Title: Der Schulmeister und sein Sohn
Author: K. H. Caspari
Release date: November 16, 2019 [eBook #60703]
Most recently updated: October 17, 2024
Language: German
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Anmerkungen zur Transkription
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Ich fand ihn am Fenster stehen und dem abziehenden Volk nachsehen (4. Kap.)
Eine Erzählung aus dem dreißigjährigen Kriege von
K. H. Caspari
Neunzehnte Auflage
:: Mit acht Bildern ::
1913
Verlag von J. F. Steinkopf, Stuttgart
Gedruckt in Stuttgart
bei J. F. Steinkopf
Seite
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Erstes Kapitel. Des Autors Stand und Herkommen | |
Zweites Kapitel. Der Sohn | |
Drittes Kapitel. Valentin beim Handwerk | |
Viertes Kapitel. Valentin der Schreiber | |
Fünftes Kapitel. Der Jäger von Erlach | |
Sechstes Kapitel. Die Warnung | |
Siebtes Kapitel. Der Torwart | |
Achtes Kapitel. Der Überfall | |
Neuntes Kapitel. Die Plünderung | |
Zehntes Kapitel. Die Entdeckung | |
Elftes Kapitel. Ein Gottesgericht | |
Zwölftes Kapitel. Die Flucht | |
Dreizehntes Kapitel. Die Pest | |
Vierzehntes Kapitel. Die Heimkehr | |
Fünfzehntes Kapitel. Der Brief | |
Sechzehntes Kapitel. Der Brief (Fortsetzung) | |
Siebzehntes Kapitel. Der Brief (Fortsetzung) | |
Achtzehntes Kapitel. Der Brief (Fortsetzung) | |
Neunzehntes Kapitel. Der Brief (Fortsetzung) | |
Zwanzigstes Kapitel. Der Brief (Fortsetzung) | |
Einundzwanzigstes Kapitel. Der Brief (Schluß) | |
Zweiundzwanzigstes Kapitel. Valentins Tod | |
Dreiundzwanzigstes Kapitel. Noch ein Gottesgericht | |
Vierundzwanzigstes Kapitel. Schluß |
Was unsere heutigen, in tabellarischer Form abgefaßten Kirchenbücher wohl keinem unserer Nachkommen gewähren werden, das haben mir schon oft die alten Kirchenbücher gewährt, — einen wohltuenden Blick in das kirchliche Gemeindeleben ihrer Zeit.
Auf meiner früheren Pfarrei Sommerhausen habe ich oft mit wahrer Erbauung das während des Dreißigjährigen Krieges von dem alten Schuldiener, Udalrikus Gast, geführte Kirchenbuch durchlesen, der seine Einträge durch allerlei geschichtliche oder andere, aus einem warmen, einfältigen, durch und durch christlichen Herzen kommende Bemerkungen zu begleiten pflegte. Ich habe den Mann dadurch sehr lieb gewonnen, und wie ich mir aus seinen reichlichen Bemerkungen seine innere Anschauungsweise klar zu machen suchte, so habe ich aus seinen Einträgen unter Hinzunahme eines vorgefundenen Briefes von ihm, einiger Familienpapiere, eines Alten Testamentbuches, — und soweit die Ortsgeschichte in sein Leben eingreift — aus einer sehr[S. 4] interessanten, geschriebenen, durch die Güte des Erlauchten Herrn Grafen Ludwig von Rechteren mir mitgeteilten Chronik des Hauses Limpurg, dessen Besitzung Sommerhausen war, seine Lebensgeschichte zusammenzustellen gesucht.
Ich habe es vorgezogen, die Erzählung derselben dem alten Schuldiener selbst in den Mund zu legen; doch wird der scharfsinnige Leser leicht herausfinden, wo er wirklich redet und wo ich ihn nur reden lasse, da ich mich ohnehin rücksichtlich des Stils weniger bemühte, die altertümliche Sprache getreu zu kopieren, als nur die geradezu störende Sprache der modernen Zeit ferne zu halten.
Hiemit wünsche ich dem Büchlein einen geneigten Leser und — Gottes Segen.
Eschau bei Aschaffenburg, den 30. Mai 1851.
Der Verfasser.
Motto:
Es ist aber ein großer Gewinn, wer gottselig ist und lässet ihm genügen.
1. Tim. 6, 6.
Seit alten Zeiten ist’s geschehen, daß jezuweilen merkwürdige Männer eigenhändig ihre Erlebnisse der lieben Nachwelt in einem Büchlein verzeichnet haben. Wohl ein mancher meiner Leser hat die Commentarios eines Julius Cäsar auf der Schule, oder daheim in Winterabenden die Lebensbeschreibung des mannhaften Ritters Götz von Berlichingen gelesen, und seine Gedanken dabei gehabt, wie derlei Männer aus großen Nöten und Gefahren unversehrt und gekrönt mit Ehren hervorgegangen sind.
Ein solcher Leser dürfte schwerlich eines Lächelns sich erwehren, daß auch ich, Udalricus Gast von Sommerhausen im Frankenland, mich unterfangen will, aufzuzeichnen mit Gottes Hilfe, was in dieser letzten betrübten Zeit sich mit mir begeben. Denn ein Cäsar bin ich nicht und auch kein Ritter, sondern nur ein armer Schuldiener, der die liebe Jugend Tag für Tag an die fünfzig Jahre lang in Gottes Wort unterwiesen schlecht und recht, und ist je mitunter meine saure Arbeit nicht vergeblich gewesen, so weiß ich unwürdiger Knecht recht wohl, daß nicht der da pflanzt und begießt, etwas ist, sondern nur der, welcher das Gedeihen gibt. Wunder aber erzählen von dem[S. 8] Gott, der da hilft, und dem Herrn Herrn, der vom Tode errettet, — das, lieber Leser, kann ich auch, und weil es eben ein so großes Werk ist, wenn er das Seufzen der Armen und Vergessenen hört, wie wenn er der Gewaltigen Wagen und Rosse zum Sieg führt, und weil der Vater im Himmel nicht bloß hört auf das Lied des stolzen Schwanes, wenn er’s anhebt, unter dem Schilfrohr des Sees zu sterben, sondern ja wohl auch das Schreien des Raben nicht verachtet in seinem verborgenen Nest, und nicht die Stimme des Sperlings, will ich auch mein Loblied nicht verhalten, und lauten soll es:
Soli Deo Gloria!
Dem Herrn allein die Ehre!
Ein Leben, das nach dem Spruch verläuft: „Armut und Reichtum gib mir nicht!“ darin keine großen, seien es erfreuende oder betrübende, Glücksfälle vorkommen, ist zwar großen Dankes wert, — doch läßt sich nicht viel davon erzählen. Neunundfünfzig Jahre lang bin ich auch meinen Weg gegangen, wie viele tausend; dann erst hat Gott mich auf absonderliche Wege geleitet. Darum von jenen neunundfünfzig Jahren nur ein weniges zum besseren Verständnis.
Mein nun in Gott ruhender Vater, Paulus Gast, war seines Handwerks ein Schneider drüben in Winterhausen. Mein Mütterlein hab ich nicht mehr gekannt, sondern als sie mich ans Licht dieser Welt geboren, hat sie mich nur noch gesegnet und meinem Vater anempfohlen, dann hat Gott zu meinen drei älteren Geschwistern sie heimgeholt ins Himmelreich. Da ich meines Vaters einziges Kind war, meinte er, ich sollte einst ein besseres Brot haben, als er selber, und bestimmte mich zu einem Schulmeister.[S. 9] Da habe ich zuerst Lesen, Schreiben und Rechnen aus dem Grund gelernt bei dem Präzeptor Holberg, dann Latein bei dem seligen Pfarrherrn Burkhardus Thüngersheim, dann hab ich wieder unter dem alten Präzeptor mich im Schulhalten geübt, und bin endlich nach wohlbestandenem Examen von dem Rat in Sommerhausen mit dem Amt eines Schuldieners betraut worden.
Es haben viele Menschen sich mit mir gefreut, zwei aber insonderheit: mein alter Vater und Margareta Späthin, der ich nun meine Hand vor dem Altare Gottes geben konnte, — mein Herz hatte ich ihr schon seit zehn Jahren gegeben. — Nun ist sie auch daheim bei dem Herrn und trägt das Feierkleid und hat den Palmzweig in Händen, während ich alter, verlassener Mann noch das Werktagskleid tragen muß und mit nassen Augen hinaufblicke, wo sie mit unsern Kindern allen den Herrn schaut von Angesicht zu Angesicht.
Im Jahre 1610, gerade an meinem 37. Geburtstag, sind wir aufgezogen auf meiner Stelle in Sommerhausen, wo die Bürgerschaft uns Haus und Gärtlein schön und wirtlich hatte einrichten lassen.
Das Städtlein Sommerhausen liegt im gesegneten Frankenlande. Es führt billig eine Sonne in seinem Wappen, die auf eine Weintraube scheint. Denn des Getreidelandes liegt wenig in seiner Gemarkung, dagegen viel fruchtbarer Weinberge, und es ist ein schöner Anblick, wenn die Weinberge grün sind, und die Häuser und Mauern mit ihren vielen Türmen, wie im Segen des Herrn, in ihrem Schatten liegen. Auch ein stattlicher Strom fließt an seinen Mauern vorbei, der Main, der vom Bayreuther Lande herunterkommt und hier die Grenze macht zwischen den beiden Flecken Sommerhausen und Winterhausen. — Gott[S. 10] segne dich, liebes Städtlein, und deine Weinberge bis auf Kind und Kindeskind. Hier bin ich in der Frühstunde fröhlich und voll guter Hoffnung an mein Tagewerk gegangen, hier hab ich des Tages Last und Hitze getragen, hier will ich, wenn’s Gottes Wille ist, auch die elfte Stunde schlagen hören und hingehen, wenn der Herr des Weinbergs ruft zum Feierabend, mein Gröschlein zu empfangen. Das walte Gott!
Siehe, Kinder sind eine Gabe des Herrn!
Psalm 127, 3.
Am 12. Oktober 1613, morgens drei Uhr, ward unser erster Sohn geboren. Es war an einem kalten, stürmischen Herbsttag, und doch, als ich in das schwarze, fliegende Morgengewölk hinausschaute, hatte ich des Sonnenlichts genug im Herzen. Da ich am Bette meiner Margarete stand und das Knäblein zum erstenmal auf den Armen hielt, war’s mir, wie wenn der gnädige Gott nun alle Seile seiner Liebe um uns geschlungen hätte, und ich sprach mit Jakob: „Herr, ich bin zu gering all der Barmherzigkeit und Treue, die du an mir getan hast!“ — In der heiligen Taufe ward es vertreten von Valentin Orplich, dem Bäcken, der ihm den Namen Valentin beilegte. Ich hab’s nicht unterlassen, auf dem Heimweg aus der Kirche Gott anzurufen, daß er einen rechten, christlichen „Valentinus“ aus ihm machen wolle, einen Helden, stark und streitbar wider diese Welt und alle Feinde seiner Seligkeit.
In der Zucht und Vermahnung zum Herrn hab ich den[S. 11] Knaben aufgezogen, soweit es einem blinden und schwachen Menschen möglich ist. Gewollt wenigstens hab ich es redlich, und mein Weib, die in der Einfältigkeit ihres Herzens oft einen Rat wußte, wo ich keinen finden konnte, ist mir treulich darin beigestanden. Wir meinten, daß der Herr nicht umsonst sage: „Die frühe mich suchen, werden mich finden.“ Es ist das Herz der Kindlein wie ein weiches Wachs, darin das liebliche, hehre Bild des Herrn Christus noch leichtlich sich prägen läßt. Später kann solches nicht mehr geschehen, oder aber — es braucht heißer Trübsale, das Herz wieder weich zu machen.
Mit seinem sechsten Jahre nahm ich ihn in die Schule. Und schon nach einem Jahre konnte er den Morgen- und Abendsegen mit lauter, vernehmlicher Stimme beten, und wir hatten eine herzliche Freude, wenn wir ihm zuhörten: er rezitierte just in dem Tone, in welchem Herr Theodoricus zu predigen pflegte. Unter der Jugend des Fleckens hatte er ein großes Ansehen, als er heranwuchs, denn er war sehr klug und herzhaft, und dabei hatten ihn doch alle lieb als einen guten Kameraden, weil er ein weiches Gemüt hatte und dienstfertig war gegen jedermann. Das weißt du aber, lieber Leser, wie man den Wein am liebsten hat, der stark ist und süß, so hat man auch den Menschen am liebsten, der beides zugleich ist, herzhaft und milde, tapfer und doch weichen und liebreichen Gemütes. Des Schenkwirts Büblein hat er, wiewohl erst selber zehn Jahre alt, mit großer Lebensgefahr unter den wilden Pferden hervorgerissen, als eben das Rad des Güterwagens ihm über den Kopf gehen wollte, hat ihm seine messingene Sonnenuhr geschenkt, als es nicht aufhören wollte zu weinen, und ist dann weiter gegangen, als ob nichts geschehen wäre. Im teuren zweiundzwanziger Jahre, als der leidige Krieg uns[S. 12] ganz ausgezehrt hatte, hat er manchen Tag sein Stück Brot, das klein genug angefallen war, weil die Not schon dazumal sehr groß war, den armen Nachbarskindern gebrochen, die unter den Schulbänken die Brotkrumen zusammenklaubten, welche die Kinder reicherer Leute hie und da hatten fallen lassen.
Freilich solche Vorzüge, als da sind ein weiches Gemüt, ein tapferes Herz, ein fröhlicher Mut, eine freundliche Rede, sind nur Naturgaben, die ein Kind noch lange nicht geschickt machen zum Himmelreich, obwohl sie vor Menschen es zieren. Wohin ist Absolom gekommen mit seiner lieblichen Rede, wohin Saul mit seinem hochherzigen Wesen? — zum schweren Fall! Ein Mensch mit solchen Eigenschaften ist wie ein Schiff, das ausgerüstet mit vielen Segeln seine Fahrt beginnt. Wenn’s unter den rechten Fahrwind kommt, tut’s einen stattlichen Lauf in den Hafen, wenn aber ein böser Wind ihm in die Segel fährt, wird’s um so schneller zerscheitert. Der rechte Fahrwind aber ist der Geist des Herrn. Ich hätte das wohl wissen können, aber wo ist der Vater, dem’s nicht süß eingeht, wenn alle Welt sein Kind als ein liebwertes lobt und preiset?
Anno 1626, am heiligen Pfingstfest, ist mein Valentin das erstemal zu Gottes Tisch gegangen. Am Morgen des Tages lagen wir alle miteinander auf den Knien und beteten, daß der barmherzige Gott seine Seele schmücken wolle mit bußfertigem Sinn und fröhlichem Glauben, — den Leib zu schmücken unternahm seine Mutter. Sie scheitelte ihm sein schwarzes Haar und zog ihm ein schwarzes Mäntelein an und gab ihm einen schönen Rosmarin in die Hand, den sie schon seit Jahr und Tag dazu gezogen hatte. Meine kleinen Kinder, deren ich unter der Zeit drei, nämlich zwei Töchter und ein Söhnlein bekommen, als sie ihren[S. 13] Bruder so schön geschmückt sahen, legten still die Hände zusammen und schauten nur von ferne ihn an, als ob er bereits nicht mehr ihresgleichen wäre. Der Valentin aber bat noch einmal seinen Eltern und Geschwistern alles ab, was er ihnen jemals zuleide getan, dann ging er mit dem Zuge der andern Kinder ins Gotteshaus.
Es waren ihrer gerade zwölf in diesem Jahre, die ihr erstes Nachtmahl feiern wollten. Als ich vom Altare, wo sie paarweise das Sakrament empfangen hatten, sie wieder zurückkommen sah, konnte ich mich einer großen Wehmut nicht erwehren. In den Gängen zwischen den Kirchenstühlen stand das kaiserliche Kriegsvolk, das die Woche zuvor im Städtlein Quartier genommen, Mann an Mann, und diese trotzigen Gesellen im eisernen Wams und den wilden Spitzbärten mahnten an die eiserne Zeit, die uns bereits seit acht Jahren der leidige Religionskrieg gebracht hatte.
Als ich die kleine, andächtige Kinderschar durch diesen wüsten Haufen sich hindurchwinden sah, fühlte ich’s recht deutlich, wie wahr unser Pfarrherr Theodoricus gesprochen, als er den Nachtmahlskindern ihre Vermahnung über den Spruch gehalten: „Siehe, ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe.“ — Ist doch auch unter den Zwölfen, die der Herr sich gewählt, ein Judas gewesen, und heutzutage, in dieser Zeit der Trübsal, da der Krieg mit eisernem Fuße über die Auen des Herrn geht, o wie manches Schäflein, das den Hirten verläßt und dem Wolf zum Raube wird! Was ist’s, daß jetzt eine fromme Rührung die Herzen dieser Kinder und deines Sohnes bewegt, werden sie auch Öl in den Lampen haben? Wie manch schöner Stern, der am Firmament des Himmels aufgeht, ist nur eine trügerische Sternschnuppe, die fällt und auslöscht in Nacht und Finsternis?
So mußte ich fortwährend denken, bis ich ganz kleinmütig ward; da aber fing ich an zu beten: „Herr Jesu, du Erzhirte deiner Schafe, nimm dies arme Häuflein und auch meinen Valentin unter deinen Hirtenstab. Führe sie, wie dir’s gefällt, — in die Höhe oder in die Tiefe, durch die grüne Aue oder durchs finstere Tal, — nur führe sie so, daß keines von dir abkommt. Bringe wieder das Verirrte, damit dies kleine Häuflein der großen Herde beigesellt werde, die du droben weidest und hinführest zu den lebendigen Wasserbrunnen. Amen.“
Er hat’s getan, — ihm sei Ehre von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Eine Weile war es uns ein Anliegen gewesen, was aus unserem Sohne werden sollte, — doch waren wir darüber einig geworden. Freilich, mein Weib hatte schon bei des Knaben Geburt sich an dem Gedanken erfreut, ihre Erstgeburt, wie sie sagte, dem Herrn zu opfern, und hoffte den Tag noch zu erleben, wo er auf der Kanzel stehen und die Gemeine erbauen werde, aber — der Mensch denkt’s und Gott lenkt’s.
Es waren nämlich mittlerweile die Zeiten der Prüfung und der Heimsuchung über die evangelische Kirche gekom[S. 15]men, und auch bei uns, in Limpurgischen Landen, sah es bereits aus, als wenn der Leuchter des Evangeliums, nachdem er hundert Jahre hell gebrannt, wieder von seiner Stätte gestoßen werden sollte. In Markt-Einersheim, Possenheim und Hellmizheim hatte das Würzburger Domkapitel die evangelischen Kirchen geschlossen, und die Seelsorger hatten sich auf den Speckfeld geflüchtet, wo sie sonntäglich ihre Gemeinden unter großen Anfechtungen versammelten und ermahnten, um des Herrn willen das Unrecht zu ertragen, aber dabei fest zu beharren im wahren Glauben. Solcher Ermahnung bedurfte es, weil die Kirchgänger vom streifenden Volk abgefangen und mißhandelt, oder auf den Turm in Iphofen gesetzt wurden und zuletzt mit schwerem Gelde sich loskaufen mußten.
In solchen Zeiten sollen nur die das Hirtenamt führen, denen offenbar eine Berufung von dem Herrn dazu wird. Das sind die Zeiten, in denen der Wolf kommt. Wehe da der Herde, über die ein Mietling gesetzt ist, und wehe — dem Mietling! Einen gewissen Fingerzeig, daß Gott unsern Valentin in seinem Weinberg brauche, hatten wir nicht wahrgenommen, drum beschlossen wir kurz und gut, ihn zum Handwerk zu bestimmen.
Verachtest du den Handwerkerstand, lieber Leser? — Ich nicht! Wer hat’s so vor Augen, was alles er mit Gottes Hilfe zustand gebracht hat, als der Handwerker? Wer kann am Feierabend mit so voller Zuversicht sagen: „Mein Tagewerk ist getan, und habe nichts verkehrt angefangen, und nichts zu tun übrig gelassen?“ Drei Stücke gehören dazu: ein gesunder Leib, eine geschickte Hand und ein christlich Gemüt, daß einer sein Werk, wie groß oder gering es sei, im Glauben tue, als auch zu Gottes Ehren. Wo du diese drei Stücke bei einem Handwerksmann findest,[S. 16] glaube mir, lieber Leser, da hast du einen glücklichen Menschen gefunden.
So ging ich also, wie mein Sohn vierzehn Jahre alt geworden, zu Valentin Orplich, dem Planbäcken, damit er seinen Paten, meinen Sohn, in die Lehre nehme. Er meinte zwar, der Knabe sehe ihm dafür zu fein und vornehm aus, und es habe ihm schon manchmal geschienen, als stehe ihm, so klein er auch sei, sein Sinn nach großen Dingen, und er werde sich nicht recht zum Handwerk schicken, ich aber entgegnete ihm: „Just wider die hohen müßigen Gedanken hat Gott der Herr das Gebot erfunden: ‚Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen!‘ — Nehmt Ihr den Knaben und seid ihm ein Meister und Zuchtmeister, für alles weitere lassen wir Gott sorgen.“ — Drauf war er’s zufrieden, und wir machten nur noch aus, daß er nur den Tag über beim Bäcken sei, den Abend und die Nacht solle er bei uns zubringen: denn die Luft des elterlichen Hauses kann kein Kind entbehren, wenn es gedeihen soll, — ‚im Schatten des Vaters,‘ sagt man, ‚wird der Sohn groß!‘
So geschah’s. Eh ich zum Vieruhrläuten ging, trat ich jedesmal in sein Kämmerlein, weckte ihn und sandte ihn zu seinem Meister und freute mich herzlich, wenn ich manchmal in der Morgenfrühe ungesehen auf der Straße stand, und durch des Meisters Fenster ihn so rüstig hinter der Arbeit sah, während alles ringsum noch im tiefen Schlafe lag, und nur das Plätschern des Rathausbrunnens durch die stillen Gassen rauschte. Sein Taufpate, der keine Kinder hatte, liebte ihn wie einen Sohn. Er tat seinen Meistersleuten, was er ihnen an den Augen absehen konnte, und er war so eifrig und anstellig in seinem Handwerk, daß der alte Meister sich’s behaglich zu machen anfing und fast das ganze Ge[S. 17]schäft ihm in die Hände gab. Wie es aber gekommen, daß ich selber, obwohl der Meister nach Verlauf eines Jahres den Knaben noch ebenso lieb hatte, wie immer, doch manchmal nicht ohne Sorgen des Sprichworts gedachte: ‚Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben,‘ will ich in folgendem erzählen.
In einem alten Buch habe ich einmal ein schönes und lehrreiches Märlein gelesen, das unsere Vorfahren sich zu erzählen pflegten. Als nämlich vorzeiten das Heidentum in unserem deutschen Vaterlande abgetan und der Dienst des lebendigen Gottes eingeführt wurde, hätten die heidnischen Götzen vor dem Kreuze sich geflüchtet und in einen Berg sich verborgen, welcher der Venusberg heißt. Dort brächten sie in heidnischen Greueln und teuflischen Lustbarkeiten ihre Zeit hin, könnten aber den Berg nicht verlassen, sondern würden verschlossen gehalten bis zum Tag des Gerichts. Von Zeit zu Zeit jedoch tue der Berg sich auseinander und ein Spielmann gehe heraus mit einer Pfeife, ziehe durch die Lande und blase wundersame Weisen. Wer die Pfeife des Spielmanns höre, werde alsbald wie toll, lasse Vater und Mutter und Weib und Kind dahinten, frage nichts mehr nach zeitlichem und ewigem Glück, sondern wolle sofort dem Spielmanne nach und seiner Pfeife. Zwar sei mit dem Spielmann immer auch ein Warner da, der treue Eckart genannt, der bäte und flehte, dem Spielmann nicht zu folgen, denn es sei zeitlich und ewig um die geschehen, welche sich verlocken ließen; aber nur wenige gäben ihm Gehör, und der Spielmann, wenn die Zahl voll sei, führe den ganzen Haufen dem Venusberg zu, wo sie ihrem Gott abschwören müßten, um des Teufels Feste zu feiern.
Was dies Märlein bedeuten soll, ist leicht einzusehen. Der Spielmann mit der wundersamen, verlockenden Weise[S. 18] ist der listige Versucher, der für jeden Menschen den rechten Ton anzuschlagen und die rechte Weise zu treffen weiß, um von Gott und seinem Heil ihn abzuführen. Der getreue Eckart aber ist Gottes Wort und das Gewissen, die dem Menschen die Wahrheit verraten und sein Los ihm voraussagen, wenn er sich von dem Versucher betören lassen will, — aber bei den meisten leider umsonst.
In diesem Sinn ist das Märlein wahr zu allen Zeiten. Da war zum Beispiel vor etlichen Jahren eine ganze Zechgesellschaft in der unteren Schenke, — die hörten des Spielmanns Lied beim Klingen der Weingläser. So oft die Gläser klangen, fluchten, lästerten und jubelten sie durcheinander, und ließen derweilen Weib und Kind daheim im Elend sitzen, bis sie endlich alle nacheinander gestorben und verdorben sind. Da war im zweiundzwanziger Jahr Michel Hamsterloch, der Kornwucherer, — der hörte das Locken der Satanspfeife, wenn die harten Taler auf dem Tisch klangen, und überhörte drüber das Gebot: ‚Du sollst nicht Wucher nehmen, noch Übersatz‘, und das Seufzen der Armen, bis ihn drei kaiserliche Reiter zwischen Fuchsstadt und Winterhausen ausplünderten und an einen Birnbaum aufhenkten. Da war der Jäger von Erlach, der hörte im Rollen der Würfel die Teufelsmusik, daß vor Lust ihm die Augen im Kopfe funkelten und die Hände zitterten, bis er auch seinen elenden Tod fand, wovon ich unten des weiteren berichten werde. Da war des Schenkwirts Rosamund, das liebliche Mägdlein, — das hörte das süße Klingen, wenn es als die schönste Jungfrau weit und breit gerühmt wurde, bis es mit dem Werber durchging und von ihm verlassen ward, und sich und seine Schande bei der Würzburger Brücke in den Fluten begrub und unter den[S. 19] Eisschollen. (Bin ihm lang ein treuer Eckart gewesen, doch es hat zuletzt nicht mehr hören wollen!)
Aber auch das vornehmlich scheint mir nicht ohne guten Grund, daß in dem Märlein ausdrücklich gesagt ist, wie der Spielmann je von Zeit zu Zeit den Berg verläßt und mit der Pfeife der Welt seine höllischen Weisen aufspielt. Wenn nämlich in der Welt eine Reihe von Jahren alles so leidlich und erträglich seinen gewiesenen Weg gegangen ist, kommen plötzlich wieder einmal Zeiten, in denen ein wüster Taumel die Menschheit trunken macht. Der Bauer will nicht mehr beim Pflug bleiben, sondern will ein Herr werden; der Handwerker verachtet’s, daß das Handwerk einen goldenen Boden hat und jagt allerlei Träumereien nach, reich zu werden ohne Mühe; den Jungen wird’s zu eng im väterlichen Hause; der Untertan meistert die Obrigkeit und die Gemeinde den Seelsorger, — der Tunichtgut achtet sich berufen, die Welt zu bessern, und der Strolch wird zum Apostel; das Heilige wird verachtet und den Gesetzen des himmlischen Königs selber Pflicht und Gehorsam gekündigt. Alle Welt redet dann irre, will oben hinaus und hat Traumgesichte. Jeder schreit, daß das Haus morsch sei, das der Vater ihm gebaut, und der Rock zu eng, in dem er so lange warm gesteckt, will niederreißen und auseinander sprengen, wegwerfen und in den Kot treten, was die Vorfahren für heilsam geachtet, will davonrennen, Glück und Zukunft auf Abenteuer stellen und ernten, wo er nicht gesäet hat. Das sind die Zeiten, in denen die Hölle los ist und die Menschheit die Satanspfeife wieder blasen hört, und toll und trunken und blind und taub geworden ist, bis sie unter scharfen Ruten des Höchsten wieder nüchtern wird und zur Vernunft kommt.
Solche Zeit war bei uns zu Anfang des Religions[S. 20]krieges, und obwohl unter der Kriegsrute wieder der Taumel ein wenig nachgelassen, hatte doch die auf den Übermut folgende Verzweiflung uns noch nicht wieder nüchtern werden lassen. Vom Sprüchlein: ‚Bet und arbeit, so hilft Gott allezeit‘, wollte jetzt niemand sein Heil erwarten. Der Bauer ließ den Pflug in Ruhe und die Disteln auf seinem Acker wachsen, und grub nach Schätzen und ging lieber unter die Schnapphähne; der Handwerker schob Hobel und Nadel auf die Seite und verlegte sich aufs Goldmachen oder begehrte die schwarze Kunst zu lernen; die seßhaften Bürger verkauften Haus und Hof und zogen auf gut Glück in die Fremde; die jungen Leute wollten lieber mit dem Kriegsvolk in die weite Welt laufen, als im Hause und im Handwerk des Vaters ihr Glück suchen. Mit Gottes Wort durfte man diesem Geschlecht nicht kommen, auch nicht mit der Sitte der gottseligen Vorfahren. Jenes nannten sie altvettelische Fabeln und diese einen Narrenbrauch, gut genug, um den ‚dummen Jakob‘ zu hänseln, worunter sie den bisherigen Bauern und gemeinen Mann verstanden. — Nicht wenig trug zu dieser Verwilderung das freche Soldatenvolk bei, das jahraus jahrein in den Häusern lag, und nichts glaubend und nichts fürchtend den Herrn spielte. Glaube und Gottesfurcht, Fleiß und Sparsamkeit, Zucht und Gehorsam war durch diesen wüsten Haufen dem jungen Volk allmählich verleidet, und die törichte Jugend meinte, nur der sei ein rechter Mann, der das Bandelier umgetan, eine Feder auf dem Hut und einen Degen an der Seite trage.
Etwa zwei Jahre mochten vergangen sein, als der Meister nicht mehr so zufrieden war mit meinem Sohne, wie im Anfange. Zwar hatte er nicht eigentlich über ihn zu kla[S. 21]gen, aber so oft ich ein Näheres über seine Unzufriedenheit wissen wollte, lautete immer die Antwort: „Gevatter, er gefällt mir nicht mehr, — er ist unlustig geworden und Ihr werdet sehen, es tut nicht mehr lange gut!“ So oft ich in den Knaben drang, mir sein Herz auszuschütten, tat er’s doch nicht, sondern suchte Ausflüchte, bis ich endlich durch einen Zufall hinter die Wahrheit kam.
Eines Morgens stand ich auf, die Vieruhrglocke zu ziehen und meinen Valentin aufzuwecken, — da hörte ich Stimmen auf der Gasse und Pferdegetrappel. Das Schönebergische Regiment, das fast den ganzen Winter im Städtchen gelegen, rüstete sich zum Aufbruch. Die Reiter kamen überall aus den Häusern, zogen die Pferde aus dem Stall und trugen Kienfackeln in den Händen, und während die Sturmhauben und Kürasse wie feurig anzusehen waren wegen des Flammenscheins, stellten sie sich in Ordnung unter meinem Fenster auf dem freien Platz um die Kirche. Drauf, als der Oberst Schöneberg „Marsch“ kommandierte, fingen die Trompeter an zu blasen und ritten voran, und das Reitervolk folgte und sang dazu. Sie sangen aber mit Trompetenschall ein Lied, das in den Kriegszeiten auf[S. 22]gekommen und heute noch ein gemeines Lied ist, worin der Soldaten Stand und Tod als der schönste und herrlichste gepriesen wird, und das also anhebt:
Ich bin ein Mann des Friedens, und wenn die heilige Musika mir das Herz treffen soll, muß es durch den Orgelton geschehen: aber als zum Gesang der Reiter die Trompeten so hell durch die frische Morgenluft schmetterten, spürte ich doch eine besondere Bewegung in meinem Herzen. Es hat die Trompete einen eisernen Klang, der wie ein Streitruf durch das Herz des Menschen fährt, und nicht bloß des Menschen, sondern die Schrift sagt, daß auch das Roß den Boden stampft und den Streit wittert, wenn es die Trompete hört von ferne. Ich würde den für keinen Mann halten, in dem nicht der Trompetenton jedes Fünklein von Mannheit und Herzhaftigkeit zur Flamme erwecken könnte.
Als ich mit diesem Gedanken in das Kämmerlein meines Sohnes trat, fand ich ihn am Fenster stehen und mit Tränen und Schluchzen dem abziehenden Volke nachsehen, und als ich in ihn drang, mir zu gestehen, was ihn betrübe, sagte er endlich: Ja, das wolle er. Es sei doch ein elend und jämmerlich Leben, was er Tag für Tag zu führen habe. Wenn er die abziehenden Soldaten betrachte, die mit fröhlichem Gesang hinaus in die weite Welt zögen, wie die Schnitter in die Ernte, komm er sich vor, wie ein elender Gefangener in seinem Turm, mit Ketten angeschmiedet, ohne Freiheit, Freud und Ehre. Da wolle er doch gleich lieber sterben, als ein solches Leben fortführen; er wolle und wolle nicht mehr länger am Backtrog und am Backofen stehen und Semmeln[S. 24] backen — schlechter könne es ihm doch nirgends werden, wohl aber besser.
