Zweifel erhaben, so heterogen beide den ersten Anblick berühren mögen. Wie der »große Mann der Tat« auf ein _Innenleben verzichtet_, um sich gänzlich in der Welt, hier paßt das Wort, _auszuleben_, und zugrundezugehen wie alles _Aus_gelebte, statt zu bestehen wie alles _Ein_gelebte, wie er seinen ganzen _Wert_ mit kolossaler Wucht hinter sich wirft und sich ihn _weghält_, so schmeißt die große Prostituierte der Gesellschaft den Wert ins Antlitz, den sie als Mutter von ihr beziehen könnte, nicht freilich um in sich zu gehen und ein beschauliches Leben zu führen, sondern um ihrem sinnlichen Triebe nun erst vollen Lauf zu lassen. Beide, die große Prostituierte und der große Tribun, sind wie Brandfackeln, die entzündet weithin leuchten, Leichen über Leichen auf ihrem Wege lassen und untergehen, wie Meteore, für menschliche Weisheit sinnlos, zwecklos, ohne ein Bleibendes zu hinterlassen, ohne alle Ewigkeit -- indessen die Mutter und der Genius in der Stille die Zukunft wirken. Beide, Dirne und Tribun, werden darum als »Gottesgeißeln«, als antimoralische Phänomene empfunden. Hiegegen erscheint es neuerdings gerechtfertigt, daß seinerzeit vom Begriffe des genialen Menschen der »große Willensmensch« ausgeschlossen wurde. Das Genie, und zwar nicht etwa bloß das philosophische, sondern auch das künstlerische, ist immer ausgezeichnet durch das Vorwalten der begrifflichen oder darstellenden _Erkenntnis_ über alles _Praktische_. Das Motiv, welches die Dirne treibt, bedarf indessen noch einer Untersuchung. Das Wesen der Mutter war relativ leicht zu erkennen: sie ist in eminenter Weise das Werkzeug zur Erhaltung der Gattung. Viel rätselhafter und schwieriger ist die Erklärung der Prostitution. Für jeden, der über diese lange nachgedacht hat, sind sicherlich Augenblicke gekommen, wo er an ihrer Aufhellung völlig verzweifelt hat. Worauf es hier aber gewiß vor allem ankommt, ist das verschiedene Verhältnis beider, der Mutter und der Dirne, zum Koitus. Die Gefahr ist hoffentlich gering, daß jemand die Beschäftigung hiemit, wie überhaupt mit dem Thema der Prostitution, für des Philosophen unwürdig erachten könnte. Es ist der Geist der Behandlung, der vielen Gegenständen Würde erteilen muß. Auch die Künstler, welche die Dirne zum Vorwurf gewählt haben -- mir sind _Zolas_ »Confession de Claude«, _Hortense_, _Renée_ und _Nana_, _Tolstois_ »Auferstehung«, _Ibsens_ _Hedda Gabler_ und _Rita_, schließlich die _Sonja_ eines der größten Geister, des _Dostojewskij_ bekannt geworden -- wollten nie wirklich singuläre Fälle, sondern stets Allgemeines darstellen. Vom Allgemeinen aber muß auch eine Theorie möglich sein. Für die Mutter ist der Koitus Mittel zum Zweck; die Dirne nimmt insofern eine Sonderstellung zu ihm ein, _als ihr der Koitus Selbstzweck wird_. Daß im Naturganzen dem Koitus noch eine andere Rolle zugefallen ist außer der Fortpflanzung, hierauf sehen wir uns allerdings auch dadurch hingewiesen, daß bei vielen Lebewesen die letztere ohne den Koitus erreicht wird (_Parthenogenesis_). Aber andererseits sehen wir bei den Tieren noch überall die _Begattung_ dem Ziele der Hervorbringung einer Nachkommenschaft dienen, und nirgends ist uns der Gedanke nahegelegt, daß die Kopulation _ausschließlich_ der Lust wegen gesucht werde, indem sie vielmehr nur zu gewissen Zeiten, den Brunstperioden, vor sich geht; so daß man die Lust geradezu als das Mittel betrachtet hat, welches die Natur anwende, um _ihren_ Zweck der Erhaltung der Gattung zu erreichen. Wenn der Koitus der Dirne Selbstzweck ist, so heißt dies nicht, daß für die Mutter der Koitus nichts bedeute. Es gibt zwar eine Kategorie »sexuell-anästhetischer« Frauen, die man als »frigid« bezeichnet, obwohl solche Fälle viel seltener glaubwürdig sind, als man denkt, indem sicherlich an der ganzen Kälte oft nur der Mann die Schuld trägt, der durch seine Person nicht vermochte, das Gegenteil herbeizuführen; die übrigen Fälle aber sind nicht dem Muttertypus zuzurechnen. Frigidität kann sowohl bei der Mutter als bei der Dirne auftreten; sie wird später unter den hysterischen Phänomenen eine Erklärung finden. Ebensowenig darf man die Prostituierte für sexuell unempfindlich halten, weil die Straßendirnen (d. i. jenes Kontingent, das im ganzen und großen nur von der bäuerischen Bevölkerung, den Dienstmädchen u. s. w. zur Prostitution gestellt wird) hier oft hochgespannte Erwartungen durch Mangel an Lebendigkeit enttäuscht haben mögen. Weil das käufliche Mädchen auch die Liebesbezeugungen solcher sich gefallen lassen muß, die ihm sexuell nichts bieten, darf man es nicht etwa als zu seinem Wesen gehörig betrachten, beim Koitus überhaupt kalt zu bleiben. Dieser Schein entsteht nur, weil gerade sie die höchsten Ansprüche an das sinnliche Vergnügen stellt; und für alle Entbehrungen, die sie in dieser Hinsicht sonst erduldet, wird sie die Gemeinschaft mit dem Zuhälter aufs ausgiebigste entschädigen müssen. Daß für die Dirne der Koitus Selbstzweck ist, wird auch hieraus ersichtlich, daß sie, und nur sie allein, _kokett_ ist. Die Koketterie ist nie ohne Beziehung zum Koitus. Ihr Wesen besteht darin, daß sie die Eroberung der Frau dem Manne als geschehen vorspiegelt, um ihn _durch den Kontrast_ mit der Realität, welche diese Erfüllung noch keineswegs zeigt, zur Verwirklichung der Eroberung anzuspornen. So ist sie eine Herausforderung des Mannes, dem sie eine und dieselbe Aufgabe in ewig wechselnder Form zeigt und ihm _gleichzeitig_ zu verstehen gibt, daß er nicht für fähig gehalten werde, diese Aufgabe je zu lösen. Hiebei leistet das Spiel der Koketterie an sich für die Frau dies, daß es ihren Zweck, den Koitus, bereits während seines Verlaufes in gewissem Sinne erfüllt: denn durch das Begehren des Mannes, das sie hervorruft, fühlt die Dirne schon ein den Sensationen des Koitiert-Werdens Analoges und verschafft sich so den Reiz der Wollust zu jeder Zeit und von jedem Manne. Ob sie hierin bis zum äußersten Ende gehen oder sich zurückziehen werde, wenn die Bewegung einen zu beschleunigten Fortgang nimmt, hängt wohl nur davon ab, ob die Form des wirklichen Koitus, den sie zur Zeit ausübt, d. h. ob ihr gegenwärtiger Mann sie schon so befriedigt, daß sie von dem anderen nicht _mehr_ erwartet. Und daß gerade die Straßendirne im allgemeinen nicht kokett ist, kommt vielleicht nur davon her, daß sie die Empfindungen, welche das Ziel der Koketterie sind, im stärksten Ausmaß und in der massivsten Form ohnedies unausgesetzt kostet und daher auf die feineren prickelnden Variationen leicht verzichten kann. Die Koketterie ist also ein Mittel, den aktiven sexuellen Angriff von Seite des Mannes herbeizuführen, die Intensität dieses Angriffes nach Belieben zu steigern oder abzuschwächen und seine Richtung, dem Angreifer selbst unmerkbar, dorthin zu dirigieren, wo ihn die Frau haben will; ein Mittel, entweder bloß Blicke und Worte hervorzurufen, durch welche sie sich angenehm kitzelnd betastet fühlt, oder es bis zur »Vergewaltigung« kommen zu lassen.[53] _Die Sensationen des Koitus sind prinzipiell keine anderen Empfindungen als wie sie das Weib sonst kennt, sie zeigen dieselben nur in höchster Intensifikation; das $ganze$ Sein des Weibes offenbart sich im Koitus, aufs höchste $potenziert$._ Darum kommen hier auch die Unterschiede zwischen Mutter und Dirne am stärksten zur Geltung. Die Mutter empfindet den Koitus nicht _weniger_, sondern _anders_ als die Prostituierte. Das Verhalten der Mutter ist mehr annehmend, hinnehmend, die Dirne fühlt, schlürft bis aufs äußerste den Genuß. Die Mutter empfindet das Sperma des Mannes gleichsam als _Depositum_: bereits im Gefühle des Koitus findet sich bei ihr das Moment des Aufnehmens und Bewahrens; denn sie ist die Hüterin des Lebens. Die Dirne hingegen will nicht wie die Mutter das Dasein überhaupt erhöht und gesteigert fühlen, wenn sie vom Koitus sich erhebt; _sie will vielmehr im Koitus als Realität verschwinden, zermalmt, zernichtet, zu nichts, bewußtlos werden vor Wollust_. Für die Mutter ist der Koitus der _Anfang $einer Reihe$_; die Dirne will in ihm ihr _Ende_, sie will _vergehen_ in ihm. Der Schrei der Mutter ist darum ein kurzer, mit schnellem Schluß; der der Prostituierten ist langgezogen, denn alles Leben, das sie hat, will sie in diesen Moment _konzentriert, zusammengedrängt_ wissen. Weil dies nie gelingen kann, darum wird die Prostituierte in ihrem ganzen Leben _nie_ befriedigt, von allen Männern der Welt nicht. Hierin liegt also ein fundamentaler Unterschied im Wesen beider. Unterschiedslos aber fühlt sich jede Frau, da das Weib nur und durchaus sexuell ist, da diese Sexualität über den ganzen Körper sich erstreckt und an einigen Punkten, physikalisch gesprochen, bloß _dichter_ ist als an anderen, fortwährend und am ganzen Leibe, überall und immer, von was es auch sei, ausnahmslos _koitiert_. Das, was man gewöhnlich als Koitus bezeichnet, ist nur ein _Spezialfall_ von höchster Intensität. Die Dirne will _von allem koitiert werden_ -- darum kokettiert sie auch, wenn sie _allein_ ist, _und selbst vor leblosen Gegenständen_, vor jedem Bach, vor jedem Baum -- die Mutter wird von allen Dingen, fortwährend und am ganzen Leibe, _geschwängert_. _Dies ist die Erklärung des Versehens._ Alles, was auf eine Mutter je Eindruck gemacht hat, wirkt fort, je nach der Stärke des Eindruckes -- der zur Konzeption führende Koitus ist nur das intensivste dieser Erlebnisse und überwiegt an Einfluß alle anderen -- _all das wird Vater ihres Kindes_, es wird _Anfang einer Entwicklung_, deren Resultat sich später am Kinde zeigt. Darum also ist die Vaterschaft eine armselige Täuschung; denn sie muß stets mit unendlich vielen Dingen und Menschen geteilt werden, und das _natürliche, physische_ Recht das _Mutterrecht_. Weiße Frauen, die einst von einem Neger ein Kind gehabt haben, gebären später oft einem weißen Manne Nachkommen, die noch unverkennbare Merkmale der Negerrasse an sich tragen. Blüten, die mit einer Pollenart bestäubt werden, ergeben oft nach vielen späteren andersartigen Bestäubungen Früchte, welche noch an die Spezies erinnern, mit deren Pollen sie ehedem affiziert wurden. Und die Stute des _Lord Morton_ ist ja berühmt geworden, die, nachdem sie einmal einem Quagga einen Bastard geboren hatte, noch lange hernach einem arabischen Hengst zwei Füllen warf, welche deutliche Merkmale des Quaggas an sich trugen. Man hat an diesen Fällen viel gedeutelt; man hat erklärt, sie müßten viel häufiger vorkommen, wenn der Vorgang überhaupt möglich wäre. Aber damit sich diese »_Infektion_«, wie man ihn nennt (_Weismann_ hat den ausgezeichneten Namen _Telegonie_, d. i. _Zeugung in die Ferne_, vorgeschlagen, _Focke_ von Gastgeschenken, _Xenien_ gesprochen), damit sich Fernzeugung deutlich offenbaren könne, ist eine Erfüllung sämtlicher Gesetze der Sexualanziehung, eine außergewöhnlich hohe geschlechtliche Affinität zwischen dem ersten Vater und der Mutter erforderlich. Die Wahrscheinlichkeit ist von vornherein gering, daß ein Paar sich finde, in welchem jene Affinität derart mächtig ist, daß sie die mangelnde Rassenverwandtschaft überwindet; und doch besteht nur, wenn Rassenverschiedenheit vorhanden ist, eine Aussicht auf augenfällige, allgemein überzeugende Divergenzen; indessen bei sehr naher Familienverwandtschaft die Möglichkeit fehlt, unzweideutige Abweichungen vom Vatertypus an jenem Kinde, das noch unter dem Einflusse der früheren Zeugung stehen soll, mit Sicherheit festzustellen. Übrigens ist, daß man so heftig gegen die Keiminfektion sich gewehrt hat, nur daraus zu erklären, daß man die Erscheinungen nicht in ein System zu bringen wußte. Nicht besser als der Infektionslehre ist es dem Versehen ergangen. Hätte man begriffen, daß auch die Fernzeugung ein Versehen ist, nur eben ein Spezialfall des letzteren von höchster Intensität, hätte man eingesehen, daß der Urogenitaltrakt nicht der einzige, sondern nur der wirksamste Weg ist, auf dem eine Frau koitiert werden kann, daß die Frau durch einen _Blick_, durch ein _Wort_ sich bereits _besessen_ fühlen kann, es wäre der Widerspruch gegen das Versehen wie gegen die Telegonie so laut nicht geworden. Ein Wesen, das überall und von allen Dingen _koitiert_ wird, kann auch überall und von allen Dingen _befruchtet_ werden: _die Mutter ist empfänglich überhaupt. In ihr gewinnt alles Leben_, denn alles macht auf sie physiologischen Eindruck und geht in ihr Kind als dessen Bildner ein. Hierin ist sie wirklich, in ihrer niederen körperlichen Sphäre, nochmals dem Genius vergleichbar. Anders die Dirne. Wie sie selbst im Koitus zunichte werden will, so ist ihr Wirken auch sonst durchaus auf Zerstörung angelegt. Während die Mutter alles, was dem irdischen Leben und guten Fortkommen des Menschen förderlich ist, begünstigt, alles Ausschweifende aber von ihm fernhält, während sie den Fleiß des Sohnes aneifert und die Arbeitsamkeit des Gatten spornt, sucht die Hetäre die ganze Kraft und Zeit des Mannes _für sich_ in Anspruch zu nehmen. Aber nicht nur sie selbst ist gleichsam von Anbeginn dazu bestimmt, den Mann zu mißbrauchen: auch in jedem Mann verlangt etwas nach dieser Frau, das an Seite der schlichteren, stets geschäftigen, geschmacklos gekleideten, aller geistigen Elégance baren Mutter keine Befriedigung findet. Etwas in ihm _sucht_ den Genuß, und beim _Freudenmädchen_ vergißt er sich am leichtesten. Denn die Dirne vertritt das Prinzip des leichten Sinnes, sie sorgt nicht vor wie die Mutter, sie und nicht die Mutter ist die gute Tänzerin, nur sie verlangt nach Unterhaltung und großer Gesellschaft, nach dem Spaziergang und dem Vergnügungslokal, nach dem Seebad und dem Kurort, nach Theater und Konzert, nach immer neuen Toiletten und Edelsteinen; nach Geld, um es mit vollen Händen hinauszustreuen, nach Luxus statt nach Komfort, nach Lärm statt nach Ruhe; nicht nach dem Lehnstuhl inmitten von Enkeln und Enkelinnen, sondern nach dem Triumphzug auf dem Siegeswagen des schönen Körpers durch die Welt. Die Prostituierte erscheint denn auch dem Manne unmittelbar als die Verführerin: in den Gefühlen, die sie in ihm weckt; nur sie, das unkeusche Weib par excellence, als »Zauberin«. Sie ist der weibliche »Don Juan«, sie ist jenes Wesen in der Frau, das die Ars amatoria kennt, lehrt und hütet. Hiemit hängen aber noch interessantere und tiefer führende Dinge zusammen. Die Mutter wünscht vom Manne Anständigkeit, nicht um der Idee willen, _sondern weil sie die Bejaherin des Erdenlebens ist_. Wie sie selbst arbeitet und nicht faul ist gleich der Dirne, wie sie stets von Geschäften mit Bezug auf die Zukunft erfüllt scheint, so hat sie auch beim Manne Sinn für Tätigkeit und sucht ihn nicht von dieser zum Vergnügen hin abzuziehen. Die Dirne hingegen kitzelt am stärksten der Gedanke eines rücksichtslosen, gaunerischen, der Arbeit abgewandten Mannes. Ein Mensch, der einmal eingesperrt war, ist der Mutter ein Gegenstand des Abscheus, der Dirne eine Attraktion. Es gibt Frauen, die mit ihrem Sohne wirklich unzufrieden sind, wenn er in der Schule nicht gut tut, und solche, die an ihm, wenn sie auch das Gegenteil heucheln, dann um so größeres Wohlgefallen finden. Das »_Solide_« reizt die Mutter, das »_Unsolide_« die Dirne. Jene verabscheut, diese liebt den kräftig trinkenden Mann. Und so ließe sich noch vieles andere, in der gleichen Richtung gelegene anführen. Nur ein Einzelfall dieser allgemeinen, hoch in die wohlhabendsten Klassen hinauf reichenden Verschiedenheit ist es, daß die Gassendirne zu jenen Menschen sich am meisten hingezogen fühlt, die offene Verbrecher sind: der _Zuhälter_ ist immer gewalttätig, kriminell veranlagt, oft Räuber oder Betrüger, wenn nicht Mörder zugleich. Dies legt nun, so wenig das Weib selbst _anti_moralisch genannt werden darf -- es ist immer nur amoralisch -- den Gedanken nahe, daß die Prostitution in irgend einer tiefen _Beziehung_ zum _Anti_moralischen stehe, während alle Mutterschaft nie einen solchen Hinweis enthält. Nicht als ob die Prostituierte selbst das weibliche Äquivalent des männlichen Verbrechers bildete; obwohl sie so arbeitsscheu ist wie dieser, darf aus den in den vorigen Kapiteln erörterten Gründen die Existenz eines verbrecherischen Weibes nicht zugegeben werden: die Frauen stehen nicht so hoch. Aber _in einer Relation_ zum Antimoralischen, zum Bösen wird die Prostituierte unleugbar vom Manne empfunden, selbst wenn dieser nicht in ein sexuelles Verhältnis zu ihr getreten ist; so daß man nicht sagen kann, nur die Abwehr irgend eines eigenen Wollustgedankens habe diese projizierende Form angenommen. Der Mann erlebt die Prostitution von vornherein als ein Dunkles, Nächtiges, Schauervolles, Unheimliches, ihr Eindruck lastet schwerer, qualvoller auf seiner Brust als der, welchen die Mutter auf ihn hervorbringt. Die merkwürdige Analogie der großen Hetäre zum großen Verbrecher, d. i. eben zum Eroberer; die intime Beziehung der kleinen Dirne zum moralischen Ausbunde der Menschheit, dem Zuhältertum; jenes Gefühl, das sie im Manne wachruft, endlich die Absichten, die sie in betreff seiner hat -- all das vereinigt sich dazu, jene Ansicht zu bekräftigen. _Wie die Mutter ein lebensfreundliches, so ist die Prostituierte ein lebensfeindliches Prinzip._ Aber wie die Bejahung der Mutter nicht auf die Seele, sondern auf den Leib geht, so erstreckt sich auch die Verneinung der Dirne nicht diabolisch auf die Idee, sondern nur auf Empirisches. Sie will vernichtet werden und vernichten, sie schadet und zerstört. _Physisches Leben und physischer Tod, beide im Koitus so geheimnisvoll tief zusammenhängend_ (vgl. das nächste Kapitel), _sie verteilen sich auf das Weib als Mutter und als Prostituierte_. Eine entscheidendere Antwort als diese kann auf die Frage nach der Bedeutung von Mutterschaft und Prostitution einstweilen kaum gegeben werden. Es ist ja ein völlig dunkles, von keinem Wanderer noch betretenes Gebiet, auf dem ich mich hier befinde; der Mythus in seiner religiösen Phantasie mag es zu erleuchten sich erkühnen, dem Philosophen sind metaphysische Übergriffe allzufrüh nicht anzuraten. Dennoch bedarf noch einiges einer besseren Hervorhebung. Die antimoralische Bedeutung des Phänomens der Prostitution stimmt damit überein, daß sie ausschließlich auf den Menschen beschränkt ist. Bei den Tieren ist das Weibchen durchaus der Fortpflanzung untertan, es gibt dort keine sterile Weiblichkeit. Ja man könnte sogar daran denken, daß sich bei den Tieren die Männchen prostituieren, wenn man an den Rad schlagenden Pfau denkt, an das Leuchten des Glühwurms, die Lockrufe der Singvögel, den balzenden Auerhahn. Aber diese Schaustellungen sekundärer Geschlechtscharaktere sind bloße _exhibitionistische_ Akte des Männchens; wie es auch unter den Menschen vorkommt, daß läufige Männer ihre Genitalien vor Frauen entblößen als Aufforderung zum Koitus. Nur insofern sind diese tierischen Akte vorsichtig zu interpretieren, als man sich hüten muß, zu glauben, die psychische Wirkung, welche durch sie auf das Weibchen hervorgebracht wird, werde von dem Männchen im voraus in Betracht und Rechnung gezogen. Es handelt sich viel mehr um einen triebhaften _Ausdruck_ des _eigenen_ sexuellen Verlangens als um ein Mittel, dasselbe beim Weibe zu steigern, es ist ein Hintreten vor die Frau _mit_ und _in_ der sexuellen Erregung; während bei exhibitionierenden _Menschen_ wohl stets die Vorstellung der Erregung des anderen Geschlechtes mitspielt[54]. Die Prostitution ist demnach etwas beim Menschen allein Auftretendes; Tiere und Pflanzen sind ja nur gänzlich amoralisch, nicht irgendwie dem Antimoralischen verwandt, und kennen darum nur die Mutterschaft. _Hier liegt also eines der tiefsten Geheimnisse aus Wesen und Ursprüngen des $Menschen$ verborgen._ Und nun ist insofern an dem früheren eine Korrektur anzubringen, als mir wenigstens, je länger ich über sie nachdenke, desto mehr die Prostitution eine _Möglichkeit für $alle$ Frauen zu sein scheint, ebenso wie die, ja bloß physische, Mutterschaft_. Sie ist vielleicht etwas, wovon _jedes_ menschliche Weib durchsetzt, etwas, womit hier die tierische Mutter tingiert ist[55], ja am Ende eben das, was im menschlichen Weibe jenen Eigenschaften entspricht, um die der menschliche Mann mehr ist als das tierische Männchen. Zu der bloßen Mutterschaft des Tieres ist hier, mit dem Antimoralischen im Manne zu gleicher Zeit und nicht ohne merkwürdige Beziehungen zu diesem, ein Faktor hinzugekommen, der das menschliche Weib vom tierischen gänzlich und von Grund aus unterscheidet. Welche Bedeutung das Weib gerade als _Dirne_ für den Mann in _besonderem_ Maße gewinnen konnte, davon soll erst gegen den Schluß der gesamten Untersuchung die Rede werden; der Ursprung, die letzte Ursache der Prostitution, bleibt gleichwohl vielleicht für immer ein tiefes Rätsel und in völliges Dunkel gehüllt. Es lag mir bei dieser etwas breiten, aber durchaus nicht erschöpfenden, durchaus nicht alle Phänomene auch nur streifenden Betrachtung alles andere näher, als etwa ein Prostituierten-Ideal aufzustellen, wie es manche begabte Schriftsteller der jüngsten Zeit kaum verhüllt entwickelt zu haben scheinen. Aber dem anderen, dem scheinbar unsinnlichen Mädchen _mußte_ ich den Nimbus rauben, mit dem es jeder Mann so gerne umgeben möchte, durch die Erkenntnis, daß gerade dieses Geschöpf das mütterlichste ist, und die Virginität ihm, seinem Begriffe nach, ebenso fremd wie der Dirne. Und selbst die Mutterliebe konnte vor einer eindringenderen Analyse nicht als ein sittliches Verdienst sich behaupten. Die Idee der unbefleckten Empfängnis endlich, der reinen Jungfrau Goethes, Dantes, enthält die Wahrheit, daß die absolute Mutter den Koitus nie als Selbstzweck, um der Lust willen, herbeiwünschen würde. Sie darum heiligen konnte nur eine Illusion. Dagegen ist es wohl begreiflich, daß sowohl der Mutterschaft als der Prostitution, beiden als Symbolen tiefer und mächtiger Geheimnisse, religiöse Verehrung gezollt wurde. Ist damit die Unhaltbarkeit jener Ansicht dargetan, welche einen besonderen Frauentypus doch noch verteidigen und für die Sittlichkeit des Weibes in Anspruch nehmen zu können glaubt, so soll jetzt die Erforschung der Motive in Angriff genommen werden, welche den Mann die Frau immer und ewig werden verklären lassen. XI. Kapitel. Erotik und Ästhetik. Die Argumente, mit welchen die Hochwertung der Frau immer wieder zu begründen versucht wird, sind nun, bis auf wenige, noch nachzuholende Dinge, einer Prüfung unterzogen, und vom Standpunkte der kritischen Philosophie, auf welchen die Untersuchung, nicht ohne diese Wahl zu begründen, sich gestellt hat, auch widerlegt. Freilich ist wenig Grund zur Hoffnung, daß man sich in einer Diskussion auf diesen harten Boden begeben werde. Das Schicksal _Schopenhauers_ gibt zu denken, dessen niedrige Meinung »Über die Weiber« noch immer darauf zurückgeführt zu werden pflegt, daß ein venetianisches Mädchen, mit dem er ging, sich in den vorübergaloppierenden, körperlich schöneren _Byron_ vergaffte: als ob die schlechteste Meinung von den Frauen der bekäme, der am wenigsten, und nicht vielmehr jener, der am meisten Glück bei ihnen gehabt hat. Die Methode, statt Gründe mit Gründen zu widerlegen, jemand einfach als Misogynen zu bezeichnen, hat in der Tat viel für sich. Der Haß ist nie über sein Objekt hinaus, und so bringt die Bezeichnung eines Menschen als eines Hassers dessen, worüber er aburteilt, ihn stets mit Leichtigkeit in den Verdacht der Unaufrichtigkeit, Unreinheit, Unsicherheit, die durch das Pathos der Abwehr zu ersetzen suche, was ihr an innerer Berechtigung gebricht. So verfehlt diese Art der Antwort nie ihren _Zweck_, von allem Eingehen auf die Frage zu entheben. Sie ist die geschickteste und treffsicherste Waffe jener ungeheuren Mehrzahl unter den Männern, die sich über das Weib _nie klar werden $will$_. Es ist nun allerdings eine Unsitte, in einer theoretischen Kontroverse auf die psychologischen Motive des Gegners zu rekurrieren und diesen Rekurs statt der Beweise zu brauchen. Ich will auch niemand theoretisch darüber belehren, daß in einem sachlichen Streite die Gegner beide unter die überpersönliche Idee der Wahrheit sich zu stellen haben und ein Ergebnis unabhängig davon sollen zu erreichen suchen, ob und wie sie beide als konkrete Einzelpersonen existieren. Wenn aber von der einen Seite das logische Schlußverfahren folgerichtig bis zu einem gewissen Abschluß gebracht wurde, ohne daß die andere auf den Beweisprozeß an sich eingeht, sondern nur gegen die Konklusionen heftig sich sträubt: dann darf in gewissen Fällen der erste wohl sich erlauben, den zweiten für die Unanständigkeit seines, zum Eingehen auf strenge Deduktion nicht zu bewegenden Benehmens zu strafen, indem er ihm die Motive seiner Halsstarrigkeit recht vor die Augen rückt. Denn wären dem anderen diese Gründe bewußt, so würde er sie auch sachlich abwägen gegen die Wirklichkeit, die seinen Wünschen so widerstreitet. Nur weil sie ihm unbewußt waren, darum konnte er, sich selbst gegenüber, nicht zu einer objektiven Stellung gelangen. Deshalb soll jetzt, nach den strengen logischen und sachlichen Ableitungen, der Spieß umgekehrt, und einmal der Frauenverteidiger darauf untersucht werden, aus welchem Gefühle das Pathos seiner Parteinahme stammt, inwiefern es seine Wurzeln in lauterer, und wie weit es sie in fragwürdiger Gesinnung hat. Alle Einwände, welche dem Verächter der Weiblichkeit gemacht werden, gehen gefühlsmäßig samt und sonders aus dem _erotischen_ Verhältnisse hervor, in welchem der Mann zu der Frau steht. Dieses Verhältnis ist von dem nur _sexuellen_, mit welchem bei den Tieren die Beziehungen der Geschlechter erschöpft sind, und das auch unter den Menschen dem Umfang nach die weitaus größere Rolle spielt, _ein prinzipiell durchaus Verschiedenes_. Es ist vollkommen verfehlt, daß Sexualität und Erotik, Geschlechtstrieb und Liebe, im Grunde nur ein und dasselbe seien, die zweite eine Verbrämung, Verfeinerung, Umnebelung, »Sublimation« des ersten; obwohl hierauf wohl alle Mediziner schwören, ja selbst Geister wie _Kant_ und _Schopenhauer_ nichts anderes geglaubt haben. Ehe ich auf die Begründung dieser schroffen Trennung eingehe, will ich, was diese beiden Männer betrifft, folgendes zu bemerken nicht unterlassen. _Kantens_ Meinung kann aus dem Grunde nicht maßgebend sein, weil er sowohl die Liebe als den Geschlechtstrieb nur in so geringem Maße gekannt haben muß, wie überhaupt nie ein Mensch außer ihm. Er war so wenig erotisch, daß er nicht einmal das Bedürfnis hatte zu _reisen_. Er steht also zu hoch und zu rein da, um in dieser Frage als Autorität mitzusprechen: die einzige Geliebte, an der _er_ sich gerächt hat, war die Metaphysik. Und was _Schopenhauer_ anlangt, so hat dieser eben wenig Verständnis für höhere Erotik, sondern nur eines für sinnliche Sexualität besessen. Dies läßt sich auf folgendem Wege ohne Schwierigkeit ableiten. _Schopenhauers_ Gesicht zeigt wenig Güte und viel Grausamkeit (unter der er allerdings am fürchterlichsten selbst gelitten haben muß: man stellt keine Mitleidsethik auf, wenn man selbst sehr mitleidig ist. Die mitleidigsten Menschen sind die, welche sich ihr Mitleiden am meisten verübeln: _Kant_ und _Nietzsche_). Aber _nur_ zum _Mitleiden_ stark veranlagte Menschen sind, worauf schon hier hingewiesen werden darf, einer heftigen _Erotik_ fähig; solche, die »an nichts keinen Anteil nehmen«, sind der Liebe unfähig. Es müssen dies nicht satanische Naturen sein, im Gegenteil, sie können sittlich sehr hoch stehen, ohne doch recht zu bemerken, was ihr Nebenmensch gerade denkt oder was in ihm vorgeht; und ohne ein Verständnis für ein übersexuelles Verhältnis zum Weibe zu besitzen. So ist es auch bei _Schopenhauer_. Er war ein extrem unter dem Geschlechtstriebe leidender Mensch, er hat aber nie geliebt; wäre doch sonst auch die Einseitigkeit seiner berühmten »Metaphysik der Geschlechtsliebe« unerklärlich, deren wichtigste Lehre es ist, daß der unbewußte Endzweck auch aller _Liebe_ nichts weiter sei als »die Zusammensetzung der nächsten Generation«. Diese Ansicht ist, wie ich zeigen zu können glaube, _falsch_. Zwar eine Liebe, die ganz frei von Sinnlichkeit ist, gibt es _in der Erfahrung_ nicht. Der Mensch, mag er noch so hoch stehen, ist eben immer _auch_ Sinnenwesen. Worauf es ankommt und was unwiderstehlich die gegnerische Ansicht zu Boden schlägt, ist, daß jede Liebe selbst, an und für sich -- nicht erst durchs Hinzutreten asketischer Grundsätze -- _feindlich_ gegen alle jene Elemente des Verhältnisses sich stellt, die zum Koitus drängen, _ja sie als ihre eigene Negation selbst empfindet_. Liebe und Begehren sind zwei so verschiedene, einander so völlig ausschließende, ja entgegengesetzte Zustände, daß, in den Momenten, wo ein Mensch wirklich _liebt_, ihm der Gedanke der körperlichen Vereinigung mit dem geliebten Wesen ein völlig undenkbarer ist. Daß es keine Hoffnung gibt, die von Furcht ganz frei wäre, ändert nichts daran, daß Hoffnung und Furcht einander gerade entgegengesetzt sind. Nicht anders verhält es sich zwischen dem Geschlechtstrieb und der Liebe. Je erotischer ein Mensch ist, desto weniger wird er von seiner Sexualität belästigt, und umgekehrt. Wenn es keine Anbetung gibt, die von Begierde gänzlich frei wäre, so darf man darum beide Dinge nicht identifizieren, die höchstens _entgegengesetzte_ Phasen sein mögen, in welche ein reicherer Mensch successive eintreten kann. Der lügt oder hat nie gewußt, was Liebe ist, der behauptet, eine Frau noch zu lieben, die er begehrt: so verschieden sind Liebe und Geschlechtstrieb. Darum wird es auch fast immer als eine Heuchelei empfunden, wenn einer von Liebe in der Ehe spricht. Dem stumpfen Blicke, der dem gegenüber noch immer, wie aus grundsätzlichem Cynismus, an der Identität beider festhält, sei folgendes zu schauen gegeben: die sexuelle Anziehung wächst mit der körperlichen Nähe, die Liebe ist am stärksten in der Abwesenheit der geliebten Person, sie bedarf der Trennung, einer gewissen Distanz, um am Leben zu bleiben. Ja, was alle Reisen in ferne Länder nicht erreichen konnten, daß wahre Liebe sterbe, wo aller Zeitverlauf dem _Vergessen_ nichts fruchtete, da kann eine zufällige, unbeabsichtigte körperliche Berührung mit der Geliebten den Geschlechtstrieb wachrufen und es vermögen, die Liebe auf der Stelle zu töten. Und für den höher differenzierten, den bedeutenden Menschen haben das Mädchen, das er begehrt, und das Mädchen, das er nur lieben, aber nie begehren könnte, sicherlich immer eine ganz verschiedene Gestalt, einen verschiedenen Gang, eine verschiedene Charakteranlage: _es sind zwei gänzlich verschiedene Wesen_. Es gibt also »platonische« Liebe, wenn auch die Professoren der Psychiatrie nichts davon halten. Ich möchte sogar sagen: _es gibt nur »platonische« $Liebe$_. Denn was sonst noch Liebe genannt wird, gehört in das Reich der Säue. Es gibt nur eine Liebe: es ist die Liebe zur Beatrice, die Anbetung der Madonna. Für den Koitus ist ja die babylonische Hure da. _Kantens_ Aufzählung der transcendentalen Ideen bedürfte, sollte dies haltbar bleiben, einer Erweiterung. Auch die reine hohe, begehrungslose Liebe, die Liebe _Platons_ und _Brunos_, wäre eine _transcendentale Idee_, deren Bedeutung als _Idee_ dadurch nicht berührt würde, daß keine Erfahrung jemals sie völlig verwirklicht aufwiese. Es ist das Problem des »_Tannhäuser_«. Hie Tannhäuser, hie Wolfram; hie Venus, hie Maria. Die Tatsache, daß ein Liebespaar, das sich wirklich auf ewig gefunden hat -- Tristan und Isolde -- in den Tod geht statt ins Brautbett, ist ein ebenso absoluter Beweis eines Höheren, sei's drum, Metaphysischen _im_ Menschen, wie das Märtyrertum eines _Giordano Bruno_. »Dir, hohe Liebe, töne Begeistert mein Gesang, Die mir in Engelschöne Tief in die Seele drang! Du nahst als Gottgesandte: Ich folg' aus holder Fern', -- So führst du in die Lande, Wo ewig strahlt dein Stern.« * * * * * Wer ist der Gegenstand solcher Liebe? Dasselbe Weib, das hier geschildert wurde, das Weib ohne alle Qualitäten, die einem Wesen Wert verleihen können, das Weib ohne den Willen nach einem eigenen Werte? Wohl kaum: es ist das überschöne, das engelreine Weib, das mit dieser Liebe geliebt wird. Woher jenem Weibe seine Schönheit und seine Keuschheit kommt, das ist nun die Frage. Es ist häufig darüber gestritten worden, ob wirklich das weibliche Geschlecht das schönere sei, und noch mehr wurde seine Bezeichnung als _das schöne_ schlechthin angefochten. Es wird sich empfehlen, zunächst im einzelnen zu fragen, von wem und inwiefern das Weib schön gefunden wird. Bekannt ist, daß das Weib nicht in seiner Nacktheit am schönsten ist. Allerdings, in der Reproduktion durch das Kunstwerk, als Statue oder als Bild, mag das unbekleidete Weib schön sein. Aber das lebende nackte Weib kann schon aus dem Grunde von niemand schön gefunden werden, weil der Geschlechtstrieb jene bedürfnislose Betrachtung unmöglich macht, welche für alles Schönfinden unumgängliche Voraussetzung bleibt. Aber auch abgesehen hievon erzeugt das völlig nackte lebendige Weib den Eindruck von etwas Unfertigem, noch nach etwas _außer_ sich Strebenden, und dieser ist mit der Schönheit unverträglich. Das nackte Weib ist im einzelnen schöner denn als Ganzes; als solches nämlich erweckt es unvermeidlich das Gefühl, daß es etwas suche, und bereitet darum dem Beschauer eher Unlust als Lust. Am stärksten tritt dieses Moment des Insichzwecklosen, des einen Zweck _außer sich_ habenden, am aufrecht _stehenden_ nackten Weibe hervor; durch die liegende Position wird es naturgemäß gemildert. Die künstlerische Darstellung des nackten Weibes hat dies wohl empfunden; und wenn das nackte Weib aufrecht stehend oder schwebend gebildet ward, so zeigte sie das Weib nie allein, sondern stets mit Rücksicht auf eine Umgebung, vor welcher es dann seine Blöße mit der Hand zu bedecken suchen konnte. Aber das Weib ist auch im einzelnen nicht durchaus schön, selbst wenn es möglichst vollkommen und ganz untadelig den körperlichen Typus seines Geschlechtes repräsentiert. Was hier theoretisch am meisten in Betracht kommt, ist das weibliche Genitale. Wenn die Meinung Recht hätte, daß alle Liebe des Mannes zum Weibe nur zum Hirn gestiegener Detumescenztrieb ist, wenn _Schopenhauers_ Behauptung haltbar wäre: »Das niedrig gewachsene, schmalschultrige, breithüftige und kurzbeinige Geschlecht das schöne nennen konnte nur der vom Geschlechtstrieb umnebelte männliche Intellekt: _in diesem Triebe nämlich steckt seine ganze Schönheit_« -- -- so müßte das weibliche Genitale am heftigsten geliebt sein und vom ganzen Körper des Weibes am schönsten gefunden werden. Aber, von einigen widerlichen Lärmmachern der letzten Jahre zu schweigen, welche durch die Aufdringlichkeit ihrer Reklame für die Schönheit des weiblichen Genitales sowohl beweisen, daß erst eine Agitation nötig ist, um hieran glauben zu machen, als auch die Unaufrichtigkeit jener Reden erkennen lassen, von deren Inhalt sie überzeugt zu sein vorgeben: von diesen abgesehen läßt sich behaupten, daß kein Mann speziell das weibliche _Genitale_ schön, vielmehr ein jeder es _häßlich_ findet; es mögen gemeine Naturen durch diesen Körperteil des Weibes besonders zu sinnlicher Begierde gereizt werden, jedoch gerade solche werden ihn vielleicht sehr _angenehm_, nie aber _schön_ finden. Die Schönheit des Weibes kann also kein bloßer Effekt des Sexualtriebes sein; sie ist ihm vielmehr geradezu entgegengesetzt. Männer, die ganz unter der Gewalt des Geschlechtsbedürfnisses stehen, haben für Schönheit am Weibe gar keinen Sinn; Beweis hiefür ist, daß sie ganz wahllos jede Frau begehren, die sie erblicken, bloß nach den vagen Formen ihrer Körperlichkeit. Der Grund für die angeführten Phänomene, die Häßlichkeit des weiblichen Genitales und die Unschönheit seines lebenden Körpers als _ganzen_, kann nirgend anders gefunden werden als darin, daß sie das Schamgefühl im Manne verletzen. Die kanonische Flachköpfigkeit unserer Tage hat es auch möglich werden lassen, daß das Schamgefühl aus der Tatsache der Kleidung abgeleitet und hinter dem Widerstreben gegen weibliche Nacktheit nur Unnatur und versteckte Unzüchtigkeit vermutet wurde. Aber ein Mann, der unzüchtig geworden ist, wehrt sich gar nicht mehr gegen die Nacktheit, weil sie ihm als solche nicht mehr auffällt. Er begehrt bloß, er liebt nicht mehr. Alle wahre Liebe ist schamhaft, ebenso wie alles wahre Mitleid. Es gibt nur eine Schamlosigkeit: die Liebeserklärung, von deren Aufrichtigkeit ein Mensch im selben Momente überzeugt wäre, in dem er sie machte. Diese würde das objektive Maximum an Schamlosigkeit repräsentieren, welches denkbar ist; es wäre etwa so, wie wenn jemand sagen würde: ich bin sehnsüchtig. Jenes wäre die _Idee_ der schamlosen Handlung, dies die Idee der schamlosen Rede. Beide sind nie verwirklicht, weil alle Wahrheit schamhaft ist. Es gibt keine Liebeserklärung, die nicht eine Lüge wäre; und wie dumm die Frauen doch eigentlich sind, kann man daraus ersehen, wie oft sie an Liebesbeteuerungen glauben. _In der Liebe des Mannes, die stets schamhaft ist, liegt nach alldem der Maßstab für das, was am Weibe schön, und das, was an ihm häßlich gefunden wird._ Es ist hier _nicht_ wie in der _Logik_: das Wahre der Maßstab des Denkens, der Wahrheitswert sein Schöpfer; _nicht_ wie in der _Ethik_: das Gute das Kriterium für das Sollen, der Wert des Guten ausgestattet mit dem _Anspruch_, den Willen zum Guten zu lenken; _sondern hier, in der Ästhetik, wird die Schönheit erst von der Liebe geschaffen_; es besteht keinerlei innerer Normzwang, das zu lieben, was schön ist, und das Schöne tritt nicht an den Menschen mit dem Anspruch heran, geliebt zu werden. (Nur _darum_ gibt es keinen überindividuellen, allein »richtigen« Geschmack.) _Alle Schönheit ist vielmehr selbst erst eine Projektion, eine Emanation des Liebesbedürfnisses_; und so ist auch die Schönheit des Weibes nicht ein von der Liebe Verschiedenes, nicht ein Gegenstand, auf den sie sich richtet, sondern _die Schönheit des Weibes $ist$ die Liebe des Mannes_, beide sind nicht _zweierlei_, sondern _eine und dieselbe Tatsache_. Wie Häßlichkeit von Hassen, so kommt Schönheit von Lieben. Und auch darin, daß Schönheit so wenig wie Liebe mit dem sinnlichen Trieb zu tun hat, daß jene wie diese ihm fremd ist, drückt sich nur diese selbe Tatsache aus. Die Schönheit ist ein Unberührbares, Unantastbares, mit anderem Unvermengbares; nur aus völliger Weite kann sie wie nahe geschaut werden, und vor jeder Annäherung entfernt sie sich. Der Geschlechtstrieb, der die Vereinigung mit dem Weibe sucht, vernichtet dessen Schönheit; das betastete, das besessene Weib wird von niemand mehr der Schönheit wegen angebetet. Dies leitet nun auch über zur Beantwortung der _zweiten_ Frage: Was ist die Unschuld, was die Moralität des Weibes? Von einigen Tatsachen, welche den Beginn jeder Liebe begleiten, wird hier am besten ausgegangen. Reinheit des Leibes ist, wie schon einmal angedeutet, beim Manne im allgemeinen ein Zeichen von Sittlichkeit und Aufrichtigkeit; wenigstens sind körperlich schmutzige Menschen kaum je von sehr lauterer Gesinnung. Nun kann man beobachten, wie Menschen, die sonst durchaus nicht sehr auf die Reinlichkeit ihres Leibes achten, in den Zeiten, da sie zu größerer Anständigkeit des Charakters sich aufraffen, auch stets häufiger und ausgiebiger sich waschen. Ebenso werden nun auch Menschen, die nie sauber gewesen sind, für die Dauer einer Liebe plötzlich aus innerem Triebe reinlichkeitsbedürftig, und diese kurze Spanne Zeit ist oft die einzige ihres Lebens, wo sie unter ihrem Hemde nicht unflätig aussehen. Schreiten wir zum Geistigen vor, so sehen wir, wie bei vielen Menschen Liebe mit Selbstanklagen, Kasteiungs- und Sühnungsversuchen beginnt. Eine moralische Einkehr fängt an, von der Geliebten scheint auch eine innere Läuterung auszugehen, auch wenn der Liebende nie mit ihr gesprochen, ja sie nur wenige Male aus der Ferne gesehen hat. _Dieser_ Prozeß kann also unmöglich in dem geliebten Wesen selbst seinen Grund haben: die Geliebte ist nur zu oft ein Backfisch, nur zu oft eine Kuh, nur zu oft eine lüsterne Kokette, und niemand nimmt für gewöhnlich an ihr überirdische Eigenschaften wahr als eben derjenige, der sie liebt. Ist es also zu glauben, daß diese konkrete Person geliebt werde in der Liebe, oder dient sie nicht vielmehr einer unvergleichlich größeren Bewegung nur als _Ausgangspunkt_? In aller Liebe liebt der Mann nur sich selbst. Nicht seine Subjektivität, nicht das, was er, als ein von aller Schwäche und Gemeinheit, von aller Schwere und Kleinlichkeit behaftetes Wesen wirklich vorstellt; sondern das, was er ganz sein will und ganz sein soll, sein eigenstes, tiefstes, intelligibles Wesen, frei von allen Fetzen der Notwendigkeit, von allen Klumpen der Erdenheit. In seiner zeitlich-räumlichen Wirksamkeit ist dieses Wesen vermengt mit den Schlacken sinnlicher Beschränktheit, es ist nicht als reines, strahlendes Urbild vorhanden; wie tief er auch in sich gehen mag, er findet sich getrübt und befleckt, und sieht nirgends das, was er sucht, in weißer, makelloser Reinheit. Und doch bedarf er nichts so dringend, ersehnt er nichts so heiß als ganz und gar _er selbst_ und nichts anderes zu sein. Das eine aber, wonach er strebt, das Ziel, erblickt er nicht in hellem Glanze und unverrückter Festigkeit auf dem Grunde des eigenen Wesens, _und darum muß er es draußen denken_, um so ihm leichter nacheifern zu können. _Er projiziert sein Ideal eines absolut wertvollen Wesens_ auf ein anderes menschliches Wesen, und das und nichts anderes bedeutet es, wenn er dieses Wesen _liebt_. Nur wer selbst schuldig geworden ist, und seine Schuld fühlt, ist dieses Aktes fähig: darum kann das Kind noch nicht lieben. Nur weil die Liebe das höchste, stets unerreichte Ziel aller Sehnsucht so darstellt, als wäre es irgendwo in der Erfahrung verwirklicht und nicht bloß in der Idee vorhanden; nur indem sie es im Nebenmenschen lokalisiert, und so gleichzeitig eben der Tatsache Ausdruck gibt, daß im Liebenden selbst das Ideal der Erfüllung noch so ferne ist: nur darum kann mit der Liebe zugleich das _Streben_ nach Läuterung neu erwachen, ein Hinwollen zu einem Ziele, das von höchster geistiger Natur ist und somit keine körperliche Verunreinigung durch _räumliche_ Annäherung an die Geliebte duldet; darum ist Liebe die höchste und stärkste Äußerung des Willens zum Werte, darum kommt in ihr wie in nichts auf der Welt das eigentliche Wesen des _Menschen_ zum Vorschein, das zwischen Geist und Körper, zwischen Sinnlichkeit und Sittlichkeit gebannt ist, an der Gottheit wie am Tiere Anteil hat. _Der Mensch ist in jeder Weise erst dann ganz er selbst, wenn er liebt._[56] So erklärt sich's, daß viele Menschen erst als Liebende an das eigene Ich und an das fremde Du zu glauben beginnen, die, wie sich längst zeigte, nicht nur grammatikalische, sondern auch ethische Wechselbegriffe sind; so ist die große Rolle verständlich, welche in jedem Liebesverhältnis die _Namen_ der beiden Menschen spielen. So wird deutlich, warum viele Menschen zuerst in der Liebe von ihrer eigenen Existenz Kenntnis erhalten, und nicht früher von der Überzeugung durchdrungen werden, daß sie eine Seele besitzen.