Title: Raffael
Author: H. Knackfuss
Release date: December 1, 2019 [eBook #60824]
Language: German
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Liebhaber-Ausgaben
Künstler-Monographien
von
H. Knackfuß
Professor an der K. Kunstakademie zu Kassel
I
Raffael
Bielefeld und Leipzig
Verlag von Velhagen & Klasing
1895
Von
H. Knackfuß
Mit 110 Abbildungen von Gemälden und Handzeichnungen
Dritte Auflage
Bielefeld und Leipzig
Verlag von Velhagen & Klasing
1895
Druck von Fischer & Wittig in Leipzig.
ie freigebig und gütig sich bisweilen der Himmel zeigt, indem er auf eine einzige Person die unermeßlichen Reichtümer seiner Schätze und alle jene Gnaden und seltensten Gaben häuft, die er sonst in einem langen Zeitraum unter viele Einzelwesen zu verteilen pflegt, das konnte man deutlich sehen an dem nicht weniger ausgezeichneten als liebenswürdigen Raffael Sanzio von Urbino, der von der Natur begabt war mit all jener Bescheidenheit und Güte, die man manchmal bei denjenigen gewahrt, die mehr als andere neben einer gewissen feinen natürlichen Bildung den herrlichen Schmuck einer anmutvollen Freundlichkeit besitzen, die sich immer sanft und gefällig gegen jedermann und in allen Dingen zu zeigen pflegt. Ihn schenkte die Natur der Welt, als sie, besiegt von der Kunst durch die Hand des Michelangelo Buonarroti, in Raffael besiegt werden wollte durch die Kunst und durch die Persönlichkeit zugleich.“ So beginnt Giorgio Vasari, der im XVI. Jahrhundert das Leben berühmter italienischer Künstler von Cimabue bis auf sich selbst beschrieb, die Lebensbeschreibung des unsterblichen Meisters, der die Kunst der italienischen Renaissance auf den Gipfel der Vollkommenheit geführt hat und der mit dem gewaltigen Michelangelo den höchsten Ruhm teilt, daß seine Werke, gleich den Schöpfungen des klassischen Altertums, der Nachwelt als unübertrefflich gelten.
Am Karfreitag (28. März) des Jahres 1483 erblickte Raffael Santi (oder Sanzio) das Licht der Welt. Sein Geburtsort Urbino, am Nordostrande der Apenninen in der Mark Ankona gelegen, unweit der Grenzen von Toskana und Umbrien, war die[S. 2] Hauptstadt eines kleinen Herzogtums, das dem tapferen und kunstsinnigen Geschlecht der Montefeltro gehörte. Raffaels Vater Giovanni Santi war ein achtbarer Maler, der sinnigfromme Heiligenbilder malte; er hatte es in seiner Jugend mit verschiedenen Berufsarten versucht, ehe er sich der Kunst zuwendete; auch eine Reimchronik, welche die Thaten des Herzogs Federigo Montefeltro preist, hat er verfaßt. Über Raffaels Mutter Magia, deren Andenken dieser zweifellos die Anregungen zu seinen himmlischen Madonnen, den verklärten Schilderungen der Mutterliebe und des Mutterglücks, verdankte, wissen wir weiter nichts, als daß sie die Tochter eines gewissen Battista Ciarla in Urbino war, daß sie ihrem Gatten außer Raffael noch einen Sohn und eine Tochter schenkte, die beide im frühen Kindesalter starben, und daß sie selbst schon am 7. Oktober 1491 starb. In einem von Giovanni Santi gemalten Freskobilde in dem noch heute stehenden Geburtshaus Raffaels, welches eine Madonna mit dem schlafenden Kinde darstellt, glaubt man eine Abbildung der Frau Magia mit dem kleinen Raffael erblicken zu dürfen. Giovanni hat seinem Sohn jedenfalls nur die allerersten Anfangsgründe seiner Kunst beibringen können; denn nachdem er sich 1492 zum zweitenmal vermählt hatte, starb er schon am 1. August 1494. Raffaels eigentlicher Lehrmeister war nach Vasaris Angaben Pietro Vannucci, genannt il Perugino (geb. 1446, gest. 1524), das Haupt der sogenannten umbrischen Malerschule, deren besonderes Wesen eine zarte