Title: Die Welt auf Schienen
Author: Artur Fürst
Release date: November 12, 2016 [eBook #53514]
Language: German
Credits: Produced by Peter Becker, Harry Lamé and the Online
Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net
Anmerkungen zur Transkription befinden sich am Ende dieses Textes.
Hyperlinks in Bildunterschriften führen nach größeren Abbildungen (nicht verfügbar in allen Formaten)
Vergleich der beiden Lokomotiven auf den Bildern 1 und 2
Länge | der | alten | Lok. | 3,85 m | der | neuen | Lok. | 17,55 m | |
Dampfspannung | „ | „ | „ | 3,3 kg auf 1 qcm | „ | „ | „ | 15 kg auf 1 qcm | |
Heizfläche | „ | „ | „ | 12,8 qm | „ | „ | „ | 285 qm | |
Gewicht | „ | „ | „ | 7450 kg | „ | „ | „ | 122 500 kg | |
Höchste Leistung | „ | „ | „ | 10 PS | „ | „ | „ | 1800 PS | |
Brennstoffverbrauch | „ | „ | „ | 1⁄2 kg Koks | „ | „ | „ | 1⁄8 kg Kohle für 1 km | |
Fahrt und 1000 kg Zuggewicht |
Artur Fürst
Die Welt auf Schienen
Eine Darstellung der Einrichtungen
und des Betriebs auf den Eisenbahnen des Fernverkehrs
Nebst einer Geschichte der Eisenbahn
Albert Langen, München
Die Eisenbahnen sind wieder ein solch bestimmendes Ereignis, das der Menschheit einen neuen Umschwung gibt, das die Farbe und Gestalt des Lebens verändert. Es beginnt ein neuer Abschnitt in der Weltgeschichte, und unsere Generation darf sich rühmen, daß sie dabei gewesen . . . Sogar die Elementar-Begriffe von Zeit und Raum sind schwankend geworden. Durch die Eisenbahn wird der Raum getötet. Es bleibt nur noch die Zeit übrig. (Heine, 1843.)
Copyright 1918 by Albert Langen, Munich
[V]
Dieses Buch handelt von der Technik der Eisenbahn.
Damit ist ihm eine Beschränkung auferlegt. Von streifenden Betrachtungen abgesehen, bleiben die wirtschaftliche Bedeutung der Eisenbahn, ihr Einfluß auf das gesellschaftliche und politische Leben unerörtert. Nur durch die Ausschaltung dieses großen Stoffgebiets war Raum für das zu gewinnen, was hier dargelegt werden sollte.
Auf die eingehende Erörterung der wirtschaftspolitischen Einwirkungen und Zusammenhänge konnte um so eher verzichtet werden, als hierüber eine gut lesbare Literatur in reicher Fülle vorhanden ist. Ein Buch jedoch, welches auch nur ungefähr das enthält, was ich über die Eisenbahntechnik unserer Tage zu sagen beabsichtigte, gibt es, so weit ich sehen kann, nicht.
Dem Leser, der, empfehlenswerten Beispielen folgend, diese einführenden Worte erst überfliegt, nachdem er das Buch selbst zu Ende gelesen, hoffe ich nichts Neues mehr mitzuteilen, wenn ich hier sage: ich habe nichts weiter gewollt, als die Fragen beantworten, die jedem Wißbegierigen sich aufdrängen, sobald er einen Bahnhof betritt oder aufmerksamen Auges die Gegenstände betrachtet, die an dem Fenster des fahrenden Zugs vorübergleiten. Damit ist zugleich ausgedrückt, daß ich kein Lehrbuch geschrieben, sondern die Leser nur auf einen Spaziergang durch die Welt auf Schienen mitgenommen habe. Meine Absicht war nicht, Eisenbahnbauer zu erziehen. Ich wollte ein Bild dieser gewaltigen Schöpfung menschlichen Geistes malen, so farbig und so anziehend, wie meine Schilderungs-Fähigkeit es zuließ. Ich bin bestrebt gewesen, eine in dem angegebenen Rahmen erschöpfende Darstellung der Eisenbahntechnik zu geben, zugleich aber auch ein Unterhaltungsbuch zu schreiben.
Meiner Meinung nach darf nämlich von dem Nichtfachmann, auch wenn er den heißen Wunsch hat, in ein bestimmtes Gebiet der Technik einzudringen, keineswegs verlangt werden, daß er den üblichen trockenen, vorlesungsmäßig aufgebauten Darlegungen folgt. Diese Anschauung führt mich zu der folgenden allgemeingültigen Anmerkung.
Die Ansicht ist weit verbreitet: „Technische Dinge kann man nicht verstehen!“ Daraus folgt eine starke Abneigung gegen das Lesen von Werken, welche dieses Gebiet behandeln, und eine geradezu erstaunliche Unkenntnis der technischen Dinge, obgleich diese doch jeden täglich aufs engste berühren. Es ist aber ganz sicher, daß alles, was Menschen geschaffen haben, sich auch verständlich darlegen läßt. Wer Technisches erklären will, muß freilich die Aufnahmefähigkeit seiner Leser genau in Betracht ziehen. Am besten ist es, Vorkenntnisse in keiner Weise anzunehmen. Ferner darf es dem Leser, der in ein ihm gänzlich unbekanntes Land hineinschreitet, nicht überlassen werden, selbst zu erkennen, an welchen Orten zu Seiten seines Pfads er rasch vorübereilen kann, und wo er wegen der grundlegenden Bedeutung des zu Beschauenden längere Zeit verweilen muß. Der Verfasser der Darlegung hat vielmehr die Pflicht, seinen Stoff so zu gliedern und anzuordnen,[VI] daß wichtiges von selbst stark hervortritt. Gelingt es noch, durch Beibringung vergleichenden, ja selbst anekdotischen Stoffs zu einer rein literarisch fesselnden Darstellung vorzudringen, so darf mit der Gewinnung neuer Freunde der Technik gerechnet werden.
Auf solchen Meinungen und Absichten ist der Inhalt dieses Buchs aufgebaut. Wie weit es mir gelungen ist, die gewollte Wirkung zu erreichen, muß dem Urteil der Leser überlassen bleiben.
Trotz des Fortfalls fast aller wirtschaftlichen Erörterungen ist eine weitere Beschränkung des Buchs auf die Schilderung der Einrichtungen und des Betriebs der Ferneisenbahnen notwendig gewesen, um den Band nicht zu unförmlicher Dicke anschwellen zu lassen. In den Aufbau und Ausbau der großen Strecken ist nämlich eine solche Fülle technischer Großleistungen eingesenkt, daß deren Darstellung allein den ziemlich weit gesteckten Rahmen ausfüllte. Ich beabsichtige, in einem Buch „Berlin im technischen Jahrhundert“, das im gleichen Verlag erscheinen wird, die hier fehlenden Stadtschnellbahnen und Straßenbahnen zu behandeln.
Bei der Heranschaffung des textlichen und bildlichen Stoffs für das vorliegende Werk habe ich mich bereitwilligster Unterstützung zu erfreuen gehabt. Zu besonderem Dank bin ich der Königlichen Eisenbahndirektion Berlin verpflichtet, die mir durch Hergabe von amtlichen Drucksachen und die Erlaubnis zur Besichtigung zahlreicher Dienststätten erst die gründliche Bearbeitung vieler Abschnitte ermöglicht hat. Auch das große Eisenbahngewerbe Deutschlands hat meiner Arbeit ein liebenswürdiges Verständnis entgegengebracht. Hervorheben möchte ich die umfangreiche Unterstützung durch die Hannoversche Maschinenbau A.-G. (Hanomag) und ihren Leiter, Kgl. Baurat Metzeltin, dem ich zugleich für das Lesen eines großen Teils der Korrekturen zu danken habe.
Es ist ein großer Gegenstand, der in den folgenden Blättern behandelt wird. Unsere stark zur Kritik neigende Zeit begeht leicht den Fehler, über kleinen Flecken, die sie wahrnimmt, die Strahlen einer prächtig leuchtenden Sonne zu übersehen. Ich möchte mit diesem Buch bewirken, daß die Leser über die kleinen Ärgernisse, die auch bei einer Eisenbahnfahrt oft nicht zu vermeiden sind, über hier und da sich zeigende Mängel fortab leichter hinwegsehen, nachdem ihnen bekannt geworden, welche fast unübersehbare Fülle von Anlagen und Einrichtungen geschaffen werden mußte, damit sie mit der beschwingten Eile des Zugs von Ort zu Ort gelangen können, welche gewaltige Arbeit täglich von neuem geleistet werden muß, um den Betrieb regelmäßig und unter Sicherung von Gesundheit und Leben der Reisenden durchzuführen.
Bei der Abfassung dieses Buchs über die Eisenbahn hat mich in keinem Augenblick das Gefühl der Bewunderung und hohen Freude gegenüber dieser herrlichen Schöpfung des Menschengeschlechts verlassen. Wenn es mir gelingt, nur einen geringen Teil dieser Bewunderung und Freude auch auf den Leser zu übertragen, werde ich meine Arbeit nicht als mißlungen betrachten.
Berlin-Wilmersdorf, im Frühjahr 1918
Artur Fürst
[VII]
Seite | ||
Geleitswort | V | |
Das Zeitalter der Eisenbahn (1.) | 3 | |
Aus der Vergangenheit | 21 | |
2. | Die Vorläufer | 23 |
3. | Der Meister | 38 |
4. | „Das größte Wunderwerk unserer Zeit“ | 49 |
5. | Geschichte des Gleises | 68 |
6. | Eisenbahnfrühling in Deutschland | 87 |
7. | Ein Märtyrer | 100 |
8. | Die Entwicklung des deutschen Netzes | 113 |
Die Gegenwart | 119 | |
9. | Eine Fahrt von Berlin nach Halle | 121 |
10. | Die neue Linie | 126 |
11. | Die Erdveste | 130 |
12. | Über Täler und Berge | 136 |
13. | Der stählerne Pfad | 165 |
14. | Die Lokomotive | 188 |
15. | Die rollenden Häuser | 251 |
16. | Die Lastträger | 280 |
17. | Auf Zug und Stoß | 299 |
18. | Der Zügel | 306 |
19. | Der Ursprung | 330 |
20. | Die gastlichen Hallen | 354 |
21. | Die schützenden Arme | 369 |
22. | Das dienstbare Heer | 425 |
23. | Wache und Pflege | 441 |
24. | Auf die Minute! | 453 |
25. | Die Papptäfelchen | 463 |
26. | Mit Zahn und Seil | 469 |
27. | Der Einsame | 491 |
28. | Unter dem Fahrdraht | 499 |
29. | Zukunft | 523 |
Verwaltungen der deutschen Staats- und Privatbahnen | 531 | |
Quellenverzeichnis | 534 | |
Stichwörterverzeichnis | 536 |
[2]
[3]
Das Mittelalter der Menschheitsgeschichte reicht bis in das erste Drittel des vorigen Jahrhunderts. Erst mit dem Jahre 1830 beginnt die Neuzeit. Damals fand die Eröffnung der ersten großen Eisenbahnstrecke statt, die für den öffentlichen Verkehr bestimmt war.
Welch ein Ereignis!
Viele Jahrtausende lang war der Mensch an die Scholle gefesselt, auf die ihn der Zufall der Geburt gestellt hatte. Eine Macht, die dem Erdbewohner von Beginn an feindlich war, hielt ihn an seiner Wohnstätte fest: der Raum. Gegen diesen konnte nur mit größter Mühsal, unter schrecklichen Gefahren und durch Opferung einer übermäßig großen Menge des kostbaren Besitztums Zeit angekämpft werden. Wenn darum früher einmal größere Menschenmassen über die Erdoberfläche zogen, wie es heute an jedem gewöhnlichen Tag geschieht, so waren sie durch einen mächtigen Anstoß in Bewegung gesetzt: durch den Angriff eines überlegenen Feinds, durch die von Naturgewalten verursachte Zerstörung der heimatlichen Ackererde oder durch die Sucht nach Eroberung und Kriegsbeute. Jede solcher Massenbewegungen wurde ein geschichtliches Ereignis, sie ward als Völkerwanderung oder Heereszug in die unvergänglichen Bücher eingeschrieben.
Die Natur, welche in den Geist des Menschen die Freude an der Fortbewegung gelegt hat, die Sehnsucht umherzuschweifen, so weit wie möglich vorzudringen, die ihn besondere Lust beim Erschauen des noch Unbekannten empfinden läßt, diese selbe Natur hat ihr letztes Geschöpf nur mit recht kümmerlichen Möglichkeiten bedacht, sich jene Freude zu verschaffen, diese Sehnsucht und Lust zu befriedigen.
Es ist eine recht erstaunliche Tatsache, daß sie, die wir so gern die Allmutter nennen, den lebendigen Wesen, soweit diese sich überhaupt willkürlich von der Stelle zu bewegen vermögen, höchst unvollkommene Werkzeuge hierfür zur Verfügung gestellt hat. Das Bein, welches — in Einzelheiten der Durchbildung verschieden, im ganzen immer in der gleichen Form und Art — den Tieren und Menschen zur Fortbewegung dient, ist eine Anordnung von recht bescheidenem Wirkungsgrad. Ein verhältnismäßig großes Gewicht muß beim Gehen immer von neuem angehoben werden, nur um sofort wieder hinabzusinken, der tote Pendelgang des Glieds bei jedem Schritt verbraucht umsonst Kraft und Zeit.
Dabei gibt es eine höchst einfache Fortbewegungsvorrichtung, die frei von unausgeglichenen Gewichtshebungen und jedem toten Gang ist. Der Mensch hat sie erfunden, als seine Gattung noch recht jung war, als er noch auf einer sehr niedrigen Stufe der Kultur stand; der Natur ist sie bei ihrer unabsehbar langen Entwicklungsarbeit niemals eingefallen.
Diese Vorrichtung ist das Rad.
Kein Mensch wird mit einem Raduntergestell geboren, was sehr wünschenswert wäre, so seltsam es auch klingen mag. Er muß sich vielmehr mit Hilfe eines weit weniger brauchbaren Werkzeugs über die Erde bewegen. Und dazu kommt noch, daß die Oberfläche unseres Heimatsterns durch ihre Gestaltung die Überschreitung größerer Strecken bedeutend erschwert.
Vor Jahrmillionen, als die Kruste der Erde schon bis zu einer gewissen Tiefe erkaltet[4] und erstarrt, deren Inneres aber noch weit heißer war als heute, entstand durch die Zusammenziehung des immer weiter sich abkühlenden feuerflüssigen Erdkerns schließlich ein breiter Zwischenraum zwischen diesem und der starren Kruste. Die äußere Erdschicht, die bis dahin ganz glatt gewesen war, verlor dadurch ihre Unterstützung und mußte schließlich unter dem Zug der Schwerkraft einstürzen. Hierbei ging es ziemlich heftig drunter und drüber. Ungeheure Schollen stellten sich schräg ein, an einzelnen Stellen wurde der Boden hoch emporgedrückt, an anderen sank er ein. So entstand das heutige Antlitz des Himmelskörpers, auf dem wir wohnen; die glatte Stirn der Mutter Erde erhielt Falten. Nun waren die Gebirge emporgetürmt, Furchen eingepreßt, und die scharfen Nagezähne des fallenden Wassers sorgten für die Herstellung von tiefen Einschnitten auch im sonst flachen Land.
Seitdem ist dafür gesorgt, daß eine Vorwärtsbewegung über ein größeres Stück der Erdoberfläche kein einfaches Dahinschlendern über eine Ebene ist. Der wandernde oder fahrende Mensch hatte von Beginn an mit der Schwerkraft zu kämpfen, die sich bei jedem der unzähligen Auf und Ab unangenehm bemerkbar machte. Die kleinen Unebenheiten ihres Wegs vermochten unsere Vorfahren bereits vor Jahrtausenden durch die Anlage von Straßen mit einigermaßen befestigter Fahrbahn auszugleichen. Aber den großen Wellenbewegungen des Geländes mußte die Straße sich eng anschmiegen, hier vermochte sie keinen kraftsparenden Ausgleich zu gewähren. Niemand konnte auf den Gedanken kommen, für die langsam sich dahinschleppenden Verkehrsmittel, die bis zum Anfang des neunzehnten Jahrhunderts ausschließlich vorhanden waren, unter Aufwendung ungeheurer Kosten ebene Wege zu schaffen. Das hätte geheißen, einer Henne Kondorflügel anheften. Ein der Aufwendung entsprechender Nutzen wäre nicht entstanden.
Bevor das Riesenwerk der Anlage wirklich ebener Straßen lohnend erscheinen konnte, mußte erst etwas ganz Neues, ganz Großartiges geschehen. Das Rad mußte sich mit der Schiene vermählen, und in diese Ehe mußte die Triebkraft des Dampfs adoptiert werden.
Als dies geschehen, ward der Mensch plötzlich zum Herrn der Erde. Der Äquator und alle Meridiane wurden kürzer, die Erdkugel schrumpfte unter seinem festen Zugriff ein, der Raum, dieses Ungreifbare, ließ sich zusammendrücken.
Im Wagen auf der glatten Schiene dahingezogen, spottet der Mensch fortab der kümmerlichen Bewegungswerkzeuge, die ihm die wenig sorgsame Natur an den Leib geheftet. Aber gleichzeitig, im nämlichen Augenblick, da er das neue Verkehrsmittel geschaffen hatte, dachte der kluge Erfinder auch daran, das zweite Hindernis zu beseitigen, welches ihm das rasche Umherschweifen über die Erde so sehr erschwerte. Jetzt wurden sogleich, schon für den ersten großen, der Allgemeinheit geweihten Schienenpfad, Talmulden aufgehöht, Hügel abgegraben, Flüsse überbrückt, Felsen durchbohrt. Dort wo der Mensch sein Eigentum, die Erde, durcheilen will, ist seitdem die Zerklüftete vor ihm wieder eben. Das auf der glatten, ebenen Bahn geflügelt gewordene Rad ward zum Zeichen eines anderen Abschnitts der Menschheitsgeschichte.
Die Neuzeit hatte begonnen.
Des Menschen Heimat ist der feste Boden, nicht das Wasser. Wie seltsam muß daher die Tatsache berühren, daß jahrtausendelang die Fortbewegung auf dem Wasser rascher und bequemer war als das Reisen über Land. All die gewaltigen Stätten, an deren Schicksal die Geschichte der früheren Jahrhunderte geknüpft ist, lagen am Meer oder an großen schiffbaren Flüssen, die rasch der See zueilten. Nur in der Nähe der Küsten war der Austausch von Personen und Gütern, durch den allein menschliche Siedelungen erstarken können, in bedeutendem Maßstab möglich.
[5]
Der Römer kannte die dem Mittelmeer zugekehrten Küsten von Asien und Afrika weit besser als das Innere seines heimatlichen Erdteils. Die völkerverbindende Kraft des Weltmeers war noch bis in späte Jahrhunderte hinein der des festen Lands bedeutend überlegen. Max von Weber, der Sohn des „Freischütz“-Schöpfers, der ein hervorragender Ingenieur und ausgezeichneter Schriftsteller war, schreibt in seinem Buch „Aus der Welt der Arbeit“: „Es war noch im sechzehnten Jahrhundert leichter, tausend Zentner Kohlen von Newcastle nach Lissabon zu versenden, als einen Ballen Tuch von Norwich nach London zu bringen, und bis zu Anfang desselben Jahrhunderts, wo die Kohlengruben an den Küsten aufgetan wurden, hatte London, obwohl in waldloser Gegend gelegen und an Holzmangel leidend, keine Steinkohlen.“
Das Elend der Verkehrsverhältnisse im mittelalterlichen Europa ist zu bekannt, als daß es hier einer neuen Schilderung bedürfte. Wie man noch zur Zeit Friedrichs des Großen in Deutschland reiste, ist in den Lebenserinnerungen der Schwester des Königs, der Markgräfin Wilhelmine von Bayreuth, köstlich dargestellt.
Für eine Reise von der Hauptstadt ihres Ländchens nach Berlin, die heute in sieben Stunden überwunden wird, brauchte sie fast ebenso viele Tage. Und welche Erlebnisse konnte man auf solchem Weg haben! Die Markgräfin schildert eine ihrer Fahrten wie folgt:
„Es war ein höllisches Wetter! Die Wege waren so schlecht, daß ich, aller meiner Eile ungeachtet, nur bis Hof kommen konnte, und das erst abends um elf Uhr, da es doch nur sechs Meilen von Bayreuth entfernt ist. Mein Gepäck war zurückgeblieben, ich mußte mich also ganz angekleidet auf ein schlechtes Bett legen, auf dem ich wenig schlief. Das Gepäck kam erst um zwei Uhr an, ich befahl, es weiterfahren zu lassen, in der Hoffnung, daß mein Nachtlager in der zweiten Nacht besser sein würde wie das erste.
„Die zweite Tagereise war sehr lang. Ich reiste um drei Uhr ab und war mittags in Schleiz, das nur vier Meilen von Hof entfernt ist. Ohne aus dem Wagen zu steigen, nahm ich etwas Fleischbrühe, um recht früh in Gera, zwei Stationen weiter, einzutreffen. Die erste legte ich in vier Stunden zurück, auf der zweiten fand ich keine Pferde, obschon sie zwei Tage vorher bestellt waren.
„Mich begleitete gar kein anderer Wagen als der, in welchem Herr von Seckendorf mit meinen Kammerfrauen saß. Der Postmeister, der wohl abgefeimt war, bat mich, um Gottes willen nicht weiterzureisen, weil die Wege zum Halsbrechen wären. ‚Sie müssen,‘ sagte er, ‚durch einen großen Wald, wo alle Tage geraubt und gemordet wird, und da Sie dieselben Pferde, welche Sie hierher brachten, auch nach Gera führen müssen, können Sie nur sehr spät eintreffen. Ich muß Ihnen das alles sagen, um aller Verantwortlichkeit ledig zu sein.‘ Mir stieg der Kamm, wie ich diesen weisen Ratgeber hörte. Meine Hofdame wollte, daß wir die Nacht in diesem Dorfe zubringen sollten, allein wir hatten weder Betten noch Köche, das Haus sah wie eine Räuberhöhle aus, es stank zum Sterben, und die Schweinerei, die darinnen herrschte, machte einem übel und weh. Ich entschloß mich also schnell, stellte mich ganz heldenmäßig, indes mir himmelbang war, und setzte meinen Weg fort.
„Des Postmeisters Rat war leider nur zu gerechtfertigt! Die Wege waren abscheulich! Bei jedem Schritt waren wir in Gefahr umzuwerfen, und, um das Unglück zu krönen, fing die Nacht an, ihren Mantel über uns auszubreiten. Wir hatten zwar Fackeln mit uns, allein in demselben Augenblick, wo wir in den Wald traten, verlöschten sie, und die Finsternis vermehrte unsere Angst. Je weiter wir kamen, hörten wir um uns her Pfiffe[6] ertönen, die mich mit Furcht und Zittern erfüllten; der kalte Schweiß lief mir von der Stirn, meine Damen waren nicht besser daran, und wir gingen leise flüsternd zu Rate, was wir im Fall eines Angriffs tun sollten. In diesem Zustand blieben wir bis nachts zwei Uhr, wo wir endlich glücklich in Gera ankamen. Wir waren alle halbtot, mir insbesondere hatte meine heldenmütige Entschlossenheit das Blut so in Wallung gebracht, daß ich die ganze Nacht sterbenskrank war.“
Auch der Maler Wilhelm von Kügelgen, in dessen „Jugenderinnerungen eines alten Mannes“ wir eine so treffliche Schilderung der ersten Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts besitzen, hatte auf einer winterlichen Reise durch Thüringen, die er im Jahre 1814 machte, keine allzu angenehmen Erlebnisse.
„Der Wagen von unbeschreiblichen Proportionen“, so schreibt er, „hing altersschwach und lahm in seinen Federn, die Schläge waren mit Bindfaden befestigt und die hart eingetrockneten Fensterladen weder einzuknöpfen noch zurückzuschnallen. Die Pferde standen da mit tiefgesenkten Häuptern, dem Anschein nach halb schlafend oder tot, und niemand konnte begreifen, wie sie nur bis hierher gelangt waren. Aber seine Pferde wären gut, sagte der Kutscher, begrüßte aber jeden Koffer, der ihm zugetragen wurde, mit schweren Seufzern.
„Endlich war alles fertig, und Barduas wurden umarmt, soweit dies anging, denn wenigstens wir Kinder konnten die Arme nicht sehr rühren, da wir verpackt und eingewickelt waren wie Kokons. So wurde einer nach dem andern in den höchst jammervollen Kasten verladen, bis sich zuletzt auch noch die getreue Rose darstellte, um gleichfalls aufzusteigen. Sie hatte, um sich vor Kälte und ihre Siebensachen vor dem Verderben des Einpackens zu schützen, alles auf den Leib gezogen, was sie an Wäsche und Kleidern besaß und sah wie das Heidelberger Faß aus. Der Kutscher hatte jeden Einsteigenden im Geist gewogen und zu schwer befunden. Als er aber dieses Ungeheuers von Mädchen ansichtig wurde, tat er einen schauderhaften Fluch und schwur, ihn solle dieser oder jener holen, wenn er sie in den Wagen ließe.
„‚So möge er sich denn hinpacken, wo er hergekommen wäre,‘ schrie ihn der Vater an, ließ wieder abladen, und dieser erste Anlauf war gescheitert.“
Die Gesellschaft erhielt dann einen anderen Reisewagen.
„Aber trotz bester Equipage,“ so schreibt Kügelgen weiter, „war es doch immer nicht die beste Fuhre. Die Wege gingen auf, und der Wagen taumelte wie ein Trunkenbold von einer Seite auf die andere, bis er schließlich in der Naumburger Gegend in einem Schneeloch stecken blieb. Mein Vater und der Kutscher sprangen ab. Sie durchnäßten sich fast bis zum Halse, indem sie mit Geschrei und Prügeln taten, was sie konnten, auch legten sich die Pferde mit allen Kräften ins Geschirr und taten ebenfalls, was sie konnten; aber der Wagen stand wie eingenietet.
„Da schien es denn ein Glück zu sein, daß ganz in nächster Nähe ein Haufen Schneeschipper arbeitete. Mein Vater sprach sie an; sie sagten aber, sie wären angestellt, die verschneiten Gräben auszuschaufeln, daß kein Wagen hineinpoltere, und das übrige ginge sie nichts an. Der Kutscher entgegnete, die Löcher auf der Straße wären schlimmer, als alle Gräben, und sie sähen doch, daß wir drin stäcken; aber es war so wenig mit ihnen anzufangen, wie mit der Armsäule am Wege, die eben auch zwei unnütze Pfoten in die Luft streckte, und weder Bitten noch Geld konnten sie bewegen, ihren Beruf verständiger aufzufassen.
„So saßen wir denn abermals fest . . . Mein Vater und der Kutscher hielten Kriegsrat,[7] und es schien nichts anderes übrigzubleiben, als den Wagen zu entleeren und auszupacken; eine schlimme Aussicht für die kränkelnde Mutter und uns alle. Aber siehe! Da nahte sich mit fröhlichem Gesange ein kleines auf dem Marsch begriffenes Detachement von etwa zwanzig russischen Soldaten. Als diese sahen, was hier los oder vielmehr stecken geblieben war, legten sie unaufgefordert und augenblicklich Hand an. Ein paar starke Kerle krochen unter den Wagen und hoben ihn mit ihren Rücken, daß er in den Fugen krachte, während andere schoben, schrieen und in die Pferde hieben. Im Augenblicke waren wir aus dem Pfuhl heraus, und unsere Retter zogen beschenkt und singend weiter.“
Im Jahre 1821 waren die Verkehrsverhältnisse keineswegs besser geworden. Ludwig Börne faßte damals die Klagen über die argen Reisebeschwernisse in einem geißelnden Aufsatz zusammen, den er „Monographie der deutschen Postschnecke“ nannte. Er gibt darin unter anderem ein Gespräch wieder, das er mit einem Major führt.
„Herr Major, sagte ich, hätte ich einen Säbel wie Sie, meine ästhetischen Flüche gehörig zu unterstützen, hol’ mich der Teufel, ich haute ein, und es gäbe blutige Köpfe. Ist der Passagier ein Narr jedes Postmeisters, Kondukteurs und Postillons, und muß er liegen bleiben, so oft es diesen Herren gefällt, Wein zu trinken oder auszuschenken? Kommt man in ein Nest und trägt nicht Lust, im Postwagen zu warten und zu frieren, umdreht der Eigentümer des Ofens unsern schlotternden Leib, wie die Katze den Brei, und tausend Fragezeichen im Gesichte zweifeln, was man befehle. Muß ein armer Passagier leben, wie die große Welt in Paris, und um Mitternacht Kottelets essen? In Zeit von 46 Stunden, worunter 14 nächtliche, habe ich 12 Schoppen Wein getrunken und noch einige mehr bezahlt für den Kondukteur. Wie weit ist es, Herr Major, von Frankfurt nach Stuttgart? Also kaum 40 Stunden! Und auf diesem kurzen Wege haben wir 15 Stunden Rast gehalten!
„Damit sich die Leser überzeugen können, daß ich mir keine größere poetische Freiheit genommen als billig ist, will ich eine genaue Berechnung der Zeit, die wir uns zwischen Frankfurt und Stuttgart aufgehalten, nebst Benennung der Orte, wo dieses geschah, folgen lassen. Aus dieser Statistik (Stillstandslehre) des Postwagens wird sich ergeben, daß ich noch nicht zwei Prozent gelogen, indem auf 15 Stunden die Übertreibung nur 16 Minuten beträgt.
Stunden | Minuten | ||||
---|---|---|---|---|---|
In | Sprendlingen | — | 12 | ||
„ | Langen | — | 50 | ||
„ | Darmstadt | — | 45 | ||
„ | Bickenbach | — | 30 | ||
„ | Heppenheim | 1 | 15 | ||
„ | Weinheim | — | 30 | ||
„ | Heidelberg | 3 | 15 | ||
„ | Neckargmünd | 1 | 15 | ||
„ | Wiesenbach | — | 12 | ||
„ | Sinzheim | — | 15 | ||
„ | Fürfeld | — | 30 | ||
„ | Heilbronn | 3 | 10 | ||
„ | Besigheim | 1 | 5 | ||
„ | Ludwigsburg | 1 | — | ||
Summa: | 14 | Stunden | 44 | Minuten |
[8]
„Ich bin von Straßburg nach Paris und von Paris nach Metz auf der Diligence gereist und hatte kein Sohlenleder unter mir, sondern gute Verviers-Mitteltücher, und auf diesen beiden Reisen zusammen hat sich der Wagen nicht 10 Stunden aufgehalten. Ist das nicht zum toll werden? Ist es nicht Schimpf und Schande, daß das Zusammentreffen der Postwagen auf den Kreuzwegen so schlecht eingerichtet ist, daß ich in Bruchsal 24 Stunden liegen bleiben und auf den Straßburger Wagen warten mußte, bis ich weiter konnte nach Frankfurt? Warum gibt man den Reisenden nicht wenigstens Wartegeld, gleich den quiescirenden Staatsdienern, bis sie einen Platz und ihr Fortkommen finden? Ich weiß nicht, ob Sie die Abendzeitung lesen, Herr Major; dort erzählt Herr Mühlen in Nr. 33 dieses Jahrgangs die Anekdote von einem Sonderling, der viel gereist sei. Auf diesen Reisen (wird erzählt), die er stets mit Extrapost machte, verursachte ihm aber nichts so viel Ärger, als die Postmeister, Posthalter und Postillone, und wenn er auf diese zu sprechen kam, so war er unerschöpflich in Sarkasmen und Schilderungen ihrer Roheit, Habgier und der Langsamkeit auf den Stationen und im Fahren. Dieser Antagonismus sprach sich auch in seinem letzten Willen aus.
„In seinem Testament hatte er nachstehendes verordnet. Nachdem er diejenigen namentlich aufgeführt, welche seine Leiche zur Ruhestätte begleiten sollten, hieß es. ‚Ich verlange ausdrücklich, daß die vorgenannten Personen in mit Extrapostpferden bespannten Wagen meiner Leiche folgen sollen, und sind die diesfälligen Kosten aus den zu meinem Begräbnis ausgesetzten Summen zu bestreiten; denn da es der Anstand erheischt, daß ein Leichenzug feierlich und langsam vor sich gehen muß, so werden die Postillone das letztere unfehlbar am besten ausrichten.‘
„Hätten Sie, wie ich, die Abendzeitung gelesen, Herr Major, wären Sie nicht auch auf meinen nachfolgenden Gedanken gefallen? Man sollte nicht die Leidtragenden, sondern die Leichen selbst auf Hochfürstlich Thurn-und-Taxisschen fahrenden Postwagen zum Begräbnisse führen, damit sie Zeit gewönnen, aus dem Scheintode zu erwachen, da, wenn in der Asche des Lebens nur noch ein Fünkchen glimmt, das Rütteln des Wagens es zur Flamme anfachen müsse. Wäre dieses nicht eine sehr gute ambulante Totenschau?“
Bis zur Eröffnung der Eisenbahn stand es also äußerst schlecht um alle Verkehrswege. Die Römer hatten bereits ausgezeichnete, bis nach Norddeutschland reichende Straßen gebaut, aber nicht zur Hebung des Verkehrs, sondern weil sie der leicht begehbaren Wege bedurften, um zur Befestigung ihrer Herrschaft Soldaten rasch überall hin werfen zu können. Als dieser politische Zweck fortgefallen war, ließ man die Legionsstraßen rasch wieder zugrunde gehen und dachte nicht daran, neue von ähnlicher Großartigkeit anzulegen, weil die Fahrzeuge dies als nicht lohnend erscheinen ließen.
Das Schiff war und blieb das wichtigste Beförderungsmittel. Friedrich der Große baute Kanäle, aber keine Straßen. In England war die Bedeutung der Wasserwege noch um 1830 so groß, daß die am Kanal des Herzogs von Bridgewater Beteiligten auf ein Haar das Werk Stephensons zu Fall gebracht hätten. Ein Fluch schien die für große Fahrt bestimmten Fortbewegungsmittel der Menschheit ins Wasser hineinzuzwingen, für dessen Teilung beim Voraneilen soviel Kraft unnötig aufgewendet werden muß. Daß die Luft, die sich in einem Zustand geringerer Dichtigkeit befindet, mit weniger Kraftaufwand zu durchdringen ist, wußte man längst, aber die von selbst sich einstellende Ebene des Wassers lockte zu sehr.
Die Eisenbahn erst schuf sich auch auf dem Land die Ebene und machte so der Menschheit das königliche Geschenk der sausenden Geschwindigkeit. „Die Ausbildung[9] der Straßen in einem Land bezeichnet“, so sagt Max von Weber, „den Positiv von dessen Kulturentwicklung, deren Komparativ erfordert den Kanal, der Superlativ ist ohne Eisenbahn nicht denkbar.“ Dabei ist die Beobachtung merkwürdig, daß der Superlativ nicht etwa den Positiv und den Komparativ verdrängt hat. Diese sind im Gegenteil durch ihn gekräftigt worden. Niemals wurden soviel Straßen und Kanäle gebaut wie im Zeitalter der Eisenbahn. Alles, was wir heute Verkehr nennen, stammt erst aus dem Jahre 1830.
So wenig vor dem Auftreten der Brüder Wright und des Grafen Zeppelin ein Mensch jemals das wirkliche Bedürfnis gefühlt hat, zu fliegen, so wenig gab es vor Stephensons Schaffen ein Verkehrsbedürfnis. Die Wanderlust steckte als Urtrieb längst im Menschen; Faust empfand sehr stark die Sehnsucht nach dem Flügel. Aber das gewöhnliche Leben stockte nicht dadurch, daß man keine häufigen, schnellen und bequemen Reisegelegenheiten hatte. Die Eisenbahn im allgemeinen ist also nicht entstanden, weil sie erforderlich gewesen. Kaum an irgendeiner Stelle der Erde hat man etwas Derartiges vermißt, solange es nicht vorhanden war. Die großartige Erscheinung des regen Menschen- und Güteraustauschs über das Land bestand in keines Menschen Vorstellung, bis sie durch die Ausbreitung der Eisenbahnen sich einstellte.
Thiers sprach, als man die neue Verkehrsform in Frankreich einführen wollte, von einer englischen Narrheit. In den Jahren der Vorbereitung für die erste größere Eisenbahnlinie in Deutschland fragten die Leute einander: „Wozu eigentlich? Was hat der Dresdner in Leipzig, der Leipziger in Dresden zu tun?“ Und der Generalpostmeister Nagler in Berlin, also der oberste Verkehrsbeamte Preußens, soll den Erbauern der Bahn von Berlin nach Potsdam entgegengehalten haben, daß seine nur einmal am Tag zwischen den beiden Städten fahrende Diligence niemals vollbesetzt wäre, das Bahnunternehmen also gänzlich aussichtslos sei. (Nach neuern Feststellungen Sautters soll dieser Ausspruch geschichtlich nicht beglaubigt, Nagler vielmehr ein Förderer des neuen Verkehrsmittels gewesen sein; das Wort ist dann, unter Loslösung von der Person, als Ausdruck des Zeitgedankens aufzufassen.)
Das bayerische Medizinalkollegium glaubte noch im Jahre 1835 den Eisenbahnbau dadurch hintanhalten zu können, daß es erklärte, die große Geschwindigkeit würde den Insassen der Wagen Kopfschmerzen und Schwindel verursachen. In England wollten sogar Mitglieder des Parlaments der ersten größeren Lokomotivbahnstrecke die Erlaubnis versagen, weil sie fürchteten, daß der vorüberfahrende Zug die Kühe beim Grasen stören und die Hühner so erschrecken könnte, daß sie keine Eier mehr legen würden.
Trotzdem ward und wuchs die Eisenbahn. Sie ist heute das wichtigste und mächtigste aller Werkzeuge, die der Mensch besitzt.
In seinem trefflichen Büchlein „Am sausenden Webstuhl der Zeit“ stellt Launhardt den sieben Weltwundern der Alten ebenso viele Wunder der Jetztzeit gegenüber. Zu diesen rechnet er die Lokomotiv-Eisenbahn, die großen Brücken und die Tunnel. Da der Brücken- und der Tunnelbau im großen erst durch die Eisenbahn entstanden, so sind nach Launhardt nicht weniger als drei von den sieben wunderbarsten Erzeugnissen unserer Zeit dem Bannkreis der Eisenbahn zuzurechnen.
Und wahrlich, sie ist ein Weltwunder!
Seitdem die Urahne aller wirklich brauchbaren Lokomotiven, Stephensons „Rakete“, zum erstenmal einen Zug in Bewegung gesetzt hat, sind noch nicht neun Jahrzehnte verflossen. Und wie durchgreifend haben sich in dieser verhältnismäßig so kurzen Zeitspanne alle Verkehrsverhältnisse auf der Erde durch die Einwirkung der Eisenbahn verändert!
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Wenn man früher in Deutschland mit der Schnellpost 15 Kilometer in der Stunde zurücklegte, so war man glücklich über diese geschwinde Beförderung. Unsere heutigen Schnellzüge durchfahren 100 Kilometer in der Stunde und mehr. Doch dieses Verhältnis der reinen Fahrgeschwindigkeiten von 15 zu 100 wird weit in den Schatten gestellt durch den Vergleich der Reise-Geschwindigkeiten, das heißt derjenigen Zeiten, innerhalb deren die Fahrgäste wirklich von einem Ort zum andern gebracht werden. Während die Lokomotive mehrere 100 Kilometer durchfahren kann, ohne auch nur einen Augenblick zu verschnaufen, mußten auf den Poststrecken fortwährend die Pferde gewechselt werden. So brauchte man, nach Launhardt, noch im Jahre 1840 „für eine Reise von Hannover nach Leipzig, also zur Zurücklegung von 272 Kilometern, mit der Post 40 Stunden, während diese Reise jetzt auf der Eisenbahn weniger als fünf Stunden erfordert. Dabei fuhr die Post im Jahre 1840 zwischen jenen beiden Städten wöchentlich nur fünfmal in jeder Richtung, ja eigentlich nur dreimal, da bei zwei dieser Fahrten eine Unterbrechung durch eine Übernachtung vorkam, wodurch die Dauer der Reise von 40 auf 48-50 Stunden erhöht wurde. Heute verkehren zwischen Hannover und Leipzig täglich in jeder Richtung vierzehn Personen- und Schnellzüge, so daß eine regelmäßige Reisegelegenheit heute zwanzigmal häufiger als früher mit der Post geboten wird.“
Von Berlin nach München fuhr man im Jahre 1835 mit der Schnellpost noch mehr als 31⁄2 Tage; heute wird die Strecke in zehn Stunden zurückgelegt. Das Fahrgeld betrug damals 81 Mark, während eine Fahrkarte dritter Klasse von Berlin nach München jetzt 21,10 Mark kostet.
Man bezahlt also heute auf der Eisenbahn nur einen Bruchteil des Fahrpreises, der früher für den Verkehr über die Landstraßen erhoben wurde, und erfreut sich auf der Reise einer unvergleichlich viel größeren Bequemlichkeit, indem die Unbilden der Witterung gänzlich ferngehalten werden, die Erschütterungen fast vollständig verschwunden sind, und der Aufenthalt in den geräumigen, bei Bedarf geheizten und beleuchteten Wagen so sehr viel angenehmer ist als in den schmalen Postkutschen, dem Sinnbild der Rumpeligkeit und der drückenden Enge.
Trotz der gesteigerten Geschwindigkeit ist die Sicherheit des Reisens bedeutend gewachsen. Während beim Postverkehr schon auf je 400 000 Reisende ein Getöteter kam, raubt die Eisenbahn in Deutschland heute nur etwa einem von 15 Millionen Reisenden das Leben.
Die Zuverlässigkeit des Verkehrs ist durch die fast vollständige Unterbrechungslosigkeit und Störungsfreiheit des Eisenbahnbetriebs außerordentlich gestiegen. Auf den preußischen Staatsbahnen z. B. sind nach van der Borght im Jahre 1910 nur 41 Unterbrechungen bis zur Dauer von zwei Tagen und 8 Unterbrechungen von längerer Dauer, verursacht durch ungewöhnlich starke Regengüsse und Hochwasser, eingetreten. Dazu kamen im gleichen Jahr noch 37 Störungen von kurzer Dauer, die durch Schneeverwehungen veranlaßt wurden. Die Zahl von 78 Unterbrechungen überhaupt ist gegenüber der riesenhaften Ausdehnung des Eisenbahnverkehrs von ganz verschwindender Bedeutung. Hiergegen bedenke man, daß schon jeder stärkere Schneefall die Fahrpost zu gänzlicher Ruhe verurteilte, und daß die Wasserstraßen im Winter durch Frost, im Sommer durch anhaltende Trockenheit oft monatelang unterbrochen sind.
Die Pünktlichkeit der Eisenbahn ist sprichwörtlich. Von hundert Zügen pflegt nach der Statistik in Deutschland kaum einer seine festgesetzte Ankunftszeit um ein geringes zu überschreiten.
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In der Eisenbahn hat sich die Menschheit ferner ein unvergleichliches Mittel zur Ausbreitung der Bildung geschaffen. Erst durch die Schienenwege ist die Kenntnis von der Beschaffenheit der Erdoberfläche Allgemeingut geworden; die Kunstbesitztümer aller Völker liegen seither offen vor jedermanns Auge. Jedes Volk kennt heute die Eigenheiten aller anderen.
Nur in Einer Beziehung hat man sich leider über den günstigen Einfluß der Eisenbahn getäuscht. In vielen Schriften aus früheren Jahren kann man lesen, daß die durch die Eisenbahn geschaffenen engen Beziehungen zwischen den Völkern die Kriege weniger furchtbar machen, die geschwinden Beförderungsmöglichkeiten für die Truppen ihre Dauer abkürzen würden. Friedrich List meinte, daß „die Eisenbahn aus einer Kriegsmilderungs-, Abkürzungs- und Verhinderungsmaschine, am Ende gar eine Maschine werden würde, die den Krieg selbst zerstört.“ Wir wissen heute, daß der grausamste aller Kriege und einer der längsten mit einer Hochentwicklung der Eisenbahnen zusammengefallen ist.
Stärker noch als zur Beförderung von Personen wird die Eisenbahn zur Vermittlung des Güterverkehrs benutzt. Die Beförderung von Gütern kostet heute nur den sechsten Teil des Preises, der früher für den Weg über die Landstraße entrichtet werden mußte. Dabei ist mit der Beförderung im geschlossenen Eisenbahnwagen eine weit größere Schonung der Güter verbunden; es geht bei der Fahrt weit weniger von ihnen verloren als in den meist offenen Frachtwagen. Viele Gütergruppen sind überhaupt erst durch die Eisenbahn weltmarktfähig geworden, da ihre Versendung früher durch die hohen Frachtkosten nicht lohnend war, und weil durch die lange Beförderungszeit die in ihnen festgelegten Geldmittel der Nutzung zu lange entzogen blieben.
Noch sehr viel großartiger erscheint der Einfluß der Eisenbahn, wenn man erkennt, daß sie nicht nur auf den Austausch der Güter, sondern in stärkster Weise auch auf ihre Erzeugung einwirkt. Solange das Hervorbringen von Gütern nur den örtlichen Bedürfnissen dient, bleibt es beschränkt. Ein Bezirk, der durch eine besondere Gunst der Natur eine bestimmte Ware in großen Mengen zu erzeugen vermag, wird aber zur höchsten Ausnutzung seiner Möglichkeiten angetrieben, wenn er weiß, daß ein ganzer Erdteil sein Käufer ist. Das ist heute der Fall, wo die Eisenbahn tatsächlich jedes der zwischen den Ufern der Weltmeere liegenden gewaltigen Ländergebiete zu einer einzigen Stadt gemacht hat. Jeder Ort in Europa oder Amerika läuft heute, wenn er etwas braucht, was er nicht selbst hervorbringen kann, sozusagen mit offenem Marktkorb rasch einmal um die Ecke zu dem anderen, auch wenn dieser viele hundert Kilometer entfernt liegt.
Eine lebhafte Gütererzeugung an dazu besonders befähigten Stellen ist für die Allgemeinheit zwecklos, wenn nicht ein rasches und bequemes Beförderungsmittel zur Verfügung steht. Der Weltkrieg hat durch die in Rußland zutage getretenen Verhältnisse jedem deutlich gezeigt, daß, sobald die Eisenbahn versagt, in manchen Abschnitten eines Landes die schwerste Hungersnot auftreten kann, während in anderen Bezirken desselben Landes die gehäuften Lebensmittel verfaulen. Wenn in gut entwickelten Ländern zu Friedenszeiten das Gespenst des Hungers nur noch höchst selten auftritt, so ist dies in der Hauptsache das Verdienst der Eisenbahn.
Aus der Hand des Menschen ist keine Schöpfung hervorgegangen, die an Großartigkeit mit der Anlage dieses Verkehrsmittels zu vergleichen wäre. Damit die Eisenbahnen hergestellt werden konnten, haben zahlreiche Wissensgebiete ein enges Bündnis miteinander schließen müssen: die Erdkunde in ihren beiden Formen, die man wissenschaftlich als Geologie und Geographie bezeichnet, die Naturwissenschaft, Technik, Baukunde, Staatsrecht,[12] Völkerrecht, Volkswirtschaftslehre. Niemals ist auf Erden ein solcher Aufwand von Kraft und Geld an eine einzige Sache gesetzt worden, niemals aber auch war der Erfolg menschlicher Bemühungen größer.
Die Länge aller Eisenbahnen der Erde betrug im Jahre 1913, dem letzten regelmäßigen Jahr vor dem Weltkrieg, auf das sich auch alle folgenden Angaben beziehen, rund 1 Million 100 000 Kilometer. Da der Erdäquator 40 000 Kilometer lang ist, so kann man mit der Schienenlänge dieser Bahnen, wenn man nur 25 vom Hundert als zweigeleisig ansieht, wonach sich eine Gesamtschienenlänge von 1 Million 375 000 Kilometern ergibt, den Äquator 35 mal umwickeln. Von der Erde zum Mond könnte man hiermit eine dreigeleisige Bahn bauen und würde noch 223 000 Kilometer zur Herstellung von Zubringerlinien für diese Weltraum-Strecke übrigbehalten.
Um das Gewicht des ungeheuren Schienenstrangs von 1 Million 375 000 Kilometern Länge — ohne das zur Verbindung der einzelnen Abschnitte erforderliche Kleineisenzeug — zu berechnen, gehen wir von der Tatsache aus, daß bei recht leichten Geleisen der deutschen Bahnen das laufende Schienenmeter 30 Kilogramm wiegt. Wir erhalten dann als Gesamtgewicht aller regelmäßig befahrenen Schienen auf der Erde 82 Milliarden[13] 500 Millionen Kilogramm. Es ist dies das 9000fache Gewicht des höchsten und vermutlich auch schwersten Eisenbauwerks der Erde, des Eiffelturms. Gösse man aus Schienenstahl eine volle quadratische Säule, deren Querschnittsfläche gerade so groß wäre wie das durch die äußersten Fußpunkte des Eiffelturms gebildete Quadrat und deren Höhe wie die des Turms 300 Meter betrüge, sie würde kaum halb soviel wiegen wie die Schienen aller Eisenbahnen. Eine zylindrische Säule aus demselben Baustoff von der Höhe des ragendsten Bergs auf der Erde, des Gaurisankars, der seine Spitze rund 9000 Meter hoch über den Meeresspiegel emporreckt, würde immer noch einen Durchmesser von annähernd 40 Metern haben.
Im Jahre 1890 betrug die Länge aller Bahnen 617 285 Kilometer; sie hat sich also seitdem nahezu verdoppelt.
Unter den Erdteilen besitzt bei weitem die größte Bahnlänge Amerika, nämlich 570 000 Kilometer. Das ist mehr als die Hälfte der Bahnlänge auf der ganzen Erde. In Europa dagegen liegt noch nicht ein Drittel aller Gleislängen; es sind 346 000 Kilometer. Trotzdem ist selbstverständlich das Netz in dem alten Erdteil sehr viel engermaschig. In Europa kommen auf je 100 Quadratkilometer 3,5 Kilometer Eisenbahn, in Amerika dagegen nur ungefähr 0,8 Kilometer.
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Das bei weitem dichteste Eisenbahnnetz aller Länder der Erde hat Belgien. Hier liegen auf je 100 Quadratkilometer Bodenfläche durchschnittlich 29,9 Kilometer Eisenbahn. Wenn man von dem kleinen Luxemburg absieht, hat das in der Engmaschigkeit der Geleise nächstfolgende Reich, Großbritannien und Irland, noch lange nicht die Hälfte der Eisenbahndichte Belgiens, nämlich nur 12 Kilometer auf dem gleichen Flächenraum. Deutschland steht mit 11,8 Kilometer unmittelbar dahinter an der dritten Stelle. Die Vereinigten Staaten von Nordamerika haben dagegen nur 4,4 Kilometer Bahn auf je 100 Quadratkilometer.
Die deutschen vollspurigen Eisenbahnen hatten im Jahre 1913 zusammen eine Betriebslänge von rund 61 000 Kilometern. Das ist immer noch mehr als das 11⁄2fache des Erdäquators. Eigenartig ist in diesem Zusammenhang die Feststellung, daß die Länge der Landstraßen in Deutschland, die ja gerade im Eisenbahnzeitalter als Zubringer für die Schienenwege außerordentlich lebhaft ausgebildet worden sind, 150 000 Kilometer beträgt.
Von der Gesamtlänge der deutschen Eisenbahnen fallen auf die vereinigten preußisch-hessischen Staatsbahnen 39 000 Kilometer, auf die bayerische Staatsbahn 8300 Kilometer. Auf der wirklichen Länge der bayerischen Staatsbahngeleise, das heißt einer Schienenerstreckung, bei der man sich die tatsächlich nebeneinanderliegenden Geleise der mehrgeleisigen Strecken hintereinander ausgelegt denkt, könnte man bequem den Äquator des Mondes umfahren.
Welch eine ungeheure Weite der Schienenwelt offenbaren uns diese Zahlen! Die Vergleichsmaßstäbe müssen aus der Unendlichkeit des Weltraums herbeigeholt werden. Die Erde besitzt außer ihrer größten Umfassungslinie, die gleichfalls zu den sternkundlichen Längen gehört, keine Erstreckung, die zur Erhellung der Zahlengrößen herangezogen werden könnte.
Doch alles bisher Dargelegte wird zum blassen Nichts, wenn wir nun statt der unbeweglich daliegenden Schienenstränge das sausende Leben, die dröhnende Bewegung betrachten, die sich unausgesetzt auf ihnen abspielen.
Auf der ganzen Erde mögen jetzt etwa 175 000 Lokomotiven vorhanden sein. Allein die Lokomotiven der vollspurigen deutschen Bahnen, deren es einschließlich der Triebwagen rund 30 000 gibt, haben im Jahre 1913 zusammen 1 Milliarde 280 Millionen Kilometer durchfahren. Diese Länge nähert sich der Entfernung des Saturns von der Erde, die rund 11⁄2 Milliarden Kilometer beträgt. Ganz besonders erstaunlich aber ist die Tatsache, daß die durchschnittliche jährliche Fahrleistung jeder einzelnen deutschen Lokomotive 43 500 Kilometer beträgt, daß also jede von ihnen, wenn sie, statt fortwährend in ihrem kurzen Bereich hin und her zu eilen, ständig vorwärts gefahren wäre, die ganze Erde an ihrem Gürtel hätte umkreisen und noch dazu Abstecher von mehr als 3000 Kilometern hätte machen können.
Im Jahre 1913 besaßen die deutschen Eisenbahnen rund 3⁄4 Millionen Wagen, wovon 66 200, also noch nicht der zehnte Teil, Personen-, die übrigen Güter- und Gepäckwagen waren. Die sämtlichen Achsen dieser Gefährte haben im gleichen Jahr eine Weglänge von nicht weniger als 32 Milliarden 791 Millionen Kilometern durchlaufen. Legen wir diese Wagenachs-Kilometer-Strecke geradlinig von der Erde in den Weltraum aus, so trifft der Endpunkt ins Leere. Er ragt weit über die Grenze unseres Sonnensystems hinaus, erreicht aber doch noch nicht den nächsten Fixstern. Um daher eine passende Vergleichslänge aus der Sternkunde zu finden, müssen wir eine Teilstrecke betrachten.[15] Wir denken uns, daß ein gewöhnlicher D-Zugwagen mit Drehgestellen, also mit vier Achsen, die genannte Achskilometerzahl geleistet hätte; hiernach kommt auf jede Achse ein Viertel des ganzen Wegs. Ein solcher Wagen würde dann eine Fahrt bis in die Nähe des äußersten Planeten unseres Sonnensystems, des Neptuns, gemacht haben und auch von dort wieder zurückgekehrt sein können. Freilich würde ihm diese Hin- und Rückfahrt während eines Jahrs nicht möglich gewesen sein, auch wenn er ständig mit der höchsten jetzt üblichen Schnellzug-Geschwindigkeit gefahren wäre. Er würde hierzu vielmehr — 9000 Jahre brauchen.
Für das Rechnungsjahr 1917 ist von der Verwaltung der preußisch-hessischen Eisenbahnen zur Fahrzeugbeschaffung der größte aller bisher erteilten Aufträge an die deutschen Lokomotiv- und Eisenbahnwagenfabriken vergeben worden. Sein Wert betrug annähernd eine halbe Milliarde, genau 489 Millionen. Daß die deutschen Erzeugungsstätten sich stark genug fühlten, diesen Riesenauftrag innerhalb eines Jahrs, noch dazu während des Kriegs, auszuführen, spricht am lautesten für ihren Umfang und ihre viel bewunderte Leistungsfähigkeit.
Selbst wenn der dicke gelbe Band des Reichskursbuchs mit seinen vielen hundert Seiten, seinen endlosen Zahlenreihen und der unerschöpflichen Fülle verschiedener Strecken vor uns liegt, haben wir keine Vorstellung von der ungeheuer großen Zahl der Züge, die allein in Deutschland am Tag und in der Nacht ständig in Bewegung sind. Dieses unendliche Gewimmel sich vorzustellen, geht über das Auffassungsvermögen des menschlichen Gehirns hinaus, des Gehirns desselben Menschen, der das Schienenwirrsal doch geschaffen hat.
Allein im Jahre 1913 sind in Deutschland 18 Millionen 357 000 Züge gefahren worden. Die Anzahl der beförderten Personen betrug rund 1 Milliarde 800 Millionen. Danach wäre, wenn man von der verhältnismäßig geringen Zahl der Fremden absieht, jeder der 67 Millionen Einwohner, die Deutschland in dem genannten Jahr hatte, einschließlich aller Kinder, durchschnittlich 27 mal gereist. Die Strecke, über die jeder einzelne Fahrgast im Durchschnitt befördert wurde, war allerdings sehr kurz; sie betrug nicht mehr als rund 23 Kilometer, was ungefähr der Strecke Berlin-Bernau entspricht.
Besonders verblüffend ist das Gewicht der Güter, das in dem einem Jahr auf den deutschen Bahnen befördert worden ist. Dieses war nämlich höher als 676 Milliarden 626 Millionen Kilogramm.
Denkt man sich den Äquator und sämtliche 180 Meridiane mit Schienen belegt, so würde das Gesamtgewicht all dieser Stränge noch nicht einmal ein Drittel jener Güter-Kilogrammzahl betragen. Wenn man aus Wagen von je 20 000 Kilogramm Tragfähigkeit einen Güterzug zusammenstellen wollte, der imstande wäre, das gesamte Gütergewicht auf einmal zu befördern, so würde dieser Zug 236 800 Kilometer lang sein müssen.
Das in den deutschen Eisenbahnen festgelegte Anlagekapital, also die Summe, welche seit dem Beginn der einzelnen Unternehmen für feste Bauten, Fahrzeuge usw. aufgewendet worden ist, betrug zu Beginn des Weltkriegs 19 Milliarden 245 Millionen. Dagegen besaßen zur gleichen Zeit sämtliche deutschen Aktiengesellschaften nur ein Aktienkapital von 15 Milliarden 500 Millionen Mark. Das allein für die preußisch-hessischen Staatsbahnen als dem größten gewerblichen Unternehmen auf der Erde verwendete Anlagekapital erreichte die Höhe von 12 Milliarden 600 Millionen Mark. Der Wert aller deutschen Eisenbahnanlagen wird von Kirchhoff auf 30 Milliarden Mark geschätzt.
Die deutschen Eisenbahnen haben im Jahre 1913 aus dem gesamten Verkehr 3 Milliarden[16] 563 Millionen Mark eingenommen. Hiergegen betrugen die Einnahmen des Deutschen Reichs nach dem ordentlichen und außerordentlichen Haushaltplan nur 3 Milliarden 385 Millionen Mark. Dieser Vergleich zeigt wohl am besten die Riesenhaftigkeit der Summen, die ständig den Eisenbahnkassen zufließen.
Der Personenverkehr, dessen Bedeutung für die gesamte Eisenbahnwirtschaft von Fernerstehenden leicht überschätzt wird, lieferte hierzu einschließlich der Einnahmen aus der Beförderung des Reisegepäcks nur 1 Milliarde 17 Millionen. Das sind 28,55 vom Hundert der Gesamtsumme. Dagegen brachte der Güterverkehr 2 Milliarden 286 Millionen, gleich 64,16 vom Hundert. Der Rest entfällt auf kleinere Einnahmequellen.
Aus den Rieseneinnahmen ergaben sich zum Glück für die deutsche Geldwirtschaft auch sehr bedeutende Gewinne. Der Betriebsüberschuß aller deutschen Bahnen betrug 1913 die auch in der jetzigen Zeit nicht gering erscheinende Summe von 1 Milliarde 66 Millionen. Die Größe dieser Zahl wird noch deutlicher, wenn man zum Vergleich die Gesamtsumme der Jahresgewinne sämtlicher deutscher Aktiengesellschaften betrachtet; dies waren 1 Milliarde 736 Millionen.
Kein zweites Unternehmen auf der ganzen Erde kann im entferntesten einen so bedeutenden Jahresüberschuß ausweisen, wie die preußisch-hessischen Staatseisenbahnen. Hat dieser doch im Jahre 1913 die außerordentliche Höhe von mehr als 787 Millionen Mark erreicht. Wäre der Weltkrieg nicht ausgebrochen, so hätte man wohl schon in wenigen Jahren einen Überschuß von einer vollen Milliarde erzielen können. Die preußische Staatskasse erhielt von der Eisenbahnverwaltung 654 Millionen 267 800 Mark überwiesen. Dagegen betrugen die Einnahmen des preußischen Staats aus sämtlichen unmittelbaren Steuern nur 525 Millionen 490 000 Mark. Die Anlagesumme der preußisch-hessischen Staatsbahnen hat sich dabei mit 6,41 vom Hundert verzinst.
Wer heute eine Reise antreten will, hat nichts weiter zu tun, als am Schalter seine Fahrkarte zu lösen. Dann ist der Beförderungsvertrag mit der Eisenbahnverwaltung geschlossen, und diese hat nun die Aufgabe, den Fahrgast an den gewünschten Ort zu bringen. Hierdurch wird es für diesen, abgesehen von der Zeitdauer der Reise, ganz gleichgültig, ob er etwa von München nach Starnberg oder von derselben Hauptstadt aus nach Memel fahren will. Er setzt sich auf seine Bank im Wagenabteil, schaut müßig zum Fenster hinaus, und für alles übrige sorgt die Eisenbahn.
Aber welch eine in ihrer Vielfältigkeit geradezu ungeheuerliche Anzahl von Veranstaltungen ist notwendig gewesen, damit alle Reisenden so glatt ihre verschiedenen Ziele erreichen können! Von den feststehenden Bauten und den rollenden Vorrichtungen der deutschen Eisenbahnen mit ihren Milliardenwerten haben wir schon gesprochen. Um jedoch die Gesamtheit dieses toten Stoffs zu beseelen, um ihm zielstrebiges Leben einzuhauchen, ihn zu einem wirklich brauchbaren Werkzeug des Verkehrs und Handels zu machen, sind auch sachkundige Menschen notwendig, ist ein Riesenheer von Angestellten erforderlich.
Im Jahre 1913 waren bei den deutschen Eisenbahnen rund 800 000 Beamte und Arbeiter tätig. Ein volles Drittel der gesamten Beamtenschaft aller deutschen Staaten ist bei der Eisenbahn beschäftigt. Jeder 84. Bewohner des Deutschen Reichs dient dieser Verkehrseinrichtung! Zum Vergleich sei die Angabe gemacht, daß das größte Fabrikunternehmen Deutschlands, die Kruppschen Werke in Essen, im Jahre 1913 etwa 80 000 Angestellte beschäftigte. Der preußische Eisenbahnminister allein aber gebot über 560 000 Beamte und Arbeiter.
An Gehältern und Löhnen sind von den deutschen Eisenbahnen in unserem Stichjahr[17] 1 Milliarde 350 Millionen Mark ausgezahlt worden. Die Aufwendungen der Verwaltungen für die an Beamte und Arbeiter gezahlten Ruhegehälter sowie für die Hinterbliebenenfürsorge betrugen über 151 Millionen Mark. Für die Krankenpflege wurden im gleichen Zeitraum aus den Betriebsvermögen 121⁄4 Millionen Mark gezahlt. — —
Das Reichsgericht hatte vor etwa 45 Jahren in einem Streitfall festzustellen, was eigentlich eine Eisenbahn sei. Im ersten Band der Entscheidungen des Reichsgerichts auf Seite 252 findet sich die folgende Darlegung:
„Eine Eisenbahn ist ein Unternehmen, gerichtet auf wiederholte Fortbewegung von Personen oder Sachen über nicht ganz unbedeutende Raumstrecken auf metallener Grundlage, welche durch ihre Konsistenz, Konstruktion und Glätte den Transport großer Gewichtsmassen, beziehungsweise die Erzielung einer verhältnismäßig bedeutenden Schnelligkeit der Transportbewegung zu ermöglichen bestimmt ist und durch diese Eigenart in Verbindung mit den außerdem zur Erzeugung der Transportbewegung benutzten Naturkräften (Dampf, Elektrizität, tierischer, menschlicher Muskeltätigkeit, bei geneigter Bahn auch schon der eigenen Schwere der Transportgefäße und deren Ladung usw.) bei dem Betrieb des Unternehmens auf derselben eine verhältnismäßig gewaltige, je nach den Umständen nur in bezweckter Weise nützliche, oder auch Menschenleben vernichtende und die menschliche Gesundheit verletzende Wirkung zu erzeugen fähig ist.“
Man kann den Begriff der Eisenbahn wohl auch kürzer fassen: sie ist eine Fahrbahn aus eisernen oder stählernen Schienengeleisen, auf der Fahrzeuge durch Dampf oder andere mechanische Kraft fortbewegt werden. Diese einfache Feststellung birgt aber, wenn man sie genauer betrachtet, eine sehr eigentümliche Tatsache in sich.
Die Eisenbahnfahrzeuge fahren auf Schienen, das heißt auf einer für jedes Rad äußerst schmalen Bahn, von der dieses auch nicht um ein weniges abweichen darf. Die Landstraße bildet eine viele Meter breite Fahrtafel, auf der die Räder an jeder beliebigen Stelle gleich gut rollen können. Meterweite seitliche Ausbiegungen sind darum allen Fahrzeugen auf der Landstraße ohne weiteres möglich. Sie vermögen aneinander vorbeizufahren, sich gegenseitig zu überholen. Daraus ergibt sich, daß Fahrzeuge der verschiedensten Art mit allen erdenklichen Achslängen und mit beliebigen Höchstgeschwindigkeiten auf der Landstraße fahren können.
Auf den Eisenbahnschienen geht das nicht. Hier sind die Züge fest hintereinander aufgereiht, die Geschwindigkeit des einen begrenzt bei gewöhnlichem Gleis die Bewegung aller folgenden.
An die Stelle der Freiheit ist der Zwang getreten.
Eine meisterliche Beschränkung ist es gewesen, die dem Verkehr seinen gewaltigen Fortschritt und seine Unbeschränktheit gebracht hat. Es galt, für den Lauf schwerbelasteter Räder eine möglichst glatte und feste Fahrbahn zu schaffen. Diese ist mit den Mitteln, die uns bis heute zu Gebote stehen, nur durch die Belegung der Straßenoberfläche mit Eisen oder Stahl zu erzielen. Hätte man, als die unersetzbare Nützlichkeit dieses Baustoffs erkannt war, an der alten Form der Fahrbahn, der gleichmäßigen, breiten Tafel, festgehalten, dann wäre die Menschheit, solange Fahrzeuge auf einer Unterstützungsfläche laufen müssen, niemals zur Hundertkilometer-Geschwindigkeit gelangt. Denn man hätte ja die Straßen mit Tafeln aus Stahl belegen müssen, was Kosten von unsinniger Höhe und gänzlich unüberwindliche Befestigungsschwierigkeiten verursacht haben würde. Glücklicherweise fand man aus, daß jeder Radlauf ja immer nur einen schmalen Streifen für seine Fortbewegung beansprucht, und man begnügte sich damit, diesen allein glatt und fest[18] zu machen. So entstand die Schiene, die, wenn man von den Stoßstellen der einzelnen Walzstücke absieht, eine vollkommene Glätte und Festigkeit besitzt. Sie brachte mit der Zwangsläufigkeit des Verkehrs diesem die Freiheit.
Dieser Vorgang erscheint nur im ersten Augenblick überraschend, denn er kehrt allerorten im menschlichen Leben wieder.
Für die Technik ist er eine ganz allgemein gültige Regel. Die Achsen, die Wellen unserer Maschinen, werden mit Hilfe ihrer Lager durch Zwang in der gewollten Bewegung festgehalten und geben uns erst dadurch die Freiheit, ihnen die verschiedensten Arbeiten aufzubürden. Kein Wagen vermöchte um eine Biegung zu fahren, wenn die Achsen sich unter dem Fahrzeug beliebig hin und her schieben könnten. Aber auch der Staat ist nichts anderes als eine Zwangseinrichtung, und doch hat er die Einzelwesen der Freiheit näher gebracht. Dadurch, daß jedes Einzelwesen auf eine große Zahl willkürlicher Handlungen Verzicht leistete, hat die Gesamtheit ganz neue und ungeahnte Entwicklungsmöglichkeiten gewonnen. Die Heere sind die erdrückendste Zwangseinrichtung, die wir besitzen. Aber während 100 000 Soldaten, wenn jeder von ihnen nach seiner Willkür vorgehen würde, gar nichts zu erreichen vermöchten, sind sie im eisernen Reifen der Mannszucht zu gewaltigen Taten fähig.
Auf der Eisenbahn verzichtet der Verkehr nicht allein auf die Freiheit der allseitigen Bewegung, sondern auch auf den freien Wettbewerb. Die Landstraße kann von Gefährten jeder Art befahren werden, auf den Schienen vermögen nur solche Wagen zu laufen, die eigens dazu vorbereitet sind, nämlich Räder mit Spurkränzen besitzen. Trotzdem waren zu Beginn die Eisenbahngesellschaften nur Besitzerinnen der Fahrbahn; auf dieser sollte mit eigenen Wagen fahren können, wer wollte, wenn er nur gewisse Bedingungen erfüllte. In dem Beschluß der englischen Volksvertretung, der die Anlage der Eisenbahnstrecke von Manchester nach Liverpool gestattete, findet sich denn auch der Satz: „Die Bahn darf gegen Bezahlung der Abgabe und unter Beobachtung der gesetzlichen Bestimmungen sowie der Bahnordnung von jedermann benutzt werden.“ Auch das erste preußische Eisenbahn-Gesetz von 1838 enthält ähnliche Bestimmungen. Seltsamerweise wurde der „freie Wettbewerb auf der Schiene“ noch in den siebziger Jahren in Deutschland lebhaft erörtert. Heute wissen wir, daß auf dem schmalen Eisenpfad immer nur ein einziger Wille herrschen darf. Der gesamte Zugumlauf ist zu sehr von der Geschwindigkeit und Beschaffenheit jedes einzelnen Fahrzeugs auf dem Gleis abhängig, als daß verschiedene Fahrunternehmer auf derselben Strecke wirken könnten.
Innerhalb des gewaltigen Teilgebiets der Welt auf Schienen, das in Deutschland angesiedelt ist, werden drei Hauptgattungen unterschieden: Hauptbahnen, Nebenbahnen und Kleinbahnen.
Auf den Hauptbahnen, welche die großen Verkehrsmittelpunkte auf dem kürzesten herstellbaren Weg miteinander verbinden, ist der Oberbau in Baustoff und Verlegungsart so gestaltet, daß die schwersten Züge darauf mit einer Geschwindigkeit bis zu 110 Kilometern in der Stunde fahren können. Bei den Nebenbahnen sind leichtere Schienen zugelassen, die Geleise dürfen schärfere Krümmungen und stärkere Neigungen haben, die Wegübergänge in Schienenhöhe brauchen nicht sämtlich überwacht zu sein. Auch sonst lassen die strengen Bestimmungen der Eisenbahnbau- und Betriebsordnung für diese Gattung verschiedene Erleichterungen zu. Die Höchstgeschwindigkeit darf 40 Kilometer in der Stunde nicht überschreiten.
Während die Hauptbahnen stets, die Nebenbahnen fast immer vollspurig angelegt[19] sind, das heißt mit einem Abstand der Schienen-Innenkanten von 1,435 Metern, herrscht bei den Kleinbahnen die Schmalspur, welche bei uns gewöhnlich 1 Meter oder 0,75 Meter beträgt. Über die Entstehung der Voll- oder Regelspur wird im 5. Abschnitt näheres mitgeteilt.
Infolge ihrer schmalen Spur sind die Kleinbahnen imstande, sich den Geländeverhältnissen besser anzupassen; sie vermögen sogar den scharfen Krümmungen der Landstraßen zu folgen, ihre Geleise sind oft neben diesen, ja auf ihnen verlegt. Die niedrigen Herstellungskosten der Kleinbahnen gestatten, die Vorteile des Schienenpfads auch zur Verbindung solcher Orte zu benutzen, deren geringe Verkehrskraft größere Ausgaben nicht rechtfertigen würde. Durch ihre Billigkeit und Schmiegsamkeit tragen die Kleinbahnen zur Befriedigung wichtiger Verkehrs- und Wirtschaftsbedürfnisse sehr viel bei. Ihr Ausbau ist bei uns im letzten Jahrzehnt, namentlich auch durch die Hergabe von Staatsmitteln, sehr lebhaft gefördert worden und wird sicherlich auch weiter liebevoll gepflegt werden.
Der weitaus größte Teil der deutschen Eisenbahnen befindet sich heute im Staatsbesitz. Den 57 233 Kilometern vollspuriger Staatsbahnen stehen nur 3523 Kilometer vollspuriger Privatbahnen gegenüber. Bei den Kleinbahnen freilich herrscht der Privatbesitz vor. Die deutschen Staaten gebieten nur über 1075 Kilometer solcher Schienenwege einfachster Art, während 1143 Kilometer Privatbesitz sind.
Ein Verzeichnis der Verwaltungen der deutschen Staats- und Privatbahnen befindet sich am Schluß des Buchs.
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Das Ursprungsland der Eisenbahn ist England.
Notwendig mußte jeder große technische Fortschritt in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts in dem Inselreich seinen Anfang nehmen. Dort war ein politisch geschlossenes, von unmittelbaren Kriegsschäden gänzlich verschontes Land, in dem sich das gewerbliche Leben zu einer für die damalige Zeit außerordentlichen Blüte entwickeln konnte. Reichtum häufte sich an, und das Verständnis für technische Dinge war weit vorgeschritten. Watt hatte dort seine Dampfmaschine geschaffen, die als erste größere Kräfte zuverlässig zu erzeugen vermochte und von England aus das technische Leben der ganzen Welt umwälzte, ja es eigentlich erst schuf. Der Verkehr war kräftig genug, um jedes neue Fortbewegungsmittel sogleich aufnehmen zu können.
Sehr früh setzten denn auch schon in England die Bemühungen ein, die Kraft des Dampfs, der sich in ortsfesten Maschinen so ausgezeichnet bewährt hatte, zur Fortbewegung von Fahrzeugen anzuwenden.
Die erste Fahrt eines Schiffs mit Dampfantrieb freilich, an die sich dauernde Erfolge auf diesem Gebiet knüpfen, fand in Amerika statt. Am 17. August 1807 fuhr Fulton mit dem „Claremont“ den Hudsonfluß bis Albany hinauf; aber er war ein Mann, der in England seine Ausbildung genossen hatte, und die Schiffsmaschine entstammte der berühmten Fabrik von Watt & Boulton zu Soho bei Birmingham.
Die Entwicklung der Landdampffahrzeuge bis zur fertigen Lokomotive vollzieht sich ganz in England; nur hier und da macht der Werdegang eine unbedeutende Biegung nach Frankreich und Amerika hinüber.
Die ersten Fahrzeuge mit Dampfantrieb gehören ebenso zu den Ahnen des Kraftwagens wie zu denen der Lokomotive. Denn sie waren für das Befahren von Straßen gedacht. Hierdurch war der Dampfwagen gezwungen, eine recht mühselige und kümmerliche Jugendzeit durchzumachen. Er glich einer schönen, entwicklungskräftigen Blume, die in ungünstiges Erdreich gepflanzt ist. Die schwere Ausrüstung eines mit Dampf betriebenen Fahrzeugs ist nicht für die unebene Straße, sondern nur für den glatten Schienenweg geeignet. Das hat man erst nach Jahrzehnten erkannt, als schon eine gewisse Gefahr bestand, daß von der weiteren Durchbildung dieses für die Menschheit so unvergleichlich wichtig gewordenen Hilfswerkzeugs ganz abgesehen würde. Glücklicherweise fand sich noch zur rechten Zeit der kluge Gärtner, der das Pflänzchen in günstige Erde setzte, wo es dann zu herrlicher Blüte gedieh.
Schon der geistvolle Papin, ein geborener Franzose, der aber lange Zeit in Marburg gelebt und gewirkt hat und als Erster eine Dampfmaschine mit Kolben baute, dachte daran, eine solche Maschine außer zum Betrieb ortsfester Pumpen auch zur Fortbewegung eines Wagens zu benutzen. Die im Jahre 1690 zuerst von ihm beschriebene Dampfmaschine war eine sogenannte atmosphärische; denn bei ihr wurde der Dampf nicht unmittelbar zum Antrieb des Kolbens benutzt, sondern er diente nur dazu, durch seine Niederschlagung unter diesem einen luftverdünnten Raum herzustellen, in welchen dann der Druck der Atmosphäre den Kolben niederpreßte. Papin hat in Wirklichkeit ebensowenig[24] einen Dampfwagen gebaut wie der Engländer Savery, der die erste atmosphärische Dampfpumpe schuf und gleichfalls mit Dampf durch die Lande rollen wollte.
Als der Student Robison im Jahre 1759 zu Glasgow die Gedanken des großen James Watt zuerst auf die Dampfmaschine lenkte, machte er ihn auch gleich auf die Möglichkeit aufmerksam, Wagenräder durch die Kraft des Dampfs in Bewegung zu setzen. Doch zunächst war Watt mit der Ausgestaltung der Maschine selbst zu sehr beschäftigt, als daß er auf diesem vorläufig etwas abseits führenden Weg hätte weitergehen können.
Der erste, der wirklich einen Dampfwagen baute, war der französische Artillerieoffizier Nicolas Joseph Cugnot. Im Jahre 1769 hatte er bereits ein kleines Modell fertig. Im Jahre darauf fuhr er mit einem wirklichen Wagen durch die Straßen von Paris. Der Kriegsminister Choiseul nahm lebhaften Anteil an der Erfindung, obgleich der Wagen nur eine Viertelstunde lang ununterbrochen zu laufen vermochte. Alsdann mußte der Kessel von neuem mit Wasser versorgt werden, und man war gezwungen, zu warten, bis sich wieder eine genügende Dampfspannung entwickelt hatte. Über die schneckenartige Geschwindigkeit von vier Kilometern in der Stunde kam Cugnot nicht hinaus.
Dennoch wurde er beauftragt, einen kräftigeren Wagen zu bauen, weil der Kriegsminister hoffte, damit ein besonders brauchbares Mittel zur Beförderung von Geschützen zu erlangen.
Der erste Artillerie-Kraftwagen in der Welt, den Cugnot darauf ins Leben rief, ist bis auf den heutigen Tag erhalten geblieben. Es befindet sich als eine der größten Sehenswürdigkeiten in dem Conservatoire des arts et métiers in Paris. Der dreirädrige Wagen[25] besitzt einen Rahmen aus schweren Eichenbalken. Der kochtopfförmige Kessel ist seltsamerweise ganz vorn in einer eisernen Gabel aufgehängt. Der Schornstein der Kesselfeuerung geht durch den Wasserraum hindurch. Die beiden Zylinder sind senkrecht aufgestellt und drehen das Vorderrad mit Hilfe eines Sperradgetriebes, so daß die auf und nieder gehenden Zahnstangen nur in einer Richtung antreibend wirken.
Die Lenkung des Wagens erfolgte durch Drehen der Vorderachse, wobei also der Kessel und die ganze Maschine mitgewendet werden mußten. Nur sehr muskelkräftige Arme vermochten den Wagen zu steuern, und es ist kein Wunder, daß er infolge dieser ungefügen Lenkeinrichtung schon bei seiner ersten Ausfahrt verunglückte. Mit einer Last von 5000 Kilogramm, einschließlich vier Personen, rannte er in der Nähe des Platzes, auf dem heute die Madeleine-Kirche steht, gegen eine Mauer. Hierbei bewies das Fahrzeug eine den heutigen Kraftwagen zweifellos überlegene Dauerhaftigkeit, denn es warf die Mauer um, ohne selbst wesentlichen Schaden zu erleiden. Doch dem Erfinder war durch diesen Vorgang sein Werk verleidet, und er hat weitere Versuche zur Ausbildung des Dampfwagens nicht gemacht.
Doch der Gedanke war nun einmal in die Welt gesetzt und sollte nicht mehr zur Ruhe kommen, bis ihm ungeahnte Erfolge beschieden waren.
Zunächst freilich blieb es bei erfolglosen Versuchen. Evans fuhr mit einem Dampfwagen unter dem Jubel einer großen Menge durch Philadelphia, aber er scheiterte schließlich ebenso wie Read und Symington in England.
Als Watt im Jahre 1784 sein berühmtes Dampfmaschinenpatent nahm, sprach auch er darin sehr deutlich von der Möglichkeit, die Dampfmaschine zum Antrieb von Wagen zu verwenden. Einer der hierauf bezüglichen Sätze heißt: „Meine siebente neue Erfindung bezieht sich auf Dampfmaschinen, die zur Beförderung von Personen, Waren oder anderen Gegenständen von Platz zu Platz verwendet werden sollen; für solche Fälle muß die Maschine selbst beweglich sein.“ An eine Ausführung des Gedankens ging Watt aber auch jetzt nicht. War doch damals seine wichtigste Aufgabe, den englischen Bergwerken, die infolge des immer tiefer eindringenden Abbaus im Wasser zu ertrinken begannen, endlich eine geeignete Antriebsmaschine für ihre Pumpen zur Verfügung zu stellen. Der große Erfinder wollte aber trotzdem jene andere Möglichkeit für die Verwendung der Dampfmaschine fest in seiner Hand behalten und ließ sie sich darum gesetzlich schützen. Das sollte für den zweiten wirklichen Dampfwagenerbauer ein schweres Hindernis werden.
In der großen Fabrik von Watt & Boulton zu Soho war als einer der tüchtigsten Betriebsingenieure W. Murdock beschäftigt. Ihn, der ein ungewöhnlich kräftig gebauter Mann von großer Entschlossenheit war, pflegten die Fabrikherren gern nach solchen Gegenden zu schicken, in denen die aufgestellten Maschinen nicht ganz nach Wunsch laufen wollten. Die Dampfmaschinen hatten ja damals noch viele Kinderkrankheiten zu überwinden und erregten jedesmal den höchsten Grimm der Bergarbeiter, wenn sie infolge Versagens die Grube ersaufen ließen. Der Abgesandte der Fabrik wurde von den Bergleuten meistens mit Hohn und Spott empfangen, und nur dem „eisernen Murdock“, wie man ihn gern nannte, gelang es, sie sich rasch vom Hals zu halten, indem er den stärksten zum Boxkampf forderte und meist rasch niederwarf.
Längere Zeit war Murdock als Aufsichtsbeamter in dem Bezirk von Cornwall tätig. Es ist dies jene Halbinsel, die im äußersten Südwesten von England weit in den Atlantischen Ozean vorspringt. In diesem eigenartigen Land sollte die Entwicklung des Dampfwagens ihre wichtigen nächsten Abschnitte durchmachen.
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In der freien Zeit, die Murdock während seiner Tätigkeit an den Bergwerkspumpen fand, beschäftigte er sich damit, kleine Modelle von Dampfwagen zu bauen. Er hatte den Mut, hierbei die Dampfspannung im Kessel höher zu steigern, als das bisher üblich gewesen war. Die ersten von ihm gebauten Hochdruckdampfwagen führten denn auch wegen der größeren Energie, die zur Verfügung stand, sofort zu einem guten Erfolg. Das erste von Murdock 1786 in Redruth gebaute Wägelchen war etwa einen Fuß hoch. Als der Mitbesitzer der Fabrik in Soho, Boulton, einmal in Cornwall weilte, sah er das Maschinchen und war ganz entzückt von seinem Arbeiten. In einem Brief teilte er Watt mit, daß die kleine Maschine ganz vortrefflich im Zimmer herumlaufe und Kohlenschaufel, Feuerzange sowie Schüreisen mit sich herumtrage.
Bald reizte es Murdock auch, seine Maschine auf der Straße zu erproben. Hierbei ereignete sich ein heiterer Zwischenfall. Nachdem die Spirituslampe unter dem kleinen Kessel entzündet war, setzte sich der Wagen in Bewegung und lief so schnell davon, daß der Erfinder ihn nicht mehr einholen konnte. Plötzlich drangen laute Hilferufe an sein Ohr. Als Murdock hinzueilte, sah er den Ortsgeistlichen vor Schrecken gelähmt am Wegrand stehen. Er hatte das feurige, zischende Ungeheuer von nie gesehener Art, das ihm auf seinem Weg nach der Stadt entgegengekommen war, für den leibhaftigen Teufel gehalten und war vor Entsetzen fast gestorben.
Murdocks Tüchtigkeit und Tatkraft hätten ihn gewiß dazu befähigt, den Bau des Dampfwagens bedeutend zu fördern. Aber gerade als er an die Ausführung eines größeren Fahrzeugs gehen wollte, teilte man ihm aus der Fabrik zu Soho, gestützt auf die Patentrechte, mit, daß man dort[27] eine solche Beschäftigung des für andere Zwecke angestellten Beamten nicht gern sähe. Murdock gehorchte sofort und nahm von weiteren Versuchen Abstand.
Doch das Samenkorn, das er ausgestreut hatte, war nicht auf steinigen Boden gefallen. Denn in Cornwall lebte einer, der gleichfalls Murdocks Versuche mit angesehen hatte, aber mit ganz anderen Augen als der Geistliche von Redruth.
Um die Art des Manns verstehen zu können, der Murdocks Pläne mit so bedeutendem Erfolg fortgesetzt hat, muß man sein Geburtsland und den Volksstamm näher kennen, dem er entstammte.
„Cornwall ist“, so schreibt Max von Weber in seinem Buch „Aus der Welt der Arbeit“, „ein ernstes, in den Ozean hinausragendes Land, von einer rauhen Gebirgskette durchsetzt, über deren kantige Gipfel und schroffe Täler das Meer, von drei Himmelsgegenden her, unablässig seine Winde und Regenwolken jagt, dessen Ebenen nur spärlich das Gold der Ährenfelder und das Silber der Blütenbäume zeigen.
„Aber seit mehreren Jahrtausenden holt ein Geschlecht von keltischen Bewohnern, das seit den Tagen Cäsars nur wenig seine Physiognomie geändert hat, aus diesem unwirtlichen Gebirge unermeßliche Schätze der, nächst dem Eisen, nützlichsten Metalle, Zinn und Kupfer, deren Fülle seinerzeit hinreichte, Richard von Cornwall den römischen Kaisertitel zu erhandeln und der ganzen Inselgruppe Großbritanniens den Namen der Zinninseln gewann.
„Der Kampf mit den Gewalten des Meeres an den langen, schroffen Ufern der Halbinsel, die schwere, gefahrvolle Arbeit in den Metallgruben, der Verkehr in rauhem Gebirg und Land erziehen in den Männern Cornwalls ein knorriges, festes Geschlecht von innerlicher, starker Arbeit, von unablässigem, energischen Angriff wohlüberlegten Vorhabens, von eisernem Willen und kräftiger Faust.
„Aber diesen realen, erzenen Naturen ist in sonderbarer Mischung ein phantastisches Element beigesellt.
„Uralte druidische Traditionen, lebendig erhalten durch die wunderlich riesigen Steingebilde zahlreicher Stonehenges und Dolmen, verbunden mit der Einwirkung des gespenstischen Wirkens in der gestaltenreichen Welt der Seenebel und Sturmwolken, des Gnomenmärchengetriebes in der unheimlichen Tiefe der Erzgruben, gesellten der derben Natur des ‚Cornishman‘ ein vages Wähnen und dunklen Impulsen Nachgeben, das sein ernstes und tüchtiges Wirken oft in folgeloser Weise von abenteuernden Ideen und Handlungen kreuzen ließ.“
Aus diesem Volk ging Richard Trevithick hervor, den man mit Weber den Ahnen der Lokomotiverfindung nennen muß, wenn man Georg Stephenson als deren Vater bezeichnet. Trevithick hat alle Höhen und alle Tiefen des Menschenlebens durchgemacht. Er pflegte lange Zeit mit größter Hartnäckigkeit bei der Durchführung eines einmal gefaßten Gedankens zu beharren, um ihn dann plötzlich, fast grundlos, wieder fahren zu lassen. Er war ein echter „Cornishman“.
Dieser ausgezeichnete, aber heute selbst in technischen Kreisen wenig bekannte Mann wurde am 13. April 1771 in einem Dorf des Kirchspiels Illogan inmitten des Bergwerkbezirks von Cornwall geboren. Sein Vater war Zahlmeister bei einer Zinn- und Kupfermine.
Wie viele Männer, die später Bedeutendes geleistet haben, hatte der junge Trevithick in der Schule keine großen Erfolge aufzuweisen. Der Lehrer in dem benachbarten Camborne bestätigte ihm, daß er ein ungehorsamer, schmutziger und unaufmerksamer Bube sei. Doch seine Fähigkeit im Rechnen blieb schon damals nicht unbemerkt.
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Lieber als in die Schule ging der Knabe hinauf zu dem Hügel von Castle Carn Brea, wo zwei riesige Dampfpumpen von Watt & Boulton aufgestellt waren. Die hin und her schwingenden mächtigen Balanziers, die sausenden Schwungräder übten auf ihn eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus. Er trieb schon seine ersten Jugendspiele im Schatten der Maschinen, deren Poltern und Zischen ihn sein ganzes Leben hindurch begleiten sollten.
Der alte Murdock faßte rasch eine Zuneigung zu dem Knaben und zeigte ihm seine niedlichen Dampfwagenmodelle. Als Trevithick neunzehn Jahre alt war, trat er als Lehrling Murdock zur Seite. Dieser hatte ein solches Vertrauen zu dem jungen Mann, daß er ihm bald das schwierige Geschäft der Aufstellung großer neuer Maschinen übertrug. Trevithick lohnte dieses Vertrauen glänzend, indem die von ihm hergerichteten Maschinen bald am allerbesten in ganz Cornwall liefen.
Im Jahre 1791 war Trevithick bereits Ingenieur der Dingdong-Gruben. Er hatte die Wichtigkeit des hochgepreßten Dampfs erkannt und baute bald selbständig Pumpen, deren Dampfkessel weit höhere Spannungen aufwiesen, als Watt sie jemals zu verwenden gewagt hatte. Das war wichtig für den künftigen Bau von fahrenden Dampfmaschinen; denn diese, deren Kessel klein sein müssen, hätten mit Niederdruck niemals genügend Energie hergeben können.
Als die Hochdruckpumpen sich bewährt hatten, dachte Trevithick bald daran, die Versuche Murdocks fortzusetzen. Auch er stellte zunächst ein kleines Wagen-Modell her, dessen Kesselwasser durch Einlegen von glühenden Bolzen, also durch eine Art rauchloser Feuerung, zum Sieden gebracht wurde. Mit großer Freude sah er, wie sein Maschinchen Spazierfahrten im Zimmer machte. Aber unabhängiger als Murdock und wohl auch mit mehr Phantasie begabt als dieser bloße Gehilfe eines Größeren, beschloß er sofort, einen Versuch im großen mit dem neuen Gefährt zu versuchen.
Es schien ihm seltsamerweise jedoch zweifelhaft, ob die Reibung von glatten Rädern auf der Straße stark genug sein würde, um einen Dampfwagen auch Steigungen überwinden zu lassen. Als gescheiter Mann stellte er einen Versuch an Ort und Stelle an. Er lieh sich eine Postchaise, spannte vor einem Hügel die Pferde aus und drehte zusammen mit seinem Freund Gilbert die Räder, indem beide in die Speichen griffen. Der Wagen rollte vorwärts, und damit war die genügende Stärke der Anhaftung erwiesen.
Nun ging es sogleich an die Erbauung der ersten Dampfkutsche. Da es eigentliche Maschinenbauanstalten damals noch nicht gab, entstand sie mühselig in einer Schmiede. Lustig fuhr der Erfinder am Tag vor Weihnachten des Jahres 1801 mit dem neuen Gefährt durch die Straßen von Camborne und lud jeden Vorübergehenden ein, mitzufahren. Bald saßen zehn bis zwölf Personen in dem fauchenden Wagen und fuhren mit diesem hügelan. Einem vermögenden Vetter Richard Trevithicks, Andreas Vivian, gefielen die Versuche so gut, daß er sich mit Trevithick verband. Der Abschluß des Teilnehmervertrags fand gleich beim Christmahl statt. Beide Männer beantragten und erhielten nun ein Patent auf den Bau von Hochdruckdampfmaschinen und deren Anwendung für Wagen. Doch rasch machte ein unglücklicher Zufall, der so oft im Leben Trevithicks eine Rolle gespielt hat, dem Dasein der ersten Dampfkutsche ein Ende. Sie verbrannte eines Tags, als der Erfinder gerade beim Mittagsmahl saß.
Rasch entstand nach dem ersten ein zweiter Dampfwagen, den unser Bild 8 darstellt. Er wurde glücklich auf den eigenen Rädern bis nach London gesteuert und erregte, als er durch die Straßen der Hauptstadt fuhr, ungeheures Aufsehen.
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Der Kessel mit dem wagerecht hineingebauten Zylinder lag zwischen zwei Rädern, die fast 21⁄2 Meter hoch waren und sich infolge ihrer Größe zum Fahren auf den schlechten Straßen besonders gut eigneten. Die Achse der hinteren Treibräder wurde von der Kolbenstange durch eine Kurbel und zwei Zahnräder angetrieben. Der Wagen konnte zehn Personen fassen und soll zuzeiten eine Geschwindigkeit von sechzehn Kilometern in der Stunde erreicht haben.
Sehr beachtenswert ist, daß Trevithick schon bei diesem Wagen vier noch für den heutigen Lokomotivbau wichtige Einrichtungen angewendet hat. Er arbeitete mit Hochdruck; der Kessel hatte eine zylindrische Form, die zum Widerstand gegen den hochgespannten Dampf am besten geeignet ist; in den Kessel war ein Flammrohr, das heißt eine von der Feuerung aus durch den ganzen Wasserraum laufende Röhre eingebaut, in der die heißen Abgase der auf dem Rost brennenden Flamme weiter zur Erhitzung des Wassers beitragen konnten; und endlich ließ der Erbauer den aus dem Kessel tretenden Dampf nicht unmittelbar ins Freie puffen, sondern führte ihn durch den Schornstein hinaus. Es ist dies die erste Anwendung des Blasrohrs, das bis zum heutigen Tag außerordentlich viel zur Erhöhung der Leistungsfähigkeit bei Lokomotiven beiträgt. Der im Schornstein mit großer Geschwindigkeit aus dem Auspuffrohr tretende Dampf reißt die Luftsäule im Schlot mit sich; dadurch entsteht ein Unterdruck, und die äußere Luft muß nachströmen. Sie findet aber keinen anderen Zugang als nur den durch den Rost und die Feuerung hindurch, die sie lebhaft anfacht. Durch das Blasrohr kann die Lokomotivfeuerung auch dann Zug bekommen, wenn die Maschine stillsteht und demzufolge kein Wind durch den Aschkasten eintritt. Je kräftiger die Maschine arbeitet, desto lebhafter wird auch das Feuer angefacht. So entsteht eine immer der Leistung angepaßte Anfachung des Kesselfeuers.
Es ist nicht sicher, ob Trevithick das Blasrohr sogleich unter voller Erkenntnis seiner Wirksamkeit einbaute. Wahrscheinlich hatte er nur die Absicht, den Auspuffdampf hoch über den Köpfen der auf den Straßen Vorübergehenden fortzuführen. Später aber hat Trevithick das Blasrohr wohl absichtlich zur Anwendung gebracht, und es ist darum eigenartig, daß auch dieser Gedanke des Erfinders, wie manch anderer noch viel wichtigere, später vergessen ward. Séguin baute noch in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts eine Lokomotive, der ein besonderer Gebläsewagen zur Erzeugung des Luftzugs für die Feuerung beigegeben war, und selbst noch in der Blütezeit von Stephensons Wirken wurden ähnliche Versuche gemacht.
Die bedeutendsten Männer Londons bewunderten den Dampfwagen, welchen der große Physiker Humphrey Davy „Kapitän Trevithicks Drachen“ nannte. Doch all das Staunen brachte dem Erfinder keinen Gewinn. Er verkaufte schließlich die Antriebsmaschine des Wagens an ein Walzwerk und hat nie wieder den Versuch gemacht, ein Kraftfahrzeug für die gewöhnliche Straße zu schaffen. Die Entwicklung dieser Gefährte ist jedoch später fortgeführt worden, und bevor die Eisenbahn alles andere verdrängte, gab es in England einen Dampfwagenverkehr auf den Landstraßen.
Wir gelangen nun zu dem kulturgeschichtlich unvergleichlich wichtigen Zeitpunkt, an dem Trevithick erkannte, daß das Schienengleis die rechte Bahn für seine fahrenden Maschinen sei. Der Anlaß, der ihn zu einem ersten Versuch trieb, war lächerlich genug: eine Wette.
Bei seinen vielen Reisen, die er zur Einführung der von ihm erfundenen Hochdruck-Dampfmaschine machte, kam Trevithick im Jahre 1804 auch nach Penydarran in Süd-Wales. In dieser Gegend bestand damals schon ein ziemlich bedeutender Schienenweg, der von[30] dem Eisenwerk Merthyr Tydvil nach Cardiff führte und von Wagen mit Pferdezug befahren wurde. Bei einer Unterhaltung mit dem Grubenbesitzer Hill stellte Trevithick die Behauptung auf, daß ein auf die Schienen gestellter Dampfwagen eine Last von 10 000 Kilogramm würde befördern können. Das schien Hill, der wohl in der Hauptsache nur das Arbeiten von Niederdruckmaschinen gesehen hatte, ganz unglaublich. Er wettete gegen Trevithick um 500 Pfund Sterling, das sind 10 000 Mark. Der mit Glücksgütern nicht allzu reich gesegnete Erfinder fand durch diese Summe Anregung genug, sofort einen Dampfwagen für die Schiene zu bauen. Seiner großen Erfahrung gelang die Ausführung vortrefflich. Wie er selbst in einem Brief schreibt, rannte die Maschine „mit großer Geschwindigkeit hügelauf, hügelab und war leicht zu führen“.
Dieser Brief Trevithicks vom 15. Februar 1804 ist die erste Mitteilung über eine Lokomotivfahrt, die wir besitzen. Er spricht freilich von einem „tram waggon“, denn das Wort Lokomotive selbst ist erst sehr viel später eingeführt worden, wie im Abschnitt 14 näher dargelegt werden wird.
Bei diesem tram waggon finden wir, so ungefüge und seltsam er unseren heutigen Augen auch erscheinen mag, doch noch eine weitere, bis heute ausschlaggebend gebliebene Bauanordnung der Lokomotive verwendet. Es wird nämlich von der Maschine, die mit Hilfe von langen Geradführungsstangen eine Kurbel mit daran befestigtem Zahnrad antreibt, nicht mehr nur Eine Achse gedreht, sondern beide Achsen haben zwangläufigen Antrieb. Dies ist der Ursprung der gekuppelten Lokomotivachsen, die das nutzbare Reibungsgewicht auf den Schienen so bedeutend erhöhen. Freilich haben sich Zahnräder für diese Zwecke nicht bewährt. Die Achsenkupplung ist denn auch bald wieder verlassen worden, bis Stephenson, wie wir später hören werden, hierfür, wie für so vieles andere, die richtige Anordnung fand.
Bei dieser Lokomotive glaubte Trevithick noch ein Schwungrad zur Erzielung gleichmäßiger Bewegung notwendig zu haben. Steuerung und Schornstein lagen beide nebeneinander an der Vorderseite[31] des Kessels, in den der Zylinder wiederum, wie damals allgemein üblich, zur besseren Warmhaltung der Wände hineingebaut war.
Die Maschine leistete weit mehr, als zum Gewinn der Wette notwendig war. Sie zog einen Zug von fünf Wagen, der mit 10 000 Kilogramm Eisen und siebzig Menschen beladen war, über die sechzehn Kilometer lange Bahn. Die Gesamtlast, die an der Lokomotive hing, betrug 25 400 Kilogramm. Mit dieser legte die Maschine die Strecke in vier Stunden fünf Minuten zurück. Der ungläubige Hill machte die Fahrt mit und mußte seine Wette verloren geben. Er versuchte zwar noch verschiedene Einwendungen, um Trevithick das Geld vorzuenthalten, dieser scheint es aber schließlich doch bekommen zu haben.
Inzwischen war man in Soho ziemlich außer sich. Watt sah seine Alleinherrschaft im Dampfmaschinenbau gefährdet. Er tat alles, um ein gesetzliches Verbot der Trevithickschen Arbeiten zu erreichen, indem er erklärte, der Mann aus Cornwall verdiene gehängt zu werden, weil er so hohe Dampfspannungen anzuwenden wage, daß ein Unglück unausbleiblich sei. Nur mit Mühe gelang es Trevithicks Freunden, ein Einschreiten der Behörden zu verhüten.
Trevithick selbst war mit dem Erfolg seiner Lokomotive sehr zufrieden. Er beschloß, ganz nach Penydarran überzusiedeln und sich der weiteren Durchbildung des Dampfwagens für Schienengeleise zu widmen. Hätte er nun nicht wiederum Unglück gehabt, so wäre es ihm wahrscheinlich zwei Jahrzehnte vor Stephenson gelungen, den Grundstein für die Lokomotiveisenbahn zu legen. Aber es war nun einmal sein Schicksal, daß dem Sonnenschein stets sogleich finsteres Gewölk folgen mußte.
Trevithicks neue Lokomotive war gut, aber das Gleis war ihr nicht ebenbürtig. Nachdem die Maschine einige Zeit auf den gußeisernen Schienen gefahren war, begannen diese unter dem Gewicht des Fahrzeugs zu brechen. Das „Meaning Journal“ brachte, nach Steiner, damals die folgende Mitteilung eines Augenzeugen über Trevithicks Lokomotive: „Sie war bestimmt, Eisen von den Hochöfen nach der alten Schmiede zu bringen, und arbeitete sehr gut. Wahrscheinlich infolge ihres Gewichts zerbrach sie die Schienen unter sich und fiel zwischen die Schwellen. Nachdem sie einige Zeit auf dem Gleis gearbeitet hatte, sollte sie eine Ladung Eisen von Penydarran hinunterbringen. An diesem Tag aber brachen viele Schienen, und die Maschine lief, ehe sie das Ziel erreichte, aus dem Gleis. Sie mußte mit Pferden nach Penydarran zurückgebracht werden und wurde von da an nicht mehr als Lokomotive gebraucht.“ Nur fünf Monate lang war sie gefahren. Nun wurde sie zu einer ortsfesten Betriebsmaschine umgewandelt, als welche sie noch jahrzehntelang der Grube gedient hat.
Doch ganz hatte Trevithick trotzdem den Mut nicht verloren. Auf Anregung Blacketts, des Besitzers der Wylam-Gruben, der die Versuche in Penydarran gesehen hatte, baute er eine neue Lokomotive. Da aber der Schienenweg von Wylam nur aus hölzernen Balken bestand, so hat er vermutlich die Maschine, gewarnt durch seine Erfahrungen, möglichst leicht gemacht. Auf diese Weise aber konnte sie nichts Rechtes leisten, da ja die Zugkraft jeder Lokomotive von ihrem Gewicht und der daraus folgenden Stärke der Anhaftung auf den Schienen abhängig ist. Trevithick trug denn auch in Wylam keinen irgendwie nennenswerten Erfolg davon. Dennoch ist seine dortige Tätigkeit wichtig, denn die Kohlenbahn von Wylam ging an Georg Stephensons armseligem Geburtshaus in dem gleichnamigen Ort vorüber, und dieser dürfte so infolge Trevithicks Tätigkeit zum erstenmal eine Lokomotive gesehen haben. Auch zwei andere Männer, deren Arbeiten[32] für die Entwicklung des Dampfwagens auf den Schienen wichtig gewesen sind, Blenkinsop und Hedley, haben hier zweifellos Anregung erfahren.
Noch einmal versuchte Trevithick seine Erfindung durchzusetzen. Er wollte durch eine besondere Veranstaltung zeigen, wie vortrefflich der Dampfwagen zu fahren vermöge, wenn er auf Schienen gesetzt ist. Darum ging er 1808 noch einmal nach London und zwar mit einer neuen, wiederum verbesserten Lokomotive, der seine Schwester den stolzen Namen „Catch me who can“ („Fang’ mich, wer kann“) beigelegt hatte. In der Tat soll diese Lokomotive eine für die damalige Zeit ganz außerordentliche Geschwindigkeit erreicht haben, nämlich 30 Kilometer in der Stunde.
Die Maschine sollte in London keinem wirklichen Betrieb dienen, sondern sie war als ein Schaustück gedacht. Trevithick mietete in der Nähe des Euston Square einen weiten, unbebauten Platz, auf dem seltsamerweise später der Endbahnhof einer der bedeutendsten Eisenbahnstrecken Englands, der Nordwestbahn, errichtet wurde. Dort wurde eine kreisförmige Gleisbahn von 60 Metern Durchmesser angelegt und der ganze Platz mit einem hohen Zaun umgeben. Der Eintritt kostete einen Schilling, wofür man zugleich das Recht erwarb, in dem einen Wagen, den die Lokomotive hinter sich zog, mitzufahren. Aber hierzu hatten nur wenige den Mut. Überhaupt zog die Vorführung nicht so viel Zuschauer an, wie Trevithick erhofft hatte, und eines Tags, als die Lokomotive wieder einmal die Schienen zerbrochen hatte und ganz aus dem Gleis geraten war, sperrte er den Eingang zu, verkaufte die Maschine an einen Messerschmied und schloß damit auch seine Wirksamkeit für die Entwicklung der Lokomotive auf immer ab.
Nicht ohne Schmerz sieht man einen eifrig Strebenden hier in der Blüte seines Schaffens gebrochen. Aber Trevithick besaß eben nicht nur Kraft, sondern gleichzeitig einen allzu lebhaft umherschweifenden Geist. Er beschäftigte sich zur selben Zeit mit vielen Gegenständen, suchte Patente nach für Dampfkräne, Schwimmdocks, Wassersäulenmaschinen, Masten aus Eisenblech und vieles andere. So konnte das einzelne nicht zur vollen Reife gelangen.
Bald nachdem er der Lokomotive entsagt hatte, ließ Trevithick sich verlocken, eine Arbeit von außerordentlicher Größe in Angriff zu nehmen, für welche die damaligen technischen Mittel zweifellos noch nicht ausreichend waren. Er begann eine Untertunnelung der Themse. Aber mehrere Male brach das Wasser des Flusses in den Bau ein, und schließlich wurde dieser ganz überschwemmt. Nach fünfmonatlicher Arbeit mußte der Versuch aufgegeben werden. Erst ein Vierteljahrhundert später wurde der Rotherhithe-Tunnel unter der Themse durch Isambart Brunel fertiggestellt.
Von neuem brachte bald darauf ein Zufall Trevithick zu einer Stellung voll Ruhm und hohen Ehren.
In Peru begannen damals die Silber- und Goldbergwerke, ebenso wie einst die Kohlengruben in England, bei tieferem Absenken der Schächte unter dem eindringenden Wasser zu leiden. Gewöhnliche Wattsche Dampfmaschinen vermochten hier keine Abhilfe zu schaffen, da deren allzu schwere Teile nicht bis in die fast unzugänglichen Gebirgsgegenden gebracht werden konnten. Ein Schweizer, namens Charles Urville, wurde nach England gesandt, um sich dort umzusehen, ob es nicht irgendeine Maschinenbauart gäbe, die aus der Not zu retten vermöchte. Der Abgesandte war schon im Begriff, unverrichteter Sache wieder abzureisen, als er in dem Schaufenster eines Maschinenhändlers in London zufällig eine der kleinen, kräftigen Hochdruckmaschinen Trevithicks sah. Sofort bestellte er eine Anzahl von ihnen, und einige Zeit darauf erging aus Peru ein Ruf an[33] Trevithick, selbst dorthin zu kommen, um die Maschinen in Tätigkeit zu setzen. Als sein Schiff im Februar 1817 in Callao einlief, wurde er mit königlichen Ehren empfangen. Ein Einkommen von 100 000 Pfund Sterling jährlich wurde ihm zugesichert, und es sollte eine Bildsäule von ihm, als dem Retter des Lands, in Silber aufgerichtet werden.
Doch nur allzu rasch ward Trevithicks Lebenssonne abermals verfinstert. Ein Krieg brach aus, durch den die Spanier aus Peru vertrieben werden sollten. Trevithick, der den eindringenden Truppen Unterstützung geliehen hatte, geriet in die größte Gefahr, von den spanischen Soldaten, als sie die Bergwerksgegend besetzten, gefangengenommen und ermordet zu werden. Nur eilige Flucht konnte ihn retten. Kein anderer Weg blieb übrig, als sich zu Fuß durch das Innere Südamerikas nach Panama durchzuschlagen. Nur in Begleitung eines treuen Manns begann Trevithick das Wagnis, und es gelang ihm nach unendlichen Gefahren wirklich, den Hafen von Cartagena am Golf von Darien zu erreichen. Zwei silberne Sporen waren sein ganzer Besitz, als er dort eintraf.
Zur gleichen Zeit mit Trevithick langte ein anderer Engländer in Cartagena an. Es war Robert Stephenson, der Sohn Georgs, der mit nicht geringer Verwunderung in dem abenteuernden, von allen Mitteln entblößten Mann den viel verehrten Trevithick erkannte.
Sofort nahm der junge Stephenson sich seines Landsmanns an und ließ ihn auf seinem Schiff mitfahren. Doch als ob der Unglücksfälle noch nicht genug gewesen wären, scheiterte das Fahrzeug an der Südspitze von Florida; nur mit Mühe retteten die Reisenden das nackte Leben. Wie Trevithick das ihm bestimmte Schicksal beurteilte, zeigt am besten sein auf dieses Begebnis bezüglicher Ausspruch: „Wäre ich nicht an Bord[34] von Stephensons Schiff gewesen, wäre es nicht gescheitert, und wäre er nicht mit mir an Bord gewesen, so wäre ich ertrunken.“
Ende des Jahres 1827 war Trevithick wieder in England. Arm und elend kam er dort an: ein gebrochener Mann. Als das große Ereignis der Lokomotivwettfahrt zu Rainhill stattfand, war er noch am Leben. Doch zeigte er in keiner Weise mehr eine Teilnahme. 1833 starb Trevithick in einem kleinen Gasthof, und er wäre im Armensarg begraben worden, wenn nicht die Werkstattbesitzer und Arbeiter der Umgegend sich seines einst großen Namens erinnert und für ihn gesammelt hätten.
Das mißgünstige Schicksal, welches über Trevithicks Schaffen sein ganzes Leben hindurch geschwebt hatte, beeinträchtigte auch die Wirkung seiner Arbeiten auf die Zeitgenossen so sehr, daß sie bald gar nicht mehr beachtet wurden.
Die Vergessenheit, der die wichtige Wirkung des Blasrohrs schnell anheimfiel, wurde schon erwähnt. Aber viel schlimmer war, daß man auch bald von den Leistungen der Lokomotive auf glatten Schienen nichts mehr wußte. Schon wenige Jahre, nachdem Trevithick in London den Eingang zu seiner Rundbahn verschlossen hatte, glaubte man allgemein, daß die Anhaftung der Räder auf den Schienen allein nicht genüge, um die Lokomotive zum Ziehen schwerer Lasten zu befähigen.
Dieser sehr merkwürdige Rückschlag, welcher die Entwicklung der Eisenbahn jahrelang aufgehalten hat, ist vielleicht dadurch zu erklären, daß die letzten Lokomotiven Trevithicks aus Furcht vor der geringen Haltbarkeit der Schienen zu leicht gewesen waren, um einen genügenden Anhaftungsdruck auszuüben. So war es auch hier der unglückliche Mann wiederum selbst, der sein Lebenswerk beeinträchtigte.
Im Jahre 1811 baute Blenkinsop eine Bahn zwischen Leeds und Middleton, bei der er eine Zahnstange neben die Fahrschienen legte. Von den Kolbenstangen der beiden in den Kessel eingebauten Zylinder aus wurde durch zwei Schubstangen eine unter dem Kessel liegende Kurbelwelle gedreht, auf die ein großes Zahnrad gesetzt war. Dieses griff in die seitlich verlegte Zahnstange ein und zog so die Maschine vorwärts, während die anderen Räder nur zum Tragen dienten. Die Maschine ist lange Zeit in Betrieb gewesen.
Im folgenden Jahr führten die Brüder Chapman eine Anlage aus, bei der eine Kette zwischen die Schienen gelegt war. Sie wurde über eine Windetrommel an der Lokomotive geführt und bildete so eine Zugvorrichtung, wie sie noch heute in gleicher Weise bei der Kettenschiffahrt auf Binnenwasserstraßen angewendet wird.
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Ganz besonders seltsam war der Behelf, auf den Thomas Brunton verfiel. Seine Lokomotive besaß zwei lange, hinter dem Kessel angebrachte Hebelstangen mit Platten, die bis auf den Boden reichten. Durch mehrere Gelenke konnten diese Hebelstangen gerade so wie Beine bewegt werden, und sie hatten tatsächlich die Aufgabe, auf dem Boden zu schreiten und die Maschine auf diese Weise vorwärts zu drücken. Als „fußbewegende Maschine“ erlangte dieses seltsame Gebilde seinerzeit eine große Berühmtheit. Selbstverständlich konnte diese „Rückkehr zur Natur“ nicht von dauernder Wirkung sein.
Auch nach Deutschland griff die eigenartige Verirrung hinüber.
Man glaubt größtenteils, daß die erste Lokomotive, die in Deutschland gefahren ist, jene „Der Adler“ genannte Maschine gewesen sei, die im Jahre 1835 den ersten Eisenbahnzug von Nürnberg nach Fürth zog. Aber das ist ein Irrtum. Denn schon 1816 ist eine Lokomotive in Deutschland gelaufen. Sie war kein englisches, sondern ein deutsches Erzeugnis, ein Berliner Kind. Von ihrer englischen Kameradin, die 22 Jahre lang in Betrieb war, unterschied sie sich freilich in beträchtlichem Maß dadurch, daß sie niemals einen Zug in Bewegung gesetzt hat. Bald nach den ersten Versuchen mit Dampflokomotiven auf Eisenbahngeleisen, die sehr lebhaftes Aufsehen erregten, sandte die preußische Bergbauverwaltung zwei Beamte, Eckardt und den Inspektor der Berliner Eisengießerei Friedrich Krigar nach England, wo sie die Anwendung der Dampfkraft für den Verkehr sich anschauen sollten. Sie führten ihren Auftrag so gründlich aus, daß Krigar[36] nach seiner Rückkehr mit dem Bau einer Lokomotive beauftragt werden konnte, die auf der Königshütte in Oberschlesien zum Kohlenschleppen verwendet werden sollte.
Anfang Juni 1816 war das technische Wundertier fertig und begann in Berlin Probe- und Schaufahrten. Nach Angabe von Feldhaus meldeten die „Berliner Nachrichten“ vom 16. Juni, daß der „Dampfwagen“ täglich vormittags von 9 bis 12 Uhr und nachmittags von 3 bis 8 Uhr gegen Eintrittsgeld von vier Groschen vorgeführt würde. Am 9. Juli berichtete die „Vossische Zeitung“: „In der Eisengießerei ist auch seit einiger Zeit der neu erfundene Dampfwagen zu sehen, der sich in eigenem Geleise ohne Pferde und mit eigener Kraft dergestalt fortbewegt, daß er eine angehängte Last von 50 Zentnern zu ziehen imstande ist.“ Die Fahrten geschahen hier auf einer Rundbahn, und man kann sich wohl denken, welch ein Erstaunen das fauchende und feuerspeiende Gebilde bei den Berlinern hervorgerufen hat.
Es waren die einzigen glorreichen Tage dieser ersten deutschen Lokomotive. Denn als sie in Schlesien anlangte, stellte sich heraus, daß die Spurweite der Räder nicht zu den Geleisen in der Königshütte paßte. Man konnte die Maschine also nicht in Betrieb nehmen. Alsbald ist sie verschollen. Niemals konnte festgestellt werden, ob sie vielleicht irgendwo in einem rußigen Winkel als ortsfeste Maschine ein trübseliges Dasein gefristet hat.
Infolge des eigenen Unsterns, der über dieser Lokomotive schwebte, wäre uns auch beinahe jede Kunde über ihre äußere Gestalt verloren gegangen. Denn in dem politisch so[37] unruhigen Jahr 1848 machten die Arbeiter einen Angriff auf die Königliche Eisengießerei. Ein Teil der Gebäude ging in Flammen auf, und dabei verbrannten fast alle Zeichnungen zu der denkwürdigen Lokomotive. Was erhalten blieb, würde ganz ungenügend sein, um uns ein Bild von der Maschine zu geben, wenn nicht die Eisengießerei die schöne Sitte gehabt hätte, am Neujahrstag höchst eigenartige und sehr haltbare Glückwunschkarten auszugeben. Diese waren aus Eisen sehr sauber gegossen und zeigten in erhabener Arbeit die Bilder der wichtigsten Erzeugnisse aus dem abgelaufenen Jahr. Auf der Gußkarte von 1816 hat ganz links unten unsere kurzlebige Lokomotive eine dauerhafte Wiedergabe gefunden. Man sieht deutlich das zwischen den Laufrädern angebrachte Zahnrad. Die Ähnlichkeit mit Blenkinsops Maschine ist sehr groß.
In England aber begann man schon im Jahre 1813 zur glatten Schiene zurückzukehren. Hedley hatte sich durch eigene Versuche von neuem von der genügenden Kraft der Anhaftung überzeugt. Seine Lokomotive „Puffing Billy“, die im gleichen Jahr in Betrieb kam, ist wieder frei von allem ziehenden oder schiebenden Beiwerk. Trotz der höchst verwickelten Antriebseinrichtung, die sie mit ihren Balanziers und Zahnradvorgelegen besitzt, bedeutet sie doch einen wichtigen Fortschritt in der Entwicklung der Eisenbahn. Auch sie besaß ein im Kessel hin und zurück gehendes Flammrohr; es liegen also auch bei ihr Schornstein und Feuerung auf derselben Seite. Die Maschine ist bis zum Jahre 1862 in Betrieb gewesen und wurde dann im Kensington-Museum in London aufgestellt, wo sie heute noch zu sehen ist.
