Title: Die Klerisei
Author: N. S. Leskov
Translator: Arthur Luther
Release date: December 18, 2016 [eBook #53757]
Most recently updated: October 23, 2024
Language: German
Credits: Produced by The Online Distributed Proofreading Team at
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Anmerkungen zur Transkription
Das Original ist in Fraktur gesetzt.
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Weitere Anmerkungen zur Transkription finden sich am Ende des Buches.
Nikolaus Leskow
Roman
Kurt Wolff Verlag
Deutsche Übertragung von Arthur Luther.
Copyright 1919 by Kurt Wolff Verlag, Leipzig.
Die Leute, deren Leben und Treiben diese Erzählung schildern soll, sind die Bewohner der Dompfarrei von Stargorod: der Propst Sawelij Tuberozow, der Pfarrer Zacharia Benefaktow und der Diakon Achilla Desnitzyn. Ihre Jugendjahre, sowie auch ihre Kindheit lassen wir unberührt. Will der Leser sie vor sich sehn, wie unsere Geschichte sie faßt, so muß er sich das Haupt der Stargoroder Geistlichkeit, den Propst Sawelij Tuberozow, als Mann vorstellen, der die Sechzig bereits überschritten hat. Vater Tuberozow ist hochgewachsen und von stattlicher Leibesfülle, aber noch sehr rüstig und beweglich. Dasselbe gilt von seinen Geisteskräften: auf den ersten Blick erkennt man, daß er sich alle Glut des Herzens und alle Energie der Jugend bewahrt hat. Seinen auffallend schönen Kopf ist man versucht, als Urbild männlicher Schönheit zu betrachten. Tuberozows Haar ist dicht, wie die Mähne eines gewaltigen Löwen, und weiß, wie die Locken des Zeus von Phidias. Es türmt sich malerisch als mächtiger Schopf über der hohen Stirn und fällt in drei großen Wellen nach rückwärts, ohne die Schultern zu erreichen. In dem langen zweigeteilten Bart des Propstes[2] und in dem kleinen Schnurrbart, der bei den Mundwinkeln mit dem Bart in eins zusammenfließt, blitzen hie und da noch ein paar schwarze Haare auf, welche dem Bart das Aussehen von schwarz emailliertem Silber geben. Die Brauen dagegen sind ganz schwarz. In zwei steilgebogenen S-Linien vereinigen sie sich über dem Rücken seiner ziemlich großen und fleischigen Nase. Die Augen sind braun, groß, kühn und klar. Sie haben es ein ganzes Menschenleben lang verstanden, der Spiegel eines regen und starken Geistes zu sein. Wer dem Propste nahestand, sah sie von freudiger Begeisterung durchstrahlt, von Schmerz umnebelt, in Tränen der Rührung gebadet. Mitunter flammte in ihnen das Feuer der Entrüstung und sie sprühten Funken des Zorns, keines eiteln, rechthaberischen Zornes, sondern des Zornes eines bedeutenden Mannes. Aus diesen Augen leuchtete die gerade und ehrliche Seele des Propstes Sawelij, die er in seiner christlichen Zuversicht unsterblich glaubte.
Zacharia Benefaktow, der zweite Pfarrer am Stargoroder Dom, ist ein Wesen ganz anderer Art. Seine Person ist die verkörperte Sanftmut und Milde. Wie sein bescheidener Geist sich in keiner Weise hervorzutun begehrt, so nimmt auch sein winziger Leib nur ganz wenig Platz weg, als wäre es ihm peinlich, die Erde allzusehr zu beschweren. Er ist klein, mager, schmächtig und kahlköpfig. Zwei kleine Löckchen graugelber Haare flattern nur noch über seinen Ohren. An Stelle eines Bartes scheint dem Vater Zacharia am Kinn ein Stückchen Schwamm zu kleben. Er hat winzige Kinderhände, die er immer in den Taschen seines Leibrocks verbirgt. Seine Beinchen sind dünn und schwach, wie Strohhalme, überhaupt erscheint der ganze Mann wie aus Stroh geflochten. Seine herzensguten, grauen Äuglein sind äußerst beweglich, aber sie werden nur selten voll aufgeschlagen, immer suchen sie[3] sich gleich ein Plätzchen, wo sie sich vor unbescheidenen Blicken verbergen könnten. An Jahren ist Vater Zacharia etwas älter als Vater Tuberozow und viel schwächlicher als dieser, aber auch er ist gleich dem Propst gewohnt, sich stramm zu halten, und trotz aller Übel und Gebresten, von denen er heimgesucht wird, hat er sich einen lebhaften Geist und eine große körperliche Beweglichkeit bewahrt.
Der dritte und letzte Vertreter der Stargoroder Domgeistlichkeit, der Diakon Achilla, wird durch mehrere Attribute gekennzeichnet, die wir alle hier mitzuteilen für gut befinden, damit der Leser ein möglichst klares Bild von dem gewaltigen Achilla gewinne.
Der Inspektor der Kirchenschule, der den Achilla Desnitzyn aus der Syntax-Klasse »wegen Überreife und mangelhafter Fortschritte« ausgeschlossen hatte, pflegte zu ihm zu sagen:
»Ach, du langgereckter Holzknüppel, du!«
Der Rektor, der auf ein besonderes Bittgesuch hin den Achilla wieder in die Rhetorik-Klasse aufgenommen hatte, staunte jedesmal, wenn er den werdenden Recken zu Gesichte bekam, und pflegte, verblüfft über diese Riesengröße, Riesenkraft und Rieseneinfalt, zu äußern:
»Es dünkt mich zu wenig, dich bloß einen Knüppel zu nennen, sintemalen du in meinen Augen zum mindesten eine volle Ladung Holz repräsentierest.«
Der Dirigent des bischöflichen Sängerchores endlich, in den Achilla eingereiht wurde, nachdem er aus der Rhetorik entfernt und dem Klerus zugezählt worden war, nannte ihn »unermeßlich«.
»Dein Baß ist gut,« sagte der Dirigent, »er donnert wie eine Kanone; aber unermeßlich bist du bis zum äußersten, so daß ich angesichts dieser Unermeßlichkeit gar nicht weiß, wie ich dich würdig behandeln soll.«
Die vierte und gewichtigste Charakteristik des Diakons Achilla stammte von dem Bischof selbst, und zwar ward dessen Urteil an einem für den Achilla sehr denkwürdigen Tage ausgesprochen, dem Tage nämlich, wo er, Achilla, aus dem bischöflichen Chor ausgeschlossen und als Diakon nach Stargorod geschickt wurde. Sie lautete: »der Gepeinigte«. Es dürfte aber wohl angebracht sein, zu erzählen, auf welche Weise der brave Achilla zu diesem Namen kam.
Der Diakon Achilla war von Jugend auf ein sehr impulsiver Mensch, der sich nicht nur in seinen Jünglingsjahren immer wieder hinreißen ließ, sondern auch in den Jahren des nahenden Alters.
Trotz der »Unermeßlichkeit« seines Basses war Achilla im Sängerchor doch sehr geschätzt, weil er mit gleicher Leichtigkeit sich zu den höchsten Höhen emporzuschwingen und bis zur tiefsten Oktave hinabzuklettern vermochte. Eins nur machte dem Dirigenten bei dem unermeßlichen Achilla immer wieder Angst, – seine übergroße Begeisterungsfähigkeit. So konnte er etwa bei der Vesper sich nicht damit begnügen, das »Heilig ist der Herr unser Gott« nur dreimal zu singen, sondern ließ sich oft fortreißen, es ganz allein zum vierten Male anzustimmen; besonders aber konnte er den Lobgesang am Schluß des Gottesdienstes nie zur rechten Zeit abbrechen. Doch in allen diesen Fällen, die schon bekannt waren und die man deshalb auch voraussehen konnte, wurden vernünftigerweise entsprechende Vorsichtsmaßnahmen getroffen: einer der erwachsenen Sänger erhielt nämlich den Auftrag, den Achilla am Rockschoß zu ziehen oder ihn im geeigneten Moment durch einen kräftigen Druck auf beide Schultern zusammenknicken zu lassen. Indessen nicht umsonst sagt das Sprichwort, daß man sich nicht für jeden Augenblick vorsehen könne. An einem der großen zwölf Feiertage hatte[5] Achilla in der Kommunionsliturgie ein sehr schwieriges Baß-Solo auf den Text »von Schmerzen gepeinigt« zu singen. Die Bedeutung, die der Dirigent und der ganze Chor diesem Solo beimaß, machte dem Achilla nicht wenig Sorge: er war in großer Unruhe und dachte hin und her, wie er es anstellen sollte, sich nicht zu blamieren, sondern vor der Eminenz, die ein großer Liebhaber guten Kirchengesanges war, und vor dem gesamten Gouvernementsadel, der an diesem Tage in der Kirche sein würde, in Ehren zu bestehen. Tag und Nacht ging er bald in seiner Stube, bald im Korridor oder im Hofe, bald im bischöflichen Garten oder auf dem Weideplatz vor der Stadt auf und ab und sang in den verschiedensten Tonarten: »gepeinigt, gepeinigt, gepeinigt«. So brach endlich der Tag seines Ruhmes an, wo er sein »gepeinigt« in der gedrängt vollen Domkirche zu Gehör bringen sollte. Gott, wie groß und strahlend stand der gewaltige Achilla da, das Notenblatt in der Hand. Die wohlbekannten Vorschläge sind erledigt. Nun kommt das Baß-Solo. Achilla schiebt seinen Nachbar mit dem Ellenbogen beiseite und zählt leise die Takte. Jetzt ist es so weit. Der Dirigent hebt die Hand mit der Stimmgabel … Achilla hat die ganze Welt und sich selbst vergessen, und in der wunderlichsten Weise, der Posaune des Erzengels vergleichbar, donnert er bald ganz schnell, bald langsam gedehnt: »Von Schmerzen gepeinigt, gepeinigt, ge-pei-nigt, g-e-p-e-i-n-i-g-t, gepeinigt.« Mit Gewalt hält man ihn zurück, sich in weiteren unvorhergesehenen Variationen zu ergehen, und das Konzert ist beendet. Aber in dem »fortgerissenen« Geiste Achillas war es noch nicht zu Ende. Während die Honoratioren der Stadt mit leisen Begrüßungen an den Bischof herantraten, um seinen Segen entgegenzunehmen, ertönte es vom Chor plötzlich wieder, wie ein Posaunenstoß vom Himmel: »Gepeinigt,[6] ge-pei-nigt, g-e-p-e-i-n-i-g-t!« Das singt der in seiner Begeisterung ganz um den Verstand gebrachte Achilla. Man zupft ihn – er singt weiter. Man drückt ihn zu Boden, um ihn hinter den Rücken seiner Genossen verschwinden zu lassen, – er singt: »gepeinigt«. Man führt ihn endlich aus der Kirche hinaus, unentwegt singt er: »g-e-p-e-i-n-i-g-t!«
»Was ist dir?« fragen ihn mitleidige Leute voller Teilnahme.
»Gepeinigt,« singt er, sie verständnislos ansehend, und bleibt an der Tür der Vorhalle stehen, bis ihn endlich ein Strom frischer Luft von draußen ernüchtert.
Im Vergleich zu dem Propst Tuberozow und dem Vater Benefaktow kann Achilla Desnitzyn als junger Mann gelten, aber auch er hat die Vierzig schon hinter sich und seine tiefschwarzen Locken sind stark angegraut. Achilla ist von Riesengestalt und ungeheurer Kraft, seine Bewegungen sind eckig und schroff; sein Gesicht zeigt einen südlichen Typus und er behauptet, von kleinrussischen Kosaken abzustammen, von denen er auch in der Tat den Leichtsinn und die Tapferkeit und noch manches andere zu haben scheint.
Alle diese meine altmodischen Helden wohnten auf dem Stargoroder Pfarrgehöft, am stillen, schiffbaren Fluß Turitza. Jeder von ihnen, Tuberozow, Zacharia und sogar der Diakon Achilla hatte sein eigenes Häuschen dicht am Ufer, gerade gegenüber dem jenseits des Flusses aufragenden alten Dom mit seinen fünf hohen Kuppeln. Aber so verschieden geartet, wie die drei Männer, waren auch ihre Wohnsitze. Das Haus des Vaters Sawelij war sehr hübsch, mit hellblauer Ölfarbe gestrichen und mit verschiedenfarbigen Sternchen, Quadraten und Schnörkeln über jedem der drei Fenster geziert. Letztere hatten außerdem noch holzgeschnitzte, grellbemalte Einfassungen und grüne Läden, die nie geschlossen wurden, denn das festgefügte Haus trotzte im Winter jeglichem Frost und der Propst liebte das Licht, liebte den Stern, der nachts vom Himmel in seine Stube schaute, liebte den Mondstrahl, der sich wie ein Brokatstreifen über den parkettartig gemusterten Fußboden legte.
Im Häuschen des Propstes herrscht absolute Reinlichkeit und Ordnung, denn es ist niemand da, der Schmutz oder Unordnung machen könnte. Der Propst hat keine Kinder und das ist eine Quelle steter Betrübnis für ihn und seine Lebensgefährtin.
Das Häuschen des Vaters Zacharia Benefaktow ist viel größer als das des Vaters Tuberozow. Aber es fehlt ihm[8] jene Eleganz und Koketterie, die den Wohnsitz des Propstes auszeichnet. Das fünffenstrige, etwas schiefstehende, graue Haus des Vaters Zacharia erinnert eher an einen großen Geflügelstall, und, um die Ähnlichkeit perfekt zu machen, drängen und stoßen sich in den engen Rahmen seiner grünen Fenster unausgesetzt allerlei Schnäbelchen und Schöpfchen. Das ist die gesamte Nachkommenschaft des Vaters Zacharia, den Gott gesegnet hat, wie den Jakob, und dessen Gattin er fruchtbar gemacht hat, wie die Rahel. Bei Vater Zacharia fand man nichts von der spiegelglatten Sauberkeit des Tuberozowschen Hauses, nichts von dessen strenger Ordnung. Überall stieß man auf Spuren schmutziger Kinderpfötchen; aus jedem Winkel guckte ein Kinderköpfchen hervor; alles lebte und webte mit den Kindern und um die Kinder.
Der Diakon Achilla war Witwer und kinderlos. Wenig kümmerte er sich um irdische Güter und Hauswirtschaft. Hart am Flußrande hatte er eine lehmgestrichene, kleinrussische Kate, zu der aber keinerlei Nebengebäude gehörten; nicht einmal ein Zaun war vorhanden, nichts als eine rohe Lattenhürde, innerhalb derer, bis an die Knie im Stroh versinkend, bald ein scheckiger Hengst, bald ein falber Wallach, bald eine schwarze Stute umherstampfte. Die innere Einrichtung des Hauses war ebenfalls ganz kosakenmäßig: in dem vorderen, besseren Raume, den der Hausherr für sich selbst bestimmt hatte, stand ein hölzernes Sofa, welches Achilla auch als Bett diente. Eine weiße Kosaken-Filzdecke lag darüber gebreitet und am Kopfende ein ziselierter asiatischer Sattelbogen, an den sich ein kleines pfannkuchenähnliches Kissen in einem fettigen Nankingüberzug lehnte. Vor diesem Kosakenlager stand ein Tisch aus weißem Lindenholz. An der Wand hing eine Gitarre ohne Saiten, ein hänfener Fangstrick, eine Nagaika und zwei kunstvoll geflochtene Zäume.[9] In der Ecke auf einem kleinen Wandbrett, hinter welchem ein verdorrter Palmweidenzweig gesteckt war, stand ein winziges Heiligenbild, die Himmelfahrt Mariä darstellend, vor dem ein kleines Kiewer Gebetbuch lag. Sonst war nichts, rein gar nichts in der Behausung des Diakons Achilla zu finden. Nebenan in einer kleinen Kammer hauste die alte Nadeshda Stepanowna, genannt Esperance, die früher einmal Zimmermädchen in einem adligen Gutshause gewesen war.
Sie war eine kleine, ältliche, gelbliche, spitznäsige, zusammengeschrumpfte Person von so unverträglichem und unerträglichem Charakter, daß sie trotz ihrer geschickten Hände nirgends dauernd unterkommen konnte, bis sie zu guter Letzt Bedienerin beim einsamen Achilla geworden war, dem sie vorschnattern und vorkeifen konnte soviel sie wollte, denn er beachtete dieses Geschnatter und Gekeife überhaupt nicht; nur wenn die Erregung seiner alten Hausgenossin gar zu arg wurde, machte er ihr im entscheidenden Augenblick durch ein donnerndes: »Versinke, Esperance!« ein Ende, worauf Esperance zumeist auch wirklich sofort verschwand, denn sie wußte, daß Achilla sie andernfalls in seine Arme nehmen, auf das Dach seiner Hütte setzen und dort bis zum Sonnenuntergang ihrem Schicksal überlassen würde.
So lebten diese Leutchen hin und trugen alle mehr oder weniger einer des andern Lasten und suchten sich gegenseitig das einförmige Dasein ein wenig bunter zu gestalten durch allerlei leichte Streitigkeiten und Mißverständnisse, welche auf die durch die Ereignislosigkeit des Kleinstadtlebens erschlaffte menschliche Natur eine so wohltuend aufrüttelnde Wirkung ausüben. So hatte zum Beispiel eines Tages der Gutsbesitzer und Adelsmarschall Alexej Nikititsch Plodomasow von einer Reise nach Petersburg den von ihm sehr hochgeschätzten[10] Domgeistlichen verschiedene mehr oder weniger kostbare Geschenke mitgebracht, darunter auch drei Stöcke: zwei mit ganz gleichen Knöpfen aus Dukatengold für die beiden Pfarrer, den einen für Vater Tuberozow, den andern für Vater Zacharia. Der dritte Stock mit einem hübschen Knopf aus emailliertem Silber war für den Diakon Achilla bestimmt. Diese Stäbe fielen unter die Stargoroder Geistlichen wie die biblischen Schlangen, welche die ägyptischen Zauberer vor den Pharao hinwarfen.
»Durch diese Schenkung der Stäbe ist ein Zweifel in uns geweckt worden,« erzählte der Diakon Achilla.
»Was für einen Zweifel kann es denn geben, Vater Diakon?« fragten die Leute, denen er sein Leid klagte.
»Ach, ihr Laien versteht von solchen Dingen nichts. Erstens ziemt es mir in meinem Amte als Diakon gar nicht, einen solchen Stab zu tragen, denn ich bin kein Pfarrer. Ferner: ich trage diesen Stab jetzt trotzdem, denn ich habe ihn geschenkt bekommen. Drittens aber tritt dabei noch eine zweifelerregende Gleichstellung zutage: der Vater Sawelij und der Vater Zacharia haben Stäbe von ganz derselben Qualität und gleichem Aussehen erhalten. Darf man sie aber so völlig gleichstellen? … Ich frage, darf man das? … Vater Sawelij … ihr wißt es ja selbst … Vater Sawelij … ist ein Weiser, ein Philosoph, ein Justizminister … und nun sehe ich, daß auch er sich darin nicht zu finden weiß und verwirrt ist, ganz furchtbar verwirrt.«
»Was kann ihn denn so verwirren, Vater Diakon?«
»Es verwirrt ihn, daß erstens diese völlige Gleichheit Verwechselungen hervorruft. Was meint ihr, wie soll man erkennen, wem dieser Stab gehört? Versucht es doch herauszukriegen, welcher Stab dem Propst und welcher dem Zacharia zukommt, wenn sie beide ganz gleich aussehen! Freilich,[11] zur Unterscheidung ließe sich ja irgendein Zeichen anbringen – ein Tröpfchen Siegellack auf den Knopf oder ein kleiner Einschnitt in das Holz. Wie steht es aber mit der politischen Seite der Sache? Es ist doch ganz unmöglich, daß der Propst und der Vater Zacharia gleich viel wert wären! Und der Propst fühlt das sehr wohl, und ich seh' es deutlich, und darum sag' ich ihm: ›Vater Propst, es ist in diesem Falle nichts anderes zu machen: gestattet mir, daß ich den Stab des Vaters Zacharia irgendwie zeichne, mit Siegellack oder durch einen Messerschnitt.‹ Er aber antwortet: ›Nichts dergleichen. Untersteh' dich nicht. Es ist nicht nötig.‹ Ja, wie denn nicht nötig?! ›Nun,‹ sag' ich da wieder, ›so gebt mir Euren Segen zu etwas anderm. Ich will ganz insgeheim den Stab des Vaters Zacharia mit dem Messer um einen Zoll kürzer machen, so daß der Vater Zacharia selber von dieser Verkürzung gar nichts merken soll.‹ Er aber nennt mich darauf einen Dummkopf. Gut denn, ich bin ein Dummkopf, ich hör's von ihm nicht zum erstenmal und von ihm kränkt's mich auch nicht, aber ich sehe doch, daß er mit alledem sehr unzufrieden ist, und das raubt mir alle Seelenruhe … Und ihr könnt mich einen dreifachen Dummkopf nennen,« – rief der Diakon, – »ja, ich gestatte es euch, nennt mich ruhig dumm, wenn er, der Vater Sawelij, nicht etwas ganz Politisches im Sinne hat. Ich weiß es ganz genau, daß er eben deswegen mich nicht gewähren läßt, weil er seine eigene Politik verfolgt.«
Und der Diakon Achilla schien sich nicht geirrt zu haben. Noch war kein Monat seit der Beschenkung der Stargoroder Geistlichkeit mit den erwähnten zweifelerregenden Stäben vergangen, als der Propst Sawelij sich plötzlich zu einer Reise in die Gouvernementsstadt zu rüsten begann. Man brauchte dieser Fahrt keine besondere Bedeutung zuzuschreiben, denn[12] der Propst hatte in Amtsangelegenheiten oft genug mit dem Konsistorium zu verhandeln. Aber als der Vater Tuberozow bereits im Wagen saß, wandte er sich plötzlich zum Vater Zacharia:
»Hör' mal, Vater, wo ist denn wohl dein Stab? Gib ihn mir mal her, ich will ihn mit in die Stadt nehmen.«
Diese scheinbar von ungefähr gesagten Worte ließen ein Licht in den Gemütern aller derer aufgehen, die vor das Tor gekommen waren, dem Abreisenden das Geleite zu geben.
Der Diakon Achilla räusperte sich kräftig und flüsterte dem Vater Benefaktow ins Ohr:
»Nun? Sagt' ich's Euch nicht? Da haben wir die Politik!«
»Weshalb wollt Ihr denn meinen Stab in die Stadt mitnehmen, Vater Propst?« fragte Vater Zacharia, und zwinkerte demütig mit den Augen, wobei er zugleich den Diakon beiseite schob.
»Wozu? Nun, vielleicht will ich den Leuten dort zeigen, wie man uns hier achtet und unser gedenkt,« antwortete Tuberozow.
»Alioscha, lauf hin und hol den Stock,« befahl Zacharia seinem kleinen Sohne.
»Vielleicht nehmt Ihr dann auch meinen Stab mit, Vater Propst, um ihn dort zu zeigen?« fragte Achilla in dem sanftmütigsten Tone, dessen er fähig war.
»Nein, den deinen magst du bei dir behalten,« erwiderte Sawelij.
»Warum denn, Vater Propst? Ich bin doch ebenso … ich bin doch auch von dem Herrn Adelsmarschall ausgezeichnet worden,« antwortete der Diakon ein wenig gekränkt.
Aber der Propst würdigte seinen Einspruch keiner Antwort, legte den ihm eben gebrachten Stab des Vater Zacharia neben sich hin und hieß den Kutscher zufahren.
So fuhr er dahin und die beiden zweifelerregenden Stäbe fuhren mit, der Diakon Achilla aber saß zu Hause und mühte sich vergeblich, das Rätsel zu lösen, zu welchem Zweck Tuberozow den Stab des Zacharia mitgenommen hatte.
»Was geht's dich an? Was hast du dabei? Was?« beschwichtigte Zacharia den von Neugier gemarterten Diakon.
»Vater Zacharia, ich sag's Euch, das ist Politik.«
»Nun und wenn's Politik ist, – was geht's dich an? Mag er doch politisieren.«
»Aber ich vergehe vor Neugier, was das für eine Politik sein könnte. Euren Stab zu beschneiden wollte er mir nicht gestatten; das wäre eine Dummheit, sagte er; ich schlug ihm vor, Zeichen anzubringen, aber er wies es zurück. Das einzige, was ich vermute …«
»Ei nun, was kannst du Schwätzer vermuten?«
»Das einzige wäre, daß er … Er setzt bestimmt einen Edelstein hinein.«
»Ja! Nun … nun ja … Aber wo soll er den Stein denn einsetzen?«
»In den Griff.«
»In den seinen oder in den meinen?«
»In den seinen, natürlich in den seinen. Ein Edelstein ist doch ein Wertstück.«
»Sehr schön. Wozu hat hat er dann aber meinen Stab mitgenommen? In den seinen will er den Stein einsetzen lassen, und den meinen nimmt er mit?!«
Der Diakon schlug sich mit der Hand vor die Stirn und rief:
»Da wär' ich wieder mal der Narr.«
»Hoffentlich bist du der Narr, hoffentlich,« bestätigte Vater Zacharia und fügte mit leisem Vorwurf hinzu: »und dabei hast du doch Logik gelernt, mein Lieber. Schäme dich.«
»Warum soll ich mich schämen, wenn ich sie gelernt, aber nicht kapiert habe! Das kann jedem so gehen,« antwortete der Diakon.
Er sprach fortan keinerlei Vermutungen mehr aus, nur im stillen verzehrte ihn nach wie vor die Neugier: was wird nun eigentlich geschehen?
So verging eine Woche, bis der Propst zurückkam. Der Diakon Achilla, welcher gerade einen von ihm neu eingetauschten Steppengaul einritt, war der erste, der die schwarze Pfarrkutsche sich der Stadt nähern sah. Er raste durch die Straßen, machte Halt vor allen Häusern, in denen gute Bekannte wohnten, und schrie in die offenen Fenster hinein: »Er kommt! Der Propst Sawelij! Die edle große Seele!«
Ein neuer Gedanke war dem Achilla plötzlich gekommen.
»Jetzt weiß ich, was es ist,« sagte er zu den Umstehenden, während er vor dem Tore des Pfarrhofes vom Pferde stieg. »Alle meine bisherigen Vermutungen waren nichts als eitel Torheit. Jetzt aber kann ich euch für gewiß sagen, der Vater Propst hat nichts anderes getan, als griechische Lettern – oder auch lateinische – in die Knöpfe einätzen lassen. So ist es, jawohl, so und nicht anders ist es; ganz bestimmt hat er Lettern einätzen lassen, und wenn ich es jetzt nicht erraten habe, so könnt ihr mich hundertmal einen Esel nennen.«
»Warte nur, warte, das tun wir noch; das kommt schon noch,« sagte Vater Zacharia und ging dem eben vorfahrenden Wagen entgegen.
Ernst und würdevoll entstieg der Propst dem Wagen, trat in das Haus ein, betete, begrüßte seine Gattin, indem er sie dreimal auf den Mund küßte, bewillkommnete danach auch den Vater Zacharia, wobei sie sich gegenseitig auf die Schultern küßten, und zu guter Letzt den Diakon Achilla, der dem Propst die Hand küßte, während dieser mit den Lippen[15] seinen Scheitel berührte. Nach dieser Begrüßung ging man ans Teetrinken, Schwatzen, Erzählen, und langsam wich der Abend der Nacht, ohne daß der Propst auch nur ein Wort über die alle so interessierenden Stäbe geäußert hätte. Ein Tag verging, ein zweiter, ein dritter, mit keiner Silbe erwähnte Vater Tuberozow die Angelegenheit. Es schien, als habe er die Stäbe in die Hauptstadt gebracht und sie dort in den Fluß versenkt, damit alles Gerede von ihnen schweige.
Der Diakon brannte förmlich vor Neugier und wußte nicht, was er ersinnen sollte, um das Gespräch auf die Stäbe zu bringen. Aber die Sache kam bald von selbst zur Erledigung. Am fünften oder sechsten Tage nach seiner Heimkehr bat der Vater Sawelij nach dem Hauptgottesdienst den Stadthauptmann, den Schulinspektor, den Arzt und den Vater Zacharia nebst dem Diakon Achilla zu sich zum Tee und fing wiederum zu erzählen an, was er alles in der Gouvernementsstadt gehört und gesehen habe. Er berichtete ihnen von vielerlei schönen Sachen, welche er in den Kaufläden gesehen hatte. »Es ist erstaunlich,« meinte er, »was die dortige Kunstfertigkeit zu leisten vermag.«
Mit diesen Worten ging der Propst ins Nebenzimmer und kam, in jeder Hand einen der wohlbekannten Stäbe haltend, wieder zurück.
»Sehen Sie mal hier,« sagte er, indem er den Gästen die Oberfläche der beiden goldenen Knöpfe vor die Augen hielt.
Der Diakon Achilla riß die Augen auf, um zu erspähen, was der Politikus zustande gebracht hatte, um die gleichwertigen Stäbe unterscheiden zu können. Aber ach! Es war kein wesentlicher Unterschied zu erkennen. Im Gegenteil, ihre Gleichwertigkeit schien nun erst vollkommen, denn in der Mitte eines jeden Knopfes war in ganz gleicher Weise,[16] von einem Strahlenkranze umgeben, ein Gottesauge eingraviert, um welches sich eine kurze Kursivinschrift schlang.
»Und Lettern sind keine da, Vater Propst?« bemerkte Achilla, dem die Geduld ausging.
»Was willst du noch für Lettern?« erwiderte Tuberozow, ohne ihn anzusehen.
»Um sie in ihrer Gleichwertigkeit zu unterscheiden.«
»Immer kommst du mit deinem dummen Zeug,« wandte sich der Propst zum Diakon, und dann stützte er den einen Stab gegen seine Brust und sprach:
»Das soll meiner sein.«
Der Diakon Achilla warf einen schnellen Blick auf den Knopf und las über dem Gottesauge: »Und er fand den Stecken Aarons blühen.«
»Und den nimmst du, Vater Zacharia,« schloß der Propst und gab ihm den andern Stab.
Auf dem Knopfe desselben war um das völlig gleiche Gottesauge in ganz derselben altslawischen Kursivschrift eingraviert:
»Und er gab den Stab in seine Hand.«
Kaum hatte Achilla diese zweite Inschrift gelesen, so knickte er hinter dem Rücken des Vaters Zacharia zusammen, und, den Kopf gegen den Bauch des Arztes stemmend, zuckte und strampelte er in einem unbändigen Lachanfall.
»Na, Quälgeist, was gibt's wieder? Was gibt's?« wandte sich der Vater Zacharia ihm zu, während die übrigen Gäste noch die kunstvolle Arbeit des Juweliers an den Priesterstäben bewunderten.
»Lettern? He? Lettern, du krauser Schafbock du? Wo sind hier die Lettern?«
Der Diakon aber prustete und lachte nur immer toller.
»Was lachst du? Was ficht dich an?«
»Wer ist jetzt der Schafbock, he?« fragte der Diakon, die Worte mühsam hervorstoßend.
»Du natürlich, wer denn sonst?«
Achilla brach in ein neues Gelächter aus, packte den Vater Zacharia an den Schultern und flüsterte theatralisch:
»Na und Ihr, Vater Zacharia, wo Ihr so viel Logik studiert habt, lest doch noch einmal. ›Und er gab den Stab in seine Hand.‹ Was sagt Eure Logik dazu? Wo soll eine solche Inschrift hinaus?«
»Wo hinaus? Nun, so sag du es doch, wo sie hinaus soll!«
»Wo hinaus? Dahinaus,« sagte der Diakon langsam und gedehnt, »daß man ihm mit dem Lineal eins auf die Pfoten gegeben hat.«
»Du lügst!«
»Ich lüge?! Und warum ist denn sein Stecken erblüht? Und kein Wort davon, daß er ihm in die Hand gegeben ist? Warum? Weil das zum Zweck der Erhöhung geschrieben ist, Euch aber ist's zur Erniedrigung geschrieben, daß Euch der Knüppel in die Tatze gelegt ist.«
Vater Zacharia wollte etwas erwidern, aber der Diakon hatte ihn wirklich irre gemacht. Achilla triumphierte, daß es ihm gelungen war, den sanften Benefaktow aus der Fassung zu bringen, doch sein Triumph war nur von kurzer Dauer.
Kaum hatte er sich umgewandt, so sah er auch schon, daß der Propst ihn scharf ins Auge gefaßt hatte, und sobald er bemerkte, daß der Diakon unter der Wirkung dieses strengen Blickes verlegen zu werden begann, wandte er sich an die Gäste und sagte mit ganz ruhiger Stimme:
»Die Inschriften, die Sie hier sehen, habe ich nicht selbst ausgedacht. Der Konsistorialsekretär Afanasij Iwanowitsch hat sie mir empfohlen. Auf einem Abendspaziergang kamen[18] wir beim Goldschmied vorbei, und da meinte Afanasij Iwanowitsch: Wißt Ihr, Vater Propst, was für ein Gedanke mir gekommen ist? Ihr solltet Inschriften auf die Stäbe setzen. Für Euch ›der Stecken Aarons‹ und für den Vater Zacharia – eben jene, die jetzt dasteht.«
»Und du, Vater Diakon,« fuhr der Propst fort, »ich wollte auch etwas von deinem Stabe sagen, wie du mich gebeten hattest, aber ich bin der Meinung, es wäre am besten, du trügest den Stab überhaupt nicht, denn er kommt deinem Amte nicht zu.«
Und damit schritt der Propst in aller Seelenruhe nach der Stubenecke, in welcher der berühmte Stab des Achilla stand, nahm ihn und schloß ihn in den Kleiderschrank ein.
Dieses war der größte Zwist, der sich je in der Stargoroder Pfarrei abgespielt hatte.
Wie es heißt, daß durch ein Dreierlicht einst ganz Moskau in Flammen aufgegangen ist, so entstand auch daraus bald eine ganze Geschichte, welche die verschiedensten Charakterschwächen und Vorzüge Sawelijs und Achillas an den Tag brachte.
Der Diakon kannte diese Geschichte am besten, erzählte sie aber nur in Augenblicken äußerster Erregung.
»Was,« sagte Achilla, »hätte ich von Rechts wegen damals tun sollen? Ich hätte dem Vater Propst zu Füßen fallen und ihm sagen sollen: so und so stehen die Dinge, nicht aus Bosheit, nicht aus Gehässigkeit hab' ich das gesagt, sondern einzig, um dem Vater Zacharia zu zeigen, daß ich zwar nichts von Logik verstehe, aber darum doch nicht dümmer bin als er. Aber der Stolz übermannte mich und hielt mich zurück. Ich ärgerte mich, daß er meinen Stab in den Schrank geschlossen hatte, und daß dann noch der Lehrer Warnawka Prepotenskij dazwischenkam. … Ach, ich sag' euch, so bös ich auch auf mich selbst bin, es ist nichts gegen die Wut, welche ich auf den Lehrer Warnawka habe! Ich will nicht ich sein, wenn ich sterbe, ohne zuvor mit diesem Sohn der Hostienbäckerin abgerechnet zu haben!«
»Das darfst du auch wieder nicht,« unterbrach Vater Zacharia den Achilla.
»Warum denn nicht? Gottlosigkeit duld' ich nicht! Da frage ich nicht nach der Person! Und die Sache macht sich ganz von selbst: ich fahr' ihm mit der Faust in den Schopf, schüttel' ihn tüchtig durch und laß ihn dann laufen. Jetzt geh und beschwer' dich, daß du von einer geistlichen Person wegen Gottlosigkeit durchgewalkt worden bist! … Der wird sich hüten! … Ach, du mein Gott! Was war nur in mich gefahren, daß ich auf diesen Taugenichts hören konnte, und wie[20] ist's möglich, daß ich ihn bis heute mir noch nicht richtig vorgenommen habe! Den Küster Sergej hab' ich damals für sein Geschwätz über den Donner sofort verwichst; den Kommissar, den Kleinbürger Danilka, der sich in den letzten großen Fasten unterstand, auf offener Straße ein Ei zu essen, hab' ich unverzüglich vor versammeltem Volke nach Gebühr an den Ohren gezaust, – und diesen Lümmel laß ich immer noch frei herumlaufen, obgleich er mir das Ärgste angetan hat! Wäre er nicht gewesen, so würde es gar nicht zu diesem Zwist gekommen sein. Der Vater Propst hätte mir wegen meiner Äußerung über den Vater Zacharia gezürnt, aber nicht lange. Muß da dieser Warnawka kommen, und erbittert und gepeinigt, wie ich bin, laß ich mich von ihm aufhetzen! Er schwatzt mir vor: ›Diese Tuberozowsche Inschrift ist zu allem andern auch noch dumm!‹ Ich in meiner Pein, müßt ihr wissen, lechzte förmlich danach, auch dem Vater Sawelij was anzuhängen, und so fragte ich, was denn Dummes daran sei. Warnawka sagte: ›Dumm ist sie, weil die Tatsache, von der in ihr die Rede ist, gar nicht feststeht. Und nicht nur das, – sie ist überhaupt unglaubwürdig. Wer, sagt er, kann es denn bezeugen, daß der Stecken Aarons erblühte? Kann ein trockenes Stück Holz Blüten treiben?‹ Ich fiel ihm hier in die Rede und meinte: ›Bitte sehr, Warnawa Wasiljitsch, solche Reden darfst du nicht führen. Der allmächtige Willen Gottes ist stärker als die Ordnung der Natur.‹ … Aber weil diese unsere Unterhaltung bei der Akziseeinnehmersfrau, der Biziukina, stattfand, welche allerlei Flüssiges aufgetischt hatte, lauter gute Weine, – nichts als ho–ho–ho: Haut-Sauterne und Haut-Margaux, – so war ich, hol mich dieser und jener, schon ein bißchen benebelt, und der Warnawka redete sein gelehrtes Zeug in mich hinein. ›So war's ja auch – sagte er – dazumal mit dem[21] Menetekel beim Gastmahl des Belsazar. Heut haben wir's als reinsten Schwindel erkannt. Wollt ihr, so mach ich's euch gleich mit einem Phosphorstreichhölzchen vor.‹ Ich war starr vor Entsetzen, er aber quasselte immer weiter: ›Und überhaupt, sagte er, es wimmelt da nur so von Widersprüchen.‹ Dann legte er los, wißt ihr, und redete und redete und widerlegte alles, und ich saß dabei und hörte zu. Und nun noch dieser Haut-Margaux! Ich war so schon gepeinigt genug, und fing am Ende selber an in freigeistigem Stil zu reden. Ja, sagte ich, wenn ich nicht sähe, was der Vater Sawelij für ein aufrechter Mann ist, denn ich weiß, er steht vor dem Altar und der Rauch seines Opfers steigt kerzengerade empor, wie beim Opfer Abels, ich möchte nur kein Kain sein, sonst könnte ich ihn schon … Versteht ihr wohl, so redete ich vom Vater Sawelij! Und diese Person, die Biziukina, meinte: ›Ja, versteht Ihr denn selber, was Ihr da schwatzt? Wißt Ihr überhaupt, was der Kain wert war? Was war denn – sagte sie – Euer Abel? Nichts weiter als ein kleines Schaf, ein Kriecher und Streber, eine Sklavennatur; Kain aber war ein stolzer Mann der Tat. So – sagte sie – hat ihn der englische Schriftsteller Biehron geschildert …‹ Und nun legte sie los … Na, von all dem Haut-Margaux schon so spiritualisiert, überkam mich plötzlich ein Gefühl, als müßte ich zum Kain werden und damit Punktum. Als ich auf dem Heimweg bis zum Hause des Vater Propst gelangt war, blieb ich vor seinen Fenstern stehen, stemmte, wie ein Offizier, die Arme in die Seiten und brüllte los: ›Ich Zar, ich Knecht, ich Wurm, ich Gott!‹ Grundgütiger Gott, wie entsetzlich ist mir jetzt die bloße Erinnerung an meine Schamlosigkeit! Als der Vater Propst mein Gemecker vernommen, sprang er aus dem Bette, trat im Hemde ans Fenster, stieß es auf und rief mit zorniger Stimme: ›Geh zu[22] Bett, du wütiger Kain!‹ Ihr könnt mir's glauben, ich erbebte bei diesem Wort. Denn er hatte mich schon Kain genannt, da ich es doch erst werden wollte. Er hatte es vorausgesehen! Ach Gott, ach Gott! Ich konnte mich kaum nach Hause schleppen; meine ganze Widerspenstigkeit war hin, und bis auf den heutigen Tag kann ich seitdem nur trauern und stöhnen.«
War er in seiner Erzählung so weit gekommen, versank der Diakon gewöhnlich in Gedanken, seufzte, und fuhr nach einer Minute in melancholischem Tone fort:
»Und nun fliehen und fließen die Tage dahin, aber der Zorn des Vater Sawelij ist bis auf heute nicht von ihm gewichen. Ich ging zu ihm und klagte mich selber an; ich klagte mich an und tat Buße. Ich sprach: ›Vergebt mir, wie der Herr den Sündern vergibt‹ – aber ich erhielt nichts zur Antwort, als ›Geh.‹ Wohin? Wohin soll ich gehen, frage ich. Mit den Leuten da werde ich wirklich noch zum Kain … Ich weiß es, ich weiß es genau, nur er allein, nur der Vater Sawelij vermag mich in Subordination zu halten – und er … und er …«
Bei diesen Worten kamen dem Diakon die Tränen in die Augen und leise aufschluchzend schloß er seinen Bericht:
»Und er spielt ein so böses Spiel mit mir – er schweigt! Was ich auch sage, er schweigt! … Warum schweigst du?« schrie der Diakon plötzlich laut auf und fing nun wirklich an zu schluchzen. Dabei streckte er beide Arme in der Richtung aus, wo sich nach seiner Voraussetzung das Haus des Propstes befinden mußte. – »Meinst du, das wäre recht gehandelt? Ist es recht, wenn ich in meinem Amte als Diakon zu ihm trete und sage: ›Vater, segne mich‹ – und ich küsse dann seine Hand und fühle, daß sogar sie für mich eiskalt ist! Ist das recht? Am Pfingsttage, vor dem großen Gebet, kam[23] ich, in Tränen zerfließend, zu ihm und bat ihn: segne mich … Aber er zeigte keine Rührung. ›Sei gesegnet,‹ sagte er. Was soll mir dieser Formenkram, wenn alles ohne Freundlichkeit geschieht!«
Der Diakon rechnete auf Trost und Unterstützung.
»Verdien' dir seine Freundlichkeit,« sagte ihm der Vater Zacharia, »verdiene sie dir ordentlich, und er wird dir verzeihen und wieder gut zu dir sein.«
»Wie soll ich sie mir denn verdienen, Vater Zacharia?«
»Durch musterhaftes Betragen.«
»Was nützt mir denn all mein Betragen, wenn er mich überhaupt nicht bemerkt? Glaubst du, es ließe mich kalt, ihn jetzt immer so bekümmert, immer so tief in Gedanken zu sehen? Gott im Himmel, sag' ich zu mir selbst, was mag ihn so beschäftigen? Am Ende gar quält er sich meinetwegen. … Mag er mir auch noch so sehr zürnen, er verstellt sich ja doch nur: ich weiß, daß er mich liebhat …«
Der Diakon wandte das Gesicht ab, schlug mit der rechten Faust gegen die linke Handfläche und brummte:
»Na, warte, du Hostienbäckerlümmel, das geht dir nicht so durch! Ich will in Wahrheit Kain und nicht der Diakon Achilla sein, wenn ich diesen Lehrer Warnawka nicht vor aller Augen zum Krüppel schlage!«
Aus dieser Drohung allein kann der Leser schon ersehen, daß einem gewissen, hier erwähnten Lehrer Warnawa Prepotenskij seitens des Diakons Achilla eine ernste Gefahr drohte, und diese Gefahr rückte immer näher und drohender heran, je stärker und quälender Achillas Sehnsucht nach dem verlorenen Paradiese wurde, die Sehnsucht nach dem eingebüßten Wohlwollen des Vaters Sawelij. Und endlich schlug die Stunde, da Warnawa Prepotenskij seinen Lohn aus der Hand Achillas empfangen sollte, das Ereignis, mit[24] dem das große Stargoroder Drama beginnt, welches den Inhalt dieser Chronik bilden soll.
Um den Leser in das Verständnis dieses Dramas einzuführen, lassen wir vorderhand alle Schleichwege beiseite, auf denen Achilla, gleich einem amerikanischen Pfadfinder, seinem Feinde, dem Lehrer Warnawka, nachspürt. Versenken wir uns lieber in die Tiefen der inneren Welt der dramatischsten Person unserer Geschichte und treten in jene Welt, die bisher noch allen, welche sie aus der Nähe oder aus der Ferne betrachteten, unbekannt und unsichtbar geblieben ist: in das reinliche Häuschen des Vaters Tuberozow. Vielleicht, wenn wir im Innern dieses Hauses stehen, finden wir ein Mittel, auch in die Seele seines Herrn zu schauen, wie man in einen gläsernen Bienenstock schaut, wo die Biene ihre wundersame Wabe baut, aus Wachs, das vor dem Antlitz Gottes leuchten, und aus Honig, der den Menschen erfreuen soll. Aber seien wir vorsichtig und rücksichtsvoll: ziehen wir leichte Sandalen an, auf daß unserer Schritte Schall den sinnenden und betrübten Propst nicht störe. Setzen wir die Tarnkappe aus dem Märchen aufs Haupt, damit unser neugierig Antlitz den ernsten Blick des würdigen Greises nicht verwirre, und lauschen wir mit offenem Ohr auf alles, was wir von ihm zu hören bekommen.
Der Sommerabend hat sich über Stargorod herabgesenkt. Längst ist die Sonne untergegangen. Die Anhöhe, auf der sich die spitze Kuppel des Domes erhebt, liegt in bleiches Mondlicht getaucht, das stille, flache Ufer drüben versinkt in warmer Finsternis. Über die schwimmende Brücke, welche beide Stadtteile miteinander verbindet, bewegen sich ab und zu einsame Gestalten. Sie haben es eilig; denn die Nacht im stillen Städtchen treibt sie früh in ihre Nester und an ihre Herdfeuer. Schellenklingelnd fährt ein Postwagen über die Brückenbohlen, wie über Klaviertasten; dann ist alles wieder totenstill. Von den Wäldern draußen weht eine wohltuende Kühle herüber. Blau schimmert auf der von zwei Armen der Turitza gebildeten Insel das Gemüsefeld des uralten schiefnäsigen Sonderlings Konstantin Pizonskij, welcher von allen »Onkel Kotin« genannt wird.
»Molwoscha! Wo bist du, Molwoscha?!« schallt es von der Insel herüber.
Der Alte ruft den muntern Buben, seinen Pflegesohn, und so deutlich ist dieser Ruf im Hause des Propstes zu hören, daß man glauben möchte, es riefe jemand dicht unter dem Fenster, an welchem die Pröpstin sitzt. Von demselben Gemüsefeld schallt ein lautes Kinderlachen herüber, man hört das Wasser plätschern, nackte Kinderfüßchen laufen klatschend über die Brückenbohlen, und hellauf bellt ein spielender[26] Hund. Alles das scheint so nah, daß die Mutter Pröpstin von ihrem Platz am Fenster aufspringt und die Arme nach vorn ausstreckt. Sie meint, das laufende und lachende Kind müsse ihr gleich in den Schoß fallen. Aber als sie sich umschaut, erkennt sie die Täuschung. Sie tritt vom Fenster in das Innere des Zimmers zurück, zündet eine der auf der Kommode stehenden Kerzen an und ruft ein kleines, etwa zwölfjähriges Mädchen zu sich heran.
»Weißt du nicht, Feklinka, wo unser Vater Propst ist?« fragt sie.
»Er spielt Dame beim Polizeichef, Mütterchen.«
»Ah so, beim Polizeichef. Schon recht. Wir wollen ihm das Bett machen, Feklinka, damit alles fertig ist, wenn er heimkommt.«
Feklinka bringt aus dem Nebenzimmer zwei Kissen in die Wohnstube, ein Bettuch und eine gelbe wollene Steppdecke; die Pröpstin einen weißen Pikee-Schlafrock und ein großes rotseidenes Tuch. Das Bett wird dem Propst auf dem großen, ziemlich harten Sofa aus Masernbirkenholz gemacht. Zu Häupten wird die Decke zurückgeschlagen; der weiße Schlafrock über einen Lehnstuhl zu Füßen des Bettes ausgebreitet, und auf den Schlafrock das Seidentuch gelegt. Sowie alles gemacht ist, schiebt die Pröpstin mit Feklinka einen ovalen Tisch auf massivem Fuße, ebenfalls aus Masernholz, neben das Kopfende des Bettes, und stellt eine Kerze, ein Glas Wasser, ein Tellerchen mit gestoßenem Zucker und eine Glocke darauf. Alle diese Vorbereitungen und die Genauigkeit, mit der sie vorgenommen werden, zeugen von der großen Aufmerksamkeit, mit der die Pröpstin allen Gewohnheiten ihres Gatten entgegenkommt. Erst als sie alles gewohnheitsmäßig geordnet hat, beruhigt sie sich wieder, löscht die Kerze aus und setzt sich an ihr einsames Fenster,[27] um auf den Gatten zu warten. Wer sie hätte sehen können, würde eine gewisse Unruhe in dieser Erwartung bemerkt haben, welche ihre guten Gründe hatte: Tuberozow, der seit langem schon unfroh schien, war heute den ganzen Tag mürrisch gewesen und das beunruhigte seine treue Gefährtin. Er war auch sehr müde, denn er hatte heute auf die Felder der Vorstadtbewohner hinausgemußt, um einen Bittgottesdienst anläßlich der andauernden Trockenheit abzuhalten. Nach dem Essen hatte er sich etwas niedergelegt und war dann spazierengegangen. Später hatte er den Polizeichef aufgesucht, und war bei ihm sitzen geblieben. Die kleine Pröpstin wartete erst eine halbe Stunde und dann noch eine ganze, aber er kam nicht. Tiefe Stille herrschte überall. Plötzlich klingt es von der Hügelseite herüber wie Gesang. Die Pröpstin horcht auf. Es ist der Diakon Achilla; sie kennt diese angenehme tiefe Stimme gut. Er steigt den Batawin-Berg herab und singt:
Der Diakon ist unten angekommen, geht über die Brücke und singt weiter:
Die Pröpstin hört dem Gesang des Achilla mit Vergnügen zu. Sie hat den Mann gern, weil er ihren Gatten so liebt, und sie mag auch seinen Gesang. In Träumerei versinkend merkt sie gar nicht, wie der Diakon die Brücke hinter sich[28] läßt und immer näher und näher kommt. Als er endlich dicht vor ihrem Fensterlein steht, donnert er plötzlich mit schauerlichem Pathos:
Die aus ihren Träumen aufgeschreckte Pröpstin schreit leise auf und eilt in das Innere des Zimmers zurück.
Als der Diakon ihren Schreckensruf hört, unterbricht er sofort seinen Gesang.
»Ihr schlaft noch nicht, Natalia Nikolajewna?« fragt er, packt dabei mit beiden Händen das Fensterbrett und schwingt sich auf das Gesimse.
»Wir haben Frieden!« ruft er.
»Was?« fragt die Pröpstin.
»Friede,« antwortet der Diakon, »Friede.«
Achilla fährt mit der Hand durch die Luft und fügt hinzu:
»Der Vater Propst … hat ein Ende gemacht.«
»Was redest du da. Was für ein Ende?« fragt die Pröpstin erregt.
»Schluß! … Der Streit mit mir hat ein Ende! … Von nun an herrscht Frieden und Wohlgefallen. Den wievielten haben wir heute? Den vierten Juni. Notiert's Euch: ›am vierten Juni Frieden und Wohlgefallen‹. Denn Friede soll mit allen sein. Der Lehrer Warnawka kriegt's jetzt aber zu spüren.«
»Was hast du? Nach Branntwein riechst du nicht und schwindelst doch.«
»Ich schwindeln! Ihr sollt bald sehen, wie ich schwindle! Heut ist der vierte Juni, der Tag des heiligen Methodius von Pesnosch, – notiert Euch das auch, denn mit diesem Tage geht es los.«
Der Diakon richtet sich auf den Ellenbogen noch höher auf und flüstert, sich fast bis zum Gürtel ins Fenster hineinschiebend:
»Ihr wißt wohl gar nicht, was der Lehrer Warnawka getan hat?«
»Nein, Freundchen, ich habe nichts gehört. Was hat der Tunichtgut denn getan?«
»Etwas Entsetzliches! Er hat einen Menschen im Topf gekocht.«
»Diakon, du lügst!« ruft die Pröpstin.
»Nein, er hat ihn gekocht!«
»Ganz gewiß, du lügst! Ein Mensch hat doch in einem Kochtopf nicht Platz.«
»Er hat ihn im Aschenkasten gekocht,« fuhr der Diakon unbekümmert fort, »und obgleich ihm diese greuliche Tat vom Polizeichef und vom Arzt gestattet war, wird er doch dafür meinen Händen ausgeliefert.«
»Diakon, du lügst. Das sind alles Lügen.«
»Nein, ich bitte tausendmal um Entschuldigung, nicht eine Silbe ist gelogen,« erwiderte der Diakon mit heftigem Kopfschütteln und die Worte wirbelten noch schneller von seinen Lippen. »Warnawka hat tatsächlich einen Menschen mit Genehmigung der Obrigkeit, das heißt: des Arztes und des Polizeichefs, gekocht. Es war eine Wasserleiche. Aber dieser Gekochte quält jetzt ihn und seine Mutter, die Frau Hostienbäckerin, aufs grausamste, und ich habe das alles in Erfahrung gebracht und beim Polizeichef dem Vater Propst erzählt, und der Vater Propst hat dem Herrn Polizeichef dafür ein tüchtiges – coppe vachée heißt's auf französisch – gemacht. Der Polizeichef hat gesagt: ›Ich will – sagt er – Soldaten holen und der Sache ein Ende machen.‹ Ich aber fügte dazu: ›Hol du nur deine Soldaten, ich bin selber Soldat![30]‹ Und von morgen ab, Euer Hochwürden, ehrenwerteste Frau Pröpstin Natalia Nikolajewna, werdet Ihr sehen, wie der Diakon Achilla den Lehrer Warnawka strafen wird, ihn, den Gotteslästerer, der die Lebenden irre macht und die Toten martert. Jawohl, heute ist der vierte Juni, der Gedächtnistag des heiligen Methodius von Pesnosch! Ihr solltet Euch das notieren …«
Hier wurde der Redestrom des Diakons Achilla plötzlich unterbrochen, denn aus der Ferne vom Hügel ließ sich ein Husten vernehmen, das nur vom Vater Propst kommen konnte.
»Halloh! Da kommt der Propst Sawelij!« ruft Achilla, springt vom Gesims auf die Erde und geht seines Weges.
Die Pröpstin erhebt sich, zündet zwei Kerzen an und blickt bei ihrem Scheine den eintretenden Gatten scharf an. Der Propst küßt die Frau leise auf die Stirn, nimmt die Kutte ab, zieht den weißen Schlafrock über, bindet das rote Seidentuch um den Hals und setzt sich ans Fenster. Die Pröpstin hat alles vergessen, was ihr eben noch der Diakon vorgeredet, und fragt den Gatten gar nicht danach. Sie geleitet ihn in das kleine längliche Nebenzimmer, das ihr als Schlafzimmer dient und wo sie jetzt den Abendimbiß für den Vater Sawelij bereitgestellt hat. Vater Sawelij setzt sich an den kleinen Tisch, verzehrt die zwei weichgekochten Eier, spricht sein Dankgebet und wendet sich dann seiner Frau zu, um ihr Gute Nacht zu sagen. Die Pröpstin selbst ißt abends nie etwas. Sie sitzt ihrem Gatten gegenüber und leistet ihm allerhand kleine Dienste, indem sie ihm bald etwas reicht, bald etwas fortträgt. Dann erheben sich beide, beten vor dem Heiligenbild und beginnen unmittelbar darauf, sich gegenseitig zu bekreuzigen. Diesen Abendsegen erteilen sie einander immer zu gleicher Zeit und mit solcher[31] Gewandtheit und Geschwindigkeit, daß man sich nur wundern kann, wie ihre hin- und herwirbelnden Hände kein einziges Mal gegeneinander stoßen oder aneinander hängen bleiben.
Hierauf wechseln die Gatten den Abschiedskuß, wobei der Propst seiner kleinen Frau die Stirne, sie ihm aber das Herz küßt. Dann trennen sie sich. Der Propst geht in sein Wohnzimmer, um sich niederzulegen.
Aber heute konnte der Alte keine Ruhe finden. Schon war eine Stunde vergangen, und immer noch ging er auf und ab in seinem weißen Pikeeschlafrock, mit dem roten Seidentuch um den Hals. Endlich trat er an einen kleinen roten Schrank, der auf einer hohen Kommode mit abgezogener Platte stand. Aus diesem Schränkchen nahm er ein in dicken blauen Demi-Coton mit gelbem Juchtenrücken gebundenes Exemplar des »Kalenders« des Eugenios, legte das Buch auf den ovalen Tisch, der vor seinem Bette stand, zündete zwei Sparkerzen an und horchte auf: es schien, als ob seine Frau noch nicht schliefe. So war es auch.
»Willst du noch lesen?« fragte in diesem Augenblick aus dem Nebenzimmer die sanfte, besorgte Stimme der Pröpstin.
»Ja, liebe Natascha, ich will noch ein wenig lesen,« antwortete Vater Tuberozow. »Du aber tu mir den Gefallen und schlafe –«
»Gewiß werde ich schlafen, gewiß, mein Lieber,« erwiderte die Pröpstin.
»Ja, ich bitte dich, schlafe.« … Und mit diesen Worten setzte der Propst eine große silberne Brille auf seine stolze römische Nase und begann langsam in seinem blauen Buch zu blättern. Er las nicht, sondern blätterte nur, und dabei interessierte ihn nicht das, was in dem Buch gedruckt stand, sondern die von seiner eigenen Hand beschriebenen Einschaltblätter. Diese Notizen waren zu verschiedenen Zeiten gemacht[32] und weckten in dem alten Priester eine ganze Welt von Erinnerungen, zu denen er hin und wieder gern zurückkehrte.
Da wir nun zwischen den Propst Sawelij und seine Vergangenheit geraten sind, wollen wir auch still und ehrfürchtig dem leisen Flüstern der Greisenlippen lauschen, das durch die dumpfe Stille der Mitternacht dringt.
Tuberozow betrachtete seinen Kalender von dem ersten Einschaltblatte an, auf dem zu lesen stand: »Nachdem ich am 4. Februar 1831 durch den Hochwürdigen Gawriil die Priesterweihe empfangen, erhielt ich von ihm dieses Buch als Belohnung für meine guten wissenschaftlichen Leistungen im Seminar und mein gutes Betragen.« Auf diese erste Notiz, die am ersten Tage nach der Ordination gemacht war, folgte als zweite: »Zum erstenmal im Dom gepredigt, nachdem der Bischof die Messe gehalten. Zum Thema der Predigt hatte ich das Gleichnis von den Söhnen des Weinbergsbesitzers genommen. Der eine sprach: ich gehe nicht, – und ging doch, der andere aber sprach: ich gehe, – und ging nicht. Ich bezog dieses auf die guten Handlungen und die guten Vorsätze, wobei ich mir einige Anspielungen auf die Beamten erlaubte, die ihren Diensteid ablegen und dann nicht einhalten. Dabei wies ich auch ganz vorsichtig auf die Machthaber und Vorgesetzten hin. Ich sprach fließend und weniger feierlich als natürlich. Seine Eminenz belobten diesen meinen Versuch. Aber später riefen Seine Eminenz mich zu sich und bemerkten nach einem allgemeinen Lobe meiner Rede im besonderen, daß ich mich hüten solle, in meinen Predigten direkt auf die Wirklichkeit hinzuweisen, vor allem aber[34] die Herren Beamten aus dem Spiele lassen, denn je weiter man sie sich vom Leibe halte, desto gottwohlgefälliger sei das. Für das aber, was ich schon gesagt hatte, machte er mir keine Vorwürfe, sondern schien es sogar zu billigen.«
»1832 am 18. Dezember wurde ich zum Bischof gerufen und erhielt eine Ernennung nach Stargorod, wo das Schisma sehr stark sein soll. Ich erhielt die Weisung, ihm auf jede Art entgegenzuwirken.«
»1833 am 8. Februar fuhr ich mit meiner Gattin aus dem Dorfe Blagoduchowo nach Stargorod und gelangte am 12. zur Frühmesse daselbst an. Unterwegs wären wir fast von Wölfen gefressen worden. In der Gemeinde fand ich viel Unordnung vor. Die Altgläubigen sind im Besitz großer Macht. Nachdem ich mich etwas umgeschaut hatte, sah ich, daß der Kampf gegen das Schisma nach den konsistorialen Vorschriften wenig Wert hat. Ich schrieb das ans Konsistorium und erhielt einen Verweis.«
Der Propst überschlug ein paar Eintragungen und blieb dann wieder bei der folgenden stehen: »Nachdem ich einen Verweis für Untätigkeit erhalten, die man daraus zu ersehen meint, daß ich nicht mit reichlichen Denunziationen aufwarte, suchte ich mich zu rechtfertigen, indem ich darauf hinwies, daß die Schismatiker nichts anderes täten, als was man schon längst von ihnen wisse, und fügte diesem Bericht noch hinzu, daß vor allem der orthodoxe Klerus in äußerster Armut lebe, und infolgedessen, in Anbetracht der Schwäche der menschlichen Natur, gegen Bestechung nicht unempfindlich sei und sogar selber der Ketzerei Vorschub leiste, gleich anderen Verteidigern der Orthodoxie, indem er Spenden von den Ketzern annehme. Ich schloß damit, daß man mit der Befreiung der Geistlichkeit aus ihrer schweren Abhängigkeit[35] beginnen müsse, wenn man die Schäden der Kirche heilen wolle. Für selbigen Versuch erhielt ich abermals einen Verweis und wurde zu einer persönlichen Aussprache zitiert, bei der ich ein »unehrerbietiger Ham« genannt wurde, der »die Blöße seines Vaters aufdeckt«.«
Etwas weiter, nach einigen anderen Notizen, stand zu lesen: »Ich war in Geschäften in der Gouvernementsstadt, und als ich mich dem Bischof vorstellte, berichtete ich ihm persönlich von der Armut des Klerus. Seine Eminenz zeigten sich sehr gerührt, aber sie bemerkten, daß auch unser Herr selber nicht hatte, wo er sein Haupt hinlegen sollte, und doch nicht müde ward zu lehren. Er riet mir, ich solle den Klerikern das Buch ›Von der Nachfolge Christi‹ zur Lektüre empfehlen. Darauf erwiderte ich Seiner Eminenz nichts, und es wäre auch unnütz gewesen, denn bei unserer Armut können wir dieses Buch gar nicht beschaffen.
Höchst politisch brachte ich bei der Abendtafel beim Vater Schließer von der Domkirche das Gespräch nochmals auf diesen Gegenstand. An der Tafel nahmen noch der Vater Propst und der Konsistorialsekretär teil. Aber sie zogen meine Worte ins Scherzhafte. Der Sekretär sagte spöttisch, daß der Arme leichter ins Himmelreich komme, – was wir auch ohne Seine Wohlgeboren schon wußten, der Vater Schließer aber erzählte bei dieser Gelegenheit eine nicht üble Anekdote von einem Studenten der Akademie, der später ein berühmter Gottesmann und Prediger wurde. Dieser hätte nämlich noch als Laie auf die Frage des Bischofs, ob er irgend Vermögen besitze, geantwortet:
»Freilich besitze ich welches, Eminenz.«
»Bewegliches oder unbewegliches?« fragte dieser, worauf jener erwiderte:
»Sowohl bewegliches, wie unbewegliches.«
»Was besitzest du denn an beweglichem Gut?« fragte abermals der Bischof, indem er des Jünglings ärmliches Gewand betrachtete.
»An beweglichem Gut besitze ich ein Haus im Dorf,« antwortete der Befragte.
»Wie kann denn ein Haus als bewegliches Gut gelten? Bedenke, wie dumm deine Antwort ist.«
Jener aber, nicht im geringsten verlegen, entgegnete, seine Antwort wäre ganz richtig, denn sein Haus sei solcher Art, daß, sobald der Wind es anblase, es in heftige Bewegung gerate.
Dem Bischof erschien diese Antwort so eigenartig, daß er den Studiosus nicht mehr für einen Dummkopf zu halten vermochte, sondern höchst interessiert weiterfragte:
»Was nennst du denn dein unbewegliches Gut?«
»Mein unbewegliches Gut,« sprach der Student, »ist meine Mutter, die Küstersfrau, und unsere braune Kuh, die beide ihre Füße nicht bewegen konnten, als ich die Heimat verließ, die Mutter vor Altersschwäche, die Kuh wegen Futtermangels.«
Alle lachten sehr darüber, obgleich ich an der Geschichte mehr Trauriges und Tragisches fand als Komisches. Ich beginne, bei allen eine große Lachlust und einen Leichtsinn zu bemerken, wovon ich wenig Gutes erwarte.
Mein Leben geht in Schlafen und Essen dahin. Das Schisma kann ich auf keine Weise bekämpfen, denn ich bin in allem gebunden, sowohl durch meinen halbverhungerten Klerus, als durch den allzu satten Polizeichef. Es empört mich, daß ich gleichsam zum Spott als Missionar hierher gesandt bin. Ich soll predigen – und keiner will mich hören; ich soll lehren – und keiner will lernen. Der Polizeichef predigt viel besser als ich, denn er hat so ein gewisses Missionsinstrument[37] mit zwei Enden, – von mir aber verlangt man Denunziationen. Eminenz! Was sollen diese Denunziationen, was soll in sie eingewickelt werden? Mir verbietet, soweit ich die Sache verstehe, mein Amt, dergleichen zu schreiben. Lieber will ich, wenn es nötig ist, reines Papier hergeben …«
»Heute morgen, am 18. März 1836, deutete meine Pfarrerin Natalia Nikolajewna an, daß sie sich gesegneten Leibes fühle. O Herr, schenke uns diese Freude! Zu erwarten Ende November.«
»Am 9. Mai, dem Tage des heiligen Nikolaus, wurde auf obrigkeitlichen Befehl die altgläubige Kapelle in Dejewo zerstört. Es war ein schauerliches, unwürdiges und wahrhaft empörendes Schauspiel. Zu allem andern riß noch das Eisenkreuz von der Kuppel ab und blieb an den Ketten hängen. Als die Zerstörer mit ihren Feuerhaken es voller Erbitterung ganz herabzuzerren sich bemühten, stürzte es plötzlich herunter und zerschmetterte einem Feuerwehrsoldaten den Schädel, daß er tot liegen blieb. Er war ein Jude. O wie weh tat es mir, das alles mit ansehen zu müssen! Herr, mein Gott! Sie sollten doch wenigstens keine Juden beauftragen, das Kreuz herabzureißen! Abends versammelte sich das Volk auf der Trümmerstätte und ihre und unsere Geistlichkeit kam auch hin, und alle haben wir geweint und zuletzt fielen wir uns in die Arme.«
»10. Mai. Die Obrigkeit hat einen großen Fehler begangen. Kurz vor Mitternacht verbreitete sich das Gerücht, das Volk habe eine heilige Lampe auf die Steine gestellt und halte eine Gebetsversammlung beim zerstörten Gotteshaus ab. Wir gingen alle hinaus und fanden die Leute wirklich beim Gebet. Ein alter Mann hielt die Lampe in der Hand und sie erlosch nicht. Der Stadthauptmann gab leise Befehl,[38] die Feuerspritzen heranzufahren und die Menge mit Wasser zu begießen. Das war höchst unbedacht, ich kann sogar sagen: dumm – denn das Volk zündete Kerzen an und ging heim. Dabei sang es vom »grausamen Pharao« und rief: »Der Herr hilft dem verfolgten Glauben und der Wind verlöscht die Lichter nicht!« Ich machte den Stadthauptmann darauf aufmerksam, wie unvorsichtig seine Verordnung gewesen, die Kapelle zu zerstören, das Kreuz herabzureißen und das Marienbild fortzuschaffen. Aber was kümmert er sich drum?«
»12. Mai. Die Eitelkeit hat mich übermannt: ich habe mir von der Wirtschafterin der Frau Adelsmarschall zwei seidene Kleider der Gnädigen auf Kredit geben lassen und habe sie in die Stadt zum Färben geschickt. Daraus will ich mir dann eine seidene Kutte machen lassen. Es geht nicht anders, man muß sich akkurat kleiden. Ich komme allmählich in alle adeligen Häuser, und ich will nicht über die Achsel angesehen werden.«
»17. Mai. Die Pfarrerin Natalia Nikolajewna deutete heute an, daß sie sich betreffs ihres Zustandes getäuscht habe.«
»20. Juni. Auf einen Bericht des Stadthauptmanns, daß ich zu Ostern nicht auch in die Häuser der Altgläubigen mit dem Kreuze gegangen, wurde ich wieder nach der Gouvernementsstadt zitiert. Ich legte die ganze Sache dem Bischof eingehend dar. Nicht aus Fahrlässigkeit hätte ich die Häuser der Altgläubigen gemieden, denn auch meine Tasche hätte ja davon Schaden gehabt. Ich tat es, um die Schismatiker fühlen zu lassen, daß ihnen die Ehre nicht gebühre, von mir und dem gesamten Klerus besucht zu werden. Der Bischof wurde nachdenklich und ließ sodann diese meine Erklärung gelten. Allein nicht umsonst sagt das Volk, daß, wenn der Zar auch gnädig sei, sein Hundejunge es noch nicht zu sein brauche. Weil die Sache meiner unterlassenen Amtshandlung zum[39] Teil auch die weltliche Obrigkeit angeht, schickte der Bischof mich zum Gouverneur, damit ich ihm eine Erklärung in der hochwichtigen Angelegenheit abgebe … War das eine Erklärung! … Wehe mir armen Sünder, was ich auszustehen hatte! Wehe auch euch, ihr meine Nächsten, meine Brüder, Vertrauten und Freunde, ob der Schmach und Erniedrigung, die ich von diesem kurzschwänzigen Glaubensfeind erdulden mußte! Der Gouverneur, der als Deutscher die Ambitionen seines Luther hochhalten zu müssen wähnt, ließ den russischen Popen überhaupt nicht zu sich heran, sondern schickte mich zur Erörterung der Angelegenheit zu seinem Kanzleivorsteher. Dieser, ein Pole, war aber nicht geneigt, die Sache wie der Bischof anzusehen, sondern er fiel über mich her mit Geschrei und Gebrüll, sagte, ich leiste den Ketzern Vorschub und widersetze mich dem Willen meines Kaisers. Wehe dir, du aussätziger Pole, daß du mit deinem löcherigen Gewissen dich unterstehst, mir Widersetzlichkeit gegen meinen Kaiser vorzuwerfen! Allein ich nahm es hin und ging schweigend von dannen, des Sprichwortes gedenkend: Wie der Herr, so's Gescherr. Und so gewinnt es den Anschein, als wäre alles Geschilderte nur geschehen, um meine neue seidene Kutte einzuweihen, welche, wie ich hier bemerken will, sehr akkurat gefertigt ist, und der man es nur bei Sonnenschein ein wenig ansieht, daß sie aus zwei verschiedenen Stoffen gefertigt ist.«
»23. März 1837. Heute, am Karsamstag, kamen die Kleriker und der Diakon zu mir. Prochor bittet, wir sollten zu Ostern durchaus auch in die Häuser der Altgläubigen mit dem Kreuz gehen, denn es brächte ihnen zu viel Schaden, wenn wir es unterließen. Ich gab ihnen vierzig Rubel von meinem Gelde, weil ich mich der Schmach nicht unterziehen wollte, vor den Türen der reichen Bauern um Almosen zu[40] bitten. Jetzt scheint es mir eine Torheit, daß ich mir die seidene Kutte machen ließ; ich wäre auch ohne sie ausgekommen und hätte dann mehr für den Klerus übriggehabt. Ich gedachte eben: Kleider machen Leute.«
»24. April. Eine Schmach ist mir widerfahren, die mich weinen und schluchzen ließ. Ich bin erneut denunziert worden. Nochmals stand ich vor jenem Gouvernementskanzleivorsteher und mußte mich wegen Nichtbesuches der Altgläubigen verantworten. Mein eigener Klerus hat mich denunziert. Wie ertrag' ich diese Niedrigkeit und Undankbarkeit! Du Denker und Administrator! Betrachte in deinem aufgeklärten Geiste, woraus das Leben eines russischen Popen sich zusammensetzt! Auf dem Heimwege haderte ich die ganze Zeit mit mir selber, daß ich nicht auf die Akademie gegangen war. Von dort wäre ich zur Klostergeistlichkeit gegangen, wie so viele andere. Mit der Zeit wäre ich Archimandrit geworden und Bischof. In einer Kutsche wäre ich gefahren und hätte selber kommandiert, statt daß man mich kommandierte. Es war mir eine boshafte Freude, mich diesen eiteln Gedanken hinzugeben; immer wieder sah ich mich als Bischof. Aber als ich heimgekehrt war, wurde ich so zärtlich von meiner Pfarrerin empfangen, daß ich Gott dem Herrn dankte, der alles so gefügt hat, wie es ist.«
»25. April. In der Gouvernementsstadt haben sie mir Schmach angetan; allein das ist nichts dagegen, wie ich heute zu Hause beschämt worden bin. Einem Schulbuben gleich. Gestern erst schrieb ich die Memorabilien meiner Bekümmernisse und Ärgernisse nieder. Heute stand ich früh auf, setzte mich ans Fenster, und in Gedanken versunken schaute ich auf das Gemüsefeld des bettelarmen Pizonskij, das sich gerade vor meinem Fenster ausbreitet. Voriges Jahr wurde auf diesem Felde ein schwachsinniges Mädchen,[41] eine gewisse Nastia, die ein vorüberziehender Soldat verführt hatte, von einem Knäblein entbunden, worauf sie sich in den Fluß stürzte und ertrank. Pizonskij hatte dieses Kind als Trost seines einsamen Alters zu sich genommen, und dann hatten alle die Geschichte bald vergessen. Ich als einer der ersten ebenfalls. Heut aber blicke ich von oben herab auf das Land dieses Pizonskij und denke an meine Angelegenheiten, da bemerke ich, daß dieser frisch aufgerissene, schwarze, sogar ein wenig bläuliche Erdboden ganz ungemein lieblich anzuschauen ist, wie er so von der Morgensonne übergossen daliegt. Die Furchen entlang schreiten hagere schwarze Vögel und stärken ihren hungernden Leib mit frischem Gewürm. Der alte Pizonskij selbst, den kahlen Kopf im hellsten Sonnenlicht badend, stand auf einer Treppe vor einem auf Pfählen befestigten Treibbeet, hielt in der einen Hand eine Schale mit Samen und legte mit der andern die Körner in die Erde, immer kreuzweise in ganz kleinen Prisen. Und dabei blickte er zum Himmel empor und sprach bei jedem Korn ein Wort des Spruches: »Herr, laß wohlgelingen, wachsen und gedeihen, auf daß ein jeder sein Teil habe, der Hungernde und der Verwaiste, der Wünschende, der Bittende und der Fordernde, der Segnende und der Undankbare.« Kaum hatte er zu Ende gesprochen, da schrien alle schwarzglänzenden Vögel, die auf dem Acker umhergingen, die Hühner gackerten, der Hahn krähte aus vollem Halse und schlug laut mit den Flügeln, und von seiner Matte schob sich jenes Kind, das Söhnlein der Blödsinnigen, das der alte Sonderling zu sich genommen. Es lachte hell auf in kindischer Freude, klatschte in die Händchen und kroch lachend über den weichen Erdboden. Es war mir wie eine Vision. Der alte Pizonskij war glückselig und sang laut Halleluja! … Halleluja, Herr mein Gott! – sang auch ich still für mich vor Entzücken, und Tränen[42] der Rührung entströmten meinen Augen. In diesen heilenden Tränen löste sich mein Groll und ich sah ein, wie töricht mein Kummer gewesen war. Vermehre und laß wachsen, Herr, deine Gaben auf dieser Erde, daß ein jeder sein Teil erhalte, der Wünschende, der Bittende, der Fordernde und der Undankbare. … Mir ist ein solches Gebet in keinem gedruckten Buch vorgekommen. Gott, mein Gott! Dieser alte Mann gedachte auch des dem Diebe zukommenden Teiles und betete für ihn! O du mein weichherziges Rußland, wie bist du schön!«
»6. August, Christi Verklärung. Was für ein entzückendes Weib ist meine Pfarrerin Natalia Nikolajewna! Wieder frage ich: wo, außer im heiligen Rußland, kann es solche Frauen geben? Ich sagte ihr einmal, wie mich die Zärtlichkeit des bettelarmen Pizonskij zu den Kindern rühre, und gleich verstand oder erriet sie meine Gedanken und meine Sehnsucht: sie umarmte mich und mit der Schamröte, die ihr so schön zu Gesichte steht, sprach sie: »Warte nur, Vater Sawelij, vielleicht schenkt uns Gott doch noch – –« ein Kindlein wollte sie sagen. Aber ich hab' es zu oft schon erfahren, daß diese ihre Hoffnungen sich als trügerisch erwiesen, daher fragte ich sie gar nicht nach den Einzelheiten, – – und es kam auch wirklich wieder so, daß man sich nur vergeblich gefreut hatte. Aber auch aus diesem blinden Lärm ward mir ein rührendes Erlebnis. Heute predigte ich von der Notwendigkeit einer beständigen inneren Wandlung, daß man Kraft gewinne, in allen Kämpfen gleich einem starken und geschmeidigen Metall geschmiedet zu werden, und nicht dem Ton gleichwerde, der sich plattdrücken läßt, und wenn er trocken wird, noch die Spur des Fußes zeigt, der zuletzt auf ihn trat. Und wie ich so redete, ließ ich mich zu einer Improvisation hinreißen und wies das Volk auf Pizonskij hin,[43] welcher an der Tür stand. Zwar nannte ich nicht seinen Namen, aber ich redete von ihm als von einem, der sich in unserer Mitte befinde, der zu uns gekommen sei nackt und bloß und von allen Narren ob seiner Armut verspottet, der aber doch nicht nur selbst nicht zugrunde gegangen sei, sondern auch das Größte getan habe, was ein Mensch tun könne, da er unbefiederte Vöglein gerettet und aufgezogen habe. Ich sprach davon, wie süß das sei, den wehrlosen Leib der Kleinen zu wärmen und in ihre Seelen die Saat des Guten zu streuen. Als ich das ausgesprochen hatte, fühlte ich meine Wimpern von Tränen feucht und sah, daß auch viele von den Zuhörern ihre Augen trockneten und jenen suchten, den meine Seele meinte, Kotin den Bettler, Kotin den Ernährer der Waisen. Und als ich merkte, daß er nicht mehr da war, denn er war demütig hinausgegangen, weil er meine Andeutung verstanden hatte, da ergriff mich eine gewisse Beklemmung, daß ich ihn durch mein Lob verwirrt hatte, und ich sprach: »Er weilt nicht mehr unter uns, liebe Brüder! Denn er bedarf dieses meines schwachen Wortes nicht, weil das Wort der Liebe längst schon mit dem Flammenfinger Gottes in sein demütiges Herz geschrieben ist. Ich bitte euch,« sprach ich und neigte mich tief, – – »ihr alle, die ihr hier versammelt seid, ehrenwerte und angesehene Mitbürger, vergebt mir, daß ich in meiner Ansprache euch keinen hochberühmten Feldherrn als Muster der Kraft und als Beispiel zur Nachahmung hingestellt habe, sondern einen von den Geringen, und wenn euch das ärgern sollte, so legt das meiner Armut zur Last, denn euer sündiger Pfarrer Sawelij hat oft, wenn er auf diesen Geringen schaute, gefühlt, daß er neben ihm kein Priester des höchsten Gottes sei, sondern in diesem Gewande, das meine Unwürde verhüllt, nichts als ein übertünchter Sarg. Amen.«
Ich weiß nicht, was in diesen meinen schlichten Worten, die ich ganz ex promptu gesprochen hatte, Weises und Schönes enthalten war. Ich muß aber sagen, daß meine andächtige Gemeinde etwas dieser Art herausgehört hatte, und als ich bei der Entlassung meine Hand den einzelnen darreichte, fiel mehr denn eine Träne darauf. Doch das ist noch nicht alles: das Wichtigste sollte für mich erst kommen.
Gewissermaßen als Belohnung für mein aufrichtiges Wort über das Glück, nicht bloß für die eigenen, sondern auch für fremde Kinder sorgen zu können, hat der Allgegenwärtige und Allwaltende auch meine Unwürdigkeit in seine Vaterhand genommen. Er hat mir heute den ganzen wahren Wert des Schatzes offenbar gemacht, den ich dank seiner unermeßlichen Milde besitze. Eben komme ich mit fünf nach der Messe geweihten Äpfeln heim, da erwartet mich an der Schwelle eine alte gute Bekannte: meine Pfarrerin Natalia Nikolajewna. Sie war während des Schlußgesanges leise hinausgeschlichen und hatte mir daheim nach Gewohnheit den Tee nebst einem leichten Frühstück bereitet. Nun steht sie kerzengerade auf der Schwelle, nicht mit leeren Händen, sondern mit einem Strauß von Wasserlilien und Gartenlevkojen. »Nun, bist du nicht ein hinterlistiges Weib, Natalia Nikolajewna!« sage ich, der ihr sonst nie Hinterlist vorgeworfen. Aber sie begriff, daß es im Scherz gesagt war, umhalste mich und begann leise zu weinen. Woher diese Tränen? – Das ist ihr Geheimnis, allein für mich ist dieses dein Geheimnis nicht geheimnisvoll, liebes Weib, daß du nicht weißt, wie es seinen Gatten trösten soll, und das ihm den Trost Israels, den kleinen Benjamin, nicht schenken darf. Ja, nur mit Wasserlilien und Gartenlevkojen begrüßte mich an diesem Tage ihr in Liebe und Wohlwollen weit aufgetanes[45] Herz! In stiller Bekümmernis setzten wir zwei Kinderlosen uns an den Teetisch, doch nicht der Tee, sondern unsere Tränen wurden uns zum Trank; und Hand in Hand sanken wir nieder vor dem Bilde des Heilandes und lange und heiß beteten wir zu ihm um den Trost Israels. Natascha entdeckte mir später, daß sie gleichsam eine Engelstimme vernommen habe, und ob ich gleich verstand, daß dieses nur eine Frucht ihrer Phantasie gewesen, so wurden wir doch beide froh wie die Kindlein. Ich muß aber bemerken, daß auch in dieser Stimmung Natalia Nikolajewna mich, den rohen Mann, an Findigkeit des Geistes und an Würde der erhabenen Gefühle weit übertraf.
»Sage mir, Vater Sawelij,« fragte sie lieblich kosend, »sage mir, Lieber, hast du nicht irgendeinmal, ehe du mich gefunden, gegen das Gebot der Keuschheit gesündigt?«
Eine solche Frage, muß ich gestehen, machte mich äußerst verlegen, denn ich begriff plötzlich, warum meine unartige Gattin etwas ihr so wenig Geziemendes erfahren wollte.