poetische Empfindung bei einigermaßen schüchterner Formen- und Farbengebung kennzeichnet. Doch befindet sich Vasari in einem offenbaren Irrtum, wenn er erzählt, Giovanni Santi habe selbst, und noch bei Lebzeiten der Mutter, den Knaben nach Perugia zu Vannucci gebracht. Wahrscheinlich im Alter von siebzehn Jahren kam Raffael in dessen Werkstatt; denn bis zum Jahre 1500 war der vielbeschäftigte Meister jahrelang fast beständig außerhalb Perugias thätig. Wer bis dahin den jungen Santi unterrichtet hat, darüber fehlen alle Nachrichten. In Urbino war seit 1495 ein tüchtiger einheimischer Maler ansässig, Timoteo Viti (geboren 1467), der seine Ausbildung in Bologna bei Francesco Francia empfangen hatte. Die Vermutung, daß dieser Raffaels Lehrer gewesen sei, hat die größte Wahrscheinlichkeit für sich, zumal da Raffael auch in späteren Jahren zu ihm in freundschaftlichen Beziehungen stand. Jedenfalls brachte Raffael, als er zum Perugino kam, außer seiner persönlichen Begabung eine ganz gediegene Vorbildung mit. Es sind drei reizende kleine Gemälde vorhanden, von denen mit Grund angenommen wird, daß Raffael sie noch in Urbino gemacht habe; denn sie tragen bei aller Trefflichkeit der Ausführung in der Erfindung ein kindliches Gepräge, und sie verraten in nichts[S. 3] den später sehr mächtig werdenden Einfluß der Schule von Perugia. Das eine dieser Bildchen befindet sich in der Nationalgalerie zu London und ist bekannt unter dem Namen „Der Traum des Ritters.“ In einer reichen Landschaft ruht unter einem Bäumchen ein geharnischter Jüngling im Schlummer; von der einen Seite naht ihm ein anmutiges Weib, mit Perlen geschmückt, und reicht ihm Blumen dar; von der anderen Seite tritt eine ernstere Frauengestalt heran, mit dem Schwert in der einen, einem Buche in der anderen Hand. Der Sinn der Darstellung erklärt sich von selbst. Das andere Bildchen, im Louvre zu Paris, stellt den Erzengel Michael dar, der in voller Rüstung vom Himmel herabgestürmt ist, um den bösen Feind, der sich in Gestalt eines Drachen mit ohnmächtiger Wut unter dem gepanzerten Fuße des Himmelskriegers krümmt, mit dem Schwerte niederzuschmettern; die Hölle ist der Schauplatz des Vorganges: scheußliche Unholde stehen glotzend umher, und in der Ferne, vor der flammenden Höllenburg und zwischen düsteren Felsen, sind die Strafen der Heuchler und der Diebe nach Dantes Gedicht geschildert. Als drittes wird diesen köstlichen Jugendwerken eine Darstellung der drei Grazien (im Besitz des Herzogs von Aumale) beigezählt, welche die irgend einem antiken Kunstwerk entliehene Gruppe der drei einander umschlungen haltenden Mädchen in eine weite freie Landschaft versetzt. — In verschiedenen Sammlungen werden Handzeichnungen aufbewahrt, die als frühe Jugendarbeiten Raffaels gelten, ohne daß für diese Annahme eine äußere oder innere Beglaubigung vorläge. Die größte Sammlung von angeblich aus Raffaels Jugend herrührenden Zeichnungen besitzt die Akademie zu Venedig in einem in seine einzelnen Blätter aufgelösten Skizzenbuche (Abb. 1, 2, 3). Da finden wir Nachzeichnungen von Köpfen und Figuren verschiedener Meister, Gedächtnisübungen, Entwürfe, streng schulmäßig gezeichnete Gewandstudien und sonstige Studien nach der Natur, darunter einige ausgezeichnet schöne Köpfe. Die Urheberschaft Raffaels an diesem Skizzenbuch ist mit ebenso großem Eifer behauptet wie bestritten worden; nach der Ansicht des gewiegtesten Kenners gehört dasselbe dem Pinturicchio an. Bernardino Betti, genannt il Pinturicchio (das Malerchen), war neben dem um einige Jahre älteren Perugino der vorzüglichste Meister der Schule