[57] So, daß der Liebende zwar die Geliebte um keinen Preis durch seine Nähe verunreinigen möchte, aber sie doch aus der Ferne oft zu sehen trachtet, um sich ihrer -- seiner -- Existenz zu vergewissern. So, daß gar mancher unerweichliche Empirist, nun, da er liebt, zum schwärmerischen Mystiker wird, wofür der Vater des Positivismus, Auguste _Comte_, selbst das Beispiel gegeben hat, durch die Umwälzung seines ganzen Denkens, als er _Clotilde de Vaux_ kennen lernte. Nicht nur für den Künstler, für den Menschen überhaupt gibt es psychologisch ein Amo ergo sum. So ist die Liebe ein _Projektionsphänomen_ gleich dem Haß, kein _Äquationsphänomen_ gleich der Freundschaft. Voraussetzung dieser ist gleiche Geltung beider Individuen; Liebe ist stets ein _Setzen der Ungleichheit, der Ungleichwertigkeit_. Alles, was man selbst sein möchte und nie ganz sein kann, auf ein Individuum häufen, es zum Träger aller Werte machen, das heißt lieben. Sinnbildlich für diese höchste Vollendung ist die Schönheit. Darum wundert, ja entsetzt es so oft den Liebenden, wenn er sich überzeugt, daß im schönen Weibe nicht auch Sittlichkeit wohne, und er beschuldigt die Natur des Betruges, weil in einem »so schönen Körper« »so viel Verworfenheit« sein könne; er bedenkt nicht, daß er das Weib nur deshalb noch schön findet, weil er es noch liebt: denn sonst würde ihn auch die Inkongruenz zwischen Innerem und Äußerem nicht mehr schmerzen. Die gewöhnliche _Gassendirne_ scheint deshalb _nie_ schön, weil es hier von vornherein unmöglich ist, eine Projektion von Wert zu vollziehen; sie kann nur des ganz gemeinen Menschen Geschmack befriedigen, sie ist die Geliebte des unsittlichsten Mannes, des Zuhälters. Hier liegt eine dem Moralischen _entgegengesetzte Beziehung offensichtlich_ zutage; das Weib im allgemeinen ist aber nur indifferent gegen alles Ethische, es ist amoralisch, und kann darum, anders als der antimoralische Verbrecher, den instinktiv niemand liebt, oder der Teufel, den jedermann sich häßlich vorstellt, für den Akt der Wertübertragung eine Grundlage abgeben; da es weder gut tut noch sündigt, _sträubt_ sich nichts in ihm und an ihm gegen diese Kollokation des Ideals in seine Person. Die Schönheit des Weibes ist nur sichtbar gewordene Sittlichkeit, _aber diese Sittlichkeit ist selbst die des Mannes_, die er, in höchster Steigerung und Vollendung, auf das Weib transponiert hat. Weil alle Schönheit immer nur einen abermals erneuten _Verkörperungsversuch des höchsten Wertes_ darstellt, darum ist vor allem Schönen ein Gefühl des Gefundenhabens, dem gegenüber jede Begierde, jedes selbstische Interesse schweigt. Alle Formen, die der Mensch schön findet, sind vermöge seiner ästhetischen Funktion, die Sittliches und Gedankliches in Sinnlichkeit umsetzt, ebensoviele Versuche von seiner Seite, das Höchste sichtbar zu realisieren. _Schönheit ist das Symbol des Vollkommenen in der Erscheinung._ Darum ist Schönheit unverletzlich, darum ist sie statisch und nicht dynamisch, darum hebt jede _Änderung_ im Verhalten zu ihr sie schon auf und vernichtet ihren Begriff. Die Liebe zum eigenen Werte, die Sehnsucht nach Vollkommenheit zeugt in der Materie die Schönheit. So wird die Schönheit der Natur geboren, die der Verbrecher nimmer wahrnimmt, weil eben _die Ethik erst die Natur schafft_. So erklärt sich's, daß die Natur immer und überall, in der größten und kleinsten ihrer Bildungen, den Eindruck des Vollendeten hervorruft. So ist auch das Naturgesetz nur ein sinnliches Symbol des Sittengesetzes, wie die Naturschönheit der sinnenfällig gewordene Adel der Seele; so die Logik die verwirklichte Ethik. Wie die Liebe ein neues Weib für den Mann schafft statt des realen Weibes, so schafft die Kunst, die Erotik des Alls, aus dem Chaos die Formenfülle im Universum; und wie es keine Naturschönheit gibt ohne Form, ohne Naturgesetz, so auch keine Kunst ohne Form, keine Kunstschönheit, die nicht ihren Regeln gehorcht. Denn die Naturschönheit zeigt die Kunstschönheit nicht anders verwirklicht als das Naturgesetz das Sittengesetz, als die Naturzweckmäßigkeit jene Harmonie, deren Urbild über dem Geiste des Menschen thront. Ja, die Natur, die der Künstler seine ewige Lehrmeisterin nennt, _sie ist nur die von ihm selbst geschaffene Norm seines Schaffens_, nicht in begrifflicher Konzentration, sondern in anschaulicher Unendlichkeit. So sind, um eines als Beispiel zu nennen, die Sätze der Mathematik die _verwirklichte_ Musik (und nicht umgekehrt), Mathematik selbst die _konforme Abbildung_ der Musik aus dem Reiche der Freiheit auf das Reich der Notwendigkeit, und darum das _Sollen_ aller Musiker ein mathematisches. _Die Kunst schafft also die Natur, und nicht die Natur die Kunst._ Von diesen Andeutungen, welche, wenigstens teilweise, eine Ausführung und Weiterbildung der tiefen Gedanken _Kant_ens und _Schellings_ (und des von ihnen beeinflußten _Schiller_) über die Kunst sind, kehre ich zum Thema zurück. Als Resultat für dessen Zwecke steht nun fest, daß der Glaube an die Sittlichkeit des Weibes, die »_Introjektion_« der _Seele_ des _Mannes_ in das _Weib_, und die schöne äußere Erscheinung des Weibes _eine und dieselbe Tatsache_ sind, die letztere nur der sinnenfällige Ausdruck des ersteren. Begreiflich, aber eine Umkehrung des wahren Verhältnisses ist es also, wenn man von einer »schönen Seele« im moralischen Sinne spricht, oder nach _Shaftesbury_ und _Herbart_ die Ethik der Ästhetik unterordnet: man mag mit _Sokrates_ und _Antisthenes_ τὸ καλόν und τἀγαθόν für identisch halten, aber man darf nicht vergessen, daß Schönheit nur ein körperliches Bild ist, in dem die Sittlichkeit sich selbst verwirklicht vorstellt, daß alle Ästhetik doch ein _Geschöpf_ der Ethik bleibt. Jeder _einzelne_ und zeitlich _begrenzte_ dieser Inkarnationsversuche ist seiner Natur nach illusorisch, denn er täuscht die erreichte Vollkommenheit nur vor. Darum ist alle Einzelschönheit vergänglich, und muß auch die Liebe zum Weibe es sich gefallen lassen, durch das alte Weib widerlegt zu werden. Die Idee der Schönheit ist die Idee der Natur, sie ist unvergänglich, wenn auch alles Einzelschöne, alles Natürliche vergeht. Nur eine Illusion kann im Begrenzten und Konkreten, nur eine Irrung im geliebten Weibe die Vollkommenheit selbst erblicken. Die Liebe zur Schönheit soll sich nicht verlieren an das Weib, um den geschlechtlichen Trieb nach ihm zu überbauen. Wenn alle Liebe zu Personen auf jener Verwechslung beruht, so _kann_ es keine andere denn unglückliche Liebe geben. Aber alle Liebe _klammert_ sich an diesen Irrtum; sie ist der heroischeste Versuch, dort Werte zu behaupten, wo es keine Werte gibt. Die Liebe zum unendlichen Wert, das ist zum Absoluten oder zu Gott, sei es auch in Form der Liebe zur unendlichen sinnenfälligen Schönheit des Naturganzen (Pantheismus), könnte allein die transcendentale Idee der Liebe heißen, wenn es eine solche gibt; die Liebe zu allem Einzelding, und auch zum Weibe, ist schon ein Abfall von der Idee, eine _Schuld_. _Warum_ der Mensch diese Schuld auf sich lädt, ist im Früheren schon enthalten. So wie aller _Haß_ nur üble Eigenschaften, die man selbst besitzt, auf den Nebenmenschen projiziert, um sie dort in einer desto abschreckenderen Vereinigung zu zeigen; wie der Teufel nur erfunden wurde, um die bösen Triebe _im_ Menschen _außer_ ihm darzustellen, und ihm den Stolz und die Kraft des Kämpfers zu leihen: so hat auch die Liebe nur den Zweck, dem Menschen den Kampf um das Gute zu erleichtern, das er als Gedanken _in_ sich allein zu ergreifen noch zu kraftlos ist. Beides, Haß und Liebe, ist darum eine Feigheit. Im Hasse spiegelt man sich vor, daß man von jemand anderem bedroht sei, um sich selbst hiedurch bereits als die angegriffene Reinheit zu fingieren, statt es sich zu gestehen, daß man das Böse aus sich selbst auszujäten habe, und daß es nirgend anders als im eigenen Herzen niste. Man konstruiert _den_ Bösen, um sich die Genugtuung zu bereiten, ihm ein Tintenfaß an den Kopf geworfen zu haben. Nur darum ist der Teufelsglaube unsittlich: weil er eine unstatthafte Erleichterung des Kampfes darstellt und eine Abwälzung der Schuld. Durch die Liebe versetzt man, wie im Haß die Idee des eigenen Unwertes, die Idee des eigenen _Wertes_ in ein Wesen, das zu ihrer Aufnahme geeignet scheint: der Satan wird häßlich, die Geliebte schön. So entbrennt man in beiden Fällen, durch eine Gegenüberstellung, durch die Verteilung von Gut und Böse auf _zwei_ Personen, _leichter_ für die moralischen Werte. Ist aber alle Liebe zu Einzelwesen statt zur Idee eine sittliche Schwäche, so muß dies auch in den Gefühlen des Liebenden zum Vorschein kommen. Niemand begeht ein Verbrechen, ohne daß ihm dies durch ein Schuldgefühl angezeigt würde. Nicht ohne Grund ist die Liebe das schamhafteste Gefühl: sie hat Ursache sich zu schämen, weit mehr noch als das Mitleid. Der Mensch, den ich bemitleide, bekommt von mir etwas, im Akte des Mitleidens selbst gebe ich ihm aus meinem eingebildeten oder wesentlichen Reichtum; die Hilfe ist so nur ein Sichtbarwerden dessen, was bereits im Mitleiden lag. Der Mensch, den ich liebe, von dem will _ich_ etwas, ich will zum mindesten, daß er mich nicht durch unschöne Geberden oder gemeine Züge in meiner Liebe zu ihm störe. Denn durch die Liebe will ich mich irgendwo gefunden haben, statt weiter zu suchen und zu streben, ich will aus der Hand eines Nebenmenschen nichts weniger, nichts anderes empfangen, als mich selbst, ich will von _ihm_ -- _mich_! Das Mitleid ist schamhaft, weil es den anderen tiefer gestellt zeigt als mich, weil es _ihn_ erniedrigt. Die Liebe ist schamhaft, weil ich _mich_ durch sie tiefer stelle als den anderen; in ihr wird aller Stolz des Individuums am weitesten vergessen, und das ist ihre Schwäche, darum schämt sie sich. So ist das Mitleid der Liebe verwandt, und hieraus erklärt sich, daß nur, wer das Mitleid kennt, auch die Liebe kennt. Und doch schließen sich beide aus: man kann nie lieben, wen man bemitleidet, und nie bemitleiden, wen man liebt. Denn im Mitleid bin ich selbst der feste Pol, in der Liebe ist es der andere; die Richtung beider Affekte, ihr Vorzeichen ist das Entgegengesetzte. Im Mitleid bin ich Geber, in der Liebe Bettler. Die Liebe ist die schamhafteste von allen Bitten, _weil sie um das Meiste, um das Höchste bettelt_. Darum schlägt sie in den jähesten, rachsüchtigsten Stolz so rasch über, wenn ihr durch den anderen unvorsichtig oder rücksichtslos zum Bewußtsein gebracht wird, um was sie eigentlich gefleht hat. Alle Erotik ist voll von Schuldbewußtsein. In der Eifersucht tritt zutage, auf welch unsicheren Grund die Liebe gebaut ist. Eifersucht ist die Kehrseite jeder Liebe, und offenbart deren ganze Unsittlichkeit. Durch Eifersucht wird über den freien Willen des Nebenmenschen eine Gewalt angemaßt. So begreiflich sie gerade der hier entwickelten Theorie ist, indem durch Liebe _das reine Selbst_ des Liebenden in der Geliebten lokalisiert wird, und auf sein Selbst der Mensch, durch einen erklärlichen Fehlschluß, einen Anspruch leicht stets und an jedem Orte zu haben glaubt: so verrät sie doch, schon weil sie voll Furcht ist, und Furcht wie das verwandte Schamgefühl[58] sich stets auf eine in der _Vergangenheit_ verübte Schuld bezieht, daß man durch die Liebe etwas erlangen wollte, was man auf diesem Wege nicht verlangen durfte. Die Schuld, mit welcher in der Liebe der Mensch sich belastet, ist der Wunsch, von jenem Schuldbewußtsein, das ich früher die Voraussetzung und Bedingung aller Liebe nannte, _frei zu werden_. Statt alle begangene Schuld auf sich zu nehmen und ihre Sühnung durch das weitere Leben zu erreichen, ist die Liebe ein Versuch, von der eigenen Schuld loszukommen und an sie zu vergessen, ein Versuch, glücklich zu werden. Statt die Idee der Vollkommenheit selbsttätig zu verwirklichen, will die Liebe die Idee schon als verwirklicht zeigen, sie spiegelt das Wunder als geschehen vor, im anderen Menschen zwar -- darum ist sie die feinste List -- aber es ist doch nur die eigene Befreiung vom Übel, die man so _ohne Kampf_ zu erreichen hofft. _Hieraus_ erklärt sich der tiefe Zusammenhang aller Liebe mit dem Erlösungsbedürfnis (_Dante_, _Goethe_, _Wagner_, _Ibsen_). Alle Liebe ist _selbst_ nur Erlösungsbedürfnis, und alles Erlösungsbedürfnis noch unsittlich (Kapitel 7, Schluß). Die Liebe überspringt die Zeit und setzt sich über die Kausalität hinweg, ohne eigenes Zutun will sie Reinheit plötzlich und unvermittelt gewinnen. Darum ist sie, als ein Wunder von außen statt von innen, in sich unmöglich, und kann ihren Zweck nie erfüllen, am wenigsten bei jenen Menschen, welche allein eigentlich in ganz unermeßlicher Weise ihrer fähig wären. Sie ist der gefährlichste Selbstbetrug, gerade weil sie den Kampf um das Gute am stärksten zu fördern scheint. Mittelmäßige Menschen mögen durch sie erst ihre Veredlung erfahren; wer ein subtileres Gewissen hat, wird sich hüten, ihrer Täuschung zu erliegen. Der Liebende sucht im geliebten Wesen seine eigene Seele. Insofern ist die Liebe _frei_, und nicht jenen Gesetzen der bloß sexuellen Anziehung unterworfen, von denen der erste Teil gehandelt hat. Denn das psychische Leben der Frau gewinnt einen Einfluß, es begünstigt die Liebe, wo es der Idealisierung sich ausnehmend leicht fügt, auch bei geringeren körperlichen Vorzügen und mangelhafter sexueller Ergänzung, und vernichtet ihre Möglichkeit, wenn es gegen jene »Einlegung« zu sichtbar absticht. Dennoch ist, trotz aller Gegensätzlichkeit zwischen Sexualität und Erotik, eine Analogie zwischen ihnen unverkennbar. Die Sexualität benützt das Weib als Mittel, um zur Lust und zum leiblichen Kinde zu gelangen; die Erotik als Mittel, um zum Werte und -- zum geistigen Kinde, zur Produktion zu kommen. Es ist ein unendlich tiefes, wenn auch, wie es scheint, wenig verstandenes Wort der platonischen _Diotima_, daß die Liebe nicht dem Schönen, sondern der Erzeugung und Ausgeburt im Schönen gelte, der Unsterblichkeit im Geistigen, wie der niedere Geschlechtstrieb dem Fortleben in der Gattung. Im Kinde sucht jeder Vater, der leibliche wie der geistige, nur sich selbst zu finden: die konkrete Verwirklichung der Idee seiner selbst, wie sie das Wesen der Liebe ausmacht, ist eben das _Kind_. Darum sucht der Künstler so oft das Weib, um das Kunstwerk schaffen zu können. »Und jeder sollte lieber solche Kinder haben wollen, wenn er auf _Homer_ und _Hesiod_ und die anderen trefflichen Dichter sieht, nicht ohne Neid, was für Geburten sie zurücklassen, die ihnen unsterblichen Ruhm und Angedenken sichern, indem sie selbst unsterblich sind .... Geehrt ist bei euch auch _Solon_, weil er Gesetze gezeugt, und viele andere anderwärts unter Hellenen und Barbaren, die viele und schöne Werke dargestellt haben und vielfältig Tugendhaftes gezeugt: denen auch schon viele Heiligtümer errichtet wurden um solcher Kinder willen, menschlicher Kinder wegen aber noch keinem.« Es ist nicht eine bloß formale Analogie, nicht Überschätzung einer etwa nur zufälligen sprachlichen Übereinstimmung, wenn von geistiger Fruchtbarkeit, geistiger Produktion, oder, wie in diesen Worten _Platons_, von geistigen Kindern in tieferem Sinne zu reden versucht wird. Wie die leibliche Sexualität der Versuch eines organischen Wesens ist, die eigene Form dauernd zu begründen, so ist auch jede Liebe im Grunde nur das Streben, seelische Form, Individualität, endgültig zu realisieren. _Hier liegt die Brücke_, welche allen _Willen zur eigenen Verewigung_ (wie man das Gemeinsame der Sexualität und der Erotik nennen könnte) _mit dem Kinde verbindet_. Geschlechtstrieb und Liebe sind beide Versuche zur Realisierung seiner selbst, der erste sucht das _Individuum_ durch ein körperliches Abbild, die zweite _Individualität_ durch ihr geistiges Ebenbild zu verewigen. Nur der geniale Mensch aber kennt die ganz und gar unsinnliche Liebe, und nur er sucht zeitlose Kinder zu zeugen, in denen sein tiefstes geistiges Wesen zum Ausdruck kommt. Die Parallele kann noch weiter verfolgt werden. Daß aller Geschlechtstrieb der Grausamkeit verwandt ist, hat man nach _Novalis_ oft wiederholt. Die »Association« hat einen tiefen Grund. Alles, was vom Weibe _geboren_ ist, muß auch _sterben_. Zeugung, Geburt und Tod stehen in einer unauflöslichen Beziehung; vor einem unzeitigen Tode erwacht in jedem Wesen auf das heftigste der Geschlechtstrieb als das Bedürfnis, sich noch fortzupflanzen. Und so ist auch der Koitus, nicht nur psychologisch als Akt, sondern auch vom ethischen und naturphilosophischen Gesichtspunkte dem Morde verwandt: er verneint das Weib, aber auch den Mann; er raubt im Idealfall beiden das Bewußtsein, um dem Kinde das Leben zu geben. Einer ethischen Weltanschauung wird es begreiflich sein, daß, was so entstanden ist, auch wieder vergehen muß. Aber auch die höchste Erotik, nicht nur die niederste Sexualität, benützt das Weib nicht als Zweck an sich selbst, sondern stets nur als Mittel zum Zweck, um das Ich des Liebenden rein darzustellen: die Werke eines Künstlers sind immer nur sein auf verschiedenen Etappen festgehaltenes Ich, das er meist in diesem oder in jenem Weibe, und sei es selbst ein Weib seiner Einbildungskraft, zuvor lokalisiert hat. Die reale Psychologie des geliebten Weibes wird aber hiebei immer _ausgeschaltet_: im Augenblicke, wo der Mann ein Weib _liebt_, kann er es nicht _durchschauen_. In der Liebe tritt man zum Weibe nicht in jenes Verhältnis des _Verstehens_, welches das einzig sittliche Verhältnis zwischen Menschen ist. Man kann keinen Menschen lieben, den man ganz erkennt, weil man dann doch auch die Unvollkommenheiten sehen müßte, die ihm als Menschen notwendig anhaften, _Liebe aber nur auf Vollkommenes geht_. Liebe zu einem Weibe ist daher nur möglich, wenn sich diese Liebe um die wirklichen Eigenschaften, die eigenen Wünsche und Interessen der Geliebten, soweit sie der Lokalisation höherer Werte in ihrer Person zuwiderlaufen, nicht bekümmert, sondern in schrankenloser Willkür an die Stelle der psychischen Realität des geliebten Wesens _eine ganz andere Realität setzt_. Der Versuch, sich im Weibe selbst zu finden, statt im Weibe eben nur -- das Weib zu sehen, setzt notwendig eine Vernachlässigung der empirischen Person voraus. Dieser Versuch ist also voll _Grausamkeit_ gegen das Weib; und hier liegt die Wurzel des Egoismus aller Liebe, wie auch der Eifersucht, welche das Weib gänzlich nur noch als unselbständiges Besitztum betrachtet, und auf sein inneres Leben gar keine Rücksicht mehr nimmt. Hier vollendet sich die Parallele zwischen der Grausamkeit der Erotik und der Grausamkeit der Sexualität. Liebe ist Mord. Der Geschlechtstrieb negiert auch das körperliche, die Erotik das psychische Weib. Die ganz gemeine Sexualität sieht im Weibe einen Apparat zum Onanieren oder eine Kindergebärerin; man kann gegen das Weib nicht niedriger sein, als wenn man ihm seine Unfruchtbarkeit vorhält, und ein erbärmlicheres Zeugnis kann einem Gesetzbuch nicht ausgestellt werden, als wenn es die Sterilität eines Weibes als legalen Grund der Ehescheidung anführt. Die höhere Erotik aber verlangt von der Frau schonungslos, daß sie das männliche Adorationsbedürfnis befriedige, und sich möglichst anstandslos lieben lasse, damit der Liebende in ihr sein Ideal von sich verwirklicht sehen, und ein geistiges Kind mit ihr zeugen könne. So ist die Liebe nicht nur antilogisch, denn sie setzt sich über die objektive Wahrheit des Weibes und seine wirkliche Beschaffenheit hinweg, sie will nicht nur die Denkillusion, und verlangt nicht nur ungestüm nach dem Betruge der Vernunft: sondern sie ist auch antiethisch gegen das Weib, dem sie die Verstellung und den Schein, die vollkommene Kongruenz mit einem ihr fremden Wunsche gebieterisch aufnötigen möchte. Denn die Erotik braucht die Frau nur, um den Kampf zu ebnen und abzukürzen, sie will von ihr immer bloß, _daß sie den Ast abgebe, an dem $er$ sich $leichter$ zur Erlösung emporschwinge_. So gesteht es ja _Paul Verlaine_: »Marie Immaculée, amour essentiel, Logique de la foi cordiale et vivace, _En vous aimant qu'est-il de bon que je ne fasse_, En vous aimant du seul amour, Porte du Ciel?« Und fast noch deutlicher lehrt es _Goethe_ im »Faust«: »Dir, der Unberührbaren, Ist es nicht benommen, Daß die leicht Verführbaren Traulich zu Dir kommen. In die Schwachheit hingerafft, Sind sie schwer zu retten; _Wer zerreißt aus eigner Kraft Der Gelüste Ketten?_« Ferne ist es mir, die heroische Größe zu verkennen, welche in dieser höchsten Erotik, im _Madonnenkulte_, liegt. Wie könnte ich vor der Außerordentlichkeit des Phänomens meine Augen verschließen, das den Namen _Dante_ führt! Es liegt eine so unermeßliche Abtretung von Wert an das Weib in dem Leben dieses größten Madonnenverehrers, daß selbst der dionysische Trotz, mit dem diese Schenkung aller weiblichen Wirklichkeit entgegen vollzogen wird, den Eindruck vollster Erhabenheit hervorzurufen kaum verfehlt. Es liegt scheinbar eine solche Abnegation seiner selbst in dieser Verkörperung des Zieles aller Sehnsucht in _einer_ irdisch-begrenzten Person, in einem Mädchen noch dazu, das der Künstler _einmal_, als Neunjähriger, zu Gesicht bekommen, das vielleicht später eine Xanthippe oder eine Fettgans geworden ist; es liegt darin ein derartiger Akt der Projektion aller, das zeitlich Eingeengte des Individuums übersteigenden Werte auf ein an sich gänzlich wertloses Weib, daß man nicht leicht es über sich bringt, die wahre Natur des Vorganges zu enthüllen, und gegen ihn zu sprechen. _Aber es bedeutet jede, auch die sublimste Erotik, noch immer eine dreifache Unsittlichkeit_: einen unduldsamen Egoismus gegen die wirkliche Frau der Erfahrung, _die nur als Mittel zum Zweck der eigenen Hinanziehung benützt_, der darum kein selbständiges Leben verstattet wird; mehr noch: eine Felonie gegen sich selbst, ein Davonlaufen vor sich selbst, eine Flüchtung des Wertes in fremdes Land, ein Erlöst-_Sein_-Wollen, und darum eine Feigheit, eine Schwäche, eine Würdelosigkeit, ja gerade einen absoluten Unheroismus; drittens endlich eine Scheu vor der Wahrheit, die man nicht brauchen kann, weil sie der Absicht der Liebe widerstrebt, die man nicht zu ertragen vermag, weil man dadurch um die Möglichkeit einer bequemen Erlösung käme. Diese letzte Unsittlichkeit ist eben diejenige, welche jede Aufklärung über das Weib _verhindert_, weil sie sie _meidet_ und so die Anerkennung der Wertlosigkeit des Weibes an sich wohl stets vereiteln wird. Die Madonna ist eine Schöpfung des Mannes, nichts entspricht ihr in der Wirklichkeit. Der Madonnenkult kann nicht moralisch sein, weil er die Augen vor der Wirklichkeit verschließt, weil mit ihm der Liebende sich _belügt_. Der Madonnenkult, von dem ich spreche, der Madonnenkult des großen Künstlers, ist in jeder Beziehung eine _völlige_ Umschaffung des Weibes, die sich nur vollziehen kann, wenn von der empirischen Realität der Frauen gänzlich abgesehen wird; die Einlegung wird bloß dem schönen Körper nach ausgeführt, und sie kann nichts für ihren Zweck verwenden, was dem schroff entgegenstünde, wofür diese Schönheit Symbol werden soll. Der Zweck dieser Neuschöpfung des Weibes oder das Bedürfnis, aus welchem die Liebe entspringt, ist nun ausführlich genug analysiert worden. Es ist zugleich der Hauptgrund, warum man vor allen Wahrheiten, die für das Weib nachteilig klingen, immer wieder die Ohren sich zuhält. Lieber schwört man auf die weibliche »Schamhaftigkeit«, entzückt sich am weiblichen »Mitleid«, interpretiert das Senken des Blickes beim Backfisch als ein eminent sittliches Phänomen, als daß man _mit_ dieser Lüge die Möglichkeit preisgäbe, das Weib als Mittel zum Zweck der eigenen höheren Wallungen zu benützen, als daß man darauf verzichtete, diesen Weg für die eigene Erlösung sich offen zu lassen. Hierin liegt also die Antwort auf die eingangs gestellte Frage nach den Motiven, aus welchen an dem Glauben an die weibliche Tugend so zähe festgehalten wird. Man will davon nicht lassen, es zum Gefäß der Idee der eigenen Vollkommenheit zu machen, diese in der Frau als realisiert sich vorzustellen, um mit dem zum Träger des höchsten Wertes gemachten Weibe leichter sein geistiges Kind und besseres Selbst zu realisieren. Der Zustand des Liebenden hat nicht umsonst so viel Ähnlichkeit mit dem des Schaffenden; die ganz besonders große Güte gegen alles, was lebt, die Verlorenheit für alle kleinen konkreten Werte sind beiden gemeinsam, als Zustände, die den liebenden gleich dem produktiven Menschen auszeichnen, und sie dem Philister, für den gerade die materiellen Nichtigkeiten die einzige Realität bilden, stets unbegreiflich und lächerlich erscheinen läßt. Denn jeder große Erotiker ist ein Genie und alles Genie im Grunde erotisch, auch wenn seine Liebe zum _Wert_, das ist zur _Ewigkeit_, zum _Weltganzen_, nicht in dem Körper eines Weibes Platz findet. _Das Verhältnis des Ichs zur Welt, das Verhältnis von Subjekt zu Objekt ist nämlich selbst gewissermaßen eine Wiederholung des Verhältnisses von Mann zu Weib in höherer und weiterer Sphäre, oder vielmehr dieses ein Spezialfall von jenem._ Wie der Empfindungskomplex zum Objekt umgeschaffen wird, aber nur vom Subjekte und aus diesem heraus, so wird das Weib der Erfahrung aufgehoben durch das Weib der Erotik. Wie der Erkenntnistrieb die sehnsüchtige Liebe zu den Dingen ist, in denen der Mensch immer und ewig nur sich selbst findet, so wird auch der Gegenstand der Liebe im engeren Sinne vom Liebenden selbst erst geschaffen, und er entdeckt in ihm stets nur sein eigenes tiefstes Wesen. So ist die Liebe dem Liebenden eine Parabel: im Brennpunkte steht allerdings sie; aber konjugiert ist die Unendlichkeit -- --. Es fragt sich nun noch, _wer_ diese Liebe kennt, ob _nur_ der _Mann_ übersexuell, oder ob auch das _Weib_ der höheren Liebe fähig ist. Suchen wir hierauf, ganz unabhängig und unbeeinflußt von den bisherigen Ergebnissen, eine Antwort aus der Erfahrung neu zu gewinnen. Diese zeigt ganz unzweideutig, daß W, eine _scheinbare_ Ausnahme abgerechnet, nie mehr als bloß _sexuell_ ist. Die Frauen wollen entweder mehr den Koitus oder mehr das Kind (jedenfalls aber wollen sie geheiratet werden). Die »Liebeslyrik« der modernen Frauen ist nicht nur vollkommen anerotisch, sondern ganz extrem sinnlich; und so kurz die Zeit ist, seit welcher die Frauen mit solchen Erzeugnissen sich hervorwagen, sie haben in dieser Beziehung Kühneres geleistet, als alle Männer je vorher es gewagt haben, und ihre Produkte sind wohl geeignet, die leckersten Erwartungen, die selbst an »Junggesellen-Lektüre« geknüpft werden können, zu befriedigen. Hier ist nirgends von einer keuschen und reinen Neigung die Rede, welche das geliebte Wesen durch die eigene Nähe zu verunreinigen fürchtet. Es handelt sich nur um den tobendsten Orgiasmus und die wildeste Wollust, und so wäre diese Literatur recht eigentlich danach angetan, die Augen über die durchaus nur sexuelle und nicht erotische Natur des Weibes zu öffnen. Liebe allein erzeugt Schönheit. Haben die Frauen zur Schönheit ein Verhältnis? Es ist keine bloße Redensart, wenn man von den Frauen oft hört: »Ach, wozu braucht denn ein Mann schön zu sein?« Es ist keine bloße Schmeichelei: für den Mann und nicht allein darauf berechnet, ihn an seiner Eitelkeit zu fangen, wenn eine Frau ihn um Rat fragt, welche Farben ihr zu einem Kleide am besten passen; sie versteht diese selbst nicht so zu wählen, daß sie _ästhetisch_ wirken könnten. Über eine Anordnung, die Geschmack statt Schönheitssinn verrät, kommt eine Frau ohne männliche Hilfe selbst in ihrer Toilette nicht hinaus. Wäre in der Frau an sich irgend welche Schönheit, trüge sie auch nur einen Maßstab der Schönheit ursprünglich im tieferen Innern, so würde sie nicht vom Manne immerfort es sich versichern lassen wollen, daß sie schön _sei_. Und so finden die Frauen auch den Mann nicht eigentlich _schön_, und je mehr sie mit dem Worte herumwerfen, desto mehr verraten sie, wie fern ihnen jedes Verhältnis zur Idee der Schönheit ist. Es ist der sicherste Maßstab der Schamhaftigkeit eines Menschen, wie oft er das Wort »schön«, diese Liebeserklärung an die Natur, in den Mund nimmt. Wären die _Frauen_ sehnsüchtig nach Schönheit, so dürften sie ihren Namen seltener nennen. Sie haben aber kein Bedürfnis nach Schönheit und können keines haben, weil nur die sozial anerkannte äußere Erscheinung in solchem Sinne auf sie wirkt. Schön aber ist nicht, was gefällt; so oft diese Definition auch aufgestellt wird, so falsch ist sie, so gerade läuft sie dem Sinn des Wortes zuwider. _Hübsch_ ist, was gefällt; _schön_ ist, was _der Einzelne liebt_. Hübschsein ist immer allgemein, Schönheit stets individuell. Darum ist alles wahrhafte Schön-Finden schamhaft, denn es ist aus der Sehnsucht geboren, und die Sehnsucht aus der Unvollkommenheit und Bedürftigkeit des Einsamen. _Eros_ ist der Sohn des _Poros_ und der _Penia_, der Sprößling aus der Verbindung von Reichtum und Armut. Um etwas schön zu finden, dazu gehört, als zur Objektivität einer Liebe, Individualität, nicht nur Individuation; bloßes Hübsch-Sein ist gesellschaftliche Münze. Das Schöne wird _geliebt_, ins Hübsche pflegen die Leute _sich zu verlieben_. Liebe ist stets hinauswollend, transcendent, weil sie der Ungenügsamkeit des an die Subjektivität gefesselten Subjektes entstammt. Wer bei den Frauen _solches_ Mißvergnügen vorzufinden meint, ist ein schlechter Deuter und Unterscheider. W ist höchstens _verliebt_, M _liebt_; und dumm und unwahr ist jene Behauptung lamentierender Frauen, das Weib sei wahrer Liebe fähiger als der Mann: im Gegenteil, es ist ihrer _unfähig_. Nicht jenem Bilde von der Parabel wie die Liebe, sondern dem eines in sich selbst zurücklaufenden Kreises gleicht alle _Verliebtheit_, und insonderheit die des Weibes. Wo der Mann auf die Frau individuell wirkt, ist es nicht durch seine Schönheit. Für Schönheit hat, auch wenn sie im Manne sich offenbart, nur der Mann einen Sinn: fällt es nicht auf, wie auch von männlicher, nicht nur von weiblicher Schönheit aller Begriff vom Manne ist geschaffen worden? Oder soll auch dies Folge der »Unterdrückung« sein? Der einzige Begriff, der, wenn er auch von Frauen darum nicht herstammen kann, weil diese nie auch nur einen einzigen Begriff geschaffen haben, dennoch ihnen, in gewissem Sinne, seine materiale Erfüllung und die Lebhaftigkeit der ihn begleitenden Associationen verdankt, ist der Begriff das »feschen Kerls«, wie er in Wien und Süddeutschland, des »forschen Mannes«, wie er in Berlin und Norddeutschland heißt. Was durch diese Bezeichnung angedeutet wird, ist die starke und entwickelte Sexualität des Mannes; denn die Frau empfindet zuletzt doch immer als ihren Feind alles, was den Mann abzieht von der Sexualität und der Fortpflanzung, seine Bücher und seine Politik, seine Wissenschaft und seine Kunst. Nur das Sexuelle, nie das Asexuelle, Transsexuelle im Manne wirkt als solches auf die Frau, und nicht Schönheit, sondern volles sexuelles Begehren verlangt sie von ihm. _Es ist nie das Apollinische im Manne, das auf sie Eindruck macht, aber darum auch nicht das Dionysische, sondern stets nur, im weitesten Umfang, das Faunische in ihm_; nie der Mann, sondern immer nur »le mâle«, (das Männchen); es ist vor allem -- darüber kann ein Buch über das wirkliche Weib nicht schweigen -- seine Sexualität im engsten Sinne, _es ist der Phallus_.[59] Man hat es entweder nicht sehen oder nicht sagen wollen, man hat sich aber auch kaum noch eine ganz richtige Vorstellung davon gebildet, was das Zeugungsglied des Mannes für das Weib, als Frau wie schon als Jungfrau, bedeutet, wie es das ganze Leben der Frau zu oberst beherrscht. Ich meine nicht, daß die Frau den Geschlechtsteil des Mannes schön oder auch nur hübsch findet. Sie empfindet ihn vielmehr ähnlich wie der Mensch das Medusenhaupt, der Vogel die Schlange; er übt auf sie eine hypnotisierende, bannende, faszinierende Wirkung. Sie empfindet ihn als das Gewisse, das Etwas, wofür sie gar keinen Namen hat: _er ist ihr Schicksal_, er ist das, wovon es für sie kein Entrinnen gibt. Nur darum scheut sie sich so davor, den Mann nackt zu sehen, und gibt ihm nie ein Bedürfnis darnach zu erkennen: weil sie fühlt, daß sie in demselben Augenblicke verloren wäre. _Der Phallus ist das, was die Frau absolut und endgültig $unfrei$ macht._ Es ist also gerade jener Teil, welcher den Körper des Mannes recht eigentlich verunziert, welcher allein den nackten Mann häßlich macht -- weswegen er auch von den Bildhauern so oft mit einem Akanthus- oder Feigenblatte verdeckt ward --, _derselbe_, der die Frauen am tiefsten aufregt und am heftigsten erregt, und zwar gerade dann, wenn er wohl das Unangenehmste überhaupt vorstellt, im erigierten Zustande. Und hierin liegt der letzte und entscheidendste Beweis dafür, daß die Frauen von der Liebe nicht die Schönheit wollen, sondern -- etwas anderes. Die neue Erfahrung, um welche die Untersuchung damit endgültig bereichert ist, wäre aus dem Bisherigen vorherzusagen gewesen. Da Logik und Ethik ausschließlich beim Manne sich geltend machen, so war von vornherein wahrscheinlich, daß die Frauen mit der Ästhetik nicht auf besserem Fuße stehen würden, als mit ihren normierenden Schwesterwissenschaften. Die Verwandtschaft zwischen der Ästhetik und der Logik kommt in aller Systematik und Architektonik der Philosophien, ebenso aber in der Forderung strenger Logik für das Kunstwerk, in höchster Vereinigung in dem Bau der Mathematik und in der musikalischen Komposition zum Vorschein. Wie schwer es so vielen wird, Ästhetik und Ethik auseinanderzuhalten, ist schon erwähnt worden. Auch die ästhetische Funktion, nicht nur die ethische und logische, ist nach _Kant_ eine solche, die vom Subjekte in Freiheit ausgeübt wird. _Das Weib aber besitzt keinen freien Willen_, und so kann ihm auch nicht die Fähigkeit verliehen sein, Schönheit in den Raum zu projizieren. Damit ist aber auch gesagt, daß die Frau nicht lieben könne. Als Bedingung der Liebe muß Individualität, und zwar nicht rein und ungetrübt, jedoch mit dem Willen zur eigenen Befreiung von Staub und Schmutz, vorhanden sein. Denn ein Mittelding zwischen Haben und Nichthaben ist Eros; kein Gott, sondern ein Dämon; er allein entspricht der Stellung des Menschen zwischen Sterblichem und Unsterblichem: so hat es der größte Denker erkannt, der _göttliche Platon_, wie _Plotin_ ihn nennt (der einzige Mensch, der ihn wirklich, _innerlich $verstanden$_ hat; indes viele seiner heutigen Kommentatoren und Geschichtsschreiber von seiner Lehre nicht viel mehr begreifen als die Ohrwürmer von den Sternschnuppen). Die Liebe ist also in Wirklichkeit _keine_ »transscendentale Idee«; denn sie entspricht allein der Idee eines Wesens, das nicht rein transcendental-apriorisch, sondern auch sinnlich-empirisch ist: _der Idee der Menschheit_. Das Weib hingegen, das ganz und gar keine Seele hat, sehnt sich auch nicht, diese geläutert von allem ihr anhaftenden Fremden irgendwo, irgendwann endlich ganz zu finden. Es gibt kein Ideal der Frauen vom Manne, das an die Madonna erinnern würde, nicht der reine, keusche, sittliche Mann wird von der Frau gewollt, sondern -- ein anderer. So ist denn bewiesen, daß die Frau nicht die Tugend des Mannes _wünschen kann_. Hätte sie in sich ein Unterpfand der Idee der Vollkommenheit, wäre sie irgendwie Ebenbild Gottes, so müßte sie auch den Mann, wie dieser das Weib, heilig, göttlich wollen. Daß ihr dies ganz ferne liegt, ist wiederum nur ein Zeichen für ihren völligen Mangel an Willen zum eigenen Werte, den sie nicht, wie so gerne der Mann, irgendwo außer sich verkörpert denkt, um leichter zu ihm emporstreben zu können. Ein unauflösbares Rätsel bleibt nur dies, warum gerade die Frau mit dieser vergötternden Liebe geliebt wird, und, mit Ausnahme der Knabenliebe, in welcher indes der Geliebte ebenfalls zum Weibe wird, nicht irgend ein anderes Wesen. Ist die Hypothese nicht allzu kühn, die sich hierüber entwickeln läßt? Vielleicht hat der Mann bei der Menschwerdung durch einen metaphysischen _außerzeitlichen_ Akt das Göttliche, die Seele für sich allein behalten -- aus welchem Motive dies geschehen sein könnte, vermögen wir freilich noch nicht abzusehen. Dieses sein Unrecht gegen die Frau _büßt_ er nun in den Leiden der Liebe, _in und mit welcher er der Frau die ihr geraubte Seele wieder zurückzugeben sucht_, ihr eine Seele schenken will, weil er sich des Raubes wegen vor ihr schuldig fühlt. Denn gerade dem _geliebten_ Weibe, ja, eigentlich nur ihm gegenüber drückt ihn ein rätselhaftes Schuldbewußtsein am stärksten. Die Aussichtslosigkeit eines solchen Rückgabeversuches, durch den er seine Schuld zu sühnen würde trachten wollen, könnte wohl erklären, warum es _glückliche Liebe_ nicht gibt. So wäre dieser Mythos kein übler Vorwurf für ein dramatisches Mysterium. Aber die Grenzen einer wissenschaftlichen, auch einer wissenschaftlich-philosophischen Betrachtung sind mit ihm weit überflogen. Was die Frau _nicht_ will, wurde im obigen klargestellt; aber was sie zu tiefst will, und daß dieses ihr innerstes Wollen dem Wollen des Mannes gerade entgegengerichtet ist, soll jetzt gezeigt werden. XII. Kapitel. Das Wesen des Weibes und sein Sinn im Universum. »Erst Mann und Weib zusammen machen den Menschen aus.« _Kant._ Immer tiefer ist die Analyse in der Schätzung des Weibes bis jetzt heruntergegangen, immer mehr Hohes und Edles, Großes und Schönes mußte sie ihm absprechen. Wenn sie nun in diesem Kapitel noch einen, den entscheidenden, äußersten Schritt in derselben Richtung zu tun sich anschickt, so möchte ich, zur Verhütung eines Mißverständnisses, schon hier bemerken, worauf ich noch zurückkomme: daß mir wahrhaftig nichts ferner liegt, als dem asiatischen Standpunkt in der Behandlung des Weibes das Wort zu reden. Wer den vorausgehenden Darlegungen über das Unrecht aufmerksamer gefolgt ist, das alle Sexualität, ja noch die Erotik an der Frau begeht, dem wird bereits zum Bewußtsein gekommen sein, daß dieses Buch kein Plaidoyer für den Harem ist, und daß es sich hütet, die Härte des Urteils zu entwerten durch die Forderung einer so problematischen Strafe. Aber die _rechtliche_ Gleich_stellung_ von Mann und Weib kann man sehr wohl verlangen, ohne darum an die _moralische_ und _intellektuelle_ Gleich_heit_ zu glauben. Vielmehr kann ohne Widerspruch zu gleicher Zeit jede Barbarei des männlichen wider das weibliche Geschlecht verdammt, und braucht doch der ungeheuerste, kosmische Gegensatz und Wesensunterschied hier nicht verkannt zu werden. $Der tiefststehende Mann steht noch unendlich hoch über dem höchststehenden Weibe$; und doch hat niemand das Recht, selbst das tiefststehende Weib irgendwie zu schmälern oder zu unterdrücken. Durch die völlige _Berechtigung_ des Anspruches auf Gleichheit vor jedem Gesetze wird kein gründlicherer Menschenkenner in der Überzeugung sich beirren lassen, daß zwischen den Geschlechtern die denkbar polarste Gegensätzlichkeit besteht. Was für seichte Psychologen (um von dem menschenkundigen Tiefblick der sozialistischen Theoretiker zu schweigen) die Materialisten, Empiristen und Positivisten sind, kann man abermals hieraus entnehmen, daß gerade aus ihren Kreisen vorzugsweise die Männer gekommen sind und auch jetzt noch aus ihnen sich rekrutieren, welche für die ursprünglich _angeborne psychologische Gleichheit_ zwischen Mann und Weib eintreten. Aber auch vor der Verwechslung meines Standpunktes in der Beurteilung des Weibes mit den hausbackenen, und nur als tapfere Reaktion gegen die Massenströmung erfreulichen Ansichten von P. J. _Moebius_ bin ich hoffentlich gefeit. Das Weib ist nicht »physiologisch schwachsinnig«; und ich kann auch die Auffassung nicht teilen, welche in Frauen mit hervorragenderen Leistungen Entartungserscheinungen erblickt. Von einem _moralischen_ Aussichtspunkte kann man diese Frauen, da sie stets männlicher sind als die anderen, nur freudig begrüßen, und müßte bei ihnen eher das Gegenteil einer Entartung, nämlich einen Fortschritt und eine Überwindung, zugeben; in _biologischer_ Hinsicht sind sie ebensowenig oder ebensosehr ein Degenerationsphänomen als der weibliche Mann ein solches darstellt (wenn man ihn nicht ethisch wertet). Die sexuellen Zwischenformen sind aber in der ganzen Reihe der Organismen durchaus die normale und nicht eine pathologische Erscheinung, und ihr Auftreten also noch kein Beweis körperlicher Décadence. Das Weib ist weder tiefsinnig noch hochsinnig, weder scharfsinnig noch geradsinnig, es ist vielmehr von alledem das gerade Gegenteil; es ist, so weit wir bisher sehen, überhaupt nicht »sinnig«: es ist als Ganzes _Un_-sinn, _un_-sinnig. Aber das ist noch nicht _schwach_sinnig, nach dem Begriffe, den man in deutscher Sprache damit verbindet: dem Begriffe des Mangels an der einfachsten praktischen Orientierung im gewöhnlichen Leben. Gerade Schlauheit, _Berechnung_, »_Gescheitheit_« besitzt W viel regelmäßiger und konstanter als M, sobald es auf die Erreichung naheliegender egoistischer Zwecke ankommt. Ein Weib ist nie so dumm, wie es der Mann zuweilen sein kann. Hat nun das Weib gar keine Bedeutung? Verfolgt es wirklich keinen allgemeineren Zweck? Hat es nicht doch eine Bestimmung, und liegt ihm nicht, trotz all seiner Unsinnigkeit und Nichtigkeit, eine bestimmte Absicht im Weltganzen zu Grunde? _Dient es einer Mission, oder ist sein Dasein ein Zufall und eine Lächerlichkeit?_ Um hinter diesen Sinn zu kommen, muß von einem Phänomen ausgegangen werden, das, so alt und so bekannt es ist, noch nirgends und niemals einer Beachtung oder gar Würdigung wert befunden wurde. _Es ist kein anderes als das Phänomen der $Kuppelei$, welches den eigentlichen, den tiefsten Einblick in die Natur des Weibes gestattet._ Seine Analyse ergibt zunächst das Moment der _Herbeiführung_ und _Begünstigung_ des Sichfindens zweier Menschen, die eine sexuelle Vereinigung, sei es in Form der Heirat oder nicht, einzugehen in der Lage sind. Dieses Bestreben, zwischen zwei Menschen etwas zustande zu bringen, _hat jede Frau ausnahmslos schon in frühester Kindheit_: ganz kleine Mädchen leisten bereits, und zwar selbst dem Liebhaber ihrer älteren Schwestern, Mittlerdienste. Und wenn der Trieb zu kuppeln auch erst dann deutlicher zum Vorschein kommen kann, wenn das weibliche Einzelindividuum sich selbst untergebracht hat, d. h. nach seiner eigenen Versorgung durch die Heirat: so ist er doch die ganze Zeit über zwischen der Pubertät und der Hochzeit ebenso vorhanden; nur wirken ihm der _Neid_ auf die Konkurrentinnen, und die _Angst_ vor den größeren Chancen derselben im Kampf um den Mann so lang entgegen, bis die Frau selbst ihren Gemahl sich glücklich erobert, oder ihr Geld, die Beziehungen, in welche er nun zu ihrer Familie tritt u. s. w., ihn gekirrt und geködert haben. Dies ist der einzige Grund, aus welchem die Frauen erst in der Ehe mit vollem Eifer daran gehen, die Töchter und Söhne ihrer Bekannten unter die Haube zu bringen. Und wie sehr nun erst das alte Weib kuppelt, bei dem die Sorge für die eigene sexuelle Befriedigung gänzlich in Wegfall gekommen ist, das ist so allgemein bekannt, daß man, sehr mit Unrecht, das alte Weib _allein_ zur eigentlichen Kupplerin gestempelt hat. Nicht nur Frauen, auch Männer werden sehr gerne in den Ehestand zu bringen gesucht, auch von ihren eigenen Müttern, ja gerade von diesen mit besonderer Lebhaftigkeit und Zähigkeit. Ganz ohne Rücksicht auf die individuelle Eigenart des Sohnes ist es der Wunsch und die Sucht jeder Mutter, ihren Sohn verheiratet zu sehen: ein Bedürfnis, in dem man geblendet genug war, etwas Höheres, wieder jene Mutterliebe zu erblicken, von welcher das vorige Kapitel nur eine so geringe Meinung gewinnen konnte. Es ist möglich, daß viele Mütter, sei der Sohn auch gar nicht für die Ehe geschaffen, von vornherein überzeugt sind, ihm durch sie erst zum bleibenden Glück zu verhelfen; aber sicher fehlt sehr vielen selbst dieser Glaube, und jedenfalls spielt allerwärts und immer als _stärkstes_ Motiv der Kuppel_trieb_, die gefühlsmäßige Abneigung gegen das Junggesellentum des Mannes, mit. Man sieht bereits hier, daß die Frauen _einem rein instinktiven Drange, der in sie gelegt ist, folgen_, auch wenn sie _ihre Töchter_ zu verheiraten suchen. Nicht aus logischen, und nur zum kleinsten Teile aus materiellen Erwägungen entspringen die unendlichen Bemühungen, welche die Mütter zu diesem Zwecke unternehmen, sie geschehen nicht aus Entgegenkommen gegen geäußerte oder unausgesprochene Wünsche der Tochter (denen sie in der speziellen Wahl des Mannes sogar oft zuwiderlaufen); und es kann, da die Kuppelei ganz allgemein auf alle Menschen sich erstreckt und nie auf die eigene Tochter sich beschränkt, hier am wenigsten von einer »altruistischen«, »moralischen« Handlung der _mütterlichen_ Liebe die Rede sein; obwohl sicherlich die meisten Frauen, wenn jemand ihr kupplerisches Gebaren ihnen vorhielte, zur Antwort geben würden: es sei ihre Pflicht, beizeiten an die Zukunft ihres teueren Kindes zu denken. _Eine Mutter verheiratet ihre eigene Tochter nicht anders, als sie jedem anderen Mädchen zum Manne gern verhilft_, wenn nur jene Aufgabe innerhalb der Familie zuvor gelöst ist: _es ist ganz dasselbe, Kuppelei hier wie dort, die Verkuppelung der eigenen Tochter unterscheidet sich psychologisch in nichts von der Verkuppelung der fremden_. Wie schon öfter das Verhalten des einen Geschlechtes zu gewissen Zügen des anderen als ein brauchbares Kriterium dafür verwendet werden konnte, welche Eigentümlichkeiten des Charakters ausschließlich auf eines beschränkt sind und welche auch dem anderen zukommen[60], so kann, während bisher stets das Weib Zeuge sein mußte, daß gewisse, ihm von vielen so gerne zugesprochene Eigenschaften ausschließlich dem Manne angehören, hier einmal durch sein Verhalten der Mann dokumentieren, wie die Kuppelei echt weiblich und ausschließlich weiblich ist: die Ausnahmen betreffen entweder _sehr_ weibliche Männer oder einen Fall, der noch ausführlich wird besprochen werden[61]. Jeder wahre Mann nämlich wendet sich vom heiratsvermittelnden Treiben der Frauen, selbst wenn es sich um seine eigene Tochter handelt, und er diese gerne versorgt sehen möchte, mit Widerwillen und Verachtung ab und überläßt die Kuppelsorgen überhaupt dem Weibe als sein Fach. Zugleich sieht man hier am klarsten, wie auf den _Mann_ gar nicht die _wahren psychischen_ Sexualcharaktere des Weibes attraktiv wirken, wie sie ihn vielmehr abstoßen, wo sie ihm bewußt werden: indes die rein männlichen Eigenschaften _an sich_, und wie sie wirklich sind, das _Weib_ anzuziehen _genügen_, muß der Mann das Weib erst umformen, ehe er es lieben kann. Die Kuppelei reicht aber bedeutend tiefer und durchdringt das Wesen des Weibes in viel weiterer Ausdehnung, als jemand nach diesen Beispielen, die nur den Umfang des Sprachgebrauches erschöpfen, glauben könnte. Ich will zunächst darauf hinweisen, wie die Frauen im Theater sitzen: stets mit der Erwartung, _ob_ die zwei, _wie_ die zwei Liebesleute »sich kriegen« werden. _Auch dies ist nichts anderes als Kuppelei_, und um kein Haar von ihr psychologisch verschieden: _es ist das Herbeiwünschen des Zusammenkommens von Mann und Weib, wo auch immer_. Aber das geht noch weiter: _auch die Lektüre sinnlicher oder obscöner Dichtungen oder Romane, die ungeheuere Spannung auf den Moment des Koitus, mit welcher die Frauen lesen, ist nichts, gar nichts als Verkuppelung der beiden Personen des Buches_, tonische Excitation durch den Gedanken der Kopulation und positive Wertung der sexuellen Vereinigung. Man halte das nicht für eine logische und formale Analogisierung, man versuche nachzufühlen, wie für die Frau psychologisch beides _dasselbe $ist$_. Die Erregung der Mutter am Hochzeitstage der Tochter ist keine andere als die der Leserin von _Prévost_, oder von _Sudermanns_ »Katzensteg«. Es kommt zwar auch vor, daß Männer solche Romane zu Detumeszenzzwecken gerne lesen, aber das ist etwas prinzipiell von der weiblichen Art der Lektüre _Verschiedenes_, es geht auf die lebhaftere Imagination des Sexualaktes und verfolgt nicht krampfhaft von Anbeginn jede Verringerung der Entfernung zwischen den beiden Menschen, um die es sich gerade handelt, und wächst nicht, wie bei der Frau, kontinuierlich, in Proportion mit einer sehr hohen Potenz vom reziproken Werte des Abstandes der Personen voneinander. Die atemlose Begünstigung jeder Verringerung der Distanz von dem Ziele, die deprimierte Enttäuschung bei jeder Vereitelung der sexuellen Befriedigung ist durchaus weiblich und unmännlich; aber sie tritt in der Frau ganz unterschiedslos bei jeder Bewegung auf, die ihrer Richtung nach zum Geschlechtsakte führen kann, betreffe sie nun Personen des Lebens oder der Phantasie. Hat man denn nie darüber nachgedacht, $warum$ die Frauen so gerne, so »selbstlos« andere Frauen mit Männern zusammenbringen? Das Vergnügen, welches ihnen hiedurch bereitet wird, _beruht auf einer eigentümlichen Erregung durch den Gedanken auch des fremden Koitus_. Aber die volle Breite der Kuppelei ist auch mit der Ausdehnung auf den Hauptgesichtspunkt aller weiblichen Lektüre noch nicht ausgemessen. Wo an Sommerabenden in dunklen Gärten, auf den Bänken oder an den Mauern Liebespaare eine Zuflucht suchen, dort wird eine Frau, die vorübergeht, stets _neugierig_, sie _sieht hin_, indes der Mann, der jenen Weg zu gehen gezwungen ist, sich unwillig abwendet, weil er die Schamhaftigkeit verletzt fühlt. Desgleichen wenden sich die Frauen fast nach jedem Liebespaare, dem sie auf der Gasse begegnen, _um_ und verfolgen es mit ihren Blicken. Dieses _Hin_schauen, dieses _Sichumdrehen_ ist nicht minder Kuppelei als das bisher unter den Begriff Subsumierte. Was man ungern sieht und nicht wünscht, von dem wendet man sich weg, und sperrt nicht die Augen nach ihm auf; die Frauen sehen darum ein Liebespaar so gern, und überraschen es deshalb am liebsten bei Küssen und weitergehenden Liebesbezeigungen, _weil sie den Koitus $überhaupt$ (nicht nur für sich) wollen_. _Man beachtet nur_, wie schon längst gezeigt wurde, _was irgendwie positiv gewertet wird_. Die Frau, die zwei Liebende miteinander sieht, wartet stets auf das, was kommen werde, d. h. sie erwartet es, nimmt es voraus, hofft es, wünscht es. Ich habe eine längst verheiratete Hausfrau gekannt, die ihr Dienstmädchen, das den Liebhaber eingelassen hatte, zuerst lang in großer Anteilnahme vor der Tür behorchte, ehe sie hineinging, um ihm seine Stellung zu kündigen. Die Frau hatte also den ganzen Vorgang _innerlich bejaht_, um dann das Mädchen, in passiver Befolgung der ihr überkommenen Schicklichkeitsbegriffe, wenn nicht gar nur aus unbewußter Mißgunst, hinauszuwerfen. Ich glaube freilich, daß auch das letztere Motiv häufig mitspielt, und zur Verdammung der Betroffenen der Neid, der ihr jene Stunden doch nicht allein gönnt, seinen Teil beisteuert. Der Gedanke des Koitus wird von der Frau stets und in jeder Form, in der er sich vollziehen mag, (selbst wenn ihn Tiere ausführen), lebhaft ergriffen, und nie zurückgewiesen[62]; sie verneint ihn nicht, empfindet keinen Ekel vor dem Ekelhaften des Vorganges, sucht nicht sofort lieber an etwas anderes zu denken: sondern die Vorstellung ergreift völlig von ihr Besitz und beschäftigt sie unausgesetzt weiter, bis sie von anderen Vorstellungen ebenso sexuellen Charakters abgelöst wird. Hiemit ist ein großer Teil des vielen so rätselhaft scheinenden psychischen Lebens der Frauen sicherlich beschrieben. _Das Bedürfnis, selbst koitiert zu werden, ist zwar das heftigste Bedürfnis der Frau, aber es ist nur ein $Spezialfall$ ihres tiefsten, $ihres einzigen vitalen Interesses, das nach dem Koitus überhaupt geht$; des Wunsches, daß möglichst viel, von wem immer, wo immer, wann immer, koitiert werde._ _Dieses_ allgemeinere Bedürfnis richtet sich entweder mehr auf den Akt selbst, oder mehr auf das Kind; im ersten Falle ist die Frau Dirne und Kupplerin um der bloßen Vorstellung vom Akte willen; im zweiten ist sie Mutter, aber nicht nur mit dem Wunsche selbst Mutter zu werden; sondern an _jeder_ Ehe, die sie kennt oder zustande bringt, ist, je mehr sie der absoluten Mutter sich nähert, desto ausschließlicher ihr Interesse auf die Hervorbringung des Kindes gerichtet: die echte Mutter ist auch die echte Großmutter (selbst wenn sie Jungfrau geblieben ist; man vergleiche Johann _Tesmans_ unübertreffliche »_Tante Jule_« in _Ibsens_ »_Hedda Gabler_«). Jede ganze _Mutter_ wirkt für die Gattung insgesamt, sie ist Mutter der ganzen Menschheit: _jede_ Schwangerschaft wird von ihr begrüßt. Die _Dirne_ will die anderen Weiber nicht schwanger, sondern bloß _prostituiert_ sehen wie sich selbst. Wie sogar die Sexualität der Frauen ihrer Kuppelei noch _unter_geordnet ist, und eigentlich nur als ein besonderer Fall der ersteren aufgefaßt werden darf, das geht sehr deutlich aus ihrem Verhältnis zu den verheirateten Männern hervor. Nichts ist den Frauen, da sie sämtlich Kupplerinnen sind, so wie der ledige Stand des Mannes zuwider, und darum suchen alle ihn zu verheiraten; _ist_ er aber schon Ehemann, so verliert er für sie auch dann sehr viel an Interesse, wenn er früher ihnen selbst ganz ausnehmend gefallen hat. _Auch_ wenn sie selber bereits verheiratet sind, also nicht mehr jeder Mann zunächst unter dem Gesichtspunkte der _eigenen_ Versorgung in Betracht kommt, und nun, wie man denken sollte, der Ehemann darum nicht mehr geringere Beachtung finden müßte als der andere, Ledige, selbst dann, als ungetreue Ehefrauen, kokettieren die Weiber kaum mit dem Gatten einer anderen; außer wenn sie über diese einen Triumph feiern wollen, dadurch, daß sie ihn ihr abspenstig machen. Hiedurch erst ist ganz bestätigt, daß es den Frauen nur auf die Verkuppelung ankommt; mit _Verheirateten_ wird _darum_ so selten der Ehebruch begangen, _weil diese der Idee, welche in der Kuppelei liegt, bereits genügen_. Die Kuppelei ist die allgemeinste Eigenschaft des menschlichen Weibes: der Wille zur Schwiegermutter -- ich meine den Willen, Schwiegermutter zu werden -- ist noch viel durchgängiger vorhanden als der Wille zur Mutterschaft, dessen Intensität und Umfang man gewöhnlich über Gebühr hoch veranschlagt. Man wird den Nachdruck, der hier gerade auf die _Kuppelei_ des Weibes gelegt wird, vielleicht doch noch nicht ganz verstehen, die Bedeutung, die ihr zugemessen werde, übertrieben, das Pathos der Argumentation unmotiviert finden. Man begreife aber, worum es sich handelt. Die Kuppelei ist dasjenige Phänomen, welches das Wesen des Weibes am weitesten aufschließt, und man muß nicht, wie dies immer geschieht, sie nur zur Kenntnis nehmen und gleich zu etwas anderem übergehen, sondern sie zu analysieren und zu ergründen trachten. Gewiß ist es eine den meisten Menschen geläufige Tatsache, daß »jedes Weib gern ein bißchen kuppelt«. _Aber daß gerade hierin und nirgendwo anders die Wesenheit des Weibes liegt, darauf kommt es an._ Es läßt sich -- nach reiflicher Betrachtung der verschiedensten Frauentypen und Berücksichtigung noch weiterer spezieller Einteilungen, außer der hier bereits durchgeführten, bin ich zu diesem Schlusse gekommen -- _absolut nichts anderes als positive allgemein-weibliche Eigenschaft prädizieren als die Kuppelei, das ist die Tätigkeit im Dienste der Idee des Koitus $überhaupt$_. Jede Begriffsbestimmung der Weiblichkeit, welche deren Wesen bloß im Wunsche, selbst koitiert zu werden, suchte, die im echten Weibe nichts für echt hielte, als das Bedürfnis vergewaltigt zu werden, wäre zu _eng_; jede Definition, die da sagen würde, der Inhalt des Weibes sei das Kind oder sei der Mann oder sei beides, bereits zu _weit_. Das allgemeinste und eigentlichste Wesen der Frau ist mit der _Kuppelei_, d. h. $mit der Mission im Dienste der Idee körperlicher Gemeinschaft$, _vollständig_ und _erschöpfend_ bezeichnet. _Jedes Weib kuppelt_; und diese Eigenschaft des Weibes, _$Gesandte, Mandatarin des Koitusgedankens$ zu sein_, ist auch die _einzige_, welche in _allen_ Lebensaltern da ist _und selbst das Klimakterium überdauert_: das alte Weib verkuppelt weiter, nicht mehr sich, sondern die anderen. Wenn man das alte Weib mit Vorliebe als _die_ Kupplerin sich vorgestellt hat, so wurde ein Grund hiefür schon angeführt. Der Beruf der greisen Kupplerin ist nicht etwas, das _hinzu_kommt, sondern eben dies, was jetzt allein _heraustritt_ und _übrig bleibt_ aus den früheren Komplikationen durch das eigene Bedürfnis: das reine Wirken im Dienste der unreinen Idee. Es sei gestattet, hier kurz zu rekapitulieren, was die Untersuchung nach und nach an positiven Resultaten über die Sexualität des Weibes zutage gefördert hat. Es erwies sich zuerst als ausschließlich, und nicht nur in Pausen, sondern kontinuierlich sexuell interessiert; es war körperlich und psychisch in seinem ganzen _Wesen_ nichts als eben die Sexualität selbst. Es wurde dabei überrascht, daß es sich überall, am ganzen Körper und ohne Unterlaß, von allen Dingen ausnahmslos _koitiert_ fühlt. Und wie der ganze _Körper_ des Weibes eine Dépendance seines _Geschlechtsteiles_ war, so offenbart sich nun die zentrale Stellung _der Koitus-Idee_ in seinem _Denken_. _Der Koitus ist das einzige, allerwärts und immer, von der Frau ausschließlich $positiv$ Bewertete; die Frau ist die Trägerin des Gemeinschaftsgedankens überhaupt._ Die weibliche Höchstwertung des Koitus ist nicht auf ein Individuum, auch nicht auf das wertende Individuum, beschränkt, sie bezieht sich auf Wesen _überhaupt_, sie ist nicht individuell, sondern _inter_individuell, _über_individuell, sie ist sozusagen -- man sehe mir die Entweihung des Wortes einstweilen nach -- _$die transcendentale$ Funktion des Weibes_. _Denn wenn Weiblichkeit Kuppelei ist, so ist Weiblichkeit $universelle Sexualität$. Der Koitus ist der höchste Wert der Frau, ihn sucht sie immer und überall zu verwirklichen. $Ihre eigene Sexualität bildet von diesem unbegrenzten Wollen nur einen begrenzten Teil.