The Project Gutenberg eBook of Helianth. Band 1

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Title: Helianth. Band 1

Author: Albrecht Schaeffer

Release date: August 9, 2018 [eBook #57661]

Language: German

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*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK HELIANTH. BAND 1 ***

HELIANTH

Bilder
aus dem Leben
zweier Menschen von heute
und aus der norddeutschen Tiefebene
in neun Büchern dargestellt

von
Albrecht Schaeffer

Der drei Bände erster

Im Insel-Verlag zu Leipzig
1920

Widmung

In Lebens leichter Unbeständigkeit

Warst du der Sichre, der auch mich gefeit.

Und wie das Sternheer strahlt, auch unsichtbar

Am Tag: dein Bild mir dauernd’ Sternbild war.

So tritt vor dieses Werk auch hin im Geist,

Das nun zu Nachfahrn und Geschlechtern reist.

Ihr, teuren Namens Zeichen, flammt und seid

Gewähr und Bürgen seiner Dankbarkeit!

Kurt Albert Gerlach

Erstes Buch.
Hochsommertag
oder
Die Kinder

Glanz und ruhm! so erwacht unsre welt

Heldengleich bannen wir berg und belt

Jung und groß schaut der geist ohne vogt

Auf die flur auf die flut die umwogt.

STEFAN GEORGE

Erstes Kapitel

Wiese

Ununterbrochen feilten die Grillen.

Georg, zum Abgrunde des Sommers hinabgesunken, lag in der Tiefe des Grillenmeers. Über ihm hoch, in einer schönen Ewigkeit gab es einen Vormittag, Insel der Sonnenfriedlichkeit, und möglicherweise war es doch dort, wo sein Leichnam angenehm ruhte, in jenen farbigen, brodelnden Wiesen, von dem unzählbaren Zirpen des unsichtbaren Getiers dergestalt überfüllt, daß alles von ihm zitterte und schwoll wie von einer unsichtbaren, stampfenden Maschine, oder als brächten zehntausend Sonnenstrahlen an den geschliffenen Spitzen der Gräser dies Geräusch hervor, das fortebbte und erstarb und schon wieder von anderswo sich erhob und überschwoll und wieder hinsank und in Ewigkeit nicht verstummte — grün, grün, grün — und die flirrenden Stimmen. Georg bemerkte, den Kopf hebend, daß er allerdings inmitten jener Wieseninsel lag, sanft überflutet von Glut, und, geblendet vom Licht, gewahrte er durch die Spalte der Lider unendlich fern seine Beine und Füße in braunen Schnürstiefeln mit Messinghaken und Reitgamaschen, eine Art braunen Gebirges, umringt von bebenden Zitterhalmen und roten Sauerampferstauden wie von Zypressen und Kiefern, zu denen, klein vogelgleich, unablässig die roten Fliegen und Perlmutterfalter phantastisch heranflogen. Hummeln stimmten mit tiefem Geläut dazwischen. Unermeßlich fern und fein sang eine gedengelte Sense. Kühe, die in der Ewigkeit grasten, brüllten von dort herüber, selten nur und mit Seelenruhe. Die See hinterm Deich war nicht zu hören.

Helenenruh, dachte Georg, ach Helenenruh! Wenn ich nur wüßte, ob es auch so schön war, wie ich geboren wurde!

Er legte sich an die Seite und war an den Grund eines Urwalds geraten. Alle Halme, die Margeriten, Federnelken und Sauerampfer — Georg dachte: Auersampfe, träumerisch — waren zu einer sonnigen Lichtung geworden, wärmedurchrieselt, bebendes Gold in der Himmelsbläue. Er wälzte sich auf den Bauch herum und betrachtete die Stelle, wo sein Kopf das Gras plattgedrückt hatte. Eine Ameise arbeitete sich schwierig daraus hervor, kletterte, immer wieder einbrechend, aber nicht verzweifelnd, darüber hinweg und verschwand. Hinter dem Gräserwald stand der Himmel wie blaues Glas. Dahinter stiegen Käfer auf, schlugen einen Bogen, fielen, waren fort. Grillen schnellten wie abgebrannte Schwärmer in die Höhe, fielen, waren fort. Schön wärs, jetzt durch die blaue Glasscheibe zu greifen, die da ins Gras gestellt war — warum tat man sowas nur niemals? — die ja nicht zerbrechen würde, sondern im Gegenteil, sie würde ganz weich sein, ungefähr wie warme Luft, aber die Hand würde gänzlich blau dahinter aussehn. Jetzt wackelte ein Urwaldsbaum aufgeregt mit dem Wipfel; an seiner Wurzel arbeiteten mit Stricken und Äxten wild aussehende Kerle, mit Waffen bestarrt von oben bis unten, in befransten Leggins, mit Schlapphüten, unter denen sie Tücher um den Kopf gewickelt hatten; ihre Pferde knabberten in der Nähe, legten jeden Augenblick die Ohren zurück, hatten böse Augen und mißhandelte Mäuler von den pfundschweren Gebissen; ihre Sättel waren wie Kamelsättel, nämlich tief, unbeschreiblich tief im kanadischen Urwald. Oder brasilianischen. Oder wars vielleicht der Arkansas, der in der Nähe durch die Schnellen ging? Von Arkansas kam man nach Tennessee und so weiter durch die Staaten, die sich unerhört ausbreiteten. Wie das schon klang, wenn man sagte: Staaten ... Arkansas war auch ein fabelhaftes Wort, ebenso wie Rio de la Plata, — o grenzenlose, stille Wasserflächen! O Papageienschreie! Die Savanne, die Savanne ... Welch unsterblich kolumbische Worte, durch Ferne und Abenteuer zu strahlender Glasur gebrannt, Fayencen der Unsterblichkeit! Womöglich bezaubernder, als wenn man Tasso sagte. — Du siehst mich lächelnd an, Eleonore. — Wem es gelänge, einen solchen Anfang zu erfinden! Sieh, Ameise, da bist du ja! Ist es dir gelungen? Warum jetzt diese Sauerampferpappel ersteigen, Ameise? Indiana, das war auch so ein entzückendes Staatenwort. Emma — warum steht jetzt Emma ins Gras geschnitten, so groß, so fett, so ausdrucksvoll? Die Möwen sehn alle aus, als ob sie Emma hießen ... bewahre, das ist ja kein Grasboden, das ist ja tintig und löcherig, das ist das alte Klassenpult unter dem Bilde von Herkulanum. Ach, das wird nun wohl überhobelt sein, und die schön gemalte Tulpe Pilsener ist verschwunden, ebenfalls der unsterbliche Vers oben links in der Ecke unterm Lesevereinszirkel: Wer hier einschläft und nicht erwacht — Den hat der Daniel umgebracht. O Direx, o Daniel, o Gewesenheit! O wie schön sie nun dasteht, aufrecht und echt und dursterregend, die Tulpe Pilsener aus schönem Glase mit breitem Goldrand, zur obern Hälfte mit Schnee, zur untern mit klarem Honig gefüllt, und darunter, auf dem mit Zigarrenasche bestreuten Tischtuch —, — Georg las die mit Bleistift zierlich geschriebene Strophe Platens: Wer wüßte je das Leben recht zu fassen ...

Ja, wer wüßte je? O schwierige Fragen. Der Ernst des Lebens trat nun an einen heran. Man war ein Prinz, was hatte dies zu bedeuten, insbesondere? Wie gings weiter?: Wer hat die Hälfte nicht davon verloren ... Ja, ein Viertel war schon hin, zwölf bittre, griechische Jahre und noch sechs, dulde nur aus, mein Herz! „Im Spiel, im Fieber, im Gespräch mit Toren.“ Das kann stimmen, ach Gott, wie faul bin ich heute! Nur die Ameisen müssen immer arbeiten. Nun wieder hinunter den Auer... „In Liebesqual, in leerem Zeitverprassen ...“ Verprassen ist ein wunderbarer Ausdruck, das spritzt so! In Liebesqual ... in — — Liebes... was heißt das? — Wer hier einschläft und nicht ... Du siehst mich lächelnd an ...

Wieso ist auf einmal alles rot? Sonnenuntergang? Nein! O verschlafene Tage! O Grillengezirp! O vergessene Geschichtszahlen! Ah, jetzt wird es bunt, das kommt vom Schlafen, ich habe eine kleine halbe — hu — ah! — halbe Stunde geschlafen, da liefen Ameisen in mir hin und her, ich glaube, ich war ein ganzer Ameisberg, so warm und voll Geruch von Erde, Kiefernadeln und kleinen Läusen, die gemelkt werden, es dampfte, es kribbel— es kribbelt noch immer, da am Ohr, wo sie ein und aus laufen ...

Georg faßte nach seinem linken Ohr, bekam einen Grashalm zwischen die Finger, hörte das Lachen einer Göttin vom Zenit und wachte ganz auf.

Da saß sie! Bei Gott, da saß dieses Mädchen ganz stille bei ihm! — Er konnte mit tränenden, geblendeten Augen nichts wahrnehmen als einen riesigen, weißen Kleidflecken, auf dem rote und grüne Scheiben durcheinanderliefen. Sein Herz klopfte stark. Aufgerichtet, in seinen Hemdsärmeln dasitzend, juckte er sich die Schultern, indem er das Hemd darauf hin und her schob, gähnte riesig und dachte: Was zuckte ich eben? Ich bin gezuckt, weil sie gekommen ist, weil sie nach mir gesucht hat, weil sie ... Er gähnte noch einmal, um möglichst gleichgültig zu erscheinen, und bemerkte, er sei so schlaftrunken. Da er keine Antwort bekam, sagte er nach einer Weile: „Weißt du, Anna, wie mir zumut ist? Als wär ich soeben geboren worden. Als hätt ich hier tausendundachtzehn Jahre im Grillengezirp geschlafen, bloß die letzten zehn habe ich einen schönen Unsinn geträumt. Weißt du, es giebt ein Bild, du wirst es nicht kennen, es ist von — von Philipp Otto Runge und heißt: Der Morgen. Ein kleines Kind liegt in einem Rübenfeld und streckt die Arme nach oben. So — Gott bin ich müde! — so komm ich mir auch vor!“

Während er sich in einem endlosen Gähnkrampf zusammenkrümmte, sah er doch das zarte Lächeln in den Fältchen ihrer Augenwinkel, dazu die roten Hitzeflecken über den fast brauenlosen Augenbuckeln, hörte sie auch etwas sagen von seinem Gesicht, das wie eine Rübe aussähe, die ein bißchen Wasser ausschwitzte, wo die Augen säßen, und es klebte eine Mücke auf seiner linken Backe.

„Mücken“, sagte er, „sind gut.“ Und dann dachte er, indem er sie sitzen sah, auf der Seite nach weiblicher Art und mit angezogenen Füßen: Kleines, weißes Mädchen! Kleines gesticktes Mädchen von siebenzehn! Du lieber Gott, was kleine braune Schuhe! Und diese herrliche Stickerei, die das halbe Kleid bedeckt! Und dieser weißliche Flaum auf den Armen, die schon braun werden! Und diese großen, braunen Eleonorenaugen! Und die breite, schöne Stirn! Und diese Biegung des großen Florentinerhuts, und wie das Gesicht darunter im Schatten ist, und überhaupt alles! — Zärtlichkeit zog sein Herz zusammen, ringsum waren die Wiesen, rote Sümpfe von Sauerampfer, Gefilde weißer Sternblumen, und darüber dies unablässige Geschwirre, auf und ab Fliegen und Schnellen und Schweben von Flügeln, eine ungeheure Bewegung, und doch so still ...

Wieder lag er auf dem Rücken, starrte in die blendende Bläue, blinzelte und dehnte sich innerlich, daß die Knochen knackten. Er hörte einen trocknen Zweig taktmäßig gegen seine linke Gamasche schlagen. Die Grillen feilten. Die Hummeln summten. In einer eigentümlichen Ängstlichkeit bemüht, fortzukommen, war er wieder dabei, sich einen Weg quer durch die Staaten zu bahnen, die Rifle in der Linken, das Bowiemesser in der Rechten, den Tasso in der Revolvertasche (Reclam).

Plötzlich wagte ers und fragte, woher sie käme. Spazieren, sagte sie. Ob sie ihn gesucht hätte. Gefunden, sagte sie. Und so redeten sie vielleicht noch viele Worte, bis er kühn wurde und mit Herzklopfen sagte: „Ich weiß jetzt! Du warst eine kleine Wolke, die vom Dent de la Neige heruntergeflogen kam. Hast du wohl die himmlischen Kühe gesehn und die Engel, die blaues Gras mähten?“

„O Georg,“ sagte sie vorwurfsvoll, „darum bist du auch in Mathematik durchgefallen. Schäm dich was! Ein Prinz und durchfallen!“

„Wenn er doch nie regieren braucht!“

„Wie hast du das bloß angestellt?“

„Angestellt? Der alte Kaffer fragte nach geometrischen Reihen, aber Fischer hatte mir gesagt — wir wurden an zwei Tagen geprüft, in zwei Gruppen, weißt du —, die hätte er am ersten Tage gefragt gehabt, und deshalb hatte ich bloß noch schnell die Formeln für die arithmetischen Reihen übergelernt, und da sagte ich die her. Da setzte er mir eine halbe Stunde auseinander, das wären die arithmetischen und nicht die geometrischen, und was ich denn nun davon wüßte. Mehr nicht, sagte ich, und da fragte er Dieckmann, und da war ich durchgefallen, und das war vorauszusehn. Es war sehr bequem.“

Da saß sie und dachte. Was denkt so ein Mädchen, wenn es auf seiner glatten Stirn mühselig eine kummervolle Falte erzeugt? Halb ist ihr Kleid Tülldurchbruch — wie kann man eigentlich sowas anziehn, wie muß das wohl sein? — und die Bluse ist halb Tülldurchbruch — und halb ist sie gar nicht; man kann sie in die Westentasche stecken, wie warm sie sein muß! — Da wurde ihm innerst heiß, unter der Sonnengluthaut, und er dachte unbestimmt Zärtliches. Wenn ich nur wüßte, was sie jetzt denkt, dachte er.

„Georg, woran denkst du jetzt?“ fragte sie.

Ach, sie hatte an gar nichts gedacht! — Er sagte, er hätte gedacht, was sie jetzt dächte. „O, muß man immer denken?“ antwortete sie seelenvoll.

„Wie wars denn nun“, fragte er, „an der Adria? Erzähle mal! Erzähle aus Genf, aus Venedig! Warum seid ihr nicht bis Griechenland gekommen, ich hätte euch alles gezeigt. Griechenland ist viel schöner. Sag, hast du in Innsbruck auch immer morgens, wenn du auf die Straße kamst, gedacht, es wäre schlecht Wetter, und dann warens die grauen Berge, und man mußte sich den Kopf ausrenken, um den Himmel oben zu sehn? Berge sind so scheußlich ...“ Er ließ nachdenklich den Kopf zur Brust hängen, die Hände links und rechts neben sich ins Gras gestützt. — Wie spät es sei ... Er merkte, daß sie schon zum zweitenmal fragte, zog, ohne die zugefallnen Augen zu öffnen, die Uhr an ihrem Lederriemchen aus der Westentasche und hielt ihr die glatte Seite hin, die er für das Zifferblatt hielt.

„Halb elf,“ hörte er sie ganz fern sagen, „komm frühstücken!“

Georg nahm sich zusammen und hatte das bedrohliche Gefühl, daß auf einmal Zeit da war. Halb elf, unweigerlich. Etwas hörte auf.

Er erhob sich umständlich, nahm die Jacke aus dem Grase, die dalag wie ein schlafender Jagdhund, zog sie an, stülpte den Panama auf, klopfte die Hose ab und stampfte mit dem rechten Fuß, daß etwas braune Erde vom Spornrade fiel. Dann gingen sie über die Fenne, vor sich die riesig aussehende, majestätische Wand des Wäldchens, zerklüftete und durchrissene Wipfel, über ein Knicktor, wieder über eine Fenne, durchs Gatter, und waren, von plötzlichem Brombeeraroma umwogt, in der dunklen, schattigen Eichenallee, in deren entfernter, runder Öffnung lichtes Grün, oben ein wenig Blau und dazwischen Weißes war vom Haus. Waren hindurch und gingen über die ganz grüne, geschorene Wiesenfläche gerade auf die Terrasse los, die glitzernd weiß zur linken Hälfte, zur rechten dunkelgrau, vom Schatten des Südflügels bedeckt, mit Brüstungen und großen, grauen, von rotem Geranium oder gelbroter Kapuzinerkresse überwucherten Steinurnen vor dem blendendweißen Hause mit seinen weit vorgreifenden Flügeln, den grünen Läden, schwarzen Dächern und zwei Türmchen lag, an dessen einem die goldnen Uhrzeiger blitzten. Ach, in dem wundervollen Grasboden unhörbar, das war eine Wonne zu gehn, so schläfrig, hier und da stolpernd, in den heißen Hosentaschen die glühenden Hände, den Kopf gegen die Sonne gesenkt, durch halbgeschlossene Lider auf die braunen Stiefel hinuntersehend, die sich da unten sonderbar selbständig vor und zurück bewegten, und links die kleineren braunen Füße, die — — ach, es war zu schön!

Auf den Beetstreifen unterhalb der Terrasse blühten die Stockrosen vielfarbig, und oben saß Papa unterm rot und weiß gestreiften Leinenschirm am Tisch hinter der Brüstung zeitunglesend. Aus der Glastür trat der Diener, eine Figur aus undurchsichtigem blauen Glase, der gedrehte Flügel entsandte einen scharfen Goldblitz, er setzte einen funkelnden Silberkorb und Gläser auf den Tisch, und plötzlich ergraute alles und losch aus und schien verkleinert — oben hatte eine kleine Wolke sich vor die Sonne gestellt. Seltsam sachlich und wirklich erschien von rechts her auf dem Weg unter der Terrasse ein Unbekannter in einem grauen Anzug, blieb einen Augenblick vor einem Stock weißrosiger Rosen — Capitaine Christy? — stehn, ging sachte weiter, die zweimal vier Stufen hinauf, und wurde vom Herzog mit liebenswürdigem Eifer begrüßt. Georg dachte: Wer ist das? — Das Mädchen fragte dasselbe. Da waren sie angelangt.

Terrasse

Anna Magdalena ging um den Tisch zu dem wie immer sitzenden Herzog, der sie auf die Stirn küßte und nach den Träumen der ersten Nacht wieder im Vaterhause fragte (doch gab es keine bestimmten, bloß ein Erröten) und dann ihr und Georg den Fremden vorstellte, nämlich den Maler Benvenuto Bogner, dessen Bild oben im Klaviersaal Georg kenne. „Er erweist uns die Ehre seines Besuches und hat auch einen Freund mitgebracht, der aber leider krank ist.“

„Ach, das schöne Bild mit dem (sonderbaren wollte er sagen) Vers darunter!“ sagte Georg erfreut, während er eine feste Hand zu fassen bekam und in ein ziemlich langes, bartloses Gesicht mit fast unsichtbaren hellen kleinen Augen in sehr großen Höhlen blickte.

Alsbald saßen sie um den runden Tisch und frühstückten Spiegeleier und allerlei Köstliches. Der Herzog erinnerte den Maler an ihr erstes Zusammentreffen in Paris, das war bald fünfzehn Jahre her.

„Ja, sieh, mein Sohn,“ sagte er, „sieh dir diesen wohlwollenden Mann an. Damals war das ein Bursch wie du, verschlossen, boshaft, mager wie ein Hering, in seiner Dachkammer gedörrt, die mit den greulichsten Bildstücken angefüllt war, und er wie ein ertappter Lustmörder mitten drin sah aus, als ob er vor Hunger und Gewissensbissen umfallen wollte. Und er verkaufte nichts, keinen —“

„Hat Papa Sie damals schon eingeladen?“ redete Georg vergnügt dazwischen. „Na, Sie haben sich Zeit genommen!“

Der Maler, sacht mitlächelnd, meinte, nein, er sei vielmehr gekommen, um das Bild mit dem — er machte genau Georgs eigne Pause vor dem Wort — Vers abzumalen. Georg wollte überlegen, wie aus dem Lustmörder dieser findige und vornehme Mensch geworden sein mochte, hörte seinen Vater sagen: „Iß, Kleines, du ißt ja wie’n Vogel!“ und sah sie langsam an. Sie blickte, mit dem Rücken zur Hauswand sitzend, über die Brüstung und sagte: „Da kommt Papa,“ rot werdend. Jenseit des Rasenovals erschien im lichtgrünen Loch des Eichenwäldchens ganz klein das weiße Pferd mit dem Verwalter, kam rasch näher, sich vergrößernd, umtrabte den Rasenplatz nach rechts hin. Der Maler hatte sich umgedreht. „Der große Chalybäus,“ bemerkte der Herzog halblaut wie zu sich selber und fügte hinzu: „mein Verwalter.“ Der war jetzt auf dem Seitenweg hinter Bäumen und Gebüsch verschwunden, tauchte wieder auf in einer Lücke, grad vor der Tür des halbverborgenen Verwalterhauses und stieg ab. Der Stallbursche war da und führte den Schimmel weg, aus der Haustür kam ein Herr die Stufen herunter, begrüßte sich mit dem Riesen, dem er kaum zur Brust reichte, und verschwand wieder. Bald darauf erschien die gewaltige Gestalt auf dem Wege unter der Terrasse, über deren Brüstung das schiefe grüne Hütlein eben entlang schwebte, und wie er nun im langen Rock und Stulpstiefeln die Treppe heraufkam, wurde er immer größer, so daß selbst Georg wieder erstaunte. Ungeheuerlich über den Sitzenden ragend, lüpfte er hoch oben das verschossene Hütlein von der hohen Stirn und den grauweißen Schläfenbüscheln, dem auf ihn zutretenden Maler die Hand reichend.

Ob er auch Besuch bekommen habe, erkundigte sich der Herzog, als er neben seiner Tochter saß. Chalybäus, den dicken Schnurrbart mit beiden Händen windend und drehend, daß die Spitze der schön gebogenen Nase sich krümmte, lächelnd und nach allen Seiten blitzend mit Zähnen und blauen Augen, bejahte mit herrlicher Tenorstimme, begrüßte zunächst Georg in homerischer Sprache, weil der in Griechenland gewesen sei, im Lande der Hellenen, vergaß völlig die Frage des Herzogs, die in Magdas ängstlich unbestimmtem Blick brannte, und stürzte sich mit Feuereifer in seinen Bericht über den Morgenritt, den Stand irgendwelcher Feldarbeit und betrunkene Polen. Es hörte wohl niemand zu.

Georg träumte. Kleine Wolken wie Schmetterlinge, weiß und mit wunderbar leichten Schatten, tauchten über den Eichenwipfeln auf. Er sah wieder die Grasebenen und die Linie des Deiches, leer, wehend, blumenreich. Er ging drüberhin, in der Ferne war etwas Weißes, Io vermutlich, die jungfräuliche Kuh; er ging ungezählte Sommermittagsstunden darauf zu, es war Anna, sie saß im Grase und ließ blutrote Spinnen, wie Punkte klein, über ihre Hände laufen, die sie drehte, als wände sie einen Kranz. Plötzlich war ihr Kleid über und über bedeckt mit roten Punkten, die durcheinanderwimmelten wie ein Firmament, und sie sang leise: Spinn am Mittag, Glück am dritten Tag ... unaufhörlich die gleichen Worte. Es wehte über die Wiesen, es wehte; warm, zitternd kam die Luft, Heugeruch war darin, ferne ging die Stimme des großen Chalybäus sonor auf und nieder, zehntausend rote Spinnen wimmelten über das Mädchen hinweg, o Gott, wie heiß es war! Deutlich hörte er ihren Vater sagen: „Kinematograph ...“

Georg kam zu sich, begann zuzuhören und faßte den Maler ins Auge, der ihm gegenüber Honig aus der Porzellandose schöpfte und auf Semmel fließen ließ, indem er den Hornlöffel drehte. Er gefiel Georg überaus. Das Gesicht war graubraun, weniger hager als fest; die Knochenränder der großen Augenhöhlen waren unter der Haut erkennbar — so wie bei manchen Affen, ja, und auch dies Traurige wie bei ihnen war zwischen den Brauen manchmal. Die ernste Nase, das Kinn, der schmale Mund mit einer scharf gegrabenen Falte links und rechts, wie war all das ruhig und geschlichtet — geschlichtet ja, und das gescheitelte Haar war völlig grau gesprenkelt, so daß er an Vierzig schien, aber vor fünfzehn Jahren hatte Papa gesagt, war er so alt wie ich ... Georg dachte, er habe noch nie einen so stillen Menschen gesehn, geschweige einen, der zugleich so vielwissend aussah, ja so — kostbar innerlich.

Der große Chalybäus erzählte tönend von seinem Besuch, einem Bekannten von „old times“, einem Schauspieler, der jetzt für den Film mime.

„Alte Erinnerungen,“ sagte er, „fünfzig Erinnerungen, die schleppt so ein Mensch in seinen Taschen daher und merkts nicht. Auch ich war ein Mime im lockigen Haar,“ sagte er. „Er zieht sie mit dem Schnupftuch heraus, daß sie wie eine Mottenwolke aufflattern, er schneuzt sich in sie, er schenkt sie in sein Glas, er verschenkt sie gra—ties! Er braucht sie nicht, ein Mensch, der lebt, was braucht der Erinnerungen, ich aber muß danach schnappen, ich lebe nicht, ich zehre, ich habe meine Zeit versäumt.“

„Wieso?“ fragte der Herzog.

„O Durchlaucht dürfen nicht glauben, daß ich je Ihre Güte zu unterschätzen vermöchte! Ja, ich lebe auch hier, habe Amt, nehme Anteil an tausend Dingen, aber — der hat nie auf den Brettern gestanden, der sie jemals vergessen konnte, wie der Matrose seinen breiten Gang beibehält — ah Durchlaucht, jene Bretter sind schwankender als die einer Brigg, die sich im Seegang um Kap Horn herumwirft.“ Der große Chalybäus war wundervoll im Fahrwasser. „Ich bin zu spät geboren, Durchlauchten!“ sagte er pompös.

Georg fragte: „Wieso?“

„Durchlaucht, Sie kennen mein Unglück. Ich verlor meine Stimme.“ Er räusperte sich, dankbar lächelnd mehrmals mit dem Kopf nickend, da er Georg ungläubig dreinblicken sah. „Ah Durchlaucht, Sie hören mich reden und bezweifeln meine Worte. Dies sind beschämende Überbleibsel. Einst hätten Sie mich hören sollen, einst, als ich Tasso spielte, Tasso! und den göttlichen Posa. Ich darf mich ja nun rühmen, des Verlorenen darf man sich rühmen, und meine Stimme war ein Donner, Georg, ein Donner! Ach, was ist sie jetzt! Aber hören Sie, was ich sagen wollte — ich war auch ein Mime. Mitterwurzer sah ich in der Loge sitzen und weinen, wenn ich seine Rollen spielte, aber was half mir diese Gabe, als die Stimme brach! Jetzt könnte ich sie verwenden, jetzt spielt man ohne Worte, Herr Herzog, jetzt hat man den Kinematographen. Ich aber bin alt geworden ...“

Magda, wie früher auch in Verlegenheit bei den väterlichen Rodomontaden, stand sacht auf, flüsterte Georg zu, daß sie ihr Reitkleid anziehn und die Pferde bestellen wolle, und entlief, die Terrasse hinunter. Ihr Vater unterbrach sich, sah ihr träumerisch nach, murmelte: „Wie eine Elfe!“ und fuhr fort:

Le théatre est mort, vive le cinéma! Man spielt nicht mehr zwischen pappenen Kulissen, kaschierten Möbeln, flatternden Türen, gemalten Bäumen und vor dem Souffleurkasten, sondern draußen in der herrlichen Gottesnatur! Die Anforderungen der Phantasie wurden ungeheure und sublime —“

Der Herzog fand und forderte den Maler zur Beistimmung auf, die Phantasie sei ein unseliger Greis geworden, den man zur Lust reizen müsse wie den König von Münster weiland.

Dies wollte der Chalybäus dahingestellt sein lassen, die Hauptsache bleibe: Alles muß echt sein. „Wirklich muß es sein, freie Natur, echter, windiger Wald, natürliche Zimmer und Pferde, vor allem Pferde. Ach, wer möchte nicht einmal drei Millionen Schimmel sehn! Die ganze Welt, sehn Sie her, ist zur Bühne geworden, Entfernungen? Wie? Der Raum schrumpft, der D-Zug bringt den Schauspieler an jeden verlangten Ort, Hotelvestibüle wechseln mit Ozeandampferpromenadendecks, Hafeneinfahrten, Freiheitsstatue und Spreewaldlandschaften. Das Büro eines Rechtsanwalts verwandelt sich, schneller als ich die Hand umdrehe, in diese Terrasse, diese Treppen hinunter treten wir in ein Warenhaus, Segelschiffe ziehn übers Meer, durch den Tubus eines Leuchtturmwächters gesehn, der Spielsaal von Monte-Carlo, Zypressen, Vesuv, das Zimmer einer Kokotte, Karlshorst vor den Tribünen, die Kulissen eines Va— — also die Steepler fliegen vorüber, alles, alles fliegt, saust, verwandelt sich, reißt ab, setzt meilenfern an und ist in atemlosem Endspurt vorbeigerast, abgewickelt, siebenhundert Meter Film in zehn Minuten — es muß eine Lust sein, darin zu leben!“

„Und das Ganze ist denn wie an die Wand gepißt,“ sagte der Herzog mit Nachdruck, fügte jedoch begütigend hinzu, daß er Chalybäus ja gern entbinde; er wolle ihn nicht hindern zu leben. —

Georg schien sein Vater, wie stets, wallensteinischer auszusehn bei einer derartigen Bewegung oder musketiermäßiger, mit dem beweglichen, starken schwarzen Bartzapfen am scharf rasierten Kinn, und er betrachtete gegen das des Malers dies bärtige Gesicht, die kupfrige Haut, die über den schrecklich gesträubten Schnurrbart hängende schiefe Nase, jenes Wahrzeichen der Trassenberge, das er selber entbehren mußte, die kleinen, seltsam glühenden und durchdringenden Augen und das breit und schräge Dach der Stirn; kugelrund der ganze Schädel und voll von Haar, schwarzem, glanzlosem. Beim Maler — freilich — schien alles Innere vor langer Zeit stille geworden, um sich nur zu rühren, wenn er es wünschte; beim Vater schien alles gebändigt, dabei sich wehrend, immerfort bereit, sich frei zu machen. Das war der Unterschied.

Der große Chalybäus fuhr derweil fort:

„Sehnsucht, Durchlaucht, ist besser als Erfüllung. Ich bin zu alt geworden. Bedenken Durchlaucht die Anforderungen an den Körper bei solcher Bühne. Zwar bin ich Offizier gewesen, Beuglenburger Dragoner, Herr Bogner, aber das interessiert Sie nicht, und ich habe unter den Augen von — — nun, was ich sagen wollte, da erzählt mir mein Freund, wie er in einem Drama „Der Mann mit der eisernen Maske“ (l’homme au masque de fer!) — mehrere Kilometer weit durch die Trassenheide hat reiten müssen, und zwar reiten: in einer schweren eisernen Plattenrüstung, mit geschlossenem Visier, rückwärts und mit auf den Rücken gefesselten Händen aufs Pferd gebun—“

„Verdammt kompliziert!“ meinte der Herzog und sah zu Georg auf, der sich erhob.

„Ich möchte zu Mama gehn,“ sagte er halb fragend, „sie ist doch schon aufgestanden?“

„Geh nur — ihr wollt reiten?“ fragte sein Vater, allwissend wie immer. „Ich möchte dich eine halbe Stunde vor dem Essen auf meinem Zimmer sprechen, richtet euch bitte danach ein.“

Er nickte ihm zu; Georg grüßte den Maler und ging ins Haus.

Saal

Georg durchschritt den Vogelsaal, stieg die breit und frei sich wendende Treppe empor und betrat den Klaviersaal, dessen vier Fenster nach dem Park weit offen standen, und es war wie im Freien. Nach rechts sich wendend, sah er gleich überm hellbraunen Harmonium das große, farbig leuchtende Gemälde, trat davor und las wieder den, auf eine Messingplatte im untern Rahmen gravierten Zweizeiler:

Liebe vergeht, doch es bleibt, was der Liebende schuf, das Geliebte.

Nichts ist der Mensch, doch das Werk, Götter vollbrachtens durch ihn.

Die Tiefe des breiten Bildes, fast die ganze linke Hälfte, war mit Landschaft erfüllt, entfernter, tief liegender Landschaft: sanft fallenden Wiesen, einem Hain, dem Stück eines blauen Flusses am Grunde, in der Ferne bläulichen Hügeln, von violetten Bergrücken überhöht, all dies gelbgrünlich im hellsten Sonnendunst verschwimmend und gläsern. Schräg über das Bild, diese Landschaft abschneidend, zog sich der obere Teil einer Balustrade von gelbem Marmor, neben der, auf einer lehnenlosen Bank von gleichem Stein, nahezu lebensgroß scheinend, ein Mädchen saß, in der rechten Bildhälfte, den einen Arm auf der breiten Platte der Brüstung. Ihr Antlitz lag, scheinbar aus dem Hinabschaun über die Schulter in die Gegend, flach nach oben gewandt, das Haupt tief im Nacken, die Züge fast unkenntlich durch die Verkürzung. Das, wonach sie zu sehn schien, war selber nicht sichtbar, aber sein Schatten, der eines Schmetterlings, lag bläulich und deutlich umrissen dicht vor ihrer Hand auf dem Stein. Ihr Gewand nahm das leichte Violettblau der Berge mit tieferem, röterem Ton wieder auf, durchsichtig, indem alle Stellen, die am Körper fest anlagen, rötlich schimmerten, und das alles, ohne Schwarz gemalt, glühte durchscheinend in blendender Hellfarbigkeit, wie von innen erleuchtet.

Keinen Zusammenhang zwischen Bild und Vers bekam Georg heraus. Leise angeweht von der allgemeinen Stille des Gemalten und dem unendlich in sich gekehrten Zauber des Augenblicks — so flüchtig und doch, als könne sie durch Jahrhunderte so sitzen — sah er irgendwo das fremde und bedeutende Gesicht des Malers, über welcher Erscheinung er sich nun genötigt sah, nach einer Jahreszahl zu spähn. In der rechten Bildecke entdeckte er sie neben einem kleinen roten Rad in roten Ziffern, doch war die letzte leider unleserlich, es schien 1897, und nun mußte er lächeln, wie klein er noch gewesen war, als das Bild gemalt wurde, worauf er sich losriß und augenblicks mit dem üblichen Herzklopfen zur nächsten, offen stehenden Türe ging, dann weiterhin durch die geöffneten Zimmer bis ins letzte, das dämmrig lag bei geschlossenen Vorhängen. Dahinter wars, das schwarze Zimmer, der Turm ... Er schauderte, zauderte leicht, nahm sich zusammen, trat zur verschlossenen Tür, klopfte an, öffnete, trat, sich schmal machend, durch den Spalt und schloß hinter sich.

Die Finsternis, in der er stand, traf ihn fast eisig nach der heißen Luft vorher, er blickte hastig nach oben, um ein Raumgefühl zu erlangen, sah den dünnen Lichtfaden weißlich aus der Laterne des Turms herabrinnen, hörte den großen Ventilator summen und gleich darauf die leise gleitenden Schritte seiner Mutter. Nun glaubte er auch ihren Schatten, schwarz in der Schwärze des Raumes, zu sehn, der wie eine Berghöhle tief und unterirdisch war. Der Schatten glitt näher, dort mußte die Wand sein, der Schein eines weißen Gesichts dämmerte, schwand plötzlich, und der Schatten glitt fort. Er hörte den Hauch eines Seufzers, der Schatten kam wieder und hielt nach einer Weile in seiner Nähe an. Georg drückte seine Stimme herunter:

„Wie geht es, Mutter?“

„Danke, schon besser“, antwortete sie kaum hörbar; dann fragte sie:

„Was giebt es Neues, mein Junge?“

„Es ist Besuch gekommen. Der Maler des Bildes im Klaviersaal, Bogner. Vater läßt es dir sagen, und ob du ihn heut abend sehn könntest.“

„Ich hoffe. Ist es ein angenehmer Mensch?“

„Sehr, Mama. Er spricht nicht viel, aber sein Schweigen scheint so klug und bedeutend. — Es ist sehr warm heut. Magda und ich wollen etwas reiten.“

„Heiße den Maler auch von mir willkommen. Ja, ich denke, ich werde heut abend mit euch essen können. Wie geht es Papa?“

„Gut, Mama, wie immer. Vielleicht giebt es auch ein Gewitter, das wäre doch schön für dich.“

„So, ein Gewitter? Ja, das wäre mir sehr gut. Nun, grüß Vater, mein Junge! Und Magda. Geh, mein Junge.“

Der Schatten war dicht an ihn herangekommen, auf einmal sehr groß und ganz weißlich; er ergriff eine eiskalte Hand, die aus der Dämmerung kam, küßte sie schaudernd, als wäre es eine Pflanze, und tastete sich nach der Tür. Er wartete wegen des einfallenden Lichts, bis der bleiche Schatten ganz fern von ihm war, öffnete die Tür, schlüpfte durch die Spalte und schloß sofort hinter sich wie vorhin. Draußen starrte er geblendet gegen das Lichtviereck der gegenüberliegenden Tür, in dem er nach einiger Zeit einen vergoldeten Sessel, dann unten den roten Zipfel eines Teppichs und oben ein Stück eines unkenntlichen Bildnisses erkannte, und nun ging er weiter bis vor die Saaltür, ohne Gefühl und Gedanken, wie betäubt, wie entronnen.

Langsam tröstete ihn der friedliche Anblick der drei, vor der drüben liegenden Schmalseite des Saales stehenden braunen Tafelklaviere, die sich still verhielten wie gute Tiere, und nun erst, da er dachte, daß eines von ihnen ein Geschenk des „flötespielenden Königs“ war, wie seine Mutter ihn einmal genannt hatte, tauchte aus allem Unbestimmten und Verworrenen des Gefühls sie selber und wirklich wieder auf, er fühlte sie an seiner Hand, fühlte den Druck ihres ewigen, wütenden Kopfschmerzes auf der Stirn und trat hastig von der Tür zurück ans offne Fenster. Wie warm es nur war! Er beugte sich hinaus.

Weit links saß sein Vater unter dem Sonnenschirm, seinen Stoß Zeitungen auf dem Stuhl neben sich, selber verborgen hinter der papiernen Wand vom „Manchester Guardian“, und nicht weit von ihm saß jetzt allein, den Rücken zur Hauswand, Doktor Birnbaum, Onkel Salomon, und frühstückte. Georg konnte die rechte, im Kauen auf- und niedergehende Hälfte des hängenden braunen Schnurrbarts sehn, darüber die nicht minder hängende, stark gebogene Nase, die rote, feste Wange und die eine der kräftigen, hochgezogenen Brauen. Er hatte sein Glas Milch vor sich stehn, schnitt auf dem Teller eine schinkenbelegte Brotscheibe in Streifen und Würfel und steckte sie in den Mund.

Ach, dachte Georg, nun tief bekümmert, meine Eltern, meine armen Eltern! Da sitzt nun Papa wie ein Riese, braun wie ein Seefahrer, und nach einer Weile wird Egloffstein mit den Stöcken kommen, und auf vier stelzendürren Beinen wird er weghumpeln, aber — aber selbst dann ist er wie ein Meermann auf dem Lande, der seinen Fischschwanz hinter sich herschleppen muß, ja, so ist es, als gäbe es ein andres Element, in dem er sich frei und herrscherlich ... und es giebt das ja auch, er hat seinen Geist, aber da in ihrem Turm hinter vermauerten Fenstern läuft meine Mutter in ihrer Finsternis auf und ab, von brennendem Feuer im Kopf gejagt, tagaus tagein, und jahraus jahrein, sie kann nicht einmal denken, vielleicht abends eine Stunde. Vater ist so gelehrt und klug, er erfindet sich Flügel für die zerschmetterten Füße, aber meine Mutter, sie hatte doch auch einmal eine schön fliegende Seele, oder ist sie noch da, ist sie wirklich noch da? — Schamvoll den Gedanken zerdrückend, meinte er: Vielleicht fliegt sie um mich, wo ich bin, und trägt, wenn ich schlafe, meine Träume zu den vollkommenen Sternen.

Unten wurde gesprochen. Georg setzte sich auf die Fensterbank, den Rücken rechts gegen den Rahmen lehnend, doch konnte er von drunten nichts verstehn, da Onkel Sal von ihm abgewandt sprach. Langsam drang die Wärme wieder ganz in ihn ein, er dachte, hier zu warten, bis Anna und die Pferde kämen, und nun hörte er plötzlich, während der obere Zipfel der Zeitung langsam sank und dahinter das bärtige Gesicht seines Vaters, ruhig mit ein wenig ironischem Blick auf den Sekretär gerichtet, zum Vorschein kam, ihn sagen:

„Wenn es sich wirklich um politische Dinge dabei handelte. Sie sehen ja nur die Anlässe, Bester. Die Gründe aber sind schon beinahe metaphysisch.“

Wovon redet er denn? dachte Georg. Onkel Sals Antwort blieb unverständlich, seines Vaters Gesicht verschwand wieder hinter der Zeitung, und da er so weiterredete, war wieder nichts zu verstehn. Übrigens genügte die Sonne, und Georg ließ langsam die Lider sinken. Fern, aber deutlich hörte er die Stimme seines Vaters wieder:

„Es handelt sich um das Recht der Jugend, das ist das Ganze. Frankreich ließ sich von Camille Desmoulins und den andern leider enthaupten ...“

„Napoleon —“, hörte Georg von der andern Stimme.

„Napoleon war kein Franzose,“ tönte deutlicher die Stimme des Herzogs, „war ein italienischer Abkomme von Condottieres und überdies eine jener Gestalten —“ Georg entging das Nächste, er versank tiefer in Wohlsein, Magdas Gestalt erschien ihm.

„Aber das Recht, wo ist denn das Recht?“ schrie Onkel Sal. „No — nun sagen Sie mir ...“

„Was für ein Recht meinen Sie? Das, zu sein — aus dem sich als nächstes ergiebt: vor und über den andern zu sein. Jenes Recht, das — ich weiß nicht, ob es moralisch ist, aber das jedenfalls den Römern bei Cannä, den Griechen bei Marathon, den Ungarn vor Wien und den Preußen bei Gravelotte half.“

Sie sprechen vom Kriege, dachte Georg im Halbschlaf, neunzehnhundertund... es ist zu komisch! Halt, was sagte Onkel Salomon? No, sagte er, er sagte immer no.

„No — und das bestreite ich eben!“ Die Stimme kreischte etwas wie schlecht geölt. „Sind wir denn keine christliche Nation?“

„Das sind sie alle,“ versetzte der Herzog auflachend, „was wollen Sie daraus beweisen?“ Außerdem ist er Jude, der gute Onkel, dachte Georg schläfrig, aber was hat er für eine christliche Seele!

Eine Weile schien alles still, lange Zeit sprach jemand mit unterdrückter Stimme. Georg wars, als ginge eine Tür, er fuhr plötzlich auf, da seines Vaters Stimme unten ganz laut ertönte:

„Für jeden Alternden kommt einmal der Augenblick der großen Schlacht. Der Augenblick, wo er angreifen muß, wenn der wirkliche Angreifer, der Junge, auch zögert. Auch England ist in merkwürdiger Geschwindigkeit gealtert und liegt jetzt — ich habe immer diese etwas groteske Vorstellung, mit einer Fußspitze auf England, mit der andern auf Ägypten, mit einer Hand auf Indien, mit der andern auf Australien, und so ist es, nur damit beschäftigt, sich in dieser scheußlichen Lage zu halten, fett geworden, aber dies beiläufig, denn wenn es aufsteht, wird es immer noch einen fürchterlichen Kerl abgeben, wenn wir einmal dran glauben müssen, und das werden wir. Aus welchen Ursachen und wer dann angreift, ist so gleichgültig wie — na wie unser Gerede darüber. Die andern sind die Alten, Jugend ist Angriff eo ipso, drehen Sies —.“ Ein dumpfer Hundelaut blaffte, Georg riß die Augen auf, es flimmerte alles, er rieb heftig die Lider und sah endlich Magda im schwarzen Reitrock und weißer Bluse über den Treppenstufen stehn und, eine Semmel in der Hand bröckelnd, Krumen über die Stufen streuen, auf denen zwei schillernde Tauben und ein paar Spatzen auf und ab hüpften. Unten lief der weiße Pfau hin und her, suchte, was für ihn herunterkam, und vergaß keinen Augenblick Anmut und die zierliche Würde von Kopf und Schleppe, dieweil neben Doktor Birnbaum Benedikt stand, der hellrote Hühnerhund, mit schiefer, erwartungsvoller Kopfhaltung, ganz still, nur das Ende der gebogenen Rute ging leise hin und her, und Georg wußte, daß Onkel Sal von Qualen zerrissen war, weil er doch selber auch was essen mußte. Überdem zog die Erinnerung an seine Mutter schattenhaft schwermütig durch Georgs Herz, er dachte wieder: Helenenruh, ach Helenenruh! — und die Zeit stand ihm still.

Plötzlich drehte Anna sich um, ließ die Blicke suchend über die Hauswand gleiten und nickte herauf, sonderbarerweise aber nicht nach ihm, sondern nach einem Fenster weiter links. Georg stand auf, trat in den Saal hinein, und da sah er hinter dem Vorhang des letzten Fensters ein Stück von einem Menschen, Bein und Knie, und da wars Maler Bogner, der friedfertig auf der Fensterbank saß und eine kleine Pfeife rauchte, als wäre er zu Hause. Nun sah er Georg still, ein wenig fremd, an und begann langsam und auf unbeschreibliche Weise mit den Augen zu lächeln. Georg trat zu ihm und sagte verlegen ein paar entzückte Worte über das Bild, die der Maler nicht zu hören schien. — Ob es hier Kühe gäbe, fragte er, und ob es erlaubt sei, sie sich anzusehn. Georg versicherte, es wimmle von Kühen überall und der Maler müßte sich hier wie zu Hause fühlen. Schon im Forteilen, denn er hörte die Pferde, wurde ihm das Unpassende seiner Zusammenstellung klar, er wurde rot, suchte eine Entschuldigung, fand keine, glaubte, noch etwas sagen zu müssen, und fragte:

„Wo sind Sie daheim, wenn ich fragen darf?“

„Das ist auch verkehrt,“ versetzte der Maler freundlich, „ich bin nirgend daheim.“

Georg, dunkler errötend, fühlte sich wider Willen in eine neue Frage verstrickt:

„Aber Ihre Eltern, wenn ich fragen darf, leben doch noch?“

Bogner versetzte, daß er es hoffe. Dies gab Georg den Rest, er glühte, fand kaum die Tür und rannte die Treppe hinunter.

Als er die Terrasse wieder betrat, saß die Anna schon auf ihrem kleinen, hellbraunen Pferde. Ihr Vater ging um den großen, schwarzbraunen Hunter des Prinzen, zog am Sattelriemen und beschimpfte den Stallburschen, der statt Vorderzeug Matingal aufgelegt hatte, ob er, Chalybäus, vielleicht nebenher laufen solle, um den Sattel festzuhalten, ob er, Stallbursch, immer noch nicht wisse, daß das Aas von Unkas den Sattel auf die Hinterhand schöbe. Der Bursche sah wie eine Geraniumblüte aus, starrte betäubt Magda an, wagte es aber, als Georg aufstieg und er sich an den rechten Bügel hängen mußte, zu flüstern daß am Vorderzeug eine Schnalle durchgerostet sei.

Georg nickte ihm zu. Am Frühstückstisch war niemand mehr. Sie trabten nach Westen in den Park hinein. Der Sattel fing an zu rutschen.

Zweites Kapitel

Deich

Georg, innerlich mit ihm selber kaum bewußten Dingen verworren beschäftigt, schwieg lange Zeit, lachte endlich leicht auf und sagte:

„Weißt du, was mir einfällt? Einmal war Onkel Salomon auf einer Dienstreise in Altenrepen, besuchte mich und brachte mich ein Stück Weges zur Schule. Da kaufte er in einem Zigarrenladen eine besondere Sorte, so ganz große, du kennst sie ja, sein einziger Luxus, und wie er aus der Tür kam, hatte ich inzwischen irgendwen von den Jungens getroffen, drei oder vier, ich weiß nicht mehr, der lange Fischbeck war dabei, und schon gab er jedem dreie von seinen Kostbaren, eine einzige behielt er in der Westentasche. Und erinnerst du dich, wie Papa mal erzählte, wieviel Existenzen er schon mit seinem bißchen Gelde gegründet hat, Leute, die jetzt Warenhäuser besitzen, und er bleibt der unbekannte, kleine Sekretär, freilich, er wird mit keinem Großsiegelbewahrer tauschen wollen — Großsiegelbewahrer ist doch ein enormes Wort, nicht? Aber — was ich sagen wollte — da redeten sie eben vom nächsten Krieg zusammen, und Papa behauptete unchristlich, es gäbe morgen wieder einen, er aber war fürchterlich dagegen, sagte: No! und sprach von christlichen Nationen. Ich glaube, wenns einen richtigen Christen giebt, dann ist ers. Aber wo sind wir denn eigentlich?“

Die Pferde standen still auf dem schmalen Fußweg am Weiher, der leuchtend grün von Wasserpflanzen in der Sonne lag.

„Wohin wolltest du denn?“ fragte Anna gleichmütig.

„In den Schatten“, sagte Georg, drehte sein Pferd um, und antrabend ritten sie zurück, bogen nach links und traten alsbald in die schattige Eichenallee neben dem Wäldchen ein, zur Linken die Wiesenflächen, zur Rechten das undurchdringliche Dickicht von Unterholz, Farnen und Brombeergestrüpp, aus dem hier und da der lichtgrüne fedrige Wipfel einer Eberesche und die seltenen, riesigen und grauen Säulen der Eichen aufragten. Lautlos gingen die Pferde, so langsam sie konnten, auf dem weichen Erdboden. Georg, jetzt sehr wach, blinzelte insgeheim nach links, allein Annas zartes Profil schien sehr für sich allein. Sie sah vor sich hin. Angenehm beklommen war ihm um die Brust.

„Übrigens“, sagte er, „ein merkwürdiger Mensch dieser Maler.“

„Wieso?“

„Oben im Saal sprach ich mit ihm. Ob seine Eltern noch leben, weiß er nicht. Wo er zu Haus ist, weiß er nicht. Ob er wohl weiß, was die Verse unter seinem Bilde bedeuten? Warum kommt er auf einmal her und wills abmalen?“

„Davon hat dein Papa etwas erzählt. Als er vor drei oder vier — nein, es war in dem Winter, wo ich Lungenentzündung hatte, also neunzehn— na egal! — Drei Jahre müssens her sein, da wurde in Berlin der Nachlaß von einem Bankier Oster — Österheld oder so versteigert, und dein Papa fand dies Bild darunter. Als er dann wieder auf Trassenberg war, bekam er einen Brief von Bogner; er wäre zur Zeit der Auktion nicht in Berlin gewesen, sonst würde er selber das Bild zurückerworben haben, woran ihm aus gewissen Gründen besonders viel —“

„Na, deine gewissen Gründe!“ höhnte Georg. „Weißt du nichts Genaueres? Natürlich gewisse Gründe!“

„Dein Vater weiß auch nicht mehr.“

„Na, und denn?“

„In dem Brief erinnerte er deinen Vater an seine alte Einladung —“

„Also doch, der Schurke!“

„— und bat um Erlaubnis, das Bild kopieren zu dürfen. Dein Vater schrieb ihm dann, das Bild wäre hier, und er möge nur kommen, er ist aber nicht gekommen und hat heute morgen erst aus Böhne plötzlich telegraphiert, er habe auf der Durchreise mit einem kranken Freunde Aufenthalt in Böhne nehmen müssen, und ob er wohl kommen dürfe. Und da hat der Herzog zurücktelegraphiert, er schickte einen Wagen, und den Freund solle er mitbringen. Domina hat ihn übrigens gesehn und sich vor ihm gegrugt, ich weiß nicht warum.“

Wieder standen die Pferde, fünf Schritt vor ihnen lag das Gatter. Georg faltete die Hände vor sich auf dem Sattel und sah über die Weideflächen hin, die, von ihren Knicks durchzogen, nach links und rechts flach sich ausdehnend, gegen Norden — den Deich, das Meer — langsam anstiegen, und dort, mit der schnurgeraden Linie des Deichs, schien die Welt ein für allemal zu Ende. Überall waren die weißen und schwarzen Flecken der Rinder; Wolkenschatten wimmelten in sachter Schwebe darüber hin; links, fern im Süden, wo der Deich tief ins Land hineingebogen schien, stand der Schattenriß eines Fohlens einen Augenblick auf der Horizontlinie und sprang wieder hinunter; ziegelrot leuchtete das Dach des Fohlenhofs, auf den Himmelsrand gesetzt, in der Sonne. Georg atmete auf. O wie fern das war! O wie weit! Norddeutsche Tiefebene, dachte er mit einem sondren Gefühl von Sehnsucht, obwohl er mitten darin war. Er sah, nach Osten blickend, die Windmühle als unbewegliches, schwarzes Kreuz auf Lüdersens Deich; dann merkte er, wie aus dem unsichtbaren Meer die Wolken stiegen; weiß und schattig, immer fetter schwellend, zogen sie schweigsam, ungedrängt sich verschiebend, wie weidende Herden über die himmlischen Auen; auf den untern Weiden ihre leichten Schatten; davon leuchteten streckenweis die Wiesen sonnengelb; es wehte über den Norddeich, unablässig, schwellend, singend; sonst wars still, der letzte Vogelruf des Jahrs schon verstummt.

Georg zuckte zusammen. Anna mit ihrem Pferde schwebte im Sprung über das Gatter hoch in der Luft, landete, und nach zwei, drei Sätzen hielt sie drüben still und blickte ernsthaft herüber. Unkas stampfte, schien als geübter Springer den Abstand zum Ansprung weit genug zu befinden und sprang. Noch wurde der Sattel vom Matingal gehalten. Als sie dann Schritt vor Schritt schweigsam über die Wiesen und den Deich hinanritten, die Pferde die hangenden Köpfe schaukelten, zuweilen, das Kinn vorstreckend, an den Zügeln ruckten, nur die Gebisse leise klirrten, wurde die Beklemmung um Georgs Brust enger und süßer.

Da lag die See, herzbewegend immer wieder durch ihre plötzliche Erscheinung, glatt, graublau mit silbrigen Streifen. Unten leckten winzige Wellen gegen den gemauerten Fuß des Deichs, die letzten, halbtoten Seesterne behutsam fortnehmend. Der Horizont war nah. Vor Georgs Augen nahm die Bewegung der mächtig hochquellenden Wolken an Heftigkeit und Gewalt zu; fast bescheiden in seiner Friedfertigkeit verhielt sich der Meeresspiegel darunter. Unerschöpflich wogte es aus der Tiefe, schwankte, entformte, wandelte, löste und verteilte sich langsam und unaufhörlich, ein Segel erschien plötzlich, ein riesiger Arm. Fern hinten und leise nur sangen die unermüdlichen Grillen.

Die Pferde waren bis an den Rand des Deichs herangetreten, senkten die Häupter und machten lange Hälse, um Gras zu rupfen. Georg stieg ab, half Anna aus dem Sattel, drängte die Pferde zurück und warf sich, die Zügelriemen in der linken Hand, am Deichrande nieder; als er zu dem Mädchen aufblickte, setzte sie sich — erschreckend folgsam, mußte er denken, und da er sie nun still, mit vergrößerten Augen über die See gegen das Gewölk blicken sah, stieg ihm ein sonderbares Angstgefühl in die Kehle, — fast daß er fror. Dann störte ihn das Klappen der Gebisse zwischen den Zähnen der fressenden Pferde, er sprang unwirsch auf, riß ihnen die Kopfzeuge herunter und merkte zu spät, daß er dem Unkas wegen des am Sattelgurt hängenden Matingals nun auch den Sattel abnehmen mußte. Als er fertig war, hatte seine Angst zugenommen, und das Mädchen lag der Länge nach auf dem Rücken, die Hände unterm Kopf, die Augen geschlossen. Er setzte sich neben sie und fing eilfertig an zu reden.

„Hast du gehört, Anna, daß sie vom Krieg sprachen? Es giebt natürlich keinen, aber mir ist etwas Merkwürdiges eingefallen. Höre, kannst du dir etwas unter — deutschem Geist vorstellen?“

Eine Weile verging; plötzlich lagen da ihre Augen ganz groß offen im zarten Gesicht, den Blick weit von ihm fort gegen den Himmel gerichtet, so daß sein Auge unwillkürlich dort hinging, doch war da nichts. Er hörte sie leise: „ja“ sagen, sammelte seine Gedanken und fuhr fort:

„So — sieh mal —, so gab es einst einen hellenischen Geist, der — aber erst weiter —, und einen römischen, jenen, der unsrer Welt die bürgerlichen Staatsbegriffe und Gesetze gab, und einen Geist des Humanismus, der schon eine Art Europa war, einen französischen Geist und einen englischen, den Kaufmannsgeist und der äußeren Gesittung, und nun — ja, was wollte ich sagen?“ Auf den rechten Arm gestützt, auf der Seite neben ihr, fast über ihr liegend, fuhr er eifriger fort: „Ja, also an dem hellenischen Geist war das Sonderbare, daß er allein von den andern, abgesehen vom Humanismus, am stärksten dann glühte, als keine äußere Macht mit ihm verbunden war, nämlich unter der Herrschaft Roms.“ Eine ganze Gedankenkette hastig überspringend, schloß er: „Ob mit ihm der deutsche Geist das gemein haben soll, daß er die Welt von innen beherrschen wird? Vater sagte so etwas wie, daß Deutschland an der Reihe wäre, und deshalb dachte er an den Krieg, aber — ob es wirklich nicht ohne das ginge? Im Prometheus, in unserm Leseverein, weißt du, hatten wir mal eine schöne Streiterei darüber, nach einem Vortrag von mir über ein neues europäisches Reich deutschen Geistes, so wie „Römisches Reich Deutscher Nation“ weißt du, und ich erinnre mich noch —“ Er verstummte. Sie lag geschlossenen Auges nach wie vor. Hörte sie zu? „Ich rede von Europa“, sagte er nach einem langen Schweigen kühl und innerst gekränkt.

Langsam ging ihr linker Fuß in die Höhe und senkte sich wieder; sie bewegte den Kopf und sagte endlich sanft und abgeneigt:

„Ach, Georg, was geht mich Europa an!“

Das Verlangen, sich über sie zu legen und sie zu küssen, überfiel ihn so, daß sein aufgestützter Arm heftig zitterte, allein gleichzeitig mit diesem machte ein andrer, schon seit langem erfundener Drang sich bemerkbar, und diesem, schien es, mußte durchaus und unabweislich nachgegeben werden, allein — es war peinlich. Georg legte sich hintenüber ins Gras, jedoch da war nichts zu wollen, er stand auf, und nach einer Weile schlenderte er davon, am Deichrand hin.

Wieder kehrte die Brustbeklemmung, doch erschien ihm nun plötzlich das Klassenzimmer an jenem beklommensten aller Wintermorgen, am Examenstag, grau, kalt, düster, passend für Leichenbegängnisse. Diese blassen, krampfhaften Gesichter, diese Unruhe, dies innerliche Zerspringenwollen, und warum wird geflüstert? Und keiner hält es nur eine Minute am selben Platz aus, sie wandern alle umher, sitzen, stehn, sehn aus dem Fenster, und zwischen alldem sitzt auf dem Katheder Barkhausen über hundert Notizenzetteln aus allen Fächern, den Kopf zwischen den Fäusten und lernt und murmelt und sieht auf, die Lippen bewegend, verglast und verloren wie ein Delinquent ...

Georg wandte sich zurück. Von Anna war nichts zu sehn als ein kleiner, weißer Fleck, sie mußte noch immer liegen — aber er hielt es doch für besser, die schräge Mauerwand ein Stück hinabzuklettern; um Halt zu haben, mußte er die linke Hand aufgestützt lassen und die Fußspitzen in die Ritzen der Quadern stellen, als in welcher verfluchten Stellung er denn tat, was zu tun war, dieweil er immerfort unsinnig dachte: Nil humanum, nil humanum ... Unterweil erblickte er unten am Mauerfuß einen angeklebten großen Seestern, der noch einen Zacken bewegte, zögerte und stieg großherzig und behutsam zu ihm in die Tiefe, machte ihn, der sich noch anklammerte, los und schleuderte ihn kräftig in die Flut. Dann sprang er auch das letzte Stück auf den Streifen wasserfreien Sandes hinunter und schlenderte langsam zurück. Bruchstücke von Erinnerungsbildern, andre Wintermorgen schwammen zuckend durch sein Gedächtnis, er sah das Gaslicht im Klassenzimmer, das in die Augen brannte, die Bankreihen, die verschlafenen, gedankenlosen, verheimlicht grinsenden, roten Gesichter, er hörte die Stille und die entsetzliche Eintönigkeit der Stimme, die an der Übersetzung herumnagt, und an den Wänden die alten Bilder! Das graugrüne Amphitheater von Verona bei Mondschein mit dem schattenwerfenden Einsamen in der Mitte, die olympischen Gipsbüsten, ganz schwarz von Staub — aber nun war er auf einmal auf dem Tennisplatz, nicht dem in Athen unter Ölbäumen und mit Prinzessinnen und Hofdamen, sondern dem am Waldrand, unter dem großen Plankenzaun, hinter dem die Motorräder der tränierenden Steher in Pausen herumknatterten, und sie saßen zu vieren auf einer Bank, Löbell und die Mädchen, und die Altenreperinnen, die auf den Plätzen vor ihnen umhersprangen, hatten alle so große Füße, bloß Iris Runge nicht, die ihn heimlich liebte, aber wer hätte sich das träumen lassen, und da kam schon das Examen. Ach, und die Nachtstunden mit stillem Lampenlicht und schauerlichen Aufsatzdispositionen — — wie ist das Verhalten Egmonts gegen Albanien im zweiten Aufzuge — oder wars der vierte? — und die unendlichen Thukydidesperioden, die Cosinuszeichen und völlig unbegreiflichen Wahrscheinlichkeitsrechnungen — ach, aber auch Stunden gab es immerhin über herrlichen Blättern, auf die man schreiben konnte, was das Herz wollte, skandierte Dinge, die unermeßliche Geschehnisse zum Ausdruck brachten ...

Wie mittelländisch es heute aussieht, dachte Georg, gegen das Meer gewandt stehenbleibend. In Sizilien, das war wunderbar, die vier Frauen, wie sie mit antiken Krügen auf den Köpfen an der Felswand den Weg schräge emporstiegen, wie Mädchen aus Olympia, aus Lokris, aus Äolien. Und die Bark mit dem schiefen rostbraunen Segel, bis zum Sinken überlastet mit Bergen goldgelber Limonen, und die Männer darin, wie von Feuerbach gemalt, braun und in Hosen halbnackt, trugen die rote, phrygische Mütze.

Georg kletterte vorsichtig den Deich wieder hinauf und sah sich um. Richtig, da lag sie, etwas zu weit war er gegangen, sie lag wie zuvor. Er stand auf, sie wandte den Kopf zu ihm hin und lächelte schmelzend.

„Da liegst du,“ sagte er, „und ich vollbringe Lebensrettungen.“

„Wen hast du denn —?“ fragte sie leicht erschreckt.

„Einen Seestern“, sagte er und legte sich hin.

Als er eine Minute später vorsichtig nach ihr hinspähte, lag sie, die Augen wieder zu, auf der Seite. Wie das doch seltsam war, ein schlafendes Mädchen! Schlief sie tatsächlich? Wie rührend schutzlos sie aussah! Die dünne Bluse spannte sich über der sanften Brust; darunter senkte und hob sichs und straffte den Batist in langsamen Pausen, peinigend geheimnisvoll. Warum, fragte er sich, warum nur so süß, so schaurig auf einmal, nachdem ich sie seit meinen ersten Lebenstagen kenne? Es ist doch nur ein Mädchen. Oder würde es anders sein als jetzt, wo er es nur sah, doch es war zum Fühlen, er wußte es, woher? Er kannte es nicht. Alle Mädchen kannte er nur so. War das ‚kennen‘? Das Blitzen ihrer Augen, aus gänzlich unverständlichen Ursachen, diese immer verhaltnen Bewegungen, als würden sie zuviel verraten, dies ganze Anderssein, Weiblichsein, konnte das je — er suchte —, nein, konnte man je darin sein, nicht sich, sondern nur das andre fühlen, mehr als das: sein, wirklich sein? Wie still sie vor ihm lag! Wenn aber eine einmal seine Frau sein würde, Anna Magdalena — ja — o, war das möglich? Dann würde sie noch anders liegen und — um Gottes willen überhaupt —: wenn jetzt Dieckmann oder Graf Löbell oder der schöne Spiegelberg, dieser Frauenheld, oder — um von diesen verdammten Pennälern loszukommen — der schöne dänische Urne, der Botschafter — wenn einer von denen jetzt er wäre, würde er etwas tun? Was würde er tun?

Da schnürte ihm Angst das Herz zu vor dem, was er tun sollte und um alles in der Welt nicht gekonnt hätte; er warf sich ins Gras zurück, machte die Augen zu, und ein seliges Mitleid mit diesem Mädchen brach in seiner Brust auf und überspülte ihn mit Zittern und unbeschreiblicher Bangigkeit. Waldwege! O Waldwege! Da ging er, da ging sie neben ihm, wie eng war der Gang, sie blieb stehn, sie berührten sich, er legte seinen Arm um ihre Schultern, er fühlte etwas, ja, da fühlte er es nun ... Nichts. Und er stieß ihren Namen hervor, rauh und dumm klang es, und er richtete sich auf und sah nach ihr.

Sekunden danach öffnete sie die Lider — ach du mein Herrgott, da war einer in Genf, ein Student, ein Pennäler, ein Infantrist, an den hatte sie all die Zeit gedacht! Aber sein Herz stand völlig still, als er erkannte, daß die verdunkelten Pupillen mit unweigerlicher Süße auf ihn gerichtet waren, ja — es sah aus, als wären sie schon hinter den Lidern lange so eingestellt und so süß zu ihm gewesen. Sie lächelte wie eine Nymphe und hielt seine Augen mit diesem Lächeln fest, sein ganzes Herz mit diesem Netz aus Honig und Nachtigallen, eine Minute, eine Ewigkeit, — da wars fort, Herrgott, fort! War es gewesen, war dies, dieses, dies nun gewesen?

Sie ward langsam rot, richtete sich auf, strich ihr Kleid über die Füße und sagte: „Wie heiß es ist!“

„Findest du?“ fragte er unbeholfen und schwindelnd. „Na, nun erzähl mir mal was, kleines Mädchen“, sagte er dann brüderlich und packte ihren linken Fuß.

„Was denn?“

„Irgendwas aus Genf, aus eurer Pension. In Pensionen macht man doch immer Streiche, — aber hör mal, du hast ja gar keine Reitstiefel an!“

Sie saß, die Hände zu beiden Seiten neben sich aufgestützt, den Kopf im Nacken und bemerkte nichts als: „Kaputt!“

Warum nahm sie bloß den Fuß nicht fort? Das war ja beängstigend, wie sie sich alles gefallen ließ. Er drehte den Fuß hin und her. Dieser kleine Fuß in schwarzem Lack, und der Schuh, wie er über den Zehen etwas eingedrückt war, wie das rührend aussah, und diese runde, kindliche Spitze!

„Pfui Deubel, Anna, du hast ja grüne Strümpfe an!“ sagte er und hatte ihre Ferse im Schuhabsatz gelockert, schob nun den Schuh im Takt auf und ab und summte dazu alles vergessend: „Stiebelrin, stiebelraus, stiebelrin, stiebelraus!“ Überdem kam ihm ein Einfall, derart kühn, daß er augenblicks an die Ausführung ging, um nicht andern Sinnes zu werden. Er ließ den Fuß mit einer Hand los, faßte in die Brusttasche, nahm ein Päckchen Papiere heraus, legte sie ins Gras, suchte aus den Gedichten eines heraus, faltete es klein zusammen, zog leise ihren Hacken aus dem Schuh, schob das Papier hinein und den Schuh wieder fest. Gottlob, das war getan, nun konnten die Folgen eintreten!

Mit einem Ruck hatte sie den Fuß unter sich gezogen und mit der rechten Hand danach gefaßt. Er erwischte sie jedoch und hielt sie fest.

„Georg, was hast du da gemacht?“ herrschte sie ihn an.

„Gar nichts!“

„Laß gleich meine Hand los!“

„Gott bewahre!“

„Ich will wissen, was du da gemacht hast!“

„Keine Idee!“

„Wirst du jetzt loslassen?“

„Ich hab Zeit!“

„Sag mirs doch, Georg!“

„Nächste Woche um elf!“

„Georg, du bist gräßlich!“

„Weiß ich längst!“

„Bitte, bitte, Georg, laß los!“

„Warum?“

„Georg!!!“

„Ja, was ist denn, Kleines?“

„Loslassen! Du sollst loslassen!“

Plötzlich hatte sie nach heftigem Ringen ihre Hand freibekommen, versteckte sie im Kleid, zog sie aber gleich hervor und zeigte sie ihm, hoch atmend und empört.

„Da sieh nun mal, was du gemacht hast! Wie kann man so roh sein!“

Bestürzt sah er die roten Striemen. Mein Gott, roh war er gewesen, wer hätte das gedacht? Mit erstickter Stimme bot er ihr flugs an, sagen zu wollen, was er in den Schuh gesteckt habe, aber das war ihr nun egal. Er versuchte, sie durch die Mitteilung zu verlocken, daß es ein Gedicht sei, aber sie meinte wegwerfend: „Meinetwegen sieben Gedichte!“ Dann stand sie auf, hob ihren verbeulten Panamahut aus dem Gras, drückte ihn auf den Kopf und ging zu ihrem Pferde; dabei hob sie mit einem plötzlichen Knicks das Kopfzeug aus dem Grase und schleifte es hinter sich her. Er verfolgte sie mit gesenkten Lidern. Jetzt, jetzt würde sie es herausnehmen und wegwerfen. Wenn sie das tat ... wenn sie das tat ...! Kalt vor Aufregung drehte er sich nach der See hin und sah die Wolkenmassen in ungestümer Schnelle heraufstürmen. Als er es endlich wagte, sich umzudrehn, stand sie neben ihrem Pferde, das, ganz gerade stehend, zuzuhören schien, und las. Er wartete; sie las und las, zwanzigmal mußte sie es schon gelesen haben, und um genau zu wissen, daß sie gelesen haben mußte, sagte er selber sich vor:

Wärs dennoch möglich: Wenn ich einsam bin,

Nachdenklich in Verlassenheit, so gleitet

Ein liebes Wort aus einem lieben Sinn

Zu mir herüber, sicher hergeleitet.

Und wie es naht, entfaltet sich aus ihm

Die ganze Seele, schöne, flügellose

Gestalt von einem blassen Seraphim,

In Händen haltend, sonder Dorn, die Rose.

So bin ich nicht vereinsamt, wie es scheint,

Weil deine Seele lieblich vor mir steht.

Fast könnt ich hören, wie ihr Atem geht,

Fast könnt ich fühlen, wie sies gütig meint ...

Georg zuckte jählings zusammen. Herr des Himmels, das war ja — —! Ganz unverfänglich mit „einem lieben Sinn“ fing es an, und da, am Ende, da hieß es: „deine Seele!“ Deine Seele, o Herrgott, daran hatte er ja gar nicht gedacht, ach, was nun? Und er hatte es doch nicht einmal für sie geschrieben, sondern vor einem halben Jahr und eigentlich für niemand, nur so aus Sehnsucht und im Gedanken an Adriane Ziehrer, die zuweilen auf der Straße ... Ja, nun war das Unglück geschehn, was kam nun?

Ganz still faltete sie den Zettel zusammen, bückte sich, schob ihn in den Schuh, stampfte mit dem Fuß auf, und während Georg in einem wilden Seligkeitstaumel zu ihr hinlief, war sie schon auf dem Pferderücken und jagte, ohne erst das Knie übers Horn zu legen, mit der linken Hand sich anklammernd, über die Fenne deichabwärts gegen das Wäldchen zurück.

Weiher

Georg geriet in schaurige Wut. Das konnte ja Nacht werden, ehe er den Unkas gesattelt und gezäumt hatte! Und als er alles mit fliegenden Fingern in Ordnung gebracht hatte, sah er Anna grade am Gatter absteigen und zwar — wie ihm schien, bemerkenswerterweise — an dem südlich gelegenen, vor der äußeren Allee. Sie war jedoch verschwunden, als er aufgesessen war, und schon nach den ersten Sprüngen merkte er, daß dies elende Vieh von Unkas sich natürlich beim Satteln aufgeblasen hatte wie ein Schwein und der Sattel nur so schlotterte. Also zog er die Füße aus den Bügeln und stürmte weiter, aber im selben Augenblick, wo der Wallach mit ungeheurem Satz das Gatter nahm, erstarrte sein Herz: sie schrie aus dem Wäldchen, oder schon dahinter, die Allee war leer, sie schrie gellend, schrie seinen Namen, einmal, zweimal, dann: Hülfe! Hülfe! — Großer Gott, was war das? Im Aufsprung rutschte der Sattel glücklicherweise ganz über den Widerrist, aber im Weiterjagen merkte er, daß er sich nicht halten konnte, er sank rechts herunter, Unkas sprang und bockte, der Matingal wickelte sich ihm um den Hals, Georg lag unten, sprang auf und lief weiter.

Im Ausgang der Allee sah er den Weg hinunter den Weiher vor sich liegen, scheinbar still, auch die Insel mit ihren großen Bäumen, dem Pavillon und kleiner Brücke, aber über das sichtbare Stück grüner Wasserfläche stürmte von rechts her auf die Brücke zu der Artaxerxes, der schwarze Schwan, gekrümmten Halses, rauschender, wütender Flügel, in einer glitzernden Wasserbahn. Georg rannte um die Ecke der Gebüsche, und da war Anna, die ihr kleines Pferd bis an den Hals in den Teich hineingetrieben hatte, aber Gott Lob und Dank, sie saß oben, es handelte sich nicht um sie, denn das Pferd stand artig still, und sie hielt, tief heruntergebückt etwas Schweres und Schwarzes über Wasser, ängstlich umherblickend. Georg lief in die Flut, die voll war von Pflanzen und Sumpfgras, erreichte sie schwierig genug, und zusammen brachten sie einen leblos scheinenden Körper ans Ufer. Magda sprang vom Pferd; soweit sie im Wasser gewesen waren, Magda bis zum Gürtel, Georg bis unter die Arme, waren sie mit Streifen von stinkendem, grünem Tang und den erbsengroßen Blättchen des Entenflotts bedeckt. Am Boden sahen sie das schneebleiche, kleine, ihnen fremde Gesicht eines Menschen in schwarzer, wie die ihre besudelte Kleidung; schlaff und triefend lag er da. Anna bückte sich sofort und riß ihm Weste und Kragen auf; ein Perlmutterknopf sprang ab und rollte ins Gras der flachen Uferböschung.

Georg dachte, daß sie alle drei bis nach Helenenruh stänken, und wollte Anna nach Hause schicken, da rauschte es über ihnen laut und heftig, und als sie zusammenfahrend aufsahen, zog der schwarze Schwan — ja, waren ihm denn die Flügel nicht beschnitten? — prachtvoll und stürmisch über ihren Häuptern, über die Bäume hin und war gleich darauf mit mächtig ausgreifenden Fittichen südwärts verschwunden. — Nach Süden! — dachte Georg, der ihm nachstarrte, und: Australien! das ihm in Gestalt einer dreieckigen Briefmarke mit dem Bilde eines schwarzen Schwanes erschien. Sie blickten sich stumm an; aus Annas großen, schwarz gewordenen Augen sah er Tränen laufen, während ihr Mund geisterhaft lächelte.

„Nun laß nur, Kind,“ sagte er, „ich weiß, wie man Scheintote behandeln muß, reite zum Schloß, schick Leute, und zieh dich um oder leg dich ins Bett!“

Sie erhob sich, ließ sich ohne Widerstreben aufs Pferd helfen und ritt davon. Georg kniete sich über den Leblosen und machte die vorgeschriebenen Bewegungen mit seinen Armen so lange, daß darüber Annas Vater zu Pferde, ein paar Feldarbeiter und zuletzt der Maler Bogner anlangten, als welcher sogleich seinen Freund in dem Fremden erkannte. Nach einstündigem Bemühen gelang es, ihn zum Atmen zu bringen; er nieste, schlug die Augen auf, erkannte das Alte und murmelte unwillig und matt: „Nicht mal sterben lassen sie einen!“

Der Maler lächelte, die beiden Arbeiter grinsten, der große Chalybäus machte ein mißbilligendes Gesicht, Georg, über und über zitternd von der Anstrengung, mußte stoßend lachen, alle fünf richteten sich auf und sahen sich erleichtert an. Dabei entdeckte Georg ganz in der Nähe das große, braune, mit den schwarzen Mähnenzotteln wüst aussehende Haupt des vortrefflichen Unkas, der sacht herangekommen war und nun wartete. Den Sattel unterm Bauch und das Kopfzeug schief über Stirn und Ohren, sah er verwegen aus wie ein betrunkener Student.

Während die andern den Kranken auf eine, mit rotkarierten Bettstücken in der Eile beladene Kornkarre legten und damit abschoben, nahm Georg Rock und Weste vom Boden auf. Er bebte und hatte starke Rückenschmerzen, bemerkte, daß er einen Manschettenknopf verloren hatte, und bemühte sich eine Weile schwerfällig, mit der klaffenden Manschette ins Ärmelloch zu gelangen, bis einer der Arbeiter aufmerksam wurde und zusprang. Der große Chalybäus, seinen Trompeterschimmel an der Trense, ging neben der Karre einher und ermahnte zur Vorsicht. Georg brachte Unkas’ Kopf- und Sattelzeug notdürftig in Ordnung und folgte den Andern mit dem Maler, den Gaul hinter sich, der ungeführt nachtappte, wie ers gewohnt war. Die Stunde war glühend und schwül, sonnenlos und farblos; die Fläche des Weihers hatte sich längst beruhigt, lag blaugrün mit den matten Spiegelungen der Inselbäume und rührte sich nicht.

Der Teich, dachte Georg, muß vom Teufel besessen gewesen sein, und der ist, wütend über den Selbstmord, in den schwarzen Artaxerxes und in die Lüfte gefahren. — — Vor ihm fiel jetzt ein brennendes Zündholz ins Wasser, daß die Flamme erlosch und es kleine Kreise gab, und Georg sah, daß der Maler sich für die Arbeit mit einer Pfeife belohnt hatte.

„Sie stinken unprinzlich,“ sagte er, „sind Sie wenigstens trocken?“

Georg bejahte; die Wärme und die Anstrengung hatten ihn schon getrocknet. Er erklärte Bogner nun, während sie am See weitergingen, den Zusammenhang, innerlich an einer verfluchten Kette von eisernen Schlüssen zerrend. „Sie muß instinktiv hineingeritten sein,“ sagte er, „instinktiv!“ als ob das Wort alles verdeutlichte.

„Immerhin“, meinte Bogner, „können Sie sich ja freuen, daß Fräulein Chalybäus diese Sache auf sich genommen hat.“

„Wieso meinen Sie?“ fragte Georg erschrocken, denn er hatte am Gegenteil herumgearbeitet.

„Wenn einer“, sagte der Maler, mit einem neuen Streichholz an seiner Pfeife bemüht, „mit seinem Dasein fertig zu sein glaubt und wirft es weg“ — zur Verdeutlichung scheinbar flog, während dem Pfeifenkopf Qualmwolken, süß duftend, entstiegen, das halbverbrannte Streichholz ins Wasser wie das erste — „und es kommt ein Andrer,“ fuhr der Maler fort, „hebts auf und giebt es ihm wieder, und er sagt: Nicht mal sterben ... wird er dann dem nicht die Verantwortung dafür zuschieben?“

Bogner lächelte mit den Augen; ein herrliches Lächeln, dachte Georg, sich dumpf um das Gehörte bemühend. Was war das für eine Seite, von der dieser Maler eine Errettung vom Tode ansah? Der Mensch war ein Selbstmörder, — das Wort „unzurechnungsfähig“ flog aus einer Zeitungsspalte vor Georg auf. Freilich, freilich, ihm schien — der Maler sah die Angelegenheit eigentlich. Einer wollte sterben und sollte nicht. Ja, wie konnte man ihm nun beweisen, daß dies Streichholz von Leben keineswegs abgebrannt, sondern ... Georg wurde es siedendheiß, und um diesen blödsinnigen Gedankengang loszuwerden, packte er den, mit dem er sich vorher herumgeschlagen hatte, blieb stehn und fragte den Maler grimmig, auf den Matingal seines Pferdes deutend, ob er wisse, was das sei. Der Maler verneinte.

„Dies,“ sagte Georg, „dieser Riemen, der hier unterm Pferdebauch vom Sattelgurt her zwischen den Vorderbeinen hindurch nach oben läuft, sich in diese zwei kleinen Riemen teilt und mit den weißen Ringen hier am Kandarenzügel hängt, nennt man einen Matingal, und nun passen Sie auf. Wenn ich dem Pferde das Kopfzeug abnehmen will, so hängt der Matingal fest, und ich muß, damit das Pferd Freiheit hat, den Sattel losschnallen, und das tat ich, als ich mit Anna, mit Magda Chalybäus — ich nenne sie Anna, wissen Sie, seit unsrer Kindheit, weil ich das besser aussprechen konnte — also, als ich mit ihr oben am Deich saß. Warum tat ichs? Weil es mich nervös machte, das Pferd hinter mir mit dem Gebiß fressen zu hören. Warum machte es mich nervös? Weiß Gott —“ steckenbleibend — denn hier schien ein Haken — starrte er Augenblicke lang ins Gesicht des Malers, der anscheinend nicht wußte, warum er nervös gewesen war. „Nun aber,“ fuhr Georg hitziger fort, „das Pferd trägt sonst keinen Matingal, ich reite es immer nur auf Trense, das heißt mit einem Zügel, dem hier, es bekommt aber ein sogenanntes Vorderzeug, Riemen, am Sattel angeschnallt, die ihn festhalten, damit er nicht rutscht, und bei diesem Pferde rutscht er, weil es einen eingesunkenen Rücken hat und sich außerdem beim Satteln aufbläst wie ein Schwein. Solch ein Vorderzeug hätte ich nicht abnehmen brauchen, verstehen Sie? Warum hatte es kein solches Vorderzeug? Weil eine Schnalle dran durchgerostet war! Warum reite ich aber ein solches Pferd? Weil ich gern galoppiere und querfeldein, und weil hier tausend Gräben und Knicks und Gatter sind, wo ich nicht immer absteigen kann, darum liebe ich dies alte Aas von Hunter, den sie in England als Jagdpferd für Ausdauer und Springen gezüchtet haben, — da sehen Sie die dicken Gelenke und die klobigen Hufe. Nun rechnen Sie mal all das zusammen, und Sie bekommen heraus, was für eine verrückte Anzahl von Nichtswürdigkeiten nötig war, damit ich Anna, die vorangeritten war“ — er stockte, denn da war wieder der Haken! — „— weil ich mit dem Satteln zuviel Zeit verlor, nicht einholen konnte.“

„Ja, und dann die andre Seite erst“, hörte er den Maler sagen, ohne es zu verstehn. Atem schöpfend stützte er sich unauffällig auf den Nacken des Pferdes; ihn schwindelte, und die Knie knickten ihm ein nach all der Anstrengung, dem Schrecken und der Grübelei. Der Maler bewegte leise den Kopf hin und her, indem er die dicken Gelenke des Braunen betrachtete. Langsam erschienen vor Georgs Augen wieder das Rasenoval, vor dem sie angelangt waren, und hinter den Bäumen rechts die Dächer des Wirtschaftshofes und der Südflügel von Helenenruh mit seinem Turm an der Stelle, wo er an den Stirnbau stieß. Das schwarz und goldne Zifferblatt oben zeigte ein Viertel nach zwölf Uhr, — so früh war es noch?

Hof

Das Rasenoval schien kleiner als je und von dem umgebenden Laubwerk enge umgrenzt; die verdunkelte Beleuchtung des wolkigen Himmels rückte alles umher zusammen; auch die Terrasse und das Haus schienen kleiner, bescheiden und geduckt, und jetzt fuhr ein plötzlicher Westwind in die Bäume, daß sie sich erschrocken schüttelten, der weißrote Schirm wankte und blähte sich, der Rasen schillerte grausilbern in breiten, wie von einer Riesenhand gekämmten Streifen; der Wind war heiß und trocken.

„Es wird ein Gewitter geben,“ sagte Georg erwachend, „ja, ich muß nun nach rechts.“

Sie trennten sich. Georg ging durch die Bäume bis ans offene Hoftor zwischen den Ställen und Scheunen, entließ dort Unkas mit einem Klaps auf die Hinterhand und sah ihn mit leicht stelzendem und ratlos scheinendem Gang in den Wirtschaftshof hineingehn. Vor einem Schwarm gelber, links und rechts auseinander stiebender Orpingtonhühner — zwischen denen ein schneeweißer Hahn ungemein erzürnt und aufgebracht war — blieb er stehen, warf den Kopf auf und nieder und sah sich klug und fragend nach Georg um. Dann bog er nach links und ging, den Kopf hängend und schaukelnd, auf seinen Stall zu und hinein, nun ganz sicher dahingelenkt. Ringsherum sahen die Erntearbeiter zu, die auf Bänken an den weiß und blauen Wänden der Fachwerkgebäude saßen und ihr Mittagbrot vertilgten. Das Licht war hier womöglich noch greller und dumpfer, der Mistgeruch wie ein starker und wilder Extrakt vom Sommer.

Was ist mir denn? dachte Georg. Mir ist auf einmal ganz sonderbar! Habe ich das alles schon einmal erlebt, oder träume ichs? Diese Dinge sind auf einmal alle so erschreckend nah und drohend oder wie ... Wie stark der Geruch hier ist, und die Blechgefäße der Arbeiter und die roten Kopftücher, das Geflügel und der Truthahn und das Pferd, ja, vor allem das Pferd, wie ich es gehen sah, das war, als ob ich aufwachte. Wie es den Kopf aufwarf und die Ohren zurücklegte, und welch einen tastenden Gang es hatte, — aber so gehen die Pferde immer, wenn man sie allein läßt und sie den Weg noch nicht wissen und mit einmal auf eigene Verantwortung gehen sollen, — merkwürdig willenlos und unbewußt müssen doch diese Geschöpfe sein, und so gänzlich verschworen auf den Menschen, denn eine Kuh, die geht so lange, bis was im Weg ist, — und doch wieder — als ob sie das, das Andre nur nicht gelernt hätten, und man merkt sofort, alle Sicherheit ist geschwunden, und sie verlassen sich noch immer darauf, daß noch etwas kommt, ja, und dann wars der Geruch vom eignen Mist aus der Stalltür und die dunkle, innerliche Ahnung von Richtigkeit, von Gewohnheit eines hundertmal beschrittenen Weges ... Das bemerke ich, warum auf einmal heut? Freilich das macht die Gewohnheit — ja, du lieber Gott, wie dem Unkas eben, so ists ja auch mir ergangen! Wie er dahinging, einsam, seiner innersten, vermummten Ahnung folgend, da muß er doch einmal er selber gewesen sein, muß eine Art von Gefühl, von Erkennen seines Ich oder — seiner Welt gehabt haben, und so fand ich auch mit einemmal — mich! — Und ist dies so, ja, was ist denn das, was mich plötzlich los und allein gehen ließ? Wer war mein Reiter und — wird er wiederkommen, oder — ist — er — nicht — schon? Wie sich doch alles wieder schließt und ist wie zuvor! Und war das Erlebnis dran schuld mit dem Toten, dem — —, Erlebnis? war das nun ein Erlebnis? Ach, wenn man es selber durchmacht, vollzieht sich jedes so und ist gar nicht anders als alles, kommt eines wie das andre aus der gleichen Minute ... ich — nein, diese Anna ...

Georgs Gedanken wurden hier so flüchtig, daß sie sich ihm aus den letzten, kaum noch haltbaren Begriffen entwanden ins Undenkbare, als ob eine Blume sich in ihren Duft auflöste, und so zog sich auf einen Pulsschlag alles vor ihm in den brennenden Hofgeruch zusammen, er wankte, ging rückwärts, wieder vorwärts, der Geruch verschwand, er bemerkte, daß er vor den Rosenstöcken unter der Terrasse stand. Eilig lief er die Treppe hinauf ins Haus und weiter zu seinem Zimmer, wo er sich gedankenlos umkleidete, um den Kranken aufzusuchen, oder Anna ...

Drittes Kapitel

Gewitter

Als Georg den Nordflügel an seinem Ende betreten wollte, riß ihm ein jäher Windzug die Tür aus der Hand und schlug sie lärmend gegen die Innenwand der kleinen Halle; hinter ihm rauschte der Park murrend auf, der Pfau schrie irgendwo ganz fern, und ein verlorener Regentropfen traf ihn naß und warm am Halse; es donnerte schwach und entfernt, während er die Türe schloß.

O diese göttliche Kühle! — Die von draußen mit hereingedrungene heiße Luft verflüchtigte sich schnell unter die dämmrige, weißgetünchte Wölbung empor, in die gleich neben Georg die stille Wendeltreppe sich mit sanfter Aufforderung nach oben schwang, während zur Rechten der Korridor, still und dämmrig, mit weißen, geschlossenen Türen sich entfernte. Links hinter der Glastür, die auch ins Freie führte, waren die grünen Sträucher nahe heran- und zusammengetreten, als horchten sie herein; eine Art Lakaienhand von Wind packte sie hinterrücks und riß sie fort, aber sie ließen sich nicht wegschütteln und standen wie vorher, etwas zitternd nur und unwillig. Aber dort oben in der Wendeltreppe, wo es dunkelte, dicht an der weißgelben Wand, dort stand ja Anna, weiß und blaß. Wie eine Erscheinung stand sie wortlos, sah auf ihn hinunter und wartete. Er fand nichts zu sagen und stieg zu ihr.

„Willst du auch zu ihm?“ fragte sie leise, mit ihm höher steigend.

„Du hättest dich doch niederlegen sollen, Anna, wie blaß du bist“, sagte er nun, überronnen von unaussprechlicher Zärtlichkeit, und Mitleid, und Sucht, sie in die Arme zu schließen.

„Mir gehts gut, — das bißchen laue Wasser ...“ meinte sie lächelnd. „Komm, ich weiß, wo sie wohnen.“

Während sie den oberen, an der rechten Seite von Fenstern erhellten Flur neben den weißen Türen hinabgingen, hörte Georg den Donner abermals und etwas näher, und dann ...

„Höre bloß!“ sagte sie und blieb in der Fensterhelle stehn, den Finger erhoben. Über dem Dach war ein rauher, trompetender Schrei laut geworden, den Georg erst nicht verstand, eine, in ein wildes, zorniges, brüllendes Geröhre übergehende Tierstimme, die schreiend groß und ungestüm dahergeflogen war und fernhin verhallte.

„Das war er,“ flüsterte sie, „er schreit, ich weiß, so schreien die wilden Schwäne. O hast du gehört, wie seine Flügel donnerten, als er über uns fort brauste? Er ist wiedergekommen, er kann noch nicht fort.“

„Kann noch nicht fort?“ wiederholte Georg, „was meinst du damit?“

„Nein horch!“ — Und noch einmal, noch lauter kam der große Schrei über ihnen dahergefegt, warf sich gegen das Dach, quoll durch die Fugen und schwoll herein, brünstig, gellender als Hirschbrüllen und wiederum melodischer, posaunenähnlich, ja, wie die Heerhörner beim Jom Kippur. Dahinter glomm schwach der erste Blitz; spät kam der Donner. Magda klopfte leise an eine Tür, sie hörten drinnen das Herein von der Stimme des Malers, und Georg atmete auf.

Der Maler, der den Sitz in Fensterbänken zu lieben schien, saß in der linken der beiden Fensternischen, erhob sich, eine Zigarette hinauswerfend, und schloß das Fenster; drinnen blieb ein angenehmer feiner Duftrest von Tabak. Die Tür zum Nebenzimmer rechts stand halb offen, so daß Georg das weiße Fußende eines Bettes in tiefer Dämmerung erkannte, sowie die rechte Hälfte eines zartfarbigen, englischen Kupferstichs auf der rötlich gemusterten Tapete.

„Haben Sie das Geschrei gehört?“ fragte Georg den Maler.

„Ja, herrlich“, sagte der. „Ich sah ihn fliegen, er schlug ein paar große Kreise, dann stand er einen Augenblick dort vor der Wetterwand, pechschwarz in seinen Fittichen, mit hochgerecktem Hals. Der schlängelnde Blitzfaden lief von oben nach unten durch ihn hin; dann war er verschwunden.“

Magda war an das Fenster rechts getreten hinter die Seitenlehne des breiten, schwarzen Roßhaarsofas und faltete die Hände über dem Riegel. Georg sah an ihr vorüber die Wetterwand, die sich im Nordosten aufgestellt hatte, darunter die Bäume, wie mit Grünspan überzogen, und grellrot zwei Dächer vom Dorf. Auf Lüdersens Deich nordwärts stand die Windmühle als schwarzes Andreaskreuz; plötzlich hörte er im Zimmer das Meer.

Er sagte:

„Könnte man doch einmal eine Ahnung von dem Gefühl dieses Vogels haben! Wie der Schrecken in ihn fuhr, wie er aufschoß —, dies: auf einmal fliegen! Auf einmal fliegen zu können! Da ist er jahrelang zwischen seinen Rasenufern und Binsen herumgerudert, nur manchmal im Halbflug über die Fläche streifend, ahnend, was fliegen ist, und nun auf einmal losgerissen von der alten Kette, kein Schwimmvogel mehr, vielleicht zuerst entsetzt über die gewaltige Änderung seiner Bahn, seines Elements, seiner Welt — wie es unter ihm versinkt, wie die Baumwipfel gegen ihn anstürmen, wie er sie überstürmt, besinnungslos, nur hoch — hoch! — Und dann, mit einmal, der Flug ... das Fliegen können, das von oben Schaun, heraus aus aller Gewohnheit, neugeboren, wie göttlich!“ Georg schloß, innerlich erschreckt von dem Worte Gewohnheit, in seltsamer Erinnerung an das, was er vorhin auf dem Wirtschaftshof gedacht hatte. Magda, die sich halb nach ihm umgewandt hatte, sagte nach einer Pause:

„Und der da drinnen liegt, — ist er nun auch neugeboren? Gott!“ flüsterte sie vor sich hin, „ich habe es getan, wie kam ich nur dazu?“

Georg sah sie betroffen an. Was dachte sie denn?

„Ich möchte ihn nun sehn“, sagte sie leise, glitt mit einer plötzlichen, geschmeidigen Bewegung um den Sofatisch und ging auf den Zehenspitzen ins Nebenzimmer. Georg folgte ihr.

Über ihre Schultern hinweg nahm er in der Dunkelheit des handtuchschmalen Raums ein kindlich kleines, todbleiches Gesicht wahr, aber mit schrecklich altkluger, schwer hängender Stirn unter wirrem, schwarzem Haar, ohne Augen. Die weißen Kissen standen spitz rechts und links davon empor. Unter der Decke bewegte der Körper sich unruhig, auch das Gesicht drehte sich unaufhörlich, von einem schlaflosen Geiste bewegt.

„Ist er das?“ fragte Magda ergriffen und fassungslos. Noch standen sie beklommen beieinander, als der Name Angelika durch das Zimmer schwebte, leicht wie ein Gedanke, zart wie Laubduft von den fiebernden Lippen abgelöst, und kaum daß sie recht bedachten, was der Name hieß, füllte sich mit Engelsgestalten und Lilien der geweitete Raum.

Magda legte Georg leicht die Hand auf den Arm und drängte ihn mit sich hinaus; die Tür schloß sie zu. Der Maler saß in einem Stuhl am Fenster, rauchte seine Pfeife und sah hinaus. Voller Regen schlug kräftig gegen die Scheiben, daß sie für Augenblicke erblindeten; durch das tosende Rauschen war die größere Stimme der fernen Meeresbrandung deutlich zu hören; es blitzte unaufhörlich, auch der Donner war jetzt laut geworden, noch rollend und großmütig, aber jeden Augenblick war zorniges Knattern und Schmettern zu erwarten. — Magda blieb mit dem Rücken an der Tür; Georg, im Zimmer stehend, sagte:

„Haben Sie es gehört? Er sprach einen Namen aus.“

„Nein, soeben nicht; aber es wird der Name sein, den er immer spricht, wenn er sich vergißt.“

„Kennen Sie diese — diese —“

„Man kann sie nicht kennen, sie ist tot; das ist ungefähr alles, was ich von ihr weiß.“

„Können Sie uns auch von Ihrem Freunde sonst nichts sagen?“

„Er ist nicht mein Freund. Was ich von ihm weiß, will ich Ihnen gern erzählen, es ist nicht viel.“

Es war finster geworden. Magda zog sich hinter den Tisch in das Sofa zurück, Georg setzte sich in der Nähe der Flurtür auf einen Stuhl, sah die vielen kleinen Pferdeporträte an den Wänden bei jedem Blitzschein hell aufspringen und hörte des Malers ruhige, ungetrübte Stimme, manchmal vom Donner übertönt oder unterbrochen, von diesem Jason al Manach erzählen.

„Jason al Manach, ja, so heißt er, wie Almanach, aber auf der zweiten Silbe betont, das will er so. Ich lernte ihn vor längerer Zeit in Paris flüchtig kennen, in einem Kaffeehaus, und es stellte sich heraus, daß wir beide aus Altenrepen stammen, sogar in dieselbe Schule gegangen sind, aber er ist ein paar Jahre jünger.“ Ein paar Jahre? dachte Georg, ich dachte, er wäre siebzehn! — „Er sprach wenig und schien schwermütig. Dann traf ich ihn vor einigen Wochen wieder im Eisenbahnabteil auf der Fahrt von Paris nach Köln, wo wir das Unglück mitgemacht haben, an das Sie sich wohl erinnern.“

„Ich weiß nicht,“ fuhr der Maler nach einer Pause fort, durch die sich eine Kette von Geknatter des Donners spannte, „ob Sie sich eine Vorstellung von einem Zugzusammenstoß bei Nacht machen können. Nun. Wir saßen einander gegenüber, der al Manach und ich, hatten jeder die Beine neben den Sitz des Andern auf die Polster gelegt, ich war gerade aufgewacht, fröstelnd, weils gegen Morgen ging, und war fast erschreckt von seinen Augen, die mich ansahen wie zwei Kohlenstücke ohne Blick, so daß ich nach der blauen Halbkugel der verschleierten Lampe über mir emporsah. Da flog ich ohne weiteres gegen die Wand gegenüber und quetschte mir die Brust, so daß mir der Atem verging; mit der Stirn schlug ich gegen das eiserne Gepäcknetz, aber es war alles nicht schlimm, und ich dachte nur: Jetzt! Jetzt! — Ja, dann war das Geschrei, dagegen war mein eigenes Entsetzen gar nichts, das war — grausig. Nun. Im Abteil war ein queres Durcheinander von Leibern, aus denen Gestöhn und Schreien quoll, übrigens ist niemandem etwas geschehn. Auf einmal hatte ich den Türgriff in der Hand, öffnete und sprang ins Freie, sehr tief, aber weich ins Gras der Böschung, die ich ganz hinunterkugelte. Nun war alles hoch über mir. Unser Wagen hing die Böschung schräg hinunter; es war der vorletzte; der letzte lag unten, ein schwarzes Gewimmel kroch daraus hervor, dahinter war schwarzes Feld, und ein grünes Licht, und schwache Morgenröte. An der andern Seite lag die vordere Hälfte des Zuges in hellen Flammen, die überall hervorschlugen. In dem Feuerschein sah ich ganz fern die Lokomotive, hoch in der Luft wie ein bäumendes Pferd, das auf ein anderes draufgesprungen ist, dahinter noch ein schwärzliches Durcheinander von Wagen und Stangen. Kleine Flammen züngelten heraus. Es war ein Güterzug. Aus den brennenden Abteilen stürzten schwarze, weiße und brennende Körper heraus, die entsetzlich schrien. Einer rollte die Böschung hinunter, stand in Flammen auf und lief als lohende Fackel querfeldein — nun. Nun nahm ich mich also zusammen, kletterte die Böschung hinauf, nun — und dann half ich, so gut es ging, Flammen ausdrücken und so.

„Nun Jason — — Ja, eins will ich noch sagen, weil es das Schrecklichste war, was ich erlebte. Da hielten zwei Männer eine wahnsinnig schreiende Frau. Ihr Kind lag im Abteil, das brannte, und ich wickelte mir, ohne daß ich dachte, mein Taschentuch um die Hand, riß die zugeschlagene Wagentür auf, sie war glühend, ich merkte es an der Hand, nachdem mein Tuch wie Zunder geschmolzen war, den Schmerz fühlte ich erst viel später. Drinnen war roter und schwarzer Qualm, und ich warf meinen Rock über ein brennendes Bündel, das auf der Bank lag, — ja, ich hätte es wohl besser liegen lassen sollen. Denn als ich der Frau dies — nun, dies Kind auf die Arme legte, starrte sie es an, und dann mich, und dann warf sies an die Erde und schlug auf mich los. Danach habe ich lange Zeit mich um nichts gekümmert. Ich glaube, ich habe irgendwo gesessen und geweint.

„Als ich später aufstand und umhersah, brannten die Flammen aus, und ich ging ein Stück auf dem Bahndamm weiter, um vielleicht noch zu helfen. Da sah ich dort den al Manach sitzen. Zwischen den Knien hatte er den Oberkörper eines Mädchens, dem die Brust zerquetscht war. Sie atmete noch, und mit jedem Atemzug kam eine Welle Blut. Er streichelte sie unaufhörlich und redete ihr gut zu, und ich stand davor und sah zu. Die nannte er auch Angelika. Auf einmal kam kein Blut mehr, und sie atmete nicht mehr. Wie er das merkte, packte er ihren Kopf mit beiden Händen, starrte in ihr Gesicht und stöhnte so merkwürdig. Dann ließ er sich von mir wegführen und sonst mit sich tun, was ich wollte. So nahm ich ihn mit nach Köln. Er war stumpf, saß nur da, aß kaum, brütete vor sich hin. Später murmelte er beständig. Meist redete er mit jener unbekannten Angelika, dazwischen sagte er lange Stücke aus Dichtern auf mit einem merkwürdigen Gedächtnis, aber alles durcheinander. Als ich mit meinem Auftrag in Köln fertig war, las ich in der Zeitung, daß der Herzog hier wäre. Ich hatte Zeit das Bild zu kopieren, und weil ich dachte, die Landschaft hier wäre vielleicht angenehm für den Kranken, nahm ich ihn mit. Ich hielt ihn ja für ruhig und gewissermaßen unschädlich.“ Bogner schwieg.

Ein heftig auflodernder Blitz setzte alle Winkel des Zimmers in Flammen, es war blendend hell, vor der blauflammenden Fensterfüllung erschien das Profil des Malers fast schartig, mit einem Ausdruck von großer Geduld. Georg wunderte sich, wie er mitten in den Blitz hineinzusehn schien. Anna hatte das Gesicht in Händen, aber Georg wagte nicht, sich zu rühren, zumal, alles Vorhergegangene zerschmeißend und austilgend, ein fürchterlicher Donnerschlag über das Dach hinschmetterte, immer weiter tobend, knatternd, dann langausrollend wie ein zornig hinfahrender Gott.

Als nur wieder der Regen langmütig herabgoß, das Mädchen wieder aufrecht saß, still und wie es schien ganz friedfertig, fragte Georg dumpf und gezwungen:

„Ist das nun Schicksal? Einer will sterben, er hat — er meint, den Willen zu haben. Da greift ein andrer ein, ein ganz Fremder, ganz Unwissender, der wollte, daß er lebe — ich meine: war das sein verlorener Wille zum Leben, der eine andere Seele ergriff und zwang, für ihn zu handeln, der sich verloren hatte ...“

Das ist alles so schaurig verwickelt, dachte Georg hülflos, und plötzlich fiel ihm ein, daß er vorher, als er jene Kette nichtiger Notwendigkeiten zusammenfügte, ja nur die eine Seite gekannt hatte. Welche Reihe von Zufälligkeiten sah er nun auf der andern Seite am Werk, um diesen Maler mit dem al Manach einen Tag nach Annas Rückkehr ... Herrgott! schüttelte er dies von sich, das ist, glaub ich, das Schreckliche an mir, daß ich immer alles denken, sehen, begreifen, durchschauen muß. Da geht die ganze Wirkung verloren, weil das Denken mich mehr bewegt als das Fühlen, — arme, kleine Anna! — Indem sagte sie ganz leise:

„Gott weiß wohl mehr von uns, und wie wir zusammengehören, und er führt den einen zum andern, wenn ers für gut hält.“

Da, als ein sanfterer Donner hinter diesen Worten einherrollte, stieg in ihm das Gefühl. Ihm war, als hätte ein himmlisches Tor sich für eine Minute geöffnet, eine Stimme sang die guten Engelsworte heraus, das Tor fiel rollend zu.

Das Gewitter, dachte Georg, macht uns alle seltsam, und wir sitzen wie beratende Götter zusammen. — So schien ihm wenigstens dieser langmütige Maler.

„Kinder,“ sagte der ernst, „was wißt ihr denn, was glaubt ihr denn, sei Tod, Verantwortung und Schuld? Man tut, was sich anbietet, das Nächste. Wir gehn über die Straße, wir fahren mit der Bahn, mit dem Schiff, und keiner denkt, daß er im nächsten Augenblick bei den Gestorbenen sein kann. Gewiß, sonst bliebe alles ungetan, Gutes und Böses.“

„Und doch“, widersetzte sich Georg, „könnten wirs denken, wir würden uns auch der Schuld bewußt sein, die hinter uns unsühnbar zurückbleibt.“

„Sühne giebt es nicht“, sagte der Maler.

Aber während Georg betroffen fragte: „Wieso?“ hörte er Magda seine eigenen Worte fortsetzen:

„Und die Liebe, und die Verzeihung, die auch hinter uns zurückbleibt, bei den Andern, würden wir daran nicht auch denken?“

Nach einem Schweigen sagte der Maler:

„Liebe vergeht, Schuld besteht. Schuld ist Tat, und Tat wirkt so fort, was soll da Sühne! Alles bleibt unverändert.“

Georg sprang auf.

„Aber tun!“ rief er, „tun muß man doch etwas!“

„Gewiß,“ antwortete der Maler, „das verlangt die Natur.“

Georg setzte sich wieder, stützte die Ellenbogen auf die Knie, den Kopf in die Hände und ergab sich; dieser Maler war ein Fels. Da hörte er Magdas Stimme, irgendwie verändert, blickte vom Boden auf und sah sie dicht vor Bogner stehn; schlank, weiß, die Hände vorm Schoß zusammengelegt, stand sie mit leicht geneigtem Kopf wie eine Bittende.

„Herr Bogner,“ sagte sie, „ich möchte Ihnen gern etwas sagen, Sie etwas — fragen, denn ... Ich hab auf einmal solches Vertrauen zu Ihnen ...“

Also nicht zu mir? fragte Georg sich gekränkt.

„Ich hab Angst, Gott, ich hab solch wahnsinnige Angst!“ stammelte sie plötzlich. Beide sprangen auf und traten zu ihr, aber sie wehrte ab und sagte sanft, es sei schon vorbei.

„Darf ich es sagen?“ fragte sie wieder. „Es ist freilich sehr sonderbar. Es ist — mir ist einmal von einer Zigeunerin prophezeit worden, aus der Hand, und das fängt jetzt an einzutreffen.“

Sie setzte sich in die Sofaecke wie erschöpft. Es war wieder still im Zimmer, das Gewitter ließ nach. Bogner öffnete ein Fenster; wundervoll floß da, gleich erbötig, die Erfrischung herein. Der Regen ging in geradem, leichtem Strom draußen nieder, alle Ferne war darin verschwunden bis auf den Schatten des Windmühlenkreuzes. Als habe der Maler ihr mit dem Öffnen des Fensters eine beruhigende Antwort gegeben, fuhr das Mädchen nun fort.

„Es war auf einem Ausflug mit unsrer Genfer Pension, da trafen wir Zigeuner, in einem französischen Dorf. Sie ließen sich alle aus der Hand prophezeien, auch die Lehrerinnen, und sie bekamen alle nette Weissagungen, Briefe und Heiraten und Geld, und es paßte immer, was jede heimlich gewünscht hatte. Ich mochte das gelbe Weib nicht mit den weißen Flecken im Gesicht, aber dann drängten die andern mich, und sie nahm meine Hand und sah sie erst gleichgültig an wie die andern Hände, aber es klang schon so merkwürdig, was sie murmelte: Coeur de fleures ... ich behielt es gleich wie einen Vers: Coeur de fleures, — coeur sans peur ... Aber dann sah sie mich scharf an und sagte, da wäre wenig Freude zu sehn, das Schlimme aber erführ ich ja früh genug, wenn es käme. Nun wollte ich auf einmal mehr wissen, da zog sie mich abseit und flüsterte mir zu, sie würde mich schon finden, wenn ich allein wäre, und damit lief sie weg. Als ich nun ein paar Tage später mit Renate, mit meiner Freundin, im Garten auf und ab ging, stand sie auf einmal am Gitter. Und dann hat Renate zugehört, wie sie aus den Linien hier in meiner Hand las, und sie sagte mir erst aus meinem vergangenen Leben genau Bescheid, — ich weiß nicht, woher sie das erfahren haben soll — von Papa und dem Herzog und dir, Georg, und von Mamas Tode, was sonst keiner weiß —“

Georg, unter einer angenehmen Empfindung errötend, sagte möglichst vernünftig: „Sag mal, sollte sie das nicht aus dir herausgefragt haben?“

„Vielleicht, aber — darauf kommt ja nichts an. Sie prophezeite mir nämlich, ich würde dreimal einem Menschen das Leben retten —“

„Anna!“

„Aber das dritte Mal würde es mir das Leben kosten“, schloß sie tapfer.

Georg schäumte innerlich vor Wut. Dies verruchte Weib! Anna lachte auf einmal hell.

„Weißt du noch, Georg, wie du das von dem Seestern sagtest? — da erschrak ich so merkwürdig, — und nachher dachte ich an gar nichts. Es kam ja alles so schnell, so plötzlich, wie er da im Wasser schwamm, und der Schwan schlug mit den Flügeln und sah hin. Erst als ich hineinritt, erschrak er und brauste davon. Die Prophezeiung ist mir erst viel später eingefallen. Als Artaxerxes davonflog, fiel sie mir plötzlich ein. So sind Sie doch auch in das brennende Abteil gesprungen, ohne zu denken, und nun bin ich auf so viele Gedanken gekommen und fing an, mich zu fürchten, oder ob das Gewitter ... denn ich wollte mich nicht fürchten, gewiß nicht, ich dachte, als ich nebenan vor seinem Bett stand, wo er so kindlich aussah, ich wollte es gewiß gern tun, dreimal, wenn es sein müßte, und auch selbst dabei ...“

Sie brach ab, weinte auf, legte hell jammernd das Gesicht in die Hände und auf den Tisch, und eine lange Zeit war sie nicht zu beruhigen, auch verzweifelte Georg an sich selber, weil er, sie in den Armen haltend, alle möglichen Empfindungen hatte. Schließlich ward sie doch stiller, trocknete ihr Gesicht, stand auf, nickte den Beiden durch nasse Schleier lächelnd zu und ging schnell und leise hinaus.

Zwiegespräch

Georg hatte, als Anna gegangen war, gedankenlos die Uhr gezogen; es war etwas nach halb zwei, und so blieb immer noch eine halbe Stunde bis zur Unterredung mit seinem Vater, auch wenn er berechnete, daß er sich für das Mittagessen noch anziehen mußte — was ich eben schon hätte tun können, dachte er.

Er steckte die Hände fest in die Rocktaschen, sie nach vorn drückend, lief ein paarmal auf und ab und mußte plötzlich losbrechen:

„Verstehen Sie denn das alles? Nun liegt die Geschichte ja noch anders, als ich Ihnen vorgerechnet hab, Ihr Eisenbahnunglück kommt auch noch dazu, und das Bild, das Sie doch seit Jahren hätten abmalen können, und das alles, damit eine gottverdammte Prophezeiung eintrifft, das ist ja zum Haarausraufen! Glauben Sie eigentlich daran?“

„Prinz,“ sagte Bogner, „ob wir daran glauben, das ist hier wie immer wohl nebensächlich. Es scheint: sie glaubt daran. Was man glaubt, pflegt zu geschehn.“

„Sie muß wohl,“ knurrte Georg, „wenn es doch schon eintrifft. Daß sie vorher nicht daran glaubte, haben Sie ja selbst gehört. Es ist ja grauenhaft!“

„Leider!“

„Das sagen Sie so, als ob ...“

„Ich will mich gern erklären“, äußerte der Maler willfährig. „Mir fielen antikische Weissagungen ein, Achilleus, Odysseus, Ödipus. Das waren, wie soll ich sagen, Opfer der Phantasie, Opfer ihres Volkes, die es mit dem Schauerlichsten oder Erhabensten belud, wovon ihnen selber nichts zuteil wurde. Aber warum, meinen Sie, bekamen diese Erhabenen stets die Weissagung obenein?“

„Ich verstehe schon,“ meinte Georg, „Sie denken an das Vorherwissen ihres Schicksals, die Unabänderlichkeit des Erfüllenmüssens, ja dies Erfüllen, wo die andern einfach betroffen wurden. Nun, dafür waren jene eben Helden.“

„Keineswegs. Sondern eben dadurch wurden sie es. Dem einfachen Menschen ist das Vorherwissen — damals wie heute — ein — manchmal verlockender — in Wahrheit immer grauenvoller Gedanke, und jene wurden, die erhabenen Einzelnen wurden zu Helden, weil sie diese Ausnahme ertrugen und in ihr Schicksal sahn. Sie hatten ihr Schicksal, über den Vielen, die das Schicksal hatte.“

„Ödipus etwa?“

„Ödipus war doch kein Held, Prinz.“

Georg schwieg eine Weile und fand endlich das erlösende: „Das beweist gar nichts. Anna ist keine Penelope, kein — kein Heldenweib.“

„Woher wissen Sie denn das? Wird man zum Helden geformt, gestempelt und eingetragen, wie Herr Chalybäus: Tenor alles in allem? Sie begehen auch eine Verwechselung, glaube ich. Penelope und andre, auch männliche Berühmtheiten waren schöne Gestaltungen des Durchschnitts. Sie taten das Nötige, aber sie glänzten, weil sie im Glanze standen. Troja und der große Krieg, Odysseus und die wilden Fahrten überglänzten alles, was drin auftauchte —“

„Ja,“ unterbrach Georg ihn erregt, „da wurden sie Gleichnisse für Menschenleid aller Art, erhabene Sinnbilder, geadelt von ihren Dichtern. Die andern, die Gezeichneten, Verfluchten, trugen auf ihren Stirnen Blitzfeuer vom Himmel oder vielmehr vom Schicksal, das ihretwegen aus der Nacht vorgetreten war.“

„Gewiß, Sie wissen alles sehr gut“, sagte der Maler. Georg, ein wenig stutzend bei dieser Antwort, betrachtete den Maler eingehend, der sich inzwischen an den Tisch gesetzt hatte und im Sprechen eine flache, als Aschenbecher dienende Perlmutterschale hin und her drehte. Auf einmal schien ihm klar, daß, während er selber hervorsprudelte, was der Augenblick ihm eingab, der Maler wie von Schränken oder Sofakissen seiner Kinderzeit redete, Dingen, die sich in alle Ewigkeit nicht verändern, und die voll und fertig da sind, wenn man nur dran denkt.

„Ich glaube,“ murmelte er, „es wäre mir und Anna lieber, wenn sie ein simples Dasein ohne Größe und Glorien haben könnte.“

Der Maler sah sich nach ihm um und lächelte sein bezauberndes Lächeln.

„Ich war Ihnen gleich gut, Prinz,“ sagte er freundlich, „dafür plage ich mich gern mit Ihnen. Nicht wahr, Sie glauben an die Dichter. Das ist wacker, bloß — es verdirbt ein wenig die Anschauung. Was die Dichter sagen, das glänzt, haben Sies nie bemerkt, und was sie glänzend machen, das lodert zum Himmel. Aber wie ich schon sagte: was hilft es der kleinen Chalybäus, ob ich und Sie an ihre Zigeunerin glauben, und was hilft es ihr, ob jemand anders ihre Taten groß und ihr Dasein glorreich sieht. Sie hat ihr Leben, wie ich meines habe, wie Ihr Vater, Ihre Mutter, Sie selber. Für die Zuschauer kommt es ja nun immer auf die Beleuchtung an, das ergiebt dann später Geschichte, und daraus schöpfen Ihre Dichter das Glänzende.“

Georg, dem es irgendwie schien, als wolle der Maler auf etwas noch andres hinaus, als was seine Worte angaben, unterbrach ihn.

„Ich verstehe ja, Sie sind ein Maler, Sie dozieren die malerische Ethik, nein, nein!“ rief er glühend und geängstet, „ich bitte Sie, sagen Sie mir, ob Sie selber dran glauben. Glauben Sie, daß ihr dies geschehen wird?“

„Da würde ich mich an Ihrer Stelle doch an die Tatsachen halten“, versetzte Bogner kühl.

„Warum weichen Sie mir aus?“

Bogner schwieg, zog einen kleinen Bleistift aus der Westentasche, schob ihn einmal in seiner gelbgegriffenen Blechhülse hin und her, steckte ihn wieder fort und schien frische Langmut geschöpft zu haben.

„Wer, liebe Durchlaucht,“ sagte er, „wer giebt Ihnen eigentlich das Recht, meine Gedanken gehört zu bekommen?“

War das grob? — — Nein, grob nicht, nur anders.

„Ich dachte nur,“ brachte Georg zögernd und bescheiden vor, „im Gespräch sagt man, was man denkt, oder man lügt. Sie aber, verzeihen Sie, wenn ich das sage, Sie — Sie sprechen eigentlich nicht, sondern Sie antworten, Sie sind ein Schweig—“

„Ja, sehen Sie,“ unterbrach Bogner ihn ganz erfreut, „ich sagte ja, Sie wüßten alles sehr gut!“ Georg wurde verlegen und froh, als er den Maler fortfahren hörte: „Ich meinte ja nur, es würde Ihnen nichts nützen, zu hören, was ich denke. Was ich wirklich denke, hören Sie ja doch nicht, sondern nur, was Sie gern wollen, daß ich denke. Das Wort ist insofern eine große Lügenbrücke.“

Georg war begeistert und gab ihm strahlend recht. „So ist es“, sagte er. „Ich drücke meine Gedanken in Worten aus, und Sie meine Worte wieder in Gedanken, dabei geht natürlich das meiste verloren, es ist sehr traurig.“

„Das Wort ist gut,“ entgegnete der Maler, „sagen Sie nichts gegen das Wort. Bedauerlich sind allenfalls die Menschen. Jeder will vom Andern hören, was er selber denkt; bekommt er das nicht, glaubt er, der andre will ihm seine Meinung aufreden, und das will der ja auch meist. Sie wollen einander überreden, dann zanken sie sich, und die Verständigung ist beim Teufel. Aber im Verkehr so untereinander, da entsteht ein halbes Begreifen, ein Mittelding zwischen Gesagtem und Gehörtem, das genügt.“

„Nein, das genügt mir freilich nicht“, seufzte Georg und dachte an Tasso. Es rührte ihn, sich mit Tasso, den Maler mit Antonio zu vergleichen. Ach, dachte er, Eleonore hat ihn auch nicht verstanden! Giebt es aber nicht wenigstens auserlesene Stunden, giebt es kein Zusammenfluten unter den Brücken? Muß man vielleicht schweigen lernen? Ah, das gäbe am Ende einen Schluß auf die Entstehung des Kusses! Meine süße Anna, dachte er betrübt, was ist mit dir? — Die Sehnsucht übermannte ihn, er dachte an ein süßgoldenes Verstehn und wurde trauriger, weil sie nicht ihm sich anvertraut hatte, sondern diesem Antonio. Da raffte er sich noch einmal auf.

„Aber Kunst,“ sagte er, „ist Kunst nicht auch eine Sprache? Sie sind ein Künstler, behaupten Sie nicht, diese seelenverkündende Sprache zu besitzen, zu ahnen, zu erraten, was in uns, was in allen Dingen vorgeht, was für ein Sinn darin ist oder so, achten Sie nicht auf die Ausdrücke! Die Seele, Art, Leid, was Sie wollen, — dies zu sagen, zu offenbaren?“

Der Maler schwieg eine Weile, wie es schien bedeutend nachsinnend.

„Nein“, sagte er endlich. Er winkte mit der Hand und wiederholte: „Nein, das ist nichts. Die Dilettanten sagen das immer, und alle, die über die Dinge nachdenken. Ich will damit nicht sagen, daß ich nicht auch ab und an etwas dächte, aber wissen Sie —“ Der Maler war augenscheinlich nicht nur um Worte, sondern um alles verlegen und schloß plötzlich kurz: „Man malt eben.“

Er lachte leise und innerlich und setzte dann hinzu:

„Es giebt so wenig Seelen; am besten sitzt man für sich allein und bastelt so herum. Manchmal wirds was, manchmal nicht.“

Das war ja schrecklich banal! Georg war tief enttäuscht, da alle Aufschlüsse ausblieben. Und dieser Mensch, der so klug, der geradezu verschlagen geredet hatte, — nun, wo er über seine Kunst, sein Innerstes reden konnte — —, oder tat er nur so? Wollte er nicht? Er mußte es noch einmal versuchen.

„Ich verstehe, wie Sie es meinen“, sagte er bescheidenlich. „Sie malen, wenn ich so sagen darf, Ihre Seele in Ihr Bild, und der Betrachter sieht die seine heraus, nicht wahr? Es ist genau wie mit der Sprache eben.“

„Ja,“ sagte dieser Mensch hocherfreut, „genau so ist es! Es ist ganz einfach, ich sagte es ja: man malt eben. Man kann etwas, das ist selbstverständlich; und man hat eine Seele, das ist auch selbstverständlich; nachher ist man denn Holbein oder vielleicht Vermeer. Andre wieder sind nachher vergessen. Was verstehen Sie übrigens unter Seele? Es geht etwas in einem vor, es bewegt sich, eine gewisse Neigung nach Ewigkeit, und für das, was einen bewegt, findet man in der Umwelt die Belege gewissermaßen, die Gleichnisse ...“

„Wir erkennen uns selber im Spiegel der Umwelt“, sagte Georg gedankenvoll.

„Oh!“ rief der Maler aufspringend und ans Fenster tretend, „wenn Ihnen mit Schlagworten gedient ist, weiß ich ein ausgezeichnetes, das ich mir selber ausgedacht hab, nämlich: Kunst ist zu scheinbarer Objektivität gesteigerte Subjektivität. — Praktisch ist natürlich alles umgekehrt.“

„Wieso?“ fragte Georg, verdutzt vom Stuhl an der Tür zu ihm aufsehend, der sich mit dem Rücken ins Fenster lehnte und die Ellbogen in die Hände nahm.

„Weil es da die Beispiele, die Belege draußen sind, an denen man sich selber zu erkennen glaubt; das geht so hin und her.“

„Ja,“ fuhr Georg verstehend fort, „alles ist Spiegel, alle Erscheinungen, und wir selber sind tausendfach gebrochene Spiegelbilder.“

„Und dies,“ hörte er den Maler langsam sagen, „dies sind denn wohl so die Dinge, von denen man reden kann.“

„Und die wirklichen, was wären die?“

„Ach, so viel“, sagte Bogner. „Eine Kontur, so ein Kobaltblau in der Dämmrung, oder die Kerbe eines Blattes, und der Ansatz am Stiel, oder eine Nasenwurzel, — ja, das sind schon Dinge, schon Dinge ...“ schloß er ganz nachdenklich.

„Eigentlich aber,“ sagte er, den Kopf hebend und den ebenfalls sehr nachdenklich gewordenen Georg voll anblickend, obgleich der, weil er gegen das Fenster sah, seine Augen nicht erkennen konnte, „eigentlich aber wollte ich Ihnen nicht dieses sagen.“ Er verstummte und sprach nach einer Pause sehr freundlich, fast liebevoll weiter.

„Es ist so schwer“, sagte er langsam. „Ich kann es Ihnen freilich sagen, denn Sie werden ja trotzdem tun, was Sie müssen, und sich um mich nicht kümmern. Es ist ja so schön, wie Sie alles, was um Sie her sich ereignet, in Angriff nehmen und durchdenken, aber — ich meine: es ist wie mit den griechischen und lateinischen Dichtern und mit Schiller in der Schule, an denen die grammatischen Regeln und der Aufsatz gelernt werden, wozu sie doch — eigentlich — nicht da sind. So benutzen Sie, wie alle guten jungen Leute, die Schicksale der Andern, um daran denken zu lernen.“

Er schwieg. Georg, ziemlich betroffen, sah ihn mit wagrechtem Finger sich unter der Nasenspitze reiben und hörte ihn fragen: „Kennen Sie Indien? Ich habe einmal gehört, daß die jungen Männer dort nicht in Schriftstellern und Algebra unterrichtet werden, sondern in — Lebensfertigkeit gewissermaßen, wenn auch die geistige Arbeit dortzuland sich wohl vorwiegend mit dem Leben nach, nicht mit dem vor dem Tode beschäftigt, aber nun — sie brauchen sich ja dort nicht vor Fahrplänen und elektrischen Bahnen in acht zu nehmen.“

Georg, in dem Glauben, daß noch etwas kommen solle, schwieg ehrfurchtsvoll und zugleich auf eine ihm schmeichelnde Weise gehoben, da der Maler zuletzt sich so viel ernsthafter gegeben zu haben schien, daß es ihm vorkam, als sei er selber älter geworden während ihres Gesprächs.

„Danke schön!“ sagte er nun aufspringend und lachte, „nun muß ich aber fort.“

„Wenn Sie meinen,“ sagte der Maler mitlachend und ihm die gereichte Hand drückend, „daß ich Ihnen jetzt doch meine Gedanken offenbart hätte, dann irren Sie sich. Es waren nur die von heute vormittag; die richtigen, die von voriger Woche, die hab ich für mich behalten.“

So ging denn Georg, nicht ohne starke Zweifel am zuletzt Gehörten, die er sich schuldig zu sein glaubte.

Schreibzimmer

Coeur de fleures — coeur sans peur ... Der Vers geriet im Augenblick, wo Georg die Tür hinter sich schloß, in sein Gedächtnis, während sich zugleich eine so heftige Beklemmung um seine Brust legte, daß er sich, gedankenlos den Flur in irgendeiner Richtung hinuntergehend, nach ihrem Grunde fragte und alsbald herausbekam, daß er Annas erschütterndes, vielleicht zu — sonderbares Erlebnis während der letzten halben Stunde vergessen hatte; vergessen, obgleich er nur deswegen geredet und so auf den Maler eingedrungen war. Er stieg die Treppe hinunter und fand sich gleich darauf im strömenden Regen. Er hätte trockenen Fußes durch das Haus gehen können, aber er gönnte es sich, naß zu werden, wie Jakobsens Fennymore sich den Schnee, als ihr Mann tot lag und der elende Lhyne übers Eis kam. Was hatte der Maler gesagt? Schiller und Herodot und dergleichen ... Hatte er recht? Gegen die wild heruntergießende Strömung ankämpfend, erinnerte ihn der Anblick des im Regen schattenhaften Turms auf der Ecke an seine Mutter, der nichts so wohl tat wie die elektrische Luft beim Gewitter, während ihr Herz eine regelrechte Behandlung mit elektrischen Strahlen nicht vertragen hatte, und dies erleichterte ihn wieder. Die leere Fläche der Terrasse, auf die er zuging, ohne Möbel und Sonnenzelt, lag bräunlich und schütternd wie eine Wasserfläche mit den Kreisen der tanzenden Regenjungfern bedeckt; es plätscherte über die Stufen, auf dem dunkelbraun gewordenen Wege darunter kreuzten sich hundert bewegliche Rinnsale und Schnellen; die kleinen, weißen, dunkel und rosaroten Wolken der Rosenstöcke schwammen in den Regenschleiern hin und her, aufgeregt wie die bunten Kinderballons im Winde; einzelne Blätter trieben flackernd davon und segelten auf den Regenbächen, während oben in den Steinurnen die roten Geraniumranken in sich geduckt geduldig stillehielten. Alles wie frisch, wie lebendig und kühlig, — ja, und nun mußte er obendrein vor der verschlossenen Tür stehn und warten, bis auf sein Klingeln ein Diener kommen würde. Sonderbar war der Anblick des dämmrigen Saals durch das nasse Glas, wo in den sechs deckenhohen Nischen auf vielen Konsolen übereinander die hundert kleinen Vogelfiguren aus Meißener Porzellan in ihren bunten Farben leise leuchteten, hier das satte Rot eines Dompfaffen, das Gelb eines Pirols, das Grün eines Zeisigs oder Wellensittichs, und wie still hockten sie alle!

Nasser geworden als vorhin im Teich, so kams ihm vor, konnte er endlich eintreten und ging, das Gesicht mit dem Taschentuch abtrocknend, links hinüber zur Tür, hinter der es von Schreibmaschinen klapperte. Er öffnete und trat, noch die Hände trocknend, durch die Spalte — schon wütend angerasselt vom wetteifernden Geklapper der beiden Maschinen — in den großen, hellen Raum mit drei Fenstern.

Das Mädchen am mittleren Fenster, das ihm den Rücken wandte, sah sich flüchtig um und fing an, auf ihrem Diktatblock zu lesen. Fern drüben am dritten Fenster bewegten sich fuchsrote Wellenscheitel in die Höhe, und dieses Wesen Fliddridd sah ihn blicklos an aus ihrem runden, weißen Gesicht. Sie kniff dabei die winzigen Augenschlitze zwischen dicken Lidern fast zu, während zwischen den Zähnen und leuchtend geraniumroten Lippen hervor langsam die Zungenspitze zum Vorschein kam, wieder von einem andern Rot, mehr bläulich, worüber Georg sich wunderte, auch über die Art, wie ihr ganzes Gesicht nun wie eine Seifenblase lautlos in Lachen zerplatzte.

Gans! — Georg wandte sich ab und sah an der langen Wand der Aktenregale voller Ordnungsmappen den Doktor sitzen, breitbrüstig und stämmig vor seinen zusammengeschobenen, mit einem entsetzlichen Wirrwarr von Papieren beladenen Schreibtischen. Ach, was hatte der Mann doch für ein prächtiges Gesicht, so von der Seite besonders! Georg sah die vollen, gerundeten und geröteten Wangen, das starke Kinn, den hängenden braungrauen Schnurrbart, den mächtigen Uhuschnabel der Nase und den nachdenklichen Blick der feurigen, braunen Augen mit starken Tränensäcken unter hochgezogenen Brauen auf die schreibende Feder gerichtet, — und nun, da er sich umwandte, hatte er die volle Ansicht von vorn: den Nasenrücken grade und streng und lang, die kräftig roten Wangen und die majestätische Giebelung der Stirn mit den hochgeschwungenen Brauen, während er mit seinem, immer gleichsam königlich erstaunten Ausdruck und nicht ganz anwesenden Geistes gleichwohl sehr erfreut lächelte.

„No — Georg?“ fragte er, noch immer ausbleibenden Geistes, doch teilnehmend immerhin.

„Du siehst doch aus wie König Saul“, sagte Georg näher zu ihm tretend. Er zog die Brauen noch höher, wiegte den Kopf jüdisch und hob die Schultern, lachte und sagte, langsam zurückkehrenden Geistes, halb geschmeichelt, aber abwehrend: „Ich soll wissen, wie ich ausseh!“ worauf er mit der Hand in die Brusttasche griff, eine braunlederne Zigarrentasche mit Metallrändern hervorholte, öffnete und sie Georg hinhielt, indem er die Klappe mit der Hand zurückbog.

„No — o, du rauchst doch ’ne Zigarre, Georg?“ sagte er, und, da Georg sein Zigarettenrauchen vorschützte, „no — was das schon heißen soll!“ — er wiegte wieder, seiner Sache gewiß, den Kopf — „ich weiß doch, was ich weiß!“ und lachte, da Georg jetzt zugriff, verschleimt und heiser, hustete sich aus — „siehst du wohl!“ mit triumphierendem Kopfschütteln und lachte vor sich hin, indem er, auf der Suche nach irgendwas, Papiere und Aktendeckel aufwarf, über der Tischplatte tastete und schließlich eine Streichholzschachtel und eine abgeschliffene, gelbliche kleine Zigarrenschere zum Vorschein brachte, — allein nur äußerlich, innerlich längst wieder bei seinen Sachen. Während Georg seine lange Zigarre beschnitt, nahm er selber eine, entzündete sie beide mit einem Streichholz, setzte sich breit und rund im Armstuhl zurück und schlug die Beine übereinander.

Das Gesicht des Malers erschien Georg, seltsam anders gegen dies soviel prächtigere; und, woher, mußte er sich fragen, kommt wohl dieses? — Er sah an der Wand von Doktor Birnbaums Wohnzimmer in Trassenberg die große, graue Vergrößerung einer Photographie des Vaters Birnbaum, der Synagogenhüter gewesen war, aber sein Gesicht mit wallendem, lockigem Vollbart glich ungemein dem des Kaisers Friedrich: die Nase freilich würde von der Seite wohl den Haken gehabt haben, den Georg eben vor sich sah.