Aber mit ihrer ganzen ausgezeichneten Bescheidenheit und all jener weiblichen Koketterie, die sie auch als Pfarrersfrau von der Natur geerbt hat, begann sie mich mit Erinnerungen aus meiner verflossenen Jugendzeit zu locken, und wies darauf hin, daß das, was sie angedeutet, sehr leicht hätte geschehen können, denn ich sei damals so schmuck gewesen, daß alle Mädchen, nicht nur aus geistlichen, sondern auch aus weltlichen Häusern, mir nachgeseufzt hätten, als ich in die Stadt Fatesh gekommen sei, um bei ihrem Vater um sie anzuhalten. So erheiternd das auch war, so suchte ich doch alle ihre Zweifel über meine Jugend zu zerstreuen, was mir auch nicht schwer fiel, denn ich brauchte nur die reine Wahrheit zu sagen. Allein je eifriger ich sie beruhigte, desto betrübter ward sie, und ich konnte nicht fassen, warum meine[46] Rechtfertigung sie gar nicht erfreute, sondern nur immer trauriger machte, bis sie endlich sagte:
»Denke nach, Vater Sawelij, vielleicht, wenn du doch leichtsinnig gewesen … gibt es irgendwo noch ein Waisenkind …«
Nun erst verstand ich, was sie klar auszusprechen sich geschämt hatte: sie will mein illegitimes Kind ausfindig machen, das gar nicht vorhanden ist! Welche Herzensgüte! Wie ein Stier, den die Bremse gestochen hat, riß ich mich von meinem Platze, stürzte nach dem Fenster und richtete meine Blicke in die himmlische Ferne hinaus, daß nur der Himmel mich sehe, mich, den sein Weib so durch seine Güte und Sorglichkeit beschämt hatte. Sie aber, meine Lilien- und Levkojenfreundin, meine weiße, keusche, süß duftende Rose, mit leichten Schritten schlich sie mir nach und legte ihre kleinen Pfötchen mir auf die Schultern und sprach:
»Denke nach, Liebster: vielleicht ist irgendwo ein Vöglein vorhanden, und ist es so, dann lasse uns gehen und es holen!«
Nicht nur aufsuchen will sie das Kind, – sie hat es schon lieb, sie bemitleidet es wie ein noch unbefiedertes Vöglein! Das ward mir zu viel, ich biß mich in den Bart, fiel vor ihr in die Knie, neigte mich tief zur Erde und brach in jenes Schluchzen aus, das keiner auf Erden zu schildern vermag. Und in Wahrheit, saget mir, alle Zeiten und Völker, – wo außer in unserem heiligen Rußland, werden Frauen geboren, wie diese Tugend? Wer hat sie das alles gelehrt? Wenn nicht Du, allgütiger Gott, der Du sie deinem unwürdigen Knecht gegeben hast, daß er Deine Größe und Deine Güte näher fühlen solle!«
Hier war im Tagebuch des Vaters Sawelij fast eine ganze Seite mit Tinte begossen und unter dem Fleck standen die Zeilen:
»Weder will ich diesen Fleck entfernen noch eine gewisse Ungeschicklichkeit und Monotonie des Ausdrucks, die ich in den letzten Zeilen finde, verbessern; mag alles so bleiben, denn alles, was dieser Augenblick mir geschenkt hat, ist mir in seiner gegenwärtigen Gestalt teuer. Meine Pfarrerin konnte heut von ihren Schelmereien nicht lassen, obgleich es schon auf Mitternacht geht und sie gewöhnlich um diese Zeit schon zu schlafen pflegt. Ich aber ziehe es vor, mich in der Stille der Nacht noch an einem passenden Buch zu erquicken, oder auch meine Memorabilien aufzuzeichnen, und oft, wenn ich etwas geschrieben habe, trete ich an ihr Lager und küsse die Schlafende, und wenn mich etwas betrübt hat, so schöpfe ich aus diesem Kusse neuen Mut und neue Kraft, und schlummere dann friedlich ein. Heut aber ist es anders gegangen. Nach diesem Tage, der mir eine solche Menge verschiedenartigster Empfindungen gebracht hat, war ich so in die Schilderung alles dessen, was auf den vorhergehenden Blättern geschrieben steht, vertieft, daß ich mein arges Weiblein gleichsam in meiner Seele selbst fühlte, und da meine Seele sie küßte, dachte ich nicht daran, an ihr Bett zu treten und sie zu küssen. Sie aber, die Feine und Arglistige, hatte diese meine Unterlassung wohl bemerkt und machte sie in unglaublich eigener Weise gut: vor einer Stunde kam sie zu mir, legte mir ein reines Schnupftuch auf den Tisch, gab mir einen Kuß und ging dann, scheinbar ganz ernst, zur Ruhe. Aber welch unfaßbare weibliche Schlauheit muß ich an ihr entdecken! Wie ich so ganz ernst dasitze und schreibe, sehe ich, daß mein Tuch sich scheinbar bewegt und auf den Boden fällt. Ich bückte mich, legte es wieder auf den Tisch und schrieb weiter; aber das Tuch fiel wieder auf den Boden. Ich nahm den Flüchtling und fesselte ihn, indem ich das Tintenfaß auf ihn stellte, aber er entwich von neuem und[48] riß sogar das Tintenfaß mit, welches umfiel und meinen Kalender mit diesem mächtigen Fleck zierte. Was sollte nun diese Leinwandflucht bedeuten? Sie bedeutet, daß meine Pfarrerin eine ausgemachte Kokette ist, und zwar eine von ganz seltener Art, denn sie kokettiert nicht mit andern guten Leuten, sondern mit dem eigenen Ehgemahl. Sie hatte an das Tuch, das sie mir gebracht, heimlich einen recht langen Faden befestigt, durch die Türritze bis zu ihrem Bette gezogen, und während sie ganz still daliegt, zupft sie scherzend an dem Faden, so daß mir das Tuch aus der Hand gleitet. Und ich dickfelliger Kerl entdeckte dies nur, weil bei dem letzten Fallen des Tuches hinter der Tür ein leises fröhliches Lachen ertönte, und ich ihre nackten Füßchen stampfen hörte!«
»7. August. Die ganze vorige Nacht habe ich vor Glück nicht schlafen können, und ich lüge nicht, wenn ich hinzufüge, daß auch Natascha an dieser Nachtwache nicht unbeteiligt war. Wie die Verliebten vor St. Peter auf die Sonne warten, so saßen wir im sechsten Jahr unserer Ehe im Fenster und harrten des Sonnenaufgangs. Meine Liebste gestand mir, daß sie oft nicht schlafe, wenn ich schreibe, und sich nur schlafend stelle. Auch manches andere gestand sie mir noch; so, daß sie gestern in der Kirche, als sie meiner Predigt zuhörte, die ihr ganz besonders gefallen habe, das Gelübde abgelegt habe, zu Fuß nach Kiew zu pilgern, sobald sie sich gesegneten Leibes fühle. Ich billigte das nicht, denn eine solche Wanderung ist den Kräften einer Schwangeren gar nicht angemessen; ich erlaubte ihr aber doch, das Gelübde zu erfüllen, denn bei einer so großen Freude würde ich selbstverständlich auch mitgehen und wenn sie ermüdet, würde ich sie tragen. Wir machten gleich einen Versuch. Ich trug sie lange auf meinen Armen durch den Garten und träumte, sie wäre schon guter Hoffnung und ich behütete sie, daß ihr auf der Wanderung[49] kein Unheil zustoße. Und so sehr gewann dieser Sehnsuchtstraum Gewalt über mich, daß ich, als Natascha sich scherzend auf die Schaukel setzte, welche das kleine Mädchen der Köchin sich an einem Apfelbaum befestigt hatte, diese Schaukel herunternahm und sie ganz hoch in den Baum warf, damit in Zukunft nichts dergleichen geschehe, worüber Natascha sehr lachte. Allein, obgleich auch mein Leben nicht reich ist an Dingen, die sorgfältig geheimgehalten werden müßten, so ist es dennoch gut, daß der Wirt unseres Hauses seinen Garten mit einem festen Zaun umgeben hat, und Gott längs diesem Zaun die Himbeersträucher recht dicht hat wachsen lassen, denn sonst hätte am Ende dieser oder jener gesagt, daß es keine Sünde wäre, den Popen Sawelij einmal auch einen Hansnarr zu nennen.«
»9. August. Ich notiere eine höchst erheiternde Begebenheit, wie meine Gattin heut mit dem Sohne des Diakon, einem Seminaristen der Rhetorikklasse, in richtigen Streit geriet. Das war ein Kasus und eine Komödie zugleich. Sie stritten darüber, wer der klügste Mann auf Erden gewesen. Der Rhetor sagte: Salomo, meine Pfarrerin aber behauptet, ich sei's, und ich muß zugeben, daß diesesmal der üppige König von Zion einen weit weniger standhaften Advokaten fand, als ich. O, wie hab' ich gelacht! Was nicht alles in dieser Welt passieren kann! Ich hörte das alles aus dem Schlafzimmer, wo ich meine Nachmittagsruhe hielt; als ich erwacht war, wagte ich die Disputation nicht mehr zu unterbrechen, und die zwei redeten mächtig aufeinander ein. Der Rhetor, der für die Weisheit Salomonis eintrat, berief sich auf die Worte der Schrift, daß »Salomo weiser war, denn alle Menschen«, meine Eheliebste aber schlug ihn mit folgendem Argument: »Was reibt Ihr mir Euer ›also‹ und ›denn‹ und ›sintemal‹ unter die Nase? All diese ›denn‹ und ›also‹ haben[50] gar keine Bedeutung, weil das alles geschrieben wurde, bevor der Vater Sawelij geboren war.« Jetzt mengte sich in diesen Diskurs noch der Pfarrer von St. Nikita, Vater Zacharia Benefaktow, hinein, der dem ganzen Streite zugehört hatte, und ihn zum Schluß brachte, indem er meiner Gattin recht gab. Es sei richtig, sagte er, – will heißen, richtig in dem Sinne, daß ich damals noch nicht auf der Welt war. So behielt ein jeder von diesen drei Kritikern recht. Ich allein, dem alle ihre kritischen Meinungen zur Antikritik vorgelegt wurden, blieb im Unrecht: vorerst betrübte ich meine Natascha, indem ich ihre Meinung, ich sei der klügste von allen, verwarf, und auf ihre Frage, wer denn klüger sei als ich, antwortete, sie selber sei es. Dem ward verzweifelter Widerstand entgegengesetzt, wie er sich nur gegen die Wahrheit richten kann: »Die Klugen,« – sagte sie, – »können über alle Dinge urteilen, ich aber kann das gar nicht und diskutiere niemals. Woher kommt das?« Da faßte ich sie leise an ihrem kleinen Näschen und erwiderte: »Du mischst dich darum nicht gerne in die Diskussion, weil du statt einer widerspenstigen Nase nur dieses kleine sanftmütige Knöpfchen hast.« Sie verstand wohl, was ich mit diesem Scherz sagen wollte, – nämlich ihre Herzensmilde ins rechte Licht rücken – und sie suchte nun es zu widerlegen, indem sie daran erinnerte, wie sie einmal mit der Postmeistersfrau handgemein geworden sei, um ihr ein Dienstmädchen zu entreißen, das jene unmenschlich hart strafen wollte.«
»15. August, Mariä Himmelfahrt. Während ich mich so meiner Gattin freute, hatte ich gar nicht bemerkt, daß meine Predigt am Verklärungstage, von der Natascha so erbaut gewesen, auf andere Leute anders gewirkt hatte, und daß ich eine mir höchst unerwünschte Mißstimmung unter einigen Leuten in der Stadt hervorgerufen hatte. Meine andächtigen[51] Zuhörer, natürlich nicht alle, aber einige, und unter diesen in erster Linie die Postmeisterin Timonowa, fühlen sich gekränkt, daß ich sie durch meine Anspielung auf Pizonskij herabgesetzt habe. Indessen, das sind alles nur Torheiten müßiger und unkluger Geister. Nach und nach wird das an dem Selbstgefühl der hohen Herrschaften wieder abtrocknen, wie die Wunden am Fell des Hundes.«
»3. September. Ich war in einem großen Irrtum befangen. Die Angelegenheit ist keineswegs erledigt. Aus dem Konsistorium kam eine Anfrage, ob ich wirklich eine Predigt mit Hinweis auf eine lebende Person improvisiert hätte? Ach Gott, was für eine Angst hat man bei uns vor allem Lebendigen! Nun, ich habe denn auch geantwortet, ich hätte dieses und das gesagt. Ich meine, man wird mich dafür nicht hängen und mir den Kopf nicht abhauen, – und doch ist mir gegen meinen Willen unbehaglich zumute, und meine Ruhe ist hin.«
»20. Oktober. Gewiß können sie einem den Kopf nicht abschlagen, aber den Mund können sie einem stopfen, und das haben sie denn auch nicht ermangelt zu tun. Am 15. September wurde ich zur Rechenschaft gezogen. Schon diese Hast ließ wenig Gutes vermuten, denn mit dem Guten haben's die Leute bei uns nicht eilig, am allerwenigsten die Machthaber. – Trotzdem machte ich mich voller Mut auf den Weg. Dieser wurde zuerst dadurch abgekühlt, daß ich 36 Tage ohne Bescheid blieb, und dann der Befehl kam, hinfort alles, was ich zu sagen gedenke, vorerst dem Zensor Troadij vorzulegen. Das wird niemals geschehen, lieber will ich stumm sein wie ein Fisch. Vergib mir meinen Hochmut, Allwalter, aber ich kann das Amt des Predigers nicht mit kalter Leidenschaftslosigkeit ausüben. Ich fühle mitunter, wie etwas über mich kommt, wenn meine geliebte Gabe wirken will.[52] Dann erfaßt mich eine, ich kann wohl sagen heilige Unruhe; meine Seele bebt und glüht und die Worte fallen wie feurige Kohlen von meinen Lippen. Nein, dann trägt meine Seele ihr eigenes Zensurgesetz in sich! … Und sie verlangen, ich soll an Stelle der lebendigen Rede, die vom Herzen zum Herzen geht, rhetorische Übungen hervorbringen!
Nein! lieber mögt ihr euch schließen, ihr Lippen, die ihr nicht zu schmeicheln wißt, lieber sollst du schweigen, mein schlichtes Wort! Gezwungen predigen mag ich nicht.«
»23. November. Ich kann wahrhaftig nicht behaupten, daß mein Leben aller Abwechslung entbehrt. Im Gegenteil, es geht alles bunt durcheinander, so daß die Spannung keinen Augenblick nachläßt. Achtzehn Werst von unserer Stadt, in dem großen Kirchdorf Plodomasowo, lebt die Besitzerin dieses Dorfes, die Bojarin Marfa Andrejewna Plodomasowa. Dieser Knüppel ist von so altem Holz, daß man schon längst keinerlei Lebenszeichen an ihm bemerkt hat; man weiß nur aus alten Erinnerungen, daß sie eine Frau von nicht geringem Geiste war. An die zwanzig Jahre schon kann kein Fernerstehender sich rühmen, die Bojarin Plodomasowa gesehen zu haben.
Vorgestern, kurz vor zwölf Uhr mittags, war ich unsagbar erstaunt, als ich eine große herrschaftliche Droschke, mit drei Füchsen bespannt, vor meinem Hause vorfahren sah. Im Wagen saß ein absonderlich kleines Männlein, in einer haarigen Filzmütze mit langem Schirm und in einem braunen Mantel, den eine Menge übereinanderliegender Kapuzen und Pelerinen zierten.
Was, dachte ich, kann das für eine seltsame Person sein, und kommt sie auch wirklich zu mir oder hat sie nur irrtümlicherweise den Weg zu mir genommen? Diese meine Zweifel wurden aber sehr bald durch jene geheimnisvolle Person[53] selbst gelöst, die in mein Wohnzimmer trat, mit jenem überaus feinen Anstand, welcher mir stets so wohlgefiel. Vorerst bat der Gast um meinen Segen, dann machte er mit seinem ausnehmend kleinen Füßchen einen Kratzfuß, trat mit einer Verbeugung zwei Schritte zurück und sprach:
»Meine Herrin, Marfa Andrejewna Plodomasowa, haben mir einen Gruß an Euch aufgetragen, Vater Sawelij, und bitten Euch, alsbald mit mir zu ihr zu kommen.«
»Darf ich nun meinerseits,« sprach ich, »erfahren, mein Herr, aus wessen Munde ich das alles höre?«
»Ich bin,« erwiderte der Kleine, »ein Leibeigener Ihrer Exzellenz, der gnädigen Frau Marfa Andrejewna, und nenne mich Nikolai Afanasjew.«
Nachdem dieses winzige Persönchen sich mir so vorgestellt hatte, erinnerte es mich nochmals daran, daß seine Herrin mich erwarte.
Während ich mich im Nebenzimmer ankleidete, knüpfte dieser interessante Zwerg eine Unterhaltung mit Natalia Nikolajewna an und brachte sie durch seine Reden in helles Entzücken. Und wahrlich, es liegt in den Worten und in der ganzen Redeweise dieses winzigen Greises etwas unaussprechlich Liebliches. Dazu kommt noch sein feiner Anstand und eine große Freundlichkeit. Dem Dienstmädchen, das ihm ein Glas Wasser brachte, legte er einen Zwanziger auf das Tablett, und als sie zögerte, das Geld zu nehmen, wurde er selbst verlegen und sagte: »Nein, meine Beste, tun Sie das mir nicht an, es ist das nun mal so meine Gewohnheit.« Und als meine Pfarrerin zu mir hinausgegangen war, um mir die Haare zu salben, nahm er das schmutzige Mädelchen der Köchin, das der Mutter nachgelaufen war, bei der Hand und sagte: »Hör mal, wie die Entchen da unten am Flusse schwatzen. Die Ente, die feine Dame, sagt zum Enterich,[54] dem Kavalier: Kauf mir 'ne Kappe, kauf mir 'ne Kappe! – und der Enterich antwortet: Hab schon, hab schon, hab schon!« Das Kind lachte laut, und auch ich konnte mich bei dieser Auslegung des Entengeschnatters eines Lächelns nicht erwehren. Dessen hätte sich auch der Herr Lafontaine oder unser Iwan Krylow nicht zu schämen brauchen.
Die Fahrt verlief mir im Gespräch mit diesem wunderbaren Zwerge so schnell, daß ich kaum etwas vom Wege sah. So viel Verstand, Reinheit und Gesundheit fand ich in allen seinen Reden.
Nun aber kommt die Hauptsache: die Stunde der Begegnung mit der einsamen Bojarin nahte.
Es wundert mich nicht wenig, daß ich in der Erwartung, obschon ich von Natur keineswegs schüchtern bin, doch so etwas wie eine kleine Verzagtheit verspürte. Nikolai Afanasjewitsch führte mich durch eine Reihe Gemächer, deren Prunk und äußerste Sauberkeit mich staunen machten, und blieb endlich in einem runden Zimmer mit zwei Reihen Fenstern stehen, deren Wölbungen mit bunten Scheiben geziert waren. Hier fanden wir eine alte Frau, die nur um ein Geringes größer war als Nikolai. Als wir eintraten, stand sie da und drehte den Griff einer großen Orgel. Fast hätte ich sie für die Herrin selbst gehalten und ihr eine Verbeugung gemacht. Aber als sie uns erblickte, – dank der weichen Teppiche, die in allen Gemächern den Fußboden bedeckten, waren wir unhörbar eingetreten – verstummte sofort ihre Musik, und mit einer etwas tierischen Hast eilte sie in den Nebenraum, dessen Eingang ein großer Vorhang aus weißem Atlasstoff schloß, der mit allerlei chinesischen Figürlein in farbiger Seide bestickt war.
Diese Frauensperson, welche mit solcher Hast hinter dem Vorhang verschwand, war, wie ich später erfuhr,[55] die leibliche Schwester des Nikolai und ebenfalls eine Zwergin. Es fehlte ihr aber die Liebenswürdigkeit, die aus der ganzen äußern Erscheinung ihres sanften Bruders sprach.
Nikolai folgte seiner Schwester hinter den Vorhang, nachdem er mich gebeten hatte, auf einem Sessel Platz zu nehmen. Während der halben Stunde, welche ich warten mußte, empfand ich eine gewisse Bitterkeit im Munde, die mir noch aus meiner Kindheit, von den Schulprüfungen her, so gut im Gedächtnis geblieben war. Aber auch das nahm ein Ende. Hinter dem Vorhang vernahm ich die Worte: »Nun zeig mir mal den klugen Popen, der, wie ich höre, gewohnt ist, die Wahrheit zu reden.«
Wie auf den Wink eines Zauberers, an unsichtbaren Schnüren gezogen, teilte sich der Vorhang plötzlich, und die Bojarin Plodomasowa stand vor mir. Ihre Stimme, die ich zuvor gehört hatte, widerlegte schon meine Meinung von ihrer Hinfälligkeit, und ihre Erscheinung tat es noch mehr. In einer Fülle der Kraft, die, schien es, nie versiegen konnte, stand die Bojarin vor mir. Von Wuchs nicht groß und auch nicht besonders üppig, scheint sie gleichsam über allem zu herrschen. Auf ihrem Antlitz liegt der Ausdruck einer großen Strenge und Wahrhaftigkeit, und, nach den Zügen zu schließen, muß es einstmals sehr schön gewesen sein. Ihr Gewand ist seltsam und zu der heutigen Zeit wenig passend, ein Halbrock aus hellem Tuch, darunter ein Sammetrock, grell orangegelb, und gelbe Stiefelchen auf hohen silbernen Absätzen. Um den Kopf windet sich mehrfach, wie bei einer Türkin, ein großer brauner Schal. In der Hand hält sie einen Stock mit einem Amethyst-Knopf. Zu ihrer Rechten stand Nikolai Afanasjewitsch, zur Linken Maria Afanasjewna, hinter ihr der Pfarrer der Dorfkirche, Vater Alexei, ein entlassener[56] Leibeigener, der auf ihre Anordnung zum Priester geweiht worden war.
»Guten Tag,« sagte sie, ohne den Kopf auch nur im geringsten zu senken. »Es freut mich, daß ich dich zu sehen bekomme.«
Ich erwiderte ihren Gruß mit einer Verbeugung, welche recht ungeschickt war, glaube ich.
»Komm her und segne mich,« sagte sie.
Ich trat zu ihr und segnete sie. Sie ergriff meine Hand, um sie zu küssen, was ich auf jede Weise zu verhindern suchte.
»Zieh deine Hand nicht weg,« sagte sie, als sie es bemerkte. »Ich huldige nicht dir, sondern deinem Amte. Setze dich jetzt, und wir wollen ein wenig miteinander bekannt werden.«
Wir setzten uns, – das heißt sie, ich und der Vater Alexei. Die Zwerge stellten sich zu beiden Seiten der Herrin auf.
»Vater Alexei hat mir gesagt, dir sei die Gabe der Rede und ein klarer Verstand verliehen. Er selber versteht nichts davon, er hat's aber wohl von den Leuten gehört. Ich habe lange schon keine klugen Leute gesehen, und da wollt' ich dich einmal zu meiner Zerstreuung anschauen. Sei mir alten Frau deswegen nicht böse.«
»Man hat dich hergeschickt,« fuhr sie fort, »die Altgläubigen zu bekehren?«
»Ja,« erwiderte ich, »mit meiner Ernennung hierher war auch diese Absicht verbunden.«
»Ich meine,« sagte sie, »es ist ein nutzloses Unterfangen. Den Dummen belehren und den Toten kurieren zu wollen ist eins des andern wert.«
Ich weiß nicht mehr, in was für Worte ich meine Antwort, daß ich nicht alle Altgläubigen für dumm halte, kleidete.
»Nun, wenn du sie für so klug hältst, – wie viele hast du schon auf den rechten Weg geleitet?«
»Noch kann ich mich keiner Erfolge rühmen,« entgegnete ich, »aber das hat seine Gründe.«
Sie: »Was für Gründe meinst du?«
Ich: »Man behandelt sie nicht in der entsprechenden Weise, und das Übel wächst infolge des Wankelmuts, den sie in der orthodoxen Gemeinde und auch bei der Geistlichkeit selbst beobachten.«
Sie: »Du sagst ›Übel‹. Was ist denn an ihnen so Übels? Harmlose Narren vor dem Herrn sind sie, deren ganze Sünde darin besteht, daß sie zuviel Bücher gelesen haben.«
Ich: »Allein, der rechtgläubige Altar leidet unter solcher Spaltung.«
Sie: »Ihr solltet diesem Altar treuer dienen und ihn nicht zum Kramladen machen, dann würde keiner von euch abfallen. Ihr handelt ja aber alle mit dem Heil, wie andere Leute mit Tuch.«
Ich schwieg.
Sie: »Bist du verheiratet oder Witwer?«
Ich: »Verheiratet.«
Sie: »Nun, wenn Gott dich mit Kindern segnet, dann nimm mich zur Taufpatin. Ich tu's gerne. Selber komm ich nicht zur Taufe, ich schicke meine Zwergin. Aber wenn du das Kind hierherbringst, will ich's selber halten.«
Ich dankte und fragte sie:
»Eure Exzellenz haben Kinder wohl gerne?«
»Welcher gescheite Mensch hat sie denn nicht lieb? Ihrer ist das Reich Gottes.«
»Exzellenz leben schon lange allein?«
Sie: »Ganz allein, sehr, sehr lange schon.« Und sie seufzte.
Ich: »Die Einsamkeit ist oft sehr schwer zu tragen.«
Sie: »Bist du denn nicht einsam?«
Ich: »Wie kann ich einsam sein, wenn ich eine Frau habe?«
Sie: »Ja, versteht denn deine Frau alles, was dich, als Mann von Verstand, quälen und betrüben kann?«
Ich: »Meine Frau macht mich glücklich und ich liebe sie.«
Sie: »Du liebst sie? Ja, aber du liebst sie mit dem Herzen, und mit den Gedanken deiner Seele bist du doch einsam. Bedaure mich nicht, daß ich so einsam bin: jeder, der in seinem Hause über die Nase seines Bruders hinaussieht, ist einsam mitten unter den Seinigen. Ich habe auch einen Sohn, aber es sind bald drei Jahre, daß ich ihn nicht mehr gesehen habe. Es ist ihm wohl zu langweilig in meiner Gesellschaft.«
Ich: »Wo befindet sich Ihr Herr Sohn?«
Sie: »In Polen. Er ist Regimentskommandeur.«
Ich: »Es ist ein ruhmvolles Werk, die Feinde des Vaterlandes zu bezwingen.«
Sie: »Ich weiß nicht, wieviel Ruhm uns das bringt, daß wir uns mit diesen Polacken immer noch herumschlagen. Meiner Ansicht nach zeugt das nur von unserer Schlamperei.«
Ich: »Wir werden schon fertig, die Zeit kommt noch.«
Sie: »Die kommt nie, weil sie schon vorüber ist. Wir haben immer so dagestanden wie die Schnepfe im Sumpf: der Schnabel ist zu lang, und der Schwanz ist zu lang. Ziehn wir den Schnabel raus, bleibt der Schwanz stecken; ziehn wir den Schwanz raus, steckt der Schnabel drin. Wir schaukeln hin und her, daß alle Narren ihre Freude dran haben: einmal kommen wir den Polen mit der Knute, und das andere Mal küssen wir ihren schlauen Polinnen die Händchen. Es ist eine Sünde und Schande, die Leute so zu verderben.«
»Und doch,« sagte ich, »hält unsere Armee die Polen im Zaum, daß sie uns keinen Schaden zufügen können.«
»Niemanden hält sie im Zaum,« antwortete sie, »und diese Polen wären uns gar nicht gefährlich, wenn wir uns gegenseitig nicht fressen wollten.«
»Dieses Urteil Eurer Exzellenz,« meinte ich, »scheint mir doch etwas zu schroff.«
Sie: »Die Wahrheit ist nie zu schroff.«
»Sie erinnern sich doch gewiß noch des Jahres 1812,« bemerkte ich, »was für eine Einmütigkeit zeigte Rußland damals!«
Sie: »Jawohl, ich erinnere mich sehr gut: ich selbst habe aus diesem Fenster zugesehen, wie unsere Kosaken meine Bauern prügelten und meine Speicher plünderten.«
»Nun,« sagte ich, »so etwas kann ja vorgekommen sein, ich will die Kosaken keineswegs verteidigen, aber wir haben uns trotz allem heldenmütig behauptet gegen den Mann, vor dem ganz Europa im Staube lag.«
Sie: »Ganz recht, weil der liebe Gott und der Frost uns zu Hilfe kamen, haben wir uns behauptet.«
Dieses ebenso verächtliche als ungerechte Urteil machte auf mich einen so unangenehmen Eindruck, daß ich, ohne mein Unbehagen zu verbergen, erwiderte:
»Glauben Exzellenz im Ernst, daß in Rußland einzig der Zufall regiert? Einmal mag's Zufall sein und noch einmal Zufall, aber beim dritten Male lassen Sie doch auch die Weisheit und den Heldenmut der Führer des Volkes gelten.«
»Alles ist Zufall, mein Bester, und in allem, was mit diesem Reiche geschieht, sehe ich neben dem Willen Gottes bisher nichts als Zufälligkeiten. Hätten deine Altgläubigen den langen Peter umgebracht, so säßen wir heute noch auf unserm vielgerühmten Grund und Boden nicht als mächtiger Staat, sondern als so was, wie die Bulgaren in der Türkei, und würden diesen selben Polen die Hände küssen.[60] Eins nur gereicht uns zum Lobe: daß unser so viele sind. Es dauert lang, bis wir einander aufgefressen haben. Das ist uns eine gute Gewähr für die Zukunft.«
»Das ist traurig,« sagte ich.
»Laß dich's nicht bekümmern. Andere Länder bauen auf ihren Ruhm, unseres wird auch durch Schimpf stark. Aber nun haben wir genug geredet, ich bin schon müde geworden. Leb wohl. Und wenn was Schlimmes passiert, komm nur zu mir und beklage dich. Sieh nicht darauf, daß ich solch ein verschrumpfter Pilz bin. Der Pilz steht zwar im Wald, aber man weiß auch in der Stadt von ihm. Und wenn sie über dich herfallen, so freue dich drüber; wärst du ein Kriecher oder ein Dummkopf, so täten sie es nicht, sondern würden dich loben und den andern als Beispiel hinstellen.«
Nachdem sie gesprochen, wandte sie sich zur Zwergin, welche während unseres ganzen Gespräches ein Paket in der Hand hielt, ließ es sich geben, reichte es mir und sagte:
»Bring das in meinem Namen deiner Pfarrerin, es sind Korallen, die ich früher getragen, zwei Stück Stoff zu Kleidern, und Leinwand für den Hausgebrauch. Und für dich hab' ich hier einen Rubinring.«
Dieses Geschenk machte mich bei aller schlichten Herzlichkeit, mit der es überreicht wurde, doch etwas verlegen, und während ich die Korallenketten, die Seidenstoffe und den hell leuchtenden Rubin betrachtete, sagte ich: »Exzellenz, ich bin Ihnen für diese schmeichelhafte Aufmerksamkeit sehr dankbar. Die Sachen sind aber so prächtig, und meine Gattin ist eine ganz schlichte Frau …«
»Nun,« unterbrach sie mich, »um so besser, wenn du eine einfache Frau hast; wo der Mann und die Frau alle beide die Hosen anhaben, da kommt nichts Gescheites heraus. Es ist immer das beste, wenn die Frau ihren Weiberrock anbehält,[61] – also mag sie sich aus dem da ein paar Röcke nähen.«
Hiermit war unser Gespräch beendet und ich muß gestehen, diese Frau erfüllte mich mit großer Bewunderung. Was mich aber am meisten wundert, das ist meine Unsicherheit ihr gegenüber. Woher kam es, daß mir die Zunge am Gaumen kleben blieb, als wenn ich etwas zu fürchten hätte? Und wenn ich dann zu reden versuchte, so kam alles so armselig heraus. Sie aber lenkte das Gespräch ganz nach ihrer Laune, und gab ich mir Mühe, recht klug zu scheinen, damit ihre Enttäuschung nicht gar so groß sei, so achtete sie gar nicht darauf. Ihre Worte kamen scheinbar ganz unvorbereitet, sie schien's auf eine Prüfung meines Verstandes nicht abgesehen zu haben, – und doch kann ich sie nicht vergessen! Worin liegt diese ihre Gewalt? Ich glaube, in jener feinen Weltbildung, welche unsere geistlichen Erzieher verachten, ohne zu bedenken, daß sie uns dadurch der so sehr notwendigen Findigkeit und Gewandtheit im Verkehr mit Menschen der großen Welt berauben.
Aber dieser Tag sollte damit noch nicht schließen. Es kam noch ein seltsames Erlebnis. Kaum hatte ich mich an der Freude meiner biedern Natascha über die Geschenke geweidet, da packte auch dieser ehrenwerte Zwerg Nikolai Afanasjewitsch seine Gaben aus. Zuerst überreichte er mir ein Paar gestrickte baumwollene Hosenträger, weiß mit roter Borte, und meiner Gattin ein Kopftüchlein aus zarter Kaninchenwolle. Während ich noch über die Seltsamkeit dieser neuen unerwarteten Gaben staunte, entnahm er seiner Tasche ein Paar wollener Strümpfe für unsere Dienstmagd Axinia, die eben den Samowar brachte. »Was ist denn das für ein Schenktag!« rief ich unwillkürlich aus, und wagte nicht, den Geber durch eine Ablehnung zu kränken. Er antwortete mir, es seien alles Arbeiten seiner eigenen Hand. »Da ich, dank[62] meiner Wohltäterin, nicht zu arbeiten brauche und nichts anderes gelernt habe, so beschäftige ich mich immer mit Stricken, um nicht müßig zu sein und die Freude zu haben, diesem und jenem etwas von meinen Erzeugnissen zu schenken.« Diese Herzenseinfalt gefiel mir so, daß ich den kleinen Mann umarmte und ihn mit Küssen fast erstickte.
Werde ich meinen heutigen Bericht überhaupt je zu Ende bringen? Mit dem Weggang des Dieners der Bojarin Plodomasowa nahmen die Wunder des Tages immer noch kein Ende; denn als Axinia die Türe des Vorzimmers für die Nacht schließen wollte, entdeckte sie, daß am Kleiderständer etwas hing, was nicht uns zu gehören schien, und als Natascha und ich auf ihren Ruf hinauskamen, fanden wir: erstens einen dunkelbraunen Leibrock aus französischem Gras-de-Naples-Stoff, zweitens einen reichgestickten Kammgarn-Gürtel mit purpurroten Bändern, drittens eine Kutte aus kostbarem, grünem, unzerschnittenem Sammet, und viertens, in ein langes Stück Kaliko gewickelt, ein vollständiges Meßgewand.
Wir waren alle ganz verblüfft über diesen Fund und wußten nicht, wie wir uns seine Herkunft erklären sollten. Da bemerkte Axinia als erste ein Kärtchen am Knopf des Kragens der Kutte befestigt, auf dem mit runder Schrift, sozusagen ägyptischen Stils, geschrieben stand: »Gedenke, mein Freund Vater Sawelij, in deinen Gebeten der Magd Gottes Marfa.« Wir wußten uns vor Erstaunen nicht zu lassen, aber was war zu tun? Indem wir das neue Meßgewand auf dem Tisch ausbreiteten, erlebten wir eine neue Überraschung. Als Natascha das Schultertuch auseinanderfaltet, fällt ein versiegeltes Kuvert mit meiner Adresse heraus, welches fünfhundert Rubel und einen winzigkleinen Zettel enthält, auf dem von derselben Hand geschrieben steht: »Damit das Los[63] deiner Familie im Fall eines Unglücks dich nicht beunruhige, wenn du vor dem Altar stehst, kaufe dir eine Kate und pflanze Kürbisse an. Dann wirst du ungestörter an den Ausbau des Gottesreiches denken können.«
Wofür wird mir das zuteil? Warum denkt sie nicht so, wie der Konsistorialsekretär und der Schließer, daß es leichter sei, am Reiche Gottes zu bauen, wenn man nichts habe, auf dem man sein Haupt hinlege?
Nun ist auch der Pope Sawelij nicht mehr heimatlos! Jetzt soll auch er sein Hüttlein haben. Aber ach! Es muß gesagt werden, dem Zufall verdankt er das!«
»6. Dezember. Gestern brachte ich das von der Gutsherrin geschenkte Meßgewand in die Sakristei und heute amtierte ich darin. Es paßt mir ausgezeichnet. Sonst, wenn ich die Gewänder meines verstorbenen Vorgängers anlegen mußte, der von sehr kleiner Statur war, erschien ich langer Kerl nicht in aller Herrlichkeit der Kirche, sondern sah aus wie ein Sperling, dem man die Schwanzfedern ausgezupft hatte.«
»9. Dezember. Sonderbar! Der Propst zieht mir ein schiefes Gesicht, aber da ich mir keiner Schuld ihm gegenüber bewußt bin, bin ich ganz ruhig.«
»12. Dezember. Es gab eine Auseinandersetzung zwischen mir und dem Propst. Weswegen? Wegen des Plodomasowschen Meßgewandes: es sei nicht in der vorschriftsmäßigen Weise nach der Kirche geschaffen worden, – und dann fügte er noch hinzu, es »gingen allerlei Gerüchte, daß Ihr noch etwas von ihr erhalten hättet«. Soll das etwa heißen, daß ich nicht alles, was der Kirche zukommt, abgeliefert habe, sondern etwas davon gestohlen habe?«
»1. Januar. Segne das neue Jahr mit deiner Gnade, Herr, und den Popen Sawelij zu seiner neuen Fahrt in die[64] Gouvernementsstadt. Ich glaube, daß vor diesen Widersachern auch kein Weihwasser schützt.«
»20. Januar. Diese Zeilen schreibe ich in der schmutzigsten Kammer des bischöflichen Hofes, im Seminarflügel. Dem Gouverneur ist mitgeteilt worden, daß mein Subdiakon Lukian den Schismatikern eines ihrer alten Psalmenbücher zurückgegeben hat, welches mit den andern bei der Aufhebung der Dejewschen Kapelle konfiszierten Büchern bei mir in Verwahrung war. Die Begebenheit ist wahr, ich hatte sie aber verheimlicht, erstens weil sie mir unwichtig dünkte, zweitens, weil ich den wahren Grund kannte: die Armut, die den Subdiakon Lukian soweit gebracht hatte. Aber diese Bagatelle wird mir nun als furchtbares Verbrechen angerechnet, ich bin unter Aufsicht gestellt und in die Seminarbrauerei geschickt worden, um Kwas zu brauen.«
»9. April. Ich habe meine Zeit abgebüßt und bin zum häuslichen Herde zurückgekehrt. Tief rührten mich die Tränen meiner Frau, die sich bitter um mich gehärmt hat, aber noch mehr rührten mich die Tränen der Frau des Subdiakon Lukian. Von sich schwieg die gute Frau ganz und dankte nur mir, daß ich für ihren Mann gelitten. Den Lukian selbst hat man in ein entferntes Kloster verbannt, allerdings nur für ein Jahr. Die Frist ist so kurz, daß die Seinen nicht umzukommen brauchen, auch wenn sie nichts zu essen bekommen. Sie kommen so dem lieben Gott näher, wie die Herrn im Konsistorium behaupten.«
»20. April. Der liebenswürdige Zwerg war wieder hier und teilte mir mit, Marfa Andrejewna hätte angeordnet, daß ich alljährlich dreimal – zu St. Nikolai im Sommer, im Winter und zu Epiphanias – aufgefordert werde, in der Kirche von Plodomasowo die Messe zu zelebrieren, wofür mir durch den Verwalter ein Gehalt von 150 Rubel, also[65] 50 Rubel für jede Messe, abgezahlt werden solle. O diese Zufälle! Weiß Gott, ich werde bald anfangen, sie zu fürchten.«
»15. August. Der Glöckner Jewticheitsch ist aus der Gouvernementsstadt zurückgekehrt und hat erzählt, zwischen dem Bischof und dem Gouverneur sei ein Zwist wegen einer gegenseitigen Visite ausgebrochen.«
»2. Oktober. Das Gerücht vom Visitenstreit bestätigt sich. Der Gouverneur hat, wenn er an Staatsfeiertagen dem Gottesdienst im Dom beiwohnt, die Gewohnheit, sich dabei laut zu unterhalten. Da beschloß der Bischof, ihm dies abzugewöhnen und schickte seinen Stabträger zu seiner Exzellenz mit der Bitte, dieselben wollten sich doch anständiger betragen. Der Gouverneur nahm die Botschaft mit sehr hochfahrender Miene entgegen und fing nach kurzer Zeit wieder an, laut mit dem Gendarmenoberst zu sprechen. Diesmal aber unterbrach der Bischof die Liturgie und sagte vernehmlich: »Gut, Exzellenz, ich werde warten. Wenn Sie fertig sind, fahre ich fort.« Ich kann diese Handlungsweise des Bischofs nur billigen.«
»8. November. Ich habe das Epigonation erhalten. Ich weiß nicht, wie ich zu dieser Auszeichnung komme. Soll ich es etwa dem Visitenstreit zuschreiben und dem Umstande, daß der Gouverneur mir nicht grün ist?«
»6. Januar 1837. Wieder eine Neuigkeit! Der Bischof hat zu Neujahr die Tochter des Gouverneurs zurückgewiesen, als sie in Handschuhen zu ihm hintrat, um den Segen zu empfangen. »Zieh erst das Hundefell von deiner Hand,« sagte er ihr.«
»17. März. Der Oberpfarrer von der Epiphaniaskirche kam nachts mit dem Venerabile von einem Kranken und wurde von einer Patrouille auf die Polizeiwache gebracht, – angeblich weil er betrunken war. Am nächsten Tage machte ihm der[66] Bischof einen Besuch im vollen Ornat. O du polackischer Kanzleivorsteher, dieses Stücklein kann dir teuer zu stehen kommen!«
»18. Mai. Der Bischof ist in eine andere Diözese versetzt worden.«
»16. August. Ich war beim neuen Bischof. Er scheint ein verständiger und charakterfester Mann zu sein. Wir sprachen über die Lage der Geistlichkeit und er befahl mir, einen Bericht darüber aufzusetzen. Er sagte, ich wäre ihm von seinem Vorgänger aufs beste empfohlen worden. Dank dir, armer, schmählich geschlagener Alter, für dein gutes Wort!«
»25. Dezember. Ich weiß nicht, was ich von mir denken soll, wozu ich geboren und berufen bin. Meine Pfarrerin macht mir Vorwürfe, daß ich sogar am heutigen Weihnachtstage arbeite, aber es gibt für mich kein schöneres Vergnügen als diese Arbeit. Ich schreibe meinen Bericht über die Lage der Geistlichkeit mit einer Freude und einer Liebe, die ich gar nicht auszudrücken vermag. Betitelt habe ich die Schrift: »Über die Lage der orthodoxen Geistlichkeit und über die Mittel, durch welche sie zum Nutzen der Kirche und des Staates gebessert werden könnte.« Ich glaube, es ist gut so. Nie noch habe ich mich so glücklich und so stolz gefühlt, so gütig und so reich an Kraft und Verstand.«
»1. April. Mein Bericht ist dem Bischof eingereicht. Meine Pfarrerin meinte, ich hätte es heute nicht tun sollen; denn der erste April sei ein trügerischer Tag. Wollen sehen.«
»10. August. Ich bin Oberpfarrer geworden.«
»4. Januar 1839. Heute kam ein Schreiben aus dem Konsistorium und mein ahnungsvolles Herz schlug freudig, – aber es bezog sich nicht auf meinen Bericht, sondern meldete nur, daß mir das Brustkreuz verliehen sei. Vielen, vielen Dank. Aber das Schicksal meines Berichts bekümmert mich doch.«
»8. April. Ich bin zum Propst ernannt. Von meinem Bericht ist immer noch nichts zu hören. Ich weiß nicht, wie man diese Posaunen zum Tönen bringen soll.«
»10. April 1840. Nun bin ich schon ein Jahr Propst. Von meinem Bericht ist immer noch nichts zu vernehmen. Der Aberglaube der Pfarrerin ist doch nicht so unvernünftig. Heute machte sie mich wieder lachen: sie meinte, ich hätte meine Sache vielleicht sehr gut geschrieben, aber nicht richtig unterschrieben.«
»20. Juni 1841. Ich ging trocken mitten durch das Meer und ward gerettet von der Ägypter Bosheit, darum will ich lobsingen dem Herrn, solange ich lebe … Was hat sich mit mir begeben? Was habe ich erdulden müssen und wie bin ich nach alledem wieder an Gottes Tageslicht gekommen? Neugierig bin ich, was du wohl tun magst, du Dichter von Fabeln, Balladen, Erzählungen und Romanen, wenn du in dem Leben, das dich umgibt, keine Fäden zu entdecken behauptest, die es wert wären, in deine vergnüglich zu lesende Fabel geflochten zu werden? Oder kümmert dich, der du der Menschen Sitten zu bessern dich vermissest, jenes wirkliche Leben gar nicht, das die Erdenmenschen leben, sondern suchest du nur nach einem Vorwand zu leerem Geschwätz? Ist dir bekannt, was für ein Leben ein russischer Pope führt; dieser »unnütze Mensch«, den man deiner Meinung nach vielleicht unnötigerweise herbeirief, deinen Eintritt ins Leben zu begrüßen, und den man abermals – auch wider deinen Willen – rufen wird, daß er dich zum Grabe geleite? Weißt du, daß das elende Leben dieses Popen nicht arm ist, sondern überreich an Nöten und Abenteuern, – oder meinst du, daß seinem Weihrauchherzen edle Leidenschaften fremd sind und daß es keine Schmerzen empfindet? Oder willst du von deiner Dichterhöhe mich, den Popen, deiner Aufmerksamkeit überhaupt[68] nicht würdigen? Oder wähnst du, meine Zeit sei schon vorbei, und das Land, das dich und mich geboren und aufgezogen, brauche mich nicht mehr? O du Blinder, sage ich, wenn du das erste denkst; o du Narr, sage ich, wenn du das zweite denkst und dich bemühst, nicht mich aufzurichten und zu beleben, sondern einen Stein auf mich zu wälzen und des Erstickenden zu spotten.
Aber ich wende mich vom Philosophieren zu jener Begebenheit, die mich philosophieren gemacht hat.
Ich bin nicht mehr Propst und hätte fast auch mein Priesteramt verloren. Wofür? Dafür! Ich will die ganze Geschichte ausführlich erzählen. Im März dieses Jahres besuchte der Gouverneur auf der Durchreise unsere Stadt, aus welchem Anlaß der Adelsmarschall ein Fest gab. Ich benutzte diese Gelegenheit, um mich beim Gouverneur über die Gutsherren zu beschweren, welche ihre Bauern mit Arbeiten auch an Sonntagen und sogar an den zwölf großen Festtagen überhäufen, so daß das arme Volk noch ärmer wird, denn in vielen Dörfern ist jetzt weder Roggen noch Hafer zu finden. … Kaum aber hatte ich dieses Wort »Hafer« ausgesprochen, als der hohe Herr in heftigen Zorn geriet, von mir abrückte, als wäre ich ein giftiges Tier, und schrie: »Was kommt Ihr mir mit Eurem Hafer auf den Hals?« Und dann ging es los: ich bin dies und das und jenes, – und zuletzt: »Ich bin doch nicht der heilige Nikolaus, ich handle nicht mit Hafer!« Das konnte ich nicht dulden und erwiderte: »Ich muß Eure Exzellenz, als eine mit den Glaubenslehren wenig bekannte Persönlichkeit, vor allem darauf aufmerksam machen, daß St. Nikolaus Bischof war und keinerlei Handel trieb. Ferner aber müßten Sie wissen, daß unser rechtgläubiges Volk der Priester und Diakonen bedarf, denn das ist bisher das Einzige, was wir noch nicht[69] von den Deutschen übernommen haben.« Der Gouverneur lachte boshaft und sagte: »Nur keine Furcht, Herr Pfarrer, wenn der Pfuhl erst da ist, kommen die Teufel von selbst.« Diese letzte Rede war für mich bitterer als die erste. Wer sind diese Teufel, und was meint dein Schandmaul mit dem Pfuhl? So dachte ich im Zorne und konnte nicht stillschweigen, sondern sagte zu dem Herrn, daß ich aus Achtung vor meinem Amte ihn auch diesmal nicht als Teufel bezeichnen wolle. Und was war die Folge? Heute bin ich Propst gewesen, und ich danke dir, Herr, mein Gott, daß ich nicht auch des Priesteramtes beraubt und exkommuniziert bin. Nein, solche Dinge mögt ihr modernen Geschichtenschreiber nicht behandeln. Ihr denkt nicht daran, den Leuten zu erzählen, wie schwer mir ums Herz ist.«
»3. September. Das Herbstwetter stimmt mich unsagbar trübe. Ich war gewohnt, immer in Tätigkeit zu sein, und nun quält mich das Nichtstun. Ich treibe die Torheit schon so weit, daß ich oft insgeheim, wenn meine Gattin es nicht sehen kann, still für mich weine.«
»27. Januar 1842. Ich habe mir bei einem Juden für sieben Rubel eine Spieldose und ein Damespiel gekauft.«
»18. Mai. Ich habe mir einen Zeisig angeschafft und lehre ihn zur Spieldose singen.«
»2. März 1845. Drei Jahre sind vergangen, ohne daß sich in meinem Leben etwas geändert hätte. Ich habe mein Haus bestellt und in den Kirchenvätern und Geschichtschreibern gelesen. Zu zwei Schlüssen bin ich gekommen und möchte sie gerne beide für falsch halten. Der erste ist, daß das Christentum in Rußland überhaupt noch gar nicht gepredigt worden ist, und der zweite, daß die Ereignisse sich wiederholen und man sie voraussagen kann. Über den ersten Schluß redete ich einmal mit meinem sehr verständigen Amtsbruder,[70] dem Vater Nikolaus, und war sehr erstaunt, wie er das aufnahm und mir beistimmte. »Ja,« sagte er, »das ist unbestreitbar, wir werden in Jesu Namen getauft, aber wir nehmen Jesum nicht in uns auf.« Also bin ich es nicht allein, der das sieht, andere sehen es auch. Warum erscheint es aber ihnen allen nur lächerlich, während es mich bis aufs Blut peinigt.«
»Neujahr 1846. Es sind mehrere Polen zu uns in die Verbannung geschickt. Über das Schicksal meines Berichts ist mir noch immer nichts bekannt. Ich interessiere mich lebhaft für die politischen Wirren, die im Westen im Anzuge sind und habe in Anbetracht dessen eine politische Zeitung abonniert.«
»6. Mai 1847. Es sind noch zwei neue Polen zu uns gekommen, der Pater Aloysius Konarkiewicz und Pan Ignacij Czemernicki. Letzterer ist noch ein ganz junger Mann, aber bereits eine komplette Kanaille. Unsere Stadthauptmannsfrau, die ja selber Polin ist, hat sich mit einem ganzen Schwarm von Landsleuten umgeben und begünstigt letzteren vor allen anderen.«
»20. November. Ich bemerke etwas ganz Erstaunliches und Unbegreifliches. Die Polen werfen sich bei uns geradezu zu Herren auf. Man kann durch sie bei der Gouvernementsverwaltung alles erreichen, denn der Czemernicki erweist sich als intimer Freund jenes Kanzleivorstehers, den ich in so guter Erinnerung habe.«
»5. Februar 1848. Was ich mein Lebtag nicht hatte tun wollen, habe ich jetzt getan. Ich habe mich über die Polen beschwert, denn ihr Benehmen übersteigt jegliches Maß. Nicht genug, daß sie sich seit langem schon öffentlich über die Zeitungsmeldungen lustig machen und behaupten, es sei gar nicht so, wie die Blätter berichteten, sondern gerade umgekehrt:[71] nicht wir schlügen die Feinde, sondern wir würden geschlagen, – sie gehen auch schon von bloßen Worten zu Taten über. Bei der Totenmesse für die gefallenen Krieger erhoben sie mit der Stadthauptmannsfrau ein derart unziemliches Gelächter, daß der Oberpfarrer einen Kirchendiener zu ihnen schickte mit der Bitte, sich entweder ruhig zu verhalten oder die Kirche zu verlassen, worauf sie lächelnd hinausgingen. Und als wir mit dem Klerus nach Beendigung des Gottesdienstes am Kolonialwarenladen der Gebrüder Lialin vorübergingen, trat einer von den Polen mit einem Glase Punsch in der Hand vor die Tür und rief, die Stimme des Diakons nachahmend: »Mir noch 'nen Heißen!« Ich begriff, daß es eine Verspottung des »Kyrie eleison« sein sollte, und habe es in meiner Beschwerde auch so erwähnt.«
»1. April. Abends. Meine Beschwerde über das Benehmen der Polen hat, so scheint es, wenn auch spät, doch eine gewisse Wirkung gehabt. Heute früh kam der Chef der Gendarmen in die Stadt und berief mich zu sich und fragte mich lange nach allen Einzelheiten. Ich erzählte ihm, wie es gewesen, und er teilte mir mit, daß all diesen polnischen Gemeinheiten bald ein Ende gemacht werden solle. Ich fürchte nur, daß alles dies wieder mal, recht zum Possen, am ersten April gesagt sein wird. Ich fange an zu glauben, daß dieser Tag wirklich ein trügerischer Tag ist.«
»7. September. Der erste April scheint diesmal doch nicht getrogen zu haben. Konarkiewicz und Czemernicki sind beide in die Gouvernementsstadt versetzt worden.«
»25. November. Unser Stadthauptmann nebst Gemahlin haben uns verlassen. Er ist zum Polizeimeister in der Gouvernementsstadt ernannt worden. Die Strafe ist noch zu ertragen.«
»5. Dezember. Der neue Stadthauptmann ist angekommen. Er nennt sich Hauptmann Mratschkowskij. Der Name kommt vom Worte »mrak« – die Finsternis. O Herr, Du allein weißt, wann auch etwas vom Licht zu uns kommen wird!«
»9. Dezember. Heute war ich beim neuen Stadthauptmann zum Frühstück. Liebenswürdig sind sie beide, er sowohl wie die Gattin. Nachdem er gehörig getrunken hatte, sang er uns vor: »Denkst du daran, mein tapfrer Kampfgenosse?« Und sein Söhnchen, ein munterer Bub in einem russischen Hemd, sang auch: »Heil dir, Meister Frost, bist ein wackrer Russe!« Das sind mir doch Neuigkeiten! Aus dem Gespräch mit besagtem Mratschkowskij ist mir vor allem die Geschichte von einem Professor der Moskauer Universität bemerkenswert, der seinen Abschied erhalten haben soll, weil er in einer Festrede gesagt hatte: »Nunquam de republica desperandum«, – was bedeuten sollte: man darf niemals am Staat verzweifeln. Aber ein Kanzleiweiser legte es so aus, er hätte sagen wollen, man dürfe nie an der Republik verzweifeln. Daraufhin ward der Professor gebeten, sein Entlassungsgesuch einzureichen. Es ist kaum glaublich.«
»20. Dezember. Nein, der erste April ist nicht nur trügerisch, sondern auch rätselhaft. Ich will hier nicht alles erzählen, was mir bei meiner diesmaligen Fahrt nach der Gouvernementsstadt widerfuhr; nur das eine sei gesagt, daß ich beschimpft und geschmäht worden bin in jeder Weise. Es fehlte nur noch, daß sie mich für meine Beschwerde geschlagen hätten. Ich weiß nicht, wem ich es zu verdanken habe, da er selbst auf mich losfuhr und mich anschrie, man hätte meine Ränke schon satt; ich vermochte nichts zu erwidern, denn so wie ich nur die Lippen bewegte, hieß es gleich: »Schweig!« So mußte ich alles hinunterschlucken und bin nun wieder daheim. Wie eine Henne, die man mit Nesseln[73] verprügelte. Nur das eine begreife ich nicht: warum erklärt man meine Tat, die ja vielleicht unvorsichtig war, durch nichts anderes, durch meine Unbildung oder durch mein Ungeschick, sondern – was meint ihr wohl? – durch Mißgunst! Weil nämlich jene Polen mich nicht in ihre Gesellschaft aufgefordert und mich nicht trunken gemacht, – obzwar ich, Gott sei gelobt, niemals ein Trinker gewesen. Von diesem Geringen auf das Große schließend, gedenke ich der Worte der französischen Jungfrau Charlotte Corday d'Armont, welche sie in ihrem letzten Brief vor ihrer Hinrichtung schrieb, daß sich nämlich »unter den neuen Völkern wenig Patrioten fänden, welche die einfache patriotische Leidenschaft verstehen und an die Möglichkeit, ihr Opfer zu bringen, glauben können. Überall nur Egoismus und alles wird durch ihn erklärt.« Wenn ich nur unsere Leute sehe, so bin ich geneigt, Charlotte Corday d'Armont recht zu geben, richte ich meinen Blick dann aber auf die Polen, denen jeder Zugvogel ein Lied von der Heimat singt, oder auf unsere Altgläubigen, die trotz allen Kränkungen und Unterdrückungen nicht aufhören, ihr russisches Land zu lieben, dann muß ich ihr widersprechen und behaupten, es gibt doch noch Vaterlandsliebe unter den Menschen. So weit kommt man auf seine alten Tage, daß man sogar an den Polacken etwas zu loben findet! Allein ich will mich fortan an das Wort halten, das ich neulich so viele Male zu hören bekam: »Schweig!« Nunquam de republica desperandum.«
»2. Januar 1849. Ich bin bei allen Altgläubigen gewesen und habe mir die Silberlinge herausschicken lassen. Ich kann mich dem nicht mehr widersetzen, allein es tut mir hin und wieder bitter weh. Ich mußte es aber tun, damit meine Pfarrerin nächstens nicht noch zur Subdiakonsfrau wird, denn nach dem, was ich erlebt habe, ist alles möglich.«
»1. Januar 1850. Das Jahr ist still und friedlich dahingegangen. Ich habe meine Wohltäterin, Marfa Andrejewna Plodomasowa, zu Grabe getragen. Sie starb, nachdem sie fünf Kronenträger überlebt hatte: Elisabeth, Peter, Katharina, Paul und Alexander; mit zweien von ihnen hat sie auf Gesellschaften getanzt. Nächstes Jahr will ich einen Anbau an mein Häuschen machen, denn ich bin einer Schwäche verfallen: ich finde viel Vergnügen am Preferance-Spiel und habe mir aus Langerweile das Rauchen angewöhnt, das macht neue Ausgaben. Anfangs rauchte ich nur spaßeshalber beim Stadthauptmann, aber jetzt habe ich mir auch zu Hause allen Zubehör angelegt. Eigentlich sollte ich es lassen.«
»10. Januar 1857. Ich erkenne mich selbst nicht mehr. Sieben Jahre lang keine einzige Zeile hier hineingeschrieben. Mein Leben ist seltsam, denn es ist ein sattes und behagliches geworden. Ich las eben alles nach, was ich seit dem Tage meiner Ordination eingetragen. Es ist bemerkenswert, wie so ganz anders ich in diesen Jahren die Dinge betrachten gelernt habe. Ich kämpfe nicht mehr, belästige niemand und werde von keinem belästigt. Steter Tropfen höhlt den Stein!«
»20. Oktober. An Stelle unseres entschlafenen Diakons, des sanften Prochor, ist aus der Gouvernementsstadt ein neuer Diakon eingetroffen, namens Achilla Desnitzyn. Dieser ist größer und dicker als wir alle. Wenn man seine Physiognomie und seine Statur betrachtet, muß man die Schöpferkraft der Natur bewundern. Am meisten aber gefällt mir an dem Manne seine Gutmütigkeit. Er zeigte mir die Abschrift seines Zeugnisses aus dem Seminar, in dem geschrieben stand: »Sittliches Verhalten gut, aber sehr tragfähig.« Was bedeutet denn das? fragte ich. »Ach, nichts von Belang,« erklärte er, »als ich wegen Fieber im Seminarlazarett[75] lag, trug ich den kranken Theologen heimlich Schnaps zu. Und zwar in gehöriger Quantität.««
»7. Dezember. Der Subdiakon Sergej macht mich darauf aufmerksam, daß unser neuer Diakon Achilla ein wenig vorlaut ist: aus falschem Ehrgeiz gibt er vielen Betern vom Lande heimlich den priesterlichen Segen. Ich habe ihm gesagt, daß er sich das in Zukunft nicht unterstehen dürfe.«
»15. August. Auf einem Festmahl beim Stadthauptmann kam es fast zu einem Skandal, wieder durch einen Streit um den Verstand, und das erinnerte mich an den alten Streit, der mich einst so lachen gemacht. Der Diakon Achilla und der Arzt stritten über mich. Der Arzt leugnete meinen Verstand, der Diakon pries ihn himmelhoch. Auf ihren Lärm und besonders auf das Geschrei des Arztes kamen wir ins Zimmer und sahen den Arzt hoch oben auf dem Schranke sitzen und verzweifelt mit den Beinen strampeln und stoßen. Achilla aber saß seelenruhig mitten im Zimmer in einem Lehnstuhl und meinte: »Nehmt ihn bitte nicht herunter, ich habe ihn sozusagen an Wasserflüssen Babylons an die Weiden gehängt für seine Widerspenstigkeit.« Ich konnte mich des Lachens kaum erwehren, hielt aber dem Diakon eine ordentliche Strafpredigt und sagte ihm, Gewalt sei kein Beweis. Er aber machte mir dafür eine tiefe Verbeugung und wandte sich hierauf zum Arzte: »Nun? Jetzt siehst du's wohl selbst, daß er der Justizminister ist.« Es ist wunderbar, wie dieser kosakische Diakon es gleichsam fühlt, daß ich ihn von ganzem Herzen liebhabe. Ich weiß selbst nicht warum. Aber er hat mich auch lieb.«
»25. August. Welch große Freude! Die katholische Geistlichkeit in Litauen hat Nüchternheitsvereine gegründet: sie predigen gegen die Trunksucht, und die Trunksucht läßt nach. Die Leute kommen zur Vernunft und die Blutsauger, die[76] Branntweinpächter, platzen. Ach, wie gern würde ich auch in dieser Art predigen!«
»5. September. In einigen orthodoxen Gemeinden ist dasselbe versucht worden. Ich fürchte, ich halt's nicht aus und sage ein Wort! Aber da ich ohne Zensur nicht predigen darf, so will ich eine schlaue Intrige einfädeln und einen Mäßigkeitsverein gründen. Was soll man machen, notgedrungen folgt man dem Beispiel des Ignatius Loyola, wenn man auf geradem Wege nicht gehen darf.«
»7. Oktober. Wir haben die Statuten unseres Vereins entworfen, aber bestätigt ist er noch nicht. Dagegen schreibt man, daß der Branntweinpächter sich bei dem Minister über die Prediger beklagt habe, welche das Volk vom Trinken abhalten. O du freche Kanaille! Wagst es noch zu klagen, und noch gar dem Minister gegenüber!«
»20. Oktober. Eine wahnsinnige Nachricht! Die Zeitungen melden, im Juli dieses Jahres hätten die Branntweinpächter beim Minister des Innern über die orthodoxen Geistlichen, welche das Volk zur Nüchternheit anhalten, Beschwerde geführt, und der Herr Minister hätte sie dem Oberprokurator des Heiligen Synods weitergegeben, welcher geantwortet hätte, daß der Synod den Geistlichen seinen Segen gebe, an dem verdienstlichen Werke des Kampfes gegen den Mißbrauch berauschender Getränke nach Kräften mitzuwirken. Aber die Pächter gaben sich nicht zufrieden und petitionierten noch einmal um Aufhebung der Verordnung des Heiligen Synods. Hierauf soll der Finanzminister dem Oberprokurator des Heiligen Synods mitgeteilt haben, daß ein völliges Verbot des Gebrauchs geistiger Getränke nicht zulässig sei, wenn es durch religiöse Drohungen, die stark auf das Gemüt des einfachen Mannes wirken, und durch Ablegung von Gelübden durchgesetzt werde, weil dieses nicht[77] nur der allgemeinen Anschauung von dem Nutzen eines mäßigen Weingenusses widerspreche, sondern auch gegen die gesetzlichen Verordnungen verstoße, auf Grund deren die Regierung die Schanksteuern verpachtet habe. Infolgedessen soll eine Verordnung getroffen worden sein, die Beschlüsse der Stadt- und Landgemeinden bezüglich der Branntweinverbote aufzuheben und keinerlei Gemeindeversammlungen in dieser Angelegenheit mehr zuzulassen. Sauf, mein armes Volk, sauf dich zu Tode!«
»8. November. Am Tage des Anführers aller heiligen und himmlischen Heerscharen, des Erzengels Michael, ward mir von der hohen Obrigkeit eine ellenlange Nase zuteil. Nicht nur von dem verbrecherischen Plan der Gründung eines Mäßigkeitsvereins hätte ich lassen sollen, sondern auch predigen dürfte ich nicht darüber, in Anbetracht von diesem und jenem und aus solchen Erwägungen und derartigen Rücksichten … bloß der einfache Nutzen der Menschheit zählt nicht mit … Aber habe ich nicht schon genug davon geschrieben? Soll ich denn immer nur meine eigene Schmach zu Papier bringen?«
»1. Januar 1860. Sogar den Jahresbeginn lasse ich jetzt unbeachtet! Wie heiß faßte ich früher alles auf und wie gleichgültig bin ich jetzt geworden. Meine Pfarrerin Natalia Nikolajewna sagt freilich, ich wäre auch heute noch geradeso wie einst, aber wie könnte das sein! Ihr mag das mitunter wohl so vorkommen, denn auch sie hat mittlerweile das Alter der Mutter Sarah erreicht, ich aber sehe das besser … Der Leib ist gesund und sogar fett, aber was nutzt das, wenn die Seele schon gleichsam mit einer Rinde zu bewachsen beginnt.«
»27. März. Frühlingslüfte wehen und die Wasserbäche stürzen von den Hügeln. Der Diakon Achilla bringt schon seine Sättel in Ordnung und wird bald wieder als Steppenkirgise[78] dahersprengen. Wohl ihm, daß er sich die Zeit so vertreiben kann.«
»23. April. Achilla erschien heute mit Sporen, die er sich für seine Spazierritte eigens von Pizonskij hatte anfertigen lassen. Schlimm, daß er in Nichts Maß zu halten versteht und jedes Ding gleich bis zum Äußersten treiben muß. Um ihn sofort in seine Schranken zu weisen, brach ich mit einem einzigen Tritt die Sporen von den Stiefeln des Achilla ab und verbot ihm zur Strafe für diese Albernheit das Reiten für dieses ganze Jahr. Somit muß er mir jetzt Buße tun. Was soll man aber machen, wenn er nicht anders gebändigt werden kann? Er ist imstande und gürtet sich nächstens noch ein Schwert um.«
»14. September. Der Subdiakon Sergej kam heute angeblich nach einer Bütte zu Sauerkraut und erzählte mir dabei scheinbar ganz von ungefähr, daß diesen Abend in der Scheune der Ziegelei ein zugereister Komödiant einen Riesen und Kraftmenschen vorführe, und der Diakon Achilla der Vorstellung beiwohnen wolle. Einen gemeinen und hinterhältigen Charakter hat dieser Sergej.«
»Am 15ten. Ich habe mir die Vorstellung angesehen. Ohne selbst gesehen zu werden, schaute ich durch eine Ritze im Hintertor. Achilla war wirklich da, aber nicht bloß als Zuschauer, sondern sozusagen als Mitwirkender. Er erschien in einem mächtigen Schafpelz, dessen Kragen hochgeschlagen war, und hatte ein gemustertes Tuch umgebunden, das seine Haare und den größten Teil des Gesichts bis an die Augen verdeckte. Ich erkannte ihn sofort, was nicht schwer war, weil er, als der vom Komödianten vorgeführte Riese und Athlet in fleischfarbenem Trikot erschien, in jeder Hand ein Fünf-Pud-Gewicht, und damit, ein wenig schwankend, die Bänke entlang wanderte, sich so weit vergaß, daß er mit seiner gewöhnlichen[79] Stimme laut rief: »Was ist denn an all dem so Wunderbares?« Als hierauf der Riese in frechem Ton fragte, ob jemand mit ihm ringen wolle, und sich keine Liebhaber für solch einen Wettstreit fanden, trat Achilla, das Gesicht tief in das gemusterte Tuch vergrabend, vor und griff den Riesen an. Ich meinte, ihre Knochen müßten zerbrechen. Aber endlich überwand Achilla jenen hochmütigen Deutschen, und nachdem er ihm die Beine kreuzweis übereinandergelegt, wie man in feinen Häusern die gebratenen Poularden serviert, nahm er jene zehn Pud und den Kraftmenschen selber und begann mit dieser ganzen Last vor dem Publico auf- und abzugehen. Alles schrie »Bravo!« Am wunderbarsten aber war das Finale, das mein guter Achilla zum besten gab. »Meine Herrschaften,« wandte er sich ans Publikum, »vielleicht fällt es jemandem ein, zu behaupten, ich wäre wer anders. Bitte seid so gut und spuckt dann dem Kerl ins Gesicht, denn ich bin bloß der Kleinbürger Iwan Morozow aus Sewsk.« Als ob ihn jemand um diese Erklärung gebeten hätte. Aber mir war das doch immerhin eine recht heitere Zerstreuung. Ach, wie geht unser Leben dahin! Wie ist es schon hingegangen! Als ich von der Schaustellung wieder heimging, kamen mir Tränen in die Augen – ich weiß selbst nicht weshalb. Ich fühlte nur das eine, daß etwas da ist, das ich beweinen muß, wenn ich an die kühnen Pläne meiner Jugend denke und sie mit dem weiteren Verlauf meines Lebens vergleiche! Als mir einst jene große Kränkung widerfuhr, da träumte ich, ich könnte immer noch ein würdig Leben führen, nicht im Wirken nach außen, sondern in stiller Arbeit an der eigenen inneren Vervollkommnung; aber ich bin kein Philosoph, sondern ein Bürger; mir ist das nicht genug: ich plage mich und leide ohne Tätigkeit, und darum kann ich die Lebhaftigkeit meines lieben Achilla[80] nicht immer verurteilen. Gott verzeihe ihm und segne seine entzückende Herzenseinfalt, in der ihn alles erfreut und erheitert. Dem Subdiakon Sergej habe ich gesagt, er hätte gelogen, und ich habe ihm verboten, noch weiter gegen den Achilla zu hetzen. Ich fühle, daß ich mit aller Schwäche eines Vaters diesen guten Menschen liebgewonnen habe.«
»14. Mai 1861. In was für seltsame Dinge kann den Menschen sein Leichtsinn verwickeln! Als ob wir nicht auch ohne den Diakon Achilla Hansnarren genug hätten. Der Stadthauptmann wollte bei seinem Schwiegervater, dem Verwalter der fürstlichen Güter Glitsch, ein Pferd für sein Sechsgespann kaufen, welches dieser aber nicht zu verkaufen gedachte. Da haben sie gewettet, daß der Stadthauptmann in den Besitz des Pferdes gelangen werde. Darauf hat der Stadthauptmann einen beschäftigungslosen Kleinbürger, namens Danilka, den sie hier den Kommissar nennen, für zwei Rubel gedungen, ihm das Pferd beim Herrn Glitsch zu stehlen. Einen zum Diebstahl anzustiften paßt sich vorzüglich für einen Stadthauptmann – sei es auch nur im Scherz. Was aber das Tollste war: mein Achilla erbot sich, dem Danilka bei dieser Sache zu helfen. Wieder war es der Subdiakon Sergej, der mir davon Mitteilung machte, und ich ließ den Achilla rechtzeitig zu mir kommen, um ihn für diesen Tag unter Aufsicht meiner Natalia Nikolajewna, für die er Butter schlagen mußte, zu stellen; nachts jedoch ließ ich ihn in meiner Stube auf dem Fußboden schlafen, und, damit er sich nicht davonmachen könne, verwahrte ich seine Kleider und Schuhe bis zum Morgen unter Schloß und Riegel. Heute früh aber wurden wir durch einen großen Lärm aufgeweckt: Nach dem Hause des Stadthauptmanns jagte ein mit drei Pferden bespannter Leiterwagen, in dem der Kommissar Danilka zwischen zwei Bauern saß und wie[81] ein Wahnsinniger schrie. Wir gingen hinaus, um zu erfahren, aus welchem Grunde er so brüllte, und sahen, wie man dem Danilka die Hosen herunterzog, die ganz mit Nesseln vollgestopft waren. Es stellte sich heraus, daß der Herr Glitsch ihn ertappt und zur Strafe in die Nesseln gesetzt hatte, worauf die Gutsknechte ihn zu dem zurückgeschafft hatten, der ihn ausgesandt. Ich fragte den Diakon, wie ihm wohl zumute gewesen wäre, wenn er das Schicksal des Danilka hätte teilen müssen? Er erwiderte, das hätte ihm nicht passieren können. Wenn selbst ihrer zehn über ihn hergefallen wären, würde er sich ihnen nicht ergeben haben. »Nun, und wenn es zwanzig gewesen wären?« fragte ich. »Ja, mit zwanzig,« meinte er, »wär' ich auch nicht fertiggeworden,« und erzählte, wie er einmal als Schüler mit seinem Bruder zu den Ferien nach Hause gewandert wäre und sie gleichzeitig mit einer vorüberziehenden Abteilung Soldaten einen Holderstrauch mit ein paar Zweigen voller Beeren bemerkt, sich auf diese doch fast zu nichts zu gebrauchenden Beeren gestürzt hätten – Achilla und sein Bruder und an die vierzig Soldaten. »Es kam,« sagte er, »zwischen uns zu einem gewaltigen Handgemenge und mein Bruder Finogescha blieb für tot liegen.« Wie naiv und einfach das ist! Jede seiner Geschichten ist ein Ereignis! Das Leben ist ihm wirklich keinen Heller wert!«
»29. September 1861. Aus der Gouvernementsstadt ist der Sohn der Hostienbäckerin von St. Nikita, der Marfa Nikolajewna Prepotenskaja, Warnawa, hier eingetroffen. Er hat das Seminar als einer der ersten absolviert, aber nicht Geistlicher werden wollen und ist jetzt als Rechenlehrer an der hiesigen Kreisschule angestellt. Auf meine Frage, warum er den geistlichen Stand verschmäht habe, antwortete er kurz, er wolle kein Betrüger ein. Ich konnte diese dumme Antwort nicht ungerügt lassen und sagte ihm, er sei ein Narr.[82] Aber so gering ich auch diesen Menschen und alle seine Meinungen achte, seine Antwort hat mir doch weh getan, wie der Stich einer giftigen Wespe.«
»27. Dezember. Achilla legt mitunter einen derartigen Leichtsinn an den Tag, daß man in seinem eigenen Interesse hart gegen ihn sein muß. Der schon mehrfach erwähnte Konstantin Pizonskij bat ihn jüngst, er möge den Knaben, den der arme Alte bei sich aufgenommen und großgezogen, ein recht schönes Gedicht lehren, mit dem das Kind den Bürgermeister zum Weihnachtsfest beglückwünschen könne, – Achilla hat sich gleich dazu bereit erklärt und dem Buben folgende Verse beigebracht:
Nein, man muß ihn mit mehr Strenge behandeln.«
»1. Januar 1862. Der Arzt hat in Erfüllung seiner Amtspflicht die Leiche eines plötzlich Verstorbenen geöffnet, und der Lehrer Warnawa Prepotenskij ist mit mehreren Schülern der Kreisschule zur Sektion gekommen, um sie mit den Grundbegriffen der Anatomie bekannt zu machen. In der Klasse hat er sie später gefragt: »Habt ihr den Körper gesehen?« – »Ja,« sagten die Knaben. – »Und die Knochen habt ihr gesehen?« – »Die Knochen auch.« – »Habt ihr alles gesehen?« – »Alles.« – »Habt ihr auch die Seele gesehen?« – »Nein, die Seele haben wir nicht gesehen.« – »Nun, wo ist sie denn?« Und so bewies er ihnen, daß es keine Seele gäbe. Ich machte den Inspektor konfidentiell darauf aufmerksam und sagte, daß ich bei der nächsten Direktorenrevision bestimmt die Rede darauf bringen würde.
Nun bist du wieder nötig geworden, armer Pope! Du hast mit den Altgläubigen Krieg geführt und bist mit ihnen nicht fertig geworden; du hast mit den Polen gekämpft und kriegtest sie nicht klein. Jetzt sieh zu, was du mit dieser Narretei anstellst, denn da wächst schon die Frucht deiner Lenden auf. Wirst du damit fertig werden? Zähl's doch an den Knöpfen ab!«
»9. Januar. Ich bin an der Grippe erkrankt und kann das Haus nicht verlassen. Die Religionsstunden in der Kreisschule gibt Vater Zacharia an meiner Statt. Gestern kam er verwirrt und verstört zurück und erklärte unter Tränen, er könne mich in der Schule nicht länger vertreten. Die Ursache ist folgende: in der vorletzten Stunde hatte Vater Zacharia in der dritten Klasse von der göttlichen Vorsehung gesprochen, und heute prüfte er die Jungen daraufhin. Da sagt ihm plötzlich ein Schüler, der Sohn des Kolonialwarenhändlers Lialin, Alioscha, ein sehr begabter Bub, er »könne Gott den Schöpfer wohl gelten lassen, aber Gott den Fürsorger erkenne er nicht an«. Erstaunt ob einer solchen Antwort, fragte Vater Zacharia, worauf der junge Theologe seine Anschauung denn begründe, – und jener erwiderte darauf, daß in der Natur sehr viel Ungerechtigkeit und Grausamkeit zu finden sei; er wies dabei vor allem auf den Tod hin, der für den Sündenfall eines einzigen ungerechterweise dem ganzen Menschengeschlecht auferlegt sei. Vater Zacharia, der diese freche Antwort nicht unerwidert lassen konnte, fing nun an, den Jungen zu erklären, daß wir, angesichts der Unvollkommenheit unserer Vernunft, über diese Dinge nicht gut urteilen könnten, und unterstützte seine Worte mit dem Hinweis, daß, wenn wir in unserer Sündhaftigkeit ewig wären, auch die Sünde und mit ihr alles Schlechte und Böse ewig sein müßte, – und, um die Sache noch deutlicher zu erläutern, fügte er hinzu, daß dann auch der blutgierige[84] Tiger und der grimmige Hai ewig sein müßten, und überzeugte sie damit denn auch alle. Aber in der zweiten Stunde, als Vater Zacharia in der unteren Klasse war, kam derselbe Bub dort hinein und widerlegte den Vater Zacharia vor all den Kleinen, indem er sagte: »Was könnten der Tiger und der Hai uns denn anhaben, wenn wir unsterblich wären?« Vater Zacharia fand in seiner Gutmütigkeit und bei seinem Mangel an Schlagfertigkeit keine andere Antwort als: »Darüber haben sich schon klügere Leute als du und ich den Kopf zerbrochen.« Das ging aber dem alten Manne so nahe, daß er wohl eine Stunde bei mir geweint hat. Und ich muß zum Unglück immer noch krank sein und kann nicht aus dem Hause, um diesem Unfug zu steuern, hinter dem sicher der Lehrer Warnawa steckt.«
»13. Januar. Wie gut ich's erraten habe! Alioscha Lialin hat von seinem Vater für seine Freigeisterei die wohlverdienten Prügel bekommen und unter Tränen gestanden, daß der Lehrer Prepotenskij ihn jene Frage und die spätere Antwort gelehrt habe. Ich bin ganz entrüstet, aber unser Arzt meint, ich dürfe das Haus noch nicht verlassen, denn ich hätte eine Rezidiv-Angina, und könnte leicht den Weg ad patres finden. Was ich doch noch nicht möchte. Ich habe dem Inspektor geschrieben. Als Antwort erhielt ich die Mitteilung, dem Prepotenskij sei auf meine Beschwerde hin ein Verweis erteilt worden. Jawohl, ein Verweis! Der die Geister verwirrt, der sich an den Kleinen versündigt, den ehrenwertesten, sanftmütigsten, man kann wohl sagen: musterhaftesten Diener des Altars kränkt – erhält einen Verweis! Und wenn ein hungernder Subdiakon ein altes Psalmenbuch gegen ein neues eintauscht, wird seine Familie für ein ganzes Jahr des Ernährers beraubt … O du arglistiges Geschlecht! …«
»27. Ich bin in der größten Aufregung. Mit dem abscheulichen Warnawa ist kein Auskommen. In der Stunde erzählte er neulich, daß der Prophet Jonas unmöglich vom Walfisch verschluckt werden konnte, denn dieses riesengroße Tier hätte doch eine sehr enge Gurgel. Ich kann das unmöglich dulden, aber ich wage es nicht, mich beim Direktor zu beschweren, denn am Ende läuft es wieder auf einen flüchtigen Verweis hinaus.«
»17. Februar. Prepotenskij bringt mich ganz aus der Fassung. Ich kann ihn nach dem, was er sich jetzt wieder erlaubt hat, kaum noch für einen Menschen halten, und habe darüber nicht seinem Direktor, sondern dem Adelsmarschall Tuganow Bericht erstattet. Was mir von diesem alten Voltairianer kommen wird, weiß ich nicht, aber immerhin ist er ein bodenständiger Mensch und kein Mietling und wird daher vielleicht ein Einsehen haben. Warnawka treibt Dinge, wie sie nur der Wahnsinn einem eingeben kann. Weil der Lehrer Gonorskij erkrankt ist, hat Prepotenskij zeitweilig den Geschichtsunterricht übernehmen müssen, – und hat gleich damit angefangen, von der Unsittlichkeit des Krieges zu reden und es direkt auf die Begebenheiten in Polen bezogen. Indessen das war ihm noch nicht genug, er begann über die Zivilisation zu spotten, den Patriotismus und die nationalen Prinzipien zu verhöhnen, und zuletzt sich auch noch lustig über die Anstandsregeln zu machen, welche er zum Teil sogar als unsittlich bezeichnete. Als Beispiel führte er an, daß die gebildeten Völker den Akt der Geburt des Menschen verheimlichen, den des Mordes aber nicht, indem sie sich sogar mit Kriegswaffen öffentlich sehen lassen. Was will dieser Narr? Wahrlich, das ist so dumm, daß man sich schämen muß, und doch ärgere ich mich. Es ist ja nur eine Kleinigkeit; aber ich muß ja nach den Kleinigkeiten sehen, denn über Kleinem bin ich gesetzt.«
»28. Februar. Oho! Mein Voltairianer liebt nicht zu scherzen. Der Direktor ist hergekommen. Ich konnt' es nicht länger ertragen und ging trotz aller Drohungen des Arztes zu ihm hin und berichtete ihm von den Ungebührlichkeiten des Prepotenskij, aber der Herr Direktor haben zu alledem nur herzlich gelacht. Wie lachlustig sie alle sind! Er gab dem Ganzen eine scherzhafte Wendung und sagte, deswegen werde Moskau nicht in Flammen aufgehen, – »und übrigens,« fügte er hinzu, »wo soll ich denn andere hernehmen? Sie sind heutzutage alle so.« Und so stand ich wieder da, wie ein Narr, der unnütz Krakeel macht. Aber das muß wohl so sein.«
»1. März. Ich bin wirklich ein alter Narr geworden, über den alle sich lustig machen. Heute besuchten mich der Arzt und der Stadthauptmann, und ich sagte ihnen, daß meine Gesundheit infolge des gestrigen Ausgangs nicht im geringsten gelitten habe; da fingen sie beide an zu lachen und erwiderten, der Arzt habe mich zum Spaß in der Stube sitzen lassen, denn er habe mit irgend jemand gewettet, daß er, wenn er wolle, mich einen ganzen Monat lang zu Hause halten könne. Deshalb redete er mir von einer Gefahr vor, die gar nicht vorhanden war. Pfui!«
»20. Juni. Ich habe eine Reise durch das Kirchspiel gemacht, die mir ausgezeichnet bekommen ist. Es ist so frisch und schön draußen in der Natur, und unter den Menschen herrscht Friede und Zufriedenheit. In Blagoduchowo haben die Bauern auf eigene Kosten die Kirche ausbauen und ausmalen lassen, aber auch bei einer so einfachen Sache hat sich wieder etwas Scherzhaftes hineingemengt. An der Wand der Vorhalle haben sie einen ehrwürdigen Greis abgebildet, der auf einem Ruhebette liegt, mit der Inschrift: »Und Gott ruhete am siebenten Tage von allen seinen Werken, die[87] er machte.« Ich wies den Vater Jakob darauf hin und befahl das Bild zu übertünchen.«
»11. Juli. Vorgestern war der Bischof auf der Durchreise hier und hat im Dom die Messe gelesen. Ich fragte den Vater Troadij, ob das Bild in Bogoduchowo entfernt worden sei, und erfuhr, daß es noch immer vorhanden, was mich einigermaßen erregte. Aber Vater Troadij beruhigte mich, meinte, das habe nichts zu sagen, es sei doch »volkstümlich« und fügte noch eine Anekdote hinzu von den Seelen der Erlösten, die der Maler in Schuhen dargestellt hatte, und so lief wieder alles auf einen Scherz hinaus. Ach, was die Leute alle lustig sind!«
»20. Juli. Ich war in Blagoduchowo und ließ das Bild in meiner Gegenwart abkratzen. Ich halte es nicht für angebracht, diese dumme Art von Volkstümlichkeit zu pflegen. Ich fragte nach dem Verfertiger des Bildes; und es stellte sich heraus, daß der Glöckner Pawel es gemalt hatte. Um dem scherzhaften Geist der Zeit entgegenzukommen, befahl ich diesem Künstler, sich neben meinen Kutscher auf den Bock zu setzen, und nachdem wir vierzig Werst weit gefahren waren, ließ ich ihn zu Fuß nach Hause wandern, damit er unterwegs über seine malerische Phantasie nachdenken könne.«
»12. Oktober. Der neue Gouverneur ist zur Revision hier gewesen. Er besuchte den Dom und die Schule und beide Male, hier wie dort, wollte er durchaus, daß ich ihn segne. Er ist ein echter Russe sowohl dem Namen, wie dem Benehmen nach. Noch sehr jung, hat er jene privilegierte Lehranstalt, die Rechtsschule, absolviert, und war bisher noch nie aus Petersburg herausgekommen, was auch leicht zu bemerken ist, denn alles interessiert ihn. Besonders angelegentlich erkundigte er sich nach den Gegensätzen zwischen Geistlichkeit und Adel; leider konnte ich seine Neugier wenig befriedigen,[88] denn sowohl unser Kreisadelsmarschall Plodomasow, als auch der Gouvernementsmarschall Tuganow sind würdige Männer, und von Gegensätzen ist keine Rede.«
»14. November. Es wird erzählt, daß ein Gutsbesitzer sich bei dem Gouverneur über die Bauern beschwert habe, die ihren Verpachtungen nicht nachkämen. Der Gouverneur habe seine Klagelitanei unterbrochen mit den Worten: »Ich bitte, wenn Sie vom Volke reden, nicht zu vergessen, daß ich Demokrat bin.««
»20. Januar 1863. Ich notiere die außerordentliche und höchst belehrende »Geschichte vom Surrogat«. Es wird folgendes Kuriosum von der ersten Begegnung des neuen Gouverneurs mit unserm Adelsmarschall Tuganow erzählt. Dieser von höherer Politik durchdrungene Petersburger Kavalier stellte sich auch unserem Voltairianer als Demokrat vor, wofür ihn Tuganow auf dem Adelsball vor allen höchlich lobte und hinzufügte, diese Richtung sei die allerbeste, besonders in der gegenwärtigen Zeit, denn in drei Kreisen unseres Gouvernements herrsche eine ziemlich starke Hungersnot und da biete sich reichlich Gelegenheit, sich als Volksfreund zu bewähren. Der Gouverneur zeigte sich darüber sehr erfreut, daß die Leute hungern, und war nur ungehalten, daß er bisher nichts davon gewußt hatte; er rief seinen Kanzleivorsteher und machte ihm heftige Vorwürfe, daß er ihn nicht früher davon unterrichtet habe, und als richtiger Heißsporn ordnete er an, daß darüber sofort nach Petersburg berichtet werde. Aber der Vorsteher, der sich rechtfertigen wollte, sagte, daß von einer richtigen Hungersnot in jenen Kreisen nicht geredet werden könnte, denn wenn auch die Kornernte schlecht gewesen sei, so sei die Hirse doch sehr gut geraten. Damit fing nun die Geschichte an. »Was ist das – Hirse?« rief der Gouverneur. »Hirse ist ein Surrogat[89] für Brotkorn,« erwiderte der gelehrte Vorsteher, statt einfach zu sagen, daß man aus Hirse Brei koche, was unseren Rechtsgelehrten vielleicht vollständig befriedigt hätte, denn in der Kunst, einen Brei anzurühren, muß er Meister sein. Aber nun war einmal das Wort Surrogat gefallen. »Schämen Sie sich,« sagte der hohe Politiker, als er dieses Wort vernahm, »schämen Sie sich, mich so zu betrügen. Man braucht ja nur in einen Obstladen zu treten, um zu sehen, wozu Hirse gebraucht wird. In Hirse werden Trauben verpackt.« Tuganow schwieg mit ernstem Gesicht, tags darauf aber schickte er dem Gouverneur durch die Verpflegungskommission eine Liste der Kornfrüchte Rußlands. Der Gouverneur wurde verlegen, als er hier auch Hirse verzeichnet fand, ließ seinen Kanzleivorsteher rufen und sagte zu ihm: »Verzeihen Sie, daß ich Ihnen damals nicht glauben wollte. Sie haben recht. Hirse ist ein Getreide.« Du tust mir von Herzen leid, mein lieber Demokrat! Der Deutsche meinte wohl, daß St. Nikolaus mit Hafer gehandelt habe, aber solche Weintraubenscherze machte er nicht.«
»6. Dezember. Es kommen immer wieder Nachrichten von Konflikten zwischen dem Adelsmarschall Tuganow und dem Gouverneur, der, wie man sagt, eine Gelegenheit sucht, dem Marschall für die Hirse etwas am Zeuge zu flicken, und wie es scheint, hat er endlich etwas gefunden. Der Gouverneur steht immer für die Bauern ein und jener, der Voltaire, verteidigt seine Rechte und Freiheiten. Dem einen hat das Rechtsstudium den Verstand aus dem Geleise gebracht, und des andern Hochmut kommt dem Berg Ararat gleich. Er läßt keinerlei fremdes Recht gelten. Es kommt sicher noch zu einer regelrechten Bataille.«
»20. Dezember. Die Seminaristen sind für die Weihnachtsferien nach Haus gekommen und der Sohn des Vaters[90] Zacharia, der Privatstunden in guten Familien gibt, erzählt eine ganz unglaubliche und wüste Geschichte: ein abgedankter Soldat hätte sich in einem Winkel der Marienkirche versteckt gehabt und die Krone von dem wundertätigen Bilde St. Johannis des Kriegers geraubt. Als die Krone dann in seinem Hause gefunden wurde, behauptete er, er hätte sie nicht gestohlen, sondern er hätte vor dem Bilde des Heiligen über die traurige Lage der dienstentlassenen Soldaten geklagt, und den heiligen Krieger in brünstigem Gebet angefleht, ihm in seiner Not zu helfen. Hierauf habe der Heilige, der seine Worte vernommen, gesagt: »Sie sollen ihrer Strafe in jener Welt nicht entgehen, du aber nimm vorläufig dieses hin« – und mit diesen teilnehmenden Worten habe er angeblich die kostbare Krone von seinem Haupte genommen und gesagt: »Da!« Verdient eine solche Ausrede auch nur die geringste Beachtung? Aber unter dem Eindruck der Hirse denkt man anders, und also kam vom Gouverneur eine Anfrage ans Konsistorium: ob ein derartiges Wunder möglich sei? Selbstverständlich war nun das Konsistorium in einer sehr schwierigen Lage, denn es konnte doch nicht erwidern, daß ein Wunder unmöglich sei. Aber wo will das alles hinaus? Der Adelsmarschall Tuganow legte dagegen vertraulich Protest ein und schrieb, er halte diese Handlungsweise für unvernünftig, und meinte, sie bezwecke nur eine Erschütterung des Glaubens und eine Verhöhnung der Geistlichkeit. So wird dieser alte Freigeist zum Anwalt der Geistlichkeit, und der Rechtskundige, der sie verteidigen sollte, macht sie zum Gespötte. Nein, es kommt scheinbar wirklich die Stunde und sie ist schon da, wo der gesunde Menschenverstand nichts mehr von allem, was geschieht, für sonderbar halten wird. Auch über Tuganows Eintreten für die Kirche, so nützlich es in diesem Fall war, kann man sich nicht freuen,[91] denn es geschah nicht aus Eifer für den Glauben, sondern aus Feindschaft gegen den Gouverneur, und was kann da Gutes kommen, wenn immer nur einer den andern schikaniert, ohne dessen eingedenk zu sein, daß sie beide derselben Krone den Eid geschworen haben und demselben Lande dienen? Es ist schlimm!«
»9. Januar 1864. Tuganow war neulich in Plodomasowo, – ich weiß nicht weswegen. Aber ich konnte nicht anders – ich besuchte ihn dort, um etwas über seinen Kampf um St. Johannes den Krieger zu erfahren. Seltsam! Dieser Tuganow, einst ein Verehrer Voltaires, redete zu mir in freundschaftlichstem und betrübtem Tone. Er meint, sein Protest wäre noch nicht stark genug gewesen, denn »wie ich selber für mich über alle Wunder denke, das geht nur mich etwas an und das behalte ich auch für mich, aber ich kann diese nichtsnutzigen Bestrebungen doch nicht unterstützen, die darauf hinauslaufen, dem Volke das einzige zu nehmen, was ihm wenigstens eine Ahnung davon einflößt, daß es einer höheren Daseinssphäre angehört, als sein gestreiftes Schwein und seine Kuh.« Wie dürr und trocken ist diese Weisheit! Aber ich widersprach nicht … Was ist da zu machen?! Herr, hilf du wenigstens diesem Unglauben, sonst kommen wir doch noch dazu, daß wir wieder in Rudeln umherlaufen, Wurzeln fressen und wie Pferde wiehern!«
»21. März. Der Gutsherr Plodomasow ist aus der Residenz heimgekehrt und hat mir und dem Vater Zacharia und dem Diakon Achilla sehr kostbare Stäbe aus echtem Rohr mitgebracht. Auch zeigte er uns eine kleine gläserne Lampe mit einer brennenden Flüssigkeit, »Petroleum« oder Steinöl genannt, die aus Naphtha gewonnen wird.«
»9. Mai. Ich habe mich so kleinlich gezeigt, daß ich mich vor mir selber schämen muß. Und das alles kam von den[92] eben erwähnten Stäben. Mein ganzes vergangenes Leben ist über mich gefallen wie ein Sieb und hat mich zugedeckt. Ich sitze unter diesem Sieb wie eine Krähe, der böse Buben die Federn ausgerupft haben, und die sie nun gefangen halten, um ihren Spott mit ihr zu treiben. Das ist das Traurigste bei dieser allgemeinen Lebensverflachung: ich selber bin flach und klein geworden, so flach, daß ich nicht einmal imstande bin, meine ganze Eitelkeit dem stummen Papier anzuvertrauen. Ich will mich ganz kurz fassen. Es ärgerte mich, daß ich und Zacharia ganz gleiche Stäbe erhalten hatten und daß auch der des Achilla sich kaum von den zwei andern unterschied. O Gott! War ich denn auch früher schon so? Nein, mit solchen Kleinigkeiten gab ich mich nicht ab! Ich trug mich mit hohen Gedanken, wie ich hier in diesem irdischen Jammertal immer vollkommener werden könnte, um einst das ewige Licht zu schauen und dem Herrn das mir anvertraute Pfund mit reichen Zinsen zurückzugeben.«
Damit schlossen die alten Tuberozowschen Aufzeichnungen, und als der Greis zu Ende gelesen, nahm er die Feder, trug ein neues Datum ein und begann danach mit ruhigen, strengen Schriftzügen zu schreiben:
»Es ist seinerzeit von mir vermerkt worden, wie einmal der Sohn der Hostienbäckerin, der Lehrer Warnawa Prepotenskij, die unschuldigen Kinder an ihrem Glauben irre zu machen suchte, indem er sie eine Leiche sehen ließ und behauptete, es gäbe keine Seele, weil ihr Wohnsitz im Körper nirgends aufzufinden sei. Mein Zorn über diesen törichten, aber schädlichen Menschen wurde dazumal von klugen Leuten für übertrieben erklärt, und von der Veranlagung zu diesem Zorn hieß es, sie sei der Beachtung gar nicht wert. Jetzt hat sich wieder etwas Neues begeben. Beim letzten Hochwasser wurde eine unbekannte Leiche an unser Ufer gespült.[93] Die Mutter des Warnawa, die arme Hostienbäckerin, sagte mir heute unter Tränen, daß der Arzt und der Stadthauptmann, wohl aus Bosheit gegen ihren Sohn oder um ihn zu verhöhnen, ihm jenen Toten geschenkt hätten, und Warnawa hätte aus Dummheit dieses Geschenk angenommen, und die Leiche in der Bütte, darin sie bisher friedlich ihre Wäsche in Asche gelegt, ausgekocht und die Brühe unter den Apfelbaum im Garten gegossen, die Knochen aber in die Gouvernementsstadt gebracht. Und nun fürchte sie, man werde ihren teuren Sohn mit jenen Knochen als Mörder festnehmen. Ich beruhigte sie, so gut ich konnte, und bat den Stadthauptmann um eine Erklärung, zu welchem Zwecke der Leichnam des Ertrunkenen, der nach der Sektion kirchlich bestattet werden mußte, dem Lehrer Warnawa ausgehändigt worden sei? Ich erhielt zur Antwort, das sei im Interesse der Aufklärung geschehen, d. h. damit er, Warnawa, an dem Skelett naturwissenschaftliche Studien treiben könne. Diese Sorge um die Wissenschaft kann einen lachen machen bei Leuten, die ihr so fern stehen, wie der Stadthauptmann Porochontzew, der sein halbes Leben im Kavalleriepferdestall zugebracht hat, wo man nichts lernt, als wie man den Pferden die Schwänze bindet, oder dieses Lügenmaul von Arzt, der jene Wissenschaft vertritt, deren Anhänger von den wahren Gelehrten für Ignoranten angesehen werden, was durch seine blödsinnige Behauptung bewiesen wird, er habe einmal bei Plodomasow versehentlich statt Branntwein ein Glas Leucht-Petroleum ausgetrunken, und da habe sein Bauch eine ganze Woche lang geleuchtet! Wie dem nun aber auch sei, der von dem Lehrer gekochte Leichnam hat sich in ein Skelett verwandelt. Warnawa brachte die Knochen zu einem Heilgehilfen am Gouvernementskrankenhaus. Dieser Meister der Anatomie fügte all die Knochen kunstvoll aneinander[94] und setzte ein Gerippe zusammen, das nun wieder in unsere Stadt zurückgebracht wurde und sich gegenwärtig bei Prepotenskij befindet, der es dicht bei seinem Fenster befestigt hat. Da steht es nun und lockt immer wieder die Straßenmenge an und gibt zu allen möglichen Streitigkeiten Anlaß und zu einem ewigen häuslichen Zwist zwischen dem Warnawa und seiner einfältigen Mutter. Der Tote fängt an Rache zu nehmen. Jede Nacht erscheint er der unglückseligen Mutter des großen Gelehrten im Traum und fordert immer wieder sein christliches Begräbnis. Die Arme hat den Sohn auf den Knien angefleht, ihr dieses Skelett zu geben, daß sie es bestatte, aber natürlich widersetzt er sich dem mit aller Entschiedenheit. Da entschloß sie sich zu einer verzweifelten Maßnahme, sammelte in Abwesenheit des Sohnes die Knochen in eine kleine Holzkiste, trug sie in den Garten und vergrub sie mit ihren schwachen Greisenhänden unter dem nämlichen Apfelbaum, unter welchen Warnawa die zerkochten Fleischteile des Unglücklichen ausgeschüttet hatte. Aber sie hatte kein Glück damit, denn der gelehrte Sohn grub die Knochen wieder aus, und damit ging eine neue Geschichte an, die auch heut noch nicht beendet ist. Es ist ebenso lächerlich wie schmachvoll, was noch weiter folgte. Sie raubten sich die Knochen gegenseitig so lange, bis mein Diakon Achilla, der sich in alles mischen muß, diese Sache zum Abschluß brachte und mit solcher Hast ans Werk ging, daß es ganz unmöglich war, ihm Einhalt zu gebieten. Auch haben mich die Reden des Arztes und des Stadthauptmanns sehr verstimmt, die mir Vorwürfe machten wegen meiner eifernden (so nannten sie es) Intoleranz gegen den Unglauben, denn, meinen sie, wirklich gläubig sei heutzutag keiner mehr, auch die nicht, welche offiziell für den Glauben eintreten. Das glaub' ich auch! Ich kann nicht daran zweifeln. Aber ich wundere[95] mich, woher bei uns dieser erbitterte Haß und diese Feindschaft gegen den Glauben kommen. Vom Freiheitsdrang? Aber wen hindert denn der Glaube, mit allem Eifer nach voller Freiheit in allen Dingen zu streben? Warum haben die wirklichen Denker nicht so gesprochen?«
Vater Sawelij seufzte tief, legte die Feder hin und trat ans Fenster. Der Himmel war mit schwarzen Wolken bedeckt und schon fielen einzelne Regentropfen klatschend in den dicken Staub. Das war der Regen, um den Tuberozow am vergangenen Tage gebeten hatte. Der Alte flüsterte entzückte Worte des Dankes und des Lobes und merkte nicht, wie leise Tränen über seine Wangen liefen. Die Regentropfen aber fielen immer dichter und dichter, und endlich war es, als würde oben ein ganz feines Sieb geschüttelt, und die feuchte Kühle spielte erfrischend um den leicht erhitzten Kopf des Priesters. So am Fenster sitzend, das Haupt auf die weißen Hände gestützt, schlief Vater Sawelij ein.
