Title: Das erste Schuljahr: Eine Erzählung für Kinder von 7-12 Jahren
Author: Agnes Sapper
Release date: November 17, 2018 [eBook #58300]
Language: German
Credits: Produced by The Online Distributed Proofreading Team at
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Anmerkungen zur Transkription
Das Original ist in Fraktur gesetzt. Im Original gesperrter Text ist so markiert.
Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert.
Eine Erzählung für Kinder von 7–12 Jahren.
Von
Agnes Sapper.
Zweite Auflage.
Stuttgart.
Verlag von D. Gundert.
Seite | |
1. Was im Wochenblatt steht | 3 |
2. Der erste Schultag | 7 |
3. Der Hans | 16 |
4. »Es ist immer so« | 19 |
5. Felix Acosta | 28 |
6. Wo ist das Rohr? | 38 |
7. Gute Kameraden | 49 |
8. Es geht geheimnisvoll zu | 53 |
9. Eine wichtige Neuigkeit | 58 |
10. Der Abschied | 65 |
11. Aller Anfang ist schwer | 76 |
12. Ein böser Verdacht | 94 |
13. Fräulein Treppners Hund | 110 |
14. Belohnter Fleiß | 116 |
15. Die alte Heimat | 121 |
»Ei der tausend, da steht ja etwas im Wochenblatt, was mein Gretchen angeht!« sprach Herr Reinwald zu seiner kleinen Tochter, die neben ihm am Tisch saß und mit farbigen Würfeln spielte, während der Vater die Zeitung las.
»O Vater, du machst nur Spaß,« antwortete Gretchen und sah ungläubig, aber doch neugierig zum Vater auf.
»Nun hör einmal selbst, wenn du's nicht glaubst,« erwiderte der Vater, und langsam und deutlich las er vor:
»Am 1. März vormittags 11 Uhr sind diejenigen Kinder, die bis dahin das siebente Lebensjahr zurückgelegt haben, zur Schule anzumelden. Dies wird allen Eltern und Vormündern, insbesondere auch den Eltern von Gretchen Reinwald, zur Kenntnis gebracht.«
Mit größter Aufmerksamkeit hatte Gretchen zugehört und als ihr eigener Name kam, war sie dunkelrot geworden. Als aber der Vater die Zeitung weglegte, hatte er ein so eigentümliches Lächeln um den Mund, daß Gretchen dachte, am Ende sei doch alles nur Spaß – man wußte nämlich nie recht, wie man in solchen Dingen mit dem Vater daran war. Da mußte die Mutter zur Hilfe kommen.
Gretchen sprang hinaus in die Küche, wo die Mutter eben mit der Lene Beratung hielt, denn morgen war Fastnacht und da sollten Küchlein gebacken werden.
»Mutter, komm doch herein, aber schnell, bitte, es steht ja etwas im Wochenblatt von mir!«
»Von dir?« riefen die Mutter und Lene gleich sehr erstaunt.
»Ja, der Vater sagt's, o sieh doch auch in die Zeitung!«[4] und Gretchen zog die Mutter ganz ungestüm ins Zimmer. Fragend sah die Mutter den Vater an, dieser reichte ihr lächelnd das Blatt und wies auf eine Stelle.
»Ja, ja, das geht freilich dich an,« sagte die Mutter, nachdem sie gelesen hatte, »am 1. März müssen wir dich zur Schule anmelden!«
»Nun, glaubst du's jetzt?« fragte der Vater. »Nicht wahr, da steht's deutlich: insbesondere auch den Eltern von Gretchen Reinwald.« Die Mutter lachte. »Unsern Namen kann ich gerade nicht sehen, aber jedenfalls gehört Gretchen Reinwald zu den Kindern, die da gemeint sind.«
»Gelt, Vater, ganz wahr ist's doch nicht gewesen, das hab' ich dir gleich angesehen!«
»Sieh, darum ist's gut, wenn du bald selbst lesen lernst, dann kann ich dich gar nimmer anführen.«
»Wann ist der 1. März?« wollte nun Gretchen wissen.
»Wenn noch zwei Wochen vorüber sind.«
Ganz nachdenklich räumte Gretchen die Würfel weg, mit denen sie gespielt hatte. Sie hatten auf einmal kein Interesse mehr für sie. Es kamen ihr ganz neue Gedanken. Wie würde es wohl in der Schule sein? Wenn nur die nächsten zwei Wochen schon vorbei wären. Sie erschienen aber unserm Gretchen ganz ungewöhnlich lang, doch endlich kam der Tag, an dem der Vater verkündigte: »Heute ist die Anmeldung!«
Es war ein ganz kleines Städtchen, in dem Herr Reinwald als Beamter mit seiner Familie lebte; aber es war doch eine große Anzahl Schulkinder, die an jenem 1. März den gleichen Gang mit Gretchen machten. Es gab eben nur eine einzige Schule und in dieser waren Knaben und Mädchen beisammen.
Das Schulhaus war ganz nahe bei Herrn Reinwalds Hause, und es kam Gretchen ganz sonderbar vor, daß sie Hut und Mantel anziehen sollte für die wenigen Schritte, die sie auf der Straße zu gehen hatte. Sprang sie doch sonst durchs ganze Städtchen, ohne etwas anzuziehen; aber die Mutter sagte: »Das ist ein wichtiger Gang, zu dem muß man sich auch ordentlich herrichten.« Und so ließ es Gretchen geduldig[5] geschehen, daß Lene noch einmal mit der Bürste über den Mantel fuhr, der doch schon vorher ganz rein war, und die Stiefel fester schnürte, die doch nicht offen standen. Mit dem ersten Schlag 11 Uhr ging Gretchen mit der Mutter zum Haus hinaus und blieb ganz sittsam an ihrer Hand, obwohl die schönste Schleife neben der Straße herlief und fast unwiderstehlich zum Schleifen einlud. Mit dem elften Schlag standen sie schon vor dem Schulhaus.
»Sieh, Mutter, da kommt unsere Wäscherin mit ihrer Marie, die wird heute auch angemeldet, und den Franz von unserm Holzhacker habe ich schon vorhin hineingehen sehen. Das ist mir so recht, daß ich so viele gute Bekannte treffe.«
Gretchen stieg nun mit der Mutter die Schultreppe hinauf, und als sie oben ankamen, trat der Holzhacker mit seinem Franz schon wieder zur Türe heraus. Im Vorbeigehen sagte der Franz leise zu Gretchen: »Ich bin schon angemeldet, aber du noch nicht,« und Gretchen fand es ganz natürlich, daß Franz jetzt stolz auf sie herabblicke.
In dem großen Schulzimmer, in das sie nun eintraten, stand am Katheder ein älterer Mann. Gretchen wußte schon: das war Herr Baumann, der Schullehrer. Neben ihm saß an einem Tischchen ein junger Mann und schrieb. Herr Baumann grüßte Gretchens Mutter. Er kannte sie wohl.
»So, so, Ihre Kleine kommt auch schon an die Reihe,« sagte er und streckte Gretchen freundlich seine große Hand hin, in der ihre kleine Hand ganz verschwand.
»Wie heißt du denn?« fragte er.
»Gretchen,« antwortete sie.
Nun wandte er sich an den jungen Mann.
»Schreiben Sie: Margarete Reinwald.«
»Weißt du auch, wann du geboren bist?«
»An meinem Geburtstag,« antwortete Gretchen.
»Den weiß ich eben nicht, das ist der Fehler!« sagte der alte Herr freundlich. Die Mutter aber, die bemerkte, daß schon mehrere Väter und Mütter mit ihren Kindern warteten, beeilte sich nun, das Nötige anzugeben. Als sie fertig waren,[6] sagte der junge Mann zu Gretchen: »Am 10. April morgens um 9 Uhr hast du zum erstenmal zu mir zu kommen.«
Daran merkte Gretchen, daß dies der Lehrer für die Kleinen war. Herr Stein war sein Name. Als sie eben weggingen, trat ein kleiner Bursche vor in einem recht verflickten Jäckchen. Er kam ganz allein, während doch alle andern Kinder von Vater oder Mutter begleitet waren.
»Sieh doch, Mutter, der kommt ganz allein,« flüsterte Gretchen. Die Mutter bemerkte den Kleinen nun auch. Er war ärmlich gekleidet, sah aber kräftig und rotbackig aus und blickte mit großen blauen Augen treuherzig um sich.
»Wer bist du?« fragte ihn der Lehrer.
»Des Schäfers Hans,« war die Antwort.
»Warum ist niemand mit dir gekommen?«
Hans antwortete nicht, aber er zog ein zerknittertes Blättchen aus seinem Wams und reichte es dem Lehrer. Dieser studierte eine Weile daran und sagte dann:
»Ich will's gelten lassen. Daß du mir aber am 10. April in die Schule kommst! Sonst geht's schlecht.«
»Ich komm' schon,« antwortete der Kleine zuversichtlich, und trabte ganz wohlgemut wieder zur Türe hinaus.
Als Gretchen mit der Mutter die Treppe hinunterging, begegnete sie der Frau Apotheker. Die führte eben ihre kleine Emilie herauf.
»Sieh, sieh,« sagte die Frau Apotheker erfreut, »da kommt ja Gretchen schon herunter und sieht ganz vergnügt aus. Meine Emilie hat so Angst,« sagte sie zu Frau Reinwald, »sie ist ein gar schüchternes Dinglein; ich will nur sehen, wie es ihr in der Schule geht.«
»Es wird sich bald machen,« tröstete Frau Reinwald, und Gretchen flüsterte der Kleinen zu:
»Darfst keine Angst haben, man darf gleich wieder fort.« Die Kleine ging aber doch mit Herzklopfen hinauf, während Gretchen gar fröhlich die Treppe heruntersprang, der Mutter Hand losließ und sich wieder sorglos auf ihrer Schleife tummelte – bis jetzt war ja alles so gut gegangen!
Gretchen lehnte an der Haustüre und sah der Lene zu, die eben die messingene Türschnalle schön blank putzte.
»Morgen ist Ostern und wenn dann noch ein Sonntag vorbei ist, geht die Schule an; weißt du das auch schon, Lene?« fragte Gretchen.
»Daß morgen Ostern ist, kann ich wohl merken, denn deswegen hab' ich so viel zu putzen, und daß du dann in die Schule kommst, ist mir schon recht, dann bist du doch aufgehoben und mir nicht immer im Weg.«
Gretchen merkte, daß Lene wieder in ihrer Samstagsstimmung war; da ließ sich nie gut mit ihr plaudern. So ging sie vors Haus, um sich nach besserer Unterhaltung umzuschauen. Da erblickte sie den Vater, der eben heimkam, und sprang ihm vergnügt entgegen.
»Vater, hast du auch schon dran gedacht, daß morgen Ostern ist und ich schon so bald in die Schule komme?«
»Ja, ja,« sagte der Vater freundlich, »ich habe es schon dem Osterhasen gesagt, damit er auch passende Ostereier für mein Schulkind legt.«
»Passen denn die gewöhnlichen Ostereier nicht?«
»Natürlich nicht; den Kindern, die in die Schule kommen, legt er viereckige Eier. Hast du das noch nicht gewußt?«
»Nein, und ich glaub's auch nicht,« sagte Gretchen. Vater und Tochter waren inzwischen miteinander ins Haus gegangen und fanden die Mutter im Wohnzimmer, wo sie eben die frischgewaschenen Vorhänge an den Fenstern aufgemacht hatte. Alles sah dort schon rein und festtäglich aus. Gretchen war nun sehr begierig auf ihre Ostereier und als am Ostersonntag die Eltern aus der Kirche heimkamen, sprang sie ihnen voll Erwartung entgegen.
»Wo legt der Has?« fragte sie, »im Garten?«
»Nein, da ist alles noch naß vom Regen.«
»Also im Zimmer. Soll ich gleich draußen bleiben?«
»Meinetwegen,« sagte der Vater und ging mit der Mutter hinein, während sich Gretchen in der Küche umschaute. Lene schälte gerade Kartoffeln zum Salat; sie sah heute auch festtäglich aus mit ihrer frischen weißen Kochschürze, und daß sie guter Laune war, durfte Gretchen gleich erfahren, denn sie bekam einen frischen Kartoffelschnitz. Sie hatte ihn kaum verzehrt, als ihr auch die Mutter schon rief und nun fing Gretchen an, nach ihrem Hasen zu suchen. Als sie den Deckel vom Holzkasten aufschlug, der neben dem Ofen stand, sah sie etwas darin – viereckig und groß: ein wunderschöner Schulranzen war es, mit dunkelgrünem Plüsch überzogen und silbern glänzten daraus hervor die zwei Anfangsbuchstaben von Gretchens Namen. Ganz entzückt nahm Gretchen den Ranzen heraus, lief jubelnd damit auf die Eltern zu und dankte ihnen. Unter dem Ranzen war eine Tafel und ein Federkästchen gelegen.
»Die will ich gleich in den Ranzen packen,« sagte Gretchen und machte ihn auf; er war aber ganz angefüllt mit Moos und in diesem steckten allerhand Häschen und Eier.
Das war nun ein glücklicher Ostertag für Gretchen und als nach Tisch die Sonne so schön schien, huckelte sie ihren Ranzen auf und ging ganz stolz mit ihm im Garten hin und her spazieren.
Durch den Zaun bemerkte sie bald einen kleinen Buben, der neugierig hereinsah, und als sie näher trat, merkte sie, daß es ein künftiger Schulkamerad von ihr war, nämlich des Schäfers Hans, der bei der Anmeldung ganz allein gekommen war.
»Hast du auch schon einen Ranzen?« fragte ihn Gretchen.
»Den alten von meinem Bruder,« antwortete der Hans.
»Und einen Federkasten?« Der Hans schüttelte den Kopf.
»Ich hab' heut einen bekommen und auch Eier und Hasen. Du auch?«
Der Hans schüttelte wieder nur den Kopf.
»Legt bei dir der Has so spät?«
»Er legt gar nicht.«
»Gar nicht?« wiederholte Gretchen erstaunt und sah den Hans ganz mitleidig an.
»O dann bekommst du von meinen Eiern! Wart nur, ich komme gleich wieder!« Und hinauf sprang sie so eilig, wie wenn zu fürchten wäre, daß der Hans ihr durchginge, und der dachte doch gar nicht daran. Er hätte wohl noch eine Stunde gewartet. Droben in einem Körbchen lagen Gretchens Eier und Hasen. Sie nahm davon in ihr Schürzchen, ohne lang zu wählen, und sprang wieder hinunter in den Garten. Durch den Zaun reichte sie nun dem Hans ein Stück nach dem andern und der Hans schob alles ein, bis die Taschen in seinem Wams und in seinen Hosen ganz eckig herausstanden. Sein ganzes Gesicht strahlte vor Vergnügen, als er mit seinen Schätzen heimging. So ein reiches Ostern hatte er wohl noch nie erlebt! Gretchen aber sprang wieder lustig im Garten herum, wo schon die ersten Veilchen blühten, und jubelte vor sich hin: »In die Schul', in die Schul', ich hab' ja schon den Ranzen!«
Am Abend bemerkte die Mutter die große Lücke in Gretchens Hasenkorb und erfuhr auf ihre Fragen, wohin alles gekommen war.
»Du hättest mich vorher fragen sollen,« sagte sie zu Gretchen.
»Ist dir's denn nicht recht, daß ich dem Schäferhans etwas gegeben habe?«
»O ja, ich gönne es ihm, er ist gewiß ein armer Tropf; aber du sollst mich immer vorher fragen, ehe du etwas hergibst.«
»Ja, das will ich,« sagte Gretchen und nun nahm sie ihren schönen Ranzen und ordnete ihn wieder; er wurde aber noch so manchesmal aus- und eingepackt, bis endlich der große Tag gekommen war, der erste Schultag.
Gretchen saß mit den Eltern beim Frühstück.
»Nun bin ich nur begierig, was du uns heute Mittag alles erzählen kannst,« sagte die Mutter, »wie es dir gefallen hat und neben wem du sitzst.«
»Neben wem ich sitze, das habe ich mir schon ausgedacht,« antwortete Gretchen, »ich setze mich ganz vornhin auf die[10] erste Bank und neben mich muß auf die eine Seite Apothekers Emilie und auf die andere Seite der Schäfer-Hans.«
»Ja,« sagte der Vater, »so wird's; sowie du in die Schule kommst, sagt der Lehrer: ›Bitte, Fräulein Gretchen, suchen Sie sich den besten Platz aus und befehlen Sie, wer neben Ihnen sitzen soll.‹« Gretchen verstand gleich, was der Vater meinte.
»Darf man sich denn nicht hinsetzen, wo man will?« fragte sie.
»Nein, mein Kind,« sagte der Vater, und er sah nun ganz ernst aus: »In der Schule darf man weder sitzen noch stehen, weder kommen noch gehen, wie man will, sondern man muß sich immerfort und in allem nach dem Lehrer richten. Merke du dir das recht, dann wirst du eine glückliche Schulzeit haben; und nun muß ich fort; leb' wohl, mein Schulkind.«
Der Vater ging und auch die Mutter verließ das Zimmer. Gretchen war ganz ernst geworden; die Worte des Vaters gefielen ihr nur halb. Schon eine gute Weile stand sie nachdenklich am Fenster, dann ertönte Glockengeläute von der Kirche und Lene kam herein.
»Gretchen, bist du fertig? es läutet schon.«
In dem Städtchen Föhrenheim, in dem die Familie Reinwald lebte, ist es Sitte, daß die Kinder, ehe sie zum erstenmal in die Schule gehen, von ihren Eltern in die Kirche geführt werden, und so machte sich nun auch Frau Reinwald mit Gretchen auf den Weg. Lene sah ihnen vom Fenster aus nach und sagte vor sich hin: »Es ist ein großes Kind, unser Gretchen, und ein schönes Kind und ein gescheites Kind; es werden nicht viele solche in die Schule kommen. Gewiß wird sie die Erste.« Mit diesem stolzen Gefühl verließ Lene das Fenster.
In der Kirche sammelten sich nach und nach die kleinen Knaben und Mädchen mit ihren Vätern oder Müttern. Auch der Schäfer-Hans war diesmal nicht allein, ein altes Großmütterchen begleitete ihn.
Nun sprach der Pfarrer gar freundlich und herzlich zu den Kindern. Gretchen horchte aufmerksam zu und verstand alles, was er sagte.
Zum Schluß wurde noch ein Lied gesungen, ein Gebet gesprochen, dann verließen die Kinder das Gotteshaus und wurden wieder von Vater oder Mutter geleitet, aber nur noch bis zur Türe des Schulhauses. Dort trennten sich die Eltern von den Kindern und die Treppe hinauf ging's nun schon allein.
Gretchen hatte keine Angst: sie sprang lustig hinauf mit der ganzen Schar der neuen Schulkameraden und bald wuselte alles unruhig durcheinander in dem großen Schulzimmer. Der alte Lehrer war auch da und sprach noch ein paar Worte mit dem jungen Lehrer. Dann verließ er das Zimmer. Herr Stein nahm nun ein Lineal und klopfte mit diesem so stark auf den Katheder, daß alle Kinder erschraken und es plötzlich ganz stille wurde im Zimmer.
»Nun wird eines nach dem andern beim Namen gerufen und wer gerufen wird, kommt zu mir her; die andern aber sind ganz stille,« befahl Herr Stein und rief sofort den ersten Namen: »Franz Abenheim«.
Des Holzhackers Franz trat vor.
»Sieh, du wirst der Erste, weil dein Name mit A anfängt; wir wollen sehen, wie lange du auf dem ersten Platz bleibst!« Jetzt kam der Berger und so ging's fort, bis alle Knaben ihren Platz hatten und nur der Schäfer-Hans noch dastand. Nun rief der Lehrer: »Johannes Zaiserling«. Da trat der Schäfer-Hans vor und setzte sich an den letzten leeren Platz. Das konnte Gretchen nicht mitansehen.
»Der heißt ja gar nicht so,« sagte sie, »der heißt Schäfer-Hans.« Sie wußte nicht, daß der Vater des Hans ein Schäfer war, aber Zaiserling hieß. Der Lehrer lachte, aber er drohte dabei mit dem Finger und mahnte: »Warte du, bis du gefragt wirst,« und der Schäfer-Hans kam auf den letzten Platz. Nun kam die Reihe an die Mädchen. Eine Bank nach der andern füllte sich und immer stand unser Gretchen noch außen. Ihr Gesichtchen wurde immer länger und trübseliger, denn sie fand es gar nicht nett, daß sie so weit hinten sitzen sollte. Nun war nur noch die letzte[12] Bank frei. Da ertönte endlich der Ruf: »Margarete Reinwald«. Der Lehrer führte sie selbst an ihren Platz und sagte freundlich zu ihr: »Nur munter, du wirst bald weiter hinaufkommen.«
Neben sie kam Luise Seiz zu sitzen, ein ärmlich gekleidetes Mädchen, und nachdem noch drei weitere Mädchen ihren Platz in der letzten Bank gefunden hatten, waren alle Bänke voll und alle Kinder aufgehoben.
»Wißt ihr jetzt alle eure Plätze?« fragte der Lehrer und alle Kinder riefen zumal: »Ja«; aber es klang bei vielen nicht wie »Ja«, sondern wie »Jo«.
»In der Schule sagt man nicht ›Jo‹, da sagt man ›Ja‹; ruft alle: ›Ja‹.« Nun klang das »Ja« schon besser, aber dem Lehrer noch nicht schön genug.
»Noch einmal ›Ja‹,« und nun riefen alle, so hell sie nur konnten: »Ja«.
»So, jetzt habt ihr schon etwas gelernt,« sagte der Lehrer, »und nun schlägt's auch schon 10 Uhr, jetzt dürft ihr alle eine Viertelstunde hinunterspringen und euer Brot essen, und wenn es Viertel schlägt, kommt ihr wieder herauf und jedes setzt sich an seinen Platz.«
Lustig stürmte die Schar der Kleinen hinaus und hinunter auf den freien Platz vor dem Schulhaus. Die meisten Kinder hatten ein Stück Brot bei sich. Gretchen aber, die keines mitgebracht hatte, wußte sich schon zu helfen: sie wohnte ja so nahe. Sie sprang nur nach Hause.
»Schon wieder da?« fragte Lene ganz verwundert, als Gretchen heraufstürmte und »Ja, kommst du schon wieder?« rief ebenso erstaunt die Mutter, denn sie hatte schon Gretchens Schritte auf der Treppe erkannt.
»Ja, ich möchte mir nur schnell ein Stück Brot holen, ich muß gleich wieder fort,« rief Gretchen, die von dem raschen Lauf noch ganz atemlos war. Lene brachte schnell den Brotlaib herbei, die Mutter schnitt ein Stück herunter, Gretchen nahm es, rannte wieder davon und rief noch von der Treppe herauf: »Heut Mittag erzähl' ich alles, es ist wunderschön in[13] der Schule!« und fort war sie wie der Sausewind. Die Mutter aber lachte und sagte zu Lene:
»Nun, der Anfang ist wenigstens nicht zu streng, wenn jetzt schon Freiviertelstunde ist!« und sie ging ins Zimmer, setzte sich an den Nähtisch und dachte: »Wie still ist's doch, wenn das Kind nicht da ist« und Lene, die eben »Flädle« zur Suppe backte, legte eines beiseite und sagte sich: »Das muß ich doch unserm Schulkind aufheben.«
Mit dem Schlag Viertel fanden sich die kleinen Abc-Schützen wieder in ihrem Schulzimmer ein. Die meisten Kinder fanden gar schnell ihr Plätzchen wieder, nur einzelne kannten sich nicht gleich aus und unter diesen war auch Apothekers kleine, ängstliche Emilie. Als Gretchen schon am Platz saß, stand das schüchterne Kind noch zweifelnd da, seine Augen füllten sich mit Tränen und es sah ratlos umher. Schnell begriff Gretchen Emiliens Verlegenheit. Sie sprang noch einmal auf und wollte auf Emilie zugehen. Der Lehrer aber sah dies, klopfte mit dem Lineal auf den Pult und rief laut: »Jedes bleibt an seinem Platz.«
»Ich gehe gleich wieder hinein,« antwortete Gretchen ungeniert, huschte schnell zu Emilie hin und führte sie an ihre Bank. Der Lehrer hatte begriffen, warum Gretchen nicht augenblicklich folgte, und ließ sie gewähren; die kleine Emilie faßte aber von diesem Tag an ein großes Zutrauen zu Gretchen und wandte sich in allen Nöten an sie.
Die Kinder mußten nun ihre Tafeln nehmen und gerade Striche machen lernen; dies war schon eine ernste Arbeit und sie hatte vielleicht eine Viertelstunde gedauert, als mitten unter den Knaben sich einer erhob, seine Tafel in den Ranzen schob und sich anschickte, die Schule zu verlassen.
»Wohin, wohin?« fragte der Lehrer erstaunt und alle Kinder sahen auf den Kleinen. Es war Artur, der Sohn des Doktors.
»Ich gehe jetzt heim,« erklärte der Kleine.
»Halt,« sprach der Lehrer, »so geht das nicht, jetzt ist die Schule noch nicht aus.«
Aber Artur ließ sich nicht so schnelle irre machen.
»Meine Mama hat gesagt, ich soll mich nicht so lang aufhalten,« erwiderte er und ging fest auf die Türe zu. Ehe er sich's aber versah, war der Lehrer neben ihm, hob ihn mitsamt seinem Ranzen hoch in die Luft und über die Köpfe der andern hinweg wieder an seinen Platz.
»So,« sagte der Lehrer, »da bleibst du jetzt, bis alle gehen. Deine Mama hat wohl nur gemeint, du sollst dich auf dem Heimweg nicht lange aufhalten. Frage sie nur, ob man aus der Schule laufen darf, wann's einem beliebt.«
So mußte denn der kleine Artur noch einmal seine Tafel auspacken und standhalten, bis nach einer weiteren halben Stunde der Lehrer verkündigte: »Jetzt ist die Schule aus und heute nachmittag machen wir einen Spaziergang miteinander und suchen Schlüsselblumen auf der Wiese!«
Unter lautem Jubel verließ nun die ganze Schar das Schulhaus und in die verschiedensten Häuser des Städtchens wurde nun die fröhliche Kunde von dem versprochenen Spaziergang gebracht. Am Abend aber standen in allen Häusern der kleinen Schulkinder größere oder kleinere Sträuße von Schlüsselblumen; nur unser Gretchen war mit leeren Händen heimgekommen.
»Hast du denn keine Blumen gefunden?« fragte die Mutter.
»O ja, doch, aber ich habe die meinigen den andern Kindern geschenkt.«
»Aber warum denn, sie haben doch gewiß selbst welche gefunden?«
»O freilich, manche haben ganze große Büsche, aber ich habe ihnen die meinigen noch dazugegeben. Ich möchte nur immer alles verschenken!«
»Hör, Gretchen, du bist eine kleine Verschwenderin. Wenn die andern selbst haben, was sie brauchen, so mußt du deine Sachen nicht an sie verschleudern.«
»O Mama, du schenkst doch auch so oft etwas den Armen, warum darf ich's denn nicht tun?«
»Weil du noch nicht weißt, wo es nottut zu geben[15] und was die Armen brauchen. Sei du nur sonst immer recht gut gegen die armen Kinder, und wenn du siehst, an was es ihnen fehlt, dann erzähle mir's nur immer; soweit wir können, wollen wir ihnen helfen.«
»Und darf ich ihnen dann etwas schenken?«
»Gewiß; aber nie ungefragt; nicht wahr? Merke dir das.«
Gretchen versprach es. Aber im nächsten Augenblick hatte sie es wieder vergessen über dem vielen, was sie heute erlebt und zu erzählen hatte. Die Mutter mußte natürlich alles wissen und dann kam die Lene an die Reihe. Die hatte in der Küche eine kleine Wäsche zu waschen, das war gar geschickt, da mußte sie so fest an ihrem Waschzuber bleiben und alles geduldig anhören. Sie tat's aber auch heute ganz gerne. Dann, als der Vater zum Abendessen kam, fand Gretchen noch einmal einen freundlichen Zuhörer. Ja, als es ½8 Uhr war und die Mutter, wie jeden Abend, mahnte: »Kind, es ist Zeit ins Bett zu gehen,« sagte der Vater ganz leise zu Gretchen:
»Frag' einmal die Mutter, ob sie nicht weiß, daß Schulkinder immer bis acht Uhr aufbleiben dürfen?« Gretchen fragte gar nicht lange, sondern jubelte gleich darüber, daß sie künftig eine halbe Stunde länger aufbleiben sollte. Sie wußte schon, wenn der Vater etwas erlaubte, sagte die Mutter niemals nein.
Endlich ging aber auch dieser glückliche Tag zu Ende. Als Gretchen im Bett lag und ihr Gebetchen gesprochen hatte, sagte die Mutter freundlich: »Gute Nacht, mein Schulkind«; »Gute Nacht, Mutter,« rief Gretchen, »ich freue mich schon wieder auf die Schule morgen.«
Auch die Eltern freuten sich mit ihrem Kind und es war nur eine Person im Hause, die nicht zufrieden war, und das war Lene. Als die Mutter spät noch in die Küche kam, um den Kaffee für den nächsten Tag herauszugeben, hielt Lene mit dem Stiefelwichsen inne und sagte:
»Das hätt' ich aber doch nicht für möglich gehalten, daß man unser Gretchen auf die letzte Bank setzen würde; das muß ein ganz verkehrter Lehrer sein, der so etwas tun kann,[16] wenn der was Rechtes wäre, so hätte er auf den ersten Blick gesehen, daß unser Gretchen vorn hingehört.«
»Aber Lene,« sagte Frau Reinwald, ganz erstaunt über den Sturm, der da losbrach, »die Kinder sind ja nach dem ABC gesetzt worden und da kommt eben das ›R‹ weit hinten.«
»Das hat mir Gretchen wohl gesagt, aber es geht doch nicht mit rechten Dingen zu; es kommen doch noch acht Buchstaben nach dem ›R‹ und sitzen nur noch vier Kinder hinter ihr.«
»Nun ja, es gibt eben gerade keine Kinder mit diesen Anfangsbuchstaben; du wirst auch nicht viel Namen wissen, die mit ›X‹ oder ›Y‹ anfangen.«
»Aber der Bürstenmacher Zahn hat doch acht Kinder und beim Kaufmann Ulrich gibt's ein ganzes Rudel Mädchen, aber natürlich in diesem Jahr kommt gerade keins in die Schule!« Bei diesen Worten nahm Lene ihre Schuhbürste wieder und ließ ihren ganzen Zorn an Gretchens Stiefelchen aus, daß dieses über und über glänzte.
»Nun, Lene,« beruhigte Frau Reinwald, »bald wird Gretchen einmal heimkommen und verkündigen, daß sie nimmer auf der letzten Bank sitzt, und das ist dann schon angenehmer, als wenn sie jetzt die erste wäre und hinunterrücken müßte.«
Mit diesem Trost gab sich endlich auch Lene zufrieden.
Der Hans war am Nachmittag zuallererst mit seinen Schlüsselblumen heimgekommen, denn der Spaziergang führte an seinem Haus vorbei. Er wohnte ganz am Ende des Städtchens, in einem einzelstehenden Häuschen, das seinem Vater, dem Schäfer Zaiserling, gehörte. Das Häuschen sah elend genug aus und war sehr klein, aber doch groß genug, denn es wohnte nur der Schäfer darin mit seiner alten Mutter und dem Hans. Der Hans hatte seine Mutter nie gekannt, sie war schon lange tot, einen älteren Bruder hatte der Hans,[17] der war aber in Amerika; der Vater war jedes Jahr vom April bis Oktober mit den Schafen auf der Weide. Auch im Winter war er oft die ganze Woche auswärts. Die Großmutter war taub und weil sie schon so lange nicht mehr hörte, was sie sprach, so hatte sie sich das Sprechen fast ganz abgewöhnt. Auch der Hans sprach fast nie; mit wem hätte er auch reden sollen? aber durch allerlei Zeichen konnte er sich schon mit seiner Großmutter verständigen.
Als der Hans heute heimkam, saß die Großmutter am Fenster und flickte. Der Hans legte seinen Strauß Schlüsselblumen vor die Großmutter hin; dann ging er eifrig auf die Bank zu, die am Ofen stand; dort lag sein Schulranzen, neben den setzte er sich und fing an mit dem Zipfel seiner Jacke daran zu reiben und zu putzen, bis das alte Leder wieder glänzte. Dann nahm er die Tafel heraus und machte sich daran, Striche darauf zu zeichnen, wie er es am Morgen in der Schule gelernt hatte. Als er die Seite ganz voll hatte, sah er sie prüfend an, dann löschte er alles wieder aus und fing langsam und sorgfältig noch einmal von vorn an. Erst als es dunkel wurde, legte er die Tafel weg, wetzte draußen am Brunnentrog seinen Griffel, bis er spitzig war wie ein Spieß und dann setzte er sich wieder neben seinen Ranzen und dachte an die Schule.
Auf einmal sagte er laut vor sich hin: »Ja« und wieder »ja« und immer wieder »ja!« Wer ihn gehört hätte, der hätte wohl gedacht, er sei nicht recht bei Sinnen, aber das war er doch; ihm war wieder eingefallen, daß der Lehrer heute morgen gesagt hatte, man müsse »ja« sagen und nicht »jo«, das war dem Hans etwas ganz Neues gewesen und so sagte er denn »ja« und immer heller »ja« und freute sich daran, wie andere Kinder, wenn sie ein schönes Lied singen lernen. Inzwischen war es dunkel geworden im Zimmer, denn ein Licht zündete die Großmutter nur im Winter an. Von Georgi an wurde es gespart. Wenn man nichts mehr sah, so legte man sich ins Bett. So war's Sitte im Schäferhaus. Bis jetzt hatte der Hans noch nichts von einem Abendgebet[18] gewußt; heute aber, als er in seinem Bettlein lag, kam die Großmutter noch einmal her zu ihm, legte ihre alten, zitternden Hände zusammen und sagte mit ihrer leisen, eintönigen Stimme: »So hat dein Vater gebetet als Kind:
Der Hans horchte begierig. Es kam ihm gar selten vor, daß er etwas Neues zu hören bekam. Nie hatte ihn jemand einen Spruch oder ein Lied gelehrt. Heute aber hatte die Großmutter bemerkt, wie der Hans von seiner Schule erfüllt war und da war ihr wohl aus ihrer eigenen, längst vergangenen Schulzeit das Gebet wieder eingefallen. Als sie es hergesagt hatte und wieder weg wollte, hielt der Hans sie fest.
»Willst du's noch einmal hören?« fragte die Großmutter, und als der Hans nickte, fing sie den Vers wieder an und der Hans sprach ihn mit. Als sie fertig waren, griff er gleich wieder nach den Händen der Großmutter und sie merkte, daß er das Gebet auswendig lernen wollte. Da setzte sie sich auf den Rand seines Bettes und sagte es ihm geduldig vor, bis der Hans endlich seinen Finger auf ihren Mund legte – er wollte es allein probieren. Die Großmutter hörte nichts und sah im Dunkeln kaum mehr, wie sich seine Lippen bewegten, aber sie sollte bald merken, daß er das Lied konnte, denn in seiner Freude zog er ihren Kopf herunter zu sich und gab seiner alten Großmutter einen Kuß, was ihm früher noch nie eingefallen war, dann schob er sie sanft weg, zum Zeichen, daß er sie nimmer brauche. Von diesem Tag an betete Hans jeden Abend seinen Vers und je länger er in die Schule ging, um so besser verstand er die schönen Worte.