„No — Georg,“ fragte unterweil seine breite, etwas nasale Stimme, „was ist das mit Magda? Mir wird da gesagt — — was weiß ich?“ Er überließ seinen fragenden Augen das Ende des Satzes.

Georg wehrte ab, es sei gar nichts, jemand, ein Fremder, ein Bekannter des Malers, den er wohl gesehn habe, sei in den Teich —, Georg brach ab, da ein unsichtbares Telephon anzirpte. Doktor Birnbaum warf wieder alles mögliche zur Seite und übereinander, Aktenbogen, blaue und gelbe Mappen und offene Briefe, griff den Telephonhörer von der Gabel und sagte, den Ellbogen auf die Platte stützend, hinein: „Ja?“

„Immer sagt er bloß „ja“ ins Telephon“, bemerkte Georg halblaut zu Fliddridd hinüber, die lachte: „Nich wahr?“

„Flora?“ hörte Georg ihn weiter sprechen, „mit Magda? Ja, das frage ich ja eben.“

Er lachte, drehte sich im Hören zu Georg und redete, ihn mit seitwärts horchenden Augen anblickend, weiter, so daß Georg das Gefühl hatte, er und seine Frau drüben redeten gleichzeitig.

„Ja ... ja. Georg ist eben da. — — Ja. — — Ich frage ja eben, er sagt ... No, was wirds denn schon sein? Gar nichts wird es — — Was? Hineingeritten? No, er kann dirs ja selber ... Wie? ... Er kann dirs ja selber, sag ich ... No, also schon gut. Erkältung? Ach, wo wird sie sich gleich erkälten! Das Wasser — — — was? — — das Wasser ist ja ganz warm. Also — —“ Seine Stimme mit den breiten Altenrepener A-Lauten wurde allmählich kleiner, er sagte nur noch eine halbe Minute lang: „Ja — — ja — — ja — — ja — — ja — — ja — — ja — —“

Auf einmal legte er den Hörer hin, hatte sich aber kaum zu Georg zurückgewandt, der behaglich wie im Schauspiel den feinen Rauch seiner Zigarre schluckte, so flötete es wieder, er nahm den Hörer wieder, sagte sein: „Ja?“ und nach einer Weile schmolz sein ganzes Antlitz langsam in großen, verklärenden Glanz auseinander, sein ganzes, kräftiges Gesicht triumphierte, er lehnte sich breit zurück wie ein Bankdirektor und schrie, während Georg schon verging vor Wißbegier:

„Also wer — — also wer hat das gesagt? Was hab ich gesagt, Durchlaucht, was hab ich —?“ Er klopfte, aufgeregt Zeugnis ablegend, mit den Fingerspitzen der linken Hand auf den Rockaufschlag, so daß der Aschenklumpen von der Zigarre über den Handrücken fiel und zerstäubte, und, den Kopf in zufrieden gekränktem Triumphgefühl wiegend, redete er fort:

„Heute morgen, hab ich gesagt, würde er —“ Georg lauschte angespannt, um etwas zu erraten, „heute morgen, sagt ich,“ wiederholte er beschwörend, „würde er — — — also, no! Wer hat also recht gehabt?“ Er lachte nachgiebig: „Ich weiß doch, was ich weiß ...“ Und, nachdem er gehorcht hatte: „Ich weiß doch, was ich weiß, sag ich! Wann will er denn — —, ich meine, wann soll er — —, ist denn nichts vom — —“

Ja, da saß nun dieser Patriarch und konnte nicht einen einzigen Satz zustande bringen, so sehr waren diese Geschäftsleute gewohnt, sich mit Anschnitten zu begnügen, aus denen sich alles mögliche erraten ließ, was der andre nun grade wollte, und Georg, da er wieder abbrach, schrie wutentbrannt: „Was ist denn los, Onkel?“

„Georg will wissen, was — —“ schrie der Doktor in die Sprechmuschel, „wie beliebt? Ja, Georg ist eben da, er — — — soll er? — — — Er kommt selber zu Ihnen? Also schön! No, — no, — also ich gratu — wie? — — ich gratuliere, sag ich! Also ... Ja — — ja — — ja — — ja — —“ Es war zum Haarausraufen.

Georg stürzte zur Tür, aber als er neben Fliddridd vorbei wollte, fühlte er, wie sein Rock sich straffte; sie hielt ihn fest, ohne daß sie selber sich bewegte. Sich umdrehend sah er Onkel Salomon schon vertieft, mit beiden Händen tastend in seinen Papieren suchen.

„Was giebts denn?“ fragte er ungeduldig.

„Wann gehts denn fort, Durchlaucht?“ fragte sie, ohne ihn anzusehn.

„Herrgott, ich bin ja grade gekommen!“ rief er mit unterdrückter Stimme und setzte, da sie fortfuhr, still vor sich nieder zu blicken, achselzuckend hinzu: „Keine Ahnung!“

„Wo gehts denn hin?“ fragte sie wieder.

„Auch keine — das heißt — vielleicht nach München.“

Jetzt bekam er ein feuchtes Geglitzer aus den Augenschlitzen zugeblitzt, während sie fragte, ob er ihr eine Ansichtskarte schriebe. Georg sah das bleiche und trockne Mädchen gegenüber, die sich über ihren Diktatblock beugte, als sagte sie innerlich: Diese alberne Gans! —

„Natürlich! Zweie!“ versicherte er.

„Tchöh!“ sagte sie plötzlich, die linke Hand hinhaltend als spitzes hartes Dach mit angeklemmtem Daumen, aber ehe er ihre Fingerspitzen berührte, zuckte sie zurück, sie sprang auf, lief zur Flurtür, warf sich mit dem Rücken dagegen, lachte ihn hell an, steckte die Zunge heraus und wirbelte nach draußen, die Klinke mit dem Ellbogen herunterdrückend.

So Mädchen, dachte Georg, sich zur Tür wendend, so Mädchen sind doch zu merkwürdig! Warum sind sie wohl so? —

Damit öffnete er die Tür, die ledergepolsterte zweite dahinter und trat bei seinem Vater ein.

Viertes Kapitel

Vater und Sohn

Georg — seiner Zigarre nicht völlig sicher — zögerte an der Tür und schloß langsam, während er durch den großen, wie das Schreibzimmer dreifenstrigen Raum nach seinem Vater spähte, der in einem tiefen Sessel unter dem mächtigen grauen und wappengeschmückten Sandsteindach des Kamins saß, und zwischen den Fingern der von der Lehne hängenden linken Hand steckte ein dicker, träg qualmender Zigarrenstumpf. Die Rechte glättete ein Telegrammformular auf der dicken Lederpolsterung der andern Lehne, von dem der Herzog nun langsam aufsah und Georg anblickte, indem er langsam lächelte und die Zigarre zum Munde führte; Georg schien er trotzdem nicht — oder auf eine sehr fremde Weise zu sehn, so daß er langsam zum Drehstuhl vor dem riesigen, frei den Fenstern gegenüberstehenden Schreibtisch trat. Bläuliche Rauchschwaden schwammen wagerecht in der Luft und um die Zacken des geweihgeflochtenen Kronleuchters mit dem buntgemalten Hubertus. Es war sehr hell; der Raum wie eine offene Arkade, da die sehr hohen und rundgewölbten Fenster nur schmale Wandstreifen zwischen sich hatten. Georgs Blick glitt noch über die regelrechten Reihen von Bocksgehörnen an den Wänden, als sein Vater ihm nun das Telegramm hinstreckte und bemerkte: „Lies nur!“

„Erste Versuche günstig abgelaufen,“ las Georg, „steige wenn möglich noch mittags auf eintreffe nachmittags Helenenruh. Leutnant Kaspar. — Der Dreidecker, Papa? Das ist ja herrlich! Na da gratulier ich aber!“

Der Herzog ließ sich die Hand schütteln, wobei er ein wenig sarkastisch zu Georg auflächelte und bemerkte: „Keine Ursache!“ und: „Zimmermann hat das Verdienst, bitte, ich habe nur die Anregung ...“

„Schön, wie du willst, Papa!“ sagte Georg, innerlich besser überzeugt. „Ja, dann werden wir fliegen!“ setzte er fröhlich hinzu.

„Du meinst — die Menschheit?“ fragte sein Vater langsam.

„Keineswegs, Papa! Ich meinte vielmehr dich und mich.“

Sein Vater antwortete nicht, sog an seiner Zigarre und sah nach den Fenstern.

„Aber setz dich doch“, sagte er nach einer Weile erwachend und hastig. Georg drehte den Schreibtischsessel herum und setzte sich, zwischen den peinlich geordneten, mit marmorierten Felsbrocken oder geschliffenen, farbigen Steinplatten beschwerten Stapeln von Papieren und Mappen die schwere gläserne Aschenschale voller Zigarrenreste heranziehend, und plötzlich waren seine Gedanken bei seiner Mutter. Auf einmal wurde ihm erschreckend klar, daß, wenn er an sie dachte, dies viel mehr mit Kummer geschah als mit Liebe. Da ging sie auf ihrem schmalen Teppichstreifen hin und her an der Wand, im Dunkel, in Gefangenschaft, rastlos wie eine Pantherin, unfähig zu denken, sie, die doch die klügste Fürstin in Europa sein könnte und ein ganzes Land allein regiert hätte ... Ihre kalten Hände, — wann hatte nur der Schauder vor ihnen angefangen? Und wenn er ihrer gedachte, so spürte er ihren Kopfschmerz peinigend in der eigenen Stirn. Ach, und sie war genügsam, sie hatte wohl sein verheimlichtes Widerstreben gemerkt, wie sollte sie nicht, aber sie begnügte sich mit dem Zwischenraum, er wußte es längst, es schmerzte ihn, es war nicht zu ändern, dann ward es Gewohnheit. Und er war ja auf Schulen und selten zu Hause. — Wie geht es heute, Mutter? — Danke, besser, mein Junge. — Und sie glitt auf und ab, und er schlich hinaus.

Überdem fühlte Georg die kleinen, einander nahen und glühenden Augen seines Vaters von fern auf sich geheftet, errötete und erinnerte sich hastig der Worte, die er schon gehört hatte, während vor seinen Augen eine daliegende blanke Achatplatte mit schön gezogenen weißen und roten Ringen zu schweben begann. Ja, er würde morgen seinen achtzehnten Geburtstag begehn; es würden Leute kommen, eine kleine Feier, und darum, sagte der Herzog, habe er den heutigen Tag gewählt, um ihn vorm Beziehen der Universität einige Dinge vorzutragen und ans Herz zu legen.

Er begann darauf mit einem Rückblick über die letzten Lebens- und Lernjahre Georgs, hervorhebend, wie er von Anfang an, indem er ihn schon in die Dorfschule geschickt hatte, bestrebt gewesen sei, ihn mit der Welt der Andern in Verbindung zu halten, jenen Andern, die durch Sitte und Gewohnheit als unter ihm stehend betrachtet würden, die aber jeder Verständige — es gäbe nicht viel davon — als ebenbürtig mit seiner eigenen, des Herzogs Stellung ansehn müsse, ausgenommen die Faulenzer, — und der Herzog streifte sein Prinzip von der Gleichheit durch Leistung. Jeder, der das volle Maß der ihm verliehenen Kräfte und Möglichkeiten erschöpfe, habe vollen Menschenwert. Es gäbe Standesunterschiede, allerdings, durch Erziehung, Geburt und so weiter, sichtbar in äußerer Gestaltung und Gehaben, das sei gut so, ebenso wie die Kultur, die innere, ererbte des Einzelnen. Das aber seis gewesen, was sein Sohn habe erkennen sollen: den Einzelnen, den Überall, den Unklassifizierten. „Masse“, sagte er, „ist ein Begriff, wie Staat, Gesellschaft, Religion und dergleichen. Fassen lassen sie sich nur durch Erkenntnis des Gegenständlichen, des Lebendigen, des einzelnen Menschen. Es ist deine Aufgabe, sie zu finden, sie kommen nicht von selber.“

Sein Vater erinnerte ihn nun an jene Lebenserinnerungen seines Ahnherrn gleichen Namens, die er ihm seinerzeit als Konfirmationsgeschenk habe drucken lassen, und aus denen er sich erinnern werde — Georg tat es schwach —, daß jener Georg der Siebente, letzter regierender Herzog der Landschaft Trassenberg, trotz außerordentlicher und sonderbarer Beziehungen zu Napoleon, aus einem verborgenen Grunde — wie denn der eigentliche Charakter des „Astrologen“ niemals enträtselt wurde — dem Rheinbund nicht beigetreten sei; daß also damals Trassenberg an das, zum Großherzogtum aufrückende kleinere Beuglenburg kam, daß der Herzog nur die Titulatur mit dem „in“ Trassenberg bewahrte, daß schließlich hieran bei der Wiederherstellung der alten Reichsordnung auf dem Wiener Kongreß scheinbar nichts geändert wurde. Nun hätten seitdem die Nachfahren eine andre, friedliche Eroberung des eigenen Landes begonnen, indem sie durch Vermögen und durch Verwandtschaftung, als Fürsten von Diemarck, Grafen von Fichtel, Rosenstein ältere Linie, Siberndorf und Flanau, Freiherren und Herren auf Dannel-Biebereck, Trahndorf, Lesum und Kochel und so weiter die gesamte Landschaft bis auf kleine Ausnahmen wieder in ihren Sitz brachten, Städte, Dörfer, Flecken und Weiler, teils, wie schon gesagt, mit Hülfe des Kapitals, durch Ausgleich ihrer ursprünglichen Besitzungen mit der Erwerbung von Dörfern, Landsitzen, Mühlen, Marschen, Wäldern und Äckern, teils durch Industrie, teils, freilich auch hier mit Kapitalskräften, durch Teilnahme am technischen Fortschritt der Zeit, indem sie anlegten: Straßen, Brücken, Eisenbahnen und Kanäle, Werften und Docks, Hafen, Maschinenfabriken ... Georg hörte eine ganze Zeitlang Namen und Bezeichnungen von seines Vaters Lippen tropfen, deren Gegenstände sich wie ein großer Reichtum um ihn her zu häufen begannen: neuer Auftrieb oder Erschließung von Bergwerken, Silber, vor allem Kohlenminen, Aktiengesellschaften zur Ausbeutung der Erdschätze, Salinen, Bohrtürme, Steinbrüche und Tongruben, samt deren Verarbeitung in Fabriken; Genossenschaften, Moor- und Heidekulturen, Torfgewinnung, Urbarmachung versumpfter Strecken und Berieselungen. Fabriken wurden gegründet, Industrien ins Leben gerufen, als da sind: Zucker, Spiritus, Majolika, Leder, Porzellan, Pumpen und Wagen, Chemikalien, Zelluloid, Spinnereien und hundert andre Verwertungsarten der gleichen Stoffe, wie Steinkohle in Gas, Koks, Teer, Antimon und so weiter; ferner Glashütten, Sägewerke, dann: Druckereien — Zeitungen — Gasanstalten, Überlandzentralen und dergleichen mehr. Sie hatten saniert, hatten Spitäler, Irren- und Armenhäuser, Badeanstalten, Waisenhäuser, Krippen, Kliniken, Bibliotheken und Theater erbaut oder aus ihren Schatullen unterhalten, ebenso wie die Universität, die Handels-, Tierarznei- und technische Hochschule, wie zahlreiche andre Forschungsanstalten und Institute nur durch ihre Schenkungen aufgeblüht und die damit verbundenen Rechte tatsächlich ihr Eigentum wurden. Und sie hatten Straßen gepflastert, die Städte erweitert, Arbeiterviertel und Schmuckplätze, Erholungsheime, Fürsorgeanstalten, Schulen und Gemeindehäuser gebaut oder angelegt, und sie waren wahre Industrieritter, Diplomaten, Abgeordnete, Ökonomen, Züchter, Reeder, Plantagenbesitzer in andern Erdteilen, Gelehrte, mit einem guten und schlichten Wort: Arbeiter geworden, — warens noch heute.

Georg saß im Überfluß und staunte. Wenn er auch immer gewußt hatte, daß dies so war, und daß all das ihnen gehörte, so begann es doch zum erstenmal lebendigen Ausdruck dadurch zu gewinnen, daß er plötzlich sah: dies war nicht von Ewigkeit gewesen, sondern war geworden, nein, es war vielmehr gemacht. Gemacht von seinen Vätern oder, wie es ihm augenblicks schien, durch diesen seinen dasitzenden Vater allein, von dem ja so viel wenigstens feststand, daß er es gewesen war, der den jahrhundertalten Besitz aus seiner Zerstreutheit und Verworrenheit zu einer gewaltigen Masse, zu dieser einzigen, riesenhaften, Geld unerschöpflich hervorsprudelnden Maschine zusammengeschlossen hatte, aufgebaut aus zehntausend Teilchen, Kolben, Rädern, Riemen und Pumpen, eine ungeheure Fruchtbarkeitsanlage, die aus dem, in dampfender Tätigkeit brausenden Lande Kraft sog und wieder hinabregnen ließ. Da sah er es, da fing es an sich zu entfalten vor seinen ergriffenen Augen. Langsam fühlte er sich erhöht, unendliche Aussicht eröffnete sich, unter glorreicher Sonne gewaltiges, schönes Menschenland, von einer ungeheuren Betriebsamkeit erfüllt. Die Ebene schwoll hoch auf, die Marschen, die Fennen, von Hunderten von Knicks durchzogen, belebt von Trinkgruben und dem weidenden Vieh, von Windmühlen, Gehöften und unzähligen, silbernen Wasseradern bis an den dunstig schimmernden Geist des Meers. Jenseits dort blühten die farbigen Segel, wehten die Rauchfahnen der Dampfer, schimmerten die sonnigen Mauern der Kais, die leise schaukelnden Mastenwälder der Häfen, — diesseits, drinnen im Land, tauchten Städte über den Himmelsrand, grüne Türme und Kathedralen, die Straßen liefen daraus hervor ins Land, friedfertige Pilgerzeilen der Pappeln oder Obstbäume, bevölkert mit Reisenden, Wandrern, Wagen und Automobilen, von den schnurgeraden Dämmen der Bahnlinien geleitet oder überkreuzt, und die tausendfältigen Geräusche des Verkehrs schollen gedämpft, dann mit dem Einzug in die Städte dumpfbrausend wie Meeresbrandung zu ihm herauf. Da, eine brennende Fabrik! Schwarze Rauchsäulen, darin die Riesenessen, und eine, sauber und säulenschlank für Augenblicke aus dem Qualm erscheinend, öffnete sich plötzlich lautlos in der Mitte wie aus Sand, und die obre Hälfte stürzte wie ein Körper von oben in die Tiefe. Gestalten erschienen, Redner vor grünüberzogenen Tischen im Kreise lauschender Charakterköpfe, das Getümmel der Fraktionen im Wandelgang, und ein Bronzedenkmal glitt aus der Hülle, fremdartig kupfern und dunkel, die Menge schrie, Hüte flogen, Uniformen und schöngekleidete Frauen schritten Stufen empor im Gespräch mit Bürgermeistern und Weißbärten in Fräcken und Ordensbändern, die lächelten, alle lächelten. Karossen fuhren vor, Heiducken und Jäger mit Mänteln und Decken sprangen ab, da stand der Kaiser und lachte, es erschienen Vestibüle und Terrassen, schweigsame Gänge zwischen Glaskästen der Museen und Gemäldegalerien. Säle der Kliniken lagen da, blitzende Küchen der Bewahrungsanstalten, Lehrsäle, getünchte, dämmrige Korridore, die kleinen, zierlichen Höfe mit langsam umhergehenden Gestalten in blauweißgestreiften Anzügen. Der ungeheure lampenübersäte Kronleuchter eines Theaters schien von oben zu stürzen, indes er aufglomm und in den erhellten Rängen und Logen hundert Gesichter wahrnehmbar wurden, befiederte, große Hüte, lange Handschuh, Juwelen und Abendmäntel. Schon flogen Werkstätten, Maschinenhallen scharenweise dahin, und da war sein alter Schulhof mit den kleinen Kugelakazien; Sekundaner standen um einen langen Menschen, der einen flachen Stein nach einem Baum jenseit des Flusses schleuderte, eine schwarze Krähenwolke wirbelte daraus empor. Er stand in einer der Galerien im Schlosse Trassenberg, oder Rosenstein. Die Gesichter der Ahnen sahen aus dem Düster herab, durch einen Schwertgriff, ein Pergament, einen Hut, eine Krause, einen Spitzenkragen kenntlich nach ihrer Zeit. Die Nesseln wucherten unter den Eichen im trocknen Graben um den alten Pallas; es war still, Käfer summten, der Park rauschte, eine uralte Stimme sagte: 1645. Allein wieder brodelten die Kessel der Städte, tauchten, wie von Scheinwerfern aus erst bodenloser Finsternis heraufgesaugt, erleuchtete Nachtplätze auf, mit schwankenden Bogenlampen, blitzend die Spiegelscheiben der Restaurants, grau und verschwiegen die Rolläden vor den Auslagen, hoch schwebend die gelb leuchtenden Riesenlettern: Bahlsen Keks; Automobilkutschen, innen erleuchtet, kleine Kabinette, kreuzten rasselnd und schwankend die Gleise der Straßenbahn, und plötzlich wimmelte Charing Croß mit hundert umliegenden Straßen von Hamsons nach Theaterschluß, — nein, bloß weg aus diesem London! — Aus einem Kaffeehaus ertönte Streichmusik, und ein Herr, der heraustrat, Doktor Bödeker, führte Georg durch viele dunkle, laternenerleuchtete Straßen in das stille Zimmer des Nachtredakteurs über den bodenlosen Höfen, doch schimmerte aus der Tiefe noch ein Lichtschein aus dem Setzersaal. Es ward Tag, die Ungetüme der Rotationspressen schwangen unsichtbar ihre Räder, schlangen durch den ganzen Körper den meilenlangen Papierstreifen, kleine, gefaltete Zeitungen regneten ihnen unaufhörlich aus dem Maul. Ein Fabriktor, draußen vor der Stadt, ward aufgeschlagen, und der staubige Feldweg bedeckte sich mit eitlem Gewimmel von Radfahrern, von Männern mit blauen Blechflaschen, Frauen mit gestreiften Schürzen, barhaupt in gefransten Umschlagetüchern, alle mit unschönen, durch Sorge, schlechte Luft, enge Wohnungen, durch Leidenschaft oder Unlust oder Gehässigkeit entstellten Gesichtern, und hoch über ihnen durch die gläsern scheinende Abendluft fegten die Schreie der großen Pfeifen ... Fünfundvierzig Fabrikessen standen jenseit des Flusses fern, und von allen fünfundvierzig strichen die Rauchwolken wagerecht nach Südosten, so feierlich und gelassen, daß nichts zu ahnen war vom ohrbetäubenden Getümmel in den Hallen der Maschinen und in den Arbeitssälen zu ihren Füßen. Das war die Arbeit! die Arbeit.

Vater und Sohn (Fortsetzung)

Georg legte die bitter schmeckende Hälfte seiner Zigarre in die Glasschale und faltete, halb zu den Fenstern hinübergedreht, die Hände um das übergeschlagene rechte Knie. Der Regen hatte aufgehört. Hervorbrechende Sonnenstrahlen vergoldeten Terrasse und Wiese, umdampft standen die Urnen, fern glitzerten die Wipfel, unter dem Fenster rauchte die Nässe von der Steinfläche empor. Georg, noch in Blitz und Donner seiner Phantasien gehüllt, hörte deutlicher wieder die Stimme seines Vaters, der ihm, ohne daß er ihn ansah, jählings erschreckend riesenhaft erschien, so klein er dort saß, Herrscher, der er war, über diese Riesenmasse von Betriebsamkeit. Überdem merkte er, daß sein Vater irgend etwas Sonderbares sagte, wandte sich träumerisch nach ihm um, begegnete einem, ja — einem geheimnisvollen Lächeln, wurde wach und staunte. Sein Vater hatte gesagt: Es sei nun also so weit, daß dies Trassenbergsche Geschlecht sozusagen alles wieder besitze, was es einst aufgab. Von allen Schlössern oder Landsitzen blicke es wieder über eigenen Boden; diese Schlösser oder Landsitze bärgen gleichsam unterirdische Brunnen, von denen aus ein unendliches Netz kluger Kanäle das Land durchwässere, es fruchtbar und deshalb ihnen leibeigen machte. Möglich sei es deshalb, durch einen äußerlichen Akt die tatsächliche Herrschaft wieder anzutreten, wie es nämlich ein gewisses Geheimschriftstück ermöglichte, das Georg der Siebente hinterließ und das jedem Erstgeborenen bei der Mündigkeitserklärung vorgelegt sei und noch werde, nämlich: Geheimvertrag zwischen dem Astrologen und Beuglenburg aus dem Jahre Achtzehnhundertundsechs, wonach die Zugehörigkeit Trassenbergs zum Großherzogtum nach hundert Jahren auf den Tag — erlösche. Er lasse aus einem privaten Grunde seinen Sohn schon heute davon wissen; wissen, daß der Astrolog — Georgs Vater lächelte vor sich hin — vielleicht? — in bewußter Absicht das Eroberungswerk begonnen habe, welches nun — möglicherweise — ein einziger Federstrich beschließen könne, derjenige nämlich, der das „in“ vor dem Trassenberg wieder in das alte „von“ verwandle. Der Herzog schwieg.

Das war ja sehr sonderbar! Was bedeutete das?

Georg sah sich in einem offenen Fenster stehn. Ja, das war im alten Pallas der Stammburg; zur Linken streckte sich der Südflügel, hoch auf Felsen liegend, über den alten Wipfeln des Waldes mit zwei, in der Abendsonne tiefrot glühenden und goldblitzenden Fensterreihn. Unter ihm brauste das grüne, rötlich umrauchte Meer der Eichen und Buchenkronen; er war ein Knabe, wie es schien, es dunkelte, der Himmel über dem Westen ward blaß, er hörte hinter sich im verdunkelten Zimmer die alten Bilder schweigen, die vorher so unerschütterlich ernst zu den Geschichten dreingeblickt hatten, welche die sanftmütige Kinderfrau aus dem alten Buche vorlas, alte, süße und blutige, gespenstische und mörderische Begebnisse; von Weissagungen und Verfluchungen, von Gebeten, vom Kampfgeschrei, von Trompeten, vom Knirschen der Hörigen, vom Stampfen der Streithengste, Rasseln der Zugbrücken, vom sanfteren Tritt der Frauenzelter, von Kinderliedern, Mönchsgesängen, Trinkliedern, Glocken, Orgeln und Bränden tönende Geschichten. Ja, damals gab es wohl bloß Schwert und Becher, aber die Frauen hielten immer eine kleine Blume in der Hand, sahen so fremd aus und sprachen mit dienender Stimme. Später lagen sie in Stein oder Eisen auf ihren Sarkophagen, die spitzen Eisenschuh der Ritter standen unerbittlich nach oben, zwischen ihren Schenkeln streckte sich das Schwert, die Hände der Frauen waren spitz wie kleine gotische Bögen gegeneinandergestellt, die Gesichter waren wie die Gesichter von Früchten, so gerundet und wenig geformt und innen süß. An ihnen glitt alles vorüber, wie Mama waren sie nicht, sie waren nur geduldig, ihnen wuchsen die vielen Söhne schlankweg über das Haar, schnell wie Pappeln, die Töchter gingen früh aus dem Haus, selten kam eine heim, verweint und verschleiert, um bald für immer hinter Mauern, hinter Gittern zu verschwinden, und das war eine der wenigen Wonnen, vorm Altar zu liegen und bei der Segnung des geschmückten, goldenen Priesters bei sich zu flüstern: Mein Sohn — der mir den Segen spendet! O verschwenderische Zeit! Ein Wort ward mit dem Leben billig genug bezahlt, der Mord ging gleichgültig aus und ein, saß an allen Tischen mit, spie in die Becher, blies in das Licht, blies in die Wiege, Licht aus, Augen aus. Dörfer brannten leer, Kirchen stürzten ein. Sie bauten wie für die Ewigkeit und schlugen es andern Tages in Trümmer, sie wußten nicht, was Zeit ist, der Himmel war nah, das Leben wie neun Monde im Mutterleib, dann kam das wirkliche, das ewige Leben.

Warum sah er das alles im Abendrot, in den brennenden Fenstern, im frauenblassen Himmel, im Dunkel unter den Bäumen? Sahs, selber schwank und kümmerlich sich dabei vorkommend, kleine, gefiederte Pflanze über dem ungeheuren Grabe seines Geschlechts. Darum sah ers; er gehörte ja dazu! Auf einmal begriff ers. Er war aus diesem gewachsen, unbekannt und unbegreiflich wie, gewachsen, mit dünnen Wurzelfäden hebend und saugend aus hundertfältig dahingestürmtem, dahingestürztem, abgestorbenem Leben, aus vergossenem Blut, aus geopfertem Blut, aus vieler Schuld, aus Trägheit, aus Sünde, aus Süße, mehr Haß als Barmherzigkeit, aus einem sonderbaren Christentum, aus Gewaltsamkeit, aus Schlaf. Bald, erschauernd, fühlte er die unterirdischen Ströme des Blutes sich verzweigen und in seinen Adern sich feiner und feiner verästeln, fühlte seinen riesenhaften Zusammenhang und den Brodem der Toten. Ihm, einem schlanken, behenden Sprößling, mit den schmalen Füßen und geschmeidigen Händen der Spätlinge, aber der breiten Stirn und dem anmutigen Mund seines Geschlechts — nur ohne die Nase —, ihm war es verliehen, all dies hinter sich zu haben, viel Hände zu fassen, viel Gestalt aus sich kommen oder in sich schwinden zu sehn. Da verwandelten sich die Trassenbergischen Eichenwipfel, unter ihm rauschend, in eine unruhige Volksmenge, die wartete. Wartete — auf ihn, doch er selber? Auf eine zarte, weiße Gestalt, die aus dem Dunkel hinter ihm an seine Seite treten würde, sanft und gütevoll, aber doch unähnlich den Frauen der alten Bilder, klüger, beweglicher als sie, nicht so fremd, so abseits vom Leben, so ängstlich. Dann würden sie Beide sich dem wartenden Volke zeigen, über Fackeln und aufsteigendem Gesang, unter Glocken, über Fahnen, Herzog und Herzogin von — ah, wie romantisch das war und herzschaudernd schön! Jawohl, dies war sein Schicksal, seine Bestimmung — achtzehnhundert bis neunzehnhundert — war eine rechte Vorhersagung, keine sinnlose und alberne wie die der Zigeunerin. Zu vollenden, was einer vor Jahrhunderten ihm dadurch aufgetragen, daß er begann im Vertrauen auf die, seinem Stamme innewohnenden Kräfte, im Vertrauen auf mehr als ein Lebensschicksal, — gab es Außerordentlicheres, Stolzeres, Beschwingteres? Nun dem längst Verstorbenen die Hand hinüberzureichen, den Ring zu schließen, — Georg wünschte sehr, jener tote Ahn möge an jenem Tage aufstehn und ihn dem Volke vorführen, und da der fragliche Ahn sich vor kaum einem Jahrhundert zur Ruhe begeben, so dünkte es Georg paßlicher, daß einer von den granitenen oder gußeisernen Herzögen sich erhebe und herwandle, auf den Zweihänder gestützt, steif in Harnischplatten rasselnd, mit den dolchspitzen Eisenschuhn, den Topfhelm im Arm, — und siehe da Anna, die den Topfhelm aus vollen Händen mit gelben Primeln füllte, so daß ihm das Herz hüpfte, wie die gelben Schlüssel durch die Einschnitte für Nase und Augen herausquollen und zu Boden fielen.

Unterweil aber saß dort sein Vater und war eigentlich derjenige, der all das gemacht und den Ring geschlossen hatte, und der jetzt ziemlich unteilnehmend bemerkte, er habe ihm dies gesagt, weil er es ihm habe sagen wollen; übrigens möchte er es getrost vergessen, mit alledem seis nicht weit her, und Georg glaube ja wohl nicht, bisher etwas vollbracht zu haben, was ihn berechtige ...

Georg errötete. Nein, bei Gott, er hatte nichts getan. Ja, nun sollte er wohl drei Jahre Zeit haben, um ... Nein, meistens hatte er sich nur oberflächlich präpariert, auf die Sauarbeit geschimpft, sich auf den Vordermann verlassen und die Gleichungen mit fünf Unbekannten von Rauscher abgeschrieben — da sank ihm das Herz. Lieber Gott, unermeßlich war die Welt, was tun, wo eingreifen? Nun, dies wiederum war vorgeschrieben, es würde sich zeigen. Freilich, über dem Volk zu stehen, das war berauschend und erhebend wie Beethovens Fünfte oder die Zweite Ungarische, aber unterm Volk, ja gleichsam durch das Volk, Gedanken, Pläne, Werke zu erzeugen ... und überhaupt kannte er eigentlich doch nur die Mitschüler und im übrigen einige Mädchen, Oberlehrer, zwei Könige, einen Großherzog, sehr flüchtig den Kaiser, Tante Henriette und den Kellner Frithjof — ja, der fiel ihm grade noch ein. Wie war ihm jählings alles unbekannt! Da waren die Kreise des Lebens wie hier die roten und weißen auf der Achatplatte. Man mußte wohl, wollte man was leisten, heraus aus dem seinen und so quer hindurch, aber wie herauskommen aus dem ewigen Rundherum und Ineinander?

„Mein Sohn,“ sagte der Herzog, „alles das ist ein großer Unsinn. Das sind alte Namen, alte Grenzen, alte Schmucksachen. Schön, aber mehr zum Ansehn. Sie nennen mich, wie du weißt, in meinen Kreisen den Genossen Trassenberg. Das ist ein nettes Schmuckstück, so aus einer neuen Legierung, die nicht viel wert ist, aber irgendwie macht mirs Spaß. Heut nachmittag kommt der Leutnant mit dem Pelikan, und was heißt das? Wir fliegen. Ich nicht, wir. Da lehrt uns die Vogelschau, daß die Erde ungemein flach ist und die Türme sie nicht höher machen und die Throne auch nicht. Es wird lange nicht mehr geherrscht, es wird nur noch, wie in Urzeiten, geordnet, und im übrigen: besessen. Von dem, was ich hier für mich allein brauche an Leibesbedürfnissen, davon kann ich kein Siebentel im eigenen Lande hervorbringen, aber, wie wir von aller Herren Länder, von aller Hände Arbeit abhängig sind, so besitzen wirs auch, denn wir sind Geist. Die Staaten und Fraktionen gehen meines Willens dahin, wohin die Religionen und die Aberglauben voraufgingen: in die Tradition. Man muß sie gehabt haben.

Nein, herzlich gern gewiß, aber so schnell konnte Georg sich nicht bekehren. Er versuchte es redlich, das Segel umzuwerfen und gegen den Wind zu kreuzen, aber es mißlang, er hockte beschämt und gedankenlos am Steuer, während die Leinwand gegen den Baum schlug und der Anblick der vor seinen Augen langsam verschwimmenden rot und weißen Wellenringe ihn immer tiefer in eine angenehme Leere hinabzog.

„Eigentum“, hörte er seinen Vater sagen, „ist ein gutes Wort. Bedenke, daß du ein riesiges Erbe vor dir hast und ein riesiges Vermögen. Das weißt du, das sagt dir zweierlei. Das eine, das Erbe: daß du tausendmal mehr als die andern zu arbeiten hast, um einigermaßen ein Gleichgewicht in dir herzustellen — gegen dein Erbe. Das andre, das Geld, das heißt die äußere Erleichterung: daß du tausendmal mehr als die Andern innerlich zu arbeiten, zu forschen, zu lernen und — zu leiden hast, — weil dir das so leicht gemacht ist. Wir haben das Land fruchtbar gemacht, es dankt uns. Laß uns nun stolzer sein auf das Selbsterworbene als auf Angestammtes, auf diese Namen. Die Welt teilt falsche Namen wie Orden mit vollen Händen aus. Uns nennt sie die ‚in‘ Trassenberg, und das ist nun zufällig richtig. Das ‚in‘ ist richtig, denn es bezeichnet den Kern, und die Herzöge sind richtig. Wie unsre Ahnen vor dem Heerbann einherzogen, so laß uns Führer sein in der Zeit, Neuerer, Eroberer schöner, ewiger Bezirke, vorn auf der Lokomotive.“

Georg fühlte mit zitterndem Kinn, daß ihm plötzlich Tränen in die Augen traten. „Uns“ hatte er gesagt, dieser herrliche Mensch, „laß uns Führer“ sein, — und Georg wandte den verschleierten Blick von jenem dunklen, geliebten, bärtigen Gesicht ab, dessen nahstehende Augen ihn durchglühten, und ihm erschien das gläserne Zifferblatt der Standuhr, undeutlich Zeiger und Ziffern, doch erkannte er nun, daß es erst zwischen halb und dreiviertel drei war, und — und ja, ein ganzes Gewitter, ein andres als jenes wirkliche draußen, war um ihn niedergegangen in dieser halben Stunde. Liebe und Segen und ...

„Ich wünsche keine Antwort von dir,“ sagte sein Vater, da er eine Bewegung machte und den Mund sprachlos öffnete, „ich wünsche, daß du eine gute Erinnerung an diese Stunde behältst. Hier ist eine alte Ausgabe des Benvenuto Cellini —“ Der Herzog holte zwei kleine Bände neben sich aus dem Sitz hervor, stieß sie ihm in die Hand, während Georg aufsprang, und fuhr fort: „die dich auch äußerlich freuen wird. Lies darin die Geschichte von der Ohrfeige, die der alte Cellini dem jungen gab, damit er sich an ein bedeutendes Ereignis erinnere. Setz dich, ich schenke sie dir, die Ohrfeige, du bekommst noch genug. Du hast noch alles vor dir, nimmst dir alles vor, du bist ja herrlich jung. Versuche aber, zu denken, daß alles Zinsen trägt, was du nützest, alles Zinsen von dir fordert, was du vergeudest, — allerdings scheinst du dich ja mit allem Mathematischen nicht in wünschenswerter Weise beschäftigt zu haben, der Durchfall war unnötig, immerhin habe ich auch darüber meine besonderen Gedanken.“ Er lächelte.

Georg setzte sich, die beiden Bände verlegen auf- und wieder zuklappend, wieder in den Drehstuhl und behielt sie im Schoß. Sein Vater sprach weiter:

„Nachdem du ... Ich habe dir Gelegenheit gegeben, ein wenig von der Welt zu sehn. Du hast Landschaft, Leute und Sitten, hast Gastlichkeit und Freundschaft, Autorität und — vermutlich — ihr Widerpart, Schönheit, Wissen und Aufgeblasenheit und Schablone im Klassenzimmer kennengelernt, im ganzen ein kleines und oberflächliches Abbild der großen Welt. Nun habe ich dir ein paar Monate Zeit gegeben, gründlich zu faulenzen, meinetwegen zu vergessen, zu reisen, Ballast abzuwerfen, Verse zu machen. Außerdem riet ich dir, dich um die Gutswirtschaft zu bekümmern, und ich hoffe, du hast wenigstens so viel begriffen, daß nicht so wenig dazu gehört, nur ein kleines Gut instand zu halten das Jahr über, geschweige ein Herzogtum. Ich habe nun die Absicht, dich auf meine diesjährige Aufsichtsreise mitzunehmen, mit der ich wie stets Anfang August beginnen werde. Dann kommt so langsam das Semester heran. Bist du einverstanden?“

Georg dachte: Anna — Abschied — Briefschreiben — Heimweh — Wiederkommen — und dankte lebhaft aus gepreßtem Herzen. Sein Vater erklärte, die Reise würde die allgemeinen Kenntnisse Georgs erweitern, dann wäre über die Universität zu reden. Übrigens wisse er ja, daß Fakultät oder Disziplin ihm gleich sei; ein bestimmter, einfacher Weg aber sei nötig, sonst gebe es Zersplitterungen. Ein Examen brauche er nicht zu machen, es handle sich um die Sache. Titel und Würden seien für Alberne, und zu weiter sei ein Examen in diesem Falle ja nichts nütze. Er würde sehen. — Der Herzog blickte auf die Uhr und sagte:

„In einer Viertelstunde wird gegessen, und du mußt dich noch anziehn. Noch eins zum Abschied.

„Daß ich einen tüchtigen Menschen an dir haben will, versteht sich von selbst. Aber ich möchte, daß du einsiehst, was die Menschen treibt, erhält und stürzt, und ich möchte deshalb, daß du dir deinen Umgang nicht unter den Müßiggängern und Sorglosen suchst, sondern unter denen, die sich bemühn. Schwer haben wirs alle; die Kunst ist, oder vielmehr verlangt wird: es sich schwer zu machen.“

Der Herzog nahm seine Stöcke, die neben ihm lehnten, und stand auf, ergriff dann beide Stöcke mit der Linken, winkte Georg zu sich, ergriff dessen Rechte und sagte, aufgestützt und ein wenig gebückt über ihm stehend und ihn fest anblickend:

„Mein letztes Wort ist: Begieb dich in Gefahr. Das Gegenteil im Sprüchwort hat deinen Vätern und deinem Vater nie gefallen. Begieb dich wissend in Gefahr, du entgehst ihr doch nicht. Wahrhaftigen Gott, es ist mir auch lieber, du kommst eines Tages zerbrochen und entsetzt nach Hause, als daß du über alles hinwegsäuselst, nicht weißt, was gut und böse ist, nur verekelt bist und fürs ganze Treiben kein andres Wort weißt, als: alles ist käuflich. Nichts ist käuflich, Junge, ich werde dich doch noch ohrfeigen müssen. Nichts von Wert war je käuflich, außer für Schweiß und Blut. Wenn dein Vater selber irgend etwas auf der Welt besitzt, so bedenke, daß ers zuvor bezahlte mit zwei zerschmetterten Füßen. Das Leben ist keine Hure und keine rollende Kugel, das Leben ist die Gefahr. Das Leben — es giebt das gar nicht, Begriffe sind das, es giebt nur: dich. Du bist das Leben und bist die Gefahr. Nun hole dich der Teufel, wenn du dir die Syphilis holst. Von der Liebe mag ich nichts reden, du wirst das alles selber sehn, sie ist ein Teil vom Ganzen, der schönste, kostbarste, wenn du willst; nicht das Ganze. Leidenschaft ist zu allen Dingen das Tor, den Hüter kennst du noch nicht, der heißt Selbstzucht; er ist genau so schwer, wie er auszusprechen ist, denn immer wird Selbstsucht daraus. Solltest du ihn verfehlen, giebt es Frauen. Weiber kenne ich nicht. Das Dasein ist kein Heiligtum und kein Ballhaus, aber es giebt Heilige so gut darin wie Zuhälter. Ich sagte schon im Anfang: gieb acht auf den Einzelnen! Es giebt nur Einzelne. Denk an deinen Vater, der —“ Der Herzog, der zuletzt mit fürchterlichen Augen geschrien hatte, verstummte, stieß noch keuchend hervor: „Mit Gott, mein Sohn, feire fröhlich und sorglos deinen Geburtstag. Ich hatte keinen Vater, der — — schau, daß d’ weiterkimmst!“ drehte ihn herum und schob ihn weg.

Georg, noch von seinen Händen umklammert, blieb stehn und wiederholte willenlos noch einmal, was er die ganze letzte Minute lang bei jedem Absatz geflüstert hatte: „Ja, Papa! Ja, Papa!“ Er hatte, während die Sätze an sein Ohr schlugen, Satzglieder, Wortbilder, Gestalten erschienen und verschwanden vor neuen, die sich in aber neue wandelten, doch nichts gehört, sondern allein gesehen. Gesehen nahe über ihm das aufgeregte, mühsam gebändigte Gesicht, so nahe und genau zu erkennen wie vielleicht nie zuvor. Und haftend, hineingeflochten mit beiden Blicken seiner Augen in die auf ihn niederglimmenden Blicke der dunkelbraunen Pupillen, gewahrte er doch mit unablässigen, geringsten Schwankungen und Kreiswindungen des Schauns all das Kleine und Kleinste umher. Er gewahrte den beweglichen Adamsapfel unten im Schatten des Kinns, in der weiten Öffnung des Kragens, und dessen breit umgeschlagene Klappen, und eine winzige weiße Faser an einer der Klappen; den blaugrünen Knoten des Schlipses und das Schillern in den Falten, den helleren Glanz der besonnten dunkelblauen Schultern und das beschattete rechte Ohr; den Bartzapfen am Kinn, der mit ihm auf und nieder ging, und das eine weiße Haar darin, die auseinandergesträubten dicken Haare des Schnurrbarts und unter ihnen die innerlich gedrehten, die an Lockenhaarnadeln erinnerten, und die grauen darunter und jenes, das an der Wurzel schwarz war und dann weiß wurde. Und er sah die Umrißlinien des geschwungenen Mundes, und wie sie sich bewegten, und durch die Barthaare die beschattete Haut; die Haut am Kinn, wo sie schwärzlich war vom Wegrasierten, und wo sie rötlich war, und braun, und heller, und die schief hängende Nase, den glänzenden Höcker und die Poren, und das bräunliche Mal an der linken Nüster; sah die goldenen Tupfe und Linien im Braun der Pupillen, ihre bläulichen Ränder so genau, und im gelblichen Weiß die gesprungenen roten Adernäste, und das bläulich Verschleierte der schwarzen Mittelpunkte, und sah in diesem und in jenem Auge winzig und gebogen sein eigenes Spiegelbild. Sah die Falten der Stirn, die Einsenkungen der Schläfen, die Runzeln, die sich bewegten, die Haare der Brauen, schwarze und graue, krumme und grade borstige, das Haar ... Und nicht dies im einzelnen, nein, sondern immer auf einmal alles, und er sah es nicht, o nein, er fühlte, er fühlte es, fühlte, daß es alles zitterte und sich bewegte und zusammengerissen war von einer unsichtbaren Gewalt im Inneren dieses fremden Körpers vor ihm, und daß diese Gewalt ihn anströmte, sich über ihn ergoß, Leben, Leben immerfort, Atem und Blick und Bewegung und Wort, und doch nicht dieses, nein, sondern zusammen all dieses und mehr: Unsichtbares, Fühlbares, immer Lebendigkeit, die außerhalb seiner selbst war, aber an der er hing, die ihn fesselte, ihn umflutete, und aus der immer wieder, um noch einmal, noch deutlicher sich kenntlich zu machen, daß ers nicht vergaß, dies Einzelne auftauchte gleich Wellen und Tropfen der Welle, Perlen und Blasen, Durchsichtigkeit und Glanz und Farbe und Tiefe und Kontur einer Welle: Augapfel und Braue, Kinn und Barthaar, Mund —, und jählings wieder dieser ganze, ihm zugewandte, wie ein Bild vor seine Augen gedrängte Kopf eines Reiterführers aus dem Dreißigjährigen Kriege, — welcher Ausdruck, den nicht er erfunden, sich ihm zeigte und öfters hervorwinkte aus allem übrigen des Sichtbaren und Fühlbaren, dem er auf eine Minute ausgesetzt war wie einem stetig sausenden Sturm ...

„Ja, Papa!“ sagte Georg, aufs tiefste und höchste verwirrt, entzückt und gedemütigt, küßte ihm hastig die Hand und ging hinaus.

Spiegel

Leer lag der weite Flur, und Georg konnte sich das Übermaß seiner Wonne durch eine Geste erleichtern, indem er die Arme von sich stieß, sich auf die Zehenspitzen erhob und nach ungeheurem Dehnen vornüber zusammensinken ließ, wobei ihm einer der reizenden kleinen Cellinibände entfiel, so daß ein halb Dutzend Eselsohren in die Seiten kamen. Indem er ihn beschämt aufhob, sah und fühlte er plötzlich die Befreitheit seiner rechten Hand vom väterlichen Griff, und indem er sie verwirrt anblickte und die roten und weißen Striemen daran vom krampfhaften Druck gewahrte, erschien ihm das Antlitz seines Vaters, so daß es ihm war, als habe er während der letzten Minute das Gesicht gar nicht gesehn, sondern nur es gefühlt durch die Hand, um die sich die andre Hand und mit ihr ihr ganzes Dasein, sein Wille und Leben gepreßt hatten. Und jetzt erst wußte er, was dies alles bedeutet hatte. Daß es Liebe gewesen war, ja daß er an einen gewaltigen Starkstrom von Liebe angeschlossen gewesen war, der noch nachzuckte in ihm und ihn betäubte, so daß er im selben Augenblick, wo er selig und verträumt den Kopf hängen lassen wollte, im Gegenteil davonlief, wie ein Tertianer mit der Palme von Marathon, am Treppenhaus vorüber den Flur hinab durch das Billardzimmer im Turm, und wieder ein Stück Flur hinunter in sein Schlafzimmer.

Der Diener wartete, hatte glücklicherweise schon den Schoßrock zurechtgelegt, auch einen Schlips dazu, der aber Georg nicht gefiel, und er fand einen lavendelblauen von hinreißender Schönheit und Paßlichkeit zu der sahnefarbenen Weste, schickte den Diener fort, zog sich aus, stand minutenlang in Unterhosen, sich besinnend, was in aller Welt nun vor sich gehen solle, kam endlich auf den Einfall: Waschen! tats, fand lange kein Handtuch, zog Hosen, Weste, Stiefel, Rock an, und nun hatte er Kragen und Schlips vergessen, zog alles wieder aus, Hose aus, einen Stiefel aus, es war unerhört, er dachte an tausend Dinge, aber das mit dem Wiederausziehn wie zum Schlafengehn, das war symbolisch, denn:

„Wir aber wollen uns zur Ruh

Hinlegen, dieser unser Tag ist voll —“

sagte Vollmöller im — nein, nicht im Parzival, da stand vielmehr: „Meine Mutter heißt Herzeleide ...“ Tränen traten ihm plötzlich in die Augen, aber er beherrschte sich, da er vor den Spiegel trat, um den Schlips zu knüpfen, und auf einmal sah er sein Gesicht.

Über einem männlichen Körper in graugestreiften Beinkleidern mit Hosenträgern überm weißen Hemde sahen ihn fremde Augen so absonderlich bestimmt und bedeutsam an, daß er, um ihrem Blick zu entgehn, sich näher zum Spiegelglas beugte, um das ganze Gesicht zu sehn, mit dem Gedanken, es auf seine Verwandtschaft mit dem väterlichen zu prüfen, aber er fand es so anders, daß es ihm beklagenswert schien. Es war schmal und noch ganz zart und erschreckend bartlos — obwohl er nie einen Bart zu tragen gedachte — die Augen blaugrau, das linke um einen Hauch kleiner als das rechte, die Brauen kaum erst angedeutet, die Stirne rund, das gescheitelte Haar, wohl von Mama, braun und ein wenig glänzend, nur der Mund — er verzog ihn ein wenig — war wohl dem des Vaters ähnlich, und die Nase — sie war völlig entartet, da sie — zu schweigen von Schiefe und Krummheit — vielmehr einfältig herunter und am Ende eher ein wenig nach oben ging, und das Ganze ... Versstücke Rilkes fielen ihm ein:

... als Zusammenhang nur erst geahnt ...

... als wäre mit zerstreuten Dingen

Von fern ein Ernstes, Wirkliches geplant ...

so hieß es ja wohl, und so war es. Da fühlte er wieder den eigenen Blick auf sich geheftet, prüfend und auf eine unbegreifliche Weise völlig unverständlich, — ein fremder Mensch, von dem er nicht wußte, was er wollte, und der nichts äußerte, sondern ihn einfach ansah, und schwieg, und jetzt anfing zu lächeln, und die ganze Zeit mit zwei Händen unterm Kinn zwei blaue Schlipsstreifen übereinanderhielt. Noch einen Augenblick wie gelähmt, als wolle ers drauf ankommen lassen, was der im Spiegel jetzt anfinge, halb entschlossen, nicht mitzutun, schüttelte er die Hände, knotete eilfertig und an sich vorbeisehend und wandte sich ab.

Ans Fenster tretend, sah er lange hinaus, ohne etwas zu gewahren, und sammelte einige Gedanken.

Wird es wirklich so schwer sein? dachte er bescheiden. Schuld an allem ist, fürcht ich, nur der Größenwahn und die Begrifflichkeit. Ja, wie Vater sagte: das Leben sagt man und: die Welt, und man denkt, man hätte die Alpen und alle Millionen Europas und Asiens vor und gegen sich, und all die riesenhaften und blendenden Vorbilder, deren jedem man etwas nachtun möchte — wie soll man da sich selber finden, sich und den kleinen, schmalen Weg, den man in Wirklichkeit zur Verfügung hat! Und dabei begegnet uns ein halbes Hundert Menschen auf der ganzen Strecke, und Dreien oder Vieren davon kommt man ein wenig näher, vielleicht bis ans Herz, ach, nur Einem ans Herz. Warum also solche Furcht, solche Anspannungen, so ungeheuerliche Erwartungen? Die erzeugten nur diese Enttäuschungen, die verbittern, erzeugten diese Menschen wie Annas Vater und seine alten Lehrer und Professor Prager. Der arme Benno, ob heute endlich der Brief kam? Und wie gut waren sie doch alle zu ihm! Der Maler hatte ordentlich zu reden angefangen, dieser Schweigsame, dieser Unbekümmerte, was ging er den an? Zwar war er nicht verschwiegen mit Absicht, — er war mehr sparsam, wörtlich: wort-karg, — ob ich das auch einmal werde? — — Dies schien ihm erstrebenswert, und so ging er hinunter.

Fünftes Kapitel

Mittagstafel

Beim Betreten des Speisezimmers stand Georg einen Augenblick geblendet vom Licht, sah bei zusammengekniffenen Lidern die hohe Glastür drüben stehn, empfand die Schönheit des gerundeten, großen Raums mit den matten Färbungen und Figuren seiner gewebten Wandmalereien und sah nun, daß die runde Tafel bis auf zwei Stühle schon besetzt war. Aber sieh, gegenüber, in der zum Vogelsaal führenden Tür stand Anna, und von ihrem blaßroten Leinenkleid schien das sonderbare Licht auszugehn, ihre Gestalt leuchtete über und über, ihr Gesicht war völlig beruhigt, die Augen schimmerten dunkel wie gebadete Juwelen. Nun gewahrte er auch, durch die Glastür blickend, durch die man im Winkel auf die Terrasse hinaustrat, die Wetterwand überm Park, von der das Sonnenlicht grell und flammend abprallte und den Raum so stark erfüllte; von allem Farbigen wurde es, von Magdas Kleid, den Gesichtern, dem Tafeltuch und Silber, dem Grün und Gelb und Rot des Fruchtaufsatzes fest eingesogen, und alles schien zu leuchten von innen.

Überdem sah er Magdas Vater und einen mittelgroßen Fremden im Frack mit breitem, rasiertem Gesicht aufstehn und auf sich zukommen; er reichte ihm die Hand; der große Chalybäus sagte vorstellend: Oberregisseur und einen russisch klingenden Namen. — So, das war der Besuch, den sein Vater, gastlich wie immer, eingeladen hatte. — Georg saß nun zwischen ihm und dem Maler, an den sich der Herzog anschloß, und weiterhin Anna neben ihrem beiderseitigen Nennonkel Salomon, dem sie im Niedersitzen leicht einen Arm um die Schulter gleiten ließ, worauf er mit seinem königlich staunenden Lächeln sich herumwandte, zuletzt ihr Vater wieder neben seinem Freund. Ihm gefielen sie im Augenblick alle, um so mehr, da er Anna gegenüber und abgewandt vom Licht saß, darin sie thronte wie das Glück. Während sie den Tafelaufsatz ein wenig nach links, eine Kristallvase mit gelben Rosen ein wenig nach rechts rückte, um ihm durch die Lücke himmlisch zuzunicken, hörte er den Mimen sagen:

„Mit gnädigster Erlaubnis, Durchlaucht und schönstes Fräulein, fahre ich fort, ich —“

„Basch, Theurer,“ unterbrach der große Chalybäus, reizend mit Augen und Zähnen umherlächelnd, seinen Freund mit nachsichtiger aber tönender Stimme, „du bist ja grade angekommen!“ Worauf über alle Gesichter im Kreise sich jenes Lächeln bewegte, das Georg an seinen Gesichtsmuskeln zerren fühlte, und das sich merkwürdigerweise nicht abschütteln ließ, sondern — wie überall — eine Weile stehenblieb.

Der Mime indessen war perplex. Niemals sah Georg eine solche Perplexität. Eben noch über seine Suppe geneigt, sah er jetzt den großen Chalybäus von unten an, und sein kahles Gesicht war eine Platte geworden, aus der die Nase einsam vorsprang wie ein stehengebliebener Springer auf dem Brett, dieweil die Augen dasaßen wie zwei blindgeborene Hunde, hülflos miefzend in sich selbst gerollt, und was völlig verschwunden war zwischen zwei Granitblöcken von Kinn und Oberlippe, das war der Mund. Nun aber entfaltete er sich wie eine Qualle, aufblühend zu nicht endenwollender Größe, formte sich zu einer feinsinnigen Spitze, öffnete sich wieder und, jählings zwei durchbohrende Blickblitze in Georgs Augen schleudernd — baff! — raunte er geheimnisvoll:

„Auch ich, Durchlaucht, beginne von vorn.“

Georg, verwirrt wie in der Tragödie, stammelte etwas, auf das hin der Mime sich verneigte, hastig einen Löffel Suppe verschluckte und begann:

„Ich erzählte, Durchlaucht, von Matkowsky eine kleine Schnurre ...“

Dieser Oberregisseur steckte wahrhaftig voll von kleinen, feinen Überraschungen. Schnurre — dies mußte das geheimnisvollste Wort von der Welt sein; Georg klang es, als habe er es nie gehört, so beladen war es mit seiner Bedeutung, wie denn niemand gerechter gegen die deutsche Sprache verfahren konnte, als dieser ihr Oberregisseur. Dies war ein Diphthong, habt acht: kloine ... dieses dagegen ein Vokal, ein e, ein gerechtes, unverfälschtes e, nicht ä wie in ‚erzählte‘, was ein völlig neuer Begriff ist, die Konsonanten aber waren in preußischen Kasernenstuben gedrillt und so akkurat wie ein Präsentiergriff vor Majestät über die Regimentsfront. Georg hatte nie so etwas gesehn; es schien ihm erstaunlich.

Matkowsky also sollte als Gast an einer kleinen Provinzbühne den Kean spielen und nahm vorm Beginn den Darsteller eines gewissen vorkommenden Barbiers beiseite, um ihm zu erklären, an einer Stelle im Stück, da habe er, Matkowsky, eine kleine Nuance ...

Der große Chalybäus bemerkte hier kaltlächelnd, dies wäre eine uralte Geschichte, es wäre aber nicht Matkowsky, sondern Döring, der berühmte Schauspieler Döring gewesen und dessen Kollege Pape, übrigens nicht Kean, sondern Othello und Jago. Daraufhin legte der Schauspieler, der unterweil hurtig seine Suppe verschlungen hatte, den Löffel hin, ergriff sein Rotweinglas, trank daraus und bemerkte sorglos: „Chlupp, erzähl du!“

Sie führen zusammen etwas auf, dachte Georg und versuchte Annas Augen zu erhaschen, die indes hingerissen am Munde des Mimen hingen. Dieser sprang nach der Unterbrechung kaltblütig mitten in die Szene hinein.

„Da nehme er nämlich, sagte Mattkoffskü, den Barbier beim Kragen und werfe ihn über die dastehende Chaiselongue in die nächste Kulisse hinein. — Sehr wohl, Herr Mattkowffskü, erwiderte darauf jener Barbier, das ist enne äußerst feine Nüangse. Nun sähn Se, da will ich Sie nur gleich sagen, da hab ich Sie nemlich ooch enne gleene Nüangse. Da gomm ich neemlich wieder herein aus der Gulisse und —“ Pause — „und —“ weitausholend — „und haue Ihnen eene herunder!“ — — Schluß, Tableau, große Apotheke, sagte der Erzähler und trank aus. Deutlich rauschte ringsum der innere Beifall.

Der Oberregisseur begann lebhaft den Untergang des alten echten Komödiantentumes zu beklagen. Wo gebe es noch richtige Komödiantennaturen, wo sei die entzückende Zeit geblieben, wo die Frauen im Dorf, wenn der Thespiskarren auftauchte, einander zuschrien: Nehmt die Wäsche weg, die Komödianten kommen! — „Heutzutage“, sagte er, „ist jeder ein Hausbesitzer, Steuerzahler und Familienvater, mit Ausnahme allerdings der zwanzigtausend im Deutschen Reich, die brotlos sind.“

Die Zahl erregte Verblüffung.

„Sehen Sie,“ flüsterte Georg Bogner zu, „das hier ist Ihre gesteigerte Subjektivität, da haben wirs, ja prost die Mahlzeit!“

Bogner lächelte, und zwar, deutlich zu bemerken, mit dem Munde und nicht mit den Augen, und gerührt dachte Georg: Er hat zwei Lächeln, eins auf Verlangen und eins für seine liebe Seele, und das erinnerte — woran erinnerte es nur? — an etwas Blühendes, ja, an eine schöne atmende Meduse in einem sonnigen Aquarium, — so quoll und dehnte sichs aus den lichten Augentiefen, während sich hundert Fältchen ringsum zusammenzogen. Indem hob der Schauspieler sein Glas gegen ihn und sagte fein:

„Durchlaucht konnten meinen Namen nicht verstehn, das bekümmert mich. Er lautet: Baschkirtseff!“ Herr du meines Lebens, wie das pfiff und schmetterte! „Früher“, fuhr Herr Baschkirtseff fort, „hatte ich zwar einen andern, auch sehr guten Namen, aber den hat jetzt mein Vater.“

Was das wohl bedeute, fragte Anna, worauf Baschkirtseff melancholisch wurde und erzählte, wie er sich durch Ausziehn des schönen Beuglenburgischen Dragonerkollers den Fluch seines Vaters und den Verlust des Namens zugezogen habe. — War das Schwindel? Nein, Chalybäus selber war Königsulan und Schauspieler gewesen. Baschkirtseff wollte nunmehr zu vertrauteren Familienszenen übergehen, ließ sich jedoch vom Herzog auf kinematographisches Gebiet hinüberziehn und begann sogleich, sich, soweit es ging, zum Herzog hinüberlegend, so daß seine vereinsamte weiße Frackhemdbrust krachte, ihm zu erklären, er habe eine entzückende Idee für einen Film, das heißt, gehabt habe er sie schon lange, jetzt aber beim Anblick dieses reizvollen Landsitzes habe sie Gestalt gewonnen, — ja, ob es wohl möglich sei, vom Herzog die Erlaubnis zu erlangen, diese Gegend für den Film, der eine Vollkommenheit der Illusion gestatten ...

„No!“ schnob, weit aufrecht zurück sich lehnend, der König Saul, feurige Blicke des nicht begreifenden Staunens schießend, „Vollkommenheit der Illusion, was das schon heißen soll. Ich nenne das — verzeihen Sie meine Spracharmut — aber ich nenne das einen großen Schwindel fürs Publikum, jawohl, so nenne ich es, und ich hoffe, Sie pflichten mir bei.“ Onkel Salm hatte immer naive Vorstellungen von der Nachgiebigkeit der Menschen.

„Nanu?“ sagte Baschkirtseff, in einem Ansatz zur Perplexität verbindlich steckenbleibend.

„Soll ichs Ihnen beweisen? — Photographieren Sie doch mal ein kleines Zimmer von der Tür aus, was wirds? Ein Saal wirds. Photographieren Sie einen Platz, wird er meilenlang, und ich verpflichte mich, jawohl —“ er schoß empörte und beteuernde Blicke auf den Herzog, „ich verpflichte mich, von dem kleinen Weiher im Park zwanzig verschiedene Aufnahmen zu machen, so daß Sie denken, es wären zwanzig Seen in allen Erdteilen und die reinste Urwaldvegetation — no — ich kenn doch die Welt! Mit einem Stück Binsenwald und Artaxerxes allein erzeuge ich Ihnen ganz Australien — ich weiß doch, was ich —“

Während dem unterbrechenden Baschkirtseff erklärt wurde, was Artaxerxes sei, war Georg zusammengefahren und suchte heimlich Annas Gesicht. Richtig, sie war blaß geworden und führte mechanisch die Gabel zum Munde, vergaß dann das Kauen. Georg, für Augenblicke gedankenstarr, hörte langsam die Stimme des Mimen näher kommen und verständlich werden.

„... und das eben ist der Kniff! Mit den geringsten Mitteln die fabelhafteste Illusion, und ich sehe mich nun genötigt, meine Filmidee zu entwickeln oder vielmehr die kleine Anekdote mitzuteilen, die ich zugrunde legen möchte.“ Dann erzählte er mit angenehmer Schlichtheit:

„Dr. Young, ein englischer Geistlicher, der berühmte Verfasser der ‚Nachtgedanken‘, spielte vortrefflich auf der Flöte. Als er einmal mit einigen Damen, die er ins Vauxhall führen wollte, über die Themse fuhr, wurde er wegen seines schönen Spieles von einem andern Fahrzeug, das voller junger Offiziere war, verfolgt. Es war ihm peinlich, und er steckte seine Flöte wieder ein. Einer von den jungen Leuten fragte ihn darauf: ‚Warum hören Sie zu spielen auf?‘ — ‚Aus eben der Ursache,‘ antwortete Young, ‚warum ich zu spielen anfing.‘ — ‚Und welche war das?‘ — ‚Weil es mir so gefiel.‘ ‚Gut denn,‘ antwortete der Offizier, ‚spielen Sie fort, oder ich werfe Sie in die Themse.‘ Young gab nach, verlor seinen Beleidiger aber nicht aus den Augen, und da er ihn abends in einer Allee allein fand, so stellte er ihn in einem festen und ruhigen Tone: ‚Mein Herr, aus Furcht, Ihre und meine Gesellschaft zu beunruhigen, habe ich Ihrer Impertinenz nachgegeben; aber um Ihnen zu beweisen, daß Herzhaftigkeit ebensogut unter einem schwarzen wie unter einem roten Kleide wohnen können, ersuche ich Sie, sich morgen vormittag um zehn Uhr im Hydepark einzufinden. Sekundanten brauchen wir nicht, der Streit geht bloß uns an, und es wäre unnötig, Fremde hineinzumischen. Da wollen wir uns auf den Degen schlagen.‘ Der junge Kriegsmann nahm die Forderung an. Sie fanden sich beide zur bestimmten Stunde ein. Der Offizier zog seinen Degen und setzte sich in Positur, Young aber setzte ihm eine Pistole auf die Brust. ‚Wollen Sie mich umbringen?‘ schrie der Offizier. ‚Nein,‘ antwortete Young ganz kalt, ‚aber Sie müssen so gütig sein, Ihren Degen auf der Stelle einzustecken! Dann sollen Sie ein Menuett tanzen, oder Sie sind auf der Stelle des Todes.‘ Der Offizier machte einige Umstände, aber die Kaltblütigkeit und der Ton seines Gegners wirkten, so daß er gehorchte. Nach beendigtem Menuett sagte Young: ‚Sie zwangen mich gestern wider meinen Willen Flöte zu spielen, ich habe Sie heute wider Ihren Willen tanzen lassen, wir sind quitt. Sind Sie indessen noch nicht zufrieden, so will ich Ihnen alle Genugtuung geben, die Sie verlangen.‘ Statt aller Antwort fiel ihm der Offizier um den Hals und bat um seine Freundschaft.“

„Sehr fein!“ lobte der Herzog, „sehr amüsant und vollkommen. Darf ich auf Ihr Wohlsein —“ Auch Georg hob sein Glas, alle, sogar König Saul, wieder versöhnt, tranken dem nach allen Seiten verbindlich dankenden Erzähler zu, während Georg es endlich glückte, Annas Augen zu erhaschen. Sie nickte und winkte mit ihrem Glase, und unterweil hörte er den Mimen:

„Und daraus,“ sagte er, „daraus mache ich den Herrschaften die entzückendste Idylle. Ich verlege den Schauplatz von der Themse auf einen englischen Landsitz, das heißt — mit Erlaubnis — hierher. Nun fehlt natürlich die Hauptsache ...“

Onkel Salomon schnaubte. „Gott soll mich bewahren, Herr, wenn Sie an dieser Geschichte etwas ändern, begehen Sie ein Verbrechen. Sie hat so was — no — so was Mustergültiges möcht ich sagen, nicht wahr, Georg, nicht wahr, Magda? Diese Sparsamkeit, diese — — beinah grandios ist ja das! Ich weiß doch —“

„Natürlich fehlt etwas“, sagte Magda hinterlistig. „Eine Dame.“

„Selbstverständlich!“ schloß der Baschkirtseff kurz ab. „Das ist ja klar. Es fehlt das belebende Element. Es fehlt ein Ingredienz der Luft, ohne welches das Publikum sie nicht atmen kann. Es fehlt das erotische —“

„Die Kientoppluft“, sagte Onkel Salomon. Nach dem kleinen Gelächter der Andern setzte der Schauspieler in die Stille hinein mit Nachdruck die Worte:

„Wenn Sie glauben, daß ich eine Type bin, dann irren Sie sich.“

„Ich?“ schrie der Doktor tief empört. „Ich glaube Ihnen überhaupt nichts!“

Die Bratenteller verschwanden, die Diener reichten Butter und Käse. Der große Chalybäus sagte mit leiser sittlicher Entrüstung gegen seinen Freund gespitzt, er finde es doch zu merkwürdig, daß es nie und nirgend ohne Liebe abginge. Onkel Salomon ereiferte sich. Chalybäus läse zu viel Romane. Im wirklichen Leben spiele diese Liebe nicht im entferntesten die Rolle wie in Ullsteinbüchern und so. Es werde alles gräßlich übertrieben ...

„Lieber Doktor,“ meinte der Herzog zu Georgs Staunen, „da muß ich Ihnen widersprechen. Ich finde, grade weil die Liebe im Lebensgefüge und zumal unter den kleinen Menschen im Werkeltag das einzige Wunder ist, das Seltene, das so unbegreiflich ist und insofern nur mit dem Tode zu vergleichen und ein Gegengewicht gegen ihn, deshalb haben die Poeten sie mit Recht sich — wie soll ich sagen — als die Flamme ausgesucht, die Sonne ist wohl der richtigste Ausdruck, in deren Schein alles andre erst sichtbar wird und Schatten, Leben und Wirklichkeit bek—“

„Aber gern, gnädiger Herr, sollen sie ja, sollen sie! Bloß — in Romanen ist sie leider nicht das Einmalige, Besondere, Seltene, sondern ist das Ganze von Anfang bis Ende und — wie soll man das sagen? — No, ich meine eben: immer und immer das ewige Liebesgequassel, es ist ja zu langweilig ist es ja, seit Jahrhunderten nun schon!“

Georg suchte Annas Augen, bekam sie aber nicht. Der Baschkirtseff meinte, der Doktor sei bloß ein öder Misogyne. Der große Chalybäus stieß mit ihm an und meinte, mit einmal völlig andern Sinnes als zuvor, er sei total übergeschnappt. Magda verspottete ihn: das solle Tante Flora hören.

„Shakespeare und Dickens“, sagte er funkelnd wie ein Löwe, „behandelten sie nach Gebühr.“

„Romeo und Julia“, sagte Magda leise.

„Also no! da haben wirs, mein Kind! Als der Engländer einmal ein großes Lied von ihr singen wollte, verlegte er den Schauplatz in den Süden, in romanisches Gebiet. Das Feuer, dessen er bedurfte, gab es in England denn doch nicht. Übrigens halte ich mich nach wie vor an die Pick—“

„Nu redt er vom Feuer,“ sagte der Baschkirtseff hoch erstaunt, „und eben behauptet’ er, es wär eine Tranfunzel!“

Onkel Salomon lachte verlegen. Georg dachte: Dennoch! Wo ist das allumfassende Gefühl, das mich fühlen macht, fühlen die Sonne und die Sterne, die Ebene und die Brandung und — — Überdem fing er einen Blick Annas auf, sah sie zögernd ihr Glas heben — es war nichts darin —, ihm zulächeln und die Neige trinken, während ihre Blicke in den seinen haften blieben und sie langsam errötete. Der Herzog sagte leise: „Nun, Magda?“

Sie verstand und hob verwirrt und anmutig die Tafel auf.

Pelikan

Georg war ungestüm entschlossen, irgend etwas Einsames mit Anna zu verabreden; während sie aber in den Vogelsaal voranging, um sich dort mit dem Kaffee zu beschäftigen, mußte er als letzter zurückbleiben und betrübt, hinter seinem Vater gehend, dessen kraftlos und kümmerlich nach oben stehende Füße — wie Entenfüße — sehn, während die Stöcke sich unter der Last des schweren Mannes bogen. Die Sonne war inzwischen in Fülle hervorgekommen, die Wetterwand verschwunden, der Saal schwamm in reichem Nachmittagslicht, die hundert bunten Flügel in den Nischen glitzerten und auf den kleinen Tischen das Silber der Kannen, Likörflaschen und Kuchenkörbe. Die Diener verschwanden. Wie sie alle umherstanden — nur der Herzog saß am nächsten Fenster — in ihren Schoßröcken, fühlte Georg sich für einen Augenblick nach Somerset versetzt und wunderte sich, daß Magda umherging, um den Herren kleine Tassen zu überreichen, anstatt daß im Gegenteil sie bedient wurde. Zuletzt kam sie zu ihm, aber nun hatte er natürlich seine eigenen Pflichten vergessen, denn da stand der Maler und betrachtete die Zigarettenkästen. Baschkirtseff nahm eine lange Zigarre; in seinem, allzusehr mit seidenen Aufschlägen und Samtkragen strahlenden Frack sah er aus, als ob er etwas deklamieren sollte. Georg nahm eine Zigarre für seinen Vater, schnitt die Spitze ab und brachte sie ihm, der leise mit dem neben ihm stehenden Sekretär etwas besprach. Nun saß Anna auf einem Stuhl, und der Baschkirtseff, zierlich über die Lehne geneigt, setzte ihr auseinander, wie er die Dame in seine Filmidee hineinpraktiziere, das heißt natürlich da, wo das Menuett getanzt würde. Dazwischen hörte Georg den großen Chalybäus bedeutsam „die grüne“ sagen und sah ihn riesig über den Maler ragend, in der linken Hand eine Kristallflasche mit gelber, in der rechten eine mit grüner Chartreuse, die er mit strahlenden blauen Augen verglich.

„Und nun kommt es natürlich darauf an,“ raunte der Baschkirtseff, als ob er mit Magda über die Schlafzimmereinrichtung in ihrem demnächst zu begründenden Haushalt spräche, „ob die Geschichte komisch oder tragisch werden soll. Nehmen wir eine Frau des Pfarrers oder eine Tochter, das ist die Frage.“ Er blickte sie, prüfend ins Tiefste ihres Gewissens, von oben an.

Indem sah Georg, jetzt schläfrig vom Weingenuß und der reichlichen Mahlzeit, daß Egloffstein sich drüben ihm gegenüber in wartender Haltung aufgestellt hatte, dessen eine schwarzseidene Hosenseite, den Fenstern zugekehrt, weiß glänzte, und daneben blitzte ein silbernes Brettchen, das er nun, auf Georgs Augenwink herantretend, ihm hinhielt. Richtig, ein Brief mit Bennos Handschrift. Georg sah sich um, ob er wohl beiseitetreten dürfe, und gewahrte Anna, die in eigentümlicher Weise, aufrecht stehend, durch das Fenster nach oben blickte.

„O seht mal, was ist das?“ rief sie im nächsten Augenblick. Ein Schatten glitt von oben über das Zimmer, und Georg sah hinaus. Siehe da, auf dem weiten Rasenoval hatte sich ein weißes Ungetüm aufgestellt, es hüpfte noch vorwärts und stand, — riesenhafte Leinwandflächen in Stockwerken übereinander, zwischen denen es schattig war, viele Schnüre und Metallgestänge, vorn eine mächtige, braunhölzerne Schiffsschraube, dahinter ein gewaltiger schwarzer Stern von Motorzylindern. Eine schwarzlederne Gestalt erhob sich jetzt im schattigen Innern, und ein Arm schwenkte eine lederne Mütze. Das Ganze stand auf dünnen Beinen wie eine Wasserspinne; kleine Räder waren darunter.

„Tausend!“ sagte der Herzog in das schweigsame Staunen der andern, die sich alle den Fenstern zugewandt hatten, „tausend, das ist mein Pelikan!“ nahm seine Stöcke und humpelte, so schnell er konnte, auf die Terrasse hinaus. Georg, dicht hinter ihm, besorgt, ihn im Notfall zu stützen, verlor für Augenblicke alle Schläfrigkeit aus den Gliedern, trotz Hirn und Augen blendender Mittagsglut, die sich hinter dem Gewitter geschlossen hatte, als sei es nicht gewesen.

Während sie allesamt die Treppe hinuntergingen, kletterten zwei Lederne aus dem Flugzeug heraus, von denen der eine über die Wiese heransprang.

„Glatt gelandet, Durchlaucht!“ rief er, „wunderbare Überfahrt, einmal mitten durchs Gewitter, aber schnell wieder jetrocknet!“

Nun gab es einen Wirrwarr von Beglückwünschungen. Der Leutnant stand wie ein heruntergefallener Mondbewohner, überschlank und völlig von Leder, im Kreise der andern, lachte mit blitzenden Raffzähnen, hatte eine hakige Nase, langes Kinn und lange Oberlippe, beide schwarzblau vom Rasieren, schien also mit Onkel Salomon und doch auch wieder mit dem Herzog verwandt. Das ist so eine moderne Mischung, dachte Georg und erinnerte sich an seines Vaters „neue Legierung“. Der Leutnant führte nun die Gesellschaft um den Apparat und erklärte alles. Bescheiden, ganz still und blaß abseit, der Techniker bekam eine Handvoll Gold vom Herzog und sagte vor Schreck kein Wort.

Ja, nun sollte geflogen werden. Der Apparat war für große Lasten bestimmt, dafür aber noch nicht geprüft, doch konnte an Stelle des Monteurs jemand mitfahren. Georg zuckte, aber ein stilles Lächeln und wehmütiges Kopfschütteln seines Vaters erinnerte ihn an die Mutter und an sein eigenes Schweigen, eine Stunde zuvor im Arbeitszimmer, nachdem er gesagt hatte: „Die Menschheit?“ und bezwang sich. Der Leutnant verbürgte sich großmütig für unbedingte Sicherheit. „Überhaupt,“ sagte er, „man bindet einen Motor unter eine alte Küchentür und fliegt, gar nichts zu machen, meine Herrn!“ — Allein der Baschkirtseff fragte, ob er sich auch für das Fortkommen seiner Witwe und Waisen verbürgte, und das wollte der Leutnant nicht. Der große Chalybäus trug seinen Riesenleib staunend immer im Kreise um den Apparat. Bogner war gern bereit, wenn kein andrer sich melde. Georg sah Anna dastehn und ihren Vater mit den Augen verfolgen, die Stirn runzelnd, als ob sie erwarte, daß er ihr die Fahrt schenke. Dann entlief sie plötzlich in der Richtung des Verwalterhauses.

Der Herzog, Chalybäus und Baschkirtseff mit Onkel Salomon stiegen die Treppe wieder hinauf, um die Abfahrt von oben zu genießen; der Gärtner und ein paar Knechte, die sich in der Nähe aufgestellt hatten, wurden herangerufen und mußten helfen, den Pelikan umzudrehn und dicht an die Terrasse zu schieben, damit der Anlauf groß genug würde. Pelikan, dachte Georg faul und fast schon wieder zufrieden, unten bleiben zu müssen, Pelikan ist ein schöner Name für dies Ungetüm, — und gähnte heftig, indem er sich in den Schatten des Giganten stellte; der Leutnant holte ihm einen kleinen Koffer aus dem Magen.

Schon saß der Maler, mit Lederjoppe und Mütze des Monteurs bekleidet, hinter dem Leutnant, als Magda über die Wiese gelaufen kam, mit den Ärmeln eines Mantels kämpfend, den sie im Laufen anzog, ein Tuch fest um den Kopf gewickelt. Bogner mußte wieder heraus, sie beschwor ihn flehentlich, sie käme im ganzen Leben nicht wieder dazu, und er sollte bloß schnell machen, damit ihr Vater es nicht zu früh merkte. Der kam mit Baschkirtseff und frischen Zigarren aus dem Saal, grade als sie im Apparat verschwunden war, aber der Herzog, der auf der Terrasse saß, verriet nichts.

Der Monteur warf die Schraube an. Sie flog ein paarmal schwankend im Kreis und war verschwunden.

„Deubel,“ sagte Georg, „wo ist die Schraube hingeflogen?“ worauf der Monteur sanft lachte und von der ungeheuren Geschwindigkeit der Drehung sprach, was Georg inzwischen selber eingefallen war, auch wurde ein Glitzern sichtbar, und am Boden wehten und verbogen sich die Halme tief und in heftiger Aufregung. Da brauste der Motor stürmisch auf, die Männer sprangen weit zurück, langsam rollte der weiße Kasten über die grüne Wiese, schien ins Wäldchen zu wollen, erhob sich jedoch unvermerkt und — ein wenig nach links geneigt — schwang er sich mit plötzlichem Willen über die Wipfel empor, steuerte der Ferne zu, beschrieb einen langen Bogen, so schön und leichtgemut sich umlegend, daß Georgs Zwerchfell zitterte und er lachen mußte, nach oben blinzelnd mit geblendeten Augen, — kehrte zurück, schwebte drohend und riesenhaft über den unten Stehenden, senkte sich, zog einen Kreis von wunderbarster Ruhe und Genauigkeit über Dach und Türmen von Helenenruh, prächtig donnerte der Motor, — stieg in langen, herrlichen Schraubengängen höher, plötzlich blitzte der ganze Kasten von der Sonne getroffen auf, eine mächtige, schneeweiße Masse, schwenkte wieder herum, erlosch und zog von neuem dicht über den Parkwipfeln hin, dann in schnurgerader Bahn, schräg gegen den strahlend blauen Himmel hinan, schimmernd und seelenvoll dem Unendlichen zu. Als er über den Baumkronen fortgeglitten war, hatte es Georg geschienen, als ob eine schwarze Gestalt daraus emporgetaumelt und von der Schraube zurückgeworfen sei, ein paar Dohlen wohl.

Ja — — nun — —, da war sie fortgeflogen. An ihn, der unten bleiben mußte, hatte sie nicht gedacht, ihm nicht einmal zugenickt, oder hätte die Zeit wirklich nicht dazu gereicht? Nein, das war keine Liebe, sicherlich nicht! Ein Kind war sie, spielte bloß und tat, was ihr einfiel, und vielleicht fiel es ihr ab und zu ein, daß sie ihn liebte, das heißt, wenn sie jemand haben wollte, um ihn verführerisch anzulächeln. Und sein Gedicht, was war aus seinem Gedicht geworden? Sie machte sich wohl doch nichts daraus. Das war ein herber Schmerz, eine giftige Enttäuschung, und Georg beeilte sich, sein ganzes Wesen damit zu tränken, bis es überfloß, bis die Welt im Trüben schwamm und er ein Märtyrer wurde, der mit Wonne zu leiden begann. Sollte er auf sie warten? In dieser unangenehmen Sonnenhitze? — Nein, sagte er, ich werde Bogner Gedichte vorlesen und ihr nicht. Lieber wäre er freilich einsam gewesen, um sich ganz seiner Galle zu überlassen, — und am liebsten hätte er sich irgendwo in den Schatten gelegt, um zu schlafen — aber dies war noch herber, und also fragte er den Maler, der gern bereit war, nur noch einmal nach al Manach sehen wollte, worauf sie denn verabredeten — da Georg plötzlich Bennos Brief einfiel —, daß der Maler in einer halben Stunde auf Georgs Zimmer kommen wolle. Georg überlegte noch, ob er den Gärtner beauftragen solle, dem Pelikan aufzupassen und Anna Bescheid zu sagen, wo er wäre, unterließ es aber aus Bosheit.

Auf dem Wege in sein Zimmer tauchte wieder und wieder Annas Gesicht vor ihm auf, wie er es sah, als sie sich im Flugzeug zurechtsetzte und voraus blickte, absonderlich ernst, erregt und entschlossen. Vorher war es ihm ein süßer, goldener Spiegel gewesen; jetzt war er plötzlich daraus fort, und sie spiegelte Land und Meer selig aus der Vogelschau. Freilich, sollte er ihr das nicht gönnen? — Angst preßte jählings seinen Brustkasten zusammen —, ja, hatte er denn alles vergessen, was mit ihr war? Das Gespräch mit seinem Vater, ja, diese brennende Stunde hatte alles verzehrt, was vorher war. Und doch — war seine Liebe nicht gewachsen unterweil, sie, die keiner Zuführung bedurfte, die eigenwillig war und ... vielleicht steckte sein Gedicht doch noch im Schuh. Oder hatte sie es beim Anziehn der weißen Schuh an ihrer Brust verborgen? Welch himmlischer Gedanke! Aber wie war er doch verlassen! Wie war alles öde auf einmal und abgeblaßt! Und die Zeit — die Zeit stand entsetzlich still.

Ein Brief

In seinem zweifenstrigen kleinen Zimmer angelangt, ergriff Georg vom Schreibtisch unter den Fenstern das elfenbeinene Briefmesser und setzte sich im Winkel neben dem Schreibtisch in den alten, großväterlichen Wangenstuhl mit Roßhaarbezug und Säumen weißer Knopfreihen, nachdem er den darauf liegenden Band des Grünen Heinrich aufgenommen und auf den Schreibtisch gelegt hatte. Dann saß er minutenlang mit geschlossenen Augen, innerlich rieselnd von Schlaf, bis er sich wieder ermunterte, die Augen aufriß, sich gähnend reckte, den Brief öffnete und las:

Altenrepen, am 29. Juli

Mein lieber Georg:

Die drei Wochen Frist, die Deine liebevolle Weisheit mir ließ, sind verstrichen, und ich zweifle fast, daß ich Dir geschrieben hätte, wenn nicht —

Also nichts! schnob Georg. Es ist ein Elend, ein Elend! — Die rechte Hand geballt, las er verbissen weiter:

— wenn nicht heute auf dem Mittagsheimweg Iris Runge mir in der Langenlaube begegnet wäre und sich sofort — hocherrötend, des darfst Du gewiß sein! —

Georg, inmitten seiner Erzürntheit leise geschmeichelt, dachte unwirsch: Ach, was geht mich Iris Runge und die ganze Altenrepener Sippschaft an! —

— gewiß sein! — auf mich gestürzt hätte mit Fragen: „Wo ist Georg? Ist er wieder in Deutschland? Haben Sie Nachricht? Wann?“ usw. — Ja, Georg, Du hasts doch gut! Hätte sichs um einen von uns gehandelt, da würde ihre Mädchenscheu sich wohl gehütet haben, nur eine Andeutung von Wißbegier sichtbar werden zu lassen, Du aber genießest diese schöne Vogelfreiheit, daß jeder sich von Herzen mit Dir beschäftigen darf, und ich sonne mich bescheiden in diesem Glanz, der oft genug die Menschen mit ihren zutraulichen und unschuldigen Fragen an mich lockt ...

Guter Benno, welch holde Seele bist du doch!

Und nun — muß ich nach diesem Eingang erst wirklich noch von mir sprechen, Gründe, die alten Gründe — denn was sollte sich verändert haben in diesem halben Jahr? — von neuem aufzählen? Ich bin doch recht müde von diesem letzten Kampf, er war schlimm. Nicht, daß ich zu meinen Eltern noch einmal ein Wort geäußert hätte, wozu? Der letzte Kampf war der, ob ich gegen ihren Willen handeln sollte und — ich habe gesiegt. Nun bin ich freilich müde.

Wir müssen die Menschen verstehen, Georg. Wenn Vater selber das Geld hätte, glaubst Du, er würde mir nicht meine Musik lassen? Ja, wenn ers mit doppelter Arbeit und mit noch mehr Entbehrung schaffen könnte, daß er nicht alles auf sich nehmen würde? Er hat einmal in seinem Leben ein Opfer gebracht, einmal im Leben gezeigt, daß Stolz und Festigkeit ihm mehr galten als Vorgesetzte, Amt und Brot. Die Folge war das jahrzehntelange Elend des kleinen Beamten, Sorgen und Sorgen, dann Zerwürfnisse mit Mama, Feindschaft und all die Unerträglichkeit, die Du zum Teil mit erlebtest, dazu die langsame Verknöcherung, Verbitterung, und nun, von aller einstigen Mannhaftigkeit nun als letzter Rest der Stolz, daß der Sohn eines beuglenburgschen Beamten nicht auf fremder Menschen Kosten, nein, warum den Ton auf Kosten legen? — durch fremder Menschen Güte das bekommen soll, was er selber ihm nicht schaffen kann. Er glaubt ja an nichts mehr, wie soll er an die Zukunft einer so unsicheren und obendrein ihm innerst so fremden Sache wie meine musikalische Begabung glauben? Er denkt, Dein Vater wird sein Geld an mich wegwerfen, und auch das läßt sein Stolz nicht zu ...

Georg knirschte. Stolz und immer Stolz, und der demütige Benno, der ihn und alles immer begreift! Daß die Dummheit der Aufgeblasenen auch immer die Dummheit der Edelmütigen neben sich haben muß, an der sie sich auslassen können! Ja, wenns sich doch um Vernageltheit handelte, um pure Boshaftigkeit eines verrückten und vertrockneten Alten, dann solltest du mir mal kommen, mein Benno! Aber überall nur Schwachheit und Schwächlichkeit hüben und drüben, die zu einem elenden Brei zusammenfließt. Der eine läßt aus Schwächlichkeit das Böse zu, der andre unterläßt aus Schwäche das Gute. Nun wird er mir noch einen langen Sermon schreiben über seine arme Mama, die natürlich auch liebend gerne den größten Kapellmeister in ihm sehn würde, die aber keinen eigenen Willen hat, und die krank ist, so daß er ihr nicht das Leid antun darf, gegen ihren vermeintlichen, das heißt gegen den Willen ihres Mannes zu handeln. Und daß dieser ein elender Tyrann ist, der jenes einstige Opfer längst durch Knechtung und Erstickung alles Blühenden und Zarten und Liebevollen um sich herum längst doppelt und dreifach wettgemacht hat, davon natürlich kein Wort! Ja, was hilft mir denn nun mein riesenhaftes Erbe und alle Ahnen und alle Fabriken des Herzogtums, was hilft einem denn das Geld, wenn man der Dummheit nicht mit ihm den Schlund stopfen kann! Es ist nicht zu sagen, nicht zu sagen ist es ja!

Georg war aufgesprungen, lief mit schwingenden Armen und mächtigen Schritten im Zimmer hin und her und blieb mit plötzlicher Rührung vor der, über dem Lehnstuhl schwebenden kleinen Alabasterschale mit goldgrünem Mispelkranz, an einem Dreieck von Ketten hängend, stehen. Armer Benno, dachte er, so schwebt deine zarte, blasse, durchscheinende Seele mit ihrem immer grünen Kranz in ... Die Fortsetzung des Gleichnisses blieb ihm aus, er bückte sich, hob den zu Boden gefallenen Brief auf, zauderte, ob er weiterlesen solle, legte den ersten Bogen auf den Schreibtisch und begann den zweiten.

So hab Dank, Georg, noch einmal innigsten Dank Dir und Deinem edlen Vater für diesen letzten Versuch, und haltet mich nicht für undankbar, bitte nur das nicht!

Ja, auch das noch! murrte Georg. Er trieft natürlich von Seele und Edelmut. Immer am unrechten Platze. Undankbarkeit! Der Alte ist ein undankbarer Schurke! Warum hab ich denn vier Jahre das Gejammer und Geunke und die Nörgeleien und Streitereien ausgehalten? Laß sehen, schrieb er nicht davon auch was? — Georg nahm den ersten Bogen wieder vor, suchte und fand die noch nicht gelesene Stelle:

Für ihn wars nur ein Zeichen seiner Verlorenheit vorm Schicksal, daß mit dem Augenblick, wo durch Dich endlich ein wenig Erleichterung des Lebens und Aufhören der schlimmsten Geldsorgen ins Haus kommen sollte, Mama sich mit der Krankheit niederlegen mußte, die alles Überschüssige wieder einschlang, — ach auch das weißt Du ja alles, aber weil ich Dich bitten möchte, gerecht zu sein, sage ich es Dir noch einmal.

Freilich weiß ichs, knurrte Georg, und ich habe durch die Wand und halbe Türen oft genug die Vorwürfe und die schlecht unterdrückten Anspielungen auf die Last dieser offenbar halb geheuchelten Krankheit gehört, — ach, was für Menschen es giebt, was für Menschen! — Seufzend griff Georg wieder nach dem zweiten Bogen und las weiter:

Es ist ja auch noch nicht alles verloren. Sowie ich ausgelernt hab in der Bank — zu studieren in Altenrepen hatte ja wirklich keinen Zweck, da mir an keiner Art Studien etwas liegt, und ich so auf die erste Weise zur Brotstellung komme — dann darf ich ja wohl wieder auf die Güte Deines Vaters rechnen, der mir eine Stellung wird verschaffen können, die mir Zeit für mich läßt. Daran laß uns denken und hoffen.

Schöne Hoffnungen! Bis mittags um drei Diskonto- und Lombardgeschäft und dann Kontrapunkt und Harmonielehre und was weiß ich in der Hochschule, und außerdem vier bis sieben Stunden Klavierüben am Tag und die halbe Nacht Komponieren, — ja, es wird reizend werden!

Die Tage sind ja nun so wunderbar, und für was tröstet nicht die Natur zumal im Sommer! Leider bin ich ja kein guter Mensch, ich bin voll von gemeinen und schwarzen Gedanken, und Blume, Wolke und Vogel müssen ihre ganze übernatürliche Langmut und Süße manchmal aufwenden, um nur einen Tropfen Honig in die Galle gelangen zu lassen. Ich bin viel gewandert an allen freien Tagen, in die Haide hinaus, die schon linde anfängt, sich zu färben, in die grüne und gelbe Ebene, und ich glaube, ich habe ihn gesehn, den alten Atlas, wie er mit riesigen, erdenen Schultern das Himmelsgewölbe trägt. O die Ebene, Georg, die Ebene! Sie ist doch der Inbegriff, die große Mütterlichkeit, Schoß und Reichtum, und o ich liebe sie, diese norddeutsche Tiefebene, so daß schon diese beiden Worte einen delphischen Brodem um mich aushauchen können, ich fange an, Noten zu lallen, es tönt ... Eine Symphonie soll es werden, Georg — da ist es verraten! — und sie wird: die Ebene heißen, — keine Programmusik natürlich mit Waldesrauschen und Grillengezirp, sondern es wird die Ebene sein, wie — sit venia verbo! — die Eroica ein Heldenleben ist. Ja, der schönen Pläne sind viel! Ich habe die alte F-Dur-Sonate wieder vorgenommen — erinnerst Du das langsame Thema mit dem Schluchzen? und die alten Bruchstücke klirrten metallisch süß und leise, — bald sollen sie mir wieder schmelzen. Dann sind auch Deine Lieder, ich höre oft die allerzartesten Stimmen wie ein Geflüster von Wolken in unendlicher Bläue einsam, — halten ließ sich noch nichts. Genug davon!

Die Jungens sind nun alle in den ersten Ferien wieder hier, Löbell schon mit Schmissen, Barkhausen, Veit, Spiegelberg, Haman, alle fragten nach Dir, und ob Du nicht zum Schulfest im August herüber kämest. Auch Fräulein Runge fragte natürlich!

Ich schließe, meine Grüße durch die ihren beflügelnd. Empfiehl mich von Herzen Deinem Vater! Das Beste in meinem Leben war und wird doch immer die Freundschaft mit Dir bleiben, und ihrer gedenkend fühlt sich — wie wäre er sonst schlecht! — beglückt und im Frieden Dein alter

Benno Prager.

Das Ende klingt wie Abschied vom Leben, seufzte Georg gerührt, legte den Bogen zusammen, saß einen Augenblick trübsinnig nach vorn gebeugt, erhob sich und legte den Brief auf den Schreibtisch, der auf seiner grünüberzogenen Fläche nur eine Schreibunterlage mit Löschpapier, ein altes messingnes Tintenzeug, eine viereckige Aschenschale aus Kristall und ein gerahmtes Bild von Stefan George trug. Dastehend, die Hände auf der Platte, sah Georg zum linken Fenster hinaus, und der Anblick des Himmels erinnerte ihn mit leisem Schmerz an eine Entflogene.

Ganz rein war der Himmel und leuchtete. Das tiefe und starke Nachmittagslicht ergoß sich nun schräg von oben; stärker grünte der erfrischte Rasen, von dessen gewaltigem Oval Georg nicht mehr als den letzten Rundabschnitt sehen konnte. Gegenüber schimmerte mit Läden und Fensterreihen die weiße Wand des Nordflügels, altersschwarzes Dach und die flachen Vorwölbungen der Ochsenaugen, links daneben die Gesträuche und Bäume, die das Verwalterhaus teilweise verdeckten. Aber nun wurde von rechts, von der unsichtbaren Terrasse her, die Rückseite des, wie ein Schirm hochaufgespannten weißen Pfauenschweifs sichtbar, die Beinkeulen darunter, aufgeregt hoch und nieder und rückwärts tretend, und Georg gewahrte, sich vorbeugend, oben auf der Treppenbreite eine kleine schwarze Katze, in sich zusammengeduckt, den Kopf hin und her wendend, als sei der Vogel unten gar nicht vorhanden. Georg hörte ihn aufschreien, während er das Fenster öffnete, — die langen und biegsamen Federn schwankten, die Katze war plötzlich auf der Brüstung, strich flachangedrückt darüberhin, verschwand hinterm grünen und roten Gerank einer Urne und kam nicht wieder zum Vorschein. Alsbald drehte der Pfau sich langsam um und zeigte, über den Rasen davongehend, die kostbare Majestät seiner Vorderseite, schön verjüngten Hals und gekrönten kleinen Kopf im Riesenrad der schimmernd weißen Augen, darauf in eleganter Verwandlung mit dem langsamen Sinkenlassen des zusammenrauschenden Schweifs das neue Bild des ruhigen Vogels, der, ein wenig töricht, mit kleinen pickenden Schrittrucken, die wagerecht hingestreckte Schleppe zierlich und würdig davontrug.

Lau und süß und weich in die Lungen flutete die Nachmittagsluft. Weißes blitzte oben in der Bläue, eine weiße Taube schwang sich ausgebreitet zum First des Daches und nahm hastig ihr rundliches und albumhaftes Taubenaussehen an, während sie auf den scharfumrissenen, mit langer schwarzer Spitze auf der Ecke des Gebäudes stehenden weißgetünchten Turm zuschritt. Das goldene Licht triefte, alles war still und leer, ein wenig öde wie Sonntagnachmittag und mit einem Hauch von Bangigkeit. Georg fielen plötzlich die Augen zu. Er zog die Mittellade auf, nahm sein, in schweres, schöngemasertes Leder gebundenes Versbuch heraus, blätterte eine Weile darin, ließ es, da die Lider wieder sanken, offen liegen und sich selbst mit einer trägen Drehung wieder in den Ohrensessel fallen.

Sechstes Kapitel

Al Manach

Georg erwachte. Ohne gleich zu wissen, was war, konnte er doch stracks und munter die Augen öffnen, fand sich erquickt vom kurzen Trunk traumlosen Schlafs, erinnerte sich aber jetzt, daß es geklopft hatte. Indem ertönte das Pochen wieder von der Tür her, Georg, sich erhebend, rief: „Herein!“ die Tür öffnete sich, und es stand eine Gestalt von eben mittlerer Größe unerwartet darin, in einem feinen schwarzen Anzug; fast erschreckend aber war im ungemein zarten und weißen kleinen Antlitz die Erscheinung zweier Augen von tiefstem Kohlschwarz, deren Blick Georg erst Sekunden später auf sich ruhen fühlte, — linde, kam es ihm vor, überaus linde. Dahinter sah er nun auch den Maler.

„Ah Herr al Manach,“ rief Georg erfreut und verwirrt, „wie schön von Ihnen! Treten Sie näher!“

Selber vorgehend, streckte er die Hand aus, fühlte sie von einer merklich kleinen, sehr glatten und weichen Hand kaum einen Augenblick ergriffen und fest umschlossen, und im nächsten schon sich selbst zurückgedrängt, ganz wie er war, auf fast unbegreifliche Weise unkörperlich, gleich als habe sein Wesen vom ganzen Wesen des Fremden einen magischen Druck erhalten, der ihn zurückwies.

„Welch angenehmer Aufenthalt!“ erklang es jetzt melodisch. Der al Manach blickte sich freundlich um. „So schöne Gegenstände!“ sagte er und umfaßte mit rundem, gleitendem Blick alles umher von der Alabasterschale hinter Georg über den grauen Rupfenvorhang der Bücherwand rechts zum kleinen Rundtisch, dicht neben dem Eingetretenen, — von gelber Kirsche mit eingelegtem Stern — vor dem breiten Mahagonisofa mit grüner Ripsbespannung, und wieder links hinüber zur Servante zwischen den beiden schwarzgoldenen, mit rötlichen Stricken umknoteten japanischen Reisekoffern am Boden. Und diese Dinge — Georg zu gewohnt, als daß er sie noch zu sehen pflegte — richteten sich nacheinander vor ihm auf und präsentierten sich freundlich und frisch.

„Nehmen Sie doch Platz“, bat Georg ein wenig verlegen, und der Fremdling ging mit leichter Bewegung durch die leere Zimmermitte zum Schreibtisch, wo er einen Augenblick durch das Fenster blickte, sagte: „Auch draußen, alles freundlich! Ein roter Hund kommt die Treppe hinab und geht über die Wiese ...“ und begann, einen Arm auf die Platte gestützt, in dem offen daliegenden Handschriftbuche zu lesen. — Ja, Verse waren wohl Allgemeingut ...

Der Maler trat unterweil näher zur Servante und besah stillschweigend die schwarzen Widderköpfe mit vergoldeten Hörnern an den oberen Ecken, danach auf den zwei Brettern übereinander die kleine Sammlung von ein paar Frankenthaler und Höchster Gruppen, römischen Perlmuttgläsern, Ludwigsburger und Meißener Figuren, einer Mündener Terrine und einer großen himmelblauen Perlbörse mit Silberfransen, dieweil Georg erklärte, das wären so Dinge, die er im Hause zusammengeräubert habe. Nachdem er dem Maler eine kleine Gemüseverkäuferin mit buntgeblümtem Rock in die Hand gegeben hatte, zog der sich in das Sofa zurück, die Figur vor sich auf die blanke Tischplatte stellend.

Georg holte eine Zigarettenschachtel hinter dem Rupfen hervor nebst Streichhölzern; er und Bogner begannen zu rauchen, der al Manach winkte lächelnd ab.

Noch immer war es still.

Um etwas zu äußern, sagte endlich Georg, an den Büchervorhang gelehnt mit dem Gefühl, al Manach sei nun der Eigentümer dieses Zimmers und er selber nur Gast darin, — sagte, gleichsam vor sich hin, in bezug auf die Sachen umher: „Es ist ja nichts Besonderes, gar nichts Besonderes.“

„Ererbte Dinge sind schön“, hörte er einen Augenblick später die sehr melodische Stimme. „Ist es nicht so? Die Gegenstände, solange sie jung sind, haben alle den mehr leiblichen Glanz des Gemachten, und Jahrzehnte des Gebrauches erst, des Geliebtseins und liebenden Betrachtetwerdens fördern langsam die liebliche Seele an die Oberfläche und breiten ihr edles Leuchten darüber aus. Sehr arm ist die alterslose Marktware; ihre Seele stirbt, ehe sie sich auswuchs, und oft ist die beklagenswerte in ihrer Gebrochenheit traurig zu sehn.“

So ruhig und völlig zufriedenstellend klang das Gesagte, daß Georg kein Wort darauf wußte.

„Und dann,“ fuhr die sachte Stimme fort, „dann giebt es wohl solche Augenblicke, wie den des Hereinkommens für mich, wo einem unvermutet und schön die Idee aufgeht und zuwinkt. Das schöne Wunder des Seins an sich — an all unsern Dingen —, das wir niemals ausbegreifen, und die einzelnen selber, die Ideen der Sachen, — auch Seelen dürfen Sie sagen —, stellen sich gern einmal dar, durchaus nicht zu reden von Kostbarkeiten, nein vom Gewöhnlichsten, von Fenster und Tisch, Sofa, Schrank und dem Bett. Von alledem wird ja niemals gesprochen, wer hätte es je bedacht, — und doch würde eine Naturgeschichte der Gegenstände soviel liebenswürdiger zu lesen sein als ein Cuvier oder Brehm. Das Wunder des Naturgewachsenen, nicht wahr, erklärt sich immer wieder als Wunder eben aus sich selbst, — die Dinge jedoch —, bedenken Sie gütigst: ein Tisch ... was mochte nötig sein vom ersten Beginn bis zu dem dort! War es nicht ein Baumstumpf zuerst, vom Blitz zersplittert, mühsam mit der Steinaxt geglättet? Und dann war es ein Klotz, ein plumper Würfel endlich, aber wo, ja wo war der edle Erfinder, der — wie jener andre aus der Scheibe des Rades die Speichen schnitt — den unsterblichen Gedanken erfaßte, das ganze Innere einfach wegzunehmen, die Beine der Herumsitzenden bequem und traulich unterhalb zu vereinen und deshalb den ganzen Tisch gleichsam fortzunehmen bis auf sein Äußerstes, Gehöhltes, die vierbeinige Platte! Bis dann ein feiner Spätling am Ende das Ganze verdrehte und jene glänzende Blume mit flach entfaltetem Kelch auf ihrem einzigen Stiel bildete ...“

„Ach“, sagte Georg und blickte betroffen seinen Tisch an. — Unangelehnt vor der graden Rückwand seines Sessels aufrecht sitzend, machte der Sprecher eine Pause, die Hände gefaltet um das eine, übergelegte Knie. Er hatte, dieweil er sprach, unablässig dahin und dorthin geschaut, auf die Wände, ein Bild, auf Georg und den Maler, ein wenig unruhvoll und doch unruhig eigentlich nicht, und Georg, der die Augen nicht von ihm wenden konnte, nicht von diesem verschwindend schmalen und zarten blaßroten Mund, der sich bewegte, — Georg hatte nun bemerkt, daß die außerordentliche Schwärze seiner Augen vor allem daher rührte, daß die Pupillen, fast wie bei Tieren übergroß, das Weiße im Auge nahezu verdeckten. Die sehr weiße Haut des Gesichts war gleichwohl nicht bleich, sondern in der, dem Licht zugewandten Wange schimmerte innerlich ein zartes Blut. Fein wie Seide war das schwarze, gescheitelte Haar über der schrecklich schweren, rund gebuckelten Stirn, wie nach vorn gehöhlt vom unablässigen Nagen anwogender Gedanken. Georg bemerkte noch, daß die schwarzen Beinkleider nicht wie sein eignes sich zum Knöchel hinunter verengten, sondern im Gegenteil weit auseinander fielen, vom Knie erst ab — Georg hatte es entdeckt, als al Manach durchs Zimmer ging —, so daß nun die weiten Trichter über den feinen Knöcheln und schwarzlackenen Halbschuhn sich wölbten. Unsommerlich war das alles und ging doch ein Hauch von Kühle fast erfrischend davon aus.

„Fahren Sie doch fort“, hörte er sich selber unbewußt sagen.

„Gewiß, gern“, war die lächelnde Antwort. „Von den Sachen, ja? wovon mögen Sie hören? Allein ich glaube, der Herr Maler kam, um Gedichte zu hören? Nun, wie Sie wollen, denn da ließe sich ja manches vom Fenster erzählen, oder wäre es nicht verwunderlich, daß höchste Kulturen kamen und gingen, die babylonische und ägyptische, die jüdische, griechische und die römische, ohne gewußt zu haben, daß man Öffnungen ins Haus zu anderm Zweck schneiden könne, als um das Licht hereinzulassen und Rauch hinaus? Und er sogar, der das gläserne Fenster, der das Geheimnis des Aus- und Einsehens entdeckte, was bewog ihn, warum trübte er künstlich die seelenvolle Scheidewand, als sei es verwehrt, das traute Heiligtum der Familie fremdem Außenblick auszusetzen oder die Vorübergehenden auf der Straße der Belästigung geheimer Augen im Haus? Wann lebte er, wo ward er geboren, der den Traum vom gläsernen Glase träumte, den Menschen die gebrechliche Wand vor das Antlitz setzte, die doch keine war für den Blick, er, der Augen gab, ja ein ganzes Antlitz dem blicklos umdüsterten Haus? Welch ein Beglücker, nicht wahr? — Und nun könnten wir ja vom Bett reden, auf das noch niemand die erhabene Epopöe dichtete, von jener sichersten aller Galeeren, jenem vorzüglich bewährten Tauchboot im gewaltigen Atlant unsrer Träume. Warum befragte noch niemand das Wunder dieser einzigen und wahren Herberge auf Erden, wo die einzig göttlichen Gäste uns aufsuchen, in Händen die drei Gastgaben tiefster Lebensvorgänge: Geburt, verhüllt und blutig und schön mit der noch unangezündeten Fackel, Tod, verhüllt und ernst mit der erloschenen, und Liebe, hüllenlos mit der brennenden neben dem Vorhang?“

„Ja, nun ist es wohl an der Zeit, in Versen zu reden“, sagte er nach einer kleinen Pause und begann zu des staunenden Georg erschrockenerem Staunen eines seiner Gedichte, das im Buch aufgeschlagene vermutlich, auswendig herzusagen:

Der Heilige

Er war schon der Vollendung fast ganz nah,

Sein Blick entrückt und schon wie abgetan;

Schon trugen Fluten ihn, und er war Schwan.

Sie lauschten, wann sein Sterbesang geschah.

Fast war er nur noch Lied. Sein Körper glich

Der Fackel, die von innen sich verzehrt;

Und sichtlich war er auch von Gott geehrt,

Der Nägel Male duldend und den Stich.

Dann, sagt man, sei sein Leib hinweggenommen

Von Gott, denn daß ein Weib ihn nächtig stieß

Von Ihrer Pforte, keiner wußte dies,

Und daß sein Leichnam nach dem Meer geschwommen.

Keiner gewahrte ja das rote Glühen

Am letzten Tag im dunklen Fensterglas.

Er sah allein im heiligen Gelaß

In der Madonna Bild die Lippen blühen.

Georg war hingerissen, so wundervoll klang es, — nicht das Gedicht — Georg verstand, ja hörte nicht einmal ein einziges Wort, — sondern der Strom der Sprache, der unsäglich mühelos, ohne die leisesten Erhebungen, von zartester Melodik in sich selbst, dahinfloß und verhallte.

„Ja, aber,“ fragte er nun verstört, „woher können Sie das?“

„Mein Gedächtnis wünscht es so“, sagte al Manach ein wenig entschuldigend. „Ich las es vorhin, und nun — was ich auch lese, ich behalte es immer gleich auswendig, wenn Sie wollen auch andersherum,“ und er fing an: „Blühen Lippen die Bild Madonne der in Gelaß heiligen —“

„Um Gottes willen,“ schrie Georg, „das ist ja entsetzlich!“

„Nicht wahr? Und nun werde ich Ihren verwirrten Anmutston nicht eher wieder los als im Grabe.“

„Sie Ärmster!“ klagte Georg, „aber was heißt verwirrter Anmutston?“

„Das ist der Ton, in dem Sie dichten. Ihre Gedichte sind köstlich, allein man versteht sie nicht.“

Die Selbstverständlichkeit, mit der das gesagt wurde, verhinderte Georg, sich gekränkt zu fühlen; immerhin fragte er: „Verstehen Sies auch nicht, Herr Bogner?“

Ehe aber der in seiner wüsten Schweigsamkeit die Oase eines Sprüchleins entdeckt hatte, hörte Georg den al Manach wieder:

„Gewiß, Sie und ich, wir verstehens, aber — das ist ja nicht: man.“

Georg lächelte schwach. Dieser sanfte Türke war scharf wie die Damaszenerklinge Sultan Aladdins, mit der er vor den Augen des löwenherzigen Richard ein seidenes Kissen spaltete.

„Ich will ja gern zugeben,“ sagte er, „daß manches in diesem Gedicht anfangs dunkel bleibt, aber ...“

„Dunkel? Sollten Sie nicht: unklar meinen oder deutlicher: konfus? Sie können ja soviel! Die schmeichelnde Rilkeweis’, Hofmannsthals Schwermutston, und Georges Tempelton haben Sie auch gut gehört.“

„Ja, das Gedächtnis!“ seufzte Georg beschämt, „aber davon wissen Sie ja mehr als ich! Nein, sagen Sie mir, was verstehen denn Sie unter poetischer Dunkelheit, denn die ich meine, deckt sich eigentlich nicht mit Konfusion. Aber ich fürchte, Herrn Bogner wird das Theoretisieren kaum gefallen?“

„Theoretisieren ist schön“, sagte al Manach. „Theorien, nicht aufgestellt als richtende Götzen, sondern gezogen als Essenzen, formulierte Erfahrungen ...“

„Sie haben es gut ausgedrückt,“ sagte Georg eifrig, „ich meinte immer —“ Ein Blick der sanften Augen ließ ihn schweigen.

„Ich drücke alles gut aus“, sagte al Manach.

König, Dame, Aß und Bube

Es klopfte leise, Georg rief: „Herein!“ Anna stand in du Tür. Er hatte sie vergessen.

Mein Gott, wie sah sie aus! Sie hatte sich umgezogen, trug ein Kleid aus schilfgrünem Tüllüberwurf über Weißem, ein weißes Fichu über der Brust gekreuzt, und ihr rosiges Gesicht mit den dunkelbraunen Augen war erleuchtet von innerer Seligkeit.

„Verzeihen Sie, wenn ich störe“, sagte sie, zog dann ein wenig kurzsichtig die Augen zusammen und erkannte al Manach, der sich erhoben hatte. Da lächelte sie, tief errötend, und ging mit leicht befangenen Bewegungen der Arme auf ihn zu. Als sie vor ihm stand, fast größer als er, sah Georg, daß er ihre Augen mit den seinen ergriffen hatte, daß er durch die Augen mit ihr redete, überaus leise, ganz ernst. Sie legte beide Arme um seinen Nacken und die Stirn auf seine Schulter. Er lächelte still vor sich hin. Georg mußte sich räuspern und empfand Scheu.

„Nun,“ sagte al Manach, als sie sich sacht wieder von ihm entfernt hatte, von einem zum andern blickend, „da sind wir ja alle vier wie König, Dame, Aß und Bube im Kartenspiel.“

Georg zerbrach sich einen Augenblick den Kopf, wer nun hier König und wer der Bube war, denn al Manach — kein Zweifel — war das Aß, und zwar Treff, wie es Georg vorkam.

„Nun?“ wiederholte al Manach indessen schon, Magda anblickend, „wie war es denn?“

„Ach, himmlisch!“ Sie ging und lehnte sich wie Georg, der von seinem Rupfen nicht loskam, an den Vorhang. „Nein, Georg, das kann man nicht sagen! Nur mußte ich immer denken, daß du unten bleiben mußtest! (Georg hatte es ja immer gewußt, sie war ein Seraph!) und denk dir nur, als wir überm Wäldchen hinflogen, fuhr auf einmal der arme Artaxerxes daraus hervor, — er war doch nicht fortgekommen — und da traf ihn die Schraube und —“

„Also hatte ich doch recht gesehn!“ rief Georg, „was ist aus ihm geworden?“

„Ich weiß nicht; er stürzte, mehr konnt ich nicht sehn, und ich war so traurig, daß ich gar keine Lust mehr hatte, aber dann wars doch zu schön, und wir sind aufs Meer hinausgewesen, aber dann bat ich den Leutnant, zu landen. In der Nähe des Wäldchens in den Wiesen gingen wir nieder, ach das war eigentlich greulich, wie im Lift, weißt du, wenn man so durch seinen eigenen Leib herunterfällt ... Und dann hat er mir noch geholfen, Artaxerxes zu suchen, aber wir haben ihn nirgend mehr gesehn. Gewiß ist ein Flügel gebrochen, und Papa wird ihn erschießen, er kann ja nichts Krankes leiden ...“

Georg versprach, sich ins Mittel legen zu wollen. Wie hübsch sie nun in seiner Nähe stand, die Hände hinterm Rücken, genau wie er.

„Oh,“ sagte sie jetzt, das offene Gedichtbuch entdeckend, „hast du Gedichte gelesen? Und ich war nicht dabei ...“

Ihr Blick fiel ab, irrte am Boden, da schob sie den linken Fuß im weißen Schuh vor und rief: „Ach, Georg, mein Schuhband ist auf!“

Georg, jeden Zusammenhang glückselig erratend, war froh, für sein dunkles Erröten das lange Bücken beim Zubinden verschieben zu können, als er aber schließlich aufsah, stand die Anna und blickte dem wieder sitzenden al Manach tief und süß in die Augen. War sie nicht eine Teufelin?

Sie fragte al Manach, ob die Gedichte ihm gefallen hätten. — Eins, sagte er, könnte er auswendig, und das wäre herrlich schön. Ja, jedes Wort wäre ganz ausgezeichnet, und wie sie so alle zusammengeraten wären, das sei nun gar fabelhaft. — Jetzt mache er sich lustig über ihn, schalt Georg, er aber widersprach. Da sei Gott vor, er habe sich in seinem ganzen Leben noch niemals lustig gemacht, und Georg sah es ein.

„Ach,“ sagte er, „da fällt mir unser Tischgespräch ein, um von etwas andrem zu reden, — Sie können mich gewiß aufklären über etwas, worüber ...“

„Ja, das kann ich.“

„Reizend!“ lachte Georg bei solch engelhafter Zuversicht. „Wir sprachen nämlich von der Liebe, und Onkel Salm, unser, Annas und mein Kindheitsonkel, Papas Sekretär, war so ungehalten, daß die ganze Literatur bloß von ihr handle, was Papa — und auch ich — wieder für ganz berechtigt hielt, — nur weiß ich im Grunde nicht recht, warum.“

Der al Manach hub an.

„Giebt es denn etwas Andres als Liebe? Zwei Irrtümer, Durchlaucht. Ihr Hintergrund — wäre unser dualistisches Wesen, allein das führt zu weit. Die lesende Bevölkerung nun ist des Glaubens, der Dichter, der ihr etwas erzählen wolle, nehme einen Stoff, tue ihn als Inhalt in eine Form, die er sich herlange, und sie trinke ihn — lesend — wieder heraus. Dem Dichter dagegen handelt es sich um die Form allein, die nicht er hat, sondern von der er weiß, daß sie dem Stoff innewohnt, wie die Wärme etwa in der Kerze. Der Stoffe wiederum giebt es nicht soviel, dieweil sie alle beim Durchforschen in einen Grundstoff übergehen, nämlich das Leid, das die Erde ist. Die Glut endlich, die Flammenkraft, welche den Stoff verzehrt und im Verzehren schmilzt und seine Form herausschmilzt, die ist das Liebesempfinden. Ein Liebesempfinden, das im Daseinsganzen so ist wie das Blut in Ihrem Körper: wo Sie ihn auch ritzen mögen, tritt es hervor; als Kraft und im Wesen einzig, in Erscheinungen tausendfältig, ist es das Ursprüngliche, alles Erfüllende, bei allem Mitwirkende, alles Beherrschende, immer und immer wieder aber am wundervollsten kenntlich, wie die Winternacht am Orion, an den wandellosen Gestalten des Liebenden und der Geliebten.“

Er schien eine Pause zu machen. Georg sah Anna — und es verwunderte ihn — nicht mit Augen an dem redenden Munde haften, sondern still vor ihre Füße niederblicken, mit so gesammelten Zügen jedoch, daß sie ihm so von oben und von der Seite — da sie den Kopf gesenkt hielt — wie zusammengezogen schienen von innerer Gespanntheit.

Al Manach fuhr fort, von neuem, wie ein Zauberkünstler ein meilenlanges Band aus dem Ärmel, den unendlich scheinenden Faden sanft gleitender Rede aus der Brust hervorzuziehen.

„Sie, Durchlaucht, haben alles gelesen, haben daher, wenn Sie ‚die Welt‘, wie man zu sagen pflegt, betrachten, nicht die wirkliche vor sich, sondern die in der Literatur beschriebene, und zwar die Europas. Da leuchtet Ihnen nun die romanische Art oder Form besonders ins Auge, weil sie die der Sensation und Affekte, oder sagen wir, der Schreckungen und Erregtheiten ist, die der Gipfelungen, die theatralische, die in nichts einen so flammenden Ausdruck finden kann als in Liebesleidenschaft. Ja, da ist alles einmalig und abgeschlossen, diesseits nichts noch jenseits, das Leben spült nicht hindurch, sondern fängt damit an und endet. Romeo und Julia; Tristan und Isolde. Ja, wäre der Deutsche aber nicht der große Mannigfaltige? Dann könnte auch ihm die einzige Gestalt des Paolo-und-Francescischen, ewig umschlungen dahinwirbelnden Liebespaares genügen, aber das tut es freilich nicht, denn er weiß, dieser hundertfältige Deutsche, was ich bereits sagte: die Einzigkeit, aber Tausendförmigkeit unserer Liebe. Darum hat er auch die epische Art — wo nicht die lyrische — hat die Ebene, das Schweigen, das Unendliche. Dieser seltsame Hebbel, nicht wahr, dieser Ebenensohn, da mußte er nun seine gesteigerten Ideen in Griechen und Juden verkörpern, wir aber leben ja wohl wie die Menschen des geliebten Theodor Storm, einsam, schweigsam, immer unterdrückend, was uns am feurigsten zur Eröffnung treibt, nicht aufbrausend, sondern alternd, nicht erkämpfend, sondern verzichtend, — und immer geht es weiter, keine Welle erstarrt zur bleibenden Form, es sei denn Erinnerung, — ja, wir sind die Menschen der Erinnerung, das breite Volk, das wie ein Meergreis aus ungeheurer Sage stieg. Nun wächst es in der Ewigkeit langsam und blüht wie die Aloe einmal alle hundert Jahr. Ach, nichts hör ich doch so gern wie die einzigen süßen Zeilen des armen Schlemihl, der ein Deutscher sein wollte und nicht durfte: „Ich denk als Kind mich zurücke — Und schüttle mein greises Haupt ...“

Er schloß verhallend, ein wenig verwirrt, schien es Georg, schon gegen Ende seiner Rede, aber jetzt, während Georg innerlich an die Stelle von der Ebene in Bennos Brief geraten war, hörte er den al Manach wieder sprechen, hörte eine Weile zu und erschrak. Es war ein sinnloses Durcheinander von halben Sätzen und Worten, und er selbst saß schief da, der Kopf hing, die Augen starrten schräg an den Boden, die Lippen bewegten sich unaufhörlich. Anna trat vor und streckte die Arme aus. Er schien dies zu bemerken, fuhr mit einem Ruck in sich zusammen und empor, lallte etwas, sah lächelnd umher und sagte leise und ganz schnell, als ob es eile:

„Es war sehr töricht von mir, Gedichte zu lesen und Verse zu sagen, nun kommt das Zitieren, ja, ich habe das so, es kommt vom Gedächtnis, es ist ein Anfall, ein Katarrh, eine Cholera, es ist nicht so schlimm, es kommt zuweilen, dann will alles wieder heraus, wo soll es auch alles bleiben, bitte, haben Sie wohl ein Lexikon?“

Aussehend, als ob er niesen oder sich übergeben müsse, stand er auf, trat zur Bücherwand, raffte den Vorhang auf, nahm ein großes Buch unten heraus und sagte: „Das Homerlexikon von Seiler-Kapelle für den Schulgebrauch, das ist sehr gut, ich lerne es auswendig, wenden Sie sich später bitte an mich, wenn Sie es verlieren sollten“, und lief zur Tür. Klein, schwarz und geduckt stand er dort einen Augenblick, den Türgriff in der Hand, drehte sich um, kam auf Georg zu, krampfhaft beflissen, ohne aufzuschaun, faßte seinen obersten Westenknopf, und es war, als ob seine Augen aus ihren Höhlen kriechen und dort hinein wollten, während er eilfertig flüsterte:

„Poetische Dunkelheit, daß ichs nicht zu sagen unterlasse, sonst plagt es mich in die Ewigkeit, wird auch von sonst klugen Köpfen häufig mißverstanden, nämlich sie, die wirkliche, ruht hinter den dargestellten Dingen als der mystische Grund, die mißverstandene dagegen ist vor sie gehängt als verwirrender Schleier. Unter poetischer Dunkelheit also verstehe ich die Kunst, ahnen zu lassen, anstatt zu sagen, die Andeutung des Tieferen, Eigentlichen, die Kunst, den Schein zu setzen an Stelle —“

Georg, recht verzweifelt, suchte den Strom zu unterbrechen, indem er sagte: „Natürlich, natürlich, ich verstehe Sie recht gut, nur meine ich, grade das auch erreicht, ich meine bezweckt —“

„Nein, dann haben Sie mich nicht verstanden“, ging es unaufhaltsam weiter. „Sie haben die Absicht gehabt, den Leser im Ungewissen, im Halbklaren zu lassen, ihn selbst erraten zu lassen, was mit Ihren Heiligen geschieht, Sie mochten das nicht deutlich sagen, und das ist das Konfuse, denn das hätten Sie eben grade einfach erzählen sollen, und das wäre hier die Sache selbst gewesen, hinter der Sie das Geheimnis, das Mystische, die Seelenzustände, die Metaphysik, die Symbolik, die poetischen Schauer, die Ahnungen, die Ahnfrau und das Kloster von Sendomir hintenrum, postume, eheu fugaces!“ Er schluchzte jammervoll und schlich, die Knie gekrümmt, mit hängenden Armen und Kopf, das schwere Buch unten an der linken Hand hangen lassend, hinaus.

Magda stand und sah ihm nach. Einen Augenblick später begann sie heftig zu zittern, wandte sich von Georg, der die Arme hob, ab, warf die ihren hoch und gegen den Büchervorhang und legte das Gesicht dagegen. Selbst Bogner saß und betrachtete das bunte Figürchen in seiner Hand überm Tisch auf absonderlich vertiefte Art. Georg drehte sich um, trat an den Schreibtisch und sah hinaus. Niemand sprach.

Auf einmal sah er, zufällig sich überbeugend, den kleinen schwarzen Jason ganz rechts aus der hohen Glastür des Speisesaals im Winkel der Terrasse heraustreten, die Tür sorglich hinter sich schließen und — nicht anders zusammengesunken und hangend als eben durchs Zimmer — über die Steinfliesen zur Treppe und schräge hinunterschlürfen. Wie ein großer Affe sah er aus, ja, so grauenvoll war er, der wie ein zarter Cherub ins Zimmer getreten war, zurückverwandelt worden. Da war er ein Stück in den Rasen hineingelaufen, blieb, als dürfe er das nicht, plötzlich stehn, drehte um, ging zum Wege zurück und mitsamt seinem Schatten im Bogen unter dem Nordflügel her bis ans Ende, wo er um die Ecke verschwand.

Georg hörte Magdas Stimme hinter sich, sehr leise und innig verzweifelt:

„Wie ist das wohl zu verstehn? Als ich vor seinem Bett stand am Mittag, da dacht ich, es wäre ein Kind. Als ich vorhin hereinkam und er mich ansah, das war — als wenn er vor Jahrhunderten schon gelebt hätte ... Und — nun ist es aus ...“

Überdem war Jason die Wendeltreppe heraufgestiegen — Georg hatte seinen Schatten in der Fensterscharte wohl gesehn — und erschien nun, hinter dem ersten Fenster vorüberschleichend, hinter dem zweiten — — Georg atmete auf. Er hatte in sein Zimmer gefunden.

Musik

Georg zerbrach sich vergebens den Kopf, gleichzeitig um zu erfahren, was alles jetzt in Annas Innern vor sich gehn mochte, und etwas zu erfinden, um sie davon abzulösen und zu erleichtern. Alles mögliche kreuzte durch sein Hirn hin und her. Wie dichterisch dieser seltsame Eindringling doch zu Anfang gesprochen hatte und wie lehrhaft am Ende, Bennos Brief und die Worte vom himmeltragenden Atlas, Iris Runges überschlanke Erscheinung im Tanzkleid, Ballgetümmel, und auf einmal der Name Angelika, fern, fremdartig, dann der andre Jason al Manach, diese merkwürdige Mischung von türkisch und griechisch — während er selber doch von sich als Norddeutschem gesprochen hatte —, war es ein Pseudonym? — und jetzt sah er den Umschlag des dicken Romans Jettchen Gebert mit der Biedermeiergestalt der Henriette — ihr Onkel hieß ja doch Jason ... Ja, konnte denn Bogner nicht etwas sagen?

Als Georg endlich wagte, sich umzudrehn, sah er Anna erst gar nicht, dann hinter der Bücherwand einen Streif des lichtgrünen Kleiderrocks; sie war in den Rahmen der Tür zum Schlafzimmer zurückgewichen und blickte unbestimmt auf das Porzellanfigürchen, das Bogner noch immer in der Hand drehte und betrachtete.

Er sah aber jetzt auf, räusperte sich, stellte die Figur nieder, klopfte mit der rechten Hand gegen die Brusttasche und sagte:

„Ich möchte wohl, wenn es Ihnen recht wäre, Ihnen etwas vorlesen.“ Er lächelte. „Keine Gedichte, nein, nur einen —“ er holte seine Brieftasche hervor und schlug sie auf, „— einen Brief.“ Und er nahm einige bläuliche, zusammengelegte Bogen hervor, öffnete, sah hinein und legte sie vor sich.

Magda glitt in die andre Ecke des Sofas neben der Tür, legte die Hände zwischen den Knien zusammen, die Arme fest andrückend, und sagte mit zusammengezogenem Munde leise: „Ach bitte!“

Georg hatte sich kaum in dem Lehnstuhl niedergelassen, als Bogner, Erklärungen augenscheinlich vergessend, zu lesen begann.

„Ich denke oft, für die Menschen, die keine Kunst hervorbringen, sondern nur empfangen können, ist die Musik soviel, wie der Himmel mit Wolken und Sternen, ein Vergleich, den ich heut einmal weiter ausführen möchte.

„Die verschiedenen Künste bauen uns, möcht ich sagen, eine wunderbare Stadt. Architektur natürlich baut die Häuser darin, legt Brücken, Alleen, die Plätze und Kanäle an. Der Bildhauer schmückt die Fassaden, die Plätze mit springenden Brunnen und nackten Statuen, fahrende Sänger ziehn durch die Tore ein und versammeln das Volk auf den Plätzen, in den Theatern dröhnen die Stimmen des tragischen Chors, die Malerei ziert Säle und Gemächer, und es ist Handel und Wandel, Schiffe legen an den Kais an, ein unaufhörliches, fruchtbares und eiferndes Getriebe herrscht, soviel Leben, köstliche Unrast, Genuß, Arbeit und tausend Freuden. Länder dienen der Stadt wie Fürsten, an den fernsten Küsten denkt man an sie, sehnt sich nach ihr, sie ist die Heimat. Sie ist im Ganzen eine richtige Menschenstadt, eine schöne wie Hamburg oder Kopenhagen oder Budapest. Eine Stadt aber ohne Himmel.

„Ach, es giebt keinen Himmel in Berlin, lieber Freund! Jetzt, wo ich ein paar Wochen heraus bin, weiß ich es ganz. Liebster, haben Sie je, wenn Sie in eine kleine Stadt irgendwo tief im Land gewandert waren, Lüneburg oder Braunschweig oder auch Maulbronn, haben Sie auch bemerkt, wie wundervoll es ist, in allen Fenstern den verdunkelten Widerschein des Himmels mit den Wolken zu sehn, entzückend, wie sie sich durch die Gardinen bewegen? weil die Häuser niedrig sind, die Straßen breiter scheinen. Und über allen Dächern sehn wir ihn ja stehn, den Himmel, und die Wolken sieht man, ohne erst den Kopf danach verdrehen zu müssen. Und bei Nacht, die kein Lichtergewimmel zu einem lügnerischen Tage macht, hat man in den Bäumen seines Gartens die wirklichen Sterne, die im Gezweige stehn und einem so gut gehören wie der liebe Baum. Dann geht man nur auf die Straße, so steht der Sternenhimmel mit allen vier Ecken auf der Erde — das ist die einzig wunderbare Kuppel der Musik, der göttliche Bau in ewig unbegreiflichen, in unbegreiflich ewigen Gesetzen.

„In einer solchen Stadt atmet sichs! Das Bewußtsein, daß der Himmel da ist, erwärmt das Blut, wir werden leicht. Ach, ich habe nie begriffen, was Kant damit will: die Gestirne über sich und — —. Nun, was kann da noch für irgendein Und kommen, wenn er schon das über sich hat!

„Schön, schön ist ja auch das Andre, Bilder — weiß ichs nicht, mein Freund? —, die uns nur staunen lassen, daß ein Mensch dies gemacht hat, aber dennoch meine ich — zürnen Sie mir nicht, es ist ja doch nur Armut, die das meint — die Musik macht uns schweben. Nicht schweben, es ist mehr, es ist — — denken Sie einmal an das, was sogar Sie rührte, an die ersten, aus der Ewigkeit fallenden Tropfen der letzten Symphonie! — sie sind ja wie der Beginn der Schöpfung. Nicht das: Es werde Licht! nein, viel früher, das erste, verträumte Aufwachen Gottes aus dem langen Schlaf, in dem er alles träumte, was werden sollte. Denken Sie daran, und sogar Sie werden fühlen: es ist, als ob die Erde unter uns wegsinkt, als würde der Boden sanft unter uns —“

„Ja, ja, um Gottes willen!“ schrie Magda auf, sich vorwerfend, „so wars! so war es, als wir flogen, ich konnt es ja nicht beschreiben! Bitte, lesen Sie weiter!“

„— als würde der Boden sanft unter uns, es weicht und giebt sich uns zugleich hin wie ein Frühling, es ist, als ob die alte harte Erde die Anziehungskraft leise wegnähme, so daß wir leicht werden wie die Tauben, als hätten wir Luft um alle Glieder gehüllt, und wir denken doch nicht an Fliegen, eher wir sinken, und alles, alles schmilzt.“

Magda saß mit gefalteten Händen, tief atmend, mit den Augen erregte Kreise ziehend auf der Platte des Tisches.