Zornig fragte ich ihn, ob er denn vielleicht dem Kalbfell folgen wolle, wie so mancher ungeratene Sohn, der ein Bube geworden und Vater und Mutter in Jammer und Tränen gestürzt? Er erwiderte: Das nicht! aber der Amtskeller habe neulich seine Handschrift gesehen und gesagt, es sei doch Jammer und Schade, daß er zum Handwerk verdammt sei. Wenn er Lust habe, wolle er ihn in die Schreibstube nehmen! Das sei ein Wink von Gott gewesen: ich solle doch seinem Glück nicht im Wege stehen, sondern mein Jawort geben, gutwillig und gerne, damit er mit fröhlichem Gewissen einen andern Beruf ergreife — wir sollen dann gewiß unsere Freude an ihm erleben.
Das sah ich wohl, daß meines Sohnes Herz kein wiedergeborenes war, und daß das Blümlein der Demut noch darin keine Wurzel geschlagen, wußte auch recht wohl, daß der Amtskeller nicht der Mann sei, ihn von seinem Hochmut zu heilen und einen rechten Christensinn in ihm zu pflanzen. Er verstand sich nur wenig auf Schrift und Christentum, obwohl er sonst ein gutmütiger, freundlicher Mann war, — doch aber bei so bewandten Umständen war sein Anerbieten nicht zu verachten. So gab ich denn, wiewohl mit schwerem Herzen, meine Einwilligung, ging zu dem Amtskeller und bat ihn, zuerst mit meinem Sohn es zu probieren, ob er zu seinem neuen Geschäft, wozu ein feiner Kopf und eine schnelle und getreue Hand gehöre, sich auch schicke, und verschwieg ihm nichts, was wegen meines Sohnes Gemütsart mir auf dem Herzen lag. „Ulrich,“ sagte er, „Ihr seid ein frommer und verständiger Mann in Eurer Weise, aber Ihr meint, jeder Mensch, wenn er etwas sein solle, müsse denken und glauben wie ein Pfarrherr oder Schulmeister. Laßt[S. 25] jedem seine Weise, auch Eurem Sohn, denn er soll keines von beiden werden, sondern ein weltläufiger Mensch, der überall zu brauchen ist. Der Junge ist kein neuer Mensch, wie Ihr’s zu nennen pflegt, aber verständig, dienstwillig und eines guten Gemüts und hat Ehre im Leib. Begnügt Euch damit und es wird alles gut werden. Schickt ihn her, und wenn er nur bleibt, wie er ist, werdet Ihr und ich Ehre von ihm haben.“
Es geschah! und mein Weib lächelte durch Tränen, als der Junge den Bäckenkittel abgelegt und in einem schönen, schwarzen Kleid, das ihm der Amtskeller hatte machen lassen, und mit einem Degen angetan vor uns stand. Der Amtskeller lobte ihn über die Maßen, aber ich selbst hatte seit jener Zeit wenig Freude mehr an ihm. Je länger er mit dem Amtskeller umging, desto mehr ward sein Herz dem Vaterhause entfremdet: Gottesfurcht war ihm zwar kein Spott, aber er tat wie einer, der das alles nicht braucht, was sie pflanzt und nährt. Die Ehre und der Amtskeller galten ihm mehr als Gott und sein Wort, Vater und Mutter achtete er als gute Leute, aber für einfältig vom alten Schlage, wie sich’s heutzutage für die Welt nicht schicke. Wenn er am Abend heimkehrte, war’s ihm keine Lust mehr, wie sonst, mit seinen Geschwistern beisammen zu sein, sondern er tat mürrisch und stolz gegen sie, wußte immer ein Geschäft sich zu machen, um am Abend wieder auszugehen, und wenn er spät nach dem Abendgebet wieder kam und morgens vor dem Frühgebet wieder ging, meinte er, man könne sein Vaterunser auch für sich sprechen, und das heiße auch Gott geehrt, wenn man treu und eifrig seinen irdischen Beruf ausrichte. — Um auf schlimme Wege ihn zu bringen, brauchte es nur noch schlimmer Gesellschaft, und die sollte er auch bald genug finden.
[1] Das Lied ist von J. W. Zinkgref im Jahre 1624 gedichtet und seine übrigen Verse heißen:
Der feurigen, obwohl volkstümlich tragischen Melodie dieses Liedes ist später ein freilich weniger schwunghaftes Soldatenlied aus dem Siebenjährigen Krieg unterlegt worden: „Kein besser Leben ist auf dieser Welt zu denken“ usw.
Der Herr hat nicht Lust an der Stärke des Rosses, noch Gefallen an jemandes Beinen. Der Herr hat Gefallen an denen, die ihn fürchten, die auf seine Güte hoffen.
Ps. 147, 10. 11.
In Erlach hatte die Seinsheimische Herrschaft seit einem halben Jahr einen neuen Jäger angenommen. Er war aus Böhmen gebürtig, hatte lange im Krieg gedient und kam täglich die Woche hindurch in die untere Schenkstatt. Dort trieb er sich mit dem Kriegsvolk um, soff und spielte mit ihm. Dieser Mensch sah aus wie das böse Gewissen. Er grüßte niemand und dankte niemand, gönnte auch im Wirtshaus keinem eine Ansprache oder eine Antwort, sondern saß stillschweigend vor seiner Kanne, wie jedermann hassend oder verachtend, bis die Würfel zum Spiele hervorgeholt wurden. Da wurde er lebendig. Aber man wußte nicht, was einen am meisten erschrecken konnte, die lästerlichen Flüche, die ihm wie ein Strom aus dem Halse quollen, wenn er verlor, oder das greuliche Lachen, wenn ihm das Glück wieder hold ward.
Am Sonntag, wenn die Bürgerschaft zur Kirche ging, stand er unter der Wirtshaustüre und schaute ihnen nach, ohne ein Wort zu reden, jedoch mit herabgezogenem Maul und verächtlich seinen Schnauzbart streichend, und als Veit Geißendörfer, der Torwart, ihm solches verwies, weil nach herrschaftlichem Gebot die Schenke während des Gottesdienstes leer und geschlossen sein sollte, spuckte er vor ihm aus und sagte, der Amtskeller solle ihn strafen,[S. 27] wenn er Lust dazu trüge. Er frage den Teufel nach gnädiger Herrschaft und ihrem Sonntag! — Der Torwart meldete dies, höchlich erzürnt, dem Amtskeller und erbot sich, ihn zu greifen, aber dem Jäger ging jedermann aus dem Weg, und so wollte auch der Amtskeller nichts mit ihm zu schaffen haben, vornehmlich weil er unter dem Kriegsvolk einen großen Anhang hatte.
Wo wäre mir der Gedanke gekommen, daß dieser Geselle und jemand, der meinen ehrlichen Namen trägt, jemals Gefallen aneinander finden könnten, und dennoch war es gerade dieser Mensch, mit dem mein Valentin eine besondere Freundschaft schloß, und zwar aus folgender Veranlassung: Als Anno 1631 im Oktober der edle König Gustav Adolf von Schweden mit seinem Heere durch hiesigen Flecken zog und ihm das Elend vorgestellt wurde, das durch die kaiserliche Einquartierung über die hiesige Bürgerschaft gekommen, die mit ihm eines Glaubens sei, erbarmte er sein königliches Herz, und er gab dem Flecken einen Freibrief, daß von seinen Kriegsvölkern keine, weder zu Roß noch zu Fuß, sich binnen Jahresfrist hier ins Quartier legen sollten. Ich seh ihn heute noch, den starken, ritterlichen Kriegshelden, wie er so huldvoll und leutselig den stotternden Bürgermeister anhörte und dann zürnend zu seinen Kriegsobersten sich wandte, die ihm zur Seite ritten, und sagte: „Es würde wahrlich nicht fein uns anstehen, wenn der Schwede unter diesen Brüdern ein Gedächtnis hinterließe wie der Kaiserliche, — da wolle Gott vor sein! Diesen Leuten muß geholfen werden!“
Viele Bürger nun, die sich geflüchtet hatten, waren auf dies königliche Wort hin wieder heimgekehrt, auch hatte man die wenigen Lebensmittel, die man besaß, und was man hie und da an Geld und Geldeswert hatte, wieder hervorgeholt[S. 28] und gemeint, das Schlimmste sei jetzt überstanden. Aber siehe, da kamen eines Tages zwei schwedische Quartiermacher geritten und meldeten, daß vierzig Dragoner ihnen auf dem Fuße folgten, und daß sogleich für Wein, Fleisch und Pferdefutter gute Fürsorge getroffen werden müßte. Auf den Freibrief, den der Amtskeller vorzeigte, wollten sie nicht achten, denn ‚Not kenne kein Gebot‘, und ihr König Gustavus Adolphus selbst, wenn er noch zugegen sei, würde nichts dawider haben, — er war aber mittlerweile weit weg an den Rhein gezogen. Als die Quartiermacher ihren Auftrag ausgerichtet, gehen sie ins Wirtshaus, wo sie den Jäger treffen. Der macht sich an sie, wie es seine Art war, — mit einem Male aber schaut ihm der eine von den Quartiermachern, ein Trompeter, ins Gesicht und sagt: „Heißt Ihr nicht Franz Sorawitz, und habt unter dem Friedländer gedient?“ Der Herr Jäger sagt: „Ja!“ Der Trompeter aber erwidert: „So seid Ihr der Spitzbube, der bei Helmstädt meuchlings meinen Hauptmann vom Pferde geschossen, als wir Anno sechsundzwanzig vom Dänenkönig Parlamentierens halber zu Eurem Haufen geschickt wurden? — Das sollt Ihr mir jetzt entgelten!“ zog vom Leder und sprang auf den Jäger ein. Dieser wehrte sich mit dem Saufänger, und es entstand ein großes Getümmel im Wirtshaus und auf der Straße, weil die Bürger aus Verdruß über die angedrohte Einquartierung sich des Jägers annahmen, bis der andere Schwede, einen Aufstand der Bürger fürchtend, die Streitenden auseinander brachte. Der Trompeter fluchte, das solle dem Jäger nicht geschenkt sein und auch dem vermaledeiten Bürgervolk nicht, das einen solchen Buben noch hegen wolle, und der Jäger hinwiederum schwur hoch und teuer: wo er ihm wieder begegne, wolle er ihn kalt legen, wie seinen Hauptmann. Dann sprangen[S. 29] die Schweden auf ihre Pferde und jagten unter Scheltworten und Drohreden zornig von dannen.
Unterdessen hatten die Bürger sich versammelt und ratschlagten auf offener Straße, was unter diesen Umständen zu tun sei. Der Schrecken war um so größer, als Hans Rüdiger, von Uffenheim kommend, erzählte, welch einen Unfug dort das Volk getrieben. Der eine riet dies und der andere das: die älteren Bürger machten denen, die sich des Jägers angenommen hatten, Vorwürfe, daß sie die Schweden mutwillig und ohne Not gereizt hätten. Da begann endlich der Jäger, welcher auch unter dem Haufen stand und die ganze Zeit über still geschwiegen hatte: „Was seid doch ihr für hasenherzige Gesellen, daß ihr so ein Wesen machen mögt um dies schwedische Lumpengesindel, dessen Bleiben ohnehin hier am längsten gewesen ist? Hab ich doch nicht einen noch gehört, der gesprochen hätte wie ein Mann! — Für was habt ihr denn Mauern und Türme und für was denn eure Fäuste, wenn ihr sie nicht brauchen wollt? — Gebt mir sechs von euren Burschen, die nur so viel Mut haben, um ein Gewehr abzubrennen, und ich will euch von allen euren Ängsten helfen. Her zu mir, wer ein Herz im Leibe hat!“
Dies Wort des Jägers war wie ein Feuerfunken ins Pulverfaß. Flugs stand mein Valentin an seiner Seite und vermaß sich hoch und teuer, er und seine Kameraden seien bereit zu tun, was man von einem Mann fordern könne, und wollten sich wehren, so lange noch ein Odem in ihnen wäre. In hellem Lauf rannten die jungen Bursche und auch die Männer davon, um Flinten, Hellebarden und Spieße zu holen, verrammelten die Tore und stellten sich mit großem Geschrei hinter die Schießscharten auf die Mauer. Der Jäger aber begab sich mit meinem Sohne und sechs[S. 30] jungen Burschen, welche Schießgewehre hatten, auf das Torhaus, um dort die schlimmen Gäste zu erwarten.
Gegen Abend kamen die Schweden die Ochsenfurter Straße herab und ritten bis ans Tor heran, ohne eines Widerstandes gewärtig zu sein. Der Amtskeller hatte aufs schärfste geboten, daß ohne äußerste Not keine Gewalt gebraucht werden sollte. Da sie das Tor verschlossen fanden, begehrten sie mit großem Fluchen und Toben auf der Stelle Einlaß. Der Amtskeller las ihnen mit lauter Stimme den Brief des Königs von Schweden vor und bot ihnen Brot und Fleisch nebst einem Fäßlein Wein an, wenn sie friedlich an dem Flecken vorüberziehen wollten. Sie schalten aber die Bürger Verräter, schossen ihre Gewehre in die Luft ab, und die vordersten stiegen von den Pferden, um das Tor einzuhauen.
Da kam von ungefähr Klaus Mündlein mit einem Karren Holz rechts den Berg herab, welcher bereits am Morgen in den Wald gegangen war, und darum von dem ganzen Handel nichts wußte. Augenblicklich liefen die, welche von den Pferden gestiegen waren, auf ihn zu, warfen ihn nieder, banden ihn und schleiften ihn zu dem Haufen, der vor dem Tore hielt. Nachdem sie eine Weile unter einander Rats gepflogen, ritt der Trompeter wieder heran und schrie zum Tore hinauf: wenn man nicht auftun würde, wollten sie den Gefangenen zuerst singen lassen und dann wie einen Hund an den Lindenbaum aufhängen. Mein Sohn fragt den Jäger, was das heiße, daß sie den Klaus singen lassen wollten, und der Jäger bedeutete ihm, sie wollten ihm ein Loch durch die Zunge stechen und ein Pferdehaar durchziehen und es dann hin- und herrücken, worüber der Geplagte in ein erbärmliches Geschrei und Winseln ausbrechen müsse.
Wie dies mein Sohn hört, ruft er laut: „Brüder, so helf uns Gott, wie wir jetzt unserem Bruder helfen! Hinaus, hinaus, daß wir ihn erretten aus der Hand dieser Buben!“ rennt mit den sechs andern die Stiege hinunter, und bevor man sie aufhalten konnte, reißen sie den Hemmbalken vom Tor und werfen sich mit lautem Geschrei auf die Dragoner. Dies würde ihnen übel bekommen sein, da ihrer so wenige waren; wie sie aber mit den Soldaten zusammenstießen, gebot der Jäger den Bürgern hinter den Schießscharten Feuer zu geben. Die Soldaten, als sie das Knallen hörten, wurden stutzig, obwohl keiner getroffen war, als aber der Jäger, welcher derweilen beständig auf den Trompeter gehalten, auch sein Gewehr abbrannte und ihn durch den Kopf schoß, daß er hell aufschreiend tot vom Pferde stürzte, ergriffen sie diesen und sprengten, links abbiegend, am Städtlein vorbei, ohne sich weiter nach dem Klaus umzusehen. Der Valentin aber und seine Kameraden hoben den letzteren auf, schnitten die Stricke entzwei, mit denen die Dragoner ihn gebunden, und brachten ihn durchs Tor.
Als das Volk sich zur Gewalt rüstete, war ich nach Hause gegangen. Wiewohl ich nicht dazu geraten, hielt ich’s doch nicht für unrecht, wie Moses während der Schlacht wider die Amalekiter, für das streitende Volk zu beten, und lud auch mein Weib und meine Kinder dazu ein. Wir hörten dann das Schießen, und bald darauf ein großes Geschrei, daß mein Weib in der Meinung, der Feind breche herein, zitternd wie Espenlaub, die Hände vor die Ohren hielt. Wie der Lärmen aber näher kam, merkte ich, daß es ein Freudengeschrei sei. Wir gingen nun eilig auf die Straße und sahen den ganzen Haufen vom oberen Tore herunterkommen. Voran ging der Jäger, meinen Valentin am Arm, dann führten die Burschen den Klaus, der noch[S. 32] am ganzen Leib zitterte, und hintendrein zog ein großer Haufen Volks, Männer, Weiber und Kinder. Der Amtskeller kam auch herbei, und da er mich sah, schüttelte er mir die Hand und sagte: „Schulmeister, Ihr habt einen herzhaften Sohn! Bei Gott, das will ich ihm nie vergessen, was er heute für ein gut und mannhaftig Gemüt an den Tag gelegt!“ Er erzählte mir, was der Valentin getan, und alle, die dabei standen, konnten nicht müde werden, ihn zu loben und sein edles Herz bis in den Himmel zu erheben. Auf mein Befragen, wo denn der Zug jetzt hingehe, erwiderte der Amtskeller: „Ins Wirtshaus; dort wolle er das Fäßlein Wein, das er den Dragonern angeboten, den jungen Leuten zum besten geben, die ihnen so tapfer den Weg gewiesen!“
Ich hatte nur eine halbe Freude über das Lob, welches meinem Sohne gegeben ward, weil ich ihn mit dem gottlosen Jäger hatte kommen und Arm in Arm gehen sehen, meinte auch, es wäre wohl besser getan, wenn man statt ins Wirtshaus ins Gotteshaus zöge, um dem Herrn, dem Retter Israels, zu danken: denn der, nicht der Valentin und nicht der Jäger, hatte großes Unheil vom hiesigen Städtlein abgewehrt; der Amtskeller aber hieß mich nicht also sauer zusehen, „man müsse dem jungen Volk auch eine Freude gönnen,“ und ging dem Zuge nach.
In der Schenkstatt aber ging’s nun an ein Zechen und Bankettieren und ein Schreien und Jauchzen, das gar kein Ende nehmen wollte. — Das war es, wodurch sie die Errettung aus der Not feierten, und wenn auch hie und da einer in seinem Herzen Gott gedankt haben mag, ein ehrliches Zeugnis davon hat keiner abgelegt, als Hans Ebeling, der Türmer, der am Abend vom Turme herab das Lied blies: „Nun lob, mein’ Seel’, den Herren,[S. 33]“ so wie er zu tun pflegte, wenn ein Gewitter vorübergezogen war.
In der Schenkstatt aber ging’s nun an ein Zechen und Bankettieren (5. Kap.)
Spät, als Mitternacht lange vorüber, kam mein Sohn nach Hause. Der Jäger begleitete ihn, und als sie unter der Haustür sich trennten, hörte ich den letzteren sagen: „So ist’s, Bruder, seit ich den Krieg verlassen, hab ich danach getrachtet, einen wackeren Burschen zu finden, mit dem unsereiner umgehen könnte ohne Schande; ist dir’s nun recht, so sind wir von heut an gute Kameraden.“ Ich hätte schreien mögen: „Mein Kind, wenn dich die bösen Buben locken, so folge ihnen nicht!“ mein Valentin aber sprach: „Hier meine Hand, es sei so, wie du gesagt hast!“
Folgenden Tages rief ich den Valentin auf meine Stube und sprach zu ihm mit schwerem Herzen und unter fließenden Tränen: „Mein Sohn, glaubst du, daß Vater und Mutter dich lieb haben?“ Als er „ja wohl, lieber Vater!“ geantwortet, fuhr ich fort: „Nun, mein Kind, so gehorche der Zucht deines Vaters und verlaß nicht das Gebot deiner Mutter! Als du in der Blatternkrankheit blind dalagst auf deinem Bett und kein Mittel helfen wollte, so daß wir jeden Augenblick deinen letzten Seufzer zu hören glaubten, da war’s mir und deiner Mutter zumute wie Menschen, denen das Liebste, was sie haben auf dieser Welt, abgefordert und gekündigt ist, die’s nur noch eine kleine Weile ansehen dür[S. 34]fen, um es dann herzugeben ohne Widerspruch und ohne Einrede. Unser Herz zitterte und unsere Augen sahen wie in eine große Dunkelheit, und vor Tränen und Schwachheit konnten wir kaum das Licht des Trostes in acht nehmen, das der Herr durch sein Evangelium auch in der Dunkelheit erglimmen läßt. Doch aber, Valentin, wär’s gekommen, wie wir befürchten mußten, wir wären auf unsere Knie gefallen und hätten gerufen: Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, der Name des Herrn sei gelobet! Obgleich wir dich nicht mehr bei uns gehabt, wir hätten gewußt, wo wir dich zu suchen hätten, und gewußt, wo wir dich wieder finden würden seinerzeit, — wohl aufgehoben in deines Gottes Händen. Sprich, welchen Trost aber haben wir jetzt?“
Er verfärbte sich, sah mich an und stotterte: Was ich denn eigentlich wolle? er könne mich nicht verstehen.
Da faßte ich seine Hand und sprach: „Siehe, mein Sohn, du bist wiederum krank, todkrank, und wir, deine Eltern, zittern und zagen wiederum, daß du uns verloren gehen möchtest. Nicht aber ist’s der Vater im Himmel, der dich von unserer Seite nehmen will, sondern es ist der Feind, der Mörder von Anfang, der dir lange nachgegangen und bald — bald dich als seinen Raub dahinführen wird. Habe ich nicht gestern abend mit eigenen Ohren es gehört, wie du einem Menschen gut Freund sein zu wollen versprachst, der dem Teufel seine Seele übergeben, der ein Schlemmer und Spieler und Flucher ist, ein Belialskind, der Gottes Wort und das Gebet verachtet, ein Mensch, dessen Antlitz schon ein laut redendes Zeugnis gibt von seiner verdüsterten Seele? Mit dem willst du, unser Fleisch und Blut, fortan eine Straße ziehen? Siehe, darum sind wir wiederum bekümmert, und diesmal haben wir keinen Trost!“ Ich sprach noch viel, wie mir’s die väterliche[S. 35] Liebe, mein bekümmerte Herz und der Geist Gottes eingab, beschwor ihn, er solle guten Rat annehmen und von dem Jäger lassen, und unsere grauen Haare nicht mit Herzeleid in die Grube bringen, weil er uns doch so sauer geworden.
Er antwortete: dafür solle ihn Gott behüten, daß er ein schlechter Sohn und ein gottloser Mensch würde; er wisse wohl, was er zu tun habe, und wolle es auch tun, und solle kein Mensch ihn jemals anders zu tun verführen! Von dem Jäger könne er nicht lassen, denn der habe ihm gestern Leib und Leben gerettet. Was des Jägers Religionsmeinungen beträfe, so seien das nicht die seinigen; aber er wolle auch denselben nicht zum Beichtvater oder Seelsorger wählen, sondern lediglich mit ihm als einem guten Kameraden umgehen. Es sei wahr, daß derselbe gern ein Spiel mache und wohl auch ein Glas über den Durst trinke, und nicht allezeit die feinsten Redensarten im Brauch habe, aber das müsse man einem, der sonst ein ehrlicher Kerl und treuer Kamerad sei, schon zugute halten. Dafür habe ihm der Kriegswind um die Nase geweht, und es habe der Mann viel erlebt, wovon die Leute, die niemals gesehen, wie’s in der Welt zugehe, sich im Schlafe nichts träumen ließen. Wir sollten also seinetwegen immerhin ohne Sorge sein, nicht von ihm verlangen, daß er nur an der Bibel und an dem Gesangbuch seine Freude habe, wie dermalen der alte Veit Geißendörfer, der aber in seinen jungen Jahren auch gar ein anderer gewesen, sondern sollten ihm vergönnen, auch seines Lebens froh zu werden. Da sei ja der Amtskeller sein Vorgesetzter, — den sollten wir nur fleißig nach ihm fragen, und wir würden gewiß niemals hören, daß er uns Schande mache.
Ich entgegnete: das sei mir ein leidiger Trost; denn[S. 36] wiewohl der Amtskeller sonst ein guter und rechtschaffener Mann wäre, sei’s ihm doch mit sich selber kein rechter christlicher Ernst, geschweige denn mit andern. Ich hielt ihm vor, wie alles, was er geredet, nur in Leichtfertigkeit und Hoffart gesprochen sei, wies ihm seine Verkehrtheit aus Gottes Wort, und wie es einem Menschen gar unmöglich sei, dem Argen zu widerstehen, wenn er nicht gerade die Waffen brauche, die er verachte, nämlich Bibel und Gebet, und wie er ganz gewiß, wenn er nicht alsbald in sich gehe, ein traurig Exempel werden müsse des Wortes: „Hochmut kommt vor dem Fall.“ Es war aber alles in den Wind geredet.
Sein Herz hatte sich abgewandt von dem lebendigen Gott, drum auch von Vater und Mutter, und obwohl er den Gram sah, der uns verzehrte, waren wir ihm doch nicht so viel wert, daran sich zu kehren. Mit seinen bisherigen Freunden ging er wenig mehr um, sogar dem alten Veit, der ihn geliebt wie einen Sohn, der ihn manches Liedlein gelehrt in den Winterabenden, und im Frühjahr ihm Weidenpfeifen am Main geschnitten, ging er aus dem Weg, seitdem der alte Mann ihn einmal vor dem Jäger gewarnt. Sowie er die Amtsstube verlassen, kam er dem Jäger nicht mehr von der Seite. Er trank und spielte mit ihm bis in die späte Nacht, antwortete auf jedes Warnungswort ehrlicher Leute mit einem Scherz- oder Scheltwort, und galt in kurzem bei allen ehrbaren Bürgern für einen wüsten Gesellen, — nur nicht bei dem Amtskeller, der ihm das Zeugnis gab, daß er im Dienst allezeit fleißig und zuverlässig sei, und darum sein unordentliches Wesen ihm zugute hielt. So mußte denn, dem Amtskeller zum Schaden und mir zum Jammer, die faule Frucht zutage kommen, und er mußte endlich auch glauben an das Sprichwort: „Wo Rauch ist, da ist auch Feuer!“
Ehe ich aber davon berichte, muß ich zuvor eines teuerwerten Freundes, dessen Namen ich nun schon einigemal niedergeschrieben, gedenken, der seinesgleichen wenig gehabt in dieser Welt, des alten Veit Geißendörfer, des Wächters auf dem untern Tor.
Am 10. Sonntag post trinitatis anno 1632 hatte der Amtskeller nach Würzburg sich begeben, um gegen tausend Taler in Empfang zu nehmen für eine Lieferung von Korn, Haber und Wein, die er den dort liegenden Soldaten geliefert hatte. Am Dienstag darauf sollte das Geld sicher auf dem Speckfeld an die Herrschaft übermacht werden. Niemand sollte der gefährlichen Zeiten wegen davon Kenntnis haben, darum wurde die Sache im größten Geheimnis betrieben; nur mein Sohn, dem der Amtskeller alles Zutrauen fort und fort schenkte, wußte darum und war mit ihm geritten. Tags zuvor hatte er mir, dem’s nicht gefallen wollte, daß ein weltliches Geschäft am Tag des Herrn vorgenommen werde, zur Antwort gegeben, der Amtskeller sage: Herrendienst gehe vor Gottesdienst. Ich aber saß am Abend des Sonntags allein in meinem Stüblein, da Margareta mit den Kindern hinausgegangen war, unsern Weinberg zu besehen.
Unser hochbetagter Pfarrherr, M. Hieronymus Theodoricus, hatte am Morgen über das sonntägliche[S. 38] Evangelium gepredigt, das, wie bekannt, von der Zerstörung Jerusalems handelt. Er hatte gar schön mit Jerusalem unsere evangelische Christenheit verglichen, um die jetzt auch die Feinde eine Wagenburg geschlagen, sie zu ängstigen aller Orte, und hatte es beweglich dem Volk ans Herz gelegt, zu wachen und zu beten, damit es besser wie Jerusalem die Zeit der Heimsuchung erkenne und bedenken wolle zu dieser seiner Zeit, was zu seinem Frieden diene. Gesungen hatten wir: „Es ist gewißlich an der Zeit,“ und als ich die Weise des Lieds auf der Orgel spielte, hatte ich eine große Angst und Bewegung in meinem Herzen, so daß mir die Tränen über die Wangen liefen. Wahrlich, die Orgel kann oft gerade so deutlich sprechen, wie das Gesangbuch, — ja die Weise eines Liedes kann oft Dinge sagen, die man in Worten gar nicht auszusprechen vermag. Ist mir’s doch immer, so oft ich die Weise zu diesem Lied höre, wie wenn die Erde sich bewegte und die Toten sich rührten in den Grüften und die Stimme des Erzengels allem Fleische riefe: „Siehe, der Bräutigam kommt, gehet aus, ihm entgegen!“ Das ist ein lutherisch Dies irae, das kein Menschenkind sollte hören können, ohne daran zu denken, wie wir alle müssen offenbar werden vor dem Richterstuhl Jesu Christi.
Als ich nun so an die Predigt gedachte und an das Lied und an die betrübte Zeit, kam Veit Geißendörfer, der Wächter auf dem untern Tore, auf meine Stube, lehnte seinen Spieß in die Ecke und setzte sich zu mir. Es war ein alter Mann von siebenzig Jahren, aber für sein Alter noch stark und rüstig. In seinen jungen Jahren war er mit dem seligen Schenk Konrad von Limburg gegen den Erbfeind der Christenheit ausgezogen, hatte lange Jahre gedient und seinem Herrn einmal durch große Tapferkeit das Leben gerettet, auch sonst als ein wackerer Kriegsmann stets[S. 39] sich gehalten, wiewohl er nicht zu den ruhmredigen Leuten gehörte, die von ihren Kriegstaten so lange der Welt Lügen erzählen, bis sie zuletzt selber dran glauben; vielmehr war er eine redliche, aufrichtige Seele, ein gottseliger Mensch, müde der Narreteidinge und sich christlich in seinem Alter zu einem seligen Ende bereitend. Seit dreißig Jahren hatte die Herrschaft ihn auf dem untern Tore zur Ruhe gesetzt, und wie er immer ein großer Kinderfreund war, so hatte er auch meinen Valentin und meinen Johannes ins Herz geschlossen. — Niemand wird der Meinung sein, daß ich für den Stand der Kriegsleute eine besondere Neigung habe, aber es kann auch in diesem Stande ein Mensch, wenn er die darauf gelegte Gnade Gottes recht gebraucht, ein gutes Gewissen sich bewahren, und Aufrichtigkeit des Herzens und ein Gemüt ohne Falsch, ja auch eine kindliche Einfalt hab ich schier öfter bei alten Kriegsleuten als anderswo gefunden. Jeden Sonn- und Festtag, wenn er nach geschlossenem Gottesdienst die Sperrketten wieder abgenommen, kam der alte Torwart zu mir, und manch Stündlein haben wir dann fröhlich miteinander verplaudert.
Heut aber lag ihm etwas Besonderes auf dem Herzen — und das war ein Traum, den er in der verwichenen Woche gehabt hatte. Mit diesem Traume verhielt es sich also:
Am vorigen Mittwoch, wo er noch spät in der Nacht auf den Botenwagen von Würzburg gewartet, sei er endlich auf seinem Stuhl eingeschlafen. Da sei es ihm vorgekommen, als stünde er in einem wilden Wald auf der Wacht, wie er weiland in Ungarn oft habe tun müssen. Unter einem Baume sei mein Söhnlein Johannes gesessen und habe sich Blümlein gepflückt; alsbald sei ein grimmiger Wolf auf das Kind zugerannt mit offenem Rachen, und es habe gerufen: Veit, hilf, ach hilf! Er sei ihm zu Hilfe geeilt und habe den[S. 40] Wolf angerannt, habe aber sein nicht Herr werden können, sondern sei von dem Untier zerrissen worden, nachdem ihm sein Spieß daran wie ein Strohhalm zerbrochen. Über eine Weile sei er dann plötzlich unter seinem Tore gelegen, hart an dem Pförtlein, das hinauf in sein Häuslein führe, dann sei ich hinzugetreten und hätte gesagt: „Legt den Veit in sein Grab, nehmet aber Spielleute mit und laßt ihm seine Kompagnie ins Grab schießen, denn er ist ein alter Soldat und wie ein Soldat gestorben.“ Die Gewehre hätten aber einen seltsamen Knall gegeben, und als er sich darüber verwundert, sei er aufgewacht. Da habe er das Knallen des Fuhrmanns gehört, der schon eine Weile mit dem Wagen vor dem Tore gehalten und auf Einlaß gewartet habe. Er glaube nun, das sei ein Zeichen von Gott, daß er bald den Weg aus dieser Zeitlichkeit werde einschlagen müssen.
Ich wollte mich nun zwar nicht vermessen, den Traum auszulegen, doch wußte ich auch, daß Träume, die uns gemahnen, unserer Seele wahrzunehmen, nicht schlechtweg zu verachten sind, sondern vielmehr oft eine Botschaft von Gott sein können und ein Fingerzeig von ihm, und daß wohl öfter schon Gott durch einen Traum ein leichtsinniges Weltkind heilsam erschreckt und ein betrübtes Gotteskind lieblich getröstet hat. So erwiderte ich denn: „Träume sind Schäume! Doch sage ich auch mit Joseph: ‚Träume kommen von Gott!‘ Will’s Gott, sollt Ihr noch lange leben, aber Euer Scheitel ist weiß und Euer Rücken wird krumm, und Ihr seid in die Zeit gekommen, wo, wie der Prediger sagt, alle Lust vergeht. Euer Lämplein brennt nur noch auf dem letzten Tropfen Öl, vielleicht hat Gott Euch wissen lassen durch den Traum, daß Er bald es gar ausblasen will. Was tut’s, alter Freund? ‚Ich bin die Auferstehung und das Leben,‘ sagt der Heiland, ‚wer an mich[S. 41] glaubt, wird leben, ob er gleich stürbe, und wer da lebet und glaubet an mich, wird nimmermehr sterben.‘ Glaubest du das?“ — „Das glaube ich,“ sagte der Torwart, „und sag’ mir’s immer, wenn sie einen durchs Tor tragen und drüben singen auf dem Gottesacker:
Er wollte aber gerne wissen, was wohl das bedeute, daß er mich im Traume habe sagen hören unter dem Tore, „er sei gestorben wie ein Soldat,“ da er doch dem Soldatenleben Valet gesagt, und bereits vor dreißig Jahren seinen letzten Feldzug getan habe. — „Laßt Euch das nicht anfechten,“ sagte ich, „heißt’s nicht in der Schrift: ‚Niemand wird gekrönt, er kämpfe denn recht?‘ Drum stirbt jeder Christ eigentlich den Soldatentod, gleichviel ob sein Stündlein ihn ereilt auf grüner Heide oder aber auf einem einsamen Torhäuslein. Verleihe Gott Euch und mir für den Streit auf Erden — ehrlichen Kampf und seligen Tod!“ — „Ihr habt recht,“ sagte der Alte, nahm seinen Spieß und ging von dannen.