»Kaum acht Tage bist du in der Schule und schon ist deine Tafel zersprungen! Auf einer solchen Tafel kann man nicht schreiben lernen, morgen bringst du eine neue Tafel mit, sonst geht's dir schlecht; verstehst du?«
So sprach der Lehrer eines Morgens zu der kleinen Luise Seiz, die neben Gretchen saß. Am nächsten Tag aber, als die Kinder ihre Tafeln vor sich hinlegten, damit der Lehrer ihre Aufgabe ansehen konnte, hatte Luise noch dieselbe zersprungene Tafel. Gretchen bemerkte dies sogleich, deutete mit dem Finger auf die Sprünge und sah Luise ganz besorgt und fragend an. Diese sagte kein Wort. Der Lehrer ging von einer Bank zur andern und kam endlich an die letzte.
»Muß ich wieder die zerbrochene Tafel sehen?« rief er die Kleine ärgerlich an; »hab' ich dir nicht gesagt, du sollst eine neue mitbringen?« Dabei nahm er ihre Tafel, brach die losen Stücke vollends auseinander, so daß sie klirrend auf den Boden fielen und nur noch ein kleines Stück im Rahmen stecken blieb.
»Nun wirst du wohl bis heute nachmittag eine neue bringen, denk' ich.« Der Lehrer ging weiter, die Kleine aber hob die Trümmer der zerbrochenen Tafel auf und weinte so schmerzlich, daß es jedermann erbarmen mußte, nicht nur unser warmherziges Gretchen, das neben ihr saß. Aber der Lehrer beachtete es nicht, er war an die Wandtafel getreten und schrieb dort schön und deutlich, daß es alle lesen konnten, ein »i« vor.
»Heute sollt ihr den ersten Buchstaben schreiben lernen,« sprach er, »ihr habt lange genug Striche gemacht, jetzt kommt das »i« an die Reihe.«
Hurtig fuhr Gretchens Griffel über ihre Tafel, für sie war das »i« nichts Neues mehr, sie hatte schon bei der Mutter alle Buchstaben schreiben gelernt. Als sie sah, daß Luise vor Weinen gar nicht schreiben konnte, sagte sie leise zu ihr:
»Komm', ich schreib dir's,« und bedeckte nun sorgfältig[20] das kleine dreieckige Stück Schiefer, das noch im Rahmen geblieben war, mit möglichst schönen »i«. Daß aber Luise trotzdem noch weinte, konnte sie nicht recht begreifen, und als die Freiviertelstunde kam und die Kinder vor's Schulhaus hinuntersprangen, nahm sie Luise beiseite und fragte sie, warum sie denn keine neue Tafel mitgebracht habe.
»Ich bekomme keine, auch morgen nicht,« sagte Luise ganz verzweifelt; »mein Vater hat gesagt, er könne mir jetzt keine kaufen.«
»Aber wenn's der Lehrer will, muß dir dein Vater doch eine neue kaufen,« meinte Gretchen.
Aber Luise schüttelte den Kopf. »Es ist kein Geld mehr da. Erst am Samstag bekommt der Vater seinen Lohn. O, der Lehrer wird mich alle Tage schlagen,« klagte Luise schluchzend.
Diesen Jammer konnte Gretchen nicht mitanhören. Sie besann sich nicht lange, lief schnell hinauf ins Schulzimmer, holte ihre eigene Tafel, gab sie der kleinen Unglücklichen und sagte:
»Da, ich schenke dir meine, wir haben Geld, wir können eine neue kaufen.«
Nun hättet ihr aber sehen sollen, wie es plötzlich auf dem kleinen, tränenüberströmten Gesicht aufleuchtete, wie wenn die Sonne unter dichtem Gewölk hervorbricht, so verbreitete sich ein Schimmer von Glückseligkeit auf diesem Kindergesicht.
»Ist's auch dein Ernst?« fragte Luise noch zweifelnd, und als Gretchen dies fröhlich bejahte, drückte sie die neue Tafel fest an sich und trug sie sorgfältig, damit sie ihr gewiß nicht hinunterfalle und zerbreche, wie die erste.
Als die Freiviertelstunde aus war, erzählte der Lehrer eine biblische Geschichte. Da war unter allen Kindern keines, das so gespannt auf jedes Wort hörte, wie der Schäfer-Hans. Ihm war das alles ganz neu. Überhaupt hatte ihm noch nie im Leben jemand eine Geschichte erzählt. Der Lehrer bemerkte wohl, daß dieser Schüler keinen Blick von ihm verwandte, wenn er ihn aber etwas fragte, so brachte der Kleine doch keine Antwort heraus, so daß sich der Lehrer wunderte, denn er wußte nicht, wie wenig der Hans im Reden geübt war und wie stumm es bei ihm zu Hause zuging. Da war Gretchen[21] schon anders. Die war immer flink mit Red und Antwort bei der Hand. Nur heute schien sie nicht recht bei der Sache. Mit Schrecken war ihr eingefallen, daß die Mutter ihr verboten hatte, ungefragt etwas zu verschenken und nun hatte sie's doch getan! Was würde die Mutter sagen! Wenn ihr nur Luise die Tafel noch einmal zurückgäbe, bis sie um Erlaubnis gefragt hätte.
Als die Schule vorüber war, ging Gretchen mit Luise die Treppe hinunter und sagte zu ihr: »Gibst du mir nicht meine Tafel noch einmal? du bekommst sie schon heute Nachmittag wieder, aber weißt du, es ist mir eingefallen, daß ich vorher die Mutter fragen muß.«
Luise nahm augenblicklich die Tafel wieder aus ihrem Ranzen, sah zu, wie Gretchen diese in den ihrigen schob und sagte ganz ergeben: »Ich hab' mir's schon gedacht.«
»Was hast du dir gedacht?«
»Daß es nicht dein Ernst ist.«
»Freilich ist's mein Ernst, ich frage gleich die Mutter, ich weiß ganz gewiß, daß sie's erlaubt.«
Luise schüttelte ungläubig den Kopf.
»Es ist immer so,« sagte sie und ging fort. Gretchen aber konnte es nicht ertragen, daß sie so traurig war und lief ihr nach.
»Was ist immer so?« fragte sie.
»Daß man einem etwas verspricht, und daß es dann nicht wahr ist.«
»Aber bei mir ist's nicht so.«
»Gerade so hat neulich des Müllers Mariechen gesagt, wie ich ihren Ball aus dem Brunnenloch geholt habe. Sie hat mir einen Apfel versprochen und hat mir doch keinen gegeben; und am Sonntag da habe ich unserer Nachbarin ihre kleinen Buben gehütet und einer hat mir die Schürze zerrissen. Sie hat gesagt, ich soll nicht weinen; sie gehe selbst zum Vater und sage ihm, daß ich nichts dafür könne und eine neue Schürze wolle sie mir auch geben. Aber sie ist nicht zum Vater gekommen, sie hat keine Zeit gehabt und den Stoff hat sie nicht gefunden, aus dem sie mir eine Schürze hat machen wollen. Es ist immer so.«
»Aber bei uns ist's nicht so!« rief Gretchen, »du wirst's[22] schon sehen,« und nun lief sie eiligst heim, denn sie hatte sich schon zu lange bei Luise aufgehalten.
»Mach schnell, daß du hineinkommst,« sagte Lene, »die Suppe steht schon auf dem Tisch, du kommst zu spät.«
Das Tischgebet war wirklich schon gesprochen und der Vater sah ärgerlich auf Gretchen, die vom raschen Lauf ganz erhitzt aussah und die sich nun, ganz erfüllt von ihrer Angelegenheit, ohne Entschuldigung an den Tisch setzte und sofort begann:
»Mutter, nicht wahr, ich darf meine Tafel der Luise Seiz schenken, sie hat die ihrige zerbrochen.«
»Da dürfen wir viele Tafeln kaufen,« sagte die Mutter, »wenn du immer deine hergeben willst, so oft eines von den fünfzig Schulkindern die seinige zerbricht.«
»O Mutter, laß mich's doch,« sagte Gretchen gleich so stürmisch und dringend, daß der Vater ärgerlich rief: »Was soll denn das wieder für eine Torheit sein! Seine Schultafel, die man selbst braucht, verschenkt man nicht. Davon kann keine Rede sein.«
Gretchen war so bestürzt, daß sie in Tränen ausbrach, was ihr nur sehr selten passierte, denn schon als ganz kleines Mädchen war sie immer hinausgeschickt worden, wenn sie weinte, und so sagte der Vater auch jetzt: »Geweint wird draußen, das weißt du. Willst du also im Zimmer bleiben, so sei still.« Mit Mühe gelang es Gretchen, ihre Tränen zu unterdrücken, und es war ihr fast unmöglich, etwas zu essen, und als die Mutter mitleidig sie auf andere Gedanken bringen wollte und sagte: »Denke nur, unsere Katze hat Junge bekommen,« konnte Gretchen keinen Laut von sich geben; es wären sonst wieder Tränen gekommen.
Das Essen war kaum vorbei, als Gretchen auch schon das Zimmer verließ und hinunterrannte in den Garten, wo sie sich ganz verzweifelt auf die Bank im Gartenhäuschen warf und, den Kopf auf den Tisch gelegt, bitterlich weinte. Immer hörte sie in Gedanken wieder Luisens trübselige Worte: »Es ist immer so,« und sie mochte gar nicht daran denken, daß das arme Kind nun Recht behalten sollte.
»Nun, nun, was gibt's denn eigentlich?« fragte plötzlich die Mutter, die ihr Kind im Garten aufgesucht hatte.
»Ach, Mutter, Mutter,« rief Gretchen und warf sich ganz außer sich in der Mutter Arme.
»Nur still und lieb,« beruhigte die Mutter, »sage mir nur vernünftig, was du eigentlich hast.«
Gretchen nahm sich zusammen und erzählte nun der Mutter ausführlich, wie es Luise mit der Tafel gegangen sei, wie sie ihr dann die eigene geschenkt und nachher wieder weggenommen habe, weil sie erst um Erlaubnis fragen wollte. »Ach Mutter,« schloß Gretchen, »wenn der Vater gehört hätte, wie traurig Luise war, als sie zu mir sagte: ›Es ist immer so,‹ dann hätte er mir ganz gewiß erlaubt, daß ich ihr meine Tafel schenke.«
»Das glaub' ich selbst,« sagte die Mutter, »aber der Vater konnte es ja gar nicht wissen, er sah und hörte nur, wie sein Gretchen zu spät zu Tische kam und wie es hastig und ungestüm verlangte, seine Tafel herschenken zu dürfen. Da sagte er natürlich ›nein‹. Anstatt ihm dann verständig deine Geschichte zu erzählen, bist du in Tränen ausgebrochen, obwohl du weißt, daß er das nicht leiden kann.«
Gretchen senkte beschämt das Köpfchen und widersprach nicht; sie fühlte wohl, daß die Mutter recht hatte.
»Der kleinen Luise muß aber geholfen werden,« setzte die Mutter jetzt freundlich hinzu, »ich möchte selbst, daß du dein Versprechen mit der Tafel erfüllst.«
»O Mutter, du erlaubst es also?« rief Gretchen und sah voll Hoffnung in der Mutter freundliches Gesicht.
»Ich kann's nicht erlauben, weil's der Vater verboten hat; aber er wird's selbst erlauben, wenn er alles erfährt.«
»O bitte, Mutter, sag' du's ihm und überrede ihn.«
»Nein, Kind, das ist nicht meine Sache, das mußt du tun, denn du hast die Sache ungeschickt gemacht und mußt sie nun wieder zurecht bringen.«
Gretchen wurde nachdenklich.
»Wo ist der Vater?« fragte sie.
»Er ist in seinem Zimmer und liest die Zeitung.«
»Da mag er gar nicht gern von mir gestört werden, Mutter.«
»Wenn du recht bescheiden zu ihm gehst und fragst, ob du ihm etwas erzählen dürfest, wird er dich schon anhören.«
Aber Gretchen konnte sich nicht entschließen. Sie mochte den Vater, der sie eben erst so streng abgewiesen hatte, nicht bitten.
Die Mutter sah, daß Gretchen einen schweren Kampf mit ihrem kleinen hochmütigen Herzen kämpfte.
»Ei, Gretchen,« sagte sie, »ist das deine ganze Liebe für die Armen? Du verschenkst wohl alles mit leichtem Herzen, weil du weißt, daß du doch noch genug hast. Wenn du aber so einem armen Mädchen zulieb deinem Vater gute Worte geben sollst, so ist dir dies Opfer schon zu groß. Willst du lieber die kleine Luise ohne Tafel jeden Tag wieder den sauren Gang zum Lehrer tun lassen, als daß du einmal für sie zu deinem Vater gehst? Dann hat freilich die arme Luise recht, wenn sie sagt: ›Es ist immer so‹.«
Diese letzten Worte trugen bei Gretchen den Sieg davon.
»Ich gehe, ja, ich gehe,« sagte sie, und ohne sich noch einmal zu besinnen, verließ sie den Garten, ging hinauf und öffnete des Vaters Türe, so leise und bescheiden, wie man es von ihr gar nicht gewöhnt war. Der Vater saß in seinem Lehnstuhl und las. Er blickte auf.
»Vater,« sagte Gretchen und trat zaghaft näher, »darf ich dir etwas erzählen?«
»Ja, wenn's ohne Tränen geht und wenn nichts von einer Tafel drin vorkommt.«
»Es geht ohne Tränen, aber von einer Tafel muß etwas vorkommen, sonst kann man's gar nicht erzählen.«
»So, nun laß eben hören,« sagte der Vater, und nun erzählte Gretchen so rührend von Luisens Not mit der Tafel, von ihren schlimmen Erfahrungen mit dem Apfel und mit der Schürze und wie sie so schmerzlich wiederholt habe: »Es ist immer so,« daß der Vater endlich rief: »Jetzt ist's aber so traurig, daß mir selbst fast die Tränen kommen.«
Ungläubig sah Gretchen zum Vater auf und lächelte: »Dir kommen sie nie, Vater.«
»Doch, doch, wenn du nicht heute nachmittag noch dem kleinen Unglückskind eine Tafel bringst.«
»Also darf ich?!« rief Gretchen und fiel dem Vater in hellem Entzücken um den Hals.
»Freilich,« sprach der Vater; »ist denn aber noch eine Tafel da?«
»Ich will gleich die Mutter fragen; sie ist im Garten,« sagte Gretchen und ging mit dem Vater hinaus.
Aber die Mutter war längst nimmer im Garten, sie hatte sich gedacht, daß man sie bald brauchen würde, und war schon bereit.
»Mutter, ich darf! aber haben wir denn noch eine Tafel?«
»Nein; aber es ist noch nicht Zeit zur Schule, du kannst wohl noch zum Kaufmann gehen und eine holen. Hier ist das Geld.«
Gretchen rannte davon.
»Was meinst du dazu,« sagte der Vater, »wenn wir dem Kind auch noch einen Apfel schicken würden und vielleicht fände sich auch noch ein Schürzchen, das man entbehren könnte; es wäre ein gutes Werk, wenn man dem kleinen Geschöpf wieder ein besseres Vertrauen in die Menschheit einflößen könnte.«
Die Mutter war ganz mit einverstanden und als Gretchen mit der neuen Tafel zurückkam, hatte die Mutter schon einen Apfel und eine Schürze zurechtgelegt.
»Willst du das deiner Luise mitbringen und ihr sagen, die Menschen seien doch nicht so schlimm, wie sie meint?« fragte der Vater.
Gretchen war's, als habe sie ihren Vater noch gar nie so lieb gehabt, wie eben jetzt. Als sie dankte, wären ihr fast Freudentränen gekommen und das durfte doch nicht sein, wenn der Vater da war.
Gretchen ging am Schulhaus vorbei der kleinen Luise entgegen, ihre drei Schätze: Tafel, Schürze und Apfel hatte sie in ihrem Ranzen. Jetzt trafen die zwei Kinder zusammen; unser glückliches, fröhliches Gretchen und die ängstliche, trübselige Luise.
»Ich hab' dir eine Tafel mitgebracht, noch eine schönere als die meinige, sieh nur her!« und Gretchen packte ihren Ranzen auf und zog die neue Tafel heraus. Luise sah begierig darauf, aber sie traute sich nicht, die Tafel zu nehmen.
»Hat's deine Mutter erlaubt?« fragte sie zögernd.
»Jawohl, die Mutter hat's erlaubt und der Vater auch, und er hat gesagt, die Menschen seien nicht so schlimm, wie du meinst, und da ist auch noch ein Apfel für dich und auch eine Schürze.«
Nun war aber Luisens Gesicht auch nimmer trübselig, nein, es strahlte ebenso, wie das von Gretchen.
»O, ihr seid gute Leute!« rief sie, nahm die Tafel, besah sie von allen Seiten und drückte sie zärtlich an sich. Auch das Schürzchen kam ihr wunderschön vor. Sie hätte es am liebsten gleich angezogen und hätte wohl auch gerne gleich den Apfel verzehrt, aber dazu war nun keine Zeit mehr. Jeden Augenblick konnte es zwei Uhr schlagen und die beiden Mädchen liefen eilig der Schule zu.
»O wie hab' ich so Angst gehabt vor dem Lehrer, ehe du gekommen bist,« sagte Luise.
»Aber ich habe dir doch gewiß versprochen, daß ich dir eine Tafel mitbringe.«
»Ich habe dir's gar nicht geglaubt,« antwortete Luise offenherzig.
An diesem Nachmittag wurde in der Schule nur gesungen und gelesen.
»Nun hätte es gar nicht so geeilt mit der Tafel,« dachte Gretchen halb ärgerlich.
Da, ganz unverhofft, als Luise am Lesen war, rief der Lehrer von seinem Pult aus: »Du, komm einmal heraus zu mir und bring' deine Tafel mit,« dabei nahm er schon sein Rohr in die Hand.
Ach, was wäre das für Luise für ein schrecklicher Augenblick gewesen!
Alle Kinder wandten neugierig die Köpfe nach ihr um, Gretchen aber sah ihr ganz beglückt nach, als sie tapfer auf den Lehrer zuging und ihm die neue Tafel vorhielt.
»So,« sagte dieser, »das ist dein Glück, daß du eine andere Tafel hast und dazu noch eine so schöne; so ist's recht, geh nur wieder an deinen Platz.«
Gretchen und Luise waren nicht die einzigen, die an diesem Nachmittag vergnügt aus der Schule kamen. Auch des Schäfers Hans war in glücklicher Stimmung. Ihm war heute ein großes Licht aufgegangen: in der Schule lernte man schreiben, das hatte er bisher noch nicht gewußt; wenn er aber schreiben konnte, so dachte er weiter, dann konnte er ja seiner tauben Großmutter alles mitteilen, was er wollte, wie er das schon manchmal vom Vater gesehen hatte. Wie oft hatte er sich das schon gewünscht! Er konnte nur noch nicht recht glauben, daß die Großmutter auch seine Buchstaben lesen konnte. Sobald er nach Hause kam, nahm er seine Tafel, die noch ganz voll »i« war und zeigte sie der Großmutter. Ob sie wohl wußte, daß das »i« waren? Die Großmutter sah die Tafel an und nickte. Damit war der Hans aber nicht zufrieden. Er hielt ihr noch einmal die Tafel hin und blickte so fragend auf, daß die Großmutter wohl merkte, er wolle etwas von ihr wissen.
»Es ist schön,« sagte sie jetzt.
Aber das war immer noch nicht das rechte. Die Großmutter ging in die Küche, dort hatte sie zu tun. Da kam der Hans hinaus, hielt ihr zum drittenmal seine Tafel hin, zugleich aber brachte er ihr auch ihre Brille, denn das hatte er schon bemerkt, wenn die Großmutter etwas lesen wollte, nahm sie immer ihre Brille. Und richtig, jetzt verstand die Großmutter was er wollte. Sie deutete auf den ersten Buchstaben und las »i«. Triumphierend sah der Hans, daß die Großmutter wirklich lesen konnte, was er geschrieben hatte. Als die gute alte Frau seine Freude sah, deutete sie mit ihrem zitternden Finger von einem Buchstaben zum andern und las immer wieder »i«. Der Hans aber war sehr glücklich. Den ganzen Abend schrieb er, löschte es wieder aus und schrieb aufs neue und machte so fort, bis es Nacht wurde. Die letzten Buchstaben aber, die auf der Tafel blieben, waren gar schön und gleichmäßig und standen in Reih und Glied unter einander wie Soldaten.
»Wer hat das geschrieben?« fragte am nächsten Tag der Lehrer, als er an die letzte Bank kam und Hans ihm seine Tafel hinreichte. – »Ich,« antwortete dieser.
»Das hast du nicht selbst geschrieben. Wer hat dir geholfen?«
Der Hans sah den Lehrer groß an und antwortete nicht.
»Sag's nur!« drängte der Lehrer; aber der Hans wußte nichts zu sagen.
»Ich will schon herausbringen, ob du das selbst geschrieben hast. Wisch einmal deine Tafel ab. So – nun schreib noch einmal eine Seite »i«.« Der Hans nahm sogleich seinen Griffel, der war wieder fein wie ein Spieß.
»Wer hat den Griffel gespitzt?« wollte jetzt der Lehrer wissen.
»Ich.«
»Auch du?« fragte der Lehrer ungläubig; »mit was hast du ihn denn so fein gespitzt?«
»Mit einem Brunnentrog.«
Während der Hans schrieb, ging der Lehrer weiter zu den Mädchen. Bald ertönte seine Stimme wieder.
»Was ist denn das für eine erbärmliche Schreiberei? Das sind ja gar keine »i«; keins hat einen Punkt und die meisten haben nur zwei Striche statt drei! Da seht einmal her,« und er hob die Tafel hoch in die Höhe, daß alle Kinder die sonderbare Schreiberei sehen konnten. Das Mädchen, das die schlechte Schrift geliefert hatte, saß neben des Apothekers Emilie.
»Du hast gestern auch deine Sache so liederlich gemacht, du verdienst nicht so weit vorn zu sitzen. Nimm deinen Ranzen und setz dich auf die letzte Bank; Gretchen Reinwald, komm her und tausche mit ihr den Platz.«
»Ich?« rief Gretchen Reinwald ganz überrascht.
»Ja du, du paßt besser hieher.«
Da nahm Gretchen ihre Sachen zusammen und setzte sich neben Emilie, die sehr vergnügt darüber schien. Auch die andern, die in der Nähe saßen, freuten sich über diesen Tausch, denn sie[29] wußten alle schon, daß die kleine Reinwald eine immer lustige Kamerädin war und dabei so gutherzig, daß keine neidisch war über ihr Vorrücken. Auch Gretchen hätte sich gefreut, aber das Mädchen, das nun in die hinterste Bank mußte, weinte gar bitterlich und das verdarb Gretchen die ganze Freude.
Jetzt kam der Hans heraus und hielt dem Lehrer seine Tafel hin.
»Wahrhaftig, du kannst!« rief der Lehrer, klopfte ihm freundlich auf die Schulter und rief: »Seht, so müßt ihr's alle lernen, wie der Zaiserling. Der kann's am besten.« Der Hans setzte sich ruhig wieder hinten an seinen Platz. »Fibeln heraus!« befahl nun der Lehrer, und jetzt ging's ans Lesen: im – am – mi – ma; bei manchen ging es recht langsam und es war den Kindern nicht übel zu nehmen, daß es ihnen etwas langweilig vorkam und war auch kein Wunder, daß die sämtlichen Köpfe sich neugierig erhoben und alle sich der Unterbrechung freuten, als unverhofft die Türe aufging. Der alte Lehrer, Herr Baumann, trat herein. Er kam aber nicht allein, er führte einen Knaben an der Hand, der ganz anders aussah, als die Kinder des Städtchens. Er trug ein schwarzes, mit Spitzen besetztes Samtanzüglein, das aus der Ferne sehr schön aussah, in der Nähe konnte man freilich bemerken, daß es nimmer ganz neu war. Als er ins Zimmer trat, nahm er sein Samtmützchen vom Kopf, und unter diesem kam ein kohlschwarzes Haar zum Vorschein. Auch die Augen, die aus dem schmalen, blassen Gesicht hervorglänzten, waren ganz schwarz.
»Hier bring ich Ihnen einen neuen Schüler,« sprach Herr Baumann zu dem jungen Lehrer; »es ist ein kleiner Spanier. Er heißt Felix Acosta. Sein Vater war bei einem Zirkus angestellt und ist verunglückt. Seine Mutter ist auch gestorben. Sie war aber von hier und man hat das Kind nach ihrem Tod hierhergeschickt zu ihren Verwandten. Der Knabe ist zwar schon neun Jahre alt, aber da er noch nicht in der Schule war, wird er doch in der untersten Klasse anfangen müssen. Siehst du, Felix,« fügte er hinzu, »das ist dein Lehrer, gib ihm die Hand.«
Der kleine Bursche reichte dem Lehrer die Rechte. Alle Kinder sahen es und alle konnten bemerken, daß an dieser kleinen Hand der Daumen fehlte. Herr Stein betrachtete aufmerksam die verstümmelte Hand.
»Da wird das Schreiben schwer gehen,« sagte er; »wie ist er wohl um seinen Daumen gekommen?«
Herr Baumann wollte eben antworten, da trat der Junge einen Schritt vor, so daß er frei dastand und ihn alle sehen konnten, dann sprach er mit lauter Stimme und fremdartiger Aussprache: »Sie sehen, meine verehrten Herrschaften, daß meine Hand hat verloren ihren Daumen. Vor zwei Jahren bekam unsre afrikanische Löwin ein Junges. Gleich nach der Geburt brachte mein Vater das junge Tier in einen besonderen Käfig und führte mich zu demselben hinein. Ich war damals sieben Jahre alt. Man legte das junge Tier, das ungefähr die Größe einer Katze hatte, in meine Arme, man brachte mir Milch in einer Saugflasche, wie man sie reicht den kleinen Kindern. Ich gab dem kleinen Löwen zu trinken, ich streichelte ihn, ich liebkoste ihn, und er ließ sich's gefallen. Den ganzen Tag waren wir beisammen, bloß nachts kam der kleine Löwe zu seiner Alten. Es wurde nun in der Stadt bekannt gemacht, daß zu sehen wäre ein siebenjähriger Knabe, der einen jungen Löwen füttert und mit ihm spielt. Da kamen die Leute in solchen Haufen, daß jeden Tag alle Plätze waren überfüllt und die Leute jubelten vor Vergnügen, wenn ich gab dem kleinen Tier zu trinken, wenn ich mit ihm auf dem Boden herumkugelte oder einen Ball rollen ließ, nach dem der kleine Löwe sprang wie eine Katze. Wir waren damals in New-York, der größten Stadt Amerikas, und wir nahmen ein soviel Geld wie nie vorher. So ging es einige Wochen lang, dann trat ich wieder in den Käfig und viele hundert Menschen klatschten mir Beifall. Ich nahm meinen Löwen, der nun schon groß und stark wurde, und reichte ihm die Milch. Da plötzlich ließ er sie los, schnappte nach meiner Hand, ein Biß, ein Riß – und weg war mein Daumen. Ich warf das Tier auf den Boden und tat einen Schrei.[31] Die Leute hörten es und sahen das Blut, das mir über die Hand strömte. Sie entsetzten sich und die meisten eilten fort. Mein Vater aber trat zu mir in den Käfig. Mit einer Lederpeitsche schlug er auf das kleine Tier, daß es brüllte und die alte Löwin, die nebenan im Käfig war, brüllte mit, daß alles erzitterte, und schlug gegen die Wand, die uns trennte. Mein Vater aber trug mich hinaus und ich wurde verbunden. Als nach drei Tagen das Wundfieber vorbei war, fragte man mich, ob ich würde wagen, wieder zu dem kleinen Löwen zu gehen. Ich sagte »Ja«, denn ich liebte meinen jungen Löwen und hatte ihm seine Grobheit schon verziehen. Man ließ mir nun dicke lederne Fausthandschuhe bringen und umwand mir beide Arme und beide Beine mit Seilen. Mit einer Peitsche bewaffnet, trat ich morgens, ehe die Zuschauer kamen, zum erstenmal wieder in den Käfig. Das kleine Tier schnappte gleich wieder nach mir und wollte mich ins Bein beißen, doch da es auf die Stricke biß, ließ es nach. Ich kugelte nun den Ball, wie ich sonst getan hatte, aber der kleine Löwe sah nicht mehr auf den Ball, sondern biß auf meine Arme und Hände.
»Peitsch ihn, peitsch ihn,« rief mir mein Vater zu. Ich schlug nach dem Tier, da verkroch es sich in die Ecke. Ich bückte mich nun, um den Ball wieder zu holen. Da fuhr es auf mich los und hielt mich mit seinen Klauen fest, daß ich mich kaum losmachen konnte. Ich war bald erschöpft und verließ den Käfig. Noch dreimal versuchte ich in den nächsten Tagen das Tier zu bändigen, aber seine Zähne und Klauen wurden täglich stärker, sie drangen zwischen den Seilen hindurch, mit denen ich umwickelt war, und verwundeten mich. So mußte ich es aufgeben und ist dies ein Beweis, daß ein wildes Tier sich nicht zähmen läßt von einem Kinde. Es gehört dazu ein erwachsener Mensch, der durch seine hohe Gestalt und durch seinen durchdringenden Blick das Tier in der Furcht erhält.
Auf diese Weise, meine verehrten Herrschaften, bin ich um meinen Daumen gekommen. Doch habe ich um so besser gelernt, meine andern Finger zu gebrauchen, und wenn Sie[32] mir wollen Geldstücke zuwerfen, so werden Sie sehen, daß ich sie werde auffangen sehr geschickt mit vier Fingern und wird nicht eines zu Boden fallen.«
In sprachlosem Erstaunen hatten Lehrer und Kinder dieser langen Rede gelauscht. Nun hielt der kleine Mann inne, streckte sein verstümmeltes Händchen aus und schien erstaunt, daß ihm niemand ein Geldstück zuwarf; hatte er doch seit zwei Jahren fast täglich diesen Vortrag vor den Besuchern des Zirkus gehalten, und eine hohe Geldsumme eingebracht durch die kleinen Gaben, die ihm am Schluß zugeworfen wurden.
»Ja, mein kleiner Felix Acosta,« sagte Herr Baumann, »hier streckst du deine Hand vergeblich aus; wir sind jetzt nicht im Zirkus, sondern in der Schule; weil du uns aber alles so schön erzählt hast, so will ich heute nach der Nachmittagsschule wieder herüberkommen und einige Geldmünzen mitbringen, damit du uns deine Kunst zeigen kannst. Jetzt aber setze dich ruhig zu den Kindern und Sie, Herr Stein, müssen eben sehen, was Sie dem Kleinen beibringen können.«
»Er scheint ja ganz aufgeweckt,« sprach der Lehrer, »und ist ja auch schon älter als die andern Kinder; aber mit dem Schreiben wird es schwer gehen.«
»O, Sie werden sehen, daß es wird gehen sehr gut, ich kann mit meinen vier Fingern mehr als andere mit fünf.«
Der Lehrer lachte.
»Er hat eine gute Meinung von sich selbst; nun, wir werden schon sehen.«
Herr Baumann verließ nun das Zimmer.
»Macht Platz in der ersten Bank!« rief Herr Stein.
Die Knaben rückten schnell zusammen. Wer hätte nicht gerne einen kleinen Löwenbändiger neben sich sitzen lassen!
»Kannst du schon lesen?« fragte Herr Stein.
»Ich kann spanisch lesen und ein wenig englisch, aber kein deutsch.«
»Nun, so sieh einstweilen deinem Nachbar ins Buch, du wirst's bald lernen.«
Bald war alles wieder in der Schule in gewohntem[33] Gang und der schwarzhaarige Spanier verhielt sich ganz ruhig zwischen seinen blonden deutschen Kameraden. Nach der Schule aber drängte sich alles wieder um den interessanten Fremdling, besonders der Hans ging halb bewundernd halb scheu um ihn herum. Wie man so eine lange Rede halten konnte, war ihm ganz unfaßlich. Im ganzen Jahre hatte er wohl noch nicht so viel Worte gesprochen, als dieser kleine Fremde heute morgen.
Auch Gretchen war voll Bewunderung und während des Mittagessens wiederholte sie den Eltern die ganze Erzählung des kleinen Spaniers. Fast hätte sie darüber vergessen, daß sie noch etwas Wichtiges zu berichten hatte. Sie war ja in die zweite Bank vorgerückt! Sie selbst hatte sich nicht besonders darüber gefreut und so schien es auch den Eltern zu gehen.
»Wenn du einmal wegen deines Fleißes vorrückst, dann will ich mich herzlich darüber freuen,« sagte der Vater, »so aber sehe ich gar nicht ein, warum gerade du den Vorteil davon haben mußt, daß eine andere ihre Sache schlecht macht.«
»Ich seh' es auch nicht ein,« sagte Gretchen gutmütig, »überhaupt, wenn das so ist, daß man nur vorwärts kommt, wenn eine andere rückwärts kommt, dann kann man sich eigentlich nicht darüber freuen. Aber der Lene muß ich's erzählen, das ist etwas für die.« – Gretchen sprang hinaus in die Küche und dort wurde ihre Neuigkeit ganz anders aufgenommen.
»So, jetzt glaub' ich's erst, daß euer Lehrer etwas Rechtes ist. Am Sonntag, wenn ich zu meinen Leuten heim gehe, bringe ich dir einen Busch Maiblumen und Waldmeister mit, den darfst du deinem Lehrer schenken.«
»Dem Lehrer? Lieber der, die jetzt auf der letzten Bank an meinem Platz sitzen muß!« meinte Gretchen.
»Die wird's nicht verdienen, aber ich bringe dir genug für beide.«
Inzwischen sagte der Vater zur Mutter: »Das Kind wird uns in der Schule verwöhnt, sie kommt vorwärts, ohne daß sie sich Mühe gibt.«
»Ja,« sagte die Mutter, »ich hätte ihr nicht so viel[34] voraus lehren sollen, es wird ihr nun gar zu leicht und der Lehrer ist zu nachsichtig gegen sie. Macht sie etwas flüchtig oder vergißt sie es ganz, so droht er ihr nur und straft sie nie.«
»Ja, ja, es geht ihr zu gut; früher oder später wird sie's büßen müssen!«
Mit ein paar Pfennigen in der Tasche, die ihr die Eltern gegeben hatten, um den kleinen Künstler damit zu erfreuen, sprang Gretchen fröhlich in die Nachmittagsschule. Auf der Treppe traf sie den Hans.