„Die beseligende Leichtigkeit verbreitet wunderbare Heiterkeit, in Unendlichkeit mögen Gut und Böse liegen und alle moralischen Begriffe, wir sehn unter uns ewige Länder in der Tiefe hinschwimmen, die schöne Stadt vielleicht in der Sonne, mit wandelnden Wolkenschatten bedeckt, das blaue Meer in Meilentiefe mit winzigen Segeln, bald nur noch marmornes Blau und der Gesang der Engel, die in Scharen durch alle Fernen ziehn.

„Verstehen Sie mich, lieber Freund: unendlichen Reichtum geben uns alle Künste, doch ist er noch schwer; wir müssen ihn tragen, wie der Herbst, wie alles Irdische getragen sein will. Der Himmel läßt sich nicht tragen, er hebt, er trägt uns. Leicht sein ist alles.“

„So weit“, sagte Bogner, faltete seine Briefblätter zusammen, nahm die Brieftasche wieder hervor, legte die Blätter hinein und steckte sie fort. Magda sah ihn dankbar an und wagte zu fragen, wer das geschrieben habe.

„Die mit dem Schatten des Falters — dort!“ sagte er, in der Richtung des Klaviersaals deutend. Dabei schien Magda, die eben den Mund öffnete, etwas einzufallen, sie erschrak leicht und fragte: „Bitte, wie spät ists, Georg! Deine Mama bat mich, gegen fünf etwas Harmonium zu spielen.“

Es sei eben fünf Uhr gewesen, sagte Georg, und sie stand auf und ging, jedem der beiden zulächelnd, schneller hinaus, als daß Georg hätte fragen können, ob sie nicht mitkommen dürften.

Nun war es noch stiller geworden. — Eine Frau hatte das geschrieben? Welch sonderbarer Geist! Nun saß sie für ewig dort und sah empor, wo der unsichtbare Falter flog. Aber wie dieser Bogner das wieder heilsam getroffen hatte mit seinem Vorlesen! — Überdem sah Georg, der sich im Sitzen nach dem Fenster, nach dem Klaviersaal hinübergewandt hatte, wo alle Vorhänge gegen die Sonne geschlossen waren, den äußersten linken sich bewegen, er teilte sich und glitt auseinander, Anna erschien, das Fenster aufriegelnd und draußen einhakend. Sie schwand, und gleich darauf wurde das Brausen des Harmoniums in der stillen Leere hörbar.

„Sie sind wohl nicht musikalisch?“ fragte Georg den Maler. Der verneinte, erklärte aber, Musik gern zu hören.

„Dann“, sagte Georg erleichtert, „können wir ja auch hinübergehn. Anna hat viel gelernt, und voraussichtlich wird es Bach sein; Mama liebt ihn besonders, er ordne ihre Gedanken, sagt sie, Sie wissen ja, wie krank sie ist.“

Bogner erwiderte nichts, und so gingen sie stillschweigend über Flure und Billardzimmer hinüber.

Siebentes Kapitel

Erzählung

Magda wandte, als sie den Saal betraten, den Kopf nach ihnen, lächelte und spielte weiter. Bogner setzte sich auf den Klaviersessel vor dem mittleren der drei Flügel drüben. Alle Türen zur Herzogin standen offen wie stets; in den verhangenen Gemächern herrschte goldener Schatten mit etwas einfallendem Sonnenlicht am Boden hier und da und güldenen Streifen Sonnenstaubes. Georg nahm einen Stuhl und setzte sich neben das geöffnete Fenster, wo es hell war, während die jenseitige Hälfte des Saals mit den Klavieren in der Dämmerung der goldgelben Vorhänge blieb.

Magda spielte eine kleine halbe Stunde mit geringen Pausen zwischen den einzelnen, sehr einfachen alten Stücken. Endlich nahm sie die Hände von den Tasten, und eine Weile herrschte Stille. Fern wurde eine Tür geschlossen.

Georg, Annas Augen folgend, die zu dem Bilde über ihr emporblickten, fragte, in unbestimmte Gedanken verloren, zum Maler hinüber:

„Warum sind Sie eigentlich nicht musikalisch?“

Eine törichte Frage! — Allein der Maler öffnete nach einer Weile den Mund und gab, ebenfalls zu seinem Bilde schauend, eine ganz richtige Antwort.

„Sie“, sagte er, „hat mich einmal genau so gefragt. Ich wußte es natürlich nicht, aber sie hat es mir dann selbst erklärt. Ich wäre zentripetal, sagte sie, und das wären alle Dichter. Die Musik und die Tondichter dagegen wären zentrifugal (Zentrifugalisch, verbesserte Georg im stillen.) Nämlich die andern Künste drängten den Menschen auf seinen Kern zusammen, die Musik dagegen löste auf. Sie fand es ja nun schön, daß ich unmusikalisch bin. Es wäre so reinlich, sagte sie. Dann klagte sie über sich selbst, daß sie von allen Künsten was verstehe, aber von keiner was Rechtes, und keine ausüben könne, abgesehn von ihrem bißchen Klavierspiel. Ihre Fertigkeit war ja nun glänzend, aber ihr Spiel ließ kalt. Die Leute sagten, es wäre sehr geistreich, aber sie hätte kein Gefühl. Sie hatte schon Gefühl, aber sie konnte es nicht anbringen, das wars.“

Bogner legte langsam ein Bein über das andre, faltete die Hände und stützte einen Ellbogen auf den Klavierdeckel, doch erwies sich der als zu hoch, da das alte Klavier bis vorn geschlossen war; er öffnete es, legte den Deckel leise zurück und nun den Ellbogen auf den vorderen Rand vor die vergilbten Tasten.

„Sah sie so aus wie auf diesem Bilde?“ fragte Magda, die sich mit dem Drehsessel umgewandt hatte.

Nein, die Ähnlichkeit wäre sehr gering, entgegnete der Maler zerstreut.

Eine Minute verging mit Schweigen. Im Augenblick dann, wo Georg dachte, nun würde er wohl anfangen, etwas zu erzählen, begann Bogner.

„Judith Österreicher hieß sie und war das einzige Kind eines verwitweten Bankiers in Berlin. Sie war schmal und mager, ihre Hand empfindsam und beweglich, nicht schön, zu dünn. Ihr Kinn stand vor. Es und die Stirn und die flach aufliegende Nase bildeten eine schräge Fläche. Im Profil sah sie besonders jüdisch aus. Die Augen lagen tief und waren grau, die Haut gelblich, die Brauen schwarz und hart, das Haar orientalisch schön, schwarz, fest und reich. So sah sie aus. Sie war fünfundzwanzig Jahre alt, als ich sie kennen lernte. Ich war etwas über zwanzig.

„Ihren Charakter kennen Sie ein wenig aus dem Brief. Sie hatte alles mögliche studiert, Kunstgeschichte, Bibliothekswissenschaft, Literatur, auch Sozialistisches, und Musik. Immer hörte sie Vorträge und Vorlesungen. Ins Theater ging sie nicht, außer zur großen Oper. Sie haßte das Theater. Sie haßte stark, zu lieben hatte sie nie viel. Dann wurde sie weicher, später. Ihr Verstand war unmäßig scharf, sie sagte nie etwas Unlogisches, im Gespräch blieb sie bei der Stange wie ein Mann, ihr Geist wurde durch nichts Weibliches beeinträchtigt. Oder gemildert. Sie war unweiblich. Zum Beispiel las sie nie Aufsätze und dergleichen, was über etwas handelt. Sie haßte Briefsammlungen und Biographien. Das läsen die Menschen nur aus einem idealischen Klatschbedürfnis. Ein Künstler war für sie kein Mensch. Der Mann ist tot, sagte sie, ihm ist nicht mehr zu helfen. Sein Leben war natürlich schwer, alle sind schwer, und großes Wachstum will harte Arbeit. Aber die innern Kämpfe waren schwerer als die äußern, sagte sie, und die lerne ich aus den Werken besser kennen, wo Schönheit und Klarheit daraus geworden ist. So etwas klang aber sanfter, wenn sie es sagte. Sie hatte eine schöne, melodische und tiefe Stimme. Am liebsten waren ihr Radierungen, Stiche, Schwarzweißsachen und Holzschnitte, in die sie sich mit der Lupe stundenlang, unermüdlich vertiefte. Dann die Japaner, die festen, gesparten Linien und die genährten, unumstößlichen Farben. Über einen schwarzen Flecken, ein schwarzes Kleid mitten in einer Teehausszene von Hieroshige oder Utamaro geriet sie außer sich vor Wonnen. Dann war sie wohl wie ein Kind, ganz ausgelassen. Sie beherrschte alle Fachausdrücke, sah einer Radierung von Vogeler an, der wievielte Abzug es sei, und einem Buch, wer die Type gezeichnet hatte. Ihre Kleider machte eine Schneiderin, und sie saßen, das war alles. Mit sich selbst wußte sie nichts anzufangen. Ihr Gehaben war so weiblich, wie der Verstand männisch. Sie war launisch, oft mißgelaunt, überschwänglich bald und bald kalt. Vor allem aber wußte sie selber immer und jeden Augenblick, wie sie war und was sie war, also, was sie nicht war. Immer sah sie sich im Spiegel und gefiel sich durchaus nicht. Von sich selber beobachtet Tag und Nacht, alles verstehend, alles zersetzend, auflösend, immer unzufrieden mit sich selbst, weil alles in Fetzen ging, zu weiblich, um es sammeln zu können, immer das Fehlende, das Negative sehend, sich selbst verachtend und doch sich selber liebend — das Leben ist ihr eine böse Qual gewesen.“

Bogner schwieg. Georg, ins Hören emsig verloren, die Augen auf den Wandstreifen zwischen den beiden Klavieren rechts geheftet, sah dort undeutlich die Gestalt der Fremden erscheinen; wie ihm schien, war es ein Samtkleid, was sie anhatte und das ihm sonderlicherweise deutlicher war als ihr Gesicht, denn da störten ihn die hellen Farben und die Undeutlichkeit der Züge auf dem Bilde. Die langsamen Worte des Malers, der eine Pause ließ hinter jedem seiner kurzen Sätze, banden ihn seltsam. Nun, da er schwieg, seinen Bleistift wieder aus der Westentasche holte und darauf niedersah, wie er ihn vorm Schoß in seiner Hülse hin und her schob, merkte Georg, daß er sprach, wie wenn er malte oder zeichnete: eine Linie zog — und einen Bogen daran setzte, eine andre Linie an ganz andrer Stelle des Blattes, und ganz von unten herauf eine dritte, langsam hin und her gebogene, und plötzlich alle drei noch zusammenhanglosen und unkenntlichen zusammengriff mit einer vierten, und absonderlich war aus drei und vier Unverständlichkeiten eine Klarheit, ein Bild und ein Sinn geworden; ja, ein Gesicht — auf einen Augenblitz erschien es Georg in seiner dunklen Abgeschlossenheit — ein Leben, Blick und Gebärde, und Erinnerung schon, Gewordensein und Vergangenheit. Georg sah deutlich das Blatt, auf dem der Maler zeichnete; es lag auf seinem rechten Knie, er sah darauf nieder und sprach und zeichnete gleichzeitig, und das war nun merkwürdig, daß seine Worte und seine Zeichnung aneinander hinliefen, unverbunden ... Georg, da der Maler noch immer schwieg, hätte gern den Mund geöffnet und gesagt, wenn er es hätte sagen können, wie ihm soeben klar geworden sei, daß alles Gedachte, aller Sinn gar nicht in den Worten bestehe, in denen er gefaßt wurde, sondern ganz fern dahinter sich selbst gestalte — denn diese Wahrnehmung schien ihm bedeutsam zu dem zu passen, was er vor Stunden mit dem Maler gesprochen hatte, weil das Bild, das der Maler im Innern hatte, und das, welches Georg sich selber herstellte aus des Malers Worten, gewiß einander ungemein fremd waren, lose zusammenhangend, o so lose nur in der Schilderung ...

In diesem Augenblick hob Bogner das Gesicht, sein Blick traf auf Georgs Gesicht von ferne, glitt wie von einer leeren Fläche davon ab und zu dem Gemälde überm Harmonium, wo er einen Augenblick anhielt, und der Maler sprach weiter.

„Nun muß ich sagen, wie ich sie kennenlernte. Irgendwie war ich von Paris nach Berlin verschlagen — so — mein Vater war Sanitätsrat und ist es wohl noch; ich mußte mit siebzehn Jahren das Haus verlassen. Ein Freund unterstützte mich eine Weile, nun — das tut nichts zur Sache, jedenfalls — — es kam jener Winter in Berlin, wo ich Schnee geschippt habe. Ein gefallenes Pferd, dem wir aufhalfen, warf mich gegen einen Laternenpfahl. Mit Frühlingsanfang kam ich aus der Klinik und hatte nun nichts mehr. Nun ... Nun war ich sehr schwach, irgendwie vergingen noch ein paar Tage, an die ich mich nicht erinnern kann. Eines Tages bekam ich auf einer Bank im Tiergarten einen Schwächeanfall, und als ich erwachte, hatte ich zwei Taler in der Tasche. Der eine reichte eine Zeitlang für Essen, für den andern gab ich eine Anzeige auf, ganz dumm, eine Heiratsannonce. Junger Künstler, dicht am Verhungern. Wie man so ist. Ich bekam drei Briefe. Einer war Ulk, in einem war ein Hundertmarkschein, den dritten bringe ich wohl noch zusammen ... Ihre Annonce im Anzeiger ist so eigenartig, daß ich nicht weiß, ob ich mehr über sie staune oder über mich, die sie beantwortet. Sollte sie die Wahrheit enthalten, so scheint mir Eile das Notwendigste zu sein, das heißt, Ihnen muß geholfen werden. Ich bitte Sie deshalb, mir zu schreiben ... hier kam ein Postamt und eine Chiffre ... wo ich Sie kennenlernen kann. Drunten standen die Initialen Jot O und eine Nachschrift: Vielleicht eilt es wirklich, ich werde deshalb morgen vormittag um elf Uhr in der Nähe des Luisendenkmals im Tiergarten sein. Ich zweifle nicht, daß wir uns erkennen werden.

„Sie erkennen Judith Österreicher. Ich war ja nun ein Stockfisch, ich wollte mir nicht helfen lassen, ich wollte heiraten und das Vermögen der Frau mit Ruhm bezahlen, und nun hatte ich doch hundert Mark. Aber ich ging hin. Sie hatte ein braunes Samtkleid an, und ich erkannte sie gleich. Sie stand, auf ihren Sonnenschirm gestützt, vor einem Rhododendrongebüsch mit dicken Knospen. Welches Mädchen stellt sich wohl auf, wenn es bei einem Stelldichein wartet! Nun ging ich auf sie zu, nahm den Hut ab und sagte steif, ich wäre es, es wäre aber ein Irrtum, und ich wollte nun nicht mehr heiraten, wobei sie mich entgeistert anstarrte. Sie können sich ja vielleicht vorstellen, wie ich ausgesehn haben mag. Dann wurde sie aber wütend und sagte, ich sollte sofort still sein, sonst liefen die Leute zusammen, packte mich beim Schlafittchen, zog mich in eine Allee und fing an, dergestalt auf mich einzureden, daß ich weinte. Da tröstete sie mich.

„Ihr Vater war reich und sehr kunstliebend, ein kleiner, dicker, jüdischer Mann mit einer schönen hohen Stirn und schwermütigen Augen. Er besaß eine kleine Galerie mit damals unbeachteten Sachen von Leibl, Schuch und Hagemeister. Nun wurde mir ein Atelier eingerichtet, und sie erzog mich. Immer hatte ich übers Handwerk gegrübelt, über die neuen Wege, wie man tut, wenn man ganz jung ist. Nun bekam ich Bücher zu lesen, mußte meine Meinung von ihnen ausformen, womöglich schriftlich, wurde im allgemeinen wie ein Genesender und im besondern wie ein gutes Kind behandelt, das durch Krankheit geistig zurückgeblieben ist.

„Sie war nur gütig zu mir, hartnäckig im Verfolgen ihres Planes, aber milde und freundlich. Sie lehrte mich Erfahrungen erkennen und schrieb jeden Tag das große Warum auf die Tafel. Schwerfällig war ich sehr, ich konnte begreifen, aber nur langsam. Was ich dann hatte, hielt ich fest. Zum Beispiel Manieren, daraus machte ich mir gar nichts, aber sie bewies mir, daß jede einen kleinen feinen Sinn hatte, und das gefiel mir. Gemalt hab ich lange Zeit gar nicht. Also ich wurde gereinigt, gelüftet, leer geblasen und ordentlich ‚renoviert‘. Judith durchschaute mich vollständig, und alles, was sie tat, war richtig. So bin ich wohl einigermaßen ein Mensch geworden.

„Nun ... Nun, das übrige ist gleichgültig.

„Nun der Schluß.

„Ich weiß nicht, wer von uns dem Andern damals mehr gewesen ist. Da ich weniger war, werde ich ihr wohl mehr gewesen sein. Dies ist so. Früher war sie ein Mädchen gewesen, ihr Vater war ihr alles, hatte sie unterrichtet, erzogen und gebildet, sie hatte nie einen andern Freund gehabt als ihn. Ihm zuliebe wahrte sie die alten Gebräuche und liebte sie. An den Freitag Abenden brannten die Kerzen, lag das weiße Brot unter der roten Samtdecke, das Glas Wein ging herum, und ich habe keinen Freitag erlebt, an dem sie nicht zu Hause gewesen wäre.

„Nun bekam sie mich, wie einen Sohn, gewiß. Sie war ein weiblicher Hieronymus. Das dacht ich oft, wenn ich in ihr Zimmer kam, abends, wenn sie bei der Stehlampe saß, umschlossen von den beschatteten Wänden hoher Bücherregale. Ihr Leben war ohne Schmerz und ohne Sorge verlaufen, nie hatte es fremde Willkür gelenkt, sondern väterliche Zartheit und die eigne klare Absicht. Sie liebte es wie ein hübsches Kunstwerk, und sie haßte es, weil es unfruchtbar sei. Eine Zeitlang täuschte ich sie darüber hinweg, ich meine, es tröstete sie, mir geben zu können. Dann wurde sie mißtrauisch und fing davon zu reden an, daß ich über kurz oder lang meiner Wege gehn werde. Das war richtig, daran war nichts zu ändern. Der Tag mußte kommen, wo sie mir alles gegeben hatte. Sie hatte ja nur Wissen für mich. Freilich auch Güte, wie Mütter, aber immer wollen die Söhne allein gehn und suchen sich ihre Wege.

„Nun, vorläufig lebten wir miteinander wie Pallas Athene und Odysseus, und wenn sie einmal schlechte Reden führte, versprach ich ihr, sie zu malen als jenes Mädchen, das der Dulder im Phäakenlande am Brunnen traf und das ihm den Weg zeigte. Es war ein schöner Abend in den Wiesen, und sie trug den vollen Krug auf der Achsel, gab ihm zu trinken und wies ihm den Weg in die Stadt und zu den Männern, die ihn heimbrachten. — Ja, so wäre es, sagte sie, sie könnte mir den Weg nach Hause zeigen, aber sie käme nicht hinein.

„Ach, Kinder, sie war gut, sie war gut. Sie war bescheiden, sie lehrte mich und ließ es mich nicht merken, sie wußte es immer so darzustellen, als ob sie beschenkt würde, als ob sie alles erst durch mich recht von Grunde kennenlernte. Ich erinnere mich an schöne Abende bei der Lampe. Schon als Junge hatte ich Silhouettenschneiden geliebt, und sie stellte mir Aufgaben. Sie trennte beliebige Stücke, große und kleine, aus dem schwarzen Bogen, dachte sich etwas aus, und dann mußte ich es herausschneiden, damit ich lernte den Raum ausnutzen wie ein Japaner.

„Nun das Malen ...“

Bogner war still. Er schien nachzudenken; auf einmal holte er, vor sich hinblickend, seine Pfeife aus der Tasche, dazu einen Beutel aus rotem Gummi, stopfte sie langsam, tat den Beutel fort, nahm Streichhölzer und rauchte. Schließlich fing er an:

„Also ich wollte sie malen ...“

Georg kam es vor, als ob er etwas ganz andres, das er sich unterweil im stillen vorgesagt und das von ihm selber und der Malkunst handelte, verschwiege.

„Als wir eines Tages“, sagte er, „am geöffneten Fenster saßen — sie hatte einen Arm auf der Fensterbank und sprach zu mir ins Zimmer hinein und dann wieder zum Fenster hinaus —, hielt sie auf einmal inne und sagte: Da! indem sie den Kopf wandte, nach oben, so wie dort. Ich sah aber nur den Schatten des Schmetterlings auf der Fensterbank, ihn selber erst später, wie er im Garten herumschaukelte, ein weißes Stückchen. Ich weiß nun nicht, wie sehr ihr Wesen in dem gewesen sein muß, was sie grade sagte, so daß es dann plötzlich ganz in diese Bewegung hineinschlug, mit der sie sich unterbrach. Jedenfalls — dies blieb aber hängen, nur wurde lange Zeit gar nichts daraus. Es kam der Sommer, der zweite, seit wir uns kannten. Judith verreiste, sie mußte eine erkrankte Schwester ihres Vaters nach der Riviera bringen. Ich war einige Wochen auf Sylt, aber lange vor ihr wieder in Berlin.“

Der Maler hatte ein paar neue Briefbogen hervorgenommen. „In jener Zeit“, sagte er, „bekam ich den Brief, den ich Ihnen vorlas, und unter andern auch den folgenden:

„Heute möchte ich einen Rat von Ihnen, lieber Freund. Das heißt, es wird wohl darauf hinauskommen, daß ich mir Rat schreibe, statt ihn zu bekommen. Ich habe einen Brief erhalten von einem Mann in Transvaal, der mich zur Frau haben will. Schon vor einem Jahr, als er fortging, fragte er an, ich habe aber um Bedenkzeit gebeten bis jetzt. Er schreibt nun, seine Aufgabe — er ist Ingenieur — sei beendet, er habe es in der Hand, nach Europa zurückzukehren oder einen Bau in einem andern Weltteil zu leiten, was er von mir abhängig macht. Was schreibe ich ihm?

„Nein, Sie können mir natürlich nicht helfen. O wie traurig das macht, nicht zu wissen, was gut für uns sein wird! Wissen Sie, was mein Leben bisher gewesen ist? Gut war es, reich, liebevoll und angefüllt mit tausend schönen Dingen. Klingt es nicht lächerlich, zu sagen, daß ich oft sehr unglücklich bin und darbe? Mein Leben ist wie ein blaues Wässerlein hingeflossen, wohin rinnt es? Muß es nicht irgendwo hinlaufen, all seine kleinen Schätze zusammenraffen und sagen: Da!? — Niemals wird es das können. Ich habe ja nichts, ich habe alles ja nur für mich, es bleibt in mir und bringt weiter nichts hervor. Das bißchen Gutsein mit Uto (das bin ich) meinen Sie, das gilt? Nichts kann ich ordentlich. Ein bißchen zeichnen, ein bißchen malen, ein bißchen schreiben und ein bißchen Klavier spielen. Dafür weiß ich freilich entsetzlich viel, was hilft mir das? Ich bin doch eine Frau, und die will, was sie auch habe, immer nur drei Dinge, das Allereinfachste: einen Menschen liebhaben, für ihn sorgen — da hab ich ja nun Uto — und so viel Kinder haben, wie sie kriegen kann. Ich werde niemals Kinder haben können, weil ich als Mädchen einmal krank gewesen bin und operiert werden mußte. So hab ich denn mein Leben nur für mich allein. Mit keinem andern Leben kann ich es verbinden und weitergeben, ich kann hier nicht bleiben, wenn meine Zeit um ist, ich gehe ganz fort, wie ich allein gewesen bin. Nur die Erinnerung bleibt vielleicht eine Weile.

„Hier,“ sagte der Maler, „legte ich damals den Brief fort. Ich hatte inzwischen das Bild dort angefangen und saß davor, als ich den Brief las, und an dieser Stelle fing ich wieder an zu malen, als ob irgend etwas mich antriebe, fertigzumachen. Ich arbeitete auch einige Tage, mußte aber wieder aufhören, weil ...“

Er unterbrach sich: „Ich will eben zu Ende lesen.“

„Nun, schreibt sie, bin ich also bei diesem Briefe aus Afrika angelangt. Mein Vater ist ja so reich, daß schon früher, so unglaublich es scheint, Leute gekommen sind, die mich mit in Kauf nehmen wollten. Als Juden waren sie aber patriarchalisch gesinnt, wollten also Erben haben, und wenn mein Vater ihnen in meinem Auftrage sagte, daß sie darauf bei mir nicht zu hoffen hätten, gingen sie wieder. Ich glaube auch, daß kein ordentlicher Mann, der eben nicht eine Frau über alles liebt, sie heiraten wird bei der Gewißheit, daß die Ehe kinderlos bleiben wird. Nur dieser Christ hier ist standhaft geblieben. Er ist ein guter, ernster, tüchtiger Mensch, er teilt auch meine Neigungen in seiner Art, wir würden uns gewiß vertragen.

„Denken Sie, mein guter Junge, das ist nun das erstemal, daß man mich vor einen Entschluß gestellt hat. Ja, und hier, wo es einmal aufs Leben ankommt, habe ich also nichts gelernt. Was werde ich ihm schreiben? Noch nie habe ich einem Menschen etwas geschrieben, das ihn traurig machen konnte. Es muß aber wohl sein ... Nun und so weiter.“

Der Maler faltete den Brief, steckte ihn ein und schwieg.

Überdem ward Georg inne, daß seine Gedanken, wie seine Augen, schon seit geraumer Zeit an Anna hafteten. Ob sie wohl ganz verstand, was der Maler gelesen hatte, ob sie es empfunden hatte? — Er sah ihren am Boden stehenden linken Fuß im weißen Schuh und das sichtbare Stück des sanft gerundeten weißen Beins, wie es im hellen Schatten des Rockes verschwand, und er fröstelte leicht, auf einmal, da seine Augen höher gingen, im Unsichtbaren, denn er konnte sich keine rechte Vorstellung machen von dem Bein und seiner Bekleidung, nur daß dort alles süß und süßer und atembeklemmend wurde, empfand er. Abgleitend, verwirrt, sah er mit kälterem Schauder ihr liebliches Gesicht, gesenkt, Schatten der Lider unter den unsichtbaren Augen, den blassen, zarten Mund und das seltsam lebendige Haar, in dem ein Hauch, ein Gold und ein Wesen war, das Sehnsucht erregte, das es so anders machte als jedes andre Haar, als sein eignes vor allem, dergestalt daß es sinnlos schien, es mit ein und demselben Namen zu nennen. War nicht — ja, war nicht seines nur gewachsen, um den Kopf zu bedecken, — aber das ihre war Verlockung über und über. Seine Haut im Nacken krauste sich, es durchloderte ihn, sie an sich zu drücken, ganz und gar, ihren Leib zusammenzudrücken, alles zu wissen, alles ... Und sie? dachte er, dies abschüttelnd. Ach, was dachte sie, was dachte sie nun? Flog sie vielleicht — nur scheinbar, nur mit ihrer Haltung lauschend — über Meer und Inseln, Wolken zu, von Wolken beschattet, unbegreiflich hoch über der festen Erde? Dachte sie an ihn? fühlte sie ihn? —

Magda hob langsam die Lider, langsam das Gesicht, und plötzlich waren da ihre Augen, dunkel und fremd, auf ihn gerichtet — und dann lächelte sie — und wurde wieder ernst — und jetzt — jetzt errötete sie ganz langsam, aber immer tiefer ...

Georg hörte die Stimme des Malers, zwang sich fortzusehn und zu hören, erinnerte sich der Judith, sah einen fernen, unbestimmten Frauenkopf in einer Dämmrung, — was hatte sie geschrieben? „... mich in Kauf nehmen wollten, so unglaublich es scheint ...“ O, das war hart wie eine Stahlfeder! — Der Maler sagte:

„Nun also das Ende. Ende September ... So, ich muß erst noch sagen, daß ich inzwischen ein Atelier in der Nähe von Judiths Wohnung bezogen hatte. Ende September also schrieb sie mir den Tag ihrer Ankunft aus München. Am Tage vor dem für ihr Kommen angesetzten wurde ich durch einen Boten zu ihr gerufen. Sie war schon da, war zwei Tage eher gekommen. Nun war ein Unglück geschehn, sie war überfahren worden, sie lag im Sterben.

„Wie das zugegangen war, klärte sich eigentümlich auf. Ein Augenzeuge des Unfalls war ein Bekannter des Hauses. Er hatte, besonders von weitem, eine gewisse Ähnlichkeit mit mir in Gang und Haltung. Judith war kurzsichtig. Nun hatte dieser Herr Judith an einer Straßenkreuzung auf dem jenseitigen Gehsteig herankommen sehn — zwischen ihrer und meiner Wohnung. Er hatte gesehn, daß sie ihn bemerkte und ihm lebhaft zuwinkte, was ihn verwunderte — es galt aber mir —, und sie war dann, ohne achtzugeben, über den Damm gelaufen und von einer Straßenbahn zu Boden geschleudert.

„Sie konnte noch ein paar Tage leben. Am Morgen des folgenden Tages kam sie zu Bewußtsein, sprach mit ihrem Vater, schickte ihn hinaus und blieb mit mir allein. Sie wußte, wie es mit ihr stand, und sprach ruhig davon. Ich habe Papa beauftragt, dafür zu sorgen, daß du nie wieder Mangel leidest, sagte sie. Es fiel uns nicht auf, daß sie mich du nannte. Dann kam ein Augenblick der Schwäche, wo sie die Hand über die Augen legte, etwas weinte und gestand, das Sterben sei so bitter. Nun sterbe ich aber doch durch eine gute Torheit, sagte sie, ich, die ich so viel nichtsnutzige Klugheiten konnte. Um deinetwillen bin ich auf einen fremden Menschen zugelaufen, aber wir laufen immer auf fremde Menschen zu, und dann liegen wir unter den Rädern. Sonderbar geht es zu im Leben ... Und sie fand es sehr gut, daß ich noch viel törichter gewesen sei und nicht gemerkt hatte, daß eine Frau einen Mann über alles lieben muß, für den sie das tut, was sie für mich getan hatte. Sie wußte alles, und alles —“ Bogner lächelte fremdartig vor sich hin — „alles konnte sie ausdrücken wie der al Manach. — —

„Was sie sonst sagte, war nur für mich.

„Nun fragte sie nach ihrem Bilde. Als ich sagte, es sei unterlegt, verlangte sie, daß ich es fertig machte. Sie wollte vor ihrem Tode noch wissen, sagte sie, daß doch ein Hauch von ihr hier oben bliebe, wo es hell und warm sei. — Ihr Schlafzimmer war groß und licht, das Bild wurde hereingeschafft, ich fing auch gleich an ...

„Aber vorwärts kam ich nicht. Das Fenster war offen, ich hörte die Bienen und Käfer unter den Kronen der Bäume summen und konnte nichts sehn, bis ich fühlte, wie die Zeit fortrann. Vom Bett her hörte ich sie mehrmals etwas sagen, — ich sollte doch rauchen, sonst würde es wohl nie etwas werden. So ward es denn alltäglicher.

„Sie starb, aber daran durfte nicht gedacht werden. Nicht gedacht, das ist es. Aber das Sterben war im Zimmer, es war in meinen Augen und meiner Hand, und es ist auf die Leinwand gekommen, und — und so sieht es nun aus. — —

„Die Nacht wurde schlimm, nun — alles das braucht nicht gesagt zu werden. Ich begann zu malen am andern Morgen, als sie noch schlief, malte bis zum Nachmittag, und dann wurde ich lahm. Nur ihr Gesicht fehlte. Ich konnte es nicht mehr finden. Das war schlimm.

„Sie selbst war schon sehr verändert, ihr Gesicht sah kindlicher aus und ganz klein, die Augen wollten sich nicht mehr öffnen. Nebenan hörte ich ihren Vater über den Teppichen auf und ab laufen. Wenn ich ihr Gesicht in der Dämmrung hinter den Bambusrohren und fliegenden Reihern ihres japanischen Wandschirms betrachtete, konnte ich sehn, wie das Leben gleich dünnen Schalen davon weggenommen wurde. Als sollte überhaupt nichts übrigbleiben. Einmal faßte ich mir ein Herz und redete sie an, in der Hoffnung, sie möchte noch einmal die Augen öffnen, aber sie konnte nicht. Die Zeit verging, und dann half es ja nichts, ich ging zur Staffelei und öffnete ihre Augen.

„Das wurde es, was Sie da sehn. Sie ist es nicht. Ich weiß nicht, was es ist. Es ist das, was ich gemacht habe.

„Gegen Abend wars fertig. Ich trug es in die Nähe ihres Bettes, sie erwachte, sagte, es sei so bunt, — und schlief noch einmal für eine Stunde ein.

„Später sprach sie noch mit uns, aber — — nun, das reichte für viele Jahre. Sie schwieg, wir warteten noch auf ein letztes Wort, aber es kam nur das langsame Kaltwerden.“

Der Maler war still. Es war dunkler geworden, und Georg sah, daß die Sonne hinter einem riesigen Gemäuer von weiß und grauem Gewölke stand, gerade in der Öffnung der Allee durch das Wäldchen. Magda hatte sich mit ihrem Stuhl wieder herumgedreht und sah zu dem Bilde auf. Bogner erhob sich, kam langsam durch den Saal bis zu Georgs Fenster und klopfte seine Pfeife aus auf dem äußeren Sims. Eine Weile später sagte er, hinausschauend:

„Sie war so dunkel und traurig innen. Aber das Bild, das von ihr gemalt wurde, ist Sonne, Wärme und kein Schatten als der eines Falters, der vorüberfliegt. Ich habe es nicht gemalt; durch mich wurde es gemalt. Sie war der Gottheit lieb. Ihr Sterbliches liegt auf irgendeinem Friedhof bei irgendeiner wilden Stadt. Es ist eine schmerzliche Frömmigkeit in der Welt, — sie hat keinen Namen. Sie war in ihr und in dem, der dies gemacht hat. Das genügt.“

Georg hatte vor verdunkelten Augen undeutlich die Schrift auf dem Bilderrahmen, und es zog ihm, seltsam einschnürend, durch die Brust: Liebe vergeht, doch es bleibt, was der Liebende schuf ... Vorgebeugt sah er von weitem einen Schein des Gemalten. Es leuchtete selbsteigen und zeigte geheimnisvoll sein unsterbliches Eigentum, den Schmelz von Dauer und Vergängnis auf einem Gesicht, das die goldene Luft berührt.

Augenblicke später merkte er, daß ein überstarker Seufzer seine Brust anfüllte, er mußte sich zurücklehnen und ihn langsam und vorsichtig entlassen, damit er nicht hörbar würde.

Im gleichen Augenblick gewahrte er, daß der Maler neben ihm sich zusammenraffte, einen Schritt zurücktrat und sich tief verbeugte. Georg wandte sich. Seine Mutter stand in der Tür.

Die Herzogin

Für Georg ging von der Erscheinung seiner Mutter ein Licht aus — Schreck und Staunen —, das er im ersten Augenblick kaum begriff. Sie stand da, voll in einem tiefen Sonnenglanz, gekleidet in ein gelbliches Gewölk, das an ihr rieselte, schlank, unverhofft groß, jedoch zierlich, und über dem sehr schlanken, freien Halse schwebte das schmale und zarte, hagre Gesicht mit gebogener Nase, zu deren Seiten, unter starken, schmerzlichen Brauen, die unbeschreiblich klugen und dunklen, braunen Augen leuchteten, — und aus dem dunkelbraunen Haupt kurzgeschnittener Locken fiel hinter der linken Ohrmuschel hervor die eine, kostbar lang und schwer gewundene bis hinunter am Hals in den Ausschnitt des Kleides. Ja, so stand sie, schwebend; Georg erinnerte sich nicht, sie je so gesehen zu haben, — freilich — wie oft hatte er sie gesehn in den letzten Jahren? keine sechsmal, und das letzte war Monate her. — Überdem streckte sie nun lächelnd den rechten Arm nach Bogner hin aus, und während der sich zum Kuß auf diese plötzlich erschienene kleine Anmutslinie, diese Welle von Fingern, Fingergliedern und Knöcheln, Handrücken, Handgelenk und Arm beugte, eilte Magda von der Seite heran, um an ihrer linken Hand zusammenzusinken, die vom leicht und schräg emporgestützten Unterarm so leicht herabwehte wie ein Blatt, worauf sie das Mädchen an sich zog, mütterlich mit dem Arm umschloß und küßte.

„Wie schön, Herr Bogner, daß ich Sie gleich zuerst treffe!“ sagte sie, „nicht wahr, Sie sind der Maler?“ Und, wieder zu Magda gewandt: „Nun, mein Kleines, was giebt es denn Gutes?“

„Ach, Tante Helene, etwas Herrliches! Ich bin geflogen, denke dir, mit einem Flugapparat, den Onkel Woldemar erfunden hat, er ist hier, ja, du kannst ihn sehn, wenn du magst, er steht gleich hinterm Wäldchen auf der Wiese!“

„Aber natürlich, den muß ich sehn. Stiefeln wir los!“ sagte sie munter, „ist noch Zeit vor dem Abendessen?“

Georg blickte auf die Uhr, fand, daß es halb acht war, und sagte, es sei noch eine halbe Stunde. Seine Mutter nahm Magdas Arm und wandte sich zum Gehn, indem sie, den Maler mit einem zweiten, womöglich noch köstlicheren Lächeln beschenkend, zu ihm sagte, sie liebe sein Bild sehr, weil auf ihm das Allervergänglichste zu so viel Stille und Ruhe geworden sei; immer sei es wie der tröstliche Wink eines holden Geistes, sooft sie daran vorübergehe.

„Und nun,“ sagte sie, über die Schulter den Kopf zu dem Bilde hinwendend und wieder zurück, „nun müssen Sie mir gleich etwas erklären. Wie ist das mit der Kontur? Darüber wird doch heut so viel gestritten, und die einen sagen, es gebe gar keine ...“

So ist sie nun ... dachte Georg. Einmal alle hundert Jahr kommt sie zum Vorschein und weiß alles —, aber was sagte denn dieser Maler da, dieser unglaubliche Mensch?

„Hoheit,“ sagte der Maler, „wenn ich bei meiner Malerei je einen Grundsatz befolgt habe, so weiß ich von diesem Augenblick an, daß er recht war ...“

„Ach,“ meinte sie lächelnd, „von diesem Augenblick? das ist reizend! Und nun den Grundsatz!“

„Alles, was lebt, Hoheit, leuchtet — wie es beleuchtet von außen wird — von innen, und wo das äußere Licht mit dem inneren sich mischt, da ist die Kontur. Sie ist sehr flüchtig, sie ist der Augenblick, in dem Gegenwart aus Vergangenheit und Zukunft besteht, die Ruhe auf der Flucht. Bin ich zu verstehn, Hoheit? Die Linie, wo das äußere Licht Seele wird und die innere Seele zu Licht, das ist die Kontur.“

Sie sah ihn ernsthaft an. „— wo das äußere Licht Seele wird?“ antwortete sie. „Aber wie wird es Seele?“

„Ja,“ sagte er nicht minder ernst, „und wie wird die innere Seele zu Licht?“

„Das war eine schöne Antwort“, nickte sie, im langsamen Vorwärtsgehn mittlerweil an der Saaltüre angelangt, die der Maler öffnete. Georg wollte folgen, als ihn plötzlich ein Zufallsblick auf Bogners Gemälde zurückhielt. Er ging rasch darauf zu, trat darunter und spähte angestrengt zu ihm empor.

Nein, sagte er bei sich selber, sie sieht doch nicht wie Mama aus, wie kam ich nur darauf?

Ihm war auf einmal sonderbar ängstlich zumut. Er suchte, weshalb das so war; vor seinen wieder gesenkten Augen flimmerten die auf dem Tapet liegenden Noten, er setzte sich auf den Drehstuhl, drückte gefühlsverloren eine Taste nieder, und minutenlang verging ihm alles in Leere.

Ja, nun weiß ich schon, sagte er aufschreckend und aufatmend. Hoheit, sagte er, und sie war nur ein Freifräulein aus Schleswig, und wie hatte er doch recht! Einen Tropfen königlichen Abenzerragenbluts soll sie freilich haben, ja einen Hauch womöglich von Boabdil el Chico her, aber —, den Zusammenhang einen Augenblick über phantastischen Vorstellungen versunkener, alhambrischer Herrlichkeiten verlierend, glühte er wieder auf. So sieht sie aus, so tritt sie hervor aus ihrem Dunkel, und dies Dunkel ist ihr Leben, da muß sie begraben sein, und es ist kaum einer, der es weiß und danach fragt. Ein Tier kann sich klaglos verkriechen und untergehn, aber mit ihr — — es ist doch —, ja, sollte man nicht meinen, daß mit dem Augenblick ihres Untergangs ein ganzer Hofstaat mit Damen und Rittern und Trabanten und Sklaven versinken sollte? Aber wie komm ich darauf? Ach! Boabdil el Chico, er zog ja wohl mit dem Untergang seines Reiches in den Berg ein, wo sie alle mit ihm schlafen, um in Mondnächten einmal zu geisterhaftem Leben zu erwachen ...

Wieder emporsehend aus seiner Beklemmung, gewahrte er noch immer und unwandelbar die leuchtende Fremde über sich sitzen.

Ja und du, sprach er vor sich hin, dich hatten wir gleich wieder vergessen, und ich weiß nicht einmal: ist das, was er von dir erzählte, wirklich gewesen oder nur erfunden, als könnte ich es in einem Buch gelesen haben? Nein, nein, es ist nur so mit dir: sprechen kann man nicht mehr von dir, kein noch so gutes Wort macht dich lebendig, alles, was von dir übrigblieb und lebt, das bist du dort oben. Wäre das dein Leben gewesen, was er erzählte? Begriffe warens doch, Auszüge, erklärende Exzerpte aus dem Lebensbuch, nicht das Leben selbst. Nicht Feuer des Auges und Luft beim Gang und Eintreten ins Zimmer, nicht die schlaflosen Nächte selbst und das Ankleiden am Morgen, wenn alles fremd scheint, und man weiß nicht, wozu. Die Stimme nicht, nur ein paar Gedanken, eine Flaumfeder des Daseins, — es war ja nur Bogners Stimme, war nur sein Ohr, sein Auge und Herz, die von alledem einen Abdruck genommen hatten und uns nun fühlen ließen mit schlecht empfindendem Finger. Was fehlte nicht alles an Wirklichkeit! All das unwichtig Scheinende grade, das doch das Allerwichtigste ist! — daß — ja was? Man vergißt es ja, so leicht ist es, aber daß, wenn sie sagte: Wir wollen zum Garten gehn, — sie eben davon nichts sagte, oder etwas sagte, das gar nichts galt, denn da war die Gebärde, in der schon der Garten war, an der man schon erriet, was sie wollte, eine Wendung des Halses, zu der sie vielleicht sagte: Wie wärs ... Oder: es ist ganz klar geworden, wir können am Ende ... Ach, und so war ihr Hauch fern an ihm vorübergezogen, lebend und sterbend, aber ihr Leben und ihr Sterben, die hatten ihn nicht getroffen, die waren ja lange abgetan, sondern daß der Maler sagte: Es ist eine schmerzliche Frömmigkeit ... Nein, nicht einmal das, sondern: Das genügt ... Oder — auch dies nicht, sondern wie er es sagte, wie er die Pfeife ausklopfte und dann dastand und aus dem Fenster sah, und wie zu fühlen war, daß wieder in ihm lebte, was er einst getan und litt, und wie er das nun am Ende alles, alles zusammengriff und knotete in diese zwei Worte: Das genügt ... Und dann? Ja dann stand Mama in der Tür ... Lieber Gott, wie furchtbar, wie seltsam ist nur das Leben ...

Plötzlich fiel Georg ein, daß er sich ja zum Essen anzukleiden hatte, er schrak zusammen und lief hinaus.

Wie er aber den Flur hinunter am Treppenhaus vorübereilte, gewahrte er plötzlich unterhalb, in der ersten Biegung des Geländers Maler Bogner, der sein Skizzenbuch darauf gelegt hatte und darin zeichnete. Georg trat einen Schritt näher und blieb stehn, gleich darauf hob der Maler unten den Kopf, sagte: „Sie sinds“, machte wieder einen Strich und rief auf einmal, erwacht und emporsehend: „Achtunddreißig Jahre, nicht wahr, Durchlaucht?“

„Wie?“ fragte Georg unverstehend.

Der Maler richtete sich auf, schlug sich mit der Hand auf die Stirn und sagte: „Welch abscheuliche Taktlosigkeit! Ich fragte nach dem Alter der Herzogin.“

Georg lachte. „Ja, das kann stimmen, sie ist drei oder vier Jahre jünger als Papa, und der ist im Februar —“

„Ich wußte es ja“, sagte Bogner, der ganz heiß und rot aussah, wie Georg jetzt entdeckte. „Eine Frau von achtunddreißig Jahren, wenn sie schön ist, ist der Inbegriff.“

„Ist Mama denn schön?“ fragte Georg, nicht weil er es nicht glaubte, sondern um es zu hören. Der Maler zog die Brauen hoch und lächelte.

„Dummheiten“, sagte er. „Schönheit ist das einzige, was es nie gegeben hat!“

„Nanu?“ — Ihre Stimmen hallten im Treppenhaus. „Was ist denn Schönheit, bitte?“

„Sie giebts ja nicht, sag ich doch. Oder — — ich will Ihnen sagen — — es steht im Faust. Wissen Sie die Stelle? Wie fängt es gleich an?

Wie alles sich zum Ganzen webt,

Eins in dem andern wirkt und lebt ...

„Hören Sie wohl, junger Mensch? Eins in dem andern wirkt und lebt!

Wie Himmelskräfte auf und nieder steigen

Und sich die goldnen Eimer reichen!

Mit segenduftenden Schwingen

Harmonisch all das All durchklingen!

„Harmonisch, haben Sie es gehört? Vollendung in sich selbst, Ordnung, Harmonie, etwas andres hat es nie gegeben. Warum giebt es uns denn, Maler, Dichter und so weiter? Damit wir sie herstellen. Wir sehen sie, und wir stellen sie her, indem wir das eine weglassen und das andre betonen, jene Teile betonen, welche die Harmonie ergeben. Wir breiten das Kleid der Muttergottes und ordnen die Engel herum, wir ziehen aus einem Bündel Suppenkraut, einem Tontopf und einer gewürgten Ente drei Tupfen von erlauchtem Grün, und da fühlen Sie sich wohlgetan an Ihrer plötzlich sehenden Seele! Was aber schön ist, leuchtet aus ihm selbst! Haben Sie das nie gelesen? Unglaublich! Achtunddreißig Jahre alt und die Mutter dieses Knaben!“

Er lachte, aber merkwürdig verwirrt. Georg lachte mit, an seiner ganzen Seele geschmeichelt und getröstet, daß die Mama einen solchen Feuerbrand in diesen Maler geworfen, vielmehr Wasser aus dem Felsen geschlagen hatte, denn wie strahlte er auf einmal von Beredsamkeit. Jetzt, da er sich schon zum Tiefersteigen gewendet hatte, kam der Maler hingegen die zehn Stufen heraufgelaufen, blieb unter Georg stehn und sagte:

„Haben Sie das eigentlich gesehn? Die rechte Hand, mit dem Arm, wie ich sie bekam, und wie das floß! Und die linke erst, wie der Oberarm nach unten ging, und der Unterarm wieder nach oben, und dann die Hand und die Finger herabflatterten wie ein Weinblatt, und wie all das floß aus der Gestalt und wieder zurück, und dann die Locke, haben Sie vielleicht die Locke überhaupt gesehn? Ach, sieh an, waren Sie das nicht, der mich heut fragte, was eine Seele wäre? Haben Sie sie nun gesehn, diese Seele eines Armes und einer Hand? Herzogtümer!“ rief er, „und ich werde es malen!“

„Wenn sie nicht so leidend wäre ...“ sagte Georg traurig und leise.

„Ach,“ meinte Bogner, der sich um das Leiden nicht zu kümmern schien, „es brauchten ja keine endlosen Sitzungen sein! Eine gute Photographie täte es auch, und wenn ich die Herzogin nur noch dreimal, nur noch einmal sehn könnte ...“

Georg nickte lebhaft. „Bitten jedenfalls müssen Sie darum! Es wird sie ja so freuen! Wir müssen uns hinter Papa stecken, wissen Sie! Er muß sich das Bild als Geschenk ausbitten, aber es wird höchste Zeit, wir sind beide noch nicht im Frack, entschuldigen Sie, und auf Wiedersehn!“

Aufgeregt und entzückt und beklommen entlief er.

Nach dem Waschen, nötiger Befriedigung sonstiger Bedürfnisse und dem Ankleiden, womit er, vom Diener unterstützt, in Minuten fertig wurde, fand Georg, daß seine Erregtheit einen hohen Grad von Kälte und seltsamer Starrheit angenommen hatte. Er mußte die Brust dehnen und tief atmen, allein es half nichts, die Pressung, die Atemnot blieb, die Hände, obwohl blank und trocken, schienen ihm feucht, seine Gedanken irrten, er dachte fortwährend, in solchen Bruchstücken jedoch, daß ihm selber nichts mehr bewußt wurde, doch dachte er an Anna. Die Uhr einsteckend, bemerkte er, daß noch ein paar Minuten an acht fehlten, und trat, um sich zu sammeln, noch einmal in sein Zimmer und am Schreibtisch vorüber vor das rechte Fenster, das er öffnete. Die Hände flogen ihm plötzlich dabei, sein ganzer Oberkörper zitterte nach, in heftigster Angst neigte er sich vor, um nach ihr zu sehn ...

Aus den vielen Schatten umher war unterweil alles Schatten und Abend geworden. Ringsum standen die Wipfel in schöner Glut, die sie von Westen durchbrach; das Geräusch des Meers war in der Ferne hörbar, die Luft war kaum bewegt und schon kühl. Auf der Terrasse war der Abendtisch gedeckt. An der Brüstung lehnte Onkel Salomon mit einer Zeitung und las. Egloffstein, alt, rasiert und gebückt, ging lautlos um die Tafel, rückte an den Stühlen und drückte eine gefaltete Serviette zusammen; plötzlich glänzte der Atlas seiner Kniehosen ganz rot auf der einen Seite. — Sonst war niemand zu sehn.

Wie einsam bin ich auf einmal! dachte Georg. Ja — bin ich es nicht immer, wir alle? Aber der Abend! Es ist so fremd und verworren alles, aber der Abend dringt so einfach und so sanft in das Blut. — Wieder von innerem Frost geschüttelt, grub er sich heftiger ins Gedachte. — Das Wirkliche, ja — wie ist es immer so fern und wie verschollen, unbegreiflich wie die Toten und ihre Erinnerung, wie diese Judith, die gewiß allen glücklich schien, — so wie Mama, wenn sie einmal erscheint, — und die lebte, damit ihre scheidende Seele in die Farbe eines glückseligen Bildes schmelze, ach, eines Bildes, das tröstet und belebt, wie Mama doch sagte. So über alle Maßen stark ist das einfach Sichtbare und das Leuchtende, das Schöne! —

Georg sah die rote Sonnenscheibe plötzlich durch die alten Baumwipfel glühn. Gereinigt lag alles da, atmete sanften Eifers und ward dunkel.

Ach, da gehen die Beiden! — Hinausgebeugt sah Georg weit zur Linken ein paar ganz goldene Stämme am Rande des Hains, ein Busch daneben stand in feurig roter Lohe, unbegreiflich stille brennend und unverzehrt. Wohl von der äußeren Allee her, die Georg nicht mehr sehen konnte, kamen die beiden Frauengestalten langsam Arm in Arm, auf den Busch zu und vorüber, die weißlichgelbe und die lichtgrüne, und jetzt, da sie vor die Lichtung der Mittelallee gekommen waren und stehenblieben, flammten sie, glutübergossen, rötlich und golden auf; dann bewegten sie sich wieder, erloschen und wanderten im Bogen um den riesigen grünen Platz unter dem Nordflügel einher, so daß Georg nun auch die Gesichter sehen konnte. Hoch darüber, in seliger Lautlosigkeit brannte ein feuerdurchronnener Wipfel. Der Himmel war nun weit aufgetan und nur Licht. Georg hörte die Tauben auf dem Dache unsichtbar, dort, wo es noch ganz hell war; unten der Schatten ... Geliebte und Mutter, beide wie fremd, wie schön, wie verzaubert! Da schien ihm der Garten unten ein magischer Garten, eine Gegend, wo Abgeschiedene sich ergehn, die mehr still als glücklich sind, obgleich von vieler Schwere befreit. Er, oben darüber, konnte nicht hinein, — und wollte er vielleicht?

Ach, das war der Schein, das war der Abend! Nun war sie für eine Stunde von den gröbsten Qualen befreit, für eine Stunde ... Du lieber Gott, es gab ja viel Ärmere, immer noch Ärmere! solche, die unter Brückenbogen schliefen, und Zuchthäusler und Sibirien und entsetzliches Menschendasein, zu Dutzenden in einem Zimmer, mit allem Schmutz und allen Verrichtungen zusammengepfercht, und dies war der Grund der Welt, abgründig in immer tieferes Leiden hinunter, und er hier oben, nach Thronen und Kronen lüstern, wie rechtlos!

Da erinnerte er sich. Ja, habe ich das denn ganz vergessen? fragte er sich fast entsetzt. Warum vergaß ich denn das so? — Überdem aber erschien ihm das Gesicht seines Vaters während der letzten Minute ihres Beisammenseins, erschien ihm Zug um Zug, wie eingebrannt in die Luft, und plötzlich mußte er denken: Aber wie sonderbar, daß er immer nur von mir sprach! Das bedachte ich ja gar nicht! Von meiner Großjährigkeit sprach er, und daß dann die Jahrhundertfrist abgelaufen sein würde, — und übrigens, warum lächelte er fortwährend so geheimnisvoll? Und warum will er selber, er ist doch kein alter Mann, warum also will er selber nicht zur Regierung? Er hielt ja freilich vom Ganzen nicht viel, aber mich wollte er doch, scheints, dazu haben! Seine Lahmheit? Oder ist es der Kummer um Mama, die an nichts mehr teilnehmen kann? Ja, würde es anders sein, wenn er, wenn sie Beide gesund wären — —?

Indem erschienen der große Chalybäus und Baschkirtseff vom Verwalterhause her und trafen mit den Frauen, die sich umgewandt hatten, zusammen. Der Mime verneigte sich vielmals. Er wird sie belustigen, dachte Georg, und sie wird ihn am Halfter haben wie ein Maultier. Jetzt wurde in der weit offenen Tür zum Vogelsaal der Herzog sichtbar, wankte, mit den Stöcken vorausfußend, eilig zum Tisch und setzte sich; Egloffstein trug die Stöcke ins Haus.

Georg, Anna mit einem Blick streifend, mußte plötzlich die Augen schließen. Es brandete rot, grüne Kreise erschienen, und während sie sich vor und zurück dehnten, zwang er Anna, zu erscheinen, sie kam, nein, sie lag an ihm, er spürte ihren ganzen Leib, Brust und Knie, ihr Kopf lag an seiner Schulter, von übermäßigem Durst erfüllt, beugte er sich darauf, es zerging ...

Der Leutnant, grün und rot in Jägeruniform, kam mit Bogner um die Ecke des Nordflügels, Magda ging ihnen entgegen, Georgs Mutter stieg eben die Terrasse hinauf; an Doktor Birnbaum, ihm zunickend, vorüber ging sie um den Tisch zu ihrem Mann und küßte seine Stirn, während er sich halb erhob. Nun haben sie Beide Mitleid miteinander, dachte Georg und konnte sich, verschwimmenden Auges, nicht losreißen vom Hinsehn. Ist das Leid, fragte er sich, vielleicht noch trauriger, wenn es so schön ist? — Ach, du, du, du, herrschte er sich an, du siehst ja immer nur zu, und was zum Teufel liegt daran, wie etwas aussieht, oder was es bedeutet, da doch ganz blind ist, wer leidet, und nichts sieht als die Qual, tage- und jahrelang!

So entschloß er sich, aufzustehen, und ging hinaus.

Abendtisch

Also darum? Merkwürdig! dachte Georg, als er, anstatt durch das Haus zu gehn und vom Vogelsaal her die Terrasse zu betreten, um die Ecke des Flügels kommend, Magda allein zur Seite der Treppe bei den Rosenstöcken stehn sah, in der Absicht scheinbar, eine zu pflücken, derweil oben über der Brüstung eben die Andern sich um den Tisch niederließen, so daß von ihnen alles verschwand, während Georg näher ging, bis auf Köpfe und Schultern. Eiskalt, von Schaudern Zitterns innerlich mehr als äußerlich fortwährend überlaufen, klopfte ihm stärker das Herz bei dem Gedanken, daß sie und er jetzt von keinem gesehen wurden. Als er den Weg von der Seite her auf sie zuging, blickte sie um, errötete sonderbar und lächelte. Georg, nach einem Einfalle jagend für eine Verabredung nach dem Essen, fand nichts und sagte schließlich stockend, auch von einer plötzlichen und süßen Reue ergriffen: „Du mußt mir noch von deinem Fluge erzählen, ja?“

Da hatte sie sich wieder dem weißen Rosenstock zugewandt, der etwas niedriger war als die andern; das Gras um ihn her war wie bei den andern mit abgefallenen Blättern bedeckt, und von den Blüten am Strauch waren nur wenige noch vollkommen, auch diese, weit offen, zeigten ihre gelben Staubgefäße. Er sah das alles, neben ihr stehend, während sie nur leise, ohne zu antworten, den Kopf hin und her bewegte, dann, vom Wege sich etwas überbeugend, den Stamm erfaßte und leicht schüttelte, so daß noch Regentropfen und eine Menge Blätter abflatterten; gleichzeitig, als ob sie allein wäre, sah sie nach oben, wo Stimmengewirr und Gelächter tönte und ganz rechts der Kopf von Georgs Vater im Profil sichtbar war, links von ihm Kopf und grüner Rücken des Leutnants. — Sie wollte nun eine noch halb geschlossene Rose ablösen, aber der Stiel war zäh, Georg sah versunken zu, wie sie heftiger zerrte, — Blätter über Blätter entflatterten beständig, er dachte, sie macht Schmetterlinge ... endlich hatte sie die weiße Blüte in der Hand, nahm sie in die andre, bemerkte einen roten Tropfen am Mittelfinger der rechten, drehte sich langsam zu Georg und streckte ihm lächelnd den Finger entgegen, sanft damit über seine Lippen streichend, so daß der Tropfen sich vermischte. Ihr Kopf sank allgemach auf die Brust ...

„Anna! — Ist dir etwas? — Anna!“ brachte er heiser hervor.

Sie sah verwirrt auf, schien plötzlich zu begreifen, wo sie war, lachte hell auf.

„Nachher! Nachher!“ rief sie ihm zu, während sie den Weg hinab, um die Ecke und die Treppe hinauflief. Georg begriff nichts und sprang hinterdrein; die letzten Stufen ersteigend, sah er, wie sie die Rose, um den Tisch laufend, vor Bogner auf den Teller warf. Georgs Mutter neben ihm sah auf, lächelte und nickte erst Magda, dann ihm selber zu, und er setzte sich auf den freien Stuhl ihr gegenüber zwischen den Leutnant und Magdas Vater. Noch sah er, wie sie, links von seiner Mutter sich setzend, sich vorneigte, um dem Maler zuzunicken, dann glitt ihr Blick zu ihm herüber, und als er ihn traf, versüßte ihr ganzes Gesicht mit einem innern Erschrecken sich dergestalt, daß ihm das Herz stillstand. Sie schlug die Augen nieder. Nun wußte er alles, alles! Einen Augenblick war alle Angst verflogen, das Süße, das er bekommen hatte, durchsickerte ihn, langsam kehrte die Angst, und heftiger nur, zurück, aber nun lauerten Ahnungen, überwältigend schon von fern, in der Tiefe, Triumphe, von denen er den Blick wegwenden mußte, um alles aufzusparen, und so saß er denn in sich selbst wie in einem schütteren Gehäus von Gluten und Frost, aß derweil, nahm von Schüsseln und Platten, die links von ihm erschienen, und aß Salat, oder Mayonnaise, kalten Braten, oder was es nun war, saß und brauste, und war umbraust von vor- und rückwärts bewegten Gesichtern, Augen, die ihn streiften, lachenden Mündern, Gabeln, die auf und nieder gingen, Gläsern, sah dazwischen plötzlich das Gesicht von Franz, der, eine Schüssel reichend, mit unerschüttertem Ernst und teilnahmslos darauf niederblickte, und schon war alles vergangen, eine Wasserfläche schien vor ihm zu sein, in die beständig kleine Steine geworfen wurden, so daß es Ringe gab, die sich ausdehnten, einander kreuzten, aufhörten und wieder begannen, bis das Wasser schaukelte und Wellen schlug. Tief unten darin war vielleicht Annas Gesicht oder ein Rosenstrauch und ein durchdringendes Auge in ihm.

Einmal hörte er lauter Gelächter aus dem Wirrwarr, jedes einzeln, Annas leichtes, reines, Baschkirtseffs prächtiges, schön abgedämpftes Bühnengelächter und das helle, ehrliche des Leutnants. Einmal war da Bogners Gesicht, einsam, irgendwie dunkler als die andern und wie aus Erz. Einmal dachte er, sie schössen unablässig mit kleinen Pfeilen aufeinander über den Tisch, und eine Weile später merkte er, dies Pfeileschießen war die Unterhaltung. Richtig, wie Federbälle, ungefährlicher als Pfeile, flogen die Reden hin und her, wurden aufgefangen und zurückgeschlagen, wobei der Auffangende sich mitunter weit hintenüberlegen mußte, und übrigens schienen mehr Bälle im Spiel zu sein, als verwandt werden konnten, denn nicht selten kam es vor, daß einer ganz unbeachtet blieb und irgendwo auf die Tischkante fiel und hinunter, wobei nur der, welcher ihn geschlagen hatte, ihm nichtssagend nachlachte. Ja, was war das nun eigentlich?

Da sah er sie alle um den Tisch sitzen, aus der ganzen Windrose schienen sie zusammengeweht: Leutnant und Mime, junges Mädchen und Maler, Papa, Mama, Onkel Salomon und der große Chalybäus, und doch war dies ein schönes und glattes Hin und Her, und war ein Wetteifer dabei, so wars der, möglichst sicher zu werfen, nicht zu gewinnen, sondern im Gegenteil es dem Mitspieler leicht zu machen, aber wie brachten sie das fertig bei ihrer Verschiedenartigkeit, und wie hatten sie sich mittags gestritten, wo es doch noch weniger waren?

„Warum so still, mein Junge?“ hörte er indem seine Mutter sagen und sah sie auf einmal zu ihm herübernicken.

Freilich, natürlich! Sie war das Ganze. Mittags waren es ja lauter Männer gewesen — unter denen Anna kaum gelten konnte. Dies aber war ein Gewebe, und seine Mutter war die Meisterin davon. Sie hatte den Aufzug unsichtbar bereitet, sie hielt alle Fäden des Einschlags in der Hand und ließ sie hineingleiten, ohne daß jemand es merkte, als hätte sie sich in alle verteilt und lenkte sie von innen, in jedem erratend, was paßte, und mochte sie sich einmal geirrt haben, so war sie es wieder, die es mit unmerklichem Griff veränderte, so daß es paßte und im Gewebe verschwand. Sogar der Baschkirtseff hatte alle Selbständigkeit aufgegeben; zwar glaubte Georg sich zu erinnern, daß er eine Schnurre von Kainz und ihm selber erzählt hatte, aber sie war ganz klein, und ein Anekdotenerzähler mit Maßen durfte in einer richtigen Gesellschaft ja so wenig fehlen wie der Narr im mittelalterlichen Hofstaat. — Und bei alledem hatte sie es noch fertiggebracht, seine Schweigsamkeit zu bemerken ...

„Mein Sohn Georg“, sagte sie jetzt, „war gewiß sehr traurig, daß er nicht mit Ihnen fliegen konnte, Herr Leutnant! Meine kleine Magda war ja außer sich vor Entzücken. War denn das aber nicht zu gefährlich, auf die See hinaus ...“

„Ach,“ sagte der Leutnant, „das Meer war immer vorne, weil ich aber doch mit geistigem Auge immer hinter mir war, hab ichs gar nicht gesehn.“

„So, sie saß hinter Ihnen“, bemerkte die Herzogin leicht, wie zur Erklärung für sich selber, während der Leutnant Magda anlachte, die dunkelrot wurde, aber tapfer erwiderte, davon hätte sie nichts gemerkt, er hätte ihr bloß die Aussicht weggenommen mit seinem Lederrücken und außerdem ihren Schwan überfahren.

„O, war das Ihrer, Gnädigste? Ich lasse sofort einen neuen kommen. Wo bekommt man die?“

Die Herzogin wies ihn an Doktor Birnbaum, der wisse alles, und er sagte gleich: „No — in Alfeld, oder jedenfalls bei Hagenbeck.“

„Hagenbeck?“ sagte der Baschkirtseff, von der Herzogin angesehn, „der hat ja bloß Apen und Boren, und auf einem Pappfelsen hat er einen Kondor angebunden, ich hab mal ’n Plakat —“

„Wer war bei Hagenbeck?“ fragte die Herzogin. „Ich muß wissen, ob er Pinguine hat. Die sollen ja die klügsten Tiere sein, und seit mein Mann das Buch von Anatol France gelesen hat, wünscht er sich immer Pinguine zu Weihnachten.“

Sie blickte auf Chalybäus, und richtig, der hatte sie gesehn. Sie gingen hin und her, sagte er, und wackelten mit dem Kopf. Sie sähen wie Dekane aus und könnten nicht mal fliegen.

„Man wird es ihnen beibringen“, erklärte der Leutnant Georg großmütig, während seine Mutter sagte:

„Ich fürchte, Woldemar, Herr Leutnant Kaspar wird beim Fortfliegen noch die Wetterfahne von Helenenruh mitnehmen oder ...“

„Die Wetterfahne, Helene? Ein Leutnant und Wetterfahnen? So was mußt du nicht sagen. Wenn noch —“ Georg hörte den Baschkirtseff einen Vers aufsagen, in dem sich Mensch auf wetterwendsch und „äußerst wenig vaterländsch“ reimte, während der Herzog zu Ende sprach: „— der alte Stechlin lebte, der sammelte ja welche, da könnte er sie hinbringen.“

„Also, Chalybäus, da müssen Sie aufpassen!“ mahnte die Herzogin.

„Ums Himmels willen, Durchlaucht! Ich habe eine erwachsene Tochter, man wird sie mir über Nacht entführen, samt Wetterfahne und allem!“

„Was für Zeiten!“ klagte sie. „Früher kamen Götter in Schwanengestalt, heute werden Schwäne überfahren, wobei mir die Leda von Klinger einfällt. Hat er nicht jetzt ein Wandbild in Leipzig gemalt? Kennen Sie es, Herr Bogner?“

Bogner war seines Wissens nie in Leipzig gewesen.

Dann mußte Georg es wissen, und, von seiner Mutter lächelnd angeblickt, merkte er sich schon den Mund öffnen und erklären, es wäre eigentlich kein Bild, sondern mehr eine große Illustration.

„Was für einen klugen Sohn ich doch habe“, sagte seine Mutter und hob die Tafel auf. — —

Zu Georg sagte sie dann, als er zum Handkuß zu ihr kam, er dürfe jetzt einmal eine Weile verschwinden, sie habe mit seinem Papa ein paar Worte zu reden, und er merkte an ihrem Lächeln tief gerührt, daß es sich um seinen Geburtstag handle, — auch daran dachte sie. Anna, die plötzlich neben ihm stand, meinte leichthin, sie könnten vielleicht noch ein Stückchen gegen den Deich gehn, zu Lornsens Mühle, und sehn, wie der Mond aufginge.

„Schieß Mäuse! Georg!“ rief sein Vater, „bleibt aber nicht zu lange, sonst trinken wir die Bowle allein!“

Georg nickte und lachte, sich erinnernd, daß von einer „Pelikanbowle“ die Rede gewesen war, und hörte im Enteilen noch seine Mutter ihm nachrufen, er solle Stiefel anziehn, da es gewiß noch naß in den Wiesen sei.

Über Treppen und Flure gestürmt, schöpfte Georg Atem auf einem Stuhl im Ankleidezimmer. Jetzt kam es, jetzt, jetzt! Alles stand in ihm still, Leere war, furchtbare Beklommenheit, die selig machte. Aufspringend, wühlte er sich in den Kleiderschrank und fand einen pfefferundsalzfarbenen Rock mit Taschen, Klappen, Riegeln und Hornknöpfen, den er anzog, während er mit dem Fuß die Türen zum Stiefelschrank öffnete. Eine Minute später stand er völlig besinnungslos auf dem Flur und suchte in allen Abgründen seines Gedächtnisses, was er vergessen hatte. Endlich fiel ihm das Teschin ein, er lief die Treppe hinab und durchs Billardzimmer in die Gewehrkammer, wo er sich dreimal im Kreise drehte, ahnungslos, was er hier wollte, das kleine Jagdgewehr in der Ecke stehn sah, einen Schrank aufriß, eine Handvoll Schrotpatronen heraus, und sie in die Tasche stopfte. Den Flur ging er langsam hinunter, jetzt in großer Furcht. Er merkte, daß er, das Gewehr in der Linken, eine Patrone in der Rechten, beständig beide miteinander verglich, ohne ihren Zusammenhang zu erraten, doch ging er ihm nun auf, er schob die Patrone in den Lauf, sicherte und hörte sich halblaut und zitternd murmeln, was er innerlich schon die ganze Zeit gemurmelt hatte: „Warum gabst du uns die tiefen Blicke ...“

Achtes Kapitel

Sonnenuntergang

In der Haustür am Ende des Flügels blieb Georg stehn; er mußte Atem schöpfen. Sieh, es dämmerte schon ... Still zog von rechts, vom Rasen her, der Sandweg vorüber, nach links zu den leeren Wiesen mit wenigen Baumgruppen hin. Gegenüber lag das Wäldchen stille und dämmrig; im Innern dunkelte es und wurde schon farblos. Hoch oben grünten noch die Wipfel, umrieselt, selbst verrieselnd, vom Licht. Georg ging nun vorsichtig um die Büsche und den Rasenstreif am Haus nach rechts, sah Annas lichtes Kleid drüben in der Dämmerung der Gebüsche, und von der Terrasse her den Maler über den Rasen kommen. Also tat Georg, als habe er es überaus eilig und fragte den Maler, vor ihm vorüberlaufend, zu seinem eignen Entsetzen, ob er auch mitwolle; er hörte ihn etwas von Kühen und „im Dunkeln ansehn“ murmeln, rief ihm albernerweise zu, er möchte die Kühe von ihm grüßen, und lief weiter, doch hatte ihn durch diesen seinen Zuruf eine bodenlose Lustigkeit und ein teufelsmäßiger Mut überfallen, die ganze Welt zu umarmen, — was verschlug darin ein kleines Mädchen wie Anna! — Die sagte, als er herankam: „Da kommt der Mäusemörder!“ und war scheinbar ebenso fidel wie er.

Während sie nun Seite an Seite die Allee hinabschlenderten, zerbrach Georg sich den Kopf, wie er es anstellen könne, sie — so ganz unauffällig, aus irgendeinem triftigen Grunde — beim Arm oder unterzufassen. Er mußte so tun, als ob irgendein Einfall ihn dergestalt erregte, daß er ihn herausschleudern und sie dabei zu fassen kriegen mußte, wie man so tut im Eifer des Gefechts, aber aus dem Nachdenken geriet er nur an die Frage, wie wunderlich das sei, daß er heute und jetzt einen Grund brauche, sie anzurühren, während früher ... Da riß er sich zusammen, wollte eben hervorstoßen — und ihren linken Ellbogen, der schon fast seine Brust berührte, so dicht ging er hinter ihr, erfassen —: Weißt du eigentlich, Anna, daß ich Herzog werden kann? Allein, im letzten Augenblick noch besann er sich und dachte, er behalte es besser für sich, bis sie ihm ganz gehöre, — und außerdem — dies alles schien ihm im Augenblick so unglaubhaft, so entlegen und auch so nebensächlich, daß er schwieg.

„Warum hast du denn eigentlich diesem Maler eine Rose geschenkt, he?“ fragte er plötzlich zu seinem eigenen Erstaunen. Welch verfängliche Frage!

Sie blieb stehn und sah ihn an. Den Ausdruck ihres Gesichts verstand er nicht. Er schien so, als sei er nicht fertig geworden, Ansatz nur zu allem möglichen, liebevoller Vorwurf vielleicht, oder auch Spott ... Sie schwieg aber, warf die Schultern ein wenig und ging weiter, ja — und nun war der Frost und die Angst, — alles war wieder da.

„Hast du ihn denn nicht auch gern?“ hörte er sie jetzt fragen und erschrak süß über die Verschleiertheit ihrer Stimme, über die Abbitte darin und die Demut, — was alles ihn anduftete aus ihrem unsichtbaren Gesicht, das sie abgewandt hatte von ihm, ohne es dabei aus seiner graden Richtung nach vorn zu bewegen ...

„Gern?“ fragte er mit rauher Stimme. „Ach Anna —“

Jetzt, da wars! Er packte ihren Ellenbogen, den sie augenblicks krümmte, um die Hand an den Halsausschnitt zu legen, so daß sie im selben Nu untergefaßt gingen, während er eifrig und erregt redete:

„Weißt du, Anna, was ich an Bogner gelernt habe? Sag, hast du ihn wohl lächeln gesehn? Ja, aber hast du auch gesehn, daß er zwei Lächeln hat?“ Sie schüttelte sacht den Kopf. „Eins mit dem Munde und eins mit den Augen, und das eine ist für die Leute, das andre für — also für seine eigene Seele, wenn sie lächeln muß, aber wie schön das ist, das hast du doch gesehn?“ Sie nickte.

Da waren sie am Gatter und blieben stehn. Vor ihnen lagen die ansteigenden Wiesen dunkel, ergraut, im Zwielicht, hinter dem der durchsichtige goldene Westhimmel stand, höher in brennendes Weiß und Gelb und langsam über Weiß und himmlisches Grün in lichtes Blau überschmelzend, und Georg sahs und trank den Geruch der feuchten Wiesen und Blumen, während er weiterhastete mit Worten, Leib und Seele durchströmt vom Gefühl ihres Beieinanderstehns in der Einsamkeit und Enge des Wiesenlandes, in dessen breites Fenster diese sanfte Unsterblichkeit verglühender Farben hingelagert war.

„Nun höre“, sagte er. „Ja Jensens — Johannes Vau, nicht Wilhelm! — also in Jensens Gletscher kommt das vor, wie der Mensch, der Urmensch zum ersten Mal lächelt. Er jagt eine Frau — sie sind noch ganz wild, weißt du, und fressen sich — und wie er sie niederwirft und schon den Mund aufreißt, sie zu beißen, da läßt er den Mund offen stehn, weil er auf einmal sieht, daß sie ein Weib ist und so schön, — und das, sagt Jensen, war das erste Lächeln, das dann beibehalten wurde: er zeigt die Zähne, zum Zeichen, daß er nicht beißt, nicht beißt, verstehst du, ungefähr so, wie man sagt: Hunde, die bellen, beißen nicht ...“

Da ging ihm der Atem aus. Hätte er nicht den Mund geschlossen, würden die Zähne aufeinander geschlagen sein, und auch von dem, was er noch sagen wollte, war keine Spur mehr zugegen, nur eine eisige Leere im Gehirn, während er merkte, daß sie sich von ihm losmachte, an das Gatter trat und die Arme darauf legte. Er wußte nichts, als ebenso zu tun, und konnte nach einer Weile fortfahren.

„Und siehst du nun, dies erste Lächeln, dies mit den Zähnen, das ist — sagen wir Zivilisation, der erste Anfang des Menschen. Das Lächeln in den Augen aber, das ja nicht er allein hat, sondern wir alle, — wir sind ja nur gewohnt, auch gleichzeitig mit dem Munde zu lächeln, ja —“ er trat näher zu ihr, — wie duftete auf einmal ihr Haar! — „ja, denke einmal nach, versuche einmal, wirklich zu lächeln, etwas Schönes zu denken und zu lächeln, dann tust du nicht wie auf der Straße, wenn jemand grüßt, der dich nichts angeht, daß du die Zähne zeigst, sondern es fängt in den Augen an, und sie ziehn sich zusammen, tus mal, tus doch mal ...“

Sie wandte langsam den Kopf herum, sah ihn an und lächelte. Ihre Lider zitterten, nun hoben sich bebend die Mundwinkel, schon wollte er sich darüber herstürzen, als sie plötzlich in helles Lachen ausbrach.

„Ja, du kannst bloß lachen!“ sagte er trotzig, warf die Flinte am Riemen von der Schulter und hängte sie mit Nachdruck über den Pfosten, indem er sich von Anna abwandte. Und so blieb er stehn.

„Bist du böse?“ hörte er sie nach einer Weile leise bitten. Erbarmungswürdiges Mitleid schnürte ihm die Kehle zu, aber er schwieg. Das Herz klopfte ihm im Halse. Was sie jetzt sagte, darauf kams an! — noch konnte er nicht, noch konnte er ...

„Soll sie da hängenbleiben?“ hörte er sie nach einer endlosen Minute mit gewöhnlicher Stimme fragen.

„Ja!“ sagte er.

„Ist sie geladen?“

„Ja!“

„Wenn sie nun wer findet, und sie geht los? Nein, nimm sie mal gefälligst mit!“ befahl sie und schrie im selben Augenblick leicht auf: „Hu, da kommt schon was!“

Georg fuhr herum. Aus dem Buschwerk, links vom Wege kroch raschelnd ein schwarzes Untier hervor, eine schwarze Kröte, groß wie ein Hund, und schleppte sich mühselig, von einem Fuß sich auf den andern werfend, dahin, — Artaxerxes, der schwarze Schwan; der eine Flügel schleifte am Boden nach.

„Ach Gott, ach Gott, das arme Tier!“ jammerte Anna und näherte sich ihm, aber er reckte sich sofort auf, blähte sich, schlug mit dem gesunden Flügel, sperrte den blutroten Schnabel auf und fauchte.

„Früher fraß er mir aus der Hand,“ klagte sie, „wenn die Leute krank werden, werden sie bösartig, Tante Irmintrut war auch so. Meinst du, daß er am Leben bleiben kann? Er wird sich doch erholen, und Futter bekommt er ja von uns. Versprich mir, Georg, daß er leben bleibt!“

Georg tat es gern, dem unseligen Tier nachblickend, das inzwischen weitergewatschelt war, hin und wieder zornig nach dem herunterhängenden Flügel hackend, wobei er dann vornüberfiel, bis er die Allee überquert hatte und ins Dickicht eintauchte und rauschend verschwand.

„Komm, laß uns gehn“, flüsterte Magda. Er nahm schweigsam seine Flinte wieder, öffnete das Gatter, und sie gingen wortlos durch das hohe Gras bis ans nächste Knicktor, einem aufrechten Brett über drei Stufen. Georg half ihr die schmale Treppe empor; oben blieb sie stehn, noch auf seine Hand gestützt, und rief: „O, ich kann die Sonne noch sehn! Gleich verschwindet sie im Dunst! Ach, welch herrliche Farben!“

Georg, emporblickend, sah ihren Kopf, der allein in das Licht ragte, hell gerötet Antlitz und Haar unter einer feinen Aureole goldener Härchen.

„Ach, Georg!“ seufzte sie nach einer Weile aus tiefstem Herzen, „es ist himmlisch!“

„Was denn, mein Kind?“ fragte er väterlich aus seiner Schattentiefe nach oben.

„Ach — alles!“ sagte sie überzeugt, ließ seine Hand los und legte die freigewordene ihre auf seine Schulter, um drüben hinabzuspringen. Er folgte, ergriff einfach ihre Hand, und so schlenderten sie weiter, die Hände ab und zu im Gehen schwingend, wortlos; nur als sie die letzte Deichschrägung hinaufkletterten, meinte Georg, es würde Flecke geben.

Nun waren sie oben. Violetter Rauch lagerte über der See, die sie anatmete mit ihrer ganzen, riesigen Weite, darüber rötliches Gewölk, dann lange, feuergoldene und scharlachne Streifen, dazwischen ganz ferne, grüne, wie ewige Wiesen. Spiegelblank war die See, eine durchsichtige Glasplatte über einem milchigen, bläulichen Etwas, — doch nein, es war nicht die See, die war weit draußen, der rosige Streifen, das war die kleine Brandung, die rauschte, — und dies war nur der nasse Ebbeschlamm, der graue Schlick, der glitzerte, an vielen Stellen mit Lachen Wassers bedeckt.

Die unendliche Farbigkeit und die Stille verstärkten Georgs Beklommenheit. Leise sagte er: „Anna!“ hörte ein schwaches: „Ja ...“ und sah, daß sie das Gesicht ein wenig zu ihm wandte, ohne ihn anzusehn.

„Du hast so schöne Gedanken,“ sagte sie auf einmal vor sich hin. — Sie meinte wohl das, was er von Bogner ...

Sie machte ihre Hand aus der seinen los. Die Sonne war verschwunden, überm Horizont ergrauten die Farben, aber seliger noch und tiefer und stiller schwelgten die andern ihre purpurne und lichtgelbe und silbergrüne Seele aus in die himmlische Leere. Es wehte stärker aus Nordwesten.

Und nun standen sie am Rande der Welt. Nur Farben, die sich wandelten, sich auslebten in Stille. Sie waren die einzigen Menschen, und dies war für sie eine ewige Aussicht in die andere Welt, die sich dort erging in Wesen der Farbe, die lächelnd ewige Spiele übten, nur leise lächelnd, weil sie wußten, es sahen zwei ihnen zu.

Georg empfand noch dies. Dann fragte er, süß fühlend, wie das Reuegefühl sein Herz umkrampfte:

„Bist du mir noch böse?“

„Böse?“ fragte sie sinnlos und hob die Achseln. Auch ihre Stimme war halb erstickt. Und, o Gott, diese Bewegung der Schultern! Es übermannte ihn, — und wie sie atmete, so tief, so schwer, so unregelmäßig! Ach, noch nicht, noch nicht, noch diese Ewigkeit des Herankommens, des Zögerns, des Ahnens! Ihr Haar zu sehn, ihren Mund, in dem es zuckte, ihre Augen so von der Seite, den Blick darin, ihre Nase, ihre Wangen, in denen das Licht erlosch! — Da erfaßte er leise wieder ihre Hand, sie ließ sie ihm, sie drückte sogar seine Finger, und er hätte die Besinnung verloren, wenn er nicht hätte bemerken müssen, daß er dachte: Jetzt! — wie Bogner beim Eisenbahnunglück, aber die Sekunden verrannen, verrannen, und nichts geschah, bis endlich sein Kopf vornübersank und die Lippen auf ihrer Schulter ein Ende fanden.

Warm, — wie warm war das! Nun? — nichts! Ach, nur so liegen, so müde, so zum Einschlafen müde ... Bewegte sichs? Das Warme, Feste unter seinen Lippen bewegte sich leise — für einen Nu durchzuckte ihn die Seligkeit, daß er sie küßte, und daß sie es geschehen ließ, daß sie sich küssen ließ von ihm! — die geschlossenen Lider zitterten ihm, er fühlte ihre Schulter steigen, fühlte jetzt auch an seiner rechten Schläfe eine Berührung, ein leises Kitzeln, einen Hauch, ihr Haar ... und nun drückte es sich zusammen, nun fühlte er ihre Schläfe, sie ruhte auf der seinen, ach, ach! Sie hatte den Kopf auf seinen herabsinken lassen! Da nahm er ihre linke Hand, die er mit der rechten hielt, in die Linke, suchte ihre rechte Hand hinter ihrem Rücken, fand sie, legte sie langsam auf ihre Hüfte, vorsichtig und voll rasender Angst, hob endlich ihren Kopf mit dem seinen behutsam empor und ließ ihn an seiner Wange vorüber auf seine Schulter sinken ...

Ach! — — da war es nun! Ihr Gesicht, da lag es an seiner Schulter, ganz nah dem seinen, ihm zugewandt, mit geschlossenen Augen und nichts, nichts auf der Welt, das solchen Duft ausströmte, solch einen Odem von Süße aus seiner Kühle, die sich betrachten ließ, — die süßesten aller Wimpern, die herabgesenkten Lider, alles, so nah, so nah!

Und furchtbar zusammenzuckend preßte er sie mit aller Kraft an sich und fühlte ihren Mund mit den Lippen, fest und ganz kalt, einen fremden Mund, den er küßte, so daß sein lange schon steigendes Geschlecht sich bäumte, während die fremden Lippen warm wurden und weich und schmelzend und sich lösten und wieder kamen und in die seinen vergingen und er darin versank und nichts mehr dachte.

Mondaufgang

Georg merkte, daß Arme um seinen Nacken geschlungen waren, und tauchte aus der Versunkenheit nach oben und in die Umarmung eines weiblichen Wesens. Also dies war die Ewigkeit ... Er fühlte ihre Glieder, die an ihm hingen, ihre Brust, ihre Knie, welche an die seinen rührten. Er konnte seine Augen wieder aufbringen, er küßte ihr ganzes Gesicht trunken hundertmal, aber keines war wie das erste. Plötzlich fühlte er sein Gesicht von festen Händen umgriffen, ihre Augen gruben sich in die seinen, überschütteten ihn mit einem Strom von Liebe, sie stammelte, die Lider sanken ihr, sie murmelte etwas von „fliegen“ und ruhte aus. Die Augen waren wieder zu im stillen Gesicht, Georg blickte darauf nieder, als ginge drinnen etwas vor, das er sehen könnte, und nun bewegte sich etwas unter den Lidern hervor, drängte die Wimpern empor, glitzerte und rann, ein Tropfen, und ebenso jetzt aus dem andern Auge, und schneller kamen immer mehr unaufhaltsam geflossen. Sie weinte ja ... Als aber Georg sich wunderte, warum das so glänzte und blitzte, und das Gesicht nach der See hinaus wandte, erschrak er vor einem ungeheuer großen, dunkelgelben Monde, dessen runde, vollkommene Scheibe aus dem schwarzblauen, unsichtbaren Grunde in die mattblaue Luft rollte, aber still hielt, als er hinsah. — Wieder wandte er sich zu Annas Gesicht und sah in einem runden Tropfen, der an der Wimper hing, deutlich des Mondes winziges Spiegelbild.

Sie ließen sich los.

„Gieb mir dein Taschentuch,“ sagte sie leise, „ich hab keins.“

Sie lächelte, als ers ihr reichte. Ja, da hatten sie auf einmal die Gebrauchsgegenstände gemeinsam. Waren sie so eines geworden, oder war es nur wie früher? ... Sie trocknete ihre Tränen, schneuzte sich und gab es zurück.

„Sieh, da ist ja der Mond“, sagte sie. —

„Und die Fledermäuse“, meinte er, da er einen Schatten durch den Mond huschen sah. Sie schaute ihn mit einem langen Blick an, warf sich ungestüm an seine Brust und brach in ein unendliches, schüttelndes Schluchzen aus.

Das ist so ... das ist so ... dachte Georg gerührt, ohne es ganz zu begreifen, streichelte leise ihr Haar und wunderte sich über den fleißigen Lornsen, der so spät noch die Mühle gehn ließ, die unfern im Norden stand, groß und schwarz in ihren riesig ausholenden Armen; gleichmäßig und eisern hieben sie im Kreis herum nach dem Monde, der sanft und ahnungslos oder jedenfalls unbekümmert dicht unter ihr heraufrückte und langsam golden und glänzend ward.

Annas Weinen ward ebenso langsam ruhiger und hörte endlich ganz auf.

„Frag nicht, warum ich weine,“ bat sie nachschluchzend, „ich weiß es selber nicht. Komm, wir müssen gehn.“

Er war nicht dieser Ansicht, widersprach aber nicht, trocknete ihr Gesicht selber mit dem Tuch, küßte sie, und dann gingen sie umschlungen als ein Liebespaar, das sie nun waren, in der Richtung der Mühle, rutschten zusammen den Deich landeinwärts hinunter, küßten sich, gingen weiter, krochen durch eine Hecke und küßten sich lange. Auch wenn einer von ihnen etwas gesagt hatte, küßten sie sich, aber als sie wieder durch eine Hecke gekrochen waren und sich, im Aufrichten stecken bleibend, geküßt hatten, fanden sie sich drei Schritte hinter Maler Bogner, der dort in der Dunkelheit ganz still saß, glücklicherweise mit dem Rücken nach ihnen, auf einem Stuhlstock, der Betrachtung von zwei Kühen hingegeben, von denen die schwarze mit dem breiten Rücken nach ihm hin im Grase lag, während über ihren Beinen die andre stand, mit großen, geisterbleichen Placken, die Kinnbacken in mahlender Bewegung, den großen, töricht hochfahrenden Blick des dunklen Auges auf den Maler richtend, ohne zu merken, daß der Mond es sich auf ihrem Rücken breit machte. Welch seltsame Erscheinung im Dunkel der Wiesen! Rechts dahinter schwang die große Mühle auf ihrer Anhöhe in mächtiger Lautlosigkeit die Arme herum.

Georg, einen Augenblick betroffen anhaltend, wollte Anna stillschweigend davonziehn, aber da lachte sie leise, der Maler sah sich um, — oder er wollte es tun, doch sah Georg, daß sein Gesicht nach rechts gewandt stehenblieb, wo die Pappelreihe nach der Mühle hin führte, und dorthin blickend gewahrte Georg vor den Bäumen in den Wiesen eine Gestalt, die sich bewegte, schwarzweiß, oben mit einem Hemd, unten mit schwarzen Hosen bekleidet. Sie warf die Arme, als ob sie der Windmühle nachahmte, lief und —

„Wer ist denn das?“ sagte Georg halb belustigt, „ist der verrückt?“

Der Maler stand auf und sagte: „Das ist doch al Manach.“

Indem stieß die Gestalt einen brüllenden Schrei aus, während gleichzeitig Georg sich am Arm ergriffen fühlte. Mit rudernden Armen, an denen die breitoffenen Manschettärmel flatterten, stürzte der Mensch auf die Mühle zu, laut schreiend und wahnsinnig. Der Maler setzte sich in Bewegung und lief, um ihm den Weg abzuschneiden, war aber ersichtlich zu weit entfernt, um zu verhindern — — ja, was denn, was denn? Wollte er in die Mühlflügel ...? Georg, noch immer verständnislos, starrte hin, der Maler lief wie ein Wiesel die Anhöhe empor, aber der Andre sprang in langen flatternden Sätzen gegen die Flügel hin, Georg erschrak, sie sausten wie schwarze Keulen herunter. Indem zerrte eine Hand an seinem Gewehrriemen, Annas Hand, die schon den Flintenkolben an die Schulter setzte, zielte und abdrückte. Klein und scharf peitschte der Knall und zerstiebte, oben warf die Gestalt im Rennen die Arme in die Höhe und brach zusammen, vornüber schlagend, während der eben heruntersausende Flügel mit sichtbarer Erleichterung an der andern Seite wieder hochschwang. Georg starrte das Mädchen an. Sie stand todblaß, schauderte, schwankte, schloß die Augen und fiel um. Er fing sie auf, ließ sie ins Gras gleiten, zog seinen Rock aus und bettete sie darauf. Sie lag still; wie eine abgebrochene Blume sah sie aus.

Georg blickte beklommen auf sie herunter. Er dachte, man müsse ihr Kleid öffnen, kniete neben ihr ins Gras, hielt aber inne, als seine Hand ihre warme Brust am Kleiderausschnitt berührte, — fast hätte er hineingegriffen. — Nun fing er langsam an zu verstehn. Sich umwendend, sah er oben undeutlich eine gebückte Gestalt, wohl den Maler. Was hatte sie denn getan? Geschossen, — aber wohl — — in die Beine geschossen ... Es war Schrot. Hatte sie das bedacht? Im einen Augenblick alles bedacht und ... Jählings entsetzt, sprang er auf und drehte sich schwindelnd. Etwas entfernt standen die beiden Rinder weit voneinander, drehten die Schwänze her und sahen sich um. Dann hob eine das Maul, ein dumpfer, klagender Laut kam hervor mit einem Stoß weißen Dampfs. Georg sah die Mühlenflügel groß und abgestorben herunterkommen und aufsteigen; sie begannen, vor seinen Augen sich zu vervielfältigen und zu flimmern, die Mondscheibe zog sich zu einer Reihe von ineinandergeschobenen, silberblanken Monden auseinander, und sein Blick fiel wieder auf die Liegende, die in ihrem blaßgrünen Kleid auf der dunklen Fläche lag, als sei sie vom Himmel gestürzt und er habe, zufällig des Weges kommend, sie hier gefunden.

Es ist ja wahr, schrie er innerlich, es ist wahr, sie hat es tun müssen, es ist ein Wahnsinn, was soll das heißen, wie kommt man auf so etwas, auf einen Menschen schießen, um ihn zu retten, und ich immer dabei, — aber sie mußte, sie mußte, es gab nichts andres, warum bin nicht ich darauf gekommen? Eben weil nicht ich verlangt wurde, sondern — verlangt? Ihm wurde unheimlich zumut, das Grauen schüttelte ihn jetzt, er warf bei erstickter Kehle den Kopf gegen den Himmel oben zurück und sah in der milchigen Blässe oben die Sterne, ein paar verlorene, weißlich flimmernde Tropfen. Er stammelte: „Anna! Um Gottes willen, Anna!“

Da schlug sie langsam die Augen auf, sah ihn seltsam erwacht und lange an, bewegte die Hand und hauchte: „Ist er tot?“

Georg warf sich neben ihr auf die Knie und schrie: „Nein! nein!“ Legte den Kopf in ihr Kleid und glaubte, weinen zu müssen. Dann kam er zur Besinnung, sprang auf und sagte, so fest er konnte:

„Sei ganz ruhig, mein Herz, ich trage dich nach Haus.“

Sie lächelte schwach, er richtete ihren Oberkörper ein wenig auf, nahm seinen Rock vom Boden, zog ihn an, bückte sich und nahm sie auf die Arme. Einen Augenblick verwundert, daß solch ein Mädchenleib so schwer war, merkte er doch gleich, daß er ganz leicht zu tragen war, und eine Sekunde empfand er seine Körperkraft tröstlich. Also trug er sie über die Wiese davon auf den Sandweg zu, den die Pappeln bis auf den Hof des Verwalterhauses geleiteten, kaum drei Minuten zu gehn. Unterwegs rührte sie sich einmal, legte die Arme um seinen Nacken und das Gesicht gegen seine Brust. Einmal mußte er sich mit dem Rücken an einen Stamm lehnen und eine halbe Minute ruhn. So erreichte er das Haus.

Auf der Bank neben der Tür saß die alte Domina, glatthaarig, stand wortkarg wie immer in derartigen Fällen auf und ging ins Haus und die Treppe voran in Magdas Zimmer, wo Georg sie auf das schon zur Nacht aufgedeckte Bett legte. Sie ergriff seine Hand und küßte sie schnell und leise, plötzlich flammte die kleine Stehlampe mit grünem Schirm neben Georg auf dem Nachttischchen auf, sie schloß geblendet die Augen, während Georgs Blick auf das große alte Bild an der Wand fiel, einen grauen Stahlstich, — er hatte ihn lange nicht gesehn, diesen Engel, der ein totes Kind zum Himmel trug. Die Erinnerung an Magdas Mutter, die ein halbes Jahr nach der Geburt eines Knaben fast mit ihm zusammen gestorben war, zog durch ihn hin, während er sie flüstern hörte, er möchte zur Mühle gehn und ihr Bescheid bringen. Seltsam, dies kleine Zimmer in der Dämmerung ... das große, weißlackierte Metallbett mit dem langen Nachthemd schräg darüber, auf das er das Mädchen gelegt hatte.

Draußen vor der Tür im Dunkel stand er noch eine Minute, angeatmet vom Reinen, Duftlosen dieses Raumes hinter ihm, der anders war, sonderbar anders als jedes Zimmer, das er je betreten hatte.

Rheinweinbowle

Auf dem offenen, nur von Gebüschen und ein paar Bäumen umringten Hofplatz blieb Georg stehn, trocknete sich die Stirn und bemühte sich, etwas zu denken. Der Mond, von hier aus gesehn, stand hinter der Mühle, die gewaltig schwarz, mit zwei stillstehenden Flügeln wie ein riesenmäßiger Hase in weißlichem Glanze saß, der hinter ihr vom Monde ausstrahlte; schwarz stieg die lange Pappelreihe, sehr ernste Gestalten, von der Anhöhe den Weg herab.

Also es trifft ein, eins nach dem andern trifft ein, sogar an einem Tage, — ja, wird es nun noch eine Feuersbrunst geben? dachte er beklommen. Und sogar zum zweitenmal dieser al Manach! — Da setzte das Denken wieder aus, es war totenstill umher, in den Bäumen oben raschelte es, als bewegten sich dort Vögel. Georg ging durch die helle Mondesdämmerung auf die Mühle zu und die eiserne, schwarze Linie des Horizonts, über der weißer Flimmer in gelbliche und rötliche Hauche verging, und bei der Wegbiegung sah er wieder den Mond dicht neben dem Mühlkörper, klein und reinsilbern. Am Fuße der Anhöhe wurden auf einmal zwei schattenhafte Gestalten sichtbar, eine kleinere, dunkle, jetzt mit weißer Brust, daneben eine lange, graue, die langsam weißlich wurde, der Müllerknecht, der den al Manach auf den Armen trug wie eben er die Anna; Bogner daneben im Frack. Als sie sich begegneten, blieben sie stehn, der Christian grinste verlegen und sagte: „Da bringen wir ihn gebracht!“ die Bürde wie ein Kind in den Armen höher rückend. Al Manachs Gesicht war wieder geschlossen und klein geworden. — Sie gingen nach Helenenruh zurück, schweigsam, nachdem der Maler erklärt hatte, der Schuß hätte sich über beide Unterschenkel ausgestreut, aber es sei wohl ganz ungefährlich und habe kaum geblutet.

Während die beiden Andern zum Gastflügel abbogen, ging Georg wieder zum Verwalterhaus, traf die Domina im Flur und trug ihr, da sie sagte, Magda schlafe, auf — falls sie erwachen sollte —, daß alles gut sei.

Auf die Terrasse zugehend, sah er ihre rechte Hälfte erleuchtet. Schatten mit beleuchteten Gesichtern saßen um den runden Tisch, in dessen Mitte eine Lampe mit buntgeblümtem Schirm brannte; ringsum war tiefe Nacht. Die Steinstufen hinansteigend, machte er seinen Schritt leise, um erst nachzusehn, ob seine Mutter noch da sei, doch entdeckte er nur das Gesicht seines Vaters hinter dem Tisch, der seitwärts saß, wie er pflegte, rechts von ihm den Leutnant in Grün und Rot, dann — nach einem leeren Stuhl — Annas Vater, der rauchend und verträumt in die Lampe blickte, die Oberlippe über den Zähnen wie stets etwas angezogen, so daß sie im Lampenlicht farbig blitzten; dann den Baschkirtseff, der weit im Stuhl zurücklag und mit gedämpfter Stimme etwas zu deklamieren schien. Georg, über das Geländer der Treppe emporgereckt, blieb eine Weile stehn, willenlos versinkend in diese friedliche Gesellschaft. Auch den Rücken von Onkel Salomon entdeckte er nun dicht hinter der Brüstung; er saß, Georgs Vater zugewandt, gebückt, schräge zum Tisch. Dunkelgrüne Römer standen vor jedem, jeder leise an einer Stelle der Wölbung und der Riffelung des Fußes blitzend, noch im Schatten; der bunte Schirm ließ nur einen kleinen Kreis in der Mitte des Tafeltuches hell. Gläserne Aschenschalen glänzten farbig hier und da; seltsam rötlich waren alle Gesichter. Sekundenlang festgebannt, schien es Georg unmöglich, nur eine Bewegung zu machen oder das Gesicht abzuwenden. Erst als er den Mimen mit steigender Stimme sagen hörte: „Unchristlich oder christlich!“ und weiter:

„Ist doch die Welt, die schöne Welt

So gänzlich unverwüstlich!“

ergriff ihn der Ärger, daß sie hier saßen und Verse deklamierten, dieweil ... Also scharrte er mit den Füßen, um sich hörbar zu machen, und stieg die letzten vier Stufen hinan.

Alle wandten die Gesichter ihm zu, der Leutnant stand auf.

„Na endlich!“ sagte sein Vater und, ein wenig ironisch: „Es ist wohl nicht besonders ersprießlich, im Düstern zu jagen!“

Der Schuß war also gehört worden ... Einen Augenblick unfähig, etwas zu sagen, fühlte Georg das eben Vorgefallene auf einmal verschwinden, ihm entgleiten, als habe er es geträumt, und er mußte sich wahrhaftig besinnen, ob es gültig sei, um davon zu reden. Wieder von dem Gleichmut und der Ahnungslosigkeit der Dasitzenden geärgert, fing er an: „Es ist etwas sehr Seltsames geschehn ...“ merkte jedoch, daß eben diese Worte nun gänzlich alles Erschütternde und Fremde und Unheimliche fortnahmen. Wenn es sich schon erzählen ließ, was war es denn? Allein — ließ es sich denn erzählen? — Nun fuhr er geärgerter fort:

„Dieser al Manach — — er wollte in die Windmühle laufen, oben, Lornsens Mühle, und weil wir zu weit weg waren, hat Anna, Magda, ihn in die Beine geschossen, mit meiner Flinte.“

Er schloß, die Zähne zusammenbeißend, weil er fühlte, daß er lachen wollte, unweigerlich lachen, o, war es nicht zum Tollwerden! Und da saßen sie alle und lächelten.

„Bitte, Chalybäus,“ sagte er kalt, „ich habe sie in ihr Zimmer gebracht, sie wurde ohnmächtig hinterher, stören Sie sie aber nicht, sie schläft jetzt.“ Ja, da konnten sie ernst werden! „Wollen Sie so gut sein und Doktor Reiß telephonieren, damit er nach Herrn al Manach sieht.“

Nun fing Chalybäus an zu lamentieren, war drauf und dran, dem Herzog Vorwürfe zu machen, daß er Verrückte beherberge, besann sich und jammerte über seine Tochter, die auch verrückt geworden wäre. Einen erwachsenen Menschen in die Beine zu schießen! Und was zum Teufel sie sich um fremde Selbstmörder zu kümmern hätte, worauf ihn ihre Ohnmacht bis zu Tränen rührte, und er bedauerte das mutterlose Kind, dem er die Hüterin nicht ersetzen könne ... Dann wollte er sich von keiner Macht auf Erden abhalten lassen, an ihrem Bett zu sitzen und ihre Hand zu halten. — Onkel Salomon war unterweil schon im Haus verschwunden, Georg sah im Schreibzimmer das Licht aufflammen, dann ihn selber zum Schreibtisch gehn und den Telephonhörer abheben. Der große Chalybäus trank sein Glas aus und ging mit großen Schritten davon. Georg rief ihm nach, Doktor Birnbaum telephoniere bereits, und dann wurde es still. Der Leutnant füllte leise ein Glas aus dem, neben der Tür auf einem Tischchen stehenden Bowlenkübel und setzte es vor Georg auf den Tisch, der selber gedankenverloren auf den Stuhl davor glitt. Indem er trank, hörte er die hellen, rasselnden Schläge der Uhr im Turm, zählte zehn und dachte erschreckt: Erst zehn Uhr? Eine Stunde seit dem Essen? Was war denn alles seitdem? Ach, ich habe sie geküßt, sie liebt mich, wir lieben uns, das ist nun alles vorbei ... Sein Vater fragte einiges, er antwortete und trank in kleinen Schlucken das süße und eiskalte Weingetränk, allein plötzlich ertrug er das Dasitzen nicht, stammelte eine Entschuldigung, sprang auf, lief die Treppe hinunter und in den Park in der Richtung des Weihers.

Neuntes Kapitel

Dunkel

Die Nacht war warm, und nun, erhitzt nach dem langen Frieren zuvor, bewegte Georg sich in einem heißen Branden von Gedanken, die zergingen, ehe er sie faßte. Als er aber neben dem Ende des Nordflügels vorüber wollte, raschelte es rechts im Wäldchen, rauschte, ein schwarzer, fallender Klumpen schleppte sich, ungetüm und schauerlich anzusehn, in das halbe Licht und auf den Weg, Artaxerxes. Verflucht, da ist der schwarze Bote schon wieder! schnob Georg ergrimmt, besänftigte sich aber, indem er gerührt denken mußte: So weit ist er inzwischen gekommen, geradeswegs auf seinen Weiher zu! Der Hals züngelte hervor, unbekümmert um Georg zog er seine Straße beschwerlich, arbeitete sich den Weg hinunter und verschwand im Dunkel der Wiese vor dem Weiher. — Und wenn er uns da oben nicht begegnet wäre, dachte Georg, hätte ich die Flinte vielleicht hängen lassen! „Verdammtes Vieh,“ schrie er ihm nach, „mußt du einem denn überall in die Quere kommen!“ — Ach, auch er tat, wozu es ihn trieb, da lag sein Weiher, — in einer graden Linie, wie ein Pferd, das nach Hause geht, war er darauf zugegangen, — was für eine Dämonszähigkeit! Und Georg ging weiter, lachte wütend und dachte: Der Schwan ist bei Gott der bewegende Teufel in alledem! Sie scheuchte ihn auf, als sie in den Teich ritt, und dann brach sie ihm den Flügel in der Luft, und dafür erschien er uns und zwang mich, die Satansflinte mitzunehmen. Sie ist also selber dran schuld, warum wollte sie fliegen! —

Plötzlich stand er am Teich, durch einen meterbreiten Grasstreifen nur vom Wasser getrennt, das er roch, schlug sich mit der Faust vor die Stirn, verfluchte sich und knirschte sich an, ob er denn zu nichts fähig sei als zu diesen Jämmerlichkeiten! Zu keinem guten, graden Gefühl! Immer Mißmut statt Demut, Ärger statt Traurigkeit, Wut statt Schmerz. Da lag sie nun oben! Wachte sie? Was ging in ihr vor? War ihr angst? Ach, wie sollte ers wissen, war sie nicht ein fremdes, unbegreifliches Wesen? Und er hatte sie geküßt!

Da war, im Dunkel absonderlich geisterhaft, die kleine Brücke zur Insel, deren schwarze, gewaltige Baumkronen in den großen und finstren, gestirnten Himmel ragten. Einen Augenblick dachte Georg, hinüberzugehn, jedoch — was sollte er dort? Anna — womöglich wurde sie krank, und sie konnten nicht zusammen in dem halbverfallenen Liebespavillon der Insel sitzen ... Da rannte er um den Teich in das kleine, niedre Fichtengehölz, zwängte sich mühsam durch Nadeläste und Spinneweben, innerlich sich beschimpfend, verteidigend, stolperte in einen trocknen Graben und ins Freie, ins helle Mondlicht auf die Chaussee, nach Böhne.

Hier war Totenstille; in weiter Ferne rollte ein Wagen. Auf der andern Seite der Landstraße standen die Garben im vollen Silberglanz auf den Stoppelfeldern, weithin grenzenlos dahinter lag schlafendes Land, weitfern, im silbrigen Dunst, waren graue Schatten von Bäumen, kleinen Gehölzen. Unfern zur Linken stand die scharf silberne Mondscheibe kaum haushoch über der Fläche und dem Dorf, dessen weiße Häuserwände, schwarze Dächer und weißer Kirchturm mit schwarzer Haube allmählich deutlicher zum Vorschein kamen. Kein Licht war mehr dort. Wogen der Stille, Wogen der Nachtwärme, der Nachtkühle kamen und verhauchten. Das Wagenrollen ward ein wenig lauter, — gewiß war es schon der Doktor aus Böhne. Georg wußte eine Bank in der Nähe am Waldrand und suchte sie auf. Und dort saß er, erschlafft und gedankenmatt, bis das Wagenrollen nahe kam, die Laternenlichter erschienen und der Sandschneider vorüberrollte mit dem kleinen, krummen Doktor auf dem Rücksitz hinter dem kerzengraden Kutscher. Georg hörte ihn eine Minute später von der Landstraße auf den Kies vor der Helenenruher Rampe einbiegen und auf dem Fahrweg um das Haus verhallen.

O wie still es war! Wie sanft, wie arglos diese schlafende Welt! — — —

Ob sie schlief? Ob er — —

Erinnerungsbilder des Tages begannen einen zuckenden, zerrissenen Vorübertanz. Auf einmal war der grüne Teich da mit Anna darin zu Pferd, die silberne Wasserbahn, die der schwarze Vogel aufriß, Gewitterregen strömte, der Schwan schrie, am Fenster war Bogners Gesicht, Bogner saß im Dunkel vor zwei Kühen, da lag Anna, in ihrem Zimmer, der graue Engel schwebte mit Blumen und dem Kind, da stand seine Mutter fürstlich in der Tür, Judith stand in braunem Samt vor einem Gebüsch, Jason al Manach saß, liebreizend anzusehn, und sprach über Gedichte, Onkel Salomon, der Baschkirtseff, Georgs Vater — im Zickzack hin und wider durchfuhr er den Tag, stand auf einmal unwollend auf, ging in der Richtung des Schlosses, unter der Rampe her, dachte, er müßte doch einmal nach ihr sehn, vielleicht hatte sie Licht, womöglich konnte er leise rufen und fragen, bei welchem Gedanken er einen ganz andern Wunsch als unziemlich zerdrückte, es trieb ihn vorwärts, er sehnte sich, verlangte nach ihrem Mund, ihren Gliedern, sein Kopf brannte ... wie fremd, fest, wie kühl ihr Mund zuerst gewesen war!

Nun stand er unterhalb des langen Gastflügels im Heckengang und blickte empor. Drei Fenster waren erleuchtet im Oberstock, — vielleicht sollte er auch nach al Manach sehn und vom Arzt hören ... Aber da tönte die Angel der Haustür, Schritte knirschten über Stufen, er hörte die überschnappende wohlbekannte Stimme des Doktors nach dem Kutscher rufen, stand und rührte sich nicht. Es dauerte endlos, bis er die Wagenräder im Sande knirschen hörte, er erschrak, der Wagen würde ja den Heckengang herunterkommen! und so diebisch und unwürdig er sich vorkam, mußte er durch das altbekannte Loch in der Hecke kriechen, und da er einmal im Bücken war, schlich er so weiter, während innerhalb der Wagen ihm entgegen und vorüber rollte, das Licht der Laterne ihn streifte.

Einen Augenblick später öffnete er die kleine Lattentür an der Ecke des Verwalterhauses, ging zwischen den hohen Stockrosen und Sonnenblumen den Gang hinunter, unhörbar im Gras, und stand an der Hinterseite des Hauses im Grasboden des Obstgartens eine Minute still, ohne zu atmen. Endlich entfernte er sich noch ein paar Schritte vom Hause unter die kleinen Bäume und sah, daß in allen Stockwerken alle Fenster mit Läden oder weißen Rouleaus verschlossen waren, bis auf das Annas, dessen gläserne Flügel nach außen offen standen; dazwischen bewegte sich das heruntergelassene weiße Rouleau leise im Luftzug.

Rausch

Lange Zeit verging. Georgs Herz klopfte schwere, dicke, langsame Schläge. Hin und wieder hielt er den Atem an. Die Nacht war hell. Die geweißten Stämme glänzten. Manchmal drehte der Nachtwind ein paar Blätter hin und her, erst hier, dann dort, als suche er etwas darunter. Georg starrte verschwimmenden Auges auf das weiße Rechteck des Vorhangs, hin und wieder zitternd, wenn er sich bewegte, geheimnisvoll, als müsse jemand dahinter stehn. Wenn er emporsah, flackerten zwei kleine, weiße Sterne im Laubwerk und verschwanden auf ein Weilchen, von Blättern verdeckt. Er bebte heftiger in angstvoller Erwartung, flüsterte ihren Namen, wünschte sie herbei, doch nichts kam, nichts, als daß nach einer Zeit ein sehr natürlicher Wunsch seines Körpers sich bemerkbar machte, und so entfernte er sich leise in die Tiefe des Gartens, bis er den Lattenzaun erkennen konnte, — sich verwünschend: muß einem das denn immer dazwischen kommen! — wagte aber nicht, sich umzudrehn, als könne grade in dieser Minute sich etwas ereignen, fuhr, sein Geschäft verrichtend, fort, nach dem Hause zu spähn, und richtig, kaum daß er hinter seinem Baum wieder vortrat, sah er den Vorhang sich nach oben bewegen, hörte er deutlich das Quietschen der Rolle unter der laufenden Vorhangschnur. Lautlos trat er näher und näher. Sie stand im Fenster, weiß, da verschwand sie wieder ... nein, sie hatte sich auf die Fensterbank gesetzt, den Rücken an den Rahmen lehnend. Nun sah er das Dunkle ihres Haars und eine Flechte, die über Schulter und Brust vorn herunterhing. Sie löste sie auf bis oben hin, legte den Kopf zurück, bewegte ihn leise hin und her und begann die Strähnen neu zu flechten.

Sie konnte nicht schlafen! — Warum? — Seinetwegen oder ... Ach, sie war es wirklich, kein Geist, kein Traum, sie flocht ihr Haar, sie hatte nichts an als ihr langes Nachthemd, und sein Herz begann wild und regellos zu hämmern in einer schrecklichen Angst, während Gedanken sich in ihm herumstießen. Im Obstgarten mußte doch irgendwo eine Leiter ... Ja, und dann? Plötzlich war alles leer in ihm, und auf einmal war er ins Freie vorgetreten und hatte ihren Namen geflüstert.

Er sah, daß sie die Hände auf das steinerne Sims stützte und sich herunterbeugte; dann hörte er seinen Namen durch das Sausen in seinem Gehör. Da stand ja die Leiter am Baum! Er holte sie und legte sie an; sie reichte bis unter das Fenstersims, und er stieg hinauf. Nun sah er ihre Augen, dunkle Flecke mit einem unkenntlichen Blick darin. Oben empfing sie ihn, legte die Arme um seinen Nacken, küßte ihn, o, wie küßte sie ihn denn? Wollte sie ihn verzehren? Sie stammelte etwas, das er nicht verstand, er fühlte ihre Schlankheit, ihre Schultern, die sich bewegten, und daß sie ganz nackt unter dem Hemd war, ihre linke Brust, — und er packte mit der einen Hand ihr eines Knie und preßte es. Da lag sie still, ihr Kopf sank langsam zurück, er dachte, eilig zu fliehn, wie er sich aber zurückbewegte, fühlte er die Festigkeit der Arme, die ihn umschlossen, und riß sie an sich, legte das Knie innen auf die Fensterbank und stieg, so behutsam er konnte, hinein. Ihm war eiskalt. Wie er noch stand und sie hielt, flog Erinnerung vorüber an Pappeln und den Sandweg, — zum zweitenmal trug er sie zu ihrem Bett, nun war es unordentlich, die Steppdecke zurückgeschlagen, und er legte sie hinein und deckte sie zu.

O Gott, wie entsetzlich langsam ging das Auskleiden vor sich! Er krampfte sein Hirn zusammen, um nur ja nichts zu denken, und was an gräßlichen Gedankenstücken von wüst unpassender Art hindurchschoß, zerdrückte er, wie mit den zusammengepreßten Augenlidern. Endlich war er fertig, hörte seine nackten Sohlen tappen, als er zu ihr schlich, und dann lag er in der Wärme neben ihr, umschlang sie und war, so heftig sein Herz klopfte, ruhig und beinah kühl, so daß es ihm im nächsten Augenblick schon zu heiß unter der Decke war und er sie fortstieß.

„Frierst du nicht!“ fragte er leise, sich aufstützend. Die Dämmerung war schon so hell vor seinen Augen, daß er die ihren deutlich in dem unter ihm liegenden Gesicht erkannte. Da mußte er wieder denken, daß dies Anna war, seine Kindheitsschwester, und, gewaltsam den Gedanken zerpressend, warf er sich über sie, fühlte sich umschlungen, noch vergingen schauerliche Minuten des Tastens und Suchens nach dem Eingang, er hörte sie leise aufstöhnen, fühlte selber Schmerz, war ratlos, aber da kam die anschluchzende Sekunde, und jählings fühlte er sich von der unsichtbaren Riesenfaust zu rasenden Zuckungen der Lust schlotternd und schlagend zusammengerüttelt in sich selbst und verging sich im magischen Krampf.

Aus völliger Leere und Schlaffheit sich aufrichtend, küßte er leise ihre linke Achsel aus einer Art Pflichtgefühl und mit dem verdrückten Gedanken, daß sie ihm gleichgültig war. Neben ihr liegend, gelang es ihm, einen Tropfen Mitgefühls, den er Liebe nannte, zu sammeln, sie an sich zu ziehn und zu streicheln, allein er wußte nicht, was er hier noch sollte, und zudem fing ein heftiges Verlangen nach einer Zigarette an, ihn immer wütender zu peinigen.

„Ja — ich muß nun wohl gehn ...“ flüsterte er. Sie richtete sich auf, strich das Haar aus der Stirn, stützte dann eine Hand neben sich auf und sah auf ihn herunter. Auf einmal merkte er, daß sie ganz wenig lächelte, und als er fragte, warum, warf sie sich über ihn und flüsterte unter lauter kleinen Küssen auf Nase, Kinn, Wangen und Hals, er sähe so süß aus, wie er daliege. Dies erleichterte ihn freilich sehr, er lachte leise und sagte: „Was fürn Unsinn, Anna!“ innerst höchlich erstaunt: wie sie sich gleich hineingefunden hat ... Dann küßte er sie wieder, schob sie dann leise von sich, stand auf, ging zu seinen Kleidern und zog sie eilig an. Danach trat er noch einmal an ihr Bett, wo sie noch so lag wie zuvor, ohne sich nur bewegt zu haben, die Arme ausgebreitet, so daß die eine Hand über den Bettrand hing, die unterwärts mit Leinen bespannte Steppdecke bis zu den Knien nur heraufgezogen. Als er sich über sie beugte, küßte sie ihn leidenschaftlich, er ließ es eine Weile über sich ergehn, machte sich sanft los und verließ das Zimmer, wie er gekommen war. Aus dem Obstgarten entkam er über den Zaun und gelangte so auf einen engen Gang im Dickicht des Wäldchens, wo er hastig Zigaretten und Streichhölzer hervorzog und rauchte.

Tagesanbruch

Georg stand am Gatter der Mittelallee, die Arme auf dem obersten dünnen Balken, und sah über die grauen Wiesen hin in die helle, weißgestirnte Sommernacht. Ihm war so absonderlich leicht in allen Gliedern, daß er es kaum begriff, doch meinte er, das sei wohl so ... Irgend etwas, schien ihm, war fort aus ihm, fortgenommen, — eine Wärme, — oder er aus der Wärme, — und ihm war seltsam kalt. Er wußte nicht, was es war ... Heiter war er nicht, auch nicht unfroh, eher ernst, vielleicht schwermütig, — doch auch Gefühle und Gedanken hatten diese flüchtige Leichte, und eigentlich war er ganz und gar leer. Wenn er an Anna dachte, empfand er einen kleinen Stich Mitleid und Dankbarkeit, und nachdem er den Gedanken, warum er sie eigentlich liebe, und ob er es überhaupt tue, einmal gedacht hatte, so hütete er sich, ihn noch einmal zu denken. Die Nacht war ja sehr schön, wundervoll still und lau. Schläfrig war er gar nicht, er dachte, noch einmal auf den Deich zu gehn und nach der Flut auszuschaun, dann dachte er, es müsse schön sein, im Wiesenpark auf einer Bank zu sitzen, in der Mondhelle die Schattenzacken der Fledermausflügel zu sehn und einzudämmern, — jedoch Lust hatte er zu nichts, stand nur und stand, bald zu keiner Bewegung mehr fähig.

„O du Kindermund, o du Kindermund ... unbewußter Weisheit froh ...“ Es summte in ihm, eine ganze Weile schon, ferne und wehmutvoll. Wie kam er nur darauf? — —

Dies war es nun gewesen? War das wirklich alles? Er hatte Lust, daran zu zweifeln, doch lauerte hier wieder die Frage nach der Tiefe oder Wirklichkeit seiner Liebe zu ihr, und er bog von diesem Gedankenweg ab, fand aber keinen neuen, stand auf einmal im Ungewissen und gab nun dem Verlangen nach, auf der Erde zu liegen. Er öffnete das Gatter, ging zwei Schritt in die Wiese hinein und legte sich hin.

Ach, das war wundervoll! Ach, war das wunderbar! Die Erde, diese Erde, wie sie ihn trug! Wie über alle Maßen köstlich das war, sie zu fühlen am ganzen Rücken, am Hinterkopf, an den Schenkeln und Fersen! Er breitete die Arme und fühlte mehr und kräftiger sich getragen, ganz wie wenn er auf dem gewaltigsten Riesen läge. Diese Ruhe, o, endlich einmal nicht mehr dies immer Aufrechtsein und wagerecht sehen! Liegen und doch das ganze ungeheure Oben, den Nachthimmel, die Sterne voll in den Augen zu haben, einmal in andrer Richtung zu leben, einmal nach oben die Brust zu dehnen, statt immer nach vorn, und tiefer im Genießen, ließ er sich noch einmal die ganze Unlust des Aufrechtseins empfinden, alles Hängende der Beine und Arme, die Schwierigkeit des dünngestützten und so schweren Kopfs, der vornüber wollte, und nun — — da lag er, da lag er! Da war die Natur, die gute, starke, mächtige, die ihn wortlos in Empfang nahm, ihr breites Lager auftat und — — da liege ich, ach! da liege ich, — da liege ich, — da liege ich ...

Endlich merkte er doch, daß er naß wurde, daß alle Halme trieften, und er setzte sich auf. Sieh, was war denn das für ein Lichtschein? War noch jemand auf der Terrasse? Es war ein buntfarbiges Licht, es mußte der Lampenschirm sein. Er zog die Uhr und las auf das Haar genau Mitternacht von dem gläsern in der Nacht blinkenden Zifferblatt. Ja, später konnte es auch wohl noch nicht sein.

Georg stand auf und ging durch das Gatter die Allee hinunter. Das Rosenoval erschien mondhell, graugestreift von Tau; der Mond selber hoch oben am Himmel zwischen den Helenenruher Türmen, die er, wie das Dach, mit Silberglanz belegte. Aber der Lampenschirm schien völlig mit sich allein zu sein und war also wohl nur vergessen. Georg überschritt die Wiese, ging die Treppe hinan, und siehe da — Maler Bogner! ganz einsam saß er, tief in einen Peddigrohrsessel hineingesunken neben dem Tisch, die Beine übergeschlagen, sein Skizzenbuch auf dem Schenkel, malte darin und hatte seine kleine, leise qualmende Pfeife im Mundwinkel stecken. Als Georg näher trat, hob er das nachdenklich gesenkte Gesicht, blickte ihm entgegen, nahm die Pfeife aus dem Mundwinkel, steckte sie in den andern und sagte durchaus nichts.

„Ganz allein?“ fragte Georg heiser und hatte das unbehagliche Gefühl, Bogner wisse alles. — Der Maler nickte, griff, sich etwas hochrückend, nach dem neben ihm stehenden Römer, bemerkte, daß er leer war, und sah sich um. Georg entdeckte auf dem Tischchen an der Tür das Bowlengefäß nebst einem Brett voller Gläser, ging hin, nahm ein abseit stehendes, das ihm unbenutzt schien, und schenkte es aus dem Bowlenrest voll, danach auch das Glas des Malers. Sie hoben die Gläser gegeneinander und tranken, Georg im Stehen.

Ah, dies war nun wieder herrlich! Diese eiskalte, nach wenig, aber kostbar schmeckende Flüssigkeit, die in ihn hinabstürzte wie ein weißer Gebirgsquell. Er trank das ganze Glas aus, holte das Bowlengefäß und stellte es auf den Tisch, füllte sein Glas abermals und dachte, daß es wunderbar sein müsse, hier den Rest der Nacht zu versitzen in ernsten und tiefen Gesprächen. Aber ob dieser Maler dazu zu bringen war? Georg setzte sich mit dem Blick über die Wiese.

„Zeichnen Sie?“ fragte er.

„Nein,“ sagte Bogner, „ich mache bloß so Krickelkrackel.“

So, er machte Krickelkrackel. Er ließ sich auch nicht stören, rauchte, schwieg und trank. Georg füllte die Gläser mehrere Male. Es ward kühler, es ging langsam auf Morgen. Auf einmal kam es ihm vor, als müsse die Uhr seit Stunden aufgehört haben, zu schlagen, die Augen fielen ihm zu, er bekam plötzlich einen Ruck und merkte, daß sein Kopf im Einschlafen nach vorn gekippt war.

O, er liebte sie doch, gewiß liebte er sie! Nun war sie ihm ja wieder süß und er sehnte sich nach ihr, träumte wieder, bei ihr zu liegen, ihre Schulter zu küssen und jene weichste Stelle an der Achsel. Alles kam noch einmal und war doch sehr schön gewesen und erlosch nun, losch hin wie Nacht und Mond ins Morgengrau und die umherschaudernde Kühle. Ach, dieser ganze Tag, wie er und alles nun gewesen, alles sich nun gleich war, alles gleich, alles traumhaft und wallend und vergehend! O, stille sein, nichts denken, dieser Tag ist aus! Alles wird sich finden, alles wird kommen, wie es muß, die Zeit verrinnt, auch diese Stunde, sie verrinnt, der Maler trank allein allen Wein aus, Georg sah plötzlich einen Schatten hoch über der Lampe, die Bowle bewegte sich, Georg versuchte die Augen zu öffnen, da sie zufielen, er vermochte es nicht.

In einer nachtfinstren Gasse traf er Bogner, der dort umhersuchte. Georg, um ihm zu helfen, fragte, was er suche. Meinen Bleistift, fluchte Bogner, Gott solle ihn verdammen, sein Bleistift wäre fort. Dies schien Georg ein unseliger Verlust, und so suchten sie zusammen, bis Georg an eine Tür geriet, ein großes Vestibül, das von innen strahlend erleuchtet war, eine Menge Menschen ging Treppen hinauf, und auf einer Estrade stand Onkel Salomon und winkte und zeigte den Bleistift, so groß wie ein Spazierstock. Nun aber war da ein Theaterparkett und Georg wußte, er gehörte zu den Aufführenden, er mußte hier hindurch zum Bühneneingang, Frauen und Offiziere standen in Gruppen zusammen, keine Sitze waren da, und dazwischen ging Georgs Vater herum und teilte Händedrücke aus. Also kann er doch gehen! dachte Georg, ich wußte ja, daß es ein Irrtum war. Er wollte zu ihm hin, aber das Menschengedränge war merkwürdig zäh, er zwängte sich nur mit größter Mühe hindurch, und auf einmal wars finster. Es war ein Lichtspieltheater, die Leinwand flammte grell auf, es erschien der Maskenzug aus Kellers Grünem Heinrich, aber Georg wußte, daß es nur scheinbar ein Lichtbild war; in Wirklichkeit war die Leinwand durchsichtig, und die Menschen zogen körperlich dahinter vorbei, es wurde nun aber höchste Zeit für ihn, an seinen Platz zu kommen, jedoch hielt Onkel Salomon ihn am Ärmel fest, er erschrak, nein, das war ja der große Chalybäus, der ihn für irgend etwas zur Rechenschaft ziehen wollte und immerfort wiederholte: Der Kientopp ist das große Hurra! und das erschien Georg eine unerhörte Weisheit. Aber ich komme nicht hinein, schrie er aufgeregt, und zum Donnerwetter, lassen Sie doch meinen Arm los! Nun spaltete er das finstre Getümmel, daß es krachte, doch wurde es ein schwarzes Meer von Schultern und beleuchteten Gesichtern, die sich alle nach ihm umwandten und sagten: Er hats schuld! er hats schuld! Nun kämpfte er mit den Menschen, sie verdeckten ihm etwas, wollten ihn nicht durchlassen, er schlug wüst um sich, da lag in einem gläsernen Sarge Anna in ihrem blaßroten Kleide, das Gesicht zur Seite geneigt, und war tot. Entsetzen packte Georg, er schluchzte, warf die Hände empor und sah sie, schaudervoll erschrocken, die sich losgerissen hatten und über ihm in der grellen Lichtstraße, die gegen die Leinwand strömte, sich krümmten, riesengroß und kalkbleich, und er erwachte.

Erwachend erschrak er wiederum, denn vor ihm war wirklich eine bleiche Hand, seine eigene im Schoß, auf die sein Kopf hinabgesunken war. Verstört sich aufrichtend, bemerkte er, daß die Luft grau war, dann rasselte es in der Höhe, der Glockenhammer fiel einmal, der Schall verhallte, — nach ein paar Sekunden sagte Bogners Stimme: „Halb drei; es wird Tag ...“

Der Maler lehnte ihm gegenüber mit dem Rücken an der Terrassenbrüstung; es kam Georg vor, als habe er ihn beobachtet, während er schlief. Der Maler stopfte seine Pfeife aus dem roten Gummibeutel, gleich darauf flammte eine Streichholzflamme grell und blendend auf, Georg erhob sich, fühlte sich zerschlagen, seine eine Wange glühte, ihn fror. Sich streckend und gähnend, trat er an den Treppenrand und sah, daß die Wiese im Morgennebel schwamm; nur hoch oben ragten schwarz die Wipfelspitzen heraus. Ihn fröstelte heftiger, die Lider fielen zu, Bogner stand neben ihm, streckte ihm die Hand hin und sagte:

„Gratuliere zum neuen Lebensjahre, Prinz!“

Gedankenlos die Hand ergreifend, fragte Georg: „Wieso?“ besann sich auf seinen Geburtstag, dankte und fühlte ein unbegreifliches Schamgefühl in sich aufsteigen. Zum Umfallen müde, nahm er sich zusammen und sagte spöttisch verlegen:

„Also fangen wir das neue Jahr mit Schlafen an, Herr Bogner! Guten Morgen.“

Ferne, heiser, krähte ein Hahn. Einer der Helenenruher Hähne antwortete nahebei, verschlafen und krächzend. Der Maler ging die Stufen hinunter, bog aber nicht ab nach rechts, sondern schritt geradeswegs über die Wiese, in deren Nebelsee er eine schnurgerade, dunkle Furche zog. Ich glaube, der will baden, murmelte Georg, als die Gestalt im Nebel verschwand.

Er drehte sich um. Da war der bunte Lampenschirm, aber er leuchtete nicht mehr, war gedrucktes Zeug mit Farben und türkischen Arabesken, sehr kalt, erloschen und trocken. Und Georg wandte sich ab von ihm und ging die Stufen hinunter.

Er fand, daß ein meilenlanger Weg und hundert Treppenstufen bis zu seinem Zimmer zurückzulegen waren, entkleidete sich irgendwo und irgendwie, sank in die Kissen und schlief im Augenblick ein, während die Hähne häufiger und lauter krähten, der Nebel sich verdichtete, die Sonne heraufstieg, den Nebel wegschmolz, Starenkehlen weckte und auf allen Wiesen die Grillen, die wieder zu feilen begannen, tausendstimmig und ununterbrochen.

Hier enden des ersten Buches neun Kapitel oder doppelt so viele Stunden.

Zweites Buch.
Haus Montfort
oder
Die Brücken des Herzens

Erstes Kapitel: August

Renate von Montfort an Magda Chalybäus

Waldhausen bei A., am 29. Juli

Liebste und (vorläufig noch!) Einzige!

Haus Montfort steht in goldenen Lettern über dem Eingang des kleinen grauen Barockpalastes, in den ich soeben eingezogen bin, — dreieckige und jene, in der Mitte zerstückten Bogensimse über den Fenstern, Erdgeschoß und zwei Stockwerke, kleine Figuren auf dem Dachrand, ein schmaler Garten davor, ein großer dahinter. In einer halben Stunde soll gegessen werden, ich habe den Reisestaub abgebadet und sitze, wie ich der grünen Fliesenwanne entstieg — das heißt: getrocknet! — aber herrlich unbekleidet nieder, um Dir mit fliegender Feder zu sagen, daß ich Dich liebe und wie und wo ich mich befinde.