Am folgenden Tage feierte mein Kollege Johannes Fentsch drüben in Winterhausen seine silberne Hochzeit. Mein Johannes, den er aus der Taufe[S. 42] gehoben, wollte darum schon in aller Frühe hinaus in unsern Weinberg gehen, wo er tags zuvor ein paar reife Frühtrauben gefunden, um sie abzuschneiden und dann nebst dem Glückwunsch seinem Taufpaten zu bringen. Der Torwart hatte ihm versprochen, um diese Zeit das Tor aufzutun, das die Nacht hindurch sorgsam verschlossen gehalten wurde. Als der Knabe hinweggegangen, stieg ich hinauf auf den Kirchturm und zog die Frühglocke. Sogleich kam auch das Geläute von Winterhausen herüber, und es freute mich heute ganz vornehmlich, daß mein Kollege so pünktlich antwortete: schon vor Jahren hatten wir’s untereinander ausgemacht, daß das unsern Morgengruß bedeuten solle.
Heute hatte ich ihm recht von Herzen meinen Gruß zugeläutet: wer fünfundzwanzig Jahre im heiligen Ehestand verbracht hat, hat viel erfahren, viel Gnade Gottes in Freud und Leid. Wie still und bleich ging er damals mir zur Seite, als wir seinen Udalricus, sein einziges Kind, meinen herzlieben Paten, den Kirchhofberg hinantrugen und er auf alle meine Trostgründe nur die Antwort hatte: „Udalrice, Udalrice, ich habe das Freudenkleid abgelegt und das Trauerkleid angezogen!“ Und doch, wie konnte er mir jetzt so sicher und sorglos seinen Gruß herüberläuten, während es mich, wenn ich den Greuel der Verwüstung betrachtete, den die eiserne Zeit unter unserer Jugend angerichtet, oft bedünken wollte, als wären die Zeiten wiederum da, wo man sagen müsse: Selig sind die Unfruchtbaren und die Leiber, die nicht geboren haben, und die Brüste, die nicht gesäuget haben!
Als ich ausgeläutet hatte und wieder die Treppe hinabsteigen wollte, blieb ich oben am Fenster des Turmes ein wenig stehen und schaute hinaus in die frische Morgenluft. Die Sonne war aufgegangen, und ein goldiger Schein lag[S. 43] auf dem Gipfel der Weinberge, — über dem Tal aber und dem Fluß und über dem Städtlein mit seinen schlafenden Bewohnern lag ein dicker Nebel. Eben trat gegenüber auf dem Berge mein Johannes aus dem Nebel heraus und schritt auf das alte, steinerne Häuslein zu, das beinahe auf der Spitze des Berges und vor meinem Weingarten liegt.
In der uralten Zeit, lange bevor noch ein Schiff auf dem Main fuhr und die Rebe an seinen Ufern gebaut ward, soll da ein Vater mit seinen sieben Söhnen gehaust haben; die Söhne aber, als sie herangewachsen, sollen sich unten am Fluß angebaut und den Grund zu dem nachmaligen Flecken Sommerhausen gelegt haben. Ich sah nun, wie mein Johannes dem Häuslein zuschritt, und wußte, daß er dem Hans Mündlein und seinem Sohn Klaus einen guten Morgen bieten wollte, die heute die Wacht gehabt und darum die Nacht in dem Häuslein zugebracht hatten. — Ach! es war ein frommes und feines Kind, mein Johannes, gehorsam, fröhlich, friedlich und freundlich, und ich dachte, Gott habe darum seinen Segen auf meine Zucht gelegt, um meinem väterlichen Herzen die bittern Sorgen zu versüßen, die mich wegen des Valentins oft quälten.
Kaum aber, daß der Knabe das Häuslein betreten, sah ich ihn auch wieder herausstürzen und in großen Sprüngen den Weinberg heruntereilen. Er sprang durch die Weinstöcke und das Steingeröll hin wie ein gejagtes Reh, fiel und raffte sich wieder auf und setzte über eine Mauer hinüber, wie wenn ihm der Bluträcher auf der Ferse wäre. Verwundert, was das zu bedeuten habe, sah ich voll Angst hinüber, — siehe, da kommen im Augenblick auch zwei Kerle in roten Mänteln, wie die Kroaten sie zu tragen pflegen, aus dem Häuslein und sind in vollem Laufe hinter ihm her. Einer zog eine Pistole unter seinem Mantel hervor, zielte nach[S. 44] dem Kind und schoß los, im selben Augenblick hörte ich vom untern Tor her den Veit das Lärmzeichen blasen.
Nun verging mir Hören und Sehen; ich bemerkte nur noch, daß der Schuß mußte gefehlt haben, weil mein Knabe immer mit derselben Eile seinen Lauf fortsetzte, dann aber rannte ich eilend die Treppe hinunter auf das untere Tor zu, und kam gerade recht, ihn noch mit meinem Arm aufzufangen, ehe er, von dem Laufe ganz außer Atem, zusammenstürzte.
„Nachbarhilf’, Nachbarhilf’! Feuerjo, Feuerjo!“ hörte ich den alten Veit schreien, der bereits auf die Straße geeilt war und sich mühte, das Tor zuzumachen, — aber die beiden Kroaten waren auch schon da und mit ihnen ein ganzer Trupp Gesindel von zwanzig bis dreißig Mann. Sie warfen die Torflügel zurück und bedrohten den Torwart mit greulichem Fluchen, wenn er nur einen Muckser hören ließe. Der Alte aber behauptete mannhaft seinen Posten, hielt, nachdem er sein Horn über den Rücken geworfen, ihnen den Spieß entgegen und fragte: was sie hier ins Teufelsnamen zu suchen hätten? Das seien keine Kriegsleute, die ein unschuldige Kind verfolgten, sondern ein schlechte Spitzbubengesindel.
Da schrie ein Kerl zu Pferd, der eine Feder auf dem Hut trug und mir der Anführer zu sein schien: „Platz da, Kameraden! Ich will ihn lehren, den kaiserlichen Werbeoffizier Nikol Paradeiser und seine tapfere Kompagnie ein Spitzbubengesindel zu nennen,“ gab seinem Gaul die Sporen, daß er einen Satz machte, und bedrohte den Veit mit dem geschwungenen Schwerte. Nun fing ich auch an, aus Leibeskräften um Hilfe zu schreien. Es kamen auch Marx Stumpf, der Beck, und andere aus ihren Häusern, da sie aber das Volk schon unter dem Tore sahen und keine Waffen in Händen hatten, hielten sie es für geratener, sich nicht[S. 45] in den Handel zu mischen. — Der Alte ließ sich nicht erschrecken, sondern spreizte die Beine auseinander nach der Landsknechte Weise und führte mit dem Spieß einen Stoß nach dem Pferde des Hauptmanns, als dieser auf ihn einritt. Der aber hob sich in den Bügeln auf und schlug ihm mit dem Schwerte so über den Kopf, daß er sogleich zu Boden stürzte. Dann schrie er: „Laßt ihn liegen, den alten Narren, weil er’s nicht anders gewollt hat, nur mir nach, vorwärts!“ jagte dem gräflichen Schlosse zu, das in der Mitte des Städtleins steht, und der ganze Haufe hinter ihm drein.
Mein Johannes drängte sich zitternd an mich und rief: „Lauft, lauft, Vater, sie werden uns alle umbringen!“ Aber sie ritten an uns vorbei, ohne acht auf uns zu haben. Ich lief nun sogleich unter das Tor, um nach dem Veit zu sehen. Er röchelte schwer und schien uns nicht zu kennen, als ich ihn aber bei seinem Namen rief und mein Johannes auch, schlug er die Augen ein wenig auf und sagte: „Nun, da seid Ihr ja, Schulmeister, und Euer Johanneslein auch, den der Wolf hat würgen wollen; ja, ja, so hat’s kommen müssen; wehe, meine Schmerzen sind groß!“ Ich ermahnte ihn, an sein Ende zu gedenken, nun sei’s rechter Ernst zu beten: „Herr Jesu, dir leb’ ich, Herr Jesu, dir sterb’ ich!“ worauf er noch nickte, als wollte er „Amen“ sagen, und dann einen langen Seufzer tat, mit dem seine Seele vom Leibe sich schied. Unter der Zeit waren mehrere Nachbarn herzugetreten, und wir hoben den Leichnam nun auf unsere Schultern und trugen ihn hinauf auf das Torhaus.
Mein Söhnlein erzählte: er habe aus dem Weinberghäuslein beim Hinzugehen ein leises Wimmern gehört, und wie er an die Tür gekommen und hineingeschaut, habe Hans Mündlein und sein Sohn Klaus auf dem Boden gelegen. Der Klaus habe einen Stich in der Brust gehabt, sei voll[S. 46] Blut gewesen und habe kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben, sein Vater aber sei mit einem Pferdegurt gebunden gewesen, habe auch geblutet und geächzt. Neben dem Feuer hätten zwei Kroaten gekauert und die Suppe ausgegessen, die die Weinbergshüter sich gemacht. Wie sie ihn erblickt, seien sie aufgesprungen, hätten ihn verfolgt und geschossen. Auf den Schuß wäre aus der Schlucht, welche unter dem Weg nach Lindelbach liegt, ein Reitertrupp hervorgekommen, sei den Kirchhofweg heraufgesprengt und ihm auch nachgeeilt. Da er aber einen guten Vorsprung gehabt, sei er noch vor ihnen ins Tor gekommen, wo der Veit schon auf ihn gewartet. — Ich führte ihn schnell nach Hause, fand aber niemand daheim als meine zwei Töchter und mein Weib, die von allem noch nichts wußte, aber in großen Ängsten war, weil sie mich in solcher Eile hatte die Treppe herunterstürzen und nachher hatte die Soldaten vorbeijagen sehen, — der Valentin war nicht daheim, sondern eben ausgegangen; er wolle sehen, hatte er gesagt, was das fremde Volk im Ort zu tun habe. Ich schärfte ihnen ein, das Haus zu schließen und nicht zu verlassen, meldete im Vorbeigehen dem Weibe meines Nachbars Mündlein das geschehene Unglück und eilte dann spornstreichs dem Haufen nach zum gräflichen Schlosse.
Auf der Straße vor dem Schloß, in dem sich auch die Amtskellerei befindet, hatte sich derweilen wohl die ganze Bürgerschaft versammelt und schaute erschreckt dem[S. 47] Unfug zu, den sich das Kriegsvolk zu treiben unterfing. Aufgebrochene Kisten und zerschlagene Fässer lagen im Hof umher, welche die Soldaten hatten herausschaffen lassen. Während die einen in der Amtskellerei waren, die Schlösser zersprengten und jeden Winkel durchstöberten, standen die andern mit bloßem Degen im Hof, tranken den Wein aus ihren Sturmhauben und ließen dann die Fässer in den Hof auslaufen, oder banden die geraubten Sachen in Bündel, und dabei fluchten und zankten sie so gotteslästerlich durcheinander, daß der schöne Schloßhof, in dem man sonst nur die Knaben und Mädchen singen und jauchzen hörte, wenn sie unter den großen Linden in den Sommerabenden ihr Spiel trieben, in einen wahren Höllenpfuhl verwandelt zu sein schien. Ich fragte eben meinen Nachbar Gebhart, was das bedeute und wo das alles hinaus wolle, als der Hauptmann Paradeiser und einige seiner Spießgesellen den Amtskeller aus dem Hause in den Hof zerrten und dabei jämmerlich mit Fußtritten und Kolbenstößen traktierten. „Wo ist das Geld?“ schrien sie durcheinander; „wo sind die tausend Taler, die Ihr gestern von Würzburg mit heimgebracht? Her damit, Ihr alter Leuteschinder, oder wenn Ihr noch länger Ausflüchte macht, wollen wir Riemen aus Eurer Haut schneiden!“ — Der Amtskeller bat um Barmherzigkeit; sie möchten’s ihm zu gut halten, daß er seine Pflicht tue, das Geld sei nicht sein, sondern der Herrschaft, das er nimmer und nimmer hergeben dürfe. Der Hauptmann aber warf ihn zu Boden, kniete ihm auf die Brust, zerrte ihm die Halskrause aneinander, und indem er ihm den Degen auf die Kehle setzte, schrie er mit erschrecklicher Stimme: „Noch ein Vaterunser lang geb ich Euch Zeit, wollt Ihr dann noch nicht bekennen, fährt Euch mein Degen in den Hals, so wahr ich Nikol Paradeiser heiße!“ Jedermann[S. 48] sah, daß es Ernst war, denn an Erbarmen war bei dem Menschen nicht zu denken. Unter dem steifen Schnauzbart quoll ihm der Geifer hervor und tropfte auf den Amtskeller, der totenbleich sich unter seinen Knien wand, und seine Augen fuhren umher wie die Augen eines Tigers, ob ihm jemand seinen Raub zu entreißen wage. „Helft, ach helft ihm, Herr Schulmeister!“ rief des Amtskellers Weib, die mit ihrem Söhnlein eben in den Hof gerannt kam, „helft, er hätt’ es Euch auch getan!“ — „Herr Amtskeller,“ rief ich über das Gitter hinüber, „gebt in Gottes Namen das Geld her, die Herrschaft will lieber das Geld, als einen so treuen Diener verlieren. Wir alle sind Zeugen, daß Ihr Eure Schuldigkeit redlich getan habt!“
Wirklich sagte der Amtskeller, man solle ihn loslassen, dann wolle er der Gewalt weichen, ging mit dem Hauptmann ins Haus und gab ihm die Geldkiste, die er in der Eile, als er das Gesindel kommen sah, unter einer aufgehobenen Diele verborgen hatte. Als der Hauptmann das Geld brachte, erhob die Bande ein lautes Freudengeschrei, sprang auf die Pferde und war im Nu wieder davon.
Es war das alles so schnell gekommen, daß wir gar nicht wußten, wie uns geschehen war. Einige, die das Lärmzeichen nicht gehört hatten, schalten über den Torwart, der geschlafen haben müsse, weil er die Soldaten nicht die Straße heraufkommen gesehen und das Tor geschlossen habe, und schrien, jetzt müsse er vom Brot gejagt werden; ich aber sagte ihnen: den Torwart habe ein Größerer wie sie bereits vom Posten abgerufen und zur Rechenschaft gezogen, worin er meines Erachtens wohl mit Ehren bestehen solle. Sie sollen nur hinauf aufs Torhaus gehen, da würden sie ihn finden! Als sie das hörten, tat’s ihnen sehr leid, den alten Mann beschuldigt zu haben. — Es war aber offen[S. 49]bar, daß sich die Bande, um nicht von dem Veit erblickt zu werden, wenn sie die Straße heraufziehe, die Nacht hindurch in der Schlucht hinter dem Kirchhof verborgen gehalten und daselbst gelauert hatte, bis das Tor aufgetan würde. Die beiden Weinbergshüter hatten sie niedergeschlagen und mein Söhnlein fangen wollen, damit kein Lärmen entstünde, bevor sie das Tor überfallen hätten, der Schuß aber war ein Zeichen gewesen für den Haufen, aus dem Hinterhalt hervorzubrechen, ehe noch der Torwart, von meinem Söhnlein gewarnt, das Tor wieder schließen könnte. Alles dieses war ihnen nur zu gut gelungen.
Seine Mutter kniete neben dem Leichnam und schluchzte heftig (10. Kap.)
Da allenthalben in der Gegend noch das schwedische Volk war, so war, wiewohl Raub und Gewalttat in dieser bösen Zeit — Gott sei’s geklagt! — etwas Alltägliches war, doch das unerhört, daß diese Kaiserlichen am hellen Tage mit Blutvergießen in einen friedlichen Ort eingebrochen waren, ohne einen andern Grund, als Geld zu rauben, und die Bürgerschaft machte sich in lauten Klagen und Verwünschungen Luft über ein solches Unterfangen, der Amtskeller aber rief: hier sei der Verrat schlimmer als die Tat. Einer aus hiesigem Orte müsse der Judas an seiner Herrschaft und Heimat geworden sein, denn der Spitzbube, der ihn so mißhandelt, habe alles gewußt. Wer der falsche Verräter gewesen, könne er sich zurzeit noch nicht denken, da niemand um das Geld gewußt, als Valentinus Gast, sein Schreiber, mit dem er es von Würzburg geholt. Aber ans Licht müsse der Verräter kommen, eher wolle er sein Haupt nicht ruhig niederlegen, und seinen Lohn müsse er auch empfangen, sonst müsse kein Gott im Himmel sein!
Ich weiß nicht warum, aber bei dem Worte „Verrat“ lief es mir eiskalt über den Rücken. Jetzt, wo über unser evangelisches Häuflein in Limburgischen Landen ohnehin[S. 50] alle Wetter gingen, wo ich unser armes Volk einer Herde vergleichen mußte, die wider das Unwetter ängstlich nach einem Dach, oder auch nur nach einem Baume sucht und darunter sich fest zusammenstellen muß, um eines des andern Stütze zu sein, jetzt fiel es mir unmöglich zu glauben, daß einer von uns ausgegangen sein könnte, um an seinen geängsteten Brüdern ein Blutgeld zu verdienen, und gleichwohl zitterte mein Herz in mir bei solchem Gedanken. Ich schaute rings um mich her, wie wenn dem Schuldigen die Tat mit schwarzem Brandmal auf der Stirne müßte geschrieben stehen, aber ich sah kein Kainszeichen, und gleichwohl konnte ich mich einer unsäglichen Angst nicht erwehren. Ich sah mich auch um nach meinem Sohn Valentin, weil er daheim gesagt, er wolle dem Kriegsvolk nachgehen, — aber ich sah ihn nirgends.
Während alles dieses sich zutrug, war des Hans Mündleins Weib mit ihren Kindern und den Nachbarsleuten hinaus in das Weinberghäuslein gegangen, und sie brachten nun ihren Mann und ihren Sohn auf zwei Bahren getragen. Der Sohn war wirklich verschieden. Sie hatten den Klaus mit seinem Mantel zugedeckt und trugen ihn auf das Rathaus, wohin auf des Amtskellers Geheiß auch die Leiche des Torwarts getragen wurde. Den Anblick, welchen ich da gehabt, werd’ ich zeitlebens nicht vergessen.
Der Klaus lag in der Mitte des Saales auf der langen Tafel, und der Chirurgus hatte ihm die Brust entblößt, um die Wunde zu untersuchen, an welcher er hatte sterben müssen. Er war im Leben ein frommer und getreuer Mensch gewesen, und ein guter, wohlgeratener Sohn, und hatte im vergangenen Winter, als der Vater an der Gicht darniederlag, die Mutter und seine jungen Geschwister durch seiner Hände Arbeit erhalten, weshalb auch sein Vater, der alte Hans, während sie ihn mit dem toten Sohn hereintrugen, beständig gerufen: „Mein Sohn, mein Sohn, wollte Gott, ich wäre für dich gestorben!“ Seine Mutter kniete neben dem Leichnam, hatte ihr Angesicht verhüllt und schluchzte heftig, indem sie ihres Sohnes Hand ergriffen hatte. Zu seinen Häupten stand des Jakob Friesen Margarete, ein ehrbares, sittsames Mägdlein, welches seit Jahr und Tag des Klaus Verlobte gewesen: in ihren Augen war keine Träne zu sehen, aber auch kein Blutstropfen in ihrem ganzen Gesicht, sondern sie stand starr und unbewegt auf einem Fleck, als ob ihr Geist auch nicht mehr in seiner Hülle weilte, sondern mit dem ihres Verlobten bereits hinübergegangen wäre. Die Geschwister alle weinten laut, daß es zum Erbarmen war, nur sein jüngstes, noch nicht dreijährige Brüderlein stand still der Mutter gegenüber, und hatte ein Fähnlein in der Hand, das der Klaus erst gestern abend ihm verfertigt, und schaute verwundert bald auf den toten Bruder, bald auf den Chirurgus, bald wieder auf seine schluchzende Mutter.
Ich weiß kaum, was am meisten mich erbarmte, die weinende Mutter, oder die bleiche, stille Margarete, oder der kleine Kaspar, der neben dem erschlagenen Bruder mit seinem Fähnlein spielte. Man hätte einen Stein in der Brust haben müssen, wenn man bei diesem Anblick nicht[S. 52] geweint hätte. Es standen auch Frauen und Männer aus dem Flecken um die Trauernden herum und stimmten teilnehmend mit ein in ihre Klagen, oder in das Lob, das sie dem Verstorbenen gaben, auch sah ich nun den Valentin unter ihnen, der sich an einem Stuhle festhielt und am ganzen Körper zitterte. Ich wunderte mich nicht darüber, weil der Klaus immer ein guter Kamerad von ihm gewesen und sie miteinander zur Schule sowie auch nachher zum ersten Nachtmahl gegangen waren.
Den Veit hatten sie ein wenig abseits auf eine andere Tafel gelegt. Ich habe gar oft schon beobachtet, wie bei denen, die in dem Herrn sterben, wenn sie auch des Todes Bitterkeit stark schmecken und einen harten Kampf kämpfen müssen, alsbald, nachdem sie den letzten Atemzug getan, das Angesicht sich ausheitert und der Friede des Herrn sich über dasselbe bereitet. Doch habe ich das noch nie so deutlich wahrgenommen, als bei dem Torwart. Seine langen, weißen Haare, die vom Blute zusammengeklebt waren, gemahnten allein noch daran, daß er eines gewaltsamen Todes gestorben, — sonst schien er zu schlafen. Seine Augen hatten sich geschlossen und sein Mund lächelte, wie wenn er sagen wollte: „Ich liege und schlafe nun ganz im Frieden!“ Da er ein alter Mann war und keine Verwandten hinterließ, hatte man über dem Klaus ihn ganz vergessen; nur sein alter Wolfshund, Fidelis genannt, den er aufgezogen und mit dem er Jahre lang sein spärliches Brot geteilt, stand neben ihm und hatte seine schwarze Schnauze in die rechte Hand seines Herrn gelegt, die ihn täglich gefüttert hatte.
Ich wußte mich nicht zu fassen vor großer Traurigkeit, denn ich gedachte an das getreue Herz, welches der Alte mir und den Meinen stets bewiesen, an seinen merkwürdigen Traum und an sein grausames Ende und wie er ster[S. 53]bend noch mit mir und meinem Söhnlein so freundlich gesprochen. Wie ich weinte, hob auch der Fidelis seinen Kopf auf und fing an, leise, aber kläglich zu heulen, wie wenn das treue Tier Menschenverstand hätte und um seinen erschlagenen Herrn mir wollte klagen helfen.
Ich winkte dem Valentin herüber und sprach zu ihm: „Du darfst nicht bloß trauern um den Gespielen, siehe, dieser alte, getreue Freund ist auch deiner Tränen wert!“ Ich erzählte ihm, wie dem Alten sein Ende vorgegangen, wie ihm vor kurzem geträumt, daß er dem Johannes durch seinen Tod das Leben retten werde, und wie das alles nun eingetroffen durch das schändlichste Bubenstück, das jemals erhört worden; — da sah aber mein Sohn erschrecklich aus, wollte nichts weiter hören, sondern ging durch die Leute hin zur Türe hinaus, wobei er hin und her wankte, als wenn er vor plötzlicher Schwäche umfallen und zu Boden sinken wollte.
Es kam nun der Chirurgus und untersuchte auch den Veit und sagte, daß ihm die Hirnschale zerschlagen sei, da ich aber sein Hantieren an meinem guten Freund nicht mitansehen mochte, wollte ich mich eben nach Hause begeben, um nach Weib und Kind zu sehen, da trat ein Mann von Erlach in den Saal und wollte mit dem Amtskeller sprechen. Auf dessen Befragen: was er bringe? sagte der Mann: er habe nach Sommerhausen gehen wollen, Brot zu kaufen, da sei inmitten des Tannenwaldes ein Trupp Reiter ihm begegnet, die ihn angehalten und gefragt hätten, wo er hingehe. Als er gesagt: „gen Sommerhausen“, habe einer, der einen langen Schnauzbart und eine Feder auf dem Hut getragen und der Hauptmann geschienen, ihn weiter gefragt, ob er Valentinum Gast, den Schreiber bei dem Amtskeller, kenne. Er habe gesagt: ja, er kenne ihn wohl, er habe[S. 54] ihn schon oft mit dem Seinsheimischen Jäger von Erlach gehen sehen, worauf der Fragende ihm aufgetragen, dem Valentin zu sagen, sie hätten bereits eine halbe Stunde vergeblich auf ihn gewartet, könnten aber hier nicht mehr länger halten, er solle kommen und seinen Teil in Empfang nehmen. Weiter habe er ihm aufgetragen, dem Amtskeller zu sagen, er solle den Schreiber ihm überlassen, weil er besser zu einem Freibeuter passe als zu einem Federfuchser. Er sei der Hauptmann Nikol Paradeiser, und wenn der Amtskeller Verlangen danach trage, wolle er bald ihn wieder besuchen und selber die Sache mit ihm ins reine bringen. Drauf seien sie lachend weitergeritten, wobei er den Hauptmann noch habe sagen hören: „So! nun ist das Vögelein an der Leimrute hangen geblieben! Geht’s nicht im Guten, muß es im Bösen gehen!“ Auf der Straße sei er dem Schreiber begegnet und habe den Auftrag ihm ausgerichtet; dieser habe ihm nichts geantwortet, sondern sei eilends nach Hause gegangen.
Hans Ebeling, der Türmer und Nachtwächter hiesigen Ortes, war während des Mannes Rede zu mir getreten, hatte mich bei der Hand genommen und gesagt, er wolle mir’s nicht länger verhalten, es sei ihm der Hauptmann gleich bekannt vorgekommen, — er habe nur nicht recht gewußt, wo er ihn hintun solle; jetzt aber besinne er sich ganz genau, er habe verwichenen Samstag durchs Fenster der Schenkstatt geschaut, worin noch spät in der Nacht Licht gebrannt, und da habe er den Paradeiser nebst dem Valentin und dem Jäger über den Karten sitzen sehen. Es sei aber der Hauptmann nicht wie ein Soldat angezogen gewesen, sondern er habe ihn etwa für einen reisenden Studiosum angesehen.
Wie es dem Priester Eli zumute gewesen, als die Bot[S. 55]schaft ihm gebracht wurde: „Israel ist geflohen vor den Philistern und deine zwei Söhne sind gestorben, dazu die Lade Gottes ist genommen!“ oder dem Erzvater Jakob, als er seines Sohnes Joseph bunten Rock sah und die Brüder sagen hörte: „Diesen haben wir gefunden, siehe, ob es deines Sohnes Rock sei oder nicht!“ so war’s mir zumute, als ich das alles mit anhörte. Der Amtskeller und sämtliche Anwesende brachen in ein großes Geschrei der Verwunderung und des Zornes aus, des Klaus Mutter stand auf und streckte die Hand gen Himmel, wie um den Mörder vor Gottes Gericht zu verklagen, ich aber hörte in meinen Ohren ein Brausen, wie eines gewaltigen Stromes, das Haus schien mir zu wanken und die Decke einzustürzen, und vor meinen Augen ward’s dunkel und immer dunkler, so daß ich zuletzt nichts mehr in der Stube sah, denn allein den Veit auf dem Tisch liegen mit seinen weißen, blutigen Haaren und seinem lächelnden Mund, und wenn ich ihn so ansah, war mir’s, als ob er spräche: „Ich weiß jetzt auch alles, solchen Lohn hab ich nicht verdient um dich und deine Kinder!“
Als der Amtskeller und die übrigen Leute sahen, wie mir’s ward, hatten sie doch ein Erbarmen mit mir und wollten mich trösten, ich aber ermannte mich wieder und rief: „Ich kann’s nicht glauben, ich kann’s nicht glauben! Zu einem Dieb und Verräter hab ich kein Kind groß gezogen!“ bat sie, mit nach Hause zu gehen, wo mein Sohn sich rechtfertigen solle.
Es nahm mich nun der Amtskeller und der nun selige Theodoricus bei den Armen und führten mich nach Hause. Da aber sah ich, daß der Herr nicht bloß zum Schein die Geißel über mir geschwungen, sondern daß er in seinem Rate beschlossen, mich und die Meinen damit bis auf die[S. 56] Knochen zu schlagen. Unter der Türe begegnete mir mein Johannes, den seine Mutter ausgeschickt, daß er eilends mich heimrufen solle, denn der Valentin war soeben mit einem kleinen Bündlein aus seiner Kammer gekommen, hatte ausgesehen wie ein Geist und meinem Johannes, der ihm auf der Treppe begegnet und in den Weg getreten war, gesagt, er solle Vater und Mutter grüßen, er selbst müsse fort in die weite Welt und werde niemals sie wiedersehen! Auf diese Nachricht hin hatte nun mein Weib nach mir ausgeschickt und verging fast vor Angst.
Ich war nur so lange meines Schmerzes Meister, bis ich meinem Weib und meinen Kindern mitgeteilt, was ich wußte und vermuten mußte, und bis die andern sich entfernt hatten. Dann aber brach meine Kraft, und die Stärke meiner Seele schmolz unter der Anfechtung wie ein fließend Wachs, und ich konnte nur händeringend auf und ab gehen und einmal um das anderemal ausrufen: „Ikabod, Ikabod! Die Ehre ist von meinem Hause gewichen!“ (1. Sam. 4, 21.)
Was an diesem Tage in meinem und meines Weibes Herzen vorgegangen, ist nur Gott bekannt. Oft mit Sorgen, aber doch allezeit mit Ehren waren wir bisher auf unsern Wegen gewandelt, jetzt waren wir ein Spott der Leute geworden. Umsonst hatte ich gebetet:
Ach, das war kein Kleines! — Dazu kamen die inneren Anfechtungen. Gibt es Eltern, die, wenn ihnen ein Kind auf böse Wege gerät, sich dessen getrösten können, daß sie ihre elterliche Pflicht durchaus und allewege getan haben, so weiß ich’s nicht, — ich wenigstens konnte dieses Trostes nicht froh werden. Manches Versehen, das ich begangen hatte in der Zucht meines Sohnes, und dessen ich sonst wenig geachtet, stand jetzt vor mir wie ein Gespenst und ängstigte mich dermaßen, daß ich den Valentin entschuldigte und nur mich verdammte. Einmal dachte ich, du hättest den Knaben von Anfang an nicht zum Handwerk bestimmen sollen, wozu er doch einmal nicht taugte, und ein andermal wieder dachte ich, du hättest ihn beim Handwerk lassen sollen, so wär’ er nicht hoffärtig geworden und nicht in die schlechte Gesellschaft geraten! Einmal klagte ich mich an, daß ich nicht streng genug, und dann wieder, daß ich nicht lind und gütig genug gegen ihn gewesen, und warf mich bald auf diesen, bald auf jenen Gedanken, und immer war ein Stachel darin, der sich grausam in mein Herz bohrte.
Meine Kinder saßen betrübt hinter dem Tisch, ließen Essen und Trinken unangerührt stehen und wagten nur leise und verstohlen ein Wörtlein miteinander zu reden. Wollte ich aber meinen Jammer ganz ermessen, mußte ich mein Weib ansehen. Drei Stunden lang saß sie da mit in den Schoß gelegten Händen, starr vor sich hinsehend, ohne ein Wort zu sprechen, wie ein marmornes Bild, und was ich auch sagen mochte, sie konnte nicht einmal weinen. Endlich,[S. 58] als es auf Mitternacht zuging, sagte sie: „Nun wird’s mir besser werden: sie schlafen jetzt alle, und denken nicht mehr an uns und den Valentin. Ach, daß ich nun meinen Gott finden und weinen und beten könnte, daß er uns nicht verlasse!“ Gegen Morgen, als sie vor großer Mattigkeit ein wenig entschlummert war, fuhr sie plötzlich aus dem Schlafe auf und rief, nach Hilfe schreiend, meinen Namen, dann, als sie wieder ein wenig zu sich gekommen war, sagte sie schluchzend: sie habe den Valentin gesehen, — er sei mit einem Trupp Reiter an ihr vorübergeritten, und da er sie habe stehen sehen auf der Tuchbleiche, habe er sich zu ihr gewendet und gerufen: „Lieb Mütterlein, hier bin ich wieder!“ Der Hauptmann aber und die andern hätten ihn festgehalten und im schnellen Jagen mit fortgerissen, während er noch immer sich rückwärts gewendet und die Hände nach ihr ausgestreckt habe.
In meine Augen war in dieser Nacht kein Schlaf gekommen, sondern ich hatte mit dem Herrn gerungen, wie der Erzvater Jakob an der Furt Jabok, und wie oft auch Zweifel und Kleinglaube zwischen ihn und mich sich stellen wollte, wie eine Wand, rief ich immer wieder: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!“ Als nun die Morgenröte anbrach, war’s in meiner Seele heller geworden, und in allem herzzerreißenden Jammer spürte ich doch einen großen Frieden, daß ich mein Anliegen in guter Zuversicht dem Herrn empfehlen konnte.