$_ -- Der männlichen Höchststellung der Schuldlosigkeit und Reinheit aber, deren Erscheinung jene höhere Virginität wäre, welche der Mann aus erotischem Bedürfnis von der Frau wünscht und fordert, diesem nur _männlichen_ Ideale der Keuschheit ist jenes Streben der Frau nach Realisierung der Gemeinschaft so polar entgegengesetzt, daß es unbedingt als ihre eigentliche Natur sogar durch den dichtesten Weihrauch der erotischen Illusion hindurch vom Mann hätte erkannt werden müssen, wenn nicht _noch_ ein Faktor durch sein Dazwischentreten diese Klärung regelmäßig verhindert hätte. Diesen Umstand, der sich immer wieder einschiebt, um der Einsicht des Mannes in das allgemeine und eigentliche Wesen der Weiblichkeit entgegenzuwirken, dieses komplizierteste Problem des Weibes, seine abgründlich tiefe _Verlogenheit_, gilt es nun aufzuhellen. So schwierig und so gewagt das Unternehmen ist, es muß schließlich zu jener letzten Wurzel führen, _aus der wir sowohl die Kuppelei_ (im weitesten Sinne, in dem die eigene Geschlechtlichkeit nur ihr hervorstechendster Spezialfall ist) _als auch diese Verlogenheit_, welche die Begierde nach dem Sexualakt immerfort -- vor den Blicken des Weibes selbst! -- _verhüllt_, _beide_ unter dem Lichte _eines_ letzten Prinzipes klar werden emporsprießen sehen. * * * * * Alles nämlich, was vielleicht schon wie ein sicherer Gewinn erschienen ist, findet sich nun nochmals in Frage gestellt. Den Frauen wurde keine Selbstbeobachtung eingeräumt: es gibt aber sicherlich Weiber, die sehr scharf vieles beobachten, was in ihnen vorgeht. Die Wahrheitsliebe wurde ihnen abgesprochen; und doch kennt man Frauen, die es auf das peinlichste vermeiden, eine Unwahrheit zu sagen. Das Schuldbewußtsein sei ihnen fremd, wurde behauptet, obwohl Frauen existieren, die sich selbst wegen geringfügiger Dinge die heftigsten Vorwürfe zu machen pflegen, obwohl man von Büßerinnen und ihren Körper kasteienden Weibern sichere Nachricht hat. Das Schamgefühl wurde nur dem Manne belassen: aber muß nicht das Wort von der weiblichen Schamhaftigkeit, von jener Scham, die nach _Hamerling_ sogar _nur_ das Weib kennt, in der Erfahrung irgend eine Grundlage haben, die es ermöglichte, ja begünstigte, daß die Dinge so gedeutet würden? Und weiter: Religiosität könnte dem Weibe fehlen trotz allen »religieuses«? Strenge Sittenreinheit bei ihm ausgeschlossen sein, aller tugendhaften Frauen ungeachtet, von denen Lied und Geschichte melden? Bloß sexuell sollte das Weib sein, die Sexualität allein bei ihm Anwert finden, wo es doch mannigfach bekannt ist, daß Frauen wegen der geringsten Anspielung auf sexuelle Dinge empört sein können, sich, statt zu kuppeln, oft erbittert und angeekelt wegwenden von jedem Orte der Unzucht, ja nicht selten den Koitus auch für ihre Person verabscheuen und ihm viel gleichgültiger gegenüberstehen als irgend ein Mann? Es ist wohl offenbar, daß es sich in all diesen Antinomien um eine und dieselbe Frage handelt, von deren Beantwortung die letzte und endgültige Entscheidung über das Weib abhängt. Es ist klar, daß, wenn auch nur _ein einziges_ sehr weibliches Wesen _innerlich asexuell_ wäre, oder in einem wahrhaften Verhältnis zur Idee sittlichen Eigenwertes stünde, $alles$, was hier von den Frauen gesagt wurde, seine Allgemeingültigkeit als psychisches Charakteristikum ihres Geschlechtes sofort unrettbar verlieren müßte, und somit die _ganze_ Position des Buches mit einem Schlage vollkommen hinfällig würde. _Jene scheinbar widersprechenden Erscheinungen müssen befriedigend erklärt, und es muß von ihnen gezeigt werden, daß, was ihnen wirklich zu Grunde liegt und so leicht zu Äquivokationen verführt, $derselben$ weiblichen Natur entspricht, die bisher überall nachgewiesen werden konnte._ Man muß zunächst an die ungeheuere _Beeinflußbarkeit_, besser, nur schlechter zu sprechen, _Beeindruckbarkeit_ der Frauen sich erinnern, um zum Verständnis jener trügerischen Widersprüche zu gelangen. Diese außerordentliche Zugänglichkeit für Fremdes und die leichte Annahme der Ansichten anderer ist in diesem Buche bis jetzt noch nicht genügend gewürdigt worden. Ganz allgemein schmiegt sich W an M vollständig an, wie ein Etui an die Kleinodien in ihm, _seine_ Anschauungen werden die _ihren_, seine Lieblingsneigungen teilen sich ihr mit wie seine ganz individuellen Antipathien, jedes Wort von ihm ist für sie ein _Ereignis_, und zwar um so stärker, je mehr er sexuell auf sie wirkt. Diesen Einfluß des Mannes empfindet die Frau nicht als eine Ablenkung von der Linie ihrer eigenen Entwicklung, sie erwehrt sich seiner nicht als einer fremdartigen Störung, sie sucht sich nicht von ihm zu befreien als von einem Eingriff in ihr inneres Leben, _sie schämt sich nicht, rezeptiv zu sein_: im Gegenteil, sie fühlt sich nur _glücklich_, wenn sie es sein kann, _verlangt_ vom Manne, daß er sie, auch geistig, zu rezipieren _zwinge_. Sie schließt sich immer nur gerne an, _und ihr Warten auf den Mann ist nur das Warten auf den Augenblick, wo sie $vollkommen passiv$ sein könne_. Aber nicht nur vom »richtigen« Manne (wenn schon von ihm am liebsten), auch von Vater und Mutter, Onkeln und Tanten, Brüdern und Schwestern, nahen Verwandten und fernen Bekannten _übernehmen_ die Frauen, was sie glauben und denken, und sind es froh, wenn in ihnen eine Meinung _geschaffen_ wird. Noch die erwachsenen und verheirateten Frauen, nicht nur die unreifen Kinder, ahmen einander in allem und jedem, _als ob das natürlich wäre_, nach, von einer geschmackvolleren Toilette oder Frisur, einer Aufsehen erregenden Körperhaltung angefangen bis auf die Geschäfte, in denen sie einkaufen, und die Rezepte, nach welchen sie kochen. Auch dieses gegenseitige Kopieren geschieht _ohne_ das Gefühl, sich hiedurch etwas zu _vergeben_, wie es wohl sein müßte, besäßen sie eine Individualität, die nur rein ihrem eigenen Gesetze zu folgen strebt. So setzt sich der theoretische Bestand des weiblichen Denkens und Handelns der Hauptsache nach aus Überkommenem und wahllos Übernommenem zusammen, das von den Frauen um so eifriger ergriffen und um so dogmatischer festgehalten wird, als ein Weib eine Überzeugung nie selbsttätig aus objektiver Anschauung der Dinge gewinnt, und also auch nie nach geändertem Aspekte frei aufgibt, nie selbst noch über seinen Gedanken steht, vielmehr immer nur will, daß ihm eine Meinung beigebracht werde, die es dann zähe festhalten könne. Darum sind die Frauen am unduldsamsten, wo ein Verstoß gegen sanktionierte Sitten und Gebräuche sich ereignet, mögen diese Institutionen welchen Inhaltes immer sein. Einen angesichts der Frauenbewegung besonders ergötzlichen Fall dieser Art will ich nach Herbert _Spencer_ mitteilen. Wie bei vielen Indianerstämmen Nord- und Südamerikas, so gehen auch bei den _Dakotas_ die Männer bloß der Jagd und dem Kriege nach und haben alle niedrigen und mühevollen Beschäftigungen auf ihre Weiber gewälzt. Von der Natürlichkeit und Rechtmäßigkeit dieses Vorgehens sind die Frauen, statt irgend sich unterdrückt zu fühlen, allmählich so durchdrungen worden, daß ein Dakota-Weib dem anderen keinen größeren Schimpf antun und keine ärgere Kränkung bereiten kann, als diese: »Schändliche Frau .... ich habe Deinen Mann Holz in seine Wohnung tragen sehen zum Feueranzünden. Wo war seine Frau, daß er genötigt war, sich selbst zum Weibe zu machen?« Diese außerordentliche Bestimmbarkeit des Weibes durch außer ihm Liegendes ist im Grunde wesensgleich mit seiner Suggestibilität, die weit größer und ausnahmsloser ist als die des Mannes: beides kommt damit überein, daß das Weib im Sexualakte und seinen Vorstadien nur die passive, nie die aktive Rolle zu spielen wünscht.[63] _Es ist die $allgemeine$ Passivität der weiblichen Natur, welche die Frauen am Ende auch die männlichen Wertungen, zu welchen sie gar kein ursprüngliches Verhältnis haben, acceptieren und übernehmen läßt._ Diese _Imprägnierbarkeit_ durch die männlichen Anschauungen, diese _Durchdringung_ des eigenen Gedankenlebens der Frau mit dem fremden Element, diese _verlogene_ Anerkennung der Sittlichkeit, die man gar nicht Heuchelei nennen kann, weil nichts _Anti_moralisches durch sie verdeckt werden soll, diese Aufnahme und Anwendung eines an und für sich ihr ganz _hetero_nomen Gebotes wird, soweit die Frau selbst nicht wertet, im allgemeinen leicht und glatt von statten gehen _und den täuschendsten Schein höherer Sittlichkeit leicht hervorbringen_. Komplikationen können sich erst einstellen, wenn es zur Kollision kommt mit der _einzigen eingeborenen_, echten und allgemein-weiblichen Wertung, der _Höchstwertung des Koitus_. Die Bejahung der Gemeinschaft als des höchsten Wertes ist bei der Frau eine ganz unbewußte. Denn dieser Bejahung steht nicht wie beim Manne ihre Verneinung als die andere Möglichkeit gegenüber, es fehlt hier die Zweiheit, die zum Bemerken führen könnte. Kein Weib weiß, oder hat noch gewußt, oder auch nur wissen können, was es tut, wenn es kuppelt. _Die Weiblichkeit selbst ist ja identisch mit der Kuppelei_, und ein Weib müßte aus sich heraustreten können, um zu bemerken, zu verstehen, daß es kuppelt. So bleibt das tiefste Wollen des Weibes, das, was sein Dasein eigentlich bedeutet, von ihm stets unerkannt. Nichts hindert also, daß die männliche negative Wertung der Sexualität die positive weibliche vollständig im Bewußtsein des Weibes überdecke. _Die Rezeptivität des Weibes geht so weit, daß es das, was es ist -- das $einzige$, was es wirklich positiv $ist$! -- daß es selbst dies verleugnen kann._ Aber die Lüge, die es begeht, wenn es sich das männliche gesellschaftliche Urteil über die Sexualität, über Schamlosigkeit, ja über die Lüge selbst, _einverleiben_ läßt und den männlichen Maßstab aller Handlungen zu dem seinigen macht, diese Lüge ist eine solche, die ihm nie bewußt wird, _es erhält eine zweite Natur, ohne auch nur zu ahnen, daß es seine echte nicht ist_, es nimmt sich ernst, glaubt etwas zu sein und zu glauben, ist überzeugt von der Aufrichtigkeit und Ursprünglichkeit seines moralischen Gebarens und Urteilens: _so tief sitzt die Lüge, $die organische$_, ich möchte, wenn es gestattet wäre, am liebsten sagen: _$die ontologische$ Verlogenheit des Weibes_. _Wolfram von Eschenbach_ erzählt von seinem Helden: »... So keusch und rein Ruht' er bei seiner Königin, Daß kein Genügen fänd' darin So manches Weib beim lieben Mann. Daß doch so manche in Gedanken Zur Üppigkeit will überschwanken, Die sonst sich spröde zeigen kann! Vor Fremden züchtig sie erscheinen, _Doch ist des Herzens tiefstes Meinen Das Widerspiel vom äußern Schein_.« Was das tiefste Meinen des weiblichen Herzens ist, das hat _Wolfram_ klar genug angedeutet. Aber er sagt nicht alles. Nicht nur die Fremden, _auch sich selbst_ belügen die Frauen in diesem Punkte. Man kann aber seine Natur, sei es auch die physische, nicht unterdrücken ohne Folgen. Die hygienische Züchtigung für die Verleugnung der eigentlichen Natur des Weibes ist die _Hysterie_. Von allen Neurosen und Psychosen stellen die _hysterischen_ Erscheinungen dem Psychologen beinahe die reizvollste Aufgabe; eine weit schwierigere und darum verlockendere als eine verhältnismäßig leicht nachzulebende _Melancholie_, oder eine simple _Paranoia_. Zwar haben gegen psychologische Analysen fast alle Psychiater ein nicht zu beseitigendes Mißtrauen; jede Erklärung durch pathologisch veränderte Gewebe oder durch Intoxikationen auf nutritivem Wege ist ihnen a limine glaubhaft, nur dem Psychischen mögen sie keine primäre Wirksamkeit zuerkennen. Da aber nie noch ein Beweis dafür erbracht worden ist, daß dem Psychischen eher als dem Physischen die sekundäre Rolle zufallen müsse -- alle Hinweise auf die »Erhaltung der Energie« sind von den berufensten Physikern selbst desavouiert worden -- so kann man billig über dieses Vorurteil hinweggehen. Auf die Bloßlegung des »psychischen Mechanismus« der Hysterie kann unendlich viel, ja -- nichts spricht dagegen[64] -- möglicherweise _alles_ ankommen. Daß höchstwahrscheinlich dieser Weg der richtige ist, darauf weist auch hin, daß die wenigen bisherigen wahren Aufschlüsse über die Hysterie nicht anders gewonnen wurden: ich meine die mit den Namen _Pierre Janet_ und _Oskar Vogt_, und besonders J. _Breuer_ und S. _Freud_ verknüpften Forschungen. Jede weitere Aufklärung über die Hysterie ist in der Richtung zu suchen, welche diese Männer eingeschlagen haben: in der Richtung auf die Rekonstruktion des _psychologischen_ Prozesses, welcher zur Krankheit geführt hat. Schematisch hat man sich, wie ich glaube, die Entstehung derselben, unter Annahme eines _sexuellen_ »traumatischen« Erlebnisses als des häufigsten (nach _Freud alleinigen_) Anlasses zur Erkrankung, so vorzustellen: eine Frau, die irgend eine sexuelle Wahrnehmung oder Vorstellung gehabt, diese durch ursprüngliche oder Rückbeziehung auf sich selbst _verstanden_ hat, und diese nun, vermöge der ihr aufgedrungenen und von ihr gänzlich übernommenen, _in sie über_gegangenen und ihr _waches Bewußtsein_ allein beherrschenden männlichen Wertung _als ganze zurückweist, über sie empört, unglücklich ist -- und sie gleichzeitig vermöge ihrer Beschaffenheit als Weib positiv wertet, bejaht, wünscht in ihrem tiefsten Unbewußten_; in der dann dieser Konflikt weiter schwärt, gärt und zu Zeiten in einem Anfall aufbraust: eine solche Frau gewährt das mehr oder minder typisch gewordene Krankheitsbild der Hysterie. So erklärt sich die Empfindung des von der Person, wie sie _glaubt_, verabscheuten, tatsächlich aber doch von etwas in ihr, von der ursprünglichen Natur, _gewollten_ Sexualaktes als eines »_Fremdkörpers im Bewußtsein_«. _Die kolossale Intensität des durch jeden Versuch zu seiner Unterdrückung nur gesteigerten Wunsches, die um so heftigere, beleidigtere Zurückweisung des Gedankens_ -- dies ist das Wechselspiel, das sich in der Hysterika vollzieht. Denn die _chronische_ Verlogenheit des Weibes wird _akut_, wenn sie auf den _Hauptpunkt_ sich erstreckt, wenn die Frau sich auch die ethisch-negative Bewertung der Sexualität vom Manne noch hat einverleiben lassen. Und daß die Hysterischen die _stärkste Suggestibilität_ dem Manne gegenüber offenbaren, ist ja bekannt. $Hysterie ist die organische Krisis der organischen Verlogenheit des Weibes.$ Ich leugne nicht, daß es auch, wenngleich _relativ_ nur recht _selten_, hysterische _Männer_ gibt: denn _eine_ unter den unendlich vielen Möglichkeiten, die psychisch im Manne liegen, ist es, zum Weibe und damit, gegebenenfalls, auch _hysterisch_ zu werden. Es gibt freilich auch verlogene _Männer_; aber da verläuft die Krisis anders (wie auch ihre Verlogenheit stets eine andere, nie eine so völlig _hoffnungslose_ ist): sie führt zur, obschon oft nur vorübergehenden, _Läuterung_. Diese Einsicht in die organische Verlogenheit des Weibes, in seine Unfähigkeit zur Wahrheit über sich selbst, die allein ermöglicht, daß es in einer Weise denke, die ihm gar nicht entspricht, scheint mir eine im Prinzip befriedigende Auflösung jener Schwierigkeiten, welche die Ätiologie der Hysterie darbietet. Wäre die Tugend des Weibes echt, so könnte es durch sie nicht leiden; es büßt nur die _Lüge_ gegen die eigene, in Wirklichkeit ungeschwächte Konstitution. Im einzelnen bedarf nun noch manches der Erläuterung und der Belege. Die Hysterie zeigt, daß die Verlogenheit, so tief sie hinabreicht, doch nicht so fest sitzt, um _alles_ zu verdrängen. Das Weib hat ein ganzes System von ihm fremden Vorstellungen und Wertungen durch Erziehung oder Verkehr sich zu eigen gemacht, oder vielmehr: ihnen gehorsam alle Einflußnahme auf sich gestattet; und es bedarf eines ganz gewaltigen Anstoßes, um diesen großen, fest in sie eingewachsenen psychischen Komplex aus dem Sattel zu heben, und so das Weib in jenen Zustand intellektueller Hilflosigkeit, jener »Abulie« zu versetzen, welche für die Hysterie so kennzeichnend ist. Ein außerordentlicher _Schreck_ etwa vermag den künstlichen Bau umzuwerfen und die Frau nun zum Schauplatz des Kampfes einer ihr unbewußten, verdrängten _Natur_ mit einem zwar bewußten, aber ihr unnatürlichen _Geiste_ zu machen. Das Hin- und Hergeworfenwerden zwischen beiden, welches nun anhebt, erklärt die außergewöhnliche psychische Diskontinuität während des hysterischen Leidens, das fortwährende Wechseln verschiedener Stimmungen, von denen keine durch einen, ihnen allen noch übergeordneten Bewußtseinskern ergriffen und festgehalten, beobachtet und beschrieben, erkannt und bekämpft werden kann. Auch hängt hiemit das überleichte Zusammenschrecken der Hysterischen zusammen. Doch läßt sich vermuten, daß viele Anlässe, auch wenn sie dem geschlechtlichen Gebiete _objektiv_ noch so fern liegen, von ihnen sexuell mögen apperzipiert werden; wer aber vermöchte dann zu sagen, _womit_ das schreckhafte äußere Erlebnis von scheinbar ganz _a_sexueller Natur _in ihnen_ sich wieder verknüpft hat? Höchst wunderbar ist immer das Zusammensein so vieler Widersprüche in den Hysterischen erschienen. Sie sind einerseits von eminent kritischem Verstande und großer Urteilssicherheit, sträuben sich gegen die Hypnose u. s. w., u. s. w., anderseits durch die geringfügigsten Anlässe am stärksten excitierbar, und die tiefsten Grade hypnotischen Schlafes bei ihnen erreichbar. Sie sind, von da gesehen, abnorm keusch, von dort aus betrachtet, enorm sinnlich. All das ist hienach nicht schwer mehr zu erklären. Die gründliche Rechtschaffenheit, die peinliche Wahrheitsliebe, das strenge Meiden alles Sexuellen, das besonnene Urteil und die Willensstärke -- _all dies ist nur ein Teil jener Pseudopersönlichkeit_, welche die Frau _in ihrer Passivität vor sich und aller Welt zu spielen übernommen hat_. Alles, was ihrer _ursprünglichen_ Beschaffenheit angehört und in deren Sinn liegt, bildet jene »abgespaltene Person«, jene »unbewußte Psyche«, die _gleichzeitig_ in Obscönitäten sich ergehen kann und der suggestiven Beeinflussung so zugänglich ist. Man hat in den als »duplex« und »multiplex personality«, als »double conscience«, als »Doppel-Ich« benannten Tatsachen eines der stärksten Argumente gegen die Annahme der _einen_ Seele erblicken wollen. In Wirklichkeit sind gerade diese Phänomene der bedeutsamste Fingerzeig dafür, _daß_ und _wo_ man von einer Seele reden darf. _Die »Spaltungen der Persönlichkeit« sind eben nur dort möglich, wo von Anfang an keine Persönlichkeit da ist, wie beim Weibe._ _All_ jene berühmten Fälle, die _Janet_ in seinem Buche »L'Automatisme psychologique« beschrieben hat, _beziehen sich auf Frauen_, kein einziger auf einen Mann. Nur die Frau, die, ohne Seele, ohne ein intelligibles Ich, nicht Kraft hat, alles in ihr Enthaltene bewußt zu machen, das Licht der Wahrheit über ihrem Innern zu entzünden, kann durch die völlig passive _Durchflößung_ mit einem fremden Bewußtsein, wie durch die im Sinne ihrer eigenen Natur gelegenen Regungen so übertölpelt werden, wie es Voraussetzung der von _Janet_ beschriebenen hysterischen Zustände ist, nur bei ihr kann es zu derartig dichten Verkleidungen, zum Auftreten der _Hoffnung_ auf den Koitus als _Angst vor_ dem Akte, zur _inneren Maskierung vor sich selbst_ und Einspinnung des wirklichen Wollens wie in eine undurchdringliche Kokonhülle kommen. Die Hysterie selbst ist der Bankerott des aufgeprägten oberflächlichen Schein-Ich; deshalb macht sie das Weib zeitweilig innerlich beinahe zur »tabula rasa«: indem auch jeder eigene Trieb wie aus ihr hinweggeräumt scheint (»Anorexie«); bis dann jene Versuche der wirklichen Weiblichkeit folgen, gegen ihre verlogene Verleugnung sich nun endlich durchzusetzen. Wenn jener »nervöse Choc«, jenes »psychische Trauma« je wirklich ein asexuelles Schrecknis ist, so hat eben dieses die innere Schwäche und Unhaltbarkeit des angenommenen Ich dargetan, es verscheucht, davongejagt und so die Gelegenheit für den Ausbruch der echten Natur geschaffen. Das _Heraufkommen dieser_ ist jener »Gegenwille« _Freuds_, der wie ein fremder empfunden und durch die Zuflucht bei dem alten, nun aber morsch und brüchig gewordenen Schein-Ich abgewehrt wird. Denn der »Gegenwille« wird zurückzudrängen versucht: früher hat jener äußere _Zwang_, den die Hysterika wie eine _Pflicht_ empfand, die eigene Natur unter die Bewußtseinsschwelle verwiesen, sie verdammt und in Fesseln gelegt; nun sucht sie nochmals vor den befreiten, emporwollenden Gewalten in jenes System von Grundsätzen sich zu flüchten und mit seiner Hilfe die ungewohnten Anfechtungen abzuschütteln und niederzuschlagen; aber jenes hat zumindest seine Alleinherrschaft nun eingebüßt. _Der »Fremdkörper im Bewußtsein«, das »schlimme Ich« ist in Wirklichkeit ihre eigenste weibliche Natur, während, was $sie$ für ihr wahres Ich hält, gerade die Person ist, die sie durch das Einströmen alles $Fremden$ wurde._ Der »Fremdkörper« ist die _Sexualität_, die sie nicht _anerkennt_, deren Zugehörigkeit zu sich sie nicht zugibt; die sie aber doch nicht mehr zu _bannen_ vermag wie ehedem, da ihre Triebe vor der einwandernden Sittlichkeit sich geräuschlos und wie für immer zurückzogen. Zwar mögen sich auch jetzt noch die mit äußerster Anspannung unterdrückten Sexualvorstellungen »_konvertieren_« in alle möglichen Zustände und so jenen proteusartigen Charakter des Leidens hervorbringen, jenes Überspringen von Glied zu Glied, jene alles nachahmende und niemals konstante Gestalt, welche die Definition der Hysterie nach ihrem Symptomenbilde stets so sehr erschwert hat; aber in keiner »Konversion« von allen geht nunmehr der Trieb auf, er verlangt nach oben, in keiner Verwandlung findet er mehr seine _Erschöpfung_. Das _Unvermögen der Frauen zur Wahrheit_ -- für mich, der ich auf dem Boden des Kantischen Indeterminismus stehe, folgt es aus ihrem Mangel an einem _freien Willen zur Wahrheit_ -- bedingt ihre _Verlogenheit_. Wer mit Frauen Umgang hatte, der weiß, wie oft sie, _unter dem momentanen Zwang auf eine Frage zu antworten_, ganz beliebig falsche Gründe für das, was sie gesagt oder getan haben, aus dem Stegreif angeben. Nun ist es richtig, daß gerade die Hysterischen peinlichst (aber nie ohne eine gewisse, demonstrative, Absichtlichkeit vor Fremden) jeder Unwahrheit aus dem Wege gehen: _aber gerade hierin liegt, so paradox es klingt, ihre Verlogenheit_. Denn sie wissen nicht, daß ihnen die ganze Wahrheitsforderung von außen gekommen und allmählich eingepflanzt worden ist. Sie haben das Postulat der Sittlichkeit knechtisch acceptiert und geben darum, dem braven Sklaven gleich, bei jeder Gelegenheit zu erkennen, wie getreu sie es befolgen. Es ist immer auffällig, wenn man über jemand oft hervorheben hört, was für ein ausnehmend anständiger Mensch er sei: er hat dann sicherlich dafür gesorgt, daß man es wisse, und man kann wetten, daß er insgeheim ein Spitzbube ist. Es kann das Vertrauen zu der Echtheit der Moralität der Hysterischen nicht fördern, wenn die Ärzte (natürlich in gutem Glauben) so oft betonen, wie hoch ihre Patienten in sittlicher Beziehung stünden. Ich wiederhole: die Hysterischen simulieren nicht bewußt; nur unter dem Einfluß der Suggestion kann ihnen klar werden, _daß_ sie tatsächlich simuliert haben, und nur so sind alle »Geständnisse« der Verstellung zu erklären. _$Sonst$ aber glauben sie an ihre eigene Aufrichtigkeit und Moralität_: Auch die Beschwerden, von denen sie gepeinigt werden, sind keine eingebildeten; vielmehr liegt darin, _daß_ sie diese wirklich fühlen, und daß die Symptome erst mit der _Breuer_schen »Katharsis« verschwinden, welche ihnen die wahren Ursachen der Krankheit in der Hypnose successive _zum Bewußtsein_ bringt, der _Beweis_ des _Organischen_ ihrer Verlogenheit. Auch die Selbstanklagen, welche die Hysterischen so laut zu erheben pflegen, sind nichts als unbewußte Gleisnerei. Ein Schuldgefühl kann nicht echt sein, das sich auf kleinste wie auf größte Dinge _gleichmäßig_ erstreckt; hätten die hysterischen Selbstquäler das Maß der Sittlichkeit in sich und aus sich selbst, so würden sie nicht so wahllos in ihren Selbstanklagen sein und nicht die geringfügigste Unterlassung schon _gleich_ schwer sich anrechnen wie den größten Fehl. Das entscheidende Zeichen für die unbewußte _Verlogenheit_ ihrer Selbstvorwürfe ist die Art, in der sie anderen zu sagen pflegen, wie schlecht sie seien, was für Sünden sie begangen hätten, und jene fragen, ob sie selbst (die Hysterischen) nicht ganz und gar verworfene Geschöpfe seien. Wessen Gewissensbisse ihn wirklich zu Boden drücken, der kann nicht so reden. Es ist eine _Täuschung_, der besonders _Breuer_ und _Freud_ zum Opfer gefallen sind, wenn sie gerade die Hysteriker als eminent sittliche Menschen hinstellen. Denn diese haben nur ein ihnen ursprünglich Fremdes, die Moral, vollständiger von außen in sich übergehen lassen als die anderen. Diesem Kodex unterstehen sie nun sklavisch, sie prüfen nichts mehr selbsttätig, wägen im einzelnen nichts mehr ab. Das kann sehr leicht den Eindruck des sittenstrengsten Rigorismus hervorrufen, und ist doch so unsittlich als möglich, denn es ist das Höchste, was an _Heteronomie_ überhaupt geleistet werden kann. Dem sittlichen Ziele einer _sozialen_ Ethik, für welche die Lüge kaum ein Vergehen sein kann, wenn sie der Gesellschaft oder der Entwicklung der Gattung nützt, diesem idealen Menschen einer solchen _hetero_nomen Moral kommen die Hysterischen vielleicht näher als irgend ein anderes Wesen. _Das hysterische Frauenzimmer ist die Probiermamsell der Erfolgs- und der Sozialethik_: sowohl genetisch, denn die sittlichen Vorschriften sind ihr wirklich von außen gekommen; als auch praktisch, denn sie wird am leichtesten altruistisch zu handeln scheinen: für sie sind die Pflichten gegen andere nicht ein Sonderfall der Pflicht gegen sich selbst. Je getreuer die Hysterischen an die Wahrheit sich zu halten glauben, desto tiefer sitzt ihre Verlogenheit. Ihre völlige Unfähigkeit zur eigenen Wahrheit, zur Wahrheit über sich -- die Hysterischen denken nie über sich nach und wollen nur, daß der andere über sie nachdenke, sie wollen ihn _interessieren_ -- geht daraus hervor, daß die Hysterischen die besten Medien für alle Hypnose abgeben. Wer aber sich hypnotisieren läßt, der begeht die unsittlichste Handlung, die denkbar ist. Er begibt sich in die vollendetste Sklaverei: er verzichtet auf seinen Willen, auf sein Bewußtsein, über ihn gewinnt der andere Gewalt und erzeugt in ihm das Bewußtsein, das ihm hervorzubringen gutdünkt. So liefert die Hypnose den Beweis, wie alle _Möglichkeit_ der Wahrheit vom _Wollen_ der Wahrheit, d. h. aber vom Wollen seiner selbst, abhängt: wem in der Hypnose etwas aufgetragen wird, der führt es im Wachen aus, und ersinnt, um seine Gründe gefragt, auf der Stelle ein beliebiges Motiv dafür; ja, nicht nur vor anderen, auch vor sich selbst rechtfertigt er mit einer ganz aus der Luft gegriffenen Erklärung, weshalb er nun so handle. Man hat hier sozusagen eine experimentelle Bestätigung der Kantischen Ethik. Wäre der Hypnotisierte bloß ohne Erinnerung, so müßte er darüber erschrecken, daß er nicht _wisse_, warum er etwas tue. Aber er erfindet sich ohne weiteres ein neues Motiv, das mit dem wahren Grunde, aus dem er die Handlung ausführt, gar nichts zu tun hat. Er hat eben auf sein Wollen verzichtet, und damit keine Fähigkeit zur Wahrheit mehr. _Alle Frauen nun sind zu hypnotisieren und wollen gerne hypnotisiert werden_; am leichtesten, am stärksten die Hysterischen. Selbst das Gedächtnis für bestimmte Dinge aus ihrem Leben kann man -- denn das Ich, der Wille, _schafft_ das Gedächtnis -- bei Frauen durch die einfache Suggestion, daß sie von ihnen nichts mehr wüßten, auslöschen, vernichten. Jenes _Breuer_sche »Abreagieren« der psychischen Konflikte durch den hypnotisierten Kranken liefert den zwingenden Beweis, daß sein Schuldbewußtsein kein ursprüngliches war. Wer sich einmal aufrichtig schuldig gefühlt hat, ist von diesem Gefühle nie so völlig zu befreien, wie es die Hysterischen sind, unter dem bloßen Einfluß des fremden Wortes. Aber selbst diese Scheinzurechnung, welche die Frauen von hysterischer Konstitution an sich vollziehen, wird hinfällig im Augenblicke, wo die Natur, das sexuelle Begehren, sich durchzusetzen droht gegen die scheinbare Bändigung. Im hysterischen Paroxysmus geht nichts anderes im Weibe vor, als daß es sich, ohne es mehr sich selbst, wie früher, ganz zu glauben, fort und fort versichert: das will _ich_ ja gar nicht, das will _man_, das will jemand _Fremder_ _von mir_, aber _ich_ will es _nicht_. Jede Regung anderer wird nun zu jenem Ansinnen in Beziehung gebracht, das an sie, wie sie glaubt, von außen gestellt wurde, aber in Wahrheit ihrer eigenen Natur entstammt und deren tiefsten Wünschen vollauf entspricht; nur darum sind die Hysterischen im Anfall so leicht durch das Geringste aufzubringen. Es handelt sich da immer um die letzte verlogene Abwehr der in ungeheuerer Stärke frei werdenden Konstitution; die »~Attitudes passionnelles~« der Hysterischen sind nichts als diese demonstrative Abweisung des Sexualaktes, die darum so laut sein muß, weil sie eben doch unecht ist, und so viel lärmender als früher, weil nun die Gefahr größer ist.[65] Daß so oft sexuelle Erlebnisse aus der Zeit vor der Pubertät in der akuten Hysterie die größte Rolle spielen, ist danach leicht zu verstehen. Auf das Kind war der Einfluß der fremden moralischen Anschauungen verhältnismäßig leicht auszuüben, ohne einen erheblichen Widerstand in den noch fast gänzlich schlummernden sexuellen Wünschen überwinden zu müssen. Nun aber greift die bloß zurückgedrängte, nicht überwundene Natur das alte, schon damals von ihr, nur ohne die Kraft es bis zum wachen Bewußtsein emporzuheben und gegen dieses durchzusetzen, _positiv_ gewertete Erlebnis _auf_, und stellt es nun erst gänzlich verführerisch dar. Jetzt ist das wahre Bedürfnis nicht mehr so leicht vom wachen Bewußtsein fernzuhalten wie ehedem, und so ergibt sich die Krise. Daß der hysterische Anfall selbst so viele verschiedene Formen zeigen und sich fortwährend in ein neues Symptomenbild transmutieren kann, liegt vielleicht nur daran, daß der Ursprung des Leidens nicht _erkannt_, daß die Tatsache, ein sexuelles Begehren sei da, vom Individuum nicht _zugegeben_, nicht als von _ihm_ ausgegangen _ins Auge gefaßt_, sondern einem zweiten Ich zugerechnet wird. Dies aber ist auch der Grundfehler aller ärztlichen Beobachter der Hysterie, daß sie sich von den Hysterischen hierin immer ebenso haben belügen lassen, wie diese sich allerdings auch selber aufsitzen[66]: _nicht das abwehrende Ich, sondern das abgewehrte ist die eigene, wahre und ursprüngliche Natur der Hysterischen_, so eifrig diese auch sich selbst und anderen vormachen, daß es ein Fremdes sei. Wäre das abwehrende Ich wirklich ihr eigenes, so könnten sie der Regung, als einer ihnen fremden, _gegenübertreten_, sie _bewußt werten_ und klar entschieden _abweisen_, sie gedanklich _festlegen_ und _wieder erkennen_. So aber findet eine Maskierung statt, weil das abwehrende Ich nur geborgt ist, und darum der Mut fehlt, dem eigenen Wunsche ins Auge zu schauen, von dem man eben doch dumpf irgendwie fühlt, daß er der echtgeborene, der allein mächtige ist. Darum kann jenes Begehren auch nicht identisch bleiben, wo es an einem identischen Subjekte fehlt; und da es unterdrückt werden soll, springt es sozusagen über von einem Körperteil auf den anderen. Denn die Lüge ist vielgestaltig, sie nimmt immer neue Formen an. Man wird diesen Erklärungsversuch vielleicht mythologisch finden; aber wenigstens scheint sicher, daß es immer nur ein und dasselbe ist, was jetzt als Kontraktur, dann wieder plötzlich als Hemianästhesie, und nun gar als Lähmung erscheint. Dieses eine ist das, was die Hysterika nicht als zu sich gehörig anerkennen will, und unter dessen Gewalt sie _eben damit_ gerät: denn würde sie es sich zurechnen und es beurteilen, wie sie alle geringfügigsten Dinge sonst sich zugerechnet hat, so würde sie zugleich irgendwie außerhalb und oberhalb ihres Erlebnisses stehen. Gerade das Rasen und Wüten der Hysterikerinnen gegen etwas, _das sie als fremdes Wollen empfinden, obwohl es ihr eigenstes ist_, zeigt, daß sie tatsächlich ganz so sklavisch unter der Herrschaft der Sexualität stehen wie die nichthysterischen Frauen, genau so von ihrem Schicksal besessen sind und nichts haben, was über demselben steht: kein zeitloses, intelligibles, _freies_ Ich. Man wird nun mit Recht noch die Frage aufwerfen, warum nicht alle Frauen hysterisch, da doch alle verlogen seien. Es ist dies keine andere Frage als die nach der hysterischen Konstitution. Wenn die hier entwickelte Theorie das Richtige getroffen hat, so muß sie auch hierauf eine Antwort geben können, die mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Die hysterische Frau ist nach ihr diejenige, welche in passiver Gefügigkeit den Komplex der männlichen und gesellschaftlichen Wertungen einfach acceptiert hat, statt ihrer sinnlichen Natur möglichsten Lauf lassen zu wollen. _Die nicht folgsame Frau wird also das Gegenteil der Hysterika sein._ Ich will hiebei nicht lange verweilen, weil es eigentlich in die spezielle weibliche Charakterologie gehört. Das hysterische Weib wird hysterisch als eine Folge seiner Knechtsamkeit, es ist identisch mit dem geistigen Typus der _Magd_; ihr Gegenteil, die absolut unhysterische Frau (welche, als eine Idee, es in der Erfahrung nicht gibt), wäre die absolute _Megäre_. Denn auch dies ist ein Einteilungsgrund aller Frauen. Die Magd dient, die Megäre herrscht.[67] Zum Dienstmädchen kann und muß man geboren sein, und eignet sich sehr wohl manche Frau, die reich genug ist, um nie den Stand derselben ergreifen zu müssen. Und Magd und Megäre stehen immer in einem gewissen Ergänzungsverhältnis.[68] Die Folgerung aus der Theorie wird nun von der Erfahrung vollauf bestätigt. Die Xanthippe ist jene Frau, welche in der Tat am wenigsten Ähnlichkeit mit der Hysterika hat. Sie läßt ihre Wut (die wohl auch nur auf mangelhafte sexuelle Befriedigung zurückgeht) an anderen, die hysterische Sklavin an sich selbst aus. Die Megäre »haßt« die anderen, die Magd »haßt« »sich«. Alles, was die Megäre drückt, bekommt der Nebenmensch zu spüren; sie weint ebenso leicht wie die Magd, aber sie weint stets andere an. Die Sklavin schluchzt auch allein, ohne _freilich je einsam zu sein_ -- Einsamkeit wäre ja mit Sittlichkeit identisch und Bedingung jeder wahren Zweisamkeit und Mehrsamkeit; die Megäre verträgt das Alleinsein nicht, sie muß ihren Zorn an jemand außer sich auslassen, indes die Hysterische sich selbst verfolgt. Die Megäre lügt offen und frech, aber ohne es zu wissen, weil sie von Natur _immer_ im Rechte zu sein glaubt; so beschimpft sie noch den anderen, der ihr widerspricht. Die Magd hält sich gehorsam an die ihr von Natur ebenso fremde Wahrheitsforderung; die _Verlogenheit_ dieser fügsamen Ergebung kommt in ihrer Hysterie zum Vorschein: dann nämlich, wenn der Konflikt mit ihren eigenen sexuellen Wünschen da ist. Um dieser Rezeption und allgemeinen Empfänglichkeit willen mußte die Hysterie und das hysterische Frauenzimmer so eingehend besprochen werden: dieser Typus, nicht die Megäre, ist es, der mir zuletzt noch hätte entgegengehalten werden können.[69] Verlogenheit, organische Verlogenheit, charakterisiert aber beide und somit sämtliche Frauen. Es ist ganz unrichtig, wenn man sagt, daß die Weiber _lügen_. Das würde voraussetzen, daß sie auch manchesmal die Wahrheit sagen. Als ob _Aufrichtigkeit_, pro foro interno et externo, nicht gerade die Tugend wäre, deren die Frauen _absolut unfähig_ sind, die ihnen _völlig unmöglich_ ist! Es handelt sich darum, daß man einsehe, _wie eine Frau in ihrem ganzen Leben $nie$ wahr $ist$, selbst, ja $gerade$ dann nicht, wenn sie, wie die Hysterische, sich sklavisch an die für sie $hetero$nome Wahrheitsforderung hält und so $äußerlich$ doch die Wahrheit $sagt$_. Ein Weib kann beliebig lachen, weinen, erröten, ja es kann schlecht aussehen auf Verlangen: die Megäre, wann sie, irgend einem Zweck zuliebe, es will; die Magd, wann der äußere Zwang es verlangt, der sie, ohne daß sie es weiß, beherrscht. Zu solcher Verlogenheit fehlen dem Manne offenbar auch die organischen, physiologischen Bedingungen. _Ist so die $Wahrheitsliebe$ dieses Frauentypus $nur als die ihm eigentümliche Form der Verlogenheit$ entlarvt_, so ist von den anderen Eigenschaften, die an ihm gerühmt werden, von Anfang an zu erwarten, daß es nicht besser mit ihnen werde bestellt sein. Seine Schamhaftigkeit, seine Selbstbeobachtung, seine Religiosität werden rühmend hervorgehoben. Die weibliche Schamhaftigkeit ist aber nichts anderes als Prüderie, d. h. eine demonstrative Verleugnung und Abwehr der _eigenen_ Unkeuschheit. Wo irgend bei einem Weibe das wahrgenommen wird, was man als Schamhaftigkeit deutet, dort ist auch schon, im genau entsprechenden Maße, Hysterie vorhanden. Die ganz unhysterische, die gänzlich unbeeinflußbare Frau, d. i. die absolute Megäre, wird nicht erröten, auch wenn ihr der Mann etwas noch so Berechtigtes vorwirft; ein Anfang von Hysterie ist da, wenn das Weib unter dem unmittelbaren Eindruck des männlichen Tadels errötet; vollkommen hysterisch aber ist es erst, sobald es auch dann errötet, wenn es allein, und wenn kein fremder Mensch anwesend ist: denn dann erst ist es vom anderen, von der männlichen Wertung, _$vollständig$ imprägniert_. Frauen, die dem nahe kommen, was man sexuelle Anästhesie oder Frigidität genannt hat, sind, wie ich, in Übereinstimmung mit Paul _Solliers_ Befunden, hervorheben kann, stets Hysterikerinnen. Die sexuelle Anästhesie ist eben nur _eine_ von den vielen hysterischen, d. h. unwahren, verlogenen Anästhesien. Es ist ja, besonders durch die Experimente von Oskar _Vogt_, bekannt, daß solche Anästhesien keinen wirklichen Mangel der Empfindung bedeuten, sondern nur einen Zwang, der gewisse Empfindungen vom Bewußtsein fernhält und ausschließt. Wenn man den anästhetisch gemachten Arm einer Hypnotisierten beliebig oft sticht und dem Medium aufgegeben hat, jene Zahl zu nennen, die ihm gleichzeitig einfalle, so nennt es die Zahl der Stiche, die es in seinem (dem »somnambulen«) Zustande, offenbar nur unter der Kraft eines bestimmten Bannes, nicht perzipieren durfte. So ist auch die sexuelle Frigidität auf ein _Kommando_ entstanden: durch die zwingende Kraft der Imprägnation mit einer asexuellen, aus der Umgebung auf das empfängliche Weib übergegangenen Lebensanschauung; aber wie alle Anästhesie durch ein genügend starkes _Kommando_ auch wieder _aufzuheben_. Ebenso wie mit der eigenen körperlichen Unempfindlichkeit gegen den Geschlechtsakt verhält es sich mit dem Abscheu gegen Geschlechtlichkeit überhaupt. Ein solcher Abscheu, eine intensive Abneigung gegen alles Sexuelle, wird von manchen Frauen wirklich empfunden, und man könnte glauben, hier liege eine Instanz gegen die Allgemeingültigkeit der Kuppelei und gegen ihre Gleichsetzung mit der Weiblichkeit vor. Frauen, welche es krank machen kann, wenn sie ein Paar im Geschlechtsverkehre überraschen, sind aber stets Hysterikerinnen. So tritt hier vielmehr überzeugend die Richtigkeit der Theorie hervor, welche die Kuppelei als das Wesen der Frau hinstellte und die eigene Sexualität derselben nur als einen besonderen Fall unterordnete: eine Frau kann nicht nur hysterisch werden durch ein sexuelles Attentat, das auf sie ausgeübt wurde, und gegen das sie _äußerlich_ sich wehrte, ohne es _innerlich_ zu verneinen, sondern ebenso durch den Anblick irgend eines koitierenden Paares, indem sie dessen Koitus noch negativ zu werten glaubt, wo schon die eingeborene Bejahung desselben mächtig durchbricht durch alles Angenommene und Künstliche, durch die ganze ihr aufgedrückte und einverleibte Denkweise, in deren Sinn sie sonst empfindet. Denn sie fühlt auch mit jeder sexuellen Vereinigung anderer nur sich selbst koitiert. Ein Ähnliches gilt von dem bereits kritisierten hysterischen »Schuldbewußtsein«. Die absolute Megäre fühlt sich überhaupt _nie_ schuldig, die leicht hysterische Frau nur in Gegenwart des Mannes, die ganz hysterische vor jenem Mann, der definitiv in sie übergegangen ist. Man komme nicht mit den Kasteiungen der Betschwestern und Büßerinnen, um das Schuldgefühl der Frauen zu beweisen. Gerade die extremen Formen, welche hier die Selbstzüchtigung annimmt, machen sie verdächtig. Die Kasteiung beweist wohl in den meisten Fällen nur, daß ein Mensch nicht _über_ seiner Tat steht, daß er sie nicht schon durch das Schuldbewußtsein auf sich genommen hat; sie scheint viel eher ein Versuch zu sein, die Reue, die man doch nicht ganz innerlich empfindet, von außen sich aufzudrängen und ihr so die Stärke zu geben, die sie an sich nicht hat. Damit hängt auch der vom einen dem anderen immer wieder nachgesprochene Irrtum zusammen, daß die Frauen religiös veranlagt seien. Die weibliche Mystik ist, wo sie über simplen Aberglauben hinausgeht, _entweder_ eine sanft verhüllte Sexualität, wie bei den zahlreichen Spiritistinnen und Theosophinnen -- diese Identifikation des Geliebten mit der Gottheit ist von Dichtern mehrfach behandelt worden, besonders von _Maupassant_, in dessen bestem Romane _Christus_ für die Frau des Bankiers _Walter_ die Züge des »_Bel-Ami_« annimmt, und nach ihm von Gerhart _Hauptmann_ in »_Hanneles Himmelfahrt_« --, _oder_ es ist der andere Fall verwirklicht, daß auch die Religiosität vom Manne passiv und unbewußt übernommen und um so krampfhafter festzuhalten gesucht wird, je stärker ihr die eigenen natürlichen Bedürfnisse widersprechen. Bald wird der Geliebte zum Heiland; bald (wie man weiß, bei so vielen Nonnen) der Heiland zum Geliebten. Alle großen Visionärinnen, welche die Geschichte nennt (vgl. Teil I, S. 85), sind hysterisch gewesen; die berühmteste unter ihnen, die _heilige Therese_, hat man nicht mit Unrecht »die Schutzheilige der Hysterie« genannt. Wäre übrigens die Religiosität der Frauen echt, und käme sie bei ihnen aus einem Inneren, so hätten sie religiös schöpferisch sein können, ja, irgendwie sein müssen: sie sind es aber nie, nicht im mindesten, gewesen. Man wird verstehen, was ich meine, wenn ich den eigentlichen Unterschied zwischen männlichem und weiblichem Credo so ausspreche: die Religiosität des Mannes ist höchster Glaube _an sich selbst_, die Religiosität des Weibes höchster Glaube _an den anderen_. So bleibt nur noch die Selbstbeobachtung, die bei den Hysterikern oft als außerordentlich entwickelt