Wie und wo? Es kann nur Beides in Einem gelten. Aber wo fang ich an? Beim Schreibtisch? Er ist schwarz, ein ebenhölzerner Mohr mit perlmutternen Schloßmäulern. Beim Fenster links neben mir, das — der Schreibtisch steht über Eck — weit offen Julibläue, Sonne, Wipfelgrün und sanften Wind über meinen Rücken rieseln läßt, so daß die ganze hellbraune Mähne meines Haars, auf dessen Spitzen ich sitze, sich hinter mir bauscht, und ach, wie das kitzelt! (Gott behüte, hereinsehn kann niemand als die Sonne, wir befinden uns im ersten Stock, und kein Gegenüber ist nirgend!) Oder beim Sofa rechter Hand? Es ist tiefdunkelblau und von glatter Seidenbespannung mit graden Lehnen. Oder bei den schilfgrünen Wänden? Oder bei den zwei Tänzen von Hofmann in weißen Leisten, große, weiße Rechtecke überm Sofa? Oder beim hellgrauen Teppich am Boden mit erdbeerfarbenen Girlanden? Oder den sonstigen Möbeln — grauahorn? Oder bei mir, die außer sich ist — teils wegen dieser unverhofften Kleinode um sie herum, teils weil sie soeben von einem überlebensgroßen, dreiteiligen Kurtisanenspiegel herkam, der mir Dinge sagte, Dinge ... Solche Spiegel gab es in Genf freilich nicht, auch in keinem Bacharacher Pastorenhause, und so weiß ich wahrhaftig erst seit heute richtig, daß ich von oben bis unten so rosig und weiß bin wie eine einzige Magnolienblüte! Und ferner, daß ich darunter noch braun bin, braun wie ein Fell vom göttlichen Hauche der Adria — Magda, ist es erst vier Tage her, daß wir in ihr herumschwammen? — und abermal darunter ganz golden, ja, als wäre ich eine goldene Statue innen, ich hab es gesehen und kann es beschwören! Und ich weiß, daß ich einen ganzen Mantel von Haar habe, wie dürres Buchenlaub braun, und daß ich Augen habe wie Meerwasser und Flammen blau, welche aber — ohne es grad heute gesehen zu haben, weiß ichs — auch blau sein können wie Türkise, wenn ich die Sonne auf eine gewisse Art durch die Wimpern fallen lasse, und auch schwarz, nämlich bei elektrischem Licht, und auch grün wie Wiesen, wenn ich die Sonne grade hineinscheinen lasse, — Magda, kleine Schwesterseele, dies ist nun ein Augenblick des Entzückens, wie sie das Leben mitunter beschert —, wo die Welt so vollkommen scheint wie eine goldene Kugel, so daß man stundenlang Fangens mit ihr spielen möchte, und da weiß ich nun wie noch nie, daß ich jung bin und gesund und gesegnet mit Verstand und unbändig schön, ja unbändig, und voll Kunst der Schönheit, die ich zu brauchen gedenke, nicht heute noch morgen, aber in allen großen Lagen des Lebens — — es klopft! Mittagessen, und noch muß ich mich anziehn, und noch schrieb ich kein Wort von der erstaunlichen Herme dieses Hauses, meinem bisher noch völlig unbekannten Vetter Josef, aber Geduld, ich komme gleich wieder!

Eine Stunde später

Siehst Du, Liebste, anstatt daß ich mich, wieder zur Ariadne verwandelt, in die blaue Himmelshöhle meines Sofas schlafen lege, wende ich mich wieder zum Papier, heiß wie ich bin von Sommerwärme, von ein ganz wenig Bacchus, und von meines Vetters Josef überwältigender Erscheinung. (Beiläufig, Du erinnerst Dich vermutlich, daß mein Papa, bis zum Tode seines Vaters vor ein paar Jahren, ausgeschlossen war aus seinem Hause, daß ich also Onkel Augustin nur vor einem Jahre, bei Papas Begräbnis einmal sah und damals auch Vetter Erasmus; Josef war damals auf Reisen.) Nun — Du kennst Onkel Augustin, rosige und weißhaarige Miniatüre in goldener Brilleneinfassung; denke sie weg, denke sie weit weg ins Imaginäre, wenn Du eine Vorstellung von seinem Sohne Josef bekommen willst, Josef, dem großen Hexenmeister — ja höre!

Josef, von seinem Vater beauftragt, einen Trinkspruch auf mich oder ein Teil von mir zu erdichten, dachte nicht erst nach, strich mit flacher Hand — seine Geste — übers ganze Gesicht hinunter bis zur Oberlippe, so daß es darunter hervorkam, unkenntlich verwandelt zur bleichen Maske mit runden, nachdenklich mich anstaunenden Augen, worauf er diese ganze Maske wegschleuderte, um, triumphierend er selber, zu sprechen:

Dies Auge — unbestritten —

Ist geschnitten —

Aus dunklem — blauen —

Klaren Nordseewogenhügel — —

Seele blitzt heraus, zu schauen

Tief im Spiegel,

Wie geschwungner Möwenflügel — —

In kristallner Wasserfrische

Tummeln sich phantastsche Fische,

Ziehn beschattet, ziehn in Scharen

Tiefer — nach dem Wunderbaren ...

Ei ja, herrlich, nicht wahr? Aber es ist noch keineswegs alles! Denn da ich — Notzeichen fürcht ich von mir gebend wie ein brennendes Schiff auf hoher See — ihn bat, mir diese Verse aufzuschreiben, so schrieb er sie — wir saßen zu dritt am runden Speisetisch auf der Veranda — zwischen sich und mich auf das weiße Tafeltuch mit leichtester Hand, und dann malte er zwei Fabeltiere herum, Delphine, unterhalb zusammenstoßend mit dicken Köpfen, links und rechts nach oben steigend mit den verjüngten, glatten Leibern, mit tief gespaltener Schwanzflosse, und nun auf einmal war das Ganze, durchspannt von dünnen Verszeilen — eine Leier ...

Hierzu aber, hierzu denke ihn, Gesicht und Gestalt, freilich von keineswegs arionischer Zartheit, vielmehr: Groß, so groß wie alle Männer sein sollten, dann wäre es ein Geschlecht! doch dies beiläufig, — ferner: breit in den Schultern, groß auch von Gesicht, die Haut bräunlich, der ganze Ausdruck sehr beeinflußt von einer kleinen schwarzen Bartfliege am Kinn — schwarzes, kräftig gelocktes Haar — so wie Feuerbachs, an den auch die Bartfliege erinnert — schräge, breite Stirn, nach oben geschwungene Brauen, Nase von der Seite krumm, Augen schwarzbräunlich, nicht eben groß und so erstaunlich weit voneinander gesetzt, daß es mitunter scheint, als blickte jedes allein dich an, — Nachtmaren und dergleichen müssen solche Augen haben, — der Mund ein wenig zu breit, die Lippen geschwungen dünnschalig, beim Sprechen leicht sich vorwölbend und krümmend wie die halb offen aufeinander liegenden Ränder einer Muschel. Und dazu Haltung und Gebärden, die sich kaum abschildern lassen, aber jedenfalls: unendlich gepflegt, leicht herablassend, immer gebändigt, ruhig, überaus ruhig, auch die verhaltene Stimme, übrigens verwegen; nicht prahlerisch — und doch prahlerisch; ohne eine Spur von Roheit und ohne eine Spur von Herz, — alles in allem: Alcibiades, wie er leibt und lebt! Wer hätte gedacht, ihm hier zu begegnen im norddeutschen Altenrepen, zweihunderttausend norddeutsche Einwohner, Häuser rot, gelb und allesamt rußig von Hunderten von Fabriken im Westen, übrigens eine muntere, betriebsame Stadt, aber norddeutsch ganz und gar, so daß mein ganzes mütterlich rheinisches Blut und der Rest vom französischen sich kräftig bemerkbar macht, um so mehr angesichts dieses üppigen Josef. Denn es ist sehr wundervoll und tröstlich, einmal einen Menschen zu sehn, der in seiner ganzen Gestalt hin lebt, wie man die Griechen sich gelebt haben denkt, oder die Heroen, Hektor, oder Pentheus oder Perseus, — der eine gewisse Angst einzuflößen imstande ist, die schöne Angst des Meeres oder der Stromschnellen, den Schwindel nur reißend sich verströmenden Lebens, der es, was mich anbelangt, freilich an sich hat, mich so sicher und kühl aufrauschen zu lassen wie einen Zederbaum.

Noch fällt mir ein: erinnerst Du Dich aus meiner Monographie einer Studienzeichnung Feuerbachs, eigentlich wohl nur Gewandstudie: eine stehende Iphigenie in sinnender Haltung? Josef und sein Vater schworen, ich sei gemeint, die sinnende Haltung jedenfalls, — na, Du weißt vielleicht besser als ich, ob ich es liebe, so dazustehn, die rechte Hand am Kinn, den Ellbogen in der Linken, und so schreibe ich es Dir — weshalb? Ach, weshalb! — Zwei ganze Bogen sind voll, ich muß den Rand zu Hülfe nehmen, um Dir — trotzdem aus innerstem Herzen — tausend innige Grüße zu sagen. Leb wohl, leb wohl! Vier Stunden von Dir getrennt und doch heitern Herzens, o pfui! Schreibe gleich! Vom Vater, von Georg, Herzog und Herzogin, Kühe, Hühner, Schweine, alles. In Liebe

Renate

Renate an Magda

(Telegramm auf 5. August)

Liebste, ich bin sehr beunruhigt durch Dein Schweigen, bitte telegraphiere gleich. Liebevoll besorgt

Renate

Magda an Renate

(Telegramm am 5. August)

Brief unterwegs

Magda

Renate an Magda

5. August

Nun, Mädchen, was hat dies zu bedeuten? Acht Tage kein Brief, kein Zeichen, ich verzehre mich in Ahnungslosigkeit und Ungeduld, ich telegraphiere und bekomme diese Antwort? Ich hüte mich zu fragen, warte geduldig oder ungeduldig auf den versprochenen Brief und begnüge mich mit der kümmerlichen Versicherung meines innigsten Gedenkens! Ach, wäre nur der Brief schon da! Anbei schicke ich Dir die Zeilen, die ich vor ein paar Tagen für Dich schrieb, gebe Gott, daß Du sie wieder sichern Herzens lesen kannst! In unendlicher Liebe und Sorge Deine

Renate

Am 2. Aug.

Liebste und — trotz Josefs immer noch Einzige!

Nun muß ich Dir vom Schönsten schreiben. Zuvor aber muß ich versuchen, Dir die Wohnung und alles Drumherum zu schildern. Male mir ebenso Helenenruh, ich erwarte es gewiß; Deine Erzählungen — ich merke jetzt erst, welche unbestimmte Vorstellungen sie ergeben haben, wo ich Dich in der Ferne suche und nichts sehe als Meer und Wiesen, und nicht weiß, ob, was ich in der Ferne gewahre, eine weiße Kuh ist oder dein weißes Kleid, und warum nicht weiße Kuh? Sie haben den Vorzug der Seltenheit, und ich kann mir kaum Schöneres vorstellen als Io, die jungfräuliche Geliebte des Zeus.

Meine Zimmer kennst Du, — das heißt, das Schlafzimmer ist weiß, sieht wenigstens so aus, da die weiße Decke fast ein Drittel Wandhöhe herabgezogen ist; die Bespannung ist hellgrauer Seidenstoff mit einzelnen, silbernen, dünn- und langstieligen Mohnblumen, die Schränke grauer Ahorn mit Perlmutter, Spiegel weiß und das Bett — Himmel, das Bett ist ja kein Bett, sondern eine flache und in die Länge gezogene Muschel mit welligem Rand, von dunkelbraunem Mahagoni und ruhend auf goldnen Delphinen; das sieht nach Empire aus, aber da man dergleichen früher denn doch nicht machte, verdächtige ich Josef ... Von hoch oben darüber fällt im Dreieck ein Sturz von wasserblauem und weißem Flor, — nie sahst Du so Kühles! — Dazu gehört noch ein Badezimmer mit Fliesenwanne im Boden, in die Stufen hinabführen — o Allermädchentraum! — Das ganze Haus wurde in den achtziger Jahren gebaut und eingerichtet, und da das Kunstgewerbe damals auf gichtischen Beinen stand, war Onkel Augustin fein genug, um ein entzückendes Durcheinander von Empire, Biedermeier und ein wenig Régence herzustellen, das sich nicht näher beschreiben läßt. In der Mitte ist eine große Halle mit Kamin, im Sommer düster, da die große Veranda davor — mit breiter Treppe zum Garten — rundum von wildem Weinlaub zugewachsen und auch davon bedacht ist. Vor der Veranda ist ein schöner, großer Rasenplatz mit einer sandsteinernen Sonnenuhr nicht weit von der Treppe, rundum dichte Gebüsche und allerlei Bäume, lustig anzusehn. Ein Zaun trennt unsern Garten von dem hintern Teil eines großen Bier- und Kaffeegartens, der nach einem alten Festungsturm, der noch zu sehn, der Döhrenerturm heißt und links sich ins Freie senkt in Gestalt einer Wiese, die auf unsrer Seite von einem Wässerlein, gegenüber von einem schönen alten Friedhof mit seiner türmchengekrönten Mauer begrenzt ist. Zwischen beiden, nämlich Bach und Kirchhofsmauer, ist ein Zaun ausgespannt, und von da aus strecken sich weite, weite Wiesen, die „Maschwiesen“ heißen, und ganz hinten sieht man Eisenbahnbrücken und noch ferner die Türme und die Fabrikschornsteine und den Rauch von Altenrepen.

Und nun höre das Einzige! Am Nachmittag nach meiner Ankunft führten Onkel und Vetter Josef mich im Garten herum, und auf einmal standen wir vor einem altertümlichen Gebäude, einer Kapelle mit drei hohen gotischen Fenstern. Da zog der Onkel einen zierlichen Schlüssel aus der Tasche, übergab ihn mir mit Feierlichkeit und dem Bemerken, dies sei mein Allerheiligstes, das er für mich erbaut habe. Gott, flogen mir die Hände, ich glaubte schon zu ahnen, ich schloß auf, so gut ich konnte, und richtig! Es war eine Orgel!

Kind! Liebstes! Magda! Mädel! Eine Orgel! Denke nur, eine richtige, große, herrliche Orgel, und ein wundervolles Instrument. Ach, es ist doch zu wunderschön, wenn man eine Art Nabob ist!

Und ist es nicht rührend von meinem Onkel? Nun siehst Du, wie schlecht ich gewesen bin, wieviel ich ihm abzubitten habe, denn Du erinnerst Dich gewiß, wie böse ich war damals, als er mich gleich nach Papas Tode in eine Pension steckte, weil ich mir schon viel zu alt und erwachsen und gelehrt vorkam und auch gedacht hatte, nicht grade unter ganz fremde Menschen mit meinem Schmerz gehn zu müssen. Daß Onkel seine Gründe haben müsse, daß er viel zu viel zu tun hat, um sich um meine Ausbildung kümmern zu können, daß es besser für mich war, den Schmerz zurückzudrängen und im Innern rein und schön zu erhalten, daran dachte meine damals siebzehneinhalbjährige Erwachsenheit natürlich nicht. Er aber, der doch in den paar Tagen beim Begräbnis eigentlich nichts an mir entdecken konnte als ein verweintes, unbedarftes Pastorentöchterlein, hat sich mein bißchen Orgelspiel auf meiner lieben alten, heisern Dorforgel so zu Herzen genommen, daß er, anstatt sich ein Landgut oder ein Automobil zu kaufen, ein geradezu unchristliches Geld für eine Orgel zum Fenster hinauswirft.

Also mein Entzücken! Natürlich war ich den ganzen Tag nicht aus der Kapelle zu bringen, nachdem ich unter reichlichen Tränen mit Papas Lieblingslied „Mein gläubiges Herze, frohlocke, sing, scherze“ begonnen hatte. Außerdem besitzt Josef unter seinen vielen Talenten auch das, ein musikalisches Genie zu sein, das heißt, er spielt Klavier, Geige und Cello gleichmäßig, wenn auch nicht gleichmäßig gut. Herrlich ist nur sein Vortrag, aber die Läufe kommen meist gewischt oder so andeutungsvoll, bloß Triller kann er schlagen wie eine Lerche. Immerhin brachte er die große Cellosonate, die ich gleich aufs Tapet legte, mit Anstand zu Ende.

Magda an Renate

Helenenruh, am 5. August

Meine einzige Renate!

Warum ich so lange geschwiegen habe, höre ich Dich schon lange fragen; — ich war krank. Ja, sechs Tage hab ich gelegen und recht gelitten. Es kam grade an dem Tage, wo ich Dir schreiben wollte, daher das lange Schweigen. O bitte, erschrick nicht, es ist nun alles vorüber und still geworden. Aber Geduld mußt Du haben und lange zuhören, ich habe Dir soviel zu sagen — und auch zu fragen. Am liebsten wäre ich ja zu Dir gefahren, aber ich kann hier nicht fort, Du sollst gleich hören, weshalb.

Ja, nun ist es doch eingetroffen — nein, so kann ich nicht anfangen, also von vorn. Nein, eine Frage muß ich gleich erst noch an Dich richten: Kennst Du oder Deine Familie in Altenrepen die Familie eines Sanitätsrats Bogner? Ein Sohn von ihnen muß schon vor langer Zeit sein Vaterhaus verlassen haben, um Maler zu werden. Du mußt mich nicht auslachen, ich weiß, wie groß Altenrepen ist, aber es wäre doch möglich, daß Du sie kennst, und ich habe das Gefühl, als könnte es mich trösten, wenn Du — nein, nun will ich anfangen.

Einen Tag nach meiner Ankunft hier bekam der Herzog Besuch von einem Maler Benvenuto Bogner. Ach, Renate, der würde Dir gewiß gefallen, und Ihr würdet Freunde werden, wenn Ihr Euch kenntet. Ich bin ja solch ein unbedeutendes Wesen. Man meint, wenn man ihn reden hört, das, was er sagt, sei gewiß das Letzte, was man über eine Sache sagen kann. Ach, und dann hat er uns etwas aus seinem Leben erzählt — aber das kann ich nicht wiedergeben. Ich habe aber gleich solches Zutrauen zu ihm gewonnen, daß ich — ach Gott, wovon rede ich?

Eben habe ich ein Weilchen am Fenster gestanden und die Stare im Obstgarten beobachtet; sie machen einen furchtbaren Lärm. Gott, wer bald mit ihnen fliegen könnte, wie Däumelinchen auf der Schwalbe, weißt Du? nach Süden, nach Altenrepen. Ach, Du weißt ja noch gar nicht, daß ich geflogen bin, richtig geflogen, mit einem Flugapparat, den der Herzog erfunden hat. Es war ganz sicher, o ein Riesentier wars, und das ging!! Nein, ich kanns nicht beschreiben, wärst Du mit gewesen! Und denke Dir nur, unser schwarzer Schwan — ach Gott!

Nun merkst Du schon, daß ich Angst habe. Ich komme und komme nicht dazu, Dir das zu schreiben, was ich will. Wenn ich nur nicht wieder einen Weinkrampf bekomme. Ja, Rena, acht Tage habe ich immerlos geweint und geweint, ich bin ganz entstellt. Als Kind hab ichs schon mal gehabt — nein, nun mußt Du Dich ja schrecklich sorgen bei meinen fortwährenden Andeutungen.

Der Maler war mit einem Bekannten gekommen, der sich aber nicht sehn ließ; er hatte ihn auch eigentlich nicht mitbringen wollen, denn er war gemütskrank, wie wir später hörten, aber Du weißt ja, wie gastfreundlich unser Herzog ist. Nun waren Georg und ich nach dem Frühstück ans Meer geritten, und als wir zurückkehrten, ich weiß nicht, wie es kam, war ich weit vorauf, und ob ich schon unruhig wurde, oder — jedenfalls fing ich auf einmal an zu galoppieren, durch das Wäldchen nach dem Weiher (vielleicht erinnerst Du Dich nach meinen Beschreibungen), und dadrin schwamm ein Mensch. Nun ging alles so furchtbar schnell, daß ichs kaum noch weiß, Rottraut flog ganz von selber in den See hinein, und ich kriegte einen Ärmel zu fassen und schrie, und dann kam auch Georg, und so brachten wir ihn ans Land. Er lebte und ist leben geblieben, und der Maler, der dazu kam, erkannte seinen Bekannten. Er heißt sonderbar, nämlich: Jason al Manach, und er ist auch aus Altenrepen.

Renate, weißt Du, was das bedeutet? Denkst Du noch an die Zigeunerin in Ayres-au-Mont? An die Prophezeiung? O lächle nicht, es tut mir so weh, wenn Du lächelst, Du weißt ja nicht, was noch alles kam.

Verzeih, siehst Du, da sind die Tränen wieder, sie laufen so von selbst, aber ich muß jetzt weiterschreiben, ich habe ja niemanden auf der Welt als Dich.

Das Wasser hat erst nicht geschadet, es war ja so warm, ich hab mich nur umziehn brauchen. Nur Deine schöne Stickerei ist hin; ich hatte die Bluse an mit dem Kreuzstichmuster, das ich Dir abgebettelt hatte; der eine Ärmelbesatz ist zerrissen, ich weiß nicht, wie es gekommen ist. Am andern Tage war dann die Erkältung da. —

Von dem, was noch am Tage passierte, kann ich weiter nichts sagen. Daß ich geflogen bin, weißt Du, es war nachmittags. Ich war so in Erregung, und alles war so seltsam, ein Gewitter gab es — es geht mir jetzt alles durchhin, und es ist ja auch gleichgültig. Nur von Artaxerxes muß ich noch schreiben. Er ist nämlich aufgeflogen, als ich in den See hineinplantschte. Später, beim Gewitter, kreiste er noch über Helenenruh und schrie dabei, und es war so sonderbar, als ob irgendein Zusammenhang zwischen mir und ihm — — ach, liebe Renate, Du mußt Dich nicht wundern, daß ich so verrückte Sachen denke, es ist alles in mir so verstört, die ganze Welt ist anders geworden. Und der Schwan ist doch nicht fortgeflogen, und das war sein Unglück, denn als wir über das Wäldchen flogen, wurde er von der Schraube getroffen, brach einen Flügel und stürzte hinunter. Wie schrecklich, nicht, Renate? Nun konnte er fliegen, und da warfen wir ihn wieder hinunter. Papa hat ihn richtig erschießen wollen, weil er sich doch nur quälen müßte, und Papa ist ja so, — aber Georg — ich hatte ihn gebeten — hat es erreicht, daß er leben bleiben durfte, und er scheint sich wieder zu erholen, und verhungern wird er schon nicht.

Ich kann nicht mehr schreiben. Morgen schreibe ich weiter. Gute Nacht.

6. August

Und nun wurde es Abend. Georg und ich gingen noch einmal an das Meer. Vor Dunkelwerden kamen wir in die Gegend von Lüdersens Deich und der Windmühle, die dort steht, und wir hatten grade den Maler getroffen, da ereignete sich das Schreckliche. In der Nähe der Mühle, auf dem Weg von Helenenruh erschien auf einmal al Manach, der den ganzen Tag im Bett gelegen hatte, er machte ganz wahnsinnige Gebärden, und dann stürzte er sich auf die Mühle zu, es war ganz klar, daß er in die Flügel hineinlaufen wollte, um sich umzubringen, und Bogner lief gleich hin, wäre aber viel zu spät gekommen, und da habe ich Georg sein Teschin weggenommen und habe al Manach in die Beine geschossen — o, ich kann schießen! — und dicht vor den Flügeln ist er zusammengebrochen. Da bin ich ohnmächtig geworden.

Und doch, doch, eh ich anlegte, und so schnell alles wieder ging, hörte ich deutlich eine Stimme in mir rufen: Tus nicht, es ist das zweite Mal! Aber da ging der Schuß los. Geschadet hat er nicht viel, es war ja Schrot. Und siehst Du, am folgenden Tage sagte Papa immer, es wäre doch hahnebüchen, einem lebendigen Menschen eine ganze Schrotladung in die Beine zu geben, und das war so komisch, daß ich furchtbar an zu lachen fing; ich konnte gar nicht aufhören, und dann ist ein Weinkrampf draus geworden. Nun ist es endlich still.

Tausend, tausend Dinge hätt ich Dir noch zu sagen, aber ich komme nicht weiter, und Du verstehst ja auch alles. O die Gedanken, die Gedanken! Es muß noch stiller, viel stiller werden. Schreibe mir bald und viel und von Dir! Vergieb, daß ich gar nicht nach Dir und den Deinen fragte, aber was Du schriebst, überstrahlt ja alle Fragen. Davon mußt Du mir mehr erzählen, und es wird mich mehr beruhigen als alles andere. Tausend innige Gutenachtküsse von Deiner

Magda

Magda an Georg

Helenenruh, 7. August

Liebster Georg!

Für Deine lieben, lieben Zeilen sei tausendmal bedankt! Ja, ich bin ganz wiederhergestellt, nur noch ein wenig schwach, aber das wird bald vorübergehn. Nein, ich schelte nicht, daß Du das Bild gestohlen hast, Papa hat es bei meinem Kranksein wohl gar nicht gemerkt, gesagt hat er jedenfalls nichts, und ich habe ihm jetzt ein andres aus demselben Dutzend hingestellt. Behalte es lieb, mein Bild, Du mußt Dich nicht wundern, daß ich das sage, denn, mein lieber Junge, Du darfst mir nicht mehr schreiben, und ich werde es auch nicht tun. Papa würde es nicht gern sehn — aber das ist freilich nicht der Grund.

O Georg, zürne mir nicht, wenn ich Dir jetzt kalt und herzlos scheine! Glaube immer, daß ich Dich lieb habe, daß ich keinen Menschen in der Welt so liebe wie Dich, aber Du darfst nicht mehr an mich denken. Nein, schreibe mir nicht, frage nicht, sei still, o versuche so still zu sein, wie ich es werden muß, damit ich das Leben ertragen kann, — auch wenn Du mich nicht verstehen kannst. Dir wird es ja gewiß auch leichter fallen, Du bist unter den vielen Menschen und siehst soviel und erlebst soviel, was mehr Raum in Deinem Leben beansprucht, was Du auch mehr brauchst und was Dir viel mehr geben wird, als ein kleines, armes Mädchen, wie ich, Dir geben kann, und — und das Beste hast Du ja schon bekommen.

Nein, Georg, Du darfst nicht fragen. Du würdest mich nicht verstehn, was nützt es, Dir zu sagen, daß es mit der Prophezeiung zusammenhängt. Du würdest versuchen, mir solche Gedanken auszureden, und das, siehst Du, das würde mir doch weh tun. Tragen helfen kannst Du mir doch nicht, ich würde Dir nur eine Last sein, das kann auch kein andrer Mensch, ich muß es ganz allein versuchen. O lieber Georg, ich muß manchmal denken, wie gut es ist, daß wir uns so fremd sind. Als ich zu Bett lag, hab ich das immer denken müssen. Es klingt vielleicht sonderbar, daß ich mit meinen siebzehn Jahren das sage, aber die Gedanken sind wohl da und kümmern sich nicht viel darum, von wem sie gedacht werden. Du weißt ja auch nicht, was ich in dieser letzten Zeit erlebt habe. Mir ist, als wäre ich viele Jahre älter geworden, und Du bist jung und hast unendlich viel Schönes vor Dir. Ich aber, Georg, ich darf an nichts mehr denken. O es war schön, als wir zwei auf dem Deich standen! Die Sonne sank, und der Mond kam herauf, wie die beiden Eimer in einem Brunnen, und mir war, als stünden wir am Rande der Welt, als wären wir weit aus dem Leben herausgetreten. Und siehst Du, Liebster, nur Du bist wieder zurückgegangen, ich bin draußen geblieben. Ich muß nun alles mit andern Augen ansehn, mir ist, als gehörte ich nicht mehr dazu, und wenn ich auch noch eine kleine Weile unter den Andern zu sein scheine, so bin ich es doch nicht mehr. Ich habe vielleicht noch ein wenig zu tun ... da ist der arme al Manach, der recht krank geworden ist und gepflegt sein will, das muß ich doch nun verantworten. Du bist gesund und jung und stark und kannst allein gehn und Dich wehren; ich muß mich nach denen umsehn, die leiden und traurig sind, die alles verstehn und alles kennen und nur Schlimmes erfahren haben.

Ach, laß mich aufhören, ich finde die Worte nicht! Mein Bild sollst Du liebbehalten und zuweilen ansehn, so als wäre ich gestorben, weißt Du, und das will ich auch sein für Dich. Nun geh, mein lieber, lieber Junge, vielleicht wirst Du mich einmal verstehn und nicht mehr mit Kummer denken an Deine Dich immer, immer liebende

Anna

Und nicht schreiben, nicht antworten, wenn Du mich lieb hast!

Renate an Magda

Altenrepen, am 9. August

Mein gutes Mädchen,

daß ich alles verstehe, daß und wie sehr ich mit Dir fühle und leide, das braucht Dir Deine Renate nicht erst zu versichern, denn das hast Du schon gespürt, als Du mir schriebst, nicht wahr? Es schmerzt mich sehr, daß ich nicht bei Dir sein kann, ich werde auch ganz gewiß versuchen, mich auf ein paar Tage loszumachen, aber Onkel hat in meiner Erwartung bereits die Haushälterin entlassen, und nun habe ich das ganze Haus um die Ohren. Dazu erwarten wir jeden Tag meinen Vetter Erasmus aus Marburg — es tut mir so schrecklich leid! Denn ich weiß ja, wie wenig mit dem Schreiben getan ist. Wenn man trösten will, macht das Papier alles kalt, und die Worte sinds ja auch nicht, ich müßte Dich ansehn, und Du müßtest mir glauben.

Ich stelle mir Deine Gedanken vor — denn wir müssen doch versuchen, tapfer zu sein, und der Sache ins Auge sehn — und versuche, zu denken wie Du. Nun schreibst Du von Eurem Schwan, der sich den Flügel gebrochen habe und erschossen werden sollte, Du aber hast für sein Leben gebeten und es auch erhalten. Ja, hör mal, was heißt das anders, als daß Deine Prophezeiung schon ganz erfüllt ist, nur die letzte Folgerung, die sich auf Dich selbst bezieht, die ist ausgeblieben. Nein, Kind, Du darfst durchaus nicht glauben, daß ich die Sache so ins Leichte und Oberflächliche ziehn will. Sieh mal, es kann doch für vernünftige Menschen (und das sind wir doch!) nur zwei Möglichkeiten geben. Entweder man glaubt nicht daran und sieht alles für Zufall an — nun, dann gehört auch der Schwan dazu, und die Prophezeiung war eben gelogen. Oder man glaubt, und ich selbst bin weit entfernt davon, irgendwelche Zusammenhänge zu leugnen, für die uns vielleicht nur ein Gefühl abgeht, das andre Menschen, wie die Zigeunerin, doch haben können. Oder also, man glaubt daran, ganz ernsthaft und überzeugt — dann gehört wieder der Schwan dazu, denn dann ist nichts geringfügig, ein Tier ist so gut wie ein Mensch. Und kennen wir nicht aus der Schule eine Menge Weissagungen und Orakel, die eintrafen, aber in einem ganz andern Sinne, als sie aufgenommen wurden? Wie war doch das mit Xerxes, oder wie er hieß, dem geweissagt wurde, er würde ein großes Reich zerstören, wenn er über einen gewissen Fluß ginge, und hernach wars sein eignes Reich, das er zerstörte. — Du wirst es genauer wissen, Du hattest ja immer ein Faible für Geschichte.

Liebling! Mein Vater sagte bei jeder Gelegenheit, wo es paßte, das Beste in der ganzen Welt wäre die Logik. Ich lasse das dahingestellt sein, habe aber jedenfalls versucht, der Sache auf möglichst natürliche Weise auf den Grund zu kommen. Du siehst, was herauskam: es ist eingetroffen und ist nicht eingetroffen. Da ich beinah anderthalb Jahre älter bin als Du, so habe ich natürlich recht. Das Rechthaben allein nützt freilich nichts, aber sollte ich Dich nicht ein bißchen überzeugt haben?

Vorläufig bitte ich Dich, über das, was ich sagte, hübsch weise nachzudenken. Du bist immer ein braves Kind gewesen und folgsam, und damit Dirs leichter wird, schicke ich Dir ein sehr ehrbares Bild von mir, das Onkel Augustin gleich nach meiner Ankunft hat machen lassen. Das mußt Du fleißig dabei ansehn.

Nun zur Beantwortung Deiner Fragen. Über eine Familie al Manach gibt der Adreßkalender (verzeih das Wortspiel, ich lerne so was von Onkel, der freilich mit etwas feinerem Witz begabt ist als ich) keine Auskunft. Den Sanitätsrat Bogner habe ich nicht nur im Adreßbuch gefunden (er wohnt übrigens in Waldhausen wie wir, zwei Straßen von uns), sondern auch von zwei Menschen etwas über ihn gehört, von Onkel und noch jemand (davon gleich!). Onkel erinnerte sich, daß Dein entlaufener Maler mit meinem Vetter Erasmus in die Schule gegangen ist, er schien auch mehr zu wissen, sagte aber nichts. Der alte Bogner übt übrigens, wie ich erfahren habe, keine Praxis mehr aus, er leidet selbst an den Augen und droht zu erblinden, das sag nur Deinem Maler. Und nun muß ich Dir von einer kleinen Freundin erzählen, die ich schon bekommen habe. Wirst Du auch eifersüchtig?

Am Abend hatte ich mich noch mal zu meiner Orgel geschlichen und so recht in Phantasien und Wehmut geschwelgt und war, als ich noch ganz fromm und trübe zurückging, in den Gemüsegarten geraten, da sehe ich über den Zaun aus dem Nachbargarten zwei unmenschlich große Kinderaugen auf mich gerichtet. Kinderaugen, dachte ich erst, aber das kleine Wesen ist schon achtzehn Jahr alt, wie ich nun weiß, und ziemlich groß, auch entzückend ausgewachsen; es trägt aber die Haare kurzgeschnitten, wie Deine Herzogin, aber in den reizendsten rotgoldenen Löckchen, und ein Gesichtlein saß darin, nein, so etwas Liebliches, Ängstliches und so etwas von Verweintheit — kannst Du Ärmste gewiß sehn, wenn Du in den Spiegel schaust, aber das mußt Du nicht. Das tat nun gleich ein zitterndes Mündlein auf und sagte recht innig und freundlich aus seinem grünen Buschwerk heraus: „Ach verzeihen Sie nur, haben Sie eben so wunderschön gespielt?“ Ich bekannte mich dazu, und da hat mich die Kleine gebeten, zuweilen so am Zaun stehn zu dürfen und zuzuhören. Gott, diese Unschuld, die sogar um Erlaubnis bittet, nassauern zu dürfen. Eh ich dann noch weiter mit ihr reden konnte, war sie entwischt, und ich sah nur noch, daß sie ein sehr schlecht sitzendes schwarzes Kleid und statt eines Gürtels einen — Rosenkranz trug, dessen Kreuz ihr nachflog. — Ein paar Tage später fiel mir mitten im Üben ein, die Kleine möchte wieder am Zaun stehn, ich brach sofort ab, lief hin, und richtig, da stand sie, hatte ihren Rosenkranz in der Hand und sah wie eine kleine Heilige aus. Da half nun kein Widerstreben, ich nahm einen Gartenstuhl, schwang ihn über den Zaun zu ihr hinüber und befahl ihr bei Todesstrafe, zu mir herüberzuklettern, und siehe da, sie machte es viel geschickter und natürlicher, als ich gedacht hätte.

Nun scheint es einmal so, daß ich für alle Menschen die Beichtmutter abgeben muß, in der Pension kamen sie ja auch immer alle zu mir. Die Kleine jedenfalls schmolz zu Tränen in meinem Schoß und flehte mich himmelhoch an, ich sollte ihr helfen, ihr raten, sie könnte das Leben nicht ertragen.

Sie heißt Irene von Herzbruch, aber die Geschichte erzähle ich Dir ein andermal, mein Herzekind, heut nur noch eins. Wie ich jetzt aus Deinem Briefe sehe, war es zu derselben Stunde, wo sich die Kleine bei mir ausweinte und mich auch ein wenig getröstet und hoffnungsvoll verließ, daß Du meiner bedurft hättest und gewiß an mich gedacht hast. Nun siehst Du, sollte es Dich nicht ein wenig freuen können, daß die kleine Irene das bekommen hat, was Dir fehlte? Ich denke wenigstens, so gleicht sich alles ein wenig aus. Ahnen könnte man ja freilich immer, daß es so ist, aber das gilt nicht viel, und hier kannst Dus einmal wissen. Ich habe es Irene schon gesagt, und sie schickt Dir einen schönen Gruß, und sie hätte es an Deiner Statt angenommen, wenn Du es erlaubtest. Erlaubst Du?

Nun genug, mein Liebling, Du mußt ja diesen Brief morgen noch haben. Schreibe bald, wie es Dir geht, versuche bitte! ich weiß, wie schwer es ist, aber versuche, das Heilsame zu denken und nicht das Giftige! Ich spiele die Orgel für Dich, mein Kind, und habe Dich von ganzem Herzen lieber als alle Andern!

Deine Renate

Es kommt ein Nachwort: Vergiß nicht, mir von Deinem Prinzen zu schreiben, er scheint ja gar nicht vorhanden zu sein. Übrigens muß ich Dir ja noch sagen, daß mir Irene erzählt hat, sie habe als kleines Mädchen mit einer Schwester Deines Malers gespielt, die aber schon früh gestorben ist. Er war damals schon davongelaufen.

Magda an Renate

20. August

Ach, Renate, Du hast gewiß recht, wenn Du sagst, daß er auf und davon gegangen ist, und so wird es damals auch gewesen sein, aber es ist doch nicht das rechte Wort. Und wenn er seinen Eltern damit auch Schlimmes angetan hat, so hat er dafür auch jahrelang das Schlimmste erduldet, Hunger und alle Entbehrungen und dann die Verlassenheit und tausend Zweifel, und die Sorge, ob er auch das Rechte tat, und keine Anerkennung, nicht einmal bei sich selber. Und sie hatten doch auch noch andre Kinder. Du mußt nicht denken, daß er sich dessen nun rühmt oder überhaupt davon spricht, aber man sieht ihm an, was er gelitten hat, und woher die Ruhe stammt, die jetzt in ihm wohnt. Nicht an seinem grauen Haar und nicht an den hundert Falten um seine Augen, sondern, so sonderbar das klingen mag, an seinem Lächeln. Hast Du einmal beobachtet, wie Menschen lächeln? Wie Du selbst lächelst, wenn Du liebenswürdig sein willst? Dann hebst Du die Oberlippe, daß man die Zähne sieht, und ziehst die Augen zusammen. Bei ihm aber kommt es ganz von innen, die Mundwinkel bewegen sich kaum, aber in den Augen fängt es förmlich an zu rieseln, es ist ganz unbeschreiblich. Das sieht freilich nicht jeder, Papa zum Beispiel sprach neulich von seinem „malitiösen Lächeln“, das kommt eben, weil er nur die Mundwinkel gesehn hat. Ich habe auch gewagt, ihn zu fragen, wie er nun jetzt über sein Davonlaufen denkt (Du mußt wissen: der Herzog und Georg sind Anfang des Monats abgereist, Georg macht die Aufsichtsreise seines Vaters mit, die er in jedem Jahr um diese Zeit unternimmt, und wird dann nach München gehn, um Nationalökonomie zu studieren; der Maler aber und al Manach sind hier geblieben, der Herzog hat sie gebeten, seine Gäste zu sein, solange es ihnen gefällt, und Bogner will jetzt die Herzogin malen). Also, da lächelte er so, wie ich es eben beschrieb, und sagte: Kein Mensch könne bei irgend etwas, das er tue, ganz abmessen, welche Wirkung es haben würde, und am wenigsten die Wirkung auf sich selbst, und er habe damals, als er sich zum Davonlaufen entschloß, nur mit einer Abwesenheit von ein paar Jahren gerechnet. So schnell, sagte er, dachte ich damals ein fertiger Mensch zu werden, aber nun habe ich freilich nur gelernt einzusehn, daß ich tausend Jahre alt werden kann, um das zu erreichen. — Ja, Renate, ich glaube, man wird hart bei solchem Leben, hart, wenn man auf sich allein angewiesen ist, und am härtesten gegen sich selbst. Kannst Du begreifen, wie fürchterlich es sein muß, sich ganz allein zu lieben? O Schwester, Schwester, mich graut vor dem Leben!

24. August

Drei Tage lang habe ich den Brief liegen lassen, ich fürchtete mich vor dem Weiterschreiben. Nun wird es immer stiller in mir. Ich lese Deinen Brief immer wieder, er ist so lieb, so ganz Du, so klug und gut, und das Schönste steht zwischen den Zeilen wie in Geschichten von Storm. Ja, es hat mich ein wenig getröstet, von Deiner neuen Freundin zu hören, aber nicht viel, und ich habe recht weinen müssen, es ist damit aber das letztemal gewesen, und sage ihr nur, wie herzlich ich ihre Grüße erwidere. Vergiß auch ja nicht, mir mehr von ihr zu erzählen.

Ach ja, Orgelspiel! Du mußt nun denken, daß ich so heimlich wie die kleine Irene am Baum stehe und zuhöre. Ich habe ja hier das Meer, mit der Orgel kannst Du doch nicht wetteifern.

später

Ich weiß nun, wie ich dazu gekommen bin, mich mit dem Schwan zu vergleichen. Vielleicht sag ichs Dir bald. Er hat sich übrigens selbst zu seinem Weiher zurückgefunden, er scheint sich zu erholen, ich füttere ihn täglich selber, Du solltest nur sehn, er ist ganz sonderbar geworden. Er versucht immer wieder zu schwimmen, aber sein gebrochener Flügel hängt schwer im Wasser und hindert ihn, dann wird er plötzlich ganz wild und hackt mit dem roten Schnabel in den Flügel, so grausam, daß die Federn fliegen, er wird schon ganz kahl. Nein, nein, nein, Renate, ich glaube nicht an Deinen Schwan, ich habe eine Angst, eine Angst! O, mein Gott, ich fürchte mich wahnsinnig! Hilf mir, Schwester, hilf mir! Was soll aus mir werden? Ich dachte, ich sei schon ganz ruhig geworden, ganz ergeben, aber ich habe nur gegrübelt und bin klüger geworden, o, lieber Gott, so klug, daß es mich graut vor meiner Klugheit. Sieh, da ist der Schwan, dem ist es gegangen wie mir. O, nun muß ich Dir endlich das Schreckliche beichten.

nachts

So, nun ist es still; nun endlich ist es still geworden. Heute nachmittag konnte ich — Gott sei Dank! — nicht weiterschreiben, die Herzogin bat mich, Harmonium zu spielen, und das war mir recht gut.

Du weißt wohl, daß ich Georg immer liebgehabt habe, wenn wir auch nie davon sprachen, aber ich habe ihn wohl schon geliebt, als ich noch ganz klein war. Nun habe ich an demselben Tage, wo das mit al Manach passierte, gemerkt, daß er anders zu mir war als früher. Das machte mich so glücklich, und dann bin ich ihm entgegengekommen. Weißt Du aber auch, weshalb? Das erste Unglück war schon geschehen, und ich habe gedacht, ich weiß gar nicht mehr, wie ich es fertiggebracht habe, so ungeheuerlich scheint es mir jetzt, — ja, ich habe einfach gedacht: wenn denn die Prophezeiung in Erfüllung gehen sollte, so wollte ich doch noch ein klein wenig von der Welt vorher haben. Nur wissen wollte ich, ob er mich auch lieb hätte, und da habe ich es so eingerichtet, daß wir noch abends allein auf den Deich gegangen sind. Nun, und da ist es so gekommen, wie ich hoffte, das kann man nicht schreiben, nicht? Du weißt es auch so, und nun, siehst Du, einen Augenblick durfte ich alles vergessen und nur selig sein, aber einen Augenblick später kam das mit der Windmühle, und da wußte ich, ich hatte es nicht tun dürfen, ich hatte schon kein Recht mehr auf mich und erst gar nicht auf ihn. Nein, kein Recht mehr auf mich, ich konnte ihm alles geben — Gott, was schreibe ich denn? — Ach, das zu denken, das war eine Last!

Ich habe versucht, es wieder gutzumachen. Ich war ja klug geworden und konnte so viel mehr denken, auch, daß es Georg nicht so schwer werden würde, mich zu vergessen, weil ich ihm doch eigentlich ganz fremd bin, und so habe ich ihm geschrieben.

Ja, damals war ich noch stark und glaubte, alles ertragen zu können, jetzt kommt nun die böse Sehnsucht, jetzt muß ich nur denken, daß ich wie der Schwan auf meinem kleinen, bescheidenen Weiher herumgeschwommen bin, und wie den Schwan hat mich der Schrecken aufgescheucht, daß ich zu fliegen wagte; ja, ich bin geflogen, und es brauste mich fort über das Meer, aus dem der Mond kam, und in das die Sonne versank. Da zerbrach mir der Flügel, und ich habe nicht einmal meinen Teich wiedergefunden, mit meinem lahmen Flügel, den ich nicht abhauen kann, denn mein Herz ist darin, und ohne Herz kann man doch nicht leben, oder kann man?

Es wird mir doch noch das Herz abdrücken. Das Sagen erleichtert mich zwar ein wenig, und die Nacht ist so still — ich habe früher nie gewußt, wie still die Nacht sein kann. Ich habe immer nur mich selbst gefühlt, und wenn ich zufrieden war, so wars gut. Meine kleine Lampe brennt, ich glaube, ich kann sehn, daß sie es gut mit mir meint, und auch die Wände sind freundlich, sind hell und so nah um mich, daß ich mich fast sicher fühle. Und Du bist ja auch da. Georg ist fort, ich habe ihn vor seiner Abreise nicht mehr gesehn, das wird für uns Beide nur gut gewesen sein.

Das mit dem Maler, daß er sich selbst geliebt habe, wie ich mirs dachte, das ist nun auch falsch gewesen, oder ich weiß nicht ... Man hört etwas von einem Menschen, und dann macht man sich eine Vorstellung, aber für ihn selber ist es doch ganz, ganz anders gewesen. Ich fragte ihn nämlich, wie man es anfangen könnte, sich selbst zu lieben, aber das verstand er gar nicht. Ja, wie man denn das könnte ... Wie ich nun verlegen wurde und ungefähr zusammenbrachte, was ich von ihm gedacht hatte, da meinte er, ich hätte wohl recht, denn er hätte immer nur für sich allein gelebt und gearbeitet, und nun könnte ich es mir ja so vorstellen, daß er der Kunst wie einer Göttin gedient und geopfert habe, und indem er sie genährt und vollendet habe, habe er sich selber gedient. Aber siehst Du, das ist es ja, er selbst hat es doch nicht gewußt, hat es nie bedacht! Er hat es einfach getan, — ach, Renate, wie himmlisch muß das sein, das Rechte einfach tun zu können! Aber ich bin nun ganz durchhin, und er selber sagte noch beinah hart zu mir: An ihn dürfte ich auf keinen Fall denken, er hätte es leicht gehabt, und überhaupt dürfte man nichts verallgemeinern. Ja, was soll ich nun tun? Ich muß doch lernen, muß doch erkennen, und ja — einen kurzen Augenblick war mir himmlisch zuversichtlich ums Herz. Weißt Du, wie es war? Wie bei einem Gewitter des Nachts, wenn man aus dem Fenster sieht. Da, bei einem Blitz, leuchtet der Garten draußen und die Bäume und Wege und Büsche hell auf, daß man sie alle erkennt, nur seltsam fremd und verändert sehen sie aus. Das weiß man aber: daß am andern Morgen, wo es hell und sonnig ist, der alte Garten wie neu und frischgebadet und funkelnd unter dem Fenster liegen wird, und man wird hineingehen können, er wird einem gehören, und man wird in ihm zu Hause sein.

Gute Nacht, liebe, liebe Renate! Ich bin so müde! Schreibe mir gleich, von Dir, von Irene, erzähle mir viel, ich denke immer an Dich und bin für Dich immer Deine alte

Magda

Zweites Kapitel: September

Renate an Magda
(mit einer Schachtel voll Rosen)

Am 3. September

Liebste Magda,

diese Rosen hat Onkel Augustin mir für Dich gegeben. Er züchtet sie selber; dies sind wohl die letzten vom Jahr, Souvenir de la Malmaison heißen sie, und Onkel meinte, sie sähen aus, wie blasse kleine Mädchen. Hoffentlich kommen sie frisch an.

Mein geliebtes Kind! Ich habe gesucht und gesucht nach einem Wort für Dich, aber immer wieder, wenn ich nur an Deinen Brief denke, wird alles wertlos und kleinlich, selbst das, was ich Dir doch sagen will, ein Wort meines guten Vaters. Du weißt, daß ich erst zehn Jahre alt war, als meine liebe Mama starb, ich konnte aber doch verstehen, was mir genommen war, und ich war sehr zornig auf Gott, denn ihn verstand ich nicht. Da sprach Vater mir zu, mit Worten, die für ein Kind paßten, und ich habe es wohl behalten, und dies war der Sinn:

Zuerst fragte er mich, wie das letzte Gebet des Menschensohns hieße, und ich sagte: Nicht mein Wille geschehe, mein Vater, sondern der deine. Ja, sagte er, das war es, und dies Gebet ist von vielen Menschen, die sich für rechte Christen hielten, arg mißbraucht worden, als ob es hieße, man solle auf eignen Willen verzichten und alles Gott überlassen. Das heiße es aber durchaus nicht, sondern: Mach, Gott, daß ich deinen Willen erkenne! daß ich wollen kann, was du willst, daß dein Wille in mir ist. Das, sagte ich damals einfach, das kann ich nicht.

Ich habe vergessen, wie er mich damals zurechtgewiesen hat, und auch Du wirst sagen, Du kannst nicht, und dies sei das Allerschwerste.

Nein, mein Herz, ich will es Dir nicht leicht machen. Ich will nur, daß Du nicht in diesen schrecklichen Grübeleien versinkst, und ich weiß aus mir selber: es ist besser, an Gott zu rütteln wie an einem Felsen, als in sich selber hinabzustürzen. Er ist freilich überall, Leid aber macht blind, und das ist das Furchtbare daran.

Ach, Briefe sind unselige Zugbrücken! Wenn man sie aus dem Schlosse des Herzens über den Abgrund tastend hinabsinken läßt, weiß man doch nie, ob sie drüben den Rand wirklich erreichen oder nicht, und sich selber sieht man mit ihnen ganz schief überm Bodenlosen schweben und — genug des Gleichnisses! Du weißt, wie ichs meine ...

Nun lebe für heute wohl! Schreibe nur, wenn Du magst, und nimm einen innigen Kuß von Deiner armseligen

Renate

Ich lege Dir ein, was ich von Irene Herzbruch für Dich geschrieben habe. Es ist eine Art Geschichte geworden; als ich anfing zu schreiben, fiel mir so allerlei ein, ich habe ja auch von jeher einen fabelhaften Ruhm als Märchen- und Geschichtenerzählerin genossen, auch bekanntlich als Dreijähriges schon Verse gemacht von dieser Art:

Die Fledermaus fliegt um die Häuser

Und sucht sich ihre Fledermäuser.

Irenes Geschichte nebst einer historischen Einführung

In der Entwicklung des Geschlechts derer von Herzbruch, deren letztes Zweiglein unsre Irene darstellt, läßt sich eine ähnliche Linie verfolgen wie in dem der Montforts. Beide sind von ältestem Adel, beide mußten aus ihrer Heimat auswandern, die Herzbruchs aus Salzburg als Protestanten, die Montforts aus der Ile de Paris als Hugenotten. (N. b. Ich erzählte Dir wohl von unserm Stammsitz Montfort l’Amaury bei Rambouillet, nicht weit von Paris, den ich mit meinem Papa kurz vor seinem Tode besuchte, und daß zwei aus unserm Geschlecht Connetables von Frankreich waren, einer Kreuzfahrer und einer, Simon, Graf von Leicester, Schwager Heinrichs III. und Regent und Protektor von England. Das ist lange Jahre her, aber nun — — Vetter Josef hätte weder der Engländerin, noch dem Kreuz, noch der Oriflamme Schande gemacht.) Die Herzbruchs hielten sich längere Zeit auf der sogenannten Höhe des Daseins, als Soldaten, Marschälle, Kämmerer, Kommandanten und dergleichen, verarmten aber mit der Zeit, und der Rest ist nun ein mit dem Majorstitel pensionierter Hauptmann nebst Gattin und Tochter. Diesem Schicksal entging allerdings ein Zweig der Familie, indem ein Ottokar von Herzbruch seine eigene Schuldenlast und die allgemeine Last Deutschlands, nämlich Napoleons Regime, hinter sich ließ und nach den Vereinigten Staaten ging, das heißt als loyaler Mann in englischen Diensten. Er focht dann siegreich gegen die Union in verschiedenen Schlachten, zuletzt aber mußten die Engländer bekanntlich doch Frieden machen, die Union anerkennen, und er ging nach dem Königreich, machte eine reiche Heirat und kehrte Anfang der zwanziger Jahre nach Deutschland zurück, wo es ihm als englischem Untertan leicht wurde, in Hannover den Verlag und die Hofbuchhandlung (des Herzogs von Cambridge), die damals ein Schotte namens Max Grew besaß, zu kaufen. Demnach scheinen seine kriegerischen Gelüste mit der Zeit nachgelassen zu haben. Sein Sohn trat in die jetzige Verlagsbuchhandlung hier in Altenrepen, heiratete die Tochter des damaligen Besitzers, übernahm das Geschäft später, und dessen Enkel namens Otto ist jetzt Inhaber des Verlags. Der Großvater Ottokar hatte seinen Adel eingebüßt, war aber protestantisch geblieben, während der adlig gebliebene Zweig mittlerweile katholisch geworden war, seit ein andrer Herzbruch, der gegen Napoleon mit der deutschen Legion in Spanien gefochten hatte, dort dies Bekenntnis angenommen hatte, nämlich einer wunderschönen Andalusierin zuliebe, die Dolores hieß, wie alle Spanierinnen, die nicht Carmen heißen.

Nun zu den Montforts. Die hatten das Leben anders angreifen müssen, wurden gleich nach der Auswanderung Händler und Kaufleute und haben schon seit über hundert Jahren an ihre adlige Vergangenheit keine andere Erinnerung mehr als ihren Nachnamen nebst einer Vorliebe, ihm zuweilen einen französischen Vornamen zuzugesellen, und deshalb heißt mein Onkel Augustin. In ihm scheint freilich mit diesem Vornamen eine Nachdämmerung des alten Glanzes mit heraufgekommen zu sein. Seine Tätigkeit als Eigentümer der chemischen Werke scheint er nur notgedrungen als einziger Sohn auf sich genommen zu haben; dies erbte er vom Vater; von den Vätern dagegen waren ihm von früh auf zu eigen: eine Neigung zu galanter Lebensführung, zu schönen Frauen (seine zweite Frau war ganz herrlich, leider hat nur sie, eine Jüdin, ihre Schönheit vererbt), zu schöngeistigen Studien, zu Rosenzucht und zur Musik, welche Eigenschaften sämtlich nie übertrieben, sondern immer durch natürliches Pflichtgefühl in schönen Maßen gehalten, gewürzt mit einer feinen Dosis gallischen Witzes, den echten Franzosen darstellen würden, wäre nicht infolge eines sonderbaren Zufalles sein Aussehen, das heißt seine Züge, bei alledem so deutsch wie nur möglich, und deutsch war wohl auch die gewisse Trägheit oder Passivität, die ihn wohl noch mehr als kindliche Pietät verhinderte, einen Bruch herbeizuführen und sich ganz seinen Neigungen zu widmen. Du siehst, daß er auch ein Verschwender sein kann; für sich ist ers freilich nie gewesen. Jetzt ist er längst ein stiller, alternder Mann und lebt allein in seiner Arbeit. —

Aber was rede ich eigentlich von den Montforts? So — ich kam darauf, weil in meinem Onkel Augustin ebenso wie in Irene von Herzbruch ein Tropfen alten Blutes wieder zum Vorschein kam. Bei ihm die französische Haltung, bei ihr die Flamme der Religiosität, um deretwillen einst das Geschlecht in die Verbannung ging. Sonderbar spielt freilich das Schicksal. Denn wie gesagt sind die Herzbruchs katholisch geworden, und um dieses Glaubens willen hat jetzt die kleine Irene zu leiden, während damals die Härte des Protestantismus das Schicksal des Hauses veränderte.

Bei ihrer Geburt, die sehr schwer war, besann sich ihr Vater, als die Mutter bereits in Todesenden lag, auf seinen mit der Zeit recht lau gewordenen katholischen Glauben und verfiel darauf, den Sohn, der naturgemäß erwartet wurde, der Kirche zu geloben, und das war, so Gott mir helfe, eine ordentliche Tat, denn damit mußte das adlige Haus Herzbruch erlöschen. Nun wurde es eine Tochter, und das erleichterte die Sache, sollte man meinen; mit der Zeit kam es anders. Die Verzweiflung war in Wonne umgeschlagen, die Mutter war genesen, das Kind wuchs auf, wurde reizend, die einstige Verzweiflung verschwand gänzlich hinter den Horizont der Zeit, und von Jahr zu Jahr dachten die Eltern weniger an das Gelübde, schließlich vergaßen sie es ganz. Anders Irene. Sie wuchs mit dem Gelübde auf, das sie früh durch die gut katholische Kinderfrau erfahren hatte, die Eltern wußten gegen ein bißchen Frömmigkeit gewiß nichts einzuwenden, besonders da nichts reizender war als die kleine Irene an ihrem kleinen Betpult, über ihren Katechismus gebeugt, oder den Rosenkranz zwischen den Fingern, oder wenn sie mit zarter Stimme sang, neben der Mutter am Flügel stehend, wie auf einem Bilde von Whistler. Gleichwohl ging sie nun nicht in Frömmigkeit auf, obgleich auch ihre Spiele, solang sie klein war, frommen Geschichten und Legenden entnommen wurden; besonders beliebt war das Fronleichnamsspiel, wobei Mamas Nähtischthron, das Sofa im Salon, Papas Schreibtisch und das Kinderbett die verschiedenen Stationen abgeben mußten. Trotz Singen und Beten aber war sie ein ungebärdiges, weil leicht erregbares Kind, das freilich mit ebenso großer Wonne Buße tat und sich zerknirschte, mit der sie das verbotene Eingemachte vertilgt oder die neuen Frühjahrsbeete zertrampelt hatte. Mit zwölf, dreizehn Jahren stieg die Weltlust am höchsten, die Gebete beschränkten sich auf den Morgen und Abend, und die Spiele waren jetzt folgender Art: sie begab sich mit einer Freundin Arm in Arm auf die Straße, wo das geistvolle Paar versuchte, vor möglichst vornehm aussehenden erwachsenen Personen einherzugehn und etwa diese Unterhaltung anzuspinnen: „Reitest du heut?“ „Ach, ich weiß noch nicht recht ... den Fuchs hab ich gestern etwas überanstrengt, der muß heute etwas Ruhe haben, und der Schimmel ...“ „Na, der Schimmel ist nun auch nicht mehr sehr schön.“ „Ja, wir wollen ihn ja auch verkaufen, vielleicht bekomme ich ein paar Jucker dafür.“ „Wahrhaftig? Habe ich dir übrigens schon erzählt, daß mir mein Cousin eine Reitpeitsche mit Silbergriff geschenkt hat? Ich will ihn aber vergolden lassen, es sieht doch entschieden vornehmer aus.“ Na, und so weiter ...

So wurde sie denn allmählich fünfzehn Jahre alt, die Zeit der Firmung kam und mit ihr die Backfischzeit, die der Schwärmerei, der holden Extreme, der Vergötterung von Personen, gleichviel welchen Alters und Geschlechts. Nun hatte Irene, zumal von dem elterlichen Gelübde seit langem nicht mehr gesprochen war, niemals einen andern Gedanken gehabt, als sei es selbstverständlich und gar nicht der Rede wert, daß sie den Schleier nehme, und ich glaube wirklich, daß sie sich ihre weltlichen Albernheiten heimlich immer selbst erlaubte mit der Absicht, später redlich für diese vergeudeten Weltjahre Buße zu tun. Damals nun kam es zu den ersten Kämpfen. Sie sprach mit ihrem Pfarrer über ihren Eintritt in ein Kloster. Der, welcher der Meinung war, daß dies mit dem Einverständnis der Eltern geschehen solle, bestärkte sie anfangs, nach einer Unterredung mit den Eltern aber, wo diese, ich weiß nicht unter welcher Begründung, die Erfüllung ihres Gelübdes durchaus ablehnten, wurde auch er anderer Meinung, denn er war oder gab vor, ein weltmännischer Mensch zu sein, wollte natürlich hier oben, in dem kleinen katholischen Sprengel, wo es darauf ankam sich zu vertragen, keinen Lärm erregen und es überhaupt mit den Eltern halten. So begann er denn, dem Kinde das vierte Gebot vorzuhalten, aber nun brach alles, was an Eigenwillen, Widerspruchsgeist, wahrer Frömmigkeit und Inbrunst in ihr war, hervor, sie hielt ihm Christi eignes Gebot von der Nachfolge entgegen, es gab Jammer und Tränen, sie, wenn die Eltern es nicht taten, wollte deren Gelübde halten, und ich kann mir die Verzweiflung der Kleinen wirklich denken, die sich aller menschlichen Obrigkeit ganz allein zu widersetzen getraute und an den himmlischen Geboten festhielt.

Eines Tages war sie verschwunden. Still, ohne Abschiedswort, was zuerst Verzweiflung, später den heftigen Groll der Eltern erregte, aber sie hat mir gestanden, wie es ihr unmöglich gewesen wäre, ein Wort des Grußes zu finden oder eine Bitte um Verzeihung, — sie war schon ganz ekstatisch und dem Himmel näher als der Erde. Durch polizeiliche Nachforschungen ergab es sich dann, daß sie nach Prag und zum Nonnenkloster Mariabrunn gelangt war, man setzte ihr nach, aber sie war dort nicht mehr, es schien, sie war wirklich verschwunden, und die Nonnen verweigerten die Auskunft. Sie hatten die Kleine mit Frohlocken aufgenommen, — nun, damals erregte die Geschichte viel Aufsehn, es kam heraus, daß Irene nach Italien gebracht war, schließlich mußte unsre Gesandtschaft und der Papst selber zu Hülfe geholt werden, — plötzlich war Irene wieder in Prag, und nun gaben die ganz verstörten Eltern nach und erlaubten ihr, vorläufig dort zu bleiben. Ich kann nicht beurteilen, ob das der rechte Weg war, es war ja möglich, daß sie ruhiger wurde; den Eltern wurde versichert, daß die frommen Schwestern nichts tun würden, um sie an sich zu locken ... Schließlich, als dann das Noviziat beendet war, half nichts als Gewalt. Die Eltern — nun, man weiß, wie solche im Grunde lauen Menschen bei so fremdartigen Vorkommnissen sich zeigen. Ich habe den Major gesehen, einen langen, hagern, knochigen Mann mit weißem Schnurrbart und stark beschränkter Stirn; die Mutter war wohl einmal hübsch und zierlich, muß aber früh vertrocknet sein und kennt, wie es beim Bürgertum üblich, keinen Willen als den ihres Mannes. Beide haben wahrscheinlich während der langen Dauer des Streites dessen ganze Gründe vergessen, sahen nur noch eine widerspenstige Tochter und nannten das eigene Verlangen, die Hartnäckigkeit des Kindes zu brechen, nicht beim richtigen Namen, sondern hatten dafür alle möglichen andern, wie Elternliebe, Pflicht und dergleichen; indem sie vorgaben, ihr Kind vorm klösterlichen Absterben zu retten, folgten sie halt ihrer Selbstsucht, die nicht kinderlos werden wollte. Irene kam zurück und glaubte, vor Jammer sterben zu müssen. So weit sind wir nun.

Dies alles erfuhr ich natürlich nicht von ihr allein, besonders über die Vorgänge während ihres Aufenthaltes in Mariabrunn und Italien hat sie nichts erfahren, da aber, wie ich sagte, die Sache damals viel Staub aufgewirbelt hat, hörte ich alles Nähere von Onkel und Josef. Wenn Du mich aber fragst, wie ich selber mich zu der ganzen Geschichte verhalte, und was ich der armen Irene gesagt habe, als sie mich zur Beichtmutter erkor, so bin ich durchaus in Verlegenheit. Ich bin sicherlich überzeugt, daß man Gott auch in Kirchen und Klöstern dienen kann — — o weh! Das ist ja ein wildes, unchristliches Paradox, aber so gehts, wenn man sich recht präzis ausdrücken will und obendrein einen Vater gehabt hat, der die Natur für Gottes einzigen Tempel ansah, und zwar in rein gotischem Stile erbaut, wie er mir mehr als einmal auseinandersetzte. Irenes Wesen ist mir gar nicht klar. Das Kindliche, ja Kindische darin scheint ihrer Verständigkeit — sie hat einen geradezu scharfen Geist — zu widersprechen, und diese wieder ihrer so empfindsamen Heilandsverehrung; zurzeit ist sie noch ein rechtes Chaos, aus dem alles werden kann, ob aber eine Nonne oder eine Mutter, das zu entdecken, reicht mein Scharfsinn nicht aus. Und als sie mich so flehentlich um Rat bat, da hab ich, meine Verlegenheit mit Mühe bemäntelnd und anstatt ihr irgend Tatsächliches vorzuschlagen, gedacht, mit meiner eigenen, bescheidenen Persönlichkeit auf sie zu wirken; habe sie gebeten, sich zu beruhigen, etwas Zeit hingehen zu lassen, mich recht oft zu besuchen, die Orgel zu hören, eine Weile einfach und beschränkt hinzuleben und dabei ein bißchen in sich selbst hinabzuhorchen. Den himmlischen Stimmen, die, wie sie behauptet, beständig nach ihr riefen, das Ohr zu verschließen, sich die gute Erde anzusehn und zu warten, ob es nicht ganz allmählich stiller in ihr würde, lauter simple Dinge, mein Magdakind, bei denen ich, glaub ich, mehr an Dich gedacht habe als an sie.

Als ich aber das getan hatte und allein war, da mußte ich das tun, was ich auch eben wieder lange Zeit getan habe. Ans Fenster gehn, den Himmel ansehn und denken: Wer bin denn ich? Wer bin denn eigentlich ich, die andern Leuten Dinge vorredet? Was habe ich schon geleistet, welche Erfahrungen berechtigen mich? Was, ja was berechtigt mich zu dem Dasein, das ich führe, und das mir einfach gegeben ist? Trug ich auch nur das Geringste dazu bei? Und wenn ichs nicht tat, — ja, wer bin ich denn? Wer bin ich, Magda, wer bin ich?

Gute Nacht, mein Herz! Schlafe gesund! Gute Nacht!

Renate

Magda an Renate

12. September

Liebste!

Ich kann Dir noch nicht schreiben. O tausend, tausend Dank Dir und Deinem lieben Onkel für die wunderbaren Rosen! Wie gut seid Ihr alle zu mir! So viele Menschen sind jetzt gut zu mir. Die Rosen waren nur ganz wenig erschlafft und haben sich herrlich erholt. Wenn ich in mein Zimmer komme, ist es ganz voll Duft, und des Nachts, wenn ich aufwache, schimmern sie im Dunkel so feierlich, daß ich ordentlich beruhigt wieder einschlafe, als ob jemand im Zimmer sei, der Wache hält. Bald schreibe ich mehr. Grüße Irene! Die Arme, wie mag man sie gequält haben! Ach, ich weiß schon, wir sind so selbstsüchtig im Schmerz, als wären wir es ganz allein, die zu leiden haben, und doch ist es so: es ist Schmerz in der Welt, und jeder muß seinen Zoll bezahlen, und jeder muß vor allem ihn aus sich zu läutern versuchen, das ist das einzige Mittel, ihn aus der Welt zu schaffen.

Eben bekomme ich dies von Georg. Ich schreibe es Dir ab. Nun sieh nur, wie gut er ist, wie er mich versteht, ohne zu fragen. Ach, ich bin wohl weit entfernt davon, so zu sein, aber es hat mich etwas tapfrer gemacht, zu denken, daß ich einmal so sein könnte, und ich will mir das Gedicht als Wegweiser aufheben.

Viele, viele innige Grüße von Deiner

Magda

Für A.

Sie trägt ihr Herz nun offen in der Hand

Wie eine Lampe, liebreich im Verspenden,

Seitdem sie weiß: durchstochen und verbrannt,

Ihm kann nichts mehr geschehn von fremden Händen.

Jedoch das Leuchten, das tief innen blieb,

Mag viele blinde Pilger noch erquicken,

Daß sie sich sanfter in ihr Schicksal schicken,

Das ihre Stirn mit dunkler Pflicht beschrieb.

Und manchmal, wenn sie lange mit dem Wind

Geflüstert, großen Auges nachgelenkt

Den Wolkenfahnen, die er droben schwenkt,

Blüht ein Gefühl, als trüge sie ein Kind:

Ein süß Gereiftes regt sich leis mit Lallen,

Hirten und Himmlischen ein Wohlgefallen.

Renate an Magda

am 21. September

Meine liebe Magda!

Gestern ist nun auch mein Vetter Erasmus gekommen. Er ist Privatdozent für physikalische Chemie — der Himmel mag wissen, was das ist! — in Marburg und ist so fleißig, daß er die ganzen Ferien bis jetzt gearbeitet hat. Das ist gewiß ein guter, tüchtiger Mensch, aber es ist schade für ihn, wenn er sich mit seinem Bruder zusammen zeigt. Den habe ich Dir ja ungefähr beschrieben, — er ist sieben oder acht Jahre jünger, Erasmus bald Mitte Dreißig. Von ihm hatte ich von Papas Begräbnis her nur eine sehr dunkle Ahnung, wie an eine Art Fabelriesen, und er ist unendlich lang, mager, aber schwer gebaut; seine Stirn ist kolossal, besonders weil das Haar weit auf den Kopf zurückgewichen ist, die Augen sind sehr groß, von unbestimmt heller Farbe und überquellend; er ist bartlos und sieht für gewöhnlich finster aus; unbeholfen ist er nicht, obgleich zu jeder Eleganz, auch in der Kleidung, ungeeignet; sein Auftreten ist vielmehr von einer Art Kühnheit, er hat etwas von diesen ritterlichen Bergschotten, weißt Du, wie Allan M’Aulay in Scotts Sage von Montrose, an den er mich lebhaft erinnert. Bei unsrer Begrüßung küßte er mich einfach auf die Stirn; sein Mund war kühl, aber es brannte doch unangenehm, dieweil ich, wie Du weißt, die Angewohnheit habe, mich nicht von fremden Männern anrühren zu lassen. Mit seinem Bruder spricht er nicht, ist überhaupt verschlossen und schweigsam, als ob ihm irgendetwas am Herzen säße und es zuhielte, und wenn er einmal etwas sagt, so ist der Gegenstand damit für ihn abgetan, was nicht grade zur Gemütlichkeit beiträgt. Sein Vater giebt sich Mühe, ihm zu zeigen, daß er ihn achtet und hochhält, wie man eben einen Menschen ehrt, der nichts tut als seine Pflicht und sich ruhig verhält. Josef hat natürlich seines Vaters ganze Liebe, denn in ihm kann er sich verjüngt sehn und verschönt obenein. Und nun will ich Dir gleich etwas erzählen, das ich gradezu ein Abenteuer nennen möchte, und wenigstens wars ein abenteuerlicher Vorgang. Da wirst Du sehn, zwischen was für Menschen ich lebe.

Übrigens genießt Josef, der alles zu wissen scheint, das Vorrecht, auch alles sagen zu dürfen, denn er sagt es geschickt. Man nimmts nicht ernst, nimmt die hübsche Form zu sich und freut sich, aber dem zweckmäßigen Erasmus scheint so etwas nichtsnutzig. (Er würde mir leid tun, wenn ich nicht ganz gut wüßte, daß man auf die Dauer — also etwa angenommen, man wäre genötigt, einen von beiden zum Ehegemahl zu erwählen — auf die Dauer eher mit Erasmus leben könnte als mit seinem Bruder.)

Es war also am Abend nach der Ankunft des Erasmus; er hatte mich gebeten, Orgel zu spielen, wir waren alle vier in der Kapelle, und nachdem ich ein schönes Ungewitter aller tönenden Stimmen hatte über sie hinsausen lassen, fiel Josef mit dem Cello ein und zwang mich mit Zauberei, ihn zu den wilden Phantasien oder Harlekinaden zu begleiten, die er aus seinem ächzenden Instrument hervorholte, übrigens unter einem erbärmlichen Gesichterschneiden, als obs er selber wäre, den die Teufel quälten — jene, die nachher in die Säuherde hinunterpfiffen, weißt Du —, und Onkel entfloh alsbald. Als ich gleichfalls genug hatte, war auch Erasmus nicht mehr zu sehn, Josef seufzte auf, als ob er aus Ohnmacht und grausigen Gesichtern zu sich käme, sah sich dann hinter sich um wie der Intrigant in der Tragödie und bemerkte trübe: Armer hölzerner Erasmus! — Warum hölzern? sage ich unwirsch. — Deswegen, sagt er, weil er so gemacht ist. Hast dus nicht gesehn? Man kanns doch deutlich sehn, wie er gemacht worden ist, wiederholt er hartnäckig. Aus einem kräftigen Pfahl Eibenholz, nicht trocknem, sondern vielmehr ganz frischem, ist er herausgeschnitten, Leib, Arme, Kopf, Nase und alles samt den gläsernen Augen. Ja, wie muß das wohl geblutet haben! sagt er ganz vertieft. Und das Schlimmste, fährt er nachdenklich fort, das Schlimmste ist, daß es noch immer blutet, wenn er sich einmal richtig bewegen will wie wir Andern, denn — — Allein hier gebot ich ihm Schweigen und pustete zum Zeichen der Verabschiedung das eine meiner beiden Lichter aus. Da beugt er sich plötzlich in seinem Stuhl zu mir vor, äugt mich satanisch von unten an — alles Schauspielerei natürlich! — und flüstert wie eine Warnung vor den Iden: „Laß brennen, liebe Seele, laß ja brennen! Du wirst es noch brauchen.“ — Das klang so unsinnig geheimnisvoll, daß ich ganz kindisch sagte: Nun grade! das andre Licht ausblies und die Stufen vom Podium hinunter gegen das Zwielicht der Tür lief. Er blieb mir aber wie ein Teufel an der Schleppe hängen, und als wir draußen im Garten standen, hielt er mich am Arm fest und sagte: „Sieh mich doch einmal an, Renate!“ „Ja,“ sagte ich, „ich weiß schon, du bist ein Adonis.“ „Genau das wollte ich hören“, versetzte er. „Sehe ich nicht aus wie ein Gott gegen meinen Bruder? Ha!“ sagte er, wie die Menschen bei E. T. A. Hoffmann, während ich ihn entgeistert anstarrte, „ha! dazu sind die Götter von diesen Sklavenseelen erfunden, daß sie sie mit allen Eigenschaften behängen, die ihnen fehlen, mit Leichtigkeit, mit Heiterkeit, mit Atmosphäre, — mit reinem Gelächter, mit Spott und nichtsnutzigen Spielen. Es giebt aber Kaine darunter, die bringen Götter um. Du mußt nicht alles so wörtlich nehmen, Kleine“, sagte er auf einmal ganz ruhig, und ich fiel ein: „Nein, Gott soll mich bewahren, daß ich dich jemals wörtlich nehme!“ „So meine ich es auch wieder nicht“, erklärte er unerschütterlich und überreichte mir eine große, schwarzrote Georgine, die ich nun verwundert in der Hand hielt, und deshalb mußte ich fragen, ohne es zu wollen: „Wie meinst du es denn?“ „Lassen wirs, Herze,“ sagte er nun, „aber eins will ich dir sagen. Ich weiß nicht, wo ich meinen Ursprung habe, hier aber ist er nicht, nicht bei diesen Menschen und nicht in diesem Lande. Ich pflege das für mich zu behalten, aber du dauerst mich, weil du —“ Nun, die folgenden Schmeichelhaftigkeiten schenke ich mir, sie waren aber hübsch anzuhören, das kann ich Dir sagen, denn er hat eine unwiderstehliche Art, ehrlich zu scheinen. „Ich daure dich?“ frage ich nur wie benommen, und er versetzt: „Es ist in diesem Hause (ich wiederhole seinen Satzbau) etwas Unterirdisches im Gange, das ich ahne vermöge meines eben angedeuteten Ursprungs, und ich möchte nicht, daß es dich ungewarnt träfe. Nein,“ sagte er eilig — ich möchte wohl wissen, wie ich ihn angesehn haben muß — „ich weiß nichts Bestimmtes, ich empfinde nur, ich habe eine Wünschelrute, die schlägt aus, sowie ich einen Menschen berühre, und dann ahne ich freilich nur Unangenehmes, das haben die Propheten bekanntlich so an sich. Du aber kannst dich beruhigen, denn es steht geschrieben, daß du mich niemals heiraten wirst. Komm ins Haus,“ schloß er befehlerisch, „es ist Nacht.“ Ich sah, daß es finster geworden war, und mußte, während ich auf dem schmalen Wege vor ihm herging, beständig denken, wie hell und weiß ich mit meinem weißen Kleide in dieser Dunkelheit schien, dazu die schwarze Blume, die ich vor mir her trug wie — ich weiß nicht was, und überdies, daß er das so eingerichtet habe, hinter mir zu gehn und die Wirkung des Ganzen zu beobachten. Auf einmal schauderte michs, ich warf die Blume fort und lief wie gejagt ins Haus.

Ist das nicht ein horribles Abenteuer? Du siehst, wie kühl und humorvoll ich jetzt daran denke, sonst hätte ich es Dir ja nicht geschrieben, und es ist auch kaum ein Hauch Wirklichkeit davon in mir zurückgeblieben, außer daß ich ab und an die Menschen betrachten muß, besonders Erasmus, aber auch Andre, und mich dann schämen, als sähe ich verbotenerweise in ein Fenster. Und sind das nicht höchst unwahrscheinliche, oder wie Hoffmann sagen würde, skurrile Sachen von Deiner sonst so vernünftigen

Renate?

Magda an Renate

30. September

Nun fallen die Blätter. Es wird hier so früh und eilig Herbst. Der Schwan schwimmt nun längst wieder umher; wie eine schwarze Trauergondel sieht er aus mit seiner schwarzen Flügelschleppe unter den bunten Bäumen. Ich bin unruhig und verstört, ich kann die Gedanken nicht mehr halten und binden, es ist so windig in mir, oft fühle ich es, wie der Wind mich durchstreicht, als wäre ich durchlässig, und die Blätter, die auf den Wegen an mir vorüber und weit auf die Wiesen fliegen, taumeln so dahin, als wären sie von mir abgefallen.

Oft stehe ich am Fenster und höre das Meer und das Brüllen der Kühe, wenn der Wind es herübertreibt — das klingt so bang und öde! — und sehe den vielen Wolken so lange nach, bis mich schwindelt. Ach, Gott ist so hoch, Renate, ich kann ihn nicht mehr erreichen, jetzt, wo ich gefallen bin und nicht mehr fliegen kann. Ich kann nicht beten: dein Wille geschehe! Ich habe nicht in den Garten zurückgefunden, wie ich dachte, es ist ja auf einmal Herbst geworden. Der Garten ist ein Fremder, der an mich nicht denkt; er läßt gleichgültig seine Blätter fallen, vielleicht ein wenig nachdenklich, aber wenn sie am Boden liegen, hat er sie schon vergessen und sieht den andern nach und vergißt sie.

Bogner hat nun ganz mit seinem Bilde zu tun, spricht nicht mehr, er sieht uns überhaupt nicht mehr; malen tut er nicht viel, er sitzt und raucht, das Essen muß man ihm beinah einfüttern, er läuft viel allein umher. Papa fing einmal von Georg an; er ist doch in München, das Wintersemester fängt ja nun bald an, ich kann mir also denken, daß er viel Zerstreuungen hat. Die Herzogin ist seit acht Tagen fort. Der al Manach sitzt meist auf seinem Zimmer, ich weiß nicht, was er dort macht; sonst ist er mit Bogner zusammen, sitzt bei ihm, läuft neben ihm her. Er hat gar keinen Blick in den Augen, man könnte sich fürchten, aber man gewöhnt sich ja an alles. Papa schimpft allerdings, daß der Herzog ihn uns aufgehalst habe, und er fiele ihm entsetzlich auf die Nerven, obgleich er ihn kaum einmal am Tage zu sehn bekommt. In den nächsten Tagen will Papa wie immer nach Beendigung der Ernten nach Gastein; ich habe ihn gebeten, hierbleiben zu dürfen, er widersprach kaum und wird wohl froh sein, mal allein sein zu können. Bald wird alles kahl, dann kommt der Winter, und meinen Garten finde ich niemals mehr.

Wenn ich auch manchmal denke, ich weiß es wieder, was ich vor kurzem so hell, so blitzend gesehn habe, so hat das doch nun keinen Wert mehr, denn es sieht nun belanglos und so kümmerlich aus, daß ich nicht begreife, wie ich jemals hab drüber staunen können.

Sieh, das ists: Warum habe ich nicht damals schon, als ich die Prophezeiung bekam, glauben und sie verstehen können? Andern als Retter dienen — was bedeutet denn das andres, als daß ich mich nach solchen umsehn sollte! Wäre nicht die schönste, die einzige Erfüllung die gewesen, die ich selber herbeigeführt hätte? Hätte ich nicht hingehen sollen, wo Kranke und Trostbedürftige, wo die am Leben Verzweifelnden sich quälen, um sie zu heilen, zu erquicken, zurückzuführen? Andre retten, hieß es, ich aber dachte nur an mich. O mein Himmel, ja, das heißt zu Gott gehn, das heißt, Gott an sein Herz nehmen, wie im Evangelium: Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht ... Der Gott da oben ist weit weg über den eiligen Wolken, der aber hier unten, der ist, wo das leidende Leben wohnt. Ich selber leide, wir alle leiden, Gott ist im Leiden, und Gott ist in der Tröstung, o wie schlecht, wie gedankenlos, wie gewissenlos bin ich gewesen, denn ich bin vorübergegangen, wie soll er nun jemals in mein Herz einkehren? Ach, es ist zu spät, viel zu spät geworden!

Nicht, daß ich dächte, der Mensch, dem ich schon zweimal geholfen habe, al Manach ist hier geblieben, und wir müssen Beide auf das dritte Mal warten! O nein, ich denke vielmehr: Was soll denn das nun eigentlich, wozu denn diese Anstrengung? Er lebt ja gar nicht, nur im Dasein habe ich ihn festgehalten. Renate, Renate, wenn ich das könnte! Wenn ich ihn auch dem Leben wiederschenken, wenn ich ihn ganz heilen könnte, wie gern würde ich dafür mein Leben hingeben. Ich bin so schrecklich müde.

nachts

Damals hätte ich die Wahrheit hören sollen, aber ich habe sie verlacht. Ach, meinst Du, Schwester, daß Gott mir verzeihen wird, weil ich ja noch jung war und nichts gelernt hatte? War ich wirklich noch ein Kind? Wie lange muß das her sein! War ich ein Kind? Durfte ich ungehorsam sein? Ja, sag mir, o bitte, sag mir, dürfen Kinder ungehorsam sein?

Auch Du schreibst so anders. Ich habe mehrmals gelesen, was Du ein Abenteuer nennst. Es klingt mir nicht gut, wie Du schreibst, ich kann nicht sagen wie, aber ich ängstige mich um Dich.

Bogner zeigte mir eine Menge Studienköpfe von der Herzogin. Das ist wieder so seltsam. Jeder scheint ein ganz andrer Kopf, manchmal ist die Ähnlichkeit kaum erkennbar, und gleich darauf scheint sie grade dort am geheimnisvollsten hervorzudämmern. Kannst Du das verstehn? O Renate, wer sind wir? Wer sind wir, daß ein Andrer tausend Bilder von uns machen könnte! Lach nicht, ich mußte eben dran denken, wie mir vor einiger Zeit die kinematographischen Bilder erklärt wurden, wo eine einzige Bewegung aus einer Kette von Bildchen besteht, und so denke ich, sind wir Menschen auch, und wenn man sich eine Vorstellung von einem machen wollte, so würde es eine unendliche Reihe von Bildern sein, die sich beständig auseinander- und wieder zusammenziehn, mich schwindelt, wenn ichs ausdenke. Bogner hat auch die Hände der Herzogin gemalt, so daß man darüber weinen möchte; sie sehen aus wie gefrorene Blumen, man möchte sie auftauen mit Tränen und Küssen.

Nun muß ich Dir noch schreiben, daß die Obsternte in diesem Jahr nicht besonders ausgefallen ist. Papa wird Euch einen Korb Schöner von Bosko und Parmänen schicken, vielleicht auch ein paar Gravensteiner, aber sie sind gar nicht schön. Reinetten giebts kaum, und die Kaiserbirnen kann man am Baum zählen. Kochäpfel sollt Ihr auch haben, Papa rät Euch aber, die andern nicht mit ihnen zu verwechseln, sie würden wohl alle gleichmäßig nach gar nichts schmecken. Wenn Ihr trotzdem mehr haben wollt, so schreibe mirs bitte, aber Ihr bekommt vielleicht anderswo bessere. Vor ein paar Tagen war ein heftiger Sturm, der Obstgarten sieht traurig aus, es soll übrigens einen stürmischen Herbst und Winter ohne Schnee geben. Die letzten Rosen sind zerstört, so daß ich Dein Geschenk leider nicht erwidern kann, nach Astern fragst Du wohl nicht viel. Von wem ist das:

Wenn die Rosen deiner Wangen,

Liebste, lieblich blühn,

Denk ich, wie mein Lenz vergangen,

Seh den Herbst verglühn.

Deine Rosen, deine Blüten,

Ach, ich kann sie nicht behüten,

Alles ...

Das Ende weiß ich nicht, und ich meinte auch nur den Anfang. Wenn die Rosen deiner Wangen ... Das klingt so freundlich, ich denke an Dich dabei und freue mich leise.

Bleibe gut Deiner

M

Drittes Kapitel: Oktober

Renate an Magda

am dritten

Gleich, gleich, gleich muß ich Dir schreiben, mit Dir sprechen, Dich an mein Herz drücken, o Du Liebe, Du Arme, Du Törichte, Du Verstörte! Ich habe ja immer gewußt, daß das kommen mußte, ich habe so darum gebetet, ein wenig anders hatte ich es mir wohl gedacht, aber warte nur, es geht vorüber, dies geht vorüber, und alles wird gut werden. Ja, Kind, es ist gekommen, und Du hast es nicht erkannt, wäre ich nur bei Dir, könnte ich Dir Dein Gärtlein zeigen, wie ich es sehe, Gott schenke Dir nur einen einzigen schönen, feierlichen Herbsttag, mit flatterndem Gold in reinblauer Luft, mit leuchtenden, starken Farben, mit mildtätiger Sonne, daß Du den rechten Herbst erkennst. Du törichtes Kind! fragst, ob Du hast Kind sein dürfen, Du, die so früh herausgerissen wurde. Jetzt aber frage Dich einmal, ehrlich und tapfer, denn ich will Dich tapfer haben, mein Kind, und an Deine Müdigkeit glaube ich nicht, — frage Dich: Besitzest Du Dein Leben noch, das frühere, das kindische, leichte, gottgläubige? Du sagst, Du habest den Weg in Deinen Garten verloren, und gestehst zugleich, daß nur der Garten verwandelt sei. Das Leben ist Dir freilich nicht verloren, aber das, welches Dir das einzige schien, hat sich in ein andres verwandelt, in ein besseres, das sollst Du mir wohl glauben! Achtzehn und ein halbes Jahr bist Du alt, der Frühling, den die Leute an Dir sehn und Du selber, wenn Du in den Spiegel schaust, ist noch lang nicht vorüber, fühle aber im Herzen Früchtezeit und bitte nur Gott, sie kräftig zu gesegnen, und der Himmel verzeih mir, wenn ich jetzt an spärliche Reinettenernte denke.

Liebste! Nur um Dirs zu sagen, schreibe ich all das auf. Ich bin nicht täppisch genug, um Dich schnurstracks überzeugen zu wollen. Ich bitte Dich nur, es anzuhören, Dich darum zu bemühn, und ohne daß Du es merkst, wird es eingezogen und Beherzigung geworden sein.

Magda! Ich würde so nicht mit Dir reden, wenn ich nur im entferntesten glaubte, Deine Verstörtheit könnte anhalten, sich gar in Schwermut verwandeln; dazu glaube ich Dich zu gut zu kennen, und wie ich Dich kenne, bist Du gesund im Kern. Darum glaube ich felsenfest, dies ist eine von den Krankheiten, die zur Reinigung nötig sind. Das ist mein letztes Wort. Man muß nicht alles wissen wollen. Denn was heißt: alles? Nichts, heißt es, nur sagt man immer zu dem, was man grad haben will, „alles“ und möchte an der ganzen Welt verzweifeln, von der man nicht das geringste weiß außer der Winzigkeit, an die man sich grad klammert. Das Notwendige ist nicht das, was man in dem und jenen Augenblick dafür hält, und ich sage Dir (Du weißt, auch ich habe schon mein, wenn auch bescheidenes Päcklein zu tragen bekommen) —: solange der Mensch nur imstand ist, über sich nachzudenken, solang er nicht über sich hinweg denken kann, solang ist er bloß ein grüner Frosch, der bei schlecht Wetter unten auf der Leiter hockt und wartet, bis er das Gutwetter in sich steigen fühlt. Sela.

4. Oktober

Gestern ließ ich den Brief liegen, um ihn mir heut noch einmal anzusehn. Ich merke nun freilich, daß ich alles bedeutend besser hätte ausdrücken können, aber lassen wirs schon so. Aus einem andern Grunde ist mirs lieb, den Brief heute noch dazuhaben; ich kann nun etwas von Irene hinzufügen, das so seltsam und schön ist, daß es, denk ich, auch Dir wohltun wird, es zu hören.

Gestern abend noch spät kam sie zu mir; sonderbar feierlich waren ihre Augen; ihr Wesen ließe sich musikalisch etwa darstellen: Portamento im Viervierteltakt. Sie zog mich hinüber in die Kapelle, blieb in der Mitte stehn, sah sich andächtig um und sagte: Ja, hier war es. Hier erschien sie. Dort, wo die Orgel steht, — die aber war nicht da, sondern ein goldenes, dunkles Wasser, in dem es sich bewegte wie von kleinen Gesichtern. Ich spreche von der Mutter Maria, sagte sie einfach (immer sagt sie Mutter, nicht anders). Letzte Nacht erschien sie mir im Traum, Lilien im Haar, aber sie war Ihnen ganz ähnlich. Und ich kniete hier an einem Betpult. Nun zog sie einen Vorhang zur Seite, und da wurde ein schlafender Mensch sichtbar. Ich konnte sein Gesicht nicht sehn, wußte nur, daß er krank war. Gleich wars finster, ich glaubte noch Orgelgetön zu hören, aber da wacht ich schon und wußte gleich, was dieser Traum bedeutete: ich sollte hingehn und den kranken Mann pflegen. Es war schon spät am Morgen, die ganze Nacht hatte ich gebetet, nun war mir so leicht, und dann hörte ich auch das Orgelspiel aus dem Traum ganz fern, — Sie warens, nicht wahr? — Ich nickte nur, so wunderbar schien mirs, daß sie, die von allen religiösen Dingen sonst immer mit soviel mystischer Schwärmerei gesprochen hatte, jetzt mit der natürlichsten Schlichtheit redete. Und wie das Natürlichste auf der Welt setzte sie hinzu: Mein Vetter Otto Herzbruch ist krank, Mama sagte es heut morgen beim Kaffee, es soll Lungenentzündung sein. Ich bin schon dort gewesen, seine Eltern sind tot, er wohnt bei seiner verheirateten Schwester; ihr Mann ist Arzt und sehr gut, ich darf dableiben.

Ja, was soll man dazu sagen? Es giebt natürlich zehntausend Kranke in der Welt, und ebenso natürlich ists, daß sie diesen einen zu pflegen hat, in Gottes Namen, ich habe ihr viele Küsse auf den Weg gegeben. Es wird schon gut für sie werden.

Darf ich Dir noch einen Rat geben, Kleines? Ich vermute, daß Du ziemlich untätig dahinlebst, es ist aber durchaus notwendig, daß Du Dich beschäftigst. Wie ist es nun mit Deiner Stimme? Sie muß kräftig genug sein, um die Anfänge der Ausbildung vertragen zu können, und gewiß giebt es in Böhne eine pensionierte Sängerin oder einen Kantor, der sie prüft, und bei dem Du anfangen kannst, atmen zu lernen. Willst Dus nicht versuchen? Mir zuliebe? Du weißt, wieviel ich von Deiner Stimme halte!

Daß wir Äpfel bekommen sollen, freut uns sehr, ich bitte um einen schönen Gruß und vielen Dank für Deinen Papa!

Leb wohl für heute! Sei geduldig und getrost!

Renate

Magda an Renate

Helenenruh, 10. Oktober

Liebe Renate!

Mir fällt ein, daß ich mich niemals für Dein schönes Bild bedankt habe. Das kam wohl, weil es mir gleich so vertraut war, nachdem es nur einen halben Tag auf meinem Schreibtisch gestanden hatte. Heut habe ich es Bogner gezeigt, und er sagte: Ach, du lieber Gott! — Du hättest es hören sollen! Als wenn das größte Unglück passiert wäre. Dann strich er immerzu mit der flachen Hand über das Glas, aber es wollte augenscheinlich nicht weggehn. Schön? fragte ich nur. Schön? sagte er. Schön wie Maria Stuart. — Warum denn die? frage ich erstaunt. Ein Stümper, sagt er, kann sie malen, und es wird immer ein Wunder bleiben. Dann fragte er, wie Deine Augen wären, und ich sagte, blau und auch grün und mit goldenen Tupfen. Und das Haar? Wie die Mähne von Rottraut, sage ich, — das ist mein kleines Pferd, ein Hellfuchs, aber Du würdest sagen, ein Brauner. Ach, du lieber Gott! seufzte er da nur wieder, mit dem Ton auf lieber, weißt Du! — — —

Ich will geduldig sein, Renate. Ja, das kann ich Dir versprechen, wie ich es Maler Bogner heut versprochen habe. Sein Bild von der Herzogin ist nun fertig. Als ich heut nachmittag in den Saal kam, wo er malt, um etwas Harmonium zu spielen — das mag er gern —, hatte er keinen Kittel an, und die Malsachen lagen alle so sauber und in feierlicher Ordnung wie heilige Geräte, mir aber gab er einen in rote Farbe getauchten Pinsel in die Hand und befahl mir ganz ernst, unten in die rechte Ecke, wo schon ein rotes Datum stand, ein Rad hinzumalen, das heißt, einen kleinen Kreis mit vier Speichen, was ich mit Herzklopfen tat, und er erklärte mir, das wäre sein Zeichen, eigentlich zwei B mit dem Rücken gegeneinander, ich aber dachte an das Rad im Angelus Silesius und sagte ihm den Vers:

Nichts ist, was dich bewegt, du selber bist das Rad,

Das aus sich selbsten läuft und keine Ruhe hat.

Und er sagte, das wäre ein guter Spruch, und ich sollte ihn beherzigen. Ich will doch versuchen, Dir das Bild zu beschreiben, denn es hat mich so — ich weiß nicht, eben wollte ich ‚erschreckt‘ schreiben, aber es war fast: enttäuscht. Denke Dir ein ganz gelbes Bild, lauter Gelb, auch Braun und bräunliches Gelb, und denke Dir ein sehr breites Fenster, das niedrig scheint, weil der obere Rahmen nicht sichtbar ist; in der Mitte steht eine Säule aus gelbem Stein, und die Fensterbank ist auch dunkelgelb. Draußen sieht man ein Stück unseres Parkes, wie vom Fenster des Saales aus, hellgelbe Herbstwiesen und rotgelbe Bäume wie die verdorrten Eichenblätter im November und schweren, graugelben Himmel, und nun erst auf einmal sieht man den Kopf der Herzogin, der in der rechten Hälfte des Bildes dicht über der Fensterbank ist — als wenn das Fenster hoch in der Wand säße, und es scheint, als wäre sie plötzlich von der Seite ganz still herangetreten, um hinauszusehn, so daß man nur das dunkelbraune Haar und den Hauch vom Profil und ein Auge sieht, und ihr Kopf ist so groß und fremd geformt, und doch alles von so wunderbarer Ähnlichkeit, daß ich wohl deshalb so erschrocken bin. In der andern Fensterhälfte steht noch ein Blumentopf mit Goldlack; der ist so schön, daß man gar nicht wegsehn mag, wenn man ihn erst entdeckt hat.

O, und es ist ein solches Schweigen in dem Bild, solche Totenstille, obgleich jedes Einzelne so lebt und atmet, als wäre niemals eine Bewegung dort, kein Luftzug im Park, kein Windhauch an den samtenen Blättern vom Goldlack; als käme nie ein Mensch dorthin, als könnte nichts diese grenzenlose Einsamkeit stören, in die sie hineingetreten ist, die nun nie wieder zurück kann. Keine Zeit ist da, auch kein Licht, das wir kennen, es kommt aus den Dingen selbst wie auf ganz alten Bildern. Den ganzen Nachmittag habe ich davorgesessen und kaum noch gewußt, daß ich lebe.

Bogner war fortgegangen. Später hörte ich ihn wieder hinter mich treten und sah, daß er sein Skizzenbuch in der Hand hatte. Dann mußte ich eine halbe Stunde still sitzen, und er ging um mich herum und zeichnete mich von allen Seiten. Ich war recht ärgerlich, denn er sah so abgefallen aus, und nun wollte er womöglich schon wieder was Neues anfangen, als ich ihm aber etwas sagte, hörte er gar nichts. Hinterdrein stellte ich ihn dann, aber er meinte nur, das wäre so eine Angewohnheit, wenn etwas fertig wäre, gleich einen Grund für ein Neues zu legen. Es würde einem ja angst und bange, setzte er mit einem Blick nach dem Bilde hinzu, wie so etwas fertig und immer nichts als fertig wäre, das sollte der Teufel aushalten. Da schien mir auch das Bild auf einmal ungeheuer ernst und ganz drohend, und ich kann mir wohl denken, daß es schwer zu ertragen sein muß, so etwas gemacht zu haben.

Und nun denke Dir, von meinem Gesicht hatte er eine Unmenge Zeichnungen gemacht, manche so zart wie die Linien einer Meereswelle im Schlick, die flüchtigsten Neigungen und Verkürzungen, und andres wieder so hart und übertrieben, fast wie Karikatur; ein Stück Nase hier mit der Augenbraue daran so deutlich, daß ich vor mir selber erschrak, als wäre es aus meinem Gesicht fortgenommen, und dann wieder nur ein Ausdruck an einem ganz fremden Mund, von dem ich nie etwas gewußt habe ...

O Renate, Renate, was ist das mit der Kunst, ist sie wirklich so entsetzlich? Haben wir nicht auch etwas davon zu verstehn geglaubt mit unserm bißchen Zeichnen und Aquarellieren? Und dann erst die Menschen, die von den größten Dingen so reden, als ob sie sich von selbst verstünden, wie Papa, der bloß fragte — freilich war Bogner nicht dabei —, was denn wohl der Blumentopf da sollte, und warum man die Herzogin von hinten sähe, und der Kopf wäre ganz verzeichnet. Ach, und da greift solch ein Mensch in die Herzen hinein wie in Staub und macht wie der liebe Gott mit etwas Wasser ein Ding daraus, daß man sich nicht zu fassen weiß. Wie kommt er dazu, sage mirs nur, wie kommt er dazu, von mir solche Dinge zu wissen, und wo nimmt er denn nur das Recht her, dies alles von einem abzunehmen und hinzulegen wie — wie eine Apfelschale? Das ganze Schicksal, und ich glaube, er kennt die Kindheit der Herzogin wie seine eigne.

Ich aber komme mir doch wieder recht beschützt vor in seiner Nähe, denn er selber ist einfach, groß und stark, und ich muß dran denken, wie ich als Kind, wenn ich so allein war, mir nichts Schöneres vorstellen konnte, als beim fürchterlichsten Regenwetter in dem Schilderhaus gegenüber zu stehn und nur durch das kleine Guckloch zu sehn, wie der große Posten draußen auf und nieder ging, Gewehr über und den Mantelkragen hoch geschlagen.

Gute Nacht! Dank für Irenes Geschichte, schreibe mir ja, was weiter aus ihr wird. Und grüße Deinen Onkel!

Deine Magda

Renate an Magda

am 15. Oktober

Liebstes Herz,

das hat mich sonderbar betroffen, was Du da von Deinem Maler, dem Bilde und von der Kunst geschrieben hast, und nun ist mir auf einmal die Bedeutung dieser unheimlichen Kälte aufgegangen, mit der C. F. Meyers seltsames Gedicht „Nach einem Niederländer“ schließt. Hier hab ichs, erinnerst Du Dich? Zu einem holländischen Maler kommt ein Junker mit seiner geputzten Tochter, um sie malen zu lassen. Der Meister malt gerade „ein kleines zartes Bild“, und so schließt das Gedicht:

Sie treten lustig vor die Staffelei:

Auf einem blanken Kissen schlummernd liegt

Ein feiner Mädchenkopf. Der Meister setzt

Des Blumenkranzes tiefste Knospe noch

Auf die verblichne Stirn mit leichter Hand.

— „Nach der Natur?“ — „Nach der Natur. Mein Kind. Gestern beerdigt. Herr, ich bin zu Dienst.“

‚Mit leichter Hand ...‘ Ja, begreifst Du nun schon, weshalb Du so erschrocken bist vor dem Bilde der Herzogin? Das war das Mitleidlose. Das wars, daß Du einmal gesehn hast: der Mensch — im Dichter oder Künstler — mag schaudern vor dem, was er darzustellen hat, ob es nun fremdes oder eignes Leid sein mag; der Künstler bleibt ungerührt, der kennt kein Mitleid, der ist herzlos, der malt „mit leichter Hand“. Sonst sehn wir ja immer nur das Kunstwerk und nicht die Lebenswurzel, aus der es kam; nun spürtest Du einmal den sichern Griff der Hand, die ein Unbekanntes aus Deinem eigenen Antlitz nahm, — o nein, darüber sollten wir nicht erschrecken, sondern schön ist es, rein und wunderbar, weil es diesen Sinn hat, daß es Dinge giebt, ja, daß der Mensch wie ein Gott Dinge machen kann, die so voll Unschuld und Unwissenheit sind wie der Baum, der aus einem Grabe wächst, wie der Vogel, der im Baume singt. Ach, woher denn sonst diese Magie unsrer Musik, die uns nimmt und wegführt, ganz fort, von allem fort, weit hinaus über Frohsinn und Traurigkeit, über Gut und über Böse in ein Unschuldsland, wo das Herz allein glücklich ist. Wir können uns erlösen, siehst Du, wir können es, denn wir können — ach, braucht es denn immer Kunst zu sein? — wir können reine Taten tun, die von nichts wissen, vom Schicksal, vom Blut, vom Schmerz nichts wissen, und dies sind wohl die ewigen Gebete, die bis in Gottes Herz gelangen und ihm immer wieder sagen, daß wir Menschen es doch wert sind, daß er uns gemacht hat.

Nun ist tiefer Herbst; ein goldener Tag. Ich sitze am offenen Fenster, manchmal dreht ein kleiner Lufthauch die Blätter des aufgeschlagenen Buches um, draußen im Garten sind alle jubelnden Farben versammelt, mir ist so wohl, ich wünschte von ganzem Herzen, Dir abgeben zu können! Nun, wenigstens kann ich Dir so lange schreiben, wie ich will, und da ich nicht immer schön weise Reden halten kann, will ich Dir ein bißchen was erzählen.

Da bin ich gestern nachmittag in einem Jungmädchentee gewesen, und es war nicht besonders, bis ein Menschenkind sich an das Klavier setzte, das ich schon vorher heimlich beobachtet hatte, denn sie hatte Haltung und eine äußerst liebliche Sicherheit, hatte wundervolles, dunkelrotes Haar, porzellanene Haut und die kräftigsten Brauen. Setzt sich hin und spielt die Aquarellen von Gade, Gott bewahre uns! Und wie hat sie gespielt! Wie ein Dämon. Nicht etwa „seelenvoll“, oder mit dem, was man so „Temperament“ nennt, sondern einfach mit einer unerhörten Rhythmik, die mich geradeswegs zittern machte. Dann das erste Präludium von Chopin, — wie ein Wassersturz. Hinterher sollte ich spielen, wagte aber natürlich nicht, die Tasten anzurühren. Und denke Dir, wie wir aufbrechen, kommt sie zu mir und fragt, ob wir nicht zusammen gehn wollten. Nun muß ich erst noch sagen, daß sie Ulrika Tregiorni heißt, das heißt, eigentlich heißt sie wie ihr Mann — ich hätte geschworen, sie sei unverheiratet — nämlich Hoeck, aber da sie sich beim Auftreten — sie ist Pianistin — mit beiden Namen nennt, so lassen ihre Bekannten meist den „Höcker“ fallen, wie mir die Mädchen sagten. Lange spielt sie übrigens noch nicht öffentlich, sonst würde ich sie ja auch kennen.

Nun, wir kamen denn bald vom Hundertsten ins Tausendste. Sie sagte mir einfach, sie hätte von meiner Orgel gehört, und nun werde ich ihr heut nachmittag vorspielen (auf der Orgel hab ich ja Mut!). Vielleicht arbeiten wir dann miteinander und lehren uns alle Geheimnisse. Kannst Du Dir denken, wie ich mich freue?

Nun was Romantisches!

Ich steh mit dem Gärtner heut früh im Vorgarten, da kommt eine Droschke, hält, heraus steigt ein Riese mit einem weißen Turban als Kopf, dahinter mein Vetter Josef. Wer ist der Riese? Mein Vetter Erasmus. Und der Turban ist ein Verband; ein Auge zwinkert grad heraus, selbst das völlig verschwollen! Gott bewahre mich! Josef hinter seinem Rücken will sich totlachen. Ich, brennend vor Neubegier, will ihn ausfragen, da tut er entsetzlich geheimnisvoll: das könnte er mir nur in seinem Zimmer erzählen, — also was halfs? Ich mußte mit hinauf — hatt es ihm auch schon lange versprochen — und nun gehts nicht anders, nun mußt Du erst die Beschreibung hören.

Stelle Dir vor, Du öffnest die oberste Tür in einem Treppenhaus und siehst Dich einem großen, gotischen Fenster gegenüber, das entfernt von Dir steht, und das eine einzige, spitzgewölbte Fläche von unbeschreiblich milde leuchtendem, grünlichem Glase ist, in kleine, quadratische Felder geteilt und vom Fußboden bis nahe unter die Decke steigend. Ja, da stehst Du und staunst. — Das Zimmer nun liegt der Länge nach vor Dir, das Fenster steht in einem Erker: es scheint dämmrig, obwohl es in Wirklichkeit, wenigstens an lichten Tagen wie heute, schön hell ist, und da siehst Du in Deiner Nähe eine Vitrine, angefüllt mit den köstlichsten Porzellanen, und an den langen Wänden links und rechts sind Büchergestelle mit grünseidenen Vorhängen, die bis zu Schulterhöhe etwa emporreichen, und einen Fußbreit darüber hängen nebeneinander viele japanische Holzschnitte, uralte, von den erlesensten Tönungen. Ein großer, niedriger Tisch, rund und mit grüner, langzipfeliger Decke steht noch im Zimmer, ein paar tiefe Sessel darum und im Erker ein Lehnstuhl mit hoher und steifer Rückwand, grau bespannt voll Silberstickerei. Dahinein darfst Du Dich setzen und eins von den kleinen Quadraten in der schönen Fensterwiese aufmachen, dann siehst Du weit ins Land hinein, siehst weit hinten die Stadt mit Kuppel und Türmen in ihrem Rauch, siehst unten die großen Wiesenflächen und den Bahndamm und den ganzen, großen Herbsthimmel mit allen Wolken!

Du magst aber gehn oder stehn im Zimmer, wo Du willst, immer ist das unsagbare Grün, diese weite Fläche im gotischen Rahmen um Dich her, als wärest Du in einer Wolke, und wenn Du längst wieder draußen bist unter den gewöhnlichen Dingen, merkst Du es plötzlich an Deinen Augen und mußt mit der Hand darüber fahren, und es kommt Dir vor, als wäre alles milder geworden.

Das ist dieser Josef ... Nun aber höre Erasmus dagegen — das heißt, ich muß ganz von vorn anfangen.

Ein paar Meilen von hier wohnt auf ihrem Gute die steinalte Frau Rüdiger nebst ihrer Adoptivtochter Virgo. Onkel Augustin steht mit ihr in Verbindung wegen ihrer Rosenzucht, und wir sind einmal hingefahren. Der Gutshof ist ein schönes, altes Schloß, und sie kam uns in der Torfahrt entgegen, völlig unkenntlich freilich, denn sie trug Kniehosen, einen Jägerrock, uralt wie sie selber — klein aber sehnig — ein grünes Hütlein auf dem Kopf und rauchte eine kleine Pfeife. In ihrem Wesen war von alledem nun keine Spur, sie war eine richtige alte Frau, hat aber ihr Leben lang die eigentümlichsten Marotten gepflegt, wovon die eigentümlichste wohl die sein dürfte, daß sie Waisenkinder aufzog, und zwar nicht bloß so gewöhnliche, sondern gewissermaßen exquisite, nämlich Kinder von Verbrechern, Trunkenbolden, Hingerichteten und Gottwasweißich. Das letzte Kind war Ulla Steinbrech, die wurde selber umgebracht, denn sie war mannstoll, kriegte mit sechzehn Jahren ein Kind, ihre Pflegemutter zwang sie, dessen Vater zu heiraten, da gab sie ihm ein schleichendes Gift, und die Pflegemutter bestand darauf: sie mußte auf das Schafott. Ja, so war sie, nun ist sie sanfter geworden, die alte Rüdiger. Ihr jetziges Kind, die kleine Virgo, ist ein kleines, zartes Wesen von achtzehn Jahren mit den allergrößten schwarzen Augen und einem schwarzen Tituskopf, denn die alte Rüdiger kann lange Haare nicht leiden.

Nun aber hat sie sich — Virgo — vor einiger Zeit in einen Studenten, einen Italiener, einen Conte oder Marchese, verliebt (italienischer Adel, sagt Josef, wäre ‚mau‘!), aber wie er ihre Pflegemutter um ihre Hand bittet, so sagt sie, es wäre ein Irrtum, daß sie Virgo adoptiert hätte, und sie bekäme dreitausend Mark im Jahr; worauf der Conte hinging und die Kleine zu einer Entführung überredete, aber wie sie in tiefer Nacht die Treppe zum Bahnsteig hinaufgehn, so kommt ihnen Virgos Bruder entgegen, gerade aus dem Vlissinger Schnellzug von Irland her.

Nun dieser Bruder, der hat auch seine Geschichte. Gestern brachte ihn der Erasmus, dessen Schulkamerad er ist, zum Mittagessen mit. Er erschreckte mich ein wenig, denn er ist ganz schwarz, hat eine fleischige Nase unter schweren schwarzen Brauen und eine merkwürdig schlanke und breitschultrige Figur; bald sah ich dann die tiefe Gutheit seiner Augen, und daß er einen schönen Mund mit schwingenden Rednerlippen und ein noch schöneres Kinn hat — Du weißt vielleicht, wie selten bei Männern ein gutes Kinn ist —, ein rundes, sorgfältig gedrehtes, und er ist eitel genug, sich eine schwarze Bartfräse darunter um den Hals zu hängen, was ihn merkwürdig verfinstert. Er ist mit zwölf Jahren dem Waisenhaus entsprungen, auf ein Schiff gegangen, später mit etwas Geld aus Amerika wiedergekommen, irgendwo in der Lehre gewesen, hat gleichzeitig Sprachen und Mathematik und was sonst nötig war, gelernt, um in die Sekunda des Gymnasiums zu gelangen, worauf sich wohl Erasmus’ Vater seiner angenommen hat. Nun ist er nationalökonomischer Doktor, Volksredner, Sozialdemokrat und will in den Reichstag. O, tüchtig, tüchtig!

Die alte Rüdiger liebt ihn nicht, und er darf seine Schwester nur selten sehn. — Nimmt sie also bei der Hand und will sie schön nach Hause bringen, da springt der Conte dazwischen, und — wie Josef es ausdrückte — nachdem Klemens — so heißt er — ihn wieder aufgehoben hatte, gab es eine Forderung. Heute morgen sind sie mit Säbeln aufeinander losgegangen.

Das folgende ist nun schwierig zu erklären. Du weißt, daß bei Duellen Sekundanten gebraucht werden, deren Obliegenheiten mir dunkel sind, aber Josef hat mir erklärt, daß es bei studentischen Duellen möglich ist, daß die Sekundanten sich gegenseitig erzürnen und beleidigen, und daß es ein neues Duell zwischen ihnen giebt, das schnurstracks ausgefochten werden muß. Ach, weißt Du, Kindlein, das Ganze erinnert mich so herzlich an meinen guten Neger, hab ich Dir das mal erzählt? Wie ich in Genua auf der Kaimauer saß und aquarellierte und eine ungeheure Volksmenge sich um mich versammelte, vermutlich weil ich so weiß in Schleiern und blond war? Und wie sie zudringlich wurden, und plötzlich ein ungeheurer Mohr seine Jacke auszieht und auf die Erde wirft, sich die blauen Hemdärmel aufstreift und im schauderhaftesten Italienisch erklärt, daß es eine Schande wäre, eine Lady derartig zu behandeln, und dann anfängt zu boxen, daß es gräßlich anzusehn war? Ja, daran erinnerte mich der Erasmus, denn er war der Sekundant seines Freundes Klemens, und er und der Andre, sagt Josef, wären aufeinander losgegangen wie die Teufel. O Männer, o Männer!

Nun lebe wohl, Herz, ich hab mich ganz lahm geschrieben, hoffentlich bringt all der Unsinn Dich ein klein wenig zum Lachen. Lebe tausendmal wohl! In inniger Liebe Deine

Renate

P. S. Der Brief blieb versehentlich liegen; nun muß ich ihn doch noch einmal öffnen, um meiner Begeisterung für Ulrika Tregiorni die Zügel schießen zu lassen, die eben wieder gegangen ist. Sie hat mir eine Klavierbearbeitung der Violinchiaconna von Busoni mitgebracht (viel schöner als die von Brahms!) und vorgespielt, daß es mich einfach hinweggefegt hat. Dann kam meine Orgel, und Gott sei Dank, ein klein wenig ist sie auch weg gewesen, und so wetteiferten wir denn. Zwischendurch hatten wir die herrlichsten Gespräche, von Bruckner, den ich nicht kenne, von Bach und Beethoven, den sie immer nur den Nabob nennt. Das paßt auch vortrefflich, und Du hättest sie hören müssen, wie sie das erklärte, wie Beethoven eine solche Üppigkeit sei, gewaltige Weinberge, beladen mit ungeheuren und süßen Dingen wie mit riesigen Trauben, allein — denke Dir, sie gab im Herzensgrunde Bach den Vorzug, allerdings wohl nur aus Egoismus, weil Beethoven kein Klavierkomponist war. Du wirst sie bald kennenlernen müssen. Dann wirst Du eher wissen, als ich, warum sie ein Mädchen ist und keine Frau.

Und nun adieu!

Magda an Renate

24. Oktober

Es war nichts, Herz! Ja, ich bin lustig gewesen, ich habe sogar viel mehr über Deinen lieben Brief gelacht, als mir selber begreiflich war, das rächt sich nun, und mir ist wieder elend. Bogner gehts auch schlecht, er sitzt stundenlang vor seinem Bild und raucht und sagt, es wäre die größte Schande seines Lebens, und er verstünde nicht, wie er das jemals wieder gutmachen sollte. Und wie glücklich könnte er sein, er, der doch immerfort sein Leben in Werke umsetzt, der wie kein Mensch sonst sieht, daß er etwas gemacht, daß sein Tag nicht umsonst war, nicht umsonst die Schlaflosigkeit der Nächte, und Essen und Trinken und Sichanziehn, alles nicht umsonst, weil etwas da ist, das er gemacht hat. Wir gleiten so dahin, verbrauchen das Heute, um uns Kleider für morgen zu machen, und die Stunden fallen uns nur so aus der Uhr, — kling — klang, wieder eine abgelaufen.

Dann hat mir auch der arme Jason wieder einen Schrecken eingejagt. Er schien ja wieder ganz wohlauf zu sein, nur sprach er kein Wort und ging gebückt umher, die Hände in den Taschen, und schien eigentlich nichts zu sehn. Dann merkte ich, daß er immer vor sich hinmurmelt, und heut abend — jetzt ist es Nacht —, wie Vater und Bogner und ich bei der Lampe sitzen und lesen, fängt auf einmal seine Stimme im Schatten an, und er sagt ein wundervolles Gedicht, das ich leider vergessen habe. Nach einer kleinen Pause fängt er ein andres an, und dann hört er nicht wieder auf, und es war wohl eigentlich wunderbar, er sprach nur leise, aber mit solchem Ausdruck, daß die Worte leuchteten wie Früchte und Blumen, und dann wars der sanfteste Regen, und dann warens auf einmal nur noch Worte, und es ging immer geschwinder, atemlos, unaufhörlich, ganz monoton, wie ein Uhrwerk, bis Bogner endlich aufstand, zu ihm trat, ihm die Hand auf die Schulter legte und ganz ruhig sagte: Nun ists genug. — Da wagte ich erst, zu ihm hinzusehn, und er saß da, in sich versunken, aber sein bleiches Gesicht war mit einer solchen Verzweiflung, solcher Sterbensmüdigkeit und auch mit solch kindlicher Ratlosigkeit zu Bogner emporgedreht, als ob der alles wüßte und gleich helfen könnte, — o, es war schaurig! Da sagte Bogner, er sollte ihm nun einmal ruhig erzählen, was ihm eigentlich fehlte, und er blickte ihn auch ganz gehorsam an und sagte: Das Gedächtnis, nur das Gedächtnis. — Was denn damit sei? — Ja, sagte er, es hat alles gefressen. — Ach, Renate, es ist zum Weinen, wie kindisch er das alles vorbrachte!

später

Er sagte, er sei als kleiner Knabe einmal auf den Kopf gefallen, und daher sei es wohl gekommen, daß er alles, was er lese, behalten müßte, und was er zweimal gelesen hätte, das würde er nie mehr los. O, sagte er wieder etwas muntrer, ihr müßt nicht denken, daß dieses nicht auch seine Vorzüge hatte, nichts auf der Welt ist ohne Vorzüge, und ich zum Beispiel, ich spreche alle Sprachen der Welt. Ich habe sie alle auswendig gelernt. Und er erklärte uns das, und sagte auch, er habe ja den eigentlichen Schaden erst nach Jahren bemerkt, wie das immer so gehe, wie auch mit Kindern, die alle erst herrlich gefunden würden, und später taugten sie gar nichts. Aber erst, wie er schon fast erwachsen gewesen sei — ja, denke Dir, er ist schon über dreißig und sieht kaum wie zwanzig aus — habe es sich zu einer richtigen Krankheit entwickelt, einem Katarrh, einer Cholera, und erst in Zwischenräumen von Monaten, dann immer häufiger habe er Anfälle, die manchmal wochenlang dauerten, da gefalle es dieser Charybdis von Gedächtnis, alles Eingesogene wieder auszuströmen, und damit verfahre es ja nun ganz methodisch, indem es sich immer in gewissen Grenzen halte, mit kleinen, niedlichen Variationen, und wenns einmal Gedichte wären, so wärens ein andermal Dramen, auch halte es sich streng an die Sprachen und verwechsele Englisch niemals mit Finnisch, obgleich eins so greulich wäre wie das andre. O, stöhnte er dann laut, wenn doch endlich, endlich einer käme, der mir mit einem einzigen Beilhieb diesen Schädel entzweispaltet wie eine Nuß, daß ich das Ganze herausnehmen und zerquetschen kann, — aber — und da fiel er wieder zusammen — ihr habts ja nicht gewollt.

Ja, da bin ich freilich auch zusammengefallen und konnte nur noch in mein Zimmer hinaufgehn und mich aufs Bett legen.

Ich, Renate, ich, ich bin es doch gewesen, die ihn zweimal verhindert hat, sich zu erlösen, ich, in meinem Unverstand, ich habs nicht zugelassen, daß er sich ausruhn dürfte, und nun sage mir, ja, sage mir, wenn Dus weißt, wie ich das jemals wieder gutmachen soll!

Magda

Renate an Magda

Am 24. Oktober

Auf einmal, wie ich vor der Orgel sitze, sehe ich im kleinen Spiegel über mir, daß Irene mitten in der Kapelle steht. Ich breche ab, frage: Irene? Ist er wieder gesund? — Sie steht da, hat die Augen niedergeschlagen und lacht. Dann wird sie nachdenklich und sagt: Die Wege des Himmels sind außerordentlich ... Und lacht wieder. Ich ahne sonderbare Dinge und herrsche sie an: Steh Rede, Irene! — Was meinst du, fragt sie da mit tödlichem Ernst, ob ich ihn wohl heiraten soll? — Wie kann ich das wissen, Irene, du mußt doch wissen, ob du es willst! — Ja, ich will wohl, sagt sie, wenn das genügt, er will auch. — —

Ja, ja, Magdachen, die Wege des Himmels sind außerordentlich ...

Wobei mir einfällt, daß ich ganz vergessen habe, Dir von einem Freunde zu schreiben, ja, Freunde, kann ich wohl sagen, obwohl wir uns erst drei Tage kennen. Du siehst, er ist mir schon so gewohnt, daß ich vergaß, Dir von ihm zu erzählen. Wie er aussieht? — Er wird dreißig Jahre alt sein, ist ziemlich groß, aber mager, Kopf und Gesicht sind klein, aber zart, zart auch das blonde Haar und die Nase, die im Profil mit Stirne und Kinn eine schräge Linie bildet, und die hellblauen Augen sitzen ein wenig flach und sind länglich geschnitten. All das, mit der hohen Kopfform, ist ein wenig fremdartig, wie von einem mir unbekannten Volke. Der Ausdruck ist sehr ernst, sein Gehaben still, seltsam innig sein Lächeln. Ja, so sieht er wohl aus. Im Konzert blickte er mich vom weiten an, ganz ruhig, anders als die andern Menschen, und hinterher kam er, verbeugte sich und sagte irgend etwas wie: Er hätte das Gefühl, als ob er mir dienen könne, oder so. Womit aber? fragte ich, doch einigermaßen verwundert, worauf er mir freundlich meine Garderobemarke aus der Hand nahm und sagte: Augenblicklich wohl dadurch, daß ich Ihren Mantel hole. — So hatten wir uns kennengelernt. Auf dem Wege zu meinem Wagen waren wir schon so in ein musikalisches Gespräch vertieft, daß ich den Wagen wegschickte und den ganzen Weg nach Hause — gut dreiviertel Stunden — mit ihm zu Fuß durch die Nacht ging und nachher noch eine halbe Stunde vor dem Hause auf und ab, und dann hat er noch bei mir Tee getrunken. Möglicherweise ist es mein verstorbener kleiner Bruder Albrecht. Er spielt Geige, aber sein Beruf ist das nicht. Übrigens weiß ich nicht einmal, ob er einen Beruf hat; er bemerkte nur einmal gelegentlich, er beschäftige sich mit Geschichte. — — Ja — so: er heißt Saint-Georges. Den Vornamen weiß ich nicht, und es machte sich schon so, daß ich ihn Georges nannte.

Am 26.

Dies schrieb ich vorgestern, nun ist Dein Brief da, und ich weiß nicht, was ich sagen soll. Wenn ich denken müßte, wenn ich fürchten müßte, daß die Dunkelheit jener Stunde, in der Du mir schriebst, anhalten sollte, so hielt ichs nicht aus vor Angst. Ich bitte Dich, schreibe mir gleich ein paar Zeilen, ob es so ist, dann komme ich sofort, es muß gehn, was nützt Schreiben! Ich muß bei Dir sein, und wenn ich Dir selbst nicht helfen könnte, so wüßte ich doch, daß Du nicht allein bist. Ich bitte Dich, schreib! In Liebe und Sorge

Renate

Viertes Kapitel: November

Magda an Renate

4. November

Was soll ich schreiben? Deine Briefe lese ich oft, das ist so gut, als wärest Du bei mir. Du bist glücklich und heiter unter lieben Menschen, was solltest Du hier? Man muß doch mit allem allein fertig werden.

Mit mir will es nicht so recht vorwärts. Der Herbst fröstelt mich so. Des Nachts wache ich oft auf und gehe ans Fenster. Es ist windig und ganz schwarz draußen, ich weiß, daß draußen alles voll Trümmer liegt. Dahinter steht das schwere Tosen der See, manchmal glimmen Sterne und erlöschen schrecklich jäh. Dann rauscht der Regen, endlos. Ich mache Licht, liege, denke. Manchmal, halb im Traum, scheint mein kleines, erleuchtetes Zimmer mir die Kajüte von einem großen Meerschiff, das unendlich fern von euch durch die schwere, nächtliche See stürzt. Manchmal sehe ich schreckliche Dinge und kann doch die Augen nicht abwenden. Ich sehe einen Menschen, der langsam in einen Sumpf versinkt. Alles ist meilenweit mit Nebel bedeckt, tödliche Öde, und er sinkt und sinkt, und ich sehe zuletzt nur noch einen Arm, der um Hülfe flehend gräßlich herausragt. Ach, so versinkt mir jeder Tag, und es giebt keine Hülfe. Und dann diese Nächte, dies verzweifelte, dumpfe Stöhnen der Natur, die ohn Unterlaß den entsetzlichen Kampf kämpft bis gegen Morgen, die ganze, schwere, verworrene Nacht. Dann weiß ich: der Tag wars, der sich daraus hervorgerungen hat. Da liegt er nun halb entseelt, sterbensmüde und hat zerbrochene Augen.

Wunderst Du Dich, daß ich dies so verstehe? Mich wunderts selbst, denn früher kannte ich die Natur ja nicht. Sie war etwas Liebes, Schönes, zum Drinherumgehn und sich Freuen. Nun ist mir alles so furchtbar verwandt geworden, und was ihr geschieht, fühl ich am eigenen Leibe.

Jason schleicht hinter Bogner her den ganzen Tag und erzählt ihm auf Schritt und Tritt. Einmal mußte ich so lachen, es kam mir so vor — der überlaufende Jason hinter Bogner — wie der aufgeschnittene Hirsebeutel in Andersens Märchen, den die Prinzessin um den Hals hat, als der große Hund sie zum Soldaten trägt. Haben wir nicht einmal Märchen gelesen? Das muß viele, viele Jahre her sein.

Abends sitzen wir alle zusammen und hören Jason zu. Vater und Bogner trinken ihren Grogk; ich sticke ein wenig. Ich glaube, ich werde den Winter lang durch die ganze Literatur kommen, Hebbels Dramen haben wir schon alle gehabt, jetzt hören wir Storm. Es geht seit einiger Zeit merkwürdig im Zickzack. Als er Frau Marie Grubbe kaum angefangen hatte, geriet er auf einmal ins Dänische, da mußte Bogner ihn abstellen, und auf einmal merkte ich, daß er in Aquis submersis war. Ich freu mich schon auf Keller, von dem ich nur das Sinngedicht kenne.

Alles nimmt mich so hin! Neulich war noch ein schöner Tag, so leicht und bläulich, daß ich mich gar nicht fürchtete vor aller Kahlheit. Da ging ich gegen Abend den Sandweg auf Lüdersens Deich gegen die Windmühle hinauf. Ach, wie mußte ich plötzlich stehenbleiben und nach den Birken sehn, an denen noch ganz wenig zitterndes Gold hing und tropfte; zwischen ihnen war der Himmel, aus reinem Purpur und ganz nah, und davor trieben leise, leise die goldenen Flocken herunter. Alle Schwere schien mir da fortgenommen, ich dachte, so müssen die Hände von Sterbenden sein, die schon erleichtert sind innerlich von der ganzen Leichtigkeit eines neuen Daseins. Ja, das war die letzte Zärtlichkeit des Jahres. Und wie ich da plötzlich den Weg vor mir steigen sah, grade in den leeren Abendhimmel hinein, als ob er jenseit des Hügels, anstatt hinabzusinken, schweben würde, — ach, wunschlos sein! riefs da in mir, so wunschlos dem Ende hingegeben! Ich breitete die Arme aus, als sollte es mich nun erfüllen mit Stille und Frieden und Dankbarkeit, — zu jedem Dienst wäre ich ja bereit gewesen!

Es kam natürlich nichts. Nur die Nacht.

Alles, alles, alles ist verändert. Was ewig stille zu stehn schien, das entgleitet mir nun leicht wie ein Kahn, — nein! Ich selber treibe mitten im Fließenden, tief drin, als sei ich schon unendlich weit hergekommen. Reifen würd ich, schriebst Du vor Ewigkeit; warum? wozu? Und wenn ichs täte — mir wäre es herzlich unwillkommen; hart scheint mirs und sehr, sehr verfrüht.

Dienstag

Heute morgen bin ich doch vor mir selber erschrocken. Mein Haar war mir so schwer geworden, ich wollte mich anders frisieren, da sehe ich plötzlich meinen Mund im Spiegel. Der war so heiß und so dunkel, ich mußte an eine Wunde denken, habe freilich noch keine gesehn. O wer hat mir die zugefügt? Kein Mensch, o nein! Solche Wunden sind ja nicht menschlich, es muß wohl das Leben selbst gewesen sein, weil es mich haßt; es hat mich ja längst aus seinem Gebiet gestoßen, und doch lebe ich noch immer. O, und ich schäme mich, unter die Andern zu gehn mit meinem Munde, mit dem Zeichen der Verstoßenen. Er sah so gierig aus. Mich graute.

Sonnabend

Wieder ein paar Tage hingebracht. Nein, Du sollst nicht kommen, auch Du wärst viel zu laut und schön; wo Du bist, ist Musik, wer möchte hier wohl tanzen? Sie müßten sich alle wundern. Jason ist mit Storm fertig, alles höre ich ja leider nicht, weil er auch tagsüber spricht, wenn ich zu tun habe, nun hören wir die Seldwyler, einen nach dem andern, es ist sehr lustig.

Auch Bogner geht es schlecht. Mein Bild kränkt ihn, an dem er nun malt, o ich weiß wohl, woher das kommt! Er will mich lebendig auf seiner Leinwand haben, und das soll ihm nicht gelingen. Ich sitze ihm fast jeden Tag ein paar Stunden, aber er malt fast gar nichts, nur der ganze Saal füllt sich allmählich mit Studien, ich weiß nicht, wann er die macht, fast denk ich, nachts im Dunkeln, er ist ja ein Zauberer. Er nimmt alles aus mir heraus, Stück für Stück. Möchte wissen, wie lange es noch dauert, bis ich leer bin. Ich fürchte, Jason mit seinen Geschichten füllt mich immer wieder ganz heimlich. Denn der sitzt immer dabei, redet und redet, manchmal lauter, manchmal leiser. Auch ist er nun oft verstört und gleitet von einem ins andre — schließlich giebt es ja kein Wort, das nicht auch wo anders stünde — und wir lassen ihn nun in Frieden.

Oft ist es in solchen Stunden doch ganz still. All das Leben, von dem Jason erzählt, braust in der Ferne wie Meeresbrandung, aber ich fühle wohl, daß ich irgendwie hinein verflochten bin, daß es auch mein Blut ist, das in diesen Menschen litt, und wenn ich recht darüber nachdenke, so erleichtert michs auch, Zusammenhang zu fühlen. Haben die Menschen früher nicht leidenschaftlicher gelebt? Und die Dichter, können sie dies alles erlebt haben? Ich glaube, ihnen erging es so wie mir, tiefer als Andre fühlen sie den Zusammenhang ihres Blutes mit allem andern; im eigenen Blut hören sie alle Stimmen, alles Schreien, alles Weinen, sehn das goldenste Lächeln und so schöne Landschaft, wie wir nie zu sehn bekommen, weil wir immer über uns hinwegsehn, nicht in unser Blut, wo alles erst wirklich wird. O, dann ist es süß, auf das Leben zu lauschen, wenn man draußen ist, es ist wie Weihnachten, wenn man durch die Ritze späht und sieht, wie drinnen die Lichter an zu brennen fangen.

Bald ist Weihnachten. Spitze Dich nicht auf ein Geschenk, gute Renate, ich hab eins angefangen, aber ich komme nicht vorwärts, und die Herzogin muß doch ihre Kleinigkeit haben wie jedes Jahr, und das geht wohl vor. Unsre Freunde können ja für uns darben.

Nun will ich diesen Brief doch abschicken, obwohl ich ihn eigentlich für mich allein geschrieben habe.

Und ich darbe. Schwesterlein, ich darbe, ich darbe sehr!

Deine Magda

Renate an Magda

12. November

Um Gottes willen, Kind, Kind, was ist das mit Dir! Ich habe wie eine Verzweifelte auf einen Brief gewartet, dann wurde ich ruhiger, nun dieser heute! Gott, weißt Du denn überhaupt, was Du schreibst? Und nun ist das Schrecklichste, daß ich selber mit Influenza daliege, schon seit vier Tagen, und acht kann es noch dauern. Könntest Du denn nicht kommen? Ich bitte Dich, komm zu mir, ich habe eine Angst um Dich, daß ich den ganzen Tag weine. Bitte, bitte, komm, Bogner kann Dich ja herbringen. Gieb um Gottes willen gleich Nachricht Deiner verzweifelten

Renate

Magda an Renate

15. November

Nein, Liebste, Du mußt nicht so in Sorge sein meinetwegen! Ich bin freilich krank geworden und hab mich ins Bett legen müssen, es spukte mir wohl schon in den Gliedern. Es ist aber nur ein Bronchialkatarrh und gar nicht gefährlich, und Du mußt nicht erschrecken, wenn ich Dich trotzdem bitte, diesen Zettel zu verbrennen, da es immerhin möglich ist, daß es Diphtheritis werden kann. Von Herzen Deine

Magda

Ferngespräch

Stimme hüben: Hier ist Fräulein von Montfort. Könnte ich wohl Fräulein Chalybäus sprechen?