von Perugia; unzweifelhaft hat Raffael auch von ihm recht viel gelernt. Die Betrachtung der venezianischen Skizzenbuchblätter ist — ganz abgesehen von dem Interesse, das sie an und für sich haben — höchst anziehend, weil sie ein anschauliches Bild gewähren von der Art und Weise der umbrischen Schule, in die Raffael eintrat und[S. 4] der er sich bald völlig anzupassen wußte. Zwischen dem Lehrer und dem Schüler entwickelte sich eine lebendige Wechselwirkung. Man glaubt in Peruginos Werken aus den ersten Jahren des XVI. Jahrhunderts Fortschritte gegen seine früheren Arbeiten zu gewahren, die aus dem Einfluß von Raffaels frischem Talent zu erklären wären; und Raffael lebte sich vollständig in die Auffassungs- und Darstellungsweise seines Meisters ein. Es scheint selbst vorgekommen zu sein, daß der Lehrer malte, was der Schüler erfunden hatte. Der umgekehrte Fall war nicht ungewöhnlich; in Italien ebensowohl wie in Deutschland überließen vielbeschäftigte Künstler die Ausführung untergeordneter Arbeiten ihren Gehilfen; dabei deckte dann der Name des Meisters die That des Schülers; bei dem bald alles überstrahlenden Ruhme des Namens Raffael aber erscheint es leicht[S. 5] begreiflich, daß schon in den Augen der Mitwelt der erfindende Meister hinter dem ausführenden Schüler verschwand. Ein ähnliches Verhältnis scheint zeitweilig auch zwischen Pinturicchio und Raffael bestanden zu haben. Wenigstens liegen den frühesten Madonnenbildern Raffaels Zeichnungen zu Grunde, die mit der größten Wahrscheinlichkeit dem Pinturicchio zugeschrieben werden. Unbedingt nötig ist es darum freilich nicht, daß wir annehmen, der junge Maler habe im Auftrage des älteren Bestellungen, die an diesen gelangten, ausgeführt; wir mögen uns auch vorstellen, daß der schüchterne Anfänger bei den ersten Aufträgen, die er bekam, sich an den erfahrenen Kunstgenossen um Rat gewendet, und daß dieser ihm eigne Entwürfe als mustergiltige Vorbilder zur Verfügung gestellt habe. Bestanden doch in den damaligen Werkstätten die den Lernenden gegebenen Vorlagen lediglich in den Arbeiten des Lehrers; und niemand nahm Anstoß daran, wenn ein Schüler irgend ein Studienblatt seines Meisters, das er zu seiner Übung nachgebildet, gelegentlich auch einmal in einem eignen Bilde verwertete. So erklären sich die Anklänge und unmittelbaren Wiederholungen, denen wir nicht selten in den Werken verschiedener, aber aus derselben Schule hervorgegangener Maler begegnen; unser ängstliches Suchen nach Originalität um jeden Preis und in jedem Strich kannte jene Zeit noch nicht. Die Eigenart Raffaels und seine besondere Begabung für natürliche Schönheit der Form läßt sich auch in den Werken, die er während seiner Peruginer Schulzeit entstehen ließ, nicht verkennen. Seine beiden ältesten Madonnenbilder besitzt das Berliner Museum: Die Madonna zwischen dem heiligen Hieronymus und Franziskus (auch „Dreiheiligenbild“ genannt, Abb. 4) und die nach ihrem früheren Besitzer bezeichnete Madonna Solly (Abb. 5). Diesen beiden Bildern reiht sich ein drittes an, ein kleines achteckiges Gemälde, das sich bis 1871 im Palazzo Conestabile zu Perugia befand, seitdem aber in der Sammlung der Ermitage zu Petersburg verborgen ist. Es sind Andachtsbilder, die sich von der durch altes Herkommen bestimmten Auffassung nicht entfernen wollen, echte Erzeugnisse der umbrischen Schule, fast noch halb mittelalterlich, aber unendlich liebenswürdig in ihrer zarten Milde. Die Madonna erscheint überall in halber Figur, als eine nonnenhaft verhüllte, sehr jugendliche Mädchengestalt, mit feinem, blassem Antlitz und niedergeschlagenen