Inzwischen ging der sanfte Regen, den kein Gewitter begleitet hatte, vorüber, die Luft war frisch und rein geworden, der Himmel klar, und im Osten färbte die graue Dämmerung sich silbern, um dem Morgenrot den Weg zu bereiten, dem Morgenrot des Tages, der dem Gedächtnis unseres heiligen Vaters Methodius von Pesnosch geweiht ist, des Tages, dem, wie wir uns erinnern müssen, der Diakon Achilla eine so große Bedeutung zuschrieb.
Der Osten wurde immer heller, und während sich die Sonne im Nebel hinter dem dampfenden Walde wusch, reckten sich die goldenen Pfeile ihrer Strahlen schon in scharfen Strichen über den Horizont. Ein leichter Nebel wallte über dem Flusse auf und kletterte das zerklüftete Ufer entlang; unter der Brücke ballte er sich zusammen und blieb an den schwarzen, nassen Pfählen kleben. Durch diesen Nebel sieht man das Gemüsefeld bläulich schimmern und den weißen Streifen der Landstraße hinüberleuchten. Über allem liegen noch die Schatten des Halbdunkels, und nirgends, weder in den Häusern, noch auf den Plätzen und Straßen, merkt man etwas vom Erwachen.
Aber da, auf dem höchsten Punkte der steilen Hügelseite von Stargorod, über dem schmalen Zickzackweg, der den steinigen Abhang hinab zum Wasser führt, heben sich zart und durchsichtig die Umrisse einer höchst seltsamen Gruppe ab. In dem schwachen Licht, das sie bescheint, wirkt sie ganz phantastisch. In der Mitte steht ein Mann, von dessen Schultern ein langes, im Gürtel leicht geschürztes Gewand bis zur Erde niederwallt. Ganz plötzlich ist diese Gestalt aus dem allmählich dünner werdenden Nebel aufgetaucht und steht unbeweglich, wie ein Gespenst.
Ein abergläubischer Mensch könnte denken, es wäre der Hauskobold von Stargorod, der, ehe die Stadt erwacht, noch ein paar Klageseufzer über ihr anstimmen will.
Aber je heller es wird, desto deutlicher erkennt man, daß es kein Hauskobold, noch sonst ein Geist ist, trotzdem aber auch nicht etwas ganz Alltägliches. Wir sehen jetzt, daß die Figur ihre Hände in die Taschen gesteckt hat. Aus der einen Tasche guckt eine sehr lange Gerte hervor, an deren Ende eine Schleuder oder eine Angelschnur gebunden ist. Aus der anderen hängt an vier Fäden etwas, das wie eine schwere Keule aussieht. Ein leiser Wind erhebt sich, die Oberfläche des schläfrigen Flusses beginnt sich leicht zu kräuseln, ein Zittern fährt durch die Zweige der Birken hinter dem schöngemusterten Gittertor des Domes, und die leeren Falten am weiten Gewande der Gestalt auf dem Berge geraten in Bewegung und enthüllen ein paar dünne Beine in weißen Unterhosen. In demselben Augenblick, wo diese dünnen Beine sichtbar werden, tauchen hinter ihnen plötzlich vier Hände auf, welche zwei anderen Gestalten gehören, die sich mehr im Hintergrunde gehalten hatten. Diese diensteifrigen Hände fassen die wehenden Enden des Gewandes, schlagen sie wieder zusammen und verhüllen aufs neue die dünnen, weißen Beine des Standbildes. Jetzt braucht man nur etwas schärfer hinzusehen, um auch die zwei anderen Gestalten zu erkennen. Rechts zeigt sich eine Frau. Sie fällt vor allem durch die ungeheure Wölbung ihres Leibes auf, über dem sich eine schmale Tunika hoch emporbläht. In der Hand hält sie einen glänzenden Metallschild, in dessen Mitte ein großer Büschel Haare befestigt ist, die soeben erst mit der Haut vom Kopfe des Feindes gelöst zu sein scheinen. Auf der anderen Seite, also zur Linken der hohen Gestalt, zeigt sich ein kurzbeiniger, schwarzer Wilder mit breitem Bart. Unter dem linken Arm hält er etwas wie ein Folterinstrument, und in der Rechten hat er einen blutigen Sack, aus dem zwei Menschenköpfe heraushängen, bleich, haarlos, wohl[98] die unglücklichen Opfer der grausamen Folter. Um diese drei Gestalten scheint der ganze Zauber der nordischen Sage zu wehen. Nun steigt die helle Sonne noch ein wenig höher, und der Sagenzauber löst sich in nichts auf. Die drei stehen noch einen Augenblick da und eilen dann den Hügel hinab. Nachdem sie etwa zehn Schritte gemacht haben, bleiben sie wieder stehen, und der Größte, der vorausging, sagt leise:
»Schau mal, Freund Komar, es ist heut noch nichts von ihnen zu sehen.«
»Ja, es ist nichts zu sehen,« erwidert der schwarzbärtige Komar.
»Sieh besser zu!«
Komar blickt scharf über den Fluß hin:
»Es lohnt gar nicht hinzuschauen, es ist keiner da.«
»Und die Stille in der Stadt, ach du lieber Gott!«
»Das schlafende Königreich,« spricht leise die Gestalt, die den Schild unter dem Arm hält.
»Was sagst du, Felicie?« fragt der Lange, der nicht recht gehört hat.
»Ich melde Ihnen, Woin Wasiljewitsch, daß die Stadt dem schlafenden Königreich gleicht,« antwortet die Frau.
»Ja, dem schlafenden Königreich; aber bald werden sie erwachen. Schau mal hin, Komar, da drüben, scheint mir, platscht eben einer hinein.«
Die Gestalt weist nach der Insel, von der sich ein leichter Dampf erhebt und leise nach der Brücke hin schwebt.
»Ganz recht,« sagt Komar, und seine Blicke verfolgen zwei dünne Kreise auf dem stillen Wasser, die immer breiter werden. Im Mittelpunkt des vorderen Kreises schwankt und dreht sich etwas, das wie ein überreifer gelber Kürbis aussieht.
»Ach, die Kanaille ist wieder zuerst reingesprungen, ohne auf die Obrigkeit zu warten.«
»Der drüben ist auch fertig,« sagt Komar gleichgültig.
»Nicht möglich, – du lügst, Komar.«
»Sehn Sie doch hin! Da ist er schon dicht am Wasser!«
Alle drei legen die Hände über die Augen und blicken hinüber. Drüben sehen sie etwas Großes, Dickes zum Wasser herabschreiten. Es ist ganz in ein weißes schleppendes Gewand gehüllt und erinnert auffallend an die Statue des Komtur aus dem »Don Juan«, bewegt sich auch genau so langsam und feierlich und ebenso unbeirrt seinem Ziel entgegen.
Jetzt ist aber auch der strahlende Phöbus auf seinem Feuerwagen ein gutes Stück höher hinaufgekommen; der zerflatternde Nebel schimmert in Bernsteintönen. Die ganze Landschaft leuchtet in Purpur und Blau und in diesem grellen, mächtigen Licht, ganz von Sonnenstrahlen überflutet, zeigt sich in den Wellen des Flusses ein nackter Recke mit einer mächtigen Mähne schwarzer Haare auf dem gewaltigen Haupte. Er sitzt auf einem mächtigen Rotfuchs, der seines Reiters würdig und mit seiner breiten Brust die Wellen kräftig teilt, zornig mit den feuerfarbenen Nüstern schnaubend.
Der Reiter im Flusse und alle oben geschilderten Fußgänger streben dem nämlichen Punkte zu. Wollten wir Verbindungslinien von dem einen zum andern ziehen, sie würden sich alle bei einem großen Steine kreuzen, der in der Mitte des Flusses aus dem Wasser herausragt. In der ersten Gestalt, die den Berg herabsteigt, erkennen wir den Polizeichef von Stargorod, Rittmeister a. D. Woin Wasiljewitsch Porochontzew. Er hat einen himbeerfarbenen seidenen Schlafrock an und eine spitz zulaufende Kalotte aus Kamelgarn auf dem Kopfe. Aus der einen Tasche, in der seine rechte Hand steckt, guckt ein dünner Peitschenstiel, an dem eine lange Peitschenschnur hängt, und bei der andern, in[100] die der Polizeichef seine Linke gelegt hat, sieht man eine riesengroße, ganz schwarz gerauchte Meerschaumpfeife und einen orientalischen Tabaksbeutel aus Saffian an einem Jagdriemen baumeln.
Links von ihm schreitet langsam sein Kutscher, der längst schon seinen Taufnamen verloren hat und von allen nur noch Komar (Mücke) genannt wird. In seinen Händen befinden sich weder Folterinstrumente noch Totenköpfe, noch ein blutbesprengter Leinwandsack, sondern er trägt bloß eine Bank, einen alten roten Fußteppich und ein Paar straff aufgeblasener Schwimmblasen, die mit einem Tuchstreifen zusammengebunden sind.
Die dritte Gestalt, die uns vor einer Viertelstunde so grausig erschien, mit ihrem Schlachtschild unter dem Arm, entpuppt sich als die sehr bescheidene Gattin des Komar. »Mütterchen Felizata«, wie sie von dem Hausgesinde genannt wird, trägt freilich eine sehr schwere Last, die sich aber ganz und gar nicht zu kriegerischen Aktionen eignet. Vor allem trägt die gute Frau ihren eigenen Leib, in dem ein künftiger kleiner Komar junior dem Leben entgegenträumt. Unter dem Arm aber hat sie eine hell in der Sonne glitzernde Messingschüssel, in der ein Bastwisch liegt, mit einem Badehandschuh aus Tuch, im Handschuh ein Stückchen Kampherseife, und auf dem Kopfe ein vierfach zusammengefaltetes Badetuch.
Also ein durch und durch friedliches Bild.
Die weiße Gestalt, die am jenseitigen Ufer langsam zum Wasser hinabschreitet, hat inzwischen auch alles Imponierende und damit auch jede Ähnlichkeit mit dem Standbild des Komturs verloren. Der Mann hat sich in ein weißes Badetuch gehüllt, und als er das Wasser erreicht und das Tuch fallen läßt, ist es nicht mehr schwer, in ihm den wohlbeleibten[101] und ungefügen semmelblonden Kreisarzt Pugowkin zu erkennen.
Der nackte Reiter auf dem langmähnigen roten Roß aber ist kein anderer als der Diakon Achilla, und sogar der im Gekräusel der Wellen auftauchende Kürbis gewinnt nach und nach ein wohlbekanntes menschliches Aussehen: zwei sanfte blaue Augen und eine eingeknickte Nase zeigen, daß wir es nicht mit einem Kürbis zu tun haben, sondern mit dem Kahlkopf des alten Konstantin Pizonskij, dessen Greisenleib ganz im kühlen Wasser steckt.
Es sind die Badeliebhaber von Stargorod, die von alters her an jedem schönen Sommermorgen hier zusammenkommen und gemeinschaftlich sich des frischen Wassers erfreuen.
Als erster stürzt sich der Arzt mit einem mächtigen Anlauf kopfüber in den Fluß und schwimmt auf den großen breiten Stein zu, der sich in der Mitte des Flusses einen Fuß hoch aus dem Wasser erhebt.
Mit ein paar mächtigen Schlägen hat er ihn erreicht, klettert auf seine glatte obere Platte hinauf.
»Ich bin wieder der erste im Wasser!« ruft er lachend. Und brüllt dem Achilla zu:
»Schwimm doch schneller, du Pharao! – Kahlkopf, komm herauf! Kahlkopf, komm herauf!«
Inzwischen ist Felizata zu dem Polizeichef getreten. Sie löst seinen Gürtel, hilft ihm aus dem Schlafrock, so daß er in Unterhosen und einer bunten Flanelljacke dasteht. Der Arzt auf dem Stein plätschert mit den Füßen im Wasser, pfeift lustig vor sich hin und klatscht plötzlich den herangeschwommenen Diakon Achilla so laut und kräftig mit der flachen Hand auf den nackten Rücken, daß dieser aufschreit, nicht vor Schmerz, sondern vor Schreck über das laute Klatschen.
»Was haust du mich mit solchem Lärm?«
»Pack mich nicht am Leib,« erwidert der Arzt.
»Wenn das aber meine Gewohnheit ist?«
»Gewöhn dir's ab,« antwortet der Arzt und pfeift laut.
»Ich gewöhn mir's auch ab, aber ich vergesse mich immer wieder.«
Der Arzt erwidert nichts und pfeift weiter. Der Diakon schüttelt den Kopf, spuckt aus, bindet die Schnur auf, mit der sein Heldenleib gegürtet ist, nimmt die daranhängende Bürste und den Striegel ab und beginnt mit ebensoviel Eifer wie Sachkenntnis die Mähne seines Pferdes zu reinigen. Das mächtige Tier, welches sich an der langen Leine ziemlich frei bewegen kann, biegt den breiten Rücken und schlägt mit seinen Knien das Wasser zu Schaum.
Dieses Landschafts- und Genrebild zeigt uns die Schlichtheit des Stargoroder Lebens, wie die Ouvertüre die Musik der Oper andeutet. Aber die Ouvertüre ist noch nicht zu Ende.
Am linken Flußufer, wo der Stadthauptmann immer noch zögert, hat der Kutscher Komar den Teppich ausgebreitet, die mitgebrachte Bank darauf gestellt, und nachdem er sich durch kräftiges Schütteln noch überzeugt hat, daß sie feststeht, ruft er:
»Setzen Sie sich, Woin Wasiljewitsch, sie steht fest.«
Porochontzew geht schnell auf die Bank zu, rüttelt sie erst noch einmal eigenhändig und setzt sich erst, nachdem er sich genügend überzeugt hat, daß sie tatsächlich ganz feststeht. Kaum hat der Herr sich gesetzt, so packt Komar ihn von hinten an den Schultern, und seine Frau, welche die Schüssel nebst Bastwisch und Badetuch auf den Teppich gestellt hat, beginnt den kriegerischen Stadtgewaltigen auszukleiden. Erst nimmt sie ihm die Kalotte ab, dann die gestrickte Unterjacke, die Pantoffeln und die Socken, legt hierauf ihre Handflächen vorsichtig an die dürren Rippen des Rittmeisters und bleibt so unbeweglich stehen, den Kopf etwas seitwärts gebogen.
»Nun, Felicie, geht es schon? Kann ich schon reiten?« fragt Porochontzew.
»Nein, Woin Wasiljewitsch, noch schlägt der Puls,« antwortet Felizata.
»Na, wenn er noch schlägt, muß man warten. Aber du kannst hineinhupfen, Komar.«
»Ich tu's auch gleich.«
»Hupf nur, Bruder, hupf! Schwimm einmal herum und komm dann wieder raus. Dann wird geritten.«
»Wenn ich dann nur nicht zu schlüpfrig bin, Woin Wasiljewitsch. Dann fallen Sie wieder runter, wie neulich.«
»Nein, nein, ich fall schon nicht.«
Komar wirft, hinter dem Rücken seines Herrn stehend, das Hemd ab und stürzt sich mit einem mächtigen Anlauf ins Wasser, wo er alsbald gewaltig mit den Armen zu arbeiten beginnt.
»Famos schwimmt dein Komar,« sagt Porochontzew.
»Ausgezeichnet,« entgegnet die Frau, welche sich anscheinend nicht im geringsten geniert und auch keinen der Badenden durch ihre Anwesenheit stört.
Felizata, eine frühere Leibeigene Porochontzews, ist es seit langem gewohnt, ihren kränklichen Herrn zu bedienen, und bei dieser Beschäftigung gibt es für sie keinen Geschlechtsunterschied. Inzwischen ist Komar rund um den Stein geschwommen, auf dem die Badenden sitzen, und wieder aus dem Wasser gekrochen und steht nun, den gekrümmten Rücken einem Herrn zugewendet, vor der Bank. Woin Wasiljewitsch klettert auf den Rücken, umfaßt den Hals des Kutschers mit beiden Armen und reitet ins Wasser hinein. Der Rittmeister macht es fast immer so, denn er liebt es nicht, barfuß auf dem scharfen Kies zu gehen. Kaum hat jedoch das Wasser die Achselhöhlen Komars erreicht, so bleibt er stehen und meldet, nun seien keine Steine mehr da, denn er fühle reinen Sand unter seinen Sohlen. Woin Wasiljewitsch klettert von seinem Roß hinunter und legt sich auf die Schwimmblasen. Auch heute war der Vorgang derselbe: der dürre Stadtgewaltige legt sich hin, Komar gibt ihm einen tüchtigen Stoß und beide schwimmen nach dem Steine, den sie beide erklettern. Dieser nicht sehr große Stein, dessen über dem Wasser[105] aufragende glatte, runde Fläche einen Durchmesser von etwa zwei Fuß haben mag, bietet fünf Personen Unterkunft, von denen vier – Porochontzew, Pizonskij, der Arzt und Achilla – sich an den Rand gesetzt haben, so daß sie einander den Rücken zukehren, während Komar mitten in dem engen Viereck steht, das eben diese Rücken bilden, und seinem Herrn den Kopf wäscht. Es wird eifrig diskutiert; Pizonskij erzählt unter beständigem Zucken seiner schiefen Nase, daß gestern abend in der Dämmerung irgendwo unterhalb der Brücke im Schilf sich zwei Schwäne niedergelassen und nachts, während es regnete, unausgesetzt geschrien hätten.
»Wenn die Schwäne schreien, so verkünden sie irgend jemandes Ankunft,« meint Komar, indem er den Kopf seines Herrn eifrig mit Seife einreibt.
»Nein, das verheißt bloß einen schönen Tag,« wendet Pizonskij ein.
»Wer sollte auch zu uns kommen?« mischt sich der Arzt ins Gespräch. »Wir leben ja hier wie die reinen Waldteufel: in hundert Jahren passiert nichts Neues.«
»Was soll uns auch das Neue?« sagt Pizonskij. »Wir haben ja alles; das Wetter ist schön, wir sitzen gemütlich auf unserm Stein und keiner verübelt es uns. Käme aber ein neuer Mensch her, so nähme er vielleicht Anstoß, es gäbe ein Gerede und …«
»Ein Gerede: warum sitzen sie so nackigt da?« unterbricht ihn Komar ungeniert.
»Was ist das für ein Stadthauptmann, der sich von einem Frauenzimmer waschen läßt?« wirft der Arzt ein.
»Ja, das ist wahr,« ruft der Rittmeister und schaut sich beunruhigt um.
Komar bläst sich in den Schnurrbart, lächelt und sagt leise:
»Und dann wird's heißen: was hat der Polizeichef auf dem Komar ins Wasser zu reiten?«
»Halt's Maul, Komar!«
»Auch das, auch das wird Fragen veranlassen,« sagt wieder der sanfte Pizonskij und seufzt, indem er fortfährt: »Und jetzt sitzen wir hier ohne alle Neuigkeiten wie im Paradiese. Selber sind wir nackt, aber wir sehen alle Schönheit der Welt: wir sehen den Wald, sehen die Berge, sehen die Tempel Gottes, das Wasser, das Grün der Wiesen; dort im Uferschilf piepen die jungen Entlein; vor uns im Wasser spielt das Völklein der kleinen Fische so fröhlich. Groß ist deine Güte, o Herr!«
Die letzten Worte hatte Pizonskij mit erhobener Stimme gesprochen, sie hallten weit über den Fluß hin, wurden von den Hügeln zurückgeworfen und klangen dann noch ein drittes Mal etwas dumpfer von dem flachen Ufer wider. Pizonskij horcht auf, streckt den Zeigefinger über seinem kahlen Kopfe zum Himmel empor und sagt:
»Dreimal antwortet dir die Güte des Herrn: was kann es Schöneres geben, als in solchem Frieden zu leben und in ihm sein Dasein zu vollenden.«
»Wahr, sehr wahr,« antwortet der Rittmeister mit einem Seufzer. »Da haben der Arzt und ich uns eine kleine Neuerung gestattet: wir erlaubten dem Warnawa eine Leiche auszukochen. Wozu hat das nicht geführt! Übrigens, Diakon, vergiß nicht, daß du versprochen hast, dem Warnawa die Knochen wegzunehmen.«
»Warum sollte ich's vergessen? Ich bin kein Manichäer, den man hundertmal mahnen muß. Was ich versprochen habe, das halte ich auch.«
»Hast du? Hast du's wirklich schon?«
»Natürlich hab' ich's.«
»Du flunkerst, Diakon!«
Achilla schweigt.
»Warum redest du denn nicht? Erzähle doch, wie du ihm die Knochen weggenommen hast. Nun? Was Teufel bist du denn heut so solide?«
»Warum soll ich nicht solid sein, wenn meine Taille es mir gestattet?« erwidert Achilla selbstbewußt. »Ihr zwei, du und der Arzt, macht Dummheiten, und ich muß sie wieder gutmachen. Na, da bin ich eben zum Warnawa ins Fenster hineingestiegen, hab die Knochen alle in einen Sack gesteckt …«
»Nun und dann, Achilla? Was dann, mein Lieber?«
»Dann ging es ganz dumm.«
»Ja wie denn? So erzähle doch!«
»Was soll ich erzählen, wo ich selber nichts weiß? Dann hat mir jemand die Knochen wieder wegstibitzt.«
Porochontzew springt auf und schreit:
»Was? Wieder gestohlen?«
»Ja, wie soll ich sagen? Gestohlen ist vielleicht nicht das richtige Wort. Ich weiß nur, daß ich den ganzen Kram zu mir nach Haus brachte und ihn in meinen Karren schüttete, um heut damit zur Begräbnisstätte zu fahren. Aber wie ich morgens nachseh, ist nichts mehr da – bis auf das kleine Schwänzchen hier.«
Der Arzt bricht in ein lautes Gelächter aus.
»Was lachst du?« fragt der Diakon geärgert.
»Ein Schwänzchen ist übriggeblieben, sagst du?«
Achilla wird böse.
»Nun ja, ein Schwänzchen,« erwidert er, »oder was soll das sonst sein?«
Der Diakon löst von dem Striegel einen menschlichen Fußknöchel, den er mit einem Endchen Bindfaden daran befestigt[108] hatte, reicht ihn dem Arzt hin und sagt trocken: »Da, sieh's dir an, wenn du mir nicht glaubst.«
»Haben denn die Menschen Schwänze?«
»Etwa nicht?«
»Du hast also auch einen Schwanz?«
»Ich?!« fragt Achilla.
»Ja, du.«
Der Arzt lacht wieder aus vollem Halse, der Diakon aber wird bleich und sagt:
»Hör mal, mein lieber Meister Quacksalber, scherzen kannst du, – aber mit Maß, wenn ich bitten darf. Vergiß nicht, daß ich eine geistliche Person bin.«
»Na, schon recht! Aber sag mir mal erst, wo hast du deinen Astragalus?«
Das unbekannte Wort »Astragalus« macht auf den Diakon einen verblüffenden Eindruck: die Fachbezeichnung für das unschuldige menschliche Sprungbein scheint ihm etwas äußerst Kränkendes, er schüttelt den Kopf, stößt einen tiefen Seufzer aus und sagt langsam:
»Für so niederträchtig hätte ich dich allerdings nicht gehalten.«
»Ich niederträchtig?«
»Jawohl! Einer geistlichen Person mit derartigen dummen Fragen zu kommen ist niederträchtig. Aber merk dir: deinen faulen Scherz mit dem Schwanz hab' ich dir nachgesehen, aber jetzt nimm dich in acht!«
»O wie schrecklich!«
»Ja, hab' dich nur! Ich mein' es ernst. Eure Freigeisterei hängt mir längst zum Halse heraus.«
»Ja, ist denn das Freigeisterei, wenn man Astragalus sagt?«
»Kusch!« schreit der Diakon.
»Schafskopf« meint der Arzt achselzuckend.
»Kusch!« donnert Achilla und hebt drohend die Faust. Seine Augen funkeln grimmig.
»Ist das ein Esel! Kein vernünftiges Wort kann man mit ihm reden.«
»Was? Ein Esel bin ich? Man kann nicht mit mir reden? Na warte! Ich bin euch kein sanfter Sawelij! Runter in den Sumpf!«
Mit diesen Worten hat der Diakon die Leine seines Pferdes aus der rechten Hand in die linke genommen, packt den Arzt mit der Rechten um den Leib und reißt ihn ins Wasser hinab. Sie tauchen unter, werden wieder sichtbar und verschwinden aufs neue. Obgleich das Verhalten des Diakons deutlich verriet, daß er keineswegs die Absicht hatte, den Arzt zu ertränken, sondern ihn nur etlichemal untertauchen wollte, – er hielt auch, während sie so zappelten, immer nach dem Ufer zu – so versetzte das verzweifelte Gebrüll des Medikus die Drei auf dem Steine und die am Ufer stehende Felizata doch in eine so unbeschreibliche Angst, daß auch sie ein lautes Geschrei erhoben, welches die ganze Umgegend alarmieren mußte.
So begann der Diakon Achilla seinen Ausrottungskampf gegen die in Stargorod um sich greifende gemeingefährliche Freigeisterei, und wir werden sehen, was für gewaltige Folgen dieser energische Anfang zeitigen sollte.
Der Lärm und das Geschrei der Badenden hatten den Propst, der an seinem Fenster kaum ein wenig eingeschlummert war, aufgeweckt. Der Alte erschrickt, springt auf, sieht auf den Fluß hinaus, kann aber ganz und gar nicht begreifen, was eigentlich geschehen. In diesem Augenblicke hält vor seinem Hause ein eleganter, von einem grauen Vollblutpferde gezogener Jagdwagen. Darin sitzt eine schwarzgekleidete junge Dame: sie kutschiert selbst, neben ihr ein kleiner Groom. Die Dame ist die junge verwitwete Gutsbesitzerin Alexandra Iwanowna Serbolowa, seine ehemalige Lieblingsschülerin.
»Alexandra Iwanowna, seien Sie mir herzlichst willkommen,« erwidert der Propst ihren Gruß. »Meine Frau steht gleich auf, und dann sind Sie so freundlich, eine Tasse Tee mit uns zu nehmen.«
Die Dame dankt. Sie sagt, sie sei in die Stadt gekommen, um eine Totenmesse für ihren verstorbenen Gatten lesen zu lassen, und bittet Tuberozow, doch recht bald in die Kirche zu kommen.
»Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung.«
»Vielen Dank. Ich will jetzt nur noch für einen Augenblick zur alten Prepotenskaja, sonst ist sie gekränkt.«
Sie nickt dem Priester zu und im nächsten Augenblick ist der leichte Wagen verschwunden. Der Propst schickt das[111] Dienstmädchen zum Küster mit dem Befehl, zur Frühmesse läuten zu lassen und den Diakon Achilla in die Kirche zu beordern; dann tritt er vor den Heiligenbilderschrein, seine Morgenandacht zu verrichten. Eine halbe Stunde später schlägt die Domglocke an, und gleich darauf kommt das Mädchen zurück mit der Meldung, sie habe den Diakon Achilla nicht finden können, niemand wisse, wo er sei. Zum Warten ist aber keine Zeit mehr und so nimmt der Propst seinen Stab mit der Inschrift »Der Stecken Aarons erblühte« und begibt sich in den Dom. Er ist noch keine zehn Minuten fort, als die Pröpstin Natalia Nikolajewna durch das plötzliche Erscheinen des Diakons Achilla höchlich überrascht wird. Er ist ganz außer sich.
»Mütterchen,« ruft er, »alles, was ich Euch gestern von den Totengebeinen versprochen hatte, ist zuschanden geworden.«
»Das habe ich mir doch gleich gedacht,« erwidert Natalia Nikolajewna.
»Nein, bitte sehr, Ihr müßt erst wissen, warum es zuschanden geworden ist. Wie ich es Euch gestern versprach, so habe ich's auch gemacht. Ganz wie sich's gehört, habe ich die Überreste dieses Menschen, den der Warnawka gekocht hat, durchs Fenster gestohlen, in den Sack gesteckt und zu mir nach Haus getragen. Dann habe ich sie in den Karren geschüttet. Aber als ich heute nachschaue, ist der Karren leer! Kann ich dafür?«
»Ja, wer beschuldigt dich denn?«
»Das ist es ja eben. Mich überkam sogar ein Zweifel, ob ich sie nicht schon nachts vergraben hätte, aber heut früh im Bade war der Arzt so frech gegen mich, daß ich gleich aus dem Bad zum Warnawka gerannt bin. Alle Fensterläden waren geschlossen. Ich guckte durch eine Ritze, und da seh'[112] ich, daß der Gekochte wieder heil und ganz am Nagel hängt! Wo ist der Vater Propst? Ich muß ihm gleich alles erzählen!«
Natalia Nikolajewna schickte den Diakon ihrem Gatten nach, und der schnellfüßige Achilla hatte den Propst auch bald eingeholt.
»Was rennst du so … und fauchst und schnaufst und stampfest?« fragt ihn Sawelij, als er seine Schritte hinter sich hört.
»Das … das tu ich immer, Vater Sawelij, wenn ich laufe. Habt Ihr es nie bemerkt?«
»Nein, bisher nicht. Aber sprich doch mit dem Arzt, er hilft dir vielleicht.«
»Jawohl, der Arzt! Redet mir nur nicht von dem, Vater Sawelij! – Er hat mich heute ganz aus der Fassung gebracht. Denkt Euch diese Frechheit, Vater Propst …« Der Diakon beugt sich zu dem Ohre des Propstes, und nachdem er ihm die Gemeinheit des Arztes leise mitgeteilt hat, fügt er laut hinzu: »Nun sagt selbst, ist das nicht furchtbar unverschämt?«
»Ich finde nichts dabei,« erwidert der Propst, indem er langsam die Stufen vor dem Domportal emporsteigt. »Astragalus ist ein Fußknöchel, und ich verstehe nicht recht, was dich in solche Wut versetzt hat.«
Der Diakon tritt einen Schritt zurück und ruft erstaunt: »Ein Fußknöchel?«
»Ja freilich.«
Achilla schlägt sich mit der flachen Hand vor die Stirn:
»Ich Dummkopf!«
»Was hast du gemacht?«
»Nein, ich bitt' Euch, seid so gut, nennt mich einen Dummkopf!«
»Ja, weswegen denn?«
»Nein, nein, nennt mich nur so. Ich hätte diesen Arzt beinahe ersäuft.«
»Nun gut, mein Lieber, ich erfülle deinen Wunsch: du bist wahrhaftig ein Narr, und ich sage dir's voraus, wenn du von dergleichen Narrengewohnheiten nicht bald lässest, so kommt es noch einmal dahin, daß du jemand ums Leben bringst.«
»Erbarmt Euch, Vater Sawelij, ich bin doch nicht ganz von Sinnen.«
»Überall, überall folgt dir der Unfrieden auf dem Fuße!«
»Ich weiß nicht, woher das kommt. Ich bin für Frieden und Ordnung, aber es kommt immer anders.«
Hierauf erzählt Achilla in großer Hast, aber mit allen Einzelheiten, wie er gestern das Gerippe gestohlen und wie es dann wieder verschwunden und an seinem alten Platze erschienen sei. Tuberozow hört ihm zu. Seine Augen werden immer größer und größer, und unwillkürlich tritt er ein paar Schritte zurück, indem er ausruft:
»Großer Gott, was für ein unseliger Mensch!«
»Wer, Vater Sawelij?« meint Achilla, nicht weniger erstaunt.
»Du, mein Bester, du!«
»Aus welchem Grunde bin ich unselig?«
»Welch böser Geist treibt dich zu alledem?«
»Wozu?«
»Zum Einbrechen, Rauben, Zanken.«
»Ihr habt mich dazu angetrieben,« erwidert der Diakon ganz ruhig und freundlich. »Ihr sagtet: so oder so – der Sache muß ein Ende gemacht werden. Und da hab' ich ihr ein Ende gemacht. Ich habe nur Euren Wunsch erfüllt.«
Tuberozow schüttelt den Kopf, wendet sich dem Portal zu und tritt in die Vorhalle, wo er die Serbolowa in stillem Gebete kniend erblickt. In einer Ecke aber sitzt der Lehrer Prepotenskij auf einer Totenbahre und klopft sich den Staub von den Beinkleidern. Sein Gesicht strahlt. Er schaut den Propst und den Diakon mit triumphierendem Lächeln an. Was konnte ihn, den Gottesleugner, in die Kirche geführt haben? Darüber erstaunte Tuberozow nicht weniger als Achilla; nur vermochte Achilla diesen Gedanken auch während der Messe nicht zu bannen, während der ernste Sawelij ihn bereits von sich gewiesen hatte, als sich die Tür zum Altarraum vor ihm auftat, denn er war gewohnt, mit Furcht und Zittern vor das Angesicht seines Gottes zu treten.
Eine Stunde war vergangen und die Totenmesse beendet. Die Serbolowa und ein entfernter Vetter von ihr, ein gewisser Darjanow, hatten beim Propst Tee getrunken und waren fortgegangen. Die Serbolowa wollte gegen Abend, wenn die Sonne nicht mehr so heiß brannte, auf ihr Gut zurückkehren. Jetzt aber gedachte sie etwas zu ruhen. Darjanow sollte mit ihr bei der alten Prepotenskaja Mittag essen, wohin Tuberozow später ebenfalls kommen wollte, um ein Gläschen Tee zu trinken und seinem lieben Beichtkinde das Geleite zu geben.
Öde, traurig und eintönig ist der Anblick der menschenleeren Straßen unserer Kreisstädte zu jeder Zeit; aber nie erscheinen sie so ausgestorben wie an einem heißen Sommermittag. Der dicke, graue Staub, den stellenweise die Spuren von Wagenrädern durchfurchen, das schläfrige, welke Gras, das die ungepflasterten Straßen an der Seite, wo die Trottoirs anzunehmen sind, umsäumt, die grauen, halbverfaulten, schiefen Zäune, die Kirchentüren mit ihren schweren Hängeschlössern, die Holzbuden, die von ihren Besitzern verlassen und mit zwei übers Kreuz geschlagenen Brettern verbarrikadiert sind, – alles das schlummert in der Mittagshitze so verführerisch, daß der Mensch, der verurteilt ist, in dieser Umgebung zu leben, ganz von selbst alle Munterkeit verliert und auch matt wird und einschläft.
Um diese Stunde war es, als Valerian Nikolajewitsch Darjanow, nachdem er einige öde Straßen durchschritten hatte, in ein enges Gäßchen einbog, das durch einen alten Gitterzaun völlig abgeschlossen ward. Hinter dem Zaun war eine Kirche sichtbar. Darjanow bückte sich tief und trat durch das niedrige Pförtchen in den Kirchhof. Hier stand in einer Ecke das kaum bemerkbare Hüttchen des Kirchenwächters, und weiter hinten, inmitten eines ganzen Waldes verfallener Grabkreuze, verbarg sich das niedrige, dreifenstrige Häuschen der Hostienbäckerin Prepotenskaja.
Der Friedhof war frei von dem Staube, der in dicker Schicht alle Straßen und Plätze der Stadt bedeckte. Hier wuchs schönes grünes Gras, und zwei Hühner, die sich im weichen Staube im Sonnenschein ausliegen wollten, mußten vor die Pforte hinaus und sich unter der Schwelle in den weichen Staub eingraben, so daß man sie kaum sehen konnte. Dort lagen sie meist den ganzen Tag, fest überzeugt, daß keiner sie stören werde. Als Darjanow über sie hinwegschritt, rührten sie sich nicht; jedes öffnete nur eins seiner bernsteinfarbenen Augen, begleitete den Gast mit einem schläfrigen Blick und schloß dann die grauen Lider wieder. Darjanow ging geradewegs auf das Pförtchen des Prepotenskijschen Hauses zu und schlug mit dem schweren eisernen Ring gegen das Holz. Alles blieb stumm. Kein Hund bellte, keine menschliche Stimme ließ sich vernehmen. Darjanow klopfte noch einmal, aber wieder erfolglos. Dann ließ er alle Hoffnung fahren, kroch unter dem Lattenwerk hindurch ins Himbeergesträuch, welches das Haus der Hostienbäckerin dicht umgab, und schaute in eins der Fenster. Diese waren gegen die Sonnenhitze durch Läden geschlossen, aber durch die breiten Ritzen konnte man den ganzen Innenraum übersehen. Es war ein großes, hohes Zimmer, fast ohne Möbel, mit zwei Türen, durch deren eine man in eine zweite, winzige blaue Kammer mit einem hohen Bett blickte, über welchem eine aus Kattunflicken zusammengenähte Decke lag.
Das große, leere Zimmer gehörte dem Lehrer Warnawa, die kleine Kammer seiner Mutter. Das ganze Haus bestand nur aus diesem zwei Räumen, denn die winzige Küche, in der man sich kaum umdrehen konnte, zählte nicht mit.
Augenblicklich standen beide Zimmer leer, aber Darjanow hörte im Vorhause hinter der Tür eifrig jemand mit dem Hackmesser arbeiten, und im Garten unter dem Fenster[117] schien entweder Ziegel gerieben oder Eisen gefeilt zu werden. Durchaus überzeugt, alles Klopfen führe zu nichts, trat Darjanow an den Zaun, der das Gärtchen umgab, und begann eine neue Musterung durch den Spalt, den er zwischen den Brettern entdeckte. Es war aber nicht so leicht, denn an den Zaun lehnte sich dichtes Gesträuch, das den Menschen, der da mit den Ziegeln oder der Feile arbeitete, nicht sehen ließ. Darjanow mußte sich einen neuen Beobachtungspunkt suchen. Er trat mit der Fußspitze auf ein vorspringendes Brett, faßte mit der Hand den oberen Rand des Zaunes und schwang sich empor. Jetzt konnte er den ganzen kleinen, aber dichtbewachsenen und sehr reinlich gehaltenen Garten übersehen. Quer hindurch ging ein von der Hostienbäckerin eigenhändig angelegter, sauber mit gelbem Sand bestreuter Weg, auf welchem der Lehrer Warnawa saß. Er hielt die ausgestreckten Beine auseinandergespreizt, wie Kinder beim Ballspielen. Zwischen seinen Knien lag auf dem Sande ein ganzer Haufen Menschenknochen und ein Bogen blaues Packpapier. In jeder Hand hielt er einen Ziegelstein und rieb sie mit gewaltiger Kraftanstrengung aneinander. Der Schweiß floß in Strömen über sein Gesicht, obgleich er im Schatten saß und alle irgend überflüssigen Toilettenstücke abgelegt hatte. Er war barfuß und nur mit Hemd und Hose, welch letztere nur durch einen Träger gehalten wurde, bekleidet.
»Warnawa Wasiljewitsch, machen Sie mir auf!« rief Darjanow ihm zu, aber dieser Ruf verhallte ergebnislos.
Eher hätten die Toten auf dem verfallenen Friedhof dem Gast Bescheid geben können, als der ganz in seine Arbeit vertiefte Lehrer. Sobald Darjanow das begriffen hatte, verzichtete er auf weiteres Rufen und sprang vom Zaun mitten in den Garten hinein. Er sprang leicht und gewandt, aber die alten, wackligen Bretter schlugen trotzdem krachend[118] aneinander und erschreckten den Lehrer dermaßen, daß er in größter Hast seine Ziegelsteine fallen ließ und, auf allen Vieren stehend, die Knochen zusammenzusuchen begann.
»Na, Warnawa Wasiljewitsch, guter Freund! Sie sind aber vertieft in Ihre Arbeit! Man kann sich ja die Lunge aus dem Halse schreien!« begrüßte ihn der Gast hervortretend. Als Warnawa ihn erkannte, ging ein Leuchten über sein Antlitz, und er zwinkerte mit den Augen, als er sagte:
»Ah, Sie sind's! Und ich dachte, es wäre der Achilla.«
Mit diesen Worten breitete der Lehrer freudig die Arme aus, und der ganze Haufen Knochen plumpste auf den Weg, als würde plötzlich das Innere des Mannes ausgeschüttet.
»Ach, Valerian Nikolajewitsch,« meinte er, »wenn Sie wüßten, was hier vorgeht. Nein, hol's der Teufel, – da soll man noch in diesem verfluchten Rußland bleiben!«
»Um Gotteswillen, was ist denn passiert? Wollen Sie es mir nicht verraten?«
»Ja gewiß, wenn … wenn Sie kein Spion sind.«
»Ich glaube nicht.«
»Dann setzen Sie sich auf die Bank und ich will weiter arbeiten. Setzen Sie sich nur, mir ist Ihre Gegenwart sogar sehr angenehm; ich habe so wenigstens einen Zeugen.«
Der Gast kam der Aufforderung nach und bat den Lehrer noch einmal, zu berichten, was für ein Leid ihn betroffen hätte und wie alles so gekommen wäre.
»Mein Leiden begann mit meiner Geburt, Valerian Nikolajewitsch,« fing der Lehrer an, »und wurzelt in der Hauptsache darin, daß ich von meiner Mutter geboren bin.«
»Trösten Sie sich, lieber Freund, alle Menschen sind von ihren Müttern geboren,« entgegnete Darjanow und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Nur Macduff wurde aus dem Mutterleibe geschnitten, und auch nur, damit Macbeth von keinem besiegt werde, den ein Weib gebar.«
»Na ja, Macbeth! … Was schert mich euer Macbeth? Wir brauchen keinen Macbeth, wir brauchen Aufklärung. Aber was soll man machen, wenn man hier nicht studieren kann? Ich kann es ohne weiteres beschwören, daß weder in Petersburg, noch in Neapel, noch sonstwo in der Welt der Mensch, der etwas lernen will, auf solche Hindernisse stößt, wie hier bei uns. Da redet man von Spanien … Aber wie ist's mit Spanien? In Spanien ist die Lutherbibel verboten. Schön! Dafür aber haben sie auch Verschwörungen und Aufstände und Gott weiß was alles. Ich bin überzeugt, wenn sich dort jemand ein Skelett zu wissenschaftlichen Zwecken anschafft, so wird niemand was dagegen einzuwenden haben. Aber hier? Kaum hatte ich die Knochen präpariert, so ließ meine eigene Mutter mir keine Ruhe mehr. ›Sei lieb, Warnawa, mein Kind, ich will ihn beerdigen.‹ Was heißt das:[120] ›ihn‹? Was ist das für ein ›Er‹? Warum sind diese Knochen ein Er und keine Sie? Hab' ich recht oder nicht?«
»Vollkommen recht.«
»Ausgezeichnet. Jetzt sagt man, daß ich meiner Mutter nicht vernünftig zuzureden verstehe. Ja, was soll ich denn noch sagen? ›Mütterchen, laßt die Knochen in Ruhe,‹ sprach ich. ›Ihr versteht nichts davon. Ich habe sie nötig, ich studiere den Menschen daran.‹ Aber was soll ich machen, wenn sie mir stets darauf antwortet: ›Weißt du, lieber Warnascha, es ist doch besser, wenn ich ihn begrabe.‹ – – Das ist doch nicht zum Aushalten.«
»Allerdings.«
»Ich sagte ihr, um sie los zu werden: ›Was quält Ihr Euch um ihn, Mutter, er war ein Jude.‹ Aber sie glaubt mir nicht. ›Du lügst,‹ meint sie, ›das gibt dir der Teufel ein. Ich weiß es doch besser, die Juden haben alle Schwänzchen.‹ Niemals, sage ich, haben die Menschen, gleichviel ob Juden oder Nichtjuden, Schwänze gehabt. Und dann fängt der Zank an. Ich trete, wie sich's gehört, für die Juden ein, und sie widerspricht mir. Ich beweise ihr, sie hätten keine Schwänze, aber sie besteht darauf: Ja – nein – mit Schwanz – ohne Schwanz … heißt es. Und wenn sie sich gar nicht mehr zu helfen weiß, dann zischt sie nur noch: Kusch – kusch – kusch – und fuchtelt mir mit den Händen vor der Nase herum, als wär' ich ein Huhn, das sie von den Gemüsebeeten verjagen will. Und da verlangt man noch, man solle den Frauen Freiheit geben. Ich bin gewiß für die Emanzipation, aber man muß die Sache mit Vernunft anfangen: einer jungen, entwickelten Frau, die sich in ihrem Tun keinen Zwang auferlegen will, soll man die Freiheit geben, aber diesen alten Weibern – – Nein, dagegen bin ich durchaus, und wundere mich, daß noch niemand diese Frage öffentlich behandelt hat. Hinter[121] all dem stecken die Pfaffen mit diesem Tuberozow an der Spitze.«
»Sie übertreiben!«
»Warum nicht gar! Ich habe die Beweise dafür in der Hand. Tuberozow hat mich nie leiden mögen, jetzt aber haßt er mich einfach wegen meiner naturwissenschaftlichen Studien. Ich habe ihn ja einmal geschnitten.«
»Wie haben Sie denn das gemacht?«
»Nicht einmal, hundertmal hab' ich ihn schon geschnitten, – zuletzt noch in der vorigen Woche. Damals in der Schule, im Sprechzimmer des Inspektors, fing er an zu predigen, die Feiertage seien etwas ganz Besonderes, – da hab' ich ihn in aller Gegenwart geschnitten. Ich wies ihn einfach darauf hin, es sei mathematisch bewiesen, daß die Festlegung der Feiertage fehlerhaft sei. Wie steht's denn um unsere Feste? fragte ich. Wir feiern Weihnachten, und im Auslande haben sie es schon dreizehn Tage früher gefeiert. Hab' ich nicht recht?«
»Es sind aber nur zwölf Tage, nicht dreizehn.«
»Nun gut, zwölf, darauf kommt es nicht an. Aber er schlug gleich mit der flachen Hand auf den Tisch und schrie: ›Paß auf, du Mathematikus, daß man dir dafür nicht noch mal in die Physik fährt!‹ Ich frage Sie: was meint er mit dem Worte Physik? Sie werden mich verstehen, – so redet doch nur ein Ignorant oder Zyniker, – und: ist das überhaupt eine Antwort, frage ich Sie?«
Der Gast lachte und sagte, eine Antwort sei es schon, aber freilich eine höchst merkwürdige.
»Einfach dumm ist sie. Aber so geht es tagaus, tagein. Gestern abend erst komme ich von der Biziukina, und wenige Schritte vor mir geht der Kommissar Danilka, – wissen Sie, jener Herumtreiber, der für zwei Rubel das Pferd beim Glitsch wegführte, als Achilla Butter schlagen mußte. Ich[122] kam mit ihm ins Gespräch. Wo warst du, Danilka? frag' ich ihn. Er antwortet, er sei beim Polizeichef gewesen und habe ihm Beeren von der Postmeisterin gebracht. Dort habe man gerade von mir gesprochen, der Diakon sei dagewesen, bemerkte er noch. Ich geriet natürlich in Aufregung, aber er suchte mich zu beruhigen: ›Nicht von Ihnen selbst war die Rede, sondern von dem toten Menschen, den Sie bei sich haben.‹ Begreifen Sie das Intrigenspiel? Ich gab dem Danilka zwanzig Kopeken. Was sollte ich machen? Es ist ja nicht schön, aber es geht nicht ohne Spione. Und nun berichtete er mir, der Diakon habe gesagt, es sei ein großer Fehler, mir den Ertrunkenen überlassen zu haben. Aber man kann es noch wieder gutmachen. Der Stadthauptmann kennt natürlich meinen Charakter und meinte deshalb auch, ich würde die Knochen nicht wieder zurückgeben, – und ich geb' sie auch bestimmt nicht heraus! Achilla aber riet: ›Man nimmt sie ihm einfach fort und bestattet sie in aller Ruhe.‹ Da meinte der Stadthauptmann: ›Sollte man vielleicht einen Schutzmann nach den Knochen schicken?‹ Jedoch dieser Bandit antwortet: ›Ich brauche keinerlei polizeiliche Hilfe. Ich hole sie einfach, lege sie in einen Kindersarg und die Sache ist erledigt.‹«
Plötzlich stürzte Prepotenskij auf die Gebeine los, breitete die Hände über sie aus, wie eine Henne ihre vor dem Habicht flüchtenden Küchlein mit den Flügeln bedeckt, und sagte mit erregter Stimme:
»Bitte sehr! Solange ich am Leben bin, wird die Sache nicht gemacht! Es ist schon genug, daß Ihr alles verzögert!«
»Was verzögern ›sie‹ denn?«
»Als ob Sie das nicht wüßten!«
»Etwa die Revolution?«
Der Lehrer brach seine Arbeit ab und nickte spöttisch.
»Nachdem ich dies alles von Danilka gehört hatte,« fuhr Warnawa fort, »begab ich mich zur Biziukina zurück, um sie davon in Kenntnis zu setzen, und eine Stunde später, als ich nach Hause kam, waren alle Knochen schon fort. ›Wo sind sie geblieben? Wo?‹ schrei' ich, – und diese Dame, meine Frau Mama, antwortet: ›Sei nicht bös, mein lieber Warnaschenka (haben sie mir schon so einen scheußlichen Namen gegeben, muß er jetzt auch noch so ekelhaft verdreht werden), sei nicht bös, die Obrigkeit hat sie holen lassen.‹ – ›Was ist das wieder für ein Blödsinn,‹ schrei' ich, ›von was für einer Obrigkeit quasselt Ihr denn?‹ – ›Während du fort warst,‹ sagt sie, ›kam der Diakon Achilla ans Fenster und hat sie alle mitgenommen.‹ Was sagen Sie dazu? ›Seit wann gehört der Diakon zur Obrigkeit?‹ – ›Ja, Lieber,‹ sagt sie, ›wieso denn nicht? Er hat doch die Weihen empfangen.‹ Wie soll man mit einer solchen Person reden? Sie lachen, Ihnen kommt das komisch vor, mir aber war gar nicht lächerlich zumute, als ich selber zu diesem Banditen hingehen mußte. Jawohl! Achilla nennt mich feige und alle glauben es, aber gestern habe ich bewiesen, daß ich kein Feigling bin; geradewegs begab ich mich zu Achilla. Als ich hinkam, schnarchte er bereits. Ich klopfte ans Fenster und rief: ›Gebt mir meine Knochen heraus, Achilla Andrejewitsch.‹ Es dauerte eine Weile, bis er erwachte, und sofort mit seinen[124] Unverschämtheiten loslegte: ›Was willst du mit den Knochen? (Was soll dies familiäre Du? Seit wann sind wir so intim?) Du bist ohne Knochen viel netter.‹ – ›Das geht Euch gar nichts an, ob und wann ich netter bin.‹ – ›Im Gegenteil, das geht mich sogar sehr viel an, denn ich bin eine geistliche Person.‹ – ›Aber Ihr habt nicht das Recht, fremdes Eigentum fortzunehmen.‹ – ›Sind denn Totengebeine Eigentum? Du solltest erst mal kapieren, daß du solches Eigentum gar nicht besitzen darfst.‹ Darauf erwiderte ich ihm, daß der Diebstahl den geistlichen Personen doch wohl auch nicht gestattet sei: er kenne wahrscheinlich die englischen Gesetze nicht. In England könne er dafür gehenkt werden. Und was antwortet er mir? ›Wenn du mir von allerlei Gesetzen vorschwatzen willst, dann bedenke gefälligst, daß du dafür nach der Gendarmeriekanzlei gebracht werden kannst. Da schiebt man dich bis zum Gürtel ins Kellerloch und dann setzt es Rutenhiebe mit zwei Bündeln zugleich. Dann hast du dein England.‹ Und damit schmeißt er sich wieder auf sein Bett. Jetzt war mir alles klar. Ich ging sofort zu Biziukins, um gleich alles Daria Nikolajewna zu erzählen, die ganz meiner Meinung war. Wie ich ihr gestern meine Vermutungen über den Diakon Achilla mitteilte, sagte sie sofort: ›Natürlich ist er ein Spion! In Ihrer gegenwärtigen, gefährlichen Lage muß es Ihre Hauptsorge sein, wieder in den Besitz der Knochen zu gelangen und sie dann aufs allereifrigste zu Lehrzwecken auszunutzen. Achilla kann sie jetzt bei Nacht noch nicht fortgeschafft haben, und wenn Sie sich gleich zu ihm schleichen, so können Sie sie wiederbekommen. Passen Sie nur auf, daß er Sie nicht erwischt, sonst könnte er Sie arg verhauen …‹«
»Verhauen?«
»So meinte sie, weil sie die Gewohnheiten des Achilla gut kennt, und fügte noch hinzu: ›Lassen Sie sich aber nicht[125] beirren. Nehmen Sie mein dickes, gemustertes Tuch und wickeln Sie es sich um den Hals. Auf den Kopf setzen Sie meine wattierte Winterkappe. Wenn er Sie dann wirklich ertappt und zuschlägt, so sind Sie geschützt und es tut Ihnen nicht weh.‹ Ich legte alles an und zog los. So kam ich denn zum zweitenmal in den Hof dieses Viehes. Der Hund schlug an, aber Daria Nikolajewna hatte auch das vorausgesehen und mir ein Stück Kuchen für den Köter mitgegeben. Ich fütterte ihn und ging weiter, bis ich vor mir einen Karren stehen sah. Ich stürze auf ihn zu, – und richtig, da lagen sie alle drinnen, alle meine Knochen.«
»Sie machten sich natürlich gleich an die Arbeit?«
»Versteht sich! Ich nahm die Kappe vom Kopf, wickelte die Knochen hinein und raste im schnellsten Tempo davon.«
»Und damit war die Geschichte zu Ende?«
»Zu Ende? Nein, jetzt war sie erst in vollem Gange. Soll ich weitererzählen?«
»Ich bitte darum!«
»Erst muß ich Ihnen noch erklären, wie und warum ich heute in die Kirche gekommen bin. Früh fährt Alexandra Iwanowna Serbolowa bei uns vor. Sie kennen sie sicher besser als ich. Sie ist strenggläubig und ihre Anschauungen sind überhaupt stark rückständig, aber sie unterstützt meine Mutter in diesem und jenem, und deshalb bringe ich das Opfer und vermeide es, mit ihr zu streiten. Aber wozu sage ich das? Ach ja, – wie sie gekommen war, sagte meine Mutter zu mir: ›Steh auf, mein lieber Warnaschenka, und begleite Alexandra Iwanowna zur Kirche, damit die Hunde des Akziseeinnehmers ihr nichts zu Leide tun.‹ So ging ich mit. Sie wissen, ich betrete die Kirche sonst nie; aber schließlich können mir weder Achilla noch Sawelij dort etwas anhaben, und so tat ich's eben. Aber wie ich da stehe, fällt mir plötzlich ein, daß ich meine Zimmertür nicht abgeschlossen habe. Ich laufe deshalb so schnell ich kann nach Hause, finde aber meine Mutter nirgends. Ich werfe einen Blick auf die Wand, – die Knochen sind weg!«
»Sie hatte sie begraben?«
»Jawohl!«
»Ohne Scherz?«
»Als ob man mit der Frau scherzen könnte! Ich bat und bettelte: ›Liebes, gutes Mütterlein, ich will Euch lieben und ehren, aber sagt mir, wo habt Ihr meine Knochen gelassen?[127]‹ ›Frage nicht, Warnascha, mein Liebling, sie haben jetzt Ruhe.‹ Ich versuchte, was ich konnte, ich weinte, drohte mit Selbstmord, versprach ihr endlich sogar, fortan jeden Tag zu beten, – es half alles nichts! Voller Wut ging ich zur Schule, fest entschlossen, heute nacht den Spaten zu nehmen, eins der alten Gräber hier auf dem Friedhof aufzugraben und mir ein neues Skelett zu verschaffen; denn diesen Triumph durfte ich der Bande nicht gönnen. Ich hätte es auch ganz bestimmt getan. Wäre das nicht ein sogenanntes Verbrechen gewesen?«
»Sogar ein großes.«
»Sehen Sie. Und wer hätte mich dazu gebracht? Die eigene Mutter! Sicher wäre es so gekommen, wenn nicht zu meinem Glück ein Junge in die Klasse getreten wäre, der erzählte, am Flußufer hätte ein Schwein Knochen ausgegraben. Ich stürze hin, fest überzeugt, daß es meine Knochen sind, – was auch der Fall war. Das Volk schwatzt von Wiederbegraben, ich jedoch jage das Pack zu allen Teufeln. Plötzlich höre ich den Achilla nahen. Ich raffe meine Knochen rasch zusammen und renne, was ich rennen kann. Achilla kriegt mich am Rock zu fassen. Ich wende mich um, – krach! Der Rockschoß ist zum Teufel. Achilla packt mich am Kragen, – wieder kracht's, und der Kragen ist auch zum Teufel. Nun hat er mich bei der Weste. Krach! Die Weste ist mitten entzwei gerissen. Er will mir nun an den Hals. Ich aber renne, was ich rennen kann, – und sitze jetzt hier und säubere die Knochen. Da kamen Sie und erschreckten mich von neuem. Ich meinte, es wäre Achilla.«
»Aber was denken Sie, Achilla wird doch nicht über Ihren Zaun steigen! Er ist doch Diakon.«
»Jawohl, Diakon! Sie haben gut reden. Der kümmert sich viel darum. Mir sagte der Kommissar Danilka gestern,[128] Achilla hätte beim Abschied zu Tuberozow geäußert: ›Nun, Vater Sawelij, bis ich diesen Warnawa kleingekriegt habe, sollt Ihr mich nicht Achilla den Diakon, sondern Achilla den Krieger nennen.‹ Mag er Krieg führen soviel er will, ich fürchte ihn nicht. Ich weiß jetzt, was ich zu tun habe. Ich bin nämlich zu der Überzeugung gekommen, daß ich hier nicht länger bleiben kann. Ich korrespondiere mit verschiedenen Leuten in Petersburg, von denen einer ein großes Unternehmen plant, an dem ich mitwirken kann. Freilich macht sich bereits auch dort die Gemeinheit breit, – und die gesinnungstüchtigsten Zeitungen fangen schon an, sich über die wachsende Begeisterung für die Naturwissenschaften lustig zu machen. Haben Sie es gelesen?«
»Ja, ich glaube etwas Ähnliches gelesen zu haben.«
»Aha! Also auch Ihnen leuchtet es ein! Nun sagen Sie mal, wozu haben sie uns denn dann immerfort dazu angetrieben, an Fröschen zu experimentieren und so weiter?«
»Das weiß ich nicht.«
»Das wissen Sie nicht? Nun, dann will ich es Ihnen sagen! Das soll den Leuten nicht so durchgehen! Ich packe meine Knochen zusammen, fahre nach Petersburg und hau sie ihnen einfach in die Fratzen, mitten in die Fratzen! Dann mögen sie mich vor ihren Friedensrichter schleppen –«
»Hahaha! Da tun Sie recht daran!« rief plötzlich die Serbolowa, die, von den beiden Männern unbemerkt, hinter einem Kirschstrauch gestanden hatte.
Prepotenskij schlug sein aufgeknöpftes Hemd über der Brust zusammen, richtete sich auf und sagte, indem er zugleich die ganz mit Ziegelstaub bestreuten Hosen mit der anderen Hand in die Höhe zog:
»Entschuldigen Sie, Alexandra Iwanowna, daß ich so mangelhaft bekleidet bin …«
»Macht nichts. Mit einem Arbeitsmann rechtet man nicht wegen seiner Toilette. Aber kommen Sie jetzt. Ihre Frau Mutter bittet, zum Essen zu kommen.«
»Nein, Alexandra Iwanowna, ich komme nicht. Ich kann mit meiner Mutter nicht mehr zusammenleben. Zwischen uns ist alles aus.«
»Sie sollten sich schämen, so zu reden. Ihre Mutter liebt Sie doch so sehr.«
»Ihr Vorwurf trifft mich nicht. Sie hält es mit meinen Feinden, sie vergräbt meine Knochen. – Wenn ich mir eine Zigarette an dem Lämpchen vor dem Heiligenbilde anzünde, spielt sie gleich die Gekränkte.«
»Warum müssen Sie aber auch Ihre Zigaretten ausgerechnet am Heiligenlämpchen anstecken? Als ob Sie nicht anderswo Feuer bekommen können!«
»Trotzdem ist das doch zu dumm!«
Alexandra Iwanowna lächelte und sagte:
»Besten Dank!«
»Sie meine ich doch nicht! Ich rede von dem Lämpchen. Feuer ist Feuer.«
»Eben darum können Sie Ihre Zigarette auch sonstwo anzünden.«
»Ach, man kann es ihr doch nie recht machen. Gestern gab ich unserem Hunde etwas Suppe von unserer Schüssel, da fängt die Mutter gleich jämmerlich an zu heulen und schlägt zuletzt vor Ärger die Schüssel in Stücke. ›Ich kann sie nun doch nicht mehr brauchen,‹ meint sie, ›da der Hund sie angerochen hat.‹ Ich bitte Sie, meine Herrschaften, – Sie, Valerian Nikolajewitsch, haben doch auch Physik studiert, kann man etwas ›anriechen‹?! Beriechen kann man eine Sache, herausriechen kann man etwas, – aber anriechen?! Nur ein kompletter Dummkopf kann so reden!«
»Sie hätten dem Hunde sein Essen aber auch in einem andern Gefäß geben können!«
»Gewiß. Aber warum?«
»Um Ihrer Mutter nicht weh zu tun.«
»Ach, so sehen Sie die Sache an! Meiner Ansicht nach ist alles Lavieren eines ehrlichen Menschen unwürdig.«
Die Serbolowa lachte leise, reichte Darjanow den Arm und beide gingen zum Essen, den Lehrer mit seinem Knochenhaufen allein lassend.
Die Hostienbäckerin Prepotenskaja, ein kleines altes Frauchen mit einem winzigen Gesicht und ewig erstaunten, gutmütigen Äuglein, über welchen die Brauen gleich Apostrophen hingen, bat Darjanow um Entschuldigung, daß sie sein Klopfen nicht gehört habe, beugte sich über den Tisch zu ihm hinüber und fragte flüsternd:
»Haben Sie meinen Warnascha gesehen?«
Darjanow bejahte.
»Er bringt mich zur Verzweiflung, Valerian Nikolajewitsch,« klagte die Alte.
»Was sorgen Sie sich deshalb so sehr? Er ist jung, und Jugend hat keine Tugend. Wenn er älter wird, wird er auch vernünftiger. Und wenn er erst eine Frau hat …«
»Eine Frau? Wie soll ich ihn denn dazu bringen, daß er heiratet? Das ist ganz unmöglich. Er ist ja ganz verdreht. An den lieben Gott glaubt er nicht; Fleisch und Milch genießt er an allen Fastentagen, sogar in der Karwoche, und ich muß Ihnen gestehen, lieber Freund, ich fürchte mich, besonders abends …«
Die schwarzen Apostrophe über den Äuglein der winzigen, ängstlichen Alten schoben sich unruhig hin und her. Sie zuckte zusammen und flüsterte:
»Und zu alledem, lieber Freund, habe ich immer schreckliche Träume, so daß ich beim Erwachen gleich bete: ›Sankt[132] Simeon, deute mir mein Traumgesicht.‹ Könnte ich mich mit jemand im Hause darüber aussprechen, so ertrüge ich es viel leichter; aber so bin ich immer und ewig allein mit den Totengebeinen. Ich fürchte keinen Toten, über dem die Gebete gesprochen sind, aber Warnascha erlaubt es ja nicht, daß ich die Gebete lesen lasse.«
»Zürnen Sie ihm nicht, er ist trotz alledem ein guter Kerl.«
»Gewiß, gut ist er schon. Ich will auch nichts Böses von ihm sagen. Ich war seine glückliche Mutter, und er war früher so gut gegen mich, bis er in die Philosophieklasse kam. Damals, wenn er zu den Ferien nach Hause kam, ging er auch in die Kirche, und ich führte ihn zum Vater Sawelij, und der Vater Sawelij war freundlich gegen ihn und half ihm auch in diesem und jenem, – bis es dann plötzlich über ihn kam, ich weiß selbst nicht wie und woher: er fing an, den Weisen zu spielen. Seitdem wurde es mit jedemmal, wenn er aus dem Seminar kam, schlimmer und schlimmer. Sagen Sie, was Sie wollen, ich kann es mir nicht anders erklären, als daß er behext ist. Vater Zacharia hat mir neulich aus dem ›Familienblatt‹ vorgelesen, wie ein Sohn aus gutem Hause vom Teufel besessen war, so daß zehn Mann nicht mit ihm fertig werden konnten. Gerade so ist es mit Warnawa auch.«
Die Alte sprang auf, schlüpfte in die Küche, wischte sich dort die Tränen aus den Augen, kam wieder ins Zimmer zurück und berichtete weiter:
»Ich will es Ihnen nur gestehen, ich gebe ihm jeden Tag geweihtes Wasser zu trinken. Er weiß natürlich nichts davon und merkt es nicht. Ich geb's ihm aber. Es hilft nur leider nichts, und eine Sünde ist es auch. Vater Sawelij sagt immer wieder, er verdiente, irgendwohin nach Taschkent verschickt zu werden. Warum soll man es denn nicht noch[133] einmal mit Güte versuchen? denke ich. Er aber meint, mit Güte sei da nichts zu machen, weil ihm alle natürlichen Gefühle fremd sind. Aber wenn auch, mir ist es doch leid um ihn.« Und die Hostienbäckerin verschwand wieder.
»So ein unglückliches Wesen,« sagte die junge Frau leise.
»Ja, freilich,« stimmte Darjanow ihr bei. »Und der Rüpel spielt noch Komödie und kommt nicht mal zum Essen.«
»Gehen Sie doch noch mal hinaus und holen Sie ihn.«
»Er ist ja so störrisch wie ein Pferd und wird nicht kommen.«
»Das wollen wir doch sehen. Sagen Sie ihm, ich befehle es, ich sei Agent der Geheimpolizei und wünschte ihn sofort hier zu sehen, widrigenfalls ich Meldung mache, daß er nach Petersburg zu ziehen beabsichtige.«
Darjanow lachte und ging hinaus, um Warnawa zu holen. Inzwischen hatte der Lehrer seine Schätze in Sicherheit gebracht, und da die Arbeit seinen Appetit mächtig angeregt hatte, fiel es ihm nicht leicht, sich charakterfest zu zeigen und die Aufforderung zum Essen zurückzuweisen.
Um den freiwilligen Märtyrer aus seiner schwierigen Lage zu bringen, beugte sich der Abgesandte an sein Ohr und flüsterte ihm mit geheimnisvoller Miene zu, was die Serbolowa gesagt hatte.
»Sie Spionin!« rief Warnawa und wurde ganz rot.
»Ja.«
»Und vielleicht –«
»Was?«
»Vielleicht auch Sie …«
»Ja, ich auch.«
Warnawa drückte ihm freundschaftlich die Hand:
»Ich danke Ihnen, daß Sie kein Geheimnis daraus machen.«
Dann ging er mit reinem Gewissen zum Mittagessen.
»Ich muß Ihnen ja gehorchen …«
Der Plan war also gelungen. Warnawa hatte jetzt einen Vorwand zum Essen zu kommen, ohne seiner Würde etwas zu vergeben. Er trat ins Zimmer mit der Miene eines unglücklichen Opfers feindlicher Gewalten und setzte sich an das schmale Ende des Tisches, Darjanow gegenüber. Zwischen ihnen, an der Längsseite, nahm Alexandra Iwanowna Platz, während die vierte Seite frei blieb. Die Hostienbäckerin selbst setzte sich fast nie mit ihrem Sohne zu Tisch, und auch jetzt begnügte sie sich damit, die Gäste zu bedienen, ohne mitzuessen. Die Alte war entzückt, ihren gelehrten Sohn wiederzuhaben, Freude und Kummer wechselten auf ihrem Antlitz, ihre Augenlider waren gerötet, die Unterlippe zitterte leise und ihre alten Füßchen gingen nicht, sondern liefen in großer Hast, wobei sie unausgesetzt bemüht war, sich so zu stellen und zu wenden, daß man ihr Gesicht nicht sehen konnte.
Die Gäste suchten durch allerlei Listen die Alte zum Bleiben zu bewegen, und lobten ihre Kochkunst. Aber die Gute wies alles Lob zurück und meinte, sie verstünde nur die allereinfachsten Speisen zu bereiten.
»Aber gerade diese einfachen Speisen schmecken uns ausgezeichnet.«
»Ach, wie sollen sie schmecken! Bloß gesund sollen sie sein, sagt man. Aber Gott weiß, ob dem wirklich so ist. Warnawa[135] ißt doch immer, was ich gekocht habe, – und sehen Sie ihn bloß an: ganz wie leer ist er.«
»Hm!« brummte Warnawa, sah die Mutter vorwurfsvoll an und schüttelte den Kopf.
»Ach Gott, was willst du wieder? Wirklich, Warnawa, du bist leer.«
»Sagt das doch noch einmal!« knurrte der Lehrer.
»Es ist doch nichts Kränkendes, Warnascha! Milch trinkst du morgens bis zur Unendlichkeit; Tee mit Weißbrot nimmst du auch bis zur Unendlichkeit; Braten und Grütze auch, – aber wenn du vom Tische aufstehst, bist du wieder leer bis zur Unendlichkeit. Das ist doch sicher eine Krankheit. Ich sage dir schon, lieber Sohn, hör' auf mich …«
»Mutter!« unterbrach sie der Lehrer zornig.
»Was ist denn dabei, Warnascha? Ich sage dir, wenn du frühmorgens aufstehst, mußt du beten: ›Herr Gott, fülle meine Leere‹ – und dann erst essen …«
»Mutter!« rief Warnawa noch lauter.
»Was ärgerst du dich denn, Närrchen? Ich sage dir, du mußt beten: ›Herr Gott, fülle meine Leere‹ und dann ein Stückchen geweihte Hostie essen, denn, Sie müssen wissen,« wandte sie sich an die Gäste, »ich hole mir immer für ihn und für mich je ein Stückchen von der Hostie aus der Kirche, damit wir einst drüben in demselben Zelt sind. Aber er will es nie essen. Warum?«
»Warum? Ihr wollt wissen, warum? Schön! Weil ich mit Euch nirgends zusammen sein will, weder in dieser noch in irgendeiner andern Welt!«
Ehe noch der Lehrer diese Worte gesprochen hatte, erbleichte die Alte. Sie zitterte so, daß die beiden Fayenceteller, welche sie in der Hand hielt, ihr entglitten und klirrend in Scherben zersprangen.
»Warnascha,« rief sie, »du sagst dich los von mir?«
»Ja, ja, ja, ich sage mich los! Ihr seid mir auch hier schon zuwider, und mich verlangt nicht im mindesten darnach, Euch noch in jener Welt auf dem Halse zu haben.«
»St! St! St!« suchte die Alte bitterlich weinend ihn zu unterbrechen, und fing an, dicht vor seinem Gesicht in die Hände zu klatschen, damit sie seine furchtbaren Worte nicht höre. Jedoch Warnawa schrie viel lauter, als seine Mutter klatschte. Da stürzte sie zum Heiligenbild und rief außer sich, mit den gespreizten Fingern ihrer mageren Hände fuchtelnd:
»Höre ihn nicht, Gott, höre ihn nicht, höre ihn nicht!«
Und dann fiel sie schluchzend in der Ecke vor dem Bilde zu Boden.
Diese traurige und ganz unerwartete Szene hatte alle Anwesenden in Erregung versetzt, ausgenommen Prepotenskij. Der Lehrer blieb völlig ruhig und aß mit seinem gewöhnlichen, nie versagenden Appetit. Die Serbolowa war aufgestanden und der Alten, welche aus dem Zimmer stürzte, gefolgt. Darjanow sah durch die offene Tür, wie die Hostienbäckerin Alexandra Iwanowna umarmte. Er stand auf, schloß die Tür und stellte sich ans Fenster.
Prepotenskij aß ruhig weiter.
»Wann fährt Alexandra Iwanowna nach Hause?« fragte er, gemächlich kauend.
»Sobald die Hitze nachläßt,« antwortete Darjanow trocken.
»Erst!« sagte Prepotenskij gedehnt.
»Ja, Tuberozow will sie hier noch aufsuchen.«
»Tuberozow? Bei uns? In unserem Hause?«
»Ja, in Ihrem Hause. Aber er kommt nicht zu Ihnen, sondern zu Alexandra Iwanowna.«
Darjanow stand während dieses Gespräches mit dem Rücken zu Prepotenskij und blickte in den Hof hinaus, aber bei den[137] letzten Worten wandte er sich um und fügte mit einem kaum merklichen Lächeln hinzu:
»Es scheint, Sie haben eine Mordsangst vor Tuberozow.«
»Ich? Ich Angst vor Tuberozow?«
»Ja freilich. Es sieht so aus, als wäre sogar Ihre Nase ganz grün geworden, wie ich sagte, er wolle hierher kommen.«
»Meine Nase grün geworden? Ich versichere Sie, das kommt Ihnen nur so vor. Wie wenig ich ihn fürchte, will ich Ihnen heute noch beweisen.«
Mit diesen Worten erhob sich Prepotenskij und ging hinaus. Der Gast ahnte nicht, was für kühne Gedanken in diesem Augenblick im verzweifelten Gehirn Warnawas keimten und reiften. Der geneigte Leser aber soll es im nächsten Kapitel erfahren.
Nachdem er das Zimmer verlassen, schlüpfte Prepotenskij in eine kleine Scheune, entledigte sich seiner Oberkleider und kletterte auf den Heuboden. Mit großer Anstrengung schob er zwei Deckbretter auseinander und kroch durch den ziemlich engen Spalt in einen kleinen, von außen verschlossenen Speicher. Bunt durcheinander lagen dort Töpfe und Bütten, an der Decke hing ein Schinken, auf Stöckchen waren Bündel von Bohnenkraut, Pfefferminz und Dill gespießt. Der Lehrer ließ alle diese Gegenstände unberührt. Er stieg auf eine hohe Truhe aus Tannenholz mit schrägem Deckel und holte einen großen, leicht gewölbten Trog herunter, der so blank wie das Schaufenster eines Spiegelgeschäfts gescheuert war. Mit dem Trog kroch er wieder in die Scheune zurück, wo er die unseligen Totengebeine sehr geschickt versteckt hatte.
Niemand dachte daran, dem Lehrer nachzuspüren, er aber war es schon so gewohnt, seine »Lage« für »gefährdet« zu halten, daß er sich nirgends sicher fühlte. Immer mußte er sich verkriechen und verstecken, weil er dachte, sonst wäre es ihm unmöglich, sein Unternehmen zu beginnen und im geeigneten Augenblick mit allem Pomp zur Ausführung zu bringen.
Eine Stunde mochte seit Warnawas Verschwinden vergangen sein, und es begann zu dämmern, als der Ring an[139] dem wackeligen Pförtchen der Prepotenskijschen Behausung klirrte.
Tuberozow war gekommen. Warnawa hörte in seiner Scheune, wie unter dem festen Tritt des beleibten Propstes die Stufen des alten Holztreppchens knarrten und sich bogen, und wie der Gast die Serbolowa und die alte Hostienbäckerin begrüßte.
»Nun, meine liebe Witwe von Nain, was macht dein gelehrter Sohn?« wandte sich Vater Sawelij an die Alte, die eben den kleinen weißen Tisch auf die offene Veranda hinaustrug, wo die Gäste den Tee trinken sollten.
»Mein Warnascha? Gott weiß, Vater Propst. Er hat wohl Angst bekommen und sich irgendwo vor Euch versteckt.«
»Du lieber Himmel, was hat er denn von mir zu fürchten? Er sollte sich lieber mehr um sich selber kümmern und vorsichtig sein,« und Tuberozow erzählte Darjanow und der Serbolowa von den nächtlichen Abenteuern Achillas.
»Wer hat ihn darum gebeten? Wer hat es ihm befohlen?« fragte der Alte und antwortete selbst: »Niemand! Er hat es ganz für sich allein beschlossen, mit Warnawa Wasiljewitsch abzurechnen, und die ganze Stadt haben sie in Aufregung versetzt.«
»Habt Ihr es ihm denn nicht befohlen, Vater Propst?« fragte die Alte.
»Wie käme ich dazu, solche Dummheiten zu befehlen?« erwiderte Tuberozow und fing von anderen Dingen zu reden an. So verging noch eine halbe Stunde und die Gäste brachen auf. Warnawa war immer noch unsichtbar, aber als der Wagen der Serbolowa vorfuhr, flog die Pforte der Scheune, in welcher der Lehrer sich verborgen hielt, weit auf, und langsam und feierlich schritt Warnawa Prepotenskij auf die erstaunten Gäste zu.
Er trug seine gewöhnliche Kleidung und hielt in beiden Händen hoch über seinem Haupte den neuen Waschtrog, den er der Mutter geraubt und in dem jetzt in schönster symmetrischer Anordnung die wohlbekannten Gebeine lagen.
Ehe noch jemand begreifen konnte, was die Erscheinung des Lehrers mit dieser seltsamen Trophäe zu bedeuten hatte, war Prepotenskij bereits majestätisch an der Veranda vorübergeschritten, hatte dem dort stehenden Tuberozow die Zunge gezeigt und war dann über den Friedhof auf die Straße hinausgegangen.
Die Hostienbäckerin zitterte am ganzen Leibe, kaute krampfhaft an den Spitzen ihrer fest zusammengedrückten Finger und flüsterte:
»Was hat er da? Was trägt er durch die Stadt?«
Als sie es endlich begriffen hatte, heulte sie laut auf und stürzte mit einer Geschwindigkeit, die man ihren Jahren gar nicht zugetraut hätte, dem Sohne nach. Die Alte hüpfte und hopste, wie gewisse Vögel, die, bevor sie auffliegen, erst einen Anlauf nehmen müssen. Trotzdem Warnawa langsam schritt, erschien es fraglich, ob die Hostienbäckerin selbst bei diesem schnellen Tempo imstande sein werde, ihren Sprößling einzuholen, der schon am entgegengesetzten Ende der Straße angelangt war. Allein ein unerwartetes Ereignis, durch das die ganze Prozession und die Verfolgung eine völlig neue Wendung nehmen sollte, trat ein.