»Du,« sagte sie zu ihm, »spitz mir meinen Griffel auch einmal so fein mit deinem Brunnentrog.«
»Gib her!«
Gretchen hatte mehrere im Vorrat, die waren alle stumpf, denn Gretchen spitzte sie nicht gerne und vergaß es auch meistens. So übergab sie Hans gleich drei auf einmal und von da an sorgte Hans getreulich dafür, daß Gretchens Griffel im Stande waren.
Der Lehrer und alle Kinder waren versammelt, der Unterricht hatte begonnen, aber der Held des Tages, Felix Acosta, fehlte noch. Ein unzufriedenes Gemurmel ging durch die Reihen der Schulkinder: »Der kommt gar nicht.« Aber er kam doch.
»Warum so spät?« fragte der Lehrer.
»Ich wußte nicht, daß Ihre Vorstellung beginnt so bald,« sprach der Kleine. Der Lehrer lachte.
»Ja,« sagte er, »bei mir beginnt die Vorstellung Punkt zwei Uhr, nur heißt man das gewöhnlich nicht Vorstellung, sondern Schule.«
Felix hatte sich inzwischen an seinen Platz gesetzt und seine Tafel vor sich gelegt, wie er es von den andern sah. Der Lehrer machte ihm Striche vor.
»Nun probier einmal, auch solche Striche zu machen,« sagte er.
Felix faßte den Griffel ganz geschickt mit dem zweiten und dritten Finger und die Striche wurden nicht schlechter, als bei den andern Kindern.
»Es wird gehen,« sagte der Lehrer befriedigt.
Pünktlich um vier Uhr trat Herr Baumann ins Zimmer und rief den Kindern freundlich zu: »So, nun packt eure Sachen zusammen, dann wollen wir sehen, was unser kleiner Künstler kann!«
Nun gab es ein großes Gepolter und merkwürdig schnell verschwanden diesmal die Tafeln und Federkästchen in den Ranzen; dann ward alles still – erwartungsvoll blickte die Schuljugend auf Felix Acosta.
Dieser stellte sich nun an die Türe, während Herr Baumann ihm gegenüber ans Fenster trat.
»Nun zeige, was du kannst,« rief er und warf dem Kleinen eine Kupfermünze zu. Herr Baumann hatte nicht weit genug geworfen, die Entfernung war groß und die Münze flog bloß über die Hälfte des Zimmers. Aber blitzschnell war ihr Felix entgegengesprungen und fing sie glücklich in seiner kleinen, verstümmelten Hand auf.
»Bravo, bravo,« riefen die beiden Lehrer, und Felix stellte sich wieder an die Türe.
»Nun will ich stärker werfen,« rief Herr Baumann und warf nocheinmal in einem weiten Bogen. Diesmal flog das Geldstück bis an die Türe, schlug an dieser an und prallte wieder ab, aber niemand hörte es fallen.
»Wo ist das Geldstück?« fragte der Lehrer.
»Hier,« antwortete Felix ganz ruhig und zeigte die Münze in seiner Hand. Er hatte sich so wenig bewegt, daß man gar nicht bemerkt hatte, wie er sie, von der Türe weg, aufgefaßt hatte.
»Nun probieren Sie's einmal,« sagte Herr Baumann zu dem jungen Lehrer. Dieser stellte sich an den Katheder, um von dort aus zu werfen. Er hob den Arm hoch und tat, als ob er sein Geldstück in alle Weite werfen wollte, warf es aber dann nur ganz leicht vor sich in die Höhe. Aber Felix Acosta hatte seine List gleich durchschaut, denn all dies war ihm schon gar oft vorgekommen. Mit einem Satz war er am Katheder und kam gerade noch recht, um die Münze aufzufangen. Nun war allgemeiner lauter Jubel bei den Kindern und ohne lange zu fragen, warf Gretchen aufs geratewohl[36] ihre beiden Pfennige auf ein Mal dem Künstler zu. Dieser war aber auch an solche Überraschungen gewöhnt; er hatte sogleich mit jeder Hand einen der Pfennige gefaßt und reichte nun einen der beiden Gretchen wieder hin: »Dies gilt nicht, weil ich es habe gefangen mit der linken Hand. Wenn aber das kleine Fräulein so gütig sein will und noch einmal werfen, ich werde es fangen mit der Rechten.«
Gretchen lachte laut, es war doch auch zu komisch, von einem Schulkameraden als »kleines Fräulein« angeredet zu werden. Sie nahm das Geldstück noch einmal und dachte, voll Mutwillen, es hinter sich zu werfen, mitten unter die Schulbänke, dann konnte es Felix doch sicher nicht fangen; aber sie brachte es doch nicht über sich, ihm den Spaß zu verderben, und warf nun den Pfennig so gut wie möglich, so daß es wirklich keine Kunst für Felix war, ihn zu fangen. Er hatte auch offenbar ihre freundliche Absicht bemerkt, denn nachdem er die Münze ergriffen hatte, stellte er sich vor Gretchen hin, spielte mit dem Geldstück wie mit einem Ball, indem er es in die Höhe warf und so oft es herunterkam, gleich wieder hinaufschlug, so daß alle Kinder ihm staunend zujubelten.
Nun aber machte Herr Baumann der Lust ein Ende.
»Jetzt ist's genug,« sprach er. »Wir haben nun schon gesehen, wie nett du deine Sache kannst, das verstehst du besser als wir alle. Es gibt aber noch andere nützliche Dinge zu lernen und ich will sehen, ob du dich zu diesen auch so geschickt anstellst! Du kannst nach der Schule alle Tage zu mir kommen, bis du soviel kannst, wie die andern Kinder.«
Zum großen Bedauern aller Kinder wurde ihnen nun Felix Acosta entführt, Herr Baumann nahm ihn mit sich hinauf in sein Zimmer. Dort rückte er einen Stuhl an den Tisch und sagte: »So, nun setze dich her, kleiner Mann, und nimm deine Fibel.«
Während Felix sein Buch herrichtete, sprach der alte Lehrer: »Weißt du, daß auch deine Mutter schon zu mir in die Schule gegangen ist?«
Bei diesen Worten hob der Kleine lebhaft den Kopf: »Zu Ihnen? gerade so wie ich?« rief er verwundert.
»Jawohl, acht Jahre lang ist sie in dieses Schulhaus gekommen, ich kann mich ihrer wohl noch erinnern, sie war ein liebes, schönes Mädchen.«
»O mein Mütterlein, mein lieb, lieb Mütterlein, nur für ein einziges kleines Stündlein möchte ich sie wieder haben!« rief in plötzlich erwachender Sehnsucht das arme Kind und brach in bittere Tränen aus. Der Lehrer war ganz bestürzt; er hatte nicht gewußt, daß dies Kinderherz noch ganz von der Trauer um die kürzlich verstorbene Mutter erfüllt war. Er ließ den Kleinen weinen und suchte ihn nicht zu trösten.
»Es ist vielleicht gut, wenn er sein Heimweh einmal recht ausweint,« dachte er und ging im Zimmer auf und ab; so oft er aber an dem Knaben vorbeikam, strich er ihm freundlich über das dunkle Lockenhaar. Endlich, als er merkte, daß das Schluchzen nachließ, sagte er: »Deine Mutter hat vor ihrem Tode selbst noch gebeten, daß man dich hieher schickt, nicht wahr?«
»Ja, ja; sie selbst wollte schon kommen nach Deutschland, als mein Vater gestorben war, aber der Herr hat sie nicht gehen lassen; er wollte auch mich behalten, aber er hat meiner Mutter auf ihrem Totenbett versprechen müssen, daß er mich hieher schickt.«
»Und weißt du auch, warum sie es so gewünscht hat?«
»O ja, sie hat es mir oft gesagt: Du sollst nicht so ein Leben führen, wie diese Leute im Zirkus, du sollst in meine Heimat, dort werden sie dich zu einem frommen, rechtschaffenen Mann erziehen.«
»Ja, das werden sie, liebes Kind! Wenn du nur selbst willst und der liebe Gott seinen Segen dazu gibt, so soll deiner Mutter Wunsch in Erfüllung gehen!«
Von diesem Tag an nahm sich der alte Lehrer treulich des kleinen Fremdlings an und suchte das Herz des armen Waisenknaben seinem himmlischen Vater zuzuführen.
»Heute könnt ihr euren Spruch schlecht,« rief der Lehrer, »nun sagt ihn noch einmal alle zusammen her, und wer ihn dann nicht allein kann, der soll's fühlen!« Bei diesen Worten schwang Herr Stein ganz unheimlich sein Rohr. Alle Kinder sagten nun im Chor den Spruch her: »Bittet, so wird euch gegeben, suchet, so werdet ihr finden, klopfet an, so wird euch aufgetan.«
»So, nun jedes allein, und daß sich keines einfallen läßt, dem andern einzusagen!« Jetzt wurde es ganz stille im Zimmer. Mit Herrn Stein war heute nicht zu spaßen, das merkten alle; dazu war's ohnedies heute so schwül im Schulzimmer, die Junisonne stach zwischen den Wolken hindurch.
Die Mädchen mußten mit dem Hersagen anfangen. Gleich auf der ersten Bank blieb eine in ihrem Spruch stecken. Gretchen bemerkte ihre Not, vergaß des Lehrers Verbot und flüsterte der kleinen Kamerädin ein Wort zu, da wußte diese wieder weiter.
»Eine hat eingesagt,« sprach Herr Stein, »wer war's?«
Niemand antwortete. Die neben Gretchen saßen, wußten es wohl, wollten sie aber nicht verraten.
»Ich will wissen, wer's war!« wiederholte der Lehrer und hob drohend sein Rohr. Nun stand Gretchen selbst auf und sagte tief errötend: »Ich war's.«
Alle Kinder sahen gespannt auf den Lehrer. Dieser aber ließ langsam sein Rohr sinken und sprach: »Diesmal will ich dir's noch hingehen lassen, weil du's selbst eingestanden hast, das nächste Mal aber kann ich dir's nimmer nachsehen! Jetzt, weiter!«
Nun kam die kleine Emilie von Apothekers an die Reihe. Sie hatte daheim ihren Spruch gut gekonnt, jetzt aber war sie ängstlich und verwirrt und blieb stecken. Der Lehrer behielt Gretchen scharf im Auge. Er sah ihr wohl an, wie gerne sie eingesagt hätte. Als nun aber Gretchen auf der einen Seite des Lehrers strengen, drohenden Blick sah und auf der andern Seite die arme kleine Emilie, mit Tränen[39] in den Augen, die sie mit einem einzigen Wort aus ihrer Not hätte befreien können, hielt sie sich nimmer, sondern rief laut: »Aber da muß man doch einsagen, da kann man doch gar nicht anders!«
»So? Meinst du?« sagte Herr Stein, »nun dann will ich's so einrichten, daß man anders kann: Wer jetzt stecken bleibt, bekommt bloß eines auf die Hand, wer sich aber einsagen läßt, der bekommt zwei. So, nun kannst du einsagen soviel du willst!«
Emilie hatte inzwischen Zeit gehabt, sich zu besinnen und sagte ihren Spruch fehlerlos her. Bald aber kam wieder eine an die Reihe, die die drei Teile des Spruches durcheinander brachte. Gretchen war nun still, auch von den andern hatte keine Lust einzuflüstern und so gab's eben Strafe und der nächsten ging es auch nicht besser, eine wurde durch die andere verwirrt, der Lehrer wurde immer zorniger, das Rohr fiel immer öfter nieder und lautes Weinen wurde immer allgemeiner. So ungemütlich wie heute war es noch gar nie in der Schule gewesen.
Aber nun ging die Türe auf und der alte Lehrer trat ein.
»Was singt denn ihr heute für Klagelieder, ihr Kleinen?« fragte er. »Man hört euch ja bis hinüber in mein Schulzimmer!«
Herr Stein legte sein Rohr ab und ging auf Herrn Baumann zu.
»So dumm und so faul wie heute sind sie noch gar nie gewesen,« sagte Herr Stein, »da ist kaum eine, die ihren Spruch kann!«
»Ei, ei, was ist's denn für ein Spruch?«
Herr Stein nannte ihn und fügte hinzu: »Bald fangen sie mit ›Suchet‹ an, bald mit ›Klopfet an‹, alles bringen sie durcheinander, es ist zum Verzweifeln!«
»Was, den schönen Spruch könnt ihr nicht lernen? Das glaube ich gar nicht! Den haben schon viele hundert Kinder bei mir gelernt und ihr bringt's auch zustande. Aber zuerst laßt nur ein wenig Luft herein, du, Felix, zieh den Rouleau hinauf und mache das Fenster auf und nun hört mir einmal zu!«
Felix war an das Fenster getreten und wollte den Rouleau hinaufziehen. Dieser blieb aber am obern Fensterflügel stecken. Da nahm Felix, wie er's schon oft von Herrn Stein gesehen hatte, das Rohr vom Pult weg und half mit diesem nach. Dann öffnete er das Fenster. Als er das unglückselige Rohr, das heute schon so viele Tränen verursacht hatte, in seinen Händen hielt, fuhr ihm wie ein Blitz ein Gedanke durch den Sinn. Er sah sich um – aller Blicke waren auf Herrn Baumann gerichtet, niemand achtete auf ihn – da ließ er ganz sachte das Rohr zum Fenster hinausgleiten. Er hörte es drunten im Schulhof auf den Holzstoß auffallen, der dort an der Mauer aufgeschichtet war.
»So, du tust uns heute nimmer weh,« dachte er bei sich und setzte sich an seinen Platz.
Die Kinder hatten sich durch des alten Lehrers Zuspruch wieder beruhigt.
»Nun merkt euch recht: Zuerst kommt das Bitten, dann das Suchen und zuletzt das Anklopfen. Könnt ihr's wohl jetzt, wer will's probieren und allein hersagen?« fragte er. Eine ganze Anzahl Händchen fuhr in die Höhe und einmal um das andere wurde der Spruch ohne Fehler hergesagt; dadurch lernten ihn auch die ungeschickteren und zuletzt konnten ihn alle.
»So ist's recht,« sagte Herr Baumann »und weil ich euch nun geholfen habe, singt ihr mir gewiß auch noch gerne ein schönes Lied. Fangt einmal an ›Kuckuck, Kuckuck, ruft's aus dem Wald‹.«
Herr Stein nahm seine Violine zur Hand, der Gesang begann und unvermerkt hatte Herr Baumann wieder das Zimmer verlassen.
Beim zweiten Vers legte Herr Stein seine Violine weg, die Kinder sollten ohne Begleitung weiter singen. Während sie aber sangen, ging Herr Stein um sein Pult herum, sah bald da, bald dorthin, es war deutlich zu sehen, daß er etwas vermißte. Keines von den Kindern bemerkte das so schnell wie Felix, der wußte gleich: Der Lehrer sucht sein Rohr. Sein Herz klopfte gewaltig. Es konnte doch eines der vielen[41] Kinder gesehen haben, wie er das Rohr genommen und zum Fenster hinaus geworfen hatte.
Inzwischen hatten die Kinder den dritten Vers angefangen zu singen, es stimmte gar nicht mehr recht zusammen, denn Herr Stein achtete nicht darauf, er ging bald hierhin, bald dorthin, die Kinder wurden dadurch zerstreut, und immer mehr verstummte der Gesang. Nur der Schäfer-Hans sang noch fest drauf los; der merkte nichts von dem was vorging, denn wenn gesungen wurde, dann war er mit Leib und Seele dabei. Endlich aber konnte auch der Hans nimmer weiter singen, denn das Lied vom Kuckuck hat nur drei Verse.
»Wo ist denn mein Rohr?« fragte jetzt der Lehrer.
»Wie Herr Baumann herein gekommen ist, haben Sie es auf den Pult gelegt,« rief Gretchen.
»Freilich, aber da ist's ja nicht mehr, wer kann's weggenommen haben?«
»Vielleicht Herr Baumann,« meinte eines der Kinder.
»Ja, ja, der hat's mitgenommen,« rief nun eines der Mädchen und nun glaubten auf einmal viele der Kinder bemerkt zu haben, daß Herr Baumann ein Rohr in der Hand hatte als er hinausging.
»Gretchen, geh du hinüber und frage Herrn Baumann danach,« sprach Herr Stein.
Das tat nun Gretchen gar nicht gerne; sie hatte schon ihre stille Freude darüber gehabt, daß das Rohr verschwunden sei. Langsam erhob sie sich und ging zur Türe.
»Halt, laß es nur sein und setze dich wieder,« rief Herr Stein. Er hatte sich so seine Gedanken gemacht: Wenn Herr Baumann das Rohr nur aus Versehen mitgenommen hat, so schickt er's wohl wieder herüber. Hat er's aber mit Absicht getan, so will er's mir auch nicht gleich wieder zurückgeben.
So mußte sich denn Herr Stein die nächste Stunde ohne Rohr behelfen. Felix aber atmete erleichtert auf, als er sah, daß die Sache so gut ausging. Nach der Schule schlich er sich in den Hof, um nach dem Rohr zu sehen. Es mußte wohl zu oberst auf dem Holzstoß liegen und dort konnte man[42] es vom Schulfenster aus entdecken, das durfte nicht sein. Vorsichtig sah sich Felix im Hof um, ob ihn niemand beobachte; dann kletterte er gewandt wie eine Katze auf die Holzstöße. Richtig, da oben lag das Rohr. Er nahm es und schob es zwischen die Holzscheiter, dort konnte es liegen bleiben, da bemerkte man es gewiß nicht. Schnell war er wieder vom Holzstoß herunter und zum Hof hinaus.
Wenn er aber gedacht hatte, es habe ihn kein Mensch beobachtet, so hatte er sich getäuscht!
Hoch oben im Dachstock, gerade über dem Holzstoß und über Herrn Steins Schulzimmer wohnte Frau Semmelmeier, die Schuldienerin. Die wollte einen Teppich zum Fenster hinausschütteln, sah sich aber vorsichtig um, ob nicht etwa Herr Stein gerade den Kopf aus seinem Fenster herausstrecke. Da bemerkte sie, wie Felix in den Hof kam und auf den Holzstoß kletterte. Nun sah sie auch das Rohr dort liegen. Dann dachte sie, er sei wohl geschickt worden, um das Rohr zu holen. Zu ihrem größten Erstaunen gewahrte sie aber, daß er es nur noch tiefer zwischen das Holz versenkte und sich dann wieder davon machte.
»Schaut mir nur den spanischen Schlingel an!« sprach sie vor sich hin, »so etwas tut doch bei uns zu Lande kein Kind, es ist noch nicht dagewesen, solange ich Schuldienerin bin!«
Die wackere Alte stieg die Treppe hinunter. Alle Schulzimmer waren nun leer. Sie trat in das der Kleinen und sah sich auf dem Pult um. »Richtig, richtig, das Rohr ist fort! Der kleine Spitzbub hat's wohl zum Fenster hinausfliegen lassen!« Dann überlegte sie, was sie bei diesem unerhörten Falle wohl zu tun habe.
»Dem jungen Lehrer, dem sag ich's nicht, der könnte mir den kleinen Kerl gar zu scharf hernehmen; man muß bedenken – es ist doch ein armes, fremdes Waisenkind und dazu – so oft mich's sieht, das kleine Bürschlein, zieht's so manierlich sein Samtkäpplein und sagt: ›Guten Morgen, Madame Semmelmeier,‹ oder: ›Guten Abend, Madame Semmelmeier,‹ keines von den andern ist so artig. Nein, seinem Lehrer[43] verrat ich's nicht, aber der alte Herr Baumann soll's wissen, der hat ein Herz für das Kind, er läßt's ja alle Tage zu sich kommen.«
Und Frau Semmelmeier klopfte an Herrn Baumanns Türe. Bald wußte der alte Lehrer alles, was Frau Semmelmeier entdeckt hatte. »Die Welt wird alle Tage schlechter,« schloß die alte Schuldienerin ihren Bericht; »wer hätte in unserer Jugendzeit so etwas gewagt?«
»Ja, es ist schlimm,« bestätigte Herr Baumann; »aber Semmelmeierin, sag Sie zu niemandem etwas von der Geschichte, man darf das fremde Kind nicht gleich einschüchtern. Ich will ihm selbst ins Gewissen reden und will sehen, ob ich ihn dazu bringe, daß er mir's eingesteht, das hätte mehr Nutzen als alle Strafen.«
»Mit Verlaub, Herr Baumann, wer so schwarze Spitzbubenaugen hat, gesteht nichts ein.«
»Das versteht Sie nicht, Semmelmeierin. Das Schwarze, das kommt vom südlichen Land und wären wir dort geboren, so wären wir auch nicht blond. Das Herz ist deswegen noch lange nicht schwarz.«
»Ich glaub's wohl und Sie verstehen es ja am besten, und ich schweige, darauf können Sie sich verlassen.« Und die alte Schuldienerin hielt Wort.
An diesem Mittag teilte Gretchen ihren Eltern voll Vergnügen das Ereignis von dem verschwundenen Rohr mit.
»Wenn ihr Kinder klug wäret,« sprach Herr Reinwald, »so würdet ihr für morgen euren Spruch viel besser lernen als sonst und euch überhaupt so musterhaft verhalten, daß euer Lehrer sich sagen müßte: Es geht ja alles viel besser, seitdem ich kein Rohr mehr habe, da schaffe ich mir kein neues mehr an!«
»O wie herrlich das wäre, das muß ich gleich heute Nachmittag mit allen Kindern ausmachen,« rief Gretchen eifrig, und schon auf dem Schulweg und auf der Treppe redete sie alle ihre kleinen Kameraden an und sagte, sie habe etwas ganz Wichtiges mit ihnen auszumachen. Endlich als im Schulzimmer alle sie neugierig umringten, wiederholte ihnen Gretchen[44] ganz genau ihres Vaters Worte und fügte dann hinzu: »Den Spruch, der an die Reihe kommt, weiß ich und den sag ich euch vor und ihr sagt ihn alle nach, bis ihr ihn alle könnt!«
»Wenn ich aber nicht mag?« fragte des Holzhackers Franz und stellte sich dabei recht breit und patzig vor Gretchen hin.
An diese Möglichkeit hatte unser Gretchen gar nicht gedacht und sie war ganz bestürzt; denn der Holzhackers-Franz war gerade einer von denen, die ihre Sache nie konnten, der mußte also mittun.
»O mög doch auch,« bat sie treuherzig, »sonst kauft sich Herr Stein gewiß wieder ein neues Rohr!«
»Das macht doch dir nichts? Dich schlägt er nicht, das weiß jedes!«
»Aber ich kann's doch nicht leiden; o gelt du tust mit?«
Aber der Franz wollte nicht ja sagen. Da trat Felix herzu.
»Wenn du tust, wie sie will, werde ich dir machen ein Kunststück.«
»Was für eines?«
»Ich werde auf den Katheder steigen und springen hier herunter, bis hier in den Gang zwischen den Bänken!« Der Katheder stand hoch, Franz konnte es kaum glauben.
»Also, so springe!«
»Nicht so; du wirst zuerst lernen und ich werde hernach springen. Hier meine Hand darauf!«
Er bot dem Franz sein schmales Händchen hin, dieser wußte nicht recht, was das heißen solle, aber er erklärte sich nun bereit zu lernen.
Nun fing Gretchen an, die Worte vorzusagen und alle anderen sagten sie nach. Als sie im besten Eifer waren, trat Herr Stein ein. Er hatte schon vor der Türe den Spruch gehört und sich über diesen ungewohnten Fleiß seiner Schüler nicht genug wundern können. »Was tut ihr denn, ich glaube gar ihr lernt?« fragte er.
»Ja, unsern Spruch; Gretchen Reinwald sagt ihn vor, Gretchen Reinwald ist der Lehrer,« tönte es von allen Seiten als Antwort.
Freundlich sah Herr Stein in das von Eifer glühende Angesicht seiner Lieblingsschülerin.
»Du bist halt doch meine Beste, du mußt die Erste werden,« sagte er, nahm sie an der Hand und führte sie an den ersten Platz.
Aber Gretchen sah bedenklich auf die Kleine, die bisher den ersten Platz eingenommen hatte.
»Der wird's nicht recht sein,« sagte sie.
»O die wäre doch nicht lange die Erste geblieben, gelt du weißt schon, daß Gretchen Reinwald über dich hinauf gehört?« Die Kleine, die allerdings nicht zu den besten Schülerinnen gehörte, nickte und räumte ihren Platz.
So saß denn Gretchen richtig auf dem ersten Platz, wie sie sich's schon ausgedacht hatte, ehe sie in die Schule gekommen war.
Der Unterricht begann nun und Felix konnte das verheißene Kunststück nicht machen. Der Franz war sehr ärgerlich und wurde es noch mehr, als er sah, daß nach Schluß der Schule der Lehrer das Zimmer nicht verließ, sondern, wie er's manchmal tat, die Zeitung nahm, sich an den Katheder setzte und anfing zu lesen.
Schon bereute der Franz seine Nachgiebigkeit, als plötzlich Felix vortrat, und sehr höflich zum Lehrer sprach: »Pardon, Herr Lehrer, ich muß hier hinaufsteigen, weil ich habe versprochen zu hupfen herunter!« und ehe Herr Stein wußte, was der kleine Spanier eigentlich wollte, war dieser auf den Katheder hinaufgeklettert und mit einem schönen Schwung so leicht auf die Fußspitzen heruntergehüpft, daß man's kaum hörte. Herr Stein war ganz verblüfft und da er selbst ein guter Turner war, hatte er solche Bewunderung für den kleinen Künstler, daß er gar nicht gleich daran dachte, ihm vorzuhalten, der Katheder sei nicht dazu da, daß die Schulbuben daran turnen. Felix wartete auch nicht, bis ihm dies einfiel, er verließ rasch das Schulzimmer. Die andern Kinder folgten ihm, auch der Franz war nun vollständig befriedigt.
Felix durfte noch nicht heimgehen, er hatte jetzt Stunde[46] bei Herrn Baumann. Er ging immer gern zu dem alten Herrn, war dieser doch der Lehrer seines lieben Mütterleins gewesen. Das Lernen selbst war unserem Felix zwar keine besondere Freude, aber Herr Baumann machte es ihm so angenehm wie möglich.
Heute empfing er seinen kleinen Schüler noch freundlicher als sonst.
»Wie ist's heute nachmittag in der Schule gegangen?« fragte er ihn.
»Sehr gut!«
»Wie oft hat Herr Stein das Rohr gebraucht?«
Ein schelmisches Lächeln zuckte um Felix' Mund.
»Nicht ein einzig Mal!«
»Wie kommt das?«
»Das Rohr ist weg.«
»So, und wo ist's denn?«
Felix besann sich einen Augenblick, dann sagte er: »Viele sagen: Herr Baumann hat es genommen.«
»Und was sagst denn du?«
»Ich sage gar nichts.«
»Nun, dann gehen wir jetzt ans Lernen.«
Diesmal war Felix gleich dabei und nahm rasch seine Tafel.
»Wir wollen heute nicht schreiben, sondern einen Spruch durchgehen,« sprach Herr Baumann, »ich will dir ihn vorsagen: ›Ich bin der allmächtige Gott, wandle vor mir und sei fromm.‹« Felix mußte ihn ein paarmal nachsagen und konnte ihn bald.
»Der Spruch ist recht für dich gemacht, Felix, weil du keine Eltern mehr hast. Andere Kinder wandeln vor den Augen ihrer Eltern, die sind Gottes Stellvertreter bei ihnen und sagen ihnen, was gut und böse ist. Du aber mußt dich an Gott selbst halten, mußt immer daran denken, daß er dich sieht und mußt nur tun, was Er sehen darf; dann wandelst du vor ihm und wirst fromm und das war ja auch deiner lieben Mutter Herzenswunsch.«
Felix war immer gleich bewegt, wenn der Lehrer von seiner Mutter sprach, auch jetzt traten ihm Tränen in die Augen.
»Du mußt nie denken,« fuhr der Lehrer fort, »daß du etwas heimlich tun könntest; der liebe Gott hört und sieht alles, er weiß auch alles, was du heute getan hast.«
Dem kleinen Felix schlug das Gewissen, ängstlich blickte er zum Lehrer auf. Dieser zog ihn freundlich zu sich.
»Sieh mich nicht so ängstlich an,« sprach er gütig, »wenn man etwas Ungeschicktes oder Böses getan hat und es ist einem nachher leid, dann muß man's nur frischweg eingestehen und um Verzeihung bitten. O dann vergibt der liebe Gott so gerne und die Menschen auch, und denke nur, es steht sogar in der Bibel, daß sich dann die Engel im Himmel darüber freuen.«
»Mein Mütterlein ist auch ein Engel im Himmel.«
»Dann freut sie sich auch mit, wenn ihr Felix etwas eingesteht und um Verzeihung bittet.«
Herr Baumann schwieg. Er sah, wie des Knaben Herz bewegt war, wie es mit sich selbst kämpfte – aber das schwere Wort, das Geständnis, die Bitte um Verzeihung wollte nicht über seine Lippen kommen.
»Ist es nicht so spät, daß ich muß nach Hause gehen?« fragte Felix. Herr Baumann stand auf.
»Ja, du kannst gehen, aber im Heimweg sage dir den Spruch noch vor: ›Ich bin der allmächtige Gott, wandle vor mir und sei fromm.‹«
Felix ging. »Er bringt's nicht über sich,« sprach Herr Baumann betrübt zu sich, »es ist ihm zu schwer!«
Am späten Abend, als die Sonne untergegangen war, ging der alte Lehrer nach seiner Gewohnheit vors Städtchen spazieren, an dem Haus vorbei, in dem der Schäfer-Hans wohnte, und weiter hinaus auf dem schmalen Wiesenweg, der am Bach hinführte. Die Vögel sangen ihr Abendlied, die Wiesen dufteten, der alte Herr freute sich heute wieder daran, wie schon so manchmal seit fünfundzwanzig Jahren. In stillen Gedanken ging er vor sich hin und ahnte nicht, daß eine kleine Gestalt in schwarzem Samtanzüglein ihm schon lange folgte. Es war Felix. Seine leisen Tritte waren auf dem Rasen kaum zu[48] hören. Plötzlich griff er mit seinem kleinen Händchen nach der Hand des Lehrers und sagte mit ängstlicher Stimme: »Das Rohr von Herrn Stein, das habe ich zum Fenster hinausgeworft!« und als nun Herr Baumann sich lebhaft zu ihm wandte, da fügte er bittend hinzu: »Um Verzeihung bitte ich auch, und bitte, daß Sie sich jetzt freuen, wie die Engel im Himmel!«
Und wirklich des alten Herrn Angesicht erglänzte vor Freude und eine Träne schimmerte in seinem Auge.
»Ja, Felix, ich freue mich und der liebe Gott und die Engel im Himmel freuen sich und wenn du's immer so machst, so kommst du in den Himmel, und sieh nur dort hinauf, wie schön die goldenen Abendwolken glänzen und wie schön mag's erst im Himmel selbst sein!«
Eine kleine Weile ging der Lehrer mit dem Knaben an der Hand still vorwärts. Man hätte meinen können, er habe das Kind ganz vergessen, denn er sprach kein Wort zu ihm. Aber von Zeit zu Zeit drückte er ihm die Hand, und Felix verstand die stille Sprache; er fühlte, der Lehrer war zufrieden mit ihm und das machte ihn glücklich, so glücklich, daß er nimmer länger so stumm dahin gehen konnte. Er ließ plötzlich des Lehrers Hand los, warf sein Mützchen hoch in die Luft und fing es wieder, sprang über den Graben hinüber und herüber und machte ganz erstaunliche Sprünge. Schließlich faßte er wieder ganz zutraulich des Lehrers Hand, sang ein spanisches Liedchen vor sich hin und ging mit ihm zurück ins Städtchen.
»Felix,« sagte nun Herr Baumann, »eingestanden hast du nun deinen Streich und um Verzeihung gebeten hast du auch, nun mußt du aber noch etwas tun, kannst du dir denken, was ich meine?«
»Ja, ich kann mir's denken, ich muß das Rohr wieder werfen hinein zum Fenster.«
»Muß denn das Rohr durchaus durchs Fenster?« fragte lächelnd Herr Baumann; »du könntest es wohl auch zur Türe hereinbringen.«
»Daran dachte ich nicht, ich werde es sogleich holen.«
»Ja, aber euer Schulzimmer ist geschlossen und Herr Stein ist nicht da, du kannst es in mein Zimmer bringen.«
Damit war Felix einverstanden. Er huschte in den Hof, wo es schon ziemlich dunkel war und kletterte wieder auf den Holzstoß. Das Rohr war nicht bequem zu erlangen und es ging nicht so still ab, wie das erstemal. Frau Semmelmeier, die alles sah und hörte, was vor sich ging, streckte ihren Kopf in Herrn Baumanns Zimmer und flüsterte geheimnisvoll:
»Er ist wieder drunten am Holz, der kleine Spanier, am Ende will er auch Ihr Rohr noch verstecken!«
»Nein, nein, Semmelmeierin, holen will er das Rohr und mir bringen, eingestanden hat er's und um Verzeihung gebeten!«
»Wahrhaftig, er bringt's schon die Treppe herauf!« rief die Schuldienerin und verschwand.
»So, Felix,« sagte Herr Baumann, »jetzt ist's recht! Eingestehen, um Verzeihung bitten und wieder gut machen, diese drei Stücke gehören zusammen und machen das Unrecht wieder gut. Jetzt merke dir aber eines: Künftig, wenn du irgend etwas heimlich tun willst, wenn's dir auch gar nicht schlimm vorkommt, so denke immer: ›Es wird wohl nicht recht sein, sonst müßte ich's ja nicht heimlich tun,‹ und dann laß es sein, gelt mein Kind? Und nun gehe du heim, es ist schon spät!«
Felix ging. Draußen aber hörte er eine Stimme, die rief von der oberen Treppe herunter: »Du, Kleiner, warte ein wenig!«
Felix konnte kaum mehr erkennen, daß es Frau Semmelmeier war, aber er fühlte bald in seiner Hand eine gebackene Nudel, und mit einem fröhlichen: »Schönen Dank, Madame Semmelmeier!« verließ er das Schulhaus.
Am nächsten Morgen ließ Herr Baumann den jungen Lehrer während der Freiviertelstunde zu sich in sein Zimmer kommen.
»Wie ist's mit dem kleinen Spanier?« fragte er ihn, »hat er sich schon ein wenig mit den andern Kindern befreundet?«
»Sie haben alle ihren Spaß an ihm und bewundern seine Kunststücke, aber außerdem ist ihnen seine Art doch zu fremd.«
»Ich möchte ihm einen recht guten Kameraden wünschen, ein aufrichtiges, unverdorbenes Kind. Am besten wäre es, wenn einer mit ihm in die Stunden zu mir käme; aber die besseren Schüler brauchen keine Stunden und die schlechteren wollen keine, sind auch meistens sonst nicht viel wert.«
Herr Stein dachte nach.