1906 ließ der Verein deutscher Eisenbahnverwaltungen in der Zentralwerkstätte der bayerischen Staatseisenbahnen eine Nachbildung des „Puffing Billy“ anfertigen, um diese dem „Deutschen Museum von Meisterwerken der Naturwissenschaft und Technik“ in München zum Geschenk zu machen. Bevor die Lokomotive im Museum aufgestellt wurde, ist sie geheizt und auf einer Strecke ausgeprobt worden. Sie hat damals die über Hedleys ursprüngliche Maschine berichteten Leistungen tatsächlich vollbracht.
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Als alle diese bald fördernden, bald zurückhaltenden Begebnisse sich zutrugen, war schon längst der Mann am Leben, der mit gewaltiger Hand das Schaffen so vieler Geister zusammenfassen, das mit so vieler Mühe errichtete Gebäude endlich unter Dach bringen sollte.
Viele kleine und größere Sterne hatten bereits am Himmel der Schienenwelt geleuchtet. Aber erst mit Georg Stephenson geht die Sonne im Eisenbahnland auf.
Als die Großtat Stephensons wird zwar im allgemeinen der Bau einer bestimmten, hervorragend wirkungskräftigen Lokomotive bezeichnet. Aber diese Leistung umfaßt doch bei weitem nicht seine gesamte Wirksamkeit. Georg Stephenson war viel mehr als ein tüchtiger Lokomotivbauer — er ist der erste wirkliche Eisenbahningenieur.
Vor seinem geistigen Auge entstand zum erstenmal das Bild des Eisenbahnverkehrs in seiner Gesamtheit. Er sah zu einer Zeit, als alle anderen nur ein Herumstümpern auf den Schienen wahrnahmen, die Millionen rollender Räder auf dem Eisenpfad, die Rauchfahnen der Lokomotiven durch alle Länder ziehen, die rumpelnden Kutschen und Frachtwagen von einem neuen Verkehrsmittel endgültig abgelöst. Es ist das keine bloße Annahme; Stephenson selbst hat dieses treffende Vorausschauen selbst in einer Rede bestätigt, die er zu einer Zeit hielt, als noch nicht einmal der erste Fahrgast von einem Lokomotivzug über ein Gleis gezogen worden war.
Dieser große, umfassende Geist begnügte sich nicht mit dem Bau von Lokomotiven. Er beschäftigte sich auch mit der Ausbildung der Geleise, er erkannte die Notwendigkeit der ebenen Bahnstrecke und brachte die zögernden Zeitgenossen durch die Kraft seiner Persönlichkeit zum erstenmal dazu, mit gewaltigen Kosten einen großen, neigungslosen Schienenweg über Fluß und Moor hinweg, über Täler und durch Hügel hindurch anzulegen. Er bemühte sich, die physikalischen Gesetze, die im Eisenbahnbetrieb zur Anwendung kommen, zu durchforschen und ist so zum Begründer auch der Wissenschaft von der Eisenbahn geworden; durch ihn ist die Eisenbahnkunde für immer aus dem Urzustand herausgehoben worden, in dem sie nur von der rohen Erfahrung lernte.
Georg Stephenson wurde am 9. Juni 1781 zu Wylam bei Newcastle am Tyne in dem englischen Landesteil Northumberland geboren. Er wuchs inmitten dieser Kohlenkammer Nordenglands auf. Seine Umgebung bestand fast ausschließlich aus Arbeitern, die in den benachbarten Gruben beschäftigt waren. Der Vater Robert, genannt „der alte Bob“, war Heizer an der Pumpeinrichtung des Bergwerks zu Wylam. Er ist sein Leben lang über diese Stellung nicht hinausgekommen. Der kleine Georg hatte noch fünf Geschwister, und es fiel dem Vater äußerst schwer, nur den nackten Unterhalt für die vielköpfige Familie zu verdienen. Daher konnte er nicht daran denken, seine Kinder in die Schule zu schicken, und so kam es, daß der weltberühmte Erfinder noch als Jüngling weder lesen noch schreiben konnte.
Mit dem Verkehr kam der junge Stephenson schon früh in Berührung. Sein Geburtshaus, genannt das „Haus an der Landstraße“, lag an dem alten Postweg zwischen Newcastle und Hexham, der von Kutschen und Reitern lebhaft benutzt wurde. Auch die schon erwähnte Kohlenbahn, für die Trevithick eine Lokomotive gebaut hatte, führte in nächster Nähe vorüber. Als Georg mit acht Jahren als erste Aufgabe seines Lebens die[39] Pflicht übernahm, die Herde einer Witwe zu hüten, war es seine Hauptaufgabe, die Kühe von dem Betreten der Geleise abzuhalten. Man zahlte ihm für diese Tätigkeit 18 Pfennig täglich.
Später verrichtete der Knabe als Kohlenausleser die niedersten Dienste auf der Wylamer Grube. Der Vater gesellte ihn sich dann als Hilfsheizer bei.
Wie Trevithick fühlte auch Stephenson sich schon in ganz jungen Jahren von den Maschinen lebhaft angezogen. Die Herstellung kleiner Modelle aus Lehm und Schilfrohr war sein liebstes Spiel, das Winken der eisernen Balanzier-Arme, das Zischen des Dampfs in den großen Maschinen lockte ihn unwiderstehlich zu bewundernder Betrachtung.
Durch mancherlei Hilfsleistungen, mit denen er den Wärtern beigesprungen war, gelang es ihm denn auch, mit 17 Jahren von dem niedrigen Kesseldienst fortzukommen und zum Maschinenburschen aufzusteigen. Als solcher hatte er die Pflicht, die Maschinen zu beaufsichtigen und rasch einen Ingenieur herbeizurufen, wenn etwas daran nicht in Ordnung war. Der junge Bursche nahm sofort jede Gelegenheit wahr, die Maschinen genau kennenzulernen, er überlegte sich, was notwendig wäre, um sie in regelmäßigem Lauf zu erhalten. Bald konnte er selbst beispringen, wenn irgend etwas auszubessern war, so daß man ihm erlaubte, solche Arbeiten auszuführen, ohne daß einer der leitenden Männer zugegen war.
Seine Hauptbeschäftigung aber war, am Schacht zu Water-Row den großen Aufzug zu bewachen und zu bedienen. Da die Kohlengefäße nur in größeren Abständen hinauf- und hinabgingen, so hatte Stephenson hier viele längere Ruhepausen. Er benutzte sie, um den Arbeitern die Schuhe auszuflicken und fertigte fleißig auch mancherlei Näharbeit an. Das Geld, das er auf diese Weise verdiente, setzte ihn in den Stand, eine Abendschule zu besuchen, wo er sich nun notdürftig die ersten Kenntnisse im Lesen und Schreiben verschaffte. Wie stolz war er, als er mit 19 Jahren seinen Namen schreiben konnte. Er kaufte jetzt ein paar Bücher und begann, sich ein wenig Bildung anzueignen.
Trotz seiner ärmlichen Verhältnisse, und weil er damals wohl glaubte, daß es ihm niemals sehr viel besser gehen würde, ging Stephenson bereits 1802 an die Gründung eines Hausstands. Er heiratete ein Dienstmädchen aus einem benachbarten Bauerndorf, Fanny Henderson mit Namen. Im folgenden Jahr wurde dem Paar ein Sohn geboren, der einer der größten Ingenieure Englands werden sollte. Robert Stephenson hat an dem großen Eisenbahnwerk seines Vaters mitgeschafft, es fortgesetzt und hat neben[40] vielen anderen sehr bedeutenden Leistungen die für die damalige Zeit großartigsten und kühnsten Brückenbauten geschaffen.
Der Vater tat alles, um seinen Sohn Robert vor den Kümmernissen zu bewahren, die er selbst infolge seiner mangelnden Schulbildung hatte durchmachen müssen. Schon nach zweijähriger Ehe starb ihm die Gattin, und er zog nun nach Killingworth, wo er als einfacher Maschinenwärter Dienste nahm. Aber hier sollte endlich ein wenig Helligkeit in sein trübes Dasein kommen.
Auf der Grube war eine sehr große Pumpmaschine aufgestellt worden, die aber, als sie fertig war, die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllte. Es war unmöglich, sie in regelmäßigen Gang zu bringen. Zahlreiche Ingenieure hatten sich vergeblich darum bemüht. Da erbot der einfache Maschinenwärter Stephenson sich dazu, die Pumpe herzurichten. Man vertraute ihm das Werk an, weil man der Meinung war, daß an der Maschine doch nichts mehr zu verderben sei. Aber siehe da, schon nach vier Tagen lief die Pumpe wirklich, und da sie dauernd in Betrieb blieb, war den Grubenbesitzern eine große, bereits verloren gegebene Summe erhalten geblieben. Kein Wunder, daß sie den Retter in der Not reich belohnten und ihn zum Maschinenmeister aufsteigen ließen.
Stephenson erhielt nun häufig Aufträge zur Instandsetzung von Pumpwerken, und so war er bald in der Lage, seinen Sohn Robert fortab auf eine höhere Schule zu schicken. Rasch hatte dieser den Bezirk erreicht, bis zu dem das Wissen seines Vaters reichte. Es ist rührend, sich vorzustellen, wie nun Vater und Sohn allabendlich zusammensaßen, um gemeinschaftlich zu lernen und in gleicher Weise sich fortzubilden. Robert hat später die Universität in Edinburgh besucht, während der Vater immer sein eigener Lehrer geblieben ist.
Jene Rettungsarbeit an der widerspenstigen Pumpe ist als ein Wendepunkt im Leben des späteren großen Eisenbahnbauers zu bezeichnen. Der Vorgang ist zugleich ein treffender Beweis für die innere Unwahrheit der so häufig aufgestellten Behauptung, daß der Mensch, um etwas zu leisten, nicht nur Begabung, sondern auch Glück nötig habe. Dem ist nicht so. Das Glück hilft nicht der genialen Begabung, sondern diese zwingt das Glück herbei. Gewiß war es ein „Zufall“, daß die Ingenieure in Killingworth die große Pumpe nicht in Ordnung zu bringen vermochten. Aber wer vermöchte im Ernst zu bezweifeln, daß die reichen in Stephenson schlummernden Kräfte ihm auch bei vielen anderen Gelegenheiten die Möglichkeit gegeben hätten, sein Können zu offenbaren. Ein anderer jedoch als ein so Hochbegabter hätte jenen „Zufall“ nicht zu nutzen vermocht, für ihn wäre er gar kein Glücksfall gewesen, weil er nicht verstanden hätte, das rasch vorüberrollende Glück am Rockzipfel zu fassen. Es gilt nun einmal für alle solche Fälle das tiefe Wort des Mephistopheles:
Bei der Grube von Killingworth stieg Stephenson bald zur Stellung eines Ingenieurs auf. Seiner ganzen Veranlagung nach begnügte er sich, sobald er auf die Verhältnisse Einfluß zu nehmen vermochte, nicht mit dem Vorhandenen. Er sah, daß es notwendig sei, die Verkehrsverhältnisse in dem Grubenbezirk zu verbessern. Hierfür schien ihm das[41] beste Mittel, die Pferde, welche die Kohlenzüge mühsam schleppten, durch Lokomotiven zu ersetzen. Nun lagen damals die Zeitverhältnisse noch nicht so, daß man irgendwo Lokomotiven bestellen konnte. Überall wurden erst Versuche gemacht, und niemand genoß ein so großes Vertrauen, daß man ihm ein solches Erzeugnis gern in Auftrag gegeben hätte. So war Stephenson gezwungen, für die Kohlenförderung auf der Grube von Killingworth selbst eine Lokomotive herzustellen, die erste, die er geschaffen.
Der künftige Vater des Eisenbahnwesens war 33 Jahre alt, als er jetzt zum erstenmal mit dem Gegenstand in Berührung kam, dem seine Lebensarbeit gehören sollte.
Eine eigenartige Schwierigkeit, die nicht technischer Natur war, stellte sich ihm bei diesem Vorhaben entgegen. Die eigentlichen Schlosser und Mechaniker weigerten sich, nach seiner Anordnung zu arbeiten. Sie wollten nicht unter dem früheren Kuhhirten und Schuhflicker stehen. So mußte er die Maschine durch Huf- und Grobschmiede zusammenbauen lassen, und es ist deshalb um so erstaunlicher, daß ihm überhaupt ein Dampfwagen gelang, der zu fahren vermochte. Das hierzu nötige Geld gab ihm Lord Ravensworth, der Hauptbesitzer der Grube.
Zu gleicher Zeit mit Hedley kehrte Stephenson in weiser Erkenntnis der Tatsachen zur glatten Schiene zurück, die nun zum Glück für die Entwicklung des Eisenbahnwesens nicht mehr verlassen wurde. Am 25. Juli 1814 machte die Lokomotive „Mylord“ ihre erste Fahrt. Sie wurde im folgenden Jahr von den Arbeitern, die damals von dem eben über die Franzosen bei Waterloo errungenen Sieg sehr begeistert waren, in „Blücher“ umgetauft.
Dieser „Mylord“ oder „Blücher“ war kein Meisterwerk. An dem recht minderwertig gearbeiteten Kessel waren sämtliche Ausrüstungsteile befestigt. Nirgends war eine Federung angebracht, so daß durch die heftigen Stöße beim Fahren leicht Brüche eintraten. Im Kessel wurden die heißen Feuergase sehr schlecht ausgenutzt, da nur ein einfaches Flammrohr vorhanden war, das von der Feuerung am Hinterende zum vorn angebrachten Schornstein hindurchging. Dies bedeutete einen Rückschritt, da schon vorher von vielen anderen Lokomotivbauern das rückkehrende Flammrohr angewendet worden war.
Die Maschine machte beim Fahren ein furchtbares Geräusch, so daß alle schreckerfüllt davonliefen, wenn das Ungeheuer herankam. Es stellte sich auch heraus, daß die Schnelligkeit der Lokomotive vor dem Kohlenzug nicht größer war als die von Pferden und daß sie auch keine Verringerung der Kosten brachte. Dabei erschien sie durch die angewendete Kesselspannung, die für die damalige Zeit hoch erschien, weit gefährlicher, denn Pferde können ja bekanntlich nicht zerbersten.
Stephenson erkannte, daß die schlechte Wirkung der Lokomotive in der Hauptsache dadurch entstand, daß die Heizfläche zu klein war, also nicht genügend Dampf erzeugt werden konnte. Um das Feuer lebhafter anzufachen, griff er nun eine Erfindung auf, die Trevithick bereits gemacht hatte. Er baute in seine Lokomotive ein Blasrohr ein. Der Lebensschilderer unseres Erfinders, Smiles, behauptet, daß hier die erste Anwendung des Blasrohrs unter voller Erkenntnis seiner Wirksamkeit vorläge. Trevithick habe sich noch zwei Jahre später eine besondere, außerhalb der Maschine liegende Vorrichtung patentieren lassen, um das Feuer seiner Lokomotive anzublasen. Wenn dies richtig ist, käme Stephenson also auch das Verdienst zu, das Blasrohr in den Lokomotivbau endgültig eingeführt zu haben. Wahrscheinlich gebührt die Ehre, diese Erfindung unter voller Erkenntnis ihrer Wirkung gemacht zu haben, aber doch Trevithick.
Die Wirkung des zugefügten Bauteils war sogleich sehr bedeutend. Dadurch, daß der[42] mit großer Heftigkeit aus den Zylindern strömende Abdampf durch den engen Schornstein strich, riß er so viel Frischluft durch die Kesselfeuerung, daß diese sehr viel lebhafter brannte als vorher. Die Dampferzeugung war viel stärker, und die Kraft der Maschine verdoppelte sich.
Eine weitere Verbesserung, die Stephenson anbrachte, sollte die starken Stöße auf den Kessel mildern. Er befestigte an dem Rahmen der Maschine vier senkrechte Stangen, die oben Kolben trugen. Sie tauchten in vier Zylinder ein, denen aus dem Kessel Dampf zugeführt wurde; dieser sollte als Stoßdämpfer dienen. Die Bauform war recht verfehlt. Ein Abbremsen der Stöße trat kaum ein, aber die Dampfpuffer sind doch weiter benutzt worden, bis die sehr viel besser wirkenden stählernen Blattfedern erfunden waren.
Trotz all dieser Maßnahmen konnte aber die grundsätzliche Feindschaft gegen die Lokomotive immer noch nicht besiegt werden. Die Wirksamkeit der Maschine war in der Hauptsache beschränkt durch die Minderwertigkeit der gußeisernen Geleise. Stephenson blieb dieser Zusammenhang nicht verborgen; er erklärte schon damals, Schiene und Rad gehörten zusammen „wie Mann und Weib“. Deshalb beschäftigte er sich lebhaft mit der Verbesserung der Geleise, schuf günstigere Schienenformen und erfand kräftigere Verbindungen der Schienenstücke miteinander. Die gußeisernen Räder seiner Lokomotive ersetzte er durch schmiedeiserne, wodurch die Räder zugleich leichter und dauerhafter wurden.
Sein gedanklich immer tieferes Eindringen in das Wesen des Dampfeisenbahnbetriebs veranlaßte Stephenson im Jahre 1818, gemeinschaftlich mit Wood Untersuchungen über den Zusammenhang von Reibung und Schwere vorzunehmen, der ja für den Lokomotivbetrieb auf glatten Schienen von höchster Wichtigkeit ist. Er bestimmte die Größe des Widerstands, den Wagen auf Schienen erfahren, erkannte hierbei den Wert der ebenen Gleisführung und die ungünstige Einwirkung, den jede stärkere Steigung sofort auf die Zugkraft der Lokomotive ausübt. Diese Untersuchungen sind grundlegend für den gesamten Eisenbahnbau geblieben. Fortab verfocht Stephenson mit zähester Beharrlichkeit den Grundsatz, daß für Eisenbahnbauten aufgewendetes Geld niemals besser angelegt werden könne, als wenn man es zur Herstellung ebener Geleise verwendete.
In jene Zeit fällt auch eine sehr wichtige Erfindung Stephensons, die mit dem Eisenbahnwesen nichts zu tun hat, aber die Sinnesart dieses in jeder Beziehung großen Manns deutlich erkennen läßt. Als er noch Bremser am Schachtaufzug war, geschah im Jahre 1806 in der Grube, die er zu bedienen hatte, ein schweres Unglück infolge der Entzündung schlagender Wetter durch die unzweckmäßigen Lampen der Arbeiter. Zehn Bergleute wurden hierbei getötet. Drei Jahre darauf ereignete sich ein neues Unglück aus gleichen Ursachen, das zwölf Opfer forderte, und im Jahre 1812 ließ eine Entzündung schlagender Wetter in einem benachbarten Bergwerk gar neunzig Männer und Knaben durch Ersticken und Verbrennen umkommen. Stephensons Herz, das immer für die Not der Menschheit warm geschlagen hat, wurde durch diese Begebnisse schwer bedrückt. Er nahm sich vor, für die Bergleute eine Lampe zu schaffen, die nicht wie die bisherigen eine offen brennende Flamme haben sollte. Ohne alle wissenschaftliche Kenntnisse kam er auf denselben Gedanken, den fast zu gleicher Zeit der berühmte Chemiker Humphrey Davy seiner Sicherheitslampe für Bergleute zugrunde legte.
Unter häufiger Einsetzung seines Lebens machte Stephenson viele Versuche in Bergwerken voll gefährlicher Gase, bis er wirklich eine Bauform für die Lampe gefunden hatte, die volle Sicherheit gegen Entzündung schlagender Wetter bot. Es erhob sich ein Streit zwischen ihm und Davy um das Erstrecht an der Erfindung. Der berühmte[43] Gelehrte, der sich auch später gegenüber dem neu aufkommenden Ruhm Faradays recht wenig edel benommen hat, ging sehr scharf gegen Stephenson vor. Er behauptete, daß dieser ihm die Erfindung gestohlen habe. Tatsächlich muß der Ruhm, den Bergleuten die so außerordentlich wichtige Sicherheitslampe geschenkt zu haben, heute beiden Männern zugesprochen werden. Durch eine von den Bergwerkbesitzern in Northumberland veranstaltete Sammlung erhielt Stephenson damals 20 000 Mark ausgezahlt.
In langsamem, geduldigem Ausbau wurden indessen die zu Killingworth in immer größerer Zahl arbeitenden Lokomotiven weiter entwickelt. Es hieß, vielen Schwierigkeiten gegenüber das neue Zugmittel durchzusetzen, aber Stephenson war doch allmählich so weit gekommen, daß an einen Ersatz der Dampfwagen durch Pferde nicht mehr gedacht wurde. Die Lokomotiven hatten sich bewährt, seit Jahren zogen sie in regelmäßiger Arbeit die schwersten Lasten, und ihr Betrieb war auch schon billiger geworden als der mit lebenden Zugkräften.
Merkwürdigerweise fanden diese so überaus wichtigen Vorgänge, die sich in Killingworth vollzogen, an keiner anderen Stelle irgendeine Beachtung. Die Grube war sehr abgelegen, keine der an der Entwicklung des Verkehrslebens beteiligten Persönlichkeiten kam dorthin. In der gleichen Zeit, als die englische Regierung Macadam für seine Erfindungen auf dem Gebiet des Landstraßenbaus reiche Unterstützungen bis zur Höhe von 40 000 Pfund Sterling zukommen ließ, blieb Stephenson ohne jede Hilfe. Auch für die Kunst des Eisenbahnbaus treffen Schillers Worte über die deutsche Kunst zu:
Selbst erschuf Stephenson ihr den Wert.
Erst sechs Jahre nach dem Beginn der Arbeiten in Killingworth bot sich ihm wieder eine Gelegenheit zur Einrichtung einer Lokomotiveisenbahn. Die Besitzer der Grube von Hetton in der Grafschaft Durham beriefen, als ihnen die Anlage einer solchen wünschenswert erschien, zu Ingenieuren Georg Stephenson und seinen Sohn Robert, der damals mit 17 Jahren seine Ausbildung auf der Universität zu Edinburgh beendet hatte.
Alle Schienengeleise, die bis jetzt benutzt worden waren, hatten sich den Wellenbewegungen des Geländes anpassen müssen. Es war noch nicht lohnend erschienen, durch Kunstbauten ebene Strecken herzustellen. Auch die Linie, welche die beiden Stephensons zu Hetton schufen, war noch keine solche, wie sie heutigen Anschauungen entspricht. Streckenweise wurde zwar die Bahn eingeebnet, dann aber waren wieder so starke Steigungen eingeschaltet, daß keine von den fünf Lokomotiven, die für die Hettoner Grube hergestellt wurden, imstande war, einen Zug hinaufzuziehen. Es mußten vielmehr an fünf Stellen Seilaufzüge vorgesehen werden, so daß die Bahn teilweise durch fahrende, teilweise durch ortsfeste Dampfmaschinen bedient wurde, ein Zustand, der uns heute fremdartig genug erscheint. Wenn der Zug auf der ebenen Strecke am Fuß der Steigung angekommen war, wurde die Lokomotive abgekuppelt, das auf dem Rücken des Hügels über eine Trommel gelegte Seil angeschlossen und der Zug so hinaufgeschafft. Beim Hinabrollen auf der anderen Seite pflegten gewöhnlich die beladenen Wagen leere Wagen hinaufzuziehen, indem das Seil, welches die beiden auf zweigleisiger Bahn fahrenden Züge verband, oben über die vom Antrieb losgekuppelte Seilscheibe geführt wurde.
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Bei dieser eigenartigen Anordnung war Gelegenheit, das Arbeiten der fahrenden und der ortsfesten Maschinen auf Eisenbahnstrecken zu vergleichen. Dies war besonders wichtig darum, weil zu jener Zeit vielfach der Plan gehegt wurde, Züge auf Geleisen ganz durch Seilzug zu befördern. Ja mehrere Strecken mit Anlagen solcher Art sind zur Ausführung gelangt. In Hetton zeigte es sich, daß die Lokomotiven vorteilhafter arbeiteten als die festen Maschinen, was sehr dazu beitrug, den Gedanken der Lokomotiveisenbahn zu fördern.
Seltsamerweise ist man in unseren Tagen zu der genau entgegengesetzten Anschauung gekommen. Ein Hauptantrieb für die Einrichtung elektrischer Fernbahnstrecken ist der Umstand, daß auf so betriebenen Linien nicht mehr viele hundert Feuer unter den einzelnen Lokomotivkesseln zu brennen brauchen, sondern ein einziges großes Feuer in dem Kraftwerk genügt. Die dort aufgestellten gewaltigen ortsfesten Maschinen vermögen die Krafteinheit billiger zu liefern als die Lokomotiven. Freilich kann dies nur unter Ausnutzung minderwertigen Brennstoffs, wie aschereicher Braunkohle, geschehen, die für Lokomotivfeuerung nicht zu verwenden ist.
Im Jahre 1821 genehmigte die englische Volksvertretung die Anlage eines Schienengleises in dem bedeutenden Kohlenbezirk des nördlichen Englands, dessen Mittelpunkt die Stadt Darlington ist. Es war bestimmt, die großen in dem Bishop Auckland-Tal oberhalb Darlington gewonnenen Kohlenmengen dem Verladeplatz Stockton in der Nähe der Mündung des Teesflusses in die Nordsee zuzuführen. Dies war die erste Bahn, die wirklich fern voneinander liegende Orte verbinden sollte. Trotzdem dürften die Mitglieder des Unterhauses, als sie jene Genehmigung erteilten, keineswegs geahnt haben, daß sie damit den Grundstein für eine unabsehbare Entwicklung legten. Denn wenn man die etwas später gebaute Bahn von Manchester nach Liverpool als die Wurzel der Eisenbahn bezeichnet, so darf die Strecke Stockton-Darlington wohl das Samenkorn genannt werden.
Zur Beförderung der Züge waren auch hier Pferde in Aussicht genommen. Bevor jedoch der Bahnbau begann, erschien vor dem Leiter der Gesellschaft, Pease, ein bescheidener Mann, der sich erbot, Lokomotiven zur Herbeiführung eines weit vorteilhafteren Betriebs herzustellen. Da Pease von dem Wirken Stephensons in Hetton bereits gehört hatte, faßte er Vertrauen zu ihm. „Stephenson sah,“ so erzählte Pease später, „so ehrlich,[45] so verständig und zugleich so bescheiden aus. Er sprach die stark northumbrische Mundart seiner Gegend und erklärte bloß, daß er der Maschinenmacher von Killingworth sei.“ Zum großen Erstaunen des Bahnleiters behauptete Stephenson, daß eine Lokomotive ebensoviel zu leisten vermöge wie 50 Pferde. „Kommen Sie einmal nach Killingworth,“ setzte er hinzu, „und überzeugen Sie sich von den Leistungen meines ‚Blücher‘. Was das Auge sieht, das glaubt das Herz, Herr.“
Pease ging wirklich nach Killingworth, sah dort Stephensons Schaffen, und dieser wurde alsbald zum Leiter des Baus der Linie zwischen Stockton und Darlington berufen. Er schlug sofort eine bessere Führung der Strecke vor, wodurch diese um 41⁄2 Kilometer kürzer wurde. Zur Anlegung einer durchgehenden Ebene entschloß man sich aber auch hier noch nicht. Es blieb vielmehr eine sehr erhebliche Steigung unmittelbar vor Stockton bestehen, die von Lokomotiven nicht befahren werden konnte. Hier mußte also wieder Seilzug durch eine feststehende Dampfmaschine angewendet werden.
Da geeignete Werkstätten nicht vorhanden waren, bewog Stephenson, der noch einen beträchtlichen Teil der für die Sicherheitslampe erhaltenen Summe zur Verfügung hatte, Pease, mit ihm zusammen eine Lokomotivfabrik zu gründen. Der Leiter der Stockton-Darlington-Bahn ging hierauf ein und gab zu der Gründung gleichfalls einiges Geld her. So entstand die erste Lokomotivfabrik auf der Erde. Sie wurde bei Newcastle am Tyne angesiedelt und entwickelte sich zu einem gewaltigen Unternehmen, das für die Lokomotiverzeugung schließlich dasselbe bedeutete, wie die Fabrik von Watt & Boulton in Soho für die Herstellung der ortsfesten Dampfmaschinen. Auch die Lokomotiven für die ersten deutschen Bahnen sind aus Newcastle bezogen worden.
Zunächst wurden drei Lokomotiven gebaut. Eine von diesen war die berühmt gewordene und bis heute erhaltene „Locomotion“, eine immer noch recht schwerfällige Maschine mit stehenden, in den Kessel hineingebauten Zylindern und schwieriger Übertragungseinrichtung durch lange Schubstangen. Aber hier wendete Stephenson zum erstenmal einen neuen Bauteil an, der bis heute unverändert im Eisenbahnbetrieb gebraucht wird. Es waren nämlich an der „Locomotion“ die beiden Räder auf jeder Seite durch[46] je eine Kuppelstange miteinander verbunden. Damit war Trevithicks erste Achskupplung mittels Zahnrädern durch eine wirklich brauchbare Anordnung ersetzt. Ohne Kuppelstange ist die heutige Lokomotive nicht denkbar.
Am 27. September 1825 beförderte die Lokomotive „Active“ zum erstenmal einen Zug über die Strecke. Er mußte zunächst von der ortsfesten Maschine auf den Hügel hinaufgezogen und auf der anderen Seite wieder hinuntergelassen werden. Dann erst legte sich die Lokomotive davor. Trotzdem ist der Eröffnungstag der Linie Stockton-Darlington für die Kulturgeschichte von höchster Wichtigkeit. Denn in die Wagen des Zugs waren nicht nur Güter geladen, sondern es befanden sich auch Menschen darin. Die Strecke Stockton-Darlington ist die erste, wenn auch noch recht unbedeutende Eisenbahnlinie, die für den öffentlichen Verkehr freigegeben war und auch Personen befördern durfte.
Der erste Zug bestand aus 12 mit Kohle und Mehl beladenen Güterwagen, einem Wagen für den Vorstand der Eisenbahngesellschaft und 21 mit Sitzen ausgestatteten Fahrzeugen für die Gäste. Diese Wagen sahen seltsam genug aus. Denn man hatte, soweit nicht die Kohlenkarren auch zur Menschenbeförderung benutzt wurden, einfach die Kutschaufbauten von Postwagen heruntergenommen und sie auf Untergestelle gesetzt, die für die Eisenbahn einigermaßen geeignet waren. Im ganzen waren also an die Lokomotive 34 Wagen gehängt, in denen sich 450 Personen befanden.
Eine ungeheure Menschenmenge hatte sich eingefunden, um die erste Fahrt mit anzusehen. Viele waren gekommen, weil sie fühlten, daß hier ein wichtiges Ereignis vor sich ginge, manche hatte aber auch die Hoffnung hingeführt, die „Reisemaschine“, wie man damals die Lokomotive nannte, in die Luft fliegen zu sehen. Eine Zeitung berichtete über das außerordentliche Ereignis in folgender Weise:
„Nachdem das Signal gegeben war, setzte sich die Maschine samt dem ungeheuren Wagenzug in Bewegung. Die Geschwindigkeit war so groß, daß stellenweise zwölf Meilen (die englische Meile ist gleich 1,6 Kilometern) in der Stunde zurückgelegt wurden. Die Last betrug, da die Anzahl der mitfahrenden Personen sich auf 450 belief, mit Einrechnung der Wagen, Kohlen und anderen beförderten Waren, nahezu 90 Tonnen. Mit dieser ihrer Last langte die Maschine nach 65 Minuten in Darlington an.
„Jetzt wurden die sechs mit Kohlen beladenen Wagen zurückgelassen, da sie für Darlington bestimmt waren. Nachdem man neuen Wasservorrat ein- und eine Anzahl Reisender, sowie eine Musikkapelle aufgenommen hatte, setzte sich die Maschine abermals in Bewegung und erreichte das zwölf Meilen entfernte Stockton in drei Stunden und sieben Minuten, wobei die Zeit mit eingerechnet ist, die man unterwegs zu Aufenthalten brauchte. In dem Augenblick als der Zug Stockton erreichte, beförderte er 600 Personen. So viele saßen in den Wagen oder hatten sich daran angehängt.“ Der Berichterstatter setzt hinzu: „Groß war das Aufsehen und das Staunen, das die Ankunft des Zugs in Stockton erregte.“
Der Erfolg der Bahn war sehr zufriedenstellend. Zwar hob sich der Personenverkehr nur recht langsam, weil die meisten Leute Angst hatten, sich dem gefährlichen Beförderungsmittel anzuvertrauen, aber an Gütern hatte man schon nach einigen Jahren statt der angenommenen 10 000 Tonnen 500 000 Tonnen zu befördern.
Man muß sich jedoch den Betrieb dieser ersten öffentlichen Eisenbahn nicht so vorstellen, wie wir ihn heute gewöhnt sind. Es wurden darauf durchaus nicht alle Züge durch Lokomotiven befördert, sondern zahlreiche von Pferden gezogene Wagen liefen dazwischen. Denn wie schon im 1. Abschnitt angedeutet wurde, war der Schienenweg[47] öffentlich und für jeden Unternehmer zugänglich, der die wenigen ihm von der Gesellschaft hierfür auferlegten Bedingungen erfüllte. Die Züge mit Lokomotiven hatten nur insoweit ein Vorrecht vor den mit Pferden bespannten, als sie nicht in das Ausweichgleis hineinzufahren brauchten. Das mußten vielmehr die anderen tun.
Der Personenverkehr bevorzugte unverkennbar den Pferdebetrieb. Im Auftrag der Bahngesellschaft baute Stephenson damals den ersten eigentlichen Eisenbahnpersonenwagen. Dieser hatte auf jeder Längsseite eine Bank, ein langer Tisch aus Tannenholz stand in der Mitte. Der Wagen erhielt den Namen „Experiment“, und die Gesellschaft ließ darauf ihr Wappen und ihren Wahlspruch malen „Periculum privatum, utilitas publica“ („Die Gefahr trifft nur den Einzelnen, die Allgemeinheit hat den Nutzen.“)
Der Wagen „Experiment“, der beschämenderweise stets mit Pferdevorspann fuhr, wirkte belebend auf den Personenverkehr. Ein Zeitgenosse schreibt darüber: „Die Leute drängen sich in den Wagen; oft sind ihrer so viele, daß man, wenn sie aussteigen, wahrhaftig glaubt, es gehe eine kleine Kirchengemeinde auseinander.“ Mehrere Gastwirte in Stockton und Darlington nutzten dies aus, indem sie ebenfalls Personenwagen bauen und diese von Pferden auf der Bahn ziehen ließen.
Auch der Anfang der Beleuchtung von Eisenbahnwagen ist hier bereits zu beobachten. Ein gewisser Dickson, der den Wagen „Experiment“ öfter als Kutscher zwischen Darlington und Shildon hin und her fuhr, empfand es als Mangel, daß an finsteren Winterabenden die Fahrgäste im Dunkeln sitzen mußten. Er kaufte deshalb öfter ein Groschenlicht und klebte es auf die Tischplatte im Innern des Wagens. Aus dieser einfachen Kerze heraus hat sich unsere heutige blendende Zugbeleuchtung entwickelt.
An den ersten von ihr gebauten Lokomotiven erlebte die Fabrik in Newcastle nicht ausschließlich freudige Stunden. Es war sehr viel an den Maschinen auszusetzen. Und das konnte gar nicht anders sein, da sie, wie wir heute wissen, von einer wirklich brauchbaren Bauart doch noch recht weit entfernt waren. Darum tauchte auch bei der Leitung der Bahngesellschaft immer wieder der Plan auf, die Dampfwagen abzuschaffen und den Betrieb ganz mit Pferden durchführen zu lassen.
Trotz dieser und noch manch anderer Ärgernisse aber war Georg Stephenson von der großen Zukunft, die der Lokomotiveisenbahn bevorstand, fest überzeugt. Schon während des Bahnbaus hatte er einmal bei einer Flasche Wein zu seinen Mitarbeitern folgendes gesprochen: „Jungens, ich glaube, ihr werdet, wenn auch ich selbst nicht so lange leben werde, noch den Tag sehen, wo alle Postkutschen auf den Schienen fahren und die Eisenbahn[48] die Hochstraße für Könige und Untertanen sein wird. Die Zeit wird kommen, wo man billiger mit den Dampfwagen als zu Fuß reisen kann. Ich weiß wohl, daß man fast unüberwindlichen Hindernissen begegnen wird, doch, was ich gesagt habe, wird kommen, so wahr ich lebe! Mein höchster Wunsch ist, jenen Tag zu erblicken, obgleich ich dies nicht hoffen darf, denn ich weiß, wie langsam alle menschlichen Fortschritte sich vollziehen und mit welchen Schwierigkeiten ich selbst zu kämpfen hatte, bis ich es dahin brachte, daß meine Lokomotiven trotz ihres mehr als zehnjährigen Erfolgs in Killingworth weiter benutzt wurden.“
Die Voraussage Stephensons sollte in weit großartigerer Weise in Erfüllung gehen, als er sich es vorzustellen wagte.
Schon die Bahn Stockton-Darlington offenbarte die außerordentliche Einwirkung eines raschen Beförderungsmittels auf die Erzeugnisse eines Landstrichs. Der Kohle aus dem Darlingtoner Bezirk wurden plötzlich ganz neue Märkte erschlossen. Die Förderung in den Gruben konnte bald in stärkster Weise erhöht werden. Sogar eine neue Stadt ließ diese erste Eisenbahn am Teesfluß entstehen. Wo jetzt Middlesborough liegt, stand im Jahre 1825 nur ein einzelnes Bauernhaus. Ringsumher war nichts als Weideland und Sumpf. Pease kaufte mit einigen Freunden einen größeren Landbezirk in der Nähe an. Es entwickelte sich hier im Anschluß an die Eisenbahn ein lebhafter Hafenverkehr, und nach zehn Jahren wohnten bereits 6000 Menschen in Middlesborough, das heute eine blühende Mittelstadt ist.
Ermutigt durch diese Erfolge ging Stephenson mit höchstem Eifer an die Arbeit, als ihm nun Gelegenheit geboten wurde, einen bedeutend größeren und wichtigeren Eisenbahnbau auszuführen.
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Durch die Erfindung des mechanischen Webstuhls war die Erzeugung von Baumwollstoffen insbesondere in Manchester und dessen Umgebung zu einem Gewerbebetrieb von ungeahnter Größe emporgewachsen. Die Rohbaumwolle, die hierzu in großen Massen gebraucht wurde, kam über See in der Hafenstadt Liverpool an, war von dort nach Manchester zu bringen, und die fertigen Waren mußten in ähnlicher Fülle über den umgekehrten Weg befördert werden. So war zwischen den beiden Städten, die, nach Weber, einander wie Mund und Magen bedingten, ein Verkehr von bis dahin noch nicht bekannter Lebhaftigkeit entstanden.
In der Hauptsache vollzog er sich auf den Wasserstraßen, dem Mersey-, dem Irwellfluß und dem anschließenden Bridgewaterkanal. Aber diese Wege waren schließlich nicht im entferntesten mehr imstande, das zu leisten, was man von ihnen forderte. Nur langsam konnten die Schiffe hin und wieder fahren, der Winter brachte lang dauernde Einstellungen der Schiffahrt, und außerdem sorgte die auf ihre Alleinherrschaft pochende Kanalverwaltung durch schwere Nachlässigkeiten dafür, daß eine glatte Abwicklung des Verkehrs nicht möglich war. Waren, die in 21 Tagen von Amerika über den Ozean in Liverpool ankamen, brauchten oft längere Zeit, um von dort aus Manchester zu erreichen.
Die Zustände wurden allmählich so arg, daß unbedingt Abhilfe geschaffen werden mußte. Man beschloß die Anlage eines Schienengleises zwischen den beiden Städten.
Bereits im Jahre 1821 begann man mit den Vermessungen. Das war für die Leute, die in jener Gegend wohnten, das Zeichen zu heftigstem Widerstand. Merkwürdigerweise fürchteten sie, daß ihr Wohlstand durch die Führung der Bahn über ihre Äcker schweren Schaden erleiden könnte. Es entstand ein richtiger Kampf mit den Landmessern. Smiles erzählt, daß zu Newton-in-the-Willow ein Richter namens Bourne seinen Leuten befohlen hatte, ständig aufzupassen, um die unglückseligen Männer, die mit den Abmessungen betraut waren, zu verjagen, wo immer sie sich auf den Feldern blicken ließen. Die Pächter und Tagelöhner leisteten dem willig Folge. Sie stellten sich auf den Feldern mit Gabeln, oft sogar mit Flinten bewaffnet auf, um die Eindringlinge zu vertreiben. Zu St. Helens wurde einer der Unglücklichen, welche die Meßketten zu tragen hatten, von einem Haufen Kohlengräber umringt und damit bedroht, daß man ihn in eine Kohlengrube hinabstürzen würde, wenn er sich wieder blicken ließe. Weiber und Kinder verfolgten überall die Landmesser und überhäuften sie mit Schimpfworten.
Die größte Wut erweckte indessen derjenige unter den Beauftragten, der das Meßfernrohr selbst zu tragen hatte. Man nahm daher einen besonders kräftigen Burschen, einen berüchtigten Boxer, für diesen Dienst an. Aber bald trat ihm ein baumstarker Kerl, der gefürchtetste Raufbold der ganzen Gegend, entgegen. Er wollte ihm durchaus das Meßfernrohr entreißen. Es kam zu einem richtigen Boxkampf, wobei der Raufbold den kürzeren zog. Doch das versammelte Landvolk wurde dadurch nur noch mehr zur Wut angestachelt. Es hagelte Steine, bis das Meßgerät zerschlagen war. So waren die Vermesser oft gezwungen, die Nacht zu Hilfe zu nehmen, und es wird erzählt, daß sie zur Ausführung ihrer Arbeiten in einem Dorf gern die Zeit benutzten, in der die Bewohner[50] in der Kirche weilten, wo der Geistliche in heftigsten Ausdrücken gegen ihr Vorhaben predigte. Unter solchen Umständen konnten die Vermessungen nur recht unvollkommen vorgenommen werden, was sich später bitter rächen sollte.
Der Linienführung selbst stellten sich große technische Schwierigkeiten entgegen. Es waren tiefe Einschnitte und viele kleine Höhen zu überwinden; die Einführung der Linie in die beiden Endstädte erweckte schwerste Bedenken, obgleich vorläufig noch niemand an einen Lokomotivbetrieb dachte. Das schlimmste Stück der ganzen Strecke aber war das große zwischen Liverpool und Manchester liegende Katzenmoor, ein tiefer Sumpf mit so weichem, nachgiebigem Boden, daß eine hineingesteckte Eisenstange sofort vollkommen versank.
Diese Umstände ließen es den Leitern der Bahngesellschaft erwünscht erscheinen, einen besonders tüchtigen Mann als Leiter des Baus zu gewinnen. Stephensons Name hatte nun doch schon einen gewissen Klang, und im Jahre 1821, zu einer Zeit also, als die Stockton-Darlington-Bahn noch im Bau war, begaben sich Abgesandte nach Killingworth, um die dortigen Anlagen zu besichtigen. Sie bekamen von der Tatkraft und Leistungsfähigkeit des dortigen Maschinenmeisters den besten Eindruck, und er wurde einstimmig zum Leiter des großen Bahnbaus zwischen Manchester und Liverpool berufen.
Es eröffnete sich nun für Georg Stephenson ein großes Wirkungsfeld, auf dem er denn auch unvergängliche Taten vollbringen sollte.
Sofort setzte er sich aufs stärkste dafür ein, daß die neue Bahnstrecke so eben wie möglich angelegt werde. Neue Vermessungen wurden notwendig, und der alte Kampf mit den Anwohnern begann von neuem. Am heftigsten widersetzten sich den Vermessungen jetzt die Lords Derby und Sefton, über deren Landgüter die Strecke geführt werden sollte. Desgleichen wollte die Verwaltung des Bridgewaterkanals auf keinen Fall die Überbrückung dieses Wasserlaufs gestatten, weil sie sehr mit Recht einen erfolgreichen Wettbewerb fürchtete. Lord Derbys Leute traten überall den Messenden in den Weg; Stephenson selbst wurde in Knowsly von den Parkwächtern vertrieben, und ihm ein tätlicher Angriff in Aussicht gestellt, falls er sich wieder auf dem Grund und Boden des edlen Lords sehen lassen würde.
Im Jahre 1825 war trotzdem eine vorläufige Vermessung beendet, und man beschloß, das Unterhaus um Genehmigung der Linie zu ersuchen. Kaum war dies bekannt geworden, da rüsteten sich die an den Wasserwegen beteiligten Gesellschaften zu heftigstem Widerstand.
Zunächst machten sie die Anwohner weiter aufrührerisch, indem sie erzählten, daß die Bahn vermutlich mit Lokomotiven betrieben werden würde, was ein schreckliches Unglück bedeuten würde. Die aus dem Schornstein der Maschine herausfliegenden Funken müßten jedes in der Nähe stehende Haus anzünden, die Luft würde durch die Rauchwolken verpestet werden. Die Pferdezucht werde eingehen müssen, und als Folge davon müßte auch die Landwirtschaft aufhören, weil kein Tier mehr da sein würde, welches das Heu fräße. Die Dampfkessel der „Reisemaschinen“ würden häufig platzen, so daß kein Mensch in der Nähe der Bahn mehr seines Lebens sicher sein würde; der bloße Anblick des vorüberdonnernden Eisenbahnzugs müßte die Tiere zu Tode erschrecken, Menschen wahnsinnig machen.
Man trug dafür Sorge, daß in den Parlamentsausschuß, der über den Antrag der Eisenbahngesellschaft auf Genehmigung des Baus zu verhandeln hatte, die tüchtigsten und redegewandtesten Mitglieder des Unterhauses abgeordnet wurden, damit sie den Antrag geschickt zu Fall brächten. Aber auch die Bahngesellschaft traf beste Vorsorge zur Durchführung[51] ihres Plans, indem sie eine Reihe ausgezeichneter Rechtsanwälte mit ihrer Vertretung beauftragte. Es entspann sich dementsprechend vor dem Ausschuß ein Kampf, der lächerlich zu nennen wäre, wenn es sich dabei nicht um einen so bedeutenden Gegenstand gehandelt hätte.
Stephenson mußte als Bauleiter der Bahn ebenfalls vor dem Ausschuß erscheinen. Dem wenig redegewandten Mann, der noch dazu die breite Mundart Northumberlands sprach, war dies durchaus nicht angenehm. Über den Beginn seiner Vernehmung erzählte er später: „Kaum befand ich mich in der Vernehmungsbank, da wäre ich gern wieder zu einem Loch hinausgekrochen. Ich konnte die Worte nicht finden, die für den Ausschuß und in meinen eigenen Augen überzeugend gewesen wären. Acht bis zehn Rechtsvertreter stellten mit mir ein Kreuzverhör an in der Absicht, mich zu verwirren. Ein Ausschußmitglied fragte, ob ich ein Ausländer wäre, ein anderes gab zu verstehen, daß ich nicht bei gesundem Verstand sei. Ich aber ließ mich alles dies wenig anfechten und machte fort.“
Stephenson wirkte von Beginn an für den Lokomotivbetrieb auf der Eisenbahn. Den wichtigsten Beweggrund hierfür, daß nämlich mit der Lokomotive eine Geschwindigkeit von 30 Kilometern in der Stunde erreicht werden könnte, durfte er jedoch nicht vorbringen. Seine besten Freunde lachten ihn aus, wenn er diese Behauptung aufstellte. Alle erklärten, eine solch unerhörte Schnelligkeit sei überhaupt nicht möglich. Selbst die ernste Zeitschrift „Quarterly Review“ verspottete, nach Feldhaus, eine solche Behauptung, indem sie sagte: „Auch wenn man allen Versicherungen über die Gefahrlosigkeit der Lokomotiven Glauben schenken wollte, könnte man doch eher glauben, daß die Einwohner von Woolwich sich mit einer Congreveschen Rakete abfeuern lassen würden, als daß sie sich einer so schnell fahrenden Maschine anvertrauten.“ So war Stephenson gezwungen, unter schwerer Selbstüberwindung immer nur von einer beabsichtigten höchsten Geschwindigkeit von 16 Kilometern zu sprechen.
Der bedauernswerte Mann hatte es in dem Kreuzverhör vor den Abgeordneten wirklich nicht leicht. Es wurden die dümmsten Einwände vorgebracht.
„Nehmen wir an,“ sagte ein Ausschußmitglied, „es komme bei einer Geschwindigkeit von 14 oder 16 Kilometern eine Kuh der Maschine in den Weg. Glauben Sie nicht, daß das recht peinlich sein würde?“ — „In der Tat,“ war die Antwort, „recht peinlich . . . für die Kuh!“
„Werden die Pferde auf der Landstraße nicht scheu werden,“ fragte ein anderer, „wenn sie den rotglühenden Schornstein sehen?“ — „Ich hoffe,“ antwortete Stephenson, „die Pferde werden denken, daß der Schornstein nur rot angestrichen sei und werden ruhig bleiben.“
Der Abgeordnete Harrison meinte, er habe gehört, daß jeder Regen das Feuer in der Lokomotive auslöschen würde. Man könnte die Maschine ja zwar, um dies zu verhüten, in Decken einpacken, aber dann würde der Wind kommen und die Hüllen wieder fortreißen. Jeder Sturm müßte überhaupt die Lokomotivfahrt verhindern, weil er das Feuer in der Lokomotive so heftig anblasen würde, daß der Druck im Kessel ansteigen und die Maschine schließlich zum Platzen bringen müßte.
Gegenüber solchen Einwänden war Stephenson ziemlich machtlos. Er konnte in seiner Unbehilflichkeit nicht recht etwas darauf entgegnen und wiederholte schließlich nur immer wieder den ihn sehr kennzeichnenden Ausspruch: „Ich kann’s nicht sagen, aber ich werde es machen!“
Gegen Schluß des Verhörs nahm der gelehrte Alderson das Wort zu einer zweitägigen[52] Vernichtungsrede, in der er hauptsächlich auf die Schwierigkeiten des Bahnbaus einging. „Ich denke, es ist erwiesen,“ sagte er, „daß der Stephensonsche Plan der abgeschmackteste ist, der je in einem Menschenkopf ausgeheckt wurde. Wer vermag daran zu zweifeln, der Gelegenheit hatte, den Mann bei seinen Aussagen zu beobachten? Ich behaupte, daß er nie einen Plan gehabt hat und glaube, daß er gar nicht fähig ist, einen zu entwerfen. Sein Geist schwankt hilflos in einemfort zwischen den entgegengesetzten Schwierigkeiten hin und her. Er weiß weder, ob er über Wege oder Flüsse Brücken bauen soll, noch weiß er, wo Dämme, Durchstiche oder schiefe Ebenen angebracht werden müßten. Ich erhebe feierlichen Einwand gegen eine Maßregel, die sich auf nichts Besseres zu stützen vermag als auf die Aussagen solcher Gewährsmänner und auf solche Berechnungen.“
Mit diesen letzten Worten waren die unsicheren Ergebnisse der Vermessung gemeint, die mit Recht vielfach angefochten wurden. Bei der Abstimmung wurde der Antrag der Bahngesellschaft mit 19 gegen 13 Stimmen abgelehnt. Zwei Monate lang hatte der Kampf gewährt. Man beschloß, ihn für jetzt aufzugeben und das nächste Mal besser gerüstet vor das Unterhaus zu treten.
Es ist recht schmachvoll, daß die Durchbringung des Genehmigungsgesetzes beim zweiten Antrag schließlich nicht sachlichen Gründen zu verdanken war, sondern vorher ausgeführten geschickten Maßnahmen und allerhand Schlichen und Kniffen. Es gelang vor allem, den Marquis von Stafford, den Hauptbeteiligten am Bridgewaterkanal, den Plan dadurch günstig zu machen, daß ihm ein ziemlich beträchtlicher Teil der Aktien zugebilligt wurde. Man veränderte außerdem den Weg der Strecke so, daß Lord Seftons Güter ganz vermieden und das Schloß Lord Derbys in bedeutender Entfernung umgangen wurde. Alle Wildgehege vornehmer Herren ließ man mit größter Sorgfalt unberührt. Und siehe da! Nun war auf einmal fast der ganze Widerstand gegen die neue Eisenbahn verschwunden.
Zwar gab es immer noch Leute, denen die Angelegenheit nicht paßte, und Sir Isaac Coffin unternahm es vor dem zweiten Ausschuß noch einmal, alle die schäbigen Einwände der Leute, die vor dem Neuen zurückbebten, in anderer Form zu wiederholen.
„Für jeden muß es höchst unangenehm sein,“ führte er aus, „eine Eisenbahn unter seinem Fenster zu haben. Und was soll, so frage ich, aus allen jenen werden, die zur Herstellung und Verbesserung der Landstraßen ihr Geld hergegeben haben? Was aus denen, die auch ferner wie ihre Vorfahren zu reisen wünschen, das heißt in ihren eigenen oder gemieteten Wagen, die es bald nicht mehr geben wird? Was aus Sattlern und Herstellern von Kutschen, aus Wagenbesitzern und Kutschern, Gastwirten, Pferdezüchtern, Pferdehändlern? Weiß das Haus auch, welchen Rauch, welches Geräusch, Gezisch und Gerassel die rasch vorübereilenden Lokomotiven verursachen werden? Weder das auf dem Feld pflügende, noch das auf den Triften weidende Vieh wird diese Ungeheuer ohne Entsetzen wahrnehmen. Die Eisenpreise werden sich mindestens verdoppeln, wenn die Vorräte an diesem Metall, was wahrscheinlich ist, nicht ganz und gar erschöpft werden. Die Eisenbahn wird der größte Unfug sein, sie wird die vollständige Störung der Ruhe und des körperlichen sowohl wie des geistigen Wohlbefindens der Menschen bringen, die jemals der Scharfsinn zu erfinden vermochte.“
Doch nun half alles nichts mehr. Huskisson und andere bedeutende Mitglieder unterstützten den Antrag, und er wurde mit einer Mehrheit von 88 gegen 41 Stimmen angenommen.
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Sofort nahm man den Bau in Angriff, dessen Oberleiter selbstverständlich Georg Stephenson wurde. Um dem Feld seiner Tätigkeit möglichst nahe zu sein, siedelte er jetzt nach Liverpool über.
So große und kostspielige Anlagen, wie sie nun errichtet wurden, hatte die Welt noch nie gesehen. Galt es doch, zum erstenmal eine wirklich ebene Bahnstrecke herzustellen. Das Sankeytal mit dem darin liegenden Kanal mußte durch eine gewaltige Steinbrücke überschritten werden. Der Irwell war in gleicher Weise zu kreuzen. Im ganzen wurde für die Bahnlinie die Errichtung von nicht weniger als 63 Brücken notwendig. Man höhte Senkungen auf und durchstach Felsen. Die Einführung der Strecke in die Stadt Liverpool konnte nur mit Hilfe eines Tunnels erfolgen. Es entstand so das erste größere Bauwerk dieser Art auf der Erde.
Nur ein Mann von Stephensons außerordentlicher Kraft vermochte alle Hindernisse zu überwinden, die hierbei auftraten. Im Tunnelbau hatte man noch keine Erfahrungen. Es fanden Einbrüche statt, so daß die Arbeiter wegen der Gefahr nicht mehr in den Schacht wollten. Stephenson hatte dennoch Gewalt genug über die Werkleute, um sie stets von neuem hinein zu führen. Das Allerschwierigste aber war die Gründung der Strecke auf dem Katzenmoor. Schüttungen, die immer von neuem gemacht wurden, sanken in eine unergründliche Tiefe hinab. Stephenson mußte eine ganz neue Bauart mit Abzugsgräben und Stichkanälen erfinden, damit er endlich festen Boden gewann. Oft wollte die Gesellschaft den Bau an dieser Stelle ganz aufgeben, da sie kein Gelingen mehr erhoffte. Aber der Baumeister wußte genau, was er tat, und schließlich war das Moor mit einem Kostenaufwand von 28 000 Pfund Sterling überbrückt, während im Parlament die Höhe der Kosten auf 270 000 Pfund geschätzt worden war.
Stephenson hatte wegen der Neuheit des ganzen Gegenstands für alles Erdenkliche zu sorgen. Er zeigte seine glänzende Begabung, alles sorgsam zu gliedern und in lebendiger Tätigkeit zu erhalten. Die Arbeiter mußten überall erst angelernt und in einsamer Gegend untergebracht werden. Dann aber hatte Stephenson auch die Schienenbefestigungen, die Weichen, die Drehscheiben, die Signale zu erdenken, ja sogar die Wagen zu entwerfen.
Und als all dieses schließlich überwunden war, trat noch eine grundsätzliche Schwierigkeit auf. Trotz der furchtbaren Kämpfe, die um die Lokomotive schon geführt worden waren, hatten sich die Leiter der Bahn doch noch durchaus nicht für dieses Zugmittel entschlossen. Immerhin war man sich allmählich darüber klar geworden, daß Pferde nicht in Betracht kämen. Zwar hatten auch diese lebendigen Schlepper ihre Verteidiger, aber nach Besichtigung von Stephensons Anlagen in Killingworth, Hetton und auf der Strecke Stockton-Darlington wurde es doch allen Beteiligten klar, daß der mechanische Antrieb den Vorzug verdiene, schon weil er keinen so häufigen Wechsel der treibenden Kraft notwendig machte.
Aber auch damit kam man noch nicht unmittelbar zur Lokomotive. Viele Ingenieure traten dafür ein, daß man auch auf dieser ebenen Strecke ortsfeste Maschinen aufstelle, die durch Aufwickeln von Seilen die Züge bewegen sollten. Es berührt uns heute höchst eigenartig, daß längere Zeit tatsächlich der Plan erwogen wurde, die Strecke in neunzehn Abschnitte zu teilen und jedem von diesen eine feststehende Dampfmaschine zuzuordnen, die den Zug am Seil schleppen sollte. Es wäre dann also notwendig gewesen, bei jeder Fahrt von Manchester bis Liverpool oder umgekehrt neunzehnmal Seile abzukuppeln und wieder am Zug zu befestigen. Welch eine Reisegeschwindigkeit man mit einer solchen Betriebsart erreicht hätte, ist leicht jedem klar.
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Andere Techniker wieder schlugen vor, die Züge durch Wasserkraft antreiben zu lassen oder auch durch gepreßte Kohlensäure. Es war auch noch nicht in allen Köpfen der Irrtum ausgerottet, daß die Lokomotivräder auf den glatten Schienen gleiten müßten. So konnte ein Vorschlag entstehen, eine dritte Schiene in die Mitte der Geleise zu verlegen und durch zwei seitlich hieran gepreßte Scheiben eine genügend kräftige Reibung herzustellen.
Die leitenden Männer der Bahngesellschaft wußten gegenüber allen diesen Vorschlägen bald nicht mehr aus noch ein. Nichts war erprobt, und Großes stand durch ihre Entscheidung auf dem Spiel. Es schien ihnen schließlich am zweckmäßigsten, durch ein Preisausschreiben die Leistungsfähigkeit von Lokomotiven mit einfachen Reibungsrädern festzustellen.
Der Wettbewerb wurde ausgeschrieben, und er führte zu dem weltberühmt gewordenen Wettkampf bei Rainhill.
Die wichtigsten Forderungen in dem Preisausschreiben lauteten:
Die Maschine muß ihren Rauch selbst verzehren. Sie muß imstande sein, einen Zug von 20 000 Kilogramm Gewicht mit einer Geschwindigkeit von 16 Kilometern in der Stunde zu ziehen. Der Dampfdruck im Kessel darf 31⁄2 Atmosphären nicht übersteigen; der Kessel muß zwei Sicherheitsventile haben, von denen eins der Einwirkung des Maschinenwärters gänzlich entzogen sein muß. Maschine und Kessel müssen durch Federn getragen werden. Die Maschine darf mit gefülltem Kessel nicht mehr als 6000 Kilogramm wiegen. Sie muß am 1. Oktober 1829 vollständig fertig und in einem zur Erprobung geeigneten Zustand am Liverpooler Ende der Eisenbahn aufgestellt sein. Die Lokomotive darf nicht mehr als 550 Pfund Sterling kosten.
Georg Stephenson beschloß sofort, in seiner Fabrik zu Newcastle an die Herstellung einer Preislokomotive zu gehen. Er unterschätzte keinen Augenblick die Bedeutung der Angelegenheit und die Schwierigkeiten, die zur guten Erledigung der Aufgabe zu überwinden waren. Er berief darum seinen Sohn Robert, der zur Ausführung von Bauten in Südamerika weilte, zurück. Es war bei dieser Rückfahrt, als Robert Stephenson in Cartagena mit Trevithick in der bereits geschilderten Weise zusammentraf. Als er in Newcastle angekommen war, zeigte es sich, daß Vater und Sohn einander vorzüglich verstanden und ergänzten. Von Zeitgenossen wird berichtet, daß nun zwei mächtige Geister zusammenarbeiteten, die sich gegenseitig anfeuerten.
Das stärkste Reizmittel zu großen Taten ist die Unzufriedenheit. Wer bewundernd vor seinen eigenen Leistungen steht und sie für das beste hält, das überhaupt vollbracht werden kann, der hört auf zu streben und vermag keine Leistungen mehr zu vollbringen. Georg Stephenson gehörte nicht zu den Menschen solcher Art. Seine Lokomotiven liefen nun schon seit Jahren auf vielen Strecken. Sie waren die besten, die es gab. Aber dennoch kannte er genau ihre Schwächen. Für den Wettbewerb wollte er etwas Höherentwickeltes hervorbringen.
In der Hauptsache lag ihm daran, die Lokomotive zu stärkerer Dampferzeugung zu befähigen. Die immer noch geringen Geschwindigkeiten führte er mit Recht auf den zu kleinen Dampfvorrat zurück, den der Kessel in jedem Augenblick barg. Mancherlei Mittel hatte er schon versucht, um durch stärkere Anfachung des Feuers hier Besserung zu schaffen. Daß er die vortreffliche Wirkung des Blasrohrs schon früh ausnutzte, wissen wir bereits. Bei einer Lokomotive für die Stockton-Darlington-Bahn war er, um einen noch kräftigeren Durchzug von Frischluft durch die Feuerung hervorzubringen, sogar so weit gegangen, die[55] Maschine mit zwei Schornsteinen und zwei Blasrohren auszurüsten. Aber der Nutzen dieser Maßnahmen entsprach nicht den Erwartungen. Ein wirklicher Erfolg konnte nur durch eine Vergrößerung der Heizfläche erreicht werden.
Es ist nun sehr merkwürdig, daß der Gedanke, der Stephensons Lokomotive zum endlichen Sieg führte und dem Lokomotivkessel die bis zum heutigen Tag auf der ganzen Erde übliche Form gab, dem Gehirn eines Nichtfachmanns entsprang. Der Geschäftsführer der Bahn Manchester-Liverpool, Henry Booth, mit dem Stephenson schon früher manches Jahr zusammengearbeitet hatte, war es, der ihm empfahl, von der hinteren Kesselwand zur vorderen eine große Anzahl dünner Röhren zu führen, durch welche die heißen Gase bei ihrem Weg von der Feuerung zum Schornstein hindurchstreichen mußten. Die Fläche, auf der die Heizgase mit dem Wasser in Berührung kamen, wurde hierdurch außerordentlich vergrößert.
Versuche ähnlicher Art waren schon früher gemacht worden, aber hierbei waren die Röhren entweder senkrecht gestellt, oder man füllte sie mit Wasser, während die Heizgase die Außenwände der Röhren umspülten. Es waren also Siederohrkessel gebaut worden, während Booth den vielrohrigen Flammrohrkessel empfahl, der sich fortab als die geeignetste Bauform für die Lokomotive erwiesen hat. Unabhängig von Booth erfand Séguin in Frankreich gleichzeitig dieselbe Bauform.
Stephenson erkannte die Vorzüge des Boothschen Gedankens sogleich und nahm ihn für den Bau seiner Preislokomotive auf. Die Tatsache, daß er hier dem Vorschlag eines anderen folgte, mildert Stephensons Verdienst in keiner Weise. Denn nur er vermochte durch die großartigen Einrichtungen seiner Fabrik und die Erfahrungen, die er im Lokomotivbau hatte, den Gedanken zur Ausführung zu bringen. Hätte Booth seinen Vorschlag einem weniger tüchtigen Mann gemacht, so würde sich wieder einmal das Schauspiel begeben haben, daß der Weise dem Stein der Weisen gemangelt hätte.
Ganz aus eigener Erwägung fügte Stephenson der Lokomotive noch manchen neu gestalteten Bauteil an. So wurden die Zylinder schräg gestellt und die Austrittsöffnung des Blasrohrs verengt, wodurch eine bedeutende Steigerung der Dampfgeschwindigkeit und demgemäß eine Erhöhung des Luftzugs durch die Feuerung eintrat. Als die Maschine ihre erste Probefahrt machte, war der Erbauer selbst aufs höchste über ihre Leistungsfähigkeit erstaunt, die alles bis dahin vorhandene weit in den Schatten stellte. Robert Stephenson erklärte in späteren Jahren, als die Eisenbahn schon ein allgemein übliches Verkehrsmittel war: „Zwar hat seit dem Tage, da unsere Maschine auf der Manchester-Liverpool-Bahn aufgestellt wurde, die Lokomotive viele kleinere Verbesserungen erfahren, und man ist seitdem insbesondere bemüht gewesen, ihre verschiedenen Teile möglichst sorgfältig herzustellen; dennoch unterscheidet sich die heutige Lokomotive in keinem wesentlichen Punkt von jener.“ Das gilt auch noch für die Jetztzeit.
Die Maschine erhielt wegen der großen Geschwindigkeit, die sie zu entwickeln vermochte, den Namen „Rakete“. (Siehe das Bild vor dem Titel.)
Der für den Austrag des Wettbewerbs festgesetzte Tag rückte indessen heran. Der Ausgang wurde in ganz England mit höchster Spannung erwartet. Viele ahnten, daß hier ein höchst wichtiges Ergebnis sich zutragen würde. Nach englischer Art, die damals so war, wie sie noch heute ist, glaubte eine englische Zeitschrift die Bedeutung des Kampfs nicht besser kennzeichnen zu können, als indem sie erklärte, daß auch die vornehme Welt dem Vorgang gegenüber soviel Teilnahme zeige, als wenn es sich um das St. Leger, das bedeutendste aller Pferderennen, handle. Eine große Menschenmenge strömte herbei, um[56] das eigenartige Schauspiel mit anzusehen. Als „Schlachtfeld“ war eine 35 Kilometer lange, ganz ebene Strecke auf der Bahnlinie Manchester-Liverpool in der Nähe von Rainhill ausersehen.
Folgende Lokomotiven wurden zum Wettbewerb angemeldet:
1. „The Novelty“ („Die Neuheit“) von Braithwaite und Ericsson;
2. „Le Sans Pareil“ („Die Unvergleichliche“) von Hackworth;
3. „The Perseverance“ („Die Ausdauer“) von Burstall;
4. „The Rocket“ („Die Rakete“) von Stephenson.
Noch eine fünfte Maschine wollte mitfahren: der „Zyklopenfuß“ von Brandreth. Sie wurde durch ein im Innern ihres Gehäuses aufgestelltes — Pferd fortbewegt. Da dies dem Sinn des Preisausschreibens nicht entsprach, das nur Dampflokomotiven in Betracht zog, so mußte sie abgewiesen werden. Bei der „Ausdauer“ zeigte es sich alsbald, daß sie die vorgeschriebene Geschwindigkeit nicht würde erreichen können, und sie trat daher gleichfalls von dem eigentlichen Wettbewerb zurück. An diesem nahmen also tatsächlich nur drei Maschinen teil.
Am 6. Oktober 1829 fand die Vorprüfung der Maschinen statt.
Es entspricht Stephensons ganzer Art, daß seine Lokomotive, obgleich sie bestimmungsgemäß nicht als erste fahren sollte, doch zuerst fertig war. Aus diesem Grund gestattete man ihr, außer dem Wettbewerb eine erste Versuchsfahrt zu machen. Sie legte hierbei unter des Erbauers eigener Führung 19 Kilometer in 53 Minuten zurück.
Darauf fuhr die „Neuheit“ vor. Ihr Verdampfungsraum lag senkrecht über der[57] Feuerbüchse, von dort lief ein zweifach gekrümmtes Flammrohr durch einen zylindrischen, wagerecht liegenden Kesselteil. Gleich hinter dem Schornstein war ein besonderes Gebläse aufgebaut, das der Feuerung Frischluft zudrückte. Die Maschine hatte keinen Tender, sondern trug den Kohlevorrat auf dem Rücken des Kessels; der Behälter für das Speisewasser befand sich darunter.
„Die Unvergleichliche“ besaß nur ein hin und her gehendes Flammrohr. Schornstein und Feuerung befanden sich also auf derselben Seite. Ihre Zulassung zum Wettbewerb machte Schwierigkeiten, da sie etwas schwerer war, als es den Vorschriften entsprach. Sie wurde aber schließlich doch angenommen.
Am Tag darauf sollte der eigentliche Wettbewerb beginnen. Er konnte jedoch nicht stattfinden, da die Blasebälge der „Neuheit“ in Unordnung geraten waren und auch am Kessel der „Unvergleichlichen“ sich Fehler gezeigt hatten. Um die versammelten Zuschauer nicht zu sehr zu enttäuschen, ließ Stephenson wieder seine „Rakete“ vorfahren, hängte einen Wagen mit 30 Personen daran und durchfuhr die Bahn mit einer Geschwindigkeit von etwa 40 Kilometern. Der Jubel und das Staunen über diese Leistung waren außerordentlich.
Der 8. Oktober endlich brachte den wirklichen Beginn des Wettbewerbs. Die „Rakete“ machte ihre Fahrten. Zwanzigmal durcheilte sie, wie es vorgeschrieben war, die Bahn, ohne daß sich irgendein Fehler an der Maschine zeigte. Die höchste erreichte Geschwindigkeit betrug an diesem Tag 46 Kilometer in der Stunde, was bei den Zuschauern ein geradezu ungläubiges Staunen erregte. Einer der Leiter der Bahngesellschaft, der bis dahin stets für die Anwendung ortsfester Maschinen eingetreten war, hob voll Bewunderung beide Hände in die Höhe und rief aus: „Endlich hat Georg Stephenson gezeigt, was er kann.“ Er war, wie alle anderen, für immer zu der Lokomotive bekehrt.
Wider Erwarten konnten die Ausbesserungsarbeiten an der Gebläsemaschine der „Neuheit“ nicht rechtzeitig beendet werden. Erst am 10. Oktober vermochte sie zu fahren. Doch gleich als sie das erstemal über die Bahn ging, brach ein Rohr an der Druckpumpe, so daß die Maschine fortgebracht werden mußte.
„Die Unvergleichliche“ war gar erst am 13. Oktober bereit, aber auch an ihr barst alsbald ein Pumpenrohr.
„Die Rakete“ fuhr am folgenden Tag noch einmal ohne jede Schwierigkeit, und nun war man bereit, ihr den Preis zuzuerkennen. Doch die Besitzer der „Neuheit“[58] wollten noch einmal Gelegenheit haben, ihre Maschine zu zeigen. Kaum war diese jedoch auf der Bahn, als wiederum ein Bruch an einem wichtigen Teil eintrat. Dem Verlangen der „Unvergleichlichen“, gleichfalls noch einmal zugelassen zu werden, wurde nicht mehr Folge gegeben, da die Preisrichter nun genug mißlungene Fahrten gesehen hatten.
Nach dieser ganzen Kette von Unfällen, von denen die anderen Lokomotiven ereilt wurden, kann man wohl sagen, daß ihr Bau für die gestellten Anforderungen nicht ausreichend war. Es ist daher keinem Zufall zuzuschreiben, daß Stephensons Erzeugnis allein sich bewährte.
Nachdem also die „Neuheit“ zum alten Eisen geworfen, und die „Unvergleichliche“ einem Wrack glich, erhielt die „Rakete“ den Preis von 500 Pfund Sterling. Freudig bewegt ließ Stephenson die Lokomotive nun nochmals vorfahren und allein, ohne angehängten Wagen, die Bahn durcheilen. Jetzt wurde die von niemandem erwartete und für die damalige Zeit ganz unerhörte Geschwindigkeit von 56 Kilometern in der Stunde erreicht. Damit war der Sieg der Lokomotive für immer entschieden. Niemand sprach mehr von Pferden, Seilbahnen und ähnlichen Dingen. Sie waren fortab überlebt. Die Aktien der Bahngesellschaft stiegen sofort um zehn vom Hundert.
Wie die „Rakete“ an den Tagen von Rainhill wirklich ausgesehen hat, wissen wir leider heute nicht mehr mit Sicherheit. Sie hat sehr lange auf der Manchester-Liverpool-Bahn Dienste getan und dann noch in einem Bergwerk Kohlen geschleppt. Während[59] dieser Zeit ist sie oft umgebaut worden. Die heute im Kensington-Museum zu London stehende „Rakete“, die unser Titelbild zeigt, dürfte nur noch wenige Bauteile der ursprünglichen Maschine enthalten.
Die Eröffnung der Bahnstrecke Manchester-Liverpool fand am 15. September 1830 statt. Dieser Tag bedeutet den Anbruch des Verkehrszeitalters. Die erste Eisenbahnlinie, die auch heutigen Anforderungen gegenüber einigermaßen bestehen könnte, begann ihren Betrieb. Auch das damalige England fühlte die Bedeutung dieses Ereignisses. Es wurde als eine Art Vaterlandsfest begangen. An der ganzen Bahnlinie entlang hatten sich wiederum Tausende von Zuschauern eingefunden, die durch Soldaten vom Betreten der Geleise abgehalten werden mußten.
Für die erste Fahrt, die von Liverpool aus stattfand, standen acht von Stephenson in Newcastle gebaute Lokomotiven zur Verfügung. Acht Züge wurden fertig gemacht, in denen sich etwa 600 Personen befanden. Viele bedeutende Persönlichkeiten hatten sich zur ersten Fahrt eingefunden. So der Nationalheld Herzog Wellington, der damals Ministerpräsident war, der Staatssekretär Robert Peel und der von den Bewohnern Liverpools in das Unterhaus gewählte Abgeordnete Huskisson, der ja von Beginn an ein lebhafter Verteidiger der Bahn im Unterhaus gewesen war.
Der erste Zug wurde von der Lokomotive „Northumbrian“ gezogen. Jeder Wagen hatte einen eigenen Namen wie „Traveller“, „Chinese“ oder „Wellington“. Das Gepäck[60] der Reisenden lag auf dem Dach. Die vornehmsten Fahrgäste hatten ihre eigenen Kutschen auf Plattformwagen setzen lassen und fuhren auf deren Sitzen teilweise unter freiem Himmel mit. Die Güterwagen glichen Vogelkäfigen, denn man hatte sie der größeren Leichtigkeit wegen nur aus Gitterstäben zusammengesetzt. Durch den Tunnel unter Liverpool konnte keiner der Züge mit der Lokomotive gefahren werden, da der Qualm die in den offenen Wagen Sitzenden allzusehr belästigt hätte. So mußten die Züge zu Stephensons großem Verdruß durch die Felsbohrung an Seilen hinuntergelassen werden, und dann erst wurden die Lokomotiven vorgespannt.
Ungefähr auf halbem Weg, beim Bahnhof Parkside, wurde halt gemacht, weil hier die Lokomotiven Wasser nehmen mußten. Leider sollte sich an dieser Stelle gleich das erste Eisenbahnunglück zutragen. Der Abgeordnete Huskisson hatte seinen Platz verlassen und stand neben einem der Züge auf dem Nachbargleis. Plötzlich brauste hier die „Rakete“, die, losgekuppelt, noch einmal ihre volle Geschwindigkeit zeigen wollte, heran. Es gelang Huskisson nicht mehr, rechtzeitig fortzuspringen. Er wurde von der Maschine erfaßt, die ihm ein Bein zermalmte. Er rief noch aus: „Ich muß sterben!“ und wurde dann ohnmächtig. Seine Worte sollten in Erfüllung gehen; noch am Abend desselben Tags verschied er. In ganz England wurde damals weit mehr als von dem traurigen Ereignis von der Tatsache gesprochen, daß die Maschine „Northumbrian“ mit dem schwerverletzten Huskisson in 25 Minuten eine Strecke von 24 Kilometer durcheilt hatte, um ihn zu einem Arzt zu bringen.
[61]
Das war eine Stundengeschwindigkeit von fast 58 Kilometern, die mit Recht als ein großes Wunder angestaunt wurde.
In die für den Eröffnungstag aufgestellte Festordnung brachte dieser Unglücksfall eine schwere Störung. Wellington und Peel wollten sogleich ihren Zug verlassen und nicht bis nach Manchester mitfahren. Man stellte ihnen jedoch die Enttäuschung der vielen Tausende vor, die in jener Stadt warteten, und so ließen sie sich bewegen, bis zu Ende im Zug zu bleiben. An den Festlichkeiten nahmen sie jedoch nicht teil. Doch dies war nur eine Beeinträchtigung der Äußerlichkeiten, das große Werk war glücklich zur Vollendung geführt.
Die Person Stephensons und sein Werk begeisterten damals jedermann. Der Ruhm des großen Eisenbahnbaumeisters verdunkelte fast den Namen Wellingtons. Jeder, der irgend Gelegenheit hatte, mit Stephenson in Berührung zu kommen, drängte sich dazu, ihn und seine Feuermaschinen kennenzulernen. In Liverpool hielt sich zu jener Zeit ein Schauspieler namens Kemble mit seiner Tochter auf. Frances Anne Kemble, ein sehr schönes junges Mädchen, war wie ihr Vater ein bedeutendes darstellerisches Talent. Von allen großen Dingen leicht begeistert, bemühte sie sich um die Erlaubnis, mit dem ersten Eisenbahnzug fahren zu dürfen. Stephenson sah sie, und ihrer Anmut gelang es, ihn zu bewegen, sie sogar bei einer Probefahrt mitzunehmen. Über ihre Erlebnisse hierbei hat[62] Frances Anne, die einen lebhaften Geist besaß und gut beobachten konnte, in einem Brief an ihre Freundin sehr beachtenswerte Angaben gemacht; sie geben ein gutes Bild von dem Eindruck, den die Lokomotive und ihr großer Vorkämpfer auf die Zeitgenossen machten. Nach der Übersetzung Max von Webers hieß es in dem Brief des Fräulein Kemble:
„Wir wurden der kleinen, munteren Maschine vorgestellt, die uns die Schienen entlang ziehen sollte. Sie (denn der zärtliche Sprachgebrauch macht die kuriosen, lieben kleinen Feuerrosse alle zu Stuten) besteht aus einem Kessel, einem Ofen, einer Bank und hinter der Bank einem Fasse mit genug Wasser, um ihren Durst während eines Rennens von fünfzehn Meilen zu stillen — das Ganze ist nicht größer als eine gewöhnliche Feuerspritze.
„Sie wandert auf zwei Rädern, die ihre Füße sind, und diese werden durch glänzende Stahlbeine bewegt, die sie Kolben nennen.
„Zügel, Gebiß und Trense, mit denen dies wundervolle kleine Tier geritten wird, bestehen[63] zusammen aus einem kleinen Stahlhebel, der den Dampf auf die Beine (oder Kolben) wirken läßt oder ihn davon ablenkt. Ein Kind könnte ihn handhaben.
„Dieses schnarchende, kleine Tier, das ich mich immer versucht fühlte zu tätscheln, wurde nun vor unseren Wagen gespannt, und nachdem mich Mr. Stephenson zu sich auf die Bank genommen hatte, fuhren wir ungefähr mit zehn Meilen in der Stunde ab.
„Du hast keinen Begriff davon, was das Durchschneiden der Luft für ein Gefühl war. Und dabei ist die Bewegung so sanft wie möglich. Ich hätte lesen oder schreiben können. Ich stand auf, nahm den Hut ab und trank die Luft vor mir. Der Wind war stark, oder war es unser Anfliegen gegen ihn, er drückte mir unwiderstehlich die Augen zu.
„Als ich sie geschlossen hatte, war das Gefühl des Fliegens ganz zauberisch und sonderbar über jede Beschreibung — aber trotzdem hatte ich das Gefühl vollkommener Sicherheit und nicht die geringste Furcht.
„An einer Stelle ließ Mr. Stephenson, um die Kraft seiner Maschine zu zeigen, einen anderen Dampfwagen, der ohne Feuer und Wasser vor uns stand, am Vorderteil unserer Maschine befestigen, einen mit Bauholz beladenen Lastwagen aber hinter unseren mit Personen schwer besetzten Wagen bringen — und mit alledem flog unser braver, kleiner Sie-Drache davon! Noch weiterhin fanden wir drei Erdwagen, die ebenfalls vor unsere Maschine gebracht wurden, und auch diese schob sie ohne Zögern und Schwierigkeit vor sich her.
[64]
„Wenn ich hinzufüge, daß die scharmante, kleine Kreatur ebenso behende rückwärts wie vorwärts läuft, glaube ich, Dir einen vollständigen Bericht über ihre Fähigkeiten gegeben zu haben.
„Nun noch ein Wort über den Meister all der Wunder. Ich bin in ihn ganz verzweifelt verliebt! Er ist ein Mann, fünfzig oder fünfundfünfzig Jahre alt; sein Gesicht ist edel, obwohl von Sorgen gefurcht und trägt den Ausdruck tiefer Gedankenarbeit. Die Art, seine Ideen darzulegen, ist eigentümlich und sehr originell, treffend und eindringlich, und obwohl seine Sprache deutlich seine nordgrafschaftliche Abkunft bekundet, ist sie doch fern von jeder Gemeinheit oder Plumpheit. Er hat mir in der Tat gänzlich den Kopf verdreht! Vier Jahre haben genügt, sein großes Unternehmen zu vollenden. Die Eisenbahn soll am 15. nächsten Monats eröffnet werden. Der Herzog von Wellington wird herkommen, um dabei gegenwärtig zu sein, und ich denke, daß das bei der Masse der zusammenströmenden Zuschauer und der Neuheit des Schauspiels eine Szene von nie vorher dagewesenem Interesse geben wird.“
Ein männlicher Augenzeuge schrieb, gleichfalls nach Weber, über seinen Eindruck bei der Eröffnung der Eisenbahn:
„Man mag vom Pol zum Äquator, von der Straße von Malakka bis zum Isthmus von Darien reisen und wird nichts so Bewundernswürdiges sehen wie diese Eisenbahn. Die Donner der Ausbrüche des Vesuv und Ätna, die Konvulsionen der Natur bei[65] einem Hochgewitter erschüttern durch ihre Größe, drücken aber den Stolz des Menschen tief darnieder, während die Szenen, die wir hier vor uns sehen und die sich in ihrer Macht nicht würdig beschreiben lassen, ein hohes Selbstgefühl und eine Bewunderung für die Geisteskraft des Menschen entwickeln, intensiver und lebendiger als alle Produkte der Poeten, der Maler und Philosophen.
„Die Erscheinung der Züge in den Tunnels und ihr Durchflug durch diese hat etwas Elektrisierendes. Das Donnergeprassel bei der Einfahrt, das plötzliche Versinken in tiefe Nacht und das Wiederdröhnen des Maschinengetöses in so engem Raum vereinigen sich, um einen momentanen Schauder, eine Ahnung der Vernichtung hervorzurufen — welches beim Wiederaustritt aus dem Tunnel an das Licht einem Gefühl von Erlösung und Erheiterung Platz macht.
„Kaum weniger nervenerregend als die Durchfahrten durch Tunnels sind die Begegnungen der mit voller Geschwindigkeit auf offener Bahn aneinander vorüberfliegenden Züge. Die fast planetarische Schnelligkeit ihres Laufs, die erschreckende Nähe, ja anscheinende Identität der eisernen Bahnen, in denen sich diese Meteore zu bewegen scheinen, führen die Möglichkeit eines Zusammenstoßes mit allen seinen entsetzlichen Konsequenzen in erschreckender Weise vor Augen. Diese Furcht dauert aber nur einen Augenblick. Erblicken des entgegenkommenden Zugs, aneinander vorbeifliegen und wieder fern voneinander sein, ist nur Sache eines Moments.“
In Deutschland erschien bereits im Jahre 1832 ein Buch mit dem Titel „Das größte Wunderwerk unserer Zeit oder die Eisenbahn für Dampfwagen zwischen Liverpool und Manchester in England“. Der Titel dieses bei Friedrich Campe in Nürnberg gedruckten und mit prächtigen Kupferstichen gezierten Werks zeigt deutlich das Verständnis, das man auch bei uns dem Begebnis in England entgegenbrachte. Die hier wiedergegebenen Abbildungen von der Manchester-Liverpool-Bahn sind zu einem großen Teil diesem Buch entnommen.
Der Erfolg der Bahnstrecke überstieg rasch alle Erwartungen. Wenn auch der Güterverkehr nicht sofort mit voller Stärke einsetzte, so machte sich doch alsbald ein Sinken der Steinkohlenpreise in jener Gegend bemerkbar. Eine Hebung der gesamten Gewerbtätigkeit schloß sich daran. Der Gewinn, den die Bahn selbst abwarf, ging über die gehegten nicht geringen Erwartungen schon bald um 20 000 Pfund Sterling jährlich hinaus.
Für Ländereien, die in der Nähe der Bahn lagen, wurden sogleich weit höhere Preise gezahlt als bisher, was ja einer später in allen Teilen der Erde bemerkbaren Einwirkung der Eisenbahnen entspricht. Die stolzen Lords, die sich so feindselig gegenüber dem neuen Verkehrsmittel verhalten hatten, bedauerten nun lebhaft, daß der Schienenweg fern ab von ihren Besitztümern lag. Lord Derby und Lord Sefton bemühten sich nicht viel später lebhaft darum, eine zweite Eisenbahnverbindung zwischen Manchester und Liverpool zustande zu bringen aber nur unter der Bedingung, daß die Geleise diesmal durch ihre Güter geführt würden. Eisenbahnvermessungsbeamte sind fortab nirgends mehr mit Steinen beworfen worden.
Ganz besonders lebhaft aber war der Zustrom von Fahrgästen zu der Eisenbahn. Jedermann wunderte sich, wo denn plötzlich die zahllosen Fahrlustigen herkamen. Die Erklärung ist recht einfach: das großartige, bequeme Verkehrsmittel hatte den Verkehr hervorgerufen. Zwar gab es immer noch genug Menschen, die sich vor dem rasselnden und feuerspeienden Ungeheuer auf den Schienen fürchteten, doch ihre Zahl wurde rasch geringer. Zwei Ingenieure aus Edinburgh, Greinger und Buchanan, welche die neue Eisenbahn[66] besichtigten, konnten sich, nach Smiles, gar nicht genug darüber wundern, daß man hier angenehmer und bequemer fahre als auf der Landstraße. Voll Erstaunen sagten sie in ihrem Bericht: „Selbst als die Geschwindigkeit volle 40 Kilometer in der Stunde erreicht hatte, konnten wir sehen, wie die Reisenden, unter denen sich viele Damen befanden, mit größter Kaltblütigkeit sich unterhielten.“
Der außerordentliche Erfolg der „Rakete“ genügte Stephenson noch nicht. Sein lebhaft strebender Geist dachte an kein Ausruhen. Kraftvoll und rastlos widmete er sich der weiteren Ausbildung der Lokomotive in seiner immer mehr aufblühenden Fabrik zu Newcastle. Jede Maschine, die das Werk verließ, trug eine neue Verbesserung, so daß der Lokomotivbetrieb immer sicherer und zuverlässiger wurde.
Dieses und der geldliche Erfolg der Manchester-Liverpool-Bahn bewirkten, daß sich nun in England allenthalben Aktiengesellschaften zur Errichtung und zum Betrieb von Eisenbahnen bildeten. Jede von ihnen suchte Stephenson als Mitarbeiter zu gewinnen. Es brach ein wahres Eisenbahnfieber in dem Inselreich aus. Jede größere Stadt wollte die Wohltaten des Schienenwegs sich zunutze machen. Manchester, das ja allen um einen wichtigen Schritt voraus war, wurde alsbald der Mittelpunkt eines ganzen Schienennetzes.
Als die Hauptstadt London daran ging, ihre erste Bahn zu bauen, die nach Birmingham lief, wurden Georg und Robert Stephenson auch hierhin als leitende Ingenieure berufen. Es war für sie eine ehrenvolle Aufgabe, die aber auch viele neue Schwierigkeiten brachte. War doch für diese Strecke der Bau einer ganzen Reihe von Tunneln[67] notwendig. Dabei kamen den Stephensons ihre Erfahrungen auf den Steinkohlengruben in Northumberland lebhaft zustatten.
Als man die ersten längeren Tunnel zu bauen begann, gab es wiederum vielerlei ängstliche Bedenken. Selbst bedeutende Ärzte meinten, der furchtbare Lärm, die von Rauch erfüllte Luft und der plötzliche Wechsel von hell und dunkel müßten die Gesundheit der Reisenden arg gefährden. Die Tatsachen haben dann bald auch diese Einwände widerlegt.
Als die Herstellung neuer Bahnlinien immer lebhafter betrieben wurde, begründete Stephenson in London eine Niederlassung, in der Rat erteilt und Pläne angefertigt wurden. Sehr viel große Eisenbahnbauten sind von hier aus entworfen und ausgeführt worden. Bis zum Jahre 1836 war in England die Bauerlaubnis für Eisenbahnen im Wert von 80 Millionen Pfund Sterling erteilt. 1856 waren 14 000 Kilometer in Betrieb.
Im Jahre 1835 berief König Leopold I. von Belgien den großen Eisenbahningenieur in sein Land, um ihn für die Erbauung von Bahnen in dem Königreich zu Rate zu ziehen. Zehn Jahre darauf reiste Stephenson nach Spanien, das ebenfalls mit dem Bau von Bahnen beginnen wollte. Von dort her kam er leidend zurück und hat sich nie wieder ganz erholt.
In den letzten Jahren seines Lebens zog sich Stephenson daher von allen Geschäften zurück und lebte ruhig auf seinem Besitztum Taptonhouse. Neben der Leitung seiner Kohlengruben und Kalkbrennereien widmete er sich hier ausschließlich dem Gartenbau. Insbesondere war die Zucht von Südfrüchten seine größte Leidenschaft. Er besaß riesige Treibhäuser, in denen er große Ananas und Ähnliches zog. Fast rührend ist es, den Überwältiger ungeheurer Hindernisse bei der Bemühung zu sehen, Gurken zu einem geraden Wuchs zu veranlassen. Wenn ihm das durch mancherlei Maßnahmen einmal gelang, so hatte er seine größte Freude daran.
Georg Stephenson starb, 67 Jahre alt, am 12. August 1848. Er wurde in der Dreifaltigkeitskirche zu Chesterfield beigesetzt. Das Donnern der Eisenbahnzüge durch viele Länder, dieses Tönen, das der Menschheit so viel Heil gebracht hat, war seine Grabmusik.
[68]
Erst die Vereinigung von Lokomotive und eisernem Gleis ergibt die Eisenbahn. Keines der beiden vermag ohne das andere allzuviel Nutzen zu bringen. Das bloße Gleis ist nicht mehr als eine Vorrichtung zur Erleichterung des Fahrens ohne die Befähigung, Schnelligkeit zu verleihen. Die Lokomotive auf der Landstraße gleicht einem Schwimmvogel, der, auf das Land gesetzt, unbeholfene Bewegungen vollführt. Beide Bestandteile zusammengebracht aber verwandeln sich zu einem völlig neuen Ganzen mit großartigen Eigenschaften. Dies ist ein Vorgang, der jenem in der Chemie gleicht, wenn das giftige Chlor und das bei Berührung mit Feuchtigkeit brennende Natrium zum Kochsalz sich vereinigen, das für den Menschen unentbehrlich ist.
Gerade wie der Jüngling und das Mädchen, die später ein Paar werden sollen, heranwachsen, ohne einander zu kennen, so haben sich auch das Schienengleis und die Lokomotive getrennt voneinander entwickelt, sie, die doch schließlich, nach Stephensons bereits erwähntem Ausspruch „Mann und Weib“ geworden sind. Liebevoll wurden sie an verschiedenen Orten gehegt und gefördert, und erst als man glaubte, daß jedes von ihnen eine genügende Reife erlangt hätte, tat man sie zusammen. Aber auch hier gab es, wie das ja bei den Menschen gleichfalls manchmal vorkommen soll, einige Zeit nach der Hochzeit mancherlei Verdrießlichkeiten, was uns aus der Schilderung von Trevithicks Wirken bereits bekannt ist. Erst nach längerer Zeit, als beide gesetzter geworden waren, gewöhnten sich die Gatten aneinander; und als sie um die letzte Jahrhundertwende die eiserne Hochzeit begehen konnten, da vermochten sie auf ein gemeinschaftliches Lebenswerk von unerhörter Großartigkeit zurückzublicken.
Nachdem wir in den vorhergehenden Abschnitten die Entwicklung der Lokomotive bis zum Sieg der „Rakete“ beim Wettkampf zu Rainhill verfolgt haben, liegt es nun ob, den Werdegang des Gleises zu betrachten. Hierbei werden wir ein Stück weiter in das neunzehnte Jahrhundert vordringen müssen, da das Gleis um ein beträchtliches später seiner heutigen Form sich näherte als die Lokomotive.
Häufig wird angenommen, daß bereits die Griechen zur klassischen Zeit Geleise gekannt haben. Es ist aber unsicher, ob die Rillen, die sich tatsächlich auf den steinernen Wegen für die Opferfahrzeuge befunden haben, nicht unbeabsichtigt durch die schleifende Wirkung der Räder entstanden sind. Bestenfalls könnte es sich hier immer nur um eine vertiefte Spur handeln, die mit dem heutigen Gleis wohl den Grundgedanken, nicht aber die Ausführungsform gemeinsam hat. Wir legen ja überall, wo nicht ein querender Verkehr es anders verlangt, die Schienen nicht in Wege, sondern auf diese.
Mit Sicherheit ist das Vorhandensein von Geleisen für das zweite Drittel des sechzehnten Jahrhunderts festgestellt. Danach ist der Ursprung der Spurbahn in Deutschland zu suchen.
Zu jener Zeit stand der deutsche Bergbau, gefördert durch eine wissenschaftlich gut begründete Hüttenkunde, in voller Blüte. Die im Jahre 1544 erschienene „Cosmographia“ des Sebastian Münster schildert eine Vorrichtung, welche die deutschen Bergleute erfunden hatten, um die kleinen, mit Erzen beladenen Wagen leichter vorwärtsbringen zu[69] können. Eine ähnliche Beschreibung findet sich in dem „Bergwerckbuch, durch den hochgelehrten und weitberühmten Herrn Georgium Agricolam, der Artznei Doktorn / vnd Bürgermeister der Churfürstlichen Statt Kemnitz / erstlich mit großem Fleiß / Mühe und Arbeit in Latein beschrieben“. Dieses wurde im Jahre 1557 durch den „hochgelehrten Philippus Beccius / der löblichen Universität zu Basel Professor“ neu herausgegeben und erlangte als brauchbares Lehrbuch eine weite Verbreitung. Danach benutzten die deutschen Bergleute damals zum Befördern der Lasten einen kleinen, vierrädrigen Wagen, den sie „Hund“ nannten, weil er „so man ihn bewegt / ein thon gibet daß etliche dunkt er habe ein thon / dem bellen der Hunden nicht vngleich“.
Weiter heißt es bei Agricola: „Aber der Hund ist wol halber weiter dann der Laufkarren / aber vier Werckschuh lang / dritthalben Werckschuh breit vnd hoch / dieveil er aber gevierdt ist / so wird er auch mit dreyen gevierdten Blächen vmbgeschlagen / vnd gebunden vnnd vber das auch mit eysenen Stabeysen befestiget / zu seinem boden seind zwey eysene Felchin angeschlagen / vmb welcher Köpf zubeyden seiten höltzene scheiben vmbgehen / welche damit sie nicht aus den Felchin / die vest seind herab fallen / so verwahrt man das mit kleinen eysenen Neglen / daß diese so der große Nagel der auch an boden ist geschlagen / kumpff ist vorden / nicht von dem gebahnten weg / das ist / aus der höle / oder auß der gleiß der Trömen so gelegt seind abweiche.“
Diese Beschreibung ist so zu verstehen, daß die vier Räder des „Hunds“ auf mehr oder weniger bearbeiteten Baumstämmen rollten, die so dicht aneinander lagen, daß nur eine schmale Rinne zwischen ihnen blieb. In diese Rinne tauchte der Spurnagel und verhinderte ein Abgleiten des „Hunds“ vom Gleis. So also sah die erste Zwangsspur aus.
In dem „Bergbuch“ von Ettenhardi wird dann von sogenannten Reibeisen berichtet, die in der Länge von je einem Klafter, das ist etwa 1,8 Meter, auf die hölzerne Bahn genagelt wurden, um diese zu schonen. Hierin hat man häufig bereits den Anfang des eisernen Gleises gesehen. Es scheint jedoch, daß diese Reibeisen nicht auf die Langhölzer, sondern seitlich an deren Innenflächen genagelt wurden, um sie vor der Abnutzung durch den Spurnagel zu schützen.
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In der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts wurden die deutschen Bergleute, nachdem die Bestimmung aufgehoben worden war, daß Ausländer in den königlichen Werken nicht beschäftigt werden durften, nach England berufen, um dessen stark zurückgebliebenem Bergbau aufzuhelfen. Sie brachten den Gedanken der Lastenförderung auf Spurbahnen mit und schufen so die ersten Geleise in dem Land, das die Wiege der Eisenbahn werden sollte. Aus der schon von Agricola erwähnten Benennung „gleiß der Trömen“ soll sich das ja heute noch lebendige englische Wort „tram“ entwickelt haben.
Es scheint jedoch, als wenn der Beginn der Entwicklung, die zum heutigen Eisenbahngleis führte, nicht unmittelbar auf die Hundsläufe in den Bergwerken zurückzuführen ist. Es wird vielmehr behauptet, daß der Gedanke, eine längere vom Bergwerk zur Verschiffungsstelle führende Straße mit einer hölzernen Bahn zu belegen, ganz selbständig in der Gegend von Newcastle am Tyne entstanden sei, das später die erste Lokomotivfabrik auf der Erde sah.
In der Gegend von Newcastle brachte man die Kohle zu Anfang auf dem Rücken von Pferden zum Fluß. Als dann die Förderung in Karren aufkam, waren die schlechten Wege bald so zerfahren, daß sie nicht mehr benutzt werden konnten. Man belegte sie daher mit zwei Bohlenstreifen, die den gleichen Abstand voneinander hatten wie die Karrenräder. Das dürfte um 1620 der Fall gewesen sein.
Die Last der schweren Karren verdrückte jedoch die Bohlen in dem weichen Boden so stark, daß sie die Spur nicht mehr einhielten. Da kam im Jahre 1630 ein Kohlengrubenbesitzer in Northumberland, namens Beaumont, auf den Gedanken, die gleichlaufenden Bohlenbahnen durch Querhölzer zu verbinden, auf denen sie mit Nägeln befestigt wurden. Die so angelegte Spurbahn sieht schon wie ein richtiges Gleis aus. Sie soll die Möglichkeit geschaffen haben, durch ein Pferd eine viermal größere Last zu befördern,[71] als es bis dahin angängig war. Die einzelnen Langhölzer, die Beaumont benutzte, waren 11⁄2 Meter lang, 11 Zentimeter breit und 31⁄2 Zentimeter hoch. Als die Holzbohlen sich allzu rasch abnutzten, ging man daran, sie mit eisernen Bändern zu beschlagen.
Es blieb die unangenehme Erscheinung, daß die Karren sehr leicht seitlich von der Spurbahn hinunterrollten. Um dies zu verhindern, setzte man an den Außenkanten erhöhte Spurränder an, so daß eine zwangläufige Führung der Fahrzeuge entstand. Doch auch mit diesem schon ziemlich weit fortgeschrittenen Zustand war noch nichts endgültig Brauchbares erreicht. Der dünne Eisenbeschlag wurde von den schweren Karren verbogen, die Nägel hinausgedrückt, so daß ein glattes Fahren bald unmöglich wurde. Auch eine Verstärkung der Eisenbänder nutzte nicht viel.
Da brachte ein Zufall die Entwicklung um ein bedeutendes Stück vorwärts.
Im Jahre 1767 litten die englischen Eisenwerke stark unter einem Rückgang des Geschäfts. Das aus den Hochöfen kommende Eisen konnte nicht sogleich verkauft werden. Der Mitbesitzer der Eisenwerke zu Coalebrookdale, Reynolds, beschloß daher, aus dem Eisen dicke Barren zu gießen und einen Versuch zu machen, ob ein solcher sehr kräftiger Belag der hölzernen Schienen die Karrenförderung nicht günstig beeinflussen würde. Er wollte zunächst das Eisen nur vorübergehend für diesen Zweck zur Verfügung stellen, es nachher, sobald die Geschäfte wieder besser gingen, wieder umgießen lassen und verkaufen.
Die ersten Barren wurden in Coalebrookdale am 13. November 1767 gegossen. Kaum waren sie ausgelegt, da zeigten sich die Vorteile dieses kräftigen Belags der hölzernen Balken so deutlich, daß an ein Wiederaufnehmen des Eisens niemals mehr gedacht worden ist. Der Grubenbesitzer ließ vielmehr seine sämtlichen Geleise in solcher Weise ausstatten, und sein Vorgehen fand alsbald Nachahmung. Auf der nun zum erstenmal erzeugten wirklich glatten Bahn rollten die Karren sehr viel leichter, und die unaufhörlichen Ausbesserungsarbeiten hörten infolge der Widerstandsfähigkeit der Anlage auf. Das ist der Ursprung des heutigen eisernen Gleises.
Die Entwicklung geht nun rasch weiter.
Reynolds Eisenbarren waren, um die Fahrzeuge in der Spur zu halten, mit einer schwachen Vertiefung versehen. Da hierdurch Entgleisungen nicht mit Sicherheit verhindert wurden, schuf Benjamin John Curr in dem Bergwerk des Herzogs von Norfolk bei Sheffield im Jahre 1776 eine neue gußeiserne Schienenform, die im Querschnitt einen Winkel darstellte. Der eine Schenkel dieses Winkels lag auf dem Langholz, der andere ragte senkrecht etwa fünf Zentimeter empor. Durch diesen hohen Rand war ein Abweichen von der Spur ausgeschlossen.
Als einige der unter den Winkelschienen liegenden Langhölzer verfaulten, und man an solchen Stellen neue Auflageflächen mittels Querhölzern herstellte, die unter dem Gleis hindurchgesteckt wurden, zeigte es sich, daß die eisernen Schienen fest genug waren, um auch ohne fortlaufende Unterstützung die Last der Wagen zu tragen. So wurde, wiederum durch Zufall, das freitragende, nur in gewissen Abständen aufgelagerte eiserne Querschwellengleis erfunden. Als im Jahre 1800 die Plymouthwerke zu Merthyr-Tydvil ihre Bahn nach Aberdare-Junction eröffneten, da ruhten die verstärkten Winkelschienen nur noch auf einzelnen untergesetzten Steinwürfeln.
Bis jetzt waren die Schienen so gestaltet, daß jeder gewöhnliche Straßenwagen darauf fahren konnte, sobald nur sein Radabstand zur Spurweite paßte. Die fahrenden Räder übten jedoch ziemlich rasch einen zerstörenden Einfluß auf die Currschiene aus. Sie fraßen tiefe Rinnen in das Gleis, so daß immer noch zu häufige Auswechselungen notwendig[72] wurden. Da erkannte Jessop, daß die Dauerhaftigkeit und zugleich die Tragfähigkeit der gußeisernen Schiene sehr verbessert würde, wenn man ihr eine im Querschnitt pilzförmige Gestalt gäbe. Seine Schiene hatte einen schmalen, senkrechten Steg und darauf einen stark verbreiterten Kopf. Bei dieser Form konnte die gleiche Tragfähigkeit mit weniger Eisen erreicht werden. Ein Einschleifen der Räder war hier nicht mehr möglich.
Um jedoch ein Entgleisen der Wagen auf solchen Schienen zu verhindern, mußten die Räder der Fahrzeuge mit vorstehenden Rändern versehen werden. Es entstand damals der Spurkranz, der bis heute jedem Eisenbahnfahrzeug eigentümlich ist. Von nun an ist die Ausgestaltung der für Schienenwege bestimmten Wagen von denen getrennt, die gebaut werden, um auf der Landstraße zu fahren. Dies ist für die Entwicklung der Eisenbahn-Fahrzeuge, die notwendig einen eigenen Verlauf nehmen mußte, sehr nützlich gewesen.
Die Beanspruchung einer solchen Pilzschiene, die freitragend zwischen je zwei festen Auflagern ruht, ist nach den Gesetzen der Festigkeitslehre am stärksten, wenn sich eine Wagenachse gerade in der Mitte der freitragenden Schiene befindet. Es war darum bei Verwendung des gegen Durchbiegung wenig widerstandsfähigen Gußeisens wünschenswert, den Schienen eine Form zu geben, welche die Tragfähigkeit in der Mitte verstärkte. Dies war am bequemsten dadurch zu erreichen, daß man die Höhe jeder Schiene von den Enden her nach der Mitte zu wachsen ließ. Auf diese Weise entstand die Fischbauchform der gußeisernen Schiene, die lange Zeit sehr weit verbreitet gewesen ist. Die ersten Lokomotiven sind auf solchen Fischbauchschienen gefahren.
So groß nun schon die Verbesserung des Gleises gegenüber der ursprünglichen Gestalt war, so wissen wir doch aus den Lebensgeschichten von Trevithick und Stephenson, mit welchen Schwierigkeiten sie ständig infolge der schlechten Beschaffenheit der Geleise zu kämpfen hatten. Die Schienen waren sorglos verlegt, so daß die Lokomotiven auf den Geleisen hüpften wie trabende Pferde, was denn auch den ersten Maschinen Stephensons in Killingworth den Beinamen „iron horses“ verschaffte. Das Scheitern von Trevithicks Versuchen ist unmittelbar auf die geringe Widerstandsfähigkeit des Gußeisens gegen Biegung und Stöße zurückzuführen. Wir wissen, wie er seine Londoner Versuche aufgab, als die Lokomotive „Catch me who can“ wieder einmal durch Schienenbruch entgleist war. Diese Zerbrechlichkeit der gußeisernen Schienen schuf überall Unannehmlichkeiten und Unsicherheit, so daß der Wunsch nach einem besseren Baustoff mit größerer Widerstandsfähigkeit sich regte. Die Verwendung des Schmiedeisens sollte den gewünschten Erfolg in vollkommenster Weise bringen.
Das erste Schmiedeisengleis wurde von dem Ingenieur Nixon auf der Wallbottle-Kohlengrube bei Newcastle ausgelegt. Es bestand aus einfachen quadratischen Stäben von 38 Millimetern Höhe. In Frankreich benutzte man längere Zeit eine noch schmalere, aber sehr hohe rechteckige Schiene aus Schmiedeisen.
Wie fast stets bei der ersten Einführung von technischen Neuerungen, die später große Bedeutung gewinnen, blieben auch hier zunächst Rückschläge nicht aus. Viele Bahnen wandten sich wieder von den schmiedeisernen Schienen ab, weil deren scharfe Kanten in die weichen Kränze der gußeisernen Räder einschnitten und diese rasch zerstörten. Das Gußeisen behauptete noch längere Zeit weiter das Feld. Dies wurde erst anders, als durch eine tief eingreifende Verbesserung des Herstellungsverfahrens die richtige Form für die Schmiedeisenschiene gefunden wurde.
Obgleich das Walzen des Eisens schon recht lange erfunden war, vermochte man doch bis zum zweiten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts nicht über die Herstellung von glatten Stäben durch dieses Verfahren hinauszukommen. Der Leiter der Bedlington-Eisenwerke in Durham, Berkinshaw, jedoch wollte die bei gußeisernen Schienen bereits erwiesenen Vorteile der Pilzform auch bei der schmiedeisernen Schiene verwenden. Nach lang andauernden und äußerst mühseligen Versuchen gelang es ihm endlich, Walzschienen in Pilzform herzustellen.
[73]
Mit der hierdurch erzielten günstigen Verteilung des Eisens auf den Querschnitt war zugleich die Möglichkeit verbunden, das einzelne Schienenstück länger zu machen. Während man bei der gußeisernen Schiene über Längen von 1 bis höchstens 11⁄2 Meter nicht hinausgekommen war, hatten Berkinshaws Walzschienen Längen von 41⁄2 Meter. Hierdurch verringerte sich die Zahl der Schienenstöße außerordentlich, was insbesondere damals bei den recht schlechten Befestigungsarten sehr vorteilhaft war.
Georg Stephensons Scharfblick ließ ihn die Vorzüge der langen Walzschiene sofort erkennen, und er trat lebhaft dafür ein, die Bahnstrecke von Stockton nach Darlington, die er zu jener Zeit gerade baute, mit einem solchen Gleis zu versehen. Aber die Liebe zum Althergebrachten machte es auch damals unmöglich, die Leiter der Bahngesellschaft von der Nützlichkeit der neuen Bauform durchgreifend zu überzeugen. Die Linie Stockton-Darlington ist deshalb nur zur Hälfte mit schmiedeisernen Schienen ausgerüstet worden, die andere Hälfte erhielt ein gußeisernes Fischbauchgleis.
Diese Sucht der Menschen, beim sogenannten Bewährten zu beharren, der wir nun schon recht häufig in der Geschichte der Eisenbahn begegnet sind, behinderte auch in einer anderen recht merkwürdigen Weise das rasche Durchdringen der so sehr viel besseren Walzschiene. Obgleich Schmiedeisen gegen Durchbiegung sehr viel widerstandsfähiger ist als Gußeisen, so daß die Berkinshaw-Schiene ohne weiteres imstande gewesen wäre, die damals noch üblichen, verhältnismäßig geringen Raddrücke zu tragen, meinte man doch, auch ihr die Fischbauchform geben zu müssen, die für einen ganz anderen Baustoff erdacht war. Mit großer Mühe ward die glatt aus den Walzen kommende Schiene ausgebaucht. Diese schwere und teure Arbeit, die ganz überflüssig war, verhinderte das Eindringen der schmiedeisernen Schiene in den Eisenbahnbetrieb lange Zeit.
Als man das Schmiedeisen allgemeiner zu verwenden begann, wurde auch der Versuch gemacht, Flachschienen auf hölzerne Langschwellen zu verlegen, was eigentlich ein Rückgreifen auf bereits veraltete Formen bedeutete. Die erste größere Eisenbahnstrecke in Deutschland, die Linie von Leipzig nach Dresden, wurde mit solchen Flachschienen ausgerüstet, die jedoch nicht lange hielten und bald ersetzt werden mußten.
1835 erfand nach den einen Robert Stephenson, nach den andern Georg Stephensons Schüler John Locke die doppelköpfige Schiene. Es war dies nichts anderes als eine doppelte Pilzschiene mit gleichgeformten Verdickungen am Kopf wie am Fuß. Man versprach sich hiervon den Vorteil, jede Schiene zweimal benutzen zu können, indem man sie nach Verschleiß des einen Kopfs einfach umdrehte. Bald jedoch zeigte es sich, daß[74] der untere Teil der Schiene an den Auflagestellen rasch so stark verdrückt wurde, daß beim Wenden eine glatte Fahrbahn nicht mehr erzielt werden konnte. Auf das Umkehren der Schiene mußte daher von Beginn an verzichtet werden. Dennoch ist die Doppelkopfschiene in England bis zum heutigen Tag die am meisten verwendete Schienenform geblieben. Sie hat nur eine Änderung durch Umgestaltung zur sogenannten Bullenkopfschiene erfahren, indem man den Fahrkopf jetzt sehr viel stärker macht als die Verdickung am Fuß.
Die Befestigung der bis dahin gebräuchlichen Schienenformen an den Auflagestellen machte, wie noch näher darzulegen sein wird, große Schwierigkeiten, da stets besondere Einrichtungen zum Festhalten notwendig waren. Diese Not brachte den Amerikaner Robert Stevens auf den Gedanken, eine Schienenform zu schaffen, die eine Befestigung ohne zwischengeschaltete Hilfsmittel ermöglichen sollte. Er erfand die Breitfußschiene, die, wenn auch in etwas abgeänderter Form, in Deutschland und den meisten anderen Ländern der Erde noch heute in allgemeinster Anwendung ist. Zum erstenmal wurde sie bei der Camden-Amboybahn in Amerika verlegt. Stevens verbreiterte den Fuß besonders stark an den Auflagestellen, während bei der heutigen Breitfußschiene ein gleichmäßiger Querschnitt üblich ist.
Der verstärkte Fuß zusammen mit dem pilzförmig verdickten Kopf hat zugleich der Schiene die beste Tragform gegeben. Stellt sie doch im Querschnitt nichts anderes dar als einen Doppel-T-Träger, wie man ihn zur Aufnahme schwerer Lasten überall verwendet. Wird ein solcher Träger, der an seinen Endpunkten unterstützt ist, in der Mitte belastet, so tritt eine Beanspruchung auf Durchbiegung ein. Denkt man sich nun, daß der Träger dieser Beanspruchung nachgibt, so werden die Fasern an seinem Kopf etwas zusammengedrückt, während die Fasern am Fuß gereckt werden. Zwischen der Stauchung und der Streckung muß notwendig ein Abschnitt liegen, in dem die Fasern weder gestreckt noch gestaucht werden, also unbeteiligt bleiben. Diese Erkenntnis hat dazu geführt, das Eisen am Kopf und Fuß der Träger in breiten Flanschen anzuhäufen und für die Mitte nur einen dünnen Steg auszubilden. Die Schiene wird, wenn man sich ein Rad in der Mitte eines auf zwei Schwellen aufruhenden Schienenstücks denkt, in gleicher Weise beansprucht, und darum ist auch für sie die Trägerform am zweckmäßigsten. Das Walzen dieser Breitfußschiene machte erst außerordentliche Mühe, gelang aber alsbald zur Zufriedenheit.
Im Jahre 1836 führte Vignoles die Breitfußschiene, freilich mit sehr niedrigem Steg, in England ein. In Deutschland ist sie bei dem späteren Ausbau der Strecke Leipzig-Dresden zum erstenmal verlegt worden, und seit der Technikerversammlung des Vereins Deutscher Eisenbahnverwaltungen im Jahre 1850 ist sie bei uns die allgemein gebräuchliche Schienenform.
Eine andere eigenartige Schienenart wurde, gleichfalls in Amerika, von Strickland erfunden. Es war die hohle, sogenannte Brückschiene, die in den verschiedensten Querschnittformen gleichfalls weite Verbreitung gefunden hat. Auch in Deutschland ist sie häufig angewendet worden und wohl auch heute noch hier und da zu finden.
Barlow entwickelte später aus der Brückschiene die Sattelschiene, welche die Ausgangsform für die Schwellenschienen wurde. Es ist dies eine Schienengattung, die ohne Schwellen in die Bettung verlegt werden kann, weil ihre Form ihr gestattet, die Aufgabe der Schwellen, nämlich die Übertragung der auftretenden Kräfte auf die Bettung, selbst zu übernehmen. Eine andere Form der Schwellenschiene ist die 1854 von Adams erdachte Trägerschiene.
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In den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts war schließlich die Anzahl der üblichen Schienenformen verwirrend groß geworden. Jeder wählte nach Gutdünken die Gattung aus, welche ihm paßte, ohne sich recht darüber klar zu werden, welche Vorteile er dadurch erringen konnte. Schließlich aber setzten sich die Doppelkopf- und die Breitfußschiene so weit durch, daß sie heute auf der ganzen Erde fast alleinherrschend sind.
Nicht weniger wichtig als die Schiene ist für die Standfestigkeit und Dauerhaftigkeit eines Gleises die Form und Art der Unterlage, auf der die Schienen ruhen. Die Schwellen, wie die Einzelteile dieser Unterlage genannt werden, haben gleichfalls recht verschiedenartige Entwicklungsabschnitte durchgemacht.
Die Schwelle war, wenn man es recht betrachtet, früher vorhanden als das Gleis, denn bei den ersten Spurbahnen fuhren die Wagenräder, wie wir gesehen haben, auf Langschwellen. Daraus folgte, daß auch die ersten richtigen Schienen, die nur zur Erhöhung der Dauerhaftigkeit über die Holzspur gelegt wurden, auf Langschwellen ruhten. Die Schienen hatten so eine fortlaufende, ununterbrochene Unterlage, wie sie an nicht allzu wenigen Stellen noch heute üblich ist.
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Den schärfsten Gegensatz zu den Langschwellen bilden die Einzelunterlagen aus Stein oder aus Holz. Auf Steinwürfeln ruhten die Schienen der Bahn Manchester-Liverpool und ebenso der Eisenpfad der ersten deutschen Eisenbahn von Nürnberg nach Fürth. Auch Holz ist einst in Form von eingerammten Pfählen als Einzelunterlage verwendet worden, so z. B. bei der Bahn von Camden nach Amboy in Amerika.
Doch beide Arten der Unterlage für die Schienen zeigten große Mängel. Die einzelnen Steinwürfel oder Holzpfähle veränderten allzu leicht ihre Lage gegeneinander, so daß die Spur nicht genau innegehalten wurde. Bei den Langschwellen zeigten sich bald große Schwierigkeiten bei der Entwässerung des Bettungsstücks, das zwischen den Schwellen lag. Notwendigerweise muß ja die Bahnbettung möglichst trocken gehalten werden, weshalb sie, wie wir später bei der Darstellung des neuzeitlichen Oberbaus hören werden, aus besonderen Stoffen hergestellt wird. Da die zusammenhängenden Langschwellen das auf die Bettung fallende Oberflächenwasser am seitlichen Fortfließen behindern, so bleibt der Boden zwischen ihnen sehr lange feucht, und rasches Verfaulen des Holzes ist die Folge. Wir haben ja schon gehört, daß man wegen dieses Anfaulens der Langschwellen durch Zufall auf den Querschwellenbau gekommen ist, der heute am weitesten verbreitet ist. Seit dem Jahre 1876 ist diese Bauform für die deutschen Bahnen als die beste erkannt und festgesetzt.