Irgendwo von oben her ertönte plötzlich ein lautes und lustiges:
»Hallo! Hurra! Nicht hauen! Nicht hauen! Nicht hauen!«
Die Zeugen dieser Szene sahen sich nach der Richtung um, aus welcher das Geschrei kam, und erblickten auf dem Vorsprung eines der Nachbardächer einen zerlumpten Kerl, der in der Hand eine dünne Stange hielt, wie sie Taubenzüchter[141] brauchen, um ihre Tümmler aufzuscheuchen. Dieser Schreier war der Ausrufer und das Faktotum von Stargorod, der Proletarier und beschäftigungslose Kleinbürger Danilka, den sie in der Stadt den »Kommissar« nannten. Er war just mit seinen Tauben beschäftigt und benutzte die Gelegenheit, um spaßeshalber auch den Lehrer zu erschrecken. Diesen Zweck erreichte er vollkommen, denn kaum hatte Prepotenskij den Warnungsruf vernommen, so schlug er sofort ein schnelleres Tempo an und stürmte wie ein gehetztes Reh vorwärts. Aber während er einer Gefahr zu entgehen hoffte, lief er einer andern, weit schlimmern in die Arme; denn an der nächsten Wegkreuzung tauchte vor den entsetzten Blicken des Lehrers in Riesengröße – er schien heute viel gewaltiger als gewöhnlich – der grimme Diakon Achilla auf.
Wie sagt das Sprichwort? Links die Backpfeife und rechts der Rippenstoß.
Kaum hatte der arme Lehrer den Diakon erblickt, so knickten seine Knie kraftlos zusammen. Doch schon im nächsten Augenblick reckten sie sich wieder auf wie Sprungfedern, und mit drei mächtigen Sätzen legte er eine Entfernung zurück, die ein normaler Mensch in zehn Sprüngen nicht hätte überwinden können. Dadurch schien Warnawa gerettet, denn er befand sich jetzt gerade unter dem Fenster der Gattin des Akziseeinnehmers Biziukin, und zu seinem großen Glück stand die aufgeklärte Dame selbst am offenen Fenster.
»Nehmen Sie dies!« rief Prepotenskij ganz außer Atem.
»Ich werde verfolgt von Spionen und Pfaffen!«
Bei diesen Worten schob er den Trog mit den Knochen zum Fenster hinein, er war aber selbst so erschöpft, daß er sich nicht mehr rühren konnte und an die Mauer lehnen mußte. Im selben Augenblick stand auch schon Achilla, ebenfalls ganz außer Atem, neben ihm und packte seinen Arm.
Sein Blick traf mitten auf der Straße zwei aus dem Staube emporragende menschliche Rippen. Sich zu Prepotenskij wendend sagte er:
»Warum hebst du deine Astragalusse nicht auf?«
»Tretet beiseite, dann will ich sie aufheben.«
»Gut, ich will zurücktreten,« – und der Diakon ging an das Fenster, stellte sich auf die Zehenspitzen, guckte ins Zimmer hinein und fuhr fort:
»Hören Sie mal, Frau Rätin, Sie tun sehr unrecht, wenn Sie sich für diesen Lehrer so ins Zeug legen.«
Statt der erwarteten Antwort der »Rätin« erschien der liberale Akziseeinnehmer Biziukin selbst am Fenster und hielt dem Diakon den kahlen Schädel des Skeletts vor Augen.
»Sei mal so gut und lege das Ding fort, sonst werde ich böse,« entgegnete Achilla höflich. Von innen ertönte nur ein höhnisches Gelächter, und der Einnehmer ließ den Schädel laut und schauerlich mit den Zähnen klappern.
»Ich schlag euch alle zu Brei,« brüllte Achilla, indem er mit beiden Händen einen mächtigen Stein packte, der neben dem Fundament lag und gut zwei Zentner wiegen mochte. Im selben Augenblick, als er mit flammenden Augen dieses ungeheure Geschoß emporhob, um es gegen seine Widersacher zu schleudern, fiel ihm von hinten jemand in den Arm, und eine bekannte Stimme rief gebieterisch:
»Laß liegen!«
Es war Tuberozow. Mit strengem Gesicht, schwer atmend und zitternd vor Erregung stand Propst Sawelij vor ihm. Achilla gehorchte. Noch einen zornigen Blick aus seinen vor Wut geröteten Augen warf er auf den Einnehmer, dann schleuderte er den Stein mit solcher Wucht zur Seite, daß er einen Zoll tief in den Boden drang.
»Geh nach Hause,« flüsterte ihm Sawelij zu und wandte sich selbst zum Gehen.
Achilla widersetzte sich auch diesem Befehl nicht und schlich leise und niedergeschlagen, wie ein sonst artiger Schulbub, der bei einem dummen Streich ertappt worden ist, von dannen.
»Gott, was für eine alberne und ärgerliche Geschichte,« sagte Tuberozow, mühsam nach Luft schnappend, zu Darjanow, der ihn inzwischen eingeholt hatte.
»Macht Euch keine unnützen Gedanken, die Sache wird weiter keine Folgen haben.«
»Wieso keine Folgen? Die Folge wird sein, daß Achilla vor Gericht kommt. Haben Sie denn nicht gehört, was er schrie, als er mit dem Stein drohte? Er wollte sie alle zu Brei schlagen!«
»Ihr werdet sehen, alles löst sich in Wohlgefallen und Lachen auf.«
»Nein, das glaube ich nicht. Hier gibt es nichts zum Lachen. Es handelt sich um eine große Dummheit, die gemeine Menschen zu ihren Zwecken ausnutzen können.«
Der Propst beschleunigte seine Schritte und eilte nach Hause, indem er mit seinem langen Stabe zornige Zickzacklinien durch den Straßenstaub zog.
Im nächsten Buche unserer Chronik werden wir sehen, was für Folgen diese Begebenheit hatte und wer von den beiden Propheten im Recht war.
Der Tag des heiligen Methodius von Pesnosch war vorüber und der erwachende Morgen verhieß einen heiteren und stillen Tag.
Tuberozow, von der Messe zurückgekommen, saß beim Tee, auf demselben Sofa, auf dem er nachts geschlafen, und vor demselben Tisch, an dem er seine Memorabilien geschrieben hatte. Die Pröpstin bediente ihren Gatten, um dessen Ruhe sie so besorgt war, daß sie ihm alles an den Augen abzusehen suchte und nicht wagte, durch irgendeine Frage seine ernsten Gedanken zu stören. Flüsternd befahl sie dem Dienstmädchen, die beiden Pfeifen des Propstes mit Shukowschem Knaster zu stopfen und sie in den Ständer in der Ecke zu stellen, und dann setzte sie sich ihm gegenüber und wartete, das Kinn auf die Hand gestützt, bis der Propst das erste Glas geleert habe und ein zweites verlangen würde.
Aber ehe es so weit war, wurde ihre Aufmerksamkeit durch einen ungewöhnlichen Lärm ganz in der Nähe des Hauses abgelenkt. Man vernahm hastige Schritte und wirre Stimmen, die sich hin und wieder zu wütendem Geschrei verdichteten.[146] Die Pröpstin schaute zum Fenster ihres Schlafzimmers hinaus und sah, daß Lärm und Geschrei von einer Menschenmenge herüberdrangen, welche sich mit großer Hast geradewegs auf ihr Haus zu bewegte.
»Was kann das sein?« dachte die Pröpstin, ging ins Wohnzimmer zurück und sagte ihrem Manne:
»Sieh doch, Vater Sawelij, was da für eine Menge Leute kommt.«
»Leute gibt es viel, meine Liebe, aber es sind keine Menschen darunter,« antwortete Sawelij ruhig.
»Nein, du solltest wirklich hinaussehen, es sind ihrer furchtbar viele.«
»Laß sie doch rumlaufen, soviel sie wollen; gib mir lieber noch ein Gläschen Tee.«
Die Pröpstin nahm sein Glas, füllte es, reichte es ihm und trat wieder ans Fenster. Der lärmende Haufe war verschwunden. Nur drei oder vier aus ihm standen noch herum und blickten mit offenkundiger Verlegenheit nach dem Tuberozowschen Hause.
»Um Gotteswillen, brennt es nicht irgendwo bei uns, Vater Sawelij!« rief die Pröpstin und stürzte entsetzt ins Zimmer ihres Gatten, aber schon an der Schwelle blieb sie stehen und begriff endlich, was eigentlich geschehen war.
Die Tür zum Wohnzimmer ging lärmend auf und in der Wohnstube des Propstes erschien der Diakon Achilla, und dicht hinter ihm, feuerrot und ganz verwirrt, der Kommissar, welchen Achilla fest am Ohr hielt.
»Vater Propst,« begann Achilla, indem er Danilka losließ und die Hände dem Propst entgegenstreckte.
Tuberozow segnete ihn.
Hierauf trat auch Danilka vor Sawelij hin und nahm den Segen in Empfang.
Nachdem dies geschehen war, packte der Diakon ihn wieder fest am Ohr, riß ihn zwei Schritte zurück und fing an:
»Stellt Euch vor, Vater Sawelij, eben gehe ich die Straße entlang, da höre ich laut reden. Ein paar Kleinbürger sprechen vom gestrigen Regen, den uns der liebe Gott auf unseren Bittgottesdienst gesandt hat, – und jener dort« – Achilla stieß den Zeigefinger seiner linken Hand dem ängstlich zwinkernden Danilka gerade in die Nase – »wagt zu widersprechen!«
Tuberozow hob den Kopf.
»Denkt nur, er behauptete,« fuhr der Diakon fort und zog Danilka näher zu sich heran, »er behauptete, der Regen, den wir vorige Nacht nach dem Bittgottesdienst gehabt hätten, sei gar nicht infolge des Gottesdienstes gekommen.«
»Woher weißt du denn das?« fragte Tuberozow trocken.
Danilka schwieg verlegen.
»Denkt doch bloß, Vater Propst! Er behauptet, der Regen sei einfach kraft eines Naturgesetzes gekommen.«
»Zu welchem Zwecke hast du die Betrachtungen angestellt?« fragte Tuberozow.
»Ein Zweifel regte sich in mir,« antwortete Danilka bescheiden.
»Zu zweifeln hat ein so kompletter Ignorant, wie du, überhaupt nicht, und also hat der Täter seinen Lohn dahin. Du hast bekommen, was du verdientest. Und nun hinaus aus meinem Hause, du Schwätzer.«
Nachdem der Freigeist Danilka auf diese Weise an die Luft befördert war, nahm der Propst wieder am Teetisch Platz, trank sein Glas schweigend aus, und als er damit fertig war, wandte er sich an den Diakon Achilla. »Und du, Vater Diakon, – hast du die Absicht, noch lange so zu wüten? Hab' ich dich nicht ermahnt, deine Hände davon zu halten?«
»Es geht nicht, Vater Propst; ich konnte mich nicht bezwingen; ich wollte Euch schon längst davon Mitteilung machen, wie er – denkt nur – immer gegen die Gottheit und gegen die Schrift redet.«
»Und da mußtest du dich vor allem Volke mit ihm prügeln?«
»Und wenn's auch vor allem Volke war, – was ist denn dabei, Vater Propst? Ich bin ein Diener des Altars und muß an jedem Ort für meinen Glauben eintreten. Der heilige Nikolaus hat dem Ketzer Arius auch vor allem Volke eins ausgewischt …«
»Du bist aber nicht der heilige Nikolaus,« fiel ihm Tuberozow ins Wort. »Du bist eine simple Krähe, verstehst du, und als solche hast du dich nicht um Dinge zu kümmern, die dich nichts angehen. Was hast du mit deinem Knüppel so zu fuchteln? Du hast wohl vergessen, daß ein Knüppel zwei Enden hat? Du verläßt dich immer auf deine Kraft, du Dromedar!«
»Das tu ich.«
»Tust du's? Nun, so tu es lieber nicht. Nicht deine Kraft hat dich gerettet, sondern das da,« – sagte der Propst und zog den Diakon am Ärmel seiner Kutte.
»Wollt Ihr mir das zum Vorwurf machen, Vater Propst? Ich bin mir der Würde meines Amtes bewußt.«
»So? Du bist dir der Würde deines Amtes bewußt?«
Mit diesen Worten trat der Propst dem Diakon einen Schritt näher, schlug sich mit der flachen Hand auf das Knie und flüsterte:
»Ist es Euch vielleicht bekannt, Vater Diakon, wer mit den Handlungsgehilfen vor dem Kolonialwarenladen sitzt und Zigaretten raucht?«
Der Diakon wurde verlegen und erwiderte hastig:
»Ja, gewiß hab' ich, Vater Propst … Ich kann's nicht leugnen … Aber das geschah nur aus Unvorsichtigkeit, Vater Propst, wirklich nur aus Unvorsichtigkeit.«
»Seht nur, ihr Leute, was wir für einen feinen Diakon haben, wie famos er die Zigaretten zu drehen versteht.«
»Nein, wirklich, Vater Propst, nicht deswegen war es. Was hätt' ich mich groß damit zu rühmen? In bezug auf das Tabakskraut sind auch andere geistliche Personen nicht sehr enthaltsam.«
Tuberozow maß den Diakon von Kopf bis zu Fuß mit einem sehr vielsagenden Blick, dann warf er den Kopf zurück und fragte:
»Was willst du damit sagen? Daß der Propst auch Tabak raucht, nicht wahr?«
Der Diakon war so verlegen, daß er nichts zu erwidern vermochte.
Tuberozow wies mit der Hand nach der Zimmerecke, wo seine drei Pfeifen standen.
»Was rauche ich wohl, Vater Diakon?«
Der Diakon schwieg.
»Habt die Güte, mir Antwort zu geben. Was rauche ich? Rauche ich Pfeifen?«
»Ihr raucht Pfeifen,« antwortete der Diakon.
»Pfeifen? Ausgezeichnet. Und wo rauche ich sie? Rauche ich sie zu Hause?«
»Ihr raucht sie zu Hause.«
»Manchmal rauche ich auch eine bei guten Freunden, die ich besuche.«
»Ihr raucht auch manchmal bei guten Freunden.«
»Aber nicht mit Ladenjungen vor dem Tor!« rief Tuberozow und schlug mit dem rechten Zeigefinger drohend gegen die linke Handfläche. »Geh jetzt deines Weges und[150] hab' Acht auf dich,« schloß er. »Es kommt eine neue Ordnung, es wird ein neues Gerichtsverfahren eingeführt, es kommen neue Gebräuche, nichts soll mehr im Verborgenen bleiben, sondern alles offenbar werden; dann werde ich dich nicht mehr schützen können.«
Nach diesen Worten trat der Propst mit seinem großen Fuß auf einen Strohstuhl und langte vorsichtig den gelben Käfig mit dem Kanarienvogel herunter.
»Pfui! Daß Gott sich erbarme! Da hab' ich den Glauben verteidigen wollen und wieder war's ein Reinfall!« brummte Achilla vor sich hin, als er das Haus des Propstes verlassen hatte und mit schnellen Schritten auf ein kleines gelbes Häuschen zuging, aus dessen offenen Fenstern ein ganzer Haufen blonder Kinderköpfchen herausguckte.
Der Diakon stieg eilig die Verandastufen hinauf, trat ins Vorhaus und öffnete, nachdem er mit der Stirn erst gegen den Querbalken gerannt war, die Tür zum Wohnzimmer.
In dem niedrigen Raume ging der dürre, winzige Zacharia im Leibrock, die Hände auf dem Rücken, eine lange silberne Kette auf der eingefallenen Brust, auf und ab.
Achilla betrat dieses Haus mit einem ganz anderen Gesicht und in ganz anderer Haltung, als das des Propstes. Die Verwirrung, in der er sich befunden hatte, als er das Haus Tuberozows verließ, war geschwunden, und schon erfüllten ihn eitel Milde und Güte.
»Nun, Vater Zacharia! Nun, Brüderlein, liebes … Nun!« begann er ungeduldig in der Tür.
»Was gibt's?« fragte Zacharia mit sanftem Lächeln. »Was drehst und windest du dich so?« Und ohne eine Antwort abzuwarten, begann der dürre Pfarrer wieder auf- und abzulaufen.
Der Diakon brach erst in ein lustiges Lachen aus und rief dann:
»Ach, Freundchen, hat das wieder eine Kopfwäsche gegeben! Ach, Vater, sogar der Schädel tut mir weh von der Seife. Kann ich mal fix einen kippen?«
»Einen kippen? Schön! Aber wer hat dich denn vorgekriegt?«
»Wer sonst als der Justizminister!«
»Vater Sawelij!«
»Eben der! Es ist eine ganz ungewöhnliche Sache, Vater Zacharia. Ich wollte mich verdient machen, aber er hat alles herumgedreht, durcheinandergeschmissen. Erzählen läßt es sich gar nicht.«
Aber nachdem der Diakon sich gesetzt und das ihm auf einem Teller präsentierte Gläschen Branntwein geleert hatte, erzählte er Vater Zacharia doch die ganze Geschichte seines Konflikts mit Danilka und mit Tuberozow in allen Einzelheiten. Zacharia hüpfte währenddem unausgesetzt im Zimmer hin und her und blieb nur stehen, um bald den einen, bald den andern der herumhuschenden Blondköpfe aus dem Wege zu räumen. Als der Diakon seine Erzählung beendet hatte, brummte Zacharia, das Ende seines dünnen Bartes zwischen die Lippen geklemmt, bedeutungsvoll: »Ja, ja, ja, aber das tut nichts.«
»Ich kann mir's nicht anders denken, als daß er erzürnt ist und …«
»Und was noch? Packt euch raus, ihr Bälger! Also was noch?« fragte Zacharia, die Kinder zur Seite schiebend.
»Daß es unpolitisch von mir war, die Pfeife zu erwähnen,« erklärte der Diakon.
»Ja natürlich … versteht sich … zum Teil mag auch das … Weg mit euch, ihr Bälger! … Übrigens glaube ich,[152] daß er nicht so sehr unzufrieden mit dir ist … Er ist vielmehr … nehme ich an … Wollt ihr wohl Platz machen, ihr Bälger! … Ich meine, daß er in seinem Herzen … verstehst du?«
»Betrübt ist?« sagte der Diakon.
Vater Zacharia fuhr sich mit der kleinen Hand über die Brust, zog ein saures Gesicht und sagte:
»Empört ist.«
»Gepeinigt,« entschied Achilla. »Ich weiß, der Lehrer Warnawka bringt ihn immer in Zorn, aber ich nehme mir den Warnawka noch einmal ordentlich vor – – und so weiter.«
Und ohne sich in weitere Auseinandersetzungen einzulassen, verabschiedete sich der Diakon und ging.
Auf dem Heimwege traf er Danilka und hielt ihn an:
»Sei so gut, lieber Danilka, und zürne mir nicht. Wenn ich dich gestraft habe, so geschah es nur in Erfüllung meiner Christenpflicht.«
»Ihr habt mich vor dem ganzen Volke gekränkt, Vater Diakon,« antwortete Danilka in einem Tone, der zwar noch immer beleidigt, aber doch auch schon ein wenig nach Friedensbereitschaft klang.
»Nun, was willst du mir dafür tun, daß ich dich gekränkt habe? Ich weiß, daß es eine Kränkung war, aber wenn ich streng bin … Ich habe es ja nicht aus Frechheit getan. Schon im vorigen Jahr, als ich dich ertappte, wie du im Vorhause beim Polizeichef das Meßgewand des Propstes angelegt hattest und den Weihwasserwedel schwenktest, sagte ich zu dir: ›Du kannst über die Schrift philosophieren, soviel du willst, Danilka, von der Wissenschaft verstehe ich selbst nicht viel, aber den Ritus darfst du mir nicht antasten.‹ – Hab' ich das gesagt oder nicht?«
Danilka schüttelte widerwillig den Kopf und brummte:
»Vielleicht habt Ihr so was gesagt.«
»Nein, mein Lieber, keine Winkelzüge! Gestehen sollst du! Ich hab' es deutlich ausgesprochen: den Ritus nicht antasten, und damit basta! Und warum sagte ich das? Weil es unser Lebensinhalt ist, unsere Wesenheit, deshalb hast du auch deine Finger davon zu lassen. Hast du mich verstanden?«
Danilka drehte sich nur zur Seite und lächelte. Ihm selbst war es furchtbar komisch vorgekommen, als der Diakon ihn am Ohr durch die ganze Stadt zerrte, und die andern Kleinbürger, welche Zeugen dieser Szene waren, hatten, im Scherz und mühsam das Lachen verbeißend, dem Diakon ebenfalls übermäßige Strenge vorgeworfen.
»Ihr seid zu streng, Vater Diakon! Ihr seid übermäßig streng,« hatten sie ihm gesagt.
Achilla machte nach dieser Bemerkung ein nachdenkliches Gesicht, und mit einem tugendhaften Seufzer seine Hände auf die Schultern der beiden zunächst stehenden Kleinbürger legend, meinte er:
»Streng, sagt ihr? Ja, gewiß bin ich streng, da redet ihr wahr. Aber dafür bin ich auch gerecht. Wenn nun diese Sache vor den Friedensrichter käme? Da ginge es doch viel schlimmer. Er knöpft einem sofort drei Rubel zum Besten der Kinderbewahranstalten ab.«
»Wer weiß? Mancher Friedensrichter gibt einem dafür noch einen Rubel Trinkgeld.«
»Na siehst du wohl! Ich weiß, daß ich gerecht bin, mein Lieber.«
»Gerecht? Ach nein, Vater Diakon, Eure Gerechtigkeit ist nicht weit her!«
»Wieso?«
»Weil doch der Danilka gar nicht so viel Schuld hat. Er hat doch nur wiederholt, was der gelehrte Mann ihm sagte.[154] Wenn's nach Recht ginge, müßtet Ihr den Lehrer Warnawa zur Vernunft bringen. Er hat uns das erklärt, Danilka hat bloß gezweifelt, ob der Lehrer recht hat und der Regen von selber durchs Naturgesetz gekommen ist, oder ob ihn doch der Bittgottesdienst hervorgerufen hat. Wenn Ihr den Lehrer durchgewalkt hättet, so wäre das nur recht und billig gewesen.«
»Den Lehrer?!« Der Diakon breitete die Arme weit aus, schob die Lippen rüsselförmig vor, stand einen Augenblick vor den Kleinbürgern und flüsterte dann: »Gerecht? Ja, die Gerechtigkeit verlangt es … Aber Vater Sawelij will es nicht … und also ist es unmöglich …«
Mehrere Tage waren vergangen. Tuberozow hatte sich überzeugt, daß seine Befürchtungen, die unbändigen Taten des Diakon Achilla könnten noch ein gerichtliches Nachspiel haben, unbegründet waren. Alles ging gemütlich seinen gleichen Gang. Die Leute suchten Abwechslung in ihr eintöniges Leben zu bringen, indem sie sich zankten, um sich wieder zu versöhnen, und sich versöhnten, um sich wieder zanken zu können. Nichts drohte die allgemeine Ruhe zu stören. Im Gegenteil, dem Propst ward ein wunderschöner Tag beschieden, der ihm nichts als Freude brachte. Es war dies der Namenstag der Frau Stadthauptmann, der sehr bald auf jenen Tag folgte, an dem Achilla in seinem Glaubenseifer den öffentlichen Skandal mit dem Kommissar Danilka hervorgerufen hatte. Als alle Gäste der Pastete des Herrn Polizeichefs die gebührende Ehre erwiesen hatten, rief der Hausherr, welcher zufällig ans Fenster getreten war, plötzlich laut seiner Frau zu:
»Ach du lieber Gott! Sieh nur, Frau, was für Gäste wir bekommen!«
»Wer kommt denn da?« fragte die Frau.
»Sieh mal selber nach.«
Die Hausfrau, und mit ihr alle anwesenden Gäste, stürzten ans Fenster, und nun sah man, daß sich ein mächtiges Dreigespann kräftiger brauner Pferde vorsichtig den Berg herunter[156] bewegte, fast wie ein dreiköpfiger Drache, der auf dem Bauche kriecht. Das mittlere Pferd bläht sich auf und strampelt, wie ein alter General, der einem Untergebenen eine Pauke halten will. Die Seitenpferde sausen bald, wie Ulanenkornetts auf dem Ball, die ein Gegenüber suchen, bald drängen sie sich an das Mittelpferd, wie Schafe im Regen. Das rote Glöcklein schlug manchmal mit dem Ring gegen den Rand, dann schien es wieder wie festgeklebt und schwieg; nur die Schellen klirrten dumpf. Jetzt war der dreiköpfige Drache unten angelangt und breitete sich aus. Die Rücken der Pferde wurden sichtbar, der Schweif des einen Seitenpferdes wehte hoch im Winde; auch eine Mähne flog empor; die Pferde hielten gleichmäßigen Trab und der Wagen polterte über die Brücke. Deutlich sah man das vergoldete Krummholz mit eingeätzten Ornamenten und den großen altertümlichen, bronzebeschlagenen, gitarrenförmigen Wagen, auf dem nebeneinander, wie auf einem Sofa, zwei kleine Geschöpfe, ein weibliches und ein männliches, saßen; der Mann in einem dunkelgrünen Kamelot-Mantel und einer großen Mütze aus haarigem Plüsch, die Frau in einem schlafrockartigen Mantel aus himbeerfarbenem Gras-de-Naples mit einem lila Samtkragen und einer Haube mit braunen Bändern.
»Mein Gott, das sind ja die Plodomasowschen Zwerge! – Nicht möglich! – Sehen Sie doch selbst! – Ja, richtig! – Gewiß doch! Da – Nikolai Afanasjewitsch hat uns schon bemerkt. Sehen Sie, er grüßt! Und jetzt nickt auch Maria Afanasjewna.«
So tönte es erfreut von allen Seiten. Die Gastgeber beeilten sich, für die Ankömmlinge das Frühstück wieder auftragen zu lassen, und die Anwesenden richteten die Blicke gespannt nach der Tür, durch die die kleinen Leute eintreten mußten.
Voran schritt ein altes Männlein, nicht größer als ein achtjähriger Knabe, gefolgt von einem alten Frauchen etwas größeren Wuchses.
Das Männlein war ganz Sauberkeit und Wohlanständigkeit. Auf seinem Gesicht war nichts von gelben Flecken oder Runzeln zu sehen, wie sie gewöhnlich die Gesichter von Zwergen entstellen. Er hatte eine sehr wohlproportionierte Gestalt, einen kugelrunden Kopf, der ganz mit weißen, kurzgeschorenen Haaren bedeckt war, und kleine braune Bärenaugen. Die Zwergin machte keinen so angenehmen Eindruck wie ihr Bruder. Ihre Gestalt war schwammig, um den Mund spielte ein Zug von Dummheit und Sinnlichkeit und die Augen blickten stumpf.
Der Zwerg Nikolai Afanasjewitsch trug trotz der heißen Jahreszeit warme Tuchstiefel, schwarze Beinkleider aus haarigem Flauschstoff, eine gelbe Flanellweste und einen braunen Frack mit Metallknöpfen. Seine Wäsche war von tadelloser Sauberkeit und seine Wangen stützten sich auf eine stramm gebundene, hohe Atlashalsbinde. Die Zwergin trug ein grünes Seidenkleid mit großem Spitzenkragen.
Als Nikolai Afanasjewitsch ins Zimmer getreten war, legte er zuerst die Händchen an die Hosennaht, drückte dann die Rechte mit der Mütze ans Herz, machte einen Kratzfuß und schritt etwas breitbeinig gerade auf die Hausfrau zu.
»Unser gnädiger Herr Nikita Alexejewitsch Plodomasow und der gnädige Herr Parmen Semenowitsch Tuganow,« sagte er mit leiser und eintöniger Greisenstimme, »haben uns in ihrem eigenen und im Namen ihrer Frau Gemahlin befohlen, daß wir als ihre Diener Ihnen, gnädige Frau Olga Arsentjewna, ihren Glückwunsch darbringen. – Schwesterlein, wiederholt es,« wandte er sich an die neben ihm stehende Schwester, und als diese mit ihrer Gratulation fertig war, machte Nikolai[158] Afanasjewitsch vor dem Polizeichef ebenfalls einen Kratzfuß und fuhr fort:
»Und auch Ihnen, gnädiger Herr Woin Wasiljewitsch, und der ganzen geehrten Gesellschaft einen herzlichen Glückwunsch zum frohen Familienfest. Und ferner habe ich, gnädiger Herr, Ihnen zu melden, daß mein gnädiger Herr und Parmen Semenowitsch Tuganow, die mich und meine Schwester als Gratulanten hierher gesandt haben, es gütigst zu entschuldigen bitten, daß sie ihren Glückwunsch durch uns unwürdige Knechte darbringen lassen; aber sie können leider über ihre Zeit nicht verfügen. Sie wollen sich heute abend noch persönlich deswegen entschuldigen.«
»Parmen Semenowitsch will herkommen?« rief der Polizeichef.
»Mit meinem gnädigen Herrn Nikita Alexejewitsch Plodomasow, der sich auf der Durchreise nach Petersburg hier aufhält, und um Vergebung bittet, wenn er im Reiseanzug erscheint.«
Der Gesellschaft bemächtigte sich bei dieser Mitteilung eine leichte Erregung, welche der Zwerg benutzte, um auf Tuberozow zuzugehen und seinen Segen entgegenzunehmen. Dabei sagte er leise:
»Parmen Semenowitsch bittet, Ihr möchtet heute abend auch hier sein.«
»Sag' ihm, Lieber, ich würde kommen,« erwiderte Tuberozow.
Der Zwerg empfing dann auch von Zacharia den Segen. Der Diakon Achilla ergriff die Hand des kleinen Mannes, der sich ehrerbietig vor ihm verbeugte und dabei lächelnd sagte:
»Ich bitte Euch nur, werter Herr, versucht Eure Heldenkraft nicht an mir.«
»Ist er denn so kräftig, Nikolai Afanasjewitsch?« scherzte der Hausherr.
»Er gibt gern Proben seiner Kraft,« antwortete der Alte. »Aber lohnt es sich an einem Krüppel?«
»Wie steht's mit der Gesundheit, Nikolai Afanasjewitsch?« fragten die Damen, welche den Zwerg von allen Seiten umringt hatten und seine Händchen drückten.
»Ach was Gesundheit, meine werten Damen! Es ist ein Spott und eine Schande! Wie ein Ferkelchen bin ich geworden. Der Sommer ist längst da, – und ich friere beständig.«
»Sie frieren?«
»Ei freilich. Schauen Sie mich bloß an. Ich bin ja ganz in Hasenwolle eingenäht. Aber was ist daran auch verwunderlich, werte Herrschaften? Ich unnützer Mensch habe doch schon die Achtzig hinter mir.«
Nikolai Afanasjewitsch wurde von allen Seiten mit Fragen überschüttet. Man setzte ihn an den Tisch, reichte ihm die Speisen. Er antwortete allen klug und gewandt, rührte aber von den Speisen nichts an: er äße längst schon sehr wenig, und auch dann nur höchstens ein leichtes Gemüse. »Aber die Schwester wird essen,« sagte er, sich zu dieser wendend. »Eßt nur, Schwesterlein, eßt. Geniert Euch nicht. Wollt Ihr aber ohne mich nicht essen, dann bitte ich Olga Arsentjewna um etwas Möhrenfüllung aus der Pastete hier auf dieses kleine Tellerchen … So ist's recht. Danke schön, danke! Was brauch' ich überhaupt noch zu essen? Ich kann ja gar nichts mehr. Nicht einmal einen Zwirnstrumpf bring' ich mehr ordentlich fertig. Und früher konnte ich doch viel besser stricken als die Schwester, sogar Broderies anglaises verstand ich zu flechten; aber jetzt lasse ich beständig die Maschen fallen.«
Der Propst sah dem Zwerge mit glücklichem Lächeln in die Augen:
»Wenn ich dich betrachte, Nikolai, so denke ich an ein lieber altes Märchen, mit dem man sterben möchte.«
»Ach, Väterchen, unser liebes Märchen ist vor uns heimgegangen.«
»Vergißt du sie nicht schon, deine Herrin? Die Bojarin Marfa Andrejewna?« fragte, sich ihm nähernd, der Diakon Achilla, welchen der Zwerg immer noch ein wenig zu fürchten schien.
»Zum Vergessen bin ich schon zu alt, Vater Diakon, ich denke lange schon daran, daß es für mich Zeit wird, ihr in jener Welt wieder zu dienen,« erwiderte er leise und sich halb dem Diakon zukehrend.
»Sie war eine trostreiche Frau, diese Alte,« sagte der Diakon, ohne seine Rede an eine bestimmte Person zu richten.
»In welchem Sinne trostreich? Wie meinst du das?« fragte Tuberozow.
»Spaßig war sie.«
Der Propst lächelte und machte eine abwehrende Handbewegung. Nikolai Afanasjewitsch aber fiel Achilla ins Wort und sagte sehr bestimmt:
»Keine Spaßmacherin war sie, sondern eine wirkliche Trösterin, werter Herr.«
»Was belehrst du ihn, Nikolai! Erzähle lieber, wie sie dich erbittert hat. Und wie sie dann alles wieder zum Besten kehrte,« rief der Propst.
»Ach, Hochwürden, das ist eine so alte Geschichte.«
»Er weiß von dieser seiner Erbitterung mit so viel Wärme zu erzählen,« wandte sich Tuberozow an die Gäste.
»Ja, Väterchen, sie, meine gnädige Herrin, verstand es, einen Menschen so zu erbittern und dann so zu trösten, wie[161] nur ein Engel Gottes zu trösten vermag,« fiel der Zwerg sofort ein.
»Nun, so erzähle doch.«
»Ja, Nikolascha, erzähle, erzähle!«
»Nun, werte Herrschaften, ob Sie sich über mich lustig machen oder ob es Sie wirklich interessiert, – wenn die ganze Gesellschaft es wünscht, so will ich mich nicht widersetzen und Ihnen die Geschichte erzählen.«
Und er begann.
»Es war kaum ein Jahr, nachdem meine gnädige Herrin mich von meiner früheren Herrschaft gekauft hatte. Ein Jahr in bittern Schmerzen lag hinter mir. Ich war von meiner Heimat und von meinen Lieben für immer getrennt. Natürlich ließ ich meinen Kummer nicht merken. Es war jedoch vergebens, denn die Selige hatte ihn längst erraten. Als nun mein Namenstag kam, geruhte sie mir zu sagen:
›Was soll ich dir denn zum Namenstage schenken, Nikolai?‹
›Mütterchen,‹ sag' ich, ›was brauch' ich Narr noch beschenkt zu werden? Ich bin auch so völlig zufrieden.‹
›Nein,‹ geruhte sie zu sagen, ›einen Rubel sollst du wenigstens haben.‹
Natürlich wagte ich nicht zu widersprechen und küßte ihr die Hand:
›Vielen Dank, Euer Gnaden!‹ sprach ich nur.
Und setzte mich wieder auf das Fußbänkchen gegenüber ihrem Sessel und strickte meinen Strumpf weiter. Nach einiger Zeit fragt sie wieder:
›Was wirst du mit dem Rubel anfangen, Nikolai, den ich dir morgen schenken will?‹
›Den schicke ich bei Gelegenheit meinem Vater.‹
›Und wenn ich dir zwei schenke?‹
›So bekommt mein Mütterchen den zweiten.[163]‹
›Und wenn es drei werden?‹
›Dann soll auch mein Bruder Iwan Afanasjewitsch einen haben.‹
Da schüttelte sie den Kopf:
›Du hast aber viel Geld nötig, wenn du alle bedenken willst! Das kannst du, so klein wie du bist, ja dein Lebtag nicht verdienen.‹
›Dem lieben Gott hat es gefallen, mich so zu schaffen,‹ antwortete ich und fing leise zu weinen an. Mein Herz krampfte sich zusammen, wissen Sie, ich ärgerte mich selbst über meine Tränen und doch mußte ich weinen. Sie aber, die Selige, guckte und guckte mich an, bis sie auf einmal mir schweigend winkte: ich fiel ihr zu Füßen und sie legte meinen Kopf auf ihren Schoß, und ich weinte nun erst recht und sie weinte auch. Dann stand sie auf und sprach:
›Haderst du nie mit dem lieben Gott, Nikolai?‹
›Wie soll ich mit dem lieben Gott hadern, Mütterchen? Niemals tu ich das.‹
›So wird Er dich auch trösten.‹
Und er hat mich wirklich getröstet.«
Als der Zwerg in seiner Erzählung so weit gekommen war, fingen seine dünnen Augenlider plötzlich heftig zu zucken an, er sprang hastig von seinem Stuhl auf, lief in eine Ecke, wischte sich dort mit einem weißen Tüchlein die Augen und kehrte mit verschämtem Lächeln auf seinen Platz zurück. Nachdem er sich wieder gesetzt hatte, begann er mit einer ganz anderen, feierlichen Stimme:
»Ich war früh aufgestanden, werte Herrschaften, war ganz leise mich waschen gegangen, denn ich schlief ja zu Füßen ihres Bettes, hinter einem Schirm auf einem Teppich. Dann war ich in die Kirche gegangen, um beim Vater Alexei einen Dankgottesdienst nach der Frühmesse zu bestellen. Wie ich[164] nun, werte Herrschaften, in die Kirche komme, gehe ich geradewegs nach dem Altar, um vom Vater Alexei den Segen zu empfangen, und sehe, daß Vater Alexei ein so seltsam frohes Gesicht macht und mir so herzlich zur großen Freude gratuliert. Ich bezog das natürlich auf den Festtag und auf meinen Namenstag. Aber was sollte nun kommen, meine lieben und werten Herrschaften! Ich trete auf den linken Altarflügel hinaus, – und sehe plötzlich mitten im Volke mein Mütterlein und meinen Vater und meinen Bruder Iwan Afanasjewitsch. Den Vater und die Mutter fand ich in der Menge nicht gleich heraus, aber der Bruder Iwan Afanasjewitsch … der war ja der reine Gardehusar. Ihn sah ich sofort. Erst dachte ich, es wäre eine Vision! Denn ich hatte mich an diesem Tage so sehr nach ihnen gesehnt. Aber nein, es war keine Vision! Ich sah meine Mutter – sie war eine Bäuerin – bitterlich weinen und dachte, sie habe ihre Herrschaft um Urlaub gebeten und den weiten Weg gemacht, um ihr Kind wiederzusehen. Natürlich wollte ich den Gottesdienst nicht stören und ging wieder in den Altarraum zurück. Wie ich aber nach Schluß der Messe heraustrete, da erblicke ich vor dem Betpult mit dem Heiligenbilde Marfa Andrejewna selber; und hinter ihr meine Schwester Maria Afanasjewna, die Sie hier sehen, meine Eltern und meinen Bruder. Ich gehe auf Marfa Andrejewna zu, um sie zu begrüßen. Sie aber schiebt mich leise mit der Hand beiseite und sagt:
›Geh erst und begrüße deine Eltern.‹
So begrüßte ich den Vater, die Mutter, den Bruder, unter Tränen. Nur meine Schwester Maria Afanasjewna weinte nicht, denn sie hat einen besseren Charakter. Ich aber bin so schwach, daß ich immer weinen muß. Nun traten wir aus der Kirche heraus und meine gnädige Herrin nimmt ein Beutelchen aus der Tasche – ich[165] hatte selbst gesehen, wie sie diesen Beutel strickte, aber ich wußte natürlich nicht, für wen er bestimmt war – und sagt zu mir: ›Nun beschenke die Deinigen, Nikolascha.‹ Ich greife in den Beutel, dem Vater gab ich einen Silberrubel, der Mutter einen Silberrubel, dem Bruder Iwan Afanasjewitsch einen Rubel. Es waren lauter ganz neue Rubel! Im Beutel aber lagen noch vier Rubel. ›Wer soll denn die noch bekommen, Mütterchen?‹ frage ich meine gnädige Herrin. Aber da sehe ich schon den Verwalter Dementij, der mir meine Schwägerin und ihre drei Kinder zuführt, alle in langen Röcken. Dank der großen Gnade meiner Herrin konnte ich auch sie noch beschenken, ehe wir aus der Kirche alle zusammen nach Hause gingen. Vor dem Herrenhaus bemerkte ich drei Wagen, mit den Gutspferden meiner gnädigen Herrin bespannt. Die beiden Pferdchen meines Bruders waren hinten angebunden, und das ganze Gepäck der Eltern und des Bruders lag auf dem Wagen. Dies machte mich ganz verwirrt, und ich wußte nicht mehr, was ich sagen sollte. Marfa Andrejewna war die ganze Zeit mit dem Vater Alexei vorausgegangen und hatte von der Ernte gesprochen und mich anscheinend gar nicht beachtet. Jetzt aber, wie sie eben die Verandastufen hinauf will, wendet sie sich nach mir um und geruht also zu sprechen: ›Hier hast du einen Freibrief, mein braver Knecht, deine Eltern und dein Bruder nebst Kindern sind von mir losgekauft.‹ Und damit schob sie mir das Papier hinter die Weste … Das war zu viel für mich …«
Nikolai Afanasjewitsch hob die Hände bis zur Höhe seines Gesichts und sagte:
»›Du!‹ rief ich wie wahnsinnig, ›du willst mich durch das Übermaß deiner Güte ganz erdrücken!‹ Es schnürte mir die Kehle zusammen, meine Schläfen hämmerten, vor meinen Augen zuckten bunte Flämmchen, und ich fiel bewußtlos vor[166] dem Wagen meines Vaters nieder, den Freibrief an die Brust gedrückt.«
»Ach du, Alter! So viel Gefühl hast du!« rief der Diakon Achilla gerührt und schlug Nikolai Afanasjewitsch auf die Schulter.
»Ja,« fuhr der Zwerg fort, nachdem er sich den Mund gewischt hatte. »Ich kam erst nach neun Tagen wieder zu mir, denn ich war an einem schweren Fieber erkrankt. Und wie ich mich umschaute, sah ich meine gnädige Herrin zu Häupten meines Bettes sitzen: ›Vergib mir um Christi willen, Nikolascha,‹ sprach sie, ›ich verrücktes Frauenzimmer hätte dich beinahe umgebracht!‹ So ein gewaltiger Mensch war sie, die gnädige Bojarin Plodomasowa!«
»Ach du allerliebster Alter!« rief wieder der Diakon Achilla und packte den Zwerg scherzend an einem Knopfe seines Fracks, diesen scheinbar abreißend.
Der Kleine faßte schweigend nach dem Knopf, und als er sich überzeugt hatte, daß er heil und ganz an seinem Platze geblieben war, meinte er:
»Ja, ja, ich bin doch ein ganz unbedeutendes Wesen, aber sie war immer besorgt um mich und schenkte mir ihr Vertrauen; sogar ihren Kummer teilte sie mir mit, besonders als die Trennung von ihrem Sohne Alexei Nikititsch ihr so nah ging. Bekam sie mal einen Brief, dann las sie ihn erst ganz schnell für sich und später las sie ihn mir vor. Sie sitzt und liest vor und ich stehe mit meinem Strickstrumpf daneben und höre zu. Und wenn sie zu Ende ist, sprechen wir über den Brief. ›Jetzt wird er wohl bald Offizier,‹ sagt sie zu mir. Und ich antworte: ›Ja, sicher muß die Reihe schon an ihn gekommen sein.‹ Und sie wieder: ›Was meinst du, Nikolascha, da wird man ihm wohl mehr Geld schicken müssen.‹ – ›Gewiß hat er jetzt mehr nötig, Mütterchen,‹ sage ich. ›Ei[167] freilich, wir haben hier das Geld ja gar nicht nötig.‹ ›Natürlich, Mütterchen, wozu brauchen wir Geld?‹ Meine Schwester Maria Afanasjewna aber schweigt still, und das ist meiner gnädigen Herrin nicht recht und sie wird gleich böse. ›Ach, du Holzklotz,‹ sagt sie. ›Ja, die wußten, was sie taten, als sie dich mir umsonst als Zugabe zum Bruder überließen.‹«
Nikolai Afanasjewitsch besann sich plötzlich, wurde ganz rot und sagte zu seiner stumpfsinnigen Schwester:
»Nehmt mir's nicht übel, Schwesterlein, daß ich das erzähle.«
»Erzählt nur, erzählt nur, es tut nichts,« antwortete Maria Afanasjewna, mit der Zunge gegen die Backe stoßend.
»Nun, und euch beiden hat sie die Freiheit nicht geben wollen?« fragte jemand.
»Die Freiheit? Nein, freigegeben hat sie uns nicht. Meine Schwester Maria Afanasjewna stand wohl mit drin im Freibrief, den sie meinen Eltern gegeben, aber mich wollte sie nicht fortlassen. Mitunter sagte sie: ›Wenn ich tot bin, magst du leben, wo du willst (denn sie hatte ein kleines Kapital als Pension für mich angelegt), aber solange ich am Leben bin, lasse ich dich nicht frei.‹ – ›Ach, Mütterchen,‹ sagte ich darauf, ›was soll ich mit der Freiheit? Mich hacken doch die Spatzen tot!‹«
»Ach, du kleiner Kerl!« rief Achilla gerührt.
»Er war ja in allem ihre rechte Hand, unser Nikolai Afanasjewitsch,« fiel Tuberozow ein.
»Ja, Vater Propst, ich habe ihr gedient, so gut ich's verstand. Wenn die Selige nach Moskau oder Petersburg reiste, nahm sie nie eine Zofe mit. Sie konnte weibliche Bedienung auf Reisen nicht leiden. Oft sagte sie: ›So eine Prinzessin Pumfia tut nichts weiter als quasseln und im Gasthof im Korridor herumlungern und Bekanntschaften machen.[168] Mein Nikolascha aber sitzt hübsch still im Winkel, wie ein Hase.‹ Sie betrachtete mich gar nicht als Mann, sondern nannte mich immer nur Hase.«
»Ein Karnickelchen,« sagte Achilla lachend und streichelte die Schultern des Kleinen.
»So ganz konnte sie dich aber doch nicht für einen Hasen halten, wenn sie dich sogar verheiraten wollte?« sagte der Polizeichef Porochontzew.
»Ja, das hat sie gewollt, Woin Wasiljewitsch. Freilich, freilich,« erwiderte der Kleine, die Stimme immer mehr dämpfend, »das hat sie gewollt.«
»Wirklich, Nikolai Afanasjewitsch?« riefen mehrere Stimmen zugleich.
Nikolai Afanasjewitsch wurde ganz rot und flüsterte:
»Lügen wäre Sünde, – ja es war so.«
Und nun stürmte die ganze Gesellschaft auf den Zwerg ein:
»Erzählen, Nikolai Afanasjewitsch, erzählen!«
»Ach, werte Herrschaften, was ist da zu erzählen?« suchte Nikolai Afanasjewitsch lachend und errötend und die Hände ausstreckend die Zudringlichen abzuwehren.
Man gab nicht nach. Die Damen faßten seine Hände, küßten ihn auf die Stirn; er fing die Damenhände, die sich nach ihm ausstreckten, im Fluge auf und küßte sie, wollte aber trotzdem nicht erzählen, weil er meinte, die Geschichte wäre zu lang und uninteressant. Da schlug plötzlich etwas dröhnend gegen den Fußboden, die Hausfrau, die in diesem Augenblick vor dem Lehnstuhl des Zwerges stand, trat erschrocken zurück, und den erstaunten Blicken von Nikolai Afanasjewitsch zeigte sich der Diakon Achilla, kniend mit hoch emporgereckten Armen.
»Herzchen!« flehte er mit heftigen Kopfbewegungen. »Erzähle, wie sie dich verheiraten wollten.«
»Ja, ja, ich will alles erzählen, steht nur auf, Vater Diakon.«
Achilla erhob sich, klopfte den Staub von seiner Kutte und rief selbstzufrieden:
»Nun? Was sagt ihr nun? Er wird nicht erzählen, meintet ihr! Da sagte ich: Ich setze es durch, – und ich hab's durchgesetzt! Jetzt bitte wieder Platz zu nehmen, meine Herrschaften, und hübsch still sein, und die gnädigste Hausfrau ist so gut und läßt dem Nikolascha für seine Erzählung ein Glas Wasser mit rotem Wein geben, wie das in feinen Häusern Brauch ist.« –
Alle setzten sich. Man brachte Nikolai Afanasjewitsch ein Glas Wasser, in das er selbst ein paar Tropfen Rotwein goß, und dann fing er von neuem zu erzählen an.
»Es war bald nach dem Frieden mit Frankreich, meine werten Herrschaften, als ich mit dem in Gott entschlafenen Kaiser sprach.«
»Sie haben mit dem Kaiser gesprochen?« unterbrachen den Erzähler sofort mehrere Stimmen.
»Ja, was denken Sie?« sagte der Zwerg sanft lächelnd. »Mit Seiner Kaiserlichen Majestät Alexander Paulowitsch habe ich gesprochen und habe Verstand genug gehabt, ihm zu antworten.«
»Hahaha! Ist das ein Kerl, dieser Nikolaurus, Gott straf mich!« brüllte der Diakon Achilla entzückt und schlug sich mit der flachen Hand auf die Schenkel. »Seht ihn doch an, – so ein winziger Floh und hat mit dem Kaiser geredet.«
»Sitz ruhig, Diakon, und sei still,« sagte Tuberozow ernst.
Achilla gab durch eine Handbewegung zu verstehen, daß er den Erzähler nicht mehr unterbrechen werde und setzte sich.
Der Zwerg fuhr fort:
»Die ganze Sache nahm scheinbar mit diesem meinem Gespräch mit dem Kaiser überhaupt ihren Anfang. Meine gnädige Herrin Marfa Andrejewna hatte den Wunsch, nach Moskau zu reisen, als der Kaiser nach seinem weltberühmten Siege über Napoleon Bonaparte dort erwartet wurde. Natürlich mußte auch ich sie wieder auf dieser Reise begleiten. Die Selige war dazumal schon in hohen Jahren, und weil auch ihre Gesundheit zu wünschen übrigließ, leicht erzürnt und[171] gekränkt. Da verschaffte nun Alexei Nikititsch seiner Mutter eine Einladung zu einem Ball, zu dem auch der Kaiser kommen sollte. Marfa Andrejewna gestand mir offen, daß ihr das ein großes Vergnügen bereitet hatte. Sie ließ sich zu diesem Ball ein kostbares Kleid machen, und für mich wurde bei einem französischen Schneider ein blauer Frack aus englischem Tuch mit goldenen Knöpfen bestellt, dazu – entschuldigen Sie, meine Damen – Pantalons, Weste, Halsbinde – alles weiß; ein Spitzenvorhemd und Schnallenschuhe, – zweiundvierzig Rubel hat sie bezahlt. Alexei Nikititsch hatte, um seiner Mutter eine Freude zu machen, es so eingerichtet, daß sie mich mitnehmen durfte. Dem Maitre d'hôtel wurde befohlen, mich in die Orangerie zu führen und gerade gegenüber dem Saale, in den der Kaiser eintreten sollte, irgendwo in einer Ecke zwischen den Gewächsen aufzustellen. So geschah es denn auch, werte Herrschaften, aber doch nicht ganz, wie es beabsichtigt war. Der Maitre d'hôtel sagte mir, ich sollte mich ruhig verhalten und sehen, soviel ich von meinem Platz nur sehen könnte. Aber was war von da zu sehen? Nichts. Da machte ich es wie Zachäus, der Zöllner, wissen Sie, und kletterte – hoppla – auf so einen kleinen künstlichen Felsen, wo ich nun unter einer Palme stand. Der Saal war voll Glanz und Lärm und Musik, aber auch von meinem Felsen konnte ich nur die Frisuren der Herrschaften sehen. Plötzlich aber gerieten all diese Köpfe in lebhafte Bewegung, sie schoben sich auseinander und der Kaiser ging mit dem Fürsten Golitzyn geradewegs nach der Orangerie, um sich etwas zu erfrischen. Und – denken Sie sich nur – nicht allein, daß er sich nach der Orangerie begibt, er geht auch gerade auf die entfernte Ecke zu, wo man mich versteckt hatte. Ganz starr war ich, meine Damen, wie angewachsen an den Felsen und konnte nicht herunter.«
»Da war dir wohl bange?« fragte Tuberozow.
»Wie soll ich sagen? Bange eigentlich nicht, aber doch gewissermaßen aufgeregt war ich.«
»Ich wäre davongelaufen,« sagte der Diakon, außerstande, noch weiter zu schweigen.
»Warum denn davonlaufen, werter Herr? Ich will nicht sagen, daß ich keine Angst verspürt hätte, aber ans Davonlaufen dachte ich doch nicht. Seine Majestät kamen indes immer näher und näher. Ich hörte schon deutlich, wie Ihre Stiefel klipp-klapp, klipp-klapp machten. Ich sah bereits Ihr sanftes Gesicht, den freundlichen Blick, und wissen Sie, in meiner Verwirrung dachte ich gar nicht mehr daran, daß ich gleich Ihren Augen sichtbar werden mußte. Da wandte der Kaiser den Kopf und, ich sah's, er richtete den Blick direkt auf mich und sah mich an.«
»Nun?« schrie der Diakon und wurde ganz bleich.
»Ich machte eine Verbeugung.«
Der Diakon atmete auf, drückte die Hand des Zwerges und flüsterte:
»Erzähle, sei so gut, erzähle schnell weiter!«
»Der Kaiser sah mich also an und geruhte auf Französisch zum Fürsten Golitzyn zu sagen: ›Ach, was für ein Miniaturexemplar! Wem mag es gehören?‹ Der Fürst Golitzyn war, wie ich sah, in Verlegenheit, was er antworten sollte, – und da ich die französische Rede wohl verstehen konnte, antwortete ich selber: ›Der gnädigen Frau Plodomasow, Kaiserliche Majestät!‹ Da wandte sich der Kaiser zu mir und geruhte zu fragen: ›Welcher Nation sind Sie?‹ – ›Ein treuer Untertan Eurer Majestät,‹ antwortete ich. ›Und geborener Russe?‹ fragte er weiter und ich antwortete: ›Ein Bauer und treuer Untertan Eurer Majestät.‹ Da lachte der Kaiser. ›Bravo,‹ scherzte er, ›bravo, mon petit sujet[173] fidèle!‹ und faßte meinen Kopf mit der Hand und zog mich an sich.«
Nikolai Afanasjewitsch dämpfte seine Stimme und sagte mit einem leisen Lächeln im Flüstertone, als handele es sich um ein großes politisches Geheimnis:
»Er faßte mich um, wissen Sie, und dabei drückte ein Knopf seines Ärmelaufschlags mir die Nase zusammen, daß es mir ordentlich wehe tat.«
»Nun und du? Du schriest doch nicht?« rief der Diakon.
»Nein, Väterchen, nein, warum sollte ich schreien? Wie kann man schreien, wenn der Zar einen liebkost? Nein, als er mich losließ, küßte ich seine Hand … für das Glück und die Ehre … und das war mein ganzes Gespräch mit Seiner Kaiserlichen Majestät. Später natürlich, als sie mich vom Felsen heruntergenommen hatten und man mich in der Kutsche nach Hause fuhr, da hab' ich die ganze Zeit geweint.«
»Warum hast du denn nachher geweint?« fragte Achilla.
»Warum? Als ob ich nicht Grund genug gehabt hätte? Vor Rührung weint der Mensch!«
»So klein ist er und hat so viel Gefühl!« rief Achilla ganz begeistert.
»Nun, erlauben Sie mal,« fing der Erzähler wieder an. »Die Aufmerksamkeit, die Seine Majestät mir zufällig erwiesen, wurde in verschiedenen Moskauer Häusern bekannt, Marfa Andrejewna nahm mich überall mit hin und zeigte mich den Leuten, und – ich sage Ihnen die reine Wahrheit, ich lüge nicht – ich war damals der allerkleinste Zwerg in ganz Moskau. Aber das dauerte nicht lange, nur einen einzigen Winter.«
In diesem Augenblick prustete der Diakon plötzlich überlaut und fing dann, den Kopf zurückwerfend, leise zu kichern an.
Als er merkte, daß er durch sein Lachen den Erzähler unterbrochen hatte, setzte er sich wieder gerade hin und sagte:
»Es ist nichts! Erzähle nur weiter, Nikolaurus, ich lache über meine eigene Sache. Wie einmal der Graf Klenychin mit mir gesprochen hat.«
»Nein, sprechen Sie sich nur aus, werter Herr, sonst unterbrechen Sie mich wieder,« sagte der Zwerg.
»Ach, es ist gar nichts Besonderes, eine ganz einfache Geschichte,« erwiderte Achilla. »Der Graf Klenychin besichtigte unser Seminargebäude, ich machte ihm eine Verbeugung und da sagte er: ›Pack dich weg, Schafskopf!‹ Und das war unser ganzes Gespräch, über das ich lachen mußte.«
»Es ist auch wirklich komisch,« sagte der Zwerg lächelnd und fuhr fort:
»Im nächsten Winter brachte die Generalin Wichiorowa aus Petersburg eine finnische Zwergin namens Meta mit, die war noch um einen Finger breit kleiner als ich. Die selige Marfa Andrejewna konnte das gar nicht hören. Anfangs behauptete sie immer, das sei keine natürliche Zwergin, sondern eine, der man in der Kindheit Blei eingegeben habe; aber als sie angekommen war und meine gnädige Herrin die Meta Iwanowna mit eigenen Augen sah, da wurde sie furchtbar böse, daß sie so wohlgebaut und weiß war. Sogar im Traum ließ es ihr keine Ruhe: immer nur dachte sie daran, wie sie die Meta Iwanowna kaufen könnte. Aber die Generalin wollte von Verkauf nichts wissen. Da fing nun Marfa Andrejewna mit allerlei spitzigen Reden an: ihr Nikolai wäre ein kluger Kopf und hätte mit dem Kaiser selbst gesprochen, das Mädel aber sehe bloß nett aus und weiter nichts. So zankten sich die beiden Damen unsertwegen. Marfa Andrejewna sagte, jene solle ihr das Mädchen verkaufen, und diese wiederum wollte mich kaufen. Da fuhr[175] Marfa Andrejewna einmal heftig auf: ›Ich will sie doch nicht bloß zum Spaß haben,‹ sagte sie, ›ich will sie doch verheiraten, der Nikolai soll sie zur Frau nehmen.‹ Die Frau Wichiorowa aber meinte: ›Ich kann ja die beiden auch verheiraten, wenn sie mir gehören.‹ Marfa Andrejewna erwiderte: ›Wenn sie Kinder kriegen, sollst du ein Paar davon haben.‹ Jene aber versprach, daß sie ihr ebenfalls ein paar Kinder überlassen wolle, wenn es welche geben würde. Bis auf zehntausend Rubel waren sie nach und nach gekommen, meine werten Herrschaften, aber immer wurde nichts aus der Sache, denn wenn meine gnädige Herrin zehntausend für die Meta bot, so bot die Generalin elftausend für mich. Wohl war Marfa Andrejewna eine Frau von starkem und unbezwinglichem Geiste, die mit Pugatschow gestritten und mit drei Kaisern getanzt hatte, – aber mit der Generalin Wichiorowa wurde sie doch nicht fertig. Und auf mich war sie auch böse. ›Du bist auch so ein dummer Rüpel,‹ geruhte sie zu mir zu sagen, ›der dem Mädel nicht ordentlich den Kopf verdrehen kann, daß es selber drum bittet, deine Frau werden zu dürfen.‹ – ›Mütterchen, Marfa Andrejewna,‹ sagte ich, ›wie soll ich ihr denn den Kopf verdrehen? Geben Sie mir Ihre Hand, Mütterchen, daß ich Narr sie küsse.‹ Da wurde sie noch böser. ›O, du dummer, dummer Kerl,‹ sagte sie, ›nichts verstehst du als die Handküsserei.‹ Da schwieg ich schon lieber ganz.«
»O dieser kleine Kerl! Er kann ja nichts dergleichen, der Arme,« erklärte der Diakon teilnahmvoll seinem Nachbarn.
Der Zwerg warf ihm einen Blick zu und fuhr fort:
»So ging es nun Tag für Tag, bis es Frühling wurde, und für uns kam die Zeit, aus Moskau wieder nach Plodomasowo zurückzukehren. Wir fuhren nochmals zur Wichiorowa und wurden wieder nicht handelseinig. Marfa Andrejewna sagte ihr: ›So erlaub doch wenigstens deiner Qualle, daß[176] sie mit Nikolai vor dem Hause auf und ab geht.‹ Die Generalin gestattete das, und nun mußten Meta Iwanowna und ich auf dem Trottoir vor den Fenstern hin- und herspazieren. Das war eine große Freude für die selige Marfa Andrejewna, und für uns beide wurden die verschiedensten Kostüme genäht. Wir kamen hin und sie befahl: ›Heute sollen Nikolai und Meta als Paysans gehen.‹ Dann erschienen wir beide in Holzschuhen, ich in Kamisol und Hut und Meta Iwanowna mit einer großen Haube, und so gingen wir vor dem Hause auf und ab, und die Leute auf der Straße blieben stehen und schauten uns an. Ein andermal mußten wir uns als Türke und Türkin zeigen. Dann als Matrose und Matrosenmädchen. Ferner hatten wir noch Bärenkostüme, aus braunem Flanell genäht, wie Futterale. In diese stopfte man uns hinein, wie man eine Hand in den Handschuh steckt oder den Fuß in den Strumpf, nichts war zu sehen als die Augen, und oben am Kopfe waren solche kleine Zipfel aus Tuch angemacht, wie Ohren, die hin- und herwackelten. In diesen Kleidern schickte man uns aber nicht auf die Straße, sondern ließ sie uns zuweilen anlegen, wenn die beiden Damen beim Kaffee saßen. Dann mußten wir auf dem Teppich vor dem Kaffeetisch miteinander ringen. Meta Iwanowna war sehr stark für ein Mädchen, wenn ich ihr aber geschickt und schlau ein Bein stellte, dann fiel sie doch gleich um. Aber ich gab ihr doch meist aus Mitleid mit ihrem weiblichen Geschlecht nach, und die Generalin pflegte auch oft ihr Bologneserhündchen zu Hilfe zu rufen, das mir in die Waden fuhr. Dann ärgerte sich Marfa Andrejewna … Ach, ich mag gar nicht an diese Ringkämpfe denken! Das allerschönste Kostüm, das die Selige hatte machen lassen, habe ich heute noch: mich zogen sie als französischen Grenadier und Meta Iwanowna als Marquise an. Ich hatte eine hohe Bärenmütze, einen langen Waffenrock,[177] eine Flinte mit Bajonett und Meta Iwanowna trug einen Reifrock und hielt einen großen Fächer in der Hand. Dann mußte ich mich mit der Flinte vor der Tür aufstellen und Meta Iwanowna ging mit ihrem Fächer an mir vorüber und ich präsentierte das Gewehr. Und dann fing Marfa Andrejewna wieder mit der Generalin zu feilschen an, denn sie wollte uns gar zu gerne verheiraten. Ich muß Ihnen aber sagen, daß all diese Kostüme für mich und Meta Iwanowna meine gnädige Herrin auf ihre Kosten machen ließ, denn sie glaubte ganz sicher, daß sie die Meta Iwanowna schließlich doch bekommen würde; ja, je mehr Kleider sie für uns machen ließ, desto mehr wurde sie in der Zuversicht bestärkt, daß wir beide ihr Eigentum seien. Aber die Sache sollte ganz anders ausgehen. Die Generalin Karolina Karlowna Wichiorowa war nicht umsonst eine Deutsche: wo etwas ihr von Vorteil war, da widersetzte sie sich nicht, sondern nahm alles an, aber nachgeben war ihre Sache nicht. Da kam Alexei Nikititsch – Gott schenke ihm Gesundheit und langes Leben, ihm selbst war die Sache schon lange ein Dorn im Auge, und er sah, daß sie bös auslaufen würde – er kam also auf den Gedanken, oder irgendein kluger Offizier von seinem Regiment hatte ihm den Rat gegeben, der Frau Mutter mitzuteilen, die Wichiorowsche Zwergin sei verschwunden. Das beruhigte Marfa Andrejewna noch einigermaßen, daß jetzt niemand die Meta Iwanowna haben sollte, und sie redete beständig davon. ›Wie ist sie denn verloren gegangen?‹ fragt sie. Alexei Nikititsch antwortet, ein Jude hätte sie gestohlen. ›Wie? Was für ein Jude?‹ Und wir fabeln weiter, wie's uns gerade einfällt: so ein kastanienbrauner Jude sei es gewesen, mit einem langen Bart, alle hätten ihn gesehen, wie er sie gepackt und fortgeschleppt habe. ›Warum hat man ihn denn nicht festgehalten?‹ fragt sie wieder. –[178] Ja, er sei eben aus einer Straße in die andere, aus einer Gasse in die andere gerannt. – ›Sie ist aber auch ein dummes Frauenzimmer, daß sie sich so fortschleppen läßt und nicht einmal schreit! Mein Nikolai hätte sich sowas nicht gefallen lassen.‹ – ›Wie werd' ich mich denn von einem Juden überwältigen lassen?!‹ sagte ich. Und so glaubte sie alles, wie ein kleines Kind. Aber da machte Alexei Nikititsch versehentlich einen kleinen Fehler, oder richtiger, er wollte es zu schlau anfangen. Seine Absicht war natürlich, Marfa Andrejewna schneller mit mir aufs Land zu schaffen, denn dort, glaubte er, würde sie leichter vergessen, und so sagte er zu seiner Mutter: ›Seien Sie unbesorgt, liebe Mutter. Man wird die Zwergin sicher wiederfinden, denn sie wird überall gesucht, und wenn man sie gefunden hat, schreibe ich Ihnen sofort aufs Land.‹ Die Selige klammerte sich nun an dieses Wort. ›Nein,‹ sagte sie, ›wenn man sie sucht, dann will ich lieber hier abwarten. Vor allem aber möchte ich den Juden sehen, der sie geraubt hat.‹ Ja, meine Herrschaften, da mußten wir noch einen Polizisten anstellen, daß er uns lügen half. Jeden Tag kam er und meldete, die Kleine würde gesucht, sei aber immer noch nicht gefunden. Sie gab ihm jeden Tag fünf Rubel, mich aber schickte sie tagtäglich zur Frühmesse, daß ich Sankt Johannes dem Krieger einen Bittgottesdienst abhalten lasse um Rückkehr der entflohenen Sklavin …«
»Sankt Johann dem Krieger? Du sagst, zu Sankt Johann dem Krieger hättest du beten lassen?« unterbrach ihn der Diakon.
»Ja, Sankt Johannes dem Krieger.«
»Na, dann gratuliere ich, mein Lieber. Da habt ihr gar nicht zu dem richtigen Heiligen gebetet.«
»Wirst du wohl Ruhe halten, Diakon? Sei so gut,« fiel Vater Sawelij ein.
»Bitte, Nikolai, erzähle weiter.«
»Ja, Hochwürden, was ist da noch viel zu erzählen? Meine Geschichte ist so gut wie zu Ende. Einmal kamen wir mit Marfa Andrejewna von der Kapelle der Iberischen Mutter Gottes, als uns in der Petrowka-Straße der Wagen der Generalin Wichiorowa entgegenkam, in dem neben der Generalin auch Meta Iwanowna saß. Da begriff Marfa Andrejewna alles und … Sie mögen mir glauben, meine werten Herrschaften, oder nicht, – sie fing in der Kutsche leise, aber bitterlich zu weinen an.«
Der Zwerg schwieg.
»Nun, Nikola,« suchte der Propst ihn anzuspornen.
»Ja, was nun? Als wir nach Hause gekommen waren, sagte sie zu Alexei Nikititsch: ›Mein liebes Söhnchen, du bist ein rechter Schafskopf, daß du dich unterstehen konntest, deine Mutter zu betrügen und mir noch den Polizisten auf den Hals zu schicken.‹ Und damit ließ sie ihre Sachen packen und fuhr aufs Land.«
Nikolai Afanasjewitsch drehte sich auf seinem Stühlchen den Gästen zu und sagte: »Ich hatte Sie ja schon darauf aufmerksam gemacht, daß es eine ganz einfache und wenig interessante Geschichte sein würde. Und nun, Schwesterlein,« dabei stand er auf, »müssen wir auch fahren.«
Maria Afanasjewna erhob sich ebenfalls, aber der Diakon fing wieder an: Nikolai Afanasjewitsch habe nicht zum richtigen Heiligen beten lassen.
»Das ist nicht meine Sache, werter Vater Diakon,« rechtfertigte sich Nikolai Afanasjewitsch, während er seine Mütze suchte.
»Wieso denn nicht? Natürlich ist es deine Sache! Du mußt doch wissen, zu welchem Heiligen du betest!«
»Erlaubt mal, als ich zum erstenmal deshalb in die Kirche kam, gab ich dem Priester einen Zettel mit der Aufschrift ›um Rückkehr einer entflohenen Sklavin‹ und ein Fünfzigkopekenstück, darauf hielt der Priester einen Bittgottesdienst vor Sankt Johannes dem Krieger ab, und so ging es denn auch später.«
»Wenn die Dinge so stehen, taugt eben der Priester nichts.«
»Wieso? Wieso? Wieso? Wieso taugt der Priester nichts?« mischte sich plötzlich Vater Zacharia Benefaktow ins Gespräch.
»Weil er die Befugnisse seines Amtes nicht kennt,« erwiderte Achilla höchst selbstbewußt. »Wer betet denn um Rückkehr[181] eines entflohenen Knechtes zu Sankt Johann dem Krieger?«
»Ja, was meinst du? Zu wem denn sonst? Zu wem? Zu wem?«
»Zu wem? Ihr habt es wohl vergessen? Neben dem Platz des Kirchenältesten hing früher an der Wand ein Blatt. Jetzt ist es fortgenommen. Allein ich erinnere mich noch ganz genau, welche Heiligen bei den verschiedenen Gelegenheiten anzurufen sind.«
»So.«
»Jawohl! und wenn Ihr's wissen wollt, – zu dem Heiligen Theodor Tyron hätte gebetet werden müssen.«
»Du hast unrecht. Es war ganz richtig, daß sie den Johannes anriefen.«
»Blamiert Euch nicht, Vater Zacharia.«
»Ich sage dir, es war ganz richtig.«
»Ich aber sage Euch, Ihr blamiert Euch ganz unnützerweise. Ich weiß die ganze Tabelle auswendig.«
Er schob den breiten Ärmel seiner Kutte weit auf den Ellenbogen hinauf und bog mit der rechten Hand den Daumen der Linken ein, als ob er ihn abbrechen wollte.
»Um Heilung von der fallenden Sucht,« begann er, »betet man zum heiligen Maroas.«
»Zum heiligen Maroas,« wiederholte Benefaktow zustimmend.
»Um Heilung von der zehrenden Sucht – zum heiligen Märtyrer Artemios,« fuhr Achilla fort und bog in derselben Weise den Zeigefinger ein.
»Artemios,« wiederholte Benefaktow.
»Um Erlösung von Unfruchtbarkeit – zum Wundertäter Romanus; wenn der Gatte sein Weib verschmäht – zu den Märtyrern Gurios, Samon und Abebas; wenn man vom[182] Teufel geplagt wird – zum heiligen Nyphon; gegen die wollüstige Leidenschaft – zur heiligen Thomais …«
»Und zum heiligen Moses Ugrinos,« fügte Benefaktow, der bisher nur im Takt mit dem Kopf geschüttelt hatte, leise hinzu.
Der Diakon, der schon alle fünf Finger der linken Hand eingebogen hatte, sann einen Augenblick nach, indem er den Vater Zacharia scharf ansah, dann öffnete er die linke Faust, um nun die Finger der Rechten einzubiegen, und meinte:
»Ja, man kann auch zum Moses Ugrinos beten.«
»Bitte weiter.«
»Gegen die Trunksucht – zum Märtyrer Bonifatius.«
»Und zum Moses Murinos.«
»Wie?«
»Zum Bonifatius und zum Moses Murinos,« wiederholte Vater Zacharia.
»Ganz recht,« stimmte der Diakon ihm bei.
»Bitte weiter.«
»Zum Schutz gegen bösen Zauber – zum heiligen Märtyrer Cyprianus.«
»Und zur heiligen Justina.«
»So hört endlich auf mit Eurem Vorsagen, Vater Zacharia!«
»Wenn's aber doch mit russischen Buchstaben deutlich gedruckt steht: und der heiligen Justina.«
»Schön, sei's drum! Und der heiligen Justina. Um Wiedergewinnung gestohlener Gegenstände und um Rückkehr entflohener Knechte (der Diakon betonte jedes einzelne Wort) – zu dem Theodor Tyron, dessen Gedächtnis wir am siebzehnten Februar feiern.«
Jedoch kaum hatte Achilla sein letztes Wort gleich einem Trompetensignal herausgeschmettert, als auch schon Zacharia[183] mit derselben leisen und leidenschaftslosen Stimme in der Aufzählung fortfuhr:
»Und zum heiligen Johannes dem Krieger, dessen Gedächtnis wir am zehnten Juli feiern.«
Achilla riß die Augen weit auf und schrie:
»Jetzt fällt mir's ein, ja, man kann auch zu Johannes dem Krieger beten.«
»Aber weshalb habt Ihr denn eine ganze Stunde gestritten, Vater Diakon?« sagte Nikolai Afanasjewitsch, ihm zum Abschied sein Händchen entgegenstreckend.
»Daß mir sowas passieren mußte! Ich hatte die Duplikate vergessen, deshalb stritt ich,« verteidigte sich der Diakon.
»Das ist genau wie im Sprichwort, werter Herr: ich suche meine Mütze und habe sie auf dem Kopfe. Meinen ehrerbietigsten Gruß, Vater Diakon.«
»Ich suche meine Mütze! … Ach, du Kleiner!« grinste Achilla, kriegte den Zwerg am Rockschoß zu packen und setzte ihn auf seine Hand, indem er rief:
»Der ist ja so leicht wie eine Flaumfeder!«
»Laß sein,« befahl Vater Tuberozow.
Der Diakon stellte den Zwerg wieder auf den Boden und bemerkte scherzend, in Anbetracht seiner Leichtigkeit sei es unmöglich, ihn nach Gewicht zu verkaufen. Doch der Propst, den das vorlaute Gebaren des Diakons schon zu ärgern begann, wandte ein:
»Weißt du, wen man nach Gewicht schätzt?«
»Nun, wen?«
»Den Wicht.«
»Schönsten Dank!«
»Bitte sehr, recht gern geschehen.«
Der Diakon wurde verlegen, fuhr mit seinem Baumwolltaschentuch über den haarigen Filz seines Hutes und brummte:
»Ihr könnt auch nie und nirgends ohne Politik auskommen!«
Und schritt mit gekränkter Miene zur Tür hinaus.
Bald begannen sich auch die andern Gäste zu verabschieden und gingen ein jeder seines Weges.
Den Zwerg und seine Schwester trug der bronzebeschlagene Wagen schnell von dannen, Tuberozow aber nahm seinen Weg in Begleitung desselben Darjanow, mit dem wir ihn im Häuschen der Hostienbäckerin Prepotenskaja gesehen haben, langsam über die Brücke.
Als sie das jenseitige Ufer erreicht hatten, machten sie einen Augenblick Halt. Von alter Erinnerung überwältigt meinte der Propst:
»Ist es nicht seltsam, daß dieses alte Märchen, welches uns der Zwerg erzählt und das ich schon so oft gehört habe, daß dieses kindliche Märlein von den Stricknadeln der Alten mich nicht nur erfrischt, sondern auch beruhigt hat nach all der Aufregung, in welche mich die jüngste Wirklichkeit versetzt hatte? Ist das nicht ein deutlicher Beweis dafür, daß ich alt geworden bin und in der Vergangenheit zu leben beginne? Aber nein, das ist es nicht. Ich bin von klein auf so gewesen. Mir fällt eben ein Erlebnis ein: als Student kam ich einmal in das Dorf, in dem ich meine Kindheit verbrachte und sah, wie man die alte Holzkirche niederriß, um an ihrer Stelle ein neues schönes Gotteshaus aus Stein zu errichten … Damals brach ich in Tränen aus.«
»Warum denn?«
»Es war mir leid um das hölzerne Kirchlein. Einen schönen, lichten, neuen Tempel will man in Rußland bauen, und die Enkel, die darin beten werden, werden sich freuen an der Fülle von Licht und Wärme, – und dennoch tut es[185] weh, wenn die alten Balken ohne Erbarmen auseinandergezerrt werden.«
»Ja, lohnt sich's denn wirklich, etwas zu bewahren aus jener alten Zeit, die nichts Besseres wußte, als mit Stricknadeln zu klappern und sich an Zwergenhochzeiten zu erfreuen?«
»Ja, sehen Sie mal, ärmlich genug ist das ja, – und doch fühlte ich etwas vom russischen Geiste darin. Ich gedachte der alten Bojarin und mir wurde so wohl und frei dabei, und das scheint mir der schönste Lohn für meine Pietät. Lebt in gutem Einvernehmen mit eurem alten Märchen, ihr jungen russischen Leute! Solch ein altes Märchen ist ein wunderbares Ding! Wehe dem, der in seinem Alter keines hat! Euren Ohren klingt das Klappern der alten Stricknadeln eintönig, mir aber erzählt es süße Mären! … O wie gerne möchte ich in Frieden mit meinem alten Märchen sterben!«
»Das wird ja wohl auch so werden.«
»Wie soll man das wissen? Wie soll man wissen, wer es sein wird? Aber erlauben Sie, – was ist denn das?« unterbrach der Propst sich plötzlich und sah nach einer Staubwolke, die sich auf dem Berge zeigte und einen mit drei Pferden bespannten Reisewagen, in dem zwei Männer saßen, begleitete. Der eine von ihnen war groß, fleischig, schwarz, mit feurigen Augen und einer unverhältnismäßig großen Oberlippe; der andere klein, glatt rasiert, mit einem völlig leidenschaftslosen Gesicht und hellen, wässerigen Augen.
Der Wagen mit den Fremden fuhr schnell über die Brücke und bog auf dem anderen Ufer links ab.
»Was für unangenehme Gesichter,« sagte der Propst und wandte sich ab.
»Wißt Ihr auch, wer das war?«
»Gott sei Dank, nein.«
»Dann kann ich es Euch zu Eurer Betrübnis sagen. Es ist der Regierungsbeamte Fürst Bornowolokow, welcher seit einiger Zeit hier erwartet wird. Ich habe ihn sofort erkannt, obgleich ich ihn lange nicht gesehen habe. Richtig, sie halten vor dem Biziukinschen Hause.«
»Sagen Sie, bitte, welcher von beiden ist Bornowolokow?«
»Links, der Kleine, ist Bornowolokow.«
»Und der andere?«
»Wohl sein Sekretär. Auch eine Berühmtheit eigener Art.«
»Ein tüchtiger Jurist?«
»Hm! Davon habe ich eigentlich nichts gehört. Aber wegen irgendeiner Studentengeschichte wurde er einmal zu Festungshaft verurteilt.«
»Um Gottes willen! Wie nennt sich dieser Mann?«
»Ismail Termosesow!«
»Termosesow?«
»Ja, Termosesow; Ismail Petrowitsch Termosesow.«
»Himmel, was für Leute unser Zar in seine Dienste nimmt!«
»Wie meint Ihr das?«
»Aber, ich bitte! Dies Gesicht, diese Lippen, und auf Festung hat er gesessen und ist wieder freigekommen, und Termosesow heißt er auch noch.«
»Das ist entsetzlich, nicht wahr?« rief Darjanow laut lachend.
Wir müssen nun, unter dem Zwange der Verhältnisse, welche den Gang unserer Chronik bedingen, den Stargoroder Propst für einige Zeit verlassen, um die Bekanntschaft eines ganz anderen Kreises derselben Stadt zu machen. Wir treten in das Haus des Akzisebeamten Biziukin, in dem die längst erwarteten Petersburger Gäste soeben eingetroffen sind: der Fürst Bornowolokow, ein alter Studiengenosse des Akziseeinnehmers, welcher irgend etwas revidieren oder einführen soll, und sein Sekretär Termosesow, ebenfalls ein alter Bekannter und Gesinnungsgenosse Biziukins. Es ist vormittags und der Postwagen, welcher die Gäste nach Stargorod gebracht hat, macht eben vor dem Hause Halt.
Biziukin selbst war nicht zu Hause, und so mußte ihn seine Gattin vertreten. Diese interessante Frau, die sich viel mit Politik beschäftigte, sah dem Besuche des Gastes nicht ohne innere Bewegung entgegen. Sie wollte sich ihm von ihrer besten und vorteilhaftesten Seite zeigen, und war vom frühen Morgen darauf bedacht, daß ihr Haus den besten Eindruck auf die Ankommenden mache. In aller Frühe prüfte sie sämtliche Gemächer und fand, daß eigentlich nichts ihrem Wunsche entsprach. In der Mitte des reinlichen, freundlich möblierten Wohnzimmers blieb sie stehen und dachte verzweifelt:
»Nein, das ist zum Tollwerden! Hier sieht es ja genau so aus, wie bei Porochontzews oder bei Darjanows oder beim Postmeister, – mit einem Wort, wie überall, vielleicht etwas besser. Die Uhr auf dem Kamin, diese Armleuchter, und da steht das Klavier … Nein, das darf unmöglich so bleiben, um dieser Kleinigkeiten willen will ich nicht die Verachtung der modernen Männer auf mich laden. Ich weiß, wie man moderne Männer der Tat aufnimmt! Ja, aber, wo soll ich hin mit all dem Kram? Soll ich alles hinauswerfen? Das wäre doch zu schade. Die Sachen werden verderben, sie haben Geld gekostet. Und was nützt es, sie hinauszuwerfen, wenn ringsherum … Im Schlafzimmer zum Beispiel die Spitzengardinen … Na ja, ins Schlafzimmer werden die Gäste ja nicht hineinschauen … Ich bringe nur meines Mannes Zimmer in Ordnung!«
Und damit rief die junge Beamtenfrau ihre Dienstboten und ließ sie sofort alles ihrer Meinung nach Überflüssige aus dem Arbeitszimmer ihres Gatten auf den Speicher bringen, so daß nichts weiter übrigblieb als ein Tisch, ein Stuhl und zwei Sofas.
»Ausgezeichnet,« dachte die Biziukina. »Wenigstens ein Zimmer im Hause, das anständig aussieht.«
Sie machte noch zwei große Tintenflecke auf den Schreibtisch und stieß den Spucknapf in der Ecke um, so daß der Sand sich über den Fußboden streute. Aber o Himmel, als sie wieder in den Saal zurückkehrte, bemerkte sie, daß sie das Allerärgste fast übersehen hätte: an der Wand hing ein Heiligenbild!
»Jermoschka! Jermoschka! Schaff sofort dies Heiligenbild hinaus … ich will es in die Kommode legen!«
Das Bild wurde fortgeschafft und die besorgte Hausfrau begab sich in ihr Boudoir, öffnete einen großen Nußbaumschrank,[189] wählte aus ihrer reichhaltigen Garderobe die allerschlechtesten Stücke, rief ihr Dienstmädchen und ließ sich ankleiden.
»Marfa, du liebst die Herrschaften wohl gar nicht?«
»Warum sollte ich sie nicht lieben?«
»Warum solltest du nicht? Nun so, ganz einfach! Wofür sollst du sie denn lieben?«
Das Mädchen wußte nicht, was es antworten sollte.
»Was haben sie dir denn Gutes getan?«
»Gutes, nichts, gnädige Frau.«
»Nun, du dumme Person, dann kannst du sie auch nicht lieben, und in Zukunft bitt' ich dich, die dummen Redensarten ›zu Befehl‹ und ›gnädige Frau‹ und so weiter gefälligst zu lassen. Sag einfach ›ja‹ und ›nein‹ und ›was‹ und ›warum‹. Verstanden?«
»Zu Befehl.«
»Zu Befehl!? Kannst du nicht einfach ›ja‹ sagen?«
»Warum denn, gnädige Frau?«
»Weil ich es so wünsche.«
»Zu Befehl.«
»Schon wieder? Ich hab' dir doch eben erst befohlen: einfach ›ja‹ und ›nein‹ zu sagen.«
»Ja. Aber es wird mir sehr schwer, gnädige Frau.«
»Schwer? Um so leichter wird dir's später werden. Alle werden einmal so sprechen. Hörst du?«
»Zu Befehl.«
»Zu Befehl! Pack dich, dumme Gans! Ich schmeiß dich raus, wenn du mir noch einmal so antwortest. Einfach ›ja‹ – und mehr nicht. Bald wird es überhaupt keine Herrschaften mehr geben; verstehst du? Überhaupt keine mehr! Sie werden bald alle … in Stücke gehackt. Verstanden?«
»Ja,« sagte das Mädchen, um sie irgendwie loszuwerden.
»Jetzt geh und schick mir den Jermoschka her.«
»Nun ist aber noch etwas unbedingt nötig. Ich muß eine Schule hier haben.« Und Madame Biziukina gab ihrem Jermoschka zehn kupferne Fünfkopekenstücke und befahl ihm, möglichst viele Straßenjungen herbeizuschaffen. Er sollte jedem von ihnen sagen, daß er von ihr noch einen zweiten Fünfer bekommen würde.
Nach zehn Minuten kehrte Jermoschka in Begleitung einer ganzen Horde zerlumpter Gassenbuben zurück.
Die Biziukina gab jedem fünf Kopeken, ließ sie im Kabinett ihres Mannes Platz nehmen und sagte zu ihnen:
»Jetzt werde ich euch unterrichten und dafür kriegt jeder noch einen Fünfer. Ist's euch recht so?«
Die Jungen rümpften die Nase:
»Na ja, warum nicht?«
»Wir verstehen doch nicht, aus Büchern zu lesen,« sagte einer von den Klügeren.
»Ich will euch ein Lied lehren, da braucht ihr keine Bücher.«
»Na, wenn's ein Lied sein soll, ist's uns recht.«
»Jermoschka, setze dich auch dazu.«
Jermoschka setzte sich und hielt verlegen die Hand vor den Mund.
»Also jetzt singt ihr alle mit.«
Die Buben sangen nach, so gut sie konnten.
»Heil!« sang Madame Biziukina vor.
»Heil!« wiederholten die Kinder.
In diesem Ausblick hob Jermoschka den Kopf, sah aus dem Fenster und rief:
»Es kommt Besuch, gnädige Frau!«
Die Biziukina ließ das Lineal fallen, mit dem sie den Takt geschlagen hatte und stürzte in den Saal.
Der Fürst Bornowolokow und sein Sekretär Termosesow erschienen. Bei genauer Betrachtung machten sie einen viel interessanteren Eindruck, als sie Tuberozow bei ihrer flüchtigen Begegnung vorgekommen waren.
Der Revisor selbst sah wie ein eingeschlafener Stichling aus. Er war klein, mit gesträubten Haaren, breiten Schultern und Augen, über denen ein feuchter, schläfriger Schleier lag. Er schien zu nichts fähig und zu nichts brauchbar. Er war eben kein Mensch, sondern ein schläfriger Stichling, der sich in allen Meeren und Seen herumgetrieben hatte, nun aber eingeschlafen und so mit Tang bewachsen war, daß in ihm nichts mehr glühte und leuchtete.
Termosesow dagegen erinnerte an einen Kentauren. Er war riesengroß, wie es nur ein Mann sein kann, aber der Bau seines mächtigen Körpers hatte etwas Weibliches. Die Schultern waren sehr schmal, die Hüften übermäßig breit und voll wie Pferdeschinken, die Knie fleischig und rund, die Arme dürr und sehnig; der Hals lang, aber nicht mit stark hervortretendem Adamsapfel, wie bei den meisten hochgewachsenen Menschen, sondern mit einer Vertiefung, wie bei einem Pferde. Um den Kopf flatterte eine mächtige Mähne nach allen Seiten; das Gesicht, mit einer langen, armenischen Nase und einer unverhältnismäßig großen Oberlippe, die schwer auf der untern lastete, war von sehr dunkler Färbung;[192] die Augen waren braun mit tiefschwarzen Pupillen, der Blick scharf und klug.
Die Biziukina beobachtete alles durch das Fenster, ohne von den Fremden gesehen zu werden, und zermarterte sich das Hirn, wer von den beiden wohl der Revisor Bornowolokow und wer Termosesow sei. Endlich kam sie zu dem Schlusse, der Große müßte unbedingt der Fürst Bornowolokow sein, denn er hatte eine Mütze mit einer Kokarde auf dem Kopfe, der andere im Reitfrack und dem bunten Mützchen aber war sicher Termosesow, der unabhängige Mann, der in einem ganz freien Dienstverhältnis zum Fürsten stand. Allein noch eine zweite Frage quälte die Hausfrau: wie sollte sie die Gäste empfangen? Sollte sie ihnen entgegengehen? Das wäre gar zu zeremoniell gewesen. Nichts tun, dasitzen und warten, bis sie kommen? … Das wirkte zu gezwungen! Ein Buch vornehmen? Ja, das wäre das Richtigste, das Natürlichste!