»Einen wüßte ich, ein sonderbares Bürschlein. Er sieht mich die ganze Zeit so aufmerksam an, als wollt' er mir jedes Wort vom Mund lesen und schreibt seine Aufgaben so schön wie sonst keines; wenn ich ihn aber etwas frage, so bringt er keinen ordentlichen Satz heraus, es ist der Johann Zaiserling.«
»Ach so, der Schäfer-Hans, ja, der kleine Kerl sieht gutartig aus, schicken Sie mir ihn doch nachher einmal herüber, ich will einmal mit ihm reden. Und nun noch etwas, Herr Stein: hier ist Ihr Rohr, schonen Sie es auch, daß Sie nicht so oft ein neues kaufen müssen, es sieht schon recht abgeklopft aus!«
Der junge Lehrer nahm sein Rohr und ging. Er hat nie erfahren, daß das Rohr den Weg von einem Schulzimmer ins andere durchs Fenster und über den Holzstoß im Hof genommen hat.
»Komm heraus, Zaiserling, du sollst zu Herrn Baumann gehen,« rief Herr Stein, als Hans nach der Pause sich eben wieder an seinen Platz gesetzt hatte.
Hans trat vor, blieb aber an der ersten Bank, gerade neben Gretchen, stehen und sah Herrn Stein fragend an.
»Nun, hast du's nicht verstanden? Du sollst zu Herrn Baumann gehen.«
»Wo?« fragte Hans.
Gretchen mußte lachen, als dies einzige Wörtlein so langsam und ausgedehnt herauskam.
»Darf ich ihm zeigen, wo man zu Herrn Baumann geht?«
»Ja, es wird gut sein, wenn du ihn begleitest,« meinte Herr Stein.
So gingen die beiden miteinander bis an Herrn Baumanns Tür.
Hans wollte aufmachen.
»Halt, zuerst mußt du doch anklopfen,« mahnte Gretchen.
Von solchen Feinheiten hatte Hans noch nichts gewußt, er war aber überzeugt, daß Gretchen alles viel besser verstand als er, und wollte sogleich mit seinem kleinen Fäustchen an die Türe pumpern, als ihn Gretchen gerade noch am Ärmel erwischte.
»So nicht,« rief sie ganz erschrocken, »bloß so mit dem Finger.« Gretchen klopfte und als Herr Baumann »herein« gerufen hatte, schob sie den Hans hinein und machte noch hinter ihm die Türe zu, denn er hätte es doch nicht getan, dachte sie.
Nun stand Hans vor Herrn Baumann. Der fragte in seiner freundlichen Weise nach der Großmutter, nach dem Vater und gab sich alle Mühe, etwas aus dem schweigsamen Kind herauszubringen. Es war aber so wenig, daß er bald merkte, auf diese Weise konnte man den Hans nicht kennen lernen. Deshalb machte er's kurz und sagte: »Hans, du kannst alle Tage eine Stunde mit dem Felix Acosta zu mir herauf kommen und bei mir lernen, willst du?«
Das erschien dem Hans als eine unerhörte Ehre und Freude, er wurde dunkelrot vor Erregung und sagte sehr deutlich: »Ich will.«
»Gut,« sprach Herr Baumann, »wenn ich an eurem Haus vorbeikomme, will ich's deiner Großmutter sagen. Jetzt kannst du wieder gehen.«
Unter der Türe wandte sich der Hans nocheinmal um, sah mit leuchtenden Augen den alten Lehrer an und sprach so recht von Herzen: »Vergelt's Gott.«
Herr Baumann verstand, was für Glück und Dankbarkeit in diesen Worten lag, die Hans wohl manchmal von seiner Großmutter hörte, und zufrieden lächelnd sagte er bei sich: Es ist der rechte für den Felix.
Nach der Schule sagte Herr Baumann zu Felix: »Kennst du den Johannes Zaiserling?«
»Ja, er ist der Kleinste und ist der Letzte, er hat den schlechtesten Wams an und spricht kein einzig Wort.«
»Das lautet nicht, als ob er dem Felix sehr gefiele,« dachte Herr Baumann bei sich, dann aber sprach er: »Ist er auch klein, so kann er doch noch wachsen, ist er jetzt der Letzte, so kann er später der Erste werden. Für den schlechten Wams kann er nichts, sein Vater ist gar arm und woher sollte er sprechen lernen, er hat nur eine taube Großmutter, seine Mutter ist lange schon tot.«
»O, hat er auch kein Mütterlein mehr?« fragte Felix voll Teilnahme.
»Nein, und ich habe gedacht, er könnte alle Tage mit dir in die Stunde zu mir kommen, dann lernt er auch besser sprechen.«
»Ja, ja, er soll nur kommen, hat er kein Mütterlein mehr, so habe ich ihn schon lieb, wir werden passen zusammen sehr gut.«
Am Abend, als Herr Baumann am Häuslein des Schäfers vorbei kam, trat er in das kleine Stübchen. Die alte Frau erschrak, als er auf sie zu kam. Schon einmal war er in diesem Haus gewesen, vor vielen Jahren war's, aber die Großmutter wußte es noch gut. Damals war er gekommen, um sich über den großen Bruder von Hans zu beklagen, der schlimme Streiche gemacht hatte, und nun dachte sie nicht anders, als daß ihn wieder so ein Grund herführe. Ängstlich blickte sie nach dem Hans. Der aber sah gar nicht aus wie einer, der ein böses Gewissen hat, mit leuchtenden Augen ging er auf den Lehrer zu und gab ihm die Hand.
»Hört die Großmutter gar nichts mehr?« fragte Herr Baumann.
»Nein.«
»So gib mir deine Tafel.«
Hans hatte sie schnell bei der Hand und ganz von selbst reichte er auch der Großmutter die Brille.
Der Lehrer schrieb nun auf die Tafel, daß der Hans alle Tage mit einem seiner Kameraden zu ihm in die Stunde kommen solle.
Die alte Frau war noch nicht ganz beruhigt. »Hält er sich gut in der Schule?« fragte sie und sah ihn gespannt an.
Als aber der Lehrer nickte und dem Kleinen freundlich auf die Backen klopfte, ging ein Freudenschimmer über das abgehärmte Gesicht und ganz bewegt sagte die alte Frau: »Gott Lob und Dank, daß mein Sohn auch an einem Kind Freude erleben darf, er hat's noch nicht verschmerzt, daß der Große schlecht geworden ist, und meint immer, der Kleine müsse auch schlecht werden, noch keine Stunde hat er sich freuen können an ihm.«
Herr Baumann zog den Hans freundlich zu sich, sah in das offene, treuherzige Kindergesicht, das jetzt bei der Großmutter Worten so ernst drein blickte, und sagte: »Gelt, du wirst nicht schlecht?«
»Nein, ich nicht,« antwortete der Hans ganz bestimmt, obwohl er gar nicht recht wußte, was er sich unter dem Schlechtwerden vorzustellen hatte. Der Lehrer aber schrieb auf die Tafel: »Der wird nicht schlecht!« und die Großmutter las es, glaubte es und war getrost.
Vom nächsten Tag an wanderten Haus und Felix täglich miteinander in die Stunde. Bald wurden der lebhafte schwarze Spanier und der stille blonde Deutsche unzertrennliche Freunde. Hans bewunderte seinen großen Kameraden, der so munter und aufgeweckt war und ihm gar merkwürdige Dinge von seinem früheren Leben erzählen konnte, und Felix liebte seinen herzensguten kleinen Freund, der es gar treu mit ihm meinte und ihn manchmal von einem übermütigen Streich zurückhielt.
So gewann einer durch den andern und niemand freute sich mehr darüber als der alte treue Lehrer, dem seine zwei kleinen Schüler so am Herzen lagen.
Gretchen rannte von der Schule heim und stürmte so rasch die Treppe hinauf, daß Lene, die eben den Vorplatz putzte, nur schnell ihren Kübel beiseite schob, damit Gretchen nicht hineinpflumpfe, wie ihr das schon einmal begegnet war.
»Was kann's wieder für eine Freude in der Schule gegeben haben?« dachte sie bei sich. »Die Erste ist sie ja schon, höher hinauf kann man doch nicht kommen!«
»Vakanz! Wir haben vier Wochen Vakanz und gar keine Aufgaben,« jubelte ihr Gretchen nun zu und eilte dann mit der frohen Botschaft zur Mutter ins Zimmer.
»Nun das ist freilich eine lange Ferienzeit,« meinte die Mutter, »ich hätte aber nicht gedacht, daß du dich so darüber freust, du gehst doch so gerne in die Schule!«
»Freilich, Mutter, aber du hättest nur hören sollen, wie alle Kinder gejubelt haben, da muß man sich freuen. Die Schule ist schön, aber die Vakanz ist auch schön, alles ist schön,« rief Gretchen in ihrer glücklichen Stimmung.
Am Nachmittag kam aber doch etwas, das ihr nicht schön erschien, nämlich ein Strickstrumpf, an dem sie, wie ihr die Mutter erklärte, in der Vakanz jeden Nachmittag von 2–3 Uhr arbeiten sollte. Das Stricken war aber unserem Gretchen der Schrecken aller Schrecken. Diesen Strickstrumpf hatte sie schon vor einem Jahr angefangen. Das Garn, mit dem sie ihn strickte, war weiß, also hätte auch eigentlich der Strumpf weiß sein sollen, aber der war an manchen Stellen gelblich-braun, an anderen gräulich-schwarz, auch hie und da ein wenig rot von Kirschensaft, nur weiß war er nirgends. Gretchen machte einen Versuch, das Unglück von sich abzuwenden.
»O Mutter,« sagte sie, »im Herbst fängt in der Schule die Strickstunde an, dann muß ich doch neu anfangen, warum soll ich dann noch an diesem stricken.«
»Der muß noch fertig werden, ehe der Herbst kommt.«
»Fertig? O Mutter, das ist ja ganz unmöglich, überhaupt ist das so ein Strumpf, der nie fertig wird.«
»So? Gibt's solche? Die habe ich noch gar nicht kennen gelernt. Jetzt wollen wir aber gar nicht weiter darüber reden, sondern fleißig anfangen, du wirst sehen, daß es jetzt schon besser geht, als im vorigen Winter.«
Gretchen nahm mit kummervoller Miene die Arbeit, setzte sich neben die Mutter und fing an zu stricken. Sie hatte aber[55] noch keine vier Nadeln fertig gebracht, als der Vater ins Zimmer trat. Um diese Zeit kam er sonst nie ins Wohnzimmer, Mutter und Tochter sahen ihn fragend an. Er zog einen Brief aus der Tasche.
»Gretchen,« sprach er, »du könntest jetzt hinunter gehen und deine Blumen gießen.«
Gretchen sah den Vater erstaunt an. »Aber Vater, jetzt in der Mittagssonne, da erlaubst du's doch nie!«
»Ja, das ist wahr. Nun, so gehe eben in die Küche und zähle, wieviel Schüsseln und Teller es da gibt.«
Jetzt begriff Gretchen – der Vater wollte allein mit der Mutter sein. Lachend warf sie ihr Strickzeug weg und sprang hinaus.
Ganz ungewöhnlich lang hatten die Eltern miteinander zu sprechen und als die Mutter endlich herauskam und Gretchen dachte, sie würde nun wieder zum Stricken gerufen, schien die Mutter gar nimmer daran zu denken.
»Lene,« sagte sie, »mein Mann muß um vier Uhr verreisen und kommt erst morgen Abend wieder, holen Sie die Reisetasche aus der Kammer herunter.«
»Wo geht der Vater hin?« fragte Gretchen.
»Frage ihn nur selbst.«
»Vater, wo gehst du hin?« fragte Gretchen neugierig.
»Auf den Bahnhof.«
»Und dann?«
»In den Zug.«
Gretchen konnte nicht weiter fragen, denn die Mutter kam mit Kragen und Manschetten und Lene mit der Tasche und dann wurde beraten, was mitgenommen werden sollte und Gretchen mußte die Hausschuhe herbeiholen, und so gab es ein Hin- und Herlaufen, bis es endlich Zeit war, an die Bahn zu gehen. Der Vater verabschiedete sich und Lene trug ihm die Tasche.
Als Gretchen mit der Mutter allein war, sagte sie: »Jetzt möchte ich aber auch wissen, wohin der Vater reist?«
»So, das fragst du mich? Hast du nicht gemerkt, daß es der Vater nicht sagen will?«
»Ich möchte es eben gern wissen!«
»Das glaube ich schon, aber Kinder können nicht alles wissen und dürfen nicht neugierig und unbescheiden sein. Wenn du merkst, daß man dir etwas nicht gern sagt, mußt du nicht zweimal fragen.«
Gretchen schwieg und es blieb ihr verborgen, wohin der Vater gereist war.
Am nächsten Morgen sollte es noch geheimnisvoller und wunderlicher zugehen. Da brachte ein Bote ein Telegramm vom Vater. Die Mutter erschrak nicht darüber, sie schien es erwartet zu haben. Zweimal schon hatte die Mutter das Telegramm durchgelesen und Gretchen hätte gar zu gerne gefragt: Was steht darin? Aber sie wollte nicht wieder neugierig sein.
Nun legte die Mutter das Blatt weg, zog Gretchen an sich, küßte sie und sagte ganz bewegt: »Der Vater schreibt, ich soll ihm nachkommen, gleich mit dem nächsten Zug. Du darfst jetzt auch wissen, daß der Vater in der Residenz ist und wenn wir morgen miteinander zurückkommen, so erzählen wir dir, was wir dort zu tun hatten.«
Das war alles so geheimnisvoll, Gretchen konnte gar nicht begreifen, was für ungewöhnliche Dinge vorgingen!
Als sie mit Lene von der Bahn zurückkam, wohin sie die Mutter begleitet hatten, sagte Lene: »Heute darfst du die Hausfrau machen und sagen, was ich kochen soll.«
»Das ist herrlich!« rief Gretchen. »Da machen wir eine Biskuittorte!«
Aber Lene erschrak ordentlich. »Was fällt dir ein, da braucht man zwölf Eier, so etwas darfst du nicht vorschlagen.«
Nun meinte Gretchen, eine gebratene Gans sei auch etwas Gutes und zu der brauche man keine Eier. Dagegen hatte die Köchin aber einzuwenden, daß sie keine Gans habe, und sie fragte, was ihre kleine Hausfrau wohl zu einem Reisbrei oder Mandelbrei meine? Auf den Mandelbrei ging nun Gretchen mit vollem Eifer ein und als es Mittag wurde, durfte sie ihr Tischchen in die Küche tragen und draußen decken und essen, das war ein Hauptvergnügen. Nach dem[57] Essen, während Lene das Geschirr spülte, durfte sie es abtrocknen und sie kam sich dabei sehr wichtig vor. Auf einmal aber ließ sie den Löffel sinken, den sie eben abreiben wollte, und fragte: »Lene, muß ich wohl um zwei Uhr stricken?«
»Hat die Mutter nichts davon gesagt?«
»Nein, kein Wort.«
»Nun, dann mußt du's auch nicht.«
Diese Antwort kam Gretchen sehr erwünscht und sie machte sich wieder eifrig ans Geschäft. Aber nach kurzer Zeit wurde sie schon wieder nachdenklich.
»Weißt du, Lene, gestern hat die Mutter gesagt, ich muß alle Tage stricken; aber sie wird nur die Tage gemeint haben, an denen sie zu Hause ist, denn sie muß doch immer wieder auftrennen, was falsch wird.«
»Nun das könnte ich auch besorgen, aber die Mutter wird nicht zanken, wenn du heute nicht strickst.«
Nun wurde das Geschirr aufgeräumt und die Küche rein gemacht. Jetzt schlug es zwei Uhr.
»Lene, ich stricke doch, ich glaube, ich muß!«
»Nun ja, so stricke, es läßt dir sonst doch keine Ruhe, und jedenfalls freut es die Mutter.«
Gretchen nahm ihre Arbeit und setzte sich ans Küchenfenster, während Lene am Küchentisch Wäsche einspritzte. Vier Nadeln gingen wirklich ganz ohne Unglücksfall vorüber, es war heute ein besonderer Segen bei der Arbeit, wie wenn der Strumpf gewußt hätte, daß ihn seine kleine Herrin heute zum erstenmal freiwillig in die Hand nahm. Eine gute Weile war so verstrichen, als es an der Glastüre klingelte.
Lene öffnete und Gretchen hörte ein schüchternes Stimmlein fragen: »Ist Gretchen zu Hause?« Schnell war Gretchen draußen, sie mußte doch sehen, wer nach ihr fragte.
Es war die kleine Emilie von der Apotheke; die sagte, ihre Mama habe erfahren, daß Gretchen heute allein sei und lasse sie einladen, mit ihnen spazieren zu gehen.
»Willst du?« fragte die Kleine zuletzt.
»Ob ich will? Lene, höre nur, die fragt noch, ob ich will![58] Natürlich will ich,« rief sie fröhlich lachend und faßte die kleine Emilie und drehte sie im Kreis herum, daß es der Kleinen angst und bang wurde. Kurze Zeit nachher zogen die zwei Schulkamerädinnen vergnügt von dannen.
Es war Gretchen ganz sonderbar zu Mute, als sie spät abends vom Spaziergang heimkam, und Vater und Mutter nicht da waren. Wie still und leer war's doch im Wohnzimmer!
»Es ist zu langweilig zum Aufbleiben, Lene, ich gehe lieber gleich ins Bett.«
»Ja, du hast recht; fürchtest du dich nicht, allein zu schlafen?«
»Fürchten? Vor was denn?« fragte Gretchen erstaunt.
»Nun, ich meine nur, weil du's nicht gewohnt bist. Wenn du willst, mache ich mein Bett zu dir herein!«
»Aber Lene, was meinst du denn, bei Nacht braucht man doch niemand?«
»Nein, niemand als den lieben Gott und der ist ja bei dir, du mußt nur das Beten nicht vergessen.«
»Ich vergesse es nicht und ich will es auch dem lieben Gott noch sagen, daß ich ganz allein bin, dann sorgt er ganz gewiß für alles, gelt Lene?«
»Freilich sorgt er und dann weißt du, meine Kammer ist ja neben der Küche, du darfst mir nur rufen, wenn du etwas willst.«
»Nachts will ich nie etwas, gute Nacht, Lene.«
»Gute Nacht.«
Nach wenigen Minuten schlief Gretchen so sanft wie immer. Das Beten hatte sie nicht vergessen. In der Nacht aber brach ein furchtbares Gewitter los. Ein Windstoß schlug mit aller Macht die Schlafzimmertüre zu, daran erwachte Gretchen und es fiel ihr ein, daß sie ganz allein war. Es blitzte und donnerte heftig, der Wind schlug den Regen gegen[59] die Fenster, daß es prasselte, bald war es stockfinster im Zimmer, bald wurde dieses durch einen Blitzstrahl taghell beleuchtet.
Das war nun gar nicht behaglich und Gretchen zog sich die Decke über den Kopf, um nichts zu sehen und zu hören. Erst vor wenigen Tagen war so ein heftiges Gewitter gewesen und der Blitz hatte in ein Haus eingeschlagen. Daran mußte nun Gretchen denken, und dabei fiel ihr ein, daß die Mutter gesagt hatte: »So oft nachts ein Gewitter kommt, muß ich aufstehen, denn immer schlägt irgendwo ein Fenster, oder es regnet herein.«
Gretchen horchte: richtig, da war es ja deutlich zu hören, nebenan in des Vaters Zimmer wurde ein Fenster vom Winde auf- und zugeschlagen. Das durfte nicht sein. Die Mutter konnte heute nicht dafür sorgen, Lene hörte es nicht, also mußte sie aufstehen. Unsere tapfere Kleine schlupfte in ihre Strümpfe, stieg aus dem Bett und tappte im Finstern nach der Türe. Da plötzlich leuchtete ihr ein greller Blitz, daß die Türschnalle hell erglänzte. Nun folgte ein furchtbarer Donnerschlag, daß Gretchen vor Schreck erzitterte.
»Lieber Gott, du sorgst doch für mich?« betete sie leise und dann ging sie herzhaft hinaus in des Vaters Zimmer. Richtig, da stand ein Fenster offen und der Wind blies den Vorhang weit herein ins Zimmer, es war gut, daß Gretchen kein Licht hatte. Sie brauchte auch keines, denn die Blitze leuchteten ihr fortwährend. Nun schloß sie das Fenster und wollte eben wieder hinausgehen, da hörte sie ein leises Geräusch, wie wenn einzelne Tropfen hoch herunterfielen. Sie blieb stehen und lauschte. Von Zeit zu Zeit fiel immer wieder ein Wassertropfen, sie hörte es ganz deutlich, aber woher kam der Laut? Vom Fenster nicht. Sie ging in die Mitte des Zimmers, da hörte man's noch deutlicher, endlich kam sie an des Vaters Schreibtisch und als sie prüfend die Hand darüber ausstreckte, fühlte sie etwas Nasses und ein Tropfen fiel ihr auf die Hand. Jetzt wußte sie's – es regnete durch die Decke herunter und gerade auf des Vaters Schreibtisch. Das war aber schlimm, da mußte Lene helfen, sonst wurden am Ende[60] des Vaters Bücher und Papiere naß. So schnell sie's in der Dunkelheit vermochte, ging Gretchen hinaus auf den Vorplatz, an der Küche vorbei, bis an Lenens Kammer. Es blitzte und donnerte noch ebenso heftig, aber Gretchen erschrak schon nicht mehr so sehr daran, sie war auch ganz im Eifer.
»Lene,« rief sie, »bist du wach?«
»Ja, freilich bin ich wach, gelt jetzt fürchtest du dich doch!«
»Nein, aber Lene, komm nur schnell, denn des Vaters Schreibtisch wird ganz naß!«
»Ach Kind, was meinst du, der steht ja gar nicht am Fenster.«
»Er ist aber doch naß, ich habe es ja gespürt, komm nur schnell!«
Jetzt erschien Lene mit einem Licht. Eifrig ergriff Gretchen ihre Hand: »Komm, ich zeige dir's!«
Als Lene auf den Schreibtisch leuchtete, stieß sie einen Schreckensruf aus. Da hatte sich eine ganze Wasserlache angesammelt; ein Buch, das auf dem Tisch lag, war schon ein wenig naß und verschiedene Päcke Akten und Briefe waren nur um eines Fingers Breite von dem Wasser getrennt.
Lene nahm einen Stoß um den andern und räumte alles auf einen andern Tisch, bis der Schreibtisch ganz leer war. Dann wischte sie das Wasser auf und stellte eine Schüssel unter. Währenddem rief Lene einmal ums andere: »Ach, Kind, Gott Lob und Dank, daß du das entdeckt hast, dein Vater wäre außer sich gewesen, wenn die Papiere alle durchnäßt worden wären, das hätte schweren Schaden angerichtet!«
»Ja, Lene, das hat gar nicht sein können, denn weißt du, ich habe ja den lieben Gott extra gebeten, daß er für uns sorgt. Er hat mich schon zu rechter Zeit geweckt.«
»Ja, Kind, du hast recht, aber jetzt leg dich doch schnell wieder ins Bett, in deinem dünnen Nachthemdchen muß dich's ja frieren. Ich bleibe jetzt auf, bis das Gewitter ganz vorbei ist, du aber schlupfe unter die Decke!«
Gretchen ließ sich das nicht zweimal sagen und legte sich. Dann betete sie noch einmal: »Lieber Gott, ich danke dir, daß du so gesorgt hast, aber jetzt sorgt die Lene,« dann legte sie[61] sich auf die Seite und war trotz Donner und Blitz bald eingeschlafen.
Am nächsten Morgen schien die Sonne wieder freundlich und Gretchen stattete ihren gewohnten Besuch bei den Stachelbeerstöcken im Garten ab. Da, als sie ganz in dies Geschäft vertieft war, rief die liebe, wohlbekannte Stimme der Mutter durchs Fenster: »Gretchen, grüß dich Gott!« und: »Guten Appetit,« fügte der Vater hinzu. Die Eltern waren soeben von der Bahn gekommen. Das war eine Überraschung! Gretchen rannte die Treppe hinauf und in der Freude, die Eltern wieder zu haben, vergaß sie ganz, daß sie nun etwas über die geheimnisvolle Reise erfahren sollte, bis der Vater sagte:
»Nun, Kind, was hättest du denn gesagt, wenn ich heute telegraphiert hätte, du sollst uns auch nachkommen?«
»Ich, ganz allein? Da wäre ich doch lieber mit euch gegangen.«
»Das haben wir uns gedacht und darum sind wir auch wieder gekommen, um dich zu holen.«
»Im Ernst, Vater?«
»Ja, dich und die Lene!«
»O Mutter, gelt, der Vater macht nur Spaß?«
»Diesmal ist's Ernst, liebes Kind,« sagte die Mutter bewegt. »Der Vater zieht in die Residenz und wir ziehen mit ihm und nehmen alles mit, was wir haben.«
»Auf lange Zeit? Über die ganze Vakanz?«
»Nicht nur über die Vakanz, sondern für immer.«
»Aber Mutter, das ist ja eigentlich ganz traurig, dann haben wir ja unsern Garten nimmer und ich kann überhaupt nicht fort, ich muß in die Schule!«
»Eine Schule gibt's in der Residenz auch und vielleicht noch eine bessere als hier,« erwiderte der Vater.
»Und einen Garten?«
»Den bekommen wir freilich zunächst nicht, aber dafür gibt es dort viele schöne Anlagen mit Springbrunnen und Seen und Schwänen darin.«
»O, das ist wie im Märchen, dann freue ich mich auch! Reisen wir auch mit dem Vieruhrzug, heute nachmittag?«
»Nein, so schnell geht das nicht, da gibt's vorher noch viel zu besorgen, aber in sechs Wochen etwa. Nun muß ich's aber auch der Lene mitteilen,« sprach die Mutter und ging in die Küche, der Vater aber in sein Studierzimmer.
Gretchen blieb allein und dachte darüber nach, wie sie die große Neuigkeit ihren Schulkameraden erzählen wollte. Sie wurde aber bald in ihren Gedanken unterbrochen durch den Vater, der wieder ins Wohnzimmer kam und ganz ärgerlich aussah.
»Was hat man denn in meinem Zimmer gemacht?« fragte er, »gewiß wieder so eine unnötige Putzerei, es liegt ja alles durcheinander!«
»Ja, Vater, das hat so sein müssen, weil es auf den Schreibtisch geregnet hat,« antwortete Gretchen und erzählte dann ganz genau den ganzen Hergang der Sache. Sie wußte wohl, daß der Vater gar nicht leiden konnte, wenn man seine Papiere in Unordnung brachte, und als sie mit ihrer Erzählung fertig war, sah sie besorgt zum Vater auf und sagte: »Ist wirklich alles ganz durcheinander?« Der Vater antwortete aber aus diese Frage gar nicht, er hob sein Töchterchen auf einmal vom Boden auf, ließ sie in die Höhe fliegen und rief: »Du bist ein Prachtkerl, dich kann man einmal brauchen in der Welt; nachts, bei Donner und Blitz aufstehen und nach dem rechten sehen, statt ängstlich unter die Decke zu kriechen, das lobe ich mir! Aber warte nur, ich will dir's nicht vergessen!« Mit diesen verheißungsvollen Worten verließ der Vater das Zimmer. Gretchen aber war sehr stolz und glücklich; ein Lob vom Vater war etwas sehr Seltenes, und so ein Lob war noch gar nie dagewesen.
Fröhlich sprang sie hinaus in die Küche, wo auch die Mutter schon von Lene gehört hatte, was in der Nacht vorgefallen war. Jetzt aber sprachen sie über den Umzug in die Residenz und Gretchen bemerkte mit Staunen, daß Lene in Tränen war.
»So, du kommst gerade recht, um die Lene zu trösten,« sagte die Mutter, ließ die beiden allein in der Küche und ging hinüber zum Vater.
»Denke nur, Lene will gar nicht mit uns gehen,« sprach Frau Reinwald lebhaft zu ihrem Manne.
»Wirklich? Das wäre mir leid, warum will sie denn nicht?«
»Sie sagt, sie möchte nicht so weit von ihren Eltern fort und sie könnte sich auch nicht eingewöhnen in einer so großen Stadt. Mir wäre es schrecklich, wenn sie ginge, so ein treues Mädchen fänden wir vielleicht nie wieder!«
Während im Zimmer die Eltern so sprachen, hatte Gretchen zutraulich ihre Arme um Lene geschlungen und freundlich zu ihr gesagt: »Lene, weine nicht, es wird dir schon auch in der Residenz gefallen, es ist ja schön dort!«
»Ich werde wohl nicht mitgehen,« sagte Lene. Da ließ Gretchen sie ganz erschrocken los, sah ihr ungläubig ins Gesicht und rief: »Du machst bloß Spaß!«
»Nein, mir ist's gar nicht spaßhaft zumut.«
»Du willst wirklich nicht mitgehen? Aber Lene, du mußt doch mit, du bist schon immer da gewesen, und ohne dich geht's gar nicht, nein, wirklich ohne dich geht's nicht!« und als Lene sich aufs neue die Tränen aus den Augen wischte, sagte Gretchen ganz entschieden: »Lene, du mußt's doch selbst spüren, du kannst nicht fort von uns!«
Und Lene spürte es, denn sie zog Gretchen gerührt an sich: »Ich glaube du hast Recht, ich kann nicht fort, von dir schon einmal gar nicht! Nein, ich bleibe bei euch; Gretchen, sag's der Mutter, daß ich mit euch gehe, und sag' auch, sie soll mir's nicht übel nehmen, daß ich vorhin so eine dumme Gans war, natürlich gehe ich mit!«
Da fiel ihr Gretchen fröhlich um den Hals, rannte hinüber zum Vater und verkündigte den Eltern jubelnd: »Die Lene geht mit, sie hat es versprochen!«
Das war nun den Eltern sehr lieb und der Vater dachte vielleicht wieder, sein Gretchen sei ein Prachtmädel, daß sie die Lene so schnell herumgebracht hatte. Er ließ sich's aber nicht merken, sondern sagte bloß: »Nun Gretchen, jetzt soll's dir gehen, wie's sonst nur den Kindern in den Märchen geht. Weil du heute nacht meine Papiere vor dem Verderben gerettet[64] hast, sollst du dir irgend etwas wünschen, und den Wunsch will ich dir erfüllen. Du wirst schon so vernünftig sein und dir kein Königreich wünschen, kannst ja ein wenig mit der Mutter beraten. Heute abend will ich deinen Wunschzettel auf meinem Schreibtisch finden.« Mit diesen Worten verließ der Vater das Zimmer.
Gretchen klatschte in die Hände vor Vergnügen. »Mutter, wie herrlich,« rief sie, »ich weiß schon, was ich mir wünsche, du wirst's auch wissen, es ist ja schon lange mein Herzenswunsch!«
»Ich kann mir's wirklich nicht denken, was ist's denn?«
»Natürlich ein Kalb!« rief Gretchen. – »Ein Kalb?«
»Ja, ein rechtes, lebendiges Kalb, so ein gutmütiges, dickköpfiges Kalb!« Aber die Mutter schüttelte den Kopf.
»Liebes Kind, das geht nicht. Denke nur, was würde unser neuer Hausherr in der Residenz sagen, wenn wir in seine elegante Wohnung ein Kalb mitbrächten!«
»O das nehmen wir gar nicht mit hinauf, das führen wir gleich hinten in den Hof, oder in irgend einen Stall nebenan.«
»Da gibt's keinen Hof und keinen Stall, mein Kind, das ist fast so unmöglich wie das Königreich, das sich der Vater auch verbeten hat. Aber es wird dir schon etwas anderes einfallen, das besser paßt, besinne dich nur!«
Das tat nun Gretchen den ganzen Nachmittag, sie zog bald die Mutter, bald Lene zu Rate, und kam doch zu keinem Entschlusse.
»Du hast eben schon alles, was ein kleines Mädchen sich nur wünschen kann,« sprach die Mutter, »da wäre es wohl leichter, wenn sich z. B. die arme Luise Seiz, der du damals die Tafel geschenkt hast, etwas wünschen sollte.«
»Mutter, jetzt hab' ich's,« rief Gretchen ganz vergnügt, »ich wünsche mir etwas für sie und für die andern armen Schulkinder, für alle, die ich lieb habe, geht das?«
Die Mutter überlegte ein wenig.
»Es ließe sich vielleicht schon machen, daß wir, ehe wir von hier fortziehen, allen eine Freude bereiten.«
Mit der Mutter Hilfe wurde nun ein schöner Wunschzettel[65] geschrieben. Auf diesem stand: »Ich wünsche mir, daß ich allen Schulkameraden, die ich lieb habe, zum Abschied eine Freude machen darf. Lieb habe ich alle, die arm sind, und Apothekers Emilie und Felix Acosta, von dem ich nicht weiß, ob er arm ist.«
Der Zettel kam auf des Vaters Schreibtisch und am nächsten Morgen lag er auf Gretchens Frühstückstasse und der Vater hatte darunter geschrieben: »Soll erfüllt werden.«
Die Vakanz war vorüber, zwei Wochen noch war Gretchen in die Schule gegangen und jetzt stand der Umzug nahe bevor. Auf Dienstag war er festgesetzt und heute war schon Samstag. Im ganzen Hause sah es schon ungemütlich aus, die Vorhänge waren von den Fenstern weg, die Zimmer lagen voll Heu und Stroh und Kisten standen überall im Weg.
»Es ist gar nicht mehr behaglich daheim,« sagte Gretchen, »ich bin froh, daß ich in die Schule gehen darf.«
»Ja, heute zum letzten Mal,« sagte die Mutter, »am Montag ist auch dein Schulranzen schon eingepackt.«
»Aber Mutter, ich will nur sehen, ob der Vater sein Versprechen hält mit der Freude für die armen Schulkinder; gewiß vergißt er's und ich mag ihn doch nicht so oft daran erinnern!«
»Er wird schon daran denken zur rechten Zeit. Aber jetzt gehe nur, du kommst sonst zu spät in die Schule!«
»O, das macht nichts, du weißt gar nicht, Mutter, wie gut der Lehrer gegen mich ist und alle Kinder. Darum möchte ich ihnen eben gar so gern eine Freude – –«
»Ich weiß schon, was du möchtest,« unterbrach die Mutter, »aber jetzt mache doch nur, daß du einmal fortkommst, ich habe alle Hände voll zu tun!«
Und Gretchen ging. Sie kam wohl ein wenig zu spät, aber der Lehrer sagte nur: »Ich habe schon Angst gehabt, daß du gar nimmer kommst!« und er und die anderen Kinder blickten gar freundlich auf sie. Ein halbes Stündchen vielleicht hatten die Kinder gearbeitet und der Lehrer rief eben: »Wieviel macht 9 und 5?« da klopfte es an der Türe und herein trat – Herr Reinwald.
Alle Kinder sahen zuerst auf ihn und dann drehten alle wie auf Kommando die Köpfe nach Gretchen. Was bedeutete dieser Besuch? Gretchen wußte es selbst nicht.
»Entschuldigen Sie, daß ich störe,« sprach Herr Reinwald zu dem Lehrer. »Meine Kleine möchte zum Abschied ihren Schulkameraden eine Freude machen und da möchte ich denn die ganze Klasse auf heute Nachmittag in unsern Garten einladen. Die Birnen und Jakobiäpfel sind reif, die Himbeerstöcke hängen voll Beeren und möchten gezupft sein. Wollt ihr wohl kommen, Kinder?«
Sie wollten wohl alle, aber keines hatte recht den Mut, laut zu antworten. Da erhob sich unser Felix, dem kam diese Art gar unhöflich vor: »Wenn Sie erlauben, werden wir so frei sein und kommen.« Herr Reinwald lächelte.