Stimme drüben: Ja, unser Fräulein ist leider krank —

Hüben: Krank? Um Gottes willen, was fehlt ihr denn?

Drüben: Wie bitte?

Hüben: Was ist? Ich verstehe kein Wort! Was fehlt ihr?

Drüben: Ich weiß nicht, ich will —

Hüben: Rufen Sie doch bitte Herrn Chalybäus oder, — warten Sie! Sind Sie noch dort?

Drüben: Jawohl!

Hüben: Ist Herr Bogner vielleicht da?

Drüben: Ich will mal nachsehn.

(Lange Stille)

Drüben: Ja, hier ist Bogner.

Hüben: Hier ist Renate Montfort. Guten Tag, Herr Bogner!

Bogner: Guten Tag, gnädiges Fräulein. Ja, die kleine Magda hat sich leider hinlegen müssen. Sie schrieb Ihnen gestern einen Zettel. Es ist aber nicht bedenklich. Es ist nicht Diphthe—

Das Amt: Sprechen Sie noch?

Renate: Jawohl, ich spreche noch! Bitte, Herr Bogner, ich verstehe kein Wort! Was ist mit Magda?

Bogner: Nur Bronchitis! Es ist nicht bedenklich.

Renate: Ach Gott, es ist schon Unheil genug, daß sie überhaupt krank geworden ist, zu allem andern! Bitte, sagen Sie ihr doch tausend liebe Grüße von mir!

Bogner: Ich verstehe nicht ...

Renate: Grüßen! Vielmals grüßen! Sie wissen doch, wer ich bin?

Das Amt: Sprechen Sie noch?

Renate: Jawohl! Bitte, Fräulein, seien Sie so gut und unterbrechen Sie nicht fortwährend! Sind Sie noch dort?

Bogner: Jawohl! Und ich weiß genau, wer Sie sind!

Renate (nach einem Schweigen): Ich möchte noch — — Herr Bogner, ich werde, wenn meine Gesundheit es erlaubt, in einigen Tagen Ihre Mutter kennenlernen; in einer Gesellschaft.

Bogner: Wen? Ich kann nichts verstehn.

Renate: Ihre Mutter!

Bogner: So. Ja, bitte, grüßen Sie von mir!

Renate: Sonst darf ich ihr nichts ausrichten?

Bogner (nach einer kleinen Stille): Ja, bitte — wie meinen ...

Renate: Ich verstehe kein Wort.

Bogner: Ich verstehe Sie auch nicht, gnädiges Fräulein.

Renate: Ach, das ist abscheulich mit diesem Telephon! Also viele Grüße an Magda. Adieu!

Bogner: Wie bitte? — — — Sind Sie noch dort?

Das Amt: Sprechen Sie noch?

Stille

Ferngespräch II

Renate: Ist dort jemand?

Bogner: Hier ist Bogner. Guten Abend, gnä—

Renate: Herr Bogner? Das ist ja rätselhaft! Hier ist Renate Montfort.

Bogner: Rätselhaft? Ich finde gar nicht. Wenn ich nicht grade im Arbeitszimmer Chalybäus’ etwas im Konversationslexikon gesucht hätte, würde niemand das Telephon gehört haben.

Renate: Aber es war doch so sonderbar! Ich wollte Sie sprechen, und kaum daß ich das Amt um die Verbindung gebeten habe, kommt auch schon Ihre Stimme. Sie müssen wissen: Unser Gespräch am Montag hat mich schrecklich gewurmt. Es war eine unselige Art, unsre Bekanntschaft zu machen. Durch das Geschrei und die Zwischenfragen fortwährend kam ich mir ganz verzerrt vor; als müßten Sie mich in einem Hohlspiegel gesehn haben. Den ganzen Tag hat mich mein linkes Ohr geschmerzt, und immerzu hörte ich Sie: Ja, bitte — sagen. Kein Wort war zu verstehn. Warum geht es denn nun so herrlich?

Bogner: Sie riefen doch grade um die Börsenzeit an, wo alle Leitungen überladen sind. Jetzt, mitten in der Nacht, ist es natürlich still.

Renate: Mitten in der Nacht? Es ist kaum neun —

Das Amt: Drei Minuten! Ich breche —

Renate: Aber ich bitte Sie, Fräulein, Sie sollen durchaus nicht abbrechen, bis ich das Zeichen gebe! — — Sind Sie noch dort?

Bogner: Jawohl.

Renate: Wie schön beruhigend das heute klingt. Wir wollen unser Gespräch von neulich wieder gutmachen. Ich hätte Lust zu einem kleinen Nachtgespräch.

Bogner: Ich auch, wahrhaftig! Setzen wir uns!

Renate: Danke, ich sitze bereits. Sie stehen hoffentlich nicht an einer Wand?

Bogner: Nein, das war neulich, wo ich an den Nebenanschluß für die Dienstboten im Keller geriet. Jetzt sitze ich an einem vornehmen Schreibtisch. Und Sie?

Renate: Ich sitze auch am Schreibtisch. In meinem eignen Zimmer.

Bogner: Wie mag das wohl aussehn? Ich habe immer gern eine Vorstellung ...

Renate: Es hat ganz lichte Wände, und vor mir steht eine kleine Lampe mit gelber Stoffkuppel.

Bogner: Welch freundliche Erscheinung in der Nacht! Aber bitte, was ist ‚licht‘?

Renate: Also schilfgrün. Und kleine weiße Bilder, die Tänze von Hofmann, und auch Zeichnungen Ihres Namensvetters.

Bogner: Cellini? Der Schurke, da hat er Zeichnungen für Sie gemacht, und niemand weiß davon ...

Renate: Ach, Unsinn! Ich meine natürlich Genelli, Bonaventura! Ich verwechsele das immer. Aber nun berichten Sie mir erst von Magda! Am Telephon wird mir jeden Tag gesagt, es sei nicht schlimm ...

Bogner: Es ist auch so. Die Temperatur ist noch nie über achtunddreißig sieben oder acht gestiegen. Allerdings liegt sie ganz teilnahmslos.

Renate: Ach, es ist so schrecklich mit ihr! Wäre nur meine Influenza erst ganz vorbei! Sie wissen ja nicht, was in ihr vorgeht.

Bogner: Ich weiß, daß sie heftig erschüttert worden ist.

Renate: Sie mußtens wohl merken ... Ich wollte, Sie könnten ihre Briefe lesen. Sie selber hat an Ihren Studien erkannt, wie sehr Sie um ihr inneres Gesicht wissen. Auch das ist leider nicht gut für sie gewesen.

Bogner (nach einem Schweigen): Sie sollten das recht verstehn. Die Arbeit hat sonderbare Satzungen. Nun war das Gesicht der Kleinen jeden Tag ein andres. Das hat meinen Pinsel dermaßen erbittert, daß ich erst in diesen Tagen der Untätigkeit recht eingesehn habe, wie gewaltsam ihre Züge von innen heraus verändert worden sind.

Renate: Sie sind ein furchtbarer Mensch! Kennen Sie denn nun bloß körperliche, aber keine seelische Anatomie?

Bogner: Bisher malte ich nur Selbstporträte. Vor der seelischen Anatomie habe ich mich gehütet, seit ich einmal einen Menschen malen mußte, der im Sterben lag. Tatsächlich verhält es sich so, daß der innere seelische Aufbau sich in so klaren äußern Linien und Flächen absetzt, daß er nicht im entferntesten die Aufmerksamkeit beansprucht wie der körperliche. Die Seele geht immer unverhüllt. Wenige wissen es.

Renate: Könnte ich dann nur begreifen, woher Sie ein solches Wissen um die Menschen haben!

Bogner: Sollten Sie sich nicht täuschen? Sehende Augen sind eine Gabe, zusammenhanglos, und sind ein Gesetz, das man befolgt, widerspruchslos. Meine Augen kümmern sich nicht um meine Seele, gesetzt, ich besitze eine.

Renate: Ich hoffe doch ... (Nach einer Stille.) Es ist seltsam, wie wir unbekannte Menschen nun über die Meilen hin miteinander sprechen. Zwischen uns ist der Berg der Nacht; hier ist Schweigen, selten einmal rauscht der Nachtwind, und bei Ihnen ist das Meer.

Bogner: Wir würden, fürcht ich, weniger leichtherzig gegeneinander reden, wenn wir Auge in Auge stünden. Da wir unsichtbar sind wie zwei Götter, so halten wir uns auch für großmütig.

Renate: Sollte soviel Göttliches schon im Unsichtbaren liegen?

Bogner: Ja; im Unheimlichen. — Ich möchte Sie aber wirklich bitten, Magdas wegen keine Sorge zu haben. Im Gegenteil, meinetwegen kann diese Krankheit gar nicht schwer genug sein. Sie muß maßlos gegrübelt haben. Nun macht ihr Körper sie matt; es giebt eine Pause.

Renate: Maßlos gegrübelt, freilich! Und sich selbst beobachtet wie in einem Spiegel. Ich erinnere mich, daß sie einmal schrieb, sie habe über irgend etwas mehr gelacht, als sie selber habe begreifen können. Wer bemerkt so etwas — in ihrem Alter? Ich möchte Ihnen wirklich ihre Briefe schicken. Ich bin selber ganz ratlos, und zu Ihnen hat sie ein so rührendes Vertrauen ... Ich bin sicher, daß sie sich an Sie gewandt hätte, wenn nicht zufällig ich dagewesen wäre.

Bogner: Ich bin sehr ungewandt im Umgang mit Menschen. — — — Sprachen Sie meine Mutter?

Renate: Noch nicht — morgen.

Bogner: Mir schwant, Sie haben romantische Vorstellungen.

Renate: Vielleicht habe ich Vorstellungen, die Ihnen romantisch vorkommen mögen. Was wissen wir voneinander?

Bogner: Oho! Da muß ich sehr bitten! Ich kenne Ihre ganze Lebensbeschreibung.

Renate: Und ich die Ihre. Da kennen wir was Rechtes!

Bogner: Aber Sie haben Vorstellungen. Väterliche Verfluchung; fünfzehn Jahre; endliche Heimkehr ... Glauben Sie, daß ich verkleinern will?

Renate: Ich verstehe wohl: Sie wollen nur die Meinung — oder das Empfinden, einer Fremden abwehren, weil es — willkürlich ist.

Bogner: Ich habe nicht das Gefühl, als ob Sie sich aufdrängten ...

Renate: Ihre Mutter tut mir leid! Magda erzählte mir viel von Ihnen, da konnte Teilnahme nicht ausbleiben. Daß sie sich nun äußert, das bringt freilich ein völlig neues Moment hinein.

Bogner: Sind wir Feinde? Ich bin jedem guten Menschen gern zu Willen.

Renate (nach einem Schweigen): Was soll ich Ihrer Mutter sagen?

Bogner: Auch meine Mutter und ich sind keine Feinde.

Renate: Und Ihr Vater?

Bogner: Es kommt mir vor, als wäre ich nachts beim Schlafen an die Kette eines tiefen Brunneneimers angeschlossen, und nun muß ich ihn ganz heraufziehn. Er ist voll von eitel Gutherzigkeit.

Renate: Redensarten, Freund! Ich habe den Eindruck, an einen Starkstrom angeschlossen zu sein. Aber Sie schalten beständig Widerstände ein.

Bogner (nach einem Schweigen): Niemand war mehr im Recht als mein Vater vor fünfzehn Jahren. Er hatte einen struppigen, unmanierlichen, faulen und verlogenen Burschen vor sich und folgte seiner Pflicht, einen Bürger aus ihm zu machen. Dies nötigte mich, zu beweisen, daß er im Unrecht war gleichwohl. Nun hätte ich nach drei, nach fünf, nach zwölf Jahren zurückkommen können, und es wäre alles unverändert gewesen wie im ersten Jahr. Menschen sind nicht von Eisen, mein Vater hätte mir meinen Willen gelassen, aber ich hätte ihm nichts bewiesen. Wir haben verschiedene Wertmesser. Der meine ist das eingesetzte Leben und die Leistung vor — sagen wir vor Gott. Den seinen nennt er Bürgerwert und täglich Brot. Die Notwendigkeit, daß er leben muß, braucht er sich nicht zu beweisen, denn er hat Frau und Kinder; die Notwendigkeit meines Lebens kann ich ihm nicht beweisen, aber ich kann ihm zeigen, daß ich zu essen habe. Wenn ich heute heimginge, würde mirs geschehen wie dem Leonhardt Hagebucher ...

Renate: In Abu Telfan?

Bogner: Als er eintrat, herrschte große Freude. Dann hieß es: Was bringst du mit? Wenn ich nichts bringe, werde ich vor dem alten Mann stehn, als wäre ich siebenzehn. Ich hätte nicht gelebt inzwischen. Keinen Aufstand gäbe es deshalb, ebensowenig wie es heute noch Groll in ihm und Trotz in mir giebt. Niemand ist von Eisen. Aber er würde recht behalten haben.

Renate: Sind Sie nicht schon ganz schön berühmt?

Bogner: Freilich! Ein kleiner Federhut von Zeitungspapier.

Renate: Sie Unwahrscheinlicher! Haben Sie nie an Ihre Mutter gedacht? Haben Sie denn nie Heimweh gehabt?

Bogner: Heimweh? Nein. Mit Müttern ist das wohl seltsam und nicht zu beantworten. Sie sind so selbstverständlich. Es fühlt sich an, als könnte man, seis wo es sei, jeden Augenblick in ihr Zimmer treten. Mit einer Mutter läßt sich nicht rechten. Begreifen Sie nicht, Kind, daß ich die ersten fünf — acht Jahre wie ohne Besinnung gewesen bin? Soll ich Ihnen von der barbarischen Wut eines Zwanzigjährigen erzählen, der Jahre und Jahre hingehn sieht, und der alte Mann ist noch immer im Recht? Doppelt im Recht, denn weder vor den Leuten gilt man was, noch vor sich selber. — — Die Nacht ist schweigsam und groß — soll ich zu Ihnen hinüberrufen, wie das ist, wenn man mit dem Engel ringt und er einem auf die Hüfte schlägt? Giebt es nicht bösere Dinge als Heimweh? Als die Wut verraucht, als es klarer, stiller geworden war, hatte ich das Heimweh verloren. Seitdem sitzt es in meinen Fingern und mischt sich in alle Farben. Sagen Sie meiner Mutter, ich käme im Frühjahr.

Renate (nach einer Stille leise): Warum im Frühjahr?

Bogner: Gute Bedrängerin, dann werden die drei Freskobilder fertig sein, die der Herzog wünscht. Sein Gegengeschenk bietet mir für den Rest meines Lebens —

Renate: Würde es nicht — — würde es nicht genügen, wenn ich Sie bäte, meine Orgelkapelle auszumalen? Und Onkel hat so viele Beziehungen, er würde Ihnen sicher eine Ausstellung ermöglichen ...

Bogner: Danke tausendmal! Ich fühle, daß Sie sehr gütig sind! Aber ich möchte nichts ausstellen. Auch früher gab ich nur hier und da einmal ein Bild her, damit meine Eltern vielleicht eine Kritik läsen. Bisher habe ich nur für mich allein gemalt. Die Fresken sind nun die Probe. Ich male sie auf die Wand, da läßt sich nichts abkratzen. Wenn ich sie gelten lassen kann, ist es gut. Eher hab ich keine Sicherheit in mir selbst und kein Recht, nach Hause zu gehn. Tun Ihnen die Ohren noch nicht weh?

Renate: Ja, das linke schmerzt mich schon ein wenig.

Bogner: Das linke? Sie hören mit dem linken? Wie nett! Da sind Sie wohl auch taub auf dem rechten?

Renate: Nein, Gott bewahre! Aber Sie? Dann haben Sie wohl doch ab und an mit dem rechten Ohr hergehört? — Also ich sage Ihrer Mutter —?

Bogner: Im Frühjahr.

Renate: Und viel Liebes für Magda! Ich schicke Ihnen ihre Briefe.

Bogner: Haben Sie auch Dank! Es war eine schöne Stunde. Gute Nacht!

Renate: Gute Nacht.

Stille.

Herzog Woldemar an Georg

Trassenberg am 15. November

Mein lieber Sohn!

Wenn ich heute mit meiner alten Gewohnheit — die beiläufig aufs Haar so alt ist wie Du — keine Briefe zu schreiben, breche, so geschieht das aus keinem bestimmten, sondern vielmehr aus jenem, von verschiedenen Grundlosigkeiten gebildeten Grunde, der in seiner Unbestimmtheit um so schwerer zu wiegen pflegt, bei kleinen Taten wie bei großen. Mehr Ärgernisse am Tage als üblich, die gewöhnliche Schlafunbedürftigkeit hinterdrein, der alte Mangel, nicht auf und ab laufen zu können, das Umherflattern ungefestigt bleibender Gedanken, überdies eine kleine Sonderursache, auf die ich gleich kommen werde, schließlich doch auch die unablässigen Gedanken und Besorgnisse um Dein Ergehen, die sich einmal verdichten und sich sagen lassen wollen, — Gründe genug, sich verführen zu lassen, und der letzte soll gelten!

Nicht, als ob Deinetwegen Befürchtungen gegenständlich geworden wären. Daß Du die verabredeten, wöchentlichen Kartenberichte an Mama so pünktlich innehieltest, ist ja keine Tatsache von Belang, sei aber immerhin lobend erwähnt. Mama läßt Dir fürs erste halbe Dutzend liebevoll danken, freut sich im übrigen auf Weihnachten und begeht wieder einmal ‚Advent!‘sonntage. — Mein Empfinden gegenüber der Nachricht auf einer Deiner Karten, daß Du im Schwabenkorps aktiv geworden bist, entsprach genau der von Dir gebrauchten Wendung: „Gegen Papas zwar nicht ausdrücklichen Wunsch — Du weißt, ich habe nach wie vor keine — aber doch inneres Widerstreben.“ Da Du so freundlich warst, mich zu erwähnen, so erlaube mir heute ein Wort zur Sache.

Der Betrieb im Korps ist mir ja aus zwei Studiensemestern bekannt, wo ich Konkneipant der Preußen in Bonn war, und er wird sich, da seit Jahrhunderten ziemlich ungewandelt, auch in den seither vergangenen zwanzig Jahren kaum verändert haben. Ich habe ferner im Leben unter ehemaligen Angehörigen des S.-C. ebensoviel Unleidliche und Brauchbare gefunden, wie sie im ganzen Daseinskreise verteilt zu sein pflegen. Im übrigen schien mir das Korps da zu sein: einerseits für die ganz Windigen, deren völlige Zerblasenheit zu verhindern mir das Korps immerhin imstande zu sein schien; andrerseits als Manierenanstalt für die aus irgendeinem Grunde unerzogen gebliebenen Söhne der Oberklassen. Bleiben noch die Vereinzelten, darunter jene, die sich gedrängt fühlen, leitende Stellen einzunehmen, anzuordnen, zu herrschen, und jene, denen das Korps heute noch bedeutet, was es ursprünglich war, nämlich Gelegenheit, kameradschaftlichen Anschluß zu finden. Im ganzen also eine Zuchtanstalt, in der wie in jeder andern der Begabte — mit Lebenskraft begabte — gut besteht, der Mittelmäßige sich durchdrückt, der Verlorene sich verliert.

So ist die Frage, aus welchem Grunde Du sie aufgesucht haben magst, wohl unausbleiblich. Vielleicht beantwortest Du sie mir gelegentlich mündlich; neugierig bin ich nicht. Setze deshalb noch hinzu, daß ich mich zu erinnern glaube, Dir stets, wie auch in einem eindringlicheren Gespräch am Vortage Deines letzten Geburtstages, den Vorschlag gemacht zu haben, Du mögest Dich dorthin begeben, wo sich Menschen — oder sagte ich, reiche Menschen? — nun jedenfalls Menschen aufhielten, nicht Leute. Den Einzelnen riet ich Dir und beanstande freilich in keiner Weise die Möglichkeiten, daß auch im studentischen Korps deren zu finden sind.

Und nun zu der oben erwähnten Ursache!

Da habe ich Dir zunächst herzlich Dank zu sagen, daß Du fortfährst, wie früher durch Büchersendungen mir den Erwerb von Kenntnissen in schöner Literatur zu erleichtern und zu fördern. Nun fand ich im letzten Paket ein Buch, das vermutlich auch Du gelesen haben wirst, für dessen Bekanntschaft ich Dir ganz besonders verbunden bin, das mich während der letzten Wochen begleitete und ein reicher Quell von Freuden und Erkenntnissen für mich wurde, ich meine — vielleicht hast Du es schon erraten — die Pilgerfahrt Sebald Soekers von Knoop. Freilich ein Buch, dessen humane Werte — obgleich ich mir in litteris ja kein Urteil anmaße — die künstlerischen mir zu überwiegen scheinen, oder findest Du die Menschen darin nicht auch ein wenig bläßlich, schattenhaft, mit wenigen Ausnahmen wie dieser famose kleine Freiherr Skarpl? Auch denke ich besonders an den zweiten Teil, die Erinnerungen Sebald Soekers, deren Stil und Charakter, deren ganzes Leben und Regen mir in wundervoller Weise die Gestalt eines wahrhaft aristokratischen Menschen vor Augen stellten. Und was die erwähnte Bläßlichkeit anbelangt, so scheint dieser Schatten mir immerhin wieder auf einen Vorzug vor den meisten Büchern unserer Tage zurückzugehen, nämlich auf eine Abneigung gegen das ‚Psychologische‘, wo sich denn bei allen derartigen Erzeugnissen das Wort Psychologie mit „Seelenforschung ohne Menschenliebe“ wohl übersetzen ließe. Und mit dem Überhandnehmen des Psychologischen scheint mir auch der demokratische Zug in die Literatur eingedrungen zu sein und der, freilich lange blaß und vielfach abgeschmackt gewordene aristokratische daraus sich entfernt zu haben.

Du erinnerst Dich vielleicht eines Reisegespräches aus unsern Augustfahrten über aristokratisches und demokratisches Wesen; und erinnerst Dich auch, daß wir im Kern des Aristokraten ein Beruhen, in dem des Demokraten die Bewegung fanden. Wir einigten uns auf die demokratische Tendenz alles Geistigen und kamen zu dem Schluß, daß, wenn es den Vorzug des Aristokraten bilde, vertrauensvoll auf eine Tradition, auf das gesicherte Gewordene zurückzublicken, der des Demokraten eine unbegrenzte Gläubigkeit an das Kommende sein müsse. So könne also, meinten wir, wenn ein Charakter von annähernder Vollkommenheit sich bilden solle, eines das andre niemals ausschließen, sintemal verharrender Blick auf das Vergangene sinnlos und albern wäre ohne den Blick darüber hinweg in eine, das Aufgespeicherte nützende und fortbildende Zukunft, ebenso wie für das Zukunftsvertrauen unerläßlich sei der Glaube an einen, von Vergangenheit wohlvorbereiteten und gesicherten Boden. Aristokratischer im Kerne vielleicht — nur vorsichtiger Demokrat — glaubten wir, solle der Mensch sein unter Menschen, der Tätige; demokratischer der Geist, beweglicher, leichtherziger gegen den Boden als gegen seine Flügel und Flüge.

Ich würde mich freuen, wenn wir mit neuem Anlaß und in neuen Richtungen das alte Gespräch zu Weihnachten wieder aufleben lassen könnten. Nun, jedenfalls, die Bestätigung für alles eben Gesagte fand ich im Knoop und in ihm den wahren, inneren Aristokraten in vorzüglicher Reinheit. Da fällt mir das ausgezeichnete Wort ein: „Die eigentlichen, inneren Aristokraten werden von den Weltbegebenheiten selten zur Macht geführt; sie wünschen es auch gar nicht, halten sich zart und hochgemut beiseite.“ Wohin, mein Sohn, schreiben wir uns dieses? Hinter die Ohren schreiben wir es uns. Und dann das andre Wort — wahrhaftig, wenn ich an jenem Tage, wo ich, nach alter Väterweise, versuchte, etliche eigene Erfahrungen in nicht allzu lehrhaften Lehren für Dich zu kristallisieren, dies Buch gekannt hätte, so würde ich nicht unterlassen haben, Dir das vollkommene Wort vorn in den Cellini hineinzuschreiben, jene wahrhaft erstaunliche Erklärung des Begriffes Freiheit, als welche sei: Gebunden sein an sich selber und an die höheren Mächte; nur nicht an seinesgleichen! — Nun immerhin — was jene Stunde anlangt, so halfen da ja keine Worte, und ihre Bestandteile waren, wenn nicht der Zustand, in den sie als Ganzes Dich versetzte, Dir eine untilgbare Narbe einbrannte, sicherlich nichtswürdig.

Womit es genug sei für diese Nacht. Allein noch eins. Doktor Birnbaum stellte fest, daß Knoop in München lebt. Suche ihn auf; ich hoffe, er wird Dich nicht abweisen. Man weiß ja nicht, in welchen Verhältnissen er lebt. Vielleicht ließen sich aus der Bekanntschaft mit ihm Vorteile von hohem geistigen, oder sei es auch von tatsächlichem Werte ziehn; vielleicht gehts ihm schlecht, und ihm muß geholfen werden. Kennst Du niemand, der Dich einführte? Ich denke, auch nur ein Besuch bei ihm müßte für Dich höchst gewinnbringend sein.

Dieser Brief erheischt naturgemäß, freiwillig, wie er sich einstellt, keinerlei Erwiderung. Du wirst genug mit Dir zu tun haben. Bleibe gesund, mein Junge, vor allem gesund, in diesem Wunsche gipfeln all meine Besorgnisse auch um Deine seelische Erhaltung. Eben kommt Mama herein und will ihren Namen darunter kritzeln — der Blinde zum Lahmen! Jagt mich ins Bett und ist selber nicht drin! Gute Nacht, Junge!

Dein
Vater

Papa und Birnbaum ‚wetteifern seit einiger Zeit einmal wieder in Nokturnos‘, wie Dein Freund Morgenstern sagt. Gute Nacht, mein Freund! Deine

Helene

Georg an seinen Vater

München am 19. November

Mein guter Papa:

Die Mama setzt einen doch immer wieder in Erstaunen! Ein einziges Mal im Leben habe ich ihr nun eine halbe Stunde lang Morgenstern vorgelesen — zu ihrem höchsten Vergnügen, kannst Du Dir denken! — und wie es scheint, hat sie ihn auswendig behalten und tritt glänzend damit hervor. Lieber Gott, was seid Ihr doch für zwei Menschen! Ich weiß, Papa, ich weiß, daß derlei Ausrufe die natürlichen, den Gefühlen gesetzten Schranken durchaus überschreiten, aber mögen sie einmal!

Erlaube im übrigen, daß ich mit einer leichten Verlegenheit die Feder ergreife. Auch sie ist, wie der Grund Deines vereinsamten und um so freudiger begrüßten Schreibens, aus mannigfachen Anlässen zusammengestückt, von denen ich ein paar herzählen zu dürfen bitte: Verbundener Kopf mit 37 Nadeln und einem Knochensplitter von drei Zentimetern (innerlich gleichwohl schon wieder klar; es war am Samstag!); ferner nicht unerheblich Deine Auslassungen über Korps usw. Alsdann ein Gewisses, eben schon Erwähntes, wovon gemeinhin unter uns nicht die Rede zu sein pflegt, — ich meine — Gefühle, und zwar sowohl solche Deines Briefes selbst — in und zwischen den Zeilen — als auch solche, mit denen ich ihn las. Und von diesen gestatte noch ein Wort, das anstands- und vorsichtshalber in der Bildersprache geredet sei. Nämlich:

Zwei Erinnerungsbilder erschienen mir während des Lesens mit besonderer Deutlichkeit nacheinander. Das eine aus dem ersten Jahr meines Altenrepener Lebens und aus dem Pragerschen Hause, — kurz: Benno bekam eine Ohrfeige von seinem Vater; Obertertianer waren wir; den Grund vergaß ich. Es war die erste dergleichen, die ich sah, und ich weiß noch genau, in welche Freundschaftsängste mich die zuversichtliche Einbildung versetzte, Benno scheide mit diesem Augenblick entweder für immerdar aus dem väterlichen Hause, oder aber jedes Gefühlsband zwischen ihm und dem Alten sei unheilbar zerrissen. Freilich — keines von beiden; es war nur meine erste — nicht Bennos erste Ohrfeige. Die letzte allerdings; ich glaube, mein Gesicht, als ich sie bekam, hat der Alte nicht vergessen.

Das andere Bild stellt Caligula dar, nicht den Kaiser, sondern Oberlehrer Karlchen Müller, den wir so nannten, weil Caligula Stiefelchen bedeutet, und so sah er aus. Im übrigen ehrten wir ihn äußerst, aus weiter keinem Grunde, als weil er, wenn er einmal etwas nicht wußte, die Gewohnheit hatte, zu sagen: Tscha, das weiß ich nu mal gleich nich; das muß ich erscht nachschlo’n. — Dies Zugeständnis der Unwissenheit machte immer von neuem tiefsten Eindruck auf uns.

Guter und großherziger Papa, muß ich noch Beziehungen aufdecken? Verwandtschaften und Gegensätze? Denn nicht umsonst bist Du ja der kluge Vater eines so begabten Sohnes und weißt, daß nichts den Glanz des Wissens derart zu vertiefen imstande ist wie die gelegentlichen und spärlichen Eingeständnisse des Nichtwissens; und weißt, daß kein Kaiser seinen Nachkommen tiefer in Beschämung zusammenrütteln kann, als wenn er ihn — als Kaiser, den kommenden, behandelt; als seinesgleichen.

Nun erst zum Besten, ja zu einer der kostbarsten Stunden meines Lebens, als die ich sie immer zu bewahren hoffe. Ich war bei Knoop. Es traf sich, daß ich bereits von Dr. Bödeker, dem Redakteur des Altenrepener Kurier, eine Empfehlung an ihn bekommen hatte. Ich zögerte noch, ihn zu behelligen, da kam Dein Brief, und ich ging.

Nein, leider, ihn uns zu verbinden, wird auf keine Weise gelingen. Ich fand — in einer schönen Bürgerwohnung — einen kranken Mann mittleren Alters, klein, gebrechlich aussehend, mit einem hängenden, schwarzgerandeten Kneifer, schlichtem, dunklem Haar, — und irgend etwas an ihm mutete mich japanisch an, was, kann ich nicht sagen. In seinem Gesicht aber fand ich — wenn es in seinen Augen zu rieseln begann und die Lippen sich über den sehr schlechten Zähnen verzogen — etwas Herrliches wieder: das Lächeln Maler Bogners. Hast Dus gesehen, Papa? Du mußt es gesehen haben! Ach, es war vielleicht noch kostbarer bei Knoop, denn — es war schmerzlich, und es war, als ob der tief aus innen quellende Glanz der vollkommenen Leidensgüte mich ganz überrieselte, wenn dieser kleine, kranke Mensch hinter seiner Stuhllehne stand — er bat gleich, seines Leidens wegen stehen zu dürfen — und hin und wieder zu seinen Worten lächelte. — Ja, der kann nun wieder nicht sitzen, — und ich hockte da in meiner Gesundheit und pries mich glücklich und dachte an Mama und an Dich, und daß irgendein furchtbarer Riß von Verkehrtheit in der Welt sein muß — — ja.

Er führte mich bald ins Nebenzimmer, wo ein großer, häuslicher Tisch war mit einem Samowar und großen russischen Teegläsern in schweren Silbereinsätzen, und am Tisch seine Frau, ein junges Mädchen, deren Zugehörigkeit mir dunkel blieb, und ein Gast, wie es schien ein Kaufmann aus Rußland. Auch seine Frau war verehrungswürdig, mit fabelhaft lebensvollen, klugen und guten braunen Augen in einem blassen, nicht eben schönen Gesicht, das aber ganz leuchtend war von prachtvoller Frauenhaftigkeit und tiefem Leben, — wohl hoch in den Dreißigern alt. An irgend etwas, über das wir sprachen, kann ich mich nicht mehr erinnern. Nur an sein Lächeln. Und so gewiß es ist, daß es Lebensstunden des Übermaßes giebt, des Glückes, der Freude, die unvergeßlich bleiben müssen, so gewiß glaube ich zu fühlen, daß keine sich tiefer einbrennen kann, ja vor allem keine in späteren Jahren eine so leuchtende und herztröstliche Wiederkehr feiern kann wie diese stille, in nichts faßliche, die ich neben dem armen kranken Manne Gerhard Ouckama Knoop verleben durfte.

Deine Erinnerungen an unser, mir freilich höchst gewärtiges Reisegespräch haben ein zweites zutage gefördert, das ich aus Anlaß Deiner Briefäußerungen mit einem reizenden Menschen hatte: Ernesto von Riesa, bei uns i. a. C. B. — leider bereits! — studiert Literaturgeschichte vorwiegend, vollendet eben eine dickleibige Doktorarbeit über ein Thema aus der Theatergeschichte und hat vor, Intendant zu werden. Geruhe vielleicht, Dir den Namen zu merken. Einige aphoristische, oder besser fragmentarische Auslassungen, die unser Gespräch abwarf, und die ich zu Papier brachte — ohne mehr genau sagen zu können, auf wessen Kosten von uns Beiden dieses oder jenes darin kommt — füge ich bei.

Der Eintritt ins Korps war — seis gestanden! — soweit sich das heute schon übersehen läßt, nicht viel mehr als eine Eselei. Zwar bin ich zu Ausschweifungen äußerlicher Art höchstens nur in sehr sporadischer Form geneigt, und so hat es in diesem Betracht keine Gefahr, zumal, trotz Trinkzwang, wer sich in Ausschweifungen stürzt, dies auf eignen Trieb hin tut, — allein Zeitvergeudung ist auch ein Fehler, und hier haben wir ihn. Mich bestrickte der Anschein eines gewählten Kreises von gutgewachsenen, freundlichen und gesitteten jungen Leuten, die meine Lebensneigungen — in freilich so überraschender Weise zu teilen schienen, daß es mich hätte stutzig machen sollen. Nicht daß sie logen, natürlich! Vielmehr verfügen diejenigen, die den meinen entsprechende, also vorwiegend literarische Neigungen betonten, wirklich über etwas derart. (Es giebt ja heutzutage so viel gute Bücher, daß schon etwas dazugehört, niemals einem begegnet zu sein und diese Bekanntschaft am passenden Ort zu erwähnen!) Und da sie mich keilen wollten, holten sie alles hervor, was sie hatten, dieweil sie selber und zur Zeit besonders ganz andre Bahnen wandeln. Immerhin — Menschen fehlen — siehe Ernesto Riesa — nicht völlig, und Wert oder Unwert steckt, wie ja in keiner Sache selber, so auch nicht in dieser, sondern wird sich an mir zeigen, wenn ausgelöffelt ist, das heißt — nächste Ostern.

Der Schädel aber macht sich nun doch mit ein wenig Hitze bemerkbar. Nota bene meine zweite Mensur, da ich ja schon in A. gut fechten gelernt habe, was mir nun zugute kommen wird, dieweil ich so eher C. B. werde. Die erste endigte mit Abfuhr auf Gegenseite nach dreieinviertel Minute; dafür bekam ich diesmal einen härteren Gegner, alle Hiebe glücklicherweise auf den Kopf.

Nun innige Grüße an die arme Helene! In Ehrfurcht, Begeisterung und Liebe wie stets Dein Sohn

Georg

Einige Feststellungen über den Unterschied von aristokratischem und demokratischem Wesen

Der Unterschied von aristokratischem und demokratischem Wesen liegt im Besitz.

Besitz verleiht Macht, Macht verleiht Freiheit, Freiheit Sicherheit, Sicherheit Haltung und Haltung Adel. Besitz von Ämtern, Würden, Ahnen (von Vergangenheit), von besonderen, vereinzelten oder seltenen Eigenschaften, etwa ritterlichen Tugenden, von Menschen und von Erde.

Besitz von Erde: der schlichteste, weil natürliche; der tiefste, weil voll Geheimnis; der schönste, weil unendlich reich an Pflichten. Knoops Seebald Soeker: ‚Am adeligsten aber ist Bauernadel.‘ Denn das Leben des Bauern ist Beschäftigung mit dem ‚lebendigen Kleide der Gottheit‘. Durch seine Hände fließt alljährlich das goldene, mit dem Worte Gottes tausendmal eng bestickte Band des ausgesäeten Kornes.

Gleichwohl fand Bauernadel nur selten einen Ausdruck in Vornehmheit, in adliger Erscheinung und Gehaben, und zwar dies aus unterschiedlichen Ursachen, darunter vorzüglich: Abwesenheit einer hervorragend aristokratischen Eigenschaft, des Vertrauens. Der Adlige, sicher seiner selbst, verlangt, daß man sich auf ihn, auf sein Wort, seine Ehre verläßt. Sein Wort ward Eid. Er weiß, daß der Herr, dem er dient, dies tut, bringt daher das gleiche Vertrauen auch denen entgegen, die ihm dienen, bis zur Torheit, bis zur Tollheit. Auch hier Überlieferung, Wert des Gealterten, Vererbten: wie schon seine Ahnen dem Fürsten dienten, so dienten die Väter seiner Knechte seinen Ahnen, so wäre Mißtrauen entehrend. Beschützertum und Dienstpflicht sind beide undenkbar ohne Vertrauen. (Hartmann von Siebeneichen; Volksballade vom Knecht, der den Herrn erschlug.)

Aber der Bauer — solang er leibeigen war, übrigens ohne Besitz — ist zu doppeltem Mißtrauen genötigt. Mißtrauen gegen die Natur, durch die er lebt, deren Gunst oder Ungunst er niemals sicher ist, die ihn tausendmal enttäuschte, zu hintergehen schien; und Mißtrauen gegen den Menschen, Knecht und Magd, die nicht besitzenden Unfreien, die widerwillig schaffen, weil für den Herrn, nicht für sich selber, die deshalb unablässige Überwachung, unablässiges Mißtrauen erfordern. Mißtrauen ist ein Charakterzug aller Köpfe alter Bauern.

 

Der einzige Besitz, der nie und nirgend Adel verlieh, ist Geld.

Noch hat der Mensch nicht vergessen, daß zum Begriff des Besitzes Dauer und daher Eigentum, das Persönliche, unerläßlich sind, um ihn vollkommen zu machen. Folglich ist Besitz nur möglich im Geistigen und im Gegenständlichen, Irdischen. Geld gehört jedermann und wechselt unter jedermann beständig. Patrizieradel hat in andern Besitztümern seine Ursprünge, auch er zuerst in dem von Geschlechtsalter.

 

Zum Wesen des Nichtbesitzenden, des Demokraten, gehört das Streben, das Verlangen nach Besitz, also die Ansicht von unrechter oder ungerechter Verteilung — um der eigenen Rechtfertigung willen —, also Mißtrauen. Immer haftet ein Schatten demokratischen Wesens den Allzugeistigen an, jenen, die zwar erwerben, aber nichts besitzen, weil sie nichts schaffen.

Wurzel jeglichen Denkens allerdings ist der Zweifel. Was ich glaube, brauche ich nicht zu prüfen, zu untersuchen, zu durchforschen. Jegliche geistige Durchforschung aber ist gelenkt vom Streben nach irgendeiner Handgreiflichkeit, einem Bodensatz, einem Ende, einer Verwirklichung, einer endlichen Undurchlässigkeit für den rastlos bohrenden Gedanken. Der Allzugeistige nun findet immer Möglichkeiten, immer andre Sehwinkel und Aussichten, nirgendwo ein Aufhören, einen Halt, verwickelt in ein Gewebe unendlichen Mißtrauens.

Aristokratisches Wesen ist undenkbar ohne einen festen Zug von Beschränkung (Beschränktheit). Beschränkung = das Freiwillige; ich will nicht weiter. Beschränktheit = das Unfreiwillige; ich kann nicht weiter.

Wo aber andrerseits ein Geist nach geistigen Besitztümern unablässig strebt, tief bewußt des eigentlichen Eigentumes, nämlich des Strebens, da entstehen innerhalb so demokratischen Verfließens Ruhe, Freiheit, Vertrauen, Haltung, Sicherheit, Einsamkeit und Stolz, die alle vornehme Dinge sind. Wer nun der Meinung ist: im Anfang war der Geist, — der kann hierin den adeligsten Adel erblicken.

 

Zum Wesen des Aristokraten gehört Stolz, das ist das Empfinden der eigenen Seltenheit, der Vereinzelung, der Einsamkeit oder aber der Notwendigkeit für Andre. Die Welt muß aristokratischer gewesen sein vor der Zeit der Städte, als der Menschen noch weniger waren. Die Unsicherheit, die vielfache Not des Daseins schuf gleichzeitig Mißtrauen und Vertrauen. Mißtrauen so lange, bis eine Treue sich erprobt, eine Macht sich als verläßlich erwies. Dann vertraute der Bauer seinem adeligen Schirmherrn, dieser seinem fürstlichen Oberhaupt, ein für allemal, sein Vertrauen beweisend, indem er es auch auf Nachkommen und Erben fraglos übertrug, bis etwa deren Schwächung, deren verminderte Persönlichkeit ebenso wie zunehmende Macht des freiwillig Unterworfenen zum Mißtrauen zurückführten. Freiwillig — dies war und bleibt notwendig, denn Zwang in jedem Betracht ist die Wurzel des Zweifels.

Mißtrauen ist die Ursache der politischen Demokratie, des Verlangens nach Republik und Präsidentschaft. (Abgesehen von der Entartung, vom Verfall des Adels in Frankreich, hat deshalb auch nur dessen Fehlen — wie in Amerika — zur Gründung von Republiken führen können.) Vielzahl mißtraut der Kraft des Einzelnen oder der Wenigen, der Fähigkeit des Einzelnen, das allgemeine Gute und Nützliche zu erkennen und zu wollen. Vielzahl fühlt sich als Majorität, als überlegen.

Die französische Republik endete an demselben Tage, wo Der erschien, der stärker war als die Massen, weil er ihnen die Empfindung einzuflößen verstand, es sei für sie das Beste und Nützlichste, ihm zu gehorchen, wobei es in seinem Wesen lag, daß er ihre Neigungen nach Freiheit und Gleichheit — Emporkommen des Tüchtigen — aufnahm. Das französische Kaiserreich bestünde noch heute, wenn die Nachkommen Napoleons lauter Bonapartes gewesen wären. Denn das Volk ist nur dumpf; ihm ist die Form gleich, es will den Gehalt; gleichviel wie — es will gut regiert werden.

Der Deutsche, von Natur für Treue und Vertrauen gleichermaßen veranlagt (es sei erinnert an den übermäßigen Hang romanischer Völker zur Eifersucht), Treue auch in der Neigung zum Beharren, zum Konservativismus, zur Erhaltung des Überlieferten, das er lieber fünfzig Male verändert, ehe er es vernichtet, — der Deutsche haftet noch immer ganz und gar am dynastischen Gedanken.

Zudem glaubt er wohl, an geistiger Freiheit ein zu strahlendes und alle andern überwiegendes Besitztum zu haben, um nicht auf den Schein der politischen zu verzichten zugunsten des eingeborenen Vertrauens auf den angestammten, einst von Gott eingesetzten Herrscher.

 

Humor finden wir eher als Eigenschaft des Aristokraten als des Demokraten.

Schopenhauer legte als Ursache des Lachens (nicht des Humors) einleuchtend die Inkongruenz fest; Inkongruenz einer Tatsache oder Erscheinung mit dem Begriff, den wir, ob unbegründet oder begründet, von ihr haben. (Eulenspiegels Streiche.)

Humor ist die schwierige Kunst des vom Schicksal, von Not, von irgendeinem Unglück Heimgesuchten, zu lachen über die Inkongruenz seiner wirklichen Lage mit der, die er eigentlich für seiner angemessen, oder für ihn bestimmt, oder erhofft, oder erwartet hielt. So liegt Verzicht im Humor. Gelächter beendet, immerhin fürs erste.

Abenteurer, Vagabunden, leichte Vögel, die auf alles verzichteten mit Ausnahme des Rechtes über alles zu lachen, vornehmlich über sich selber, gewinnen in dieser letzten (Vogel-) Freiheit der auf nichts gestellten Sache, der Sicherheit des Nichts-zu-verlieren-Habens, stets einen Schein von Vornehmheit, von erlauchter Lebensführung, jedenfalls von, noch so lumpigen, aristokratischen Allüren. Aus der Erkenntnis des „Alles ist eitel“, der „vanitas vanitatum“, der Wertlosigkeit irdischer Güter sowie aller Bemühungen um sie, entsprang im Volke jene, mit Verachtung und Grauen ebenso wie mit geheimer Ehrfurcht gemischte Vorliebe für dergleichen Typen.

Je mehr einer wahrhaft zu besitzen glaubt, auf desto mehr darf er verzichten und den Verlust, sollte er ihn dennoch schmerzen, verlachen. So spotten ihrer selber humorige Adlige, die im Laufe der Zeit alles Reale ihres Standes verloren — bis auf das Bewußtsein ihres Alters, ihrer Würde. Aber der immer beschäftigte, an alles gebundene, unfreie, begehrliche, immer strebende Geistesdemokrat gelangte nicht zum Humor, weil nie zum Verzicht.

Der Demokrat Freiligrath begriff nicht die Inkongruenz seines bärtig deutschen Wesens mit seiner Löwenrittsphantasie, die uns heute so lächerlich vorkommt. Andrerseits sah der Revolutionär Friedrich Reuter sich genötigt, die Tragik seines Lebens in humoristischen Fabeln und Figuren zu gestalten — mit Hülfe der Bauernsprache.

Wenn gar nichts andres, so macht der Humor zum Herrn der Lage.

Ein Lord in einer adligen Tischgesellschaft bekam einen zu heißen Bissen in den Mund und sagte, genötigt, ihn auf den Teller zurück zu speien, zu den entsetzten Umsitzenden mit vollkommener Seelenruhe: „A fool, who would swallowed it.“ Herr der Lage.

 

Um näher auf das Wesen des Humors eingehen zu können, wäre zuvörderst eine Entwickelung des Wesens von Tragik vonnöten, die nicht gegeben werden kann. Soviel sei gesagt:

Humoristen in diesem, im tragischen Sinne gab es: Jean Paul, Dickens, Wilhelm Raabe, Thackeray, Gottfried Keller, Wilhelm Busch, Christian Morgenstern, Sterne.

Humor ist eine germanische Angelegenheit.

Auch Tragik ist — seit den Griechen — eine germanische Angelegenheit.

Die Welt ist nunmehr eine germanische Angelegenheit.

Schluß!

Privates Nachwort für meinen Papa:

Solange ich dergleichen Dinge denken kann, ist mir nie etwas natürlicher erschienen als der Umstand, daß, da Du schon ein Herzog bist, demokratischen Neigungen huldigst.

Folgerichtige Erweiterung aus diesem:

Der Natur-Aristokrat habe demokratische Neigungen; der Natur-Demokrat, der Geistmensch, der Dichter habe aristokratischen Kern.

Renate an Magda

Am 24. Nov.

Mein Krankes:

Dein Vater sagte mir heut am Telephon, daß Deine Augen angegriffen seien. So darf ich Dir wohl nur ein paar Zeilen und alle liebenden Wünsche schicken. Onkel Augustin fügt die seinen und seine letzten Rosen hinzu. Alles Gute, mein Herz! Ich rufe jeden Tag an und frage, wie Dirs geht. Mir ist schon wieder ganz wohl, aber ich muß noch mehrere Tage das Haus hüten. Soll ich dann kommen? — Immer zärtlich bei Dir Deine

Renate

P. S. Weißt Du, daß ich Deinen Maler kenne? Nach einem abscheulichen, mißverständlichen Telephongespräch hatten wir neulich ein andres am Abend, und das war schön. Ich mußte daran denken, wie Du neulich Dein Zimmer mit einer Schiffskajüte verglichen hattest; auch ich in meinem kleinen, leuchtenden Raum kam mir so viel tiefer in der Nacht vor als sonst; als säße ich auf einem Leuchtturm und hätte Verbindung mit solch einem dauerhaften, alten Segler, der nach der Einfahrt zum Hafen fragte. Was hat er doch für eine ruhige, gedämpfte Stimme! Heute abend ist Verlobung bei Herzbruchs, da werde ich seine Mutter kennenlernen. Nun adieu!

R.

Noch eine Nachschrift? — —

Sage mir — —

Ich weiß nicht, soll ich weiter schreiben oder nicht?

Also sage mir, ob Bogner vielleicht die Gewohnheit hat, lautlos zu lachen, indem er das Kinn anhebt und den Mund leicht öffnet ...

Hör zu! Das, wovon ich Dir früher einmal erzählte, ohne es Dir beweisen zu können, — es hat sich wieder gezeigt: mein phantastisches Gesicht. Ganz schwach schon einmal — so daß ich darüber hinglitt — in den ersten Tagen meines Hierseins, wo ich an einem Abend, anstatt daß ich, wie ich glaubte, mein Zimmer betrat, aus einer Waldöffnung über ein düstres, abenddämmriges Tal von ungeheurer Größe hinaustrat, in dessen Ferne grauschwarze Berge sich zusammenschoben, zwischen denen ein erschreckendes Rot, ein trübes, qualmiges, wahres Weltuntergangsrot brannte; am Grunde des Tals tanzten undeutliche Gestalten — sonderbar blitzten die Goldschellen in den Rändern ihrer Tamburine, während im blaugrauen Himmel ein völlig grüner Stern aufleuchtete, mit Josefs Augen lächelte und entschwand samt der Landschaft.

Nun heute wieder, es macht mich doch nachdenklich ...

Denn wenn ich denke, daß ich diese Gesichte immer nur daheim, im Haus oder Garten hatte, nie auf einer Reise, in keiner noch so geringen Ferne — darum auch in der ganzen Zeit unseres Zusammenseins nicht — und nun hier im Hause von meines Vaters Bruder wieder, — welche Vernietung des Blutes! — Da fällt mir auch ein, daß ich nach Papas Begräbnis sieben Tage, ohne Lebenszeichen, wie ein Steinbild auf meinem Bett gelegen habe, während meine Seele — — nun, erwachend wußte ich freilich nicht mehr, wo sie gewesen war, doch waren es wohl die Toten.

Gute Na— nein, da sehe ich ja, daß ich die heutige Erscheinung zu beschreiben vergaß!

Ich kam am Nachmittag in mein Zimmer und fand einen schönen, mächtig großen Adler darin, der ganz goldenbraun war. Er saß auf der Lehne eines Sessels, seine kleinen Augen waren blau mit goldenen Linien wie Lapislazuli. Ich trete sehr erfreut auf ihn zu und schiebe gleich meine rechte Hand zwischen seinen Leib und die linke Flügelschulter tief ins warme Gefieder, indem ich denke, das wird er gern haben ... Ah wie das lebte, warm war und so — mehlig! Wie die weich übereinandergeschichteten Federn sich zusammendrücken ließen! Indem aber fühle ich schon, den Kopf langsam senkend, daß wir fliegen. Ich hebe wieder den Kopf und sehe ihn über mir fliegen, — ah wie das wundervoll war, einen großen Vogel einmal so nahe fliegen zu sehen, wie die gewaltigen Fittiche nach vorn ausgreifen und sich spannen, Feder um Feder, wie sie krachend und knatternd, in immer demselben langen, steten Schwunge ausholend, nach hinten schlagen, die biegsamen Schwingenenden peitschend ganz an seinen Leib sich anpressen, daß er wie flügellos vorwärts schießt! Und ich dicht unter ihm, sitze in starken Seilen, die seine Krallen halten, in den Tiefen unter mir rollen goldene Länder, von Wolkenschatten, von den Hieben der Goldspeichen am Sonnenrade riesig durchfegt, und wie ich jetzt, ganz lusterfüllt, zu dem Adler aufsehe, öffnet er den Schnabel und lacht lautlos. Ich senke das Gesicht, denke an Bogner, und darüber vergeht alles.

Renate

Renate von Montfort an Benvenuto Bogner

Waldhausen bei Altenrepen, Güntherstr. 5, 24. Nov.

Lieber Herr Bogner,

Hier sind Magdas Briefe. Sie dürfen annehmen, daß mein Vertrauen zu Ihnen nicht geringer ist als das Magdas, wie Sie es in diesen Briefen erkennen werden.

Ein gar nicht unfeiner Mensch, nämlich mein Vetter Josef, sagte einmal zu mir, meine Erscheinung sei von solcher Art, daß alles andre vor ihr seine Gültigkeit verlöre. Das mag Sinn haben oder Unsinn: es gesagt zu hören reizt, und das Gleichgewicht wird gestört. Daher, seit ich wußte, daß ich einmal so mit Ihnen zu reden haben würde, wie ich es tat, bin ich seelenfroh, diesen Telephonausweg gefunden zu haben und Ihnen in Unsichtbarkeit gegenübertreten zu können. Ich fand, wir waren Beide unangreifbar in jener Stunde, außer dort, wo wir selber es zuließen.

Aber Sie erinnern mich an den einzigen Mann, der mich einmal angerührt hat. Es war in Tirol, und der Mann war ein Kardinal, ein schöner, weißer Schädel mit funkelnden, braunen Augen. Er legte mir zwei Finger unter das Kinn und sagte etwas von einer holden Alpenrose. Damals mußte ich mich so zusammenreißen wie vor Ihnen am Telephon. Soll ich Ihnen sagen, wie ich damals triumphierte? O königlich! Indem ich einen Ring vom Finger zog, ihn fest und mit tiefster Verneigung in seine Hand drückte und auf seinen höchlich erstaunten Blick in meiner bescheidensten Haltung antwortete: „Umsonst, Eminenz, pflegen Diener Ihrer Kirche doch nie ihre segnende Hand aufzulegen!“

Gestern abend sprach ich mit Ihrer Mutter, sah auch Ihren Vater, ohne daß er mich hätte sehen können freilich, denn nach einem jahrelangen Augenleiden ist er nun am Erblinden. In einiger Zeit soll noch eine Operation versucht werden, auf die aber — es ist grüner Star — niemand Hoffnung setzt.

Ihre Mutter soll sich seit vielen Jahren kaum verändert haben, so brauche ich sie nicht zu beschreiben. Ihr Haar ist fast weiß geworden freilich, dafür hat sie aber die lebhaftesten braunen Augen und scheint sich eine unaufhörliche Bereitschaft zur Heiterkeit zugeschworen zu haben. Ich konnte sie allein sprechen und Ihre Grüße ausrichten. Sie erschrak ein wenig, schwieg aber und ließ mich erklären, auf welche Weise ich Sie kennenlernte. Als ich sagte, Sie dächten daran, im Frühjahr zu kommen, sagte sie nur: „So? Ja, es ist ja nun spät geworden.“ — Ich blickte nach Ihrem Vater hin und fragte, es sei wohl höchste Zeit. — „Ach,“ meinte sie ruhig, „vor zehn Jahren wäre es Zeit gewesen. Nun hat man sich ja daran gewöhnt.“ — Ich habe natürlich nicht all ihre Worte behalten, erinnere mich aber, daß sie auf mein Befragen anfing zu erzählen und bald sagte, daß es für sie nur in den ersten Jahren hart gewesen sei. „Er war doch noch ein Junge, der nichts von der Welt wußte, und sicher hat er gehungert,“ sagte sie, „und das war wohl das Schrecklichste für mich, neben seinem Vater wach liegen zu müssen und zu hören, wie er selber wach lag und oft stöhnte, und nicht weinen zu dürfen. Dann gewöhnte man sich schon daran, und dann starb unsere kleine Erika — die Nachricht erhielten Sie wohl? — und da fing alles wieder von vorn an, und als dann auch Herbert sein Examen gemacht hatte und fortging, waren wir ganz allein.“ Aber dann, sagte sie, hätte sie ja wohl merken müssen, daß zwischen Ihnen und Ihrem Bruder gar kein Unterschied sei, denn der sei die ersten Jahre wohl noch in den Ferien gekommen, dann aber immer seltner und zuletzt nur noch Weihnachten, und so sei es wohl mit den Söhnen. Freilich hätte sie für Herbert ja immer noch sorgen können, seine Wäsche besorgen und ihm das und jenes schicken, auch hätte er ja immer fleißig geschrieben. Nein, sie dürfe sich gar nicht beklagen, nur ihr Mann wäre zu bemitleiden, weil er von hartem Charakter wäre, alles in sich verschlossen hätte und nur immer stiller geworden sei. „Wer hätte auch gedacht, daß er ganz fortbleiben würde, Vater hätte ihn ja gerne wieder aufgenommen, wenn er ihm nur gezeigt hätte, daß es ihm Ernst war mit dem Malen.“ Nein, sie selber habe gewiß am wenigsten gelitten, und schließlich sagte sie, „wenn man weiß, er ist am Leben und kommt vorwärts und ist zufrieden mit seinem Dasein, — was kann man denn mehr wünschen?“ Übrigens habe sie auch Nachforschungen nach Ihnen angestellt, gestand sie; sie lachte herzlich, als sie erzählte, wie sie sich das Geld dafür von ihrem Haushaltsgeld habe absparen müssen.

Ach, Bogner, glauben Sie, ich wollte Sie rühren mit alledem? Sie haben aber wohl recht mit Ihren ‚romantischen Vorstellungen‘, denn wenn man eine alte Frau sagen hört: „Das Leben hat es wohl immer anders mit uns vor, als man so träumt, und wenn man sie herumlaufen sieht, wenn sie klein sind und nach allem fragen müssen und schreien, wenn sie sich gestoßen haben, dann meint man ja, es bliebe ewig so und man müßte immer hinterher sein, aber das wollen sie freilich gar nicht.“ Wenn man sie dann lachen hört, so ist allerdings alles nur einfach und gut und etwas kümmerlich, und so natürlich sieht es aus, daß man es fast nicht begreifen kann, wenn dieselbe Stimme nach einem Schweigen sagt: „Manchmal muß ich allerdings jetzt noch mitten in der Nacht aufwachen und denken, er steht vielleicht am Zaun draußen, oder man glaubt, seinen Schritt zu hören, aber es ist nur sein Vater, der noch ein Glas Bier getrunken hat, und nun muß man aufpassen und darf doch nicht aufstehen, weil er kaum noch sieht und doch nicht will, daß ihm jemand hilft.“

Ihre Mutter läßt Sie wieder grüßen, und Sie sollten kommen, wann Sie es für richtig hielten; Ihr Bett stünde auf dem Boden und könnte jeden Augenblick heruntergeholt werden.

Ich hab Ihnen dieses aufgeschrieben, weil ich viel zu gut weiß, wie sehr Sie schuldlos sind. Wenn hier Fehler sind, so liegen sie in der menschlichen Natur, die will, daß alles Leidende sich in sich selbst verhärtet. Da Sie einen einsamen Weg gingen, so schadete Ihre Selbstverhärtung niemandem sonst, und Ihnen selber war sie ja notwendig. Wenn aber Ihr Vater hier die Schuld tragen sollte, so trug er auch die ganze Last, da er zu einfach war, um nicht nur nach innen zu wachsen, und Ihre Mutter hatte es zu leiden. Dies sollten Sie wissen. Gott befohlen!

Renate Montfort

Benvenuto Bogner an Renate von Montfort

Helenenruh, 29. November

Liebes gnädiges Fräulein!

Freiwillig und gerne gestehe ich Ihnen ein, daß ich Ihnen nicht durchaus wohlgesinnt bin. Nicht durchaus. Können Sie folgenden Unterschied machen: Sie hören, daß ein fremder Mensch dies und jenes über Sie geäußert hat. Nichts, das vielleicht ungünstig wäre. Aber Sie hören, daß ein andrer sich eine Meinung über Sie gebildet hat. Auf Grund seiner vollständigen Unkenntnis. Sie würden ihm nicht wohlgesinnt sein.

Dagegen ich, ich kenne Ihre Züge, hörte Ihre sanfte Stimme und vernahm Wohlmeinendes. Ihr kluger Vetter übrigens scheint mir so sehr recht zu haben, daß auch die telephonische Unsichtbarkeit die Richtigkeit seines Satzes nur erhärten konnte. Übrigens vergaßen Sie, daß ich Ihr Bild kenne, wie unsre Kleine Ihnen schrieb. Es steht fest, daß Ihnen kaum zu widerstehn ist, und so verlasse ich meine Zehnjahrsschweigsamkeit und rüste mich, zu reden.

Sie kamen mit einer fertigen Meinung. Ein solcher Mensch mußte einmal kommen, einer, gewissermaßen, der mich zur letzten Nachprüfung meiner selbst zu bewegen wußte. Jedem Fragenden hätte ich Auskunft gegeben. Meine Natur ist friedlich. Sie kamen mit Müttern und unzählbaren Erinnerungen.

Haben Sie unrecht? Habe ich unrecht? Sie nötigen mich, alles von vorn zu bedenken. Dies aber scheint mir nicht notwendig. Sie meinen, von dem, was Sie über meine Mutter aussagten, hätte ich nichts gewußt? Wohlan!

Sie erinnern mich an einen Tag, kurz bevor ich ins Kadettenkorps abmarschieren sollte, weil ich Ostern um Ostern meiner Versetzung den heftigsten Widerstand leistete. In seinem Zimmer zwischen den Apparaten und Glasschränken mit ärztlichem Handwerkszeug hatte mein Vater den schönsten Kasten mit Ölfarben, die herrlichsten Pinsel und die größte, braunglänzende Holzpalette ausgebreitet. Meine unwahrscheinlichsten Träume funkelten da. Er sprach liebreich und gütig zu mir. Am Ende bat er mich um mein Ehrenwort, daß ich diese Gegenstände nur an Sonntagen berühren würde.

Früher hatte ich doch kein Gewissen vor ihm gehabt und ihn hundertmal hintergangen und belogen. Warum stand es nun auf und sagte: Er will dich verlocken! und verweigerte das Versprechen? Warum diese Ehrlichkeit, da ich doch entschlossen war, aus dem Korps zu entspringen?

Hatte er unrecht? Er verfuhr wie der liebe Gott, sagte: von diesem Baum darfst du nur Sonntags essen, wollte aus mir einen ruhigen Bürger machen, der sich zu bezähmen weiß.

Da erinnern Sie mich nun an die Stunde, Jahre danach, wo das Bild dieser sich wiederum aufstellte, Arztzimmer, Malgerät und der schwere, grauhaarige Mann mit ausgestreckten Händen, aber nun heißt es nicht: er will dich verlocken, sondern: er hat dir doch eine Freude machen wollen ... So heißt es nun.

Was denken Sie sich dabei: „Er hätte ihn ja gern wieder aufgenommen, wenn er nur gesehen hätte, daß es ihm Ernst war mit der Malerei“? Sie denken, was mein Vater dachte — nun weiß ich es freilich längst —, daß Ernst nicht von einem Menschen unter zwanzig Jahren zu erwarten ist, denn dies ist bürgerliche Meinung; nicht von einem Siebzehnjährigen, der seit seinem ersten Weihnachtsfarbenkasten, den er mit sieben Jahren bekam, nicht von ihm wegzubringen war, nicht mit Prügeln, nicht mit Hunger, nicht mit Einsperren, nicht mit Taschengeldentziehung, da er vielmehr hinging und die Kasse seiner Mutter bestahl. Armes Kind, vor zehn Jahren hab ich es wirklich nicht besser gewußt.

Am Telephon sagte ich Ihnen Dank für eine schöne Stunde. Bin ich nun erzürnt auf Sie? — Ich bin verwundert. Herzlich sehr verwundert.

Vielleicht wünschen Sie, fünfzehn Jahre wie eine Kugel zurückzurollen, hin woher sie kam. Mädchen, was für Gedanken! Gut und weich ist Ihr Herz, Sie denken, alles hätte auf andre Weise auch geschehen können.

Ja, Sie haben ein Herz für Andre, sind gut und hülfreich. Wer wollte das nicht sehn? Es ist zu sehn, wie ein angenehmer Wind, wenn er im Fernen durch ein Kornfeld geht. Man empfindet ihn nicht am eignen Leibe. Den trug man fünfzehn Jahre für sich alleine umher. Kein Wind kam.

Aus Ihnen redet das Mütterliche. Sie sorgen schon um eigene Kinder.

Zweiunddreißig Jahre bin ich nun alt geworden, ohne heut zu wissen, ob ich gerecht gehandelt habe. Mit Neunzigen werde ich es nicht sichrer wissen. Denn unser Recht und unser Unrecht liegt nicht in unsrer Meinung, und wenn wir sie dem Teufel abgekämpft hätten. Aber in uns brennt eine riesige Notwendigkeit, die uns das Einzige vorschreibt, und vor der keine Meinungen gelten. In Menschenleben wie in dem meines Vaters gilt der Zufall und Zwang, sich zurechtzufinden, es sich leicht zu machen, den Platz zu finden, wo am wenigsten Kümmernisse zu hausen scheinen. All dies umgekehrt trifft auf mich zu.

Herzlich grüßend der Ihrige

Bogner

Fünftes Kapitel: Dezember

Renate von Montfort an Benvenuto Bogner

den 8. Dezember 1911

Was tat ich Ihnen, Fremder? Niemals werde ich mich hindern lassen, bei einem Menschen einzudringen, wenn mein wahrhaftiges Herz mich dazu treibt. Beschämt und verwundet, schweige ich auch heute nicht still, sondern wehre mich kräftig. Sollte ich mich so leicht enttäuschen lassen, möchte ich nicht lange mehr leben. Da wir uns fremd sind, wie sollte es ohne Irrwege abgehn? Auch nach dem ersten Telephongespräch war ich es, die es zum zweiten Mal versuchte. Freilich ist es beklagenswert! Unser jeder weiß um die Stelle, wo alles einfach ist und verständlich, aber wir haben uns zugeschworen, sie nicht preiszugeben ohne die sonderbarsten Ehrenhändel. Man muß Mitleid haben mit Ihnen, denn Sie sind der Ungeschicktere, als Mann, und weil Sie immer allein waren.

Ich will Ihnen sagen, was Sie vergaßen.

Dort lebten Sie, Ihre Eltern hier. Als Sie fortgingen, fingen Sie das Labyrinth an, die viel hundert Verwandlungen. Alltäglich ein neues Gesicht, eine neue Haut, ein neuer Blick, eine neue Welt. Immer stand Ihnen das Auge einwärts gerichtet in die Schar der unzählbaren Visionen, Möglichkeiten, Aufgaben. Sie lebten unter Gottes Augen. Sie schlugen sich mit unzählbaren Verwirrungen. Sie schliefen in einem Hammerwerk. Sie wälzten den Block, Sie hatten um sich Luft vom Tartarus, Sie zwängten sich in sich selbst wie einen Keil in einen Baum, Sie vergaßen Ihr eigenes Aussehn hinter zehntausend Vermummungen, Sie waren sich immer rätselhaft, immer unvollkommen, immer widerspänstig, immer wunderbar. Sie lernten Unschätzbares kennen. Den Hunger und die Ohnmacht, die Schlaflosigkeit und das Auge des Gottes im Finstern. Sie erledigten Tausendfaches. Sie hafteten am Einen.

Nein, Sie konnten nicht an Andre denken. Habe ich ein Bild von Ihnen oder habe ich nicht? — Nun eines von Ihren Eltern.

Sie hafteten am Einen: an Ihrem unhörbaren Schritt. Sie lernten die Schlaflosigkeit mit dem ewigen Nachtgebet: Auch heut ist er nicht gekommen. Sie litten die unaufhörliche Ohnmacht, nicht zurücknehmen zu können. Und sonst? —

Alltäglich ein altes Gesicht, ein altes Tun, eine alte Sorge, eine alte Bitterkeit. Alltäglich ein unveränderliches Ich, ein vollkommenes, fertiges, unverstandenes und doch einfachstes, immer gleiches. Sie wurden alt, sonst nichts. Sie blieben auf ihrer Stelle wie sanfte Tiere und hatten nichts als ihr Älterwerden. Sie hofften jahrlang und hofften dann nicht mehr. Sie vergaßen am Ende. Sie hatten nur das endlose Einschlafen, sie wurden immer schläfriger wach, sie konnten sich an nichts messen, sie waren die Einsamsten. Sie hatten ja noch einen Sohn, sie hatten Arbeit, Sorge, Freuden, das tägliche Leben. Ist es nicht elend, Freund, entsetzlich elend, nichts zu haben als das eigene Leben? — Sie hatten die Stille, wo nichts laut ist als das eigene Atemholen. Sie hatten auch den Zorn vielleicht, die Bitterkeit, denn: sie waren immer die Unterlegenen. Oh sie hatten das Allerschlimmste: sie konnten nicht verstehn. Sie wußten von sich selber nur wenig, und wenn sie einmal nach oben fragten, so gab es immer nur die eine Frage: warum ist dies so? Warum ist es denn nicht anders? Wäre es anders nicht besser? — Ihnen war es nicht gegeben, sich selbst zu bezwingen, denn — oh Ihre Weisheit! — sie kannten das Auge der Notwendigkeit nicht! Sie hatten nur gelernt, daß alte Menschen erfahrener sind als junge. Daß man sich nach ihnen richten müßte. Sie hatten einfache Dinge gelernt. Nie hatten sie gehört, was Ausnahmen sind, wie sollten sie eine erkennen, wie sollten sie einwilligen? Unter ihren Lehrsätzen war der kostbarste der: Wenn du einmal so alt bist wie wir, dann wirst du uns recht geben.

Mache ich Ihnen Vorwürfe? Klage ich an? Ach, ich wollte, ich könnte es, ich wollte, ich könnte Ihnen vorwerfen, warum Sie nicht noch besser geworden sind, warum Sie niemals das Eine bedacht haben, daß Sie in sich selber alles besitzen, daß Sie mit Leichtigkeit der Unterlegene hätten scheinen und nachgeben können, da es Ihnen nichts verschlug, ob Ihre Eltern glaubten, recht und gesiegt zu haben! Wieviel größer wären Sie, wenn Sie das Unrecht an sich gerissen hätten!

Nun vergeben Sie mir! Heute nur, heute sage ich Ihnen all dies, damit Sie wissen, zu wem Sie kommen, wenn Sie heimgehn, wen Sie zurückließen und wen Sie wiederfinden. Alte Menschen, augenlose, die arme und eingelernte Worte murmeln, die mit zwanzig Jahren alles auswendig wußten, die immer nur die paar alten Bücher in neuen Auflagen, in ihrer armen Blindenschrift jahraus jahrein nachtasten, und da stehn Sie nun in Ihrer Sonne und sind nicht zufrieden.

Weiß ich zuviel? Jedes meiner Worte stand im Gesicht Ihrer Mutter leserlich. Ich habe, auch ich, nur gelesen mit meinen ‚sehenden Augen‘, die — nach Ihnen — eine Gabe sind — und ein Gesetz.

Gott befohlen!

Renate Montfort

Benvenuto Bogner an Renate von Montfort

Helenenruh, 14. Dezember

Liebes fremdes Fräulein:

Immer ist mir die Gestalt jenes Mädchens rührend gewesen, der Pallas Athene, die um Odysseus am Ufer den Nebel zerteilte und ihm seine Insel zeigte, die er nicht erkannte. Vor vielen Jahren kannte ich eine Frau, die ich mit der Göttin verglich; damals stand ich im Anfang, und es war ein andres Land, in das sie mich hineinführen wollte. Meine richtige Heimat wars. Dem Odysseus war die Göttin immer unsichtbar geblieben, obwohl sie ihm half; erst, als die Mühsal beendet, als er anlangte, gab sie sich zu erkennen. Ich freilich, ich gehe nicht meinetwegen heim, denn ich bin dort nicht zuhause, aber am heutigen Tage und angesichts Ihrer schönen, glühenden Bewegung will es mir wohl scheinen, als ob nur dieses der Grund war, weshalb ich nicht lange schon dorthin ging: es fehlte nur jemand, der es mir sagte, der mich bedenken hieß, der mich verlockte.

So schön ist dies an euch, ihr sonderbaren Geschöpfe, so schön ist eure ewige Bereitwilligkeit. Von euch selber seht ihr gerne ab, aber immer steht ihr vor einem Tor, das ihr jemandem aufschlagen wollt. Immer zu irgend etwas wollt ihr verlocken, immer helfen, immer alles öffnen, immer einladen, immer begütigen. Unbedenklich greift ihr das Schwerste an, als sei eben dieses das Allerleichteste; als sei es das Einzige jedenfalls, was in diesem Augenblick zu geschehen habe, und als ob ihr über göttliche Kräfte verfügtet. Denn immer seid ihr stark für Andre, die ihr für euch selber meist hülflos, unwissend und von vornherein unterlegen seid.

Muß ich noch mehr sagen? Ihre Worte haben mir alle wohlgetan, und ich mache das Zugeständnis, das ich bisher nur mir selber abgelegt habe, mit Freuden auch Ihnen: daß ich bedächtiger hätte sein können. Das nützt ja nichts, aber ich glaube, es macht Ihnen Freude, es zu hören.

Nun muß ich einiges über Magda schreiben.

Die Briefe sind hier mit vielem Dank zurück. Von allem, was die arme Kleine betroffen hat, wußte ich ja Einiges —, die Geschichte der Wahrsagung, ohne freilich die letzten Folgerungen Magdas auf den al Manach. (Der schüttet sich noch immer aus, es ist eine ziemliche Qual, das anzusehn, man hat die Vorstellung, daß er auch die Nächte nicht anders herbringt, und dabei wird er dünn wie ein weißer Faden. Und all das nicht ganz ohne Komik ...) Nein, es ist am besten, ich schweige über alles; wir müssen warten.

Es geht ihr herzlich schlecht, das muß ich gestehn. Die Krankheit ist behoben, sie ist seit ein paar Tagen fieberfrei, aber matt wie ein verregneter Kohlweißling, mag nicht aufstehn und nicht liegen, ist mißlaunig geworden, kann das Licht nicht vertragen und ist immer müde. Als ich hierherkam, war sie das reine Kind, kindlich weise und lerchenhaft, jetzt sieht sie altjüngferlich aus, gelb und hat grausame Falten um den Mund. Die einzige Kraftanstrengung merkte ich ihr an, als sie mir auftrug, Ihnen auf das bestimmteste zu verbieten, daß Sie kämen. Dazu muß ich selber sagen, daß ich Ihrem Kommen zurzeit wenig Einfluß zutraue. Vieles in ihr mag nur körperliche Mattheit der kaum überwältigten Krankheit sein, deshalb dürften Sie zu einer späteren Stunde gelegener kommen, wenn nicht gar eine andre notwendiger sein wird. Sie spricht oft von Ihnen.

Folgendes trug sich gestern zu:

Ich hatte ein Weilchen an ihrem Bett gesessen und Silhouetten von Rosen geschnitten bei halber Dämmerung; dem sieht sie gern zu. Als ich dann am Fenster stand, hörte ich sie plötzlich ganz laut sagen: Georg! — Ich wartete eine halbe Minute und sagte dann: Nun? mit meiner gewöhnlichen Stimme, worauf ich sie ein wenig später mit einem leisen Seufzer antworten hörte: Weißt du, Georg, es ist doch schwerer, als man so denkt. — Nun ging ich zu ihr und sagte möglichst freundlich: Georg ist nicht hier, mein Kind, möchtest du ihm etwas sagen? — Sie sah mich lange und zweifelnd an und fragte: Meinst du nicht, Maler Bogner, daß der Prinz ein guter Mensch ist? — Gewiß, sagte ich, und nun rief sie mit einem triumphierenden Blick, als ob sie mich jetzt erwischt hätte: Warum ist er denn nicht hier und hilft mir? — Danach besann sie sich und setzte altklug hinzu: Aber er muß ja fleißig sein und Herzog werden, da kann er natürlich nicht kommen, nicht? Ich bestätigte ihr das, und nun sagte sie nichts mehr.

Dies hat mich aber auf den Gedanken gebracht, ob es vielleicht nützlich sein könnte, daß ich dem Prinzen schreibe und ihm nahelege, Magda ein Zeichen von sich zu geben. Was meinen Sie dazu?

Noch dies, daß ich glaube, die Jahreszeit ist an Vielem schuld. Sie schrieb ja, daß sie sich vor dem Garten fürchtet, deshalb wehrt sie sich auch so gegen das Fenster, hinter dem es stürmt und wirbelt. Es wird das Beste sein, wir lassen Weihnachten noch vorübergehn; danach ist meine Zeit in Helenenruh abgelaufen, und Sie versuchen dann, was zu tun sein wird. Wenn es Ihnen möglich sein wird, mit ihr nach Italien zu gehn, so wird es Ihnen auch besser als mir gelingen, ihren Vater von der Notwendigkeit einer solchen Reise zu überzeugen, da er sie zurzeit dicht am Gesunden glaubt, jeden Tag eine Minute an ihrem Bett steht und meint: Es wird schon werden!

Ihnen herzlich dankbar und wieder „durchaus wohlgesinnt“

Bogner

Renate an Bogner

Am 22. Dezember

Lieber Freund,

Ihre beiden Skizzenblätter von Magda haben mich mehr erschreckt, als Sie sich denken können. Das ist aus ihr geworden? Man möchte ja verzweifeln, wenn einem nichts einfällt, um das wieder gutzumachen. Und was haben Sie für eine Hand! Erinnern Sie sich an das, was Magda schrieb, wie sie erschrocken sei über einen gezeichneten Zug ihres Gesichts: als sei er daraus fortgenommen? Das kann ich nun begreifen, denn diese beiden Gesichter sehen so wirklich aus, als könnten sie nur hier, auf diesem Papier sein, als hätten Sie sie von dem ihren abgenommen, — ach, wollte Gott, Sie hätten es wirklich getan und sie wäre ihrer ledig für immer!

Zu Ihrer Idee mit dem Prinzen kann ich nicht ja und nicht nein sagen. Da ist dies Gedicht, das er ihr damals schickte ... Nun, ich kann mich ja irren und bin gerne bereit dazu, — aber liebevoller als dies bereitwillige, sozusagen postwendende Verstehen und Einverständnis, dies aufs Geratewohl prophezein (oder ist soviel Ahnungsvermögen glaublich?) würde mir weniger Verständnis und mehr Schmerz, weniger Entsagungsfreude und mehr Widerstreben erscheinen. Überhaupt dies hurtige Umsetzen von Gefühl in Klang und Beweis, dies Vergleichefinden und so weiter, — dichterisch mag es ja wohl sein, und glauben Sie auch nicht, daß ich es menschlich unwürdig finde! Es macht mich nur an seinen Gefühlen für Magda zweifeln, für die er durchaus niemandem, auch ihr selber nicht, verantwortlich zu sein hat, da bekanntlich, wo nichts ist, der Jude sein Recht verloren hat, aber —. Aber. Punkt.

Viel Mühe habe ich mir gegeben, aus Ihrer Darstellung von Magdas Zustande herauszulesen, daß sie auch des Grübelns müde geworden ist, doch bin ich nicht ganz überzeugt. Da mußte ich bedenken: Aus unsrer Kindheit in das Reich der Seele zu gelangen, aus Kindern Gotteskinder zu werden, oder wie man es ausdrücken will, das ist doch wohl unsre Aufgabe. Da giebt es nun unter uns Viele, die können derlei Aufgaben nur in schrecklich harten Stufungen erledigen, und deren einer ist unsre Magda, die aus dem unwillkürlichen Jugendland, wo das leicht bewölkte Gemüt über allem blaut und sich bescheinen läßt, nur über diese Messerbrücke des Gedankens, des grübelnden Erleidens gehen konnte, — wohin? In das eiserne Haus, das Arsenal, wo die Seelen ausgeteilt werden wie Kleider? Unsre Vorstellungskraft reicht ja für seelische Dinge niemals aus, und es klingt wohl absurd, was ich sage. Ich hätte Saint-Georges vorher fragen sollen. (Das ist ein neuer Freund von mir, der sich dadurch auszeichnet, daß er alles weiß.) Sie sind ja auch ein weiser Herr und begreifen vielleicht, was ich sagen wollte.

Morgen ist Heiligabend. Da ist mir einigermaßen bänglich ums Herz, denn kurz vor dem vorjährigen starb mein Vater. Was Weihnachten ist, werden Sie kaum wissen, mir aber vielleicht doch erlauben, Ihrer herzlich zu gedenken und einer alten Frau eine Blume zu bringen.

Wann kommen Sie?

Renate Montfort

Renate an Magda

22. Dezember

Meine liebe, liebe Magda!

Einen Weinachtsbrief bekommst Du, obgleich Du, wie es scheint, geschworen hast, mir nicht zu schreiben. Freilich in Eile, denn es giebt unbeschreiblich viel zu tun. Alle Angestellten werden beschenkt und haben Feiern und haben unzählbare Kindlein, die Geschenke und Feiern haben wollen, und dann sind noch die Armen und die Kinder der Armen, und allesamt wollen mir den Kopf ausreißen. Ich bin froh, daß Du nun wenigstens wieder außer Bett bist. Wenn Du morgen nicht selber ans Telephon kommst, wird es das letzte Mal gewesen sein, daß ich angerufen habe, hörst Du?

Die Heidermappe vom Kunstanwärter (Josefs Bonmot!) wird vielleicht den Groll des Malers erregen, aber da ich sie im Buchladen fand, schien sie mir sehr schön, und Du wirst eine kleine Hirtin darin finden, die genau so aussieht wie Du, als Du in Genf einzogst.

Ach, Liebste, Gott gebe nur, daß Du empfinden kannst, daß Weihnachten ist! Ich habe Dir närrisches Zeug geschrieben, nur um zu verhindern, daß mir die Augen wieder naß werden, wie immer, wenn ich an Dich denke. Ich weiß auch nicht, was das mit mir ist. Ich habe ein seltsames Angstgefühl schon seit vielen Tagen, mitten in allem Getriebe und den Vorbereitungen, um Dich natürlich, warum sonst, und unbeschreibliche Sehnsucht nach Dir und Deinen armen bekümmerten Augen. Bogner soll Dir einen Rahmen für das Hirtinnenbild verschaffen, damit Du es jeden Tag vor Dir hast und lernst, wie Du aussehn mußt, wenn nicht gar zu traurig sein soll Deine Dich tausendmal zärtlich küssende

Renate

Die Handschuh sind sämtlich von Onkel mit einem Kuß ‚auf die zierlichste Hand‘; hoffentlich habe ich die Nummer richtig behalten.

Bogner an Georg

Helenenruh am 22. Dezember

Lieber Prinz:

Ich möchte Ihnen schreiben, daß Magda Chalybäus einige Zeit krank gewesen ist und hiervon, und mehr von mancherlei seelischen Erschütterungen der letzten Zeit, so angegriffen und ermattet scheint, als wolle sie sich weigern, noch weiter am Dasein teilzuhaben. Sie kennen mich ein wenig und können wissen, was es zu bedeuten hat, wenn ich Sie darauf aufmerksam mache, daß ein Wort, ein Lebenszeichen von Ihnen, vielleicht nicht heilsam, aber doch wohltätig wirken könnte, wobei Sie zu ermessen haben, ob Sie in der Lage zu dergleichen sind.

Sehe ich Sie auf der Trassenburg? Ich denke, in der Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr ein paar Tage dort zu sein, dann in Trassenberg die Aula des neuen Genesungsheims auszumalen.

Herzlich grüßt Sie, Ihnen wohlgewogen

Bogner

Magda an Renate

Freitag

Ja, Renate, von mir bekommst Du diesmal nichts. Meine Arbeit ist nicht fertig geworden, es ist wohl schlecht von mir, aber Du mußt schon entschuldigen, ich bin gar zu müde. Der gute Jason schläfert einen so schön ein, seit gestern haben wir auch Schnee und stillen Wind, ich bin immer dicht vor dem Einschlafen und tu es bloß nicht, weil ich Angst vor dem Aufwachen habe.

Also verzeih, wenn Du kannst, meine Nachlässigkeit.

Aber ich habe Dich doch lieb.

Hast Du den Maler gern? Ihr schreibt Euch ja wohl täglich, oh ich bin nicht eifersüchtig, Ihr seid ja Beide viel klüger als ich und paßt zueinander. Wenn Ihr dann heiraten wollt, kann die Hochzeit ja gleich mit Irenes zusammen sein.

Ich muß aufhören. Papa hat seinen Toddy fertig und ist begierig, die Fortsetzung von ‚Jettchen Gebert‘ zu hören. Er hat es fertig gekriegt, daß Jason nur noch Romane aufsagt, und läßt grüßen. Grüße auch Deinen Onkel! In Liebe küßt Dich Deine Freundin

M.

Bogner an Renate

Helenenruh am 24. Dezember

Heiligabend. Heiligabend? Heiligabend. Komisch.

Es wurden Äpfel gegessen. Es wurde Marzipan gegessen. Ein großer Baum brannte voller Lichter. Es wurden Mürbekuchchen gegessen. Es wurden Makronen gegessen. Es lag alles voll von Geschenken. Großäugige Dienstboten in Verlegenheit. Es wurde Spekulatius gegessen. Es wurde Schokolade gegessen. Herr du meines Lebens! Es wurde Heringssalat gegessen. Es wurden abermal Äpfel, Marzipan, Spekulatius, braune Kuchen, Nüsse, Datteln und Pfefferkuchen gegessen, und jemand in einem himmlischen silbergrauen Kimono sang sehr leise: Es — — ist — — ein Ros — — ent — — spru — u — — gen — —

Ich erinnere mich, dies ist ein Fest der Mägen und der Kindheit. Es läßt sich nicht umgehn. Es stimmt die Seele freundlich. Da sitze ich in einem angenehm erleuchteten Zimmer voll vieler kleiner Pferdeporträte, es schlägt elf Uhr, ich mache mein viertes Glas heißen Toddy zurecht, ich sehe den Jason al Manach in der Sofaecke sitzen und daß er glänzende Augen hat und wie ein Schlot raucht. Ich glaube, er hat einen schönen Charakter. Ich esse Pfeffernüsse, nie im Leben aß ich soviel verschiedene Dinge hintereinander. Ich muß ein glücklicher Mensch sein. Ich fragte den Almanach nach einem Zitat mit Kindheit! „O Kindheit! O entgleitende Vergleiche!“

Jemand packte mit schwachen Fingern eine ungeheure Kiste aus; die Papiere nahmen kein Ende. Schließlich fiel doch etwas großes Graues an die Erde. Bald darauf stand jemand unter dem Kronleuchter, drehte sich und suchte an einem riesigen Lichterbaum vorbei sein Abbild im großen Pfeilerspiegel zu erhaschen, wo es ganz fern und seltsam hinter demselben gespiegelten Lichterbaum sichtbar wurde, bekleidet mit einem silbergrauen Kimono, auf dessen Rücken ein lebensgroßer weißer Pfau in Silber und Weiß gestickt war dergestalt, daß sein Kopf zwischen den Schultern des Gewands, der ausgebreitete Schweif mit hundert Federn und schneeweißen Augen über die weiten Ärmel und bis zum Kleidsaum hinunterhingen. Geschenk vom Maler Bogner; aus eigenem Besitz; extra aus Berlin geholt.

Auch Maler Bogner besitzt einen nicht unschönen Charakter. Er traf das Richtige. Auch ein längeres Telegramm vom Prinzen Georg war sein Werk und wirkte bedeutend. Ich bin doch geneigt, die Hauptwirkung dem Kimono zuzuschreiben. Derselbe war unwiderstehlich. Er ließ sich nur glatt streichen. Dies war seine unübertreffliche Eigenschaft. Damit erledigte sich alles. Wir kehrten allesamt freudestrahlend zur Kindheit zurück und sangen völlig falsch, aber liebevoll: Sti — ille — Nacht! Hei — lige Nacht! — Ach, du liebe Zeit!

Sie hätten es sehen sollen! Wie der Kimono sich langsam in B. Bogners Händen entfaltete. Wie zwei schlecht gelaunte Augen und ein weinerlicher Mund aufmerksam wurden und stillstanden. Wie unter einer Reisedecke eine Hand hervorkam und zaghaft zufaßte. Wie der völlig in Andacht verlorene Mund das eine, beseligte Wort: Seide! hervorbrachte. Wie die Augen um Gnade baten, aber der Mund nicht wollte. Wie der Mund nicht mehr widerstehen konnte, und die Augen widerspänstig waren. Wie der weiße Pfau strahlte. Wie auf Stirn, Mund und Wangen das Wort Kindheit aufbrach wie ein Zimmer voll Kerzen und Geschenke. Wie die Reisedecke fortflog, und viel Gram und Kümmernis hinschwand vor einem weißen Pfauenschweif.

Es ist lieblich, Feste zu feiern, wenn die Gelegenheit es mit sich bringt. Weihnachten ist mir erinnerlich, wo ich bei einem Talglicht über Kupferplatten gesessen habe tränenden Auges, ohne etwas von den Möglichkeiten des Abends zu wissen; Weihnachten, wo ich mit angezogenem Paletot im Bett lag und beim Licht einer Straßenlaterne Käfer auf der hellen Wand über mir herumlaufen sah; Weihnachten in einer Waschküche, gehüllt in weiße Dünste, einen Kaffeetopf in der Hand; Weihnachten in einem angenehmen Frauengemach neben einer Stehlampe und einem dunkelhaarigen Mädchenkopf, der sich über Holzschnitte von Schongauer und Dürer, über Schwarzweißblätter von Beardsley beugt, — sie liegt nun zwölf Jahre schon still und beruhigt in Weißensee unter einem prächtigen Monument, aber ich vergesse sie deshalb nicht. Auch Weihnachten im blauweiß karierten Aschinger vor einem Paar Bierwürste mit Salat, und Weihnachten mit einem Handköfferchen in der Hand in einem schönen Geschäftszimmer vor einem zornigen alten weißbärtigen Herrn neben einem offenen Geldschrank. Ja, da stehe ich im siebenzehnten Jahre meines Lebens, bei mir mein Kamerad, der Sohn des zornigen Kaufmanns, der mir eine ungeheure, donnernde Rede gehalten hat, ob ich mir einbildete, daß er meine verrückten Streiche hinter dem Rücken meiner Eltern unterstützte, worauf er den Geldschrank aufschloß, seinem Sohn bedeutete, daß er auf denselben achtgeben solle, bis er wiederkäme, und verschwand. Da bestahl nun der Sohn den eigenen Vater, und B. Bogner fuhr in dieser Nacht in die Welt, um ein Maler zu werden.

Ich sehe, man kann Weihnachten auf so vielerlei Arten begehn, wie es Dinge an diesem Tage zu essen giebt.

Dies glaubte ich Ihnen sagen zu müssen. Nehmen Sie es freundlich auf! In den nächsten Tagen fahre ich zum Herzog. Je nachdem wie die Arbeit vonstatten geht, komme ich im April oder Mai nach Altenrepen.

Gute Nacht, freundliches Wesen!

Bogner

Georg an Magda
(Telegramm)

24. Dezember

Hier ist Georg, Anna, steht draußen vor der Tür und weiß nicht, ob jemand drinnen ist. Erlaubst Du ihm, ganz leise anzuklopfen, weil Weihnachten ist? Ich bin in Trassenberg, diese Hälfte des Semesters war schrecklich. Mama und Papa wünschen Dir und Deinem Vater ein schönes Fest, ebenfalls Dein einsamer alter Georg.

Magda an Renate

Am ersten Feiertag

Renate, es liegt Schnee! Über Nacht ist er leise heruntergefallen, während ich fest und warm schlief, und am Morgen schien er durch einen Spalt im Vorhang so hell herein, daß ich gleich hinlief, und da war draußen alles weiß und still, weithin, und kein Unterschied mehr zwischen unserm Obstgarten und dem Park; überall standen die schwarzen Bäume mit dicken weißen Pelzen, und ich hatte die größte Lust, gleich in die Weihnachtsstube hinunterzulaufen, — hast Du das auch getan? damals als man noch klein war? um nachzusehn, ob auch alles noch da war? — um nach meinem himmlischen Feepelz zu sehn und vor allem nach dem Kimono. Aber davon mußt Du Dir von Bogner erzählen lassen. Nämlich, ich bin heut zum ersten Mal draußen gewesen, nur ins Schlößchen hinüber, um ihn zu besuchen, und da war er grade dabei, einen Brief für Dich in den Umschlag zu tun. Den nahm ich ihm weg, und schließlich erlaubte er mir, ihn zu lesen. Geheimnisse standen ja wahrhaftig nicht drin. Nein, was er für ulkige Briefe schreiben kann!

Weißt Du, Renate, wir wollen ihn ja ruhig dabei lassen, daß ich seiner Kimonoidee alles verdanke, und wirklich, — ein wenig schäme ich mich sogar, daß er mich so überlistet hat. Ich wußte ja selber nicht, wie gern und wie lange schon ich wieder ganz gesund werden wollte, aber schon die letzten Tage war mir so sonderbar! Auf einmal war es so schön, müde zu sein, und dann konnte ich mich auf nichts mehr besinnen. Alles war hingeschwunden oder so fremd geworden, daß es mit mir gar nichts mehr zu tun zu haben schien; es war alles wie zugedeckt, ja, wie das Land von der Schneedecke, und ach, ich möchte ja so innig, so innig möcht ich hoffen, daß es im Frühjahr, wenn die Decke schwindet, alles neu und anders geworden ist!

Ich kann gar keine Gedanken mehr fassen. Es kommt mir vor, als ob ich die ganze Welt durchgedacht hätte, und Jahre um Jahre hätte es gedauert, aber nun stehe ich am andern Ausgang und weiß kaum, wie ich dahin gekommen bin. Hilf mir nun, Du Gute, hilf mir, daß ich nicht wieder anfangen muß, immer nur das Düstere und Beklemmende zu denken! Hilf mir, daß ich so einfach und gläubig sein kann wie Du, ich bin ja schwach und einsam, und es geht sich so schwer unter solcher Last von Gedanken, — möchtest Du nicht, daß ich für ein paar Wochen zu Euch käme? Am liebsten käm ich ja morgen schon, aber vor Neujahr leidets Vater nicht; später wird er mich wohl ganz gern entbehren. Wüßt ich nur, was aus dem armen Jason werden soll! Vielleicht läßt er sich mitnehmen, ich muß ihn einmal fragen, wo er eigentlich zu Hause ist. Bogner ist über Nacht eingefallen, wie er mich malen muß; er hats freilich wieder vergessen, aber das sei keine Frage, sagt er, daß er es wieder fände. Dazu braucht er aber mich nicht mehr, und nun will er in den nächsten Tagen nach Trassenberg zum Herzog. Denk Dir nur, wie rührend er ist! Er hat mir einen herrlichen Lampenschirm gemacht aus lichtgrünem Papier mit einer Menge Kreise und darin schwarze Silhouetten von lauter lustigen Personen: Harlekine und Pantalons und Kolombinen, phantastische Vögel und Affen, und das hat er alles selbst geschnitten und aufgeklebt. Sonst hab ich natürlich eine Unmenge Sachen bekommen, die wirst Du alle zu sehn kriegen.

Ja, — ein Telegramm ist auch gekommen, ein langes von Georg. Der liebe, er hat mich also doch nicht ganz vergessen. Es scheint ihm nicht gut gegangen zu sein, ich hörte von Papa, daß er in einem Korps aktiv geworden ist, und das ist wohl nichts für ihn. — Ach, das ist nun auch alles so weit entfernt, und ich weiß nicht einmal, ob ich wünschen darf, daß ich einmal wieder hin finde.

Deinem lieben Onkel laß ich viel, vielmals danken für die wunderbaren Handschuh! Sie passen genau.

Und nimm zum neuen Jahr tausend Wünsche für alles Gute und Liebe und Schöne, alle Erfüllung und viel, viel Freude! Von Deiner

bald wieder ganz gesunden
Magda

Renate an Magda

28. Dezember

Mein Liebstes,

ja, ja, natürlich kommst Du, sobald Du kannst oder willst! Es läßt sich ja gar nicht beschreiben, wie unendlich glücklich Dein Brief mich macht, und ich kann die Zeit nicht abwarten bis zum Wiedersehn! Vergiß weder Tanz- noch Schlittschuh, ich laufe den ganzen Tag auf einem schönen Teich, anzusehn wie ein Komet mit einem so langen Schweif Männer hinterdrein.

Ein Wörtlein, mein Kleines! Dein vorletzter Brief hat eine kleine Stelle, in deren Licht ich etwas, von dem ich bisher nichts wußte, und das doch da und wunderbar schön war, plötzlich erkannt habe, und nun ist es aus damit. Ich schreibe Dir das, nicht weil ich Dir böse bin, sondern damit Du es weißt und niemals — hörst Du? — niemals wieder daran rührst!

Auf Wiedersehn, Herzlein! Komm hoffnungsvoll und dankbar ins neue Jahr! Innige Küsse und Gedanken Deiner alten

Renate

Nein! nein, er ist zu schön! gar zu schön! Immer wenn ich schreibe, steht er nun vor mir und sieht über mich hin mit seinem ewigen Blick! Ech-en-Aton heißt er, ein ägyptischer König vor 2500 Jahren, der zur Sonne betete, und es ist der Gipsabguß einer kleinen Büste von ihm — nur Kopf, Hals und die Ansätze der Achseln — den ich von Georges bekam, meinem Freund Saint-Georges. Stelle Dir nur vor: ein Gesicht nicht größer als meine Hand, so zart wie der frische Schnee, mit — seltsam zu sehen für mich! — mit Georges eigenen, flachsitzenden, länglich geschnittenen Augen, auch seiner Nase — die hier so klein ist und zart wie die eines jungen Tiers, und auch der Mund ist wie Georges’, vorgewölbt, und bei meinem König so wie der eines Seraphs, auf dem immer der Name der Dreieinigkeit ruht wie ein Kuß. Ernst ist er sehr, und nur in den äußersten Winkeln der Augen glänzt manchmal die Allwissenheit wie der Hauch eines Lächelns. Und schön ist er, schön — ach atemberaubend schön! Bald 3000 Jahr alt soll dies sein, diese Blüte von Frische, diese Narzisse des Himmels! es ist nicht zu glauben! So komme nur, komm und sieh, und Du wirst heil sein im Augenblick!

R.

Renate an Bogner

am 31. Dezember

Ein gesegnetes neues Jahr wünscht
Renate von Montfort
So hat sich doch alles zum Besten gewendet.

Sechstes Kapitel: Januar

Zwiegespräche:
Das eine.

Georg lag, im verbundenen, wunden Kopf einen ganzen Pechkessel voller Lohe, auf seinem, schräg ins Zimmer gestellten Diwan. Aus dem brodelnden Pech spritzten und fielen des öfteren brennende Tropfen in sein Gewissen, wo sie dann abscheuliche Verheerungen anrichteten, — ohne sein Verschulden, wie er schwermütig festhielt, denn so schlapp meinte er eigentlich nicht zu sein, daß er sich von Verzweiflung über seine verkehrte Lebensart einschlucken ließ in einer Stunde leiblicher Peinigung, und so mühte er sich ab, irgendwo in seinem Innern eine Stelle leer zu halten, allwo er selber lag und sich nichts anfechten ließ.

Aber wäre nur nicht das schändliche Glockenläuten gewesen! Dieses immerwährende, weit ferne musikalische Rumoren in der Stille des Sonntagnachmittags — wo nur einmal eine unbekannte Türe ging, ein Schleifen von Schritten unter den Fenstern vorüber —, es bohrte — wie ein Zahnschmerz — nun grade in dieser letzten, leer gehaltenen Stelle herum, und aber und abermal mußte er die Augen öffnen, um durch schmerzliche Lider einen durchbohrenden Blick oben ins kalte Grau der Fensterhelle zu heften, als müßte er sie dort hängen sehn können und ihnen zudrohen, diesen Glocken im öden Winterhimmel. Derweil verdunkelte es sich allgemach im Zimmer, die Möbel wurden mit den Wänden zu schweren, finstren Massen, dumpf und weich erschütterten Schritte über ihm die Zimmerdecke, — es war trostlos zum Sterben.

Hamburg, du schöne Stadt,

Eh tu mon dieu, mon dieu!

Hätt ich dich —

O vermaledeit, nun auch diese plärrende Melodie noch! Weg damit! Weg da —

— nimmer doch gesehn,

Dann wär mein — — Beutel noch nicht leer!

Sacre di bleu!

So, nun wars aus! Nein, es begann vielmehr im Augenblick von vorne: Hamburg, du — schöne Stadt ...

Georg war im Begriff, den Kopf durch die nächste Fensterscheibe zu rennen, als die Flurglocke schrillte. Cora! zuckte es augenblicks darauf durch ihn hin. Unsinn! fuhr er sich hinwieder an, aber er saß aufgerichtet, eine Hand am Verbande vor der Stirn, in der es nun mit verdoppelter Wut zuckte und kochte, und springenden Herzens. Stimmen ... Schritte ... Nein, eine männliche! — Stille ... Wieder Schritte ... zu seiner Tür. Es klopfte, enttäuscht fühlte Georg sein Herz mit Schlagen aussetzen, während er hereinrief und sich erhob.

Im Türspalt erschien das eirunde, in der kalkigen Helle graubleich scheinende Gesicht des Inaktiven Riesa und seine rundliche, sehr gepflegte Gestalt, in einen zugeknöpften braunen Anzug fest eingepackt. Mit seinen zierlichen Schritten, etwas vorgebeugt, um den Sofatisch kommend, streckte er nach seiner Art die lange Rechte, bei knapp an den Leib geschlossenen Ellenbogen, nach vorne aus, Georg entgegen, der, sie ergreifend, sie eisigkalt und knochig fühlte in seiner heißen.

„Nun, nicht mit nach dem Geiselgasteig?“ fragte er gedehnt und erfreut. „Aber wie schön, daß du kommst!“

Riesa, hinter den ungefaßten, sehr dicken Kneifergläsern und mit schiefgezogenem Mundwinkel lächelnd, daß die kahle Oberlippe Falten bekam, drückte ihn mit behutsamen kleinen Handbewegungen auf den Diwan nieder, was Georg sich gern gefallen ließ, denn nach dem Schreck und hastigen Sichaufrichten wars, als ob sich eiserne Kugeln in seinem Schädel stießen. Dann sah er blinzelnd dem Andern zu, der sein Augenglas, den Bügel in der Mitte fassend, vom Nasenrücken löste, es zwinkernd mit weißblonden Wimpern gegen das Licht emporhielt, dann mit der andern Hand aus der äußern Brusttasche sein Tuch hervorzog und sorgsam zu putzen begann. Langsam, so daß Georg zu frösteln begann, verbreitete sich die Winterkälte von seiner Gestalt aus. Dann verschwamm für eine Weile alles vor Georgs Augen, er hörte sich fernher gefragt: „Wieviel Nadeln?“ erwiderte matt: „Dreiundvierzig“, und: „Alle auf dem Kopf“, und gewahrte nun wieder das unbestimmte Lächeln des schiefgezogenen Mundwinkels, auch die große und dunkle Zahnlücke darin, die das Schiefziehn eigentlich verbergen sollte. — Georg dachte, ohne es zu merken, wie jedesmal: Er sollte sich doch einen Stiftzahn einsetzen lassen ... Riesa trat langsam bis zum Fenster, das der über Eck stehende Schreibtisch halb verstellte, und sah auf die Straße, als wollte er versuchen, ob er auch sehen könnte durch den wieder aufgesetzten Kneifer.

Wie fremd ist einem doch so ein ganz naher Mensch! meinte Georg dumpf im stillen. In seiner andern Körperlichkeit so seltsam fremd! Als ob man gar nichts miteinander zu schaffen hätte. Was wird er nun sagen?

Allein der Andre sah vielleicht etwas auf der Straße drunten oder im Park drüben; er sagte jedenfalls beharrlich nichts.

„Wenn du rauchen willst,“ begann also Georg, „Zigaretten stehn da irgendwo ...“

„Danke schön! Du weißt, ich rauche nur meine Zigarren.“ Und nach eines Augenblicks Pause, während Georg sich noch abmühte, wieder zu finden, was er noch eben gedacht hatte und weiter hatte denken wollen, setzte er hinzu, sich halb herwendend und mit seinen kleinen Betonungen bestimmter Worte: „Übrigens wäre es nicht zu liebenswürdig gewesen, — wenn du schon wolltest, daß ich rauche, — wenn du sie mir eigenhändig angeboten hättest.“

Das klang ganz liebenswürdig, er lächelte auch, und Georg lachte, aber unaufrichtig. Was war das für eine sonderbare Mahnung zur Höflichkeit?

Sie schwiegen. Riesa begann, die Hände mit fest angedrückten Ellbogen in den Jackentaschen, hin und her zu gehn, und Georg folgte mit dumpfen Augen den grauen Gamaschen hin ins Dunkel der andern Zimmerhälfte. Hörbar ward wieder das unwandelbar eintönige, ferne Geläut. Dann plötzlich Riesas Stimme:

„Übrigens ... grade heraus, mein Lieber: ich wäre zwar aus eigenem Antrieb zu dir gekommen, leider kann ich dir aber nicht verhehlen, daß auch noch ein andrer vorliegt.“

Da er verstummte, mußte Georg „Nun?“ fragen, beklommen, nach einer Weile.

„Nämlich aus dem des Korps“, sagte Riesa kurz, lüpfte den Zipfel seines Tuches aus der Tasche, so weit, daß er ihn an den Mund drücken konnte, hüstelte hinein, stopfte ihn wieder zurück.

Georg richtete sich aus der halb liegenden Stellung auf. „Habe ich mir irgend etwas ...“

„Zuschulden kommen lassen?“ Riesa blickte mit schief gehaltenem Kopf, die Achseln schmal anhebend, die Ellbogen abspreizend, gegen den Teppich. „Realiter nicht, lieber Georg, a—ber ... man ist des ungeachtet und trotz der so befriedigend verlaufenen ersten Mensur nicht völlig zufrieden mit dir.“

Also haben sies doch gemerkt, dachte Georg, indem er fragte: „Wieso?“

„Du nimmst den Korpsbetrieb nicht ernst.“ — Nein, hole ihn der Teufel, meinte Georg innerlich, er nahm ihn nicht ernst, den Firlefanz. „Habe ich recht, Georg?“ Er machte ein ganz ernstes Gesicht, tadelnd: „Du scheinst dich zu langweilen. Du langweilst dich bei den Mensuren. Du langweilst dich noch mehr im Fuxunterricht. Du singst manchmal nicht mit am Spielabend ...“

Die Zotenlieder! hohnlachte Georg im Herzen.

„Du langweilst dich im Café, bei der Kneipe und beim Exbummel. Du langweilst dich immer und überall, — und nur —“ Riesa sprach immer heftiger und scheltender — „wenn es der Durchlaucht gefällt, einmal guter Laune zu sein, ist sie bei der Sache und wird dann leicht ausfallend in einer sehr unbeliebten, ironischen Art. Ja, entschuldige schon,“ schnitt er Georg das Wort ab, „daß grade ich es bin, der dir das sagt, aber da dein Leibbursch leider zur p. p. Suite abwesend ist ... Und vielleicht ists dir doch lieber, ich bin es, als ein Andrer. Unsre Gesellschaft,“ schloß der kleine, friedliche Mensch aufatmend, aber mit Entschlossenheit, „scheint dir nicht zu genügen.“

Georg war überaus verwundert. Was für eine Seite kehrte ihm denn auf einmal dieser sonst so geistreiche Mensch zu? — Er kam freilich im Auftrag ... Aber nahm ihn doch ernst! Irgendwo hat jeder seine Beschränktheit, dachte Georg enttäuscht und entschloß sich endlich zu einer matten Entgegnung, indem er bemerkte, „unsre“ sei doch mindestens übertrieben.

„Darauf,“ war die nur gereiztere Antwort, „darauf, Georg, laß ich mich nun nicht ein. Ich stehe hier nicht allein, sondern für das Korps. Bitte aber, wenn du dich verteidigen willst ...“

Georg saß, die Ellbogen auf den Knien, die Hände gefaltet, mit schmerzenden Augen in die letzte Helle oben starrend. Da Riesa darauf bestand, das Korps zu verkörpern, was war zu antworten? — Endlich wagte er es:

„Ich glaube allerdings, daß ich ... nicht hierher —, wie soll ich sagen? — Ich meine, nicht wahr, es war wohl ein Irrtum, daß ich aktiv wurde“, schloß er, das Gesicht zu Riesa herumdrehend.

„Irrtümer, Georg?“ fragte der bestimmt. „Die bist du wohl so gut, mit dir allein abzumachen!“ Er kehrte sich zum Fenster herum.

Georg fühlte den Schweiß aus seinen Händen brechen und die Brust eingezwängt von Widerstand und Angst. Sie schwiegen wieder. — Wovor fürcht ich mich denn? fragte Georg sich, immer verdumpfter. Es war jetzt ganz finster im Raum. Georg fragte müde, ob er Licht machen solle, aber der Andre wehrte, wieder ganz liebenswürdig, ab: wenn es seinen Augen unangenehm wäre, dann nicht. — Wieder wars still. Dann begann im Hausflur unten gedämpft das kläffende Bellen eines Hundes, das Haustor wurde polternd aufgeschlagen, das Kläffen jubelte hell auf, Georg glaubte einen kleinen weißen Hund zu sehn, der mit dem rasch in die Ferne verhallenden Gebelfer der Freiheit die Straße hinabschoß. Öde dehnte sich in seiner Brust. Er schloß die Augen. Als er sie wieder öffnete, war es plötzlich hell geworden: durch die Fenster fiel von unten der Schein einer Straßenlaterne quer durch den Raum bis an die Decke.

Georg stand auf und begann, die ganz feuchten Hände auf dem Rücken, auf und nieder zu gehn. Sein Denken setzte aus. Was er hätte sagen können, ließ dem Vertreter des Korps gegenüber sich nicht fassen. Gern hätte er sich entladen, geklagt und getobt. War nicht alles ein einziger großer Brei von Stumpfsinn unter Alkohol? Jeder Einzelne ein irgendwie netter, ja reizender Mensch, wenn man ihn allein hatte, aber zusammen ... da wars, als ob die gegenseitige Berührung sie zu Kreide verwandelte.

„Darf ich eine Frage zur Faktischen tun?“ fragte er schließlich.

„Bitte sehr!“

„Wie bist du eigentlich hier herein — geraten! Wie hast du es hier ausgehalten?“

Riesa schien des trocknen Tones nun satt, schien zu lächeln und meinte, inwiefern das wohl zur Faktischen gefragt sein sollte. „Übrigens ... wie ich hereingeriet? Mein Vater war alter Herr hier, ich stand allein, suchte Menschen, Verbindungen. Wie ich es ausgehalten habe? Ja, Georg, wie haltens die Andern denn aus?“

„Du giebst also zu, daß es schwer ist?“

„Daß es mitunter nicht leicht ist, wer wollte das verhehlen? Ich glaube, es giebt Wenige — und es dürften kaum die Besten sein —, die nicht einmal einen Besuch empfingen wie du zurzeit. Das Korps ist doch kein Kinderspiel.“

Georg hörte kaum die letzten Worte. Pompös, allerdings nur in seinem Innern, erwiderte er: Ich will dir was sagen, Riesa! Obgleich du mir vorhin schon Standesallüren vorgehalten hast, erkläre ich dir rund und schlicht: Das Ganze ist ein Stumpfsinn zum Kotzen! —

Warum sage ich das nicht laut? dachte er erhitzt. Ah, wenn ich einmal Herzog bin! Er fühlte seine Hände naß, aber eiskalt jetzt, plötzlich schlugen seine Zähne aufeinander, ein Frostschauer überflutete ihn, in der Kopfhaut liefen siedende Schlangen. Ich habe Fieber, dachte er und streckte sich, ein Ächzen unterdrückend, auf den Diwan. Ach, wie war das alles widerlich und belanglos!

„Und übrigens,“ hörte er Riesas Stimme in weiter Ferne fortfahren, „ich habe ja meine kleine Medizin. Du hast wohl nicht mehr davon gehört, da sie allgemein bekannt ist. Ich bin als Junge, mit vierzehn Jahren, mal von einer Kreuzotter gebissen und mußte eine halbe Flasche Rum austrinken. Seitdem bin ich immun gegen Alkohol. Höchstens giebt es einen kleinen Nebel, a—ber ... als es alle wußten, verloren sie die Lust, mich viel trinken zu lassen. Es hätte ja doch keinen Zweck ...“

„Ja doch keinen Zweck!“ Nun brauste Georg hochspringend doch auf. „Das, ja das ist der ganze Zweck: besoffen zu werden! Menschenkinder, wo habt ihr eigentlich eure Jugend sitzen? Jugend, ja Jugend, das ists, was ich vermisse. Wir sitzen beieinander wie die Greise, steigen herum wie die Greise, fechten steif wie die Greise, und —“

Er stockte, da Riesa sich mit einer aufhorchenden Bewegung zur Tür umwandte. „Hat es geklopft?“

Gleich darauf pochte es wieder. Georg rief: „Herein!“ In der Tür erschien das Hausmädchen mit einem Brief. Ein Bote habe ihn gebracht. Sie verschwand wieder. Georg, eine fremde Frauenhand auf dem mattvioletten Umschlag erkennend, trat mit fragendem „Du erlaubst?“ zum Schreibtisch und ließ unbedacht die elektrische Lampe aufflammen, die zwei blendende Schwerter in seine Augen stieß. Es dauerte eine Weile, bis er auf dem Briefbogen die dünnen und runden Schriftzüge dämmern sah, endlich die Unterschrift: Ihre Cora. Aber er konnte sich nicht einmal recht freuen in seinem gereizten Zustand. Er entzifferte:

Aber was ist das, Georg? Sie kommen nicht? Ein Brief auf köstlichem Papier? Ein Unfall? Georg, an Unfälle glaube ich prinzipiell nicht! Der Mann meiner Freundin sagt, es würde wohl ein Duell gewesen sein. War es, Georg? (Sie erlauben doch, daß ich Georg schreibe, Durchlaucht finde ich gräßlich!) Etwa meinetwegen?!? Sich einer Frau wegen duellieren, fände ich schön, obschon es an sich abscheulich ist. Ich bin furchtbar in Sorge, Georg! Ich glaube, ich werde heut nachmittag, wenn mich mein Weg in die Nähe Ihrer Wohnung führen sollte, auf eine Minute bei Ihnen hineinsehn. Nur um mich zu überzeugen. Oder schickt es sich nicht? Ich habe keine Ahnung! Erwarten Sie mich jedenfalls nicht! Wenn ich es nur aushalte vor Unruhe! Georg, wissen Sie, daß ich sehr erschrocken bin? Hieraus bitte ich aber keine falschen Folgerungen zu ziehn! Also ich komme bestimmt nicht!!!

Es sei denn, die Tante, die ich besuchen muß, ist gar zu langweilig.

Ach Gott, da fällt mir ein, daß ich ja morgen abreise. Sehe ich Sie denn noch? 8 Uhr 30 geht der Zug. Für alle Fälle also gute Besserung und auf Wiedersehn in einer schöneren Welt! Sind Sie traurig?

Ihre
Cora

Georg hatte, als er gelesen, neben der Erregtheit der augenblicklichen Erwartung ein unbestimmtes Gefühl von Schmetterlingen oder Motten oder Raupen; vielleicht geflügelten Raupen. Immerhin — solch ein Wirrwarr es war, schien es doch entzückend in seiner Art. Eigentlich war nichts zu unterscheiden, jeder Satz meinte etwas Andres, als er sagte. Sicher kommt sie, dachte er triumphierend, erinnerte sich nun Riesas und wandte sich zu ihm, unschlüssig, was er sagen sollte. Zum Glück fiel ihm Bogner ein, von dem sich leicht eine Überleitung finden ließ, und er fragte, das Briefblatt in den Händen drehend:

„Sag mal ... was ich schon lange fragen wollte ... erinnerst du dich, einmal Bilder von einem Maler Bogner gesehen zu haben, Benvenuto?“

„Bogner? Ja, ich denke. In Berlin bei Cassirer, nicht wahr? Eine Landschaft?“

„Möglich. Er ist nämlich —“

„Ja, jetzt erinnere ich mich. Ein Blick in ein Flußtal, beim ersten Hinsehn ganz konventionell anscheinend, aber in Wirklichkeit war alles auf eine sehr besondre Weise vereinfacht, und die Farben hatten ihr Geheimnis. Es erinnerte mich an gewisse Zeichnungen von Kokoschka; es giebt da einen weiblichen Kopf — erinnerst du? — in den dicken Konturen nahezu akademisch anmutend —“

„Die aber in Wirklichkeit Schnüre aus hundert zitternd lebendigen Strichen waren, — oh natürlich, Kokoschka!“ fiel Georg ein. Und nun mußte er auf Riesa zutreten und in bittendem Tone sagen:

„Nun hör einmal, Lieber, findest du es nicht auch schöner, von Kokoschka und dergleichen zu sprechen, anstatt ...“ Er versuchte, dem vor ihm Stehenden eine Hand auf die Schulter zu legen und sie zu streicheln, der aber tat, als ob Georg nach ihm schlagen wollte, duckte sich lächelnd und abwehrend und rief, während Georg nun tätlicher auf ihn eindrang: „Jedes zu seiner Zeit! Schaff dir eine Kreuzotter an, Georg!“

„Es giebt ja keinen Zoologischen hier!“ lachte Georg, Riesa gegen die Tür pressend, allein jetzt kam ihm über der Vorstellung einer Kobra Cora wieder ins Gedächtnis, und er sagte, von dem Andern ablassend:

„Die Sache ist nämlich die: ich kenne diesen Bogner, von früher her, ja, und nun habe ich vor ein paar Wochen eine Schwägerin von ihm kennen gelernt, durch Zufall. Sie ist hier zu Besuch, und sie schreibt mir eben, es wäre nicht unmöglich, daß sie heut nachmittag ...“

Riesa lächelte mit schiefem Mund. „Im Augenblick bin ich verschwunden.“ Er griff nach der Türklinke. „Auf Wiedersehn, Durchlaucht! Vergiß nicht, weshalb ich kam!“ Schon auf dem Flur und beim Mantelanziehn sprach er weiter von Pflichtbewußtsein, und was Irrtümer betreffe, die Georg angedeutet habe, so sei das seine Sache. Mißlaunen an seiner Umgebung auszulassen, sei entschieden inferior ...

Dann fiel die Flurtür hinter ihm ins Schloß, Georg ging, frierend vom Kältehauch des Treppenhauses, in sein Zimmer zurück, raffte Coras Brief wieder an sich, allein das Licht schmerzte empfindlich, er glaubte, nun wirklich zu fiebern, löschte die Lampe und streckte sich auf den Diwan.

Bald erschien ihm Coras Gesicht, das flattrige, braune, rötliche Haar, die mattblauen Augen unter dem sonderbaren Gürtel brauner Sommersprossen, der blasse Mund mit zu dicken Lippen ... Wie mag ihr Mann wohl sein? Eigentlich war es doch peinlich — gerade Bogner gegenüber. Peinlich? Es war doch nichts geschehn! Aber sie war wohl kaum ganz echt. Freilich: für ihren Mann war sies doch. Sie kam! — Sein Herz pochte wieder mit Nachdruck. Er wartete. Er wußte die Zeit nicht, wollte sie auch nicht wissen, um das Warten nicht durch Berechnungen peinlicher zu machen. Und dann taumelte ein Mänadenschwarm von Vorstellungen durch sein Gehirn. Er hörte ihr Klopfen an seiner Zimmertür, sie war da, er öffnete, er sah deutlich ihren Schattenriß, den großen, schwarzen Hut ... allein auf diesem Punkt erlosch alle Vision: er konnte keine Vorstellung für ihre Haltung finden in diesem Augenblick, für ihr Wesen, ihr schillerndes Wesen. Auf der Suche nach einer leibhaften Erscheinung von ihr, kam alsbald der Saal in der Schackgalerie hervor, das große Tizianbild in der Lenbachschen Kopie, davor — ihm selber den Rücken zuwendend — jene, noch ganz fremde, sehr schmale Gestalt, im übergroßen, flachen Hut, eine Pelzjacke überm Arm, in grauem Kleidrock und violetter Seidenbluse mit leicht angerissener Rückenschnalle. Und die hellweiche, unsichre Stimme fragte ein unscheinbares Weibwesen neben ihr mit etwas klagendem Tonfall und prätenziös: „Tizian? Aber das ist doch ganz Lenbachs Technik!“ wobei sie plötzlich das Gesicht zu Georg herumwandte, ihn voll anblickend aus blassen Augen. Und er — mit ihm selber unbegreiflicher Gefaßtheit — fing gleich an zu erklären: Eine Kopie ... es seien lauter Kopien ...

Die Stuckornamente an der Decke über Georg, vom Laternenschein hell beleuchtet und schattenwerfend, verschwammen langsam. Er vernahm die tiefe Regungslosigkeit der sonntäglichen Stille im Haus. Die Glocken waren verstummt. Sie kam noch immer nicht ...

Das andre

Georg fuhr mit einem Schreck in die Höhe, am Erwachen merkend, daß er geschlafen hatte. Er lauschte wild. Sein Herz sprang und jagte. Alles war still. Nach wie vor teilte das einfallende Laternenlicht den Raum in zwei schiefe Hälften von Glanz und Düsternis. Hatte es geklopft? geklingelt? Wie lange hatte er geschlafen? — Totenstille. — Nein, die Glocken! Kaum hörbar fern bewegte sich wieder das wogende Durcheinander von Tönen, jetzt vergehend unter dem wütenden Sausen seines beim Hochfahren in den Kopf geschossenen Blutes, dessen folterndes Brodeln ihm nun eine fast unerträgliche Gier erregte, die heiße Bindenlast abzureißen, und schon spürte er im Loszerren und -wickeln, wie es leichter wurde, kühler, ganz kühl ... dann wieder die Glut, denn er saß unbeweglich, die Hände an den Schläfen, die Brust übervoll von namenlosen Befürchtungen. War sie nicht gekommen? Und kam sie noch — was konnte es für Wert haben, bei diesem, seinem Zustand? Er war zum Unglück geboren. Er tat Falsches; dann kam das Rechte zur falschen Zeit.

Endlich zog er die Uhr aus der Weste und mußte, das Zifferblatt ins Licht haltend, erkennen, daß es bereits halb sieben war. Sie war ausgeblieben.

Elend im Herzen stand Georg auf und schlich zum Fenster. Vor der Laterne unten, jenseits des Fahrdamms, der glänzend schwarz war, wehte ein feiner, glitzernder Schleier von nassem Schnee herunter. Über ihre grünliche Helle hinweg sah er die bläuliche Schneedecke am Boden des Parks unter dem schwarzen Netz von Astgewirr, eine weiße Wiesenfläche in der Ferne, darüber die Wand des Himmels, ganz violett. Lange, gedankenlos, starrte er hin, und sein ganzes Innres füllte sich, sog sich voll derweil mit einer Trostlosigkeit ungeheuer.

Ihm schien alles unentrinnbar geworden. Die tiefe Öde seines Korpslebens hielt ihn gepackt wie ein Polyp mit hundert weichen, geisterhaften Armen; er wußte nicht, wie entkommen, wußte nicht, wie es ertragen nur bis ans Ende des Semesters. Und dabei, dachte er hochfahrend, wenn sie wüßten, wen sie vor sich haben! Ah, wenn ich Herzog bin, werde ich dafür sorgen, daß dieser Stumpfsinn ein Ende nimmt! Wenn sies nur schon wüßten! Dann würden sie brav ihren Kotau machen und — aber was hilft mir das! — Er fühlte sich wieder umzingelt, und die Zeit stand still. Cora — das war doch eine Oase gewesen; so anfänglich, wie es war, so reich an Möglichkeiten, an Phantasie, an Gefahren! Morgen reiste sie ab. Morgen, dachte Georg, kann ich schlafen, solange ich will, da ich nicht zum Fechtboden zu gehn brauche, — das ist ein Trost!

Da gedachte er Annas. Er gewahrte mit einer kleinen Drehung des Kopfes zur Rechten ihre Photographie im Dunkel auf dem Schreibtisch; die Fläche glänzte gläsern, die Züge blieben unsichtbar. Ja, unsichtbar, denn dies war aus. Sie wollte es ja! Traurig immerhin, daß er sie so schnell vergessen hatte. Nein, nein, es war klar: das war in Wahrheit keine Liebe gewesen, und so hatte sie mit ihrer Forderung an ihn unbewußt das Rechte getroffen. Wenn nur das Telegramm zu Weihnachten nicht wieder Hoffnungen in ihr erregt hatte ... Aber was war zu machen?

Plötzlich wehte es ihn von dem Bilde her an, Rührung, Zärtlichkeit, ein mattes Verlangen, und die Vereinsamung. Er ging hin, beugte sich über den Tisch, suchte nach ihren Zügen, und als er die lieblichen dämmern sah, schienen freundliche Erinnerungen leise zu erwachen. Er seufzte, griff in die Tasche nach seinem Schlüsselbund, schloß die Mittellade des Schreibtisches auf, zog sie vor, und da lag gleich Annas Brief, der Scheidebrief, auf den er, übergebeugt mit aufgestützten Händen, hinabstarrte, minutenlang ohne Gedanken.

Das Schrillen der Flurglocke sauste so gefährlich durch ihn hin, daß er nahezu schlotterte. Da! da! das war sie! Er warf die Lade zu, sie wollte nicht schließen, seine Hand zitterte, er warf das hinderliche Schlüsselbund links herum und rechts, riß endlich den Schlüssel heraus und stand und horchte derweil wie ein Einbrecher nach draußen, wo es jedoch so still blieb wie zuvor. War er allein in der Wohnung? Mußte er selber ...? Ah ja, und wenn er hinging und öffnete, so stand da ein Dienstmädchen oder dergleichen, so wie bei Pragers an totenhaften Sonntagnachmittagen, und fragte schüchtern nach Fräulein Lina.

Nein, nun mußte er doch gehn. Und angehaltenen Atems, im Wirrwarr von Zuversicht und Erwartung des Enttäuschtwerdens, schritt er zur Tür, über den Flur zum Glastor und öffnete. Da stand sie.

„Also doch noch!“ sagte er, unendlich befreit.

Sie stand, zurückgewichen bis ans Treppengeländer, die Unterarme in einer großen, grauen Feemuff, die, wie ihre Jacke aus gleichem Pelz, verklebte nasse Haare hatte, das blasse Gesicht, halb im Schatten der breit geschweiften Hutkrempen, aufgehoben mit unbestimmtem Ausdruck, und auch an Nase und Kinn glitzerte es leise von Tropfen.

„Prinz, wie sehen Sie aus!“ sagte sie endlich schwach.

„Ich! seh ich aus?“ Er faßte sich an den Kopf. „Ach, das macht nichts! Bitte, kommen Sie doch herein!“

Aber sie beharrte in ihrer Haltung. „Sie sind ja ein furchtbarer Mensch! Also wirklich so ein gräßliches Duell! Wie kann man nur! — Soll ich wirklich hereinkommen?“ fragte sie dann, seine ausgestreckte Hand erfassend, und ließ sich hineinziehn, wobei sie so dicht aneinander gerieten, daß er seine Hand in ihren Arm schob. Sie sagte halblaut: „Ich fürchte mich aber!“ So führte er sie den Gang hinunter.

Als er die Tür zu seinem Zimmer öffnete, rief sie laut: „Oh Gott, wie riecht es hier! Sind Sie das, Prinz? Jodoform oder so. Ach, entschuldigen Sie nur, das durft ich wohl nicht sagen? Hab ich nun Ihre Ehre gekränkt? Dann müssen wir uns auch duellieren.“

Georg befand sich in einem Wortschwall. „Nein,“ sagte sie, als er nach ihrem Muff griff, „ich will nicht ablegen, auf keinen Fall, Durchlaucht! Den Muff, o ja, den können Sie haben. Gott, wie entzückend Sie wohnen! Da haben Sie ja den ganzen Park vor dem Fenster! Lieben Sie den Englischen Garten auch so? Überhaupt München! Oh, ich liebe München! Eine himmlische Stadt! Kennen Sie Magdeburg? Magdeburg ist der Tod. Nein, daß ich nun wirklich hier bin! Prinz, das dürfen Sie mir nie vergessen! Werden Sie? Schwören Sie es! Ich hätte wirklich nicht gedacht, daß ich kommen würde! Auf der Treppe bin ich dreimal umgekehrt. Glauben Sies nicht? Nein, wie entzückend Sie eingerichtet sind! — Kein Licht!“ antwortete sie auf Georgs Frage, „dann muß ich mich zu sehr schämen.“ Sie lachte. Vor ihn tretend, fragte sie dann sehr besorgt, wie es ihm eigentlich gehe. „Ach, Sie haben sicher Schmerzen, und ich rede in einem fort. Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung. Nun bin ich gleich still, Sie legen sich schön auf den Diwan, und ich setze mich zu Ihnen. Aber nicht dicht!“ Sie lachte wieder, Georg ließ sich zum Diwan drängen, setzte sich auch, stand aber gleich auf, da sie an ihrer Jacke knöpfte, half ihr sie öffnen und ausziehn und hängte sie über einen Stuhl. Unterweil redete sie fort:

„Sie wissen doch, daß ich morgen reise? Sonst wäre ich ja auch nicht gekommen. Bestimmt reise ich, Georg.“ Sie drehte den Armstuhl vorm Schreibtisch herum, nicht ohne einen Blick auf Annas Bild, und setzte sich, während Georg sich halbliegend über den Diwan streckte. „Meine Tante war entsetzlich eben. Kanarienvogel, Sofaschoner, sittliche Entrüstung, es war alles da. Georg, Sie sagen ja gar nichts! Nun sagen Sie bloß, warum fechten Sie eigentlich? Es ist doch so unzeitgemäß! Sport ist viel gesünder. Im Sommer besuchen Sie mich einmal, und wir rudern zusammen. Ich rudre leidenschaftlich. Sie?“

Georg versicherte, gleichfalls mit Leidenschaft zu rudern, worauf sie erklärte, sie käme um vor Durst. — Ob sie einen Likör trinken möge?

„Likör? Aber Durchlaucht! Was haben Sie denn für welchen? Ich trinke nur süßen. Oh ich liebe Likör! Finden Sie das gräßlich? Ja, ich bin ein lasterhaftes Weib ...“

Ihre Stimme flatterte im Raum umher so unsicher wie eine Fledermaus, eine blaßgelbe Fledermaus, dachte Georg, indem er eine Flasche Sherry Brandy und zwei Gläser aus dem Schrank holte, die er füllte. Sie stießen mit dem kleinen Finger an, Georg konnte nichts trinken und stellte sein Glas wieder hin, während sie das ihre in kleinen Schlucken leertrank.

Dann, nachdem er einiges gesagt hatte, von seiner Freude über ihr Kommen, seiner Einsamkeit und einem unangenehmen Besuch, den er gehabt habe, saß sie still da, nachdenklich, wie es schien, und Georg geriet wieder in die Erinnerung an Riesas steifes Geschwätz und seine eigene unterbrochene Anklagerede. Ohne sein Zutun ballte die sich wieder in ihm zusammen; jetzt konnte er sie zu Ende bringen und sich erleichtern.

„Sie wundern sich über mein Fechten,“ fing er an, „aber das ist noch das Netteste vom Ganzen. Ach, darüber sprachen wir ja schon! Heut kommt einer, ganz steif, im Auftrage des Korps: Ja! — und: kurz und gut: mein Benehmen ist ihnen aufgefallen, und er warnte mich. Er war steif wie von Pappe, bloß mit einer Vorderansicht bemalt. Hier ist einer immer steifer als der Andre. Das ist die studentische Jugend! Achtzehnhundertdreizehn, da hätte man leben sollen! Da war Jugend noch Feuergeist. Ja, wenn man noch unbändig wäre, Bande sprengte, die des Ich und somit die bürgerlichen; über die Stränge schlüge und etwas übte, das — das Wirkung hätte, das — wenn auch nur Erstaunen und Entsetzen meinetwegen von irgendwem hervorriefe! Daß doch wenigstens der Bürger das stumpfe Bewußtsein hätte von einer andern, einer leichtern, freiern, kühnern, jüngern Welt!“ Wie schön sie dasaß und lauschte! Georg fühlte sich fast schmerzlos im Weiterreden. Ihm kamen bunte Einfälle. „Wenn man — also meinetwegen auf lauter Schimmeln in roten Badehosen hellmittäglich durch die Stadt ritte und am Stachus Gaudeamus sänge. Wenn man Serenaden brächte, eine vergötterte Sängerin unter Bergen von Sträußen begrübe ... Was meinen Sie? Wenn man zum Beispiel alle Hebammen der Stadt mitternachts zum Zentralfriedhof bestellte, um die Toten des Todes zu entbinden.“ Georg mußte auflachen über eine neue Vorstellung, die er vor Lachen kaum über die Lippen brachte: seine sämtlichen Korpsbrüder, die mit umflorten Zylindern und Kerzen in den Händen einem Sarge folgten, in dem ein toter Hund lag, und den sie unter Musik feierlich begrüben, bloß um aufs Grab schreiben zu können, daß hier ‚der‘ Hund begraben läge.

„Entzückend, Georg,“ sagte sie nun, „aber warum tun Sies nicht? Machen Sie den Anführer!“

Georg warf sich herum und stand auf, nicht ohne Verwirrung. „Ja,“ sagte er, „da stehe ich und denke mir was, aber ich führe es ja auch nicht aus. Ja, und glauben Sie vielleicht, ich würde Gefolgschaft haben? Erstens bin ich ein krummer Fux, der den Mund zu halten hat, und zweitens ... Ich sagte es ja schon: vor hundert Jahren gab es dergleichen vielleicht. Aus Übermaß der Gefühle, aus Jugend, nur aus Jugend, könnte dergleichen ja doch nur losbrechen, aber wo giebts die heutzutage? Sie müssen sich ja voll Bier schütten bis zum Hals, um nur munter zu werden, und was herauskommt, ist bloß Radau oder — wieder Bier.“

Cora hob die Achseln. „Gott, Georg,“ sagte sie spitz und verzichtend, „Sie brauchen sich doch eigentlich nicht zu beklagen. Sie sind doch frei! Sie sind ein Mann. Aber sehen Sie mich an! Ich bin gebunden. Ach, und die bürgerliche Atmosphäre, in der ich sitze — — Georg, glauben Sie mir, ich kann nächtelang liegen und weinen vor lauter Verzweiflung. Die Ehe ist — ich will Ihnen sagen, was sie ist! Ein Verbrechen gegen das keimende Leben. Man ermordet sich gegenseitig, auch wenn mans noch so gut machen will. Mein Mann ist sehr gut, Georg! Aber was hilft das? Die beständige Reibung. Und ich bin so ganz unbürgerlich. Ich bin zu amüsant. Mein jüdisches Blut, wissen Sie! Mein Großvater war Jude, ein Prachtmensch, oh ich liebe ihn, unbeschreiblich! Daher das Kritische an mir. Immer Widerspruch, — das ist doch das einzig Gute am Judentum: der Sauerteig der Nationen. Ich hätte Schauspielerin werden sollen. Als Kind wollte ich immer. Auch später noch. Ich habe sogar Unterricht gehabt, aber dann verliebte sich mein Lehrer in mich, und es nahm ein Ende mit Schrecken.“ Sie lachte, seufzte dann schmerzlich.