Die Holzquerschwellen hatten früher wechselnde Querschnittformen. So waren die halbrunde, die dreieckige und die trapezförmige Schwelle im Gebrauch. Heute wird ziemlich überall die rechteckige Form bevorzugt.
Als die Bahnen sich immer weiter ausbreiteten, kam der Augenblick, in dem man mit Schrecken überdachte, ob nicht der außerordentlich starke Verbrauch von Holz, den die immer[77] weitergehende Vermehrung der Schwellen erforderte, allmählich alle Wälder auf der Erde aufzehren würde. Nach Haarmann heißt es in einer Besprechung dieser volkswirtschaftlichen Frage vom Jahre 1876:
„Den wundesten Punkt bildet der immer riesiger werdende Bedarf an Eisenbahnschwellen. Hier kann man mit Recht fragen: ‚Wo will das hinaus?‘ Auf der ganzen Erde wächst nur ein Bruchteil von dem Eichenholz hinzu, das alljährlich unter unsere Schienen gebettet wird, um dort trotz aller Präparierung in wenigen Jahrzehnten zu verfaulen. Es ist nur zu gewiß, daß die zweite, höchstens die dritte Generation, von uns an gerechnet, vor der Unmöglichkeit stehen wird, Bahnen mit Eichenschwellen zu bauen, und wenn man sie mit Gold aufwiegen wollte! Auch die Schwellen aus anderen Holzarten werden bei ihrer viel kürzeren Dauer immer teurer und seltener werden und zuletzt nicht mehr zu beschaffen sein.“
Diese schwarzseherische Voraussage ist nicht in Erfüllung gegangen, da der in der Tat sehr starke Holzbedarf der Eisenbahnen ziemlich in allen Ländern durch sorgsame Forstwirtschaft wieder ausgeglichen wird. Dennoch blieb der Wunsch rege, Schwellen aus einem anderen Stoff benutzen zu können, und auch hierzu bot sich als selbstverständlich das Eisen an. Die Befürchtung, die man im Anfang hegte, daß man auf Geleisen mit Eisenschwellen härter fahren würde als auf solchen mit hölzernen Querschwellen und daß der Rost die eisernen Unterlagen zu schnell zerstören würde, haben sich als grundlos erwiesen.
Gußeiserne Schwellen freilich bewährten sich wegen ihrer leichten Zerbrechlichkeit ebensowenig wie das gußeiserne Gleis, und auch mit den ersten Formen der aus Schmiedeisen gewalzten Schwellen erhielt man nicht sogleich gute Ergebnisse. Man dachte zuerst, daß es genüge, den Schwellen die Form der (Doppel-T-)Träger zu geben. Das war jedoch verfehlt, da die Hauptaufgabe der Schwelle nicht ist, die Schienen zu tragen, sondern vor allem, die Beanspruchung der Fahrbahn durch die Fahrzeuge möglichst vollständig auf die Bettung zu übertragen und sie dort zu verteilen. Diese Aufgabe erfüllte schon bis zu einem gewissen Grade die schmiedeiserne Schwelle von Le Crenier aus dem Jahre 1858, aber ihre Wandstärke war noch zu gering. Die beabsichtigte Wirkung trat erst vollständig ein, als man kräftige Schwellen walzte und sie mit Endverschlüssen versah, so daß ein bedeutender Teil der Bettung vollkommen von der trogförmigen Schwelle umschlossen wurde. Heute besteht die Eisenschwelle vollberechtigt neben der Holzschwelle; beide haben Vorteile und Nachteile, aber keine der beiden Schwellenarten vermag die andere ganz zu verdrängen.
Die Befestigung der Schienen auf den Schwellen fand zu Beginn nur an den Enden der kurzen Schienenstücke statt. Erst als die schmiedeisernen Schienen die Herstellung größerer Längen gestatteten, wurden auch dazwischenliegende Verbindungen mit den Schwellen hergestellt.
Zur Festhaltung der englischen Doppelkopfschiene war und ist noch heute das Aufschrauben[78] eines besonderen Schienenstuhls notwendig, in dem die Schiene durch sehr kräftiges Eintreiben eines hölzernen Keils gehalten wird. Die Breitfußschiene wurde zunächst durch einfaches Eintreiben von Hakennägeln in die Schwelle festgehalten. Da jedoch die Nägel sich leicht lockerten, so gab man ihnen einen widerhakenähnlichen Ansatz, der beim Eintreiben des Nagels sich einen besonderen Weg in die Schwelle bahnte und so das Lockerwerden und Herausfallen des Nagels hinderte. Eine weit innigere Verbindung stellte dann die heute noch in gleicher Weise gebräuchliche Schienenschraube mit großem Kopf her.
Beim Befahren durch die Lokomotiven und Wagen werden die Schienen, besonders in den Krümmungen, auch durch seitliche Kräfte beansprucht, die sie nach außen umzukanten versuchen. Man ist dem schon frühzeitig dadurch entgegengetreten, daß man die Schienen über jeder Schwelle mittels eiserner Stangen verband, die durch Löcher in den Stegen gingen und dort verschraubt waren. Auch besondere Haltenasen, die von außen den Schienenkopf festhielten, wurden angewendet. Es stellte sich jedoch schließlich heraus, daß das beste Mittel zur Abwendung des Umkantens die Einschaltung von Unterlagsscheiben zwischen Schienenfuß und Schwelle sei.
Durch das ständige senkrechte Hin- und Herschwingen der Schienen unter dem rasch auftretenden und wieder verschwindenden Druck der Räder fraßen sich die Schienenfüße bald in die weichen Schwellen ein. Die Unterlagsplatte vergrößert nun die Auflagefläche zwischen Schiene und Schwelle sehr bedeutend, so daß das Einfressen geringer wird. Zugleich gestattet die Unterlagsplatte die Anbringung einer größeren Anzahl von Schrauben und Nägeln. Dadurch, daß man die Auflagefläche der Unterlagsplatte auf der Schienenseite nicht wagerecht macht, sondern sie nach außen hin schräg ansteigen läßt, bewirkt man zugleich eine nach innen geneigte Schräglage der Schienen. Diese ist vorteilhaft, weil hierdurch die stets etwas kegelförmig abgedrehten Radkränze, wenn sie seitlich auflaufen, immer wieder in die günstige Mittellage zurückgedrängt werden. Da der Schienenkopf in dieser Stellung nach außen zu immer etwas höher liegt als innen, so muß jedes Rad bei dem Versuch des seitlichen Auflaufens nach oben klettern, und die Schwerkraft zieht es dann sofort wieder zurück. Auch diese Schräglegung der Schienen ist heute wohl auf der ganzen Erde üblich. Näheres über die Unterlagsplatten ist in Abschnitt 13 zu finden.
Dem Eisenbahnbau ist es im Lauf der Jahrzehnte gelungen, unerhörte Schwierigkeiten zu überwinden. Die viele tausend Kilogramm schweren Fahrzeuge rollen über unergründliche Moore hinweg, sie fliegen auf Brücken über grauenhafte Abgründe und haben sich einen Weg durch die mächtigsten Gebirgsstöcke gebahnt. Die Wüste und das Meer sind überwunden worden, aber ein Hindernis, das ganz bescheiden aussieht, hat bis zum heutigen[79] Tag allen Bemühungen widerstanden, mit denen man versuchte, es unschädlich zu machen.
Wenn man noch jetzt auf der Eisenbahn durch ein lebhaftes Geräusch der fahrenden Züge und hier und da unter Erschütterungen leidet, so sind daran weder der Unterbau noch der Oberbau schuld, nicht die Schwellen und nicht die Schienen an sich verursachen diese Unannehmlichkeit, sondern ein Bauteil, im einzelnen von geringer Größe aber durch seine Vielfältigkeit von größter Bedeutung, ist der Unheilstifter. Wie ein Bazillus haust er im Bahnkörper und hat sich bis jetzt allen Austreibungsversuchen zu entziehen vermocht.
Die Schiene läßt sich auch auf der Walze nicht als endloses Band herstellen, und wenn dies möglich wäre, so müßte man sie trotzdem in verhältnismäßig kurzen Stücken anfertigen, da jedes Gleis stark wechselnden Wärmegraden ausgesetzt ist. Hierbei verändert das Eisen fortwährend seine Länge, indem es sich bei Kälte zusammenzieht und bei Erwärmung wieder ausdehnt. Es ist notwendig, in gewissen, nicht allzu langen Abständen in die Geleise Lücken einzuschalten, die einen Ausgleich dieser Längenveränderungen gestatten. Der Schienenstoß ist also eine Notwendigkeit und wird es immer bleiben, solange Schienen ohne vollständige Einbettung daliegen.
Während die Räder über die Rücken der Schienen glatt hinweglaufen, erhalten sie jedesmal einen schweren Schlag, wenn sie am Stoß von einem Schienenstück auf das andere übergehen. Es ist wohl gelungen, hier einige Verbesserungen gegen die Anfangszeit zu schaffen, aber im Grund wirkt der Stoß, wenn man die gesteigerte Geschwindigkeit in Betracht zieht, heute gerade noch so schädlich wie zu der Zeit, als Stephenson seine Strecken baute.
Über die Vorgänge, die sich am neuzeitlichen Schienenstoß vollziehen, wird gleichfalls[80] in Abschnitt 13 Näheres mitgeteilt werden. Hier haben wir nur von der Entwicklung des Schienenstoßes bis in die Nähe seiner heutigen Form zu sprechen.
Die Reynoldsschen Gußbarren wurden mit je drei Nägeln auf die Längsbohlen genagelt. Eine besondere Berücksichtigung des Stoßes fand nicht statt. Jessops Pilzschienen hatten an den Enden Verbreiterungen zur Aufnahme der Befestigungsnägel. Eine Verbindung der Schienenstücke untereinander wurde auch hier nicht vorgenommen.
Um 1820 trifft man die ersten Stoßstühle an. Sie waren notwendig geworden, weil die Jessopschen Verbreiterungen sehr leicht abbrachen. Es schien darum besser, das Befestigungsmittel von der Schiene selbst zu trennen. Man hielt die Schienen im Stuhl dadurch fest, daß durch jedes der beiden Schienenenden ein Bolzen gesteckt wurde.
Es stellte sich bald heraus, daß diese Befestigungsart sehr schädlich auf die Fahrzeuge einwirkte, welche über die Schienen rollten. Jedesmal wenn ein Rad von einem Schienenstück auf das andere überging, erhielt es einen schweren Stoß. Zusammen mit William Losh erfand Georg Stephenson 1816 den ersten Überblattungsstoß. Hierbei stießen nun die Schienen nicht mehr stumpf zusammen, sondern die Enden waren in Z-Form ineinandergefügt und im Stuhl durch einen gemeinschaftlichen Bolzen befestigt. Hierdurch sollte ein gleichmäßigeres Sinken der beiden Schienenenden unter dem Raddruck herbeigeführt werden, was in der Tat auch bis zu einem gewissen Grad gelang. Für die Bahn Stockton-Darlington sind die Schienen, auch die aus Schmiedeisen, mit diesem Stoß verlegt worden.
Alle bis jetzt erwähnten Schienenendbefestigungen sind feste Stöße. Durch ihre unmittelbare Auflagerung auf den Schwellen wirken sie hart und unnachgiebig auf die Räder, hammerartig auf die Schwellen. Es war darum eine sehr bedeutende[81] Verbesserung, als Bridges Adams im Jahre 1847 auf die Vorzüge des schwebenden Stoßes aufmerksam machte, der seitdem überall eingeführt worden ist. Der schwebende Stoß liegt zwischen den Schwellen. Die Schienenenden sind durch Laschen miteinander verbunden. Adams legte diese noch ohne besondere Befestigung in die Stühle ein. Aber schon 1850 verwendete Ashkroft Laschen, die durch je zwei Schraubenbolzen an den zusammenstoßenden Schienenstücken befestigt waren. Insbesondere nachdem die Schienen eine solche Form erhalten hatten, daß die Lasche als feste Stütze zwischen den scharf unterschnittenen Kopf und Fuß geklemmt werden konnte, bürgerte sich dieser verlaschte Schienenstoß überall ein, und er ist auch als die Grundform für die Bauart unseres heutigen Schienenstoßes anzusehen.
Wichtig ist noch die Lage der Stöße in den Schienen eines Gleises zueinander. Man kann die Stöße winkelrecht einander gegenüberlegen, oder man kann sie gegeneinander versetzen. Im ersten Fall spricht man vom Gleichstoß, die zweite Anordnung nennt man Wechselstoß.
Beim Wechselstoß schlagen die beiden Räder einer Achse nicht zu gleicher Zeit gegen die Schienenköpfe; aber dieser Vorzug ist doch sehr rasch als gering erkannt worden[82] gegenüber dem Nachteil, daß für das Gefühl der Fahrgäste in den Wagen die Zahl der Stöße sich verdoppelt. So hat der Wechselstoß auf der geraden Strecke nur wenig Anwendung gefunden. In Deutschland ist er niemals üblich gewesen. In Krümmungen hat man ihn früher öfter eingebaut, da bei solcher Schienenlage der vollkommene Gleichstoß nicht ohne weiteres zu erzielen ist. Im Bogen ist ja die äußere Schiene länger als die innere. Heute ist bei uns auch im gekrümmten Gleis der Gleichstoß überall vorgeschrieben, die Unterschiede in den Schienenlängen werden vor jedem Stoß durch Ausgleichschienen behoben.
Die feste Führung der Fahrzeuge auf den Spurbahnen macht es notwendig, besondere Einrichtungen vorzusehen, damit man die Züge von einem Gleis auf das andere überführen kann. Wir nennen diese Einrichtungen Weichen.
Eine der ältesten Weichen-Bauarten wird noch heute auf der Apostelgrube Brad in Siebenbürgen verwendet. Eine solche Weiche ist in der ausgezeichneten Schienensammlung des Königlichen Verkehrs- und Baumuseums in Berlin ausgestellt. Diese Sammlung, die ein unvergleichliches lebendiges Bild von der Entwicklung des Gleises gibt, ist dem Museum von dem verstorbenen Generaldirektor des Georg-Marien-Bergwerks- und Hüttenvereins in Osnabrück, Haarmann, gestiftet worden, der sie mit außerordentlichem Fleiß allmählich zusammengebracht hat. Haarmann ist auch der Verfasser des großen Werks „Das Eisenbahngeleise“, einer umfassenden geschichtlichen Darstellung des Gegenstands, dessen Darlegungen hier größtenteils gefolgt wurde.
Die Brader Weiche hat nur ein einziges bewegliches Stück, in dem die beiden wichtigsten Teile der Weiche, die Zunge und das Herzstück, zusammengefaßt sind. Die Weichenzunge hat die Aufgabe, das Rad des über sie rollenden Fahrzeugs auf die Abzweigung hinüberzudrücken, indem sie den Spurkranz zur Seite zwingt. Das Herzstück ist diejenige Stelle des Gleises, in der die dem abzweigenden Strang näher liegende Schiene des geraden Strangs von der darüber laufenden des abzweigenden Strangs geschnitten wird. An diesem Punkt muß notwendigerweise eine Unterbrechung des Gleises stattfinden, damit die Spurkränze der Räder hindurchlaufen können. Die Brader Weiche, die für ein Gleis von nur 40 Zentimetern Spurweite bestimmt ist und eine sehr scharfe Krümmung hat, ist so kurz, daß der Drehpunkt der Weichenzunge zugleich das Herzstück[83] bildet, was im eigentlichen Eisenbahngleis niemals vorkommt. Die Zunge ist nichts weiter als ein Holzknüppel, der mit dem Fuß verschoben werden kann.
Schon bei den Weichen, die von Stephenson auf der Bahnstrecke Stockton-Darlington angewendet wurden, finden wir eine Ausgestaltung, die sich den heute üblichen Bauarten sehr stark nähert. Zungenteil und Herzstück sind selbstverständlich getrennt, da auf Lokomotivbahnen ganz scharfe Knicke niemals angewendet werden konnten, und es findet sich bereits eine Zunge an jeder der beiden Schienen, was unserer heutigen Zweizungenweiche entspricht.
Bei manchen der ersten Eisenbahnen, z. B. auch bei der im Jahre 1835 eröffneten Linie Brüssel-Mecheln war die sogenannte Schleppweiche im Gebrauch. Ihre Bauart, die auf Bild 64 zu erkennen ist, erlaubt eine sehr einfache Ausgestaltung. Sie hat jedoch den schweren Nachteil, daß jedes Fahrzeug, welches aus dem Strang kommt, für den die Weiche nicht gestellt ist, notwendig entgleisen muß. Wegen dieser Gefahr, die sie bieten, ist die Anwendung von Schleppweichen bei uns jetzt verboten.
Eine ältere Bauart, die wir heute gleichfalls nicht mehr kennen, ist die Radlenkerweiche (Bild 65). Bei dieser waren zwei miteinander verbundene Zwangsschienenstücke innerhalb des Gleises beweglich. Das heranrollende Rad lief, je nach der Stellung der Weiche, gegen die Seitenfläche der einen oder der anderen Zwangsschiene und wurde so entweder auf das gerade oder auf das abzweigende Gleis hinübergedrückt — ein Vorgang, den man sich bei unseren heutigen Schnellzügen nicht ohne Beängstigung vorstellen kann.
Dasjenige Bahnmaß, welches den größten Einfluß auf die Gestaltung der feststehenden und beweglichen Eisenbahnbauten ausübt, ist die Spurweite, das heißt der Abstand der Schienen eines Gleises, gemessen von Innenkante zu Innenkante des Kopfs. Von ihr sind die Ausmaße des Unterbaus und die zulässigen Krümmungen ebenso abhängig, wie die Breiten der Wagen und Lokomotiven. Um so eigenartiger ist es, daß die heute vorherrschende sogenannte Regelspur ohne rechte Überlegung mehr zufällig entstanden ist. Man kann dem blinden Schicksal, das hier obwaltete, kein Loblied singen. Wenn es denkbar wäre, die Spurweite der Bahnen heute noch zu ändern, so würde man zum mindesten für die Hauptbahnen einen breiteren Schienenabstand wählen. Insbesondere die Lokomotivbauer werden durch den geringen Raum, der ihnen in der Breite zur Verfügung steht, fortwährend in ihren Entwürfen behindert. Es fällt ihnen immer schwerer, neue Bauteile auf der Lokomotive unterzubringen.
Nachdem im achtzehnten Jahrhundert bei den mit Pferden betriebenen Kohlenbahnen Spurweiten von einem halben Meter und weniger üblich gewesen, wurde für die im Jahre 1800 eröffnete Merthyr-Tydvil-Bahn in England eine Spur von 5 Fuß = 1,524 Meter gewählt; dieses Maß bedeutet hier den Abstand der Innenflächen, der an den Currschen Winkelschienen außen angeordneten Spurränder. Es wurde mit Rücksicht auf die Radabstände der in Nordengland damals gebräuchlichen Straßenfuhrwerke gewählt, denen die Möglichkeit gegeben werden sollte, die Bahn zu benutzen. Der Betrieb auf der Strecke mit dieser Spur muß sich wohl als recht günstig erwiesen haben, denn der gleiche Schienenabstand wurde beibehalten, als durch die Einführung der Jessopschen Pilzschiene Wagen mit Spurkranzrädern notwendig wurden, so daß ein Befahren der Geleise durch Straßenfuhrwerk nicht mehr möglich war. Stephenson wendete bei seinen ersten mit Lokomotiven befahrenen Bahnen die gleiche Spurweite an, deren Maß, das jetzt nicht mehr zwischen außen angeordneten Spurrändern, sondern zwischen Schieneninnenkanten[84] anzulegen ist, 4 Fuß 6 Zoll = 1,372 Meter betrug. Als der Meister sich dann aber später beim Bau seiner Lokomotiven in der Fabrik zu Newcastle in dem Raum zur Unterbringung der Dampfzylinder sehr beengt sah, erweiterte er, nach Haarmann, die Spur der von ihm zu erbauenden Bahnen, so auch bereits bei der Strecke Stockton-Darlington, um 21⁄2 Zoll. Auf diese Weise entstand die heutige Regelspur von 4 Fuß 81⁄2 Zoll = 1,435 Meter. Ihre Ausbreitung von England über viele andere Länder, zu denen auch Deutschland gehörte, geschah dadurch, daß in der Anfangszeit des Eisenbahnbaus fast sämtliche Lokomotiven aus Newcastle bezogen wurden.
Ganz ohne Kampf aber konnte sich die Regelspur doch nicht durchsetzen. Der berühmte Erbauer des ersten Tunnels unter der Themse, Isambart Kingdom Brunel, befürwortete im Jahre 1833 bei der Erbauung der Großen Westbahn dringend eine größere Spurweite, weil er hoffte, daß man auf dem breiteren Gleis mit den hierauf möglichen geräumigeren Lokomotivkesseln eine höhere Geschwindigkeit würde erreichen können. Stephenson sprach sich in einem Gutachten dagegen aus. Dennoch wurde die Große Westbahn mit einer Spur von 7 Fuß = 2,135 Meter angelegt.
[85]
Diesem Beispiel folgten drei andere Bahnen in England und Irland. Und bald griff das böse Beispiel so weit um sich, daß, nach Launhardt, schließlich in Großbritannien 70 verschiedene Spurweiten vorhanden waren. Die Abmessungen bewegten sich zwischen der 59 Zentimeter breiten Spur der Bahn von Festiniog nach Port Madoc und der Spur von 2,135 Meter auf der Großen Westbahn. Es wurde schließlich notwendig, dem immer fühlbarer werdenden Übel durch die Gesetzgebung ein Ende zu machen. Der Spur-Ausschuß des Parlaments setzte fest, daß in England und Schottland keine Bahn mehr mit einer anderen als der Regelspur gebaut werden dürfe. Jede Gesellschaft, die eine andere Spurweite anwende, habe eine Strafe von 125 Mark für jedes Kilometer und für jeden Tag ihres Bestehens zu bezahlen. Ja, der Staat erhielt das Recht, solche Eisenbahnen einfach beseitigen zu lassen. Für die Insel Irland wurde die Spur von 1,6 Meter vorgeschrieben, wie sie dort noch heute besteht.
Seltsamerweise durfte aber die Große Westbahn ihre breitere Spur noch beibehalten. Sie sah sich zwar schließlich genötigt, eine dritte Schiene zur Ermöglichung des Durchgangsverkehrs einzulegen, beseitigte jedoch die letzte Breitspurstrecke erst im Jahre 1892.
In Amerika versuchte man gleichfalls hier und da die Breitspur. Sie hatte dort jedoch keinen großen Erfolg. Überall wurde der breitere Schienenabstand bald wieder zur Regelspur umgebaut. Im Jahre 1871 brachte eine kanadische Bahn das echt amerikanische Kunststück fertig, ihre 547 Kilometer lange Strecke durch ein Arbeiterheer von 2720 Mann an einem einzigen Tag umzulegen.
Deutschland blieb von dem Kampf der Spurweiten glücklicherweise fast völlig verschont. Die badischen Bahnen, die Anfang der dreißiger Jahre ein Spurmaß von 1,8 Meter hatten, fügten sich bald dem üblichen ein.
Breitspur haben heute in Europa nur die Bahnen in Rußland (1,524 Meter) und in Spanien und Portugal (1,676 Meter).
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Bei der Entwicklung des Eisenbahngleises ist von den Ingenieuren kühne und rasche Arbeit geleistet worden. Mit Fleiß und Ausdauer wurde immer von neuem versucht, die vorhandenen Fehler zu beseitigen, jeder neue Gedanke ward erprobt und, wenn er irgend brauchbar war, ausgestaltet. Trotz alledem ist die eigentümliche Tatsache zu beobachten, daß der an sich so einfache technische Gegenstand, den das Eisenbahngleis darstellt, noch heute, nach mehr als neun Jahrzehnten der Entwicklung, von der Vollkommenheit sehr weit entfernt ist. Eigentlich probt und bastelt man an den verschiedenen Bauarten heute noch geradeso herum wie zu Stephensons Lebzeiten.
Das Gleis ist ja eigentlich nichts anderes als eine Brücke mit sehr engen Jochen. Während aber bei den großen, weit gespannten Brücken über Flüsse oder Täler vollkommen zufriedenstellende Festigkeitsergebnisse erreicht sind, ist das bei der Gleisbrücke nicht der Fall. Der Grund liegt darin, daß die Kräfte, durch welche die Brückenpfeiler beansprucht werden, der Berechnung verhältnismäßig leicht zugänglich sind. Das Gleis aber liegt nicht fest auf seiner Unterlage, sondern in nachgiebiger Bettung; die Joche erhalten an den Schienenstößen fortwährend furchtbare Schläge, deren Kraft man nicht kennt, so daß hier immer wieder nur die nackte Erfahrung maßgeblich ist. Die Hoffnung, zu einer endgültigen Form des Eisenbahngleises zu gelangen, ist auch heute noch sehr gering. Das hat aber nicht den ungeheuren Fortschritt gehindert, den das Stellen der Fahrzeuge auf die eiserne Bahn der Menschheit gebracht hat.
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Unser Vaterland war in seiner Gestaltung nach den Freiheitskriegen nicht dazu geeignet, eine so neue und großartige Einrichtung, wie Stephenson sie geschaffen hatte, rasch aufzunehmen und bei sich zu entwickeln. Ein Großgewerbe gab es damals in deutschen Landen überhaupt noch nicht; der Ackerbau war vorherrschend.
Niemals hatte die Kleinstaaterei in üppigerer Blüte gestanden. Jedes der kleinen und kleinsten Ländchen schloß sich gegen das andere ab, wollte sich großtun, wollte ein Mittelpunkt sein. Gegen alle Vernunft und selbst gegen den eigenen Nutzen wurde in jedem Ländle ein Verkehrsschwerpunkt hochgezüchtet, der eigentlich gar keiner war, und durch diese künstliche Stauung konnte ein natürliches Fließen der Verkehrsgegenstände überhaupt nicht eintreten.
Zu dieser Mißgestalt des wirtschaftlichen Lebens gesellten sich die kümmerlichen politischen Zustände. Es war die Zeit des schärfsten Rückschritts in Deutschland. Der Geist Metternichs und der Heiligen Allianz erdrückte jede freiheitliche Regung. Die Regierungen waren ängstlich darum besorgt, das Selbstherrschertum gegen das immer dringendere Begehren des Volks nach Mitwirkung bei der Lenkung des Staats zu schützen, und sie wandten sich voller Scheu von jeder frischen Neuerung ab, weil der damals herrschende Geist nur in dumpfen Stuben zu gedeihen vermochte.
Der Eisenbahngedanke aber bedarf, um sich entwickeln zu können, eines weiten Wirkungsfelds, einer großen, geschlossenen Wirtschaftsgemeinschaft und zukunftsfreudiger Seelen. So ist es denn kein Wunder, daß die Anlage der ersten Schienenwege in Deutschland ohne rechten Plan erfolgte und daß die einzelnen Glieder vorerst gar keinen Zusammenhang miteinander hatten. Ganz ließ sich trotz der redlichen Bemühungen aller rückschrittlich Gesinnten die große neue Erfindung nicht fernhalten. Denn auch in dem damaligen Deutschland lebten Männer, die im Innersten ihres Herzens fühlten, daß durch die Einführung des neuen Verkehrsmittels eine große, vaterländische Aufgabe zu lösen war.
Zwei Gestalten insbesondere sind es, die aus der damaligen Zeit bis heute hinüberleuchten: Friedrich Harkort und Friedrich List. Sie sind die Begründer der deutschen Eisenbahnen.
Mit tiefer Achtung, ja ehrfurchtsvoll werden die Namen der beiden Männer heute bei uns ausgesprochen. Aber zu der Zeit, als sie gegen unerhörte Widerwärtigkeiten und rücksichtsloseste Angriffe wirkten, ward ihnen nur wenig Vertrauen entgegengebracht. Beider Lebensschicksale sind erschütternd. Der eine, Harkort, sah wohl, als er in hohem Alter starb, Deutschland schon von Eisenbahnlinien erfüllt, aber keine einzige der Strecken ist schließlich durch seine unmittelbare Einwirkung entstanden. List gar schied als ein Verkannter, Verdammter durch eigene Entschließung aus dem Leben. Der endlich hervorbrechende volle Strom des deutschen Eisenbahnverkehrs ging über die beiden Männer hinweg, deren Lebensarbeit es gewesen war, die hindernden Felsblöcke aus seinem Bett hinwegzuräumen.
Im Eröffnungsjahr der Stockton-Darlington-Bahn, im März 1825, erschien in der westfälischen Zeitung „Hermann“ ein Aufsatz, der zum erstenmal die deutsche Öffentlichkeit[88] auf die Bedeutung der Eisenbahnen aufmerksam machte. Sein Verfasser war Friedrich Harkort. Der Aufsatz hatte folgenden Wortlaut:
Eisenbahnen (Railroads).
„Durch die rasche und wohlfeile Fortschaffung der Güter wird der Wohlstand eines Landes bedeutend vermehrt, welches Kanäle, schiffbare Ströme und gute Landstraßen hinlänglich bewähren.
„Der Staat sollte aus diesem Grunde die Weggelder nicht als eine Finanzquelle betrachten, sondern nur die Kosten einer vorzüglichen Unterhaltung erheben.
„Größere Vortheile wie die bisherigen Mittel scheinen Eisenbahnen zu bieten.
„In England sind bereits zu diesem Behuf über 150 Millionen Preuß. Thaler gezeichnet: ein Beweis, daß die Unternehmungen die öffentliche Meinung in einem hohen Grade für sich haben.
„Auch in Deutschland fängt man an, über dergleichen Dinge wenigstens zu reden, und folgende Bemerkungen liefern vielleicht einige Beiträge dazu.
„Meine Absicht ist nicht, in die Einzelheiten der Sache einzudringen; vorläufig genügen wohl einige allgemeine Umrisse.
„Die westliche Eisenbahn von London nach Falmouth wird eine Länge von 400 engl. Meilen erhalten.
„Von Manchester nach Liverpool ist eine neue Eisenbahn von 32 engl. Meilen in Vorschlag gebracht, obgleich eine Wasserverbindung vorhanden.
„Versuche, welche deshalb in Killingworth angestellt wurden, ergaben, daß eine Maschine von 8 Pferde Kraft ein Gewicht von 48 Tonnen mit einer Geschwindigkeit von 7 Meilen pro Stunde auf einer Ebene bewegte.
„Denken wir uns nun eine solche Fläche von Elberfeld nach Düsseldorf, so würden 1000 Zentner in 21⁄2 Stunden von einem Orte zum andern geschafft werden, mit einem Kohlenaufwande von 5 Scheffel für die Reise.
„Eine Maschine von 8 Pferde Kraft würde innerhalb 3 Stunden 1000 Scheffel Kohlen von Steele nach dem Rheine schaffen, das heißt die Ruhrschiffahrts-Cassa völlig aufs Trockene setzen.
„Die sämmtlichen Ruhr-Zechen erhielten durch eine Eisenbahn den unschätzbaren Vortheil eines raschen, regelmäßigen Absatzes unter großen Frachtersparungen.
„Innerhalb 10 Stunden könnten 1000 Centner von Duisburg nach Arnheim geschafft werden; die Beurtschiffer liegen allein 8 Tage in Ladung.
„Man macht vielleicht den Einwand, daß nur selten eine Ebene sich ausmitteln läßt. Dagegen erwidere ich, daß zwar nach Verhältniß des Steigens mehr Kraft erforderlich ist oder die Geschwindigkeit abnimmt, die Rückfahrt indessen um so viel rascher von Statten geht und die mittlere Geschwindigkeit bleibt.
„Die größte Neigung des Weges zu Killingworth war 1 Fuß in 840 und das höchste Steigen 1 in 327.
„Die Eisenbahnen werden manche Revolutionen in der Handelswelt hervorbringen. Man verbinde Elberfeld, Köln und Duisburg mit Bremen oder Emden, und Holland’s Zölle sind nicht mehr!
„Die Rheinisch-Westindische Compagnie darf Elberfeld als einen Hafen betrachten, sobald der Centner für 10 Silbergroschen binnen 2 Tagen an Bord des Seeschiffes in Bremen zu legen ist.
[89]
„Zu diesem Preise ist es für die Holländer unmöglich, selbst vermittelst Dampfbooten, die Güter zu übernehmen.
„Wie glänzend würden die Gewerbe von Rheinland-Westfalen bei einer solchen Verbindung mit dem Meere sich gestalten!
„Möge auch im Vaterlande bald die Zeit kommen, wo der Triumphwagen des Gewerbefleißes mit rauchenden Kolossen bespannt ist und dem Gemeinsinne die Wege bahnet!“
Diese Darlegungen erregten großes Aufsehen, aber die Schwerfälligkeit des deutschen öffentlichen Lebens sorgte dafür, daß sie nicht sogleich greifbare Folgen nach sich zogen.
Der Mann, der hier als Vorkämpfer des neuen Verkehrsmittels auftritt, Friedrich Wilhelm Harkort, war am 22. Februar 1793 auf dem väterlichen Hof Harkorten in der Grafschaft Mark, unweit Hagen, geboren. Er entstammte einem alten Geschlecht, das schon viele Menschenalter hindurch auf eigenem Boden gesessen hatte und in ganz Westfalen ein großes Ansehen besaß.
Zwischen Hagen und Schwelm erstreckt sich die alte Enneper Straße, die schon Ernst Moritz Arndt im Auge hatte, als er von der Stätte sprach, „wo der Märker Eisen reckt“. Dort, wo heute ein Fabrikhaus neben dem andern liegt, standen damals in kurzen Zwischenräumen die Häuschen der Eisenschmiede. Reckhämmer nannte man die ungefügen Schläger, durch deren Aufpochen das Eisen in seinem inneren Gefüge verbessert und in rohe Form gebracht wurde. Die Wasserkraft des Ennepe-Flusses, der in die Ruhr fällt, war es, die jene Hämmer in Bewegung setzte. Hier ist die Wiege des mächtigen rheinisch-westfälischen, ja des deutschen Großgewerbes.
Auch der Vater Friedrichs, Johann Caspar Harkort, betrieb zusammen mit seinem Bruder vier Hammerwerke an der Enneper Straße. So kamen die „Harkorter Jungens“ — Friedrich hatte noch sechs Brüder — schon früh mit dem Handwerk in Berührung.
Friedrich, der als ein schöner, kraftvoll gebauter Jüngling geschildert wird, machte als Leutnant die Feldzüge von 1814 und 15 mit. Er wurde hierbei mehrfach verwundet, so auch in der Schlacht bei Ligny. Des öfteren hatte er Gelegenheit, sich als einer der Tapfersten zu erweisen.
Als nach Napoleons Sturz die Heere aufgelöst worden waren, begann rasch jene Zeit der Unterdrückung aller politischen Freiheiten. Auch Friedrich Harkort litt schwer darunter und beteiligte sich durch Wort und Schrift mit großer Tatkraft an dem Kampf. Aber ebensosehr lag es ihm am Herzen, das gewerbliche Leben in Deutschland zu erwecken. Er kannte die Erfolge der Engländer auf dem Gebiet der Eisenindustrie, die ihnen insbesondere durch die Ausnutzung der neuen Wattschen Dampfmaschine möglich geworden waren. Harkort meinte, daß man es bei genügendem Eifer den Engländern in Deutschland wohl nachtun könnte.
So gründete er auf der alten Burg Wetter an der Ruhr im Jahre 1818 eine Maschinenfabrik. Sie ist die Lehrstätte der deutschen Maschinenbauer geworden. Schon 1820 war die erste in Wetter gebaute Fördermaschine in Tätigkeit. Die Bezirke von Elberfeld und Barmen, in denen heute so viele Tausende von Rädern sich drehen, erhielten, nach dem Schilderer von Harkorts Leben, Berger, die ersten Dampfmaschinen gleichfalls aus Wetter. Im Jahre 1822 erklärte Beuth, die Harkortsche Fabrik gehöre „unter die merkwürdigsten und bewundernswerten Anstalten in Deutschland“. Die Maschinen, die dort erzeugt wurden, seien vollkommen und könnten sich den besten englischen an die Seite stellen. Auch die Einführung des für die Eisenaufbereitung so wichtigen Puddelverfahrens in Deutschland ist Harkorts Werk. So kann man es verstehen, daß in Westfalen[90] das Sprichwort umging: „Fritz Harkort macht uns das Bett, und wir andern legen uns hinein“.
Das Vertrauen seiner Mitbürger berief später den kühn schaffenden Mann in die Preußische Nationalversammlung von 1848. Er hat dem Norddeutschen und auch noch dem ersten Deutschen Reichstag angehört.
Es ist ganz selbstverständlich, daß ein Mann solcher Art die in seiner Umgebung bestehenden Verkehrsübelstände scharf empfinden mußte. Harkort sah, wie die Holländer, welche sich seit dem Wiener Kongreß im Besitz der Rheinmündungen befanden, den deutschen Überseehandel gewaltsam niederhielten, indem sie unmäßig hohe Ausgangszölle erhoben. In seinem Aufsatz im „Hermann“ betonte er darum, daß eine Verbindung der Rheinnebenflüsse mit der Ems oder der Weser durch eine Eisenbahn die Möglichkeit schaffen würde, beim Ausgang der Handelsschiffe ins Meer Holland ganz zu vermeiden und Bremen oder Emden an die Stelle von Rotterdam zu setzen.
Bei dem schlechten Zustand der damaligen Landstraßen waren ja die Flüsse die einzigen verhältnismäßig bequemen Verkehrswege, die zur Verfügung standen. Vorläufig konnte noch nicht weiter gedacht werden, als die Eisenbahn nur zur Überbrückung solcher Gebiete zu benutzen, die nicht von einem schiffbaren Wasserlauf durchzogen wurden. Harkort erhoffte insbesondere viel von der Errichtung einer Eisenbahn zwischen Minden an der Weser und Lippstadt an der Lippe, einem Nebenfluß des Rheins, durch die ein Güteraustausch zwischen den beiden großen voneinander getrennten Flußnetzen möglich werden sollte.
Obgleich das Nützliche dieses Gedankens jedem einleuchten mußte, und obwohl, wie schon angedeutet, der Aufsatz Harkorts im „Hermann“ viel beachtet wurde, fand er doch keinen Widerklang in den Kreisen, die dem Werk wirklich hätten förderlich sein können. Mit Recht wies, wie Berger mitteilt, eine Zuschrift im „Hermann“ auf die für die damalige Zeit geltende Wahrheit hin, „daß in unserem Vaterland nützliche Erfindungen gewöhnlich erst dann in Anwendung gebracht werden, wenn uns das Ausland den besten Teil der Vorteile, die dadurch zu erreichen gewesen sein würden, vorweggenommen hat“.
Aber Harkort war von der Bedeutung der Eisenbahnen so fest überzeugt, daß er sich nicht mit Worten allein begnügte. Er schritt, seiner ganzen Natur entsprechend, sogleich zu einer Tat. Im Jahre 1826 erbaute er im Garten der Museumsgesellschaft zu Elberfeld eine Probebahnstrecke. Leider wählte er hierfür nicht die in England bereits vielfältig bewährte Bauart der zweischienigen Standbahn, sondern benutzte als Vorbild eine von Palmer ersonnene, etwas seltsame Bahngattung. Es wurden Baumstämme in die Erde gerammt, hierüber eine hoch über dem Boden schwebende Schiene befestigt und die Wagen zu beiden Seiten an darüber gelegte Querstangen gehängt. Es war also eine Art Schwebebahn, wenn auch ganz verschieden von der heute gerade in Elberfeld benutzten Bauart.
Große Erfolge ließen sich mit einer solchen Bahnstrecke nicht erzielen. Dennoch wurde allen, die den Bau sahen, klar, daß man wirklich auf einer eisernen Schiene Gefährte weit leichter fortbewegen könne als auf der Straße, und darauf kam es Harkort an. Die Art des Antriebs schien ihm gleichgültig. In jener Zeit war die Lokomotive noch nicht viel mehr als ein fremdartiges Tier. Der Begriff „Eisenbahn“ bedeutete nichts weiter als einen Schienenweg, auf dem Wagen durch irgendein Zugmittel, meistens durch Pferde, fortbewegt wurden.
Es tauchte alsbald die Absicht auf, von Steele an der Ruhr eine Eisenbahn nach Elberfeld zu bauen, um die Ruhrkohle leichter dorthin schaffen zu können. Aber ehe noch der Antrag zur Genehmigung dieser Bahnstrecke bei der Staatsregierung gestellt war,[91] erwachten auch in Westfalen jene Geister, die wir schon in England beim Auftauchen der ersten Eisenbahnentwürfe bei ihrer neuerungsfeindlichen Tätigkeit gesehen haben. Es ertönte das gleiche Geschrei wie jenseits des Kanals: daß die Einnahmen aus den Landstraßengeldern zum Schaden der Allgemeinheit fortfallen, daß die Kohlenfuhrleute wie die Wagenbauer zugrunde gehen müßten, wenn der Staat derartige unsinnige Unternehmungen begünstigte.
Die mit lauter Stimme vorgebrachten Einwendungen hatten Erfolg, und am 31. Oktober 1826 wurde den Antragstellern in der Tat die Genehmigung zur Ausführung der Strecke versagt. Es ist das die erste Äußerung der preußischen Staatsregierung zur Eisenbahnfrage. Die Ergebnislosigkeit dieses ersten Vorstoßes ist vielleicht nicht so sehr zu bedauern, da die von Harkort erkorene Einschienenbahn kaum zu günstiger Entwicklung hätte gelangen können. Er ging denn auch bald von dieser Bauart ab.
Indessen mehrte sich der Unwille gegen die Willkürherrschaft der Holländer an den Rheinmündungen weiter. Immer größere Kreise erkannten die Wichtigkeit einer Eisenbahnverbindung zwischen Weser und Lippe, das heißt unter Benutzung der Ruhr mit dem Rhein. Man lenkte die Aufmerksamkeit des weitblickenden preußischen Finanzministers von Motz darauf, und dieser griff den Gedanken mit Lebhaftigkeit auf. Im Jahre 1828 schrieb er in dem Hauptverwaltungsbericht, den er dem König erstattete:
„Noch wichtiger (nämlich als der Ausbau der großen schlesischen Landstraße) ist es — womöglich mit einer Eisenbahn von Minden bis Lippstadt und damit zugleich einer Verbindung auf der schiffbaren Lippe mit dem Rhein — eine ganz neue gewisse Richtung für den Verkehr von Bremen nach dem westlichen und südlichen Deutschland innerhalb der eigenen Grenze Ew. Königlichen Majestät Staaten hervorzurufen.“
Mit den letzten Worten deutete Motz darauf hin, daß die Eisenbahn nicht nur die Umgehung Hollands bringen, sondern auch einen ganz in Preußen verlaufenden Verkehrsweg von der See nach Süddeutschland erschließen würde, auf dem man Hannover und Kurhessen, also das „Ausland“ vermeiden könnte, was bei Benutzung der Flußläufe nicht möglich war.
Trotzdem geschah auch jetzt nichts von seiten des Staats zur Förderung der Angelegenheit. Da der allgewaltige Finanzminister sich für die Förderung des Eisenbahngedankens ausgesprochen hatte, so standen diesem nun allerdings die Beamten in Westfalen nicht mehr so feindlich gegenüber wie vorher. Auch die Holländer bekamen einen heilsamen Schreck und ermäßigten ihre Zölle. So hat hier die Eisenbahn schon allein in gedanklicher Form verkehrsfördernd gewirkt.
Immerhin wurden in den nächsten Jahren bereits ein paar kleine Schienenwege für Pferdebetrieb in Westfalen gebaut, von denen der wichtigste die Prinz Wilhelm-Eisenbahn von Steele nach Vohwinkel war. Zu ihrer Errichtung war auf Harkorts Veranlassung ein Aktienverein gebildet worden, die erste Eisenbahngesellschaft in Deutschland. Der damalige Generalgouverneur von Rheinland-Westfalen, Prinz Wilhelm, der spätere erste deutsche Kaiser, besichtigte die Bahnstrecke im Jahre 1831 und gab die Erlaubnis, ihr seinen Namen beizulegen.
Die Kunde von dem Lokomotivwettkampf zu Rainhill erregte bald darauf alle fortschrittlichen Geister in Deutschland. Immer klarer traten der Nutzen und die große Bedeutung der Eisenbahnen hervor. Harkort bewirkte, daß der Westfälische Provinziallandtag die Ausführung der Bahnstrecke Minden-Lippstadt zur Versorgung des Wuppertals mit Ruhrkohle beschloß und zwar als eine Anlage, die von den Provinziallandständen mit[92] staatlicher Beihilfe gebaut werden sollte. Es ist bemerkenswert, daß in diesem Beschluß ausgedrückt wurde, die Bahn solle „einer Chaussee gleichen, welche ein jeder unter Wahrnehmung allgemeiner Polizeivorschriften gegen Erlegung des Wegegelds befahren könne“. Man war also auch hier der Meinung, daß einheitlicher Betrieb auf einer Bahnstrecke nicht unbedingt notwendig sei. Es wurde eine Bittschrift an den König aufgesetzt, die in der Hauptsache von Harkort verfaßt war und mit den Worten schloß:
„Ew. Majestät gnädige Gesinnungen lassen uns hoffen, daß ein so großartiges und für unsere Provinz so rühmliches und nützliches Unternehmen durch Allerhöchstdero Huld auf das baldigste ins Leben gerufen werden möge.“
Diese Hoffnung sollte jedoch nicht in Erfüllung gehen. Die Eingabe des Landtags blieb zunächst einmal 11⁄2 Jahre lang unbeantwortet. Dann erging im Juli 1832 der Bescheid, daß die Regierung „einer zu gründenden Aktiengesellschaft möglichstes Entgegenkommen bezeugen wolle, daß sie sich auch zur Übernahme von Aktien verstehen werde, aber weiter zu gehen, sei nicht angemessen, weil das jetzige Kommunikationsbedürfnis durch die Chaussee gesichert sei und die künftige kommerzielle Wichtigkeit der Anlage auf unsicheren Voraussetzungen beruhe“. Da die Regierung hiermit ausgedrückt hatte, daß sie Eisenbahnen für überflüssig und nicht entwicklungsfähig halte, so wurde trotz der in dem Bescheid gewährten Zugeständnisse die Entwicklung durch diese Antwort weiter verzögert.
Noch einmal entschloß sich Friedrich Harkort zu einem Vorstoß. Im Jahre 1833 veröffentlichte er seine Schrift „Die Eisenbahn von Minden nach Köln“, die also, nachdem der Lippstädter Plan gescheitert war, für eine größere Linie unmittelbar zum Rhein eintrat. Wie klar sein Blick in die Zukunft schaute, beweisen die Worte, die er in dieser Schrift über die militärische Bedeutung der Eisenbahnen äußerte:
„Die Kunst der Feldherren neuerer Zeit besteht darin, rasch große Streitmassen nach einem Punkte zu bewegen.
„Während ein preußisches Korps sich von Magdeburg auf Minden oder Kassel begibt, erreicht in derselben Zeit ein französisches Heer von Straßburg aus Mainz, von Metz aus Coblenz, von Brüssel aus Aachen; wir verlieren also zehn Tagemärsche, welche oft einen Feldzug entscheiden.
„Diesen Nachteil würde die Eisenbahn heben, indem 150 Wagen eine ganze Brigade in einem Tage von Minden nach Köln schafften, wo die Leute wohl ausgeruht mit Munition und Gepäck einträfen. — —
„Denken wir uns eine Eisenbahn mit Telegraphen auf dem rechten Rheinufer von Mainz nach Wesel. Ein Rheinübergang der Franzosen dürfte dann kaum möglich sein, denn bevor der Angriff sich entwickelte, wäre eine stärkere Verteidigung an Ort und Stelle.
„Dergleichen Dinge klingen jetzt noch seltsam, allein im Schoße der Zeiten schlummert der Keim so großer Entwicklung der Eisenbahnen, daß wir die Resultate nicht zu ahnen vermögen!“
Der Westfälische Provinziallandtag entschloß sich von neuem zu einem Genehmigungsgesuch bei der Regierung. Aber schon im Rheinischen Landtag dachte man anders über die Angelegenheit. Dort sagte der Abgeordnete Schuchart:
„Aber, meine Herren, mir schaudert vor der furchtbaren Umwälzung, wenn ich mir denke, daß Deutschland, mit den schönsten Kunststraßen übersäet, nach allen Richtungen mit guten Verbindungswegen versehen, plötzlich mit einer Eisenbahn durchschnitten werden sollte!“
Dieser Meinung schloß sich das preußische Ministerium an, indem es erklärte,[93] die gewünschte Zinssicherung für die Bahn nicht gewähren zu können, da es die Gelder vorschriftsmäßig nur „zum allgemeinen Besten“ verwenden dürfe, hier aber — bei einer so bedeutenden Eisenbahnstrecke! — kein öffentliches, sondern nur ein örtliches Interesse vorliege.
Damit enden die Bemühungen, Westfalen zum Ursprungsbezirk des deutschen Eisenbahnnetzes zu machen. Harkort hörte, durch eigene Sorgen, durch die Tätigkeit für seine Maschinenfabrik und anderes in Anspruch genommen, fortab auf, weiter für seinen Lieblingsgedanken zu kämpfen. Im Jahre 1835 klagte er einem Freund:
„Heute sind es zehn Jahre geworden, als ich im ‚Hermann‘ zum erstenmal über Eisenbahnen schrieb. Großes hätte man in Preußen erreichen, alles mit einem Schlag voranbringen können, wenn die Sache damals energisch angegriffen würde. Stattdessen ist nichts geschehen; wir haben noch nicht eine Meile Bahn, und unsere Nachbarn, das junge Belgien voraus, schöpfen das Fett von der Suppe. Pfui über unsere unüberwindliche deutsche Schlafmützigkeit!“
Der Mißerfolg seines Lebenswerks hat Friedrich Harkort nicht das Herz gebrochen. In der allgemeinen Politik blieb er weiter tätig. Daß er so getrost im öffentlichen Leben fortwirken konnte, nachdem in späteren Jahren in Westfalen eine Eisenbahnstrecke nach der andern ohne sein Zutun gebaut wurde, erklärt sich vielleicht aus einem Ausspruch, den er über sich selbst getan hat: „Mich hat die Natur zum Anregen geschaffen, nicht zum Ausbeuten; das muß ich anderen überlassen!“ Seine Tätigkeit als Anreger bleibt denn auch in der Geschichte der deutschen Eisenbahnen unvergessen. Sicherlich wären die tatsächlichen Anfänge, die an anderen Stellen erfolgten, ohne sein Wirken erst weit später zutage getreten.
Friedrich Harkort ist, 87 Jahre alt, im Jahre 1880 auf seinem Gut Hombruch bei Dortmund gestorben.
Vor dem ersten „Anreger“ Harkort hat es in Deutschland noch einen allerersten gegeben. Es war dies der bayerische Oberbergrat Ritter Joseph von Baader, der schon im Jahre 1814 darauf hingewiesen hatte, daß die benachbarte Lage der Städte Nürnberg und Fürth, sowie der rege Personenverkehr zwischen den beiden Orten die Anlage eines Schienengleises als notwendig erscheinen lasse. Obgleich nun Baader, im Gegensatz zu Harkort, nicht in einen Kampf für seinen Gedanken eintrat, sollte er doch dessen Verwirklichung sehen. An der Stelle, auf die Baader aufmerksam gemacht hatte, wurde die erste Lokomotiv-Eisenbahnstrecke in Deutschland eröffnet. Allerdings war die Linie nicht sehr bedeutend, denn sie hatte nur eine Länge von sechs Kilometern.
Der unmittelbare Urheber des Eisenbahnbaus war der Nürnberger Bürger Johannes Scharrer, der neunzehn Jahre nach dem Vorschlag Baaders mit großer Tatkraft daran ging, eine Schienenverbindung zwischen den Nachbarorten zu schaffen. Vom 20. Januar 1833 ab wurde, um die nötigen Anhaltspunkte zu schaffen, vierzig Tage lang eine Zählung der Fußgänger, Wagen und Reiter veranstaltet, die sich auf der Landstraße zwischen Nürnberg und Fürth bewegten. Es stellte sich heraus, daß durchschnittlich 1720 Personen täglich den Weg zwischen den beiden Städten zurücklegten. Das schien genügend, um ein Bahnunternehmen mit der Hoffnung auf guten Erfolg zu begründen. An eine Güterbeförderung wurde überhaupt nicht gedacht, und sie ist auch erst in späterer Zeit aufgenommen worden.
Am 14. Mai 1833 erschien die Aufforderung zur Zeichnung des Aktienkapitals von 132 000 Florin = 224 000 Mark. Es wurde in Aussicht gestellt, daß jeder Aktienbesitzer[94] zwölf vom Hundert an Zinsen erhalten sollte. Trotzdem nahm man die Aufforderung keineswegs mit Begeisterung auf. Es dauerte ein paar Monate, bis die erforderliche Summe beisammen war. Die bayerische Staatsregierung stellte sich dem Unternehmen zwar nicht entgegen, aber sie tat auch herzlich wenig zu seiner Förderung. Der Staat übernahm nur zwei Aktien zu je 100 Florin; es kostete die leitenden Männer sogar noch einige Mühe, diese kleine Summe wirklich aus der Staatskasse zu erhalten. Als endlich doch das Geld in der gewünschten Höhe beisammen war, gestattete König Ludwig I., daß das Eisenbahnunternehmen seinen Namen erhielt.
An Feinden hat es auch der Ludwigs-Bahn nicht gefehlt. Die Zöpfe wackelten auch in Bayern gewaltig ob dieser Neuerung, und selbst die hohe Wissenschaft glaubte, sich der neuen Verkehrsgattung entgegenstellen zu sollen, obgleich doch schon seit Jahren öffentliche Bahnen in England bestanden, ohne daß die Welt deswegen aus den Fugen gegangen oder die Erde entvölkert worden wäre. In der Werdezeit der Nürnberg-Fürther Bahn war es, als das bayerische Obermedizinalkollegium sein kulturgeschichtlich unvergeßliches Gutachten abgab:
„Die schnelle Bewegung muß bei den Reisenden unfehlbar eine Gehirnkrankheit, eine besondere Art des delirium furiosum erzeugen. Wollen aber dennoch Reisende dieser gräßlichen Gefahr trotzen, so muß der Staat wenigstens die Zuschauer schützen, denn sonst verfallen diese beim Anblick des schnell dahinfahrenden Dampfwagens genau derselben Gehirnkrankheit. Es ist daher notwendig, die Bahnstrecke auf beiden Seiten mit einem hohen, dichten Bretterzaun einzufassen.“
Am 18. November 1833 wurde dennoch die Gesellschaft der Ludwigs-Eisenbahn im Rathaussaal zu Nürnberg begründet. 207 Aktienbesitzer waren zugegen. Man nahm sogleich in Aussicht, einen oder zwei Dampfwagen zu bestellen, aber in der Hauptsache sollte der Betrieb durch Pferde vollzogen werden. „Nebst der Kostenersparnis“, so hieß es in dem erstatteten Bericht, „würde hieraus noch der Vorteil hervorgehen, daß die Fahrt auch zur Nachtzeit im Winter stattfinden könnte (warum?), und daß auch diejenigen Personen für die Bahn gewonnen werden, welche aus Besorgnis oder Furcht bei der Dampffahrt zurückblieben, jedenfalls würde dadurch unsere Unternehmung an Sicherheit und an Rente bedeutend gewinnen.“
Nachdem alle Vorbedingungen glücklich erfüllt waren, hieß es nun, den Baumeister für die Strecke zu bestellen. Man wandte sich an Herrn von Baader, aber dieser hatte vielerlei Bedenken und erklärte endlich, „er getraue sich’s nicht.“ Da den leitenden Männern in ganz Deutschland kein Ingenieur bekannt war, so wandte man sich an Stephenson nach Newcastle und war gerade im Begriff, für schweres Geld einen englischen Bauleiter kommen zu lassen, als Scharrer durch Zufall mit dem bayerischen Bezirksingenieur Paul Denis bekannt wurde. Dieser hatte auf seinen Reisen in England und Amerika den Eisenbahnbau gründlich kennen gelernt und erklärte sich sofort bereit, die Ausführung zu übernehmen.
Mit der Wahl dieses ersten Eisenbahningenieurs in Deutschland tat die Verwaltung der Ludwigs-Eisenbahn einen vorzüglichen Griff. Nach kurzer Zeit hatte Denis bereits alle Pläne aufgestellt, und nach einer Bauzeit von nur neun Monaten lag die Bahn fertig da.
Sämtliche Teile des Oberbaus stammten aus deutschen Fabriken. Aber das war nur deshalb der Fall, weil die bayerische Regierung durchaus nicht den Eingangszoll für englische Schienen erlassen wollte, wie es die Bahngesellschaft gewünscht hatte. Man hätte gar zu gern die Schienenbestellung nach England vergeben, da man zu den deutschen[95] Fabriken gar kein Vertrauen hatte. Trotzdem gelang es der Firma Remy & Cons. in Rasselstein bei Neuwied, die Schienen zu vollster Zufriedenheit herzustellen.
Für den Oberbau hatte man die Bahnlinien Stockton-Darlington und Manchester-Liverpool zum Vorbild genommen. Die Schienen ruhten auf steinernen Pfosten, die durch ringsherum gestampfte Steine von Faustgröße im Boden gehalten wurden. Auf den Steinschwellen waren, dem englischen Vorbild entsprechend, gußeiserne Stühle mit Hilfe von eisernen Nägeln in Holzdübeln befestigt und in diese die Schienen mit Keilen festgeklemmt. Mit Rücksicht auf den Pferdebetrieb hatte man den Raum zwischen den Schienen gepflastert. Ein Stück der Bahn war jedoch auch auf Holzquerschwellen verlegt.
Daß die Lokomotive aus Newcastle bezogen werden mußte, war selbstverständlich. Sie leistete etwa 15 Pferdestärken und kostete 24 000 Mark. Man taufte sie auf den stolzen Namen „Adler“. Zur Bedienung der Maschine war ein Mechaniker aus England mit hinübergekommen, der alsbald sehr berühmte erste Lokomotivführer in Deutschland, Wilson. Auf allen Bildern, welche die Nürnberg-Fürther Bahn in ihrer Anfangszeit darstellen, sieht man ihn mit der steifen Haltung des Stockengländers auf der Lokomotive stehen. Er muß jedoch ein sehr tüchtiger Mensch gewesen sein, denn in einer der ersten Generalversammlungen erklärte ein Mitglied der Bahnleitung, daß man sehr zufrieden wäre, einen so brauchbaren Mann gefunden zu haben, der sehr nützlich sei, „obgleich es mit Schwierigkeiten und Kosten verbunden wäre, von seiner Gegenwart den besten Nutzen zu ziehen, da er kein Wort Deutsch spräche“. Die Wichtigkeit dieses mit dem geheimnisvollen Bau der Lokomotive vertrauten Manns drückte sich auch dadurch aus, daß er[96] ein Gehalt von 2250 Mark bezog, während der Leiter der Bahngesellschaft selbst nur ein Einkommen von 1360 Mark hatte.
Bevor die Ludwigs-Eisenbahn eröffnet wurde, hatte der Vorstand der Gesellschaft noch Gelegenheit, der Einweihung der Strecke Brüssel-Mecheln beizuwohnen, wofür eine Einladung der belgischen Regierung nach Nürnberg gelangt war. Am 5. Mai 1835 begannen die Fahrten auf dieser Strecke, welche die erste Lokomotivbahn auf dem europäischen Festland war. Am 7. Dezember desselben Jahrs wurde dann die Linie Nürnberg-Fürth eröffnet.
Die Betriebsmittel waren zu Beginn eine Lokomotive und elf Pferde. Es herrschte auch durchaus der Pferdebetrieb vor; im ersten Jahr kamen auf je drei Lokomotivfahrten immer acht Pferdefahrten.
Das Unternehmen entwickelte sich sogleich sehr günstig. In der Generalversammlung von 1836, also nach einjährigem Betrieb, konnte Scharrer die erfreuliche Mitteilung machen, daß von der Bahn 450 000 Personen befördert worden und 102 000 Mark eingenommen worden wären. Mit besonderer Freude betonte Scharrer, daß sich kein einziger Unfall ereignet hätte. Auch das Gleis liege ausgezeichnet, und es sei fast noch keine Schienenauswechslung notwendig gewesen. Stephensons Dampfwagen aber sei ein Meisterstück; er habe während des ganzen Jahrs mit Ausnahme eines einzigen Tags ununterbrochen im Betrieb gestanden. Scharrer fügte hinzu:
„Die Wirkung unserer Anstalt beschränkt sich nicht bloß auf die so wichtige Beförderung des Gewerbsverkehrs der zwei hierin so innig verwandten Städte; sie ist auch ein neues schönes Glied in der Kette des geselligen Lebens, ein erfreulicher Vereinigungspunkt aller Klassen und Stände, ein wohlfeiles Mittel des Vergnügens und der Erholung, eine Wohltat für die zahlreichen Boten und Lastenträger, welche ehedem in glühender Hitze oder Kälte auf den Wegen ihre Kräfte erschöpften und nun Gelegenheit haben, mit wenigen Kosten ihre Kräfte und Gesundheit zu schonen und einen reicheren Erwerb zu gewinnen.“
Die weitere Voraussage Scharrers, daß das Unternehmen alle Aussicht habe, sich[97] günstig fortzuentwickeln, ist in Erfüllung gegangen. Keine Wirklichkeit geworden aber ist ein anderes kühnes Bild, das dem gern ins Hohe und Große aufsteigenden Geist dieses Manns vorschwebte. Er meinte, die Ludwigs-Eisenbahn werde dereinst ein Teil des Landverkehrswegs von England nach Ostindien sein, „weil sie einen Bestandteil der großen Kommunikationslinie bilde, welche den europäischen Kontinent von Westen nach Osten durchschneidet und an die Küsten Asiens führt“. Seltsamerweise ist vielmehr die Ludwigs-Eisenbahn bis zum heutigen Tag eine vereinsamte kleine Strecke geblieben. Sie hat niemals auch nur den Anschluß an das bayerische Eisenbahnnetz gefunden. Die große Schnellzugstrecke München-Nürnberg-Berlin, die auch Fürth berührt, hat sich einen neuen besonderen Schienenweg geschaffen. Die Ludwigs-Eisenbahngesellschaft besteht noch jetzt selbständig fort, und sie betreibt nach wie vor nichts weiter als die sechs Kilometer lange Strecke zwischen Nürnberg und Fürth.
Die Bedeutung, die erste Lokomotiveisenbahn in Deutschland gewesen zu sein, bleibt der kleinen Strecke trotzdem erhalten. Wie stark die Gemüter damals durch das Ereignis der Bahneröffnung bewegt wurden, zeigt am besten ein Bericht des „Stuttgarter Morgenblatts“, der hier, nach Vogtländers Quellenbüchern, wiedergegeben sei:
„Am 7. Dezember morgens um neun Uhr fand die feierliche Eröffnung der Ludwigs-Eisenbahn zwischen Nürnberg und Fürth auf dem eingehegten Platze statt, welcher zu dem Verwaltungslokal der Eisenbahngesellschaft gehört.
„Die freudigste und nicht zu erschöpfende Aufmerksamkeit widmete man dem Dampfwagen selbst, an welchem jeder so viel Ungewöhnliches, Rätselhaftes zu bemerken hat, den aber in seiner speziellen Struktur nach äußerem Ansehen selbst ein Kenner nicht zu enträtseln vermag.
„Auf den Achsen von Vorder- und Hinterrädern wie ein anderer Wagen ruhend, hat er mitten zwischen diesen zwei größere Räder, und diese sind es, welche von der Maschine eigentlich in Bewegung gesetzt werden (Die Treibräder). Wie? läßt sich zwar ahnen, aber nicht sehen.
„Zwischen den Vorderrädern erhebt sich, wie aus einem verschlossenen Rauchfang, eine Säule von ungefähr 15 Fuß Höhe, aus welcher der Dampf sich entladet. Zwischen den Vorder- und Mittelrädern erstreckt sich ein gewaltiger Zylinder nach den Hinterrädern, wo der Herd und Dampfkessel sich befindet, welcher von einem zweiten, vierrädrigen angehängten Wagen aus mit Wasser gespeist wird. Dieser hintere Wagen nämlich, auf welchem der Platz für das Brennmaterial ist, hat auch einen Wasserbehälter, aus welchem Schläuche das Wasser in die Kanäle des eigentlichen Dampfwagens leiten. Außerdem bemerkt man eine Anzahl von Röhren, Hähnen, Schrauben, Ventilen, Federn, die alle wahrzunehmen mehr Zeit erfordert, als uns vergönnt war.
„Überdies nahm das ruhige, umsichtige, Zutrauen erweckende Benehmen des englischen Wagenlenkers uns ebenso in Anspruch. Wer möchte in einem solchen Mann nicht den ganzen Unterschied der modernen und der alten, wie der mittleren Zeit personifiziert erblicken! Jedes körperliche Geschick, welches gleichwohl nicht fehlen darf, tritt bei ihm in den Hintergrund, in den Dienst der verständigen Beachtung auch des Kleinsten, als eines für das Ganze Wichtigen. Jede Schaufel Steinkohlen, die er nachlegte, brachte er mit Erwägung des rechten Maßes, des rechten Zeitpunktes, der gehörigen Verteilung auf den Herd. Keinen Augenblick müßig, auf alles achtend, die Minute berechnend, da er den Wagen in Bewegung zu setzen habe, erschien er als der regierende Geist der Maschine und der in ihr zu der ungeheuren Kraftwirkung vereinigten Elemente.
[98]
„Als der Dampf sich stark zu entwickeln begann, regnete es aus der sich augenblicklich bildenden Wolke durch die etwas rauhe Morgenluft auf uns herab; ja, der Gegensatz der glühenden Dämpfe und der Atmosphäre machte, daß zugleich ein Hagelstaub niederfiel.
„Als darauf auch der nach einer Heideloffschen Zeichnung gefertigte, sehr einfache Denkstein mit der einfachen Inschrift: „Deutschlands erste Eisenbahn mit Dampfkraft. 1835“ enthüllt war, wurde Sr. Maj. dem König ein Lebehoch gebracht. — Hierauf begann die erste Fahrt in den mit Fahnen geschmückten Wagen; ein Kanonenschuß verkündete den Abgang des ersten Zuges. Alle neun Wagen waren angefüllt und mochten etwa 200 Personen fassen.
„Der Wagenlenker ließ die Kraft des Dampfes nach und nach in Wirksamkeit treten. Aus dem Schlot fuhren nun die Dampfwolken in gewaltigen Stößen, die sich mit dem schnaubenden Ausatmen eines riesenhaften antediluvianischen Stieres vergleichen lassen. Die Wagen waren dicht aneinandergekettet und fingen an, sich langsam zu bewegen; bald aber wiederholten sich die Ausatmungen des Schlotes immer schneller, und die Wagen rollten dahin, daß sie in wenigen Augenblicken den Augen der Nachschauenden entschwunden waren. Auch die Dampfwolke, welche lange noch den Weg, den jene genommen, bezeichnete, sank immer tiefer, bis sie auf dem Boden zu ruhen schien; die erste Festfahrt war in neun Minuten vollendet, und somit eine Strecke von 20 000 Fuß (6 Kilometer) zurückgelegt.
„Die Fahrt wurde an diesem Tage noch zweimal wiederholt. Das zweitemal bin auch ich mitgefahren, und ich kann versichern, daß die Bewegung durchaus angenehm, ja wohltuend ist. Wer zum Schwindel geneigt ist, muß es freilich vermeiden, die vorüberfliegenden, nähergelegenen Gegenstände ins Auge zu fassen.
„Es war eine unvergeßliche Menschenmenge vorhanden, und sie jauchzte und jubelte zum Teil den Vorüberfahrenden zu; in der Tat, es gewährt der Anblick des vorüberdrängenden Wagenzuges fast ein größeres Vergnügen, als das Selbstfahren. Wenigstens drängt sich uns das Gefühl der gewaltigen, wundersam wirkenden Kraft bei jenem Anblick weit mehr auf; es imponiert, wenn man den Wagenzug mit seinen 200 Personen wie von selbst, wenn auch nicht pfeilgeschwind, doch gegen alle bisherige Erfahrung schnell, unaufhaltsam heran-, vorüber- und in die Ferne dringen sieht.
„Das Schnauben und Qualmen des ausgestoßenen Dampfes, der sich sogleich als Wolke in die Höhe zieht, verfehlt auch seine Wirkung nicht. Pferde auf der nahen Chaussee sind daher beim Herannahen des Ungetüms scheu geworden, Kinder haben zu weinen angefangen, und manche Menschen, die nicht alle zu den ungebildeten gerechnet werden dürfen, haben ein leises Beben nicht unterdrücken können. Ja, es möchte wohl keiner, der nicht völlig phantasielos ist, ganz ruhigen Gemütes und ohne Staunen beim ersten Anblick des wunderwürdigen Phänomens geblieben sein.“
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[100]
Nun war der Augenblick gekommen, da der deutsche Eisenbahnfrühling in die fruchtbringende Zeit übergehen konnte. Doch der freundlichere Sonnenglanz, der fortab auf die schienenreifen Gefilde unseres Landes herniederstrahlte, ward verdüstert durch den Schatten eines Menschenschicksals, dessen Träger zu leuchtenden Taten berufen war, aber im Dunkeln enden sollte.
Deutschland hatte das Glück, daß der erste Denker auf der Erde, welcher ein wahres und tiefes Verständnis für die umfassende Wirkung und weitestgreifende Bedeutung der Eisenbahn hatte, auf seinem Boden geboren wurde und wirkte. Während in allen anderen Ländern, selbst in England, immer noch planlos Linien von nur örtlicher Bedeutung ins Leben gerufen wurden, hat jener Mann als erster ein Eisenbahnnetz als Ganzes deutlich vor seinem geistigen Auge gesehen.
Die Alten, wenn sie zum Himmel blickten, dachten, daß jeder der Sterne ohne Zusammenwirken mit den andern und ohne von ihnen beeinflußt zu werden, seine Kreise am Himmel zöge. Aber es traten Männer wie Kopernikus auf, die lehrten, daß da droben jede der Sternenbahnen mit den anderen eng verwoben sei, daß die „Harmonie der Sphären“ nur deshalb bestehe, weil eins mit dem anderen wirke und lebe. Auch die Eisenbahn hat ihren Kopernikus gehabt, und er ist gleichfalls ein Deutscher gewesen.
Die tief eindringenden Gedanken dieses Manns machten nicht bei der Erkenntnis halt, daß es für das Wohl der Eisenbahn selbst notwendig sei, von vornherein nicht einzelne Strecken, sondern sogleich große, zusammenhängende Netze zu entwerfen. Denn seinem für das Vaterland glühenden Herzen war selbst das Riesengebilde der vielen eisernen Verkehrswege, die er vor Augen hatte, nichts anderes als ein Werkzeug zur Erhöhung Deutschlands. Er sah in ihnen das beste Mittel, die Entwicklung seines Vaterlands zu fördern, es durch immer engere Verkettung der einzelnen politischen Mittelpunkte aus seiner jammervollen Zerrissenheit emporzuheben zu größerer Einheit. Er glaubte fest an das geeinte große Deutsche Reich, das er selbst niemals sehen sollte, er opferte sein Dasein diesem größten Ziel, dem er am ehesten durch Förderung des Eisenbahngedankens im größten Maßstab sich nähern zu können glaubte.
Den Schöpfer der ersten deutschen Eisenbahnlinie von wirklicher verkehrspolitischer Bedeutung, den Gründer des Handelsvereins, aus dem dann der große deutsche Zollverein hervorging, Friedrich List, nennen wir heute einen Vorläufer Bismarcks. Die Zeitgenossen aber hatten für diesen großen Sohn deutscher Erde nichts übrig als Kränkungen und Verachtung. Man verfolgte ihn ob seines vorwärtsdrängenden Wirkens, man trieb ihn aus dem Vaterland und endlich in die Verzweiflung.
Lists Wirken für die Eisenbahn blieb nicht so ohne tatsächliche Erfolge wie das Streben Friedrich Harkorts. Er hat wirklich die rasch dahinrollende Lokomotive vor die Masse der schwer zu bewegenden Geister gespannt. Aber während der stämmige Westfale trotz der Ergebnislosigkeit seiner Kämpfe ein ruhiges Alter erreichte, mußte List an der Flamme seines Geistes, die draußen nicht genug Nahrung fand, endlich selbst verbrennen. Er sah die erste von ihm geschaffene Eisenbahnlinie, die Strecke Leipzig-Dresden, aufblühen[101] und gedeihen, er erblickte die segensreichen Folgen, welche an dieses Werk sich schlossen, indem Deutschland sich mehr und mehr mit Schienenwegen überzog, aber man hatte ihn selbst von dem Arbeitsplatz fortgestoßen, auf dem er den ersten Hammerschlag für das große Werk getan, und so mußte sein heißes Herz im Alpenschnee verbluten.
Treffend hat Treitschke das Auftreten und Wirken Lists mit folgenden Worten umrissen:
„Alle die wohlgemeinten Entwürfe früherer Eisenbahnlinien waren doch nur auf das Wohl einzelner Städte oder Ländereien berechnet, und fast schien es, als sollten die Deutschen durch den Fluch ihres Partikularismus verhindert werden, die große Erfindung mit großem Sinne zu benutzen. Da trat Friedrich List hervor mit dem Plan eines zusammenhängenden, ganz Deutschland umfassenden Eisenbahnnetzes und zeigte durch die Tat, durch die glückliche Vollendung einer großen Bahnlinie, daß sein, dem Durchschnittsmenschen fast unfaßbares Ideal sich verwirklichen ließ.
„Als der Bahnbrecher des deutschen Eisenbahnwesens erwarb er sich sein größtes Verdienst um die Nation, seine Stellung in der vaterländischen Geschichte. Als er vor Jahren für die deutsche Zolleinheit gearbeitet, hatte er doch nur mutig ausgesprochen, was die Mehrzahl der Zeitgenossen schon ersehnte und in der Wahl der Mittel vielfach fehlgegriffen. Jetzt aber mit seinen Eisenbahnplänen eilte er allen Landsleuten weit vor und bewährte überall die geniale Sicherheit seines Seherblickes. Wenig gelehrt, aber reich gebildet und im Leben erfahren, überragte er alle damaligen volkswirtschaftlichen Publizisten.“
Friedrich List wurde im Jahre 1789 in Reutlingen als der Sohn eines Weißgerbers geboren. Von Beginn an ging er einen unregelmäßigen Weg.
„Seine Bildung wird ihm,“ so sagt der erste Schilderer seines Lebens, Ludwig Häußer, „nicht auf dem gewohnten Wege zugeführt; seine Erfahrung muß er sich im bittersten Kampfe mit äußeren Verhältnissen erringen, und seiner Lebenstätigkeit überall unter entmutigenden Hindernissen und Opfern neue Bahnen zu brechen suchen. Das Autodidaktische in der geistigen Erziehung des Mannes, das Energievolle und Selbständige in seinem Charakter, das Kampffertige und Rührige in seinem öffentlichen Tun wird von früher Zeit vorbereitet — denn es ist ein bitteres, vielbewegtes Leben, das ihn von Anfang an in die harte Zucht nimmt und seinen Geist und Charakter zu jenem seltenen Grade von Selbständigkeit und schöpferischer Rührigkeit heranbildet, die Lists hervorragendes Verdienst, aber auch die Quelle seiner Verkennungen war. Wie das Ziel seines Wirkens eigentümlich war und in der Geschichte literarischer Persönlichkeiten einen ganz neuen Abschnitt für Deutschland bezeichnete, wie der Ausgang seines Lebens ein ungemeines tragisches Interesse weckte, so waren auch die Wege nicht gewöhnlich, auf denen das Schicksal diese kostbare Fülle von Kräften prüfte und stählte.“
Nachdem er eine einfache Schule besucht hatte, ward List schon früh auf den Kampf hingewiesen, den er sein ganzes Leben hindurch geführt hat: das Ringen gegen willkürliche, dem Leben abgewandte Beamtenherrschaft, wie sie zum Schaden des Vaterlands damals blühte. Eine seltsame Verkettung von Umständen fügte es, daß der Tod seiner Mutter und seines Bruders mittelbar durch harte Eingriffe der Behörden in die Familienverhältnisse herbeigeführt wurde. Dennoch war List gezwungen, Schreiber im Dienst der württembergischen Regierung zu werden.
In Ulm begann er widerwillig diese Laufbahn. Seine bedeutenden Fähigkeiten führten ihn jedoch alsbald in höhere Stufen. Er legte die Prüfung für das obere Verwaltungsfach ab und kam als Rechnungsrat ins Ministerium. Hier wurde der freisinnige Minister von Wangenheim auf die außerordentliche Bildung aufmerksam, die der junge[102] Mann sich selbst angeeignet hatte, und schon mit 28 Jahren saß Friedrich List auf dem Lehrstuhl für Staatskunde an der Universität zu Tübingen.
Doch nicht lange sollte er sich dieser ehrenvollen Stellung erfreuen. Die sehr tatkräftigen württembergischen „Altrechtler“ stürzten seinen Gönner Wangenheim, und damit verschwand die starke Stütze, die der junge, den Fortschritt lehrende Professor besaß. Nach einem Jahr bereits schied er aus Tübingen.
Unstet wandernd kam nun List 1819 auf einer Reise durch Süddeutschland nach Frankfurt a. M. Dort war eine Zahl tüchtiger Kaufleute und Fabrikanten im Begriff, sich zusammenzuschließen, um eine Aufhebung der unzähligen Zollgrenzen innerhalb des Deutschen Reichs zu erwirken. List erschien ihnen als der geborene Führer dieser Vereinigung. Rasch brachte er den Handelsverein zustande, die Urzelle des deutschen Zollvereins. „Von diesem“, so schrieb List später, „datiert sich die Wiedergeburt des deutschen Unternehmungsgeistes, der jahrhundertelang geschlafen hatte. Von ihm datiert sich die Teilnahme des deutschen Publikums an allen Nationalangelegenheiten, und erst der Zollverein hat die Deutschen die Notwendigkeit und die Nützlichkeit der politischen Ausbildung und Einigung gelehrt.“
Die Stadt Reutlingen hatte indessen ihren bedeutenden Sohn nicht vergessen. Die Bürger wählten List zum Abgeordneten in die Ständeversammlung. Diese Stellung benutzte List, wie man es von ihm erwartet hatte, dazu, durch heftige Angriffe eine Erneuerung des alten, erstarrten Beamtenstaats anzustreben.
Es währte nicht lange, bis er sich eine Klage wegen „Verleumdung der bestehenden Staatsverwaltung und dringenden Verdachts eines begangenen Staatsverbrechens“ zuzog. Der Volksvertreter genoß damals noch nicht das gleiche Recht der Unverletzlichkeit wie heute, und so erreichte die Regierung, daß List aus der Kammer ausgeschlossen wurde. Dazu gesellte sich alsbald eine Verurteilung zu zehnmonatlicher Festungsstrafe „mit angemessener Beschäftigung innerhalb der Festung“.
Um diese Strafe nicht abbüßen zu müssen, begab sich List nach dem damals ja noch französischen Straßburg. Aber er hat niemals an einem Ort Ruhe gefunden, der außerhalb der deutschen Grenze lag. So versuchte er nach kurzer Zeit, bald in dem einen, bald in dem andern der vielen deutschen Vaterländer wieder Fuß zu fassen. Doch überall wußte die württembergische Regierung ihm den Boden heiß zu machen.
Als er es nach Ablauf von drei Jahren gar wagte, nach Württemberg zurückzukehren, wurde er wider Erwarten sogleich ergriffen und auf dem Asberg festgesetzt. Die im Urteil ausgesprochene „angemessene Beschäftigung“ bestand darin, daß der Gefangene dem Platzkommandanten Abschreiberdienste leisten mußte. Er ward zwar schon mehrere Monate vor Ablauf der Strafzeit entlassen, aber nur unter der Bedingung, daß er innerhalb vier Tagen Württemberg verlasse.
Nun sah List ein, daß er in Deutschland kein Wirkungsgebiet mehr habe, und er siedelte mit seiner Familie nach Amerika über. Erleichtert wurde ihm dieser Entschluß durch eine Einladung Lafayettes, des alten Freiheitskämpfers und Freunds Washingtons, den er schon früher einmal in Paris kennen gelernt hatte. Durch Lafayettes Empfehlung fand List jenseits des Weltmeers einen sehr freundlichen Empfang. Er siedelte sich zu Reading, in dem Kohlen- und Eisenbezirk von Pennsylvanien, an. Dort in dem kühn aufstrebenden Land konnte er nun alle seine volkswirtschaftlichen Anschauungen zur Reife bringen. Die 1827 erschienenen „Briefe über die kosmopolitische Theorie der Ökonomie“ machten ihn drüben zu einem weithin bekannten und hochangesehenen Mann.
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Auch Lists Vermögensverhältnisse sollten sich rasch bessern. Bei einem Ausflug ins Gebirge entdeckte er zufällig neue, reiche Kohlenlager. Sein scharfer Blick ließ ihn die Möglichkeiten einer guten Nutzung erkennen, und rasch gelang es ihm, Geldmänner für den Plan der Anlegung eines Bergwerks zu gewinnen. Er erweckte das Vertrauen in sein Unternehmen in der Hauptsache dadurch, daß er sofort daran ging, die Verkehrsverhältnisse der abgelegenen Gegend auf das gründlichste zu verbessern.
Er erbaute eine Eisenbahnlinie von Tamaqua nach Port Clinton in der Nähe von Philadelphia, auf der die Kohle bequem zum Schuylkillkanal gelangen konnte. Die Strecke war 34 Kilometer lang und wurde von einem Lokomotivzug in 21⁄2 Stunden durchfahren.
Die neue Verkehrsanlage hatte einen ausgezeichneten Erfolg. Das Bergwerk warf reiche Erträgnisse ab, und auch der Landstrich zu beiden Seiten der Bahn entwickelte sich zusehends in außerordentlicher Weise. Dort, wo bisher kein Mensch gewohnt hatte, waren bald vier kleine Städte entstanden und reich besiedelt. Dieser Vorgang erinnert lebhaft an die Entstehung von Middlesborough unter dem Einfluß der Bahn Manchester-Liverpool.
Der überraschende Erfolg seiner kleinen Bahn sollte richtunggebend für Lists ganzes Leben werden. Es war ihm plötzlich durch ein lebendiges Beispiel klar geworden, welch ungeheuren Nutzen die Eisenbahn einem darniederliegenden Land zu bringen vermag. Nicht der persönliche Vorteil war es, der sein Herz aufs tiefste bewegte, sondern der Gedanke, daß hier das richtige Mittel zur Weiterentwicklung Deutschlands gefunden sei.
„Mitten in den Wildnissen der Blauen Berge“, so hat er später geschrieben, „träumte mir von einem deutschen Eisenbahnsystem; es war mir klar, daß nur durch ein solches die Handelsvereinigung in volle Wirksamkeit treten könne. Diese Ideen machten mich mitten im Glück unglücklich. Notwendig mußte die finanzielle und nationalökonomische Wirksamkeit in Deutschland um so größer sein, je unvollkommener vorher die Transportmittel im Verhältnis zu der Kultur, Größe und Industrie der Nation waren.“
Nachdem List dies erst einmal deutlich erkannt hatte, hielt es ihn, obgleich er zum erstenmal in seinem Leben in gutem Wohlstand und höchst angenehm lebte, nicht mehr in Amerika. „Mir gehts“, so sagte er, „mit meinem Vaterland wie den Müttern mit ihren krüppelhaften Kindern: sie lieben sie um so stärker, je krüppelhafter sie sind. Im Hintergrund all meiner Pläne liegt Deutschland, die Rückkehr nach Deutschland; es ist wahr, ich werde mich dort ärgern über die Kleinstädterei und Kleinstaaterei.“
So erwuchs in der Ferne für Deutschland der große Förderer seiner Volkswirtschaft in diesem Mann, der im Ausland die Heimat nicht zu vergessen vermochte. Wer müßte in diesem Zusammenhang nicht an das Wort eines anderen großen Verbannten denken, an Heines „Denk’ ich an Deutschland in der Nacht, so bin ich um den Schlaf gebracht!“
Bald begann List nun einen Briefwechsel mit Joseph von Baader, den wir bereits als einen alten Anhänger des Eisenbahngedankens kennen. Häußer gibt aus einem Brief Lists an Baader unter anderem folgende Stellen wieder, die erkennen lassen, in welch bewundernswerter Weise Lists Geist den Eisenbahngedanken von dem bescheidenen Anfang in eine großartige Zukunft weiterspann. Zunächst weist der Briefschreiber auf die Segnungen hin, welche die in jener Zeit einzig vorhandene große Verkehrseinrichtung, die Schiffahrt, der Menschheit gebracht hat:
„New-York brennt die Steinkohlen von New-Castle; die ältesten Häuser von Albany sind mit holländischen Backsteinen erbaut; der Philadelphier läßt sich zuweilen die im niedersächsischen Sande gewachsene Kartoffel wohlschmecken; in Savannah erheben sich Gebäude und Denkmäler von Steinen, die an der nördlichen Grenze von Neu-England[104] gebrochen worden sind; der Müller in Pennsylvanien mahlt mit Steinen, die über 3000 Meilen weit herkommen; in England ißt man Äpfel aus der Jersey, und während ich dieses schreibe, lösche ich den Durst mit italienischen Limonen, die mich wahrscheinlich nicht so hoch kommen als Sie die Ihrigen, obschon Sie dem Platz wo sie gewachsen, ungefähr 3000 Meilen näher sind als ich. Auch trinke ich wohlfeileren Bordeaux als Sie.
„Nun bedenke man, wie unermeßlich die Produktionskräfte von ganz Deutschland gesteigert würden, wenn eine der Seefracht an Wohlfeilheit und Schnelligkeit gleichkommende Landfracht stattfände.
„Alle mittel- und norddeutschen Länder würden sich an einen regelmäßigen Genuß der ordinären Rhein- und Frankenweine gewöhnen; es würde mehr Wein in der Traube dahin geführt als jetzt im Faß oder in der Bouteille. Essen wir doch hier Trauben aus Spanien und Portugal zu billigen Preisen. Regensburger Bier käme in Hamburg nicht teurer zu stehen als gegenwärtig in Nürnberg . . . Hamburg und Bremen würden bayerisches Brot essen; die Feinschmecker in München frische Austern und Seekrebse. Wie würden nur allein die Fischereien jener Seeplätze sich heben, wenn aller Tran, alle gesalzenen und getrockneten Fische, die jetzt von Holland den Rhein heraufkommen, von dort bezogen würden.
„Vermittels Eisenbahnen könnte die lothringische und rheinpreußische Steinkohle und das Holz aus den Gebirgen so wohlfeil ins Rheintal geschafft werden, daß man nicht mehr nötig hätte, einen bedeutenden Teil des besten Bodens zur Holzpflanzung zu verwenden. Der Harz, das Fichtelgebirge, das Erz- und Riesengebirge, würden ihre Erzeugnisse nach allen Gegenden aufs Wohlfeilste versenden und die Getränke und Getreidefrüchte der fruchtbaren Gegenden entgegennehmen.“
Bald sollte sich für List eine ausgezeichnete Gelegenheit ergeben, nach Europa zurückzukehren. Der Präsident der Vereinigten Staaten, Jackson, war längst auf seine bedeutenden Fähigkeiten aufmerksam geworden und wollte sie dazu benutzen, eine engere handelspolitische Verbindung zwischen Amerika und Europa herbeizuführen. Er sandte List deshalb zunächst nach Frankreich, damit er dort für einen lebhafteren Güteraustausch mit den Staaten wirke, insbesondere aber für die Einführung amerikanischer Steinkohle tätig sei. Man versprach ihm, daß er, sobald diese Aufgabe günstig gelöst wäre, zum amerikanischen Konsul in Hamburg ernannt werden würde, wodurch dem Verbannten die Rückkehr ins Vaterland möglich werden konnte. „Mich reizte aber“, so schrieb List später, „weniger dies Versprechen, als die Hoffnung, dadurch Gelegenheit zu erhalten, die Eisenbahn auf dem europäischen Kontinent einzuführen, den Antrag anzunehmen.“
So ging er denn nach Frankreich, kehrte nach zufriedenstellendem Wirken noch einmal nach Amerika zurück und landete endlich im Jahre 1832 mit seiner Familie in Hamburg, um nun für immer in dem alten Erdteil zu bleiben.
Der Rückkehrende war ein anderer Mann als jener, der einst ausgezogen. Der Gelehrte hatte sich in einen schaffenden Handelspolitiker verwandelt. Nur die Liebe zum Vaterland war die gleiche geblieben.
Ein Jahr lang lebte List nun in Hamburg und begann schon dort seine Werbetätigkeit für die Errichtung von Eisenbahnlinien in Deutschland. Aber man belächelte seinen Eifer und gab ihm kein Gehör. Darum schaute er sich nach jener Stelle innerhalb der deutschen Grenze um, die wohl am ehesten und besten zu einer Ausnutzung des neuen Verkehrsmittels geeignet wäre.
Er erkannte Leipzig als den geeignetsten Ausgangspunkt für ein großes Eisenbahnnetz.[105] „Dort lag,“ wie er sich ausdrückte, „die Herzkammer des deutschen Binnenverkehrs, des Buchhandels und der deutschen Fabrikindustrie.“ Die zahlreichen Fremden, die alljährlich zweimal durch die Messe herangezogen wurden, trugen sehr viel zur Belebung des Menschenaustauschs bei. Auch eine Besserung des Güterverkehrs an dieser Stelle schien ihm notwendig. „Was leichter Transport vermag und was schwerer und teurer nicht vermag, darüber können wir,“ so schrieb er bald darauf, „die Sandsteine von Pirna zu Zeugen aufrufen, die zu Wasser bis Berlin, Hamburg und Altona, ja, in noch größerer Menge nach Kopenhagen gegangen sind und noch gehen, während es ihnen nie möglich war, landwärts nur bis Leipzig vorzudringen. Und doch bedürfte man ihrer hier sehr, wäre es auch nur, um dieser sonst so schönen Stadt Trottoirs zu verschaffen.“
Kühn entschlossen zog List nach Leipzig und begann eine ausgedehnte Werbetätigkeit für eine Eisenbahnstrecke von dort nach Dresden. Er suchte die Verkehrsverhältnisse zwischen den beiden Städten genau kennenzulernen, bereiste vielfach die Strecke und machte sich mit den Bodenverhältnissen bekannt.
Zuerst begegnete List auch bei den Leipzigern kalte Zurückhaltung. Da aber veröffentlichte er ein hochbedeutsames Werk, das in der Geschichte der Eisenbahn niemals vergessen werden wird. Es hieß „Über ein sächsisches Eisenbahnsystem als Grundlage eines allgemeinen deutschen Eisenbahnsystems“.
Er widerlegte darin zunächst die weitverbreitete Meinung, daß Eisenbahnen wohl in England und Amerika möglich und nützlich seien, aber nicht in Deutschland. Daß hier bisher noch keine irgendwie bedeutende Strecke gebaut worden sei, habe seinen Grund nicht darin, daß die Verhältnisse dazu nicht geeignet und das nötige Geld nicht vorhanden sei, es wäre vielmehr allein der mangelnde Unternehmungsgeist, der im Gegensatz zu drüben von dem großen Werk abhielte. In Sachsen könne man sogar unter weit günstigeren Umständen Eisenbahnen bauen, da hier die Löhne niedriger seien und die weiten Ebenen von der Notwendigkeit entbänden, große Bodenschwierigkeiten zu überwinden.
Es sei auch keinesfalls zu befürchten, daß durch das neue Verkehrsmittel einzelne Gewerbe und Personen bleibenden Schaden erleiden würden. „Zur Zeit der Erfindung der Buchdruckerkunst mögen in Leipzig wohl für den Augenblick über ein Dutzend Abschreiber arbeitslos geworden sein; heute beschäftigt hier die Presse 5000 Menschen. So gut es Torheit gewesen wäre, den Fortschritten des Erfindungsgeistes Einhalt zu tun, um jene Abschreiber in Tätigkeit zu erhalten, so töricht wäre es heute, um etlicher Gastgeber und Fuhrleute willen auf die unermeßlichen Wohltaten der Eisenbahn Verzicht zu leisten.“
Es mutet uns heute seltsam an, war aber damals eine dringende Notwendigkeit, daß List in seiner Schrift darauf hinwies, die Eisenbahnen würden nicht nur den Verkehr erleichtern, sondern ihn auch heben. Zugleich müßten sie den Wert des Eigentums steigern und das Wohlbefinden aller Klassen verbessern. Es wurde von ihm schon darauf hingedeutet, daß der Staat wohl am ehesten dazu berufen wäre, Eisenbahnen zu bauen. Große, ertragreiche Strecken könnten zwar von nichtöffentlichen Gesellschaften ausgeführt werden, aber solche, die an sich keinen Verdienst abzuwerfen vermöchten, volkswirtschaftlich aber dennoch von großer Wichtigkeit wären, sollten auf Staatskosten angelegt werden.
Die spätere Entwicklung ist tatsächlich diesen Weg gegangen.
Ein Entwurf für die Errichtung einer Aktiengesellschaft zur Erbauung der Eisenbahn Leipzig-Dresden war in der Schrift enthalten. Ganz neu für Deutschland war auch ein darin ausgesprochener Gedanke, für den List bereits in Frankreich eingetreten war: daß nämlich den Bahngesellschaften das Enteignungsrecht verliehen werden müsse, ohne dessen[106] Besitz sie zur Überwindung größter Schwierigkeiten und oft zu schädlichen Umwegen gezwungen würden.
Wenn auch List vorsichtigerweise vorläufig nur für die Erbauung der Linie Leipzig-Dresden eintrat, so hatte er doch ein großes deutsches Eisenbahnnetz stets vor Augen. Der Schrift war eine Karte beigefügt, welche die beste Führung der großen Eisenbahnlinien über ganz Deutschland andeutete. Nichts spricht deutlicher für die Fähigkeit dieses großen Geistes, künftige Entwicklungen vorauszusehen, als die Tatsache, daß schon nach fünfzehn Jahren die sämtlichen von List vorgezeichneten Eisenbahnlinien ohne seine unmittelbare Einwirkung, nur hervorgerufen aus dem tatsächlichen Bedürfnis, wirklich vorhanden waren.
Das „National-Transportsystem“ steht immer im Vordergrund von Lists Handeln. Zollverein und Eisenbahnnetz nennt er die „siamesischen Zwillinge“.
Stets spricht er mit begeisterten Worten von der großen und allgemeinen Wirkung der Eisenbahnen, die er wie keiner seiner Zeitgenossen begriffen und vorausgesehen hat. „Was die Dampfschiffahrt für den See- und Flußverkehr,“ so schreibt er, „das ist der Eisenbahnwagentransport für den Landverkehr — ein Herkules in der Wiege, der die Völker erlösen wird von der Plage des Krieges, der Teuerung und Hungersnot, des Nationalhasses und der Arbeitslosigkeit, der Unwissenheit und des Schlendrians; der ihre Felder befruchten, ihre Werkstätten und Schächte beleben und auch den Niedrigsten unter ihnen Kraft verleihen wird, sich durch Besuch fremder Länder zu bilden, in entfernten Gegenden Arbeit, an fernen Heilquellen und Seegestaden Wiederherstellung ihrer Gesundheit zu suchen. Ja, durch die neuen Transportmittel wird der Mensch ein unendlich glücklicheres, vermögenderes und vollkommeneres Wesen, seine Kraft und Tätigkeit erweitert.“
[107]
Er steht nicht an, die Eisenbahn ein Gottesgeschenk zu nennen. Wie er auf ihre Wirkungen für das Große und Allgemeine hinweist, so gedenkt er auch ihrer freundlichen Wirkungen auf die Familien- und die Lebensverhältnisse des einzelnen:
„Wie vieler Kummer wird nicht erspart, wie viele Freuden werden nicht gewonnen, wenn entfernte Verwandte und Freunde sich mit Blitzesschnelle von ihren Zuständen und Begebnissen Nachricht geben können und ihnen das Wiedersehen um so viel leichter erreichbar ist.
„Wie viele Schmerzen werden nicht gestillt, wenn auch der minder Bemittelte durch Zerstreuung und Luftveränderung, durch die regelmäßige und sanfte Bewegung der Dampfwagen, durch die Reisen nach einer Heilquelle oder ins Seebad, durch Versetzung in ein milderes Klima oder in die frische Bergluft die verlorene Gesundheit, ohne die er seiner Familie den Lebensunterhalt nicht zu erwerben imstande ist, für eine Reihe von Jahren wieder restaurieren kann, während er bei den jetzigen Transportverhältnissen aus Mangel an Mitteln, oder weil er die Beschwerlichkeiten der Reise, zumal das Nachtfahren, nicht ertragen kann, mit seiner Familie elendiglich verkümmern muß.
„Wie vieler Sorgen werden nicht die Eltern überhoben, wenn ihnen nun ein so weiter Kreis eröffnet ist, um den Kindern die ihren Vermögensumständen und Wünschen und den Anlagen und Neigungen der Kinder entsprechenden Bestimmungen zu geben.
„Um wieviel leichter werden diejenigen, die in ihrer Heimat kein zureichendes Auskommen finden und die hier dem gemeinen Wesen zur Last fallen, sich und ihre Familien in andere Gegenden, Länder und Weltteile versetzen, um dort eine neue und glücklichere Existenz zu gründen.“
Mit einer Sicherheit, die gerade heute für uns verblüffend ist, macht List auf die militärische Bedeutung der Eisenbahnen aufmerksam: „Ein vollständiges Eisenbahnsystem wird das ganze Territorium einer Nation in eine große Festung verwandeln, die von der ganzen streitbaren Mannschaft der angegriffenen Nation mit der größten Leichtigkeit, mit dem geringsten Kostenaufwand und den geringsten Nachteilen für das Land verteidigt werden kann.“
Von der Schrift über das sächsische Eisenbahnsystem, in der er vorsichtigerweise von der Voraussetzung ausgeht, daß täglich nur 120 Personen zwischen Leipzig und Dresden hin und her reisen würden, ließ List 500 Drucke an alle wichtigen sächsischen Behördestellen, an die Kammern und maßgebenden Persönlichkeiten Sachsens verteilen.
Die Wirkung war außerordentlich. Mit der Veröffentlichung dieser Listschen Schrift beginnt das Verständnis für den Eisenbahngedanken sich in Deutschland zu verbreiten. Die sächsische Regierung, die beiden Kammern und die Leipziger Stadtverordneten sandten List Danksagungsschreiben.
Es wurde alsbald die Gründung eines Ausschusses beschlossen, der die Vorbedingungen für den Bau der Strecke Leipzig-Dresden ausarbeiten sollte. Die tätigsten Mitglieder in diesem Ausschuß waren, außer List, die Herren Dufour-Féronce, Lange, Seiffert und Gustav Harkort, ein Bruder Friedrichs, der in Leipzig ein großes Ausfuhrgeschäft betrieb.
Wiederum entfaltete List eine außerordentliche Tätigkeit, bis alle Punkte geklärt waren. Als dann aber mit Genehmigung der sächsischen Regierung ein endgültiger Arbeitsausschuß von zwölf Männern gewählt wurde, zu denen auch List gehören sollte, da wurde die Gültigkeit seiner Wahl nicht anerkannt, weil er nicht Leipziger Bürger war. Es ist dies der Beginn des Unheils, das fortab List wiederum auf allen seinen Lebenswegen verfolgen sollte.
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Am Tag der Ausschreibung wurde das gesamte Aktienkapital von 11⁄2 Millionen Mark sofort voll gezeichnet. Nach vier Tagen zahlte man für die Papiere bereits ein Aufgeld von 221⁄2 vom Hundert. Auch dieser Vorgang verlieh dem weiteren Vordringen der Eisenbahnen in Deutschland einen kräftigen Schwung.
Obgleich es keinem Zweifel unterliegen konnte, daß Lists Raten und Taten die ausschließliche Ursache dieses glänzenden Erfolgs war, begann man doch von jetzt ab, ihn planmäßig beiseite zu schieben. Die kühne, harte und heißblütige Art des großen Manns behagte den Durchschnittsbürgern im Ausschuß nicht. Es kam in den Versammlungen zu sehr häßlichen Auftritten. Man unterbrach List bei seinen Vorträgen, man lud ihn schließlich zu den Beratungen überhaupt nicht mehr ein und fand es unerklärlich, „daß ein Schwabe, der ohne allen Beruf ins Land gekommen und offenbar nur oberflächliche Kenntnisse über die Sache besitze, sich mehr zutrauen wolle als den Koryphäen des Leipziger Handelsstandes“.
Es war um so leichter, List aus seiner eigenen Schöpfung hinauszudrängen, als dieser mit der ganzen Sorglosigkeit des schöpferischen Geists und eines von seiner Sache tief durchdrungenen Manns sich kein bestimmtes Entgelt für seine Tätigkeit ausbedungen hatte. Er begnügte sich damit, daß ihm in unverbindlichen Besprechungen in Aussicht gestellt worden war, er werde in späterer Zeit, wenn das Unternehmen schon guten Ertrag abwerfe, zwei vom Hundert der sämtlichen Aktien zum Ausgabekurs zeichnen dürfen. Da es List nur um die Sache und gar nicht um seine Person zu tun war, sah er von einer festen Abmachung um so eher ab, als er fürchten mußte, daß die Öffentlichkeit sonst leicht der Meinung hätte sein können, daß er nur zu seinem eigenen Nutzen so warm für das Eisenbahnunternehmen eingetreten wäre.
Sein unbedingter Glaube an die Ehrlichkeit der ihm von hervorragenden Bürgern gemachten Zusagen sollte ihn jedoch aufs bitterste enttäuschen. Man glaubte, genug zu tun, wenn man ihm ein Ehrengeschenk von 2000 Talern anbot, im übrigen aber nur leere Dankesworte spendete. Für die persönliche Lage des so Verratenen waren diese Ereignisse um so schlimmer, als er sein in Amerika erworbenes und drüben untergebrachtes Vermögen durch eine Änderung in der Handelspolitik der dortigen Regierung inzwischen wieder verloren hatte.
Das Ende von Lists aufopfernder und fast beispiellos erfolgreicher Tätigkeit für das Zustandekommen der ersten großen Eisenbahnlinie in Deutschland war, daß er endlich vollkommen verdrängt wurde, daß man einen anderen Streckenzug wählte, als er vorgeschlagen hatte, und daß bei der Eröffnung der Bahn niemand mehr an ihn dachte. Die Auszeichnungen und öffentlichen Belobigungen erhielten andere Ausschußmitglieder; List war schon an diesen Festtagen in Leipzig völlig vergessen.
Welch eine große Seele man hier schmachvoll mißhandelt hat, zeigt am besten die Tatsache, daß List trotzdem nicht davon abstand, weiter für den Ausbau von Eisenbahnen in Deutschland zu wirken, weil er sie als notwendig für sein Vaterland erachtete. Er ging zunächst nach Berlin, um vom König von Preußen die Genehmigung für eine Bahn von dort nach Magdeburg und nach Leipzig zu erlangen. Es kam zu keinem Ergebnis, insbesondere weil auch in Berlin, wo man List zunächst sehr freundlich aufgenommen hatte, bald eine Erkaltung der Gefühle ihm gegenüber eintrat. Man hatte sich in Leipzig nach seiner Person erkundigt, und Gustav Harkort stand nicht an, den Mann, der ihn bei der Eisenbahngesellschaft doch erst in den Sattel gesetzt hatte, zu verleumden, ihn als phantastisch und unzuverlässig zu bezeichnen, von den „extravaganten Plänen des Herrn List“ zu sprechen.
[109]
Diesen beschäftigte nach dem neuen Mißerfolg die Anlage einer großen Eisenbahnstrecke von Frankfurt nach Basel, wobei er jedoch auch nichts zu erreichen vermochte, da die beteiligten Staaten die Linie selbst anzulegen gedachten.
All das konnte auch jetzt noch Lists eifrigste Tätigkeit für die Ausbreitung des Eisenbahngedankens nicht hemmen. Im Jahre 1835 gründete er eine eigene Zeitschrift, das „Eisenbahn-Journal“, dessen Zweck er selbst folgendermaßen darstellte:
„Die Vorbereitung eines allgemeinen deutschen Eisenbahnsystems ist ein Hauptzweck des Blattes, und die Redaktion wird sich daher besonders bestreben, richtige Ansichten über den Nutzen der Eisenbahn, über die zweckmäßigste Bauart derselben und über die Richtung der Hauptrouten zu vertreten. Sie wird die Verhältnisse der einzelnen Routen mit Rücksicht auf ihren Verkehr, ihre Lokalität und ihre Anlage- und Transportkosten und folglich ihre Ertragsfähigkeit beleuchten und denen, die sich für dergleichen Unternehmungen interessieren, mit gutem Rat beistehen. Auch wird sie sich angelegen sein lassen, das deutsche Publikum über Bewegungen und Fortschritte, welche in dieser Beziehung in dem In- und Ausland stattfinden, in fortlaufender Kenntnis zu erhalten.“
Die uneigennützige Arbeit des unermüdlichen Manns für die ihm so wichtig erscheinende Ausbreitung der Eisenbahnen geht also fort. Wirklich hat das Blatt die Gemüter[110] im Listschen Sinn weiter stark beeinflußt und aufgerüttelt. Das unmittelbare Ergebnis aber war, daß das „Eisenbahn-Journal“ schon im Jahre 1837 in Österreich, wo es sehr viele Leser besaß, verboten wurde und deshalb eingehen mußte.
Jetzt verlegte List seine Tätigkeit nach Frankreich. Doch auch hier konnte er nichts Rechtes erreichen, weil man in Frankreich zu jener Zeit die Eisenbahnaktien als geeignete Gegenstände für das Börsenspiel ansah, wodurch der Gegenstand für List nicht mehr verlockend war.
Als er nach Deutschland zurückkehrte, erhielt er davon Kenntnis, daß die geplante Linie von Halle nach Kassel eine Richtung bekommen sollte, die sehr dazu geeignet war, das Gedeihen der thüringischen Länder zu schädigen. Sofort wies er in der ihm eigenen tatkräftigen Art nach, daß es wichtiger sei, Städte wie Eisenach, Gotha, Erfurt und Weimar zu berühren, als eine kürzere Linie unter Vermeidung der alten thüringischen Landesstraße zu schaffen. Wirklich setzte er eine Abänderung der Linienführung in seinem Sinn durch. Zum Dank erhielt er nichts als ein Geschenk von 100 Louisdor für diese Tätigkeit, die, wie man anerkannte, die thüringischen Staaten „von tödlicher Gefahr gerettet hatte“.
Auch in Bayern, wo man jetzt recht lebhaft an den weiteren Ausbau der Eisenbahnen ging, bot List seine Dienste an, überall stellte er seine großen Erfahrungen auf diesem Gebiet zur Verfügung. Er wurde viel befragt, leistete überall Hilfe, aber nirgends kam es zu einer Anstellung, die er nun recht gern gehabt hätte.
Es bemächtigt sich Lists allmählich eine tiefe Verstimmung über den Undank der Welt. Bevor jedoch die Trübsal allzusehr Herr über seinen Geist werden konnte, schuf er noch sein größtes volkswirtschaftliches Werk, das „Nationale System der politischen Ökonomie“. Es erschien 1841 und hat ihn als Volkswirtschaftler unsterblich gemacht.
Ein mit Arbeit bis zum Rand angefülltes Leben hatte List nicht zu einem wohlhabenden[111] Mann gemacht. Die Sorge um seinen Lebensunterhalt wurde vielmehr immer ärger. Es gesellten sich körperliche Leiden hinzu, die ihn befürchten ließen, daß er bald überhaupt nicht mehr imstande sein würde, geistig zu arbeiten. Immer deutlicher sah der rasch Alternde ein, daß sein Streben für Deutschlands Größe ihm nichts anderes gebracht hatte, als den Verlust seines Vermögens und die Unmöglichkeit des Vorwärtskommens. In einem Brief aus jener Zeit macht er eine recht trübselige Zusammenstellung:
„Als ich im Jahr 1831 aus Amerika zurückkam, hatte ich mir wieder ein unabhängiges Vermögen erworben. Durch mein Bestreben, den Eisenbahnbau und eine nationale Handelspolitik emporzubringen, glaubte ich mich um mein Vaterland verdient zu machen und mich wenigstens bei meinem Vermögen erhalten zu können. Mein Lohn aber war Verfolgung und der Verlust eines großen Teils meines Vermögens.
„Jetzt den Sechzigern nahe und von körperlichen Übeln heimgesucht, sehe ich nur mit Besorgnis in die Zukunft, ja ich traue mir nicht einmal mehr die Kraft zu, zum zweiten Male nach Nordamerika auszuwandern, wohin mich meine dortigen Freunde rufen, und wo ich leicht in einigen Jahren mich wieder erholen könnte.“
Es ist zu einer neuen Übersiedlung nach Amerika wirklich nicht mehr gekommen. Als List, von Kopfschmerzen und anderen Leiden gequält, eine Reise nach Meran antrat, gelangte er nur bis Kufstein. Dort brach er körperlich zusammen, und eines Tags, am 30. November 1846, fand man seine Leiche halb verweht im Schnee. Er hatte sich erschossen.
Im äußersten Winkel des großen Deutschen Reichs, für das sein Herz sein Leben lang geschlagen hatte, mußte dieser Mann verlassen und verzweifelt ein trauriges Ende finden. Er hat einen echten Märtyrertod erlitten.
„Armer Freund,“ so rief ihm Heinrich Laube ins Grab nach, „ein ganzes Land konntest du beglücken, aber dies Land konnte dir nicht einen Acker Erde, konnte dir nicht ein warmes Haus geben für die traurige Winterzeit des Alters! Dieser Fluch des zerrissenen Vaterlands, in welchem man so kinderleicht heimatlos werden kann, in welchem das Genie selbst niemand angehören darf, dieser Fluch hat dich im Schneesturme oberhalb Kufsteins in den Tod gejagt, und unsere Tränen, unsere Lorbeerkränze, was sind sie deiner verwaisten Familie?!“ — —
Die Strecke Leipzig-Dresden war nach Lists Fortgang aus seinem Wirkungsort weiter gebaut worden. Wie schon angedeutet, hatte man die von dem geistigen Urheber vorgeschlagene Linienführung verworfen und, nach dem Rat eines englischen Fachmanns, die von dem Oberingenieur Kunz empfohlene Strecke ausgeführt. Diese erforderte eine schwierige Überschreitung der Elbe und viele andere Kunstbauten, wodurch sehr große Ausgaben entstanden. Auch den Rat Lists hatte man verworfen, zunächst möglichst billig zu bauen, um später, wenn das Unternehmen selbst schon Ertrag abgeworfen hätte, einen teureren Unterbau auszuführen. So kam es, daß das Aktienkapital unter großen Schwierigkeiten von 11⁄2 auf 41⁄2 Millionen Mark erhöht, also verdreifacht werden mußte.
Von Leipzig bis Wurzen wurde der Bau mit Flacheisen auf Langschwellen nach der auf Bild 39 wiedergegebenen Form ausgeführt. Diese Bauart bewährte sich jedoch so schlecht, daß man bereits für die Fortsetzung zu schwereren Schienen in der Breitfußform nach Vignoles überging. Auch die Anfangsstrecke mußte nach 31⁄2 Jahren für diese Schienen umgebaut werden, da damals bereits alle Langschwellen verfault waren. Die Hauptkunstbauten auf der Strecke waren der tiefe Einschnitt von Machern, die Elbbrücke bei Riesa, die Talüberbrückung bei Röderau und der Tunnel bei Oberau. Dies war der erste Tunnelbau in Deutschland. Seine Länge betrug nur 500 Meter.
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Am 24. April 1837 war das Teilstück von Leipzig bis Althen fertiggestellt. Erst am 8. April 1839, später als andere durch sie veranlaßte deutsche Linien, wurde die ganze Strecke unter lebhafter Teilnahme der Bevölkerung eröffnet. Sie hatte eine Länge von 115 Kilometern. Im Anfang fuhren täglich nur zwei Personen- und zwei Güterzüge zwischen Dresden und Leipzig hin und her.
Dennoch trug die Linie zur Belebung des gesamten Verkehrs in Mitteldeutschland sehr lebhaft bei und zog die Ausführung anderer Eisenbahnstrecken unmittelbar nach sich. Die Dresdner Gasthöfe, die im Jahre 1838 nur 7000 Fremde beherbergten, hatten im genannten Eröffnungsjahr bereits mehr als 40 000 Gäste aufzunehmen. Auch der Güterverkehr entwickelte sich bald sehr lebhaft.
Die Fahrgäste der dritten Klasse wurden in offenen Wagen befördert, die der zweiten in solchen mit einem Dach, aber ohne Fenster; nur wer eine Fahrkarte erster Klasse gelöst hatte, durfte in einem gänzlich geschlossenen Wagen Platz nehmen. Es kamen auch große offene Güterwagen zur Verwendung, auf welche die Fuhrleute ohne weiteres mit ihren Pferden hinauffuhren, ohne diese auszuspannen. So gelang es der Eisenbahn recht rasch, auch die Lastenförderung auf der Straße an sich zu ziehen, da die Zeitersparnis außerordentlich war und die Kosten der Fahrt kaum mehr betrugen als die Abgaben, die beim Vorbeifahren an den vielen Schlagbäumen zwischen Leipzig und Dresden zu entrichten waren.
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Die Kraft, mit der Friedrich List den Eisenbahnfunken in Deutschland angeblasen, hat dafür gesorgt, daß er hier niemals wieder zum Erlöschen gekommen ist. Zunächst entwickelte sich aus ihm eine schmale Flamme, dann aber breitete diese sich als lodernder Brand nach allen Richtungen des Reichs aus. Die Eisenbahnbegeisterung erfaßte schließlich jeden, und mit überraschender Geschwindigkeit wurden die Grundlinien des heutigen gewaltigen deutschen Eisenbahnnetzes gezogen, deren Verlauf sich so eng an Lists Grundplan anschließt.
Bevor noch die Strecke Leipzig-Dresden ihren Betrieb eröffnet hatte, unter der bloßen Einwirkung des vielversprechenden Gründungsvorgangs, war die erste Eisenbahnlinie in Preußen zustande gekommen.
Dem Justizkommissar J. C. Robert und dem Bankier L. Arons wurde auf ihre Eingabe an den damaligen Handelsminister, Wirklichen Geheimrat Rother, die Erlaubnis zur Anlegung einer Eisenbahnlinie zwischen Berlin und Potsdam erteilt. Nach dem ersten Entwurf sollte ein eingleisiger Schienenweg von der Schafbrücke, der jetzigen Potsdamer Brücke, zu Berlin in ziemlich gerader Richtung bis in die Gegend der Langen Brücke bei Potsdam führen. Später aber wurde beschlossen, den Beginn der Bahn weiter in das Innere von Berlin zu rücken und den Bahnhof in unmittelbarer Nähe des Potsdamer Tors anzulegen. Der Schafgraben, der heutige Landwehrkanal, mußte nun durch eine Drehbrücke überschritten werden.
Schon bei der Anlage der ersten Bahnhofsbauten wurde der kleine Begräbnisplatz der Dreifaltigkeitskirche an der Hirschel-, der heutigen Königgrätzer Straße, als recht störend empfunden. Dieser Friedhof besteht bekanntlich heute noch. Damals forderte die Kirchenbehörde die Einfriedigung durch eine feste, acht Fuß hohe Mauer, die gleichfalls noch heute vorhanden ist. Außerdem mußte die Bahngesellschaft für den der Kirchenkasse erwachsenden Einnahmeausfall durch die vermeintliche Wertverminderung des Friedhofgeländes eine jährliche Entschädigung von 40 Talern zahlen. In Wirklichkeit ist eine außerordentliche Wertsteigerung des Grundstücks eingetreten, das heute vor dem später in seiner jetzigen, endgültigen Gestalt errichteten Gebäude des Potsdamer Bahnhofs an der wichtigsten Stelle der Stadt liegt.
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Am 22. September 1838 wurde der Betrieb auf der Strecke Zehlendorf-Potsdam, am 29. Oktober desselben Jahrs auf der ganzen Linie eröffnet. Als Zugmittel waren sechs aus Newcastle bezogene „Dampfwagen bester Qualität“ und 45 Pferde vorhanden.
Die Begeisterung der Berliner bei diesem Anlaß war nicht gering. Der damalige Kronprinz, der spätere König Friedrich Wilhelm IV., sprach bei der Einweihung die voraussagenden Worte: „Diesen Karren, der durch die Welt rollt, hält kein Menschenarm mehr auf.“ Aber es gab auch in der preußischen Hauptstadt Leute, die anders dachten. „Als der erste Eisenbahnzug von Potsdam her Berlins Einwohner in Raserei versetzte,“ so erzählt ein Zeitgenosse, „habe ich selbst in der Böhmeschen Kirche einer Predigt des alten Gosner angewohnt, worin die Schäflein inständigst gewarnt wurden, sich ja von dem höllischen Drachen, dem Dampfwagen, um ihrer Seligkeit willen fernzuhalten.“ Weniger Gewissensangst als ganz gewöhnliche Furcht vor dem Ungewöhnlichen hielt denn auch noch lange genug manchen Berliner von einer Eisenbahnfahrt zurück.
Obgleich in andern Teilen des Reichs alsbald größere Eisenbahnstrecken gebaut wurden, erweiterte Berlin seinen Bahnanschluß vorläufig nicht. Erst im Jahre 1841 wurde das Teilstück der Anhalter Bahn von Berlin über Wittenberg nach Cöthen hergestellt, so daß man nun auf einem Umweg Magdeburg erreichen konnte, das inzwischen mit Leipzig verbunden worden war, und ebenso Dresden. Im Jahre 1842 folgten die ersten Bahnen nach dem Osten, Berlin-Angermünde in Richtung auf Stettin und Berlin-Frankfurt a. O. Das Jahr 1846 brachte die Verbindung mit Hamburg und die Verlängerung der Berlin-Potsdamer Bahn bis Magdeburg.