»Wer ist der kleine Sprecher?« fragte er.
»Das ist Felix Acosta.«
»Ach ja, das hätte ich mir denken können, von dem habe ich schon viel gehört. Also ihr wollt kommen?«
Jetzt ertönte ein lautes, allgemeines, jubelndes »Ja« und Gretchen lachte laut auf vor Glück.
»Um vier Uhr wird das Gartentor aufgemacht. Jedes von euch darf auch noch ein Körbchen oder Säckchen mitbringen! Nun will ich aber nicht länger stören, jetzt seid nur wieder fleißig!«
Herr Reinwald verließ das Zimmer, der Lehrer begleitete ihn, und während sich draußen die beiden Herren voneinander verabschiedeten, brach drinnen lauter Jubel los und Gretchen wurde von allen Seiten mit Fragen bestürmt:
»Wer schüttelt die Birnen? Zieht man sein Sonntagskleid[67] an? Macht's nichts, wenn man einen Korb mitbringt, an dem ein Henkel abgerissen ist?«
Während nun Gretchen so von Fragenden umringt war, kam unser Hans zu seinem Felix und sagte: »Wir zwei können nicht, wir haben um vier Uhr Stunde.«
»O, das hätte ich vergessen! Es schadet aber nichts, wir sagen Herrn Baumann, daß wir nicht kommen können.«
»Vielleicht,« meinte Hans, »dürfen wir um zwei Uhr in die Stunde kommen.«
»O, da ist's so heiß!«
»Oder um drei Uhr.«
»Geht nicht, wir kämen zu spät zu Herrn Reinwald.«
»Also um fünf Uhr.«
»Da sind wir noch nicht zurück!«
»Aber um sechs Uhr.«
»Da – da will ich baden.«
»Um sieben Uhr?«
»Da ist's zu spät.«
Hans sah eine Weile mit seinen großen blauen Augen prüfend auf Felix, dann sagte er mit vorwurfsvollem Ernst: »Felix, du magst nicht!«
Und Felix schlug die Augen nieder, denn der Hans hatte ihn durchschaut und er schämte sich.
Nach kurzer Zeit aber sagte er zutraulich zu seinem kleinen Freund: »Ich habe Herrn Baumann sehr lieb, aber jeden Nachmittag Stunde haben, das ist nicht lustig. Wir wollen ihm sagen, daß wir um vier Uhr nicht können und dann tun, wie er meint.«
Damit war nun Hans ganz einverstanden und er ging wieder auf seinen Platz zurück und das war gut, denn eben kam auch Herr Stein wieder herein und rief: »Was ist das für ein Tumult! Wer nicht still an seinem Platz sitzt, bis ich drei zähle, darf nicht bei Herrn Reinwald Birnen essen. Eins, zwei, drei!«
Alles war still, nur eine Stimme unter den Knaben flüsterte noch.
»Wer hat da noch gesprochen?«
»Der Franz!« riefen viele Kinder und deuteten auf des Holzhackers Franz.
»Was hat er gesagt?«
»Er hat gesagt: dem Lehrer gehören die Birnen nicht, der kann gar nicht sagen, wer sie essen darf oder nicht!«
»So? Solche Reden führst du? Die Birnen gehören mir freilich nicht und meinetwegen kannst du sie essen, aber heute nachmittag von vier bis fünf Uhr hast du Arrest, Frau Semmelmeier wird dich holen, wenn du nicht von selbst kommst!«
Nun war's mäuschenstill in der Schule, und der Lehrer hatte es leichter als sonst; jedes hatte Angst, daß es ihm auch so gehen möchte, wie dem Franz, und hielt sich so brav wie möglich. Nach der Schule aber brach der Jubel um so lebhafter wieder los, nur Franz, der sonst immer unter den lautesten war, schlich sich ganz stille nach Hause. Hans und Felix aber gingen zusammen zu Herrn Baumann und kamen gar bald vergnügt wieder herunter, denn Herr Baumann hatte erklärt, wenn ein solches Abschiedsfest gefeiert werde, könne von einer Stunde gar keine Rede sein. Überhaupt habe Felix jetzt bald seine Kameraden eingeholt und es dürfe nun wohl manchmal eine Stunde ausfallen. Das hörte Felix sehr gerne und dem guten Hans war es recht um Felix willen.
Als Gretchen daheim ihren Vater sah, fiel sie ihm in ungestümer Freude um den Hals und dankte ihm.
»Also hab ich's recht gemacht?« fragte der Vater, »freilich bekommen nun nicht nur die etwas, die du auf deinen Zettel geschrieben hast, sondern alle. Wir dachten aber, wer kann so genau wissen, welche Kinder arm sind? Und für den Schäfer-Hans, der wohl der ärmste von allen ist und der immer meiner kleinen Prinzessin die Griffel spitzen mußte, hat sich die Mutter noch etwas besonderes ausgedacht.«
»O, was ist's, Mutter?«
»Ein guter, warmer Winteranzug ist's, den ich ihm aus einem älteren vom Vater machen lassen will.«
»Das kann er brauchen, Mutter, denn bei ihm gibt's[69] überall Löcher, aber am liebsten hätte ich ihm doch etwas von meinen eigenen Sachen geschenkt.«
»Nun, wenn du ihm zur Freude etwa noch eines von deinen Büchern geben willst, so habe ich nichts dagegen. Er ist ja so fleißig und kann's gewiß bald lesen.«
Das war nun ganz nach Gretchens Sinn und sie machte sich gleich eifrig daran, etwas Passendes für Hans auszuwählen. Dabei kam ihr ein Bilderbuch in die Hände, das sie schon lange nimmer angesehen hatte. Es hieß das »Raubtier-Buch« und es waren in demselben die wilden Tiere auf großen farbigen Bildern dargestellt und allerlei Merkwürdiges von ihnen erzählt.
»Mutter,« bat Gretchen, »o bitte, laß mich dies Buch dem Felix Acosta schenken, sieh es sind junge Löwen darin, das wäre etwas für ihn!«
»Wenn du's gerne hergibst, so habe ich nichts dagegen. Bei diesem Abschied sollst du einmal nach Herzenslust an deine Freunde verschenken dürfen.«
Bald hatte Gretchen auch für Hans etwas ausgewählt und nun erwartete sie mit Ungeduld ihre Nachmittagsgäste.
Mit dem Schlag vier Uhr ging Herr Reinwald mit seinem Töchterchen hinunter, schloß das große Gartentor auf und ließ die Schar der Kinder herein, die sich dort schon versammelt hatten. Zuerst blieben sie schüchtern und erwartungsvoll stehen. Als aber Herr Reinwald den Birnbaum schüttelte und die köstlichen Birnen herunterpratzelten, sprangen die Kinder lustig durcheinander, um sie flink aufzulesen. Es gab aber ein solches Drängen und Drücken um den Baum herum, daß Herr Reinwald sagte: »Es wird besser sein, wir teilen die Gesellschaft. Gretchen, führe du die Mädchen einstweilen an die Himbeeren, bis die Knaben ihre Körbe gefüllt haben und nachher wechseln wir.« So war's nun noch netter und Gretchen war so im Eifer mit ihren kleinen Freundinnen, daß sie gar nicht bemerkte, wie die Mutter herunterkam, den Hans bei der Hand nahm und mit sich ins Zimmer hinaufführte.
Dort oben wartete schon der Schneider.
»Sehen Sie, Herr Kerzengrad,« sagte Frau Reinwald, »das ist der Knabe, dem Sie den Anzug machen sollen.«
»Sehr wohl, Frau Reinwald, es scheint allerdings, daß ein neuer Anzug hier gut angebracht wäre.« Der Hans wußte gar nicht, was das bedeuten solle, als Herr Kerzengrad sein Maß aus der Tasche zog und vor ihm niederkniete.
»Nun laß dir das Maß nehmen, Kind,« sagte Frau Reinwald freundlich. Hans wußte nicht, wie er das machen sollte.
»Soll ich auch niederknieen?« fragte er.
»Ist durchaus nicht nötig,« versicherte der Schneider, »bist mir nicht zu groß!« Bald war's geschehen, der Schneider nahm das Tuch, versicherte, daß es einen feinen Anzug geben würde, empfahl sich und ging.
Der Hans aber stand regungslos. Er ahnte etwas, das er doch nicht recht glauben konnte. Frau Reinwald merkte es.
»Gelt, Hans, du weißt gar nicht, was das bedeutet! Sieh, der Schneider macht dir jetzt einen neuen Anzug, den schenken wir dir dann zum Andenken, weil wir fortgehen.«
Das war deutlich auch für den Hans. Er strahlte mit dem ganzen Gesicht wie ein Vollmond und – lief zur Türe hinaus ohne ein Wort.
Das war nun freilich nicht artig, und Frau Reinwald war etwas überrascht; aber sie zürnte dem Kind nicht.
»Wie soll so ein Kind lernen, was sich gehört?« sagte sie sich, »wie lange hat es gedauert, bis Gretchen sich gemerkt hat, daß man grüßt und dankt! Er ist vielleicht in seinem Herzen doch nicht undankbar!«
Nein, das war der Hans nicht. Er hatte nur nicht gelernt, seine Dankbarkeit auszudrücken. Er lief hinunter, suchte seinen Felix auf, zog diesen beiseite und erzählte ihm sein unerhörtes Glück.
Felix freute sich mit seinem Freund, plötzlich aber sagte er: »Ach Hans, ich hätte bei dir sein sollen, du hast wohl wieder nicht gewußt, daß du grüßen und dich bedanken mußt! Wie hast du's denn gemacht?«
Hans war über diese Frage sehr verblüfft.
»Ich habe gar nichts gemacht!«
»Aber was hast du denn gesagt, wie du fortgegangen bist? Hast du Frau Reinwald die Hand gegeben?«
»Nichts gesagt und nichts gegeben,« antwortete Hans.
»Aber Hans, das ist schlimm!«
Der Hans fühlte das jetzt auch ganz deutlich, er wurde dunkelrot und sah den Felix ratlos an.
»Traust du dich jetzt noch einmal hinauf zu gehen und zu danken?« fragte Felix.
»Ich traue mich nicht, aber ich muß!« rief Hans, lief zum Haus zurück, trabte die Treppe hinauf und ohne weiteres in das Zimmer hinein, denn in seiner jetzigen Aufregung konnte er doch an solche Kleinigkeiten, wie das Anklopfen an der Türe, nicht denken! Mit einem Male stand er vor Frau Reinwald, die eben vor einer Kiste kniete, in die sie Porzellan einpackte. Ganz erstaunt sah sie auf.
»Vergelt's Gott und ich dank auch schön,« sagte der Hans und streckte seine Hand hin. Die rechte war's freilich nicht, sondern die linke, der Hans machte da noch keinen Unterschied.
»So ist's recht, mein Kind,« sagte Frau Reinwald und ergriff freundlich die dargebotene Hand, »gelt, vorhin hast du's ganz vergessen.«
»Ja,« sagte der Hans und wurde wieder über und über rot.
»Brauchst dich gar nicht zu schämen, denn du hast's jetzt wieder gut gemacht. Es ist auch recht, daß du noch einmal heraufgekommen bist, denn ich muß dir noch etwas sagen. Später, wenn die andern Kinder fortgehen, sollst du mit dem Felix noch ein wenig dableiben bei meinem Gretchen, wollt ihr wohl?«
»Ich will schon und der Felix auch, dem ist's gar nicht recht, daß die Reinwald fortkommt; aber mir auch nicht.«
»So, habt ihr sie gerne?« sagte lächelnd Frau Reinwald, »nun dann kommt nur nachher noch ein wenig zu ihr.«
Hans sagte nun sehr ausdrücklich: »Behüt Gott« und ging mit leichterem Herzen die Treppe wieder hinunter, als er heraufgekommen war.
Drunten wurden Äpfel geschüttelt, Felix saß hoch oben im Baum und wagte sich soweit hinaus auf die Äste, daß es Herrn Reinwald ganz Angst wurde.
»Der fällt nie!« sagte Hans mit größter Bestimmtheit und ging weiter. Die Kinder hatten nur zu tun, um alle die schönen Jakobiäpfel, die Felix herunter schüttelte, aufzulesen und in ihre Körbe zu sammeln.
Draußen, am Gartenzaun, schlich einer vorbei, der warf sehnsüchtige Blicke herein: Es war des Holzhackers Franz, der kam von der Schule heim, es schlug eben fünf Uhr. Felix, von seinem hohen Posten herunter, bemerkte ihn und schnell ließ er ein paar schöne Äpfel hinaus fliegen. Der Franz las sie eiligst auf und lief damit heim, froh, daß er doch nicht ganz leer ausgegangen war!
Als der Apfelbaum geleert und Felix wieder herunter geklettert war, sah er sich nach Hans um. Ja, wo war der? Der stand, ganz in Gedanken versunken in der Ferne, unter einem Kastanienbaum. Felix und Gretchen gingen auf ihn zu.
»Hans, warum sammelst du nicht Äpfel, ist dein Korb schon voll?« fragte Felix.
Da erwachte Hans wie aus einem Traum und blickte um sich.
»Es sind keine Äpfel da,« sagte er.
»Natürlich nicht, wenn du unter dem Kastanienbaum suchst,« sagte Gretchen lachend, »was tust du denn da?«
Das wußte der Hans selbst nicht recht. Er mußte immer an Frau Reinwald denken und an den neuen Anzug und mußte sich besinnen, wie er das alles daheim der Großmutter auf die Tafel schreiben könne.
»Schreibt man ›Anzug‹ mit ›h‹?« fragte er. Gretchen lachte.
»Du schreibst doch jetzt nicht, was willst du denn?«
»Er wird daheim seiner Großmutter etwas aufschreiben wollen, gelt Hans?« sagte Felix, der sich schon auskannte.
Hans nickte.
»›Ahnung‹ schreibt man mit ›h‹,« sagte Gretchen, »aber vom ›Anzug‹ weiß ich's nicht gewiß.«
»Das ist auch einerlei,« meinte Felix, »die Großmutter versteht's schon.«
»Ja, aber wissen möcht man's doch!« beharrte Hans.
Felix und Gretchen waren aber jetzt gerade nicht so wißbegierig.
»Komm lieber zum Apfelbaum,« sagten sie und zogen ihn fort.
Es wurde sechs Uhr, bis die Kinder endlich alle mit reich gefüllten Körben abzogen und bis Gretchen ihre beiden Freunde mit hinaufnehmen konnte, um ihnen die Bücher zu geben. Hans bedankte sich diesmal, ehe er sein Buch nur recht in den Händen hielt und wollte mit seinem Schatz unter dem Arm gleich wieder gehen. Felix aber hatte das seinige aufgeschlagen und nun fiel sein Blick auf ein Bild, das eine Löwin darstellte mit ihren Jungen. Wie gebannt sah er auf das Bild nieder und dann rief er in hellem Jubel, auf die Löwin deutend: »Das ist Minka und dieser Kleine da ist Nero, mein Nero, o mein Nero!« und man wußte nicht mehr recht, ob Felix lachte oder weinte vor Freude.
Frau Reinwald war ganz gerührt.
»Sieht der kleine Löwe deinem Löwen ähnlich?« fragte sie.
»Er sieht ihm nicht ähnlich, er ist es selbst, so dreht er sich und will sein Schwänzlein fangen, o ich kenne ihn so gut und die Minka auch; aber die anderen kenne ich nicht.«
Gretchen sah die Mutter fragend an: »Kann das wirklich sein Löwe sein?«
»Es ist ja nicht unmöglich,« sagte Frau Reinwald, »daß der Maler, der dieses Bild gemacht hat, die Löwen abgemalt hat, die damals im Zirkus waren.«
»O ja, sehr oft sind Maler vor den Löwenkäfig gekommen,« versicherte Felix und nun drückte er das Buch fest an sich wie einen Schatz und sagte: »Hans komm, das muß Herr Baumann sehen!«
Die beiden kleinen Burschen verabschiedeten sich und zogen ganz glücklich mit ihren Büchern und Körben von dannen.
»Herr Baumann, Sie müssen meinen Nero sehen!« rief Felix und schlug sein Buch auf.
Der alte Herr freute sich selbst an dem schönen Bild, aber noch mehr an dem Glück seines kleinen Schülers, der ihm nun gar manches von seinen Löwen erzählte. Hans hörte aufmerksam zu und erst zuletzt, als er sah, daß sein Felix ganz befriedigt war, schob er dem Lehrer stillschweigend sein Buch hin.
»So, du hast auch etwas?« sprach Herr Baumann und schlug das Buch auf. »Ei, das sind ja die Erzählungen von Christoph Schmid! Nun will ich euch etwas sagen: Künftig dürft ihr in die Stunde immer eure schönen Bücher mitbringen, dann lesen wir in diesen. Dann wird's aber schön werden in unsern Stunden!«
Und wie der gute Lehrer gesagt hatte, so kam's, und die Stunden waren von nun an nicht nur dem Hans, sondern auch dem Felix die liebsten Stunden in der Woche. –
Der letzte Sonntag, den Gretchen in Föhrenheim zubringen sollte, war gekommen; die Eltern hatten sie noch einmal mitgenommen in die Kirche, in der sie getauft worden war, und am Nachmittag hatten sie Abschiedsbesuche gemacht im Städtchen und Lene war hinaus in ihr heimatliches Dorf gewandert, das nur eine Stunde entfernt lag, und war mit verweinten Augen zurückgekommen.
Und nun war's Dienstag. Ein großer Möbelwagen stand vor dem Haus und Gretchen sah zu, wie ein Möbel nach dem andern hinein wanderte. Jetzt schlug es zehn Uhr und die ganze Schar der Schulkinder kam in der Freiviertelstunde herbeigesprungen, um auch etwas von dem Umzug mit anzusehen.
Den Packern, die aus der Residenz gekommen waren, war das unbequem und einer hob ein Seil auf, schwang es drohend gegen die Kinder und rief: »Macht daß ihr weiter kommt, ihr Gassenkinder.«
Da trat Gretchen näher und sprach ganz entrüstet: »Das sind keine Gassenkinder, das sind alles meine Freunde und Freundinnen!« Erstaunt sah der Mann sie an.
»Eine saubere Freundschaft hat das kleine Fräulein,« murmelte er, ließ aber die Kinder doch in Ruh, und bald darauf schlug es Viertel und alle rannten zum Schulhaus[75] zurück. Gretchen wäre fast mit gesprungen, es kam ihr ganz sonderbar vor, daß sie nun schon nimmer zu ihnen gehörte.
Um Mittag schon war die ganze Wohnung leer und der Wagen wurde verschlossen. Wie kahl sah es nun in der Wohnung aus und wie eigentümlich hallten die Schritte in den leeren Räumen!
Der Mutter war's weh ums Herz, sie war auch so müde und matt, und wenn der Vater sie aufheitern wollte, kamen ihr die Tränen. In der öden Küche stand Lene und band sich eine frische Schürze um. Es läutete eben zwölf Uhr. Gretchen sah sich in der Küche um.
»Gelt, Kind, du bist hungrig,« sagte Lene, »und ich hab' dir nichts gekocht!«
»Ich weiß schon, Lene, wir sind ja alle in die Apotheke zum Essen eingeladen, dort gibt's gewiß etwas Gutes, freust du dich nicht, daß du auch mit darfst?«
»O ich kann mich nicht freuen, ich mag gar nicht aus meiner lieben Küche heraus!«
Aber Lene mußte doch heraus, Herr Reinwald rief nach ihr und Gretchen, zum letztenmal gingen sie alle zusammen die Treppe hinunter und die Türe schloß sich hinter ihnen.
»Unsern Ausgang segne Gott,« sagte tief bewegt Frau Reinwald, und ihr Mann fügte leise hinzu: »Unsern Eingang gleichermaßen!«
Bald darauf saßen sie an dem gastlichen Tisch in der Apotheke und durften sich bei den lieben Freunden ausruhen von der Anstrengung der letzten Stunden.
Am Nachmittag fuhr ein Wagen vor, um die Familie Reinwald an die Bahn zu bringen. Dem einen Wagen folgten aber noch drei andere, viele gute Freunde hatten sich verabredet, die Familie hinaus zu geleiten. Das gab nun für Gretchen noch eine lustige Fahrt durchs Städtchen, aus vielen Häusern grüßten Bekannte heraus und sie konnte noch manchen ihrer Schulkameraden zuwinken. Als sie schon am Bahnhof angekommen und in den Zug eingestiegen waren, sah Gretchen noch durchs Fenster zwei Knaben atemlos herbei[76] rennen: es waren Hans und Felix. Sie kamen dicht an den Wagen. Hans hielt ein Paketchen in der Hand und wollte es Gretchen hinauf reichen, aber der Zug setzte sich schon in Bewegung. Da ergriff es Felix und warf es glücklich noch durchs Fenster hinein, so daß Gretchen es fassen konnte. Sie winkte mit ihrem Taschentuch hinaus, Felix schwenkte sein Samtmützchen und einen Augenblick nachher war der Bahnhof und das ganze Städtchen ihren Blicken entschwunden.
Als Gretchen das Päckchen aufmachte, fand sie darin sechs Griffel, so fein gespitzt, wie eben nur der Schäfer-Hans sie spitzen konnte!
Vor einem stattlichen Hause in der Residenz stand Herr Reinwald wenige Tage nach seiner Ankunft in der Stadt.
»Töchterinstitut von Fräulein von Zimmern« stand an dem Hause angeschrieben, in das nun Herr Reinwald eintrat.
Auf seine Frage, ob er Fräulein von Zimmern sprechen könne, wurde er in ein freundlich eingerichtetes Zimmer geführt, und bald darauf erschien die Vorsteherin des Instituts, ein älteres Fräulein von vornehmer Haltung und ernsten, aber doch wohlwollenden Zügen. Sie bat Herrn Reinwald, Platz zu nehmen, und dieser teilte ihr nun mit, daß er gekommen sei, um sie zu bitten, sein Töchterchen in ihre Schule aufzunehmen.
»Die Kleine hat zwar erst seit diesem Frühjahr die erste Klasse der Volksschule in dem Städtchen Föhrenheim besucht und ist deshalb noch nicht sehr gelehrt,« sprach Herr Reinwald, »doch ist sie gut begabt und so, denke ich, wird sie den andern bald nachkommen.«
»Ich bin gerne bereit, Ihr Töchterchen aufzunehmen,« antwortete Fräulein von Zimmern, »doch beginnen bei uns die Klassen nicht im Frühjahr, sondern im Herbst. So muß denn Ihre Kleine entweder ein halbes Jahr vor- oder zurückgesetzt[77] werden. Da nun die Kinder in meinem Institut weiter sind als die Kinder in der Volksschule, so wird es am besten sein, wenn sie noch einmal von vornen anfängt mit unseren Kleinen, die vor einigen Tagen in die erste Klasse eingetreten sind.«
»Das wünschte ich freilich gar nicht,« erwiderte Herr Reinwald, »es ist ihr bisher immer so leicht gegangen und nun möchte ich, daß sie einmal ernstlich ans Lernen käme.«
Fräulein von Zimmern wiegte bedenklich ihr Haupt.
»Sie wird schwer tun in unserer zweiten Klasse.«
»Nun ja, das wünsche ich eben, sie soll sich auch plagen müssen, bisher war für sie alles ein Spiel.«
»Wird es das Kind nicht zu sehr anstrengen?«
»Das ist nicht zu fürchten. Sie ist vermutlich die dickste und rotbackigste unter ihren künftigen Kamerädinnen.«
»Wenn zuviel Neues und Schweres auf einmal kommt, kann sie auch leicht den Mut verlieren!«
»Den Mut wird sie nicht verlieren, aber vielleicht etwas von ihrem Übermut.«
»Nun denn, wenn Sie es so sehr wünschen, so werde ich sie in die zweite Klasse aufnehmen, doch muß ich bitten, daß ihr für den Anfang zu Hause etwas nachgeholfen wird.«
»Dies wird meine Frau sehr gerne tun, sowie sie wieder wohl ist. Sie hat sich leider bei dem Umzug verdorben, doch hoffe ich, daß es vorübergehend sein wird.«
»Das wünsche ich auch von Herzen. Grüßen Sie mir Ihre Kleine und schicken Sie dieselbe möglichst bald.«
»Sie wird gleich morgen früh kommen.«
»Gut, der Unterricht beginnt um 9 Uhr.«
Herr Reinwald empfahl sich und eilte heim, wo er von Gretchen ungeduldig erwartet und mit allerlei Fragen über die neue Schule überschüttet wurde. Herr Reinwald aber gab nur kurzen Bescheid, er hatte in seinem neuen Amt sehr viel zu tun und es kam ihm ungelegen, daß er auch für Gretchens Angelegenheiten sorgen mußte.
»Wo ist die Mutter?«
»Sie hat sich ins Bett gelegt, es ist ihr schlechter.«
Herr Reinwald ging ins Schlafzimmer, kam aber bald wieder heraus.
»Die Mutter hat Fieber, wir müssen den Arzt haben. Schicke mir Lene herein, daß ich ihr beschreibe, wo der Arzt wohnt, und du mache dich fertig, sie zu begleiten, denn der Arzt wohnt in derselben Straße, in der auch dein Institut ist, dann lernst du gleich deinen Schulweg kennen.«
Bald waren Lene und Gretchen miteinander auf dem Weg in die Luisenstraße.
»Das hätte ich nicht gedacht, daß unser erster Ausgang miteinander zum Arzt wäre,« sagte Lene mit einem schweren Seufzer und es war den beiden recht trübselig zu Mute, als sie an dem kühlen Herbstabend durch die fremden Straßen gingen, um das Haus des Arztes aufzusuchen. Endlich hatten sie's gefunden und den kurzen Bescheid erhalten, daß der Arzt am nächsten Morgen kommen werde.
»Das sind Leute,« räsonnierte Lene im Heimgehen, »denen ist's ganz einerlei, wer krank ist oder was einem fehlt! Da war's schon anders, wenn man zu unserem lieben Herrn Doktor in Föhrenheim kam. Da fragte gleich die Magd, wer denn krank sei, und die Frau Doktor ließ gute Besserung wünschen und kaum war man daheim, so stand auch der Herr Doktor schon da. Die Leute hatten doch auch eine Teilnahme, aber hier sind sie so kalt und so fremd!«
»O Lene, wären wir doch noch in Föhrenheim, dann wäre auch die Mutter nicht krank,« seufzte Gretchen, und ihr kleines Herz wurde voll Heimweh.
Inzwischen waren die beiden wieder an ihr Haus gekommen. Es war ein großes, dreistöckiges Haus, mitten in der Stadt.
»Hast du das alte Fräulein schon einmal gesehen, das unter uns im ersten Stock wohnt?« fragte Lene.
»Nein, ich habe nur ihren Hund bellen hören.«
»Ja, das ist ein bissiges Tier, vor dem nimm dich nur in acht, aber vor dem Fräulein auch, denn die ist auch nicht viel besser.«
»Was tut sie denn?«
»Ich weiß nicht. Aber es kommt keine Seele zu ihr und kein Mensch mag sie.«
»O, o, Lene, das muß aber schrecklich sein, wenn einen gar niemand mag!«
»Freilich, aber daran ist sie selbst schuld.«
»Hat sie denn etwas Böses getan?«
»Nein, aber sie ist eben so wunderlich, daß man nicht mit ihr auskommen kann.«
»Sieht sie dann nicht immer sehr traurig aus?«
»Die? Nein, die sieht nur bös aus.«
Gretchen wurde ganz nachdenklich.
»Lene, wenn ich sie nur sehen könnte, vielleicht könnte ich sie doch lieb haben, damit doch ein Mensch sie mag!«
»Sehen wirst du sie wohl bald, aber lieb haben schwerlich!«
»O doch, Lene, die muß ich lieb haben, wenn kein Mensch sie mag, ich glaube, ich habe sie jetzt schon lieb!«
Lene und Gretchen wurden mit Ungeduld erwartet, Frau Reinwald war sehr krank und auf den schlimmen Abend folgte eine unruhige Nacht.
Sehnsüchtig wurde am nächsten Morgen der Arzt erwartet. Herr Reinwald hätte Gretchen gerne in die neue Schule eingeführt, aber er fürchtete, daß gerade in seiner Abwesenheit der Arzt kommen würde. Lene konnte man auch nicht entbehren, so mußte sich denn Gretchen allein auf den Weg machen. Sie versicherte auch, daß sie ihn fände, und im Notfall konnte sie ja fragen.
So nahm sie denn wieder ihren Ranzen und ging, freilich nicht so fröhlichen Herzens, wie sie sonst in die Schule zu wandern pflegte. Sie schlug denselben Weg ein, den sie gestern mit Lene gemacht hatte, und bald sah sie mehrere Mädchen mit Schultaschen und Büchern, die alle in einer Richtung gingen. Nun brauchte sie ja gar nicht erst zu fragen, sie durfte nur den andern Schulkindern folgen. Diese bogen jetzt in eine Seitengasse ein und traten in das Schulhaus. Gretchen folgte einem Mädchen, das ungefähr in ihrer Größe war und trat mit ihr in das Schulzimmer ein.
Der Vater hatte ihr anbefohlen, gleich auf Fräulein von Zimmern zuzugehen. Diese war aber nicht zu sehen, es stand am Katheder ein Lehrer. So ging denn Gretchen auf diesen zu und richtete die Empfehlungen ihrer Eltern aus.
»Wie heißt du denn, Kleine?« fragte der Lehrer.
»Gretchen Reinwald.«
»Gehörst du denn zu uns?«
»Ja, mein Vater hat mich gestern angemeldet.«
Der Lehrer schüttelte verwundert den Kopf.
»Davon weiß ich gar nichts. Bist du denn israelitisch?«
Gretchen wußte nicht, was das heißen sollte, nur das wußte sie, daß noch niemand sie so genannt hatte.
»Nein,« sagte sie, »ich weiß aber auch nicht, was das ist.«
Der Lehrer lächelte. »Dann wirst du's auch nicht sein, wie ich mir gleich gedacht habe. Sag einmal, bei wem hat dich dein Vater angemeldet?«
»Bei Fräulein von Zimmern selbst.«
»Bei Fräulein von Zimmern? Da meinst du wohl, du seist hier im Institut von Fräulein von Zimmern?«
»Ja, bin ich denn nicht da?« fragte Gretchen und sah sich ganz verwirrt um.
»Nein, Kind, da bist du ganz fehl gegangen. Du bist hier in der israelitischen Schule oder, wenn du's so besser verstehst, in der Judenschule.«
»Dann will ich wieder gehen,« erklärte Gretchen rasch entschlossen.
»Das denke ich mir; aber du scheinst hier ganz fremd zu sein, findest du denn den Weg?«
»Von hier aus nicht.«
»Nun, dann muß ich dir eben eine Begleiterin mitgeben; wer weiß das Institut von Fräulein von Zimmern?«
Viele Hände wurden in die Höhe gestreckt.
»Rosa Herz, komm du heraus, du kannst das Kind begleiten.«
Ein großes, schwarzhaariges Mädchen kam vor und wollte Gretchen fortführen. Dieser fiel aber noch zu rechter Zeit ein, daß sie doch nicht nur so fortlaufen dürfe.
Sie gab dem Lehrer die Hand und bedankte sich recht herzlich, denn sie war sehr froh, daß sie eine Begleiterin mitbekam.
»Schon recht,« sagte der Lehrer, »vergiß auch nicht, deinem Vater einen Gruß von dem israelitischen Lehrer auszurichten.«
»Wie bist du in unsere Schule geraten?« fragte Rosa unterwegs.
»Ich habe viele Mädchen da herein gehen sehen und nicht daran gedacht, daß es hier zwei Schulen gibt, in Föhrenheim gibt es nur eine.«
»Was, nur eine? Ich habe sagen hören, daß es hier mehr als vierzig Schulanstalten gibt.«
Gretchen staunte und war froh, daß Rosa Herz sie ganz bis an das Haus von Fräulein von Zimmern begleitete, sie wollte nicht noch einmal irre gehen.
Die beiden Mädchen verabschiedeten sich freundlich voneinander und bald stand Gretchen mit klopfendem Herzen vor einer Türe, an der groß und deutlich geschrieben stand: »Zweite Klasse.« Es war ganz still darin und Gretchen dachte, es könne niemand in dem Zimmer sein. Als sie aber anklopfte, wurde doch »Herein!« gerufen; sie öffnete die Türe und sah, daß alle Schülerinnen in musterhafter Stille an der Arbeit saßen. Freilich, fünfzig Kinder, wie in Föhrenheim, waren es nicht, es saßen bloß vierzehn Mädchen in dem schönen, großen Schulzimmer mit seinen hohen, hellen Fenstern. Fräulein von Zimmern stand am Lehrpult, Gretchen ging auf sie zu und richtete zum zweitenmal aus, was der Vater ihr aufgetragen hatte.
»Wie heißt du mit deinem Vornamen?« fragte Fräulein von Zimmern.
»Gretchen.«
»Nun, Gretchen, du kommst zu spät, ich habe dich um neun Uhr erwartet, es ist aber schon sieben Minuten nach neun Uhr. Merke dir vor allem, daß man in meiner Schule pünktlich sein muß!«
»Ich habe mich verirrt und bin in die Judenschule gekommen.«
Alle Kinder lachten, aber Fräulein von Zimmern verwies sie sofort zur Ruhe und wandte sich wieder an Gretchen:
»Noch etwas; du kommst aus der Volksschule und weißt daher noch nicht, wie man sich bei uns benimmt, wenn man in das Klassenzimmer eintritt. Ottilie von Lilienkron, geh zur Türe hinaus und zeige deiner neuen Mitschülerin, wie sie künftig einzutreten hat!«
Die Schülerin, die auf dem ersten Platz saß, erhob sich, ging zur Türe hinaus, kam dann leisen Schrittes auf Fräulein von Zimmern zu, machte eine kleine Verbeugung und sprach: »Guten Morgen, Fräulein von Zimmern.«
»So wirst du von morgen an auch grüßen, merke dir das; ich bin gewöhnt, alles nur einmal zu sagen. Wer etwas vergißt, was schon gesagt wurde, bekommt eine schlechte Note.«
Gretchen fühlte sich höchst unbehaglich, während sie so vor der gestrengen Lehrerin stand und die Blicke aller Kinder auf sich gerichtet sah. Sie war froh, als Fräulein von Zimmern ihr endlich gestattete, ihren Schulranzen abzulegen; sie hörte, wie Ottilie von Lilienkron kicherte und leise zu ihrer Nachbarin sagte: »Die hat einen Bubenranzen an!« Aber so leise es auch geflüstert war, Fräulein von Zimmern mußte es doch gehört haben, sie sagte ruhig: »Ottilie, eine schlechte Note.«
Nun herrschte wieder lautlose Stille in den Reihen der Schülerinnen.