„Aber Sie konnten doch einen andern Lehrer nehmen?“ meinte Georg widersprechen zu müssen, brennend erregt von ihren Aufschlüssen.

„Gott, Sie wissen doch, Georg,“ erwiderte sie matt, „ich heiratete eben.“

„Ja, aber weshalb denn?“

„Weshalb? Einmal muß man doch. Und Herbert wollte es ja durchaus. Er war so rührend! Sie machen sich keine Vorstellung, wie rührend er war! Da giebt man denn schließlich nach. Übrigens müßten Sie mich einmal deklamieren hören und Ihr Urteil sagen, ganz ehrlich! Kennen Sie Werfel? Oh wie ich den liebe! Er ist so ausschweifend. Kennen Sie das:

Wenn abends Heimkehr endlos durch die Gassen geht,

Erhebt ihr euch von eurem täglichen Gerät ...

‚Lesbierinnen‘ heißt es.“

„Wollen Sie es nicht sagen?“

Sie stand auf. „Aber wie spät ist es denn? Georg, ich muß spätestens um acht in der Schellingstraße sein. Meinen Sie, daß noch Zeit ist? Also hören Sie zu!“

Sie hatte sich drüben im Schatten vor dem Bücherschrank aufgestellt, so daß Georg von ihrem Gesicht nur den Schein sehn konnte. Dann begann ihre unsichere Stimme, die sie möglichst geheimnisvoll zu machen suchte, halblaut und mit pathetischer Eindringlichkeit:

„Wenn abends Heimkehr endlos durch die Gassen geht,

Erhebt ihr euch von eurem täglichen Gerät.

Zwei süße Näherinnen, noch vom Radgesang umspült,

Jetzt wandelt ihr, von Wind und Müdigkeit gekühlt.

Entfacht daheim, ihr Kinder, euren Samowar

Und löst das leichte, luftverspielte Haar ...“

Georg, der das Gedicht kannte, benutzte die Gelegenheit, sich zu sammeln und sich für Minuten ganz der Folter seines Kopfes zu überlassen. Fiebernd, schweißbedeckt am ganzen Leib, hörte er ihre Stimme ferner und ferner verhallen, endlich wieder lauter mit den Schlußzeilen:

„Doch ist auf jeder Lippe Tod und Rache da,

(Ha, der verruchten Küsse angeklagte Kette!)

Schlaft ein,

Schlaft ein in eurem Bette!

Dem tausendfachen Geist der Liebe seid ihr nah.“

Als sie dann schwieg, hielt er Schweigen für den zartesten Ausdruck der Bewunderung und bemerkte erst nach einer Weile achtungsvoll, das Gedicht fände er eigentlich weniger schön als ...

„Pervers, nicht wahr?“ sagte sie flott, „aber schön!“ und kam langsam durch das Zimmer zu ihm, Bangnis seltsam aushauchend mit einmal. Trotzdem wagte er es, ihre Hände zu fassen. Hatte er daran gezogen? Sie war plötzlich auf seine Knie nieder geglitten und wäre gefallen, wenn er nicht den Arm um ihren Rücken gelegt hätte.

„Georg, was tun wir?“ sagte sie heftig atmend. „Nein, ich bin Ihnen ja viel zu schwer!“ lachte sie dann. — Sie war wirklich schwer.

Plötzlich — — was war denn nun das gewesen? Eine heiße, feuchte Berührung an seinem Ohr, und sie war aufgesprungen. Hatte sie wirklich die Zunge in sein Ohr ...? Er wollte auf und ihr nach, doch durchschnitt in diesem Augenblick der grelle Schein der aufflammenden Schreibtischlampe seine Augen, und geblendet sah er ihren Schattenriß, über die Lampe gebeugt, neben die sie Annas Bild hielt. Dann hörte er ihre Stimme:

„Prinz, wer ist das? Welch ein entzückendes Gesicht! Wie zart ist es! Lieben Sie sie? Ich weiß, daß Sie sie lieben! Erzählen Sie mir von ihr!“

Sie stellte das Bild wieder hin und ging an das Fenster. Was mochte sich nun in ihr bewegen? fragte sich Georg, noch schweigend und nach Worten suchend. War sie eifersüchtig? — Mit leiser Stimme brachte er vor, er habe dies Mädchen wohl geliebt, aber es sei längst aus, sie habe es nicht gewollt, — und mehr dergleichen, was ihm selber plump und trivial vorkam. Sich schämend, senkte er den Kopf und schloß die Augen, mußte aber nun denken, daß, wenn sie ihn so sitzen sah, er ihr von Erinnerung übermannt scheinen mußte, und daß dies ihm nicht eben zuwider war. Gleich darauf hörte er das Rauschen ihres Kleides, sah auf und sah sie verschwommen in der Dunkelheit über sich, und der Hutschatten verdeckte das ganze Fenster mit der Laternenhelle. Wieder nahm er ihre Hände. Sie beugte sich herab und küßte schonend seine Stirn oder vielmehr den Verband darüber, und dann saß sie, weich hingeschmolzen, auf seinem Schenkel, er küßte ihre Wange einmal und noch einmal, suchte ihren Mund, erreichte ihn, aber kaum daß er ihre Lippen gefühlt hatte, ganz kalt und fleischig, war sie aufgesprungen und von ihm fort. Ohne ein Wort zu sagen, nahm sie ihre Jacke und zog sie an, ging durch den Raum zu dem Sessel, auf dem ihre Muffe lag, nahm sie an sich, kam wieder bis zu ihm, der aufgestanden war, hielt ihm die Hand hin und sagte: „Adieu!“

Er fand nichts als ein kümmerliches: „Wollen Sie wirklich gehn?“

„Wie spät ists denn?“ fragte sie in gleichgültigem Ton. Er sah auf die Uhr, fand, daß es drei Minuten vor acht war, log aber, es sei dreiviertel.

„Um Gottes willen, dann ists aber allerhöchste Zeit!“ Sie lief fort von ihm zur Tür. Als er sie eingeholt hatte, öffnete sie, schritt dann mit gemachter Gelassenheit den Gang hinunter und wandte sich vor der Glastür mit der Bemerkung: „Schöne Bilder!“ indem sie sich nach den Wänden umsah. Ihm wieder die Hand hinstreckend, die andre auf der Türklinke, lächelte sie, in den zusammengezogenen Augen einen Hauch von — wars Ironie, Verachtung? — Es reizte jedenfalls Georg dermaßen, daß er sie umschlang, sie an sich drückte und heftig auf den Mund küßte. Lange Sekunden hielt sie hingegeben still, riß sich dann los, riß die Tür auf, war hindurch und hatte sie hinter sich ins Schloß geworfen.

Dastehend, die Glastür vor Augen, merkte Georg nach einer Weile, daß er schmunzelte, worauf er augenblicks ernst wurde, zumal ihm einfiel, daß sie am nächsten Morgen abgereist sein würde. Alsbald fror er in der Kühle des Flurs und ging in sein Zimmer zurück.

Das ist das Leben! dachte er zähneklappernd im Auf- und Niedergehn. Morgen ist sie fort, und ich habe es gerade bis zum Anfang gebracht. Wenn sie nicht wirklich nach Hause gemußt hätte, fragte er sich frivol, ob es dann bei der Jacke geblieben wäre? Da fühlte er wieder die Berührung ihrer Lippen, die so fremd gewesen war. Fremde Menschen, dachte er, was soll das alles? An Riesa fiel mir auch die Fremdheit auf. Oh Gott, mein Kopf, das ist ja, um in die Luft zu gehn! — Fremde Menschen, murmelte er betäubt, fremde Menschen ... Sie freilich hatte er geküßt, aber dadurch war sie ihm nicht bekannter geworden. — Nein, erklärte er sich fest, dies ist das Leben nicht, das du zu führen gedachtest. — Es war ja alles falsch und sinnlos. Das Korps war verkehrt, auch Riesa verkehrt, und Cora? Cora ...

Wenn ich einmal Herzog bin ... ging es durch das Zacken in seinem Gehirn; und dann: ob Papa — in seiner Jugend — auch solche Dinge ...

Frierend, fiebernd, ganz erschöpft, stand er vornüber und kam sich unecht vor an Leib und an Seele.

Siebentes Kapitel: Februar

Georg an Cora Bogner

München, am 1. Februar

Herrin:

Entschwunden? Gänzlich verschwunden? Allerdings, ich erinnere mich: wir hatten beschlossen, die flüchtige Zartheit unsrer Berührung so falterhaft sein zu lassen, wie sie war; ihr nicht die Bleigewichte von Briefen anzuhängen und so weiter, Sie wissen schon. Aber — was alles beschließt nicht der Mensch! Es ist groß zu verzichten für den Reichen, aber nun bin ich verarmt und so einsam wie der letzte Wolf in Polen. Groß ist auch Einsamkeit, wo sie ganz ist und echt; ich aber bin niemals allein, — Sie kennen mein hiesiges Dasein, das nicht den Namen Leben verdient. Leben Sie? In dem Rohrdommelnest Beuglenburg zwischen den ewigen Mooren? Dann gewähren Sie mir ein gnädiges Zeichen!

Ihrer Huld mich empfehlend, gebeugt, ehrfürchtig

der Ihre
Georg Trassenberg

Cora Bogner an Georg

Beuglenburg, am Amtsgericht 2

Lieber Prinz!

Bin ich Ihnen aufrichtig genug, wenn ich sage, daß Ihre Zeilen mich sehr gerührt haben? Wie recht Sie haben! Wir beschließen so Vieles im Glück und können später noch froh sein, daß Beschlüsse keine Taten sind und sich zurücknehmen lassen. Ach, armer Georg, Sie rufen nach mir wie ein Schiff in Seenot nach dem Ufer — alles las ich zwischen den Zeilen! — aber bin ich denn am Lande? Taten, die sich nicht rückgängig machen lassen usw., und ich könnte Sie selber zitieren: „Sie kennen mein hiesiges Dasein ...“ Aber nun bin ich nicht ganz aufrichtig, denn ich habe erstens den besten Mann von der Welt und zweitens ein süßes kleines Geschöpf, das Sie kennen, und mit der sich, wie Sie wissen, nicht konkurrieren läßt. Oder wagen Sies? Prinz, ich warne Sie!! Also hier haben Sie einen Brief! Freuen Sie sich? Dann sagen Sies Ihrer Sie vielmals grüßenden

Cora Bogner

Georg an Cora

10. Februar

Verehrungswürdige:

Mon verre est petit, mais je bois dans mon verre heißt auf Deutsch: Ihr Brief ist klein, aber ich trinke aus Ihrem Brief! Nämlich so wie der berühmte heiße Stein den Tropfen: völlig aufgesogen! Und nun bitte: mehr! Meine Verzweiflung ist am Siedepunkt. Wozu davon reden. Erleichterung, die ich für Augenblicke in dem mit Recht so beliebten Spiel der Takte und Reime fand, ging so geschwinde vorüber wie ein Falterschatten. Schatten eines Falters, von dessen Flügeldecken Ihr Augenpaar glänzte wie das des Pfauenauges. Was kanns Ihnen bedeuten?

Wobei Ihr großer Schwager mir einfällt, von dessen Bild ich Ihnen erzählte. Soll ich ihm eigentlich schreiben, daß er Sie besucht, wenn er Trassenberg verläßt? Wir kamen damals darüberhin. Wie ich ihn kenne, kann ich mir nicht denken, daß er dem Ansinnen, zu seinen Eltern zu gehn, Widerstand leisten würde, zumal wenn Sie ihn bezauberten wie mich.

Übrigens haben wir jetzt hier Karneval, ich bin jede dritte Nacht in einen andern Domino verliebt — o süßer Dunst, der sich manchmal im Morgengraun phantastisch zu Versen kristallisiert wie der Niederschlag der Ofenwärme an der Fensterscheibe, Lilien und Palmen! — aber im ganzen bin ich wohl zu norddeutsch schwer und treibe in der alkoholischen Flut wie ein Stück eisenbeschlagenes Holz, zu schwer zum Schwimmen, zu leicht zum Versinken, ein Holzklotz in Seenot, überhören Sie seinen Anruf! Mann und Kind und geliebt, Sie sind glücklich, was wollen Sie mehr? Sie haben Wärme, ich Hitze, Sie Licht, ich das Dunkel. Ich will versuchen, zu träumen. Sommerwiesen und ein goldenes Pfauenauge, — seien Sie gnädiger dem Träumenden, als Sie es dem Wachenden sein dürfen, eheu!

Trübsinnig
Trassenberg

Cora an Georg

Euer Liebden!

Sehr behaglich, obwohl verrenkten Fußes, sitze ich in meinem Sofa und schreibe Ihnen einen Gruß. Mein Kind Susanne versucht eifrigst, mich daran zu hindern, indem es mir den Bleistift aus der Hand reißt, ich muß sie mit Klapsen abwehren wie eine Brummfliege — da, jetzt wieder! Entschuldigen Sie den Krakel, den es gegeben hat!

Da ich im übrigen annehme, daß Sie ein Mann und gesonnen sind, das Übel wie ein solcher zu tragen, interessiert mich in Ihrem Brief vor allem das geheimnisvolle Pfauenauge aus Takten und Reimen. Warum lassen Sie es nicht her zu mir flattern? Ach, Sie wollen nur, daß ich darum bitte, aber — herrje! Diesmal kam der Klaps zu scharf, und es hat Tränen gesetzt. Die Spuren finden Sie auf dem Papier, — daß Sie nicht etwa glauben, sie wären von mir! O Himmel, da habe ich ja auch gereimt! Ist es immer so leicht? Aber ich höre nun doch lieber auf und grüße Sie!

Leichtsinnig
Cora B.

Magda an Georg

Altenrepen, Güntherstr. 5, 19. Februar

Mein lieber Georg!

Wir saßen am Kaminfeuer, den Nachmittag und den ganzen Abend. Es war, als säßen wir in einer kleinen, feurig rot erleuchteten Höhle in dem finstern Berg der großen Halle, die wieder in der großen Dunkelheit lag, die draußen ist, und es war schauerlich behaglich! Renate las ihrem Onkel und mir und Josefs — ihr Vetter! — Kater — groß und gelb saß er mit steifen, grüngelben Augen dicht vor den Flammen, und sein dicker, buschiger Angoraschweif stand wie eine Straußfeder hinter seinem Rücken — ihren geliebten Hoffmann vor, den ‚goldenen Topf‘, der so wunderbar gruselig ist! — Aber ich mußte immer an Helenenruh denken, an die langen, einsamen Nachmittage nach Mutters Tode, und dann an die Weihnachtsferien einmal, wo Ihr alle da waret, und Deiner Mutter ging es so gut damals, daß sie uns Geschichten erzählte, weißt Du das noch? Wie alt mögen wir damals gewesen sein? Wir waren Kinder jedenfalls, und es ist schrecklich, o schrecklich lange her!

Der Winter dauert auch so endlos lange, und ich kann mir kaum vorstellen, daß einmal Sommer werden wird, wenn ich an den letzten denke. Soviel, soviel ist geschehen inzwischen, das ich vergessen habe, nur daß es furchtbar war, das habe ich behalten, und noch schaudert mich oft, wenn ich daran denke.

Oft denke ich an Dich, und was Du wohl für ein Leben haben magst, das glaub mir nur, wenn ich auch Dein liebes Weihnachtstelegramm nicht beantwortet habe. Ich weiß nicht einmal, wie ich dazu komme, Dir heut zu schreiben, aber auf einmal hatte ich die Feder in der Hand, und nun stehn da schon viele Worte.

Bald bin ich nun schon sieben Wochen bei meiner Freundin Renate; ich fürchte mich ein wenig vor Helenenruh, und da ich Papa kenne, so weiß ich, daß er mich nicht vermißt, wenn er mich immer wieder ermahnt, hier zu bleiben. Ich habe auch meine Stimme prüfen lassen und seit einiger Zeit Unterricht. Sie soll sehr schön sein, — ja, ich wundere mich manchmal selbst über ihren Klang, so tief und stark ist er — Alt, weißt Du —, als wäre gar nicht ich das, die da singt, denn es klingt traurig, und ich bin eigentlich immer vergnügt. Wir machen den halben Tag Musik; Renate, mußt Du wissen, hat eine Orgel, eine richtige, in einer richtigen kleinen Kapelle, die im Garten steht, und es ist so wunderbar, in der dunklen Kälte draußen zu stehn, wenn die drei hohen gotischen Fenster milde gelblich leuchten, und drinnen das seltsame Brausen umgeht, als wäre eine dunkle, summende Geisterversammlung dort, und tönende, lichte Engel gingen umher und verteilten köstliche Speise. Die meiste übrige Zeit verbringen wir bei der Schneiderin, denn ich brauche eine Unmenge Sachen, und immer giebt es Zank mit der Schneiderin wegen der allzu engen Röcke, die sie einem am liebsten um die Füße zusammenschnürte. Da giebts viel Gelächter, und das kann ich wohl brauchen.

Jason al Manach, denke Dir, ist noch immer in Helenenruh. Papa hat ihn sogar aufgefordert, ins Verwalterhaus zu übersiedeln, und er läßt sich ja alles gefallen. Papa schreibt, er wäre ja totsicher verrückt, aber es wäre eine angenehme Art — er erzählt nämlich immerzu Geschichten, — ach, Du weißt ja von alledem nichts, aber wenn ich anfange zu erzählen, dann ist es soviel, und tausend schwere Dinge stehn wieder auf, so daß ich lieber still schweige.

Hast Du Maler Bogner gesprochen? Hast Du seine Bilder gesehn? Vor einigen Tagen kam meines; es ist so wunderbar, daß ichs gar nicht begreifen kann. Ich bins ja nicht, die er da gemalt hat, obgleich es mein Gesicht ist. Du wirst es selber sehn, denn ich muß es ihm zurückschicken, weil er es kopieren will.

Nun leb wohl, lieber Georg! Viel liebe Grüße von Deiner

Anna

Georg an Magda

München, Schwabenkorpshaus, Aschermittwoch

Liebe Anna:

Es steht eine heilige Wand in dieser Stadt, eine heilige, selig machende, sündenvergebende Wand. Ein Haus ist um sie gebaut mit andern, ähnlichen Wänden, aber keine von ihnen hat die Kraft der einen, — man nennts: alte Pinakothek. Vier Bilder sind an ihr zu sehn, zwischen denen Auge und Seele schwankt und, von einem Entzücken ins andre stürzend, nicht weiß wohin vor grenzenloser Wonne. Die Madonna im Rosenhag von Francesco Francia ist das erste rechter Hand; daneben das zweite ist Raffaels heilige Familie (aus dem Hause Canigiani); das dritte ist Peruginos heilige Jungfrau, das Christkind verehrend, zwischen dem Evangelisten Johannes und St. Nikolaus — alle drei stehen —; und das vierte linkerhand ist Peruginos Madonna, die dem heiligen Bernhard erscheint. Das ist der vierarmige Leuchter der dreieinigen Gottheit: Schönheit, Frömmigkeit, Reinheit. Da erlischt die Welt, ganz leer wird das Herz, die Zeit steht still, der Geist Gottes schwebt über den Tiefen. Wenn ich nur daran zurückdenke, jetzt, jederzeit, zittert mir das Herz.

Raffael sah ich zuerst, damals als ich kam vor Monaten, vom weiten schon, und erschrak, noch ohne zu wissen, was ich sah, so sehr, daß meine Augen wegirrten. Da trafen sie auf Peruginos Madonna zwischen den Heiligen. Mir stand das Herz still. Ich weiß nicht, wie lange ich hinsah; schließlich merkte ich, daß ich schon lange das Bild von Francia betrachtete. Nun begriff ich nichts mehr; es war, als ob, wohin ich die Augen wandte, immer der eine Gott vor mir stünde, unweigerlich, allgegenwärtig. Und da mußte ich die Madonna sehn, wie sie dem heiligen Bernhard erscheint. Da lächelte derselbe ernste Gott, und ich wußte: er ist unendlich.

Ich saß dann still vor der heiligen Wand, und auf einmal merkte ich, daß ich an Dich dachte. Ich kann Dir die Bilder leider nicht beschreiben, vielleicht aber bekomme ich eine gute Nachbildung des Bernhardbildes, denn an Dich erinnerte mich die Madonna, was Du freilich nicht wirst begreifen wollen, weil sie dunkel ist, bräunlich wie alle Madonnen und Heiligen Peruginos (es war immer das gleiche Mädchen, das er malte), und doch mußte ich an Dich denken.

Ach, ich muß noch mehr von den Bildern reden. Von den andern ist mir wohl der zweite Perugino der liebste, vielleicht deshalb, weil es ein unglückliches Bild ist. Wie die Figuren äußerlich unverbunden nebeneinander stehn, so haben sie auch jeder ein eigenes inneres Leben, jeder für sich, und es klafft da etwas, besonders wenn man Raffaels, wie immer in ein Dreieck komponierte heilige Familie daneben sieht, in der eine so unsagbar liebevolle Einigkeit von Zueinanderbeugen und Ineinanderschmelzen vor sich geht, daß es wie der sanfteste Wirbel ist, der in die tiefste Andacht hinunterzieht.

Nein, nun nichts mehr von den andern Wunderdingen in diesem Hause, nichts von Dürers Selbstbildnis, nichts von seiner Beweinung Christi, dieser Glorie seliger Farben um die Leichenfarbe des Gekreuzigten, nichts von der Madonna Tempi, von der andern Peruginos, von der Francias, von Altdorfers Geburt Mariä — Kircheninneres mit einem mächtigen, um drei Pfeiler geschwungenen, dunkelfarbenen Engelskranz —, von Sebastiano del Piombo, von Stefan Lochner und Dierick Bouts, von den alten deutschen Meistern, von Rembrandt und Ruysdael, Pacchia und Holbein, — denn in einer Stunde geht mein Zug nach Wien.

Nämlich Aschermittwoch ist heute, — o glückliche Seele, die nicht ahnt, was das bedeutet! Und als ich, ein wenig getröstet, aus der Pinakothek heimkam, so lag Dein Brief auf dem Tisch, und da: konnte ich einfach nicht mehr, beschloß auszureißen, erinnerte mich Giorgiones in Wien und fahre kurzerhand dorthin. Warum solche Verzweiflung? Ach, das erzähle ich Dir vielleicht mündlich, es lohnt sich nicht, davon zu schreiben, und in zwei Monaten hats ja ein Ende. Du hast wohl gehört, daß ich aktiv geworden bin. Nun, das ist alles. Falls Dir zufällig ein — literarisch unbeschreibliches — Buch namens ‚Hellmut Harringa‘ in die Finger geraten sollte, so wirst Du darin die Beschreibung einer Kneipszene finden, die Dir genug sagen wird.

Lebe wohl, ich schreibe bald wieder! Hab tausend Dank, daß Du schriebst, ich bin heilig froh, daß es Dir nun gut geht! Nichts von mir! ich wußte Dir nicht besser zu danken, als daß ich Dir von den Bildern schrieb. Von Herzen Dein

Georg

Ja, noch etwas in Eile. Du erinnerst Dich an Pragers, bei denen ich wohnte, und an meinen Schulkameraden Benno, den Komponisten. Sein Vater hat es tatsächlich fertigbekommen, den armen Jungen in eine Bank zu stecken, da er zu keinem Studium Neigung hatte, und das der Musik verbot der Alte. Nun sitzt er unglücklich und allein in Altenrepen, und da ich höre, daß Ihr viel musiziert, so möchte ich Dich und Deine Freundin bitten, ihn bei sich aufzunehmen. Ich schreibe ihm sofort, daß er Besuch machen soll. Er ist das schüchternste, gütigste, reinste Wesen von der Welt, zum Sterben menschenängstlich, aber wenn man ihn zwingt, so giebt er nach, es ist ihm nicht gegeben, zu widerstehn, er würde dem Teufel aus reinem Mitleid mit seiner Teuflischkeit seine Seele schenken. Sei gut zu ihm, als ob ich es wäre! Ich und auch Papa haben ihn vergebens halb tot geschlagen, daß er seiner Wege geht und auf Papas Kosten Musik studiert, aber seine Mutter ist krank, eine armselige, törichte Frau, und solange sie lebt, will er nicht gegen ihren Willen handeln. Hab tausend Dank!

G.

Wien, abends am 22. Februar

Natürlich! da habe ich in der Hast der Abreise richtig vergessen, den Brief in den Kasten zu werfen, und nun ist er mit nach Wien gekommen. Mir nicht ganz unlieb, denn nun kann ich Dir zum Triumph Peruginos noch den Triumph Giorgiones hinzufügen, und zwar in spannendster Steigerung über Tizian, van Dyck, Velasquez, Moretto und Breughel (!!!).

Du fragst gewiß, warum ich nicht lieber nach Altenrepen gekommen bin, aber siehst Du, Kind, von den abscheulichen Dingen, mit denen ich zurzeit belastet bin, wird am besten geschwiegen, denn all das ist meine eigene Schuld, und am besten beißt man die Zähne zusammen und lauert aufs Ende. Dann hat man eher ein Recht, es sich auch von der Seele zu reden, nachdem man es schon heruntergehoben hat.

Nichts von dieser Stadt. Von ihr läßt sich alle Tage reden. Das Ewige dagegen bleibt immer unwahrscheinlich, man muß ihm Hymnen wie Ketten und Netze überwerfen, um es zu halten, um es zu glauben. Nur in unsern Gebeten leben die heiligen Dinge, nur in der heiligen Handlung wird das Brot Gottesleib. Nur wenn ich fühle, atmet der Gott, der um mich ist.

Und doch, wie ich nun anfangen will, — was kann ich sagen? Soll ich wieder aufzählen: Catena und Lorenzo Lotto, Amberger und Memling? Rubens, den ich nicht leiden konnte, überwältigt vollkommen mit leuchtenden Massen von Gliedern, — o Venusfeier! O unsagbare Hand des Prinzen Ruprecht, gemalt von van Dyck! O heilige Justina Morettos da Brescia! Ach, es ist noch schlimmer als in München: man sinkt nicht mehr in die Knie, man geht, man schleicht mit gedemütigten Knien durch die Säle und wagt nicht, sich aufzurichten. Unbeschreiblicher Breughel! Das sind gar keine Bilder, das sind — oh — Unwahrscheinlichkeiten! Justina wäre der Inbegriff — ihre Haltung verzaubert! — wenn nicht — —

Ja, wenn nicht das Wunder da wäre, das Unfaßliche, der innerste Inbegriff, das Überallemaßen, Natur und doch mehr als Natur, das Letzte, wo Bewunderung, Staunen, Ehrfurcht, Liebe einfach — abprallen, nichts mehr gelten, weil nichts mehr reicht; das man einfach zu empfangen hat, wie Baum und Berg, Himmel und Tau im Gras — — — Giorgione.

Klingt denn Dir auch schon der Name so geheimnisvoll, so riesenhaft und feierlich? Giorgione. Giorgione! Michelangelo klingt bloß üppig daneben. Das Bild heißt ‚die drei Magier‘; mir scheinen es ein Feldmesser, ein Kaufmann und ein Astronom zu sein, die sich irgendwie im Ausgang eines Waldes zusammengefunden haben. Einer sitzt und hat ein grünes Kleid an und weiße Ärmel; von den beiden Stehenden trägt einer einen violetten Kragen auf rotem Gewand; einer ist ein Greis, dessen Kleidfarbe ich vergaß; herum ist Wald, schwarzbraun, pelzig, im Hintergrund ists offen, liegt hinter seltsam verbogenen, braunschwarzen Bäumen eine Abendlandschaft. Das ist alles. Nein, es sind nicht Farben, es ist nicht Leinwand, es ist nicht gemalt, es ist — Magie, Herrgott, merkst Du nicht, wie mir alles versagt! Ich möchte stundenlang davon reden und finde die erbärmlichen Worte nicht. Als er das Bild machte, muß er alles, was sich darüber sagen läßt, versteckt haben, oder vielleicht hat ers hineingemalt, und dies ist das Geheimnis. Er muß den Pinsel in Gottesblut getaucht haben, in reinen Äther, in Essenz von Natur und Seligkeit, in den Teich in Elysium, in den Atem zweier Liebenden, in die Seele einer Staude Heliothrop, in die Nacht, in den Nachtwind. Und dann hat er damit gemalt, lieber Gott, gemalt!

Oh kein Wort weiter! Die Stunde, wo ich dies schrieb, soll stehn bleiben um mich und um Dich. Ich habe die Uhr abgestellt, die im Zimmer ist. Ich denke nicht an morgen. Ich sage Dir nicht lebewohl! Ich sage nur ganz leise Dank, daß ich dies mit Dir teilen durfte.

Georg

Schau, wir waren doch so traurig,

Und nun sind wir oft so froh.

Dieses Leben, hart und schaurig,

Quält uns doch nicht immer so.

Seit wir uns bei Namen nennen,

Ward auch vieles Andre hold,

Und die Herzen müssen brennen

Wieder still und wieder Gold.

Wenn das Lager spät die kranke

Stirne gar nicht kühlen will, —

Nur ein leuchtender Gedanke,

So wirds friedlich schon und still.

Was wir auch verloren haben,

Immer wieder kommts zurück,

In den Blicken, in den Gaben,

Und es heißt auch dieses Glück.

Georg

Georg an Benno Prager

Wien, am 23. Februar

Im Leben der Liebe, teuerster Benno, giebt es Augenblicke von seltener Fragwürdigkeit, — wie zum Beispiel den, wenn die Geliebte in einem kurzen Hemde von seltsamer Birnenform dasteht, die seltsam gespaltene Hose wie einen Danaidensack vor sich offen hält, zuerst mit dem linken Bein hineintappt — bzw. mit dem rechten, je nach der Drehung ihres lieben Charakters — alsdann mit dem andern, hierauf das Ganze vorn hochzieht und mit einer seltsamen Gebärde hinter sich das Hemde hineinwischt ...

Erschrick nicht, mein Benno, dies ist eine Beobachtung und kein Kynismus. Frauen haben seltsame Obliegenheiten zu erfüllen. Ich würde aber ins Uferlose geraten, wollte ich fortfahren, da mir eben männliche Unterhosen einfallen, in denen man wie ein Peijaz aussieht. Du, Benno, wirst vorgeben, daß niemand da wäre, den Peijaz zu sehn, aber es könnte doch Feuer auskommen! Trage deshalb lieber wie ich kurze weiße Leinenhosen mit langen schwarzen Strümpfen! Gleichwohl war es nicht dies, was ich Dir mitzuteilen gedachte, vielmehr das folgende: Von meiner Freundin Anna Magdalena, genannt Magda Chalybäus, höre ich, daß sie sich seit einiger Zeit in Altenrepen bei einer Freundin aufhält. Damit Du sie kennen lernst, und besonders weil ich vermute, daß Du Deine Tage verbringst in künstlicher Igelform, mein altes liebes Lamm, das Du bist, wirst Du Dich — bei meiner Ungnade! — stracks mit Deinem schwarzen Examensgehrock bekleiden, Dich in die Güntherstraße 5 in Waldhausen begeben und nach meiner Freundin fragen. Du bist bereits gemeldet. Die Leute heißen Montfort, und Magdas Freundin soll eine musikalische Leuchte sein. Also! —

Womit von Rechts wegen der Zweck dieses Briefes erledigt wäre. —

Vorwurfslos, wie es die angeborene Christlichkeit Deiner Seele bedingt, hast Du mein langes Schweigen und die kargen Kartenrufe ertragen. Ohne Scherz, lieber Freund, mein eigenes Verhalten hat mich genugsam geschmerzt, und doch war es nicht zu ändern. Der alberne Schlamassel, in den ich hineingeriet, machte mich unwirsch im Anfang, setzte mir Zotteln an die Seele, die ich nicht abzuschlenkern verstand, und so ward aus Wochen und abermals Wochen bald ein halbes Jahr, ohne daß ich Dir gegenüber treten konnte, wie sichs ziemt, reinlich, — ach, Du verstehst es ja! Nun sitze ich an einem nassen Winterabend in einem öden Hotelzimmer dieser Stadt von steinernen Schluchten (sogar die hineingehauenen Häuser behielten innerlich ein Skelett von steinernen Treppen!), die, wie mir scheint, bei ihrer Begründung nicht mit dem Winter rechnete, — sitze ich, wie gesagt, plötzlich unfähig, mich zu bewegen, nur einen Schritt nach außerhalb zu tun, z. B. ins Burgtheater, um die Musik zum Egmont zu hören. So kam denn der Augenblick, wo ich mich an Deine treue Brust stürzen muß, um männliche Tränen zu weinen.

Ja, nun — —

Nimm an, ich sei im vollen Zuge dabei, und da fragst Du nun mit erbarmender Stimme: Ja, was ist denn eigentlich los? — Ich weiß es nicht, Benno, ich weiß es bei Gott nicht, denn zu sehen ist nichts, gar nichts, geschehen ist auch nichts, bloß daß ich für den Augenblick nicht mehr konnte, das steht fest.

Wie wärs mit der Beschreibung eines Tageslaufs aus meiner derzeitigen Daseinsepoche? Laß sehn:

Aufstehen morgens gegen acht, in eine wartende Droschke hinein, bloß mit Nachthemd, Hose und Überzieher bekleidet, und zum Paukboden. Daselbst eine Stunde Arbeit mit Schläger und Säbel bis zum Schweißtriefen, und der bis dahin dumpfe Schädel ist licht und frei. Droschke, nach Hause, Bad usw. Um elf Uhr, das mittlerweile herankam, Frühschoppen, der sich hinzieht unter Wiederholung der nämlichen drei bis sieben Redensarten wie: Prost! Saufs doppelt! Päng päng! Das kann man wohl sagen! (Auch: das kann man wohl sagen!) Weils gleich ist! und: In die Kanne! — hinzieht, wie bemerkt, bis zum Mittagessen, an das sich die Kaffeehaussitzung anschließt — bis gegen drei, auch vier Uhr. Am Nachmittag giebts eine Ehrenratssitzung, oder einen Besuch, oder Schlittschuhlauf, oder eine Spazierfahrt. Oder ich lese. Ich habe so viel gelesen, daß ich krank davon bin. Vom ganzen Dostojewsky fehlt mir nun bloß noch der ‚Jüngling‘. Alles bisher noch Unbekannte liegt nun hinter mir, viele Bände Balzac, Titan, Hesperus und die erhabenen Flegeljahre, viele Bände Strindberg, die Studien Stifters, Fielding, Thackeray, Stendhals Chartreuse, Jakob Wassermann, Salambo und Bovary und noch drei Mal soviel. Ich habe festgestellt, daß meine Durchschnittsgeschwindigkeit, die, wie Du weißt, immer bedeutend war, nunmehr genau hundert Seiten in der Stunde beträgt, also einen Durchschnittsroman am Nachmittag. Meist freilich, das heißt die letzten Wochen verbrachte ich die Nachmittage im Sofa mit nichts als der treuesten holden Freundin des Daseins, der Zigarette. Selten ein Gedicht und kein gutes. Nun der Abend. Das ist verschieden. Montags Konvent, Dienstags Spielkneipe (Filzlaus und andre Würfelspiele, da der Anblick von Spielkarten mich in tödliche Langweile versetzt, dazu schweigsames Anhören des Absingens der, an diesem Abend offiziellen Zotenlieder, es geschieht von wegen der Abhärtung, weißt Du). Mittwoch frei, Donnerstag Augustinerbräu, Freitag irgendein andres Bräu, Samstags große Kneipe. Und an jedem Samstag von früh bis tief in den Nachmittag hinein eine Mensur nach der andern, zum Verrecken, wäre nicht ab und an das fragwürdige Zwischenspiel einer Säbelkontrahage. Ich selbst habe meine fünf Mensuren hinter mir, davon zweimal p. p., und bin zum a. C. B. rezipiert. Anmerkung: die Bräuabende verlaufen wie der Frühschoppen; der Nachttopf vom Ganzen ist der Konventabend, (beiläufig: hast Du auch so eine Abneigung gegen Nachttöpfe? Ich schmeiße sie raus, wo ich sie finde!) das heißt die Beratungen über innere und äußere Korpsangelegenheiten, Stiftebiere, Rechnungsablage, Dechargierungen, Mensurbeurteilungen usw. Ausschweifungen Notabene verüben sich auf eigne Faust, im Plan liegen sie nicht. Nur an Samstagen ist die Duhne offiziell, sonst verlädt man seine fünf Liter im Leibe in ein Droschkon und zockelt heim. Fünf Liter von diesem leichten Bier trinken sich angenehm. Ich habe zehn Kilo zugenommen. Wirds einem mal zuviel, geht man ans Becken und speit sie von sich.

Ecco, wie Knallfred Err sagen würde, ich habe es bis hierher gelöffelt und werde es auf die Neige löffeln. Nur ein einziges Mal schlug der Betrieb mir überm Kopfe zusammen, nämlich als ein Korpsbruder die Benediktinerflasche über einige, eben von mir erworbene Luxusdrucke ausleerte unter der Begründung, er fühle sich dadurch angeödet, worauf ich ihm eine hineinknallte, die meinem lieben Herzen wohltat. Es waren unersetzliche Sachen darunter, jedoch nicht deswegen! Es war mir bei Gott ein Schwert durch die Seele gefahren, — kurz, es war mein Leben, was das Schwein besudelte. Nun, die Geschichte ließ sich beilegen, ich befinde mich — oh schöne Folgeerscheinung! — für vierzehn Tage ‚im Schwarzwald‘ und entfloh nach Wien, — freilich höchst verbotener Weise, doch kann das die Dimission höchstens um zwei Wochen verlängern.

Ich will doch zur Schlußmusik vom Egmont gehen, Benno, und hören, wie er sagt: ‚Kind, Kind, die Sonnenpferde der Zeit ...‘ Meine Seele grinst mich nun von diesen Blättern an, leider nicht wie ein abgelegter Schlangenbalg, sondern nur wie eine Maskenfratze, die ich wieder vornehmen muß. Aber für eine Weile spürte ich doch die Erleichterung vom schmerzlichen Druck der Gummibänder hinter den Ohren. Habe Dank, lieber Geduldiger, daß Du die Maske so lange hieltest! Weine nicht und gieb sie wieder her! Grüße die Anna und freue Dich mit mir auf Ostern und das nächste Semester Altenrepen. Ich habe wahrhaftig Heimweh nach den alten Straßen. Lege mich zu Füßen der Frau Mama sowie des Fräuleins Schwester und verbleibe mein Freund!

Georg

Georg an Cora

Am 24. Februar in Wien

Schaumgeborene!

Aus Wien, wohin ich gefahren bin, melde ich mich bei Ihnen mit der Versicherung meiner vollkommenen Untröstlichkeit über die Verrenkung Ihres Fußes!

Und nun sagen Sie bitte: Können Sie noch schnöder? Freilich ist zu merken, daß Ihr letztes Anschreiben unter Verteilung von Klapsen verfaßt wurde. Danke bestens! Mit Geduld und Spucke lassen vielleicht Mucken sich fangen, niemals aber Schmetterlinge mit Klapsen. Teuerste Bürgerin im Kanapee, Ihr Behagen möge so unendlich sein wie zwischen uns die vorhandene Ferne! Sollten Sie Wert darauf legen, es zu wissen, so will ich festzustellen versuchen, ob der Vorhang, den Ihr zufriedener Genius zwischen uns zog, aus Fries besteht, aus Kattun oder vielleicht einer Wäscheleine voll Barchentröcke.

Untertänig der Ihre
Georg T.

Wenn Sie sich entschlössen, ein Datum über Ihre Briefe zu malen, wie wäre das?

Cora an Georg

Lieber Georg!

Aber was ist das für eine Art, über mich, die ich wehrlos im Bett liege, mit einem derartigen Feuerbrand von Brief herzufallen! Sind Sie immer so wild? Liebe Durchlauchtigkeit, bedenken Sie, daß ich meinen Bleistiftbrief unter beständiger Bewachung Molles verfaßt habe, die, wie Sie selber wissen, schwerer zu hüten ist als ein Sack Flöhe. Sonst hätten Sie noch länger auf einen Brief warten müssen, und wenn ich Ihnen nicht mein Morgenstündchen opfere, wo ich so liebe, im Wachen zu träumen, ist mein Tag für eingehende Briefe zu unruhig. Heut aber bin ich vor Schrecken gleich aus dem geliebten Bett gesprungen. Aber muß man denn immer so gründlich sein? Sie haben vielleicht kein Verständnis für die gallische — ich sollte sagen: semitische — Leichtigkeit, die ich im Blute habe, dennoch könnte Ihnen eine Spur davon nicht schaden. Müssen Sie immer so teutonisch furieux, so ‚voll und ganz‘ und ‚unentwegt‘ sein? Nehmen Sie mich doch, wie ich bin, leicht, leicht, leicht, immer tanzen, das ist viel schöner, und nach Ihrem Karneval trage ich das heftigste Verlangen! Ihre freundlichen Belehrungen über die Gründe häufigen Verliebtseins und die Erhebung des Gegenstandes derselben zum gelinden Berauschungsmittel — also besserem Fusel — waren mir lehrreich. Ähnliches habe ich als selbstverständliches sousentendu innig in meiner Seele gehegt. Um so weniger dürfen Sie Bedenken hegen, die geheimnisvollen unsichtbaren Schmetterlinge vertrauensvoll auf meine hingehaltene Nadel zu spießen. Ich werde die poetische Freiheit zu würdigen wissen und nie vergessen, daß ich nur das Mittel zum Zweck bin. Faute de mieux on couche avec sa femme heißt ein schönes altes Wort.

Und da haben Sie — zum Köder? — ein Bild von mir. Wie gefällt es Ihnen? Sie wollten zu träumen versuchen. Haben Sie? Was? Ich konnte noch nicht träumen, Herbert ließ mich nicht. Warum Sie traurig sind, möchte ich wirklich wissen, frage mich im Gegenteil, warum Sie nicht himmelhochjauchzend sind. Dies wäre wenigstens schmeichelhaft für Ihre

Cora

Seien Sie lieb und geben Sie mir die Unsichtbaren! Bitte, bitte! Ich weiß keinen Grund, warum Sie sie mir vorenthalten. Ich muß sie haben. Es giebt keinen Grund. Erbarmen Sie sich!

Datum setz ich nur über formelle Briefe, prinzipiell.

Achtes Kapitel: März

Magda an Georg

1. März

Mein lieber Georg!

Wunderbar ist das, was Du von den Bildern schreibst, ganz einzig! und dank des Riesenpakets von Abbildungen, das Du Lieber mir geschickt hast, kann ich mir schon eine Vorstellung von diesen Herrlichkeiten machen, wenn auch die Farben fehlen. Trotzdem — darf ich das sagen? — hat Dein Brief mich doch mehr erschreckt als erfreut. Es ist ja vielleicht nur, daß ich nur diesen bekommen habe, und daß mir deshalb Deine Begeisterung so — ja, ich finde nur das Wort ‚verzweifelt‘ erscheint. Ich sehe immer nur den Hintergrund von Leiden, den Du andeutest, und Du weißt ja wohl, daß Geahntes viel mehr ängstigt als Gewißheit, und deshalb möcht ich Dich so sehr bitten, daß Du mir schreibst, was das eigentlich ist, worunter Du zu leiden hast. Das Buch, von dem Du schriebst, hat ein Freund von Renate mir geliehen. Sie selber kannte es — was kennt die nicht? —, und sie und er sagten Beide, das Buch habe unendlich Tüchtiges gewirkt, wenn es auch für Leute mit künstlerischem Geschmack unlesbar sei. Mich hat es traurig gemacht, o so traurig! Renate und ich und auch ihr Freund — er heißt Saint-Georges, ein feiner, stiller Mensch — haben viel darüber gesprochen. Darf ich mich denn gar nicht sorgen um Dich? Und es erleichtert Dich doch vielleicht, wenn Du davon sprechen kannst.

Denke Dir, mit Deinem Freunde Benno P. hat es mit einem so komischen Malör angefangen! Als er uns besuchte, waren wir nicht zuhause, wie das so geht, dann schrieb ich ihm gleich und bat ihn auf gestern nachmittag. Um vier kam eine Freundin von Renate, die ihn auch gern kennen lernen wollte — sie ist Pianistin und spielt himmlisch! — da gingen wir in die Orgelkapelle, und Renate trug dem Diener auf, Herrn Prager dorthin zu führen, wenn er käme. Wir fingen dann an, Musik zu machen, und er kam nicht, und wie es gewöhnlich geht, vergaßen wir in der Musik alles andre, und auf einmal war es nach sechs Uhr, und Renates Freundin wollte fort. Wir gehn ins Haus, durch die dunkle Halle, Renate macht Licht, — da steht da ein Mensch, lang und mager mit ganz geblendeten Augen ... Denke Dir, da hat der Diener statt Kapelle Halle verstanden, und der arme Mensch hat zwei Stunden im Finstern verbracht und glaub ich nicht mal gewagt, sich hinzusetzen. Lieber Gott, war er verstört, und nun auf einmal Renate vor ihm, und noch zwei Mädchen, und Renate, die an und für sich schon das Schönste auf der Welt ist, in einem erdbeerfarbenen, weiten Atlasrock und enger, schwarzer Samttaille mit halben Ärmeln! Er hat die Augen kaum aufgeschlagen. Schließlich ists uns aber doch gelungen, ihn in die Kapelle zu ziehn, — ja, und wie er dann vor der Orgel saß und Mut schöpfte in einer Fuge, und dann ganz leise anfing zu phantasieren — ganz leise, aber, wie Frau Tregiorni sagte: sichtbarlich erdbeerfarben — ja, da konnten nun wir still werden und die Augen niederschlagen, und er saß mit verklärtem Gesicht wie ein Heiliger vor den großen Pfeifen.

Leb wohl, Georg! Ich würde so gern Dein Herz leise streicheln oder Dein Haar, wenn ichs dürfte.

Deine
Anna

Benno an Georg

Altenrepen, am 1. März

Mein lieber Georg!

Ein Brief! Ein wirklicher Brief von Dir! Und wie Du Edelmütiger mich wieder darin beschämst! Nicht nur mit Worten, indem Du Dein langes, meiner Selbstsucht freilich schmerzliches Schweigen entschuldigst, sondern vor allem wieder mit Taten, da Du doch trotz Deiner traurigen Lage Zeit fandest, an mich zu denken und für mich zu sorgen! Ich bin nun sehr traurig, Georg, daß Du so fremde Dinge durchzumachen hast, — auch in Liebesdingen scheinst Du ja merkwürdige Abenteuer erlebt zu haben —, ich denke aber, Dir selber wird es das liebste sein, wenn ich auf all das schweige. Womöglich könntest Du Dich bemitleidet fühlen, was, wie ich Dich kenne, das Allerschlimmste für Dich wäre. Dafür erzähle ich Dir lieber von dem Wundervollen, das ich Dir verdanke, dem Märchen, in das ich mich durch Dich nun versetzt glaube, denn noch immer scheint es mir, als wäre alles ein Traum, das Erste und alles Folgende, daß ich nun in dies kostbare Haus zu Deiner Freundin und der ihren zugelassen bin, diese edlen Frauen selber, deren Umgang ich genießen darf, — aber nein, höre nur den Anfang, er sagt alles!

Ja, acht Tage hat es freilich doch gedauert, bis ich die angeborene Furchtsamkeit, an der ich nun einmal leide, und die Menschenscheu und Vereinsamung, die sie seit langer, ach, so langer Zeit nun schon vermehren, abzuschütteln vermochte und mich nach der Güntherstraße auf den Weg machte. Als ich dann das prächtige Patrizierhaus in seiner ehrfurchtgebietenden Zurückhaltung hinter den verschneiten Zweigen seines Vorgartens liegen sah, entsank mir doch wieder der Mut; die Hand auf der Klinke des hohen Eisenportals stand ich lange, bis ich erschreckt meiner eigenen Körperlänge inne wurde, deren Schmalheit andrerseits doch nicht genügte, mich hinter den eisernen Lilien des Tores zu verbergen, und so ging ich den Gartenweg bis zur Haustür, um dort — zu meiner rechten Erleichterung — von einem lieben, alten Diener zu hören, die Damen seien nicht anwesend. Er bat mich aber um meine Adresse, und siehe da, schon am andern Morgen brachte meine Schwester triumphierend ein Brieflein, von zierlicher Mädchenhand mit meinem Namen beschrieben. ‚Lieber Herr Prager‘ schrieb Deine Freundin, und ich war wieder einmal erstaunt und entzückt von dieser Schlichtheit der Vornehmen, die sich nicht mit ‚sehr geehrten Herren‘ usw. das Leben steif und sauer machen. Und wieviel zuversichtlicher ich drei Nachmittage später, wohin ich ‚zu einer Tasse Tee‘ bestellt wurde, die Klingel zog, kannst Du Dir denken. Diesmal wars ein weibliches Wesen, das mir öffnete, ich ließ ihr meinen Mantel und wurde von ihr in eine weiße Tür hineingelassen.

Und da begann nun das Wundersame! Es dämmerte bereits, als ich kam, und nun befand ich mich in einer mächtigen Halle, verdunkelt durch eine breite Veranda, die durch eine Glastür und die Fenster zu sehen war, und draußen lag ein großer und schöner Garten in weißer Winterstille. Ein helles Feuer brannte aber von gewaltigen Buchenscheiten im breiten Kamin, an der Wand den Fenstern gegenüber, und davor saß eine große, gelbe Katze, ganz unbeweglich, hatte ihren buschigen Schweif hinter sich stehn, streifte mich nur mit einem glimmenden Blick und fuhr fort, ganz steif die glühenden Augen in das Feuer zu richten. Ihr Schatten, ganz groß, bewegte sich so merkwürdig hinter ihr, — ich dachte wahrhaftig, es sei eigentlich ein Mensch! Es war wie bei E. T. A. Hoffmann. Schöne, tiefe Sessel standen überall umher, an den Wänden hingen altertümliche Gemälde mit Jagden und Nymphen, soviel ich im Dunkel dort oben erkennen konnte, es blieb ganz still, und überall waren Türen zu dunklen und warmen Gemächern offen.

Wie ich aber noch stehe und nicht weiß, ob ich mich vor dem großen Tier nicht doch lieber verneigen soll, so beginnt auf einmal die wunderbarste Musik. Ein Harmonium schiens, gedämpft und von fern, aber die Töne waren so voll und brausend, die Stimmen so zahlreich, daß ich doch an eine Orgel zu glauben anfing. (Es war auch eine!) Da trete ich unabsichtlich der Glastür näher, und was sehe ich? Etwas links im Garten sind drei geheimnisvolle, hohe und schmale Bogenfenster erleuchtet; eine gotische kleine Kapelle ists! Wie mir da war! Ich glaubte ja verzaubert zu sein! Ich stand und lauschte nur, ich kam gar nicht auf die Frage, weshalb man mich hier allein ließ, der schöne Name Montfort, den ich überm Hauseingang las, flügelte so durch mich hin, auf einmal stand das magische Tier auf, kam zu mir und strich leise murrend an meinem Schienbein her, wobei es den Kopf zu mir hochhob und sein Rücken so hoch und krumm wurde wie ein Bogen. Kein Ende nahm die rauschende Orgelflut, und gab es einmal eine Pause, so knisterte das Feuer und die Stille, und die drei edlen Fenster leuchteten durch das Dunkel und den Schnee — ganz so wie es bei einem lieben, alten Lampenschirm war, den ich als Junge einmal für meine Mutter zu Weihnachten klebte ...

Wie lange es gedauert hat, wußte ich nicht. Nun, mir ward die Zeit nicht lang ... Auf einmal aber, wie die Musik wieder schweigt, erlöschen mit einem Zauberschlage alle drei Fenster, der Garten liegt still und dunkel im Schneelicht, dann höre ich weibliche Stimmen und Lachen draußen, Gestalten erscheinen im Dunkel, es bewegt sich die Glastür, und es kommen drei herrliche Frauen herein! Ach, Georg, mir stand ja das Herz still, als ich die eine sah! Denke Dir, sie trug ein ganz großes, weites Kleid von erdbeerfarbener, glänzender Seide, die Taille war schwarzer Samt, die halben Arme bloß, — aber nun erst ihre Züge! — Es war eine erschreckende Schönheit darin, ja, nur so läßt es sich nennen, eine erschreckende Schönheit. Sie ist sehr groß — oder schien es wenigstens zuerst — nein, ich kann sie nicht beschreiben. Ihre Haut war von solcher süßen Zartheit und wie golden innerlich, das Haar — von einer seltsamen, hellbraunen Farbe mit rötlichen und goldenen Hauchen — trug sie über der Stirne gescheitelt, so daß diese frei blieb in ihrem ganzen Adel, dann nicht einfach zu den Ohren gelegt, sondern rund um die Stirne und, an den wundervollsten, langen, gebogenen Brauen vorüber, ganz tief nach unten und nun erst zurück, wie auf alten Bildern aus der Mitte des vergangenen Jahrhunderts. Und erst der Mund! Und wie sie nun stehn blieb und ihre tiefschwarzen, strahlenden Augen auf mich richtet und gleichzeitig erstaunt die eine Hand an das Kinn legt und den Ellbogen in die andre und so sinnend steht und mich lächelnd betrachtet — kannst Du Dir denken, wie mir da war?

Es war Fräulein Renate von Montfort, die Freundin der Deinen. Ja, die ist nun sehr lieb und auch schön und so anmutig, vor allem aber gewiß herzensgut. Sie kam gleich auf mich zu und lachte und fragte mich alles Mögliche, was ich gar nicht verstand, dann mußte der Diener kommen und das Mädchen, es schwirrte alles um mich herum, irgendein Mißverständnis war geschehn, die Damen entschuldigten sich, daß ich hatte warten müssen, — du lieber Gott, ich war ja froh darüber, wie es gekommen war. Die dritte war eine Freundin des Fräuleins, ihr Name wurde mir nicht gesagt, doch nannte das Fräulein sie Ulrika, und sie hatte wunderschönes, dunkelrotes Haar und ein klares, ernstes Gesicht mit ganz prachtvollen Brauen. Sie ist Klavierkünstlerin. Ja, nun gingen sie alle wieder mit mir in die Kapelle, und es war wirklich eine Orgel darin, ich habe auch ein wenig gespielt, und das Fräulein spielte, und wie sie da wieder vor den großen grauen Pfeifen saß in ihrem ausgebreiteten Kleid und mit leicht zurückgelegtem Antlitz — — ganz im Rausch fand ich mich wieder in der Straße und mußte noch lange im dunklen Wald umherlaufen, bis ich zu Eltern und Geschwistern zurückfinden konnte. Oh dieses Antlitz! Oh diese Gebärden voll Anmut und Würde! Ungemein stolz ist ihr Wesen in der Ruhe; sobald freilich die Züge sich bewegen in der Rede und zum Lächeln, — so strahlt Dir ein Sternenhimmel von Seele, Tiefen tuen sich auf, in denen singende Seraphim mit klingenden Saitenspielen auf und nieder schweben, da greift Dir das Lächeln einer Göttin in die Brust mit unsterblicher Hand, und Du fragst Dich, warum Dir je gebangt ...

Lebe wohl, Georg, Du Guter, nimm diese Zeilen als Dank für das Kleinod, das ich aus Deiner Freundeshand nahm. Ich kann nun nichts andres mehr schreiben, was wäre auch von mir zu sagen! Und ich darf ja nun wieder dorthin kommen, sooft ich will, haben sie gesagt, — ob ich es wage? Ich werde es wagen!

Mit allen guten Wünschen und Hoffnungen bin ich in Dankbarkeit immer Dein treuer

Benno

Georg an Magda

München, den 9. März

Meine gute Anna:

Hier, ich begehe eine teuflische Indiskretion und überreiche Dir einen an mich gerichteten Brief jenes Benno P. Es ist mir schlechterdings unmöglich, ihn Dir vorzuenthalten.

Hast Du gelesen?

Ja, da siehst Du, was Ihr angerichtet habt! Lege mich dem Fabelwesen Renate gütigst ganz gehorsam und untertänig zu Füßen, und sie habe mich ihr auf das tiefste verpflichtet durch die wunderbarliche Verwirrung, die sie im Herzen meines lieben Freundes angerichtet habe!

So aber ist er nun, und immer sieht man doch wieder, daß man sich täuscht in diesen guten Bennoleuten. Im siebenten Jahr kenne ich ihn nun, kenne ihn wie gewiß niemand sonst, und wie keine steht mir seine lange und magre Gestalt, dies magre Gesicht mit den schwermütigen Augen, der langen, schwermutvoll herabgekrümmten Nase über dem früh gewachsenen, hängenden rötlichbraunen Schnurrbart vor Augen in ihrer ganzen Unbedarftheit, Hülflosigkeit und Seelenfülle, und so vergaß ich darüber denn völlig den Glanz seiner hohen, fliegenden Stirn unter dem zurückgestrichenen, langfallenden Haar und diesen, doch so oft gesehenen Schillerischen Zug von Kühnheit, Schwung und Adel, wenn er den Kopf zurückwarf und das Haar, um von Kostbarkeiten des Lebens zu schwärmen. Vergaß es und dachte, als ich Deinen Brief, der vor dem seinen kam, las: es muß sie doch immer frieren an ihrer Seele, diese armen Bennoleute. Sie zittern bei jedem Lufthauch wie die geschorenen Lämmerlein, sie sind so unendlich kostbar in unserer windigen Welt, und man sollte sie hüten wie die allerzerbrechlichsten Ziergläser, weil sie so selten sind. Und nun, wenn man sie selber hört, so verhält sich alles ganz anders. Wo unsereiner sie in der allerpeinlichsten Verlegenheit und in Todesnöten glaubt, da stehen sie mitten im Wunder! Ach, man sollte sie in Kirchen hüten wie Reliquien und sie verehren, — aber nun ist es so, daß sie einem immer zuvorkommen. Du möchtest ihrer einem etwas recht Dankbares und Liebes sagen, so hörst Du sie im selben Augenblick sprechen: Wie edel bist du doch! — Hat er nicht von mir gesagt: Georg, — das ist solch ein edler Mensch! — Hat er nicht? Ich sehe ihn ja, wie er seine schwermütigen Dichteraugen aufschlägt und sich krümmt in seiner Magerkeit und seinem schlechten Rock und seiner übergroßen Inbrunst! — Und dennoch sieh: obgleich sie immer zittern und immer ängstlich sind, so sind sie doch die Behüteten. Es sind immer nur Möglichkeiten, vor denen sie schaudern, Wirkliches aber, wirklich Gemeines und Böses kann gar nicht an sie heran, weil sie es einfach nicht sehen; es fehlt ihnen das Organ dafür, — versteh mich wohl, ein Mensch wie Benno ist ja nicht dumm und weiß vom Hörensagen immerhin, wie es in der Welt aussieht, und Du wirst ihn schon bald einmal über die Boshaftigkeit der Welt in eine furchtbare Standrede ausbrechen sehn, aber gieb acht, wie er hinterdrein alles zurücknimmt und für alles einen Entschuldigungsgrund findet; und diese Verzeihung hat er schon zuvor bei der Hand, wenn etwas Gemeines sich gegen ihn richtet, denn diese Menschen sind magnetisch für Gutes und Edles, und durch eine chinesische Mauer von Schmutz und Niedrigkeit lassen sie sich von einem eingebildeten Sandkorn der Güte anziehn, das ihnen alle Verzeihung birgt, denn dies ist die Pflicht, die ihnen auferlegt ist. Weißt Du, was sie sind, kleine Anna? Christen sind sie. Wirklich, es giebt etliche in Europa.

Genug! Von mir nichts! Kehre zum Eingang dieses Briefes zurück und erfreue Dich an der daraus sprechenden schönen Wallung meiner betrübten Seele. Sei gut zu Benno, ich lege ihn Dir ans Herz — Deiner Renate mich bitte zu Füßen! — Vergiß mich nicht, sei ohne Sorge, schreib aber lieber nicht mehr, es würde mir nur das Herz schwerer machen, denn jetzt kommen ‚die alertesten Tage‘ vom Semesterende, die müssen durchgehalten werden.

Leb wohl!

Dein
Georg

Georg an Cora

14. März

Teuerste:

Das Semester geht zu Ende, Ende des Monats fahre ich heim, und im nächsten Semester sieht München mich nicht wieder, — sondern? Altenrepen nahe Beuglenburg! Nein, sehen Sie: das, worunter ich hier leide, sind nicht eigentlich Leiden der Seele und des Herzens, sondern des Geistes, nicht Schmerz ists, sondern Empörung, Wut und Ohnmacht über die schändliche Vergeudung, die unsre Jugend mit ihren besten Kräften treibt, da sie sich zwar zur Erziehung zwingt, aber nur zu der allerrohesten und gemeinsten einer — beiläufig vollständig sinnlosen und illusorischen — Abhärtung durch Saufen und Stumpfsinn, so daß man wirklich in Verzweiflung geraten möchte, wenn man dies ihr Ideal eines glattgehobelten Pfahles betrachtet und dagegen die blühende Möglichkeit geistigen Wachstums, Adels und der Reinheit, zu der sie erzogen werden könnten! Ist es nicht haarsträubend, wenn man es sich sagt: zum Stumpfsinn, zum Toben, zum tiefsten Elend der Betrunkenheit darf ich mich erziehen lassen, nicht aber zur Arbeit, zum Lesen guter Bücher, zum Begreifen aller Schönheit in Kunst und Natur! Daß ein Begriff wie völlig nicht vorhanden in der Welt scheint, nämlich der Begriff eines ‚noch mehr‘, das ist das Elend. Adel haben sie ja —, arbeiten müssen sie das ganze Leben, also giebt es in den sogenannten ‚freien‘ Jahren keine seligere Freiheit, als auf den Tisch zu hauen und den triumphierenden Vers zu brüllen:

Über den erzieherischen Wert des Korps sprach der A. H.

Stürzbesoffen waren sie allda.

Na, da hab ich nun glücklich doch davon geschrieben. Also Sie haben nun eine Vorstellung meines seelischen Zustandes. Übrigens habe ich einige schöne, fast möcht ich sagen, glückliche Wochen hinter mir und mich in einem wahren Sturzbad von Natur, Theater, Konzerten und abermal Natur etwas gereinigt. Das dummste ist, daß ich versehentlich an ein Säbelduell geraten bin, — ein törichter Abschluß des Semesters. Bisher ist mein Gesicht ja Gott sei Dank verschont geblieben. Wenn ich mich aber mit dem schweren Säbel nicht sehr gut vorbereite, kann das niedlich werden. Es scheint zwar, als ob sie auch für mich die sonst nur für königliches Geblüt geltende Instruktion durchgeführt hätten: mich nur auf den Kopf zu schlagen, aber mit dem Säbel wird sich das schwer durchführen lassen, und da bin ich auch so, daß, sobald ich dergleichen merke, losgehe wie der Satan.

Ach Kind, ach Kind, was ist das alles! Und geht es Sie etwas an? Doch Ihr Brief tat mir wohl; obgleich ich so lange Zeit verstreichen ließ, ehe ich ihn beantworte, werden Sie es mir glauben. Aber verstehen Sie dies Gefühl der seelischen Unsauberkeit, das nun seit geraumer Zeit schon keinen Augenblick von mir weicht und mich fast unfähig macht, das zu berühren, was man eine Seele nennt? Wie würde es Ihnen gefallen, wenn ich Ihren Salon beträte, nachdem ich soeben einen großen Morast durchwatete? Sollten unsre Seelen weniger auf Anstand halten? Aber ich brauche Sie und — — aber lassen Sie die Gedichte für mich reden! In ihnen bin ich reinlich. Sehen Sie sie für Kerzen an, ich bitte, stellen Sie sie rund um Ihren Spiegel auf, setzen sich schön davor und erkennen sich glitzernd beschienen wie eine Madonna von Botticelli. Mögen Sie?

Ihnen im Herzen ergeben

Georg

An die Entfernte

Zwischen dir und mir

Liegt so vieler Schlaf.

Drin vergaßen wir

Beide, was uns traf.

Gleichwie graue Hand

Goldgewebe trennt,

So entschwand, entschwand

Unser Firmament.

Stern um Stern bei Nacht

Fiel, — noch einer mehr,

Und ich seh erwacht

Unsern Himmel leer.

Ach, ich seh es kaum!

Schlummernd fremd und fern,

Sehe ich im Traum

Immer Stern bei Stern.

Mondstunde

Blaugrau der Himmel; gelb und rund und groß

Erschien der Mond, der so dem Rätselschoß

Des Irdischen entstieg als eine Leuchte.

Und es wird langsam dunkler in der Welt.

An deinem Haupt, o Fremdling, leise fällt

Die Tür ins Schloß, die längst geschlossen deuchte.

Noch hallen Stimmen fern im offenen Feld,

Wie Pfähle schwarz sind Menschen aufgestellt

Am Ufer, schauend droben in das Schweigen.

Sie schwinden seltsam hinnen mit der Zeit,

Und alles wird, als wär es Ewigkeit,

Und keine Uhr wird dir die Stunde zeigen.

Wenn eine Seele jetzt den Strom befährt,

Den du nicht siehst, vom hohen Licht verklärt,

So schaut sie auf wie du und ist nicht bange.

Sie gleitet weiter in die dunkle Welt,

Sie stützt die Hand, die still das Ruder hält,

Und an des Ruders Holz die warme Wange.

So lehnt am Kreuz des Fensters dein Gesicht,

So glänzt dein Antlitz in dem vollen Licht,

So füllt dein dunkles Aug das große Glänzen.

Die tiefe Einsamkeit der Nacht beginnt.

Zu dir ans Fenster tritt ein kühler Wind,

Und du vergehst in seinen kühlen Kränzen.

O kehre wieder, süße Angst,

Du süßes Gift, vergifte mehr!

Laß all mich sein, was du verlangst,

Dein Spielgebild, dein Spielbegehr!

Daß eines Scheitels Linie weiß

Im braunen Haar und krausen Bausch

Von fern mich zieht und quält mich heiß —

O banges Glück! O Duft und Rausch!

Ja, daß ich hingehangen such

Entäußrung schwach aus blinder Kraft —

Und wie ein schweres Fahnentuch

In Wind sich legt und sehnt vom Schaft ...

Auf ein Bild in meiner Stube

Schönes Antlitz eines toten Traumes,

Wie du dennoch zu verklären weißt!

Wie auf allen Dingen meines Raumes

Dein betrügerisches Lächeln gleißt!

Still! ich weiß es ja! du mußt betrügen,

Weil erloschen du zu leben scheinst

In der zärtlichsten der süßen Lügen,

In der Wehmut eines schönen Einst.

Das Vergangene, ob unlebendig,

Deutlich füllt es die verarmte Brust,

Und du spürst im Dunkel hunderthändig

Geistergriff, den du erdulden mußt.

Ach, das Leben selbst mit Dolch und Feuer

So gewaltig nicht das Herz umspannt

Wie das Augenpaar, das einst dir teuer,

Wie, die liebreich war, die liebe Hand.

Georg an Benno

München, den 15. März

Mein lieber Benno:

Nein, nicht zum Freundesbusen, wie so trefflich die Alten sagten, ein tränenreiches Herz darein zu ergießen, komme ich, obwohl es mir beim Hunde elendiglicher geht als je. Davon sei nicht die Rede, das Elend meiner Seele bad ich schon noch alleine aus. Aber dies, dies eine kann ich nicht ertragen, daß ich in Wochen und Wochen nicht ein Mal ein vernünftiges Männerwort über des Nachdenkens werte Dinge über die Lippen bringen soll. Die Gedanken haben sie mir denn doch nicht unter Alkohol und Stumpfsinn setzen können, schwimmen wie die Korken obenauf vielmehr und sind — munter? nein, das nun eigentlich nicht, aber wir werden ja sehn. Zwar verdiene ich es nicht, daß ich wieder zu Dir komme (still, Benno, ich weiß schon! bei meiner Seele, mache mich heute nicht unwirsch!), aber nun liegt die Sache einmal so, daß es sich um Dinge handelt, über die ich mit dem ältesten und lange Zeit einzigen Freunde meines Lebens, meinem Vater nämlich, nicht reden kann; also tu mir die Liebe, Freund, und höre ein wenig zu!

Nun eben, wie ich zu schreiben beginnen will, fällt mir aus dem übrigen Zusammenhang eine neue Frage heraus, nämlich: Was hältst Du von geschlechtlicher Aufklärung? Sieh mich nicht so mißtrauisch an, ich frage im Ernst! Ist es nicht die große Frage jetzt? — Gut, versuchen wir, sie zu beantworten.

Nach meinen persönlichen Erfahrungen wird dabei ständig eben derjenige Haken, an dem die ganze Sache eigentlich hängt, außer acht gelassen und so die ganze Sache verdreht. Eltern, heißt es, können und sollen ihre Kinder, um trübe und gefahrenvolle Irrgänge, Abstürze womöglich ihrer Seelen zu verhüten, aufklären — worüber? Über die Geheimnisse von Geburt, Fortpflanzung, Zeugung. Wirklich, handelt es sich darum? Keineswegs, sondern dieses ist nur der Punkt, an dem die kindliche Unwissenheit einzusetzen pflegt, indem sie — die von Zeugung nicht die geringste Ahnung hat — sich fragen muß, wo die Kinder herkommen. Um was es sich aber, was die Gefahren usw. anlangt, in realibus ganz allein handelt, das ist etwas völlig andres, nämlich der Zeugungsvorgang allein, der Liebesakt. Woher die Kinder kommen, wer sie gebiert, das kann — und soll auch — jedem Kinde frühzeitig klargemacht werden, aber in Unkenntnis auf diesem Gebiet — was läge da für ein Unheil verborgen? Wie aber und von wem die Kinder gemacht werden, das ist das eigentliche Geheimnis, und dies — meines Willens! — kann und soll ihnen von keinem Vater und keiner Mutter gelüftet werden, denn Enthüllungen, Selbstentblößungen würde das bedeuten, die kein Vater vor seinem Sohne vorzunehmen imstande ist; und es würde — allgemein menschlich — eine Schamlosigkeit bedeuten, die allen uralten Erfahrungen widerspricht und auf das heftigste meinem Privatgefühl. Dies sage ich, mit dem sein Vater von früh auf alles verhandelte, alles — bis auf dies eine. Keine Gefahr aber kann so arg, so vernichtend sein, die ich nicht einer solchen Entartung der natürlichsten Anstandsgefühle vorzöge.

Also wäre in dieser Angelegenheit überhaupt nichts zu tun? Nicht eigentlich. Besteht hier eine Gefahr, so ist sie geheiligt durch Alter und so wenig zu beseitigen wie der Schmerz des Gebärens. Eins freilich kann geschehn: Vorbereitung; und an dieser Stelle treffen wir wieder in den Kern der Sache.

Denn — diese Frage erhebt sich nun: woher stammt sie denn, ursächlich, diese Gefahr? Fragen wir zunächst, wie sie sich zeigt. Darin, daß, wie gemeinhin gesagt wird, dem Knaben oder Jüngling von Altersgenossen die Sache auf schmutzige und gemeine Art klargemacht wird, daß ihn vor dem Schmutz und der Gemeinheit der Sache ein Entsetzen packt. Hier also sitzt es. Sind denn etwa diese Dinge gemein und schmutzig? Ja, sagt der Eine; der Andre: Nein! sie sind vielmehr die reinsten und erlesensten. Und dabei wollen wir bleiben. Wir halten uns nun nicht erst bei der Herkunft dieses Gedankens von der Gemeinheit auf — ich beargwöhne das Christentum —, sondern schließen kurz ab: Hier ist der Haken, der Übelstand und die Lasterhaftigkeit. Hier muß und kann Änderung geschaffen werden, allerdings nur durch Generationen der Selbsterziehung von Erwachsenen einerseits, andrerseits durch das, was ich erwähnte: Vorbereitung, die wiederum bei den Vorgängen der Geburt und ihrer Erklärung einzusetzen hat. Wenn nämlich diese schon und die Mittlerin vor allem, die Mutter, dem Kinde als etwas Reines, Heiliges, als das schmerzvolle Wunder, das es ist, hingestellt würden — sollte da nicht von ihnen auch ein Glanz auf das Andere fallen, wieder rein werden, was rein war? Und wo bliebe dann Erschrecken und Gefahr?

Und nun endlich diese beiden Dinge selbst. Sind sie so ausgemacht, so unbedingt? Ja, da kenne ich nur meine eigenen Erfahrungen, und wenn ich da sagen muß, daß ich zwar Nöte, Ängste und Gefahren in diesem Zusammenhange genug durchgemacht habe, aber keine in eben diesem, unserm Betracht, so war ich vielleicht allerdings absonderlich veranlagt. Ich war — sprachen wir nie davon? — ein schlechthin stumpfsinniges Kind, bis tief in die Jünglingsanfänge hinein, und ich weiß heute noch nicht zu sagen, wann mein Gehirn aus jener Denkträgheit, die nie nach etwas fragte, alles hinnahm und sich einverleibte, ohne es nur anzusehn, Weihnachtsmann wie Klapperstorch, und alles so lange benutzte und für gut hielt, bis irgendwie und irgendwoher etwas andres kam, — in meine jetzige Denkrastlosigkeit umgeschlagen ist, die nicht den winzigsten Vorgang unbeobachtet lassen kann und ohne womöglich eine Meilenkette von verknüpften Folgerungen daran zu hängen.

Eine halbe Stunde später

Als ich eben Ausruhens halber die Feder hinlegte und das Geschriebene überlas, sah ich, daß ich an Dinge geraten bin, die nicht im entferntesten in meiner Absicht lagen, aber das schadet ja nichts, im Gegenteil, denn wie ich nun weiter an diese seltsamen und ungeheuren Dinge denke, mich zu erinnern versuche und in meine Kindheit wieder einzudringen, an die ich — infolge jener Stumpfheit vermutlich — keine einzige, deutliche Einzelerinnerung habe — es sei denn an Örtliches —, sondern nur die süßdumpfe, unbestimmte einer unendlichen Zeit der vollkommenen und durch nichts unterbrochenen Seligkeit —, da, gerade noch, wie ich dies denke, leuchtet eine farbige Insel auf. Ich greife zu und — halte diese merkwürdigen Blüten und Strünke, die sich dann mit einigen Verstandesfäden der Auslegung und des Hinzudenkens zu einem seltsamen kleinen Strauß zusammenbinden ließen, und hier ist er.

Der Anfang ist ein wenig grob, doch läßt er sich nicht ersparen. — Da ists gegen Abend, schon ganz dunkel, ich bin — ein kleiner Knabe, übrigens in Helenenruh vermut ich — irgendwo herumgestrichen, und wie ich eben um irgendeine finstre Ecke von Haus oder Gebüschen will, höre ich die breite Stimme eines Knechtes — ich höre sie jetzt noch! — mit unterdrücktem Flehen der Inbrunst zu jemand sagen: Lat meck doch man oinmal vögeln! bloß oinmal! — (Ein Satz, der mir nie aus dem Gedächtnis kam, obwohl ich ihn erst Jahre später begriff.) — Ich erschrak, so wenig ich damals die Worte verstand.

Diese mir völlig unverständlichen Worte blieben in mir hängen, das heißt: bloß so, denn, wie schon gesagt, zerbrach ich mir über nichts den Kopf und fragte auch deshalb nicht. In jener Zeit aber muß es gewesen sein, daß mein Vater, aus eignem Antrieb, mich darüber aufklärte, wo die Kinder herkommen. Ich erfuhr, daß sie in der Mutter wachsen sollen, und erklärt wurden mir auch an Blumen, Bienen und Faltern die Vorgänge der Befruchtung. Sicherlich — das heißt, dies errate ich nur aus dem ganzen Zusammenhang — fragte ich mich damals, wenn auch nur unbewußt: Wer bringt den Samen zur Mutter, die doch so groß ist?

In jener Zeit ferner wohl zum ersten Mal träumte ich einen später wiederkehrenden Traum von einer großen Zahl bekannter und unbekannter Menschen in einem Garten, auf denen eine Menge bunter Vögel sitzen und herumfliegen. — Wie kam ich darauf? Daß ich unbewußt also doch nachgedacht habe, das ist klar, wie aber kam ich auf dieses? Folgendes fällt mir ein:

Oft hörte ich und liebte sehr, besonders abends im Schlafzimmer vor dem Einschlafen, den Gesang der schwarzen Amsel, der noch jetzt mein liebster Vogelgesang ist. Ich konnte den Vogel, der ja immer sehr hoch sitzt, niemals zu sehen bekommen, und da ich damals nun ein Märchen zu hören bekam, vom Paradiesvogel, den man wohl singen hören könnte, aber niemals sehn, so —

— ja, so haben wir nun den ganzen wunderlichen Zusammenhang von Knecht und Traum und der Einbildung, auf die ich mich wohl besinne, daß dieser Vogel es sei, der unsichtbare Paradiesvogel, der den Samen zur Mutter bringt. Und ich rate am Ende wohl nicht falsch, wenn ich glaube, daß mir damals auch gesagt wurde, daß nur Menschen, die sich lieb haben, Kinder bekommen können.

So also verhielt sich meine Vernunft, meine Phantasie. Wie es bei der wirklichen Aufklärung späterhin sich abspielte, das ist mir unbekannt; zu jener Zeit war die kindliche Phantasie allerdings schon verloren gegangen, und so wird wohl mein Verstand die Geschichte mit der gewohnten Bereitwilligkeit als natürlich hingenommen haben.

Schluß, Benno! aber es war eine Wohltat, ach, einfach eine Wollust war es, einmal wieder den Geist zu gebrauchen! Mit mir stehts elend. Mein einziger Freund, ein Literarhistoriker, hat längst den Doktor gemacht und ist fort. Die letzte Mensur kostete mich die bisher heil gebliebene Hälfte meines Schädels, die überdies so zugerichtet wurde mit Lappenschmissen und Knochensplittern, daß ich mich schon langsam darauf gefaßt mache, mit der Kompresse in die Ferien einzuziehn. Und was das schlimmste ist, die Schurken haben meine Abgeneigtheit gegen den Betrieb und mein Korpsverhältnis gemerkt, es gab schon Rügen, Drohung mit Aufhebung der Duldungen wie: meines Nichtmitsingens bei den Kneipabenden —, ach, Benno, Benno, weißt Du, daß ich in Lagen geraten bin!? In Lagen, die ich schlechterdings nicht geträumt hätte? Daß ich meines Standes als Fürstensohn wegen Rücksichten auf mich nehmen lasse? wer hätte das geahnt! Aber mir scheint, ich zerbrach einen Satz. Ja, also das schlimmste ist, daß man mich zur Strafe für meine Flucht nach Wien auf neuerdings vier Wochen hinausgehängt hat, jedoch — für die Ferien. Also bleibe ich über das Semester hinaus im Korps; die ersten Schwierigkeiten für meinen beschlossenen Austritt, — aber genug, zehntausendmal genug! Ostern komme ich! Auf Wiedersehn, Benno, auf Wiedersehn!

Georg

Nun, da haben wir es! Ich schließe, und nicht ein Wort von Deinem Brief! Ist schon solch ein Lump aus mir geworden? Glaubs nicht, Benno, er vergißt sich mitunter, aber meints doch ganz gut, und Du darfst schon glauben, wie seelenfroh, ja, wie glücklich Dein Brief ihn gemacht hat! Ja, diese Renate! Zwar ist mir Deine holde Übertreiblichkeit, zumal bei Weiblichkeit, ja bekannt, aber es stehen doch einige Dinge in Deiner Beschreibung, die absonderlich real anmuten, wie z. B. das Kleid und die Haartracht und vor allem die sinnende Haltung — die mich merkwürdig an eine Feuerbachsche Iphigenienstudie erinnerte — —. Nun, ich hoffe, Du hast inzwischen noch so viel des Wunderbaren dort im Hause erlebt, daß Dein nächster Brief Grimms Kinder- und Hausmärchen in mindestens zwei Bänden werden! In diesem Sinne — lebe wohl!

G.

Cora an Georg

Lieber Prinz!

Sie waren in jenem Brief nach Nietzscheschem Rezept mit Peitsche und Zuckerbrot zu mir gekommen; ich gehöre nicht zu den Frauen, die darauf reagieren. Ich reagiere überhaupt nur auf Anbetung, daß Sie’s wissen. Also im Ernst, Sie haben mich geschlagen, getreten, mit Hohn und Spott überschüttet, und um Ihnen das zu sagen, schreib ich heut, ohne einen neuen Brief von Ihnen abzuwarten, und nicht etwa deshalb, weil ich nicht warten könnte, mein lieber Junge! Und warum haben Sie mich so mißhandelt? Mein Brief war wohl nicht sehr gemütvoll, aber doch lieb und kokett und tändelnd, ein Andrer hätte mir Hände und Füße dafür geküßt. Bessern Sie sich bald, und um etwas nachzuhelfen, will ich diesen Brief fortsetzen, obwohl Sie es nicht verdient haben!

Also lassen Sie sich erzählen, was in der vergangenen Woche alles war. Montag: Die blaue Maus (Stadttheater) durch Erregung befreienden Gelächters höchst wohltätig. Dienstag: Taufe des armen Rudolf, eines Neffen, arm, weil er getauft wurde, eines köstlichen Bengels übrigens von zehn Monaten, empfing stehend die heilige Taufe und versuchte, den Pastor energisch am Ärmel zurückzuhalten, was aber nicht gelang. Ja, konnte er nun nicht Jude bleiben? Ach so, pardon, Germane, Arier. Diese Ansicht sprach auch mein Schwiegervater aus — der war trotz eines Augenleidens von Altenrepen herübergekommen, um Pate zu stehn, ist das nicht nett von einem alten Herrn? Ach, die Alten sind viel besser und eifriger als ihr Jungen! Ich liebe meinen Schwiegerpapa unbeschreiblich. — Also in seiner Rede, in der er sich ungemein über die Pfaffen aufregte, schlug er an Stelle der Taufe eine feierliche Aufnahme in den Bund der Familie vor. Aber ich glaube, die Familie ist jetzt aus der Mode gekommen, seit man auch nicht mehr Kanapee sagt. Jetzt haben wir Chaiselonguen und Individuen und sind Staatsangehörige, und die polizeiliche Abstempelung genügt für alles.

Wir hatten dann noch eine angeregte Unterhaltung über Gott und die Welt, männliche und weibliche Schönheit, ihre Unterschiede, und welcher wohl der Preis zuzuerkennen sei (meine Kusine Mausi erteilte ihn der männlichen, von ihrem Standpunkt aus hat sie sicher recht. Ach, Sie kennen die Dame ja nicht! Seien Sie froh!). Insofern und indirekt wurde häufig von Ihnen gesprochen, als ich aus alter Gewohnheit beständig alle Herren mit Georg anredete. Sie sehen, wie intensiv Sie mir gewärtig sind. Im übrigen wurde die Unterhaltung sowohl durch Pfirsichbowle wie durch meine stets anderen Ansichten vorteilhaft beeinflußt.

Adieu!

Ihre
Cora

Bekomme ich die unsichtbaren, kriegen Sie einen schönen Tantenkuß ohne Liebe geschickt.

(An den Rändern geschrieben:)

Was macht meine liebe Locke? Hat sie ein Bändchen bekommen?

Eventuell auch einen mit Liebe, den keiner wissen soll.

Benno an Georg

Altenrepen, am 23. März

Mein lieber Georg!

Ach, welch ein Magier ist sie doch, ja welch ein unerhörter Magier muß sie sein, die kindliche Seele! Geht sie nicht mit ihren kleinen Schritten so unerschütterlich ihres Weges, ihn vor sich her mit Blumen bedeckend, als käme ein ganzer Hochzeitszug hinterdrein? Was Du mir schriebst, jenes Erlebnis mit dem unsichtbaren Paradiesvogel und dem herrlichen Traum — ich kann nicht sagen, wie mich das ergriff! Zum ersten Male wieder seit langer, langer Zeit wurde das verstaubte Saitenspiel in meiner Brust wieder angerührt und murrte süß und leise. Nun, es wird ja doch alles erstickt. Aber ich habe es jetzt ja unverhofft gut bekommen! Schon zweimal durfte ich wieder in der Güntherstraße sein, einen herrlichen Flügel spielen, das Fräulein bewundern, — ach, spotte Du nur, Du wirst noch Deinen Tag erleben! Ἔσσεται ἧμαρ! ... Und an einem köstlichen Vormittage — von jenen einer, die schon tief im Frühling sind, wo gelöste Lüfte wie trunken irrende Vögel in trägen und hingebenden Wellenflügen umherschweifen und ein tausendäugiger Himmel der Verheißung über die wolkigen Schneegebirge schaut — an solch einem hatte ich einen herrlichen Waldgang mit Deiner Freundin. Wie immer sprachen wir fast nur von Dir! Lieber Freund, was hast Du für ein Kleinod an ihr! So kindlich oft und dabei so klug, — und nun, wo sie ihre Klugheit auf einen lieben Menschen anwenden kann, ergeht ihrs wie allen edlen Frauen, und die Klugheit entfaltet sich, ihr selber unvermerkt, zum feinsten und zartesten Verstehn. Sie ist wohl sehr in Sorge Deinetwegen, wir sind es Beide, aber nun — es wäre ja noch schöner, zu jammern und den Kopf zu verlieren, zumal Du ja schon sagst, daß diese gräßlichen Dinge um Ostern ein Ende haben werden.

Gerne schriebe ich mehr, lieber Georg, aber Du mußt wissen — ich bin in einer großen Unruhe wegen meiner Mutter. Die jahrelang gleichgebliebene Krankheit hat unversehens eine Wendung zum Schlimmeren genommen, und je mehr wir uns in Sicherheit gewiegt haben, um so erschrockener stehen wir nun, obgleich ja noch nicht das Böseste befürchtet zu werden braucht. Aber ach, wie wandelt sich doch alles, sobald des Todes Name nur von weitem erklingt! wie wird alles unsicher gleich, alles dünn und durchlässig und fremd, jede Hantierung, jeder gewohnte Gegenstand, die allesamt Unruhe ausströmen, sich nicht mehr halten lassen wollen, man legt sie aus der Hand, als würden sie glühend darin, denn nun drängt auf einmal die Zeit, alte Versäumnisse stehen drohend auf, immer wieder fühlt man sich dorthin gezogen, wo das liebe Leidenshaupt die Kissen drückt, eine Handreichung nur zu tun, eine Frage nur, einen Blick, — um am Ende dann doch wieder am Fenster zu stehn in der wachsenden Angst, dies arme Antlitz noch ja zu sehen, recht zu sehen, ehe es sich verwandelt und sich jählings entzieht.

So lebe wohl, Georg! Ich freue mich unaussprechlich auf Dein Kommen und zähle die Tage! Von Herzen Dein

Benno

Magda an Renate

Berlin, am 28. März

Ach, Renate! Renate, ich wollte, wir wären nur erst wieder zu Hause! Papa ist ja zu sonderbar geworden! Weißt Du — ich mag es kaum schreiben —, aber weißt Du, daß er trinkt! Er trinkt den ganzen Tag, offen, und, was noch schlimmer ist, heimlich, Liköre und die schwersten Weine. Und diese ganze plötzliche Reise überhaupt! mitten aus der Frühjahrsbestellung, und wozu? Zu Besprechungen mit Leuten, die ich nicht zu sehen bekomme ... Zu mir ist er ja so gut und lieb wie immer, ja wenn das möglich ist, eher noch mehr, aber — ach, ich will lieber stille sein! Jeden Abend gehts ins Theater — da werde ich zu erzählen haben! — es ist wundervoll, und in dieser Beziehung ist er ja wieder rührend in seiner Geduld, bei den längsten und ernstesten Stücken meinetwegen auszuhalten. Wenn Du sehr lieb sein willst, schreibe doch noch hierher, wir bleiben noch einige Tage, Papa meint, ich müßte alles sehn, was Berlin zu bieten hätte. Es ist ja eine reißende Stadt, wie lauter Stromschnellen — ach, ich kann nicht schreiben, vergieb, hoffentlich sind all meine Ängste nur dummes Zeug! In Liebe tausend innige Grüße von Deiner

Magda

Renate an Magda

Am 30. März

Mein liebes Herz!

Aber das war ein böser Schrecken, den ich da bekommen hab! Nach Deiner Abreise war es wunderlich still im Hause geworden, ich wartete gespannt auf den heitersten, lebensvollsten Brief, freute mich endlich des Anblicks Deiner Handschrift — — und nun dieser Inhalt! Kaum hat man sich ein bißchen in Sicherheit gewähnt nach den wochenlangen Ängsten um mein armes Kind, — da fängt alles wieder an zu zittern. So kann ich nur innig hoffen, daß es in Wirklichkeit die alten Besorgnisse sind, die in dieser neuen noch einmal mitschwingen und sie ungebührlich verstärken! Ich weiß ja nicht einmal, was ich aus dem, was Du schreibst, machen soll, — es klingt so unbestimmt — und grad darum wohl so gespenstisch. An dem einen Abend bei uns war Deinem Vater ja eigentlich nichts anzumerken; sein Gesicht schien mir etwas geschwollen, doch weiß ich ja nicht, wie es früher ausgesehen hat, da Du in Genf nur dies fabelhaft prächtige Jugendbildnis von ihm hattest.

Von mir ist nichts zu berichten, was Wert hätte, so sehr ich wünschte, es gäbe etwas, das Dich ein wenig auf andre Gedanken brächte.

Doch — — nimm dies ... Es kam gestern nachmittag.

Ich sitze vor meiner Orgel und spiele und merke während des Spielens, daß hinter meinem Rücken eine Veränderung eingetreten ist, kann mich aber nicht umwenden, sondern muß den Satz zu Ende spielen. Langsam drehe ich mich nun mit dem Sessel, und da sehe ich, daß ich mich oben auf der Orgelempore eines romanischen Domes befinde, dessen gewaltig breites und langes Schiff unter mir liegt, in mittlerer Höhe von einer schönen Galerie kurzstämmiger Säulen und Rundbogen umzogen. Das Licht fällt von rechts durch wundersam farbige Fenster in schrägen und breiten Streifen, die von blutendem Rot, von tiefem Blau und von Goldlicht leuchten. Fern drüben, sehr fern ist der Altar, kahl bis auf ein lebensgroßes Kreuz mit dem Heiland daran, doch muß ich plötzlich erkennen, daß es Erasmus ist, der dort an den Nägeln hängt. Er hebt langsam den Kopf, ich sehe in die hervorquellenden Augen und daß die Lippen sich bewegen und Worte formen. Indem sie aber laut werden wollen, schwindet alles. Ich sitze mit dem Rücken zur Orgel.

Die Worte, glaub ich, hießen: Mich dürstet ...

Ja und dies sonderbare Theater fällt mir noch ein, das es vorgestern nach dem Abendbrot gab. Beim Hinaustreten auf die Veranda geriet ich zwischen diese beiden Großen, Josef und Erasmus, am Tage nach Deiner Abreise traf er ein! — Und da kam es so, daß ich sie fragte: Wer von euch Zweien ist wohl der Stärkere? Sie blinzelten sich ein wenig an, dann griff Josef in die Tasche, holte ein Fünfmarkstück hervor, und nach einigen Magiergesten hielt er mir auf jeder Handfläche eine Hälfte hin. — Taschenspielerei! sagte da sein Bruder, kommandierte darauf: Stillgehalten! packte ihn mit der Rechten unterm Rock beim Hosenbund, mit der Linken unten bei den Füßen und — denke Dir nur! — schwang ihn so über seinem Kopf empor und trug ihn die Treppe hinunter in den Garten und weiter, während Josef steif und still mit hängenden Armen wagerecht lag, rund um den Rasenplatz mit langsamen, hahnentrittartigen Schritten. Mich ergriff doch ein seltsamer Schauder, wie der Riese da so stumm durch die Schattendämmerung mit seiner hoch erhobenen Last einherkam, als sähe ich einen riesigen Sklaven den Leichnam seines Königs heimtragen, und ich war froh, als er ihn wieder auf den Boden stellte ...

Aufrichtig, mein Herz: es hat mit diesen Dingen zwar kaum etwas zu tun, zumal ich von Erasmus seit seinem Herbstaufenthalt bei uns nichts gesehen und kaum etwas gehört habe, — aber: auch in diesem Hause scheint mir nicht alles zu sein, wie es — zu sein scheint. Onkel ist so unruhig und oft geistesabwesend, — hast Du es nicht bemerkt? Josef, den ich fragte, zuckte die Achseln und tat hocherstaunt.

Komm bald zurück! Briefe, diese Brücken des Herzens, sind schön, doch mir ist ängstlich: sie lassen uns glauben, daß wir leichten Herzens wie auf breiter, gemauerter Bogenstraße über einen Strom hinüber gehen zu dem, dem wir schreiben, und hinterdrein wird uns klar, daß wir auf haardünner Schneide über einen Abgrund dahingeschwebt sind, und dann erbebt uns das Herz wie weiland dem Reiter über den Bodensee. Also komm bald zurück, mein Armes, ich küsse Dich innig mit ganzer Seele! Deine

Renate

Neuntes Kapitel: April

Bogner an Renate

Altenrepen, am 7. April

Gute Freundin:

Zwei Dinge hatte ich gleichzeitig zu bemerken, als ich vorgestern in der Arbeit stecken blieb: Erstlich, daß ich plötzlich keine Briefe mehr von Ihnen bekommen habe seit Dezember, — glaubten Sie, Ihre Schuldigkeit getan zu haben, oder wars ein Ärgernis, daß ich über Ihr letztes ‚Wann kommen Sie?‘ stillschweigend hinwegging? Zweitens, daß kein Grund mehr vorlag, weshalb ich nicht die Arbeitsstockung zu einer Reise nach Altenrepen benutzen sollte. Da sitze ich nun am alten Schreibtisch meines Vaters in der alten Nacht, auf dem Sofa hinter mir ist mir ein Bett bereitet, und schreibe Ihnen, in Ihre Schweigsamkeit hinein, nach dem einfachen Gefühl, Ihnen irgend etwas schuldig zu sein, das ich mit der folgenden Beschreibung abstatten will. Morgen vormittag fahre ich zurück, sonst könnte es mündlich geschehn.

Ich kam mit dem Nachtzuge frühmorgens an und ging den ganzen Tag in der Stadt umher. Trotz hundertfacher Veränderung war alles wie dazumal. Davon ist nicht zu reden. Zu sagen höchstens, daß ich selbst als ein so völlig Fremder hier herumgelaufen bin, daß ich kaum noch begriff, weshalb ich kam, und welches Ziel ich hatte. So stand ich erst kurz vor neun Uhr am Abend unter der Gaslampe und vor dem tausendmal gelesenen Porzellanschild tief unten an der Tür, mit dem Namen und Titel meines Vaters. Das Schild: Sprechstunde ... war entfernt, nur die Schraubenlöcher waren noch da und der helle Fleck im Holz, wo es gesessen hatte. Auf mein Klingeln kam lange Zeit niemand. Es war sonderbar, da zu stehn. Endlich hörte ich weiche Sohlen, ein Dienstmädchen auf Strümpfen; ihr Schatten hinterm Glas wurde sichtbar, ein Schlüssel wurde zweimal herumgedreht, eine Kette fiel, die Tür ging auf, ein blondes Mädchen sah mich schläfrig an. Ich sagte meinen Namen, und ob meine Eltern da seien, worauf sich das Mädchen zu der, für alle Fälle geeigneten Antwort entschloß, Herr Sanitätsrat wäre mit Herrn Professor Arnold fortgegangen, aber die gnädige Frau wäre zu Hause. Da trat ich denn — mit Herzklopfen — in den schmalen Flur, hängte Mantel und Hut an die alte Kleiderablage und klopfte an die nächste Tür, vom Eßzimmer. Ich hörte die Stimme meiner Mutter Herein sagen und öffnete. Meine Mutter saß am Tisch, sah mir entgegen; links unter der Hängelampe saß sie, hatte ihr Haushaltsbuch vor sich, eine Hand aufgestützt, in der andern solch einen ganz dünnen, kniffligen Bleistift mit einem kleinen weißen Hornknopf.

Und da war dann doch das, was ich nicht berechnet hatte. Denn meine Mutter war, als ich fortging, 43 Jahre alt, ein ganz blühender Mensch. Nun saß da am Tisch unter der Hängelampe eine alte Frau, grauhaarig, mit verwischten Zügen; eine fremde, eine ganz unbekannte Frau. Das war schrecklich.

Da stand ich und sagte wohl, sie solle nicht erschrecken, ich wär es. Dann schrie sie leicht auf, und ich trat zu ihr und legte einen Arm um ihre Schulter. Es war wie vor fünfzehn Jahren: mehr brachte ich auch als Junge niemals fertig.

Dann saß ich auf dem Stuhl vor der schmaleren Kante des Tisches, wo ich als Junge beim Mittagessen saß, ließ meine Hände streicheln und mich mit geröteten Augen ansehn. Sie fragte und fragte. Dann antwortete ich. Was fragte sie doch?

Ach, du siehst nicht gut aus, sagte sie. Hast du soviel gearbeitet?

Grade zuletzt, sagte ich.

Mein guter Junge!

Ja, Mutter.

Es wird dich niemand mehr erkennen.

Ich bin wohl sehr verändert.

Nur die Augen sind dieselben. Dein Haar ist ja ganz glatt geworden, und — mein Gott, es ist ja ganz grau!

Das kommt wohl mit der Zeit.

Und was für Falten du hast! an den Augen und da am Mund! Gott, eben sahst du genau aus wie Herbert! Und ich mußte den Kopf etwas drehen, damit sie sehen konnte, daß ich genau aussah wie Herbert, mein Bruder. Und dann fragte sie erschreckt, ob ich keinen Hunger hätte, ob ich allein gekommen sei, und ob der Herzog nett sei. Ja, hier würde ich viel verändert finden, seufzte sie dann, und ich fragte nach meinem Vater. Ach, sagte sie, er hat sich ja so wunderbar hineingefunden! — Aber da brach sie in Tränen aus und war lange nicht zu beruhigen. — Es habe wohl so kommen müssen, sagte sie. Die Operation hätte nichts mehr genützt, er sähe fast gar nichts mehr, nur auf dem rechten Auge noch einen Lichtschein. Professor Arnold — ein Universitätsfreund — komme abends zuweilen, und sie tränken ein Glas Bier im Döhrener Turm. Eins hätte der Arzt erlaubt. Er müsse jeden Augenblick zurückkommen. — Nun bemerkte sie, daß meine Augen herumgingen, und sagte, ja, hier hätte sich viel verändert, und sie zeigte mir ein Bild an der Wand, das die Frau meines Bruders gemalt hätte.

Glauben Sie mir, ich habe es doch nicht recht begriffen. Keine Veränderung durch ungeheure fünfzehn Jahre. Da war das Büfett mit seinen gedrehten Säulen und Muscheln, Zinnteller darauf, die waren früher nicht dagewesen, aber sie gehörten doch schon lange dazu, und die Stühle hatten Ledersitze bekommen. Ich ging durch die breit offne Flügeltür ins dunkle Wohnzimmer; mit geschlossenen Augen hätte ich hinten am Fenster auf dem dünnbeinigen Schreibtisch voller Sächelchen die winzige Porzellanbüste von Goethe finden können, — Schiller war immer entzwei. Das Laternenlicht fiel von der Straße durch die Vorhänge herein, und ich nahm einen großen Einsteckrahmen mit Photographien, trug ihn zu meiner Mutter und fragte, und ich höre sie noch erklären:

Das? wer ist das? Erkennst du Herbert? Etwas ernst, nicht? Aber so war er immer. Das daneben ist Cora, findest du sie auch so hübsch? Vater konnte die vielen Sommersprossen nicht leiden, — aber nun sieht er sie ja nicht mehr. Das ist ein Bild vom Vater, das letzte, als er noch sehen konnte. Er hat sich ja nie verändert. Nur der Schnurrbart ist weiß geworden. Tante Agnes kennst du, sie ist jetzt in Göttingen. Das da ist Coras Mutter, etwas aufgeschwemmt, nicht? Ja, daß er grade eine Jüdin heiraten mußte, wo Vater ... den hat es doch recht gekränkt, aber die Kinder wollen nun mal ihre eigenen Wege gehn; und er scheint ja sehr glücklich mit ihr zu sein. Das sind Kränzchenfreundinnen von mir, wir haben ein sehr nettes Kränzchen; sonst — Und nun fiel ihr plötzlich ein, wo sie mich die Nacht hintun solle, und ich müßte auf Vaters Sofa schlafen, und da stand sie schon auf. Ich will gleich dem Mädchen sagen, daß sie es bezieht, sagte sie, und ich könnte ihre Steppdecke bekommen; sie hätten noch geheizt heute, es wollte dies Jahr ja gar nicht warm werden. Sie nahm ihr Schlüsselbund und lief hinaus. Sie ist sechsundfünfzig Jahre alt und noch ganz behende.

Hat sie diese Stunde, diese eine Stunde nun so oft vor sich gesehn, daß sie deshalb nicht ein einziges Mal sagte: Du bist ja da! Oder war es wirklich so einfach, einzutreten und da zu sein, daß alle andern Dinge gleich ebenso wichtig waren, ja, das Bett, in dem ich schlafen sollte, wichtiger, als daß ich überhaupt wieder darin schlief?

Während ich sie nun draußen wirtschaften und mit dem Mädchen verhandeln hörte, Türen gingen, Schranktüren geöffnet und geschlossen wurden, ging ich in den drei, durch offne Flügeltüren verbundenen Zimmern hin und her und dachte wohl dies:

Kindheit, die ich wiedererkenne. Bin ich nun hier zuhause? Bin ich zuhaus? Da ist der alte Geruch, der sich nicht beschreiben läßt, den kein Mensch behalten kann, kein Fremder, aber ich habe ihn wiedererkannt und lieblich gefunden. Was hab ich gemeinsam mit diesen Sesseln und Bildern und Schränken? die Kindheit, die ich wiedererkenne. Es steht wie damals, läßt sich rücken wie damals, — kein Fremder, der sein Gewicht nicht kennt wie ich, würde das so können wie ich. Ein wenig schien mir alles aufgewacht, wie einer, der krank war, nun lange gut schlief und mit halb geöffneten Augen jemand vor sich stehn sieht, ihn halb erkennt und weiterschläft. Mein Vater würde nun kommen und mich nicht sehn, dachte ich, und daß meine Mutter nicht merkte, welch ein Fremder ich hier drinnen war, denn für sie bin ich noch immer der Junge, nur wagt sie nicht recht, es zu zeigen. Bei ihr wäre ich überall zu Hause. Sie aber würde sich nirgend glücklich fühlen, ohne diese Möbel, ohne den Himmel, den sie allabendlich ansieht — ob es auch sternenklar geworden ist —, ohne ihre Küche, den täglichen Mädchenärger, die Einkäufe und kleinen Freuden. Wenn sie vierzehn Tage in einer Stadt, zwei Stunden entfernt, war, wird sie ins Zimmer laufen und sagen: Na, Gott sei gelobt, daß ich wieder da bin! Ach, was ist das für eine sonderbare Güte, die solche Dinge am Herzen hält, die nichts sind, die nie etwas für sie taten, was nicht jeder ähnliche Gegenstand besorgen könnte, die nur durch ihren Gebrauch etwas geworden sind, etwas einziges. Die Erinnerungen freilich ... In diesem Stuhl hatte sie gesessen voll Angst und Unruhe, während mein Vater in der Klinik lag, an diesem Fenster hatte sie gestanden, als der kleine Sarg mit Schwester hinausgetragen wurde, an demselben Fenster hat sie an den Zeugnissonnabenden auf ihre Jungens gewartet, niemals recht erfreut in Herberts Erwartung, weil immer in Sorge, in Hoffnung wieder und immer enttäuscht durch den Andern. Auf diesem Sofa hatte sie ihre Schwiegertochter erwartet, mit dem geheimen Gefühl: Vater mag sie nicht. Aus diesem Fenster hat sie die Jahre lang hinausgesehn, ob keiner die Straße herauf käme, ein ungelenker, ruppiger Bursch, in sich verbissen, kalt und ohne Zärtlichkeit. Hier drinnen ist ihr alles geschehn. Hier hat sie alle Mahlzeiten gerichtet und den Mädchen ihren Lohn gezahlt, auf diesem einen Tisch hat sie ihre Briefe geschrieben, ihre Rechnungen gemacht, ihre kleinen Notizen im Kalender, ihre abendlichen Patiencen gelegt, ihre Wäsche gestopft und Stickereien gearbeitet. Auf diesem Tisch liegen ihre sechsunddreißig Ehejahre aufgehäuft, tausend und tausend mittelgroße Sorgen, Ärgernisse, Widerspänstigkeiten, Hoffnungen, Wünsche, Ergebungen, Tränen, Bangnisse, Sorgen und Sorgen. Wieviel große Schmerzen? Und keine einzige Seligkeit. Sie hat nie Großes empfinden dürfen, sie hatte immer zuviel zu tun! — In drei bis sieben Zimmern, vor acht Fenstern, vor einer Straße.

Am Ende aber von alledem wird sie gerne sagen: Es war nichts Einzelnes, freilich, aber es war doch viel; so viel, daß es gut war, schön war und so, wie es sein muß. — Es hätte alles anders sein können und wäre das gleiche gewesen. Nur ein Mensch war nötig, für den sie sorgen konnte; dann war sie zuhaus.

Das wars wohl, was ich dachte, als ich einen Schlüssel in der Korridortür hörte. Schritte wurden laut, Stimmen zweier Männer, die sich verabschiedeten, dann kam meine Mutter eilfertig, im Eßzimmer — ich stand grade im Wohnzimmer — ging die Tür auf, meine Mutter kam rückwärts herein, meinen Vater führend, und die fünfzehn Jahre und die Feindschaft waren zu Ende.

Gestalt und Haltung war die gleiche wie damals — er ist groß und stark — aber nun hielt er einen Stock vor sich, und das Gesicht war fast unkenntlich durch die grüne Brille; der Schädel war kahl und blank. Es war einen Augenblick still, und sie sprach wohl so feierlich, um die Worte nur herauszubringen: Vater, dein Sohn ist heute wieder gekommen. Dann setzte sie sich eilig an den Tisch, um zu weinen. —

Gewiß, Kind, dein ‚Sohn‘ sagte sie.

Ich bin auf ihn zugegangen, habe nach seinen Händen gefaßt und glaube wohl gesagt zu haben, was ich sagen wollte: Verzeih mir, Vater. Er sagte: Benvenuto. Und da ist es wohl dies Wort gewesen, das er sich einmal an einem glücklichen Tage ausgedacht hatte, das ihn jetzt übermannte, so daß er den Stock fallen ließ und den umfaßte, der da vor ihm stand, und den Kopf an seine Schulter legte und so krampfhaft schluchzte, daß meine Mutter hastig ihre Augen trocknete und sich erstaunt umsah. Als er ruhig wurde und die Brille abnahm, ergriff sie sie sogleich und trocknete sie im Taschentuch, während ich ihn um den Tisch führte und er sich setzte.

Dann saßen wir alle Drei beisammen und unterhielten uns. Später fing meine Mutter an zu gähnen und ging in ihr Schlafzimmer, um sich für die Nacht zurecht zu machen. Eine Viertelstunde später holte sie meinen Vater.

Nun, wir sprachen diesen Abend wie alte Freunde und Schlachtkameraden miteinander, die vor langer Zeit zusammen Gefechte, Märsche und Strapazen durchgemacht haben, jeden Wink verstehen und alles aus eigener Erinnerung ergänzen. Er ging auf alles ein, fragte, bejahte fand für alles eine Erklärung, fand alles richtig, erzählt kleine Anekdoten und Züge von Bekannten, erinnerte an historische Männer, die ähnliches durchgemacht, — am Ende wurde er stiller, fast bescheiden, tat noch ein paar Fragen, und dann ging er. Nur einmal kam die alte Sorge zum Vorschein, als er fragte, ob ich auch ordentlich verdiente und zu leben hätte. Ich mußte wohl an meine vier Hungerjahre denken, aber die Summen, die mir bevorstehn, konnte ich ihm doch nicht nennen. Der Name des Herzogs genügte auch, um ihn zu beruhigen. Ja, ja, mein Sohn, sagte er, dafür hast du denn auch jahrelang nichts zu brechen und zu beißen gehabt. Dem Verdienste seine Kronen. Ja, mein Junge, dann können wir wohl schlafen gehn. —

Nun sitze ich an seinem Schreibtisch. — Wenn es gar nicht gehen wollte, dann mußte ich hier meine Aufsätze machen, er stand hinter mir und diktierte, und meine Hand zitterte schon, wenn ich mich hinsetzte, und die Gedanken waren wie weggeblasen.

Was aber ist nun die reinliche Summe? Weib und Kind, das kenne ich nicht, ein Haus brauche ich nicht, kaum daß ich einen Freund habe; ich kann hier oder dort schlafen gehn, ich schlafe gut oder schlecht, und es hängt allein von mir ab. Das Geld liegt dann da, mit dem ich als Siebenzehnjähriger klirren wollte. Die Eltern brauchen es nicht, ich brauche es auch nicht. Und alles das, um hundert oder fünfhundert Jahre länger bei Namen genannt zu werden, als die Andern? Sehen Sie, da fiel mir eine Stelle vom Ruhm ein in Platons Gastmahl; ich fand auch eines zwischen den Büchern meines Vaters, aber es war ein griechisches, und ich konnte es nicht mehr lesen. Ja, so verhält es sich mit dem Ruhm.

Es kommt darauf an, daß einer die gegebenen Kräfte verbraucht, wie es in den soldatischen Befehlen heißt: Es wird verfolgt bis zum letzten Hauch von Mann und Roß. Wer das tut, hat meinen Ruhm und kann überall getröstet schlafen gehn.

Meine Mutter ist nun getröstet, und das macht mir Freude, oh, das macht mir Freude. Fünfzehn Jahre zurück höre ich die Stimme meines Vaters, aufgebracht und zornig: Hast du denn gar keinen Ehrgeiz, Junge? — Nein, Vater, kann ich noch heute sagen, und somit wäre alles in Ordnung.

Trassenberg, am 9. April

Als ich so weit geschrieben hatte, ereignete sich etwas, das ich Ihnen vielleicht mündlich einmal erzähle. Zum Schreiben ist nun keine Zeit mehr, auch möchte ich, daß das Geschriebene vorläufig für Sie so bleibt, wie es ist. In vierzehn Tagen hoffe ich, fertig zu sein und Sie in Altenrepen sehen zu dürfen. Nehmen Sie diese Blätter als ein Zeichen der Dankbarkeit und der Ehrfurcht, die Ihnen immer bewahren wird Ihr

Bogner

Hier enden des zweiten Buches neun Kapitel oder ebenso viele Monate.

Drittes Buch.
Apriltag
oder
Verwirrung

Da am weg bricht ein schein fliegt ein bild

Und der rausch mit der qual schüttelt wild.

Der gebot weint und sinnt beugt sich gern

„Du mir heil du mir ruhm du mir stern.“

Erstes Kapitel

Speisewagen

Unaufhörlich stampften die Achsen.

Georg, ein Stockwerk gleichsam über dem Rasseln, Klirren und Stoßen, hörte die Ringe zum Festhalten der Gläser und Flaschen unter den Fenstern des Speisewagens klappern, deutlich durch das übrige Getöse. Der Zug jagte mit allen Bremsen talwärts. Jedesmal wenn die offenen Flügeltüren fern drüben in ihrer Langmut hin und her wankten, so wurde das sachte Dehnen und Knirschen in den Lederfalten der Harmonikas vernehmlich, und da sich die Täler nun erleichtert öffneten nach dem Durchstoß des zornigen Kolosses von verketteten Wagen, der sich in die Ferne stürzte, so blickte Georg in die tiefe, grüne Heiterkeit der schon abendlichen Landschaft, vor deren Wiesen und Äckern und Wäldchen durchsichtige Stücke des Wagens schwammen, gläsern gespiegelt, auch die linke Hälfte von Maler Bogner, der ihm gegenüber saß, die Unterarme auf der Tischplatte, und manchmal erschien eine Andeutung seines Profils, sonderbar fremd wie eines Unbekannten, dort draußen.

Auf dieser Seite des Zuges war es hell; auf der andern waren die wachstuchenen Vorhänge gegen die tief stehende Abendsonne herabgelassen, und immer sah Georg beim Hinausblicken den Schatten des Zuges in rasender Eile mitgeschleift, in fegenden Wellenlinien über Böschungen oder Plankenzäune, über die Telegraphenpfähle, in Gräben tief hinunter, Anhöhen hinauf und in ungeheurem Sturze wieder hinunter in tiefes Wiesenland, über das der Bahndamm hoch oben den Zug hinwegführte wie einen fortsprengenden Hippogryph. Es war ein wenig aufregend anzusehn auf die Dauer. Georg erholte sich an der Dämmerung hinter den Wachstuchvorhängen, deren Stäbe unten hin und wieder mit leichtem Klappen gegen die Fensterleisten schlugen; sekundenlang hingen sie leblos, je nach der Neigung des Wagens. Alle Tische waren von Gästen leer; ein Kellner, lautlos, kam ab und zu heran, ordnete auf den weißen Tafeltüchern die Gläser in Gruppen, setzte Teller mit Nienburger Bärentatzen, in Pergament gewickelt, und kleine bunte Pakete mit Kakes darauf.

Es war so wohltuend alles; anzusehn alles und nichts dabei zu denken. Der Zug beruhigte sich ein wenig. Das dumpf donnernde Rollen der Räder sank langsam tiefer unter Georg, ein musikalisches Getöse, das die Fahrt eher zu begleiten schien, als daß es durch sie entstand, und der Zug wiegte sich gleichmäßig und zufrieden. Draußen zog die Landschaft, schön in weiten Tiefen zur Ansicht ausgebreitet, stark leuchtend, mit vielen und langen Schatten, Felder, Haidestrecken, kleine schwarze Baumschläge mit rot glühenden Stämmen, nahe Tümpel, Bachläufe, Rinder, schwarze und weiße, glühend in der Abendsonne mit ihren Schatten im glühenden Wiesengrün, ein Bahnwärterhäuschen, rot wie lebendige Glut, mit Gärtchen, Hund, Kind und Mann an der Fahne, grell beleuchtet über und über. Rosige Landstraßen mit ihren Reihen Obstbäumen oder Pappeln hielten sich lange Zeit unveränderlich in der Ferne, bogen sich langsam, näherten sich, schweiften plötzlich wie auf einen Wink in die Weite, oder sie kamen unvorsichtig heran und wurden jählings abgeschnitten. Dann war da ein kleines Bild zusammengestellt im Schatten des Zuges: eine Schranke, zu der Kinder heranliefen, oder es wartete ein bäuerliches Leiterwagengespann, und all das wiederholte sich mühelos, immer ein wenig anders. Einmal erschienen die weißen Rauchballen aus der Lokomotive, wie sie munter und sorglos über hellgrüne Saatfelder dahinsprangen, nun langsamer schwebten, zurückblieben, sich gestalten wollten, aber eh sie’s gedacht sich auflösten, erstaunt über ihr frühes Ende.

Georg, alles wahrnehmend obenhin — auch den richtigen Maler zuweilen gegenüber, nicht den gespiegelten, der wie er selber hinausschaute, als wärs eine Aufgabe; auch den grün und gelben Kopf Dostojewskis auf dem dicken Bande, der vor ihm lag, und noch dies und jenes —, hörte und sah es doch kaum, nach innen träumend, wo aus einer selbst handelnden Tiefe der haltlos schwebende Filmstreifen des Gedächtnisses Bilder emporschickte, so unordentlich und schlecht aneinandergereiht wie die von Träumen, immerfort auseinanderreißend wie aus Seidenpapier, dann unterbrochen von den gegenwärtigen Erscheinungen, erhellt, verdunkelt, beleuchtet, beschattet, Gesichter, Straßenteile, Bewegungen, Gruppen, Zimmer, Restaurants, Marmortische, rote Samtsofas, Säle, Galeriestücke und Gärten, — und die Augenlider senkten sich zuweilen, dem Unterdrücken von diesem oder jenem mit äußerlicher Bewegung nachzuhelfen; oder er wurde sich der Härte der Stuhllehne im Rücken bewußt und rutschte tiefer; oder er zog die weit ausgestreckten Beine an sich und legte das linke über das rechte, oder umgekehrt.

Georg hatte das dünne Gefühl einer unsicheren Behaglichkeit. Er sagte sichs mit diesen Worten und fragte sich daraufhin: Warum dünn? warum unsicher? Dünn ließ er fallen und untersuchte das Unsicher. Da fand er denn, es sei wie an einem dieser öden Sonntagnachmittage letzter Zeit in München, wenn in der Ferne die Glocken läuteten. Es ist still, es ist beunruhigend ruhig, es fehlen alle Wochentagsgeräusche, es ist warm und friedlich, aber die Öde, oh die Öde, wie sie mit lautloser Woge an den Wänden hochgeht und niederrieselt von oben! Daran schuld aber scheinen die Glocken. — Es läutet in meiner Tiefe, dachte Georg, meine Behaglichkeit ist bloß äußerlich, ich bin wohl schon entronnen — gottlob, ich bin entronnen! — aber irgendwo läuten noch immer diese beklemmenden Sonntagnachmittagglocken. Sind das wohl diese Erinnerungen? Ja, sie sind es. Sie taugen wohl nichts? Nein, sie taugen nicht das geringste! Allesamt? — Aber vor allem ist es das, daß sie bloß da sind, weiter nichts; sie sind so wertlos und so kraftlos wie jenes Geläut, das für irgendwelche Leute Bedeutung haben mochte, aber nicht für mich. Ich erinnere mich — und kann mich doch nicht erinnern. Der Saft ist heraus. Wie geisterhaft ist doch alles Gewesene! Kann man überhaupt etwas hören in der Erinnerung? —

Georg horchte. Um eine lange Tafel unter umqualmten Lampen saßen Gestalten, Mützen, blaue, auf den Köpfen und blau-weiß-schwarze Bänder um die Brust unterm Rock; am obern Ende stand einer, in schwarzer Pekesche, blauweißschwarzer Schärpe und Cerevis, der mit einem farbigen Schläger auf den Tisch hieb; aber Georg hörte den Knall nicht und hörte das Lied nicht — obgleich die Melodie —, das aber zweifellos rauh und mit Klavierbegleitung gesungen wurde. Eher vernehmbar schon war die kontormäßige Stille des riesigen Billardsaals, mit dem leis knackenden Aneinanderprallen der Bälle, den grünen, sanften und leuchtenden Rechteckflächen unter tief hängenden, dicht umschatteten Lampen. Daraus entfaltete sich alsbald, wie eine Handvoll Spielkarten gefächert, eine Bilderwand der Schackgalerie, Hafis am Brunnen ... und jene Römerin Feuerbachs mit der unbeschreiblichen Hand, und die kleinen, dämmerigen, klösterlichen Gewölbe mit Schwinds liebevollen, bezaubernden Bildchen. Nun, das war doch eine angenehme, eine fühlbare und eine wertvolle Erinnerung, — möglicherweise aber war es doch die einzige ihrer Art, das fiel ihm aufs Herz! Nein, siehe da, wie zart, wie unirdisch, diese rosenleichte und sanfte Alpenkette! Er selber freilich war unversehens auf jene brüllende Terrasse voller Menschen im Isartal geraten und ins Gedränge von langen Biertischen mit grauen Maßkrügen und gehäuften Brotkörben, von Münchener Spießern, Studenten und Kellnerinnen, alt und stämmig, — Pullach hieß es, und war eine Exkneipe in Zivil am Sonntag. Die Alpenkette schwebte unsäglich ferne darüber und lächelte abgewandt. Da kam sie ein wenig näher, da war der Starnberger See, der Herbstpark, an dieser Stelle brachten sie den toten König ans Land, und dort drüben war die Bretterwand vom Wellenbade. Weiter, — was noch? Nachtstunden, oh schauerliche Nachtstunden! Prostgeschrei, Lieder, Anödereien, Bierjungen und tiefe Betrunkenheit. Endlich die mitternächtigen Heimwege in künstlicher Haltung, wenn durch die halbe Bewußtlosigkeit plötzlich der Riesenschatten der Frauenkirche dunkelte, — und Schlaf, Schlaf und stumpfes, besinnungsloses Erwachen, halbes Ankleiden, schweißige Stunde auf dem Paukboden ... „Die Faust nach links! Höher! Noch höher! Links heraus! so! links heraus!“ Und es prasselte, klirrte und klappte dumpf von zwanzig Stellen des Schuppens, und irgendwo sprang gellend eine Klinge ... Jetzt der erste, eisig kalte Schluck beim Frühschoppen, die Promenade, Musik und auffliegende Taubenschwärme ums mistbesudelte Gesims der Theatinerkirche, und ach nun jene ödesten Stunden der niemals endenden Samstage auf dem Mensurboden — — entronnen, oh gottlob endlich entronnen.

Georg schlug zum Abschluß Dostojewskis ‚Jüngling‘ auf und las mit den Augen, innerlich unaufhaltsam weiterdenkend: Da bin ich doch auch in Nymphenburg gewesen, das war schön, der letzte Farbentag im November, die langen, schlichten Fronten, die großen, gemauerten Becken und der kleine wilde Teich im Park mit der einsamen bunten Ente. Dann war Cora, dies Wesen ... und Fliddridd, dies — ja, dies Wesen ...

Und Annas Briefe, ach mein Gott, hätte ich ihr doch nie geantwortet ...

Und der Karneval, eine lichterdurchblitzte Wolke von Staub und Konfettigestöber und Patschuligeruch, durchtobt von rosigen Beinen, nackten Schultern und Rücken, Fräcken, Hemdbrüsten, Riesenhüten und diesen entsetzlichen Pailettenkleidern, ein tanzendes Geheul, immer rundum, rundum um ein großes Himmelbett, in das sich ein ununterbrochener Regen von Gold- und Silberstücken senkt, während im Hintergrunde durchdringend ein uneheliches Kindergeschrei ertönt, — von wem stammte dies Wort? — Georg sah auf.

Ah, die Sonne! Der Zug fuhr mitten hinein. Georg sah ein Stück scharfen Goldes der gewaltigen Scheibe, der offene, gläserne Wagen glühte rot übergossen, der Maler gegenüber war farblos, doch sein Hinterhaar schön vergoldet. Wie alles blitzte! und der Zug schien freudiger und ruhmvoller dahinzurauschen.

Einen Augenblick versuchte Georg, im Gedanken an die Vergeudung eines halben Lebensjahres sich großartig vorzukommen. Einen Augenblick überlegte er, ob herzhafte Reue nicht angemessener sei. Aber das ist es nicht wert, dachte er wiederum und ertappte sich über dem Widerspruch, daß er die selbe Sache, auf deren Vergeudung er hatte stolz sein wollen, der Reue nicht für wert hielt. Flugs erschien ihm die Anna; sie stand vor einem Rosenstrauch und hielt ihm den Finger hin, an dem ein Blutstropfen hing, worauf er mit dem Verwischen des Tropfens die ganze Erscheinung auslöschte und bekümmert zu sich sagte: Das wird es sein, ja, daß all dieses, dies Biertrinken, Nichtstun, Tanzen, Fechten und die Herzensschlamperein — daß ich all das nicht mit Willen unternommen habe, nicht aus Lust, sondern nur, weil ich so hineingeriet, und ebensogut hätte ich es lassen können. Gelegenheit machte es, nicht ich, und darum kann ichs nicht bereun, noch überhaupt richtig empfinden, weil Tat so wertlos ist wie Traum, wenn Willen und Meinung fehlten. Ja, ist es nicht so: wenn ich nachtwandelnd vom Dachesrand stürze — wäre das Selbstmord? Wenn ich im Traum meinen Schlafgenossen erwürge, — wäre das Mord? Der Gedanke macht die Tat, — wie eigen, da doch ebenso gewiß der Gedanke die Tat nicht ist! Ja, und nun? Nun kann ich all das nur als geschehen betrachten, und das glaube ich, das ist an allem, was je war, das Häßlichste, wenn man hinterdrein sagen muß: Es kam so ...

Nun also eine andre Stadt, ein andres Leben. Jenes laß ich fallen, und was ich jetzt anfange — — ach, du lieber Gott, warum muß man sich denn nur über alles so entsetzlich klar sein! Zumal, setzte er beschwichtigend hinzu, da diese Klarheit immer bloß nachträglich ist, nichts bessert, gar nichts ändert, noch auslöscht, sondern höchstens den schwachen Bodensatz der Erinnerung ... Er verlor das Ende des Gedankens, indem er sich gezwungen fühlte, Maler Bogner zu fragen, ob er Dostojewski kenne.

„Übrigens, wie spät mags sein?“ setzte er hinzu.

Während der Maler seine Haltung löste, die Uhr zog und langsam sagte: „Bald acht, — noch eine Stunde ...“, sah Georg ihn mit einem Male im Billardzimmer in Trassenberg und mußte sich Gewalt antun, das an allen Gesichtsmuskeln zerrende Lachen zurückzuhalten, indem er sich erinnerte, wie dieser Bogner sich mitunter stundenlang mit dem Billard unterhielt. Er hatte keine Ahnung vom Spiel, wußte aber ungefähr, worauf es ankam, und so machte er hier und da einen nachdenklichen Stoß und verbrachte lange Minuten in tiefer Betrachtung darüber, wie das nun wohl zugegangen sei, daß die Bälle sich nicht so gelegt hatten, wie er sich das gedacht hatte. Dies sei fabelhaft fesselnd, hatte er gemeint. — Georg gelang es endlich, sich von diesem Bilde ab und zu den richtigen des Malers zu wenden, die er in Trassenberg gemalt hatte. Ja, welch ein Glanz im Schweigen, welch eine Riesenanspannung legendenhafter Kräfte, jedoch am Ende geäußert in so schlichter Form, wie wenn am letzten Kraftende eines Katarakts fünf dünne Sägen, langsam und sorgfältig, eine Fichte in Bretter zerlegen. — Das gelbe, traurige Bild seiner Mutter erschien, so überströmend von ihrem ganzen Lebensleid, eingeschlossen in ungeheure Stille, — o diese nun ewige, betrübte Vision gelber, verschwiegener Landschaft, in die der Frauenkopf sich hineinhob; verlangend und ergebungsvoll ... Ja, und — ach ja, Annas Bild, Annas, die er einen Sommertag lang geliebt hatte und ...

Der Maler sagte, ordentlich antwortend wie stets, er habe die Karamasoffs, Raskolnikoff und das Totenhaus gelesen.

Georg blickte insgeheim in diese hellen Augen, die vor kristallisiertem Licht die Farbe entbehren zu können schienen. Und darin wars gewesen, diese tiefe, grüne Wiese, die das ganze Bild zudeckte von oben bis unten wie ein vom Himmel hängender Teppich, und davor das schwebende maihimmelblaue Kleid mit tanzenden, geschweiften Rocksäumen, und die schneeweißen, ausgestreckten Arme, und das flüchtige, vergehende, nach oben fort verlangende Antlitz unter der Last von gelben Rosen, die das Haar unsichtbar machten, — und im Gesicht die Stille der großen Augen, und elysische Vergessenheit im Blick ... Ich aber — habe ich diese Anna je gekannt? Geliebt habe ich sie nie, dachte Georg tief seufzend und folgte mit Augen dem Kellner, der die Rulos eines nach dem andern emporschnellen ließ, — bis auf eines, das durchaus nicht wollte, worauf der Kellner ab von ihm ließ, als wäre es ungezogen. Plötzlich befanden sie sich, der verschwindenden Sonne groß ausgesetzt, in dem offenen Glaskasten mitten in der Landschaft, durch die sie flogen.

Georg warf sich mit Heftigkeit ins Gespräch.

„Er schreibt den geschwindesten Stil in der Welt, nicht wahr?“ sagte er.

Der Maler nickte.

„Es ist wie Stromschnellen,“ fuhr Georg fort, „beiläufig, haben Sie je eine Stromschnelle gesehn? — Man wirbelt dahin, und diese Lebendigkeit, dies tausendfach atemlose, leidenschaftliche Leben, mit dem sie samt und sonders durcheinander taumeln, diese Figuren! Im Augenblick — nicht wahr — ist man mitten darunter.“

Der Maler lächelte beipflichtend.

„Dabei,“ sagte Georg, „fehlt eigentlich alle Glut, etwa jene Balzacs, sondern alles ist auf eine Weise nüchtern und — unabänderlich und notwendig, die es gleichsam abkühlt. Dann sind es ja auch Russen ...“

„Mir,“ sagte Bogner aus dem Fenster blickend bedächtig, „mir kam es, als ich den Raskolnikoff las, vor, als säße ich festgebunden auf einem Stuhl in einem dieser grausamen Zimmer ... Eine Kerze am Rand eines dünnen Tisches, und kein Fenster. Der Kalk fällt von den Wänden, und irgendwo raschelt Ungeziefer. Da kommen sie denn einer nach dem andern herein und sagen ihr Leben auf.“

„So ists! Und sie haben gar nichts Gemeinsames! Jeder ist wie mit Wänden abgeschlossen von den Andern, und sie stoßen nur aufeinander, nicht wahr, umschlingen sich, taumeln anderswohin, und es will ein jeder nur das Seine. Sie reißen sich ineinander herein, jetzt aus Haß, und jetzt in Anbetung, — und sie stoßen sich von sich, — es sind Tataren!“

„Ja den Städten!“ sagte Bogner und setzte langsam hinzu: „In den Dörfern hausen lauter Dienende und haben tiefe Gebärden. Seltsame Kinder Gottes ...“ Georg zuckte leicht zusammen, da der Maler ihn plötzlich ins Auge faßte, und hörte ihn sagen: „Übrigens ... sagte nicht Oscar Wilde, daß Hekuba einen so unübertrefflichen Gegenstand der Kunst abgebe, weil ihre Leiden niemanden etwas angingen? Mir sind diese Russen immer fremd geblieben — Dostojewskis —, und daher war das Lesen so angenehm. Auch moralisch steht man völlig abseit, man erstaunt wohl im Miterleben, aber da die moralische Beteiligung fehlt, so wird man auch nicht zum Urteilen, zum Bejahen oder Verneinen, zum Loben oder Tadeln gezwungen.“

Georg, während er Balzac erwähnte, der hingegen stets moralisch sei und noch mehr den Leser nötige, es zu sein, hörte den Maler seinen eigenen Worten hinzufügen, es sei im Grunde nur ein Irrtum ...

„Was?“

„Diese Fremdheit des russischen Charakters. Ursächlich sind wir nicht anders. Die Menschen hierzuland, aus Büchern geschaut — und wir kennen sie ja nur aus Büchern, im Leben haben wir doch nur Freunde oder solche, die wir verachten —, scheinen uns bloß entweder gut, oder aber — nicht böse meinetwegen, tätig schlecht, Böses ersinnend, und betreibend, sondern — nichtswürdig, unedel, niedrig denkend. So scheinen sie uns; der Russe dagegen scheint ein Gemisch von beidem, Engel und Teufel in eins, im Augenblick tiefedel, im Augenblick von lustmörderischer Niedertracht, weil er nämlich jedem Reiz zu diesem und jenem nachgibt. Wir aber —“

„Wir haben Hemmungen!“ fuhr Georg hinein. Bogner lächelte.

„Das ist das neue Wort. Schlagworte passen für den Augenblick.“

„Nun, und etwas noch vor allem,“ fuhr Georg eilfertig fort, um den Anschein der Oberflächlichkeit auszutilgen, „ein Wort, das der Held dieses Buches hier sagt: ‚Ich liebe es, mich vor mir selber schuldig zu fühlen.‘ Ist es nicht grauenhaft? Und das ist das Russische. Aus diesem Grunde begehen sie ihre Schändlichkeiten. Sie sind Lüstlinge der Reue, nicht wahr? — aber was wollten Sie sagen?“

„Ich wollte sagen ...“ Während dieser Worte sah Georg neben dem Hinterkopf des Zahlkellners in dem Spiegel der Tür die Gesichter von zwei Damen dicht übereinander, ein ältliches, schiefes und kränkliches unter einem schwarzen Hut, und ein sehr zartes, junges unter einem grünen Jagdhut, und irgend etwas war rot daran. Auch Bogner blickte dorthin, an Georg vorüber, der selber stracks unfrei geworden war, sich genötigt fühlte, im Stuhl aufzusitzen, unauffällig die Weste abzuklopfen und sie straff zu ziehn. Er hörte weibliche Stimmen hinter sich, der Spiegel war jetzt leer, — warum kommen sie nicht vorüber? Sie schienen in der Hälfte des Wagens hinter ihm sich niedergelassen zu haben. Georg sah den Blick des Malers von ihnen ab und zum Fenster hinaus gleiten, während er sagte:

„Ich wollte sagen, daß all das auch in uns sei als Keim, als Trieb, als Gedanke; wir können ja nichts denken, wir können immer nur wünschen oder befürchten, und so sind jene Art Russen Zerrbilder von uns, die das Unsrige übertrieben darstellen, — doch eigentlich nicht unwahrhaftig,“ schloß er.