Das beste Zeugnis für die große Wichtigkeit, die man gleich nach Inbetriebsetzung der ersten Strecke nunmehr dem Eisenbahnwesen in Preußen beimaß, ist der Erlaß eines Eisenbahngesetzes bereits am 3. November 1838. Es war das erste Gesetz dieser Art in Deutschland und hat mit seinen zum größten Teil sehr einsichtsvollen Anordnungen und durch die einheitliche Ordnung, die es schuf, der Entwicklung lebhaften Nutzen gebracht.
Das Gesetz enthält eine Reihe durchaus neuzeitlich anmutender Bestimmungen. So die Möglichkeit der Verleihung des Enteignungsrechts an Eisenbahngesellschaften; Ersatzpflicht für jeden Schaden, der nicht durch nachgewiesene Schuld des Beschädigten oder durch unabwendbaren äußeren Zufall bewirkt worden ist; die Verpflichtung für jede Eisenbahngesellschaft, den Anschluß anderer Linien zu gestatten und den Vorbehalt, daß der Staat nach Ablauf einer gewissen Zeit berechtigt sein solle, jede Bahnstrecke anzukaufen. Merkwürdig berührt, besonders in der Nachbarschaft solcher guten Gedanken, die im Absatz 27 den Gesellschaften auferlegte Verpflichtung, auch anderen gegen Entrichtung des Bahngelds die Benutzung des Schienenwegs zu gestatten. Es ist dies die schon früher kurz gestreifte Forderung des „freien Wettbewerbs auf der Schiene“. Tatsächlich hat er infolge der technischen Unmöglichkeit in Deutschland niemals stattgefunden.
Am 1. Dezember 1838 war auch die erste Staatsbahn in Deutschland eröffnet worden, die Strecke von Braunschweig nach Wolfenbüttel und Harzburg. Diese Linie ist besonders bemerkenswert auch dadurch, daß sie im Jahre 1869 an eine Aktiengesellschaft verkauft wurde, was der einzige Fall des Übergangs einer deutschen Staatsbahn in nicht öffentlichen Besitz geblieben ist.
Im Jahre 1845 waren in Deutschland bereits 2162 Eisenbahnkilometer vorhanden. Überall wurden jetzt Schienenwege gebaut. Auch die Kleinstaaten blieben vom Eisenbahnfieber nicht verschont. Sogar der Herzog Alexander von Anhalt-Bernburg, fühlte[116] sich zu dem Ausruf veranlaßt: „Ich muß eine Eisenbahn in meinem Land haben, und wenn sie mich tausend Taler kosten sollte!“
Doch trotz der immer wachsenden Ausbreitung fehlte dem Netz noch jede Geschlossenheit. „Von Berlin konnte man“, nach von Mühlenfels, „im Norden nur Stettin, im Osten nur Frankfurt a. O., im Süden Dresden, Leipzig, Werdau erreichen. Nach Westen gelangte man über Magdeburg bis Halberstadt, über Oschersleben nach Braunschweig, Harzburg und Hannover. Aber zwischen Frankfurt a. O. und Bunzlau, zwischen Werdau und Nürnberg, Halle und Frankfurt a. M., zwischen Hannover und dem Rheinland klafften große Lücken. Im Südosten bestand nur die Linie Bunzlau, Liegnitz, Breslau, Oppeln und Schwientochlowitz, in Bayern waren, außer der Ludwigs-Bahn, Nürnberg-Magdeburg, Augsburg-Donauwörth und München-Augsburg fertig. Frankfurt a. M. und Nassau hatten nur die Taunusbahn, dann die Strecke von Mannheim bis Freiburg, am Rhein war Köln mit Bonn und Aachen, Deutz mit Düsseldorf, Aachen mit Herbestal, Elberfeld mit Düsseldorf verbunden. In Württemberg, das im Jahre 1843 ein Gesetz über den Bau von Eisenbahnen erließ, eröffneten 1845 die Staatsbahnen ihre erste Strecke von Cannstatt nach Eßlingen. Im Norden waren Altona-Kiel und Neumünster-Rendsburg im Betrieb.“
Fortab machte sich dann der Wunsch nach einem planmäßigen Ausbau geltend. Sehr viel hierzu beigetragen hat ein Zusammenschluß verschiedener Verwaltungen, dessen Folgen segensreich bis zum heutigen Tag fortwirken. Auf Einladung der Privatbahngesellschaft Berlin-Stettin traten am 10. November 1846 zehn Verwaltungen zur Beratung gemeinschaftlicher Maßnahmen zusammen. Es wurde ein dauernder Verband der preußischen Eisenbahnen errichtet, aus dem schließlich der heute noch bestehende Verein deutscher Eisenbahnverwaltungen hervorging. Im Jahre 1910 umfaßte diese Vereinigung 63 Verwaltungen und zwar 40 deutsche, 15 österreichisch-ungarische, 4 niederländische, eine luxemburgische, eine belgische, eine rumänische und eine russische. Fast ein Drittel aller europäischen Bahnstrecken war bereits in diesem Jahr angeschlossen. Die Vereinstätigkeit hat sich auf die Herbeiführung gleichmäßiger Beförderungseinrichtungen, Aufstellung wichtiger technischer Grundsätze und gemeinschaftliche Wagenbenutzung erstreckt. Die Allgemeinheit hat den größten Nutzen aus diesem Wirken gezogen, das in den folgenden Abschnitten noch sehr häufig zu erwähnen sein wird.
Für die Herbeiführung eines geschlossenen deutschen Eisenbahnnetzes waren ferner die Überbrückungen der großen deutschen Ströme sehr wichtig. In den Jahren 1856 bis 1865 wurden der Rhein bei Köln, Mannheim und Kehl, die Weichsel bei Dirschau, die Nogat bei Marienburg mit eisernen Jochen überspannt.
Nachdem in Preußen lange die Privatbahnen allein geherrscht hatten und der Staat sich nur in loserer Form an den Unternehmungen beteiligt hatte, brachte das Jahr 1879 durch das zielbewußte Vorgehen des Eisenbahnministers von Maybach den Übergang zum Staatsbahnsystem. In den folgenden dreißig Jahren wurden in Preußen nicht weniger als 16 200 Kilometer Privatbahnen im Wert von 41⁄2 Milliarden Mark verstaatlicht. Da zu gleicher Zeit auch der Staat selbst viele neue eigene Linien baute, so entstand allmählich das größte Erwerbsunternehmen, das es heute auf der Erde gibt: die preußische Staatsbahn.
Als die Verstaatlichung der hessischen Ludwigs-Bahn notwendig erschien, deren Linien zum Teil auf preußischem, zum Teil auf hessischem Gebiet lagen, kam ein Staatsvertrag zwischen den zwei Ländern über die gemeinschaftliche Verwaltung des beiderseitigen Eisenbahnbesitzes[117] zustande. Seit 1896 besteht demzufolge die preußisch-hessische Eisenbahn. Man glaubte damals, daß auch andere deutsche Bundesstaaten dem Beispiel Hessens folgen und sich an Preußen unmittelbar anschließen würden. Diese Hoffnung ist nicht in Erfüllung gegangen, eine einheitliche deutsche Reichseisenbahn besteht bis zum heutigen Tag nicht.
Seit 1908 ist der deutsche Staatsbahnwagenverband errichtet, der die freie Benutzung aller deutschen Güterwagen ohne Berücksichtigung des Eigentumsrechts der einzelnen Verwaltungen gestattet. Dadurch ist eine sehr bedeutende Ersparnis infolge Verringerung der Leerläufe erreicht worden. Die Güterwagenverteilung für ganz Deutschland erfolgt seitdem durch das beim Eisenbahnzentralamt in Berlin errichtete Hauptwagenamt. Auch über diese beispiellos großartige Verkehrsvermittlungsstelle wird noch ausführlich zu sprechen sein.
Am Schluß dieses Rückblicks auf die Geschichte der Eisenbahn möge eine Zusammenstellung der Eröffnungszeiten einiger geschichtlich besonders wichtiger Strecken Platz finden:
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An einem sonnenhellen Julitag im Anhalter Bahnhof zu Berlin.
In der großen Vorhalle drängt sich um die Schalter eine dichte Menge in fröhlichster Ferienstimmung. Kaum zwanzig Schritt vom Berliner Innenverkehr getrennt, sind die Geister bereits vollkommen der Stadt abgewendet. In dem Augenblick, da das Eingangstor des Bahnhofs durchschritten ist, fühlt sich ein jeder losgelöst von der Gegenwart, getrennt von dem Ort, an dem er sich befindet. Was eben noch fernab lag, ist plötzlich näher gerückt, das oft viele hundert Kilometer entfernte Reiseziel scheint bereits in greifbarer Nähe zu liegen; denn jeder der Reiselustigen sieht mit dem geistigen Auge vor sich den glatten, hindernisfreien, stählernen Weg, der vom Anhalter Bahnhof bis zu jenem Ort hinführt.
So rasch es geht, macht jeder Reiselustige den Schienenpfad zu seinem Diener, indem er eine ganz einfache Handlung vollzieht: das Lösen der Fahrkarte. Hinter den Schalterfenstern treten die Beamten unausgesetzt an die weit gedehnten Schränke, entnehmen ihnen mit schnellem Griff die Fahrkarten, drücken einen Preßstempel darauf und häufen die entrichteten Beträge in den Kassen an. An manchen Ausgabestellen sind keine Schränke mehr vorhanden, an ihrer Stelle steht eine langgestreckte Maschine, auf der fortwährend ein Schlitten geschoben und eine vielfach beschriebene Walze gedreht wird. Hierauf werden die geforderten Fahrkarten stets frisch gedruckt.
Droben in der eigentlichen Bahnhofshalle hängt am Kopfende des letzten Ausfahrgleises eine Tafel mit der Aufschrift: „Schnellzug (D-Zug, zuschlagpflichtig) nach München über Halle, Nürnberg“. Das Gleis selbst ist noch leer, die Sperre geschlossen. Vor der schmalen Pforte stellen sich allmählich immer mehr und mehr mit Karten versehene Fahrgäste auf. Sie stehen im tiefen Schatten des schweren Hallendachs und blicken sehnsüchtig durch die drei schön gewölbten Endbogen des Bahnhofs hinaus in den hellen Sonnenschein, der auf den blanken Schienen funkelnde Lichter hervorruft, auf diesen Schienen, die einen ununterbrochenen, verbindenden Strang mit dem Reiseziel herstellen.
Nun fällt ein Schatten auch auf die Schienen. Still und langsam wird der Zug in die Halle geschoben. Unsichtbar für die vor der Sperre Wartenden liegt vor ihm eine kleine, pustende Verschiebelokomotive, welche die Wagen geschickt und vorsichtig bis in die Nähe des Endprellbocks drückt. Nachdem dies geschehen ist, wird die Kupplung des ersten Wagens von der Maschine gelöst, und diese fährt eifrig puffend davon.
Kraftvoll und ragend stehen die großen D-Wagen mit ihren einfachen, angenehmen Formen auf dem Gleis, jeder mit einem Schild versehen, welches das Endziel seiner Fahrt und die wichtigsten Zwischenbahnhöfe mitteilt. Die größte Zahl der Wagen geht nach München und bestimmt damit die Benennung des Zugs. Aber es sind auch andere eingestellt, die viel weiterliegende Ziele zu erreichen haben. Lindau am Bodensee, Chur, das Einfallstor für das Engadin, Innsbruck, die Schwelle für so manche Italienfahrt, Salzburg in den Tiroler Alpen. Fest und schwer gebaut wie Häuser, scheinen die Wagen jetzt unverrückbar auf dem Gleis verwurzelt. Wer noch niemals eine Eisenbahn gesehen hat, vermöchte nicht ohne weiteres zu glauben, daß diese großen Gebäude zur Fortbewegung bestimmt sind.[122] Am wenigsten könnte er sich wohl vorstellen, daß sie kurze Zeit später mit atembeklemmender Geschwindigkeit weit, weit über die Lande dahinfliegen werden. Düster ragen die vom Rauch geschwärzten Wände der Wagen über den Bahnsteigrand empor, kalt und hart blicken die leeren Fensteröffnungen, schweigend und einsam liegen die Gänge und Abteile da.
Doch nun wird die Sperre geöffnet. Der Bahnsteigschaffner durchschneidet mit seiner Zange endgültig die Scheidewand, welche die Reiselustigen noch von der lockenden Ferne abtrennt. Die freudig erregte Menge ergießt sich strudelnd wie ein Wildbach in die Wagen. Im Augenblick ist deren Aussehen verwandelt.
Leichte Röcke rauschen durch die Gänge, schmucke Ledertaschen und derbe, vollgestopfte Rucksäcke füllen die Gepäcknetze, lachende Kinderköpfe blicken überall aus den Fenstern. Zwischen den auf dem Bahnsteig Gebliebenen und den Insassen der Wagen werden lebhafte, schnelle Gespräche geführt. Hier und da sieht man auch einmal ein betrübtes Gesicht, das Abschiedsschmerz um einen für lange Zeit Scheidenden ausdrückt. Meistens aber geht ein fröhliches Geplauder herüber und hinüber, das angenehme Gefühl des Eisenbahnfiebers vor einer Vergnügungsreise hat alle ergriffen. Wer vermöchte sich noch vorzustellen, daß diese reich und heiter bevölkerten Räume derselben Wagenburg angehören, die eben kalt und einsam am Rand des Bahnsteigs stand! Die düsteren Wände scheinen verschwunden, alles Scharfkantige der Nutzbauten ist verwischt, man sieht nur noch ein luftiges Gehäuse zur Aufnahme fröhlicher Menschenkinder.
Zwischen den hell Gekleideten hindurch drängt sich ein rußiger Gesell. In der rechten Hand hält er einen langgestielten Hammer, die linke trieft von Öl. Er mischt in die leichte Heiterkeit um den Zug den Ernst des technischen Betriebs und schafft einen Gegensatz, der für den nachdenklich Beobachtenden stets etwas Ergreifendes hat. Den leichtsinnigen, jauchzenden Seelen dient ernst und mit lastendem Verantwortungsgefühl eine andere Menschengruppe, die erst durch ihren Ernst und ihre Arbeit jene vertrauensvolle Heiterkeit möglich macht. Der Mann mit dem Hammer ist der Wärter, dem die Aufgabe obliegt, jedes Rad unter den Wagen noch einmal daraufhin zu prüfen, ob es zuverlässig und in Ordnung ist. Tönt der Hammerschlag hell auf dem Reifen, so ist man sicher, daß er keinen Sprung hat und nach aller menschlichen Voraussicht imstande sein wird, das gewaltige Gewicht des Wagens trotz der furchtbaren Stöße auf den Schienen bis zum Endpunkt der Fahrt zu tragen. Zugleich hebt der Wärter an jeder Achse den Verschlußdeckel des Ölbehälters empor, um zu sehen, ob genügend Schmierstoff eingefüllt ist, so daß keine der Achsen Gefahr läuft, sich unterwegs allzusehr zu erhitzen.
Kurz hinter ihm schreitet der kräftige, schnurrbärtige Zugführer, mit der roten Tasche um den soldatisch stramm aufgerichteten Leib, den Zug entlang und verzeichnet in einem Dienstbuch die Nummern der Wagen, die seiner Obhut anvertraut sind.
Der Schatten der Bahnhofshalle schneidet mit Messerschärfe in der Mitte des vorletzten Wagens ab. Der Vorderteil des langen Zugs steht schon außerhalb der Wölbung in der brennenden Sonne. Noch aber fehlt dem Ganzen der Kopf. Die Lokomotive ist noch nicht vorgefahren.
Da kommt sie langsam und majestätisch mit dem Tender voran herbeigerollt. Der Kuppler springt zwischen die Puffer des ersten Wagens, der Heizer, der sich weit aus dem Fahrstand der Maschine herausgelehnt hat, gibt dem Lokomotivführer einige Winke, bis dieser durch wiederholtes geschicktes Öffnen und Schließen des großen Reglerhebels die Lokomotive gerade so weit an den Zug herangerückt hat, daß die Puffer des ersten Wagens ein wenig eingepreßt werden. Die Insassen des Zugs haben von diesem wichtigen[123] Vorgang, der ihnen erst die Möglichkeit des raschen Davonfliegens erschließt, gar nichts bemerkt. Rasch wirft der Kuppler die schwere stählerne Öse über den Haken am Tender, zieht die Kupplungsschraube an, hakt noch einmal zwei Kettenteile ineinander und schließt endlich den Bremsschlauch der Lokomotive mit der unter dem ganzen Zug dahinlaufenden Rohrleitung zusammen.
Prächtig ist der Anblick der nun vor dem Zug liegenden Maschine. Sie ist der schönste Ausdruck des Zwecks, dem sie dient. Die breite Brust mit ihrer kühnen Wölbung bedeutet Kraft. Alle die niedrigen, aus ihrem Leib herausragenden Teile, wie Schornstein, Dampfdom und Sandkasten scheinen anzuzeigen, daß sie sich zusammengeduckt hat, um möglichst wenig im Vorwärtsstürmen gehindert zu sein, daß sie alle ihre Fähigkeiten zusammenfaßt auf das Vorwärtseilen, das alsbald seinen deutlichsten Ausdruck finden soll durch das verwirrend eilige Umlaufen der blanken Stangen unten am Triebwerk. Eine Persönlichkeit ist die Lokomotive, wie sie jetzt mit klopfenden Pulsen, mit dampfenden Flanken dem Augenblick entgegenharrt, in dem man ihr die Freiheit lassen wird, dahinzustürmen auf der Bahn, die von ihr allein beherrscht wird.
Nun gibt es in den meisten Wagen einen kleinen Schreck: denn plötzlich faucht und zischt es am ganzen Zug. Der Lokomotivführer hat das Bremsventil betätigt, um die Bremsprobe vorzunehmen. Nachdem festgestellt ist, daß überall die Bremsklötze richtig angezogen haben, ist der Zug fahrtbereit.
Eines von den vielen Signalen, die kurz vor der Lokomotive auf einer hohen Brücke stehen, hat seinen Arm schräg aufwärts erhoben. Es erschallt der Ruf „Bitte, Platz nehmen!“, das bekannte Geräusch der zufliegenden Türen wird hörbar, die Unterhaltung schwillt zu einem brausenden Meer der Stimmen an, die Kinder packen ihre Hüte fest, die Taschentücher werden gelüpft, und mit ernstem Gesicht blickt der Aufsichtsbeamte mit der roten Mütze noch einmal den ganzen Zug entlang. Dann hebt er mit einer kurzen Bewegung den Befehlsstab.
Der Lokomotivführer hat das Zeichen wahrgenommen, große Dampfwolken entströmen der Maschine, langsam setzt der Zug sich in Bewegung. Noch eine halbe Minute lebhaften Winkens, dann ist er um die nächste Biegung verschwunden.
Die Zurückgebliebenen schauen ihm immer noch nach, und kaum einer ist da, dem man nicht das Bedauern darüber ansieht, daß er nicht auch, wie jene glücklicheren Reisenden, losgelöst von Raum und Zeit, dahinfliegen kann über die hellen Lande. Einer Trauerversammlung nicht unähnlich verlassen die Begleiter mit schweren Schritten durch die Sperre hindurch den Bahnsteig. Das leergewordene Gleis läßt wiederum keine Ahnung mehr davon aufkommen, welch ein von Menschen wimmelnder, gewaltiger Bau eben noch auf ihm geruht hat.
Indes hat der Zug schon eine gesteigerte Geschwindigkeit erreicht. Die Lokomotive jauchzt ob des freigelassenen Zügels, ihre gewaltigen Räder prasseln über die Schienen, wie spielend zieht sie die ungeheure Last der Wagen hinter sich her, während über ihrem Haupt triumphierend die Rauchfahne hoch in die Lüfte flattert.
Der Heizer öffnet die Feuertür und wirft mit geschicktem Schwung eine gehäufte Schaufel mit Kohlen nach der andern vom Tender in das lodernde Meer dort drinnen. Er regelt den Wasserstand und hat unausgesetzt an den zahllosen Hebeln und Handrädern zu drehen.
Indessen späht der Lokomotivführer mit angespanntem Ernst durch das rechte Fensterchen des Stands hinaus auf die Strecke. Immer wieder nach wenigen Minuten[124] taucht ein kurzer Pfahl mit vorgesetzter weißer Scheibe auf, das Vorsignal, dann schneidet der fadendünn erscheinende Gittermast des gezogenen Hauptsignals tief in die Landschaft ein. Dem Führer zur Hand liegen der blanke, lange Reglerhebel, die Kurbel für die Schiebereinstellung und der kurze Griff der wichtigsten Sicherheitseinrichtung am Zug, der Druckluftbremse. Die Maschine gibt willig die ganze Kraft her, die in ihr steckt, so daß der Geschwindigkeitsmesser zwischen den Zahlen 90 und 100 Kilometer in der Stunde spielt. So kann der Lokomotivführer seine ganze Aufmerksamkeit der Beobachtung der Signale widmen, den einzigen Zeichen, welche die einsame Lokomotivmannschaft noch mit der übrigen Welt verbinden. Er findet sie alle in der Stellung Fahrt Frei.
Das Prasseln der Räder verstärkt sich, denn der Zug rollt durch einen größeren Bahnhof — Luckenwalde liest man im Vorbeifliegen —, in dem das glatte Gleis sich in zahlreiche Schienenstränge auflöst. An der Zungenspitze einer jeden Weiche gibt es einen verstärkten Schlag, aber dieser erschreckt den Führer nicht, denn das für ihn geltende gezogene Signal sagt ihm, daß alle Weichen richtig gestellt sind und die Zungen mit zuverlässiger Festigkeit anliegen.
Weiter gehts bis Jüterbog. Hier zweigt von der Strecke nach Halle die große Schnellzuglinie nach Dresden ab. Zwei Signale stehen an der Trennungsstelle. Mit leichtem Blick erkennt der Lokomotivführer, daß das für die Richtung Halle geltende auf Fahrt Frei gestellt ist, und wiederum weiß er hierdurch genau, daß sein Zug in das richtige Gleis hineinfahren und nicht etwa eine Ablenkung auf den für ihn falschen Dresdner Strang erfahren wird.
Ernst und streng liegt die Strecke vor dem Auge des Lokomotivlenkers. Mit ihren geraden mathematischen Linien zieht sie, allen Zufälligkeiten abhold, durch das lustige Grün der Wiesen, über Bäche und Senkungen hinweg, durch Hügeleinschnitte hindurch weiter, immer weiter. An dem klapprigen ländlichen Fuhrwerk, an dem hochbeladenen Düngerwagen vorbei, die auf den Landstraßen halten, fliegt die vornehme Bildung des Zugs, von den weißgedeckten Tischen des Speisewagens blicken die Fahrgäste auf die bescheidenen dörflichen Häuschen, in denen ein stilles karges Leben auf der festen Scholle sich abspielt.
Wie ein gewaltiger Herr, der durch seine Lande reist, wird der Zug überall dienend empfangen. Kein Kaiser findet seinen Weg so wohlvorbereitet, so glatt und hindernisfrei wie er. Längst ist sein Herannahen durch Glockenzeichen gemeldet, jedes Steinchen, fast jedes Stäubchen ist vor ihm von den Schienen entfernt, alle das Gleis querenden Straßen sind durch einen Schlagbaum verschlossen. Diensteifrig steht der Wärter am Übergang und blickt ehrfurchtsvoll, mit geschulterter Notfahne, zu dem donnernd vorbeistürmenden Zug empor. Aus den Fenstern der großen Stellwerkstürme vor den mit voller Fahrt durchsausten Bahnhöfen schauen die diensttuenden Beamten hinab, auf den Bahnsteigen stehen die Fahrdienstleiter stramm, und die Reisenden, welche einem der folgenden Personenzüge entgegenharren, drängen sich hinter den Schranken.
So weit der Zug zu sehen ist, bleibt längs der Strecke bei seinem Vorüberfahren kein Mensch gleichgültig. Der Kutscher, der auf seinem Wagen vor der geschlossenen Schranke sitzt, der Kartoffelgräber auf dem Feld, der pflügende Landmann, der spazierende Städter, sie alle richten das Gesicht dem Zug entgegen, und für Minuten ist ihr Denken gänzlich von diesem eindrucksvollsten aller beweglichen Gebilde gefangengenommen. Auch die Tiere werden aufmerksam. Der Hund bellt, die Pferde springen erschreckt durch das Gras, selbst die träge wiederkäuenden Kühe hören für einige Zeit auf, ihre Kinnbacken zu bewegen.
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Weiter gehts in glatter Fahrt über die Lande. Auch das tief eingeschnittene Elbtal bei Wittenberg ist kein Hindernis für die Hundertkilometergeschwindigkeit des Zugs. Auf langer, eiserner Brücke wird der Fluß überflogen, als läge gewachsener Boden unter den Rädern.
Beim raschen Durchfahren des Bahnhofs Bitterfeld grüßt die Dampflokomotive eine neu heraufkommende Zeit, denn dieser Bahnhof ist überzogen von eisernen Jochen, an denen schwere Porzellanklötze und Kupferdrähte hängen. Hier nimmt die erste elektrische Vollbahnstrecke in Preußen Bitterfeld-Dessau ihren Anfang.
Weiter drehen sich die Räder der Lokomotive in tollem Wirbel um und um. Die Triebstangen fahren wild hin und her, der Dampf zischt aus dem Blasrohr durch den Schornstein, der Kohlenvorrat des Tenders mindert sich mehr und mehr, da die gefräßige Feuerung einen Zentner nach dem andern aufzehrt. Nachdem kaum mehr als zwei Stunden vergangen sind, nähert sich der Zug seiner ersten Haltestelle, dem Bahnhof Halle. Schon lange vorher schließt der Lokomotivführer das Reglerventil und sperrt damit die Dampfzufuhr zu den Zylindern ab. Zur rechten Zeit setzt er die Bremse in Tätigkeit, langsam sinkt die Geschwindigkeit des Zugs, und, nachdem er mehr als 160 Kilometer frei durchfahren hat, kommt er fast auf das Zentimeter genau an der vorgezeichneten Stelle leise und stoßlos zum Halten.
Während nun die Wagentüren sich wieder öffnen, Fahrgäste aus und ein steigen, löst sich die Lokomotive vom Zug und fährt in den Schuppen. Sie hat ihre Pflicht mit wundervoller Tatkraft und Ausdauer erfüllt, nun wird ihr einige Zeit zum Ausruhen und zur Erholung gegeben. Eine neue, noch mächtigere Maschine wird angekuppelt. Sie soll den Zug ohne Aufenthalt durch das halbe Deutschland hindurch in 31⁄2 Stunden bis nach Nürnberg führen.
Wir sind sicher, daß sie gleichfalls ihre Pflicht pünktlich auf die Minute erfüllen wird. Auch keiner der Fahrgäste zweifelt daran, daß er zur vorgeschriebenen Zeit das Endziel seiner Fahrt erreichen wird. Und das um so weniger, als sicherlich kein einziger von ihnen überhaupt seine Gedanken auf den Eisenbahnbetrieb richtet, der ihm eine so schöne glatte Reise ermöglicht.
Was ist jedoch alles notwendig, damit der Zug wirklich in der geschilderten Weise auch nur von Berlin bis Halle gelangen konnte! Welche außerordentlichen Vorkehrungen mußten in der Vergangenheit getroffen, welch eine Unzahl von Verrichtungen während der Fahrt vollführt werden, damit Menschen die Entfernung von Berlin bis Halle in zwei Stunden zu überwinden vermochten! Es ist die Aufgabe der folgenden Abschnitte, zu zeigen, welche Mittel vorhanden sein und angewendet werden müssen, um eine Eisenbahnfahrt unserer Tage zu ermöglichen.
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Auch dort, wo heute die Strecke Berlin-Halle durch die Lande zieht, lagen einst Feld, Wald und Wiese in unberührtem Grün. Da erschienen eines Tags die Männer mit bunten Pfählen, Fernrohren und Merkbüchern, maßen und schrieben eifrig, und nicht lange nachher ward gegraben und gerodet, das freundliche Grün beseitigt, der Wald gefällt, das Wasser mit schweren Jochen überdeckt, bis schließlich ein unfruchtbarer, grauer Pfad dalag, auf dem ein neues, donnerndes Leben anhub. Zwar ist es schon viele Jahrzehnte her, daß diese Vorgänge sich zwischen Berlin und Halle abspielten, doch sehr viel anders dürften die Geschehnisse auch damals nicht gewesen sein, als sie heute vor sich gehen, wenn eine neue Eisenbahnlinie angelegt werden soll.
Sobald der Entschluß gefaßt ist, zwei bestimmte Punkte durch eine Eisenbahn zu verbinden, muß man sich zunächst darüber klar werden, welche Bahngattung gewählt werden soll. Man hat die Auswahl zwischen Hauptbahn, Nebenbahn und Kleinbahn. Ausschlaggebend für den Entschluß sind die Stärke des Verkehrs, der zwischen Anfangs- und Endpunkt der Bahn zu erwarten ist, die Länge der Strecke und das Gelände, welches durchzogen werden soll.
Heutzutage wird in Preußen, dessen Verhältnisse wir hier hauptsächlich im Auge haben, der Anfang einer neuen Bahn fast stets ein Bahnhof sein, der Endpunkt zum größten Teil ebenfalls. Läuft die Bahn tot aus, so kommt nur örtlicher Verkehr für sie in Betracht, und dann wird man einfachere Bahngestaltung vorziehen. Beim Lauf der neuen Strecke von einem Eisenbahnknotenpunkt zum andern aber ist darauf zu achten, ob die Linie dem großen Durchgangsverkehr der Gegend einen abkürzenden Weg bietet. In solchem Fall ist es unwichtig, ob der Ortsverkehr gering ist oder nicht, man wird dann stets eine voll gerüstete Hauptbahn zur Ausführung bringen, auf der die Schnellzüge mit der größten Geschwindigkeit fahren können. Hierdurch ist man verpflichtet, die Bahn mit sehr geringen Neigungen auszuführen, die Halbmesser der Krümmungen sehr groß zu nehmen und den Oberbau so kräftig zu gestalten, daß er den vorgeschriebenen höchsten Raddrücken zu widerstehen vermag.
Die Neigung der freien Strecken auf preußischen Hauptbahnen darf für gewöhnlich das Maß von 1 : 80 nicht überschreiten. Das heißt auf einer Länge von 80 Metern darf die Bahn nicht um mehr als ein Meter steigen oder fallen. Man drückt die Neigung auch in Tausendteilen aus; 12,5‰ bedeutet dasselbe wie 1 : 80, 25‰ dasselbe wie 1 : 40. Bis zur Anwendung eines Neigungswinkels von 1 : 40 darf in besonders schwierigen Fällen mit Erlaubnis der Landesaufsichtsbehörden gegangen werden, doch wendet man in Preußen im allgemeinen keine stärkeren Neigungen als 1 : 150 an.
Der kleinste zulässige Krümmungshalbmesser für Hauptbahnen ist 300 Meter, mit besonderer Genehmigung 180 Meter, aber ein geringerer Halbmesser als 1000 Meter kommt in Wirklichkeit wenig in Betracht. Hierdurch und wegen der Flachheit der allgemein bei ihnen üblichen Neigungen gehören die preußischen und auch die übrigen deutschen Bahnen zu den bestgebauten auf der ganzen Erde.
Jeder Punkt des Oberbaus einer Hauptbahn muß imstande sein, eine Last von 8000[127] bis 9000 Kilogramm zu tragen. Bei der Berechnung des Oberbaus ist jedoch zu bedenken, daß es sich bei seiner Beanspruchung nicht um ruhende Lasten, sondern um ständig wechselnde Belastungen handelt, die mit harten Stößen anzugreifen pflegen. Das Gleis muß also sehr kräftig durchgebildet werden.
Aus den angegebenen Gründen vermag eine Hauptbahn am wenigsten sich den Geländeverhältnissen anzuschmiegen, ihr Bau wird darum am teuersten.
Die Länge der Strecke hat insofern einen Einfluß auf die Wahl der Bahngattung, als bei einer kurzen Linie die Entwicklung einer bedeutenden Geschwindigkeit keine allzu große Rolle spielt. Auf preußischen Hauptbahnen dürfen zur Personenbeförderung bestimmte Züge, die eine durchgehende Bremse besitzen, mit einer Höchstgeschwindigkeit von 100 Kilometern in der Stunde fahren. Auf Nebenbahnen sind nur 40 bis allerhöchstens 50 Kilometer Höchstgeschwindigkeit zulässig. Dieser Unterschied hat einen großen Einfluß auf die Reisedauer, wenn lange Strecken zurückzulegen sind, bei kürzeren Entfernungen aber ist ein Zeitverlust bei geringerer Fahrgeschwindigkeit wenig bemerkbar. Man kann sich also in einem solchen Fall mit einer Nebenbahn, auch bei nicht allzu wichtigen Durchgangsstrecken, begnügen, wodurch große Summen gespart werden, weil nun die Neigungen größer, die Krümmungen schärfer werden dürfen, man also mit weit mehr Rücksicht auf das Gelände bauen kann.
Wenn die Bahn nicht eine Ebene durchschneidet, sondern über stark gewellten oder gar gebirgigen Boden geführt werden muß, so bestimmt diese Bodengestaltung über alle anderen Gesichtspunkte hinaus die Wahl der Bahngattung. Bei ständiger Anwendung der höchsten zulässigen Neigung können Züge auch über eine Hauptbahn nur mit geringer Geschwindigkeit fahren, und darum macht es wenig Unterschied für den Verkehr, wenn man hier nur Nebenbahnausgestaltung anwendet. Die Schmalspur mit ihrer großen Schmiegsamkeit ist in solchen Fällen am allergünstigsten und gestattet oft die Vermeidung vieler Brücken- und Tunnelbauten.
Wenn die Bahngattung gewählt ist, beginnt man mit den „allgemeinen Vorarbeiten“. Sie dienen bei Privatbahnen als Unterlage bei der Einholung der staatlichen Genehmigung, bei Staatsbahnen zur Bildung eines endgültigen Urteils darüber, ob die Strecke bauwürdig ist und zu Mitteilungen an den Landtag beim Ansuchen um die Genehmigung der notwendigen Bausumme.
Wenn einer privaten Gesellschaft die Erlaubnis zur Vornahme der „allgemeinen Vorarbeiten“ erteilt ist, so erhält sie damit zugleich das Recht, fremdes Eigentum in dem notwendigen Umfang betreten und dieses gegen Ersatz beschädigen zu dürfen. Jedoch gibt diese Vorerlaubnis noch keinen Anspruch auf wirkliche Genehmigung des Baus. Diese steht in Preußen allein dem König zu, in anderen Ländern ist ein Gesetz notwendig.
Längst nicht alle Linien, die geplant werden, kommen zur Ausführung. Denn manchmal zeigen schon die Vorarbeiten, daß der zu erwartende Verkehr anfänglich überschätzt worden ist oder daß die Baukosten infolge ungünstiger Bodenverhältnisse zu hoch werden. Darum ist auch die Aufnahme der Vorarbeiten an eine Genehmigung geknüpft. Denn durch diese wird stets eine gewisse Beunruhigung bei den Bewohnern der angrenzenden Ländereien hervorgerufen, indem Hoffnungen auf Landverkäufe oder Wertsteigerungen des Bodens erweckt werden, die nachher nicht in Erfüllung gehen.
Am besten wäre es natürlich, wenn man den Anfangs- und Endpunkt der neuen Bahn durch eine gerade Linie verbinden könnte. Das wird jedoch nur in den allerseltensten Fällen möglich sein. Falsch wäre es jedoch, bei den Vorarbeiten nun diejenige[128] Streckengestaltung heraussuchen zu wollen, welche die geringsten Baukosten erfordert, das heißt sich bei der Linienführung nur danach zu richten, daß man möglichst wenig Einschnitte zu machen, Dammaufschüttungen herzustellen oder andere Kunstbauten auszuführen hat, wenn auch Neigungs- und Krümmungsverhältnisse dadurch arg verschlechtert werden und große Umwege zu machen sind. Es müssen vielmehr von vornherein auch die künftigen Bahnunterhaltungs- und Betriebskosten in Betracht gezogen werden. Jede stärkere Steigung, jede schärfere Krümmung erfordern größere Zugkräfte und sind daher im Betrieb teurer. Die einmalige Ausgabe für einen Durchstich oder eine Brücke darf deshalb nicht gescheut werden, wenn man dadurch eine günstigere Bahngestaltung erreicht, welche die späteren ständigen Kosten mindert. Zwischen diesen beiden Gegensätzen ist es oft schwer, die richtige Mitte zu finden, und es gibt so manche Strecke in Deutschland und in anderen Ländern, die durchaus nicht so günstig gebaut ist, wie man es nachher gern gesehen hätte.
Man muß stets, bis man auch nur zur vorläufigen Festlegung der Bahnführung gelangt, vielerlei Möglichkeiten gedanklich und zeichnerisch erwägen. Es gibt stets zahlreiche Punkte, an welche die Bahn unbedingt herangeführt werden muß, und andere, die sie ängstlich zu fliehen hat. Sehr treffend sagt Blum, daß die Streckengestaltung von anziehenden und abstoßenden Magnetpolen beeinflußt werde. Unbedingt anziehend wirken große Städte oder tiefe Einsattelungen in Gebirgszügen, die zu überschreiten sind, wie z. B. die Westfälische Pforte. Das sind Zwangspunkte, die unter allen Umständen angegangen werden müssen. Als abstoßende Pole sind große, tiefe Seen, weite Moore, sumpfige Ufer breiter Flüsse zu betrachten.
Die Lage der Bahnhöfe ist mit besonderer Sorgfalt zu bestimmen, denn diese bilden ja die einzige Einnahmequelle der künftigen Strecke. Wenn die Linie hauptsächlich auf Ortsverkehr angewiesen ist, so wird sie keiner größeren Siedelung aus dem Weg gehen können. Kleinbahnen machen Umwege fast wegen eines jeden Dorfs. Eine ganz große durchgehende Schnellzugstrecke kann jedoch auch einmal einen sehr bedeutenden Ort seitlich liegen lassen, um eine allzu starke Abweichung von der geraden Linie zu vermeiden. So geht die Strecke Frankfurt a. M.-Basel bei Oos vorbei, ohne in das benachbarte Tal einzubiegen, in dem Baden-Baden liegt.
Recht sorgfältig wird man bei der Linienfeststellung auch darauf zu achten haben, wie oft Landstraßen und sonstige bedeutendere Wege gekreuzt werden müssen. In einem solchen Fall ist jedesmal zu überlegen, ob Überkreuzung in Schienenhöhe zulässig ist, oder ob die Bahn mit einer Über- oder Unterführung fortzuleiten ist. Die Sonderbauten an Wegekreuzungen verursachen jedesmal recht erhebliche Kosten, aber auch die Kreuzung in Schienenhöhe ist oft nicht billig, weil häufig größere Verlegungen der alten Wege notwendig sind. Um den Fahrzeugen und Fußgängern auf der Landstraße das Überblicken der Bahnstrecke zu erleichtern, dürfen die Wege nicht in scharfem Winkel auf diese zulaufen. Die Kreuzung hat vielmehr möglichst unter einem rechten Winkel zu erfolgen. Das macht Geländeerwerbungen sowie manche schwierige Bauausführung notwendig, und aus allen diesen Gründen kann man darum auch Wegkreuzungen als abstoßende Pole bezeichnen.
Wo Wasserläufe gekreuzt oder berührt werden, ist die Bahn so zu führen, daß sie vollkommen hochwasserfrei daliegt. Durch Erkundigungen muß festgestellt werden, wie die Läufe sich zur Hochwasserzeit verhalten; danach ist die Höhe der Bahnkrone und die Weite der Durchlässe zu berechnen. Einen vielfach gekrümmten Wasserlauf, der die Strecke häufig durchschneidet, überwindet man unter Vermeidung der sonst erforderlichen zahlreichen[129] Brücken manchmal dadurch, daß man ihn begradigt und ganz an die eine Seite des Bahnkörpers legt. Das läßt sich häufig aber nicht ohne weiteres ausführen, da die Vorflutverhältnisse der anliegenden Ländereien mit in Betracht gezogen werden müssen, das heißt das Recht der Anlieger, Abfallwässer oder solche aus Trockenlegungsleitungen in den Lauf hineinzuführen.
Weiter ist bei den Vorarbeiten eine ungemein große Anzahl von Dingen zu erwägen. In Preußen z. B. wird man auch alle in der Nähe der geplanten Linie stehenden Gebäude anmerken müssen, die mit Stroh und Schindeln gedeckt sind. Denn wegen der Gefahr, daß diese Dachbedeckung durch Funkenflug von der Lokomotive in Brand gesetzt werden kann, müssen solche Häuser vor Inbetriebnahme der Bahn umgedeckt werden, wenn sie nicht mindestens im Abstand der anderthalbfachen Dammhöhe vermehrt um 38 Meter von der nächsten Schiene stehen.
Am besten ist es, wenn man die Bahn auf festen, tragfähigen und trockenen Boden legen kann. Auch die sonstige geologische Beschaffenheit der Umgebung ist wichtig, weil der Bahnbau sehr verbilligt wird, wenn die notwendigen Steine und der Baustoff für die Bettung in großer Nähe gewonnen werden können. Desgleichen müssen in gewissen Abständen Quellen erschließbar sein, damit das notwendige Wasser für die Speisestellen der Lokomotiven herangeschafft werden kann.
Als zeichnerische Grundlage für die Darstellung des Ergebnisses der allgemeinen Vorarbeiten benutzt man die beste Übersichtskarte der Gegend, die zu haben ist. In Deutschland kommen hierfür hauptsächlich die sogenannten Meßtischblätter der Generalstabskarten in Betracht, die im Maßstab von 1 : 25 000 hergestellt sind, also fast jede Einzelheit enthalten. Sonst muß man sich mit den weniger gründlichen Generalstabskarten in den Maßstäben von 1 : 50 000 oder 1 : 100 000 begnügen. Selbstverständlich ist durch Berechnungen und Nachmessungen der augenblickliche Zustand aufs sorgfältigste festzustellen.
Zur Erlangung der endgültigen Genehmigung sind Pläne einzureichen, in welche die Längs- und die Höhenlage der Bahn aufs genaueste einzutragen sind. Ferner müssen alle baulichen Anlagen wie Brücken, Durchlässe, Über- und Unterführungen, Wegeübergänge, Bahnhöfe, Haltestellen usw. genau angegeben werden. Ein Erläuterungsbericht, eine Denkschrift, Ertragsberechnung und ein Kostenüberschlag sind beizufügen; der letzte muß alle Fragen eines feststehenden Musterblatts beantworten, damit nichts vergessen werden kann. Bevor die Genehmigung erteilt wird, sind die Wünsche der Verwaltungen von etwa in der Nähe liegenden Bergwerken, der beteiligten Forstbehörden, der Domänenverwaltungen, der Moorkulturausschüsse, der Garnisonverwaltungen und der Festungsbaubehörden zu hören.
Erst wenn die wirkliche Baugenehmigung erteilt ist, beginnen die ausführlichen Vorarbeiten, die zu einer genauesten Festlegung der Strecke auf Karten in dem ungeheuren Maßstab von 1 : 2500 führen. Es werden jetzt die endgültigen Vermessungen vorgenommen, und die Strecke wird durch Einschlagen von Pfählen in der Mittellinie der künftigen Bahnkrone in Entfernungen von je hundert Metern genau festgelegt. Im Anschluß daran können die eigentlichen Bauarbeiten beginnen.
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Auch bei der Fahrt von Berlin nach Halle wird der aufmerksame Reisende bemerken, daß die Bahnstrecke nur äußerst selten in Einer Ebene mit den angrenzenden Ländereien liegt.
Das ist hier ebensowenig möglich wie bei irgendeiner andern Linie, da die Erdoberfläche durch ihre Wellenform ja fortwährend von der Ebene abweicht, während die Bahn, wie wir wissen, die flache Gestaltung nach Möglichkeit anzustreben hat. So findet man denn auf jeder Eisenbahnstrecke eine fast ununterbrochene Folge von Einschnitten und Anschüttungen; es wechseln, wie der Fachmann sagt, Abtrag und Auftrag ständig miteinander ab.
Es ist die Aufgabe des Unterbaus, die Unebenheiten des Geländes auszugleichen. Beim Aufsuchen einer neuen Linie wird man auch dies in Betracht ziehen müssen, denn der Unterbau wird sich dann am billigsten stellen, wenn Auftrag und Abtrag einander ergänzen, wenn man das an einem Einschnitt gewonnene Erdreich in geringer Entfernung gleich wieder zur Errichtung eines Damms verwenden kann. Nicht immer ist solch ein Massenausgleich möglich, er bleibt jedoch stets erstrebenswert.
Die eigentliche Fahrbahn und ihre Befestigungen ruhen größtenteils auf einem Erdkörper. Dieser Stoff für den Unterbau ist auch am meisten erwünscht, da er billig zu haben ist und seine Nachgiebigkeit ein angenehmes Fahren ermöglicht. Wo sich tiefere Einschnitte im Gelände befinden, wie bei der Kreuzung von Flußtälern, oder wo sie künstlich geschaffen werden müssen, wie bei Wegeunterführungen, besteht der Unterbau aus Stein und Eisen oder ähnlichen haltbaren Baustoffen wie Beton. Außer auf den Brücken fehlt der Erdkörper meist auch in Felsdurchstichen und Tunneln, wo dann der Oberbau auf den gewachsenen Fels aufgelegt wird.
Die Breite der durch den Unterbau herzurichtenden Bahnebene wird durch die für den Oberbau notwendigen Maße bestimmt, über die ausführlicher in Abschnitt 13 gesprochen werden wird. Hier seien nur einige wenige Angaben vorausgenommen.
Man bezeichnet die Linie A B auf unserem Bild 79, das einen Schnitt durch Oberbau und Erdkörper darstellt, mit Kronenbreite. Sie ist durch die Unterkante der Schienen bis zum Schnitt mit den verlängert gedachten Seitenkanten des Unterbaus gezogen. Der Abstand zwischen der Oberkante des Unterbaus und der Unterkante der Schwellen, H, heißt Bettungshöhe. Die Fläche C D heißt die Bahnkrone. Die Neigungen der unter A und B den Unterbau begrenzenden Flächen gegen die Wagerechte zu ihren Füßen wird der Böschungswinkel genannt. Der Abstand der Schnittpunkte A und B von der Mitte der nächsten Geleise hat bei Hauptbahnen mindestens zwei Meter zu betragen, damit die Bettung noch mindestens 50 Zentimeter über die Schwellenenden hinausgeführt werden kann. Für scharfe Krümmungen und hohe Dämme wird von der Bauordnung eine Verbreiterung der Bahnkrone empfohlen. Die Bettungshöhe H hat bei Hauptbahnen mindestens 20 Zentimeter zu betragen.
Aus diesen Zahlen läßt sich die Kronenbreite für eingeleisige Bahnen ohne weiteres ermitteln. Für mehrgeleisige Strecken sind noch einige weitere Angaben notwendig. Der[131] Abstand der Mitten zweier benachbarter Geleise auf freier Strecke muß bei Hauptbahnen mindestens 3,50 Meter betragen. Dies Maß gilt jedoch nur für zwei zusammengehörige Geleise. Sobald noch ein weiteres oder mehrere hinzukommen, ist der nächste Abstand der Gleismitten nicht unter 4 Metern zu bemessen. Auf Bahnhöfen und Haltestellen ist ein Gleismittenabstand von 4,50 Meter vorgeschrieben; dort, wo Bahnsteige eingelegt werden, muß dieses Maß mindestens 6 Meter betragen.
Die Grundlage für diese letzten Bestimmungen bildet die festgelegte „Umgrenzung des lichten Raums“, das heißt derjenige gedachte Querschnitt durch den Luftraum über der Schienenoberkante, der unbedingt überall freigehalten werden muß. Eine Verkörperung dieses nur gedachten Querschnitts hat jeder Reisende schon einmal gesehen. Auf jedem Güterbahnhof steht über einem der Geleise ein rechteckiges eisernes Tor, von dessen oberster Kante Kugeln an verschieden langen Ketten oder ein vielfach gekrümmter Bügel hinunterhängen. Dieser leicht bewegliche Bügel oder die gebrochene Linie, durch die man sich die untersten Punkte der Kugeln verbunden denken kann, stellen die Umgrenzung des lichten Raums in seinem oberen Teil dar. Hochbepackte Güterwagen, von denen man fürchtet, daß ihre Ladung an irgendeiner Stelle über die Umgrenzungslinien hinausragen könnte, werden durch diese Tore hindurchgefahren, um zu sehen, ob hierbei das Joch oder eine der Kugeln ins Schwanken gerät. Wenn das der Fall ist, muß die Form der Ladung geändert werden, damit diese bei der Fahrt nicht an Brückenträger oder Tunnelwände anstoßen kann, die oft vom Gleis nicht weiter abstehen, als eben die Umgrenzung des lichten Raums vorschreibt.
Der Abstand der Gleismitten ist so groß gewählt, damit ein verderblicher Anprall auch dann nicht stattfinden kann, wenn zwei Züge einander auf freier Strecke begegnen, während vielleicht gerade eine Tür offensteht. Bei den D-Wagen, die zur Unterbringung des Gangs breiter sind als die andern Eisenbahnfahrzeuge, sind die Türöffnungen in der bekannten eigentümlichen Weise etwas eingezogen, weil sonst die erwähnte gefährliche Berührung doch stattfinden könnte.
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Jeder Unterbau ist so hoch auszuführen, daß die Bahnkrone wenigstens 60 Zentimeter über dem höchsten, erfahrungsgemäß jemals zu erwartenden Hochwasserstand liegt. Die Festigkeit der Strecke wird jedoch nicht nur durch das auf dem Boden ruhende oder fließende Wasser bedroht, sondern auch von den Niederschlägen. Damit die hölzernen oder eisernen Schwellen eine möglichst lange Lebensdauer haben, ist es notwendig, ihre Umgebung so trocken wie nur irgend möglich zu halten. Aus diesem Grund werden sie stets in eine wasserdurchlässige Schicht, in die Bettung aus kleinen Steinen oder Kies, gelegt. Das niedergehende Wasser dringt sofort durch diese hindurch und fällt auf die Oberfläche des Unterbaus. Hier muß es stets leicht abfließen können. Deshalb darf diese Fläche niemals muldenförmig oder auch nur wagerecht gestaltet sein, sondern sie muß Neigungen nach beiden Seiten haben.
Durch solche Abdachungen sind ein- und zweigeleisige Strecken auf Dämmen ziemlich leicht zu entwässern. Liegt die Bahn jedoch in einem Einschnitt, wo das Wasser nicht zur Seite abfließen kann, oder ist die Dammkrone sehr breit, weil sie mehrere Geleise zu tragen hat, so kommt man mit den einfachen Abdachungen nicht mehr aus. Es müssen vielmehr besondere Entwässerungseinrichtungen geschaffen werden, z. B. ein Sickerkanal in der Mitte, dem alles durch die Bettung dringende Wasser zufließt und der mit einer Neigung in der Bahnrichtung bis zum Ende des Einschnitts geführt ist; dort kann das Wasser nun zur Seite ablaufen. Auf Bahnhöfen sind oft sehr umfangreiche Entwässerungsanlagen zum gleichen Zweck notwendig. Zum Auffangen des von der Bahnkrone ablaufenden Wassers ist jede Strecke fast stets auf beiden Seiten von Abzugsgräben begleitet.
Die Böschungen tiefer Einschnitte können sehr leicht durch herabstürzendes Wasser beschädigt werden. Aus diesem Grund legt man meist droben an der Böschungskante einen Graben an, der wenigstens das vom angrenzenden Land zufließende Wasser auffängt und verhindert, daß auch dieses über die Böschungswände hinunterläuft.
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Besonders gefährlich wird das Wasser bei solchen Unterbauten, die nicht aus durchlässigem Sand, sondern aus Lehm oder Ton bestehen; dieser quillt beim Feuchtwerden leicht auf und wird dann locker. Ein solcher aufgeweichter Boden gibt dem Druck der über ihm liegenden Schwellen allmählich nach, und es bilden sich unter diesen in der zuerst ganz glatten Dammkrone muldenförmige Vertiefungen. Wenn diese Eindrückungen anfangs auch nur klein sind, so wachsen sie doch verhältnismäßig rasch an, weil sie sogleich Sammelbecken für das Wasser bilden, das fortab noch gründlicher seine schädliche Einwirkung üben kann.
Auch der Frost wirkt auf einen solchen Unterbau in zerstörender Weise ein, indem das häufig gefrierende Wasser den Boden auflockert. Man hat versucht, durch Packlagen aus Steinen solche schädlichen Einwirkungen zu vermeiden, aber das ist nicht gelungen. Bild 82 zeigt, nach der „Eisenbahntechnik der Gegenwart“, eine zweigeleisige, mit eisernen Langschwellen ausgerüstete Bahnstrecke in einem Toneinschnitt, die im Jahre 1879 mit solcher Packlage versehen wurde. Schon neun Jahre später hatte sich die Krone arg verdrückt, und die Steine waren infolge der wechselnden schweren Stöße der über die Schienen rollenden Fahrzeuge durch die ganze Bettung verstreut. Weit besser wirkt die Anbringung einer sehr kräftigen Bettung, die oft über einen Meter hoch wird, aber nun den Tonboden vor Angriffen des Frosts sichert und das Wasser nur so langsam hindurchlaufen läßt, daß es Zeit hat, über die Abdachungen nach den Seiten abzufließen.
Die Gestaltung der Dammquerschnitte und ebenso der Einschnitt-Umgrenzungen ist abhängig von der Art des aufgehöhten oder angeschnittenen Bodens. Die Böschungswinkel können bei lehmfreiem Sand oder Kies steiler sein als bei Tonboden oder Lehm. Die Größe der Böschungswinkel spielt keine geringe Rolle für die Anlagesumme einer Bahn, da bei sehr breit ausladenden Böschungen weit mehr Gelände erworben werden muß, als wenn man steil hinab- oder hinaufgehen kann. Darum schreitet man bei allzu wenig haltbarem Boden oft dazu, die Erdböschungen durch Mauern zu ersetzen. Der Augenblick hierfür ist gekommen, wenn die Kosten, die durch das Aufführen der Mauern entstehen, übertroffen werden von den Ersparnissen beim Landerwerb, oder wenn gar das Abbrechen von nahe am Bahnkörper stehenden Häusern hierdurch vermieden werden kann. Erdböschungen werden stets sofort besät, damit das wachsende Gras oder Buschwerk Abspülungen verhindert.
Dem Unterbau zuzurechnen sind auch die Anlagen zum Schutz des der Bahn naheliegenden Geländes gegen Feuer und der Bahn selbst gegen Schneebedeckungen.
Die aus dem Schornstein der Lokomotive trotz mancher Vorkehrungen doch immer wieder hinausgeschleuderten glühenden Kohleteilchen bilden eine ständige Gefahr. Daß mit Stroh oder Schindeln bedeckte Häuser in Preußen nicht in der Nähe einer Bahnstrecke stehen dürfen, wurde bereits erwähnt. Arg bedroht sind aber auch die Wälder.[134] Erfahrungsgemäß entsteht ein Waldbrand fast stets dadurch, daß die trockene Bodenbedeckung zu brennen beginnt, woraus sich dann ein geschwind vordringendes Lauffeuer entwickelt. Die Baumkronen werden fast niemals zuerst vom Feuer ergriffen. Es ist deshalb vorgeschrieben, daß überall dort, wo die Bahn durch Wald, Heide oder trockenes Moor gelegt ist, ein Streifen zu beiden Seiten der Strecke wund, das heißt von Bodenbewachsung freigehalten werden muß. Um die Ausbreitung eines trotzdem immer noch möglichen Brands zu verhüten, werden durch Wälder, in denen brennbares, geschlagenes Holz lagert, vertiefte Wundstreifen gezogen, die von den Flammen nur schwer überschritten werden können.
Der Funkenwurf der Lokomotive ist besonders lebhaft, wenn die Feuerung neu beschickt wird. Bei der Fahrt durch Wälder und an sonstigen besonders gefährdeten Stellen ist das Nachfeuern darum möglichst zu unterlassen. An solchen Streckenabschnitten sind die Telegraphenstangen mit breiten weißen Bändern bemalt, die dem Heizer sagen, daß er hier nur mit Vorsicht Kohle aufwerfen darf.
In unmittelbarer Nähe der Strecke sind die Wälder so weit zu roden, daß nicht vom Wind umgebrochene Äste auf die Geleise fallen können.
Ein gefährlicher Feind des regelmäßigen Bahnbetriebs im Winter ist der Schnee. Nicht die niederfallenden Flocken wirken störend, denn die ganz vorn an den Lokomotiven angebrachten Bahnräumer können selbst eine 15 Zentimeter hohe Schneedecke bequem von den Schienen fegen. Es müssen schon größere Massen auf den Geleisen liegen, bis die gewaltige Kraft der vorwärtsstürmenden Lokomotive von ihnen so weit vernichtet wird, daß der Zug stecken bleibt.
Die Stürme sind es, welche leicht wahre Schneemauern auf den Geleisen auftürmen können. Sie raffen die auf den Feldern liegenden weißen Massen von weit her zusammen und werfen sie in den Einschnitt. Darum ist die Bahn dort am allermeisten gefährdet, wo der Wind über große, leere Flächen streichen kann. In Wäldern kommen Schneetreiben nicht vor.
Bei der Anlage von Eisenbahnstrecken nimmt man von vornherein auf den Schneeschutz sorgsam Bedacht. Man verläßt sich nicht darauf, daß nach einem Schneetreiben Arbeitergruppen die Strecke wieder freischaufeln, sondern man schafft Maßregeln, die nach Möglichkeit ein Verwehen der Strecke von vornherein verhüten.
Die Schneewehe muß aufgehalten werden, bevor sie die Bahn erreicht. Das geschieht am besten durch das Anbringen einer Schutzwehr, also von durcheinandergepflanzten hohen und niedrigen Nadelbäumen, durch Erddämme oder durch Zäune. Die Schutzwehr darf jedoch niemals unmittelbar an den Rand des Einschnitts gesetzt werden. Denn gerade dicht hinter dieser pflegen sich die Schneemassen am stärksten anzuhäufen.
Die Gewalt des Sturms wird nämlich an der Schutzwehr gebrochen, und hinter ihr entsteht ein windstiller Streifen. Dadurch hat der Schnee Gelegenheit niederzugehen. Es muß also ein Lagerungsabschnitt zwischen der Schutzwehr und der Einschnittkante vorgesehen sein. Die Ermittlung der günstigsten Höhe für die Wehr ist Aufgabe sorgfältiger Berechnungen. Es sind recht schwierige mathematische Formeln, die hier in Anwendung gebracht werden müssen.
Man hat auch versucht, an Stelle der Schutzwehren geneigte Leitbahnen an den Seiten der Bahn anzubringen, die der herannahenden Schneewehe eine solche Richtung geben sollen, daß sie unschädlich über die Geleise hinweggeht. Die hiermit angestellten Versuche sind jedoch nicht gelungen.
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Die am häufigsten zur Schneeabwehr benutzten Zäune werden aus alten Schwellen hergestellt, die entweder senkrecht in den Boden eingelassen oder wagerecht übereinander zwischen geeigneten Haltern angebracht werden. Vielfach sind auch Brettertafeln in Gebrauch, die nicht ständig zwischen den für sie vorgesehenen Pfosten stecken, sondern, da sie leicht zu bewegen sind, erst eingesetzt werden, wenn ein Schneetreiben zu erwarten ist. Ihre Anwendung ist darum billig, weil man immer nur, je nach der Richtung des Winds, die eine oder die andere Seite der Bahn abzudecken braucht, so daß nur halbsoviel Bretterwände vorzuhalten sind wie bei festen Zäunen. Die Einsteckpfosten müssen selbstverständlich auf beiden Seiten vorgerichtet werden. An Stelle der Holzwehren verwendet man auch Geflechte aus Binsen oder Weidenruten. Manche Verwaltungen halten frei aufstellbare Bockzäune bereit.
Ein Schutz der deutschen Bahnen gegen Lawinengefahr ist nur im südlichen Bayern notwendig. In Gebirgsländern sind zu diesem Zweck aber häufig recht große Bauten ausgeführt, die entweder Abstürze von der Strecke fernhalten sollen oder dafür sorgen, daß die Lawinen über die Bahnstrecke hinübergehen. Die Bernina-Bahn z. B., die St. Moritz mit Tirano in Italien verbindet, besitzt sehr viele solcher Lawinen-Leitanlagen.
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Die Schaffung des Eisenbahnunterbaus, die vielfach zu eintöniger Maulwurfsarbeit zwingt, gibt an einzelnen Stellen auch Anlaß zur Herstellung kunstvoller Bauten. Die Überführung von Strecken über tief eingeschnittene Täler hat Werke entstehen lassen, die zu den großartigsten Leistungen der Technik gehören. Die Kunst des Brückenbaus wäre niemals zu so hoher Vollendung gelangt, wenn die Eisenbahn nicht die Bewältigung größter Gewichte gefordert hätte. Die Beherrschung der Baustoffe ist hierdurch in außerordentlicher Weise gefördert worden. Und infolge der tief eindringenden wissenschaftlichen Erkenntnis über die wirklichen Beanspruchungen von Bauteilen schwerer Brücken ist man dazu gelangt, auch an andern Stellen, wie bei der Herstellung großer Hallen, Leistungen von oft schwindelerregender Kühnheit zu vollbringen.
Auch Deutschland, das infolge seiner meist ebenen Gestaltung an ragenden Eisenbahnbauten nicht gerade reich ist, weist eine Reihe höchst eindrucksvoller Brücken auf. Im Jahre 1910 waren für die vollspurigen Eisenbahnen in Deutschland 534 Brücken mit einer Gesamtlänge von annähernd 74 Kilometern errichtet.
Die technische Kraft, durch welche es gelang, die heutigen großen Eisenbahnbrücken in aller Welt zu schaffen, hat ihre Wurzeln so sehr in den Anfängen der Brückenbaukunst, daß es zum besseren Verständnis der nun erreichten Leistungen notwendig ist, den Blick ein wenig rückwärts zu wenden.
In älteren Zeiten waren Holz und Steine die einzigen Baustoffe, die für Brücken verwendet werden konnten. Die erste eiserne Brücke entstand in den Jahren 1776 bis 1779 auf englischem Boden in der Nähe der Grube von Coalebrookdale, wo zehn Jahre vorher Reynolds die ersten Schienen gegossen hatte. Die Brücke hatte eine Spannweite von nur 31 Metern und war aus Gußeisen gefertigt. Auf dem Festland wurde die erste eiserne Brücke in Deutschland errichtet und zwar im Jahre 1796 in Schlesien, wo sie heute noch das Striegauer Wasser überspannt.
Gußeisen ist jedoch für Brückenbauten ein wenig zweckmäßiger Baustoff. Es besitzt zwar eine sehr große Druckfestigkeit, jedoch kann es Zug- und Biegungskräften nur in geringem Maß Widerstand leisten. Als man daher breitere Wasserläufe überbrücken wollte, wurde es notwendig, eine Eisensorte zu benutzen, die Beanspruchungen aller Art auszuhalten vermag.
1818-1826 baute Telford die erste schmiedeiserne Brücke. Sie überschreitet den schmalen Meeresarm zwischen der Westküste von Wales und der Insel Anglesey, die Menai-Straße. Telford schuf hier mit einer für die damalige Zeit außerordentlichen Kühnheit eine weitgespannte Hängebrücke. Er mußte bei den Abmessungen der einzelnen Teile meist nach dem Gefühl arbeiten, da zuverlässige Zahlen über die Haltbarkeit des Eisens und Formeln zur Berechnung der Beanspruchungen noch nicht vorhanden waren. Es wird erzählt, daß sich der Bauleiter, als das Stützgerüst unter der Brücke weggeschlagen wurde, in das Brückenhäuschen zurückzog, dessen Fensterläden geschlossen waren, um dort zu beten. Es ging jedoch alles gut. Diese erste Hängebrücke der Welt bewährte sich vortrefflich, weil sie von einem hochbefähigten Mann mit sicherem Gefühl geschaffen worden war.
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Über Telfords Brücke lief nur eine Landstraße. Für die verhältnismäßig geringen Belastungen, die auf solchen Wegen auftreten, waren die leichten Hängebrücken jener Zeit denn auch sehr gut geeignet. Aber es zeigte sich doch bald, daß ihre Steifigkeit nicht allzu groß war. Hier und da kam es vor, daß Brücken solcher Art bei heftigen Stürmen stark ins Schwanken gerieten und wohl auch einmal abgerissen wurden. Man konnte daher nicht daran denken, diese Bauform auch für Eisenbahnüberführungen anzuwenden. Es war der bedeutende Sohn des großen Georg Stephenson, der das von seinem Vater begonnene Eisenbahnwerk durch die Schaffung der ersten gewaltigen Eisenbahnbrücke fortsetzte. Robert Stephenson erbaute in den Jahren 1846-50 seine weltberühmte Britannia-Brücke, die gleichfalls über die Menai-Straße führt; sie wird noch heute von der Eisenbahnlinie benutzt, die von Chester nach dem wichtigen Hafen Holyhead auf Anglesey läuft.
Die Brücke ist 559 Meter lang. Sie stellt technisch nichts anderes dar, als zwei gleichlaufende gewaltige eiserne Balken, deren Inneres entfernt ist. Der Querschnitt ist also kastenförmig. Der an zwei Enden aufgelagerte Balken ist ja die einfachste Form einer Überbrückung, da sich die bei Belastung in einem solchen Balken auftretenden Kräfte am leichtesten übersehen lassen. Wird ein Gewicht auf den Balken aufgelegt, so sucht er sich durchzubiegen. Hierbei erleiden die untersten Fasern eine Streckung, die obersten werden zusammengedrückt. Dazwischen muß ein unbeanspruchter Bezirk liegen. Darum kann man auch mit gutem Erfolg Balken mit ganz schmalem Mittelteil verwenden, wie es heute bei den Schienen und bei den Doppel-T-Trägern geschieht, oder man vermag, wenn man die Ränder nur kräftig genug ausbildet, das Innere auch ganz fortzulassen. Diesem Gedanken folgend, schuf Robert Stephenson die beiden großen Kästen der Britannia-Brücke.
Das Bauwerk erscheint uns heute ungefüge und grob zusammengehauen. Den Eindruck aber, den es kurz nach seiner Errichtung auf einen sachverständigen Zeitgenossen machte, kennen wir aus einer Schilderung Max von Webers:
„Schwindelhoch, turmhoch und in der Tat wie auf Türmen auf schlanken Pfeilern ruhend, liegt das zweihunderttausend Zentner schwere, gewaltige Eisenrohr über dem vierzehnhundert Fuß breiten Arm des St. Georg-Kanals, der die Insel Anglesey von der Westküste von Wales trennt. Selbst wie eine Schöpfung, die nur der Allmacht gelingen zu können scheint, steht das Bauwerk ohnegleichen, seiner ungeheueren Gliederung gemäß,[138] mit feinem Formensinn aus Elementen ägyptischen Stils in hohem Ernst aufgebaut, an beiden Ufern von riesenmäßigen Sphinxen bewacht, in der tiefblauen Meeresflut zwischen paradiesischen Küsten. Tief drunten die tiefazurne, mit weißem Schaum um die Brückenpfeiler brandende Flut, und auf ihr vor der frischen Morgenbrise hingleitende, sanftgeneigte, schwellende Segelmassen tragende Schiffe.
„Wie die Vögel des Himmels schauen wir von der Himmelshöhe der Brückenröhre hinab auf das schlanke Spierenwerk der darunter hinrauschenden Dreimaster. Vor uns stehen die zauberisch feinen, streng geometrischen und doch so unnachahmlich graziösen Linien von des großen Telford Wunderwerk, der Menai-Kettenbrücke, die, nur eine Viertelmeile von der Britanniabrücke entfernt, die Chaussee seit dreißig Jahren über dieselbe Meerenge führt, über welche die Britanniabrücke die Eisenbahn trägt. Von welch großer, anregender Wirkung ist der Kontrast der Formen dieser beiden Meisterstücke der neueren Brückenbaukunst, die der Blick gleichzeitig umfaßt!
„Feenhaft fein, wie aus Sonnenfäden gewebt, bogig, leichtgeschwungen, scheint die Brücke Telfords über dem Wasser zu schweben, während Stephensons Bau massig, gewaltig, unerschütterlich in scharfen, geraden Linien und Kanten darüber her ruht und es mit unermeßlichem Gewichte bedrückt und beherrscht.“
Der deutsche Ingenieur Max von Weber hatte kurz nach seinem Besuch der Britanniabrücke Gelegenheit, in Robert Stephensons Haus zu weilen und hierbei einem Bericht des großen Baumeisters über den wichtigsten und aufregendsten Augenblick bei der Erbauung der Brücke zu lauschen.
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Die beiden hohen Kastenröhren — für jede Fahrtrichtung eine — waren nicht am Ort ihrer endgültigen Aufstellung zusammengenietet, sondern dicht am Ufer auf Gerüsten hergestellt worden, die über das Wasser ragten. Um sie zwischen die Pfeiler zu bringen, benutzte Robert Stephenson ein Verfahren, das noch heute vielfach angewendet wird. Beim Beginn der Flut wurden zwei kräftige Schiffe mit aufgebauten starken Stützpfeilern so unter jedes Rohr gestellt, daß sie beim weiteren Steigen des Wassers schließlich den Brückenteil von den festen Gerüsten abheben und selbst tragen mußten. Alsdann fuhr man mit den Schiffen so zwischen die Pfeiler, daß sich die Rohre während der Ebbe auf vorbereitete Lager aufsetzten, von denen sie später nur noch senkrecht bis zur vollen Höhe der Pfeiler hinaufgewunden zu werden brauchten. An Kühnheit läßt dieses Verfahren, insbesondere wenn man das gewaltige Gewicht der Britannia-Brückenrohre in Betracht zieht, nichts zu wünschen übrig, und Robert Stephenson war denn auch aufs freudigste ergriffen, als kurz vor dem Beginn der Arbeit zwei Männer, die gleich ihm damals der Stolz des technischen England waren, freiwillig ihre Hilfe für das Einschwimmen der Brücke anboten. Es waren Isambart Brunel, der Schöpfer des ersten Themse-Tunnels, und William Fairbairn, der Erbauer der ersten eisernen Schiffe. Die Schilderung des aufregenden Vorgangs aus Robert Stephensons Mund gibt Max von Weber so wieder:
„Ich war am Morgen, der um zehn Uhr den Eintritt der verhängnisvollen Flut bringen sollte, vor Tagesanbruch unten am Ufer des Menai-Kanals. Es war stürmisch, ich hörte die hohe Brandung durch die Nacht brausen. Weithin brannten auf beiden Ufern die Wachtfeuer und Fackeln, bei denen die Nacht über gearbeitet wurde. Mir lag es schwer auf der Seele. Da rief mich eine helle Stimme durch die Nacht an: ‚All right! All goes well! Good morning!‘, und ich erkannte Brunel, der schon vom Werkplatz kam. Ich bin nicht poetisch, aber ich muß gestehen, der handfeste, kleine, große englische Ingenieur erschien mir in diesem Momente wie ein lichter Engel!
„Der Augenblick kam, wo die Flut eintrat. Ich stand auf der zuerst zu flößenden Röhre, die seit Jahr und Tag, seitdem die Arbeit an ihr begonnen wurde, bergfest auf ihren Werklagern ruhte, volle zwei Millionen Pfund schwer. Totenstille auf beiden Ufern, mit ihren Hunderten von Arbeitern, die, Hand am Griff, vor ihren Ankerwinden standen, mit Tausenden zugeströmter Zuschauer. Ich sah Fairbairn wie einen Punkt am Anglesey-Ufer auf seinem Gerüst stehen, unter mir, an der Hauptwinde des Wales-Ufers, stand Brunel, die klugen Augen nach mir heraufgerichtet — alle totenstill — nur die steigende Flut brodelte um die Pontons, in deren gewaltigem Zimmerwerk und Rippen es knackte, knarrte und polterte, je mächtiger das Wasser sie gegen die große Last, die sie heben sollte, preßte.
„Endlich wurde auch dies Prasseln still — sie mußten ihre volle Last haben — ich sah nach der Uhr und den Wassermassen — die Flut war fast auf ihrer Höhe — die Eisenmasse rührte sich nicht — mir stand das Herz fast still — da plötzlich fühlte ich, wie es wie ein Zittern durch die kolossale Röhre unter meinen Füßen lief — der eiserne feste Boden wich — und im selben Moment sah ich, wie die Gerüste sich gegen uns verschoben.
„Die Arbeitermannschaften brachen unaufhaltsam in unermeßliche Cheers aus, die aus tausend Kehlen weit und breit an den Ufern widerhallten. Die ungeheure Röhre schwamm! Rasch packte die Flut die Pontons — ich gab meine Signale. Meine großen Rivalen folgten dem Wink meiner Hand! Die Flut spritzte von den angestrafften Tauen und Ketten turmhoch empor oder brodelte über die erschlafft ins Wasser sinkenden mit einer Präzision, als belebe ein einziger Wille die Hunderte von Männern hüben und drüben. — — —
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„Ich will Sie nicht mit der Erzählung davon ermüden, es ist bekannt, wie die Röhre ohne Unfall und mit bewunderungswürdiger Genauigkeit, trotz Sturm und Stromschnellen zwischen die Pfeiler trieb, und die sinkende Flut, sie auf ihren Lagern liegen lassend, lustig die davon gelösten Pontons mit fortnahm, während ich mit Entzücken das Knirschen hörte, mit dem der Koloß sich sicher auf die Steinunterlage bettete. Aber Sie werden verstehen, daß ich mich nie so gehoben und so klein zugleich gefühlt habe, wie damals, als meine Rivalen zu mir auf die Röhre kletterten und mir die Hand drückten.“
Heute, wo man im beruhigenden Besitz jahrzehntelanger Erfahrungen ist, werden derartige Arbeiten ohne Erregung und ohne Hochgefühle erledigt. Das Einschwimmen eines neuzeitlichen Brückenbogens, und zwar auf der Donau bei Passau, zeigt unser Bild 96.
Die Britannia-Brücke hat den für den Eisenbahnbetrieb recht unangenehmen Mangel, daß es in ihrem Innern dunkel ist. Bei später errichteten Balkenbrücken ging man daher vom vollen Balken ab; man löste ihn in einen Gitterträger auf. Ein schönes Beispiel einer solchen Gitterbalken-Bauart ist die große Weichselbrücke bei Dirschau, durch deren Errichtung im Jahre 1857 in Verbindung mit der ganz gleichartig gestalteten Nogatbrücke bei Marienburg der bis dahin durch die tiefen Flußtäler unterbrochene Schienenstrang von Königsberg nach Schneidemühl und Kreuz endlich geschlossen wurde.
Auch die Dirschauer und Marienburger Brücken von 1857, neben denen heute schon neue Bauwerke stehen, sehen noch recht schwerfällig aus. Bei ihrem Anblick hat man nicht das Gefühl, das jede gutgebaute neuzeitliche Brücke im Beschauer auslöst, nämlich das eines vollständigen Gleichklangs, die Empfindung, daß all die zahllosen Träger und Stangen sämtlich dort stehen, wo wirklich Kräfte auftreten, und daß sie Abmessungen haben, die der Größe dieser Kräfte in jedem Augenblick entsprechen. Die später geschaffenen Ausleger- und Bogenbrücken sind mit viel weniger Eisen gebaut, und sie erscheinen dem Auge doch weit zuverlässiger und fester.
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Die weitest gespannte Auslegerbrücke auf der Erde, zugleich eines der mächtigsten Eisenbauwerke, das jemals errichtet wurde, ist die Brücke über den Firth of Forth bei Queensferry in Schottland. Sie schließt die Hauptstadt Edinburg über die einem Meeresarm gleiche, weit gedehnte Mündung des Forth-Flusses hinweg an das Eisenbahnnetz Nordost-Schottlands an.
Die Entstehungsgeschichte der in den Jahren 1883-90 errichteten Forth-Brücke hängt eng mit der Geschichte einer anderen schottischen Eisenbahnbrücke zusammen.
Über den etwas weiter nördlich liegenden, schmaleren Firth of Tay war schon in den siebziger Jahren eine Eisenbahnbrücke gespannt worden. Ihr damals ob der Kühnheit seines Werks viel bewunderte Erbauer, Bouch, hatte für die Stützpfeiler sehr viel Gußeisen verwenden müssen, das, wie wir wissen, kein zuverlässiger Brückenbaustoff ist. Ein anderer englischer Ingenieur, John Fowler, warnte häufig davor, diesem Bauwerk zu trauen. Bevor die Brücke noch irgendeinem andern Mißtrauen einflößte, hatte dieser kluge Mann ihre Schwäche so genau erkannt, daß er seinen Familienmitgliedern strengstens verbot, mit der Eisenbahn über den Tay zu fahren.
Und er sollte nur allzu sehr recht behalten. In der Nacht zum 28. Dezember 1879 brach Bouchs Brücke bei einem Orkan plötzlich zusammen, als gerade ein Zug darüber fuhr. Die Mittelbogen stürzten mit dem Zug ins Wasser. Es ist dies der folgenschwerste Unglücksfall, der sich je auf einer Eisenbahnstrecke ereignet hat; 200 Menschen kamen dabei ums Leben.
Das furchtbare Begebnis ist von Theodor Fontane in seinem berühmten Gedicht „Die Brück’ am Tay“ behandelt worden, und der Dichteringenieur Max Eyth hat es in seinem schönen Buch „Hinter Pflug und Schraubstock“ unter der Überschrift „Berufstragik“ ausführlich beschrieben. Er erzählt da, wie er zusammen mit dem alten Brückenwärter[142] in wütendem Sturm und dunkler Nacht die Brücke abschreitet, nachdem die Vermutung aufgetaucht war, daß auf dieser ein Unglück geschehen sei:
„Es war kein Kinderspiel, dieser Gang. Zum Glück hatten wir vollauf mit uns zu tun, so daß wir kaum an das Unglück denken konnten, das uns vorwärts trieb.
„Knox ging voraus, drehte sich aber um, so oft er ein paar Dutzend Schritte gemacht hatte, um mir zu leuchten. Ich folgte ihm stetig und langsam, vor jedem Schritt versuchend, ob ich fest genug stand, um dem wechselnden Luftdruck Trotz bieten zu können.
„Wir hatten so den Brückenkopf erreicht. Zwischen seinen monumentalen Granitblöcken war man etwas geschützt und konnte aufatmen. Dann traten wir auf die Brücke, indem wir uns mit beiden Händen an dem luftigen Eisengeländer anklammerten und daran fortarbeiteten. Unser Steg war die etwa drei Fuß breite Dielung, die nach der Innenseite der Brücke an die linksseitige Bahnschiene anstieß. Dies war die gefährlichere Seite, denn zwischen den Schienen und den bloßliegenden Schwellen gähnte der schwarze Abgrund, und der Wind blies uns mit boshaften Stößen in diese Richtung. Nach der andern Seite hatten wir wenigstens das Geländer und den Winddruck zu unserm Schutz.
„Gut war es, daß der Blick nicht in die Tiefe dringen konnte, wo ein zischender Lärm die hereinbrechende Sturmflut ankündigte. Auf Augenblicke nur sah man dort unten weiße Flocken blinken, ohne abschätzen zu können, ob sie sich ganz nahe oder turmtief unter uns bewegten. Das waren die Schaumkronen der sturmgepeitschten Wellen. Über uns war die Nacht ein Wühlen und Wallen, ein Sausen und Seufzen, ein Klatschen und Krachen, als ob der wilde Jäger und der fliegende Holländer sich in den Haaren lägen. Aber wir kamen vorwärts, Schritt für Schritt. Die Brücke zitterte fühlbar, aber sie stand noch. Wenn es so fortging, konnte vielleicht alles gut werden.
„Da nach zwanzig Schritten das Ufer in undurchdringlicher Finsternis versunken war, und uns das gleiche, bleierne Schwarz entgegenstarrte, zählte ich die Pfeiler, über die wir kamen, um ungefähr zu wissen, wo wir uns befanden. Es war dies möglich, obgleich sie nicht zu sehen waren, weil das Geländer auf jedem Pfeiler von einem höheren, reichornamentierten Pfosten getragen wurde, der uns sozusagen durch die Finger ging. So wußte ich, wie langsam wir vorwärts kamen, und nachdem wir fünf, sechs Pfeiler hinter uns hatten und über einer scheinbar unendlichen See hingen, die einförmig, unablässig, in schwarzer Wut unter uns toste, gewöhnte ich mich an unsern krebsartigen Gang und fing an, mich über meine kalt werdenden Hände zu ärgern, wie wenn es eine alltägliche Beschäftigung wäre, so in die unergründliche Nacht hinauszuklettern. Auch ging es nach jedem Pfeiler rascher. Ich glaube, ich wäre förmlich munter geworden, wenn nicht das leise, unheimliche Zittern der Brücke mich von Zeit zu Zeit daran erinnert hätte, daß wir auf einem Todesgang begriffen waren.
„Jetzt hörte man aus weiter Ferne den hartklingenden Schlag eines Eisens — jetzt wieder. Dies war unerklärlich, unnatürlich. Ich hielt an und lauschte, hörte dann aber nur das Pfeifen des Windes und das dumpfe, summende Zischen des Wassers unter meinen Füßen. Weiter!
„Da plötzlich war die Schattengestalt meines Vordermanns verschwunden. Das Geländer, das ich jetzt auf dreißig Meter ganz deutlich sehen konnte, war leer. Er konnte doch nicht abgestürzt sein. Ich schrie laut: ‚Knox! Knox!‘ Keine Antwort. Ich ließ jetzt selbst das Geländer mit der Rechten los und lief vorwärts, so schnell ich konnte. ‚Knox! Knox!!‘
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„Nein, er war nicht abgestürzt. Dort saß er auf dem Bretterboden, die Beine über den Schienen zwischen den Schwellen herabhängend, die Arme auf den Knien, den Kopf auf den Armen, wie ein Igel, der sich zusammengerollt hat.
„Er richtete sich ein wenig auf und deutete mit dem linken Arm nach vorwärts.
„Zum erstenmal, seit wir auf dem Wege waren, zerriß das Gewölke unter der dünnen Mondsichel und ließ einen grellgrünlichen Fleck des Himmels erscheinen. Man sah mit einemmal ziemlich weit nach allen Seiten. Es war, als stünde man in der Mitte einer Zauberkugel, tief unter uns in einem dämmerigen Kreis die schaumbedeckte See, um uns bestimmt und klar die Schienen, die Schwellen, das Geländer, vor uns, plötzlich scharf abgeschnitten, das Ende der Brücke, das ins leere Nichts hinausragte.
„Ich ging noch zwanzig Schritte vorwärts, fast ohne zu denken, einem qualvollen Drange folgend, der mich weitertrieb. Dann klammerte ich mich wieder mit beiden Händen ans Geländer und sah in das dunstige Blau hinaus, wo noch vor zwei Stunden die riesigen, tunnelartigen Gitterbalken begonnen hatten. Sie waren verschwunden, spurlos weggeblasen.
„In weiter, weiter Ferne sah man die Brücke wieder, das Ende, das vom Nordufer der Bucht kam, wie einen schlanken senkrechten Pfahl, der hoch aus dem Wasser emporragte. Zwischen diesem Ende und dem unsern war eine leere Strecke, fast ein Kilometer breit, über die in ungestörter Kraft und Freiheit das heraufstürmende Meer hinwogte. Nur eine Reihe weißer Punkte bezeichnete über die Wasserfläche weg die Linie der einstigen Brücke. Es war die Brandung, die an den Resten der verschwundenen Pfeiler aufschäumte.
„Ich zählte sie mechanisch, ohne zu denken. Zwölf! Ich wußte, dies war die Zahl der großen Pfeiler, auf denen der höhere Teil der Brücke geruht hatte. Wenn ich träumte, so träumte ich mit entsetzlicher Folgerichtigkeit. So mußte es gekommen sein. Die ganze Länge der hochliegenden Gitterbalken war eingestürzt.“
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Derselbe Bouch, dessen Werk unter so erschütternden Umständen vernichtet wurde, hatte auch einen Entwurf für die Forth-Brücke gemacht, der dann glücklicherweise nicht zur Ausführung kam. Fowler konnte nachweisen, daß auch dieser Plan schwere Fehler enthielt. Ihm wurde dann zusammen mit Benjamin Baker das große Werk der Überquerung des Forth-Busens übertragen.
Die Gestaltung der Brücke ist höchst eigenartig; sie hat nicht ihresgleichen auf Erden. Die Mittelstücke der gewaltigen Bogen sind infolge einer eigenartigen Anordnung der Ausleger ganz schwach durchgebildet, was einen geradezu abenteuerlichen Eindruck macht. Die ganze Forth-Brücke ist 2470 Meter lang. Die Spannweiten der beiden Mittelöffnungen betragen je 541 Meter. Die Schienen liegen etwa 50 Meter über dem Wasserspiegel. Die Pfeiler erreichen eine Höhe von 100 Metern. Die Gesamtbaukosten, einschließlich der Anschlüsse an die vorhandenen Bahnstrecken, haben 3 367 625 Pfund Sterling, das sind 67 352 500 Mark, betragen. 50 Millionen Kilogramm Eisen sind für das Bauwerk verbraucht worden.
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Fast alle größeren Eisenbahnbrücken in Deutschland sind in Eisen ausgeführt. Eine der an Zahl äußerst geringen Ausnahmen macht die Brücke, welche seit dem Jahre 1851 die Eisenbahnstrecke von Leipzig nach Hof über das Göltzschtal trägt. Ihre kleinen, in Stockwerken übereinandergestellten Bogen erinnern an die Wasserleitungsbauten der Römer. 1500 Arbeiter sind bei ihrer Herstellung fünf Jahre lang tätig gewesen.
Die Beanspruchung jedes auf zwei Pfeilern liegenden Brückenteils durch die Belastung ist in der Mitte am stärksten. Der gerade durchgeführte Gitterbalken entspricht darum nicht den tatsächlichen Verhältnissen. Weit mehr kommt diesen ein Balken mit gekrümmten Gurtungen nahe, wie ihn unter den Ersten die Erbauer der Isarbrücke bei Großhesselohe für die Eisenbahnstrecke München-Holzkirchen angewendet haben.
Dieses Bauwerk, das schon sehr feine, dem Auge wohlgefällige Linien aufwies, ist im Auftrag der Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg im Jahre 1857 von Pauli errichtet worden. Die Bauaufsicht führte damals Heinrich Gerber, der Erfinder des nach ihm benannten, für den Brückenbau noch heute wichtigen Gerberbalkens. Als die Tragfähigkeit dieser Brücke für die stark gestiegenen Zuggewichte nicht mehr ausreichte, wurde sie im Jahre 1912 abgebrochen und durch eine neue ersetzt. Die geschichtliche Wichtigkeit dieses hervorragenden deutschen Bauwerks ist dadurch geehrt worden, daß einzelne Teile aus den eisernen Bogen herausgeschnitten und im Deutschen Museum für Meisterwerke der Naturwissenschaft und Technik in München aufgestellt worden sind.
Kühner noch als das Einschwimmen fertiger Brückenteile ist das heutzutage nicht selten angewendete Freibauverfahren. Es ist an manchen Stellen nicht möglich, Stützgerüste für die Brücken aufzubauen. Die Träger müssen alsdann von den Seiten frei vorgestreckt werden, und sie schweben während dieser Zeit, bis die beiden Teilstücke einander getroffen haben und verbunden sind, in geradezu beängstigender Weise frei in der Luft. Nur eine ganz genaue Beherrschung des Baustoffs und eindringliche Kenntnisse der auftretenden Beanspruchungen ermöglichen diese kühne Bauweise.
Sie ist auch bei der Errichtung des mächtigsten deutschen Eisenbahnbauwerks, der Kaiser Wilhelm-Brücke über das Wuppertal bei Müngsten, im Zuge der Strecke Solingen-Remscheid, angewendet worden. Der Mittelbogen hat hier eine Spannweite von 170 Metern, der Scheitel des Bogens liegt nicht weniger als 107 Meter über dem tief eingeschnittenen Flußtal. Als die Brücke 1897 fertig war, stellte sie die weitest gespannte Bogenbrücke auf dem europäischen Festland dar. Die Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg hatte durch ihre Herstellung der deutschen Eisenbaukunst ein besonders glänzendes Zeugnis ausgestellt. Heute führt über den Viaurfluß in Frankreich eine Brücke, deren Mittelbogen 230 Meter weit gespannt ist.
Wenn eine Brücke so tief über das Wasser gelegt werden muß, daß der Schiffsverkehr darunter nicht unbehindert stattfinden kann, so ist es notwendig, das Bauwerk beweglich zu machen. Man muß imstande sein, den Schiffen jederzeit eine Durchfahrt von ausreichender Breite freizugeben. Es kann dies durch drei verschiedene Verfahren geschehen. Die Brücke wird entweder in ihrer ganzen Erstreckung wagerecht emporgehoben, also gleich einer Hebebühne bewegt; sie wird aufgeklappt, indem die Fahrbahn um eines der Endlager schwingt, oder sie wird auf einem Mittelpfeiler gedreht, so daß zu dessen beiden Seiten Durchfahrten frei werden.
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Eine Klappbrücke mit ungewöhnlich großen Abmessungen ist von der Deutschen Maschinenfabrik-Aktiengesellschaft in Duisburg über den Hafen von Husum zur Überführung der Strecke von Elmshorn nach Tondern gebaut worden. Für jedes der beiden Geleise ist eine von der andern unabhängige Klappe vorgesehen. Bei derartig großen, frei in die Luft ragenden Bauwerken muß der Winddruck sehr aufmerksam als Belastung in Rechnung gezogen werden. Denn es ist ohne weiteres klar, daß ein Sturm, der gegen so riesige Platten bläst, auf diese eine starke Kraftäußerung übt. Bei der Husumer Klappbrücke hat man, abgesehen von den sehr kräftigen Versteifungen in dem Bau selbst, den Winddruck auch bei der Anordnung des Hubwerks berücksichtigt. Das Aufklappen kann bei Sturm mit geringerer Geschwindigkeit vorgenommen werden als bei Windstille. Im ersten Fall dauert das Öffnen der Brücke zwei Minuten, sonst nur eine Minute, was bei den anzuhebenden Gewichten gewiß keine geringe Leistung ist.
Da die Brücke von Schnellzügen befahren wird, so ist auf eine besonders gute Sicherung derjenigen Stellen Wert gelegt, an denen die auf den Klappen liegenden Schienen mit den festen Geleisen zusammenstoßen. Vom Steuerhaus der Brücke aus werden durch ein Hebelwerk sehr kräftige, keilförmige Laschen an beiden Enden der niedergelegten Brücke gegen die zusammenstoßenden Schienenenden gepreßt. Selbstverständlich sind die Signale vor der Brücke so eingerichtet, daß sie nur dann auf Fahrt Frei gezogen werden können, wenn die Brücke geschlossen und fest verriegelt ist.
In Schweden ist eine sehr große Klappbrücke anderer Form von einer deutschen Firma erbaut worden. Sie führt über den Trollhätta-Kanal. Man hat hier besonderen Wert auf rasche und leichte Beweglichkeit der Brückenbahn gelegt, da sowohl Wasserlauf wie Eisenbahn lebhaften Verkehr haben. Es ist darum am Ende der Klappe ein Gegengewicht angebracht, das der Brücke die Form einer Wippe gibt. Das Gegengewicht bildet mit den Brückenbalken ein verschiebliches Parallelogramm. Die Gewichte sind so ausgeglichen, daß bei jeder Bewegung immer nur der Reibungswiderstand zu überwinden ist. Dadurch wird bei dem hier notwendigen, sehr häufigen Öffnen der schweren Brücke sehr viel an Betriebskosten gespart, und die Bewegung vollzieht sich rasch. Diese Wippbrücke hat eine Länge von 42 Metern. Die Firma Gollnow & Sohn[149] in Stettin hat sie in den Jahren 1914-16 trotz aller Schwierigkeiten, die der Krieg verursachte, rechtzeitig fertiggestellt.
Ein ganz besonders eindrucksvolles Werk deutscher Brückenbaukunst im Ausland ist die Eisenbahnbrücke auf der Strecke Amsterdam-Zaandam, die über den vom Amsterdamer Hafen zur Nordsee laufenden großen Seekanal führt. Die Unterkante der Brücke liegt zwölf Meter über dem Wasserspiegel, so daß kleine Dampfer ohne weiteres hindurchfahren können. Das Öffnen erfolgt durch Drehen des 128 Meter langen Mittelteils. Er ist 150 000 Kilogramm schwer, kann aber trotzdem in einer Minute um 90 Grad gedreht werden.
Den Antrieb besorgen Elektromotoren, die sich über dem gewaltigen, einem Turm gleichen Mittelpfeiler befinden. Ein Zahngetriebe greift zum Hervorrufen der Bewegung in einen Zahnkranz ein. Die Drehbrücke ruht nicht auf einem Spurlager, sondern sie steht auf 48 Stahlrollen, die in einem kreisförmigen Rahmen gelagert sind. Diese größte Drehbrücke auf dem europäischen Festland ist von der Firma August Klönne in Dortmund hergestellt worden.
Wer Amsterdam besucht, wird von seinen Freunden stets auch zu dieser Sehenswürdigkeit geführt, obgleich sie recht weit von der Stadt abliegt. Es gibt in der Tat wenige Brücken in Europa, die einen so mächtigen Eindruck machen wie diese ungeheure, um den Kopf eines Turms sich drehende eiserne Fahrbahn.
Die vollspurigen Eisenbahnen Deutschlands besaßen zwar schon im Jahre 1910 639 Tunnel, aber es befindet sich kein einziges Bauwerk darunter, das im Vergleich zu den großen Alpendurchstichen irgendwie bemerkenswert genannt werden könnte.
Der längste deutsche Tunnel ist der, mit welchem die Moselbahn das Randgebirge des Flusses, den sie sonst treu begleitet, bei Kochem durchstößt. Das Bauwerk ist 4200 Meter lang und hat die Aufgabe, einen Bogen von 22 Kilometern, den die Mosel an dieser Stelle bildet, geradlinig abzuschneiden. Vom Eingang bis zum Ausgang des Kochemer Tunnels fährt die Eisenbahn sechs Minuten; das Dampfschiff braucht für die gleiche Strecke stromab 11⁄2, stromauf 21⁄2 Stunden. Da die Rauchgase aus diesem Tunnel sehr schlecht abziehen, befindet sich an seinem Eingang eine große, durch Maschinen betriebene Lüftungsanlage.
Der zweitgrößte Felsdurchstich in Deutschland ist der neue Tunnel unter dem Diestelrasen, der seit wenigen Jahren die Spitzkehre von Elm abschneidet. Der Begriff der Spitzkehre wird alsbald näher erörtert werden. Unter der Brandleite bei dem bekannten Thüringer Badeort Oberhof liegt der drittgrößte Tunnel Deutschlands; er ist 3030 Meter lang. Alle übrigen sind weit kürzer.
Die Anlagen aber, mit deren Hilfe die Eisenbahn große vorgelagerte Gebirge überschreitet, gehören zu den großartigsten Werken, die jemals von Menschenhand ausgeführt worden sind. Auch in Europa sind zur Überschienung der Alpen, die sich in der Schweiz, in einem Teil von Österreich und beim Vordringen nach Italien der Eisenbahn entgegenstellen, viele gewaltige Tunnelanlagen mit großartigen Zufahrtsstraßen hergestellt worden, deren Errichtung die höchste Kunst der Ingenieure erfordert hat. Der deutsche Boden hat keinen Anteil an diesen Leistungen, wohl aber der deutsche Geist, da es zu einem großen Teil Baumeister deutscher Abstammung gewesen sind, welche diese wahrhaft erhabenen Werke erdacht und ausgeführt haben.
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Noch weniger als im flachen Land kann die Eisenbahn im Gebirge den kürzesten Weg wählen. Hat sie doch hier fortwährend große Höhenunterschiede zu überwinden, wobei eine gewisse Weglänge niemals unterschritten werden darf, damit die Steigungen in zulässigen Größen bleiben. Geht es allzu steil aufwärts, so versagt die einfache Reibungsbahn, und man muß zur Anwendung des Zahnrads übergehen. Bei Benutzung dieser Vorrichtung aber können die Strecken nur mit so geringer Geschwindigkeit befahren werden, daß ein großer durchgehender Verkehr darauf nicht mehr zu bewältigen ist. Zur Herbeiführung schneller Beförderung zieht man daher vor, den Gebirgsbahnen künstliche Längenentwicklungen zu geben. Wenn diese auch große Umwege in sich schließen, so kommt man doch immer noch schneller von Punkt zu Punkt, als auf der kürzeren Strecke mit Zahneinrichtung.
Die einfachste Form der künstlichen Längenentwicklung, zugleich aber die am wenigsten vorteilhafte, ist die Spitzkehre. Ein jeder kennt sie von den Gebirgsstraßen her, wo sie in der Form der sogenannten Schlangenwege auftritt. Damit der Wanderer nicht allzu scharf emporzusteigen braucht, wird die Straße nicht geradlinig an der Berglehne hinaufgeführt, sondern sie zieht im Zickzack dahin, weicht bald weit nach rechts, bald weit nach links aus, um sich in spitzem Winkel stets wieder zurückzuwenden, damit für das Emporklimmen eine größere Zahl von Schritten gemacht werden kann, bei jedem einzelnen also nur eine geringere Hebung des Körpers notwendig ist.
Auf diese Weise vermag auch die Eisenbahn an einem steilen Hang hinaufzuklettern. Freilich kann der Zug an dem spitzen Ende des Umwegs nicht ohne weiteres umkehren, wie das der Fußgänger vermag. Beim Befahren von Spitzkehren muß der Zug vielmehr bald vorwärts, bald rückwärts laufen, indem er jedesmal auf dem Weg zwischen zwei Spitzen etwas in die Höhe steigt. Es ist also notwendig, bei jeder Spitze anzuhalten[152] und die Lokomotive an das andere Ende des Zugs zu bringen. Hierdurch wird ein absatzweises, also sehr langsames Fahren bedingt.
Von einer solchen Spitzkehren-Anlage macht die Bahn, welche aus der indischen Ebene zu dem berühmten Badeort Darjeeling im Himalaya emporführt, einen reichen Gebrauch. Auch in Deutschland sind auf Bahnstrecken mehrmals Spitzkehren vorhanden. Die Harzbahn Blankenburg-Tanne besitzt eine solche auf ihrem Bahnhof Bast-Michaelstein, und ferner waren zwei Spitzkehren bis vor kurzem auch in die große Schnellzugstrecke Berlin-Bebra-Frankfurt a. M. bei Bebra und in der Nähe des bereits erwähnten Bahnhofs Elm eingeschaltet. Sie liegen heute beide in Nebenstrecken.
Die Bahn hat bei Elm die Wasserscheide zwischen dem Main und der Weser zu übersteigen. Um die Kosten möglichst gering zu halten, suchte man bei der Anlage der Strecke über die Höhe von 318 Metern dadurch hinwegzukommen, daß man die Bahn vom Bahnhof[153] Schlüchtern aus, gleichlaufend mit dem Höhenrücken in einem langen Umweg nach Elm führte, dort die Zugrichtung umkehrte und wieder an dem Höhenrücken, aber auf dessen anderer Seite, entlang zurückfuhr, bis bei Flieden die eigentliche Fahrtrichtung von neuem erreicht war. Die Entwicklung der Strecke Berlin-Bebra-Frankfurt a. M. zu einer der wichtigsten Durchgangslinien ließ jedoch diese zeitraubende Höhenüberwindung so lästig erscheinen, daß man sich vor einigen Jahren entschloß, statt der weit ausbiegenden Spitzkehre einen Tunnel zwischen Schlüchtern und Flieden durch den Diestelrasen-Berg anzulegen. Infolge dieser Neuanlage ist der Weg jetzt um 6,8 Kilometer abgekürzt und die Steigung um 36 Meter vermindert. Jeder Schnellzug gewinnt dadurch 15 Minuten, eine Zeitersparnis, durch welche allein die sehr bedeutenden Ausgaben für den Bau des Diestelrasentunnels wohl gerechtfertigt wären, wenn sich nicht auch noch weitere Vorteile ergäben.
Bei den Alpenüberquerungen läßt sich auch auf den ganz großen, durchgehenden Strecken die Anlage von Kehren nicht vermeiden. Man verbessert sie aber dadurch, daß man an der Stelle, wo die Fahrtrichtung umkehrt, nicht eine Spitze anordnet, sondern einen sanften Bogen, den der Zug durchfährt, ohne anzuhalten, und ohne daß die Maschine umgesetzt zu werden braucht. Es entsteht auf einer solchen Rundkehre also kein größerer Zeitverlust als er von der unvermeidlichen Durchfahrung des Umwegs erheischt wird. Man legt, wenn es irgend möglich ist, solche Rundkehren oder Schleifen in Seitentäler, weil bei solcher Anordnung die geringste Zahl von Kunstbauten notwendig ist.
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Bild 105 stellt eine solche Seitentalschleife dar. Beim geradlinigen Durchfahren der Strecke zwischen den Höhenlagen +100 und +170 Meter würde die Bahn eine unzulässige Steigung zu überwinden haben; daher läßt man sie einen Umweg durch das Seitental machen, das gerade günstig zur Hand liegt. Hier klettert sie an der Berglehne der einen Talseite langsam empor, kehrt, immer steigend, am Ende des Tals in einem Bogen um und klettert langsam weiter, bis die Höhenlage +170 Meter erreicht ist. Ein schönes Beispiel einer solchen Seitental-Ausfahrung findet sich auf der Bahn über den Semmering, wo die Bahnhöfe Gloggnitz und Eichberg in der Luftlinie nahe beieinander liegen, der eine sich jedoch 171 Meter über dem anderen befindet. Dieser große Höhenunterschied wird durch eine weit ausholende Schleife im Seitental über Payerbach erstiegen.
Auch die Strecke über den Brennerpaß besitzt eine Anlage dieser Art. Hier zeigt die Eisenbahn einmal, daß sie schwerfälliger ist als die Landstraße. Zu Fuß gelangt man von Schellenberg nach Gossensaß weit schneller als im Abteil des D-Wagens. Die Landstraße steigt zwischen den in der Luftlinie nur 1100 Meter voneinander entfernten Orten ziemlich geradlinig hinunter. Die Bahn aber muß sich, um 176 Meter tief in das Tal der Eisack zu gelangen, seitlich weit in das Pflerschtal hineinwenden, da ihr die unmittelbare Überwindung[156] einer Neigung von 1 : 6 versagt ist. Sieben Kilometer werden hier — vom reinen Verkehrsstandpunkt betrachtet — unnötig durchfahren, aber nun beträgt die größte Neigung auf der ganzen Strecke nur 1 : 45.
Seitentäler sind jedoch nicht immer zur Verfügung. Alsdann muß die künstliche Längenentwicklung in dem von der Bahn benutzten Haupttal selbst stattfinden. Dies gibt Anlaß zu den großartigsten und überraschendsten Bauten, insbesondere dann, wenn doch eine Seitenentwicklung durch die höchst merkwürdige Anlage von Kehrtunneln gewaltsam ermöglicht wird.
In diesen Bauarten hat die Bahn über den St. Gotthard zum erstenmal besonders Hervorragendes geleistet.
In der Nähe des Pfaffensprungs steigt das hier sehr schmale, beiderseits von ragenden Felsen eingeschlossene Tal der Reuß weit rascher auf, als daß die Bahn der Talhebung ohne weiteres zu folgen vermöchte. Es ist hier auch keine Gelegenheit, irgendwohin ohne weiteres auszubiegen, und so mußte eine Seitenausladung dadurch erzwungen werden, daß man in den Berg selbst einen eigenartig geformten Tunnel hineintrieb, der nun also die ansteigende Seitentalschleife zu ersetzen hat. In dem rückkehrenden Tunnel muß daher eine allmähliche Hebung der Bahn stattfinden, so daß dieser die Form einer Schraubenlinie mit Einer Windung erhält. Bei der Einfahrt in den Pfaffensprung-Berg liegt die Bahn 774 Meter hoch, bei der Ausfahrt hat sie 809 Meter erreicht, so daß sie im Berg um 35 Meter gestiegen ist.
Solcher großen Kehrtunnel, in denen die Bahn steigend ihre Fahrtrichtung einmal umkehrt, besitzt die Gotthardbahn jenseits des großen Scheiteltunnels noch vier, von denen die zwei in der Biaschina-Schlucht liegenden einander fast berühren. Dies schon ist ein besonders deutliches Zeichen dafür, welche außerordentlichen Umwege einer Gebirgsbahn mit gewöhnlichem Anhaftungsgleis zugemutet werden dürfen, ohne daß dessen Vorteile gegenüber dem Zahngleis verloren gehen.
Der größte Umweg, den die Gotthardstrecke macht, befindet sich jedoch bei dem Ort Wasen, bald hinter dem Pfaffensprung. Hier sind die nicht ganz geschlossenen Kehrtunnelschlingen als Enden zweier langer Schleifen in dem breiten Haupttal ausgebildet. In drei Stockwerken liegen die Bahnabschnitte in kühnstem Bau übereinander. Da die Umkehr der Fahrtrichtung an den Enden der beiden Schleifen in verdeckten Kehren, nämlich im Wattinger und Leggistein-Tunnel stattfindet, so daß sie mit dem Auge nicht verfolgt werden kann, vermag der Reisende, der keine Karte zur Hand hat, sich keine Vorstellung von dem Weg der Bahn zu machen. Welche Verwirrung die dreimalige Rückkehr zu dem gleichen Punkt in manchem Kopf anzustiften vermag, zeigt eine bekannte Anekdote, deren Schauplatz die Wasener Schleifenstrecke ist.
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Ein Reisender, der des Landes unkundig ist, fährt zusammen mit einem Schweizer in einem Abteil des Gotthardzugs. Nachdem der Pfaffensprung-Kehrtunnel verlassen ist, fragt der Reisende den Schweizer, indem er zum rechtsliegenden Fenster hinausdeutet. „Was ist das für ein Bauwerk da oben?“ — „Das ist die Kirche von Wasen,“ lautet die Antwort. Es vergeht etwa eine Viertelstunde, und der Fremde sieht ein Gebäude dicht neben sich. „Und was ist dies?“[158] fragt er wieder. „Das ist die Kirche von Wasen,“ sagt der Schweizer. Der Fremde glaubt nicht recht gehört zu haben, denn dieselbe Antwort hatte er ja schon vor einer Viertelstunde erhalten, und damals lag die Kirche hoch über der Bahn. Stumm blickt er weiter hinaus, bis er plötzlich wiederum einen Turm weit unter sich, und zwar auf der linken Seite, erblickt. „Und diese Kirche dort, wie heißt sie?“ spricht er den Mitreisenden von neuem an. „Das ist die Kirche von Wasen,“ lautet die Antwort. Nun aber wird der Reisende wütend, er blickt den Schweizer zornig an, weil er glaubt, daß dieser ihn zum Narren halten wolle, und richtet während der ganzen Zeit, in der sie noch zusammen im Abteil sitzen, kein Wort mehr an ihn.
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In der Wasener Doppelschleife, deren Anfangs- und Endpunkte in der Geraden nur drei Kilometer voneinander entfernt sind, steigt die Bahn um 256 Meter.
Der Zweck all dieser Kehren und Schleifen ist die Erreichung des eigentlichen Gebirgsdurchbruchs, des großen, meist ganz gerade durch die Gebirgsmasse hindurchführenden Tunnels. Man muß diese Bauten notgedrungen in eine gewisse Höhe legen, da sie näher am Fuß des Gebirges zu lang werden würden und auch der Druck des übergelagerten Gebirges beim Bau kaum zu bewältigen wäre. Bis zu welcher Höhe man jedesmal hinaufgehen soll, ist Sache oft sehr langer und beschwerlicher Erwägungen. Die großen Gebirgstunnel liegen denn auch in sehr verschiedenen Höhen.
Am höchsten von allen Bahnlinien klettert die Peruanische Zentralbahn Callao-Lima-Oroya hinauf. Der Galera-Tunnel, in dem sie die südamerikanischen Anden durchfährt, liegt 4774 Meter über dem Meeresspiegel. Das ist fast die Höhe des Mont Blanc, dessen Gipfel 4810 Meter emporragt. Man vermag in Peru die Geleise so hoch hinaufzuführen, weil dort, nicht allzuweit vom Äquator, die Grenze des ewigen Schnees in einer Höhe von 5000 Metern liegt, während die Alpen schon von 2800 Metern ab vereist sind.
Eine Fahrt mit der Peruanischen Andenbahn wird als ein besonderer Naturgenuß gerühmt. Es ist jedoch keine reine Freude, die man hierbei genießt. Denn schon in einer Höhe von 4000 Metern beginnt die Bergkrankheit sich bemerkbar zu machen. Die Eisenbahn klettert trotz aller Umwege viel zu schnell empor, als daß der menschliche Körper Zeit hätte, sich langsam an den verminderten Luftdruck zu gewöhnen. So stellen sich denn, ehe noch der Galera-Tunnel erreicht ist, bei den meisten Reisenden Atemnot, Herzklopfen und eine sehr unangenehme Mattigkeit in den Gliedern ein. Wenn der Zug in Oroya angelangt ist, füllt sich das dortige Hotel meist rasch mit Kranken, die einige Stunden brauchen, um sich wieder zu erholen. So nehmen die Gewalten, welche das heutige Antlitz der Erde schufen, dem Menschen einen großen Teil des Genusses wieder fort, den der Anblick der ungeheuren Gebirgsbildungen ihm zu gewähren vermag.
Die höchste Lage von allen Eisenbahnen in Europa — abgesehen von den eigentlichen Bergstrecken — erreicht die Brennerbahn mit 1367 Metern über dem Meeresspiegel. Über den Brenner läuft der älteste Verkehrsweg zwischen Nordeuropa und Italien, weil hier die tiefste Alpeneinsattelung liegt. Aus demselben Grund wurde an dieser Stelle auch der erste Schienenweg über das gewaltige Gebirge gelegt. Die Brennerbahn ist die einzige von allen Alpenüberschienungen, die keinen großen Durchbruchstunnel besitzt. Die Paßhöhe wird vielmehr in einem offenen Einschnitt überschritten. Dies bedeutet einen großen Vorzug der Brennerbahn, sowohl was die Baukosten, als was die Annehmlichkeiten für die Reisenden bedeutet. Die Vermeidung eines Tunnelbaus ist jedoch nur möglich, wenn die Schienenoberkante, wie hier, nicht tiefer als 15 Meter unter den Bergrücken gelegt werden muß. Von da ab würde die Herstellung eines Einschnitts zu teuer werden.
Die weltberühmten großen Alpendurchstiche haben folgende Höhenlagen:
Arlberg (Schweiz-Österreich) | 1320 | Meter |
Mont Cenis (Schweiz-Frankreich) | 1294 | Meter |
Lötschberg (Nordwest-Schweiz-Italien) | 1245 | Meter |
Gotthard (Nordost-Schweiz-Italien) | 1154 | Meter |
Simplon (Südwest-Schweiz-Italien) | 704 | Meter. |
Durch diese gewaltigen Bauten hat die Schweiz ihr Land an die großen zwischenstaatlichen Verkehrswege angeschlossen.
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In diesem Zusammenhang muß noch der Bahn über den Semmering besondere Erwähnung getan werden, da sie in den Jahren 1848-1854 als erste große Gebirgsbahn des europäischen Festlands erbaut wurde. Sie dient der Verbindung zwischen Wien und dem großen Adriahafen Triest. Alle Gebirgsbahnbauer auf der Erde haben aus dieser Anlage gelernt; was hier geschaffen war, wurde unmittelbar zum Vorbild für die Überschienung des Schwarzwalds und alsdann der Alpen.
Infolge ihrer verschiedenen Höhenlagen haben die großen Alpentunnel auch verschiedene Längen. Außer beim Mont Cenis-Durchstich wächst die Länge mit abnehmender Höhenlage. Die Längen betragen in abgerundeten Zahlen:
beim Arlberg-Tunnel | 10 | Kilometer |
beim Mont Cenis-Tunnel | 12 | Kilometer |
beim Lötschberg-Tunnel | 14 | Kilometer |
beim Gotthard-Tunnel | 15 | Kilometer |
beim Simplon-Tunnel | 20 | Kilometer. |
Dieser letzte ist der bei weitem längste Tunnel auf der Erde.
Der Bau eines Tunnels wird stets mit einem sogenannten Richtstollen begonnen. Es ist dies ein schmaler, niedriger Durchbruch in der gewählten Richtung, der nur gerade so viel Raum bietet, daß man darin arbeiten und das geförderte Gestein hinausschaffen kann. Vom Richtstollen aus wird dann die Ausweitung nach allen Seiten hin vorgenommen. Der endgültige Querschnitt muß so groß sein, daß jederzeit, ohne Beeinträchtigung[161] des Bahnverkehrs, ein Gerüst für Ausbesserungsarbeiten im Tunnel aufgeschlagen werden kann.
Der Bau wird, damit man nicht allzuviel Zeit aufzuwenden braucht, stets von beiden Seiten zugleich begonnen. Dies setzt eine allergenaueste Feststellung der Richtung voraus, da die beiden Stollen ja in der Mitte zusammentreffen müssen. Mit Recht ist diese Richtungs-Festlegung eine der am meisten bewunderten Leistungen menschlichen Geistes. Ihre Grundlagen seien ganz kurz angegeben.
Die beiden Tunneltore liegen bei den großen Bauten stets so, daß man von dem einen aus weder das andere, noch irgendeinen Punkt von dessen Umgebung wahrzunehmen vermag. Man kann auch nicht eine Vermessungslinie über den Bergrücken legen und von dort etwa Bohrlöcher hinuntertreiben, da deren Länge viel zu groß werden würde und furchtbare Abgründe, sowie die Vergletscherung das Betreten des zwischenliegenden Bergrückens an vielen Stellen unmöglich machen. Es muß daher eine mittelbare Verbindung hergestellt werden. Deren Ziel ist, auf beiden Seiten den Winkel festzulegen, den die gewählte Tunnelrichtung mit je einer bekannten Linie im Gelände bilden muß.
Wir wollen, um ein Beispiel zu geben, annehmen, daß aus der nächsten Umgebung des Punkts, an dem das eine Tunneltor errichtet werden soll, eine Landstraße mit vielen Windungen in die Nähe des andren Tors hinüberführt, wie das auf Bild 110 der Fall ist. Man kann alsdann diese Landstraße genau abmessen, die Länge jeder gradlinigen Erstreckung festlegen und mit Hilfe der trigonometrischen Hilfsmittel auch ganz genau den Winkel bestimmen, den jede geänderte Richtung zu der vorhergehenden bildet. Nach Beendigung dieser Arbeit ist man imstande, die Landstraße mit vollkommener Genauigkeit in eine Karte einzuzeichnen. Verbindet man nun die beiden Anfangspunkte des Tunnels durch eine gerade Linie und verlängert diese so weit nach beiden Seiten, bis sie die eingezeichnete Landstraße schneidet, so kann man auf der Karte den Winkel abmessen, den die Tunnelachse zu den geschnittenen Landstraßenstücken diesseits und jenseits[162] bilden muß. Damit liegt die Richtung genau fest, und es kommt jetzt nur darauf an, sie auch im Gelände abzustecken und beim Bau aufs genaueste innezuhalten.
Zu diesem Zweck wird zunächst auf jeder Seite der von der Karte entnommene Winkel zwischen dem letzten Straßenstück und der Tunnelachse abgemessen, und es werden zwei starke Pfosten in der genauen Tunnelrichtung in die Erde gesetzt. Auf ihnen werden die Richtungs-Festpunkte angebracht. Alsdann wird hinter dem ersten Pfosten ein Fernrohr aufgestellt, in dem ein senkrechter und ein wagerechter Faden, das Fadenkreuz, so angebracht sind, daß sie einander genau in der Mittelachse des Fernrohrs kreuzen. Man richtet das Fernrohr so, daß seine Mittelachse genau in der Richtung der Verbindungslinie liegt, die von dem Festpunkt des ersten Pfostens zum zweiten führt.
Wenn man nun an der Bergwand eine kleine Lampe derartig aufhängt, daß sie beim Schauen durch das so eingestellte Fernrohr gerade im Kreuzungspunkt der beiden Fäden erscheint, dann ist damit der Anfang der Tunnelachse bestimmt. Sobald der Richtstollen ein kleines Stückchen vorgetrieben ist, läßt man von der Decke wiederum ein Lämpchen hinunterhängen und verschiebt es so lange, bis der durch das Fernrohr Blickende es in gerader Linie hinter den beiden Pfostenmarken und der ersten Lampe liegen sieht. So wird allmählich Lampe hinter Lampe gehängt, neue mit vollkommenster Genauigkeit festgelegte Pfostenmarken werden auch im Tunnel in gewissen Abständen immer wieder geschaffen, und auf diese Weise ist man imstande, von beiden Seiten aus die Achsrichtung innezuhalten.
Die Genauigkeit der Richtungshaltung hängt natürlich von der Vollkommenheit der verwendeten Winkelmessungswerkzeuge ab. Bei dem vor kurzem von der deutschen Firma Julius Berger in der Schweiz gebauten neuen Hauenstein-Tunnel, der 8200 Meter lang ist, betrug beim Durchschlag die Achsabweichung der beiden Bauseiten nicht mehr als zwei Zentimeter; selbst bei dem 20 Kilometer langen Simplontunnel waren es nur 20 Zentimeter. Der Meßtechnik kann kein glänzenderes Zeugnis ausgestellt werden als durch diese eindrucksvollen Tatsachen.
Der Tunnel muß so gebaut werden, daß seine Sohle von beiden Seiten her gegen die Mitte etwas ansteigt, damit das Wasser, sowohl zugeführtes wie auch angeschlagenes Gebirgswasser, abfließen kann. Für die Heranschaffung von Frischluft zur Lüftung und Kühlung muß während der ganzen Bauzeit in lebhaftester Weise Sorge getragen werden. Sobald der Durchschlag erfolgt ist, pflegen sich die Tunnel, insbesondere durch die Mithilfe der fahrenden Züge, selbst zu lüften, da zwischen den beiden Toren gewöhnlich ein starker Unterschied des Luftdrucks besteht. Wenn die Selbstlüftung nicht ausreicht, müssen, wie beim Kochemer Tunnel und auch auf dem Gotthard, künstliche Luftzuführungs-Einrichtungen geschaffen werden.