Und sie ergriff das erste beste Buch, blickte aber noch einmal darüber hinweg durch das Fenster und bemerkte, daß Termosesow, den sie für Bornowolokow hielt, ziemlich schmutzige Hände hatte, während ihre wohlgepflegten, müßigen Hände rein waren, wie weißer Schaum.
Sofort nahm Madame Biziukina etwas Erde aus einem auf dem Fensterbrett stehenden Blumentopf, zerrieb sie zwischen ihren Handflächen und setzte sich mit ihrem Buche auf einen Stuhl in der Nähe des Fensters, die Beine übereinanderschlagend.
In diesen Augenblick ließ sich im Hausflur eine fröhliche, recht freundliche Baßstimme vernehmen, und in das Vorzimmer traten beide Gäste: zuerst Termosesow und hinter ihm Fürst Bornowolokow.
Die Hausfrau saß da und rührte sich nicht. Es fiel ihr jetzt erst auf, wie unpassend den Gästen der Blumentopf auf dem Fensterbrett erscheinen mußte, und so verwirrt sie auch war, sie hatte doch noch Zeit zu überlegen, wie man ihn wohl am leichtesten aus dem Fenster hinausbefördern könnte. Dieser Gedanke beschäftigte sie so lebhaft, daß sie sogar die erste Frage überhörte, mit der sich einer der beiden Gäste an sie wandte, wodurch sie tatsächlich den Eindruck einer ganz in ihre Lektüre vertieften Person hervorrief.
Termosesow musterte sie über die Schwelle mit einem scharfen Blick und wiederholte seine Frage.
»Wer sind Sie? Vielleicht Frau Biziukina selbst?« fragte er, ruhig in den Saal eintretend.
»Ich bin Frau Biziukina,« antwortete die Hausfrau, ohne aufzustehen.
Termosesow ging auf sie zu:
»Ich bin Termosesow, Ismail Petrowitsch Termosesow, ein Schulkamerad Ihres Mannes, mit dem ich später wegen einer Dummheit auseinanderkam; und dies ist der Fürst Afanasij Fedosejewitsch Bornowolokow, Regierungsbeamter und Revisor aus Petersburg. Wir wollen hier allen die Hölle heiß machen. Guten Tag!«
Er streckte ihr die Hand entgegen. Sie ergriff sie, während sie mit der andern das Buch auf die Fensterbank legte und[194] bei dieser Gelegenheit den Blumentopf umstieß, so daß er auf die Straße kollerte.
»Was ist das? Sie haben Ihre Blume zum Fenster hinausgeworfen?«
»Das hat nichts zu sagen. Es war keine Blume. Nur Gras zum Auflegen auf Schnittwunden. Aber es taugt auch schon nichts mehr.«
»Selbstverständlich taugt es nichts. Wer legt heute noch Gras auf Schnittwunden! Aber vielleicht gibt es noch solche Esel. Wo ist denn Ihr Mann?«
Die Biziukina sah den Revisor an, der ohne ein Wort zu sagen auf dem kleinen Sofa Platz genommen hatte, und erwiderte Termosesow, ihr Mann sei nicht zu Hause.
»Nicht zu Hause? Na, macht nichts, wir sprechen uns noch. Wir waren dicke Freunde, bis uns eine Dummheit auseinanderbrachte. Aber ich muß offen bekennen, Sie passen nicht zu diesem Mann. Nein, wirklich ganz und gar nicht, darüber ist kein Wort zu verlieren. Er ist ein Hohlkopf, weiter nichts, und es ist sein Glück, daß Sie ihm zu dieser Stelle in der Akzise verhelfen konnten. Sie aber sind ein Prachtkerl, der alles ganz famos gedeichselt hat, – dem Mann die Stelle verschafft und – fein ist's hier bei Ihnen!« fügte er hinzu, indem er mit einem schnellen Blick alle vom Saale aus sichtbaren Räume der Wohnung musterte. Als er in dem allen Schmuckes beraubten Kabinett die Kinderschar bemerkte, die sich an der Schwelle drängte, meinte er:
»Ah, so etwas wie eine Schule haben Sie auch hier. Schäbig genug ist das Zimmerchen, aber als Schulraum geht's noch an. – Zu was Deubel unterrichten Sie die Lausebande eigentlich?« schloß er plötzlich schroff.
Die Biziukina geriet in Verlegenheit, aber Termosesow half ihr selbst darüber hinweg. Er ging auf die Jungen zu,[195] faßte einen von ihnen unter das Kinn und fragte: »Na? Verstehst du Erbsen zu mausen? Lern's, mein Junge, und wenn sie dich nach Sibirien expedieren, mag mein Segen dich begleiten. Lassen Sie sie laufen, Biziukina! Marsch nach Hause, ihr Halunken! Fix ans Erbsenstehlen!«
Die Jungen kamen langsam einer nach dem andern aus dem Kabinett und zogen im Gänsemarsch durch den Saal. Dann ging es in beschleunigtem Tempo durch das Vorhaus und über den Hof.
»Wozu all diese Schulen? Nichts als Zeitvergeudung!«
»Das finde ich auch,« sagte die Hausfrau kleinlaut.
»Versteht sich. Bekommen Sie eine Unterstützung?«
»Nein. Wo sollte die auch herkommen?«
»Warum nicht? Andere bekommen sie doch! – Und das ist wohl Ihr Früchtchen?« fragte er, indem er auf den herausgeputzten Jermoschka zeigte, der eben eingetreten war. Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte er sich an den Jungen:
»Geh mal, mein liebes Goldsöhnchen, und sag dem Dienstmädchen, daß wir uns waschen wollen.«
»Das ist gar nicht mein Sohn,« sagte die Hausfrau verlegen.
Aber Termosesow hörte es nicht. Er glaubte nun einmal, den Sohn der Hausfrau vor sich zu haben, und hielt dieser eine Predigt, wie und wozu sie ihn erziehen solle.
»Bereiten Sie ihn für den Staatsdienst vor. Daß er nur keine literarischen Neigungen kriegt! Sehn Sie mich an. Ich dürfte eigentlich gar nicht Staatsbeamter sein, aber durch Hintertüren und auf Hintertreppchen hab' ich mich doch rangeschlängelt. Jawohl! Und bin doch früher selbst Nihilist gewesen und ärgerte mich sogar über Ihren Mann, als er Akzisebeamter wurde. Dumm war das! Warum soll unsereins nicht Staatsbeamter sein? Als Beamter kann man sich[196] beliebt machen, als Beamter hat man Geld, als Beamter gewinnt man Einfluß, – das ist etwas ganz anderes als die blöde Schriftstellerei. Dort muß man noch Talent haben, hier aber wird es nur störend empfunden. Als Staatsbeamter kann ich die Leute sortieren. Was bist du für ein Kerl? – Du kommst hierher. Und du bist so einer? – Du kommst dahin. Du bist keiner von den unsern? So zwing' ich dich, ersticke dich, zerbreche dich, – und der Staat muß mich dafür bezahlen. – Na, was starren Sie mich so an? Es kommt Ihnen wohl sonderbar vor, was ich da aus der Praxis erzähle?«
Die verblüffte Hausfrau schwieg, der Gast aber fuhr fort:
»Ihr richtet hier Schulen ein, – na ja, wenn man sich an die landesübliche Schablone der roten Hähne halten wollte, müßte man das loben, aber Termosesow als praktischer Mensch tut das nicht. Termosesow sagt: Zum Teufel mit den Schulen, sie sind vom Übel; wenn das Volk zu lesen versteht, nimmt es die heiligen Bücher vor. Sie glauben, die Bildung gehört zu den zerstörenden Elementen? Keineswegs. Sie ist ein aufbauendes Element, wir aber wollen vor allem zerstören.«
»Es heißt doch aber, eine Revolution wäre jetzt bei dem Bildungsstand unseres Volkes nicht möglich,« wagte die Hausfrau einzuwerfen.
»Zu was Teufel brauchen wir sie denn, die Revolution, wenn es auch ohne Revolution ganz nach unsern Wünschen geht? Aber sehn Sie, da steht Ihr Söhnlein und spitzt die Ohren. Warum erlauben Sie ihm zuzuhören, was die Erwachsenen reden?«
»Das ist gar nicht mein Sohn,« sagte die Dame.
»Nicht Ihr Sohn? Wer ist es denn?«
»Ein Diener.«
»Ein Diener! Und so herausstaffiert! Fix, Waschwasser, du Teufelsbraten!«
»Ist schon fertig,« antwortete Jermoschka schroff, wie es ihm vorgeschrieben war.
»Warum hast du es denn nicht gleich gesagt? Marsch hinaus!«
»Das ist nun ein wahrhaft kluger Mensch,« dachte Frau Daria Biziukina, als sie wieder allein geblieben war, und starrte unverwandt nach der Tür, durch die Termosesow hinausgegangen war. »Alle andern sind so streng, – dies kann man nicht und das soll man nicht, hier aber ist alles erlaubt, alles möglich, und doch fürchtet dieser Mann sich vor nichts. Mit so einem Mann zu leben wäre leicht; ja es wäre süß, sich ihm zu unterwerfen.«
Der arglistige Fremde hatte das Herz Darias völlig erobert. Alles an dem Gaste begann ihr zu gefallen. Was hatte er für eine Stimme! Wie stark war er! Überhaupt, – was war er für ein Mann! … Wie entzückend war er! Kein Seladon, wie ihr Gatte; kein Trantopf, wie Prepotenskij, – nein, er war entschlossen, unbeugsam, ein ganzer Mann … Der würde nie nachgeben! Er war wie der Sturmwind … er kommt … reißt fort … vernichtet …
Wo bist du nun, du armer Akziseeinnehmer? Juckt dir nicht schon die Stirn wie einem jungen Böcklein, dem die Hörner wachsen wollen?
Zu den Ohren der verliebten Biziukina war aus dem Kabinett längst schon bald ein sanftes Entenplätschern, bald ein wildes Spritzen und seltsames Gurgeln gedrungen. Plötzlich jedoch war alles still geworden und immer noch zeigte sich Termosesow nicht. Hatte er denn wirklich so viel mit diesem wortkargen Fürsten zu reden? Oder schlief er? … Das konnte der Fall sein, denn die Reise mußte ihn ermüdet haben. Oder las er vielleicht? Was konnte er lesen? Und was brauchte er zu lesen, wenn er selbst klüger war als alle Bücherschreiber? … Aber während sie so grübelte, ging die Tür auf und auf der Schwelle erschien Jermoschka mit einer Waschschüssel voll Seifenwasser. Er schloß die Tür nicht hinter sich, so daß Daria Nikolajewna ins Zimmer hineinsehen konnte. Ganz hinten am Fenster entdeckte sie die schmächtige Figur des Fürsten. Dicht vor ihm, etwas näher zur Tür, erhob sich der fleischige Torso Termosesows. Beide, der Revisor und sein Sekretär, waren im Negligé. Bornowolokow in Beinkleidern und einem schneeweißen Hemde aus holländischer Leinwand, über das sich kreuzweise die zwei roten Streifen der seidenen Hosenträger legten. Sein kleines blondes Köpfchen war glatt gekämmt, und er bemühte sich, es mit Hilfe einer Metallbürste noch mehr zu glätten. Termosesows Gestalt zeigte sich in ihrer ganzen plastischen Vollendung, der Kragen seines Hemdes war aufgeknöpft[199] und die weit über den Ellbogen aufgeschürzten Ärmel ließen die muskulösen, dicht behaarten Arme deutlich erkennen.
Mit diesen Armen hob Termosesow ein langes russisches Handtuch, an dessen Enden rote Hähne gestickt waren, und bearbeitete damit seine sich wild sträubenden nassen Haare aufs kräftigste.
Aus der Energie, mit welcher der liebenswürdige Ismail Petrowitsch dieses Geschäft betrieb, ließ sich ohne weiteres erraten, daß die fröhlichen, machtvollen und ungenierten Fiorituren, die eben noch durch die geschlossene Tür bis in den Saal gedrungen waren, von Termosesow herrührten, während Bornowolokow nur wie eine Ente zischen und plätschern konnte. Der zurückkehrende Jermoschka, welcher die Tür zuschlug, zerstörte das holde Bild.
Aber Termosesow hatte genügend Zeit gehabt, um das Feld mit seinem Adlerblick zu überschauen, und er ließ sich die Gelegenheit nicht nehmen, die Hausfrau durch sein Erscheinen ohne den Fürsten zu erfreuen. Er warf schnell seinen weiten Mantel über seine höchst unvollkommene Toilette und stieß den armen Jermoschka, ihn am Ohr packend, ins Vorzimmer hinaus mit den Worten:
»Daß du deine Nase hier nicht zu zeigen wagst, bis ich dich rufen werde!«
Dann schloß er die Tür zum Kabinett, in dem sich der Fürst noch befand, und setzte sich in seinem immerhin recht seltsamen Kostüm ungeniert neben die Hausfrau.
»Hören Sie mal, Biziukina, so geht das nicht, Herzchen,« fing er an und faßte sie ohne weiteres bei der Hand. »Sie haben Ihren Lausbuben gar zu sehr verwöhnt. Ich nannte ihn ein Ferkel, weil er dem Fürsten die Ärmel beplantscht hatte, worauf er mir: ›Meine Mutter ist keine Sau, sondern[200] eine Frau!‹ antwortete. Daran sind Sie natürlich schuld, Sie haben ihn so emanzipiert, nicht wahr?«
Und mit völlig veränderter Stimme fuhr er zärtlich fort: »Sie sind es? Ja? Sagen Sie – ja?« Dieses Ja wurde in einem Ton gesagt, der das Herz der Biziukina erschauern machte. Sie begriff, daß die gewünschte Antwort gar nicht der gestellten Frage galt, sondern einer unausgesprochenen, deren heimlicher Sinn sie durch seinen Realismus geradezu erschreckte, und darum schwieg sie. Aber Termosesow ließ nicht locker.
»Ja oder nein? Ja oder nein?« drängte er mit wachsender Ungeduld.
Zu langem Überlegen war keine Zeit. Die Biziukina sah Termosesow ängstlich an und begann schüchtern:
»Ja, ich weiß n…«
Aber Termosesow unterbrach sie hart:
»Ja!« rief er. »Ja! Und damit genug! Weiter brauchst du mir nichts zu sagen. Gib mir dein Händchen. Gleich auf den ersten Blick habe ich erkannt, daß wir zueinander gehören, und eine andere Antwort habe ich von dir nicht erwartet. Jetzt keine Zeit verloren! Beweise mir deine Liebe durch einen Kuß.«
»Wollen Sie nicht ein Glas Tee?« stammelte Daria Nikolajewna, als ob sie diese Worte nicht gehört hätte.
»Komm mir nicht mit solchen Geschichten! Ich bin kein Teekessel, sondern ein Dampfkessel.«
»Dann ist Ihnen Wein vielleicht lieber?« flüsterte Daria, sich von ihm losmachend.
»Wein?« wiederholte Termosesow. »Du bist süßer als Myrrhen und Wein!« Und damit zog er Madame Biziukina an sich. »Laß uns verschmelzen in seligem Kusse«, flüsterte er und schloß ihr rotes Mündchen mit seinen Pferdelippen.
»Jetzt aber sag mir mal, warum bist du eine so renitente Monarchistin?« fragte er unmittelbar nach dem Kusse, die Hand der Dame seinen Augen nähernd.
»Ich bin gar nicht Monarchistin,« beteuerte die Biziukina hastig.
»Wem gilt denn deine Hoftrauer? Dem Maximilian von Mexiko?«
Und Termosesow wies lachend auf die schwarzen Streifen an ihren Fingernägeln, schob sie zur Seite und sagte: »Geh, wasch deine Hände!«
Daria Nikolajewna wurde feuerrot und war nahe daran zu weinen. Sie hatte sonst immer tadellos saubere Nägel. Sie eilte in ihr Schlafzimmer, wusch dort die Hände und kam lächelnd zurück.
»So,« sagte sie, »jetzt bin ich wieder Republikanerin, ich habe ganz weiße Hände.«
Der Gast aber drohte ihr mit dem Finger und meinte, der Republikanismus sei nur ein dummer Spaß.
»Was brauchen wir uns um die Republik zu kümmern?« sagte er. »Man kann damit bös reinfallen. Aber ich habe die photographischen Bildnisse sämtlicher regierender Herrschaften mit. Soll ich sie dir schenken, daß wir sie hier an die Wand hängen?«
»Ich habe sie ja selbst.«
»Wo sind sie denn? Wohl versteckt? He? Ich schwör's beim Satan selber, daß ich's erraten habe: du erwartetest unsern Besuch aus Petersburg, und um mit deinem Liberalismus zu prahlen, hast du sie versteckt! Dumm ist das, mein Töchterchen, sehr dumm! Bring sie mal fix her, ich hänge sie dir wieder auf.«
Die ertappte Einnehmersfrau wurde wieder bis an die Ohren rot, holte aber die eingerahmten Bildnisse aus dem[202] Tischkasten heraus und brachte auf Termosesows Befehl Hammer und Nägel, worauf der Gast sich gleich an die Arbeit machte.
»Ich denke, wir bringen sie gleich hier an dieser Wand an,« sagte er, mit dem Finger durch die Luft fahrend.
»Wie Sie meinen.«
»Was nennst du mich immer noch Sie, wenn ich dich duze? Du sollst du sagen. Und nun gib mal die Bilder her.«
»Die hat alle mein Mann gekauft.«
»Sehr richtig von ihm, daß er die Obrigkeit hochachtet! Die Herren Minister hängen wir alle hier unten nebeneinander auf. Her damit! Wer ist das? Gortschakow. Der Kanzler. Ausgezeichnet! Er hat Rußland gerettet! Sehr nett von ihm! Dafür wird er als Erster aufgehängt.«
Als alle Bilder an der Wand befestigt waren, ergriff Termosesow die rechte Hand der Biziukina und drückte sie an seine Brust.
»Nicht wahr, ich habe ein heißes Herz?« fragte er, ihre Verlegenheit ausnutzend.
Aber Daria Nikolajewna riß ihre Hand los und erwiderte zornig: »Sie werden aber zu frech.«
»Tä–tä–tä–tä–! Zu frech! Ganz und gar nicht ›zu‹, sondern gerade, wie sich's gehört,« spottete Termosesow und legte den andern, freien Arm um ihren Leib.
»Sie sind ein ganz unverschämter Mensch! Sie vergessen, daß wir uns kaum kennen,« schrie Daria Nikolajewna entrüstet und riß sich von ihm los.
»Ich bin nicht unverschämt und ich vergesse auch nichts! Termosesow ist bloß klug, schlicht, natürlich und praktisch – weiter nichts. Termosesow denkt einfach so: wenn du ein vernünftiges Frauenzimmer bist, dann weißt du, warum du mit einem Mann so intim redest, wie du mit mir geredet[203] hast; weißt du aber selber nicht, warum du dich so benimmst, dann bist du eine Gans und es hat keinen Sinn, dich schonend zu behandeln.«
Madame Biziukina wollte natürlich klug sein.
»Sie sind sehr schlau,« sagte sie, das Gesicht abwendend.
»Schlau! Was braucht's hier Schlauheit? Ja, wenn du mich liebst oder ich dir gefalle …«
»Wer hat Ihnen denn gesagt, daß ich Sie liebe?«
»Laß doch das Flunkern!«
»Nein, ich rede die Wahrheit. Ich liebe Sie gar nicht und Sie gefallen mir nicht im geringsten.«
»Quatsch keinen Blödsinn! Du liebst mich nicht? Nein, laß dir mal ganz was anderes sagen: ich fühle dich und verstehe dich und will dir offenbaren, wer ich bin, aber nur, wenn wir ganz allein und ungestört sind.«
Daria Nikolajewna schwieg.
»Verstehst du, wie ich es meine? Damit wir einander ganz kennen lernen, müssen wir mal zusammenkommen … Ein Rendezvous – verstehst du – natürlich zu politischen Zwecken.«
Daria Nikolajewna schwieg wieder. Termosesow seufzte, ließ ihre Hand leise los und sagte:
»O ihr Weiber im heiligen Rußland! Und ihr wollt es noch den Polinnen gleichtun! Nein, meine Lieben, mit denen nehmt ihr es noch lange nicht auf! Gebt den Ismail Termosesow einer Polin, sie würde nicht von ihm lassen und in Gemeinschaft mit ihm den Ararat auf den Kopf stellen!«
»Die Polinnen sind ganz was anderes,« sagte Daria Nikolajewna.
»Warum?«
»Sie lieben ihr Vaterland und wir hassen unseres.«
»Was ist denn dabei? Die Feinde der Polinnen sind also alle Feinde der Unabhängigkeit Polens und eure Feinde sind alle russischen Patrioten.«
»Das ist wahr.«
»Nun, wer ist also hier dein schlimmster Feind? Nenn ihn mir und du sollst sehn, wie er die ganze Schwere der Hand Termosesows spüren wird!«
»Ich habe viele Feinde.«
»Nenn mir die schlimmsten! Die allerschlimmsten!«
»Die schlimmsten sind zwei.«
»Die Namen dieser Unseligen! Die Namen!«
»Der eine ist … der hiesige Diakon Achilla.«
»Es sterbe der Diakon Achilla!«
»Der andere ist der Propst Tuberozow.«
»Wehe dem Propst Tuberozow!«
»Hinter ihm steht die ganze Stadt, das ganze Volk.«
»Nun, und was tut das? Termosesow kennt die Obrigkeit und fürchtet daher keine Stadt und kein Volk.«
»Die Obrigkeit ist nicht sehr gut auf ihn zu sprechen.«
»Nicht gut zu sprechen? Um so leichter kommen wir ihm an den Kragen. Jetzt aber merke dir nur folgendes: Gewinn mich lieb und werde mein, Herodias!«
Madame Biziukina küßte ihn ohne Bangen.
»Das war ehrlich!« rief Termosesow, und nachdem er sie ausgefragt hatte, was sie von ihren Feinden Tuberozow und Achilla zu leiden gehabt, drückte er ihr lächelnd die Hand und ging in das Kabinett zurück, wo sein Gefährte die ganze Zeit über geblieben war.
Der durchlauchtige Gefährte Termosesows lag in einem weißen Jackett auf dem für ihn aufgeschlagenen Bette, hatte die Füße mit einem leichten Plaid zugedeckt und schien mit geschlossenen Augen vor sich hin zu träumen.
Termosesow wollte sich überzeugen, ob sein Vorgesetzter schlafe oder sich bloß schlafend stelle, darum trat er leise an das Bett, beugte sich über das Gesicht des Fürsten und nannte ihn beim Namen.
»Schlafen Sie?« fragte er.
»Ja,« antwortete Bornowolokow.
»Was soll das heißen? Wenn Sie mir antworten, können Sie nicht schlafen.«
»Ja.«
»Das ist also ein Blödsinn.«
Termosesow begab sich zu dem zweiten Sofa, warf seinen Mantel ab und streckte sich ebenfalls aus.
»Während Sie sich hier rekelten, habe ich schon sehr viel geleistet,« sagte er, sich zurechtlegend.
Bornowolokow antwortete wieder nichts als »Ja«, es war aber ein ganz besonderes Ja, sozusagen ein neugieriges Ja, das eher wie eine Frage klang.
»Jawohl, ja! Ich kann sagen, daß ich einige für uns sehr bedeutsame Entdeckungen gemacht habe.«
»Mit dieser Dame?«
»Die Dame? Die ist eine Sache für sich. Erinnern Sie sich aber noch, was ich Ihnen sagte, als ich Sie in Moskau auf der Sadowaja fing?«
»Ach ja!«
»Ich sagte: ›Eure Durchlaucht, gnädigster Fürst! So geht man mit alten Kameraden nicht um, – daß man sie nämlich fallen läßt. Nur Lumpen handeln so.‹ Habe ich Ihnen das gesagt oder nicht?«
»Ja, Sie haben das gesagt.«
»Aha, Sie erinnern sich noch! Nun, dann müssen Sie sich auch noch erinnern, wie ich Ihnen meine Gedanken weiter entwickelte und bewies, daß Sie als unser heutiger Prinz Egalité nicht das Recht haben, auf Ihre Herkunft und Ihre bevorzugte amtliche Stellung zu pochen und über uns alte Montagnards, Ihre einstigen Freunde, die Nase zu rümpfen. Ich habe Ihnen das alles haarklein auseinandergesetzt.«
»Ja, ja.«
»Schön! Sie verstanden, daß mit mir nicht gut Kirschen essen ist, und zeigten sich sehr nachgiebig. Dafür lob' ich Sie. Sie begriffen, daß Sie mich nicht so am Wege liegen lassen durften, denn Hunger ist ein böser Berater, und einem Hungrigen fällt alles mögliche ein. Termosesow hat zudem noch ein vorzügliches Gedächtnis und einen scharfen Riecher. Als Sie noch ein feuerroter Umstürzler waren, wußte er schon, daß Sie bestimmt mal Kehrt machen würden.«
»Ja.«
»Sie beschlossen, mich als Ihren Sekretär mitzunehmen … Das heißt, um der Wahrheit die Ehre zu geben und Sie nicht durch Schmeichelei zu kränken, Sie entschlossen sich nicht selbst dazu, sondern ich zwang Sie, mich mitzunehmen. Ich machte Ihnen Angst, ich könnte Ihre Korrespondenz[207] mit gewissen Freunden an der Weichsel bekannt geben.«
»Ach!«
»Tut nichts, mein Fürst, seufzen Sie nicht. Was ich Ihnen damals in Moskau auf der Sadowaja sagte, als ich Sie am Rockknopf festhielt und Sie vor mir davonlaufen wollten, das sag' ich Ihnen auch heute wieder: seufzen Sie nicht und jammern Sie nicht, daß Termosesow über Sie gekommen ist. Ismail Termosesow wird Ihnen noch einen großen Dienst leisten. Sie und Ihre gegenwärtige Partei, in der keine solchen Halunken zu finden sind wie Termosesow, sondern viel feinere Kunden, gründen Zeitungen und suchen auf diese oder jene Art Fühlung mit dem Volk zu gewinnen.«
»Ja.«
»Das wird Ihnen aber nie gelingen.«
»Warum nicht?«
»Weil ihr ungeschickt seid. Die Patrioten erkennen euch sofort an den Klauen, packen euch am Schopf und schmeißen euch auf die Gasse hinaus.«
»Hm!«
»Jawohl! Aber laßt ihr die Zeitungen schwimmen und haltet euch an Termosesow, so deichselt er euch die ganze Geschichte glänzend. Seien Sie mein Märchenprinz Iwan, so will ich Ihr grauer Wolf sein.«
»Ein Wolf sind Sie schon.«
»Das ist es eben. So ein grauer Wolf schafft Ihnen die goldmähnigen Rosse und den Feuervogel und die Prinzessin und setzt Sie zu guter Letzt auf den Königsthron.«
Und damit sprang der graue Wolf von seiner Lagerstätte auf, lief an das Bett seines Prinzen Iwan und sagte leise:
»Rücken Sie mal ein bißchen zur Wand, ich will Ihnen was ins Ohr flüstern.«
Bornowolokow gehorchte, und Termosesow setzte sich auf den Bettrand, legte seinen Arm um den Fürsten und fing mit leiser Stimme an:
»Versetzen Sie mal der Kirche eins. Da steckt das Gift! Jagt ihren Bonzen mal einen heilsamen Schrecken ein.«
»Ich verstehe nichts.«
»Das Christentum macht die Menschen doch gleich, nicht wahr? Es hat doch Staatsmänner genug gegeben, die in der Übersetzung der Bibel in die Volkssprache eine Gefahr sahen. Nein, das Christentum … man kann es sehr leicht … wissen Sie, in gefährlichem Sinne auslegen. Und solch ein Ausleger kann jeder beliebige Pope sein.«
»Das klingt ganz plausibel.«
»Na also. Danken Sie Ihrem Schicksal, daß es Ihnen Termosesow gesandt hat! Ich stelle Ihnen einen Bericht zusammen, daß sogar Ihre Feinde Ihnen Gerechtigkeit widerfahren lassen und Sie für ein administratives Genie erklären.«
Termosesow dämpfte die Stimme noch mehr und fuhr fort:
»Erinnern Sie sich noch, wie wir schon hier in der Gouvernementsstadt auf dem Heimweg aus dem Klub mit dem Kanzleivorsteher sprachen, und wie er einen freisinnigen Popen erwähnte, welcher sogar frech gegen Seine Exzellenz geworden sei?«
»Ja.«
»Daran haben Sie natürlich nicht gedacht, daß dieser Pope Tuberozow heißt und daß er hier, in dieser Stadt amtiert, wo Sie sich auf dem Lotterbette rekeln und nichts über ihn zu melden imstande sein werden.«
Bornowolokow fuhr in die Höhe und fragte, aufrecht auf dem Bette sitzend:
»Wie können Sie wissen, was der Kanzleivorsteher mir gesagt hat?«
»Sehr einfach. Ich ging damals leise hinter Ihnen. Es ist gut, wenn man Sie immer im Auge behält. Aber das ist jetzt Nebensache. Wir müssen unsere Taktik zuerst an diesem Tuberozow erproben und seine Gemeingefährlichkeit, wie überhaupt die Gemeingefährlichkeit derartiger unabhängiger Charaktere unter den Geistlichen erweisen. So kommen wir zu dem logischen Ergebnis, daß die Religion überhaupt nur als ein Zweig der Verwaltung geduldet werden kann. Sobald aber der Glaube als wirklicher Glaube auftritt, ist er gefährlich und muß eingeschränkt, muß unter Kontrolle gestellt werden. Diesen Gedanken werden Sie als Erster verkünden, und man wird ihn stets in Verbindung mit Ihrem Namen wiederholen, wie man die Gedanken eines Macchiavelli und Metternich wiederholt. Sind Sie zufrieden mit mir, mein Herr und Gebieter?«
»Ja.«
»Und geben mir Vollmacht zu handeln?«
»Ja.«
»Wie soll ich dieses Ja verstehen? Heißt das, daß Sie es ebenfalls wollen?«
»Ja, ich will es.«
»Also! Manchmal heißt Ihr Ja nämlich zugleich Ja und Nein.«
Termosesow erhob sich vom Bette seines Gebieters und sagte:
»Wir armen Sklaven können nicht lange untätig sein. Uns hat keine gütige Fee die Mittel in die Hand gegeben, vom Nihilisten im Handumdrehen zum Satrapen zu werden. Ich sorge für Sie, aber auch für mich. Ich mag nicht mehr hungern. Wo immer ich mich auch zeige, immer heißt's ›ein Roter‹ – und niemand will mich nehmen.«
»Waschen Sie sich weiß.«
»Wo soll ich die Seife hernehmen?«
»Warum haben Sie sich nicht in Petersburg als Spion gemeldet?«
»Ich hab's versucht,« antwortete Termosesow ungeniert, »aber wir leben in einem realistischen Zeitalter: alle einträglichen Stellen waren schon besetzt. Man muß sich erst irgendwie bewährt haben, wurde mir gesagt.«
»So bewähren Sie sich doch.«
»Geben Sie mir Gelegenheit, zu zeigen, was ich kann. Sonst fang' ich, bei Gott, mit Ihnen an.«
»Vieh!« zischte Bornowolokow.
»M–m–m–mu–u–uh!« brummte Termosesow ganz laut.
Bornowolokow sprang auf, faßte sich entsetzt an den Kopf und rief:
»Was soll das noch?«
»Was? Das schwarze Vieh brüllt, weil es fressen will, und es bittet das weiße, es etwas höflicher zu behandeln,« sagte Termosesow ruhig.
Bornowolokow knirschte vor Wut mit den Zähnen und drehte sich schweigend zur Wand.
»Aha! So ist's schon besser! Zähme deinen Zorn, edler Fürst, und bilde dir nicht so viel darauf ein, daß du weiß bist, sonst mal' ich dich so schön an, daß du grau-gelb-grün schimmern wirst und im Schatten blau mit schwarzen Pünktchen. Vergiß nicht, daß ich dir als Zuchtrute mitgegeben bin; ich bin der Dorn in den Blättern deines Kranzes. Trage mich mit Ehrfurcht.«
Der gemarterte Bornowolokow unterdrückte einen Seufzer und stellte sich schlafend. Der triumphierende Sieger aber schlief wirklich ein.
Daria Nikolajewna war mit ihrer gesamten Dienerschaft eifrig bemüht, ihren Appartements das frühere Aussehen wiederzugeben. An den Wänden reihte sich bald wieder Bild an Bild, vor den Kamin stellte sie einen kostbaren Schirm, auf den Kamin selbst eine schwarze Marmoruhr mit einem Perpendikel in Gestalt eines Sternes, über die Tische breiteten sich neue kostbare Decken; Lampen, Porzellan, Bronzen, Statuetten und allerlei Kleinkram bedeckten jeden freien Platz im Salon und Schlafzimmer, so daß die Wohnung bald an das Logement einer reichen Halbweltdame erinnerte, die sich von ihren Verehrern die unnützesten Dinge ohne Sinn und Verstand hatte schenken lassen.
Noch als die Arbeit im besten Gange war, erschien unerwartet der Lehrer Prepotenskij und war völlig verblüfft. Natürlich konnte er diesen »Schick« nicht billigen. Als aber Daria Nikolajewna, die ihn gar nicht beachtete, die Unverschämtheit hatte, den Dienstboten zu befehlen, in Gegenwart des Lehrers die Überzüge von den Möbeln abzunehmen, da wurde es ihm zu viel, und er fragte:
»Und Sie schämen sich nicht?«
»Ganz und gar nicht.«
»Das ist einfach unverschämt!« rief Prepotenskij, setzte sich in eine Ecke und nahm ein neues Buch vor.
In diesem Augenblick hörte man Termosesow im Nebenzimmer husten. Kurz entschlossen meinte die Biziukina:
»Gehn Sie raus!«
Das kam so unerwartet, daß sogar Prepotenskij den harten Sinn dieser Worte nicht begriff und die Dame ihren Befehl wiederholen mußte.
»Raus?« fragte der verblüffte Lehrer noch einmal.
»Ja. Ich wünsche Sie nicht mehr in meinem Hause zu sehn.«
»Meinen Sie das im Ernst?«
»Vollkommen im Ernst.«
Im Zimmer der Gäste wurde es wieder laut.
»Gehn Sie bitte hinaus, Prepotenskij,« rief die Biziukina ungeduldig. »Hören Sie? Hinaus!«
»Aber ich bitte Sie, ich störe doch gar nicht.«
»Doch, Sie stören!«
»Ich kann mich ja bessern.«
»Sie sind unverbesserlich,« widersprach die Hausfrau ungeduldig und suchte den Gast von seinem Platze zu vertreiben.
Allein auch Prepotenskij zeigte sich als Mann von Charakter und verlangte ruhig, aber fest eine Erklärung, warum sie ihn für unverbesserlich halte.
»Weil Sie ein kompletter Esel sind!« schrie endlich die Biziukina ganz außer sich.
»Ah, das ist etwas anderes,« sagte Prepotenskij aufstehend. »In diesem Falle bitte ich nur um Rückgabe meiner Knochen.«
»Fragen Sie Jermoschka danach. Ich hab' ihm befohlen, sie hinauszuwerfen.«
»Hinauszuwerfen!« schrie der Lehrer und stürzte in die Küche. Als er nach einer halben Stunde zurückkam, war Daria Nikolajewna bereits in einer so blendenden Toilette, daß der Lehrer, als er sie erblickte, sich am Ofen festhalten mußte, um nicht umzufallen.
»Ah, Sie sind noch nicht fort?« fragte sie streng.
»Nein, ich bin nicht gegangen und kann nicht gehn … denn Ihr Jermoschka …«
»Nun?«
»Er hat die Knochen an einen Ort geworfen, daß für mich keine Hoffnung mehr …«
»O, ich sehe, Sie wollen hier noch lange predigen!« rief die Biziukina in wildem Zorn, packte den Lehrer bei den Schultern und stieß ihn ins Vorzimmer. In demselben Augenblick ging die Tür des Kabinetts auf und Termosesow erschien auf der Schwelle.
»Bah! Bah! Bah! Was bedeutet denn das?« fragte er die Biziukina und rieb sich die verschlafenen Augen.
»Ach, gar nichts, das ist … ein dummer Mensch, der früher bei uns verkehrte,« antwortete sie und ließ den Lehrer los.
»Weshalb soll er denn jetzt hinausgeworfen werden? Was hat er denn getan?«
»Nichts, gar nichts,« sagte Prepotenskij.
Termosesow sah ihn an und fragte:
»Wer sind Sie denn?«
»Der Lehrer Prepotenskij.«
»Wodurch haben Sie die Dame verletzt?«
»Durch nichts, durch gar nichts.«
»So kommen Sie her, ich will Sie versöhnen.«
Prepotenskij kam sofort zurück.
»Weshalb nennen Sie ihn eigentlich dumm?« fragte Termosesow die Hausfrau und hielt dabei den Lehrer an beiden Händen fest. »Ich kann es nicht finden.«
»Ja, versteht sich, Sie können mir glauben, ich bin gar nicht dumm,« sagte Warnawa lächelnd.
»Ganz richtig, und das Verhalten unserer Frau Wirtin Ihnen gegenüber kann ich nicht billigen. Aber zum Zeichen der Versöhnung soll sie uns Tee geben. Ich trinke gern ein Glas Tee, wenn ich geschlafen habe.«
Daria Nikolajewna ging hinaus, um den Tee zu bestellen.
»Na, und Sie, Herr Lehrer, nehmen Sie Platz und plaudern wir ein bißchen. Ich sehe, Sie sind ein guter Kerl, mit dem sich leben läßt,« begann Termosesow, als er mit Warnawa allein war, der ihn in fünf Minuten in sein ganzes trauriges Schicksal daheim und draußen eingeweiht hatte. Nichts wurde vergessen, weder die Mutter, noch die Totengebeine, noch Achilla, noch Tuberozow, bei dessen Namen Termosesow seine Aufmerksamkeit verdoppelte. Endlich erzählte der Lehrer auch noch von der Vormittagsschlacht des Diakons mit dem Kommissar Danilka.
Bei diesem Bericht räusperte sich Termosesow, klopfte Prepotenskij auf das Knie und sagte leise:
»Also, Herr Professor, ich beauftrage Sie hiermit, mir morgen früh diesen Kleinbürger unbedingt herbeizuschaffen.«
»Den Danilka?«
»Ja, den der Diakon beleidigt hat.«
»Das ist ja eine Kleinigkeit.«
»Also her mit ihm!«
»Morgen in aller Frühe ist er hier.«
»Recht so. Sie sind ein Prachtkerl, Prepotenskij!« lobte ihn Termosesow, und da in diesem Augenblick die Hausfrau wieder eintrat, wandte er sich an sie: »Hören Sie, er gefällt mir ausnehmend, und wenn er mich mit dem Popen Tuberozow bekannt macht, so nenn' ich ihn einen ganz klugen Kopf.«
»Ich kann ihn nicht ausstehn und rate Ihnen nicht, seine Bekanntschaft zu machen,« stammelte Warnawa, »wenn Sie es aber für nötig halten …«
»Es ist sehr nötig, lieber Freund.«
»Dann kommen Sie heute mit zum Abendessen beim Polizeichef, dort lernen Sie unsere ganze Gesellschaft kennen.«
»Schön. Ich geh überall hin. Aber ich muß doch eingeladen sein.«
»Ach, das ist ganz leicht zu machen,« fiel ihm der Lehrer ins Wort. »Ich werde sofort zum Polizeichef gehen und ihm im Namen von Daria Nikolajewna mitteilen, sie bäte um Erlaubnis, abends ihren Petersburger Gast mitzubringen.«
»Prepotenskij, komm in meine Arme!« rief Termosesow, und als der Lehrer aufstand und auf ihn zuging, küßte er ihn. Dann drehte er ihn linksherum und sagte: »Geh und handle!«
Stolz und seines Ruhmes nun völlig sicher, nahm Warnawa seine Mütze und ging. Nach einer Stunde, die Termosesow dazu benutzt hatte, der Biziukina klarzumachen, daß man keinen Dummkopf merken lassen dürfe, für wie dumm man ihn halte, kam der Lehrer mit der Botschaft zurück, Porochontzews wären sehr erfreut, die Herrschaften heute abend bei sich zu sehen.
»Und was den Kleinbürger Danilka betrifft, den Sie kennen lernen wollten,« fügte er endlich hinzu, »so habe ich ihn bereits ausfindig gemacht. Er steht draußen vor dem Tor.«
Termosesow belobte Warnawa nochmals für seine Findigkeit, stand auf und bat den Lehrer, ihn an irgendeinen stillen Ort zu führen, wo er ungestört mit Danilka reden könne.
Prepotenskij führte Ismail Petrowitsch in die leere Kanzlei des Akziseeinnehmers und stellte ihm dort den Kommissar vor.
»Guten Tag, Bürger,« begrüßte ihn Termosesow. »Wie hat Sie der hiesige Diakon neulich morgens beleidigt?«
»Er hat mich gar nicht beleidigt.«
»Gar nicht? Sagen Sie mir alles frei und offen, wie dem Popen in der Beichte, denn ich bin ein Freund des Volkes, kein Feind. Der Diakon Achilla hat Sie gekränkt?«
»Nein, er hat mich nicht gekränkt. Wir haben das schon unter uns erledigt.«
»Wie kann man das erledigen? Er hat Sie doch am Ohr durch die Stadt gezerrt!«
»Was ist denn dabei? Das sind ja nur Dummheiten.«
»Wieso Dummheiten? Eine Beleidigung ist es. Bedenken Sie, Bürger, er hat Sie am Ohr gerissen!«
»Es war aber doch nur Scherz. Darin finden wir keine Beleidigung.«
»Wie, Bürger? Ist es möglich, so etwas nicht als Beleidigung anzusehen? Er soll es doch vor allem Volke getan haben!«
»Ja freilich.«
»Da müssen Sie doch eine Klage einreichen.«
»Wem denn?«
»Nun, dem Fürsten, der mit mir gekommen ist.«
»Schon recht.«
»Also wollen Sie klagen oder nicht?«
»Worauf soll ich denn klagen?«
»Er kann zu hundert Rubel Strafe verurteilt werden.«
»Das stimmt.«
»Sie sind also einverstanden. So ist's recht, Prepotenskij! Setz dich und schreib, was ich dir diktieren werde.«
Und Termosesow diktierte eine Beschwerde an Bornowolokow, kurz, aber gehaltvoll; auch der Propst war darin nicht vergessen: er hätte der Lynchjustiz des Diakons Vorschub geleistet und dem Kläger sogar gesagt, daß die ihm zuerteilte Lektion wohlverdient gewesen.
»Nun unterzeichne, Bürger!« Und Termosesow stopfte Danilka die Feder gewaltsam in die Hand, aber der »Bürger« erklärte plötzlich, er wolle nicht unterschreiben.
»Was? Sie wollen nicht?«
»Nein, ich bin damit nicht einverstanden.«
»Was soll das heißen? Teufel noch einmal! Erst schweigst du, und nachdem man dir die Beschwerde gratis aufgesetzt hat, willst du nicht unterschreiben!«
»Nein, ich will nicht.«
»Man soll dir wohl noch einen Rubel geben, damit du unterschreibst? Das ist zu viel verlangt, mein Lieber. Sofort unterschreibst du!«
Termosesow packte den Widerspenstigen wütend beim Kragen und zerrte ihn zum Tisch.
»Ich … wie es Eurer Gnaden gefällt …, aber ich unterschreibe nicht,« stotterte der Kleinbürger und ließ die Feder absichtlich fallen.
»Ich will dich lehren! Wie's Eurer Gnaden gefällt! Und wenn es mir nun gefällt, deiner Gnaden ein Dutzend mal in die Fresse zu hauen?«
Der Bürger fuhr entsetzt zurück und stammelte:
»Euer Hochwohlgeboren, erbarmen Sie sich, zwingen Sie mich nicht! Meine Klage wird doch zu nichts führen!«
»Warum nicht?«
»Ich hab' schon einmal klagen wollen, als der fürstliche Verwalter Glitsch mich mit Nesseln auspeitschen ließ, weil ich auf die Wette des Polizeichefs hin sein Pferd stehlen wollte. Damals rieten alle mir ab. Klage nicht, Danilka, sagten sie, denn dann kommt es zu einer großen Untersuchung, und dann sagen wir alle, daß du längst schon in Sibirien sein müßtest. Ja, und ich kannte mich selber zu gut, um zu wissen, daß ich kein Recht mehr habe, meine Ehre zu verteidigen.«
»Wie du über deine Ehre denkst, das kommt hier gar nicht in Betracht.«
»Und die hiesigen Herren Beamten wissen auch …«
»Deine hiesigen Herren Beamten mögen wissen, was sie wollen, wir sind aber keine hiesigen, wir sind aus Petersburg. Verstehst du das? Aus der Residenz, aus Petersburg! Und ich befehle dir: sofort unterschreibst du, du gottverdammtes Luder, ohne alle Widerrede, sonst … sonst fliegst du auch ohne Untersuchung nach Sibirien.«
Und der bärenstarke Termosesow drückte mit der Rechten die Hand und mit der Linken die Kehle des Kommissars so kräftig zusammen, daß Danilka im Nu rot wurde, wie ein gekochter Krebs, und kaum noch hörbar röchelte:
»Um Gottes willen, lassen Sie mich los! Ich unterschreibe ja alles!«
Ächzend und hustend setzte er seine Krakelfüße unter das Gesuch.
Termosesow steckte das Papier in die Tasche, hielt Danilka die Faust unter die Nase und sagte drohend:
»Bürger, wenn du dich irgendwie vor der Zeit verplapperst, daß du dich beschwert hast …«
Danilka, der immer noch hustete, machte nur eine abwehrende Bewegung mit der ganz erstarrten Hand.
»… Dann schlag ich dir die ganze Fratze zu Brei, multipliziere die Wangen, subtrahiere die Nase und verwandle die Zähne in Brüche!«
Der Kleinbürger winkte mit beiden Händen ab.
»Jetzt hast du aber genug gekrächzt! Allez, marchez zur Tür hinaus!« kommandierte Termosesow, schob den Haken von der Tür zurück und gab Danilka auf der Schwelle einen so kräftigen Stoß, daß er über den an das Haus angebauten Hühnerstall hinwegflog und auf den warmen Rasen zu sitzen kam. Er sah sich nur noch einmal um, spuckte aus und rollte dann auf allen vieren zum Tor hinaus. Er hustete nicht einmal mehr.
Prepotenskij war von dieser Kraftprobe so entzückt, daß er laut applaudierte.
»Was fällt dir ein?« fragte Termosesow.
»Sie sind stärker als Achilla! Jetzt brauch' ich ihn nicht mehr zu fürchten!«
»Das brauchst du auch nicht.«
Als Termosesow und seine Genossen beim Polizeichef erschienen, hatte Tuberozow schon eine Stunde abseits von den übrigen Gästen mit dem Adelsmarschall Tuganow geplaudert. Der alte Propst brachte dem vornehmen Gaste wieder all die Klagen vor, welche wir in seinem Tagebuche gelesen haben, – und erhielt die alten Scherzworte zur Antwort.
»Was soll aus dieser Zerrüttung noch werden?« fragte der Propst und runzelte die Brauen. Der Adelsmarschall aber erwiderte ihm lachend:
»Wer kann wissen, was noch werden wird, mein Lieber?«
»Ohne Ideale, ohne Glauben, ohne Achtung vor den Taten der großen Vorfahren … Das … das muß Rußland zugrunde richten.«
»Nun, wenn es zugrunde gehen soll, wird es eben zugrunde gehen,« sagte Tuganow gleichgültig und stand auf. »Aber weißt du, – gehen wir wieder zu den Gästen. Unser Gespräch führt doch zu nichts. Du bist ein Maniak.«
Der Propst trat einen Schritt zurück und sagte gekränkt:
»Wieso bin ich ein Maniak?«
»Was drängst du dich den Leuten auf und läßt niemand seine Ruhe? Ideal! Glauben! Was soll man tun, guter Freund, wenn die Zeit dafür vorüber ist?«
Tuberozow lächelte, seufzte leise und antwortete, nicht die Zeit des Glaubens und der Ideale sei vorüber, sondern die Zeit der Worte.
»Nun, so vollbringe Taten, Freund.«
»Auch Taten sind noch nicht genug.«
»Was brauchen wir denn?«
»Großtaten.«
»So vollbringe Großtaten. Aber in welcher Art?«
»Im Geiste der Kraft, im Wehen des Sturmes. Daß die, so das Feuer löschen wollen, selber von der Flamme ergriffen werden.«
»Ja, ja, du willst wieder streiten. Halt lieber Frieden, Vater.«
»Parmen Nikolajewitsch, ich höre so viel von diesem Frieden reden. Aber wie soll man Frieden schließen mit einem, der gar nicht um Pardon bittet? So ein Frieden taugt nicht viel, und unsere Altvordern sagten nicht umsonst: ›Eh du den Gevatter nicht verprügelt hast, kannst du ihm keinen Friedenstrunk reichen‹.«
»Ohne Prügel geht's bei ihm nicht.«
»Gewiß nicht, Freund.«
»Du bist noch der richtige Seminarist.«
»Ich will auch gar nicht den großen Herrn spielen.«
»Sag mal, willst du durchaus leiden? Das tut man nicht einer Kleinigkeit wegen. Spare deine Kräfte für eine bessere Sache.«
»Sparsame Leute gibt es ohne mich genug. Ich muß meine Pflicht erfüllen.«
»Der letzte wäre ich, der dich abhielte, deine Pflicht zu erfüllen, wie dein Gewissen sie dir vorschreibt. Geh hin und[223] versuch es, die Schamlosen zu beschämen. Wenn du es kannst, heißest du Hans. Aber jetzt laß uns zu den Gastgebern gehen. Ich muß bald fort.«
Der Propst folgte ihm. Er versuchte sich zusammenzunehmen, war aber sehr entmutigt. Er hatte etwas ganz anderes von dieser Zusammenkunft erwartet, ohne sich wohl selbst sagen zu können, was eigentlich.
Die beiden alten Herren saßen schon in dem kleinen Wohnzimmer, als die Hausfrau Warnawa und Termosesow hineinführte. Die Mehrzahl der andern Gäste befand sich im Saal. Man plauderte, spielte Klavier und versuchte zu singen. Die Biziukina, welche sich sonst überall zu Hause fühlte, hatte nicht den Mut, ihren Kavalieren ins Wohnzimmer zu folgen; da ihr andererseits die Gesellschaft der Damen nicht sympathisch war, nahm sie nahe der Tür Platz.
Das Wohnzimmer war ein schmaler Raum. Auf dem Sofa vor dem Tisch saßen Tuganow und Tuberozow, während der sanfte Benefaktow, Darjanow und der Kreisadelsmarschall Plodomasow auf Stühlen Platz genommen hatten. Achilla stand hinter einem leeren Sessel und stützte die Hand auf die Lehne. Die Biziukina bemerkte, wie Termosesow das Zimmer betrat, sich höchst ehrerbietig verneigte, und – was wohl keiner für möglich gehalten hatte – plötzlich auf Tuberozow zuschritt und um seinen Segen bat. Am meisten erstaunt darüber war wohl Vater Sawelij selbst. Er wußte im ersten Augenblick nicht recht, was er tun sollte, und als er dem Gast den erbetenen Segen erteilte, sah man ihm die Verwirrung deutlich an. Als Termosesow aber seine Hand küssen wollte, verlor der Propst so vollkommen die Fassung, daß er mit einer schnellen, energischen Bewegung Termosesows Hand[225] nach unten zog und so fest drückte und schüttelte, als wäre es die Hand seines besten Freundes.
Termosesow bat auch Zacharia um seinen Segen, und der sanfte Benefaktow erwies sich diesmal findiger als Tuberozow. Er erteilte dem Gast nicht nur den Segen, sondern schob auch ganz ungeniert sein gelbes Händchen an den Mund des Abenteurers.
Einmal im Zuge, ging Termosesow nun noch auf Achilla zu, um sich von ihm auch segnen zu lassen. Aber dieser machte einen gewandten Kratzfuß und meinte:
»Ich bin bloß Diakon.«
Hierauf drückten sie einander die Hände und Achilla lud Termosesow ein, es sich in dem Lehnsessel, hinter dem er stand, bequem zu machen. Termosesow jedoch lehnte diese Ehre höflich ab und setzte sich auf den zunächst stehenden Stuhl, während Prepotenskij, den hergebrachten Anschauungen seiner »Richtung« treu bleibend, sich möglichst weit entfernte, um gegenüber der weitgeöffneten Saaltür Platz zu nehmen.
Hiermit wollte er erstens andeuten, daß er mit der Gesellschaft im Wohnzimmer nichts gemein habe, und dann konnte er von seinem Platz aus die Biziukina sehen, welche alles hören sollte, was er sagte. Der Lehrer empfand die dringende Notwendigkeit, sein Ansehen wieder zu heben, welches durch das Erscheinen Termosesows stark beeinträchtigt worden war, und wartete auf eine günstige Gelegenheit, Streit vom Zaun zu brechen und der Biziukina, wenn auch nicht die Überlegenheit seines Geistes, so doch wenigstens die Reinheit seiner Überzeugung zu beweisen. Und da derjenige, welcher Streit sucht, in jedem Wort einen willkommenen Anlaß erblickt, so brauchte Warnawa auch nicht lange in Schweigen zu verharren.
Beim Eintreten der neuen Gäste erzählte der Adelsmarschall Plodomasow dem Propst gerade von den jüngsten Reformen im Kirchenwesen.
»Seine Eminenz ist ein Mann von großen Geistesgaben,« meinte der Propst.
»Und auch ein großer Humorist,« bemerkte Tuganow. »Wir haben hier einen ungeheuer arroganten Gendarmenoffizier, der sich einbildet, alles zu können.«
»Das ist immer so, die Gendarmen können alles,« fiel Prepotenskij ein, ohne daß man auf ihn achtete.
»Dieses Herrchen hatte in Erfahrung gebracht,« fuhr Tuganow fort, »daß bei unserm Bischof noch nie jemand zu Mittag gespeist hätte, – und wettete im Klub mit dem Polizeimeister, er werde schon mal bei dem Alten essen. Ausgerechnet muß der Bischof Wind davon bekommen.«
»O weh, o weh!« sagte Zacharia gedehnt.
»Besagter Kavallerist macht also Seiner Eminenz seinen Besuch am frühem Morgen und geht einfach nicht fort. Als es bereits sechs Uhr vorüber ist, kann er's natürlich vor Hunger nicht mehr aushalten und will sich verabschieden. Aber der schweigsame Bischof, der ihm die ganze Zeit zugehört hatte, ohne selbst zu reden, meinte sehr freundlich: ›Wollen Sie nicht zum Essen bleiben?‹ Na, denkt er, die Wette ist[227] gewonnen! Aber der Bischof ließ ihn noch eine Stunde hungern, ehe es zu Tische geht.«
»Das war doch unnütz,« warf Zacharia ein, »ganz unnütz.«
»Warten Sie nur. Sie treten also ins Eßzimmer ein. Der Bischof bleibt vor dem Gottesbilde stehen und beginnt zu beten, – ein Gebet, dann noch eins, und ein drittes. – Es vergeht wieder eine ganze Stunde und der hungrige Gast ist fast dem Verenden nahe. ›So, nun kann das Essen aufgetragen werden,‹ sagt Eminenz endlich. Und zwei winzige Teller mit Erbsensuppe und Zwieback werden gebracht. Als sie verzehrt sind, erhebt sich der Bischof wieder und sagt: ›Danken wir jetzt dem Herrn, der uns gesättigt hat.‹ Das ward dem Kriegsmann denn doch zu viel, und während der Bischof betete, schlich er sich unbemerkt aus dem Zimmer. Der Alte erzählte es mir gestern: ›Dieser Geist läßt sich durch nichts austreiben, es sei denn durch Beten und Fasten,‹ schloß er.«
»Er ist ein Mann von Geist und von feinem und angenehmem Benehmen,« sagte Tuberozow, dem diese Anekdötchen wenig Freude zu machen schienen.
»Ja, aber er klagt und jammert auch, es gäbe keine Leute. ›Wir fahren über ein tiefes Meer,‹ sagt er, ›auf schwankem Schiff mit trunkenen Matrosen. Gott bewahre uns vor einem Sturm.‹«
»Ein bitteres Wort,« warf Tuberozow ein.
»Übrigens,« begann Tuganow von neuem, »meinte er, Euere Stadt mache ihm keine Sorgen. ›Ich habe dort zwei Popen,‹ bemerkte er, ›der eine ist klug und der andere fromm.‹«
»Der Kluge ist Vater Sawelij,« bestätigte Zacharia.
»Wieso meint Ihr, daß gerade Vater Sawelij der Kluge sei?«
»Weil … weil er weise ist,« erwiderte Zacharia verlegen.
»Und Vater Zacharia ist in die zweite Reihe gerückt,« fiel der Diakon ein.
Tuberozow sah mit einem mißbilligenden Kopfschütteln zu ihm hinüber.
Um seine Taktlosigkeit wieder gut zu machen, fuhr Achilla schnell fort:
»Seine Eminenz haben den Vater Zacharia fromm genannt, weil sich noch nie jemand über den Vater Zacharia beschwerte.«
»Ja, beschwert hat sich noch niemand,« seufzte Zacharia.
»Der Vater Sawelij aber ist ein unruhiger Kopf,« scherzte Tuganow.
Dieser Augenblick erschien dem Lehrer willkommen, und er warf schnell ein, die unruhigen Köpfe unter der Geistlichkeit seien die Denunzianten; das religiöse Gewissen aber müsse frei sein. Unvorsichtigerweise antwortete Tuganow darauf, Gewissensfreiheit sei allerdings notwendig und es sei sehr zu bedauern, daß man sie in Rußland noch nicht habe.
»Ja, und unsere arme Kirche wird deshalb von allen Seiten mit unverdienten Vorwürfen überschüttet,« fügte Tuberozow hinzu.
»Worüber habt Ihr Euch denn zu beklagen?« fiel ihm Prepotenskij lebhaft ins Wort.
»Wir beklagen uns über die Unduldsamkeit,« erwiderte Tuberozow trocken.
»Ihr leidet darunter ja nicht.«
»O doch. Bitter leiden wir. Ihr predigt laut und frei, den Glauben solle man abschaffen, und es geschieht euch nichts dafür. Wenn aber wir auch nur ganz leise sagen, es wäre besser, eure Lehren würden nicht überall verkündigt, so …«
»Ach – so meint Ihr das!« unterbrach ihn der Lehrer. »Ihr wollt gegen uns hetzen, damit man uns den Garaus macht.«
»Nein, Ihr wollt uns den Garaus machen.«
Prepotenskij wußte nicht, was er antworten sollte. Leugnen wollte er es nicht, fürchtete sich jedoch, es einfach zuzugeben. Tuganow half ihm aus der Schwierigkeit und erklärte, der Vater Propst sei nur ungehalten darüber, daß es Leute gebe, die es sich zur Aufgabe machten, schlichte Herzen um ihren Glauben zu bringen.
»Am meisten aber bekümmert mich, daß es ihnen gelingt, weil man ihnen Vorschub leistet.«
Prepotenskij lächelte.
»Es gelingt,« sagte er, »weil der Glaube ein Luxus ist, der dem Volk sehr teuer zu stehen kommt.«
»Wohl nicht teurer als der Suff,« sagte Tuganow kühl.
»Ja, aber die neuen Menschen,« – fing der Lehrer wieder an.
»Taugen nichts, und eben deshalb ist der Teufel los.«
»Weil die Spione ihnen ins Handwerk pfuschen.«
»Ach wo! Einfach Halunken sind es.«
»Halunken?«
»Jawohl. Immer noch, wenn es irgendwo eine Gärung gegeben hat, haben sich zu guter Letzt Halunken der Bewegung bemächtigt, weil sich im Trüben gut fischen läßt. Da hat man sich bei uns so lange mit diesen … Nihilisten – so heißen sie doch wohl – geplagt. Erst schlug sich die Regierung mit ihnen herum, Gesellschaft und Presse sind heute noch nicht mit ihnen fertig geworden, – Schluß mit ihnen machen werden aber die Halunken, die sich ihnen zum Schein anschließen, um ihnen später den Hals umzudrehen, und dann kommt die große Wendung der Dinge.«
Prepotenskij warf einen ängstlichen Blick auf die Biziukina. Es verwirrte ihn, daß Tuganow seine kühnen Tiraden so einfach in nichts auflöste, wie der Frühlingsnebel die Schneeflecken auf dem Felde verschlingt. Warnawa suchte Hilfe und wandte seine Blicke deshalb Termosesow zu, welcher aber nicht zu ihm hinüberschaute. Der Diakon Achilla, der schon lange vergeblich versuchte, dem Lehrer durch Zeichen zu verstehen zu geben, daß er schweigen solle, rief jetzt laut:
»Halt den Mund, Warnawa Wasiljewitsch, es ist langweilig!«
Der Lehrer geriet in Wut, besonders als auch Tuganow sich von ihm abgewandt hatte. Er wollte deshalb die Bombe zum Platzen bringen.
Prepotenskij sprang von seinem Platz auf und lief auf Tuganow zu, der sich wieder mit dem Propst unterhielt.
»Entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbreche … Aber ich … ich stehe für die Freiheit.«
»Ich auch,« sagte Tuganow und neigte sich wieder zum Propst.
»Lassen Sie mich doch ausreden!« rief der Lehrer.
Nun wandte sich Tuganow ihm zu.
»Wissen Sie, daß die Freiheit nicht gegeben wird, sondern genommen?« fragte Warnawa.
»Nun und –?«
»Wer soll sie denn nehmen, wenn die neuen Menschen nichts taugen?«
»Die Entwicklung der Dinge wird sie nehmen.«
»Also wird sie doch genommen und nicht gegeben. Ich habe recht. Ich sagte es: sie wird genommen werden.«
»Das sagt man dir doch auch!« rief ihm Achilla zu.
»Aber das ist doch meine Meinung: sie wird genommen werden!«
»Hat denn jemand etwas anderes gesagt? Parmen Semenowitsch spricht ja die ganze Zeit davon,« unterstützte plötzlich Termosesow den Diakon und suchte dabei den Namen Tuganows möglichst deutlich und im herzlichsten Ton auszusprechen.
»Für mich wird's aber Zeit,« sagte Tuganow leise und erhob sich, um in den Saal zu gehen, aber der Lehrer überfiel ihn von neuem.
»Noch ein Wort,« drängte er. »Mir scheint, es ist Ihnen unangenehm, daß jetzt alle gleich sind.«
»Nein, es tut mir leid, daß nicht alle gleich sind.«
Prepotenskij stockte einen Augenblick. Dann sprach er:
»Das ist doch eine Tatsache, alle müssen gleich sein.«
»Parmen Semenowitsch sagt Ihnen das ja: alle müssen gleich sein,« mischte sich nun Termosesow hinein, der neben Tuganow getreten war und den Lehrer von ihm fortzudrängen sich bemühte.
»Aber erlauben Sie,« – er suchte von der andern Seite heranzukommen, wo ihm aber Achilla den Weg vertrat.
»Laß doch,« sagte er, »du redest doch bloß dummes Zeug.«
»Erlauben Sie, seien Sie so gut,« wehrte sich Prepotenskij und versuchte nun einen Frontangriff. »Ich meine bloß: Ihnen gefällt es wohl in England, weil da die Lords sind … Sie sind unzufrieden, daß die Standesprivilegien aufgehoben sind?«
»Sind sie das?«
»Geh weg, du weißt nichts,« stieß Achilla den Lehrer zur Seite, aber dieser lief noch einmal um Tuganow herum und versuchte einen zweiten Frontangriff.
»Über jedes Ding kann man verschiedene Meinungen haben.«
»Was wollen Sie eigentlich von mir?« rief Tuganow lachend.
»Ich meine, man kann verschieden urteilen.«
»Bloß, daß ein Urteil vernünftig ist und das andere dumm,« mischte sich Termosesow wieder hinein.
»Sagen wir lieber: gerecht und ungerecht,« bemerkte Tuganow in versöhnlichem Tone.
»Auch Gott kennt nur eine Wahrheit,« rief der Diakon.
»Zwischen zwei Punkten kann man nur eine gerade Linie ziehen,« sagte Termosesow.
Prepotenskij geriet außer sich.
»Was ist denn das? So kann man ja gar nicht reden!« rief er. »Ich bin allein unter lauter Kriechern und Heuchlern. Da habt ihr leichtes Spiel. Ich weiß nur eines: ich achte nichts Althergebrachtes.«
»Das eben ist althergebracht. Wann hat man bei uns je Achtung vor der Geschichte gehabt?«
»Weißt du was? Sei jetzt ganz still, du Schaf,« sagte Achilla in freundschaftlichstem Tone. Die Biziukina wandte sich verächtlich vom Lehrer ab, Termosesow versuchte noch einmal, ihn zur Seite zu schieben und trat ihm dabei auf den Fuß, so daß der Lehrer, der sich in der Aufregung leicht versprach, laut aufschrie:
»Au! Sie haben mir auf mein liebstes Hühnerauge getreten!«
Das »liebste Hühnerauge« rief ein schallendes Gelächter hervor, während dessen sich Tuganow von der Hausfrau verabschiedete.
Schellen erklangen und ein Sechsgespann frischer Postpferde fuhr den Tuganowschen Reisewagen vor das Haus. Wenn Prepotenskij sich noch rehabilitieren wollte, mußte es sofort geschehen, hastig riß er sich von Achilla und Termosesow los, die ihn festhalten wollten, und hüpfte auf seinem »liebsten Hühnerauge« zu Tuganow, indem er rief:
»Und ich werde doch immer weiter gegen den Adel und für das Naturrecht kämpfen.«
Tuganow drehte sich in der Tür um und sagte zu Warnawa:
»Die natürlichste Lebensform ist doch … das Leben der Pferde da, die mich gleich fortschaffen sollen. Aber sehn Sie,[234] man spannt sie vor den Wagen, damit sie einen Edelmann ziehen.«
»Und wird sie unterwegs noch mit der Peitsche bearbeiten, daß sie fixer vorwärts kommen,« fiel der Diakon ein.
»Das Vieh wird immer geschlagen,« pflichtete Termosesow ihm bei.
»Wieder fallen alle über einen her!« schrie der Lehrer, »aber ich lasse nicht ab!«
»Dann bist du also ein Stänker,« sagte Achilla.
»Du rufst den Abgrund gegen den Abgrund auf,« bemerkte Zacharia.
»Wißt Ihr denn, was das heißt: der Abgrund ruft den Abgrund herbei?« erwiderte Warnawa voller Wut. »Das heißt: ein Pope ladet den andern zu Besuch!«
Diese Äußerung erregte ein helles Gelächter, das durch den Saal ertönte. Nur Tuberozow zog die Brauen zornig zusammen, riß krampfhaft an dem Bande seines Brustkreuzes und ging in das Wohnzimmer zurück.
»Der Alte ist ganz zum Maniak geworden,« sagte Tuganow, ihm nachblickend.
»Leider Gottes. Er liest die Zeitungen und regt sich auf und klagt und seufzt und kann über nichts mehr ruhig sprechen,« antwortete Darjanow.
»Er hört uns,« flüsterte Achilla leise.
Sawelij hatte wirklich alles gehört …
Warnawa fühlte sich wieder. Er glaubte durch seinen Witz mit dem Abgrund seine Chancen bedeutend gebessert zu haben, und das gab ihm den Mut, dem Propst ganz unvermittelt nachzulaufen, ihn am Ärmel zu fassen und zu sagen:
»Ich möchte Euch etwas fragen: vorgestern war ich in der Kirche und hörte, wie ein Priester plötzlich das Wort[235] ›Schafskopf‹ aussprach. Was hat der Klerus zu singen, wenn der Priester ›Schafskopf‹ ruft?«
»Der Klerus singt dreimal: ›Ist der Lehrer Prepotenskij‹,« erwiderte Sawelij.
Ob dieser unerwarteten Antwort waren alle einen Augenblick ganz verblüfft und brachen gleich darauf in ein dröhnendes Gelächter aus.
Prepotenskij hatte das Spiel verloren.
Je tiefer der Stern des Lehrers sank, desto höher stieg derjenige Termosesows. Spielend gewann er die Gunst der gesamten Weiblichkeit; der Frau Postmeisterin machte er geradezu den Hof, und zwar in einer Weise, die dem Lehrer aufs äußerste mißfiel; denn Termosesow huldigte ihr nicht als Dame, sondern gewissermaßen als Vertreterin der Staatsgewalt.
Beim Abendessen ließ Termosesow die Damen mehr oder weniger im Stich und hielt sich an die Herren. Mit jedem stieß er an und leerte dabei eine recht beträchtliche Zahl Gläser, ohne daß irgendeine Wirkung zu bemerken gewesen wäre. Schnell war er gut Freund mit Achilla, Darjanow und Vater Zacharia. Auch Tuberozow redete er wiederholt an, aber der Alte zeigte sich sehr wenig entgegenkommend. Dafür begann Achilla, nach einem etwa halbstündigen Gespräch, zur nicht geringen Verwunderung der Anwesenden, den Petersburger Gast plötzlich zu duzen, drückte ihm die Hand, küßte seine wulstige Lippe und verlieh ihm sogar Kosenamen.
»Bei Gott, dieses Termoseslein ist ein Mordskerl,« predigte der Diakon. »Haben wir zwei es dem Lehrer nicht fein gegeben? Nicht? Nein, Bruder Termosesselchen, du darfst nicht fort von hier. Was hast du in Petersburg zu suchen? Hier können wir zwei beide im Winter Füchse fangen. Das ist ein Hauptspaß, Brüderlein. Nicht?«
»Freilich, freilich,« antwortete Termosesow und begann nun seinerseits den Diakon zu preisen und nannte auch ihn einen Mordskerl. Und dann küßten die beiden Mordskerle sich wieder.
Als das Fest sich zu seinem Ende neigte und Zacharia und Tuberozow schon heimgehen wollten, hielt Termosesow den Diakon am Ärmel zurück und sagte: »Du hast doch keine Eile?«
»Eigentlich nicht,« antwortete Achilla.
»Dann warte noch etwas, wir gehen zusammen.«
Achilla erklärte sich bereit und Termosesow schlug noch ein Tänzchen vor. Er tanzte zuerst mit der Postmeisterin, dann mit ihren Töchtern, dann mit noch zwei oder drei andern Damen, und zu allerletzt mit der Biziukina. Dann aber kriegte er den Diakon zu fassen, drehte ihn im Walzertakt ein paarmal herum und führte, als er ihn, wie eine Dame, an seinen Platz gebracht hatte, seine Hand an die Lippen, küßte aber die eigene.
Achilla, der darauf nicht im mindesten gefaßt war, geriet in Verlegenheit und riß seine Hand hastig zurück, Termosesow jedoch lachte unbändig und sagte:
»Hast du dir wirklich eingebildet, ich würde deine Kutschertatze küssen?«
Der Diakon war gekränkt und dachte: ›Am Ende hätt' ich mich lieber nicht mit dem Kerl einlassen sollen.‹ Aber da man sich gleich darauf auf den Heimweg machte, so schloß er sich der Gesellschaft an. Die Familie des Postmeisters, der Diakon, Warnawa, Termosesow und Madame Biziukina gingen zusammen. Erst wurde die Frau Postmeisterin mit ihren Töchtern nach Hause gebracht, und bei dieser Gelegenheit hörte Achilla, wie sie beim Abschied zu Termosesow sagte:
»Ich hoffe, wir sehen uns häufiger.«
»Daran zweifle ich keinen Augenblick,« antwortete Termosesow und fügte noch hinzu: »Sie fanden es so hübsch, daß der Polizeichef sein Wohnzimmer mit den Bildnissen der ganzen kaiserlichen Familie geschmückt hat?«
»Ja, ich wünsche sie mir schon so lange.«
»Diesen Wunsch kann ich Ihnen morgen erfüllen.«
Und damit trennten sie sich.
Kaum hatte man sich von der Postmeisterin verabschiedet, so erklärte Termosesow, es müßten unbedingt alle noch einen Augenblick mit ihm bei der Biziukina vorsprechen.
»Du gestattest es doch?« fragte er, halb zu ihr gewendet.
Es schien ihr nicht sehr angenehm, aber sie sagte trotzdem ja.
»Irgendein Gesöff wird sich bei dir wohl finden?«
Daria Nikolajewna wurde verlegen. Gerade heute hatte sie vergessen, Wein holen zu lassen, und erinnerte sich auch, daß man heute mittag die letzte Flasche Xeres so gut wie leer getrunken hatte. Termosesow bemerkte ihre Verlegenheit und sagte:
»Na, Bier wird es doch wenigstens geben?«
»Bier ist da.«
»Das wußte ich. Bier haben die von der Akzise immer. Hast du auch Meth?«
»Ja.«
»Das ist ja famos! Nun, meine Herrschaften, wir haben Bier und Meth, und da braue ich euch ein Blachdnublach zusammen, daß ihr …« Termosesow küßte seine Finger und beschloß: »daß ihr zum Schluß die eigene Zunge mit verschlucken sollt.«
»Was ist das für ein Blech und Blech?« fragte Achilla.
»Nicht Blech und Blech, sondern Blachdnublach – ein Getränk aus Bier und Meth. Vorwärts!« Und er zog Achilla am Ärmel.
»Warte doch,« widersetzte sich der Diakon. »Was ist denn das für ein Blech und Blech? Bei Begräbnissen trinkt man es und nennt es ›Biermeth‹.«
»Ich sage dir aber, es ist kein Biermeth, sondern Blachdnublach. Vorwärts!«
»Nein, warte!« protestierte der Diakon wieder. »Ich kenne diesen Biermeth … Eins, zwei, drei, liegt man da wie ein Klotz. Ich trink' das Zeug nicht.«
»Ich sag' dir doch, es gibt Blachdnublach und nicht Biermeth!«
»Und doch sollten wir's heut nicht mehr trinken,« antwortete der Diakon. »Sonst gibt's morgen einen wüsten Brummschädel.«
Prepotenskij war derselben Ansicht, aber keiner von beiden besaß Charakterfestigkeit genug, seine Meinung durchzusetzen, und so blieb Termosesow schließlich Sieger und schleppte sie in die Wohnung der Biziukina. Sein Plan war, das Gesöff in der Laube einzunehmen, und so wurden alsbald eine Unmenge Bier- und Methflaschen nebst dem dazu gehörigen Imbiß dorthin gebracht, und Termosesow begann sofort mit der Bereitung des Blachdnublach.
Warnawa Prepotenskij hatte sich neben Termosesow gesetzt. Der Lehrer wollte den Gast sofort zur Rede stellen, weshalb er vor Tuganow so gekatzbuckelt und ihn bei seinen Angriffen gegen ihn, Warnawa, unterstützt hatte.
Aber zum größten Erstaunen Prepotenskijs schien Termosesow nicht die geringste Lust zu haben, mit ihm zu plaudern, denn statt der erwarteten freundlichen Antwort kam es schroff und ungeduldig von seinen Lippen:
»Wir sind alle gleich: Kleinbürger, Adel und niederes Volk. Lassen Sie mich mit Ihrer Politik in Frieden, ich will jetzt trinken.«
»Aber Sie müssen doch zugeben, daß Leute mit Besinarmildung etwas Besseres sind, als …« stammelte Warnawa verwirrt.
»Da haben wir's!« unterbrach ihn Termosesow. »Erst das liebste Hühnerauge, und jetzt die Besinarmildung! Der richtige Cicero!«
»Das passiert ihm oft, wenn er aufgeregt ist. Er will ein Wort sagen und es kommt ein anderes heraus,« trat Achilla für Prepotenskij ein und erzählte, wie der Lehrer infolge dieses Defekts einmal beinahe um den Verkehr in einem sehr feinen Hause gekommen wäre. »Er hatte zu der Wirtin sagen wollen: ›Matrona Iwanowna, darf ich noch um ein Zitronenscheibchen bitten?‹ – und sagte statt dessen: ›Zitrona Iwanowna, bitte noch ein Matronenscheibchen!‹ was die Dame natürlich als Beleidigung auffaßte.«
Termosesow wollte sich ausschütten vor Lachen, faßte aber plötzlich Warnawas Hand, beugte sich zu ihm herab und flüsterte ihm ins Ohr:
»Geh sofort und schreib mir auf, was die Pfaffen und Edelleute heut geredet haben. Ich meine das von der Gewissensfreiheit und der Unduldsamkeit … Mit einem Wort: alles, alles …«
»Wozu denn?« fragte der Lehrer erstaunt.
»Das geht dich nichts an. Geh nur und schreib's auf. Du wirst später schon sehen, wozu. Wir unterschreiben es und schicken es an die richtige Adresse.«
»Was? Was wollen Sie tun?« rief Prepotenskij laut und fuchtelte erregt mit den Armen. »Eine Denunziation! Um nichts in der Welt!«
»Aber du haßt sie doch!«
»Nun und?«
»So schneid ihnen doch die Kehle durch, wenn du sie haßt.«
»Ja gewiß, schneiden will ich schon, aber ich bin kein Lump, der eine Denunziation …«
»Dann raus mit dir!« unterbrach ihn Termosesow und stieß ihn gegen die Tür.
»Aha! Raus?! So hab' ich Sie doch richtig erkannt! Sie halten's mit Achilla!«
»Raus, sage ich!«
»Ja, ja! Erst fordert Ihr mich zum Blachdnublach auf und dann …«
»Da hast du dein Blachdnublach!« antwortete Termosesow und gab dem Lehrer einen kräftigen Stoß in den Nacken, so daß er zur Tür hinausflog. Dann schob er den Riegel vor.
Achilla, der diesen Auftritt mit angesehen hatte, stand verwirrt auf und nahm seinen Hut.
»Wo willst du hin?« fragte Termosesow, sich wieder an den Tisch setzend.
»Ich bitte um Entschuldigung, ich muß nach Hause.«
»Trink doch erst dein Blachdnublach aus.«
»Nein, mag es zum Teufel gehn, ich will nicht mehr. Leben Sie wohl. Ich habe die Ehre.«
Er reichte Termosesow die Hand. Dieser nahm sie aber nicht, sondern riß dem Diakon den Hut fort, warf ihn unter seinen Stuhl und befahl:
»Setz dich!«
»Ich will nicht,« erwiderte Achilla.
»Setz dich, sag' ich dir!« schrie Termosesow noch lauter und riß ihn so heftig am Arm, daß er auf die Bank niederfiel.
»Willst du Pfarrer werden?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Weil ich dessen weder wert noch fähig bin.«
»Aber der Propst kränkt dich doch?«
»Nein, das tut er nicht.«
»Er soll dir doch mal einen Stock weggenommen haben.«
»Was ist denn dabei?«
»Und einen Dummkopf hat er dich genannt?«
»Ich weiß nicht, vielleicht hat er mich auch mal so genannt.«
»Wollen wir ihn für seine heutigen Reden denunzieren?«
»Wa–a–a–as?«
»Das!!«
Termosesow bückte sich, holte Achillas Hut unter dem Stuhl hervor und warf ihn vor die Schwelle.
»Du bist eine Petersburger Kanaille,« sagte der Diakon und bückte sich nach dem Hute. In diesem Augenblick aber traf ihn ein dröhnender Schlag in den Nacken und er lag mit der Nase im Sande des Gartenweges, wohin ihm sein Hut alsbald nachgeflogen kam und wo ein paar Schritte weiter auch der Lehrer hockte. Der Diakon begriff erst gar nicht, wie das gekommen war, aber als er Termosesow in der Tür stehen und ihm mit einem Spaten drohen sah, wurde es ihm klar, warum der Schlag so schwer gewesen war und eine so breite Fläche getroffen hatte. Er sagte:
»Das nennt sich also Blachdnublach. Danke für freundliche Belehrung.«
Hierauf wandte er sich zum Lehrer:
»Nun? Gehen wir heim, lieber Freund?«
»Ich kann nicht,« sagte Warnawa.
»Warum nicht?«
»Ich bin voll blauer Flecke und der Wopf tut mir keh.«
»Laß den Wopf nur keh tun, das geht vorüber. Komm nach Hause. Ich begleite dich.« Und mitleidig half der Diakon dem Lehrer auf und führte ihn zum Gartentor hinaus.
Aufs äußerste erregt und verstört kam der Propst heim. Da das Fest beim Polizeichef so lange dauerte, hatte die daheimgebliebene Natalia Nikolajewna, wider ihre sonstige Gewohnheit, die Heimkehr ihres Gatten nicht abgewartet und sich zu Bett gelegt, die Tür nach ihrem Schlafzimmer aber offen gelassen. Sie wollte durchaus aufwachen, wenn ihr Mann zurückkehrte.
Tuberozow wußte, was die offene Türe zu bedeuten hatte und rief beim Eintreten seine Frau beim Namen. Sie erwachte und erwiderte seinen Gruß.
»Du schläfst nicht?«
»Nein, Liebster, Sawelij Jefimytsch, ich schlafe nicht.«
»Das ist gut, ich möchte mit dir reden.«
Der Alte setzte sich auf den Bettrand und erzählte seiner Gattin das Gespräch mit dem Adelsmarschall und beklagte sich, wie gleichgültig alle sich zu der immer mehr in Rußland aufkommenden Anschauung verhalten, daß sich ein gebildeter Mensch des Glaubens schämen müsse. Er drückte ihr seine Befürchtungen aus, daß die guten Sitten und die hohen Ideale in Verfall geraten könnten, ja müßten.
Natalia Nikolajewna unterbrach ihn mit keiner Silbe, denn er sprach mit einem Freimut, wie er ihn sonst nirgendwo hätte zum Ausdruck bringen dürfen.
»Und denke dir, Natascha!« schloß er, als er bemerkte, daß der Morgen graute und sein Kanarienvögelchen, eben erwacht, den Schnabel zu wetzen begann. »Denke dir, meine liebe Alte, daß er, der Tuganow, keines meiner Worte widerlegen konnte, daß er mir in allem recht gab, daß er selbst zugestand, wir stünden, wie die selige Marfa Andrejewna mal sagte, gleich Schnepfen im Sumpf. Der Schwanz ist zu lang und der Schnabel ist zu lang, und so wackeln wir hin und her: ziehen wir den Schnabel heraus, bleibt der Schwanz stecken; ziehen wir den Schwanz heraus, steckt der Schnabel im Sumpf. Das alles gab er zu, aber von der seelischen Erregung, die man in einer solchen Lage doch empfinden müßte, ließ er nichts merken … O diese entsetzliche Gleichgültigkeit!«
Natalia Nikolajewna schwieg.
»Zu guter Letzt nannte er mich noch einen Maniak! Sage bitte selbst, wieso und warum verdiene ich diesen Namen?« Sawelij dämpfte die Stimme. »Mich nennt er einen Maniak, und er selbst sagt … Ich meinte: alles, worauf ich hingewiesen hätte, seien vielleicht Kleinigkeiten, aber trotzdem so bezeichnend für den in unserer Gesellschaft herrschenden Geist, und wenn wir jetzt mit diesen Kleinigkeiten nicht fertig würden, wie sollen es unsere Machthaber werden, nachdem alles erst mal großgewachsen ist! Er antwortete mir in seinem mir so verhaßten spöttischen Tone, den wir Russen so gern anschlagen, mit einer Anekdote, die sehr gut paßte und die ich aus Rücksicht auf mein Amt nur dir allein erzählen kann: Ein Offizier kam einst in ein Quartier, wo er im Nebenzimmer ein wunderschönes Mädchen entdeckte. Er war von ihr so entzückt, daß er, wie das im Regiment Brauch ist, seinen Burschen rief und ihn fragte: ›Wie könnte ich wohl die Bekanntschaft dieser Schönen machen?‹ Der Bursche überlegte,[246] und da er im Begriff war, Kohlen in den Samowar zu legen, rief er plötzlich: ›Hier riecht's nach Rauch!‹ Der Offizier sprang auf und stürzte in das Zimmer seiner Nachbarin: ›Meine Gnädige, hier bei Ihnen riecht es nach Rauch. Ich komme, Sie und Ihre Schönheit aus dem Feuer zu retten!‹ Auf diese Weise machte er die gewünschte Bekanntschaft. Der Bursche aber erhielt ein Geldgeschenk und einen Schnaps. Als der Frauenjäger nach einiger Zeit in ein neues Quartier kam, wo er ebenfalls eine schöne Dame entdeckte, jedoch nicht nebenan, sondern im gegenüberliegenden Hause, – sagte er wieder zu seinem Burschen: ›Verhilf mir zu ihrer Bekanntschaft!‹ Der aber wußte nichts anderes zu antworten, als sein altes ›Hier riecht's nach Rauch!‹ Da erkannte der Offizier, daß er sich zu Unrecht auf den Verstand seines Helfershelfers verlassen hatte und die erwünschte Bekanntschaft durch ihn nicht machen konnte. Jetzt merke, was das für ein Gleichnis ergibt: bei uns geziemt es sich für einen aufgeklärten Mann, daß er ungläubig sei, seines Vaterlandes spotte, die Menschen verachte, die Heiligkeit der Familienbande nicht gelten lasse, in seinen Mitteln nicht wählerisch sei; jene Schöne jedoch, die äußere Zivilisation, haben wir leicht gewonnen; allein jetzt gilt es, eine andere Schöne kennen zu lernen, jetzt, wo wir geistige Selbständigkeit zeigen sollen, … aber da sitzt die Schöne drüben am Fenster, und die Frage ist, wie kriegen wir sie? Da sehnen wir uns wohl und seufzen: ›Ach, wie könnten wir am leichtesten ihre Bekanntschaft machen?‹ Aber der ungeschickte Bursche weiß darauf nichts zu sagen, als: ›Hier riecht's nach Rauch!‹ Doch was nützt es uns, wenn es nach Rauch riecht?«
»Ja,« sagte Natalia Nikolajewna und seufzte.
»Das ist es eben! Begreifst du es auch? Wer ist denn nun der Maniak? Ich, der ich alles klar sehe und mich deswegen[247] beunruhige, oder jene, denen es ebenso klar ist, die sich aber den Kopf nicht weiter darüber zerbrechen: ›Wir kommen noch so durch, und hinterher mag's gehn, wie es will!‹ Heißt das nicht: ›Hier riecht's nach Rauch!‹ Nicht wahr, meine Liebe?«
»Ja, Liebster, das Mädel stellt wohl den Samowar auf,« sagte Natalia Nikolajewna mit schläfriger Stimme.
Da begriff Tuberozow, daß er die ganze Zeit in die Luft gesprochen hatte, die keine Ohren für ihn hatte, und er senkte lächelnd sein weißhaariges Haupt.
Er gedachte der Worte, die einst die verstorbene Bojarin Marfa Plodomasowa zu ihm gesprochen: »Und bist du denn nicht einsam? Was sagt denn das, daß du eine gute Frau hast, die dich liebt? Was dich quält, wird sie doch nicht verstehen. Und so ist jeder, der weiter sieht als sein Bruder, einsam inmitten der Seinigen.«
»Ja, einsam, unsagbar einsam!« flüsterte der Alte. »Und es ist am stärksten zu fühlen, wenn man am innigsten verlangt, es nicht zu sein; denn … mag ich nun ein Maniak sein oder nicht … ich habe beschlossen, das nicht länger zu dulden, und was ich beschlossen, das vollbringe ich auch.« Leise stand der Alte vom Bette auf, um die Schlafende nicht zu stören, segnete sie mit dem Zeichen des Kreuzes, stopfte dann seine Pfeife und ging in den Hof hinaus, um sich vor dem Hause niederzusetzen.