bezeichnet wird. Daß es aber bloß der Mann ist, der in das Weib so weit eingedrungen ist, daß er selbst _in_ ihr noch beobachtet, wird aus der Art und Weise klar, wie _Vogt_, in weiterer und exakterer Anwendung eines zuerst von _Freud_ eingeschlagenen Verfahrens, die Selbstbeobachtung _in der Hypnose_ erzwang. Der fremde männliche Wille _schafft_ durch seinen Einfluß _in der hypnotisierten Frau einen Selbstbeobachter_, vermöge der Erzeugung eines Zustandes »systematisch eingeengten Wachseins«. Aber auch außerhalb der Suggestion, im gesunden Leben der Hysterischen, ist es nur der Mann, mit dem sie imprägniert sind, welcher in ihnen beobachtet. So ist auch alle Menschenkenntnis der Frauen durchaus Imprägnation mit dem richtig beurteilten Manne. Im Paroxysmus schwindet jene künstliche Selbstbeobachtung vor der zum Durchbruch drängenden Natur dahin. Ganz so verhält es sich auch mit dem _Hellsehen_ hysterischer Medien, das ohne Zweifel vorkommt und mit dem »okkulten« Spiritismus ebensowenig zu tun hat wie die hypnotischen Phänomene. Wie die Patientinnen _Vogts_ unter dem energischen Willen des Suggestors sich selbst vorzüglich zu beobachten vermochten, so wird die Hellseherin unter dem Einflusse der drohenden Stimme eines Mannes, der sie zu allem zu zwingen vermag, auch zu telepathischen Leistungen fähig und liest aus weiter Ferne gehorsam mit verbundenen Augen die Schriftstücke in den Händen fremder Menschen, was ich in München unzweideutig wahrzunehmen selbst Gelegenheit hatte. Denn im Weibe stehen nicht, wie im Manne, dem Willen zum Guten und Wahren sehr starke Leidenschaften unausrottbar _entgegen_. Der männliche Wille hat über das Weib mehr Gewalt als über den Mann: er kann im Weibe etwas realisieren, dem im eigenen Hause zu viel Dinge sich _widersetzen_. In _ihm_ wirkt ein Antimoralisches und ein Antilogisches _wider_ die Klärung, er will nie ganz allein die Erkenntnis, sondern immer noch anderes. _Über die Frau aber kann der männliche Wille so vollständig alle Gewalt gewinnen, daß er sie sogar hellsichtig macht_, und alle Schranken der Sinnlichkeit für _sie_ fortfallen. Darum ist das Weib eher telepathisch als der Mann, darum leistet es als _Seherin_ mehr als dieser, freilich nur, wenn es Medium, d. h. zum Objekt geworden ist, an welchem der _männliche_ Wille am leichtesten und vollkommensten sich verwirklicht. Auch die _Wala_ kann _wissend_ werden: aber erst, wenn sie von _Wotan_ _bezwungen_ ist. Sie kommt ihm hierin entgegen; denn ihre einzige Leidenschaft ist es eben, daß sie gezwungen werden will. Das Thema der Hysterie ist hiemit, soweit es für den Zweck dieser Untersuchung berührt werden mußte, auch erschöpft. _Jene Frauen, die als Beweise der weiblichen Sittlichkeit angeführt werden, sind stets Hysterikerinnen_, und gerade in der Befolgung der Sittlichkeit, in dem Gebaren nach dem Moralgesetze, als ob dieses Gesetz das Gesetz ihrer Persönlichkeit wäre, und nicht vielmehr, ohne sie zu fragen, von ihnen kurzerhand _Besitz_ ergriffen hätte, liegt die Verlogenheit und Unwahrheit dieser Sittlichkeit. Die hysterische Konstitution ist eine lächerliche Mimicry der männlichen Seele, eine Parodie auf die Willensfreiheit, die das Weib vor sich posiert in dem nämlichen Augenblicke, wo es dem männlichen Einfluß am stärksten unterliegt. Nichtsdestoweniger sind die höchststehenden Frauen eben Hysterikerinnen, wenn auch die Zurückdrängung der triebhaften Sexualität, die sie über die anderen Frauen erhebt, keine solche ist, die aus _eigener_ Kraft und in mutigem Kampfe mit einem zum _Stehen_ gezwungenen Gegner erfolgt wäre. An den hysterischen Frauen aber _rächt_ sich wenigstens die eigene Verlogenheit, und insoferne kann man sie als ein wenn auch noch so _verfälschtes Surrogat_ jener _Tragik_ gelten lassen, zu der es sonst dem Weibe an jeglicher Fähigkeit gebricht. Das Weib ist _unfrei_: es wird schließlich immer bezwungen durch das Bedürfnis, vom Manne, in eigener Person wie in der aller anderen, _vergewaltigt_ zu werden; es steht unter dem Banne des Phallus und verfällt unrettbar seinem Verhängnis, auch wenn es nicht selbst zur völligen Geschlechtsgemeinschaft gelangt. Das höchste, wozu ein Weib es bringen mag, ist ein dumpfes Gefühl dieser Unfreiheit, ein düsteres Ahnen eines Verhängnisses _über_ sich -- es kann dies offenbar nur der letzte Schimmer des _freien_ intelligiblen Subjektes sein, der kümmerliche Rest von angeborener Männlichkeit, der ihr, _durch den Kontrast_, eine, wenn auch noch so schwache, _Empfindung_ der _Notwendigkeit_ gestattet: es gibt kein absolutes Weib. Aber ein klares _Bewußtsein_ ihres Schicksales und des Zwanges, unter dem sie steht, ist der Frau _unmöglich_: _nur der Freie $erkennt$ ein Fatum_, weil er nicht in die Notwendigkeit _einbegriffen_ ist, sondern, wenigstens mit einem Teile seines Selbst, einem Zuschauer und einem Kämpfer, außerhalb seines Schicksals und über diesem steht. Die Frau hält sich gerade darum meist für _un_gebunden, weil sie _ganz_ gebunden, und leidet nicht an der Leidenschaft, weil sie selbst nichts _ist_ als Leidenschaft. _Nur der Mann_ konnte von der »dira necessitas« in sich sprechen, nur er die Konzeption einer Moira und einer Nemesis fassen, nur er Parzen und Nornen schaffen: weil er nicht nur empirisches, _bedingtes_, sondern auch intelligibles, _freies_ Subjekt ist. Aber, wie schon gesagt: selbst wenn eine Frau ihre eigene Determiniertheit zu ahnen beginnt, ein klares _Bewußtsein_ derselben, eine Auffassung und ein Verständnis ist dies nicht zu nennen; denn dazu wäre der _Wille_ zu einem Selbst erfordert. Vielmehr bleibt es bei einem schweren dunklen Gefühl, das zu einem verzweifelten Aufbäumen führt, aber nicht zu einem entschlossenen, in sich die Möglichkeit des Sieges bergenden Kampfe. Ihre Sexualität, die sie stets knechten wird, zu überwinden, sind die Frauen unvermögend. Die Hysterie war eine solche ohnmächtige Abwehrbewegung gegen die Geschlechtlichkeit. Wäre der Kampf gegen die eigene Begier redlich und echt, wäre deren Niederlage _aufrichtig gewollt_, so wäre sie ihr zu bereiten dem Weibe auch _möglich_. Die Hysterie aber ist selbst das, was von den Hysterikerinnen angestrebt wird; sie _suchen_ nicht wirklich zu _genesen_. _Die Verlogenheit dieser Demonstration gegen die Sklaverei bedingt ihre Hoffnungslosigkeit._ Die vornehmsten Exemplare des Geschlechtes mögen fühlen, daß Knechtschaft ihnen nur eben darum ein Muß ist, weil sie sie wünschen -- man denke an _Hebbels_ _Judith_ und _Wagners_ _Kundry_ -- aber auch dies gibt ihnen keine Kraft, sich in Wahrheit gegen den Zwang zur Wehre zu setzen: im letzten Augenblicke küssen sie dennoch den Mann, der sie notzüchtigt, und suchen den zu ihrem Herrn zu machen, der sie zu vergewaltigen zögert. _Das Weib steht wie unter einem Fluche._ Es kann ihn für Augenblicke pressend auf sich lasten fühlen, aber es entrinnt ihm _nie_, weil ihm die Wucht zu süß dünkt. Sein Schreien und Toben ist im Grunde _unecht_. Es will seinem Fluche gerade dann am süchtigsten erliegen, wenn es ihn am entsetztesten zu meiden sich geberdet. * * * * * Von der langen Reihe jener früheren Aufstellungen, welche den Mangel des Weibes an irgend welchem angeborenen, unveräußerlichen Verhältnis zu den _Werten_ behaupteten, ist keine einzige zurückzuziehen oder auch nur einzuschränken gewesen. Selbst durch all das, was den Menschen insgemein weibliche Liebe, weibliche Frömmigkeit, weibliche Scham und weibliche Tugend heißt, sind sie nicht umgestoßen worden; sie haben sich vor dem stärksten Ansturm, vor dem Heere der hysterischen Imitationen aller männlichen Vorzüge, behaupten können. Nicht allein durch die Kraft des, mit dem Weibe selbst der Fernzeugung fähigen männlichen Spermas -- auf welches die unglaubliche geistige Veränderung aller Frauen in der Ehe sicherlich zunächst zurückgeht -- sondern auch vom männlichen _Bewußtsein_, und sogar vom _sozialen Geiste_ wird das Weib, jenes empfängliche Weib, das hier allein in Betracht kommt, _von frühester Jugend auf_ erfüllt, imprägniert und umgebildet. So erklärt es sich, daß alle jene Eigenschaften des männlichen Geschlechtes, die dem weiblichen an sich nicht zukommen, nichtsdestoweniger von diesem in so sklavischer Nachahmung zur Erscheinung gebracht werden können; wonach die vielen Irrtümer über die höhere Sittlichkeit des Weibes leichter begreiflich werden. Aber noch ist diese erstaunliche Rezeptivität der Frau ein isoliertes Faktum der Erfahrung und von der Darstellung nicht in jenen Zusammenhang mit den übrigen positiven und negativen Eigenschaften des Weibes gebracht, welchen das theoretische Bedürfnis wünschenswert erscheinen läßt. Was hat die Bildsamkeit des Weibes mit seiner Kuppelei, was seine Sexualität mit seiner Verlogenheit zu tun? _Warum ist all dies gerade in dieser Vereinigung $im Weibe$ beisammen?_ Und noch ist erst zu begründen, _woher_ es komme, daß die Frau alles in sich aufnehmen kann. Wie ist jene Verlogenheit möglich, die das Weib selber wähnen läßt, das zu glauben, was es nur von anderen vernommen, das zu haben, was es nur von ihnen bekommen, das zu sein, was es nur durch sie geworden ist? Um hierauf eine Antwort zu geben, muß nochmals, zum letzten Male, vom geraden Wege abgebogen werden. Man erinnert sich vielleicht noch, wie das _tierische Wiedererkennen_, das psychische Äquivalent der allgemein-organischen Übungsfähigkeit, vom _menschlichen Gedächtnis_ als ein gänzlich Verschiedenes und doch Ähnliches abgetrennt wurde: indem beide eine gleichsam ewige Nachwirkung des zeitlich begrenzten einmaligen Eindruckes bedeuten, das Gedächtnis aber, zum Unterschiede vom unmittelbaren passiven Wiedererkennen, sein Wesen in der aktiven Reproduktion des Vergangenen findet.[70] Später wurde bloße Individuation als die Eigenschaft alles Organischen wohl unterschieden von Individualität, welche nur der Mensch besitzt.[71] Und schließlich machte sich die Notwendigkeit einer genauen Distinktion zwischen Geschlechtstrieb und Liebe fühlbar, von denen ebenfalls nur der erste den nichtmenschlichen Lebewesen zugesprochen werden konnte.[72] Dennoch waren beide verwandt, in ihren Gemeinheiten wie in ihren Erhabenheiten (als Bestrebungen zur eigenen Verewigung). Auch der Wille zum Wert wurde öfter als charakteristisch für den Menschen hingestellt, indes die Tiere nur ein Streben nach Lust kennen und der Wertbegriff ihnen fremd ist.[73] Zwischen _Lust_ und _Wert besteht_ eine _Analogie, und doch sind beide grundverschieden_: die Lust _wird_ begehrt, der Wert _soll_ begehrt werden; beide werden noch immer ganz widerrechtlich verwechselt, und so in Psychologie und Ethik die größte Konfusion dauernd festgehalten. Aber dieses Durcheinanderfließen hat nicht nur zwischen dem Wert- und dem Lustbegriff stattgefunden; es ist den Unterscheidungen zwischen Persönlichkeit und Person, zwischen Wiedererkennen und Gedächtnis, zwischen Geschlechtstrieb und Liebe nicht besser ergangen: alle diese Gegensätze werden fortwährend zusammengeworfen, und was noch bezeichnender ist, fast stets von denselben Menschen, mit denselben theoretischen Anschauungen und wie in einer gewissen Absichtlichkeit, um den Unterschied zwischen Mensch und Tier zu verwischen. Auch weitere, bisher kaum berührte Distinktionen werden hier meist vernachlässigt. Tierisch ist die _Enge des Bewußtseins_, rein menschlich ist die _aktive Aufmerksamkeit_: beide haben, das sieht jeder klar, ein Gemeinsames, und doch auch ein Verschiedenes. Nicht anders steht es mit der so vielen geläufigen Zusammenwerfung von _Trieb_ und _Wille_. Der Trieb ist allen Lebewesen gemeinschaftlich, im Menschen kommt noch der Wille hinzu, der frei ist und kein psychologisches Faktum bildet, weil er allem speziellen psychologischen Erleben zu Grunde liegt. Daß Trieb und Wille fast immer als identisch betrachtet werden, hieran trägt übrigens nicht bloß der Einfluß _Darwins_ die Schuld; sondern es kommt von ihr fast ebensoviel auf Rechnung des unklaren, einerseits ganz allgemein _natur_philosophischen, anderseits eminent _ethischen_ Willensbegriffes von Arthur _Schopenhauer_. Ich stelle zusammen: _$Auch$_ _$Nur$_ tierisch, beziehungsweise organisch dem Menschen, respektive überhaupt dem menschlichen _Manne_ sind: eigen: Individuation Individualität Wiedererkennen Gedächtnis Lust Wert Geschlechtstrieb Liebe Enge des Bewußtseins Aufmerksamkeit Trieb Wille Man sieht, wie sich über _jede_ Eigenschaft _alles_ Lebendigen im _Menschen_ noch eine _andere_, in gewisser Beziehung _verwandte und doch höhere_ legt. Die uralte tendenziöse Identifikation der beiden Reihen und, auf der anderen Seite, das Bedürfnis, sie immer wieder auseinanderzuhalten, weisen auf ein Gemeinsames hin, das die Glieder jeder Reihe miteinander verbindet und scheidet von allen Gliedern der zweiten. Es nimmt sich zunächst aus, als ob hier im Menschen ein _Überbau_ von höheren Eigenschaften über korrelative niedere Erscheinungen aufgeführt wäre. Man könnte an eine Lehre des _indischen Geheimbuddhismus_ sich erinnert fühlen, an seine Theorie von der _»Menschheitswelle«_. Es ist nämlich gleichsam, als wäre jeder bloß tierischen Eigenschaft im Menschen eine verwandte und doch einer höheren Sphäre angehörige Qualität _superponiert_, wie eine Schwingung einer anderen sich addiert: jene niederen Eigenschaften fehlen dem Menschen keineswegs, allein es ist zu ihnen in ihm etwas hinzugekommen. Was ist dieses neu Dazugetretene? Worin unterscheidet es sich vom anderen und worin gleicht es ihm? Denn die Tafel zeigt unverkennbar, daß jedes Glied der linken Reihe mit jedem, auf gleicher Höhe stehenden, Gliede der rechten eine Ähnlichkeit hat, und doch wieder anderseits _alle_ Glieder _jeder_ Reihe eng zueinander gehören. Woher diese merkwürdige Übereinstimmung bei gleichzeitiger ganz abgrundtiefer Verschiedenheit? Die linksstehenden Dinge sind fundamentale Eigenschaften alles animalischen respektive pflanzlichen _Lebens_. Alles solche Leben ist Leben von Individuen, nicht von ungegliederten Massen, es äußert sich als Trieb, um Bedürfnisse zu befriedigen, insonderheit als Sexualtrieb, um sich fortzupflanzen. Individualität, Gedächtnis, Wille, Liebe können somit als Eigenschaften eines _zweiten_ Lebens gelten, das mit dem organischen Leben eine gewisse Verwandtschaft haben und doch von ihm toto coelo verschieden sein wird. _Es ist keine andere als die Idee des ewigen, höheren, $neuen$ Lebens der Religionen und speziell des Christentums, deren tiefe Berechtigung uns hier entgegentritt._ Neben dem organischen hat der Mensch noch teil an einem anderen Leben, der ζωή αιώνιος des neuen Bundes. Wie jenes Leben von irdischer Speise sich nährt, so bedarf dieses der geistigen Atzung (Symbol des _Abendmahles_). Wie jenes eine Geburt und einen Tod, so kennt auch dieses eine Begründung -- die _sittliche Wiedergeburt_ des Menschen, die »_Regeneration_« -- und einen Untergang: den _endgültigen_ Verfall in Irrsinn oder Verbrechen. Wie jenes bestimmt wird durch kausale Naturgesetze von außen, so bindet sich dieses durch normierende Imperative von innen. Jenes ist von begrenzter Art _zweckmäßig_; dieses, in unendlicher unbegrenzter Herrlichkeit, ist _vollkommen_.[74] Die Eigenschaften, welche die linke Reihe aufzählt, sind allem niedrigen Leben gemeinsam; die Merkmale aus der rechten Kolumne sind die korrespondierenden Zeichen des ewigen Lebens, Künder eines höheren Seins, an welchem der Mensch, und nur er allein, noch überdies Anteil hat. Die ewige Verwechslung und die stets erneute Auseinanderhaltung beider Reihen, des höheren und des niederen Lebens, bildet das Hauptthema aller Historie des menschlichen Geistes: _dies_ ist _das Motiv der Weltgeschichte_. Man mag in diesem zweiten Leben etwas erblicken, das sich im Menschen zu den, früher vorhandenen, anderen Eigenschaften hinzuentwickelt habe; hier soll über diese Frage nicht entschieden werden. Doch wird wohl eine tiefere Auffassung jenes sinnliche und sinnenfällige, hinfällige Leben nicht als den Erzeuger des höheren, geistigen, ewigen, sondern umgekehrt, im Sinne des vorigen Kapitels, das erstere als eine Projektion des letzteren auf die Sinnlichkeit, als seine Abbildung im Reiche der Notwendigkeit, als sein _Heruntersteigen_, seine _Erniedrigung_ zu diesem, als seinen _Sündenfall_ ansehen müssen. Denn nur der _letzte Abglanz_ der höheren Idee von einem ewigen Leben ist es, der auf die Fliege fällt, die mich belästigt, und mich hindern kann, sie zu töten. _Das absolute Weib jedoch_, dem Individualität und Wille mangeln, das keinen Teil hat am Werte und an der Liebe, ist, so können wir jetzt sagen, _von jenem höheren, transcendenten, metaphysischen Sein ausgeschlossen_. Die intelligible hyperempirische Existenz des _Mannes_ ist erhaben über Stoff, Raum und Zeit; in _ihm_ ist Sterbliches genug, aber auch Unsterbliches. Und er hat die Möglichkeit, zwischen beiden zu wählen; zwischen jenem Leben, das mit dem irdischen Tode vergeht, und jenem, für welches dieser erst eine Herstellung in gänzlicher Reine bedeutet. Nach diesem vollkommen zeitlosen Sein, nach dem absoluten Werte, geht aller tiefste Wille im Manne: er ist eins mit dem Unsterblichkeitsbedürfnis. Und daß die Frau kein Verlangen nach persönlicher Fortdauer hat, wird so endlich _ganz_ klar: in ihr ist nichts von jenem ewigen Leben, das der Mann durchsetzen will und durchsetzen soll gegen sein ärmliches Abbild in der Sinnlichkeit. Irgend eine Beziehung zur Idee des höchsten Wertes, zur Idee des Absoluten, zur Idee jener _völligen Freiheit_, die er noch nicht besitzt, weil er immer _auch determiniert_ ist, die er aber erlangen kann, weil der Geist Gewalt hat über die Natur: eine solche Beziehung zur Idee überhaupt, oder zur Gottheit, hat jeder Mann: indem zwar durch sein Leben auf Erden eine Trennung und Loslösung vom Absoluten erfolgt ist, aber die Seele sich aus dieser Verunreinigung, als der _Erbsünde_, wieder hinaussehnt. Wie die Liebe seiner Eltern keine reine zur Idee war, sondern mehr oder weniger eine sinnliche Verkörperung suchte, so will auch der Sohn, der eben das ist, worauf diese Liebe hinauslief, so lang er lebt, nicht bloß das ewige, sondern auch das zeitliche Leben: wir erschrecken vor dem Gedanken des Todes, wehren uns gegen ihn, klammern uns an das irdische Dasein und beweisen dadurch, daß wir geboren zu werden _wünschten_, als wir geboren wurden, indem wir _noch immer_ in diese Welt geboren zu werden verlangen. Ein Mensch, der vor dem irdischen Tode gar keine Furcht mehr hätte, würde in eben diesem Augenblicke sterben; denn er hätte nur mehr den reinen Willen zum ewigen Leben, und dieses soll und kann der Mensch selbständig in sich verwirklichen: es _schafft sich_, wie _alles_ Leben selbst sich schafft. Weil aber jeder Mann in einem Verhältnis zur Idee des höchsten Wertes steht, ohne dieser Idee ganz teilhaft zu sein, darum gibt es keinen Mann, der _glücklich_ wäre. _Glücklich sind nur die Frauen._ Kein Mann fühlt sich glücklich, denn ein jeder hat eine Beziehung zur Freiheit, und ist doch auf Erden immer noch irgendwie unfrei. Glücklich kann sich nur ein gänzlich passives Wesen fühlen, wie das echte Weib, oder ein gänzlich aktives, wie die Gottheit. Glück wäre das Gefühl der Vollkommenheit, dieses Gefühl kann ein Mann nie haben; wohl aber gibt es Frauen, die sich vollkommen dünken. Der Mann hat immer Probleme hinter sich und Aufgaben vor sich: alle Probleme wurzeln in der Vergangenheit; das Land der Aufgaben ist die Zukunft. Für das Weib ist denn auch die Zeit gar nicht _gerichtet_, sie hat ihr keinen _Sinn_: es gibt keine Frau, die sich die Frage nach dem _Zwecke_ ihres Lebens stellte; _doch die Einsinnigkeit der Zeit ist nur der Ausdruck dafür, daß dieses Leben einen Sinn gewinnen soll und kann_. _Glück_ für den Mann: das könnte nur ganze, reine _Aktivität_ sein, völlige Freiheit, nie ein geringer, aber auch nicht der höchste Grad von Unfreiheit: denn seine Schuld häuft sich, je weiter er von der Idee der Freiheit sich entfernt. Das irdische Leben _ist_ ihm ein _Leiden_ und _muß_ es sein, schon weil in der Empfindung der Mensch eben doch _passiv_ ist; weil ein Affiziertwerden stattfindet, weil es Materie und nicht nur Formung der Erfahrung gibt. Es ist kein Mensch, welcher der Wahrnehmung nicht bedürfte, selbst der geniale Mensch wäre nichts ohne sie, auch wenn er, mächtiger und schneller als alle anderen, alsbald mit dem ganzen Gehalte seines Ich sie erfüllt und durchdringt, und nicht einer vollständigen Induktion bedarf, um die Idee eines Dinges zu erkennen. Die _Rezeptivität_ ist durch keinen _Fichte_schen Gewaltstreich aus der Welt zu schaffen: in der Sinnesempfindung ist der Mensch _passiv_, und seine Spontaneität, seine Freiheit gelangt erst im _Urteil_ zur Geltung und in jener Form eines universalen _Gedächtnisses_, das alle Erlebnisse dem _Willen_ des Individuums zu reproduzieren vermag. Annäherungen an die höchste Spontaneität, scheinbar schon Verwirklichungen gänzlicher Freiheit, sind dem Manne die Liebe und das geistige Schaffen. Darum gewähren am ehesten _sie_ ihm eine Ahnung dessen, _was_ das _Glück_ ist, und lassen ihn seine Nähe, auf Augenblicke freilich nur, zitternd über sich verspüren. Der Frau hingegen, die nie tief unglücklich sein kann, ist _darum_ Glück eigentlich ein leeres Wort: auch der Begriff des Glückes ist vom Manne, vom _unglücklichen_ Manne geschaffen worden, obwohl er in ihm nie eine adäquate Realisation findet. Die Frauen scheuen sich nie, ihr Unglück anderen zu zeigen: weil es eben kein echtes Unglück ist, weil hinter ihm keine Schuld steht, am wenigsten die Schuld des Erdenlebens als der Erbsünde. Der letzte, der absolute Beweis der völligen Nichtigkeit des weiblichen Lebens, seines völligen Mangels an höherem _Sein_, wird uns aus der Art, wie Frauen den Selbstmord vollziehen. Ihr Selbstmord erfolgt nämlich wohl immer mit dem Gedanken an die anderen Menschen, was diese sich denken, wie diese sie bedauern, wie sie sich grämen oder -- sich ärgern werden. Das ist nicht so zu verstehen, als ob die Frau nicht von ihrem, nach ihrer Ansicht _stets un_verdienten Unglück fest durchdrungen wäre im Augenblicke, da sie sich tötet: im Gegenteil, vor dem Selbstmord bemitleidet sie sich am allerheftigsten, nach jenem Schema des Mitleidens mit sich selbst, das nur ein Mitweinen mit den anderen über das Objekt des Mitgefühls des anderen, ein völliges Aufhören Subjekt zu sein, ist. Wie könnte auch eine Frau ihr Unglück _als zu sich gehörig_ ansehen, da sie doch unfähig ist, ein Schicksal zu haben? Das Fürchterliche und für die _Leerheit und Nullität der Frauen_ Entscheidende ist vielmehr dies, daß sie nicht einmal _vor dem Tode_ zum _Probleme_ des Lebens, _ihres_ Lebens gelangen: weil in ihnen nicht ein höheres Leben der Persönlichkeit realisiert werden wollte. _Die Frage also, welche im Eingang dieses zweiten Teiles als sein Hauptproblem formuliert wurde, die Frage nach der Bedeutung des Mann-Seins und Weib-Seins, kann jetzt beantwortet werden. Die Frauen haben keine Existenz und keine Essenz_, sie _$sind$_ nicht, sie sind _$nichts$_. _Man $ist$ Mann oder man $ist$ Weib, je nachdem ob man wer $ist$ oder nicht._ Das Weib hat keinen Teil an der ontologischen Realität; darum hat es kein Verhältnis zum Ding an sich, das für jede tiefere Auffassung identisch ist mit dem Absoluten, der Idee oder Gott. Der Mann, in seiner Aktualität, dem Genie, glaubt an das Ding an sich: ihm ist es entweder das Absolute als sein höchster Begriff von wesenhaftem Werte: dann ist er Philosoph. Oder es ist das wundergleiche Märchenland seiner Träume, das Reich der absoluten Schönheit: dann ist er Künstler. _Beides aber bedeutet dasselbe._ Das Weib hat kein Verhältnis zur Idee, es bejaht sie weder, noch verneint es sie: es ist weder moralisch noch antimoralisch, es hat, mathematisch gesprochen, _kein Vorzeichen_, es ist richtungslos, weder gut noch böse, weder Engel noch Teufel, es ist _amoralisch_ wie es _alogisch_ ist. Alles Sein aber ist moralisches und logisches Sein. _Die Frau also $ist$ nicht._ Das Weib ist verlogen. Das Tier hat zwar ebensowenig metaphysische Realität wie die echte Frau; aber es spricht nicht, und folglich lügt es nicht. Um die Wahrheit reden zu können, muß man etwas _sein_; denn die Wahrheit geht auf ein _Sein_, und zum Sein kann nur der ein _Verhältnis_ haben, der selbst etwas _ist_. Der Mann will die ganze Wahrheit das heißt, er will _nur $sein$_. Auch der Erkenntnistrieb ist zuletzt _identisch_ mit dem Unsterblichkeitsbedürfnis. Wer dagegen über einen Tatbestand etwas aussagt, ohne wirklich mutig ein Sein behaupten zu wollen; wem die äußere Urteilsform gegeben ist ohne die innere; wer, wie die Frau, nicht wahrhaft _ist_: der _muß_ notwendig _immer_ lügen. _Darum lügt die Frau stets, auch wenn sie objektiv die Wahrheit spricht._ Das Weib kuppelt. Die Lebenseinheiten des niederen Lebens sind Individuen, Organismen; die Lebenseinheiten des höheren Lebens sind Individualitäten, Monaden, »Meta-Organismen«, wie ein nicht wegzuwerfender Terminus bei _Hellenbach_ lautet. Jede Monade aber unterscheidet sich von jeder anderen, und ist von ihr so getrennt, wie zwei Dinge nur sein können. Die Monaden haben keine Fenster; statt dessen haben sie die ganze Welt _in_ sich. Der Mann als die Monade, als potentielle oder aktuelle, das ist geniale Individualität, will auch _überall sonst_ Unterschied und Trennung, Individuation, Auseinandertreten: der naive Monismus ist ausschließlich weiblich. Jede Monade bildet für sich eine abgeschlossene Einheit, ein Ganzes; aber auch das fremde Ich ist ihr eine solche vollendete Totalität, in die sie nicht übergreift. Der Mann $_hat_ Grenzen$, und _bejaht, will_ Grenzen; die Frau, die keine Einsamkeit kennt, ist auch nicht imstande, die Einsamkeit des Nebenmenschen als solche zu bemerken und aufzufassen, zu achten oder zu ehren, und sie unangetastet anzuerkennen: für sie gibt es, weil keine Einsamkeit, auch keine Mehrsamkeit, sondern nur ein ungeschiedenes Verschmolzensein. Weil in der Frau kein Ich ist, darum ist für sie auch kein Du, _darum gehören, nach ihrer Auffassung, Ich und Du $zusammen$ als $Paar$, als ununterschiedenes Eines: darum kann die Frau zusammenbringen, darum kann sie kuppeln_. Die Tendenz ihrer Liebe ist die Tendenz ihres Mitleidens: die Gemeinschaft, die Verschmolzenheit.[75] Für die Frau gibt es nirgends _Grenzen_ ihres Ich, die durchbrochen werden könnten, und die sie zu hüten hätte. Hierauf beruht zunächst der Hauptunterschied zwischen männlicher und weiblicher _Freundschaft_. Alle _männliche_ Freundschaft ist ein Versuch zusammenzugehen unter dem Zeichen einer und derselben _Idee_, welcher die Freunde, jeder für sich, gesondert und doch vereint, nachstreben; die _weibliche_ »Freundschaft« ist ein Zusammen_stecken_, und zwar, was besonders hervorzuheben ist, unter dem Gedanken der _Kuppelei_. Denn auf dieser beruht die einzig mögliche Art eines intimeren und nicht hinterhältigen Verkehres zwischen Frauen: soweit diese überhaupt nicht bloß des Klatsches oder materieller Interessen halber gerade weibliche Gesellschaft aufsuchen.[76] Wenn nämlich von zwei Mädchen oder Frauen die eine für sehr viel schöner gilt als die andere, dann findet die häßliche _eine gewisse sexuelle Befriedigung_ in der Bewunderung, welche der Schöneren gezollt wird. Bedingung jeder Freundschaft zwischen Frauen ist also zu oberst, daß ein Rivalisieren zwischen ihnen ausgeschlossen sei: es gibt keine Frau, die sich nicht körperlich mit jeder anderen Frau sofort vergliche, welche sie kennen lernt. Lediglich in jenen Fällen großer _Un_gleichheit und _aussichtsloser_ Konkurrenz kann die Häßliche für die Schönere schwärmen, weil diese für sie, ohne daß es beiden im geringsten bewußt würde, das nächste Mittel ist, _selbst sexuell befriedigt zu werden_: es ist nicht anders, sie fühlt sich gleichsam _$in$ jener_ koitiert.[77] Das völlig _unpersönliche_ Leben der Frauen, wie auch der überindividuelle Sinn ihrer Sexualität, die Kuppelei als der Grundzug ihres Wesens, leuchtet hieraus deutlich hervor. Sie verkuppeln sich _wie_ die anderen, sich _in_ den anderen. _Das Mindeste, was auch das häßlichste Weib verlangt, und woran es schon ein gewisses Genügen findet, ist, daß überhaupt irgend eine ihres Geschlechtes bewundert, begehrt werde._ Mit diesem völlig verschmolzenen Leben des Weibes hängt es zusammen, daß die Frauen _nie wirklich Eifersucht_ fühlen. So gemein Eifersucht und Rachedurst sind, es steckt in beiden ein Großes, dessen die Frauen, wie aller Größe, im Guten oder im Bösen, _un_fähig sind. In der Eifersucht, liegt ein verzweifelter Anspruch auf ein vorgebliches Recht, und der Rechtsbegriff ist den Frauen transcendent. Aber der hauptsächlichste Grund, daß die Frau auf einen einzelnen Mann nie ganz eifersüchtig sein kann, ist ein anderer. Wenn der Mann, auch einer, in den sie rasend verliebt wäre, im Zimmer neben dem ihren eine andere Frau umarmte und besäße, so würde sie der Gedanke hieran sexuell selbst so erregen, daß für die Eifersucht kein Platz bliebe. Dem Manne würde eine solche Scene, wenn er um sie wüßte, höchst widerlich und abstoßend sein, und ihm den Aufenthalt in der Nähe verekeln; das Weib bejaht innerlich beinahe fieberhaft den ganzen Hergang; oder es wird hysterisch, wenn es sich nicht eingestehen will, daß es zu tiefst auch diese Vereinigung nur _gewünscht_ hat. Ferner gewinnt über den Mann der Gedanke an den fremden Koitus nie völlig Gewalt, er steht außer und über einem solchen Erlebnis, das für ihn eigentlich gar keines ist; die Frau aber verfolgt den Prozeß kaum selbst_tätig_, sie ist in _fieberhafter Erregung_ und wie _festgebannt_ durch den Gedanken, was hart neben ihr sich vollzieht. Oft mag auch das Interesse des _Mannes_ an seinem Mitmenschen, der ihm ein Rätsel ist, bis auf dessen sexuelles Leben sich erstrecken; aber jene _Neugier_, welche den Nebenmenschen gewissermaßen zur Sexualität _zwingt_, ist nur den Weibern eigentümlich, von ihnen jedoch ganz allgemein betätigt, in gleicher Weise Frauen wie Männern gegenüber. Eine Frau interessieren an jedem Menschen zunächst und vor allem seine _Liebschaften_, und er ist ihr intellektuell nur so lange dunkel und reizvoll, als sie über diesen Punkt nicht im Klaren ist. Aus alledem geht nochmals klar hervor, daß Weiblichkeit und Kuppelei identisch sind: eine rein _immanente_ Betrachtung des Gegenstandes würde denn auch mit dieser Feststellung ihr Ende erreicht haben müssen. Meine Absicht ging aber weiter; und ich glaube nun bereits angedeutet zu haben, wie das Weib als Position, als Kupplerin, zusammenhängt mit dem Weibe als Negation, das eines höheren Lebens als Monade gänzlich entbehrt. Das Weib verwirklicht eine einzige Idee, die ihm selbst eben darum nie zum Bewußtsein kommen kann, jene Idee, welche der Idee der Seele am äußersten entgegengesetzt ist. Ob sie nun als Mutter nach dem Ehebett verlangt oder als Dirne das Bacchanal bevorzugt, ob sie zu zweien Familie begründen will oder nach den Massenverschlingungen des Venusberges hinstrebt, sie handelt stets _nach der Idee der Gemeinschaft_, jener Idee, welche die _Grenzen_ der Individuen, durch _Vermischung_, am weitesten aufhebt. So ermöglicht hier eines das andere: Emissärin des Koitus kann nur ein Wesen ohne Individualität, ohne Grenzen sein. Nicht ohne Grund ist in der Beweisführung so weit ausgeholt worden, wie es sicherlich noch nie in einer Behandlung dieses Gegenstandes, noch auch sonst je einer charakterologischen Arbeit geschehen ist. Das Thema ist darum so ergiebig, weil hier der Zusammenhang alles höheren Lebens auf der einen und alles niederen Lebens auf der anderen Seite sich offenbaren muß. Jede Psychologie und jede Philosophie findet hier einen Prüfstein, vorzüglicher als die meisten anderen, auf daß sie an ihm sich erprobe. Nur darum bleibt das Problem Mann-Weib in aller Charakterologie das interessanteste Kapitel, nur darum habe ich es zum Objekte einer so umfassenden, weit ausgreifenden Untersuchung gewählt. Man wird an dem Punkte, zu welchem die Darlegung nun gelangt ist, sicherlich offen fragen, was man bisher vielleicht nur als Bedenken bei sich erwogen hat: ob denn dieser Anschauung die Frauen überhaupt noch Menschen seien? Ob sie nach der Theorie des Verfassers nicht eigentlich unter die Tiere oder die Pflanzen gerechnet werden müßten? Denn sie entbehrten, nach seiner Auffassung, einer höheren als der sinnlichen Existenz nicht minder denn jene, sie hätten so wenig teil am ewigen Leben wie die übrigen Organismen, denen persönliche Fortdauer kein Bedürfnis und keine Möglichkeit ist. Eine metaphysische Realität sei beiden gleich wenig beschieden, sie _seien_ alle nicht, das Weib nicht, noch auch das Tier, noch die Pflanze -- alle nur Erscheinung, nirgends etwas vom Ding an sich. Der Mensch ist, nach der Ansicht, die sein Wesen am tiefsten erfaßt hat, ein Spiegel des Universums, er ist der Mikrokosmus; die Frau aber ist absolut ungenial, sie lebt nicht im tiefen Zusammenhange mit dem All. In _Ibsens_ »Klein Eyolf« spricht das Weib an einer schönen Stelle zum Manne: _Rita_: Wir sind doch schließlich nur Menschen. _Allmers_: Auch mit Himmel und Meer sind wir ein wenig verwandt, Rita. _Rita_: _Du vielleicht. Ich nicht._ Ganz bündig liegt hierin die Einsicht des Dichters, daß die Frau zur Idee der Unendlichkeit, zur Gottheit, kein Verhältnis hat: weil ihr die Seele fehlt. Zum _Brahman_ dringt man, nach den Indern, nur durch das _Âtman_ vor. Das Weib ist nicht Mikrokosmus, es ist nicht nach dem Ebenbilde der Gottheit entstanden. Ist es also noch Mensch? Oder ist es Tier? Oder Pflanze? Den Anatomen müssen diese Fragen wohl recht lächerlich bedünken, und er wird einen Standort von vornherein für verfehlt halten, auf dessen Boden solche Problemstellungen erwachsen können. Ihm ist das Weib homo sapiens und von allen übrigen Spezies wohl unterschieden, dem menschlichen Manne nicht anders zugeordnet als das Weibchen in jeder Art und Gattung sonst seinem Männchen. Und der Philosoph darf gewiß nicht sagen: Was gehen mich die Anatomen an! Mag er auch von dieser Seite noch so wenig Verständnis erhoffen für das, was ihn bewegt: er spricht hier über anthropologische Dinge, und, wenn er die Wahrheit findet, darf auch die morphologische Tatsache um ihr Recht nicht verkürzt worden sein. In der Tat! Zwar stehen die Frauen sicherlich in ihrem Unbewußten der Natur näher als der Mann. Die Blumen sind ihre Schwestern, und daß sie von den Tieren minder weit entfernt sind als der Mann, dafür zeugt, daß sie zur Sodomie sicherlich mehr Neigung haben als er (Pasiphae- und Leda-Mythus. Auch das Verhältnis zum Schoßhündchen ist wahrscheinlich ein noch weit sinnlicheres, als man gewöhnlich es sich ausmalt).[78] Aber die Frauen sind Menschen. Selbst W, die wir ohne jede Spur des intelligiblen Ich denken, ist doch immerhin das Komplement zu M. Und sicherlich ist die Tatsache der besonderen _sexuellen_ und _erotischen_ Ergänzung des menschlichen Mannes durch das _menschliche_ Weib wenn auch nicht jene sittliche Erscheinung, von welcher die Fürsprecher der Ehe schwatzen, so doch von ungeheuerer Bedeutung für das Problem der Frau. Die Tiere sind ferner bloß Individuen, die Frauen Personen (wenn auch nicht Persönlichkeiten). Die äußere Urteilsform, wenn auch nicht die innere, die Sprache, obgleich nicht die Rede, ein gewisses Gedächtnis, obschon keine kontinuierliche Einheit des Selbstbewußtseins ist ihnen verliehen. Für alles im Manne besitzen sie eigentümliche _Surrogate_, die noch fortwährend jene Verwechslungen begünstigen, denen die Schätzer der Weiblichkeit so gerne unterliegen. Es ist keine andere Frage als die nach dem _letzten Wesen des Geschlechtsgegensatzes_, die hiemit neu aufgeworfen erscheint. Die Rolle, welche das männliche und das weibliche Prinzip im Tier- und im Pflanzenreiche spielen, bleibt hier _außer_ Betracht; es handelt sich einzig um den Menschen. Daß solche Prinzipien der Männlichkeit und Weiblichkeit nicht als metaphysische Ideen, sondern als theoretische Begriffe angenommen werden müssen, darauf lief die ganze Untersuchung gleich zu Anfang hinaus. Welche gewaltigen Unterschiede zwischen Mann und Weib, weit über die bloße physiologisch-sexuelle Differenz hinaus, ohne Frage zumindest beim _Menschen_ bestehen, das hat der ganze weitere Verlauf der Betrachtung gezeigt. Jene Anschauung also, welche in der Tatsache des Dualismus der Geschlechter nichts weiter erblickt als eine Vorrichtung zur Distribution verschiedener Funktionen auf verschiedene Wesen im Sinne einer Teilung der physiologischen Arbeit -- eine Auffassung, die, wie ich glaube, dem Zoologen _Milne-Edwards_ ihre besondere Verbreitung zu danken hat -- erscheint hienach völlig unannehmbar; über ihre ans Lächerliche streifende Oberflächlichkeit und intellektuelle Genügsamkeit ist weiter kein Wort zu verlieren. Zwar ist der _Darwinismus_ der Popularisierung dieser Ansicht besonders günstig gewesen, und man hat sogar ziemlich allgemein an ein Hervorgehen der geschlechtlich differenzierten Organismen aus einem früheren Stadium sexueller Ungeschiedenheit gedacht: durch einen Sieg der einer solchen Funktionsentlastung teilhaft gewordenen Wesen über die primitiveren, überbürdeten, ungeschlechtlichen oder doppelgeschlechtlichen Arten. Daß aber eine solche »Entstehung des Geschlechtes« infolge der »Vorzüge der Arbeitsteilung«, der »Erleichterung im Kampfe ums Dasein« eine, ganz _unvollziehbare Vorstellung ist_, hat, lange vor den modernen Totenkäfern _Darwins_, Gustav Theodor _Fechner_ in einer unwiderleglichen Argumentation dargetan. Isoliert ist der Sinn von Mann und Weib nicht zu erforschen; sie können in ihrer Bedeutung nur aneinander erkannt und gegeneinander bestimmt werden. _In ihrem Verhältnis zueinander_ muß der Schlüssel für das Wesen _beider_ zu finden sein. Bei dem Versuche, die Natur der Erotik zu ergründen, ist bereits kurz auf ihn angespielt worden. _Es ist das Verhältnis von Mann und Weib kein anderes als das von $Subjekt$ und $Objekt$. $Das Weib sucht seine Vollendung als Objekt.$_ Es ist die _Sache_ des Mannes, oder die _Sache_ des Kindes, und will, trotz aller Bemäntelung, nicht anders genommen werden denn wie eine _Sache_. Niemand mißversteht so sehr, was eine Frau wirklich will, als wer sich für das interessiert, was in ihr vorgeht, und für ihre Gefühle und Hoffnungen, für ihre Erlebnisse und innere Eigenart eine Teilnahme in sich aufkommen läßt. Die Frau _will nicht_ als _Subjekt_ behandelt werden, sie will stets und in alle Wege -- das ist eben ihr Frau-Sein -- lediglich _passiv_ bleiben, _einen Willen auf sich gerichtet fühlen_, sie will nicht gescheut noch geschont, _sie will nicht $geachtet$ sein_. Ihr Bedürfnis ist vielmehr, nur als Körper begehrt, und nur als fremdes Eigentum besessen zu werden. _Wie die bloße Empfindung erst Realität gewinnt, indem sie begrifflich, d. h. $Gegenstand$ wird, so gelangt das Weib zu seinem Dasein und zu einem Gefühle desselben erst, indem es vom Manne oder vom Kinde, als dem Subjekte, zu dessen $Objekt$ erhoben wird, und so eine Existenz geschenkt erhält._ _Was erkenntnistheoretisch der Gegensatz des Subjekts zum Objekt, das sagt ontologisch die Gegenüberstellung von $Form$ und $Materie$._ Sie ist nur die Übersetzung jener Unterscheidung aus dem Transcendentalen ins Transcendente, aus dem Erfahrungskritischen ins Metaphysische. Die Materie, das absolut _Un_individualisierte, das, was _jede_ Form annehmen kann, selbst aber keine bestimmten und dauernden Eigenschaften hat, ist das, was so wenig _Essenz_ besitzt, wie der bloßen Empfindung, der Materie der Erfahrung, an sich schon _Existenz_ zukommt. Während also der Gegensatz von Subjekt und Objekt ein solcher der Existenz ist (_indem die Empfindung erst als ein dem Subjekte gegenübergestellter Gegenstand Realität gewinnt_), bedeutet der Gegensatz von Form und Materie einen Unterschied der Essenz (_die Materie ist ohne Formung absolut qualitätenlos_). Darum konnte _Platon_ die Stofflichkeit, die bildsame Masse, das an sich formlose ἄπειρον, den knetbaren Teig des ἐκμαγεῖον, das, worein die Form eingeht, ihren Ort, ihre χώρα, das ἐν ᾧ, jenes ewig _Zweite_, _Andere_, das θάτερον, auch $als das Nichtseiende$, als das µὴ ὄν bezeichnen. Der zieht den tiefsten Denker auf das Niveau der vordersten Oberflächlichkeit, der ihn, wie dies häufig geschieht, meinen läßt, sein Nichtseiendes sei der _Raum_. Gewiß wird kein bedeutender Philosoph dem Raum eine metaphysische Existenz zuschreiben, aber ebensowenig kann er ihn für _das_ Nichtseiende an sich halten. Es charakterisiert gerade den ahnungslosen, frechen Schwätzer, daß der leere Raum für ihn »Luft«, »Nichts« ist; erst dem vertieften Nachdenken gewinnt er an Realität, und wird ihm Problem. Das Nichtseiende _Platons_ ist gerade das, was dem _Philister_ als das denkbar _Realste_, als die Summation der Existenzwerte erscheint, _es ist nichts anderes als die Materie_. Ist es also eine zu klaffende Diskontinuität, wenn ich im Anschluß an _Plato_, der selbst sein jede Form Annehmendes vergleichsweise als die _Mutter_ und _Amme_ alles Werdens bezeichnet, auf den Spuren des _Aristoteles_, dessen Naturphilosophie _im Zeugungsakte_ dem weiblichen Prinzip die _stoffliche_, dem männlichen die _formende_ Rolle zuerteilt hat -- ist es Willkür, wenn ich, in Übereinstimmung mit dieser Anschauung und Erweiterung derselben, _die Bedeutung des Weibes für den Menschen nun überhaupt in der Vertretung der Materie erblicke_? Der Mann, als Mikrokosmus, ist beides, zusammengesetzt aus höherem und niederem Leben, aus metaphysisch Existentem und Wesenlosem, aus Form und Materie: das _Weib_ ist _nichts_, _es ist $nur$ Materie_. Erst _diese_ Erkenntnis bildet den Schlußstein des Gebäudes, von ihr aus wird alles deutlich, was noch unklar war, und rundet sich zum geschlossenen Zusammenhange. Das geschlechtliche Streben des Weibes geht nach _Berührung_, es ist nur _Kontrektations-_ und nicht Detumeszenztrieb.[79] Dem entspricht, daß sein feinster Sinn, und zugleich der einzige, bei ihm weiter als beim Manne entwickelte Sinn das _Tastgefühl_ ist.[80] Auge und Ohr führen beide ins Unbegrenzte und lassen eine Unendlichkeit ahnen; der Tastsinn erfordert engste körperliche Nähe zur eigenen Betätigung; man vermengt sich mit dem, was man angreift: er ist der eminent schmutzige Sinn, und wie geschaffen für ein auf körperliche Gemeinschaft angelegtes Wesen. Was durch ihn vermittelt wird, ist die Widerstandsempfindung, die Wahrnehmung des Palpablen; und eben von der _Materie_ läßt sich, wie _Kant_ gezeigt hat, nichts anderes aussagen, als daß sie eine derartige Raumerfüllung ist, die allem, was in sie einzudringen strebt, einen gewissen _Widerstand_ entgegensetzt. Die Erfahrung des »Hindernisses« hat, wie den psychologischen (nicht den erkenntnistheoretischen) _Ding_begriff, so auch den übergroßen Realitätscharakter geschaffen, welchen die Data des Tastsinnes für die meisten Menschen immer besitzen, als die solideren, »primären« Qualitäten der Erfahrungswelt. Aber nichts anderes als der ihm stets anhaftende letzte Rest von Weiblichkeit ist es, der bewirkt, daß für den Mann die Materie den Charakter der eigentlichen Realität gefühlsmäßig nie vollständig _verliert_. Gäbe es einen absoluten Mann, so wäre ihm die Materie auch _psychologisch_ (nicht nur logisch) kein irgendwie Seiendes mehr. Der Mann ist Form, das Weib Materie. Ist das richtig, so muß es auch in dem Verhältnis ihrer psychischen Einzelerlebnisse zueinander einen Ausdruck finden. Die längst festgestellte Gliederung der Inhalte des männlichen Seelenlebens gegenüber dem unartikulierten und chaotischen Vorstellen des Weibes verkündet nichts anderes als diesen nämlichen Gegensatz von Form und Materie. Die Materie will geformt werden: _darum verlangt_ das Weib vom Manne die _Klärung_ seiner verworrenen Gedanken, die _Deutung der Heniden_.[81] Die Frauen sind die Materie, die jede Form annimmt. Jene Untersuchungen, welche für die Mädchen eine bessere Erinnerung speziell an den Lehrstoff ergeben haben, als für die Knaben, können nur so erklärt werden: aus der Inanität und Nullität der Frauen, die mit allem Beliebigen _imprägniert_ werden können, indes der Mann nur behält, was ihn wirklich interessiert, und alles übrige _vergißt_ (vgl. Teil II, S. 147, 168). Aber vor allem geht das, was die _Schmiegsamkeit_ des Weibes genannt wurde, seine außerordentliche _Beeinflußbarkeit_ durch das fremde Urteil, seine _Suggestibilität_, seine völlige _Umschaffung_ durch den Mann auf dieses Bloß-Materie-Sein, diesen _Mangel_ jeder _ursprünglichen Form_ zurück. _Das Weib $ist$ nichts, und darum, $nur$ darum $kann es alles werden$; während der Mann stets nur werden kann, was er $ist$._ Aus einer Frau kann man machen, _was man will_; dem Manne höchstens zu dem verhelfen, was _er_ will. Darum hat, in der wahren Bedeutung des Wortes, eigentlich nur _Frauen_, nicht Männer, zu _erziehen_ einen _Sinn_. Am Manne wird durch alle Erziehung nie irgend ein Wesentliches geändert; im Weibe kann sogar seine eigenste Natur, die Hochwertung der Sexualität, durch äußeren Einfluß völlig zurückgedrängt werden. Das Weib mag alles scheinen und alles verleugnen, aber es _ist_ nie irgend etwas in Wahrheit. Man wird freilich, selbst wenn man mit den bisherigen Ableitungen sollte einverstanden sein, ihnen zum Vorwurf machen, daß sie keine Auskunft darüber gäben, $was$ denn der _Mann_ eigentlich _sei_. Läßt sich von ihm, wie vom Weibe _Kuppelei_ und _Wesenlosigkeit_, irgend etwas als allgemeine Eigenschaft prädizieren? Gibt es überhaupt einen _Begriff_ des Mannes, wie es einen Begriff des Weibes gibt, und läßt sich dieser Begriff ähnlich definieren? Hierauf ist zu antworten, daß die Männlichkeit eben in der _Tatsache_ der Individualität, der wesenhaften Monade liegt und sich mit ihr deckt. Jede Monade aber ist von jeder anderen um ein _Unendliches_ verschieden, und darum keine subsumierbar unter einen umfassenderen Begriff, der mehreren Monaden Gemeinsames enthielte. Der _Mann_ ist der _Mikrokosmus_, in ihm sind _alle_ Möglichkeiten überhaupt enthalten. Man hüte sich dies zu verwechseln mit der _universellen $Suszeptibilität$_ der Frau, die alles wird, _ohne irgend etwas zu sein_, indes der Mann alles _ist_ und davon mehr oder weniger, je nach seiner Begabung, auch _wird_. Der Mann hat auch das Weib, er hat auch Materie in sich, und kann diesen Teil seines Wesens sich entwickeln lassen, d. h. verkommen und entarten; oder er kann ihn erkennen und bekämpfen -- _darum_ kann _er_, und _nur $er$_, über die Frau zur Wahrheit gelangen (Teil II, S. 106-108). _Das Weib aber hat keine Möglichkeit einer Entwicklung, außer durch den Mann._ Ganz deutlich wird die Bedeutung von Mann und Weib immer erst in der Betrachtung ihrer gegenseitigen _sexuellen_ und _erotischen Relationen_. Das tiefste Begehren der Frau ist, vom Manne _geformt_ und _dadurch erst geschaffen_ zu werden. Die Frau wünscht, daß der Mann ihr Meinungen beibringe, _ganz andere_, als sie bisher gehabt hat, sie will durch ihn umgestoßen sehen, was sie bisher für richtig hielt (Gegenteil der Pietät, S. 161), sie will als Ganzes _widerlegt sein_, und erst _neugebildet_ werden durch ihn. Der Wille des Mannes _schafft_ erst die Frau, er _gebietet_ über sie, und _verändert sie von Grund auf_ (Hypnose). Hier ist auch endlich Klärung über das Verhältnis des Psychischen zum Physischen bei Mann und Weib zu finden. Für den Mann wurde früher die Wechselwirkung, und zwar nur im Sinne einer einseitigen Schöpfung des Leibes durch die transcendente Psyche, als die Projektion derselben auf die Erscheinungswelt, für das Weib hingegen der Parallelismus eines bloß Empirisch-Psychischen und Empirisch-Physischen angenommen. Jetzt ist klar, daß auch beim Weibe eine Wechselwirkung Geltung hat. Aber während beim _Manne_, nach _Schopenhauers_ wahrster Lehre, daß der Mensch sein eigenes Werk sei, der _eigene_ Wille sich den Körper _schafft_ und _umschafft_, wird das _Weib_ durch den _fremden_ Willen körperlich _beeinflußt_ und _umgebildet_ (Suggestion, Versehen). Der Mann formt also nicht nur sich, sondern auch, ja leichter noch, das Weib. Jene Mythen der Genesis und anderer Kosmogonien, welche das Weib vom Manne geschaffen sein lassen, haben eine tiefere Wahrheit verkündet als die biologischen Deszendenzlehren, die an ein Hervorgehen des Männlichen aus dem Weiblichen glauben. Auch jene im 9. Kapitel (S. 279) offen gelassene Frage, wie das Weib, ohne selbst Seele und Willen zu besitzen, doch in der Lage sein könne, herauszufinden, in welchem Maße der Mann mit ihnen ausgestattet ist, auch diese schwierigste Frage mag jetzt zu beantworten versucht werden. Man muß sich nur darüber klar geworden sein, daß, was die Frau bemerkt, und wofür sie ein Organ hat, nicht die _besondere_ Natur eines Mannes ist, sondern nur die _allgemeine Tatsache_ und etwa noch der _Grad_ seiner _Männlich$keit$_. Es ist ganz falsch, _Heuchelei, oder aus der späteren Imprägnation mit dem männlichen Wesen zu Unrecht erschlossen_, daß die Frau ein ursprüngliches _Verständnis_ für die _Individualität_ des Mannes habe.