Die Tunnelbaukunst ist in den letzten Jahrzehnten lebhaft vervollkommnet worden. Früher mußte man die zur Aufnahme des Sprengstoffs dienenden Bohrlöcher mit der Hand herstellen. Ein Arbeiter drehte den Bohrer, eine mit stählerner Spitze versehene Eisenstange, während ein anderer daraufschlug. Sehr viel geschwinder arbeiten natürlich Bohrmaschinen, von denen die ersten beim Mont Cenis-Tunnel verwendet wurden. Heute besitzt man vorzügliche Einrichtungen dieser Art, die durch Preßwasser, Druckluft oder Elektrizität betrieben werden können. Auch die Maschinenbohrer arbeiten sämtlich so, daß die Bohrstange zugleich gestoßen und gedreht wird. Man vermag heute mehrere Löcher zu gleicher Zeit herzustellen, und da auch die Wirkung der Sprengstoffs bedeutend vervollkommnet ist, wodurch man mit einer immer geringeren Zahl von Löchern auskommen[163] kann, so vollziehen sich die Tunnelbauten immer rascher. Beim Gotthard-Tunnel vermochte man in den günstigsten Monaten nur um je 111 Meter vorwärts zu kommen, beim Arlberg-Tunnel brachte man es schon auf 166 Meter im Monat, und der Simplon-Tunnel wurde in der gleichen Zeit um je 270 Meter vorgetrieben.
Noch deutlicher sprechen die folgenden Zahlen. Für die Herstellung des im Jahre 1880 durchgeschlagenen, 15 Kilometer langen Gotthard-Tunnels brauchte man 8 Jahre, für den 1871 vollendeten, um 3 Kilometer kürzeren Mont Cenis-Tunnel sind 13 Jahre Bauzeit notwendig gewesen. Der 20 Kilometer lange Simplon-Tunnel ist von der Hamburger Firma Brandt, Brandau & Co. trotz vieler unerwarteter Hindernisse in nur 61⁄2 Jahren hergestellt worden. Die Gesamtkosten betrugen 78 Millionen Franken.
Welche Schwierigkeiten bei der Führung eines Tunnels durch eine gewaltige Gebirgsmasse zu überwinden sind, welch furchtbare Kämpfe der Mensch hierbei mit den unterirdischen Gewalten auszufechten hat, die ihm immer neue Hindernisse in den Weg stellen, zeigt am besten eine Schilderung vom Bau des Simplon-Tunnels, den die schweizerischen Bundesbahnen veröffentlicht haben:
„Bald erhöhte der Berg die Wärme im Innern zu unerträglicher Hitze, bald schob[164] er heimtückisch weiches, bröckelndes Gestein in die zu erbohrende Bahn, bald suchte er mit lastender Masse das Gewölbe einzudrücken, und bald ließ er wieder aus seinem Schoß mächtige kalte und warme Quellen, wahre Bergbäche, in die mühsam gebauten Stollen einbrechen, Vernichtung und Untergang drohend.
„Bis zum November 1903 sollte nach der ursprünglichen Berechnung der Tunnel erbohrt sein. Nach den Fortschritten der ersten Zeit glaubte man den Durchschlag noch früher ermöglichen zu können. Als man jedoch auf der Nordseite beim sechsten Kilometer angelangt war, stieg plötzlich die Gesteinswärme in erschreckender und ganz ungeahnter Weise. Für den siebenten Kilometer hatte man auf 36-37 Grad gerechnet; statt dessen fand man aber 45-56 Grad; 500 Meter weiter waren es bereits 53 Grad, und immer noch schien die Hitze sich steigern zu wollen. Die bloße Zuführung kalter Luft genügte nicht mehr, um die weiteren Bohrarbeiten zu ermöglichen; es mußten besondere Vorrichtungen aufgestellt werden, die durch mächtige Sprühregen von eisigkaltem Wasser die Luft vor Ort so weit abkühlten, daß die Arbeit wieder aufgenommen und fortgesetzt werden konnte.
„War es im Nordstollen die Hitze, so waren es im Süden das nachdrückende Gestein und die gewaltigen Wassereinbrüche, welche die Arbeiten fast völlig zum Stillstand brachten. Der Druck des Bergs war ungeheuer; er zersplitterte die stärksten eingebauten Holzstämme und verbog mächtige Eisenbalken. Erst durch den Einbau gewaltiger Zementblöcke und stärkster Eisenträger gelang es, der fürchterlich lastenden Wucht dauernden Widerstand zu leisten. Die einbrechenden kalten und warmen Quellen, die den Tunnel überschwemmten, mußten mit unendlicher Mühe gefaßt und abgeleitet werden. Durch die Spalten des Gesteins rinnen jetzt ungefähr 1000 Sekundenliter ins Gewölbe und durch den Parallelstollen ins Freie.
„Das Maximum des Arbeiterstands zeigte die Ziffer von 4000 Mann. Weit über eine Million Kubikmeter Ausbruchsmaterial mußte aus dem Berginnern ins Freie geschafft werden. Zu den Sprengungen wurden etwa 1350 Tonnen Dynamit verwendet; dazu kamen etwa 4 Millionen Sprengkapseln und ungefähr 5300 Kilometer Zündschnüre. Die Anzahl der erforderlichen Bohrlöcher betrug rund 4 Millionen.“
Der stärkste der Wassereinbrüche, der plötzlich einsetzte, begrub eine Anzahl von Arbeitern im nachstürzenden Gestein. An der Stelle, wo sie gestorben sind, liegen sie noch heute im steinernen Ehrengrab, über dem sich als das mächtigste aller Denkmäler die gewaltige Masse des Simplon hoch emporwölbt.
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Tack! Tack! Tack! machen die Räder unseres nach Halle fahrenden Schnellzugs.
Es ist ein eintöniges, in gleichen Abständen immer wiederkehrendes Geräusch, das seltsam einschläfernd auf die Nerven wirkt. Die Gleichmäßigkeit dieses ewig klingenden Tons weckt die Erinnerung an manche gern gehörte Weise; während der auf seinen Federn sich schaukelnde Wagen uns langsam einwiegt, scheint es einem jeden, als sängen die Räder sein Lieblingslied.
Der Zug fliegt über den blanken, stählernen Pfad, über die Schienen, wie man einfach sagt. Nichts scheint leichter als die Ausstreckung der vier silberigen Stränge vor der Maschine. Und doch ist die Arbeit von vielen Geschlechtern, die angestrengte Tätigkeit unzähliger Geister notwendig gewesen, um nur den heutigen Zustand zu erreichen, der von Vollkommenheit noch weit entfernt ist.
Die Unterlage für die Fahrbahn haben wir bereits besprochen. Es bleibt uns übrig, Bettung, Schwellen, Schienen und das zugehörige Kleineisenzeug in den Arten und Formen, wie sie heutzutage angewendet werden, erst im einzelnen, dann in ihrem Zusammenhang, also den Oberbau zu betrachten. Es ist ein weites Feld, wie Effi Briests Vater in Fontanes Roman zu sagen pflegt.
Wir wissen aus Abschnitt 5, daß es die Aufgabe der Bettung ist, für die Schwellen einen Lagerbezirk zu schaffen, in dem diese fest und möglichst trocken liegen. Der Bettungsstoff muß daher Wasser sehr leicht durchlassen und doch fest genug sein, um die sehr großen Kräfte, die von oben und von den Seiten her gegen die Schienen und Schwellen wirken, aufnehmen und über eine weite Fläche verteilen zu können. Außerdem muß die Form der einzelnen Bettungsstücke so beschaffen sein, daß man sie leicht unter die Schwellen schlagen kann, um deren durch den Betrieb immer wieder bewirkte Senkung auszugleichen.
Die deutschen Bahnen sind entweder in Kies oder in Steinschlag verlegt. Die tiefste Lage der Bettung auf dem Unterbau, die nur zu tragen, aber keine seitlichen Kräfte aufzunehmen hat, wird auch öfter aus gut zusammengesetzten, größeren Steinen, der sogenannten Packlage, gebildet. Der Steinschlag besteht bei uns zumeist aus Basalt, Porphyr, Quarzit oder Grauwacke und zwar in Form von scharfkantigen kleinen Stücken mit einer Seitenlänge von drei bis vier Zentimetern.
Die Längsschwellen, mit denen der Eisenbahnoberbau einst begann, sind heute als überlebt zu betrachten. Der Querschwellenbau herrscht vor. Er wird aus hölzernen oder eisernen Stücken zusammengesetzt, neuerdings hat man auch Versuche mit Schwellen aus Beton mit Eiseneinlage gemacht. Auch die Schwellenschiene, das heißt eine Schiene mit sehr breit ausladendem Fuß, der die Schwelle ersetzt, kommt vor, jedoch nur selten und meist in Nebengeleisen.
Die Bevorzugung des Querschwellengleises ist leicht begreiflich durch die großen Vorteile, die es bietet: die sichere Festhaltung der Spur ohne besondere Vorkehrungen und die leichte Möglichkeit des Erneuerns einzelner Stücke. Bei dieser Bauart kann man auch in einfacher Weise eine Verstärkung der Tragfähigkeit des Gleises bewirken, da man in solchem Fall nur nötig hat, die Zahl der Schwellen für die Längeneinheit zu erhöhen.
[166]
Auf den preußischen Bahnen, deren Verhältnisse auch hier wieder als Beispiel herangezogen werden sollen, ist der Querschnitt der Schwellen stets ein Rechteck, meist mit abgeschrägten Kanten an der oberen Fläche. Bei den Holzschwellen, die wir nun zunächst betrachten, entstehen diese sogenannten Waldkanten, die man aus Gründen der Holzersparung zuläßt, meist von selbst; sie ergeben sich für viele Schwellen durch die Art, wie diese aus dem vollen Baumstamm herausgeschnitten werden. Die beiden Schwellen oben und unten auf Bild 112 können keinen voll rechteckigen Querschnitt mehr erhalten.
Die üblichen Abmessungen für die Schwellen sind: Breite 26 Zentimeter, Höhe 16 Zentimeter, Länge 2,70 Meter. Eine Bearbeitung der Oberfläche findet heute für gewöhnlich nicht mehr statt, da die seitliche Neigung der Schienen durch Zwischenlegen von Unterlagsplatten hergestellt wird. Die Löcher, welche später die Befestigungsmittel für die Schienen, Nägel oder Schrauben, aufzunehmen haben, werden vor dem Verlegen auf einer Seite vorgebohrt, auf der anderen Seite geschieht das Bohren erst während des Auslegens, damit man imstande ist, die häufig vorkommenden, kleinen Abweichungen von der Regelspur auszuführen.
Bei uns werden in der Hauptsache Eiche, Buche, Fichte, Tanne und Kiefer, diese letzte in größter Zahl, zu Schwellen verarbeitet. Unter ihnen ist seltsamerweise das Buchenholz, obgleich es zu den sonst besonders widerstandsfähigen Harthölzern gehört, am leichtesten vergänglich. Die Buchenschwellen faulen so rasch, daß sie ohne die Anwendung besonderer Erhaltungsverfahren gar nicht verwendet werden können. Da es durch dieses Verfahren gelungen ist, auch die Weichhölzer sehr haltbar zu machen, so geht der Verbrauch der teuren Eiche allmählich immer weiter zurück. In neuerer Zeit wird die Brauchbarkeit der Weichholzschwellen auch dadurch erhöht, daß man die Nägel und Schrauben nicht mehr unmittelbar in ihren Körper einsetzt, sondern an den in Betracht kommenden Stellen zunächst sehr starke, in der Mitte durchbohrte Bolzen aus Hartholz einschraubt. Diese Dübel erst nehmen die eisernen Befestigungsmittel auf.
Die Holzschwellen verderben im natürlichen Zustand deshalb leicht, weil der Holzsaft Eiweiß und andere Stoffe enthält, die sich im toten Holz zersetzen und das Gefüge locker machen. Ferner ist die Schwelle der Gefahr des Faulens so stark wie kaum ein anderer Baustoff gleicher Art ausgesetzt, da Trockenheit und Feuchtigkeit im Bahnbett[167] unaufhörlich miteinander abwechseln. Man macht die Schwellen standhaft gegen diese schweren Angriffe, indem man sie mit fremden Stoffen vollkommen durchtränkt. Durch besondere Verfahren wird der Holzsaft ausgesogen, und an seine Stelle werden unter sehr kräftigem Druck Kreosot, Chlorzink oder kreosothaltiges Teeröl zwischen die Fasern gepreßt. Die Lebensdauer der Schwellen steigt dadurch sehr bedeutend. Eichenholz hält roh 14 bis 16 Jahre, getränkt 20 Jahre; bei Buchenholz ist der Unterschied sehr viel größer, nämlich 3 Jahre gegen 12-18. Die Zahlen für Kiefernholz lauten 7-8 Jahre gegen 14-18. Die Einführung des Tränkens bedeutet also eine außerordentlich große Ersparnis bei der Unterhaltung des Gleisoberbaus und dies um so mehr, als man die Beobachtung gemacht haben will, daß das Tränken die Schwellen auch widerstandsfähiger gegen äußere Angriffe macht.
Es wurde in dem Abschnitt über die Geschichte des Gleises bereits kurz angedeutet, daß die eisernen Schwellen erst brauchbar wurden, nachdem man ihnen eine vollkommen geschlossene, trogförmige Gestalt gegeben hatte. Sie sind dadurch imstande, einen großen Teil der Bettung vollkommen zu umgreifen und sich gegen jede Verschiebung zu sichern, indem sie diesen Bettungsteil zwingen, sich bei Bewegungen auf der darunter liegenden Fläche zu reiben. Die Eisenschwellen werden heute sämtlich aus Flußeisen oder Flußstahl gewalzt. Die am meisten gebräuchlichen Formen zeigt unser Bild 115; die Kreuzschwelle wird jedoch immer seltener verwendet. Damit man die Befestigungsmittel für die Schienen durch die Eisenschwellen hindurchstecken kann, müssen diese an der Decke durchlocht werden. (Siehe auch Bild 52 auf Seite 78.)
Ausschlaggebend für die Stärke des Oberbaus ist die Schwellenteilung, das heißt der im allgemeinen stets gleichmäßige Abstand der einen Schwellenmitte von der anderen. Bei stark befahrenen Hauptbahnen pflegen in Preußen auf einem Kilometer 1675 Schwellen zu liegen. Nur am Stoß werden die Schwellen näher zusammengelegt, als der gewöhnliche Abstand beträgt. Auch die drei nächsten Schwellen werden noch etwas herangerückt. Bei Eisenschwellen bildet man am Stoß eine zusammenhängende Doppelschwelle aus.
Alle die bisher erwähnten Vorkehrungen im Unterbau und Oberbau haben doch zuletzt nur den Zweck, die Schienen unverrückbar festzuhalten. Diese selbst werden heute ausschließlich aus Flußstahl bereitet. Zur Herstellung dieses Stoffs wird das aus dem Hochofen gewonnene Roheisen im Siemens-Martin-Ofen oder in der Thomasbirne von dem zu starken Kohlenstoffgehalt befreit. Es ist ein prächtiges Schauspiel, dem Arbeiten von Thomasbirnen in einem großen Eisenwerk zuzuschauen. In seinem Buch „Das Reich der Kraft“ schreibt der Verfasser über die Eindrücke, die er bei dem Besuch einer Schienenfabrik empfing:
Die unter dem hochgewölbten Dach einer großen Halle aufgehängten Birnen für[168] die Stahlbereitung werden von außen nicht geheizt. Denn das Eisen wird in flüssigem Zustand eingefüllt und Preßluft hindurchgedrückt, so daß drinnen eine rasende Glut entsteht. Von Zeit zu Zeit räuspert sich eines der Ungeheuer und bläst einen Klumpen flüssigen Feuers hinaus, der, von einem Funkenregen begleitet, dumpf zur Erde niederfällt. Dann schlägt die Lohe mit erneuter Kraft aus dem glühenden Maul und ein rollendes Geräusch dringt hervor.
Wenn der Vulkan dort drinnen ein paar Stunden lang getobt hat, wird durch elektrische Kraft ein großer Bottich hinzugefahren. Mit einem plötzlichen Ruck senkt das flammengekrönte Haupt sich abwärts, und das Ungeheuer speit seine ganze Flammenseele aus. Weithin wird alles von einem blendenden Licht übergossen. Eine schwere, breite, mächtig flutende Feuerwelle gleitet in den Bottich, ein Schwarm blendend weißer Funkensterne fliegt weit hinaus. Minutenlang rinnt das Feuer in kräftigem Strom und verbreitet eine kaum zu ertragende Hitze, ein Licht, heller als tausend Bogenlampen. Dann endlich hört die ungeheure Birne auf zu speien und zu brausen, richtet sich langsam und stolz wieder in die Höhe, und der mit dem feuerflüssigen Eisen bis an den Rand gefüllte Bottich fährt, ächzend unter seiner Last, davon. Sein Inhalt wird in eiserne Gefäße gegossen; es entstehen mehrere Walzblöcke, die darauf von kleinen Lokomotiven auf einer Feldeisenbahn dem großen Kran in der Walzhalle zugeführt werden.
Wir folgen solch einem Block, aus dessen Leib Eisenbahnschienen hergestellt werden sollen, auf seinem Weg und haben nun Gelegenheit, einem Vorgang beizuwohnen, der an Pracht und Großartigkeit von wenigen auf Erden übertroffen wird.
Im Sonnenglanz dunkelt die mächtige, nach allen Seiten hin weit geöffnete Halle. Unter dem großen Wellblechdach ist alles Leuchten des Tags erloschen. Man steht in einer silbergrauen Wolke, die leicht auf und ab wallt und den Blick einschließt. Doch das Auge gewöhnt sich rasch an den feinen Nebel und vermag ihn zu durchdringen.
Menschen mit ledernen Panzern, große spitze Eisenstangen, abenteuerlich geformte Zangen gleich Waffen in den Händen, bewegen sich lautlos und mit seltsamen Gebärden um ein hochragendes schwarzes Gerüst, das in erhabener Größe dasteht.
Ein dumpfes Rollen ertönt.
Langsam heranbewegt, erscheint hoch droben, dicht unter dem Hallendach, der glühende, funkensprühende Eisenblock. Der Kran, der ihn vom Wagen genommen hat, fährt leicht auf hochliegendem Gleis; sein Gerüst biegt sich nicht unter der Last der zweitausend Kilogramm. Der Block ist dunkelrot. Man merkt, daß sein Bau, der eben erst aus flüssigem Eisen gefügt wurde, sich noch nicht bei sich selbst zu Hause fühlt. Knisternd springen Funken auf, hier und da zischt eine kleine Feuergarbe an ihm empor. Wechselnde Farbenschattierungen laufen über die Eisenmasse. Es ist als fröre sie in der kalten Welt; man könnte denken, der mächtige Klotz atme. Eine ungeheure Glut entströmt ihm. Noch in weiter Entfernung glaubt man die Augen versengt, man weiß nicht ob von der Hitze oder von der Flut des hereinströmenden Lichts. Es dringt durch den Dunst der Halle und[169] macht tausend Einzelheiten deutlich. Eine neue künstliche Sonne ist hier drinnen unter dem Wellblechdach aufgegangen.
Aber sie hat keine Ewigkeit. Sie bleibt nicht lange droben an dem wellblechenen Himmel.
Der Kran ist an den mächtigen dunklen Eisenbau herangefahren, vor dem die Arbeiter mit ihren Werkzeugen wartend stehen, wie die Priester vor dem Hochaltar, um das Opfer in Empfang zu nehmen. Langsam steigt die Krankette nieder. Der rote, frierende Eisenblock wird sanft und fast geräuschlos niedergelegt. Von selbst lösen sich die Klemmbacken, die Kette rollt in die Höhe, der Kran zieht sich ruhig und langsam, wie er gekommen, zurück, ganz ungerührt davon, daß er eben um eine Riesenlast erleichtert worden ist. Leise sprühen kleine weiße Funken vom roten Block.
Plötzlich ein dumpfes Dröhnen. Aus der breiten eisernen Brücke, die von dem Ruheplatz des Blocks zur Walze führt, ragen in kurzen Zwischenräumen die Rücken kräftiger stählerner Rollen um wenige Zentimeter heraus. Diese Rollen haben sich in Bewegung gesetzt, und sie schieben nun, indem eine ihn der andern zuführt, den schweren Block mit einer Schnelligkeit und spielenden Leichtigkeit vorwärts, die aufs höchste überrascht. Von Rolle zu Rolle tanzend, stürzt der Block rasend wie ein wildes Tier vorwärts.
Da läßt ein donnerndes Getöse den Boden und die Halle erbeben. Jenes hohe schwarze Gerüst beginnt zu leben. Die Walze hat sich in Bewegung gesetzt. Eine Dampfmaschine von dreitausend Pferdestärken dreht mit großer Geschwindigkeit die schweren, stählernen Walzenräder, zwischen denen der Eisenblock hindurchgetrieben werden soll, um an Dicke zu verlieren, an Länge und innerer Festigkeit zu gewinnen. In tollem Lauf wirbeln die Massen an der Walze um und um, der rotglühende Block faucht und prasselt über den Rollgang, die Erde bebt, das Hallendach zittert.
Jetzt hat der Block die Walze erreicht, er fährt gegen die beiden Walzenräder, die zwischen sich einen Spalt offen lassen, niedriger als die Höhe des Blocks. Dieser will sich hineinzwängen, die Walzenräder packen ihn — und nun kommt ein Augenblick, der dem Zuschauer den Atem stocken läßt, wo er mit aufgerissenen Augen erwartet, daß ein verheerendes Unglück eintritt.
In dem Augenblick, als die Walzen den Block faßten, ist plötzlich lautlose Stille eingetreten. Die gewaltige Maschine ist mit einem Ruck stehengeblieben, dreitausend Pferdestärken wurden im Bruchteil einer Sekunde angehalten und vernichtet. Man meint, daß der ungeheure Stoß, der eine Quadermauer umstürzen würde, auch die Walzmaschine zersprengen müßte. Doch diese hält mit ihrer wuchtigen Kraft ruhig stand. In drei Sekunden hat die Zugmaschine auch schon genügend Kraft aufgeholt, Gebrüll und Getöse erheben sich von neuem, die Walzräder wirbeln, der Eisenklotz wird durch den Spalt gequetscht, und schon liegt er, gereckt und immer noch Funken sprühend, auf der andern Seite der Walze.
Wieder ein Augenblick der Stille. Lautlos drehen sich die mächtigen Schraubenspindeln am Kopf der Walzmaschine und schieben die beiden langen Walzräder ein wenig enger aneinander, so daß der Spalt zwischen ihnen niedriger wird. Dann fährt der Rollgang, in umgekehrter Richtung, von neuem an, der Block saust wieder durch den Spalt, um nun schon als eine dicke Stange hervorzukommen.
Dieser Vorgang wiederholt sich noch mehrere Male. Bald treiben dreitausend Pferdestärken die Walzräder rechts herum, bald laufen sie in umgekehrter Richtung, unsichtbare Hände spielen mit den ungeheuren Kräften wie Kinder mit ihrem Fangeball. Es ist, als[170] sei der Mensch Herr jeder Stärke, jeder Kraft, als könne er Berge von ihrem Platz rücken und Weltenkörper aus ihrer Bahn zwingen. Man sieht hier eine bewundernswerte Beherrschung des Stoffs, ein freies Schalten mit Kräften, die des Menschen geringe Muskelstärke so unendlich weit überragen.
Es dauert nicht fünf Minuten, und aus dem kurzen gedrungenen Block ist eine mehr als dreißig Meter lange, in roter Glut strahlende Eisenbahnschiene geworden. Der Rollgang, der das fertige Walzerzeugnis aus der Maschine empfängt, gibt es sofort weiter in die Halle hinein, wo an einer Stelle schon eine klobige Kreissäge wartet, die von der glühenden Schienenstange mit Gekreisch und Gesprühe Stücke in der vorgeschriebenen Länge einer preußischen Staatsbahnschiene abschneidet.“
Bei dieser ersten Bearbeitung der neugeborenen Schiene muß darauf acht gegeben werden, daß der Stahl jetzt noch heiß ist. Die Abschnitte sind also so zu bemessen, daß nach dem Erkalten die richtige Schienenlänge vorhanden ist, das heißt, daß man ein Stück für die Verkürzung beim Erkalten, das sogenannte Schwindmaß, zugeben muß. Alsdann wird jede Schiene noch aufs genaueste ausgerichtet, da beim Walzen doch hier und da Verbiegungen vorkommen. Man bearbeitet sie in noch glühendem Zustand auf einer großen eisernen Unterlage, dem Warmlager, mit Holzhämmern und fügt später, wenn es nötig ist, noch ein Kaltrichten hinzu, damit eine vollkommen gerade Erstreckung unbedingt erreicht wird.
Die Ansprüche, welche eine Schiene für Eisenbahnen zu erfüllen hat, sind nicht gering. Der Kopf soll, da er fortwährend den gewaltigen Schlägen der Räder ausgesetzt ist, eine möglichst große Härte besitzen; der Fuß aber, der auf Biegung beansprucht wird, muß möglichst zäh sein. Beide einander fast entgegengesetzte Eigenschaften lassen sich in einem gleichmäßigen Stahlstück natürlich nicht erwirken, und darum muß man den Schienenstoff so wählen, daß seine Eigenschaften die Mitte zwischen den beiden begehrten halten. Es gelingt heute, einen Schienenstahl herzustellen, der Härte und Zähigkeit zugleich besitzt.
Bei der Abnahme durch die Eisenbahnverwaltung werden die Schienen einer schweren Prüfung durch Schlag-, Biege- und Zerreißproben unterzogen. Kugeln, die man mit einer bestimmten Kraft gegen den Kopf drückt, dürfen nicht allzu tief eindringen, kalt gebogene Schienen dürfen bis zu einer bestimmten Krümmung nicht bersten, und bei den Zerreißproben muß jedes Quadratmillimeter des Querschnitts einen Zug von 60 bis 70 Kilogramm aushalten können. Von der vorgeschriebenen Höhe darf keine der Schienen um mehr als ein halbes Millimeter abweichen. Man sollte meinen, daß eine solche Genauigkeit bei dem recht groben Verfahren, welches das Walzen immerhin darstellt, nicht leicht einzuhalten sei; sie gelingt heute jedoch fast stets.
Die Form des Kopfs der heutigen Schiene ist in engem Zusammenhang mit der Form des Radreifens durchgebildet. Die Lauffläche ist eben, um dem Reifen als Auflager zu dienen. Der Übergang zur Seite wird, entsprechend der Hohlkehle am Rad, abgerundet; die Seitenfläche selbst hat die Aufgabe, den Spurkranz zu führen. Nicht selten, insbesondere in Krümmungen, kommt es vor, daß das Rad sich vollständig gegen die Schiene preßt. Alsdann muß eine überall passende Auflagefläche vorhanden sein, damit keine Stöße entstehen. Die Übergänge vom Kopf zum Steg und von dort zum Fuß müssen scharf unterschnitten sein, damit die Lasche am Stoß sich fest zwischen Kopf und Fuß pressen kann.
An sich scheint es begehrenswert, im Gleis so lange Schienen zu verlegen, wie sie[171] durch das Walzverfahren nur irgend herzustellen sind. Denn die Zahl der Stöße wird ja dadurch herabgesetzt. Wir haben aber eben gehört, daß der aus der Walze hervorgehende Schienenstahl zerschnitten wird. Diese Kürzung ist um so bedauerlicher, als eine lange Schiene mit ihren zahlreichen Befestigungen weit besser geeignet wäre, die sehr starken, auf sie einwirkenden Seitenkräfte aufzunehmen. Erfahrungsgemäß ist selbst das Niederbeugen des Schienenendes beim Befahren eines Stoßes bei langen Schienenstücken geringer als bei kürzeren. Leider aber ist es nicht möglich, in der Schienenlänge über ein gewisses Maß hinauszugehen. Der Hinderungsgrund sind die Witterungsverhältnisse und die aus den Wärmeschwankungen folgenden Längenveränderungen jeder Schiene.
Die Wärme unter freiem Himmel schwankt in unseren Breiten zwischen etwa -25 Grad Celsius im kältesten Winter und +60 Grad Celsius bei stärkstem Sonnenbrand, also um nicht weniger als 85 Grad. Eisen und Stahl verändern bei wechselnden Wärmegraden wie alle andern Körper ihre Ausdehnung. Bei einer Erwärmung um 100 Grad dehnt sich ein jeder Stahlstab um 1⁄900 seiner Länge aus. Eine 9 Meter lange Schiene würde also in einem solchen Fall 10 Millimeter länger werden. Da infolge der eben erwähnten Verhältnisse mit einer Wärmeschwankung von 85 Grad im Gleis zu rechnen ist, so muß schon bei 9 Metern Länge der Abstand des einen Schienenendes vom nächsten bei stärkster Kälte mindestens 85⁄100 × 10 = 81⁄2 Millimeter betragen. Bei einer Schienenlänge von 18 Metern müßte die Wärmelücke bereits 19 Millimeter groß sein, und da man für Ungenauigkeiten in der Bearbeitung des Schienenendes und für Schieflagen bei Krümmungen stets noch 2 Millimeter zugeben muß, sogar 21 Millimeter.
Eine so große Lücke im Gleis ist jedoch bereits nicht mehr zulässig. Um ein Einsinken[172] der Räder in die Wärmelücke zu verhüten, darf diese 15 bis 18 Millimeter keinesfalls überschreiten. Demzufolge können bei uns Schienen von 18 Metern Länge nur in Tunneln oder unter Bahnhofshallen verwendet werden, wo die Wärmeschwankungen nicht so groß sind. Auf freier Strecke sind 9 oder 12, höchstens 15 Meter zulässig. Würde man eine genügende Wärmelücke nicht offen lassen, so daß im Sommer die Schienenenden fest aneinander stießen, bevor die ganze Dehnung ausgeführt ist, dann wären die Züge größten Gefahren ausgesetzt, da durch Werfen der Schienen Spurerweiterungen oder Spurverengungen eintreten würden, die beide gleich bedrohlich sind.
Die Kraft der Wärmespannung in einem Körper ist außerordentlich groß. Wir haben kein Mittel, ihre Wirkung in einem offen daliegenden Gleis anders aufzuheben, als daß wir ihr durch Fugen freies Spiel lassen. Anders liegen die Verhältnisse bei ganz eingebetteten Geleisen, wie z. B. denen der Straßenbahnen. Diese sind dem Sonnenbrand zum größten Teil entzogen, da nur der Kopf frei liegt, und außerdem verhindert die allseitig fest anliegende Straßenbettung auch die Verwerfung. Straßenbahnschienen können darum zu einem einheitlichen Strang zusammengeschweißt werden, was leider beim Eisenbahngleis unmöglich ist. So ist nicht darauf zu rechnen, daß hier der Stoß, dieser böse Feind, jemals verschwinden wird.
Die Verbindung der Schienen mit den Schwellen durch Befestigungsmittel, auch Kleineisenzeug genannt, erfolgt heute nicht mehr, wie zu Beginn, nur am Stoß, sondern wird bei jeder Schwelle sorgfältig vorgenommen. Das Einschieben von Unterlagsplatten zwischen Schiene und Schwelle ist heute in Deutschland allgemein üblich. Durch Abschrägung der eisernen Plattenoberfläche wird in bequemster Weise die Neigung der Schiene nach innen mit einem Abfall der Kopffläche von 1 : 20, entsprechend der kegelförmigen Abdrehung des Radkranzes, hergestellt. Die feste Platte bewirkt ferner dadurch, daß alle in die Schwelle zu treibenden Befestigungsmittel durch sie hindurchgehen, deren Zusammenwirken gegen Verschiebungen durch die auftretenden Kräfte. Ferner wird durch die Unterlagsplatte die Auflagefläche der Schiene auf der Schwelle vergrößert, und so das Einpressen des Schienenfußes am wirksamsten verhindert. In Frankreich, wo man Unterlagsplatten weniger gern verwendet, müssen die Schwellen unter dem Schienenfuß ausgearbeitet, gedechselt, werden, was erfahrungsgemäß ihre Lebensdauer durch Begünstigung der Fäulnis verkürzt.
Durch Versuche von Sarrazin ist festgestellt worden, daß innerhalb sechs Jahren von Schwellen mit Unterlagsplatten 91,8 vom Hundert wegen mechanischer Zerstörung und nur 8,2 vom Hundert wegen fortgeschrittener Fäulnis ausgewechselt werden mußten. Durch die Anwendung der Platten erhöhte sich die Lebensdauer der Eichenschwellen von 10,3 auf 16,6 Jahre, der Kiefernschwellen von 12,8 auf 15,5 Jahre.
118. Ausgearbeitete
in einem Gleis ohne
(gedechselte) Schwelle
Unterlagsplatten
Auf Stoßwellen verwendet man in Preußen[173] heute stets Hakenplatten, bei denen der außen um den Schienenstoß greifende Haken die sonst notwendigen anderen Befestigungsmittel ersetzt. Bei Mittelschwellen kommen noch häufig offene Unterlagsplatten zur Verwendung.
Die eigentliche Verbindung zwischen Schienen und Schwellen geschieht durch eingetriebene Hakennägel oder durch Schrauben. In durchgehenden Geleisen werden jetzt ausschließlich Schrauben verwendet, bei leichterem Oberbau in Nebengeleisen überwiegen mehr die Nägel. Diese können natürlich durch die unvermeidliche Auf- und Abwärtsbewegung der Schiene beim Befahren leichter ausgezogen werden als Schrauben, da ihre Verbindung mit dem Schwellenholz weniger innig ist. Man gibt den Nägeln am Kopf seitliche, über den Schaft hinausragende Verbreiterungen, damit sie mit einfachen Klauen bequem ausgezogen werden können. Der heutige Schienennagel hat keine Spitze, sondern besitzt eine Schneide, die mit der Schienenerstreckung gleichgerichtet ist. Sie durchschneidet beim Einschlagen die Holzfasern, ohne ein Spalten der Schwelle zu bewirken, was als das vorteilhafteste erkannt ist.
Die Schwellenschrauben haben am Kopf einen quadratischen oder rechteckigen Aufsatz, auf den der Schlüssel für das Eindrehen gesteckt werden kann. Über dem Aufsatz befindet sich eine Spitze, manchmal auch ein Buchstabe, deren Beschaffenheit nach fertig eingezogener Schraube deutlich erkennen läßt, ob diese nicht etwa aus Bequemlichkeit mit Hammerschlägen eingetrieben worden ist. Das darf natürlich nicht geschehen, weil das für die Festigkeit so wichtige Einlagern des Gewindes in das Schwellenholz sonst nicht stattfinden würde. Damit die Schrauben nicht nur einseitig auf dem Schienenfuß aufsitzen, damit also die Unterfläche des Kopfs ein vollständiges Auflager findet, werden häufig noch Klemmplatten auf die Unterlagsscheibe gelegt. Auf diese Weise wird ein Verbiegen des Schraubenschafts verhindert.
Die Zahl der Verbindungsmittel bei eisernen Schwellen ist durch eine Erfindung von Haarmann stark verringert worden. Er schuf eine Unterlagsplatte mit einem Haken an der Unterfläche, der unter die Decke der eisernen Schwelle greift und jede weitere Befestigung der Schiene an der Außenseite unnötig macht. Innen wird die Schiene durch einen Bolzen mit Mutter festgemacht, dessen rechteckiges Schaftende durch eine gleichfalls rechteckige Öffnung in der Schwellendecke hindurchgesteckt und dann um 90 Grad gedreht wird, so daß die breite Ausladung des Schafts nunmehr über die schmale Erstreckung der Öffnung hinübergreift und sich gegen die Unterseite der Schwellendecke[174] legt. Die Muttern müssen gegen das Losrütteln durch besondere Mittel gesichert werden.
Die Ausrüstung des Stoßes selbst beruht heute auf dem Gedanken, die an dieser Stelle unterbrochene Schiene durch einen anderen Träger zu ersetzen. Nach vielerlei Versuchen hat sich als die am wenigsten schlechte Bauart das kräftige Einklemmen von Laschen zwischen Kopf und Fuß, ohne Berührung des Stegs auf beiden Seiten der Schiene erwiesen. Eine wirkliche Lösung dieser so wichtigen Aufgabe wird, wie wir ja alle an unserm eigenen Körper oft genug erfahren haben, auch hierdurch nicht erreicht. Es ist nun einmal nicht zu verhindern, daß die Schiene, von der das Rad beim Fahren abläuft, etwas nach unten sinkt. Der Kopf der Auflaufschiene ragt dadurch etwas höher empor, und ein geradezu furchtbarer Schlag eines jeden Rads gegen den Kopf der Auflaufschiene ist, insbesondere bei schnell fahrenden Zügen, unvermeidlich. Hierbei wird die Auflaufschiene nicht nur wie durch einen Hammer jählings nach unten geschlagen, sondern sie erhält auch einen Stoß in wagerechter Richtung, der sie vorwärts treiben will. Dadurch entsteht das so gefürchtete Wandern der Schienen in der Fahrtrichtung, das aber auch durch die Bewegung der Räder auf der glatten Lauffläche verursacht wird, insbesondere an Stellen, wo häufig gebremst werden muß.
Die Stoßausrüstung hat also eine doppelte Aufgabe: sie muß den Übergang von einem Schienenstück zum andern möglichst glatt gestalten und das Wandern der Schienen verhindern, das leicht zu Spurveränderungen und zu einer gefährlichen Aufhebung der Wärmelücken führen kann. In den Laschen selbst sind die Löcher zur Aufnahme der Bolzen länglich geformt, damit die Wärmeausdehnung der Schienen ohne Verbiegung der Bolzen stattfinden kann.
Daß heute allgemein der schwebende Stoß, also eine Lage der Stoßlücke zwischen zwei Schwellen, nicht auf einer von diesen, üblich ist, wurde bereits in Abschnitt 5 erwähnt. Die Vorzüge dieser Anordnung gegenüber dem ruhenden Stoß sind folgende. Bei guter Laschenverbindung wird die Last durch zwei Schwellen auf die Bettung übertragen statt durch eine. Das hammerartige Niederschlagen des Kopfs der Auflaufschiene trifft keine Schwelle unmittelbar. Die Laschenverbindung kann wegen der größeren wirksamen Längserstreckung weit kräftiger ausgebildet werden.
Um die sehr unangenehmen Wirkungen des Stoßes zu verringern, hat man auch versucht, der Fuge selbst eine andere Form zu geben als die, welche bisher ausschließlich erwähnt worden ist. So hat die preußische Staatsbahn eine Zeitlang den Versuch gemacht, den stumpfen Stoß durch den Blattstoß zu ersetzen. Hierbei ist jedes Schienenende rechteckig ausgeklinkt, und die eine Schiene überblattet die andere um ein mehr oder[175] weniger langes Stück (Bild 127). Dieser von Haarmann im Anschluß an einen Gedanken Stephensons erfundene Blattstoß, der lange Zeit auf der Berliner Stadtbahn lag, wo es ganz besonders auf Verminderung des Geräuschs der fahrenden Züge ankommt, hat sich jedoch, wie alle ähnlichen Bauarten, im Betrieb nicht bewährt. Zunächst scheint es bestechend, daß das Rad bereits von der Auflaufschiene getragen wird, während es noch auf der Ablaufschiene ruht. Eine günstige Wirkung trat jedoch nur bei neuen Stößen und bei nicht abgenutzten Radreifen ein. Später zeigten sich Sprünge in der Längsfuge, die das Schlagen der Räder noch verstärkten.
Auch die Stoßfanglasche hat zu keinem durchgreifenden Erfolg geführt. Hierbei wird die Schiene an der Außenseite rechteckig ausgeklinkt, und der Laschenkopf steigt bis zur Fahrhöhe auf, so daß er das Rad über die Stoßfuge hinwegleiten kann. Trotz mancherlei Ausbildungsarten haben sich wesentliche Vorteile nicht ergeben.
Der untere Teil der auf Bild 125 dargestellten Lasche ist das wirksamste Mittel zur Verhinderung des Schienenwanderns. Die Bewegung der Schienen wird dadurch, daß die Lasche die Klemmplatten umfaßt, auf die Unterlagsplatten und Schwellen übertragen und durch diese unter Zuhilfenahme der Bettung aufgehalten. Damit möglichst viele Schwellen bei der Verhinderung des Wanderns mitwirken, stellt man hier und da Längsverbindungen zwischen mehreren Schwellen durch darüber genagelte Hölzer oder eiserne Bänder her. Da, wo ein besonders starkes Wandern der Schienen zu befürchten ist wie bei Gefällen, die mit stark gebremsten Rädern befahren werden, befestigt man auch an anderen Stellen der Schienen als am Stoß besondere Stemmlaschen, die an den Schienensteg geschraubt sind und die Klemmplatten oder die Haken der Unterlagsplatten umschließen. Ferner gelangen Keilklemmen zur Anwendung, die sich unter dem Schienenfuß gegen die Schwellen legen.
Das Gleis muß imstande sein, die schwerste vorkommende Belastung zu ertragen, ohne schnell der Zerstörung anheimzufallen. Vollständig aber lassen sich die schädlichen Einflüsse des Betriebs auf das Gleis nicht hintanhalten, so daß ständige Unterhaltungsarbeiten notwendig sind, die sehr große Ausgaben verursachen. Darüber wird noch später zu sprechen sein. In Preußen ist der höchste zulässige Raddruck auf 9000 Kilogramm festgesetzt, das heißt, keine Fahrzeugachse darf mit mehr als 18 000 Kilogramm[176] belastet werden. Bei der Berechnung des Gleises ist jedoch in Betracht zu ziehen, daß infolge der raschen Bewegung die Kraftwirkung etwa das Doppelte des ruhenden Raddrucks erreichen kann.
Die Regelspurweite beträgt bei uns, wie wir bereits wissen, 1,435 Meter, gemessen zwischen den Innenkanten der Schienenköpfe. Damit ein Klemmen der Räder zwischen den Schienen unbedingt vermieden wird, macht man den Abstand zwischen den Spurkränzen der Räder auf einer Achse kleiner als die Spurweite. Der Radstand, wie wir dieses Maß, abweichend von der amtlichen Gewohnheit, nennen wollen, darf, ein Zentimeter unter der Lauffläche gemessen, nicht mehr als 1,425, aber auch nicht weniger als 1,415 Meter betragen. Es entsteht hierdurch ein Spielraum im Gleis, der infolge des Schwankens der Fahrzeuge selbst auf glatter Strecke notwendig ist. (Siehe Bild 117, Seite 171.)
Aber dieser Spielraum genügt nicht mehr, wenn Krümmungen mit einem geringeren Halbmesser als 1000 Meter durchfahren werden. Bei mehrachsigen Fahrzeugen müssen sich die Räder in den Krümmungen notwendigerweise schief zur Gleisrichtung einstellen. Die Achsen liegen nicht in der Richtung des Halbmessers, sondern hiergegen verschoben. Damit auch jetzt kein Klemmen der Spurkränze zwischen den Schienenkanten eintritt, muß an solchen Stellen die Spur erweitert werden. Da die Lauffläche der Radkränze ja eine ziemliche Breite besitzt, 13 bis 15 Zentimeter, so braucht man mit dieser Spurerweiterung, die außerordentlich viel zum ruhigen Fahren beiträgt, nicht allzu ängstlich zu sein. Sie kann bei uns auf Hauptbahnen bis zu drei Zentimetern betragen. Bei einem Krümmungshalbmesser[177] von 400 Metern ist die Spurerweiterung auf 1,5 Zentimeter festgesetzt, bei einem Halbmesser von 200 Metern auf 2,4 Zentimeter. In Betracht zu ziehen ist bei der Bemessung der Spurerweiterung auch der Achsstand der Fahrzeuge, von denen die Strecke befahren wird. Je weiter solche Achsen voneinander abstehen, die unverrückbar am Fahrzeug befestigt sind, desto stärker wird die Schiefstellung im Gleis.
Es sei hier bemerkt, daß der Abstand der Achsen eines Fahrzeugs voneinander amtlich Radstand genannt wird. Diese Bezeichnung ist jedoch wenig glücklich, und im Anschluß an die in vielen Fachwerken heute bereits bestehende Üblichkeit wollen wir stets das deutlichere Wort Achsstand hierfür anwenden.
Um bei den sehr langen Achsständen, die heute an Lokomotiven und Wagen vorkommen, die Spurerweiterung nicht allzu weit treiben zu müssen, sind statt der steifen, im Gleis bewegliche Achsen eingeführt worden. Näheres darüber wird bei der Behandlung der Lokomotiven und Wagen gesagt werden.
Die Spurerweiterung wird stets durch Verschieben der in der Krümmung innen liegenden Schiene herbeigeführt. Die äußere Schiene läßt man unverändert durchlaufen, weil sie ja infolge der Abdrängung der bewegten Masse vom Krümmungs-Mittelpunkt, welche durch die Fliehkraft verursacht wird, die Fahrzeuge zu führen hat. Es ist darauf zu achten, daß die Erweiterung sich aus dem Gleis mit gewöhnlicher Spurweite ganz langsam entwickelt. Man läßt sie gewöhnlich von 10 zu 10 Schwellen um je drei Millimeter anwachsen. Wenn zwei Krümmungen entgegengesetzter Richtung aufeinander folgen, darf die eine nicht ohne weiteres in die andere übergehen, weil der plötzliche Richtungswechsel die Fahrzeuge allzu sehr erschüttern würde. Es ist dann stets eine Zwischengerade ins Gleis einzulegen.
In Krümmungen zeigen die Spurkränze der Räder leicht eine Neigung, auf die Außenschiene hinaufzuklettern. Dadurch entsteht eine starke Entgleisungsgefahr. Um sie zu beseitigen, setzt man neben die Innenschiene, gleichgerichtet mit dieser und in kurzem Abstand, eine Schutzschiene, die das auf der Innenschiene laufende Rad seitlich führt. Diese Schutzschiene dient zugleich auch zur Entlastung der Außenschiene, die ja sehr starken seitlichen Pressungen ausgesetzt ist.
Ein sehr viel wirksameres Mittel gegen Entgleisungsgefahr und Fliehkraftdruck ist jedoch die für schärfere Krümmungen überall vorgeschriebene Überhöhung des Gleises.
Um die Fahrzeuge möglichst kräftig nach dem Mittelpunkt der Krümmung zu drängen,[178] hebt man die Außenschiene an. Die Berechnung der günstigsten Überhöhung ist deshalb besonders schwierig, weil sie von zwei Umständen abhängt: einmal von dem Halbmesser der Krümmung, dann von der Geschwindigkeit, mit der die Züge hindurchfahren. Diese ist dazu noch bei den Zügen verschiedener Gattung nicht gleich. Es ist leicht einzusehen, daß eine Überhöhung, die einen Schnellzug sehr glatt durch die Krümmung hindurchbringt, für den langsameren Güterzug zu hoch sein muß. Dieser wird infolge der geringeren Fliehkraft bei allzu hoher Rampe stark gegen die Innenschiene absinken, so daß die Spurkränze seiner Räder kräftig an dieser schleifen. Man muß also bei der Anlegung der Überhöhungen einen Mittelweg einschlagen.
Im allgemeinen beträgt die Überhöhung bei einem Krümmungshalbmesser von 1000 Metern und einer höchsten Fahrgeschwindigkeit der Züge von 60 Kilometern in der Stunde 3 Zentimeter, bei 100 Kilometern Stundengeschwindigkeit 5 Zentimeter.
Die Zwischengerade bei Gegenkrümmungen soll nach Möglichkeit so lang gemacht werden, daß sie die Anläufe für die beiden Überhöhungsrampen aufnehmen kann, die ja in solchem Fall zuerst unter der einen, dann unter der andern Schiene liegen müssen.
Allmähliche Übergänge müssen auch bei Neigungswechseln vorgesehen werden. Würde man eine Steigung unmittelbar an ein fallendes Gleis anschließen, so müßten die Mittelachsen langer Fahrzeuge sich am Brechpunkt vom Gleis abheben (Bild 129). Daher sind an solchen Stellen Ausrundungen vorgeschrieben.
Damit bei Gleisumbauten alle vom Üblichen abweichenden Gleislagen aufs genaueste wiederhergestellt werden können, ohne daß man erst in den Plänen nachzusehen braucht, sind die Abweichungen durch dauerhafte Angaben auf der Strecke angezeichnet. Am Beginn und am Ende einer jeden Krümmung steht ein Täfelchen, auf dem der Halbmesser, die Bogenlänge, die Überhöhung und die Spurerweiterung angegeben sind. Bei jedem Neigungswechsel ist ein Pfahl mit zwei Armen aufgestellt, die nach rechts und links deuten. Wenn eine Steigung folgt, ist der betreffende Arm nach oben gerichtet, bei beginnender Senkung abwärts. Jeder Arm gibt das Neigungsverhältnis und die Länge der Neigung an. Also z. B.: auf 180 Meter 1 : 190. Bei wagerechter Strecke liegt auch der Neigungszeiger wagerecht und trägt die Aufschrift: 1 : ∞ (unendlich).
Nachdem wir uns — vielleicht etwas mühselig — durch die Fülle der Gegenstände hindurchgearbeitet haben, welche für die dauerhafte Verlegung des stählernen Pfads notwendig[179] sind, können wir nun daran gehen, der Erbauung einer neuen Strecke selbst beizuwohnen.
Sobald die Auslegung der Schienen vor sich gehen soll, bevölkert sich der Landstrich, der oft bis dahin ganz still dagelegen hat, plötzlich mit einem Heer von Werkleuten.
In langsamerem, ruhigen Schaffen ist schon vorher der Unterbau fertiggestellt und eingeebnet, die Bettung bis fünf Zentimeter unter die Schwellenunterkanten aufgetragen worden. Nun erfolgt durch Meßbeamte ein äußerst genaues Abstecken der Gleisrichtung und der wechselnden Höhenlagen der Schienenoberkanten. Richtung und Höhen werden durch Einschlagen von Pfählen festgelegt, bleibende Merkpfosten aus Stein errichtet. Bei zweigeleisigen Bahnen steckt man so die Bahnmittellinie ab, bei eingeleisiger Strecke eine Linie, die sich seitlich in einem Abstand von zwei Metern von der Mittellinie des Gleises befindet. In den Geraden werden die Pfähle in einem Abstand von 100 Metern eingeschlagen, bei den Krümmungen beträgt die Entfernung der Pfähle nur 25 Meter, und außerdem wird an jedem Anfangs- und Endpunkt eines Bogens, sowie bei jedem Neigungswechsel ein Pfahl eingeschlagen. Die Oberfläche des Pfostens liegt genau in der Höhe der künftigen Schienenoberkante. Ein Sägeschnitt, der künftigen Gleiserstreckung gleichgerichtet, bezeichnet die Stelle, von der aus in der Wagerechten gemessen werden soll.
Die Baustoffe waren bereits vorher an geeigneter Stelle angeliefert. Sie wurden sorgfältig und luftig gelagert, so daß die Schwellen nicht faulen, die Schienen nicht rosten konnten. Bei der Lagerung der Schienen war auf die Schaffung einer guten glatten Unterlage geachtet worden, damit sich die einzelne Schiene nicht durch das Gewicht des darüberliegenden Stapels verbiegen konnte.
Da heutzutage fast jede neue Strecke an einem Bahnhof zu beginnen pflegt, so wollen auch wir von einem solchen ausgehen. Die Zufuhr der Baustoffe zur Arbeitsstelle erfolgt in diesem Fall stets durch einen Arbeitszug. Die Wagen mit den Schienen fahren voraus, dann folgen die Fahrzeuge mit der Bettung, hieran schließt sich ein Wagen zur Unterbringung der Mannschaft und meistens auch des Kleineisenzeugs. Die schiebende Lokomotive bildet den Schluß.
Zuerst werden die Schwellen abgeladen und auf der Bettung[180] so ausgelegt, daß die Schwellenmitten genau in der Mittellinie des Gleises liegen. Mit Hilfe eines Bandmaßes, das mit Löchern, entsprechend der beabsichtigten Schwellenteilung versehen ist, werden die Abstände genau geregelt.
Sobald die hölzernen oder eisernen Unterlagen in dieser Weise ausgerichtet sind, wird eine Schiene vor den Kopf der letzten, bereits liegenden gebracht, ein Stoßlückenblech eingelegt, und die Lasche mit vorläufig nur zwei Bolzen angeschlossen. Die Dicke der Lückenbleche muß entsprechend der Tageswärme ausgewählt werden. Im Winter also werden starke, im Sommer dünne Bleche verwendet. Zur Vereinfachung des Arbeitsvorgangs begnügt man sich jedoch mit nur drei verschiedenen Blechdicken. Damit Irrtümer leicht ausgeschlossen werden können, hat Launhardt für die Lückenbleche drei verschiedene Farbanstriche vorgeschlagen:
heiß | = | weiß |
lau | = | blau |
Frost | = | rost. |
Bei dem Anstoßen ruht die Schiene nicht auf den ausgelegten Schwellen, sondern auf drei Holzklötzen, die in Zwischenräume gestellt sind und die Schwellendecken etwas überragen. So können die Unterlagen leichter gerückt werden.
Durch Kreidestriche wird die Schwellenteilung genau auf die Schiene gezeichnet. Bei Regenwetter geschieht dies in dem geschützten Bezirk der Stegfläche. Alsdann läßt man die Schwellen hochheben, fest an die Schiene pressen und bringt die Nägel oder Schrauben ein, so daß eine innige Verbindung entsteht. Darauf wird die zweite Schiene herbeigeschafft, in gleicher Weise angestoßen und befestigt. Hierbei ist auf genaueste Einhaltung des Spurabstands Achtung zu geben. Die Überwachung geschieht durch das Einlegen von Spurmaßen.
Während die Schwellen auf der einen Seite stets bereits vor dem Auslegen vorgebohrt sind, werden die Löcher auf der anderen Seite größtenteils erst während des Auslegens mittels Schnellbohrmaschinen hergestellt, damit Spurerweiterungen leicht anzubringen sind. Zur Herstellung von Krümmungen mit einem Halbmesser von mehr als 700 Metern können gerade Schienen verwendet werden; der Stahl federt genügend durch, um so geringe Verbiegungen ohne weiteres zu gestatten. Für engere Krümmungen müssen die Schienen vorher gebogen werden, was durch einfache Schraubvorrichtungen geschieht.
Wenn auf diese Weise eine längere Gleisstrecke fertiggestellt ist, werden die fehlenden Laschenbolzen eingezogen, die Holzklötze entfernt. Das Gleis liegt nun auf der Unterbettung, ohne jedoch schon die genaue Höhe zu haben. Zu ihrer Herstellung ist eine sehr schwierige und sehr eigentümliche Arbeit vorzunehmen.
Es wird Bettungsstoff herangebracht und zwischen die Schwellen geschüttet. Nachdem die Gleisrichtung nach den Weisungspfählen ganz genau eingestellt ist, werden die Schwellen gestopft. Dies geschieht, indem man mit besonders geformten Äxten, den Stopfhacken, Bettungsstoff darunterschlägt.
Das Stopfen kann nur von sehr geschickten und geübten Arbeitern ausgeführt werden. Muß doch hier mit einem ganz rohen Stoff eine fast feinmechanische Genauigkeit erzielt[181] werden. Denn die festgelegte Höhe der Schienen-Oberkante, auch in den Überhöhungen muß durch das Stopfen ganz scharf erreicht werden.
Das Stopfen erfolgt von beiden Längsseiten der Schwelle zu gleicher Zeit, wobei sorgfältigstes Zusammenarbeiten von zwei oder vier Mann notwendig ist, damit der Grund unter jeder Schwelle genügend gefestigt wird. Man beginnt das Stopfen an den Schwellenköpfen, stopft dann unter den Schienenfüßen und weniger kräftig unter den Schwellenmitten. Die Stoßschwellen werden zuerst auf diese Weise in die endgültige Lage gebracht, darauf eine Schwelle in der Mitte und dann erst die dazwischenliegenden. Liegt einmal eine Schwelle nach Beendigung der Stopfarbeit zu hoch, so darf der Überstand keinesfalls durch Aufschlagen auf die Schwelle wieder beseitigt werden, weil dadurch eine Lockerung des Stopfgrunds eintreten würde. Die Bettung muß vielmehr mit großer Vorsicht seitlich abgegraben und dann von neuem untergestopft werden.
Nach Abschluß des Stopfens werden sämtliche Befestigungsmittel noch einmal genau nachgesehen und darauf die Stoßlückenbleche entfernt. Jetzt erst darf das Gleis von einer Lokomotive befahren werden, weil vorher ein Verbiegen der Schienen durch die schwere Auflast hätte stattfinden können. Wenn die Lokomotive mehrmals über den neu verlegten Streckenabschnitt gefahren ist, wird durch Vergleich mit den Höhen der Weisungspfähle festgestellt, ob die angestopfte Höhenlage auch erhalten geblieben ist. Wo durch Zusammenpressen der Bettung Senkungen stattgefunden haben, muß nachgestopft werden. Nach Beendigung auch dieser Arbeit wird das noch fehlende Bettungsmaterial bis zur Höhe der Schwellen-Oberkanten aufgeschüttet. In der Schwellenmitte wird die Bettung etwas niedriger gehalten, damit die Streckenläufer bequemer im Gleis gehen können. Sie vermögen dann von Schwelle zu Schwelle zu schreiten, ohne die mit scharfen Steinkanten durchsetzte Bettungsoberfläche mit den Sohlen zu berühren.
Nun ist der Bau der Strecke vollendet. Als ein neues Glied des gewaltigen Schienennetzes liegt sie in Erwartung des Verkehrs da, dem sie alsbald zu dienen hat.
Der stählerne Pfad erstreckt sich zwar heute ohne Unterbrechung und in stets gleicher Art von Memel bis Marseille, von Hamburg bis Konstantinopel, aber die silbernen Linien der Geleise sind nicht überall gleichmäßig und glatt, sie laufen nicht kalt und abweisend nebeneinander her, sondern treten öfter in Verbindung miteinander. Insbesondere vor und in Bahnhöfen ist hierdurch die Glätte der Schienenfläche zerrissen und zerschnitten, allerdings nicht in einer Weise, welche die Durchfahrt der Züge verhindert, sondern vielmehr durch Anordnungen, welche eine Erhöhung der Fahrmöglichkeiten bringen.
Damit ein wirklicher Eisenbahnbetrieb aufrechterhalten werden kann, ist es notwendig, die einzelnen Geleise so zusammenzuschließen, daß Fahrzeuge und ganze Züge von einem auf das andere übergeführt werden können. Hierfür gibt es drei Mittel: die Schiebebühnen, die Drehscheiben und die Weichen.
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Schiebebühnen, die in senkrechter Richtung zur Gleiserstreckung beweglich sind und Fahrzeugen, die von einem Gleis auf die davorstehende Bühne gefahren sind, die Möglichkeit geben, auf ein anderes Gleis zu gelangen, sind fast ausschließlich in Eisenbahnwerkstätten in Gebrauch.
Drehscheiben hingegen werden auf Bahnhöfen in großer Zahl verwendet. Nur in sehr seltenen Fällen wird man sie benutzen, um mit ihnen Wagenverschiebungen auszuführen; in der Hauptsache dienen sie dem Wenden von Lokomotiven und dem Übersetzen der Maschinen auf andere Geleise. Insbesondere an Stellen, wo von einem Stammgleis her sehr viele Abzweigungen erreichbar sein müssen, wie vor Lokomotivschuppen, sind die Drehscheiben sehr brauchbare Hilfsmittel. Sie werden von Hand oder durch mechanische Antriebe bewegt und sind trotz ihrer schweren Bauart ziemlich leicht zu drehen, da die Hauptlast nur auf einem Mittelzapfen, dem sogenannten Königsstuhl, aufruht. In durchgehende Geleise, wie das früher oft vorkam, dürfen Drehscheiben bei uns heute nicht mehr eingeschaltet sein. Die Festigkeit ihres Mittellagers und der seitlichen Auflager, die auf einem Drehkranz laufen, ist nicht so stark, daß man mit großer Geschwindigkeit über sie hinwegfahren könnte.
Zur Überführung geschlossener Züge von einem Gleis zum anderen und mit jeder beliebigen Geschwindigkeit sind nur Weichen verwendbar. Sie gestatten Ablenkungen und das Zusammenführen getrennter Fahrwege in die gemeinsame Fortsetzung.
Wegen der sehr starken Beanspruchungen, denen die gekrümmten Weichenstränge ausgesetzt sind, muß der Grund unter ihnen besonders fest und unerschütterlich gestaltet werden. Hier ist stets bester Bettungsstoff zu verwenden und sorgfältigstes Stopfen der Schwellen vorzunehmen. In Preußen werden jetzt unter Weichen fast stets eiserne Schwellen eingebaut.
Die am häufigsten vorkommende Form der Ablenkung ist die einfache Weiche. Sie stellt sich, je nach der Richtung des abzweigenden Gleises, als Rechts- oder Linksweiche dar (gesehen gegen die Spitze). Wegen Platzmangels ist es in Bahnhöfen oft nicht möglich, zwei aufeinander folgende Weichen, die also vom Stammgleis in zwei Abzweigungen geleiten, hintereinander anzuordnen, sondern man muß[184] sie so zusammenschieben, daß die Spitzen in ganz kurzem Abstand aufeinander folgen. Alsdann entsteht die verschränkte Doppelweiche. Wenn das Stammgleis nicht gerade, sondern an der Abzweigungsstelle gleichfalls gekrümmt ist, ergibt sich eine Anordnung, die man Zweibogenweiche nennt.
An den Stellen, wo zwei Geleise einander in gleicher Höhe kreuzen, sieht man gern die Möglichkeit des Übergangs von einem zum andern vor. Die Anbringung von Weichen an solchen Stellen ist jedoch nur möglich, wenn der Kreuzungswinkel ein gewisses Maß nicht überschreitet. So kann z. B. eine rechtwinklige Kreuzung nicht ohne Anlage von längeren Überführungsgeleisen mit Weichen ausgerüstet werden. Wohl aber ist dieses bei schiefwinkligen Kreuzungen möglich. Hier kann man, je nach Bedarf, eine einfache oder eine doppelte Kreuzungsweiche einbauen.
Die auf Bild 144 wiedergegebene Kreuzung gestattet selbst nur Fahrten von A nach B und von A´ nach B´, sowie in umgekehrter Richtung. Die einfache Kreuzungsweiche aber erschließt auch die Möglichkeit, von A´ nach B zu fahren. Will man nun ferner den vierten Weg, nämlich den von A nach B´ eröffnen, so muß eine doppelte Kreuzungsweiche (Bild 145) eingebaut werden.
Die Ablenkungsvorrichtung selbst besteht an den heutigen Weichen immer aus zwei beweglichen, gleich langen Zungen, die meist an ihren Wurzeln drehbar im Zungenstuhl gelagert sind und ihre seitliche Bewegung auf untergelegten Gleitplatten ausführen können. Statt der Weichen mit Drehstühlen, die häufiger Nacharbeitung bedürfen, kommen immer mehr federnde Zungenweichen zur Anwendung; nach Ausschneiden des Schienenfußes an der Drehstelle federt die in Zungenform gehobelte Schiene selbst genügend durch, um die notwendige kleine Bewegung zu gestatten.
Die Zungen sind an den Spitzen miteinander durch eine Stange verbunden und können durch eine Stellvorrichtung bewegt werden. Wenn die eine Zunge an ihrer Backenschiene anliegt, muß die andere von der zugehörigen Backenschiene genügend weit abstehen, damit die Spurkränze der Räder durch die Lücke hindurchlaufen können.
Diejenige Stelle des Gleises, an der die Abzweigung beginnt, die Weichenspitze, bedarf einer äußerst sorgfältigen Durcharbeitung. Nach jahrzehntelangen Versuchen verfährt man in Preußen heute so, daß man zur gänzlichen Vermeidung von Stößen die Fahrkante der Backenschiene an der Ablenkungsstelle unverändert durchlaufen läßt. Die Zungen laufen, damit die Richtungsänderung der Fahrzeuge ganz allmählich eintritt, sehr schlank aus. Dadurch werden die Zungen an der Spitze stark verschwächt, so daß sie hier nicht imstande sind, eine Last zu tragen. Um nun ein Verbiegen zu vermeiden, das gerade an dieser Stelle äußerst gefährlich wäre, sorgt man dafür, daß die[185] Zunge von dem Raddruck nicht erreicht werden kann, solange sie nicht genügend tragfähig ist. Darum schlägt die Zungenspitze nicht in der Höhe der Fahrfläche an die Backenschiene an, sondern ihre Oberkante senkt sich hier ab, so daß die Zunge unterschlägt. Von rückwärts gesehen erreicht die Zunge die Höhe der Fahrebene erst dann, wenn sie eine genügende Breite besitzt, um Lasten tragen zu können. Die Verschiebung des über die unterschlagende Weichenspitze gleitenden Fahrzeugs erfolgt dadurch, daß der Spurkranz durch die sich allmählich verbreiternde Zunge seitlich abgedrängt wird.
Bei jeder Abzweigung müssen notwendigerweise die Innenschienen der beiden Geleise einander durchschneiden. An dieser Stelle muß also gleichfalls Raum für die Spurkränze geschaffen werden. Es ist daher notwendig, daß hier die Fahrkanten, von denen die Räder fest geführt werden, eine Unterbrechung erleiden.
Jede dieser sehr schwierigen Überschneidungs- und Unterbrechungsstellen wird als besonderer Bauteil ausgebildet. Man nennt ihn das Herzstück. Jeder seiner Teile muß mit äußerster Sorgfalt hergerichtet werden, weil hier je ein Rad einer jeden Achse über eine Lücke hinweg muß, bei deren Überschreitung es die feste Führung auf der Laufschiene verliert.
Zum leichteren Verständnis der nun folgenden Ausführungen betrachte man Bild 147. Die an der Lücke fehlende Tragfläche der gewöhnlichen Laufschiene wird durch die abgebogenen Flügelschienen ersetzt, welche die Fortsetzung der Laufschienen bilden. Infolge seiner Breite greift der Radkranz, während er über die Lücke hinweggeht, auf die Flügelschienen über und wird von ihnen getragen, bis er die Herzstückspitze überschritten und nun eine neue Auflagefläche erreicht hat. Wären die Flügelschienen nicht vorhanden, so müßte das Rad an der Unterbrechungsstelle tief einsinken und mit furchtbarer Gewalt gegen die Herzstückspitze schlagen. Auch diese ist an ihrer schmalsten Stelle aus denselben Gründen wie die Zungenspitze etwas nach unten gesenkt.
Während die Flügelschienen also die fehlende, gewöhnliche Tragfläche für das Rad ersetzen, ist der gegenüber jeder Lücke an dem nicht unterbrochenen Strang angebrachte Radlenker (Bilder 137 und folgende) diejenige Vorkehrung, welche für die gleichfalls fehlende Führung an der Fahrkante eintritt. Der Radlenker verhindert durch seitliche Begrenzung des Spielraums für das äußere Rad, daß das andere führungslose Rad[186] in unzulässiger Weise seitlich ausweicht. Es entstünde ja ohne diese Vorkehrung für das über die Herzstücklücke hinweggehende Rad die Gefahr, sich soweit zu verschieben, daß der Spurkranz gegen die Spitze des Herzstücks schlüge, oder gar auf dessen falscher Seite anliefe.
Trotz aller dieser Vorkehrungen ist es aber doch ein Wunder, daß die Herzstücke von den außerordentlich schweren Lokomotiven, die wir heute besitzen, mit einer Geschwindigkeit von hundert Kilometern in der Stunde und mehr durchfahren werden können. Nur eine Edelzucht jedes kleinsten Bestandteils durch jahrzehntelange geistige Durchdringung der geringsten Vorgänge, die sich beim Durchfahren der Herzstücke abspielen, und eine kaum genug zu bewundernde Güte des Baustoffs für diese machen eine solche Beanspruchung möglich.
Neuerdings bringt man die Herzstücklücken in durchlaufenden Schnellzuggeleisen dadurch zum Verschwinden, daß man eine der Flügelschienen beweglich macht. Wir wollen annehmen, daß die wagerecht liegende Laufschiene auf Bild 147 zu einem solchen Hauptgleis gehört. Alsdann ist die nach oben ragende Flügelschiene drehbar. Sie wird durch starke Federn gegen die Herzstückspitze gepreßt. Die Räder, welche über das durchgehende Gleis laufen, finden alsdann eine glatte, ununterbrochene Fahrbahn vor. Diejenigen Räder aber, die aus dem Nebenstrang durch das Herzstück fahren wollen, müssen mit ihren Spurkränzen die federnde Laufschiene wegdrücken, damit die Spurkränze hindurchkönnen. Eine solche Vorrichtung kann daher nur an solchen Stellen angebracht werden, wo das schneidende Nebengleis stets mit geringer Geschwindigkeit durchfahren wird. Die federnde Laufschiene trägt sehr viel zum ruhigen Laufen schneller Züge bei.
Wo Weichen vorhanden sind, besteht die Möglichkeit, daß ein Fahrzeug, welches auf dem einen Gleis steht, dem Nebengleis so nahe kommt, daß es von einem auf diesem laufenden Fahrzeug gestreift werden könnte. Um diese Gefahr auszuschließen, sind an[187] allen Gleisüberschneidungen weiß und rot gestrichene Grenz- oder Merkpfähle angebracht, die anzeigen, wie weit ein Fahrzeug höchstens vorgeschoben werden darf, ohne daß es in die Umgrenzung des lichten Raums für das Nachbargleis hineinragt.
Über die Signale an den Weichen und über die besonderen, sehr ausgedehnten Sicherungseinrichtungen an diesen, sowie über den Zusammenhang zwischen Weichenlage und Signalstellungen wird in Abschnitt 21 ausführlich zu sprechen sein.
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Nunmehr haben wir die Straße kennen gelernt, die gebaut sein mußte, damit unser Schnellzug seine Fahrt vom Anhalter Bahnhof in Berlin nach München antreten konnte. Denn trotz der außerordentlichen Mühen und Anstrengungen, die man an die Herrichtung einer Eisenbahnstraße wendet, ist diese doch kein Selbstzweck. Sie stellt für sich nur ein ruhendes, nutzloses Gebilde dar. Und doch hat man allmählich die Erde mit einem dichten Netz dieser dürren, bräunlichen Dammstreifen überzogen — weil sie der Schemel sind für die Füße eines höheren.
Erst die schnelle Bewegung auf der gebahnten Straße füllt den Begriff „Eisenbahn“. Das an strotzendem Leben, behender Kraft und eindrucksvoller Wirkung reichste Gebilde, das je aus Menschenhand hervorging, ist es, das ganz allein die brausende Bewegung auf dem stählernen Pfad hervorruft.
Wir haben vorhin den zur Abfahrt fertigen Schnellzug betrachtet. Die Bahnhofshalle, in der er stand, das Gleis, auf dem seine Räder aufruhten, die großen D-Wagen selbst, sie alle waren nur unbeseelte Gebilde aus Holz und Eisen. Die Lokomotive allein ist im Bereich der Schienenwelt eine Persönlichkeit. Das atmende, pochende Leben erst, das in ihrem wohlgebildeten Leib eingeschlossen ist, bringt die herrliche Erscheinung des über die Schienen sausenden Zugs zustande, ihre Riesenkraft allein macht die lastenden Wagenburgen leicht beweglich.
Winden wir uns nunmehr durch das Gewühl, welches auf dem Steig des Anhalter Bahnhofs um den zur Fahrt nach Halle bereiten Schnellzug herrscht, und beschauen wir das ungeheure Pferd, das vor ihn gespannt ist.
Welch eine andere Maschine sehen wir hier vor uns, als die es gewesen, welche vor noch nicht 90 Jahren beim Wettkampf zu Rainhill von dem Meister Stephenson zum Sieg geführt wurde. Die „Rakete“ leistete zehn Pferdestärken. Unsere Schnellzuglokomotive vermag mehr zu leisten als 1200 Pferde. Im Kessel der „Rakete“ drückte[189] der Dampf mit einer Pressung von 3,3 Kilogramm auf jedes Quadratzentimeter, und man fürchtete damals schon ein Zerspringen. Heute ist der Dampf im Kessel bis zu 16 Atmosphären angespannt. Das Gewicht der Maschinen ist von 8000 Kilogramm auf 120 000 Kilogramm gestiegen. Die Höchstgeschwindigkeit vor dem Zug, die damals 40 Kilometer in der Stunde betrug, ist auf 120 Kilometer angewachsen.
Die schöne Frances Anne Kemble, die mit Georg Stephenson auf der „Rakete“ mitfahren durfte, sprach in dem Brief, den sie über dieses Erlebnis an ihre Freundin schrieb, und der in Abschnitt 4 mitgeteilt wurde, von der „kleinen und munteren Maschine“, die nur „aus einem Kessel, einer Bank und einem Faß dahinter“ bestehe. „Ein einziger kleiner Stahlhebel,“ so bemerkte sie, „ist zur Lenkung des Ganzen vorhanden.“ Wer heute eine Fahrt auf der Lokomotive zu beschreiben hat, kommt mit so einfachen Wendungen den Tatsachen nicht mehr nahe. Die geistige Arbeit von vielen Geschlechtern der Eisenbahntechniker ist jetzt in dem Hebelgewirr der Lokomotive vereinigt. Sie ist weder klein noch munter, sondern riesenhaft gefügt und trägt den tiefen Ernst nutzbaren und unentbehrlichen Schaffens im Dienst der Menschheit auf dem kühnen Antlitz, das unsere[190] durch ihren Anblick stark erregte Vorstellungskraft ihrem Körper anfügt. Die Schilderung ihres Baus und ihres Arbeitens läßt sich nicht mehr in ein paar Sätzen zusammenfassen.
Bevor wir diese Beschreibung beginnen, wollen wir noch einen Augenblick bei dem Namen verweilen, den die Maschine heute trägt, der aber zu Lebzeiten des Fräuleins Kemble noch nicht in der heutigen Art gebräuchlich war.
Es gibt nur sehr wenige Benennungen, die sich, allen Sprachgrenzen zum Trotz, so weit über die Erde verbreitet haben, wie das Wort „Lokomotive“. Es ist aus zwei lateinischen Worten gebildet, dem der klassischen Zeit entstammenden Wort locus = Ort und dem spät-lateinischen motivus = beweglich. In der Patentschrift, die Stephenson im Jahre 1815 einlieferte, spricht er von einer „construction of locomotive engines“. Der heutige Name wird hier als Eigenschaftswort gebraucht. Erst um 1840 fängt dieses, nach einem Aufsatz von Metzeltin in den „Hanomag-Nachrichten“, an, sich zum Hauptwort umzuwandeln. Von da an beginnt sein Siegeslauf durch die Länder zahlreicher Völker, gleichgültig ob sie eine romanische oder eine germanische Sprache reden. Der Engländer sagt heute „the locomotive“, der Franzose „la locomotive“, im italienischen heißt es „la locomotiva“, in Portugal „a locomotiva“; der Rumäne spricht von einer „locomotiva“, der Holländer sagt „de locomotief“, der Däne und Schwede „locomotivet“. Nur im Spanischen findet sich eine Abweichung; hier heißt es „la locomotora“.
Auch wir Deutschen haben uns dem allgemeinen Gebrauch in dieser Beziehung angeschlossen, was ja bei unserer bedauerlich leichten Hinneigung zu Fremdworten wahrlich kein Wunder ist. Die Bezeichnung „Lokomotive“ ist so tief in unseren Sprachschatz eingedrungen, daß bis zum heutigen Tag ein wirklich deutsches Ersatzwort hierfür fehlt. In Verdeutschungs-Wörterbüchern findet man wohl „Dampfwagen“ und „Dampfroß“ angegeben. Beide sind für den wirklichen Gebrauch nicht verwendbar. Das Wort „Dampfwagen“ ist durch die technische Sprachübung für eine besondere Gattung von Eisenbahnfahrzeugen belegt, nämlich für solche, bei denen die Dampfmaschine und der zur Aufnahme von Fahrgästen bestimmte Wagenkasten baulich zu einem untrennbaren Ganzen vereinigt sind. „Dampfroß“ ist eine ausschließlich in gehobener, dichterischer Sprache zulässige Wendung, und auch hier ist sie nicht gerade schön, weil der bildliche Vergleich, den sie ausdrückt, durch allzu häufige Benutzung bereits stark abgeblaßt ist.
Überhaupt kann heute keine Ersatzbildung, welche die Worte „Dampf“ oder auch[191] „Feuer“ in sich schließt, also etwa „Feuerwagen“, mehr in Gebrauch genommen werden, da sie für die elektrische Lokomotive keinesfalls passend sein würde. Ob vorgeschlagene Neubildungen wie „Beweger“, „Treibling“ oder „Treibzeug“ sich jemals die deutsche Sprache werden erobern können, muß abgewartet werden. Wünschenswert bliebe es natürlich, daß unsere so überquellend reiche Muttersprache auch an dieser Stelle den eingedrungenen Fremdling erfolgreich vertriebe. Bemerkenswert ist noch der Hinweis von Metzeltin, daß einstmals in Deutschland ein Streit darüber getobt hat, ob man „die Lokomotive“ oder „das Lokomotiv“ sagen solle. Heute ist dieser Kampf ja vollständig zugunsten des weiblichen Geschlechts entschieden. Aber an der Bahnstrecke Salzburg-Hallein gibt es noch immer ein „Gasthaus zum Lokomotiv“. — —
Wir haben uns die Erlaubnis erwirkt, in den Führerstand der Lokomotive hinaufsteigen zu dürfen. Sobald wir nach Überwindung der steilen Stufen auf der eisernen Plattform angelangt sind, blicken wir zuerst durch das länglich runde Fenster an der rechten Seite der vorderen Abschlußwand des Führerstands hinaus auf die Strecke.
Wie ganz anders stellt sich uns der Eisenbahnkörper jetzt dar, als wir ihn gewöhnlich, in unserer Eigenschaft als einfache Reisende, zu sehen gewohnt sind! Alles heitere gesellschaftliche Treiben, das wir eben noch am Zug beobachtet haben, ist verschwunden. Kalt und streng recken sich die Schienen über der mit größter Sauberkeit hingebreiteten[192] Bettung aus. Man kann zwar, wenn man zur Seite blickt, die Bahnsteige auf der Ankunftsseite des Anhalter Bahnhofs sehen, aber diese haben plötzlich die hervortretende Bedeutung, welche sie für jeden Reisenden besitzen, vollständig verloren. Sie sind bescheidene Auswüchse am endlos sich ausreckenden Streckenkörper geworden.
Mit haarscharfer Deutlichkeit heben sich die Arme der Signale vom leuchtenden Sommerhimmel ab. Man begreift plötzlich, welche ungeheure Bedeutung diesen Zeichengebern innewohnen kann, wenn sie sinnvoll bedient und in ihren wechselnden Stellungen richtig verstanden werden. Zu den Füßen der Signalmaste wimmelt, wie das Unterholz im Hochwald, das Gestrüpp der Weichenlaternen mit ihren weißen Pfeilen, viereckigen und runden Scheiben. Die sanft geschwungenen Bogen der Weichen selbst durchschneiden die glatten Schienenstränge in einem tollen Durcheinander; sie bringen, so scheint es, Verwirrung in die geraden Geleise, so etwa wie ein ABC-Schütze die Sauberkeit der vorgezogenen Linien vernichtet, wenn er auf der Seite seines Schreibhefts Zeichenübungen anstellt. Aber wir wissen schon, daß die Anordnung jeder dieser vielen Dutzende von Weichenlagen genauester Überlegung entsprungen ist.
Weit mehr noch werden wir verwirrt, wenn wir uns nun im Führerstand selbst umblicken. Da sind massige und zierliche Hebel zu sehen, große und kleine Räder, Handgriffe, die hinauf, hinab, nach rechts oder nach links bewegt werden können, Zifferblätter, Klappen und allerhand Kurbeln. Nur wenige dieser Vorrichtungen sind bezeichnet, so daß wir uns vorläufig über ihre Wirksamkeit nicht klar werden können.
Aber jetzt hat der Aufsichtsbeamte draußen auf dem Bahnsteig das Zeichen zur Abfahrt gegeben, und wir haben nun Gelegenheit, den Lokomotivführer beim Bedienen einer großen Zahl dieser Hilfswerkzeuge zu beobachten. Während die Maschine anfährt, gibt er uns einige Erläuterungen.
Zunächst dreht er an einer blanken, mit einem breit gezahnten Rad versehenen Kurbel, die unter seinem Fenster angebracht ist. Es bewegt sich draußen eine Stange, die fast bis zur Vorderwand des Kessels reicht. Sie legt die Dampfsteuerung der Maschine durch Verstellen der Schieber so um, daß der nun alsbald in die Zylinder tretende Dampf die Lokomotive zum Vorwärtsfahren bringt. Bis dahin haben die Schieber in der Mitte, in Abschlußstellung, gestanden. Ein Drehen der Kurbel nach der anderen Seite hätte Rückwärtsfahrt verursacht. Sobald die richtige Schieberstellung erreicht ist, fällt ein kräftiger Daumen in eine Vertiefung des gezahnten Rads und hält Kurbel und Steuerungsstellung unverrückbar fest.
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Durch Zug an einem kleinen Griff öffnet der Führer nun Ventile, die sich ganz vorn an den Zylindern befinden. Sofort tropft, was wir allerdings von unserem Stand aus nicht beobachten können, Wasser auf den Bahnkörper hinunter. Es ist der Niederschlag, der sich in den Zylindern beim Stillstand der Maschine aus dem erkalteten Dampf gebildet hat; dieser muß bei den ersten Kolbenhüben einen freien Ausweg finden, damit keine schädlichen Wasserschläge gegen die Zylinderwände entstehen.
Dann ist der große Augenblick gekommen, in dem der mächtigste, auch für das Auge stark vortretende, blanke Hebel in der Mitte des Führerstandes bewegt wird: der Regler. Er gibt dem im Kessel schon ungeduldig brausenden, hochgespannten Dampf den Weg zu den Zylindern frei. Erst zischt es aus den immer noch offenen Zylinderhähnen hinaus, dann läuft die Maschine, deren ungeheures Gewicht bisher wuchtig und anscheinend unverrückbar auf den Schienen geruht hat, langsam an, die Last der Wagen unwiderstehlich hinter sich her ziehend. Draußen auf dem Bahnsteig beginnt das Abschiedswinken, aber hier im Führerstand bemerken wir nichts davon. Der Führer hält den Reglerhebel fest gepackt und öffnet, indem er ihn auf einer kleinen kreisförmigen Gleitbahn verschiebt, das Dampfventil immer weiter. Dann schließt er die Zylinderhähne, das Zischen dort vorn hört auf, so daß man nun allein das Ausstoßen des von seiner Arbeit in den Zylindern kommenden Dampfs aus dem Blasrohr unter dem Schornstein hört. Noch einmal wird an dem Steuerungshebel gedreht, bis der daran angebrachte Zeiger auf einer Zahleneinteilung eine bestimmte Ziffer anzeigt. Jetzt ist die Steuerung in jene Stellung gebracht, die erfahrungsgemäß den geringsten Dampfverbrauch sicherstellt. Die Maschine befindet sich in voller Fahrt.
Mit der Tabakspfeife im Mund steht der Führer hinter seinem Fenster. Der Blick, der sich ihm von dort auf die Strecke öffnet, ist nicht völlig frei. Er kann das Gleis erst in einer Entfernung von mehreren Metern erblicken, denn zunächst streckt sich vor dem Fenster der mächtige Leib des Kessels aus, der alles unter ihm liegende zudeckt. Die Maschine wiegt sich bei dem Laufen über die Schienenstöße auf ihren Federn, und der Beschauer bemerkt auf einmal, wie richtig doch das abgegriffene Bildwort „Dampfroß“[194] den Eindruck der laufenden Maschine wiedergibt. Sie hüpft und springt wirklich wie ein Pferd, die Kesselwölbung gleicht dem Rücken eines Rosses, und die Mähne wird durch die wehenden, flatternden Wölkchen gebildet, die aus dem Schornstein dringen.
Jetzt sind es einzig die Signale, nach denen der Führer emsig späht. Sie allein können ihm durch ihre Stellung anzeigen, ob die Strecke für ihn frei ist, oder ob er anhalten soll. Hier und da nur wirft er einen Blick auf die Zifferblätter der zahlreichen Druckmesser, die vor seinen Augen angebracht sind und den Dampfdruck im Kessel, im Schieberkasten, die Luftpressung in dem großen Bremsbehälter sowie in der Bremsleitung anzeigen.
Für die Aufrechterhaltung des richtigen Kesseldrucks und der sonstigen für die Maschine vorgeschriebenen Ordnung hat sein Gefährte, der Heizer, zu sorgen. Dessen Hauptaugenmerk ist der richtigen Unterhaltung der Feuerung zugewendet. In kurzen Abständen öffnet er die Tür, und der Blick vermag nun in die lodernde Hölle dort drinnen zu spähen.[195] Blendende Helligkeit bricht aus der schwarz umrahmten Öffnung heraus. Ein roter Vorhang ist aufgezogen, der alle Bauformen verdeckt. Schmale, schwarze Streifen, gebildet von den aus dem Brennstoff dringenden Dämpfen, ziehen sich hindurch. Knatternd und prasselnd pfeift die durch den Blasrohrzug von unten her angesaugte Luft durch die glühenden Kohlen.
In den Pausen aber zwischen den häufigen Versorgungen der Feuerung läßt der Heizer nicht ab, den Stand des Wassers in dem an den Kessel geschraubten Glasrohr zu beobachten. Sobald eine bestimmte Höhe unterschritten ist, setzt er geschwind die Pumpe in Bewegung, die nun neues Wasser aus dem Vorratsbehälter auf dem Tender in den Kessel wirft. Ununterbrochen bedient er die verschiedenen Griffe, deren Bedeutung wir aber erst nach genauerer Kenntnis des Lokomotivkörpers recht werden verstehen können.
Keinen Augenblick läßt die Aufmerksamkeit der beiden Männer nach, welche die Verantwortung für das Leben der vielen Reisenden dort drinnen in den Wagen tragen; unablässig ist der eine bemüht, sich von dem Zustand der Strecke, der andere von dem Wohlbefinden der ihm anvertrauten Maschine zu überzeugen.
Endlich kommen die gewölbten Kuppeln des Bahnhofs Halle in Sicht. Der Führer faßt einen Griff, an den er bisher noch nicht gerührt hat: das Führerbremsventil. Mit wohl abgewogenen Bewegungen des schwachen kleinen Hebels hemmt er langsam die Riesenwucht des mit einer Geschwindigkeit von hundert Kilometern dahinsausenden Zugs. Noch ein Zischen der gepreßten Luft, und die Wagenburg ist an der richtigen Stelle zum Halten gebracht. Die Stimmen vieler Menschen, die man nicht sieht, tönen aus der Ferne zum Führerstand hinauf, der solange ganz von hartem Dröhnen erfüllt gewesen ist. Aus der besonderen Welt, in der wir zwei Stunden lang geweilt haben, sind wir nun[196] dem allgemeinen Leben wiedergegeben. Wir haben das ruhige, selbstbewußte Arbeiten der Lokomotivmannschaft im Gewirr der Hebel und Griffe beobachtet, ohne doch noch im entferntesten den Sinn all dieser Vorrichtungen zu begreifen. Deshalb beschließen wir, zunächst den Bau der Lokomotive näher kennen zu lernen. Hierzu haben wir beste Gelegenheit, da unsere Maschine nunmehr vom Zug abgekuppelt wird, um einer anderen mit noch unverbrauchter Kraft Platz zu machen.
Nachdem unsere Lokomotive auf ihrem Ruheplatz angelangt ist, umschreiten wir ihren Körper, um zunächst einmal dessen äußere Formen näher kennen zu lernen.
Fünf Hauptbauteile sind es, die das Auge eines sorgsamen Beobachters an der Lokomotive ohne große Mühe unterscheiden kann. Recht deutlich heben sich voneinander ab: der Kessel, der Rahmen, das Triebwerk, das Laufwerk und der Tender.
Wie eine große Kuppel einen mächtigen Hallenbau krönt und ihm seinen Ausdruck verleiht, so beherrscht der langgestreckte Rundkessel den Körper der Lokomotive. Neben seiner Größe verschwinden fast die Anbauten, die sich ihm vorn und hinten gesellen und heute untrennbar zu ihm gehören. Den hinteren Abschluß des Rundkessels bildet ein kleinerer, oben gleichfalls gerundeter, aber an seinem Fußende eckiger Kessel, in dem sich die Feuerkiste befindet. Vorn erblickt man eine Erweiterung der Rundung. Es ist die Rauchkammer, aus deren Wölbung der Schornstein nur noch zu einem kargen Teil heraussieht.
Nicht ohne Erstaunen wird man inne, daß die Kesselform heute noch ganz die gleiche ist wie bei Stephensons „Rakete“. Und das nicht nur im äußeren, sondern auch in dem ganzen inneren Aufbau. Neu hinzugekommen ist nur die Rauchkammer, die jener Ahne der Lokomotive noch gefehlt hat.
Auf dem Rücken des Rundkessels erblicken wir den Dampfdom, in welchem die Dampfzuführungsrohre für die Zylinder ihren Anfang nehmen, und eine zweite Erhebung: den Sandkasten.
Kantig springt unter dem Rundkessel die Grundveste hervor, die ihn trägt und unterstützt. Es ist dies der breit und wuchtig gefügte Lokomotivrahmen; er verleiht dem Ganzen Festigkeit und hartes Widerstandsvermögen.
An ihn gehängt ist das Triebwerk, bestehend aus den Zylindern und einem Gewimmel blanker Stangen. Die Zahl der Zylinder können wir von außen nicht mit Sicherheit erkennen. Nur zwei von ihnen werden ganz vorn als wohlgerundete, seitliche Schwellungen sichtbar. Wenn die Lokomotive noch mehr Zylinder besitzt, was bei den großen Schnellzugmaschinen heute stets der Fall ist, so bleiben diese dem Auge des Beschauers verborgen, da sie durch den Rahmen verdeckt werden.
Die Zylinder sind die Erzeuger der Antriebskraft für die ganze Maschine. Von hier geht der Antrieb für das Laufwerk aus, der durch die Triebstangen dorthin übermittelt wird.
In jedem der sorgfältig ausgebohrten Zylinder steckt ein genau abschließender, scheibenförmiger Kolben. Durch die beim Laufen der Maschine selbsttätig eintretende Bewegung der Steuerungsteile wird bewirkt, daß der Dampf bald vor, bald hinter die Kolbenscheibe tritt, so daß diese hin und her bewegt wird. Die gleiche Bewegung macht die Kolbenstange. Von ihrem in einer Geradführung gelagerten Ende geht die auch in der senkrechten Ebene bewegliche Pleuel- oder Schubstange aus, die mittels einer Kurbel an einer der Radachsen angreift. Auf diese Weise wird die hin und her gehende Bewegung der Kolben in eine drehende verwandelt.
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Die Hauptkurbel ist durch weitere Stangen mit kleineren Kurbeln an jenen Achsen verbunden, die ferner noch angetrieben werden sollen. Dieses Gestänge zusammen mit dem vielfach gegliederten Antrieb der Steuerung bildet auf jeder Seite der Maschine die blanke Mannigfaltigkeit des Triebwerks.
Gleich den Zylindern sind auch die Achsen der Lokomotive in den Rahmen eingesetzt. Ihre Zahl wechselt bei den verschiedenen Maschinen-Gattungen sehr lebhaft. Auch die Größe der auf die Achsen gesteckten Räder ist außerordentlich mannigfaltig. Neben den angetriebenen Achsen findet man noch solche, an die keine Kuppelstangen angelenkt sind. Man nennt sie Laufachsen.
Der letzte der Hauptbauteile gehört nicht eigentlich mehr zum Lokomotivkörper selbst. Es ist ein selbständiges Fahrzeug, das durch eine schwere, sehr kurze Kupplung mit dem Maschinenwagen verbunden ist. Der Tender trägt den Mundvorrat für den immer gefräßigen Kessel: das Wasser in einem geschlossenen Behälter, die Kohle hoch aufgetürmt darüber. Der Kohlenvorrat ist durch eine zwischen Führerhaus und Tenderplattform gelegte Brücke für den Heizer ohne weiteres zugänglich, das Wasser wird durch bewegliche Rohre oder biegsame Schläuche hinübergesaugt.
Damit haben wir das Äußere der Lokomotive aufmerksamen Auges überblickt. Wir haben aber von ihrer Fügung jetzt noch nicht mehr erfahren als etwa von der des menschlichen Körpers, wenn wir nur die auf der Straße vorübergehenden, wohl angekleideten Bürger betrachten. Selbst viele wichtige Einzelheiten, die auch nach außen hervortreten, sind uns entgangen, und gar nichts wissen wir von den inneren Teilen.
Um zu erkennen, wie es möglich ist, daß auf so kargem Raum, wie er bei der Lokomotive trotz ihrer Riesenhaftigkeit nur zur Verfügung steht, so viel Kraft vereinigt sein kann, wie man imstande ist, die fast unzähligen Hilfsmittel für ihre ordnungsgemäße Unterhaltung so unterzubringen, daß auch die während der Fahrt nicht zugänglichen Maschinenteile ständig beeinflußt werden können, wie vier Hände von einem schmalen Bezirk aus die ganze gewaltige Bildung zu bändigen und den zahllosen Anforderungen entsprechend[198] zu beeinflussen vermögen — um das zu erkennen, müssen wir auch in das Innere der Maschine hineinschauen. Das aber vermögen wir weder in der Bahnhofshalle, noch im Lokomotivschuppen zu tun; zu diesem Zweck müssen wir uns in die Fabrik begeben, wo der Bau aus seinen einzelnen Teilen langsam aufgeführt wird.
Der Stoff, welcher in der Lokomotiv-Maschine Arbeit leistet, wird in dem Dampfkessel erzeugt. Es sind für diesen Zweck der hintere Stehkessel mit der darin liegenden eigentlichen Feuerkiste und der daran sich anschließende Rundkessel zur Verfügung, durch den die heißen Feuergase ziehen. Die Gesamtheit der von diesen bestrichenen Flächen nennt man die Heizfläche; von ihrer Größe ist die Menge des in jeder Minute erzeugten Dampfs abhängig.
Die Ausgangsstelle für die Wärme, die notwendig ist, um das in den Kessel gefüllte Wasser in Dampf zu verwandeln, ist die Feuerung. Durch eine Öffnung in der hinteren Wand der Feuerkiste, die Feuertür, wird Kohle auf einen in den Boden der Feuerkiste eingesetzten Rost geworfen. Das Glühen der Kohlenschicht wird durch immer[199] neue zwischen den Roststäben eintretende Luft unterhalten. Die Feuerung entwickelt eine Hitze von 1500 bis 1600 Grad.
Über die eigentliche Feuerkiste ist mit einem schmalen Abstand aller Wandungen eine zweite, an den Seiten gleichfalls ebene, oben jedoch gewölbte Schale gestülpt. Sie bildet die äußeren Wandungen des Stehkessels. Unten sind innerer Kistenkörper und Außenschale durch einen wagerechten Bodenring vereinigt. An diesem hängt der Aschkasten, in dem auch die durch den Rost fallenden glühenden Kohlestückchen aufgefangen werden, damit sie nicht auf die Strecke gelangen und die hölzernen Schwellen in Brand setzen. Der Aschkasten ist an den Seiten geschlossen, nach vorn und hinten dagegen offen. Durch Klappen, die vom Führerstand her zu bedienen sind, kann er nach Belieben auch hier abgeschlossen werden.
In dem Raum zwischen den inneren und äußeren Wänden des Stehkessels, der die Feuerung umschließt, befindet sich Wasser, damit auch schon hier die Hitze der entwickelten Feuergase ausgenutzt werden kann. Doch die Wassermenge, die man an dieser Stelle unterzubringen vermag, ist gering. Sie spielt im Gesamthaushalt des Kessels nur eine bescheidene Rolle.
Es ist sehr merkwürdig, daß sich die viereckige Form des Feuerungsraums, die Stephenson bei der „Rakete“ anwendete, bis zum heutigen Tag unverändert erhalten hat. Die Benennung „Feuerkiste“ ist sehr treffend, denn der Querschnitt ergibt ein richtiges, wenn auch an den Ecken abgerundetes Rechteck. Man hat bis jetzt für diesen Kesselteil keine bessere Form finden können, die Raum für den tiefliegenden Rost gewährt und zugleich den Übergang zu dem anstoßenden Rundkessel gestattet. Die geradwandige Kiste ist jedoch ziemlich die ungünstigste Form, um so hohen Kesseldrucken zu widerstehen, wie sie heute angewendet werden. Gehen wir doch bis zu Dampfpressungen von 16 Atmosphären hinauf, das heißt jedes Quadratzentimeter der Wände wird so stark gepreßt, als wenn es mit einem Gewicht von 16 Kilogramm belastet wäre.
Damit die geraden Wände des Stehkessels hiergegen genügenden Widerstand leisten können, ist die Einfügung sehr schwieriger Versteifungen zwischen ihnen notwendig gewesen. Man sorgt dafür, daß beide Wandungen, die vom pressenden Dampf in entgegengesetzter Richtung beansprucht werden, sich gegenseitig unterstützen. Diese Hilfshandlung wird erreicht durch das Einziehen von Stehbolzen an den Seiten, sowie von Decken- und Querankern unter der Wölbung des Stehkessels.
In geringen Abständen sind die beiden Stehkesselwandungen durchbohrt und die Löcher mit tiefgängigen Gewinden versehen. Kräftige Stangen, die an ihren Enden je ein entsprechendes Außengewinde tragen, werden hindurchgeschraubt und dann außen vernietet, so daß die beiden Wandungen unverrückbar gegeneinander versteift sind. Die Decken- und Queranker, die zum Teil noch durch aufgeschraubte Muttern gesichert sind, haben die gleiche Aufgabe zu erfüllen.
Bis zum Ausbruch des Weltkriegs wurden in Deutschland sowohl die Feuerkiste wie auch die Stehbolzen aus Kupfer hergestellt. Dieser Stoff ist bei uns stets sehr teuer gewesen, und man kann sich leicht denken, daß besonders zwingende Umstände vorgelegen haben müssen, damit man sich zum Verbrauch so großer Kupfermengen veranlaßt sah. Der Grund hierfür ist die geringe Empfindlichkeit von Kupfer gegen wechselnde Spannungen seines Gefüges.
Das Feuer brennt ja unter den Lokomotiven durchaus nicht immer. Zwischen den Arbeitszeiten, in denen mit aller Macht geheizt wird, liegen immer wieder Stunden, in[200] denen nur ein schwaches Feuer unterhalten wird, und es kommen auch Zeiten, in denen dieses ganz erlischt, wie bei langen Betriebspausen, Untersuchungen und Ausbesserungsarbeiten. Durch die wechselnde Erhitzung und Abkühlung werden nun die Stoffe, die in unmittelbarer Nachbarschaft des Feuers liegen, durch die rasch aufeinanderfolgenden Dehnungen und Zusammenziehungen fortwährend hin und her gezerrt.
Man ist in Amerika schon seit vielen Jahrzehnten der Meinung gewesen, daß auch Eisen imstande ist, solchen Beanspruchungen genügenden Widerstand zu leisten, ohne zu reißen. In den Vereinigten Staaten hat man, obgleich dort Kupfer im eigenen Land reichlich zur Verfügung steht, schon seit Jahrzehnten eiserne Feuerkisten sowie Stehbolzen aus gleichem Stoff verwendet und damit gute Erfahrungen gemacht. Der Krieg hat auch uns dazu gezwungen, auf das Kupfer an dieser Stelle zu verzichten. Ein abschließendes Urteil über die Bewährung der eisernen Feuerkisten und Stehbolzen bei uns wird sich erst nach längerer Zeit fällen lassen.
Wenn wir nicht zu dem gleichen günstigen Ergebnis kommen sollten wie die Amerikaner, so kann das seinen Grund darin haben, daß drüben fast sämtliche Lokomotiven mit doppelter Mannschaft besetzt sind, sich also bis zum Eintritt größerer Schäden ununterbrochen im Dienst und demgemäß in gleicher Wärme befinden. Die Schwankungen sind deshalb im Betrieb der deutschen Bahnen mit ihrer zum Teil einfachen Lokomotivbesetzung und den daraus folgenden zahlreichen Ruhepausen der Maschinen sehr viel häufiger.
Jeder einzelne der Stehbolzen hat eine wichtige Sicherungsaufgabe zu erfüllen. Sie sind gerade in der Zahl eingezogen, die für die genügende Befestigung der Feuerkistenwände notwendig ist. Die fortwährenden Zerrungen bewirken jedoch ein verhältnismäßig nicht allzu seltenes Brechen der Stehbolzen. Es ist notwendig, daß dieses sofort kenntlich wird. Aus diesem Grund ist jeder der Stehbolzen in seiner Mittelachse von vorn und[201] von hinten angebohrt. Tritt ein Bruch ein, der niemals in der Mitte des Bolzens, sondern stets am Ende der fest eingespannten Gewindestücke erfolgt, so dringt entweder aus der äußeren oder der inneren Bohrung sofort ein feiner Wasser- oder Dampfstrahl hervor. Die Lokomotivmannschaft weiß nun, daß ein neuer Stehbolzen eingezogen werden muß.
Der bei weitem größte Teil der von der Feuerung entwickelten Hitze wird aber erst in dem Rundkessel verwendet. An seinen Wandungen geben die heißen Gase den größten Teil ihrer Wärme ab. Damit die Berührungsflächen so ausgedehnt wie möglich sind, damit also eine möglichst große Wasserfläche durch die metallenen Wandungen hindurch von den Heizgasen erwärmt wird, ist der Wasserraum des Rundkessels von vielen wagerechten Rohren durchzogen. Jedes von ihnen bildet ein gasdurchströmtes Heizrohr.
Was hier zu höchst wirksamer Verwendung gelangt, ist der alte Boothsche Gedanke, der schon die „Rakete“ befähigt hat, alle ihre Gegner zu überwinden.
Die Heizrohre haben jedoch heute nicht mehr in allen Lagen gleichen Durchmesser, sondern sie sind bei den meisten der großen Maschinen oben weiter gehalten als unten; dies geschieht aus einem Grund, den wir noch kennen lernen werden. Die Rohre werden in senkrechten Reihen übereinander angeordnet, damit die sich entwickelnden Dampfblasen überall leicht aufsteigen können.
Auf seinem Rücken hat der Rundkessel noch eine hohe Ausbuchtung, die nach außen als Dom zutage tritt. An der höchsten Stelle des Doms liegt, wie wir schon gehört haben, die Dampfentnahmestelle, welche durch den Reglerhebel geöffnet und geschlossen werden kann. Diese Stellung für die Ausströmungsöffnung ist gewählt, weil man möglichst trocknen Dampf in die Zylinder leiten will. Die im ganzen Wasserraum des Kessels an den Wänden der Heizrohre sich entwickelnden Dampfblasen reißen ja immer etwas Wasser in feinsten Tröpfchen mit. Der Wasserreichtum des Dampfs wird immer geringer, je höher dieser aufsteigt. Außerdem sorgt auch ein in besonderer Weise durchbrochener Abschluß der Domausbuchtung nach unten zu für reichliche Abscheidung des Wassers.
Dieses will man von den Zylindern möglichst fernhalten, da ja nur der Dampf Arbeit[202] leisten kann, Wasser jedoch toter Ballast ist. Den trockensten Dampf liefert eben die Kuppel des Doms. Um möglichst viel Dampf in geeigneter Form zur Verfügung zu haben, werden manche Lokomotiven auch mit zwei Domen ausgerüstet, die dann durch ein Rohr miteinander verbunden sind.
Die großen Rohre, die den Dampf vom Dom zu den Zylindern leiten und ihn von dort nach geleisteter Arbeit wieder abfließen lassen, führen durch die Rauchkammer. Diese wird heute breit ausladend und sehr tief gebaut, damit die glühenden Kohlestückchen, die von den Heizgasen durch die Kesselrohre mit hindurchgerissen werden, sich an der Vorderwand ablagern können. Der Schornstein ist aus dem gleichen Grund etwas nach hinten zurückgesetzt. Er steckt zum großen Teil im Innenraum der Rauchkammer, nur ein Stumpf seines kegelförmigen, nach oben breiter werdenden Baus schaut noch heraus, damit die Umgrenzung des lichten Raums nicht überschritten wird. Hierdurch bekommen unsere neuen großen Maschinen ihr geducktes Aussehen. Vor die untere Schornsteinmündung ist stets noch ein Funkenfänger gesetzt.
Feuerkiste und Rauchkammer stehen durch die Heiz- oder Rauchrohre in engstem Zusammenhang miteinander. Auf dem Weg zwischen ihnen findet die Ausnutzung der heißen Gase für die Erwärmung des Wassers statt. Nur diejenige Wärme ist nutzbar angewendet, welche die Gase vor ihrem Eintritt in der Rauchkammer abgegeben haben. Bei ordnungsgemäßem Zusammenarbeiten aller Vorrichtungen dürfen die Gase, die in der Feuerkiste bis zu 1600 Grad erhitzt waren, in der Rauchkammer nur noch 300 bis 500 Grad haben. Diese Wärme ist ein Rest, der notwendigerweise verloren gehen muß. Die Lokomotive ist eben auch eine Dampfmaschine und hat darum letzten Endes ein ebenso geringes Nutzergebnis wie alle anderen Vorrichtungen dieser Art.
Das Hineinsaugen der Heizgase in die Rauchkammer geschieht durch die Wirkung des Blasrohrs, dessen Öffnung genau unter der Mitte des Schornsteins sitzt. Der in gewaltigen Stößen rasch ausströmende Dampf erzeugt in der Rauchkammer eine Luftverdünnung. Es muß darum Luft nachströmen, und das kann nur dadurch geschehen, daß sie vom Aschkasten her durch den Rost und die Feuerung hindurch eintritt, indem sie diese anfacht.
Das Blasrohr spielt im Wärmehaushalt der Lokomotive eine außerordentlich große Rolle. Es vermag jedoch naturgemäß nur zu arbeiten, wenn aus den Zylindern Dampf ausströmt, das heißt also nur dann, wenn die Maschine sich in Bewegung befindet. Beim Anheizen der Lokomotive und auch beim Nachfeuern während des Stillstands auf Bahnhöfen möchte man trotzdem nicht vollständig auf die anfachende Blaswirkung verzichten. Aus diesem Grund ist über dem Hauptbläser stets noch ein Hilfsbläser angebracht, dem durch Betätigen eines Hebelzugs im Führerstand Frischdampf unmittelbar aus dem Kessel zugeführt werden kann.
Der Funkenfänger, welcher, um das Herausfliegen kleiner glühender Kohlestückchen aus der Rauchkammer zu verhindern, deren Raum gegen den Schornstein abschließt, darf keine zu geringen Öffnungen haben, denn dadurch würde die durch die Blasrohrwirkung erzielbare Luftverdünnung in der Kammer stark herabgesetzt werden. Man bildet die Funkenfänger daher nicht immer aus engmaschigen Sieben, sondern bringt im oder am Schornstein auch gebogene Flächen an, die sich dem senkrecht nach oben gerichteten Funkenstrom entgegenstellen, die Stückchen anprallen lassen, so daß sie wieder in die Rauchkammer zurückfallen.
Ein ganz besonders wirksames Mittel gegen allzu reichlichen Funkenwurf befindet sich[203] noch in der Feuerung. Unmittelbar unter dem Ansatz des Rundkessels ist, von der hinteren Wand der Feuerkiste oder aus deren unmittelbarer Nähe vorspringend, ein Schirm aus feuerfesten Steinen aufgemauert. Ein großer Teil der vom Luftstrom hochgerissenen, glühenden Kohlestückchen wird bereits von dessen Unterfläche zurückgehalten. Der Feuerschirm hat dazu die noch weit wichtigere Aufgabe, ein allzu rasches Abströmen der Heizgase in den Rundkessel zu verhüten. Er sorgt dafür, daß ihre Hitze auch für den Wasserraum im Stehkessel nutzbar wird, indem er die Gase zwingt, um seine weit vorspringende Vorderkante herumzustreifen, also etwas länger in der Feuerkiste zu verweilen. Außerdem schützt er auch die Enden der Heizrohre vor allzu scharfem Angriff durch das Feuer.
Um die im Kessel erzeugte Hitze möglichst wenig nach außen abströmen zu lassen, ist dieser in seiner ganzen Ausdehnung mit Einschluß des Doms und der Zylinder, die ja auch noch zum Dampfraum gehören, mit einer Verkleidung bedeckt. Sie besteht aus dünnen Blechen, die in einem Abstand von mehreren Zentimetern um die gesamten Außenflächen herumgeführt sind. Es wird hierdurch um den Dampfraum eine ruhende Luftschicht gebildet, die bekanntlich ein sehr gutes Wärmeschutzmittel ist. Die Zylinder werden noch besonders durch zwischengelegte Asbesttücher geschützt, und das gleiche geschieht an den Kesselwandungen, die dem Innern des Führerhauses zugekehrt sind, um die Mannschaft nach Möglichkeit vor der Wärmestrahlung zu schützen.
Während des Kriegs ist man, da Asbest bald nicht mehr zu haben war, zu einem Ersatz der Wärmeschutzpackung durch Glasgespinst geschritten. Allerfeinste Glasfäden sind zu watteähnlichen, weichen Tafeln verarbeitet und mit bestem Gelingen als Wärmeschutztücher verwendet worden. Diese Glaswolle, neben der auch Gespinste aus Hochofenschlacke in Anwendung gekommen sind, ist als eine der vielen dauernden Bereicherungen der Technik zu betrachten, die der Krieg uns gebracht hat.
Infolge des Wärmeschutzanzugs, den jeder Kessel trägt, kann man von außen her weder die Stehbolzenköpfe am hinteren Kessel, noch die Nietnähte an Dom und Rundkessel wahrnehmen.
Mit harter Eckigkeit ragt unter der wohlgerundeten Fügung des Kessels nach allen Seiten die stählerne Quader hervor, die ihn auf ihrem Rücken trägt. Der Rahmen, der die Aufgabe hat, wie eine gewaltige Klammer den Gesamtbau der Lokomotive zusammenzuhalten, der Kessel, Trieb- und Laufwerk erst zu einem einheitlichen Kraftkörper zusammenfaßt,[204] besteht entweder aus starken Blechen oder aus schmalen eisernen Trägern, die zusammengenietet oder geschweißt sind. Im ersten Fall spricht man von einem Platten-, im anderen von einem Barrenrahmen. Der Rundkessel, der in Querstützen auf dem Rahmen liegt, ist an ihm nur in der Nähe der Rauchkammer festgeschraubt. Sonst liegt er frei gleitend auf den Trägern und ist auch hinten in die Feuerkistenhalter so eingelegt, daß er sich um ein gewisses Stück nach vorwärts und rückwärts verschieben kann. Das ist notwendig, um dem langen Kesselbau die Zusammenziehung und Ausdehnung nach den wechselnden Graden seiner Erwärmung zu ermöglichen.
Damit der immerhin zarte Bau des Röhrenkessels und der gleichfalls auf dem Rahmen erbaute Führerstand vor den argen Stößen geschützt werden, die durch das Überfahren der Schienenstöße entstehen, ist der Rahmen nicht fest und unmittelbar mit den Laufachsen verbunden, sondern federnd auf diese gesetzt. Das Zwischenglied wird durch lange Blattfedern gebildet, die aus mehreren Lagen kräftiger Stahlbleche zusammengesetzt sind; die Stahlbleche werden in der Mitte durch einen Bund zusammengehalten. Die Enden der Federn sind durch verstellbare Gehänge mit dem Rahmen verbunden, der mittlere Federbund ruht auf dem Gehäuse des Achslagers oder ist darangehängt.
Die Federn haben nicht allein die Aufgabe, die Stöße zu mildern, sie werden auch gleichzeitig dazu benutzt, einen Ausgleich zu schaffen, wenn zwei benachbarte Achsen der Lokomotive infolge von Erschütterungen verschiedenartig belastet werden. Zu diesem Zweck sind die Enden benachbarter Federn durch Ausgleichhebel miteinander verbunden. Wird die eine der Federn durch die senkrecht über ihr aufgestellte Last stark niedergedrückt und gespannt, so zieht sie auch die andere an, so daß durch verstärkten Druck des Federbunds[205] auch die Nachbarachse an der Belastung mitträgt. Ein solcher Ausgleichhebel ist zwischen Mittel- und Hinterachse des auf Bild 189 dargestellten Tenders deutlich zu erkennen.
Der Kessel liegt heute oft recht hoch über dem Rahmen und damit auch in ziemlich beträchtlicher Höhe über der Schienenoberkante. Man gibt ihm diese Stellung, weil man den Durchmesser der Rundung gern größer macht, als der Raum zwischen den oft sehr hohen Rädern es ermöglicht. Ein geräumiger Kessel ist dringend nötig, um die für den heutigen scharfen Betrieb erforderlichen großen Dampfmengen stets zur Verfügung zu haben.
Die Entwicklung der Lokomotive ist eine Zeitlang dadurch aufgehalten worden, daß man sich fürchtete, den Schwerpunkt des Kessels hochzulegen. Man glaubte, daß die Maschine dann beim Fahren allzu stark schwanken würde oder gar in Krümmungen kippen könnte. Crampton schuf nur aus diesem Grund im Jahre 1846 eine heute recht seltsam aussehende Lokomotive mit nur einer Treibachse, die weit hinter dem Kessel angebracht war, damit er diesen recht tief legen und doch ziemlich geräumig ausgestalten konnte. Die Cramptonsche Lokomotive hat lange auch bei uns in Deutschland eine recht große Rolle gespielt, da sie als einzige den begehrten großen Dampfraum besaß. Wogegen Crampton mit seinem eigenartigen Bau ankämpfte, war die allzu große Schmalheit der Regelspur, wie wir sie ja noch heute besitzen. Für Brunel wurde die Schwierigkeit der Kesselvergrößerung auf der Regelspur der Grund, beim Bau der Großen West-Eisenbahn in England die Breitspur einzuführen. Denn hierbei konnte er die Räder weiter auseinander legen, also ohne Schwierigkeit einen größeren Kessel einbauen und so die ganze Bahn leistungsfähiger machen. Hierüber ist auch bereits auf Seite 84 gesprochen worden.
Heute ist die Furcht vor einer hohen Kessellage überwunden. Man hat vielmehr eingesehen, daß ein Emporschieben des Schwerpunkts die Stöße des Fahrzeugs gegen das Gleis mildert, dieses schont und rückwirkend auch die Maschine selbst. Manchmal geht man hierin jetzt sogar über das unbedingt notwendige hinaus, nur um nebensächliche Vorteile zu erringen. So zeigt die von der Hannoverschen Maschinenbau-Aktiengesellschaft für eine Bahnstrecke in Venezuela erbaute, auf Bild 155 dargestellte Lokomotive eine besonders hohe Kessellage, durch die das innen liegende Triebwerk sehr bequem zugänglich wird.
Lokomotiven mit hochliegenden Kesseln sind dem Auge nicht wohlgefällig. Man beschaue die auf Bild 150 dargestellte Lokomotive. Sie zeigt einen schönen Zusammenklang[206] aller Einzelformen, befriedigt aber doch das künstlerische Gefühl nicht so wie die andere Maffei-Lokomotive, die auf dem Bild vor dem Titel wiedergegeben wird. Da diese eine Güterzugmaschine mit niedrigen Rädern ist, so konnte der Kessel hier sehr viel tiefer gelegt werden. Unser Schönheitsempfinden nimmt für diesen Fall seinen Maßstab wahrscheinlich vom Bau der Tiere her. Niemals finden wir in der heutigen Tierwelt massige Leiber auf lange, dünne Beine gestellt, wie dies bei unseren großen Schnellzug-Maschinen der Fall zu sein scheint. Sie sehen so aus, als wenn ihr Unterbau für die darauf ruhende Last nicht genügend kräftig wäre, und das verhindert die Auslösung eines Gefühls voller Befriedigung bei ihrem Anblick.
Die Zylinder sind unter gewöhnlichen Umständen heute stets vorn am Rahmen aufgehängt. Über ihrer Wölbung liegt der Schieberkasten, in dem sich die Vorrichtung für die Steuerung des Dampfs hin und her bewegen kann. Die Schieber sind entweder flache Teller oder runde Kolben, die den aus den Zuströmungsrohren kommenden Dampf bald vor die eine, bald vor die andere Seite des Kolbens treten lassen. Auch Steuerung durch Ventile, wie sie bei den ortsfesten Maschinen schon längst mit bestem Erfolg in Gebrauch sind, wird heute bisweilen bei großen Lokomotiven angewendet.
Die Zylinderkörper selbst bestehen aus Gußeisen und stellen oft recht gewaltige Gußstücke dar. Der scheibenförmige Kolben gleitet in dem mit äußerster Genauigkeit ausgebohrten Gehäuse und ist durch eingesetzte, federnde Ringe aus Gußeisen abgedichtet.
Um den Lokomotiven für die sehr schnell fahrenden Züge, welche der Personenbeförderung dienen, und für das Schleppen der immer schwerer werdenden Güterzüge genügend Kräfte zu verleihen, ist es notwendig, möglichst große Kolbenflächen zu schaffen, auf die der Dampf wirken kann. Das erheischt zugleich eine Vergrößerung der Zylinder. Aber wegen der schmalen Begrenzung des lichten Raums ist man mit den Durchmessern der einzelnen Zylinder in ziemlich enge Grenzen gebannt. Wenn man trotzdem große Kolbenflächen zur Verfügung haben will, bleibt nichts übrig, als die Zahl der Zylinder zu vermehren.