Nein, wollte Georg sagen und widersprechen in der Erinnerung an seine eigene Überlegung vorhin über den Unterschied von Tat und Gedanke, aber da hörte er den Maler halblaut und wie zu sich selber sagen:

„Die Menschen sind alle gut. Es will sich nur niemand hindern lassen.“

Das Wort fuhr durch Georg hin mit großem Erschrecken, wie wenn ein Tier im Weg aufspringt und die Augen hineinreißt in seine vielgliedrige Flucht. Indem brauste der Zug, lärmte, die Bremsen schrien überlaut, und sie hielten gleich darauf in einem kleinen, offenen Bahnhof.

„Ungütig sind sie, Bogner,“ sagte Georg entschlossen. „Sie tun, diese Russen, das Edle nicht aus Güte — denn dann würden sie das Gemeine verachten und lassen — sondern weil es sie gerade dazu treibt, es zu tun, oder auch, um übles Tun wettzumachen. Güte aber,“ setzte er triumphierend hinzu, „Güte ist der Orgelpunkt der Kultur.“

Hiernach gab die Leistung seiner Rede ihm die Berechtigung, sich umzuwenden, und er traf mit seinen Augen voll gegen das jüngere Gesicht — sie saß in der gleichen Richtung wie er, nur einen Tisch zurück, an der andern Wagenseite — in dessen ungemein schönen und klaren Augen er las, daß sie ihn erkannte, — vermutlich nach einer seiner Photographien. Zudem hatte er nun die, aus Grün und dunklem Rot gemischte Aureole von Haar und grünen Falten des über die Stirne hochgeschobenen Schleiers gesehn, die ihm zuvor rätselhaft erschienen war. — Jetzt sich erinnernd, daß er ja einen Spiegel im Wagenfenster neben sich hatte, vollführte er einige Manöver, um darzutun, daß er unbequem säße, drehte seinen Stuhl gegen das Fenster und hatte zuerst den ärgerlichen Anblick seiner eigenen Person im Glase, dieweil er noch immer die verwünschte schwarze Wickelmütze über der Wundenkompresse auf dem Kopfe trug. Alsbald aber erschien in der blassen, von Abendhimmel und dämmriger Landschaft verworrenen Spiegelung der Hauch eines Widerscheins von Wangen, Hut und grünseidener Bluse, Bruchstücke, die sich hin und wieder lieblich veränderten, schwebten, hinter dunklem Wald, hinter einem Hause verschwanden, wieder näher kamen und greifbar wurden.

Schöne Frauen, dachte Georg, ziehen mich doch eigentümlich an, — aber Cora — trug sie nicht auch einen grünen Schleier — grüne Schleier sind selten —, als ich sie das erste Mal sah? Gute Cora!

Es dämmerte tiefer draußen, die Felder lagen schon schwarz; der schnurgerade, schwarze Himmelsrand war dunkel gerötet, schwarze Dächer, ein spitzer Turm und Baumkuppeln ragten in sanftes Gelb, und darin schwammen drei kleine, rosige Wolken mit Silberrändern und holden Schatten still und emsig hintereinander her. Gerade wollte Georg es dem Maler zeigen — wie Legendenengel auf der Reise fand ers —, als im Wagen die Lampen aufflammten, und statt der Dämmerung wurde nun draußen das ganze, hellerleuchtete Wageninnere sichtbar, die Fenster, Tische, der wartende Kellner unter der Gasflamme und die beiden Damen, die einander gegenüber saßen und Kaffeetassen und Kännchen vor sich stehen hatten. Allmählich jedoch wurden über dem stark leuchtenden Grün der Bluse hinter dem durchsichtig gewordenen Antlitz die drei Abendwölkchen wieder sichtbar, die sich langsam von ihm entfernten.

Georg blickte auf und sah in diesem Augenblick die junge Dame herantreten. Sie errötete leicht, nickte und sagte zu Bogner, er möchte verzeihen, aber sie hätten von drüben den Namen Bogner gehört, und da hätten ihre Mutter und sie sich gestritten, ob er der Sohn von Charlotte Bogner und dem Sanitätsrat wäre. „Nun will ich wissen, ob ich recht habe,“ sagte sie ruhig, während im Hintergrund ihre Mutter sich in Qualen der Beschämung und Entrüstung zu winden schien.

Der Maler sagte, er wäre es, glaubte sogar, die Mutter des gnädigen Fräuleins als eine Freundin seiner Mutter erkannt zu haben.

„Und mich?“ sagte sie fest und mit Laune, „wollen Sie mich nie haben Klavier spielen hören?“

Nun lachte der Maler und versicherte wie ein Weltmann, er erinnere sich an alles und würde untröstlich sein, wenn er nicht der Mutter des gnädigen Fräuleins vorgestellt würde.

„Frau, nicht Fräulein,“ sagte sie freundlich, nickte Georg zu und ging mit Bogner hinüber.

Frau, nicht Fräulein? dachte Georg, sich wieder hinsetzend, verwundert. Das werde ich nie im Leben glauben. Hierauf nahm er, sich verpflichtet fühlend, irgend etwas zu tun, Coras zwei letzte Briefe hervor, blätterte die, mit etwas kindlicher Lateinschrift auf mattlila Papier geschriebenen unlustig auf und zu, nachdenklich, weshalb er den letzten unbeantwortet gelassen hatte. Das Häuflein lila Papier zusammenraffend und wieder wegsteckend, dachte er dann: Solche Briefe — oder solch ein Menschengewächs — sind sie nun eigentlich abscheulich oder nicht? Ich glaube, unsereiner, ja die meisten Menschen überhaupt, werden durch Erziehung, schon von Vorfahren her, auf einen Grund von Menschentum gestellt, wo man vieles gar nicht empfindet; einen Grund, oder besser, in eine Luft, wo Gemeines nicht gemein, Gutes nicht gut ist, sondern nur eine gewisse Lässigkeit herrscht, die sich alles erlaubt und nichts für bedeutend hält. Eigentlich — ja nun! Wer hat das Wort eigentlich erfunden? Ein Teufelsmensch, denn dies ist das Wort des Nicht-tuns und doch nicht Lassens, das Wort, in dem eigentlich alles steckt. Eigentlich, sagt man, sollte ich das ja nicht sagen, — und dann sagt mans. Ja, also: eigentlich müßte ich dies alles greulich finden, aber ich — ja, ich tue es auch eigentlich, bloß ... es ist zu dumm! Wie entsetzlich schamlos doch eine Frau geworden ist, sobald sie nur vier Jahr verheiratet war. Die Ehe ist so eine Art Sinekure für seelische Schamlosigkeit ... dachte er noch und wandte sich leicht um, hörte sich von Bogner angerufen, ging hin, wurde vorgestellt und konnte sich nun vergewissern lassen, daß die Tochter ihn wirklich nach einer Photographie erkannt hatte. Die Mutter hörte er Frau Tregiorni nennen, den Namen der Tochter schien der Maler selbst nicht zu wissen.

Fahrtgespräche

Sie hatte die zarte Schönheit der Frauen mit rotem Haar, einen unberührten Mund von der schönsten Form mit weicher Unter-, voll gewölbter Oberlippe und herabgesenkten Winkeln. Das Paar der dunkelbraunen Brauen schwebte wie ein flügelhebender Sperber über Augen von undeutlicher Färbung und großer Klarheit. Georg war entzückt, und obendrein stellte sich nun heraus, daß sie schon von ihm gehört hatte, daß sie Magda Chalybäus kenne und eine Freundin von Renate Montfort sei. Die Anna nannte sie eine entzückende Libelle, — warum, wußte sie nicht zu sagen, aber Georg erklärte es ihr gleich. Deshalb nämlich, weil Annas innere Lebendigkeit, obgleich sie selber sich stille verhielt, ein glänzendes Zittern um sie wöbe gleich dem unsichtbaren Schwirren der vielen Flügel, wenn der Libellenleib unbeweglich in der Sommerluft schwebt, — ein beflügeltes Wesen sei sie, o ja. — Dies fand sie so hübsch, daß sie es flugs ihrer Mutter mitteilen mußte, die es auch hübsch fand und nunmehr begann, Georg alles zu erzählen. Nämlich, daß sie aus Graz kamen, wo sie Verwandte ihres verstorbenen Mannes besucht hätten, der in Altenrepen Kapellmeister gewesen sei, und sie selber war am Theater Sängerin gewesen, übrigens gebürtige Altenreperin und aus sehr guter Familie, während ihr Mann italienischer Österreicher aus dem Görzischen gewesen war. — Ihr Gesicht war ganz gelb und wirklich so schief wie der abnehmende Mond; sie fing nicht einen einzigen Satz an, ohne einen hülflosen, um Erlaubnis oder Beistimmung flehenden Blick auf ihre Tochter zu werfen. Diese aber schnitt ihr nun sachte aber bestimmt den Faden ab und sagte:

„Ich selber spiele Klavier, wie Sie gehört haben, und war beinahe ein Wunderkind; es ging aber vorüber. Wir waren also keine zufällige Familie.“

Georg stutzte, zauderte, riet in ihren Augen und fragte endlich: „Sind Sie Sherlock Holmes?“ Und da sie lachend verneinte: „Aber Sie zitieren doch ein Wort Dostojewskis aus seiner Vorrede zum ‚Jüngling‘, den ich da drüben liegen habe?“

Das hätte sie erstens nicht gesehn, und zweitens hätte sie den Ausdruck ‚zufällige Familie‘ ganz selbständig gemacht, — sie möchte aber nun wissen, was er bedeute.

Georg holte den Dostojewski, las nach und meinte: „Er spricht von russischen Familien, und ich verstehe kein Wort davon.“

Sie sah mit in das Buch, las ein wenig und sagte, sie verstünde es auch nicht. Georg, der es nun selber erklären sollte, fand keine Worte, fing aber schließlich an: „Ich kenne eigentlich gar keine Familien, nur in Altenrepen eine, die mir allerdings sehr zufällig vorkommt. Ich war dort in Pension, der Vater ist Oberlehrer, die Mutter stammt aus ganz kleinen Verhältnissen, ein Sohn ist Komponist ...“

„Ach, Benno Prager,“ meinte sie, „warum haben Sie das nicht gleich gesagt! Das ist eine zufällige Familie?“

„Jedenfalls zankten sie sich immer. Also Sie kennen den guten Benno? Ach, dann sind Sie wohl die dritte von den drei edlen Frauen, die zur Tür hereinkamen, nachdem er zwei Stunden im Dunkeln gewartet ...“

„Das scheine ich zu sein.“

„Nun kommen wir der Sache näher,“ meinte Georg. „Also eine Familie ohne Bindungen, nicht wahr, ohne Zusammenhang, — aber ich glaube, die giebt es erst seit kurzem und gabs in früheren Zeiten nicht, wie, Bogner?“

Bogner sagte, er seinerseits kenne nur holländische Familien, die auf alten Bildern dargestellt wären. Darauf seien eine Menge durchweg blasser oder durchweg rötlicher Gesichter zu sehn, die den Beschauer sämtlich anblicken. Links sitze der Vater, rechts die Mutter, und um einen Tisch zwischen ihnen seien viele Söhne und Töchter verteilt, alle mit dem gleichen Mühlsteinkragen über den schwarzbekleideten Schultern und alle mit dem gleichen Ausdruck in den dunklen Beerenaugen. Nein, das seien schlechterdings keine zufälligen Familien, schloß er.

„Ich glaube,“ sagte die Tochter — Georg, der sie hatte Ulle nennen hören, erwog, ob sie wohl Ulrike heiße, was ihm paßlicher schien —, „ich glaube, es war schöner, als es so aussieht, wie Sie es malen. Der Vater war das Oberhaupt, und die Familie bildete eine wohlgeordnete Gruppe der Ehrfurcht umher. So sollte es immer sein.“

„Wenn das Oberhaupt nur danach wäre,“ ließ Georg einfließen, während sie unbeirrt weitersprach:

„Er hatte sie ja gegründet, widmete ihr sein Leben, sorgte für sie und war stets ein Vorbild in Sitte und auch in Gesinnung.“

„Wenn er aber nun brüllt, tobt, ohrfeigt und die Türen knallt?“

„Wer tut denn so etwas?“ fragte sie spitz.

„Bennos Vater. Dabei ist er ein Gelehrter und ziemlich gebildet, nicht wahr? Im ganzen, scheint mir, ist er nur auf lärmigere Weise Tyrann als Ihr vorbildliches Oberhaupt. Und zudem, scheint mir, hatte Ihr Oberhaupt mehr Ehrfurcht vor seiner Frau, vor der Mutter seiner Kinder und dem Vorstand des Hauswesens, wie er andrerseits ihr Eheherr war, wie es hieß, dem sie Gehorsam schuldete, wie zuvor ihrem Vater. Es war jedenfalls ziemlich beschränkt.“

„Ach, Ulle, und so kalt kommt es mir vor!“ klagte die Mutter ängstlich und schaudernd. „Diese gräßlichen Mühlsteinkragen! Warum heirateten sie denn überhaupt?“

„Es war nicht kalt, Mutter, nicht kälter als heute, im Gegenteil, denn es herrschte eben die Gemeinsamkeit, von der wir sprachen. Es war eine Gemeinde, es gab Zucht und Gottesfurcht. Heute heiraten die Menschen, weil sie sich einbilden, sie hätten sich lieb, und weil es gerade so paßt, diesmal, denn jeder hat schon früher diesen oder diese liebgehabt, und da paßte es nicht und wurde nichts daraus, und das ist eben das Zufällige. Nachher sitzen sie dann wie eine Lerche und eine Krähe auf derselben Stange.“ Errötend, als habe sie in irgendeinem Betracht zu deutlich gesprochen, fuhr sie eilfertig fort: „Vielleicht liegt es an der Religion, die heute auch fehlt, und die damals alles war, Weltanschauung und —“

„Ach, Ulle, die Religion! Und dein Papa war solch ein frommer —“

„Liebste Mama, du gehst alle vierzehn Tage einmal zur Messe, Ostern zum Abendmahl und zur Beichte, und du bist noch katholisch obendrein. Früher war die Religion das goldne Seil, an dem jeder Tag ablief, nichts geschah ohne Gebet vorher, das Kleinste und das Größte war von Gott abhängig, — ist das kein Unterschied?“

Georg sagte: „Um es ganz einfach darzustellen: Adel — nicht wahr? — heiratete Adel und Handwerk Handwerk. Ferner hatte der Mann die Kenntnisse, war der Ernährer und galt deshalb als überlegen. Ferner wußte die Frau, die vom selben Stande war, was dazu nötig war, um seinen Beruf zu verstehn, während eine Kaufmannstochter, die einen Gelehrten heiratet, nur aus großer Liebe ein blindes Verständnis schöpfen kann. Ferner hatte auch sie ihre Überlegenheit, im Hauswesen, in der Erziehung der Kinder. So waren sie in allen gemeinsamen Angelegenheiten — nicht wahr? — einander gleich; wenn er überragte, so tat ers für sich allein, außer dem Hause gleichsam.“

Frau Tregiorni bestritt alles, denn alles sei heute genau so! Wenn sie an ihre Ehe denke, du lieber Gott! — und Georg pries sie glücklich.

„Ja, und warum brüllt er denn so?“ erkundigte sie sich zaghaft nach Bennos Vater.

„Das fragen wir uns ja auch, gnädigste Frau. Nun, Ursachen gab es natürlich. Schlechte Schulzeugnisse, Bennos ewige Verträumtheit und Vergeßlichkeit, dann vor allem das Essen, nicht wahr? und die Krankheit seiner Frau, — ja, nun ist sie ja tot.“

„Ist sie tot? Nein, so was lebt nicht!“ beteuerte die alte Dame unschuldig, während Ulrika: „Ach! also doch!“ sagte.

„Vor acht Tagen bekam ich die Anzeige,“ sagte Georg. „Mich wundert, was der Alte nun sagen wird; bisher war er überzeugt, daß sie nur so tat. Sehen Sie: Bennos Vater stammte aus nicht bessern Verhältnissen als sie, hatte aber studiert, war ein Gelehrter und vermutlich der Stolz der Familie gewesen, der es später dann zu nichts Rechtem brachte. Sie war, soviel ich weiß, seine filia hospitalis gewesen, in die er sich verliebte, nicht wahr? Nun dazu der gute Benno, dies Kuckucksei, mit seinem Komponieren. Keiner konnte ihn begreifen, keiner konnte ja vom andern begreifen, was er war, noch die Gegend schätzen, aus der er kam. So fehlte die Zuneigung.“

Das verstehe sie nicht, erklärte Frau Tregiorni.

„Die pflichtmäßige Zuneigung, gnädige Frau. Ehen wurden früher geschlossen, weil eine Familie zu gründen war. Es mußte alles stimmen, Stand, beiderseitiges Vermögen, nicht wahr? und es heiratete nicht ohne weiteres ein Mann ein Mädchen, sondern Familie in Familie, Anhang in Anhang. Es konnte nicht vorkommen, daß der Mann die Verwandten seiner Frau mißachtete, oder umgekehrt, und es schien jegliche Grundlage des Glücks ausgeschlossen bei einer Ehe, die mit der geringsten Gegensätzlichkeit begann, irgendwelcher Feindschaft womöglich, gar nicht zu reden von väterlichem Fluch.“ Mit dem Gedanken an Cora und ihren Mann sprach er weiter: „Es mußte ein Akkord sein, nicht wahr, von vielfältig abgestimmten Noten. Und dann eben, mit dem Augenblick des Eheschlusses, begann das Eingeborene zu wirken, nämlich diese pflichtmäßige Zuneigung der Gatten; des Mannes zur Mutter der kommenden Kinder, der Frau zum Eheherrn, auf den sie sich verließ. Pflichtmäßige Zuneigung, die sich ein Leben lang durchhalten ließ — vermöge natürlich der des Herzens — und die sich spontan auf die Kinder übertrug als Ehrfurcht, vor dem väterlichen Vorbilde, dem elterlichen Beispiel — nicht wahr — eines Wandels in Einmütigkeit; Zuneigung um des Bundes willen.“

Ulrika warf den Kopf auf, erklärte, er habe gut gesprochen, und es beweise gar nichts. „Benno Prager muß da unter den Seinen in der Verbannung von sich selber leben, und früher wurden die jüngeren Söhne aus dem Hause gejagt, wenn sie nicht freiwillig gingen, und konnten mit dem Schwert ihr Brot verdienen —“

„Beim Adel, gewiß, und es hatte wirtschaftliche Ursachen, und es schadete auch gar nichts, und außerdem wären wir ja froh, wenn Benno fortgejagt wäre, anstatt daß er nun in die Bank gehen muß.“

Sie blickte ihn an, lächelte und meinte, er habe freilich recht, sie möchte es nur nicht leiden, wenn von früher und heute geredet würde, als wäre die jetzige Zeit verdorben. „Du wirst unruhig, Mama, wollen wir gehn?“

Die Mutter, die nach der Uhr gesehn hatte, versicherte, es sei hohe Zeit, nur noch zwanzig Minuten bis zur Ankunft. So verabschiedeten sich die Damen, auch Bogner und Georg suchten ihr Abteil auf, wo sie allein waren.

Abteil

Georg, in der tiefen Dämmerung des von oben matt erhellten, dunkelroten Raumes sich in die Ecke neben der Gangtür niederlassend, betrachtete auf dem gesenkten Gesicht des Malers, der unter der Lampe stand, die Schattenschluchten und Lichtflächen, während er seine Pfeife aus dem Gummibeutel nachdenksam stopfte und in Brand setzte, worauf er eine Fensterecke Georg gegenüber einnahm. Der blasse Egon, sein kleiner Diener, erschien, in Zivil mit seinem schwarzen Haartuff in der Stirn wie ein Sekundaner aussehend, um höflich den Maler zu fragen, ob er am Bahnhof irgend etwas befehle, doch befahl er nichts, saß und rauchte und sog mit einem wunderlichen Ausdruck des Behagens am Kinn. Nach einer Weile blickte er Georg ernsthaft an, und schließlich sagte er etwas, zu Georgs Staunen ganz aus eigenem Antrieb; er sagte:

„Ein schönes Mädchen!“

Und:

„Ein kluges Mädchen.“

„Sie ist verheiratet,“ sagte Georg.

„Keine Spur,“ sagte Bogner, „das sieht man doch.“

„Mit einem Marineoffizier,“ trumpfte Georg auf.

Woher er das wisse.

„Sie hatte vergoldete Ankerknöpfe in den Ärmelaufschlägen.“

Da freute sich der Maler und meinte, er möchte Georgs Augen haben.

„Nun sagen Sie mir eins,“ platzte Georg unvermutet heraus, „können Sie mir das sagen: wann fühlen die Menschen eigentlich? Da haben wir unendlich tiefe Dinge geredet. Wir haben gedacht, nicht wahr. Sie hat gedacht, ich habe gedacht, Sie haben nichts gesagt, aber Sie haben auch gedacht, wir denken alle. Fortwährend denken wir. Den ganzen Tag ist der Mensch beschäftigt, im Beruf oder mit Zeitunglesen und so. Wann fühlen die Menschen? Vielleicht im Theater? Da kritisieren sie. Im Konzert? beim Spazierengehn? vor dem Einschlafen? Ich glaube, sie kritisieren auch da noch. Am Ende fühlen sie nur, wenn sie in Büchern von den Gefühlen andrer Menschen lesen. Oder tun sie’s, wenn sie unglücklich sind?“

Der Maler zog seinen kleinen Bleistift aus der Westentasche und rührte damit in seiner Pfeife wie in einem Milchtopf; dann ließ er etwas Asche in den Aschenbecher fließen.

„Ich weiß es nicht,“ bekannte er schließlich.

„Sie wissen gar nichts!“ rief Georg strahlend, „Bogner, Sie sind ein unbewußter Mensch! Ich möchte das auch können!“

Der Maler schob die Hand in die breite Lederschlinge, die neben ihm hing, und lachte freundlich mit. Georg holte Coras Briefe wieder hervor, um dem Maler eine Stelle zu zeigen. Als er sie gefunden hatte und aufsah, begegnete er Bogners Blick, der aus den großen Augenhöhlen — wie äffisch und vergrämt sie auf einmal aussahen — unbestimmt auf ihn gerichtet schien, so daß er zögerte, etwas zu sagen. Bogner sah wieder fort und zum Fenster hinaus in das Dunkel. Sein Gesicht wurde immer schwerer und ernster, während Georg das Getöse des Zuges plötzlich wieder wahrnahm, das gleichmäßig wiegende Stoßen und Schnaufen. Auf einmal hörte er den Maler sagen:

„Ich bewundere Sie, Georg! Sie haben eine so unerhörte Munterkeit und Willigkeit der Jugend, eine so wunderbare Teilnahme für jeden Menschen, daß Sie sofort bereit sind, sich in jede Unterhaltung über jeden Gegenstand zu werfen, nur um mit dem Andern ins Gemenge zu geraten. Ich kann da gar nicht mitkommen. Sie denken so rapid. Sie sind eine Stromschnelle.“

Er sah ihn an und lächelte kostbar. Georg sagte: „Da hab ichs!“

„Wie machen Sie das eigentlich?“ fuhr der Maler ganz ernst fort. „Ich glaube, Sie lesen in drei oder fünf Büchern von russischen Menschen, und schon haben Sie ‚den‘ Russen im Glashafen und lassen ihn steigen und sinken wie ein kartesianisches Männchen. Und —“

„Hab ichs denn falsch gemacht?“ unterbrach ihn Georg, nicht durchaus geschmeichelt.

„Und es scheint ganz unwiderleglich, wollte ich sagen. Ich kann da gar nichts bestreiten. Wer kann all das wissen?“

Wieder verstummend, blickte er zum Fenster hinaus, fing aber nach einer Weile abermals an:

„Ja, eins fiel mir noch ein, — während Sie da über die zufällige Familie redeten. Ich sagte Ihnen ja, daß meiner Meinung nach wir Menschen nicht denken, sondern wünschen oder befürchten. Und nun nehmen Sie einmal an, da ist ein Mensch, der immerfort üble Dinge denkt — nur denkt, wie Sie es meinen —, also sagen wir: diebisch oder lüstern; irgendwie Boshaftes. Werden diese Gedanken sich niemals und in nichts äußern? Sich nie zu einer Handlung kristallisieren, oder jedenfalls einen Niederschlag finden in seinem Gehaben, seinem Verhalten gegen Andre? Oder stellen Sie sich einen guten Mann vor, einen, der nur Rechtliches denkt und Gütiges. Sollte daraus niemals eine gute Tat, die dann fortwirkt, sollte kein schönes und edles Gebahren daraus hervorgehn?“

„Das scheint mir so zu sein,“ sagte Georg, sich vorbeugend, um ihn besser verstehen zu können.

„Ja, und nun der Russe. Vielleicht ist er weniger zivilisiert, läßt sich eher — unter der Brücke des Gedankens gleichsam — vom Gefühl zur Handlung hinreißen, — mag alles sein, aber ...“

Er schwieg.

Georg saß lange Zeit in Gedanken verwickelt, die zu unbestimmt waren, um sich fassen zu lassen. Da hörte er wieder die Stimme Bogners und fand sich ernsthaft angesehn, während der Maler sagte:

„Und Sie, Prinz, Sie denken viel ...“

„Ja, gewiß ...“ sagte Georg zögernd. „Ja — und —?“

„Ja, und gesetzt, Sie dächten wirklich nur, immer so, wie Sie’s meinten —“

„Ich meine,“ fiel Georg ein, „wenn ich ein Mensch mit lebhafter Phantasie bin und mit beweglichen Gedanken, so muß ich eben hundert Dinge denken, einfach assoziativ, nicht wahr? weil ein Gedankenbild das andre hervorruft, ohne jedoch mich ernstlich zu beschäftigen, mein Wesen zu berühren.“

„Ja, jawohl. Ich meinte eben auch nur das Denken, das viele Denken. Jener Übeldenkende, von dem wir sprachen, unterläßt das Gute vielleicht. Und wer viel denkt, was unterläßt vielleicht der?“

Georg, die Antwort „das Handeln“ nur mit den Augen sagend, wollte eifrig widersprechen mit der Behauptung, daß eben die Gedankenarbeit die Vorbereitung und Schule des Handelns sein müsse, allein Bogner ließ ihn nicht zu Wort kommen.

„Und jetzt,“ sagte er, „sehen Sie wohl, jetzt denken Sie nicht, was ich gesagt habe, sondern nur, wie Sie mich widerlegen können, und daß Sie mich widerlegen müssen. Denken Sie also ohne Wunsch noch Befürchtung? Denken Sie, sagen wir, ungefärbt? in Reinkontur?“ Er lachte leicht vor sich hin. „Aber lassen wirs doch, es ist ja wunderschön. Da kommt so ein schönes Mädchen, und, gleichviel wo’s ist, im Eisenbahnwaggon, im Kaufladen, im Salon, im Lift, Sie werfen Ihre ganze Seele in die Wagschale, damit das schöne Mädchen die ihre hervorholt und dagegensetzt. Ich möchte das —“

— auch können, glaubte Georg zu verstehn, doch kreischten in diesem Augenblick die Bremsen, der Zug, laut brausend, fiel in langsamere Fahrt, immer langsamere, und am Ende blieben sie stehn. Der Maler wischte an der beschlagenen Scheibe, sah in die Dämmrung hinaus und sagte: „Warne.“ Es war die letzte kleine Station.

Georg, seine Briefe vom Sitz neben sich aufnehmend, hörte den Maler in die Stille hinein plötzlich mit beinahe dröhnender Stimme sagen: „Der Teufel hole alles mattlila Briefpapier!“

„Ja, warum denn?“ fragte Georg erschrocken.

„Ich kanns nicht leiden,“ versetzte er. Und über ein kleines wiederholte er: „Ich kanns nicht leiden!“

„Dies Briefpapier,“ sagte Georg, „ist von Ihrer Schwägerin Corinna, und da Sie sie nicht kennen, dachte ich, nicht wahr, eine Stelle daraus würde Sie interessieren. Es ist von ihrem Vater die Rede. Nein, sehen Sie mal —“ Georgs Blick war auf eine Seite in dem andern Brief gefallen — „sie hat manchmal eine nicht unwitzige Art, Situationen wiederzugeben. Der Umzug, schreibt sie, war fürchterlich. Jetzt sitze ich zwischen lauter Scherben, mehrere Fensterscheiben, die große Marmorplatte vom Waschtisch, die halbe venezianische Krone, Glaskannen liegen in Trümmern um mich herum. Und ich dazwischen mit dem vernichtenden Blick — wie in Karthago. Und meine goldene Hutnadel aus Brüssel und der weiße Gürtel mit dem Emailschloß — weg — verschwunden! Jetzt wird sich wohl die Braut von meinem Ziehkerl damit schmücken. Ich heule schon beinah.“

Georg reichte nun den Brief, den er Bogner zeigen wollte, ihm hinüber, die Stelle mit dem Finger bezeichnend; er selber las ein wenig im andern.

Ich bin sehr müde, lieber Georg ...

Für jetzt soll Ihnen verziehen sein um Ihres heutigen Briefes willen. ‚Weil ich Sie brauche.‘ Dies ist schön.

Ich möchte lieber auf einem weichen Sofa sitzen und mich von jemand streicheln lassen. Lieber Prinz, behalten Sie mich lieb.

Georg war hocherfreut über ihre Geschicklichkeit im Wechsel der Anreden. — Nun kam die Stelle vom Umzug. Die nun folgende letzte Seite des Briefes war ein Gewirr; von allen vier Rändern nach der Mitte zu und kreuz und quer war der Bogen beschrieben, nebst zwei großen Tintenklecksen. Am obern Rande fing Georg zu seinem Vergnügen noch einmal zu lesen an:

Herrgott, was hab ich da gemacht! Also dies schrieb ich Sonntag vor acht Tagen, als ich mich grad mit Herbert gezankt hatte. Sie sollten es eigentlich nicht haben —

Aha, eigentlich! dachte Georg.

— ich hatte den Bogen in einem Papierkasten aufgehoben und nun verkehrt herum hervorgeholt. Und auch grad an Sie hab ich darauf schreiben müssen — also, ich schreibe den ganzen Brief deshalb nicht noch mal ab — hab auch keine Zeit dazu. Sie kriegen ihn.

Am untern Rande stand:

Ich bin totmüde, heut geht alles verquer. Adieu! Trösten Sie mich bald wieder. Unsre Wohnung ist aber fein. Extra ein Plätzchen, elektrisch beleuchtet, wo Sie vor mir knieen können, wenn Sie einmal kommen. Ihre müde Cora.

Am Rande rechts stand:

Indem fallen mir noch diese Kleckse aufs Papier. Soll es doch nicht sein? Tant pis — ich tu’s doch.

Am Rande links:

Nun finden Sie sich zurecht, wie Sie können.

Georg drehte das Blatt herum und las die von unten nach oben — Sonntag vor acht Tagen — geschriebenen Zeilen:

In später, stiller Nacht sitze ich allein und lese Ihre Gedichte noch einmal. Alle. Was ist es, das aus ihnen zu mir spricht? Ist es ein künstliches Hineinsteigern in Gefühle, die in Wirklichkeit nicht da sind? Sind es nur die Sinne? Ist es die wahre Leidenschaft, die echte, große, erträumte? Ich kenne Sie nicht. Kennen Sie mich? Ich bin nicht immer leicht.

Dies schrieb ich in der Sonntagsnacht und weiß nicht, ob ich es Ihnen je vor Augen kommen lassen werde. Eben schlägt es zwölf. Denken Sie an mich? ‚Sehen wir im Traum — wieder Stern bei Stern ...‘ Gute Nacht.

Georg, die Briefe samt dem, vom Maler ihm stillschweigend zurückgereichten, zusammennehmend, war plötzlich gerührt. — Du armes Kind, dachte er, ‚die echte, große, erträumte Leidenschaft?‘ Mußt du noch davon träumen? Warum hast du denn geheiratet? ‚Denken Sie an mich?‘ Das klang doch so rührend! Und da war es aus, ich bekam es mit der Angst und schrieb keinen Brief weiter. Ja, das bist nun du, Cora. Du lügst nicht, oh, niemals lügst du, und das Sonntag nacht Geschriebene und der unbedacht hervorgeholte Bogen und die Kleckse, das ist alles so gewesen, obwohl man schwören möchte, daß es nicht so war. —

Auf einmal ward ihm heiß. ‚Ich bin nicht immer leicht.‘ Bei dieser Stelle ist mir immer heiß geworden, wenn ich sie wieder las, empfand er. ‚Ich kenne Sie nicht.‘ Ja, das ist die problematische Stelle, wo die wirkliche Leidenschaft beginnen möchte — oder die eingebildete aufhören. Als ich Anna das erste Mal küßte, sagte eine unbezweifelbare Stimme in mir — aber ich überhörte sie! —: Ich kenne dich ja gar nicht! — So sind wir nun. Große, geträumte Leidenschaft! Jede träumt davon, und alle heiraten. Sei du in Beuglenburg, ich in Altenrepen! Oh nein, für eine wirkliche Leidenschaft warst du doch viel zu amüsant! Amüsante Frauen liebt man nicht, das würde einen um das ganze Vergnügen bringen. Oh, wie muß doch so manche geborene Kokotte im seichten Gewässer der ehelichen Niederungen verkümmern! Ich bin so spitzfindig auf einmal! Damals aber sollte ich Anna vergessen, sie wollte es ja! Bogner mit seinem lila Briefpapier hat wieder einmal alles gewußt. Wenn ich nun zum Beispiel an den letzten Nachmittag denke ... Mein dumpfer Schädel, — der Verband hitzte und drückte, und dann hatte ich Annas Scheidebrief wieder hervorgeholt, — mir war so elend! Wir fahren ja wieder, dachte er, sich unterbrechend, da er das langsame Rollen des Zuges hörte und das Vorbeiziehen von Lichtern in der Dämmerung draußen sah. Die Luft war ganz violett, dahinter ferne der Himmel leuchtend grün.

Briefe, dachte er, sollte man um so eher verbrennen, je begieriger man sie las. Der Duft ist hin, und sie später wieder lesen, das ist wie an der Schale von gegessenen Früchten kauen.

Und übrigens weiß ich jetzt, was an dem Nachmittag in ihr vorging, als ich von Anna sprach. Es gelang ihr, das, was sie an Zuneigung für mich besaß, mit Hülfe des Unterschiedes im Alter in Mitleid und Mütterlichkeit umzusetzen. Einen Augenblick erst schien mirs doch, als sei sie hülflos geworden. Ja, nun sehe ich sie viel enttäuschter; damals beherrschte mein eignes Schicksal mich ja ganz, — als sie aufgestanden war und am Fenster lehnte, im Laternenlicht, das von draußen hereinstrahlte, ganz weiß im Gesicht unter dem riesigen schwarzen Hut. Vielleicht hatte sie doch viel von mir erhofft. Prinz ist man ... Wie mag wohl ihr Mann sein? Von unerschütterlicher Strebsamkeit nannte ihn Bogner. Solche Frauen haben solche Männer. Und einen Augenblick stand sie da, ihre bescheidene kleine Seele in der Hand, das bißchen echter und verkümmerter Sehnsucht.

Und dann auf einmal sah ich sie ganz verschwommen in der Dunkelheit, und sie stand bei mir, ihr Gesicht war nah über mir, der Hutschatten verdeckte das Fenster ganz. Ich nahm ihre Hände ... Warum wohl? Es kam so ...

Und dann küßte sie schonend meine Stirn, ja, und dann war sie hingeschmolzen in Tröstlichkeit und Mitwehmut, und die erlaubten ihr, auf meinen Knieen zu sitzen, und mir, sie zu halten, und ihr Kopf lag an meiner Schulter, ein Umstand, der zur Folge hatte, daß ich sie küßte, und wie wir so dasaßen, war irgend etwas uns gemeinsam.

Und dann kamen die Briefe, und aus irgendwelchem Gefühlskeim stiegen diese Gedichte auf, groß einher wandelnd wie Seifenblasen, Regenbogenkugeln mit Stickstoff gefüllt und deshalb mit so majestätischer Schwere durch die reineren Lüfte segelnd, — ich weiß alles, dachte Georg geknickt.

O Anna, ich hätte dich nicht vergessen sollen! Was wird nun werden? Ob sie noch länger in Altenrepen bleiben wird? Aber wahrscheinlich geriet ich auch in das Gefühl für sie nur hinein, weil sie da war, und weil ich fühlen mußte. Suchte ich dich? hätte ich lebenslang nach dir suchen und dich finden müssen? Wie hätte ich dich dann vergessen können, jemals? — Man schwimmt im Dasein, sieht nichts als den kleinen Wasserkreis um sich her und erfaßt, was hineintreibt. Aber da sitzt mir ja Bogner gegenüber ...

„Noch sieben Minuten,“ sagte der Maler.

Bald darauf erschienen in der Dämmerung zwischen dunklem Wirrwarr von Gebäuden die wohlbekannten Häuserflächen mit Plakaten von Cakes und von Tinte und der große Arm, dessen Faust einen Radreifen hochhielt. Dann stand auf einmal: Dunlop! groß im Finstern. Georg sah Fabrikessen, von unten beleuchtet, ihr Qualm glühte, Kirchtürme; gegen die andre Seite des Wagens drängte sich plötzlich der große Biergarten unter Bäumen und vielen kleinen Lichtern. Eine Straße erschien, abgelegen, ein Waldrand, ein erleuchteter Straßenbahnwagen, leer und stillestehend.

„Pferdeturm,“ sagte der Maler vor sich hin. Gleich darauf: „Hier ist eine Kaserne gebaut.“ Darauf: „Hier ist alles anders geworden.“

Georg, um etwas zu sagen, meinte: „Sie waren doch neulich schon hier ...“

Bogner erwiderte, es sei nachts gegen Morgen gewesen. Plötzlich waren sie mitten in der Stadt, auf hohem Bahndamm zwischen den Häusern hindurchgerissen, es rauschte und donnerte, Fensterreihen, hunderte von kleinen Balkonen, das Innere von Zimmern, mit einer Hängelampe, einer Nähmaschine, flogen vorbei. Aus der Tiefe neben Georg fuhr jenes Gewimmel von Kette und Anordnungen roter, grüner und weißer Lämpchen herauf, lampengeschmückte Musikpavillons, eine Militärkapelle, Tisch und das Getümmel beleuchteter Menschen.

„Tivoli, genau wie damals,“ sagte der Maler und erhob sich.

Während sie ihre Mäntel überzogen, rauschten die Bremsen, stöhnten, quietschten, und der Zug stand in der leuchtenden Halle.

Zweites Kapitel

Nachtgang

Der Maler ging in seiner leichtlichen Rüstigkeit voran. Georg, in einem sonderlichen Gefühl von Heimkehr, mit der Ungewißheit der Erwartung, ob noch alles wie damals sei und was sich diesmal dahier mit ihm zutragen werde, folgte treppab, durch Menschengedränge, durch den Tunnel, stand eine Weile geduldig mit am Gepäcklager, wo der Maler seinen Zettel abgab, um sich den Koffer schicken zu lassen, und dann standen sie unter dem Überdach vor den Ausgängen. Georg sah das schwarze Reiterdenkmal wieder über Treppen und Blumenbeeten auf dem nassen, schwarzen Platz, hörte die elektrischen Bahnen in den Kurven kreischen, sah sie um die springenden Brunnen biegen, sah die breiten Straßen in der rötlichen Helle der Bogenlampen, hastig durchwimmelt von beschäftigten Menschen, die großen Hotelbauten im Umkreis und die Fluten verschiedenen Lichts aus den Spiegelscheiben der Auslagen im breiten Strom der Bahnhofstraße, alles so unendlich wohlbekannt, für den Hauch eines Augenblickes entfremdet, nun alles schon wieder wie vor einem Jahr, und er dachte dabei: Da bin ich nun in derselben Stadt wie Anna. Wenn sie mir doch gleich entgegenkommen wollte! Die Überraschung würde mich maskieren. Ob ich nicht vielleicht doch, wenn ich sie wiedersehe, mein verlorenes Gefühl wieder finde? Oh Gott, nein, betrügen kann ich sie nicht, und was sollte auch daraus werden?

„Ich möchte zu Fuß gehn,“ hörte er Bogner sagen, „meine Eltern wohnen in Waldhausen.“

Georg, unschlüssig was tun, da er ins Hotel immer noch früh genug kam, fragte, ob er durch die Wiesen gehn wolle, und da der Maler nickte, ob er ihn begleiten dürfte, — die Abendluft ...

Also sagte er dem blassen Egon Bescheid wegen des Hotels und der Koffer, und sie gingen schweigsam über den Platz, die Bahnhofstraße hinunter und weiter durch die Altstadt, wo Georg plötzlich in einer dunklen Seitenstraße den leuchtend grünen, jetzt schon in triefendes, tiefes Blau vergehenden Himmel wieder sah, in den der riesenhafte, breitschultrige Turm der Marktkirche hineinragte, schwarz wie aus Samt geschnitten.

Als sie auf die Allee des alten Friedrichswalls hinaustraten, blieb der Maler stehn. Rechts rauschten die vielen Wasserstrahlen des Zierbrunnens mit Krokodilen und Wassermännern in der Abendstille. Der Maler schüttelte den Kopf über ihn, blickte nach links gewandt die kleine Akazienallee hinunter, neben der auf dem glänzend nassen Fahrdamm die Straßenbahngeleise schimmerten, und schien der lang und dunkel hingestreckten Front des alten Rathauses mit dorischen Säulen und mächtigen Dreieckgiebeln zuzunicken. — Wie mag ihm zumute sein, dachte Georg teilnehmend, da er Alles wiedersieht nach so langer Zeit? — Indem sagte Bogner, in die dunklen Wiesenanlagen jenseits der Allee hinüberdeutend:

„Früher — ja, da reichten die Maschweiden bis hierher, und gleich da drüben stand der kleine Bretterkiosk, wo die Billette zur Schlittschuhbahn verkauft wurden, wenn im Winter die Wiesen unter Wasser standen. Für Jungens kostete es zwei Pfennig, es gab rote Zettel, und dann konnten wir uns gegen den Wind bis hinten zum Bahndamm hinausarbeiten. Auf dem Eis stand eine Bretterbude über Pfählen, wo es glühend roten ‚Kinderpunsch‘ gab für fünf Pfennige. Ja, zur Tür dieses Schuppens führte ein schräges Brückenbrett mit quergenagelten Leisten. Man sollte nicht glauben, daß man im Leben nicht so etwas vergißt wie diese mit Schnee und Schlamm bekrusteten Leisten, mit den Spuren der Schlittschuh, oder diese Mühsal, auf Schlittschuhen hinaufzukraxeln, immerfort angeklammert an die Andern, denn dort herrschte stets ein mächtiger Andrang. Drinnen dampfte alles, ein Kanonenofen war da ...“

Sie gingen wieder; überkreuzten die Allee, umwanderten den neuen kleinen Teich mit seinen Wiesenbuchten und Grotten von Bimsstein und Baumgruppen, gelangten an die Holzbrücke, die zu den großen Wipfelmassen von Bellavista hinüber führte, und wieder blieb der Maler stehn und erklärte, daß hier eine andre Brücke gewesen sei, damals, aus Eisen, mit so hohen Brüstungen, daß man als Junge sich auf die Zehen stellen mußte, um das Wasser sehen zu können und die Ruderboote im Fluß. Die Bootstation drüben war Georg wohlbekannt, aber ehe er etwas sagen konnte, sprang der Maler die Böschung hinunter in die weithin dunkel ausgebreitete Wiesenfläche, zur Linken von dem neuen, mächtig herumgeschwungenen Promenadendamm umarmt, wo Laternen brannten und erleuchtete Fenster in den Hinterhäusern der Stadt erglommen.

Sie folgten dem Wiesenpfad am Fluß hinunter, der braun und eilfertig, hier und da glucksend in der Hast, dahinzog. Mit dem Schweigsamen wanderten am andern Ufer die schweigenden Krüppelweiden, fabelhafte schwarze und verkrümmte Stammkörper mit einem mächtig gesträubten Haarwuchs dünner Ruten, durch die der trübrote Nachthimmel über der Fabrikstadt glühte. Sie gelangten an die Bismarcksäule, die mit einmal, ein dunkler Schatten, sich linker Hand aufrichtete, überstiegen die Anhöhe, die sie trug; Georg, in der Dunkelheit unsicher, zögerte, aber der Maler sprang schon wieder in die Wiesen hinunter, und nun gewahrte Georg fern drüben zur Linken die dunklen Festungsumrisse der Brauerei und weiter rechts in der Ferne die Zypressen und Mauern des Friedhofs, wo die dunklen Wiesenflächen uferten. Er erinnerte sich, daß der Bahndamm verlegt war, wandte sich und sah jenseits der ruhigen Flußbiegung ein stilles Volk von Fabrikschloten im Qualm des roten Städtehimmels stehn, daneben die Türme der Garnisonkirche und Gewipfel. Er hörte das Rauschen des unsichtbaren Wehrs zur Rechten, wo der Fluß sich teilte, und als jetzt die Nachtluft, lau, mit weichen, ungeschickten Stößen wie kindliche Küsse auf ihn eindrang, zitterte sein Herz in der wundervollen Bangnis des Frühlings.

Unten im Dunkel, ganz still, erhob sich der Schatten des Malers in seinem grauen Mantel; auch er bewegte sich nicht. Alles schien sich still zu verhalten auf einmal und zu warten. Wie feucht die Luft war, wie kühl nun wieder! Die Fläche des Flusses glänzte zwischen den Böschungen, sich verbreiternd, bevor er sich in die beiden Arme teilte; ununterbrochen rauschte das Wehr, heller als Meeresbrandung, doch zogen undeutliche Gedanken von See und Ebene durch Georgs Herz. Dann folgte er Bogner.

Der Weg über die Wiesen war nicht leicht, der nasse Grasboden höckerig und zerlöchert, zuweilen gelangten sie an sumpfige Stellen, die der Maler jedoch umkreiste, ohne sich zu besinnen; hier schien er jeden Fußbreit zu kennen. Nach einer Viertelstunde waren sie an einem Strebepfeiler der Friedhofsmauer angelangt und gingen unter den haushohen Bastionen und Türmchen einher, kamen an einen Zaun, einen Bach, einen Brückensteg, über den ein schiefes, halb offenes Stacketengitter gespannt war, gingen hindurch über eine kleine ansteigende Wiese neben einem schwarzen Graben, und — „Hier,“ sagte Bogner, „fingen wir Jungens Blutegel und Molche und Sticherlinge, oder wir stellten dahinten in den Kegelbahnen — das da ist der Biergarten vom Döhrener Turm! — Kegel auf für die hemdärmeligen Pfahlbürger. Da müssen wir hindurch. Übrigens — die erleuchteten Fenster da rechts unter den Bäumen gehören meines Wissens zur Güntherstraße.“

„Wo die Montforts wohnen?“ Georg erschrak. Im dunklen Gefühl, daß er mit der nächsten Minute Anna sehn werde, ging er hinter dem Maler her, der — suchend, wie es schien — sich in der Finsternis der Bäume verlor. Georg stolperte über Wurzeln; etwas, das wie ein Galgen aussah, stand plötzlich vor ihm; er erkannte das Balkengerüst einer an eisernen Stangen hängenden Schaukel, so groß, daß ein Dutzend Menschen darauf stehn konnte; er sah erleuchtete bunte Treppenhausfenster plötzlich ganz groß in der Dunkelheit schweben, und auf einmal kam ein gedämpftes, melodisches Brausen durch die Nacht geschwebt. Orgel ... Renates Orgel ... dachte Georg. Wo war denn Bogner? Er lauschte sekundenlang auf das schöne Rauschen und Quellen, das die Bäume friedlich überstieg; hellere Stimmen lösten sich freudig, stiegen, entwandelten feierlich. Es roch stark nach Erde, nasser Baumrinde, nach Knospen.

Aber wo war denn der Maler? Georg tat ein paar Schritte im Finstern und erblickte plötzlich sehr betroffen drei hohe und schmale, gotische Fenster, die sich in der Nacht aufgestellt hatten, erleuchtet, von einem sehr milden, bernsteinfarbenen Licht. Darüber erschienen alsbald die Schattenumrisse von Dach und Türmchen einer kleinen Kapelle.

So also sah dies alles aus? Und sieh, da stand der Maler; auf einmal sah er sein Profil, nach oben gerichtet, und da war auch ein Zaun und Buschwerk dahinter. Ängstlich und beklommen zu Bogner tretend, sah Georg hoch oben links ein helles Fenster weit offen, ein Stück weißer Zimmerdecke und ein Dienstmädchen mit weißer Tolle, das eine Steppdecke hochnahm und davontrug. Unten wurden Wege weißlich sichtbar, sodann ein roter Punkt, der sich bewegte, ein Raucher — die Orgel rauschte tief — daneben etwas Weißes, ein Kleid, und der rote Punkt glühte auf, und Georg erblickte deutlich und fast entsetzt in dem kleinen Lichtkreis Annas Gesicht und eine Hand, die am Halsausschnitt der dunklen Jacke lag. In diesem Augenblick, zurückfahrend, ließ er seinen Schirm fallen, der gegen den Zaun schlug, und aus dem Garten rief nach Sekunden eine männliche Stimme halblaut: „Ist da wer?“

Georg bückte sich nach seinem Schirm, fand ihn, da war alles still. Plötzlich erloschen die Fenster, gleich darauf knarrte eine Tür, er sah das dunkle Rechteck einen Fuß hoch über dem Erdboden, ein Schatten war darin, ein helles Gesicht; eine Gestalt, weiblich, die etwas Weißes in der Hand hatte, erschien auf einem Wege, der am Zaun vorüberführte, unverborgen durch das noch durchsichtige Strauchwerk, und Georg hörte die Männerstimme wieder, fragend: „Renate?“

Es war still. Der Name, durch die schweigende Nachtdämmerung gerufen, hallte ihm sonderbar durch das Herz. Er zauderte noch, dachte: Jetzt ists am besten! ermannte sich und sagte laut:

„Ich bin hier, Anna, Georg!“

Nun denkt sie freilich, ich habe sie überraschen wollen, dachte er zuckend. Das Buschwerk rauschte auf, teilte sich, Annas Gesicht erschien, er sah ihre Augen, ein wenig zusammengezogen aus Kurzsichtigkeit, er hörte sie atmen, sie schrie leise auf: „Wahrhaftig, Georg!“ und streckte die Hände aus. Rasch wieder loslassend, tastete sie am Zaun, eine Tür ging auf, sie stand atmend vor ihm, er sah ihre lieben, zarten Züge, die Augen, dunkel und groß offen, fühlte die Wärme ihrer Hände, war ganz glücklich. Er schloß aus einer Bewegung ihres Arms, daß sie ihn küssen wollte, und sagte hastig: „Hier ist noch jemand, Anna, erkennst du ihn?“

Da stand Maler Bogner. Sie jauchzte, lief auf ihn zu, packte ihn an den Schultern, wirbelte wieder herum, lief durchs Pförtchen, sich duckend unterm Gezweige, in den Garten, rief: „Renate! Renate! komm mal schnell her! hier ist wer!“ als könnte der Maler gleich wegrennen.

Sekunden später sah Georg sie wieder sich unter dem Strauchwerk bücken, eine weibliche Gestalt an der Hand mit sich ziehend, die sie nun losließ. Ein Frauenarm hob mit schöner Gebärde Zweigbogen empor, ein weißer Schal sank ihr vom Kopf auf die Schultern zurück, ein weißes, schmales Antlitz erschien mit gesenkten Lidern, die Lider hoben sich, und durch Georg, den zwei nächtige Augen anblickten, zuckte ein blendender Schmerz, der ihn erschütterte vom Kopf zu den Füßen, bis er langsam, taumelnd, begriff, daß es eine Seligkeit sein mußte und kein Schmerz.

Garten

Es war nun wie ein Traum oder ein Reigen.

Dunkel wars, wie immer in seinen Träumen, und wie in Träumen vollzog sich alles nur; er war dabei, er tat auch mit, aber es war alles ohne seinen Willen im Gange. Ein Reigen, ja, nach einer unhörbaren, ungeheuren Musik in den Lüften.

Die Fremde stand da, aufrecht. Sein Herz zuckte im Übermaß der Süße hin zu ihr, zu dieser hohen, unbeschreiblich schlanken Gestalt im weit gebreiteten, schwarz glänzenden Kleidrock; zu dieser schmalen Stirne, umrahmt vom Haar, dieser stolzesten Biegung der Nase, — aber sie sah ihn ja gar nicht an, sah vorüber an ihm in das Dunkel. Dort aber stand Bogner, und sie sagte mit einer heiligen Stimme einfach: „Ich bin Renate ...“

Bogner trat herzu, sie streckte den Arm aus; Bogner verneigte sich, faßte ihre Hand, und ihre Stimme machte sich wieder auf, machte die Luft süß um sich her und sagte: „Willkommen, lieber Freund.“

Ah, die Beiden kannten sich! Ja, so war das in Träumen. —

Nun verbeugte sich Georg, bekam eine federleichte Hand für den Hauch eines Herzschlags zu empfinden, und zu sehn, wie ein zartes Gesicht sich durch ein Lächeln der Mundwinkel und der Augen in solchen Liebreiz verwandelte, daß er hätte schluchzen mögen, und dennoch ertrug er den Blick dieser Augen, die so schwarz waren wie Winternächte. Auf einmal war er dann durch ein Dickicht in einen Garten gelangt.

In seinen Schläfen brannte es und sauste. Er glaubte blind zu sein und sah doch alles, nur alles sonderbar langsam und ohne es zu begreifen. Er gab auch mit leiser Stimme einige Erklärungen über sein Hiersein ab. Wem? Irgend jemand, der in der Nähe sein mußte, doch nun kam etwas dazwischen, ein gewaltig großer Unbekannter, schwarz, der glühende Augen und eine kleine Bartfliege am Kinn hatte und ihm die Hand gab und sagte: „Montfort.“

Annas Stimme schlug an sein Ohr, und er hörte die Worte:

„Hast du von meinem Papa gehört? Es geht ihm nicht gut! Ja, denke dir, er hat einen Schlaganfall gehabt, ganz leicht nur, aber — — und ich soll nicht kommen, er hat extra so telegraphieren lassen, was kann das bedeuten?“

Ja, was konnte das bedeuten? Papa? Was für ein Papa? — Immerhin sagte er irgend etwas und sah auf einmal Annas Hinterkopf mit aufgesteckten Flechten vor sich, der ihm sehr unbekannt vorkam. Sie sagte: „Siehst du nun?“

Plötzlich flammte in der Höhe über ihnen ein Licht so grell auf, daß er die Augen zukneifen mußte. Nun war es unglaubhaft hell.

„Richtig,“ sagte er, „der Mozartkopf ist ja weg!“ Darum sah sie wohl so verändert aus.

Ja, es war ein Garten. Buschwerk und hohe Bäume überall. Georg bemerkte, daß er auf einem Wege stand, der rund um einen großen, kreisförmigen Rasen führte. Drüben war das Haus, grau, mit einigen hellen Fenstern, davor eine Veranda mit breiter Treppe in der Mitte. Es war ganz still. In den Lüften oben rauschten Blätter.

Rechts dicht neben ihm stand wirklich Anna. Ihr Gesicht, wie er es nun von der Seite sah, schien schmaler, die Stirn dagegen breiter geworden, und etwas fehlte ganz gegen früher; was, wußte er nicht. Wohin sah sie denn? Ah, da standen die Beiden!

Ein paar Schritte voneinander entfernt standen sie Beide so, daß Georg sie fast von Rücken sah, Bogner etwas breitbeinig, die Hände hinter sich, das Gesicht leicht geneigt, als ob er zuhörte, auf die Erde blickend; Renate wuchs mit der schwarzen Glocke ihres Kleides aus dem Rasen empor, und über ihren Rücken hing das große weiße Dreieck eines glänzend bestickten Schulterschals mit langen Fransen herunter. Sprach sie denn? Nein, sie schwieg. Georg lächelte wunderbar zufrieden, denn nun konnte er sehen, daß sie eine Hand am Kinn hatte, den Ellbogen vermutlich in der andern, so wie er es einmal in einem Briefe gelesen hatte.

Und dort ganz links, am hohen Pfahl einer von oben hangenden elektrischen Lampe stand dieser Unbekannte mit der Bartfliege, eine Hand hoch über sich gegen den Stamm stützend, die Füße gekreuzt; die andre Hand hielt eine dicke Zigarrenhälfte, und seine Augen waren dunkel, fest und ruhig auf Renates Rücken eingestellt.

Ich bin Renate ... hörte Georg eine singende Stimme durch den Garten verhallen ...

Ja, jetzt sprach sie. Auf einmal zeigte sich ihr Profil, die Linie der Stirn, die stolze Biegung der Nasenspitze, der Mundwinkel, der sich redend bewegte, und die leise auf und nieder gehenden Wimpern des Auges, die in sanftem Wechsel den Blick zu Boden und zu Bogners Zügen emporlenkten. Georg verstand kein Wort, doch war es ein zauberhaftes, unsterbliches Spiel.

„Und Bennos Mama ist nun tot ...“, sagte Annas Stimme.

„Er war wohl sehr traurig?“ fragte Georg. „Ja, nun müssen wir wohl gehn,“ setzte er willenlos hinzu.

Renate und der Maler schritten schon nebeneinander über den Rasen. Ihr Kleid rauschte. Nun waren sie an der Veranda vorüber, da war die Hausecke, daneben ein Dämmergang; in den verschwanden sie. Jetzt war er selber in Bewegung, blieb aber wieder stehen, da jener Montfort seine Haltung löste, reichte ihm die Hand und preßte: „Guten Abend“ zwischen den Zähnen hervor. Anna neben sich begab er sich weiter. Sie kamen in den Gang zwischen Haus und gebüschverdeckter Gartenmauer, und nun wußte Georg, daß er etwas Liebevolles zu sagen habe, murmelte auch etwas derart und legte eine Hand um ihre Schulter.

Sie blieb stehn, sah ihn lange und durchdringend an und sagte: „Bist du’s denn, Georg?“

Er lächelte, verlegen im Innern, und antwortete besinnungslos: „Ja, siehst du nicht, daß ichs bin?“

Plötzlich dicht vor ihm stehend, zog sie sein Gesicht mit beiden Händen zu sich herunter, küßte es heftig, legte die Stirn gegen seine Schulter, atmete tief auf und sagte leise: „Gott sei Dank!“

Danach war sie verschwunden.

In einem dumpfen Gefühl der Wehmut ging Georg weiter den Gang hinab, wo ihm nun auf einem glänzenden Wege von Steinplatten durch einen Vorgarten die Gestalt Renates leis rauschend entgegenkam. Unfern dahinter stand Bogner vor einem hohen Gittertor im grünlichen Licht einer Straßenlaterne.

Noch glaubte Georg, zu Boden sinken zu müssen, auf die Knie, gleichviel was, nur liegen, unten sein, — als sie bereits vor ihm stand, die Hand ausstreckend, die er faßte.

Niemals loslassen! dachte er hülflos und sagte kaum hörbar: „Gute Nacht!“

„Gute Nacht!“ hörte er sagen. Duft entschwebte. Es rauschte. Schritte verhallten leicht, und er war allein.

Landstraße

Jedoch Bogner war noch zugegen. Sie gingen langsam nebeneinander die dunkle Gartenstraße unter Bäumen hinunter, deren zartes, grünes Laubwerk durchsichtig schimmerte im Licht der Laternen. Auch zarte Schatten, fedrige, waren auf den Weg gestreut, und wie zart erst war die Berührung der Luft, die um das Herz strich wie sonst um Stirne nur und Lippen. Allein sein! flehte Georg, oh nur erst allein sein! Die unerhörten Kleinodien, die er davontrug, von ihrer Hülle zu befrein, darüber sich zu werfen mit bloßem Herzen, Gold und Juwelen, Gold und Juwelen! — Er glaubte, jeden Augenblick in Tränen auszubrechen. Vielleicht waren das die Kleinodien, die er trug, nachwachsend noch immer wie ein Frühling, in seiner verwandelten Brust. Da fühlte er einen Tropfen auf der Oberlippe, aber der war kühl. Es regnete leise. Die Nacht, ach, sie hatte es gut, sie löste sich weich in Regen auf. Oder lag dort oben ein selig Weinender auf den Sternenbergen, schluchzend unhörbar durch die geheimnisvolle Nacht, und Wellenfrauen des Windes kamen und trugen seine tränende Glückseligkeit hinunter auf dankbares Land.

Bogner sagte etwas. Ob er es auch gemerkt habe —?

„Was?“ preßte Georg hervor, der kein Wort verstanden hatte.

„Es war etwas nicht in Ordnung in dem Hause.“

So, Bogner hatte es gemerkt. Er konnte etwas bemerken. Ein Stein war Bogner.

„Sie machte eine Andeutung,“ setzte er hinzu.

Georgs Gedanken fingen einen Veitstanz an. Andeutung, sagten sie, an Deutung, Deutung, Traumdeutung, reich an Deutung ...

Die Straße war zu Ende; sie standen vor dem breiten Damm der Chaussee, gegenüber der elektrischen Zentrale. Glimmende Gleisbündel waren von links und rechts in die matterleuchtete Halle hineingebogen, unter der leere Wagen standen, die einen hell, dunkel die andern, und vorne war ein hellglänzendes Zifferblatt, dessen Stunde Georg um keinen Preis der Welt abgelesen hätte. Die Augen ablösend, sah er rechts weit hinunter die Straße in eine waldige Halle davon ziehn, unten glimmend vom Stahl der Schienenstränge, oben von Laternen. Mitten auf dem Damm stand ein verlassener Anhängerwagen, dunkel und einsam. In ihm hätte Georg auf einem östlichen Gebirge sitzen mögen, still der Feuerrosse, die ihn entführen würden, wartend.

„Gute Nacht,“ sagte der Maler auf einmal, gab ihm die Hand und entfernte sich über den Damm in eine dunkle Waldstraße neben der Zentrale hinein.

Links hinab entrollte die Landstraße fernhin mit Bäumen und Laternen durch offenes Land. Ein paar rötliche Lichter waren fern drüben. Georg sah zu der Laterne auf, die neben ihm stand, nicht untröstlich, vielmehr schien sie eben angelangt zu sein und froh, ihn noch erreicht zu haben. Ihr Glühstrumpf brannte hell genug, obwohl unten ein Ring sich abgelöst hatte, und das Licht schwoll leise ab und an in dem zarten Gazegewirk, wie wenn ein kleiner Gott die Backen aufbliese, ganz atemlos vor Anstrengung des Leuchtens. Auch dieser sechseckige Glaskasten schien eine angenehme Homunkulusphiole; leise glitzernd wehte der Regenschleier um sie hernieder wie ein endloser Gestirnsnebel. Auf einmal stieg das Weinen in Georg auf, da schien ihm das unmännlich, er zerdrückte es schmerzhaft in der Kehle, — bis zum Munde, der fest blieb, gelangte es nicht, nur die Augen wurden feucht, ihre Winkel schmerzten, ein Stein marterte den Kehlkopf, er lächelte, schüttelte den Kopf und ging links hinunter der Stadt zu.

Und so trug er denn sein aufgeregtes Herz die nächtige Landstraße hinunter, ermuntert vom Takt seiner Füße, wandernd plötzlich kriegerischen Mutes, selber allein ein ganzer Heerbann, in Eilmärschen durch die letzte Nacht, um am Morgen mit allen Fahnen und riesigem Schrei in die Länder hinabzusteigen zur Eroberung. Renates Antlitz, weiß im Dunkel, ging ihm auf, wie es die Lider aufschlug gegen ihn, und ihre Blicke setzten sich wieder auf sein bloßes Herz wie Schmetterlinge, daß es ihn durchschauerte. Wogen seines Herzens, in denen er dahinging, schleppte er mit sich, hin und wieder stand eine auf vor ihm und schlug mit voller Kraft auf seine Brust, daß er ringsum erdröhnte, als sei er gepanzert. Goldene Wagen kamen ihm leuchtend entgegengestürmt; hergeschleift von gewaltigen Geistern über eisglatte Schienen, schaukelten sie vorbei, voll von fremden Menschen, die in ihrer Haltung saßen wie Sklaven, angefesselt und ohne Bestimmung. Wenn er den Kopf aufwarf, so erblickte er zwischen feuchtem Gewölk Sterne, die sich zitternd bewegten. Die Lüfte waren angefüllt mit Geräuschen des Frühlings, mit unsichtbaren Antlitzen, die sich lächelnd unterhielten im Vorbeiziehn, mit Musik, die aus dem Erdboden stieg wie aus Kratern voll elysischer Orchester und durch schaudernde Wipfel rollte. Sein gesalbter Blick öffnete das Erdreich, er sah die Wurzelwipfel der Bäume nach unten hangen, goldene Trauerweiden durch wolkiges, pelziges Schwarz, besetzt mit Tausenden roter Rubinaugen, die Licht saugten und grüne Speise aus dem erwärmten Dunkel. An einem Baum übermannte es ihn; freundschaftlich schien der borkige Stamm, er nahm den Hut ab, als trete er in ein Haus, lehnte die Stirn gegen seine Tür, bewegte die Lippen und brachte kein Wort hervor. Da ein feuchter Wind aufrauschte und schnellfüßig vorüberlief, fiel ihm ein, daß Frühling sei, und er ward froh. Da dachte er an Renates Brust, er hatte sie nicht gesehn, aber schon stand er, versunken in ihren marmornen Anblick, in einer roten Lohe, einer Flammenpappel, in der sich sein Wesen verzehrte, während er einen Pulsschlag lang nun unter sich ihr Gesicht sah, ihre Schultern, deren Bewegung ihm Atem und Sinne zerschnürte, ihre Arme und die Brust, alles aus den großen Augen voll rieselnder Zärtlichkeit schmachtend und widerstrebend, so daß er sich gern an die Erde geworfen hätte, um zu stammeln und zu weinen. — Einmal! sagte er sinnlos, Gott, nur einmal! —

Endlich ging er wieder, nun nur noch tönend von Gefühl, gleicherzeit hoffnungslos und erhaben, schwermutvoll und getröstet, gottesfürchtig und niedergeschlagen, so voll tosenden, innerlichen Lärms, als wäre seine Brust ein ehernes Paukenbecken, auf dem Dämonen trommelten, — all dem hingegeben mit Wollust der Bewußtlosigkeit, da Gedanken, sinnlos, wie Irrlichter, seitwärts über die Kartoffeläcker enthüpften, aber in den Straßen der Stadt nahm es langsam ein Ende, bis er sich vor etwas absonderlich Bekanntem fand, dem Kaffeehaus im Mittelpunkt, einer großen Anordnung von gläsernen Kästen mit erleuchteten, gelb verhangenen Spiegelscheiben um einen runden Mittelraum, mit eisernen Pilastern und Pavillondächern.

Hier war es nun aus. Es wimmelte auf dem Bürgersteig vor den Läden von gemächlich Spazierenden, Ladenmädchen in Frühjahrsblusen und Ladenjünglingen in Wintermänteln; es wimmelte auf dem schwarzglänzenden Fahrdamm von Asphalt, Straßenbahnwagen schoben sich unaufhörlich von beiden Seiten zusammen, es klingelte, kreischte, Automobile tuteten, Radglocken schrillten, und Georgs hülfloser Blick, nach rechts oben entgleitend, fand sich von einer gewaltig großen Mondsichel angezogen, die dort in der Nacht schwebte, überflattert von weißlichem und schwarzgrauem Gewölk.

Nun also war alles, was ihm zu tun blieb, daß er sich in eine stille Kaffeehausecke setzte, anstatt in eine große Dreschtenne mit kauenden Leuten, denn essen mußte auch er. Der Hunger äußerte sich in einem Verlangen nach natürlicher Speise, gekochten Eiern im Glase mit Butterschnitten, das wars.

Er zauderte. Er wußte, daß er ein Ende machte, wenn er drüben eintrat, in jene kleinen Zimmer, die er so wohl kannte aus Ballnächten, Ballmorgenden, mit den zerknitterten und zerzausten Bürgermädchen und ihren schrecklich zukunftallegorischen Müttern, unter Gewitzel und Gekicher, mit dem rotblonden, naseweis aussehenden Kellner Gustav und Frithjof dem ältlichen, mit dem runden und blassen, niemals rasierten Gesicht und dem hängenden rechten Augenlid, der so gern vom Weib und den Kindern erzählte. Ach, nicht dieses wars, nicht etwa diese kindischen Erinnerungen warens, sondern — das Ende, ja, das Ende, das kam, der Übergang ins Gewohnte, in ein Andres, und daß sich — oh mein Gott, daß sich niemals herauskommen ließ aus der unendlichen und unzerreißlichen Kette der Vorgänge. Daß es doch ein Mal einen Stillstand gäbe, einen Halt am Abgrund, wo zitternd im Rollen das Herz stillehält unter den Füßen der flüchtigen Stunde, die selber nichts tut als Ausschau halten über die Abgrundswelt und im Ausschaun unvermerkt hinüberschmilzt in die ernste Gestalt der Unendlichkeit. Welcher der Götter hält denn den Becher der Ewigkeit bereit, wenn nicht dieser ihn hat, Eros, dem doch die Posaune des Jüngsten Tags an die Lippen gesetzt ist?

Drittes Kapitel

Kaffeehaus

Fast alle Räume waren von Gästen leer. Hier und dort stand ein Kellner und las die Zeitung, und richtig, als Georg durch die große Glaswand den Mittelraum betrat, stand in der offenen Türe links Frithjof in schöner Attitüde, einen Fuß überm andern, den Ellbogen gegen den Rahmen gestemmt, die Hand am Hinterkopf, gesenkten Blicks verloren in Betrachtung. Doch zog er bei Georgs Anblick erstaunt und doch achtungsvoll die Lider empor, machte sich aus sich los und kam auf seinen Plattfüßen eifrig und wackelnd herbei, den Mund wie stets in Falten ungeheuren Ernstes verzogen.

„Durchlaucht,“ flüsterte er, Georg Schirm und Mantel abnehmend, „wieder zurück?“ Und als Georg auf der rotsamtenen Sichel des Ecksofas Platz genommen hatte, beugte er sich zart und vertraulich über den runden Marmortisch und raunte: „Zu Hause ists doch immer am besten!“ Er lächelte. „Was sag ich?“ Er lehnte sich triumphierend zurück und lachte voll Stolz. „Na, is es nich so?“ Und da Georg nickte und lachte, schloß er befriedigt ab: „So ist es!“ völlig mit Georg in Übereinstimmung.

„Was solls denn sein, Durchlaucht? Pilsner, Münchener, Kulmbacher?“

Georg bestellte drei Eier im Glase, Butterschnitten und ein Kulmbacher. — Merkwürdig übrigens, dachte er, wie man am Gewohnten hängt. Ich hätte im Hotel ganz einsam essen können, — freilich, aus welcher Fremde komm ich! ja, das spür ich erst nun, wo dies hier mich so heimatlich berührt! Herztröstlich klang ihm da Frithjofs alte Stimme nebenan, der an der Theke: „Ein Kulm!“ sagte. — Er griff nach einer daliegenden Zeitung, stellte sie sich mit dem Griff in den Schoß, blätterte sie auf, ließ sie gegen die Tischplatte sinken und glitt durch sein eigenes aufblühendes Lächeln wie durch ein zitterndes Gewebe von Süße hinunter ins Dunkel seiner Seele, wo in einem Kranze von Abenteuern Renate lieblich stand, eine verzauberte Säule, eine Karyatide, eine Galatee ...

Danach aß er und trank, unbekümmert wieder, versöhnt mit den äußeren Geschicken, künftiger Entzückungen gewiß. Nahe vor ihm sah er die roten Fische im grünen Wasserdickicht des großen Aquariums an den Glaswänden auftauchen und wieder verschwinden. Der sechseckige Riesenkasten stand auf einem, von kleinen roten Sofas umringten Unterbau, die jedes einen ganz kleinen Marmortisch, oval, wie mächtige Eier, und gegenüber zwei Stühle vor sich hatten, und aus einer, im Wasser halb verborgenen Pyramide von Tuffsteinen stieg ein feiner Wasserstrahl. Diese ganze Üppigkeit städtischen Wesens erfüllte Georg mit Beruhigung. Springbrunnen, Wasserwildnis, Fische, Marmor und roter Plüsch — das war so viel für das Gemüt, das arme Wesen, das er recht deutlich auf der untersten Stufe seines riesigen Seelentempels sitzen sah, so klein, daß eine einzige Stufe für es höher war als ein ganzes Haus, und dort hockte es in seiner Dürftigkeit und Unbestimmlichkeit, da nicht im entferntesten zu erkennen war, ob es eigentlich einen Hund vorstellte, einen Zwerg, einen Frosch oder einen Zaunkönig.

Aber war dies nicht jener Montfort? Da kam er hinter dem Aquarium zum Vorschein, seltsam anzusehn in einem kurzen sandfarbigen Mäntelchen mit hochgeschlagenem Kragen, einen steifen schwarzen Hut tief in die Stirn gerückt, die Ellenbogen eng an den Hüften mit etwas gezierter Haltung, einen dicken braunen Stock von knotiger Bambusart unter den Arm geklemmt. Nach einem Platz unendlich hoffärtig umherspähend, übersah er Georg, trat links in die offene Tür und verschwand, während nun hinter dem Aquarium etwas Anderes, weitaus Prächtigeres zum Vorschein kam: den unteren Saum eines scharlachroten Mantels über die linke Schulter geschlagen; auf leichten Füßen, sehr schlank, auch groß, — sehr frei und beweglich im Hierhin- und Dahinschaun den kleinen Kopf mit glattschwarzem, von Stirne und Schläfen straff zurückgespanntem Haar drehend, — groß-, braun-, klugäugig, — ein Mädchen, wie es schien. Aber das schönste war, daß dieser leichte Kopf über dem Scharlachtuch sich von einem groß hinter ihm stehenden, schwarzen und goldbestickten Stuartkragen abhob. Wenn sie zu diesem Montfort gehört, dachte Georg, so hat er das entzückend gemacht.

Montfort kehrte indessen zurück, erkannte Georg, zog den Hut und trat heran, um Erlaubnis bittend, sich niederlassen zu dürfen. Richtig: Georgs Wunsch erfüllte sich, sie gehörte zu ihm, er wurde ihr vorgestellt, konnte ihr beim Mantelablegen behülflich sein, ein schönes Kleid von matterer Farbe unter dem fallenden Scharlach hervorkommen sehn, schließlich die Biegung des Sofas mit ihr teilen. Auch sah er nun, während sie sich lächelnd und mit einer gewissen Bereitwilligkeit zurechtrückte, die kindliche Rundung ihrer Stirn, die übervolle Schwellung der Lippen in der Mitte, deren obere ein wenig emporstand, und vor allem die außerordentliche — ja, die höchst erstaunliche Rundheit ihrer Brauen und Augen, die, in ihrer wundersamen Offenheit dasitzend, dem ganzen Gesicht das eigentümlichste Aussehn verliehen, und sie erinnerten ihn — — schnell, woran erinnerten sie denn? Jawohl, jawohl: an den Hund in Andersens Märchen vom Feuerzeug mit den Augen so groß wie Teetassen.

Montfort, kaum ihnen gegenübersitzend, auf eine unerhört nichtachtende Art umherschauend, die Streichhölzer an sich ziehend, um eine große Zigarre zu entzünden, sagte:

„Was meinst du zu kleinen Hunden, Käthe, die ins Wasser geworfen werden?“

Er blies einen Dampfstrudel, schob Georgs ‚Jüngling‘, den der bis hierher geschleppt hatte, von sich, lehnte sich zurück, als habe niemand etwas gesagt, am wenigsten er selber, und schlug die Beine übereinander. — Nein, dieser Hundevergleich, dachte Georg, war doch gar nicht passend, denn wie weich war das Fleisch ihrer Wangen unter sehr zarter und klarer Haut. Ein erstauntes Waldwesen, ein langhaariger Windgeist, eine Dryade — ja, das schien sie zu sein.

„Hunde, Josef?“ erwiderte sie, bei großer Bereitwilligkeit leise besorgt, während Georg sich plötzlich in ungemeiner Heiterkeit befand. Frithjof stand, mit ernster Würde auf Montfort herunterblickend, den Mund in Falten, als ob er daran kaute, und nur das eine Augenlid schlief teilnahmslos und unbeweglich.

„Was solls denn sein, Herr Baron?“

„Pilsener, und eine Melange, nicht wahr?“

Sie nickte. „Ein Mellansch,“ wiederholte Frithjof und watschelte davon mit Gravität.

„Hunde,“ sagte Montfort, Georg ins Auge fassend, „die von ihren Herren zum Schwimmen ins Wasser geworfen werden. Man sieht sie an Sommerabenden um die Teiche stehn, groß und dick, diese Männer, Hausbesitzer mit Uhrketten auf dem Bauch, und die Hunde sind klein, weiß und unmäßig eifrig. Sie schwimmen atemlos nach einem unsichtbaren Gegenstand, sie klettern heraus, schütteln sich und stürzen auf Befehl wieder ins Nasse. Schamlose Gesellen sind das!“

Die Bereitwillige sagte: „Es sieht doch aber so niedlich aus, wenn sie —“

„Genau deine Worte brauchte meine elfjährige Muhme Elsbeth, als mein damaliger Hund einen andern bestieg und ich dazwischenfuhr,“ sagte er eiskalt. Sie senkte geschlagen den Kopf und setzte sich zurück, dieweil er, seitwärts blickend, eine alte Blumenfrau gewahrte, die ihm eine Hand voll gelber Tulpen hinhielt. Er ergriff sie sorglos, legte sie vor seine Dame auf den Tisch, griff in die Hosentasche, holte etwas heraus, das er der Blumenfrau in die Hand drückte, saß und lächelte leise und gütevoll auf seine Zigarre hinunter. Sie legte langsam eine Hand auf die Blumen; Georg sah, daß sie zitterte. Hier, dachte er, hier ist nun sicher etwas nicht in Ordnung.

„Erzählen Sie mehr von Hunden!“ sagte er mit Entschlossenheit.

Daraufhin, herzlicher lächelnd, blickte der Andre ihn an und begann, leichtherzig loszureden.

„Ist es Ihnen niemals folgendermaßen ergangen?“ fragte er. „Sie setzen sich um einen Tisch, zu Dreien oder zu Fünfen, und nun? Nun muß was geredet werden. Das Karussell muß in Gang, wer, ist die Frage, holt jetzt den sicheren Haken aus der Tasche? Auf einmal ist er da. Hat Sie’s nie geekelt vor dieser Verläßlichkeit des Sinnlosen? Also, da es völlig sicher war, daß Einer von uns Beiden hier diese Geschichte von den zufälligen Familien ergriffen hätte, worauf zweifelsohne, da Frau Ring beim Theater gewesen ist und eben aus dem Theater kommt — (Frau? dachte Georg. Beim zweiten Mal ists immer gelogen!) —, das Gespräch auf die hiesigen Theaterverhältnisse gekommen und von dort über Schnitzlers gerade gegebenen Anatol auf seine übrigen Werke und so weiter mit vollen Segeln in den Ozean der Literatur hinausgefahren wäre — so habe ich im Gegenteil von Hunden angefangen.“

„Und nun, — wars der Mühe wert?“ fragte Georg belustigt, allein Montfort hörte es gar nicht, legte die Hand zu ihm hin über die Marmorplatte und fuhr lebhafter fort:

„Dabei giebt es die köstlichsten Dinge, von denen zu reden wäre, liebliche, verborgene, kleine, erfreuliche Sachen, die aber jeder für sich behält, als könnte man sie ihm beim Vorzeigen entwenden, denn wir sind ja schamhaftig und haben alle kein Herz voreinander. So kommt es dann, wenn das Herz einmal mit einem rechten Ungewitter zusammenstoßen und gebraucht werden soll, daß ein jeder hülflos dasteht und fragt, wie mans verwendet. Ich habe eine alte Tante,“ sagte er, immer herzlicher lächelnd, „eine ganz entsetzliche Person, die zu nichts auf der Welt je gut war, und wir zanken uns, sobald wir uns zu sehn bekommen, jedoch in den geschliffensten Umgangsformen. Aber eines Abends sind wir uns in den Anlagen begegnet, wir sahen uns schon von fern, und da wir grüßend aneinander vorübergingen, so lachten wir uns Beide freundlich an und sagten: Sieh! und: Kuckeinmal! und es war uns Beiden erfreulich.“ Er endete, legte die offene Hand auf die Stirn und strich kräftig mit ihr über das Gesicht bis zur Oberlippe hinunter, so daß es faltig und gehagert zum Vorschein kam.

Georg in seiner steigenden Heiterkeit hatte derweilen schon von weitem Frithjof daherschaukeln sehn, einen riesigen Kuchenaufsatz mit drei Schalen übereinander auf der linken Hand, während er, Daumen und Zeigefinger der rechten um das Bierglas krallend, es mitsamt seinem Untersatz auf einem kleinen Nickeltablett festklemmte, auf dessen anderm Ende das Glas Milchkaffee sein Zuckerschälchen als Deckel trug, und dazwischen war tiefen Ernstes das würdige Gesicht mit seinem stoppelschwarzen, fest gegen die Brust herabgedrückten Kinn. Sonderbare Tätigkeiten verübten die Menschen doch allen Ernstes ... Aber Georg, der Montforts Freundin darauf aufmerksam machen wollte, bemerkte erschreckt, daß sie zurückgelehnt dasaß, das Gesicht ganz zur Seite von ihm abgewandt und in sich versteift; doch rollte nach einer Weile eine Träne aus dem, Georg sichtbaren Auge über die Wange und fiel auf ihre Brust. Ihre Hand auf der Tischplatte war so fest um die schilfgrünen Blätter und Stiele der Blumen gekrampft, daß die Knöchel weiß hervortraten.

Unwillkürlich fiel Georg, der sich hastig fortwandte, Anna ein und im Augenblick danach Renate; dies war, als erhielte er einen Paukenschlag mitten auf die Brust. Es flimmerte vor seinen Augen. Langsam erschien dann der Kopf des Dostojewski auf dem Buche unter ihm, und er fing an zu sprechen, willenlos:

„Da Sie von zufälligen Familien sprachen —“

„Also doch, Durchlaucht, muß es denn sein?“ fragte Montfort trüb und verdunkelt. Georg brauchte Sekunden, bis er begriff, daß Montfort ja gerade nicht von dem Buche hatte anfangen wollen, lächelte verlegen und sagte:

„Sie sehen eben: auch im Kleinsten läßt die Welt sich nicht regieren. Herr Bogner und ich sprachen in der Bahn mit einer Dame über Familienzufälligkeit. Wir kamen dabei —, Sie kennen vielleicht auch meinen Freund Prager?“

„Prager?“ Josef erinnerte sich mit leiser Erheiterung. „So — ist das eine zufällige Familie? Ja, es giebt ja tausend heute.“

Er schien nun bereit, einzuschlafen. Georg aber hielt ihn wach, es vermeidend, Frau Ring anzusehn, zu der Josef, hinter der Tischplatte zusammensinkend, hin und wieder einen ernsten, nicht ungütigen Blick hinüberschickte.

„Warum meinen Sie?“ fragte er. Josef ermunterte sich.

„Es wird am Besitz liegen, denk ich. Oder am Nichtbesitz. Es fehlt die Haltung.“

Georg, innerlich etwas beschämt, zitierte sich selbst:

„Besitz verleiht Sicherheit, meinen Sie, und Sicherheit Haltung ...“

„Ja, gewiß. Sie haben ja alle nur Geld —“

„Den einzigen Nichtbesitz ...“

„— von dem aber alle abhängig sind. Alle sind abhängig, alle Väter. Der Anwalt von den Klienten, der Beamte von den Vorgesetzten, der Kaufmann von der Kundschaft. Nur die Ärzte haben, wohl vom starken Verkehr mit dem Tode, ein wenig Haltung und umgängliches Wesen bekommen. Und der Kaufmann ist immer nur Zwischenhändler, vertreibt Lebensmittel oder Maschinengefertigtes, ohne es handgreiflich besessen, also ohne es be- oder verarbeitet zu haben. Also fehlt Zusammenhang und die Ehrfurcht vor sich selber. Es muß einmal Ideal eines Sohnes gewesen sein, zu werden, innerlich und äußerlich, was sein Vater ist. Heut ist es das Ideal aller Väter, daß ihre Söhne was Besseres werden. Mütter sitzen unselig dazwischen und müssen vermitteln von früh bis spät. Nun, darüber könnte man stundenlang reden.“ Montfort gähnte geheim mit geschlossenem Munde.

Georg sagte leise, während Josefs Freundin aufstand und hinausging:

„Die Frauen sind so viel besser als die Männer ...“

Sie schwiegen. Montfort saß zurückgelehnt in äußerst dekorativer Attitüde, warf aber nun plötzlich den Rest seiner Zigarre in den Aschenbecher, ließ das Gesicht auf sein geleertes Bierglas herabhängen und sagte, unterm Tisch eine Zigarette hervorzaubernd:

„Ahnen Sie wohl, wie recht Sie haben? Frauen sind immer gut. Alle haben sie die Bereitwilligkeit in sich, gut und nur gut zu sein.“ Dies sagte er ernst und mitleidig, lenkte aber nun auflächelnd ab und sagte: „Jetzt sind sie ja nun in diese merkwürdige Behinderung geraten.“

„Ach,“ meinte Georg leichtherzig, „das wird vorübergehn, nicht wahr? Gewisse Verhältnisse, nicht wahr, mehr sozialer als humaner Art, haben sich zu schnell geändert —“

„Und die Frau, meinen Sie, hat es nun einmal an sich, überall zu spät zu kommen ...“

„Natürlich! Und nun stehn sie da ratlos zwischen Altem und Neuem, sehen auf einmal Widerstände überall, übertreiben es alles, wie sie ja immer gern tun, und nun sollen sie ja auch kämpfen, nicht wahr, sie, die bisher immer nur beschwichtigt haben. Da weiß keine, wie man das macht.“

„Die Ritterlichkeit, ja, die einmal zum Kämpfen gehört ... die haben sie immer nur erfahren und niemals selbst angewandt. Sie haben ein gutes Herz, Prinz, woher wissen Sie das alles?“ fragte er plötzlich. „Zur Belohnung,“ fuhr er ernsthaft fort, „sollen Sie einen Spruch geschenkt haben, den besten, den ich weiß.“

„Nun?“ fragte Georg, leise geschmeichelt.

Montfort sah ihn durchdringend an.

„Erhalte dir dein Herz, sagt Salomo, denn aus ihm kommt das Leben.“ Darauf erhob er sich, die Hände vor sich aufstützend, und ging langsam hinaus.

Georg suchte fiebernd nach Renates Augen in seltsam verschleierten Tiefen. Der starke Honigduft in der Büchse seines Herzens war sehr flüchtig geworden. Dann kehrte Frau Ring, leicht auf federnden Füßen, zurück, setzte sich und fragte heiter: „Nun, haben Sie von mir gesprochen?“

„Nein, mein Kind,“ sagte Montfort, hinter ihr an den Tisch tretend, „wir sprachen vom Überhandnehmen der Kinos wegen der geistigen Faulheit der Männer.“

„Ach, bitte,“ bat sie ängstlich, „nicht vom Kino, Josef, du weißt doch, ich kanns nicht —“

„Sie kommt vom Theater,“ erläuterte Montfort friedlich, „daher die Voreingenonmenheit. Durchlaucht, was denken Sie vom Kulturwert des Kien—“

Frithjof brachte ein großes Wasserglas herbei, und alle drei sahen zu, wie das Mädchen die schönen, eirunden und eigelben Blumen mit den schilfgrünen Stielen hineinstellte. Frithjof entfernte sich zufrieden.

„Eigentlich,“ sagte Georg unschlüssig, „habe ich nie über diese Frage nachgedacht ...“

„Dann erlauben Sie mir, Durchlaucht, Sie zu bewundern!“

Schon wieder einer, dachte Georg.

„Ein Deutscher,“ redete Montfort heiter fort, „der über eine nationale Frage noch nicht nachgedacht hat. Wundervoll und außerordentlich. Würde ein jeder so tun, hätten wir auch nicht das subalterne Gesicht, das nur hierzulande zu sehn ist.“ Er blickte sich nach allen Seiten um, wo jetzt an den kleinen Tischen ringsum lesende Männer mit Zeitungen, auch ganze Familien mit Töchtern und Schwiegersöhnen saßen, für Georg so plötzlich vorhanden, als wären sie, oder als wäre er aus dem Boden dazwischen gezaubert.

„Meinen Sie, daß es daher kommt?“ fragte er gedankenlos.

„Nun, oder von was andrem. Ich hatte nur die Bemerkung anbringen wollen,“ versetzte Montfort gleichmütig.

Georgs Blick glitt langsam von ihm ab; niemand sagte etwas. Die Luft im Raum war nun dick von Tabaksrauch und schwirrend von Stimmen und Gelächter, die Kellner liefen geschäftig, Frithjof erschien, schwerbeladen, in jeder Hand schulterhoch einen ganzen Fächer von belasteten Tabletts, deren einen er schwingend in einen runden Familienkreis hineinschlittern ließ.

Oh Gott, dachte Georg gequält, so ist das nun! Warum sitze ich hier? Da hocken wir beisammen im Kaffeehaus. Der eine sagt, was er meint, der andre sagt, was er meint. Das Ganze ist ein Gespräch. Und alles hat diese gräßliche Blankheit von Nickelgeschirr. Ach, und eine sitzt daneben, das Herz bis zum Rande voll Tränen! — Dieser Montfort, da saß er, die Ellbogen auf der Marmorplatte, die Zigarre am Munde, an der er saugte. Georg, voll Haßverlangens, ihm etwas Heftiges anzuwerfen, und um wenigstens den Trumpf zu haben, daß er selber es sei, der die Gesprächekarre wieder in Gang brachte, fand auf der Suche nach irgendetwas endlich, daß es ihm schien, Montfort habe Deutschland beleidigt und er müßte es verteidigen. Also warf er, unwirsch wie ein zu geringes Trinkgeld, die Worte auf den Tisch:

„Sagen Sie nichts gegen Deutschland! Am Ende ist es doch das einzige Land, wo man leben und sterben möchte.“

Montfort wich plötzlich vor einer träg aufsteigenden Qualmwolke, die Augen zukneifend, zurück, wedelte mit der Hand, rieb sich das eine Lid und sagte:

„Leben? — das wäre die Frage. Sterben? — darüber ließe sich reden.“

Langsam, nachdem er seine Haltung wieder eingenommen, ließ er jetzt die Augen zu seiner Freundin hinübergleiten, so daß es Georg vorkam, als hätte er etwas gesagt, das für sie einen besonderen Sinn habe ... Gleichzeitig ergrimmt über Vorgänge des Herzens, die ihm verheimlicht wurden, und voll eifrigen Mitleids mit einem von diesen empfindsameren, weiblichen Geschöpfen, wagte Georg nicht, sie anzusehn, blickte auf Dostojewskis verschwommenen Kopf und sah trotzdem an seiner Seite das stille Gesicht des Mädchens, das vorgebeugt dasaß, die Arme auf der Tischplatte, eine Hand am Glas, mit der andern diesen und jenen Blumenstiel anzupfend und anders feststeckend.

„Nur die landschaftlichen Sachen,“ sagte sie getrost aufblickend, „die mag ich hier und da recht gern ...“

Georg hätte sie in die Arme schließen mögen. Die reine Seele, da stieg sie nun aus ihrem Leid und brachte sich obendrein zum Opfer, bloß weil ein Gespräch wieder ins Fahrwasser kommen mußte, und fing richtig vom Kinematographen an, den sie nicht leiden konnte. Er selber dabei, er konnte sie nicht streicheln noch ihre Hand ergreifen, er konnte weiter nichts als sich zu ihr neigen und brüderlich lachend und scherzhaft rufen:

„Ha! daran glaube ich nimmermehr! Alle reden davon, und alle wollen sie die Detektivschlager sehn!“

Welch einen Unsinn er redete! Aber nun — sie verstand ihn doch und schüttelte nur lächelnd den Kopf. Montfort sagte:

„Sie, Durchlaucht, gehören, hoff ich, nicht auch zu den Leuten, die der Bevölkerung die Hintertreppe wegnehmen wollen. Was verbleibt am Ende dem gemeinen Mann? Zur Vordertreppe lassen Sie ihn doch nicht heran, wie? Ach, teure Cornelia, als Frau möchtest du natürlich alles schön und fortschrittlich und heilsam haben, und den Gegenstand für die Verbesserungen findest du natürlich in den Kreisen, die sich seit alters haben alles gefallen lassen müssen. Der begüterte Mann hat hundert Arten, sich zu ruinieren, geistig und körperlich, Kaffeehäuser und Kabaretts, Absynth, Pferderennen, Automobilunfälle, Luftschiffe, Haschisch und Nackttänzerinnen. Selbst der Gewöhnlichste hat noch Pilsener Bier. Das Volk hingegen hat gar nichts, es soll nur immer belehrt werden. Nun soll es schon kein Bier und keinen Schnaps mehr trinken, was außer dem Kindermachen seine letzte Freude ist. Fang doch oben an, Herz, wenn du bessern möchtest, ihnen aber gönn ihre Mordsgeschichten, damit wenigstens ein halb Prozent als anständige Schwerverbrecher zum Galgen rennt, wo neunundneunzig ein halb Prozent als halbe Lüstlinge, halbe Wüstlinge, halbe Säufer, halbe Arbeiter — — überhaupt flau, flau, flau — die Welt ist so gottserbärmlich flau, süßsauer und abgestanden wie kalter Kohl. Gott sei Dank, da kommt der Maler Bogner.“

Ja, Gott sei Dank! Georg atmete auf, als er den Maler wie einen lange entbehrten Herzensfreund um das Aquarium kommen sah.

Traumdeutung

Bogner mußte sich an den Tisch setzen und Pilsener Bier trinken. Josef Montfort lud alle dazu ein. Georg, um nur gleich durch gewechselte Rede dem Maler noch näher zu kommen, fragte, ob er von Chalybäus’ Schlaganfall gehört habe. Augenblicks erschien ihm zwar Anna, aber der Gedanke: Renate! spülte sie hinweg wie ein gläserner Katarakt voll Visionen.

Das sei zu erwarten gewesen, erklärte Bogner. Er habe einen Grog nach dem andern getrunken, während al Manach ihm Geschichten erzählte, und Georg, der ihn nie hatte leiden können, bekräftigte das Gesagte mit Andeutungen über seine liederliche Wirtschaftsführung. „Seine Frau war eine Art Freundin von Mama, und so kam das Ganze.“

„Fuhr nach Böhne,“ sagte Bogner, „lehrte die Honoratioren das Pokern und kam betrunken heim, aber von Januar ab blieb er in Helenenruh und trank Grog. Seine Tochter tut mir leid, sie hat genug durchmachen müssen.“

„Meinen Sie?“ fragte Georg ratlos und sah Frithjof an, der unterm hängenden Lide prüfend auf Bogner hinabblickte.

„Was solls denn sein, Herr?“ sagte Frithjof.

Montfort bestellte sein Pilsener für alle. Georg sah auf einmal Anna im Wiesendunkel an der Erde liegen und gleich darauf in einem gläsernen Sarge. Das mußte er geträumt haben ... Indem fiel ihm jener Morgen und das kinematographische Stück seines Traumes ein und so lebhaft, daß er sagte:

„Erinnern Sie sich noch, Bogner, an die Nacht, wo wir zusammen die Bowle austranken? Da wir eben vom Kinematographen sprachen, so fällt mir ein, daß ich gegen Morgen die sonderbarsten Dinge träumte. Nun hab ich das meiste vergessen, aber das Letzte weiß ich noch. Ich stand in einem Theaterparkett — nicht wahr — in der Finsternis unter vielen Menschen, und über mir in dem grellen Lichtstreifen aus dem Projektionsapparat fuhren meine gespreizten Hände hin und her, ungeheuer groß und als wären es hundert. Und vorher, das weiß ich noch, erklärte Papas Sekretär — ja, nun hab ichs doch vergessen, — aber dann sagte ich: Ich komme nicht hinein! Ich wußte, glaub ich, im Traum, daß hinter der durchsichtigen Leinwand ein richtiger Festzug war, und daß ich dazu gehörte ...“

Montfort bog sich über den Tisch, sah ihn durchdringend an und sagte, den Traum wollte er ihm auslegen. Ja, er wäre so ein komischer Mensch, hätte Ahnungen und so, — mit einem Wort: Kassandra! —

„Also bitte!“

Er schloß die Augen, bog sich zurück wie ein Scharlatan, stemmte die Hände gegen die Tischplatte, formte das Gesicht zu einer Art tragischen Maske, öffnete pythisch den Mund, plötzlich auch die Augen und verkündete: Jawohl, Georg käme nicht hinein.

„Sie scheinen nicht zufrieden?“ sagte er dann, da Georg unverstehend lächelte. „Dann also weiter. Bitte, erzählen Sie Ihren Traum.“

Er nahm Frithjof, der mit den Gläsern dastand, eines aus der Hand, half die andern über den Tisch verteilen, hieß Frithjof das Kaffeegeschirr seiner Freundin wegräumen, die nichts vor sich behielt als ihre Tulpen, schaffte in jeder Beziehung Ordnung und Raum, — dieweil Georg gestand, wie schon gesagt, sei dies alles, was er wisse: ein Festzug, und Doktor Birnbaum, nein vielmehr Chalybäus, der ihn am Arme festgehalten habe ... Anna im Glassarge glaubte er unterschlagen zu müssen.

„Schadet nichts,“ meinte Josef, „wir müssen uns besinnen. Bitte, hören Sie zu, meine Verehrtesten —“ Er sah, den Maler neben sich am Arm fassend, die Cornelia oder Käthe an, oder wie sie nun hieß — „es wird hochinteressant. Also bitte! Jeder Traum, das ist ein Grundsatz der Deutung, ist mit einem kleinen Haken im vorhergehenden Tage befestigt, — also besinnen Sie sich bitte einmal! Halt, sehen Sie nicht umher, das lenkt ab, sehen Sie mich an, in meine Augen.“

Georg heftete mit innerlicher Verlegenheit die Augen auf das große, bräunlich bleiche und schwarze Gesicht, dann in die glühenden, kleinen, sonderbar weit voneinander sitzenden Augen, die sich zusammenzogen und wieder ausdehnten, als wollten sie seinen Blick wie mit einer Zange fassen, — allein nun kam er nicht los von dem gläsernen Sarge, zumal ja diese Erscheinung sichtlich im Abend vorher ihre Wurzelung hatte.

„Es geschah allerlei an dem Tage,“ sagte er zögernd.

„Keine Umstände,“ befahl Josef, „keine Begrifflichkeiten. Fassen Sie ein Bild und lassen Sie sich getrost weiter und weiter führen, bis ...“

Also half es nichts, er mußte mit dem Sarge herausrücken, nicht ohne peinlich zu argwöhnen, Bogner gegenüber errate sofort, was dies Bild bedeute, und so versuchte er das Gesagte eilig mit etwas andrem zu vertuschen, das ihm einfiel, daß nämlich die Menschen mit Fingern auf ihn deuteten und sagten: Er hats schuld!

„Halt!“ gebot Montfort, „da haben wir schon eine Menge. Und vorher also war der Maskenzug?“

„Ja, und nun fällt mir auch ein, daß ich ihn für den Maskenzug im Grünen Heinrich hielt, wenn das von Wichtigkeit —“

„Im Grünen Heinrich?“ Josef blickte nachdenklich seine Freundin an. „Da kommt freilich kein gläserner Sarg vor, aber — Sie erinnern sich wohl —“

Georg unterbrach ihn, um zu sagen, daß er sich erinnere, in jenen Tagen wieder im Grünen Heinrich geblättert zu haben; zudem wurde es ihm klar, daß Bogner ja nach der Windmühle gerannt war, also die Anna gar nicht liegen gesehn hatte.

„Kein gläserner,“ fuhr Josef fort, „aber einer mit einer kleinen Glasplatte über dem Gesicht der Toten. Es ist der, in dem die tote Anna ...“

„Anna?“ rief Georg erschrocken.

„Ja, was ist?“

„Nun,“ versetzte Georg, „Sie kennen Fräulein Chalybäus nur unter dem Namen Magda, aber ich nenne sie Anna, seit unserer Kindheit schon. Und —“ fügte er hastig hinzu, jetzt überzeugt, es sagen zu dürfen, „am Abend vor dem Traum hatte ich sie an der Erde liegen sehn. Sie erinnern sich, Bogner, nachdem sie auf den al Manach geschossen hatte, wurde sie ohnmächtig.“ Eilfertig, weiterzukommen, in eigenartiger Beklommenheit, gab er Montfort noch ein paar Erklärungen über al Manach und das andre.

„Nun einmal zu Ihrem: Er hats schuld!“ fuhr Josef fort. „Worte im Traum, bestimmte, deren man sich erinnert, gehen — das ist ein andrer Grundsatz der Deutung — immer auf bestimmte Worte aus dem Leben des Träumenden zurück. Können Sie sich — —?“

Georg versuchte, sich zu erinnern, doch gelang es ihm nicht; statt dessen sah er, Bogner gegenüber gewahrend, ihn in seinem Helenenruher Zimmer am Tisch sitzen. Es war ein Gewitter — richtig, er stritt sich mit Bogner, er sah ihn auf einmal seinen Bleistift in der Blechhülse hin und her schieben, und —

„Halloh!“ rief Georg aufgeregt, „jetzt habe ich den Anfang! Herr Bogner suchte seinen Bleistift, es war in einer finstern Straße, er fluchte, und ich half ihm, und dann —“

„Nicht so eilig!“ unterbrach ihn Josef mit halblauter Stimme aufmerksam. „Wir müssen untersuchen. Erstens die Straße. Was für eine Straße?“

Georg hatte sie nie gesehn.

„Also eine Straße aus Ihrer Kindheit,“ sagte Josef.

Georg erschrak seltsam.

„Und es war dunkel?“ fuhr Josef fort, „also Nacht?“

„Gewiß, ja, das heißt — eigentlich, — so wie es immer in meinen Träumen ist, — natürlich mit Ausnahmen.“

„Es ist immer dunkel in Ihren Träumen?“

„Ja, wie gesagt — dämmrig, kein rechtes Licht, — nicht wahr ... Übrigens auch keine Höhe eigentlich. Über meinem Kopfe ist es aus.“

„Und unten?“

„Unten? Ja — unten ist es ähnlich. Manchmal ist Boden da, meist aber — glaub ich — ist in der Kniegegend so — alles wie — verwischt ...“

„Durchlaucht ist ein sonderbarer Mensch,“ sagte Montfort zu Bogner gewandt. „Er kehrt des Nachts immer in seinen Mutterleib zurück.“

Georg fuhr heftig zusammen. War das gewiß? Oh es überzeugte ihn, geradeswegs, durch das Gefühl! Es war sehr wundersam und schaurig. — Mit unsicheren Augen sah er das Mädchen Cornelia etwas von ihm entfernt im Sofa sitzen, tief zurück, und ihr ganzes Gesicht war entstellt von heftigem Nachdenken; sie hielt es gesenkt, die Augen starrten in den Schoß, die Oberlippe, in tiefer Vergeßlichkeit, stand empor wie bei einem Kind, und die runde, kindliche Stirn war in der Mitte gewaltsam zusammengerunzelt. Dann löste aus ihrer Angespanntheit sich langsam der tastende Strahl eines dunklen Blicks, der aber zurückgezogen wurde, bevor er ganz Josef erreichte.

Georg, in undeutbare Empfindungen aufgelöst, hörte nach einer Weile Montfort sagen: „Hören Sie mal zu, ich will Ihnen ein wenig erklären.

„Denken Sie mal an ein schlafendes Tier. Haben Sie je einen Hund schlafen sehn? Gut. Also Sie sitzen im Zimmer, Leute herum am Tisch, im Winkel liegt Ihre dicke Wally und schläft. Auf einmal sagt einer: Pst! seht ihrs? Wally schläft. — Was tut da Wally?“

„Sie wacht auf,“ sagte Georg.

„Richtig! ausgezeichnet! Sehn Sie: so leicht schläft ein Tier. So leicht schlafen die Tiere, weshalb? Weil sie immer auf der Hut, weil sie immer in Angst sind. Der Hase bekanntlich hat sich vor lauter Furchtsamkeit die Lider abgewöhnt. Was beweist das? Mehreres. Erstens: Alles Lebendige, mit Füßen — zur Flucht — begabte, lebt in einer unablässigen Unruhe. Uralte Angst ist das, Urwaldsangst. Jeder Mensch ist mit ihr durchtränkt, aus Erinnerung an seine sämtlichen Vorväter und Millionen von gejagten Urwaldsleben, die er hinter sich hat. Eine metaphysische Angst, wenn Sie so wollen, die in Ihrem, in jedem Leben Ausdruck findet in den tausend persönlichen Ängsten des Alltags — Krankheit, Liebe, Ehrgeiz, Einkommen, Steuer, Examen, Karriere und so weiter. Könnten Sie Ihre Denkfähigkeit unterdrücken, Sie würden finden, daß Sie aus nichts als Angst gemacht — — Wie, Herr Bogner?“

„Ich sagte es ihm schon in der Bahn,“ sagte der Maler lächelnd. Georg fühlte sich umstrickt.

„Um so besser,“ fuhr Josef fort, jetzt mit unterdrückter Stimme, die allmählich zum Flüstern wurde: „Infolgedessen also haben Sie auch Angstträume, das wissen Sie ja selber, und infolge Ihres menschlichen Daseins überhaupt haben Sie noch etwas andres, nämlich Wünsche. Wünsche, teils positiver Art — zum Beispiel, daß Sie Schillers Werke zu Weihnachten kriegen; teils und meistenteils negativer — nämlich, daß Sie Schillers Werke nicht kriegen. Fast jeder Wunsch stellt sich, vermutlich kraft jener Grundangst, hundertmal häufiger als in positiver in der Form der Befürchtung dar, und der Traum, den Sie infolgedessen träumen, ist ein Beschwichtigungstraum. Ist Ihnen das klar?“

Georg, sonderbar und sonderbarer mitgerissen, bejahte fröstelnd. Montfort fuhr fort:

„Nun etwas andres. Sie legen sich zum Schlafen, strecken sich aus, möchten schlafen, was ist Ihr letzter Wunsch, ehe der Schlaf kommt? Der Wunsch, einzuschlafen. Wozu also dienen die Träume? Den Schläfer am Erwachen zu hindern. Sie hören etwa den Wecker rasseln, aber der Schlaf erzählt, es ist eine kostbare und sonderliche Fontäne, die auf diese Weise plätschert, und Sie ergötzen sich dran und schlafen weiter. Noch etwas. Ich will es durch ein Erfahrungsbeispiel erklären. Zu mir kommt ein Freund und liest mir ein herrliches Preisgedicht auf den Wein vor. Da er keinen guten Titel weiß, bittet er mich, einen zu erfinden, und ich sage, ohne mich groß zu bedenken, er soll es: der große Weingesang nennen. — Wie komme ich darauf? Weil die Finkenfänger verschiedene Arten des Finkenschlags mit Namen unterscheiden, und der schönste heißt: der scharfe Weingesang. Ja, nun fragen Sie sich aber, welche Erinnerungskette in mir nötig war, um diesen Zusammenhang zu Tage zu fördern. Halten Sie sich nicht mit Beantwortung dieser Frage auf, sondern übertragen Sie gleich das Beispiel in Ihr Traumleben — das ja in keiner Weise ein andres ist als das des Tages, ausgenommen seine stumpfe Art Logik — das heißt: in einen Traumaugenblick sind, wie am Tage hundert von den Dingen, die Sie ‚Gedanken‘ nennen, Bilder, nämlich die gesehenen Gedanken zusammengepreßt, vermengt, verdichtet. Zum Beispiel —“

Er schöpfte leicht Atem, zog eine goldene Zigarettendose aus der Weste, legte sie vor Georg hin, nahm eine, Georg willenlos gleichfalls, entzündete beide und sprach leise weiter.

„Zum Beispiel: Ich sage: Busen. Nun natürlich unterdrücken Sie in Damengesellschaft sofort die Vorstellung, die Sie haben — genau so auch im Traum — und denken an einen Berg, an einen Meerbusen, an den Golf von Tarent, da liegt er schon vor Ihnen, blau und mit Segeln, und siehe, da kommt auch schon die bewußte Dame mit dem bestimmten Busen, sonderbarerweise nicht in entsprechender Bekleidung, sondern vielmehr in Gesellschaft von Herren und Damen, nämlich ganz wie an jenem Tage, wo Sie den Golf wirklich sahn, — die sich allesamt am Strande ergehn, bloß Sie selber, Sie haben statt einer Badehose Ihre blauseidene Unterhose an und schämen sich gräßlich, bis Sie entdecken, die andern machen sich gar nichts aus Ihrem Anblick, und die holde Dame ist überdies Ihre Frau Mama. Und nun zum letzten.“

Georg erholte sich, die Cornelia anlächelnd, aus seiner Verwirrtheit. Auch das Mädchen lächelte, so gut sie konnte, aus ihrer Denkangespanntheit heraus. Sie sah nun ganz elend aus. Montfort dagegen blühte durchaus, trank einen schönen Schluck, wischte sich den schwarzen Bart mit einem unbeschreiblich duftenden Tuche und sprach weiter.

„Durchlaucht also sehen im Theater einen Menschen, einen schiffbrüchigen Matrosen, vor einem zusammengerotteten Zuhörerkreis von Schiffern und Frauen seine Abenteuer erzählen. Auf den Gesichtern der Zuhörer spiegelt sich alles, sie machen die lebhaftes— — aber was ist das, Prinz?“ unterbrach er sich erstaunt, „ich erzähle Ihnen hier die spannendsten Dinge, und Sie stochern mit Ihrem Zigarettenstumpf im Aschbecher und sehen mich nicht einmal an.“

Ehe Georg sich von seiner Verblüfftheit über die unverständliche Rede erholt hatte, brach Montfort in ein leichtes Lachen aus und sagte:

„Sehen Sie, teurer Freund, Sie machen es eben nicht wie die Leute auf der Bühne, die mit Gebärdenspiel den Erzähler begleiten, sondern im Gegenteil, Sie verhalten Ihre Erregung, Ihre Teilnahme, Sie tun dieses und jenes, und vor allem: Sie unterdrücken Ihre Mitgefühle, Sie zweifeln und stecken sich am Höhepunkt des Ganzen eine Zigarette an. Verstanden? Dasselbe tun Sie im Traum, indem Sie sich erinnern, daß Sie, von den Angstträumen abgesehn, die verwunderlichsten und gräßlichsten Vorgänge stets mit dem gleichen, ein wenig töricht steigenden Traumstaunen verfolgen, — und dasselbe tut Ihr Traum selber mit Ihnen. Befürchtung und Beschwichtigung, Wunsch und Verzicht, Angst und Freude, sämtliche Leidenschaften mit einem Wort, bilden ein einziges Kreuzfeuer, losgelassen aus dem Kerker Ihrer Tageslogik. Es herrscht ein wirres Durcheinander von alten und jungen, peinlichen und süßen Erinnerungen, alle Empfindungen schießen durcheinander, keine hängt an ihrem Ursprung, und keiner folgt ihre Wirkung, sondern der Ursprung der einen scheint mit einer andern verhakt und ebenso die Wirkung. Scheint! hören Sie wohl: scheint! Denn in Wahrheit, oh Freund, in Wahrheit herrscht der allergenaueste und der allertiefste Zusammenhang, in dem ein Ding sich im andern und durch das andre darstellt, und wenn Sie nur lesen könnten die ungeheure, flammende Schrift, die vor Ihren, in die blöde Tagesdämmerung abgewandten Augen durcheinanderwogt, so könnten Sie das Letzte Ihres Lebens und die Leben Ihrer Väter, allen Ursprung, alles Wachstum, Gott und Götter und alle Dämonen, die könnten Sie bei Namen rufen und sich von ihnen dienen lassen wie Alaëddin, — falls Sie ihren Anblick ertrügen!“ Sein nahe zu Georg herangebogenes Gesicht plötzlich erloschen zurückziehend, schloß er leise und verzichtend: „Einstweilen freilich ist alles, was Ihnen und jedem aus hundert- und tausendfältiger Vermischung, Verdrehung, Verschiebung, Zertrennung, Annäherung, Zerspaltung um Zerspaltung, Verdichtung wiederum entsteht, nur — ein Traum.“

Georg, mit allen Sinnen grenzenlos ausgeliefert, hörte nichts als die flüsternde Stimme nahe unter seinem Gesicht, indem Josef fast den ganzen Körper unter der Tischplatte verschwinden ließ, nur den großen, schwarzen Kopf, wie Mimirs Haupt aus dem Brunnen, gegen Georg emporhebend, — und so fuhr er fort:

„Ein Mädchen will Nonne werden und darf nicht, sie träumt — was träumt sie? Die heilige Jungfrau zeigt ihr ein Bett und darin einen Mann, einen Kranken, wie sie sagt, den sie pflegen soll. Wunderliche Verdichtung, nicht wahr, von Liebesverlangen und klösterlicher Keuschheitsbeschwichtigung. — Nun — zwei Dinge aber sind es, durch die der Traum Ihrer Nächte sich von Ihrem bewußten und unterbewußten Hirn- und Herzensleben am Tage unterscheidet. Er erinnert sich tiefer. Denken Sie an Ihre Kindheit. Sie wissen nichts, und doch — eine kleine Nachfrage offenbart es Ihnen — mit welch ungeheurer Leidenschaft müssen Sie damals gelebt haben, damals, wo alles neu war. Wo alles riesenhaft war, blendend oder beschattend, immer neu, erschreckend erst, dann aus Entsetzen sich in unverhoffte Freude um so himmlischer auflösend, nächtliche Erscheinungen Ihrer Eltern an Ihrem Bett, die kamen, um nach Ihrem Schlaf zu sehn, und die Myriaden großer und kleiner Erlebnisse, durch die Sie die unbekannte Welt durchforschten und eroberten. Wollen Sie ernstlich glauben, das konnte jemals verloren gehn? Ein Dienstmädchen wird irrsinnig und fängt an, Seiten und Seiten Hebräisch und Griechisch aus Bibel und Kirchenfürsten aufzusagen, weil sie früher am Schlüsselloch ihres Dienstherrn, des Pfarrers, gehorcht hat. Bilden Sie sich ein, deren Gedächtnis allein habe eine derartige Saugkraft besessen? Nein, mein Freund, Sie geben mir ja recht, Sie kehren allnächtlich aus aller Daseinsangst in den dunklen, warmen, herrlichen Mutterleib zurück, wo Sie in Sicherheit waren, himmlisch in Sicherheit, vor der Welt, die keine Mutter verletzt, und vor sich selbst, vor Ihren eigenen, wüsten, kranken, tollen, giftigen, verruchten, begierigen, süßen, erhabenen, demütigenden, hoffenden Gedanken und Gefühlen.“

Vergebens versuchte Georg, die Lippen zu öffnen und von der Vision zu reden, die ihm schon lange brennend vor Augen stand, seine eigene Kindheitserinnerung, der Paradiesvogel und alles übrige, was er seinerzeit Benno geschrieben hatte, und über das er noch bedeutendere Aufschlüsse zu erhalten brannte, allein es war unmöglich, in diesen Geröllsturz von Worten einen Keil hineinzuschlagen.

„Und das andre Ding,“ sagte Josef, „von dem Ihr Traum alles weiß und auch — wie Sie vielleicht gleich sehen werden — alles verrät, ist — Ihr Leib, Ihr Blut, Ihr Geschlecht.“

Bei Gott, dachte Georg, bei Gott!

„Alle Träume, die nicht Angst sind, sind Beschwichtigung. Alle Träume sind irgendwie geschlechtlich, wenn Sie das recht verstehen wollen, daß ich sage, der Geschlechtstrieb sei der einzig einige Trieb allen und allen Daseins auf Erden, — ungenau ausgedrückt, doch das würde uns zu weit führen. Demnach — wenn Sie sich etwa vor Enthüllungen fürchten, so wollen wir es mit dieser Probe meiner Traumdeutung bewenden —“

Georg fuhr hastig verneinend auf. Dieser Magier, dachte er, dieser Magier! Montfort hatte sich unterweil, wie Georg nun sah, ein neues Glas Pilsener kommen lassen, prostete Georg freundlich zu und trank mit Behagen die goldene Flüssigkeit unter der dreifingerbreiten weißen Schaumschicht fort, wischte sich danach sorgfältig mit seinem duftenden Tuche den Bart und fuhr, die gelbe Seide in den Händen zusammenbauschend, fort.

„Also dieser Maler hier suchte seinen Bleistift. Ja, nun sagen Sie mal ... waren Sie denn so wütend auf ihn?“

„Wütend? Im Gegenteil!“ Georg, in Verlegenheit, da er den Maler lächeln sah, wehrte sich heftig. „Im Gegenteil, ich hatte ihn an dem Tage kennen gelernt, er machte einen außerordentlichen Eindruck auf mich, ich empfand die größte Vereh—“

Er stockte, da der Maler, die Unterarme auf den Tisch legend, sich zu ihm hinüberbeugte und leise sagte:

„Ach wo! Ich erinnere mich, daß Sie höchst aufgebracht gegen mich waren, weil ich Ihnen nicht meine Gedanken verraten wollte, als —“

„Genug, genug!“ unterbrach Montfort leutselig, während Georg errötend alles zugeben mußte, „ich weiß nun alles. Sie hatten sich über den Maler geärgert, also mußte er sich im Traum ärgern, indem er suchte und fluchte und —“

„Aber ich selber hab ihm doch geholfen!“ schrie Georg.

„Natürlich, das wars ja, was ich Ihnen auseinandersetzte. Sie empfanden gleichzeitig Ehrfurcht — als ob das nicht auch Furcht wäre, und ist Furcht keine Feindschaft? —, also beschwichtigten Sie Ihre unanständigen Gefühle, indem Sie ihm halfen. Wie gings denn weiter? Vermutlich verschwand der Maler alsbald, und Sie suchten allein.“

„Bei Gott!“ versetzte Georg mißtrauisch, „genau so wars.“

„Mit andern Worten,“ erklärte Josef ruhig und wieder gradesitzend, „Sie setzten sich selber an die Stelle Herrn Bogners, Sie hatten ihn ja unter Tage exemplarisch gefunden, ehrfurchtgebietend, nachahmenswert.“

Georg war sprachlos, denn er entsann sich augenblicks deutlich, daß er einmal an jenem Tage gewünscht habe, wortkarg zu werden wie Bogner. — Da er nun Montfort wie von fern nach dem Weitergange des Traums fragen hörte, so erschien ihm jetzt sein Vater, wie er in einem Theaterparkett ohne Sitze herumging und Händedrücke austeilte. Als er Josef das sagte, verwunderte der sich: sein Vater könne doch nicht gehn, — unterbrach sich jedoch selber flugs, schlug mit der flachen Hand gegen die Stirn und rief:

„Aber natürlich! Sagen Sie doch: haben Sie nie gewünscht, daß Ihr Vater gehend sein möchte?“

Georg, in einem kalten Schrecken, bejahte stammelnd und sagte, er wünsche ja nichts als das, wenn er seinen Vater nur sehe, ja, er glaube, auch schon mehr als einmal ihn in seinen Träumen gehend gemacht zu haben ...

Ihm war, als sei seine Seele mit hundert feinen Haaren besetzt, an denen unaufhörlich gerissen würde. Montfort, ganz gleichmütig, fragte nach dem Fortgang des Traums. Georg besann sich und meinte, dann sei wohl der Festzug erschienen, erst als Film, fiel ihm ein, „und das war natürlich,“ sagte er, „denn wir hatten irgendwann am Tage — Sie erinnern sich, Bogner — verschiedentlich vom Kinematographen gesprochen. Und dann erschien Onkel Salomon, — ich meine,“ verbesserte er sich, „Papas Sekretär, Anna Chalybäus und ich nennen ihn Onkel —“

„Also wieder eine Kindheitsfigur,“ bemerkte Josef.

„Ja, und nun fällt mir ein, daß er mich ins Theater hineinwinkte mit Bogners Bleistift, und dann, als ich zum Festzug wollte, hielt er mich am Arm fest und —“

„Der getreue Eckhart,“ murmelte Josef.

„— ich schrie dann, er solle mich loslassen, und: Ich komme nicht hinein, schrie ich und riß mich los, und dann — war da ein Menschengewühl, ich war angstvoll auf einmal, und nun sah ich Anna in ihrem Glassarge —“

„Und die Leute sagten: er hats schuld ...“, schloß Josef.

„Ja, aber — das bezog sich, glaub ich, nicht auf sie“, sagte Georg widerstrebend, da er wirklich in jenem Traumaugenblick keine Angst oder ein Schuldgefühl zu finden glaubte.

„Ja,“ meinte Josef zögernd, „dann hilft es nichts, dann müssen Sie sich zu erinnern versuchen, wann im Leben Sie einmal diese Worte gehört haben.“

„Ich weiß es schon,“ versetzte Georg, ganz kalt, nur ungeduldig, vorwärts zu kommen, „es war im Abiturientenexamen. Ich fiel durch in Mathematik, und als der Professor von mir abließ, murmelte ich ganz dumm und geärgert: Er hats schuld! Ich meinte: weil er so dumm gefragt hätte ...“

„Haben Sie denn vielleicht“, fragte Josef, „an jenem Tage vor Ihrem Traum mit jemandem über Ihr Examen gesprochen?“

„Freilich. Anna erzählte ich ausführlich davon, aber auch mein Vater erwähnte den Durchfall.“

Montfort, der ihn schon bei der Erwähnung Annas hatte unterbrechen wollen, sagte jetzt wißbegierig:

„So. Ihr Vater. Bitte, wie stehen Sie wohl mit ihm?“

„Er ist mein bester Freund,“ versetzte Georg stolz.

„So. Aber an jenem Tage, oder — sagen wir nur — bei jener Unterredung —“

Georg erklärte auf Montforts fragenden Blick, es habe eine lange Unterredung über seine Zukunft und vieles andre stattgefunden, worauf Josef gelassen fortfuhr:

„Ja, dann waren Sie also von ähnlichen Empfindungen wie gegen Bogner auch gegen Ihren Papa erfüllt: nämlich Freundschaft, Ehrfurcht, aber auch Gefühl der freundschaftlichen Überlegenheit, Verwirrung vielleicht — — ja, ich rate ...“

Georg nickte nur, schwer atmend.

„Und mit: er hats schuld!“ ergänzte Josef, „waren im Traum also nicht Sie gemeint, sondern Ihr Vater.“

Georg sah vor seinen Augen den Raum voller Tabaksqualm, Lampen und sitzender, schreiender Menschen verschwimmen. Das Mädchen Cornelia hing mit einem sonderlichen Ausdruck von Grauen und Zärtlichkeit an Josefs Antlitz, der vor sich niedersah, und jetzt schlugen in Georgs Verwirrung, aus seinem eigenen Innern tönend, die Traumworte: ich komme nicht hinein ... mehrere Male. Während er noch bedachte, daß er sie während des väterlichen Gespräches empfunden haben müsse, widerstrebenden Gefühls gegen die unbekannten Lebensgewalten, denen er durch seinen Vater plötzlich ausgesetzt wurde, hörte er jetzt Josef, immer gesenkten Auges, diese selben Worte sagen und weiter, sich aufraffend zum Zuhören:

„Diese Worte wären also das einzige, was noch bleibt.“

Indem er jetzt langsam seinen Blick von der Tischplatte erhob, ihn über seine Freundin gegenüber streifen und in Georgs Augen, seltsam prüfend, sinken ließ, sah Georg sich mit einem Mal in Annas Zimmer, sah sich auf ihr liegen, — er sträubte sich, aber es zwang ihn, — er sah sich, im Dunkel, kalt fiebernd, wie er den Eingang suchte, und er hörte sich zu sich selber murmeln: Ich komme nicht ... Da schüttelte er das gewaltsam ab, sein Blick irrte, schwankte gegen Josefs Augen zurück, er richtete sich im Stuhl auf, rückte an dem Bierglas vor ihm, sah ein unmerklich feines Lächeln Josefs Mundwinkel heben und hörte ihn sagen, während er die linke Hand auf Georgs Arm legte:

„Lassen Sie’s gut sein, Prinz. Sie wissen nun alles, nicht wahr? Ich weiß es auch, denn — viele Deutungen gibt es da ja nicht mehr. Sie sehen also,“ fuhr er ernst und ruhig fort, „die Verankerung Ihres Traumes ist so ziemlich aufgedeckt. Ängste und Beschwichtigungen, Entstellungen und Verdeckungen, Sie machen sich zu Bogner, Sie grollen Bogner und Ihrem Vater, Bogner muß suchen, Ihr Vater darf gehen, aber: er hats schuld! — Nun, damit können wir uns ja wohl zufrieden geben.“

„Ja,“ fragte Georg entsetzt, „wollen Sie denn noch mehr herauswürgen?“

„Sie sind ein sonderbarer Genosse, Durchlaucht,“ sagte Montfort nach einer Weile kopfschüttelnd. „Da hat man Ihnen an zwei und drei Stellen, wo Sie bislang nichts sahen, ein paar Kleinigkeiten gezeigt. Man hat Ihnen eine Schneeflocke in zehnfacher Vergrößerung gezeigt, Sie haben den Kristall gesehn, und nun — meinen Sie denn wahrhaftig nun, Sie wüßten, was Schnee ist? Ein gelehrter Mann hat jahrelang unsägliche Mühsal aufgewandt, um hinter das Wesen der Träume zu kommen — er überließ mir seine Erfahrungen für diesen Abend —, und hat etwas zutage gefördert, fabelhafte Dinge in der Tat, wie Sie bemerkten. Wieviel, meinen Sie, mögen denn das nun sein aus der wirklichen Zahl aller Möglichkeiten? Schon sind Sie überwältigt, Sie ehrlicher Ignorant, und sind gar entsetzt. Was wissen Sie denn nun? Sie wissen, daß Sie Ihre Kindheit nicht vergessen haben. Was beweist das? Daß Sie nichts, überhaupt schlechterdings keine Silbe vergessen haben, — wenn Sie sich bloß besinnen könnten wie jenes Dienstmädchen. Und was ist denn das: Sie? Hören Sie denn mit Ihrer Kindheit auf? Haben Sie keine Vergangenheit, keine Eltern, Ahnen, Adam und Eva? Haben Sie nicht eben gelernt, daß Sie beinah so leicht und behutsam schlafen wie Ihr alter Hund Wally? Wollen Sie vielleicht noch nicht begreifen —“ er bohrte, sich weit überneigend, beide glühende Augen in Georgs Pupillen hinein — „noch nicht begreifen, daß Sie nichts, schlechterdings nichts aus allen Erdteilen, Völkerschaften, Tieren und Äonen vergessen haben? Daß alles noch in Ihnen ist, was je war? Wollen Sie mir vielleicht auch nicht glauben, daß Sie nicht nur in den paar Augenblicken träumen, an die Sie sich erinnern, sondern daß Sie immer träumen, unaufhörlich, die ganze Nacht, von Abend bis Morgen, immerzu? Und daß Sie Ihr ganzes Leben im Traum noch einmal leben, immer wieder, jede Nacht? Daß Sie Nacht für Nacht, wie der Fliegende Holländer rückwärts mit allen Segeln, Ihr ganzes Leben aufreißen und durcharbeiten, umwogt, wie von der Meerflut, von Milliarden und Milliarden aus ihrem Zusammenhang gesprühter Tropfen, Vermischung zehntausendfach, Entstellung, Verdrehung, Verbildung, Trennung und Einung aus Molchen und Affen, Urwäldern und Städten, Kindern und Greisen, die allesamt aus Unermeßlichkeit in Sie hineingebraust sind wie Karawanen und hunnische Heere, Vandalen und —“

Er brach ab, spöttisch auflachend, dieweil Georg, schon lange die Hände aufstützend, um sich zu erheben, aufstand, um hinauszugehn, sich behängt fühlend, als schwankten die Kleider und selber seine Haut in Fetzen um ihn herum. Betäubt und müde stand er sekundenlang unschlüssig, ohne zu wissen, nach welcher Seite er sich zu wenden habe. Kellner eilten vorbei, drängten an ihm vorüber, Geschirre klirrten, das Gelächter und laute Schwatzen toste sinnverwirrend herum, und Augenblicke lang wars ihm, als habe er das alles noch im Leben nicht gesehn und wisse nicht, was es bedeute.

Da erblickte er im Nebenraum, durch die Glaswand, die Rückenansicht einer stehenden Dame, die dort zu warten schien, und obgleich ihre Haltung — die Hände tief in einer riesigen Muffe, die Oberarme an den Leib gedrückt — nicht eigentlich bemerkenswert war, erinnerte sie ihn doch an Cora. Sie bewegte sich jetzt, verschwand, ehe ihr Profil sichtbar wurde, hinter dem Pfeiler und einem Kleiderständer voll gehenkter Mäntel, dann kam ihr Hut zum Vorschein, groß, flach, schwarz, mit grüngefärbten Straußenfedern um den Kopf, und es war Corinna Bogner, die aus der Türöffnung den schwächlich schmachtenden Blick gegen Georg aufhob.

Wiedersehn

Mehr erschreckt als erfreut, ging Georg auf Cora zu und fragte, die Hand ausstreckend: „Wie kommen Sie hierher?“

Sie blickte ihn ohne Erstaunen an, befreite ihre Hand aus der großen grauen Muffe, reichte sie ihm und entgegnete:

„Sie waren ja mächtig in Anspruch genommen, mein Prinz. Wir sind schon seit einer halben Stunde hier, ich und mein Mann, wir saßen dort hinten. Er ist noch einen Augenblick an einen andern Tisch gegangen. Diese Juristen haben immer etwas zu verhandeln.“

„Aber wie kommen Sie ...“

„Was machen Sie denn für böse Augen? Grade als ob ich Ihnen nicht als Corinna erschiene, sondern als Erynna oder wie’s heißt. Soll ich Sie meinem Mann vorstellen?“

„Ich bitte sogar darum.“

„Sogar? Das ist gar nicht nötig. Wir sind seit dem Ersten hier. Herbert ist zur Staatsanwaltschaft versetzt. Warum schrieben Sie auch gar nicht mehr? Armer, ahnungsloser Engel! Sie werden morgen bei mir Tee trinken. Da kommt Herbert. Herbert, ich habe eben das Glück gehabt, des Prinzen Durchlaucht zu treffen, — ich erzählte dir ja ... Prinz Georg Trassenberg — mein Mann.“

Georg verbeugte sich gegen einen Herrn im Zylinder und Frack unter offenem Mantel, dessen Ähnlichkeit mit dem Maler besonders an den großen Augenhöhlen zu erkennen war, während er einen kleinen, bürstenhaft geschnittenen rötlichen Schnurrbart trug und einen etwas verfinsterten und abwesenden Ausdruck in den Augen hatte, wohl infolge einer kleinen Falte zwischen den Brauenbuckeln. Einen goldenen Kneifer nahm er hastig ab. Georg, dem jetzt der Maler einfiel, sagte:

„Aber ich habe ja eine mächtige Überraschung für Sie, — das heißt, wenn Sie noch nicht ... aber wohl kaum ... Kennen Sie den Herrn dort?“ Er drehte sich zu dem Tisch hinter ihm um, zu Montforts Rücken und der still in sich versunkenen Cornelia drüben im Sofa, dieweil Bogner sich erhob und herantrat und sein Bruder, murmelnd, er sei kurzsichtig, den Kneifer wieder andrückte.

„Herbert! Erkennst du mich?“ fragte Bogner ruhig und sonderbar gütig.

Das Gesicht des Bruders verschönte sich errötend in herzlicher Freude. Er sagte: „Benvenuto!“ mit so viel Ergriffenheit, daß Georg rot wurde, während Cora zu weinen anfing. Ihr Mann legte seinem Bruder die Hände auf die Schultern und schüttelte ihn. „Also doch!“ sagte er. „Nun, ich hatte ja schon von Mama gehört. Und hier im Café, da treffen sich die Menschen wieder. Ja, der arme Papa! Verzeih, Cora, dies ist nun mein großer Bruder. Ja, nun müssen wir noch eine Viertelstunde bleiben. Wir waren in so einer Abfütterung ...“

Georg hörte Cora noch zu Bogner sagen, wie es sie freue, daß er genau aussehe wie sein Bruder, ging, brennenden Auges und rauschender Ohren, durch die Nebenzimmer und durch den engen, gewundenen Treppenschacht zur Toilette hinunter, wo er indessen nicht zur Sammlung kam, denn am Treppenfuß, friedfertig neben der Telephonzelle hockend, begrüßte ihn freudestrahlend Sylvester, der Toilettenmensch, mit seinem ungeheuren, blonden Schnurrbart und seiner kleinen Tabakspfeife. Beim Wasserhahnaufdrehen und Handtuchreichen erzählte er Georg, wie in Primanerzeiten, kleine Stückchen von seinen Kindern, leise sprechend und wie ein Eichhorn immer hin und her, und Georg war wie jedesmal leise verwundert, daß auch diese unterirdischen Menschen Weib und Kinder hätten, sich erinnernd, wie er das erste Mal peinlich hatte denken müssen, ob wohl so ein Kind, in der Schule nach dem Beruf seines Vaters befragt, antworten müsse: Mein Vater ist Toilettenmensch. — Beschämt wie damals bei diesem Gedanken, suchte er vergebens nach einem netteren Terminus dieses Standes, und kam so, an Gefühlen wenig entwirrt, wieder nach oben.

Da aber konnte er plötzlich nicht vorüber an der Glastür des hintern Ausgangs, und nach einem zaudernden Umblicken im Raum, der vom beizenden Tabaksqualm der um alle Tische sitzenden Kartenspieler erfüllt war, trat er ins Freie unter das Überdach und stand im Garten.