[82] Der Verliebte, der durch das unbewußte Simulieren eines tieferen Begreifens von Seite des Weibes so leicht zu foppen ist, mag an ein Verständnis seiner selbst durch ein Mädchen glauben; wer weniger genügsam ist, wird es sich nicht verhehlen können, daß die Frauen nur für das _Daß_, nicht für das _Was_ der Seele, nur für die _formale allgemeine Tatsache_, nicht für die _Besonderheit_ der Persönlichkeit einen Sinn besitzen. Denn um _spezielle_ Form perzipieren und apperzipieren zu können, müßte die Materie an sich nicht _formlos_ sein; das Verhältnis der Frau zum Mann ist aber kein anderes als das der Materie zur Form, und ihr Verständnis für ihn nichts als Bereitwilligkeit, möglichst kräftig geformt zu werden, der Instinkt des Existenzlosen für Existenz. Also dieses »Verständnis« ist kein theoretisches, es ist kein Anteilnehmen, sondern ein Anteilhabenwollen; es ist zudringlich und egoistisch. Die Frau hat kein Verhältnis zum _Manne_ und keinen Sinn für den Mann, sondern nur einen für _Männlichkeit_; und wenn sie für sexuell anspruchsvoller gehalten werden darf als er, so ist diese Anspruchsfülle nichts anderes als das intensive Begehren nach ausgiebigster und stärkster Formung: _es ist das Warten auf das größtmögliche Quantum von Existenz_. Und nichts anderes ist schließlich auch die _Kuppelei_. Die Sexualität der Frauen ist _über_individuell, weil sie nicht abgegrenzte, geformte, individualisierte Wesenheiten im höheren Sinne darstellen. Der höchste Augenblick im Leben des Weibes, der, in dem sein _Ur_sein, die _Urlust_ sich offenbart, ist jener Moment, wo der männliche Same in es fließt. Da umarmt es den Mann stürmisch und preßt ihn an sich: es ist die höchste Lust der Passivität, stärker noch als das Glücksgefühl der Hypnotisierten, die Materie, welche eben geformt wird und die Form nicht loslassen, sie ewig an sich binden will. Dieses unendliche Trachten der Armut, dem Reichtum sich zu gesellen, das gänzlich formlose und darum überindividuelle Streben des _Un_gegliederten, die Form zur Berührung mit sich zu bringen, sie dauernd festzuhalten und so Existenz zu gewinnen, liegt der Kuppelei im Tiefsten zu Grunde. Daß das Weib nicht Monade ist und keine Grenzen hat, dadurch ist Kuppelei nur _ermöglicht_; zur _Wirklichkeit_ wird sie, weil es die Idee des _Nichts_, der _Materie_ repräsentiert, die unaufhörlich und in jeder Weise die Form zur Vermengung mit sich zu verführen trachtet. Kuppelei ist das ewige Drängen des Nichts zum Etwas. So hat sich allmählich die Dualität von Mann und Weib zum Dualismus überhaupt entwickelt, zum Dualismus des höheren und des niederen Lebens, des Subjekts und Objekts, der Form und der Materie, des Etwas und des Nichts. Alles metaphysische, alles transcendentale Sein ist logisches und moralisches Sein: _das Weib ist alogisch und amoralisch_. Es enthält aber auch keine Abkehr vom Logischen und Moralischen, es ist nicht _anti_logisch, es ist nicht _anti_moralisch. Es ist nicht das _Nicht_, sondern das _Nichts_, es ist _weder Ja_, _noch_ ist es _Nein_. Der _Mann_ birgt in sich die Möglichkeit zum absoluten Etwas _und_ zum absoluten Nichts, und darum hat all sein Handeln eine _Richtung_ nach dem einen oder dem anderen: das Weib _sündigt_ nicht, _denn es ist selbst $die$ Sünde, als $Möglichkeit$ im Manne_. _Der reine Mann ist das Ebenbild Gottes, des absoluten $Etwas$, das Weib, auch das Weib im Manne, ist das Symbol des $Nichts$: das ist die Bedeutung des Weibes im Universum, und so ergänzen und bedingen sich Mann und Weib._ Als des Mannes _Gegensatz_ hat das Weib einen Sinn und eine Funktion im Weltganzen; und wie der menschliche Mann über das tierische Männchen, so reicht das menschliche Weib über das Weibchen der Zoologie hinaus.[83] _Kein begrenztes Sein, kein begrenztes Nichtsein_ (wie im Tierreich) liegen im _Menschen_ im Kampfe: _was hier sich gegenübersteht, ist unbegrenztes Sein_ und _unbegrenztes Nichtsein_. _Darum_ machen erst Mann und Weib _zusammen_ den Menschen aus. Der _Sinn_ des Weibes ist es also, _Nicht-Sinn_ zu sein. Es repräsentiert das _Nichts_, den Gegenpol der Gottheit, die _andere Möglichkeit_ im Menschen. Darum gilt mit Recht nichts für gleich verächtlich, als der Weib gewordene Mann, und wird ein solcher Mann geringer geachtet als selbst der stumpfsinnigste und roheste Verbrecher. Und so erklärt sich auch jene tiefste _Furcht_ im Manne: die _Furcht vor dem Weibe_, das ist die _Furcht vor der Sinnlosigkeit_: das ist die Furcht _vor dem lockenden Abgrund des Nichts_. Das _alte Weib_ offenbart erst ganz und gar, was das Weib in Wirklichkeit ist. Die Schönheit der Frau wird, auch rein erfahrungsgemäß, nur _geschaffen_ durch die _Liebe_ des Mannes: die Frau wird schöner, wenn ein Mann sie liebt, _weil sie passiv dem Willen entspricht, der in seiner Liebe liegt_; so mystisch dies klinge, es ist nur eine alltägliche Beobachtung. Das alte Weib zeigt, wie das Weib nie schön _war_: _wäre_ das Weib, so wäre die Hexe nicht. Aber das Weib _ist_ nichts, ein hohles Gefäß, eine Zeitlang überschminkt und übertüncht. Alle Qualitäten der Frau hängen an ihrem Nicht-Sein, an ihrer _Wesenlosigkeit_: weil sie kein wahres, unwandelbares, sondern nur ein irdisches Leben hat, darum begünstigt sie als Kupplerin die Zeugung in _diesem_, darum ist sie durch den Mann, der sinnlich auf sie wirkt, vom Grund auf umzuschaffen und empfänglich überhaupt. So vereinigen sich die drei fundamentalen Eigenschaften des Weibes, welche dieses Kapitel aufgedeckt hat, und schließen sich zusammen in seinem Nicht-Sein. Aus dem Begriff des Nicht-Seins ergeben sich Veränderlichkeit und Verlogenheit, als die zwei _negativen_ Bestimmungen, durch _unmittelbare_ Deduktion. Bloß Kuppelei, als die einzige _Position_ im Weibe, folgt aus ihm nicht gleich rasch durch einfache Analyse. Und das ist wohl begreiflich. Denn das _Dasein_ des Weibes ist selbst _identisch_ mit der Kuppelei, mit Bejahung aller Sexualität überhaupt. _Kuppelei ist nichts anderes als universale Sexualität_; daß das Weib ist, heißt nichts anderes, als daß in der Welt ein radikaler Hang zu allgemeiner Sexualität besteht. _Die Kuppelei noch weiter $kausal$ zurückführen bedeutet so viel als das $Dasein des Weibes erklären$._ Wenn hiezu von der Tafel des zwiefachen Lebens (S. 378) ausgegangen wird, so ist die _Richtung vom höchsten Leben weg zum irdischen hin_, das _Ergreifen des Nicht-Seienden statt des Seienden_, der _Wille zum Nichts_, das _Nicht_, das _An-Sich-Böse_. _Anti_moralisch ist die _Bejahung_ des _Nichts_: das Bedürfnis, _Form in Formloses, in Materie zu verwandeln_, das Bedürfnis zu _zerstören_. _Das Nicht aber ist dem Nichts verwandt. Und darum besteht ein so tiefer Zusammenhang zwischen allem Verbrecherischen und allem Weiblichen._ Das _Anti_moralische berührt sich eben mit dem $A$moralischen, von dem es in dieser Untersuchung zuerst ausdrücklich _getrennt_ wurde, im gemeinsamen Begriffe des _Un_moralischen, und die gewöhnliche unterschiedslose Verwechslung beider erfährt nun dennoch eine gewisse Rechtfertigung. Denn das Nichts ist _allein_ eben -- _nichts_, es _ist_ nicht, es hat weder Existenz noch Essenz. Es ist stets nur das _Mittel_ des Nicht, das, was _durch_ das _Nein_ dem _Etwas gegenübergestellt_ wird. _Erst indem der Mann seine eigene Sexualität bejaht, indem er das Absolute verneint, sich vom ewigen Leben ab-, dem niederen zukehrt, erhält das Weib Existenz. $Nur indem das Etwas zum Nichts kommt, kann das Nichts zum Etwas kommen.$_ Der _bejahte Phallus_ ist das _Anti_moralische. Darum wird er als das Häßlichste empfunden; darum wurde er stets in einer Beziehung zum Satan gedacht: den Mittelpunkt der _Dante_schen _Hölle_ (das Zentrum des Erdinneren) bildet der _Geschlechtsteil Lucifers_. $So erklärt sich denn die absolute Gewalt der männlichen Geschlechtlichkeit über das Weib$.[84] _Nur indem der Mann $sexuell$ wird, erhält das Weib Existenz und Bedeutung: sein Dasein ist an den Phallus geknüpft, und $darum$ dieser sein höchster Herr $und$ unumschränkter Gebieter._ Der Geschlecht gewordene Mann ist das Fatum des Weibes; der Don Juan der einzige Mensch, vor dem es bis zum Grunde erzittert. $Der Fluch, den wir auf dem Weibe lastend ahnten, ist der böse Wille des Mannes$: das _Nichts_ ist nur ein Werkzeug in der Hand des _Nicht_. Die Kirchenväter drückten dasselbe pathetischer aus, als sie das Weib das Instrument des Teufels nannten. Denn _an sich_ ist die Materie _nichts_, _erst die Form muß ihr Existenz geben wollen_. Der Sündenfall der Form ist eben jene Verunreinigung, die sie auf sich lädt, indem es sie treibt, an der Materie sich zu betätigen. _Als der Mann $sexuell$ ward, da $schuf$ er das $Weib$._ _Daß das Weib da ist, heißt also nichts anderes, als daß vom Manne die Geschlechtlichkeit bejaht wurde. Das Weib ist nur das $Resultat$ dieser Bejahung, es ist die Sexualität selber_ (S. 116). Das Weib ist in seiner Existenz _abhängig_ vom Manne: indem der Mann zum Manne, als Gegenteil des Weibes, indem er geschlechtlich wird, _setzt_ er das Weib und ruft es ins Dasein. Deshalb muß dem Weibe alles daran gelegen sein, den Mann _sexuell zu erhalten_: denn es hat so viel Existenz als der Mann Geschlechtlichkeit. _Deshalb_ muß der Mann, so will sie es, _ganz zum Phallus werden_, $deshalb kuppelt die Frau$. Sie ist unfähig, ein Wesen anders denn als Mittel zum Zweck, zu diesem Zweck des Koitus zu gebrauchen: denn mit ihr ist selbst $kein anderer Zweck$ verfolgt, als der, $den Mann schuldig werden zu lassen$. Und sie wäre _tot_ in dem Augenblick, da der Mann _seine_ Sexualität überwunden hätte. Der Mann hat das Weib geschaffen und schafft es immer neu, so lange er noch sexuell ist. Wie er der Frau das _Bewußtsein_ gab (Teil II, Kapitel 3, Ende), so gibt er ihr das _Sein_. Indem er auf den Koitus nicht verzichtet, ruft er das Weib hervor. $Das Weib ist die Schuld des Mannes.$ Diese Schuld gut zu machen, dazu soll ihm die Liebe dienen. Hiedurch hellt sich auf, was der Schluß des vorigen Kapitels nur wie einen dunklen Mythos einführte. Was der Mann durch die Schöpfung des Weibes, das ist durch die Bejahung des Koitus verbrochen hat und noch fortwährend verbricht, _das bittet er dem Weibe ab als Erotiker_. Denn von wannen sonst käme die nie und nimmer sich genug tuende _Generosität_ aller Liebe? Woher, daß die Liebe gerade dem Weibe, und nicht einem anderen Wesen, Seele zu schenken beflissen ist? Durchaus ist das Weib nur der Gegenstand, den sich der Trieb des Mannes erzeugt hat als das eigene Ziel, es ist die Objektivation der männlichen Sexualität, _die verkörperte Geschlechtlichkeit, seine Fleisch gewordene Schuld_. Die _Liebe_ soll die Schuld über_decken_, statt sie zu über_winden_; sie _$er$hebt_ das Weib, statt es _$auf$zuheben_. Das Etwas schließt das Nichts in seine Arme, und glaubt so die Welt von der Negation zu befreien, und alle Widersprüche zu versöhnen: da doch das Nichts nur verschwinden könnte, wenn das Etwas sich ihm fern hielte. Die Liebe des Mannes ist sein kühnster, äußerster Versuch, das Weib als Weib sich zu retten, statt es als solches zu verneinen. Nur daher stammt ihr Schuldbewußtsein: durch sie soll Schuld selbst _weggeräumt_, statt _gesühnt_ werden. $Denn das Weib ist nur die Schuld und nur durch die Schuld des Mannes; und wenn Weiblichkeit Kuppelei bedeutet, so nur, weil alle Schuld von selbst sich zu vermehren trachtet.$ Was die Frau, ohne je anders zu können, durch ihr bloßes Dasein, durch ihr ganzes Wesen, ewig unbewußt auswirkt, das ist nur _ein Hang im $Manne$_, sein zweiter, unausrottbarer, sein _niederer Hang_: sie ist, gleich der Walküre, eines _fremden_ Willens »blind wählende Kür«. Die Materie scheint ein nicht minder unergründliches Rätsel als die Form, das Weib gleich unendlich wie der Mann, das Nichts so ewig wie das Sein; aber diese Ewigkeit ist nur die Ewigkeit der Schuld. XIII. Kapitel. Das Judentum. Es könnte nicht wundern, wenn es manchem scheinen wollte, bei dem Ganzen der bisherigen Untersuchung seien »die Männer« allzugut davongekommen, und in ihrer Gesamtheit auf ein übertrieben hohes Postament gestellt. Man wird zwar vielleicht auf billige Argumente verzichten, ihren Resultaten nicht entgegenhalten, wie überrascht dieser Philister oder jener Spitzbube wäre, zu vernehmen, daß _er_ die ganze Welt in sich habe; und doch die Behandlung des männlichen Geschlechtes nicht bloß allzuglimpflich finden, sondern geradezu eine tendenziöse Vernachlässigung aller widerlichen und kleinen Seiten der Männlichkeit zu Gunsten ihrer höchsten Spitzen der Darstellung als einen Fehler anrechnen. Die Beschuldigung wäre ungerechtfertigt. Es kommt mir nicht in den Sinn, die Männer zu idealisieren, um die Frauen leichter in der Schätzung herabdrücken zu können. So viel Beschränktheit und so viel Gemeinheit unter den empirischen Vertretern der Männlichkeit oft gedeiht, es handelt sich um die besseren _Möglichkeiten_, die in jedem Manne sind, und als vernachlässigte von ihm schmerzlich-hell oder dumpf-gehässig empfunden werden; Möglichkeiten, die als solche bei der Frau weder in Wirklichkeit, noch in gedanklicher Erwägung irgend in Rechnung gelangen. Und es konnte mir hier auch gar nicht auf Unterscheidungen _unter_ den Männern wesentlich ankommen, so wenig ich mich vor deren Wichtigkeit verschließe. Es handelte sich darum, festzustellen, was das Weib _nicht_ ist, und da fehlte ihm denn freilich unendlich viel, was selbst im mittelmäßigsten und plebejischesten Manne nie _ganz_ vermißt wird. Das, was es _ist_, die positiven Eigenschaften des Weibes (soferne da von einem Sein, von Positionen wohl gesprochen werden kann) wird man stets auch bei vielen Männern wiederfinden. Es gibt, wie schon öfter hervorgehoben wurde, _Männer_, die _zu Weibern geworden_, oder _Weiber geblieben_ sind; aber es gibt keine Frau, die über gewisse umschriebene, nicht sonderlich hoch zu ziehende, moralische und intellektuelle Grenzen hinauskäme. Und darum will ich es hier nochmals aussprechen: _das höchststehende Weib steht noch unendlich tief unter dem tiefststehenden Manne_. Jene Einwendungen aber könnten weiter gehen, und einen Punkt berühren, dessen Außerachtlassung der Theorie allerdings zum Vorwurf müßte gemacht werden. Es gibt nämlich Völkerschaften und Rassen, bei deren Männern, obwohl sie keineswegs als sexuelle Zwischenformen können gedeutet werden, man doch so wenig und so selten eine Annäherung an die Idee der Männlichkeit findet, wie sie aus der hier entworfenen Zeichnung derselben hervortritt, daß die Prinzipien, ja, die ganzen Fundamente, auf welchen diese Arbeit ruht, hiedurch stark könnten erschüttert scheinen. Was ist z. B. von den _Chinesen_ zu halten, mit ihrer weiblichen Bedürfnislosigkeit und ihrem Mangel an jeglichem Streben? Man möchte _hier_ allerdings noch an eine größere Weiblichkeit des ganzen Volkes zu glauben sich versucht fühlen. Wenigstens kann es keine bloße Laune einer ganzen Nation sein, daß die Chinesen einen Zopf zu tragen pflegen, und es ist ja auch ihr Bartwuchs nur ein äußerst spärlicher. Aber wie verhält es sich dann mit den _Negern_? Es hat unter den Negern vielleicht kaum je ein Genie gegeben, und moralisch stehen sie beinahe allgemein so tief, daß man in Amerika bekanntlich anfängt zu fürchten, mit ihrer Emanzipation einen unbesonnenen Streich verübt zu haben. Wenn also auch das Prinzip der sexuellen Zwischenformen vielleicht Aussicht hätte, für eine Rassenanthropologie bedeutsam zu werden (indem über einige Völker ein größeres Quantum von Weiblichkeit insgesamt ausgestreut schiene), so muß doch zugegeben werden, daß die bisherigen Deduktionen zuvörderst auf den _arischen Mann_ und das _arische Weib_ sich beziehen. Wie weit in den anderen großen Stämmen der Menschheit mit den für ihre Gipfel geltenden Verhältnissen Übereinstimmung herrscht, und was jene hauptsächlich davon zurückhält und so lange hindert, an diese näher heranzukommen, das bedürfte erst der Erhellung durch die eingehendste und lohnendste psychologische Vertiefung in die Rassencharaktere. Das _Judentum_, das ich zum Gegenstande einer Besprechung zunächst darum gewählt habe, weil es, wie sich zeigen wird, der härteste und am meisten zu fürchtende Gegner der hier entwickelten und besonders der noch zu entwickelnden Anschauungen, wie überhaupt des ganzen Standpunktes ist, von dem aus jene möglich sind -- das Judentum scheint anthropologisch mit allen beiden erwähnten Rassen, mit den Negern wie mit den Mongolen, eine gewisse Verwandtschaft zu besitzen. Auf den Neger weisen die so gern sich ringelnden Haare, auf Beimischung von Mongolenblut die ganz chinesisch oder malaiisch geformten Gesichtsschädel, die man so oft unter den Juden antrifft, und denen regelmäßig eine gelblichere Hautfärbung entspricht. Dies ist nicht mehr als das Ergebnis einer alltäglichen Erfahrung, und anders wollen diese Bemerkungen nicht verstanden sein; die _anthropologische_ Frage nach der Entstehung des Judentums ist eine ungemein schwierige, und auch ein so interessanter Lösungsversuch wie der in den berühmten »Grundlagen des XIX. Jahrhunderts« von H. S. _Chamberlain_ unternommene hat in jüngster Zeit sehr viel Widerspruch gefunden. Sie zu behandeln besitze ich nicht das nötige Wissen; was hier in Kürze, aber bis zu möglichster Tiefe analysiert werden soll, ist nur die psychische Eigenheit des Jüdischen. Diese Aufgabe ist eine Obliegenheit der psychologischen Beobachtung und Zergliederung; sie ist lösbar, frei von allen Hypothesen über nun nicht mehr kontrollierbare historische Vorgänge; und nur bedarf dieses Unternehmen einer um so größeren Objektivität, als die Stellung zum Judentum heute beinahe die wichtigste und hervorstechendste Rubrik des Nationales ist, welches ein jeder vor der Öffentlichkeit ausfüllt, ja allgemach der gebräuchlichste Einteilungsgrund der zivilisierten Menschen geworden scheint. Und es läßt sich nicht behaupten, daß der Wert, welcher auf eine offene Erklärung in dieser Frage allgemein gelegt wird, ihrem Ernst und ihrer Bedeutung nicht angemessen sei, und ihre Wichtigkeit übertreibe. Daß man auf sie überall stößt, ob man nun von kulturellen oder materiellen, von religiösen oder politischen, von künstlerischen oder wissenschaftlichen, biologischen oder historischen, charakterologischen oder philosophischen Dingen herkommt, das muß einen tiefen, tiefsten Grund im Wesen des Judentumes selbst haben. Ihn aufzusuchen, wird keine Mühe zu groß scheinen dürfen: denn der Gewinn muß sie in jedem Falle unendlich belohnen.[85] Zuvor jedoch will ich genau angeben, in welchem Sinne ich vom Judentum rede. Es handelt sich mir _nicht_ um eine _Rasse_ und nicht um ein _Volk_, noch weniger freilich um ein gesetzlich anerkanntes Bekenntnis. _Man darf das Judentum nur für eine Geistesrichtung, für eine psychische Konstitution halten, welche für $alle$ Menschen eine $Möglichkeit$ bildet, und im historischen Judentum bloß die grandioseste $Verwirklichung$ gefunden hat._ Daß dem so ist, wird durch nichts anderes bewiesen, als durch den _Antisemitismus_. Die echtesten, arischesten, ihres Ariertums gewissesten Arier sind keine Antisemiten, sie können, so unangenehm sicherlich auch sie von auffallend jüdischen Zügen sich berührt fühlen, doch den _feindseligen_ Antisemitismus im allgemeinen gar nicht _begreifen_; und sie sind es auch, die von den Verteidigern des Judentums gerne als »Philosemiten« bezeichnet, und deren verwunderte und mißbilligende Äußerungen über den Judenhaß angeführt werden, wo das Judentum herabgesetzt oder angegriffen wird.[86] Im _aggressiven_ Antisemiten wird man hingegen immer selbst gewisse jüdische Eigenschaften wahrnehmen; ja sogar in seiner Physiognomie kann das zuweilen sich ausprägen, mag auch sein Blut rein von allen semitischen Beimengungen sein. Es könnte dies auch unmöglich anders sich verhalten. _Wie man im anderen nur $liebt$, was man gerne ganz sein möchte und doch nie ganz ist, so $haßt$ man im anderen nur, was man nimmer sein will, und doch immer zum Teile noch ist._ Man haßt nicht etwas, womit man keinerlei Ähnlichkeit hat. Nur macht uns oft erst der andere Mensch darauf aufmerksam, was für unschöne und gemeine Züge wir in uns haben. So erklärt es sich, daß die allerschärfsten Antisemiten _unter den Juden_ zu finden sind. Denn bloß die ganz jüdischen Juden, desgleichen die völlig arischen Arier, sind gar nicht antisemitisch gestimmt; unter den übrigen betätigen die gemeineren Naturen ihren Antisemitismus nur den anderen gegenüber, und richten diese, ohne je mit sich selber in dieser Sache vor Gericht gegangen zu sein; und nur wenige fangen mit ihrem Antisemitismus bei sich selbst an. Doch dies eine bleibt darum nicht minder gewiß: wer immer das jüdische Wesen haßt, der haßt es zunächst _in_ sich: daß er es im anderen verfolgt, ist nur sein Versuch, vom Jüdischen auf diese Weise sich zu sondern; er trachtet sich von ihm zu scheiden dadurch, daß er es gänzlich im Nebenmenschen lokalisiert, und so für den Augenblick von ihm frei zu sein wähnen kann. Der Haß ist ein Projektionsphänomen wie die Liebe: der Mensch haßt nur, durch wen er sich _un_angenehm an sich selbst erinnert fühlt.[87] Der Antisemitismus _des Juden_ liefert demnach den Beweis, daß niemand, der ihn kennt, den Juden als ein Liebenswertes empfindet -- auch der Jude nicht; der Antisemitismus _des Ariers_ ergibt eine nicht minder bedeutungsvolle Einsicht: daß man das Juden_tum_ nicht verwechseln darf mit _den Juden_. Es gibt Arier, die jüdischer sind als mancher Jude, und es gibt wirklich Juden, die arischer sind als gewisse Arier. Ich will von jenen Nicht-Semiten, welche viel Judentum in sich hatten, die kleineren (wie den bekannten _Friedrich Nicolai_ des XVIII. Jahrhunderts) und mittelgroßen (hier dürfte _Friedrich Schiller_ kaum außer acht bleiben) nicht aufzählen, und nicht auf ihr Judentum analysieren. Aber auch _Richard Wagner_ -- der tiefste Antisemit -- ist von einem Beisatz von Judentum, selbst in seiner Kunst, nicht freizusprechen, so gewiß er neben _Michel Angelo_ der größte Künstler aller Zeiten ist, so wahrscheinlich er geradezu den Künstler überhaupt in der Menschheit repräsentiert; und so zweifellos sein _Siegfried_ das _Unjüdischeste_ ist, was erdacht werden konnte. Aber niemand ist umsonst Antisemit. Wie _Wagners_ Abneigung gegen die große Oper und das Theater zurückgeht auf den starken Zug, den er selbst zu ihnen empfand, einen Zug, der noch im »Lohengrin« deutlich erkennbar bleibt: so ist auch seine Musik, in ihren motivischen Einzelgedanken die gewaltigste der Welt, nicht gänzlich freizusprechen von etwas Aufdringlichem, Lautem, Unvornehmem; womit die Bemühungen _Wagners_ um die äußere Instrumentation seiner Werke im Zusammenhang stehen. Es läßt sich auch nicht verkennen, daß _Wagners_ Musik sowohl auf den jüdischen Antisemiten, welcher vom Judentum nie gänzlich loskommen kann, als auf den antisemitischen Indogermanen, der ihm zu verfallen fürchtet, den stärksten Eindruck hervorbringt. Von der Parsifal-Musik, die dem völlig echten Juden in Ewigkeit fast ebenso unzugänglich bleibt wie die Parsifal-Dichtung, vom »Pilgerchor« und der Romfahrt im »Tannhäuser«, und sicher noch von manchem anderen ist hiebei _gänzlich_ abzusehen; aber es ist z. B. sein Jugendwerk, der »Rienzi«, in seinem thematischen Materiale wie in der Ausführung, noch vom Judentum vielleicht nicht gänzlich frei. Auch könnte zweifellos, wer _nur_ ein Deutscher wäre, das Wesen des Deutschtums nie so klar sich zum Bewußtsein bringen, als _Wagner_ in den »Meistersingern von Nürnberg« dies vermocht hat.[88] Man denke endlich an jene Seite in _Wagner_, die zu _Feuerbach_, statt zu _Schopenhauer_, sich hingezogen fühlte. Hier ist keine kleinpsychologische Heruntersetzung des großen Mannes geplant. Ihm war das Judentum die große Hilfe, um zur klaren Erkenntnis und Bejahung des anderen Poles in sich zu gelangen, zum Siegfried und zum Parsifal sich durchzuringen, und dem Germanentum den höchsten Ausdruck zu geben, den es wohl in der Geschichte gefunden hat. Noch ein Größerer als _Wagner_ mußte erst das Judentum in sich überwinden, ehe er die eigene Mission fand; und es ist, vorläufig gesprochen, _vielleicht die welthistorische Bedeutung und das ungeheuere Verdienst des Judentums kein anderes, als den Arier immerfort zum Bewußtsein seines Selbst zu bringen, ihn $an sich$ zu mahnen_. Dies ist es, was der Arier dem Juden zu _danken_ hat; durch ihn weiß er, wovor er sich hüte: _vor dem Judentum als Möglichkeit in ihm selber_. Dieses Beispiel wird hinlänglich verdeutlicht haben, was nach meinem Ermessen unter dem Judentum zu verstehen ist. Keine Nation und keine Rasse, keine Konfession und kein Schrifttum. Wenn ich fürder vom Juden spreche, so meine ich nie den einzelnen und nie eine Gesamtheit, _sondern den Menschen überhaupt, sofern er Anteil hat an der platonischen Idee des Judentums_. Und nur die Bedeutung dieser Idee gilt es mir zu ergründen. Daß aber diese Untersuchung gerade in einer Psychologie der Geschlechter geführt werden muß, ist unerläßlich aus Gründen einer Abgrenzung. Es bereitet jedem, der über beide, über das Weib und über den Juden, nachgedacht hat, eine eigentümliche Überraschung, wenn er wahrnimmt, in welchem Maße gerade das Judentum durchtränkt scheint von jener Weiblichkeit, deren Wesen einstweilen nur im Gegensatze zu _allem_ Männlichen _ohne Unterschied_ zu erforschen getrachtet wurde. Er könnte hier überaus leicht geneigt sein, dem Juden einen größeren Anteil an der Weiblichkeit zuzuschreiben, als dem Arier, ja am Ende eine platonische μέθεξις auch des männlichsten Juden am Weibe anzunehmen sich bewogen fühlen. Diese Meinung wäre irrig. Da indes eine Anzahl der wichtigsten Punkte, solcher Punkte, in denen das tiefste Wesen der Weiblichkeit zum Ausdruck zu kommen schien, beim Juden sich in einer merkwürdigen Weise ebenfalls und wie zum zweiten Male finden, ist es unerläßlich, Übereinstimmung und Abweichung hier genau festzustellen. Die Konformität will dem ersten Blicke überall sich darbieten, worauf er sich auch richte; ja die Analogien sehen aus, als wären sie außergewöhnlich weit verfolgbar: so daß man Bestätigungen früherer Ergebnisse wie auch manch interessanten neuen Beitrag zum Hauptthema anzutreffen gewärtig sein darf. Und es scheint ganz beliebig, womit man hiebei den Anfang macht. So ist es, um gleich eine Analogie zum Weibe anzuführen, höchst merkwürdig, wie sehr die Juden die beweglichen Güter bevorzugen -- auch heutzutage, da ihnen der Erwerb anderer frei steht -- und wie sie eigentlich, trotz allem Erwerbssinn, kein Bedürfnis nach dem _Eigentume_, am wenigsten in seiner festesten Form, dem Grundbesitze, haben. Das Eigen_tum_ steht in einem unauflöslichen Zusammenhang mit der Eigen_art_, mit der Individualität. Hiemit hängt also zusammen, daß die Juden dem Kommunismus so scharenweise sich zuwenden. Den _Kommunismus_ als Tendenz zur _Gemeinschaft_ sollte man stets unterscheiden vom _Sozialismus_ als Bestrebung zu gesellschaftlicher _Kooperation_ und zur Anerkennung der Menschheit in jedem Gliede derselben. Der Sozialismus ist arisch (_Owen_, _Carlyle_, _Ruskin_, _Fichte_), der Kommunismus jüdisch[89] (_Marx_). Die moderne Sozialdemokratie hat sich in ihrem Gedankenkreise darum vom christlichen, präraphaelitischen Sozialismus so weit entfernt, weil die Juden in ihr eine so große Rolle spielen. Trotz ihren vergesellschaftenden Neigungen hat die marxistische Form der Arbeiterbewegung (im Gegensatze zu _Rodbertus_) gar kein Verhältnis zur Idee des _Staates_, und dies ist sicherlich nur auf das völlige Unverständnis des Juden für den Staatsgedanken zurückzuführen. Dieser ist zu wenig ein Greifbares, die Abstraktion, die in ihm liegt, allen konkreten Zwecken zu weit entrückt, als daß der Jude sich mit ihm inniger befreunden könnte. Der Staat ist das Ganze aller Zwecke, die nur durch eine Verbindung vernünftiger Wesen als vernünftiger verwirklicht werden können. _Diese kantische Vernunft aber, der Geist ist es, woran es dem Juden wie dem Weibe vor allem zu gebrechen scheint._ Aus jenem Grunde ist aller Zionismus so aussichtslos, obwohl er die edelsten Regungen unter den Juden gesammelt hat: denn der Zionismus ist die Negation des Judentums, in welchem, _seiner Idee nach_, die Ausbreitung über die ganze Erde liegt. Der Begriff des Bürgers ist dem Juden vollständig _transcendent_; darum hat es nie im eigentlichen Sinne des Wortes einen jüdischen _Staat_ gegeben, und kann nie einen solchen geben. In der Staatsidee liegt eine Position, die Hypostasierung der interindividuellen Zwecke, der Entschluß, einer selbst gegebenen Rechtsordnung, deren _Symbol_ (und nichts anderes) das Staatsoberhaupt ist, aus freier Wahl beizutreten. Darum ist das Gegenteil des Staates die Anarchie, mit der gerade der Kommunismus auch heute noch, eben durch sein Unverständnis für den Staat, verschwistert ist; so sehr auch hievon die meisten anderen Elemente in der sozialistischen Bewegung abstechen. Wenn der Staatsgedanke in keiner historischen Form auch nur annähernd verwirklicht ist, so liegt doch in jedem geschichtlichen Versuche zur Staatenbildung etwas, vielleicht nur jenes Minimum von ihm, das ein Gebilde über eine bloße Association zu Geschäfts- und Machtzwecken erhebt. Die historische Untersuchung, wie ein bestimmter Staat entstanden sei, sagt nichts über die _Idee_, die in ihm liegt, _soweit_ er eben Staat und nicht Kaserne ist. Um jene zu erfassen, wird man sich bequemen müssen, der vielgeschmähten _Rousseau_schen Vertragstheorie wieder mehr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Nur das Zusammentreten ethischer Persönlichkeiten zu gemeinsamen Aufgaben kommt im Staate, sofern er Staat ist, zum Ausdruck. Daß der Jude nicht erst seit gestern, sondern mehr oder weniger von jeher staatfremd ist, deutet bereits daraufhin, _daß dem Juden wie dem Weibe die Persönlichkeit fehlt; was sich allmählich in der Tat herausstellen wird_. Denn nur aus dem Mangel des intelligiblen Ich kann, wie alle weibliche, so auch die jüdische Unsoziabilität abzuleiten sein. Die Juden stecken gerne beieinander wie die Weiber, aber sie _verkehren_ nicht miteinander als selbständige, voneinander geschiedene Wesen, unter dem Zeichen einer überindividuellen Idee. So wenig wie es in der Wirklichkeit eine »Würde der _Frauen_« gibt, so unmöglich ist die Vorstellung eines _jüdischen_ »gentleman«. Dem echten Juden gebricht es an jener inneren Vornehmheit, welche Würde des eigenen und Achtung des fremden Ich zur Folge hat. _Es gibt keinen jüdischen Adel_; und dies ist um so bemerkenswerter, als doch bei den Juden jahrtausendelange Inzucht besteht. So erklärt sich denn auch weiter, was man jüdische Arroganz nennt: aus dem Mangel an _Bewußtsein_ eines Selbst und dem gewaltsamen Bedürfnis nach Steigerung des Wertes der Person durch Erniedrigung des Nebenmenschen; _denn der echte Jude hat kein Ich und darum auch keinen Eigenwert_. Daher, trotz seiner Inkommensurabilität mit allem Aristokratischen, seine weibische Titelsucht, die nur auf einer Linie steht mit seiner Protzerei, deren Objekte die Loge im Theater oder die modernen Gemälde in seinem Salon, seine christliche Bekanntschaft oder sein Wissen sein können. Aber zugleich ist die jüdische Verständnislosigkeit für alles Aristokratische erst hierin eigentlich begründet. Der Arier hat ein Bedürfnis zu wissen, wer _seine_ Ahnen waren; er achtet sie und interessiert sich für sie, _weil sie seine Ahnen waren_; und er schätzt sie, weil er die eigene Vergangenheit immer höher hält als der schnell sich verwandelnde Jude, der pietätlos ist, weil er dem Leben keinen Wert spenden kann. Ihm fehlt jener Ahnenstolz vollständig, den selbst der ärmste, plebejischeste Arier noch in einem gewissen Grade besitzt; er ehrt nicht, wie dieser, seine Vorfahren, weil sie _seine_ Vorfahren sind, er ehrt nicht in ihnen _sich selbst_. Der Einwand ginge fehl, der sich auf den außerordentlichen Umfang und die Kraft der jüdischen Tradition beriefe. Die Geschichte seines Volkes ist hier dem Nachfahren, auch demjenigen, welchem sie viel zu bedeuten scheint, nicht die Summe des Einstmaligen, Gewesenen, sondern stets nur der Quell, aus dem er neue Hoffnungsträume saugt: die _Vergangenheit_ des Juden ist nicht wirklich seine Vergangenheit, sie ist immer nur seine _Zukunft_. -- -- Man hat die Mängel des Judentums oft genug, nicht allein jüdischerseits, auf die brutale Unterdrückung und Knechtung zurückführen wollen, welche die Juden im ganzen Mittelalter bis ins XIX. Jahrhundert erfahren hätten. Den Sklavensinn habe im Juden erst der Arier gezüchtet; und es gibt nicht wenige Christen, welche den Juden in dieser Weise ernstlich als ihre Schuld empfinden. Doch diese Gesinnung geht zu weit im Selbstvorwurf: es ist unzulässig, von Veränderungen zu sprechen, welche durch Einflüsse von _außen_ im Laufe der Generationen _im_ Menschen bewirkt worden seien, _ohne_ daß in diesem selber der äußeren Gelegenheit etwas entgegengekommen sei und ihr willig die Hand gereicht habe. Noch ist nicht bewiesen, daß es eine Vererbung _erworbener_ Eigenschaften gibt, und sicherer als bei den anderen Lebewesen bleibt, trotz aller Scheinanpassungen, beim _Menschen_ der Charakter des einzelnen wie der Rasse konstant. Nur die seichteste Oberflächlichkeit kann glauben, daß der Mensch durch seine Umgebung gebildet werde, ja es ist beschämend, an die Bekämpfung einer solchen, jeder freien Einsicht den Atem raubenden Anschauung auch nur eine Zeile wenden zu sollen. Wenn sich der Mensch ändert, so kann es nur von innen nach außen geschehen; oder es ist, wie beim Weibe, nie ein Wirkliches da, also das Nichts-Sein das ewig Gleichbleibende. Wie kann man übrigens an eine historische Erzeugung des Juden denken, da doch bereits das alte Testament sichtlich zustimmend davon spricht, wie _Jakob_, der Patriarch, seinen sterbenden Vater _Isaak_ belogen, seinen Bruder _Esau_ und seinen Schwieger _Laban_ übervorteilt hat? _Mit Recht_ aber wird von den Verteidigern der Juden geltend gemacht, daß diese, auch dem Prozentsatze nach, seltener schwere Verbrechen begehen als die Arier. Der Jude ist nicht eigentlich _anti_moralisch. Aber es müßte wohl hinzugefügt werden, daß er auch nicht den höchsten ethischen Typus vorstellt. Er ist vielmehr relativ _a_moralisch, nie sehr gut, noch je sehr böse, im Grunde keines von beiden, und eher _gemein_. _Daher fehlt dem Judentum, wie die Konzeption der Engel, auch der Begriff des Teufels_, die Personifikation des Guten nicht minder als die des Bösen. Durch den Hinweis auf das Buch Hiob, die Belialgestalt und den Eden-Mythus wird diese Behauptung nicht entkräftet. Zwar liegen jene modernen quellenkritischen Streitfragen, die Echtes und Entlehntes hier zu scheiden bemüht sind, auf einem Wege, den zu betreten ich mich nicht berufen fühle; was ich aber wohl weiß, ist dies, daß im psychischen Leben des heutigen Juden, sei er nun »aufgeklärt« oder sei er »orthodox«, weder ein teuflisches noch irgend ein engelhaftes Prinzip, weder Himmel noch Hölle auch nur die geringste religiöse Rolle spielen. -- Wenn also der Jude nie die höchste sittliche Höhe erreicht, so wird doch auch sicherlich Mord und Gewalttat von ihm viel seltener verübt als vom Arier; und hieraus wird eben das Fehlen jeder Furcht vor einem diabolischen Prinzipe erst völlig verständlich. Kaum minder oft als die Fürsprecher der _Juden_ berufen sich die Anwälte der _Frauen_ auf deren geringere Kriminalität als auf den Beweis ihrer vollendeteren Sittlichkeit. Die Homologie zwischen beiden scheint immer vollständiger zu werden. Es gibt keinen weiblichen Teufel, so wenig es einen weiblichen Engel gibt: nur die Liebe, jene trotzige Verneinung der Wirklichkeit, kann den Mann im Weibe ein himmlisches Wesen erblicken lassen, nur blinder Haß es für verderbt und schurkenhaft erklären. _Was dem Weibe wie dem Juden vielmehr durchaus abgeht, das ist $Größe$_, Größe in irgend welcher Hinsicht, überragende Sieger im Moralischen, großzügige Diener des Antimoralischen. Im arischen Manne sind das gute und das böse Prinzip der _kantischen_ Religionsphilosophie _beide beisammen und doch am weitesten auseinandergetreten_, um ihn streiten sein guter und sein böser Dämon. Im Juden sind, fast wie im Weibe, Gut und Böse noch nicht voneinander differenziert; es gibt zwar keinen jüdischen Mörder, doch es gibt auch keinen jüdischen Heiligen. Und so wird es wohl richtig sein, daß die wenigen Elemente des Teufelsglaubens in der jüdischen Überlieferung aus dem Parsismus und aus Babylon stammen. Die Juden leben sonach nicht als freie, selbstherrliche, zwischen Tugend und Laster wählende Individualitäten wie die Arier. Diese stellt sich ein jeder ganz unwillkürlich vor _wie eine Schar einzelner Männer_, jene wie ein, über eine weite Fläche ausgebreitetes, zusammenhängendes Plasmodium. Der Antisemitismus hat daraus oft fälschlich ein hartnäckiges bewußtes Zusammenhalten gemacht, und von der »jüdischen Solidarität« gesprochen. Das ist eine leicht begreifliche Verwechslung verschiedener Dinge. Wenn gegen irgend einen Unbekannten, welcher dem Judentum angehört, eine Beschuldigung erhoben wird, und nun alle Juden innerlich für den Betreffenden sich einsetzen, seine Unschuld wünschen, hoffen, und zu erweisen suchen: _so glaube man nur ja nicht, daß der betreffende Mensch als einzelner Jude sie irgendwie interessiere, sein individuelles Schicksal, weil es das eines Juden ist, mehr Mitleid bei ihnen erwecke als das eines ungerecht verfolgten Ariers_. Dies ist keineswegs der Fall. _Nur das gefährdete Juden$tum$, die Befürchtung, es könnte auf die Gesamtheit der Judenschaft, besser: auf das Jüdische überhaupt, auf die $Idee$ des Juden$tums$ ein schädlicher Schatten fallen, führt zu jenen Erscheinungen unwillkürlicher Parteinahme._ Es ist ganz so, wie wenn die Weiber jede einzelne Angehörige ihres Geschlechtes mit Wonne heruntersetzen hören, und selbst erniedrigen helfen, falls nur auf das Weib kein schlechtes Licht hiedurch geworfen werde: wenn nur kein Mann sich hiedurch abschrecken läßt, _überhaupt_ nach Frauen zu verlangen, wofern nur niemand an der »Liebe« irre, sondern weiter geheiratet wird, und nicht die alten Junggesellen sich vermehren. Nur die _Gattung_ wird verteidigt, nur das _Geschlecht_, beziehungsweise die _Rasse_ geschützt, nicht das _Individuum_; dieses kommt nur insoferne in Betracht, als es Angehöriger der Gruppe ist. _Der echte Jude wie das echte Weib, sie leben beide nur in der Gattung, nicht als Individualitäten._[90] Hieraus erklärt es sich, daß die _Familie_ (als biologischer, nicht als rechtlicher Komplex) bei keinem Volk der Welt eine so große Rolle spielt, wie bei den Juden; nächstdem bei den mit ihnen, wie sich zeigen wird, entfernt verwandten Engländern. Die Familie in diesem Sinne ist eben weiblichen, mütterlichen Ursprungs, und hat mit dem Staate, mit der Gesellschaftsbildung nichts zu tun. Die Zusammengehörigkeit der Familienmitglieder, nur als eine Folge des gemeinsamen Dunstkreises, ist am engsten bei den Juden. Jedem indogermanischen Manne, dem begabteren stets mehr als dem mittelmäßigen, aber auch dem gewöhnlichsten noch, ist dies eigen, daß er sich mit seinem _Vater_ nie völlig verträgt: weil ein jeder einen, wenn auch noch so leisen, unbewußten oder bewußt gewordenen _Zorn_ auf denjenigen Menschen empfindet, der ihn, ohne ihn zu fragen, zum Leben genötigt und ihm den Namen gegeben hat, der ihm bei der Geburt gutdünkte; von dem er zumindest hierin _abhängig_ gewesen ist, und der, auch nach jeder tieferen metaphysischen Anschauung, doch immer als in einem _Zusammenhange_ damit stehend betrachtet werden muß, daß der Sohn selbst in das Erdenleben wollte. Nur unter Juden kommt es vor, daß der Sohn ganz tief in der Familie _darinnensteckt_, und mit dem Vater in gemeiner Gemeinschaft sich wohl fühlt; fast nur unter Christen, daß Vater und Sohn wie Freund und Freund miteinander verkehren. Ja sogar die Töchter der Arier stehen noch immer eher außerhalb der Familie als die Jüdinnen, und öfter als diese ergreifen sie einen Beruf, der sie von Verwandten und Eltern entfernt und unabhängig macht. Auch ist hier die Probe auf die Ausführungen des vorigen Kapitels zu machen, welche das unindividuelle, vom anderen Menschen nicht durch die Grenzen des Einsamen geschiedene Leben als eine unerläßliche Voraussetzung der Kuppelei ansahen (S. 385). Männer, die kuppeln, haben immer Judentum in sich; _und damit ist der Punkt der $stärksten$ Übereinstimmung zwischen Weiblichkeit und Judentum erreicht_. Der Jude ist stets lüsterner, geiler, wenn auch merkwürdigerweise, vielleicht im Zusammenhange mit seiner nicht eigentlich _anti_moralischen Natur, sexuell weniger potent als der arische Mann. Nur Juden sind echte Heiratsvermittler, und nirgends erfreut sich Ehevermittlung durch Männer einer so ausgedehnten Verbreitung wie unter den Juden. Freilich ist eine Tätigkeit nach dieser Richtung hier dringender als sonst vonnöten; denn es gibt, wessen schon einmal gedacht wurde (Teil I, S. 51), kein Volk der Welt, in dem so wenig aus Liebe geheiratet würde wie unter ihnen: ein Beweis, mehr für die Seelenlosigkeit des absoluten Juden. Daß die Kuppelei eine organische Veranlagung im Juden ist, wird auch durch das Unverständnis des Juden für alle Askese nahe gelegt; aber erhärtet dadurch, daß die jüdischen Rabbinen es lieben, besonders eingehend über das Fortpflanzungsgeschäft zu spekulieren, und eine mündliche Tradition im Zusammenhange mit der Kinderzeugung pflegen; wie dies von den Obersten eines Volkes, dessen sittliche Hauptaufgabe, nach seiner Überlieferung wenigstens, es sein muß, »sich zu mehren«, kaum anders erwartet werden kann. Kuppelei ist schließlich Grenzverwischung: _und der Jude ist der Grenzverwischer κατ' εξοχήν_. Er ist der Gegenpol des Aristokraten; das Prinzip alles Aristokratismus ist strengste _Wahrung_ aller _Grenzen_ zwischen den Menschen. Der Jude ist geborener Kommunist, und immer will er die Gemeinschaft. Die Formlosigkeit des Juden im Verkehr, sein Mangel an gesellschaftlichem Takte gehen hierauf zurück. Alle Umgangsformen sind nur die feinen Mittel, um die Grenzen der persönlichen Monaden zu betonen und zu schützen; der Jude aber ist nicht Monadologe. Ich betone nochmals, obwohl es selbstverständlich sein sollte: trotz der abträglichen Wertung des echten Juden kann nichts mir weniger in den Sinn kommen, als durch diese oder die noch folgenden Bemerkungen einer theoretischen oder gar einer praktischen Judenverfolgung in die Hände arbeiten zu wollen. Ich spreche über das Judentum als platonische Idee -- _es gibt einen absoluten Juden so wenig als es einen absoluten Christen gibt_ -- ich spreche nicht von den einzelnen Juden, von denen ich so vielen nur höchst ungern wehe getan haben wollte, und deren manchem bitteres Unrecht geschehen würde, wenn das Gesagte auf ihn sollte angewendet werden. Losungen wie »Kauft nur bei Christen« sind _jüdisch_, denn sie betrachten und werten das Individuum nur als Gattungsangehörigen; ähnlich wie der jüdische Begriff des »Goy« jeden Christen einfach als solchen bezeichnet und auch schon subsumiert. Nicht also der Boykott, und nicht etwa die Austreibung der Juden oder ihre Fernhaltung von Amt und Würde ist hier befürwortet. Durch solche Mittel ist die Judenfrage nicht lösbar, denn sie liegen nicht auf dem Wege der Sittlichkeit. Aber auch der »Zionismus« ist ihr nicht gewachsen. Er will die Juden sammeln, die, wie H. S. _Chamberlain_ nachweist, längst vor der Zerstörung des jerusalemitischen Tempels zum Teile die Diaspora als ihr natürliches Leben, das Leben des über die ganze Erde fortkriechenden, die Individuation ewig hintertreibenden Wurzelstockes gewählt hatten, er will etwas _Un_jüdisches. _Die Juden müßten erst das Judentum überwunden haben, ehe sie für den Zionismus reif würden._ _Zu diesem Behuf aber wäre vor allem geboten, daß die Juden sich selbst verstehen, daß sie sich kennen lernen und gegen sich kämpfen, $innerlich$ das Judentum $in sich$ besiegen $wollten$._ Bis heute aber kennen sich die Juden nur so weit, daß sie Witze über sich machen und verständnisvoll goutieren -- nicht weiter. _Unbewußt_ nur achtet jeder Jude den Arier höher als sich selbst. Erst die feste und unerschütterliche Entschlossenheit, die höchste Selbstachtung sich zu ermöglichen, könnte den Juden vom Judentume befreien. Dieser Entschluß ist aber nur vom Individuum, nicht von einer Gruppe, und sei sie noch so stark, noch so ehrenhaft, zu fassen und auszuführen. Darum kann die Judenfrage nur _individuell_ gelöst werden, _jeder einzelne Jude muß sie für seine Person zu beantworten suchen_. Es gibt keine andere Lösung der Frage und kann keine andere geben; dem Zionismus wird sie nie gelingen. Der Jude freilich, der überwunden hätte, der Jude, der Christ geworden wäre, besäße dann allerdings auch das volle Recht, vom Arier als einzelner genommen, und nicht nach einer Rassenangehörigkeit mehr beurteilt zu werden, über die ihn sein moralisches Streben längst hinausgehoben hätte. Er mag unbesorgt sein: seinem gegründeten Anspruch wird niemand sich widersetzen wollen. Der höher stehende Arier hat immer das Bedürfnis den Juden zu achten, sein Antisemitismus ist ihm keine Freude und kein Zeitvertreib. Darum liebt er es nicht, wenn der Jude über den Juden Bekenntnisse ablegt; und wer es dennoch tut, kann, von seiner Seite fast noch weniger als von der stets so überaus empfindlichen Judenschaft, irgend Dank sich erhoffen. Zu allerletzt wünscht gerade der Arier, daß der Jude dem Antisemitismus durch die Taufe recht gebe. Aber auch diese Gefahr der äußersten Verkennung seines ehrlichsten Strebens darf den Juden, der die _innerliche_ Befreiung will, nicht bekümmern. Er wird darauf verzichten müssen, das Unmögliche zu leisten, sich als _Jude_ zu schätzen, wie es der Arier von ihm haben will, und danach trachten, sich als _Mensch_ ehren zu dürfen. Er wird die seelische Taufe des Geistes zu erreichen verlangen, welcher die äußerliche des Körpers symbolisch nur immer dann folgen mag. Die dem Juden so wichtige und so nötige Erkenntnis dessen, _was das Jüdische und das Judentum eigentlich $ist$_, wäre die Lösung eines der schwierigsten Probleme; das Judentum ist ein viel tieferes Rätsel, als wohl mancher Antisemiten-Katechismus glaubt, und im letzten Grunde wird es einer gewissen Dunkelheit wohl nie weit entzogen werden. Auch die Parallele mit dem Weibe wird uns nun bald verlassen; einstweilen vermag sie noch weiterzuhelfen. Im Christen liegen Stolz und Demut, im Juden Hochmut und Kriecherei miteinander im Kampf; in jenem Selbstbewußtsein und Zerknirschung, in diesem Arroganz und Devotion. Mit dem völligen Mangel des Juden an Demut hängt sein Unverständnis für die Idee der Gnade zusammen. Aus seiner knechtischen Veranlagung entspringt seine heteronome Ethik, der Dekalog, das unmoralischeste Gesetzbuch der Welt, welches für die gehorsame Befolgung eines mächtigen _fremden_ Willens das Wohlergehen auf _Erden_ in Aussicht stellt und die Eroberung der Welt verheißt. Das Verhältnis zum Jehovah, dem _abstrakten_ Götzen, vor dem er die Angst des _Sklaven_ hat, dessen Namen er nicht einmal _auszusprechen_ wagt, charakterisiert den Juden analog dem Weibe als einer fremden Herrschaft über sich bedürftig. _Schopenhauer_ definiert einmal: »Das Wort Gott bedeutet einen Menschen, der die Welt gemacht hat.