»Nun, Gretchen, zeige mir deine Hefte, damit ich sehe, wie weit du gekommen bist!«
»Ich habe keine Hefte.«
»Ei, die hättest du mitbringen sollen!«
»Ich habe auch zu Hause keine Hefte, wir haben immer auf die Tafel geschrieben.«
»Wie, noch gar nicht ins Heft? Da kannst du wohl noch nicht einmal mit der Feder schreiben?«
»O doch, ich kann schon, nur nicht so gar schön.«
»Das kann ich mir vorstellen! Wo hast du denn deine Bücher?«
Bereitwillig zog Gretchen ihre Fibel und ihr Spruchbuch aus dem Ranzen, sie war so froh, daß sie wenigstens Bücher hatte.
»Und was hattet ihr denn für ein Rechenbuch?«
»Gar keines.«
»Natürlich, das hätte ich mir denken können! Du wärst wohl besser bei den Kleinen untergebracht. Wie alt bist du denn?«
»Sieben Jahre.«
»So bist du die jüngste in dieser Klasse und mußt dir die größte Mühe geben, um dich darin halten zu können. Merke dir das!«
Jetzt endlich führte Fräulein von Zimmern Gretchen an ihren Platz. Er war auf der hintersten Bank, aber in diesem Augenblick war es Gretchen ganz gleichgültig, ob sie vornen oder hinten sitzen sollte, sie hatte nur den einen Wunsch, daß man nimmer auf sie achten und ihr nichts mehr anbefehlen möchte, das sie sich merken sollte!
Der Unterricht begann. Die Schülerinnen waren freilich viel weiter als Gretchens ehemalige Schulkameraden; als es aber ans Lesen ging, bemerkte Gretchen mit Erleichterung, daß doch manche noch nicht so geschickt darin waren wie sie. Nachdem alle anderen gelesen hatten, mußte eines der Mädchen ihr das Buch reichen, die Reihe kam an sie. Gretchen gab sich nun Mühe, wie sie sich wohl noch nie gegeben hatte, seit sie lesen lernte, und sie brachte einen langen Satz ganz ohne Anstoß heraus.
Die Stimme von Fräulein von Zimmern klang nun schon etwas milder denn vorher, als sie sagte: »Das Lesen geht nicht übel, nur mußt du auch Ausdruck hinein legen, merke dir das!«
Die Stunde verlief sehr ruhig. Fräulein von Zimmern zankte nie, nur hie und da rief sie eines der Kinder mit Namen und fügte hinzu: »Eine schlechte Note.« Gretchen wußte manchmal gar nicht weshalb, sie merkte aber, daß es den Mädchen sehr zu Herzen ging und es bei der einen und anderen stille Tränen gab.
Mit dem Schlag zehn Uhr erklang im Vorplatz ein lautes Schellen. Die Kinder räumten ihre Bücher weg, verließen still ihre Plätze und gingen eins nach dem andern, in derselben Ordnung wie sie in den Bänken gesessen waren, zur Türe hinaus. Gretchen folgte als letzte. Kaum hatte sich aber die Türe hinter ihnen geschlossen, so war die Schar da draußen gar nimmer zu erkennen. Sie stürmte so fröhlich und lachend[84] die Treppe hinunter, als müßte sie sich entschädigen für die ausgestandene Ruhe; gleichzeitig kamen auch aus den anderen Klassenzimmern Kinder heraus und bald füllte sich der Schulhof mit lustigen Mädchen jeden Alters.
Gretchen bemerkte aber, daß nicht alle gleich in den Hof gingen, sondern daß manche vorher in ein Zimmer im untern Stock traten, aus dessen offener Türe ihr ein angenehmer Duft entgegen strömte. Neugierig blickte sie hinein.
»Willst du auch etwas?« redete Ottilie sie an.
»Was gibt es denn da?« fragte Gretchen und trat in das Zimmer.
»O, da kann man alles haben, was man nur will, Bretzen, Schinkenbrötchen, Fleischbrühe, Milch, Schokolade, Eier, du darfst nur sagen, was du willst.«
Hinter einer weißbedeckten Tafel stand ein junges Mädchen in appetitlicher weißer Schürze und schnitt eben feine Stückchen Schinken auf. Gretchen war ganz erstaunt, das war doch eine ganz andere Schule als die in Föhrenheim, wenn man da solche Herrlichkeiten bekam! Sie hätte nur den Schäfer-Hans herwünschen mögen!
»Schokolade mag ich am liebsten,« sagte Gretchen und sogleich wurde ihr von dem gefälligen Mädchen eine große, goldgeränderte Tasse voll Schokolade eingeschenkt und ganz von selbst ein Brötchen dazu gereicht.
»Ich danke schön,« sagte Gretchen und ließ sich gleich den süßen Trank schmecken.
»Bitte, man zahlt gleich beim Empfang,« sprach nun das junge Mädchen.
Gretchen sah sie groß an.
Ottilie lachte. »Vorher muß man zahlen, ehe man ißt und trinkt, verstehst du?« sagte sie.
Gretchen setzte die Tasse nieder, sie wurde über und über rot und flüsterte kaum hörbar: »Geld habe ich nicht.«
»Du hast wohl gemeint, man bekäme das alles umsonst?« fragte laut lachend Ottilie. Gretchen nickte.
»Du kennst die Welt noch schlecht,« sprach das junge[85] Mädchen mit der weißen Schürze, und nun lachten alle Kinder, die herumstanden, und hatten den größten Spaß an Gretchens Verlegenheit.
»Ich will für sie zahlen, morgen kann sie mir ja das Geld wieder mitbringen,« ließ sich nun eine Stimme hinter Gretchen hören, ein feines Händchen streckte sich vor und reichte das Geld hin. Gretchen wandte sich um, sie wollte sehen, wer ihr so liebevoll aus der Not half.
Es war Hermine Braun, ein liebliches zartes Mädchen, das Gretchen im Schulzimmer auf dem vierten Platz bemerkt hatte. Gretchen dankte ihr und eilte hinaus, denn sie hatte keine Lust zuzuhören, wie Ottilie, so oft wieder ein anderes Mädchen ins Zimmer kam, erzählte, was vorgefallen war und wie dann wieder über sie gelacht wurde. Sie trat in den Hof hinaus. Dort ging es ebenso lustig zu, wie vor dem Föhrenheimer Schulhaus, aber unser Gretchen, die dort bei jedem Spiel die Hauptperson gewesen war, fühlte sich recht fremd unter all den Mädchen, von denen jedes schon ihre gute Freundin zu haben schien, und sie war froh, als droben wieder geschellt wurde.
»Das ist das erste Zeichen,« sagte Hermine Braun im Vorbeigehen zu ihr. »Wenn das zweite Zeichen gegeben wird, muß man fertig gerichtet am Platz sitzen, sonst bekommt man eine schlechte Note.«
Als Gretchen durch den großen Vorplatz ging, öffnete sich eine Türe und Fräulein von Zimmern winkte ihr herein.
»Hier habe ich dir aufgeschrieben, was du an Büchern und Heften brauchst. Bitte deinen Vater, daß er dir alles so schnell wie möglich besorgt. Was du für eine Handarbeit nötig hast, wird dir Fräulein Klingenstein sagen. Nun gehe wieder hinauf in das Klassenzimmer.«
Als Gretchen hinaufkam, standen die Kinder noch im Zimmer herum und richteten ihre Bücher. Am Fenster aber war ein Mann, der machte sich an dem Rouleau zu schaffen. Gretchen sah ihn nur von hinten und dachte, er sei vielleicht ein Handwerksmann, der dort etwas in Ordnung zu bringen[86] habe. Als er aber fertig war, ging er nicht fort, sondern sah zum Fenster hinaus.
»Was will der Mann?« fragte Gretchen eine der Umstehenden.
»Welcher Mann?«
»Der dort am Fenster.«
Statt aller Antwort lachte die Angeredete, zupfte eine andere und sagte ihr etwas ins Ohr. Die lachte noch mehr und nun hatte es Ottilie bemerkt, kam herzu und fragte:
»Was gibt es? Hat die Neue sich wieder so köstlich benommen?« Und nun ging es halblaut von Mund zu Mund: »Sie hat gesagt: ›Was will der Mann?‹«
Der »Mann« aber mußte nun auch etwas gemerkt haben, er wandte sich um, trat herzu und fragte in freundlichem aber ernstem Ton: »Was habt ihr denn zu flüstern und zu lachen, was gibt es denn?«
Niemand antwortete, aber das Gekicher wurde um so lauter. Gretchen sah nun wohl, daß dieser Herr kein Handwerksmann, sondern ein Geistlicher war. Nun fiel sein Blick auch auf sie.
»Ah, das ist gewiß die neu eingetretene Schülerin? Fräulein von Zimmern hat mir schon von dir gesagt, komm her, mein Kind, gib mir die Hand!«
Gretchen kam sofort. Dieser Mann sah sie herzlich und freundlich an, es kam ihr vor, als sei sie bei ihm geschützt vor den Spöttereien ihrer Kamerädinnen. Diese stießen sich noch immer an und flüsterten.
»Nun sagt mir aber doch, über was ihr immer lachen müßt!«
»Die Neue hat so etwas Dummes gesagt,« antwortete nun eines der Mädchen.
»Die Neue? So wollen wir sie aber doch nicht nennen, wie heißt du denn, mein Kind?«
»Gretchen Reinwald.«
»Nun, was hat denn das Gretchen gesagt? Es war gewiß nichts Schlimmes.«
»O nein, gar nicht schlimm!« ließ sich nun Hermine Braun vernehmen.
»Und doch will mir's niemand sagen?« fragte der Pfarrer fast traurig.
Gretchen, die in großer Verlegenheit ihr Köpfchen gesenkt hatte, schlug nun ihre Augen auf, sah in das gütige Gesicht des Mannes und sprach: »Ich kann's auch selbst sagen. Ich habe Sie am Fenster stehen sehen und nicht gekannt und dann habe ich gefragt: ›Was will der Mann?‹«
Nun erhob sich ein lautes Gelächter.
»So, das war's, das hast du gefragt? Da hast du recht gehabt. Wenn zu mir ein Fremder ins Haus kommt, dann denke ich auch gleich: was will der Mann? Und nun, was habt ihr denn geantwortet?« fragte der Pfarrer, indem er mit ernsten Blicken von einem der Mädchen zum andern sah. Da verstummten alle. »Nun, Ottilie, was will der Mann?« fragte der Pfarrer eindringlich, und als Ottilie die Antwort schuldig blieb, wandte er sich bald an diese, bald an jene und wiederholte immer dringender die Frage. Nun waren die andern ebenso in Verlegenheit wie vorhin Gretchen.
»Ei, sieh, sie wissen's alle nicht und kennen mich doch schon so lange! Nun, so will ich dir's selbst sagen: Der Mann will euch vom lieben Gott erzählen, er will euch helfen, daß ihr recht fest in eurem Christenglauben werdet und will euer Herz mit Liebe zu Gott erfüllen, damit ihr auch unter einander recht liebreich seid! Das will der Mann, und willst du dies alles bei ihm lernen?«
»Ja, o ja!« rief Gretchen und sah mit innigem Vertrauen zu dem Mann auf, der schon ihr ganzes Herz gewonnen hatte. Den andern aber war das Lachen vergangen, sie setzten sich still an ihre Plätze und der Unterricht begann.
Während der ganzen Stunde konnte Gretchen kein Auge von dem Pfarrer verwenden, der gar herzlich mit den Kindern zu reden verstand und auch an sie oft eine Frage richtete. Sie fühlte sich ganz glücklich, wenn sie eine richtige Antwort zu geben wußte, und als am Schluß der Stunde der Pfarrer ihnen sagte, was für ein Lied sie für das nächste Mal auswendig lernen sollten, da horchte sie genau auf und fest stand[88] ihr Entschluß: für diese Stunden ihre Aufgaben immer fehlerlos zu lernen.
Draußen ertönte nun wieder die Glocke, der Pfarrer ging und die Mädchen eilten alle aus dem Zimmer, aber diesmal nicht hinunter in den Hof, sondern eine Treppe weiter hinauf. Gretchen wußte nicht, was sie dort wollten, aber sie dachte: was die andern tun, tue ich auch, und sie folgte ihnen. Da wandte sich Ottilie auf der Treppe um und sagte: »Was willst denn du, du hast doch nichts zu holen? Läufst du uns nur immer so nach?« Da blieb Gretchen zurück; ganz allein stand sie an der Treppe und wußte nicht, was sie sollte. Aber Hermine Braun, die schon weiter oben war, hatte die unfreundlichen Worte Ottiliens gehört. Im Augenblick sprang sie noch einmal die Treppe herunter, nahm Gretchen an der Hand und sagte: »Komm du nur mit mir, wir holen dort oben unsere Körbchen; wenn du auch noch keines hast, so zeige ich dir einstweilen den Platz, wo sie hin gehören. Wir haben nämlich jetzt Handarbeitstunde von Fräulein Klingenstein.«
»O, auf die Handarbeit fürchte ich mich, ist Fräulein Klingenstein gut?«
»So gut nicht wie Fräulein von Zimmern.«
»Fräulein von Zimmern ist doch nicht gut?« fragte Gretchen ganz erstaunt.
»O doch, ganz gewiß, ich habe sie so lieb!«
»Ich nicht, mir kommt sie streng vor.«
»Ja, anfangs ist mir's auch so gegangen, aber jetzt habe ich sie lieb, obwohl sie streng ist, denn sie ist so gerecht gegen eine wie gegen die andere und nie ist sie zornig oder schlechter Laune, du wirst sie ganz gewiß auch bald lieb haben.«
»Den Herrn Pfarrer habe ich jetzt schon lieb!«
»Ja, das glaube ich, den habe ich auch am liebsten. Am wenigsten mag ich Fräulein Klingenstein, die wird oft ganz wütend!«
»O, dann geht's mir schlecht, denn in der Handarbeit kann ich gar nichts!«
»Wenn wir nur nicht so weit auseinander säßen, dann könnte ich dir manchmal ein wenig helfen.«
»Du bist so gut gegen mich, aber die andern, die lachen mich alle aus!«
»O gar nicht alle, bloß manche sind so; warte nur, wenn du länger bei uns bist, gefällt es dir schon besser.«
Inzwischen waren die Mädchen in den oberen Stock gekommen. Dort war eine große Kammer, in der mehrere Schränke und Ständer standen und auf einem der letzteren war der Platz für die Arbeitskörbchen. Jedes Kind nahm das seinige und dann sprangen sie wieder die Treppe hinunter in das Schulzimmer.
Kaum waren sie alle darin, so trat Fräulein von Zimmern ein. Augenblicklich herrschte lautlose Stille.
»Wer hat zuletzt die Kammer verlassen?« fragte Fräulein von Zimmern.
»Ich nicht, ich nicht,« riefen verschiedene Stimmen.
»Ich frage nicht, wer es nicht war, sondern wer es war,« wiederholte Fräulein von Zimmern in strengem Ton. Nun wurde es ganz stille, Hermine aber trat vor und indem sie zugleich auf Gretchen deutete, sprach sie: »Wir beide miteinander.«
»Ihr habt die Kammertüre offen gelassen; eine schlechte Note für jede von euch beiden,« und Fräulein von Zimmern verschwand.
»Was ist's mit den schlechten Noten?« fragte Gretchen.
»Sie werden jeden Monat zusammen gezählt und ins Zeugnis geschrieben,« antwortete Hermine, »und wenn man im Lernen noch so gut ist, so kann man doch keinen guten Platz bekommen, wenn man schlechte Noten hat; sie werden mitberechnet.«
»Hast du schon viele schlechte Noten in diesem Monat?«
»Nein, das ist meine erste,« sagte Hermine, und dabei schien es, als ob sie nur mit Mühe ihre Tränen zurückhielte. Das war Gretchen sehr leid, denn sie dachte, wenn sie Hermine nicht aufgehalten hätte, wäre diese wohl nicht zuletzt aus der Kammer gekommen.
In diesem Augenblick trat Fräulein Klingenstein ein. Sie bemerkte Gretchen sogleich. »Ah, das ist eure neue Mitschülerin,« sprach sie lebhaft und reichte Gretchen die Hand. »So ein hübsches, blondlockiges Mädchen und ein Gesicht wie[90] Milch und Blut! Das lasse ich mir gefallen, die sieht doch nicht so blaß und spindeldürr aus, wie manche von euch! Und so kugelrunde Händchen, die können gewiß recht schön arbeiten. Nun, wir wollen gut Freund sein, nicht wahr?«
Gretchen freute sich über diese freundliche Anrede und konnte nicht begreifen, warum Hermine Fräulein Klingenstein nicht lieber hatte als Fräulein von Zimmern.
»Was für schöne Handarbeiten hast du denn in deiner früheren Schule gemacht?« fragte jetzt die Lehrerin.
»In der Schule haben wir gar keine Handarbeiten gemacht.«
»So? Das ist aber schlimm! Bei wem hast du denn dann stricken gelernt?«
»Bei meiner Mutter.«
»Und was hast du denn schon alles fertig gebracht?«
»Ich bin am ersten Strumpf,« sagte Gretchen ziemlich kleinlaut.
»O weh, da paßt du aber schlecht in diese Klasse! Bringe mir in die nächste Stunde deinen Strumpf mit, daß ich sehe, was du kannst.«
Gretchen erschrak bei dem Gedanken, ihren schrecklichen Strumpf, der in allen Farben schillerte, vor allen Kindern in der Schule zu zeigen. »Darf ich nicht lieber einen neuen Strumpf anfangen?« fragte sie.
»Freilich, alle müssen bei mir dasselbe stricken, aber deine seitherige Arbeit muß ich doch sehen. Wir machen gegenwärtig feine weiße Kinderstrümpfe mit Müsterchen; Ottilie, zeige einmal deine Arbeit.«
Die Gerufene brachte ihr Strickzeug und Gretchen mußte nur staunen, wie appetitlich weiß und wie schön gleichmäßig gestrickt das aussah, und als nun die Mädchen alle anfingen zu stricken, mußte sie sich wieder wundern, wie rasch bei manchen die Nadeln flogen.
»Ich habe heute noch keine Arbeit für dich, so kannst du ebenso wohl heimgehen,« sagte Fräulein Klingenstein, »bis zur nächsten Stunde werde ich deine neue Arbeit anfangen und du bringst mir deine alte mit, nicht wahr?«
Gretchen mußte es versprechen, dann nahm sie ihre Sachen zusammen und ging. Leise schlich sie durch den weiten, leeren Vorplatz und durch die große Haustüre hinaus, und als sie um die Ecke des Hauses gebogen war, atmete sie erleichtert auf und es war ihr zu Mute wie einem Vögelein, das dem Käfig entschlüpft ist.
Wie viel hatte sie an diesem Vormittag erlebt! Ihr schien es, als sei sie tagelang von zu Hause weg gewesen und doch sollte sie noch etwas erleben, ehe sie wieder zu den Ihrigen kam. Den Weg zu ihrem Hause fand sie ohne Mühe, aber die Haustüre war geschlossen. Neben derselben waren mehrere Glockenzüge angebracht und da die Familie Reinwald im zweiten Stock wohnte, so zog Gretchen an der zweiten Klingel, ohne zu bedenken, daß unten, im Erdgeschoß, auch Leute wohnten, für die der unterste Glockenzug bestimmt war. So hätte sie an der dritten Glocke ziehen sollen. Sie bemerkte aber ihren Irrtum nicht und als die Haustüre aufging, stieg sie ahnungslos die Treppe hinauf. Als sie aber an den ersten Stock kam, tat sich dort die Glastüre auf und eine alte Dame, in altmodischem Anzug, erschien mit bitterbösem Gesicht und vertrat ihr den Weg. Zugleich fuhr ein kleiner, bösartiger Mops hinter ihr vor und kläffte an Gretchen hinauf, daß es dieser angst und bang wurde.
»Was hast du an meiner Glocke zu reißen?« fuhr die Dame nun Gretchen an, »kaum bist du ein paar Tage im Hause, so machst du's auch schon wie die andern ungezogenen Kinder im Haus und in der Nachbarschaft, die mir ein Leid antun, wo sie können, und mich bei Tag und Nacht herausschellen! Was habe ich euch getan, daß ihr euren Spott mit mir treibt? Pfui über euch!«
Mit diesen Worten verschwand die alte Dame samt dem Hund wieder hinter der Türe, die heftig zugeschlagen wurde. Gretchen stand ganz verblüfft da. Noch nie hatte jemand sie so hart angefahren. Und das war also Fräulein Treppner, die alte Dame, die Gretchen so gerne recht lieb gehabt hätte, weil gar niemand sonst sie mochte! Die sah freilich nicht aus[92] zum liebhaben! Und dazu der Hund, der jetzt noch hinter der geschlossenen Türe fortbellte! Gretchen wußte nicht, vor wem sie mehr erschrocken war, ob vor dem häßlichen Tier oder vor seiner erzürnten Herrin.
Ganz aufgeregt eilte sie die Treppe hinauf. Kaum hatte sie aber an der eigenen Türe geklingelt, so vergaß sie all ihre Erlebnisse über dem einen Gedanken, wie es wohl der Mutter gehe und was der Arzt gesagt habe. Dies war auch ihre erste Frage an Lene.
»Der Doktor sagt, bis jetzt sei es noch nicht gefährlich, aber die Mutter muß sich ganz ruhig halten und soll gar nicht sprechen.«
»Aber ich darf doch zu ihr hinein?«
»Heute nicht, der Vater hat mir's noch ausdrücklich anbefohlen. Sie schlummert auch meistens, sei nur recht still im Wohnzimmer!«
Leise schlich sich Gretchen hinein, legte ihre Kleider ab und lauschte an der Schlafzimmertüre. Sie hörte nichts von der Mutter. O wie gerne hätte sie ihr doch jetzt all ihre Erlebnisse erzählt und ihr volles Herz ausgeschüttet, wie sie es sonst immer getan! Sie sah sich im Wohnzimmer um; dies war noch nicht einmal recht eingerichtet und Gretchen fühlte sich noch ganz fremd darin. Sie trat ans Fenster und sah hinaus auf die hohen Häuser, die an diesem regnerischen Herbsttag so grau und trübselig aussahen und es überkam sie ein bitteres Heimweh. Noch nie im Leben hatte sie sich so einsam gefühlt. Eine gute Weile stand sie so verlassen und weinte still vor sich hin, da streckte Lene ihren Kopf durch die Türe: »Gretchen,« sagte sie, »was machst du so allein? Komm zu mir heraus, ich backe Kartoffelnudeln und die erste, die fertig ist, bekommst du.«
Gretchen wischte sich die Augen und folgte Lene.
»Mußt nicht weinen, Kind,« tröstete Lene, »der Mutter wird's gewiß wieder besser und dann wird alles wieder schön bei uns. Erzähle mir auch etwas von deiner neuen Schule.«
Nun standen die beiden am Herd und während die Nudeln schön goldgelb gebacken wurden, faßte Gretchen neuen Lebensmut.
»Lene,« sagte sie, »Weißt du, was mir das ärgste ist? Daß ich mein altes Strickzeug mit in die Schule bringen soll!«
»Dein Strickzeug? Nein, das kannst du nicht sehen lassen, an dem muß man sich ja schämen!«
»Aber ich muß doch! Fräulein Klingenstein will es in der nächsten Arbeitsstunde sehen.«
Lene sagte gar nichts mehr. Nach einiger Zeit aber, als sie in das Schlafzimmer ging, um Frau Reinwald ein wenig Fleischbrühe zu bringen, nahm sie im Vorbeigehen aus dem Arbeitskorb Gretchens Strickstrumpf heraus, schob ihn in ihre Tasche und später, als Gretchen wieder im Zimmer war, zog sie die Schublade des Küchentisches auf und steckte den Strumpf in die hinterste Ecke. »So, da kann ihn Fräulein Klingenstein holen, wenn sie ihn durchaus gesehen haben muß,« sagte sie vor sich hin.
Als der Vater mittags kam, bat ihn Gretchen dringend, ihr doch die Bücher und Hefte zu besorgen, die Fräulein von Zimmern aufgeschrieben hatte, und war glücklich, als der Vater nach Tisch mit ihr in die Stadt ging, um das nötige einzukaufen. Daheim schlug sie ihr neues Lesebuch auf und suchte die Stelle, die sie am Morgen in der Schule gelesen hatte.
»Vater,« sagte sie, »bei Fräulein von Zimmern muß man mit »Ausdruck« lesen, was ist denn das?«
»Das will ich dir zeigen,« sprach der Vater, »höre mir einmal zu!« und nun las Herr Reinwald einige Zeilen ganz eintönig und gleichgültig vor und dann wurde dasselbe noch einmal mit soviel Betonung und Verständnis vorgetragen, daß es Gretchen sofort klar wurde, was es heißt »mit Ausdruck« zu lesen.
»Jetzt will ich auch so lesen,« rief sie eifrig, nahm das Buch und las die nächste Geschichte laut vor. Der Vater freute sich, als er bemerkte, daß es Gretchen schon mehr ernst war mit dem Lernen, als früher; er machte sie aufmerksam auf alles, was sie betonen mußte, und hätte sich gerne noch mehr mit ihr abgegeben, aber es zog ihn immer wieder zur Mutter, deren Befinden ihm schwere Sorge machte.
Am Abend sagte Gretchen zu Lene: »Wo ist denn eigentlich mein Strickzeug, ich finde es ja gar nicht.«
»Mußt eben recht suchen,« war Lenes Antwort, und Gretchen suchte gewissenhaft alles aus; aber als sie es gar nicht fand, sagte sie schließlich: »Weißt du, Lene, es ist mir gar nicht so arg, daß ich das Strickzeug nicht gefunden habe, dann muß ich es doch nicht zeigen.« Lene nickte und lächelte schlau, sie glaubte, es recht gut für ihren kleinen Liebling gemacht zu haben; aber es war doch nicht so – krumme Wege führen nicht zum guten Ziel!
Die nächsten Wochen brachten unserem Gretchen noch manche Not. In der Schule soviel Neues und Schweres und daheim weder Rat noch Hilfe, denn der Mutter Krankheit nahm den Vater und Lene ganz in Beschlag.
Heute war es Gretchen besonders schlecht gegangen. Sie hatte von Fräulein von Zimmern zwei schlechte Noten bekommen, weil sie schon zum zweitenmal ihre Geographieaufgabe nicht gekonnt hatte. Betrübt schlich sie in der Freiviertelstunde umher, sie hatte keine Lust, mit den anderen zu spielen; aber Hermine Braun vermißte sie bald und suchte sie auf. »Ist dir's sehr arg, daß du schlechte Noten bekommen hast?« fragte sie, »und warum hast du denn deine Geographie nicht gelernt?«
»Ich habe sie doch gelernt,« rief Gretchen ganz in Verzweiflung, »gewiß zwei Stunden habe ich daran gelernt!«
»Aber du hast doch gar nichts gewußt von allem, was Fräulein von Zimmern gefragt hat!«
»Was sie gefragt hat, kommt ja gar nicht in meinem Büchlein!«
»O, dann hast du gewiß ein falsches Buch, zeige es mir doch einmal.«
Gretchen holte es herbei. Das Buch war nicht falsch,[95] aber bald zeigte sich's, daß Gretchen, die sich noch gar nicht darin auskannte, etwas ganz anderes daraus gelernt hatte und zwar wohl dreimal soviel, als sie aufgehabt hatte.
»Das muß Fräulein von Zimmern erfahren,« rief Hermine lebhaft, »ich gehe mit dir und sage es ihr, gleich jetzt in der Freiviertelstunde. Komm nur!« und voll Eifer zog sie Gretchen mit sich fort, klopfte bei Fräulein von Zimmern an und trat mit Gretchen ein.
»Fräulein von Zimmern,« sagte Hermine, »Gretchen kennt sich im Geographiebuch noch nicht recht aus und hat für heute etwas anderes gelernt, alles dieses!« und sie wies in das Buch.
»Ist das richtig?« fragte Fräulein von Zimmern, indem sie Gretchen ernst ansah.
»Ja.«
»So sage es mir her!«
So lange und schwierig auch die Aufgabe war, die Gretchen gelernt hatte, sie konnte sie ohne Anstoß von Anfang bis zu Ende. Hermine war ordentlich stolz, daß es so gut ging. Fräulein von Zimmern hörte sie aufmerksam an bis zum letzten Wort. »Das war eine schwere Aufgabe für dich,« sagte sie nun, »ich sehe, du warst sehr fleißig. Es tut mir leid, daß du etwas anderes gelernt hast, als ich verlangt hatte; deine schlechten Noten kann ich nimmer ausstreichen, das kommt nie vor, gar nie, auch dann nicht, wenn sie unverdient waren. Im Leben geht es uns auch manchmal so, daß wir ohne Schuld ins Unglück kommen. Auch das muß man ertragen lernen. Ich weiß aber nun, daß du deine Pflicht getan hast, ich bin wieder zufrieden mit dir und so wirst du's auch sein.«
Und Gretchen war's, denn, wenn sie auch Fräulein von Zimmern noch nicht eigentlich lieb hatte, so empfand sie doch schon eine solche Hochachtung für sie, daß dies Lob aus ihrem Munde sie ganz glücklich machte.
»Wenn wieder Geographiestunde ist, so kannst du Gretchen die Aufgabe in ihrem Buch zeigen, Hermine,« sprach Fräulein von Zimmern, »ich sehe, daß ihr gute Freundinnen seid, das freut mich, haltet nur treulich zusammen!«
Als die beiden wieder draußen im Vorplatz waren und Gretchen sicher war, daß Fräulein von Zimmern sie nimmer sah, fiel sie Hermine in ihrer alten, ungestümen Weise um den Hals, drehte sie dann um und um vor Vergnügen, daß Hermine gar nicht wußte, wie ihr geschah, und ganz erstaunt ausrief: »Aber Gretchen, das habe ich noch gar nicht gewußt, daß du auch so lustig sein kannst!« Nun sprangen die Freundinnen miteinander hinaus in den Schulhof und waren vergnügt mit den anderen, denn Gretchen fühlte sich schon längst nimmer fremd unter ihren Kamerädinnen. Nur Ottilie von Lilienkron konnte sie heute noch so wenig leiden wie am ersten Tag, und bald sollte ein Ereignis eintreten, das die Abneigung der beiden Kinder gegeneinander noch bestärkte.
Die Handarbeitsstunde kam wieder, die von Gretchen so sehr gefürchtete. In die zweite Arbeitsstunde war Gretchen ohne ihren alten Strickstrumpf gekommen und hatte versichert, daß er nirgends zu finden sei. Fräulein Klingenstein hatte dies zwar nicht geglaubt, sondern es bloß für eine Ausrede gehalten; aber sie hatte nicht darüber gezankt, denn damals war Gretchen noch sehr in ihrer Gunst gestanden. Seitdem aber waren mehrere Arbeitsstunden vergangen und in diesen war Fräulein Klingensteins freundliche Gesinnung gegen Gretchen ins Gegenteil umgeschlagen. Gretchen brachte das schwierige Börtchen, mit dem sie ihren neuen Strumpf zu beginnen hatte, durchaus nicht zu stande, immer mußte wieder aufgezogen werden, was sie gemacht hatte und darüber wurde Fräulein Klingenstein sehr ungeduldig und hatte schon mehrmals versichert, sie hätte nichts dagegen, wenn Gretchen wieder dahin zurückkehrte, woher sie gekommen war.
Heute nun ging's wieder ganz schlimm. Fräulein Klingenstein hatte eben Gretchens Arbeit in der Hand, die schon anfing, durch das viele Aufziehen eine bedenkliche Färbung anzunehmen. »Dein Strickzeug kann man gar nicht ansehen neben den anderen,« sprach sie ärgerlich. »Ottilie, bringe doch einmal das deinige her, daß wir's nebeneinander halten.« Ottilie war rasch bei der Hand und legte ihre Arbeit neben die von Gretchen, und obwohl sie bemerken konnte, wie diese tiefbeschämt dastand, und[97] obgleich sie hörte, wie Fräulein Klingenstein mit harten Worten Gretchen ihr Ungeschick vorhielt, schien sie doch kein Mitleid zu haben, im Gegenteil, sie deutete geringschätzig auf Gretchens Arbeit und sagte: »So schlecht strickt mein Schwesterchen nicht, das in die Kleinkinderschule geht.«
»Wohl möglich,« antwortete Fräulein Klingenstein, »so oft eine Stunde aus ist, stehen wir wieder an derselben Stelle, wie beim Beginn der Stunde.«
»Nur wird das Garn jedesmal ein wenig dunkler, damit man doch sieht, daß daran gearbeitet wird,« sagte Ottilie lachend und Fräulein Klingenstein lachte mit. Gretchen kämpfte mit den Tränen; sie sagte nichts, als sie aber wieder an ihrem Platz saß, faßte sie im stillen den Entschluß, ihr Strickzeug mit heimzunehmen in der Hoffnung, daß Lene ihr das schwere Muster vielleicht lehren könnte. Es war zwar verboten, die Arbeiten mit nach Hause zu nehmen, aber in ihrem Jammer nahm sie sich vor, es trotzdem heimlich zu tun. Nach der Arbeitstunde, um elf Uhr, mußte sie, wie die andern alle, zunächst einmal ihr Körbchen hinauftragen in die Kammer, sonst hätten es ihre Mitschülerinnen bemerkt. Um zwölf Uhr aber machte sie sich noch ein wenig im Schulzimmer zu schaffen und wartete, bis alle Schülerinnen das Haus verlassen hatten. Dann schlich sie leise die halbe Treppe hinauf; dort aber blieb sie stehen und besann sich. Heimlich etwas Verbotenes zu tun, war ihrem aufrichtigen Wesen ganz fremd und zuwider, und so gerne sie die Arbeit gehabt hätte, sie brachte es nicht über sich, sie zu holen. Was würden die Eltern sagen, wenn sie das wüßten, und sah nicht Gottes Auge auf sie? Gretchen konnte nicht, sie wollte nicht, sie eilte die Treppe wieder hinunter. Aber diesmal blieb sie nicht unbemerkt. In dem Augenblick, als sie herunterkam, begegnete ihr eine Schülerin der ältesten Klasse, die einen ganzen Pack Arbeiten trug.
»Du kommst mir recht, Kleine,« sagte diese, »magst du mir nicht die Fadenrolle aufheben, die mir da hinuntergefallen ist?« Gretchen holte die Rolle. »Ich danke dir; was hast du denn ganz allein da droben getan?« fragte sie arglos.
»O, gar nichts,« antwortete Gretchen in Verlegenheit und eilte fort, während ihr das große Mädchen verwundert nachsah.