In der Tat gibt es heute weit weniger Lokomotiven mit nur zwei Zylindern, als der Nichtfachmann auf Grund seiner rein äußerlichen Betrachtungen annimmt. Er sieht stets[207] nur die beiden außenliegenden Dampfbehälter, dazwischen sind aber bei den großen Maschinen meist noch ein oder zwei weitere Zylinder untergebracht. Aus besonderen Gründen ist es auch öfter notwendig, die vier Zylinder so anzuordnen, daß zwei Paare hintereinander liegen. Ja es sind in Amerika bereits Maschinen mit drei Zylinderpaaren gebaut worden. Die Führung des Dampfs zu und zwischen diesen vielen Zylindern, von denen oft zwei durch denselben Schieber gesteuert werden, ist sehr vielfältig durchgebildet und macht oft sehr große Schwierigkeiten. Davon werden wir noch zu sprechen haben.
Die Übertragung der durch den Dampfdruck auf den Kolben hervorgerufenen Bewegung auf das Laufwerk geschieht durch das Triebgestänge. Dieses, einschließlich des Kolbens, trägt die Hauptschuld an dem trotz aller Bemühungen immer noch merkbaren nickenden und zuckenden Gang der Lokomotiven. Denn das Triebwerk ist nicht in gleichförmiger Bewegung. Seine schweren Gewichte wechseln unaufhörlich ihre Geschwindigkeit, ja sogar die Richtung ihrer Bewegung. Trotz vieler Maßnahmen gelingt es bis heute niemals ganz, diese hin und her gehenden Massen abzugleichen. Am ehesten gelangt man noch zu einem vollständig ruhigen Gang bei Vierzylinder-Lokomotiven, weil hier die Bewegungen der Triebwerke so gegeneinander verschoben werden können, daß die hergehenden Massen stets den hingehenden entgegenarbeiten.
An dem Kolben ist die Kolbenstange befestigt, die durch eine Stopfbüchse aus dem hinteren Deckel des Zylinders ins Freie tritt. Diese Stopfbüchse sowohl wie alle anderen[208] Abschlüsse an Stellen, wo bewegte Teile aus dem Dampfraum der Lokomotive hervortreten, sind hohe technische Kunstwerke. Müssen sie doch gleichzeitig eine spielend leichte Bewegung der Stangen gestatten und dem hochgespannten Dampf den Weg nach außen versperren. Durch die Packung in den Stopfbüchsen wird tatsächlich eine fast vollkommene Abdichtung erreicht. Die Kolbenstange selbst ist so fein geschliffen, daß ihr Durchmesser nicht um mehr als den hundertsten Teil eines Millimeters von der vorgeschriebenen Größe nach oben oder unten abweicht.
Das dem Zylinder abgekehrte Ende der Kolbenstange ruht in einer Geradführung, die nach einem aus dem Englischen stammenden Wort der Kreuzkopf heißt. Dieser bewegt sich auf einer feinst vorgerichteten Gleitbahn. Vom Kreuzkopf zu der mächtigen Hauptkurbel führt die Schubstange. Von der Hauptkurbel wiederum wird durch eine Kuppelstange der Antrieb für das nächste Kuppelrad abgeleitet, und von dessen Kurbel geht es, falls dies notwendig ist, auf die gleiche Weise weiter zu den anderen Kuppelrädern.[209] Neben der Hauptkurbel ist dann noch eine kleinere Kurbel angebracht, mit deren Hilfe die Bewegung eines besonderen Teils des Steuerungsgestänges, der Schwinge, hervorgerufen wird; ein zweiter Antrieb der Steuerung erfolgt gewöhnlich vom Kreuzkopf aus.
Diese doppelte Anlenkung der Steuerung läßt schon erkennen, daß dieser Triebwerksteil recht verwickelte Bewegungen auszuführen hat. Sie sind notwendig, weil von der Anordnung und den Verschiebungen der Steuerungswerkzeuge die Güte der ganzen Maschine in hohem Grad abhängig ist. Gute oder schlechte Steuerungen können den Verbrauch von viel oder wenig Kohle herbeiführen, denn sie bestimmen hauptsächlich den Dampfverbrauch.
Die alten Stephenson-Lokomotiven waren richtige Kohlenfresser, weil ihre Steuerungen nichts weiter taten, als den Dampf im ungefähr richtigen Augenblick bald vor die eine, bald vor die andere Kolbenseite zu führen. Die Zylinderräume blieben während des ganzen Hubs mit dem Kessel in Verbindung, so daß stets der in diesem herrschende, volle Druck auf sie wirkte. Sie arbeiteten, wie man sagt, mit ganzer Füllung.
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Heute bewirkt man durch die Steuerung einen Abschluß vor Beendigung jedes Kolbenhubs, weil sonst die Dehnungsfähigkeit des Dampfs nicht ausgenutzt würde. Ist nämlich der Zylinderraum zum Teil mit Dampf gefüllt, so hat dieser das Bestreben, sich mit großer Kraft auszudehnen. Es genügt also, wenn man den Zylinder nur während eines Teils des Kolbenhubs mit dem Kessel in Verbindung läßt. Über den Rest seines Wegs wird der Kolben dann von der sich dehnenden Dampfmenge geschoben. Es ist klar, daß man durch diese Voreilung des Schiebers weniger Dampf und damit auch weniger Kohle verbraucht.
Den günstigsten Augenblick des Zylinderabschlusses für jede Maschine zu ermitteln, ist Sache eingehender Berechnungen. Aber der Füllungsgrad hat sich auch nach den wechselnden Anstrengungen der Lokomotive zu richten. Auf Steigungen ist der beste Füllungsgrad ein anderer als bei Fahrten in der Ebene, bei höchster Geschwindigkeit ein anderer als bei langsamer Fahrt. Aus diesem Grund ist das Schiebergestänge so eingerichtet, daß die Füllung jederzeit mechanisch geändert werden kann und zwar vom Führer aus durch die uns bereits bekannte Steuerungskurbel.
Die Verstellung wird dadurch ermöglicht, daß das Ende der Antriebsstange für den Schieber nicht fest, sondern verschiebbar gelagert ist. Es kann in der Vorrichtung, von welcher die Bewegung der Stange abgeleitet wird, der Schwinge, nach oben und unten verschoben werden, wodurch bewirkt wird, daß[211] die Stange bald längere, bald kürzere Bewegungen vollführt. Hierdurch wird nicht nur die Füllung verändert, sondern es kann auch durch vollständige Umstellung der Steuerung Vorwärtsfahrt in Rückwärtsfahrt umgewandelt werden. An dem verschiebbaren Teil, dem Schwingenstein, der trotz seiner Benennung natürlich aus Stahl gefertigt ist, greift die lange, vom Führerstand herkommende Stange an.
Die heute verwendeten Steuerungen weisen eine Fülle der verschiedenartigsten Bauarten auf.
Wie jede andere Kolben-Dampfmaschine ist auch die Lokomotive eine Maschine mit totem Punkt. Wenn die Kurbel eines ihrer Triebwerke genau wagerecht liegt, wenn also Kolbenstange und Schubstange eine gerade Linie bilden, so ist hier eine Drehwirkung nicht möglich. Bei ortsfesten Maschinen überwindet man diese bei jedem Kolbenhub zweimal eintretenden toten Punkte durch das Beharrungsvermögen des Schwungrads. Bei der Lokomotive, an welcher eine solche Vorrichtung nicht anzubringen ist, kommt man über die Totlagen dadurch hinweg, daß man bei doppeltem Triebwerk die Kurbeln um 90 Grad gegeneinander versetzt. Liegt also z. B. die rechte Kurbel wagerecht, wobei sie keine Drehung hervorzurufen vermag, so befindet sich die andere gerade in der senkrechten Mittelstellung, welche die größte Angriffsleistung ermöglicht.
Kessel, Rahmen und Maschine werden vom Laufwerk, den Achsen und Rädern, getragen. Die Räder dienen gleichzeitig dazu, die Bewegung der Kolben in Fortbewegung der Lokomotive auf dem Gleis zu verwandeln, indem sie diese bei ihrer Drehung durch Reibung auf den Schienen vorwärtstreiben.
Die Achsen sind die am höchsten beanspruchten Teile jeder Lokomotive. Jede von ihnen muß eine sehr schwere Belastung aushalten und gleichzeitig die schweren Stöße an den Schienenenden ohne nachgiebiges Zwischenwerk aufnehmen. Dazu kommt noch die hohe Beanspruchung durch die Kolbendrücke, welche bis zu 40 000 kg betragen kann. Achsen werden daher stets aus dem besten, zähesten Stahl in einem Stück geschmiedet. Der zuverlässigste[212] Baustoff, der überhaupt erlangt werden kann, ist für sie gerade gut genug.
Bei Zwei-Zylinder-Maschinen sind die Achsen stets gerade, bei Anwendung einer größeren Zahl von nebeneinanderliegenden Zylindern müssen sie dagegen gebogen, gekröpft, werden. Eine Kropfachse ist, insbesondere weil die Genauigkeit der Herstellung sehr groß sein muß, stets ein äußerst schwieriges Arbeitsstück.
Die Räder bestehen heute immer aus zwei Teilen: dem inneren Stern und dem diesen umfassenden Laufkranz. Der Stern, ein schmaler Ring mit den zur Nabe laufenden Speichen, wird meist aus Stahlformguß hergestellt. Er muß gegenüber den Stößen eine gewisse federnde Nachgiebigkeit haben. Der Laufkranz oder Reifen dagegen soll hart sein, damit er auf den Schienen so wenig wie möglich abgenutzt wird. Von der Erhaltung seiner runden Form ist der ruhige Gang der Maschine in hohem Grad abhängig.
In früheren Zeiten, als auf der Eisenbahn noch geringe Geschwindigkeiten und bescheidene Lokomotivgewichte üblich waren, stellte man den Radreifen her, indem man einen stählernen Stab rund bog und die Enden zusammenschweißte. Eine solche Schweißstelle aber bedeutet immer eine Verschwächung. Auch bei sorgfältigster Arbeit ist ein vollkommenes Zusammenfügen der beiden Stabenden nicht möglich. Die Haltbarkeit ist an der Schweißnaht stets geringer als in dem übrigen, gleichförmig gefügten Teil. Ein Reifenbruch aber gehört zu den gefährlichsten Erscheinungen im Eisenbahnbetrieb. Es kommt heute wohl vor, daß ein Rad nach Abspringen des Laufkranzes auch auf seinem Stern ein kurzes Stück weiterläuft, ohne zu zerbrechen, aber das ist doch ein Ausnahmefall. Meistenteils pflegt das Springen des Reifens eine Zerstörung des ganzen Rads und damit einen schweren Zugunfall nach sich zu ziehen. Bei den heutigen hohen Geschwindigkeiten und riesigen Achslasten können daher nur noch Reifen verwendet werden, die ohne jede Schweißnaht aus einem völlig gleichförmigen Gußstahlstück bestehen.
Der nahtlose Reifen für Eisenbahnräder ist eine Erfindung Alfred Krupps. Man kann sagen, daß er hierdurch das Eisenbahnwesen geradezu gerettet hat. Die Entwicklung hätte ohne den vollkommen zuverlässigen Reifen nicht weiterkommen können.
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Was Alfred Krupp der Eisenbahn so schenkte, hat diese ihm reichlich zurückgezahlt. Denn seltsamerweise verdankt der spätere Kanonenkönig den Aufstieg seiner Fabrik diesem Friedenswerk. Die großen Summen, die er in den fünfziger und sechziger Jahren für Ausprobung und Verbesserung der Geschützrohre ausgeben mußte, hatte er nur dadurch zur Verfügung, daß er bedeutende Einkünfte aus dem Verkauf der nahtlosen Radreifen zog. Das heutige riesenhafte Vermögen der Familie Krupp hat hier seine Wurzel. Noch heute sind drei ineinander gesteckte Radreifen das Fabrikzeichen der Firma Fried. Krupp in Essen.
Die Herstellung der Reifen geschieht nach dem Kruppschen Verfahren auf folgende Weise. Einer der viereckigen Stahlklötze, wie sie aus der Gießgrube kommen, wird rund vorgeschmiedet und darauf von ihm ein Stück von genügender Dicke abgeschlagen. Die volle, stählerne Scheibe kommt nunmehr unter eine Wasserpresse, die mit ungeheuren Kräften ausgestattet ist. Der mit furchtbarer Gewalt niedergehende Stempel der Presse drückt aus der Scheibe einen Pfropfen heraus, so daß diese in ihrer Mitte nunmehr eine runde Öffnung hat. Alfred Krupp selbst, dem Pressen von genügender Stärke noch nicht zur Verfügung standen, mußte die Öffnung in der Stahlscheibe weit mühsamer schaffen. Mit Meißeln wurde ein Spalt in der Scheibe erzeugt und dieser dann langsam zu einem kreisförmigen Loch erweitert.
Die gelochte Stahlscheibe wird darauf zum Reifenwalzwerk gebracht. Sie wird zwischen zwei Walzen hindurchgedreht, von denen die eine in der Mittelöffnung steckt, die andere von außen gegen den Reifen gepreßt wird. Beim Durchgang zwischen den Walzen, die allmählich enger gestellt werden, wird die Dicke des Reifens immer geringer, während der Durchmesser wächst. Eine Ausdrehung in der äußeren Walze bewirkt, daß der Reifen zugleich in roher Form den richtigen Querschnitt mit Spurkranz erhält. Nach dem Walzen wird der Reifen auf der Drehbank weiter bearbeitet.
Da die Lauffläche des Kranzes ganz glatt und unbeschädigt bleiben muß, so kann dieser nun nicht etwa mittels hindurchgesteckter Schrauben mit dem Stern verbunden werden. Solche Schraubenverbindungen, ja selbst Vernietungen, würden auch bei den starken Erschütterungen, denen jedes Rad ausgesetzt ist, nicht halten. Die Verbindung von Kranz und Stern wird darum auf eine andere Weise hergestellt, die das Naturgesetz der Wärmedehnung in schönster Weise ausnutzt.
Der innere Durchmesser des Radreifens wird um ein Tausendstel seiner Länge kleiner gehalten als der äußere[214] Durchmesser des Sterns. Der Reifen ist also nicht ohne weiteres darüber zu schieben. Damit dies aber doch möglich wird, bringt man ihn in ein Rundfeuer, das den Laufkranz von allen Seiten her gleichmäßig erwärmt. Er dehnt sich aus und kann nun leicht über den Stern gelegt werden. Vorläufig ist die Verbindung noch äußerst locker. Sobald der Reifen aber erkaltet, zieht er sich mit außerordentlicher Kraft zusammen und preßt sich derartig um den Stern, daß er mit diesem geradezu ein einheitliches Ganzes bildet. Eine Trennung kann nur noch erfolgen, wenn der Reifen an einer Stelle springt. Um in einem solchen Fall, falls er einmal während des Rollen des Rads auf den Schienen eintreten sollte, ein vollständiges Loslösen des Reifens zu verhindern, wird an der Stelle, wo der Kranz auf dem Stern aufliegt, seitlich ein sogenannter Sprengring eingefügt, der wie eine Klammer Kranz und Stern am ganzen Umfang umfaßt und zusammenhält (Bild 181).
Auch der lichte Durchmesser der Radnabe wird etwas geringer gehalten als der Durchmesser des Achszapfens, auf den das Rad aufgesetzt werden soll. Die Vereinigung[215] erfolgt hier durch kaltes Aufpressen mit einem Druck von 120 000 bis 150 000 Kilogramm. Damit die Radnabe diese gewaltsame Einwirkung gut übersteht, muß sie sehr starkwandig sein. Das Rad sitzt dann aber auch ohne Keil oder sonstige Verbindung unverrückbar auf der Achse.
An die Radsterne werden in der Nähe des Kranzes Gegengewichte angegossen, welche die Aufgabe haben, die beim Laufen der Maschine wechselnd auf die Achsen einwirkenden lebendigen Kräfte der sich ungleichförmig drehenden und hin und her gehenden Teile des Triebwerks nach Möglichkeit auszugleichen.
Man unterscheidet an der Lokomotive drei Arten von Achsen: Trieb-, Kuppel- und Laufachsen. Diejenige Achse, an der die Maschinenkraft angreift, an deren Kurbel also die von Kolbenstange und Kreuzkopf herkommende Schubstange angelenkt ist, heißt die Treibachse. Alle mit der Hauptkurbel durch Stangen verbundenen Achsen nennt man Kuppelachsen. Die Summe von Treibachse und Kuppelachsen ergibt die Zahl der angetriebenen Achsen. Der Rest sind vom Antrieb freie Laufachsen.
Der Durchmesser der auf den angetriebenen Achsen sitzenden Räder ist entsprechend der Geschwindigkeit zu bemessen, die man mit der Maschine erzielen will. Bei jedem vollen Gang des Kolbens, also bei jeder Vor- und Rückwärtsbewegung, drehen sich die an den angetriebenen Achsen befestigten Räder einmal herum. Ist ihr Durchmesser groß, so wird hierbei ein langer Weg zurückgelegt, bei kleinem Durchmesser ein entsprechend kürzerer. Schnellzug-Lokomotiven haben daher stets große Räder, Güterzug-Lokomotiven kleine.
[216]
Bei diesen Maschinen steht damit zugleich größere Zugkraft zur Verfügung. Denn die vom Dampfdruck durch Bewegen des Kolbens erzeugte Arbeit läßt sich, wie jede andere, in die beiden Bestandteile Kraft und Weg auflösen. Das physikalische Gesetz lautet: Arbeit = Kraft × Weg. Wird bei einem Kolbenhub nur ein kurzer Weg zurückgelegt, so ist die zur Verfügung stehende Zugkraft um so größer. Für die ja stets sehr schweren Güterzüge wird diese notwendigst gebraucht und wirkt vermindernd auf die Geschwindigkeit ein.
Die Durchmesser aller angetriebenen Räder einer Lokomotive müssen stets gleich sein. Die Laufräder dagegen können verschiedene Größen haben.
Die Gesamt-Achszahl der Lokomotive ist abhängig von ihrem Gewicht. Der Druck eines Rads auf die Schiene darf bei Hauptbahnen, wie wir wissen, 9000 Kilogramm nicht überschreiten, der Achsdruck darf also keinesfalls größer sein als 18 000 Kilogramm. Eine Maschine, die 85 000 Kilogramm wiegt, muß also mindestens fünf Achsen haben.
Die Zahl der gekuppelten Achsen wird bestimmt durch die Zugkraft, welche die Maschine entfalten soll. Damit die Lokomotive überhaupt eine Last ziehen kann, müssen die Räder, an denen die Maschinenkraft angreift, mit einem gewissen Druck gegen die Schienen gepreßt werden. Wir wissen, daß man früher ein Gleiten der Räder auf den glatten Schienen befürchtete, wenn an den Zughaken der Lokomotive eine Last gehängt würde. Darum bauten ja Blenkinsop, Brunton, Chapman und andere ihre eigenartigen Dampfwagen. Die Furcht vor dem Drehen der Räder auf der Stelle war jedoch weit übertrieben. Ein Gleiten tritt, wie wir heute wissen, unter gewöhnlichen Umständen nur ein, wenn man von der Maschine mehr als 1⁄6 der Kilogramm an Zugkraft verlangt, die das Reibungsgewicht beträgt. Hat man eine mit dem höchsten zulässigen Gewicht von 18 000 Kilogramm belastete Achse, so kann man also durch diese, eine genügende Leistung der Antriebsmaschine vorausgesetzt, getrost 3000 Kilogramm ziehen lassen. Will man 12 000 Kilogramm Zugkraft haben, so muß man mindestens drei angetriebene Achsen nehmen usw. Güterzug-Lokomotiven, die sehr schwere Züge zu befördern haben, müssen also mehr gekuppelte Achsen erhalten als Schnellzug-Maschinen.
Um aber eine genügend leistungsfähige Maschine zur Verfügung zu haben, ist es notwendig, den Kessel, insbesondere bei den Schnellzug-Maschinen mit ihren wenigen Kuppelachsen, so schwer zu machen, daß diese allein das Gewicht des hoch belasteten Rahmens nicht zu tragen vermögen. Dann muß man eben noch eine entsprechende Zahl von Laufachsen hinzufügen.
Die hohen Gewichte der heutigen Lokomotiven bringen es mit sich, daß ihr Gesamtachsstand, das heißt die Entfernung der Mitte der ersten Achse von der Mitte der letzten, zehn und mehr Meter beträgt. (Es sei hier nochmals darauf hingewiesen, daß in diesem Buch für die Entfernung der Achsen voneinander der Ausdruck Achsstand gebraucht wird, im Gegensatz zu der in Deutschland üblichen amtlichen Bezeichnung Radstand, die weit weniger treffend ist.) Solche langen Achsstände erschweren aber den Lokomotiven außerordentlich das Durchfahren von Gleisbogen, ja dies würde selbst bei den sanften, auf den deutschen Hauptbahnen üblichen Krümmungen unmöglich sein, wenn man nicht an dem Laufwerk besondere Vorkehrungen für die Fahrt durch Gleisbogen getroffen hätte.
Der Rahmen der Lokomotive ist ein starres, gerades Stück. Die Räder der an ihm fest angebrachten Achsen stehen also immer in einer vollkommen geraden Linie hintereinander. Das Gleis aber bildet in der Krümmung eine Bogenlinie, weshalb die Räder imstande sein müssen, dieser sich anzuschmiegen, wenn sie nicht entgleisen sollen. Es muß also mit[217] anderen Worten dafür gesorgt werden, daß bei Lokomotiven mit langen Achsständen die Verbindungslinie der Achsmitten aus einer geraden Linie sich so weit wie irgend möglich in eine Bogenlinie verwandeln kann.
Man vermag dies annähernd zu erreichen, indem man einzelne Achsen seitlich verschiebbar macht, ihnen ein Seitenspiel gibt. Solche verschiebbaren Achsen vermögen, je nach der Lage der Gleiskrümmung, etwas nach rechts oder links auszuweichen, so daß sie sanft und ohne Stöße durch die Krümmung rollen. Besondere Vorkehrungen sind notwendig, um, trotz der Verschieblichkeit, eine feste Lagerung der Achsen zu erzielen. Damit ein Hin- und Herschieben in den Lagern während der Fahrt durch gerade Strecken vermieden wird, werden die verschiebbaren Achsen meist durch kräftige Federn in der Mittellage festgehalten. Erst beim Anlaufen des Spurkranzes am äußeren Rad gegen den Kopf der gekrümmten Schiene tritt die Seitenverschiebung ein. Die Verschiebbarkeit darf natürlich wenige Zentimeter nicht überschreiten.
Durch den Einbau von verschiebbaren Achsen wird für die Ruhe und Sicherheit des Lokomotiv-Gangs schon recht viel erreicht. Die hiermit ausgestatteten Lokomotiven durchfahren Krümmungen um so leichter, als ja der Radstand, der etwas schmaler ist als die Spurweite, den Achsen ohnedies ein gewisses Spiel läßt. Aber die Stellung der verschiebbaren Achsen im gekrümmten Gleis ist doch nicht die am meisten erwünschte.
In den Geraden stehen die Achsen immer senkrecht zur Schienenerstreckung. Nur bei dieser Stellung liegt die Lauffläche richtig auf dem Schienenkopf, und der Spurkranz hat keine Neigung, hinaufzulaufen. In den Krümmungen aber stehen steife Achsen wie verschiebbare Achsen, stets schief im Gleis. Am weichsten würde man durch Krümmungen fahren, wenn jede Achse sich stets in der Richtung der vom gedachten Mittelpunkt des Krümmungsbogens zum Gleis gezogenen Linie, also gleichgerichtet mit dem Halbmesser, einstellen würde. Solche Verschiebungen gegen die Lokomotivlängsachse sind nun bei gekuppelten Achsen nicht möglich, da die Zapfenmitten der aufgesteckten Kurbeln stets den gleichen, durch das Triebgestänge festgelegten Abstand voneinander und von der Kreuzkopfmitte haben müssen. Wohl aber ist Einstellbarkeit bei freien Laufachsen denkbar und auch ausgeführt.
Es war um so wünschenswerter, gerade den Laufachsen große Beweglichkeit im Gleis[218] zu geben, als diese ja an den äußersten Enden des Achsstands zu liegen pflegen, also am meisten der Schmiegsamkeit bedürfen. Im großen unterscheidet man zwei verschiedene Anordnungen zur Herbeiführung der Einstellbarkeit von Achsen: solche für Laufachsenpaare und für Einzelachsen.
Ein Laufachsenpaar kann man in einem Drehgestell zusammenfassen. Es wird ein besonderer, selbständiger, kleiner Wagen aus einem Rahmen und den hieran befestigten beiden Achsen gebildet. Der kleine Rahmen ist nur durch einen senkrechten, runden Zapfen, der am Hauptrahmen befestigt ist und in ein entsprechendes Lager im kleinen Rahmen eingreift, mit dem Gesamtbau der Lokomotive verbunden; das Gestell kann sich also bequem in der wagerechten Ebene drehen. Die Achsen solcher Drehgestelle, die man in mannigfachster Weise baut, werden sich stets in Richtung des Halbmessers einstellen. Sie führen ein besonders weiches, stoßloses Durchfahren der Krümmungen herbei. Auch hier wird die Mittellage durch kräftige Federn sichergestellt. Auf die Drehgestellbauarten wird näher bei Besprechung der Laufwerke an Personenwagen eingegangen.
Eine Anordnung, die man besonders häufig anwendet, um Einzelachsen einstellbar zu machen, ist die Adamsachse. Hierbei sind die Achslager nicht mehr mit geraden Führungen in den Rahmen gelegt, sondern mit solchen, deren Flächen nach einem Kreisbogen gekrümmt sind (Bild 184). Die Achse selbst geht selbstverständlich nach wie vor in vollkommenster Geradheit durch; nur die Außenflächen der Lagerbüchsen sind gekrümmt. Sobald durch Anlaufen eines Spurkranzes gegen eine gekrümmte Außenschiene Seitenverschiebung eintritt, weicht die Adamsachse nicht geradlinig seitlich aus, sondern macht eine Drehung, als wäre sie mit einer Deichsel in dem Mittelpunkt des Kreises befestigt, nach dem die Lagerachsen gekrümmt sind; sie stellt sich also schräg ein. Hierbei sucht die Achse die ihr bequemste Stellung zu erreichen, und das ist die in Richtung des Halbmessers vom durchfahrenen Gleisbogen. Die Rückstellung erfolgt auch hier durch Federn.
Es wurde bereits gesagt, daß Einstellbarkeit bei Kuppelachsen nicht möglich ist. Doch auch mit der seitlichen Verschiebbarkeit allein kommt man unter Mitwirkung des Spielraums, der durch den Längenunterschied zwischen Radstand und Spurweite entsteht, beim Durchfahren von Krümmungen noch aus, wenn die Maschine nicht mehr als fünf oder sechs gekuppelte Achsen hat. Bei schwersten Güterzug-Maschinen aber, insbesondere wenn[219] sie über Steigungen zu fahren haben, ist es oft notwendig, über diese Kuppelachszahl noch hinauszugehen. Acht, zehn, ja zwölf Kuppelachsen sind hier manchmal notwendig. Da kann nun der bloß durch seitliche Verschiebbarkeit geminderte feste Achsstand nicht mehr beibehalten werden. Um überhaupt den Bau von Lokomotiven mit so hohem Reibungsgewicht und entsprechender Zugkraft zu ermöglichen, hat man sich zu ganz besonders kunstvollen Bauarten und zu einer tief eingreifenden Änderung in der Anlage des Lauf- und Triebwerks entschließen müssen.
Um eine Lokomotive mit sehr vielen Kuppelachsen, wie sie z. B. Bild 2 zeigt, in Krümmungen genügend beweglich zu machen, ist man davon abgegangen, sämtliche Achsen von einer einzigen Maschine antreiben zu lassen. Man legt vielmehr unter den Kessel zwei Dampfmaschinen, von denen jede eine gleiche Zahl Kuppelachsen antreibt. Die vier Zylinder liegen jetzt nicht mehr nebeneinander, sondern sind paarweis hintereinander angebracht. Hierdurch gewinnt man die Möglichkeit, eine kleine Zahl von Kuppelachsen in einen den Drehgestellen ähnlichen Sonderwagen zu legen, in dem sie sich, obgleich starr gegeneinander, zu den übrigen in verschiedenen Winkeln einstellen können. Die beiden vorderen Zylinder drehen sich hierbei mit. Um dies zu ermöglichen, muß die Dampfzuführung zu diesen Zylindern durch eine bewegliche Leitung erfolgen.
Lange Zeit nachdem der Gedanke der frei beweglichen Kuppelachs-Gestelle bereits vorhanden war, kam es nicht zu einer im Betrieb wirklich brauchbaren Ausführung, weil man nicht imstande war, die beweglichen Dampfleitungen genügend dicht zu halten. Hatten sie doch den sehr hohen Druck der vollen Kesselspannung aufzunehmen. Erst Mallet und gleichzeitig einem Deutschen, Rimrott, gelang die Lösung, da sie aus einem Grund, den wir alsbald kennen lernen werden, dem beweglichen Kuppelgestell Dampf niedrigerer Spannung zuführen konnten. Erst die Mallet-Rimrott-Maschine mit ihren vielen Kuppelachsen hat die Möglichkeit geschaffen, auch schwerste Züge mit nicht mehr als zwei Lokomotiven über starke Steigungen zu bringen.
Eine Lokomotive mit acht gekuppelten Achsen und einem Reibungsgewicht von 122 500 Kilogramm ist schon ein ziemlich gewaltiges Gebilde. Bei uns ist man vorläufig hierüber nicht hinausgegangen. In Amerika aber, wo man auch in Eisenbahndingen gern ins Riesenhafte hinausschweift, sind bereits Maschinen mit zwölf Kuppelachsen gebaut worden. Diese finden nicht mehr sämtlich unter der eigentlichen Lokomotive Platz, die letzten liegen vielmehr bereits unter dem Tender, was den Vorteil bringt, daß auch dessen Reibungsgewicht für die Zugkraft mit ausgenutzt werden kann. Die Riesen-Lokomotive der Erie-Bahn, welche unser Bild 186 zeigt, wird von drei getrennten Dampfmaschinen angetrieben,[220] von denen die vorderste mit ihren Achsen in einem beweglichen Gestell liegt, die hintere ihre Einstellbarkeit durch die Tender-Kupplung gewinnt.
Ein anders gearteter Versuch, um Lokomotiven mit sehr langen Achsständen durch Krümmungen zu bringen, ist von der Atchison-, Topeca- und Santa Fé-Eisenbahn gemacht worden. Sämtliche unter dem sehr langen Kessel verteilte Kuppelachsen liegen hier im Rahmen fest. Dieser selbst aber und auch der Kessel sind mit einem Gelenk ausgestattet, das also eine Anschmiegung an die Gleiskrümmung gestattet. Die Anbringung dieses Gelenks erzwang eine vollständige Änderung des Kesselbaus. Die Heizrohre reichen nur vom Führerhaus bis zum Gelenk. Der vordere Kesselteil enthält die ganze Hilfsausrüstung. In Europa hat man sich zu einer solchen Bauart noch nicht entschließen gekonnt.
Im allgemeinen ist zu sagen, daß alle die schwierigen und oft mit vielem Aufwand geistiger Arbeit erdachten Vorkehrungen, um die Lokomotiv-Laufwerke in Krümmungen beweglich zu machen, dem Eisenbahnbetrieb große Vorteile gebracht haben. Fast noch günstiger aber wirkt jede Erhöhung des zulässigen Achsdrucks, weil es dadurch möglich wird, mit weniger Achsen und dementsprechend einfacheren Maschinen die gleiche Zugkraft zu erreichen. Freilich setzt die leicht aussprechbare Zahl eines erhöhten Achsdrucks gewaltige Vorarbeiten voraus. Der gesamte Oberbau, insbesondere auch die Brücken, muß ja für die schwerere Belastung verläßlich hergerichtet werden.
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Die Lokomotive hat bei ihrem raschen Lauf durch die Lande einen treuen Begleiter, der ihr unablässig folgt. Nur bei Maschinen, die ausschließlich kurze Reisen zu erledigen haben, gestattet er sich öfter, zu Hause zu bleiben. Lokomotiven, die nur für Vorspann- oder Verschiebedienst bestimmt sind, ferner Stadt- und Vorortbahn-Lokomotiven besitzen meistens keinen besonderen Tenderwagen. Sie können den verhältnismäßig geringen Wasser- und Kohlevorrat, den sie brauchen, auf den eigenen Achsen mitnehmen. Der technische Sprachgebrauch will, daß man solche Maschinen ohne selbständigen Tender Tender-Lokomotiven nennt.
Alle Maschinen für große Fahrt aber haben Schlepptender. Denn die bedeutenden Mengen an Wasser und an Kohle, die sie mit auf die Reise nehmen müssen, sind so schwer, daß die ohnedies stark belasteten Lokomotivachsen sie nicht mehr zu tragen vermögen. Außerdem ist hierfür auch infolge der scharfen Raumausnutzung bei solchen Maschinen kein Platz aufzutreiben. Der Vorrat muß also auf einen besonderen Wagen geladen werden, der infolge seiner eigenartigen Ausbildung seinesgleichen in dem mannigfaltigen Fahrzeugpark der Eisenbahnen nicht hat.
Auch die Tenderachsen werden sehr schwer belastet. Für Güterzug-Lokomotiven haben die Tender etwa 16 Kubikmeter Wasser und 7000 Kilo Kohle mitzunehmen. Bei Schnellzügen mit ihren langen Lokomotivwegen wächst die Last auf 30 Kubikmeter Wasser und etwa 10 000 Kilo Kohle an. Das ist eine Gesamtlast von 40 000 Kilogramm, da jedes Kubikmeter Wasser bekanntlich 1000 Kilo = 1 Tonne wiegt.
Das Wasser wird im Innern des Tenderkastens untergebracht. Der für seine Aufnahme bestimmte Behälter ist oben durch ein Deckblech abgeschlossen; dessen Lage zwischen den senkrechten Wänden des Tenders ist auch von außen her, beim Blick von der Seite, deutlich durch die gebrochene Linie zu erkennen, die von den sehr kräftigen Nieten gebildet wird. Das Deckblech läuft, von hinten angefangen, zuerst wagerecht, alsdann ein Stück schräg nach unten, um dann noch einmal in eine kurze Wagerechte überzugehen. Diese Lage gibt man ihm, weil es zugleich die Aufgabe hat, die Kohlen zu tragen, die nun über die Schräge hinweg stets selbsttätig nach vorn rutschen, so daß sie von der Schaufel des Heizers stets bequem erreicht werden können. Um ein Überstürzen des Kohlebergs in den Führerstand zu verhüten, wird ganz vorn von oben her stets noch eine Bohle eingeschoben. Der Wasserbehälter hat kräftige Versteifungen und Querwände, die verhindern, daß durch die Erschütterungen die ganze Wassermenge in gleichmäßige Bewegung gerät und mit großer Gewalt gegen die Außenwände schlägt.
Der Kohlekasten reicht auf dem Tenderwagen nicht bis ganz nach hinten, weil dort noch Platz für eine Öffnung zum Einfüllen des Wassers bleiben muß. Diese Füllöffnung[222] wird stets so geräumig gemacht, daß ein Mann hindurchsteigen und den Innenzustand des entleerten Wasserkastens feststellen, nötigenfalls kleine Nacharbeiten oder eine gründliche Reinigung ausführen kann. Die Füllöffnung darf nicht höher als 2,75 Meter über der Schienenoberkante liegen, damit die Ausleger der Wasserkrane noch eingeschwenkt werden können. Mit den Speisevorrichtungen am Lokomotivkessel ist der Wasserbehälter auf dem Tender durch bewegliche Rohre oder durch Füllschläuche verbunden.
Es wäre wirtschaftlich nicht richtig, die Abmessungen der Tender über ein gewisses Maß hinaus zu steigern. Der Wasservorrat, der für jede einzelne Lokomotive mitgeführt werden kann, ist also in gewissen Grenzen erschöpfbar. Die Länge der Strecken, welche von Schnellzügen ohne Aufenthalt durchfahren werden können, wird hierdurch eingeschränkt. In England und Amerika sucht man auf einigen Bahnen diesem Zwang durch eigenartige Anordnungen zu entgehen. Man schafft nämlich die Möglichkeit, den Tender nicht nur bei Stillstand, sondern auch während der Fahrt füllen zu können. Zu diesem Zweck wird an geeigneter Stelle in der Gleismitte ein etwa 500 Meter langer Trog eingebaut, der nach seinem ersten Erbauer Ramsbottomscher Fülltrog heißt. Vom Tender hängt ein Mundstück hinab, das für gewöhnlich frei über die Schwellenoberkanten hinweggeht. Neben der Erstreckung des Trogs aber sind die Schienen um 8 bis 10 Zentimeter gesenkt, so daß der Füllansatz in das Wasser hineinreicht, aber auch selbsttätig vor dem Ende des Trogs durch neues Ansteigen der Schienen wieder herausgehoben wird. Auf diese Weise vermag der Tender seinen Wasservorrat während der Fahrt in wenigen Sekunden zu erneuern.
Man hat in Deutschland trotz des auch hier bestehenden lebhaften Bestrebens, die aufenthaltlos durchfahrenen Schnellzugstrecken zu verlängern, bisher auf die Anordnung von Fülltrögen verzichtet. Die Gründe hierfür sind ausreichend genug. In unseren Breiten würde das Wasser im Trog während mehrerer Monate eines jeden Jahrs gefroren sein. Besondere Heizeinrichtungen hinzuzufügen, wäre sicherlich zu teuer und zu umständlich. Außerdem gelangen in das Trogwasser häufig grobe Unreinlichkeiten, welche leicht die Durchgangsöffnungen der Speisevorrichtungen an der Maschine verstopfen können. Während des Speisens bei schneller Fahrt spritzt das Wasser aus dem Trog nach den Seiten hoch empor, so daß der Tender vollständig in eine Wasserwolke eingehüllt wird. Das Bewässern aller Teile ist betrieblich recht unerwünscht.
[223]
Damit man die Menge des im Tenderkasten noch vorhandenen Wassers stets leicht erkennen kann, ist an der vorderen Querwand ein Zeiger angebracht, der durch einen auf der Wasseroberfläche ruhenden Schwimmer bewegt wird.
Die Kupplung zwischen Lokomotive und Tender ist in Abschnitt 17 behandelt. Über diese Kurzkupplung hinweg wird eine Brücke aus geriffeltem Blech gelegt, die an der Lokomotive mit Drehangeln befestigt ist.
Wie schon öfter angedeutet wurde, haben die letzten Jahrzehnte dem Bau der Lokomotive, der sich sonst gedanklich immer noch so eng an die Gestaltung der „Rakete“ anlehnt, hauptsächlich zwei Neuerungen gebracht, die eine durchgreifende Wirkung geübt haben. Das Ziel beider war die Herbeiführung einer bedeutenden Kohlenersparnis, die denn auch erreicht worden ist.
Die eine dieser Neuerungen betrifft die Führung des Dampfs durch die Maschine, die andere eine nochmalige Bearbeitung des aus dem Wasser gewonnenen Dampfs im Bereich der Heizrohre; diese ist etwa dem Durchkneten zu vergleichen, durch das der Bäcker den bereits fertiggestellten Teig für den Gebrauchszweck geeigneter macht. Die nun zu besprechenden beiden wichtigsten Errungenschaften des Lokomotivbaus sind: die Schaffung der Verbund-Maschine und die Erfindung der Dampfüberhitzung, also der Bau der Heißdampf-Maschine.
Die heutigen Lokomotiven arbeiten, wie wir bereits gehört haben, längst nicht mehr mit ganzer Füllung. Der Zylinderraum wird schon vor Beendigung jedes Kolbenhubs vom Kessel abgesperrt, so daß der Dampf sich ausdehnen kann. Aber auch hierbei wird er noch nicht völlig entspannt. Es wohnt ihm, wenn er den Kolben bis ans Ende seines Hubs geführt hat, immer noch eine ziemlich bedeutende Arbeitskraft inne, die früher verloren ging. Bei Lokomotiven, an denen die neue Bauart nicht verwendet wird, hört man denn auch den Dampf mit außerordentlich kräftigem Stoß durch das Blasrohr entweichen. Dies ist ein Zeichen dafür, daß hier Kraft verloren geht.
Der Gedanke, die Arbeitsfähigkeit des Dampfs, die er immer noch besitzt, nachdem er seinen Kolben bis zum Hubende gebracht hat, weiter auszunutzen, wurde zuerst bei der ortsfesten Maschine angewendet. Man läßt hier schon seit langem den vom Kessel kommenden Frischdampf nicht gleichzeitig in beide Zylinder eintreten, sondern gibt nur dem einen von diesen eine Verbindung mit dem Kessel, während der zweite Zylinder von dem Auspuffrohr des ersten her gespeist wird. So kann der Dampf also nun zum zweiten Mal Arbeit leisten. Da auf diese Weise eine Verbindung zwischen den beiden Zylindern geschaffen wird, nennt man Maschinen mit solcher Einrichtung Verbund-Maschinen. Nach genügender baulicher Durchbildung konnte durch diese Einrichtung eine erhebliche Kohlenersparnis erzielt werden.
Die Übertragung auch auf die bewegliche Dampfmaschine gelang, wie stets, erst nach vielen Mühen. Infolge ihrer eigenartigen Bauart, des geringen Raums, der bei ihr zur Verfügung steht, und wegen sonstiger besonderer Eigenschaften, zwingt die Lokomotive ja stets zu lebhaftestem Aufwand geistiger Arbeit, wenn eine Neuerung bei ihr eingeführt werden soll. Mit dem bloßen Gedanken ist es hier noch weniger getan, als auch sonst in der Technik. Der fachunkundige Erfinder glaubt meistens, schon etwas Großes geleistet zu haben, wenn der Plan zu einer wünschenswerten Neuerung in schattenhaften Umrissen seinem Gehirn entsprungen ist. Damit ist aber noch längst nicht die Neuerung selbst erdacht, sondern eigentlich nur der Wunsch geboren, daß diese Eigentum der Technik werden möge. Erst jetzt beginnt die wirkliche Erfindungsarbeit. Die Neuerung muß so geformt und hergerichtet[224] werden, daß sie allen Ansprüchen der sehr harten technischen Wirklichkeit zu entsprechen vermag. Hieran pflegen bei weitem die meisten Erfindungen zu scheitern, wodurch sie beweisen, daß sie in Wirklichkeit gar keine gewesen sind. Nirgend ist es schwerer, einen Erfindungsgedanken zu völliger Reife zu bringen, wie gerade im Eisenbahnbetrieb mit seinen unzähligen, unabweisbaren Betriebsforderungen. Es ist heute kaum noch denkbar, daß ein Nichtfachmann auf diesem Gebiet etwas Neues zu schaffen vermag, das wirklich ersprießlich ist.
Der Gedanke, die Verbund-Anordnung für Lokomotiven anzuwenden, wurde zum ersten Mal von einem Deutschen ausgesprochen. In einem Patent, das der deutsche Ingenieur Gerhard Moritz Roentgen im Jahre 1834 in Frankreich auf eine Verbund-Einrichtung für ortsfeste Dampfmaschinen nahm, heißt es: „Dieselben Vorteile werden sich auch bei Übertragung dieser Verbund-Anordnung auf die Eisenbahn-Maschinen ergeben.“ Roentgen hat dieser Anregung jedoch keine Tat folgen lassen; sein Patent blieb auf dem Papier stehen, gerade so wie Erfindungen vieler anderer auf diesem Gebiet.
Die erste Verbund-Lokomotive ist erst im Jahre 1876 von dem schweizerischen Ingenieur Anatole Mallet gebaut worden. Sie wurde von der Firma Schneider & Co. in Creusot für die Bahn Bayonne-Biarritz in Frankreich hergestellt. Seit dem Jahre 1880 hat sich dann der damalige Maschinen-Inspektor bei der Eisenbahn-Direktion Hannover, August von Borries, große Verdienste um die Durchbildung der Verbund-Maschine erworben. Die erste Lokomotive dieser Art für die preußische Bahn wurde im gleichen Jahr von Schichau in Elbing gebaut. Seitdem sind die Verbund-Maschinen im Bereich der preußischen Bahnverwaltung in immer größerer Zahl zur Verwendung gelangt.
Die heutige Verbund-Maschine gewährt eine Kohlenersparnis von etwa 20 vom Hundert. Um die Anordnung wirklich nutzbar verwerten zu können, war der Einbau einer ganzen Anzahl besonderer Vorrichtungen auf der Lokomotive notwendig.
Die Spannung des Dampfs ist, wenn dieser durch den ersten Zylinder hindurchgegangen, natürlich hinabgesetzt, der Druck, den er auf jedes Quadratzentimeter Kolbenfläche nun noch auszuüben vermag, also geringer. Da man jedoch auf beiden Seiten der Lokomotive die gleiche Arbeitsleistung haben will, so muß diese Druckminderung ausgeglichen werden. Dies geschieht durch eine Vergrößerung des Kolbens und damit des Zylinders auf derjenigen Lokomotivseite, die den Dampf aus zweiter Hand empfängt. Das Ergebnis der Rechnung Dampfdruck × Kolbenfläche, welches die Leistung ergibt, muß auf der Hochdruck- wie auf der Niederdruckseite das gleiche sein.
Es ist ferner nicht möglich, die beiden Zylinder nur durch ein einfaches Rohr miteinander zu verbinden. Denn der Hochdruck-Zylinder sendet dem Niederdruck-Zylinder den Dampf durchaus nicht immer in dem Augenblick zu, in welchem dieser ihn am meisten benötigt. Wenn der Hochdruckkolben am Ende eines Hubs angelangt ist, steht der Niederdruckkolben wegen der Versetzung der Kurbeln um 90 Grad gerade in der Mitte. Dies ist der Augenblick höchsten Dampfbedarfs bei ihm; der Hochdruck-Zylinder kann aber gerade jetzt fast nichts abgeben. Aus diesem Grund schaltet man zwischen die beiden Zylinder einen ziemlich geräumigen Behälter ein, aus dem die Niederdruckseite sich unabhängig von der Kolbenstellung drüben versorgen kann.
Die größte Kraftleistung hat die Lokomotive stets beim Anfahren zu vollbringen. Jeder Körper ist ja leichter in Bewegung zu erhalten, als zu dieser zu bringen. Wie eine Beharrung der Bewegung gibt es auch eine Beharrung der Ruhe. Niemals empfindet die Lokomotive die Last des angehängten Zugs so stark, wie wenn sie, nach[225] gegebenem Abfahrtzeichen, anfahren muß. In diesem schwierigsten Augenblick versagt aber die Verbund-Maschine manchmal. Da der Dampf ja erst den Hochdruck-Zylinder durchlaufen muß, um zur Niederdruckseite zu gelangen, so können beim Anfahren nicht beide Maschinen wirken. Aus dem Zwischenbehälter kann der Niederdruck-Zylinder in diesem Augenblick gleichfalls nicht schöpfen, weil sich darin bei Beginn des Anfahrens überhaupt kein Dampf befindet. Man hat aus diesem Grund dazu schreiten müssen, ein Steuer-Ventil anzubringen, das dem Führer gestattet, die Verbundwirkung während des Anfahrens aufzuheben. Nach Öffnung dieses Ventils erhalten beide Zylinder Frischdampf, so daß die Maschine nicht mit Verbund-, sondern mit Zwillingswirkung arbeitet.
Die Vorzüge der Verbund-Maschine verschwinden also bei solchen Lokomotiven, die häufig anfahren müssen, wie Verschiebe-, Güterzug- und Stadtbahn-Lokomotiven. Die preußische Eisenbahn-Verwaltung baut darum Maschinen dieser Art stets mit Zwillingswirkung, während Lokomotiven für Schnellzüge und Eil-Güterzüge heute allermeist mit Verbundwirkung versehen sind.
Bei Maschinen mit vier Zylindern werden zwei für Hoch- und zwei für Niederdruck verwendet. Jedem Hochdruck- wird ein Niederdruck-Zylinder zugeordnet. Hierbei ergibt sich nun ein besonderer Vorteil für solche Maschinen, die zum bequemen Durchfahren von Krümmungen ein frei bewegliches Triebwerk haben. Mallet und Rimrott kamen auf den Gedanken, hierbei die beiden Niederdruck-Zylinder an dem beweglichen Triebwerk-Rahmen anzubringen. Die biegsamen Dampfleitungen brauchten nun also nicht mehr den Hochdruck des Kessels aufzunehmen, sondern nur noch gegen den weit geringeren Niederdruck abgedichtet zu werden. Auf diese Weise gelang es also zum ersten Mal, wirklich brauchbare Maschinen mit einstellbaren Kuppelachsen auszurüsten. In Deutschland ist die erste Mallet-Rimrott-Maschine bei J. A. Maffei in München hergestellt worden.
Noch weit wichtiger als die Ausnutzung der Verbundwirkung ist für den Lokomotivbau die Einführung des überhitzten oder Heißdampfs geworden.
Der aus dem Wasser des Kessels erzeugte Dampf enthält stets noch Wasser in Form mitgerissener, feinster Tröpfchen. Diese sind für die Wirkung der Maschine sehr schädlich, wenn sie in die Zylinder gelangen, weil sie dort keinerlei Wirkung auszuüben vermögen, jedoch dem arbeitsfreudigen Dampf den Platz fortnehmen. Schon in früheren Jahrzehnten hat man sich deshalb damit beschäftigt, den Dampf vor seinem Eintritt in die Zylinder zu trocknen, indem man ihn so lange im Bereich der Heizung ließ, bis das mitgerissene Wasser gleichfalls verdampft war.
Große Vorteile ergaben sich aber erst, als man mit der Erhitzung des Dampfs weit über den Wärmegrad hinausging, der zur Trocknung notwendig ist. Wenn nämlich auch völlig trockener Dampf in den Zylinder eintritt, so schlägt sich ein Teil davon stets sofort zu Wasser nieder, weil seine Wärme durch Berührung mit den verhältnismäßig kalten Zylinderwänden, aber auch durch die Ausdehnung beim Vorschieben des Kolbens sogleich hinabgesetzt wird. Wieder erhält man so im Zylinder totes, schädliches Wasser. Überhitzter Dampf jedoch, das heißt solcher, der bis zu einer Wärme von etwa 360 Grad gebracht ist, kann eine Abkühlung wohl vertragen, ohne sich niederzuschlagen. Er behält noch lange die Eigenschaft eines ausdehnungsfähigen Gases. Durch die Überhitzung kann man also eine weit bessere Ausnutzung des Dampfs erzielen, indem alle seine Teile zum Arbeiten gelangen, anstatt als Wasser ungenutzt verloren zu gehen.
Die Erkenntnis von der Nützlichkeit des überhitzten Dampfs ist nicht neu, aber eine verwendbare Ausführung von Heißdampf-Lokomotiven war lange Zeit hindurch nicht möglich.[226] Mußten doch alle Vorkehrungen, die notwendig sind, um den Naßdampf von 100 Grad auf 360 Grad zu bringen, so beschaffen sein, daß sie sich am Lokomotivkessel anbringen ließen, ohne daß dessen bewährter Bau grundsätzlich verändert zu werden brauchte. Eine äußerste Anpassung an räumlich beschränkte Verhältnisse war hierbei erforderlich.
Um dem Heißdampf wirklich freie Bahn zu eröffnen, durfte man nicht solche Lokomotiven bauen, wie Petiet in Frankreich es tat, der hierbei, wie Bild 190 zeigt, so ziemlich alle äußeren Formen des Kessels veränderte.
Es war auch notwendig, darauf zu achten, daß die Heißdampf-Ausrüstung das Gewicht der Lokomotive nicht allzu sehr steigerte. Die einzelnen Vorrichtungen mußten leicht anzubringen sein, und endlich war es noch erforderlich, alle Maschinenteile wie Kolbenringe, Schieber, Stopfbüchsen, Dichtungen und insbesondere das Schmieröl so herzurichten, daß sie imstande waren, den außerordentlichen Hitzegraden zu widerstehen, welchen sie fortab ausgesetzt werden mußten.
Die wirklich brauchbare Ausführung der Heißdampf-Lokomotive, die alsbald einen fast beispiellosen Siegeszug durch alle Länder der Erde angetreten hat, gelang als erstem dem deutschen Ingenieur Wilhelm Schmidt in Cassel zu Anfang dieses Jahrhunderts. Er überwand alle Schwierigkeiten und hat durch seine Arbeit einen erneuten Beweis dafür geliefert, daß der deutsche Techniker auf Grund seiner wissenschaftlichen Schulung zu den größten Taten fähig ist.
Nachdem Schmidt zuerst einige andere Bauarten versucht hatte, so z. B. den Rauchkammer-Überhitzer, ist heute allgemein der Heiz- oder Rauchröhren-Überhitzer in Gebrauch. Die Überhitzung des Dampfs geschieht hier dadurch, daß dieser nach Durchströmen des geöffneten Reglerventils im Dom auf einem langen Weg mit den heißen Feuerungsgasen in engste Berührung gebracht und dann erst den Zylindern zugeführt wird.
Zur Aufnahme der Überhitzer-Einrichtung sind die Heiz- oder Rauchröhren in den Reihen, die im oberen Teil des Kessels liegen, weiter gehalten als die anderen. In jede Röhre taucht ein Überhitzer-Teilstück ein, ein Rohrstrang, der von einem vor der vorderen[227] Querwand des Kessels, also in der Rauchkammer, liegenden Sammelgefäß für den Naßdampf herkommt und mit seinem Ende an das Sammelgefäß für Heißdampf angeschlossen ist.
Jedes Überhitzer-Teilstück ist ein zweifaches, U-förmig gebogenes Rohr. Der Dampf durchläuft erst die eine Schleife, dann die andere, wird also in jedem Rauchrohr zweimal hin und zurück geführt, wobei er von den Heizgasen, welche die U-Rohre von außen umspülen, bis auf 360 Grad erhitzt wird.
Es ist erstaunlich, daß man vermocht hat, gezogene Stahlrohre herzustellen, die in der außerordentlichen sie umgebenden Hitze nicht durchbrennen. Die Heizrohre werden zwar in gleicher Weise erwärmt, aber das Wasser, welches sie ständig umspült, verursacht eine gründliche Kühlung. Diese fällt bei den dampferfüllten Überhitzerrohren fort. Die größten Schwierigkeiten machte es, die Endstellen haltbar zu machen, an denen die U-Rohre umgebogen[228] sind, weil diese dem vollen Ansturm der heißen Gase ganz besonders ausgesetzt sind. Heute ist durch das Aufschweißen einer verstärkenden Kappe auf die Rohrenden auch hier eine genügende Haltbarkeit erreicht.
Eine gewisse Kühlung, wenn man einen solchen Ausdruck für diese Hölle überhaupt anwenden kann, erhalten die Überhitzerrohre immerhin solange, wie sie vom Dampf durchströmt werden. Sobald das Regler-Ventil geschlossen wird, hört jedoch die Dampfzufuhr auf, und die Wandungen sind nicht mehr imstande, Wärme abzugeben und fortleiten zu lassen. Aus diesem Grund wird dafür gesorgt, daß bei geschlossenem Regler-Ventil die Erhitzung der U-Rohre vermindert wird.
Wenn man eine Heißdampf-Lokomotive von vorn her anschaut, bemerkt man gleich hinter der Rauchkammer an der rechten Seite des Rund-Kessels einen kleinen wagerecht liegenden Zylinder. Er ist an der Lokomotive auf Bild 152 deutlich zu erkennen. In diesem Zylinder ist ein Kolben untergebracht, der durch hinten eintretenden Dampf aus seiner Ruhelage verschoben wird, solange das Regler-Ventil offen ist, die Heizrohre also mit Dampf[229] versorgt sind und die Maschine arbeitet. Sobald Abschluß erfolgt, kehrt der Kolben in seine Ruhelage zurück. Er verstellt hierbei mit Hilfe einer Hebelübersetzung eine breite Klappe in der Rauchkammer. Diese geht aus ihrer wagerechten Lage in die senkrechte über und verschließt die Ausgangsöffnungen derjenigen Heizrohre, in denen die Überhitzerröhren liegen. Der Durchzug der heißen Gase durch diese Rohre wird dadurch stark vermindert, die Erhitzung sinkt.
Im Führerstand ist ein Handrad angebracht, mit dessen Hilfe auch bei geöffnetem Regler-Ventil die Überhitzerklappe nach Belieben verstellt werden kann. Hierdurch vermag die Lokomotivmannschaft den Grad der Überhitzung nach Vorschrift einzustellen. Eine elektrische Vorrichtung ermöglicht ständig das Ablesen des Hitzegrads auf einem Zifferblatt im Führerstand.
Um die Entwicklung der Heißdampf-Maschine hat sich die preußische Staatsbahnverwaltung ein großes Verdienst erworben. Wagemutig, wie sie stets hoffnungsvollen technischen Neuerungen gegenüber zu sein pflegt, nahm sie sich dieser Erfindung schon in einer Zeit der Entwicklung an, als der Ausgang noch nicht abzusehen war. Viele Millionen wurden für Versuche ausgegeben, die, wie man heute weiß, ganz gewiß nicht umsonst geopfert worden sind. Tausende von Heißdampf-Lokomotiven sind heute in Preußen im Betrieb.
Die Ersparnisse, die sich aus der Benutzung des überhitzten Dampfs ergeben, sind nicht gering. Man rechnet, daß man hierdurch an Wasser bei Verbund-Maschinen bis zu 26 vom Hundert, bei Zwillings-Maschinen bis zu 33 vom Hundert erspart, an Kohle bei Verbund-Lokomotiven 12 bis 18 vom Hundert, bei Zwillings-Lokomotiven 20 bis 25 vom Hundert.
Angesichts des außerordentlich großen Kohlebedarfs der Eisenbahnen, der durch ihre weitere Ausbreitung immer höher steigt, muß jede Möglichkeit, die eine Ersparnis erhoffen läßt, ausgenutzt werden. So hat man sich denn in der letzten Zeit entschlossen, die Lokomotive noch mit einem weiteren Bauteil zu belasten, das eine solche Wirkung herbeiführt.
Man sorgt jetzt dafür, daß das Wasser, welches aus dem Vorratsraum des Tenders in den Kessel gepumpt wird, nicht mehr kalt in diesen eintritt, sondern schon vorher stark angewärmt wird. Wir werden gleich noch hören, daß die Lokomotive mit zwei Speisevorrichtungen ausgerüstet ist: mit dem Strahlapparat und der Kolbenpumpe. Beim Strahlapparat tritt eine gewisse Vorwärmung von selbst ein, da das Wasser beim Hineinwerfen in den Kessel mit Dampf vermischt wird. Die Benutzung der Kolbenpumpe trat bis vor kurzem mehr in den Hintergrund, weil diese nur ganz kaltes Wasser abzugeben vermochte. Jetzt wird sie häufiger benutzt als der immer recht empfindliche Strahlapparat, weil zwischen sie und den Kessel der Speisewasser-Vorwärmer geschaltet werden kann.
[230]
Dieser besteht aus einem runden oder flachen eisernen Gefäß, in dem ein Rohrbündel untergebracht ist. Ungefähr den siebenten Teil des Abdampfs, der aus den Zylindern kommt, leitet man statt zum Blasrohr in den Vorwärmer, wo er den Raum innerhalb der Wandungen erfüllt. Das von der Pumpe in den Kessel zu drückende Wasser durchläuft das Rohrbündel, und zwar mittels U-förmiger Verbindungen eines dieser Rohre nach dem andern, so daß eine sehr ausgedehnte Berührung mit dem heißen Dampfraum stattfindet. Der Vorteil, den diese Neu-Einrichtung gebracht hat, ist so bedeutend, daß man nachträglich auch ältere Maschinen mit Vorwärmern ausgestattet hat. Die Lokomotiven der Berliner Stadtbahn z. B. tragen die ziemlich unförmigen Vorwärmerkasten jetzt fast sämtlich auf ihren runden Rücken.
Zu den besonders beachtenswerten Neuerungen, welche die letzten Jahrzehnte dem Lokomotivbau gebracht haben, gehören auch die Vorrichtungen zur Rauchverbrennung oder besser Rauchminderung.
Es ist ja kein Zweifel, daß die Freude am Eisenbahnfahren durch den aus dem Schornstein der Lokomotive dringenden Rauch und den Ruß, der aus den schwarzen Wolken herabrieselt, stark herabgesetzt wird. Doch nicht nur der Reisende empfindet die Rauchplage als Übelstand, sie ist auch ein Feind des Betriebs. Denn die dem Schornstein entquellenden Verbrennungsrückstände enthalten schwefligsaure Gase, welche die Eigenschaft haben, alle lackierten und blanken Flächen anzugreifen. Sie sind es, welche die Außenwände der Eisenbahnfahrzeuge so rasch unansehnlich machen, die Hallendächer anfressen und dazu zwingen, eiserne Brücken häufiger anzustreichen, als es sonst für deren Erhaltung notwendig wäre.
Am unangenehmsten ist die Wirkung des Rauchs in den Tunneln, wo allzu starke Abströmung von Gasen aus den Lokomotiven sogar eine Erstickungsgefahr für Reisende und insbesondere für die im Freien stehende Lokomotivmannschaft bringen kann, wenn die Gewölbe schlecht gelüftet sind. Im Jahre 1898 ist es tatsächlich vorgekommen, daß in[231] dem 3000 Meter langen, wegen seiner schlechten Lüftungsverhältnisse berüchtigten Giovi-Tunnel auf der Strecke Turin-Genua Heizer und Führer eines Personenzugs im Qualm erstickt sind. Der Zug rollte, da er sich auf einer starken Steigung befand, rückwärts und stieß auf einen folgenden Güterzug auf. Viele Menschen kamen hierbei um. Auch aus diesem Unfall, der allerdings sehr seltener Art ist, sieht man, daß die Rauchverbrennung ein Ziel ist, aufs innigste zu wünschen.
Die Rauchbildung erfolgt dadurch, daß beim Verbrennen des Heizstoffs auf dem Rost Kohlenwasserstoffe aus diesem ausgetrieben werden. Für gewöhnlich reicht die Hitze der Feuerung nur aus, um hiervon den leicht entzündlichen Wasserstoff zu verbrennen. Alsdann scheidet sich reiner Kohlenstoff in kleinen Stückchen ab, die wir Ruß nennen. Infolge des Blasrohrzugs gelangen die Rußteilchen trotz der angebrachten Funkenfänger durch den Schornstein ins Freie, da ja, wie wir wissen, die Maschen der Funkenfangvorrichtungen nicht allzu eng sein dürfen.
Es gelingt nun, den Kohlenstoff der Feuerungsgase zu einem großen Teil gleichfalls zu verbrennen, wenn man außer der Luft, die vom Aschkasten her durch den Rost in die Feuerkiste gelangt, noch über der Feuerung neue Frischluft zuführt und dafür sorgt, daß diese sich gründlich mit den ausströmenden Gasen mengt. Die Vorrichtung, welche die beste Wirkung in dieser Hinsicht erzielt, wird von Marcotty in Berlin gebaut. Sie ist heute fast an allen größeren preußischen Lokomotiven angebracht. Marcotty erreicht eine sehr starke Rauchminderung auf folgende Weise:
Durch die dem Führerstand zugekehrte Wand der Feuerkiste sind in zwei hohle Stehbolzen zwei Düsen gesteckt, aus denen ein Dampfschleier in Richtung zum Feuerschirm geblasen wird. Dieser Schleier überdeckt die ganze Feuerung in einiger Höhe über der obersten Kohleschicht. Durch besondere Öffnungen neben der eigenartig durchgebildeten Feuertür wird zugleich Oberluft zugeführt, und diese nun durch die Dampfwirbel in dem Schleier mit den Gasen gemengt. (Bilder 199-201.)
Damit für die oft wechselnden Beanspruchungen der Lokomotive stets die wirksamste Einstellung der Rauchverbrennungs-Vorrichtungen bewirkt werden kann, ist eine Reihe von Hebeln am Führerstand vorgesehen, die eine Regelung des Dampfschleiers sowie eine Erhöhung und Verminderung des Durchzugs der Oberluft gestatten. Bei sorgfältiger Bedienung tut die Marcotty-Einrichtung sehr gute Wirkung. Sie soll auch die Ausnutzung des Heizstoffs verbessern. Das Qualmen der Lokomotiven vermag sie jedenfalls vollständig zu verhindern.
Durch alle die hier geschilderten neuen Errungenschaften des Lokomotivbaus wird heute im Eisenbahnbetrieb in der Tat eine sehr bedeutende Kohlenersparnis erzielt. Nach einer Zusammenstellung von Hammer mußten in Preußen im Jahre 1894 zur Erzeugung jeder Pferdekraftstunde, d. h. für jede Pferdestärke, die eine Stunde lang geleistet wird, 2,7 kg Kohle verbrannt werden. Im Jahre 1909 waren nur noch 2,2 kg für dieselbe Leistung notwendig. Das bedeutete, wenn man die Verlade- und Frachtkosten mitberechnet, die sonst für den Mehraufwand an Kohle notwendig gewesen wären, eine Ersparnis von 25 Millionen Mark jährlich. Heute ist der Kohlenverbrauch bis auf 1,2 kg für die Pferdekraftstunde hinabgedrückt. Die Gesamtausgabe für Kohle im Bereich der preußisch-hessischen Eisenbahnen betrug im Jahre 1913 144 Millionen 751 000 Mark. Ohne den Einbau der sparenden Neuanlagen wären wohl 200 Millionen für den gleichen Zweck erforderlich gewesen.
Trotz all der Zutaten und Verfeinerungen, mit denen die Lokomotiven heute ausgerüstet[232] sind, ist ihr Anschaffungspreis, bezogen auf die Leistungseinheit, doch ganz bedeutend geringer geworden. Nach Matschoß kostete zu Stephensons Zeiten jede Pferdestärke, welche die Maschine leisten konnte, bei der Anschaffung 240 Mark; heute sind nur noch 52 Mark dafür zu entrichten.
Nach alledem, was der Leser hier über die Lokomotive gehört hat, wird er gewiß zugeben, daß diese Maschine einer der kühnsten Wunderbauten ist, die bisher von der Technik aufgeführt worden sind. Aber es ist nicht die Aufgabe dieses Baus, in stolzer Ruhe zu prangen. Er muß vielmehr mit seinen zahlreichen Gemächern und krönenden Zieraten durch die Lande schweifen. Der Mensch will sich nicht an ihm erfreuen, sondern er soll ihm schwere Dienste leisten. Um dies tun zu können, verlangt der Bau wiederum sorgfältigste Wartung und treueste Pflege. So ungeheuer mannigfaltig wie seine Fügung, so zahlreich sind seine Bedürfnisse. Unablässig ist in seinem Innern zu räumen und zu schaffen, damit kein Versagen eintritt.
Einsam zieht die Lokomotive ihre Bahn. Nur vier Augen und vier Hände sind es, die man ihr zugesellt hat. Es gehört mehr als handwerkliche Fertigkeit dazu, die große Maschine während einer ununterbrochnen Schnellzugfahrt von mehr als vier Stunden so zu versehen, daß sie in jedem Augenblick ihr Bestes hergibt. Die Männer auf dem Führerstand[233] müssen Künstler in ihrem Fach sein. Sie müssen das ihnen anvertraute mächtige Werkzeug aufs genaueste kennen, aber zugleich auch Mut und rasche Entschlußkraft besitzen, wenn sie den sehr hohen Anforderungen nachkommen wollen, welche die äußerst straff gespannten Fahrplanzeiten an die Schnellzuglokomotiven stellen. Auch das Gefühl der Pflicht, die sie gegenüber den Fahrgästen in den wohl abgeschlossenen Wagen hinter ihnen übernommen haben, muß die Männer auf der Lokomotive stets beseelen. Die Beamten dürfen nicht gefährliche Handlungen vornehmen, um eine selbstverschuldete Unregelmäßigkeit zu verdecken, sie dürfen auch bei bedrohlichen Vorgängen ebensowenig zuerst an sich denken, wie das der Kapitän eines Schiffs tut. Man darf sagen, daß solche Tugenden von den Lokomotivmannschaften keines Lands mehr geübt werden als von denen Deutschlands. Mit Recht hat der deutsche Lokomotivführer ein ausgeprägtes Standesbewußtsein. Er kennt seine Bedeutung im Rahmen des Eisenbahnbetriebs, und es gibt keine Verwaltung, die ihn nicht in entsprechender Weise behandelte.
Wir haben die Lokomotivbesatzung schon bei einem kurzen Besuch am Werk gesehen. Nun aber, nachdem wir den Bau der Lokomotive selbst besser kennen gelernt haben, wollen wir ihr Wirken etwas näher betrachten; wir wollen uns, soweit sie nicht bereits behandelt wurden, die Ausrüstungsteile der Maschine, die ihrer Instandhaltung und Beflügelung dienen, nun genauer ansehen.
Die über den Wunderbau der Lokomotive gesetzten Wächter sind im Führerstand untergebracht. Es wird heute von den deutschen Verwaltungen großer Wert darauf gelegt, der Mannschaft den Aufenthalt auf der Maschine so angenehm und bequem wie nur möglich zu machen. Man will hierdurch eine rasche Ermüdung vermeiden und glaubt, daß persönliches Wohlbefinden das beste Mittel sei, um die Aufmerksamkeit der Männer stets wach zu erhalten.
Solche Meinung hat nicht zu allen Zeiten geherrscht. Die Lokomotiven der ersten Eisenbahnen hatten nur Plattformen für die Mannschaft, aber keinerlei darumgebaute Schutzwände. Die Besatzung war hier allen Unbilden der Witterung ausgesetzt. Solange die schwerfälligen Lokomotiven der Anfangszeit noch langsam dahinfuhren, waren die Beschwerden nicht allzu groß. Aber man blieb bei den offenen Führerständen auch, als die Geschwindigkeiten bereits stark zugenommen hatten. Man glaubte nämlich, daß die Lokomotivmannschaft nicht mehr sorgsam auf die Strecke achten würde, wenn man ihren Aufenthaltsort mit schützenden Wänden umgäbe. Die damals sehr rücksichtslosen Bahnverwaltungen trugen keinerlei Bedenken, derartig gegen die Gesundheit ihrer Angestellten zu freveln.
Max v. Weber, der, wie man von ihm gesagt hat, die „Poesie der Schiene“ entdeckte, war auch der erste, der ein offenes Auge und ein Mitempfinden für die Leiden der Eisenbahnangestellten besaß. In seinem Aufsatz „Eine Winternacht auf der[234] Lokomotive“ schildert er die qualvolle Arbeit, die zu seiner Zeit von der Lokomotivmannschaft im Winter bei Sturm und Schneegestöber verrichtet werden mußte. Man findet darin die folgende ergreifende Schilderung:
„Pfeifen! Und hinaus geht es unaufhaltsam in die eiskalte Schneesturmnacht, die mit 15 Grad kalter, schneidender Zugluft die schweißgetränkten Haare der Männer auf der Maschine in wenig Sekunden in starrende Eisnadeln verwandelt.
„Vorwärts! Vorwärts!
„Der Sturm hat aufgefrischt. Von unten nach oben stürzenden Katarakten ähnlich, treibt er von den großen Flächen der Dammböschungen den staubartigen, feinen, kalten Schnee empor, der auf der Fläche der Bahn wie in wilden Wogen dahinjagt, deren Brandungen an die eilende Maschine anschlagen und, hoch über ihren Schornstein hinwirbelnd, die stillen Männer mit immer neuen Fluten von stechenden Eisnadeln überströmen oder sich an windstillen Orten heimtückisch zu lockeren Windwehen zusammenlagern. Im voraneilenden Licht der Lokomotivlaternen prallen diese plötzlich, wie weiße, über der Bahn liegende Mauern gespenstisch aus der Nacht empor und jagen dem beherztesten Führer jedesmal, wenn er mit seiner Lokomotive in die weiche unheimliche Masse hineinstürmt, einen Schauder durch die Seele. Hoch bäumen sie sich vor der wilddurchbrechenden Maschine auf, sie mit solchen Schneemassen überschüttend, daß die Männer auf dieser sich am Geländer festhalten müssen, um nicht durch den wuchtigen Schlag herabgeschleudert zu werden.
„‚Es schneit stark!‘ sagen die Passagiere, die im Wagen einen Augenblick erwachen und, sich streckend, ein Fenster, an das sie den Schnee knisternd anschlagen hören, mit der Wagenquaste zu säubern versuchen. ‚Wir fahren schlecht,‘ fügen sie, gähnend nach der Uhr sehend, hinzu, ‚verflucht beschwerlich das Nachtreisen im Winter!‘ — — wickeln sich in die weichen Pelze und drücken die Köpfe in die weichen Wagenecken. —
„Vorwärts! Vorwärts!
„Die Teile der Lokomotive tropfen, aus dem Schornstein, von den Sicherheitsventilen, der Pfeife, den Pumpen spritzt Wasser fein zerteilt ab, das hier an der Maschine herabrieselt und an ihren außenliegenden Organen gefriert oder vom Sturm weggeblasen wird, dort aber Pelz und Mütze und Gesicht der Männer übersprüht, die schweigend auf dem Trittbrett stehen.
„Nach und nach behängt sich die Maschine mit schweren Eiszapfen, dicke Eisbuckel wachsen selbst an ihren schnellstgedrehten, am raschesten schwingenden Organen, alle Zwischenräume füllen sich mit hartgefrorenem Schnee, und der Blick in die Teile der Maschine wird schwieriger und unsicherer.
„‚Ich glaube, die Pumpen frieren zu bei dem Wetter‘, sagt Zimmermann (der Führer). ‚Wir wollen sie ein wenig spielen lassen.‘
„Er will die Hand nach den Griffen ausstrecken, den Kopf dahin wenden, fühlt aber die kräftige Faust am Körper festgehalten und empfindlichen Schmerz am Kinn. Die nasse Kleidung der Männer hat sich in einen starren Eispanzer verwandelt, Bart und Pelz sind in eine Eismasse zusammengeronnen, die dicke Pelzmütze ist zu einem drückenden Helm geworden, an den Augenwimpern hängende Eiskügelchen lassen die Lichter der auftauchenden zweiten Station in tausend Farben spielen. Sie reißen die am Rock festgefrornen Ärmel los, strecken prasselnd und knisternd die Glieder, sie tauen die am Lippenbarte hängenden Eiszapfen im Munde auf, der, selbst halb erstarrt, nur schwierig Worte artikuliert.“
[235]
Weber, der so lebhaft mit den Männern auf der Lokomotive fühlte, ist es denn auch gewesen, der die Bahnverwaltungen schließlich zur Errichtung von Schutzhäusern veranlaßt hat. Die Einrichtung geschah hauptsächlich infolge seiner 1862 erschienenen Schrift: „Die Gefährdung des Personals beim Maschinen- und Fahrdienst.“
Heute ist durch möglichst vollständigen Abschluß des Führerstands durch Vorderwand und Seitenwände ein guter Schutz der Mannschaft erreicht. Bei Geschwindigkeiten von 100 Kilometern und darüber wäre auch sonst ein Bedienen der Lokomotive nicht möglich.
Immerhin ist auch jetzt noch der Dienst im Winter nicht ganz leicht, weil ein jeder Schritt vorwärts oder rückwärts die Lokomotivmannschaft in Bezirke mit sehr verschiedenen Wärmegraden bringt. Wenn der Heizer eben bei offener Feuertür den Rost gereinigt hat und dann zum Tender hinübertreten muß, so kommt er zur Winterszeit aus einer kochenden Hölle sofort in grimmige Kälte. Im Sommer wiederum ist das Arbeiten in den ganz geschlossenen Tenderlokomotiven infolge der Ausstrahlungen des Kessels sehr anstrengend. Die Lokomotivbauer sind fortwährend darauf bedacht, durch gute Kühlung den Fahrbeamten auf solchen Maschinen Erleichterung zu verschaffen. Man baut Führerstände mit doppelten Dächern, in deren Zwischenräumen die Luft sich fängt und in das Führerhaus gepreßt wird. Verstellbare Einrichtungen sorgen dafür, daß sowohl bei Vorwärts- wie bei Rückwärtsfahrt möglichst viel frische Luft eingefangen werden kann. Das Dach des Führerhauses wird allmählich auch immer weiter nach hinten verlängert, damit auf Strecken, die von Süden nach Norden laufen, die Sonne den beiden Männern nicht ungehindert auf Rücken und Genick brennen kann. Sogar Sitzgelegenheiten sind heute im Führerstand vorgesehen. Man hat nicht gehört, daß durch alle diese Vorkehrungen die Zahl der Eisenbahnunfälle sich vermehrt hätte.
Wie alle anderen Vorrichtungen an der Lokomotive, bei deren Formgebung ja stets eine ganze Reihe von Gesichtspunkten berücksichtigt werden muß, weil bei dieser Maschine alles gar so eng bei einander wohnt, ist auch die Feuertür heute nicht mehr ein ganz einfaches[236] Ding. Die Öffnung, durch welche die Kohle in die Feuerkiste geworfen wird, wird auf großen Maschinen nicht mehr durch eine bloße Klappe verschlossen, die sich in ihren Angeln dreht. Bei derartigen Türen besteht nämlich die Gefahr, daß sie beim Bersten eines Heizrohrs, wenn Dampf mit starkem Druck in die Feuerung strömt, aufspringt, so daß nun Massen glühender Kohle in den Führerstand geblasen werden können.
Marcotty hat darum zusammen mit seiner Rauchverbrennungseinrichtung eine nach innen aufschlagende Tür eingeführt, die in solchen Gefahrfällen durch den Druck gegen die Feuerkiste fest zugeworfen wird. Diese Türanordnung hat den zweiten Vorteil, daß sie in geöffnetem Zustand keinen Platz in dem engen Führerstand wegnimmt. Sie braucht auch nicht immer ganz geöffnet zu werden, sondern man kann sie in eine Zwischenstellung bringen. Diese benutzt der Heizer häufig, wenn er mit dem langen Haken den Rost bearbeitet. Das dauert oft eine ziemlich lange Zeit, und bei ganz geöffneter Tür würde allzuviel kalte Luft in den Feuerraum gelangen. Ähnliche Vorteile bieten auch die Schiebetüren, die jetzt wieder häufiger angewendet werden; auch sie springen beim Öffnen nicht in den Führerstand vor und gestatten zahlreiche Abstufungen in der Öffnungsbreite. Beide Teile einer Schiebetür werden durch denselben Hebel bedient.
Wenn man den Heizer beim Feuern genauer beobachtet, sieht man sogleich, daß er nicht einfach eine Schaufel Kohle nach der andern durch das Feuerloch hindurchwirft. Er muß das Feuer vielmehr in sehr überlegter Weise unterhalten, wenn die Spannung im Kessel nicht sinken soll. Vor allem ist dafür zu sorgen, daß der Rost stets mit einer gleichmäßigen Kohleschicht bedeckt ist. Es dürfen sich nicht vorn Berge anhäufen, während am hinteren Ende des Rosts leere Flächen vorhanden sind. Die durch den Blasrohrzug eingesaugte Luft würde in solchen Fällen die Heizrohre stark abkühlen und ein wahres Gestöber von Funken in die Rauchkammer und zum Teil auch in den Schornstein jagen. Der Heizer bringt also bedächtig jede Schaufel Kohlen am rechten Ort unter, so daß überall in der Feuerkiste eine möglichst gleichmäßige Wärme herrscht.
Der große blanke Hebel, mit dessen Hilfe in den Bau der Lokomotive Bewegung gebracht, oder durch den er wiederum still gesetzt werden kann, liegt dem Führer bequem zur Hand. Durch Bewegung des Reglers öffnet er mittels einer bis in die Wölbung des Doms laufenden Stange dort einen Schieber oder ein Ventil, die nun den Dampf durch die Einströmungsrohre zu den Schieberkästen und damit zu den Zylindern gelangen lassen. Solange der Regler geschlossen ist, werden die Abschlußstücke im Dom durch den einseitigen Druck des Dampfs sehr kräftig gegen ihre Lager gepreßt. Die Überwindung des vollen Drucks auf den langen Schieber oder das große Ventil würde jedesmal bei Öffnung des Reglers eine recht bedeutende Kraftanstrengung nötig machen. Dieser Hebel soll jedoch möglichst leicht zu bewegen sein, damit er seinen wichtigen Einfluß auf den gesamten Gang der Maschine rasch und ohne Hindernis zu üben vermag. Aus diesem Grund ist die Reglerstange an dem Hauptschieber oder an dem Hauptventil im Dom so angelenkt, daß, bevor diese selbst bewegt werden, eine kleine Öffnung im Dampfweg freigemacht wird. Der Dampf kann nun schon in geringer Menge auf die andere Seite des Abschlusses überströmen, und das genügt, um den bisher einseitigen Druck stark zu vermindern. Durch die beim Öffnen des Reglers so zuerst eintretende Eröffnung eines schmalen Durchgangswegs für den Dampf wird zugleich auch ein sanftes Ingangsetzen der Maschine herbeigeführt.
Die beiden von einander unabhängigen Vorrichtungen, die zur Füllung des Kessels
mit Wasser immer bereit stehen, sind in ihrer Bauart sehr verschieden. Wo kein
Vorwärmer[237]
[238]
vorhanden ist, wird für gewöhnlich der Dampfstrahlapparat benutzt. Er ist so
geformt, daß ein sehr scharfer Dampfstrahl über das enge Ende eines Rohrs streicht, die
in diesem enthaltene Luft mitreißt, so eine Luftverdünnung erzeugt und dadurch das Wasser
im Tender zum Nachströmen zwingt. Der aus einer engen Düse strömende Dampf muß
hierbei stark genug sein, die Kesselspannung zu überwinden, aus der er selbst stammt, und
gegen ihren Druck Wasser in den Raum hineinzuwerfen. Dies wird durch plötzliche Verengung
des Düsenrohrs erreicht, die dem Dampf eine unwiderstehliche Beschleunigung
verleiht. Zugleich führt er durch seine Mischung mit dem Wasser eine gewisse Vorwärmung
herbei. Die zweite Speiseeinrichtung ist eine Kolbenpumpe, die durch eine eigene
kleine Dampfmaschine betrieben wird. Wenn der Dampfzufluß zu dieser durch einen Griff
im Führerstand eröffnet ist, drückt die Pumpe Wasser aus dem Tender in den Kessel, bis
sie wieder abgestellt wird.
Den richtigen Augenblick zum An- und Abstellen der Speisevorrichtungen erkennt der Heizer gewöhnlich am Wasserstandglas. Es ist dies ein Rohr, das zwischen zwei aus dem Kesselinnern herausragende hohle Stutzen gesetzt ist. In dem Rohr steht nach dem Gesetz der zusammenhängenden Röhren das Wasser stets genau so hoch wie im Kessel. Oben und unten sind am Wasserstandrohr Marken angebracht, die den höchsten und den niedrigsten zulässigen Wasserstand bezeichnen. Wird zuviel Wasser in den Kessel gedrückt, so ist für die Dampfentwicklung kein Raum mehr, das Feuer kann die große Wassermenge auch nicht mehr genügend durchwärmen. Die Dampfspannung müßte also stark sinken. Ferner kann das sprudelnde Wasser durch den Dom in die Zylinder dringen, wo es bei bewegten Kolben sehr schädlich zu wirken vermag, da Wasser bekanntlich nicht zusammendrückbar ist. Es wird schließlich durch das Blasrohr zum Schornstein hinausgeworfen; die Maschine spuckt, wie der Fachmann sagt. Bei zu niedrigem Wasserstand ist ein Teil der Heizrohre in Gefahr, durchzubrennen, weil sie nicht mehr durch verdampfendes Wasser gekühlt werden. In einem solchen Fall würde eine äußerst gefährliche Dampfentladung eintreten. Der Wasserstand darf niemals tiefer sinken als 10 Zentimeter über der Feuerkistendecke.
Es bedeutet eine sehr beachtenswerte Leistung der Glastechnik, daß es gelungen ist, aus diesem Stoff Röhren herzustellen, die imstande sind, einen Druck von 14-16 Atmosphären und dazu starke Wärmeschwankungen auszuhalten. Wenngleich man den Wasserstandsgläsern heute derartige Pressungen ohne weiteres zutrauen darf, so kommt es doch immerhin nicht allzu selten vor, daß infolge der Sprödigkeit, die jedem Glas durch seine Natur nun einmal innewohnt, ein Springen des Schaurohrs erfolgt. Um zu vermeiden, daß in einem solchen Fall große Dampfmengen aus den nun freigegebenen recht geräumigen Querschnitten ausströmen, sind die Anschlußstutzen so eingerichtet, daß sie sich in einem solchen Augenblick sofort selbst abdichten. Der Druck in ihnen ist ja jetzt nur noch einseitig, und das wird benutzt, um eine Abschlußvorrichtung in Tätigkeit zu setzen. Damit die Mannschaft gegen die mit großer Gewalt abgeschleuderten Glassplitter geschützt ist, muß das Wasserstandglas stets mit einem Schutzmantel umgeben sein, der entweder aus dicken Glasscheiben oder aus einem gut durchsichtigen Drahtnetz besteht.
Infolge des im Kessel stets vorhandenen Schlamms und Kesselsteins kann es vorkommen, daß die Stutzen des Wasserstandrohrs verstopft werden. Die Erkennung der Höhe des Wasserspiegels im Kessel ist jedoch so wichtig, daß sie in jedem Augenblick unbedingt gesichert sein muß. Kann doch ein Irrtum hierüber ein Zerspringen des Kessels herbeiführen. Aus diesem Grund sind für die Erkennung der Wasserhöhe zwei von[239] einander unabhängige Vorrichtungen auf jeder Lokomotive vorhanden. Die zweite besteht aus drei Hähnen, die in schräger Linie untereinander am Kessel angebracht sind. Wenn der Verdacht besteht, daß das Wasserstandglas nicht richtig zeigt, so kann die Mannschaft sich durch Öffnen eines oder des andern dieser drei Hähne davon überzeugen, bis zu welcher Höhe der Kessel noch mit Wasser gefüllt ist. Entquillt dem obersten Hahn beim Öffnen Wasser, so ist zuviel davon im Kessel, läßt der untere Hahn beim Aufdrehen Dampf ausströmen, so ist es höchste Zeit, wieder zu speisen. Unter dem Ende der drei Hähne ist eine Tropfröhre angebracht, aus der das beim Proben abfließende Wasser oder der niedergeschlagene Dampf durch eine kleine Rohrleitung ins Freie abgeführt werden.
Eine Gefahr für den Kessel entsteht auch, wenn der Dampfdruck darin zu hoch steigt. Da dies trotz aller Aufmerksamkeit immerhin einmal eintreten kann, so ist eine Einrichtung vorgesehen, die in solchen Fällen selbsttätig den Kesseldruck am weiteren Steigen verhindert. Zwischen Dom und Führerhaus ist, gleichfalls auf dem Rundkessel, das Sicherheitsventil aufgebaut. Es ist ein recht geräumiger Rohrstutzen, der für gewöhnlich durch einen unter dem Druck sehr starker Federn stehenden Ventilkolben abgeschlossen ist. Der allzu hoch steigende Dampfdruck aber überwindet schließlich die Federkraft und schlägt das Ventil auf. Der Dampf kann nunmehr in den freien Luftraum entweichen, wodurch eine Entspannung im Kessel eintritt. Beim Versagen der Selbsttätigkeit kann das Ventil durch Hochschieben eines in den Führerstand ragenden Hebels auch durch die Mannschaft angelüftet werden. Sollte der Kesseldruck einmal so hoch gestiegen sein, daß trotz kräftigen Abblasens des Sicherheitsventils keine genügende Erleichterung im Kessel eintritt, so muß der Heizer das Feuer sofort herausreißen. Ablöschen ist durchaus verboten, weil die dann in der fast ganz geschlossenen Feuerkiste sich bildenden Dampfmassen zersprengend wirken könnten.
Der Heizer soll das Feuer stets so regeln, daß ein Abblasen durch das Sicherheitsventil nicht eintritt. Zugleich aber ist es auch seine Pflicht, die Dampfspannung immer so hoch zu halten, daß die Maschine in jedem Augenblick das leisten kann, was von ihr verlangt wird. Die größte Anstrengung der Lokomotive bedeutet das Anfahren. Wenn also z. B. ein Schnellzug auf dem Bahnhof hält, so wird der Heizer dafür sorgen, daß zum Losbringen des Zugs möglichst viel Lokomotivkraft zur Verfügung ist. Er facht das Feuer darum so an, daß es im vorausbestimmten Augenblick der Abfahrt gerade den höchsten zulässigen Dampfdruck herbeiführt. Nun kommt es aber manchmal vor, daß der Zug nicht zur verabredeten Zeit abgelassen werden kann. Alsdann ist es unmöglich, das Feuer sogleich wieder zu dämpfen, und in solchen Fällen wird es sich am häufigsten ereignen, daß dichte Dampfwolken mit[240] sehr starkem Zischen dem Sicherheitsventil entströmen. Jeder aufmerksame Fahrgast wird einen solchen Vorgang gewiß schon einmal beobachtet haben.
Aus dem Kessel müssen im Bereich des Führerstands sehr viele Dampf-Leitungen nach außen geführt werden. Um nun den unter so außerordentlich hohem Druck stehenden stählernen Leib nicht allzu oft durch Anbohrungen schwächen zu müssen, setzt man hoch oben auf die Wölbung ein Anschlußstück, das an eine einzige Kesselöffnung geschraubt ist, selbst aber durch mehrfache Anbohrungen viele Wege für den Dampf freigibt. Eine große Zahl von Arbeits- und Meßeinrichtungen sind an diesen Dampfstutzen angeschlossen.
Unter anderem nimmt auch hier die Leitung ihren Anfang, die jeden für Personenbeförderung bestimmten Zug während der kalten Jahreszeit mit Heizdampf versorgt. Die Dampfmenge, die in die Heizleitung gelassen wird, kann schon im Führerstand der Außenwärme einigermaßen angepaßt werden. Die genauere Einstellung findet in jedem einzelnen Wagen statt.
Das Ziehen an einem bestimmten Hebel im Führerstand bewirkt, daß ein Wasserstrahl in die unteren Teile der Rauchkammer hineinspritzt. Von Zeit zu Zeit muß dieser Hebelzug geöffnet werden, damit die glühenden Kohleteilchen, die von der Feuerung her in die Rauchkammer hineingerissen werden, die sogenannte Lösche, berieselt und die Rauchkammerwandungen vor allzu großer Erhitzung behütet werden.
Eine kurze Schlauchleitung, die leicht beweglich in der Nähe des Heizerstandorts am Kessel angebracht ist, ermöglicht, durch eine Öffnung im Boden den Aschkasten auszuspritzen und auch von Zeit zu Zeit die Kohlen auf dem Tender zu nässen, falls der Kohlestaub die Mannschaft zu stark belästigt.
Zwei Griffe dicht über dem Boden des Führerstands gestatten, die vordere und hintere Öffnung des Aschkastens nach Belieben zu verschließen. Wenn die Lokomotive ihre Fahrtrichtung ändert, müssen die Klappen jedesmal verstellt werden, weil man immer diejenige Seite des Aschkastens offenhält, die beim Fahren vorn liegt, also möglichst viel Frischluft der Feuerung zuführen kann.
Für die Unterhaltung des regelmäßigen Gangs der Lokomotive spielt ferner eine Vorrichtung eine bedeutende Rolle, die bei oberflächlicher Betrachtung leicht nur als äußere Zutat erscheint. Hinter dem Dampfdom wölbt sich auf dem Rücken des Rundkessels stets noch eine zweite Erhöhung empor, die zu nichts anderem als zur Unterbringung von Streusand dient. Dieser Stoff scheint so gar nicht zur Lokomotive zu passen, und doch wird er ihr ein wackerer Helfer in Nöten.
Wenn die Maschine ihre stärkste Kraft hergeben muß, beim Anfahren, tritt am leichtesten eine gefürchtete Erscheinung ein: das Schleudern der Räder. Der träge Zug will aus der Ruhe durchaus nicht in die Bewegung übergehen, und die in solchen Augenblicken über ihr Reibungsgewicht hinaus belastete Lokomotive muß sehen, daß ihre Räder sich zwar drehen, daß sie aber selbst nicht vom Fleck kommt. Dieses Drehen der Räder auf der Stelle oder Schleudern, wobei durch die starke Erhitzung der Schienenköpfe wahre Funkengarben hervorschießen, ist für Gleis wie Räder gleich schädlich, da es die Laufflächen beider aus der Form bringt. Man kann nun nicht, um dennoch loszukommen, das Reibungsgewicht der Maschine plötzlich erhöhen, wohl aber ist man imstande, den Grad der Reibung zwischen Schienen und Rädern zu verstärken. Wenn der Führer ein Schleudern der Räder beobachtet, so setzt er den Sandstreuer in Tätigkeit. Feine scharfe Körnchen fallen nun vor die Räder, und mit ihrer Hilfe faßt die Maschine sofort an.
Es ist klar, daß dies nur geschehen kann, wenn der Sand wirklich unmittelbar an[241] die Radkränze herangeworfen wird. Daher genügt es nicht, daß von dem Sandkasten auf dem Kessel nur ein einfaches Abfallrohr bis zu den Schienen hinunterführt. Der Sand muß vielmehr kräftig hinausgeschleudert und gegen die Räder geblasen werden. Dies geschieht meistens durch Anwendung von Preßluft, die dem Hauptluftbehälter für die Bremse entnommen wird. Ein mit erheblicher Kraft ausgeschleuderter Sandstrahl läuft auch nicht Gefahr, durch jeden Windzug verweht zu werden, so daß er statt auf die Schienen neben diese fällt.
Das Schleudern der Räder tritt besonders häufig ein, wenn die Schienen feucht sind. Dann sinkt der Reibungswert zwischen ihnen und den Rädern unter das gewöhnliche Maß. Aber auch Laubfall kann die gleiche Wirkung üben oder eine klebrige Schicht, die von kriechenden Tieren über die Schienen gezogen ist. Heuschreckenschwärme, wenn sie in großen Massen die Geleise bedecken und von den Rädern der Maschine zermalmt werden, machen die Schienen gleichfalls schlüpfrig. In dem schon erwähnten Giovi-Tunnel sind es die in der feuchten Finsternis zu Tausenden lebenden Schnecken, welche beim Befahren der im Tunnel ansteigenden Strecke oft die Räder zum Schleudern bringen.
Maschine und Triebwerk sind bei stundenlangen Fahrten für jeden helfenden Zugriff unzugänglich. Kolben, Schieber, Achslager, Kurbelzapfen, die Gleitbahn für die Kreuzköpfe und viele andere reibende Teile müssen aber unausgesetzt mit Schmierstoff versorgt werden. Da es nicht möglich ist, an Ort und Stelle genügende Mengen hiervon aufzuhäufen, so geschieht auch diese Versorgung, wie ja so unendlich viel anderes, vom Führerstand aus. An einer geeigneten Stelle des Triebwerks ist ein Antriebshebel angelenkt, der eine kleine im Führerstand aufgestellte Pumpe in Tätigkeit setzt. Mit ihrer Hilfe werden durch dünne Kupferrohre, die am Rundkessel entlang bis nach vorn geleitet sind, ständig kleine Ölbäche zu den Maschinenteilen gedrückt, die der Gefahr einer Erhitzung ausgesetzt sind. Der Heizer kann am Beginn jeder Ölleitung beobachten, in welchem Grad diese von der Pumpe versorgt wird, und er kann regelnd in die verschiedenen Ölzuflüsse eingreifen.
Meist werden auch die Spurkränze der Lokomotivräder geschmiert, damit ihre Reibung bei seitlichem Anlaufen gegen die Schienenköpfe gemindert wird. Das Reibungsgewicht ruht ja auf den Laufkränzen. Die Seitenreibung kann die Zugkraft nur mindern, sie aber nicht erhöhen. Die Schmierung der Spurkränze geschieht dadurch, daß gefettete Polster an einer Stelle gegen die Hohlkehle des Kranzes gepreßt werden. Man läßt auch zum gleichen Zweck das mit Öl durchsetzte Wasser, welches sich in den Abdampfleitungen niederschlägt, auf den Spurkranz tropfen.
Um weithin hörbare Signale abgeben zu können, bedient sich der Führer der Dampfpfeife. Der Ton, den diese abgibt, richtet sich nach Größe und Form der Luftmasse, die nach Öffnen des Pfeifenzugs von dem nun ausströmenden Dampf in Schwingung versetzt werden kann. Die Stärke des Tons ist abhängig von dem Inhalt der Pfeifenglocke, welche die schwingende Luft birgt; die Höhe des Tons wird durch die Länge der Glocke beeinflußt. Ein schriller Ton entsteht bei Benutzung von Pfeifen mit kleinen niedrigen Glocken; solche mit großen und langen Glocken geben einen tiefen Ton.
Bei Zügen für Personenbeförderung wird bei uns die Pfeife heute nur noch selten benutzt. Früher war das Abgeben eines Pfeifensignals bei jedesmaligem Anfahren der Lokomotive vorgeschrieben. Man hat das inzwischen als unnötiges Lärmmachen erkannt. Nur bei der Einfahrt in Tunnel pflegt regelmäßig gepfiffen zu werden, um Beamte, die vielleicht[242] gerade in der engen Tunnelröhre beschäftigt sind, möglichst frühzeitig vom Herannahen des Zugs in Kenntnis zu setzen. Im Ausland pflegen noch heute zwei begegnende Züge einander durch Pfeifensignale zu begrüßen, was betrieblich vollkommen überflüssig ist. In Amerika werden an Stelle der Pfeifen größtenteils kleine Läutewerke benutzt, oft nur ganz einfache Glocken, die durch Zug an einem Strick vom Führerstand her in Bewegung gesetzt werden können. Unentbehrlich aber sind die Pfeifensignale bei den Güterzügen, wo sie die Bremser zur Bedienung der Hemmvorrichtungen aufrufen. Durch verschiedene Folge kurzer und langer Pfeifentöne können verschiedene Maßnahmen an den Bremsen befohlen werden.
Lokomotiven für Nebenbahnen pflegen noch eine besondere Signal-Einrichtung mit sich zu führen. Bei solchen Strecken sind ja die Überwege zum größten Teil nicht bewacht, und es ist daher notwendig, das Herannahen eines Zugs möglichst deutlich kenntlich zu machen. Zu diesem Zweck ist auf dem Kessel eine große Glocke aufgestellt, gegen die mit Dampfes Hilfe ein starker Klöppel geschlagen wird. Die kleine Dampfmaschine, die hier zum Antrieb benutzt wird, ist sehr sinnreich und einfach hergestellt. Sobald der Führer das Ventil zum Läutewerk geöffnet hat, strömt der Dampf gegen einen Kolben in diesem. Er hebt ihn in die Höhe und damit zugleich den Klöppel. Jetzt aber, nachdem der Kolben emporgegangen, ist der kleine Zylinder innerhalb der Glockenschale nicht mehr geschlossen, der Dampf strömt frei ab, er kann keine Druckwirkung mehr üben, und Kolben und Klöppel fallen herunter, wobei der Schlag gegen die Glockenschale bewirkt wird. Nun drückt der Dampf wieder gegen den Kolben, und so wiederholt sich das Spiel stets von neuem wie bei dem klappernden Deckel eines Teekessels.
Der Führer erhält den Befehl, das Läutewerk durch Öffnen eines Ventils anzustellen, durch große, mit einem L versehene Tafeln zur Seite der Strecke. Diese L-Tafeln sind ein Ausrüstungsgegenstand, der für „Bimmelbahnen“ kennzeichnend ist.
Damit der Führer stets imstande ist, die Druckverhältnisse in allen Teilen des gewaltigen[243] Lokomotivkörpers zu beobachten und seine Maßnahmen danach einzurichten, ist in seinem engen Haus eine Reihe von Zifferblättern angebracht, auf denen unter dem Einfluß zahlreicher Vorgänge in der Maschine Zeiger bewegt werden.
Die wichtigste Vorrichtung dieser Art ist der Druckmesser, welcher die Pressung im Lokomotivkessel anzeigt. Durch die Zahl, die den zulässigen Höchstdruck angibt, ist ein roter Strich gezogen. Sobald der Zeiger diesen Strich überschreitet, schlägt das Sicherheitsventil auf und verhütet weitere Drucksteigerung. Eine zweite Meßvorrichtung zeigt den Dampfdruck im Schieberkasten an, wodurch der Führer darüber aufgeklärt wird, ob nicht etwa bei dem Weg vom Kessel zum Zylinder der Dampf eine unzulässige Drosselung an irgendeiner Stelle erfahren hat.
Weiter werden die Luftpressungen im Bremshauptbehälter und in der durch den Zug gehenden Bremsleitung selbst gemessen. Desgleichen kann jederzeit auf einem Zifferblatt der Dampfdruck in der ja so wichtigen Zuleitung zur Speisewasserpumpe festgestellt werden. In das Rohr, welches den Heizdampf zu den Wagen überführt, ist ein weiterer Druckmesser eingeschaltet. Die elektrische Anzeige-Vorrichtung für den Grad der Überhitzung wurde bereits erwähnt.
Die Gebilde, welche man heute mit dem Wort „Dampf-Lokomotive“ bezeichnet, sind gewiß nicht alle gleicher Gattung. Diese große Familie besitzt vielmehr Mitglieder äußerst verschiedener Arten, deren Aussehen, Leistungsfähigkeit und Arbeitsgebiete sehr stark voneinander abweichen. Die Riesenmaschine vor dem Schnellzug ist eine Lokomotive, das kleine puffende eiserne Tier auf dem Bauplatz ist es gleichfalls. Damit man nun leichter die Fähigkeiten der einzelnen Lokomotive kurz und schlagend benennen kann, ist eine Gliederung notwendig gewesen. Man hat Bezeichnungen eingeführt, welche die Grenzen der Benutzungsmöglichkeit in einfacher Weise angeben. Von dem früher üblichen Brauch, jede Maschine mit einem Namen zu versehen und gleichartige dadurch zu kennzeichnen, daß man ihnen Namen von leicht erkennbarer Zusammengehörigkeit beilegte, wird neuerdings abgesehen; dafür ist die Familie längst zu vielköpfig geworden. Man bezeichnet die Lokomotiven heute in sehr geschickter Weise durch Buchstaben und Zahlen.
Die Maschinen gliedern sich zunächst in Lokomotiven mit Schlepptender und solche, die keinen besonderen Tender besitzen; diese heißen Tender-Lokomotiven, abgekürzt T. Die drei Hauptgruppen, Schnellzug-, Personenzug-, Güterzug-Lokomotiven, werden durch die Buchstaben S, P, G gekennzeichnet. V bedeutet, daß auf der Lokomotive Verbund-Wirkung angewendet wird, H, daß sie mit Heißdampf-Erzeugung versehen ist. Eine Zusammenstellung solcher Buchstaben ergibt schon eine ganz brauchbare Kennzeichnung. So bedeutet G H T, daß es sich um eine Güterzug-Tender-Lokomotive mit Dampfüberhitzung handelt.
Am allerwichtigsten ist es aber für die Betriebsleiter auf der Eisenbahn, die Achs-Anordnung jeder Lokomotive aus ihrer Bezeichnung entnehmen zu können. Hieraus ist ja am besten auf ihre Leistungsfähigkeit zu schließen, sowohl was die Zugkraft wie auch was die Beweglichkeit in Krümmungen betrifft. Bis vor wenigen Jahren war es üblich, die Achsanordnung durch einen Bruch anzugeben, in dessen Zähler man die Zahl der gekuppelten Achsen, in dessen Nenner man die Gesamtzahl der Achsen setzte. 3⁄5 bedeutete also eine Maschine mit fünf Achsen, von denen drei gekuppelt sind. Hieraus konnte man jedoch noch nicht die Lage der Achsgruppen zueinander erkennen. Aus diesem Grund ist neuerdings eine Reihung von Zahlen und Buchstaben eingeführt, die erschöpfendes über die Achsen aussagt.
Hierbei wird jede Laufachse mit einer Ziffer, jede Kuppelachse durch einen Buchstaben[244] bezeichnet. Mit wachsender Achszahl schreiten die Ziffern und Buchstaben in ihrer üblichen Folge fort. Ziffern und Buchstaben liegen zueinander wie die Achsgruppen unter der Lokomotive, von vorn nach hinten gesehen. So bedeutet 1 A 1 eine Lokomotive, die hinter dem Schornstein zuerst eine Laufachse, dann die Treibachse, dann wieder eine Laufachse hat. 2 B 1 ist eine Maschine mit zwei Laufachsen, zwei darauf folgenden Kuppelachsen und wieder einer Laufachse. 2 C bedeutet zwei Laufachsen, drei Kuppelachsen. E ist eine Lokomotive, die ausschließlich fünf gekuppelte Achsen besitzt, also, wie wir uns leicht denken können, eine schwere Güterzug-Maschine ist. Die Lokomotive auf Bild 150 ist also eine 2 B 2-Maschine, Bild 151 stellt eine 1 D-Maschine dar, Bild 152 eine 1 C 1-Maschine und Bild 153 eine 1 F 1-Tender-Lokomotive. Bei solchen Maschinen, die zwei getrennte Triebwerke besitzen, also z. B. bei der großen Mallet-Maschine auf dem Bild vor dem Titel dieses Buchs, werden die Achs-Bezeichnungen für jedes zu einem Triebwerk gehörige Laufwerk gesondert zusammengestellt, und beide Gruppen durch ein Pluszeichen verbunden. Die schwerste Lokomotive Europas auf jenem Bild ist also eine D + D-Maschine.
Die wichtigsten Ziffern, die sonst noch über Lokomotiven angegeben zu werden pflegen, sind ihr Leergewicht, das heißt also die Zahl der Kilogramm, die eine Wägung ohne Vorräte ergibt, ferner das Dienstgewicht, also das Ergebnis der Wägung bei gefüllten Vorratbehältern, und das Reibungsgewicht, das heißt derjenige Teil des Gewichts, der auf die gekuppelten Achsen entfällt. Dies allein ist maßgeblich für die Zugkraft.
Der vielgegliederte Körper der Lokomotive muß ständig unter sorgfältigster Aufsicht gehalten werden. Nach Beendigung jeder Fahrt sind alle Teile sorgfältig zu überprüfen und jeder entstandene Schaden sofort auszubessern, damit die Maschine wieder vollgewappnet den neuen Dienst antreten kann. Wenn größere Eingriffe am Kessel notwendig sind, muß freilich erst das Abkühlen abgewartet werden, wodurch es erforderlich wird, die Maschine für längere Zeit aus dem Betrieb zu ziehen. Das Ablassen des Dampfs, das nur langsam geschehen darf und meist durch Öffnen des Heizleitungs-Anschlusses geschieht, dauert mehrere Stunden.
Die kleinen Gebrechen pflegen sich jedoch weit häufiger als an dem auf dem Rahmen ruhenden Kesselbau an den bewegten Maschinenteilen einzustellen, wo sie schneller ausgebessert werden können.
In bestimmten Abständen findet ein Auswaschen des Kessels statt, um ihn von dem Schlamm zu befreien, der sich stets aus dem Speisewasser niederschlägt, wenn dieses auch noch so gut vorgereinigt ist. Es muß hierbei außerdem der Kesselstein entfernt werden, das ist eine stark kalkhaltige Schicht, die sich insbesondere um die Heizrohre bildet und die Dampf-Erzeugung mindert. Sie schlägt sich aus dem Wasser dadurch nieder, daß dessen chemische Beimengungen bei der Dampfbildung ausgeschieden werden. Beim Auswaschen werden zahlreiche, hierfür vorgesehene Öffnungen am Kessel freigemacht, warmes Wasser wird unter starkem Druck eingespritzt und ferner mit besonderen Kratzvorrichtungen möglichst in alle Ecken und über sämtliche Rohre gefahren.
Spätestens acht Jahre nach Inbetriebsetzung jeder Lokomotive findet eine Hauptuntersuchung statt. Hierbei wird die Maschine vollständig auseinandergenommen, und auch der Kessel wird im Innern untersucht. Damit man diese Prüfung vornehmen kann, müssen sämtliche Heizrohre entfernt werden. Eine Wiederholung der Hauptuntersuchung hat alsdann alle sechs Jahre stattzufinden.
In engem Zusammenhang mit der sorgfältigen Unterhaltung der Lokomotive steht eine betriebliche Streitfrage, die bis heute noch nicht entschieden ist. In den Fachzeitschriften[245] finden noch immer Erörterungen darüber statt, ob es besser ist, jede Lokomotive nur mit Einer Mannschaft zu besetzen oder der einzelnen mehrere Mannschaften zuzuordnen. Ist die Lokomotive nur einmal besetzt, so werden die Ruhepausen, die sie einhalten muß, durch die Grenzen der menschlichen Leistungsfähigkeit bestimmt. Die Beamten müssen ja nach einer längeren Zahl von Dienststunden stets Gelegenheit haben, sich eine Zeitlang auszuruhen. Sie ermüden weit schneller als die Lokomotive.
Wenn eine Schnellzug-Maschine nach langer Fahrt von der Schlacke befreit worden ist, die sich auf dem Rost gebildet hat, wenn sie nachgesehen, frisch geschmiert und mit neuen Vorräten versehen worden ist, so kann sie alsbald wieder auf die Reise gehen. Die Mannschaft aber ist hierzu nicht immer fähig. Während deren Ruhezeit steht die Lokomotive also für gewöhnlich unnötigerweise still, die für sie aufgewendete Anschaffungssumme trägt während dieser Zeit keinen Nutzen. Andererseits aber bildet sich durch die Besetzung jeder Lokomotive mit nur Einer Mannschaft ein gewisses Freundschaftsverhältnis zwischen Menschen und Maschine heraus. Führer und Heizer haben sich nur mit „ihrer“ Lokomotive zu beschäftigen. Sie kennen deren Eigenheiten sehr genau, wissen, in welcher Beziehung sie besonders schonungsbedürftig ist, und durch welche Maßnahmen man das Letzte der Kraft aus ihr herausholen kann. Wenn die Mannschaften wechseln, wird leicht einmal eine Ausbesserungsarbeit nicht vorgenommen, weil einer diese gern dem andern überläßt, zumal die Verantwortlichkeit nachher nicht mehr mit Sicherheit festzustellen ist.
Die Dinge liegen heute so, daß bei jeder deutschen Bahnverwaltung stets eine große Anzahl von Lokomotiven doppelt oder dreifach besetzt ist. Bei den meisten Verwaltungen ist die mehrfache Besetzung noch in der Minderzahl. So waren in Preußen im Jahre 1913 41 vom Hundert aller Lokomotiven mehrfach besetzt, auf den gesamten deutschen Bahnen 45 vom Hundert, in Baden allerdings bereits 78 vom Hundert. In Amerika steht die mehrfache Besetzung weit voran.
Der Dauerbetrieb übt natürlich einen nachteiligen Einfluß auf das Alter der Lokomotiven aus. Ihre Lebensdauer wird dadurch hinuntergesetzt. Aber das ist kein durchschlagender Gesichtspunkt für die Beibehaltung einfacher Besetzung. Denn infolge der heute sehr rasch aufeinanderfolgenden Neuerungen veralten Lokomotiven meist weit früher als sie infolge Verfalls ihrer Hauptteile reif zum Abwracken werden. Es ist deshalb anzunehmen, daß die mehrfache Besetzung noch immer weiter zunehmen wird.
Schon heute ist das Durchschnittsalter der Lokomotiven sehr gering. In Preußen beträgt es jetzt nicht mehr als zehn Jahre. Das ist ein deutliches Zeichen dafür, wie rasch diese Verwaltung alle neuen Errungenschaften ihrem Maschinenpark dienstbar macht. Das Durchschnittsalter aller deutschen Lokomotiven ist zwölf Jahre. Es gibt aber auch unter ihnen sehr ehrwürdige Erscheinungen, deren Fortleben bis in unsere Tage für die sehr bedeutende Haltbarkeit und Widerstandsfähigkeit auch der älteren Lokomotivbauten spricht.
Die älteste Lokomotive, die bei Kriegsbeginn vorhanden war, stammte erstaunlicherweise aus dem Jahre 1862. Sie gehörte der sächsischen Staatsbahn. Die badischen Staatsbahnen besitzen eine Maschine, die 1863 das Licht der Schienenwelt erblickte, ferner zwei aus dem Jahre 1864. Das gleiche Geburtsjahr haben drei heute noch in Betrieb befindliche württembergische Lokomotiven. Die ältesten bayerischen Maschinen, fünf an der Zahl, wurden 1866 gebaut, die älteste preußische stammt aus dem Jahre 1873.
Aus den Angaben, die in diesem Abschnitt gemacht worden sind, geht wohl deutlich hervor, welch ein großartiger Bau eine neuzeitliche Lokomotive ist. Was hier an tatsächlichen[246] Leistungen und an wirtschaftlicher Ausnutzung des Brennstoffs geleistet wird, muß um so mehr in Erstaunen setzen, als gerade die Lokomotiv-Maschine gezwungen ist, unter den ungünstigsten Umständen zu arbeiten. Die ortsfesten Dampfmaschinen sind größtenteils in schmucken Häusern untergebracht, sie ruhen auf riesigen, unerschütterlichen Grundvesten und befinden sich unter ständiger fachmännischer Aufsicht. Jeder ihrer Pulsschläge wird in jedem Augenblick behorcht, stets ist der Wärter bereit, bei eintretender Unregelmäßigkeit des Laufs sofort einzugreifen. Die Lokomotiv-Maschine muß dagegen stundenlang fahren, ohne daß sie für eine menschliche Hand zugänglich ist. Sie ist allen Unbilden des Wetters ausgesetzt, sie muß durch Staub und Schmutz hindurch, grausame Stöße erschüttern fortwährend ihren Leib. Dabei ist es notwendig, alle die zahlreichen Bauteile auf geringstem Raum unterzubringen und sie so weit zu verfeinern, daß ein engbegrenztes Gesamtgewicht nicht überschritten wird.
Man muß das wirtschaftlich verhältnismäßig günstige Arbeiten der Lokomotiven aber noch mehr bestaunen, wenn man weiß, daß ihnen eine Einrichtung vollständig fehlt, die jede ortsfeste Dampfmaschine zur Erleichterung ihrer Arbeit besitzt.
Schon James Watt hatte erkannt, daß die Wirkung des Dampfdrucks auf die eine Kolbenseite dadurch vermindert wird, daß, wenn besondere Vorrichtungen fehlen, die andere Kolbenseite dem Gegendruck der Außenluft in Höhe von 1 Atmosphäre ausgesetzt ist. Läßt man den Dampf, nachdem er im Zylinder tätig gewesen, ohne weiteres in die Luft entweichen, arbeitet die Maschine also mit Auspuff, so ist dieser Gegendruck der Atmosphäre stets vorhanden. Man kann ihn aber fortschaffen, wenn man den benutzten Dampf zu besonderen Gefäßen leitet, in denen er mit kalten Wänden in Berührung kommt und sogleich niedergeschlagen wird. Der Raum, den er einnimmt, wird dadurch stark verkleinert. Wenn in den Kondensator, wie man die Einrichtung zum Niederschlagen des Dampfs technisch benennt, keine Luft nachströmen kann, so muß sich in diesem ein Unterdruck ausbilden. Dieser Unterdruck hilft nun dem auf der anderen Kolbenseite arbeitenden Dampf, indem er eine saugende Wirkung auf den Kolben ausübt.
Die Einrichtung an den ortsfesten Maschinen ist so getroffen, daß jede Zylinderseite durch den Schieber wechselnd bald mit dem Kessel, bald mit dem Niederschlagsraum in Verbindung gebracht wird. Zur Kühlung verwendet man Wasser, das entweder in das Abdampfgefäß eingespritzt wird oder es durchzieht, indem es durch zahlreiche Röhren läuft. Hierbei erwärmt sich das Wasser und muß, da man es aus wirtschaftlichen Gründen gern stets von neuem verwendet, gekühlt werden. Man leitet das Wasser zu diesem Zweck in Türme, auf deren Höhe es hinaufgepumpt wird, um dann in Tropfenform über zahlreiche quergestellte Bretter wieder hinabzufließen, wobei es reichlich Gelegenheit hat, seine Wärme an die Außenluft abzugeben. Für jede große, ortsfeste Dampfmaschinen-Anlage sind heute die oft ganz gewaltigen, hölzernen Kühltürme ein besonderes Kennzeichen.
Es braucht nicht gesagt zu werden, daß an der Lokomotive Kühltürme nicht angebracht werden können, ja es fehlt selbst jede Möglichkeit, an ihr einen Niederschlagsraum vorzusehen, weil dieser nur einen Zweck hat, wenn er räumlich sehr ausgedehnt ist. Die Lokomotive ist also eine Dampfmaschine, die ohne Kondensation, das heißt gegen den Atmosphärendruck arbeiten muß, was ihre Tätigkeit lebhaft erschwert.
Um so mehr ist das, was mit dieser in ihren Einzelteilen eng zusammengeballten und sozusagen verkrüppelten Dampfmaschine erreicht wird, als eine Meistertat der Technik zu bezeichnen.
Der immer weiter herabgeminderte Kohlenverbrauch für die Pferdekraftstunde wurde[247] schon erwähnt. Die höchste Schnelligkeitsleistung in Europa vollbrachte am 2. Juli 1907 die auf Bild 150 dargestellte 2 B 2-Lokomotive von J. A. Maffei in München auf der Strecke München-Augsburg. Sie entfaltete hierbei während einiger Minuten eine Stunden-Geschwindigkeit von fast 155 Kilometern. Man hatte geglaubt, daß die Dampflokomotive mit ihren hin und her gehenden Teilen eine so bedeutende Schnelligkeit nicht würde entfalten können. Durch diesen Versuch wurde aber bewiesen, daß diese Maschine noch lange imstande sein wird, allen Geschwindigkeits-Anforderungen, die man an sie stellt, zu entsprechen.
Stundengeschwindigkeiten von 120 bis 125 Kilometern während längerer Zeit kommen heute schon häufig vor. Garbe sagt, es müsse als bald erreichbares Ziel betrachtet werden, daß mittelschwere Züge im Flachland mit einer Durchschnitts-Geschwindigkeit von 100 Kilometern sicher gefahren werden können. Hierzu sind vorübergehende Stundengeschwindigkeiten von 110 bis 120 Kilometern erforderlich. Auch von Stockert ist der Meinung, daß die Dampflokomotive hierfür durchaus geeignet sei.