Auch mein Weib konnte ich jetzt trösten; vorher hatte mein Trost nichts bei ihr ausgerichtet, weil mein eigen Herz schwach geworden war und zweifelte: denn Gottes Wort, wenn ein Kleingläubiger es braucht, ist wie ein schweres, gewichtiges Schwert in der Hand eines Knaben, — es kann nicht treffen und durchdringen; jetzt aber hatte der Herr[S. 59] meinen Glauben gestärkt und einen Segen gelegt auf mein einfältiges Wort. Ich hielt ihr auch St. Augustini Beispiel vor, der zum Jammer seiner gottesfürchtigen Mutter heimlich in das verderbte Rom sich begeben hatte, wo ihrer Meinung nach er an Leib und Seele verderben mußte, den aber Gott gerade dort so zu führen beschlossen hatte, daß der verlorene Sohn in sich schlug und zu dem Herrn, seinem Gott, sich bekehrte. So beschlossen wir denn für den unsrigen zu beten ohne Unterlaß und fest zu vertrauen, daß Gott die Tränen und die Bitten betrübter Eltern nicht verachten werde. Drauf rief mein Weib die Kinder, jedem sein Geschäft anzuweisen, — ich aber ging in die Schule.
Ich weiß nicht, ob du, lieber Leser, es schon erfahren hast, aber Trübsal von dem Herrn gesendet, hat für den Menschen außer vielem andern auch den Segen, daß er seine Nebenmenschen mit ganz andern Augen ansieht, wie sonst. Es wird das Herz warm gegen sie und mild gegen ihre Fehler, und je tiefer wir gedemütigt werden, desto höher steigen sie in unsern Augen. Ich werd’s nimmer vergessen, mit welch herzlicher Liebe, ja mit welch heiliger Ehrfurcht ich die armen, teils verhungerten, teils in Lumpen gehüllten Kindlein ansah, die in dieser Zeit des Jammers zu mir in die Schule gingen, als Geschöpfe und Kinder desselben großen Gottes, der auch mein Schicksal in seinen Händen hielt. Beweglicher denn jemals konnte ich heute mit ihnen reden von dem Gott, dessen Wahrzeichen lautet: Holdselig den Freunden, erschrecklich den Feinden!
Während der Schule aber wurde ich von meinem Weibe hinausgerufen, die mir voll Schrecken erzählte, am obern Tor sei ein großer Zusammenlauf von Menschen. Ein fremder Mann halte dort mit seinem Karren und habe[S. 60] den Jäger darauf liegen, dem der Hals umgedreht sei: sein Gesicht sehe ganz blau aus, und die Augen ständen ihm vor dem Kopf, und die Bürgerschaft wolle ihn nicht in den Flecken lassen, weil sie in dem Glauben stünden, der erschreckliche Mensch habe einen Bund mit dem Bösen gehabt, und der habe ihn jetzt erwürgt, weil seine Zeit um gewesen. Auf diese Nachricht eilte ich flugs hinauf an das Tor, — dort fand ich’s, wie mein Weib gesagt, der fremde Mann aber mit dem Karren war, wie ich hörte, der Meister von Sulzdorf. Er erzählte: es seien heute morgen einige Holzhauer zu ihm nach Sulzdorf gekommen, hätten ihn geheißen seinen Karren anzuspannen, und hätten ihn dann in die Tannen hinausgeführt, wo er den Jäger, rücklings über einen Baumstamm liegend, mit herabhängendem Kopf und erwürgt gefunden. Weil der Baumstamm auf der Sommerhauser Markung lag, habe ihm der Schultheiß von Erlach, der auch schon dort gewesen, Befehl gegeben, den Leichnam nach Sommerhausen zu fahren, weil sie ihm keinen Platz auf ihrem Gottesacker geben würden, und weil auch keiner der Bauersleute sich dazu verstanden, ihn nur mit einem Finger anzurühren! — Das habe er nun getan, und die Sommerhäuser könnten nun jetzt mit dem Jäger anfangen, was ihnen gut dünke. Da nun die Bürgerschaft schrie: sie wollten ihn auch nicht, er solle ihn in den Main werfen oder auf den Schindanger tragen, sagte Meister Hämmerling: „Tut ihr’s selber, oder siedet oder bratet ihn meinetwegen!“, stieg auf seinen Karren, nahm den Jäger bei den Füßen und warf ihn wie einen toten Hund auf die Straße, — dann setzte er sich neben seinen Karren, zog ein Stück Brot aus der Tasche und fing an zu essen, als ob er sich nun weiter um nichts mehr kümmern wollte.
Da nun kam ein altes Bettelweib des Weges, von Goß[S. 61]mannsdorf gebürtig, die in der ganzen Gegend vor der Leute Häusern mit Beten und Singen ihr Brot suchte. Wie die den Jäger erblickte, bekreuzigte sie sich, schlug ein lautes Geschrei auf und gebärdete sich wie unsinnig vor Schrecken: den habe gewiß der leibhaftige Teufel geholt. Gestern sei sie im Wald, etwas abseits vom Wege, unter einem Baume gesessen, um ein wenig zu verschnaufen, da sei alsbald der Jäger gekommen, habe sich auf einen Baumstamm neben dem Weg gesetzt, einen schweren Beutel voll Geld herausgezogen und angefangen zu zählen. Er habe schon oft gedroht, wenn er sie wieder im Walde treffe, wolle er sie mit seinen Hunden zu Tod hetzen. Wie sie darum seiner ansichtig geworden, habe sie sich niedergekauert und sei auf Händen und Füßen weiter hinein in den Wald gekrochen, damit er sie nicht finde, und habe noch lange das Geld klingen hören, so still sei’s im Walde gewesen. Drauf habe sie einen Schrei gehört von dem Wege her, wo der Jäger gesessen: sie habe aufgehorcht und des Jägers Stimme zu hören vermeint, habe aber nichts weiter vernommen, als ein starkes Schnaufen und ein Geräusch, wie wenn Leute mit schweren Stiefeln den Boden stampften. Dann aber sei noch ein Schrei gekommen, daß sich ihr das Haar auf dem Kopf gesträubt, und sie alle Heiligen im Himmel um Hilfe angerufen habe, habe sich auch nun nicht lange mehr gesäumt, sondern sei eilend den Berg hinuntergelaufen und nicht eher stille gestanden, als bis sie nach Kleinochsenfurt ins Wirtshaus gekommen, wo sie ihrer Base alles erzählt und gebeten hätte, sie in ihrer Kammer auf dem Stroh schlafen zu lassen, weil sie sich allein nicht mehr über die Schwelle getraut und immer noch den Schrei in ihren Ohren habe klingen hören.
Mittlerweile hat Georg Ebert, der Schmied, mit[S. 62] einem Stecken des Jägers Halskrause aneinander gemacht und schrie, den habe der leidige Satan erwürgt, denn solche Spuren hinterlasse keines Menschen Finger! Es waren auch so große, schwarz unterlaufene Flecken an seinem Hals sichtbar, daß man billig des Schmieds Meinung hätte sein können. Der Amtskeller sagte zwar, dieselben könnten auch von dem eisernen Handschuh eines Soldaten herrühren, aber soweit bekannt, war kein Kriegsvolk in die Tannen gekommen als des Paradeisers Leute, und mit dem war der Jäger nach Hans Ebelings Aussage gut Freund gewesen.
Wie dem auch sein mochte, — hier hatte Gott gerichtet und sein Wort erfüllt: Die Gottlosen nehmen ein Ende mit Schrecken! Ich hätt’s ihm gerne gegönnt, wiewohl er mir armem, geschlagenem Mann viel Leids getan, wenn ihm noch wäre eine Frist gegeben worden, zu bereuen und durch des Mittlers Blut sich zu reinigen von seiner Missetat und eines bessern Todes zu sterben, aber „wer hat des Herrn Sinn erkannt und wer ist sein Ratgeber gewesen? Wie gar unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege!“
Nachdem noch viel Streitens und Hin- und Herredens gewesen zwischen der Bürgerschaft und dem Amtskeller, ward der Leichnam wieder dem Meister übergeben, damit er in einer Ecke des Gottesackers, wo sonst kein ehrlicher Christenmensch hin begraben ward, eingescharrt würde, was nun auch am folgenden Tage geschah. Nachdem er in die Grube gelegt worden, wurde die Erde über ihn von den Schindersknechten wieder eingestampft, — es steht kein Kreuz darauf, ja es will nicht einmal das grüne Gras da wachsen, das sonst der Christen Grab überzieht, sondern nur ein häßlicher Dornstrauch hat sich darüber gebreitet und deckt[S. 63] die Stätte zu mit seinen stachelichten Zweigen, wo des Jägers Gebeine liegen bis zum großen Tage des Gerichts.
Ich habe gesehen einen Gottlosen, der war trotzig und breitete sich aus wie ein Lorbeerbaum. Da man vorüberging, siehe, da war er dahin, ich fragte nach ihm, da ward er nirgend gefunden. Ps. 37.
Bis hieher, lieber Leser, bin ich weitläufig zu Werk gegangen und hab dir meine und meines Sohnes Geschichte mit vielen Worten erzählt, über die nächsten sieben Jahre aber will ich dich um so schneller hinüberführen.
Wenn du nun das lesen wirst, was ich dir zu erzählen habe, könntest du vielleicht meinen, gerade in diesen nun folgenden Jahren habe die Geißel des Herrn mich am härtesten geschlagen, — aber dem ist nicht so. Jetzt ist nicht mehr durch des Satans List und Bosheit mir die Trübsal bereitet worden, sondern allein von meines Gottes Weis[S. 64]heit und Güte, jetzt hab ich den bittern Kelch, der mir voll geschenkt ward, mit gutem Vertrauen trinken und wiewohl betrübt bis zum Tod, dennoch beten können: Was mein Gott will, das g’scheh’ allzeit, sein Will’, der ist der beste!
Unsere Nachkommen werden’s einst nicht glauben wollen, was wir, die Väter, um des teuren evangelischen Glaubens willen für Unruhe, Angst und Not haben ausstehen müssen. Nicht bloß unser zeitlich Hab und Gut, sondern auch, — das weiß Gott! — unser Blut und unsere Tränen hängen an diesem Kleinod, und wenn einst die Zeit käme, in der evangelische Christen dasselbe nicht mehr in Ehren halten würden als ihr Bestes, so müßte unser Fleisch und Blut ausgestorben sein, und ein fremdes Volk in den Hütten seiner Väter wohnen.
Wie der geneigte Leser aus dem Vorhergehenden sich wird abgenommen haben, war durch den Religionskrieg des Elends und des Jammers seit schier fünfzehn Jahren genug und übergenug über den hiesigen Flecken und die hiesige Gegend gekommen. Man war darum sozusagen mit dem Elend, dem Hunger und der Gefahr gut Freund geworden, und hatte es beinahe vergessen, daß einst Zeiten gewesen, wo man seiner Hände Arbeit froh ward, wo man am Abend sein Haupt ruhig niederlegen konnte, ohne an Brand und Plünderung zu denken. Doch war das alles fast für nichts zu achten gegen die Drangsale, die als Gottes Gerichte Anno 1634 hereinbrachen.
Unser Nachbar, der Schreiner, brachte ein Kreuz (13. Kap.)
Am 6. September dieses Jahres verlor die schwedische Armee die blutige Schlacht bei Nördlingen, und nun zog das von dem edlen Schwedenkönig verjagte kaiserliche Heer wieder allenthalben her gegen die hiesige Gegend heran. Es haben auch die Schweden hier viel Unfug verübt, haben das Dörflein Lindelbach geplündert, den Kelch[S. 65] aus der Kirche geraubt und die Hostien mit Füßen getreten. Solches geschah aber meist nur von einzelnen bösen Buben, wie sie bei jedem Heere gefunden werden, und wurde mitunter streng bestraft. Vornehmlich solange der König Gustavus Adolphus noch lebte, hatte die schwedische Armee den Ruhm, daß bei ihr auf Gottesfurcht und Manneszucht gehalten wurde: der geborene Schwede oder Finnländer, als sie zuerst zu uns kamen, betete stets, ehe er an den Tisch sich setzte, und wenn er gegessen hatte, reichte er dem Hauswirt und der Hauswirtin die Hand und dankte freundlich für die empfangene Bewirtung. Das kaiserliche Volk aber trieb den Krieg als ein Handwerk, war im Kriegslager aufgewachsen, verachtete den Bürger und fürchtete weder Gott noch Menschen.
Am 8. September nun brachen hundertundfünfzig Mann dieses Volkes, zu dem Reiterregiment des Grafen Piccolomini gehörend, im hiesigen Städtlein ein. Mit Schreien und Schießen jagten sie durch die Straße, dann legten sie sich in die Häuser und fingen an also zu wirtschaften, daß man an allen Ecken und Enden um Hilfe rufen hörte. Nicht allein, daß sie die Leute zwangen, alles, was an Lebensmitteln und Geld vorhanden war, herbeizuschaffen, sondern sie plagten auch diejenigen, welche selber kaum mehr wußten, wie ein Stücklein Brot schmeckte, aufs ärgste, mißhandelten schändlich die Weiber, schlugen die Männer, die sich in der Verzweiflung zur Wehre setzten, stachen und schossen ihrer mehrere tot, ja, sie vergriffen sich sogar an den unschuldigen Kindlein. Nach zwei Tagen war kein Huhn, geschweige denn eine Kuh oder Geiß mehr übrig, in den meisten Häusern waren, als sie abzogen, die Fenster zerschlagen, die Türen ausgehoben, die wenigen Betten, die noch vorhanden waren, aufgeschnitten und die Federn auf[S. 66] die Straßen geschüttelt. Die Kellerei plünderten sie zuerst, hierauf den ganzen Flecken, und als sie endlich abzogen, und die Leute aus ihren Schlupfwinkeln hervorkrochen, hatte keiner mehr etwas übrig als das nackte Leben.
Zu unser aller Schrecken kam nun auch die Nachricht, daß in kurzem Kaiser Ferdinandus an der Spitze seiner Armee hier durchkomme und sein Quartier im Schloß auf einige Tage nehmen wolle, und jedermann wußte, daß man davon sich nichts Besseres, sondern nur noch Schlimmeres zu versehen habe, als man bisher schon erduldet. Da waren denn die meisten der Meinung, weil man doch nichts mehr als sein Leben zu retten habe, solle man sich in Gottes Namen auf die Flucht begeben und dem Feind die leeren Häuser übrig lassen, und machten denn wirklich sämtliche Einwohner sich zum Abzug fertig bis auf einige alte oder todkranke Leute, welche meinten, daß sie, wenn’s Gottes Wille wäre, daheim ebensowohl sterben könnten, als draußen. Da unser Pfarrherr Theodoricus wegen hohen Alters und großer Schwachheit sich schon länger hinwegbegeben hatte, beschloß ich auch mitzugehen, und gesellte mich mit meinem Weibe und den drei Kindern dem Zuge bei. Einige beschlossen, sich über den Main in den Gau zu flüchten, andere aber, darunter auch wir, hofften in Kitzingen und in den benachbarten Orten ein Unterkommen zu finden.
Vor dem untern Tore trennten wir uns darum in zwei Haufen. Als wir uns nun rechts wandten und den Steinbach hinangingen, und ich das Wehklagen der Leute hörte, von denen einige ihre Kinder, andere ihre Kranken trugen, so fiel mir David ein, wie er auf der Flucht vor seinem Sohne Absalom mit seinem Volk den Ölberg hinanzog und weinte, und als plötzlich ein kleines Getümmel entstand, und[S. 67] die Hintersten auf die Vordersten drängten, weil einer auf den Altenberg gestiegen war und das kaiserliche Kriegsvolk bereits von Ochsenfurt heranziehen sah, zog ich meinen Psalter aus der Tasche und betete laut dem Volk aus dem 27. Psalm vor: Der Herr ist mein Licht und mein Heil, vor wem sollte ich mich fürchten, der Herr ist meines Lebens Kraft, vor wem sollte mir denn grauen? Wenn sich schon ein Heer wider mich lagerte, so fürchtet sich dennoch mein Herz nicht, wenn sich Krieg wider mich erhebet, so verlaß ich mich auf ihn. Eins bitte ich von dem Herrn, das hätte ich gern, daß ich im Hause des Herrn bleiben möge mein Leben lang, zu schauen die schönen Gottesdienste des Herrn und seinen Tempel zu besuchen.
Es ward eine große Stille unter dem Haufen bei solchem Gebet, und alle hörten andächtig zu, manche auch kehrten sich um bei dem letzten Verse und schauten nach dem Gotteshaus, in dem sie getauft und zum heiligen Nachtmahl gegangen waren, und befahlen es in den Schutz des Allmächtigen, als aber Hans Ebeling, der Türmer, anhub zu singen:
da stimmte alles Volk vom Gipfel bis zum Fuß des Berges mit lauter Stimme ein, so daß selbst die Kranken, welche im Flecken zurückgeblieben waren, das Singen hörten, und mancher, dem der Abschied sauer geworden, sich wunderbar und wie von Gott selbst gestärkt und getröstet fühlte.
Auch unter uns ward eine große Freudigkeit bei diesem Lied; der Amtskeller trat zu mir und sagte, während ihm die hellen Tränen aus den Augen rannen, er habe nicht gemeint, daß Singen und Beten also einen Menschen trösten könne im Unglück, worauf ich erwiderte: darum sende es eben der Herr, damit man singen und beten lerne. Es war dies das letzte Wort, das ich mit diesem Manne gesprochen, — denn er ist nicht mehr heimgekommen, sondern in Kitzingen krank geworden und gestorben, wovon ich später, ach! nur zu viel, werde zu erzählen haben.
Auf der Höhe angekommen, gingen wir auseinander, ein jeder dahin, wo er einen Freund oder Blutsverwandten zu finden hoffte, ich aber ging mit den Meinen nach Kitzingen, wo Gott einem alten Mann, den ich nie zuvor gesehen, das Herz rührte, daß er uns in sein Haus nahm und vier Wochen lang mit Speise und Trank erquickte. Er hat Sebastian Popp geheißen und in der Vorstadt Etwashausen in der Krone gewohnt. Der Herr wolle es ihm vergelten tausendfältig!
Nach vier Wochen hörten wir, daß das kaiserliche Volk zum größten Teil wieder abgezogen, und daß ein großer Teil der Bürgerschaft wieder nach Sommerhausen zurückgekehrt sei; so wollten wir denn auch unserem Gastfreunde nicht länger zur Last liegen und machten uns auf den Heimweg.
Als wir den Steinbach heruntergewandert waren und an den Gottesacker kamen, fanden wir darin etliche Bürger beschäftigt, ein großes Loch zu graben. Die sahen ganz abgemagert und hinfällig aus, und keiner konnte lange arbeiten, sondern wie er den Spaten ein wenig geführt hatte, gab er ihn einem andern in die Hände und fiel wieder um auf den Boden. Da sie unserer ansichtig wurden, hatten sie anfangs eine große Freude, dann aber meinten sie: wir seien zur bösen Stunde gekommen, das abziehende kaiserliche Volk habe eine Seuche hinterlassen: es lägen noch viele kranke Soldaten im Städtlein, auch etliche von der Bürgerschaft habe die Seuche bereits ergriffen, dazu seien keine Lebensmittel mehr im Ort vorhanden, und sie selber könnten sich vor großer Schwachheit kaum mehr auf den Füßen halten. Sie hätten sich zusammengetan, diese Grube zu graben, weil mehrere Tote von dem fremden Volk in den[S. 70] Häusern lägen, der alte Merten Geuder, der Totengräber, sei selber auch gestorben. Wir teilten ein Laiblein Brot mit ihnen, — das verschlangen sie gierig und setzten dann wieder ihre Arbeit fort. Wir aber gingen unserem Hause zu und erfuhren bald, daß die Männer die Wahrheit gesprochen.
Das Kriegsvolk hatte einen noch viel grimmigeren Feind zurückgelassen, die Pest, und als nun fast die ganze Bürgerschaft nach und nach sich wieder eingestellt hatte, schritt sie durch die Gassen des Fleckens, wie weiland der Würgengel durch Ägyptenland. Bald war kein Haus mehr da, in welchem nicht ein Toter lag.
Da hab ich den Tod kennen gelernt in seiner schrecklichsten Gestalt. In meinem Beruf als Kirchendiener hatte ich schon manchen hinbegleitet auf den Gottesacker zu seinem Ruhebett. Da folgten die Hinterbliebenen, oft schwer betrübt, und standen um das Grab mit vielen Tränen. Aber obwohl es oft mein Herz erbarmte, wenn ich die Eltern ansah, die jetzt von ihrem Kinde, oder ein Kindlein, das von seinem Vater oder seiner Mutter Abschied nehmen mußte, kam es mir doch allezeit vor, so oft der Segen Gottes über die Toten abgesprochen wurde, als ob ihr Los ihnen aufs lieblichste gefallen, weil ja aus den Händen der irdischen Liebe in die Hände der himmlischen Liebe hinüberzugehen, kein hartes Geschick ist. Auch fiel mir beim Begräbnis der armen Häckersleute, die ich so manchen Sommertag auf den kahlen Weinbergen im Schweiße ihres Angesichts ihr mühevolles Tagwerk hatte tun sehen, immer der Spruch ein: Sie wird nun nicht mehr hungern und dürsten, es wird auch nicht mehr auf sie fallen die Sonne oder irgend eine Hitze, denn das Lamm mitten im Stuhle wird sie weiden und leiten zu dem lebendigen Wasser[S. 71]brunnen! Und das Leichenglöcklein kam mir vor wie die Feierabendglocke, nur daß es nicht, wie diese, der Gemeine, sondern einer einzelnen, ihrer Mühe entbundenen Seele galt.
Bei diesem Sterben aber, das die Pest unter uns brachte, mußte man der Worte gedenken: Das macht dein Zorn, daß wir so vergehen, und dein Grimm, daß wir so plötzlich dahin müssen. Wenn man es mit ansah, wie in einem einzigen Tag der Mensch gesund, krank und tot war, wie Vater, Sohn und Enkel, oder Herr und Knecht oft in einem Hause nebeneinander auf dem Stroh lagen, da konnte man in dem Tod nicht mehr den Boten des Herrn sehen, der, obwohl finstern Angesichts, doch gute Botschaft bringt und dem Taglöhner sagt, daß seine Arbeit aus sei, sondern den Schnitter, der die Sense ansetzt und die Menschen umhaut, wie das Gras auf dem Felde. Auch wurde jetzt nicht mehr über der Stätte der Verwesung Gottes Wort und Verheißung den Hinterbliebenen als ein Trost zuteil, sondern ohne Sang und Klang wurden die Leichen hinausgetragen, und die alle an einem Tag gestorben waren, in eine große Grube ohne Sarg und Totenkleid zusammengeworfen, so daß kein Hinterbliebener die Stätte wußte oder bemerken konnte, wo man einen der Seinigen zur Ruhe gebracht.
Was aber das Allerschrecklichste war, auch die Menschen waren wie umgewandelt. Anfangs gab man den Kranken Bibernell zu essen, weil einer in der Luft eine Stimme gehört haben wollte:
Als aber dies auch nicht oder nur wenig helfen wollte, stellten die Angehörigen, so oft einer an der Seuche erkrankte, ihm ein Krüglein Wasser an sein Bett und eilten aus seiner[S. 72] Nähe, und sobald er die Augen geschlossen hatte, ward er hinausgeschafft und eingescharrt, und selten war einer der Seinigen zugegen, der auch nur eine Träne um ihn vergossen hätte, ja es kam vor, daß der Vater dem Sohn und der Sohn dem Vater, wenn einer erkrankt war, die letzten Brotkrumen hinwegnahm, weil dem Erkrankten ja doch nicht mehr zu helfen sei.
Viele christliche Tugenden können zutage kommen in Zeiten der Trübsal, aber in welchem Menschen kein Christentum ist, bei dem wird die Selbstsucht offenbar, welche kein göttliches und kein menschliches Gebot mehr achtet. Die da meinen, das Menschenherz sei gut von Natur, die mögen lernen in solchen Zeiten, daß ein wildes Tier nicht grausamer und fühlloser sein kann als der Mensch, der seinen angeborenen Trieben nachgibt, weil ihn die Zucht des heiligen Geistes nicht gezähmt und die Kraft von oben ihn nicht umgewandelt hat.
Der Herr hatte beschlossen, daß mein Haus auch leer werden sollte: an einem und demselben Morgen wurden mein Weib und meine Töchter, Ottilia und Regina, von der Seuche befallen. Noch bevor es Abend ward, hatte der Heiland die beiden Kindlein zu sich kommen lassen, mein Weib aber litt noch etliche Stunden länger, jedoch ohne mich mehr zu kennen und ohne ein Wort zu reden, außer daß sie etlichemal mit starker Stimme: „Valentin! Valentin! Mein Sohn, mein Sohn!“ rief. Als es aber Mitternacht ward, richtete sie sich plötzlich auf in ihrem Bett, schaute mit gerötetem Antlitz über sich, als ob sie dort jemand gewahre, und rief laut, ihre Arme ausbreitend:
Dann sank sie in das Kissen zurück und war heimgegangen. —
so hatt’ ich an unserem Hochzeitstage in ihr Gesangbuch geschrieben: das war unser Ehevertrag gewesen, und treulich haben wir denselben alle beide gehalten, bis nach vierundzwanzig Jahren Gott selber ihn gelöst hat.
Wie mir’s war in jener Nacht, als ich mit meinem Johannes bald an das Bett seiner Mutter, bald an das seiner Geschwister trat, — ich weiß es nicht mehr. Der Herr hatte meine Seele betäubt, daß ich war wie ein im Schlaf Wandelnder. Folgenden Tags grub ich, Hans Ebeling und mein Söhnlein ein Grab aus, hart neben dem Grab des alten Veit, wickelten die Leichname in weißes Linnen und senkten sie ein unter Gebet und Tränen. Als wir damit zu Ende gekommen, brachte unser Nachbar, der Schreiner, ein Kreuz und sprach: „Schulmeister, das ist für Eures Weibes Grab. Mit ihrem gottseligen Wandel hat sie im Leben Christi Lehre geziert in allen Stücken, so soll auch sein Kreuz sie zieren in ihrem Tod!“ Ihm wolle auch der Herr seinen christlichen Liebesdienst lohnen am großen Tage der Vergeltung.
Da ich nun also mein Weib und meine beiden Kinder an der grausamen Seuche verloren hatte, wollte ich wenigstens mein Söhnlein Johannes zu retten suchen, wenn es Gottes Wille wäre, und beschloß, noch am selbigen Tag ihn nach Kitzingen zurückzuschicken, wo ich ihn bei dem Amtskeller, der sich immer noch dort aufhielt, um das Aufhören der Pest abzuwarten, wohl aufgehoben wußte. Ich[S. 74] ließ also den Knaben sogleich aufbrechen mit einem Boten, damit er noch vor einbrechender Nacht die Stadt erreiche.
Unter strömendem Regen gab ich ihm das Geleit den Steinbach hinauf. Oben angekommen machten wir unsern Abschied mit kurzen Worten, wandten uns aber beide um und schauten hinunter auf den Kirchhof, der im Tale zu unsern Füßen lag, und weinten. Der Regen hatte jetzt wieder aufgehört, und aus dem trüben Gewölke drangen ein paar Sonnenstrahlen heraus, und siehe! — mit einem Male stand über dem Tal ein schöner, glänzender Regenbogen, der mit dem einen Ende die Wolken berührte, mit dem andern aber in dem Kirchhof und, wie wir deutlich sahen, just auf der Stelle aufstand, wo wir vorhin das Grab gemacht hatten. Mein Söhnlein bemerkte dies zuerst und sprach: „Schaut hin, Vater, dort hat unser Herrgott eine feine Brücke aufgebaut, drauf meine herzliebe Mutter und meine trauten Geschwister hinauf ins lichte Paradies wandeln. O wie wollt’ ich, daß ich gleichfalls diesen Weg schon ginge, wenn nur Ihr auch dabei wäret, Vater!“ — „Wie Gott will, mein Kind, du meiner Augen Trost und Freude!“ erwiderte ich, dann segnete ich ihn und empfahl ihn dem gnädigen Gott und barmherzigen Menschen.
Der Mensch denkt’s und Gott lenkt’s! Der Amtskeller hatte meinen Sohn willig in sein Haus aufgenommen, aber schon nach wenigen Tagen brach die Seuche in Kitzingen auch aus. Ich bekam ein Brieflein von ihm, daß er es bei so bewandten Umständen für besser halte, mein Söhnlein zurückzuschicken, und da der Weg über den Berg mit dem Kriegsvolk belegt sei, wolle er ihn einem Schiffmann mitgeben, der in acht Tagen nach Würzburg fahre und an Sommerhausen vorbeikomme.
Den Brief erhielt ich zu spät, gerade am Morgen des[S. 75]selben Tages, an welchem der Schiffmann vorbeikommen sollte, ging also hinaus an den Main, um das Schiff zu erwarten. Endlich kam es. Ich dachte, mein Kind werde auf dem Verdeck stehen und nach mir ausschauen, — aber ich sah nichts, und da ich nach ihm fragte, führte mich der Schiffmann zu einem Schelch, der an dem Schiff angehängt und mit einem Tuch bedeckt war. Drin sah ich meinen Johannes liegen.
Ich fragte den Schiffmann, ob er schlafe. Aber er schüttelte mit dem Kopf; dann fragte ich, ob er krank sei, worauf er wieder mit dem Kopf schüttelte, bis ich endlich mir nicht länger es verbergen konnte, daß er tot sei. Der Schiffmann erzählte, es sei der Amtskeller seitdem an der Pest gestorben, hätte ihm aber noch vor seinem Tod aufs Herz gebunden, das Kind mit nach Sommerhausen zu seinem Vater zu nehmen. Da nun das Kind gleich nach ihm auch gestorben, hab er sich anfänglich geweigert, es mitzunehmen, der Mann aber, bei dem der Amtskeller gewohnt, habe nicht nachgelassen, bis er es mitgenommen, weil das Kind gar zu beweglich vor seinem Tod gebeten, man möge es doch nach Sommerhausen schaffen, wo es auf dem Kirchhof neben seiner Mutter und Geschwistern begraben sein wolle.
Da nahm ich den Taler, welchen ich aufgespart auf die Zeit, da ich meinen Johannes wieder bei mir haben würde, gab ihn dem Schiffmann und wünschte ihm einen Gotteslohn dafür, daß er meines Söhnleins letzten Wunsch erfüllt, dann nahm ich mein totes Kind auf die Arme und trug es heim in mein Haus. Ich weiß nicht, ob die Leute schon etwas davon erfahren hatten, — die mir begegneten, blieben stehen, redeten mich aber nicht an, sondern zogen ihre Hüte ab und schauten mir nach. Daheim schmückte ich mein Söhnlein, so gut ich konnte, legte ihm sein Psalmbüchlein,[S. 76] das er ganz auswendig konnte, unter die Hände, setzte mich zu seinen Füßen und konnte nicht weinen. Am Abend kam Hans Ebeling mit drei Nachbarn, die huben die Leiche auf, um sie auf den Gottesacker zu tragen. Ich ging hinter dem Sarg drein, auch folgten noch einige Knaben und Mägdlein, die meinen Johannes lieb gehabt, und noch übrig geblieben waren unter dem großen Sterben.
Als er nun an seiner Mutter Seite gelegt, und das Kreuz auf sein Grab gesteckt, und alles vorbei war, da ward mir’s, als ob die Bande zersprängen, die mir bisher die Brust zusammengeschnürt hatten. Aus meinem Herzen brach es siedheiß und lief durch alle meine Adern, aus meinen Augen quoll ein Tränenstrom, und ich fiel auf die Knie und sprach, wie es dort im Buch Baruch geschrieben steht: „Ziehet hin, ihr lieben Kinder, ziehet hin, ich aber bin verlassen und einsam, ich habe mein Freudenkleid ausgezogen und das Trauerkleid angezogen, und will schreien zu dem Ewigen für und für!“
Da trat Hans Ebeling zu mir und sprach: „Fahret fort, Ulrich, fahret fort, denn so heißt’s weiter im Wort des Herrn: ‚Ich hab euch ziehen lassen mit Trauern und Weinen, Gott aber wird euch mir wiedergeben mit Wonne und Freude ewiglich.‘“ Dann deutete er mit der Hand gen Himmel und rief: „Schauet da hinauf, lieber Bruder, und nicht bloß da hinunter! ‚Deine Toten werden leben, spricht der Herr.‘“ — Er redete noch viel mit mir auf dem Heimweg, und sein Wort hat mich wunderbar getröstet, wiewohl er nur ein geringer und einfältiger Mann war. Ich habe es wohl auch gewußt, was er mir vorhielt, aber wenn der Nächste das Trostwort uns darreicht, geht’s uns besser ein. Es ist der Mensch wie ein Kind, dem das Brot aus dem Nachbarhaus[S. 77] besser schmeckt als das eigene, ob’s wohl aus demselben Korne gemahlen und von demselben Meister bereitet ist.
Ich habe nun mich wohl auch gesehnt, abzuscheiden und bei Christo zu sein, aber dann dachte ich wieder, daß der Herr vielleicht mich aus großer Güte am Leben lasse um Valentins, des verlorenen Sohnes willen, und so wollt ich in Geduld und Warten meine Sache ihm anheimstellen. Von je an habe ich einen besonderen Trost darin gefunden, Gott zuweilen mit einem geistlichen Liede zu ehren und hierin — freilich mit großer Schwachheit — dem König David nachzuahmen, der auch in Psalm und Saitenspiel seine Freude und sein Trauern Gott darzubringen pflegte. So hab ich auch in jenen Tagen die Trauer- und Trostgedanken meines Vaterherzens in einigen einfältigen Zeilen ausgedrückt, die ich dem geneigten Leser hiehersetzen will.