Im Heimweg malte sich Gretchen aus, wie schön es wäre, wenn Krieg käme und Soldaten die ganze Kammer ausplündern würden und man gar keine Handarbeiten mehr hätte. In diese Gedanken versunken wandelte sie so dahin und merkte nicht, wer dicht vor ihr desselben Weges ging, bis plötzlich der Anblick eines kleinen Hundes sie aus ihren Träumereien weckte. Das war ja der Mops von Fräulein Treppner und richtig – dicht daneben ging diese selbst, offenbar auch auf dem Weg nach Hause begriffen. Wie der Blitz schoß Gretchen auf die andere Seite der Straße hinüber und tat, als ob sie das Fräulein nicht sähe. Heimlich aber schielte sie doch immer wieder zu ihr hinüber. Fräulein Treppner sah heute nicht so böse aus, eher traurig, meinte Gretchen, etwa so, wie wenn sie gerade darüber nachdächte, daß niemand sie lieb habe. Das alte Mitleid regte sich schon wieder bei Gretchen. »Eigentlich ist's nur natürlich, daß sie neulich böse über mich war,« dachte sie, »denn sie hat ja gemeint, ich hätte absichtlich an ihrer Glocke gezogen. Ich möchte es ihr gar zu gerne sagen, daß es nicht so war.« Gretchen warf einen bedenklichen Blick auf den Hund – der kam ihr aber auf offener Straße auch nicht so gefährlich vor; so wagte sie's denn, ging wieder hinüber auf die andere Seite der Straße, näherte sich dem Fräulein und sprach: »Guten Tag, Fräulein Treppner!«
Ein undeutliches Murmeln war die Antwort des Fräuleins, ein deutliches Knurren die Antwort des Hundes. Das war nicht sehr einladend zu weiterem Gespräch und Gretchen zögerte. Nach einer kleinen Weile aber trat sie noch näher heran und sagte in ihrer herzlichen Weise: »Fräulein Treppner, ich habe gar nicht mit Fleiß an Ihrer Klingel gezogen, ich habe gemeint, es sei die unsrige.« Fräulein Treppner warf einen langen, mißtrauischen Blick auf sie und der Hund kam unheimlich nahe an Gretchens Füße. Diesmal aber rief ihn die alte Dame mit einem »Molly, komm!« zurück. Gretchen nahm dies für ein gutes Zeichen und fuhr fort: »Haben denn andere Kinder schon mit Absicht an Ihrer Glocke gezogen?«
»Ja, freilich haben sie das. Nirgends sind die Kinder so böse wie hier. Sie treiben ihren Spott mit den Leuten, daß sie einem das Leben verbittern.«
»Ach,« sagte Gretchen ganz ernsthaft und dachte an Ottilie, »so geht mir's auch! Da passen wir ganz gut zusammen, mir verbittern sie auch das Leben.«
»Dir?« fragte Fräulein Treppner erstaunt und sah ungläubig in das blühende Kindergesicht neben sich.
»Ja, freilich, mir ist's heute wieder so schlecht gegangen. Da ist eine in unserer Schule, die strickt so schön und die hat mich heute so verspottet und ich kann doch einmal das Muster nicht!«
Der ganze Jammer der Arbeitsstunde fiel Gretchen wieder schwer aufs Herz und ihr Ton klang so bekümmert, daß Fräulein Treppners Mißtrauen ganz verschwand. Sie sah wohl, dies Kind trieb keinen Spott mit ihr.
»Was strickt ihr denn in eurer Schule?« fragte sie.
»Ganz feine, weiße Strümpfe mit einem schweren Börtchen, das bringe ich gewiß nie heraus und in jeder Stunde wird Fräulein Klingenstein ungeduldiger mit mir. Man darf auch die Arbeit nicht mit heimnehmen und wenn man's auch dürfte, die Mutter ist ja krank und Lene brächte das Kettenbörtchen vielleicht selbst nicht heraus.«
»Das Kettenbörtchen ist's? Welcher Unsinn, so kleinen Dingern ein solch schwieriges Muster zuzumuten! Ja, die meisten Menschen sind heutzutage verrückt!« versicherte Fräulein Treppner.
Inzwischen waren sie an das Haus gekommen. Als aber Gretchen hinter Fräulein Treppner eintreten wollte, fing der Mops wieder an zu bellen und wollte es nicht leiden. »Molly, still!« wehrte Fräulein Treppner. »Er kennt mich eben noch nicht,« sagte Gretchen entschuldigend.
»Er kann die Kinder nicht leiden; gelt, Molly, du weißt, daß sie mich verspotten, ja Spott tut weh!«
Jetzt sah das alte Fräulein wirklich traurig aus und es trieb Gretchen, ihr zum Abschied noch freundlich die Hand zu bieten, und Fräulein Treppner nahm wirklich die Hand und sah[100] Gretchen noch wie verwundert nach – sie war nicht gewöhnt, daß ihr die Menschen so herzlich und zutraulich begegneten.
Als Gretchen hinaufkam, fiel ihr gleich auf, daß Lene so geheimnisvoll lächelte.
»Was gibt's, Lene?« fragte sie.
»Gehe nur ins Wohnzimmer, es ist jemand darin.«
»Wer denn?«
»Sieh nur selbst!«
Und wer war's? Die Mutter war's, die heute Mittag zum erstenmal wieder aufstehen durfte und Mann und Kind damit überrascht hatte. O, was war das für eine Freude, als die Mutter am Mittagstische saß! Da schmeckte das Essen doch noch einmal so gut und das ganze Zimmer schien nun auf einmal behaglich und traut. Und wie dankte die Mutter so von ganzem Herzen dem lieben Gott, daß sie wieder bei ihren Lieben sein konnte, für die sie so gerne noch sorgen und schaffen wollte.
Am Nachmittag war Gretchen wohl eine Stunde still an ihren Aufgaben gesessen, da trat die Mutter leise zu ihr heran, strich ihr zärtlich mit der Hand über das Haupt und sagte: »Ist mein Kind so fleißig! Was machst du denn?«
»Zuerst habe ich ins Heft geschrieben und jetzt lerne ich mein Lied.«
»Soll ich dich überhören?«
»Kannst du wirklich, Mutter?« fragte Gretchen ganz beglückt.
»Ja, dies Geschäft kann ich jetzt wieder übernehmen.« Gretchen sagte das Lied her. »Das geht ja ganz ordentlich,« meinte die Mutter.
»Ja, aber noch lange nicht gut genug für unsern Herrn Pfarrer.«
»Ist er so streng?«
»Nein, aber man möchte es doch bei ihm immer ganz gut können. O Mutter, wenn du ihn einmal nur kennen lernen könntest, du hättest ihn gewiß auch lieb!«
»Ich möchte ihn wohl recht gerne einmal sehen; wenn ich erst ganz gesund bin, wird es sich schon machen lassen.«
Gretchen nahm nun ihre Tafel und fing eifrig an, ihre[101] Rechnungen zu schreiben, die Mutter aber dachte im stillen: »Wie ist mein Töchterchen so ernst und eifrig an der Arbeit, ich kenne sie gar nicht wieder.«
Als die Lampe angezündet wurde, mußte sich Frau Reinwald wieder legen und Gretchen saß wieder einsam im Zimmer, als es klingelte. »Wenn nur auch jemand zu mir käme,« dachte sie, »aber hier kommt niemand als der Metzger oder das Milchmädchen,« und richtig war es das Milchmädchen, man hörte ja schon das Klappern ihrer Blechkanne. Aber – wie merkwürdig – Lene rief Gretchen heraus, das Milchmädchen habe ihr etwas auszurichten.
»Fräulein Treppner läßt fragen, ob so das Kettenmuster sei und wenn es so sei, so wolle sie es dir gerne lehren, wenn du zu ihr herunterkommen willst.«
Gretchen betrachtete das Muster, das ihr das Mädchen hinhielt. »Ja, so ist das Muster, ganz so! Lene, hast du's gehört? Meinst du, ich darf hinunter?« fragte Gretchen begierig und fügte leise hinzu: »Du siehst ja selbst, Lene, man muß sie lieb haben, sie ist doch wirklich gut!« Lene schien noch nicht ganz überzeugt, aber das Milchmädchen sagte: »Ich glaube, das Fräulein hat das Muster extra gestrickt für die Kleine, sie würde es sehr übel nehmen, wenn das Kind nicht käme, und so schlimm ist das Fräulein eigentlich nicht, man sagt ihr's mehr so nach.« Nun ging Lene zu Frau Reinwald hinein und kam richtig mit der Erlaubnis zurück.
Nach kurzer Zeit saß Gretchen in Fräulein Treppners Zimmer. Molly hatte endlich sein Bellen aufgegeben und war auf dem Sofa eingeschlafen. Das Fräulein hatte Nadeln und Baumwolle herbeigeholt und Gretchen dachte, nun würde es ans Kettenmuster gehen. Aber Fräulein Treppner fing ihr ein ganz einfaches Müsterchen an. »In meiner Jugend,« sagte sie, »waren die Leute noch vernünftig, da haben sie den Kindern zuerst das Leichte gelehrt und dann das Schwere, jetzt machen sie's umgekehrt. Ich aber zeige dir jetzt ein ganz einfaches Müsterchen und dann wieder eines und erst zuletzt das Kettenmuster. Sieh mir nur zu.« Das ging nun viel, viel leichter, als Gretchen gedacht hatte, und[102] nach einem kleinen Stündchen schon konnte Gretchen befriedigt mit ihrer Arbeit hinaufgehen, denn Fräulein Treppner hatte versichert, morgen abend würde sie ihr das Kettenmuster ganz leicht lehren können. Nach dem Abendessen erlebte Lene das unerhörte, daß Gretchen mit ihrem Strickzeug herauskam und sagte: »Ich stricke noch ein wenig, weil das Müsterchen gar so nett ist!«
An den nächsten Abenden fand sich Gretchen immer zur gleichen Stunde bei Fräulein Treppner ein und endlich erklärte diese: »Jetzt ist dein Kettenmüsterchen ganz schön!« Das war nun eine Freude und ein Glück! Gretchen konnte sich nicht oft genug ausmalen, wie Fräulein Klingenstein sich über ihre Kunst wundern würde. Wie getrost ging Gretchen in die nächste Arbeitsstunde, und doch sollte diese die schwerste für sie werden!
Die Kinder hatten eben ihre Arbeitskörbe aus der Kammer heruntergeholt, die Stunde sollte beginnen. Als aber Ottilie ihre Arbeit aus dem Korbe nahm, entfuhr ihr ein lauter Schreckensruf und mit den Worten: »Aber, wer hat mir das getan?« brach sie in Tränen aus. »Was ist's? Was gibt's?« ertönten die Fragen von allen Seiten und Fräulein Klingenstein trat herzu. Da lag Ottiliens Strickzeug und war gar nimmer zu erkennen: alle Nadeln waren herausgezogen, das Garn durcheinander gewirrt und die ganze Arbeit zerstört. Es war allen ein Rätsel, wie dies hatte geschehen können. Fräulein Klingenstein aber nahm die Arbeit und sagte in höchster Entrüstung: »Ich werde augenblicklich zu Fräulein von Zimmern gehen, die Sache muß sofort untersucht werden.«
Fräulein von Zimmern gab eben Unterricht in der Klasse der Großen und war sehr wenig erfreut über die unangenehme Störung. Sie hätte gerne die Untersuchung bis nach Beendigung des Unterrichts verschoben, aber Fräulein Klingenstein war zu sehr erregt und wollte sich nicht gedulden. »Bedenken Sie nur,« rief sie, »es war die schönste Arbeit der ganzen Klasse, in tadellosem Zustand ist sie hinaufgekommen in die Kammer und so kommt sie wieder herunter. Es muß sie jemand absichtlich droben in der Kammer verdorben haben!«
»Es ist mir unerklärlich, wie so etwas geschehen konnte,«[103] sprach Fräulein von Zimmern, »es hält sich ja nie eines der Kinder allein droben auf. Wir müssen in allen Klassen nachfragen, ob keine der Schülerinnen eine Erklärung geben kann. Weiß keine von euch etwas darüber zu sagen?« fragte Fräulein von Zimmern, indem sie sich an ihre Schülerinnen wandte. Da erhob sich das Mädchen, das am Samstag die Arbeiten hinaufgetragen und dabei Gretchen auf der Treppe getroffen hatte. Sie erzählte ihre Begegnung, und daß Gretchen ihr keine Antwort auf die Frage gegeben habe, was sie dort oben zu tun gehabt habe.
»Dann ist alles klar,« sprach Fräulein Klingenstein sofort mit größter Bestimmtheit. »Gretchen Reinwald, die sehr schlecht arbeitet, hat natürlich einen Haß auf Ottilie, die ich ihr erst in der letzten Stunde als Muster vorgehalten habe und die sich auch über Gretchens Strickerei lustig gemacht hat. Sie wollte sich rächen, das törichte Kind, als ob so etwas nicht gleich ans Licht käme!«
»Nur sachte, Fräulein Klingenstein,« mahnte Fräulein von Zimmern. »Wir wissen zunächst noch gar nichts, als daß das Kind auf der Treppe gesehen wurde, und die Kleine macht mir durchaus nicht den Eindruck, als ob sie solcher Bosheit fähig wäre. Ich will die Sache selbst untersuchen.«
Die beiden Lehrerinnen kehrten zusammen in die zweite Klasse zurück. »Kinder,« sprach Fräulein von Zimmern, »hat eine von euch sich einen mutwilligen Streich mit dieser Arbeit erlaubt oder sie aus Ungeschick verdorben?«
Alles blieb still.
»Liebe Kinder,« sprach Fräulein von Zimmern in ungewöhnlich sanftem Ton, »jedes Unrecht kann man dadurch wieder gut machen, daß man es offen eingesteht. Wer mir seinen Fehler bekennt, ist mir nachher wieder so lieb wie vorher. Darum sagt mir nun aufrichtig: Hat eine von euch diese Arbeit berührt?«
Wieder erfolgte keine Antwort, lautlose Stille herrschte in der ganzen Klasse.
»Nun,« begann Fräulein von Zimmern wieder, »ich weiß,[104] es ist sehr schwer, vor allen Mitschülerinnen sein Unrecht zu bekennen. Ich will's euch leichter machen. Heute, von zwölf bis zwei Uhr, bin ich für jede von euch, die mir etwas mitteilen will, in meinem Zimmer zu sprechen. Bedenket aber auch, daß die Sache früher oder später doch ans Licht kommen wird, und daß ich ein Kind nicht in meiner Schule behalten werde, welches mir seinen Fehler nicht eingestanden hat.«
Fräulein von Zimmern wandte sich zum Gehen, Fräulein Klingenstein begleitete sie zur Türe.
»Bitte, von Ihrem Verdacht nichts merken zu lassen,« flüsterte ihr die Vorsteherin zu.
Der Mittag verging, schon war es bald zwei Uhr. Fräulein von Zimmern lauschte auf jeden Schritt, hoffend, daß eine kleine, reuige Sünderin bei ihr eintreten und ihre Schuld eingestehen werde. Aber umsonst – alle Schritte verloren sich in die Klassenzimmer, es schlug zwei Uhr, der Unterricht mußte beginnen. Fräulein von Zimmern trat in die zweite Klasse ein, der sie um diese Zeit Schreibstunde zu geben pflegte. Die Kinder saßen schon an ihren Plätzen.
»Gretchen Reinwald,« fragte Fräulein von Zimmern, »bist du am Samstag nach zwölf Uhr in der oberen Kammer gewesen?«
»Nein,« antwortete Gretchen.
»Aber man hat dich von dort herunter kommen sehen.«
»Ich war bloß auf der Treppe.«
»Was tatest du auf der Treppe?«
Gretchen wurde sehr rot. »Ich wollte in die Kammer gehen, aber ich habe es nicht getan, ich bin gleich auf der Treppe wieder umgekehrt.«
»Und was wolltest du in der Kammer tun?«
»Mein Strickzeug mit heimnehmen und mir zu Hause das Muster lehren lassen.«
»Und warum hast du es nicht getan?«
»Weil es nicht erlaubt ist,« sagte Gretchen ganz leise.
»Das hast du aber doch schon gewußt, ehe du die Treppe hinauf gingst?«
»Ja.«
»Was hat dich dann davon abgebracht? Hast du jemand kommen hören, oder war jemand oben in der Kammer?«
»Ich habe niemand gehört und ob jemand droben war, weiß ich nicht; ich bin nur umgekehrt, weil es nicht erlaubt ist.«
Fräulein von Zimmern fragte nimmer weiter, sie hieß die Kinder schreiben und nahm Ottilie mit sich in ihr Zimmer.
»Hast du eine Ahnung, wer deine Arbeit verdorben hat?« fragte sie dieselbe.
»Das hat ganz gewiß Gretchen Reinwald getan, ich weiß wohl, daß sie mich nicht leiden kann, weil ich besser stricke als sie.«
»Hast du sie denn einmal darüber verspottet?«
»O, bloß im Spaß!«
»Das ist sehr unschön von dir, Ottilie. Du bist ein Jahr älter als sie und hast schon lange Strickunterricht, während sie in ihrer Schule noch keinen hatte. So ist's doch ganz natürlich, daß du weiter bist und gar kein Grund zum Spott da. Sollte Gretchen wirklich deine Arbeit verdorben haben, so wärest du selbst mit Schuld, dadurch, daß du sie so gereizt hast. Ich hoffe aber, daß sich ihre Unschuld bald herausstellt. Gehe nun hinüber in die vierte Klasse und bitte Fräulein Klingenstein, zu mir zu kommen.«
Als Fräulein Klingenstein kam, teilte ihr die Vorsteherin mit, was Gretchen auf ihre Fragen geantwortet habe.
»Die Ausrede ist nicht übel,« rief Fräulein Klingenstein, »und ich sehe, Fräulein von Zimmern, daß Sie daran glauben. Ich aber glaube kein Wort davon! Man hätte nur dem Kind nicht über Mittag Zeit lassen sollen, sich eine gute Entschuldigung auszudenken, wahrscheinlich hat man ihr daheim darauf geholfen.«
»Fräulein Klingenstein,« erwiderte Fräulein von Zimmern sehr ernst, »hätten Sie so oft wie ich die Erfahrung gemacht, wie sehr der Schein trügt, und wie leicht man zu einem falschen Verdacht kommt, so würden Sie nicht so rasch mit Ihrem Urteil sein. Das Kind macht einen so durchaus aufrichtigen, wahrhaftigen Eindruck, daß ich ihm ein solch hartnäckiges Leugnen nicht zutrauen kann.«
»Mit ihrer Wahrhaftigkeit ist es nicht so weit her, dafür[106] habe ich Beweise. Ich verlangte in der ersten Stunde, daß sie mir ihren früheren, offenbar sehr schlecht gearbeiteten Strickstrumpf mitbringen solle. Sie wollte gleich nicht; als ich aber darauf bestand, versprach sie es. In der nächsten Stunde aber versicherte sie, er sei gar nicht zu finden, und er ist auch seitdem noch nicht zum Vorschein gekommen.«
»Es ist freilich nahe liegend zu denken, daß dies bloß eine Ausrede war,« sprach Fräulein von Zimmern, »aber sicher ist auch das nicht. Die Familie war eben erst umgezogen, die Mutter krank –«
Fräulein Klingenstein zuckte die Achseln. »Ich sehe wohl, Sie wollen auch das nicht glauben; immerhin muß irgend jemand Ottiliens Arbeit verdorben haben, und wem sonst wollen Sie es zutrauen?«
Darauf wußte Fräulein von Zimmern keine Antwort. »Ich werde mit unserem Pfarrer darüber sprechen,« sagte sie nach längerem Überlegen, »er hat schon manchmal ein Geständnis erreicht, wo ich es nicht zustande brachte. Bis sich aber alles aufgeklärt hat, ersuche ich Sie, außerhalb der Schule nicht über die Sache zu sprechen.«
Als Fräulein von Zimmern wieder in die zweite Klasse zurückkam, beugten sich zwar alle Köpfe über die Hefte, aber man sah den aufgeregten Gesichtern wohl an, daß nicht die ganze Zeit ruhig weiter geschrieben worden war, und Gretchen gab sich auch jetzt nicht den Schein. Sie hatte den Kopf in die Hände gestützt und konnte ihr Schluchzen nicht verbergen.
»Warum weinst du?« fragte Fräulein von Zimmern.
»Sie sagen alle, ich hätte das Strickzeug verdorben, und wenn ich auch sage, es sei nicht wahr, so glauben sie mir's doch nicht!«
»Aber ich glaube es ihr!« rief Hermine Braun, und noch ein paar Kinder stimmten ihr bei, aber die meisten schwiegen still.
»Wir reden jetzt nicht mehr davon,« sprach Fräulein von Zimmern, »wenn du ein gutes Gewissen hast, so brauchst du nicht zu weinen, denn die Sache wird früher oder später an den Tag kommen. Schreibt weiter!«
Es verging jedoch ein Tag um den andern, ohne irgend[107] welche Aufklärung zu bringen. Der Herr Pfarrer hatte mit den Kindern gesprochen, aber er hatte ebenso wenig herausgebracht wie Fräulein von Zimmern.
Fräulein Klingenstein fand es unbegreiflich, daß man noch immer nicht an Gretchens Schuld glauben wollte, und unverzeihlich, daß diese nicht gestraft wurde.
Herr und Frau Reinwald waren tief betrübt über den schlimmen Verdacht, der auf ihrem Kind lastete, und Gretchen selbst litt bitter darunter.
Da traf sich's, daß im Heimweg von der Schule Gretchen einen kleinen Unfall erlitt. Leichtes Glatteis hatte die Straßen überzogen, Gretchen rutschte aus und fiel so unglücklich auf den Fuß, daß sie nur noch mit Mühe nach Hause konnte. Über Nacht wurde der Fuß schmerzhaft und geschwollen, es mußten Umschläge gemacht werden, und Gretchen bekam ein paar Tage Hausarrest. So lag sie eines Nachmittags auf dem Sopha. Sie hatte ein Buch in der Hand, aber sie sah darüber weg, ihre Gedanken waren wieder in der Schule bei dem unglückseligen Strickstrumpf. Da klingelte es – und Gretchen wurde dunkelrot vor freudiger Erregung – ihr geliebter Pfarrer trat herein und sagte, er wolle sich nach der kleinen Patientin umsehen. Bald saß er zwischen ihr und der Mutter, hörte teilnehmend von ihrem kleinen Unfall, von Frau Reinwalds Krankheit, und ließ sich allerlei von Föhrenheim erzählen, und je länger er da war, und je mehr er Mutter und Tochter kennen lernte, um so fester wurde seine Überzeugung, daß Gretchen nicht getan haben konnte, was man ihr nachsagte.
»Nun hoffe ich, dich bald wieder in der Schule zu sehen,« sprach der Pfarrer, als er sich erhob, um sich zu verabschieden.
»Ich hoffe es auch,« sprach Frau Reinwald, »Gretchen aber kann sich gar nicht auf die Schule freuen, so lange man einen so schlimmen Verdacht auf sie hat.«
»Das begreife ich wohl,« sprach der Pfarrer und ergriff freundlich Gretchens Hand, »vielleicht tut es dir wohl zu hören, daß ich nicht an deine Schuld glaube. Ich hoffe auch, daß deine Unschuld an den Tag kommen wird und bitte Gott darum.[108] Wenn es aber sein Wille nicht ist, mein Kind, so mußt du es hinnehmen als ein Kreuz, das er dir auferlegt und es willig tragen, dann wird es dir Segen bringen.«
Noch viele freundliche Worte sprach der Pfarrer, die Mutter und Kind gleich wohl taten, und als er wieder fort war, kam es Gretchen vor, als könnte sie's nun viel leichter tragen.
Gretchen durfte erfahren, daß sie doch nimmer ganz fremd war in der Residenz, denn am nächsten Tag kam wieder ein lieber Besuch: Ganz bescheiden klopfte es an der Türe und herein trat: Hermine Braun. So lieb sich die beiden Kinder hatten, waren sie doch bis jetzt noch nie außer der Schule zusammengekommen und so war dieser Besuch eine ganz ungewohnte Freude für Gretchen, und auch die Mutter war bald durch das sanfte, liebevolle Wesen der kleinen Hermine gewonnen und forderte sie freundlich auf, öfter zu kommen. Als Hermine wieder gehen wollte, fragte Frau Reinwald, ob Fräulein von Zimmern wohl in Krankheitsfällen gestatte, daß die Kinder ihre Handarbeiten mit nach Hause bekämen, um nicht so weit hinter den anderen zurückzubleiben. Hermine wußte es nicht, versprach aber, morgen um Erlaubnis zu bitten und dann Gretchens Arbeit zu bringen. Sie vergaß ihr Versprechen nicht und erhielt auch gerne die Erlaubnis von Fräulein von Zimmern. So stieg denn Hermine am Samstag um 12 Uhr die Treppe hinauf, gerade so wie es Gretchen zu ihrem Unglück acht Tage vorher getan hatte. Als sie aber durch die halbgeöffnete Kammertür trat, blieb sie erstaunt stehen. Vor dem Ständer, auf dem die Körbchen ihren Platz hatten, saß das kleine Kind der Putzfrau, die Samstags immer das Schulhaus reinigte. Es hatte in seinem Schoß eines der Arbeitskörbchen, hielt in den Händen ein paar Stricknadeln und sagte vergnügt vor sich hin: »Viele, viele Nadeln.« Zuerst wollte Hermine auf das Kind zugehen und ihm die Sachen wegnehmen, dann aber besann sie sich anders, denn wie ein Blitz fuhr ihr der Gedanke durch den Kopf: »Dies Kind ist's, das Ottiliens Arbeit verdorben hat!« Auf den Zehen schlich sie sich wieder hinaus, rannte die Treppe hinunter und stürzte atemlos von[109] einem Zimmer ins andere, bis sie endlich Fräulein von Zimmern in der Klasse der Großen traf, die noch beisammen waren.
»Bitte, Fräulein von Zimmern, kommen Sie mit mir in die Kammer hinauf, aber schnell, bitte, bitte,« drängte Hermine und Fräulein von Zimmern, die schon an Feuersgefahr und dergleichen dachte, eilte der voranstürmenden Hermine nach. Ein ganzes Gefolge von neugierigen Mädchen ging hinter ihnen die Treppe hinauf, Hermine aber ermahnte immer nur: »Leise, ganz leise!« so daß allen ganz unheimlich zu Mute wurde, bis sie endlich vor der Kammertüre anlangten, ängstlich hineinblickten und nichts sahen als ein harmlos spielendes Kindlein, das Stricknadeln in der einen Hand, den Korb in der anderen, dem Knäuel nachrutschte, der vor ihm herkollerte und nun, beim Anblick der vielen fremden Gesichter, das Mäulchen verzog und anfing zu weinen.
Fräulein von Zimmern hatte sofort begriffen, um was es sich hier handelte: Der kleine Eindringling, der heute den Weg zur Kammer gefunden hatte, konnte auch am vorigen Samstag darin gehaust haben, und wohl selten noch hatte die gestrenge Vorsteherin mit so großer Befriedigung eine solche Ungehörigkeit entdeckt. Auf das Weinen des Kindes aber eilte dessen Mutter herbei, die in einer anderen Kammer den Boden geputzt hatte. Mit tausend Entschuldigungen hob sie Korb, Knäuel und Nadeln auf, dann nahm sie den Kleinen vom Boden, und patschte ihm auf die Händchen, indem sie zu ihm rief: »Habe ich dir nicht schon gesagt, die Körbchen darf man nicht nehmen? Hast du nicht erst am letzten Samstag auf die Hände bekommen? Willst du's noch einmal tun?« Während die Frau mit dem weinenden Kind abging, ergriff Hermine Gretchens Arbeitskorb und sagte voll Eifer zu Fräulein von Zimmern: »Ich gehe jetzt zu Gretchen, nicht wahr, ich darf ihr doch alles sagen?«
»Gewiß, mein Kind, erzähle ihr alles, und sage ihr, wie herzlich es mich freut, daß nun der wahre Missetäter entdeckt und ihre Unschuld an den Tag gekommen ist.«
Wie flog Hermine durch die Straßen, wie eilte sie die Treppen hinauf, bis sie endlich atemlos vor Gretchen und ihrer[110] Mutter stand und kaum die Worte herausbringen konnte: »Man weiß jetzt, wer's getan hat!« Gretchen wußte augenblicklich was die Freundin meinte, und nach und nach kam auch die ganze Erzählung und Fräulein von Zimmerns Auftrag ordentlich heraus. Ach, das war nun ein Glück und eine Freude! Gretchen vergaß ganz und gar, daß sie ihren Fuß noch schonen sollte, sprang im Zimmer umher vor Vergnügen, fiel bald der Mutter, bald Hermine um den Hals und stürmte dann hinaus, um die frohe Nachricht der Lene mitzuteilen, die mit der ganzen Residenz gezürnt hatte, seitdem man ihren Liebling so verdächtigt hatte. Gretchen wollte die Freundin gar nicht mehr fortlassen, der sie die Entdeckung verdankte, aber endlich mußte Hermine doch zum Essen heim, sie hatte sich schon zu lange verweilt. Am Nachmittag aber hielt Lene geheime Beratung mit Frau Reinwald, und das Resultat war, daß Hermine auf den Sonntag Nachmittag eingeladen werden sollte und da wollte Lene Waffeln backen und Apfelmus kochen, so fein wie's keine Residenzköchin besser könne! Und Lene hielt Wort.
Als Fräulein Klingenstein von der Sache hörte, wurde es ihr unbehaglich zu Mute, denn sie hatte trotz Fräulein von Zimmerns ausdrücklichem Verbot da und dort von Gretchens Missetat erzählt. Sie hoffte, die Vorsteherin würde dies nicht erfahren. Aber Fräulein von Zimmern erhielt doch Kenntnis davon, und als am Montag die Kinder wieder in die Schule kamen, ging von Mund zu Mund die Kunde: »Fräulein Klingenstein kommt nicht mehr, wir bekommen eine andere Arbeitslehrerin.«
Längst war die Schwierigkeit mit dem Kettenmuster überwunden und doch ging Gretchen noch beinahe jeden Abend zu Fräulein Treppner. Frau Reinwald durfte nicht wissen, was da drunten gemacht wurde, aber Herr Reinwald und[111] Lene waren in das Geheimnis eingeweiht, sie wußten, daß Gretchen unter Fräulein Treppners Anleitung einen schönen Kragen für die Mutter zu Weihnachten strickte. Je weiter die Arbeit fortschritt, um so glücklicher war Gretchen und ihre Freude tat dem alten Fräulein wohl; seit langen, langen Jahren hatte sie kein fröhliches Kindergeplauder mehr bei sich gehört; wenn nun Gretchen neben ihr saß und mit leuchtenden Augen von den geheimnisvollen Vorbereitungen erzählte, die droben schon das nahe Christfest ankündigten, oder wenn sie die Weihnachtslieder hersagte, die sie in der Schule singen durfte, dann kamen dem alten Fräulein längst entschwundene Erinnerungen aus der eigenen Kinderzeit wieder in den Sinn und dann erzählte auch sie aus ihrem Elternhaus, und die Stunden vergingen den beiden nur zu schnell.
Aber Molly, der alte, verdrießliche Molly, konnte sich nicht an Gretchen gewöhnen; er war eifersüchtig, daß er nun nicht mehr der einzige Freund seiner Herrin war und bellte wütend, so oft Gretchen kam. Heute wollte er wieder sein Knurren und Brummen gar nicht lassen.
»Aber Molly,« redete ihm Fräulein Treppner zu, »kannst du dich denn gar nicht zufrieden geben? Komm her, Alter,« sagte sie schmeichelnd, »du bist ja doch mein Liebling, ja, ja, wir kennen uns ja schon lang!« und Fräulein Treppner streichelte das Tier, das ihr auf den Schoß gesprungen war und freudig wedelte bei ihren Liebkosungen.
»Wie gut er Sie versteht und wie lieb er Sie hat,« sagte Gretchen und sah verwundert zu, wie zärtlich die beiden mit einander taten.
In diesem Augenblick aber fiel Fräulein Treppners Knäuel, den sie vor sich auf den Tisch gelegt hatte, hinunter. Rasch glitt Gretchen vom Stuhle herunter und bückte sich unter den Tisch, um ihn aufzuheben. Aber eben so rasch war Molly von Fräulein Treppners Schoß heruntergesprungen und als Gretchen ihre Hand nach dem Knäuel ausstreckte, fuhr das böse Tier ihr an den Arm und biß sie. Gretchen tat einen Schrei, erschrocken rief Fräulein Treppner den Hund zurück und zog Gretchen zu sich.
»Was ist's, Kind?« fragte Fräulein Treppner.
»O nichts,« versicherte Gretchen, »er hat mich nur ein wenig in den Arm gebissen, aber es tut nicht weh.«
»Zeig her, Kind!«
Am Arm war nicht viel zu sehen, bloß eine kleine, blaurote Stelle, aber der Ärmel des Tuchkleids, das Gretchen trug, zeigte ein kleines Loch, der Zahn des Hundes war noch durchs Futter gedrungen.
»Ach, Kind, wie bin ich erschrocken! Gottlob, daß du so ein gutes, dichtes Kleid anhattest,« sagte das Fräulein, und nun wurde Molly zur Strafe ins andere Zimmer hinausgesperrt und Fräulein Treppner versicherte, er müsse nun jeden Abend hinaus, ehe Gretchen hereinkomme. Der Hund winselte erbärmlich, denn er fühlte, daß er sehr in Ungnade gefallen war. Gretchen hatte den kleinen Schrecken bald vergessen, und da sie sich nun vor ihrem Feind sicher fühlte, war es ihr bald wieder ganz behaglich zu Mute, Fräulein Treppner hingegen konnte sich nicht so schnell beruhigen, sie machte Gretchen kalte Umschläge um den Arm und hätte ihr auch gerne den kleinen Schaden am Kleid ausgebessert, aber Gretchen wollte dies nicht zugeben und wunderte sich sehr, daß Fräulein Treppner so viel aus der kleinen Sache machte.
Noch mehr sollte sich aber Gretchen über den Vater wundern, als dieser beim Abendessen von ihrem kleinen Abenteuer erfuhr. Obwohl die Mutter ihm gleich versicherte, daß nicht einmal die Haut am Arm verletzt sei, war der Vater doch sehr erzürnt und erklärte aufs bestimmteste, Gretchen dürfe nie mehr die Wohnung des alten Fräuleins betreten. Das war nun ein Schrecken für Gretchen! Augenblicklich sah sie im Geist ihre halb vollendete Weihnachtsarbeit vor sich und dann stellte sie sich das alte Fräulein vor, das jeden Abend vergeblich auf sie warten würde und das sich noch mehr grämen müßte über das Unglück mit dem Hund. »O, Vater,« bat Gretchen, »laß mich doch wieder hinunter, der Molly kommt nun immer ins Nebenzimmer, so lange ich da bin, Fräulein Treppner hat es schon versprochen.«
»Darauf kann ich mich nicht verlassen,« sprach der Vater, »wenn ihr Liebling recht winselt und heult, läßt sie ihn doch wieder herein. Es bleibt dabei, du betrittst ihre Wohnung nicht mehr, Lene mag ihr sagen warum.«
Als alle Bitten nichts halfen, brach Gretchen in Tränen aus, aber da kam auch wieder des Vaters wohlbekannter Ausspruch: »Geweint wird draußen,« und Gretchen mußte das Zimmer verlassen. Sie schüttete Lene ihr Herz aus und obwohl diese immer noch ein Vorurteil gegen Fräulein Treppner hatte, so war ihr die Sache doch wegen der schönen Weihnachtsarbeit leid und sie wußte keinen Rat, wie diese ohne Fräulein Treppners Hilfe fertig zu machen sei. Während Gretchen ihr Leid in der Küche klagte, sprach Herr Reinwald zu seiner Frau: »Wer so ein bissiges Tier um sich leiden mag, das allen Leuten lästig, ja sogar gefährlich werden kann, der verdient nicht, daß Menschen bei ihm aus- und eingehen.«
Am nächsten Abend wartete Fräulein Treppner zur gewohnten Zeit vergeblich auf Gretchen. Unruhig ging sie hin und her, sah auf die Uhr, horchte auf jeden Tritt auf der Treppe. »Das Kind kommt nicht, Molly, das hast du mir angetan,« sprach sie in traurigem Ton zu ihrem Hund; dieser aber streckte sich behaglich aufs Sofa, ihm war's recht so. Durch das Milchmädchen erfuhr Fräulein Treppner, daß Gretchen ihre Wohnung nimmer betreten dürfe, und auf demselben Wege erhielt Gretchen ihre angefangene Arbeit zurück, an der sie nun nicht weiter machen konnte. Es war dem Kind zu Mute, als wäre ihm dadurch die ganze Weihnachtsfreude verdorben.