Tief in Gedanken versunken saß der alte Mann. Die dünnen Tabakswölkchen, die sich von seinem weißen Schnurrbart lösten und in der Luft zerflatterten, glänzten bernsteinfarbig im Lichte der aufgehenden Sonne. Die Hühner flogen von ihren Stangen herunter, kamen aus dem Stall, schüttelten sich und strichen ihr Gefieder. Jetzt klang von der Brücke die Lindenholzflöte des Hirten herüber, am Ufer klirrten die leeren Eimer, mit denen ein barfüßiges Weib nach Wasser ging; überall hörte man die Kühe brüllen, und die eigene Dienstmagd des Propstes kam gähnend, das Zeichen des Kreuzes über dem weitaufgerissenen Munde machend, aus dem Stall und trieb die Kuh mit einer Gerte vor sich her. Drinnen am Fenster sang der Kanarienvogel aus voller Kehle.
Im vollen Glanze war der junge Tag erschienen.
Vom Dom her ertönte der erste Glockenschlag.
Vor dem Pförtchen erschien eine junge Zigeunerin mit einem Kinde an der Brust, einem zweiten auf dem Rücken und dreien, die sich an ihre zerlumpten Kleider klammerten.
»Gib mir was, frommer Vater, gib mir was, du Glücklicher, Segensreicher!« bettelte sie den Propst an.
»Was soll ich dir geben, du Unglückliche, Ungesegnete? Meine Frau schläft, und ich habe kein Geld bei mir.«
»Gib mir etwas, was du nicht brauchst, dafür soll dir Ehre und Glück werden.«
»Was brauche ich denn nicht? Halt! du hast recht gesprochen! Ich hab' hier etwas, was ich nicht brauche!«
Und Tuberozow ging ins Zimmer und brachte seine sämtlichen Pfeifen heraus, den perlengestickten Tabaksbeutel und die Blechschachtel, in welche er die Asche zu schütten pflegte. Alles gab er der Zigeunerin und sagte:
»Da, du Zigeunerweib, bring das deinem Mann, ihm steht es besser zu.«
Natalia Nikolajewna schlief noch immer. Der Propst schrieb sich die Schuld zu, weil er sie durch seine lange Abwesenheit und seine Reden am Einschlafen gehindert hatte. Zwar hatte sie ihm nicht zugehört, aber ihre Ruhe hatte er doch gestört.
Er ging in den Stall und gab seinen zwei kleinen braunen Pferden selbst die doppelte Portion Hafer. Dann wollte er leise über den Hof ins Haus, als er plötzlich den Botengänger des Akziseeinnehmers Biziukin durch das Pförtchen kommen sah, welcher ein Buch unter dem Arm hatte.
Der Propst nahm das Buch, schlug es auf und wurde ganz rot im Gesicht. Im Buch lag ein Schreiben mit folgender Aufschrift: »An den Propst des Stargoroder Kirchspiels, Oberpfarrer Sawelij Tuberkulow.« Das Wort »Tuberkulow« war flüchtig durchstrichen und darüber geschrieben »Tuberozow«.
»Es wird um sofortige Empfangsbestätigung gebeten,« sagte der Bote.
»Wer hat drum gebeten?«
»Der Sekretär des angereisten Beamten.«
»Der kann warten.«
Der Propst fühlte, daß die Sache nicht so harmlos war. Er merkte, daß man ihn herausfordern wollte und auch schon ein Mittel gefunden hatte, ihm beizukommen.
»Was kann das sein? Es ist noch so früh … Sie scheinen die Nacht nicht geschlafen zu haben, nur um eine Gemeinheit auszuhecken … ja, Leute, die nichts zu tun haben!«
Mit solchen Gedanken beschäftigt, trat Tuberozow in sein vom Sonnenglanz durchflutetes Wohnzimmer, setzte seine große silbergefaßte Brille auf und öffnete den interessanten Brief.
Das fatale Schreiben war ein höchst formloses Dokument, in jenen unangenehmen, vieldeutigen Ausdrücken abgefaßt, an denen die Kanzleisprache so reich ist. Es stellte an den Propst Tuberozow »konfidentiell« das Ersuchen oder die Forderung, beim Regierungsbeamten Bornowolokow zu erscheinen »zwecks Abgabe näherer Erklärungen über einige wichtige Punkte, sowie auch über das anstößige und unpassende Betragen des Diakons Achilla Desnitzyn.«
»Ei zum Donnerwetter, sollte das nicht ein dummer Scherz sein? … Wollen sie sich jetzt auf diese Weise über mich lustig machen?! Aber nein, das ist kein Scherz! Da steht's: Tuberkulow … Mein Name ist in der offenkundigen Absicht, mich zu kränken, so verdreht worden. Und dann: »das anstößige und unpassende Betragen des Diakons Achilla.« Was bedeutet das alles, wo will man hinaus? Um ihnen den Spaß zu verderben und keinen Fehler zu begehen, wollen wir uns an die Methode des Abwartens halten, die einzig richtige in unklaren Fällen.«
Der Propst nahm die Feder und schrieb unter das formlose Dokument: »Der Propst Tuberozow hält sich, da er über die Vollmachten der ihn zu sich auffordernden Person nicht unterrichtet ist, nicht für verpflichtet, der Aufforderung Folge leisten zu müssen.«
Darauf legte er das Blatt in denselben Umschlag, in dem er es erhalten hatte, und schrieb quer über die Adresse: »Zurück an den, dessen Titel und Würden ich nicht kenne.«
Nachdem er das Paket wieder in das Quittungsbuch gelegt hatte, ging er hinaus und gab es dem Boten. Dem langen Subdiakon Pawliukan, der inzwischen gekommen war, befahl er, den Wagen zu schmieren und in einer Stunde zu einer Fahrt ins Kirchspiel bereit zu sein. Dann schickte er die Magd nach dem Diakon Achilla.
Unterdessen war Natalia Nikolajewna aufgestanden und machte sich, nachdem sie sich mehrmals bei ihrem Gatten wegen ihres gestrigen Einschlafens entschuldigt hatte, eifrig daran, sein Reiseköfferchen zu packen. Höchst erstaunt war sie aber, als er auf ihre Frage, wohin sie den Tabak legen solle, kurz antwortete, er habe das Rauchen aufgegeben, und sich dann gleich dem eben eingetretenen Diakon zuwandte.
»Ich muß gleich eine Amtsreise machen und habe dich kommen lassen, um dich noch einmal zu warnen,« begann er, doch Achilla unterbrach ihn sofort.
»Schönsten Dank, Vater Propst, aber ich bin schon gewarnt.«
»Das hat nicht viel zu sagen und macht mir keine Sorge. Jedenfalls bitte ich dich nur, wenigstens in meiner Abwesenheit etwas solider zu sein.«
»Ja, Vater Propst, jetzt … Auch wenn Ihr kein Wort gesagt hättet, es ist doch schon alles aus.«
Tuberozow blieb vor ihm stehen und sah ihn mit einem scharfen, durchdringenden Blick an. Gestalt und Gesicht des Diakons sahen nicht gerade vorteilhaft aus. Die dichten, natürlichen Locken machten den Eindruck einer schief aufgesetzten Perücke: die rechte Seite der Stirn war viel zu weit entblößt, die linke fast bis zum Auge verdeckt.
Der Propst dachte nach, was denn wohl noch mit dem unvorsichtigen Diakon geschehen sein mochte, dieser aber sagte, die Augen starr auf den Hut gerichtet, den er in der Hand hin- und herdrehte:
»Ich habe schon gestern, Vater Propst … gleich nachdem ich von der Biziukinschen heimgekommen war … denn wir waren alle vom Polizeichef noch dorthin gegangen … zu meiner Bedienerin gesagt: ›Nein,‹ sagt' ich, ›Esperance, der Vater Sawelij hat recht: der Starke rühme sich nicht seiner Kraft und baue nicht auf seine Macht.‹«
Statt ihm zu antworten, ging der Propst auf den Diakon zu und strich die Haare zurück, welche die linke Seite seines Gesichtes so übermäßig bedeckten.
»Nein, Vater Sawelij, hier ist nichts, aber da,« sagte Achilla leise und schob die Hand des Propstes auf seinen Nacken.
»Schäme dich, Diakon,« sagte Tuberozow.
»Es tut auch weh, Vater Propst,« sagte Achilla, sich an die Brust schlagend, und fing bitterlich zu weinen an. »Dafür werde ich mich nun täglich und stündlich martern.«
Tuberozow schüttete keinen Tropfen mehr in diesen Leidenstrank des armen Achilla. Im Gegenteil. Er machte ein paar Schritte durchs Zimmer und sagte dann, den Diakon am Arme fassend:
»Weißt du noch, wie du mir Vorwürfe machtest wegen der Pfeife?«
»Verzeiht.«
»Nicht doch, ich bin dir dankbar dafür, und wenn ich im Rauchen auch nichts besonders Schlechtes sehe und diese Gewohnheit gehabt habe, so habe ich doch heute, um dem Gerede ein Ende zu machen, davon abgelassen und alle meine Pfeifen einem Zigeuner geschenkt.«
»Einem Zigeuner!« rief der Diakon mit strahlendem Gesicht.
»Ja. Es kann dir übrigens gleich sein, wem ich sie gegeben habe; gib aber auch du deine Wildheit irgend jemandem. Du bist kein Jüngling mehr, sondern bald fünfzig, und du bist auch kein Kosak, denn du trägst die Kutte. Und jetzt sage ich dir noch einmal Lebewohl, denn ich muß fahren.«
Im Biziukinschen Hause ließ sich der neue Tag wenig freundlich an: die gnädige Frau vermißte ein kostbares Brillantenkollier, das sie gestern abend getragen hatte und das heute nirgends zu finden war. Die ganze Dienerschaft war auf den Beinen, und die Herrschaft ebenfalls. Man suchte das Verlorene in der Laube und im ganzen Hause, aber es war und blieb verschwunden.
Bornowolokow hatte mit der Revision angefangen, und auch Termosesow war ungeheuer beschäftigt. Zunächst nahm er aus seiner Photographiensammlung einige Bildnisse der kaiserlichen Familie, dann schrieb er einen Brief an einen Petersburger Freund, der in Wirklichkeit gar nicht vorhanden war. Er schilderte die Schönheit der Natur, die gelbrosa Färbung der Wolken, sprach von seiner Freundschaft mit Bornowolokow und seinen Aussichten auf eine glänzende Beamtenlaufbahn und auf eine Erbschaft im Gouvernement Samara. Zum Schluß entwarf er eine flüchtige Skizze der gestrigen Gesellschaft, wobei er die Stargoroder Herrschaften schonungslos kritisierte und nur hinsichtlich der Postmeisterin eine Ausnahme machte. »Diese Frau,« schrieb er, »ist es durchaus wert, daß man etwas bei ihr verweilt. Stelle dir vor, ich spüre hier so etwas wie Schicksalsgewalt; ich sah sie und wurde sofort von einer Art Sohnesgefühl zu ihr erfaßt. Ich sag' dir, wenn es ihr einfallen würde, mich auspeitschen[256] zu lassen, ich würde ihr dankbar die Hand küssen. Doch – ich weiß selber noch nicht, wie das enden wird, denn sie hat zwei Töchter. Die eine ist ganz die Mutter, die andere verspricht ebenfalls so schön zu werden. Wer vermöchte zu sagen, Freund, warum das unerforschliche Geschick mich der Familie dieser hochgeachteten Frau zugeführt hat? Vielleicht werde auch ich demnächst singen müssen: ›O goldne Freiheit, lebe wohl!‹«
Nachdem Termosesow den Brief an einen Herrn Nikolai Iwanowitsch Iwanow adressiert hatte, preßte er das versiegelte Kuvert zwischen zwei Fingern fest zusammen, überzeugte sich, daß man auf diese Weise seine ganze Charakteristik der Frau Postmeisterin durchlesen konnte, räusperte sich und sagte: »Na, nun wollen wir mal sehen, ob Prepotenskij gestern die Wahrheit gesagt hat, daß sie die Briefe aufmacht! Tut sie das, so bin ich fein heraus.«
Er nahm den Brief und die Bilder und begab sich auf das Postamt. Außer diesem Brief hatte er noch ein Schriftstück in der Tasche, das er in derselben frühen Morgenstunde abgefaßt hatte, als er die Aufforderung an Tuberozow schickte. Es lautete folgendermaßen:
»Das Komplott der demokratischen Sozialisten, die sich hinter der Larve des Patriotismus verbergen, macht sich überall bemerkbar. Hier setzt es sich aus äußerst verschiedenartigen Elementen zusammen, und das Schädlichste dabei ist, daß die Geistlichkeit bereits in hohem Maße daran beteiligt ist – was äußerst gefährlich ist, da sie dem Volke sehr nahesteht. Die Resultate der traurigen liberalen Duldsamkeit treten hier besonders kraß und zahlreich zutage.
Der Stargoroder Propst Sawelij Tuberozow, der schon mehr als einmal die Aufmerksamkeit der Behörden durch seinen wilden und frechen Charakter und durch seine schlechte[257] Gesinnung auf sich gelenkt hat, wurde bereits mehrmals für sein unzulässiges Betragen gemaßregelt, ohne daß es auf ihn Eindruck gemacht zu haben scheint, denn er ist von revolutionären Tendenzen ganz durchdrungen.
Ich wage es nicht zu entscheiden, wieweit er den Absichten der Regierung Schaden bringen könne, allein nach meiner Ansicht ist dieser Schaden unermeßlich groß. Der Propst Tuberozow genießt hohes Ansehen in der ganzen Stadt, und ist ein Mann von großem Verstande und von einer Kühnheit, die dank der jahrelangen Nachsicht seiner Vorgesetzten heute vor nichts mehr zurückschreckt. Alles, was ein Mensch wie er tut, sollte von Rechts wegen unter strengster Kontrolle stehen. Er jedoch redet was er will, ohne sich den geringsten Zwang anzutun, und genießt dabei noch das Vorrecht, öffentlich in der Kirche sprechen zu dürfen.
Dieses geistliche, dem Volke so nahestehende Element scheint aber auch noch mit dem flachen Lande, d. h. mit dem grundbesitzenden Adel Fühlung zu suchen. So genießt dieser verdächtige Propst Tuberozow anscheinend die Gunst und den Schutz des Adelsmarschalls Tuganow, dessen Persönlichkeit und Anschauungen Ihnen ja wohlbekannt sind. Herr Tuganow, der hier an einer Abendgesellschaft im Hause des Polizeichefs teilnahm, meinte u. a.: ›man lasse die Sonne nicht auf die Erde scheinen‹ – wobei unter der ›Sonne‹ zweifellos der Monarch zu verstehen ist, und unter der ›Erde‹ das Volk. Wer aber sich vor die Sonne stellt, ist nicht schwer zu erraten. Ja, er hat es sogar selbst klar ausgesprochen, als er dann noch bemerkte, er sei ein Mann der Scholle, der Gouverneur dagegen nur ›ein Kalif für eine Stunde‹. Als ein hiesiger Lehrer, Prepotenskij, ein ganz dummer, aber politisch durchaus unbescholtener Mensch, ihm sagte, wir alle könnten nicht sagen, wie und von wem Rußland regiert[258] werde, antwortete er mit zynischer Frechheit: ›Ich halte mich in diesem Falle an die Worte des Grafen Panin aus der Zeit Katharinas, der zu sagen pflegte, Rußland werde durch die Gnade Gottes und die Dummheit des Volkes regiert.‹ Auf all das habe ich die Ehre, Eure Exzellenz aufmerksam zu machen und halte es für meine Pflicht, vor Eurer Exzellenz die unschätzbaren Dienste des mich begleitenden Kanzleibeamten Ismail Petrowitsch Termosesow nachdrücklich zu betonen. Seiner feinen Beobachtungsgabe, sowie seiner Fähigkeit, in alle Schichten der Gesellschaft einzudringen, verdanke ich eine Menge wertvoller Informationen, und ich wage es, den Gedanken auszusprechen, daß, wenn die Obrigkeit diesem begabten Manne einen selbständigen Beobachtungsposten anvertrauen wollte, er dem Staate von unermeßlichem Nutzen sein könnte.«
Dieses Blatt in der Tasche ging Termosesow seines Weges und fragte sich: »Wird diese Kanaille von Bornowolokow das wohl unterschreiben? Ach was, – wenn man ihn nur ordentlich drückt, unterschreibt er alles.«
Termosesow gab seinen Brief auf und ging dann sofort zur Frau Postmeisterin. Die Begrüßung war sehr freundschaftlich. Er küßte ihre Hand, sie gab ihm einen Schmatz auf die Stirn und dankte ihm für die Ehre seines Besuchs.
»O bitte, ich muß Ihnen danken,« erwiderte Termosesow. »Es war ja so entsetzlich langweilig. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen, weil ich immer mit Angst und Grauen denken mußte: wo bin ich? unter was für Leuten?«
»Ja, ich sagte schon gestern zu meinen Töchtern: Unser Petersburger Gast muß sich wohl köstlich amüsieren.«
»Ach, gar zu schlimm wollen wir es auch nicht machen. Ich diene ja nicht um des Mammons willen, sondern um das Land kennen zu lernen.«
»Dann finden Sie bei uns eine Unmenge Beobachtungsstoff.«
»Ganz recht – Beobachtungsstoff! Aber da hab' ich Ihnen mit Ihrer Erlaubnis die Bilder mitgebracht, von denen wir gestern sprachen. Gestatten Sie mir, sie aufzuhängen.«
Die Postmeisterin wußte gar nicht, wie sie ihm danken sollte.
»Ich will mich mit Vergnügen dieser Arbeit unterziehen, bis Ihre Fräulein Töchter erscheinen … Ich darf doch hoffen, sie zu sehen?«
Die Postmeisterin erwiderte, die Mädchen seien noch nicht angezogen, da sie in der Wirtschaft zu tun hätten, kämen aber trotzdem bald.
»Ach, ich bitte Sie darum, ich bitte sehr!« flehte Termosesow, und als die geschmeichelte Hausfrau das Zimmer verlassen hatte, begann er die Kaiserbildnisse an der Wand zu befestigen. Die Nägel dazu hatte er mitgebracht.
Die Toilette der jungen Damen nahm fast eine Stunde in Anspruch, und in dieser ganzen Zeit ließ sich auch die Postmeisterin nicht sehen.
»Das ist ein gutes Zeichen!« dachte Termosesow. »Gewiß studiert sie mein Opus.«
Endlich erschienen die Töchter in Begleitung ihrer Mutter. Termosesow maß die Postmeisterin mit einem schnellen, durchdringenden Blick. Sie strahlte vor Wonne und Begeisterung.
»Das Fischlein hat angebissen!« schloß er und verzehnfachte seine Liebenswürdigkeit. Um aber seiner Sache ganz sicher zu sein, fing er wieder von Literatur und von seinen Reiseskizzen an zu reden.
»Porträts! Um Gottes willen mehr Porträts! Mehr Naturstudien!« bat die Postmeisterin.
»Ja, eigentlich habe ich schon die ganze hiesige Gesellschaft porträtiert und – entschuldigen Sie – auch Ihrer und Ihrer Fräulein Töchter Erwähnung getan … Wissen Sie, so ganz flüchtig … Wenn ich meinen Brief zurückbekommen könnte, den ich eben aufgegeben habe …«
»Ach nein, wozu denn?« rief die Postmeisterin errötend.
»Angebissen, angebissen!« frohlockte Termosesow, und bestand darauf, den Damen vorzulesen, was er über sie geschrieben hatte. Eine Zeitlang hörte man im Zimmer nichts als: »Ach, wozu denn lesen, wir glauben Ihnen auch so!« und: »Ja, warum denn nicht lesen? Wodurch habe ich denn so großes Zutrauen verdient?«
Termosesows Einwände wirkten zu verführerisch auf die Neugier der Mädchen. Bald erbot sich die eine, bald die andere, ins Bureau zum Vater zu laufen und den interessanten Brief des Gastes zu bringen.
Vergebens suchte die Mutter sie durch Worte und Zeichen zurückzuhalten, die Mädchen verstanden sie nicht und gaben keine Ruhe. Termosesow dagegen hatte alles ausgezeichnet verstanden: der Brief befand sich in den Händen der Hausfrau, es galt jetzt nur noch, sie zur Rückgabe zu zwingen und sie dadurch selbst völlig in die Hände zu bekommen.
Ohne viel Bedenken sprang Termosesow von seinem Platz auf und stürzte diensteifrig, der Zurufe der Damen, die ihn zurückhalten wollten, nicht achtend, nach dem Postbureau: er sei, rief er, selbst nicht mehr imstande, sich den Genuß zu versagen, den Damen die bescheidene Darstellung seiner tiefen Bewunderung für sie vorzutragen.
Keine Bitten konnten ihn bewegen, von seinem Vorhaben abzustehen. – Aber auf dem Bureau war kein Brief zu finden.
Termosesow machte ein sehr verlegenes Gesicht, als er zu den Damen zurückkehrte. Ihre Verwirrung aber war noch viel größer. Die Mädchen sprangen auf und liefen hinaus, um ihre Tränen zu verbergen, die infolge der ihnen von der Mutter gehaltenen Pauke reichlich flossen. Die Postmeisterin selbst blieb als Opferlamm im Salon.
Termosesow stellte sich schweigend vor sie hin und lächelte.
»Ich sehe Sie an,« sagte die Dame geziert, »und schäme mich.«
»Sie haben den Brief?«
»Die Versuchung war zu groß. Hier ist er.«
Termosesow nahm das versiegelte Kuvert aus ihrer Hand.
»Ich schäme mich ganz entsetzlich … aber was soll ich machen … ich bin ein Weib …«
»Ach, lassen Sie doch! Ein Weib! Um so besser, daß Sie ein Weib sind! Das Weib ist ein viel besserer Freund als der Mann und ich bin ein so vertrauensseliger Narr, daß ich wirklich warme aufrichtige Freundschaft … ich meine, weibliche Freundschaft sehr nötig habe! Jetzt habe ich mich an Herrn Bornowolokow angeschlossen … Wir sind schon lange Freunde und er ist auch jetzt mehr mein Freund als mein Vorgesetzter … wenigstens scheint es mir …«
»Ja, ich sehe, ich sehe, Sie sind sehr treuherzig und vertrauensselig!«
»Ich bin einfach ein Narr in dieser Beziehung! Ein völliger Narr! Ein kleines Kind kann mich nasführen!«
»Das ist aber nicht gut, gar nicht gut!«
»Was kann ich gegen meine Natur? Jemand, der meine Freundschaft mit Bornowolokow genau beobachtet hatte, sagte mir einmal: ›Paß auf, Ismail Petrowitsch, du bist zu leichtgläubig! Baue nicht zu sehr auf diese hinterlistige Freundschaft! Bornowolokow zeigt hinter deinem Rücken ein ganz anderes Gesicht, als du zu sehen gewohnt bist!‹ … Aber ich kann nicht anders – ich muß ihm glauben!«
»Warum tun Sie es?«
»Gott, ich bin nun mal so! … Ja, wenn man mir Beweise vorlegte! Wenn ich hören könnte, wie er in meiner Abwesenheit von mir spricht! Wenn ich einen Brief von ihm sehen könnte! Den Freundesdienst würde ich mein Leben lang nicht vergessen!«
Die Postmeisterin bedauerte, daß sie diesen hinterlistigen Bornowolokow nie zu Gesicht bekommen habe, und fragte, ob Termosesow vielleicht eine Photographie des Verräters besäße?
»Leider nicht. Aber einen Brief von ihm. Hier, sehen Sie seine Handschrift.«
Und er zeigte ihr einen Fetzen Papier von Bornowolokows Hand beschrieben. Beim Fortgehen ließ er ihn wie von ungefähr auf dem Tische liegen.
Diese zweite Angel war noch glücklicher ausgeworfen als die erste. Gegen Abend, als Termosesow mit Bornowolokow und Biziukin beim Kaffee saß, kam ein Postbote mit dem Auftrage, Ismail Petrowitsch sofort zur Frau Postmeisterin zu bitten.
»Ach richtig! Ich hatte versprochen, heute einen Ausflug mit ihr zu machen! Wie konnte ich das nur vergessen!« sagte Termosesow und entfernte sich mit dem Boten.
Er traf die Postmeisterin im Salon allein. Sie drückte ihm die Hand, schloß die Tür und nahm schweigend einen Brief aus der Tasche, welchen sie ihm reichte.
»Lesen Sie, es stört uns hier niemand.«
Termosesow las den Brief, in dem sich Bornowolokow bei seiner Petersburger Kusine Nina bitter über sein Geschick beklagte, welches ihn in Moskau mit Termosesow zusammengeführt hatte. Er nannte ihn einen »ausgemachten Lumpen und Halunken« und bat die Kusine, »mit allen Mitteln und unter Heranziehung all ihrer ausgezeichneten Verbindungen darauf hinzuwirken, daß dieser gemeine Kerl eine gute Stelle in Polen oder in Petersburg erhalte, sonst könne er, weil er über alle alten Dummheiten unterrichtet sei, das entsetzlichste Unheil anstiften.«
»Haben Sie Ihren Freund nun erkannt?« fragte die Postmeisterin.
»Das hätte ich nicht erwartet! Gott strafe mich, – das nicht!« sagte Termosesow, indem er seinen Kopf schüttelte und seufzte.
»Behalten Sie den Brief und vernichten Sie ihn,« sagte die Postmeisterin.
»Vernichten? Warum? Nein, ich vernichte ihn nicht! Mag er an seine Adresse gelangen, – aber eine Abschrift möchte ich haben. Gestatten Sie mir, sie zu nehmen.«
Termosesow hatte sofort begriffen, daß der Brief für seine Ehre zwar wenig schmeichelhaft war, aber sehr vorteilhaft, weil man ihm angesichts seiner Gefährlichkeit ganz sicher eine sehr gute Anstellung verschaffen würde.
Mit der Abschrift steckte er auch das Original zu sich und ging heim.
Das Ehepaar Biziukin war bereits zu Bett gegangen, und Bornowolokow saß allein und schrieb.
»Immer fleißig, Eure Durchlaucht? Schon wieder bei der Schreiberei?« sagte Termosesow heiter.
Ein kurzes kaltes »Ja« war die Antwort.
»Da wird wohl wieder irgendeine Gemeinheit verfaßt?«
Bornowolokow fuhr zusammen.
»Na also!« sagte Termosesow gelangweilt, schloß plötzlich die Tür ab und steckte den Schlüssel in die Tasche.
Bornowolokow sprang auf und versuchte schnell das Blatt, an dem er geschrieben hatte, zu zerreißen.
»Gott, was Sie sich aufregen!« lachte Termosesow. »Ich schloß die Tür nur, um mich mit Ihnen gemütlich und ungestört unterhalten zu können, und Sie reißen gleich Ihr ganzes Geistesprodukt in Fetzen.«
Bornowolokow setzte sich wieder.
»Unterzeichnen Sie dieses Papier. Aber bitte schön – nicht zerreißen!«
Damit legte Termosesow ihm jenes formlose Skriptum vor, in dem er Wahrheit und Dichtung über Tuberozow und Tuganow zusammengebraut und sich selbst so glänzend attestiert hatte.
Bornowolokow las es ruhig von Anfang bis zu Ende.
»Nun?« fragte Termosesow, als er sah, daß er mit dem Lesen fertig war, »wollen Sie unterschreiben oder nicht?«
»Ich könnte Ihnen sagen, daß ich erstaunt bin, aber …«
»Ich habe Ihnen das Staunen schon abgewöhnt! Das weiß ich sehr gut, und auch bei Ihnen wundere ich mich über nichts mehr!«
Damit reichte er Bornowolokow die Abschrift des Briefes an die Kusine Nina und fügte hinzu:
»Das Original habe ich auch.«
»Sie haben es? Wie konnten Sie sich unterstehen?«
»Wie konnten Sie sich unterstehen? Und das nennt sich Freund und Bruder! Da will man gemeinschaftlich ganz[267] Rußland auf den Kopf stellen – und dann kommt so ein liebenswürdiges Attest! Nein, mein Lieber, das geht nicht. Da werden Sie mir ein ganz anderes Zeugnis ausstellen müssen.«
Bornowolokow sprang auf und fing an im Zimmer hin und her zu laufen.
»Nehmen Sie nur wieder Platz, das Rennen nützt Ihnen gar nichts,« meinte Termosesow. »Wir wollen uns doch friedlich auseinandersetzen. Sie wissen, wohin ich Sie mit diesem Brieflein, mit dem Hinweise darauf, daß Ihre werte Vergangenheit nicht so ganz sauber ist, expedieren kann? Da holt Sie kein Polack und keine Kusine heraus!«
Bornowolokow schlug sich ungeduldig auf die Schenkel und rief:
»Wie konnten Sie meinen Brief stehlen, wenn ich ihn selbst in den Kasten geworfen hatte?«
»Raten Sie! Wie ich's fertig gekriegt habe, ist meine Sache, Ihnen aber sag' ich nun zum letztenmal: unterschreiben Sie! Auf das erste Blatt setzen Sie Ihren Vor- und Familiennamen, Amt und Rang, und auf dem zweiten bestätigen Sie die Richtigkeit der Abschrift und fügen dann noch zwei Worte hinzu, die ich Ihnen diktieren werde.«
»Sie … Sie wollen mir diktieren?«
»Allerdings. Ich diktiere, Sie schreiben und dann geben Sie mir tausend Rubel Reugeld.«
»Reugeld?! Wofür?«
»Dafür, daß Sie dann Ruhe vor mir haben.«
»Ich habe nicht so viel.«
»Mir genügt ein Schuldschein. Hundert bis hundertfünfzig in bar, das übrige hat Zeit … Aber lange mit Ihnen diskutieren tue ich nicht. Wollen Sie, so ist's recht; wollen Sie nicht, so ist mir's auch recht. In diesem Fall habe ich die Ehre, mich Ihnen zu empfehlen.«
»Ich will unterschreiben!« sagte Bornowolokow kurz.
»Bitte …«
Termosesow wischte die Feder an seinem Rockschoß ab, tauchte sie ein und reichte sie Bornowolokow.
»Was soll ich schreiben?«
Termosesow räusperte sich und diktierte:
»Der Hundsfott Termosesow …«
Bornowolokow stutzte und sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an.
»Wollen Sie wirklich, daß ich diese Worte schreibe?«
»Selbstverständlich. Schreiben Sie nur: ›Der Hundsfott Termosesow‹.«
»Danke ergebenst. Bitte, weiter.«
Der Sekretär stand hinter dem Stuhle Bornowolokows und blickte über seine Schulter, während er weiterdiktierte: »Der Hundsfott Termosesow ist auf eine ebenso unbegreifliche wie geniale Weise in den Besitz meines eigenhändigen Briefes an Sie gelangt, in welchem ich so unvorsichtig war, alles das zu schreiben, was Sie auf diesem Blatte von der Hand eben dieses Halunken Termosesow geschrieben lesen.«
»Schluß?«
»Nein, noch etwas. Bitte, schreiben Sie: ›Wie er sich den Brief hat verschaffen können, den ich persönlich zur Post brachte, vermag ich nicht zu ergründen. Die Tatsache aber mag Ihnen ein Beweis für die Kühnheit und Gewandtheit dieses Lumpen sein, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, mir keine Ruhe zu lassen und mich so lange zu schikanieren, bis Sie ihm einen einträglichen Posten verschafft haben. Ich beschwöre Sie deshalb um unser beider Wohlergehen willen, für ihn selbst das Unmögliche möglich zu machen. Im anderen Falle droht er damit, alles aufzudecken, was wir in der Zeit unserer revolutionären Dummheiten begangen haben.‹«
»Kann der letzte Satz nicht geändert werden?«
»Nein. Ich bin wie Pilatus: was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben.«
Bornowolokow schrieb das Bekenntnis seiner Schmach zu Ende und schob das Papier weg.
»Nun haben Sie hier noch den Bericht über die Geistlichkeit und die gefährliche Stimmung in der Gesellschaft zu unterzeichnen.«
Bornowolokow nahm die Feder wieder, las das Schriftstück noch einmal durch, überlegte und sagte:
»Was haben diese Leute, Tuberozow und Tuganow, Ihnen eigentlich getan?«
»Nicht das geringste.«
»Vielleicht sind es ausgezeichnete Menschen.«
»Sehr möglich.«
»Warum verleumden Sie sie denn? Was hier steht, ist doch Verleumdung?«
»Nicht durchweg, nur ein wenig.«
»Ja, wozu dies alles?«
»Was soll ich machen? Ich muß zeigen, was ich kann. Ihr Blaublütigen habt Onkel und Tanten, die sich für Euch bemühen, Parvenüs wie wir müssen alles selber machen.«
Bornowolokow seufzte und unterschrieb.
Termosesow steckte die Denunziation ein.
»Jetzt wäre noch das Dritte zu erledigen,« fuhr er fort, »dann setze ich meinen Hut auf und sage Adieu. Hier ist ein Wechselformular. Es lautet auf achthundert Rubel. Zweihundert erbitte ich mir in bar.«
Bornowolokow saß mit aufgestützten Armen da und betrachtete Termosesow schweigend.
»Nun? Sie haben sich wohl in die Zunge gebissen?«
»Nein, ich bewundere Sie bloß.«
»Bitte sehr. Ich bin so, wie das Leben mich gemacht hat. Aber jetzt unterschreiben Sie den Wechsel und geben Sie mir das Geld.«
»Wofür, Herr Termosesow, wofür?«
»Wofür?! Für Ihre einstigen geheimen Vergnügungen in stillen Nächten im heiligen Moskau und im sündhaften Petersburg; für Ihre Unterhaltungen, Pläne, Schriftstücke, für alle die schönen Stunden, an die ich in meinen Taschen und in meinem Kopf genug Erinnerungen behalten habe, um Ihre ganze Karriere vernichten zu können.«
Bornowolokow unterschrieb den Wechsel und warf das Geld hin.
»Verbindlichsten Dank,« sagte Termosesow, indem er Wechsel und Geld einsteckte, »es freut mich sehr, daß es ohne Feilschen abgegangen ist.«
»Was wäre dann geschehen?«
»Dann hätte ich das Doppelte verlangt.«
Nachdem er alle Dokumente beisammen hatte, suchte Termosesow seine Mütze. »Ich werde draußen im Wagen schlafen,« sagte er, »hier ist es zu schwül für zwei.«
»Wollen Sie mir nicht erst meinen Brief wiedergeben?«
»Fällt mir gar nicht ein. So war es nicht gemeint.«
»Ja, wozu brauchen Sie ihn noch?«
Termosesow lachte.
»Wollen Sie noch Geld dafür haben?«
»Nein, ich bin nicht habgierig, ich habe genug.«
»Pfui, was sind Sie für ein …«
»Vieh, wollen Sie sagen? Bitte, bitte, genieren Sie sich nicht. Ich höre nicht hin und gehe schlafen.«
»So beantworten Sie mir wenigstens noch nur eine Frage: wo sind die verschwundenen Brillanten der Biziukina?«
»Woher soll ich das wissen?«
»Sie … Sie waren doch irgendwo mit ihr … in einer Laube, – nicht wahr?«
»Was ist denn dabei? Es waren auch noch andere Leute da: der Lehrer und der Diakon.«
»Gewiß. Aber sagen Sie mir wenigstens, – sind diese Brillanten nicht irgendwo unter meine Sachen gesteckt?«
»Wie kann ich das wissen?«
»O Gott! Dieser Mensch macht mich wahnsinnig!« rief Bornowolokow in höchster Erregung.
»Noch eins,« flüsterte Termosesow und drückte Bornowolokows Arm fest zusammen. »Daß Sie sich's nicht einfallen lassen, Ihren Kusinen vorzuflunkern … denn die Briefe wurden nicht nur von mir gelesen.«
Die verschwundenen Brillanten der Biziukina, das Blachdnublach, die Niederlage Achillas und Prepotenskijs, die Liebelei mit Daria Nikolajewna und die Eroberung der Postmeisterin, endlich die Mattsetzung Bornowolokows, – alle diese Ereignisse, die sich in knapp vierundzwanzig Stunden abgespielt hatten, waren Termosesow selbst ein wenig zu Kopf gestiegen. Er fühlte ein unüberwindliches Verlangen nach Schlaf und streckte sich auf dem Heu des Wagens aus, wo er sofort einschlief und erst sehr spät am Morgen wieder erwachte. Die kühle Scheune, welche Termosesow zu seinem Schlafgemach gewählt hatte, blieb geschlossen und Ismail Petrowitsch rekelte sich noch lange nach dem Erwachen auf seinem Lager, kratzte sich die Fußsohlen und dachte nach.
Seine Gedanken waren insofern bemerkenswert, als das Vergangene und Geschehene für sie absolut nicht vorhanden war; ebensowenig beschäftigten sie sich mit einer der neuen Personen, gegen die Termosesow mit so kühner Ungeniertheit vorgegangen war. So seltsam das auch klingen mag, – Termosesow besaß wirklich eine gewisse Harmlosigkeit, die sich mit einer maßlosen sittlichen Laxheit und Frechheit und einer vollkommenen Gleichgültigkeit gegen alle Menschen und ihr Urteil paarte. Er dachte nie daran, daß die Person, mit der er im Augenblick zu tun hatte, schon früher existiert hätte, ehe sie ihm in den Weg gekommen, und daß sie auch weiterhin[274] existieren wolle; daß sie infolgedessen auch ihr eigenes Verhältnis zur Vergangenheit und ihre eigenen Zukunftsaussichten habe. Ihm kam es so vor, als tauchten die Menschen vor ihm auf wie Wasserblasen oder Pilze, nur für den Moment, wo er sie zu Gesicht bekam, und darum glaubte er über sie völlig nach Belieben verfügen und sie ausbeuten zu dürfen, was er denn auch in der unverschämtesten Weise tat. Hatte er aber erreicht, was er wollte, so vergaß er den andern bald ganz und gar. In seiner zynischen Redeweise drückte er das ganz naiv aus: »Wenn ich jemanden gekränkt habe, bin ich später nie böse auf ihn.« Und so war es auch. Wenn jetzt plötzlich Achilla oder Prepotenskij zu ihm in die Scheune gekommen wären, so hätte er sie ganz freundschaftlich angeredet, ohne auch nur im geringsten an die gestrigen Ereignisse zu denken. Als er auf Bornowolokow, den er längst vergessen hatte, stieß, packte er ihn: »An dem bleib' ich hängen!« meinte er. Und blieb an ihm hängen. Als er die Biziukina traf, kam's ihm in den Sinn, ihr den Hof zu machen – und er machte ihr den Hof. Als er – der Teufel mag wissen, zu welchem Zweck – ihr seine höhere politische Weisheit beibrachte, kam ihm der Gedanke, sich ihre Brillanten anzueignen, und alsbald ward dieser Gedanke ausgeführt. Dabei wurden die Brillanten so schlau versteckt, daß, falls die Biziukins es zu einer Haussuchung hätten kommen lassen, sie sich natürlich nicht bei Termosesow, sondern bei Bornowolokow gefunden hätten, der diese Kostbarkeiten fast am eigenen Leibe trug: Termosesow hatte sie nämlich in das Futter seines Mantels eingenäht. Die Person des Propstes Tuberozow beschäftigte die Gedanken Termosesows überhaupt nicht; als die Biziukina über ihn zu klagen begann, versprach er leichtfertig, den Alten aus dem Wege zu räumen, – und dann erst kam ihm die Idee, Tuberozow[275] als Beweisobjekt für seine »Beobachtungsgabe« zu benutzen. Jetzt aber hätte keine Gewalt der Erde ihn mehr von dem hartnäckigen Streben nach Verwirklichung dieses Planes abbringen können.
Hätte der alte Propst dies gewußt, er würde die ihm zugedachte Rolle als bitterste Kränkung empfunden haben. Allein er hatte keinerlei Ahnung von dem, was ihm bevorstand, und fuhr auf seinem Klapperwagen von Dorf zu Dorf, von Kirche zu Kirche, durchwanderte weite Waldstrecken zu Fuß, ruhte auf Wiesen und an Feldrainen und schöpfte neue Kraft aus der Berührung mit der Mutter Natur.
In der Stadt aber war inzwischen, dank den unermüdlichen Bemühungen Termosesows, die Schlinge schon ausgelegt. Die Beschwerde des Kleinbürger Danilka war den Instanzenweg gegangen, eine Bagatelle war zu einer Angelegenheit geworden, die auf gesetzlichem Wege entschieden werden mußte.
Die aufregenden Berichte vom Mißgeschick des Diakons Achilla und davon, daß man auch ihn, den Propst selbst, in diese nichtige Sache verwickelt hatte, trafen den Vater Sawelij in einem weit abgelegenen Kirchdorf, von dem er wenigstens zwei Tage zu reisen hatte, bis er die Stadt erreichte.
Es war unerträglich heiß. Vom letzten Dorf, in dem Tuberozow übernachtet hatte, waren es noch etwa fünfzig Werst bis zur Stadt. Der Propst war ziemlich spät ausgefahren und hatte noch kaum die Hälfte des Weges zurückgelegt, als die Hitze so groß wurde, daß Tuberozow seine armen, von Schweiß und Schaum triefenden braunen Pferdchen gar nicht mehr ansehen mochte. Er beschloß deshalb, noch einmal Halt zu machen, um die Tiere zu füttern und sie ausruhen zu lassen. Aber keine Herberge wollte er aufsuchen: er erinnerte sich eines wunderschönen Plätzchens am Waldrand, der sogenannten »Zaunkönigshöhe«, dorthin zog es ihn, um in der Kühle zu rasten.
Von dem weiten flachen Abhang, der sich hier niedersenkt, erblickt man auf einer Entfernung von mehr als zwanzig Werst die goldenen Kuppeln der städtischen Kirchen, während der jahrhundertealte Wald sich im Rücken endlos hinzieht. Tiefe Stille und Ruhe herrschen hier.
Von der Glut ermattet, hatte Tuberozow eben den Wagen verlassen, als ihn ein ungemein wohliges Gefühl übermannte.[277] Trotz der ringsum herrschenden Hitze strömte das dichte dunkelblaue junge Eichengehölz eine belebende Kühle aus. An den elastischen, wie in grünes Wachs getauchten Blättern der Jungeichen war kein Stäubchen zu entdecken. Überall warme, weiche, beruhigende Farben. Unter den bunten krausen Blättern des Farnkrautes guckt die leuchtendrote Wolfsbeere hervor. Von der Sonne vergoldet, reckt sich ein trockener Haselstrauch in die Luft, und auf dunkelbraunem Torfboden erheben sich ganze Pilzfamilien, zwischen denen rote Steinbeeren wie Korallen glänzen.
Während Pawliukan, in Unterwäsche und Weste, die erhitzten Pferde ausspannte und umherführte, ging der Propst ein wenig im Walde spazieren. Er holte sich aus dem Wagen einen kleinen Teppich und trug ihn zu einer grünen Vertiefung, aus der lärmend und schäumend eine Quelle sprang. Hier wusch er sich mit dem frischen Wasser und streckte sich zur Ruhe auf dem Teppich aus. Das gleichmäßige Murmeln des Baches und die Kühle umwehten wohltuend das von der Hitze ganz benommene Haupt des Alten, und ohne es selbst zu merken, war er wider seinen Willen eingeschlafen. Der Schlaf war stärker, er warf ihn nieder und hielt ihn fest. Er wollte dem Pawliukan etwas sagen, aber der Schlaf hielt ihm mit weicher Hand den Mund zu.
Der Traumgott hatte den Propst so in seiner Gewalt, daß Pawliukan ihn vergebens an den Schultern rüttelte, um ihn zum Essen einer vorzüglichen Grütze aus Buchweizen und frischen Pilzen aufzufordern. Tuberozow blinzelte nur mit den Augen: »Iß, mein Lieber, ich schlafe so süß,« – und lag alsbald in noch tieferem Schlummer.
So verzehrte Pawliukan sein Mittagessen allein und folgte dann dem Beispiel seines Vorgesetzten. Auch die Pferde wurden still, ließen die Köpfe hängen und schlummerten ein.
Ringsum schien alles in einem Zauberschlaf zu liegen. Eine so tiefe Stille herrschte, daß ein Hase, der aus der Waldestiefe hinausgesprungen kam und sich, leise mit dem Schnurrbart wackelnd, auf die Hinterbeine setzte, plötzlich ganz verlegen wurde und mit weit zurückgeworfenen Ohren eiligst wieder im Walde verschwand.
Tuberozow ertappte sich beim Erwachen dabei, daß seine Lippen mit großer Anstrengung die Worte »guten Tag« herausbrachten – allem Anschein nach als Erwiderung auf einen Gruß.
»Wen begrüße ich da? Wer war hier bei mir?« fragte er sich, den Schlaf abschüttelnd. Und es wollte ihn bedünken, als hätte soeben jemand neben ihm gestanden, kühl und still, in einem Gewande von der Farbe einer reifenden Pflaume … So deutlich empfand er alles, daß er sich schnell, auf den Ellbogen gestützt, aufrichtete, aber nur den schlafenden Pawliukan, seine braunen Pferde und den Wagen sah. Der langen Ruhe satt, suchte das Seitenpferd sich den Halfter vom Kopfe zu streifen. Es trat zur Seite, warf sich nieder, wälzte sich im Grase, stand wieder auf und reckte witternd den Hals. Tuberozow war noch immer im Halbschlaf. Das Pferd ging weiter, bückte sich nach dem dichten Grase am Waldrand und biß die Spitze eines jungen Eichbäumchens ab. Endlich kam es bis zu dem mit wildem Klee bewachsenen Grenzpfad und zog die warme Luft ein. Sawelij sah immer noch vor sich hin und konnte seinen Zustand nicht begreifen. Es war weder Schlaf noch Wachen. Die Feuchtigkeit seines Ruheplatzes schien ihn betäubt zu haben; ihm war, als wogten Dämpfe in seinem Kopf. Er rieb sich die Augen und blickte in die Höhe: droben im Blauen über seinem Kopfe schwebte ein Rabe. Oder war es ein Geier? Nein, es mußte ein Rabe sein. Er hielt sich fester und zog weitere Kreise … Jetzt kam es[279] von oben herab wie eine hingeworfene Handvoll Erbsen: ku–urlu. So schreit nur ein Rabe. Wonach mag er spähen? Was will er? Vielleicht ist er des Kreisens müde und möchte von dem Wasser unten trinken. Tuberozow kam eine Legende in den Sinn, die sich auf diese Quelle bezog. Sie sollte einen wunderbaren Ursprung haben. Das reine durchsichtige Becken der Quelle glich einer in die Erde gegrabenen Schale von Kristall, welche einem Blitzstrahl ihre Entstehung verdankte, der vom Himmel kam und tief in das Innere der Erde drang. Gerade an der Stelle, wo vor sehr, sehr langer Zeit ein vom Kampf ermatteter russischer Held hingesunken sein sollte, den eine gewaltige Übermacht der Ungläubigen von allen Seiten umzingelte. Rettung schien für den Ritter, der allein war, ganz unmöglich. Er flehte zum Heilande, daß er ihn vor schimpflicher Gefangennahme bewahre. In demselben Augenblick, so berichtet die Sage, zückte aus völlig klarem Himmel ein Blitzstrahl nieder und sprang wieder in die Höhe. Ein Donnerschlag folgte, so gewaltig, daß die Rosse der Tataren in die Knie sanken und ihre Reiter abwarfen. Als sie sich erhoben, war der Ritter verschwunden. An der Stelle aber, an welcher er sich eben noch befunden, stieg, schäumend und wie tausend Diamanten glitzernd, ein mächtiger Strahl kalten Quellwassers in die Höhe; in wildem Zorn peitschte er die Wände des Erdkessels und als silbernes Bächlein floß er weiter über die grüne Wiesenfläche.
Ein Wunder dünkt diese Quelle allen und das Volk behauptet, ihrem Wasser sei eine Zauberkraft eigen, die selbst die Tiere und die Vögel kennen. Alle wissen das, allen ist es bekannt, denn alle fühlen hier die immerwährende geheimnisvolle Gegenwart des entrückten Glaubenskämpen. Hier tut der Glaube Wunder und darum ist alles hier so[280] mächtig und so stark, vom Gipfel der hundertjährigen Eiche bis zum Pilz, der sich zwischen ihren Wurzeln verbirgt. Sogar das scheinbar ganz Abgestorbene wird hier wieder lebendig: Da steht der dünne, vertrocknete Haselstrauch; er ist vom Blitz gestreift, aber auf der Rinde, dicht über der Wurzel, bemerkt man, wie mit grünem Wachs aufgestrichen, ein »Peterskreuz«, und von hier wird bald ein neues Leben ausgehen … Ja, die Gewitter sollen hier böse sein, heißt es.
»Freilich, freilich, es gibt bekanntlich solche Gegenden mit außerordentlich starker elektrischer Spannung,« dachte Tuberozow, und es kam ihm vor, als bewegten sich die grauen Haare auf seinem Kopfe. Kaum war er aufgestanden, so erblickte er nur wenige Schritte entfernt ein kleines blaßgelbes Wölkchen, dessen Umrisse sich fortwährend veränderten, während es langsam den Grenzpfad entlang kroch, auf dem sich das freigekommene Pferd herumtrieb. Es schien direkt auf das Pferd loszusteuern. Aber als es bis zu ihm gekommen war, fing es plötzlich zu hüpfen an, wirbelte empor und zerflatterte, wie der Rauch aus einem Kanonenrohr. Das Pferd schnaufte wild und stürmte, kaum den Boden berührend, angsterfüllt vorwärts.
Tuberozow sprang hastig auf, weckte Pawliukan, half ihm auf das andere Pferd klettern und schickte ihn dem Flüchtling nach, von dem schon jede Spur verschwunden war.
»Beeil dich, hol es ein,« sagte Sawelij zum Subdiakon und warf einen Blick auf seine silberne Uhr: es war etwas über drei Uhr nachmittags.
Der Alte setzte sich barhäuptig in den Schatten, gähnte und fuhr plötzlich zusammen, da er in der Ferne ein schweres Dröhnen vernommen zu haben glaubte.
»Was ist das? Ein Gewitter?«
Er stand wieder auf, ging an den Waldrand hinaus und sah, daß von Osten her wirklich eine dunkle Wolke heraufzog. Das Gewitter überraschte ihn ganz allein.
Noch ein Schlag! Das Feld wogte heftiger und kalt wehte es darüber hin.
An die schwarze Wolke, welche den Osten ganz bedeckte, rückten von unten her kleinere Wolkenballen heran, gleichsam von ihr heraufgezogen wie Kulissen. Ab und zu brach eine Flamme zwischen ihnen durch. So überschaut ein Zauberkünstler, der eine schauerliche Vorstellung geben will, mit der Laterne in der Hand, noch einmal die dunkle Bühne, bevor er alle Lichter anzündet und den Vorhang hochzieht. Die schwarze Wolke kroch weiter und je näher sie rückte, desto undurchdringlicher schien sie. Vielleicht läßt der liebe Gott sie vorüberziehen? Vielleicht entlädt sie sich irgendwo weiter draußen? Doch nein! Schon zuckt über ihren oberen Rand leise ein feuriger Streif und Blitze flimmern und flackern plötzlich leuchtend durch die ganze finstere Masse. Die Sonne ist nicht mehr zu sehen: Wolken haben ihre Scheibe bedeckt, ihre langen, degenartigen Strahlen zucken noch einmal hell auf, um dann auch zu verschwinden. Ein Wirbelwind erhebt sich pfeifend und dröhnend. Wie Fahnen flattern die Wolken. Über das reifende Roggenfeld laufen weiße Flecken wild hin und her. Einer scheint unmittelbar vom Himmel herabzufallen, ein anderer setzt sich dick und breit hin. Plötzlich laufen beide auf einander los, fließen in eins zusammen und verschwinden. Am Feldrain schüttelt der Wind die Ähren so seltsam, daß man meinen könnte, es wäre nicht der Wind, sondern ein lebendes Wesen hätte sich am Boden versteckt und treibe wütend seinen Unfug. Der Wald ist voll Lärm. Eine Zickzacklinie flammt über dem Walde auf; eine andere zuckt hoch über den Wipfeln, und dann wird es still … ganz[282] still! … Kein Blitz, kein Wind: alles ist wie gebannt. Das ist die Stille vor dem Sturm: alles, was noch nicht Zeit gehabt hat, sich vor dem Unwetter zu verstecken, sucht diesen letzten stillen Augenblick noch auszunutzen: ein paar Bienen fliegen an Tuberozow vorüber, es ist, als flögen sie nicht, sondern als würden sie von einem Windstoß fortgerissen. Aus dem dunklen Gesträuch, das jetzt ganz schwarz erscheint, hüpfen ein paar erschrockene Hasen heraus und legen sich in eine Furche. Über das Gras, das bei der Beleuchtung grau wie Asphalt aussieht, rollt ein silberner Knäuel und verschwindet unter der Erde. Es war ein Igel. Alles verbirgt sich, so gut es kann. Da als letzter stürzt sich auch der Rabe, welcher vorhin so hoch schwebte, die Flügel hart an den Rücken gedrückt, hinab auf den Wipfel eines hohen Eichbaums, wo man ihn jetzt schwerfällig rascheln hört.
Tuberozow war nicht furchtsam, aber sehr nervös, und solche Menschen werden bei starken elektrischen Entladungen von einer unwillkürlichen und unbezwinglichen Unruhe befallen. Diese Unruhe verspürte auch er, als er sich umschaute und überlegte, wo er wohl am besten vor dem Gewitter, dessen Ausbruch unmittelbar bevorstand, geschützt wäre.
Seine erste Bewegung war, nach seinem Wagen zu laufen, einzusteigen und sich zuzudecken; aber kaum hatte er hier Platz genommen, so begann es im Walde zu knarren und zu krachen, und der Wagen wurde hin und her geschüttelt, wie eine Kinderwiege. Auf diesen Unterschlupf war also kein Verlaß: der Wagen konnte sehr leicht umgeworfen werden und ihn erdrücken.
Tuberozow sprang wieder hinaus und lief ins Kornfeld. Der Wirbelwind packte ihn bald von vorn, bald von der Seite, zwang ihn, stehen zu bleiben, riß ihn an den Schößen zurück, pfiff, trompetete, winselte und brüllte ihm in die Ohren.
Tuberozow lief wieder zur Quelle. Aber in dem Kristallbecken herrschte eine noch größere Unruhe: das Wasser brauste und kochte, und durch die Kreise, die es bildete, schien ein in der Tiefe verborgenes Wesen sich emporarbeiten zu wollen. Plötzlich flammte es über der dunkeln, bleiernen Wassermasse blutigrot auf. Es war ein Blitzschlag, aber was für ein seltsamer[284] Schlag! Wie ein Pfeil fuhr er, in zweimaligem Zickzack gebrochen, von oben herab, spiegelte sich im Wasser wider und wirbelte im selben Augenblick, ebenso gezackt, wieder zum Himmel empor, als hätten Himmel und Erde einen feurigen Gruß getauscht. Ein knatternder Schlag folgte, als stürzten sämtliche Dachplatten von einem Hause herab, und eine gewaltige Wolke von Wasserstaub und Schaum sprudelte springbrunnenartig aus der Quelle empor.
Tuberozow legte die Hände vor das Gesicht, sank auf ein Knie und befahl Seele und Leben dem Allmächtigen. Jetzt brach auf den Feldern und im Walde eine jener Gewitterkanonaden los, welche dem Menschen seine völlige Hilflosigkeit gegenüber den Naturgewalten so besonders klar vor Augen führen. Blitze flammten auf. Krachend folgte Schlag auf Schlag. Mit einem Male sah Tuberozow, wie auf den dunklen Eichenstamm vor ihm gleich einer trüben Lampe schimmernd eine Kugel zuschwebte. Mitten im Gezweig des Baumes leuchtete der Funke plötzlich in blendendem Lichte auf, wuchs zu einem großen Klumpen und zerstob. Ein furchtbares Getöse erschütterte die Luft, dem alten Manne ging der Atem aus, um seine Finger und Zehen drehten sich glühende Ringe, der Körper reckte sich krampfhaft empor, knickte zusammen und fiel hin …
Ein Bewußtsein erfüllte ihn noch: daß alles zusammenbrach. Daß das Ende nahe! Weiter konnte er nichts denken … Als er zu sich kam, wußte er nicht, wieviel Zeit seit dem Augenblick vergangen war, da der Schlag ihn getroffen, und wie lange er bewußtlos gelegen hatte. Er hörte nur noch ein letztes, dumpfes, langsames Rollen weit droben, – dann trat völlige Ruhe ein. Das Wetter zog ab. Sawelij hob den Kopf, blickte um sich und bemerkte in seiner nächsten Nähe auf dem Boden etwas Riesiges, Unförmiges. Es war ein[285] Haufen Zweige, der Wipfel des gewaltigen Eichbaums. Wie mit einem Messer war der Baum dicht über der Wurzel abgeschnitten und lag auf der Erde. Aus seinem Gezweig, das sich mit den Kornähren des Feldes mischte, erklang das widerliche Kreischen des Raben, der mit dem Baum gestürzt war. Ein schwerer Ast hatte ihn an die Erde gedrückt, und nun riß er seinen purpurroten Rachen weit auf, zuckte in Krämpfen und schrie verzweifelt.
Angewidert durch dies Schauspiel sprang Tuberozow mit einer Geschwindigkeit und Leichtigkeit zur Seite, als wäre er nicht siebzig Jahre alt, sondern siebzehn.
Das Gewitter hatte sich ebenso schnell verzogen, wie es gekommen war. An Stelle der schwarzen Wolke hob sich vom blauen Grunde ein rosiger Streifen ab. Auf dem nassen Hafersack, der auf dem Bock des Wagens lag, saßen schon fröhlich zwitschernde Spatzen und zogen frech nasse Körner durch die Löcher der feuchten Leinewand. Der Wald wurde wieder lebendig. Irgendwoher kam ein leises, einschmeichelndes Pfeifen, und auf den Rain ließ sich laut girrend ein Taubenpärchen herab. Das Weibchen streckte seinen Flügel über dem Boden aus, strich ihn mit seinem roten Pfötchen und richtete ihn segelartig empor, um sich vor dem Freunde zu verbergen. Der Tauber blies den Kropf auf, machte eine tiefe Verbeugung und sagte gefühlvoll: »Nur du!« Auf diese Begrüßung folgten Küsse, und fieberhaft bebten die Flügel im dichten Gewirr der Wermutstauden. Das Leben nahm wieder seinen Lauf. Pferdegetrappel ertönte in nächster Nähe: Pawliukan kam zurück. Er ritt auf dem einen Pferde und führte das andere am Zügel.
»Nun, lebt Ihr noch, Vater!« rief er lustig, auf den Wagen zureitend und absteigend. »Ich eilte, was ich konnte, daß Ihr nicht allein vom Unwetter überrascht würdet, aber wie der Donner plötzlich so dreinfuhr, da bin ich, müßt Ihr wissen, vom Pferde runter einfach platt auf den Boden gefallen … Und hier hat's ja den Eichbaum abgeschnitten!«
»Ja, mein Freund, das hat es. Aber laß uns nun anspannen und fahren.«
»Gott, muß das eine Gewalt gewesen sein!«
»Ja, Freund, aber fahren wir.«
»Es weht jetzt so ein frischer Wind, da wird sich's herrlich fahren.«
»Ja, herrlich, aber spann nur schnell an.«
Und Tuberozow machte sich in seiner Ungeduld selbst an die Arbeit.
In wenigen Minuten waren die im Regen gebadeten Pferde angespannt, und der Wagen des Propstes sauste dahin, fröhlich in den zahllosen Lachen des furchenreichen Landweges plätschernd.
Die Luft war wunderbar frisch und rein. Ein warmes Licht lag über der Landschaft. Leichter Dampf stieg von den Feldern auf. Es roch nach feuchten Haselzweigen. Tuberozow fühlte sich in seinem Wägelchen so wohl wie seit langem nicht. Er zog immer wieder tief Atem und freute sich, daß er es so leicht konnte. Er kam sich vor wie ein Adler, dem neue Flügel gewachsen waren.
Vor der Stadt begrüßte ihn helles Glockengeläute, das die Andächtigen zum Vespergottesdienste rief.
Der Wagen Tuberozows rollte in den Hof.
»Ach Gott, Vater Sawelij, wie hab' ich mich um dich gebangt!« schrie Natalia Nikolajewna und stürzte ihrem Gatten entgegen. »Das furchtbare Gewitter, – und du warst ganz allein, mein Herz!«
»Ja, Liebste, ich war nur einen Schritt vom Tode entfernt.«
Und der Propst erzählte seiner Frau alles, was er an der Quelle erlebt hatte, und fügte hinzu, daß er von nun an gleichsam ein zweites Leben lebe, nicht mehr sein eigenes, sondern das eines andern. Es sei ihm dies eine Lehre und zugleich ein Vorwurf, nie an die Vergänglichkeit und Nichtigkeit seines kurzen Lebens gedacht zu haben.
Natalia Nikolajewna zwinkerte nur mit den Äuglein und sagte seufzend:
»Willst du jetzt nicht etwas essen?« – Und als der Gatte daraufhin nur verneinend den Kopf schüttelte, fragte sie, ob er Durst habe.
»Durst?« wiederholte Sawelij. »Ja, ich dürste.«
»Willst du Tee?«
Der Propst lächelte, küßte seine Frau auf den Scheitel und sagte:
»Nein, mich dürstet nach Wahrheit.«
»Ei was! Dank sei deinem Gotte! Alles, was du tust, ist gut.«
»Schon recht, schon recht, – aber jetzt will ich mich waschen. Und du erzählst mir indes, was sie hier mit dem Diakon anstellen.«
Und der Propst trat vor das glänzende kupferne Waschgerät und wusch sich, und Natalia Nikolajewna berichtete ihm alles, was sie von Achilla wußte, und zog daraus den Schluß, es werde damit nichts anderes bezweckt, als ihm, ihrem Manne, etwas Böses anzutun.
Der Propst schwieg. Als er seine Toilette beendet hatte, nahm er Hut und Stab und begab sich zur Kirche, wo der Vespergottesdienst bereits begonnen hatte.
Fünf Minuten später stand er im Altarraum seitwärts vom Opfertisch am Fenster und schrieb etwas auf ein Blatt Papier, welches er gegen das schräge, von der untergehenden Sonne hell beleuchtete Fensterbrett stützte. Was mag er da schreiben? Wir können es über seine Hand hinweg ganz gut lesen. Folgendes stand auf dem an den Polizeichef Porochontzew adressierten Blatte: »Da ich die Absicht habe, morgen anläßlich des hohen Festtages eine feierliche Messe in der Domkirche abzuhalten, so erachte ich es für meine Pflicht, Euer Hochwohlgeboren davon in Kenntnis zu setzen, und knüpfe daran die ergebenste Bitte, heute noch rechtzeitig allen Beamten davon schriftlich, gegen Empfangsbestätigung, Mitteilung zu machen, damit dieselben in der Kirche erscheinen können. Insonderheit bitte ich dieses denjenigen Herren Beamten zu empfehlen, die am meisten dazu neigen, diese ihre Pflicht zu vernachlässigen, denn ich bin entschlossen, über das schlechte Beispiel, das sie damit geben, der Obrigkeit unverzüglich Bericht zu erstatten. Den Empfang dieses Schreibens bitte ich Euer Hochwohlgeboren mir gütigst bestätigen zu wollen.«
Der Propst ließ sich das Botenbuch bringen, setzte eine Nummer auf sein Schreiben, trug es eigenhändig ins Buch ein und schickte den Glöckner damit zu Porochontzew.
Die Nacht, welche diesem Abend im Hause Sawelijs folgte, erinnert uns an jene, da wir den Alten über seinem Tagebuche sahen: er war ebenso allein in seiner Stube, ging ebenso auf und ab, setzte sich ebenso hin, schrieb und sann nach, – aber sein Buch lag diesmal nicht vor ihm. Auf dem Tisch, an den er immer wieder herantrat, lag ein kleines doppelt gefaltetes Blättchen, und auf dieses Blättchen setzte er in winziger, aber doch deutlich lesbarer Schrift folgende fragmentarische Notizen:
»Gott, gib Dein Gericht dem Könige und Deine Gerechtigkeit des Königs Sohne.«
»Übliche Einleitung: meine gestrige Lage während des Gewitters. Der Rabe: wie er sich vor dem Unwetter in der mächtigen Eiche verbergen wollte und den Tod dort fand, wo er Rettung gesucht hatte.
Wie lehrreich mir das Beispiel dieses Raben scheint. Ist das Heil dort, wo wir es wähnen, die Not dort, wo wir sie fürchten?
Unser maßloses Grübeln, das die Vernunft zu seinem Sklaven macht. Die Gelehrsamkeit, welche die Möglichkeit einer Erkenntnis des bisher Unfaßbaren leugnet.
Die Unvollkommenheit und die Unsicherheit unseres Wissens von der Seele. Das mangelnde Verständnis für die Natur des Menschen und die daraus folgende leidenschaftslose[291] Gleichgültigkeit gegen Gut und Böse und die falsche Beurteilung menschlicher Handlungen: Rechtfertigung des nicht zu Rechtfertigenden und Verurteilung des Lobenswerten. Verdient Moses, der den Ägypter schlug, vom verkehrten Standpunkt gewisser Liberaler, die das heiße Vaterlandsgefühl verwerfen, nicht Tadel? Verdient Judas der Verräter vom Standpunkt der ›blind im Gesetz Ruhenden‹ nicht Lob, da er doch ›das Gesetz eingehalten‹, als er seinen Meister verriet, den die Machthaber verfolgten? (Innozenz von Cherson und seine Auslegung.) Auch unsere Tage sind reich an Verführung: Vorwürfe gegen jene, die den Listen der heimlichen Feinde des Staates nicht gleichgültig gegenüberstehen können. Der große Verlust der Sorge um das Heil des Vaterlandes und als letztes Beispiel die Nachlässigkeit in der Erfüllung der Gebetspflichten an den großen Festtagen des Volkes, die zur bloßen Formalität geworden sind.
Auslegung der Worte: ›Gott, gib Dein Gericht dem Könige‹ in dem Sinne, ›daß wir ein geruhig und stilles Leben führen mögen‹ (St. Paulus). Welchen Wert hat ein solches Leben? Beispiel: Rehabeam nach Salomo, umringt von Freunden und Gespielen, die vor sein Antlitz treten und ihm arglistig vorstellen, daß die Last des Volkes erleichtern eine Erniedrigung seiner eigenen königlichen Würde bedeute, – und wie er infolge ihres Rates die Not Israels vergrößerte.
›Mein Vater hatte ein schweres Joch auf euch gelegt; ich aber will zu eurer Last noch zulegen‹ (1. Kön. 11, 12). Das Unglück, das dadurch entstand und die Teilung des Reiches.
Hieraus geht klar hervor, daß wir wünschen und beten müssen, daß das Herz des Herrschers sich in niemandes Händen befinde, es sei denn in den Händen Gottes.
Wir aber achten in unserer Sündhaftigkeit dieser Sorge nicht, und wenn ich an einem solchen Tage das Gotteshaus[292] nicht leer sehe, so weiß ich erst gar nicht, wie ich das deuten soll! Ich suche nach Gründen und sehe, daß sich dieses einzig durch die Angst vor meiner Drohung erklären läßt, und daraus schließe ich, daß alle diese Beter ungetreue und faule Knechte sind, und daß ihr Gebet kein Gebet ist, sondern ein Schacher, ein Schacher im Tempel, angesichts dessen unser Herr und Heiland Jesus Christus nicht nur in seinem göttlichen Geiste ergrimmte, sondern auch eine Geißel nahm und sie aus dem Tempel vertrieb.
Seinem göttlichen Beispiele folgend, tadle und verurteile ich diesen Gewissensschacher, den ich im Gotteshause vor mir sehe. Der Kirche ist das Gebet solcher Mietlinge ein Greuel. Vielleicht sollte auch ich eine Geißel ergreifen und die Krämer hinaustreiben, die sich heut in diesem Tempel breit machen, auf daß kein treues Herz Ärgernis nehme an ihrer Arglist … Doch mag mein Wort ihnen als Geißel dienen. Mag lieber das Gotteshaus leer stehen, mich soll das nicht irren: ich will auf meinem Haupte den Leib und das Blut meines Herrn in die Wüste tragen und vor den wilden Steinen im Meßgewande singen: ›Gott, gib Dein Gericht dem Könige und Deine Gerechtigkeit des Königs Sohne,‹ – auf daß Rußland in Ewigkeit erhalten bleibe, dem Du wohlgetan zu allen Zeiten!
Schlußwort: Laß, o Herr und Schöpfer, unser Land nicht zum Gespötte der Fremden werden, um der Arglist seiner gewissenlosen und ungetreuen Diener willen!«
Das war der Entwurf zu einer Predigt, die Sawelij am folgenden Tage zu halten beabsichtigte und auch wirklich vor der versammelten Beamtenschaft hielt, – um damit nicht nur seiner Tätigkeit als Prediger, sondern auch seiner ganzen Amtstätigkeit ein jähes Ende zu bereiten.
Die Intelligenz von Stargorod war der Meinung, es sei keine Predigt, sondern ein Aufruf zur Revolution, und wenn der Propst weiterhin so reden würde, werde sich bald kein Beamter auch nur auf der Straße zeigen dürfen. Sogar die besten Freunde Sawelijs warfen ihm unvorsichtige Aufhetzung der Leidenschaften des Pöbels vor. Eine Ausnahme machten nur die beiden Fremden: Bornowolokow und Termosesow. Sie hatten die Predigt ebenfalls angehört, aber nichts dazu gesagt und keinerlei Verstimmung gezeigt. Im Gegenteil, als sie aus der Kirche kamen, war Termosesow mit gefalteten Händen auf Bornowolokow zugegangen und hatte mit freudestrahlendem Gesicht gesagt: »Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren.«
»Was soll das heißen?« fragte der Vorgesetzte.
»Das soll heißen, daß ich Sie verlasse. Leben Sie wohl und lassen Sie sich's gut gehen, aber erweisen Sie mir noch einen letzten Liebesdienst: melden Sie der Obrigkeit, der Pope, über den Sie schon einmal berichteten, hätte heute, aller Ehrfurcht bar, die einem so hohen Festtage geziemte,[294] eine äußerst empörende Rede gehalten, über welche der von Ihnen eigens dazu abdelegierte Sekretär Termosesow die Ehre haben werde, persönlich eingehend Bericht zu erstatten.«
»Hol Sie der Teufel! Schreiben Sie's auf, ich will's unterzeichnen.«
Die Freunde wollten sich eben voneinander verabschieden, als der Kleinbürger Danilka, bleich und entsetzt, von Wasser triefend, in zerfetztem Hemde hineingestürzt kam, Bornowolokow zu Füßen fiel und jammerte:
»Gnädiger Herr, schicken Sie mich fort, soweit Sie wollen, – aber hier kann ich nicht bleiben! Sie stehen alle am Ufer und jeder will mir in die Fresse fahren!«
Und Danilka erzählte, man hätte schon gedroht, ihn totzuschlagen, weil er sich über den Propst beschwert hätte, – und zum Beweis zeigte er sein nasses und zerrissenes Gewand; das Volk hätte ihn eben von der Brücke in den Fluß geworfen.
»Famos! Aufruhr und Empörung!« rief Termosesow freudig und setzte, mitten im Zimmer stehend, seine Mütze auf. »Sehn Sie, so macht man's!« fügte er zu Bornowolokow gewandt hinzu.
Und dann reiste er ab. Unmittelbar darauf verließ auch Bornowolokow die Stadt in entgegengesetzter Richtung, um anderweitig für Ordnung und Gesetzlichkeit zu wirken.
Schon fing man in Stargorod an, Tuberozows Predigt zu vergessen, als gegen Abend des dritten Tages ein Postkarren zwei eigentümliche Gäste in die Stadt brachte: einen langen hageren Polizeiwachtmeister und einen dicken Konsistorialbeamten, rund und schwammig, wie ein Bauernpfannkuchen, mit einem winzigen Knöpfchen als Nase.
Es waren die Sendboten, die nach Sawelijs Seele kamen: Unter ihrer Obhut sollte der Propst in die Gouvernementsstadt gebracht werden. In einer halben Stunde wußte es die ganze Stadt. Vor dem Hause Tuberozows stand bald eine große Menschenmenge, und nach einer Stunde ging die Tür des Hauses auf, aus der Vater Sawelij völlig reisefertig heraustrat. Natalia Nikolajewna ging neben ihm, ihr Taubenköpfchen an seinen Ellbogen drückend.
Sie hatten sich gegenseitig zu beruhigen gewußt und jetzt offenbarte auch nicht eine Träne ihre etwaige Schwäche.
Das Volk, das auf den Propst gewartet hatte, drängte lärmend vorwärts. Tuberozow nahm den Hut ab und verneigte sich tief nach allen Seiten.
Der Lärm verstummte; vielen traten die Tränen in die Augen und alle bekreuzigten sich.
Der mit drei Pferden bespannte Postwagen, welcher bisher, auf Befehl des zartfühlenden Polizeichefs, hinter dem Hause verborgen gestanden hatte, fuhr vor.
Der Propst setzte den Fuß auf den Tritt und faßte mit der Hand die Lehne des Wagensitzes. In diesem Augenblick griff ihn der Wachtmeister unter den Ellbogen und der Konsistorialbeamte zog ihn an der andern Hand empor … Von Ekel erfaßt fuhr der Alte zusammen. Sein Kopf begann heftig zu wackeln wie der einer Puppe, die eine Drahtfeder im Halse hat.
Natalia Nikolajewna trat neben ihren Mann, faßte seine Hand und flüsterte: »Schone dein Leben, Liebster!«
Tuberozow sah sie an und erwiderte:
»Sei unbesorgt. Das Leben ist schon zu Ende. Jetzt beginnt das Erdenwallen.«
»Das Leben ist zu Ende, das Erdenwallen beginnt,« hatte Tuberozow im letzten Augenblick vor seiner Abreise gesagt. Dann war das Dreigespann den Berg hinaufgesaust und hatte ihn den Blicken der Seinigen entzogen.
Die Leute, die ihm das Geleit gegeben, blieben noch eine Zeitlang, bis endlich ein jeder seines Weges ging. Die Nacht brach herein, alle Pforten und Pförtchen wurden verschlossen und verriegelt und der Mond konnte aus seiner blauen Höhe auf dem vereinsamten Pfarrhofe nur noch die ebenfalls vereinsamte Natalia Nikolajewna erblicken.
Sie beeilte sich nicht, ins Haus zurückzugehen, sondern saß weinend auf der Veranda, von der ihr Mann vor kurzem heruntergestiegen war. Schluchzend drückte sie ihren kleinen Kopf gegen das Geländer, – ach, sie hatte keinen Freund, keinen Tröster! Doch nein! Ein Freund war da, ein treuer, zuverlässiger Freund …
Plötzlich wurde das Pförtchen weit aufgerissen und vor die weinende Alte trat der Diakon Achilla. Er war barhäuptig, in einem kurzen dicken Leibrock und weiten Hosen und mit mehreren Säcken beladen. Hinter sich zog er zwei[298] Pferde, deren jedes ein großes schweres Bündel auf dem Rücken trug. Natalia Nikolajewna sah schweigend zu, wie Achilla die Pferde in den Hof führte, sie von ihrer Last befreite, und wieder zum Pförtchen ging, das er mit der Energie eines sorgsamen Hausvaters verschloß und den Schlüssel in die Tasche steckte.
»Diakon! Du kommst zu mir!« rief Natalia Nikolajewna, welche seine Absicht begriffen hatte.
»Ja, du leidende Mutter, ich bin gekommen, dich zu behüten.«
Sie umarmten und küßten sich, und Natalia Nikolajewna begab sich in ihr Schlafzimmer, um dort weiter zu wachen, Achilla aber brachte seine Pferde in die Scheune, breitete dann eine Filzdecke auf der Veranda aus, streckte sich lang auf derselben aus und vertiefte sich in den Anblick des Sternenhimmels. Während der ganzen Nacht schlief er nicht. Er dachte nur daran, wie er seinem Justizminister helfen könnte. Das war etwas anderes, als den Warnawka verprügeln! Hier war Verstand nötig. Aber was kann der Verstand allein, wenn ihm keine äußere Gewalt zur Seite steht? Ja, hätte man, wie es in dem Märchen erzählt wird, einen Zaubermantel oder Siebenmeilenstiefel. Oder eine Tarnkappe! Dann würde er gewußt haben, was er zu tun hätte! So aber, so! Der Diakon wußte sich absolut keinen Rat, und dennoch mußte etwas unternommen werden.
Als Achillas Gedanken beim Zaubermantel und bei der Tarnkappe angelangt waren, da kam es dem an keinerlei sophistische Grübeleien Gewohnten vor, als fiele eine kaum noch zu tragende, schwere Last ihm von der Seele, er atmete auf und flog selbst auf dem Zaubermantel in die Ferne hinaus. Unsichtbar trat er in den Siebenmeilenstiefeln und mit der Tarnkappe zu dem einen und dem andern der hohen[299] Würdenträger, zu denen er ohne Zaubermittel nicht hoffen konnte zu gelangen. Er weckte sie durch einen sanften Rippenstoß aus dem Schlaf und sagte: »Tut dem Pfarrer Sawelij kein Leid an. Ihr werdet's sonst, wenn es zu spät ist, zu bereuen haben.«
Als die hohen Herren die Stimme des Unsichtbaren vernahmen, warfen sie sich unruhig auf ihrem Lager hin und her, sprangen plötzlich auf, liefen hinaus und schrien: »Um Gottes willen, nehmt euch des Pfarrers Sawelij an!« … Aber das alles läßt sich in unseren Tagen nur mit Hilfe von Siebenmeilenstiefeln und einer Tarnkappe erreichen, und es war gut, daß Achilla rechtzeitig daran gedacht und sich damit versehen hatte. Dank ihnen allein konnte der Diakon in seiner gelben Nankingkutte in einen strahlenden Palast dringen, dessen Glanz ihn so unerträglich blendete, daß er selbst nicht froh war, sich dort hineingewagt zu haben. Die Stätte, welche er vorher besucht hatte, hätte schließlich wohl auch genügt, aber die Siebenmeilenstiefel waren in Schuß gekommen und hatten ihn an einen Ort gebracht, wo er infolge der blendenden Helle kaum etwas unterscheiden konnte, so daß er Sawelij und seine Mission am Ende ganz vergaß und nur noch dachte, wie er wieder fortkommen könnte. Die geschwinden Stiefel aber trugen ihn immer höher und höher hinauf, und das Zauberwort, das ihnen Halt gebieten konnte, hatte er vergessen …
»Ich verbrenne, bei Gott, ich verbrenne!« schrie der Diakon und versuchte sich hinter einem vor ihm auftauchenden kleinen Schattenfleckchen zu verbergen, – als ihm zu seiner Verwunderung aus diesem Fleckchen die sanfte Stimme des Zwerges Nikolai Afanasjewitsch entgegentönte.
»Hört doch auf, Vater Diakon, im Schlaf zu schreien, daß Ihr verbrennt! Allenfalls vor Scham müßten wir alle verbrennen!«[300] sprach der Zwerg, das Gesicht des Diakons durch seine kleine Gestalt vor der Sonne schützend.
Achilla sprang auf, stürzte zur Wasserbütte und leerte zweimal hintereinander den großen eisernen Schöpfkrug.
»Von was für einer Scham redest du da, Nikola?« fragte er, seine Locken mit Wasser anfeuchtend.
»Ei, wo ist unser Propst? He?«
»Der Propst, Freund Nikolaurus, ist futsch. Gestern haben sie ihn weggeschafft.«
»Was heißt das – ›futsch‹, mein Herr? Wir müssen ihn freibekommen!«
»Liebster, ich hab' die ganze Nacht darüber gegrübelt, aber ich kriege nichts raus.«
»Das ist es eben. Einen Stein ins Wasser werfen kann jeder, – aber ihn zurückbekommen?«
Und Nikolai Afanasjewitsch wackelte auf seinen knarrenden Stiefelchen in das Zimmer der Pröpstin, hielt sich hier einen Augenblick auf und bat dann den Diakon, ihn zu begleiten. Beide begaben sich erst zum Polizeichef und nachher zum Richter. Mit beiden hatte der Zwerg eine lange Beratung, aber weder der eine noch der andere konnte ihm etwas Tröstliches sagen.
»Das einzige, was ich tun kann,« sagte plötzlich der Richter, »ist, an den Staatsanwalt in der Gouvernementsstadt zu schreiben. Er ist ein Studiengenosse von mir und wird sicher gern bereit sein, irgend etwas für den Propst zu tun.«
Der Vorschlag fand lebhaften Beifall beim Polizeichef. Nikolai Afanasjewitsch dachte anders darüber, hielt es aber für unangebracht, zu widersprechen.
Nun fragte sich's, wie man den Brief an seine Adresse gelangen ließ? Die nächste Post ging erst in zwei Tagen, eine Estafette schien beiden Beamten zu pomphaft, zudem[301] konnte die Postmeisterin, die Freundin Termosesows, den alle nach den von Achilla gemachten Angaben für den eigentlichen Denunzianten hielten, diesem Ehrenmann mit derselben Estafette Nachricht geben.
Als er von dieser Schwierigkeit vernahm, erklärte der Diakon, er würde schon alles regeln; wenn der Brief nur fertig sei, setze er seinen Kopf zum Pfande, daß er sich morgen in den Händen des Adressaten befinde.
Abends, als es schon dunkelte, erschien vor dem Hause des Vaters Zacharia ein riesiger schwarzer Reiter, klopfte sacht ans Fenster und rief den »sanften Popen« beim Namen.
Zacharia öffnete das Fenster und fragte, als er den Reiter erblickte:
»Bist du es, der da als Schreckgespenst kommt?«
»Pst … Ruhe und Schweigen tun not!« antwortete der Reiter geheimnisvoll und suchte sein ungeduldiges Roß durch kräftigen Schenkeldruck ruhig zu halten.
Zacharia sah sich nach allen Seiten um – Straße und Ufer waren menschenleer – und flüsterte:
»Wohin willst du und was beabsichtigst du?«
»Ich kann Euch nichts mitteilen, denn ich habe mein Wort gegeben,« antwortete der Reiter mit derselben geheimnisvollen Miene wie vorhin. »Ich bitte Euch nur, sucht mich morgen nicht und fragt nicht nach dem Zweck meines Ritts … Doch, ob ich auch mein Wort gegeben, ich will's Euch allegorisch sagen:
in der Mütze aber hab' ich
Habt Ihr verstanden?«
»Nichts hab' ich verstanden.«
»So muß es auch bei einer richtigen Allegorie sein.«
Der Reiter schlug sich mit der Faust gegen die Brust und sagte:
»Das eine sollt Ihr noch wissen, Vater Zacharia, daß der Reiter kein Kosak ist, sondern der Diakon Achilla, und daß mein Herz die Kränkung nicht dulden mag, mein Verstand aber kein Mittel findet, ihm zu helfen.«
Nach diesen Worten ließ der Diakon seinem Pferde die Zügel fahren, drückte es mit den Knien zusammen und ritt nicht, sondern flog davon, so daß seine Locken, die langen Enden und weiten Ärmel seiner Kutte, der Schweif und die Mähne des Pferdes wild flatternd vom dunkelblauen Hintergrund des nächtlichen Himmels abstachen.
Nikolai Afanasjewitsch hatte mit Recht nicht viel von dem Brief erwartet, mit dem der Diakon davongeritten war. Achilla blieb eine ganze Woche fort, und als er gesenkten Hauptes auf mattem Pferde heimkam, berichtete er, daß er mit seinem Briefe nichts ausgerichtet habe und auch nichts habe ausrichten können.
»Warum denn das?« fragte man ihn.
»Sehr einfach! Weil der Vater Sawelij selbst zu mir sagte: ›Laß ab, mein Lieber, wir Geistlichen haben keinen, der sich unser annimmt. Bitte alle, daß sie mir den Gefallen tun, sich nicht für mich zu verwenden.‹«
Und der Diakon wollte darüber weiter gar nicht reden.
Viel lieber erzählte Achilla, wie er den Propst angetroffen und was dieser in der einen Woche erlebt hatte.
»Der Bischof«, so berichtete er, »ist gar nicht so böse auf ihn, ja eigentlich überhaupt nicht erzürnt, er hat ihn bloß aus Politik der Marter überantwortet, um es mit der weltlichen Obrigkeit nicht zu verderben. Deswegen allein wurde der Vater Sawelij in die Stadt geholt. Jawohl! Und der Vater Sawelij könnte die ganze Schuld von sich abwälzen und zu uns zurückkommen, denn der Bischof hält es insgeheim mit ihm … Jawohl! Gleich am nächsten Tage wurde ihm eine geheime Mitteilung vom Bischof, daß er zum Herrn Gouverneur gehen solle und um Entschuldigung[304] bitten … Jawohl! Aber der Vater Sawelij hat in seiner Hartnäckigkeit sehr schroff darauf geantwortet: ›Ich bin mir keiner Schuld bewußt, kann also auch nicht um Vergebung bitten!‹ Dadurch hat er nun auch den Bischof aufgebracht. Jawohl! Aber auch jetzt war der Zorn nicht groß, denn den Beschluß des Konsistoriums, eine Untersuchung wegen jener Predigt einzuleiten, hat er mit einem großen blauen X durchstrichen und alle Gemüter im stillen beruhigt, indem er den Vater Sawelij dem niedern Klerus am Bischofshofe zuzählen ließ. Jawohl!«
»Und Vater Sawelij dient jetzt?« fragte Zacharia.
»Jawohl! Er liest die Hora und die Parömie, aber seinen Sinn ändert er nicht, und auf die politische Frage der Eminenz: ›Worin hast du dich vergangen?‹ – antwortete er noch politischer, als hätte er die Frage nicht verstanden: ›In diesem Leibrock, hohe Eminenz!‹ – und hat sich dadurch nur geschadet. Jawohl!«
»A–a–ach!« rief Zacharia und schüttelte verzweifelt den kleinen Kopf, sich die Ohren mit den Händchen zuhaltend.
»Er hat sich bei einem Gendarmenwachtmeister in der Klostervorstadt ein gelbes Stübchen für zweiundeinenhalben Silberrubel monatlich gemietet und läuft jeden Morgen mit seinem Krug an den Fluß hinunter nach Wasser. Aber Gesicht und Gestalt sind sehr spitz geworden, und er läßt Euch sagen, Natalia Nikolajewna, Ihr möchtet recht bald zu ihm kommen.«
»Morgen noch reise ich hin,« antwortete die Pröpstin weinend.
»So, das wären sämtliche Neuigkeiten. Der Staatsanwalt aber, dem ich den Brief brachte, sagte nur: ›Die ganze Sache geht mich gar nichts an, ihr habt eure eigene Obrigkeit.‹ Er hat mir auch keinen Brief mitgegeben, sondern nur schön[305] grüßen lassen. Nehmen Sie also, bitte, hiermit seinen Gruß entgegen, wenn Ihnen was dran liegt. Und noch einen Gruß an Sie alle habe ich, vom Herrn Termosesow. Ich traf ihn in der Stadt; er kam in einem feinen Wagen vorbeigefahren und rief, wie er mich sah: ›Warte mal ein wenig hier vor dem Tor, Diakon, ich bring dir gleich etwas. Eure Postmeisterin nebst Töchtern hat mir bei meiner Abreise ihr Stammbuch aufgehalst. Ich sollte ihr da ein paar Verse hineinschreiben. Ich hab's versehentlich mitgenommen, und nun weiß ich nicht, wie ich's ihr zurückschicken soll. Sei so gut und nimm's mit!‹ Ich denke mir: Hol dich dieser und jener! Gib her, sag' ich, um ihn loszuwerden. Hier ist es!«
Der Diakon holte aus der Tasche seines Leibrocks ein dünnes Büchlein mit bunten Blättern und las vor:
Damit bezeugt er Euch seine Ehrfurcht, – nehmt sie also hin als den Lohn, der Euch gebührt.«
Und Achilla warf das Album mit der Ehrfurchtsbezeigung Termosesows auf den Tisch und begab sich in den Pferdestall, um sich dort nach den Reisestrapazen auszuschlafen.