Amen, Amen! Ja, ja, es soll also geschehen!
Unter Krieg und Kriegsgeschrei waren fünf Jahre hingegangen, seit ich meinen Johannes begraben, und schier sieben Jahre, seit mein Sohn Valentin uns verlassen. Es war im Jahr 1639, im Juli.
Der Frühling war wiederum gekommen ins Land, aber allenthalben war nur Elend und Zerstörung. Nur fünfzig Bürger, meist verwitwet und kinderlos, hatte die Pest übrig gelassen, und Hunger und Krieg und Brand hatten seitdem nicht aufgehört zu wüten. Viele Häuser standen ganz leer, von den anderen waren nur die schwarzen Mauern übrig, daß der Regen durch die Dächer und der Wind durch die Fensterstöcke fuhr, und in den Nebengäßlein wuchs das Gras. Die Obstbäume, welche sonst den Flecken umgaben, waren umgehauen und verbrannt worden, die Äcker lagen brach, und in den Weinbergen wuchs das Unkraut, denn die Arme fehlten, das Land zu bebauen. Die Landstraßen waren verlassen, außer von dem Kriegsvolk, das auf und ab zog, und von den Schnapphähnen, die überall auf der Lauer lagen, und wenn man ja einmal einen andern Menschen sah, so schlich er scheu und ängstlich umher und fuhr zusammen, wenn etwa ein Hase oder ein Fuchs in einer Hecke aufsprang, als wär’s ein Feind, der ihn anfallen wollte.
Es war ein schöner warmer Tag gewesen, und am Abend stand der Mond am Himmel in seiner stillen Herrlichkeit und schaute in mein einsames Kämmerlein. Gegen[S. 80]über aus der Haselhecke, jenseits der Mauer, sang eine Nachtigall, deren süßer Schall seit mehreren Abenden mein Herz erfreut hatte, auf der Straße aber war’s wie immer still und ausgestorben. Da hörte ich die Haustüre gehen, und ein Mensch mit schwerem Schritt ging durch die Hausflur an den Fässern vorbei und begann die Treppe heraufzusteigen. In der Meinung, es komme ein Quartiersuchender, weil ich Sporen klirren hörte, wollte ich den Fidelis anlocken, der in der Hausflur lag, und seit dem Tod seines alten Herrn jeden Soldaten anzufallen pflegte, und öffnete schnell die Stubentüre und trat hinaus mit einem Licht. Der Hund aber kam mit dem Fremden die Stiege herauf, bellte nicht, sondern schnoberte und sprang umher, ohne einen Laut zu geben. Der Ankommende war ein großer Mann und als ein Reiter gekleidet, hatte aber keine Waffen, sondern trug ein kleines Bündelein in seiner Hand.
Als er die Treppe erstiegen und nun vor mir stand, holte er tief Atem und sprach: „Grüß Euch Gott, herzlieber Vater, der Valentin ist da!“
Mein Gott, wie ist mir da geworden! Vor mir, dem alten, verwitweten und kinderlosen Manne stand ein Wesen, das mir angehörte, der Sohn und das Ebenbild meiner heimgegangenen Margarete, der von mir als verloren Beweinte, nach dem seine Mutter im Sterben gerufen, und die Vergangenheit ward wieder lebendig: die Tage des Jammers, da er uns verlassen, seine Mutter, wie sie noch einen letzten Blick aufwärts getan, während Ottilie und Regina bereits tot in ihrem Bette lagen, Johannes, sein Brüderlein, das ich zuletzt begraben, die Jahre meiner Einsamkeit, in denen ich für ihn gebetet und auf ihn gewartet vergeblich, — alles das stand vor meiner Seele! Dazu fühlte ich bald Angst, bald Freude, wenn ich an dem An[S. 81]gekommenen hinaufsah, er war mir so fremd und doch auch so bekannt. Hatte ich Trost oder Herzeleid davon zu erwarten, daß ich noch einmal, bevor ich hinabführe in die Gruft, den Sohn meiner Jugend gesehen? Freud und Schmerz, Furcht und Hoffnung übermannten mich dergestalt, als ich die tiefe und doch so liebliche Stimme meines Sohnes vernahm, welche ich wohl aus Tausenden herausgekannt hätte, daß mein Mund keines Wortes mächtig war, sondern ich wandte mich und setzte den Leuchter hin, weil ich sonst wäre zu Boden gesunken.
Ich öffnete die Stubentüre und trat hinaus mit einem Licht (14. Kap.)
Mein Sohn aber ging langsam an mir vorüber, nahm die Bibel vom Tisch, in welcher ich vorher gelesen, kehrte einige Seiten um und hielt mir die Stelle Lucä am fünfzehnten vor Augen, indem er mit dem Finger darauf deutete. Es waren die Worte: Vater, ich habe gesündiget in den Himmel und vor dir, ich bin hinfort nicht wert, daß ich dein Sohn heiße! Da wichen die Trauergeister, und ich konnte nur der Worte gedenken: Dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist gefunden worden! — „In Gottes Namen,“ sprach ich, „mein Sohn!“ nahm ihn in die Arme, herzte und küßte ihn.
Hierauf setzte sich der Valentin nieder und fragte: „Wo ist meine Mutter?“ — „Sie ist tot!“ antwortete ich.
„Und Regina und Ottilie?“ fragte er weiter. — „Tot!“
„Und mein Brüderlein Johannes?“ — „Tot, mein Sohn!“
„Und der Amtskeller?“ fragte er wieder nach einer Weile. — „Tot, auch tot!“
„Tot, alles tot!“ wiederholte er leise. „Ach, ich bin lange ausgewesen und bin müde, sehr müde, mein Vater!“ Er sprach das in einem seltsamen, traurigen Ton, der mir[S. 82] durchs Herz ging, und ich sah ihm nun zum erstenmal genau in das Gesicht. Seine schönen, schwarzen Haare hingen ihm bis auf die Schultern, und seine Züge waren gar lieblich anzusehen: aber seine Augen brannten, und sein Odem ging wie im Fieber, und seine Wangen waren gerötet, aber nicht vom Rote der Gesundheit, sondern hatten nur einen runden, roten Flecken, und das übrige Antlitz war schneeweiß.
„Valentin, mein Kind,“ hub ich an, „wie ist dir’s gegangen, seit du von Hause weg bist?“
„Gut, mein Vater! — Ich bin ausgezogen mit gesundem Leib, und komme heim mit heiler Seele. — Ich bin noch nicht daheim, aber ich komme heim — bald — sehr bald. — Das Haus bricht, darin meine Seele geherbergt, denn der Wurm hat’s zerfressen ganz und gar. Dem Herrn sei’s gedankt, daß es so lange gehalten, bis ich habe sagen können: Der verlorene Sohn ist umgekehrt und will heimgehen in sein Vaterhaus!“
Mein Sohn sprach dies mit so feierlicher Stimme, daß ich mir lange Zeit nicht das Herz fassen konnte, ein Wort zu sprechen. Endlich sagte ich: „Bist du krank, Valentin?“
„Sehr krank und sehr müde — ach, ich habe meinen letzten Weg auf dieser Welt getan und möchte ruhen. Zeigt mir mein Bett und sagt mir, daß Ihr mir verziehen habt, gleichwie der Vater im Himmel es schon getan, dann nehmt das Papier, das zuunterst in meinem Bündlein liegt, — es ist ein Brief, den ich an Euch geschrieben, als ich krank in Wertheim lag und Euch nicht mehr zu sehen meinte. Drin steht es alles geschrieben, was Ihr noch wissen sollt, bevor Eure Vaterhand mir die Augen zudrückt. Ich kann nicht mehr reden, oh, ich bin sehr schwach!“
Ich sprach ihm liebreich zu, daß, so er seinen Frieden mit Gott gemacht, er meiner Vergebung gewiß sein könne, führte[S. 83] ihn in das Kämmerlein, das er einst als Bäckerjunge inne gehabt, befahl seinen Leib und seine Seele in Gottes Hand und öffnete dann das kleine Bündlein, das er in der Stube zurückgelassen. Drin lag etwas Linnenzeug, ein Abschied von dem hochlöblichen Gordonschen Regiment, darin von dem Obersten ein gut Zeugnis ihm gegeben war, und eine Musketenkugel in ein Papier gewickelt, darauf geschrieben stand: „Wider diese Kugel, so in meinem Küraß stecken blieben, hat der gnädige Gott mein armes Leben beschirmt auf dem Felde bei Nördlingen, auf daß noch eine Frist der Gnaden mir gegeben werde, der dafür hochgepriesen sei.“
Zuunterst fand ich den Brief, derselbe war mit schwarzem Wachse verschlossen und trug solche Aufschrift: „An meinen herzlieben Vater, Udalricum Gast, den Schuldiener in Sommerhausen. So jemanden dieser Brief zuhanden kommt, wird solcher gebeten, um Christi willen denselben nach Sommerhausen in Franken gelangen zu lassen, allwo er ein tiefbetrübtes Vater- und Mutterherz trösten soll ob eines verlorenen Sohnes.“ Ich machte nun den Brief auf und las darin folgendes.
Wertheim, den 20. Mai 1639.
An meinen Vater Udalricum Gast und meine Mutter
Margareta, eine geborene Späthin,
in Sommerhausen.
Von dieser Welt scheidend, aber gottlob! zum Himmel eingehend, will ich zuvor noch meinen Abschied machen von Euch, herzlieber Vater und herzliebe Mutter.[S. 84] Ich hätte wohl gehofft, daß mein siecher Leib noch so lange werde dauern können, bis ich Euch noch einmal wieder gesehen von Angesicht zu Angesicht, und Euch abgebeten alles Herzeleid, so ich über Eure alten Tage gebracht, aber ich verspüre es wohl und deutlich: meine Tage sind gezählt, und Gott eilt mit mir aus diesem Leben. Kann ich’s darum nicht selber, so sollen doch diese Zeilen Euch melden, daß Ihr auf den Valentin nicht mehr zu warten braucht, sondern daß er schon voraus ist und im himmlischen Vaterhaus Eurer wartet. Darum weinet nicht, wenn Ihr diesen Brief empfanget, sondern danket vielmehr dem Herrn und lobet seinen hochheiligen Namen. Sein Erbarmen war groß mit mir sündigem Menschen!
Zwar ein Dieb und Verräter war ich nicht! — Daß ich’s geworden bin in Euren Augen, ist also gekommen:
Als ich eines Sonnabends mit dem Jäger beim Spiel und Trunk saß, hab ich mir’s leichtsinnigerweise von ihm herauslocken lassen, daß ich folgenden Tags mit dem Amtskeller nach Würzburg müsse, um die für gelieferten Proviant von dem Gubernator einzunehmenden tausend Taler ihm herausschaffen zu helfen. Demselben hatte ich schon länger vertraut, wie all mein Sinnen darauf stehe, Sommerhausen zu verlassen und im Krieg mein Glück zu suchen, und er hatte immer meinen Vorsatz gelobt und geschworen, daß es schade um mich sei, wenn ich ihn nicht hinausführen würde.
An jenem Abend nun kam in die Schenkstatt ein mir unbekannter Mann, den aber der Jäger schon vor langer Zeit unter dem Kriegswesen kennen gelernt, und nachdem er eine Weile heimlich mit dem Fremden gesprochen, sagte er mir, dieser sei der Hauptmann Paradeiser: er sei auf einem heimlichen Streifzug begriffen, und wenn ich unter seiner Kompagnie Dienst nehmen wollte, so könne er mir[S. 85] denselben empfehlen, und sei jetzt eine schöne Gelegenheit gekommen, meinen lange gefaßten Vorsatz auszuführen. Wie ich denn ein leichtfertiger, hoffärtiger Geselle war und auch dem Wein unmäßig zugesprochen, wollte ich’s nicht gerade verreden, unter seiner Kompagnie mich anwerben zu lassen, wenn sie diese Gegend verlassen würde, was nach beider Rede jeden Augenblick geschehen konnte. Der Hauptmann wollte sogleich alles ins reine bringen, und als wir noch eine Weile getrunken, rückte er heimlich damit heraus, im Fall ich ihm zu wissen tun könne, wann das Geld auf den Speckfeld gebracht würde, wolle er sich mit etlichen seiner Leute in den Hinterhalt legen und dem Amtskeller das Geld abnehmen; dann wollten wir zwei den Fang miteinander teilen, und einige Tage nachher sollte ich ihm nachkommen und in seine Kompagnie treten. Ich entsetzte mich über diesen Vorschlag, nannte den Jäger einen falschen Verräter, daß er schändlich ausgeplaudert, was ich ihm im guten Vertrauen gesagt, und den Hauptmann einen Schelm und Spitzbuben. Dieser wurde darüber ganz weiß vor Zorn und wollte auf mich losfahren, der Jäger aber stieß ihn an, lachte laut auf und sagte: „Es ist nur ein Spaß, Bruder!“ — Ich glaubte es endlich. Da ich wohl wußte, daß das Geld erst kommenden Dienstag auf den Speckfeld geschafft würde, versprach ich dem Hauptmann, wenn er schon am Montag seinen Zug ins Bambergische antreten wolle, würde ich mich anwerben lassen und in den Tannen mit ihm zusammentreffen.
Nun aber hatte der Jäger, wie mir nachher des Paradeisers Roßbube erzählte, den Hauptmann aufgefordert, am Montag in aller Frühe, sowie das Tor aufgetan würde, den Flecken selber zu überfallen und aus der Kellerei das Geld zu holen, was, da man keines feindlichen Überfalls[S. 86] gewärtig sei, sich leicht ins Werk setzen lasse und sicherlich gelingen müsse. Dem Jäger solle er dann hundert Taler abgeben, mich aber solle er mit fortnehmen, damit ich auf ihn, den Jäger, keinen Verdacht bringen könne. Falls ich in den Tannen nicht zu ihm käme, solle er nur irgendwie dafür sorgen, daß ich der Bürgerschaft als Verräter und Angeber kundgetan würde. Er selber wolle mich dann schon so schrecken, daß ich dem Hauptmann durch Wasser und Feuer nachlaufen solle.
So haben diese zwei Bösewichter auch getan, und als an jenem Morgen der alte Veit und mein Gespiele Klaus Mündlein erschlagen und die Kellerei geplündert war, und ich vor der Stimme meines Gewissens und vor unsäglicher Herzensangst bereits nicht mehr wußte, wo aus und wo ein, kam jener Bauer von Erlach und richtete mir des Paradeisers Botschaft aus, und wie ich mich umwandte, um Euch, lieber Vater, aufzusuchen und alles zu bekennen, stand plötzlich der Jäger vor mir und mahnte mich, eilend zu fliehen, weil ich sonst mich und Euch in Jammer und Schande bringen würde: ich solle nur in Gottes Namen dem Hauptmann folgen, zumal derselbe ja doch nur Kriegsgebrauch geübt habe, ich aber keinen Menschen von meiner Unschuld würde überreden können, am wenigsten den Amtskeller.
Er schien mir die Wahrheit zu sagen, und ich folgte dem bösen Rat. Im Wald holte mich der Jäger ein und brachte mich zu dem Hauptmann, der mich mit Lachen empfing; der Jäger aber sagte: ich solle nur guten Mutes sein — er wolle den Leuten schon wacker Sand in die Augen streuen, und wenn ich in etlichen Jahren als ein Leutnant oder Rittmeister heimkäme, wie er nicht zweifle, solle kein Hahn mehr nach den alten Geschichten krähen.
Es hat des Hauptmanns Roßbube mir nachgehends noch erzählt, wie er glaube, daß der Jäger noch an selbem Tage seinen Lohn erhalten. Denn als er mit dem empfangenen Gelde sich hinwegbegeben, sei der Hauptmann mit einem bösen Buben aus der Kompagnie, der sich zu allen bösen Stücken habe brauchen lassen, ihm nachgeschlichen, und als sie wieder zum Haufen gekommen, habe er wohl bemerkt, wie der Hauptmann einen ledernen Beutel, der dem Jäger zugehört, und in den dieser das Geld getan, aus der Tasche gezogen und über den Weg hinüber in die Hecken geworfen, woraus er gleich vermutet, daß sie den Jäger kalt gemacht und das Geld ihm wieder abgenommen hätten. Wie dem sei, er wird dem gerechten Richter nicht entgangen sein!
Ich zog nun sehr traurig mit dem Haufen in den Wald. Da allenthalben das schwedische Volk in der Gegend lag, geschah der Marsch in großer Stille und Vorsicht; die Nacht aber sollte im Walde verbracht werden. Als wir nun an einen tiefen Graben gekommen, wo man ein Feuer machen konnte, ohne daß man es in der Nachbarschaft gewahr wurde, ließ der Hauptmann haltmachen und sich lagern; ich setzte mich auch zum Feuer und mochte sehr niedergeschlagen aussehen.
„Nun, Bürschlein,“ begann der Hauptmann, „wie gefällt dir das Kriegsleben? Nicht wahr, es ist doch schöner, hinter der Kanne sitzen und Würfel spielen, als auf der[S. 88] Erde liegen und in die Tannenäste und in die Sterne sehen? Aber nur lustig! So geht’s nicht alle Tage. Bei den Soldaten heißt’s: Heute naß und morgen trocken, heute null und morgen vull!“
Ich erwiderte: das liege mir wenig an, aber ich sei bekümmert, daß ich in Sommerhausen nun für einen Verräter gelten müsse, und mein ehrlicher Vater für einen Diebsvater, da doch der Spitzbube ein ganz anderer gewesen als ich, wie ihm gar wohl bekannt sei.
„Hol dich der Teufel!“ war die Antwort, „und laß das Maul nicht hängen! — solch weinerlichen Gesellen kann ich unter meiner Kompagnie nicht brauchen.“
„Nicht brauchen?“ sagte ich. „Wahrlich, weiß ich’s doch selbst nicht, ob ich unter Euch und Eurer Kompagnie nur dienen mag, ob ich nicht heute noch nach Sommerhausen heimkehre und die volle Wahrheit sage, oder aber bei den Schwedischen mich anwerben lasse, bei denen mir’s eine größere Ehre sein wird zu dienen, als mit Euch und Eurem Diebsgesind Geld zu stehlen!“
Da schlug der Hauptmann eine große Lache auf und schrie: „Nach Sommerhausen oder zu den Schwedischen? Da höre mir einer einen solchen Milchjunker! Nun, was würde denn ich dazu sagen, oder diese da? Da wollt’ ich dir ja gleich die Haut über den Kopf ziehen oder den Hirnkasten einschlagen, wie einem irdenen Topf! Merkst du denn nicht, du armseliges Schreiberlein, daß du nun mein Raub bist, wie die Taube des Stoßfalken? Sieh nur her, ich bin der leibhaftige Teufel; wer dem einen Finger gegeben, gehört ihm mit Haut und Haar! Aufgestanden und Hand angelegt!“ schrie er grimmig, „damit das Feuer besser brennt, oder ich will dir die Schreibermucken vertreiben!“ Zugleich stieß er nach mir mit dem Fuße.
Nun wußte ich nicht mehr, was ich tat, sondern fuhr ihm, vor Zorn meiner nicht mehr mächtig, nach der Kehle, schleuderte ihn auf den Boden und schlug ihm mit einem Stein auf den Kopf. Die andern aber fielen jetzt über mich her, rissen mich nieder und schlugen auf mich los, der Hauptmann raffte sich auch wieder auf und sprang mir mit gleichen Füßen auf die Brust, daß mir alle Knochen krachten, dann, als er seinen Mut an mir gekühlt und mich jämmerlich mißhandelt hatte, gebot er, mich zu binden — denn morgen müsse ich hängen.
So ward ich nun gebunden an Händen und Füßen und dann in den Graben hinabgeworfen, daß das Wasser und der Kot über mir zusammenspritzte, und sollte drin liegen bleiben bis zum Morgen. Nachdem die Gesellen sich vergewissert, daß ich kein Glied rühren und darum nicht entspringen könne, mußte einer etwas abseits auf einen hohen Baum steigen, um die Wache zu halten, die andern aber legten sich nieder und schliefen.
Daß in meine Augen kein Schlaf gekommen, werdet Ihr Euch wohl denken. Ich fror vor Nässe und zitterte an allen Gliedern, wußte auch nicht anders, als daß dies meine letzte Nacht sein werde, doch aber, obwohl dem Tod so nah, kam kein christlicher Gedanke in meine Seele, auch kein Gedanke an Euch, sondern nur eine grimmige Rachgier tobte in mir und nahm alle meine Gedanken dahin. Ich glaube, ich wäre gern gestorben, wenn ich nur meinem Todfeind zuvor hätte das Lebenslicht ausblasen können. Gepriesen sei der barmherzige Gott, daß er damals mich nicht hingerafft in meinen Sünden!
Als ich nun in meinen Rachegedanken eine Weile liege, höre ich in dem Graben leise jemand an mich herankriechen und eine Stimme spricht: „Heda, Schreiber! Wie wär’s,[S. 90] wenn ich Eure Stricke durchschnitte, und wir machten uns heimlich davon und desertierten zu den Schwedischen? Wir sind nur eine halbe Stunde weit von Kitzingen, — soll ich Euch frei machen? Antwortet, aber sprecht leise, — ein Messer habe ich schon bei mir!“
Beim Mondschein erkannte ich sogleich, daß es des Paradeisers Roßbube war. „Ja,“ erwiderte ich, „da halt ich freilich mit, aber wenn du die Stricke zerschnitten hast, gibst du mir das Messer ein wenig.“
„Wozu?“ fragte der Roßbube. — „Nun,“ sagte ich, „daß ich’s dem verdammten Spitzbuben im Leibe umkehre, der mich ins Unglück gebracht und noch so jämmerlich traktiert hat!“
„Da bleibt nur liegen in Eurer Pfütze,“ sagte der Roßbube, „und laßt Euch morgen hängen! Seid Ihr des Teufels, daß Ihr noch einen Lärmen machen wollt? Besinnt Euch flugs, oder ich gehe allein.“
Wirklich willigte er nicht eher ein, mich zu befreien, bis ich geschworen hatte, mich stille mit davon zu machen, dann zerschnitt er die Stricke, und wir machten uns in den Wald, ohne daß einer erwacht oder die Schildwache unser gewahr worden wäre. Weil mir die Gegend wohl bekannt war, gelangten wir schon in einer halben Stunde in die Kitzinger Weinberge, wo wir den Tag zu erwarten beschlossen, da mir alle Glieder infolge der erlittenen Behandlung geschwollen waren, und das Gehen mich allzu sauer ankam. Hier gestand mir der Roßbube, daß er einen Teil der in der Amtskellerei geraubten Geldstücke dem Hauptmann mitgenommen, und bot mir auch davon an, — ich wollte von diesem Blutgelde nichts mein eigen nennen, freute mich aber, daß nun schon zum zweiten Male ein Bube durch den andern gestraft worden war.
Als es Tag geworden, meldeten wir uns bei dem schwedischen Wachtposten, und wurden vor den Gubernator gebracht, der ein leutseliger, freundlicher Mann war. Er fragte mich allerlei aus, und da ich mit der Muskete gut umgehen konnte und doch gern ein Reiter geworden wäre, nahm er mich unter sein eigen Regiment Dragoner auf, die nach schwedischem Brauch also ausgerüstet sind, daß sie zu Fuß und zu Roß gebraucht werden können, wie man denn dort das Sprichwort hat: „Wenn ein Dragoner vom Pferd fällt, steht ein Musketier wieder auf.“ Selbigen Tags noch mußte ich mit einem Kornet Reiter aufbrechen und gen Nürnberg ziehen, wo die Armee sich sammelte. Was aus dem Roßbuben geworden, kann ich nicht sagen.
So hatte nun mein Kriegsleben angefangen! Stolz hat’s begonnen, trübselig geendet, doch ’s ist so auch gut!
Herzliebe Eltern, nun bin ich ein wüster Geselle geworden, das sei Gott geklagt! Ich ward zusammengestellt mit einem Häuflein Rekruten, blutjungen Leuten, die teils aus Schweden, teils aus Finnland gekommen und unter die Dragoner treten sollten. Sie waren ehrlicher Leute Kind, zumeist Bauern- oder Fischerssöhne, die es noch zu[S. 92] halten pflegten wie jene ersten Schweden, die durch Sommerhausen gekommen und an denen Ihr so großes Wohlgefallen gehabt. Sie sangen am Morgen und am Abend ihr Lied und beteten bei Tische, und wurden darum von den andern verachtet und verspottet, als „verwunderliche Soldaten, die in den Himmel zu kommen gedächten“. Wir wurden Tag für Tag im Schießen, Reiten und Fechten miteinander geübt, wozu sie sich trefflich anstellten, sonst aber mochte ich mich nicht viel mit ihnen abgeben, wiewohl wir ein gemeinsames Quartier mitsammen in einer Mühle hatten. Einer unter ihnen, Olufsohn geheißen, mochte mich wohl leiden und tat mir manches zu Dienst und zulieb, ich aber lief lieber mit den andern wüsten Gesellen, die schon lange gedient hatten, nicht nach Gott und Menschen fragten, und mir allein rechte Kriegsleute zu sein schienen, fluchte, trank, spielte und raufte mit ihnen. Den Olufsohn, als er mich eines Tages davon abmahnen wollte, fragte ich, warum er denn ins Kriegslager gegangen, wenn er lieber ein Betbruder, denn ein Soldat sein wolle, und was er denn also für ein Glück zu machen gedenke. Er erwiderte: er sei nicht auf Abenteuer ausgezogen, sondern ihn habe seine alte Mutter gehen heißen, und seinem König streiten helfen, und er werde seine Schuldigkeit redlich tun und alles andere Gott überlassen. Da nun wohl viele unter uns waren, die ihren Eltern entlaufen, keine aber, die auf deren Rat und Willen gekommen, hatten die andern ihren Spott über ihn, weil er von seiner Mutter in den Krieg geschickt zu sein vorgab, fragten ihn, ob denn seine Frau Mutter doch auch das Breischüsselein nicht vergessen und ihm auch brav Milchpfennige mitgegeben habe, welche Spottreden er sich mit großer Gelassenheit gefallen ließ.
Nachdem des schwedischen Königs Sturm auf das Fried[S. 93]ländische Lager abgeschlagen worden, zog er am 8. September 1632 nebst der ganzen Armee mit vollem Trommelschlag und Trompetenklang an dem Feinde vorüber nach Neustadt an der Aisch, ließ aber in Nürnberg fünftausend Mann zu Fuß und dreihundert zu Pferd zurück. Unter den letzten bin auch ich mit meinen oben erwähnten Kameraden geblieben. Dort ist nach dem Abzug des Königs — weil alles auf fünf und mehr Meilen Wegs verwüstet war — eine große Not entstanden, so daß wir manchmal an die vierzehn Tage keinen Bissen Brots genossen, daraus wiederum entstand die Ruhr und das hitzige Fieber, und das Lazarett ist dermaßen mit unsern kranken Soldaten überhäuft gewesen, daß man die Toten im Hof wie Holz aufeinander gelegt, bis man Zeit hatte, eine Grube zu machen und sie darein zu werfen. Ich bin stets bei guter Gesundheit gewesen, hab aber dem gütigen Gott schlechten Dank dafür bezahlt!
Als endlich die Friedländischen auch davongezogen, ging uns Befehl zu, dem König zu folgen, der wieder auf Donauwörth zu gezogen. Dort bin ich bei Rain am Lech zum erstenmal ins Feuer gekommen. Selbiges Städtlein hatte der König mit stürmender Hand schon im Frühjahr genommen, wobei der Graf von Tilly sein Leben gelassen, aber vor vier Tagen hatte der Oberst Mütschefall es wieder an die Bayrischen übergeben, weswegen der König ihn nachgehends vor das General-Kriegsrecht hat stellen und in Neuburg an der Donau öffentlich hat enthaupten lassen. Etliche Regimenter waren schon im Frühjahr mit dabei gewesen, und allgemein ging die Sprache, es werde ein hart Stück Arbeit sein, das Städtlein zu nehmen, das schon dazumal viele Leute gekostet.
Nachdem wir nun für den kommenden Tag alles be[S. 94]reitet, lagen wir abends um die Feuer und machten uns Mut für den kommenden Tag, wie es das gottlose Volk im Lager stets im Brauch hatte. Einer hatte ein Fäßlein Wein hereingebracht, schlug es auf, und nun ging’s ans Trinken und Bankettieren. „Sauft, Kameraden,“ schrie der Korporal, „zu guter Letzt! Denn in der Hölle ist’s heiß, und dahin wird morgen mancher seinen Marsch antreten, wenn die Bayrischen wieder ihr vermaledeites Schießen anfangen!“ Drauf stimmte einer das Lied an:
Ich tat auch wie die andern, soff, bis mir Hören und Sehen verging, und stimmte mit ein in die gotteslästerlichen Lieder. — O Herr, erbarme dich! und vergilt mir nicht nach meiner Missetat!
Als wir um Mitternacht auseinander gingen und ich an mein Zelt kam, brannte noch Licht darin, und neben dem Lichte saß Olufsohn. Er hatte seine hellgeputzten Waffen neben sich liegen und las in einem Büchlein, so daß er schier mein Kommen überhörte. Als ich ihn fragte, was er da noch lese, erwiderte er: es seien ihm allerlei Gedanken gekommen von wegen des morgenden Tages, da hab er gebetet, auch hab er seiner Mutter gedacht, ob er wohl wieder heimkommen werde und ihr die Augen zudrücken, und da hab er zuletzt seinen Psalter vorgenommen und daraus gelesen.
„Da hättest du besser getan,“ sagte ich, „du wärest bei uns gewesen, statt daheim zu hocken! — Da hättest du auch[S. 95] einen tapfern Mut bekommen und könntest morgen ins Treffen gehen, wie zum Tanze; wahrlich, jetzt ist’s nicht gelegene Zeit, sich mit Beten und allerlei Gedanken das Herz schwer zu machen!“ — Er aber schüttelte den Kopf, sagte: er hoffe auch seine Schuldigkeit zu tun, und legte sich nieder, nachdem er mir eine gute Nacht gewünscht.
Folgenden Tags mußten wir schon um vier Uhr zu Pferde sein, und wurden in ein Gehölz postiert. Den ganzen Tag vorher und die Nacht hindurch war an einer Brücke über den Lech gearbeitet worden, und der König hatte den ganzen Tag über von Pech und andern rauchenden Materien einen großen Rauch machen lassen, daß der Feind es nicht gewahr würde. Die Pfeiler waren in den Strom gelassen, nur die Planken waren noch nicht alle, sondern etwa erst zur Hälfte gelegt worden, als es helle ward, und der Feind, welcher derweilen nähergerückt, es wahrnahm. Nun begannen die Bayrischen kreuzweise auf die Brücke zu schießen, und wir sahen die Soldaten, welche die Planken legten, haufenweise stürzen und in den Strom fallen. Auch begannen sie nun ein mörderische Schießen auf das Holz, in dem wir hielten, daß ein Krachen drin ward, als wenn tausend Holzhauer darin arbeiteten. Hie und da fiel ein Mann oder ein Pferd, oder ward von den fallenden Bäumen und Ästen getroffen; die Pferde schnaubten, stiegen und wollten ausreißen, aber der König hatte geboten, das Holz zu halten, bis die Brücke geschlagen sei.
Dort aber an der Brücke ging es je länger, je schrecklicher. Kaum hatte einer den Fuß auf die Brücke gesetzt, so ward er auch niedergeschossen. Es waren nur noch die drei letzten Planken zu legen, um die Brücke gangbar zu machen, aber nachdem schon an die sechzig Mann geblieben, traute sich keiner mehr hinzu, sondern wie sie die Brücke betraten und[S. 96] das Schießen wieder anging, wichen sie zurück und ließen die Planken in den Strom fallen. Da kam der Korporal geritten und rief, Seine Majestät lasse anfragen, ob nicht unter den Dragonern im Holz, die noch nichts getan hätten, einige wären, die freiwillig es ausrichten wollten? Es sollte jeder zwanzig Reichstaler bekommen, wenn ihnen das Werk gelänge, von dem nicht abgelassen werden dürfe! Es schrien alle, das sei ein schönes Geld, aber da müsse einer des Teufels sein, wenn er so dem Tod in den Rachen laufen wollte. — „Nun, wer hat Lust?“ fragte der Korporal wieder und lachte, „keiner?“
„Ich,“ sagte Olufsohn, „und ich auch!“ wiederholte einer von den Finnländern. Olufsohn, der neben mir gehalten, stieg ab und wollte mir sein Pferd zu halten geben; ich aber dachte: „Was du vermagst, vermag ich auch!“ sprang vom Pferde und sagte: „Ich bin der Dritte!“ So gingen wir an dem König vorüber, der uns freundlich zunickte, liefen mit den Planken unter mörderischem Schießen über die Brücke und machten sie fest. Als es geschehen, wollten wir uns so schnell als möglich davon machen, — da krachten wiederum die Stücke der Bayrischen, und der Finnländer stürzte, zum Tode getroffen, Olufsohn ward der Hut vom Kopf geschossen, ich aber blieb unversehrt. Nun mußte unser ganzes Regiment im vollen Jagen über die Brücke setzen, wobei viele das Leben verloren, zuerst der Korporal, dessen Pferd, von einem Schusse getroffen, sich aufbäumte und rücklings mit ihm in den Strom stürzte. „Nun kommt er ja naß und kalt genug in die Hölle, wie er gestern gemeint hat,“ sagte einer, der einen alten Groll auf ihn hatte, weil er sich gegen ihn zurückgesetzt meinte; Olufsohn aber sagte: „Gott sei der Seele gnädig!“ Von den übrigen ward hierauf die bayrische[S. 97] Schanze genommen. Hiemit entfiel dem Feinde der Mut und die Übergabe des Städtleins ist nun alsbald geschehen.