Die Dampflokomotiv-Fabriken sind, getrieben insbesondere durch den immer stärkeren Wettbewerb der elektrischen Lokomotiven, heute aufs lebhafteste bemüht, das Letzte aus den von ihnen erbauten Maschinen herauszuholen. Jeder Monat bringt neue Verbesserungsvorschläge. Die Durchführung einer sehr gründlichen Maßnahme, durch die man mit verhältnismäßig einfachen Maschinen-Anordnungen große Leistungssteigerungen erreichen kann, hängt jedoch nicht von den Fabriken ab. Es ist die Erhöhung des zulässigen Achsdrucks. In Amerika ist man hierbei heute bereits bis auf 30 000 Kilogramm hinaufgegangen, gegen 18 000 Kilogramm bei uns, die erst in neuester Zeit zugelassen sind.
Hochgetürmte Lokomotiven werden durch Vergrößerung des Achsdrucks ausführbar. Aber auch die Länge, und damit die Achszahl, wächst in Amerika unausgesetzt. Notwendig muß eine Vergrößerung der Feuerungsfläche hiermit Hand in Hand gehen; wegen der engen Spurweite kann diese nicht nach den Seiten, sondern nur in Richtung der Längsachse stattfinden. Schon ist man drüben zu so langen Rosten gelangt, daß deren Versorgung mit Kohle von Hand nicht mehr möglich ist. Der Heizer kann durch seinen Schaufelwurf die hinteren Rostteile nicht mehr sorgfältig versehen. Die Amerikaner sind mit ihrer raschen Entschlossenheit nicht davor zurückgeschreckt, nun sogleich mechanische Beschickungsvorrichtungen einzuführen. Man hat sich in Europa zu dieser Beschwerung der Lokomotive mit einem neuen Bauteil noch nicht entschlossen und dürfte das auch in absehbarer Zeit nicht tun.
Vielfältig sind auch die Maßnahmen, die dem Führer der Lokomotive seine Arbeit dadurch erleichtern wollen, daß sie ihm einen günstigeren Aufstellungsort geben, als er ihn bis heute für gewöhnlich hat. Der Blick auf Strecke und Signale aus dem kleinen Führerhausfenster ist bereits jetzt sehr beengt. Die Blickbegrenzung wird immer störender, je höher die Kessel sich emporwölben. Die kurzen Schornsteine lassen Rauch und Dampf allzusehr in das Gesichtsfeld des Führers dringen. Man strebt darum eine grundsätzliche Neuanordnung des Führerstands an, indem man ihn nach vorn hin verlegt.
Es gibt bereits hier und da Lokomotiven, auf denen sich der Platz des Führers vor dem Schornstein über der vordersten Pufferbohle befindet. Der Blick des Beamten kann von dorther, unbehindert durch den sonst so störenden Vorbau des Kessels, die Strecke nah und fern vollkommen umfassen. Notwendig muß man dem Führer auf seinen neuen Posten die Haupthebel für die Regelung der Geschwindigkeit mitgeben, also wenigstens den Regler, die Schiebersteuerung und das Führer-Brems-Ventil, wodurch in Rücksicht[248] auf die unbedingte Sicherheit bei der Bedienung technisch nicht ganz einfach zu bewältigende Neuanordnungen notwendig werden. Unerläßlich ist ferner die Möglichkeit einer Verständigung mit dem Heizer, der ja den Platz vor der Feuertür nicht verlassen darf. Es zeigt sich hierbei rasch, daß die Dampflokomotive in der freien Beweglichkeit der Mannschafts-Aufstellung gegenüber der elektrischen Lokomotive ganz bedeutend im Nachteil ist.
Die Aufstellung des Führers im Vorderteil der Lokomotive bringt es auch mit sich, daß der Beamte sich dort allein befindet, was als unzulässig bezeichnet werden muß. Man kann die Führung des Zugs nicht Einem Menschen ausschließlich anvertrauen, da dieser körperlichen Zufälligkeiten ausgesetzt ist, die seine Entschluß- und Handlungskraft zu mindern imstande sind. Es ist darum eine Dampflokomotive durchgebildet worden, die einen Verbindungsgang zum vorderen Führerstand besitzt, dem Zugführer also die Möglichkeit gibt, den Lokomotivleiter während der Fahrt häufig aufzusuchen. Diese Lokomotive ähnelt in ihren äußeren Formen schon sehr der elektrischen, sie gewährt dem Führer einen angenehmen Aufenthalt in vollständig geschlossenem Haus.
Auf italienischen Bahnen sind Lokomotiven im Gebrauch, die ständig rückwärts fahren und gleichfalls einen völlig geschlossenen Führerstand mit verglaster Vorderwand besitzen. Die Kohlen sind, wie bei den Tender-Lokomotiven, in Taschen rings um den Stand untergebracht, der an der Schornsteinseite angehängte Tender ist nur noch Wasserwagen und demgemäß als runder Behälter ausgebildet.
Es sind nun noch einige Lokomotiv-Abarten zu erwähnen, die besonderen Zwecken dienen.
Häufiger müssen Geleise in Bezirken befahren werden, für deren Bereich die Anwendung offenen Feuers unzulässig ist. In Betracht kommen hierfür große Lagerschuppen, in die beladene Eisenbahnwagen mit Lokomotivkraft gebracht werden, Schiffsanlegeplätze mit hölzernen Bollwerken, Fabrikgrundstücke und ähnliches. Lokomotiven gewöhnlicher Art können hier nicht verwendet werden, da sie ja die geborenen Brandstifter sind. Wenn man trotzdem in solchen Bereichen auf ihre straffe Kraftwirkung nicht verzichten will, dann bedient man sich einer Sonderart: der feuerlosen Lokomotive.
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Dies sind Dampfmaschinen ohne eigene Feuerung. Ihr Dampfkessel weicht in seinem Bau von der gewöhnlichen Art ab, was auch schon äußerlich dadurch erkennbar wird, daß der Schornstein fehlt. Der zum Antrieb der Kolben erforderliche Dampf wird aus einem ortsfesten Erzeuger fertig eingefüllt. Wir haben also hier eine Dampfmaschine zweiter Art vor uns, eine Speicher-Einrichtung, vergleichbar den elektrischen, durch Stromerzeuger gespeisten Batterien. Die Abhängigkeit von einem fremden Dampferzeuger bringt es mit sich, daß der Fahrbereich der feuerlosen Lokomotiven beschränkt ist. Sie können nicht über ungezählte Kilometer hinwegrollen, sondern müssen immer rechtzeitig zur Versorgungsstelle zurückkehren können.
Alle vom Dampf berührten Flächen sind bei dieser Lokomotivart besonders gründlich geschützt, weil hier die einmal verlorene Wärme bei derselben Füllung nicht mehr erneuert werden kann. Die Zylinder sind darum häufig im Innern des Rahmens zwischen den Rädern angebracht, wo sie von der kalten Außenluft schwerer erreicht werden können. Der Kessel, der nichts anderes ist als ein einziges weites Rohr, wird, wie bei den eigentlichen Lokomotiven, mit einem Blechmantel zur Erzeugung einer schützenden, ruhenden Luftschicht umgeben, darauf wird aber noch eine Filzlage gepackt und ein neues Umhüllungsblech über das Ganze gelegt. Auf diese Weise hat der Kessel der feuerlosen Maschine ein warmes Kleid an, und dieses umhüllt ihn so gut, daß abends eingefüllter Dampf am nächsten Morgen häufig noch eine Spannung von mehreren Atmosphären hat.
Wo kein Dampf für die Füllung zur Verfügung steht, oder wo leicht entflammbare Gase die Anwendung von Maschinen mit heißen Flächen verbieten, wie z. B. in Bergwerken mit Schlagwettergefahr, verwendet man kalte Lokomotiven. Der Antrieb der Kolben erfolgt hier durch Luft, die in große Stahlflaschen gepreßt ist. Auch hier ist eine Erneuerung des Antriebsmittels nach einer gewissen Zeit notwendig, wenngleich die großen Behälter in dem ohnehin beschränkten Gebiet einer Grube eine recht lange Nutzung gestatten.
Es gibt aber auch feuerlose Lokomotiven, die über unbegrenzte Strecken zu fahren[250] vermögen. Ihr Antrieb schöpft aus der gleichen Quelle wie die Maschine des Kraftwagens. Es sind Lokomotiven mit Verbrennungsmotoren. Die Motor-Lokomotive hat sich zwar nicht die Vollbahn erobert, obgleich Versuche mit großen, durch Diesel-Motore angetriebenen Maschinen — ganz abgesehen von den noch zu behandelnden Triebwagen — bereits gemacht worden sind. Aber in Bergwerken, auf Waldbahnen, im Verschiebedienst und auch auf Kleinbahnen mit Personenbeförderung bieten sie viele Vorteile. Die Motor-Lokomotiven sind von einer bestimmten Füllstelle unabhängig, da der im Behälter mitgeführte Betriebsstoff sehr lange ausreicht und an vielen Orten erneuert werden kann, sie stehen jederzeit betriebsfertig da, bedürfen, weil ihre Wartung sehr einfach ist, nur Eines Manns zur Bedienung und brauchen nicht die Last großer Vorräte mitzuschleppen.
Das neueste Triebmittel im Bereich der Welt auf Schienen und zugleich dasjenige, dem sich die größte Zukunft eröffnet, ist die elektrische Lokomotive. An sie knüpfen sich alle Hoffnungen für eine grundsätzliche Weiterbildung des Eisenbahnwesens. Wir werden die großartigen Eigenschaften dieser neuen Maschine später in einem besonderen Abschnitt unseres Buchs ausführlich zu behandeln haben.
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Die Lokomotive des gen Halle brausenden Schnellzugs zieht hinter sich die lange Kette der Wagen einher. Es ist ein prächtiges Schauspiel, zu sehen, wie der Zug durch alle Krümmungen des Gleises geschmeidig hindurchgleitet, wie er wirklich gleich einer Kette mit Leichtigkeit sich hin- und herbiegen kann. Und dies geschieht, obwohl jedes der Kettenglieder ungefähr 20 Meter lang ist und etwa 35 000 Kilogramm wiegt.
Während wir beim Blick in den Führerstand der Lokomotive ernste Arbeit und angestrengte Tätigkeit beobachtet haben, sehen wir in den Personenwagen sorgloses, fröhliches Treiben. Nicht allein die Hoffnung, ein ersehntes Ziel zu erreichen, macht die Menschen dort drinnen heiter, es ist auch, den meisten freilich unbewußt, die Lust an der raschen Fortbewegung, die Freude an dem leichtbeflügelten Sausen durch den Raum, das die Gesichter leuchten läßt. Dabei fühlt man sich wohlgeborgen in einem Haus, in einem verzauberten freilich, denn es steht nicht auf ruhenden Pfosten, sondern fliegt mit seinen kräftigen vier Wänden und seinem stark gefügten Dach eilig dahin.
Fassen wir einen Reisenden genauer ins Auge, der in der Fensterecke eines Abteils zweiter Klasse sitzt. Sein Körper ist in einen bequemen Sessel gebettet, wie er in einem wohleingerichteten wirklichen Haus nicht besser geboten werden kann. Ein mächtiges Fenster läßt die Helligkeit des sonnigen Julitags voll und klar in das hochgewölbte, freundliche und geräumige Abteil einfallen. Die Augen des Reisenden, die durch das Fenster schweifen, nehmen nichts wahr als lachende Fluren, freundliche Häuschen, Menschen, die von der Feldarbeit sehnsüchtig dem vorübereilenden Zug nachblicken, hier und da ihm sogar freundliche Winke zusenden. Nichts wird dem beschaulich am Fenster sitzenden Fahrgast von den außerordentlichen Veranstaltungen bewußt, die getroffen werden mußten, damit er in so angenehmer Weise mit einer Geschwindigkeit von hundert Kilometern in der Stunde seinem Reiseziel zustreben kann. Die Erdveste und der stählerne Pfad, welche die Räder tragen, sind verdeckt, die fauchende und zischende Lokomotive ist nicht zu sehen, und man hört auch nichts von ihrer Arbeit. Nur der regelmäßige Takt, den[252] das Schlagen der Räder an den Schienenstößen erzeugt, erinnert daran, daß man nicht, von geheimnisvollen Kräften gezogen, durch die Luft fliegt.
Wie ganz anders ist eine Eisenbahnfahrt heutigen Tags, so denkt der Reisende, wenn er einiges aus der Geschichte des Eisenbahnwesens kennt, als in den ersten Jahrzehnten nach Stephenson. Da saß man, wenn man eine Fahrkarte dritter Klasse gelöst hatte, in offenen, kaum gefederten Wagen. Selbst die zweite Klasse bot nur ein Dach gegen den Regen, in der ersten Klasse allein war man auch durch Seitenwände und Fensterscheiben geschützt. Die schlossen aber so schlecht und klapperten so fürchterlich, daß von einem Reisevergnügen keine Rede sein konnte.
Was waren das für Zeiten, als auf den Bahnhöfen noch Brillen und Gesichtsmasken zum Verkauf feilgehalten wurden! Sie sollten den Reisenden einigen Schutz vor der durchrußten Luft gewähren, die während der Fahrt ungehindert gegen sie anströmte. Da dachte noch niemand daran, die Gleisunebenheiten den Insassen der Wagen möglichst unmerkbar zu machen, die Sitze so auszugestalten, daß man nicht schon nach einer Fahrtstunde Schmerzen im Rückgrat empfand, den Fahrgästen Bewegungsfreiheit innerhalb des ganzen Zugs zu gewähren. Die immer größer werdende Schnelligkeit der Züge erst zwang dazu, die gewaltigen, festverschlossenen Kapseln zu schaffen, in denen die Menschen heute auf den Bahnstrecken befördert werden; die Eisenbahnwissenschaft erst, genaueste Beobachtung der am meisten störenden Erscheinungen und ihre Beseitigung durch sorgfältig abgewogene Einrichtungen, ließ die prachtvollen neuzeitlichen Fahrzeuge entstehen, die in den zusammenhängenden Saalwagen der Züge auf den großen Weltstrecken mit vieltägiger Fahrtdauer ihren vorläufigen Gipfelpunkt gefunden haben.
Der Mann in der Fensterecke schmunzelt, wenn er sich des freundlich wiegenden Laufs bewußt wird, mit dem sein rollendes Haus ihn über das Gleis trägt, anstatt ihn bei jedem Stoß rauh in die Höhe zu werfen, bei jeder Krümmung gegen die Seitenwand zu puffen. Gern möchte er wissen, wodurch dieser ruhige Gang der D-Wagen erzielt[253] worden ist, so daß diese so angenehm gegen die alten Knochenschüttler abstechen. Wir wollen ihn aufklären: den größten Einfluß in dieser Richtung hat die Vergrößerung der Wagenlängen geübt, womit eine Erhöhung des Gewichts und der Zwang zu besonderer Ausgestaltung des Laufwerks notwendig verbunden waren.
In den frühen Zeiten des Eisenbahn-Verkehrs, als die Anzahl der zu befördernden Reisenden noch gering war, bediente man sich kleiner, leichter Wagen, die auf zwei eng gestellten Achsen ruhten. Als es aber galt, immer mehr Menschen in einem Zug zu befördern, wurde es wirtschaftlich notwendig, den Fassungsraum jedes einzelnen Wagens zu vergrößern. Das konnte nur durch Verlängerung geschehen, denn in den Breitenmaßen war man ja durch die Umgrenzungslinien des lichten Raums beschränkt. Zur Unterstützung der schweren Wagen mußte die Zahl der Achsen gesteigert, vor allem aber der Achsstand vergrößert werden, weil es sich gezeigt hatte, daß lange, schwere Wagenkasten, deren Enden nur wenig überhängen, das heißt über die Befestigungsstellen der äußersten Achsen hinausragen, den angenehmsten Gang aufweisen. Entsprechend dieser Erkenntnis ist man denn auch in geradezu kühner Weise vorgegangen, hat die mächtigen Personenwagen von heute geschaffen, die sich das Schlingern, Dröhnen und Klirren gänzlich abgewöhnt haben. Auf ihren festgespannten Federn schwanken sie nur leise auf und nieder.
Doch das Verhindern des Schlingerns, der unangenehmsten Bewegung an laufenden Fahrzeugen, konnte nicht durch die Gewichtssteigerung und bessere Abfederung allein erreicht werden, sondern wurde erst durch eine besondere Einrichtung am Laufwerk erzielt, die sich mit zunehmenden Wagenlängen als unbedingt erforderlich erwies.
Je größer nämlich der Abstand der äußersten Achsen eines Wagens voneinander wurde, je mehr der Achsstand wuchs, desto größer wurden die Schwierigkeiten beim Durchfahren enger Gleisbogen. Wir sind dieser Erscheinung bereits bei der Betrachtung des Lokomotiv-Laufwerks begegnet. Schon bei Wagen mit nur drei Achsen wurde es notwendig, das Laufwerk im Gleis schmiegsam zu machen.
Es war ein harter Kampf notwendig, bis die einstellbaren Achsen unter den Wagen sich durchsetzten. Galt es doch als gefesteter Grundsatz, daß Wagen, die wirklich sicher laufen sollten, stets genau gleichgerichtete Achsen haben müßten. In Preußen aber, das ja immer in Eisenbahndingen mutig vorangegangen ist, machte man schon Anfang der achtziger Jahre Versuche mit Wagenachsen, die sich in Gleiskrümmungen so einstellen konnten, wie es für einen ruhigen, von Schlingerbewegungen freien Lauf am besten ist, nämlich in der Richtung nach dem Mittelpunkt des Gleisbogens. Doch erst im Jahre 1896 führte der Verein Deutscher Eisenbahnverwaltungen in seiner damals tagenden Techniker-Versammlung die einstellbaren Achsen bei allen in ihm zusammengeschlossenen Bahnen ein. Sie wurden Vereins-Lenkachsen genannt und brachten für den Lauf der Wagen gerade so durchgehende Verbesserungen wie ihre Genossen unter den Lokomotiven.
Die für die einstellbaren Achsen maßgeblichen Grundsätze kennen wir bereits aus dem vorhergehenden Abschnitt (Seite 217). Da die Achsen unter den Wagen jedoch bei weitem nicht so stark belastet sind wie die Lokomotiv-Achsen, so kann man hier die Einstellbarkeit durch weit einfachere Vorkehrungen erzielen. Man gibt ihnen Bewegungsmöglichkeit durch eine besondere Aufhängung der Blattfedern, mit denen die Wagenkasten auf die Achsbüchsen gestellt sind. Wenn die Achsbüchsen sich in den zu diesem Zweck mit einem Spielraum versehenen Achshaltern seitlich verschieben, so stellen sie die Tragfedern hierdurch etwas schief ein. Ihre Enden sind nun ungleich belastet, die Winkel, welche die Aufhängungslaschen zum Gleis bilden, verschieden groß, und dadurch werden die Achsen sofort wieder[254] zur ursprünglichen Stellung zurückgezwungen, wenn ein gerades Gleisstück erreicht ist (Bild 213).
Die in solcher Weise mit freien Lenkachsen ausgerüsteten dreiachsigen Wagen haben sich bis zu Stundengeschwindigkeiten von 90 Kilometern sehr gut bewährt. In den Schnellzügen trifft man sie heute jedoch fast gar nicht mehr an. Da das Gewicht, das für den einzelnen Platz aufgewendet werden muß, in den neuzeitlichen Schnellzug-Wagen sehr groß ist, kommt man hier auch mit drei Achsen nicht mehr aus, sondern muß vier und mehr Achsen verwenden. Bei diesen Vielachsern aber läßt sich die Schmiegsamkeit im Gleis weit besser als mittels einstellbarer Achsen durch Drehgestelle erreichen. Man faßt je zwei oder drei Achsen in einem besonderen Rahmen zusammen, schafft so besondere Radwägelchen, die nur durch einen runden Zapfen mit dem Wagenkasten verbunden sind. Das Wesen dieser in Amerika erfundenen Drehgestelle haben wir gleichfalls bereits im vorigen Abschnitt (Seite 218) besprochen.
Das unermüdliche Streben der Eisenbahn-Techniker, das Fahren auf den Geleisen möglichst angenehm zu machen, hat bei der Ausbildung der Drehgestelle für Personenwagen zur Anbringung einer geradezu verschwenderischen Fülle von Abfederungen geführt. Der Drehgestellrahmen ist natürlich federnd auf seine Radachsen gesetzt. Aber das reicht noch nicht aus, um dem Wagen einen genügend ruhigen Lauf zu sichern. Aus diesem Grund legt man noch eine zweite sehr kräftige Abfederung zwischen den Teller, der das Zapfenlager, also die Aufsatzstelle des Wagenkastens, trägt, und das Drehgestell. Drei bis vier außerordentlich große und kräftige Blattfedern tragen auf ihrem Rücken einen frei beweglichen, wagerechten Balken, in den der Drehteller eingelassen ist. Da der Balken mit dem eigentlichen Drehgestell nicht ganz fest verbunden ist, so macht er auch nicht alle seitlichen Schwankungen mit, zu denen dieses durch das Gleis gezwungen wird. Mit Recht hat man diese Anordnung „die Wiege“ genannt; sie hält alle harten Bewegungen vom eigentlichen Wagen fern, teilt ihm nur sanfte Schwankungen mit.
Trotzdem begnügt man sich oft mit der zweifachen Abfederung an den Achsbüchsen und in der Wiege nicht, sondern fügt noch eine dritte hinzu, indem man die Enden der eigentlichen Achsfedern nicht unmittelbar am Drehgestellrahmen angreifen läßt, sondern hier noch einmal einen Gummipuffer oder eine Schraubenfeder zwischenschaltet.
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Amerika hat neuerdings eine besondere Form der Drehgestelle geschaffen, die auch bei uns immer häufiger angewendet wird. Hierbei ruht der Drehgestellrahmen nicht mehr durch bloße Zwischenschaltung der Blattfedern auf den Achslagern, sondern er ist auf einen Träger gestellt, der die Achslager verbindet (Bild 215). Der eigentliche Tragbalken liegt ziemlich tief, damit die sehr starken Wickelfedern, die auf ihm ruhen, untergebracht werden können. Die Trägerenden sind dann in eigentümlich geschwungener Form über die Achsbüchsen hinaufgebogen, was der ganzen Trageinrichtung den sehr treffenden Namen „Schwanenhals“ verschafft hat. Diesen amerikanischen Drehgestellen wird ein besonders ruhiger Lauf nachgerühmt.
Da selbst die schwersten Wagen bei weitem nicht so hohe Gewichte haben wie die Lokomotiven, werden ihre Räder nicht immer aus dem besten, teuersten Baustoff, nämlich aus Stahl, hergestellt, obgleich das Stahlrad auch im Wagenbau vorherrscht.
Nicht allzu häufig und meist nur unter Güterwagen, trifft man gußeiserne Räder an, die keine Speichen haben, sondern in der Seitenansicht eine volle Scheibe darstellen. Für ihre Bereitung wird das Eisen nicht in gewöhnlicher Weise gegossen, sondern so behandelt, daß es sehr rasch erstarrt, wodurch der Rand, auf dem die Scheibe läuft,[256] äußerst hart wird. Diese Hartgußräder sind die einzigen Vollräder, die in der Eisenbahn-Technik zur Anwendung kommen, das heißt solche, bei denen der Laufkranz nicht durch einen besonderen Reifen, sondern durch den Radkörper selbst gebildet wird.
Das Gefüge des Hartgusses kann jedoch seiner ganzen Natur nach nicht so gleichmäßig sein, wie der durchgeschmiedete und durchgewalzte Gußstahl, aus dem die aufgesetzten Radreifen gefertigt werden, und daher zeigen die Hartgußräder eine Neigung, beim Laufen rasch unrund zu werden, indem die weniger festen Teile sich schneller abnutzen. In Deutschland dürfen sie nur bei Wagen benutzt werden, die in Zügen mit höchstens 50 Kilometern Stundengeschwindigkeit laufen; auch dürfen sie nicht gebremst werden, da es sich gezeigt hat, daß sie durch die bei wiederholtem Bremsen auftretende Erhitzung leicht Sprünge bekommen. In Amerika, wo man ja leichtsinniger vorzugehen pflegt, sind hierdurch einige Male Unfälle hervorgerufen worden.
Die englischen Eisenbahnwagenbauer haben eine lebhafte Vorliebe für hölzerne Räder. Man rühmt diesen nach, daß sie durch ihre Nachgiebigkeit das rollende Geräusch verringern und das Springen der Reifen verhindern. Sie bestehen aus keilförmigen Holzstücken, die so aneinandergefügt sind wie Tortenstücke, und werden durch den umlaufenden Stahlreifen zusammengehalten. Auf den Vereinsbahnen sind sie nicht zugelassen. Ihre Dauerhaftigkeit ist nicht sehr groß, da das Holz sich zusammenzieht, und alle Schrauben und Verbindungen hierdurch rasch lose werden.
Daß es auch Eisenbahnräder aus Papier gibt, kann nur dem seltsam erscheinen, der nicht weiß, daß stark zusammengepreßtes Papier eine außerordentliche Härte und Widerstandsfähigkeit erlangt. Man liebt Räder aus solchem Baustoff namentlich in Amerika. Sie werden hergestellt, indem man etwa 50 dünne Pappscheiben zusammenleimt, sehr gründlich trocknet und alsdann mit gewaltigem Druck preßt. Die Scheibe ist nun so fest, daß sie gleich dem Eisen auf der Drehbank bearbeitet werden kann. Mittels vorn und hinten aufgelegter Bleche werden die Papierscheiben zwischen den stählernen Naben und Reifen befestigt. Die Bolzenlöcher muß man unter dem Dampfhammer hindurchtreiben.
Durch die Bauart ihrer Kasten werden die Personenfahrzeuge in zwei große Gruppen geschieden: in Abteil-Wagen und Durchgangs-Wagen.
Die Abteil-Wagen sind gleich zu Beginn des Eisenbahnwesens in England entstanden. Sie haben ihren Ursprung in dem Absonderungs-Bedürfnis der einzelnen Bevölkerungsklassen, das jenseits des Kanals und ja auch bei uns recht stark ausgeprägt ist. Dadurch, daß man die Wagenkasten mittels Querwänden in viele einzelne Rechtecke teilt, wird eine strenge Sonderung der verschiedenen Gruppen von Reisenden erzielt. Die Insassen des einzelnen Abteils bilden eine kleine Gemeinschaft für sich und haben nicht nötig, an dem Leben in den übrigen Räumen des Zugs teilzunehmen. Die Abteil-Wagen ermöglichen aber auch infolge der vielen Türen, die sie besitzen, ein sehr rasches Ein- und Aussteigen, weshalb sie auf Stadt- und Vorortbahnen mit kurzen Haltezeiten sehr beliebt sind.
Heute strebt man bei uns danach, die vollständig gegen ihre Nachbarräume abgeschlossenen Abteile allmählich ganz zu beseitigen, weil hier und da vorgekommene Überfälle auf Reisende gezeigt haben, daß sie eine Minderung der Reisesicherheit bedeuten. Bei sehr stark besetzten Zügen verhindern die vollständig von einer Seitenwand zur andern durchlaufenden Querwände auch einen Ausgleich der Besetzung innerhalb eines Wagens. Jeder ist gezwungen, in dem Abteil zu bleiben, in das er zufällig eingestiegen ist, und muß hier stehen, während vielleicht im Nebenabteil noch Plätze frei sind. Die Berliner Stadtbahn besitzt[257] heute Abteile, bei denen die Querwände gekürzt sind, so daß an einer Seite von einem Abteil ins andere hinübergegangen werden kann. Die Abteile in Fernzug-Wagen sind, um den Abort von mehreren Räumen aus zugänglich zu machen, oft durch Türen miteinander verbunden.
Die ersten Eisenbahnfahrzeuge, in denen an Stelle dieser stets sehr schmalen Verbindungen ein bequemer und freier Durchgang von einer Stirnwand zur anderen möglich war, erschienen in Deutschland in den sechziger Jahren. Der Gang lag in der Mitte des Wagens, wie das noch heute bei sehr vielen Fahrzeugen in Süddeutschland und den fremden Nachbarländern üblich ist. Es wird hierdurch bewirkt, daß das Zugpersonal seine überwachende Tätigkeit leichter ausüben kann und auch den Reisenden für Fragen und Beschwerden während der Fahrt zur Verfügung ist. Bis dahin, insbesondere vor Einführung der Bahnsteigsperre, mußten die Schaffner, um die Karten der Reisenden nachzusehen, während der Fahrt auf den äußeren Trittbrettern an den Wagen entlangklettern. Viele Unfälle wurden dadurch hervorgerufen, bis endlich Preußen mit der Prüfung der Fahrkarten an den Bahnhofseingängen vorging und das Begehen der Trittbretter während der Fahrt verbot. Die Einrichtung des für die Fahrgäste freigegebenen Durchgangs bewirkt auch eine bequemere Unterbringung der Aborte. In Norddeutschland sind jedoch die Wagen mit Mittelgang niemals beliebt gewesen. Man kann auch in der Tat nicht leugnen, daß bei dieser Anordnung jeder Reisende, der durch den Wagen geht, die anderen stört, was namentlich nachts sehr unangenehm empfunden wird. Es wurde darum lebhaft begrüßt, als die preußische Eisenbahnverwaltung daranging, in freiem Anschluß an amerikanische Bauarten die Durchgangs-Wagen so auszubilden, daß sie die Vorteile von Abteil-Wagen in sich schließen.
Man fühlt sich heute auf seinem Platz im Schnellzug doppelt wohl, weil man weiß, daß man nicht für die ganze, viele Stunden dauernde Fahrt an seinen Platz gebannt ist. Man kann, wenn man will, aufstehen und den ganzen Zug durchschreiten. Trotzdem wird man in seiner Beschaulichkeit nicht fortwährend durch vorüberlaufende Kinder gestört, denn man befindet sich in einem geschlossenen Abteil. Diese Wirkung wird dadurch hervorgebracht, daß in den Fahrzeugen, die wir heute als D-Wagen bezeichnen, der Durchgang an der Seite liegt. Die Vorteile, welche Einzelabteile bieten, bleiben hierdurch erhalten, und diese Fahrzeuge sind daher als ein besonders treffliches Mittel zur angenehmen Gestaltung weiter Reisen zu begrüßen. In den ersten D-Wagen waren die Abteile nach dem Seitengang hin offen, jetzt können sie durch Türen von diesem abgeschlossen werden, was die Heimelichkeit des einzelnen Abteils bedeutend erhöht. Die Übergänge von Wagen zu Wagen werden durch eiserne Brücken ermöglicht, die allseitig von Faltenbälgen umschlossen sind.
In Amerika und vielen europäischen Ländern legt man auf Abteil-Sonderung gar keinen Wert. Dort haben die Wagen meistens nur einen einzigen zusammenhängenden Raum, in dem Bänke aufgestellt sind. Wer von uns in solchen Wagen gereist ist, wird jedoch wahrgenommen haben, daß sie einen sonderlich angenehmen Eindruck nicht gewähren. Es ist kein erfrischender Anblick, zu gleicher Zeit viele Menschen in bequemen Stellungen zu schauen oder sie mitgebrachte Eßwaren aus Papieren verzehren zu sehen. Namentlich an heißen Sommertagen, wenn man sichs ein wenig bequem gemacht hat, und ganz besonders während der Nacht, erblickt man Gruppen, die weit weniger unangenehm auffallen, wenn sie zwischen enge Abteilwände gebannt sind. Es wirkt recht wenig schön, wenn man gleichzeitig ein halbes Dutzend Damen erblickt, die ihre Köpfe schlummernd an die Brust ihres Ehegemahls gebettet haben.
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In Europa hat jeder einzelne Personenwagen stets nur eine verhältnismäßig kurze Strecke zu durchfahren. Es genügt uns hier vorläufig, wenn dafür ein gepolsterter Sitz zur Verfügung steht. Anders liegen die Dinge in Amerika, wo die riesigen Entfernungen ununterbrochene Fahrten durch mehrere Tage notwendig machen. Man begann darum drüben schon frühzeitig, besonders bequem und prächtig ausgestattete Wagen zu schaffen, um die langen Eisenbahnfahrten erträglicher zu gestalten und möglichst zu einem Vergnügen zu machen. Die Entwicklung ist dort auch bis zum heutigen Tag emsig in dieser Richtung fortgeschritten, da der Wettbewerb zwischen den einzelnen Privatbahnen, die Reisende zwischen den gleichen Städten befördern, antreibend wirkt.
Die Einrichtung von Eisenbahnwagen, die eine Ausstattung über die notwendigsten Bedürfnisse hinaus besitzen, knüpft an den Namen Pullmann an. Er war es, der im Jahre 1858 die ersten Prachtwagen auf der Strecke Chicago-Buffalo einführte. Deutschland kann sich eines Anteils auch an dieser Errungenschaft rühmen, da Pullmann von hier aus nach Amerika eingewandert war.
Die auch bei uns sehr berühmt, ja sprichwörtlich gewordenen Pullmann-Wagen sind Fahrzeuge, die sowohl für Tag- wie für Nachtaufenthalt eingerichtet sind. Ein geräumiger, prächtig ausgestatteter Saal ist mit Sitzbänken versehen. Die Schlaflager sind während des Tags gegen die Decke geklappt, und auf ihnen liegen auch in dieser Zeit die Matratzen, Decken und Kissen (Bild 216). Wenn der Abend hereinbricht, werden die Klappen mittels Stützen, die auf die Seitenlehnen der Bänke aufsetzen, wagerecht gestellt, die Betten hergerichtet, und jede der Lagerstätten durch Vorhänge gegen den Gang und gegen die Nachbarn abgeschlossen. Das Entkleiden ist nur möglich, während man auf dem Bett liegt, denn zwischen den Vorhängen und diesem steht kein Raum zur Verfügung. Es ist auch selbstverständlich, daß die Vorhänge niemals ganz dicht schließen, so daß in einem solchen amerikanischen Schlafwagen keine vollständige Sonderung der Schlafenden voneinander und von denen, welche den Gang durchschreiten, erzielt wird. Während des Tags bieten zudem die hochgeklappten, schrägen Lager keinen sonderlich hübschen Anblick, und sie verengen dazu den Luftraum im Wagen.
Es ist begreiflich, daß die Einführung solcher Pullmann-Wagen bei uns von den wirklichen Kennern der Verhältnisse niemals für erstrebenswert gehalten wurde. Auch in Amerika pflegen besonders zahlungskräftige Fahrgäste vollkommen geschlossene Abteile zu mieten, die sich an den Wagenenden befinden. Die Entwicklung konnte in Deutschland[259] von vornherein einen anderen Lauf nehmen, da hier eine Doppelform der Wagen für Tag- und Nachtfahrten nicht nötig ist. Mit Ausnahme der wenigen zwischenstaatlichen Züge kommt es bei uns recht selten vor, daß man länger als zwölf Stunden in demselben Wagen sitzt. Es erwies sich daher als günstiger, eine Wagenform auszubilden, die ausschließlich Schlaflager enthält.
Die preußischen Schlafwagen sind D-Wagen mit streng geschlossenen Abteilen. Jedes[260] von diesen enthält zwei Schlaflager. Für die wenigen Stunden, die man am Abend oder am Morgen vor oder nach Benutzung des Schlaflagers in dem Abteil sich aufzuhalten hat, ist in diesem durch Herunterklappen des oberen Lagers eine sehr bequeme, gepolsterte Sitzbank zur Verfügung.
Die beiden Lager werden durch Ausziehen des Sitzes und Hochklappen der Sitzbanklehne bis in wagerechte Stellung hergerichtet. Eine Leiter zum Besteigen des oberen Lagers befindet sich im Abteil. Desgleichen birgt es einen Spiegelschrank, in dem sich Wasserkaraffe und Gläser befinden, sowie einen aufklappbaren Waschtisch mit Becken aus Nickelblech, dem man nach Belieben frisches Wasser zufließen lassen kann. In neuerer Zeit werden die Abteile größer gemacht. Insbesondere ist der bisher recht schmale Raum zwischen Waschtisch und Bett dadurch vergrößert worden, daß die Wand, welche zwei benachbarte Abteile voneinander trennt, nicht mehr senkrecht zur Wagenachse steht, sondern schräg gestellt ist. Für Reisende erster Klasse, die ein ganzes Abteil für sich allein beanspruchen können, wird die Annehmlichkeit auch dadurch erhöht, daß in den Wagen dieser neueren Bauart die Rückenlehne nicht mehr emporgeklappt zu werden braucht. Das ist in den älteren Wagen trotz der Nichtbenutzung des oberen Lagers notwendig, weil das untere bei senkrechter Stellung der Lehne zu schmal werden würde.
Man ist in solchen neu angeordneten Abteilen vorzüglich gebettet, hat, wenn man den Fahrpreis für die erste Klasse entrichtet, den ganzen Raum bis zur Decke des Wagens frei über sich und kann sich sogar in ein richtiges Schlafzimmer versetzt glauben, wenn man mit einem Angehörigen zusammen zwei nebeneinanderliegende Abteile mietet und die sehr breiten Zwischentüren aufklappt. Diese neuen preußischen Schlafwagen sind um ein Meter länger als die älteren. Sie entsprechen hierdurch nicht mehr den zwischenstaatlichen technischen Vereinbarungen und dürfen daher auf ausländische Strecken nicht übergehen. Das ist wiederum ein deutliches Zeichen für die besondere Raschheit des Fortschritts im Bereich der preußischen Eisenbahnverwaltung.
In Schweden ist man uns allerdings mit der Einrichtung von Schlafwagen dritter Klasse voraus. Ihre Einführung dürfte aber auch bei uns jetzt nicht mehr lange auf sich warten lassen. Da der Preis für ein Schlaflager dieser Art nicht zu hoch bemessen werden darf, wird es notwendig sein, drei Lager übereinander in einem Abteil einzurichten.
Zur Erzielung eines ganz besonders ruhigen Laufs haben sämtliche neueren Schlafwagen sechs Achsen. Desgleichen ruhen die einzigen Saalwagen, die bei uns im allgemeinen Verkehr zur Verwendung kommen, nämlich die Speisewagen, meist auf je zwei dreiachsigen Drehgestellen. Auch diese letztgenannte Wagengattung ist eine Erfindung von Pullmann, der sie in den siebziger Jahren zuerst einführte. Heute ist der Speisewagen vom Tages-D-Zug untrennbar. Ohne seine Einführung wäre es auch kaum möglich gewesen, so weite Strecken, wie es heute üblich ist, mit nur ganz kurzen Aufenthalten zu durchfahren. Die Reisenden, welche nicht genügend Mundvorrat von Hause mitgebracht haben, müßten sonst Hunger leiden, denn auf den Bahnhöfen ist zu zweckmäßiger Versorgung meist keine Zeit.
Für recht beträchtliche Gebühr und unter besonderen Bedingungen kann man auf den deutschen Bahnen auch saalartig ausgestattete Sonderwagen mieten. Der Hauptvorzug dieser Fahrzeuge ist die verhältnismäßige Weiträumigkeit, die sie bei vollständigem Abschluß gegen die übrigen Teile des Zugs gewähren. Sie pflegen gewöhnlich einen großen Raum zu enthalten, der mit Sofa, Sesseln und Tisch ausgestattet ist; daran stößt mindestens ein recht geräumiges Schlafgemach, und alsdann folgen gewöhnliche Abteile für Begleitung und Dienerschaft. Ein Doppelboden macht die Schläge der Räder fast ganz unhörbar.[261] Die innere Ausstattung der älteren Saalwagen kann unseren heutigen Geschmack nicht mehr befriedigen. Sie ähnelt zu sehr der „vornehmen Zimmer-Einrichtung“ aus den achtziger Jahren und will in die strengen, zweckmäßigen Linien der anderen Eisenbahnfahrzeuge nicht mehr recht hineinpassen. In den neueren Saalwagen ist man von solchen Verirrungen wieder abgekommen.
Eine größere Anzahl von Sonderwagen steht ständig zur Verfügung der höchsten Beamten, der Fürstlichkeiten und der Herrscher. Viele von diesen besitzen ganze Sonderzüge.
So besteht der Hofzug des deutschen Kaisers aus neun Wagen: zwei Gepäckwagen, in denen zugleich die Zugbeamten und eine kleine Werkstatt untergebracht sind, einem Küchenwagen, einem Speisewagen, zwei Wagen für das Herrengefolge mit einem besonders geräumig ausgebildeten Raum für den Oberhofmarschall, je einem Saalwagen für den Kaiser und die Kaiserin, sowie einem Wagen für das Damengefolge. Der Wagen des Kaisers enthält einen großen Aufenthaltsraum für den Tag, ein Schlafzimmer mit anschließendem Waschraum sowie zwei große Abteile für den Flügel-Adjutanten und den Leibdiener.
Um allen Ansprüchen nach Möglichkeit dienen zu können, halten die deutschen Eisenbahnen ferner Saalwagen für besondere Zwecke bereit. So gibt es Krankensaal-Wagen mit einer ihrem Benutzungszweck besonders angepaßten Einrichtung. Sie sind einfach ausgestattet und leicht zu reinigen. Über dem gewöhnlichen Wagendach ist ein zweites errichtet, das die Sonnenhitze nach Möglichkeit fernhalten soll. Der Krankenraum hat eine Tür mit Doppelflügeln, damit die Bahre bequem hineingebracht werden kann. Außer dem Bett finden zwei Sofas, ein Sessel und mehrere Stühle darin Platz. Es schließt[262] sich der Waschraum an, der mit der Küche vereinigt ist. Abteile für Begleiter, Diener und sonstige Fahrt-Teilnehmer füllen den noch übrigen Teil des Wagens. Der Abort an einem Fahrzeugende ist durch einen Seitengang zu erreichen.
Damit auch minderbemittelte Kranke die Wohltat einer Beförderung in abgesondertem Raum genießen können, hat die preußische Eisenbahnverwaltung Abteilwagen dritter Klasse so eingerichtet, daß durch Herausnehmen einer Wand, die zwei Abteile voneinander trennt, ein genügend großer Krankenraum hergestellt werden kann. Nach dem Lösen einiger Schrauben am Boden und an den Seiten können drei Bänke leicht entfernt werden, worauf ein in sich gefedertes Bahrgestell durch die gleichfalls doppelflügelige Tür in den Raum geschafft werden kann. Der eine Türflügel ist bei gewöhnlicher Benutzung des Wagens fest verriegelt. Es werden in dem Krankenraum ferner ein Lehnstuhl, ein Klapptisch und ein Waschschrank aufgestellt, die auf dem Heimatbahnhof des Wagens stets vorrätig sind. Im Abort wird ein Gaskocher angebracht und mit der Gasleitung verbunden.
Von sonstigen Personenwagen, die besonderen Zwecken dienen, seien noch erwähnt die Fahrzeuge für Leichenbeförderung, in die ein Kapellenraum eingebaut ist, und Wagen zur Überführung von Gefangenen mit gewöhnlich zwölf recht engen Zellen. In Rußland sind Kirchenwagen sehr beliebt; sie werden an Sonntagen bald hier, bald dort auf Nebengeleisen aufgestellt und geben Gelegenheit zur Abhaltung von Andachten durch den mitfahrenden Geistlichen.
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Unter den Saalwagen verdient noch besonders einer hervorgehoben zu werden, der auf der sibirischen Bahn verkehrt. Da die Reisenden, die von Moskau etwa nach Irkutsk wollen, sich nicht weniger als acht Tage ununterbrochen im Zug aufhalten müssen, so ist es wirklich kaum noch als Überfluß zu bezeichnen, wenn man ihnen darin Gelegenheit zu einiger Abwechslung und körperlicher Bewegung bietet. Der in die lange laufenden sibirischen Züge eingestellte Saalwagen besitzt ein Aussichts-Abteil mit sehr großen Fenstern, einen Gesellschaftsraum im Stil Ludwigs XVI. mit Bücherei und Klavier, dann folgen ein Turnraum mit verschiedenen Geräten und einem Zimmer-Fahrrad, eine Barbierstube und ein ausgedehnter Baderaum.
Es sei hier darauf hingewiesen, daß auch für unsere, über kürzere Strecken fahrenden Züge der Einbau neuer Einrichtungen angestrebt wird, die eine Erhöhung der Bequemlichkeit bieten sollen. So haben bereits verschiedene Handelskammern den Wunsch ausgedrückt, in den großen Tages-Schnellzügen Wagen mit Geschäfts-Abteilen laufen zu lassen. Es sollen in diesen ein Schreibtisch mit Ausrüstung, ein bequemer Stuhl und sonst noch einiges Schreibstubengerät aufgestellt werden, so daß etwa der Rechtsanwalt oder der Kaufmann imstande sind, hier Akten zu lesen und zu ordnen, Schriftstücke zu prüfen oder auszufertigen, kurz Arbeiten zu verrichten, die man im gewöhnlichen Abteil aus Mangel an Schreibgelegenheit und vor allem wegen der lästigen Beobachtung durch die Mitreisenden nicht gut erledigen kann.
Die bei weitem am meisten verbreitete Art von Sonderfahrzeugen wird durch die Postwagen gebildet. Sie enthalten alle Einrichtungen, die zur glatten Aufarbeitung der eingeladenen Postsachen notwendig sind. Große Schränke mit Fächern, Tische zum Ordnen, Behälter für Zeitungen, Vorrichtungen zum Spannen der Briefbeutel sind darin aufgestellt. Die Postwagen erhalten weit höhere Oberlicht-Aufbauten als die anderen Personenwagen, weil die Fenster häufig durch Schränke verstellt werden. Alle Fensteröffnungen pflegen mit Schutzgittern versehen zu sein, die verhindern sollen, daß Papiere durch plötzlichen Luftzug hinausgeweht werden. Die in Amerika hier und da an den Postwagen angebrachten Einrichtungen zum Aufnehmen von Briefbeuteln während der Fahrt haben sich nicht bewährt. Wie wir noch im Abschnitt über das Signalwesen hören werden, ist es stets etwas technisch Unrichtiges, wenn man ruhende Gegenstände innerhalb des Bruchteils einer Sekunde in schnelle Bewegung überführen will. Ebensowenig hat sich das Ausladen von Postsachen aus fahrenden Zügen bewährt, da die Beutel hierbei meist zerrissen wurden oder unter die Räder gerieten.
Es ist üblich, bei Zügen, in denen der Packwagen aus irgendeinem Grund nicht an der Spitze des Zugs läuft, den Postwagen unmittelbar hinter der Lokomotive einzustellen[264] und ihn so als Schutzwagen zu benutzen. Das bedeutet eine höhere Gefährdung der in dem Fahrzeug beschäftigten Beamten. Die sorgsam arbeitenden deutschen Verwaltungen sind daher in den letzten Jahren dazu übergegangen, die Postwagen mit besonderen Schutzabteilen auszurüsten. An beiden Enden sind schmale, aber sehr fest gebaute Räume abgetrennt, die zu ständigem Aufenthalt nicht benutzt werden dürfen. Sie sind entweder ganz leer, oder man bringt allenfalls die Waschgelegenheit darin unter. Es ist schon hier und da bei Zusammenstößen vorgekommen, daß diese Schutzabteile die beabsichtigte günstige Wirkung geübt haben.
Die einzelnen Wagenklassen unterscheiden sich in fast allen Ländern hauptsächlich durch die verschiedenartige Ausgestaltung der Sitzplätze voneinander. Die erste und zweite Klasse besitzen bei uns Polsterbänke in verschiedenen Farben, die dritte Klasse Bänke aus hölzernen Latten, während in der vierten Klasse nur ganz einfache Bretterbänke aufgestellt sind. Diese gewähren aber nicht so vielen Personen Platz, wie vorschriftsmäßig in den Wagen befördert werden dürfen, weshalb noch Raum für Stehplätze und auch für das Abstellen von Traglasten vorgesehen ist.
Es hat eine Zeit gegeben, in der die Ausrüstung der beiden unteren Klassen nach dem „Abschreckungs-Verfahren“ hergerichtet war. Die vierte Klasse hatte gar keine Bänke, die dritte Klasse solche von recht unbequemer Bauart. Man wollte hierdurch möglichst viele Reisende dazu veranlassen, eine höhere Klasse zu benutzen, als ihrer Vermögenslage eigentlich entsprach. Ihr gesunder Sinn und das Empfinden für die Bedürfnisse des Volks hat die Eisenbahnverwaltungen indessen längst dazu veranlaßt, von diesem Weg abzugehen. Man ist sich klar darüber geworden, daß die Fahrgäste aus den verschiedenen nun einmal bestehenden Besitzklassen, soweit es möglich ist, in gleich entgegenkommender Weise behandelt werden müssen. Aus diesem Grund ist namentlich die vierte Klasse durch Einführung von Nichtraucher- und Frauen-Abteilen bedeutend verbessert worden; die Form der Bänke in der dritten Klasse wurde in sorgfältiger Weise den Körperformen angepaßt, so daß man auf diesen heute weit bequemer sitzt als früher.
Es bleibt trotzdem selbstverständlich, daß den Reisenden der ersten und zweiten Klasse, da sie ja ein höheres Fahrgeld entrichten, immer noch bedeutend größere Bequemlichkeiten geboten werden. Die Abteile dieser Klassen sind breiter als die anderen, in der zweiten Klasse wird in den D-Zügen jede Bank nur mit drei, in der ersten Klasse gar nur mit zwei Reisenden besetzt, während in der dritten Klasse auf derselben Banklänge vier Personen sich einrichten müssen. Die erste Klasse besitzt gegenüber der zweiten eine sorgfältiger ausgeführte Polsterung, Rückenlehnen, die in halber Höhe stark eingezogen sind, so daß man auch mit Kopfbedeckungen bequem sitzen kann. Bewegliche Kissen ermöglichen das Anbringen eines Zusatzpolsters an jedem gewünschten Ort. Bis vor einigen Jahren konnten in den Abteilen erster Klasse durch Zusammenschieben der einander gegenüberliegenden Sitze und Verstellen der Rückenlehnen einigermaßen bequeme Schlafplätze hergestellt werden. Heute werden solche Einrichtungen nicht mehr gebaut, da die inzwischen eingeführten Schlafwagen ihre Benutzung äußerst selten gemacht haben.
Es wird jetzt vielfach angestrebt, an Stelle der vier Klassen — in Bayern und Baden ist allerdings die vierte Klasse bis zum heutigen Tag nicht eingeführt — nur zwei Abteilgruppen in sämtlichen Zügen laufen zu lassen. Es soll nur eine gewöhnliche und eine Polsterklasse geben. Man rechnet damit, daß die Zuglängen hierdurch bedeutend verringert werden könnten, da die vorhandenen Plätze besser ausgenutzt würden. Das gesamte wirtschaftliche Ergebnis des Eisenbahnbetriebs müßte sich dadurch bessern. Es ist jedoch[265] fraglich, ob die alt eingewurzelten Gewohnheiten die Abschaffung der ersten und vierten Klasse in absehbarer Zeit zulassen werden.
In Amerika findet man die Wagen häufig mit Wendelehnen ausgerüstet, das heißt mit Einrichtungen, welche die Möglichkeit geben, daß alle Fahrgäste stets in der Fahrtrichtung sitzen. Ohne Zweifel bedeutet diese Anordnung an sich eine Annehmlichkeit. Aber wenn mehr als zwei Personen miteinander fahren, können sie sich nicht in so bequemer Weise zusammensetzen wie bei uns. Die Unterhaltung wird erschwert, und da diese nun einmal der angenehmste Zeitvertreib auf Reisen ist, so hat man sich in Deutschland zur Einrichtung von Wagen mit Wendelehnen noch nicht entschließen können. Sehr vielen Reisenden aber dürfte dies wünschenswert erscheinen, da das Anstarren vom gegenüberliegenden Platz fortfällt, und man von allzu gesprächigen mitreisenden Fremden weit weniger belästigt werden kann.
In seinem technischen Aufbau stellt jeder Personenwagen ein eigenartiges und unter Berücksichtigung der verschiedensten Gesichtspunkte sorgfältig zusammengefügtes Gebilde dar. Die Fahrzeuge bestehen, vom Laufwerk abgesehen, aus dem Untergestell und dem eigentlichen Wagenkasten. Bei zwei- und dreiachsigen Wagen wird das Untergestell als besonderes Baustück ausgeführt, bei den Vielachsern ist es ein untrennbarer Teil des Kastens. Der Unterbau ist stets der am kräftigsten ausgeführte Teil des Fahrzeugs, da er ja die Last des Kastens sowie der Besetzung aufzunehmen und auf die Achsen zu übertragen hat. Ferner muß er den Kräften Widerstand bieten, die von den Stoßvorrichtungen zwischen den einzelnen Wagen auf ihn ausgeübt werden. Das Untergestell ist daher stets ein aus schweren eisernen Trägern zusammengesetzter Rahmen, der mit kräftigen Versteifungen versehen ist.
Die Böden der eigentlichen Wagenkasten bestehen aus einer Reihe starker hölzerner Schwellen, die mit dem Unterbau verbunden sind. Darauf sind meist zwei sorgfältig gefügte Bretterböden gelegt, zwischen die zur Minderung des Geräuschs Seegras, Kokosfaser oder Korkmasse gestopft wird. Die Wände sind im allgemeinen in Holz-Fachwerk ausgeführt, das durch kräftige Verbindungen und Benutzung harter Hölzer möglichst widerstandsfähig gemacht ist. Bei uns werden die Wände außen stets mit Blech verkleidet, ausländische Bahnverwaltungen bevorzugen häufig hölzerne Verschalung.
Die Dächer haben entweder eine durchgehende Wölbung oder sie tragen in der Mitte einen Aufbau mit seitlichen Fenstern. Preußen bevorzugt diese letzte Bauart, weil die Lüftungs-Einrichtungen hier sehr bequem unterzubringen sind. Der Aufsatz macht die Wagen jedoch etwas schwerer, und das Dach wird weniger widerstandsfähig, da die Dachspriegel nicht ohne Unterbrechung durchlaufen können. Manche süddeutsche Verwaltungen erzielen auch mit gewölbten Dächern Räume, die genügend hoch erscheinen, aber die Wagen sehen nicht so hübsch aus, wie die mit Aufbau. Am wenigsten ist dies bei D-Wagen der Fall, wenn der Scheitel der Wölbung in der Mitte des Wagens liegt. Das Dach steht dann schief über jedem Abteil, da ja der eine Abstieg zum Teil über dem Seitengang liegt. Hier und da ist denn auch bereits eine zweite, innere Wölbung eingebaut worden, die ihren Scheitel in der Längsmitte der Abteile hat.
Die Längswände sind bei den Abteilwagen nicht senkrecht bis zum Untergestell hinabgeführt, sondern werden unten stark eingezogen. Hierdurch entsteht die den Abteilwagen eigentümliche, nach unten verjüngte Querschnittform. Der Einzug ist notwendig, damit man bequeme Eintrittstufen anbringen kann und trotzdem mit der äußersten Kante des untersten Trittbretts noch in den Umgrenzungslinien des lichten Raums bleibt. D-Wagen haben wegen der besonderen Anordnung der Eingänge rechteckige Querschnitte.
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Die Breite der Wagen ist so zu bemessen, daß alle ihre Teile, in welcher Lage sie sich auch befinden mögen, innerhalb der Umgrenzungslinien bleiben. Das muß auch bei den Türen der Fall sein, wenn sie sich in ungünstigster Stellung, das heißt im rechten Winkel zur Längswand, befinden. Durchgangswagen können daher breiter sein, denn ihre Eingänge sind zur Anbringung bequemer Trittstufen tief eingezogen.
Doch auch die Länge der Wagen ist begrenzt und zwar deshalb, weil die steifen Kasten sich in den Krümmungen schief zum Gleis einstellen. Bei allzu großer Länge könnte die Schiefstellung so bedeutend werden, daß der Wagen mit seinen Endkanten über die Umgrenzungslinien hinausgerät. Diese Gefahr ist besonders groß, wenn die Wagenenden weit über die äußersten Achsen oder Drehzapfen hinausragen. Alsdann kann die Entfernung aus der Gleismitte auch so bedeutend werden, daß die Puffer nicht mehr aufeinanderstoßen. Eine solche Verschiebung würde natürlich, wenn sie am fahrenden Zug stattfindet, eine schwere Gefahr für diesen bedeuten.
Es wurde bereits gesagt, daß die Einführung der D-Wagen durch die preußische Staatsbahn-Verwaltung das Reisen sehr viel angenehmer und bequemer gemacht hat. Wie alle wirklich guten technischen Dinge schließt diese Bauform aber auch noch einen weiteren, sehr bedeutenden Vorzug in sich. Der Reisende fährt in den D-Wagen nicht nur bequemer, sondern auch sehr viel sicherer. Es ist dies eine Tatsache, die kaum einem der Reisenden jemals zum Bewußtsein kommt.
Bei den D-Wagen sind ja die Längswände nicht durch Türen unterbrochen. Aus diesem Grund ist es möglich, die Wandgerippe aus durchlaufenden Balken herzustellen. Ja man ist soweit gekommen, unter den Fenstern richtige schwere Brückenträger auszubilden. Eine derartige Bauform ist selbstverständlich geeignet, bei Unfällen einer Zusammendrückung des Wagens sehr viel stärkeren Widerstand entgegenzusetzen. Häufig genug war bei Unfällen schon zu beobachten, daß ein D-Wagen seine Form noch einigermaßen bewahrte, wo ein Abteilwagen vollkommen zermalmt worden wäre. Die Bauart der Durchgangswagen ist daher auch aus diesem Gesichtspunkt als ein großer Gewinn des Eisenbahnwesens zu betrachten, und man nimmt gern den in Fernzügen nicht allzuwichtigen Nachteil in Kauf, daß die Entleerung der Fahrzeuge weniger schnell stattfinden kann, da sie ja nur an den Enden Türen besitzen. Es ist als gedanklich falsch zu bezeichnen, wenn Eisenbahnverwaltungen in anderen Ländern, wie Frankreich und Holland, in den Seitengängen Türen anbringen, um das Aus- und Einsteigen zu beschleunigen. Dann geht eben der Vorzug der durchlaufenden Längswand-Bauten verloren.
In der ersten Zeit nach ihrer Einführung wurde den D-Wagen gegenüber der Vorwurf erhoben, daß man bei Unfällen aus ihnen schwerer entkommen könne als aus vieltürigen Fahrzeugen. Ein solches schnelles Entweichen ist, abgesehen von dem aus seelischen Beweggründen entstehenden Bestreben jedes Reisenden, einen umgestürzten Wagen möglichst rasch zu verlassen, auch deshalb stets wünschenswert, weil ja durch die meist noch unter den Wagen aufgehängten Gasbehälter nach Unfällen häufig Brände entstehen. In der Tat war die Behauptung, daß man in D-Wagen der ersten Bauart ziemlich hilflos eingekerkert blieb, sobald die Wagenenden nicht mehr erreicht werden konnten, oder die dort befindlichen Türen nicht mehr zu öffnen waren, nicht unberechtigt. Die deutschen Regierungen beschlossen darum alsbald besondere Maßnahmen zur Erhöhung der Sicherheit in Durchgangswagen, deren Einführung im Jahre 1901 allen Eisenbahnverwaltungen aufgegeben wurde. Der Einbau von Nottüren in den Gängen und Abteilen wurde aus dem bereits erwähnten Grund verworfen, zumal alsdann auch die Wagenbreite hätte eingeschränkt[267] werden müssen. Hingegen wurden die Fenster so ausgebildet, daß sie sich fortab zum Entkommen besonders eignen.
Es wird seitdem dafür gesorgt, daß die hinablaßbaren Fensterscheiben so weit hinuntergehen können, daß sie gänzlich in der Brüstung verschwinden. Die freien Fensteröffnungen werden außerordentlich groß bemessen, so daß man sehr bequem hindurchschlüpfen kann. Die häufig an den Fenstern angebrachten Schutzstangen sind so angelegt, daß sie jederzeit leicht und ohne Anwendung von Gewalt entfernt werden können. Die unter den Fenstern dahinlaufende Heizvorrichtung wird als Trittstufe ausgebildet; die Vorhangstangen über den Fenstern sind aus kräftigem Eisen gefertigt, so daß man sich zum Hinausschwingen an ihnen emporziehen kann. An den[268] Außenwänden der Wagen laufen unter den Fenstern Griffstangen. Am Kastenboden ist eine, wenn auch wegen der Nähe der Umgrenzungslinie sehr schmale, Trittstufe angebracht. Unter jedem Wagen hängen Leitern, die im Notfall gegen die Fensterbrüstungen gelehnt werden können. In jedem Seitengang ist ein kleiner Glaskasten angebracht, der ein Beil und eine Säge enthält, mit deren Hilfe man Bauteile, die sich in den Weg stellen, möglichst rasch entfernen kann.
Das Bestreben zur Herbeiführung größter Sicherheit für die Reisenden, von dem alle Eisenbahn-Verwaltungen beseelt sind, wenn auch meist in Formen, die den nichtfachmännischen Fahrgästen verborgen bleiben, hat sich mit diesen Einrichtungen nicht begnügt. Um die D-Wagen in noch weit höherer Weise rammsicher zu gestalten, geht man unter dem Vorantritt Amerikas jetzt dazu über, Fahrzeuge zu bauen, die ganz aus Stahl bestehen. Es wird durch solche Bauart nicht nur die Stauchfestigkeit der Fahrzeuge erhöht, sie erlangen auch eine vollständige Feuersicherheit. Ferner fällt das Splittern des Holzes fort, das schon häufig schwere Verletzungen herbeigeführt hat. Das Verbiegen der Eisenteile bei einem Unfall ist weit weniger gefährlich.
Die Aufgabe, stählerne Personenwagen zu bauen, war nicht leicht lösbar, da die Fahrzeuge ein gewisses Gewicht keinesfalls überschreiten und beim Lauf kein dröhnendes Geräusch hervorrufen dürfen. Jetzt aber sind geeignete Bauarten bereits vorhanden, und es kann keinem Zweifel unterliegen, daß ihnen die Zukunft gehört. Auch in Deutschland laufen heute bereits zahlreiche D-Züge, die mit Ausnahme der Innen-Einrichtung keinen hölzernen Bauteil mehr besitzen. Ihre Formen gleichen den bekannten so sehr, daß die Neuerung den Reisenden verborgen bleibt.
Der Präsident der Pennsylvania-Bahn, Cassatt, hat, nach der „Eisenbahntechnik der Gegenwart“, die folgenden allgemein giltigen Gesichtspunkte für den Bau von stählernen Personenwagen aufgestellt:
Von Stockert fordert, daß man dazu übergehen solle, sehr schnell fahrende Züge aus wenigen, äußerst widerstandsfähigen Wagen zusammenzusetzen.
Es hat sich auch bereits die Anschauung Bahn gebrochen, daß die vielachsigen, schweren Wagen die größte Sicherheit gewähren. In Deutschland findet man in Schnellzügen daher kaum noch Wagen, die weniger als vier Achsen haben. Zwei- und dreiachsige Fahrzeuge dürfen heute mit Vielachsern nicht mehr zusammenlaufen, da es vorgekommen ist, daß sie dem ganzen Zug Gefahr gebracht haben. Beim Durchfahren von Krümmungen mit zu hoher Geschwindigkeit pflegen die leichten Fahrzeuge zuerst aus dem Gleis zu springen und dadurch die anderen mit sich zu reißen, die sonst vielleicht glatt durch den Bogen hindurchgekommen wären.
Von Stockert macht ferner auf eine Unfallursache aufmerksam, die noch viel zu wenig[269] beachtet wird. Es hat sich nämlich in Gegenden, die besonders heftigen Stürmen ausgesetzt sind, zugetragen, daß Züge oder Zugteile während der Fahrt durch den Winddruck aus der Bahn gehoben wurden und umstürzten. Solche Wirkung übt z. B. hier und da der Nordwestwind Mistral an der Mittelmeerküste Frankreichs. Am 27. Februar 1903 wurde, nach von Stockert, auf der Brücke über den Levenfluß bei Ulverstone ein Personenzug durch den Sturm umgeworfen. Auf der russischen Südwestbahn zwischen Birzula und Elisabethgrad stürzten am 11. Juni 1886 in einem langsam fahrenden Güterzug von 45 Wagen 18 Wagen infolge starken Sturms ab. In Dalmatien wurde im Jahre 1904 ein Zug durch die Bora über einen acht Meter hohen Damm hinuntergeworfen. Es ist selbstverständlich, daß Leichtgewichtswagen derartigen Gefahren am meisten ausgesetzt sind.
Der Eindruck, den ein Personenwagen auf das Empfinden der Reisenden ausübt, wird hauptsächlich durch die Zahl und Größe seiner Fenster bestimmt. Diese gleichen den Augen im Gesicht des Menschen. Es gibt Wagen, die wenige, kleine, bösartig zusammengekniffene Augenöffnungen haben, wodurch sie uns grimmig und zurückweisend anzublicken scheinen. Die neuzeitlichen D-Wagen sehen stets helläugig und freundlich aus.
Noch zu Anfang des letzten Viertels des vorigen Jahrhunderts pflegte man Fenster nur in den Türen der Wagen vorzusehen. Ihre Breite war dadurch begrenzt. Als sehr bedeutende Verbesserung wurde es begrüßt, als auch die Wandteile neben den Sitzbänken mit Fensteröffnungen versehen wurden. Die Scheiben waren früher sämtlich schmal und noch dadurch verengt, daß sie in breite Holzrahmen gefaßt wurden. Die weit über jedes einst denkbare Maß hinausgehenden mächtigen Scheiben in den D-Wagen haben als Rahmen nur schmale Leisten aus Metall, wodurch sie noch größer geworden sind.
Es muß dafür gesorgt werden, daß die beweglichen Scheiben in geschlossenem Zustand[270] so in die Türen oder Wände eingesetzt werden können, daß sie weder Staub noch Regen hindurchlassen. Aus diesem Grund laufen sie alle heute in tiefen Falzen, die eine seitliche Abdichtung hervorbringen. Das hochgezogene Fenster wird auf die Brüstung aufgesetzt, damit auch unten ein dichter Abschluß entsteht. Die immer mehr steigenden Ansprüche an die Fernhaltung äußerer Witterungseinflüsse haben zu Einrichtungen geführt, welche die Fenster mit Druck gegen die Hinterwand des Falzes pressen, in welcher Stellung sie sich auch befinden mögen. Wo solche beweglichen Druckrahmen angebracht sind, werden in der Tat, solange die Fenster geschlossen sind, Staub und Ruß gänzlich vom Wageninnern ferngehalten.
Man kommt bei der Bauart der Fenster den Reisenden sogar so weit entgegen, daß man ihnen die Mühe des Bewegens der oft allerdings sehr schweren Scheiben möglichst erleichtert. Wenn man eins der großen Fenstergläser im D-Wagen hinabläßt, so spannt man hierbei entweder starke Federn an oder zieht Gegengewichte empor. Beide Einrichtungen helfen alsdann beim Wiederanheben der Scheibe mit, so daß hierfür keine allzu große Kraftaufwendung nötig ist. Häufig sind die Hilfsvorrichtungen so ausgebildet, daß sie das Gewicht der Scheibe gerade ausgleichen. Diese bleibt alsdann in jeder Stellung stehen, ohne daß es nötig wäre, einen Riemen mit seinem Knopfloch über den dafür vorgesehenen Halter zu ziehen. Hierdurch sind die sehr beliebten riemenlosen Fenster entstanden, die noch eine Hebelvorrichtung zum Abheben des Druckrahmens in den Augenblicken der Fensterbewegung besitzen.
Damit die Öffnungen, in welche die Scheiben hinuntergleiten, von hineinfallenden Gegenständen und vom Staub leicht gereinigt werden können, sind dicht über dem Fußboden durch Klappen verschlossene Zugänge angebracht. In der gleichen Tiefe pflegen auf einer kräftigen Leiste Gummipuffer zu stehen, die den Aufprall der Scheibe bei raschem Hinunterlassen hemmen, so daß diese nicht zerspringt.
Die Fensteröffnungen dienen nicht nur dazu, Tageslicht in die Wagen einzulassen, sie haben auch in der Hauptsache die Luftzuführung zu besorgen. Zum großen Schmerz der Eisenbahntechniker sind die Fenster auch heute noch die wichtigste Lüftungseinrichtung. Denn es ist leider noch nicht gelungen, Vorrichtungen zu schaffen, die, wie es wünschenswert wäre, im Sommer kühle und vor allem von Staub- und Rußteilen befreite, im Winter vorgewärmte Luft in die Wagen schaffen. Der Betrieb künstlicher Lüftungseinrichtungen in Eisenbahnwagen, wie man sie heute wohl bauen könnte, würde allzu teuer sein, und man begnügt sich deshalb damit, die verbrauchte Luft absaugen zu lassen, worauf infolge des hierdurch entstehenden Unterdrucks Frischluft von draußen durch die Ritzen an Fenstern und Türen eindringt.
Die Saugvorrichtungen befinden sich auf den Wagendächern. Sie sind meist schornsteinähnlich und bezwecken nichts weiter, als den durch das Fahren erzeugten Wind zwischen zwei Flächen hindurchstreichen zu lassen, wobei er die Luft mitreißt, die sich in dem mit dem Wageninnern verbundenen Rohr befindet. Bei Fahrzeugen mit Mittelaufbauten sind die Schornsteinenden mit Öffnungen in den Seitenwänden der Aufsätze verbunden; diese können, nach dem Belieben der Reisenden, durch Klappen verengt oder ganz geschlossen werden. Bei Wagen mit gewölbtem Dach müssen besondere Lüftungsöffnungen in die Wölbung eingebaut werden. Auch über den Laternen pflegt man meist noch Lüftungsöffnungen anzubringen, die besonders lebhaft wirken, wenn die Lampe brennt und der aufsteigende warme Luftstrom die Bewegung in den Schornstein hinein verstärkt.
Es sind bereits Versuche gemacht worden, besondere Frischluftkanäle anzubringen, in[271] denen die zuströmende Luft durch Filter hindurchgehen muß. Aber wegen der vielen Unreinlichkeiten, die sich gerade in der Nähe von fahrenden Zügen in der Luft zu befinden pflegen, verstopfen sich die feinen Filteröffnungen allzu schnell, so daß sie bald keine Luft mehr hindurchlassen.
Sehr viel großartiger sind die Einrichtungen, welche die Warmhaltung der Wagen in der kalten Jahreszeit besorgen. Eine wirksame Heizung für Eisenbahnfahrzeuge muß sehr kräftig sein, weil die Wagen außerordentlich große Abkühlungsflächen besitzen, die noch dazu ständig einem scharfen Luftzug ausgesetzt sind. Außerdem werden die geheizten Räume durch das Öffnen der Türen nur allzu häufig mit der kalten Außenluft in unmittelbare Verbindung gebracht.
In den ersten Jahrzehnten des Eisenbahnwesens behalf man sich damit, den Reisenden durch das Aufstellen von Wärmkasten auf den Boden der Abteile wenigstens die Füße zu wärmen. Die Behälter waren entweder mit heißem Wasser oder mit erhitztem Sand gefüllt. Noch heute begnügt man sich in Ländern mit milder Witterung, wie in Südfrankreich oder in Italien, mit diesen Vorrichtungen, die aber auch noch in vielen belgischen Zügen den Fahrgästen genügen müssen.
Der nächste Schritt geschah durch das Einschieben von Blechkasten mit glühenden Kohlen unter die Bänke. Es ist selbstverständlich, daß auch hierdurch keine dauernde Erwärmung herbeigeführt werden konnte, wenn der Brennstoff nicht in kurzen Abständen erneuert wurde. Außerdem war die Kohleheizung nicht regelbar, im höchsten Grad feuergefährlich und sehr umständlich in der Bedienung. Besser ist bereits die Ofenheizung, die auch heute noch auf Nebenstrecken in großräumigen Fahrzeugen, wie Wagen der vierten Klasse oder dem Packwagen, üblich ist. Die Feuergefährlichkeit ist aber auch hier sehr groß.
Von den Einzelheizungen — im Gegensatz zu den durchlaufenden Zugheizungen — vermag den heutigen Ansprüchen nur noch die Warmwasserheizung zu genügen, wie sie für Schlaf- und Saalwagen angewendet wird. Sie stellt die bei weitem beste aller Erwärmungsvorkehrungen für Eisenbahnfahrzeuge dar. Ein Ofen ist auch hier notwendig. Aber da jeder dieser Öfen einen eigenen Wärter besitzt, so ist die Feuersgefahr gering, und sie wird noch dazu durch besonders ausgebildete Füllvorrichtungen gemindert.
In dem über der Feuerung des Ofens angebrachten Rohr steigt das erwärmte Wasser, das ja infolge der Ausdehnung leichter wird, zu einem Gefäß empor, das sich unter dem Wagendach befindet. Von hier läuft das heiße Wasser durch ein Röhrennetz den Heizkörpern in den einzelnen Abteilen und in den Gängen zu. Das abgekühlte Wasser gelangt wieder in den Ofen und steigt zu neuem Kreislauf empor. Die Einrichtung gleicht grundsätzlich den Warmwasser-Heizungen in den Häusern. Sie ist den herrschenden Witterungsverhältnissen ausgezeichnet anzupassen, da die Ofenfeuerung, und damit die Wasserwärme, stets entsprechend geregelt werden kann. Außerdem bewirkt das Verstellen der Hebel an den Heizkörpern in den Abteilen eine besonders wirksame Abstufung der Erwärmung.
Im allgemeinen Zugverkehr herrscht heute die für alle Wagen gemeinschaftliche, durchlaufende Dampfheizung vor. Der Betriebsstoff wird aus dem Lokomotivkessel entnommen, der eine reiche Quelle hierfür ist. Bei sehr langen Zügen und an besonders kalten Tagen werden häufig noch Heizkessel-Wagen an den Enden der Züge eingestellt, damit die Lokomotive nicht allzuviel Dampf abzugeben braucht. Bei sehr scharfem Frost kommt es sonst auch vor, daß die lange Leitung einfriert. Die Heizwagen enthalten nichts weiter als einen Kessel mit Feuerung und den notwendigsten Regel-Einrichtungen. Eine besondere[272] Bedienung ist freilich notwendig, was diese Zusatzheizung, abgesehen von der Vermehrung der Zugachsen, recht teuer macht.
Die Dampfheizung erfordert eine Rohrleitung, die von der Lokomotive aus unter allen Wagen hindurchgeht. Die Rohrstücke werden an den Wagenenden durch Schläuche miteinander verbunden. Für die Zugbildung ist dies recht lästig, da ja in der kalten Jahreszeit stets eine besondere Heizverbindung zwischen den einzelnen Wagen hergestellt werden muß. Die Schlauchkupplungen, die zugleich die tiefsten Stellen der Heizleitung darstellen, enthalten kleine Öffnungen, aus denen das Niederschlagwasser abtropfen kann.
Man unterscheidet drei Arten der Dampfheizung: Hochdruck-, Niederdruck- sowie vereinigte Hoch- und Niederdruck-Heizung.
Am einfachsten ist die Hochdruck-Heizung. Hier tritt der Dampf in walzenförmige Körper mit dem vollen Druck von drei bis vier Atmosphären ein, der in der Hauptleitung herrscht. Die der Leitung abgewendeten Enden der Körper liegen etwas höher, so daß das Niederschlagwasser in die Leitung ablaufen kann. Die Regelung des Wärmegrads im Abteil erfolgt durch die Reisenden, indem sie mittels eines Hebels Teile der Heizkörper von der Dampfzufuhr absperren. Die Wirkung der Hochdruck-Heizung ist nicht sehr angenehm, da die einzelnen Körper sehr heiß werden und die Insassen der Abteile durch strahlende Wärme belästigen. Außerdem verbrennt der auf ihnen lagernde Staub und erzeugt die im Halse kratzend wirkende Atmungsluft, die für gewöhnlich als „zu trocken“ bezeichnet wird. Das Anheizen geht ferner bei dieser Anordnung recht langsam vor sich, da die in den Körpern vorhandene Luft nur ganz allmählich durch den eindringenden Dampf hinausgedrückt wird.
Diese Nachteile fallen bei der Niederdruck-Heizung zum größten Teil fort. Mit Hilfe eines Druckminderungs-Ventils tritt der Dampf in die hierfür angeordneten, mehrfach gewundenen Heizschlangen nur mit einem kaum meßbaren Druck ein. Die Erhitzung der einzelnen Flächenteile wird dadurch geringer, so daß die lästige strahlende Wärme fortfällt. Die Enden der Niederdruck-Heizschlangen sind offen; sie laufen in zwei Rohre aus, von denen das eine unter den Boden hinab, das andere zum Dach des Wagens emporgeführt ist. Unten tropft das Niederschlagwasser ab, oben pflegt ein leichter Dampfhauch zu entweichen. In jedem Abteil sind zwei Heizschlangen von verschiedener Größe vorgesehen, so daß mit Hilfe des Regelhebels drei verschiedene[273] Wärmegrade eingestellt werden können, indem entweder nur die große, nur die kleine oder beide Schlangen geöffnet werden.
Für die hochgestellten Ansprüche in den D-Wagen genügt aber auch diese Regelung nach Dritteln der Heizfläche noch nicht. Man baut darum hier eine in feineren Stufen regelbare Heizung ein, die eine Vereinigung der beiden eben beschriebenen Arten darstellt.
In den Abteilen der D-Wagen befinden sich drei Heizkörper: eine große Niederdruck-Schlange, die 4⁄7, eine kleine, die 2⁄7 und ein Hochdruck-Heizkörper, der 1⁄7 der Heizfläche ausmacht. Die Wärme in dem Hochdruckkörper kann von den Reisenden durch Drehen des bekannten Hebels geregelt werden, wodurch Wärmeänderungen bis zu 5 Grad hervorgerufen werden können. Die Niederdruckheizung bildet einen durch den ganzen Wagen hindurchlaufenden Rohrstrang, dessen Wärmegrad vom Wagenwärter eingestellt wird. Dieser ist imstande, durch die Regelung des Druckminderungs-Ventils, indem er es ganz schließt, oder für drei verschiedene Drücke einstellt, vier Wärmeabstufungen herbeizuführen. Die Regelvorrichtung befindet sich im Gang und ist mit einem verschiebbaren Täfelchen versehen, an dem die Reisenden ohne weiteres ablesen können, für welche Außenwärme die Wagenheizung eingestellt ist. In dem Seitengang ist eine besondere Niederdruckheizung angebracht.
Gleich jedem ordentlichen festen Haus müssen auch die rollenden Häuser Vorrichtungen zu ihrer Beleuchtung besitzen.
Die Anschauung, daß in den Personenwagen während der Dunkelheit Lampen brennen müssen, hat nicht immer geherrscht. In dem ersten Jahrzehnt ihres Bestehens sträubten sich die deutschen Eisenbahngesellschaften überhaupt dagegen, Nachtzüge fahren zu lassen, da ihnen dies infolge der mangelhaften Sicherheits-Einrichtungen zu gewagt schien. Als der immer mehr sich steigernde Verkehr sie jedoch schließlich hierzu zwang, wollten sie die Mehrausgaben für Beleuchtung gern vermeiden. In Preußen mußte diese notwendige und wohltätige Einrichtung erst durch Eingreifen des Königs Friedrich Wilhelm IV. erzwungen werden.
Der Kabinetts-Minister von Bodelschwingh sah sich auf Geheiß des Königs veranlaßt, am 11. November 1844 das folgende Schreiben an die Minister des Innern und der Finanzen zu richten: „Des Königs Majestät halten es der Sicherheit und des Anstands wegen für wünschenswert, daß die Eisenbahnwagen während der nächtlichen Züge erleuchtet werden und haben mir aufgetragen, Eure Exzellenzen auf diesen Gegenstand unter dem Ersuchen aufmerksam zu machen, entweder Anordnungen in diesem Sinn zu treffen oder sich gegen Seine Majestät über die etwaigen Hindernisse äußern zu wollen.“ Solche Hindernisse traten in der Tat noch auf, und einige Verwaltungen konnten erst durch Ordnungsstrafen zur Einführung der Beleuchtung in den Personenwagen gezwungen werden.
In dem Buchteil über die Geschichte der Eisenbahn haben wir bereits gehört, daß die erste Eisenbahn-Beleuchtung aus einer Kerze bestand, die ein mildherziger Beamter der Stockton-Darlington-Bahn in einem von Pferden gezogenen Wagen auf den darin aufgestellten Tisch klebte. Auch in Deutschland wurden im Anfang Kerzen benutzt, die nicht lange nachher durch Rüböl-Lampen ersetzt wurden. Petroleum wurde als zu gefährlich angesehen und fand keine größere Verwendung.
Die neuzeitliche Eisenbahnwagen-Beleuchtung beginnt erst mit den Arbeiten des deutschen Ingenieurs Julius Pintsch, der sich ein außerordentliches Verdienst um diesen Gegenstand erworben hat. Die Erzeugnisse der großen, von ihm begründeten Berliner[274] Fabrik werden heute in aller Herren Länder in größter Zahl verwendet. Pintsch führte die Gasbeleuchtung in den Eisenbahnbetrieb ein.
Die Aufgabe war deshalb schwer zu lösen, weil erst ein Gas geschaffen werden mußte, das sich kräftig zusammenpressen ließ, ohne dadurch an Leuchtkraft zu verlieren. Denn die Gasbehälter, die unter den Wagen angebracht werden können, müssen klein sein, weshalb sie einen genügenden Vorrat von Gas nur mitzunehmen vermögen, wenn dieses in zusammengepreßtem Zustand eingefüllt wird.
Pintsch erfand im Jahre 1867 das Fettgas, welches alle für die Wagenbeleuchtung erwünschten Eigenschaften besitzt. Es wird aus flüssigen Fettstoffen, aus Petroleumrückständen oder Paraffinöl, in Deutschland zumeist aus den bei Vergasung der Braunkohle zurückbleibenden Teerölen gewonnen. Seit dem Jahre 1870 begann der Siegeslauf der Fettgasbeleuchtung. Man führt den Brennstoff den Behältern unter den Wagenkasten entweder von festen Füllstellen her zu oder bringt ihn in besonderen fahrbaren Gasbehältern auf solche Bahnhöfe, die keine eigenen Erzeugungsanstalten besitzen. Diese Gaswagen mit ihren meist drei sehr großen, walzenförmigen Behältern sind überall auf den Bahnhöfen zu sehen.
Der kleine Gasbehälter, der unter jedem Wagen mit Gasbeleuchtung zwischen den Achsen angebracht ist, nimmt Brennstoff für 30 bis 40 Leuchtstunden auf. In den Lampen selbst kann das Gas mit dem Behälterdruck von 6 Atmosphären nicht verwendet werden. Es ist notwendig, die Pressung zu vermindern,[275] und das gibt gleichzeitig Gelegenheit, ein gleichmäßiges Brennen der Flammen trotz der allmählich eintretenden Entspannung im Behälter herbeizuführen. Es ist das große Verdienst von Pintsch, einen Druckregler für diesen Zweck geschaffen zu haben, der den Gasstrom zu den Flammen auf immer gleichen Druck bringt und trotz seiner aufs feinste wirkenden Teile gegen die starken bei Eisenbahnwagen auftretenden Erschütterungen ganz unempfindlich ist.
Dieser Druckregler, den unser Bild 228 darstellt, ist folgendermaßen gebaut. Er besteht aus einem gußeisernen Topf, von dem die Gasleitung zu den Lampen abgeht, und der oben mit einer Lederhaut abgeschlossen ist. Diese wird gegen äußere Angriffe durch einen übergelegten eisernen Deckel geschützt. An der Lederhaut A ist die Stange B angebracht, die einen unter Druck der Feder D stehenden Hebel C bewegen kann. Dieser Hebel C wirkt durch seine Bewegung auf ein Ventil ein, das den Zufluß des Gases aus dem Hauptbehälter in den Reglertopf beeinflußt. Wenn in dem Topf der Gasdruck herrscht, der für die Lampen der geeignetste ist, so wird die Lederhaut A etwas nach oben gedrückt, die Stange B zieht an, und der Hebel C verschließt das Zuflußventil. Sinkt der Druck im Reglertopf, so läßt C mittels seines Ventils ein wenig Gas aus dem Behälter nachströmen. Auf diese Weise herrscht in der Leitung zu den Lampen stets der gleiche Druck, wenn sich die Pressung im Behälter auch stark mindert.
Als das Azetylen erfunden war, mischte man dieses dem Fettgas bei. Vom Jahre 1900 ab wurde dieses Mischgas überall verwendet und mit ihm eine 15mal größere Leuchtkraft in den gleichen Brennern erzielt, wie sie für das Fettgas verwendet wurden. Der Preis für die Kerzenstunde sank auf die Hälfte.
Eine weitere, sehr bedeutende Verbesserung der Gasbeleuchtung in Eisenbahnwagen brachte die Einführung des Glühlichts, nachdem es gelungen war, die von Auer von Welsbach erfundenen Glühstrümpfe so haltbar zu machen, daß sie starke Erschütterungen auszuhalten vermögen. Zunächst verwendete man stehende Glühlichtbrenner; sie gewährten jedoch wegen des starken Schattens, den die Brennerarme nach unten warfen, keine volle Befriedigung. Die heutige vorzügliche Gasbeleuchtung in Eisenbahnwagen ist erst vorhanden, seit geeignete Bauarten hängender Glühlichtkörper erfunden sind. Bei Verwendung von Glühkörpern ist zur Erzielung einer bedeutenden Lichtstärke die Beimischung des teuren Azetylens zum Fettgas nicht mehr notwendig. Seit 1909 sind denn auch im Bereich der preußischen Eisenbahnverwaltung die Betriebe der Mischgas-Anstalten eingestellt worden; man ist seitdem wieder zum reinen Fettgas zurückgekehrt. Trotzdem ist seither die Lichtstärke in allen Wagenklassen, ohne Erhöhung der Betriebskosten, wiederum etwa auf das doppelte gestiegen.
Diese kurze Betrachtung über die geschichtliche Entwicklung der Gasbeleuchtung zeigt deutlich, wie rasch die Technik unserer Tage arbeitet. Die eine Verbesserung wird schon nach kurzer Zeit von der folgenden überholt. Wie wenige andere technische Verwaltungen sind die Eisenbahnbetriebe gezwungen, allen auftretenden Neuerungen Beachtung zuzuwenden. Sie müssen sie aufs genaueste prüfen und dürfen selbst vor sehr hohen Umänderungskosten nicht zurückscheuen, sobald die Neuerung erfolgversprechend erscheint. Die Ausgaben, welche durch Einbau der immer neu gestalteten Gasbeleuchtungsarten entstanden, haben sich durch Betriebsersparnisse mehrfach bezahlt gemacht.
Seit mehr als einem Jahrzehnt ist nun der Gasbeleuchtung in allen ihren Formen ein neuer Mitbewerber in Gestalt der elektrischen Beleuchtung erstanden. Das Gas herrscht heute in den Eisenbahnwagen noch vor, und es ist keineswegs schon jetzt abzusehen,[276] wann sein Gegner die Überhand gewinnen wird. Die elektrische Beleuchtung für Eisenbahnwagen ist heute noch bedeutend weniger einfach, als die Anordnungen für die ältere Lichtart. Die Kosten für die Kerzenstunde sind noch nicht geringer, die Ausgaben für die notwendigen Einrichtungen an jedem einzelnen Wagen bedeutend höher. Doch auch auf diesem Gebiet werden wir sicher rasch vorwärtskommen, und einstens wird der Tag oder, richtiger, der Abend da sein, an dem die elektrische Beleuchtung als Siegerin dastehen wird.
So ausgezeichnete Dienste das Gaslicht bei der Eisenbahn geleistet hat und noch heute in weitestem Maß leistet, ist dennoch seine Ersetzung durch elektrisches Licht aus verschiedenen Gründen wünschenswert.
Insbesondere würde die Feuersicherheit in den Wagen bedeutend erhöht werden. Die Brände, welche häufig nach Unfällen ausbrechen und die zwischen den Wagentrümmern eingeklemmten, manchmal gänzlich unbeschädigten Reisenden aufs schwerste gefährden, haben ihre Ursache häufig in der Entzündung des mitgeführten Leuchtgases, in das beim Ausströmen aus den beschädigten Behältern ein Funke fällt. Der elektrische Strom kann in dieser unheilvollen Weise nicht wirken. Zwar bergen elektrische Anlagen stets die bekannte Kurzschlußgefahr in sich. Aber gerade bei der Eisenbahnwagenbeleuchtung ist diese am allerwenigsten zu fürchten, da infolge der sehr kurzen Entfernung von der Erzeugungsstelle mit einer sehr niedrigen Spannung — gewöhnlich 32 Volt — gearbeitet werden kann.
Bei Anwendung der elektrischen Beleuchtung braucht die Lichtquelle jedes Abteils nicht mehr aus einem einzigen Körper zu bestehen, sondern die Lampen können zerstreut angebracht werden, was das Lesen sehr viel bequemer macht. Als die Mischgasbeleuchtung noch herrschte, hatte man aus dieser Erkenntnis heraus bei einer großen Reihe von D-Wagen in den Abteilen erster und zweiter Klasse bereits elektrische Leselampen hinter den Sitzen angebracht. Seit Einführung des sehr viel kräftiger wirkenden Gasglühlichts sind diese Zusatzlampen, da sie nicht mehr notwendig erschienen, wieder beseitigt worden.
Die Einschaltung der elektrischen Beleuchtung kann für jeden Wagen von einer einzigen Stelle aus bewirkt werden, ohne daß es notwendig wäre, wie beim Gas, Zündflammen zu unterhalten, die immerhin durch ihre sehr bedeutende Gesamtzahl einen nicht geringen Gasverbrauch haben. Die Erfindung der Metallfadenlampe mit ihrem geringen Stromverbrauch hat die Verbreitung der elektrischen Beleuchtung im Eisenbahnbetrieb bereits bedeutend gefördert.
Es ist selbstverständlich nicht daran zu denken, den mit Dampf betriebenen Zügen Elektrizität für die Beleuchtung dadurch zuzuführen, daß neben den Geleisen feste Leitungen verlegt werden, von denen der Strom mittels Gleitschuhen abgenommen wird. Ein Leitungsnetz von so ungeheurer Ausdehnung allein für diesen nebensächlichen Zweck zu schaffen, wäre viel zu kostspielig.
Selbst die durchgehende Beleuchtung geschlossener Züge von einer gemeinsamen, mitgeführten Stromquelle aus hat vorläufig keine Hoffnung auf weitere Verbreitung. Man hat Versuche auf diesem Gebiet gemacht, indem man auf der Lokomotive einen kleinen, durch besondere Dampfturbine angetriebenen Erzeuger aufstellte. Es hat sich jedoch herausgestellt, daß eine weitere Belastung der ohnedies stark angestrengten Lokomotivmannschaft durch diese neue Anordnung nicht zulässig war. Insbesondere aber ist, sowohl bei Aufstellung des Erzeugers auf der Lokomotive wie im Packwagen, was auch bereits oft versucht worden ist, die Führung zweier Leitungen über den ganzen Zug notwendig. Das Kuppeln, bei dem heute schon außer der Zusammenfügung der eigentlichen Zugverbindungsglieder[277] die Herstellung der durchlaufenden Brems- und Heizleitungen notwendig ist, wird dadurch weiter erschwert, was sich wegen der notwendigen Schnelligkeit bei der Zugabfertigung als äußerst störend erwiesen hat. Es wäre ferner notwendig, jeden Wagen, der für geschlossene Zugbeleuchtung eingerichtet ist, auch mit allen Vorkehrungen für Gaslicht zu versehen, da die Wagen ja nicht stets im gleichen Zug bleiben, sondern die Fähigkeit haben müssen, in verschiedene Züge eingestellt zu werden, wo sie durchaus nicht immer Vorkehrungen für elektrische Beleuchtung vorfinden. Will man die doppelte Beleuchtungs-Einrichtung vermeiden, so hört die Freizügigkeit der Wagen auf, was keineswegs zulässig ist.
So wird denn heute bei der elektrischen Beleuchtung der Hauptwert auf Einrichtungen für Einzelwagen-Beleuchtung gelegt. Am einfachsten sind die hierfür notwendigen Vorrichtungen, wenn man den Strom Speicherbatterien entnimmt, die unter dem Wagenkasten bequem aufgestellt werden können. Die Einzelzellen solcher Batterien werden meist in Kasten aus Hartgummi untergebracht. Man kann die Batterien, wenn sie entladen sind, entweder rasch gegen voll aufgeladene auswechseln oder ihre Kraft an vorgesehenen Ladestellen erneuern. Der erste Vorgang ist sehr beschwerlich, da die Zellen großes Gewicht haben, bei der zweiten Art muß der betreffende Wagen eine Zeit lang aus dem[278] Betrieb gezogen werden. Trotzdem hat sich die Einzelwagen-Beleuchtung durch Speicherbatterien bereits bei manchen Sonderfahrzeugen bewährt, die ohnedies nicht ständig zu laufen pflegen, wie bei Bahn-Postwagen und bei Schlafwagen.
Bei Schlafwagen sind die Vorzüge der elektrischen Beleuchtung besonders groß. Es wird dadurch die Gefahr beseitigt, welche durch Ausströmen selbst sehr geringer Gasmengen in den engen Abteilen entstehen kann. Ferner verschwindet jeglicher Geruch, und es wird das Anbringen beweglicher Lampen möglich, das gerade hier sehr erwünscht ist. Gewöhnlich schließt man noch einen elektrischen Kocher im Dienstabteil an, auf dem der Wärter Morgenkaffee für die Reisenden bereiten kann.
Bei reiner Speicherbeleuchtung würde aber der freie Umlauf gewöhnlicher Abteilwagen allzu sehr eingeschränkt werden, da sie ja von Zeit zu Zeit außer Betrieb gestellt werden müßten, und vor allem, weil sie von Ladestellen abhängig würden. Aus diesem Grund versieht man jeden solcher Wagen, der mit elektrischer Beleuchtung ausgerüstet ist, mit einem eigenen Stromerzeuger; dessen Antrieb erfolgt durch eine Wagenachse. Da diese aber weder gleichmäßig noch ständig in Bewegung ist, so leuchtet ohne weiteres ein, daß besondere Vorkehrungen zur Herbeiführung eines gleichmäßig brennenden Lichts getroffen werden müssen.
Die elektrische Einzelwagen-Beleuchtung mit Stromerzeuger hat denn auch zum Bau höchst sinnreicher und mannigfaltiger Vorrichtungen geführt, die insbesondere deshalb höchst bewundernswert erscheinen, weil sie gestatten, die Schaltungen und Regelungen verschiedenster Art, die hier notwendig sind, mittels verhältnismäßig sehr einfacher, selbsttätiger Vorrichtungen zu bewirken.
Der Strom wird von den Erzeugern nicht immer unmittelbar den Lampen zugeführt, sondern es werden durch die Maschine stets ein oder zwei Speicherbatterien aufgeladen, welche die Speisung der Lampen während des größten Teils der Fahrt übernehmen. In Deutschland sind insbesondere zwei Bauarten für diese Beleuchtungsart in reger Anwendung: die der Gesellschaft für elektrische Zugbeleuchtung und die Bauart Pintsch-Grob.
Die Gesellschaft für elektrische Zugbeleuchtung verwendet nur Eine Speicherbatterie. Zum Aufladen dient eine Rosenberg-Maschine, die an der Stirnseite eines Drehgestells aufgehängt und durch Riemen mit einer Wagenachse verbunden ist. Sie liefert trotz der wechselnden Geschwindigkeiten der Wagenachsen, und obgleich diese ja in kehrenden Richtungen laufen, stets Strom gleicher Spannung und gleicher Richtung, wie es für Gesundhaltung der Batteriezellen notwendig ist. Wenn die Batterie genügend stark aufgeladen ist, schaltet sie sich selbsttätig ab. Solch ein Abschalten ist aber auch dann notwendig, wenn bei noch nicht vollständig aufgeladener Batterie der Zug stehen bleibt. Denn in solchem Fall würde ja Strom aus der Batterie in die Maschine fließen, was unbedingt vermieden werden muß. Ein besonderer Apparat verhindert, gleichfalls selbsttätig, diesen Vorgang.
Würde man die Lampen in den Abteilen ohne weiteres von der Batterie aus speisen lassen, während die Maschine diese fortwährend nachladet, so würden die Reisenden ein starkes Schwanken der Lichtstärke wahrnehmen. Eine Regelung ist also auch hier notwendig. Sie geschieht durch Vorschalten von Eisendrahtwiderständen bei jeder Lampe. Eisen hat die Eigenschaft, seinen Widerstand sehr stark zu erhöhen, wenn es in der Nähe der Rotglut weiter erhitzt wird. Man sorgt daher dafür, daß die Eisendrahtwiderstände bei der gewünschten Lichtstärke jeder Lampe so heiß werden, daß sie fast zu glühen beginnen. Steigt jetzt die Spannung in der Zuleitung an, so verzehren die Eisendrahtwiderstände[279] den Überschuß, und das Licht bleibt unverändert. Die Widerstände werden in lampenähnlichen Glasgefäßen untergebracht, die mit Wasserstoff gefüllt sind.
Bei der Bauart Pintsch-Grob kommen zwei Speicherbatterien zur Anwendung. Hier wird der Lampenstrom den Batterien nur solange entnommen, wie die Zuggeschwindigkeit unter einem bestimmten Maß bleibt. Alsdann legt die Fliehkraft zweier sich drehender Gewichte die Leitung so um, daß die Maschine unmittelbar an die Lampen geschaltet, und gleichzeitig eine der beiden Batterien wieder aufgeladen wird. Bei jedem Stillstand des Zugs wird an die Stelle der bis dahin aufgeladenen Batterie selbsttätig die andere gesetzt, so daß beide ständig genügende Ladung besitzen.
Die Fortschritte, welche im Lauf der Jahrzehnte im Bau der Personenwagen gemacht worden sind, werden am besten durch die Zunahme der sogenannten toten Last gekennzeichnet. Man bezeichnet damit die Zahl der Kilogramme, die sich ergibt, wenn man das Gesamtgewicht eines Wagens durch die Anzahl der vorhandenen Plätze teilt. In den älteren zweiachsigen Wagen der preußisch-hessischen Staatseisenbahnen beträgt das tote Gewicht für jeden Platz etwa 500 Kilogramm, in den dreiachsigen Wagen schon 800 Kilogramm, in den vierachsigen D-Wagen sind mehr als 1100 Kilo für jeden Platz mitzuschleppen, bei den sechsachsigen Schlafwagen steigt die tote Last gar auf über 1400 Kilogramm. Wenn man bedenkt, daß ein erwachsener Mensch im Durchschnitt 70 Kilogramm wiegt, so geht hieraus deutlich hervor, welche Verschwendung getrieben wird, um ein möglichst angenehmes Fahren zu erzielen.
Die Ausstattung der rollenden Häuser ist eben allmählich sehr stark verbessert worden, und jede Verbesserung bringt eine Erhöhung des Gewichts mit sich. In dieser Entwicklung sind wir bei uns durchaus noch nicht an der Grenze angelangt. Überschreitet doch die tote Last in den besonders großartigen Saalwagen der amerikanischen Pennsylvania-Bahn, die dem gewöhnlichen Tagesverkehr dienen, 1700 Kilogramm für den Platz.
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Nicht immer rollen Züge über die Strecke, aus deren hellen Fenstern Menschenaugen neugierig in die Landschaft hinausblicken. Nicht jedesmal, wenn die Schienen unter der Last eines darüberbrausenden Zugs erdröhnen, zieht eine feurige, kühn dahinbrausende Lokomotive eine gleichmäßig gebaute Reihe wohlgeformter rollender Häuser hinter sich.
Die Geleise haben nicht nur die Aufgabe, Menschen rasch von einem Erdenwinkel zum anderen zu befördern, sie werden in weit stärkerem Maß noch zum Austausch der Güter benutzt, die zur Aufrechterhaltung des menschlichen Lebens und der menschlichen Tätigkeit dienen.
Im ersten Abschnitt dieses Buchs ist bereits darauf hingewiesen worden, daß mehr als 64 vom Hundert der Einnahmen bei den deutschen Eisenbahnen aus dem Güterverkehr stammen. Dieser überragt also den Personenverkehr ganz bedeutend. Auf den[281] großen Durchgangsstrecken insbesondere sieht man viel häufiger, als das blendende Schauspiel des mit fast unglaubwürdiger Geschwindigkeit vorüberstürmenden Schnellzugs sich zeigt, eine unabsehbar lange Wagenkette langsam und keuchend herankommen. Die Fahrzeuge sind nicht gleichmäßig geformt. Die Dachkanten solcher Züge erinnern nicht mehr, wie bei den für Menschenbeförderung bestimmten, an die glatte Linie, in der etwa die Kimm, die Trefflinie von Himmel und Wasser, das Gesichtsfeld auf dem Meer abschneidet, sie ähneln jetzt dem arg zerrissenen Rücken eines Gebirges, das in der Ferne zu den Wolken ragt. Jäh steigt die Dachlinie aufwärts und abwärts. Hochgetürmte Wagen wechseln mit niedrigen Fahrzeugen ab, Eckiges folgt auf Wohlgerundetes; hier ist festgestopftes Heu mit einer mächtigen Leinwanddecke umhüllt, dort hebt eine landwirtschaftliche Maschine ihren eigentümlich geformten, nackten Arm in die Höhe. Der finsteren Schwärze des Kohlenwagens folgt das brennende Rot geschichteter Ziegelsteine, hinter der wuchtigen Schwere eines roh gegossenen Maschinenrahmens, der allein einen ganzen Wagen einnimmt, rollt ein heiteres Völkchen eng geschichteter Rüben.
Im Gegensatz zu der flinken Munterkeit der Personenzüge fährt der Güterzug ernst und streng über den trostlos grauen Bahndamm. Kein freundliches Lämpchen wirft des Nachts seinen Schein hinaus, schweigend und schwerfällig zieht er mit klirrenden Kupplungen seinen Weg. Sobald er einen Schnellzug in seinem Rücken weiß, geht er ihm scheu und ängstlich aus dem Weg. Die hellen, wohlgepflegten Bahnsteige sind für den Lastenschlepper nicht vorhanden; als wäre er ihm feindlich gesinnt, lenkt der Stellwerkswärter den Zug vor jedem Bahnhof durch Abzweigstellung der Weichen hinüber in das krause Gestrüpp der Verschiebegeleise. Was den Güterwagen entsteigt, wird nicht mit Blumensträußen und freundlichen Grüßen empfangen, sondern von harten Händen rauh herausgerissen und mühsam in Schuppen oder auf Fuhrwerke gewälzt.
Während die Schnellzüge hundert Kilometer in der Stunde durchfahren, die Personenzüge 60 bis 70, müssen sich die Güter mit einer stündlichen Fahrgeschwindigkeit von nur 30 bis 40 Kilometern begnügen.
Dafür aber ist der Wagenpark, der ihnen für ihre Reisen zur Verfügung steht, von überraschendster Mannigfaltigkeit. Man unterscheidet drei Hauptarten von Güterwagen: bedeckte, offene und für besondere Zwecke bestimmte. Aber innerhalb jeder dieser Gattungen gibt es die zahlreichsten Einzelformen. Rollen doch im Güterverkehr nicht nur Wagen, die den Eisenbahngesellschaften gehören, sondern auch solche, die von anderen Besitzern erbaut und in Betrieb gegeben werden. Sie zeigen, ihren sehr verschiedenartigen Bestimmungen und Fähigkeiten entsprechend, alle erdenklichen Bildungen. Freilich werden von den Bahngesellschaften Privatwagen nur unter besonderen Bedingungen zugelassen; sie müssen ganz genauen Vorschriften unterliegen, denn wir wissen ja heute sehr genau, daß der „freie Wettbewerb auf der Schiene“ ein Unding ist.
Der allgemeinen Benutzung sind ferner die Bahndienstwagen entzogen, die von den Bahngesellschaften selbst für den inneren Betrieb erbaut und verwendet werden.
Während sämtliche Personenwagen mit Bremsen versehen sein müssen, gibt es unter den Güterwagen einen sehr großen Teil, der gar keine Hemmvorrichtungen besitzt. Die Bremswagen wieder zerfallen in solche mit durchgehender Bremse und andere, die nur mit einzeln zu betätigender Hemmeinrichtung versehen sind. Die bremslosen Wagen besitzen häufig Leitungen, die ihre Einstellung in Züge mit durchgehender Bremse gestatten, ohne daß durch sie die von der Lokomotive bis zum Zugschluß laufende Druckluftleitung unterbrochen wird.
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Das wichtigste Merkmal eines jeden Güterwagens ist das für ihn zugelassene Ladegewicht. Es besteht auf allen deutschen Bahnen daher die Vorschrift, daß es durch deutliche Aufschriften auf beiden Langseiten angegeben sein muß. Güterwagen mit zulässigem Ladegewicht unter 15 000 Kilogramm werden heute in Deutschland kaum noch gebaut. Bei den offenen Wagen werden solche mit 20 000 Kilogramm Ladefähigkeit, insbesondere für Kohlenbeförderung, immer beliebter. Plattformwagen für Lasten von 30 000 und 35 000 Kilogramm sind keine Seltenheit mehr. Bei der Bestimmung der Achszahl für Güterwagen mit so hohen Ladegewichten muß natürlich darauf Rücksicht genommen werden, daß der höchste zulässige Achsdruck niemals überschritten wird. Zwar herrscht heute im Güterwagenpark der Zweiachser noch vor; sehr häufig ist aber bereits in Rücksicht auf die Einstellbarkeit in die rascher fahrenden Personenzüge der Dreiachser, und auch[283] Wagen mit zwei zweiachsigen Drehgestellen sind keineswegs mehr auffallende Erscheinungen. Für die Beweglichkeit der Achsen im Gleis gilt dasselbe, was bereits in dem Abschnitt über die Personenwagen gesagt wurde.
Die Bauart der Güterwagen ist sehr viel einfacher als die von Fahrzeugen für Personenbeförderung. Die Wände werden bei den bedeckten Wagen zum größten Teil aus Winkel- oder ähnlichen Formeisen zusammengenietet und mit schmalen, wagerecht liegenden Brettern verschalt, die hinter dem Eisengerüst angebracht sind. Damit Luft auch bei geschlossenen Türen in den Wagen gelangen kann, werden zwei bis vier schmale Öffnungen dicht unter dem Dach angebracht, die durch Klappen verschlossen werden können.
Es ist bekannt, daß die bedeckten Güterwagen im Krieg eine wichtige Rolle bei der Beförderung von Mannschaften und Pferden spielen. Ihre Beladungsfähigkeit für diese Fälle ist schon im Frieden durch Aufschriften gekennzeichnet, z. B. 48 Mann oder 6 Pferde. Vorrichtungen zum Aufstellen einfacher Holzbänke und zum Anhängen von Gepäck sind stets vorhanden, desgleichen auch, wie in sämtlichen Abteilen der Personenwagen, ein eiserner Stutzen zum Anbringen einer Laterne.
Im Frieden dienen die bedeckten Wagen zur Beförderung von Tieren und von solchen Gütern, die vor Witterungseinflüssen geschützt werden müssen. Sie sind verschließbar, so daß Entwendungen während der Beförderung ohne gewaltsamen Eingriff nicht stattfinden können. Die Fahrzeuge geben auch Gelegenheit, Waren unter festem Zollverschluß über die Landesgrenzen hinauszuführen.
Unter den bedeckten Wagen gibt es ein Geschlecht der Riesen. Es sind die allgemein mit dem Namen Hohlglaswagen bezeichneten Fahrzeuge, die zur Beförderung besonders sperriger Güter dienen. Beim Verladen von Glasgefäßen gleicher Form, die nicht ineinander gestellt werden können, ist es bei gewöhnlichen Ausmaßen der Wagen nicht möglich, ihre Tragfähigkeit auszunutzen. Das gleiche gilt für die Beförderung von Papierhülsen, Spielwaren, Strohhüllen und ähnlichem. Aus diesem Grund werden Wagen, die solchen Zwecken dienen, möglichst breit und möglichst hoch gemacht. Im Krieg haben sich die Hohlglaswagen an der Front und in der Etappe besonderer Vorliebe zu erfreuen gehabt. Überall, wo Truppenteile längere Zeit in Eisenbahnwagen wohnen mußten, was sehr häufig vorkam, suchte jede Abteilung, sich nach Möglichkeit großräumige Wagen zu sichern, weil der Aufenthalt in diesen selbstverständlich sehr viel bequemer ist.
Vorzüglich ausgestattet sind bedeckte Wagen, die zur Beförderung von Renn- und edlen Reitpferden dienen. Sie haben stark gepolsterte Wände. Durch Aufstellen von gleichfalls gepolsterten Scheidewänden können zwei bis drei Einzelställe hergerichtet werden, die mit Futtertrögen ausgerüstet sind. Derartige Wagen enthalten gewöhnlich auch ein gut eingerichtetes Abteil für die Begleiter. Die Fahrzeuge sind mit allen nötigen Vorrichtungen, wie Druckluftbremse und Heizleitung versehen, damit sie auch in Schnellzüge eingestellt werden können. Güter, die durch Wärmeeinwirkung leicht verderben können, werden in Wärmeschutzwagen befördert. Es kommen hierfür insbesondere Versendungen von Bier, Milch, feinem Obst und anderen Eßwaren in Betracht. Zwei- und dreifach verschalte Dächer halten die Sonnenstrahlung ab. Wände und Böden sind gleichfalls doppelt ausgeführt, und die Zwischenräume der Verschalungen mit Stoffen wie Kieselgur oder Torfstreu ausgefüllt, welche die Wärme schlecht leiten. Besondere Behälter gestatten das Einlegen von Eis. Bayern besitzt allein 2000 Bierwagen solcher Art. Damit auch der Frost keine schädliche Wirkung ausüben kann, sind die Wagen zum großen Teil mit Heizvorrichtungen für Kohlefeuerung versehen.
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Fischwagen enthalten große Wasserbehälter aus Metall, die durch Scheidewände in mehrere Abteilungen zerlegt sind, damit nicht die ganze Wassermasse auf einmal ins Schwanken geraten und schädliche Schläge ausführen kann. Die Fischbehälter haben oft einen Inhalt von 20 Kubikmetern. Eine meist durch Benzinmotor angetriebene Pumpe sorgt dafür, daß das Wasser sich in ständigem Umlauf befindet und mit frischer Luft durchsetzt wird.
Zur Versendung von Kleinvieh ist eine große Zahl bedeckter Wagen mit einem zweiten Boden in halber Höhe versehen. Zwei weitere Böden können rasch durch bereit gehaltene Bretter hergestellt werden, so daß Gänse oder anderes Geflügel in großer Zahl darin untergebracht werden können. Wenn die Tiere über längere Strecken befördert werden müssen, werden Wagen verwendet, die ein Betreten des Innern zur Vornahme der Fütterung und Tränkung gestatten.
Eine besondere Art vollkommen geschlossener Eisenbahnfahrzeuge stellen die Kesselwagen dar. In ihnen werden Flüssigkeiten befördert. Die Kesselwagen haben große Bedeutung für das chemische Gewerbe. Petroleum, Benzin, Treiböl, Teer, Teeröl, Terpentin können in ihnen bequem versandt werden. In Wüstengegenden werden sie auch vielfach zur Beförderung von Wasser verwendet. Auch die bei der Beleuchtung der Personenwagen erwähnten Gaswagen sind betrieblich dieser Gattung zuzurechnen. Das Füllen erfolgt durch einen oben aufgesetzten Dom, die Entleerung durch ein Bodenventil. Damit dicke Flüssigkeiten, wie z. B. Teer, rascher auslaufen, sind Heizvorrichtungen angebracht. Säuren werden sehr geschwind durch Einlassen von Druckluft hinausgeschafft, Spiritus durch[285] Pumpen ausgesaugt. Damit die Dämpfe, die sich aus den Flüssigkeiten häufig bilden, die Kesselwagen nicht sprengen können, sind Sicherheitsventile vorgesehen. Zur Verhinderung von Schlägen durch ungehemmte Bewegungen des Inhalts werden Querwände eingebaut.
Säuren, die imstande sind, Metallwände anzufressen, werden in großen Steintöpfen befördert. Diese stellt man mit Hilfe hölzerner Gerüste sehr fest und unverrückbar auf. Kalk und Salz reisen in Fahrzeugen, die im allgemeinen wie offene gebaut, aber durch Klappdeckel zu verschließen sind.
Auf jedem größeren Bahnhof werden ständig Hilfszüge in Bereitschaft gehalten, die bei einem Unfall stets sofort abfahren können und die zu raschen Hilfeleistungen notwendigen Vorkehrungen enthalten. Die wichtigsten Teile dieser Hilfszüge sind der Arzt- und der Gerätewagen. Der erste enthält einen kleinen Operationsraum, sowie eine Apotheke und Lagerstätten, in dem anderen sind Ketten, Winden, Beile, Schraubenschlüssel und viel anderes Werkzeug sowie eine kleine Feldschmiede untergebracht. Zur Herrichtung der Hilfszüge werden ausschließlich bedeckte Güterwagen verwendet.
Teils zum Güter-, teils zum Personenwagenpark gehören die Packwagen. Sie dienen vor allem zur Unterbringung des Gepäcks der Reisenden, enthalten aber außerdem noch den Dienstraum für den Zugführer. Der Fußboden ist hier so hoch gelegt, daß der Zugführer von seinem Arbeitsplatz, der aus Polstersessel und Tisch besteht, den ganzen Zug und die Strecke durch die Seitenfenster eines besonderen Aufbaus überschauen kann.
Der weitaus größte Teil des Güterwagenparks der deutschen Bahnen besteht aus offenen Wagen. In ihnen werden alle Güter versendet, die gegen Witterungseinflüsse, gegen Regen und Staub nicht sehr empfindlich sind. Ein gewisser Schutz kann den so beförderten Waren auch dadurch gewährt werden, daß man sie mit Plandecken einhüllt. Die Eisenbahnverwaltungen halten diese Decken in großer Zahl vorrätig.
Betrieblich sind offene Wagen sehr viel bequemer als bedeckte, denn man kann sie von oben her beladen, indem man schwere Laststücke durch Kräne einbringt, Erz, Kohle, Sand oder Getreide durch Schüttrinnen. Bedeckte Wagen lassen nur Beladung von der Seite her zu, weshalb bei ihnen am häufigsten das Einkarren des Guts stattfindet, das eigentlich keine neuzeitliche Förderungsart mehr ist.
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Man unterscheidet bei den offenen Wagen hochbordige, niederbordige und bordlose; die letzten besitzen an Stelle der Seitenwände zum Befestigen der Plantücher oder zum Anbinden häufig einzelne Stangen oder Rungen, die herausnehmbar sind.
Die Bordwagen sind zur bequemen Entladung gewöhnlich mit doppelten Flügeltüren an jeder Längswand versehen. Sie werden in außerordentlich großer Zahl zur Beförderung von Kohle aber auch von Zuckerrüben zu deren Erntezeit verwendet.
Massengüter, die beim Auf- und Abladen geschont werden sollen, weil Zerkleinerung ihren Wert beeinträchtigt, werden häufig auf besonderen Kübelwagen versendet. Die Kübel werden vom Kran bewegt und können sehr vorsichtig hinauf- und hinabgehoben werden. Das Abstürzen des Guts fällt hierdurch fort.
Damit man sehr schwere Güter, wie Schienen oder Träger, die ohne Seitenbefestigung gelagert werden können, leicht auf- und abzuladen vermag, sind die bordlosen oder Plattform-Wagen vorgesehen. Auf ihnen werden auch Möbelwagen, Automobile und ähnliche Güter befördert.
Eine besondere Art der Plattformwagen bilden die Geschützrohrfahrzeuge der Kruppschen Fabrik in Essen. Hier handelt es sich um die Beförderung einer ganz ungewöhnlich schweren Last, die nicht geteilt werden kann. Es muß also, damit der Druck auf die einzelne Achse nicht zu hoch wird, ein Fahrzeug mit sehr vielen Achsen geschaffen werden. Der mächtigste Wagen dieser Art hat nicht weniger als 32 Räder. Er besteht aus vier vierachsigen Drehgestellen, von denen je zwei kurz gekuppelt und mit Zapfen in ein gemeinsames Traggestell eingesetzt sind. Auf die beiden Traggestelle wiederum ist der eigentliche gewaltige Rohrträger gelegt. Die Verbindung geschieht auch hier durch Drehzapfen, so daß sich das lange Gefährt bequem durch alle Gleiskrümmungen hindurchwinden kann.
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Auch die Versendung von Baumstämmen und anderem Langholz macht besondere Schwierigkeiten, da das Gut selbst sich ja den Bahnkrümmungen nicht anzupassen vermag. Um nun für solche leichten Güter nicht besondere Drehgestellwagen bereithalten zu brauchen, hilft man sich, indem man die Langhölzer auf zwei miteinander sonst nicht verbundene Plattformwagen ladet, von denen jeder einzelne einen eisernen Schemel trägt; dieser kann sich um einen Zapfen im Wagenboden drehen. Das genügt vollständig für die Einstellung in den Gleisbogen.
In den Fabriken werden häufig Gegenstände geschaffen, die so groß sind, daß sie beim Verladen auf gewöhnlichen offenen Wagen die Umgrenzungslinie des lichten Raums nach oben überschreiten würden. Das ist keinesfalls zulässig. Um aber auch solche Güter mit der Eisenbahn befördern zu können, wendet man eine besondere Bauart für die hierzu bestimmten Wagen an. Man nennt derartig hergerichtete Fahrzeuge Tiefladewagen, weil ihre Plattform, soweit sie zwischen den Achsen liegt, weit nach unten gezogen ist, so daß eine tiefliegende Tragfläche entsteht. Auf diese Weise kann man hochragende Gegenstände, wie z. B. Transformatoren, ohne Überschreitung der Umgrenzungslinien befördern. Auch Lokomotiven für Rußland und Spanien, die ja auf unserer Spur nicht laufen können, werden auf solchen Fahrzeugen fertig bis zu den Grenzbahnhöfen geschafft. Zur Beförderung von großen Spiegelscheiben stellt man in den Tiefladewagen besondere Bockgerüste auf. Schwungräder und eiserne Ringe für Schachtauskleidungen, die oft sehr große Durchmesser haben, werden in gleicher Weise verladen.