Am Tage darauf reiste Natalia Nikolajewna zu ihrem Gatten, und der Diakon blieb allein in dem Hause des Verbannten zurück.
Ein Tag verging wie der andere. Die Stadt unterhielt sich mit Neuigkeiten, die mit unserer Geschichte nichts zu tun haben. Tuberozow blieb in Acht und Bann und seine Freunde schienen sich vollständig damit beruhigt zu haben, daß »hier nichts zu machen« wäre. Die Feinde des Propstes zeigten sich etwas besser als die Freunde: wenigstens einige von ihnen hatten ihn nicht vergessen. Für ihn setzte sich zum Beispiel die feine Frau Postmeisterin ein, die Termosesow die ihr angetane schwere Beleidigung nicht vergessen konnte und noch weniger geneigt war, der Gesellschaft ihre Schadenfreude zu verzeihen. Sie wollte ihr vielmehr zeigen, daß sie allein feinfühliger, klüger, weitsichtiger, ja auch ehrlicher sei, als sie alle.
Dazu bot sich ihr nun eine Gelegenheit, die sie wiederum sehr fein und boshaft auszunutzen wußte. Sie beschloß, die Gesellschaft durch unerhörten Glanz zu blenden und ihre Autorität in den Augen der biedern Stargoroder auf eine bisher nie dagewesene Höhe zu heben.
Etwa sechs Werst von der Stadt entfernt hatte eine Petersburger Dame, Frau Mordokonaki, ihren Sommeraufenthalt auf einem wunderschönen Landgut. Der alte Mann dieser jungen und sehr hübschen Frau hatte, als er noch Branntweinpächter war, bei einer der Postmeisterstöchter Pate gestanden. Das schien nun der Frau Postmeisterin eine völlig[307] genügende Veranlassung, die junge Gattin des alten Mordokonaki zum Namenstag des Patenkindes ihres Mannes einzuladen, und bei der Gelegenheit wollte sie die Bitte aussprechen, die bekannte Philantropin und Freundin der Kirche möge sich doch des verfolgten Tuberozow annehmen.
Das war nicht übel ausgedacht. Die junge und fabelhaft reiche »Wohltäterin« hatte Einfluß in der Residenz und genoß bei den Gewalthabern im Gouvernement hohe Achtung. Jedenfalls hätte sie, wenn sie wollte, für den gemaßregelten Propst mehr tun können, als sonst jemand. Ob sie es aber wollte? Darum eben sollte die ganze Gesellschaft sie bitten.
Die Dame langweilte sich in ihrer Einsamkeit und nahm daher die Einladung der Postmeisterin dankend an. Die giftige Frau Postmeisterin triumphierte. Sie zweifelte nun nicht mehr, daß sie die Honoratioren der Stadt durch ihr unerwartetes Eintreten für den alten Tuberozow verblüffen werde, und daß infolgedessen alle sich notgedrungen ihr anschließen würden, gleichsam als Chorus, als zweite Garnitur.
Die Postmeisterin schwelgte in solcherlei süßen Träumen, – bis endlich der Tag ihrer Erfüllung gekommen war.
Die Hausfrau begrüßte die Gäste und war glückselig, als sie merkte, daß keiner sich mit ernsten Gedanken trug, daß das Schicksal des verbannten Priesters längst niemanden mehr beschäftigte.
Die Gäste waren sämtlich in fröhlichster Stimmung. Als erster erschien der »Kreiskommandant«, Invalidenhauptmann Powerdownia, ein rothaariger Offizier mit großen runden Augen, der sich vom Proviantschreiber hinaufgedient hatte.
Die große, üppige Madame Mordokonaki überstrahlte die ganze Gesellschaft und alles wirkte neben ihr matt und unbedeutend. Sogar Daria Biziukina schien ganz klein geworden. Die Hausfrau floß über von Schmeichelreden, führte dem Gast die interessantesten Leute zu und bat den Hauptmann Powerdownia und den Lehrer Warnawa Prepotenskij, die Dame aufs beste zu unterhalten. Leute, die sich zur Unterhaltung mit der Petersburgerin nicht eigneten, wurden beiseite geschafft, wie der Bürgermeister, welcher die Gewohnheit hatte, im Gespräch oftmals die Redensart anzuwenden: »Da spuck mir einer ins Maul«, sowie ein alter Major, der im Kaukasus gedient und die Veranlassung zur Entstehung des schönen Vergleichs gegeben hatte: »Dumm wie ein kaukasischer Major«, und schließlich der Diakon Achilla. Diese drei Personen waren sehr glücklich in einer kühlen[309] Kammer untergebracht, wo die Weine und kalten Speisen bereitstanden. Sie waren über ihre Verbannung keineswegs betrübt. Ganz ungeniert und in nächster Nähe der Speisen führten sie äußerst lebhafte Gespräche und philosophierten sogar. Der Major wollte wissen, »woher die Frechheit komme«, und erklärte sie daraus, daß die Menschen heutzutage sehr verwöhnt seien – was er durch eine ganze Menge von Argumenten zu beweisen suchte. Achilla aber wollte so viele Gründe nicht gelten lassen und sagte, die Frechheit hätte zwei Ursachen: »den Zorn und noch häufiger den Wein.«
Der Major dachte nach und meinte dann, es gebe allerdings eine Frechheit, die vom Wein komme.
»Glauben Sie mir, es ist so,« meinte der Diakon und leerte ein großes Glas Likör. »Ich kann mich selbst als Beispiel anführen. Im Dusel bin ich ein sehr netter Kerl, denn ich werde weder wild, noch habe ich böse Gedanken; aber, meine lieben Freunde, ich prahle im Dusel nur zu gerne. Bei Gott! Und nicht, daß ich irgendeine Absicht damit verfolge, nein, es ist, als ob meine Natur es verlangte.«
Der Bürgermeister und der Major lachten.
»Wahrhaftig!« fuhr der Diakon fort. »Ich fange zum Beispiel an zu erzählen, die Gemeinde habe sich an den Bischof gewandt mit der Bitte, mich zum Pfarrer zu ordinieren, was ich selber nicht mal wünsche; oder ein andermal behaupte ich, die Kaufmannschaft des Gouvernements petitioniere um meine Ernennung zum Protodiakon; oder …« Der Diakon sah sich ängstlich um und fuhr dann im Flüstertone fort: »Einmal platzte ich heraus, ich wäre in jungen Jahren mit der Tochter des Konsistorialsekretärs verlobt gewesen! Also, ich sag' Ihnen, ich hätte mich am liebsten umgebracht, als man mir später von dieser meiner bodenlosen Frechheit erzählte.«
»Wenn der Sekretär das erfahren hätte, hätte es schlimm werden können,« bemerkte der Major.
»Und wie schlimm! Ganz scheußlich!« bestätigte der Diakon und kippte noch ein Gläschen.
»Na, wenn wir schon mal davon reden, will ich Ihnen noch etwas erzählen.« Und seine Stimme noch mehr dämpfend, fuhr er fort: »Ich bin durch diese meine Flunkerei einmal schon in eine so üble Lage gekommen, daß ich aufs Haar einer öffentlichen Exekution unterworfen worden wäre. Haben Sie nichts davon gehört?«
»Nein, absolut nichts.«
»Es war eine ganz böse Sache. Man hätte mich einfach henken können – auf Grund des ersten Paragraphen im Gesetz!«
»Unmöglich!« rief der Major, ganz aufgeregt.
»Warum unmöglich? Es hätte ganz leicht geschehen können, wenn ein guter Mensch mich nicht gerettet hätte.«
»So erzählt uns doch die Geschichte, Vater Diakon!«
»Ja, sofort, ich will nur noch erst ein Schnäpschen nehmen.«
Achilla leerte noch ein Gläschen und begann den Bericht über sein Verbrechen gegen den ersten Gesetzesparagraphen.
»Das kam alles daher,« fing der Diakon an, »daß ich vor Ostern nach der Gouvernementsstadt fuhr – mit zwei Pferden. Eins war meines und das andere gehörte dem Subdiakon Serioga. Wir hatten sie beide vor einen Wagen gespannt. Serioga wollte seine Kinder aus der Stadt abholen, und was ich da zu suchen hatte, das mag der Teufel wissen. Ich wollte wohl ein paar gute Bekannte wiedersehen. Als wir nun vor die Stadt kamen, sahen wir, daß die Brücke fort war und eine Fähre die Leute hinüberschaffte. Am Ufer herrschte ein fürchterliches Gedränge; Kopf an Kopf standen die Menschen da; im Zollhäuschen aber hatte ein Soldat einen Branntweinausschank. Na, da die Reihe an uns noch nicht so bald kommen konnte, gingen wir hinein und tranken ein jeder zwei Gläschen, uns zu erwärmen. Auch hier war alles voll von Leuten: Mönche und Fuhrleute und Soldaten und Beamte – das sind die allerschlimmsten – und auch einige Amtsbrüder. Es fanden sich auch ein paar Bekannte aus unserer Gegend, und so mußte man, anläßlich des frohen Wiedersehens, gleich noch zwei Gläschen kippen. Ein Schreiber, ein ungeheuer freches Maul, fing an, uns aufzuziehen. Ich sagte ihm: ›Geh hin, wo du hergekommen bist. Du gehörst nicht zu uns.‹ Darauf er: ›Ich bin ein Offizier meines Kaisers!‹ Und ich: ›Ich selbst bin so gut wie ein Stabsoffizier, mein Bester!‹ – ›Stabsoffizier‹,[312] sagt er drauf, ›ist der Pope, du bist aber sein Untergebener.‹ Da sage ich, vor dem Throne Gottes stünde ich allerdings unter dem Popen meinem Amte nach, in der Politik aber seien wir beide gleich. Da ging der Streit los. Ich wurde immer hitziger, infolge der vielen Gläschen, und rief schließlich: ›Du Tintenseele, was verstehst denn du davon? Du kannst doch die Heilige Schrift gar nicht verstehen, denn du hast keine Gedärme im Kopf. Sag doch mal, hat je ein Pope auf dem Zarenthron gesessen?‹ ›Nein,‹ sagt er. ›Na also! Ein Diakon aber ist Zar gewesen und hat die Krone auf dem Haupt getragen!‹ – ›Wer war denn das?‹ fragt er. ›Wann ist das gewesen?‹ – ›Ja, wann? Ich bin kein Arithmetikus und hab' die Jahreszahlen nicht alle im Kopf, aber nimm mal ein Buch zur Hand und lies nach, was Grigorij Otrepiew war, bevor er als Demetrius Zar wurde, dann wirst du sehen, was ein Diakon wert ist.‹ – ›Nu ja,‹ sagt er, ›das war Otrepiew, aber du, du bist eben kein Otrepiew!‹ – Besoffen, wie ich bin, platz ich auf einmal los: ›Woher kannst du denn das wissen? Vielleicht bin ich noch viel mehr? Der sah dem Demetrius ähnlich, und ich habe vielleicht ein Gesicht wie irgendein Franziskus Venezianus oder ein Mahmud und werde auch König!‹ Kaum hatt' ich das gesagt, meine Lieben, so erhebt dieser verfluchte Federfuchser ein Geschrei, ruft Zeugen auf, bringt die Sache zu Papier. Man packte mich, band mich, setzte mich in einen Wagen, gab mir einen Polizisten mit und schaffte mich in die Stadt. Na und dann – Gott schenke ihm Gesundheit und langes Leben und nach dem Tode die ewige Seligkeit – dem Gendarmenoberst Albert Kasimirowitsch, der damals an der Spitze der Geheimpolizei stand! Am Morgen ließ er mich zu sich kommen, rief seine Frau herbei und sagte: ›Da, sieh mal, Herzchen, so sieht ein Thronprätendent aus.[313]‹ Und dann lachte er mich noch tüchtig aus und ließ mich laufen. ›Geh nur, Vater Mahmud,‹ sagte er, ›und in Zukunft zähle die Gläser, die du leerst.‹ Gott schenke ihm ein langes Leben!« wiederholte der Diakon noch einmal und hob sein Glas. »Ich will auch heut noch auf sein Wohl trinken!«
»Da seid Ihr noch glücklich aus der Klemme gekommen,« sagte der Major langsam.
»Und ob! Ich sag's ja: der Pole ist ein guter Kerl. Der Pole liebt die Regierung nicht, und wo es gegen sie geht, ist er immer nachsichtig.«
Gegen Mitternacht wurde die Unterhaltung der drei Einsiedler unterbrochen; denn die Stunde war gekommen, in der auch sie sich der Gesellschaft anschließen durften: man bat sie zu Tische.
Das Fest sollte jetzt seinen Höhepunkt erreichen.
Kaum hatten alle Platz genommen, so sprang auch schon der Hauptmann Powerdownia wieder auf und apostrophierte die Petersburger Dame folgendermaßen:
Die Aristokratin aus dem Geschlecht der Branntweinpächter hörte dem Dichter mit lieblichem Erröten zu und empfing aus seinen Händen ein Blättchen, auf dem, nicht ganz orthographisch, aber mit kunstreichen Schnörkeln, das Gedicht verewigt war.
Die Hausfrau war entzückt, aber die Gäste waren sowohl über das Gedicht, als auch über die Wahl des Augenblicks für seinen Vortrag sehr verschiedener Meinung.
Doch wie dem auch sei, die ganze Gesellschaft wurde ungemein lustig, was der Postmeisterin gar nicht recht paßte. Man redete so laut und lebhaft durcheinander, daß es der[315] Hausfrau unmöglich wurde, eine etwa eintretende Pause zu benutzen, um an den verbannten Propst zu erinnern. Die Petersburgerin schien sich übrigens sehr gut zu unterhalten. Sie wisse gar nicht, meinte sie zur Postmeisterin, wie sie ihr danken solle für das Vergnügen, das ihre Gäste ihr verschafft, und wenn ihr etwas leid tue, so sei es nur der Umstand, den Diakon und den Hauptmann Powerdownia erst so spät kennen gelernt zu haben. Als Powerdownia dieses Urteil hörte, sprang er auf und machte der Dame eine tiefe Verbeugung. Auch der Diakon nahm das Lob nicht gleichgültig hin: er gab Prepotenskij einen Rippenstoß und sagte:
»Siehst du wohl, du Schafskopf, wie hoch man uns schätzt! Von dir sagt keiner was.«
»Selber Schafskopf!« erwiderte der geärgerte Lehrer ebenso leise.
Powerdownia sann einen Augenblick nach, dann packte er den Diakon fest am Arm, stand mit ihm zusammen auf und sagte in beider Namen:
Hierauf setzten sie sich wieder unter donnerndem Applaus.
»Siehst du wohl? Und du weißt wieder nichts zu sagen,« wandte sich Achilla vorwurfsvoll an den Lehrer. Powerdownia aber war schon wieder aufgesprungen und redete die Hausfrau also an:
»O dieser Hauptmann! Er ist die Seele der Gesellschaft,« meinte die Postmeisterin geschmeichelt.
»Und du bringst immer noch nichts fertig,« ließ der Diakon dem Warnawa keine Ruhe.
»Wollen wir alle Verse deklamieren!«
»Ja, alle! Der Polizeichef muß anfangen!«
»Warum nicht? Ich will's gerne versuchen!« sagte der Polizeichef. »Ganz ungeniert: wer nichts weiß, braucht nicht mitzumachen.«
»Anfangen! Fix, Herr Rittmeister! Was soll das? Anfangen!«
Der Rittmeister Porochontzew stand auf, hob sein Glas bis zur Höhe seines Gesichtes, sah durch den Wein gegen das Licht und fing an:
»Alle tragen etwas vor, nur du nicht,« fing der Diakon, sich an Prepotenskij wendend, wieder an.
»Nein, Freundchen, sag was du willst, – wenn du trinkst und nichts vorzutragen weißt, dann bist du kein Mensch, sondern bloß eine Bütte voll Wein.«
»Laßt mich mit Eurer Bütte in Frieden! Ihr seid selbst eine!« antwortete der Lehrer.
»Wa–a–as?!« schrie Achilla gekränkt. »Ich eine Bütte? Und das wagst du mir ins Gesicht zu sagen! Ich eine Bütte?«
»Ja, natürlich!«
»Wa–a–as?!«
»Ihr könnt ja selber nichts vortragen!«
»Ich nichts vortragen? O du dreifacher Dummkopf! Wenn ich bloß will, so trage ich dir so etwas vor, daß du aufspringen und mir stehend zuhören mußt!«
»Na, versucht es doch mal!«
»Gleich werd ich's auch, damit du dich überzeugst, daß ich tatsächlich auch den Oberkiefer bewegen kann!«
Mit diesen Worten erhob sich Achilla, sah die ganze Gesellschaft mit weitaufgerissenen Augen an, richtete den Blick schließlich starr auf ein Salzfaß, das in der Mitte des Tisches stand, und fing mit seinem tiefen weichen Baß an:
»Ein geru–u–u–hig und friedli–i–i–ch Leben, Gesu–u–undheit und Wo–o–ohlergehen … und heilsa–a–ames Wirken und Scha–a–a–ffen … und Sieg über die Feinde …« usw. usw.
Achillas Stimme griff immer höher, Stirne, Kinnbacken, Schläfe, die ganze obere Hälfte seines breiten Gesichtes waren mit Schweiß bedeckt und glühten in feurigem Rot; die Augen krochen aus ihren Höhlen, auf den Wangen und an den Mundwinkeln zeigten sich weiße Flecke, der Mund war weit[318] aufgerissen wie eine Trompete und mit Dröhnen und Krachen entstieg ihm das »Heil und Segen«, das alle unbelebten Wesen im Hause erzittern machte und die Lebendigen zwang, sich von den Plätzen zu erheben und, ohne die erstaunten Augen von dem geöffneten Munde des Diakons zu wenden, gleich nachdem der letzte Ton verklungen, im Chor einzufallen: »Heil und Segen! Heil und Se–e–egen!«
Warnawa allein wollte bei seiner Beschäftigung bleiben und gemächlich weiteressen, aber Achilla riß ihn mit Gewalt in die Höhe und sang, ihn fest am Arm haltend: »Heil und Se–e–e–gen! Heil und Se–e–e–egen!«
Der Bürgermeister gab seinem Nachbar eine blaue Fünfrubelnote, die er dem Diakon weitergeben sollte.
»Was heißt denn das?« fragte Achilla.
»Der ganzen Verwaltung. Sing noch ›der ganzen Verwaltung und dem christlichen Heer‹,« bat der Bürgermeister.
Der Diakon steckte die Note in die Tasche und stimmte nochmals an:
»Und der ganzen Verwaltung und dem chri–i–istlichen Hee–e–e–ere Heil und Se–e–e–gen!«
Hier übertraf Achilla sich selbst, und als er schloß, wagten nur noch der Vater Zacharia, der an die Stimme des Diakons gewöhnt war, und der Bürgermeister einzufallen: alle übrigen Gäste waren auf ihre Stühle gesunken und hielten sich an den Lehnen, dem Tisch oder ihren Nachbarn fest.
Der Diakon war höchst befriedigt.
»Sie haben einen wunderbaren Baß,« sagte die Petersburger Dame, die zuerst wieder zu sich gekommen war.
»Ach Gott, es war ja nicht deswegen, ich wollte nur zeigen, daß ich kein Feigling bin und sehr gut etwas vortragen kann.«
»Schau, schau, wer ist denn hier feige?« mischte sich Zacharia ins Gespräch.
»Vor allem Ihr selber, Vater Zacharia! Ihr könnt ja nicht mal mit den Vorgesetzten richtig sprechen: Ihr fangt gleich an zu stottern.«
»Das ist wahr,« bestätigte Zacharia, »ich komme leicht ins Stottern, wenn ich mit einem Vorgesetzten rede. Aber du? Du hast gar keinen Respekt vor Höherstehenden?«
»Ich? Mir ist's ganz gleich, ob ich mit dem Bischof selber oder mit einem einfachen Manne rede! Der Bischof sagt zu mir: ›So und so, mein Bester,‹ – und ich antworte ihm gerade so: ›Ganz recht, so und so, Eure Eminenz!‹ Weiter nichts.«
»Ist das wahr, Vater Zacharia?« fragte der Arzt, der dem Diakon gern etwas am Zeuge flicken wollte.
»Er flunkert,« sagte Benefaktow mit der größten Seelenruhe, ohne seine sanften Augen vom Diakon zu wenden.
»Er knickt auch vor dem Bischof zusammen?«
»Allerdings.«
»Nie und nimmer! So was kommt bei mir nicht vor!« rief der Diakon, sich in die Brust werfend. »Wie wäre das auch möglich? Wollte ich mich um alle kümmern, ich wüßte nicht, wo ich hin sollte. Was hat denn der Bischof so viel zu bedeuten, wenn ich jetzt Tag für Tag von einer Person beobachtet werde, die viel mehr zu sagen hat, als so ein Bischof!«
»Du meinst wohl mich?« sagte der Arzt.
»Wie sollte ich denn darauf kommen? Nein, dich meine ich nicht.«
»Wen denn sonst?«
»Hast du die neuesten Zeitungen gelesen?«
»Was hat denn drin gestanden?« fragte die Petersburger Dame, die sich wie ein Kind amüsierte.
»Auf Befehl des Oberhofpredigers Baschanow ist der kaiserliche Kirchenmusikdirektor auf Reisen geschickt worden,[320] um in ganz Rußland Bässe für die Hofkapelle Seiner Majestät anzuwerben. Er steht im Range eines Generals und hat eine Unmenge Orden. Der Bischof ist nichts neben ihm, denn bei Seiner Majestät ist ja schon der Kutscher, der auf dem Bock sitzt, Oberst. Na, also dieser Musikmeister reist nun unerkannt, als ganz einfacher Mann gekleidet, damit die Bässe sich in seiner Gegenwart nicht absichtlich anstrengen, denn er will wissen, was sie für gewöhnlich zu leisten imstande sind.«
Der Diakon wußte nicht, was er weiter sagen sollte, aber der Arzt ließ nicht locker.
»Nun, und was weiter?«
»Was weiter? Der Herr Musikdirektor befindet sich jetzt schon vier Wochen hier in der Stadt. Merkst du was? Ich sehe ihn jeden Sonntag in seinem blauen Rock unter den Kleinbürgern in der Kirche stehen. Er ist meinetwegen da, aber wie verhalte ich mich dazu? Ein anderer würde sich rein die Beine ausreißen, um dem kaiserlichen Abgesandten zu gefallen, würde ihn zu sich einladen, ihm Schnaps und Tee vorsetzen, – nicht wahr? Aber ich tue nichts dergleichen. Mag er zehnmal kaiserlicher Musikus sein, mir ist's ganz wurst! Ich halte mich ans Gesetz. Du hast mir nach dem Gesetz zu handeln, mein Lieber, und magst du das nicht, dann adieu! Glückliche Heimreise!«
»Das ist natürlich alles Schwindel?« wandte sich der Arzt an Zacharia.
»Schwindel,« erwiderte dieser seelenruhig. »Er hat ein wenig über den Durst getrunken, da hören wir bis morgen kein wahres Wort mehr. Er wird jetzt ohne Ende phantasieren und großtun.«
Achilla war trotzdem gekränkt. Es schien ihm, als glaubte man jetzt auch nicht mehr, daß er kein Feigling sei; was ihm[321] unerträglich war. Daher fing er wieder von seiner Tapferkeit an zu sprechen und wollte sofort auf die schwerste Probe gestellt sein.
»Ich will allen beweisen, daß ich hier der Tapferste bin, und ich werde es!«
»Prahlt lieber nicht damit, Vater Diakon,« sagte der Major. »Manchmal wird auch der Tapferste von Angst gepackt, und der Feigling leistet, was keiner von ihm erwartet hätte.«
»Da pfeif' ich drauf! Los!«
»Ja, was soll denn eigentlich losgehen? Ich will Euch lieber ein Beispiel vorführen.«
»Auch gut! Nur immer zu!«
»Als ich aus dem Kaukasus nach Rußland zurückversetzt wurde,« fing der Major an, »hatten wir einen Oberst, der ein urfideler Herr und ein ausgezeichneter Soldat war. Er besaß sogar einen goldenen Ehrensäbel. Unter ihm machte ich anno Achtundvierzig den ungarischen Feldzug mit. In einer Nacht mußten damals Freiwillige vorgeschickt werden, als wir gerade beim Wein saßen. Der Oberst fragte: ›Wieviel haben sich denn gemeldet?‹ ›Hundertzehn,‹ antwortet der Adjutant. ›Oho!‹ meinte der Oberst und legte die Karten hin, denn man hatte sich eben ans Preferance gemacht. ›Das ist ein bißchen viel. Sind gar keine Hasenfüße drunter?‹ – ›Nein,‹ erwiderte der Adjutant. ›Na,‹ meint der Oberst, ›trommeln Sie mal die Kerls zusammen.‹ Das geschieht. ›Nun,‹ fängt der Oberst an, ›machen wir mal die Probe. Wer ist der Tapferste? Wer gilt als Obmann?‹ Man nennt ihm irgendeinen Iwanow oder Sergejew. ›Schafft ihn mir her! Bist du der Obmann?‹ – ›Zu Befehl, Euer Hochwohlgeboren!‹ – ›Bist du nicht feige?‹ – ›Nein, Euer Hochwohlgeboren!‹ – ›Nicht ein bißchen?‹ – ›Ganz und gar nicht, Euer Hochwohlgeboren!‹ – ›Wirklich nicht?‹ – ›Nein.‹ – ›Nun, wenn du nicht feige bist, so zupf' mich am Bart!‹ Der Soldat steht da und rührt sich nicht und wagt's nicht. Man ruft einen zweiten, – dieselbe Geschichte! Einen dritten, vierten, fünften, zehnten – keiner wagt's. Alle erwiesen sie sich als Feiglinge.«
»Ach, hol ihn dieser und jener! Das war ein Spaß!« rief Achilla hocherfreut. »Wenn du nicht feige bist, ei, so zupf' mich am Bart! Ha–ha–ha! Das ist famos! Hauptmann, alter Freund, laß dich mal vom Lehrer Warnawa am Bart zupfen!«
»Mit Vergnügen,« sagte der Hauptmann.
Prepotenskij weigerte sich, aber da fing man so bösartig über seine Feigheit zu spotten an, daß er ja sagen mußte.
Achilla stellte einen Stuhl in die Mitte des Zimmers, der Hauptmann Powerdownia setzte sich drauf und stemmte die Arme in die Hüften.
Um ihn herum standen der Polizeichef, Zacharia, der Bürgermeister und der Major.
Der Lehrer pustete, krümmte und schüttelte sich, schlug bald die Augen schüchtern nieder und riß sie bald weit auf, machte einen Schritt vorwärts und trat wieder zurück.
»Also du bist doch ein Feigling,« sagte Achilla, »aber denke mal nach, Schafskopf: wovor fürchtest du dich denn eigentlich? Es ist ja zum Lachen!«
Warnawa dachte nach, wurde aber davon nur noch schwächer. Powerdownia jedoch saß da wie ein Götzenbild, fühlte sich als »Seele der Gesellschaft« und freute sich über die neue Überraschung, die er im Schilde führte.
»Du bist ein Feigling, mein Bester, ein ganz elender Feigling!« flüsterte Achilla dem Lehrer ins Ohr.
»Das geht doch nicht, die Gäste warten,« bemerkte der Major.
Prepotenskij zeigte mit dem Finger auf den Polizeichef und sagte: »Ich will lieber Woin Wasiljewitsch am Bart zupfen.«
»Nein, mich sollst du zupfen,« erklärte der Hauptmann mit sehr ernstem Gesicht.
»Feigling, Feigling,« flüstert es wieder von allen Seiten. Warnawa hört es, kalter Schweiß läuft ihm übers Gesicht, es kribbelt ihn am ganzen Körper; die Angst packt ihn, wie eine unerträgliche, lähmende, quälende Krankheit, sein Ausdruck bekommt etwas Starres, Schreckliches.
Achilla, der ihn genau beobachtete, hatte das zuerst bemerkt. Als er die Augen des Lehrers aufflammen sah, gab er dem Polizeichef ein Zeichen, etwas zur Seite zu treten, den Vater Zacharia aber nahm er ganz einfach beim Ärmel, zog ihn zurück und sagte:
»Steht nicht so dicht bei ihm, Vater Zacharia. Seht Ihr nicht? Er träumt!«
Warnawa tat einen Schritt vorwärts. Noch einen zweiten. Die zitternde Hand des Feiglings gerät in Bewegung, sie hebt sich langsam, bewegt sich vorwärts, – aber nicht nach dem Barte des Hauptmanns, sondern geradewegs nach dem Gesichte des Polizeichefs.
»Der Teufel mag wissen, was in dem Kerl vorgeht!« rief Achilla und winkte dem Polizeichef noch einmal zu. Geh lieber fort, sollte das heißen, siehst du nicht, daß der Mann von Sinnen ist?
In diesem selben Augenblick jedoch hatte Prepotenskij, die Augen zugekniffen, ganz von ferne den Schnurrbart Powerdownias gestreift: sofort stieß der Hauptmann ein grimmiges Knurren aus und fing dann an laut zu bellen.
Das war dem armen Warnawa zu viel. Er schrie wild auf, stürzte sich wie ein Panther auf den Polizeichef und schlug sinnlos um sich.
Hierauf war niemand gefaßt. Der Effekt war großartig. Die umgestürzte Lampe, das aufflammende Petroleum, die wild flüchtenden Gäste, das Entsetzen des Polizeichefs, das Geheul Warnawas, der in einem Winkel sich mit wütenden[325] Schlägen vor dem Gespenst, das ihn packen wollte, zu schützen suchte, alles machte eine Fortsetzung des Festes unmöglich.
Die Petersburger Dame verabschiedete sich, und Prepotenskij, der alle Ein- und Ausgänge im Hause des Postmeisters sehr gut kannte, benutzte diesen Augenblick, um in den Korridor und ins Bureau zu schlüpfen, wo er sich hinter einen Schrank verkroch …
Die Frau Postmeisterin hatte ihre Nachtjacke angezogen und ging erregt in ihrem Zimmer auf und nieder. Ihre Gedanken beschäftigten sich unablässig mit der einen Frage: Wer war an dem gräßlichen Vorfall schuld? Wer hatte diesen Spaß angezettelt?
»Der Spaß war ja an sich nicht mal so übel,« dachte sie, »aber wer hat den Prepotenskij eingeladen? Nein, auch das ist nicht so wichtig … aber wer hat mich mit ihm bekannt gemacht? Wer denn anders, als mein Herr Gemahl! Eines Tages kam er: ›Hier, bitte, stelle ich dir Warnawa Wasiljewitsch vor!‹ Na warte nur, ich will dir den Warnawa Wasiljewitsch schon eintränken … Aber wo ist denn mein Mann?« fragte sie sich und sah sich im Zimmer um. »Schläft er schon? Er kann schlafen, nachdem so etwas geschehen! … Nein, das geht nicht,« erklärte die Postmeisterin kategorisch und stürzte ungeduldig in den Saal, wo ihr Gatte zu schlafen pflegte, wenn er wegen irgendwelcher Familienzwistigkeiten aus dem ehelichen Schlafgemach verbannt wurde. Aber zu ihrer nicht geringen Verwunderung fand die Dame ihren Gatten hier nicht.
»Aha, er versteckt sich vor mir. Er liegt jetzt auf dem Sofa im Bureau und schnarcht … Ich will dich schnarchen lehren.«
Und die Frau Postmeisterin begab sich nach dem Bureau.
Ihre Vermutung war richtig: der Postmeister schlief tatsächlich im Bureau, aber darin irrte sie, daß sie ihn auf dem Sofa zu finden meinte. In Wirklichkeit lag er auf dem Tische.[327] Auf dem Sofa aber schlief Prepotenskij, der nach allem, was vorgefallen war, nicht nach Hause zu gehen wagte, weil er fürchtete, Achilla könnte ihm an irgendeiner Straßenecke auflauern. Deshalb hatte er den Postmeister um Erlaubnis gebeten, seiner Sicherheit wegen im Hause übernachten zu dürfen. Der Postmeister war um so lieber damit einverstanden, als er die Erregung seiner Frau sehr wohl bemerkt hatte und es auch ihm vorteilhaft erschien, unter diesen Umständen noch jemand in seiner Nähe zu haben. Darum stellte er dem Lehrer das Sofa im Bureau zur Verfügung und machte es sich selbst auf dem großen Tisch bequem, an dem sonst die Briefe sortiert wurden.
Die Tür aus dem Korridor in das Bureau, in dem beide schliefen, war geschlossen. Das brachte die energische Dame erst recht auf, denn nach ihrem Hausgesetz durfte keine einzige Innentür ohne ihre Genehmigung geschlossen werden, und im Bureau fühlte sie sich ebenso als Herrin, wie in ihrem Schlafgemach!
Die Postmeisterin kochte vor Wut. Sie griff noch einmal nach der Tür, sie ging nicht auf. Wohl knackte der Haken, aber er saß fest. Und dabei hörte sie drinnen ganz deutlich zwei Menschen atmen. Zwei! Man male sich das Entsetzen der Ehefrau bei dieser plötzlichen Entdeckung aus!
In ihren geheiligten Rechten als Gattin und Herrin des Hauses gekränkt, rannte sie wieder durch den Korridor zurück, stürzte in die Küche, geradewegs auf den Tisch los. Wühlte lange im Dunkeln in der Schublade herum, in der es von Schwaben wimmelte, bis sie endlich gefunden hatte, was sie brauchte: Ein Messer!
Die ungeheure Spannung, die diese Zeile entfesselt, zwingt uns, hier haltzumachen, um dem Leser Zeit zu geben, sich auf das Fürchterliche vorzubereiten, das nun kommen soll.
Vor Erregung am ganzen Leibe zitternd, das riesige Küchenmesser in der Hand, den rechten Ärmel der Nachtjacke hinaufgeschoben, ging die Postmeisterin direkt auf die Tür zum Bureau los und legte das Ohr noch einmal an den Spalt. Es war kein Zweifel möglich: das unselige Paar lag im süßesten Schlaf; man hörte ganz deutlich, wie das eine stärkere Wesen tiefe Kehllaute von sich gab, während das andere, zartere, sich auf ein ganz sanftes Pfeifen beschränkte.
Die Postmeisterin steckte das Messer in den Türspalt, schob den Haken zurück und die leichte Tür ging mit leisem Knarren auf.
Es war noch früh am Morgen, kaum hoben sich die Fenster durch ihr mattes Grau von der Finsternis ab, doch das geübte Auge der Postmeisterin erkannte sowohl den Tisch mit der Postwage, als auch den zweiten langen Tisch in der Ecke und das Sofa.
Mit der linken Hand sich an der Wand entlang tastend, bewegte sich die zürnende Dame direkt auf das Sofa zu und erreichte ohne besondere Schwierigkeiten den Schnarcher, der mit tief herabhängendem Kopfe ganz am Rande lag. Er hatte nichts gehört, und als die Postmeisterin vor ihn hintrat, schien er sogar mit ganz besonderem Eifer und Genuß in den lieblichsten Säuseltönen zu schwelgen, als ob er ahnte, daß die Sache bald ein Ende haben werde und daß es ihm[329] heute nicht mehr vergönnt sein werde, sich diesem Vergnügen hinzugeben.
So kam es denn auch.
Noch war der Schläfer mit seiner letzten Fioritur nicht ganz fertig, als die Linke der Frau Postmeisterin ihn kräftig an den Haaren emporriß und die Rechte, nachdem sie das Messer fallen gelassen, ihm eine schallende Ohrfeige verabfolgte.
»Mmmm … Warum denn? Warum?« brummte der Erwachende, aber statt einer Antwort erhielt er eine zweite Ohrfeige, dann eine dritte, eine fünfte, zehnte, eine immer kräftiger und dröhnender als die andere.
»Au, au, au,« schrie er und versuchte vergeblich, den aus der Finsternis auf ihn herabhagelnden Backpfeifen auszuweichen, bis diese plötzlich durch ein weniger lautes, aber nicht minder schmerzhaftes Zausen und Schütteln ersetzt wurden.
»Herzchen! Was tust du denn, Herzchen! Das bin ja gar nicht ich! Das ist doch Warnawa Wasiljewitsch!« kam vom Tische her die Stimme des aufgeschreckten Postmeisters.
Die Postmeisterin hielt verblüfft ein, ließ die Mähne Warnawas los, schrie laut auf: »Was machst du mit mir, du Ungeheuer!« – und stürzte sich auf ihren Gatten.
»Ja, ja, das bin ich,« hörte Warnawa den Postmeister rufen, und ohne etwas zu begreifen – außer der Notwendigkeit, sich eiligst aus dem Staube zu machen – sprang er vom Sofa auf und rannte, wie er war, in Unterhosen und Strümpfen, durch die glücklich gefundene Tür auf die Straße hinaus.
Er war gründlich verdroschen worden, und als er sich das Gesicht mit dem Ärmel wischte, bemerkte er, daß seine Nase blutete.
In demselben Augenblick ging die Tür leise auf und seine Kleider fielen vor ihm hin. Er bückte sich, um sie aufzuheben, als eine Minute später auch die Stiefel über den Zaun geflogen kamen.
Warnawa setzte sich auf den Boden und zog die Stiefel an, fuhr, so gut es ging, in Hosen und Rock und trottete nach Hause.
Eine Woche darauf verließ der Lehrer Prepotenskij mit einem Urlaubschein und einigen wenigen Spargroschen in der Tasche die Stadt. Die Ursache dieser plötzlichen Flucht war und blieb für alle ein ewiges Geheimnis.
An demselben Tage, wo es in Stargorod so lustig herging, spielte sich weit draußen in dem gelben Stübchen des verbannten Propstes eine Szene anderer Art ab. Natalia Nikolajewna bereitete sich zum Sterben.
Gewissenhaft und sparsam, wie sie war, hatte die Pröpstin während der ganzen Zeit ihres Aufenthaltes bei ihrem gemaßregelten Gatten sich ohne Bedienung beholfen und allerlei Arbeit auf sich genommen, an die sie nicht gewohnt war und die ihre Kräfte weit überstieg. Als sie bei dem letzten Fünfundzwanzigrubelschein in ihrer Schachtel angelangt war, erschrak sie, daß sie bald ganz ohne Geld sein würde, und beschloß, ihren Hauswirt, den Gendarm, zu bitten, ihnen die Miete zu stunden, bis der Propst wieder begnadigt sei. Der Gendarm ging darauf ein, Natalia Nikolajewna aber hielt das vor ihrem Gatten streng geheim und suchte auf jede Weise das Geld beim Hauswirt abzuverdienen: sie grub mit seiner Magd Kartoffeln, hackte Kohl und spülte ihre Wäsche selbst im Fluß.
Jedoch das war zu viel für ihre Jahre und ihre schwache Gesundheit. Sie erkrankte und mußte das Bett hüten.
Der Propst machte ihr Vorwürfe wegen ihrer übergroßen Sorgsamkeit.
»Du glaubst, du hilfst mir,« sagte er, »aber als ich hörte, was du getan hast, verdoppelte das meine Qualen.«
»Vergib,« flüsterte Natalia Nikolajewna.
»Was heißt: vergib? Vergib du mir,« antwortete der Propst und faßte ihre Hand, die er leidenschaftlich küßte. »Ich habe dich mit meiner starren Unbotmäßigkeit so weit gebracht, aber wenn du willst … sage nur ein Wort und ich gehe und demütige mich dir zuliebe.«
»Was fällt dir ein? Nie werde ich dieses Wort sagen! Soll ich deine Lehrmeisterin sein, der du alles weißt und alles zum Rechten wendest?«
»Um meiner Ehre willen muß ich dieses tragen, Liebste.«
»Und Gott möge dir helfen, an mich aber sollst du nicht denken.«
Der Propst küßte noch einmal die Hände seiner Frau und ging an sein Tagewerk, Natalia Nikolajewna aber wickelte sich in ihre Decke und schlief ein. Und da sah sie im Traum den Diakon Achilla, der zu ihr ins Zimmer trat und sprach: »Warum betet Ihr denn nicht, daß der Vater Sawelij sein Leid leichter trage?« – »Wie denn?« fragt Natalia Nikolajewna, »lehre mich, wie ich zu beten habe.« – »Nun,« antwortet Achilla, »Ihr sollt bloß sagen: Herr, hilf uns auf den Wegen, die du kennst.« – »Herr, hilf uns auf den Wegen, die du kennst,« wiederholte Natalia Nikolajewna andächtig, und plötzlich war ihr, als nähme der Diakon sie auf seine Arme und trüge sie in das Allerheiligste, – der Raum war unendlich groß: Säule reihte sich an Säule, und der Altar reckte sich bis zum Himmel empor und flammte in tausend hellen Lichtern; hinter ihnen aber, von wo sie gekommen waren, schien alles winzig klein, so klein, daß sie gelacht hätte, wenn es sie nicht beunruhigt hätte, daß sie doch ein Weib sei, das Allerheiligste also gar nicht betreten dürfe. »Bist du bei Sinnen, Diakon!« sagte sie zu Achilla, »man wird dich deines Amtes entsetzen, wenn man erfährt, daß du eine Frau ins[333] Allerheiligste getragen hast.« Er aber erwiderte: »Ihr seid keine Frau, sondern eine Kraft!« Und mit einem Male war Achilla und das Allerheiligste und der Altar und die Lichter – alles, alles verschwunden, und Natalia Nikolajewna schlief nicht mehr, sondern wunderte sich nur, warum alles um sie herum immer noch so klein aussah: der Samowar da drüben war gar kein richtiger Samowar, sondern ein Spielzeug, und die Teekanne darauf war nur eine Eierschale …
In diesem Augenblick kam Tuberozow aus dem Kloster zurück und fing an, freundlich zu ihr zu sprechen, sie aber wehrte mit beiden Händen ab.
»Still,« sagte sie, »still: ich muß ja bald sterben.«
Der Propst blickte sie ganz erstaunt an.
»Was fällt dir ein, Natascha? Gott behüte uns in Gnaden!«
»Nein, Liebster, ich muß sterben. Ich lebe nur noch halb.«
»Wer hat dir das gesagt?«
»Wer mir's gesagt hat? Ich sehe alles nur halb.«
Der Arzt kam, fühlte den Puls, besah die Zunge und sagte: »Nichts Besonderes, Erkältung und Übermüdung.«
Tuberozow wollte ihm sagen, daß die Kranke alles nur halb sehe, aber er genierte sich.
»Du hast sehr recht getan, es ihm nicht zu sagen,« meinte Natalia Nikolajewna, als er es ihr erzählte.
»Siehst du wirklich alle Gegenstände nur halb?«
»Ja! Ist das droben am Himmel der Mond?«
»Freilich ist es der Mond, der auf uns zwei Alte durchs Fenster herabschaut!«
»Und mir erscheint er wie ein Fischauge.«
»Das kommt dir nur so vor, Natascha.«
»Nein, es ist wirklich so, Vater Sawelij.«
Um seine Frau von ihrem Irrtum zu überzeugen, nahm Tuberozow den verhängnisvollen Fünfundzwanzigrubelschein aus der Schachtel und zeigte ihn ihr.
»Nun sag mal, was ist das?«
»Zwölf und ein halber Rubel,« erwiderte Natalia Nikolajewna sanft.
Tuberozow erschrak. Das war ihm unbegreiflich. Natalia Nikolajewna aber faßte lächelnd seine Hand und flüsterte, indem sie die Augen schloß:
»Du scherzest und ich scherze auch. Ich habe wohl gesehen, daß das unser Schein war. Aber alles sieht winzig klein aus. Doch sobald ich die Augen zumache, seh' ich alles groß, riesengroß. Alle wachsen: du und Nikolai Afanasjewitsch, unser Freund, und der liebe Diakon Achilla, und Vater Zacharia … Mir ist so wohl, so wohl, weckt mich nicht.«
Und Natalia Nikolajewna entschlief für immer.
Nicht nur den Zwerg Nikolai Afanasjewitsch erschütterte die schauerliche Ruhe des Gesichtsausdrucks und der wackelnde Kopf Tuberozows, der langsam durch den tiefen Schlamm der ungepflasterten Straßen hinter dem Sarge seiner entschlafenen Gattin herging, sondern in dem großen und stummen Schmerz tiefangelegter Menschen liegt unzweifelhaft eine unwiderstehliche Kraft, die von allen empfunden wird und bei kleinen Naturen, welche gewohnt sind, ihr Weh in lauten Seufzern und Geschrei ausströmen zu lassen, Angst und Grauen erweckt. Das fühlte jetzt jeder, der irgend etwas mit dem verwaisten Greise zu tun gehabt hatte, dessen treue Gefährtin dahingegangen war. Als die Erdschollen an den Sargdeckel schlugen und der in den Bann getane Priester sich umwandte, um von dem hohen Erdhaufen herabzusteigen, traten alle Umstehenden zurück und gaben ihm den Weg frei, den er nun auch ganz allein mit entblößtem Haupte durch den ganzen Friedhof entlang schritt.
Am Tor blieb er stehen, betete vor dem Heiligenbild der Kapelle, setzte seinen Hut auf und wandte sich noch einmal um. Erstaunt trat er zurück. Vor ihm stand der Zwerg[336] Nikolai Afanasjewitsch, der von der Grabstätte an in einer Entfernung von zwei Schritt hinter ihm hergegangen war.
Etwas wie Freude zuckte über das Gesicht des Propstes. Es tat ihm augenscheinlich wohl, seinem »alten Märchen« in einem so trüben Augenblick zu begegnen. Er wandte sich seitwärts den schwarzen Feldern zu, auf denen noch kümmerlich und frierend die Wintersaat sproßte, und aus seinen Augen fiel eine schwere Träne, einsam und schnell, wie ein Tropfen Quecksilber, und verlor sich in seinem grauen Barte, gleich einem im Walde verirrten Waisenkind.
Der Zwerg bemerkte diese Träne. Er wußte, was sie bedeutete und schlug still ein Kreuz. Sie machte Sawelijs vom Übermaß des Schmerzes beengte Brust leicht. Er holte tief Atem, und als der Zwerg ihn aufforderte, in seinen Wagen zu steigen, erwiderte er:
»Ja, Nikolascha, es ist gut, ich will mit dir fahren.«
Schweigend fuhren sie dahin, bis der Wagen vor dem Häuschen des Gendarmen in der Klostervorstadt hielt. Tuberozow drückte dem Zwerg stumm die Hand und ging in seine Wohnung.
Nikolai Afanasjewitsch folgte ihm nicht. Er empfand, daß Tuberozow jetzt allein sein wollte. Erst am Abend besuchte er den Witwer, und nachdem er eine Zeitlang dagesessen hatte, bat er um Tee unter dem Vorwande, daß ihn friere; in Wirklichkeit wollte er Sawelij von seinem Schmerz ablenken und das Gespräch auf den eigentlichen Zweck seines Besuchs bringen. Der Plan gelang vollkommen, und als Tuberozow den dampfenden Samowar hineingetragen hatte, die Tassen aus dem Schrank holte und sich anschickte, den Tee zu bereiten, begann der Zwerg leise zu erzählen, was sich in all der Zeit in Stargorod zugetragen. Schritt für Schritt ging er vorwärts, ließ einen Tag nach dem andern vorüberziehen,[337] bis zu dem Augenblick, wo er hier am Teetisch saß. In diesem Bericht war natürlich sehr viel die Rede von der Betrübnis der Städter über das Mißgeschick des Propstes, den man so sehr vermißte und ganz zu verlieren fürchtete.
Der Propst, der dem Zwerg anfangs ernst und ruhig, beinahe teilnahmlos zugehört hatte, wurde aufmerksamer, als die Rede auf das Verhalten der Gemeinde seiner Maßregelung gegenüber kam. Und als der Zwerg, nachdem er sich erst umgesehen hatte, mit gedämpfter Stimme zu erzählen fortfuhr, sie hätten im Namen der ganzen Gemeinde ein Gesuch aufgesetzt und unterzeichnet, und er, Nikolai Afanasjewitsch, hätte es von Achilla empfangen und auf seiner Brust verborgen, da zuckte die Unterlippe des Alten krampfhaft und er sagte:
»Ein braves Volk. Ich danke.«
»Ja, es ist brav, unser Volk, sogar sehr brav, aber es weiß noch nicht recht, wie es eine Sache anfangen soll.«
»Finsternis, Finsternis über dem Abgrund … doch über allem schwebt der Geist des Herrn,« sagte der Propst, seufzte tief und bat um das Papier, von dem der Zwerg gesprochen hatte.
»Wozu braucht Ihr es denn, Vater Propst, dieses Papier?« fragte der Zwerg schlau lächelnd. »Morgen wird es dem überreicht, an den es gerichtet ist –«
»Gib es mir, ich will es besehen.«
Der Zwerg knöpfte seinen Rock auf, um seinen Brustbeutel herauszuholen, schien sich aber plötzlich auf etwas zu besinnen.
»Nun, so gib doch her,« bat Sawelij.
»Aber werdet Ihr … werdet Ihr es nicht zerreißen, Vater Propst?«
»Nein,« sagte Tuberozow fest, und als der Kleine ihm das Blatt hinreichte, das mit winzigen und riesengroßen, deutlichen und ganz unleserlichen Unterschriften bedeckt war, murmelte Sawelij andächtig:
»Zerreißen? Dieses kostbare Dokument zerreißen? Nein, nein! Mit ihm ins Gefängnis; mit ihm ans Kreuz! In den Sarg sollt ihr es mir legen!«
Und zum nicht geringen Entsetzen des Zwerges rollte er das Blatt schnell zusammen und verbarg es auf seiner Brust unter dem Leibrock.
»Aber, Vater Propst, das soll doch eingereicht werden!«
»Nein, das soll es nicht!«
Ihm das Papier jetzt fortzunehmen, war unmöglich. Man konnte sicher sein, daß er sich eher von seinem Leben, als von diesem Blatt mit den kostbaren Krakelfüßen seiner Gemeinde trennen würde.
Dies sah der Zwerg ein und versuchte vorsichtig, sich dem Gedankengang Sawelijs anzupassen. Er fing an davon zu reden, wie bedeutungsvoll und erfreulich dieses Eintreten der Gemeinde für ihren Pfarrer sei, und wies weiter darauf hin, daß der Wille der Gemeinde für jeden Einzelnen bindend und heilig sein müsse.
»Sie weinen und wehklagen jetzt, Vater Propst, daß sie Euch nicht mehr sehen sollen.«
»Das ist nicht zu ändern,« sagte der Propst seufzend. »Meine Tage sind ohnedies schon gezählt.«
»Aber ich, Vater Propst? Wie steh' ich da? Was hat die Gemeinde mir anvertraut und womit kehr' ich zu ihr zurück?«
Tuberozow stand auf, durchschritt ein paarmal sein enges Zimmerchen, blieb in der Ecke vor dem Heiligenbilde stehen, zog das Blatt wieder hervor, küßte es noch einmal und reichte es dann dem Zwerg mit den Worten:
»Du hast recht, mein lieber Freund, tu, wie die Gemeinde dir befohlen.«
Nikolai Afanasjewitsch hatte viel Mühe, um seinen Auftrag auszuführen, aber er war ebenso unermüdlich wie geschickt. Dieser kleine Abgesandte der großen Gemeinde kannte weder Ermattung noch Überstürzung. Wie eine Klette hängte er sich an alle, die ihm förderlich sein konnten, und ließ sie nicht los. Den Propst besuchte er allabendlich, doch erzählte er ihm nichts von seinen Bemühungen, und Sawelij selbst dachte nicht daran, ihn zu fragen. Inzwischen rückte aber die Sache so gut vorwärts, daß am neunten Tage nach dem Tode Natalia Nikolajewnas, als der Propst vom Friedhof gekommen war, der Zwerg zu ihm sagen konnte:
»Nun, lieber Vater Propst, macht Euch zur Heimreise fertig. Man entläßt Euch.«
»Der Wille des Herrn sei über mir,« erwiderte Tuberozow gleichgültig.
»Man verlangt nur eines von Euch, Ihr sollt Euch schriftlich verpflichten, dieses hinfort nicht mehr zu tun.«
»Gut; ich will's nicht mehr tun … werde es nicht tun … ich bin schwach und zu nichts mehr zu brauchen.«
»Wollt Ihr Eure Unterschrift geben?«
»Ja … ich will … ich bin bereit.«
»Und dann bittet man noch … Ihr sollt Euch schuldig bekennen und um Verzeihung bitten.«
»Schuldig? Wessen beschuldigt man mich?«
»Des Übermuts. Das heißt – sie nennen es so: Übermut.«
»Übermut? Ich war nie übermütig und habe stets auch andere, soviel ich vermochte, davon zurückgehalten. Ich kann mich also nicht einer Sünde schuldig bekennen, die ich nicht begangen habe.«
»Aber sie nennen es so.«
»So sage ich ihnen, daß ich mir keines Übermuts bewußt bin.«
Tuberozow blieb stehen, hob den Zeigefinger der rechten Hand in die Höhe und rief:
»Der Prophet ward nicht übermütig genannt, da er für den Herrn eiferte. Geh hin und sage ihnen: der Priester, den ihr in den Bann getan, läßt euch melden, daß der Eifer des Herrn ihn getrieben, und daß er, wie er als Eiferer geboren, so auch sterben werde. Und jetzt will ich kein Wort von Vergebung mehr hören.«
Mit dieser kategorischen Antwort mußte der Fürsprecher sich entfernen, und wieder lief er von Tür zu Tür, bat, flehte, drohte sogar mit dem menschlichen und göttlichen Gericht, aber alles war vergeblich.
Der Zwerg wurde krank und mußte sich zu Bett legen; die Unmöglichkeit, die Sache zum Austrag zu bringen, die er auf sich genommen, hatte die Kraft und die Geduld des eigenartigen Anwalts gebrochen.
Nun tauschten die beiden Alten ihre Rollen, und wie bisher Nikolai Afanasjewitsch den Propst täglich besucht hatte, so wanderte jetzt Sawelij, wenn er die vorgeschriebene Menge Holz gesägt und die Vesper im Kloster mit angehört hatte, nach dem großen Plodomasowschen Hause, wo der Kranke in einem kleinen Hinterstübchen lag.
Der arme Zwerg tat dem Propst unsagbar leid, er fühlte alle seine Schmerzen mit ihm und sagte seufzend:
»Das hatte noch gefehlt, daß du um meinetwillen leiden mußtest.«
»Ach, Vater Propst, was redet Ihr von mir altem Hasen? Wozu bin ich denn überhaupt noch auf der Welt? Denkt lieber an Euch, und an ihn, an Euren Hohepriester! Er bittet Euch doch, daß Ihr Euch demütigt! Tröstet ihn, gebt nach, bittet um Vergebung.«
»Ich kann nicht, Nikolai, ich kann nicht.«
»Demütigt Euch.«
»Ich demütige mich vor der Gewalt, aber was höher ist als die irdische Gewalt, das hat mehr Macht über mich … Ich stehe unter dem Gesetz. Sirach hat es uns zur Pflicht gemacht, für die Ehre unseres Namens Sorge zu tragen, und der Apostel Paulus protestierte gegen die Mißachtung seiner Bürgerrechte; ich habe nicht das Recht, mich zu erniedrigen um einer Abbitte willen.«
Der Zwerg gab alle Hoffnung auf und begann, sich zur Heimreise nach Stargorod zu rüsten. Sawelij widersetzte sich dem nicht; im Gegenteil, er riet ihm selbst, schneller abzureisen und gab ihm keinerlei Aufträge, was er daheim sagen oder antworten sollte. Bis zum letzten Augenblick, als er den Zwerg aus der Stadt hinaus bis zum Zollschlagbaum begleitete, bestand er auf seinem Willen und kehrte ruhig in die Stadt und auf den Klosterhof zurück, um sein Holz zu sägen.
Der Kummer des Zwerges war grenzenlos. Er hatte ganz anders gehofft heimzukehren, und seine Gedanken umkreisten unablässig denselben Gegenstand. Plötzlich jedoch kam ihm Erleuchtung – ein einfacher, klarer, rettender, glänzender Gedanke, wie sie dem Menschen nur selten kommen und fast immer so unverhofft, als würden sie ihm von oben gesandt.
Etwa zehn Werst weit war der Zwerg gefahren, als er dem Kutscher befahl, wieder nach der Stadt zurückzukehren. Sofort[342] begab er sich zu Sawelijs Vorgesetzten und bat flehentlich, man möge dem Propst befehlen, Abbitte zu tun.
Da man des halsstarrigen alten Mannes lange überdrüssig war, erfüllte man seinen Wunsch ohne weiteres. Er erschien daher wieder bei Tuberozow und erklärte:
»Nun, stolzer Vater Propst, Ihr wolltet Euch nicht bestimmen lassen, – jetzt habt Ihr's so weit gebracht, daß Ihr Euch der Strenge fügen müßt. Ich bin beauftragt, Euch mitzuteilen, daß die Obrigkeit Euch kraft der ihr zukommenden Gewalt befiehlt, Abbitte zu tun.«
»Wo soll ich denn den Kniefall tun: hier, oder auf dem Marktplatz, oder in der Kirche?« fragte Tuberozow trocken. »Mir ist es gleich. Was man mir befiehlt, muß ich tun.«
Der Zwerg antwortete, daß kein Mensch eine derartige Demütigung von ihm verlange; er habe schriftlich Abbitte zu leisten.
Sofort setzte sich Tuberozow hin und schrieb das Gewünschte nieder. Als Überschrift wählte er die Worte: »Befohlenes ergebenstes Gesuch.«
Der Zwerg bemerkte, daß das Wort »befohlen« hier ganz unpassend sei, jedoch Sawelij wies ihn energisch zurück:
»Ich hoffe, man hat dich nicht noch beauftragt, mir Unterricht in der Logik zu erteilen. Ich habe genug davon im Seminar gelernt. Du sagtest, es würde mir befohlen, und also schreibe ich auch ›befohlenes Gesuch‹.«
Die Sache endete damit, daß man den Vater Sawelij, um ihn endlich einmal los zu sein, ziehen ließ, weil aber sein ergebenstes Gesuch zugleich als »befohlenes« bezeichnet worden war, so erfolgte darauf der Bescheid, daß der Propst noch ein halbes Jahr lang keine Amtshandlungen ausüben dürfe.
Sawelij nahm das sehr kühl auf, dankte allen, denen er Dank zu schulden glaubte, und reiste mit dem Zwerge nach Stargorod. Die lange, qualvolle Verbannung war vorüber.
Unterwegs redeten sie nicht viel, und immer nur war es der Zwerg, welcher anfing. Er wollte den Propst, der stumm mit den in alten Wildlederhandschuhen über den Knien gefalteten Händen dasaß, zerstreuen und erheitern. Nikolai Afanasjewitsch fing bald von diesem, bald von jenem an, Tuberozow jedoch schwieg oder gab nur ganz kurze Antworten. Der Kleine erzählte, wie die Gemeinde um den Propst geklagt und geweint hätte, wie die Postmeisterin ihren Mann verprügeln wollte und statt dessen den Lehrer verprügelt hätte, wie dieser, von der Biziukina verfolgt, aus der Stadt geflohen sei, aber der Alte schwieg und schwieg.
Nikolai Afanasjewitsch sprach von Tuberozows Hause: es werde baufällig und müsse repariert werden.
Seufzend meinte der Propst:
»Für mich ist das alles nur Staub, und es ekelt mich, daß ich mein Herz daran hängen konnte.«
Der Zwerg fing von Achilla an, der immer einen Zeitvertreib zu finden wisse: jetzt habe er z. B. ein Hündchen zu sich ins Haus genommen, das er noch blind am Flußufer ausgesetzt gefunden, und triebe immer neuen Spaß mit ihm.
»Mag er doch, wenn es ihm Vergnügen macht,« sagte der Propst leise.
Nikolai Afanasjewitsch fuhr lebhafter fort:
»Ja, und es passieren ganz seltsame Geschichten mit diesem Hündchen, Vater Propst. Er hat diesen Hund, wie schon seine früheren, lachen gelehrt, und wenn er zu ihm sagt: ›Lache, mein Hündchen‹ – dann zeigt es gleich die Zähnchen. Nun machte ihm aber der Gedanke Sorge, wie er das Tierchen nennen sollte.«
»Als ob es dem Vieh nicht ganz gleichgültig sei, wie man es nennt,« sagte der Propst scheinbar gelangweilt.
Aber der Zwerg hatte schon gemerkt, daß sein Gefährte den Geschichten vom Diakon Achilla mehr Teilnahme entgegenbrachte als seinen sonstigen Reden, und fuhr deshalb fort:
»Man sollte es meinen. Aber dem Vater Diakon ist es nicht gleichgültig. Er ist nun mal so ein Charakter: hat er sich was in den Kopf gesetzt, dann hat er auch keine Ruhe mehr bei Tag und Nacht. ›Ich habe‹, sagt er, ›dies Hündlein bei einer besondern Gelegenheit in sehr erregter Stimmung heimgebracht, und ich will, daß es zur Erinnerung an diesen Tag auch einen besondern Namen habe, einen Namen, wie er sonst nicht vorkommt.‹«
Der Propst lächelte.
»So kam Vater Achilla eines Tages zu mir nach Plodomasowo geritten, hielt auf seinem Rosse vor meinem und meines Schwesterleins Fenstern an und rief mit Donnerstimme: ›Nikolascha! Heda, Nikolascha!‹ Ich dachte: ›Herrgott, was ist denn da passiert?‹ schaute zum Fenster hinaus und fragte: ›Ist am Ende dem Vater Sawelij noch etwas Schlimmes widerfahren, Vater Diakon?‹ – ›Nein,‹ entgegnete er, ›nichts dergleichen, aber ich habe ein wichtiges Anliegen an dich, Nikolascha. Ich muß dich um Rat fragen.‹ – ›Um was handelt sich's denn?‹ rief ich hinunter. ›Macht schnell, wertester Herr, denn mir wird's kalt, wenn ich so[345] lange am offenen Fenster stehe. Ich vertrage das nicht.‹ – ›Du hast dich‹, sagte er, ›von klein auf in herrschaftlichen Häusern umgetan und mußt alle Hundenamen wissen.‹ – ›Da verlangt Ihr zu viel,‹ sagte ich. ›Ein jeder nennt seinen Hund so, wie's ihm paßt.‹ – ›Na also,‹ schrie er zurück, ›dann leg mal los!‹ – Ich antwortete, der Name richte sich doch meistens nach der Rasse. Die Windspiele nenne man ›Mylord‹, unsere einfachen Hunde ›Barbos‹, die englischen ›Fanny‹, die kurländischen ›Charlotte‹ … ›Aber‹, unterbrach mich der Vater Diakon, ›du sollst mir einen Namen nennen, der sonst nirgends vorkommt. Du mußt einen solchen wissen!‹ ›Herrgott, wie beruhige ich den Menschen nur?‹ dachte ich.«
»Nun, und was hast du schließlich gemacht?« fragte Tuberozow neugierig.
»Ich fror derart am offenen Fenster, daß ich, nur um ihn schneller loszuwerden, meinte: ›Ich kenne noch einen Hundenamen, werter Herr, aber ich habe nicht den Mut, ihn Euch zu sagen.‹ – ›Tut nichts,‹ schrie er, ›sag ihn ruhig!‹ – ›Ich kannte einen Herrn, dessen Hund hieß Wiesie.‹ Vater Achilla machte ein ganz verdutztes Gesicht. ›Was ist das für Unsinn, du bist wohl verrückt geworden?‹ – ›Nein,‹ sagte ich, ›verrückt bin ich nicht, ich weiß nur ganz genau, daß in Moskau ein Fürst einen Hund hatte, der hieß Wiesie.‹ Achilla Andrejewitsch geriet nun in fürchterliche Wut, gab seinem Pferd die Sporen, ritt hart an die Mauer heran und schrie: ›Wie darfst du alter schamloser Kerl solche Dinge reden? Weißt du nicht, daß ich einen christlichen Namen trage und daß ich ein Diener des Altars bin?‹ Mit Müh und Not konnte ich ihn beruhigen, Vater Propst, und ihm erklären, was es mit dem Wiesie für eine Bewandtnis hatte. Darauf schwang er sich auf sein Pferd, holte das Hündchen aus seinem Pelz,[346] wo er es verborgen gehalten hatte, heraus und rief: ›Guten Tag, Wiesiechen!‹ Und sprengte fröhlich von dannen.«
»Das große Kind!« sagte Sawelij lächelnd.
»Ja, er muß immer spaßen.«
»Tadele ihn nicht. Das Kind muß sein Spielzeug haben, damit es nicht weint. Er hat eine schwere Last zu tragen. Rundherum liegt alles in tiefstem Schlaf und in ihm brennen tausend Leben.«
»Sehr richtig. Ich kann mir auch gar nicht denken, wie er einmal sterben wird.«
»Ich auch nicht,« meinte der Propst lächelnd. »Er ist die verkörperte Verneinung des Todes. Was aber wurde weiter aus dem Wiesie?«
»Ja, was meint Ihr wohl? Seinetwegen gab es noch Zank und Streit ohne Ende. Es konnte ja auch gar nicht anders sein. Der Vater Diakon hatte sich nämlich folgendes angewöhnt: Wenn er besonders große Sehnsucht nach Euch bekam, nahm er sein Wiesiechen auf den Arm und begab sich zur Poststation. Dort setzte er sich vor die Tür und wartete. Kaum zeigte sich nun ein vornehmer Reisender oder eine Dame, so sagte er gleich: ›Lache, mein Hündchen!‹ Und das kleine Vieh lachte. Das machte den Reisenden Spaß und sie fragten: ›Wie heißt denn das Hündchen, Herr Pfarrer?‹ Er antwortete: ›Ich bin kein Pfarrer, sondern bloß Diakon, meinen Pfarrer haben die Hunde gefressen.‹ ›Wie heißt denn aber das Hündchen?‹ fragten sie erneut. ›Das Hündchen, das heißt Wiesie.‹ Auf diese Weise geriet er mit allen in Streit. ›Ich will sie so alle ins Gesicht Hunde nennen,‹ sagte er, ›und der Friedensrichter kann mir doch nichts anhaben.‹ So nimmt er Rache für Euch, Vater Sawelij; aber was er eigentlich damit erreicht, das bedenkt er gar nicht. Dem Vater Zacharia ist es seinetwegen schon einmal schlimm ergangen:[347] der Propst sah den Hund bei ihm und fragte, wie er hieße. ›Er heißt Wiesie, Hochwürden‹ – sagte Zacharia und zog sich einen ernsten Verweis zu.«
Sawelij lachte Tränen. »Dieser ehrliche Zacharia ist köstlich. Ein Gefäß Gottes und ein Beter, wie ich keinen zweiten gesehen. Ich sehne mich, ihn wieder zu umarmen.«
Von der Anhöhe, welche die Reisenden jetzt erreichten, ward plötzlich die ganze Stadt sichtbar, diese alte, eigentümliche Stadt, die für Tuberozow so viele Erinnerungen barg; sie überkamen den Alten mit einer solchen Macht, daß er sich zurücklehnen und die Augen schließen mußte, als hätte ihn zu grelles Sonnenlicht geblendet.
Sie ließen den Kutscher langsamer fahren, denn erst, wenn es dämmerte, wollten sie in der Stadt sein. Als sie im Halbdunkel mit dem eisernen Ring gegen das wohlbekannte Tor schlugen, ertönte von innen Achillas Stimme: »Wer da?« Tuberozow wischte sich eine Träne aus dem Auge und bekreuzigte sich.
»Wer denn sonst als ich und Vater Sawelij,« antwortete der Zwerg.
Der Diakon schrie laut auf, flog die Verandastufen herunter, öffnete das Tor weit, rollte wie eine Lawine in den Wagen hinein und umklammerte den Hals des Propstes.
So saßen beide umarmt im Wagen und schluchzten lange und bitterlich, während der Zwerg daneben stand und seine sanften, befreienden Tränen leise mit der kleinen, frosterstarrten Faust wegwischte.
Als der Diakon sich ausgeweint hatte, fing er an zu sprechen. Beinahe hätte er nach Natalia Nikolajewna gefragt, aber er besann sich noch im rechten Augenblick und gab dem Gespräch schnell eine andere Wendung, indem er dem Propst das Hündchen zeigte, das zu seinen Füßen spielte.
»Das ist mein neuer Hund, Vater Propst, mein Wiesiechen. Ein ganz famoses Vieh. Wir brauchen bloß zu befehlen, dann lacht er. Was sollen wir wegen unnützer Dinge Trübsal blasen!«
»Wegen unnützer Dinge!« klang es unerträglich schmerzvoll in Vater Sawelijs Herzen nach, aber er sprach die Worte nicht aus, sondern drückte nur des Diakons Hand, so fest er konnte.
Als der Propst sein Haus betreten hatte, dessen einziger Bewohner und Herr so lange Zeit der Diakon Achilla gewesen war, küßte er den wilden Riesen auf den trockenen Scheitel seines Lockenkopfes, ging dann mit ihm durch alle Zimmer, machte das Zeichen des Kreuzes über dem leeren, verwaisten Bettchen Natalia Nikolajewnas und sprach:
»Nun, alter Freund, jetzt hat es wohl keinen Sinn mehr, daß wir uns wieder trennen? Bleiben wir zusammen.«
»Mit tausend Freuden. Ich hatte es mir selbst auch schon so gedacht,« entgegnete Achilla und schloß den Propst wieder in seine Arme.
So hausten sie denn zu zwei hier. Achilla sang in der Kirche und sorgte für die Wirtschaft, Tuberozow saß zu Hause, las seinen John Bunian, dachte und betete.
Er lebte das intensive, konzentrierte Leben eines Geistes, der mit sich selbst ins Reine zu kommen sucht.
Achilla hielt ihm alle kleinen Alltagssorgen fern und gab dem Alten die Möglichkeit, ganz und gar der innern Sammlung zu leben.
Aber dieses Glück sollte nicht lange dauern. Dem Diakon ward eine große Ehre zuteil: der Bischof, der zur Session des Heiligen Synods berufen war, nahm ihn mit nach Petersburg, weil der Protodiakon der Gouvernementskathedrale erkrankt war.
Der Abschied des Diakons von Tuberozow war rührend. Achilla, der in seinem Leben noch keinen Brief geschrieben hatte, nicht wußte, wie man einen schreibt noch absendet, erklärte nicht nur, daß er dem Propst regelmäßig schreiben werde, sondern er tat es auch wirklich.
Seine Briefe waren ebenso eigenartig und seltsam wie seine ganze Denk- und Lebensweise. Zuerst erhielt Tuberozow einen Brief aus der Gouvernementsstadt, und in diesem Brief, dessen Umschlag die Aufschrift trug: »An den Vater Propst Tuberozow geheim und eigenhändig«, meldete Achilla, daß er während seines Aufenthaltes im Kloster für Tuberozow Rache an dem Zensor Troadij genommen habe: er habe dem Kater des Zensors eine Wurst auf den Rücken gebunden mit der Aufschrift:
und ihn in den Klosterhof laufen lassen.
Einen Monat später schrieb Achilla aus Moskau, wie sehr ihm die Stadt gefallen hätte; doch seien die Leute dort gar arglistig, insbesondere die Kirchensänger, die ihn zweimal aufgefordert hätten, mit ihnen Blachdnublach zu trinken, er aber habe »aus der Praxis wohl wissend, was sothanes Blachdnublach zu bedeuten habe, sich ob dieser ihrer Sängerfrechheit nicht wenig verwundert«.
Einige Zeit später schrieb er aus Petersburg:
»Mein vielgeliebter Freund und Euer Hochwürden Vater Sawelij. Freuet Euch. Ich lebe herrlich im Klostergasthof, in dem es freilich an Versuchungen jeglicher Art nicht fehlt, denn es geht hier fast ebenso zu, wie mitten im Lärm der großen Stadt. Und doch sehne ich mich sehr nach Euch. Wenn wir zusammen hier wären, könnten wir gemeinschaftlich viel schöner und mit viel mehr Freude alles bewundern.[351] Eure weisen Ratschläge habe ich mir wohl gemerkt und werde von allen mit größter Achtung behandelt, was Euch ja das Moskauer Blachdnublach beweist, welches mitzutrinken ich mich weigerte. Ich trinke nur ganz wenig, und auch nur deshalb, weil ich sonst fürchte, gute Bekanntschaft zu verlieren. An Schönem ist hier kein Mangel, bloß einen richtigen Diakon, wie man ihn sich bei uns wünscht, habe ich noch nicht gefunden. Alle sind sie Tenöre, die nach unsern Begriffen nur zu Friedhofsgottesdiensten zu brauchen wären, und obgleich einige sich sehr aufspielen, so sind sie doch an Gestalt im Vergleich zu uns gar jämmerlich und ihr Gesang ist ein halbes Sprechen, wobei sie nicht mal die richtige Note treffen, und die Sänger mit ihnen gar nicht ordentlich zurechtkommen können. Ich aber, der ich mein Handwerk kenne, mache ihre Mode nicht mit, sondern singe die Messe so, wie ich es gewohnt bin, und, obgleich ich ein Fremder bin, hat mich die Kaufmannschaft doch aufgefordert, beim Dankgottesdienst vor der Markthalle mitzusingen, und ich habe dafür, außer der Renumeration in barem Gelde, noch drei Tücher aus Seidenfoulard erhalten, wie Ihr sie so gerne habt und welche ich Euch als Gastgeschenk mitzubringen gedenke. Wohl bekomm's! Langeweile habe ich oft. Man bekommt hier meistens Kaffee vorgesetzt. Wegen der weiten Entfernungen mache ich nur wenig Besuche. Fast alle wohnen in Nebenstraßen; und da ich auf dem Imperial fahre, komme ich in keine Nebenstraßen hinein. Doch Ihr als Provinzler werdet das gar nicht verstehen: man sitzt wie auf einem Hause, hoch oben auf dem Dache, und wenn man von da hinunter will, so muß man sehr gewandt sein, um abspringen zu können. Dem weiblichen Geschlecht ist dieses wegen seiner Kleidung überhaupt nicht gestattet. Die Droschkenkutscher aber sind hier, wie ich bemerke, große Spötter. Und wenn[352] einer von uns geistlichen Personen einen mieten will und er bietet einen niedrigen Preis, dann schreien gleich alle andern: ›Mit dem sollt Ihr nicht fahren, Vater, der hat erst gestern einen Priester in den Schmutz fallen lassen.‹ Deshalb lasse ich mich mit ihnen lieber nicht ein. Unsern Warnawa habe ich einmal getroffen, sprach ihn aber nicht. Denn wir fuhren aneinander im Imperial vorüber, und ich konnte ihm nur von ferne drohen. Im übrigen sieht er halb krepiert aus. Was Euer Unglück betrifft, daß Ihr noch unter dem Bann steht und nicht für Euch in der Messe beten könnt, so grämt Euch deshalb nicht. Ich habe das alles wohl überlegt und eingerichtet und der Allmächtige sieht es. Seid getrost: Wenn Ihr auch für Euch selbst im Kreisstadttempel nicht beten könnt, in der Residenz ist ein Mann, durch den steigt das Gebet für Euch zum Himmel empor, – aus der Kasankathedrale, wo der Erretter des Vaterlandes, der durchlauchtigste Fürst Kutusow, beigesetzt ist, und aus der Isaakskathedrale, die von außen ganz von Marmor ist. Und dieser Beter in der Residenz bin ich, denn sobald ich die große Fürbitte verlesen habe, so verkünde ich laut die Namen, die mir vorgeschrieben sind, aber heimlich flüsternd nenne ich still für mich auch Deinen Namen, mein Freund Vater Sawelij, und sende mein allerheißestes Gebet für Dich zum Höchsten hinauf, und klage ihm, wie Du vor aller Welt von Deinen Vorgesetzten gekränkt worden bist. Und ich bitte Euch noch ganz besonders, nicht mehr an jenes Wort, Eure Tage seien gezählt, zu denken, es nicht auszusprechen, denn das wäre für mich und den Vater Zacharia über alle Maßen schmerzlich, und ich würde Dich, auf Ehrenwort, nur ganz kurze Zeit überleben.«
Unterzeichnet war der Brief: »Zeitweiliger Residenzstellvertreter des Protodiakons seiner Parochie, Diakon am Dom zu Stargorod Achilla Desnitzyn.«
Es kam noch ein zweiter Brief von Achilla, in dem er berichtete, daß er »durch einen glücklichen Zufall doch mit Prepotenskij zusammengekommen sei und sich mit ihm wegen der vergangenen Dinge habe schlagen wollen; daß die Sache aber eine ganz andere Wendung genommen habe und er sogar in seiner Redaktion gewesen sei.« Denn Warnawa war jetzt Redakteur und Achilla hatte verschiedene »Literaten« bei ihm getroffen und sich mit ihm ausgesöhnt. Als Grund zu dieser Versöhnung wurde angegeben, Warnawa (nach Achillas Behauptung) sei ein sehr unglücklicher Mensch geworden, weil er sich kürzlich mit einer Petersburger jungen Dame verheiratet hätte, die weit strenger wäre, als jede ältere Frau, und immer gegen die Ehe spreche. Auch solle sie Warnawa häufig prügeln. Er wäre gar nicht mehr so wie früher: »Er hat mir selber offen eingestanden, wenn er nicht eine solche große Angst vor seiner Frau hätte, so würde er in seiner Zeitung sogar für den lieben Gott eintreten; und dann schimpft er fürchterlich auf die Frau Biziukina und insonderlich den Herrn Termosesow, der sich anfangs hier sehr gut eingerichtet hatte und ein hohes Gehalt bezog im Geheimdienst, indem er ehrliche Leute auszukundschaften hatte. Aber der böse Feind verführte ihn durch seine Habsucht: er fing an falsches Papiergeld in Umlauf zu bringen, und nun sitzt er im Gefängnis.« Am meisten aber rühmte Achilla sich dessen, daß er eine Theatervorstellung mit angesehen habe. »Einmal (schrieb er) bin ich mit den Kirchensängern in bürgerlichem Gewande auf die höchste Galerie zur Oper ›Das Leben für den Zaren‹ gegangen, und habe nachher von dem schönen Gesang fast die ganze Nacht vor Entzücken weinen müssen. Ein andermal bin ich dann, wiederum als Zivilist verkleidet, hingegangen, den König Achilla selber zu sehen. Aber mit mir hatte er auch nicht die geringste[354] Ähnlichkeit: Es kam ein Komödiant herausstolziert, ganz in Gold gepanzert, und klagte über seine Ferse. Hätte man mir solch eine Montur angezogen, ich hätte es viel dröhnender gemacht. Das andere Spiel aber ist ganz heidnisch mit einer Offenheit bis hierher, und auf einen Witwer oder einzelnstehenden Mann wirkt das äußerst beunruhigend.«
Und dann kam endlich noch ein dritter Brief, in dem Achilla meldete, er käme jetzt bald zurück, und an einem trüben Herbsttag erschien er plötzlich bei Tuberozow, strahlend, als brächte er eine Freudenbotschaft.
Sawelij begrüßte ihn und lief sofort auf die Straße, um die Fensterläden zu schließen, weil kein Neugieriger von der Heimkehr des Diakons erfahren sollte.
Ihre Unterredung dauerte sehr lange. Achilla trank in der Zeit einen ganzen Samowar leer, Vater Tuberozow aber füllte seine Tasse immer von neuem und sagte:
»Trink nur, Lieber, trink nur noch,« – und wenn Achilla die Tasse geleert hatte, meinte der Propst: »Nun erzähle weiter, Freund, was hast du noch alles gesehen und erlebt?«
Und Achilla erzählte. Gott weiß, woher er das alles hatte, – Wichtiges und Unwichtiges bunt durcheinander. Was aber den Vater Sawelij am meisten wunderte, waren die vielen seltsamen Worte, die Achilla erbarmungslos in seine Rede mengte, mochten sie passen oder nicht, Ausdrücke, wie er sie vor seiner Petersburger Reise nicht nur nie gebraucht, sondern wohl auch gar nicht gekannt hatte.
So fing er zum Beispiel plötzlich ganz unvermittelt an: »Denk dir einmal, Vater Sawelij, diese Kumbination …« (Das ›u‹ wurde unbarmherzig scharf betont.)
Oder:
»Wie er mir das sagte, da sah ich ihn an und antwortete: ›Nein, mein Bester, je vous perdu! Das wäre mir gerade der rechte Türlütütü!‹«
Mit welch großer Teilnahme Vater Tuberozow auch seinem Diakon zuhörte, – als diese und ähnliche Ausdrücke sich immer häufiger wiederholten, runzelte er die Stirn und rief endlich ungeduldig:
»Was soll das eigentlich? Wo hast du all diese dummen Redensarten gelernt?«
Aber der begeisterte Achilla war so eifrig dabei, dem Propst alle seine aus der Residenz mitgebrachten Herrlichkeiten zu zeigen, daß er auch vor den tollsten Wortbildungen nicht zurückschreckte.
»Hab' nur keine Furcht, guter Vater Sawelij, solche Worte haben nichts zu sagen – sie sind nicht verboten.«
»Wieso nichts zu sagen? Sie klingen häßlich.«
»Ihr seid sie nur nicht gewohnt. Mir kann man jetzt sagen, was man will. Es ist alles Quatsch mit Sauce.«
»Schon wieder!«
»Was denn?«
»Was hast du da wieder für ein gemeines Wort gebraucht?«
»Quatsch mit Sauce!«
»Pfui!«
»Was ist denn dabei? Alle Literaten gebrauchen es.«
»Mögen sie es tun, in der Residenz sind sie eben so feine Herrschaften; da geht's nicht ohne Sauce. Wir einfachen Leute aber haben an dem Quatsch allein schon mehr als genug. Meinst du nicht?«
»Sehr richtig,« sagte Achilla und fügte nach einigem Nachdenken hinzu, er fände eigentlich auch, daß Quatsch ohne Sauce viel besser klinge.
»Denkt einmal,« widerlegte er sich selbst, »wenn unsereins einen Quatsch zum Besten gibt, dann lacht alles; aber die Leute geben gleich auch noch eine scharfe Sauce hinzu – zum Beispiel, es gebe keinen Gott oder ähnliche Torheiten, so daß einem angst und bange wird, und nachher gibt's dann allemal Zank und Streit.«
»Es muß einem dabei immer angst werden,« flüsterte Tuberozow.
»So streng darf man auch nicht sein, Vater Sawelij. Wenn sie's einem beweisen – wo soll man dann hin?«
»Was beweisen? Was redest du da? Was hat man dir bewiesen? Daß es keinen Gott gibt?«
»Ja, Vater Sawelij, das hat man mir bewiesen …«
»Was faselst du da, Achilla? Du bist doch ein ehrlicher Kerl und Christ! Bekreuzige dich! Was hast du da gesagt?!«
»Was soll man denn machen? Ich bin ja selbst nicht froh. Aber gegen ein Faktum kann man nicht ankämpfen.«
»Was für ein Faktum? Was hast du denn entdeckt?«
»Ach, Vater Sawelij, was soll ich Euch ärgern? Lest Ihr nur Euren Bunian und glaubt in Eurer Einfalt, wie Ihr bisher geglaubt habt.«
»Laß du meinen Bunian in Ruh und kümmere dich nicht um meine Einfalt. Bedenke nur, wie du dich selbst bloßstellst!«
»Was soll man machen? Es ist ein Faktum!« erwiderte Achilla seufzend.
Tuberozow stand erregt auf und verlangte, Achilla solle ihm sofort das Faktum nennen, auf das sich sein Zweifel an der Existenz Gottes gründe.
»Dieses Faktum hüpft auf jedem Menschen herum,« antwortete der Diakon und erklärte dann, er meine damit den Floh. Einen Floh könne jeder aus Sägespänen hervorbringen,[357] und also hätte auch die Welt von selbst entstehen können.
Auf dieses naive und offenherzige Geständnis wußte Tuberozow zuerst gar nichts zu erwidern, Achilla aber begann nun, nachdem das Gespräch einmal diese Wendung genommen hatte, seine Petersburger Aufklärungsideen weiter zu entwickeln.
»Wozu arbeitet der Mensch? Um des Essens willen. Er möchte satt sein und keinen Hunger leiden. Wenn wir nicht essen müßten, würden wir überhaupt nichts tun. Man nennt das den Kampf ums Dasein. Ohne den gäb' es gar nichts.«
»Nun sieh mal,« sagte Tuberozow, »Gott hat das alles gar nicht nötig gehabt und hat doch die Welt geschaffen.«
»Das ist wahr,« sagte der Diakon, »Gott hat sie geschaffen.«
»Wie kannst du ihn dann aber leugnen?«
»Ich leugne ja gar nicht,« antwortete Achilla, »ich sage nur, daß, wenn man vom Faktum ausgeht, so kann, wie der Floh aus Sägespänen, die Welt auch aus sich selbst heraus entstanden sein. Ihr Gott ist, heißt es, der »Sauerstoff«. Aber der Teufel mag wissen, was das wieder für ein Stoff ist! Und nun seht einmal: wenn Ihr das wieder von der andern Seite betrachtet habt, versteh ich rein gar nichts mehr.«
»Wo ist denn dein Sauerstoff hergekommen?«
»Ich weiß nicht … Lassen wir das lieber, Vater Sawelij.«
»Nein, das kann ich nicht. Es muß wieder heraus aus dir. Also sag' einmal: wo hat er seinen Anfang, dein Sauerstoff?«
»Bei Gott, ich weiß es nicht, Vater Sawelij! Laßt es doch, Liebster!«
»Vielleicht ist dieser Sauerstoff ohne Anfang?«
»Das mag der Teufel wissen! Der soll ihn überhaupt holen!«
»Und er hat auch kein Ende?«
»Vater Sawelij! … Was geht uns dieser verfluchte Sauerstoff an? Mag er doch ohne Anfang und ohne Ende sein! Was kümmert's uns?«
»Begreifst du, was das heißt: ohne Anfang und ohne Ende?«
Achilla erwiderte, er begreife es, und fuhr mit lauter Stimme fort:
»Es ist ein Gott, der in der Dreifaltigkeit angebetet wird, der ewig ist, nicht Anfang noch Ende seines Seins hat, sondern immer war, ist und sein wird.«
»Amen,« sagte Sawelij lächelnd, und immer noch lächelnd stand er auf, faßte freundlich Achillas Hand und sagte:
»Komm, ich will dir etwas zeigen.«
»Gerne,« erwiderte der Diakon.
Und Hand in Hand gingen sie aus dem Zimmer, durchschritten den ganzen Hof und blieben schließlich in der Mitte des mit glänzendem frischen Schnee bedeckten Gemüsegartens stehen. Der Alte zeigte dem Diakon das Kreuz des Doms, wo sie so lange Zeit zusammen vor dem Altar gestanden hatten; dann richtete er immer noch schweigend den Zeigefinger abwärts und sagte streng:
»Falle nieder und bete!«
Achilla kniete nieder.
»Sprich: Herr, reinige mich Sünder und sei mir gnädig,« sagte Sawelij und beugte sich selbst als erster zur Erde.
Achilla seufzte und folgte seinem Beispiel. In der feierlichen Stille der Mitternacht, im weißen, monderhellten, einsamen Garten stand er da und immer wieder schlug er mit der heißen Stirn gegen den kalten Schnee, und tiefe Seufzer wechselten mit der süßen Klage des Bußgebets: »Herr, reinige mich Sünder und sei mir gnädig« – und dazwischen[359] klang die Stimme des Propstes, der die zweite Bitte sprach: »Herr, gehe nicht ins Gericht mit deinem Knecht.« Der Prediger und der Büßer beteten zusammen.
Wie groß war doch der Unterschied zwischen diesem Achilla und jenem, den wir einst in der Morgenröte pfeifend auf flammendem Roß durchs Wasser reiten sahen!