« Für den Gott der Juden trifft dies allerdings zu. Von dem Göttlichen _im_ Menschen, dem »Gott, der mir im Busen wohnt,« weiß der echte Jude nichts; dem, was _Christus_ und _Plato_, _Eckhard_ und _Paulus_, _Goethe_ und _Kant_, was von den _vedischen Priestern_ bis auf _Fechners_ herrliche Schlußverse aus den »Drei Motiven und Gründen des Glaubens« jeder Arier unter dem Göttlichen gemeint hat, dem Worte »Ich werde bei euch sein alle Tage bis an der Welt Ende«: all dem steht er verständnislos gegenüber. Denn was im Menschen von Gott ist, das ist des Menschen Seele; _der absolute Jude aber ist seelenlos_. _So kann es denn gar nicht anders sein, als daß dem alten Testamente der Unsterblichkeitsglaube fehlt. Wer keine Seele hat, wie sollte der nach ihrer Unsterblichkeit ein Bedürfnis haben?_ Ebenso wie den Frauen fehlt den Juden, und zwar ganz allgemein, das _Unsterblichkeitsbedürfnis_: »Anima naturaliter christiana« -- so sagt _Tertullian_. Aus dem nämlichen Grunde aber gibt es unter den Juden -- H. S. _Chamberlain_ hat das richtig erkannt -- auch keine eigentliche Mystik, außer einer wüsten Superstitio und Interpretationsmagie, »die Kabbâla« genannt. Der jüdische Monotheismus hat mit echtem Glauben an Gott nichts, gar nichts zu tun, er ist vielmehr seine Negation, der »Afterdienst« des wahren Dienstes unter dem guten Prinzipe, die Homonymität des Judengottes und des Christengottes die ärgste Verhöhnung des letzteren. Hier ist keine Religion aus reiner Vernunft; eher ein Altweiberglaube aus schmutziger Angst. Warum wird aber aus dem orthodoxen Jehovah-Knecht so rasch und leicht ein Materialist, ein »Freigeist«? Warum ist das _Lessing_sche Wort vom »Aufkläricht«, trotz der Einrede des wohl nicht ohne guten Grund antisemitischen _Dühring_, wie auf das Judentum gemünzt? Hier ist der _Sklavensinn_ gewichen und hat seiner steten Kehrseite, der _Frechheit_, Platz gemacht: beide sind wechselnde Phasen eines und desselben Wollens im nämlichen Menschen. Die _Arroganz den Dingen gegenüber_, die nicht als Symbole eines Tieferen empfunden oder auch nur dunkel geahnt werden, der Mangel an »verecundia« auch vor dem Naturgeschehen, das führt zur jüdischen, materialistischen Form der Wissenschaft, wie sie leider heute eine gewisse Herrschaft erlangt hat, und intolerant gegen alle Philosophie geworden ist. Wenn man, wie es notwendig und allein richtig ist, das Judentum als eine _Idee_ betrachtet, an der auch der Arier mehr oder weniger _Anteil_ haben kann, dann wird wenig dagegen einzuwenden sein, wenn man an die Stelle der »_Geschichte des Materialismus_« lieber ein »_Wesen des Judentums_« gesetzt wissen will. »Das Judentum in der Musik« hat _Wagner_ besprochen; vom _Judentum in der Wissenschaft_ ist hier noch einiges zu sagen. Judentum im weitesten Sinne ist jene Richtung in der Wissenschaft, welcher diese vor allem _Mittel zum Zweck_ ist, alles Transcendente auszuschließen. Der Arier empfindet das Bestreben, _alles_ begreifen und ableiten zu wollen, als eine Entwertung der Welt, denn er fühlt, daß gerade das Unerforschliche es ist, das dem Dasein seinen Wert verleiht. Der Jude hat keine Scheu vor Geheimnissen, weil er nirgends welche ahnt. Sein Bestreben ist es, die Welt möglichst platt und gewöhnlich zu sehen, nicht um durch Klarheit dem ewig Dunklen sein ewiges Recht erst zu sichern, sondern um eine öde Selbstverständlichkeit des Alls zu erzeugen und die Dinge aus dem Wege zu räumen, welche einer freien Bewegung seiner Ellbogen auch im Geistigen entgegenstehen. Die _anti_philosophische (nicht die aphilosophische) Wissenschaft ist im Grunde jüdisch. Auch sind die Juden stets, eben weil ihre Gottesverehrung mit wahrer Religion gar keine Verwandtschaft hat, der mechanistisch-materialistischen Anschauung der Welt am wenigsten abhold gewesen; wie _sie_ am eifrigsten den _Darwinismus_ und die lächerliche Theorie von der Affenabstammung des Menschen aufgriffen, so wurden sie beinahe schöpferisch als Begründer jener _ökonomischen_ Auffassung der menschlichen Geschichte, welche den Geist aus der Entwicklung des Menschengeschlechtes am vollständigsten streicht. Früher die enragiertesten Anhänger _Büchners_, sind sie jetzt die begeistertsten Vorkämpfer _Ostwalds_. Es ist auch kein Zufall, daß die _Chemie_ heutzutage in so weitem Umfang in den Händen der Juden sich befindet, wie einst in den Händen der stammesverwandten Araber. Das Aufgehen in der Materie, das Bedürfnis, alles in ihr aufgehen zu lassen, setzt den Mangel eines intelligiblen Ich voraus, ist also wesentlich jüdisch. »_O curas Chymicorum! o quantum in pulvere inane!_« Dieser Hexameter ist freilich von dem _deutschesten_ Forscher aller Zeiten: der ihn gedichtet hat, heißt Johannes _Kepler_.[91] Es hängt mit dem Einflusse jüdischen Geistes auch sicherlich zusammen, daß die Medizin, welcher die Juden so scharenweise sich zuwenden, ihre heutige Entwicklung genommen hat. Stets, von den Wilden bis zur heutigen Naturheilbewegung, von der sich die Juden bezeichnenderweise gänzlich ferngehalten haben, hatte alle Heilkunst etwas Religiöses, war der Medizinmann der Priester. Die bloß _chemische_ Richtung in der Heilkunde -- das ist das Judentum. Sicherlich aber wird niemals das Organische aus dem Unorganischen, sondern höchstens dieses aus jenem zu erklären sein. Es ist kein Zweifel, daß _Fechner_ und _Preyer_ recht haben, die das Tote aus dem Lebenden, und nicht umgekehrt, entstanden sein lassen. Was wir täglich im _individuellen_ Leben vor sich gehen sehen: daß Organisches zu Anorganischem wird (schon durch die Verknöcherung und Verkalkung im Alter, die senile Arteriosklerose und Atheromatose, wird der Tod vorbereitet); indes noch niemand, aus Totem Lebendes hat erstehen sehen -- das sollte, im Sinne des »biogenetischen« Parallelismus zwischen Ontogenie und Phylogenie, auch auf die _Gesamtheit_ der anorganischen Materie angewendet werden. Hat die Lehre von der Urzeugung von _Swammerdam_ bis _Pasteur_ so viele Posten nacheinander aufgeben müssen, so wird sie auch ihren letzten Halt, den sie im monistischen Bedürfnis so vieler zu haben scheint, fahren lassen, wenn dieses anders und besser wird befriedigt werden können. Die Gleichungen für das tote Geschehen werden sich vielleicht einmal durch Einsetzung bestimmter Zeitwerte als _Grenz_fälle der Gleichungen des lebendigen Geschehens ergeben, nie umgekehrt das Lebende durch das Tote darstellbar sein. Die _Homunculus-Bestrebungen_ sind _Faust_ fremd, _Goethe_ hat sie nicht ohne Grund für _Wagner_, den Famulus, reserviert. Mit der Chemie ist wahrhaftig nur den Exkrementen des Lebendigen beizukommen; ist doch das Tote selbst nur ein Exkret des Lebens. Die chemische Anschauungsweise setzt den Organismus auf eine Stufe mit seinen Auswürfen und Abscheidungen. Wie anders sollten Erscheinungen zu erklären sein gleich dem Glauben eines Menschen, durch Ernährung mit mehr oder weniger Zucker das Geschlecht des werdenden Kindes beeinflussen zu können? Das _unkeusche Anpacken_ jener Dinge, die der Arier im Grunde seiner Seele immer als _Schickung_ empfindet, ist erst durch den Juden in die Naturwissenschaft gekommen. Die Zeit jener tiefreligiösen Forscher, für die ihr Objekt stets an einer übersinnlichen Dignität einen, wenn auch noch so geringen, Anteil hatte, für die es Geheimnisse gab, die vom Staunen kaum je sich erholten über das, was sie zu entdecken sich _begnadet_ fühlten, die Zeit eines _Kopernikus_ und _Galilei_, eines _Kepler_ und _Euler_, _Newton_ und _Linné_, _Lamarck_ und _Faraday_, Konrad _Sprengel_ und _Cuvier_ scheint vorüber. Die heutigen Freigeister, die, weil sie vom Geiste frei sind, an keine immanente Offenbarung eines Höheren im Naturganzen mehr zu glauben vermögen, sind, vielleicht eben darum, auch in ihrem besonderen wissenschaftlichen Fache nicht imstande, jene Männer wirklich zu ersetzen und zu erreichen. Aus diesem _Mangel an Tiefe_ wird auch klar, weshalb die Juden keine ganz großen Männer hervorbringen können, _weshalb dem Judentum_, wie dem Weibe, _die höchste Genialität versagt ist_. Der hervorragendste Jude der letzten neunzehnhundert Jahre, an dessen rein semitischer Abkunft zu zweifeln kein Grund vorliegt, und der sicherlich viel mehr Bedeutung besitzt als der, fast jeder _Größe_ entbehrende, Dichter _Heine_ oder der originelle, aber keineswegs tiefe Maler _Israels_, ist der Philosoph _Spinoza_. Die allgemein übliche ungeheure Überschätzung auch des letzteren geht weniger auf Vertiefung in seine Werke und ein Studium derselben, als auf den zufälligen Umstand zurück, daß er der einzige Denker ist, den _Goethe_ eingehender gelesen hat. Für _Spinoza_ selbst gab es eigentlich keine _Probleme_: darin zeigt er sich als echter Jude; sonst hätte er nicht jene »mathematische Methode« wählen können, die wie darauf berechnet ist, alles _selbstverständlich_ erscheinen zu lassen. Spinozas System war sein Schutzbau, in den er sich darum zurückzog, weil niemand so sehr wie er gemieden hat über sich nachzudenken; darum konnte es für denjenigen Menschen, der wohl am meisten, und schmerzvoller als alle anderen, über sich nachgedacht hat, darum konnte es für _Goethe_ eine Beruhigung und Erholung werden. Denn der wahrhaft bedeutende Mensch denkt, über was immer er denke, im Grunde doch immer nur über sich selbst nach. Und so gewiß _Hegel_ im Unrecht war, die logische Opposition wie eine reale Repugnanz zu behandeln, so gewiß geht doch auch das trockenste _logische Problem_ beim _tieferen_ Denker _psychologisch_ auf einen mächtigen _inneren Konflikt_ zurück. Spinozas System, in seinem voraussetzungslosen Monismus und Optimismus, in seiner vollkommenen Harmonie, die Goethe so hygienisch empfand, ist unleugbar keine Philosophie eines Gewaltigen: sie ist die Absperrung eines die Idylle suchenden, und ihrer doch nicht wirklich fähigen, weil gänzlich humorlosen Unglücklichen. Die Echtheit seines Judentums erweist Spinoza mehrfach, und läßt deutlich die Grenzen sichtbar werden, welche rein jüdischem Geiste immer gezogen sind: ich meine hier weniger sein Unverständnis für den Staatsgedanken und seine Anhängerschaft an den _Hobbes_schen »Krieg aller gegen alle« als angeblichen Urzustand der Menschheit. Was den relativen Tiefstand seiner philosophischen Anschauungen bezeugt, ist vielmehr sein völliges Unverständnis für die _Willensfreiheit_ -- der Jude ist stets Sklave und also Determinist -- und am meisten dies, daß für ihn, als _echten Juden_, die Individuen nur Accidenzen, nicht Substanzen, nur nicht-wirkliche Modi einer allein wirklichen, aller Individuation fremden unendlichen Substanz sind. Der Jude ist nicht Monadolog. Darum gibt es keinen tieferen Gegensatz als den zwischen _Spinoza_ und seinem weit bedeutenderen und universelleren Zeitgenossen _Leibniz_, dem Vertreter der _Monaden_-Lehre, und deren noch weit größerem Schöpfer _Bruno_, dessen Ähnlichkeit mit Spinoza eine oberflächliche Anschauung in einer ans Groteske streifenden Weise übertrieben hat.[92] Wie das »Radikal-Gute« und das »Radikal-Böse«, so fehlt aber dem Juden (_und dem Weibe_) _mit dem Genie_ auch das _Radikal-Dumme_ in der menschlichen, männlichen Natur. Die spezifische Art der Intelligenz, die dem Juden wie dem Weibe nachgerühmt wird, ist freilich einerseits nur _größere Wachsamkeit ihres größeren Egoismus_; anderseits beruht sie auf der unendlichen Anpassungsfähigkeit beider an alle beliebigen äußeren Zwecke ohne Unterschied: _weil sie keinen urwüchsigen Maßstab des Wertes, kein Reich der Zwecke in der eigenen Brust tragen_. Dafür haben sie ungetrübtere natürliche Instinkte, welche dem arischen Manne nicht in gleicher Weise zurückkehren, um ihm weiterzuhelfen, wenn ihn das Übersinnliche in seiner Intelligenz verlassen hat. Hier ist auch der Ort, der seit Richard _Wagner_ oft hervorgehobenen Ähnlichkeit des Engländers mit dem Juden zu gedenken. Denn sicherlich haben unter allen Germanen sie am ehesten eine gewisse Verwandtschaft mit den Semiten. Ihre Orthodoxie, ihre streng wörtliche Auslegung der Sabbatruhe weist darauf hin. Es ist in der Religiosität der Engländer nicht selten Scheinheiligkeit, in ihrer Askese nicht wenig Prüderie gelegen. Auch sind sie, wie die Frauen, weder durch Musik noch durch Religion je produktiv gewesen: es mag irreligiöse Dichter geben -- _sehr_ große Künstler können es nicht sein -- aber es gibt keinen irreligiösen Musiker. Und es hängt hiemit auch zusammen, warum die Engländer keinen bedeutenden Architekten, und nie einen hervorragenden Philosophen hervorgebracht haben. _Berkeley_ ist wie _Swift_ und _Sterne_ ein _Ire_, _Erigena_, _Carlyle_ und _Hamilton_, ebenso wie _Burns_, sind _Schotten_. _Shakespeare_ und _Shelley_, die zwei größten Engländer, bezeichnen noch lange nicht die Gipfel der Menschheit, sie reichen auch nicht entfernt hinan an _Dante_, oder an _Aischylos_. Und wenn wir nun die englischen »Philosophen« betrachten, so sehen wir, wie von ihnen seit dem Mittelalter stets die Reaktion gegen alle Tiefe ausgegangen ist: von _Wilhelm von Occam_ und _Duns Scotus_ angefangen, über _Roger Baco_ und seinen _Namensvetter den Kanzler_, den Spinoza so geistesverwandten _Hobbes_ und den seichten _Locke_, bis zu _Hartley_, _Priestley_, _Bentham_, den beiden _Mill_, _Lewes_, _Huxley_, _Spencer_. Damit sind aber aus der Geschichte der englischen Philosophie die wichtigsten Namen auch schon aufgezählt; denn Adam _Smith_ und David _Hume_ waren Schotten. _Vergessen wir niemals, daß uns aus England die seelenlose Psychologie gekommen ist!_ Der Engländer hat dem Deutschen als tüchtiger Empiriker, als Realpolitiker im Praktischen wie im Theoretischen imponiert, aber damit ist seine Wichtigkeit für die Philosophie auch erschöpft. Es hat noch nie einen tieferen Denker gegeben, der beim Empirismus stehen geblieben ist; und noch nie einen Engländer, der über ihn selbständig hinausgekommen wäre. Dennoch darf man den Engländer nicht mit dem Juden verwechseln. Im Engländer ist viel mehr Transcendentes als im Juden, nur ist sein Sinn mehr vom Transcendenten aufs Empirische, als vom Empirischen aufs Transcendente gerichtet. Sonst wäre er nicht so _humorvoll_, wie er es ist, indes dem Juden der Humor fehlt, indem dieser vielmehr selbst, nach der Sexualität, das ergiebigste Objekt alles Witzes ist. Ich weiß wohl, ein wie schwieriges Problem das Lachen und der Humor ist; so schwierig wie alles, was nur menschlich und nicht auch tierisch ist, so schwierig, daß _Schopenhauer_ gar nichts Rechtes, und selbst _Jean Paul_ nichts ganz Befriedigendes über den Gegenstand zu sagen weiß. Im Humor liegt zunächst vielerlei: für manche Menschen scheint er eine feinere Form des Mitleids mit anderen oder mit sich selbst zu bedeuten; aber damit ist nichts ausgesprochen, was gerade für den Humor ausschließlich charakteristisch wäre. In ihm mag bewußtes »Pathos der Distanz« zum Ausdruck kommen -- beim gänzlich unpathetischen Menschen; aber auch hiemit ist nichts gerade für ihn Entscheidendes gewonnen. Das Wesentlichste im Humor scheint mir eine _übermäßige Betonung des Empirischen_, um dessen _Unwichtigkeit_ eben hiedurch klarer darzustellen. Lächerlich ist im Grunde alles, was verwirklicht ist; und hierauf gründet sich der Humor, so ist er das Widerspiel der Erotik. Will diese aus dem Begrenzten ins Unbegrenzte, so läßt der Humor auf das Begrenzte sich nieder, schiebt es allein in den Vordergrund der Bühne, und stellt es bloß, indem er es von allen Seiten betrachtet. Nur der Humorist hat den Sinn für das Kleine und den Zug zum Kleinen; sein Reich ist weder Meer noch Gebirge, sein Gebiet ist das Flachland. Darum sucht er mit Vorliebe das Idyll auf und vertieft sich in jedes _Einzelding_: aber immer nur, um sein _Mißverhältnis_ zum _Ding an sich_ zu enthüllen. _Er blamiert die Immanenz, indem er sie von der Transcendenz gänzlich loslöst_, ja nicht einmal den Namen der letzteren mehr nennt. Der Witz sucht den Widerspruch innerhalb der Erscheinung auf, der Humor tut ihr den größeren Tort an, sie wie ein in sich geschlossenes Ganzes hinzustellen; _beide zeigen, was alles möglich ist_; und kompromittieren hiedurch am gründlichsten die Erfahrungswelt. Die Tragik hingegen tut dar, was in alle Ewigkeit _unmöglich_ ist, und so verneinen Komik und Tragik, jede auf ihre Weise, die Empirie, obwohl sie eine das Gegenteil der anderen zu sein scheinen. Der Jude, der nicht vom Übersinnlichen kommt wie der Humorist, und nicht zum Übersinnlichen will wie der Erotiker, hat kein Interesse, das Gegebene geringer zu werten: darum wird ihm das Leben nie zum Gaukelspiel, nie zum Tollhaus. Weil der Humor _höhere_ Werte kennt, als alle konkreten Dinge, und sie nur listig _verschweigt_, ist er seinem Wesen nach _tolerant_; die Satire, sein Gegenteil, ist ihrem Wesen nach _intolerant_ und entspricht darum besser der eigentlichen Natur des Juden wie der des Weibes. Juden und Weiber sind humorlos, aber spottlustig. In Rom hat es sogar eine Verfasserin von Satiren, _Sulpicia_ mit Namen, gegeben. Weil die Satire unduldsam ist, macht sie den Menschen in der Gesellschaft am leichtesten unmöglich. Der Humorist, der es zu verhindern weiß, daß die Kleinigkeiten und Kleinlichkeiten der Welt ihn und die anderen Menschen ernstlich zu bekümmern anfangen, ist der am liebsten gesehene Gast in jeder Gesellschaft. Denn der Humor räumt wie die Liebe Berge aus dem Wege; er ist eine Verhaltungsweise, die ein soziales Leben, d. h. eine Gemeinsamkeit unter einer _höheren_ Idee, sehr begünstigt. Der Jude ist denn auch nicht, der Engländer in hohem Maße sozial veranlagt. Der Vergleich des Juden mit dem Engländer versagt also noch viel früher als sein Vergleich mit dem Weibe. Der Grund, aus welchem dennoch hier wie dort Ausführlichkeit geboten schien, liegt in der Hitze des Kampfes, welcher um Wert und Wesen des Judentums seit längster Zeit geführt wird. Auch darf ich hier wohl auf _Wagner_ mich berufen, den das Problem des Judentums am intensivsten, von Anfang bis zuletzt, beschäftigt hat, und der nicht nur im Engländer einen Juden hat wieder entdecken wollen: auch über seiner _Kundry_, der tiefsten Frauengestalt der Kunst, schwebt unverkennbar der Schatten des _Ahasverus_. Noch mehr scheint es im Sinne der Parallele mit dem Weibe gelegen, und noch stärker verleitet zu ihrer voreiligen Annahme, daß -- nicht bloß für die Augen des Juden -- keine Frau der Welt die _Idee_ des Weibes so völlig repräsentiert wie die Jüdin. Selbst vom Arier wird sie ähnlich empfunden: man denke an _Grillparzers_ »Jüdin von Toledo«. Dieser Schein wird darum so leicht erregt, weil die Arierin vom Arier auch das Metaphysische als einen Sexualcharakter fordert, und von seinen religiösen Überzeugungen ebenso zu durchdringen ist, wie von seinen anderen Qualitäten (vgl. Kapitel 9 gegen Ende und Kapitel 12). In Wirklichkeit gibt es freilich dennoch nur Christen und nicht Christinnen. Die Jüdin aber kann, sowohl als kinderreiche Hausmutter wie als wollüstige Odaliske, die Weiblichkeit in ihren beiden Polen, als Kypris und als Kybele, darum vollständiger zu repräsentieren scheinen, weil der Mann, der sie sexuell ergänzt und geistig imprägniert, der Mann, der sie für sich geschaffen hat, selber so wenig Transcendentes in sich birgt. Die Kongruenz zwischen Judentum und Weiblichkeit _scheint_ eine völlige zu werden, sobald auf die unendliche Veränderungsfähigkeit des Juden zu reflektieren begonnen wird. Das große Talent der Juden für den Journalismus, die »Beweglichkeit« des jüdischen Geistes, der Mangel an einer wurzelhaften und ursprünglichen _Gesinnung_ -- lassen sie nicht von den Juden wie von den Frauen es gelten: _sie $sind$ nichts, und können eben darum alles $werden$_? Der Jude ist Individuum, aber nicht Individualität; dem niederen Leben ganz zugewandt, hat er kein Bedürfnis nach der persönlichen Fortexistenz: es fehlt ihm das wahre, unveränderliche, das metaphysische Sein, er hat keinen Teil am höheren, _ewigen Leben_. Und doch gehen gerade hier Judentum und Weiblichkeit in entscheidender Weise _auseinander_; _das Nicht-Sein und Alles-Werden-Können ist im Juden ein anderes als in der Frau_. Die Frau ist die Materie, die _passiv_ jede Form annimmt. Im Juden liegt zunächst unleugbar eine gewisse _Aggressivität_: nicht durch den großen Eindruck, den andere auf ihn hervorbringen, wird er rezeptiv, er ist nicht suggestibler als der Arier; sondern er paßt sich den verschiedenen Umständen und Erfordernissen, jeder Umgebung und jeder Rasse selbsttätig an; wie der Parasit, der in jedem Wirte ein anderer wird, und so völlig ein verschiedenes Aussehen gewinnt, daß man ein neues Tier vor sich zu haben glaubt, während er doch immer derselbe geblieben ist. Er assimiliert sich allem und assimiliert es so sich; und er wird hiebei nicht vom anderen unterworfen, sondern unterwirft sich so ihn. Das Weib ist ferner _gar nicht_, der Jude _eminent begrifflich_ veranlagt, womit auch seine Neigung für die Jurisprudenz zusammenhängt, welcher die Frau nie Geschmack abgewinnen wird; und auch in dieser begrifflichen Natur des Juden kommt seine _Aktivität_ zum Ausdruck, eine Aktivität freilich von ganz eigentümlicher Art, keine Aktivität der selbstschöpferischen Freiheit des höheren Lebens. Der Jude ist ewig wie das Weib, ewig nicht als Persönlichkeit, sondern als Gattung. _Er ist nicht unmittelbar wie der arische Mann, aber seine Mittelbarkeit ist trotzdem eine andere als die des Weibes._ Am tiefsten wird die Erkenntnis des eigentlich-jüdischen Wesens erschlossen durch die _Irreligiosität_ des Juden. Es ist hier nicht der Ort für eine Untersuchung des Religionsbegriffes, und es sei denn unter Religion, ohne eine Begründung, die notgedrungen langatmig werden und vom Thema weit abführen müßte, zunächst die _Bejahung alles ewigen, aus den Daten des niederen nie abzuleitenden, nie zu erweisenden höheren Lebens $im$ Menschen $durch$ den Menschen_ verstanden. _Der Jude ist der $ungläubige$_ Mensch. _Glaube_ ist jene Handlung des Menschen, durch welche er in Verhältnis zu einem _Sein_ tritt. Der _religiöse Glaube_ richtet sich nur speziell auf das _$absolute$ Sein_. _Und der Jude $ist$ nichts, im tiefsten Grunde darum, weil er nichts $glaubt$._ Glaube aber ist alles. Mag ein Mensch an Gott glauben oder nicht, es kommt nicht alles darauf an: wenn er nur wenigstens an seinen Atheismus glaubt. Das aber ist es eben; der Jude glaubt gar nichts, er glaubt nicht an seinen Glauben, er zweifelt an seinem Zweifel. Er ist nie ganz durchdrungen von seinem Jubel, aber ebensowenig fähig, völlig von seinem Unglück erfüllt zu werden. Er nimmt sich nie ernst, und darum nimmt er auch keinen anderen Menschen, keine andere Sache wahrhaft ernst. _Hiemit ist die wesentliche Differenz zwischen dem Juden und dem Weibe endlich bezeichnet._ Ihre Ähnlichkeit beruht zu allertiefst darauf, daß er, so wenig wie sie, _an sich selbst_ glaubt. Aber _sie_ glaubt an den _anderen_, an den Mann, an das Kind, an »die Liebe«; sie hat einen Schwerpunkt, nur liegt er außerhalb ihrer. _Der Jude aber glaubt nichts, weder in sich noch außer sich_; auch im Fremden hat er keinen Halt, auch in ihm schlägt er keine Wurzeln gleich dem Weibe. Und nur gleichsam symbolisch erscheint sein Mangel an irgend welcher Bodenständigkeit in seinem so tiefen Unverständnis für allen Grundbesitz und seiner Vorliebe für das mobile Kapital. Die Frau glaubt an den Mann, an den Mann außer sich oder an den Mann in sich, an den Mann, von dem sie geistig imprägniert worden ist, und kann auf diese Weise sogar sich selbst ernst nehmen.[93] Der Jude hält nie etwas wirklich für echt und unumstößlich, für heilig und unverletzbar. Darum ist er überall frivol, und alles bewitzelnd; er glaubt keinem Christen sein Christentum, geschweige denn einem Juden die Ehrlichkeit seiner Taufe. Aber er ist auch nicht wirklich realistisch und keineswegs ein echter Empiriker. Hier ist an den früheren Aufstellungen, die, zum Teile, an H. S. _Chamberlain_ sich anschlossen, die wichtigste Einschränkung vorzunehmen. Der Jude ist nicht eigentlich immanent wie der englische Erfahrungsphilosoph; denn der Positivismus des bloßen Empiristen glaubt an einen Abschluß alles menschenmöglichen Wissens im Bereiche der Sinnfälligkeit, er hofft auf die Vollendung des Systemes exakter Wissenschaft. Der Jude aber glaubt auch an das Wissen nicht; und doch er ist darum keineswegs Skeptiker, denn ebensowenig ist er vom Skeptizismus überzeugt. Dagegen waltet noch über einem gänzlich ametaphysischen Systeme wie dem des _Avenarius_ eine weihevolle Sorgfalt, ja selbst über die relativistischen Anschauungen von Ernst _Mach_ ist eine vertrauensvolle _Frömmigkeit_ ausgebreitet. Der Empirismus mag nicht tief sein; jüdisch ist er darum nicht zu nennen. _Der Jude ist der unfromme Mensch im weitesten Sinne._ Frömmigkeit aber ist der Grund von allem, und die Basis, auf der alles andere erst sich erhebt. Man hält den Juden schon für prosaisch, weil er nicht schwungvoll ist, und nach keinem Urquell des Seins sich sehnt; mit Unrecht. Alle echte innere Kultur, und was immer ein Mensch für Wahrheit halte, daß es für ihn Kultur, daß es für ihn Wahrheit, daß es für ihn Werte gibt, das ruht auf dem Grunde des Glaubens, es bedarf der Frömmigkeit. Und Frömmigkeit ist nicht etwas, das bloß in der Mystik und in der Religion sich offenbart; auch aller Wissenschaft und aller Skepsis, allem, womit der Mensch es _innerlich ernst meint_, liegt _sie_ am tiefsten zu Grunde. Daß sie auf verschiedene Weise sich äußern mag, ist sicher: Begeisterung und Sachlichkeit, hoher Enthusiasmus und tiefer Ernst, das sind die zwei vornehmsten Arten, in welchen sie zum Vorschein gelangt. Der Jude ist nie schwärmerisch, aber er ist auch nicht eigentlich nüchtern; er ist nicht ekstatisch, aber er ist auch nicht trocken. Fehlt ihm der niedere wie der geistige Rausch, ist er so wenig Alkoholiker, als höherer Verzückung fähig, so ist er darum noch nicht kühl, und noch in weiter Ferne von der Ruhe überzeugender Argumentation: seine Wärme schwitzt, und seine Kälte dampft. Seine Beschränkung wird immer Magerkeit, seine Fülle immer Schwulst. Kommt er, wenn er zur schrankenlosen Begeisterung des Gefühles den Aufflug wagt, nie weit über das Pathetische hinaus, so unterläßt er, auch wenn er in den engsten Fesseln des Gedankens sich zu bewegen unternimmt, doch nicht, geräuschvoll mit seinen Ketten zu rasseln. Und drängt es ihn auch kaum zum Kuß der ganzen Welt, er bleibt gegen sie darum nicht minder zudringlich. Alle Sonderung und alle Umschlingung, alle Strenge und alle Liebe, alle Sachlichkeit und alles Hymnische, jede wahre, unverlogene Regung im Menschenherzen, sei sie ernst oder freudig, ruht zuletzt auf der Frömmigkeit. Der Glaube muß nicht, wie im Genius, im religiösesten Menschen, auf eine metaphysische Entität sich beziehen -- Religion ist Setzung seiner selbst und der Welt mit sich selbst -- er mag auch auf ein empirisches Sein sich erstrecken, und hierin gleichsam völlig aufzugehen scheinen: es ist doch nur ein und derselbe Glaube an ein Sein, an einen Wert, eine Wahrheit, an ein Absolutes, an einen Gott. Religion ist Schöpfung des Alls; und alles, was im Menschen _ist_, ist nur durch _Religion_. Der Jude ist demnach nicht der religiöse Mensch, wofür man ihn so oft ausgegeben hat; sondern der irreligiöse Mensch κατ' εξοχήν.[94] Soll ich dies nun noch begründen? Soll ich lange ausführen, wie der Jude ohne Eifer im Glauben ist, und darum die jüdische Konfession die einzige, die um keinen Proselyten wirbt, der zum Judentum Übergetretene dessen Bekennern selbst das größte Rätsel und die größte Verlegenheit?[95] Soll ich über das Wesen des jüdischen Gebetes hier mich verbreiten und seine Formelhaftigkeit, seinen Mangel an jener Inbrunst, die nur der Augenblick geben kann, betonen? Soll ich endlich wiederholen, was die jüdische Religion ist: keine Lehre vom Sinn und Zweck des Lebens, sondern eine historische Tradition, zusammenzufassen in dem einen Übergang durchs rote Meer, gipfelnd also in dem Danke des flüchtenden Feigen an den mächtigen Erretter? Es wäre wohl auch sonst klar: der Jude ist der irreligiöse Mensch, und von jedem Glauben am allerweitesten entfernt. Er setzt nicht sich selbst und mit sich die Welt, worin das Wesentliche in der Religion besteht. Aller Glaube ist heroisch: der Jude aber kennt weder den Mut noch das Fürchten, als das Gefühl des bedrohten Glaubens; er ist weder sonnenhaft noch dämonisch. Nicht also, wie _Chamberlain_ glaubt, Mystik, sondern _Frömmigkeit_ ist das, was dem Juden zu allerletzt mangelt. Wäre er nur ehrlicher Materialist, wäre er nur bornierter Entwicklungsanbeter! Aber er ist nicht Kritiker, sondern nur Kritikaster, er ist nicht Skeptiker nach dem Bilde des _Cartesius_, nicht Zweifler, um aus dem größten Mißtrauen zur größten Sicherheit zu gelangen; sondern absoluter Ironiker wie -- hier kann ich eben nur einen Juden nennen -- wie Heinrich _Heine_. Er ist gar nicht echter Revolutionär (denn woher käme ihm die Kraft und der innere Elan der Empörung?), und unterscheidet sich eben hiedurch vom _Franzosen_: er ist nur zersetzend, und gar nie wirklich zerstörend. Und was ist er nun selbst, der Jude, wenn er nichts von alledem ist, was sonst ein Mensch sein kann? Was geht in ihm wahrhaft vor, wenn er ohne irgend welches Letzte ist, ohne einen Grund, auf den das Senkblei des Psychologen am Ende doch hart und vernehmlich stieße? Des Juden psychische Inhalte sind sämtlich mit einer gewissen Zweiheit oder Mehrheit behaftet; _über diese Ambiguität, diese Duplizität, ja Multiplizität kommt er nie hinaus_. Er hat immer _noch_ eine Möglichkeit, noch _viele_ Möglichkeiten, wo der Arier, ohne ärmer im Blicke zu sein, unbedingt sich entscheidet und wählt. Diese innere Vieldeutigkeit, diesen Mangel an unmittelbarer innerer _Realität_ irgend eines psychischen Geschehens, die Armut an jenem An- und Fürsich-Sein, aus welchem allein höchste Schöpferkraft fließen kann, glaube ich als die Definition dessen betrachten zu müssen, was ich das Jüdische als Idee genannt habe.[96] _Es ist wie ein Zustand $vor$ dem $Sein$_, ein ewiges Irren draußen vor dem Tore der Realität. Mit nichts kann der Jude sich wahrhaft identifizieren, für keine Sache sein Leben ganz und gar einsetzen.[97] Nicht der Eiferer, sondern der Eifer fehlt dem Juden: weil ihm alles Ungeteilte, alles Ganze fremd ist. Es ist die _Einfalt_ des _Glaubens_, die ihm abgeht, und weil er diese _Einfalt_ nicht hat, und keine wie immer geartete letzte _Position_ bedeutet, darum scheint er gescheiter als der Arier, und entwindet sich _elastisch_ jeder Unterdrückung.[98] _Innerliche Vieldeutigkeit_, ich möchte es wiederholen, _ist das absolut Jüdische, Einfalt das absolut Unjüdische_. Die Frage des Juden ist die Frage, die Elsa an Lohengrin richtet: die Unfähigkeit, irgend einer Verkündigung, sei es auch der inneren Offenbarung, die Unmöglichkeit, _irgend_ einem _Sein_ schlechthin zu _glauben_. Man wird vielleicht einwenden, jenes zwiespältige Sein finde sich nur bei den zivilisierten Juden, in welchen die alte Orthodoxie neben der modernen Gesittung noch fortwirke. Aber das wäre weit gefehlt. Seine Bildung läßt das Wesen des Juden nur darum stets noch klarer zum Vorschein kommen, weil es so an Dingen sich betätigt, die mit tieferem Ernste erwogen sein wollen, als materielle Geldgeschäfte. Der Beweis, daß der Jude an sich nicht eindeutig ist, läßt sich erbringen: der Jude _singt_ nicht. Nicht aus Schamhaftigkeit, sondern weil er sich seinen Gesang nicht _glaubt_. So wenig die Vieldeutigkeit des Juden mit eigentlicher, realer Differenziertheit oder Genialität, so wenig hat seine eigentümliche Scheu vor dem Gesang, oder auch nur vor dem lauten hellen Worte, mit echter Zurückhaltung etwas zu tun. Alle Scham ist stolz; jene Abneigung des Juden ist aber ein Zeichen seiner _inneren Würdelosigkeit_: denn das unmittelbare Sein versteht er nicht, und er würde sich schon lächerlich finden und kompromittiert fühlen, wenn er nur sänge. Schamhaftigkeit umfaßt alle Inhalte, die mit dem Ich des Menschen, durch eine innige Kontinuität fester verknüpft sind; die fragliche Gêne des Juden aber erstreckt sich auch auf Dinge, die ihm keineswegs heilig sein können, die er also nicht zu profanieren fürchten müßte, wenn er öffentlich die Stimme würde erheben sollen. Und abermals trifft dies mit der Unfrömmigkeit des Juden zusammen: denn alle Musik ist absolut, und besteht wie losgelöst von aller Unterlage; nur darum hat sie unter allen Künsten die engste Beziehung zur Religion, und ist der einfache Gesang, der eine einzelne Melodie mit ganzer Seele erfüllt, unjüdisch wie jene. Ich glaube nun gerade deutlich genug gewesen zu sein, um nicht darüber schlecht verstanden zu werden, was ich mit dem eigentlichen Wesen des Judentums meine. _Ibsens_ König _Håkon_ in den »Kronprätendenten«, sein Dr. _Stockmann_ im »Volksfeind« mögen es, wenn es dessen bedürfen sollte, noch klarer machen, was dem echten Juden in alle Ewigkeit unzugänglich ist: _das unmittelbare Sein_, _das Gottesgnadentum_, _der Eichbaum_, _die Trompete_, _das Siegfriedmotiv_, _die Schöpfung seiner selbst_, _das Wort: $ich bin$_. Der Jude ist wahrhaftig das »Stiefkind Gottes auf Erden«; und es gibt denn auch keinen (männlichen) Juden, der nicht, wenn auch noch so dumpf, an seinem Judentum, das ist im tiefsten Grunde, an seinem Unglauben, $litte$. Judentum und Christentum, jenes das zerrissenste, der inneren Identität barste, dieses das glaubenskräftigste, gottvertrauendste Sein, sie bilden so den weitesten, unermeßlichsten Gegensatz. Christentum ist höchstes Heldentum; der Jude aber ist nie einheitlich und ganz. Darum eben ist der Jude feige, und der Heros sein äußerster Gegenpol. H. S. _Chamberlain_ hat von dem furchtbaren, unheimlichen Unverständnis des echten Juden für die Gestalt und die Lehre Christi, für den Krieger wie für den Dulder in ihm, für sein Leben wie für sein Sterben, viel Wahres und Treffendes gesagt. Aber es wäre irrig, zu glauben, der Jude _hasse_ Christum; der Jude ist nicht der Antichrist, _er hat zu Jesus nur eigentlich gar keine Beziehung_; es gibt streng genommen nur Arier -- Verbrecher -- die Christum _hassen_. Der Jude fühlt sich durch ihn nur, als ein seinem Witze nicht recht Angreifbares, weil seinem Verständnis Entrücktes, _gestört_ und unangenehm _geärgert_. Dennoch ist die Sage vom Neuen Testament als reifster Blüte und höchster Vollendung des Alten, und die künstliche Vermittelung, welche das letztere den messianischen Verheißungen des ersteren angepaßt hat, den Juden sehr zustatten gekommen; sie ist ihr stärkster äußerer Schutz gewesen. Daß nun trotz dieses polaren Verhältnisses gerade aus dem Judentum das Christentum hervorgegangen ist, bildet eines der tiefsten psychologischen Rätsel: es ist kein anderes Problem als die Psychologie des Religionsstifters, um die es sich hier handelt.[99] Wodurch unterscheidet sich der geniale Religionsstifter von allem übrigen Genie? Welche innere Notwendigkeit treibt ihn, Religion zu stiften? _Es kann keine andere sein, als daß er selbst nicht immer an den Gott geglaubt hat, den er verkündet._ Die Überlieferung erzählt von _Buddha_ wie von _Christus_, welchen Versuchungen sie ausgesetzt waren, viel stärkeren als alle anderen Menschen. Zwei weitere, _Mohammed_ und _Luther_, sind _epileptisch_ gewesen. Die _Epilepsie_ aber ist _die Krankheit des Verbrechers_: _Cäsar_, _Narses_, _Napoleon_, die »großen« Verbrecher, haben sämtlich an der Fallsucht gelitten, und _Flaubert_ und _Dostojewskij_, welche zu ihr wenigstens tendierten, hatten beide außerordentlich viel vom Verbrecher in sich, ohne natürlich Verbrecher zu _sein_. _Der Religionsstifter ist jener Mensch, der ganz gottlos gelebt und dennoch zum höchsten Glauben sich durchgerungen hat._ »Wie es möglich sei, daß ein natürlicherweise böser Mensch sich selbst zum guten Menschen mache, das übersteigt alle unsere Begriffe; denn wie kann ein böser Baum gute Früchte bringen?« so fragt _Kant_ in seiner Religionsphilosophie, und _bejaht dennoch prinzipiell_ diese Möglichkeit: »Denn, ungeachtet jenes Abfalles erschallt doch das Gebot: wir _sollen_ bessere Menschen werden, unvermindert in unserer Seele; folglich müssen wir es auch _können_ ..« Jene unbegreifliche Möglichkeit der vollständigen _Wiedergeburt_ eines Menschen, der alle Jahre und Tage seines früheren Lebens als böser Mensch gelebt hat, dieses hohe Mysterium ist in jenen sechs oder sieben Menschen _verwirklicht_, welche die großen Religionen der Menschheit begründet haben. Hiedurch scheiden sie sich vom eigentlichen Genie: in diesem überwiegt von Geburt an die Anlage zum Guten. Alle Genialität ist nur höchste Freiheit vom Naturgesetz. »Von der Gewalt, die alle Wesen bindet, Befreit der Mensch sich, der sich überwindet.« _Wenn dies so sich verhält, dann ist der Religionsstifter der genialste Mensch._ Denn er hat _am meisten_ überwunden. Er ist der Mensch, dem das gelungen ist, was die tiefsten Denker der Menschheit nur zaghaft, nur um ihre ethische Weltanschauung, um die _Freiheit_ der _Wahl_ nicht preisgeben zu müssen, als möglich hingestellt haben: _die völlige Neugeburt des Menschen_, seine »Regeneration«, die gänzliche Umkehr des Willens. Die anderen großen Geister haben zwar auch den Kampf mit dem Bösen zu führen, aber bei ihnen neigt die Wagschale von vornherein entschieden zum Guten. Nicht so beim Religionsgründer. In ihm ist so viel Böses, so viel Machtwille, so viel irdische Leidenschaft, daß er 40 Tage in der Wüste, ununterbrochen, ohne Nahrung, ohne Schlaf, mit dem Feind in sich kämpft. Erst dann hat er gesiegt: nicht zum Tode ist er eingegangen, sondern das höchste Leben hat er in sich befreit. Wäre das anders, so fehlte jeder Impuls zur Glaubensstiftung. Der Religionsgründer will und muß nichts anderes den Menschen bringen, als was ihm, dem belastetsten von allen, gelungen ist: den Bund mit der Gottheit zu schließen. Er weiß, daß er der schuldbeladenste Mensch ist; und er sühnt die _größte_ Schuldsumme durch den Tod am Kreuze. Im Judentum waren zwei Möglichkeiten. Vor _Christi_ Geburt lagen sie noch beisammen, und es war noch nicht gewählt worden. Es war eine Diaspora da, und zugleich wenigstens eine Art Staat: Negation und Position, beide waren nebeneinander vorhanden. _Christus ist der Mensch, der die stärkste Negation, das Judentum, in sich überwindet, und so die stärkste Position, das Christentum, als das dem Judentum Entgegengesetzteste, schafft._ Aus dem Zustand _vor_ dem Sein _trennen_ sich Sein und Nicht-Sein. _Jetzt_ sind die Lose gefallen: das alte Israel scheidet sich in Juden und in Christen, der _Jude_, wie wir ihn kennen, wie ich ihn beschrieben habe, entsteht $zugleich$ mit dem _Christen_. Die Diaspora wird nun vollständig, und aus dem Judentum verschwindet die Möglichkeit zur Größe: Menschen wie _Jesaias_, jenen gewaltigsten Mann des alten Israel, hat das _Judentum_ seither nicht wieder hervorbringen können. _Christentum und Judentum bedingen sich welthistorisch wie Position und Negation._ In Israel waren die höchsten Möglichkeiten, die je einem Volke beschieden waren: die Möglichkeit Christi. _Die andere Möglichkeit ist der Jude._ Ich hoffe nicht mißverstanden zu werden: ich will dem Judentum nicht eine Beziehung zum Christentum andichten, die ihm fremd ist. _Das Christentum ist die absolute Negation des Judentums; aber es hat zu diesem dasselbe Verhältnis, welches alle Dinge mit ihren Gegenteilen, jede Position mit der Negation verbindet, welche durch sie überwunden ist._[100] Noch mehr als Frömmigkeit und Judentum, sind Christentum und Judentum nur _aneinander_, und durch ihre wechselseitige Ausschließung, zu definieren. _Das Judentum ist der Abgrund, über dem das Christentum aufgerichtet ist, und darum der Jude die stärkste Furcht und die tiefste Abneigung des Ariers._[101] Ich vermag nicht mit _Chamberlain_ zu glauben, daß die Geburt des Heilands in Palästina ein bloßer Zufall könne gewesen sein. _Christus war ein Jude, aber nur, um das Judentum in sich am vollständigsten zu überwinden_; denn wer über den mächtigsten _Zweifel_ gesiegt hat, der ist der _gläubigste_, wer über die ödeste _Negation_ sich erhoben hat, der _positivste_ Bejaher. _Christus ist der größte Mensch, weil er am größten Gegner sich gemessen hat._ Vielleicht ist er der einzige Jude und wird es bleiben, dem dieser Sieg über das Judentum gelungen: der erste Jude wäre der letzte, der ganz und gar _Christ_ geworden ist; vielleicht aber liegt auch heute noch im Judentum die Möglichkeit, den Christ hervorzubringen, vielleicht sogar _muß_ auch der nächste Religionsstifter abermals erst durch das _Judentum_ hindurchgehen. Wenn also im Juden vielleicht noch immer die höchsten _Möglichkeiten_, so liegen doch in ihm die geringsten _Wirklichkeiten_; er ist wohl der _zum Meisten veranlagte_, und doch zugleich der _innerlich des Wenigsten mächtige_ Mensch. * * * * * Unsere heutige Zeit läßt das Judentum auf der höchsten Höhe erblicken, die es seit den Tagen des _Herodes_ erklommen hat. _Jüdisch_ ist der _Geist der Modernität_, von wo man ihn betrachte. Die Sexualität wird bejaht, und die heutige Gattungsethik singt zum Koitus den Hymenaios. Der unglückliche _Nietzsche_ ist wahrhaftig nicht verantwortlich für die große Vereinigung von natürlicher Zuchtwahl und natürlicher Unzuchtwahl, deren schmählicher Apostel sich Wilhelm _Bölsche_ nennt. _Er_ hat Verständnis gehabt für die Askese, und nur unter der eigenen zu sehr gelitten, um nicht ihr Gegenteil oft wünschenswerter zu finden. Aber Weiber und Juden kuppeln, ihr Ziel ist es: den Menschen schuldig werden lassen. Unsere Zeit, die nicht nur die jüdischeste, sondern auch die weibischeste aller Zeiten ist; die Zeit, für welche die Kunst nur ein Schweißtuch ihrer Stimmungen abgibt, die den künstlerischen Drang aus den Spielen der Tiere abgeleitet hat; die Zeit des leichtgläubigsten Anarchismus, die Zeit ohne Sinn für Staat und Recht, die Zeit der Gattungs-Ethik, die Zeit der seichtesten unter allen denkbaren Geschichtsauffassungen (des historischen Materialismus), die Zeit des Kapitalismus und des Marxismus, die Zeit, der Geschichte, Leben, Wissenschaft, alles nur mehr Ökonomie und Technik ist; die Zeit, die das Genie für eine Form des Irrsinns erklärt hat, die aber auch keinen einzigen großen Künstler, keinen einzigen großen Philosophen mehr besitzt, die Zeit der geringsten Originalität und der größten Originalitätshascherei; die Zeit, die an die Stelle des Ideals der Jungfräulichkeit den Kultus der Demi-Vierge gesetzt hat: _diese Zeit hat auch den Ruhm, die erste zu sein, welche den Koitus bejaht und angebetet hat_. Aber dem neuen Judentum entgegen drängt ein neues Christentum zum Lichte; die Menschheit harrt des neuen Religionsstifters, und der Kampf drängt zur Entscheidung wie im Jahre eins. Zwischen Judentum und Christentum, zwischen Geschäft und Kultur, zwischen Weib und Mann, zwischen Gattung und Persönlichkeit, zwischen Unwert und Wert, zwischen irdischem und höherem Leben, zwischen dem Nichts und der Gottheit hat abermals die Menschheit die Wahl. Das sind die beiden Pole: es gibt kein drittes Reich. XIV. Kapitel. Das Weib und die Menschheit. Nun erst ist es möglich, gereinigt und gewaffnet nochmals vor die Frage der Emanzipation des Weibes zu treten. Gereinigt, weil nun nicht mehr die tausend fliegenden Mücken jener Zweideutigkeiten, welche den Gegenstand umspielen, den Blick trüben; gewaffnet, weil im Besitze fester theoretischer Begriffe und sicherer ethischer Anschauungen. Fern ab von dem Tummelplatze der gewöhnlichen Kontroversen und selbst weit über das Problem der ungleichen Begabung hinaus ist die Untersuchung an Punkte gelangt, welche die Rolle des Weibes im Weltganzen und den Sinn seiner Mission für den Menschen ahnen ließen. Darum sollen auch hier Fragen von allzu besonderem Charakter in die Erörterung nicht einbezogen werden; diese ist nicht optimistisch genug, auf die Führung politischer Geschäfte von ihren Resultaten einen Einfluß zu erhoffen. Darum verzichtet sie auf die Ausarbeitung sozialhygienischer Vorschläge, und behandelt das Problem vom Standpunkte jener Idee der Menschheit, die über der Philosophie von _Immanuel Kant_ schwebt. Die Gefahr ist groß, welche dieser Idee von der Weiblichkeit droht. Den Frauen ist in hohem Grade die Kunst verliehen den Schein zu erregen, als wären sie eigentlich asexuell und ihre Sexualität nur eine Konzession an den Mann. Denn fiele dieser Schein weg, wo bliebe dann die Konkurrenz mehrerer, vieler um eine? Sie haben aber, unterstützt von Männern, die es ihnen glaubten, heute dem anderen Geschlechte beinahe dies einzureden vermocht, daß des Mannes wichtigstes, eigentlichstes Bedürfnis die Sexualität sei, daß er erst vom Weibe Befriedigung seiner wahrsten und tiefsten Wünsche erhoffen dürfe, daß Keuschheit für ihn ein Unnatürliches und Unmögliches bilde. Wie oft können junge Männer, die in ernster Arbeit Genugtuung finden, von Frauen, denen sie nicht allzuhäßlich vorkommen, und, als Liebhaber oder Schwiegersöhne, nicht allzuwenig zu versprechen scheinen, es vernehmen, daß sie nicht so übermäßig studieren, vielmehr »ihr Leben genießen« sollten. In diesen freundlichen Mahnungen liegt, natürlich gänzlich unbewußt, ein Gefühl des Weibes, seine einzig auf den Begattungsakt gerichtete Sendung zu verfehlen, _nichts mehr zu sein_, mit seinem ganzen Geschlechte alle Bedeutung zu verlieren, sowie der Mann um andere als um sexuelle Dinge sich zu bekümmern anfängt. Ob sich die Frauen hierin je ändern werden, ist fraglich. Man darf auch nicht glauben, daß sie je anders gewesen sind. Heute mag das sinnliche Element stärker hervortreten als früher, denn unendlich viel in der »Bewegung« ist nur ein Hinüberwollen von der Mutterschaft zur Prostitution; sie ist als Ganzes mehr Dirnen-Emanzipation als Frauen-Emanzipation, und sicherlich ihren wirklichen Resultaten nach vor allem: ein mutigeres Hervortreten des kokottenhaften Elementes im Weibe. Was _neu_ scheint, das ist das Verhalten der _Männer_. Mit unter dem Einfluß des Judentums sind sie heute nahe daran, der weiblichen Wertung ihrer selbst sich zu fügen, ja selber sie sich anzueignen. Die männliche Keuschheit wird verlacht, gar nicht mehr _verstanden_, das Weib vom Manne nicht mehr als Sünde, als _Schicksal_ empfunden, die eigene Begierde weckt im Manne keine Scham mehr. Man sieht jetzt, _woher_ die Forderung des Sich-Auslebens, der Kaffeehausbegriff des Dionysischen, der Kult _Goethes_, soweit Goethe _Ovid_ ist, woher diese ganze moderne _Koitus-Kultur_ eigentlich stammt. Denn es ist so weit, daß kaum je einer noch den Mut findet, zur Keuschheit sich zu bekennen, und fast jeder lieber so tut, als wäre er ein Wüstling. Geschlechtliche Ausschweifungen bilden den beliebtesten Gegenstand der _Renommage_, ja die Sexualität wird so hoch gewertet, daß der Renommist schon Mühe hat, Glauben zu finden; die Keuschheit hingegen steht in so geringem Ansehen, daß gerade der wahrhaft Keusche oft hinter dem Scheine des Roué