Er hatte seine hellgeputzten Waffen neben sich liegen und las in einem Büchlein (17. Kap.)
Folgenden Tags hat der König eine Musterung abgehalten, und als er an die Dragoner gekommen, befragte er sich nach denen, die geblieben, dann gebot er, daß die beiden, die gestern freiwillig die Brücke fertig zu machen unternommen, hervortreten sollten. Wir taten also, und er sprach sehr freundlich mit uns, fragte mich, was ich für ein Landsmann sei, und gebot, mir die versprochenen zwanzig Reichstaler auszuzahlen. Dann redete er mit Olufsohn und gebot desgleichen. Der aber sagte, er begehre des Geldes nicht, er habe bloß getan, wie es einem rechtschaffenen Soldaten in seines Königs Dienst zustehe; wenn aber Seine Majestät ihm einige Gnade erweisen wollte, so habe sein Kamerad, der gebliebene Finnländer, der mit ihm aus einem Dorfe gebürtig, noch einen Vater, der ein alter Mann sei und sich und seine sieben Kinder kümmerlich vom Fischen ernähre, — dem möge das Geld durch Seiner Majestät Gnade sicher übermacht werden. — „Es sei so, mein Sohn!“ sagte der König und schaute ihn mit gütigen Augen an, „und die zwanzig Reichstaler, die dein wackerer Kamerad verdient, sollen auch dazu gelegt werden. Du scheinst mir ein rechter Soldat. Mein Herr Oberst, laßt ihn an des gebliebenen Korporals Stelle rücken, damit er doch nicht gar leer ausgeht.“
So ward nun Olufsohn unser Korporal, ich aber ließ mir von den zwanzig Reichstalern ein stattliches Koller machen, den Rest davon halfen die Kameraden im Wein vertrinken, welche schwuren, daß der König mich hätte zum Korporal machen sollen, statt des Olufsohn; ich hätte es wohl ebenso gut verdient als der Mistjunker, der noch nicht hinter den Ohren trocken; der schwedische Fuchs habe es[S. 98] aber wohl verstanden, wie man dem Könige nach dem Maul reden müsse. Ich ließ mir solches ihr Lob gar süß eingehen, dachte aber heimlich bei mir: „Kommt Zeit, kommt Rat!“ und hoffte es wohl noch höher zu bringen als zum Korporal.
Olufsohn aber blieb auch nachher gegen mich der Alte, bat, ich sollte ihm nicht gram werden, weil ihm das Glück diesmal gewogener gewesen, denn mir: er habe auch nicht mehr getan denn ich, hatte auch allewege ein solch brüderliches und freundliche Aufsehen auf mich, daß ich ihm nicht feind sein konnte.
Als ich nun in der ersten Schlacht, der ich beiwohnte, großes Lob davongetragen hatte, verblendete mich die Hoffnung ganz und gar. Daß ich bald ein Fähnlein bekommen und in kurzem es viel weiter bringen würde als Olufsohn, daran hatte ich gar keinen Zweifel. Wenn solches geschehen, dann wollte ich Euch, herzliebe Eltern, einen Brief schreiben, mich rechtfertigen vor Euch und dem Amtskeller und Euch dartun, daß Ihr Eures Valentins Euch nicht zu schämen, sondern wohl zu rühmen und zu freuen Ursache hättet.
Tag und Nacht sann ich darauf, wie ich es klüglich anfangen müßte, damit meine Hoffnung erfüllt würde: Leib[S. 99] und Leben dran zu wagen, war ich ohnehin schon mit mir einig, da ich’s auch für einen feinen Ruhm achtete, wenn anstatt eines Helden Glück eines Helden Tod mein Teil sein sollte. Gebetet zu dem Herrn, daß Er mir helfe, wieder zu Ehren zu kommen und bei Ehren zu bleiben — das hab ich nicht, wiewohl ich mich manchmal unruhig fühlte, wenn ich aus Olufsohns Reden und Bezeigen merken konnte, er übe seinen Beruf aus christlichem Gemüte, und seine große Tapferkeit, die er allezeit bewies, komme aus dem Glauben, daß er Gott zu Ehren das Schwert trage und Gott diene in seinem Stand und Beruf. Manchmal ist er mir auch wohl viel glücklicher vorgekommen denn ich, wenn er etwa seiner alten Mutter so mit gutem Gewissen gedachte, oder eines Briefes, den sie ihm geschrieben, aber gedemütigt hab ich mich darum nicht, nicht in Reue und Traurigkeit daran gedacht, daß ich ein ungeratener, verlorener Sohn sei und wenig Glück und Segen haben werde; vielmehr ließ ich mir ein prächtiges Wams machen und rote scharlachene Hosen, wie die höchsten Offiziere, putzte mein Pferd, Sattel, Zeug und Gewehr stattlich heraus, tat im Reiten, Schießen und Fechten es allen zuvor, und ließ mir es gar sanft tun, wenn meine Kameraden mich als einen andern Ritter St. Georg priesen und schwuren, das Fähnlein könne nicht lange mehr ausbleiben.
Bei Lützen, wo Gustavus Adolphus, der große christliche Held, sein Leben ausgehaucht, bin ich nicht mit dabei gewesen, kam auch zu jener Zeit, wiewohl mich solches bitter verdroß, nur zu geringen Scharmützeln, bis wir endlich zu der großen, blutigen Schlacht bei Nördlingen uns zusammengezogen.
Am Morgen, ehe das Treffen begann, ward auf des Generals Horn Befehl gebetet und das Lied gesungen:[S. 100] „Verzage nicht, du Häuflein klein!“ usw., das weiland der König selber gedichtet und bei Leipzig hatte singen lassen, aber, wiewohl ich selber ein gottloser Mensch gewesen, ist mir doch der Spruch eingefallen: „Dies Volk naht sich mir mit Lippen, aber seine Herzen sind ferne von mir!“ Bei seinen Lebzeiten hatte der König oft geklagt, ja einmal bei Nürnberg vor allem Volk bittere Tränen vergossen, daß die Gottesfurcht, Zucht und Ehrbarkeit von dem Heere wiche, seit er so viel fremdes Volk hätte werben müssen, aber nach des Königs Tod war’s je länger je ärger geworden, und mußte, wie auch wohlbekannt, alles zu einem üblen Ausgang sich anschicken.
Als die Schlacht schon entbrannt war und die Unsrigen bereits allgemach überall zu weichen begannen, und eine Hiobspost die andere schlug, ward auch unser Regiment, das im Hintertreffen stand, von den Feinden angegriffen. Obwohl einen schlimmen Ausgang vor Augen, setzten wir uns doch mannhaft zur Wehr. Ich hielt mich mit noch acht andern Dragonern etwas abseits auf einem Hügel hinter einem Gebüsch, wo man die ganze Schlacht übersehen konnte, und Olufsohn führte das Kommando. Das greuliche Schießen, das Geklapper der Harnische, das Krachen der Piken und das Geschrei der Verwundeten und Angreifenden machten neben den Trompeten, Trommeln und Pfeifen eine erschreckliche Musik. Wir hielten still auf unserem Posten, und war uns schier die Brust zu eng, Atem zu holen. Bald brachte man Verwundete zu uns, und Pferde, die den Unsrigen gehörten, rannten daher mit leeren Sätteln, und Bagagewagen fuhren an uns vorüber, und allmählich fing das Regiment an sich aufzulösen und kam immer mehr auf unsern Hügel zu. Als es ganz nahe gekommen, von dem Feinde immer heftiger gedrängt, sahen wir den Fähnrich[S. 101] stürzen, und einer der Kaiserlichen, die schon mitten in den Reihen waren, riß ihm die Fahne aus der Hand und hielt sie hoch empor. Als einige der Unsrigen sich sammelten und mit großem Geschrei auf ihn eindrangen, die Fahne wieder zu gewinnen, kehrte er sich rasch um, ihnen zu entgehen und die Fahne bei dem großen Haufen der Seinigen in Sicherheit zu bringen. Die Kaiserlichen aber, welche die Fahne genommen, kamen ganz nahe an uns herzu, wie es schien, ohne uns gewahr zu werden. Mich befiel ein Zittern, als ich dies wahrnahm: nun hoffte ich eine Tat zu tun, um vor dem ganzen Regiment zu Ehren zu kommen. Olufsohn aber hielt ruhig neben mir, wie wenn er eine Bildsäule von Stein wäre, und ließ sein Pferd Hafer fressen aus einem vorgebundenen Tuche. Die Kaiserlichen nahten blindlings in vollem Laufe, wie ich gehofft hatte. Nun ließ ich mein Pferd los, — aber im selben Augenblicke hatte auch Olufsohn dem seinen die Sporen eingeschlagen, und während die andern noch nicht wußten, was wir vorhatten, waren wir im Nu unter den Feinden. Olufsohn schlug den, welcher die Fahne hatte, über den Kopf, daß er wankte, und ich griff nach der Fahne, aber eben, als ich die Hand danach ausstreckte, hub einer das Schwert auf über Olufsohn und wollte ihm von hinten den Schädel spalten. Einen Augenblick war ich gewillt, ihn seinem Schicksal zu überlassen und nur die Fahne zu gewinnen, aber doch konnte ich’s nicht übers Herz bringen, weil er so große Liebe und Treue stets mir bewiesen, wandte mich, und rannte seinen Feind nieder. Zwei griffen nun mich an: einer schoß nach mir und ich fühlte einen heftigen Schmerz an meiner Brust, der andere stach mein Pferd, daß es überschlug und sich mit mir auf dem Boden wälzte.
Ehe ich mich losmachen und wieder auf die Füße[S. 102] kommen konnte, war alles vorüber, — unsere Kameraden hatten sich auf die Feinde geworfen, und die Kaiserlichen waren alle davon. Olufsohn stand allein neben mir und bemühte sich eifrig, mir unter dem Pferd hervorzuhelfen. Er blutete im Gesicht und hatte die Fahne neben sich liegen, welche er glücklich dem Feinde abgenommen.
Als ich dies sah, mußte ich Tränen vergießen, Olufsohn aber meinte, daß ich meines Pferdes wegen so betrübt sei, und sagte: „Gib dich zufrieden, Bruder! Ich hab ein Pferd für dich, das sollst du von mir nehmen, wenn wir zum Regiment kommen, — übrigens haben wir die Fahne wieder! — und obwohl sonst Gott seine Hand von uns gezogen hat, — denn die Unsrigen liegen erschlagen oder fliehen — so sei doch dafür der gnädige Gott gepriesen!“ Er lüftete auch meinen Küraß, — da sahen wir, daß die Kugel just über dem Herzen bis an mein ledernes Koller gedrungen und mich zwar arg geprellt, doch nicht verwundet hatte.
Aber ich war in Verzweiflung: mein Pferd war tot und mein Fuß vom Falle gequetscht, die Feinde kamen wieder heran, und ich ermahnte Olufsohn zu fliehen. Da ich nur zum Unglück auf der Welt sei, sagte ich, so wolle ich gar nicht mehr länger leben; er wollte aber davon nichts hören, sondern hob mich zu sich aufs Pferd, wickelte die Fahne um sich, nachdem er sie von der Stange gerissen, und jagte mit mir davon. Wir entkamen glücklich den Feinden, verbargen uns die Nacht hindurch bei einem Bauern, der uns mit großer Lebensgefahr vor den streifenden Kaiserlichen versteckte und uns reichlich mit Speise und Trank letzte, weil ihm Olufsohn einmal einen Haufen Merodebrüder[2] aus dem Hause gejagt hatte, die ihn plündern wollten, und holten schon am folgenden Tag unser Regiment ein, das, so gut es[S. 103] anging, nach seinem schweren Verlust sich wieder gesammelt hatte.
Die noch übrig Gebliebenen waren alle sehr traurig, und als wir zu ihnen stießen, sagte der Oberst: „Ach, Olufsohn, bist du auch davongekommen? Gott sei Dank, daß ich einen tapfern Schweden mehr sehe. Aber mein Sohn, die Fahne ist verloren, so Ihre Majestät die Königin selber uns eingehändigt, da wir in Calmar zu diesem unseligen Kriege uns einschifften. Wie wollen wir unserer königlichen Herrin unter Augen treten, wenn wir heimkehren? O daß ich solchen Schimpf erleben mußte!“
„Seid guten Muts, Herr Oberst,“ sagte Olufsohn, „’s ist nicht ganz so schlimm. Unsere edle Königin hat ein gut Symbolum auf unsere Fahne gestickt: ‚Gott mit uns!‘ und Gott war mit meiner und meines Kameraden Faust, daß wir das verlorene Kleinod wieder gewonnen haben!“ Dabei wickelte er die Fahne los und hielt sie hoch über seinem Haupte empor; der Oberst aber, als er die Fahne wieder sah, lief herzu, küßte und drückte ihn und sagte: „Erichsohn, der sie bisher getragen, ist tot, so wüßt’ ich keinen, der würdiger wäre, hinfort sie zu tragen, und der getreulicher sie bewahren würde, denn dich. Glück zu dem Fähndrich!“
Olufsohn sagte, ich, sein deutscher Kamerad, hätte wohl ebenso Leib und Leben gewagt, um sie wieder zu bekommen. Als aber der Oberst sich alles des Näheren hatte erzählen lassen, wie es zugegangen, sagte er zu mir: „Du bist ein rechtschaffener Soldat, mein Sohn, und sollst, wenn du fürder dich also beweisest, nicht lange Gemeiner bleiben: für diesmal aber war dir die Kriegsfortuna weniger gewogen als dem Olufsohn, und es muß sein Verbleiben haben bei dem, was ich gesagt!“
[2] Marodeurs.
Nun fing ich an, mit Gott und der Welt zu hadern und immer tiefer in das wüste Leben hineinzugeraten. Hatte ich etwas, so lag ich tags damit auf dem Spielplatz und des Nachts an den Trinktischen der Marketender, so daß stets nach großem Überfluß wieder bitterer Mangel bei mir einkehrte. Bald war mir der Krieg verleidet, weil ich doch kein Glück dabei zu haben schien, bald stachelte mich wieder die Ehrbegierde wie ein scharfer Sporn, alles dran zu setzen, um endlich doch etwas Rechtes zu werden, und dann, mit Ruhm und Ehre gekrönt, mich wieder bei Euch sehen zu lassen. Bald ging ich allen meinen Kameraden in wüster Ausgelassenheit und Mutwillen voran, bald wieder war ich so schwermütig und eines finstern Geistes voll, daß ich jedwedem Menschen aus dem Wege ging. Olufsohn hat mir manchmal eine gute Vermahnung getan, aber ich schlug es alles in den Wind, und wo ich’s konnte, vermied ich seine Gesellschaft, obwohl ich eigentlich mein Herz nicht von ihm kehren konnte: denn das sah ich wohl, wie er allein ein redliches Gemüt gegen mich hatte, während die andern mir wohl freundlich und süß ins Angesicht redeten, hinterrücks aber mich verachteten und verkleinerten, und eher mir geschadet als genützt und geholfen hätten.
Da hat nun der himmlische Freund, der den Olufsohn als einen deutlichen Bußprediger mir an die Seite gesetzt, mich gleichwohl nicht fahren lassen, sondern mich noch ein[S. 105]mal gedemütigt, und bereits zum dritten Male mir gezeigt, daß Unglück die Gottlosen verfolgt, wenn sie meinen, das Glück schon in Händen zu haben. Nachdem ich unter dem Kriegswesen schier durch ganz Deutschland hin und her gezogen und mein Regiment auch unter des Herzogs Bernhard von Weimar Oberkommando gekommen war, standen wir am 9. August 1638 bei dem Dörflein Wittenweyer im Breisgau den Kaiserlichen und Bayrischen unter des Grafen Johann von Götz und des Herzogs von Savelli Oberbefehl gegenüber. Tags zuvor, an einem Sonntag, hatten wir bei dem Dorf Friesenheim die kaiserliche Reiterwacht angesprengt, daß der Leutnant und acht Reiter gefangen, der Rest aber bis unter die kaiserliche Armee verfolgt ward, weswegen unsere Kompagnie, die solches ausgerichtet, von dem Herzog ein treffliches Lob davongetragen hatte.
Folgenden Tags ließ der Herzog in der Frühe den Gottesdienst und die Predigt abhalten, die tags zuvor wegen des Überfalls war eingestellt worden, dann durften wir ein wenig Speise zu uns nehmen und mußten aufsitzen. Unser Feldgeschrei war abermals „Gott mit uns;“ oder bei den Franzosen und den andern alliierten Nationen, welche das Deutsche nicht wohl aussprechen konnten, „Emmanuel!“ Die Götzischen und Savellischen aber riefen: „Ferdinandus!“
Als die Schlacht begann, ward unser rechter Flügel, welchen der Generalmajor Taupadel geführt, von der Kaiserlichen und Bayrischen stärkstem Volk, den Kürassieren, angefallen und zurückgetrieben. Wir wichen anfangs langsam, dann aber, je mehr des kaiserlichen Volks herandrang, immer schneller, die Regimenter begannen sich zu trennen, und endlich suchte alles so schnell wie möglich zu der Re[S. 106]serve zurückzukommen. Auf der Flucht kamen wir an einen breiten und tiefen Bach mit jähen und abschüssigen Ufern, der sich dort in den Rhein ergießt und tags zuvor von einem starken Gewitterregen angeschwollen war. Über denselben führte eine steinerne Brücke, über deren Eingang ein alter, fester Turm stand, in welchen von den Unsrigen etliches französisches Fußvolk war gelegt worden. Als nun die Franzosen die Fliehenden auf die Brücke zukommen sahen, hatten sie den Turm verlassen, sich als die ersten über die Brücke davongemacht, und war nichts mehr von ihnen zu sehen. Es war aber offenbar, daß der Feind, wenn er unaufgehalten über die Brücke kommen und den Turm einnehmen würde, auch auf den Fall, daß die Unsrigen bei der Reserve sich wieder sammeln sollten, uns ein nochmaliges Vorgehen unmöglich machen und einen grausamen Schaden zufügen könne. Als nun der Generalmajor Taupadel den Turm unbesetzt fand, schalt er heftig über das schlechte Franzosenvolk, hielt sein Roß an und schrie dem flüchtigen Haufen zu: der Turm müsse besetzt und gehalten werden bis auf den letzten Mann, widrigenfalls werde er keinen Schritt mehr weiter tun, sondern hie halten bleiben, und wenn’s Leib und Leben kostete. Olufsohn, welcher aus mehreren Wunden blutete und kaum sich noch auf dem Pferde halten konnte, und ich selber, der ich sein Pferd am Zaume hatte, hielten in seiner Nähe.
„Swen Olufsohn,“ rief der Major, „Ihr seid ein wackerer Mann! Werft Euch mit zwanzig Mann in den Turm und haltet ihn um Gottes willen so lange, bis das Volk vor der Reserve sich wieder gesammelt, denn sonst, so wahr mir Gott helfe, ist alles verloren!“
„Euer Befehl soll getreulich vollzogen werden. Lustig, Kameraden, wer will mithalten?“ sagte Olufsohn, und be[S. 107]mühte sich, von seinem Pferde zu kommen. Wie aber der Major wahrnahm, daß er so heftig blutete und am Umsinken war, rief er: „Nein, nein, Fähndrich, Ihr seid’s nicht imstande; macht, daß Ihr weiter kommt, sonst geht dem Herzog ein wackerer Soldat verloren!“
Nun ward das Getümmel und das Gedränge immer heftiger, man hörte der heranjagenden Kaiserlichen Geschrei: „Ferdinandus! Ferdinandus!“ und der Oberst rief: „Ist kein Offizier da, der den Turm auf sich nehmen will, so will ich’s selber tun!“ — „Mit Euer Gnaden Erlaubnis,“ sagte Olufsohn, „das darf nicht sein. Ist auch kein Offizier da, so ist hie Valentinus Gast, mein Freund und Kamerad! Gebt ihm zwanzig der Unsrigen, und auf das Wort eines schwedischen Mannes, Ihr könnet keinen finden in der ganzen Armee, der seine Schuldigkeit besser tun wird als er, wiewohl er nur ein gemeiner Mann ist!“
„Ha! bist du da, Dragoner?“ sagte der Major, „ich hab dich gestern tapfer fechten sehen, als wir die Reiterwacht ansprengten. — Du willst Offizier werden? Siehe da den Turm! Halt ihn nur eine halbe Stunde, bis das Volk wieder gesammelt ist, und auf Wort und Ehre, du sollst morgenden Tags ein Fähnlein bekommen! Dreißig Taler jedem gemeinen Mann, der rechtschaffen mithalten will! Gehorcht diesem da, als ob ich’s selber wäre!“ — Nun fanden sich gleich zwanzig der Unsrigen, die dazu bereit waren, flugs sprangen wir von den Pferden und schlossen das Brückentor zu. Dann eilten wir die Treppe hinan, warfen die Hüte vom Kopf, fuhren mit den Musketen durch die Schießlöcher und machten uns fertig. Die Unsrigen aber jagten davon, während Olufsohn mir mit der Hand noch zum Abschiedsgruß winkte.
Ich fühlte die Kraft von Tausenden in meinem Arm und[S. 108] hätte hellauf jauchzen mögen, als ich der Kaiserlichen Trompeten heranklingen hörte, denn es frohlockte mein Herz in mir, daß ich nun endlich mein sehnlichstes Begehren erreichen sollte, und rief: „Gott mit uns, Kameraden, jetzt gilt’s! Lob und Leben oder ehrlichen Tod!“ — „Lob und Leben oder ehrlichen Tod!“ riefen die andern, welche wohl sahen, daß an ein Entlaufen nicht zu denken.
Im Augenblick sprengten die Kaiserlichen heran. Als sie das Tor geschlossen und den Turm besetzt fanden und aus den Schießlöchern die drohenden Musketen gewahrten, rief der Rittmeister: „Heda, ihr Lumpenhunde; wir bieten euch ehrlich Quartier, wenn ihr alsbald euer Loch verlaßt und das Tor auftut. Aber eilend, sonst müßt ihr alle über die Klinge springen!“ — „Und wir, ihr Hundsvötter,“ rief ich hinunter, „bieten euch Kraut und Lot und die Spitze des Degens! — Feuer, Kameraden!“ Nun krachte es aus den Löchern, und der Rittmeister und etliche der Vordersten stürzten vom Pferde. Im Nu aber machten einige die Äxte los von den Sätteln, drangen auf die Brücke und mühten sich, das Tor einzuhauen. Wir mußten den Turm verlassen, um ihnen zu begegnen, aber just, da wir hinunterkamen, waren schon die Bande durchhauen und die Torflügel fielen uns krachend entgegen. Wir gaben nochmals eine Salve, dann aber hatte es mit dem Schießen ein Ende. Mann gegen Mann fielen wir nun einander an und wurden handgemein: zuerst griff jeder zu dem Degen oder schlug seinem Feind die Muskete um den Kopf, dann aber, als die Feinde heftiger herandrängten und wir nicht weichen wollten, ward mit Stiletmessern, Fäusten und Zähnen gekämpft, jeder faßte seinen Widerpart um den Leib, rang mit ihm, und wenn er ihn nicht zu töten vermochte, suchte er ihn in die Höhe zu heben und in den Strom zu werfen, wobei oft beide zusammen[S. 109] hineinstürzten und nicht mehr zum Vorschein kamen, sondern am Tage nach der Schlacht, einer den andern fest in die Arme drückend, aufgefunden und hervorgezogen wurden.
Während wir also kämpften, war am Himmel wiederum ein erschreckliches Gewitter losgebrochen, — es ward schier ganz finster, stürmte und blitzte, und die Donnerschläge fuhren rollend dazwischen hinein, daß die Erde erzitterte. Aber je schauriger es ward, desto grimmiger tobte die Kampfesbegier in mir, ich hieb und stieß blind darauf los und hatte nicht acht darauf, daß wohl die Hälfte der Unsrigen gefallen war.
Eine ziemliche Weile schon hatte das Getümmel gewährt, und wir waren noch nicht einen Fuß breit gewichen, da stürzte der Gefreite neben mir, zum Tode getroffen, vor meinen Füßen nieder, und als ich ihn wieder in die Höhe reißen wollte, sagte er: „Schreiber, Ihr werdet Euer Fähnlein im Paradiese zu führen bekommen, laßt mich dann Euern Korporal sein, dafür will ich Euch einstweilen Quartier machen!“ und deutete mit dem Finger auf einen Haufen Kroaten, die allmählich sich über den angeschwollenen Bach herübergemacht hatten, um uns in den Rücken zu gelangen. — „Meinetwegen in der Hölle,“ sagte ich frevelnd, „wenn’s so sein muß,“ und schlug einen Kaiserlichen über den Helm, daß mein Degen in tausend Stücke zersprang. Den Gefreiten hörte ich beten:
Mittlerweile war ein Kaiserlicher herzugetreten, hatte ihm den Fuß auf die Brust gesetzt und wollte ihm mit gehobenem Degen den Rest geben, hielt aber inne, da er ihn beten hörte. Als aber das Amen gesprochen, ließ er den Degen herniederfahren und durchstach ihn.
Nun kamen die Kroaten heran und machten ein kurzes Spiel. Wir durften uns nicht gegen sie umkehren, und so schossen sie denn mit ihren Pistolen einen um den andern nieder, bis ich noch allein dastand. Da meine Muskete abgeschlagen und mein Degen zerbrochen war, wandte ich mich und eilte wieder die Treppe hinauf in den Turm, wo ich an der Wand eine Hellebarde wahrgenommen, um mich mit derselben, bevor ich auch erschlagen würde, wie meine Kameraden, noch ritterlich zu wehren bis auf den letzten Blutstropfen. Die Kaiserlichen drangen mir nach auf dem Fuße, und einer schrie: „Willst du nun Quartier, Kerl?“ Die Stimme deuchte mir bekannt, — ich sah mich nach ihm um und erkannte in ihm jenen Bösewicht, der sich den Hauptmann Paradeiser genannt. „Gott sei’s gedankt, daß ich diesen Tag erlebe! Du oder ich!“ rief ich und riß die Hellebarde von der Wand, aber eh ich noch an ihn kommen konnte, hatte mir ein anderer seine Muskete so um die Ohren geschlagen, daß ich taumelte und zu Boden fiel. Alsbald fiel selbiger Paradeiser und die andern über mich her, plünderten mich und rissen mir die Kleider vom Leibe. Zuletzt, als sie mich bis aufs Hemd entkleidet, hoben sie mich auf und warfen mich, da sie mich für tot halten mochten, über die Mauer hinunter in den Strom.
Hier kam ich wieder zu mir, traute mich aber nicht heraus, weil die Kaiserlichen noch da waren, sondern hielt mich an einem überhängenden Weidenzweige so weit in die Höhe, daß ich mitunter den Kopf über das Wasser heben[S. 111] und Atem holen konnte. Sie gingen aber nicht vorwärts, wie ich gehofft, sondern standen ratschlagend beieinander und schauten links die Ebene hinauf. Ich wußte nicht, warum sie stutzten, hörte aber bald links oben immer lauter das Geschrei näher kommen: „Gott mit uns! Gott mit uns! Emanuel! Emanuel!“ — Während nämlich unser rechter Flügel gleich anfangs weichen mußte, hatte der Oberst Rosa nebst dem Grafen von Nassau der Kaiserlichen rechten Flügel zurückgeworfen, der Herzog, welcher das Zentrum kommandierte, hatte unsern rechten Flügel, der sich bei der Reserve glücklich wieder gesammelt, an sich gezogen und siegreich den Feind von der Walstatt getrieben. Das kaiserliche Volk zog sich nun auch die Ebene hinauf, wo der Streit entbrannt war, ließ aber einen ansehnlichen Haufen bei dem Turme zurück, so daß ich immer noch nicht wagen durfte, aus dem Strom zu steigen.
Endlich, als der Herzog das Feld behalten, und ich der Unsrigen Lobgesang aus der Ferne hörte, — sie sangen aber den 124. Psalm: Wär’ Gott nicht mit uns dieser Zeit! usw. — begann der Haufe im Turm abzuziehen. Ich faßte nun frischen Mut, denn es war bereits Abend, und ich konnte mich vor übergroßer Schwachheit kaum mehr halten. Da aber entdeckten mich durch das Weidengebüsch einige der abziehenden Kroaten und rissen mich sofort aus dem Strom. Sie schlugen mich fast zu tot, setzten mir die Spieße auf die Brust und wollten mich durchstechen, einer aber sagte: „Halt, es ist ein Offizier! ich hab ihn heut in dem Turm den Haufen kommandieren sehen, gebt ihm Quartier, er mag sich wohl ranzionieren!“ So banden sie mich, wie ich war, auf ein Pferd und jagten mit mir davon.
Wir mußten nun die ganze Nacht ohne Aufhören reiten. Nach dem Ungewitter war es sehr kalt geworden, und weil ich den ganzen Tag im Wasser zugebracht, auch jetzt mit nichts, denn mit dem nassen Hemd bekleidet war, fror mich bald dergestalt, daß mir die Zähne klapperten, bald wiederum überkam mich eine Hitze, daß ich meinte, alle Adern wollten mir zerspringen. Von solchem Fieber gepeinigt, glaubte ich, nun sei’s mein Letztes.
Jener Kroate, der schon vorher den andern gewehrt, als sie mich totstechen wollten, hatte doch endlich ein Erbarmen mit mir, schöpfte mir ein wenig Wasser und sagte, er wolle die, welche mich im Turme ausgeraubt und die noch hinter uns seien, ansprechen, daß sie mir etwas von meinen Kleidungsstücken verabfolgen ließen. Er kam aber bald wieder zurück und brachte mir nichts, denn eine Kugel in Papier gewickelt, die habe ihm der, welcher meine Kleidungsstücke genommen (welcher wohl der Paradeiser gewesen sein mag), gegeben und gesagt: die habe er unter meinen Habseligkeiten gefunden, und sollte ich mir sie durchs Hirn jagen, dann sei ich aller Not los und ledig. — Es war aber das die Kugel, die ich und Olufsohn in meinem Küraß gefunden, als ich bei Nördlingen niedergeworfen war, und die ich mir zum Andenken aufgehoben hatte. So bin ich denn in großer Krank[S. 113]heit und andauerndem heftigem Fieber von dem Haufen nach Breisach geschleppt worden mit noch andern der Unsrigen, welche man gleichfalls in der Schlacht gefangen hatte.
Die Kaiserlichen drangen mir nach auf dem Fuße (19. Kap.)
Herzliebe Eltern! Was ich da für ein Elend durchgemacht, kann meine Feder nicht beschreiben. Da dachte ich oft an die Geschichte von der Zerstörung Jerusalems, welche in unserer Kirche zu Sommerhausen alljährlich am zehnten Trinitatissonntag vorgelesen wurde. Alle die Greuel, welche in Jerusalem geschehen, sind auch zu Breisach vorgekommen, und das ärgste habe ich selber mit erlebt. — Ach! zu mir hatte auch mein Heiland schon lange Jahre das Wort gesprochen: „Oh, wenn du es wüßtest, so würdest du es auch bedenken zu dieser deiner Zeit, was zu deinem Frieden dient!“ — aber es war vor meinen Augen verborgen, auch jetzt noch, bis ich endlich mir’s nicht mehr verhehlen konnte, daß seine Gerichte anhüben über mir zu geschehen.
Bereits als wir ankamen, waren in der Festung nur sehr wenig Lebensmittel vorhanden, weil schon seit länger das schwedische Heer alle Zufuhr abgeschnitten. Es waren unserer gegen fünfzig Gefangene, und wir wurden im Stockhaus untergebracht. Ich mit noch zwölf andern wurde in einen feuchten Keller geworfen, in welchem nur ein kleines Luftloch angebracht war. Keiner konnte den andern sehen, sondern wir saßen naß und frierend Tag und Nacht in Finsternis. Zum Lager hatte ich ein wenig Stroh, und da ich sehr krank und schwach war, nahmen meine Kameraden das wenige Brot, das täglich unter uns ausgeteilt wurde, hinweg, so daß ich sechs Tage lang nicht eine Krume bekam. Ich achtete es nicht sonderlich, weil ich ohnehin zu sterben meinte, aber ich kam wieder ein wenig zu Kräften, und nun wurde[S. 114] ich von unsäglichem Hunger gepeinigt: unsere Not war erschrecklich, — aber wir sollten noch Schrecklicheres erleben.
Die Festung ward jetzt von dem Herzog Bernhard selber aufs ernstlichste belagert, der von Überläufern gehört hatte, daß die Besatzung nahe am Verhungern sei, und nun bekamen wir bald nichts mehr zu essen als ein wenig Roß- oder Hundefleisch, und der Schließer meinte, das sei noch alles viel zu gut für uns, „da kaiserlicher Majestät Soldaten auch nichts anderes zu essen hätten“. Mit Anfang Dezembers, als die Belagerung andauerte, ward auch das uns nicht mehr gereicht, sondern es blieb der Schließer ganz aus, und wir meinten, wir seien bestimmt, des Hungertods zu sterben, deswegen mehrere einen großen Tumult anfingen, heulten und an die Türe schlugen. Endlich kam derselbe wieder und sagte: er sei etliche Tage krank gewesen, könne uns aber nichts geben, weil die draußen auch nichts hätten. Es lägen jeden Morgen zehn bis zwölf Mann verhungert auf den Gassen. Der Kommandant zahle für einen gedörrten Apfelschnitz einen Straßburger Pfennig, die Pferde, Hunde und Katzen seien sämtlich geschlachtet, die Soldaten äßen Kuh- und Schafshäute, ja sie scharrten die Körper aus, die schon etliche Tage in der Erde gelegen, und äßen dieselben, der Kommandant aber wolle die Festung nicht übergeben, — so sollten wir selbst zusehen, was wir tun könnten, uns das Leben zu fristen!