Acht Tage waren darüber hingegangen und Gretchen kam eben von der Schule heim. Als sie die erste Treppe hinaufstieg, sah sie, daß Fräulein Treppner oben stand und auf sie wartete. Sie sah nicht zürnend aus, wie damals, als Gretchen an derselben Stelle zum erstenmal ihre Bekanntschaft gemacht hatte, aber es lag ein trauriger Ausdruck auf ihrem Gesicht, als sie jetzt zu Gretchen sprach: »Sage deinen Eltern, daß ich meinen Molly fortgetan habe. Heute Morgen hat man[114] ihm ein Pulver eingegeben, das ihn eingeschläfert hat, so daß er nimmer erwacht.«
»O, o, Fräulein Treppner,« rief Gretchen ganz bestürzt, »das muß Ihnen aber leid tun!«
Fräulein Treppners Augen wurden feucht, sie wollte es nicht merken lassen und verschwand hinter ihrer Türe, ohne weiter ein Wort zu sagen. Gretchen kam aber ganz erfüllt von dieser Neuigkeit zu ihrer Mutter.
»Das hat sie dir zu Liebe getan, Kind,« sagte die Mutter, »es mag dem alten Fräulein bitter weh getan haben, sich von ihrem Liebling zu trennen.«
»Ach ja, Mutter, sie sieht auch ganz traurig aus! Wenn sie es aber meinetwegen getan hat, werde ich doch wenigstens wieder zu ihr dürfen?«
»Gewiß, jetzt wird's der Vater wieder erlauben.«
Mutter und Tochter sprachen ganz gerührt von dem einsamen Fräulein, als der Vater kam. Gretchen ging ihm gleich entgegen, um ihm auch das Ereignis mitzuteilen. Der Vater nahm's kühler. »Das ist das einzig Vernünftige, was das alte Fräulein tun konnte,« sprach er, »das kannst du ihr heute Abend von mir ausrichten. Es gäbe bald keine so häßlichen Kläffer mehr, wenn man nur zu den Leuten nicht mehr ginge, bei denen man so ungastlich begrüßt wird.«
An diesem Abend mußte Fräulein Treppner nicht vergeblich warten, Gretchen kam schon früher als sonst mit ihrer Arbeit. Besorgt sah sie auf Fräulein Treppner, ob diese wohl noch so traurig aussähe wie heute Morgen. Aber es war nicht der Fall; sie schien jetzt nur an Gretchen und nicht an Molly zu denken, und dem Kind war's noch nie so behaglich bei dem alten Fräulein gewesen wie an diesem Abend; konnte sie sich doch so ungeniert im Zimmer bewegen, ohne daß ihr kleiner Feind sie mit bösen Blicken und drohendem Knurren verfolgte. Es wurde nun tüchtig gearbeitet, denn Weihnachten stand schon nahe vor der Türe und die versäumte Woche mußte nachgeholt werden.
Von nun an fehlte Gretchen keinen Abend mehr bei[115] Fräulein Treppner, und als der Weihnachtsabend kam und die Familie Reinwald um den brennenden Christbaum versammelt war, lag wirklich der schöne Kragen zu der Mutter größten Überraschung fertig auf dem Bescherungstisch, und Gretchen war ganz glücklich, daß sie zum erstenmal eine wirklich brauchbare, nützliche Arbeit zu stande gebracht hatte.
»Nun, und was für ein Weihnachtsgeschenk hast du denn für Fräulein Treppner?« fragte Herr Reinwald sein Töchterchen, nachdem er auch den Kragen gehörig bewundert hatte. Gretchen sah ihn erstaunt an. »Für Fräulein Treppner habe ich nichts,« sagte sie.
»Nichts? Für diese bewundernswerte Lehrerin, die dir das berühmte Kettenmuster beigebracht hat, bei der du diese Riesenarbeit anfertigen durftest und die ihren besten Freund wegen dir in den Tod gegeben hat, nichts für sie? Gar nichts?«
Gretchen wollte es ganz bange werden bei des Vaters eindringlichem Fragen, aber die Mutter, die daneben stand, sah sie so geheimnisvoll lächelnd an, daß es Gretchen war, als wüßte sie einen guten Ausweg aus dieser Verlegenheit. Und nun lächelte auch der Vater, führte Gretchen an ein Seitentischchen und sagte: »Sieh, da habe ich doch mehr Herz als du für dein Fräulein Treppner, da sieh her, das bekommt sie von mir!« Und nun hob der Vater ein Tuch auf, und vor Gretchen stand ein schöner großer Vogelkäfig mit zwei allerliebsten Kanarienvögeln, die ganz freundschaftlich neben einander auf der Stange saßen. Gretchens Freude war unbeschreiblich! Daß der Vater etwas Lebendiges für Fräulein Treppner gewählt hatte, beglückte sie am meisten, es war gewiß der beste Ersatz für den verlorenen Liebling. »O Vater,« rief Gretchen eifrig, »bringst du sie ihr nicht gleich heute Abend hinunter? Sie dauert mich so, daß sie am heiligen Abend ganz allein ist!«
»Ich weiß nicht, ob das Fräulein mich so spät am Abend noch empfangen würde, aber wenn du es etwa für mich besorgen wolltest?«
Daß Gretchen wollte, können wir uns wohl denken! Vorsichtig ging sie mit ihrem kostbaren Schatz hinunter und[116] bald hörten die Eltern von unten herauf ihre fröhliche Stimme in dem Zimmer von Fräulein Treppner. Doch nicht lange dauerte es, so kam sie wieder herauf, es zog sie zum Christbaum und zu ihren eigenen Herrlichkeiten und sie mußte den Eltern berichten, daß Fräulein Treppner bis zu Tränen gerührt war vor Freude und Dankbarkeit. »Und denkt nur,« fügte Gretchen hinzu, »sie ist gar nicht allein, wie ich gemeint hatte, es ist eine Freundin bei ihr und sie hat mir erzählt, daß sie früher fast täglich beisammen waren, aber das Fräulein hat auch einen Hund, den hat der Molly einmal gebissen und seitdem hatten sie Feindschaft. Aber heute am heiligen Abend haben sie sich versöhnt und sie sitzen ganz gemütlich beisammen am Teetisch.«
»So ist's schön und gut,« sprach Frau Reinwald, »›Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen,‹ haben die Engel gesungen in der heiligen Nacht, und so soll's auch in unserem Hause sein!«
Die Weihnachtsvakanz war längst vorüber, in Fräulein von Zimmerns Schule wurde wieder tüchtig gearbeitet, und zu den fleißigen Schülerinnen, die am eifrigsten in die Schule gingen, gehörte nun unser Gretchen. Die köstlichsten Stunden waren und blieben ihr die bei ihrem geliebten Herrn Pfarrer, aber sie war nicht minder eifrig bei Fräulein von Zimmern, und sogar die Handarbeitsstunden hatten ihren Schrecken verloren, seitdem Gretchen durch die Hilfe von Fräulein Treppner und durch die Geduld der neuen Arbeitslehrerin den andern nachgekommen war. Der Januar, der längste und schlimmste Wintermonat, war den Kindern über der regelmäßigen Arbeit rasch vergangen und hatte dem Februar Platz gemacht, der in der Schule von besonderer Bedeutung war, denn in diesem Monat sollten die Kinder neu gesetzt werden, was in[117] jedem Jahr nur dreimal vorkam. Um diese Zeit wurden alle guten und schlechten Noten zusammengezählt, die Lehrer und Lehrerinnen sämtlicher Klassen kamen mit der Vorsteherin zusammen und berichteten über die einzelnen Schülerinnen, dann wurden die Zeugnisse geschrieben und jedem Kind darnach sein Platz zugewiesen. Dies alles erzählten die Kinder in großer Erregung unserem Gretchen, das zum erstenmal dieses Ereignis miterleben sollte. »Du hast's gut, du kannst nicht weiter hinunter kommen,« sagten sie zu ihr, »denn du bist die Letzte.«
»Und ich habe es schlecht, denn ich kann nicht weiter hinauf kommen,« meinte Ottilie.
Der große Tag kam. Fräulein von Zimmern erschien im Schulzimmer mit einem Paket Heftchen in der Hand. Nun mußten alle Kinder ihre Plätze verlassen und sich längs der Wand aufstellen. »Stille,« befahl nun Fräulein von Zimmern. Alles schwieg, nur da und dort bewegte sich noch die eine oder andere. »Es ist noch nicht ganz stille!« rief Fräulein von Zimmern. Nun aber rührte sich nichts mehr und es herrschte lautlose Stille in dem Gemach.
»Ich werde die Erste vorrufen, sie wird dann ihr Zeugnis in Empfang nehmen, sich bedanken und sich an den ersten Platz setzen, dann die Zweite u. s. f. Tränen will ich nicht sehen, wer Unzufriedenheit mit seinem Platz zeigt, erhält gleich wieder die erste schlechte Note für's nächste Zeugnis.« Nun ergriff Fräulein von Zimmern das erste Heftchen und rief: »Anna Helldorf«. Die Gerufene trat freudig errötend vor, erhielt ihr Zeugnis, bedankte und verbeugte sich und nahm den ersten Platz ein. Ebenso machte es »Elise Sturm« als zweite. Und nun hieß es »Hermine Braun« und gleich darauf, als vierte: »Gretchen Reinwald«. Diese konnte kaum glauben, daß sie schon an die Reihe kommen sollte und hätte ihre Nachbarin sie nicht leise angestoßen, so hätte sie kaum gewagt, vorzutreten. Als Fräulein von Zimmern ihr das Zeugnis übergab, sprach sie: »Sage deinem Vater, es freue mich, daß du dich so rasch eingearbeitet habest.« Erst als sechste wurde Ottilie gerufen. Als sie vortrat, sprach Fräulein von Zimmern: »Du solltest nicht so[118] weit hinten sitzen, Kind; das Lernen wird dir ja so leicht. Die schlechten Noten wegen deines oft unfreundlichen Betragens gegen deine Mitschülerinnen haben dich so zurückgebracht; gib dir Mühe, daß du dich wieder hinaufarbeitest.«
Als die letzte an die Reihe kam, die auch schon vor Gretchens Eintritt in die Schule die letzte gewesen war, sprach Fräulein von Zimmern sehr gütig: »Du bist wieder die Letzte geworden, mein Kind, aber glaube nicht, daß ich dich deswegen weniger lieb habe. Das Lernen wird dir schwer, weil du viel krank bist und dein Kopf schwach ist. Dafür kannst du nichts; dein Betragen war gut, ich bin zufrieden mit dir.«
Alle saßen nun an ihren neuen Plätzen. Die Erste mochte sich wohl recht glücklich fühlen, aber glücklicher gewiß nicht als Hermine und Gretchen, die zwei Herzensfreundinnen, die nun neben einander sitzen durften. Gretchen konnte es kaum erwarten, dieses Glück daheim verkündigen zu dürfen, und als sie zum Mittagessen kam, jubelte sie gleich den Eltern entgegen: »Heute sind wir gesetzt worden, ich habe den schönsten Platz, denn ich sitze neben Hermine!«
»So?« fragte der Vater, »dann ist wohl Hermine die Vorletzte geworden?«
»Aber Vater, wie kannst du nur so etwas von Hermine denken! Nein, sie ist die dritte und ich bin die vierte.«
»Nun, das läßt sich hören,« sagte der Vater sehr befriedigt, und als Gretchen ausrichtete, was ihr Fräulein von Zimmern aufgetragen hatte, waren die Eltern beide sehr erfreut. Die Mutter zog ihr Töchterlein liebevoll an sich und der Vater sprach: »In diesem Winter bist du fleißig gewesen, jetzt kann man sich auch ganz anders darüber freuen, daß du vorgerückt bist, als damals in Föhrenheim. Nun aber könntest du einmal hinausgehen ins Schlafzimmer und sehen, ob alle Bilder gerade hängen!« Lachend sprang Gretchen hinaus. Als die Eltern allein waren, sprach Herr Reinwald zu seiner Frau: »Wir wollen es ihr gleich geben, hast du es schon zusammengemacht?«
»Ja wohl, hier ist es,« sagte Frau Reinwald, nahm ein kleines Päckchen aus ihrem Schreibtisch und legte es auf Gretchens[119] Platz am Tisch. Gretchen hatte für so etwas gute Augen, sie war kaum wieder im Zimmer, so hatte sie auch das Päckchen schon bemerkt. Sie nahm es in die Hand und las laut die Aufschrift: »Reisegeld zum Osterbesuch in Föhrenheim,« und das Paketchen enthielt mehrere Markstücke. Zuerst verstand Gretchen gar nicht recht, wie das gemeint war, als ihr aber die Mutter mitteilte, daß die gute Frau Apotheker von Föhrenheim angefragt habe, ob Gretchen nicht in der Ostervakanz kommen dürfe, und daß es ihr die Eltern nun gern erlauben würden, war Gretchen überglücklich und umarmte ihre Eltern voll Dankbarkeit. Dann aber gab's allerlei Fragen: »Wie lange darf ich in Föhrenheim bleiben?«
»Eine ganze Woche.«
»Geht ihr mit mir?«
»Ich kann nicht,« sprach der Vater, »und die Mutter darf nicht, sie könnte sich wieder verderben. Aber dein Reisegeld reicht für zwei Personen, deshalb würde ich dir raten, einmal bei Lene anzufragen, ob sie sich dazu hergäbe, dich zu begleiten und die acht Tage, die du in Föhrenheim bleibst, bei ihren Eltern zuzubringen?«
»Weiß sie noch gar nichts davon?«
»Bewahre, wir wußten ja heute Morgen selbst noch nicht, ob du nicht in der Schule die Letzte bleibst und dann wäre nichts aus der Reise geworden. Aber jetzt darfst du's Lene sagen.«
Gretchen wußte schon, daß Lene nicht »nein« sagen würde, aber das hätte sie doch nicht gedacht, daß ihr bei dieser unerwarteten Glücksbotschaft die hellen Freudentränen kommen würden. Lene war eben immer noch nicht ganz heimisch in der Residenz und dachte oft mit Sehnsucht an Föhrenheim und an ihr heimatliches Dorf, das nur eine halbe Stunde entfernt lag. Sie konnte es gar nicht fassen und glauben, daß sie es so bald wieder sehen sollte, und als sie bei Herrn und Frau Reinwald ihre Dankbarkeit ausgesprochen hatte, sagte Herr Reinwald zu seiner Frau: »Die freut sich ja fast noch mehr als das Kind!«
»Ja, und es ist ihr die Freude auch ebenso sehr zu gönnen,«[120] antwortete Frau Reinwald, »sie hat sie verdient durch ihre treue Pflege während meiner Krankheit.«
Von nun an hatten Gretchen und Lene fast keine andern Gedanken mehr, und als sich in den nächsten Tagen ein milder Tauwind erhob, hätte man meinen können, der Frühling sei schon vor der Türe. Aber es kam noch einmal ganz anders, es fing wieder an zu schneien und wurde so bitter kalt, wie es den ganzen Winter noch nicht gewesen war. Da wollte Gretchen ganz mißmutig und ungeduldig werden; die Schule war ihr gar nicht mehr so wichtig, weil sie immer schon an die Osterferien dachte, und einmal vergaß sie ganz, die Rechnungen zu schreiben, die sie aufbekommen hatte, und das trug ihr eine schlechte Note ein. »Ei, Gretchen,« sprach die Mutter, als sie dies erfuhr, »wir haben dir die Reise versprochen als Belohnung deines Fleißes, und nun ist dieser Fleiß auf einmal weg? Ist das dein Dank für die Freude, die wir dir machen wollen?«
Beschämt schlug Gretchen die Augen nieder.
»Du mußt dir die Reise noch einmal aus dem Sinn schlagen und nicht immer warten und wünschen, daß die Tage vorüber gehen. Nie kommen sie uns länger vor, als wenn wir sie so ungeduldig weg wünschen, während uns die Zeit nur so verfliegt, wenn wir sie gewissenhaft und treu ausnützen. Willst du's probieren?«
»O ja, Mutter,« sagte Gretchen und augenblicklich setzte sie sich an die Arbeit und machte ihre Sache so schön und pünktlich wie nur möglich, und als auf dem Schulweg Hermine zu ihr sagte: »Heute erzählst du mir ja gar nichts von Föhrenheim,« da antwortete Gretchen ganz bestimmt: »Ich rede überhaupt nimmer von Föhrenheim und denke auch gar nimmer an die Reise, bis Ostern da ist.«
Gretchen hielt Wort und seitdem vergingen auch wirklich die Tage und Wochen viel schneller und endlich tropfte es von allen Dächern, der Schnee schmolz und der Frühling kam. Lene brachte einen Strauß Palmkätzchen vom Markt mit heim, und endlich kam auch der schöne Palmsonntag und mit ihm begann die Ostervakanz. Gretchen machte ihren Abschiedsbesuch[121] bei Hermine, die ihr noch auf der Treppe nachrief: »Wenn du wieder kommst, mußt du mir wieder etwas Neues von deinem Felix Acosta und von dem Schäfer-Hans erzählen,« und Gretchen versprach es. Am Abend mußte sie noch einmal nach Fräulein Treppner sehen, mit der sie immer gute Freundschaft hielt, und endlich half sie der Mutter alles herrichten, was für die große Reise nötig war, wobei ihr die Mutter allerlei Ermahnungen gab, sollte Gretchen doch zum erstenmal das Elternhaus verlassen!
Am Montag morgens um 8 Uhr saß Gretchen im rosafarbenen Osterkleidchen neben ihrer Lene in der Bahn und beide waren in Gedanken versunken, als sie so der alten Heimat entgegenfuhren. Die Lene dachte: »Wie's wohl dem Vater und der Mutter geht und den Geschwistern? Ob unsere Kuh schon ein Kalb hat und wie die Wintersaat steht?« Und Gretchen dachte: »Wer wohl die Erste ist in der Schule und ob der Hans noch auf der letzten Bank sitzt? Ob der Felix Acosta noch so nette Kunststücke macht und wie es in unserer Wohnung aussieht?« Als der Zug aber näher an Föhrenheim kam, da sahen sie beide begierig zum Fenster hinaus und bald hieß es: »Weißt du noch, das ist die Wiese, auf der es immer so viel Schlüsselblumen gegeben hat?« und dann: »Siehst du den Kirchturm? Ich sehe ihn und auch schon das Storchennest auf dem Dach!« und jetzt war man am Bahnhof und ehe sich's Gretchen recht versah, hatte die Frau Apotheker sie schon an der Hand und die kleinen Geschwister von Emilie umringten sie; Emilie selbst aber war nicht da, sie hatte noch Schule.
An der Brücke, die über den Bach ins Städtchen führte, trennte sich Lene, denn da ging die Straße ab, die in ihr Dorf führte, und von dort kamen ihr auch schon ihre Geschwister[122] entgegen. »Auf Wiedersehen in acht Tagen,« rief Gretchen, »aber daß du mich ja nicht früher holst!«
»Habe keine Angst, ich werde es schon so lang daheim aushalten können,« meinte Lene und so ging jedes seine Wege.
Gretchen mußte nun der guten Frau Apotheker viele Fragen beantworten über die Eltern und über die Wohnung in der Residenz, und so waren sie bis ans Schulhaus gekommen.
»Die Schule kann jeden Augenblick aus sein, dann kommt Emilie heim,« sprach die Frau Apotheker.
»O, ich gehe schnell hinauf in die Schule, ich möchte Emilie abholen und möchte sehen, wie sie sich alle verwundern, wenn ich hereinkomme, o bitte, lassen Sie mich hinauf!«
»Gehe du nur, wenn's dir Spaß macht, ich gehe einstweilen mit den Kleinen heim.«
So stieg denn Gretchen mit klopfendem Herzen die altbekannte Schultreppe hinauf. Eine Weile stand sie zögernd vor dem Schulzimmer, dann klopfte sie an. »Herein!« Gretchen machte die Türe auf und nun stand sie all ihren ehemaligen, wohlbekannten Schulkameraden gegenüber, und wohl hundert Augen richteten sich auf sie und von allen Bänken klang es in freudiger Überraschung: »Das Gretchen Reinwald!«
Am Katheder aber stand ein ganz fremder, junger Mann, den Gretchen gar nicht kannte und der nun, ganz erstaunt über die allgemeine Begrüßung, auf Gretchen zuging und fragte: »Was willst du, Kleine, wer bist du?« In diesem Augenblick aber trat der alte Herr Baumann ein, denn Frau Semmelmeier, die immer alles bemerkte, was im und ums Schulhaus herum vorging, hatte Gretchen ins Haus kommen sehen und es für gut befunden, ihren Besuch Herrn Baumann anzukündigen. So kam dieser gerade recht, um die Frage des neuen Lehrers zu beantworten. »Das ist Gretchen Reinwald, eine liebe frühere Schülerin von uns. Du bist wohl auf Besuch hier, Gretchen?« fragte er freundlich. – »Ja, bei Apothekers.«
»Nun, dann komm du heraus, Emilie, sage deiner kleinen Freundin: Grüß Gott!«
Schüchtern, wie immer, kam Emilie heraus und ließ sich[123] von Gretchen begrüßen, während sie selbst nichts sagte, sondern ihre Kamerädin nur freundlich anstrahlte.
»Bei uns ist alles noch, wie es voriges Jahr war, nicht wahr?« sagte Herr Baumann, als er bemerkte, wie Gretchen sich im ganzen Zimmer umsah.
»Ja, nur sind die Fenster viel kleiner und das Zimmer niedriger geworden.« Die beiden Lehrer lachten. »Das glaube ich doch kaum,« meinte Herr Baumann, »eher denke ich, daß ihr in der Residenz höhere Fenster und Zimmer habt.«
»Die Kinder sitzen aber auch ganz anders als damals,« sagte Gretchen und musterte zuerst die Reihen der Mädchen, dann sah sie nach den Knaben. Ein lauter Ausruf des Erstaunens entfuhr ihr: »Der Schäfer-Hans ist der Erste geworden!« Dieser errötete über und über, als sich so die allgemeine Aufmerksamkeit auf ihn lenkte. Herr Baumann aber klopfte ihm freundlich auf die Schulter: »Ja, ja, bei uns heißt es: ›Die Ersten sollen die Letzten werden und die Letzten sollen die Ersten werden,‹ nicht wahr, Abenheim?« Der Abenheim, des Holzhackers Sohn, der der Erste gewesen war, saß jetzt nicht mehr vornen, er war aber auch sonst nirgends zu sehen. In den hintersten Reihen der Knaben aber erhob sich ein lautes Gelächter und auch der Lehrer lachte mit, denn der Abenheim, der sich nicht auf dem letzten Platz sehen lassen wollte, war unter die Bank geschlupft.
»Und wo sitzt denn Felix Acosta?« fragte jetzt Gretchen.
»Der Felix Acosta?« wiederholte Herr Baumann und wurde auf einmal ganz ernst und auch die anderen Kinder alle wurden still. »Liebes Kind, den suchst du vergeblich unter uns, hast du es nicht erfahren, daß er gestorben ist?«
»O nein, das habe ich nicht gewußt,« sagte Gretchen und es war ihr anzusehen, wie schmerzlich diese Nachricht sie ergriff.
»Ja, ja, mein Kind,« sprach der alte Herr ganz bewegt. »Gleich im Herbst, als die ersten kalten Winde kamen, wie er sie wohl in seiner Heimat nicht gewöhnt war, wurde er leidend. Er mußte viel husten und als der Winter kam, konnte er gar nicht mehr in die Schule gehen. Ich besuchte ihn oft bei seinen[124] Verwandten, die ihn liebevoll verpflegten. Er ertrug seine Leiden geduldig und wenn man ihn fragte, wie es ihm gehe, sagte er immer: »Ganz gut,« und wurde dabei doch immer magerer und schwächer; gelt du weißt's auch noch, Hans?« sagte der Lehrer und als Gretchen nach dem Hans hinsah, bemerkte sie, daß er weinte.
»Ja, die beiden waren gar gute Freunde. So oft ich hinkam, traf ich den Hans am Bett und der Hans las ihm vor aus dem Buch, das du ihm gegeben hast, oder sie sahen die Bilder an aus dem Raubtierbuch. Seine Löwen mußte ich bewundern, so oft ich kam. Als ich wieder einmal zu ihm kam, standen seine Verwandten um sein Bett und klagten: ›Ach, daß das Kind so jung sterben muß!‹«
»Laßt ihn doch in Frieden ziehen,« sagte ich, »er will gewiß gerne in den Himmel kommen, wohin sein Mütterlein schon voraus gegangen ist.« Da schlug er seine Augen auf, sah mich mit einem leuchtenden Blick an und sprach: »So gerne, ach so gerne!«
»Noch am selben Abend ist er dahin geschieden, und so lieb ich ihn hatte, so kann ich doch nur sagen: ›Wohl ihm, dem kleinen Fremdling, daß er daheim ist!‹«
Gretchen hatte tief bewegt zugehört, jetzt sah sie wieder auf den Hans und sagte: »Aber für den Schäfer-Hans tut's mir leid!«
»Ja, der hat viel an seinem Felix verloren, aber so einsam, wie er früher war, ist er jetzt doch nimmer, sein Vater ist bei ihm, gelt Hans?« Und der Hans trocknete seine Tränen und sagte ordentlich stolz: »Ja, und er bleibt ganz bei mir.«
»Ist das wahr?« fragte jetzt der junge Lehrer, »geht er im Frühjahr nicht mit den Schafen fort?«
»Nein, er hat's aufgegeben und Arbeit im Städtchen gefunden,« sagte Herr Baumann und indem er sich an den jungen Lehrer wandte, fügte er halblaut hinzu: »Es ist merkwürdig, wie der Mann glücklich ist, seit er weiß, daß sein Bub tüchtig ist. Gar nicht glauben wollte er's, als er im Herbst heimkam mit seiner Herde und ich ihn antraf und zu ihm sagte, sein Bub sei der beste Schüler in der Klasse.[125] Seinetwegen hat er nun die Schäferei aufgegeben und so viel er kann, ist er nun daheim und ich hab's selbst gesehen, wie Vater und Sohn an einander hängen und wie die alte Großmutter noch einmal auflebt über der Freude; es ist rührend zu sehen, man trifft's selten so!«
Auf der Turmuhr draußen schlug's 12 Uhr.
»Jetzt müssen wir schließen,« sprach Herr Baumann; alle Kinder erhoben sich und beteten das Schulgebet:
Gretchen sprach es mit ihnen und freute sich, daß sie's noch konnte, dann gab sie den beiden Lehrern die Hand und wollte mit Emilie gehen. Da zupfte jemand an ihrem Kleid. Sie wandte sich um; die kleine Luise Seiz stand hinter ihr, sah ihr vergnügt ins Gesicht, hielt ihre Tafel in die Höhe und rief: »Kennst du sie noch?«
»Ist's noch dieselbe?« fragte Gretchen.
»Ja freilich, die hält noch lang, das ist eine ganz gute!« Und nun fühlte sich Gretchen schon wieder am Ärmel gepackt, lachend sah sie sich um: es war der Hans. Der sprach die großen Worte: »Du, da!« und reichte ihr den spitzigsten Griffel hin, den er gerade vorrätig gehabt hatte, dann sprang er davon. Jetzt aber machte sich auch die kleine Emilie geltend: »Komm,« sagte sie, »wir wollen zum Essen gehen, daheim werden sie schon warten auf uns.« Nun machte sich Gretchen los und ging mit Emilie fort und bald darauf saß sie beim Mittagstisch in der Apotheke. Da ging's ihr nun nicht schlecht! Sie war die kleine Hauptperson bei Tisch und nicht nur beim Essen, sondern auch nachher und nicht nur den einen Tag, sondern auch alle die andern. Was sie nur wollte, das wurde getan, und Gretchen, die zum erstenmal zu Gast war, fand das ein herrliches Leben. Im ganzen Städtchen kam sie herum, suchte all die altbekannten, lieben Plätzchen auf und traf überall gute Bekannte, die sie freundlich anredeten.
Nur ins eigene Haus, wo sie ihre erste glückliche Kinderzeit verlebt hatte, kam sie nicht. Dort wohnten jetzt ganz fremde Leute. Gretchen hätte gar zu gerne die lieben, wohlbekannten Räume wieder gesehen, und als sie einmal an dem Hause vorbei kam, stand sie lange still und sah sehnsüchtig hinauf. Es war ihr, als müßte der Mutter liebes Gesicht heruntersehen, wie so oft, wenn Gretchen sich früher vor dem Haus getummelt hatte. Und richtig – da ging das Fenster auf, aber eine ganz fremde Frau sah heraus und schüttelte ihr Staubtuch aus, gerade über Gretchens Kopf. Da ging Gretchen weiter, jetzt wußte sie's, daß dies Haus kein Heim mehr für sie war. Von diesem Tag an kam's wie leises Heimweh über sie und ganz im Stillen und Geheimen freute sie sich, bis Lene wieder käme und sie holte.
Die acht Tage waren schnell vorüber und Gretchen war's wie ein Traum, als sie mit Lene in der Bahn saß und der Residenz zufuhr. Sie freute sich unbeschreiblich auf das Heimkommen, aber sie mochte es der Lene nicht sagen, die mußte ja nun von ihren Eltern fort und war wohl sehr traurig.
»Was siehst du mich so ernsthaft an?« fragte jetzt Lene.
»Hast du weinen müssen, wie du von deinen Leuten fort bist, Lene?« – »Diesmal nicht,« antwortete Lene, »denke nur, mein Bruder kommt aufs Frühjahr in die Lehre zu einem Meister in der Residenz und eine von meinen Schwestern soll das Nähen dort lernen, vielleicht gerade bei der Schneiderin, die dein Osterkleid gemacht hat. Dann habe ich zwei Geschwister in der Stadt und meinen Eltern ist's so recht, daß ich dort bin.«
»O das freut mich,« rief Gretchen ganz vergnügt und nun schauten die beiden ungeduldig zum Fenster hinaus, ob nicht bald in der Ferne die Türme der Residenz auftauchen würden.
Die Eltern standen beide am Bahnhof, Gretchen sah sie schon vom Zug aus und so groß auch das Menschengedränge war, so fanden sie sich doch gleich, denn einen solchen Jubelruf, wie ihn Gretchen beim Anblick der Eltern ausstieß, konnte man doch nicht überhören. Wie schön war's nun, zwischen Vater und Mutter heimzuwandern, und wie behaglich, mit ihnen am Tisch zu sitzen und von der alten Heimat erzählen zu dürfen!
»Und wo ist's denn nun am schönsten?« fragte der Vater, »in Föhrenheim oder in der Residenz?« Einen Augenblick besann sich Gretchen, dann rief sie so recht aus warmem Herzen: »Immer da, wo ihr seid!«
Es war ein glücklicher Abend für Gretchen und sie wäre gerne viel länger als sonst aufgeblieben. Aber die Mutter tröstete sie: »Morgen ist wieder ein Tag und noch dazu ein recht schöner, denn Hermine hat versprochen, dich zu besuchen, und Fräulein Treppner hat sagen lassen, du möchtest nur gleich morgen zu ihr kommen, die Kanarienvögel hätten Eier gelegt.« Mit diesen schönen Aussichten konnte man wohl zu Bette gehen!
Als an diesem Abend die Mutter noch zu ihrem Töchterchen kam, um mit ihr zu beten, sagte sie: »Weißt du auch, was heute für ein Jahrestag ist, Kind?« Gretchen wußte es nicht. »Ich will dir's sagen. Heute ist der 10. April, an diesem Tag bist du voriges Jahr zum erstenmal in die Schule gegangen, weißt du es noch?«
»O ja, Mutter, ganz gut!«
»Sieh, nun hast du schon dein erstes Schuljahr hinter dir. Ist's schön gewesen?«
»Zuerst war's schön, dann war's eine zeitlang nicht schön – du weißt schon, Mutter, welche Zeit ich meine – und zuletzt war's wieder schön.«
»Nun wollen wir dem lieben Gott heute Abend noch miteinander danken für die schönen Zeiten und ich meine auch für die schwere Zeit, denn die hat meinem Töchterchen am meisten Segen gebracht. Und dann wollen wir ihn bitten, daß auch das nächste Schuljahr recht schön wird, oder, wenn's auch wieder schwere Zeiten bringen sollte, recht segensreich! Wollen wir das?« Gretchen stimmte von ganzem Herzen mit ein in der treuen Mutter Gebet, und in dem süßen Bewußtsein, wieder daheim zu sein im Elternhaus, schlummerte sie bald ein und schlief ruhig hinüber – ins zweite Schuljahr.
Von derselben Verfasserin sind ferner erschienen:
Gretchen Reinwalds letztes Schuljahr.
Eine Erzählung für Mädchen von 13–16 Jahren.
272 Zeiten. Elegant gebunden. Mk. 2.80.
»Es ist mir kaum ein größeres pädagogisches Schriftstellertalent entgegengetreten, als es die Verfasserin in ihren Schriften überhaupt und speziell in dem hier angeführten Buche kundgibt. In gefälliger, nirgends aufdringlich moralisierender Form, in spannender Entwicklung versteht sie es meisterhaft, durch die Erzählung selbst zu lehren, zu unterweisen, krause Gedanken und Empfindungen junger Mädchenköpfe auf das rechte Maß zurückzuführen. Jede ihrer Gestalten lebt vor unserem inneren Auge. Es ist ein nicht warm genug zu empfehlendes Buch.«
Daheim 1901.
»Jede Mutter, die dieses Buch prüft, wird sagen, daß dies eine der gesündesten, frischesten Jung-Mädchengeschichten ist, die wir haben.«
Lit. Rundschau z. Kirchl. Korrespondenz 1901.
Beide Teile (Erstes und letztes Schuljahr) sind in Einem Band gebunden:
Gretchen Reinwald.
Erlebnisse eines Schulmädchens.
In Leinwandband ℳ. 4.–.
Für kleine Mädchen.
Zehn Erzählungen.
Gebunden ℳ. 1.20.
Die Mutter unter ihren Kindern.
Ein Büchlein für Mütter.
208 Seiten. In Leinwandband ℳ. 2.40.
Stuttgarter Vereins-Buchdruckerei