Feucht und sehr kühl atmete die Nachtluft. Durch das nackte Gewipfel hoher Bäume fiel von rechts her der Lichtschein der Bogenlampen; in den Nischen von Buschwerk schimmerte weißlich Gestein, und hier und dort erglänzte die Platte eines der vielen Tische. Georg ging blindlings vor bis an das trockene Wasserbecken, sah das blecherne Mundstück der Fontäne sprachlos aus dem Hügel von Tuffstein hervorgestreckt und hielt sich dran, geistig, zu seiner Sammlung. Von Coras seltsam dürftiger Erscheinung schweifte er ab, eilfertig und im Bogen wie ein Jagdhund bösen Gewissens. Eine Beängstigung fiel auf sein Herz; er sah Renate im Garten stehn, sah das weiße Dreieck ihres Tuches, und langsam, aus der Beklommenheit, dehnte sich angstvolle Freude. Schön muß es werden, dachte er, schön wird es werden! inbrünstig hoffend, und die Vorstellungen: Montfort als Freund, Bogner als Führer, Renate als — als Geliebte! zogen, undeutlich in den Umrissen, aber verheißungsvoll, segenspendend und mit immer stärkerer Magie durch seinen Geist, so daß er schwoll, erzitterte zugleich und sich üppiger reckte. — Schon sah er einen Atelierraum, Bogners, Nacht und Lichter, die Rauchschwaden, Josef Montforts gewaltige Silhouette, und er vernahm die ruhige Stimme des unsichtbaren Malers ... Cora, wie war sie verblaßt im Augenblick!

Und nun erschien ihm sein Weg, und er ging ihn, umringt von königlich geleitenden Gestalten — Montfort, Bogner, Renate —, und vor seinen taumelnden Augen stellten die nächtlichen Umrisse des schwarzen Theaterbaus drüben sich dar als das Ziel, als das Schloß, Behausung seiner Würde, seines — ah nun, ja nun begann erst das Leben! Arbeit und Feste, Arbeit und Feste ...

Erquickt von der Kühle und dem Dunkel, gesammelt, entschlossen, aufgerichtet, kehrte er zu den Andern zurück.

Viertes Kapitel

Nachtstraßen

Am Tische sprach der Staatsanwalt, einen Ellbogen auf der Schulter seines Bruders, eindringlich in ihn hinein. Cora schien Josef Montfort völlig mit Beschlag belegt zu haben. Dessen Freundin saß einsam auf dem Sofa, aufrecht, und machte muntre Augen, um ihre Teilnahme zu bezeigen.

„Georg, ich bin ganz hin!“ erklärte Cora, als er sich niederließ. Zum Umfallen müde wäre sie, sagte sie. Georg sah Josef mit seiner Freundin einen Blick des Einverständnisses tauschen, die Brüder lösten sich voneinander, und alle brachen auf. Cora, die schon fertig angezogen war, ging allein voraus, aber Georg half erst der Cornelia in den Mantel und beeilte sich weiter nicht mit seinem eigenen Mantel und Handschuhn; auch als sie später draußen zusammen standen, hielt er sich abseits. Die Nachtluft war kalt und feucht; Platz und Straßen waren noch immer oder schon wieder schwarz vor Nässe. Georg sah nach den Sternen, aber der Himmel war unsichtbar über den leise schwankenden Bogenlampen. Nach der Bahnfahrt, der Wandrung mit Bogner, nach Josef Montforts ungeheurer Beredsamkeit fühlte er sich nun schwer müde und gähnte heftig.

Mit einem leisen Widerwillen sah Georg jetzt Cora neben Josef Montfort, fegend mit ihren Röcken, über den Platz gehn. Josef, im kurzen, hellen Mäntelchen, hatte den steifen Hut so nach vorn gerückt, daß der Hinterkopf hervortrat; dazu stieß er hinter sich den Stock mit hoch gegen die Hüfte gezogenem Ellenbogen auf, — eine absichtliche, schofle Lebemannshaltung, wie es schien. — Das große, hell erleuchtete Zifferblatt der Normaluhr zeigte halb ein Uhr. Abseits von den Brüdern stand die Cornelia Ring, in ihren Scharlachmantel geschlagen, den großen Kragen schön hinterm Kopf, Josef nachblickend. Bei ihrem Anblick erschien Georg Renate; es stach in seiner Brust; dann merkte er, daß der Satz: Auch der Toilettenmensch hat Weib und Kinder ... ihm unablässig wie ein Vers von Morgenstern durch den Kopf zog.

Montfort kam plötzlich eilfertig zurück, rief: „Die gnädige Frau will zu Fuß gehn! Frau Ring, wir bringen Sie alle nach Hause!“ drehte wieder um und gesellte sich zu Cora.

Die Brüder folgten, leise sprechend, und Georg schloß sich mit Cornelia hinter ihnen zusammen. Sie gingen eine Weile schweigsam; Georg mußte heftig und heftiger gähnen, während das Mädchen leichten Ganges neben ihm schritt, den Kopf grade und frei auf dem festen Halse. Er lugte von der Seite schläfrig nach ihrem Profil, sah die runde Stirn, das straff zurückgestrichene Haar, die vorgewölbte Oberlippe, den dunklen Blick des Auges und erinnerte sich, auf der Suche nach einem Gesprächsstoff, daß sie die wenigen Worte, die er sie sprechen gehört, mit undeutschem Akzent — zumal den R-Laut — betont hatte. Zum Sprechen ansetzend, mußte er wieder gähnen, sie sahs und lächelte, und er sagte, mitlächelnd, hastig:

„Entschuldigen Sie nur, — ich habe die Bahnfahrt noch in den Gliedern, und dann — dieser Montfort betäubt einen ja wie — ich weiß nicht was, — aber bitte, — wenn ich fragen darf ... Sie sind keine Deutsche oder —?“

Sie schüttelte den Kopf und lächelte wieder.

„Nur so halb und halb,“ meinte sie.

„Polin vielleicht?“ schlug Georg vor.

Sie lächelte. „Nein, das ist nun grade falsch, obgleich ich sonst alles Erdenkliche bin. Mein Vater war Deutscher, aber aus Ungarn, und seine Mutter war Ungarin. Meine Mutter aber ist Spanierin; sie lebt noch da, und ich bin dort aufgewachsen. Da lernte ich Deutsch und Spanisch zugleich, aber — meine Großmutter war wieder Holländerin ...“

„Ei, dann sind Sie ja ganz international!“

„Ja, leider ...“

„Leider?“

„Ja, man fühlt sich doch so heimatlos. Spanien kenne ich kaum, mit vier Jahren kam ich von dort weg. Nun, am meisten gehöre ich wohl doch zu Deutschland ...“

Um ihr gefällig zu sein, murmelte Georg, Herr von Montfort komme einem ja auch so international vor.

„Wieso?“ fragte sie halblaut, das Gesicht zu ihm drehend.

„Nun — ich meine, nicht wahr? — finden Sie nicht auch: wenn man ihm zuerst in Italien begegnete oder sonstwo — würde man ihn nicht für einen Italiener halten — oder Spanier oder — —?“

Sie sah wieder gradeaus, wo zehn Schritte vor ihnen Bogner und sein Bruder gingen. Er habe wohl recht, meinte sie leise. Nach einer Weile setzte sie verloren hinzu: „Er will ja nun auch fort ...“

Da schien Georg, indem sie eben unter einer Laterne einhergingen, im hellen Licht ihr Auge merkwürdig heiß und glitzernd. Sie zog die Oberlippe in den Mund. — Was hat sie nur? dachte Georg, während ihr Anblick von vorhin, wie sie auf dem Sofa saß und weinte, ihm wieder gegenwärtig wurde, — will er ohne sie gehn? — Die Straße mit fernen Laternen lag wieder dunkel vor ihnen, dahinter der Thielplatz, rötlich leuchtend von Bogenlampen; an der gegenüberliegenden Straßenseite klappten eilige Schritte. Nun ging auch das Mädchen neben ihm schneller, auf einmal in hastiger Rede.

„Oh denken Sie nicht, daß ich das nicht verstehe,“ sagte sie, „ich kenne ihn ja! Wer kennt ihn denn sonst? Was soll er auch hier? Sie wissen vielleicht: die Fabrik geht nicht gut ... ach, das durft ich wohl nicht sagen, aber es weiß ja schließlich jeder.“

Also das war da nicht in Ordnung im Garten, dachte Georg, Bogner hat doch recht gesehn. Das Mädchen fuhr fort:

„Nein, können Sie sich vorstellen, wie er im Kontor sitzt und Zahlen schreibt?“ Sie neigte lachend den Kopf. „Oh er ist ein glänzender Kaufmann, wenn er will, er kann ja jeden um den Finger wickeln. Er hat auch viel mehr Kenntnisse, als Sie vielleicht denken, er spricht eine Unzahl Sprachen, wir waren einmal in Ägypten, und er sprach mit den Suahelis oder wie sie heißen ... ja, was wollt ich sagen? so — und alle Instrumente spielt er, und Theater, ja, was wäre der für ein Schauspieler! Er malt auch sehr schön, er hats nun freilich lange schon gelassen, er hälts ja nirgends aus ...“

Da sie schwieg, fragte Georg nach einer Weile behutsam, wohin er denn nun wolle ...

„Ach, wohin?“ murmelte sie tonlos. „Nach Sibirien oder Mexiko, was weiß ich?“

Also wollte er sie scheinbar nicht mitnehmen. Ach, dachte Georg erschreckt und mitleidig, da haben wir nun alle gesessen und geredet, und sie hat das Herz voll Gram bis zum Rand. Und ich gehe neben ihr und gähne. Die Menschen sind alle Bestien! —

Cornelia verlangsamte ihre Schritte wieder, da sie den Männern vor ihnen nahe gekommen waren. Ein Automobil kreuzte ihren Weg, innen vollgepfropft mit schreienden Kerlen, und verrauschte brüllend. Sie gingen über den Platz und auf den dunklen Tunnel der Eisenbahnüberführung zu, wo schon Josefs und Coras Schritte schallten.

Sie sprach, als spräche sie mit sich selber:

„Halten kann man ihn ja nicht, er ist das freiwilligste Wesen, — ich weiß bloß nicht ...“ Sie verstummte.

„Was wissen Sie nicht?“ fragte Georg behutsam.

Sie weinte. Sie schlug den Mantel auseinander, nahm ihre Handtasche vor, holte ein kleines Taschentuch heraus und trocknete sich hastig die Augen. Danach brachte sie alles wieder in Ordnung, richtete den Kopf auf und schritt aus.

„Ich wollte sagen,“ begann sie wieder, „ich weiß nicht, was aus mir werden soll. Wenn man sein Leben so ganz auf einen Menschen eingerichtet hat ... Oh es geht mir gut, ich hatte immer, was ich mir wünschte, ich kann ja auch überall hin ... Nur ist man heimatlos,“ schloß sie leise.

Georg zermarterte sich den Kopf umsonst nach einem Wort. Ein Mensch wie Montfort paßte freilich schlecht in diese windstille Stadt. Lenau fiel ihm ein, der nach Amerika ging, Kürnbergers Amerikamüder, — aber paßte er nach Amerika?

„Will er nach Amerika vielleicht?“ fragte er schließlich.

„Auch — vielleicht,“ sagte sie. „Er haßt Amerika. Was er am meisten haßt, ist Geld.“ Sie blieb wieder stehn, wandte sich zu Georg und sah ihn mit offenbarem Flehen an.

„Ach, mir ist etwas eingefallen!“ sagte sie, „ich weiß nur nicht ... Es ist vielleicht ganz töricht und — und unbescheiden, ich dachte nur ... ich weiß von Ihrem Vater, dem Herzog, Josef gab mir immer seine Jahresberichte, die er doch selbst schreibt, nicht wahr, und nun dachte ich —“ Innehaltend, blickte sie jämmerlich zu Georg auf.

„Aber gewiß, gewiß, natürlich!“ versicherte er froh und überrascht, „das ist ja ein glänzender Gedanke! Mein Vater —“

„Wir müssen weitergehn,“ mahnte sie, selber wieder munter ausschreitend, „da kommt schon die Eichstraße, dort wohne ich.“

Georg fuhr fort zu erklären, daß sein Vater immer auf der Suche sei nach tüchtigen und — gewissermaßen originellen Leuten, die andernorts schwer zu brauchen seien. „Mama sagte einmal, er sei magisch oder magnetisch für solche Menschen, — nun sehen Sie wohl, sein Magnetismus hat sich sogar durch uns erstreckt! Ich schreibe gleich morgen an ihn, nicht wahr? Er weiß sicher etwas.“

„Ach, ich wäre Ihnen ja so dankbar!“ versetzte sie aufatmend. „Wenn er nur hier irgendwo im Lande bleiben kann ... Sie sehen ja, wie er ist, für solche wie ihn giebt es keine Gesetze, nein, sie geben welche, und es ist ja so schön, daß es Menschen giebt wie ihn, wie wäre es sonst langweilig!“

Nun lachte sie wieder, sagte: „Jetzt aber still!“ und: „Ich danke Ihnen ein andermal! Da ist mein Haus!“

Georg sah nicht weit von ihnen die Vier beisammenstehn. Im nächsten Augenblick waren sie bei ihnen, Cornelia holte ihr Handtäschchen und den Schlüssel daraus hervor, den Montfort ihr fortnahm, um aufzuschließen. Unterdes gaben Bogner und der Anwalt ihr die Hand, Cora nickte fürstlich; sie sagte, Georg fest die Hand drückend, laut und ruhig:

„Wenn Sie mir schreiben, Durchlaucht: Eichstraße 17 und Fräulein Cornelia Ring. Gute Nacht.“

Josef gab ihr den Schlüssel zurück, sie nickte ihm zu und verschwand, nickte dann noch einmal bittend und lächelnd zu Georg durch die dunkle Scheibe der Haustür, während sie drinnen zuschloß.

„Wir wohnen drei Häuser weiter,“ hörte Georg den Anwalt sagen und war sehr damit zufrieden. Auf dem Wege dahin sprach niemand mehr; angelangt, bat der Staatsanwalt seinen Bruder zum Essen für den andern Tag, aber Cora fiel mit müder Stimme ein:

„Gott, Herbert! Morgen ist doch die Herzbruchsche Hochzeit! Dann kommen Sie also — ja, wir sagen wohl du zueinander, nun, das machen wir alles morgen — also dann kommst du morgen vormittag zu mir, — ja, Durchlaucht, dann müssen Sie auch vormittags kommen, Herbert, du kannst dich vielleicht früher freimachen. Nein, kommen Sie nur!“ wiederholte sie hartnäckig, da Georg abwehren wollte. „Du entschuldigst, Ben — was für ein herrlicher Name! —, daß ich den Prinzen schon vor dir eingeladen habe, aber ich kannte ihn ja schon länger als dich —“ sie lachte. „Merkwürdig, nicht, wo du doch mein Schwager bist! Aber ich schwärme für Männer und kann nie genug haben, — das heißt, wenn ich Herbert nicht haben kann, und der hat ja nie Zeit, — du Armer! Also kommt ihr Beide,“ schloß sie achtlos, scheinbar aus Schläfrigkeit die summarische Anrede gebrauchend.

Georg bekam eine lange, schlaffe Hand und keinen Blick. Das Ehepaar entschwand.

Fahrt

Schweigsam schlenderten sie die Straße zurück. Es begann zu regnen. Georg, am Gossenrande, die Hände tief in den Manteltaschen, fühlte die Schläfrigkeit aus seinem Hirn in die Füße und Schultern gewichen, die leise brannten, auch waren ihm am einen Arm der hängende Schirm, unterm andern das dicke Buch lästig, das ständig aus der Achselhöhle nach unten rutschte. — Das arme Mädchen! dachte er trübe und vergnügt, ihr helfen zu können. Was mochte sie nun eigentlich für ein Wesen sein, daß Montfort mit ihr zusammen lebte, er hier, der, die Hände mit dem Stock auf dem Rücken, sehr groß und aufrecht, den Hut im Genick, neben ihm schritt. Bogner, an der Wand der häßlichen, roten und gelben Häuser hinstreifend, hielt seinen Mantel in den Armen an den Leib gepreßt, blieb aber nun stehn und zog ihn an, während Josef sich umdrehte. Eine Droschke rasselte hinter ihnen heran, und Josef sagte: „Ein Vehikel. Nun wollen wir ins Mulläng rusch fahren.“

Der Maler antwortete nichts hierauf; Georg war unschlüssig. Am Ende konnte er gleich noch ein Wort mit Montfort reden, auch schien seine Gesellschaft ihm gar zu anziehend. Schlafen konnte er ja morgen, so lange er wollte.

Die Droschke kam herangerasselt, der Kutscher zog auf Montforts Wink die Zügel hoch, das Pferd stand schlitternd still. „Mulläng rusch!“ sagte Josef, und der Kutscher, den Hut lüftend: „Jawoll, Herr Baron!“ Der schien ihn zu kennen.

So stieg Georg denn ein und setzte sich links in den Rücksitz; der Maler kam neben ihn. Montfort, auf dem kleinen Vordersitz zusammengezogen, machte die Augen zu. Die Räder lärmten. Bogner öffnete das Fenster neben sich und beugte sich in die Öffnung. Nun verspürte Georg die sonderbare Engigkeit, in der sie sich zusammengepfercht hatten, den Geruch von Pferd, Leder, Wachstuch und alten Polstern und hatte das Gefühl, als sei etwas atemlos und ohne Ende mit ihm im Gange. Auf einmal glühte sein Gesicht, er fühlte sich an Seele und Gliedern abscheulich behindert, streckte die Füße, fühlte keinen Platz, zog sie wieder an sich und arbeitete mit den Augen an dem großen und dunkelhäutigen, verschlossenen Gesicht mit der fremden Bartfliege ihm gegenüber. Keine Gesetze kennen! dachte er höhnisch, was das schon heißen soll! Armes Kind, was kannst du ihm wohl sein? Wie still und in Bereitschaft sie immer dagesessen hatte. Ihre Augen waren klug, und sie las die Jahresberichte ... Was sage ich ihm nur? — Da fiel ihm ein, was sie vom schlechten Stande der Fabrik gesagt hatte, da erschien ihm Renate im dunklen Vorgarten, im Laternenlicht, wie sie ihm entgegenkam, und gereizter spürte er die Behinderung, hier fahren zu müssen, anstatt — was? ja was?

„Warum fahren wir hier?“ fragte er jählings. Keiner antwortete; keiner der Andern bewegte sich. Der Wagen rasselte und schwankte über das Pflaster, auf einmal war er auf Asphalt und rollte glatter und leiser dahin, während das einförmige Trotten des Pferdes hörbar wurde. Georg sah Bogners schwarzes Profil im einfallenden Licht, sah das Gleiten der Häuserwände, einen Mann, der wartend an der Ecke stand, um die sie nun schwenkten, eine Laterne, Rolljalousien und Reklameschilder, alles sehr traurig, beschmutzt und als ob es sein eigenes Nichtvorhandensein beklagte. Plötzlich merkte er Montforts Augen, die ihn unbestimmt anblickten, dann abglitten, und er hörte ihn langsam sagen:

„Immer wieder kehrst du, Melancholie,

O Sanftmut der einsamen Seele ...“

Es schienen Verse; er sprach langsam weiter:

„Zu Ende geht ein goldener Tag.

Demutsvoll beugt sich dem Schmerz der Geduldige,

Tönend von Wohllaut und weichem Wahnsinn.

Siehe, es dämmert schon ...

Wieder kehrt die Nacht und klagt ein Sterbliches,

Und es leidet ein anderes mit.

Schaudernd unter herbstlichen Sternen

Neigt sich jährlich tiefer das Haupt.“

Wieder war alles still bis auf das Trotten der Hufe, aber in dem Augenblick, wo Georg, von den Versen seltsam erschüttert, fragte: „Von wem ist das?“ waren sie wieder auf Pflaster geraten, und Montfort schien nichts gehört zu haben.

Wieder kehrt die Nacht! fühlte Georg traurig, und leidet ein Sterbliches. Und es leidet ein anderes mit. Wie du mich dauerst, armes Kind! Und dann schrie er, um verstanden zu werden: „Warum fahren wir hier?“

Montfort wandte ihm mit gelindem Spott seine Augen zu.

„Wir?“ sagte er. „Warum sagen Sie wir? Gehören wir zusammen? Fährt nicht jeder ganz allein?“

Georg wollte, aber konnte nicht sagen, daß er ihn ja in dies schandbare Vehikel hineingesperrt habe, denn freilich — warum hatte er sich sperren lassen?

„Teuerster,“ fuhr Montfort fort, „ich weiß, was Sie denken. Sie sind auch so ein Mensch, der auf einmal von Versen ergriffen wird. Alles muß Ihnen mundgerecht gemacht werden, dann geht Ihnen das große Begreifen auf, und Sie bemerken Ihre Seele. Freuen Sie sich übrigens Ihrer Jugend.“

Bogner, während Georg sich, die Lippen zusammenkneifend, in seine Ecke zurücksetzte und den Dostojewskiband neben sich in den Sitz stieß, legte eine Hand auf seinen Arm und sagte, das Gesicht zu ihm wendend:

„Deswegen keine Sorge! Man gerät immer um so weiter auseinander, je enger man beisammenhockt. Erinnern Sie sich noch, wie ich Ihnen von Judith Österreicher erzählte? Da saßen wir schön geräumig und konnten untereinander kommen und gehen, wie es uns beliebte.“

Anna! dachte Georg erschreckt. Oh, litt sie nicht auch, er aber litt nicht mit ihr! — Eine Weile später konnte er es nicht lassen, gereizt und unwirsch hervorzustoßen: „Warum fahren wir dann hier?“

Bogner schien zu lächeln und wandte sich ab; Montfort hatte die Augen wieder geschlossen; so fuhren sie schweigend, räderumrasselt, wieder über Asphalt, über Geleise, umschwenkend, plötzlich aus einem Geleis, in dem sie dahinrollten, herausgerissen, gegeneinander geschüttelt, umrasselt unaufhörlich. Georg hatte das Gefühl, als würde diese Nachtfahrt ihm ewig unvergeßlich bleiben. Dann dachte er, es müßte über ihnen ein Stern stehn, der Renates Züge trug, aber nun ließ das Wagenverdeck sich ja wieder nicht aufschlagen! — Er stöhnte, es war nicht auszuhalten.

Da hielt die Droschke mit einem Ruck. Georg riß die Tür auf und stolperte ins Freie vor ein Portal mit bunten Lampen, aus dem ein großer Türsteher mit Schnüren und hellblauem Mantel, einen langen Tambourstab in der Hand, hergeschritten kam. Im Augenblick gewillt, davon, in die Nacht, in einen Wald hineinzulaufen, fühlte Georg sich leicht am Arm ergriffen und vom lächelnden Josef Montfort in den gläsernen Tunnel hineingeschoben.

Sie legten die Mäntel ab und gelangten über eine Treppe in den Tanzsaal.

Ballhaus/Bar

Es waren Galerien da auf drei Seiten, darunter standen die Tische, in der leeren Parkettmitte drehten sich zwei Mädchen in blauweißgestreiften Matrosenanzügen mit roten Kragen und in Kniehosen, rote Zipfelmützen auf dem Kopf, in träger Vergeßlichkeit hin und her. An wenigen Tischen saßen Männer beim Wein und rauchten, im Winkel beim Tresen war ein ganzer Haufen buntgekleideter Frauen mit sinnlosen Hüten. Bald saßen sie in einer Ecke und hatten Gläser mit golden aussehendem Haute Sauternes vor sich stehn. Bogner rauchte seine Pfeife und sah sich alles mit Gleichmut an, Josef gähnte unaufhörlich, Georg trank hastig drei Gläser Wein aus, ohne es recht zu bemerken. Im Saal schoben sich einige Paare hin und her, Damen tanzten miteinander, die Leiber ineinander verrenkt, abstoßend anzusehen, und Georg fing an, innerlich Wut zu schnauben, daß er hier war. Plötzlich stand ein schwarzgekleidetes, bleiches Wesen neben Josef, das nicht wie die Andern war, sondern hoffärtig und einsam aussah.

„Du warst lange fort,“ sagte sie traurig zu Montfort, der sofort aufstand und einen Stuhl holte. Sie glitt auf den seinen, füllte sich ein leeres Glas und trank lange in kleinen Schlucken, wobei sie Josef in die Augen sah.

„Wozu?“ sagte sie plötzlich, das Glas hinsetzend, stand auf und war gleich darauf mit einem breiten Herrn zwischen den Tanzenden.

Georg dachte, es fange nun wirklich an, sinnlos zu werden, aber als er nach einer Weile Umherschauens zu Montfort sagen wollte, daß sie gehen wollten, war der verschwunden. Bogner hatte sein Skizzenbuch unter dem Tisch auf den Knien und zeichnete etwas Unsichtbares, ohne auf das Papier zu sehn. Ein Kellner kam, nahm stillschweigend die leere Flasche fort und brachte bald darauf eine neue. Da ein rosenrotes Mädchen sich an Georgs Stuhl vorbeischob, das herausfordernde Augen machte, so tanzte er mit ihm, tanzte mit dieser und jener, zuerst unbehülflich, da er in seine Tanzstundenhaltung zurückfiel, dann sachgemäß, seiner Tänzerin das rechte Bein zwischen die Schenkel drückend, so daß er die ganze Gestalt an sich preßte, und dazwischen trank er, sah auch Montfort tanzen, langsam wurden die Dinge dunstig und zerstückt, sein Gesichtskreis verengte sich, er sah nur noch Allernächstes, er wußte nicht mehr, was er tat. Plötzlich klopfte jemand ihn auf die Schulter, Montfort, der leise sagte: „Nun muß ich in die Unionbar, gehen wir.“

Er folgte willenlos, fand sich gleich darauf an Montforts Arm in der Nachtkälte, merkte, daß er zusammenfiel, raffte sich auf und ging aufrecht seines Weges zwischen Bogner und dem Andern, wobei er unausgesetzt schwatzte, ohne zu wissen was; nur daß er im Gehen doch hin und wieder dem einen oder dem andern seiner Begleiter näher kam, merkte er. Da blieb er stehn und sagte mit großem Ernst zu Josef — während ihm gleichzeitig einfiel, daß er Dostojewskis ‚Jüngling‘ nicht mehr bei sich hatte —: „Fräulein Ring sprach mit mir von Ihnen.“

„Kommen Sie nur, das weiß ich ja alles!“ meinte Montfort begütigend, indem er ihn weiterzog. Jetzt nur nicht wütend werden! ermahnte sich Georg, das wäre ein Beweis deiner Betrunkenheit. — —

Aber von nun ab war ihm nichts mehr bewußt, als daß er nach einer langen Zeit Küsse fühlte, lange Küsse und von einer so alles durchschmelzenden, verzehrenden Süße, daß er dachte, er träume. Die Augen aufreißend, sah er ein weibliches Gesicht nahe vor dem seinen, das ihm wiederum so zauberhaft schön, so über alle Begriffe wunderbar erschien, daß er überzeugt war, er träume, doch spürte er nun deutlich ihren Mund, der sich in den seinen einwühlte, die Zähne, ihren Atem; er schmolz in Zärtlichkeit, er weinte fast und murmelte dumpf: „Liebst du mich denn so?“ Er hörte eine verdunkelte, vor Zärtlichkeit erstickende Stimme antworten: „Ja! Ja!“ und: „Hast du es nicht gleich gemerkt, wie wir uns ansahn, als du hereinkamst?“

Jetzt wurden die Dinge umher klarer. Das Mädchen saß auf seinem Schoß, hinter ihr war ein winziger Raum, eine Koje, in der eine dunkelrote Schleierlampe hing; darunter war ein Wirrwarr von Sektflaschen, Gläsern, Strohhalmen und plötzlich das Gesicht Maler Bogners wie aus Erz, so völlig unverändert, und nun merkte er den Lärm, merkte, daß hinter seinem Rücken ein ungeheures Geschrei und Getümmel war, Frauenstimmen kreischten, Kerle brüllten, und hinter dieser Wand von Tumult dröhnte ein Klavier. Das Mädchen, das er im Arm hielt, jetzt nicht mehr so schön, aber großäugig, ein schwarzes Samtband um die Stirn, sprang von seinen Knien, ergriff seine rechte Hand, zog ihn in die Höhe und sagte heiß: „Komm, tanzen!“ Er gehorchte, drehte sich irgendwo in einem dichten Gedränge heißer Körper und Gesichter, und saß gleich darauf in der wärmsten Enge hinter jenem Tisch auf einem Sofa, Bogner gegenüber, neben dem ein unbekanntes Gesicht war, und neben ihm selber — ja, das war Montfort. Das Mädchen drängte sich an seiner andern Seite unter seine Achsel, und er hörte es flüstern, daß sie gleich fort müßte, zu andern Gästen, ob er sie morgen treffen wollte, und er sagte zu allem Ja. — Also am Gänseliesel, sie wohne dort ganz in der Nähe, und um ein Uhr. Ob er auch sicher käme, und sie würde ihm schreiben, wenn sie nicht könne.

„Ja, weißt du denn, wer ich bin?“ fragte er, etwas erschreckt.

Sie wußte es nicht, da verschwieg er seinen Namen und sagte, sie solle ihm unter G. T. 17 schreiben, Hauptpostamt, und es nicht vergessen. Er sah, daß sie einen Kellner anhielt, von ihm Papier und Bleistift bekam und sorgfältig aufmalte: G. T. 17 auf zwei Stückchen Papier, von denen er eins in seine Brieftasche steckte.

„Schenk mir was!“ bettelte sie plötzlich, „ich hab heut abend noch nichts verdient.“

Er zog Goldstücke hervor, sie ergriff seine Hand, streifte ihren Rock in die Höhe und führte seine Hand mit dem Geld darin zu der Öffnung ihres Strumpfes am Oberschenkel, indem sie ihn zugleich mit dem linken Arm umhalste, brennend anlächelte und küßte. Als er die warme und nackte Haut ihres Beines fühlte, brach er fast zusammen, wurde aber im selben Augenblick zurückgestoßen; sie sprang auf, schüttelte ihren Rock, warf ihm eine Kußhand zu und verschwand im Getümmel.

Nun muß ich mich übergeben, dachte Georg, stand eilig auf, gelangte durch das Tohuwabohu hinaus, tat, was er eben gedacht hatte, war, als er zurückkehrte, wenigstens wieder im Besitz seiner Augen, obwohl sie auch jetzt nur für das Nächstliegende reichten, aber er sah doch beim Hinsetzen, daß die Augen des Fremden sich auf ihn richteten, so daß er sich verbeugte und seinen Namen murmelte, worauf jener — dunkle, ruhige Augen unter einer zarten Stirn — ihm leicht erstaunt die Hand reichte, indem er sagte: „Wir kennen uns ja schon.“ Georg, verlegen, setzte sich still nieder, da er zudem bemerkt hatte, daß er wohl denken, aber noch nicht sprechen konnte. Nun, da saß also Bogner und zeichnete hinter der Flaschenbarrikade auf das Tischtuch. In seinen rechten Arm hatte sich ein blondes Mädchen gehakt, das neben ihm saß und seiner Beschäftigung so andächtig zuschaute, daß ihr hin und wieder die Augen zusanken und ihr Kopf langsam vornüber fiel. Der Maler sah dann nachsichtig auf sie hinunter, und sie warf den Kopf mit einem Ruck empor, riß die Augen auf, lachte schläfrig, ergriff ein Glas und sagte: „Mönchmeyer!“ und dann: „Prosit“ und trank.

Georg begann das Gespräch Montforts und des Fremden zu hören, deren Köpfe sich hinter der roten Schleierlampe dicht zueinander gebeugt hatten, denn sie stritten sich heftig, und Georg hörte die Namen Poës, Hoffmanns und Kubins. Eine Weile war das alles noch dumpf und weit entfernt, es kam aber durch Augenblicke näher, endlich und ganz deutlich hörte er Montfort sagen:

„Angenommen also, es sei möglich, die gesamten seelischen und geistigen Eigenschaften zweier Menschen — meinetwegen in der Form der Auswechselung ihrer Gehirne — miteinander zu vertauschen, was ist diejenige Folge, die sich für früher oder später mit Notwendigkeit ergeben muß?“

Jucken, dachte Georg, infolge der fremden Körperlichkeit, während der Fremde sagte:

„Zusatz: Jeder von beiden hat, ausgestattet mit den alten Gewohnheiten des Gefühls, der Denkungsart, der Neigungen und ihrer Gegenteile und so weiter und so weiter, diese in einer andern Gestalt, andrer Umgebung — es ist zu denken an Verwandte, Eltern und Freunde, Gleichstehende nah und fern — zu verwenden.“

„Die Folge ist — ich will nicht geradezu sagen: Verbrechen, da die wenigsten Menschen tätlich veranlagt sind, — aber sie ist: Unheil, sie ist tragisch. Die nächste, die sofortige Folge nämlich, ist: ein Liebesgefühl für die neue Mutter oder Schwester, jedenfalls Fehlen des Verwandtschaftsgefühls, fehlende Zuneigung zu Eltern und Geschwistern.“

Dies heiße die Angelegenheit zu enge begrenzen, meinte der Andre. Er wolle in allgemeinerem Sinne eine günstige Wirkung der Verwandlung beweisen, gesetzt, die Erinnerung an das alte Dasein sei geblieben, nämlich: Befreiung. Befreiung von allem Gewohnten, ein neuer Ausblick in die Umgebung bis zu den Sternen hinauf, daher ein Auftrieb aller Kräfte, eine weisere Benutzung, eine deutlichere Erkenntnis des Seienden, genau so wie jemand, der ein jahrelang von Andern bewohntes Zimmer betrete, die Leute darin auf unzählbare, von ihnen nie bemerkte Dinge aufmerksam machen könne. Hinzu komme ferner das besonders Wichtige: der Einfluß des neuen äußeren Menschen.

„Als Beispiel“, sagte er, „möchte ich folgendes eigene Erlebnis erwähnen: Ich habe in früheren Jahren als Schüler bei Festlichkeiten Theater gespielt, hatte mir, was zu mimen war, ungefähr zurechtgelegt, übrigens auf den Proben keinerlei Befähigung zum Schauspieler gezeigt, und hatte heftiges Lampenfieber. Nun hatte ich einen komischen alten Diener zu geben. Kaum hatte ich nach Herstellung meiner Maske einen Blick in den Spiegel getan und von mir selber, hinter der kahlköpfigen Perücke, den weißen Bartkoteletten, den Runzeln samt der Livree nichts wahrgenommen als die alten Augen, da war jede Spur von Aufregung verschwunden, und ich muß in meine Figur, in meine Rolle dermaßen hineingewachsen sein, daß die ältesten Leute bei meiner Komik, bei der ich mir gar nichts dachte, Tränen gelacht haben sollen, und während —“

„Das beweist gar nichts,“ sagte Josef. „Sie wollen mit Ihrem Gleichnis den Verlust der, den Menschen zumeist anhaftenden Scheu und Unsicherheit aufdecken, aber das ist alles Unsinn. Ihre schauspielerischen Erfahrungen stehen in konträrem Gegensatz zu denen aller richtigen Mimen, oder haben Sie schon von einem gehört, dessen Lampenfieber in Lampengenesung umgeschlagen wäre? Und außerdem bestreite ich für mich persönlich jedenfalls energisch das Vorhandensein Ihrer Scheu und Unsicherheit.“

Da es sich nicht um Josef Montfort handle, sagte der Fremde, so fahre er unbeirrt fort: In der neuen Maske oder Gestalt lasse sich alles verstecken, jeder Gedanke, jeder Plan, jede Beklommenheit und jeder Schreck, „deshalb nämlich,“ sagte er, „weil ich mir nur einzuprägen brauche, daß der Ausdruck, den meine Umgebung an mir wahrzunehmen glaubt, nicht mir gehört, sondern dem — Andern, der Maske, und daß niemand den wahren, inneren Vorgang wahrnehmen kann.“

Hiergegen sei eine Menge einzuwenden, erklärte Montfort. „Erstlich Ihr: ‚Ich brauche mir nur einzuprägen‘. — Gesetzt, Sie könnten das, wozu brauchen Sie denn da die Verwandlung? Dann können Sie es doch auch so wie Sie sind jeden Augenblick fertigbringen. Zweitens —“

Da, sagte der Andre, läge seine ganze Torheit in ihrer beschämenden Nacktheit vor aller Augen. „Sie hätten mir einen Fehler nachweisen können, weil es nämlich Schauspieler giebt, die ohne Maske einen völlig andern Menschen als sie selber darzustellen vermögen —“

„Welch ein unseliger Nonsens!“ lamentierte Josef. „Ist denn hier vom Schauspielertalent die Rede?“

„Seit langem,“ war die ruhige Antwort, „schon immerzu, Sie haben bloß nicht bemerkt, daß ich Ihnen zeigen wollte, daß eben mit der Maske auch der Schauspieler, auch das ‚Sicheinprägenkönnen‘ möglich wird und sich entwickelt. So wie ich bin, verstelle ich mich natürlich auch bis zu einem gewissen Grade, aber —“

„Und nun,“ Josef lächelte hinreißend, „nun wollen Sie mir noch nicht zugeben, daß Sie matt sind?“

Der Andre stutzte, überlegte und fragte: „Wieso?“

„Sie sind ein zu guter Mensch, Saint-Georges,“ sagte Josef, „ein zu anständiger Mensch. Sie folgern nur auf zunehmende Sicherheit und daraus womöglich auf Kraft, Güte und wer weiß was noch. Sollten Sie nie bedacht haben, daß die Menschheit eine Versammlung von Bestien ist? Natürlich, der einzelne Mensch ist gut, denn Vereinzelung ist Hülflosigkeit und Hülflosigkeit Schwäche und Furcht. Furcht aber ist zu allen Zugeständnissen bereit, zum Verzeihen, zum Zurücknehmen, zum Helfen, zu jeder Art von Güte, die Sie wollen. Hörten Sie nie von der unendlichen Güte sterbender Menschen? Mehrzahl aber macht stark, und Stärke ist geneigt zu Forderungen, zur Unduldsamkeit; weil jeder sich von zehn Andern gedeckt weiß, zur Durchsetzung jeder Neigung wie zum Geschrei. Können Sie leise reden, wenn zehntausend herum sind? Und wie können Sie doch nicht linde genug flüstern, wenn Sie bei Ihrer Geliebten liegen. Sicherheit auf Kosten des moralischen Menschen, da haben wirs. Nicht zum Schauspieler werde ich, sondern zum Heuchler, zum Scharlatan, und ich entwickele die niedrigsten Instinkte, die ich auftreiben kann, denn die guten, ob mit, ob ohne Maske, brauche ich nie zu verheimlichen. Sie sprachen, lassen Sie mich nur weiterreden, Sie sprachen von Freiheit; gewiß, Befreitheit vom Zwang, vom Sichbeobachtet-, Sicherspäht-, Sichertapptfühlen, Befreiung vom Erröten und Erbleichen, von Beschämung und all dem Höflichen, das uns hier den Verkehr miteinander möglich macht. Befreiung aller Triebe, Verlust des Schamgefühls, ha! Warum kann eine Schauspielerin denn eine Dirne mimen, warum gelingt den Schauspielern die Darstellung Jagos, Franz Moors und des andern Mohren so viel besser als die Max Piccolominis? Weil das in der Maske schwindende Schamgefühl — ja, dazu dient die Maske allerdings — die, in jedem Menschen wohnenden Gelüste zum Bösen, zum Verneinen, zum Verbrechen begünstigt. Sie, obgleich ein so guter, anständiger Mensch, hat Sie es nie beim Anblick eines Haufens Banknoten durchzuckt: In die Tasche damit und verschwinden! — nie beim Anblick eines berauschenden Weibes, ha!: Ersticken mit Küssen und — weg wie der Satan! Hinterdrein dann das kühle Selbstgeständnis: Ich bins nicht gewesen, der diese satanische Eingebung gehabt hat, o weh! Nun aber nehmen Sie die Maske vor, nun ...“

Er atmete auf und legte sich zurück, Georg sah ihn heftig erregt, blitzender Augen und geblähter Nasenflügel, wie er mit der Hand gegen seine Brust pochte, dann eine seiner großen Zigarren aus der Weste zog, die Spitze abbiß und sie entzündete. Saint-Georges machte den Versuch eines letzten Vorstoßes, indem er vorschlug, es doch wirklich, wie Montfort mehrfach betont habe, mit gewissermaßen anständigen Menschen zu tun zu haben. Josef, stracks wieder schwellend von Beredsamkeit, sagte:

„Zum Beispiel Sie und ich, anständige und deshalb, für den Augenblick wenigstens ehrliche Menschen. Bekennen wir demnach: Würden wir — maskiert — nicht manches tun und versuchen, zu dem wir es jetzt nicht kommen lassen?“

Hier sah Georg sein Gesicht sich verzerren, als ob er aufschriee wie ein Gekniffener, während er zugleich mit leisestem Geflüster zischte: „Ist es denn nicht das? Wir lassen es ja zu nichts kommen, wir lassen uns ja immer hindern und werden doch nicht besser, sondern nur böser dadurch.“

Georg erschrak in seiner Dumpfheit, das Wort bedenkend, Bogners erschreckendes Wort: Alle sind gut; nur will sich niemand hindern lassen. Also nicht nur jene, die Behinderung abzustreifen wissen, sondern der Behinderte an sich schon wird böse, weil er sich hindern läßt? — Er hörte wieder Montfort: „Meinen Sie tatsächlich, wir würden besser werden? Wollen Sie wirklich vergessen, welchen Verbrauch von Halb- und Zehntelslügen sogar der Anständigste am Tage hat, vor den Andern, vor sich selbst? Würden wir uns nicht noch leichter über dies und das beruhigen, über jenes hinwegtäuschen, dieses uns vorspiegeln, das ausreden, dort klein beigeben und hier übertreiben? Unser Gutes übertrieben, unser Schlechtes belanglos, das Ferne nah und das Nahe entfernt sehn? Wünsche statt Ausführung, Aussichten für Wege, Träume statt Handlungen und Nichtswürdigkeiten für Taten nehmen? Würden wir uns nicht noch mehr belügen? Nicht, anstatt herauszukommen, noch tiefer in Bequemlichkeit, Lauheit und Gewohnheit versinken, bis wir gänzlich der seelischen Verfettung anheimgefallen sind? Sehen Sie denn nicht, Mensch, im Hintergrunde Ihrer ganzen Spekulation die Unentrinnbarkeit eines teuflischen Quietismus, der sagt: Wozu überhaupt etwas? Ich bins ja doch nicht, der handelt! Und niemals, niemals, Sie Glücklicher, haben Sie sich das selber auch so gesagt, ohne Maske? wie Sie da sitzen, alles einem Gott oder Dämon in die Schuhe geschoben und geklagt: Einer sitzt in mir, der will immer anders!“

Josef Montfort schwieg erschöpft und schaute mit tiefem Trübsinn in sein Whiskyglas. Georg indes hatte sich so weit gesammelt, daß er, wie er glaubte, ziemlich deutlich hervorbrachte:

„Und also würde alles beim alten bleiben, nicht wahr. In Ihrer Maske würde kein Herz Platz haben — Sie ermahnten mich doch, es mir zu erhalten —, denn wir würden nicht mehr erraten können, nicht wahr, wen von uns unser Freund, unsre Geliebte meint: den, der wir sind, oder den, der wir scheinen. Das aber, nicht wahr,“ Georgs Stimme ging unter in Traurigkeit, „wissen wir auch jetzt nicht, und — nicht wahr — wir können froh sein, wenn eine gute Geliebte aus unserm Schein und unsrer Wahrheit sich eine Mitte verfertigt, die —“

„Froh?“ Josef lächelte dekorativ. „Lieber Freund, das glaube ich Ihnen nicht. Froh sind Sie, in der Sie Liebenden ein Wunderbildnis von Ihnen erzeugen zu können, das Sie auf Knieen verehrt, froh, obgleich Sie sich dem hundertmal widersetzen zu müssen glauben, bis Sie einsehn, Sie können es nicht verhindern, weil die süße Frau es nicht will, und Sie selber wollen es nicht und tun ihr das gleiche an. Ist Liebe etwa Lernen und Erkennen? Um Gottes willen! Liebe ist der wunderbare Irrtum des menschlichen Daseins, weshalb er meinetwegen im Leben der Vernünftigen keinen zu großen und nur einen sporadischen Raum einnehmen möge, wogegen ich selbst aber mich wieder und wieder in diesen Irrtum, diese grandioseste aller Stromschnellen hineinstürzen —“ Er hatte schon während der letzten Worte, aus seiner Ekstase nachdenklich werdend, zu jemand emporgesehn, der an den Tisch getreten sein mußte, und während Georg, sich nach ihm umwendend, jenes Mädchen gewahrte, das er vorhin geküßt hatte, hörte er Montfort langsam und durchdringend zu ihr sagen: „Sie sind doch — Lenusch.“

Das Mädchen, erhitzt, das Haar zerzaust, das blasse Gesicht über und über mit roten Flecken bedeckt, schwankte vor Trunkenheit vor und zurück, kniff die Augen zusammen, um Montfort zu erkennen, und da erkannte sie ihn. Im Augenblick — während sie die Hände gleich Krallen gegen die Schultern hochhob, — ballte das ganze, vorher so schöne Antlitz sich zu einer Maske von ungeheurem Haß zusammen, zu einer todbleichen Fläche, besät mit diesen roten Flecken, mit breit und flach gewordener Nase, mit rasend zurückgezogenen Mundwinkeln, und Gift spritzte aus ihren Augen, und die Vorderzähne unten schoben sich vor die Oberzähne. Es kamen aber keine Worte, sondern etwas Bräunliches, Breiiges trat zwischen ihren Lippen hervor. Sie erbrach sich. Es floß einfach aus ihrem Munde, während im zusammenfallenden Gesicht die Augen, wie brechende Augen, nach oben gerichtet, stillstanden.

Georg glaubte bei diesem Anblick zu sehn, wie seine Seele sich schaudernd aus ihm entfernte, ein Schatten, der abgewandt entfloh, und er war von nun an nur noch Äußeres: Gesicht, Gehör, Geruch; sah das Mädchen davongeführt werden, zwei Herren, die an der Bar saßen, sich neugierig umwenden, sah, daß es leer im Raume war, der voll von Dunst und Gerüchen stand, aber dann verließen ihn auch die Sinne, und er fand sich auf einmal in einer unbegreiflichen Tageshelle.

Eine Straße war da, die lag im Schatten, sehr säuberlich, friedlich und abgeschieden; Morgenhelle wars, in der er schaudernd und fröstelnd stand. Unter seinem linken Arm steckte ein andrer Arm, von dem er fortgeführt wurde, und eine nahe Stimme redete Worte in sein Ohr, eine Stimme, die ihm die Jason al Manachs zu sein schien, doch begriff er bald, es war Josef Montfort, und er sprach augenscheinlich gute und begütigende Dinge. Bald hörte er auch die Worte richtig, blieb aber sonst, obwohl er ging, sah und hörte, wie gelähmt. Montfort aber sagte:

„Nur ruhig, nur ruhig! Ich habe eine Ermordete sterben sehn, aber dies war grausamer, hören Sie, Sie müssen an andre Dinge denken, Sie sind zu jung für so etwas, hören Sie einmal zu, ich will Ihnen von Lenusch erzählen. Ich hatte zwei Freunde, die studierten vor ein paar Jahren beide in Königsberg, ohne sich gegenseitig zu kennen, und Beide schrieben mir, — ich kanns Ihnen ja sagen, sie studierten auf meine, beziehungsweise meines Vaters Kosten. Da schrieb nun der Eine, er habe ein himmlisches Wesen kennen gelernt, ja, eine Wirtstochter, aber ein Engel sei sie und liebe ihn, wie er sie, und sie werde trotz ihrer Engelhaftigkeit von ihren Eltern geplagt und mißbraucht, — so schrieb er. Und dann schrieb auch der Andere ganz etwas Ähnliches, ja, mit andern Ausdrücken genau dasselbe, und auch dies Mädchen wurde von ihren Eltern geplagt, nun, was ist da weiter, — ich kam dahinter, daß es dasselbe Mädchen war, sogar Momentaufnahmen bekam ich von beiden Freunden, und es war so, daß sie zum Einen sagte, nun müßte sie wieder ans Waschfaß — dann saß der Andre im Hinterstübchen; und zu dem sagte sie, nun müßte sie wieder Kartoffel schälen, dann traf sie den Andern auf dem Wall. Nun, was sollte ich tun? Ich schrieb das Ganze dem einen Freund, aber der verfluchte mich, und es sei alles gelogen. Da ich nun Gelegenheit hatte, nach Königsberg zu reisen, besuchte ich ihn, ließ sie auf sein Zimmer kommen und zeigte ihr in seinem Beisein die Photographien, die der Andre gemacht hatte, und sagte ihr die ganze Wahrheit, worauf ich das Zimmer verließ. Drinnen blieb eine Weile alles still, dann hörte ich reden, dann schluchzen, dann heftiger reden, ihn und sie, und nun — nach einer Weile rief er mich wieder herein, sagte, sie sei fort, und es sei alles in Ordnung. Sie habe ihm alles eingestanden, aber ihn, habe sie gesagt, liebe sie doch allein, und bei dem Andern habe sie nur nicht widerstehen können, und: Spielerei, und so weiter. O sie hatte unerhörte Begabungen. Ja, das war Lenusch in ihrer Glanzzeit. Später war ich noch einmal in Königsberg, und da erkaltete denn doch ihre Liebe zu meinem Freund — er war Theologe, der gute, und dann verlobte sie sich mit einem Referendar, aber das Verhängnis fuhr ihr dazwischen, und sie bekam ein Kind. Ich weiß nicht, von wem, möglicherweise von jenem Korpschargierten, der eines Tages eine Wette abgeschlossen hatte, daß er, wenn er nur wolle, Lenusch bekommen könne. Nun denken Sie, Prinz, diese Wette hat er gewonnen und doch verloren! Begreifen Sie? Er hat sie wirklich bekommen, diese Lenusch, unter der Bedingung freilich, daß er die Wette verlöre, — o sie war unerhört! Möglicherweise ist es auch von mir gewesen, dies Kind, und trägt meine Züge. Dennoch kann ich eigentlich nicht ganz begreifen, warum sie diesen außerordentlichen und erschreckenden Haß auf mich gefaßt hat. Freilich hatte sie unerhörte Möglichkeiten, und ich habe sie ihr verkümmert, aber verdammt noch mal, hier krepiert ein jeder an verkümmerten Möglichkeiten! und hier ist Ihr Hotel.“

Georg sah ihn vor sich stehn, sein Mäntelchen überm Arm, nur wenig abgefallen im Gesicht, breitschultrig und groß, die Züge merkwürdig entstellt durch die abscheuliche Art, den steifen Hut in die Stirn zu rücken, und Georg mußte heftig in Gelächter ausbrechen. Indem kamen Bogner und Saint-Georges im Gespräch heran, Montfort trat zu diesem, ergriff ihn am Arm und sagte, mit seinem Stock auf die kaum ergrünten Sträucher der Anlagen hinter dem Theater deutend, die sich in der schönen Morgenluft atmend still verhielten, dann auf die kleinen, leichten Wolkenballen, die über dem grünen hochliegenden Kupferdach des Bühnenhauses in der leichten Bläue dahinreisten:

„Frühling, Saint-Georges, unser alter Geliebter, da ist er ja wieder! Sprachen wir nicht von berauschenden Irrtümern, sprachen wir nicht von der Liebe? Frühling ist der schöne Irrtum des Sommers. Schließen wir ab. Der alte Adam in unsrer Hypothese wird sich einfach die neue Figur, in der er steckt, für seinen Gebrauch zurechtmachen, es wird nicht anders sein, als ein neues Bett.“

Saint-Georges nickte und bekräftigte nachdenklich:

„So ists, wir kommen nie und auf keine Weise aus unsrer Haut.“

Josef, sich zurückbiegend, betrachtete ihn prüfend, dann auch Bogner, sagte dann, leise und eindringlich:

„Lieben Freunde, ist das auch sicher? Wir müßten, vom Anfang bis an das Ende, bleiben, wo, wie und was wir sind?“

Maler Bogner hatte die Hände in den Manteltaschen, sah droben übers Dach hin, sog mit den Nüstern und meinte schließlich:

„Müssen, sagen Sie, müssen? Freilich ist alles festgelegt. Was aber, wenn Sie auch müssen, was hindert Sie, zu versuchen, was Sie nur wollen? Sie wissen ja nichts zuvor.“

„Sie wollen sagen,“ fragte Saint-Georges, „daß Sie ein Maler geworden wären, auch wenn Sie sich damals geduckt und nicht losgerissen hätten?“

„Im Gegenteil, gar nichts wäre ich geworden. Sondern es lag fest, daß ich es auf diese Weise werden sollte, und also wollte ich es.“

Georg fühlte sich zum Umsinken müde und reichte allen Herren die Hand, womit sein Wahrnehmungsvermögen für diese Nacht ein Ende nahm.

Fünftes Kapitel

Stadt

Renate, am frühen Vormittag aus einem Handschuhladen hinter dem Theater tretend, sah höchlich erstaunt von weitem ihre Freundin Ulrika mit Maler Bogner daherkommen. Sie kamen hinter den Pavillons des Cafés zum Vorschein, schritten schräg über den Damm, und Renate verwunderte sich höchlicher, indem es nämlich nicht Ulrika war, die redete, sondern er, der förmlich auf sie einsprach und mit den Armen dazu ‚etwas weniges agierte‘ — wie Hoffmann gesagt haben würde, dachte Renate —, während Ulrika, in einem gelbgrünen jägerartigen Jackenkleid mit Taschen, Gürtel und Riegeln, einen Stock am Arm, in festen gelben Schuhen und einem Jägerhut, mit gesenktem Kopf daneben ging, emsig zuhörend mit jenem Gesicht, das Renate sonst nur an ihr gesehn hatte, wenn sie am Flügel saß; die dunklen Brauen beherrschten es ganz, — aber unten ging sie im Gleichschritt mit dem Maler, schlank und kräftig ausschreitend und immer so windleicht wie Artemis. Renate blieb am Gossenrand stehn, aber erst als die Beiden dicht vor ihr waren, wurde sie von ihnen gesehn und munter begrüßt.

„Was ist das, Ulrika!“ drohte Renate, „ich sehe dich mit völlig fremden Männern umherlaufen!“

„Nicht? Wie unschicklich, Renate!“ lachte sie, „aber höre bloß, nachdem ich gestern diesen Herrn Maler nichtsahnend in der Bahn kennen gelernt —“

„In der Bahn, Ulrika?“

„Ja, durch Mama! also da kommt er heute morgen um acht, schreibe: um acht! ins Haus, läutet wie ein Teufel, und ich sitze natürlich grade im Bade —“

„Bogner, was sind Sie für ein unschicklicher Mensch!“

„Na warte nur, es kommt noch viel unschicklicher, und da schickt er mir ein Blatt aus seinem Skizzenbuch herein, darauf bin ich gezeichnet, wie ich im Bett liege —“

„Wie gräßlich unschicklich, Ulrika!“

„— im Bett liege, und zwar von unendlicher Länge, und auf meiner einen Fußspitze, die unten heraussieht, sitzt eine gerupfte Lerche ganz klein und schmettert mit sperrangelweit offnem Schnabel: Auf—stehn! und über meinem schlummernden Haupt schwebt ein süßer kleiner Heiligenschein von winzigen Noten, und darunter steht: So lang schläft man! und: Wir wollen in die Haide.“

Nun wollten sie sich alle totlachen, auch Bogner, dann bat Renate die Beiden, ein Stück mit ihr zu gehn, sie wolle Magda bei der Uhr treffen, aber indem sah sie auf einmal Magda neben sich stehn, still wie ein Geist und mit ausgelöschtem Gesicht.

„Da bist du!“ sagte sie erschreckt. Magda reichte mit schwierigem Lächeln jedem der Andern die Hand, hing sich dann plötzlich an Bogners Arm und bat: „Erzähle, Benvenuto! Wo warst du so lange? was hast du gemacht? — Wir gehn zur Elektrischen hinüber!“ rief sie zurück, und die beiden Andern folgten, Renate stumm, sie im Auge behaltend, ohne zu hören, was Ulrika verhandelte. Die Bahn, die sie brauchten, kam in Sicht, als sie kaum an der Haltestelle drüben angelangt waren. Renate wollte sich von Bogner verabschieden, aber der erklärte, mitzukommen, um sich ihre Kapelle anzusehn. Warum, sagte er nicht. — Jetzt? dachte Renate stillschweigend, es geht doch etwas vor in dem Hause! aber wer weiß denn, was? So mußte denn Ulrika allein trübselig ihres Weges ziehn, nicht jedoch ohne dem Maler noch zuzurufen: „Also morgen um dieselbe Zeit!“

Im überfüllten Wagen fand nur Renate einen Platz. Was war das nur mit Magda? Da stand sie an der vorderen Wagentür, schmal in ihrem blauen Jackenkleid, in sich zusammengezogen, und sah mit steifem und verlorenem Ausdruck durch die Scheiben hinaus. Heut morgen, dachte Renate, da war sie doch noch wie Bogners Lerche auf Ulrikas Zehenspitze, was kann ihr denn nur unterwegs begegnet sein? Georg? fuhr es ihr durch den Sinn. Sollten sie sich schon ... Sie begriff es nicht und riet herum, immer ängstlicher in dem allgemeinen Schweigen, in dem sie nun zu dritt das Stück Weges bis zu ihrem Hause zurücklegten, denn Bogners Redseligkeit war mit Ulrika davongegangen. — Es darf ihr doch nichts mehr zustoßen, es darf doch nicht! dachte sie gepeinigt. So ging sie ins Haus und, ohne ihre Überkleider abzulegen, in das Verandazimmer, nahm ein kleines Paket aus ihrer Muffe, wickelte es auf, ließ die langen weißen Handschuh ein-, zweimal durch die linke Hand gleiten, und nun merkte sie erst, daß sie in ihrer Sorge um Magda diese selber vergessen hatte.

Bogner stand am Fenster. „Wo ist denn Magda?“ fragte sie. — Sie sei gleich die Treppe hinaufgegangen. —

Dem Dienstmädchen, das, auf ihren Hut und Jacke wartend, neben ihr stand, gab sie diese endlich und trat noch unschlüssig — denn sie konnte den Maler doch wohl allein lassen für eine Minute? — vor den Pfeilerspiegel, um mit dem kleinen Kamm aus ihrer Handtasche über ihr Haar zu fahren.

Überdem ward die Tür von draußen aufgerissen, und Renate sah die riesige Gestalt des Erasmus geduckt, unrasiert, erhitzt, mit überquellenden Augen und einer Stirn darüber, die platzen zu wollen schien. Den Maler bemerkend, machte er einen Ruck von Verbeugung, faßte ihn ins Auge, ging auf ihn zu und sagte mit seiner tiefen und tönenden Stimme: „Bist du das, Bogner?“

Der streckte beide Hände nach ihm aus und sagte: „Alter Erasmus.“

Sie faßten sich.

„Was ist denn das? Ihr kennt euch?“ fragte Renate.

„Aber selbstverständlich,“ erklärte der Erasmus, „wir sind doch alte Schulkameraden!“ Bogner setzte hinzu: „Das ist der, der einmal seinen Vater bestahl.“

Renate hörte es kaum noch, schon auf dem Wege zur Tür.

Fenster

Magda saß, als Renate ihr Zimmer im Oberstock betrat, am offenen Fenster noch in der Jacke, den Hut im Schoß, hinausblickend, aber seltsam leblos, denn im leisen, von draußen hereinstreifenden Windzug wehte das lichte Haar über ihrer Stirn hin und her, — wie Gras über einem Stein sah es aus. Noch wagte Renate nicht, näher zu ihr zu gehn, blieb an der Tür, fragte endlich scheu: „Ist etwas, Kind?“

Kein Wort kam und keine Bewegung. Nun ging Renate zu ihr, lehnte ihren Kopf an ihre Brust und begann wortlos ihre Wangen, ihr Haar zu streicheln, bis sie merkte, daß die Starrheit sich ein wenig löste. Dabei blickte sie verschwommenen Auges in den Garten hinunter, wo noch alles kahl war, dünnes Grün zwischen dem schwarzen Baumgezweig, und unaufhörlich wechselten Wolkenschatten und Helligkeit durch die bewegte Natur. Es war still; der neue, erregende Odem der Lüfte, nicht kalt und nicht warm, floß erfrischend ab und zu, dann hörte Renate erst leise, aus dem Unsichtbaren, die Amsel schlagen. Ach, diese kleine, süß einfältig zwitschernde Stimme in Pausen immer wieder, so einsam, so friedlich, immer der gleiche, kleine güldene Wirbel, der sich, immer ein wenig verändert, um sich selbst zu drehen schien! Ach, diese wunderliche, selbstvergessene Stimme im Unsichtbaren!

Renate legte ihre Wange auf den Kopf an ihrer Brust; einen Augenblick später fühlte sie ihre rechte Hand von Magdas Hand ergriffen und gleich wieder losgelassen. Dann hörte sie ihre Stimme, das Lied der Amsel übertönend:

„Er ...“

Sie räusperte sich, schwieg wieder und sagte dann:

„Ich begegnete ihm in der Stadt. Ich sah ihn — von weitem und — und er mich auch. Auf einmal war er fort, aber — es waren Leute dazwischen — dann sah ich ihn den Weg zurückgehn. Dann war er fort ...“

Sie schwieg wieder still; hatte sie schon alles gesagt? Die Amselstimme aber fuhr fort, mit sich selber zu reden, Pause um Pause, allein sich fragend, allein sich antwortend in ihrer Einfalt.

Magda sagte:

„Und dann sah ich ihn in einem Blumenladen, — als ich vorbeiging, und da wartete ich vor dem nächsten Schaufenster, bis er kam. Und dann — — dann fragte ich ihn: Warum —“ sie schluckte — „bist du mir eben ausgewichen? Er erschrak — etwas und — kämpfte wohl, ob er lügen sollte, aber dann sagte er: Ja ... und — — es wäre nicht mehr wie früher.“

Sie verstummte. Renate hatte sich wieder aufgerichtet. Aus der Tiefe des Gartens leuchtete ein Tulpenbeet flammend rot in ihre verschleierten Augen, zog sich auseinander, erlosch dann plötzlich. Ein feuchter Tropfen wehte gegen ihre Oberlippe, und die Augen hebend, sah sie im tiefblauen Himmel oben eine festgeballte, schneeweiße Wolke mit blitzenden Rändern, hinter der breite, goldene Fächerstäbe von Sonnenstrahlen hervorbrachen. Dann hörte sie wieder die Amsel.

Magdas Hände lösten die ihren von ihrem Gesicht; sie sagte ruhig vor sich hin:

„Er war ja auch gestern abend schon nicht so, wie ich — wie ich gedacht hatte. Und seine Briefe ... Wir hatten uns wohl Beide geirrt.“

Renate trat schweigend von ihr fort und ans Fenster. Auf der Dachrenne des Verandadaches zur Rechten unter ihr saßen zwei Tauben, die sich drehten und putzten. Unten sah sie plötzlich aus der Sonnenuhr ihren Schatten über das Gras hinwachsen, der Rasen glühte goldig auf umher, der Schatten schrumpfte wieder zusammen und schwand. Ein unruhiger Tag, dachte Renate beklommen und schwer, und als die gleichförmige Stimme der Amsel von neuem unverändert an ihr Ohr schlug, fühlte sie sich gereizt und ungeduldig. Ein kleines Geräusch hinter ihr ließ sie sich umwenden. Magda saß und blickte auf den Fußboden, wo ein kleines Paket lag, Seidenpapier, im Fall geöffnet, goldene Bänder darin und blauseidene Strümpfe. Magdas Gesicht war klein, schlaff und farblos, wie sie darauf niedersah.

„Ja, nun ist Hochzeit,“ sagte sie, „Irene ist doch zu dumm!“ und lachte hart, aber das Lachen verwandelte sich augenblicks in Weinen, die Hände vor dem Gesicht bog sie sich, krampfhaft geschüttelt, und als Renate sie umfangen wollte, sprang sie auf, drängte sie zur Tür und ließ nicht ab, sie zu pressen und zu zwingen, bis Renate draußen war.

Eine Zeitlang stand sie noch, die Hand auf der Klinke, die von drinnen festgehalten wurde, und das Schluchzen hinter der Türe hörend, glaubte sie mit Angst und Schmerzen zu sehn, wie das Mädchen drinnen am Türdrücker hing, sich windend und geschüttelt von ihrer Qual.

Dann schlich sie hülflos und leise die Treppe hinunter.

Im Flur unten wurde sie sonderbar erschreckt durch den Anblick ihres Onkels, der in der Kleiderablage stand und sich den Mantel anzog. Bevor sie etwas sagen konnte, hatte er seinen Hut von der Truhe genommen und war, ohne sie zu sehn, obgleich seine Augen durch die ihren streiften, zur Tür und hinausgegangen.

Renate seufzte tief und stand lange, zur Ausgangstür gewandt, gelähmt und unfähig eines Gedankens.

Halle

In der Halle standen Bogner und Erasmus mit dem Rücken zu ihr hin; Bogner in der Tür zur Veranda, Erasmus am Fenster, und Beide in der gleichen Haltung, die sie nun lösten, um sich zu ihr zu wenden. Als wüßte sie nicht, was sie sagen sollte, setzte Renate sich auf einen Stuhl am Tisch und sah die blauen und weißen Hyazinthen an, die dort standen. Erasmus, die Hände auf dem Rücken unterm Rock, fing an im Zimmer auf und ab zu laufen, blieb dann in ihrer Nähe stehn und sagte zu Bogner hinüber:

„So ändert sich die Zeit. Vor dir brauch ich ja nichts zu verheimlichen, obgleich vielleicht morgen schon ... Mit einem Wort, Renate: Wir haben die Pleite. Oder — nein, das heißt, das wollen wir doch erst mal sehn! Aber wenn du, Bogner, heute kämst wie dazumal, dann hielte ich die Finger aufs Portemonnaie, wenn auch Papa ... Na, also die Fabrik jedenfalls steht still, wenn ich sie nicht heut nacht in Brand stecke. All das Lumpenzeug!“

Wie das gekommen, wie das möglich sei, fragte Bogner; Renate war stumm vor Entsetzen und Angst um den Onkel.

„Möglich? Alles ist möglich,“ sagte Erasmus. „Der Alte ist der beste Mensch von der Welt, strahlende Bonhommie, aber keine Spur von Zeitgefühl. Er kann höchstens zusammenhalten, was da ist. Der ganze Betrieb war ein Blödsinn, das wußt ich lang. Lauter Artikel und Artikelchen statt eine große Sache! Eben hab ich nach Berlin telegraphiert an Neumann, — du erinnerst dich an Neumann! Vorsagen tat er bloß, wenn es gefahrlos war, aber sonst war er ein guter Kerl. Der knobelt, wie ich weiß, schon seit Ewigkeit an einer Vervollkommnung vom Lumièreschen Verfahren — du weißt, Farbphotographie, — die Belichtung dauert zu lange, und dann — na egal! — Vor ein paar Wochen hört ich von ihm, er wäre nun gleich fertig. Wenn der also nicht die Erfindung gemacht hat und sie mir aus purer Bruderliebe für ein Butterbrot hergiebt, hab ich nichts in der Hand, um wenigstens eine Aktien— Und der junge Herr, der Baron da oben!“ schrie er jählings in Wut. „Gestern den ganzen Tag und drei Viertel der Nacht hab ich mit dem alten Herrn über den Büchern gesessen. Mein lieber Bruder — weißt du, was der allein für sich gebraucht hat, wo er hier Wohnung und alles frei hat? Na, dein Papa hat mit seiner guten Praxis im Jahr nicht so viel zusammengekratzt. Aber das hört ja nun alles auf. Das Ding da draußen, die Orgel, hat auch eine Portion gekostet.“

Renate sah ihn jetzt das erste Mal zu ihr sich wenden, ohne daß er die Augen vom Teppich hob.

„Aber dir ists wenigstens zu gönnen,“ grollte er. „Jetzt laur’ ich schon den ganzen Morgen auf Josef, daß er sich herabläßt ...“

Ob denn Konkurs angemeldet werden müßte, fragte Bogner.

„Wie gesagt, wenn nicht — dann ist die einzige Hoffnung, daß sich eine m. b. H. zusammenfindet. Papa ist vollständig — vollständig —“ Er starrte vor sich hin.

Wie es denn mit den Gläubigern sei, fragte Bogner.

„Ach, darum handelt sichs ja gar nicht. Wir haben keine Abnehmer, haben überproduziert, seit Monaten keinen Absatz mehr gehabt, meiner Mutter Geld, alles ist futsch, und der ganze Krempel liegt uns da. Und ich sitze die ganze Zeit in Marburg und habe von nichts eine Ahnung. Damit ists natürlich aus. Papa, wie gesagt, ist vollständig — Tausend Teufel!“ schrie er, lief zur Tür und schmetterte ins Treppenhaus: „Emma! Emma! Sagen Sie meinem Bruder, wenn er nicht stantepeh erschiene, würd ich ihn holen! Das ist ja zum Haarausraufen!“ sagte er, die Tür zuschlagend. „Geht in den Garten oder tut, was ihr wollt. Großer Gott, und dann die Hochzeit heute!“

Renate hörte sich fragen, ob es denn notwendig sei, daß sie alle hingingen.

„Ja, bist du vielleicht von Sinnen?“ schrie er aufgebracht. „Ja, wenn sie noch morgen wäre! Das ist ja die verfluchte Schweinerei, daß man keine Ahnung hat, wohin der Hase läuft. Wenn bloß erst die Depesche da wäre! Himmel und Hölle, jetzt wird mirs aber zu bunt!“ Er verschwand; die Tür krachte ins Schloß.

Renate saß völlig gedankenlos, von unsteten Gefühlen durchtost, seufzte schließlich leise und sagte:

„Ja, ja, Bogner, da spielt man seine Orgel und träumt seinen kleinen Leiden nach, und unterdessen ... Mein Gott, der arme Onkel! Was muß das für ein Schlag für ihn sein! Und die Selbstvorwürfe! Um Himmels willen, was ist denn nun los?“

Sie lief zur Tür, öffnete einen Spalt, und oben wurde das Brüllen des Erasmus hörbar. Dann wurde dort eine Tür zugeschlagen, und es ward still.

„Bleiben Sie noch, Bogner!“ bat sie hülflos. „Gestern ahnt ich es ja schon, deshalb war ich so wortarm. Gott, es ist so viel! Nun auch Magda. Sie dürfens ja wissen, Bogner, sie hatte doch wieder einen Briefwechsel mit dem Prinzen, und nun hat sichs heute irgendwie herausgestellt, daß die Gefühle, die er da vorgegeben, oder auch wirklich gehabt hat —“ Sie stockte. „Es klingelt eben, ob das die Depesche ist?“

Sie ging wieder zur Tür, öffnete, wartete; dann kam das Mädchen mit der Depesche. Renate trug ihr auf, nach oben zu gehn und Erasmus Bescheid zu sagen.

Die Depesche lag auf dem Tisch. Renate sah sie feindlich an.

„Ein gefaltetes Stück Papier,“ sagte sie, „sehen Sie, Bogner, so sieht das Schicksal aus.“

Seine Antwort verstand sie nicht, da nun Schritte im Treppenhaus laut wurden. Erasmus trat ein, wütende Blicke umherschießend, und stürzte sich auf die Depesche. Josef erschien, schön angezogen, mit etwas müden Augen, nach unbeschreiblichen Essenzen duftend, unbeeinflußt wie stets, drückte ihr die Hand, winkte aber Bogner nur zu, als gäbe es nun wichtigere Dinge, — oh, immer war er tadellos und paßte sich ein! —

Erasmus, der das Telegramm aufgerissen hatte, warf es hin, stützte die Fäuste auf die Tischplatte und knirschte.

„Nichts!“ sagte er nach einer Weile. „Also noch ein Tag. Morgen will er mir Bescheid geben. Aha, der Filou! Nein, nein, das ist ja klar, die Erfindung ist längst da, er will nur erst andre Angebote abwarten. Und ich hab doch nicht mehr! ich hab doch nicht mehr!“ stöhnte er verzweifelt. Er sah sich um, als ob er in Tränen ausbrechen wollte. Dann schrie er: „Schockschwerebrett, ich werde ihm eine halbe Million hinpfeffern, der Teufel mag wissen, wo ich sie hernehme!“ und lief hinaus.

Kapelle

Renate stand auf und ging bis in die offne Verandatür. Was Josef mit Bogner sprach, hörte sie nicht, aber sie nahm doch den leichten Windzug wahr, der sich um ihren Kleidrock bemühte, und als Wolkenschatten und Sonnengeleucht über die grauen Steinfliesen hinglitten, glaubte ihr immer sehendes Auge den kleinen Windgott zu erblicken, der wie ein kleiner Chinese klumpig mitten in der Veranda saß, drei welke Vorjahrsblätter um sich herumlaufen ließ und über seine nackte Achsel unter ihren Rock pustete, daß sie das kühle Blasen an den Knieen verspürte. Gleich schrak sie wieder zusammen und ging weiter, die Stufen hinunter. Auf dem Rasen liefen die schwarzen Amseln hin und her, pickten mit gelben Schnäbeln; sie hörte die Stare in den unbelaubten Wipfeln, die eherne Scheibe auf dem grauen Sockel der Sonnenuhr glänzte auf und erlosch augenblicklich, fern flammte das Tulpenbeet gelb und rot. Da stand sie und las die alte Zeile im Sandstein:

Vulnerant omnes, ultima necat.

Ach, dachte sie, besinnungslos sich wehrend, ist denn das wahr? — Die Amseln flogen fort, Krokus und Narzissen schimmerten violett, und weiß, und gelb aus dem noch fahlen Gras, das Sonnenlicht erlosch ganz, kühler Schatten hatte alles überflossen, nahebei krähte der junge Hahn, und auf einmal ging ihr der Odem des Frühlings unwiderstehlich durch Mark und Bein, Freudigkeit der süß erneuten Luft, rasche Hoffnung in atemlosem Aufflug, der Vogelruf und der seligmachende Anblick des Sichbegrünens an Strauch und Baum. Fliedersträuche standen da, übersät mit scharfen, feuchten, blanken Knospen. Hinter ihr sagte Bogner:

„Es ist Zeit, sich wie ein Wacholder in die Haide zu stellen und anzunehmen, man hätte Wurzeln.“

„Wollen Sie denn Ulrika wahrhaftig den ‚Flügel‘ ausreißen?“ fragte sie trübe, gedankenlos scherzend. — Bogner sagte, Gott solle ihn bewahren, dann aber ernsthaft:

„Nun wissen Sie ja auch, was damals mich so besonders betroffen hat, als ich Ihren ersten Brief erhielt. Ihr Onkel half mir fort aus dieser Stadt, — Sie halfen mir wieder hinein. Es stimmt vortrefflich.“

Renate, kaum ganz bei der Sache, lächelte matt, verlor aber einen Augenblick darauf fast die Besinnung, als sie — wie zum ersten Male jetzt — seine Stimme hörte, dunkel hinter ihr tönend, eine Stimme aus dem Unsichtbaren. Und — in Schwäche versinkend — dachte sie: Der himmlische Bote ... und wieder: Der himmlische Bote ... Als sie sich dann langsam wieder gewann, hörte sie ihn sagen:

„Dieser Erasmus also brüllt noch genau so wie früher. Damals nannten wir ihn den großen Ajax, und meinen Sie nicht auch, daß er etwas von diesen homerischen Helden an sich hat, denen es nicht einfiel, Ungemach mit unsrer, männlich genannten Schweigsamkeit hinzunehmen, sondern die herausbrüllten, was weh tat? Danach taten sie das Nötige.“

Renate, jetzt in der Kapellentür über den Stufen stehend, eine Hand, leicht erhoben, gegen den Rahmen gestützt, ließ ihr trauriges Lächeln über ihn hinabgleiten, wandte das Gesicht und sah die Fenster drinnen mit ihrer bernsteinfarbigen Verglasung ihr immer sanftes und schönes Goldlicht verbreiten. Hinten glänzte matt die feierliche Anordnung der großen Pfeifen. Nun ging Bogner an ihr vorüber, maß mit leicht ausgestreckten Armen die Breite der Zwischenräume zwischen den Fenstern und erklärte dann:

„Ganz wie ich mirs dachte. Hier müssen Engel aufgemalt werden, am besten Fresken, das wünsch ich mir schon lange, mattfarbene, jawohl, wandelnde Serafim in einer spärlichen Landschaft ganz fern, damit die Musik nicht zu hart aufprallt.“

„Alles, was Sie gern wollen, Bogner,“ sagte sie und ging eilig an ihm vorüber bis auf das Podium, wo sie eine Hand auf das Orgelmanual legte, denn nun konnte sie plötzlich nichts denken, als daß er ja da sei, und was für eine Stimme er habe, und wie gut er aussehe, als sei er aus einem geheimnisvollen Erz gemacht, und durch dieses zog die Angst um Onkel Augustin und um das ganze Haus wie ein schlecht sich wehrendes schwarzes Gewölk, das an vier und sieben Stellen zerriß, und draußen war der Vorfrühling wie eine junge Gottheit überall.

„Wollen Sie nicht lieber gehn, Bogner?“ fragte sie schließlich. „Wir können doch nicht helfen, nicht — ach, du lieber Gott!“ unterbrach sie sich, denn da schwebte Irene in der Tür, noch im Hauskleid, lieblich, gerötet und gelockt wie ein Genius, erregt und strahlenden Auges. Sie flog, ohne sich um Bogner zu kümmern, auf Renate zu, umarmte, küßte und streichelte sie und fragte tändelnd und herumtänzelnd hundertmal:

„Was ist heut für ein Tag? Was ist heut für ein Tag? —“

Renate lachte und sagte: „Donnerstag.“

„Und heut über fünfundzwanzig Jahr,“ sang das Kind, herumtanzend, „heut in fünfundzwanzig Jahren ...“ Und sie faßte ihr Kleid, schwebte mit Menuettschritten vom Podium herunter auf Bogner zu, verneigte sich sieben Male vor ihm, jedesmal tiefer, und sang: „Heute in fünfundzwanzig Jahren, mein Herr, begehe ich meine silberne Hoch—zeit!“

Renate schalt, und Bogner lachte. Da hörte sie auf mit Tanzen, stand grade vor ihm und bat, ihr diesen Herrn vorzustellen. Renate tats, und sie sagte, ihm die Hand schüttelnd, indem sie nach Mädchenart den Arm weit vorstreckte, den Kopf gegen ihn herunternicken ließ und die Knie leicht knixend vorschob, ihre ganze fröhliche Seele in den Augen: „Kommen Sie auch zu meiner heutigen Hochzeit, geehrter Herr?“

Wenn das eine Einladung sein solle, meinte Bogner.

„Eine richtige,“ sagte sie. „Ihr Bruder kommt doch auch mit seiner Frau, und unsre Familien kennen sich doch, seit Ihr Papa geholfen hat, mich ans Licht zu befördern, und wir haben sowieso Herren zuviel, da kommts auf einen mehr oder weniger nicht an. Und nun muß ich wieder weg. Ich wollte dir bloß guten Morgen sagen. Aber du siehst ja so blaß aus! Wie kann ein Mensch heute bloß blaß sein! Eigentlich wollte ich dich holen, damit du meinen Staat bewunderst, das heißt“ — sie flog wieder die Stufen herauf bis an Renates Ohr, in das sie lautschallend hineinflüsterte: „Das heißt, eigentlich wollte ich noch einmal übern Zaun klettern. Nun adieu, adieu allerseits! Adieu Sie, Herr Maler, Sie sind doch der Maler? Also Sie kommen doch? Ganz sicher? Hu, was ist das für ein Teufel!“

Erasmus stand in der Tür, blaurot und mit geballten Fäusten. Er brachte eine Zeitlang keinen Laut hervor, während Irene ein paar Schritte entfernt von ihm, zu einer Art Tanzpose erstarrt, mitten im Raume schwebte; endlich:

„Entschuldigen Sie, Fräulein von Herzbruch, ich habe mit meiner Kusine zu reden.“

„Ich geh ja schon, hu!“ sagte sie und näherte sich ihm vorsichtig, — „oller Bär! oller Wolf! oller Menschenfresser!“

Sie gewann im weiten Bogen um ihn die Tür, flüchtete hindurch und verschwand.

„Um Gottes willen, Erasmus,“ stammelte Renate nach angstvollen Sekunden, „was ist denn?“ Er stand da, geduckt und eingestemmt, wie ein geblendeter Stier. Er keuchte:

„Da! sieh’s dir selber an. Der junge Herr ist übergeschnappt. Jetzt schlägts dreizehn. Jetzt werd ich gleich dreinschlagen.“

Josef wurde hinter ihm sichtbar, ein wenig bleicher als zuvor, ging bis zu Renate, die am Rand des Podiums stand, und wollte ihr etwas zuflüstern, als sein Bruder in ein solches Wutgebrüll ausbrach: „Hier wird nicht geflüstert, du Lümmel!“ daß die Orgel, wie aus dem Schlaf geweckt, zu murren begann. Bogner trat jetzt stracks auf Erasmus zu und sagte zu ihm:

„Ich glaube, du brauchst was von mir.“

Da beruhigte er sich im Augenblick und antwortete geradezu: „Jawohl.“ Er streifte Renate mit einem unterwürfigen Blick und fuhr fort:

„Vor fünfzehn Jahren hat mein Vater dir was gegeben. In den Zeitungen steht, was du vom Herzog bekommen hast; aber das giebst du mir, nicht meinem Vater. Was du hast, Renate, muß ich auch haben, ich nehme, was ich kriegen kann. Dann hab ich die Anzahlung heraus. Dann muß geschuftet werden, daß die Balken krachen.“

Er reichte Bogner die Hand und sagte: „Besten Dank. Ich habe schon an Neumann telegraphiert.“

Darauf winkte Bogner Renate zu und ging.

Minutenlang standen sie nun alle Drei ohne zu sprechen. Renate auf dem Podium hielt die Arme an den Seiten heftig niedergestreckt mit nach unten gedrückten Handballen, die Finger nach oben angehoben, so daß ihre Brust sich spannte und füllte, während der Kopf sich von selber nach hinten neigte. Erasmus zu tadeln, wagte sie nicht, weil in all seinem Getobe etwas war, das ihr Herz bewegte; auch war es klar, daß seine Entschlossenheit ihrer aller Schicksal angepackt hielt. Wie ein schwerfälliger Dämon stand er unten mit hängenden Armen. Bogners Worte von seiner Malerei und der Musik fielen ihr ein, da sie Josef zwischen zwei Fenstern an der Wand lehnen sah, nicht unteilnehmend, sondern aufmerksam, den Kopf leicht gesenkt, als ob er horche, und fast bekümmert.

„Was ist zwischen euch geschehn?“ fragte Renate endlich, unfähig, nur einen von Beiden anzureden.

Josef sagte, da sein Bruder schwieg, was ihn angehe, so sei er hergekommen, um zu verhindern, daß sie mit dieser Sache behelligt werde.

„Ich bin aber kein Engel!“ rief sie nun doch zornig und funkelnd. „Was soll das alles! Wenn ich erst ein halbes Jahr dies Haus unter mir habe, so hat deine Taktlosigkeit noch keine Ursache, mich hinauszustellen, im Augenblick, wo es erschüttert wird.“

Wenn sie auch seine Meinung mit ihren Worten verdreht hatte, so wußte sie doch, daß sie ihn traf mit der ‚Taktlosigkeit‘. Sich aufrichtend, sagte er kühl:

„Ich habe meinem Bruder eben mitgeteilt, daß die plötzliche Veränderung in unserm Hause für mich die langerwünschte Gelegenheit bedeute, es zu verlassen.“

Renate wußte in diesem Augenblick nur, daß ihr Onkel an nichts in der Welt hing außer an Josef, und versetzte kalt und hart, er wolle seinen Vater augenscheinlich umbringen.

„Augenscheinlich paßt es ihm nicht,“ erklärte Erasmus mit gewaltsamer Ruhe, „eine Stellung unter seinem Bruder einzunehmen, nachdem sein Vater die Sache in meine Hände gelegt hat.“

Josef antwortete, das sei nicht der Fall; er habe doch nie etwas gegen seinen Bruder gehabt, im Gegenteil, ihn stets geachtet und geehrt, wie er auch nie ein Wort dagegen geäußert habe, daß er, Josef, ins Geschäft gesteckt worden sei, während der Erstgeborene studierte.

Mit keinem Wort brauste Erasmus auf, doch bloß, weil er zu träge gewesen sei, um sich zu widersetzen, was er später mit seinem ganzen verlodderten Dasein —

„Ich bitte dich, Erasmus,“ klagte Renate, „sei doch einen Augenblick ruhig, was soll denn daraus werden?“

„Ich will nicht ruhig sein, verdammt noch einmal!“ schrie er, „und was daraus werden soll? Mores lehren werd ich den Burschen, und wenns nicht anders geht, mit der Hundepeitsche! Im Geschäft hast du jahrelang dagesessen und jeden Tag drei Stunden Zigaretten geraucht, das war deine Arbeit. Nun willst du dich drücken, weil Vater dir alles hingehn ließ, und weil du weißt, daß ich den Teufel tun werde und dir noch einen Pfennig für deine Scharteken und deine Huren bezahlen!“

„Darf ich dich hinausführen, Renate?“ fragte Josef.

„Laß nur, Josef, dein Bruder spricht wohl etwas grob, aber er hat doch nun auch die ganze Last.“

„Ich versteh ihn sogar. Ich habe Geld verbraucht, ich habe andre Neigungen als er, und bisher war das Geld dazu da. Was hat es für einen Sinn, jetzt zu lamentieren, weil es in Zukunft nicht mehr da sein wird, und ich habe soeben erklärt, daß ich es nicht mehr haben will. Ich hätte ja auch längst verheiratet sein können und —“

„Ja, mit deiner Tänzerin oder Kokotte,“ dröhnte Erasmus. „Zum Tempel hätt ich sie hinausbefördert!“

Unter der Wölbung sammelte sich der Lärm zu einem lang nachhallenden Summen. Josef fuhr fort:

„Die wirklichen Dinge sind von all dem, was mein Bruder sagt, so weit entfernt, daß ich nicht bis zu ihm hinüber sprechen kann. Ich habe ihm meine Absicht ausgesprochen, meiner Wege zu gehn, und zwar mit einer geringfügigen Summe, von der ich nicht leben kann, und auch die ziehe ich mit Vergnügen zurück; mein Fortkommen finde ich überall. Warum will er mich halten?“

Renate zitterte innerlich über diese Leichtigkeit der Taktik Josefs, der seinen Bruder mit einer einzigen kleinen Wendung zu Boden schlug, indem er nicht mehr ihn, sondern sie anredete. Erasmus stand und schnaufte.

„Weil — weil —“

Er brachte nichts heraus, rollte die Augen und fing auf einmal an wie ein ganz Verlorener die Hände zu ringen, bis es ihm scheinbar gelang, etwas für ihn Fürchterliches hinunterzuschlucken, und er schrie: „Weil er gebraucht wird!“

O wie war es kläglich, daß er nichts konnte, als nun seinerseits ‚er‘ zu sagen.

„Hab ichs ihm nicht zwanzig Mal gesagt? Soll ich vielleicht alles allein machen? Soll ich mir für neuntausend Mark einen Prokuristen halten?“

„Mir wolltest du nicht so viel zahlen?“

„Hohngelächter der Hölle! Dreitausend Mark, und keinen Heller giebts mehr! Dein Liebchen wird schon einen andern Liebling finden.“

Josef zuckte die Achseln voll unsäglichen Bedauerns, und Renate verlegte sich aufs Flehen. „Josef, lieber Josef!“ bat sie, „denk doch an deinen Vater! Hast du denn gar kein Gefühl?“

„Kein deplaziertes,“ sagte Josef.

„Bursche!“ schrie sein Bruder, „Bursche! soll ich dich Gefühle lehren! Achtung vor deinem Vater oder —“ Er drang mit erhobenen Fäusten auf ihn ein; Renate, vom Podium herunter, warf sich vor Josef, der einen Augenblick wie zerschmettert auf den Erasmus starrte, sich dann aber sanft von Renate losmachte, auf ihn zuging, ihm die Rechte auf die Schulter legte und leise zusprach:

„Lieber Bruder, noch ists nicht so weit. Laß mich jetzt meiner Wege gehn. Ich entgehe dir nicht. Laß mir noch drei Jahre Zeit, dann werde ich wiederkommen, und du kannst mit mir tun, was du mußt.“

Er stand noch einen Augenblick bei ihm, nickte ihm brüderlich in das fassungslose Gesicht, ging langsam durch den Raum, die Stufen hinunter, und verschwand. — —

Erasmus blieb in seiner Haltung wie vor den Kopf geschlagen. Nach einer Weile drehte er sein ungeschicktes Haupt hin und her, als versuche er, ob er losgemacht sei, schüttelte sich, ging auf das Orgelpodium, fiel auf den Stuhl und legte das Gesicht in die Hände. Renate — sie wußte nicht mehr ein noch aus — folgte ihm lautlos und begann seinen Kopf zu streicheln, fast ohne daß ihre Hände ihn berührten. Sie bebte an allen Gliedern; etwas in ihr war Josef nachgegangen. Erasmus aber richtete sich auf und begann zu sprechen.

„Du weißt ja viel zu wenig,“ sagte er. „Da sitze ich vor deiner Orgel, — welch eine Zusammenstellung! Ich wars, der hier den unanständigen Radau gemacht hat, wo sonst die Engelstimmen umhersegeln. Und dabei — für wen das alles? Mein Vater hat dies Haus nicht für dich gebaut, und dennoch — —! Wir sind Söhne; die bauen selber. Also soll er gehn mit seiner gepriesenen Ehrfurcht vor dir. Warum war ich auch so wütend? Er hat ja recht, er gehört nicht ins Kontor, ich gehöre hinein. Nein, die Worte waren es nicht, mit denen er mich eben entwaffnet hat; das war die Erinnerung. Ich bin ja als Junge schon mit dem Messer auf ihn losgegangen. Und er sagte nur, so sanft und nachsichtig wie eben: Bruder Erasmus! und ich hätte mich mit Wonne selbst erdolcht. Ist er vielleicht ein Mensch wie ich? Es ist, als wär er gesalbt, und ich hab ihn je und je geliebt. Er war der schönste, gefährlichste Knabe, er bezauberte mit dem Spiel seines Mundes, und ich weiß nicht: ist er wirklich so gefühllos, wie ich ihn gemacht habe, damit ich ihn hassen lernte? Dafür weiß ich, daß, wenn ers verlangte, ich für ihn arbeiten wollte, bis ich tot umfiele, — gesetzt, ich bringe ihn nicht zuvor um. Aber das scheine ich ja nicht zu können. Satis superque. Tu mir einen Gefallen, Kind, geh zu ihm hinauf, sag ihm, er soll seine Sachen packen und morgen nicht mehr vorhanden sein. Ich könnte mich sonst —“

„Ach, nun ärgerst du mich, Erasmus,“ sagte sie liebevoll. „Still! Sag mir nur: kann ich nichts tun? Kann ich nichts nützen?“

Er sah sie mit einem langen Blick von oben bis unten an, so daß sie errötete, ohne daß sie dieses Mal aufbegehren konnte wie zuvor gegen Josef.

„Du?“ sagte er dann, als dachte er ganz andre Dinge. Dann schnob er ärgerlich:

„Wer von uns Beiden ist denn nun der größte Schuft? Wenn er noch von meiner Mutter wäre, — da ist aber diese Jüdin ... Oh ist das nun nicht zum Totlachen? Ich bin der Letzte vom alten Adel und kann nun den Krämer machen und die Reklametrommel schlagen. Was denn zum Henker geht mich diese verfahrene Fabrik an! Er geht seinem Blut nach, und ich —“

Er stockte und sagte verlegen, in eine Ecke sehend: „Du bist doch als guter holder Geist in dies frauenlose Haus gekommen, wie sollt ich mich denn weigern, es zu erhalten!“

„Ja, ja!“ sagte sie hastig, „aber nun laß uns in andrer Richtung gehn!“ Da erschrak sie vor seinen traurigen Augen und hörte ihn gequält sagen:

„Warum soll ich dirs nicht gestehn? Nicht wegen der lumpigen paar tausend Mark hab ich ihn halten wollen, sondern um seines Vaters willen, der ihn braucht, ihn, und nicht mich, und wenn ich mir das Blut unter den Nägeln hervorarbeite, so dankt er mirs doch nicht mit dem Herzen, sondern das läuft seinem ägyptischen Josef nach: ‚Ein wildes Tier hat ihn zerrissen!‘ — Und das bin ich.“

Renate schauderte, wie er sich in sich hineinwühlte. Sie sah eine abgründige Wunde, — mit Sanftmut, mit Langmut zu schließen — wie schaurig!

„Ach!“ entfuhrs ihr, „warum bist du ihm nicht ähnlicher!“

Da machte Erasmus gemeine Augen und fragte sie, warum sie ihm nicht nachlaufe; danach duckte er sich.

Sie sagte nichts. Sie stützte eine Hand auf das Manual und blickte zu den Orgelpfeifen hinauf. Droben erschien Bogners verschlossenes Gesicht; aus den Augen kam Orgelmusik.

„Oh verzeih, Erasmus,“ sagte sie leise, „ich vergaß, was du zu leiden hast.“

„Oho!“ schrie der Erasmus, „das ist ganz was Neues! Ich hätte was zu leiden!“ Er lief großspurig auf der Empore hin und her. „Ich steh nun schon noch meinen Mann. Das sind gefälligst bloß Sachen, Sachen! Wo ich meine Pflicht tun kann, da hab ich mein Haus, basta, verstanden! Ich werde mit allem fertig. Und dies Haus kommt mir wieder in die Höhe, gefälligst! Was du zu tun hast, will ich dir sagen. Die Nächte kannst du meinswegen um Onkel und Vetter weinen und so, tags aber schön sein, verstehst du mich, und Orgel spielen, und Blumen ordnen, schöne Kleider tragen und meinem Vater in die Augen lächeln. Also wie wird das werden?“ Er rechnete mit den Fingern. „Morgen wer’ ich in der Stadt herumlaufen und Gelder zusammentrommeln. Mir geben sie’s schon. Seidel und Mager, — na, das ist egal! Herrgott, wenn sich die Aktiengesellschaft vermeiden ließe!“

Renate traten die Tränen in die Augen. „Was wird nur dein Vater sagen?“

Darauf käme es gar nicht an, schnob Erasmus, er habe nun einmal die Schuld, schuldlos, wie in der Tragödie, und er könne froh sein, wenn sich die Sache überhaupt einrenkte. „Und das sind wir dir schuldig.“

„Ich, und immer nur ich!“ klagte Renate, nun ernstlich erbittert.

Ob sie meine, daß man ihr Wohltaten erweisen wolle; seine und des Vaters Schuldigkeit wäre das, sonst nichts. „Armer alter Mann!“ murmelte er dann doch, „ein dreifacher Schlag, Josef eingerechnet, wenn sie ihn als Direktor anstellen. Du kannst dir ja denn jedes Jahr ein Kleid weniger machen lassen und die Butter dünner aufstreichen. Na, denn also an die Arbeet! Meine Studenten werden sich wundern über die Leere meines Katheders im nächsten Semester; schön, brauch ich mich nicht mehr über die Leere meines Hörsaals zu wundern. Mein Mund ist ganz fusselig geworden von aller Rederei. Aber wir werden glücklich sein, wenn wir dich im Garten sehn und deinen Gang —“

Da er nicht mehr besinnungslos sprach wie zuvor, verwirrte er sich nun, schüttelte den Kopf und ging eilends zur Tür, wandte sich jedoch, kam gefaßt zurück und bat, unter ihr stehend, aufschauend zu ihr mit guten, ängstlichen Augen:

„Geh noch einmal zu Josef! Vielleicht hab ichs nur falsch angefangen. Versuch du’s noch einmal! Du hast ja Gewalt über Menschen.“ Er ging fort.

Sie blieb auf der Empore stehn. Durch die bernsteinfarbigen Fenster füllte das wechselnde Licht den Raum mit breiten Wänden von Goldrauch. Sie selber stand in solch einer schimmernden Wand von Millionen vergoldeter Atome, sie mußte sich selbst sehn im kleinen Spiegel über dem Manual, sah sich leuchten und daß sie wie eine Göttin in der Wolke stand, — und war nicht vor Minuten erst Irene hereingetänzelt, schillernd wie eine Götterbotin, um ihre Hochzeit anzusagen? Oh Magda, dachte sie, warum hast du nur das geschrieben damals! Nun kann ich ihn nicht anstrahlen mit allem, was ich habe, und vielleicht geschiehts nur darum, daß er mich nicht sieht, — sieht er mich denn? Wie ich ihn doch gleich erkannt habe, gestern im Dunkel ... Sie schreckte auf. „Josef wird mir doch sehr fehlen,“ sagte sie leise und ertappte sich darüber, daß sie ihn sich schon ferne dachte.

Ein Schatten wanderte ruhig durch den Raum, nahm die goldenen Wände wie große Garben auf und fort; aber hinter ihm richteten sie sich jubelnder auf. Draußen war ein Gezwitscher wie von hundert Vögeln; hoch oben frohlockte die schwarze Amsel. Renate verlor sich. Ihr war zum Sterben schwer zu Sinn, und so ging sie mit ihrem langsamen Gang und mattem Herzen, um mit Josef zu reden.

Erker

Renate trat ein. Ferne, am Ende des lang vor ihr liegenden Raumes stand Josef, ein wenig links in der gotischen Fläche von lichtem grünem Glase, die über ihm zur Spitze zusammenlief. Hastig und wie zur Sammlung blickte sie noch einmal umher, bemaß die schulterhoch an den beiden langen Wänden sich hinziehenden Borde voller Buchrücken mit den tannengrünen Vorhängen, fing aus den farbigen Holzschnitten darüber den Umriß eines blauen Berges, ein fremdartiges Gesicht auf, und während sie an Sesseln und Tisch vorüber bis zum Erker vorschritt, hörte sie nur, wie er langsam gesagt hatte: „Renate ...“ Es hallte in ihr nach, es bewog sie schon. Dann sah sie sein Gesicht, das gepanzert schien mit allen Zaubern seiner Männlichkeit, und sie warf einen Blick durch eines der kleinen Quadrate im Fenster, das dicht neben seinem Gesicht geöffnet war: nur blauer Himmel und leichtes Gewölk war darin. — Er rückte einen alten Stuhl mit hoher und steifer Rückenlehne voll Silberstickerei auf grauem Grunde etwas anders, und sie setzte sich. Da sprach er auch schon.

„Nun wollen wir von der Liebe reden,“ sagte er mit leichter Bestimmtheit. „Gäbe es hierzu einen Tag, wenn nicht den heutigen? Jeder redet heute von Liebe, dieweil es Frühling ist, jeder von der seinen, und alle herrlichen Reden münden in die eine und sind die eine. Ach, es ist wohl Frühling! Du siehst ihn überall, du hast ihn, du trägst ihn. Da, schau durch dies kleine Quadrat hier unten —“ er öffnete eines in ihrer Kniehöhe und schaute mit ihr hindurch — „was erblickst du? Kleine Pferdchen, die auf einer Wiese herumlaufen. Das ist der Frühling. Warum sollten kleine Pferdchen auf einer Wiese nicht der Frühling sein? Mein Rock, der flaschengrüne, ist Frühling durchaus, und du, hast du nicht Brust und Schultern in goldene Seide eingeschlagen? Holdes Wesen, sage mir an: Glaubst du, daß einer schweigen könnte vor deinem Mund an solch aufbrechenden Tagen?“

Renate, alles mit Kraft verscheuchend, was sie verscheuchen wollte, lächelte mit ihrer stärksten Kunst zu ihm auf, denn dies, wußte sie, war die einzige Rettung. Er stockte denn auch alsbald, lehnte sich in den Fensterwinkel zurück, streckte beide Arme wagrecht nach links und rechts, die eine Hand ins Paneel, die andre in den Eisenrahmen des offnen Quadrates krallend, und lächelte hinwieder, bestrickender, gütiger, ihr Lächeln niederzukämpfen mit dem seinen, und sie dachte: Wie lange halt ich stand? Noch halt ich stand. —

„Sage mir, wen du liebst, Renate,“ begann er von neuem, „und ich will ihn dir beschreiben. Ich will ihn dir mit Feuer auf Gold malen, und du sollst dich funkeln sehn rundum von seiner Herrlichkeit. Ach, sieh doch, Renate,“ sagte er, seine Augen bei jedem dritten Wort seitwärts schleudernd, um einen lohen Pfeil nach dem andern nicht in ihr Gesicht, sondern nach den Umrissen ihrer Gestalt abzuschießen, als wäre er ein Indianer und sie am Marterpfahl, „sieh doch, ich könnte mich loslassen auf dich mit all meiner Gewalt, aber hältst du mich für fähig, einen Angriff zu unternehmen ohne Gewißheit des Sieges? Habe ich nicht meinen armen Bruder Erasmus besiegt mit einem einzigen Seitenhieb? Da kommst du nun als seine Botin, weißt, daß es nur des winzigsten Wortes bedarf, um mich wie den ersten besten Sperber auf deinen Handschuh zu fesseln, aber du sprichst das Wort nicht. Ich weiß alles.“

Sie ließ nun alles fallen und sagte einfach: „Ich wollte dich für Erasmus und deinen Vater bitten, das nicht zu tun, was du vorhast.“

„Nicht von der Liebe zu reden, heute,“ sagte er betrübt, „das ist traurig. Dann also vom Aufbruch. Auch Liebe ist Aufbruch sondergleichen; von Sonnenaufgang her, vor Hahnenschrei kommen die Liebenden und wollen die Welt durchmessen in einem Augenblick. Sie brechen auf mit den Winden, sie reisen geschwinder als Wolken, kein Vogel fliegt ihnen voraus. Sie schweifen und denken an nichts, sie denken, daß sie schweifen und ergriffen sind von Wind und Natur. Heute bricht alles auf mit dem liebenden Herzen, bricht durch die Wände des Daseins, die sehr verengten, und stürmt. Warum erschrickst du? Rede ich von uns?“

Renate, die nicht gewußt hatte, weshalb sie zusammenzuckte, erschrak nun wirklich bei dem jählichen ‚uns‘, aber ein heimliches Wetterleuchten zeigte ihr den guten Weg. „Sage mir, — was ist sie für ein Mensch, die, mit der du —“

„Völlig geschlagen,“ bekannte Josef mit Würde und bat um die Erlaubnis, rauchen zu dürfen. Als die Zigarette brannte, begann er nachdenklich:

„Ich hoffe, du hältst sie für keinen besonderen Menschen, weil sie für unschicklich geltende Dinge tut. Viele gutherzige Frauen gaben schon einen Geliebten hin für einen Ehemann wegen Leibes Nahrung und Notdurft, und sie wollte lieber Nahrung und Notdurft für ihr liebes Herz. Sie war eine Tänzerin und brach den Fuß. Nun stopfte sie Strümpfe für viele Geschwister, da nahm ich mich ihrer an, tatsächlich nur, weil sie mich dauerte, erst später gewöhnte ich mich an sie, und paßt sie nicht gut zu meinem Dasein in einer solchen Stadt? Sie ist glücklich.“

„Armer Josef!“

„Sie ist“, fuhr er ungerührt fort, „glücklich, denn sie war schon fünfundzwanzig Jahre alt, leidet an völligem Mangel an Koketterie und wäre als Frau eines Mannes aus ihren Kreisen so bald bitter geworden wie als alte Jungfer. Sie ist glücklich, soweit ein Mensch das sein kann im Leben eines Andern, denn wären wir verheiratet, so würde sie doch an hundert alltäglichen Leiden kranken, und jetzt krankt sie nur an dem einen — nicht mit mir verheiratet zu sein. Alle Ehen kranken daran, daß sie in Räumen vor sich gehen, die unsere aber haust in Zwischenräumen wunderbar. In einem und demselben Zimmer entblößen zwei verheiratete Menschen sich schamlos, ohne Liebesnacktheit, verrichten die eigenhändigsten Dinge voreinander und bringen es fertig, den Odem ihrer Schlummerleiber im Dunkel zu kreuzen, da fällt auch von ihren kümmerlichen Seelen jegliche Bekleidung, und sie müssen an zu bellen fangen vor Ärmlichkeit und Schande. Ich bedenke ihre Wehrlosigkeit und habe sie niemals gekränkt, außer einmal am gestrigen kranken Tage. Sie wird immer zu herrschen suchen, solange sie nur ihre Person einzusetzen hat und nicht ein Gesetz, das ihr verschaffen würde, was sie grade von mir haben will. Sie fühlt sich als Ausnahme, und das giebt ihr hundert Rechte ...“

„Glaubst du denn im Ernst, Josef, daß dies sich so verhält?“

„Gewiß. Zugespitzt, schlackenlos, wie ich es ausgedrückt habe, wäre es das Ideal.“

„Es sind aber doch gerade die Kleinigkeiten, die geringfügigen Widerspenstigkeiten des Daseins, die —“

„Und gerade die sind es, die wir vermeiden, indem wir in Intervallen leben. Uns ist nichts gemeinsam als das Gute, mit dem wir uns beschenken, wenn wir uns wiedersehn, durch Freude des Wiedererkennens, durch Nähe des Scheidens, durch die Schmäle des Zeitraums ganz ohne unser Zutun zu jeder Güte, jeder Zartheit, jeder Verzeihlichkeit, jeder Nachgiebigkeit bewogen, und immer ist unser kleines Weltgeschehn um ein weniges verändert, worüber wir uns zu verständigen haben. Was wäre angenehmer, ja entzückender, ja notwendiger, als einander hier und da und immer wieder fremd zu werden, neu zu werden? Ach, Renate, wie erst würde ich dich anbeten, wenn ein Gott mir dazu verhülfe, dich jede Nacht zu vergessen, dich jeden Tag von Grund aus neu aufbauen zu können!“

Da hatte er sich, wie ein Bumerang, wieder auf dieselbe Stelle zurückgeschwungen. Renate aber fand ein andres Mittel, flammte ihn zornig an und sagte:

„Beschreibe mir deine Liebe, Josef, wenn du meinst, ich sei dazu heraufgekommen.“

Langsam nahm er seine Augen aus den ihren fort, wandte sich und sah durch die Fensteröffnung. In dieser Stellung sagte er nach einer Weile halblaut:

„Wie die Wolke steigt, läßt sich berechnen, ja, der Flug der schwarzen Amsel ließe sich eher erraten als die seltsame Richtung des menschlichen Herzens. Es ist häßlich eingerichtet. Wenn ich als ein Engel vom Himmel käme, so würdest du mich doch nicht lieben, aber wenn du mich liebtest, würdest du mich für einen himmlischen Engel ansehn, denn nur, was es freiwillig will, tut das Herz. Ein Mensch kommt deines Wegs entgegen, und er ist schon ein Abgrund, in den du gestürzt bist ahnungslos, und dort blickst du in eines Menschen Brust als in den verlockendsten Schlund, aber du hütest dich wohl am Rande. Ich weiß, wir sind nicht füreinander bestimmt. Dies aber, siehst du, Renate, dies ist der schaurige Mangel in deiner Schönheit. Sie stiehlt dir deine Seele. Nichts spürt der dich Liebende als diese deine Schönheit; dein Herz, deine Seele höchstens als eine liebliche Glorie um den Kelch, aber nicht als mehr, und es ist nichts in ihm als Hingerissenheit, Brand und Verlangen nach dir, die da sitzt in einer goldenen Bluse. Die schwarze Amsel stürzt ins Pharuslicht beseligt, dies ist alles. Wie du gehst und stehst, wie du issest und trinkst, wie du lächelst und mit der Hand in dein Haar faßt, alles das ist gewaltig ganz allein und wendet das Herz um und um in der Brust, — wozu brauchtest du eine Seele? Für dich allein, was nützt sie dir? Niemand sieht sie, niemand will sie sehn, aber deinen Fuß zu küssen, dafür wären einem sieben Seelen feil, wenn man sie hätte.“

Auf einmal hatte er ihre Hände sanft aufgenommen und im Schoß zusammengelegt; er sagte, während sie an seinen Augen hing:

„Wenn ich anderthalb Jahre fortgewesen bin, glaubst du, daß du mich dann — kennen wirst?“

Renate fühlte sich plötzlich unsagbar müde, als habe sie die ganze Zeit eine eiserne Stange mit ausgestrecktem Arm gehalten. Sie schloß die Augen, sah, sie wieder öffnend, daß Josef nicht mehr vor ihr war, und dachte ergeben: Wie wunderbar! Ich hatte ja erwartet, daß er mich überzeugen würde, wie notwendig sein Fortgang für alle sei, aber daß er mein Herz zu sich umwenden würde wie eine Blume am Stiel, das dachte ich nicht. Und wozu nur das alles, und warum ist das, daß ein Herz sich so weit biegen läßt, und man weiß doch, das letzte Stück Weges wird nicht gelingen?

„Sieh, Josef,“ sagte sie leise, „was ist nun das für ein Triumph für dich, daß du mich hier schwach gemacht hast? Es war so unnötig, finde ich. Du kannst mir aber nun ruhig sagen, warum du fort willst.“

Sie hörte ihn leise lachen hinter ihrem Rücken und gleich darauf seine Stimme, völlig verdunkelt und ernst: „Ich habe dich eben etwas gefragt.“

Sie schlug die Hände vor das Gesicht. Sie dachte inbrünstig an Bogner und glaubte jetzt zu wissen, daß er niemals kommen würde. Sie verzweifelte, es brauste um sie, es schien ihr unmöglich, nur eine Woche auf ihn warten zu können, weil er niemals kommen würde; sie fühlte, daß Josef vor ihr stand, und hörte ihn sagen, auch sie werde ja nicht anders sein wollen als die Andern: einen Mann, ein Haus, ein Kind, ein sogenanntes Glück, — „habe ich dir weh getan?“ schloß er, und obgleich sie fast staunte, daß er eine dermaßen plumpe Falle stellen konnte, war sie ihm nicht gram, sondern ließ nur die Hände vom Gesicht fallen und sagte erlöschend:

„Weh? Nein, du hast nur meine Antwort nicht abgewartet.“

Nun wars still. Sie stand auf und blickte in die dunstige Mittagslandschaft hinunter, sah die kleinen Pferde zwischen Wasseradern herumtraben, sah einen Zug, wie er winzig klein über die schnurgerade Linie des Bahndamms hingezogen wurde, und die Qualmstreifen der fernen Fabrikessen langsam und friedlich nach Osten ziehn.

„Du fragst zu spät, Josef,“ sagte sie müde.

Eine kleine Zeit darauf hörte sie ihn aus dem Hintergrund des Zimmers in beinah kaufmännischem Tone sagen:

„Also weißt du nun die Gründe, weshalb ich gehe, alle drei. Mein Dasein verengte sich hier bis in den Gang, wo dein Name geschrieben steht. Heut geh ich, weil es mir nobel erscheint, arm zu gehn. Wozu denn überhaupt die großen, alles hochschnellenden Worte! Gehe ich für ewig? Scheide ich unversöhnlich? Und hältst du meinen Vater schließlich, ganz abgesehn von seiner Liebe zu mir, für einen Menschen, der kein Verständnis dafür hätte, daß ich hier wie eine Quecksilberkugel auf eine schiefe Ebene gelegt bin?“

Freilich, dachte Renate, die sich langsam wieder gewann, er geht nicht für ewig, und dies alles ist wohl nur durch Erasmus so aufgetürmt.

„Jeder Schritt, jeder kleinste, zu etwas hin,“ hörte sie ihn hinter sich sagen, „entfernt dich von etwas andrem, und somit ist es nicht möglich, in dieser Gemeinschaft nur das geringste tun zu wollen, ohne eine Schuld auf sich zu laden. Da es nun ohne Schuld nicht abgeht, so will ich, daß es diese sein soll.“

Renate aber hatte wohl die Worte, aber nicht ihren Sinn vernommen, wandte sich jetzt, plötzlich überleuchtet vom eigenen Triumph, sah ihn mit dem Rücken an die Bücherwand gelehnt, seltsam einsam und verloren aussehend, und sagte, nahe vor ihn tretend, mit Nachdruck:

„Ich werde dich niemals lieben, Josef.“

Er lächelte kärglich, in seinem Gesicht bewegte sich etwas Sonderbares, das sie ergriff, so daß sie die linke Hand auf seinen Kopf legte und ihn langsam hinunterpreßte, bis sein Mund ihre rechte Hand berührte. Währenddem sagte sie, nun zärtlich vor Mitleid:

„Du hast als Knabe niemals zu weinen gebraucht, mein guter Junge, und deshalb hast du es nie gelernt, und deshalb weißt du auch in diesem Augenblick nur dunkel, was Weinen ist. Vielmehr ist dir sonderbar wohl, indem du bedenkst, daß du heute das erste Mal unterlegen bist, — fast könnte dich das trösten.“

Sie ließ zu, daß er ihre Hand mehrere Male mit den Lippen berührte. Er lächelte, als er aufsah, als sei er nun befriedigt, und sagte leise:

„Wie so selig doch auch mitten im Leide mir ist ... dieses Zitat schwebte dir vor. Warte, ich will dir noch einen Vers von mir sagen, den ich in diesem Augenblick gemacht habe: Du fremdes Kind! — In deinen Augen spiegeln sich die Sterne — Auch tags, wenn sie dem Aug nicht sichtbar sind.“

„Danke!“ sagte sie.

„Oh bitte!“ sagte er, und sie lachten Beide, leise, herzlich und wie Versöhnte, — während vor Renates verschleierten Augen die sanfte und grüne, gotische Glaswand, leuchtend golden von der Sonne, sonderbar zu beben und zu schwellen schien vom Strom aller Worte, der an ihr hinaufgerauscht war, — worauf er die Uhr zog und sagte: „Halb eins. Wir müssen uns anziehn.“

Sie nickte ihm zu und ging leicht und leise hinaus.

Im Treppenhaus oben blickte sie, auf das Geländer gestützt, in den Schacht hinunter. Ihr Herz schlug auf einmal mächtig in der Brust an, sie hörte Josefs ‚wir‘, das belanglose, das er zuletzt gesagt, und mit dem er sie beide doch nach dem Kampfe zusammengefaßt hatte, als hätten sie die ganze Zeit nur benützt, um Freunde zu werden. Aber in diesem Augenblick legte sich die Erinnerung an den Onkel und Magda wie ein dumpfer Ring um ihre Brust, und als sie ihn abriß, weinte sie laut. Angst, Josef könne sie hören, jagte sie die Treppen hinunter in ihr Schlafzimmer, wo sie, gerüttelt durch und durch, kein Ende finden konnte mit Tränen, bis die Zofe mahnte, daß es höchste Zeit sei zum Anziehn.

Sechstes Kapitel

Wald

Georg saß auf einer Bank im Walde.

Von einem häßlichen und kaum anständigen Gefühl im Magen abgesehn, befand er sich überaus wohl, lieblich durchwärmt von der höher steigenden Sonne, vor den halbgeschlossenen Augen das zarte Flimmergespinst des Lichts, vor den hin und wieder geöffneten die geräumige Windhelle der Lichtung, von der ein sandiger Fußweg ihn trennte, und darin die weit auseinanderstehenden braunen Stämme und schwarzgrünen Schirmkronen der Kiefern, unten Wildnis von Farnkräutern und Brombeergestrüpp, mit den schönen rostroten Dornranken wie von Eisen —, hinter dem allem schließlich die schöne Bewegtheit des unwiderstehlichen Frühjahrshimmels, wo es wogte von unhörbarem Jauchzen, von Anmut und Leichtigkeit in Silberflocken und fliegender Bläue. Wenn die Sonne dann lichter hervorquoll, in alle grünen Winkel alles erfreuend hineinglänzte, so schwoll mit allem sein Herz, als dehnte Lichthauch und Lufthauch es von innen, und traumhaft ganz hingegeben, konnte er hübsche Entdeckungen gedanklicher Natur in sich machen wie etwa die Erkenntnis, daß jenes Gefühl von Zuversicht an holden Apriltagen jedenfalls daher rühre, daß bemerkbar wird: auch diese große, unbändige Natur ist bekannten Gesetzen unterworfen, — es muß doch Frühling werden! Wieviel Genugtuung für Kaiser und Bürgersmann! — Erlosch aber die Sonne, senkte sich mit den Schatten die Wölbung seines Gefühls, und es ward enger in ihm, — war alle Tapferkeit mit eins aus den Wipfeln, Mutlosigkeit um die grünen Spitzen gefallen, die ergraut standen, zitternd, ängstlich, — so fiel er, unfreiwillig, der allgemeinen Beklommenheit mit anheim und empfand unglücklich die tiefe Ratlosigkeit der Fragen um ihn her: Mein Gott, wo ist das Licht geblieben? Warum ist es fortgegangen? Und dann erschien ihm auch, als wäre sie es, die mit breitem Schatten den Glanz verdeckte, Magdas traurig abgewandte Gestalt, erloschen rund um sich her wie der sonnenlose Augenblick, — da ging sie wieder neben ihm, von innen gehalten, gefesselt in ihrem Gang, und in ihrem Herzen — — ihrem Herzen ...

Ach, sie wußte es nun doch! die Wahrheit hatte sie nun, war es nicht besser als ... Ah! Mit dem wieder hochquellenden Golde im glücklichen Grün wich die lastende Schattenhand auch von seiner Brust, er atmete auf. Sie wußte es, — welche Erleichterung! Erleichterung — für ihn, ja, ob aber für sie?

So saß er denn im Wechsel der Natur und im eignen, gedämpfter Traurigkeit überliefert, im warmen Labyrinth seines Gehörs, seines ganzen Innerns, das unablässige Vogelgezwitscher der Nähe und der Ferne, den metallenen Finkenschlag, den Gesang des Baumläufers, fernher den eintönigen Zweiklang des Zilpzalp, und wie aus einer blaugrauen Wolke heraus das schläfernde Gurren der wilden Taube. Ein wenig drückte im Rücken das Holz der Banklehne, aber er saß doch weich in sich selber, ganz versunken in offene Lässigkeit, im Pendelschwingen des Lichts beklommen und froh, ja wie in einer wesenlosen Schaukel fühlte er sich, beim Vor- und Aufschwung munter und kühnlich, im Zurückfallen vom Schwindel süßlich geängstet, immer in Wärme und köstlicher Wehmut.

Oh daß ich dieses doch habe, dachte er, diesen selbstverständlichen Rückzug in mein eigenes Innere; dorthin, wo es Natur ist, Hingebung an Licht und die Luft, an Vogelruf und dies kühle, dies schaurige Sausen in den Kronen. Was schließlich verschlägt da eine Nacht wie die letzte! Man sollte es nicht tun, freilich, Sinn hats auch schon gar keinen, man sollte es nicht, gerade wenn man, wie eben ich, nur so hineingerät, so lustlos und versehentlich, und es wird auch nicht wieder vorkommen. Das war bloß München, das mir noch nachhing. Oh Renate!

Unter einem zitternden Schlage im Gehirn setzte Georg sich auf, geblendet, legte die Ellbogen auf die Knie, seinen Gehstock in der Mitte packend, und sah eine Weile lang nichts als den Staub in den Falten seiner Lackschuh, das braune Gold der Strümpfe und zwei, am Ende zusammengeheftete Fichtennadeln, die im Aufschlag seiner dunkelgrünen Hose steckten. Die kleinen Steine, der Sand und die Spuren von Füßen und Striche von Stöcken darin sahen ihn fremd an in lebloser Wesentlichkeit. Er seufzte auf. Du lebst, Renate, ach, daß du lebst, was will man denn mehr? — Und Georg bewog sie, zu erscheinen, sie und sich belistend, daß sie immer schöner würde und vollkommener, und so kamen erst nur ihre Augen zum Vorschein, im Dunkel, unterm Vorhang der Zweige, ihr Arm, nun — nun der Augenaufschlag gegen ihn, — er erbebte, er wollte ihn fassen, er war fort. Alles was Blau war in der Welt, mußte in diesem nächtigen Schwarz enthalten sein, Sommerhimmel und das dunkelste Buchtenwasser, Bergseen und grünes Eiswasser, — und nun — ihr Gesicht, ihr Mund, und ihr Haar, — Gott im Himmel, welch Haar! Da stand sie auf dem Rasen, das Licht fiel von oben über ihre abgewandte Gestalt, über das hangende weiße Dreieck des Schals, über ihr Haar von stumpfem, hellem Braun — dürres Buchenlaub, wars nicht so? — von einer goldenen Spinne überwebt. Und von ihren eigenen Bewegungen war sie ganz umrieselt wie von unsichtbaren Wasserfalten, in denen es blühte. Gott verzeih mir, Anna, aber nun ist das so gekommen, und wie kann ich denn anders! Mußte es nicht einmal kommen? Habe ich nicht durch Monate gelitten, damals, wie sehr gelitten, nachdem du von mir warst? Wie lassen sich solche Selbstbezwingungen dann rückgängig machen? Wie sollte ich dich wieder hineinholen in mich, nachdem — — freilich, daß ich dich austreiben konnte! Und wie kann ich denn gegen mein Herz?

Ein Kohlweißling taumelte aus dem Brombeerdickicht hoch, zog über den Weg daher, schaukelte höher, taumelte vor einer unsichtbaren Gewalt abwärts, beschrieb um einen der braunen Stämme einen haltlos flattrigen Kreis und fiel ins grünende Buschwerk. Es zwitscherte — oh wie es zwitscherte! Überdem kam Josef Montfort ihm in Erinnerung.

Das war ein Mensch! jawohl! Betäubend, berauschend, wahrhaftig! Ich muß ihn näher kennen lernen. Richtig — wollte er nicht fort, aus dem Lande? Wer — ach, Cornelia Ring, — sie gab mir ihre Adresse. — Ihre runden Dryadenaugen erschienen ihm, er erinnerte sich, wie sie ihm ihr Herz ausgeschüttet hatte, — der sonderbare Nachtweg, — und er versprach, an seinen Vater zu schreiben. Nein, das Sonderbarste war doch diese Fahrt in der Droschke ... Aber Montfort, der hatte Gewalt über Menschen! Wer konnte wohl so ausgesehen haben wie er? Fernando Cortez vielleicht, ja, irgendeiner, der eine verlorene Sache verteidigt, ein Prätendent; in Gefahr müßte man ihn sehn, auf dem Rückzug durch Urwälder, von Schwärmen vergifteter Pfeile verfolgt, und mit jedem Leben, das hinsinkt, wächst ihm ein neues an sich selbst, und er schwingt sich in eigenen Händen wie einen Feuerbrand zu einem Dutzend gefährdeter Stellen, ermutigend, tröstend, versprechend, drohend, versiebenfachtes Leben, aus sich selber wimmelnd, bei Gott, so war er! Und er und Cornelia, Renate und Magda zogen einen abenteuerlichen Reigen, Magda trat vor und sah ihn herzbewegend an, da fühlte er, wie sein wehmütiges Empfinden in Takten zu schaukeln begann, die sich allmählich mit deutlichen Vorstellungen besetzten ... Ach, wie traurig sind die Tage ... auf einmal hatte er den Anfang ... Seit ich in dem Schatten lebe ... und Georg nahm hastig ein Blatt, eine Rechnung, wie es schien, aus seiner Brieftasche, legte es darauf und schrieb schwermütig, hin und wieder streichend und ändernd:

Ach wie traurig sind die Tage,

Seit ich in dem Schatten lebe,

Nicht mein Antlitz zu ihm hebe,

Nicht sein Mund mich heilt.

Friedlos, ach, von bittrer Plage,

Frage ich die stummen Haine,

Frage Pfade, Ufer, Steine,

Wo mein Herr verweilt.

Von der Schwelle ausgetrieben,

Die mir unterm Abendglänzen,

Oder unter Sternenkränzen

Wundersam erschien,

Kann ich noch mein Antlitz lieben,

Das nur fremde Blicke preisen,

Und den Mund, dem nur die leisen

Seufzer noch entfliehn?

An der Flamme auf dem Herde

Rötet sich mir Stirn und Wange,

Daß ich wie in Purpur prange,

Den Erhabnen gleich.

Spät, mit trauriger Gebärde,

Blickt ins Fenster, durch die Zweige,

Mond, dem ich mein Antlitz zeige,

Und dann bin ich bleich.

Georg merkte, daß während des Schreibens die Sonne entwichen war, und ihn fröstelte. Als er das Blatt in die Brieftasche zurücklegen wollte, fiel ein kleiner Zettel heraus, auf dem stand von fremder Hand geschrieben: G. T. 17. Was mochte das bedeuten?

Heftiger fröstelnd — und wie öde war auf einmal der Wald! — überlas er noch einmal das Geschriebene, strich in der zweiten Strophe das ‚Wundersam‘, um dafür ‚Freudenreich‘, und in der letzten ‚Erhabnen‘, um dafür ‚Geliebten‘ zu setzen, legte das Blatt fort, stand auf und ging in der Richtung der Stadt davon. Nach einigem Kopfzerbrechen fiel ihm ein, daß er Cora Bogner seinen Besuch versprochen hatte, sodann, daß 17 die Hausnummer der Cornelia Ring war, und ihm wurde heiß im Gedanken, daß er mit Josef Montfort nichts besprochen hatte, aber vor allem kam es ja auf seinen Vater an, und Montfort würde wohl nicht über Nacht davongegangen sein. Die Fabrik stand schlecht, wer hatte ihm das nur erzählt? Josef selbst? Richtig, Cornelia Ring war es gewesen. Da durchglühte ihn wieder Renates Leiblichkeit, unendliche Sehnsucht befiel ihn, er umschlang sie mit den Armen, er fand ihren Mund, — aber siehe, was war das für eine Süße, die ihm jählings durch Mark und Bein loderte? Das mußte er geträumt haben, nur in Träumen steigen Gefühle in solches Übermaß, o mit welch ungeheuerlicher Schmerzenswollust hatte er einmal im Traum geweint! Und nun fiel ihm Lenusch, fiel ihm alles ein, die Bar, das endlose Gespräch zwischen Montfort und dem Saint-Georges, der Lärm, das Mädchen, ihr Stirnband, ihr Bein, ihr Strumpf, in den er das Geld —, und zuletzt — nein, bloß das nicht! aber er sah es wieder deutlich vor sich, ihn schauderte maßlos, er wehrte sich mit allen Kräften, stellte sich hundert andre Dinge vor, und es gelang ihm endlich, sie wieder vor sich zu sehn, wie sie die gekrallten Hände gegen die Schultern erhob. Sie hätte die größte Tischplatte über seinen Kopf heruntergeschmettert, so sah sie aus. Warum haßte sie ihn nur so? Vielleicht hatte Montfort ihm bloß Lügen erzählt, obgleich er ein Mensch schien, der keine Lügen nötig hatte, der Unwahrscheinlicheres erlebt, keine selbstgeschnitzten Stützen brauchte. Ach, es war doch schrecklich! Da war der Augenblick gekommen, wo sie ihr ganzes, verfahrenes Dasein in eine einzige Flamme von Haß zusammenriß, um es — ja um es wie eine schwere Tischplatte ihrem Feinde über das Haupt zu schlagen, und da mußte sie so zusammenbrechen.

Georg fiel ein, daß er sie um ein Uhr mittags treffen sollte. — Ich werde natürlich hingehn, ich bin ja nicht fähig, ein weibliches Wesen umsonst warten zu lassen, und außerdem werde ich versuchen, sie auf reinlichere Wege zu bringen. Versuchen kann man das immer, obwohl es wahrscheinlich ist, daß, wie bei all diesen Mädchen, das Grundübel in Arbeitsscheu besteht. Man muß es versuchen. —

Mittlerweile war er am Pferdeturm angelangt, wartete eine Weile auf eine elektrische Bahn, fuhr in die Stadt und ging in die Eichstraße zu Cora.

Salon

Georg mußte im Salon warten, und der Salon gefiel ihm nun ganz und gar nicht. An diesem Ort, dachte er, kann man sehr traurig werden. Er hatte grünliche Damastsofas und Sessel mit Troddeln daran, und ein Sofa hatte einen Mahagoniumbau mit Spiegeln und gemalten Parforcejagdszenen, im Erker aber stand eine Bronzebüste der milesischen Venus und blickte ihn trübe an. Er sah auch, daß der venezianische Kronleuchter, von dem sie geschrieben hatte, von der Decke hing und hier und da mit Draht geflickt war, und rechts vom Erker stand Coras Schreibtisch auf äußerst dünnen Beinen, bedeckt mit Photographierahmen und Schreibwerkzeugen aus Messing und grün geädertem Marmor, so daß kaum ein viertel Quadratmeter Raum zum Schreiben war, im ganzen ein ungemein fataler Aufenthalt. Georg, lustlos und immer fröstelnd, blickte aus dem Erker auf die langweilige Straße hinunter, wo sich jetzt schwärzliche Regenflecken zeigten. Endlich erschien Cora, in einem hellgelben Morgenrock, mit flüchtig zusammengegriffenem Haar, trug ihre herbstlichste Miene und die Entsagungsgeste zur Schau, worüber Georg sich ärgerte, weil er hinter dem abwehrend vorgestreckten Schild nur zu deutlich die Verlockung zu wittern hatte, also daß er in ein plätscherndes Geschwätz über die bezaubernde Fähigkeit schöner Frauen ausbrach, die es verstünden, ohne Hut als ein völlig andres Wesen zu erscheinen, als mit Hut, — ha überhaupt Hüte! Da gewöhnte er sich wieder langsam an ihren Anblick, ihre Eigenart, und es gefiel ihm wieder sehr, wie sie mit der Oberlippe über die beiden, ein wenig zu groß geratenen oberen Mittelzähne hinablangte, was ihn immer an die Gebärde eines Mädchens erinnerte, das einen eingelaufenen Ärmel straff zupft, und in Coras Züge kam mit dieser Verlängerung der Nase durch die Oberlippe ein völlig verquerer Ausdruck von Hoheit. Alsdann sagte er auf, was er am vergangenen Tage in der Bahn Bogner über ihr römisches Aussehn vorgetragen hatte, was sie andächtig anhörte, die schlecht zueinander passenden Ringe an ihren, ein wenig grauen, lang geschwungenen Händen hin und her schiebend; die Fingernägel waren nicht durchaus rein, — und überdem meldete das Dienstmädchen den Maler, der hinter ihm eintrat.

„Wie herrlich, Benvenuto, daß du kommst!“ entzückte sich Cora. „Grad eben sprachen wir von dir, das heißt, du kamst drin vor, weil der Prinz etwas über mich sagte, das er gestern dir ... es war, ja, es war ein Gedicht!“ schloß sie begeistert.

Das Mädchen trug einen Teller mit Gebäck, Gläschen und spanischem Wein herein, und Cora sprach nun unaufhörlich, indem sie zum Zulangen nötigte, Wein einschenkte und die Gläser hinreichte.

„Gott, unsereins,“ sagte sie, „unsereins fühlt das natürlich auch, aber wir können es nicht ausdrücken, wir brauchen es auch nicht auszudrücken, und das, seht ihr wohl, giebt uns Frauen eben die Macht, das — Unbewußte, wie soll ich sagen ... Nun, wir fühlen, was wir sind, und brauchens uns doch nicht zu gestehn. Beim Namen nennen ist immer verurteilen, und wir sind immer unschuldig. Gott, eigentlich sollte ich euch ja Zigaretten anbieten, — du rauchst doch, Ben — weißt du, eigentlich ist dein Name zu lang, ich werde einen für dich erfinden, — aber Herbert raucht ja leider nicht. Aber wenn ihr eure eignen ...“

Und da Bogner seine Dose hervorzog:

„O was hast du da? Welch himmliche Dose! Was ist das für Holz? Birkenholz? Wie gut der Tabak riecht! Oh du drehst sie selbst, das muß ich sehn! Ist es schwer? Aber Sie nehmen ja gar nicht, Georg! Die Makronen hab ich selber gebacken, dafür drehst du mir eine Zigarette! Ich finde es reizend, selbst! Nein, wie geschickt du bist! Zeig bloß mal! Ich könnte das nie! Was für gelbe Finger du hast! Ist das vom Rauchen? Aber weißt du denn auch, daß das furchtbar — furchtbar schädlich ist? Und nun wollen wir Brüderschaft trinken.“

Während der Stille dieser Feierlichkeit sah Georg sämtliche Ausrufungszeichen Coras leibhaftig durchs Zimmer und zum Erker hinaus wimmeln. Dem Maler die Wange zum Kusse reichend, blickte sie Georg zum ersten Mal seit Minuten wieder voll an, so daß es ihm vorkam, als werfe sie ihm eine Handvoll Erinnerungen zu.

Nun sollte ihr Schwager von Paris erzählen, doch kam er nicht dazu, da sie selber vom Montmartre und der Roten Mühle, vom Louvre und den fliegenden Bücherverkäufern auf den Quais zu schwärmen begann. Plötzlich sagte sie:

„Prinz! Sie machen doch Gedichte. Sie müssen ein Gedicht daraus machen! Aus dem vorhin! Werden Sie?“

„Augenblicklich,“ erwiderte Georg, „wenn Sie mir erlauben, fünf Minuten ihren Schreibtisch zu benutzen.“

Ah, da mißhandle ich sie ja wieder, dachte er, also käme nun das Zuckerwerk, und er beugte sich zu ihr und redete:

„Liebe, gnädige Frau, Sie wissen doch: jeder gebildete junge Mann macht Ihnen heutigen Tages jedes Gedicht, das Sie wünschen. Aber wenn Sie ein richtiges haben wollten, eines, das wert wäre, in einem richtigen Buche zu stehn, — das könnte ich Ihnen freilich nicht versprec