Auf diesen Bescheid hin entstand anfangs ein allgemeines Weinen und Schluchzen, bald aber sah’s aus, als ob alle rasend geworden. Etliche beteten, wie jeder noch von seiner Kindheit her ein Gebet auswendig wußte, fingen aber mitten im Beten an zu fluchen und zu lästern, andere lachten hell auf, wieder andere fielen einander an wie reißende Tiere und würgten sich bis auf den Tod, darunter stöhnten[S. 115] wieder einige Sterbende, und was mit den Toten geschah, die alle unbegraben in dem Keller liegen blieben, will ich euch nicht sagen, — denn ihr würdet’s doch nicht glauben.[3][S. 116] Ich haderte mit meinem Gott, daß Er in solch unmenschliches Unglück mich gestoßen, und begehrte nichts weiter als auf der Stelle zu sterben. Da ich von Tag zu Tag immer schwächer geworden, hoffte ich, daß dies bald geschehen werde, aber Gott in seiner Barmherzigkeit wollte mich so nicht hinfahren lassen, sondern noch eine Frist zur Buße geben — freilich eine letzte.
Etwa eine Woche vor Weihnachten kam der Schließer wieder, öffnete die Türe und rief — denn heruntergehen konnte er nicht wegen des Moder- und Totengeruches — von oben herab uns zu: wenn noch einige von den Gefangenen am Leben seien, so sollten sie hervorkommen, — es sei ein Akkord abgeschlossen zwischen dem Kommandanten und dem Herzog, und die Festung werde jetzt übergeben. Unser sechs waren noch am Leben, und wir erhoben uns und wankten die Treppe hinauf. Als wir oben angekommen, wurden wir in den Hof geführt, wo eben Brot, das der Herzog geschickt, unter die Besatzung verteilt wurde. Da sahen wir, daß der Schließer nicht gelogen, denn die Soldaten sahen aus wie Gespenster, taumelten im Hof hin[S. 117] und her, und viele, welche jählings und zu viel von dem Brot gegessen, fielen um, zuckten ein wenig und waren des Todes. Als wir auch einige Bissen verschlungen, begann der Ausmarsch. Laut des Akkordes durfte die Besatzung mit fliegenden Fahnen, Trommeln und Pfeifen, brennenden Lunten und Kugeln im Munde abziehen, aber es war ein Anblick zum Erbarmen: die Mannschaft konnte sich kaum auf den Füßen halten, der Kommandant, Freiherr von Reinach, selber mußte von zwei Offizieren des Herzogs am Arme geführt werden. Wer von der Besatzung schwedische Dienste nehmen wollte, durfte daran nicht gehindert werden, wir Gefangene sollten wieder an unsere Regimenter übergeben werden.
Als der Herzog unser ansichtig ward und hörte, daß unser dreißig im Stockhaus vor Hunger gestorben, geriet er außer sich vor Zorn und rief dem von Reinach entgegen: er solle zwar, wie ihm versprochen, durch die Armee marschieren, dann aber wolle er ihn wegen des tyrannischen und unchristlichen Verfahrens gegen seine armen gefangenen Soldaten samt allen den Seinigen niedermachen lassen. Der Kommandant fiel vor ihm nieder und küßte seine Stiefel: er habe die Gefangenen nicht schlimmer gehalten wie seine eigenen Soldaten; auch der Breisachische Kanzler, Herr Vollmar, welcher uns bei unserer Ankunft schwedische Seehunde genannt hatte, tat, mit einem schwarzen Kleid angetan und einen Stab in der Hand, drei Fußfälle und bat mit aufgehobenen Händen um Gnade. Endlich, da auch die hohen schwedischen Offiziere ein gut Wort einlegten, ließ sich der Herzog, wiewohl mit großer Mühe, bewegen, den Akkord zu halten.
Als nun die Besatzung eingeschifft wurde, um mit Ausnahme weniger, welche schwedische Dienste nahmen, den[S. 118] Rhein hinunter gebracht zu werden, begab ich mich langsam nach einem Dörflein, wo unser Regiment liegen sollte. Da hoffte ich, am ehesten meine vorige Gesundheit wieder zu bekommen, und dann wollte ich den Major Taupadel an sein gegebenes Versprechen erinnern. So jämmerlich es auch um mich bestellt war, weidete ich mich doch an dem Gedanken, wie meine Kameraden sich freuen würden, wenn ich, den sie sicher tot wähnten, wieder heimkehrte, und gönnte mir kein Anhalten, bis ich das Dorf erreicht. Bald gewahrte ich einen Haufen Dragoner, und darunter einige, die meine guten Freunde und Kameraden gewesen waren. Ich trat unter sie und bot ihnen die Hand zum Willkomm. Sie kannten mich nicht, — denn ich sah aus wie ein Gerippe, auch war seit meiner Gefangenschaft, in der wir nie ein Schermesser bekommen, mir Bart und Haar unmäßig gewachsen, und statt der Kleider trug ich zerrissene Lumpen an meinem Leib. Sie fuhren aneinander, als ich unter sie trat, und fragten barsch: wer ich sei und was ich wolle? Ich nannte ihnen meinen Namen, — da fingen sie laut an zu lachen und riefen: „Was? das ist der Schreiber, der St. Georg, der so stattlich einherstolzierte und der beim Wittenweyerer Turm Offizier geworden? Wie führt dich der Teufel wieder daher und in solchem Aufzug?“ — Ich erwiderte, daß ich in Breisach gefangen gewesen und Unsägliches ausgestanden, und daß sie mir mit etwas Kleidern und Geld behilflich sein möchten; sie lachten aber noch ärger und schrien: „Geh ins Lazarett! denn du siehst nicht aus, als solltest du noch einmal ein Pferd besteigen. Du magst freilich mehr Läuse als Dukaten mitgebracht haben, aber wir können dir nicht helfen: die letzteren sind bei uns auch rar geworden, seit wir vor dem Rattennest liegen mußten.“
Ich merkte wohl, daß sie mich für einen Mann des[S. 119] Todes achteten, weil sie sonst nicht das Herz gehabt hätten, mir solche Reden zu geben. Ich würdigte sie auch weiter keines Wortes, sondern wandte mich und wanderte dem Lazarett zu, während ich sie immer noch lachen hörte. Ich weinte vor Zorn, denn ich hatte vielen von ihnen im Glücke Gutes getan, und sie hatten mich wohl tausendmal Bruder genannt, und jetzt in meinem Elend bewiesen sie mir ihre Bruderliebe durch Spott und Gelächter.
Im Lazarett, das in einem Bauernhause eingerichtet war, ward ich vorderhand nicht aufgenommen, weil ich von Ungeziefer wimmelte, sondern in einen Schweinestall gewiesen, bis man Zeit habe, mich zu säubern und einige Kleidungsstücke aufbringen könne. Da fiel ich nieder auf das Stroh und — ich weiß nicht, ob wegen des Ganges, der mir sehr wehe getan, oder wegen der Strapazen, die ich seit meiner Gefangenschaft ausgestanden — plötzlich quoll mir das Blut wie ein Strom aus dem Munde, ich ächzte und stöhnte und versuchte zu rufen, aber niemand hörte mich oder wollte mich hören, und so schwamm ich denn endlich in meinem Blute, die Sinne fingen an mir zu vergehen, und nun meinte ich ganz gewiß, es sei aus!
Mit einem Male hörte ich jemand laut rufen, konnte aber die Stimme nicht erkennen, denn es brauste mir vor den Ohren: „Was! da hinein habt ihr ihn gelegt, ihr Hunde?“ Die Türe des Stalles fuhr auf, und ich öffnete die Augen, zu sehen wer komme. — Es war Olufsohn. Als er meiner ansichtig ward und mich in meinem Blute schwimmen sah, kniete er zu mir nieder, küßte mich, indem er weinte wie ein Kind, „Bruder, Bruder, ich hab immer gehofft, dich noch am Leben zu finden, weil wir nirgends eine Spur von dir entdecken konnten; aber wehe, daß ich dich also finden muß.“ — Ich nahm seine Hand und sagte:[S. 120] „Gott segne dich, Olufsohn! So hab ich doch noch einen guten Freund in der Welt und will gerne sterben!“ — Er aber erwiderte: „Das wolle Gott nicht, bei dem kein Ding unmöglich ist, der kann mir auch wohl noch meinen Freund erhalten!“ Er erzählte, wie er keinen Gedanken gehabt, ich könnte bei den Gefangenen sein; als er aber auf dem Schlosse, wo der Herzog ihn auch zu dem großen Bankett geladen, das er zu Ehren der gewonnenen Festung feiere, gewesen, sei ihm die Liste der Gefangenen in die Hände gekommen, worin er meinen Namen gelesen. Da sei er eilend aufgebrochen, habe allenthalben mich gesucht und endlich erfahren, daß ich dem Lazarett zugewandert.
Nun bat ich ihn, Sorge zu tragen, daß ich noch einmal gesäubert und ins Lazarett aufgenommen würde, wo ich gerne sterben wolle; er aber sagte: „Was redest du da, mein Bruder? Was mein ist, das ist dein, und wo ich bleibe, da sollst du auch bleiben,“ sprang auf und rief nach dem Lazarettvater, daß ich augenblicks in sein Quartier gebracht und der Feldscherer nachgeschickt würde.
Dies geschah, — und als wir ankamen, entkleidete und wusch er mich mit seinen eigenen Händen, zog mir reines Linnenzeug an und legte mich in sein eigen Bett, drauf, als der Feldscherer gekommen und mir einen Arzneitrank zurückgelassen, ließ er sich ein Streulager neben meinem Bett machen, legte sich aber nicht nieder, sondern saß die ganze Nacht an meinem Bett, reichte mir stündlich meinen Trank, hielt meine Hand in der seinen und sprach mir mit freundlichen Worten Trost zu. Und darin ward er nicht müde, sondern ist sechs Tage und sechs Nächte lang, außer wo er des Dienstes wegen mußte, nicht von meiner Seite gekommen, bis es wieder in etwas besser mit mir zu werden schien.
Ja, herzliebe Eltern! dieser Mann, den ich das Schwert[S. 121] führen sah wie einen Gideon, der im Streite alles vor sich niederwarf, trotzig und erschrecklich, wie ein junger Löwe, wenn er auf seinen Raub sich stürzt, dieser selbe Mann ist an mir ein Samariter gewesen, hat mich gepflegt, als ich ein Ekel aller Welt dalag, wie eine Mutter ihr Kind pflegt, mich gehoben und gelegt mit linder Hand. Ach! ich wußte es ehedem nicht, wie ein rechter Christ beides ist: tapfer wie ein Löwe und sanft wie ein Lamm, hie aber habe ich’s erfahren. O du mein Heiland, der du einst sagen wirst zu den Gerechten: „Ich bin hungrig gewesen und ihr habt mich gespeist, ich bin durstig gewesen und ihr habt mich getränkt, ich bin nackt gewesen und ihr habt mich bekleidet, ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht, ich bin ein Gast gewesen und ihr habt mich beherbergt!“ vergiß es nicht, was dein Knecht Olufsohn dir an mir armem Menschen getan, und laß ihn einst herrlich geschmückt mit der Krone der Ehren zu deiner Rechten stehen.
Wie gesagt, eine Weile schien es besser mit mir zu werden unter Olufsohns Pflege, und ich hoffte, bald wieder vollkommen gesund zu sein und meinen Dienst wieder tun zu können. Von Olufsohn hatte ich gehört, daß der Major Taupadel zwar in der Wittenweyerer Schlacht gefangen sei, daß aber viele vorhanden, die sein Versprechen gehört, mir ein Fähnlein zu geben. Er selber gelte etwas bei dem Oberst Gordon, und selbiger habe auch gesagt, er werde nicht anstehen, mir zu geben, was ich wohl verdient; aber das Fieber, das mich seit jener Nacht nach dem Wittenweyerer Treffen nicht ganz verlassen, wollte nicht weichen.
An einem schönen Tage wollte ich mein Pferd besteigen, das Olufsohn mittlerweile verpflegt hatte, und ein wenig in seiner Gesellschaft ausreiten. Das Pferd erkannte mich noch, kehrte seinen Kopf mir zu und wieherte hell auf vor[S. 122] Lust, als ich ihm nahte, aber es wandelte mich eine Schwäche an, daß ich es nicht besteigen konnte und wieder heimkehren mußte.
Am Abend hörte ich Olufsohn außen vor der Türe den Feldscherer fragen, wie es denn eigentlich mit mir stünde und wann ich wieder vollkommen gesund sein würde? — „Mit dem ist’s aus!“ lautete die Antwort, „die unmenschlichen Strapazen haben ihn fertig gemacht. Vielleicht daß er noch ein paar Jährlein es treibt, wenn er die Armee verläßt und sich zur Ruhe setzt. Er hat ein Zehrfieber und muß jedenfalls seinen Abschied nehmen! Bringt’s ihm glimpflich bei, er dauert mich und scheint keinen Gedanken daran zu haben.“
Den hatte ich freilich nicht! Ich hatte fest gehofft, in einigen Wochen würde ich wieder vollends zu Kräften gekommen sein. „Dies das Ende? — Nun, so fahr hin,“ rief ich in bitterem Unmut, „fahr hin Roß und Schwert und Ruhm und Ehre! Ein böser Unstern hat von Jugend an über mir gewaltet, — wider den hilft kein Streiten!“
Olufsohn kam spät zurück und brachte die Nachricht mit, daß auf morgen Mittag die ganze Armee zum Aufbruch kommandiert sei, er habe schon Sorge getragen, daß ich dem Regiment auf einem Bagagewagen nachgefahren würde. — „Ich gehe nicht mit, Olufsohn!“ sagte ich. — „Nicht mit?“ fragte er verwundert, „was hast du denn im Sinn?“ — „Heimgehen will ich,“ war meine Antwort, „heimgehen zu meinen alten Eltern, will ihnen, von denen ich in Schimpf und Schande weggelaufen bin, nun mein Elend heimtragen und mit Fingern auf mich deuten lassen von den Leuten, daß ich als ein Spitzbube gegangen und als ein Bettler wieder gekommen bin.“ — „Nicht also, mein Bruder!“ sagte Olufsohn, „hadere nicht mit deinem Gott; wer hat[S. 123] des Herrn Sinn erkannt und wer ist sein Ratgeber gewesen? Gib dich in seinen Willen und trau ihm! Mir sagt eine Stimme, daß du’s ihm noch danken wirst!“ Ich schüttelte den Kopf und bat ihn, er möge nur dafür Sorge tragen, daß ich morgen noch meinen Abschied von dem Obersten bekomme. — „Ist’s also ernst?“ fragte er traurig. — „Ja, ’s ist ernst!“ erwiderte ich, „ich habe alles gehört, was der Feldscherer mit dir geredet hat. Morgen scheiden wir!“
In der Frühe des folgenden Tages war Olufsohn bei dem Obersten gewesen und hatte um meinen Abschied angehalten. Ich holte ihn selber ab, und der Oberst reichte mir die Hand, sagte, daß ihm weh geschehe, mich ziehen zu lassen, zahlte mir meinen Sold aus, als ob ich gedient hätte, und wünschte mir zum Abschied Gottes Segen auf den Weg.
Als ich heimkam, sagte Olufsohn, ich solle ihm mein Pferd verkaufen, es sei gar ein treues und stattliche Tier geworden, und er wolle es gut halten und mir zum Angedenken reiten. Ich wußte wohl, daß er nur einen Vorwand begehre, mir etwas Reisegeld zu geben, — denn das Pferd gehörte ihm ohnehin, da er mir’s geschenkt nach dem Treffen bei Nördlingen, — ließ mir aber den Handel gefallen, um ihm seine Freude nicht zu verderben. Einen großen Beutel mit Geld, den er mir reichte, wies ich zurück und bat nur um ein weniges, worauf er mir ein Päckchen zustellte, in welchem ich nur etliche Taler in kleiner Münze vermutete. Dann ergriff ich einen Stab und wanderte mit meinem Bündlein durchs Lager, und Olufsohn gab mir das Geleite.
Die Regimenter waren fertig zum Aufbruch, und standen zum Teil schon in Reih und Glied. Als ich bei den Dragonern vorbeikam, hatten sie alle grüne Reiser auf den[S. 124] Hüten, grüßten mich freundlich und riefen mir ein Lebewohl nach, das ich erwiderte. Am wehesten geschah mir, als ich meines Rosses ansichtig ward, das Olufsohns Reitknecht am Zaume hielt — ich mußte schnell mich abwenden, denn meine Augen wurden naß. Vor dem Lager machten wir unsern Abschied. Da gab mir noch Olufsohn zum Andenken eine kleine Bibel, die er oft gebraucht; ich dankte ihm für alle Lieb’ und Treue, die er mir bis jetzt bewiesen. Er meinte, wenn nicht hier, würden wir doch im Himmel einander wiedersehen, küßte mich und ging schnell davon.
Ohne mich mehr umzusehen, stieg ich langsamen Schritts den Hügel hinan, über welchen mein Weg mich führte. Als ich oben angekommen, konnt’ ich’s doch nicht übers Herz bringen, sondern stand still, noch einen Blick zurückzuwerfen, — sie setzten sich eben in Marsch, einzelne Reiter sprengten hin und wieder, die Trommeln und Pfeifen klangen durchs Tal, die Fahnen wehten und mit lautem Hallo und klingendem Spiel schloß ein Haufen dem andern sich an und gab eine Freudensalve! — — „Was geht’s dich an?“ sagte ich, „dein Weg ist der weiteste!“ wandte mich und zog meine Straße.
[3] Daß unser Valentin nicht übertreibt, sehen wir aus der Schilderung eines Zeitgenossen, welcher Theatr. Eur. III also schreibt:
„Anlangend aber den erbärmlichen Zustand und erschreckliche Hungersnot, so die guten Brysacher in dieser viermonatlichen Belagerung, sonderlich aber die letzten acht Wochen, ausstehen müssen, ist nicht allein dieselbe mit der Feder kaum zu beschreiben, sondern auch schwer zu glauben. Und ist diese Belagerung ja so memorabel und denkwürdig, als wohl eine sein und aus den alten Historien vorbracht werden kann. Was soll man von dir heutzutag schreiben, du armes Brysach, die du mit keiner geringen Belagerung von deinen Feinden eingeschlossen, und noch wohl was anders und abscheulichers, denn diese und andere, vorzunehmen bist gezwungen worden?
„Mußt du nicht auch mit herzbrechenden Schmerzen erfahren, daß in einem einzigen Tag acht deiner vornehmen Kinder auf einmal verloren und ohne Zweifel mit hungrigen Zähnen zerrissen worden? Mußt du nicht mit bluttränenden Augen ansehen, daß die toten Körper, so schon etliche Tage in der Erden vergraben gelegen, wiederumb herausgescharret, aufgeschnitten und ihre inwendige Gedärme weggefressen worden?
„Kannst du es ohne Mitleiden gedenken, daß deine arme, gefangene Soldaten im Stockhaus, von dem bittern Hunger gezwungen, mit den Fingern Löcher in die Mauern gearbeitet, sich mit dem schädlichen Kalk zu erlaben? Oder empfundest du es nicht, wann derselben einer oder mehr, wer es sei, vor Hunger verschmachtet, und selbiger also tot von seinen besitzenden, gleich hungrigen Kameraden mit knürbelnden Zähnen zerrissen, und ohnegekocht (als den 4. November und 2. 12. Dezember im Stockhaus geschehen) aufgefressen wird?
„Ist dies ein geringes, wann deine eigene Knechte und Kriegsgediente einen armen Jungen (als eines Pastetenbäckers widerfahren) bereden, er sollte ihnen nachfolgen, sie wollten ihme ein Bißlein Brots geben, denselbigen aber nachmals in ihrem Quartier jämmerlich schlachten und verzehren?
„Oder sollte es dir nicht schmerzlich wehe tun, wenn du am Morgen aufstehest und mußt bisweilen zehn, bisweilen mehr oder weniger Toten Körper auf öffentlicher Gassen liegend ansehen?“
„Möchtest du nicht dein Angesicht verstellen und die Haar deines Haupts ausrufen, wann du an deinen Wohlstand zurückdenkst, nunmehr aber mit unwilligen Augen anschauen mußt, daß vor ein Malter Kleyen 132: fl., vor ein Ei 1 fl., vor ein Pfund Roßkutteln 7 Batzen, vor zwei Hinterviertel von einem Hund 7 fl., vor eine Ratte 1 fl. gegeben worden?“
„Mehr als 2000 Roß-, Ochsen-, Küh-, Kälber- und Schafshäute, eine in die andere vor 5 fl. verkauft, aufgegessen, ja alle Hund und Katzen verspeiset worden? Und was soll ich viel sagen und deine Wunden wiederumb aufreißen, da doch dein zugestandenes Unglück ohne Zweifel schon in der ganzen Welt erschollen und bei allen Völkern ausgebreitet ist, deren eins Teil sich darüber belustigen, andere aber zu trauern Ursach genommen.“
Als charakteristisch für jene Zeit möge auch das auf die Eroberung von Breisach verfertigte Distichon Chronologicum eine Stelle finden. Es lautete: Heroi in victo Bernhardo de Weymar Germano Achilli, de expugnato Brisaco Carmen Chronologicum:
„InViCto fortIs CeCIDIt BrIseIs ACHILLI
IVngitVr & tanto DIgna pVeLLa VIro.“
Als ich eine Stunde etwa durch den Wald gegangen war, befiel mich eine große Mattigkeit; auf der Brust fühlte ich ein heftiges Stechen, mein Atem ging kurz und schwer, und die Sonne, obgleich wir erst im Anfange des[S. 125] Lenzes waren, brannte sehr heiß, — so legte ich mich denn nieder in den Schatten eines Buchbaumes. Ich zog das Päckchen Geld heraus, das Olufsohn mir gegeben, um zu sehen, wie weit mein Reisegeld etwa langen dürfte, da bemerkte ich, daß dieser treue Freund einen Kunstgriff ausgesonnen, um mich wider meinen Willen nicht nur mit dem Notwendigen, sondern mit Überfluß zu versehen: es blinkten mir nämlich statt der erwarteten wenigen Taler lauter Goldstücke entgegen, viel mehr als mein Pferd wert war. Beschämt und gerührt von seiner Freundestreue nahm ich auch die kleine Bibel aus der Brusttasche, die er mir eingehändigt hatte beim Abschied. Als ich sie betrachtet hatte, tat ich, wie der Aberglaube es im Brauch hat, aufs Geratewohl einen Griff hinein: der Spruch, der mir zuerst vor Augen geraten würde, sollte mir eine Vorbedeutung und ein Fingerzeig sein, davon eine Anwendung auf mich zu machen. Ich traf gerade das siebte Kapitel des Buches Josua, wo Gott dem Volk Israel, als nach der verlorenen Schlacht wider die Leute von Ai sein Herz verzagt und zu Wasser geworden war, durch Josua berichten läßt, was die Ursache seines Unglücks gewesen sei. Mein Auge fiel gerade auf den dreizehnten Vers, welcher lautet: Also sagt der Herr, der Gott Israels! Es ist ein Bann unter dir, Israel, darum kannst du nicht stehen vor deinen Feinden, bis daß ihr den Bann von euch tut.
Ich mußte diesem Worte nachdenken! — Das hatte ich ja selbst schon seit den letzten fünf Jahren gemeint, daß ein „Bann“ auf mir liegen müsse, daß ein böser Unglücksstern mich verfolge und mir allenthalben in den Weg trete. Hatte ich mich jemals verzagt und träg finden lassen, mein Glück zu machen? Hatte ich nicht gekämpft herzhaft wie ein[S. 126] Mann, Leib und Leben dran gewagt mit Freuden, Lob und Auszeichnung davonzutragen? Hatte ich nicht sozusagen das Glück oft schon mit Händen erfaßt, und siehe, unter den Händen war mir’s wieder zerronnen!
Ich gedachte Olufsohns. — Wie ganz anders war’s dem gelungen! Was war er mehr gewesen als ich, da er in das Regiment eintrat und, ein armer Bauernjunge, mit mir im Quartier lag bei Nürnberg? Er hatte nicht tapferer gekämpft, nicht mehr daran gesetzt als ich auch, und jetzt zog er frisch und fröhlich hinaus in die Zukunft, während ich heimzog nach so viel abgestandenen Mühen und Gefahren — ein Landläufer und Bettler, wie ich gekommen, dazu siech und krank, nur Elend und einen frühen, ruhmlosen Tod vor Augen. Warum hat ihn ein Segen begleitet, während auf mir allenthalben ein Bann gelegen?
Da begann es plötzlich in meiner Seele Tag zu werden, da fiel mir’s wie Schuppen von den Augen — es war ein Unterschied, ein großer Unterschied zwischen mir und ihm: er hatte seines Vaters Segen beerbt, und seiner alten Mutter Gebet und Fürbitte hatte ihm freie Bahn gemacht. Ein Gebot hatte ich unter die Füße getreten, er aber hatte es treulich erfüllt, das vierte Gebot: „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren!“ und der Herr war Richter gewesen zwischen mir und ihm und hatte an ihm seine Verheißung erfüllt: „auf daß dir’s wohl gehe und du lange lebest auf Erden!“ Mich aber hatte er vom Unglück verfolgen lassen und meinem Leben ein frühes Ziel gesetzt. „Du bist ein untreuer Sohn, auf dem kein Elternsegen ruht, siehe! das ist der Bann, der auf dir liegt!“ So sagte mir die Stimme meines nun aufgewachten Gewissens.
Jetzt ward mir’s, wie wenn eine Kammer in meiner Erinnerung aufgetan würde, die bisher verschlossen gewesen und an der ich bis auf den heutigen Tag mit Vorbedacht vorübergegangen war. Ich sah Euch, herzliebe Eltern, wie ich vor sieben Jahren Euch gesehen, nur daß Euch, lieber Vater, das Haar weiß geworden vor Gram um den Erstgeborenen, der Eure Freude gewesen, nur daß Euch, liebe Mutter, Euer edles Angesicht vom Kummer entstellt und Eure Gestalt gebrochen war unter allzuschwerer Last. Jetzt sah ich Euch in dem Stüblein zu Sommerhausen um den Tisch sitzen, still und traurig, oder hörte ich Euch den andern Geschwistern erzählen, daß „wenig und böse“ die Zeit Eures Lebens gewesen um des Verlorenen willen. Wie ein Traum lag mein Kriegsleben hinter mir: es war mir, als sei ich erst jetzt, wo ich den Kriegsrock abgelegt, wieder ich selber geworden, die Betäubung war aus, in der ich sieben Jahre lang gewesen war, — ich konnte deutlich wieder jene Herzensangst fühlen, in der ich damals vor Euch, lieber Vater, aus dem Rathaussaale wankte. Hier stand ich wieder mit meinem Bündlein, gleich wie ich damals zitternd vor dir stand, mein lieber Bruder Johannes, als ich beschlossen hatte, von Euch hinweg zu fliehen.
„Wehe, wehe, wehe!“ rief ich aus, „ich habe nicht gehorcht der Zucht meines Vaters und habe verlassen das Gebot meiner Mutter, darum liegt der Bann auf mir, und meine Leuchte soll verlöschen mitten in der Finsternis. Gerechter Gott, hab Erbarmen — nur so lange noch, bis ich noch einmal Vater und Mutter gesehen von Angesicht zu Angesicht, bis ich ihnen abgebeten alles Herzeleid, bis ich unter ihre gerechten Vorwürfe mich gedemütigt und durch meine Tränen sie wieder mit mir ausgesöhnt habe. Fort, fort, bis ich meinem Vater wieder begegne und ihm sagen[S. 128] kann: ‚Vater, ich habe gesündiget in dem Himmel und vor dir, ich bin hinfort nicht mehr wert, daß ich dein Sohn heiße!‘“
So rafft’ ich mich auf und wanderte Tag um Tag, so lange mein Atem anhielt und meine Füße mich trugen. Meine Schwachheit nahm zu mit jeder Stunde Wegs, aber es zog mich vorwärts wie mit Haaren, und ich gönnte mir nicht Ruhe noch Rast.
Nach vierzehn Tagen etwa sah ich den Mainstrom wieder. Nun hoffte ich bald am Ziele zu sein, aber mein Gott hatte es anders beschlossen. Hier lieg ich nun seit jener Zeit und nehme jeder ruhigen Stunde wahr, von meinem traurigen Leben Euch zu erzählen. Ach, sehen werd ich Euch nicht mehr!
Als ich an ein Dörflein kam unterhalb Wertheim — Bestenheida genannt — konnt ich vor heftigem Stechen kaum mehr einen Atem schöpfen. Ich fiel hin neben den Weg, als es schon dunkelte, und ein heißer Blutstrom stürzte mir wiederum aus dem Halse, wie damals, als ich Breisach verlassen. Wie lange ich neben dem Weg gelegen, weiß ich nicht, endlich kam ein Bauer gefahren, und als er mich ächzen hörte, lud er mich auf seinen Wagen und fuhr mit mir davon. Ich fiel in eine schwere Ohnmacht, aus der ich erst später wieder zu mir kam. Beim Erwachen fand ich mich zu Bette liegen in einem großen, leeren Zimmer.
Ich konnte nicht aufstehen. Endlich trat ein kleines, etwa zehnjähriges Mägdlein herein, sah nach mir, und als es bemerkte, daß ich die Augen offen hatte, trat es heran und wünschte mir einen guten Morgen. Ich fragte, wo ich denn sei. — „In Wertheim im Armenleutehaus!“ erwiderte das Kind. „Gestern nacht hat Euch ein Bauer gebracht. Es hat die Pest hier in der Stadt regiert, und es ist alles im Hause[S. 129] gestorben; ich allein bin übrig geblieben und gehe den kranken Leuten zur Hand.“
„Wer bist du denn, mein gutes Kind?“ fragte ich. — „Ein Waisenkind! Mein Vater war Bauer droben auf des Grafen Hof, dann sind eines Tages die eisernen Männer gekommen, haben unser Haus abgebrannt und den Vater totgeschlagen, meine Mutter ist an der Pest gestorben und mich haben sie hierher getan.“
„Ach, da kannst du auch etwas erzählen,“ sagte ich, — „der Krieg bringt viel Unglück in der Leute Häuser.“
„Nein,“ sagte das Kind, „erzählen kann ich nichts, aber beten! Meine Mutter hat mich’s gelehrt — ich bete alle Tage! — Soll ich einmal beten?“ — „Ja, bete!“ sagte ich, und das Mägdlein faltete die Hände und hub an:
Ja, Herr! Aus dem Munde der Unmündigen und Säuglinge hast du dir ein Lob zugerichtet! — Ich hatte das Lied auch in meiner Jugend gelernt, und wie eines alten, längst gekannten Freundes Zuspruch drangen des Liedes Worte in mein Herz. Als das Kind den zweiten Vers anhub, mußte ich auch einstimmen und fing an laut mitzubeten, und als wir den letzten Vers geendet, sagte ich: „Ach, du mein liebes Kind, Gott sei Dank, du hast mich auf die rechte Straße geleitet! Ja, der Herr, mein Gott, ist meine Zuversicht und mein Leben, denn Menschenhilfe ist mir kein nütze!“
„Weißt du mir nicht einen frommen Seelsorger, der’s nicht verschmäht, einen armen, kranken Menschen mit seinem Zuspruch aufzurichten?“
„O ja wohl!“ erwiderte das Mägdlein, „der alte Pfarrherr ist schon dagewesen, — aber Ihr schliefet gerade, und er wollte Euch nicht aufwecken. Heute abend kommt er wieder.“
Wirklich kam derselbe am Abend, und ist nun seit zehn Wochen jeden Tag bei mir gewesen; er ist mir ein Bote geworden, der den Frieden verkündigt. Als ich ihm meine Geschichte erzählt hatte, wie ich ein so ungeratener Sohn gewesen und meinen Eltern entlaufen sei, wie aber nun all[S. 131] mein Sinnen darauf ginge, heimzukehren und mich zu demütigen und ihre Vergebung zu erbetteln, und wie ich mich nun, da es den Anschein habe, als sollte ich wegen meiner Krankheit nicht mehr von hier fortkommen, an Gott wenden und auf ihn bauen wolle, daß er noch mir zu meinem letzten Wunsche verhelfen werde, und wie mich des Kindes Lied zu solchem Glauben erweckt, sah er mich mit einem freundlichen, aber doch ernsten Blicke an und sagte: „Das ist wohl alles recht und löblich, mein Sohn, aber ich will Euch nicht verhehlen, daß Euer Schaden tiefer sitzt: Ihr müßt tiefer, viel tiefer graben! Womit Ihr Eure Eltern betrübt, dessen ist viel weniger, als womit Ihr Euren himmlischen Vater betrübt habt. Es ist recht, daß Ihr erkennt, wie Ihr an ihnen Euch versündigt habt, das rechte Bußgebet aber steht Psalm 51 und lautet: An dir allein hab ich gesündigt und Übel vor dir getan, auf daß du recht behaltest in deinen Worten! Das Bußgebet scheint Ihr mir noch nicht getan zu haben. Möge Gott Euch Eure Eltern noch einmal sehen lassen, — ich gönn Euch herzlich diese Freude, — aber eine andere Hoffnung muß Euch viel mehr am Herzen liegen, nämlich die, daß er Euch in Jesu Christo Eure Sünde vergibt, daß er um der Fürbitte Eures Heilandes willen, deren Kraft Ihr bis heute noch an Eurem Herzen erfahrt, Euch nicht hinreißt, als wäre kein Retter mehr da, sondern daß er in der elften Stunde noch Euch zu Gnaden annimmt. Eh’ Ihr Euren Frieden mit Euren Eltern macht, macht ihn zuvor mit Eurem Gott. Greift in Eure Brust und erkennet vor allem, was für Jammer und Herzeleid es bringet, den Herrn, seinen Gott, verlassen und ihn nicht fürchten: denn einzig aus der Verachtung göttlichen Worts ist’s gekommen, daß Ihr auch Eure Eltern verachtet. Wenn Ihr aber[S. 132] dies erkannt habt durch den heiligen Geist, der sichtbarlich sein Werk an Eurer Seele hat, dann begehrt des himmlischen Vaters Vergebung, der nicht den Tod des Sünders will, sondern daß er sich bekehre und lebe, und der Euch seinen Sohn Jesum Christum zum Heiland gesetzt hat. Versäumt die Zeit der Heimsuchung nicht ferner, entflieht nicht länger dem Heiland, der Euch nachgehet und sucht, und denket nach dem teuer werten Wort, daß Jesus Christus in die Welt gekommen ist, die Sünder selig zu machen.“
So sprach dieser Mann Gottes zu mir, und Gott tat mir das Herz auf, daß sein gutes Wort eine gute Statt fand. Die züchtigende Gnade des Herrn hatte mit einer scharfen Pflugschar durch alle Trübsale, die über mich gekommen, mein Herzensfeld aufgerissen und der Same des göttlichen Wortes ist in die Furchen gefallen und aufgegangen. Ich bin lange blind gewesen mit sehenden Augen, in Leichtsinn und Verkehrtheit den Weg des Verderbens gewandelt, in der letzten Stunde aber, gerade da, wo ich’s sehen mußte, daß nur noch ein einziger Schritt sei zwischen mir und dem Abgrund ewigen Jammers, — gerade da hat der Herr die Decke von meinen Augen genommen, und nun hab ich’s erkannt und auf den Weg des Lebens mich gewendet. Ich bin der Übeltäter gewesen, den seine eigenen Missetaten ans Kreuz gebracht, aber er, der einmal für uns gelitten, der Gerechte für den Ungerechten, hat auch für mich noch sein Wort gehabt: Wahrlich, ich sage dir, heute wirst du mit mir im Paradiese sein!