Unter den Bahndienstwagen, die hauptsächlich zur Beförderung von Schienen, Kies, Erde, Steinschlag, Schlacke dienen, muß eine Gattung besonders erwähnt werden. Sie wird zur Prüfung der Wägevorrichtungen für Eisenbahnfahrzeuge benutzt. Jedes beladene Fahrzeug muß ja, bevor es zur Beförderung zugelassen wird, über eine Gleiswage laufen, damit die zu erhebende Gebühr festgestellt und auch nachgeprüft werden kann, ob das zulässige Ladegewicht nicht überschritten ist. Wägevorrichtungen müssen sehr genau zeigen, und ihr Gang wird daher öfter durch Belastung mit einem Fahrzeug beobachtet, dessen Gewicht vorher auf einer als verläßlich gehend bekannten Wage festgestellt worden ist. Man schafft diese Prüfgewichte, indem man einen Plattformwagen mit Altschienen oder anderem Eisen beladet. Häufig werden hierzu auch alte Tender benutzt.
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Obgleich die deutschen Bahnen alljährlich eine sehr große Anzahl Güterwagen neu herstellen lassen, herrscht doch infolge der lebhaften Tätigkeit im deutschen Gewerbe ein häufiger Wagenmangel. Es ist darum notwendig, alles zu tun, um die Ruhezeiten der Wagen nach Möglichkeit abzukürzen, das heißt das Be- und Entladen soweit zu beschleunigen, wie es irgend möglich ist. In dieser Beziehung ist bei uns noch mancherlei zu tun.
Für das Beladen werden mechanische Vorrichtungen durchaus noch nicht so häufig herangezogen, wie es möglich wäre. Das Schleppen und Karren herrscht noch vor, auch wo es sich um offene Wagen handelt; der Kran ist auf Bahnhöfen eine noch viel zu seltene Erscheinung. Für schüttbare Massengüter wie Kohle, Koks, Erze, Steine, Sand, Schlacke, Schotter, Rüben und Kartoffeln gibt es eine Entladungsart, die außerordentlich beschleunigend zu wirken vermag. Hierfür müssen die Wagen mit Selbstentladungseinrichtungen versehen sein.
Durch besonders eingerichtete Bauart der Wagen kann man bewirken, daß beim Öffnen von Klappen im Unterteil das ganze Gut sofort selbsttätig herausfällt. Zu unterscheiden sind hierbei Seitenentleerer und Bodenentleerer, sowie Fahrzeuge, die zugleich nach unten und nach den Seiten entleeren können. Die Zusammenstellung auf Bild 243 zeigt einige Bauarten, die hierfür verwendet werden.
Seitenentleerung, die meist nach beliebiger Seite geschehen kann, hat den Vorzug, daß die Schienen nicht beschüttet werden. Nach Möglichkeit sucht man die Selbstentlader so auszubilden, daß sie flache Böden besitzen, so daß sie auch für gewöhnliche Stückgüter verwendet werden können.
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Freilich ist es, damit die Selbstentlader wirklich großen Nutzen bringen können, notwendig, hochliegende Geleise für sie zu schaffen. Es hat ja wenig Zweck, das Gut zunächst auf die flache Erde laufen zu lassen und es dann mühsam auf die Straßenfahrzeuge hinaufzuschaufeln. Die Eisenbahnwagen werden sehr schnell wieder fahrtbereit, aber der ganze Umladevorgang wird teurer. Wie man allmählich auf allen Bahnhöfen Laderampen zum bequemen Einkarren geschaffen hat, wird man nach und nach auch dazu kommen, hochliegende Absturzgeleise für Selbstentlader einzuführen, damit ohne weiteres in die Straßenfuhrwerke eingeschüttet werden kann. Noch besser ist es, unter den Hochgeleisen Bunker anzubringen, in die das ankommende Gut zunächst eingefüllt wird, und aus denen es alsdann nach Bedarf entnommen werden kann. Daraus, daß derartige Anlagen heute noch nicht vorhanden sind, erklärt es sich wohl, daß die Selbstentladung bei uns noch verhältnismäßig wenig angewendet wird.
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Oberbaurat Scheibner hat berechnet, daß man bei allgemeiner Verwendung von Selbstentladern für Massengüter auf den deutschen Bahnen 44 000 Arbeiter und 38 Millionen Mark jährlich ersparen könnte. Die Ausnutzung dieser Möglichkeit ist gewiß ein lockendes Ziel.
An der Zahl der Bedienungsmannschaften für Selbstentlader, die schon ohnedies sehr gering ist, kann man noch weiter sparen, wenn man geschlossene Selbstentladerzüge mit einer durchlaufenden Druckluftanlage versieht, durch deren Betätigung alle Klappen zu gleicher Zeit geöffnet werden.
In Amerika ladet man, nach „Eisenbahntechnik der Gegenwart“, schüttbare Güter von ganzen Zügen, die aus gewöhnlichen Plattformwagen mit herausnehmbaren Wänden bestehen, sehr rasch dadurch ab, daß auf dem letzten Wagen ein schneepflugähnlicher Räumer aufgestellt ist, der nach Ankunft an der Bestimmungsstelle des Zugs durch Drahtseile mit der Lokomotive verbunden wird. Diese wird losgekuppelt und zieht den Räumer zwischen Führungen über die Plattformen sämtlicher Wagen, so daß diese alsbald freigemacht sind.
In Fabriken und Umschlaghäfen, die täglich zahlreiche Kohlenwagen zu entladen haben, hilft man sich über den Mangel von Selbstentladevorrichtungen an den Wagen dadurch hinweg, daß man diese auf große Kippvorrichtungen stellt. Das ist eine Plattform, die einseitig mehrere Meter schräg emporgehoben werden kann. Vor dem Hinunterrollen wird der Wagen dadurch geschützt, daß eine Achse durch kräftige Haken festgehalten wird. Sobald der Wagen schräg genug gestellt ist, wird die für diese Zwecke aufklappbar gemachte untere Kopfwand geöffnet, und die Kohle stürzt in wenigen Augenblicken hinaus.
Um solche Kippvorrichtungen auch an Stellen zur Verfügung haben zu können, wo sie nur vorübergehend gebraucht werden, sind fahrbare Kipper gebaut worden. Sie tragen ein Gleis, das schräg von den Fahrschienen emporsteigt, und besitzen eine Windevorrichtung zum Emporziehen der Wagen mittels Drahtseils. Das hochgezogene Fahrzeug kann dann noch nach Belieben rechts oder links hin geschwenkt werden, damit es seinen Inhalt zur Seite entleert. Der Kipper selbst ist zusammenlegbar, so daß er in Güterzügen befördert werden kann.
In Europa pflegen täglich sehr viele Güterwagen die Landesgrenzen zu überfahren. Durch Vorkehrungen für zollsicheren Verschluß, über den besondere zwischenstaatliche Vereinbarungen bestehen, ist dieser Verkehr ohne weiteres möglich. Er bringt den außerordentlichen Vorteil, daß die schweren Lasten an den Grenzen nicht umgeladen zu werden brauchen. Ein solcher Wagenübergang ist jedoch an Deutschlands Ostgrenze nicht ohne weiteres möglich. Denn hier beginnt ja die russische Spurweite, die um 89 Millimeter breiter ist als die unsrige. Der Wunsch, deutsche Güterwagen auch nach Rußland und russische nach Deutschland laufen lassen zu können, hat zur Erbauung besonderer Einrichtungen geführt, die auch hier einen Übergang ohne Umladung ermöglichen.
Wagen, die über die russisch-deutsche Grenze hinübergehen können, nennt man Umsetz- oder — nach ihrem Erfinder — Breidsprechersche Wagen. Über beide Spurweiten zu laufen, werden sie dadurch befähigt, daß man ihre Radsätze auswechselbar macht.
Wenn ein Wagen, der nach Rußland übergehen soll, etwa in Eydtkuhnen ankommt, so wird sein Untergestell vorn und hinten so auf je einen Karren gesetzt, daß die Wagenräder[294] selbst nicht mehr tragen. Die Achshalter werden nun geöffnet, und der Wagen langsam vorwärts geschoben. Das Regelspurgleis senkt sich allmählich unter die Höhe der Karrenfahrbahn, so daß die Achsen von selbst aus den Achshaltern gleiten und im Regelspurgleis zurückbleiben. Bei Weiterfahrt des auf den Karren ruhenden Wagens steigt aus der Vertiefung ein Breitspurgleis allmählich auf. Besondere Fangeisen an den Achshaltern umfassen die auf dem Breitspurgleis bereit gehaltenen Achsen, und langsam setzt sich der Wagen auf diese Achsen mit dem breiteren Radstand auf, worauf sie an dem Untergestell befestigt werden. Alsdann ist nur noch das Bremsgestänge so zu verstellen, daß die Bremsklötze auf die weiter auseinanderstehenden Räder auftreffen. Beim Übergang von Rußland nach Deutschland vollzieht sich derselbe Vorgang in umgekehrter Reihenfolge.
Personenwagen mit Umsetzvorrichtungen gibt es im gewöhnlichen Verkehr nicht, da die menschliche Last sich ja weit leichter selbst in andere Wagen verfrachten kann. Das einstige russische Kaiserhaus besaß jedoch eine ganze Reihe umsetzbarer Saalwagen für Fahrten durch das übrige Europa.
Besondere Vorkehrungen für Wagenübergang sind auch da notwendig, wo Güter, die in Vollspurwagen geladen sind, nach Orten geschafft werden sollen, zu denen nur eine Schmalspurbahn führt. Man hilft sich hier dadurch, daß man die Vollspurwagen rittlings auf andere Fahrzeuge aufsetzt, die für das Schmalspurgleis gebaut sind. Man nennt sie Rollböcke. Es sind zweiachsige Wägelchen mit sehr kurzem Achsstand, auf denen sich je ein Drehschemel befindet. Zwei an dessen Enden angebrachte Halter nehmen je eine Achse des Vollspurfahrzeugs auf.
Das Überladen auf die Rollböcke erfolgt in besonderen Gruben. Das Vollspurgleis läuft an deren Rand glatt durch. Die Rollböcke stehen unten auf einem ansteigenden Gleis. Es wird nun ganz ähnlich verfahren wie bei den Breidsprecherschen Wagen. Die Fangeisen der Rollböcke werden zunächst lose an den Achsen des Vollbahnwagens befestigt. Alsdann wird dieser solange auf seinem Gleis verschoben, bis die Achsen fest in den Gabeln der aufsteigenden Rollböcke liegen. Nach dem Verschließen der Gabeln werden die Rollböcke ganz aus der Grube gezogen, so daß der Wagen nunmehr mit freien Rädern auf ihnen schwebt. Es werden auch Rollböcke gebaut, auf denen nicht die Achsen, sondern die Räder des Vollbahnwagens aufruhen. Die Rollbockgruppen unter den einzelnen Wagen werden bei Herstellung der Züge durch steife Kupplungen miteinander verbunden.
Da die Tragschemel der Rollböcke drehbar sind, so gestatten diese infolge ihres sehr kurzen Achsstands das Durchfahren der sehr engen Krümmungen von Schmalspurgeleisen[295] mit jedem Vollbahnwagen. Deren Achsstand spielt gar keine Rolle mehr. Es findet auch eine vorzügliche Verteilung des Achsdrucks auf das schwächere Schmalspurgleis dadurch statt, daß die doppelachsigen Rollböcke an die Stelle jeder einzelnen Vollspurachse zwei schmalspurige setzen. Diese unscheinbaren Vorrichtungen stellen darum eine sehr wichtige, neuere Errungenschaft des Eisenbahnverkehrs dar.
Der Übergang der Güterwagen von Strecke zu Strecke wird naturgemäß ganz besonders schwierig an solchen Stellen, wo große Seen oder gar Meere trennend dazwischentreten. Die außerordentliche Kraft, die dem Eisenbahnbetrieb innewohnt, die unerschrockene Tatenlust der Ingenieure haben jedoch auch solche Gewässer zu überwinden gewußt, denen selbst mit gewaltigsten Brückenbauten nicht beizukommen ist. Der Eisenbahnverkehr macht in unseren Tagen weder an den Ufern großer Binnenseen, noch an den Küsten der Meere halt. Er ist heute gewohnt, sich solcher Werkzeuge zu bedienen, die noch vor hundert Jahren als märchenhaft galten. Es ist seine Art, mit Tausend-Zentner-Gewichten Fangeball zu spielen, lächelnd selbst die größten Schwierigkeiten beiseite zu stoßen, die für jeden anderen Betrieb unüberwindlich wären.
Das Wasser, welches die Eisenbahn nicht auf einer Brücke über- oder in einem Tunnel unterschreiten kann, vermag nur mit Schiffen überwunden zu werden. Ein Eisenbahnzug auf dem Schiff, das ist wirklich ein abenteuerlicher Gedanke! Es ist kaum etwas anderes, als wenn man etwa ein Pferd auf dem Rücken eines Elefanten oder den elektrischen Funken mittels der Rohrpost befördern wollte. Eigentümlich genug nimmt sich denn auch der flinke Renner Eisenbahn auf einem schweren breitbauchigen Fährschiff aus; die selbständige Beweglichkeit seiner schnellen Füße ist hier unmöglich, vom Beförderer wird er zum Beförderten. Der stählerne Pfad, das ewig Ruhende im sonst rastlosen Bezirk der Eisenbahn, wird hier plötzlich mit bewegt, der Unterbau ist keine Erdfeste mehr, sondern ein schwankendes Schiffsdeck.
Aber wenn auch die Beförderung durch das widerstehende Wasser mit ungewohnter Bedächtigkeit vor sich geht, so sind doch die Fähren sehr nützliche Mitglieder des Eisenbahnbetriebs geworden. Ohne sie würde[296] die Eisenbahn nicht nur die Beförderung der Güter über das Wasser selbst verlieren, auch die Zufahrtgleise zu den Ufer- und Küstenorten würden weit weniger benutzt werden, da sonst wegen des zweimaligen Umladens auf die zwischengeschalteten gewöhnlichen Schiffe und von diesen wieder auf die Bahnwagen die Verfrachtung gewisser Güter auf Eisenbahnlinien überhaupt vermieden werden würde. Der Handel würde das Schiff schon möglichst am Beginn der Frachtstrecke bevorzugen.
Der Reisende staunt am Ausgangspunkt einer Fährstrecke oft darüber, daß eine so gewaltige Einrichtung geschaffen ist, nur um ihm die recht geringe Unbequemlichkeit des Umsteigens von der Bahn zum Schiff und umgekehrt aus dem Weg zu räumen. In Wirklichkeit aber wird der Personenverkehr auf den Fähren nur gerade geduldet. Niemals hätte man für ihn allein so umfangreiche Veranstaltungen getroffen. Die Fähren sind infolge der schwereren Beweglichkeit der Lasten entstanden; sie haben nebenbei die Liebenswürdigkeit, auch lebende Fracht zusammen mit ihren Aufenthaltshäusern, den Personenwagen, mitzunehmen. Die Annehmlichkeit, die den Reisenden hieraus erwächst, ist immerhin nicht zu unterschätzen; und es kommt noch hinzu, daß auf bewegtem Wasser das Gespenst der Seekrankheit fast völlig verbannt ist, wenn man sich auf einem stark belasteten, schwer beweglichen Fährschiff befindet, statt ein sehr viel kleineres Dampfboot zu benutzen.
Die erste Eisenbahnfähre wurde im Jahre 1851 zwischen den Orten Granton und Burntisland am Firth of Forth in Schottland benutzt, in der Nähe jener Stelle, wo heute die gewaltige Forth-Brücke über den Fluß führt. In Deutschland waren es die württembergischen Bahnen, die sich zuerst des Fährbetriebs bedienten; im Jahre 1868 fuhr die erste Eisenbahnfähre über den Bodensee, der ja als eines der größten europäischen Binnengewässer heute von zahlreichen Linien solcher Art durchzogen wird. Ganz besonders viel angewendet wird der Fährbetrieb in Dänemark, das durch seine Lage auf einer großen Zahl von Inseln hierzu beste Gelegenheit bietet. Über die großen amerikanischen Seen werden öfter ganze Schnellzüge geschlossen hinübergefahren.
Deutschland besitzt eine kleine und zwei sehr große Fährstrecken über das Meer. Von Stralsund aus gelangen Personen und Güter nach Altefähre auf Rügen, indem der drei Kilometer breite, dazwischenliegende Meeresarm mittels einer Fähre übersetzt wird. Von Warnemünde aus fahren solche Schiffe 45 Kilometer weit über die Ostsee nach Gjedser in Dänemark und von Saßnitz aus gar über eine 107 Kilometer lange Meeresstrecke nach Trelleborg in Schweden. Diese Schweden-Fähren sind ganz besonders geräumig. Jede von ihnen kann 18 beladene Güterwagen auf einmal mitnehmen.
Für den Übergang der Wagen von der festen Eisenbahnstrecke zu den Gleisstücken auf dem Fährschiff sind besondere Vorkehrungen notwendig. Zunächst müssen die Schiffe beim Landen stets sehr genau an die gleiche Stelle geleitet werden, damit Land- und Schiffsgleis eine durchlaufende knicklose Linie bilden. Man läßt die Fähren beim Anlegen keine Seitendrehung machen, sie fahren vielmehr mit der Spitze gegen das Land. Zur Herbeiführung der genauen Lage werden sie unmittelbar vor Ende ihres Laufs durch Leitwerke oder Fährbetten aufgenommen. Diese haben die Form des vorderen Schiffskörpers. Um den Stoß beim Auffangen des Schiffs im Leitwerk möglichst zu mildern, sind dessen Bohlen federnd an Rammpfählen oder Betonpfeilern befestigt. Die Fähren werden mit schweren Trossen am Land festgehalten. Bei unruhigem Wasser läßt man wohl auch die Schiffsschraube ständig langsam vorwärts arbeiten, damit die Spitze des Fahrzeugs stets fest anliegt.
Die Verbindung zwischen Landgleis und Fährgleis wird durch eine bewegliche Brücke[297] hergestellt, die am Land ein festes Drehgelenk besitzt und mit ihrem anderen Ende auf dem Fährdeck aufliegt. Die Brücke muß eine Beweglichkeit in der senkrechten Ebene besitzen, um den verschiedenen Höhenlagen folgen zu können, die das Schiff bei wechselndem Wasserstand und je nach der Stärke seiner Beladung einnimmt. Es ist aber auch notwendig, der Brücke eine gewisse seitliche Beweglichkeit zu geben. Denn auf den großen Fähren liegen stets mehrere Geleise nebeneinander, die nicht zu gleicher Zeit beladen werden können; infolge der ungleichmäßigen Belastung beider Längshälften tritt häufig eine schiefe Seitenlage der Fähre, die sogenannte Krängung, ein. Wenn diese Krängung auch bei Abfahrt des Schiffs noch vorhanden ist, wird sie durch Einlassen von Wasser in hierzu vorgesehene Ballasträume ausgeglichen.
Um möglichst wenig Zeit für das Anlegen der Fährschiffe opfern zu müssen, macht man sie meist doppelendig, das heißt, man gibt ihnen eine solche Form, daß sie sowohl von der Spitze wie vom Heck her beladen werden können. Bei den Saßnitz-Fähren ist das aber nicht der Fall. Diese besitzen einen gewöhnlichen, hohen Vordersteven und müssen daher vor dem Einlaufen in das Leitwerk stets gewendet werden. Man ist bei dieser Linie so vorgegangen, weil man den Schiffen eine möglichst seetüchtige Form für die lange Fahrt über das offene Meer geben wollte. Ein hoher Steven ist schon deshalb notwendig, weil das Wasser von der Spitze[298] her besonders leicht überkommt. Um ein Überspülen des Decks nach Möglichkeit zu vermeiden, sind darum auch die von beiden Enden her beladbaren Warnemünder Fähren mit einem hohen Stevenaufsatz versehen. Wenn Wagen über die Spitze auf das Deck gefahren werden sollen, muß der oberste Teil des Stevens, der das Deck überragt, aus dem Weg gebracht werden. Er ist darum beweglich eingerichtet und kann mittels einer Winde so hochgeklappt werden, daß er senkrecht steht und wie ein Tor die Einfahrt überwölbt.
Das Deck der Fähren, das ja eine sehr hohe Belastung aufzunehmen hat, ruht auf eisernen Säulen, die durch den ganzen Schiffsraum hindurchgehen und sich unten auf die Kielbalken stützen.
Die Eisenbahnfahrzeuge müssen auf den Fährengeleisen festgemacht werden, damit sie beim unvermeidlichen Schwanken des Schiffs nicht in Bewegung geraten. Man befestigt zu diesem Zweck an den Puffern Hängeeisen, die zangenartig um die Schienenköpfe geklemmt werden. Bei besonders unruhigem Wasser werden noch schräge Ketten angewendet. Durch leichte Schraubenwinden, die man zwischen Untergestell der Wagen und Deckboden klemmt, hebt man das Federspiel der Fahrzeuge auf, damit kein senkrechtes Schwanken der schwer beladenen Wagenkasten eintreten kann. An den Gleisenden pflegen sich kräftige Prellböcke zu befinden, die während des Beladens zur Seite fortgeklappt werden können.
Der Reisende hat in begreiflicher Überschätzung seines Ichs meist die Ansicht, die Eisenbahn sei hauptsächlich eine Einrichtung zur Personenbeförderung. Der Güterverkehr scheint ihm etwas Nebensächliches, ein ziemlich bedeutungsloser und stiefmütterlich behandelter Teil des Eisenbahnbetriebs. Wir wissen aber bereits, daß die Tatsachen in Wirklichkeit umgekehrt liegen. Betrieblich und geldlich fällt dem Güterverkehr die bei weitem überragende Rolle zu. Die baulichen Einrichtungen für den Personenverkehr sind zwar liebenswürdiger gestaltet, aber räumlich sehr viel beschränkter. Was bedeutet der Potsdamer Hauptbahnhof in Berlin gegenüber der riesenhaften Güteranlage, die sich in seinem Rücken dehnt! Wie bescheiden ist die Gesamtzahl der Personenwagen gegenüber der ungeheuren Ausdehnung des Güterwagenparks!
Wenn auch die Personenbahnhöfe prächtige Eingangshallen und wohlüberdachte Bahnsteige besitzen, seine stärkste Kraft schöpft der Eisenbahnverkehr doch aus den karg gestalteten, abseits liegenden Güterbahnhöfen. Nicht die gepolsterten Bänke der Personenwagen, sondern die harten Böden der Güterfahrzeuge befördern die Fracht, welche die größten Einnahmen liefert.
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Das Vorstellungsvermögen hat vor dem Leser dieses Buchs bereits öfter das Bild der über die Strecke dahinrollenden Züge erstehen lassen. Technisch aber sind die Fahrzeuge bisher nur als Einzelwesen behandelt worden. Wir haben die Glieder der Kette betrachtet, aber unsere Aufmerksamkeit noch nicht den Vorkehrungen zugewendet, welche diese einzelnen Glieder zu einem Ganzen zusammenfügen und dem Zug, obgleich er aus starren Stücken besteht, die Geschmeidigkeit einer Schlange verleihen.
Die in einem Zug vereinigten Fahrzeuge üben zwei verschiedenartige Kraftwirkungen aufeinander aus: den Zug und den Stoß. Wenn die Wagenreihe anfährt, reißt der eine Wagen den nächsten hinter sich fort, beim Bremsen und Anhalten stoßen die Fahrzeuge mehr oder weniger heftig aufeinander. Die Verbindungen zwischen ihnen müssen daher so gestaltet sein, daß sie beide Angriffe auszuhalten und so aufzunehmen vermögen, daß die Wagen selbst möglichst wenig erschüttert werden.
Zur Aufnahme der Stöße dienen die Puffer, zur schonenden Übertragung der Zugkräfte die Kupplungen.
Puffer sind als weitest vorspringende Teile zwischen die einzelnen Fahrzeuge geschaltet. Die Schäfte ihrer Teller setzen sich gegen sehr kräftige Wickelfedern, die bei jedem Stoß zusammengedrückt werden und so den Anprall von dem Wagen selbst fernhalten oder ihn doch nur in verminderter Stärke übertragen. Damit die Puffer in Krümmungen, wenn die Wagen sich schief gegeneinander einstellen, nicht abbrechen, ist durch eine besondere Vorschrift bewirkt, daß einem flachen Teller stets ein gewölbter Pufferkopf gegenübersteht. Dies wird durch die einfache Anordnung herbeigeführt, daß der beim Anschauen der Stirnseite jedes Fahrzeugs rechts stehende Puffer stets eben, der linke jedoch gewölbt sein muß.
Für die schweren D-Wagen genügt die einfache Pufferfederung nicht mehr. Hier ist hinter der Pufferbohle, die das Untergestell nach vorn abschließt, noch eine zweite, schwächere Federung eingefügt. Da infolge der sehr langen Kasten der Drehgestellfahrzeuge die Schiefstellung in den Krümmungen sehr groß ist, der innen liegende Puffer also sehr kräftig eingedrückt wird, während der andere fast gänzlich entlastet ist, sind Ausgleichhebel eingeschaltet; sie übertragen die auf den einen Puffer ausgeübte Kraft auf den anderen und zwingen ihn zur Mitwirkung.
Auf den deutschen Vollbahnen werden ausschließlich Seitenpuffer verwendet. Auf Schmalspurstrecken mit ihren leichteren Fahrzeugen trifft man häufig Mittelpufferung mit nur Einem Pufferkörper an. Diese Anordnung ist heute in Amerika auch auf den großen Strecken die Regel.
Sehr viel wichtiger noch ist betrieblich die Tätigkeit, welche die Kupplungen zu leisten haben. Diese sind es ja eigentlich, welche die Einzelfahrzeuge zu dem Ganzen des Zugs vereinigen.
Die heutige Form der Kupplungen ist mit großer Ausdauer allmählich so gestaltet worden, daß die Verbindungsglieder durchaus haltbar und zuverlässig sind. Mit diesen Eigenschaften muß die Kupplung aber auch rasche Lösbarkeit vereinigen, damit das Anhängen und Absetzen von Wagen möglichst geschwind vor sich gehen kann. Die Kupplungen[300] dürfen nicht starr mit den Fahrzeugen verbunden sein, sondern müssen federnd an diesen angebracht werden, um ein Anziehen ohne Ruck zu ermöglichen.
Federnde Kupplungen erleichtern der Lokomotive das Anfahrgeschäft dadurch, daß nicht sofort der ganze Zug in Bewegung gesetzt zu werden braucht, sondern infolge des Federspiels ein Wagen nach dem anderen sich fest an den Zughaken der Maschine hängt. Namentlich bei den schweren Güterzügen ist dies wichtig. Um hier ein ganz allmähliches Anziehen zu ermöglichen, werden die Kupplungen an Güterzügen nicht fest angespannt, man läßt vielmehr einen kleinen Spielraum zwischen den Puffern bestehen, so daß der Zug beim Anfahren sich streckt, der letzte Wagen erst angezogen wird, wenn die vordersten sich bereits in Fahrt befinden. Bei Zügen für Personenbeförderung ist ein gleiches Verfahren nicht möglich, weil die Wagen bei loser Kupplung leicht in ein Schwanken geraten, das empfindlichen Reisenden ein der Seekrankheit ähnliches Gefühl verursachen würde. Allzu kräftiges Anziehen der Kupplung ist jedoch auch hier zu vermeiden, damit der Zug keinen starren Block bildet.
Wegen der Schiefstellung der Wagenenden in den Krümmungen werden die Kupplungsköpfe bei langen Wagen meist so angeordnet, daß sie sich in der wagerechten Ebene um ein Gelenk drehen können. Die Öffnung in der Pufferbohle, durch welche der Kupplungsschaft hindurchgreift, ist dann schlitzartig ausgebildet.
In Europa wird heute allgemein die Schraubenkupplung verwendet und zwar in der Form, wie sie Bild 256 darstellt. Die Vorrichtung ist spannbar, gestattet also, die Vereinigung der aufeinanderfolgenden Fahrzeuge verschiedenartig, fest oder lose, zu gestalten. Die an jedem Hakenschaft aufgehängte Schraubspindel wird mittels eines Bügels mit dem Haken des nächstfolgenden Fahrzeugs verbunden. Alsdann wird mit Hilfe eines Schwengels die Schraubspindel gedreht. Sie hat Rechts- und Linksgewinde, so daß die von beiden Seiten her auf das Gewinde der Spindel gesteckten Muttern sich gleichzeitig nach der Mitte der Spindel bewegen. Bei Zügen für Personenbeförderung wird die Kupplung so angespannt, daß die Puffer eine mäßige Spannung gegeneinander haben.
Da jedoch trotz des[301] vorzüglichen Stoffs, aus dem die Kupplungen gebaut sind, ein Zerreißen vielmals außerhalb des Bereichs der Möglichkeit liegt, ist noch eine Hilfskupplung vorgeschrieben. Zu diesem Zweck ist an jeden festen Haken noch ein lose herabhängender Haken angelenkt. Da beim Kuppeln zweier Wagen stets ein Schraubengehänge frei ist, so ergibt dessen Vereinigung mit dem hängenden Haken ohne weiteres die Doppelkupplung. Sie ist für gewöhnlich ganz lose, strafft sich jedoch sofort von selbst an, wenn die eigentliche Kupplung reißt.
Durch Bügel, die weiter an die Hilfskupplungshaken angehängt sind, kann auch nach Bruch beider Schraubspindeln noch eine Verbindung hergestellt werden.
In früheren Jahrzehnten wurde die Hilfskupplung durch zwei Kettenpaare bewirkt, die unter den Puffern angebracht waren. Es hat sich jedoch gezeigt, daß die Ketten, sobald sie nach Bruch der Kupplung straff gezogen wurden, meistens durchrissen. Man ist daher zu der heute üblichen, weit festeren Hilfskupplung übergegangen.
Wenn die Enden der Kupplungen an den Pufferbohlen befestigt sind, so müssen notwendigerweise die Untergestelle der Wagen alle auftretenden Zugkräfte aufnehmen. Das Untergestell des ersten unmittelbar hinter der Lokomotive laufenden Wagens hat also das gesamte sehr bedeutende Zuggewicht fortzuziehen. Das ergibt eine Beanspruchung der Wagenuntergestelle, die diesen nicht günstig ist. Der Verein Deutscher Eisenbahnverwaltungen hat darum bereits im Jahre 1866 die Anordnung eines Zwischenglieds eingeführt, das die Untergestelle vollkommen entlastet. Es ist dies die durchgehende Zugstange.
Die Kupplungen werden seitdem nicht mehr am vorderen und hinteren Querträger der Untergestelle angebracht, sondern sie sind durch eine Stange miteinander verbunden, die unter dem ganzen Wagen durchläuft. Hierdurch wird über die Einzelkupplungen hinweg eine gesonderte Zugverbindung vom Tenderhaken bis zum letzten Wagen geschaffen. Die Einrichtung hat sich als außerordentlich günstig erwiesen. Selbstverständlich muß jede Zugstange an einer Stelle mit dem Untergestell ihres Wagens in Verbindung stehen, damit dieser mitgenommen wird, und diese Verbindung, die sich in der Mitte der Wagenlängsachse befindet, muß federnd sein. In welcher Form sie ausgeführt wird, zeigt[302] Bild 257. Die Zugstangen und auch die Kupplungen selbst sind so zu berechnen, daß jede von ihnen das höchste Zuggewicht zu ziehen vermag, da ja jeder Wagen imstande sein muß, als erster im Zug zu laufen.
Der Kupplungshaken greift mit einem Vierkant durch die Pufferbohle hindurch, während die Zugstangen rund sind. Durch den Vierkant wird ein senkrechter Keil gesteckt, der sich beim Bruch der Zugstange gegen die Pufferbohle legt und den beschädigten Wagen mit seinem Vorgänger in Verbindung hält, solange der Kupplungshaken selbst nicht bricht und der Keil die Belastung aushält. Manche Zugzerreißung, die ja stets von schweren Folgen begleitet sein kann, ist durch diese kleine Noteinrichtung bereits verhindert worden.
Das Vorderende der Lokomotive und das Hinterende des Tenders müssen gleichfalls Kupplungen gewöhnlicher Bauart besitzen. Ganz besonders geartet aber ist die Verbindung zwischen Lokomotive und Tender. Sie muß sehr kräftig ausgestaltet sein, damit ein Bruch vollständig ausgeschlossen ist. Dieser würde ja nicht nur ein Zerreißen des Zugs an ungünstigster Stelle bewirken, sondern wahrscheinlich auch den Absturz der Lokomotivmannschaft herbeiführen. Die Kupplung zwischen Maschine und Tender hat ferner die Aufgabe, die schlingernden Bewegungen, die jede Lokomotive gern macht, dadurch einzuschränken, daß die Tenderlast fest an das Ende der Lokomotive gehängt wird.
Aus diesem Grund werden, wie Bild 258 zeigt, Tender und Lokomotive unter Zwischenschaltung eines federnden Glieds dreifach gegeneinander verspannt. Die im Querschnitt dreieckigen Kopfplatten der kleinen Puffer am Tender, die sich gegen entsprechend geformte, aus hartem Stahl gefertigte Gehäuse an der Lokomotive legen, stehen unter einem Druck von mindestens 5000 Kilogramm, der von einer gemeinschaftlichen Blattfeder auf sie ausgeübt wird. In der Längsachse beider Fahrzeuge ist das Hauptzugeisen befestigt, durch das auf beiden Seiten sehr kräftige Bolzen gesteckt sind. Rechts und links davon liegt je ein weiteres Zugeisen als Notkuppelung; diese Verbindungsstücke besitzen auf der Lokomotivseite längliche Augen, damit die durchgesteckten Bolzen in den Krümmungen genügendes Spiel haben.
Die Verbindung zwischen Tender und Lokomotive ist eine Kurzkupplung. Derartige Einrichtungen findet man auf der Berliner Stadtbahn und zahlreichen Vorortstrecken auch an anderen Stellen der Züge. Hier werden nämlich je zwei Wagen kurz miteinander gekuppelt, damit die Länge der Züge geringer ausfällt. Die so verbundenen Wagen bilden betrieblich eine Einheit, da sie nur in der Werkstatt voneinander getrennt werden können.
Die Ausgaben für die Unterhaltung der Kupplungen sind bei allen Eisenbahnverwaltungen sehr groß. Wie Steinbiß im „Deutschen Eisenbahnwesen der Gegenwart“ mitteilt, haben die preußisch-hessischen Staatseisenbahnen in dem Betriebsjahr 1908-1909 rund 300 000 Ersatzkupplungen verbraucht. Für deren Beschaffung und Anbringung wurden rund drei Millionen Mark ausgegeben. Unter Hinzurechnung der Kosten für die in den Werkstätten ausgebesserten Kupplungen schätzt Steinbiß den jährlichen Gesamtaufwand für Kupplungsunterhaltung im Bereich der preußisch-hessischen Staatsbahnen auf mindestens fünf Millionen Mark.
Keine Arbeit ist im Bezirk der Schienenwelt so häufig vorzunehmen, wie das Kuppeln. Milliardenfach wiederholt sich alljährlich das Verbinden und Lösen der Wagen. Leider stellt diese Einrichtung zugleich eine der gefährlichsten Handhabungen dar. Die größte Zahl der im Betrieb Verunglückten kommt auf die Wagenkuppler. Sind sie doch gezwungen, zwischen Fahrzeuge zu treten, die sich in Bewegung befinden, wobei ihnen besonders die[303] weit vorspringenden Seitenpuffer Gefahr bringen. Man ist daher bereits seit Jahrzehnten bestrebt, die heute bei uns noch ausschließlich vorhandene Zug- und Stoßverbindung mit Seitenpuffern und gesonderter Mittelkupplung durch Vereinigung beider Glieder einfacher und durch Selbsttätigkeit der Kupplungen vollkommen gefahrlos zu gestalten.
In den Vereinigten Staaten von Nordamerika ist bereits vor mehr als 20 Jahren eine selbsttätige Kupplung mit Mittelpuffer zwangsweise auf allen Bahnen eingeführt worden. Die öffentliche Meinung war damals über die vielen Unfälle, von denen die Wagenkuppler getroffen wurden, so erregt, daß die Gesetzgebung sich der Angelegenheit bemächtigte. Nun ist es leicht, die Einführung einer technischen Anordnung durch Gesetz zu befehlen, schwerer aber, eine wirklich brauchbare Ausführungsform zu finden. Trotz der großen Sorgfalt, welche die deutschen Eisenbahnen dem Wohlergehen ihrer Beamten zuwenden, haben sie sich dennoch bis zum heutigen Tag zur Einführung der amerikanischen selbsttätigen Kupplung nicht entschließen können, da diese gar zu viele technische Mängel zeigt. Das Bestreben aber, hier etwas wirklich Brauchbares zu finden, ist nach wie vor sehr lebhaft und wird sicherlich in absehbarer Zeit zum Erfolg führen.
Eine selbsttätige Kupplung muß nicht nur die in ihrem Namen liegende Eigenschaft besitzen, das heißt, eine Verbindung der Wagen ohne menschliche Mitwirkung herstellen, sie muß auch von der Seite her lösbar sein, so daß das Treten zwischen die Wagen ganz fortfällt. Ferner aber hat sie die Aufgabe, ein wirklich verläßliches Bindeglied darzustellen. Sie muß außerdem so gestaltet sein, daß sich jede Kupplung nach der Lostrennung in einer solchen Stellung befindet, daß eine neue Zusammenkupplung ohne weiteres vollzogen werden kann.
Bereits im Jahre 1873 erließ der Verein Deutscher Eisenbahnverwaltungen ein Preisausschreiben für eine selbsttätige Mittelpufferkupplung.[304] Seitdem sind auf diesem Gebiet zahllose Erfindungen gemacht worden. Ein Wettbewerb, der im Jahre 1909 ausgeschrieben wurde, brachte allein den Einlauf von mehr als 2000 Entwürfen. Als wirklich brauchbar hat sich keiner von diesen erwiesen. Es kommt hinzu, daß die europäischen Eisenbahnverwaltungen hier nur gemeinsam vorgehen können. Die zwischenstaatlichen Vereinbarungen schreiben die Kupplungsform für alle Staaten vor, über deren Grenzen Wagen hinweggehen sollen. Die Ausgaben bei Einführung einer neuen Kupplung sind außerordentlich hoch. In der Übergangszeit werden sich nicht unbedeutende Schwierigkeiten ergeben, da ja nicht alle Wagen gleichzeitig mit der neuen Vorrichtung versehen werden können; diese muß vielmehr imstande sein, auch mit der alten Schraubenkupplung zusammenzuarbeiten. Aus all diesem ergibt sich, daß ernstlich an die Einführung einer selbsttätigen Kupplung erst herangegangen werden kann, wenn eine große Eisenbahnverwaltung nach langer Erprobung eine Form gefunden hat, die auch nach Meinung der anderen beteiligten Verwaltungen — und das sind die Eisenbahngesellschaften in fast allen Ländern Europas — unbedingt einwandfrei, zuverlässig und allen billigen Anforderungen gewachsen ist.
Augenblicklich werden in Preußen hauptsächlich zwei selbsttätige Kupplungen erprobt, deren Einrichtungen hier kurz geschildert sein mögen. Es sind die Kruppsche Kupplung und die Scharfenberg-Kupplung, die von der Eisenbahnwagenfabrik Steinfurt in Königsberg gebaut wird.
Die Krupp-Kupplung schließt sich eng an die amerikanische Bauart nach Janney an. Ihre Form zeigt Bild 259. Die Klauen sind beweglich. Sobald die an ihnen angebrachten seitlichen Vorsprünge nach innen gestoßen werden, was[305] beim Aufeinanderprallen der Wagen geschieht, schließen sich die Klauen, und die Vorsprünge werden durch Bolzen, hinter die sie geglitten sind, festgehalten. Nunmehr liegt eine Klaue fest in der anderen, die Kupplung ist vollzogen. Die Lösung kann von der Seite her leicht durch Anheben des Festhaltebolzens mittels einer durch Kurbel drehbaren Stange geschehen. Der Kupplungskopf stellt gleichzeitig den Mittelpuffer dar. Die Seitenpuffer sind dann also nicht mehr notwendig.
Die Bilder 259 und 260 zeigen den Einbau während der Übergangszeit, wobei der Kupplungskopf schwenkbar angeordnet ist, so daß nach seiner Umlegung zur Seite die nun vorn liegende Schraubenkupplung benutzt werden kann.
Sehr viel beachtet wird die Scharfenberg-Kupplung. Sie besteht aus einem eigentümlichen, trichterförmigen Gehäuse, in dem ein drehbares, rundes Herzstück befestigt ist. Dieses hat an der einen Seite einen Haken, an der anderen einen hinausragenden Bügel. Stoßen zwei Scharfenberg-Kupplungen aufeinander, so dreht jeder der beiden Bügel sein Herzstück herum, weil er von dem gegenüberliegenden in den Trichter gepreßt wird, und hierbei spannt sich zugleich eine kräftige Zugfeder an (Bild 262). Nach genügender Drehung der Herzstücke fallen die Bügel in die Haken, die Herzstücke schnellen zurück, und nun sind die Wagen gekuppelt. Die Verbindung wirkt sehr zuverlässig, weil jedes Herzstück jetzt von beiden Seiten mit gleicher Kraft gezogen wird, also keine Drehung mehr vollführen kann. Das Lösen der Kupplung geschieht dadurch, daß von der Seite her ein Herzstück so lange nach außen gedreht wird, bis beide Bügel gleichzeitig aus den Haken springen. Alsdann zieht die Zugfeder die Herzstücke wieder in die Kuppelstellung zurück. Auch die Scharfenberg-Kupplung besitzt einen Schwenkkopf für die Übergangszeit.
Man muß hoffen, daß auf die eine oder die andere Weise recht bald eine Lösung der Kupplungsfrage in zufriedenstellender Weise gelingt. Das Leben vieler arbeitsamer Männer würde hierdurch geschont werden. Die Zahl der Betriebsunfälle auf den Bahnen würde sich bedeutend vermindern, ein dunkler Fleck auf dem blanken Schild des Eisenbahnwesens damit verschwinden.
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Der Zweck einer jeden Zugfahrt ist Beförderung. Der Zug hat die Aufgabe, Menschen oder Güter möglichst rasch von Ort zu Ort zu bringen. Zu diesem Ende muß er geschwinde Fahrt machen können, aber er muß ebenso in der Lage sein, genau am vorausbestimmten Ort anzuhalten. Wenn die Züge nur Vorkehrungen besäßen, die gestatten, sie in Bewegung zu setzen und diese Bewegung nach Willkür zu beschleunigen, nicht aber Einrichtungen hätten, um die erreichte Geschwindigkeit nach Belieben abzudrosseln und genau am gewollten Ort ganz aufzuheben, dann wäre die Eisenbahn nicht in der Lage, ihre Aufgabe zu erfüllen. Das vermag sie nur, wenn ebenso wie der Beginn jeder Fahrt auch deren Ende an bestimmter Stelle des Zielbahnhofs gesichert ist. Ebenso muß unterwegs nach freiem Entschluß des Führers jederzeit angehalten werden können.
Nicht weniger wichtig als die Lokomotive, die den Zug vorwärts bringt, sind also die Vorrichtungen, die seinen Lauf hemmen. Wo ein Sporn ist, da muß auch ein Zügel sein.
Ein D-Zug mit 40 Achsen stürmt über die Schienen. Da plötzlich nimmt der Lokomotivführer ganz hinten am Ende seines Gesichtsfelds ein Signal wahr, das auf Halt liegt. Er ist noch eine beträchtliche Strecke, etwa 800 Meter, von dem warnenden Arm entfernt, hinter dessen Aufstellungsort dem Zug Gefahr droht. Wenn der Führer nun nichts weiter tun könnte, als den Dampf abstellen, so würde die Wagenreihe, deren physikalisch kleinste Teilchen ganz mit der ungeheuren Geschwindigkeit von 100 Kilometern in der Stunde durchtränkt sind, trotzdem weiter und weiter rollen, lange über das Signal hinaus, wahrscheinlich bis zum Aufstoßen auf das Hindernis, vor dem gewarnt wurde. Ein ungehemmter Schnellzug unserer Tage läuft nach Aufhebung der Zugkraft auf ebener Strecke noch zwei bis drei Kilometer weit. Höchst selten nur kann der Lokomotivführer die Strecke so weit übersehen. Ein rechtzeitiges Abstoppen bei Gefahr wäre also unter solchen Umständen unmöglich.
Man bedenke ferner, in welcher Art ein Zug ohne Anwendung von Hemmungsvorrichtungen zum Stehen kommen würde.
Nach Abstellen des Dampfs sinkt die Geschwindigkeit ganz allmählich. Beim Beginn des letzten halben Kilometers ist sie bereits außerordentlich gering geworden. Der Zug schleppt sich ganz langsam über die Strecke, aber er steht noch nicht still. Er verbraucht eine sehr lange Zeit für das Geschäft des Anhaltens. Die Folge ist eine durchaus unstatthafte Verzögerung des gesamten Verkehrs. Die Strecke bleibt durch jeden Zug während einer unverhältnismäßig langen Zeit besetzt, der nächstfolgende muß eine kleine Ewigkeit warten, bis er nachfolgen kann. Der neuzeitliche Eisenbahnbetrieb würde auch hierdurch unmöglich gemacht.
Aus all diesen Gründen eben versieht man jeden Zug mit einem kräftig wirkenden Zügel. Der Zeitpunkt und die Stärke seiner Anwendung werden allein von dem Mann bestimmt, der am ehesten den Zustand der Strecke zu überschauen vermag, der pflichtgemäß über die Sicherheit des Zugs zu wachen hat: vom Lokomotivführer. Erst dadurch, daß er nicht nur die Peitsche, in Form des Reglerhebels, sondern auch den Zügel, nämlich die Bremse, zur Hand hat, wird er zum wirklichen Beherrscher des Zugs.
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Freilich kann der Führer keine unumschränkte Herrschaft ausüben. Seine Regierungsmaßnahmen sind vielmehr abhängig von der Verfassung, welche die Natur dem Schienenreich gegeben hat. Der Zügel mag noch so kräftig, seine Wirkung so rasch wie nur irgend möglich sein, er darf nicht in einer Weise angezogen werden, die ein augenblickliches Anhalten des mit voller Geschwindigkeit laufenden Zugs bewirkt. Denn in diesem wohnt die lebendige Kraft. Sie kann, je nach ihrer Stärke, nur nach Ablauf einer längeren oder kürzeren Zeit zum Verschwinden gebracht werden, wenn der Zug nicht schwer gefährdet werden soll.
Die lebendige Kraft, die einem Schnellzug unserer Tage eigen ist, gleicht der eines Geschosses, das aus weitem Rohr abgefeuert ist. Trifft ein solches mitten auf seinem Weg ein festes Ziel, etwa einen Schiffspanzer, der seine Bewegung plötzlich aufhebt, so wird sein Mantel innerhalb des Bruchteils einer Sekunde rotglühend. Die lebendige Kraft kann eben nach dem Gesetz über ihre Erhaltung, das wir durch Julius Robert Mayer und Helmholtz kennen, auf keine Weise restlos vernichtet werden. Mit Vorliebe wandelt sie sich in Wärme um. Alle Teile eines in rascher Bewegung befindlichen, jählings gehemmten Körpers aber, die nicht unverrückbar festgehalten werden, setzen mit außerordentlicher Kraft die Bewegung fort. Gelänge es also auch, die Wagen eines Schnellzugs so machtvoll zu zügeln, daß sie auf der Stelle stehen blieben, so würde doch alles, was sich in den Abteilen befindet, mit ungeheurem Stoß gegen die Vorderwand geschleudert werden. Die Gepäckstücke würden wie Kanonenkugeln durch die Luft sausen, die Menschen mit fürchterlicher Gewalt von den Sitzen geschleudert werden. Alle Erscheinungen eines Eisenbahnzusammenstoßes würden auftreten, denn dessen zerstörende Wirkung entsteht ja durch nichts anderes, als eben durch die plötzliche Abdrosselung der lebendigen Kraft des Zugs.
Aus diesem Grund sind die Bemühungen all der zahllosen Erfinder unsinnig, die sich immer von neuem damit abquälen, Vorrichtungen zum augenblicklichen Anhalten von Schnellzügen zu erdenken. Was sie durch ihre Erfindung verhindern wollen, die Folgen eines urplötzlichen Stoßes, würde gerade durch diese Art der Zügelung herbeigeführt werden.
Es kann sich also nicht darum handeln, zur Hemmung der Züge etwa Pfähle von der Lokomotive oder den Wagen aus senkrecht in die Bettung zu stoßen, sondern man muß für die Beendigung der Zugbewegung ein Mittel anwenden, das zwar rasch wirkt, aber die lebendige Kraft doch nur allmählich vernichtet. Man muß ihr unbedingt eine gewisse Zeit lassen, eines natürlichen Todes zu sterben. So will es die Allmeisterin Natur, gegen deren Verfügungen es keine Berufung gibt.
Als bestes Mittel zum Anhalten der Züge in dieser Art hat sich das Andrücken von Bremsklötzen gegen die Laufkränze der Räder erwiesen. Hierbei tritt eine Umwandelung der lebendigen Kraft des Zugs in Wärme ein. Klötze und Radreifen erhitzen sich.
Früher einmal hat man versucht, die Schlittenbremse zu verwenden, bei der Platten gegen die Schienenköpfe gepreßt wurden. Aber diese Platten richteten beim Schleifen über Weichenzungen und Herzstücke böse Zerstörungen im Gleis an, sie entlasteten ferner die Achsen der Fahrzeuge, so daß Entgleisungsgefahr entstand. Heute ist darum ausschließlich die Räderbremse in Anwendung.
Mit ihrer Hilfe ist man imstande, selbst die schwersten Schnellzüge aus der Höchstgeschwindigkeit von 100 Kilometern in der Stunde mit einem Bremsweg von 500 bis 600 Metern zum Halten zu bringen. Als Bremsweg bezeichnet man die Strecke, die der Zug vom ersten Anstellen der Bremse bis zum völligen Stillstand durchläuft. Sie[308] darf keinesfalls um ein beträchtliches größer sein, als eben angegeben, da sonst die Stellung der Signale in einer Weise geändert werden müßte, die nicht angängig ist. Darüber werden wir in Abschnitt 21 noch Näheres hören.
Die bei den heutigen Bremsen unmittelbar wirkenden Teile, die Bremsklötze, werden aus Gußeisen hergestellt, das mit Stahlabfällen zusammengeschmolzen ist. Werden ihre Oberflächen gegen die stählernen Radreifen gepreßt, so ergibt das eine genügend starke Reibung, um die Geschwindigkeit der Fahrzeuge hinunterzusetzen.
Die Stärke der Bremsung ist abhängig von dem Grad der Reibung zwischen Klötzen und Rädern. Dessen Größe aber bleibt bei gleichem Bremsdruck nicht unverändert. Der Wert der Reibung zwischen Klotz und Radreifen wächst nämlich mit sinkender Geschwindigkeit. Drückt man im Anfang die Bremsen auch nur sanft an, so entsteht hierdurch, wenn der Zug sich dem Stillstand nähert, ganz von selbst eine sehr starke Bremskraft. Die Bremsung darf also nicht zu kräftig einsetzen, was an sich wünschenswert wäre, da sonst ein ruckendes Anhalten des Zugs stattfinden würde. Und dies ist um so mehr zu befürchten, als die heute bei uns üblichen Bremsbauarten ein Verringern des Bremsdrucks innerhalb eines und desselben Bremsvorgangs nicht gestatten. Schon hieraus geht hervor, daß das Bedienen der Bremsen keine rein handwerksmäßige Arbeit ist, sondern eine recht bedeutende Kunstfertigkeit erfordert.
In ganz besonders sorgfältiger Weise muß darauf geachtet werden, daß die Räder durch die Klötze nicht vollkommen festgestellt werden. Sie müssen sich, solange der Zug in Bewegung ist, immer noch etwas drehen können. Die Erfahrung hat nämlich die eigenartige Tatsache gelehrt, daß die Reibung eines auf der Schiene wenn auch noch so langsam rollenden Rads weit größer ist als die des nur gleitenden Rads. Die kräftigste Reibung, also die Vollbremsung, tritt ein, wenn die Räder sich nur noch ganz sacht drehen. Da gerade am Ende der Bewegung die höchste Bremskraft ausgeübt werden muß, damit genau an der bestimmten Stelle gehalten werden kann, müssen die Klötze so eingestellt werden, daß die Rollgrenze der Räder nicht überschritten wird. Wenn dies der Fall ist, sinkt die Bremswirkung plötzlich sehr bedeutend. Außerdem würde das Gleiten ein Unrundwerden der Räder verursachen, das beim Fahren sehr unangenehme Bewegungen der Fahrzeuge hervorruft, und auch die Schienen würden in ungünstiger Weise abgenutzt. Hierauf also hat der Lokomotivführer sehr genau zu achten.
Er muß auch unmittelbar vor dem Stillstand des Zugs die Bremsen wieder lösen. Tut er dies nicht, so schwingen die Wagenkasten, wenn das Laufwerk bereits stillsteht, auf ihren nachgiebigen Federn noch ein Stück weiter nach vorn. Alsbald aber reißen die Federn die Kasten wieder zurück, wodurch der bekanntlich sehr unangenehme Rückstoß beim Anhalten entsteht. Ein Lokomotivführer, der das Bremshandwerk gut versteht, kann diesen Stoß vermeiden, indem er durch rechtzeitiges Lösen der Bremsen einen etwas längeren Auslauf herbeiführt.
Die Klötze werden nicht aus vollem Eisen hergestellt, sondern haben in ihrem Rücken einen tiefen Einschnitt. Dieser wird angebracht, damit die Klötze eine möglichst große Oberfläche erhalten. Je ausgedehnter diese ist, desto rascher können die Eisenstücke die Wärme ausstrahlen, die ihnen durch die Reibung bei der Bremsung zugeführt wird.
Im gelösten Zustand sollen alle Teile der kreisförmig gebogenen Klotzoberflächen sich[309] in einem Abstand von etwa einem Zentimeter vom Radreifen befinden. Da die Klötze sehr stark abgenutzt werden, so müssen im Bremsgestänge, das die Kraft des Bremsmittels zu den Klötzen überträgt, Vorrichtungen zum Nachstellen vorhanden sein. Viele Gestänge sind so eingerichtet, daß diese Nachstellung selbsttätig erfolgt. Wenn der Verschleiß weit vorgeschritten ist, müssen die Klötze natürlich ausgewechselt werden. Durch die in den Vorschriften für die Wagen festgelegten Untersuchungen ist eine genügende Beaufsichtigung unbedingt gewährleistet. Das Gestänge sorgt dafür, daß sämtliche Bremsklötze eines Wagens mit gleicher Kraft angedrückt werden. Es steigert den Bremsdruck um ein Mehrfaches, indem es ihn durch ungleicharmige Hebel auf die Klötze überträgt.
Man bringt heute an jedem Rad stets zwei Klötze an, die einander in der Durchmesserlinie gegenüberstehen. Hierdurch wird verhindert, daß ein einseitiger Druck gegen die Achsen entsteht, wodurch diese verbogen werden könnten. Auch ein Heißlaufen der Lager durch einseitige Beanspruchung wäre sonst zu befürchten.
Die Bremswirkung, die auf einen Zug ausgeübt werden kann, hängt ab von der Zahl der bremsbaren Achsen. Am raschesten wird man ohne Stoß anhalten können, wenn alle Achsen bremsbar sind. Dies ist daher in Deutschland für alle rascher fahrenden Züge vorgeschrieben.
Bei gewöhnlichen Güterzügen mit ihrer geringen Fahrgeschwindigkeit wird die Bremsbarkeit aller Achsen nicht als notwendig erachtet. Damit aber auch jeder von diesen Zügen mit einem Bremsweg von 600 bis höchstens 700 Metern stets mit Sicherheit zum Stillstand gebracht werden kann, muß jeder eine bestimmte Zahl bremsbarer Achsen haben. In Bremstafeln, die auf Grund langer Erfahrungen und wissenschaftlicher Erkenntnis berechnet sind, ist vorgeschrieben, wieviel Bremsachsen für jede der wechselnden Gesamtachsenzahlen der Güterzüge notwendig sind. Ferner ist bei dieser Bestimmung auch die stärkste Neigung in Betracht zu ziehen, die sich auf der vom Güterzug zu durchfahrenden Strecke befindet. Je stärker die Strecke abfällt, desto mehr Bremsachsen müssen sich im Zug befinden. Bei Gebirgsbahnen ist daher auch in Güterzügen stets eine sehr erhebliche Zahl der Achsen gebremst. Der Güterwagenpark ist in bremsbare und in nicht bremsbare Wagen geteilt. In Preußen sowohl wie in ganz Deutschland ist nicht mehr als ein Drittel aller Güterwagen mit Bremsvorrichtungen versehen.
Neben der Kraft der Bremsung, die auf das Einzelfahrzeug ausgeübt wird, kommt ferner die Art ihres Auftretens im Verlauf des ganzen Zugs in Betracht. Am besten wird eine solche Bremse wirken, die ihre Kraft ganz gleichmäßig und gleichzeitig an allen Zugteilen äußert, alle bremsbaren Fahrzeuge gleichmäßig verlangsamt.
Während der Fahrt hat der Zug eine gestreckte Form. Bei Personenzügen sind die Pufferfedern fast ganz, bei den lose gekuppelten Güterzügen vollständig entlastet. Die Kupplungen sind gestrafft. Wenn jetzt eine Ungleichmäßigkeit beim Bremsen auftritt, z. B. die vorderen Wagen bereits stark gehemmt sind, während die Bremsung am Zugende gerade erst einsetzt, dann entsteht ein Zusammendrücken des Zugs, indem die letzten Wagen auf die vorderen auflaufen. Die gepreßten Pufferfedern üben alsbald einen Rückstoß aus, und es entsteht so eine hin und her gehende Bewegung, ein Zucken im Zug, das leicht ein Zerreißen von Kupplungen herbeiführen kann. Wenn die für den Zug verwendete Bremsart ungleichmäßiges Abstoppen befürchten läßt, muß langsam gebremst werden. Der Bremsweg wird hierdurch länger.
Man unterscheidet heute in der Hauptsache drei Arten von Bremsen: die Einzelbremsen, bei denen die auf jeden Wagen ausübbare Bremskraft unabhängig von der bei[310] jedem anderen ist, die durchgehenden Bremsen, die eine zusammenhängende Einwirkung auf den ganzen Zug ermöglichen und die zwischen diesen beiden Arten liegenden Gruppenbremsen, welche gestatten, mehrere aufeinanderfolgende Wagen eines Zugs von einer Stelle aus gleichzeitig zu bremsen; die einzelnen Gruppen sind dann durch nicht bremsbare Wagen getrennt. Die Gruppenbremse kommt hauptsächlich für gemischte Züge in Betracht, also für solche, in die Personen- und Güterwagen durcheinander eingestellt werden.
Es ist selbstverständlich, daß die durchgehende Bremse die gleichmäßigste Wirkung hat. Werden doch hier von Einer Stelle aus alle Wagen des Zugs zur selben Zeit gebremst. Die Stelle, von der aus die Bremsung eingeleitet wird, ist naturgemäß die Lokomotive. Damit aber auch eine wirklich gleichmäßige Bremsung eintritt, muß das Bremsmittel so beschaffen sein, daß seine Wirkung überall möglichst zu gleicher Zeit eintritt. Die auf der Lokomotive eingeleitete Bremsung muß raschest auch am letzten Wagen zu wirken beginnen. Das ist nur möglich, wenn die Durchschlagsgeschwindigkeit des Bremsmittels sehr groß ist.
Als Kräfte zur Ausübung der Bremsung werden heute angewendet: die Kraft des menschlichen Arms, die lebendige Kraft des Zugs, Gewichtsdruck, Dampf, Druck der atmosphärischen Luft gegen Kolben in Räumen mit verdünnter Luft (Luftsaugebremse) und gepreßte Luft (Druckluftbremse).
Obgleich die Technik heute bestrebt ist, den Menschen von schwerer körperlicher Arbeit, soweit es irgend möglich ist, zu entlasten, und obwohl die Anwendung von Maschinenkräften für die Zugbremsung aufs beste bewährt ist, herrscht seltsamerweise in Deutschland die von Menschenhand betätigte Eisenbahnbremse heute noch vor. Wegen der geringen Kraft, die der Mensch auszuüben vermag, ist die Handbremse nur als Einzelbremse verwendbar.
Die Betätigung der Handbremse geschieht meistens dadurch, daß der Bremser eine wagerecht stehende Kurbel im Sinn des Uhrzeigers bewegt. Hierdurch dreht er eine senkrecht stehende Spindel, die an ihrem Ende ein kräftiges Gewinde hat. Auf diesem Gewinde wird eine Mutter emporgeschraubt. An dieser sind Hängeeisen befestigt, welche die Bewegung der Mutter auf das Bremsgestänge übertragen und so das Andrücken der Klötze bewirken. Die Anordnung ist auf Bild 266 (am Schluß des Buchs) oben links zu erkennen.
Auch die Wagen der Personenzüge sind fast sämtlich mit Handbremsen ausgerüstet, die dann benutzt werden sollen, wenn die durchgehende Bremse versagt. In den D-Wagen befinden sich keine wagerechten Kurbeln, sondern es ist zur Ersparung von Platz an der einen Stirnwand jedes Wagens im durchlaufenden Gang ein senkrecht liegendes Handrad mit umlegbarem Griff angebracht. Die Drehung wird durch Kegelräder auf die senkrechten Spindeln übertragen.
Seltener werden Handbremsen durch Gewichtshebel betätigt. Hierbei wirkt ein auf dem langen Arm eines ungleicharmigen Hebels aufgeschraubtes Gewicht nach Umlegen des Hebels so, daß es die mit dem Bremsgeschirr verbundene Stange anhebt. Für Tender in Preußen sind derartige Gewichts- oder Wurfhebelbremsen vorgeschrieben.
In Deutschland werden heute noch sämtliche Güterzüge, ausgenommen die Eilgüterzüge, mit Handbremsen gefahren. Eine durchgehende Bremse ließ sich hier bisher nicht anwenden, weil noch bis vor kurzem keine solche vorhanden war, deren Durchschlagsgeschwindigkeit für die bei Güterzügen üblichen, sehr bedeutenden Längen genügte. Eine großartige Änderung steht aber in diesem Bezirk bevor; wir werden hiervon am Ende dieses Abschnitts hören.
[311]
Die Handbremse hat sehr viele Nachteile. Zunächst verursacht ihre Bedienung große Kosten, da zu diesem Zweck eine zahlreiche Mannschaft über den ganzen Zug verteilt sein muß. Auf jedem mit Bremse versehenen Wagen muß sich ein Mann befinden. Obgleich also bei dieser Anordnung menschliche Denkkraft über jeder einzelnen Bremse waltet, tritt doch die Bremswirkung nirgend so unregelmäßig ein wie gerade hier.
Der Befehl zum Anziehen der Bremsen wird durch den Lokomotivführer gegeben. Nach der Signalordnung für die Eisenbahnen Deutschlands hat er zunächst mit der Dampfpfeife einen langen Ton abzugeben, der „Achtung!“ bedeutet. Ein darauffolgender kurzer Pfiff befiehlt mäßiges Anziehen der Bremsen, drei kurze Töne schnell hintereinander fordern zu kräftiger Bremsung auf. Das Lösen wird durch zwei lange Töne anbefohlen.
Es ist leicht einzusehen, daß ein gleichmäßiges Bremsen auf diese Weise nicht erwirkt werden kann. Das Pfeifensignal wird nicht überall zu gleicher Zeit gehört, da mancher Bremser draußen auf der Plattform steht, während andere in ihren fest verschlossenen Häuschen sitzen. Sehr häufig verschlingt das Rasseln des Zugs, insbesondere auf eisernen Brücken und in Tunneln, den Ton der Pfeife vollständig. Nebelige Luft wird von den Schallwellen nur schwer durchdrungen. So kommt es, daß schon der Befehl die einzelnen Bremser zu ungleicher Zeit erreicht. Dann aber ist auch die Geschwindigkeit verschieden, mit welcher der einzelne Mann sich zur Kurbel begibt. Während der eine rasch heranspringt, wird der andere sich, insbesondere im Winter, wenn schwere Bekleidung die Bewegungen hemmt, nur langsam von seinem Sitz erheben und die Kurbel erst anfassen, wenn andere die Bremse schon fest angezogen haben. Auch die Geschwindigkeit der Kurbeldrehung ist ungleich. Stöße beim Bremsen sind daher in Güterzügen ganz unvermeidlich. Darum kann ihre Geschwindigkeit über 30 bis 40 Kilometer in der Stunde nicht gesteigert werden. Die Besprechung der neuen Güterzugbremse wird uns noch Gelegenheit geben, zu erörtern, welchen unliebsamen Einfluß diese langsamen Güterzugfahrten auf den gesamten Eisenbahnverkehr ausüben. Die Lokomotiven könnten ohne Schwierigkeiten schwer und stark genug gemacht werden, um auch mit den längsten Zügen sehr viel schneller zu fahren.
Eine Zeitlang haben die Eisenbahntechniker ihre Aufmerksamkeit der Ausnutzung der lebendigen Kraft der Züge für die Herbeiführung der Bremsung zugewendet. Diese lebendige Kraft ist es ja gerade, die beim Bremsen vernichtet werden soll, sie bietet sich also zur Verwendung für die Hemmung von selbst an. Stephenson bereits hat das Zusammendrücken des Zugs bei Verlangsamung der Lokomotivfahrt zum Aufhalten der Wagen benutzt. Beim Eindrücken der Stoßvorrichtungen wurden die Bremsgestänge bewegt, und die Klötze dadurch angezogen. Aber da die Wirkung einer solchen Bremse erst eintritt, wenn das Auflaufen der Wagen bereits stattgefunden hat, so ergaben sich sehr starke Stöße, die schon bei geringen Zuggeschwindigkeiten Zerreißungen der Kupplungen herbeiführten. Diese Bremsart ist deshalb alsbald verlassen worden.
Günstigere Ergebnisse brachte bereits die Anordnung von Heberlein (Bild 265). Hier ist auf eine Achse jedes Bremswagens eine besondere runde Scheibe geschraubt. Wenn gebremst werden soll, senkt sich eine Vorrichtung so lange, bis sich eine daran befestigte Rolle gegen die Scheibe auf der Achse legt. Sobald diese Rolle sich mitdreht, wickelt sie eine Kette auf, die über eine Übertragung hinweg eine zweite am Bremsgestänge angreifende Kette anzieht. Auch bei uns ist die Heberlein-Bremse einstmals ziemlich viel verwendet worden; sie ist noch heute auf Nebenstrecken bei ganz langsam fahrenden Zügen in Gebrauch. Zahlreiche Schwächen, die sie besitzt, verhindern jedoch ihre Verwendung auf Hauptbahnen.
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Zunächst ist bei dieser Anordnung die Bremswirkung abhängig von dem Zustand der Scheiben und Rollen, die sich gegeneinander pressen. Feuchtigkeit, Eis und Schnee setzen den Reibungswert stark hinunter. Das Absenken der Bremsvorrichtungen erfolgt durch Nachlassen eines Seils, das über die Dächer der Wagen hinläuft. Eis macht das Seil steif und zerstört es schnell. Für das Auf- und Abrollen ist eine Haspel auf der Lokomotive aufgestellt. Da jedesmal große Seillängen auf- oder abgewunden werden müssen, so ermüdet häufiges Bremsen die Lokomotivmannschaft ganz bedeutend. Bei Zügen mit vielen Wagen werden die Seillängen allzu groß. Die Durchschlagsgeschwindigkeit ist naturgemäß so gering, daß ein gleichmäßiges Abbremsen solcher Züge unmöglich wird.
In ähnlicher Weise wirkt die Gewichtsbremse, die in der durch von Borries geschaffenen Form auf Nebenbahnen heute noch hier und da verwendet wird. Hier ist gleichfalls ein Seil über die Wagendächer gespannt. Bei seinem Nachlassen drückt ein hinuntergehendes Gewicht die Bremsklötze durch unmittelbare Beeinflussung des Gestänges an. Eine Abhängigkeit der Bremskraft von der Witterung ist hier nicht mehr vorhanden. Die Haspel wird meist im Gepäckwagen aufgestellt, wo der Zugführer sie, entsprechend den durch die Pfeife gegebenen Befehlen des Lokomotivführers, zu bedienen hat. Der Anwendungsbereich der Gewichtsbremsen wird ebenfalls durch geringe Durchschlagsgeschwindigkeit und schwere Bedienbarkeit eingeschränkt.
Zur Betätigung einer kräftig wirkenden, durchgehenden Bremse scheint auf den ersten Blick der Dampf besonders geeignet. Ist er doch im Kessel stets in großen Mengen vorhanden, seine Leistungsfähigkeit außer Zweifel. Dennoch wird er für Zugbremsung nirgend angewendet. Der Dampf hat ja die störende Eigenschaft, durch Erkalten seine Wirksamkeit rasch zu verlieren und sich zu Wasser niederzuschlagen. Da die Bremsleitungen nur absatzweise, nach oft sehr langen Pausen, benutzt werden, so würde bei Anwendung von Dampf sich in ihnen rasch sehr viel schädliches Wasser bilden, das nicht schnell genug entfernt werden könnte. Für die Lokomotive selbst werden Dampfbremsen jedoch häufig verwendet, da die vom Kessel kommenden Leitungen hier nur kurz sind und stets warm gehalten werden können. In Notfällen kann der Dampf als überaus kräftige, freilich[313] mit starken Stößen wirkende Bremse dadurch verwendet werden, daß der Führer die Steuerung der Maschine rasch für die entgegengesetzte Fahrtrichtung umlegt, also Gegendampf gibt. Alsdann wirkt der in die Zylinder tretende Dampf der Kolbenbewegung stets entgegen und verlangsamt sie sehr geschwind.
Durch eine nunmehr in vier Jahrzehnten des Eisenbahnwesens gewonnene Erfahrung hat sich herausgestellt, daß einzig Luft, gepreßt oder verdünnt, das geeignete Mittel für die Schaffung einer durchgehenden Bremse ist. In Deutschland wird fast ausschließlich Preßluft oder Druckluft angewendet, weshalb wir hier nur die Druckluftanordnungen ausführlicher besprechen wollen. Es besteht bei uns die Vorschrift, daß auf Hauptbahnen alle Züge, die mit 60 und mehr, auf Nebenbahnen alle Züge, die mit mindestens 30 Kilometern Stundengeschwindigkeit fahren, durchgehende Bremsen haben müssen; diese Anordnung ist tatsächlich gleichbedeutend mit der Bestimmung, daß alle Züge dieser Art mit Druckluftbremsen ausgerüstet sein müssen. Wagen, die in solchen Zügen laufen sollen, müssen entweder Bremsvorrichtungen besitzen oder mit Rohren und Kupplungsschläuchen zur Fortleitung des Bremsmittels versehen sein. Sie heißen dann Leitungswagen.
Eine durchgehende Bremse, die allen Anforderungen des neuzeitlichen Zugbetriebs entsprechen soll, muß viele Bedingungen erfüllen. Eine Anordnung, die tatsächlich sämtliche erwünschten Fähigkeiten besitzt, ist im Augenblick noch nicht in Anwendung. Aber auch die bei den deutschen Bahnen schon heute allgemein verbreiteten Bremsarten sind ganz vorzüglich. Sie genügen vollständig zur Aufrechterhaltung eines auf Einhaltung größter Pünktlichkeit gestellten Betriebs und zur Abwendung vieler Gefahren, soweit dies überhaupt durch eine Bremse möglich ist.
Eine vollkommene durchgehende Bremse müßte den folgenden Ansprüchen genügen:
Die erste Anforderung versteht sich von selbst. Die zweite ist wegen des sonst entstehenden Auflaufens der Wagen notwendig, was bereits erörtert wurde.
Die Abstufbarkeit der Bremsung (Forderung 3) macht den Führer erst wirklich zum Herrn des Zugs. Er kann hierdurch die Schnelligkeit der Fahrt nach seinem Belieben abdrosseln, dem Zug eine mäßige Geschwindigkeit geben, ohne ihn anzuhalten, und auch in langen Gefällen vermag er ihn vollkommen unter seine Botmäßigkeit zu zwingen.
Die Schnellbremsung (Forderung 4) ist das beste Mittel zur Abwendung plötzlich auftretender Gefahren, und sie allein gewährt die Möglichkeit, noch rechtzeitig anzuhalten,[314] wenn ein Signal, das Fahrt Frei zeigt, kurz bevor die Maschine an ihm vorbeigeht, plötzlich auf Halt gestellt wird.
Die stufenweise Lösbarkeit (Forderung 5) ist in langen Gefällstrecken besonders wichtig. Wo sie nicht vorhanden ist, muß der Führer, wenn er zu stark gebremst hat, so daß der Zug unbeabsichtigt stehen bleibt, die Bremsen vollständig lösen, ehe er eine neue, schwächere Bremsung einleiten kann. Während des Lösens kann der nun ungehemmte Zug aber leicht eine zu große Geschwindigkeit erlangen, so daß Entgleisungsgefahr entsteht. Auch für die Einfahrt in Bahnhöfe ist die Lösbarkeit sehr erwünscht, weil sonst bei zu stark verzögerter Einfahrgeschwindigkeit oder gar bei verfrühtem Anhalten stets die Einleitung einer neuen Bremsung notwendig ist, die leicht zum Überfahren der vorgeschriebenen Haltestelle führen kann, da bis zum Eintritt ihrer Wirkung ja stets eine gewisse Zeit vergehen muß. Auch der starke Luftverbrauch durch das gänzliche Ablassen der einmal benutzten Bremsluft und die notwendige Verwendung stets neuer Druckluft kommen in Betracht, da für deren Bereitung viel Kraft und eine entsprechende Menge Kohle verbraucht wird.
Eine vollkommene Bremse muß stets in voller Bereitschaft sein (Forderung 6). Auch nach Vornahme mehrerer Betriebsbremsungen, ja selbst nach einer Schnellbremsung, muß immer wieder sofort ein neuer Bremsvorgang möglich sein, denn jede Sekunde kann neue Gefahren bringen. Die Eigenschaft steter, unbedingter Bereitschaft kann aber nur eine solche durchgehende Bremse besitzen, deren Kraftquelle unerschöpfbar ist.
Als ganz besonders wichtig ist Forderung 7, die Selbsttätigkeit der durchgehenden Bremse, überall anerkannt. Ohne diese Eigenschaft ist jede Anordnung solcher Art unbrauchbar. Der Führer muß sich ja auf die Bereitschaft seiner Bremse stets verlassen können. Es wäre schlimm, wenn diese schon bei jeder in einem Schlauch auftretenden Undichtigkeit versagte. Die Selbsttätigkeit bringt nun mit sich, daß bei starken Undichtigkeiten und noch vielmehr beim Zerreißen des Zugs die Bremsen überall von selbst anschlagen. Abgetrennte Zugteile bleiben von selbst stehen, da sie festgebremst werden. Sie können also auf Steigungen nicht rückwärts rollen, was schwerste Gefahren hervorrufen würde. Die Selbsttätigkeit gibt ferner die Möglichkeit, den Zug von jedem Abteil aus durch Ziehen an einem Handgriff abzubremsen.
Man sieht aus diesen sieben Forderungen, daß es keineswegs leicht ist, eine wirklich brauchbare durchgehende Bremse zu bauen. Die Bremsarten, die heute überhaupt noch in Betracht kommen können, dürfen allenfalls die Forderungen 5 und 6 (stufenweise Lösbarkeit und Unerschöpfbarkeit) unerfüllt lassen. Allen übrigen aber muß restlos entsprochen werden.
Wenn man Druckluft als Bremsmittel verwendet, so wäre die folgende Bauart am einfachsten:
Auf der Lokomotive befindet sich eine dampfangetriebene Pumpe, die gepreßte Luft in einem Behälter speichert. Unter Einschaltung eines durch den Führer steuerbaren Ventils geht von diesem Behälter eine Rohrleitung ab, die den Zug bis zu seinem Ende durchläuft. Unter jedem Fahrzeug befindet sich eine Abzweigung zu dem an das Untergestell gehängten Bremszylinder. In diesem ist ein luftdicht eingesetzter Kolben beweglich angeordnet. Sobald der Führer durch Öffnen des Ventils Druckluft in die Leitung läßt, wird der Kolben im Zylinder vorgetrieben, er bewegt das Bremsgestänge und drückt die Klötze an. Durch das gleiche Führerventil in anderer Stellung kann die Leitung unter Abschluß vom Behälter mit der Außenluft in Verbindung gebracht werden. Je nach der Menge der Druckluft, die man hierbei austreten läßt, findet ein stufenweises Lösen der[315] Bremsen statt. Auch für das Anziehen ist eine Abstufung ohne weiteres erreichbar, und desgleichen kann eine Schnellbremsung durch Eröffnung einer weiten Verbindung mit dem Druckluftbehälter leicht herbeigeführt werden.
Dadurch wird den Forderungen 1, 3, 4, 5 und, bei sehr großem Speicherbehälter, auch der Forderung 6 entsprochen. Aber das Anziehen der Bremsen erfolgt nicht gleichzeitig unter allen Fahrzeugen, und die Vorrichtung ist nicht selbsttätig. Die Forderungen 2 und 7 bleiben also unerfüllt. Ihre Wichtigkeit ist aber so bedeutend, daß Bremsen der eben geschilderten Art heute für Vollbahnen nicht mehr in Betracht kommen können.
Bei der eben beschriebenen Anordnung muß die Luft, um die Bremsung auch des letzten Wagens herbeizuführen, jedesmal die ganze Leitung von der Lokomotive an durcheilen und sämtliche Bremsbehälter anfüllen. Hierzu braucht sie Zeit. Und sind es auch nur wenige Sekunden, so genügen diese doch schon, um ein schädliches Auflaufen herbeizuführen. Tritt eine Beschädigung der Leitung ein, so spricht die Bremse nicht mehr an. Eine Notbremsung von den einzelnen Abteilen aus ist nicht möglich. Auch das Lösen der Bremsen geht sehr langsam vor sich, da die Luft ja nur eine einzige Austrittsöffnung im Führerventil hat. Der Verbrauch an Luft ist außerordentlich groß, was viel Geld kostet.
Aus all diesen Gründen ist man von der an sich einfachen Bauart mit unmittelbarer Wirkung der Druckluft ganz abgekommen. Alle heute gebräuchlichen Luftbremsen haben mittelbare Wirkung. Ferner ist kennzeichnend für sie die Aufspeicherung der Bremskraft unter jedem Wagen.
Die in Deutschland zuerst angewendete durchgehende Bremse mit mittelbarer Wirkung und Selbsttätigkeit war die in früheren Jahrzehnten bei uns weit verbreitete Bauart nach Carpenter. Es war eine Zweikammerbremse.
Bei der Fahrt- und Lösestellung der Bremse befand sich der Kolben im Zylinder in einer Mittelstellung, so daß er den Zylinder in zwei Räume oder Kammern teilte. Wenn die Leitung unter Druck gesetzt wurde, so strömte Druckluft unter den Kolben und durch eine schmale Nut in der Zylinderwandung auch über den Kolben, so daß auf dessen beiden Seiten gleicher Druck herrschte. In diesem Zustand, wenn also Hauptleitung und beide Zylinderkammern unter Druck standen, war die Bremse geladen, das heißt zur Arbeit bereit.
Sobald der Führer bremsen wollte, stellte er sein Bremsventil so, daß die Hauptleitung mit der Außenluft in Verbindung kam. Alsbald verminderte sich der Druck in der Hauptleitung und auch in der Kammer auf der Unterseite des Kolbens, die mit der Leitung in unmittelbarer Verbindung stand. Hierdurch wurde der Kolben einseitig entlastet. Die in die obere Kammer gesperrte Druckluft bewegte den Kolben nach unten, und sogleich entfernte sich dieser aus dem Bereich der kurzen Verbindungsnut zwischen den beiden Kammern. Fortab war also die Oberkammer luftdicht abgeschlossen. Je nach dem Grad der Druckverminderung in Hauptleitung und Unterkammer wurde der Kolben mehr oder weniger weit vorgeschoben, und die Bremse dementsprechend angezogen. Eine stufenweise Lösbarkeit war ohne weiteres durch Wiederaufpumpen von Leitung und Unterkammern möglich.
Obgleich die Carpenter-Bremse also ganz vorzügliche Eigenschaften hatte, ist sie heute doch von den Vollbahnen gänzlich verschwunden. Um ein kräftiges Anziehen der Bremsen herbeizuführen, mußte nämlich bei ihr eine sehr große Luftmenge durch das Führerbremsventil entweichen, da ja der gesamte Inhalt der Hauptleitung und der Unterkammern durch die einzige Öffnung im Führerbremsventil hinausgelassen werden mußte.[316] Naturgemäß entleerten sich die Unterkammern der vorderen Wagen geschwinder als die der hinteren, wodurch ungleichmäßige Bremsung eintrat. Diesen Fehler hat man zwar durch Anbringung einer Hilfseinrichtung, nämlich von Auslaßventilen an den einzelnen Wagen, schließlich zu beseitigen vermocht, aber der Bremsvorgang in seiner Gesamtheit ging, insbesondere bei Gefahrfällen, doch nicht schnell genug vor sich. Bei den heutigen langen und schnellfahrenden Zügen ist aber eine solche Verzögerung ganz unzulässig, weil sie schwere Gefahren bringen kann. Auch der Druckluftverbrauch der Zweikammerbremse war sehr groß, was den Bremsbetrieb verteuerte und erschwerte.
Man ist darum zur Einkammer-Bauart übergegangen, die heute bei uns alleinherrschend ist.
Auch hierbei befindet sich die durchgehende Hauptleitung stets unter Druck. Außer dem Bremszylinder, welcher hier an der einen Kolbenseite, nämlich dort, wo die Stange hinausgeht, offen ist, befindet sich unter jedem Wagen noch ein Hilfsluftbehälter, in dem die Bremsluft gespeichert wird. Dieser Behälter kann durch das Steuerventil sowohl mit der geschlossenen Kammer des Bremszylinders wie mit der Hauptleitung verbunden werden.
In dem Steuerventil finden wir die Seele der gesamten Anordnung eingeschlossen. Obgleich es mit seinem Gehäuse kaum größer als zwei Fäuste ist, vermag es doch außerordentliches zu leisten. Nur der aufs höchste verfeinerten mechanischen Kunst unserer Tage ist es zu verdanken, daß einem schmächtigen Apparat so viele wechselnde Verrichtungen überlassen werden können. Die kleinen Kolben der Steuerventile allein sorgen für die Sicherheit des Zugs. Von ihrer Verläßlichkeit, die trotz der schweren Erschütterungen aller Fahrzeuge gewahrt bleiben muß, hängt es ab, ob der Zug dem auferlegten Zügel gehorcht oder nicht.
In der Fahrt- und Lösestellung sind bei der Einkammerbremse die Hauptleitung, der Hilfsluftbehälter und das Gehäuse des Steuerventils mit Druckluft geladen. Die Kammer des Bremszylinders (das heißt immer die geschlossene Kammer) steht mit der Außenluft in Verbindung. Eine gegen die andere Seite des Kolbens drückende Feder hält diesen eingezogen und damit die Bremsklötze in Abstand von den Radkränzen.
Wenn gebremst wird, verbindet der Lokomotivführer durch geeignete Stellung des Bremsventils wiederum die Hauptleitung mit der freien Luft. Sobald hierdurch der Druck in der Hauptleitung nachläßt, vermindert er sich auch im Gehäuse des Steuerventils; dessen Kolben, der nun einseitig entlastet ist, macht eine kleine Bewegung, wodurch er den Hilfsluftbehälter von der Hauptleitung abschaltet, die Verbindung der Kammer des Bremszylinders mit der Außenluft unterbricht und gleichzeitig eine Verbindung zwischen Hilfsbehälter und Bremskammer herstellt. Die in ihrem Druck nicht verminderte Luft aus dem Hilfsbehälter tritt darauf in die Bremskammer über, drückt den Kolben je nach der Höhe der Druckverminderung, die in der Hauptleitung eingetreten ist, mehr oder weniger stark vor sich her, wodurch ein entsprechendes Anziehen der Bremsen stattfindet. Das Lösen erfolgt durch erneute Erhöhung des Drucks in der Hauptleitung. Hierdurch legt sich das Steuerventil wieder um, stellt die Verbindung zwischen Bremskammer und Außenluft von neuem her, so daß die dort hineingelangte Druckluft hinaus kann. Zugleich wird der Hilfsluftbehälter wieder mit der Hauptleitung verbunden, so daß auch er von neuem aufgefüllt werden kann.
Die Selbsttätigkeit dieser Bremsbauart ist gewährleistet. Die Gleichmäßigkeit des Bremsenanzugs ist sehr groß, da durch die Öffnung im Führerbremsventil ja nur ein[317] Teil der in dem dünnen Hauptleitungsrohr enthaltenen Luft zu entweichen braucht, dagegen keine Entleerung großer Kammern mehr stattfinden muß wie bei der Carpenter-Bauart. Rückwärtige Lösbarkeit aber ist nicht möglich, da die Luft aus den Bremszylindern nur ganz, aber nicht teilweise hinausgeschafft werden kann.
Nachdem wir uns so über die Wirkungsart der Einkammerbremse im allgemeinen unterrichtet haben, wollen wir die wichtigsten Einzelheiten ihres Baus an dem Beispiel der bei uns weitverbreiteten Knorr-Bremse besprechen. (Siehe die Klappblätter am Ende des Buchs.)
Wie bei allen Druckluftbremsen wird die Preßluft auch bei der Knorr-Bremse durch eine auf der Lokomotive aufgestellte Pumpe bereitet. Nach dem Öffnen eines Ventils im Führerstand tritt eine kleine, senkrecht stehende Dampfmaschine in Tätigkeit, deren Kolbenstange nach unten über den Dampfzylinder hinaus verlängert ist und einen zweiten Kolben trägt, der sich gleichfalls in einem Zylinder bewegen kann. Durch das Hin- und Hergehen der Kolben wird Luft in dem zweiten Zylinder zusammengepreßt und in dem Hauptluftbehälter gespeichert, der unter dem Kessel der Maschine aufgehängt ist. In diesem Behälter herrscht gewöhnlich ein Druck von 8 Atmosphären.
Durch das Zusammenpressen auf so hohen Druck wird die Luft im Pumpenzylinder sehr stark erhitzt, was das Arbeiten der Vorrichtung ungünstig beeinflußt. Man ist daher neuerdings dazu übergegangen, die Pressung bis zur Höhe von 8 Atmosphären nicht in Einem Arbeitsvorgang stattfinden zu lassen, sondern die Druckerhöhung in zwei Stufen zu zerlegen. Die Luftpumpe hat dann zwei Luftzylinder, die untereinander liegen. Die Außenwandungen der Zylinder sind mit Rippen versehen, damit sie bei der Fahrt möglichst stark abgekühlt werden. Der zweite, kleinere Zylinder ist bei manchen Luftpumpen von außen her nicht ohne weiteres zu sehen, da er oft schon in und unter dem Rahmen der Lokomotive liegt.
Das Anstellen der Pumpe bei zu tiefem Sinken des Drucks im Hauptluftbehälter findet entweder von Hand statt oder vollzieht sich mittels eines Regelventils selbsttätig; in gleicher Weise kann die Abschaltung bei genügend hohem Druck herbeigeführt werden. Der Abdampf der Luftpumpe wird durch ein Rohr in den Schornstein geleitet, wo er mit einem stöhnenden Geräusch zu entweichen pflegt. Man hört dieses taktmäßige Stöhnen regelmäßig an Maschinen, die abfahrtbereit vor einem Zug liegen.
Vom Hauptluftbehälter geht die Hauptleitung ab, die unter allen Fahrzeugen des Zugs durchläuft. Sie wird zunächst zum Führerbremsventil geführt.
Dieses ist wiederum eine höchst verwickelt gebaute Vorrichtung, ein feinmechanisches Kunstwerk wie das Steuerventil. Der Führer ist imstande, den Bremshebel sechs verschiedene Stellungen einnehmen zu lassen.
Wenn der Bremshebel sich in Stellung 1 befindet, ist der Hauptluftbehälter mit der Hauptleitung verbunden. Durch den hierbei infolge des hohen Hauptbehälterdrucks von[318] 8 Atmosphären in der Bremsleitung erzeugten Druckstoßes wird ein rasches Auffüllen der Leitung, der Hilfsluftbehälter und der Steuerventilkästen bewirkt.
Der Führer darf den Hebel aber nicht lange in Stellung 1 lassen, da der Betriebsdruck in der Leitung und in den Hilfsluftbehältern nicht mehr als 5 Atmosphären betragen darf. Er muß deshalb den Hebel rechtzeitig in Stellung 2 bewegen, bei der die unmittelbare Verbindung zwischen Hauptluftbehälter und Leitung aufgehoben ist.
Auch während der Fahrt nimmt der Hebel diese Stellung ein. In ihr ist die Hauptleitung mit dem Hauptluftbehälter nur noch über ein selbsttätiges Druckminderungsventil verbunden, das in der Hauptleitung den vorgeschriebenen Betriebsdruck von 5 Atmosphären aufrecht erhält. Beim Sinken des Drucks in der Hauptleitung unter den Betriebsdruck, das durch kleine Undichtigkeiten hervorgerufen werden kann, läßt dies Ventil genügend Druckluft aus dem Hauptluftbehälter selbsttätig nachströmen.
Die dritte Stellung, Mittelstellung, wird nur verwendet, wenn die Maschine bei Vorspann als zweite Lokomotive fährt, von der aus der Zug nicht gebremst wird. Alsdann ist das Führerbremsventil nur ein Teil der bis zur ersten Lokomotive durchlaufenden Hauptleitung.
Nach jeder Betriebsbremsung wird der Hebel des Führerventils in die vierte, die Abschlußstellung, gebracht. Alsdann bleibt in der Leitung die durch die Betriebsbremsung herbeigeführte Druckverminderung bestehen, die gewollte Bremsstufe erhalten.
Bei Betriebsbremsung wird in Stellung 5 gegangen. Je nach der Länge der Zeit, während welcher der Führer den Hebel hier dauern läßt, entweicht mehr oder weniger Luft aus der Leitung, und es tritt eine entsprechende Bremsstufe ein. Die Hauptleitung wird bei diesem Vorgang jedoch nicht unmittelbar mit der Außenluft in Verbindung gebracht, das Führerbremsventil läßt vielmehr nur Luft aus einem Ausgleichbehälter abströmen. Erst ein zwischen diesen Behälter und die Hauptleitung geschaltetes Ausgleich-Ventil verbindet dann die Hauptleitung solange mit der Außenluft, bis Druckausgleich zwischen Hauptleitung und Ausgleichbehälter stattgefunden hat.
Dieser zunächst merkwürdig erscheinende Umweg ist eine ganz besondere Feinheit der Bremsanordnung. Würde das Führerbremsventil der Luft in der Hauptleitung ohne weiteres den Ausweg eröffnen, so müßte der Führer, um bei verschiedenen Zügen die gleiche Bremsstufe herbeizuführen, den wechselnden Zuglängen entsprechend jedesmal anders bremsen. Damit in einem Zwölfwagenzug die gleiche Druckverminderung in der Leitung entsteht wie bei einem Sechswagenzug, muß natürlich mehr Luft abgelassen werden, was länger dauert. Eine solche wechselnde Anpassung der Betriebsbremsung an die verschiedenen Zuglängen wäre aber zu schwierig. Das Bremsen, das schon ohnedies eine Kunst ist, würde alsdann niemals mehr mit der notwendigen Genauigkeit ausgeführt werden können. Der Ausgleichbehälter aber, aus dem der Führer durch sein Ventil die Druckluft unmittelbar abströmen läßt, verändert seine Größe niemals. Der Führer hat gelernt, das Bremsen ein für allemal der Größe des Behälters entsprechend auszuführen. Der in diesem hervorgerufene Unterdruck besorgt das verschieden lange Offenhalten des Auslaßventils für die Leitung alsdann von selbst, sowie es den wechselnden Zuglängen entspricht.
Die 6. und letzte Stellung des Hebels am Führerbremsventil führt eine Schnellbremsung herbei. Dies geschieht dadurch, daß ein sehr weiter Auslaß der Hauptleitung ohne weiteres geöffnet wird, so daß eine sehr rasche, sturzartige Entleerung der Leitung stattfindet. Selbst in langen Personenzügen schlagen die Bremsen bei diesem Vorgang so gut wie gleichzeitig überall sehr kräftig an, es wird der kürzeste Bremsweg ohne Zerrungen[319] im Zug erzielt, zumal das Steuerventil in solchem Fall, wie wir noch hören werden, einen besonders kräftigen Bremsdruck entstehen läßt.
Die Bremsen an Lokomotive und Tender sind für unmittelbare Wirkung der Druckluft eingerichtet. Sie brauchen ja nicht selbsttätig zu sein, da ein Abreißen des Tenders von der Lokomotive unmöglich zu geschehen vermag, ohne daß der Führer es bemerkt, und weil das Führerbremsventil hier auch als Notbremse verwendet werden kann. Bei den Lokomotiven sind meist senkrecht stehende Bremszylinder üblich, während diese an den Wagen wagerecht zu liegen pflegen. Ein besonderer Lösehebel gestattet alleiniges Lösen der Bremse an Lokomotive und Tender, während die Wagen gebremst bleiben.
Die unter den Wagen durchlaufende Hauptleitung besteht aus einem fest angebrachten, eisernen Rohr. Die Verbindung von Wagen zu Wagen wird durch Gummischläuche hergestellt. Diese werden durch Bremskupplungen miteinander verbunden. Beim Zusammenfügen der Kupplungen werden durch einfache Drehung der Kupplungsköpfe Gummiringe so fest aufeinander gepreßt, daß eine luftdichte Verbindung entsteht. Vor jedem Schlauchansatz befindet sich ein Hahn, mit dem die feste Wagenleitung abgeschlossen werden kann. An einem Zug, der sich in Bremsbereitschaft befindet, sind sämtliche Hähne geöffnet, bis auf den letzten, der sich in Abschlußstellung befindet.
Wir wissen bereits, daß sich unter jedem Wagen ein Bremszylinder, ein Hilfsluftbehälter und ein Steuerventil in seinem Gehäuse befinden. Die beiden erstgenannten sind meist in einem einzigen Baustück vereinigt. Der Hilfsluftbehälter ist nichts weiter als ein leerer Kasten zur Luftspeicherung. Das Steuerventil, das die Verbindung zwischen Hilfsluftbehälter und Bremskammer zu beeinflussen hat, ist baulich nicht zwischen beide gesetzt, sondern an der Rückwand des Hilfsluftbehälters angebracht. Da der Übertritt der Luft vom Hilfsbehälter zur Bremskammer durch die Steuervorrichtung hindurch erfolgen muß, so ist ein Verbindungsrohr zwischen Steuerventil und Bremskammer quer durch den Hilfsbehälter hindurchgeführt, dessen Innenraum also erst auf diesem Umweg mit der baulich unmittelbar anstoßenden Bremskammer verbunden ist.
Während der Fahrt sind Leitung, Hilfsluftbehälter und Steuerventilkasten mit Preßluft von 5 Atmosphären Druck gefüllt. Die sonst geschlossene Kammer des Bremszylinders steht durch eine Öffnung im Steuerventil in Verbindung mit der Außenluft. Der Bremskolben ist durch die Druckfeder zurückgepreßt.
Bei einer Betriebsbremsung geht folgendes vor sich.
Der Druck in der Hauptleitung und im Steuerventilkasten sinkt. Der Steuerventilkolben verschiebt sich, verschließt die Verbindung des Bremszylinders mit der freien Luft und des Hilfsluftbehälters mit der Leitung. Zugleich wird der Hilfsluftbehälter durch das querende Rohr mit der Bremskammer verbunden, und in diese tritt Druckluft ein. Das Steuerventil wirkt hierbei als Druckminderungsventil, das je nach der Menge der Luft, die der Führer aus der Leitung hat entweichen lassen mehr oder weniger Druck aus dem Hilfsluftbehälter in die Bremskammer läßt. Hierdurch kann der Führer ein stufenweises Bremsen herbeiführen.
Wird aber der Hebel des Führerbremsventils in die Schnellbremsstellung gelegt, dann vermindert sich der Druck in der Hauptleitung sehr rasch. Die Steuerventile schlagen sämtlich sogleich in ihre Endstellung zurück, wodurch nicht nur das Übertreten von Druckluft aus den Hilfsbehältern, sondern auch unmittelbar aus der Hauptleitung in die Bremszylinder bewirkt wird. Das hat einen doppelten Vorteil. Die Hauptleitung wird rasch leer, weil nicht mehr ihr gesamter Inhalt allein durch das Führerbremsventil hinaus muß, so daß[320] eine große Gleichmäßigkeit im Anziehen der Bremsen eintritt, und die Klötze werden weit kräftiger angedrückt als sonst, da ja der volle Leitungsdruck sich dem Druck aus den Hilfsluftbehältern noch zugesellt.
Sollen die Bremsen wieder gelöst werden, so legt der Führer seinen Hebel in die Füll- und Lösestellung. Sofort strömt aus dem Hauptluftbehälter Druckluft in die Leitung, worauf die Steuerventile so umschalten, daß die Hilfsbehälter neu aufgeladen werden und die Bremskammern wieder mit der Außenluft verbunden sind. Sie entleeren sich sogleich, worauf die Druckfeder die Bremsen löst. Damit das pfeifende Geräusch der aus den Bremskammern strömenden Luft nicht mehr so laut hörbar wird, wie es früher der Fall war, ist jetzt von der Ausströmungsöffnung, die nicht am Bremszylinder selbst liegt, sondern in der Wand des Steuerventilkastens, ein Rohr zu dem vorderen, offenen Raum des Bremszylinders geführt, der nun als Schalldämpfer wirkt.
Es geht aus dieser Schilderung hervor, daß ein stufenweises Lösen bei der Knorr-Bremse so wenig wie bei irgendeiner anderen der bisher gebräuchlichen Einkammerbremsen möglich ist. Wenn die einmal hervorgerufene Bremskraft vermindert werden soll, muß stets die gesamte Druckluft aus der Bremskammer hinausgelassen, und der Zug dann von neuem angebremst werden. Dabei kann leicht eine Erschöpfung der Bremse eintreten. Muß der Führer nämlich sofort wieder bremsen, so genügte die Lösezeit nicht, um den Hilfsluftbehälter wieder richtig aufzufüllen. Nach mehrmaligem derartigen Bremsen nimmt deshalb der Druck im Hilfsluftbehälter so stark ab, daß keine ausreichende Bremswirkung mehr möglich ist. Dies kann besonders in Gefällen schädlich wirken.
Um sich bei der Fahrt über lange Gefällstrecken vor einem Durchgehen des Zugs möglichst schützen zu können, steht dem Lokomotivführer noch die Zusatzbremse zur Verfügung. Es ist dies eine Schaltvorrichtung, die gestattet, ohne Hervorrufen einer Bremsung am Zug nur die Bremsen an Lokomotive und Tender selbst anzuziehen. Es wird hier in einfachster Art unmittelbare Wirkung der Druckluft verwendet, so daß stets wieder ganz schnell gebremst werden kann. Hat der Führer im Gefälle zu stark gebremst, so daß der Zug stehen zu bleiben droht, muß er wieder lösen, um von neuem schwächer zu bremsen. Hierbei kann der, wenn auch nur für kurze Zeit, von jeder Hemmung befreite Zug leicht in zu rasche Bewegung geraten. Da hilft die Zusatzbremse, die in der gefährlichen Zeit wenigstens die Räder der Lokomotive und des Tenders gefesselt hält.
Im Zugführerabteil befinden sich ein besonderer Bremshahn und ein Druckmesser, der ständig den in der Leitung herrschenden Druck kundgibt. Der Zugführer soll darauf achten, ob dieser auch stets hoch genug ist. Der Lokomotivführer kann in seinem Stand an zwei Druckmessern die Pressung im Hauptluftbehälter und in der Hauptleitung erkennen. Oft ist auch noch ein Druckmesser für den Bremszylinder der Lokomotive vorgesehen.
Dieselbe Wirkung wie das Führerbremsventil in seiner 6. Stellung bringt die von einem Fahrgast gezogene Notbremse hervor. Das eiserne Kästchen über dem Notbremsgriff in jedem Abteil birgt weit weniger geheimnisvolle Vorkehrungen, als die Fahrgäste oft zu vermuten pflegen. Es ist nämlich nichts weiter darin, als ein kleiner Kniehebel, an den mittels einer Klemme ein durch den ganzen Wagen laufendes Drahtseil angeschlossen ist. Wird durch kräftiges Herunterziehen des Griffs dieses Drahtseil bewegt, so öffnet es ein Ventil, das sich außen an der einen Stirnseite des Wagens befindet. Eine große Öffnung der Hauptleitung wird hierdurch bloßgelegt, und rasches Ausströmen der Leitungsluft tritt ein.
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Die älteren Notbremsventile brachten keine ganz so geschwinde Wirkung hervor. Hierdurch ereignete es sich manchmal, daß der Lokomotivführer die Notbremsung mit einer plötzlich eingetretenen Undichtigkeit in der Leitung verwechselte, und ihr durch rasches Aufpumpen der Leitung entgegenwirkte. Das ist heute ausgeschlossen, da man die Notbremsventile so ausgestaltet hat, daß sie sich trotz des starken Gegendrucks in der Leitung, der sie geschlossen hält, schon bei einigermaßen kräftigem Zug an dem Drahtseil ganz öffnen.
Die älteren Leser werden sich noch des früher auf den deutschen Bahnen allgemein üblichen Notsignals erinnern. Damals war am ganzen Zug entlang auf der — in der Fahrtrichtung gesehen — rechtsliegenden Außenseite eine Leine zwischen Dachkante und oberem Fensterrand gezogen. Mit ihrer Hilfe konnte man, wenn man sie zu erreichen vermochte, die Lokomotivpfeife zum Ertönen bringen und damit dem Führer das Zeichen zum Anhalten geben. Mit Recht ist diese Notleine viel bespöttelt worden. Denn es war in der Tat kaum anzunehmen, daß ein Reisender, den ein anderer totschlagen wollte, in der kurzen Zeit, die Mörder ihren Opfern zur Überlegung zu lassen pflegen, imstande sein würde, das Fenster zu öffnen, hoch nach oben zu greifen und die Leine ein paar Meter lang herabzuziehen. Die Vorkehrung war mehr ein Beruhigungsmittel für ängstliche Gemüter als eine wirkliche Sicherheitsvorkehrung. Oft verwickelte sich die Leine auch in einer der zahlreichen Ösen, durch die sie hindurchgeführt war, und im Winter konnte sie niemals ordentlich bewegt werden, weil sie so steif gefroren zu sein pflegte, daß sie einer Eisenstange glich.
In anderen europäischen Ländern, wie z. B. Österreich und Frankreich, wo die selbsttätigen Bremsen noch nicht überall durchgeführt sind, benutzt man heute als Notsignal vielfach elektrische Stromschließer. Bei Zug an einem Hebel im Abteil ertönt eine Glocke auf der Lokomotive. Auch diese Vorkehrung kann man so einrichten, daß sie selbsttätig wirkt, also bei Zugzerreißung von selbst die Notglocke ertönen läßt. Dies ist bei der Bauart von Prudhomme der Fall. Es sind hier zwei gleich starke Stromquellen, die sich im ersten und im letzten Zugwagen befinden, so gegeneinander geschaltet, daß für gewöhnlich kein Strom durch die Leitung fließt. Sobald jedoch der Zug zerreißt, entstehen zwei getrennte Stromkreise und, wenn entsprechend vorgesorgt ist, ertönt nun im vorderen wie im hinteren Zugteil je eine Glocke. Mit der gründlichen Wirkung der echten Notbremse aber ist die eines solchen Notsignals nicht zu vergleichen.
Die eben beschriebene Knorr-Bremse ist eine Fortbildung der von dem Amerikaner George Westinghouse geschaffenen Vorrichtung, die zum erstenmal die Selbsttätigkeit bei der Druckluftbremse brachte. Noch heute hat die Westinghouse-Bremse die größte Verbreitung bei uns. Sie wird aber allmählich immer mehr von der Knorr-Bremse abgelöst, weil diese eine einfachere Gestaltung des Steuerventils besitzt und auch sparsamer im Luftverbrauch ist. Im Bereich verschiedener deutscher Eisenbahnverwaltungen ist die Schleifer-Bremse, gleichfalls eine Einkammerbauart, in Anwendung.
Andere europäische Länder haben der Luftsaugebremse, insbesondere in der von Hardy geschaffenen Form, den Vorzug gegeben. Sie bietet bei voller Selbsttätigkeit den Vorteil, daß sie nach rückwärts lösbar ist. Für Gebirgsbahnen ist sie darum ganz besonders geeignet.
Bei der Hardy-Bremse herrscht in der Leitung nicht ein erhöhter, sondern ein verminderter Luftdruck. Die Bremskolben werden nicht durch Preßluft gegen den Atmosphärendruck bewegt, sondern die Außenluft selbst hebt die Kolben an, indem sie diese in einen Raum mit verdünnter Luft hineinschiebt. Die Hardy-Bremse besitzt zwei wirksame Kammern.
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Auf der Lokomotive befindet sich ein mit Dampf betriebener Luftsauger. Er stellt durch Absaugen eine Luftverdünnung in der Hauptleitung und in den beiden über und unter dem Bremskolben liegenden Kammern her. Wenn gebremst werden soll, läßt der Führer nach und nach Außenluft in die Leitung und in die untere Bremskammer eintreten. Hierdurch wird der Kolben angehoben und die Bremswirkung hervorgerufen. Durch erneutes Absaugen kann der Luftdruck beliebig wieder vermindert werden, so daß ein stufenweises Lösen stattfindet. Beim Zerreißen des Zugs tritt selbsttätige Bremswirkung ein, Notbremsung ist äußerlich in derselben Weise möglich wie bei den Druckluftbremsen.
Da der wirksame Druck bei der Hardy-Bremse nur gering ist, nämlich kaum mehr als eine halbe Atmosphäre, im Gegensatz zu den meist 5 Atmosphären der Druckluftbremse, so müssen zur Erzielung eines starken Bremsdrucks die Kolben hier sehr viel größer gemacht werden. Das Gewicht des Bremsgeschirrs wird also bedeutend höher. Freilich ist das Abdichten der einzelnen Teile bei dem geringen herrschenden Druck leichter.
Obgleich die Luftsaugebremse in Deutschland nur auf Klein- und Nebenbahnen Eingang gefunden hat, findet man doch auf den Hauptbahnen eine große Reihe von Wagen damit ausgerüstet. Es sind dies die für den durchgehenden Verkehr bestimmten Wagen, welche nach Österreich, Schweden und Dänemark laufen sollen. Damit sie hier ohne weiteres in Züge eingestellt werden können, sind sie außer mit Druckluft- auch mit Saugluftbremsen ausgerüstet. Aus dem gleichen Grund findet man an ihnen hier und da Notsignaleinrichtungen für nicht selbsttätige Bremsen, insbesondere die Bauart Prudhomme.
Eine Luftsaugebremse deutscher Bauart ist die Körting-Bremse.
Bei der außerordentlichen Wichtigkeit, welche die Bremse für die Sicherheit des Zugs besitzt, bestehen bei uns sehr genaue Vorschriften für ihre Prüfung vor der Abfahrt eines jeden Zugs.
Bevor der Fahrdienstleiter auf dem Ursprungsbahnhof das Zeichen zur Abfahrt gibt, muß an dem fertig gereihten Zug festgestellt sein, ob sich die Bremsen überall in ordnungsmäßigem und gebrauchsfähigem Zustand befinden. Zu diesem Zweck werden die wichtigsten Einzelteile nachgesehen, und als schärfste Untersuchung findet die Bremsprobe statt.
Nach Aufforderung durch den hierfür bestimmten Beamten hat der Lokomotivführer eine Betriebsbremsung vorzunehmen. Jeder kennt dieses plötzliche Anschlagen der Bremsen kurz vor der Abfahrt, das, wie wir gesehen haben, auch die Fahrgäste unseres im Anhalter Bahnhof stehenden Schnellzugs ein wenig erschreckte. Der Beamte, dem die Beaufsichtigung der Bremsprobe übertragen ist, sieht nun an sämtlichen Wagen genau nach, ob auch alle Bremsklötze richtig an den Radreifen liegen. Wenn dies der Fall ist, so wurde damit zugleich die Feststellung gemacht, daß alle Abschlußhähne in der Hauptleitung, bis auf den letzten, geöffnet sind. Darauf gibt der Beamte dem Lokomotivführer das Zeichen zum Lösen der Bremsen. Oft werden, um die für längere Wege notwendige Zeit zu ersparen, die Befehle „Bremsen anziehen“ und „Bremsen lösen“ durch eine elektrische Signalleitung gegeben. Die kleinen Einschalttasten, die meist mit einem besonderen Schlüssel betätigt werden müssen, sind gewöhnlich in der Mitte des Bahnsteigs angebracht.
Nach Beendigung der Bremsprobe hat der Führer bei Fahrtstellung seines Ventils den Druckmesser für die Hauptleitung zu beobachten. Der Zeiger soll jetzt fast genau auf 5 Atmosphären einspielen. Sinkt er allmählich, so ist das ein Zeichen, daß sich Undichtigkeiten in der Leitung befinden. Diese müssen unbedingt vor der Abfahrt behoben sein. Ist der Schaden nicht schnell genug auszubessern, so muß der betreffende Wagen aus dem Zug genommen werden.
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Die Bremsprobe ist auf allen Zwischenbahnhöfen zu wiederholen, in denen Wagen in den Zug eingestellt oder von diesem abgehängt werden. Die Untersuchung über das richtige Anliegen der Bremsklötze kann hier jedoch auf den letzten Wagen beschränkt werden.
Auch die Wagenkuppler haben der Herstellung einer sicheren Bremsverbindung besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Vor dem Auseinandernehmen der Kupplungsschläuche zwischen zwei Wagen sind die Leitungshähne auf beiden Seiten zu schließen. Geschieht dies nicht, so wird beim Entkuppeln der ganze Zug durch Entleerung der Leitung abgebremst. Es besteht auch Gefahr, daß die Luftpressung im Innern der Schläuche die Enden beim Entkuppeln scharf auseinander schleudert, so daß der Bedienungsmann schwer getroffen werden kann. Nicht gekuppelte Schläuche sind durch Leerkupplungen, die an jeder Pufferbohle hängen, zu verschließen, damit nicht Fremdkörper in die Leitung gelangen können. Wenn an festgebremsten Wagen, die nicht mehr mit einer Lokomotive in Verbindung stehen, die Bremsen gelöst werden sollen, so kann an jeder Längsseite des Wagens an einem Griff gezogen werden, der eine Entleerung des Hilfsluftbehälters und damit Umschalten des Steuerventils auf Lösestellung herbeiführt.
Es wurde bereits angedeutet, daß die heute benutzten Bremsen für die erhöhten Zuggeschwindigkeiten nicht mehr genügen werden, die man für die nahe Zukunft anstrebt. Es darf als erwiesen gelten, daß die Dampflokomotive auch Stundengeschwindigkeiten von 150 Kilometern einwandfrei zu leisten vermag. Die Krümmungen unserer Hauptbahnstrecken sind flach genug, der Oberbau ist genügend kräftig, um derartige Schnelligkeiten ohne wesentliche Änderungen und Verstärkungen zuzulassen. Da auch die genügende Maschinenkraft unschwer erzeugt werden kann, so besteht kein technischer Grund, weshalb man nicht einzelne Schnellzüge mit 150 Kilometern Stundengeschwindigkeit fahren sollte. Die Bremsen müssen sich dieser Schnelligkeitssteigerung anpassen.
Die Aufgabe ist deshalb besonders schwer zu lösen, weil die lebendige Kraft eines fahrenden Zugs nicht entsprechend der Schnelligkeitssteigerung, sondern unverhältnismäßig viel rascher wächst. Die lebendige Kraft setzt sich zusammen aus der bewegten Masse und der Geschwindigkeit. Sie steigt mit dem Quadrat der Geschwindigkeit an. Ein Zug, der mit 135 Stundenkilometern dahinfährt, braucht nicht um die Hälfte mehr Bremskraft als ein gleich schwerer Zug, der 90 Kilometer in der Stunde zurücklegt, sondern es muß für ihn die doppelte Bremskraft aufgewendet werden. Bei einer Steigerung von 60 auf 180 Kilometer — um noch ein reines Zahlenbeispiel zu nennen — ist nicht die dreifache, sondern die neunfache Bremskraft notwendig. Da die Bremswege bei den schnellfahrenden Zügen der Zukunft aus den schon erwähnten Gründen der Signalstellung keinesfalls länger ausfallen dürfen, so muß also eine Bremse vorhanden sein, die sie sehr viel machtvoller hemmt.
Ein gutes Mittel zur Abkürzung der Bremswege ist die regelmäßige Anwendung des Sandstreuers. Auf gesandetem Gleis kommt ein Zug sehr viel eher zum Halten als auf glatten Schienen. Aus Sicherheitsgründen aber ist die Sandstreuvorrichtung immer nur als Zusatzbremse zu verwerten. Man kann sich allein auf sie nicht verlassen.
Es wäre nun am einfachsten, eine gut wirkende Schnellbahnbremse dadurch herzustellen, daß man durch Vergrößerung der Gestänge-Übersetzung zu den Bremsklötzen den auf die Räder ausübbaren Bremsdruck verstärkt. Das geht aber nicht ohne weiteres.
Wir wissen bereits, daß mit wachsender Geschwindigkeit der Reibungswert zwischen Bremsklötzen und Radreifen abnimmt. Eine wirksame Schnellbahnbremse muß deshalb[324] um so mehr mit sehr starkem Druck einsetzen. Sobald aber die Geschwindigkeit sich ermäßigt, wächst der Reibungswert rasch an, und bei hohem Anfangsdruck besteht die Gefahr, daß die Räder vor Anhalten des Zugs festgestellt werden, also auf den Schienen gleiten, wodurch eine plötzliche, sehr starke Verminderung der Bremskraft eintreten würde. Mit Hilfe des Führerbremsventils läßt sich innerhalb desselben Bremsvorgangs eine Minderung des Drucks der angezogenen Bremsen wegen der mangelnden Lösbarkeit der bei uns verwendeten Bauarten nicht erreichen. Es muß also versucht werden, diese Verminderung bei der Schnellbahnbremse auf anderem Weg herbeizuführen.
Geheimer Oberbaurat Kunze hat eine sehr beachtenswerte und auch bereits mit guter Wirkung ausgeprobte Bauart für Schnellbahnbremsen angegeben, die eine solche Wirkung hat. Die Bremsklötze sind hierbei nicht mehr an einer nur in der wagerechten Ebene verschiebbaren Stange angebracht; der sie tragende Gestängeteil ist vielmehr auch in der Senkrechten verschiebbar. Sobald bei Verminderung der Zuggeschwindigkeit die Reibung zwischen Klötzen und Radreifen eine gewisse Stärke überschreitet, werden die Bremsklötze von den Radreifen bei ihrer Drehung etwas mitgenommen. Entgegenwirkende Federkräfte werden überwunden, der eine Bremsklotz rückt etwas nach unten, der andere nach oben. Hierdurch werden Luftauslaßventile geöffnet, so daß der Bremsdruck in den Zylindern sinkt.
Durch diese Zwischeneinrichtung wird es möglich, das Bremsen mit sehr hohen Anfangsdrücken zu beginnen, ohne daß später ein Feststellen der Räder eintritt. Die Kunzesche Schnellbahnbremse wird zur Erzielung hoher Anfangsdrücke mit zwei Bremszylindern ausgerüstet. Es ist bereits möglich gewesen, mit ihrer Hilfe einen Zug, der mit 120 Stundenkilometern fuhr, nach einem Bremsweg von nur 540 Metern stoßlos anzuhalten, während bei Anwendung der Westinghouse-Bremse der Bremsweg 760 Meter betrug. Die Schnellbahnbremse kann durch jede Lokomotive bedient werden, die Einrichtung für gewöhnliche Druckluftbremsung hat. Mit dieser Bauart also ist wiederum ein Tor geöffnet, das in die Zukunft führt.
Weit großartigere Hoffnungen noch eröffnet eine allerneueste Bremsbauart, die äußerlich in bescheidenem Gewand auftritt, aber geeignet ist, geradezu eine Umwälzung im Eisenbahnverkehr herbeizuführen.
Trotz der vorzüglich wirkenden Bauarten durchgehender Druckluftbremsen, die wir besitzen, herrscht die höchst unzeitgemäße Handbremsung auf den deutschen Bahnen immer noch vor. Der Grund für diesen wenig wünschenswerten Zustand ist einzig und allein die Tatsache, daß die Durchschlagsgeschwindigkeiten der Druckluftbremsen bisher für lange Güterzüge nicht groß genug waren. Die Einwirkungen der ungleichmäßigen und darum höchst mangelhaften Bremsung der Güterzüge auf den gesamten Eisenbahnverkehr sind zahlreich und äußerst hinderlich.
Die gewöhnlichen langen Güterzüge können nicht mit größeren Geschwindigkeiten als 30 bis höchstens 45 Kilometer in der Stunde gefahren werden. Sie halten also die Strecken übermäßig lange besetzt. Fortwährend müssen Überholungen durch schneller fahrende Personenzüge stattfinden, was weiter zeitraubend wirkt. Ein Heer von Bremsern muß sich ständig auf den Güterzügen befinden, wodurch unter hohen Gehaltsaufwendungen ein nicht mehr zeitgemäßer Dienstzweig erhalten bleibt, der schwerste Anforderungen an die Beamten stellt und wenig begehrenswert ist.
Von jeher ist der Bremser eine von niemandem beneidete Erscheinung im Eisenbahnbetrieb gewesen. Mit lebhaftestem Bedauern sah man vor Jahrzehnten, wenn man sich[325] vielleicht gerade im Dämmer eines kalten, sc