sich verbirgt. Es ist sicher wahr, daß der Schamhafte auch seiner Scham sich _schämt_; aber jene andere, heutige Scham ist nicht die Scham der Erotik, sondern die Scham des Weibes, weil es noch keinen Mann gefunden, noch keinen Wert vom anderen Geschlechte empfangen hat. Darum ist einer dem anderen zu zeigen beflissen, mit welcher _Treue_ und pflichtgemäßer _Wonne_ er die sexuellen Funktionen ausübt. So bestimmt heute das Weib, das seiner Natur nach am Manne nur die sexuelle Seite schätzen kann, was männlich ist: aus seinen Händen nehmen die Männer den Maßstab ihrer Männlichkeit entgegen. So ist die Zahl der Beischläfe, das »Verhältnis«, das »Mädel«, in der Tat die _Legitimation eines Masculinums vor dem anderen_ geworden. Doch nein: denn dann gibt es keine Männer mehr. Dagegen ist alle Hochschätzung der _Virginität ursprünglich_ vom Manne ausgegangen, und geht, wo es Männer gibt, noch immer von da aus: sie ist die Projektion des dem Manne _immanenten_ Ideales fleckenloser Reinheit auf den Gegenstand seiner Liebe. Man lasse sich nur hierin nicht beirren, weder durch die Angst und den Schrecken vor der Berührung, die sich so gern möglichst bald in Zutraulichkeit transformieren, noch durch die hysterische Unterdrückung der sexuellen Wünsche; nicht durch den _äußeren Zwang_, dem Anspruch des Mannes auf physische Reinheit zu entsprechen, weil sonst der Käufer sich nicht einstellen würde; aber auch nicht durch jenes Bedürfnis Wert zu _empfangen_, aus welchem die Frau oft so lange auf jenen Mann wartet, der ihr am meisten Wert schenken kann (was man gemeinhin völlig verkehrt als hohe _Selbst_schätzung solcher Mädchen interpretiert). Will man wissen, wie die _Frauen_ über die Jungfernschaft denken, so kann dies freilich von vornherein kaum zweifelhaft sein, nach der Erkenntnis, daß das Hauptziel der Frauen die Herbeiführung des _Koitus überhaupt_ ist, als durch welchen sie erst Existenz gewinnen; denn daß die Frau den Koitus will und nichts anderes, auch wenn sie, für ihre Person, noch so uninteressiert an der Wollust _scheinen_ mag, das konnte aus der Allgemeinheit der Kuppelei _bewiesen_ werden. Man muß, um sich davon neu zu überzeugen, betrachten, mit welchen Augen die Frau Jungfernschaft bei den anderen Angehörigen ihres Geschlechtes ansieht. Und da nimmt man wahr: der Zustand der Nicht-Verheirateten wird von den Frauen selbst sehr tief gestellt. Ja es ist eigentlich _der_ weibliche Zustand, den das Weib _negativ_ bewertet. Die Frauen schätzen jede Frau überhaupt erst, wenn sie verheiratet ist; auch wenn sie an einen häßlichen, schwachen, armen, gemeinen, tyrannischen, unansehnlichen Mann »unglücklich« verheiratet ist, sie ist doch immerhin verheiratet, will sagen, hat Wert, hat Existenz empfangen. Und wenn eine auch nur kurze Zeit die Herrlichkeiten eines Maitressenlebens gekostet, ja wenn sie Straßendirne geworden ist, sie steht höher in der weiblichen Schätzung als das alte Fräulein, das einsam in seiner Kammer näht und flickt, ohne je einem Manne, in gesetzlicher oder ungesetzlicher Verbindung, für lange oder für einen rasch vergangenen Taumel, angehört zu haben. So aber wird auch das ganz junge Mädchen, wenn es durch körperliche Vorzüge sich auszeichnet, vom Weibe nie um seiner Schönheit willen positiv gewertet -- der Frau _fehlt_ das Organ des Schön-Findens, weil sie keinen Wert zu projizieren hat -- sondern nur, weil es leichtere Aussicht hat, einen Mann an sich zu fesseln. _Je schöner eine Jungfrau ist, eine desto zuverlässigere $Promesse$ ist sie den anderen Frauen, desto wertvoller ist sie dem Weibe als Kupplerin, seiner Bestimmung als Hüterin der Gemeinschaft $nach$; nur dieser $unbewußte$ Gedanke ist es, der eine Frau an einem schönen Mädchen Freude finden läßt._ Wie dies erst dann rein zum Vorschein kommen kann, wenn das wertende weibliche Einzelindividuum bereits selbst Existenz empfangen hat (weil sonst der Neid auf die Konkurrentin, und das Gefühl, die eigenen Chancen im Kampf um den Wert durch sie vermindert zu sehen, jene Regungen überstimmen muß), das wurde bereits besprochen. Zuerst müssen sie wohl sich selbst verkuppeln -- kuppeln kommt von copulare, ein Paar fertig bringen -- früher können es die anderen auch kaum verlangen. Die leider so allgemein gewordene Geringschätzung der »alten Jungfer« ist demnach durchaus vom _Weibe_ ausgegangen. Von einem bejahrten Fräulein wird man Männer oft mit Respekt reden hören; aber jede Frau und jedes Mädchen, gleichgültig ob verheiratet oder nicht, hat für die Betreffende nur die extremste Geringschätzung, mag dies auch in manchen Fällen ihnen selbst gar nicht bewußt werden. Eine verheiratete Dame, die für geistreich und mannigfach talentiert gelten konnte, und ihres Äußeren wegen so viele Bewunderer zählte, daß Neid in diesem Falle ganz außer Frage steht, hörte ich einmal über ihre unschöne und ältliche italienische Lehrerin sich lustig machen, weil diese wiederholt betont habe: Io sono ancora una vergine (sie sei noch eine Jungfrau). Freilich ist, vorausgesetzt daß die Äußerung richtig reproduziert war, zuzugeben, daß die Ältere eine Tugend wohl nur aus der Not gemacht hatte, und jedenfalls selbst sehr froh gewesen wäre, ihre Jungfernschaft auf irgend eine Weise los zu werden, ohne dadurch in der Gesellschaft an Ansehen einbüßen zu müssen. Denn dies ist das Wichtigste: die Frauen verachten und höhnen nicht nur die Jungfernschaft anderer Frauen, sondern sie schätzen auch die eigene Jungfernschaft als _Zustand_ äußerst _gering_ (und nur als eine sehr gesuchte _Ware_ von höchstem Anwert bei den _Männern hoch_). Darum blicken sie zu jeder Verheirateten wie zu einem höheren Wesen empor. Wie sehr es dem Weibe im tiefsten Grunde speziell auf den Sexualakt ankommt, das kann man gerade an der wahren Verehrung sehen, welche erst ganz vor kurzem verheiratete Frauen bei den jungen Mädchen genießen: ist doch der Sinn ihres Daseins diesen eben enthüllt, sie selbst auf dessen Zenit geführt worden. Dagegen betrachtet jedes junge Mädchen jedes andere als ein unvollkommenes Wesen, das seine Bestimmung ebenso, wie sie selbst, erst noch erreichen will. Hiemit erachte ich als dargetan, wie vollkommen die aus der Kuppelei gezogene Folgerung, das Virginitäts-Ideal müsse männlichen, und könne nicht weiblichen Ursprunges sein, mit der Erfahrung sich deckt. Der Mann verlangt Keuschheit von sich und von anderen, am meisten von dem Wesen, das er liebt; das Weib will unkeusch sein können, und es will Sinnlichkeit auch vom Manne, nicht Tugend. Für »Musterknaben« hat die Frau kein Verständnis. Dagegen ist bekannt, daß sie stets dem in die Arme fliegt, welchem der Ruf des Don Juan meilenweit vorauseilt. Die Frau will den Mann sexuell, weil sie nur durch seine Sexualität Existenz gewinnt. Nicht einmal für die Erotik des Mannes, als ein _Distanz_phänomen, sondern nur für diejenige Seite an ihm, die unaufhaltsam das Objekt ihres Begehrens ergreift und sich aneignet, haben die Frauen einen Sinn, und es wirken Männer auf sie nicht, bei denen Brutalitäts-Instinkte gar nicht oder wenig entwickelt sind. Selbst die höhere platonische Liebe des Mannes ist ihnen im Grunde nicht willkommen; sie schmeichelt ihnen und sie streichelt sie, _aber sie $sagt$ ihnen nichts_. Und wenn das Gebet auf den Knien vor ihr zu lange währen wollte, würde _Beatrice_ so ungeduldig wie _Messalina_. _Im Koitus liegt die tiefste Heruntersetzung, in der Liebe die höchste Erhebung des Weibes. Daß das Weib den Koitus verlangt, und nicht die Liebe, bedeutet, daß es heruntergesetzt, und nicht erhöht werden will._ $Die letzte Gegnerin der Frauen-Emanzipation ist die Frau.$ Nicht weil der Koitus lustvoll, nicht weil er das Urbild aller Wonne des niederen Lebens ist, nicht darum ist er unsittlich. Die Askese, welche die Lust für das Unsittliche an sich erklärt, ist selbst unsittlich; denn sie sucht den Maßstab des Unrechtes in einer _Begleit_erscheinung und äußeren Folge der Handlung, _nicht_ in der Gesinnung: sie ist _heteronom_. Der Mensch darf die Lust anstreben, er mag sein Leben auf der Erde leichter und froher zu gestalten suchen: nur darf er dem nie ein sittliches Gebot opfern. In der Askese aber will der Mensch die Moralität _erpressen_ durch Selbstzerfleischung, _er will sie als Folge eines Grundes_, die eigene Sittlichkeit als Resultat und Belohnung dafür, daß er sich so viel versagt hat. Die Askese ist demnach als prinzipieller Standpunkt wie als psychologische Disposition _verwerflich_; denn sie _bindet_ die Tugend an etwas anderes als dessen _Erfolg_, _macht sie zur Wirkung einer Ursache_, und strebt sie nicht an sich, als unmittelbaren Selbstzweck, an. Die Askese ist eine gefährliche Verführerin: ihrer Täuschung fallen so viele so leicht zum Opfer, weil die Lust der _häufigste Beweggrund_ ist, aus welchem der Pfad des Gesetzes verlassen wird, und der Irrtum nahe genug liegt, der auf dem rechten Pfad sicherer zu bleiben glaubt, wenn er an ihrer Statt den Schmerz anstrebt. An sich aber ist Lust weder sittlich noch unsittlich. _Nur wenn der Wille zur Lust den Willen zum Wert besiegt_, dann ist der Mensch gefallen. Der Koitus ist _darum_ unmoralisch, weil es keinen Mann gibt, der das Weib in solchem Augenblicke nicht als Mittel zum Zweck gebrauchte, den Wert der Menschheit, in seiner wie in ihrer Person, in diesem Momente nicht der Lust hintansetzte. Im Koitus vergißt der Mann sich selbst ob der Lust, und er vergißt das Weib; dieses hat für ihn keine psychische, sondern nur eine körperliche Existenz mehr. Er will von ihr entweder ein Kind oder die Befriedigung der eigenen Wollust: in beiden Fällen benützt er sie nicht als Zweck an sich selbst, sondern um einer fremden Absicht willen. Nur aus diesem, und aus keinem anderen Grunde, ist der Koitus unmoralisch. Gewiß ist die Frau die Missionärin der Idee des Koitus, und gebraucht sich selbst, wie alles andere in der Welt, immer nur als Mittel zu diesem Zweck; sie will den Mann als Mittel zur Lust oder zum Kinde; sie will _selbst_ vom Manne als Mittel zum Zweck benützt sein, wie eine Sache, wie ein Objekt, wie sein Eigentum behandelt, nach seinem Gutdünken von ihm verändert und geformt werden. Aber nicht nur soll niemand von einem anderen als Mittel zum Zweck sich gebrauchen lassen; man darf auch den Standpunkt des Mannes der Frau gegenüber nicht danach bestimmen wollen, daß diese den Koitus wirklich wünscht, und von ihm, wenn sie's auch weder sich noch ihm je ganz gesteht, _nie etwas anderes erfleht_. _Kundry_ appelliert freilich an _Parsifals_ Mitleid für ihr Sehnen: aber gerade da offenbart sich die ganze Schwäche der Mitleidsmoral, die zwingen würde, einen jeden Wunsch des Nebenmenschen zu erfüllen, sei er noch so unberechtigt. Die konsequente Sympathiemoral und die konsequente Sozialethik sind beide gleich absurd, denn sie machen das _Sollen vom Wollen abhängig_ (ob vom eigenen oder vom fremden oder vom gesellschaftlichen, bleibt sich gleich), _statt das Wollen vom Sollen_; sie wählen zum Maßstab der Sittlichkeit konkretes Menschenschicksal, konkretes Menschenglück, konkreten Menschenaugenblick, _anstatt der Idee_. Die Frage ist: wie soll der Mann das Weib behandeln? _Wie es selbst behandelt werden will, oder wie es die sittliche Idee verlangt?_ Wenn er es zu behandeln hat, wie es behandelt werden will, dann muß er es koitieren, denn es will koitiert werden, schlagen, denn es will geschlagen werden, hypnotisieren, denn es will hypnotisiert werden, ihm durch die Galanterie zeigen, wie gering er seinen Wert an sich veranschlagt; denn es will Komplimente, es will nicht an sich geachtet werden. Will er dagegen dem Weibe so entgegentreten, wie es die sittliche Idee verlangt, so muß er in ihm den _Menschen_ zu sehen, und es zu achten suchen. Zwar ist W _eine Funktion von M_, eine Funktion, die er setzen, die er aufheben kann, und die Frauen wollen nicht mehr sein als eben dies, nichts anderes als nur dies: die Witwen in Indien sollen sich gerne und überzeugt verbrennen lassen, ja zu diesem Tode geradezu sich drängen; doch darum bleibt diese Sitte nicht minder die fürchterlichste Barbarei. Es ist mit der Emanzipation der Frauen wie mit der Emanzipation der Juden und der Neger. Sicherlich liegt dafür, daß diese Völker als Sklaven behandelt und immer niedrig eingeschätzt wurden, an ihrer knechtischen Veranlagung die Hauptschuld; sie haben kein so starkes Bedürfnis nach Freiheit wie die Indogermanen. Und wenn auch heute in Amerika für die Weißen die Notwendigkeit sich ergeben hat, von den Negern sich völlig abzusondern, weil diese von ihrer Freiheit einen schlimmen und nichtswürdigen Gebrauch machen: so war doch im Kriege der Nordstaaten gegen die Föderierten, welcher den Schwarzen die Freiheit gab, das Recht durchaus auf Seite der ersteren. _Trotzdem die Anlage der Menschheit_ im Juden, noch mehr im Neger, _und noch weit mehr im Weibe_, mit einer größeren Anzahl amoralischer Triebe belastet ist; _ob sie auch hier mit mehr Hindernissen zu kämpfen hat_ als im arischen Manne, noch ihren letzten Rest, sei er selbst noch so gering, muß der Mensch achten, _noch hier die Idee der Menschheit_ (das heißt nicht: der menschlichen Gesellschaft, sondern das _Mensch-Sein_, die _Seele als Teil einer intelligiblen Welt_) _ehren_. Auch über den gesunkensten Verbrecher darf niemand sich eine Gewalt anmaßen als das Gesetz; kein Mensch hat das Recht ihn zu lynchen. Das _Problem des Weibes_ und _das Problem des Juden_ ist ganz identisch mit dem _Problem der Sklaverei_, und muß ebenso aufgelöst werden, wie dieses. Niemand darf unterdrückt werden, wenn er sich gleich nur in der Unterdrückung wohlfühle. Dem Haustier, das ich benütze, nehme ich keine Freiheit, denn es hatte keine, bevor ich es mir dienstbar machte; aber in der Frau ist noch ein ohnmächtiges Gefühl des Nicht-Anderskönnens, als eine letzte, wenn auch noch so kümmerliche Spur der intelligiblen Freiheit: wohl deshalb, weil es kein absolutes Weib gibt. Die Frauen sind _Menschen_ und müssen _als solche_ behandelt werden, auch wenn sie selbst das _nie_ wollen würden. _Frau und Mann haben gleiche Rechte._ Man erschrecke nicht und wende nicht ein, daß hiemit den Frauen auch gleich die Teilnahme an der politischen Herrschaft eingeräumt werden müßte. Vom _Utilitäts_standpunkte ist von dieser Konzession gewiß einstweilen, und vielleicht stets, abzuraten; in _Neuseeland_, wo man das ethische Prinzip so hochhielt, den Frauen das Wahlrecht zu geben, hat man damit die schlimmsten Erfahrungen gesammelt. Wie man Kindern, Schwachsinnigen, Verbrechern mit Recht keinen Einfluß auf die Leitung des Gemeinwesens gestatten würde, selbst wenn diese plötzlich die numerische Parität oder Majorität erlangten, so _darf_ vorderhand die Frau von einer Sache ferngehalten werden, von der so lebhaft zu befürchten steht, daß sie durch den weiblichen Einfluß nur könnte geschädigt werden. Wie die Resultate der Wissenschaft davon unabhängig sind, ob alle Menschen ihnen zustimmen oder nicht, so kann auch Recht und Unrecht der Frau ganz genau ermittelt werden, ohne daß die Frauen selbst mitbeschließen, und sie brauchen nicht zu besorgen, übervorteilt zu werden, wenn bei dieser Feststellung eben Recht- und nicht Machtgesichtspunkte die Entscheidung bestimmen. _Das Recht aber ist nur eines und das gleiche für Mann und Frau._ Niemand darf der Frau irgend etwas als »unweiblich« verwehren und verbieten wollen; und ein ganz niederträchtiges Urteil ist es, das einen Mann freispricht, der seine ehebrecherische Frau erschlagen hat, als wäre diese rechtlich seine _Sache_. Man hat die Frau als Einzelwesen und nach der Idee der Freiheit, nicht als Gattungswesen, nicht nach einem aus der Empirie oder aus den Liebesbedürfnissen des Mannes hergeleiteten Maßstabe zu beurteilen: auch wenn sie selber nie jener Höhe der Beurteilung sich sollte würdig zeigen. Darum ist dieses Buch die größte Ehre, welche den Frauen je erwiesen worden ist. Auch gegen das Weib ist nur _ein_ sittliches Verhalten dem Manne möglich; nicht die Sexualität, nicht die Liebe -- denn beide benützen es als Mittel zu _fremden_ Zwecken: _sondern einzig der Versuch, es zu verstehen_. Die meisten Menschen geben theoretisch vor, _$das$ Weib_ zu achten, um praktisch _$die$ Weiber_ desto gründlicher zu verachten: hier wurde dieses Verhältnis umgekehrt. _Das Weib_ konnte nicht hochgewertet werden: aber _die Weiber_ sind von aller Achtung nicht von vornherein und ein für alle Male auszuschließen. Leider haben sehr berühmte und bedeutende Männer in dieser Frage eigentlich _recht gemein_ gedacht. Ich erinnere an _Schopenhauers_ und an _Demosthenes'_ Stellung zur Frauenemanzipation. Und _Goethes_: »Immer ist so das Mädchen beschäftigt und reifet im stillen Häuslicher Tugend entgegen, _den klugen Mann zu beglücken_. Wünscht sie dann endlich zu lesen, so wählt sie gewißlich ein Kochbuch,« steht nicht höher als _Molières_: »........... Une femme en sait toujours assez, Quand la capacité de son esprit se hausse A connaître un pourpoint d'avec un haut-de-chausse.« _Die Abneigung gegen das männliche Weib hat der Mann in sich zu überwinden_; denn sie ist nichts als gemeiner Egoismus. Wenn das Weib männlich werden sollte, indem es logisch und ethisch würde, so wird es sich nicht mehr so gut zum _passiven Substrate_ einer _Projektion_ eignen; aber das ist kein genügender Grund, die Frau, wie dies heute geschieht, nur für den Mann und für das Kind erziehen zu lassen, mit einer Norm, die ihr etwas verbietet, weil es _männlich_ sei. Denn wenn auch für das _absolute_ Weib keine Möglichkeit der Sittlichkeit besteht, mit dem Erschauen dieser _Idee_ des Weibes ist noch nicht gegeben, daß der Mann das _empirische_ Weib dieser vollständig und rettungslos solle _verfallen_ lassen; noch weniger, daß er dazu beitrage, daß es dieser Idee immer gemäßer werde. Im lebenden menschlichen Weibe ist, der Theorie nach, immer noch »ein Keim des Guten«, nach _Kant_scher Terminologie, als vorhanden anzunehmen; es ist jener Rest eines freien Wesens, der dem Weibe das dumpfe Gefühl seines Schicksals ermöglicht.[102] Daß auf diesen Keim ein Mehr könne gepfropft werden, davon darf _theoretisch_ die Unmöglichkeit _nie gänzlich behauptet_ werden, wenn es auch _praktisch_ sicher noch nie gelungen _ist_, wenn es selbst in aller Zukunft nie gelingen _sollte_. Unter der sittlichen Idee steht die ganze Welt, selbst die Tiere werden als _Phänomene_ gewertet, der Elefant sittlich höher geschätzt als die Schlange, wenn auch z. B. die Tötung eines anderen Tieres ihnen nicht als Personen _zugerechnet_. Dem _Weibe_ aber _wird_ von uns _zugerechnet_; und hierin liegt die _Forderung, daß es anders werde. Und wenn alle Weiblichkeit Unsittlichkeit ist, so muß das Weib aufhören Weib zu sein, und Mann werden._ Freilich muß gerade hier die Gefahr der äußerlichen Anähnlichung, die das Weib stets am intensivsten in die Weiblichkeit zurückwirft, am vorsichtigsten gemieden werden. Die Aussichten des Unternehmens, die Frauen wahrhaft zu emanzipieren, ihnen die Freiheit zu geben, die nicht _Willkür_, sondern _Wille_ wäre, sind äußerst gering. Wenn man nach den Tatsachen urteilt, so scheint den Frauen nur zweierlei möglich zu sein: die verlogene Acceptierung des vom Manne Geschaffenen, indem sie selbst glauben, das zu wollen, was ihrer ganzen, _noch ungeschwächten_ Natur _widerspricht_, die unbewußt verlogene Entrüstung über die Unsittlichkeit, _als ob sie sittlich wären_, über die Sinnlichkeit, _als ob_ sie die _un_sinnliche Liebe wollten; oder das offene Zugeständnis[103], der Inhalt des Weibes sei der Mann und das Kind, ohne das geringste Bewußtsein davon, _was_ sie damit zugeben, welche Schamlosigkeit, welche Niederlage in dieser Erklärung liegt. _Unbewußte Heuchelei oder cynische Identifikation mit dem Naturtrieb_: ein anderes scheint dem Weibe nicht gegeben. Aber _nicht Bejahung_ und _nicht Verleugnung_, sondern _Verneinung, Überwindung_ der Weiblichkeit, ist das, worauf es ankommt. Würde z. B. eine Frau _wirklich_ die Keuschheit des Mannes _wollen_, so hätte sie freilich hiemit das Weib überwunden; denn ihr wäre der Koitus nicht mehr höchster Wert und seine Herbeiführung nicht mehr letztes Ziel. Aber dies ist's eben: an die Echtheit solcher Forderungen vermag man nicht zu glauben, wenn sie auch hie und da wirklich erhoben werden. Denn ein Weib, das die Keuschheit des Mannes verlangt, ist, abgesehen von seiner Hysterie, so dumm und so jeder Wahrheit unfähig, daß es nicht einmal mehr dunkel fühlt, daß es sich selbst damit verneint, sich absolut und ohne Rettung wertlos, existenzlos macht. Man weiß hier kaum mehr, wem man den Vorzug geben soll; der grenzenlosen Verlogenheit, welche selbst das ihr fremdeste, das _asketische_ Ideal auf den Schild zu heben fähig ist; oder der ungenierten Bewunderung für den berüchtigten Wüstling und der einfachen Hingabe an denselben. Da jedoch alles wirkliche Wollen der Frau _in beiden Fällen_ in gleicher Weise darauf gerichtet bleibt, den Mann schuldig werden zu lassen, so liegt _hierin_ das Hauptproblem der Frauenfrage: und insoweit fällt sie zusammen mit der Menschheitsfrage. Friedrich _Nietzsche_ sagt an einer Stelle seiner Schriften: »Sich im Grundproblem ‚Mann und Weib’ zu vergreifen, hier den abgründlichsten Antagonismus und die Notwendigkeit einer ewig-feindseligen Spannung zu leugnen, hier vielleicht von gleichen Rechten, gleicher Erziehung, gleichen Ansprüchen und Verpflichtungen zu träumen: das ist ein _typisches_ Zeichen von Flachköpfigkeit, und ein Denker, der an dieser gefährlichsten Stelle sich flach erwiesen hat -- flach im Instinkte! -- darf überhaupt als verdächtig, mehr noch, als verraten, als aufgedeckt gelten: wahrscheinlich wird er für alle Grundfragen des Lebens, auch des zukünftigen Lebens, zu ‚kurz’ sein und in _keine_ Tiefe hinunterkönnen. Ein Mann hingegen, der Tiefe hat, in seinem Geiste wie in seinen Begierden, auch jene Tiefe des Wohlwollens, welche der Strenge und der Härte fähig ist und leicht mit ihnen verwechselt wird, kann über das Weib immer nur _orientalisch_ denken: -- er muß das Weib als Besitz, als verschließbares Eigentum, als etwas zur Dienstbarkeit Vorbestimmtes und in ihr sich Vollendendes fassen, -- er muß sich hier auf die ungeheuere Vernunft Asiens, auf Asiens Instinkt-Überlegenheit stellen, wie dies ehemals die Griechen getan haben, diese besten Erben und Schüler Asiens, -- welche, wie bekannt, von Homer bis zu den Zeiten des Perikles, mit _zunehmender_ Kultur und Umfänglichkeit an Kraft, Schritt für Schritt auch _strenger_ gegen das Weib, kurz orientalischer geworden sind. _Wie_ notwendig, _wie_ logisch, _wie_ selbst menschlich wünschbar dies war: möge man darüber bei sich nachdenken!« Der Individualist denkt hier durchaus sozialethisch: seine Kasten- und Gruppen-, seine Abschließungstheorie sprengt, wie so oft, die Autonomie seiner Morallehre. Denn er will _im Dienste der Gesellschaft, der störungslosen Ruhe der Männer_, die Frau unter ein Machtverhältnis stellen, in dem sie allerdings kaum noch den Laut eines Wunsches nach Emanzipation von sich geben, und nicht einmal jene verlogene und unechte Freiheitsforderung mehr erheben wird, welche die heutigen Frauenrechtlerinnen aufgestellt haben: _die gar nicht ahnen, wo die Unfreiheit des Weibes eigentlich liegt, und was ihre Gründe sind_. Aber nicht, um _Nietzsche_ einer Inkonsequenz zu überführen, habe ich ihn citiert; sondern um seinen Worten gegenüber zu zeigen, wie das Problem der Menschheit nicht lösbar ist ohne eine Lösung des Problems der Frau. Denn wem die Forderung überflüssig hoch gespannt scheint, daß der Mann die Frau um der Idee, um des Noumenon willen zu achten, und nicht als Mittel zu einem außer ihr gelegenen Zweck zu benützen, daß er ihr darum die gleichen Rechte, ebenso aber die gleichen Pflichten (der sittlichen und geistigen Selbstbildung) zuzuerkennen habe wie sich selbst: der möge bedenken, _daß der Mann das ethische Problem für seine Person nicht lösen kann, wenn er in der Frau die Idee der Menschheit immer wieder negiert_, indem er sie als Genußmittel benützt. _Der Koitus ist in allem Asiatismus die Bezahlung, welche der Mann der Frau für ihre Unterdrückung zu leisten hat._ Und so sehr es die Frau charakterisieren mag, _daß sie um diesen Preis sicherlich stets auch dem ärgsten Sklavenjoch sich gerne fügt_, der Mann _darf_ auf den Handel nicht eingehen, weil auch _er_ sittlich dabei zu kurz kommt. Also selbst _technisch_ ist das Menschheitsproblem nicht lösbar für den Mann _allein_; er muß die Frau _mitnehmen_, auch wenn er nur _sich_ erlösen wollte, er muß sie zum _Verzicht_ auf ihre unsittliche Absicht auf ihn zu bewegen suchen. Die Frau muß dem Koitus _innerlich_ und _wahrhaft_, aus _freien Stücken_ entsagen. Das bedeutet nun allerdings: das Weib muß _als solches untergehen_, und es ist keine Möglichkeit für eine Aufrichtung des Reiches Gottes auf Erden, eh dies nicht geschehen ist. Darum sind _Pythagoras_, _Platon_, _das Christentum_ (im Gegensatze zum _Judentum_), _Tertullian_, _Swift_, _Wagner_, _Ibsen_ für die Befreiung, für Erlösung des Weibes eingetreten, _nicht für die Emanzipation des Weibes vom Manne, sondern für die Emanzipation des Weibes vom Weibe_. Und in solcher Gemeinschaft den Bannfluch Nietzsches zu tragen ist ein Leichtes. Aus eigener Kraft aber kann das Weib schwer zu solchem Ziele gelangen. Der Funke, der in ihr so schwach ist, müßte am Feuer des Mannes immer wieder sich entzünden können: das _Beispiel_ müßte gegeben werden. Bevor das Weib nicht aufhört, für den Mann als Weib zu existieren, kann es selbst nicht aufhören, Weib zu sein: _Kundry_ kann nur von _Parsifal_, vom sündelosen, unbefleckten Manne aus _Klingsors_ Banne wirklich befreit werden. So deckt sich diese psychologische mit der philosophischen Deduktion, wie sie hier mit _Wagners_ »Parsifal«, der tiefsten Dichtung der Weltliteratur, in völliger Übereinstimmung sich weiß. Erst die Sexualität des Mannes gibt dem Weibe Existenz als Weib. Alle Materie hat nur so viel Existenz, als die Schuldsumme im Universum beträgt: auch das Weib wird nur so lange leben, bis der Mann seine Schuld gänzlich getilgt, bis er die _eigene_ Sexualität wirklich überwunden hat. Nur so erledigt sich der ewige Einspruch gegen alle antifeministischen Tendenzen: das Weib sei nun einmal da, so wie es sei, nicht zu ändern, und darum müsse man mit ihm sich abzufinden suchen; der Kampf nütze nichts, weil er nichts beseitigen könne. Es ist aber gezeigt, daß die Frau nicht _ist_, und in dem Augenblicke _stirbt_, da der Mann gänzlich nur _sein_ will. Das, wogegen der Kampf geführt wird, ist keine Sache von ewig unveränderlicher Existenz und Essenz: es ist etwas, das aufgehoben werden _kann_, und aufgehoben werden _soll_. Nur so, nicht anders, ist die Frauenfrage zu lösen, für den, der sie _verstanden_ hat. Man wird die Lösung unmöglich, ihren Geist überspannt, ihren Anspruch übertrieben, ihre Forderung unduldsam finden. Und allerdings: von der Frauenfrage, über welche die Frauen _sprechen_, ist hier längst die Rede nicht mehr; es handelt sich um jene, von der die Frauen _schweigen_, ewig schweigen _müssen_; um _die Unfreiheit_, die in der _Geschlechtlichkeit_ liegt. _Diese_ Frauenfrage ist so alt wie das Geschlecht, und nicht jünger als die Menschheit. Und die Antwort auf sie: der Mann muß vom Geschlechte sich erlösen, und _so_, nur _so_ erlöst er die Frau. _Allein_ seine _Keuschheit_, nicht, wie _sie_ wähnt, seine Unkeuschheit, ist ihre Rettung. Freilich geht sie, als _Weib_, so unter: aber nur, um aus der Asche neu, verjüngt, als der _reine $Mensch$_, sich emporzuheben. Darum wird die Frauenfrage bestehen, so lang es zwei Geschlechter gibt, und nicht eher verstummen denn die Menschheitsfrage. In diesem Sinne hat _Christus_, nach dem Zeugnis des Kirchenvaters _Klemens_, zur _Salome_ gesprochen, ohne die optimistische Beschönigung, die _Paulus_, die _Luther_ für das Geschlecht späterhin fanden: so lang werde der Tod währen, als die Weiber gebären, und nicht eher die Wahrheit geschaut werden, als bis aus zweien eins, aus Mann und Weib ein drittes Selbes, _weder_ Mann _noch_ Weib, werde geworden sein. * * * * * _Hiemit erst, aus dem höchsten Gesichtspunkte des Frauen- als des Menschheitsproblems, ist die Forderung der Enthaltsamkeit für beide Geschlechter gänzlich begründet._ Sie aus den gesundheitsschädlichen Folgen des Verkehres abzuleiten, ist flach, und mag von den Advokaten des Körpers ewig bestritten werden; sie auf die Unsittlichkeit der Lust zu gründen, falsch; denn so wird ein heteronomes Motiv in die Ethik eingeführt. Schon _Augustinus_ aber hat, wenn er die Keuschheit für alle Menschen verlangte, den Einwand vernehmen müssen, daß in solchem Falle die Menschheit von der Erde binnen kurzem verschwunden wäre. In dieser merkwürdigen Befürchtung, welcher der schrecklichste Gedanke der zu sein scheint, daß die _Gattung_ aussterben könne, liegt nicht allein äußerster Unglaube an die _individuelle_ Unsterblichkeit und ein ewiges Leben der sittlichen Individualität, sie ist nicht nur verzweifelt irreligiös: man beweist mit ihr zugleich seinen Kleinmut, seine Unfähigkeit, außer der _Herde_ zu leben. Wer so denkt, kann sich die Erde nicht vorstellen ohne das Gekribbel und Gewimmel der Menschen auf ihr, ihm wird angst und bange _nicht so sehr vor dem Tode, als vor der Einsamkeit_. Hätte die an sich unsterbliche moralische Persönlichkeit genug Kraft in ihm, so besäße er Mut, dieser Konsequenz ins Auge zu sehen; er würde den leiblichen Tod nicht fürchten, und nicht für den mangelnden Glauben an das ewige Leben das jämmerliche Surrogat in der Gewißheit eines Weiterbestehens der Gattung suchen. Die Verneinung der Sexualität tötet bloß den körperlichen Menschen und ihn nur, um dem geistigen erst das volle Dasein zu geben. Darum kann es auch nicht sittliche Pflicht sein, für die Fortdauer der Gattung zu sorgen, wie man dies so oft behaupten hört. Es ist diese Ausrede von einer außerordentlich _unverfrorenen Verlogenheit_; diese liegt so offen zu Tage, daß ich fürchte, mich durch die Frage lächerlich zu machen, ob schon je ein Mensch den Koitus mit dem Gedanken vollzogen hat, er müsse der großen Gefahr vorbeugen, daß die Menschheit zu Grunde gehe. _Alle Fécondité ist nur ekelhaft_; und kein Mensch fühlt, wenn er sich aufrichtig befragt, es als seine Pflicht, für die dauernde Existenz der menschlichen Gattung zu sorgen. Was man aber nicht als seine Pflicht fühlt, das $ist$ nicht Pflicht. Im Gegenteil: es ist unmoralisch, ein menschliches Wesen zur Wirkung einer Ursache zu machen, es als Bedingtes hervorzubringen, wie das mit der Elternschaft gegeben ist; und der Mensch ist im tiefsten Grunde nur deshalb unfrei und determiniert neben seiner Freiheit und Spontaneität, weil er auf diese unsittliche Weise entstanden ist. Die moralische Weihe also, die man dem Koitus (der ihrer freilich dringend bedarf) bisweilen zu geben versucht hat, indem man einen idealen Koitus fingierte, bei dem nur die Fortpflanzung des Menschengeschlechtes in Betracht gezogen werde -- diese liebevolle Verbrämung erweist sich nicht als ein genügender Schutz: denn das angeblich ihn verstattende und heiligende Motiv ist nicht nur kein Gebot und nirgends im Menschen als ein Imperativ zu finden, sondern vielmehr selbst ein sittlich verwerflicher Beweggrund; weil man einen Menschen nicht um seine Einwilligung fragt, dessen Vater oder Mutter man wird. Für den anderen Koitus aber, bei dem die Möglichkeit einer Fortpflanzung künstlich verhindert wird, kommt selbst jene, auf so schwachen Füßen stehende Rechtfertigung in Wegfall. Also widerspricht der Koitus in jedem Falle der Idee der Menschheit; nicht weil Askese Pflicht ist, sondern vor allem, weil das Weib in ihm Objekt, Sache werden will, und der Mann ihm hier wirklich den Gefallen tut, es nur als Ding, nicht als lebenden Menschen, mit inneren, psychischen Vorgängen anzusehen. Darum verachtet auch der Mann das Weib augenblicklich, sobald er es besessen hat, und das Weib _fühlt_, daß es nun verachtet wird, auch wenn es vor zwei Minuten sich noch vergöttert wußte. Respektieren kann der Mensch im Menschen nur die _Idee_, die Idee der Menschheit; in der Verachtung des Weibes (und seiner selbst), die sich nach dem Koitus einstellt, liegt der sicherste Anzeiger, daß gegen die Idee hier gefehlt wurde. Und wer nicht verstehen kann, was mit dieser _Kant_ischen $Idee$ der Menschheit gemeint ist, der mag es sich wenigstens zum Bewußtsein bringen, daß es _seine_ Schwestern, _seine_ Mutter, _seine_ weiblichen Verwandten sind, um die es sich handelt: _um unser selbst willen_ sollte das Weib als Mensch behandelt, _geachtet_ werden, und nicht _erniedrigt_, wie es durch alle Sexualität geschieht. Zu $ehren$ aber könnte der Mann das Weib erst dann _mit Recht_ beginnen, wenn es _selbst_ aufhörte, _Objekt_ und _Materie_ für den Mann _sein zu $wollen$_; wenn ihm wirklich an einer Emanzipation läge, die mehr wäre als eine Emanzipation der Dirne. Noch ist nie offen gesagt worden, wo die Hörigkeit der Frau einzig zu suchen ist: in der souveränen, angebeteten Gewalt, die der Phallus des Mannes über sie besitzt. Darum haben die Frauen-Emanzipation aufrichtig stets nur _Männer_ gewollt, nicht sehr sexuelle, nicht sehr liebesbedürftige, nicht sehr tiefblickende, aber edle und für das Recht begeisterte Männer, darüber kann kein Zweifel sein. Ich will die erotischen Motive des Mannes nicht beschönigen, und seine Antipathie gegen das »emanzipierte Weib« nicht geringer darstellen, als sie ist: es ist leichter, sich hinanziehen zu lassen, wie _Goethe_, als einsam zu steigen und immerfort zu steigen, wie _Kant_. Aber vieles, was dem Mann als _Feindschaft_ gegen die Emanzipation ausgelegt wird, ist in Wahrheit nur Mißtrauen und Zweifel an ihrer Möglichkeit. Der Mann will das Weib nicht als Sklavin, er sucht oft genug zunächst eine Gefährtin, die ihn verstehe. Nicht die Erziehung, die das Weib heute empfängt, ist die angemessene Vorbereitung, um der Frau den Entschluß nahezulegen und zu erleichtern, jene ihre wahre Unfreiheit zu besiegen. Alles letzte Mittel _mütterlicher Pädagogik_ ist es, der Tochter, die zu diesem oder jenem sich nicht bequemt, als Strafe aufzudrohen, _sie werde keinen Mann bekommen_. Die Erziehung, welche den Frauen zuteil wird, ist auf nichts angelegt als auf ihre _Verkuppelung_, in deren glücklichem Gelingen sie ihre Krönung findet. Am Manne ist durch solche Einflüsse wenig zu ändern; aber das Weib wird durch sie in seiner Weiblichkeit, in seiner Unselbständigkeit und Unfreiheit, noch _bestärkt_. _Die Erziehung des Weibes muß dem Weibe, $die Erziehung der ganzen Menschheit der Mutter entzogen werden$._ Dies wäre die erste Voraussetzung, die erfüllt sein müßte, um die Frau in den Dienst der Menschheitsidee zu stellen, der niemand, so wie _sie_, seit Anbeginn entgegengewirkt hat. * * * * * Eine Frau, die wirklich entsagt hätte, die in sich selbst die Ruhe suchen würde, eine solche Frau wäre kein Weib mehr. Sie hätte aufgehört, Weib zu sein, sie hätte zur äußeren endlich die innere Taufe empfangen. Kann das werden? Es gibt kein absolutes Weib, und doch ist uns die Bejahung dieser Frage wie eine Bejahung des Wunders. Glücklicher wird das Weib nicht werden durch solche Emanzipation: die Seligkeit kann sie ihm nicht versprechen, und zu Gott ist der Weg noch lang. Kein Wesen zwischen Freiheit und Unfreiheit kennt das Glück. Wird aber das Weib sich entschließen können, die Sklaverei aufzugeben, um _unglücklich_ zu werden? Nicht die Frau heilig zu machen, nicht darum kann es so bald sich handeln. Nur darum: kann das Weib zum Probleme seines Daseins, zum Begriffe der _Schuld_ redlich gelangen? Wird es die Freiheit wenigstens _wollen_? Allein auf die Durchsetzung des Ideales, auf das Erblicken des Leitsternes kommt es an. Bloß darauf: kann im Weibe der kategorische Imperativ lebendig werden? Wird sich das Weib unter die sittliche Idee, unter die _Idee der Menschheit_ stellen? Denn einzig _das_ wäre _Frauen-Emanzipation_. ANHANG ZUSÄTZE UND NACHWEISE. Zur Einleitung des ersten Teiles. ($S. 3, Z. 2 f.$) Der Ausdruck »Begriffe mittlerer Allgemeinheit« stammt von John Stuart _Mill_. -- Über die beschriebene Entwicklung eines begrifflichen Systems von Gedanken vgl. E. _Mach_, Die Analyse der Empfindungen etc., 3. Aufl., Jena 1902, S. 242 f. ($S. 5, Z. 12 f.$) Vgl. Ludwig _Boltzmann_, Über den zweiten Hauptsatz der mechanischen Wärmetheorie, Almanach der k. k. Akademie der Wissenschaften zu Wien, 36. Jahrgang, S. 255: »Wie in die Augen springend ist der Unterschied zwischen Tier und Pflanze, trotzdem gehen die einfachen Formen kontinuierlich ineinander über, so daß gewisse gerade an der Grenze stehen, ebensogut Tiere wie Pflanzen darstellend. Die einzelnen Spezies in der Naturgeschichte sind meist aufs schärfste getrennt, hier und da aber finden wieder kontinuierliche Übergänge statt.« Über das Verhältnis von chemischer Verbindung und Mischung vgl. F. _Wald_, Kritische Studie über die wichtigsten chemischen Grundbegriffe, Annalen der Naturphilosophie, I, 1902, S. 181 ff. ($S. 6, Z. 12 f.$) Z. B. kommt die sehr ausführliche Untersuchung von Paul _Bartels_, Über Geschlechtsunterschiede am Schädel, Berlin 1897, zu dem Schlusse (S. 94): »Einen durchgreifenden Unterschied des männlichen vom weiblichen Schädel kennen wir bis jetzt noch nicht ..... Alle etwa anzuerkennenden Unterschiede erweisen sich als Charaktere des männlichen beziehungsweise weiblichen Durchschnittes und zeigen eine größere oder geringere Anzahl von Ausnahmen.« (S. 100): »Eine sichere Diagnose des Geschlechtes ist zur Zeit nicht möglich, und wird, fürchte ich, nie möglich sein.« ($S. 6, Z. 15.$) Konrad _Rieger_, Die Kastration in rechtlicher, sozialer und vitaler Hinsicht, Jena 1900, S. 35: »Jeder, der schon viele nackte Menschen gesehen hat, weiß doch aus Erfahrung: einerseits, daß es viele Frauen gibt, deren Becken »männlich« ist; und anderseits, daß es viele Männer gibt, deren Becken »weiblich« ist ..... Bekanntlich ist deshalb die Geschlechtsdiagnose eines Skelettes durchaus nicht immer möglich.« Zu Teil I, Kapitel 1. ($S. 7, Z. 13.$) Vor Heinrich _Rathke_ (Beobachtungen und Betrachtungen über die Entwicklung der Geschlechtswerkzeuge bei den Wirbeltieren, Halle 1825. Neueste Schriften der naturforschenden Gesellschaft in Danzig, Bd. I, Heft 4) herrschte dogmatisch die _Tiedemann_sche Anschauung, daß ursprünglich alle Embryonen weiblich seien, und der Hode durch eine Weiterentwicklung des Eierstockes entstanden. (Vgl. Richard _Semon_, Die indifferente Anlage der Keimdrüsen beim Hühnchen und ihre Differenzierung zum Hoden, Habilitationsschrift, Jena 1887, S. 1 f.) Rathke (S. 121 f.) bekämpfte mit vielen Gründen die Auffassung, daß das männliche Geschlecht ein höher entwickeltes weibliches sei, und kam als erster zu dem Schlusse: »Alle .... in diesem Werke mitgeteilten Beobachtungen bezeugen, daß aller sinnlicher Unterschied, der sich auf das verschiedene Geschlecht bezieht, zwischen den männlichen und weiblichen Gebilden in frühester Lebenszeit durchaus wegfällt. Wenigstens ist dies der Fall bei den inneren Geschlechtsteilen, denn von den äußeren kann ich fast nur allein aus fremder, nicht aber aus eigener Erfahrung urteilen. Diese fremden Erfahrungen aber scheinen ebenfalls auf eine Gleichheit jener äußeren Gebilde hinzudeuten. Es läßt sich demnach behaupten, daß wenigstens bei den Wirbeltieren die Geschlechter ursprünglich, so weit die sinnliche Wahrnehmung reicht, einander gleich sind.« Diese Ansicht wurde weiter geprüft, bestätigt und schließlich zur Geltung gebracht durch die Arbeiten von _Johannes Müller_ (Bildungsgeschichte der Genitalien, Düsseldorf 1830), _Valentin_ (Über die Entwicklung der Follikel in den Eierstöcken der Säugetiere, Müllers Archiv, 1838, S. 103 f.), R. _Remak_ (Untersuchungen über die Entwicklung der Wirbeltiere) und Wilhelm _Waldeyer_ (Eierstock und Ei, 1870). ($S. 7, Z. 15.$) Für die Pflanzen ist dieser Nachweis erst in jüngster Zeit in K. _Goebels_ Abhandlung »Über Homologien in der Entwicklung männlicher und weiblicher Geschlechtsorgane« (Flora oder allgemeine botanische Zeitung, Bd. XC, 1902, S. 279-305) erfolgt. Goebel zeigt, wie auch bei der Pflanze männliche und weibliche Organe sich aus einer ursprünglichen Grundform entwickeln, indem im weiblichen Organ jene Zellen steril werden, die im männlichen zur Spermatozoidbildung führen, und umgekehrt. ($S. 7, Z. 16 ff.$) Die Zeitangaben beziehen sich auf die _äußeren_ Geschlechtsteile. Sie werden von den Beobachtern nicht in Übereinstimmung gemacht, vgl. W. _Nagel_, Über die Entwicklung des Urogenitalsystems des Menschen, Archiv für mikroskopische Anatomie, Bd. XXXIV, 1889, S. 269-384 (besonders S. 375 f.), Die im Texte gegebenen Daten im allgemeinen nach Oscar _Hertwig_, Lehrbuch der Entwicklungsgeschichte des Menschen und der Tiere, 7. Aufl., S. 427, 441. Ganz kontrovers ist der Zeitpunkt der Differenzierung der inneren Keimdrüsenanlagen, ja selbst die Frage noch strittig, ob deren Anlage zuerst hermaphroditisch oder gleich sexuell bestimmt sei. Vgl. die auch hierüber am ausführlichsten orientierende Abhandlung Nagels (S. 299 ff.). ($S. 8, Z. 21 f.$) Ich gebe hier nach Oscar _Hertwig_ (Lehrbuch der Entwicklungsgeschichte des Menschen und der Wirbeltiere, 7. Aufl., Jena 1902, S. 444 f.) die vollständige »Tabellarische Übersicht I. über die vergleichbaren Teile der äußeren und der inneren Geschlechtsorgane des männlichen und des weiblichen Geschlechtes, und II. über ihre Ableitung von der ursprünglich indifferenten Anlage des Urogenitalsystems bei den Säugetieren«. _Männliche _Gemeinschaftliche _Weibliche Geschlechtsteile._ Ausgangsform._ Geschlechtsteile._ Samenampullen und Keimepithel Eifollikel, Graafsche Samenkanälchen Bläschen. Urniere ~a~) Nebenhoden, ~a~) Vorderer Teil mit ~a~) Epoophoron mit Epididymis mit Rete den Marksträngen des testis und Tubuli Geschlechtssträngen Eierstocks. recti (Geschlechtsteil) ~b~) Paradidymis ~b~) Hinterer Teil ~b~) Paroophoron. (eigentlicher Urnierenteil) Samenleiter mit Urnierengang Gärtnersche Kanäle Samenbläschen einiger Säugetiere. Niere und Ureter Niere und Ureter Niere und Ureter. Hydatide des } Müllerscher Gang { Eileiter und Fimbrien Nebenhodens } { Sinus prostaticus } { Gebärmutter und (Uterus masculinus) } { Scheide. Gubernaculum Leistenband der Rundes Mutterband Hunteri Urniere und Ligamentum ovarii. Männliche Harnröhre Sinus urogenitalis Vorhof der Scheide. (Pars prostatica und membranacea) Männliches Glied Geschlechtshöcker Klitoris. Pars cavernosa Geschlechtsfalten Kleine Schamlippen. urethrae Hodensack Geschlechtswülste Große Schamlippen. ($S. 8, Z. 9 v. u.$) Ernst _Häckel_, Generelle Morphologie der Organismen, Band II: Allgemeine Entwicklungsgeschichte der Organismen etc., Berlin 1866, S. 60 f.: »Jedes Individuum (irgend einer Ordnung) als _Zwitter_ (_Hermaphroditus_) vereinigt in sich beiderlei Geschlechtsstoffe, Ovum und Sperma. Der Gegensatz hiezu ist die Trennung der Genitalien, die Verteilung der beiderlei Geschlechtsstoffe auf zwei Individuen (gleichviel welcher Ordnung), welche wir als _Geschlechtstrennung oder Gonochorismus_ bezeichnen. Jedes Individuum irgend einer Ordnung als _Nichtzwitter_ (Gonochoristus) besitzt nur einen von beiden Geschlechtsstoffen, Ovum _oder_ Sperma.« In einer Anmerkung hiezu gibt er die Etymologie: »γονη, ἡ Genitale, Geschlechtsteil: χωριστός, getrennt. Wir führen dieses neue Wort hier ein, weil es bisher seltsamerweise gänzlich an einer _allgemeinen_ Bezeichnung der Geschlechtstrennung mangelte, während man für die Zwitterbildung deren mehrere besaß (Hermaphroditismus, Androgynie).« ($S. 9, Z. 9.$) Am wenigsten dimorph sind die Geschlechter wohl bei den Stachelhäutern (Echinodermen). Ferner finden sich nach _Weismann_, Das Keimplasma, Jena 1892, S. 466 f., auch bei Volvox, unter den Schwämmen und den Medusenpolypen Organismen, bei welchen männliche und weibliche Individuen lediglich durch die Art der Geschlechtszellen selbst sich unterscheiden, also ohne alle weiteren Sexualcharaktere. ($S. 9, Z. 11.$) Normaler Hermaphroditismus unter den Fischen: beim Seebarsch (Serranus scriba), der Goldbrasse (Chrysophrys aurata) und der Myxine glutinosa (einem auf anderen Fischen schmarotzenden Cyklostoma). Vgl. C. _Claus_, Lehrbuch der Zoologie, 6. Aufl., Marburg 1897, S. 745, und _Richard Hertwig_, Lehrbuch der Zoologie, 5. Aufl., Jena 1900, S. 99. ($S. 9, Z. 13 v. u.$) Aus Gründen der Vererbungslehre wird von _Darwin_ und besonders von _Weismann_ die Bisexualität der geschlechtlich differenzierten Lebewesen geradezu als eine Notwendigkeit postuliert. Darwin, Das Variieren der Tiere und Pflanzen im Zustande der Domestikation, 2. Aufl., Stuttgart 1873, Bd. II, S. 59 f.: »Wir sehen daher, daß in vielen, wahrscheinlich in allen Fällen die sekundären Charaktere jedes Geschlechtes schlafend oder latent in dem entgegengesetzten Geschlechte ruhen, bereit, sich unter eigentümlichen Umständen zu entwickeln. Wir können auf diese Weise verstehen, woher es z. B. möglich ist, daß eine gut melkende Kuh ihre guten Eigenschaften durch ihre männlichen Nachkommen auf spätere Generationen überliefert, indem wir zuversichtlich annehmen, daß diese Eigenschaften in den Männchen jeder Generation, wenn auch in einem latenten Zustande, vorhanden sind. Dasselbe gilt für den Kampfhahn, welcher seine Vorzüglichkeiten in Betreff des Mutes und der Lebendigkeit durch seine weibliche auf seine männliche Nachkommenschaft überliefern kann; und beim Menschen ist es bekannt, daß Krankheiten, wie z. B. Hydrokele, welche notwendig auf das männliche Geschlecht beschränkt sind, durch die Tochter auf den Enkel überliefert werden können. Derartige Fälle, wie die vorstehenden, bieten .... die möglichst einfachen Beispiele von Rückschlag dar, und sie sind unter der Annahme verständlich, daß bei dem Großvater und Enkel eines und desselben Geschlechtes gemeinsame Charaktere, wenn auch latent, in dem zwischenliegenden Erzeuger des entgegengesetzten Geschlechtes vorhanden sind.« Weismann, Das Keimplasma, eine Theorie der Vererbung, Jena 1892, S. 467 f.: »Vom Menschen her wissen wir, daß sämtliche sekundären Geschlechtscharaktere nicht nur von den Individuen des entsprechenden Geschlechtes vererbt werden, sondern auch von denen des anderen. Die schöne Sopranstimme der Mutter kann sich durch den Sohn hindurch auf die Enkelin vererben, ebenso der schwarze Bart des Vaters durch die Tochter auf den Enkel. Auch bei den Tieren müssen in jedem geschlechtlich differenzierten Bion beiderlei Geschlechtscharaktere vorhanden sein, die einen manifest, die anderen latent. Der Nachweis ist hier nur in gewissen Fällen zu führen, weil wir die individuellen Unterschiede dieser Charaktere nur selten so genau bemerken, allein er ist selbst für ziemlich einfach organisierte Arten zu führen, und _die latente Anwesenheit der entgegengesetzten Geschlechtscharaktere in jedem geschlechtlich differenzierten Bion_ muß deshalb als allgemeine Einrichtung aufgefaßt werden. Bei der Biene besitzen die aus unbefruchteten Eiern sich entwickelnden Männchen die sekundären Geschlechtscharaktere des Großvaters, und bei den Wasserflöhen, bei welchen mehrere rein weibliche Generationen aus einander hervorgehen, bringt die letzte derselben Männchen hervor mit den sekundären Geschlechtscharakteren der Art, welche somit in latentem Zustande in einer großen Reihe von weiblichen Generationen vorhanden sein mußten.« Man vergleiche hiemit auch _Moll_, Untersuchungen über die Libido sexualis, Berlin 1898, Bd. I, S. 444. ($S. 9, Z. 4 v. u.$) Als das »Objekt der Kunst« wird »die platonische Idee« bekanntlich betrachtet im dritten Buche der »Welt als Wille und Vorstellung« von _Schopenhauer_. ($S. 10, Z. 18.