Ach, ich habe seitdem viel geseufzt, viel geklagt, bin auch von viel schweren Zweifeln und Anfechtungen geplagt worden. Meine Seele ist, wie’s im Psalm heißt, voll Jammer, und mein Leben ist oft nahe bei der Hölle gewesen, ich bin[S. 133] so müde geworden von Seufzen, ich habe wie David mein Bette geschwemmt und mein Lager genetzt mit Tränen manche Nacht, aber ich habe doch auch immer wieder vernommen das Wort Gottes, meines Heilandes: Fürchte dich nicht, ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein! und darum hab ich großen Frieden. O, ich hab es lebendig und kräftig erfunden, das Wort des Herrn, und scharf wie ein zweischneidig Schwert, und hab es durchdringen gespürt, bis daß es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, aber ich hab’s auch erfunden als die Salbe in Gilead, die alle Wunden heil macht. Gott segne dich, Olufsohn, daß du noch einmal ein Samariter an mir geworden bist und hast Öl und Wein mir gegeben auch für meine arme Seele. O mein Gott, ich hatte viel Bekümmernis in meinem Herzen, aber deine Tröstungen ergötzten meine Seele.
Gott ist mein Zeuge, wie sehnlich ich immer noch wünsche, Euch noch einmal zu sehen und ein Wort der Vergebung aus Eurem Munde zu hören, doch aber — es wird täglich weniger mit mir, und Gott hat’s anders beschlossen. Ich gebe mich darein! Hat er mir die größere Gnade gewährt, daß er mich errettet hat aus den Stricken des Verderbens, in denen ich gefangen lag, will ich nicht murren, wenn er nun die geringere Gnade versagen will. Hab ich Gutes von Gott empfangen, sollt ich das Böse nicht auch hinnehmen?
So lebt denn wohl, herzliebe Eltern! Gottes Lohn für jedes Samenkörnlein göttlichen Wortes, das Ihr von früh an in meine Seele gelegt! — endlich ist’s doch aufgegangen, als das Unwetter der Trübsale es befeuchtete. Vergebt, vergebt! es wird Euch doch eine Freude sein, wenn Ihr am großen Tag des Herrn die kleine Herde beisammen findet, über die Ihr das Hirtenamt geführt, — dort, wo der Erzhirte auch den Verlorenen Euch hinzubringen wird. — Ihr, meine lieben Geschwister, gedenket mein wiederum im Guten und betet, daß Gott Euch nicht auf meinen Weg kommen lasse, — denn auf dem heißt’s: Mit Lust gesündigt, mit Pein gebüßt!
Zehn Tage habe ich bereits an diesem Brief geschrieben, der naß geworden ist von vielen Tränen. Heute muß ich ihn schließen: meine Augen werden dunkel, meine Hand zittert und kann nicht mehr die Feder führen, und die Gedanken vergehen mir wie ein Licht, dem die Flamme gebricht. Sagt auch dem Amtskeller, daß ich ihn tausendmal um Verzeihung bitte wegen alles dessen, was ich ihm zugefügt. Er ist mir stets ein gütiger Herr gewesen und wird einem sterbenden Menschen keinen Groll nachtragen. Laßt auch, wenn Ihr diesen Brief erhaltet, in Sommerhausen, wie es bräuchlich ist, am Sonntag darnach den Pfarrherrn von der Kanzel der Gemeinde kundtun, daß Valentinus Gast in dem Herrn gestorben sei, und weil ich als reumütiger Sünder, aber mit guter Zuversicht auf meinen Heiland aus dieser Welt gegangen, soll er nicht anstehen, wie bei andern Christenleuten auch zu sprechen, daß der Seele Gott genade, dem Leib aber am jüngsten Tage eine fröhliche Auferstehung verleihen wolle mit den andern allen!
Nun erst kann ich sprechen: Was mein Gott will, das gescheh’ allzeit!
Aus sechs Trübsalen hat der Herr mich errettet, so wird auch in der siebten kein Unglück mich rühren. Der Gott, der mich nun durchs finstere Tal führen wird mit seinem Stecken und Stab, der geleite auch Euch, Vater, Mutter und Geschwister, bis wir im himmlischen Jerusalem, der hochgebauten Stadt, uns wiedersehen werden. Bis dahin lebet wohl und gedenket mein in Frieden! Darum bittet Gott und Euch
Euer getreuer Sohn
Valentinus Gast,
der Verlorene, aber Wiedergefundene.
Am 3. Juni 1639.
P. S. Sollte des Herrn Hand dem Lämplein, das schon dem Verlöschen nahe, noch einmal Öl zugießen, werde ich mich zu Euch auf den Weg machen. Daß er mir sauer werden wird, werde ich nicht achten. Kann ich’s nicht mehr hinausführen, und sollte mich unterwegs mein Stündlein ereilen, wird sich wohl ein Christenmensch finden, der meinen Brief Euch zustellt, — ich will das Wenige, was ich noch habe, vor meinem Ende ihm dafür anbieten. Sollt ich allhier sterben, wird der Wertheimer Pfarrherr Euch den Brief sicher übermachen, wie die Straße von dem kaiserlichen Volk wieder frei ist. — Werde ich Euch noch einmal sehen? Ach, wer mir’s sagen könnte! Von außen scheint’s manchmal besser zu werden, aber innen nagt der Wurm! — Nun wie Gott will! Amen, Amen.
Als ich diesen Brief meines Sohnes noch während der Nacht gelesen, verstand ich einmal wieder das Wort der Schrift, daß der grundgütige Gott mehr tut, als wir bitten und verstehen. Aus den bösesten Stunden meines Lebens, aus den schwarzen Nächten des Verzagens und des Weinens war ein lieblicher Glanz des Herrn angebrochen. Meines Sohnes Fall war durch seine Gnade zu einem Auferstehen gemacht worden, und meine Seele freute sich Gottes, meines Heilandes.
Da gedachte ich auch, wie die droben — mein Weib und meine Töchter und mein Johannes — auf den Himmelsbergen schon früher den Glanz des Herrn hatten anbrechen sehen, wie sie, während ich noch in Sorgen und Trauern stand, schon voll Freude ob ihres Valentins Errettung den Herrn gepriesen, denn im Himmel ist Freude über einen Sünder, der Buße tut, vor neunundneunzig Gerechten, die der Buße nicht bedürfen. Bis hieher waren sie mir wohl[S. 137] immer vorgekommen als solche, die geschieden aus großer Trübsal, nun aber sah ich sie auch als die Seligen, angetan mit den weißen Kleidern, und die Palmen in ihren Händen, und verlangte sehnlichst, daß, wenn der Valentin hinüber zu ihnen wandelte, ich auch mitgehen dürfte. Aber Gottes Gedanken waren nicht meine Gedanken! — der alte, unnütze Stamm sollte noch stehen bleiben in Wind und Wetter, nachdem seine Krone und seine Zweige alle dahin waren.
Drei Tage lang pflegte ich noch meinen Sohn, kam Tag und Nacht nicht von seinem Bett, erzählte ihm von der Mutter und seinen Geschwistern und von seinen Gespielen, von denen durch die grausame Pestilenz und durch den Hunger und allerlei Unfälle schier keiner mehr am Leben, betete mit ihm und sprach ihm die Seufzer vor, an denen Kranke und Sterbende sich erquicken. Am Abend aber des dritten Tages vermerkte ich, daß das letzte Stündlein gekommen, und empfahl ihn darum dem getreuen Gott, — derselbe wolle, nachdem er seinen Gang wieder auf den Weg des Lebens geleitet, auch seinen Ausgang in seine gnädige Obhut nehmen. Mein Sohn war zwar bei gutem Verstande, aber seine Gedanken hatten, wie man’s bei derlei Kranken und Sterbenden findet, schon seit seiner Heimkehr einen höheren Flug wie sonst, und seine Reden kamen aus einem höheren Tone und lauteten fast wie weissagend, und es ist das ein Zeichen, daß es der Menschenseele ergeht wie der Harfe, deren Saiten bald zerreißen, wenn sie zu scharf gespannt und zu hoch gestimmt sind.
Mein Sohn lag in seinem Bett, schlief aber nicht, sondern war nur sehr matt, nachdem er den Tag über viel gesprochen, auch noch gesagt hatte, daß er neben seiner Mutter und Geschwistern und neben dem alten Veit begraben[S. 138] sein wolle, ich aber betete bald laut, bald leise, je nachdem ich für ihn oder für mich zu beten hatte.
Als es elf Uhr schlug, kam Hans Ebeling, der auch noch meinen Sohn fleißig besucht hatte, die Straße entlang gegangen, rief die Uhr unter unserem Fenster, wie gewöhnlich und sang dann seinen Spruch:
Da schlug mein Sohn die Augen auf, und der Predigt des seligen Theodoricus an seinem Konfirmationstage gedenkend, sprach er: „Die Elfe, die mit mir zu Gottes Tisch gegangen und dem Herrn Jesu sich angelobet, sind treu geblieben und bereits eingegangen zu ihres Herrn Freude, ich aber wäre schier ein Judas geworden, — doch hat der gnädige Gott noch einen Petrus aus mir gemacht, meine bitterlichen Tränen angesehen und wiederum mich aufgenommen, daß ich nun bald mit meinen elf vorangegangenen Brüdern auch das große Abendmahl feiern und das Brot essen werde im Reich Gottes! — — Gott segne dich, Olufsohn!“
Ich gedachte auch meines Gebetes, das ich damals für die Zwölfe getan, und dankte dem Herrn, daß er es erhört.
Hierauf fiel Valentin wieder in sein Schweigen, bewegte jedoch für sich die Lippen, als ob er leise betete, und hatte die Hände gefaltet. Gegen Mitternacht fing er sehr schwer zu atmen an, konnte nicht mehr sprechen, sondern drückte mir nur bisweilen die Hand und deutete dann wieder gen Himmel, wobei seine Augen glänzten und sein Mund lächelte, so daß ich, obwohl sehr traurig, doch mehr an einem Siegesbette denn an einem Siechbette zu stehen meinte.
Endlich schlug es ein Uhr! Da hielt er den Atem an, wie wenn er auf den Schritt horchte, der eben die Straße herauf kam, — es war wiederum Hans Ebeling, der Wächter, der unter unserem Fenster mit bewegter Stimme, vermutlich weil er meines Valentin gedachte, „Ein Uhr“ rief und seinen Spruch anhub:
„Du treuer Gott!“ rief mein Sohn, warf mir noch einen Blick zu und sank auf sein Kissen zurück. — „Amen!“ sagte ich und beugte mich über ihn, — da hatte sein Herz den letzten Schlag getan.
Ich stand eine Zeitlang schweigend da vor seinem Lager und betrachtete die auch im Tode schönen Züge seines Antlitzes, welche nun die seiner seligen Mutter geworden waren, und betete, — unten auf der Straße aber wurden Männerstimmen laut und Pferdegetrappel. Es sammelte sich das Kriegsvolk seit etlichen Tagen schon um Würzburg, weil die Schwedischen einen Schlag vorhatten, und ein Reitertrupp von Ochsenfurt kommend, zog eben durchs Städtlein. Mit einem Male klangen wieder die Trompeten und Zinken und schmetterten hell über den Kirchplatz, und siehe da! sie bliesen wieder dasselbe Reiterstücklein, das meinem Sohn damals, da er noch fast ein Kind war, die Tränen aus den Augen getrieben, und darin der Tod auf dem Schlachtfeld als der löblichste gepriesen wird. Da wallte mein Herz über vor großer Bewegung, und ich rief unter lautem Weinen: „Armer, armer Valentin! was ist aus den hochgehenden Planen deiner Jugend geworden? Der Tod ist an dir vorübergegangen, wo du so gerne ihn in die Arme meintest nehmen zu wollen, — auf der grünen[S. 140] Heid, und hat dich weggetrieben und hat dich heimgeleitet ins arme Kämmerlein, und dort erst hat er gesagt: ‚Nun komm!‘ auf daß du seine volle Bitterkeit schmecken solltest. Und doch — wie muß ich dir, mein Gott, danksagen, daß du sein hoffärtiges Wesen zerbrochen und mit dem Stab Wehe ihn endlich auf die grüne Aue deiner Gnade geleitet, daß du mir armem, gebeugtem Mann den Trost verliehen, ihn fahren zu sehen in Frieden und zu wissen, daß ich ihn einst wiederfinden werde. Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, der Name des Herrn sei gelobet!“
Während ich also betete, trat Hans Ebeling ins Zimmer, und da er sah, daß es aus war mit dem Valentin, setzte er sich mir zur Seite und weinte mit mir, brachte auch die übrige Nacht bei mir zu und tröstete mich mit viel lieblichen Worten.
Gegen Morgen schickt der Pfarrherr zu mir und läßt mir ausrichten, ich solle eilends den Krankenkelch und die Hostienbüchse nehmen und mit hinter nach Eibelstadt gehen, ein Soldat sei vom Pferde gestürzt, so daß er nicht mehr aufkomme, und solle das heilige Nachtmahl[S. 141] empfangen. Ich tat also, und wir machten uns eilend auf den Weg.
Der Reiter, welcher den Pfarrherrn gerufen, begleitete uns und erzählte: Als sie heute früh nach ein Uhr durch hiesiges Städtlein gezogen, sei am untern Tor des Torwarts Pförtlein (das erst vor wenigen Tagen mit weißer Farbe war übertüncht worden), offen gestanden und eines Reiters Pferd sei davor scheu geworden, habe sich aufgebäumt und den Reiter abgeworfen, der an dem Torpfosten sich den Kopf zerschellt. Sie hätten ihn mitnehmen müssen, er werde es aber nicht lange mehr treiben, drum habe der Rittmeister nach dem Pfarrherrn geschickt.
In Eibelstadt wurden wir in des Freiherrn von Greifenklau Haus gewiesen: der Reiter lag im Bett, hatte den Kopf umwickelt und ächzte. Als ich die Lichter angezündet und die vasa sacra hergerichtet, wollte ich den Pfarrherrn mit dem Kranken allein lassen und ging mit meinen traurigen Gedanken hinaus auf den freien Platz, der um das Rathaus ist.
In der Mitte des Platzes stand die Fahne aufgesteckt, und viel Kriegsvolk lag und stand umher; ich hatte aber auf nichts acht, sondern gedachte des Hingeschiedenen.
Da trat der Rittmeister zu mir heran, ein großer, stattlicher Mann mit hellgelbem Bart und Haar, wie’s die Schweden haben, grüßte mich freundlich und fragte, ob der Pfarrherr bereits bei dem Kranken sei. Ich erwiderte: „Ja, seit einer Viertelstunde!“ worauf der Rittmeister fortfuhr, da werde er wohl einen hartgesottenen Sünder unter die Hände bekommen haben. Doch habe er seine Schuldigkeit tun wollen und nach dem Pfarrherrn geschickt, da der Feldprediger noch zurück sei, und er unversehens gehört, daß das Städtlein, durch das sie mit anbrechendem Morgen ge[S. 142]kommen, evangelischen Glaubens sei, während er mitten in römisch-katholischen Landen zu sein gemeint habe. Wie denn das Städtlein heiße?
„Sommerhausen!“ erwiderte ich. — „Sommerhausen?“ sagte der Rittmeister, als ob er sich auf etwas besänne, „sollte es noch einen Ort dieses Namens geben? Von Sommerhausen hat bis vor fünf Monaten einer unter unserem Regiment gedient.“
„Ist leicht möglich! Denn es sind in diesen Jahren etliche von da unter das Kriegswesen geraten,“ erwiderte ich und warf einen Blick auf die herumliegenden Soldaten, — es waren schwedische Dragoner, was ich jetzt zum erstenmal bemerkte. „Hat er sich rechtschaffen gehalten?“ fragte ich, indem mir das Herz klopfte.
„Ach, er wird schwerlich mehr am Leben sein!“ erwiderte der Rittmeister. „Es war ein tapferer Mann und sieben Jahre lang mein guter Kamerad, aber er hat wenig Glück gehabt. Seht Ihr die Fahne, die dort steckt? Die haben er und ich einst mitten aus den Feinden geholt, da sie schon verloren war, und wie Ihr mich hier anseht, ich läge längst schon drei Schuh tief unter der Erde auf dem Felde bei Nördlingen, wenn mit Gottes Hilfe seine Hand mich nicht errettet hätte. Ich bin nun Rittmeister, er aber hat’s nicht weit gebracht, sondern hat seinen Abschied nehmen müssen und wird nicht mehr heimkommen.“
„Ach, Herr! Verzeiht eines alten Mannes Vorwitz, der sich unterfängt, nach Eurem Namen zu fragen,“ erwiderte ich, indem ich vor großer Bewegung kaum Atem holen konnte und die Augen mir in Tränen schwammen.
„Ich heiße Olufsohn, Swen Olufsohn!“ gab er mir zur Antwort, „und bin seit drei Monaten Rittmeister in meinem Regiment, dem Gordonschen, und dieser[S. 143] mein armer Kamerad, von dem ich gesprochen, hat geheißen Gast, — Valentinus war sein Vorname! Kennt Ihr den Namen?“
Mein Gott! Als ob mir einer sagen müßte, wie meines Sohnes Vorname geheißen!
„Ob ich ihn kenne?“ erwiderte ich. „Ja, ich kenn ihn wohl, ’s ist ja mein leiblicher Sohn gewesen! Und Euch, lieber, gütiger Mann, kenn’ ich auch. Ihr habt ihm mehr getan als der arme Valentin Euch tun gekonnt: Ihr habt ihn nächst Gott vom ewigen Tod errettet!“
„Wie?“ rief der Rittmeister, trat herzu und faßte mich an beiden Händen, „er lebt noch und ist heimgekommen?“
„Ja!“ erwiderte ich, „er ist heim gekommen — seit drei Tagen zu mir, seinem leiblichen Vater und zu seiner irdischen Heimat, und heute nacht, just als Ihr mit Trompetenschall durch unser Städtchen zogt, zu seinem himmlischen Vater und zu seiner himmlischen Heimat. Euch aber, Euch hat er zuvor noch gesegnet!“
Ich mußte ihm nun alles erzählen, was ich von der Heimreise meines Sohnes wußte, und zuletzt, wie er gestorben, und als ich ihm nun wiederum aus Grund meines väterlichen Herzens dankte, daß er durch Gottes Fügung meines Sohnes Seele vom Tod errettet, meinte er, er habe nicht viel an ihm tun können und verdiene meinen Dank nicht, er sei nur ein ungelehrter Mensch, der genug haben müsse, wenn er selber des rechten Weges nicht verfehle, den Valentin aber habe Gott so sichtlich geleitet, daß, als sie von einander Abschied genommen, er gewiß gewesen, die Decke müsse von seinen Augen fallen. Er sei gar ein aufrichtiger Mensch gewesen all sein Lebtage, und den Aufrichtigen lasse es Gott gelingen. Darauf erzählte er mir noch allerlei, was meinem väterlichen Herzen wohl tat, von seiner Freundlich[S. 144]keit und Treue und von der Schwermut, die zuletzt über ihn gekommen, und endlich sagte er mir, er werde mich und den Valentin noch einmal sehen, wenn sie, woran er nicht zweifle, morgen noch hier im Quartier liegen würden.
Während wir noch also miteinander redeten, kam der Pfarrherr ganz erblaßten Angesichts aus dem Hause, trat zu dem Rittmeister und sagte, er könne dem Soldaten unmöglich das heilige Nachtmahl geben! Derselbe sei ganz unsinnig, schäume die greulichsten Gotteslästerungen aus, rede von einem Geist, den er gesehen, und scheine ihm ein verruchter Bösewicht zu sein. Er solle doch selber kommen und sehen! Der Rittmeister erwiderte, derselbe habe bei den Kaiserlichen eine Freikompanie geführt und habe mit ihnen in Breisach gelegen, sei aber, als die Festung übergeben ward, zu den Schwedischen übergetreten, da solches nach dem Vertrag jedem der abmarschierenden Soldaten freigestanden, habe allbereits etliche Bubenstücke verübt, und sei jedes gute Wort an ihm vergebens gewesen, so daß ihn der Oberst zum Gemeinen habe degradieren müssen; er wolle aber hinaufgehen und selbst zusehen. Hierauf gingen wir alle drei hinweg und begaben uns in die Stube.
Sie kamen haufenweise in meine Stube, ihn noch einmal zu sehen (24. Kap.)
Hier wartete unser ein erschreckliches Schauspiel. Der Soldat saß aufrecht in seinem Bett und wollte mit Gewalt herausspringen, zwei Soldaten aber hielten ihn fest, während er schäumte und die Augen umherrollen ließ. „Platz da, Platz da!“ schrie er mit einer heiseren Stimme, „du Graukopf, — hab ich dir nicht schon einmal den Schädel gespalten? — Sieh nur, wie deine grauen Haare so blutig sind, und jetzt bist du wieder lebendig geworden und stellst dich wieder daher in einem weißen Hemd und reckst den dürren Arm aus nach mir, wie eine Vogelscheuche, und willst mir mein Pferd scheu machen? Vorwärts, vor[S. 145]wärts, meine tapfere Kompagnie! Setzt die Sporen ein! Heute gibt’s Dukaten — wird alles geteilt, brüderlich! — aber dem Grünrock seine gehören mir, — pack ihn von hinten, Kamerad! Ich drück ihm die Kehle zu, — ja wehr dich nur, Franz! Jetzt ist’s dein Letztes! ’s sind zwei über einen! — Ha, ha, ha! schau, wie ihm die Augen starren! So — jetzt laß ihn liegen, er steht nicht mehr auf! Aber der Graukopf lebt wieder und muß noch einmal dran! Laß mich vorbei, du kennst mich schon!“
„Um Gottes willen,“ rief ich, „das ist Nikol Paradeiser, der den alten Veit erschlug!“
„Nikol Paradeiser?“ rief der Verwundete wieder, „welcher Teufel hat Euch den Namen verraten? Ihr lügt, ich bin Gordonischer Dragoner! Liebe gute Kameraden, hebt mir den Stein weg, daß mein Gaul nicht stolpert; ach, hebt ihn weg, sag ich, ach, hebt ihn weg! — So ist’s recht, — Teufel, da liegt er ja wieder! — Hopp, hopp, Schimmel! — Mein Kopf, mein Kopf! Weh, weh, weh! Laß mich doch, alter Tropf, du wirst mich doch nicht zwingen?“
„Das ist Gottes Gericht, mein Herr Rittmeister!“ sagte ich, „dieser Mensch hat unter dem Tor von Sommerhausen vor meinen Augen einen Mord begangen!“
„Ja, ’s ist Gottes Gericht,“ sagte zitternd einer der Soldaten, die ihn hielten, während ihm der Schweiß auf der Stirne stand, — „ich bin damals sein Roßbube gewesen! Ich will auch einen körperlichen Eid darauf tun, daß der alte Mann, den er erschlagen, heute morgen unter dem Tore stand, als wir hindurchritten, und daß er den Arm aufgehoben und ihn bedroht hat. Ich und der Kranke hatten gerade von der Geschichte gesprochen, — mit einem Male schrie er: „Sieh, dort steht er!“ und es ist mir ein Schrecken[S. 146] durch alle Glieder gefahren, denn ich sah ihn auch leibhaftig.“
„Das sind eitle Reden!“ erwiderte ich, „ihr habt das weiße Pförtlein für einen Geist angesehen. Schämt euch, ihr Buben! das Gewissen hat euch geschlagen. Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben, von nun an! — Das aber bezeugt die Schrift, daß der Herr den Gottlosen geben wird ein ‚bebendes Herz‘ und eine ‚verdorrte Seele‘, daß er seinen Feinden ein feig Herz machen will, daß sie soll ein rauschendes Blatt jagen, und sollen fliehen davor, als jagte sie ein Schwert, und fallen, da sie niemand jagt!“
„Niemand jagt?“ schrie der Verwundete, „da steht er ja! Ist er’s nicht? Aber ich will mich nicht jagen lassen. Wart, ich will dir den Rest geben, — ich will — ich will“ — damit schleuderte er wie mit eines Riesen Kraft die beiden ihn haltenden Soldaten von sich und sprang aus dem Bett, — der Rittmeister lief herzu, wollte ihn aufhalten, aber bevor er ihn noch fassen konnte, fiel der Kranke jählings nieder, schlug mit dem Kopf auf den Boden, daß es dröhnte, und war tot.
Solch Gottesgericht vor Augen, waren wir alle lange Zeit keines Wortes mächtig, sondern standen wie vom Donner gerührt. Endlich gebot der Rittmeister, die Leiche aufzuheben und aufs Stroh zu legen. Ich aber und der Pfarrherr begaben uns nach Hause, nachdem ich dem Rittmeister Lebewohl gesagt, falls ich ihn nicht mehr sehen sollte.
Als der Morgen des folgenden Tages gekommen, sollte meines Valentin Leichnam zu seiner Ruhestätte gebracht werden. Der Rittmeister war nicht mehr gekommen, weshalb ich vermutete, daß er unversehens habe weiterziehen müssen.
Es hatte Hans Ebeling meines Weibes und meiner Kinder, dazu des alten Veit Grab vom Unkraute frisch gesäubert und mit blühenden Rosenstöcken bepflanzen lassen. Zwischen der Mutter und dem Johannes hatten sie meines Sohnes Grab gegraben, wie er es gewünscht hatte. Alle Einwohner des Fleckens, so viele deren seit dem großen Sterben noch übrig waren, versammelten sich, als es auf neun Uhr zuging, um ihm das letzte Geleite zu geben, kamen haufenweise in meine Stube, ihn noch einmal zu sehen, und weinten an seiner Leiche. Es wußte schier jeder etwas zu erzählen, wie der Verschiedene ihm da oder dort einmal eine Liebe erzeigt, — selbst des Hans Mündleins Witwe kam, und als ich sie fragte, ob sie dem hart Gezüchtigten noch einen Groll nachtrage, da er die Veranlassung zum Tod ihres Sohnes gewesen, erwiderte sie: davor solle Gott sie bewahren, vielmehr gedenke sie jetzt nur daran, wie er damals bei dem Überfall der Schweden diesen ihren seligen Sohn mit des eigenen Lebens Gefahr gerettet habe. Das war mir alles ein großer Trost in meiner Trübsal. Als es neun Uhr schlug, hörten wir einen starken Schritt auf[S. 148] der Straße und laut Halt kommandieren. Es waren die schwedischen Dragoner, des Valentin ehemalige Kameraden, welche stattlich geschmückt, aber den Degengriff mit Flor umwunden, von Eibelstadt her in den Flecken rückten. Bald kam der Rittmeister mit zehn Mann herauf, von denen einer einen Helm, Degen und Sporen in den Händen trug. Sie sahen sich den Gestorbenen noch einmal an und stellten sich dann schweigend zu beiden Seiten des Sarges. Der Rittmeister aber trat hinzu, drückte meines Sohnes gefaltete Hände und sprach unter fließenden Tränen: „Es ist mir leid um dich, mein Bruder Jonathan, ich habe große Freude und Wonne an dir gehabt, und deine Liebe ist mir sonderlicher gewesen denn Frauenliebe!“ Drauf, als der Sarg zugeschlagen war, heftete er selber Helm, Degen und Sporen darauf, vier Dragoner huben die Bahre und trugen sie hinunter auf die Straße, wo das andere Soldatenvolk sich aufgestellt hatte, — dann ging’s in Gottes Namen dem Kirchhof zu.
Voran gingen die Schulkinder, dann die Bürgerschaft, so nicht zur Trauer gehörte, dann meine sämtlichen Choradstanten, welche alsbald das Lied anstimmten: „Jerusalem, du hochgebaute Stadt!“ Als die drei Verse gesungen, bliesen die Trompeter und Pfeifer der Schweden, welche vor dem Sarg und vor dem Pfarrherrn gingen, ein Trauerstücklein, wie’s Brauch ist bei dem Soldatenvolk. Hinter dem Sarg ging ich selbst, geführt von Hans Ebeling, dann kam der Rittmeister mit den andern Dragonern, welche den Zug schlossen.
Am Grabe hielt der Pfarrherr eine Rede über Hiob 9, 25: „Meine Tage sind schneller gewesen, denn ein Läufer, sie sind geflohen und haben nichts Gutes erlebt,“ und als das Begräbnislied gesungen worden: „Nun laßt uns den Leib[S. 149] begraben!“ kommandierte der Rittmeister, und die Dragoner schossen ihm dreimal ins Grab, — dann war alles vorüber, und wir zogen wieder, wie es im Liede heißt, heimwärts unsrer Straßen. — Er hat einen stattlichen Leichenzug und ein ehrlich Begräbnis bekommen, wie keines mehr im Städtlein gehalten worden ist. Er liegt begraben dort, wo das große steinerne Kreuz steht; ein Raum ist noch übrig an seiner Seite, darein sie mich einst legen werden, damit wir alle beisammen sind, wenn es dem großen Gott gefällt, zur herrlichen Auferstehung zu rufen. Mit Dank und Tränen nahm ich Abschied von dem Rittmeister — nicht für immer! sondern nur auf so lange, als die Wallfahrt auf Erden dauert.
Du fragst: „wie mir bei dem allem zumute gewesen?“ lieber Leser? — Es war mich ehedem oft in meinem Jammer die Sehnsucht angekommen, abzuscheiden und bei Christo zu sein, aber doch hielt’s mich dann in diesem Jammertal fest, weil ich ja auf den Valentin zu warten hatte, jetzt aber hörte ich meiner Margareta Stimme: „Komm!“ und meiner Kinder Stimme: „Komm, komm! du hast auf Erden nichts mehr zu suchen, bei uns aber ist dein Platz noch leer!“ und so oft ich ihre Stimme hörte, seufzte ich: Hüter, ist die Nacht schier hin? So ist mir’s seitdem allezeit zumute, wie sie sangen bei meines Valentins Begräbnis:
Ach, mein Herr und Gott, wann wird die Stunde da sein, da du das „Komm!“ zu mir sprichst, da ich, der Zurückgelassene und Einsame, meine Nachfahrt halte?
Die Kriegsnot hat jetzt, indem ich dies schreibe, aufgehört, der Friede beginnt langsam die grausamen Wunden zu heilen, die das Schwert während dreißig langer Jahre geschlagen, doch meine Seele begehrt einen besseren Frieden zu schauen. Mein Abschied ist gemacht, mein Schifflein liegt fertig am Gestade und harrt nur des Befehls zur Abfahrt, mit dem der große Gott nicht allzu lang mehr warten wird. Bald, bald läßt er seinen Diener im Frieden fahren, und ob mein Schifflein auch keine gute Fahrt gehabt, sondern in manchen Sturm gekommen und in manche Tiefe ist geschleudert worden, — doch aber hast du, mein Gott, Gnade gegeben, daß in Wind und Wetter, in Sturm und Nacht, in Angst und Not allezeit meine Augen deinen Heiland gesehen, und der hat mir gnädiglich die Hand gereicht, so oft ich, ein kleingläubiger Petrus, zu sinken anhub und schrie und sprach: „Herr, hilf mir!“
Haben deine Augen Ihn auch schon gesehen, lieber Leser, und seine holdselige Gestalt festgehalten bis heute? Dann tritt her zu mir und stimme mit ein und hilf mir rühmen und danksagen:
Soli Deo Gloria!
Dem Herrn allein die Ehre!
Amen!
Also geschrieben zu Sommerhausen im Juli anno Domini 1650.
Udalricus Gast,
zur Zeit vierzig Jahre Schuldiener allhier.