Jener Achilla war wie ein frischer Morgen nach nächtlichem Regen, dieser flimmert wie Sonnenuntergang nach einem stürmischen Tage.
Während Achilla betete, saß Tuberozow in seinem leichten grauen Leibrock auf der Bank vor dem Badehause und zählte, mit dem Kopfe wackelnd, die Verbeugungen Achillas. Als er so viele abgezählt hatte, wie ihm nötig schien, stand er auf, faßte den Diakon an der Hand und friedlich gingen sie wieder in das Haus zurück. Aber ehe er sich zu Bett legte, trat der Diakon noch einmal zu Tuberozow heran und sagte:
»Wißt Ihr, Vater Propst, als ich betete …«
»Nun?«
»Da war es mir, als ob die Erde erbebte.«
»Gesegnet sei der Herr, daß er dir ein solches Gebet gab! Geh jetzt, leg dich nieder und schlafe in Frieden,« antwortete der Propst und beide schliefen friedlich ein.
Aber als Achilla am nächsten Morgen erwachte, da hatte er ein Gefühl, als wäre er aus sich selbst herausgekommen, als hätte er unversehens etwas fortgeworfen und etwas anderes dafür gefunden. Etwas, das schwer zu tragen war und wovon man sich doch nicht trennen konnte und nicht wollte.
Es war der Strom des lebendigen, rettenden Glaubens, der die verwirrte, bebende Seele überflutete.
Sie mußte krank werden und sterben, um auferstehen zu können, und diese heilige Arbeit war in vollem Gange.
Der törichte Achilla war weise geworden, er suchte die Stille, und eines Tages, als er sich schon etwas gefestigt fühlte, fragte er den Propst:
»Sage mir, du gewaltiger Greis, wie soll ich mit mir zurechtkommen, wenn Gottes Wille es so fügt, daß ich, sei's auch nur für kurze Zeit, allein bleibe? Bisher war ich stolz auf meine Kraft, aber nun bin ich andern Sinnes geworden und weiß, daß ich mich nicht auf sie verlassen kann.«
»Ja, du warst groß und stark, aber auch dir naht die Stunde, da nicht mehr du dich selbst, sondern da ein anderer dich gürten wird,« erwiderte Sawelij.
»Aber auf meine Vernunft ist noch weniger Verlaß als auf die Kraft, denn Ihr wißt ja, wie leicht ich irre werde.«
»Vertrau auf dein Herz, es schlägt treu und wahr.«
»Was aber soll ich sagen, wenn ich einmal Rede stehen muß? Mein Herz ist ja stumm.«
»Lausche nur, so wirst du wohl hören, was es leise zu dir flüstert. Aber die Flöhe, die von der schmutzigen Erde auf dich hüpfen, die schüttle ab.«
Achilla legte die Hand aufs Herz und ging. »Wie soll das zugehen?« dachte er, und eine unbestimmte Ahnung sagte ihm, daß er bald, sehr bald allein sein, daß all seine Kraft ihn verlassen und »ein anderer ihn gürten« werde.
Die dunkeln, bangen Ahnungen des Diakons gingen in Erfüllung: der schwächliche, durch die Ereignisse hart mitgenommene alte Propst gehörte kaum noch dieser Welt an. Er erkältete sich nachts beim Zählen der Verbeugungen, die der Diakon auf seinen Befehl zu machen hatte, und wurde krank. Er litt nur wenig Schmerzen, fühlte aber, daß der Tod schon die Arme nach ihm ausstreckte.
Und nur eins tat ihm weh: daß der Bann immer noch nicht von ihm genommen war. Achilla verstand dies sehr wohl und wußte auch, was den Alten dabei am meisten betrübte.
Tuberozow wollte nicht als Gemaßregelter sterben. Er wollte vor den himmlischen Richter als ein von der irdischen Gewalt Freigesprochener treten. Er diktierte dem Diakon einen Brief, in dem er der geistlichen Behörde von seiner Krankheit Mitteilung machte und in rührenden Worten bat, man solle ihm die Gnade erweisen und die Frist des ihm auferlegten Bannes verkürzen. Der Brief wurde abgesandt, blieb aber unbeantwortet.
All seine Kraft, alles, was ihm lieb und teuer war, hätte Achilla freudig hingegeben, um diesen Schmerz von der Seele Tuberozows zu nehmen, aber es lag nicht in seiner Macht, auch war es schon zu spät. Der Todesengel schwebte bereits zu Häupten seines Bettes, um die scheidende Seele zu empfangen.
Einige Tage später stand Achilla weinend in einer Ecke des Krankenzimmers und blickte auf den Vater Zacharia, der, tief über den Sterbenden gebeugt, dessen letzte geflüsterte Beichte entgegennahm. Doch was bedeutete das? Was für eine Sünde belastete das Gewissen des greisen Sawelij, daß der Vater Benefaktow plötzlich in so große Aufregung geriet? Er schien sogar völlig vergessen zu haben, daß er eine Sakramentshandlung vollzog, die keinerlei Zeugen duldet, denn er verlangte mit lauter Stimme, Vater Sawelij solle irgend jemandem irgend etwas vergeben! Was machte den Vater Sawelij am Rande des Grabes so unbeugsam?
»Sei friedfertig! Sei friedfertig! Vergib!« drängte Zacharia sanft, aber fest. »Wenn du nicht vergibst, kann ich dir keine Absolution erteilen.«
Der arme Achilla zitterte am ganzen Leibe und lauschte mit stockendem Herzschlag auf jedes Wort.
»Im Namen des lebendigen Gottes flehe ich dich an, solange du noch am Leben …« rief Zacharia mit lauter Stimme und stockte plötzlich, ohne den Satz zu Ende bringen zu können.
Der Sterbende richtete sich krampfhaft empor, fiel wieder zurück, hob die Hand, um sich zu bekreuzigen, und nachdem er dies getan, sprach er langsam und mit großer Anstrengung:
»Als Christ … vergebe ich ihnen die Schmach, die sie mir angetan … aber daß sie, nur auf den toten Buchstaben bedacht … daß sie hier … Gottes lebendiges Werk zugrunde richten …«
Der Augenblick wurde immer ernster und feierlicher. Es knackte etwas in der Gurgel Sawelijs, und er fuhr wie ein im Fieber Phantasierender fort:
»Diesen Schmerz will ich vor den Thron … des Königs der Könige … und selbst dafür zeugen …«
»Sei friedfertig. Vergib! Vergib ihnen alles!« rief Zacharia händeringend.
Sawelij zog die Brauen zusammen, seufzte und flüsterte: »Wohl mir, daß ich mich gedemütigt habe« – und schloß dann mit unerwartet fester Stimme:
»Nach dem Gerichte derer, so Deinen Namen lieben, erleuchte die Unwissenden und vergib dem blinden und verderbten Geschlechte seine Herzenshärte.«
Zacharia blickte mit seligem Lächeln zum Himmel und machte das Zeichen des Kreuzes über Sawelijs Gesicht.
Dieses Gesicht bewegte sich schon nicht mehr, die Augen blickten starr in die Höhe und erloschen. Das Ende nahte.
Achilla stürzte laut schluchzend zum Bette und warf sich über den Sterbenden.
Mit einer letzten Kraftanstrengung legte der Verscheidende seine Hand auf den Kopf des Diakons. Dann aber fing er auch schon laut zu röcheln an, und seltsam mischten sich diese Töne mit den sanft rieselnden Worten des Sterbegebets, das Zacharia mit tränenerstickter Stimme sprach. Das Erdenwallen des Propstes Tuberozow war zu Ende.
Die Wirkung dieses Todes auf Achilla war entsetzlich. Er weinte und schluchzte nicht wie ein Mann, sondern wie ein nervöses Weib, das einen Verlust beklagt, den es nicht überleben zu können meint. Übrigens war das Hinscheiden des Propstes Tuberozow auch für die ganze Stadt ein großes Ereignis: es gab nicht ein Haus, in dem man nicht für den Entschlafenen gebetet hätte.
In dem Totenhause drängten sich die Menschen: die einen kamen, um dem Verschiedenen ihr letztes Lebewohl zu sagen, die andern, um zu sehen, wie der Priester im Sarge aussah. In der Nacht, die dem Tode des Propstes folgte, kam vom Konsistorium die Aufhebung des über den Verstorbenen verhängten Banns, und so konnte Sawelij denn in vollem Ornat bestattet werden. Riesengroß, lang lag er da, die Scheitelkappe auf dem Haupte. Totenmessen wurden im Hause unausgesetzt gelesen, und so viel eifrige Priester auch kamen und die auf dem Betpult liegenden Gewänder und Binden anlegten, um die Messe zu singen, – jeden bat der Diakon Achilla um seinen Segen, daß er das Orarion anlegen und mitsingen dürfe.
Am zweiten Tage war der Sarg fertig, und nun begann, nach einer alten örtlichen Sitte, die auch heute noch in einigen Gegenden bei der Einsargung von Geistlichen ausgeübt wird, eine feierliche und schauerliche Zeremonie. Die versammelte[365] Geistlichkeit, mit Kerzen in den Händen, in Trauergewändern, trug den toten Sawelij dreimal um den mächtigen Sarg herum, und Achilla hielt in der Hand des Toten ein rauchendes Weihrauchgefäß, so daß es aussah, als weihe der Tote selbst seine letzte kalte Wohnstätte. Dann legte man den entschlafenen Propst in den Sarg, und alle gingen fort bis auf Achilla; er verweilte die ganze Nacht bei seinem toten Freunde allein, und da geschah etwas, das Achilla selbst nicht bemerkte; wohl aber sahen es die andern für ihn.
Seit dem Hinscheiden Sawelijs hatte der Diakon sich nicht mehr zu Bette gelegt und die drei schlaflosen Nächte nebst der gespannten Aufmerksamkeit, die er unausgesetzt dem Toten widmete, hatten die stahlharten Nerven Achillas in einen Zustand äußerster Erregung versetzt.
Die Instinkte und Leidenschaften, welche sonst vor allem das Tun und Lassen des Diakons bestimmt hatten, schienen jetzt völlig verstummt zu sein und an ihre Stelle traten Seelenzustände, wie sie ihm bisher gar nicht eigentümlich gewesen waren.
Von seiner einstigen Zerfahrenheit und seinem Leichtsinn war nichts mehr zu merken. Er war in sich gekehrt und ganz im Banne schwerer Gedanken, von denen er sich nicht zu befreien vermochte. Er war nicht bleich geworden und seine Augen blickten nicht matt: im Gegenteil, über seiner gebräunten Haut lag ein mattrosiger Schimmer. Er sah alles mit einer Deutlichkeit und Schärfe, daß ihm die Augen schmerzten. Jeden Ton hörte er, als käme er aus seinem eigenen Innern, und vieles war ihm verständlich geworden, woran er früher überhaupt nie mehr gedacht hatte.
Er begriff jetzt alles, was der verstorbene Sawelij gewollt und angestrebt hatte, und er nannte den Entschlafenen einen Märtyrer.
In den drei Nächten der Totenwache redete er wiederholt mit dem Verstorbenen und wartete allen Ernstes darauf, daß[367] unter dem Brokattuch, das über das Antlitz des toten Propstes gebreitet war, eine Antwort erschallen würde.
»Väterchen!« sprach der Diakon leise, sich im Lesen des Evangeliums unterbrechend und in der nächtlichen Stille an den Sarg herantretend, – »stehe auf! Wie? Für mich allein stehe auf! Du kannst nicht? Du liegst da wie Gras?«
Und dann stand oder saß er einige Minuten stumm da, um endlich das monotone Lesen wieder aufzunehmen.
In der dritten und letzten Nacht war Achilla für einen Augenblick eingeschlummert. Als er kurz vor Mitternacht erwachte, löste er den Vorleser ab und schloß die Tür hinter ihm zu.
Nachdem er das Sticharion angelegt hatte, stellte er sich vor das Pult, berührte die Schulter des Toten mit der Hand und sagte:
»Nun höre, Väterchen, heut lese ich zum letztenmal,« – und dann fing er an, das Johannisevangelium zu lesen. Vier Kapitel las er, und als er beim fünften angelangt war, stockte er bei einem Vers, seufzte tief auf und wiederholte die große Verheißung zweimal: »Denn es kommt die Stunde, in welcher alle, die in den Gräbern sind, werden seine Stimme hören, und werden hervorgehen, die da Gutes getan haben, zur Auferstehung des Lebens.«
Nachdem er diesen Satz zweimal laut gesprochen hatte, wiederholte Achilla ihn in Gedanken noch einige Male, – und kam nicht weiter.
»Jetzt hat er doch schon die Stimme des Gottessohnes gehört und ist zu neuem Leben erwacht … Ich sehe ihn nur nicht, aber er ist hier.«
Er merkte nicht, daß die Nacht schon vergangen war und am Himmel der erste bleiche, bernsteinfarbene Streif der Morgenröte aufleuchtete, die letzte Morgenröte, die auf Erden[368] die sich auflösenden Reste dessen beleuchten sollte, der einst Vater Sawelij war und die Stimme seiner heimischen Erde so gerne hörte und so gut verstand.
Als der Diakon sah, daß es hell geworden war, seufzte er, trat vom Pult zum Sarge, stützte sich mit den Armen auf die beiden Seitenwände, so daß die hohe Brust Sawelijs unter seiner Brust lag, hob sachte mit zwei Fingern das Brokattuch empor, das über dem Gesicht des Toten gebreitet lag, und sprach:
»Väterchen, Väterchen, wo ist jetzt dein Geist? Wo ist dein flammendes Wort? Gib mir Unverständigem etwas von deinem Geiste!«
Achilla fiel an die Brust des Toten, zuckte plötzlich zusammen und fuhr zurück: ein Schauer war ihm durch seine Glieder gefahren. Er sah sich nach allen Seiten um: alles war still, nur seine schwergewordenen Augenlider klebten zusammen und eine große Müdigkeit zog seinen Kopf abwärts.
Der Diakon raffte sich auf, warf sich zum Gebet nieder und erschrak vor dem Laut seines fallenden Körpers: über sich glaubte er ein Knacken zu vernehmen, und es schien ihm, als sitze Sawelij aufrecht, das Brokattuch vor dem Gesicht und das Evangelienbuch in den todesstarren Händen.
Achilla sprang auf und flüsterte, die Arme vorstreckend:
»Friede sei mit dir! Friede! Ich lasse dir keine Ruhe!«
Nach diesen Worten nahm er wieder das Buch und wollte weiterlesen, aber mit Staunen fand er dasselbe zugeschlagen. Und er konnte sich nicht mehr entsinnen, wo er stehen geblieben war.
Er schlug das Buch aufs Geratewohl auf und las: »Er war in der Welt und die Welt kannte ihn nicht …«
»Was suche ich denn da?« dachte er. Sein Kopf war ganz verwirrt. Er schlug eine andere Stelle auf. Dort stand:
»Und es werden ihn sehen alle Augen und die ihn zerstochen haben.«
Aber wie Achilla das Blatt umwenden will, merkt er, daß seine Hand ganz schwer geworden ist und jemand ihn festhält.
»Was will ich denn? Was suche ich eigentlich? Welche Perikope? Was ist denn heute für ein Tag?« denkt Achilla und kann es nicht herausbekommen, denn er ist ganz von der Erde entrückt …
In der strahlend erleuchteten Kirche steht Sawelij im hellen, festlichen Meßgewand, mit der hohen violetten Scheitelkappe vor dem Altar und liest mit voller runder Stimme, jedes Wort wie eine leuchtende Kugel von sich stoßend: »Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort.«
»Was ist das? Gott im Himmel! Und ich meinte, der Vater Sawelij wäre gestorben! Ich habe den Introitus verschlafen! Ich bin zu spät zur Frühmesse gekommen!«
Achilla zuckte zusammen und öffnete die Augen. Er merkte, daß er wirklich geschlafen hatte, und draußen heller Morgen war. Das rote Leuchten der Begräbniskerzen erstarb in den Strahlen der aufgehenden Sonne. Die Luft war dick vom Qualm, trauriges Glockengeläute klang von draußen herüber und an die Zimmertür wurde heftig gepocht.
Achilla fuhr sich hastig mit der trockenen Hand über das Gesicht und öffnete.
»Eingeschlafen?« fragte ihn der eintretende Benefaktow leise.
»Ein wenig,« erwiderte der Diakon und trat zur Seite, um den Priestern Platz zu machen, die dem Vater Zacharia folgten.
»Aber ich … weißt du … ich habe nicht geschlafen: ich habe die ganze Nacht an der Leichenrede gearbeitet,« flüsterte Benefaktow dem Diakon zu.
»Nun, und ist sie fertig?«
»Nein, es kommt nichts heraus.«
»Ja, so geht es Euch allemal.«
»Vielleicht könntest du etwas sagen?«
»Ich, Vater Zacharia? Ich bin doch kein Gelehrter!«
»Was denn? Du hast doch das Sticharion! Das Recht hast du.«
»Was hilft mir das Recht, Vater Zacharia, wenn ich weder die Gabe noch den Verstand dafür besitze?«
»So betet recht inbrünstig um die Gabe, werter Herr, dann wird sie von selber kommen,« mischte sich flüsternd der Zwerg ins Gespräch.
»Beten? Nein, Freund Nikolascha, vielleicht betest du für mich. Mich hat der Schmerz um den Verstand gebracht. Ich habe selbst in wachem Zustande Gesichte.«
»Gut, ich will beten, wenn Ihr es wünscht,« erwiderte der Zwerg.
Ganz Stargorod geleitete den Leichnam Tuberozows zur Kirche. Der Trauergottesdienst wirkte infolge des Verhaltens des Diakons grauenhaft. Jedesmal wenn Achilla seinen Mund öffnete, versagte ihm die Stimme und er brach in Tränen aus. Sein Schluchzen, das man in der ganzen Kirche hörte, erfüllte aller Herzen mit tiefer Trauer.
Nur während der Leichenrede, die einer der Priester hielt, bezwang Achilla seinen Schmerz, hörte aufmerksam zu und weinte nur ganz leise in sein Taschentuch. Als er jedoch aus der Kirche heraustrat und all die Plätze sah, über welche er so viele Jahre an der Seite Tuberozows gegangen war, da fühlte Achilla das Bedürfnis, nicht nur zu weinen, sondern zu heulen und zu schreien. Um dem Weh, das seine Brust zu zersprengen drohte, einen Ausweg zu schaffen, sang er »Heiliger, Unsterblicher, erbarme Dich unser«, aber mit einer derartigen Stimmgewalt, daß eine blinde hundertjährige Frau, die beim Herannahen des Trauerzuges von ihren Enkeln vor das Tor geführt worden war, damit sie sich vor dem Sarge neige, plötzlich die Hände zusammenschlug und in die Knie sinkend rief:
»O, er hört es, Gott der Herr hört es, wie Achilla zum Himmel schreit!«
Da war auch schon der von einem Graben und einer Weidenhecke umgebene Friedhof, auf dem Tuberozow abends so gerne spazieren gegangen und dessen Instandhaltung[372] ihm so sehr am Herzen gelegen. Der Sarg wurde durch das dunkle Tor getragen; die letzte Litanei war gesungen, die weißen Leinenseile rollten den Erdhügel hinab und spannten sich über den finstern Abgrund des Grabes. Noch einen Augenblick und es ertönt das letzte Amen … der Sarg sinkt in die Tiefe.
Aber vorher sollte sich noch etwas ereignen, was niemand erwartet hatte. Achilla, der schon so viele Male in seinem Leben die Stargoroder in Staunen versetzt hatte, fühlte sich gedrungen, es auch dieses Mal zu tun, und zwar auf eine ganz neue Weise. Bleich und starr streckte er die Hand gegen einen der Totengräber aus, welche die Seile festhielten, und rief, wehmütig zu den Priestern hinüberblickend:
»Ihr Väter, ich bitt' euch … wartet noch etwas … Ich will nur ein paar Worte sprechen …«
Der schluchzende Zacharia gab den Totengräbern hastig ein Zeichen, streckte dem Diakon beide Hände entgegen und segnete ihn.
Ganz in Tränen gebadet, wischte sich Achilla mit seinem baumwollenen Taschentuche die mit roten Flecken bedeckte Stirn und stammelte mit krampfhaft verzerrten Lippen: »Er war in der Welt und die Welt kannte ihn nicht.« Und dann fand er keine Worte mehr, wurde feuerrot und mit einem wilden Blick aus seinen entzündeten Augen, der den Worten nachzujagen schien, die für ihn in der Luft geschrieben standen, rief er drohend: »Aber es werden ihn alle sehen, die ihn zerstochen haben!« Und damit warf er eine Handvoll Erde auf den Sarg, nahm hastig das Sticharion ab und verließ den Friedhof.
»Ihr habt sehr schön gesprochen, werter Vater Diakon,« flüsterte ihm der Zwerg unter Tränen zu.
»Der Geist Sawelijs war über ihn gekommen,« antwortete ihm Zacharia, während er sein Meßgewand ablegte.
Nach der Beerdigung Tuberozows wurde es im Hause des Propstes unheimlich still. Achilla war nirgends zu erblicken. Die Sonne geht auf und beleuchtet den vereinsamten Hof. Öde ist er und tot; Wolken ziehen vorüber und spiegeln sich in den Scheiben der Fenster, wie Schatten aus einer andern Welt – aber drinnen regt sich nichts.
Diese unheimliche Ruhe erfüllte die Nachbarn mit Angst. Man fing an, sich ernstlich um den Diakon zu sorgen.
Zacharia besuchte ihn. Lange ging der sanfte Alte aus einem Zimmer ins andere und rief:
»Diakon, wo bist du? Höre doch, Diakon!«
Aber niemand antwortete. Endlich öffnete Vater Zacharia die Tür zur kleinen Kammer, welche der Diakon bewohnt hatte.
»Was ruft Ihr so laut, Vater Zacharia?« kam aus der Finsternis die Stimme Achillas.
»Du fragst noch, mein Lieber? Wo steckst du die ganze Zeit?«
»Macht die Tür etwas weiter auf. Ich bin hier in der Ecke.«
Benefaktow tat, wie Achilla ihm geheißen, und sah ihn auf einer an der Wand befestigten schmalen bretternen Lagerstatt ausgestreckt daliegen. Der Diakon trug ein grobes Leinenhemd mit zurückgeschlagenem Kragen, das nach kleinrussischer Art durch eine lange bunte Schnur zusammengehalten wurde, und breite gestreifte Beinkleider.
»Was soll denn das, Diakon?« fragte Benefaktow und sah sich nach einer Sitzgelegenheit um.
»Ich will ein bißchen weiterrücken,« erwiderte Achilla und schob sich auf das hart an die Wand stoßende Brett.
»Was ist mit dir, Diakon?«
»Gepeinigt,« brummte Achilla.
»Was peinigt dich denn so?«
»Lächerliche Frage! Was? Eben das! Der Tod des Vaters Sawelij peinigt mich.«
»Ja, was ist da zu machen? Der Tod … gewiß … er ist der Natur zuwider … ist ein Hemmnis aller Gedanken … aber er ist doch unvermeidlich … unentrinnbar …«
»Eben dieses Hemmnis ist's, was mich peinigt.«
»Was kommst du immer mit deinem ›peinigt, peinigt‹! Das ist nicht gut, mein Lieber.«
»Ja, was ist denn überhaupt noch gut? Nichts!«
»Nun, wenn du selbst einsiehst, daß es nicht gut ist, so mußt du auch Vernunft haben: gegen das Naturgesetz kannst du nichts.«
»Ach, was redet Ihr nun wieder vom ›Naturgesetz‹, Vater Zacharia! Wenn mich nun eben dieses Naturgesetz peinigt!«
»Ja, was willst du denn machen?«
»O du grundgütiger himmlischer Vater! So laßt mich doch mit Euren Gesetzen in Ruh', Vater Zacharia! Nichts will ich machen!«
»Ja, wirst du denn von nun ab immer so daliegen?«
Der Diakon schwieg. Dann seufzte er und sagte ganz leise:
»Ich trauere immer noch sehr und Ihr kommt und redet von gleichgültigen Dingen. Was also wollt Ihr von mir haben?«
»Raffe dich auf, denn bei all unserer Trauer sind wir doch schwache Menschen, die ohne Essen und Trinken nicht auskommen können.«
»Gewiß, davon ist gar nicht zu reden. Essen und Trinken werden wir schon, aber da eben steckt's!«
»Was? Was steckt da? Wo steckt was?«
»Darin steckt's, daß wir das, was gewesen ist, nach und nach vergessen werden. Und wenn wir es eines schönen Tages ganz vergessen haben – was dann?«
»Ja, was ist da zu machen?«
»Das ist zu machen, daß ich mit meinem Charakter ganz und gar nicht damit einverstanden bin, ihn zu vergessen.«
»Gewiß, lieber Freund, aber die Zeit vergeht und du vergißt doch.«
»Vater Zacharia, sagt mir solche Dinge nicht! Ihr wißt, wie wild ich im Schmerz bin!«
»Das fehlte auch noch! Nein, mein Bester, die Roheiten laß du lieber beiseite!«
»Ja, beiseite lassen! Wer kann mich jetzt noch im Zaume halten?«
»Wenn du willst, tu ich es.«
»Ihr wäret mir gerade der Rechte!«
»Warum sollte ich es nicht sein?«
»Machen wir uns doch nichts vor! Ihr habt nicht die geringste Gewalt über mich.«
»Weißt du, Diakon, du bist einfach frech,« sagte Zacharia gekränkt.
»Gar nicht frech, denn ich hab' Euch lieb; wie könnt Ihr aber Gewalt über mich haben, wo Ihr doch so schwach von Charakter seid, daß sogar der Subdiakon Sergej Euch Grobheiten sagt.«
»Das tut er! Gegen mich sind alle grob! Deine Reden aber sind einfach dumm!«
»So zeigt jetzt, was Ihr über mich vermögt, und verhindert mich, so zu reden.«
»Ich will dich nicht verhindern, ich … ich will nicht, weil ich als Freund zu dir kam und du gegen mich grob warst … Lebe wohl!«
»Wartet doch, Vater Zacharia! So war's nicht gemeint!«
»Nein, nein, laß mich, du hast mir weh getan.«
»So geht in Gottes Namen.«
»Du bist ein Grobian, ein ganz schlimmer Grobian.«
Und Zacharia ging in der Hoffnung, der Diakon werde allgemach des Rekelns müde werden und von selber wieder herauskommen; jedoch es verging noch eine ganze Woche und Achilla zeigte sich nicht.
»Sie werden vergessen,« sagte er immer wieder vor sich hin, »bestimmt werden sie vergessen.« Und dieser Gedanke ließ ihn nicht los, und vergeblich strengte er sein Hirn an, wie er das Übel abwehren könnte.
Um Achilla aus seiner Höhle ans Tageslicht zu locken, bedurfte es eines ganz besondern Ereignisses.
Eines Morgens wachte Achilla früh gegen sechs auf und blickte nach den ersten Sonnenstrahlen, die durch das winzige Fensterlein über der Tür in seine Kammer zu dringen versuchten, – da kam Vater Zacharia in großer Hast gelaufen und erzählte, daß an Stelle des verstorbenen Tuberozow ein neuer Propst ernannt sei.
Achilla wurde bleich vor Ärger.
»Freut es dich denn nicht?« fragte Zacharia.
»Was geht es mich an?«
»Wieso geht es dich nichts an? Frag doch erst, wer ernannt ist.«
»Als ob mir das nicht ganz gleichgültig wäre!«
»Ein Akademiker!«
»Na ja, ein Akademiker! Und darüber freut Ihr Euch! Nein, bei Gott, Ihr steckt noch voll Eitelkeit, Vater Zacharia!«
»Wieso Eitelkeit? Ein Akademiker – das will sagen: ein kluger Kopf!«
»Wieder was Neues: ein kluger Kopf! Mag er doch klug sein! Werden wir zwei davon etwa klüger?«
»Du wirst wieder grob.«
»Fällt mir gar nicht ein. Ihr denkt daran, wie Ihr den Neuen empfangen sollt, und ich – daß ich den Alten nicht vergesse. Wo steckt da die Grobheit?«
»Es lohnt gar nicht, mit dir zu reden,« sagte Zacharia und zog geärgert von dannen. Achilla aber erhob sich sofort, wusch sich und lief zum Polizeichef mit der Bitte, dieser möchte ihm behilflich sein, sobald wie möglich sein Haus und seine beiden Pferde zu verkaufen.
»Warum denn das?« fragte Porochontzew.
»Sei nicht neugierig,« antwortete Achilla. »Später, wenn ich's gemacht habe, wirst du alles erfahren.«
»So sag' doch ungefähr, um was es sich handelt.«
»Darum, daß Vater Sawelij nicht sobald vergessen wird.«
»Dann soll doch Vater Zacharia in seinen Predigten öfter auf ihn hinweisen.«
»Was kann Vater Zacharia? Nein, der liebt heute schon die Wissenschaften, ich aber … ich liebe nach altem Brauch den Menschen.«
Damit war die Unterredung zu Ende und Achillas Besitz wurde seinem Wunsche entsprechend verkauft.
Indessen war man gespannt, was er weiter unternehmen würde.
Der Diakon hatte für alles zweihundert Rubel bekommen und steckte die beiden Scheine in die Tasche seines Nanking-Leibrocks; er begebe sich in die Gouvernementsstadt, erklärte er. Er hatte sich bereits einen Wanderstab aus einer langen Latte zurechtgeschnitten, packte seine Sachen in ein kleines[378] Bündel zusammen, kaufte sich auf dem Markt zwei große Roggenmehlfladen mit Zwiebeln, die er in dieselbe Tasche steckte, in der er sein Geld hatte, und wollte sich eben auf die Wanderschaft begeben, als unerwartet der neue Propst Irodion Grazianskij eintraf. Es war ein sehr wohlaussehender Herr von schwer zu bestimmendem Alter. Seinem Äußern nach konnte man ihm ebensogut sechsundzwanzig als auch vierzig Jahre geben.
Achilla ging dem neuen Vorgesetzten entgegen und wollte, nachdem er den Segen von ihm empfangen hatte, seine Hand küssen. Allein er zog sie zurück und schlug dem Diakon einen brüderlichen Kuß vor. Und so küßten sie sich auf Mund und Wangen.
»Siehst du, wie gut er ist,« sagte nach einer Stunde, als sie zusammen nach Hause gingen, Zacharia zum Diakon.
»Wie habt Ihr denn in so kurzer Zeit so viel Güte entdeckt?« fragte Achilla gleichgültig.
»Wie denn? Er wollte sich nicht die Hand von dir küssen lassen, sondern bot dir den Mund … das zeugt doch von großer Güte.«
»Ich meine, das ist nichts weiter als so eine Art von Wichtigtuerei,« erwiderte Achilla.
Er war bereits von einer wilden Eifersucht auf den neuen Propst erfaßt und suchte allerlei schlechte Eigenschaften an ihm zu entdecken, die jeden Vergleich mit dem verstorbenen Tuberozow ausschließen mußten. Je mehr der neue Propst allen Stargorodern gefiel, desto heißer mußte Achilla ihn hassen.
Am Tage darauf zelebrierte der neue Propst zum erstenmal die Messe und hielt eine Predigt, in der er seinen Vorgänger mit Lobeserhebungen überschüttete und auf die Notwendigkeit und Pflicht eines ständigen Gedenkens und einer Ehrung seiner Verdienste hinwies.
»Wozu das? Was beabsichtigt er damit?« zürnte der Diakon, als er mit Zacharia aus der Kirche ging.
Er fühlte selbst, daß er ungerecht war, aber er konnte sich nicht beherrschen, und als Zacharia ihm zuzureden versuchte und betonte, wie edel das ganze Verhalten Grazianskijs sei, da zerbrach Achilla ungeduldig das Stöckchen, das er in der Hand hielt, in zwei Stücke und sagte:
»Das ist's ja gerade, was mich so ärgert.«
»Wäre es denn besser, wenn er nicht so gut wäre?«
»Natürlich … viel, viel besser wäre das,« unterbrach ihn Achilla ungeduldig. »Wißt Ihr denn nicht, daß wer nicht gesündigt hat, auch nicht Buße tut!«
Zacharia machte nur eine abwehrende Handbewegung.
Achillas Pilgerfahrt nach der Gouvernementsstadt wurde von Tag zu Tag aufgeschoben: der Diakon wohnte noch der Revision der Schatzkammer, der Bücher und der Kirchengelder bei, immer schweigend und grollend. Zu seinem großen Kummer bot sich ihm auch nicht die geringste Gelegenheit, dem »Neuen« etwas am Zeuge zu flicken, – bis Grazianskij[380] endlich davon zu reden begann, daß man auf dem Grabe Tuberozows ein kleines Denkmal errichten müsse. Achilla sprang wie von einer Tarantel gestochen in die Höhe.
»Warum denn ein ›kleines‹ Denkmal und kein großes? Er hat sehr lange unter uns gewirkt und Verdienste errungen, wie sie mancher andere nicht so leicht fertig brächte.«
Grazianskij sah den Diakon unwillig an und schlug, ohne ihm etwas zu erwidern, eine Subskription zum Bau eines Denkmals für Sawelij vor.
Durch die Subskription kamen zweiunddreißig Rubel zusammen.
Der Diakon wollte überhaupt nichts zeichnen und fand den ganzen Plan verkehrt.
»Weshalb bist du dagegen?« fragte ihn Benefaktow.
»Weil das alles eitel ist,« antwortete Achilla.
»Worin seht Ihr die Eitelkeit?« warf Grazianskij trocken dazwischen.
»Wie kann man einem solchen Manne namens der ganzen Gemeinde ein Denkmal für zweiunddreißig Rubel setzen? So ein Denkmal ist nicht besser als eine Pistole für einen Groschen. Nein, diese Kränkung will ich ihm nicht antun. Ich bitte, mir das gütigst zu erlassen.«
Am Abend erbat sich der Diakon vom neuen Propst einen vierzehntägigen Urlaub nach der Gouvernementsstadt, der ihm auch bewilligt wurde.
So begab sich Achilla auf die Wanderschaft, die er schon so lange zur Verwirklichung seiner großartigen Absichten geplant hatte. Schon in jenen Tagen, als er noch in seinem Kämmerlein auf der bretternen Bettstatt lag, war ihm der Gedanke gekommen, dem Vater Tuberozow ein Denkmal zu setzen, aber nicht für dreißig Rubel, sondern für all sein Geld, für all die zweihundert Rubel, die er aus dem Verkauf seines[381] durch die Arbeit eines ganzen Lebens erworbenen Gutes gelöst hatte. Achilla hielt diese Summe für völlig ausreichend, um ein Monument zu errichten, das allen Zeiten und Völkern ein Wunder dünken müßte, ein so gewaltiges Monument, daß sein idealer Entwurf sogar in seinem eigenen Kopfe nicht Platz genug hatte.
Kalt und trübe war die Oktobernacht. Hastige Wolken krochen am Himmel entlang und der Wind brauste in den nackten Zweigen der Weiden. Achilla schritt unermüdlich vorwärts und als die späte Herbstmorgendämmerung graute, hatte er den halben Weg bereits zurückgelegt und konnte sich getrost etwas Ruhe gönnen.
Er bog vom Wege ab, legte sich hinter einer großen Strohmiete, die ihn vor dem Winde schützen sollte, auf den Boden, deckte sich den Mantel übers Gesicht und schlief ein.
Der Tag war genau so wie die Nacht: die kalte Sonne tauchte bald auf, bald verzog sie sich wieder hinter grauen Nebeln; der Wind heulte und brauste wild, um sich dazwischen wieder, einer zischenden Schlange gleich, am Boden zu winden. Das Ende des Mantels, welches der Diakon über seinen Kopf gezogen hatte, war längst vom Winde emporgerissen und flatterte hin und her, und wenn die Sonne hinter den Wolken hervorschaute, fielen ihre grellen Strahlen gerade auf das Heldenantlitz Achillas. Trotzdem erwachte er nicht. Es war schon ganz warm geworden und auf dem zerstampften Stoppelfeld, das Achilla sich zur Lagerstatt gewählt hatte, zeigten sich die letzten verspäteten Bewohner des toten Kornfeldes: über Achillas Stiefel kroch ein harter schwarzer Ohrwurm, und seinen Bart entlang kletterte mühsam und zitternd eine frosterstarrte Hummel. Das arme Insekt, das in dem[383] dichten Barte des Diakons einen warmen Unterschlupf gefunden hatte, fing bald an zu krabbeln und zu zappeln, wovon der Diakon erwachte. Er prustete laut, reckte sich, sprang auf, warf sein Bündel über die Schulter und schritt der Stadt zu.
Als der Abend dämmerte, hatte er auch die übriggebliebenen fünfunddreißig Werst zurückgelegt, und angesichts der Kreuze der städtischen Kirchen setzte er sich an den Rand des Straßengrabens und beschloß, zum erstenmal, seit er ausgewandert, etwas Speise zu sich zu nehmen. Die beiden Fladen holte er aus seiner Tasche, welche sie rund eine Woche beherbergt hatte, legte den einen auf den andern und begann mit großem Appetit zu kauen. Aber die ganze Portion vermochte er doch nicht zu zwingen und steckte den Rest wieder in die Tasche, um zur Stadt zu wandern. Nachdem er bei bekannten Seminaristen übernachtet hatte, ging er gleich früh am nächsten Morgen zum Adelsmarschall Tuganow, ließ sich bei ihm melden und setzte sich auf eine Bank im Vorzimmer.
Eine Stunde verging und noch eine. Niemand kümmerte sich um Achilla. Mehrere Male schon hatte er den vorüberlaufenden Diener gefragt:
»Herr Haushofmeister, wann wird man mich denn rufen?«
Aber der Herr Haushofmeister würdigte den bäuerisch aussehenden Diakon in der Nankingkutte nicht einmal einer Antwort.
Von der gestrigen Wanderung noch müde, wäre Achilla fast eingeschlafen, doch besann er sich, daß es hier doch nicht recht schicklich sei. So beschloß er, sich lieber die Zeit durch Essen zu vertreiben, was ihm die von vorgestern übriggebliebenen Stücke der Zwiebelfladen sehr gut ermöglichten.[384] Kaum jedoch hatte er die Reste aus der Tasche seines Leibrocks herausgeholt und sich darangemacht, den Staub von ihnen zu blasen, als er plötzlich zur Salzsäule erstarrte, dann emporsprang und, wie von einem giftigen Insekt gestochen, durch die vornehmen Gemächer des Hauses zu rasen begann. Zufälligerweise geriet er bald in das Arbeitszimmer des Adelsmarschalls, und als er sich ihm von Angesicht zu Angesicht gegenübersah, brüllte er los:
»All ihr heiligen Väter! Wer an Gott glaubt, muß mir helfen! Sehen Sie doch, was mir für ein Unglück passiert ist!«
»Was denn? Was ist geschehen?« fragte Tuganow erstaunt.
»Parmen Semenowitsch! Was hab' ich gemacht, ich Bösewicht!« jammerte Achilla in wahnwitziger Verzweiflung.
»Hast du jemanden ermordet?«
»Nein, ich kam zu Fuß zu Ihnen gelaufen, damit Sie mir einen guten Rat erteilen. Ich möchte dem Propst ein Denkmal setzen für zweihundert Rubel.«
»Nun und –? Hat man dir das Geld gestohlen?«
»Nein, nein, etwas viel Schlimmeres!«
»Hast du es verloren?«
»Nein, ich hab's aufgegessen!«
Und voller Verzweiflung streckte Achilla dem Adelsmarschall die untere Rinde des nicht ganz aufgegessenen Fladens entgegen, an der ein kleines Fetzchen eines Hundertrubelscheines wie angebacken festklebte.
Tuganow berührte den Fetzen mit seinen feinen Fingernägeln, löste ihn von der Rinde und sah, daß unter dem ersten Stückchen Papier ein zweites von derselben Art noch fester klebte.
Der Adelsmarschall konnte nicht anders, er mußte lachen.
»Ja, sehen Sie, ganz aufgefressen,« wiederholte der Diakon und kaute vor Verlegenheit den Nagel seines Mittelfingers. Dann wandte er sich plötzlich um und sagte kurz: »Nun also, ich bitte um Entschuldigung, daß ich Sie gestört habe. Leben Sie wohl.«
Tuganow aber zeigte sich hilfsbereit.
»Nicht gleich verzweifeln, mein Lieber,« sagte er. »Das hat nichts zu bedeuten, man wird mir in der Bank deine Papiere schon einwechseln, inzwischen gebe ich dir ein paar andere, dann kannst du deinem Pfarrer Sawelij das Denkmal setzen. Ich habe ihn ja auch sehr lieb gehabt.«
Damit reichte er dem Diakon zwei neue Hundertrubelscheine und legte die angekauten Fetzen beiseite, um sie später in die Sammlung seiner Familienkuriositäten einzureihen.
Diese Not war also behoben, aber eine neue nahte: es galt ein Denkmal auszusinnen, wie Achilla es wünschte, aber sich selbst nicht vorstellen konnte. Auch diese seine Sorge beichtete er dem Adelsmarschall.
»Ich möchte, Parmen Semenowitsch,« meinte er, »daß das für mein Geld errichtete Denkmal möglichst groß und schön sei.«
»So laß doch eine Pyramide aus Granit aufrichten.«
Tuganow ließ sich aus dem Schrank eine Mappe reichen und nahm die Abbildung einer ägyptischen Pyramide heraus:
»So in dieser Art.«
Der Gedanke sagte dem Diakon ungemein zu, nur zweifelte er, ob er mit seinem Gelde auskommen würde, worauf ihm Tuganow erklärte, falls die zweihundert Rubel nicht reichen sollten, so wolle er, Tuganow, aus Verehrung für den alten Tuberozow, für den Überschuß eintreten.
»Du aber«, sagte er, »sollst der Baumeister sein. Baue ganz, wie es dir gefällt und was du willst.«
»Das ist …« fing Achilla in höchster Verlegenheit an, aber er kam nicht weiter, sondern machte nur eine tiefe Verbeugung bis zur Erde und faßte dann plötzlich Tuganows Hand und küßte sie.
Tuganow war gerührt. Er nannte Achilla einen »braven Kerl« und schlug ihm vor, bei ihm im Gartenhaus zu logieren.
Der Diakon lief von einem Steinmetz zum andern, bis schließlich seine Wahl auf den allerschlechtesten, einen Mühlsteinfabrikanten namens Popygin fiel. Zwei deutsche Steinhauer hatten den Diakon in hellen Zorn versetzt, weil sie immer wissen wollten, ob »der Maßstab es gestatten werde«, eine so große Pyramide aufzubauen, wie der Diakon sie haben wollte, der die Fläche einfach durch Schritte und die Höhe mit emporgereckten Armen bezeichnete.
Meister Popygin als biederer Russe verstand ihn besser: sie maßen alles nach Schritten und mit ausgestreckten Armen ab und schlossen einen mündlichen Vertrag, den sie durch Handschlag besiegelten. Damit war die Bestellung gemacht und der Bau der Pyramide begann. Achilla sah zu, wie man die riesigen Steine schob, wendete und glättete und war über ihre Dimensionen entzückt.
»So ohne Maßstab ist's viel besser,« sagte er, »wie es uns paßt, so bauen wir.«
Der russische Meister Popygin stimmte ihm durchaus bei.
Tuganow ließ sich von Achilla über die Fortschritte der Arbeit Bericht erstatten und widersprach ihm weder, noch stritt er mit ihm. Er suchte den Recken durch das Denkmal bei Laune zu erhalten, wie man einem betrübten Kinde ein Spielzeug gibt.
Nach einer Woche war sowohl die Pyramide als auch die Inschrift fertig, und der Diakon kam zu Tuganow und bat[388] ihn, das Wunderwerk seiner schöpferischen Phantasie in Augenschein zu nehmen. Es erwies sich als furchtbar breite, etwas plattgedrückte Pyramide, mit einem Kreuz oben und je einem großen holzgeschnitzten, vergoldeten Cherub an den vier Ecken.
Tuganow betrachtete das Monument. »Das lebt!« sagte er, und der Diakon war beglückt. Die Pyramide wurde auseinandergenommen und ihre Teile auf neun Schlitten nach Stargorod geschafft. Auf dem zehnten Schlitten, der die Karawane beschloß, saß Achilla selbst, zusammengekauert, in einem speckigen Schafpelz zwischen den vier vergoldeten, in Matten gewickelten Cherubim. Er war immer noch ganz entzückt von der Herrlichkeit des Denkmals, aber in dieses Entzücken mischte sich eine gewisse Unruhe: er fürchtete, es könnte jemandem einfallen, an seiner Pyramide Kritik zu üben, an dieser einzigartigen Schöpfung seines Geistes und Geschmacks, dem Zeugnis seiner Ergebenheit und Liebe zu dem entschlafenen Sawelij. Um dem zu entgehen, beschloß Achilla, den Aufbau möglichst im geheimen zu bewerkstelligen. Als er daher Stargorod erreicht hatte, ging er nachts nur zu Zacharia und erzählte ihm von allen Schwierigkeiten, die er bei der Herstellung der Pyramide zu überwinden gehabt hatte.
Es gelang dem Diakon aber nicht, unbemerkt das Monument zusammenzustellen. Die auf den Schlitten lagernden Teile der Sawelij-Pyramide erregten gleich am nächsten Morgen allgemeines Aufsehen. Die sich scharenweise herandrängenden Städter interessierten sich besonders für die unter den Matten hervorblinkenden Arme und Flügel der vergoldeten Cherubim. Die Biederleute stritten heftig über die Frage, was das wohl für Engel sein mochten: silberne oder vergoldete.
»Silbern und vergoldet und von innen mit Brillanten gespickt,« erklärte Achilla und trieb die Mitbürger auseinander, die sich um die Arbeiter drängten.
Auch die feinen Herrschaften ärgerten den Diakon. Diese schienen ihm eigens zum hämischen Kritteln gekommen zu sein.
Der sonst so wenig selbstbewußte und ehrgeizige Achilla wurde in seiner wachsenden Reizbarkeit zuletzt ganz unerträglich. Er konnte kein Wort über Tuberozow mehr ruhig anhören. Sogar wenn man den Seligen lobte, geriet er in Wut: er fand all und jedes Lob unangebracht.
»Was gibt's denn da zu loben?« sagte er zu Benefaktow. »Ihr seid, nehmt mir's nicht übel, ein leichtsinniger Mensch, Vater Zacharia. Ihr redet von ihm, wie man von Milch redet, wenn man eine Kuh gesehen hat.«
»Habe ich denn etwas Schlechtes über ihn gesagt?«
»Man soll überhaupt nicht von ihm reden. Die Zeit ist nicht danach, über die Glaubensstarken zu streiten.«
Gegen andere war Achilla noch viel schroffer als gegen Benefaktow, und als nach und nach alle, durch seine Empfindlichkeit abgestoßen, ihn zu meiden anfingen, geriet er immer mehr unter die Herrschaft eines Gedankens: der Vergänglichkeit alles Irdischen und des Todes.
»Sagt was ihr wollt,« philosophierte er, »das ist auch keine Kleinigkeit, plötzlich so hinzusterben und dann Gott weiß wo an einem ganz andern Ort wieder zu sich kommen.«
»Darüber hast du noch Zeit genug nachzudenken,« tröstete ihn Zacharia, »du stirbst nicht so bald.«
»Woraus schließt Ihr das, Vater Zacharia?«
»Aus deinem Körperbau und … dann hast du solche Ohren … so feste …«
»Ja, was meine Statur und meine Ohren betrifft, so brauchte ich in hundert Jahren nicht zu sterben; man müßte[390] mich rein mit einem Knüppel totschlagen. Aber, wißt Ihr, das hängt doch auch von der Phantasie ab, und deswegen muß der Mensch auch daran denken.«
Und endlich verfiel der Diakon in eine ganz trübe Hypochondrie, die auch den andern nicht entging. Man fing an zu reden, daß er sich den Tod herbeirufe.
Der Propst Grazianskij besuchte den Diakon und machte ihm Vorwürfe wegen seines freiwilligen Exils; er sagte, es wäre unvernünftig, die Menschen zu fliehen; Achilla aber erwiderte ihm ruhig:
»Den Vernünftigen sucht Ihr jetzt vergebens. Er liegt im Grabe.«
Dem Arzt Pugowkin, den der Diakon einst beim Baden untergetaucht hatte und der trotzdem sein guter Freund geblieben war und jetzt zu ihm kam, ihn zu trösten und ihm einzureden, er sei krank und müsse sich ärztlich behandeln lassen, erwiderte Achilla:
»Du hast recht, mein Bester, alle meine Gedanken gehen durcheinander … Ich grübele – ich weiß selber nicht worüber … und immer quält mich … weißt du (Achilla zog die Brauen zusammen und schloß im Flüstertone) die Sehnsucht.«
»Nun ja, man nennt das erhöhte Sensibilität, Reizbarkeit.«
»Reizbarkeit, das ist es! Alles drückt mich. Weißt du, es ist, als ob ein Pfahl in meiner Brust stäke, und nachts sitze ich da und weiß lange nicht, weswegen ich mich quäle und weine.«
Da trat unerwartet ein Ereignis ein, das den Diakon aufrüttelte: der Tod des Zwerges Nikolai Afanasjewitsch. In seinem Testament hatte er verfügt, daß Vater Zacharia und Achilla ihm das letzte Geleit geben sollten, jedem von den beiden hatte er dafür fünf Rubel in bar, zwei Paar selbstgestrickte[391] Strümpfe und eine baumwollene Nachtmütze hinterlassen.
Als man vom Begräbnis nach Hause ging, schien der Diakon heiterer als sonst. Er scherzte sogar.
»Seht ihr wohl, meine Lieben, wie Er unsere Gemeinschaft auflöst?« sagte er, »einen nach dem andern holt Er sich: nun ist auch Nikolai Afanasjewitsch hin. Und dann kommt die Reihe an mich und Vater Zacharia.«
Achilla täuschte sich nicht. Als er Seinen Besuch erwartete, stand Er, der Milde und Unüberwindliche, schon hinter ihm und breitete seine kühlen Flügel über ihn.
Die Chronik muß eingehend über die letzten Taten des Recken Achilla berichten, denn diese Taten waren seiner durchaus würdig und gaben ihm die Möglichkeit, auf seine eigene, ganz besondere Weise die Fahrt nach dem jenseitigen Ufer des Lebensmeeres anzutreten.
Der Frühling kam und Stargorod erwachte zu neuem Leben. Der Fluß wollte die starre Eisdecke abwerfen, blies sich auf und wurde blau. Immer höher türmten sich an beiden Ufern die Berge von Getreidesäcken, und schon wurden die breiten Barken instand gesetzt.
Aus den Dörfern, die den Winter hindurch gehungert hatten, kamen täglich Scharen zerlumpter Bauern in Bastschuhen und weißen Filzkappen in die Stadt. Sie ließen sich als Schlepper dingen, gegen Bezahlung ihrer Steuern und Beköstigung, und waren glücklich, das Getreide, das ihnen daheim so mangelte, in entfernte Gegenden schaffen zu können. Selbstverständlich wurden nicht alle dieses Glückes teilhaftig. Das Angebot übertraf die Nachfrage ganz bedeutend. Und um die Überflüssigen kümmerte sich kein Mensch.
In einsamen und abgelegenen Gassen der Stadt begann sich, ohne sichtliche Veranlassung, allerlei Teufelsspuk zu zeigen. Ein solcher Teufel, in voller höllischer Ausrüstung, mit Hörnern und Klauen, überfiel nacheinander zwei Weiber, einen betrunkenen Schmied und einen völlig nüchternen Kanzlisten, der zu einem nächtlichen Stelldichein mit einer Kaufmannstochter pilgerte. Den Armen wurde alles abgenommen, was sie bei sich hatten, und später sagten sie aus, der Teufel, dessen Opfer sie geworden wären, hätte Stierhörner gehabt und Klauen ganz wie jene Eisenhaken, mit denen die Hafenarbeiter die Getreidesäcke auf die Barken zerren. Niemand wagte mehr nach Sonnenuntergang durch[393] die Stadt zu gehen; aber der Teufel trieb sein Unwesen ruhig weiter. Einmal wurde er von den Wachtposten gesehen, die vor dem Salzdepot und vor dem Gefängnis standen. Er hatte sogar die Unverschämtheit, näher als auf Schußweite an die Soldaten heranzukommen und sie mit kläglicher Stimme um ein Stückchen Brot zu bitten. Man sandte daher nachts Patrouillen aus; eine, vom Polizeichef, dem uns längst wohlbekannten tapfern Rittmeister Porochontzew, selbst geführt, begegnete dem Teufel tatsächlich und rief ihn sogar an. Als er aber darauf: »Gut Freund« erwiderte – bekamen die Leute Angst und rannten davon. Der Rittmeister, welcher glaubte, sich auf die Polizei nicht mehr verlassen zu können, wandte sich nun an den Hauptmann Powerdownia und bat um den Beistand seines Invalidenkommandos zur sofortigen Festnahme des die Stadt in so große Erregung versetzenden Teufels. Aber der Hauptmann wollte sich mit dem Höllenfürsten nicht einlassen, ohne vorher die Genehmigung seiner unmittelbaren Vorgesetzten eingeholt zu haben, und so spazierte der Teufel nach wie vor in der Stadt herum, und das Entsetzen der Bürgerschaft wuchs von Tag zu Tag. Endlich mischte sich der Propst Grazianskij hinein. Er wandte sich an das Volk mit einer Predigt über den Aberglauben und behauptete, Teufel, die den Leuten Mäntel und Kopftücher fortnehmen, gäbe es überhaupt nicht. Der nachts in der Stadt umgehende Teufel sei nichts weiter als ein fauler Taugenichts, welcher glaube, die Leute leichter um ihr Hab und Gut betrügen zu können, wenn er ihnen durch seine Teufelsmaske vorher einen gehörigen Schreck einjage. Diese Rede rief eine große Entrüstung hervor. Der Vorsteher der altgläubigen Gemeinde erklärte, das sei wieder einmal eine Ketzerei der neuen Kirche, und es gelang ihm ohne alle Mühe, ein paar Schäflein aus der Domherde für[394] seine Sekte zu gewinnen. Der Teufel aber nahm noch in anderer Weise Rache an dem ungläubigen Grazianskij. Am Tage, welcher seiner Predigt folgte, entdeckte man im Vorhause der Grazianskijschen Wohnung an der Decke die Spuren schmutziger Stiefel. Natürlich war alle Welt darüber erstaunt und entsetzt; denn wer kann mit dem Kopf nach unten an der Decke entlang laufen?! Man neigte daher zu der Ansicht, nur der Teufel könne es gewesen sein, und selbst der Propst war nicht imstande, seiner Frau dies auszureden. Allen seinen Ermahnungen zum Trotz wuchs die Hochachtung vor dem Teufel erst recht; kein Mensch wagte mehr, ihn zu erzürnen, aber auch niemand ging in der Dämmerung mehr aus.
Indessen, der Teufel hatte es doch zu toll getrieben und das bekam ihm schließlich übel. In den Straßen gab es für ihn schlechterdings nichts mehr zu erbeuten. Es begannen infolgedessen die Messingkreuze, die Heiligenbilderschreine und die Lämpchen auf dem Friedhofe zu verschwinden, wo der Vater Sawelij unter seiner Pyramide ruhte.
Die Stadt, durch die verschiedenen Teufelsstreiche in Schrecken versetzt, schrieb auch diese neue Schändlichkeit ohne weiteres demselben bösen Feinde zu.
Bei der Untersuchung des Schadens bemerkte man, daß auch das Denkmal des Vaters Sawelij gelitten hatte: das Kreuz und der vergoldete Knopf, welche die Pyramide krönten, waren mit Hilfe eines Brecheisens stark verbogen und gelockert, einer der vergoldeten Cherubim abgerissen, erbarmungslos mit dem Beil zerhackt und dann verächtlich weggeworfen, da er keinen nennenswerten Marktwert besaß.
Als Achilla davon Kenntnis erhielt, unterzog er das beschädigte Monument einer genauen Besichtigung und meinte:
»Und wenn du Beelzebub selber wärst, das wirst du mir büßen müssen.«
In der darauffolgenden Nacht, gegen elf Uhr, verließ der Diakon, ohne vorher jemandem etwas gesagt zu haben, leise das Haus und schlich sich nach dem Friedhof. Eine lange Stange und eine starke Hanfschlinge trug er in der Hand.
Niemand kam ihm in den Weg, niemand bemerkte ihn. Kurz vor halb zwölf erreichte er den Friedhof. Er betrachtete das Tor: es war geschlossen und klapperte leise, vom frischen Frühlingswind gerüttelt. Allem Anschein nach pflegte der Teufel nicht durch dieses Tor zu gehen, sondern nahm einen andern Weg.
Achilla trat zur Seite und stieß mit der Stange in den weichen Schnee, der den rund um den Friedhof gezogenen Graben füllte. Die Stange durchbohrte die dünne Eisschicht und drang etwa bis zur Hälfte ein. Der Graben war ungefähr zwei und eine halbe Arschin tief. Auf der gegenüberliegenden Seite bildete die abgegrabene Erde einen glitschigen, von außen leicht befrorenen Lehmwall.
Achilla stieß die Stange fester in den Boden, stützte sich auf sie, flog drachengleich empor und gelangte glücklich hinüber. Für die Stange, mit deren Hilfe er diesen gigantischen Sprung allein hatte ausführen können, erwies sich die Wucht seines massigen Leibes allerdings zu schwer: sie brach in demselben Augenblick, in dem die Sohlen des Diakons den Wall[396] berührten. Achilla kümmerte es nicht; er hoffte, auf dem Friedhof irgend etwas anderes zu finden, das ihm auf dem Rückwege denselben Dienst leisten könnte. Außerdem hatte ihn jenes Gefühl erfaßt, das sich nachts auf dem Friedhof unser so leicht bemächtigt. Nicht Furcht, sondern eine Art Spannung, bei der alle fünf Sinne erregt und scharf arbeiten. Achilla atmete tief auf, nahm das schwarze Tuchkäppchen vom Kopf, schüttelte die grau gewordenen Locken und sah mit Vergnügen, wie hell das silberne Licht des Mondes über den Gottesacker floß. Wehmut erfaßte ihn, und doch fühlte er sich zugleich so frisch, wie schon lange nicht; er gedachte der alten Zeiten und ihrer Kämpfe und sandte dem Monde einen scherzhaften Gruß hinauf:
»Guten Abend, Kosakensonne!«
Tiefe Stille ringsum! Ja, hier herrschte wirklich Frieden! …
Der Diakon ging zum Grabe Sawelijs, setzte sich auf den Hügel und lehnte sich mit dem Rücken gegen einen der Cherubim. Immer noch tiefe, durch nichts gestörte Stille, nur die Wolkenschatten zogen lautlos dahin. Neue und immer neue, ohne Ende.
Der Diakon wurde schläfrig. Er lehnte sich fester gegen die Pyramide und fiel in Halbschlaf. Nur für kurze Zeit; denn plötzlich schien es ihm, als stampfte jemand kräftig auf. Er öffnete die Augen: gleiche Stille ringsum, nur der Himmel hatte sein Aussehen verändert, der Mond war blasser geworden und längs der Pyramide lief ein einziger langer und breiter Schatten. Wolken ballten sich zusammen und die Luft wehte morgenkühl. Achilla erhob sich und wiederum hatte er die Empfindung, als wandele jemand auf dem Friedhof umher.
Der Diakon ging hinter die Pyramide. Niemand war zu sehen.
Nur eine frische Spur. Aber auch sie konnte von früher herstammen. Wie sollte man das unterscheiden, wenn der Schnee schon zum dünnen Brei geworden war, in den der Fuß riesige, fast formlose Gruben drückte? In der Stadt krähten die Hähne ihren Morgengruß. Nein, heute kommt der Teufel nicht mehr!
Achilla wandte sich langsam zu der Stelle, wo er über den Graben gesprungen war. Er fand sie ohne Schwierigkeit und griff ohne Bedenken nach der aus dem Graben emporragenden langen Stange, als er sich plötzlich erinnerte, daß sie gebrochen war! … Wo kam da die unversehrte Stange her?
»Sonderbar!« dachte der Diakon, und nachdem er sich überzeugt hatte, daß er sich nicht täusche, sondern tatsächlich aus dem Graben eine tadellose Stange hervorragte, machte er sich zum Sprung bereit, als sich von hinten plötzlich über seine Schultern hinweg zwei mächtige Tatzen auf seine Brust legten. Sie waren mit dicker, filziger schwarzer Wolle bekleidet und hatten gewaltige Eisenklauen.
Der Teufel!
Achilla knickte augenblicklich unter dem ihn niederdrückenden Teufel zusammen, packte ihn dann an den Pfoten und riß dieselben so kräftig, daß das Kinn des Teufels dröhnend gegen seinen Scheitel schlug und gleichsam daran kleben blieb. Der Teufel, der darauf nicht gefaßt gewesen war, fing verzweifelt an zu zappeln, sah aber die Vergeblichkeit seiner Bemühungen bald ein, wurde still und blieb nach einem dumpfen Seufzer auf dem Rücken des Diakons hängen. Es war ihm nicht nur unmöglich, sich loszureißen, sondern er vermochte sogar kein Wort herauszubringen, denn sein Kiefer war wie mit einer Presse gegen den Schädel Achillas gepreßt. Die einzige Bewegung, welche der böse Geist zu machen vermochte, war das Strampeln mit den Beinen. Diese Möglichkeit beutete er aber auch mit höllischer Lust und Arglist aus.
Achilla, der den Teufel ebenso leicht auf seinem Rücken hielt, wie ein gesunder Bauer eine Garbe Erbsenstroh, tat ein paar Schritte rückwärts, nahm einen Anlauf und sprang über den Graben. Der gewandte Teufel benutzte diesen Moment, seine Beine um die ausgespreizten des Diakons zu schlingen, gerade als sie beide jenseits des Grabens angelangt waren. Der so plötzlich in seiner Bewegung gehemmte Achilla verlor das Gleichgewicht und stürzte mit seiner Last in den mit kaltem, schneeigem Brei gefüllten Graben.
Beinahe hätte die furchtbare Kälte ihn veranlaßt, seine Hände zu öffnen und den Teufel loszulassen, doch überwand er sich und hielt nach anderen Rettungsmöglichkeiten Umschau. Doch schien es die nicht zu geben; die glatten Grabenwände bedeckte eine Eisschicht, so daß es unmöglich war, an ihnen emporzuklimmen, ohne sich der Hände zu bedienen. Dazu aber hätte Achilla den Teufel loslassen müssen und das wollte er durchaus nicht. Er versuchte zu schreien, doch niemand hörte ihn, und wenn ihn auch jemand gehört hätte, so würde er seine Tür nur noch fester verschlossen und gesagt haben: »Da hat der Teufel schon wieder einen am Wickel.«
Der Diakon begriff, daß er von der geängstigten Bevölkerung keine Hilfe zu erwarten habe. Trotzdem wollte er den Teufel nicht loslassen, und so hockten beide im Graben und froren. Sie waren fast völlig erstarrt und hätten vielleicht hier ihren Tod gefunden, wenn nicht ein Zufall ihnen zu Hilfe gekommen wäre.
Frühmorgens zog ein Spiritustransport nach der Stadt. Als er am Friedhof vorbeikam, bemerkten die Bauern im Graben eine seltsame Gruppe. Sie machten Halt, ergriffen aber entsetzt die Flucht, als sie das blaue Gesicht eines Mannes erkannten, über dem sich die gehörnte Teufelsfratze emporreckte. Der halberstarrte Achilla nahm seine letzte Kraft zusammen, rief die Leute zurück, befahl ihnen, auf den Teufel aufzupassen, zog die rechte Hand aus dem Graben heraus und bekreuzigte sich.
»Es ist ein Christenmensch, Kinder!« riefen die Bauern, zogen den Diakon und den Teufel heraus, steckten einen Strohhalm in das Spundloch eines der Fässer und setzten Achilla davor. Den Teufel aber warfen sie vorn auf den Schlitten und fuhren weiter zur Stadt.
Nachdem er etwas Spiritus eingesogen hatte, zuckte der Diakon zusammen und fiel der Länge nach auf den Schlitten. Er befand sich in einem entsetzlichen Zustande. Ganz durchnäßt und blau, wie ein Kessel, zitterte er so, daß er kaum atmen konnte. Der Teufel aber lag da wie ein Eiszapfen. So brachte man ihn in die Stadt, wo der Diakon das Fahrzeug vor dem Polizeiamt halten ließ.
Achilla hob den Teufel aus dem Schlitten, ließ ihn in die Kanzlei tragen und schickte nach dem Polizeichef. Er selbst ließ sich vom Polizeidiener ein trockenes Hemd und einen Soldatenmantel geben und legte sich auf das Sofa.
Trotz der frühen Stunde war bald die ganze Stadt von dem großen Ereignis unterrichtet, und eine dichte Menschenmenge wogte, wie Meereswellen um einen Felsen, um das Gebäude des Polizeiamtes, wo auch der Rittmeister Porochontzew seine Amtswohnung hatte. Trotz ihres Amtes und ihrer Würde gelang es den einflußreichsten Persönlichkeiten der Stadt, wie dem Propst Grazianskij, dem Vater Zacharia und dem Hauptmann Powerdownia, nur mit großer Mühe, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen, und auch nur deshalb, weil die Menge die Anwesenheit der Geistlichkeit bei der an dem Teufel vorzunehmenden Exekution für eine religiöse Notwendigkeit hielt. Dem Hauptmann Powerdownia aber kam sein Säbelgriff zugute, mit dem er kräftige Hiebe und Püffe nach rechts und nach links austeilte.
Während draußen die Menge sich drängte und lärmte, ging es im Hause nicht weniger erregt zu. Der Polizeichef, Rittmeister Porochontzew, kam in Barchentunterhosen und einer Flanelljacke in die Kanzlei gestürzt und sah tatsächlich den Teufel mit Hörnern und Klauen kläglich zusammengekauert am Boden hocken und ihm gegenüber auf dem Sofa, das sonst die Bittsteller einzunehmen pflegten, eine unförmliche zitternde Masse, bedeckt mit einem Soldatenmantel und zwei Schafpelzen: der Diakon.
Um den Teufel herum gruppierten sich in den verschiedensten Stellungen sämtliche Stargoroder Honoratioren, auf deren Gesichtern nichts von dem Grauen zu lesen war, das die Nähe des bösen Geistes ihnen von Rechts wegen hätte einflößen sollen. Jeder sah, daß dieser Teufel ein ganz jämmerliches Geschöpf war, welches vor Kälte bebte und schlecht und recht in die traurigen Reste eines Kosakenmantels aus haarigem Filz gewickelt war, den der Diakon Achilla einmal dem Kommissar Danilka geschenkt hatte, weil das Kleidungsstück zu nichts sonst zu gebrauchen war. Auf des Teufels Kopfe, den ein Fetzen desselben Mantels bedeckte, ragten zwei mit einem schmutzigen Bindfaden ungeschickt befestigte Kuhhörner empor, und an den Händen, die in ein paar Stückchen Schaffell gewickelt waren, baumelten zwei gewöhnliche Eisenhaken, wie man sie zum Aufwinden von[402] Getreidesäcken verwendet. Das merkwürdigste aber war, daß einer der Soldaten, als er mit der Hand unter den Anzug des Teufels griff, eine Schnur zu packen bekam, an der ein altes Messingkreuzchen mit der Aufschrift: »Es stehe Gott auf, daß seine Feinde zerstreuet werden« hing.
»Ich sagte doch, daß alles Betrug wäre,« bemerkte der Propst Grazianskij.
»Ja, ja, dem Kostüm nach ist es ein richtiger Teufel, aber das Kreuzlein läßt auf anderes schließen,« stimmte Zacharia ihm bei, trat auf das rätselhafte Geschöpf zu und fragte: »Hör mal, mein Lieber, wer bist du? He? Hörst du, was ich dir sage? … Lieber Freund! … Heda! … Hörst du? … Sprich doch! … Sonst gibt es Prügel! … So rede doch!«
Hier mischte sich der Polizeichef ein und fing selbst an, den Teufel auszufragen, aber ebenso erfolglos.
Der Teufel, der allmählich warm wurde und zu sich kam, rückte nur sachte hin und her und verkroch sich wie eine Schildkröte immer tiefer in seinen Mantel.
Von den verschiedenen Seiten wurden allerlei Meinungen darüber laut: was man jetzt mit diesem Teufel anfangen sollte. Der Polizeichef neigte zu der Ansicht, man müsse ihn, so wie er sei, zum Gouverneur schicken und berief sich dabei auf das alte Gesetz über Ungeheuer und Mißgeburten. Aber alle waren so neugierig, daß sie sich diesem Beschluß energisch widersetzten und die mannigfaltigsten Gründe anführten, um den Polizeichef zu überzeugen, daß der Dämon unbedingt sofort entlarvt werden müsse, um die allgemeine, brennende Neugier endlich zu stillen!
Zwei der Anwesenden nahmen an den Debatten keinen Anteil: der Bürgermeister und Vater Zacharia, denn beide waren in Spezialuntersuchungen vertieft. Der Bürgermeister schlich sich immer ganz leise an den Teufel heran,[403] bald von der einen, bald von der anderen Seite, machte das Zeichen des Kreuzes über ihn und sprang dann geschwind wieder zur Seite, um nicht mit dem Bösen gemeinsam in die Tiefe zu versinken. Zacharia aber riß ihn an den Hörnern und flüsterte ihm zu:
»Hör mal, mein Lieber, sag mir nur das eine: warst du es, der beim Vater Propst die Decke entlang gelaufen ist? Gesteh's und du bekommst keine Schläge.«
»Ich war's,« stöhnte der Teufel dumpf.
Diese ersten Worte des Dämons riefen unter den Anwesenden eine unerwartete Panik hervor, welche durch das wilde Geschrei des draußen stehenden Volkes noch verstärkt wurde. Die Menge hatte die Geduld verloren und drängte ins Haus mit der Forderung, der Teufel solle ihr ausgeliefert werden, wobei ganz laut der Verdacht geäußert wurde, die Polizei beabsichtige, sich vom Teufel »schmieren« zu lassen und ihn dann unbehelligt in sein höllisches Reich heimzusenden. Einige machten den Vorschlag, die Tür aufzubrechen und den Teufel mit Gewalt den Händen der gesetzlichen Obrigkeit zu entreißen. Dieser Drohung folgte ihre Verwirklichung auf dem Fuße, denn man schlug donnernd gegen die Türe. Jedoch der Rittmeister fand das richtige Gegenmittel. Er gab dem Revieraufseher ein Zeichen, worauf dieser sofort die Feuerspritze aus dem Schuppen zog, mit dem Schlauch auf den Zaun kletterte und einen Strahl eiskalten Wassers über die Menge ergoß. Hiermit war das Signal zu einem wilden Tohuwabohu gegeben. Die Menge fuhr zurück, schrie, pfiff, lachte, dann aber wurden die heiteren Gesichter plötzlich ganz ernst, die Leute bissen die Zähne zusammen und drängten von neuem vorwärts. Das kalte Sturzbad hatte seine Schrecken verloren, die Tür krachte, Steine flogen ins Fenster, der Aufseher wurde an den Beinen vom Zaun[404] heruntergerissen, die Menge bemächtigte sich der Spritze und besprengte nun den Aufseher vor den Augen seiner Vorgesetzten. Der Polizeichef und die Honoratioren stürzten in die innern Gemächer und schlossen die Türen hinter sich zu, der Hauptmann Powerdownia aber, der ihnen nicht so schnell hatte folgen können, rannte in der Kanzlei hin und her und schrie:
»Meine Herren! Keine Furcht! Gott mit uns! Wer Waffen hat … rettet euch!«
Sein Blick fiel auf den geöffneten Aktenschrank, er sprang geschwind hinein und schlug die Tür hinter sich zu, durch die zerschlagenen Fensterscheiben aber kamen immer mehr Steine geflogen, und der Teufel selbst schrie laut auf vor Entsetzen und Verzweiflung.
Der Augenblick war kritisch. Er harrte seines Helden, und dieser kam. Die Pelze, mit denen der von allen vergessene Diakon Achilla bedeckt war, gerieten in Bewegung, sie fielen zu Boden, und er selbst, barfuß, im kurzen und engen Soldatenhemd, stürzte auf das Wesen los, das man noch jüngst für den Teufel gehalten hatte, und begann es heftig zu schütteln.
»Zieh dich aus!« kommandierte er, »zieh dich aus und zeige, wer du bist, oder ich reiße dir das alles samt deinem eigenen Fell vom Leibe!«
Ein kurzer Moment – und der Teufel war verschwunden. An seiner Statt zeigte sich den erstaunten Augen des Diakons der frosterstarrte Kleinbürger Danilka.
Achilla riß ihn ans Fenster, steckte den Kopf durch die zerbrochene Scheibe hinaus und rief:
»Ruhe, ihr Schafsköpfe! Das ist Danilka, der sich als Teufel verkleidet hatte! Schaut her!«
Und der Diakon hob den blaugefrorenen Danilka in die Höhe und warf zu gleicher Zeit seine Teufelsausrüstung Stück für Stück auf die Straße hinab:
»Da habt ihr seine Klauen! Und seine Hörner! Und den übrigen Kram! Und jetzt paßt auf: ich will ihn verhören.«
Und der Diakon drehte den Danilka so herum, daß dieser ihm ins Gesicht sehen mußte, und fragte ihn mit ungeheuchelter Freundlichkeit:
»Warum hast du dich so scheußlich verkleidet, du Narr?«
»Vor Hunger,« flüsterte der Kleinbürger.
Achilla rief es dem Volke zu und fuhr dann mit seiner gewaltigen Donnerstimme fort:
»Und jetzt, ihr braven Christenleute, begebt euch nach Hause, denn wenn die hohe Obrigkeit wieder Mut faßt, läßt sie – was Gott verhüten möge – gleich schießen.«
Lachend ging das Volk auseinander.
Wirklich hatte die Obrigkeit »Mut« gefaßt, kam wieder aus ihrem Schlupfwinkel heraus und begann Ordnung zu stiften.
Der nasse und kaum noch schnaufende Danilka wurde in einen trockenen Arrestantenkittel gesteckt, und das peinliche Verhör begann. Er gestand, daß er, von Hunger und Frost geplagt, von allen wegen seines liederlichen Lebenswandels gemieden, lange Zeit obdachlos umhergeirrt sei, bis ihm der Gedanke gekommen sei, sich als Teufel zu verkleiden. Auf diese Weise habe er den Leuten bei Nacht Angst eingejagt, gemaust, was ihm irgendwie unter die Finger gekommen sei, es den Juden verschachert und davon gelebt. Achilla hörte aufmerksam zu. Als das Verhör beendet war, sah er immer noch Danilka an und bemerkte plötzlich, wie die Gestalt des Kommissars vor seinen Blicken sich bald ganz hoch emporhob, bald tief senkte. Achilla zwinkerte ein paarmal mit den Augen, denn ein neues Schauspiel begann: Danilka glänzte jetzt wie blankes Gold, dann wie weißes Silber, dann wieder schien er ganz in Flammen zu stehen, daß einem die Augen schmerzten, wenn man ihn betrachtete, dann erlosch er mit einemmal und war fort. Und er war doch da! Diesem kaleidoskopartigen Wechsel der Erscheinungen zu folgen war eine unerträgliche Marter; schloß man aber die Augen, so wurde es noch bunter und tat erst recht weh.
»Was ist das nur!« dachte der Diakon und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Dabei bemerkte er, daß seine Handfläche, wenn sie die Gesichtshaut berührte, knisterte und hängen blieb, wie wenn man mit Tuch über Flanell streicht. Dann war's ihm plötzlich, als liefe ein heißer Feuerstrom durch sein Blut, stoße gegen den Scheitel und beraube ihn des Gedächtnisses. Der Diakon wußte nicht mehr, warum er hier war, weshalb dieser Danilka da stand wie ein gerupftes Hühnchen und ungeniert erzählte, wie er den Leuten Angst machte, wie er sie sich durch allerlei Künste vom Leibe hielt und wie er unvermutet in die Gewalt des Vaters Diakon geriet.
»Nun erzähle mal,« fragte Zacharia wieder, »erzähle mal, mein Lieber, wie bist du beim Vater Propst mit dem Kopf nach unten die Decke entlang gelaufen?«
»Ganz einfach, Vater Zacharia,« antwortete Danilka. »Ich nahm meine Stiefel ab, steckte sie auf einen Stock und stieß sie dann mit den Sohlen gegen die Decke.«
»So laßt ihn doch endlich gehen, was quält ihr ihn immer noch,« sagte endlich Achilla.
Alle sahen ihn erstaunt an.
»Was redet Ihr da? Wie kann man einen Kirchenschänder ziehen lassen?« fiel ihm Grazianskij ins Wort.
»Ach was, Kirchenschänder! Der Mann hatte Hunger. Laßt ihn laufen um Christi willen.«
Grazianskij bemerkte, ohne Achilla anzusehen, sein Eintreten zugunsten des Verbrechers sei völlig unpassend.
»Warum denn? So ein armer Kerl … er hungerte doch … die Apostel rauften auch Ähren aus …«
»Wie kommt Ihr dazu?« sagte der Propst streng und drehte sich nach ihm um. »Ihr seid wohl gar Sozialist?«
»Was weiß ich von Sozialisten! Die heiligen Apostel, sag ich, gingen über Feld und rauften Ähren aus. Ihr städtischen Pfarrerssöhne wißt nichts davon, aber wir Subdiakonskinder vom Lande haben in der Schule auch manchmal Eßwaren gemaust. Nein, laßt ihn gehen um Christi willen, ich gebe ihn Euch ja doch nicht heraus.«
»Ihr habt wohl den Verstand verloren? Wie könnt Ihr Euch unterstehen?«
Diese letzten Worte schienen dem Diakon eine so unerhörte Kränkung, daß er feuerrot wurde, und seinen nassen Leibrock überwerfend, aufschrie:
»Ich geb' ihn Euch nicht heraus und damit Schluß! Er ist mein Gefangener und ich habe ein Recht auf ihn!«
Mit diesen Worten wankte der Diakon auf Danilka zu, stieß ihn zur Tür hinaus, packte mit beiden Händen die Türpfosten, um keinen Verfolger durchzulassen, und wollte noch etwas sagen, als er sich plötzlich immer größer und breiter werden, in feurigen Gluten aufgehen und verschwinden fühlte. Er schloß die Augen und fiel bewußtlos nieder.
Achillas Zustand war jener des seligen Vergessens, in den das Fieber den Menschen versetzt. Er vernahm die Worte, wie »Unfug«, »Protokoll«, »Schlag«, fühlte, daß man ihn berührte, umdrehte, aufhob, hörte das Flehen und Jammern des draußen wieder eingefangenen Danilka, aber er hörte das alles nur wie im Traum, und dann wuchs er wieder und dehnte sich unendlich weit und strömte süße Gluten aus und zerschmolz in der läuternden Flamme der Krankheit. Da kam es, das Ende des Lebens, der Tod!
Achillas »Tat« wurde zu Protokoll gebracht, wobei der alte Freund und Kamerad, Woin Porochontzew, sich die größte Mühe gab, das Benehmen des Diakons in möglichst harmlosem Lichte erscheinen zu lassen. Trotzdem wurde das[410] Dokument betitelt: »Von dem frechen Unfug, den der Domdiakon Achilla im Beisein der Stargoroder Polizeiverwaltung angestiftet.«
Der Rittmeister Porochontzew konnte nur das Wort »frech« ausstreichen, der Unfug Achillas aber wurde zum Gegenstand einer polizeilichen Akte, auf die früher oder später ein strenges Urteil erfolgen mußte.
Achilla wußte nichts von alledem: er glühte ruhig und sorglos weiter in den Flammen seiner Krankheit. Der Arzt hatte ihn ins Krankenhaus schaffen lassen und erklärt, es handle sich um eine sehr schwere Form von Typhus, die gleich mit Bewußtlosigkeit und hohem Fieber anfange und zu den schlimmsten Befürchtungen Veranlassung gebe.
Dem Rittmeister Porochontzew kam diese Äußerung des Arztes sehr gelegen. Er fragte sofort, ob man das Benehmen Achillas nicht durch seinen krankhaften Zustand erklären könne. Der Arzt war durchaus dieser Meinung. Achilla aber war schon fünf Tage ohne Bewußtsein und lebte immer noch in denselben unklaren, aber süßen Vorstellungen und in demselben Gefühl einer wohltuenden Hitze. Neben seinem Bette saß auf einem wackeligen Stühlchen der Vater Zacharia und hielt ein mit kaltem Wasser getränktes Handtuch dem Kranken auf die Stirn. Gegen Abend kamen noch ein paar Bekannte und der Arzt.
Der mit geschlossenen Augen daliegende Diakon hörte, wie der Arzt sagte, daß, wenn es jemandem um die Seele des Kranken zu tun sei, er den ersten lichten Augenblick wahrnehmen müsse, denn die Krisis nahe heran, von der nicht viel Gutes zu erwarten sei.
»Nehmt den Augenblick wahr,« sagte er, »der Puls ist schon ganz unzuverlässig.« Dann fing der Arzt mit Porochontzew[412] und den andern an zu reden, die es gar nicht begreifen konnten, daß Achilla im Sterben liege und noch dazu infolge einer Erkältung! Dieser Recke sollte sterben, und Danilka, der mit ihm im kalten Bade gesessen hatte, befand sich in seiner Gefängniszelle ganz wohl und munter. Der Arzt erklärte es dadurch, daß Achilla schon seit längerer Zeit angegriffen und leidend gewesen wäre.
»Ja, ja, Sie sprachen davon … erhöhte Sensibilität,« stammelte Zacharia.
»Eine merkwürdige Krankheit,« bemerkte Porochontzew. »Auch hier alles neu. Ich lebe nun schon so lange auf der Welt und habe noch nie von so einer Krankheit gehört.«
»Ja, ja, ja,« sagte Zacharia zustimmend, »die Lebensgewohnheiten verfeinern sich und die Krankheiten werden komplizierter.«
Der Diakon öffnete leise die Augen und flüsterte:
»Gebt mir zu trinken!«
Man reichte ihm einen Metallkrug, an den er seine flammenden Lippen preßte. Und während er das kühle Moosbeerengetränk gierig herunterschlang, musterte er die Umstehenden mit seinen entzündeten Augen.
»Nun, wie geht es unserer lieben Orgel?« fragte der Bürgermeister teilnehmend.
»Dumpf, dumpf,« antwortete der Diakon schwer atmend und fing nach einer Minute ganz unvermittelt in erzählendem Tone an: »Nach meinem Hündchen Wiesie – als die Post es überfahren hatte – wollte ich mir wieder eins zulegen … Da seh' ich in Petersburg auf dem Newskij einen Hundejungen … ›Verschaff mir‹, sagte ich … ›ein nettes Hündchen‹ … Da antwortete er: ›Heutzutag – gibt's keine Hunde mehr … Heutzutag gibt's nur noch Pointer und Setter,‹ sagte er … ›Was sind denn das für Viecher?[413]‹ fragte ich … ›Das‹ – sagte er – ›sind ebensolche Hunde, bloß nennt man sie anders.‹«
Der Diakon stockte.
»Wie kommt Ihr auf diese Geschichte?« fragte ihn der Arzt in freundlichem, aufmunterndem Tone, denn es schien ihm, als phantasierte der Kranke.
»Weil Sie vorhin von neuen Krankheiten redeten. Sie alle – man mag sie nennen, wie man will – laufen doch auf ein und dasselbe Ziel hinaus – auf den Tod.«
Hier verlor der Diakon von neuem das Bewußtsein und erwachte bis Mitternacht nicht mehr. Dann fing er plötzlich wieder zu phantasieren an:
»Arkebusier, Arkebusier … geh fort, Arkebusier!«
Bei dem letzten Wort sprang er auf und setzte sich, völlig wach, aufrecht im Bette hin.
»Du solltest beichten, Diakon«, sagte Zacharia.
»Ja, ja,« sagte Achilla, »nehmt meine Beichte entgegen … Schneller … ich will beichten, um nichts zu vergessen … In allem hab' ich gesündigt … Vergebt mir um Jesu Christi willen …« Und mit einem Seufzer fügte er hinzu:
»Schickt schnell nach dem Propst.«
Grazianskij erschien sogleich.
Achilla grüßte ihn von weitem mit den Augen, bat um seinen Segen und küßte ihm zweimal die Hand.
»Ich sterbe,« sagte er, »und ich wollte Euch um Vergebung bitten. Gegen alle Gebote hab' ich gesündigt.«
»Der Herr wird Euch vergeben,« antwortete Grazianskij.
»Ich war ja nicht bösen Willens … aber ich redete oft unverständlich.«
»Laßt doch … Ihr habt ein edles Herz.«
»Nein, nein, so sollt Ihr nicht reden,« unterbrach ihn der Diakon. »Ich tat nicht immer das, was ich sollte … und[414] zuletzt … zürnte ich wegen des Denkmals … Leere Phantasien: Himmel und Erde werden verbrennen und alles wird versinken … Was für ein Denkmal! Und alles meine Unvernunft!«
»Er ist schon weise,« flüsterte Zacharia, den Kopf senkend.
Der Diakon warf sich auf seinem Bette hin und her.
»Vergebt mir um Christi willen,« sagte er hastig, »und zwingt Euch nicht, hier zu bleiben. Mich packt die Krankheit schon wieder … Lebt wohl.«
Der gelehrte Propst segnete den Sterbenden, worauf Zacharia ihn hinausbegleitete. Als er in das Zimmer zurückkam, blieb er entsetzt auf der Schwelle stehen.
Achilla lag im Todeskampf und seine Agonie war ebenso verblüffend wie grauenerregend. Einige Sekunden war er ganz still, und wenn er genügend Luft eingesogen hatte, stieß er sie plötzlich mit einem langgedehnten »Hu–u–u–u« heraus; dabei fuchtelte er jedesmal mit den Armen in der Luft herum und richtete sich auf, als ob er sich von etwas befreie, etwas von sich werfe.
Zacharia stand wie erstarrt, und die schwachen Bretter der Bettstelle bogen sich und krachten immer stärker unter der Last des Sterbenden, und schauerlich bebte die Wand, durch die gleichsam die so lange gefesselt gewesene elementare Kraft sich einen Weg bahnen wollte.
»Geht es zu Ende?« erriet Zacharia plötzlich und stürzte zum Fenster nach dem dort liegenden Gebetbuche, aber in diesem Augenblick rief Achilla mit fest zusammengebissenen Zähnen:
»Wer bist du? Du mit dem Feuergesicht? Laß mich durch!«
Zacharia sah sich ängstlich um und machte ein verblüfftes Gesicht, denn kein feuriger Mann war zu sehen; aber in seiner Angst war es ihm vorgekommen, als hätte Achilla[415] sich von seinem eigenen Leibe gelöst und wäre hier in der Stube auf jemand gestoßen, mit dem er gerungen und den er dann überwunden hätte …
Der ängstliche Alte bebte am ganzen Leibe, schloß die Augen und lief hinaus. Einige Minuten später ertönte vom Turme der Domkirche das traurige Geläut der Totenglocke für den verstorbenen Diakon Achilla.
Die Chronik von Stargorod geht zu Ende, und ihr letzter Punkt soll der Nagel sein, der in den Sargdeckel des Vaters Zacharia geschlagen ward.
Der sanfte Greis überlebte Sawelij und Achilla nicht lange. Er lebte nur noch bis zum großen Fest des Frühjahrs, dem Ostersonntag, und entschlief ganz sacht während des Gottesdienstes.
Für die Klerisei von Stargorod kam eine Zeit völliger Erneuerung.
Weitere Anmerkungen zur Transkription
Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Die Darstellung der Ellipsen wurde vereinheitlicht.
Korrekturen:
S. 306: waren → wären
So, das wären sämtliche Neuigkeiten.