$) Seit 1899 erscheint alljährlich unter Redaktion von Dr. Magnus _Hirschfeld_ ein »_Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen_«. Dieses Unternehmen wäre noch verdienstvoller, als es ist, wenn es nicht nur die Homosexuellen und die Zwittergeburten, das sind die sexuellen _Mittel_stufen, in den Kreis seiner Betrachtung zöge. Vgl. übrigens Kap. IV und die Nachweise zu demselben. ($S. 11, Z. 3 ff.$) Auch für die Pflanzen. Vgl. August _Schulz_, Beiträge zur Kenntnis der Bestäubungseinrichtungen und Geschlechtsverteilung bei den Pflanzen, II. Teil, Kassel 1890, an vielen Orten, z. B. S. 185. Ferner erzählt _Darwin_, Die verschiedenen Blütenformen bei Pflanzen der nämlichen Art, Werke IX/3, Stuttgart 1877, S. 10, von der gemeinen Esche (Fraxinus excelsior): »..... ich untersuchte .... 15 Bäume, welche auf dem Felde wuchsen, und von diesen produzierten 8 allein männliche Blüten und im Frühjahr und im Herbste nicht ein einziges Samenkorn; 4 produzierten nur weibliche Blüten, welche außerordentlich zahlreichen Samen ansetzten; drei waren Zwitter, welche, als sie in Blüte waren, ein von den anderen Bäumen verschiedenes Aussehen hatten: zwei von ihnen produzierten nahezu so viel Samen wie die weiblichen Bäume, während der dritte nicht einen hervorbrachte, so daß er der Funktion nach männlich war. _Die Trennung der Geschlechter ist indessen bei der Esche nicht vollständig, denn die weiblichen Blüten enthalten Staubgefäße, welche in einer frühen Periode abfallen, und ihre Antheren, welche sich niemals öffnen oder dehiszieren, enthalten meistens eine breiige Substanz anstatt des Pollens. An einigen weiblichen Blüten fand ich jedoch einige wenige Antheren, welche allem Anscheine nach gesunde Pollenkörner enthielten. An den männlichen Bäumen enthalten die meisten Blüten Pistille_, dieselben fallen aber gleichfalls in einer frühen Periode ab; und die Eichen, welche schließlich abortieren, sind sehr klein verglichen mit denen in weiblichen Blüten von demselben Alter.« Man vergleiche übrigens die im III. Kapitel besprochene Heterostylie. -- Was die Tiere betrifft, und besonders den Menschen, so ließen sich ganze Bogen mit Belegen aus hierauf bezüglichen Publikationen füllen. Ich verweise aber lieber zunächst auf Albert _Moll_, Untersuchungen über die Libido sexualis, I, S. 334 ff. (z, B. seine Beweise für das Vorkommen sezernierender Milchdrüsen bei Männern). -- Konrad _Rieger_, Die Kastration in rechtlicher, sozialer und vitaler Hinsicht, Jena 1900, S. 21, Anmerkung 2: »Manche weibliche Ziegen haben sehr starke Hörner, die sich nur wenig von denen eines Ziegen_bockes_ unterscheiden; andere weibliche Ziegen sind völlig hornlos, und schließlich gibt es auch Ziegen_böcke_ (_und zwar unkastrierte_) ohne Hörner.« S. 26: »Sieht man eine größere Anzahl von Rindviehbildern durch, so ergibt sich sofort, daß sehr bedeutende Unterschiede bestehen in Bezug auf die Hörner bei den Stieren selbst.« S. 30: »Ich habe selbst zufällig neulich ein weibliches Schaf von einer importierten Rasse gesehen, das die schönsten Widderhörner hatte.« Vgl. ferner M., Über Rehböcke mit abnormer Geweihbildung und deren eigentümliches Verhalten, Deutsche Jäger-Zeitung, XXXII, 363. Edw. R. _Alston_, On Female Deer with antlers, Proceed. Zoolog. Society, London 1879, p. 296 f. -- Von _lokalen_ Häufungen der Zwischenstufen bei Käfern und Schmetterlingen berichtet William _Bateson_, Materials for the study of variation treated with especial regard of discontinuity in the origin of species, London 1894, p. 254: »In all other localities the male Phalanger maculatus alone is spotten with white, the female being without spots, but in Waigiu the females are spotted like the males. This curious fact was first noticed by Jentink.« (F. A. _Jentink_, Notes, Leyd. Mus., VII, 1885, p. 90.) Und in einer Anmerkung hiezu: »Compare the converse case of Hepialus humuli (the Ghost Moth), of which, in all other localities, the male are clear and the females are light yellow-brown with spots, but in the Shetland Islands the males are very like the females, _though in varying degrees_. See Jenner Weir, Entomologist, 1880, p. 251 Pl.« -- _Darwin_, Das Variieren der Tiere und Pflanzen im Zustande der Domestikation, II, 259: »Die vielen wohlbeglaubigten Fälle verschiedener männlicher Säugetiere, welche Milch geben, zeigen, daß ihre rudimentären Milchdrüsen diese Fähigkeit in einem latenten Zustande behalten.« Dazu _Moll_, Untersuchungen, I, 481: »Von der typischen Beschaffenheit der männlichen Brust finden wir bis zur völligen Ausbildung der weiblichen Brustdrüsen beim Manne zahlreiche Übergänge.« -- _Von der großen Veränderlichkeit sekundärer Geschlechtscharaktere_ handelt _Darwin_ im 5. Kapitel der »Entstehung der Arten« (S. 207 ff. der Übersetzung von Haek, Universalbibliothek), von »_Abstufungen sekundärer geschlechtlicher Charaktere_« im 14. Kapitel der »Abstammung des Menschen u. s. w.« (Bd. II, S. 143 ff. der gleichen Ausgabe). -- Über sexuelle Zwischenformen bei den Cerviden noch Adolf _Rörig_, Welche Beziehungen bestehen zwischen den Reproduktionsorganen der Cerviden und der Geweihbildung, Archiv für Entwicklungsmechanik der Organismen VIII, 1899, 382-447 (mit weiterer Literatur); bei den Vögeln: A. _Tichomiroff_, Androgynie bei den Vögeln, Anatomischer Anzeiger, 15. März 1888 (III, 221-228); bei Vögeln und anderen Tieren: Alexander _Brandt_, Anatomisches und Allgemeines über die sogenannte Hahnenfedrigkeit und über anderweitige Geschlechtscharaktere bei Vögeln, Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie, 48, 1889, S. 101-190. ($S. 11, Z. 6.$) Über das virile Weiberbecken vgl. W. _Waldeyer_, Das Becken, Topographisch-anatomisch mit besonderer Berücksichtigung der Chirurgie und Gynäkologie dargestellt (in: G. _Joessel_, Lehrbuch der topographisch-chirurgischen Anatomie, Teil II, Bonn 1899) S. 393 f.: »Wir finden auch Weiberbecken vom Habitus der Männerbecken. Die Knochen sind massiver, die Darmbeine stehen steil, der Schambogen ist eng, die Beckenhöhle hat eine Trichterform. Meist haben die betreffenden Frauen auch in ihrem übrigen Körperhabitus etwas ..... Männliches (Viragines). Doch braucht dies nicht immer der Fall zu sein.« ($S. 11, Z. 8.$) Über _bärtige Weiber_ vgl. Max _Bartels_, Über abnorme Behaarung beim Menschen, Zeitschrift für Ethnologie VIII (1876), 110-129 (mit Literaturnachweisen), XI (1879), 145-194, XIII (1881), 213-233. Wilhelm _Stricker_, Über die sogenannten Haarmenschen (Hypertrichosis universalis) und insbesondere die bärtigen Frauen, Bericht über die Senckenbergische naturforschende Gesellschaft, Frankfurt 1877, S. 97 f. Louis A. _Duhring_, Case of bearded women, Archives of Dermatology III (1877), p. 193-200. Harris _Liston_, Cases of bearded women, British medical Journal vom 2. Juni 1894. Albert _Moll_, Untersuchungen über die Libido sexualis, Berlin 1898, I, p. 337 (mit Literatur). Cesare _Taruffi_, Hermaphrodismus und Zeugungsunfähigkeit, Eine systematische Darstellung der Mißbildungen der menschlichen Geschlechtsorgane, übersetzt von R. Teuscher, Berlin 1903, S. 164-173: Über Hypertrichosis beim Weibe, mit vielen weiteren Literaturangaben. Alexander _Brandt_, Über den Bart der Mannweiber (Viragines), Biologisches Zentralblatt 17, 1897, S. 226-239. Les Femmes à barbe, Revue scientifique VII, 618-622. Gustav _Behrend_, Artikel _Hypertrichosis_ in Eulenburgs Realenzyklopädie, Bd. XI^3, S. 194. Alexander _Ecker_, Über abnorme Behaarung beim Menschen, insbesondere über die sogenannten Haarmenschen, Braunschweig 1878, mit weiterer Literatur S. 21. ($S. 11, Z. 17 ff.$) Man vergleiche z. B. die in der Schrift von Livius _Fürst_, Die Maß- und Neigungsverhältnisse des weiblichen Beckens nach Profildurchschnitten gefrorener Leichen, Leipzig 1875, S. 16 und S. 24 ff. enthaltenen Tafeln mit den Maßzahlen, die von den verschiedenen Beobachtern von _Luschka_, _Henle_, _Rüdinger_, _Hoffmann_, _Pirogoff_, _Braune_, _Le Gendre_ und _Fürst_ selbst als Dimensionen des Beckens der Geschlechter angegeben werden. -- Ferner W. _Krause_, Spezielle und makroskopische Anatomie (II. Bd. der 3. Aufl. des Handbuches der menschlichen Anatomie von C. F. Th. Krause), Hannover 1879, S. 122 ff., mit Tabellen für die Maximal- und Minimalproportionen sowohl beim Manne als bei der Frau. ($S. 13, Z. 7 f.$) Die Angabe über die Ophiten nach _Überweg-Heinze_, Grundriß der Geschichte der Philosophie, Teil II, Die mittlere oder die patristische und scholastische Zeit, 8. Aufl., Berlin 1898, S. 40. Zu Teil I, Kapitel 2. ($S. 14, Z. 16 v. u.$) Havelock _Ellis_, Man and Woman, A Study of human secondary sexual characters, London 1894, deutsch: Mann und Weib, Anthropologische und psychologische Untersuchung der sekundären Geschlechtsunterschiede, übersetzt von Dr. Hans Kurella (Bibliothek für Sozialwissenschaft, Bd. III) Leipzig 1895. In Betracht kommt hier auch das einseitigere, aber originellere und durch glückliche Belege aus der belletristischen Literatur psychologisch bereicherte Werk von C. _Lombroso_ und G. _Ferrero_, Das Weib als Verbrecherin und Prostituierte, Anthropologische Studien, gegründet auf eine Darstellung der Biologie und Psychologie des normalen Weibes, übersetzt von Kurella, Hamburg 1894. ($S. 15, Z. 22.$) Joh. Japetus Sm. _Steenstrup_, Untersuchungen über das Vorkommen des Hermaphroditismus in der Natur, aus dem Dänischen übersetzt von C. F. Hornschuch, Greifswald 1846, S. 9 ff. -- Man vergleiche über Steenstrups Anschauungen die absprechenden Urteile von Rud. _Leuckart_, Artikel »Zeugung« in Rud. Wagners Handwörterbuch der Physiologie, Bd. IV, 1853, S. 743 f., und C. _Claus_, Lehrbuch der Zoologie, S. 117^6. ($S. 15, Z. 23.$) _Ellis_, Mann und Weib, besonders S. 203 ff. ($S. 15 Z. 10 v. u.$) Über die Geschlechtsunterschiede in der Zusammensetzung des Blutes, Ellis, S. 204 f. -- Olof _Hammarsten_, Lehrbuch der physiologischen Chemie, 4. Aufl., Wiesbaden 1899, S. 137. »Beim Menschen kommen gewöhnlich in je 1 ~cm~^3 beim Manne 5 Millionen und beim Weibe 4 à 4·5 Millionen (roter Blutkörperchen) vor.« -- Ernst _Ziegler_, Lehrbuch der allgemeinen und speziellen pathologischen Anatomie, Bd. II: Spezielle pathologische Anatomie, 9. Aufl., Jena 1898, S. 3: »In 100 ~cm~^3 Blut sind .... bei Männern 14·5 ~g~, bei Frauen 13·2 ~g~ Hämoglobin enthalten.« Vgl. bes. _Lombroso-Ferrero_, S. 22 f. und die dort citierte Literatur. ($S. 15, Z. 8 v. u.$) v. _Bischoff_, Das Hirngewicht des Menschen, Bonn 1880. -- _Rüdinger_, Vorläufige Mitteilungen über die Unterschiede der Großhirnwindungen nach dem Geschlecht beim Fötus und Neugeborenen. Beiträge zur Anthropologie und Urgeschichte Bayerns. I, 1877, S. 286-307. -- Auch _Passet_, Über einige Unterschiede des Großhirns nach dem Geschlecht, Archiv für Anthropologie, Bd. XIV, 1883, S. 89-141, und Emil _Huschke_, Schädel, Hirn und Seele des Menschen und der Tiere nach Alter, Geschlecht und Rasse, Jena 1854, S. 152 f., haben die Existenz solcher Unterschiede versichert und mit genauen Daten belegt. ($S. 15, Z. 6 v. u.$) Alice _Gaule_, Die geschlechtlichen Unterschiede in der Leber des Frosches, Archiv für die gesamte Physiologie, herausgegeben von Pflüger, Bd. LXXXIV, 1901, Heft 1/2, S. 1-5. ($S. 15, Z. 3 v. u.$) Wo der Ausdruck »erogen« (»Zones érogènes« als Name für diejenigen Körperteile, die sexuell besonders anziehend auf das andere Geschlecht wirken) zum ersten Male vorkommt, war mir zu ermitteln nicht möglich. Der verstorbene Professor Freiherr _v. Krafft-Ebing_, von dem ich einmal Belehrung hierüber erbat, vermutete, bei _Gilles de la Tourette_. Doch ist in dessen großem Werke über die Hysterie nichts hierauf Bezügliches enthalten. ($S. 16, Z. 15.$) Die Anführung aus _Steenstrup_ a. a. O., S. 9 bis 10. ($S. 18, Z. 6.$) John _Hunter_, Observations on certain parts of the animal oeconomy, London 1786, berichtet in einem zuerst in den Philosophical Transactions of the Royal Society of London, Vol. LXX/2, 1. Juni 1780, pag. 527-535, veröffentlichten »Account of an extraordinary pheasant« von der »Hahnenfedrigkeit« alter Hennen und vergleicht diese mit der Bärtigkeit der Großmütter. S. 63 (528) wird die berühmte Unterscheidung eingeführt: »It is well known that there are many orders of animals which have the two parts designed for the purpose of generation different in the same species, by which they are distinguished into male and female: but this is not the only mark of distinction in many genera of animals, of the greatest part the male being distinguished from the female by various marks. _The differences which are found in the parts of generation themselves, I shall call the first or principle, and all others depending upon these I shall call secondary._« Wenn im Texte (Z. 20 ff.) der Bereich der sekundären Charaktere strenger denn gewöhnlich als die Gesamtheit der erst in der Mannbarkeit äußerlich sichtbar hervortretenden Charaktere umschrieben wird, so ist damit auf _Hunters_ _ursprüngliche_ Bestimmung zurückgegriffen, S. 68: »We see the sexes which at an early period had little to distinguish them from each other, acquiring about the time of puberty secondary properties, which clearly characterise the male and female. The male at this time recedes from the female, and assumes the secondary characters of his sex.« Vgl. _Darwin_, Das Variieren etc. I^2, S. 199. Entstehung der Arten (übersetzt von Haek), S. 201. ($S. 18, Z. 8.$) Dafür, daß von den primären noch »primordiale« Sexualcharaktere abgeschieden werden müssen, sind die vielen Fälle beweisend, in denen die äußeren Geschlechtsteile etwa weiblich, die Geschlechtsdrüsen selbst immer noch männlich sind, Vgl. z. B. Andrew _Clark_, A case of spurious hermaphroditism (hypospadia and undescended testis in a subject who has been brought up as female and married for sixteen years), Middlesex Hospital, The Lancet, 12. März 1898, p. 718 f. -- L. _Siebourg_, Ein Fall von Pseudo-Hermaphroditismus masculinus completus, Deutsche medizinische Wochenschrift, 9. Juni 1898, S. 367-368. ($S. 18, Z. 23 f.$) Die Lehre von der »inneren Sekretion« im allgemeinen stammt nicht, wie man jetzt überall angegeben findet, von _Brown-Séquard_, der sie nur auf die Keimdrüse als erster angewendet hat, sondern von Claude _Bernard_, nachdem schon bei C. _Legallois_ im Jahre 1801 eine dunkle Ahnung der Sache zu finden ist, worüber man Näheres aus der Année biologique, Vol. I, p. 315 f. erfährt. Vgl. Bernard, Nouvelle fonction du foie considéré comme organe producteur de matière sucrée chez l'homme et les animaux, Paris, Baillière, 1853, p. 58 und 71 f. Ferner Leçons de physiologie expérimentale, Vol. I, Paris 1855, aus der folgende Stellen wörtlich angeführt seien: »On s'est fait pendant longtemps une très-fausse idée de ce qu'est un organe sécréteur. On pensait que toute sécrétion devait être versée sur une surface interne ou externe, et que tout organe sécrétoire devait nécessairement être pourvu d'un conduit excréteur destiné à porter au dehors les produits de la sécrétion. L'histoire du foie établit maintenant d'une manière très-nette qu'il y a des sécrétions internes, c'est à dire des sécrétions dont le produit, au lieu d'être déversé à l'extérieur, est transmis directement dans le sang« (p. 96). -- »Il doit être maintenant bien établi qu'il y a dans le foie deux fonctions de la nature de sécrétions. L'une, sécrétion externe, produit la bile qui s'écoule au dehors; l'autre, sécrétion interne, forme le sucre qui entre immédiatement dans le sang de la circulation générale« (p. 107). -- Ferner (Rapport sur les progrès et la marche de la physiologie générale en France, Paris 1867, p. 73): »La cellule sécrétoire crée et élabore en elle-même le produit de sécrétion qu'elle verse soit au dehors sur les surfaces muqueuses, soit directement dans la masse du sang. J'ai appelé _sécrétions externes_ celles qui s'écoulent en dehors, et _sécrétions internes_ celles qui sont versées dans le milieu organique intérieur.« (p. 79:) »Les sécrétions internes sont beaucoup moint connues que les sécrétions externes. Elles ont été plus ou moins vaguement soupçonnées, mais elles ne sont point encore généralement admises. Cependant, selon moi, elles ne sauraient être douteuses, et je pense que le sang, ou autrement dit le milieu intérieur organique, doit être regardé comme un produit des glandes vasculaires internes.« (p. 84:) »Le foie glycogénique forme une grosse glande sanguine, c'est-à-dire une glande qui n'a pas de conduit excréteur extérieur. Il donne naissance aux produits sucrés du sang, peut-être aussi à d'autres produits albuminoïdes. Mais il existe beaucoup d'autres glandes sanguines, telle que la rate, le corps thyroïde, les capsules surrénales, les glandes lymphatiques, dont les fonctions sont encore aujourd'hui indéterminées; cependant on regarde généralement ces organes comme concourant à la régénération du plasma et du sang, ainsi qu'à la formation des globules blancs et des globules rouges qui nagent dans ce liquide.« Danach ist die sehr allgemeine Angabe, _Brown-Séquard_ sei der Begründer der Lehre von den Funktionen der Drüsen ohne Ausführungsgänge, wie sie sich z. B. in _Bunges_ »Physiologischer Chemie« (Lehrbuch der Physiologie des Menschen, Leipzig 1901, Bd. II, S. 545), bei _Chrobak_ und _Rosthorn_ (Die Erkrankungen der weiblichen Geschlechtsorgane, I. Teil, Wien 1896/1900, S. 388), bei Ernst _Ziegler_ (Lehrbuch der allgemeinen und speziellen pathologischen Anatomie, I^9, 1898, S. 80), Oscar _Hertwig_ (Die Zelle und die Gewebe, Bd. II, 1898, S. 167) oder H. _Boruttau_ (Kurzes Lehrbuch der Physiologie, Leipzig und Wien, 1898, S. 138) findet, zu korrigieren. _Brown-Séquard_ selbst (Effets physiologiques d'un liquide extrait des glandes sexuelles et surtout des testicules, Comptes Rendus hebdomadaires des Séances de l'Académie des Sciences, Paris, 30. Mai 1892, p. 1237 f.) sagt: »Déjà en 1869, dans un cours à la Faculté de Médecine de Paris, j'avais émis l'idée que les glandes ont des sécrétions internes et fournissent au sang des principes utiles sinon essentiels.« Die Priorität gebührt demnach ohne Zweifel Bernard; nur die Anwendung auf die Keimdrüsen ist Brown-Séquards alleiniges Verdienst: »Je croyais, dès alors, que la faiblesse chez les vieillards dépend non seulement de l'état sénile des organes, mais aussi de ce que les glandes sexuelles ne donnent plus au sang des principes qui, à l'âge adulte, contribuent largement à maintenir la vigueur propre à cet âge. Il était donc tout naturel de songer à trouver un moyen de donner au sang de vieillards affaiblis les principes que les glandes sexuelles ne lui fournissent plus. C'est ce qui m'a conduit à proposer l'emploi d'injections sous-cutanées d'un liquide extrait de ces glandes.« Die erste Veröffentlichung Brown-Séquards über dieses Thema ist die in den »Comptes rendus hebdomadaires des séances et mémoires de la Société de Biologie«, Tome 41, 1889, p. 415-419 enthaltene (datiert vom 1. Juni 1889). Als Gegner der Lehre von der inneren Sekretion, speziell der Keimdrüsen, sind zu nennen: Konrad _Rieger_ in seiner Schrift über die Kastration (Jena 1900, S. 71; ihn erinnert sie an die Theorien der mittelalterlichen Mönche über die Folgen des »semen retentum«) und A. W. _Johnston_, Internal Secretion of the Ovary, 25. Annual Meeting of the American Gynaecological Society, vgl. British Gyn. Journal, Part 62, August 1900, S. 63. Unentschieden lassen die Frage, ob die Erscheinungen nach Kastration und Involution der Keimdrüsen, nach der Pubertät und in der Gravidität, soweit sie von den Genitalien ihren Ursprung nehmen, auf nervösem Wege oder durch das Blut vermittelt werden, _Ziegler_, Patholog. Anatomie, I^9, S. 80, und O. _Hertwig_, Zelle und Gewebe, II, 162. Dieser sagt: »Wenn auf der einen Seite der Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Geschlechtsdrüsen und der sekundären Sexualcharaktere nicht in Abrede gestellt werden kann, so fehlt uns auf der anderen Seite doch das tiefere Verständnis dafür. Wird die Korrelation zwischen den Organen, welche funktionell direkt nichts miteinander zu tun haben, durch das Nervensystem vermittelt, oder sind es vielleicht besondere Substanzen, welche vom Hoden oder Eierstock abgesondert werden, in den Blutstrom geraten und so die weit abgelegenen Körperteile zu korrelativem Wachstum veranlassen? Zu einem Entscheid der aufgeworfenen Alternative fehlt es noch an jeder experimentellen Unterlage.« Der letzte Satz war wohl schon zu der Zeit, da Hertwig ihn schrieb (1898), nicht mehr ganz richtig. Fr. _Goltz_ und A. _Freusberg_ hatten 1874 (»Über den Einfluß des Nervensystems auf die Vorgänge während der Schwangerschaft und des Gebäraktes«, Pflügers Archiv für die gesamte Physiologie, IX, 552-565) von folgendem berichtet (S. 557): »Eine Hündin mit vollständiger Trennung des Rückenmarkes in der Höhe des ersten Lendenwirbels ist brünstig geworden, hat empfangen und ein lebensfähiges Junges ohne Kunsthilfe geboren. Bei und nach diesen Vorgängen hat das Tier alle die damit verbundenen Naturtriebe (Instinkte) entfaltet ebenso wie ein unversehrtes Geschöpf« (d. h. die Milchdrüsen füllten sich und das Junge wurde mit größter Zärtlichkeit behandelt. Man vgl. auch _Brücke_, Vorlesungen über Physiologie II^3, Wien 1884, S. 126 f.). Goltz selbst kam schon damals zu folgendem Schlusse (S. 559): »Es scheint mir ... äußerst fraglich, ob überhaupt der Zusammenhang zwischen Gebärmutter und Milchdrüsen durch Beteiligung des Nervensystems zu denken ist. Mir sagt auch in diesem Falle der Gedanke mehr zu, daß das Blut diesen Zusammenhang vermittelt.« Er erinnert daselbst auch an die Ausfallserscheinungen nach der Kastration. In ihrer berühmter gewordenen Arbeit »Der Hund mit verkürztem Rückenmark« (Pflügers Archiv; 63, 362-400) sind Fr. _Goltz_ und J. R. _Ewald_ 22 Jahre nach jener Untersuchung nochmals auf das Thema zurückgekommen (vgl. in jener Abhandlung S. 385 f.). Der hauptsächlichste Beweis, daß _keine_ nervöse Vermittlung vorliegt, ist, wie ich meine, darin zu erblicken, daß einseitige Kastration, also Exstirpation bloß eines Ovars oder Testikels, an der Entwicklung der sekundären Geschlechtscharaktere nicht das Geringste ändert. Den Einfluß jeder Keimdrüse hätte man aber, wenn ein solcher auf nervösem Wege sich vollzieht, als stets auf eine Hemisphäre des Körpers _stärker_ sich erstreckend vorzustellen, ja eine halbseitige Kastration wäre, zunächst wenigstens, nur für _eine_ Körperhälfte als entscheidend anzunehmen. Mit Ausnahme einer einzigen Angabe aber, der _Rieger_, Die Kastration, S. 24, mit Recht als Jägerlatein mißtraut (es ist die in _Brehms_ Säugetieren, Leipzig und Wien, 1891, III^3, 430: »Einseitig verschnittene Hirsche setzen bloß an der unversehrten Seite noch auf«), hat nirgends etwas ähnliches verlautet: halbseitig verschnittene Tiere sind wie gar nicht verschnittene. So schon _Berthold_, Nachrichten von der Universität und Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, 1849, Nr. 1, S. 1-6. Vgl. z. B. _Chrobak-Rosthorn_, Erkrankungen der weiblichen Geschlechtsorgane, I/2, S. 371 f.: »_Sokoloff_[104] operierte an Hunden, verfolgte die Veränderungen sowohl bei einseitiger als auch bei doppelseitiger Kastration. _Bei ersterer trat die Brunst wie normal ein_, bei letzterer blieb sie regelmäßig weg. _Einseitige Kastration bei jungen Tieren läßt das Wachstum beider Gebärmutterhälften fortdauern._ Schon 1½ Monate nach zweiseitiger Kastration war eine ausgesprochene Atrophie der zirkulären Muskelschichte aufgetreten.« Diesen Beweis halte ich darum für stringenter selbst als die Transplantationsversuche (auf Grund deren J. _Halban_, Über den Einfluß der Ovarien auf die Entwicklung des Genitales, Monatsschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie, XII, 1900, 496-506, besonders S. 505, A. _Foges_, Zur Lehre von den sekundären Geschlechtscharakteren, Pflügers Archiv, XCIII, 1902, 39 ff., Emil _Knauer_, Die Ovarientransplantation, experimentelle Studie, Archiv für Gynäkologie, LX, 1900, besonders S. 352-359, mit so viel Recht für die innere Sekretion sich entscheiden), weil diesen gegenüber als letzter noch immer der Einwand möglich wäre, daß vermittelnde nervöse Bahnen in das transplantierte Gewebe zugleich mit dessen Vaskularisierung eingezogen seien. ($S. 18, Z. 10 v. u. ff.$) Einen _anderen_ Begriff _von tertiären Sexualcharakteren_ hat Havelock _Ellis_ aufgestellt, Mann und Weib, S. 24: ».... So haben wir z. B. die verhältnismäßig größere Flachheit des Schädels, die größere Aktivität und Ausdehnung der Schilddrüse und die geringere Durchschnittsmenge der roten Blutkörperchen beim Weibe. Diese Differenzen hängen wahrscheinlich indirekt mit primären und sekundären sexuellen Charakteren zusammen. Vom zoologischen Standpunkt aus sind sie kaum von Interesse, dagegen vom anthropologischen und gelegentlich auch vom pathologischen und sozialen Standpunkt aus höchst bemerkenswert. In dieselbe Gruppe mit den sekundären sexuellen Charakteren lassen sie sich keinesfalls einreihen, und wir tun wohl am besten, sie zu einer neuen Gruppe zusammenzufassen und als ‚tertiäre sexuelle Charaktere’ zu bezeichnen.« Ellis bemerkt selbst, daß »sich wegen der Tendenz dieser Merkmale, ineinander überzugehen, diese Teilung schwer durchführen läßt«. Aber nicht nur der theoretische, auch der praktische Wert dieser Gliederung scheint mir geringer als der Wert der im Texte vorgeschlagenen Einteilung, nach welcher als primordiale Geschlechtscharaktere die allgemein-biologischen, als primäre die im engeren Sinne anatomischen, als sekundäre die im engeren Sinne physiognomischen, als tertiäre die psychologischen und als quartäre die sozialen Unterschiede der Geschlechter bezeichnet werden. ($S. 19, Z. 15 ff.$) Die Annahme dünkt mich sehr wahrscheinlich, daß _gleichzeitig_ mit _jeder äußeren_ eine _innere Sekretion_ vor sich geht, also auch die letztere keine kontinuierliche, sondern eine intermittierende Funktion sei. Denn der Bartwuchs z. B. ist nicht gleichmäßig, sondern er erfolgt schubweise, stoßweise. Als Erklärung hiefür scheint eine interrupte innere Sekretion am nächsten zu liegen. ($S. 19, Z. 7 v. u.$) Der Ausdruck »Komplementärbedingung« nach Richard _Avenarius_, Kritik der reinen Erfahrung, Bd. I, Leipzig 1888, S. 29. ($S. 20, Z. 10-28.$) Über das Idioplasma vgl. C. v. _Naegeli_, Mechanisch-Physiologische Theorie der Abstammungslehre, 1884. Der Begriff wird dort, in einer von seiner Entwicklung im Texte etwas abweichenden Weise, eingeführt auf S. 23. Es heißt dann weiter: »Jede wahrnehmbare Eigenschaft ist als Anlage im Idioplasma vorhanden, es gibt daher so viele Arten von Idioplasma, als es Kombinationen von Eigenschaften gibt. Jedes Individuum ist aus einem etwas anders gearteten Idioplasma hervorgegangen, und in dem nämlichen Individuum verdankt jedes Organ und jeder Organteil seine Entstehung einer eigentümlichen Modifikation oder eher einem eigentümlichen Zustande des Idioplasmas. Das Idioplasma, welches wenigstens in einer bestimmten Entwicklungsperiode durch alle Teile des Organismus verteilt ist, hat also an jedem Punkte etwas andere Eigenschaften, indem es beispielsweise bald einen Ast, bald eine Blüte, eine Wurzel, ein grünes Blatt, ein Blumenblatt, ein Staubgefäß, eine Fruchtanlage, ein Haar, einen Stachel bildet.« Am wichtigsten ist für das hier in Betracht kommende die Stelle S. 32 f.: »Jede beliebige Zelle muß davon [vom Idioplasma] eine gewisse Menge enthalten, weil dadurch die ererbte Tätigkeit bedingt wird.« Ferner S. 531: »Jede Ontogenie ... beginnt mit einem winzigen Keim, in welchem eine kleine Menge von Idioplasma enthalten ist. Dieses Idioplasma zerfällt, indem es sich fortwährend in entsprechendem Maße vermehrt, bei den Zellteilungen, durch welche der Organismus wächst, in ebenso viele Partien, die den einzelnen Zellen zukommen, ....... Jede Zelle des Organismus ist idioplasmatisch befähigt, zum Keim für ein neues Individuum zu werden. Ob diese Befähigung sich verwirklichen könne, hängt von der Beschaffenheit des Ernährungsplasmas ab. Das Vermögen hiezu kommt bei niederen Pflanzen jeder einzelnen Zelle zu; bei den höheren Pflanzen haben es manche Zellen verloren; im Tierreiche besitzen es im allgemeinen nur die zu ungeschlechtlichen oder geschlechtlichen Keimen normal bestimmten Zellen.« -- Hugo de _Vries_: in seinem Buche: Intracellulare Pangenesis, Jena 1889, S. 55-60, 75 ff., 92 ff., 101 ff., und besonders S. 120. Oscar _Hertwig_, Die Zelle und die Gewebe, Grundzüge der allgemeinen Anatomie und Physiologie. (Diesem Buche verdanke ich in biologischer Hinsicht ganz allgemein neben _Darwins_ »Variieren« die reichste Belehrung.) Hertwig begründet die Theorie im ersten Bande (Jena 1893), S. 277 ff.: »Wenn man das Moospflänzchen Funaria hygrometrica zu einem feinen Brei zerhackt, so läßt sich auf feuchter Erde aus jedem kleinsten Fragment wieder ein ganzes Moospflänzchen züchten. Die Süßwasserhydra läßt sich in kleine Stückchen zerschneiden, von denen sich jedes wieder zu einer ganzen Hydra mit allen ihren Eigenschaften umbildet. Bei einem Baum können sich an den verschiedensten Stellen durch Wucherung vegetativer Zellen Knospen bilden, die zu einem Sproß auswachsen, der, vom Ganzen abgetrennt und in Erde verpflanzt, sich bewurzelt und zu einem vollständigen Baum wird. Bei Cölenteraten, manchen Würmern und Tunikaten ist die ungeschlechtliche Vermehrung auf vegetativem Wege eine ähnliche, da fast an jeder Stelle des Körpers eine Knospe entstehen und zu einem neuen Individuum werden kann ....... Ein abgeschnittener und ins Wasser gestellter Weidenzweig entwickelt wurzelbildende Zellen an seinem unteren Ende, und so wird hier von Zellen, die im Plane des ursprünglichen Ganzen eine sehr abweichende Funktion zu erfüllen hatten, eine den neuen Bedingungen entsprechende Aufgabe übernommen, ein Beweis, daß die Anlage dazu in ihnen gegeben war. Und so können sich umgekehrt auch aus abgeschnittenen Wurzeln Laubsprosse bilden, die dann zu ihrer Zeit selbst männliche und weibliche Geschlechtsprodukte hervorbringen. In diesem Falle stammen also direkt aus Zellbestandteilen einer Wurzel Geschlechtszellen ab, die als solche wieder zur Reproduktion des Ganzen dienen ...... Die Botaniker hängen zum größten Teile der Lehre an, die kürzlich de Vries gegen Weismann verteidigt und in den Satz zusammengefaßt hat, daß _alle oder doch weitaus die meisten_ Zellen des _Pflanzenkörpers die sämtlichen erblichen Eigenschaften der Art im latenten Zustand enthalten. Dasselbe läßt sich auf Grund von Tatsachen von niedrigen tierischen Organismen sagen._ Für höhere Tiere kann man den Beweis allerdings nicht führen; deswegen ist man aber nicht zu der Folgerung gezwungen, daß die Zellen der höheren und niederen Organismen insoferne verschieden wären, als die letzteren alle Eigenschaften der Art im latenten Zustand, also die Gesamtheit der Erbmasse, die ersteren dagegen nur noch Teile von ihr enthielten.« -- Als der heftigste Gegner der Idioplasmalehre ist August _Weismann_ aufgetreten in seiner Schrift: Die Kontinuität des Keimplasmas als Grundlage einer Theorie der Vererbung, 1885 (Aufsätze über Vererbung und verwandte biologische Fragen, Jena 1892, S. 215 ff.). Weismanns Hauptargument (S. 237): »Ehe nicht erwiesen wird, daß ‚somatisches’ Idioplasma überhaupt rückverwandelt werden kann in Keimidioplasma, haben wir kein Recht, aus einer von ihnen [den somatischen Zellen] Keimzellen entstehen zu lassen«, dürfte vor den genauen Untersuchungen von Friedlich _Miescher_ (Die histochemischen und physiologischen Arbeiten von F. M., Leipzig 1897, Bd. II, S. 116 ff.) über die Entwicklung der Keimdrüsen der Lachse auf Kosten ihres großen Seitenrumpfmuskels nicht mehr haltbar sein. Vgl. übrigens die vernichtende Kritik, welche an den überaus künstlichen Theorien Weismanns von _Kassowitz_, Allgemeine Biologie, Bd. II, Wien 1900, geübt worden ist, auf die Weismann, wohl ihres überscharfen Tones halber, nicht geantwortet hat. Für die Idioplasmalehre zeugen vollends Untersuchungen wie die von Paul _Jensen_, Über individuelle physiologische Unterschiede zwischen Zellen der gleichen Art (Pflügers Archiv, LXII, 1896, 172-200). Es heißt da z. B. (S. 191): »Wenn ein Foraminifer durch abgetrennte eigene Pseudopodien niemals, dagegen stets durch abgeschnittene Pseudopodien eines anderen Individuums kontrektatorisch erregt wird, so muß das Protoplasma des ersteren sich von dem der letzteren in bestimmter Weise unterscheiden, oder allgemein ausgedrückt: das Protoplasma verschiedener Individuen muß physiologisch verschieden sein. Welcher Art aber ist diese Verschiedenheit und welcher Art der Reiz, der ihr entspringt? Wir werden nicht umhin können, Unterschiede in der chemischen Zusammensetzung der Protoplasmen verschiedener Individuen anzunehmen.« -- Über die Regenerationsfähigkeit (auch niederer _Tiere_) vgl. Hermann _Vöchting_, Über die Regeneration der Marchantieen, Jahrbücher für wissenschaftliche Botanik, 1885, Bd. XVI, S. 367 bis 414. Über Organbildung im Pflanzenreich, Physiologische Untersuchungen über Wachstumsursachen und Lebenseinheiten, Teil I, Bonn 1878, S. 236-240, besonders S. 251-253. -- Jacques _Loeb_, Untersuchungen zur physiologischen Morphologie der Tiere, II. Organbildung und Wachstum, Würzburg 1892, S. 34 ff. (über Regeneration bei Ciona intestinalis). ($S. 21, Z. 6 ff.$) Wenn jede Zelle, also auch jede Nervenzelle, männlich oder weiblich (in bestimmtem Grade) ist, so entfällt auch der letzte Anlaß zur Annahme eines »psychosexuellen Zentrums« für den Geschlechtstrieb im Gehirn, wie es besonders _Krafft-Ebing_ (Psychopathia sexualis, 11. Aufl., S. 248, Anm. 1) und seine Schüler, ferner (nach ihm) _Taruffi_, Hermaphrodismus und Zeugungsunfähigkeit, übersetzt von R. Teuscher, Berlin 1903, S. 190, ungeachtet der in der Anmerkung zu S. 18, Z. 15 v. u. citierten Experimente von _Goltz_, postuliert haben. ($S. 21, Z. 2 v. u.$) Wilhelm _Caspari_, Einiges über Hermaphroditen bei Schmetterlingen, Jahrbücher des nassauischen Vereines für Naturkunde, 48. Jahrgang, S. 171-173 (Referat von P. _Marchal_, Année biologique, I. 288), berichtet, wie zuweilen die eine seitliche Hälfte eines Schmetterlings vollständig männlich und die andere vollständig weiblich ist. Bei Saturnia pavonia, einem Pfauenauge, ist der Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Färbung sehr groß und daher, bei Hermaphroditen in dieser Art der Kontrast zwischen rechter und linker Körperhälfte höchst auffallend. -- Richard _Hertwig_, Lehrbuch der Zoologie^5, 1900, S. 99 über diesen »Hermaphroditismus lateralis« und jene hermaphroditischen Formen bei Schmetterlingen wie Ocneria dispar (einem Spinner), dessen männliche Hälfte die besondere Gestalt der männlichen Fühler, Augen und Flügel trägt, und sich durch sie wesentlich von der weiblichen Hälfte unterscheidet. ($S. 22, Z. 4 v. u. ff.$) _Aristoteles_ sagt (Histor. Anim. 5, 14, 545, ~a~ 21:) εἰς τὸ θήλυ γαρ μεταβάλλει τα ἐκτεμνόμενα. (9, 50, 632, ~a~ 4) μεταβάλλει δὲ καὶ ἡ φωνὴ ἐπὶ τῶν ἐκτεμνομένων ἁπαντων εἰς τὸ θήλυ. Die falschen Angaben über regelmäßige Verweiblichung des entmannten Tieres rühren in der neuesten Zeit hauptsächlich von William _Yarrell_ her (On the influence of the sexual organ in modifying external character, Journal of the Proceedings of the Linnean Society, Zool. Vol. I, 1857, p. 81), und sind ihm (mit oder ohne Berufung auf ihn) oft nachgesprochen worden, z. B. von _Darwin_, Das Variieren etc., II^2, 59: »Der Kapaun fängt an, sich auf Eier zu setzen und brütet Hühnchen aus;« von _Weismann_, Keimplasma, S. 469 f.: »Bei ausgebildeten Individuen des einen Geschlechtes können unter besonderen Umständen die sekundären Sexualcharaktere des anderen Geschlechtes zur nachträglichen Ausbildung gelangen. Dahin gehören vor allem die _Folgen der Kastration_ bei beiden Geschlechtern.« Ebenso von _Moll_, Die konträre Sexualempfindung, 3. Aufl., Berlin 1899, S. 170, Anm. 1. _Gegen_ diese Theorien hat sich namentlich _Rieger_ gewendet (Die Kastration, S. 33 f.), ferner Hugo _Sellheim_ (Zur Lehre von den sekundären Geschlechtscharakteren, Beiträge zur Geburtshilfe und Gynäkologie, herausgegeben von A. Hegar, Bd. I, 1898, S. 229-255): »In keiner Weise konnten wir [bei den Kapaunen] einen Umschlag, eine Entwicklung von Mutterliebe konstatieren, die sich in einer Fürsorge für die beigegebenen Küchlein ausgesprochen hätte« (S. 234). »Von einer aktiven Annäherung an das weibliche Tier, wie sie von mancher Seite bei den durch die Entfernung der Hoden bedingten Veränderungen angenommen wird, ist bei dem Kastratenkehlkopf nichts zu merken« (S. 241). Schließlich hat Arthur _Foges_ (Zur Lehre von den sekundären Geschlechtscharakteren, Pflügers Archiv, Bd. XCIII, 1902, S. 39-58) Sellheims Befunde bestätigt und die ältere Ansicht nochmals zurückgewiesen (S. 53). Die letzten Autoren gehen aber wohl zu weit, indem sie die Verweiblichung für ausgeschlossen zu halten scheinen; sie ist zwar keine notwendige Folge der Kastration, da sie jedoch gänzlich _ohne_ dieselbe eintreten kann (vgl. S. 24, Z. 1-8 und die Anmerkung zu dieser Stelle), so wird durch Kastration ihre Möglichkeit in vielen Fällen wohl noch erleichtert werden. ($S. 23, Z. 16 f.$) Über die Annahme männlicher Charaktere durch die Frauen, respektive Weibchen, nach dem Aufhören der Geschlechtsreife, respektive der Menopause, vgl. vor allem die ausführliche Abhandlung von Alexander Brandt, Anatomisches und Allgemeines über die sogenannte Hahnenfedrigkeit und über anderweitige Geschlechtsanomalien bei Vögeln, Zeitschr. f. wiss. Zool., 48, 1889, S. 101-190. -- Die erste Angabe über Hahnenfedrigkeit bei _Aristoteles_, Histor. Animal. 9, 49, 631 b, 7 ff. -- Im XIX. Jahrhundert handeln von ihr vornehmlich William _Yarrell_, On the change in the plumage of some Hen-Pheasants, Philosophical Transactions of the Royal Society of London, 10. Mai 1827 (Part. II, p. 268-275); _Darwin_, Das Variieren II^2, S. 58; Oscar _Hertwig_, Die Zelle und die Gewebe, Bd. II, Jena 1898, S. 162. -- Hieher gehört vielleicht der interessante Fall von Hypertrichosis, den _Chrobak_ und _Rosthorn_, Die Erkrankungen der weiblichen Geschlechtsorgane, Teil I, S. 388, nach Virchow erzählen, »in welchem es sich um eine junge Frau handelte, die während der Menstruation an akutem Magen- und Darmkatarrh erkrankte, später amenorrhoisch wurde, und bei welcher sich während der Dauer des Ausbleibens der Regel der ganze Körper mit schwarzen wachsenden Haaren bedeckte.« ($S. 23, Z. 22 f.$) Ricken: nach _Brehms_ Tierleben, 3. Aufl. von Pechuel-Loesche, Säugetiere, Bd. III, 1891, S. 495: »Auch sehr alte Ricken erhalten bisweilen einen kurzen Stirnzapfen und setzen schwache Gehörne auf ... Von einem derartigen Geweih teilt mir _Block_ mit, daß es aus zwei gegen 5 ~cm~ langen Stangen bestand und selbst einen alten Weidmann täuschen konnte, welcher die Ricke als Bock ansprach und erlegte.« ($S. 23, Z. 13 v. u. ff.$) Vgl. Paul _Mayer_, Carcinologische Mitteilungen, Mitteilungen a. d. zool. Station zu Neapel, I, 1879, VI: Über den Hermaphroditismus bei einigen Isopoden, S. 165 bis 179. Von Vertretern der Gattungen Cymothoa, Anilocra und Nerocila ist durch Mayer sichergestellt, daß dieselben Individuen in ihrer Jugend als Männchen fungieren, bei denen nach einer späteren Häutung die ursprünglich zwar vorhandenen, aber nicht funktionsfähigen Eierstöcke die männlichen Keimdrüsen zurückdrängen, so daß die Tiere nun die Rolle von Weibchen ausfüllen. -- Der Ausdruck »Protandrie« (nach dem Muster der Botanik vgl. _Nolls_ Physiologie in Strasburgers Lehrbuch der Botanik, 3. Aufl., 1898, S. 250) wird auch von Mayer, S. 177, für diese Erscheinung gebraucht. Vgl. Cesare _Lombroso_ und Guglielmo _Ferrero_, Das Weib als Verbrecherin und Prostituierte, übersetzt von Hans Kurella, Hamburg, 1894, S. 3. Übrigens hat L. _Cuénot_ bei gewissen Seesternen ganz die gleiche Erscheinung nachweisen können: Notes sur les Echinodermes, III: »L'hermaphrodisme _protandrique_ d'Asterina gibbosa Penn. et ses variations suivant les localités« (Zoologischer Anzeiger, XXI/_{1}, 1898, S. 273-279). Er kommt zu dem Ergebnis (S. 275): »L'hermaphrodisme protandrique est donc ici indiscutable: les Asterina sont fonctionnellement mâles ... puis, elles deviennent exclusivement femelles pour le reste de leur existence.« ($S. 24, Z. 1 ff.$) Über Fälle von sexueller Umwandlung wird auch sonst sporadisch berichtet. Z. B. von L. _Janson_, Über scheinbare Geschlechtsmetamorphose bei Hühnern, Mitteilungen d. deutsch. Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens, Heft 60, S. 478 bis 480. -- _Kob_, De mutatione sexus, Berlin 1823. -- Anekdotenhafte Fälle sind bei _Taruffi_, Hermaphrodismus und Zeugungsunfähigkeit, Berlin 1903, S. 296, 307 f., 364 f., aus einer Literatur von sehr ungleicher Zuverlässigkeit gesammelt. -- »Man hat eine zehn Jahre alte Ente gekannt, welche sowohl das vollständige Winter- als Sommergefieder des Enterichs annahm.« _Darwin_, Das Variieren etc., II^2, S. 58. Vgl. _Moll_, Untersuchungen über die Libido sexualis, I, S. 444. -- R. v. _Krafft-Ebing_, Psychopathia sexualis mit besonderer Berücksichtigung der konträren Sexualempfindung, eine klinisch-forensische Studie, 8. Aufl., Stuttgart 1893, erwähnt S. 198 f. verschiedene höchst merkwürdige Fälle von Männern, die im Laufe ihres Lebens eine vollständige Umwandlung zum Weibe erfahren haben; besonders kommt in Betracht jene Autobiographie eines Arztes (S. 203 ff.) als Beispiel einer Umwandlung, die, wie Krafft-Ebing S. 215 selbst zugeben muß, durchaus ohne paranoischen Wahn ist, obwohl er auch jenen Fall S. 203 unter der Überschrift »Metamorphosis sexualis paranoica« einführt. ($S. 24, Z. 11 v. u.$) Die hier erwähnten Versuche sind die von Emil _Knauer_ (Die Ovarientransplantation, Experimentelle Studie, Archiv für Gynäkologie, Bd. LX, 1900, S. 322-376) ausgeführten. Nur in zwei von dreizehn Fällen mißlang die Transplantation nicht (ibid., S. 371). »Mit Rücksicht auf diese beiden letzten, positiven Erfolge glaube ich behaupten zu können, _daß die Überpflanzung der Eierstöcke von einem auf ein zweites Tier ebenfalls möglich sei_.« (S. 372.) _Foges_, der unter Kenntnis von Knauers Erfolgen denselben Versuch wiederholte, ist die Vertauschung nie gelungen (Pflügers Archiv, Bd. XCIII, 1902, S. 93.), ebensowenig wie Knauers von ihm selbst, S. 373 f., citierten Vorgängern. Als Grund ist wohl (neben Wechseln in der Vollkommenheit der technischen Ausführung) der im Text vermutete zu betrachten. -- Über den guten Erfolg der Transplantation innerhalb des Tieres vgl. Knauer S. 339 ff. ($S. 25, Z. 8 ff.$) Über die heute ihrer Gefahren wegen freilich fast außer Gebrauch gekommene Bluttransfusion, vgl. L. _Landois_, Artikel »Transfusion« in Eulenburgs Realenzyklopädie der Heilkunde, 2. Aufl., Bd. XX, 1890, welche für, und Ernst v. _Bergmann_, Die Schicksale der Transfusion im letzten Dezennium, Berlin 1883, sowie A. _Landerer_, Über Transfusion und Infusion, Virchows Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie und klinische Medizin, Bd. CV, 1886, S. 351-372, die beide gegen die Transfusion sich einsetzen. ($S. 25, Z. 10 v. u. ff.$) Über die »Organsafttherapie« unterrichtet am ausführlichsten der, ihrem Prinzipe freilich äußerst gewogene, gleichlautende Artikel von Georg _Buschan_ in Eulenburgs Realenzyklopädie, 3. Aufl., Bd. XVIII (1898), S. 22-82. ($S. 26, Z. 6 v. u.$) Nach _Foges_, Zur Lehre von den sekundären Geschlechtscharakteren, Pflügers Archiv, Bd. XCIII, 1902 (S. 57), wäre freilich die _Quantität_ der ins Blut sezernierten Keimdrüsenstoffe von der größten Bedeutung; denn daß die vollständige Erhaltung des normalen Sexualcharakters durch Hodentransplantation bei seinen Versuchstieren nicht gelang, führt er darauf zurück, daß eine im Verhältnis zur Größe des normalen Hodens nur ganz kleine Menge Hodengewebes zur Anheilung kam. ($S. 25, Z. 4 v. u. ff.$) Nach _Buschan_ (a. a. O., S. 32) tun eine Reihe von Versuchen, die von _Ferré_ und _Bechasi_ (Note préliminaire sur l'étude de l'action du suc ovarien sur le cobaye, Gazette hebdomadaire, XLIV, 1897, Nr. 50) in dem physiologischen Laboratorium der Universität Rom angestellt worden sind, deutlich dar, »daß die Wirkung dieser [der Organ-]Präparate auf das männliche Geschlecht eine ganz andere als auf das weibliche ist. Spritzten diese Beobachter von einem Ovarialextrakt ... 5 ~cm~^3 einem _weiblichen_ Meerschweinchen ein, dann trat weder eine lokale noch eine allgemeine Reaktion auf, nur das Körpergewicht erfuhr eine Zunahme; wurde die gleiche Menge einem _männlichen_ Tiere injiziert, dann stellten sich ebenfalls keine lokalen noch Allgemeinerscheinungen, wohl aber Abmagerung ein. Bei Injektion von 10 ~cm~^3 war beim _weiblichen_ Tier die lokale Reaktion nur ganz gering, Allgemeinreaktion war nicht vorhanden und die Gewichtszunahme eine bedeutende; beim _männlichen_ Tier dagegen die lokale Reizung schon ganz beträchtlich, ferner stellte sich eine vorübergehende Temperatursteigerung ein, und die Gewichtsabnahme war noch stärker ausgeprägt. Wenn endlich 15 ~cm~^3 injiziert wurden, dann blieb die lokale Reaktion beim _Weibchen_ eine nur schwache, beim Männchen hingegen nahm sie eine noch bedeutendere Höhe an; bei ersterem trat gleichfalls eine Temperatursteigerung um einige Dezigrade während des Injektionstages, bei letzterem hingegen eine sehr deutliche Hypothermie mit nervösem Zittern und intensiver Depression ein; _außerdem erfuhr das männliche Meerschweinchen eine sehr beträchtliche Abnahme seines Gewichtes und starb schließlich innerhalb vier bis sechs Tagen_.« ($S. 27, Z. 6 ff.$) Es dürfte dies für verschiedene Organismen verschieden sein. Z. B. bemerken gegenüber anderslautenden Aussagen von _Born_ und _Pflüger_ die _Hertwigs_ auf S. 43 ihrer »Experimentellen Untersuchungen über die Bedingungen der Bastardbefruchtung« (_Oscar_ und _Richard Hertwig_, Untersuchungen zur Morphologie und Physiologie der Zelle, 4. Heft, Jena 1885): »Selbst bei den stärksten Vergrößerungen ist es uns nicht möglich gewesen, zwischen den reifen Samenfäden eines Sphaerechinus oder Strongylocentrotus oder einer Arbacia Unterschiede in Form und Größe zu entdecken.« Dagegen setzt L. _Weill_, Über die kinetische Korrelation zwischen den beiden Generationszellen, Archiv für Entwicklungsmechanik der Organismen, Bd. XI, 1901, S. 222-224, die Existenz individueller Unterschiede auch zwischen den Spermatozoiden und Eizellen derselben Tiere voraus. -- Daß übrigens die Dimensionen der Eier sicherlich schwanken, ist aus den Maßzahlen zu ersehen, die Karl _Schulin_, Zur Morphologie des Ovariums, Archiv für mikroskopische Anatomie, Bd. XIX, 1881, S. 472 f. und W. _Nagel_, Das menschliche Ei, ibid., Bd. XXXI, 1888, S. 397, 399 angeben. ($S. 27, Z. 12 ff.$) Über die Geschwindigkeit der Spermatozoiden vgl. _Chrobak-Rosthorn_ I/2, S. 441. ($S. 27, Z. 16 ff.$) _Purser_, The British Medical Journal, 1885, p. 1159 (vgl. _Moll_, Untersuchungen, I, S. 252) und besonders Franz _Friedmann_, Rudimentäre Eier im Hoden von Rana viridis, Archiv für mikroskopische Anatomie und Entwicklungsgeschichte, Bd. LII, 1898, S. 248-261 (mit vielen Literaturangaben, S. 261). Friedmanns Fall ist dadurch besonders interessant, daß sich in _beiden_ Hoden (im einen fünf, im anderen zehn) wohl entwickelte _Eier_ mit einem Durchmesser von 225-500 μ fanden, die sämtlich _innerhalb der Samen_kanälchen selbst, und nicht erst zwischen den Hodenschläuchen lagen. Auch _Pflüger_, Über die das Geschlecht bestimmenden Ursachen und die Geschlechtsverhältnisse der Frösche, Archiv für die gesamte Physiologie, Bd. XXIX, 1882, S. 13-40, berichtet über die großen Graafschen Follikel, die er gegen seine Erwartung in den Hoden brauner Grasfrösche gefunden habe (S. 33). Seine Abhandlung spricht geradezu von Übergangsformen von Hode zu Eie