Augen;[S. 7] das nackte Christuskind, das sie auf dem Schoß oder auf den Händen hält, hat etwas Altkluges in seinem Wesen: hier erhebt es das Händchen segnend gegen die beiden Heiligen, da hält es zwar in kindlicher Weise ein Spielzeug — einen Vogel — gefaßt, wendet aber seine Äuglein fromm gegen den Himmel, und dort liest es andächtig mit in dem Gebetbuch der Mutter. Den Hintergrund bilden weite Fernsichten unter lichtblauem Himmel, und diese feinen duftigen Landschaften tragen nicht wenig zur Hervorbringung der poetischen Stimmung bei, die diesen Bildern eigen ist. Ungeachtet aller schulmäßigen Befangenheit blickt überall ein frischer Sinn für Naturwahrheit hervor. In welcher Weise Raffael während seiner Lehrzeit zu Perugia nach der Natur studierte, davon giebt der im Museum Wicar zu Lille bewahrte, für den greisen Hieronymus im Dreiheiligenbilde gezeichnete Studienkopf ein hübsches Beispiel (Abb. 6). — Es ist anziehend zu betrachten, wie der junge Künstler den so überaus einfachen Gedanken des herkömmlichen Madonnenbildes, das der Phantasie so wenig Spielraum zu gestatten schien, im Geiste bewegte, um durch leise Abwandlungen neue Bilder zu gewinnen, die er in bald flüchtiger, bald sorgfältiger gezeichneten Skizzen festhielt. So ist eine schöne, große Kreidezeichnung (Abb. 7) in der Sammlung des Erzherzogs Albrecht (der „Albertina“) zu Wien sowohl der Madonna Solly, als auch der Madonna Conestabile ähnlich, aber doch wieder von beiden verschieden und in sich harmonisch abgerundet; besonders bemerkenswert ist dieses Blatt auch dadurch, daß das Kind sich in rein kindlicher Weise mit einem Granatapfel beschäftigt, den ihm die Jungfrau hinhält, während sie das Gebetbuch einen Augenblick beiseite gelegt hat. Den ganzen duftigen Reiz eines unmittelbaren ersten[S. 9] Entwurfs enthüllt eine köstliche kleine Federzeichnung im Museum zu Oxford (Abb. 8); mit wenigen ausdrucksvollen Strichen ist es hingeschrieben, wie die Jungfrau mit himmlischer Holdseligkeit den Knaben anschaut und wie dieser, der mit beiden Händchen ihr Gebetbuch gefaßt hält, andächtig nach oben blickt. Auf der Rückseite des Blättchens (Abb. 9) ist das Knäblein größer und ausführlicher mit zarten und doch sicheren Linien aufgezeichnet; wir ahnen in diesen lieblichen Umrissen schon die ganze Schönheit späterer Raffaelischer Kindergestalten.
Im Jahre 1502 siedelte Perugino nach Florenz über. Raffael aber blieb noch in Perugia. Denn schon war er mit der Ausführung eines großen Altargemäldes betraut worden. Im Auftrage einer Dame aus einem der mächtigsten Geschlechter von Perugia, Maddalena degli Oddi, malte er für den Altar der dortigen Franziskanerkirche eine Krönung Marias (Abb. 10). Das jetzt in der Vatikanischen Pinakothek befindliche Gemälde zeigt in seiner unteren Hälfte die Apostel, welche das leere Grab der Jungfrau, aus dem Lilien und Rosen emporsprießen, umstehen; über den Wolken erscheint Christus und setzt seiner Mutter, unter der jubelnden Musik der Engelscharen, die Himmelskrone auf das Haupt. Eine Anzahl erhaltener Studien gibt Kunde von Raffaels Vorbereitungen für das Werk. So erkennen wir in dem schönen Bildniskopf eines Jünglings (Abb. 11, im Liller Museum), wohl[S. 10] eines Genossen der Werkstatt, die Studie zu dem Antlitz des Engels, der mit dem Tamburin zur Rechten der Jungfrau steht; bei der Studie zu dem Kopf des diesem gegenüberstehenden Engels mit der Geige dagegen hat der junge Meister gleich in die Zeichnung nach der Natur eine idealisierte Auffassung hineingelegt (British Museum zu London, Abb. 12). Finden wir Raffael in dem Krönungsbilde in Bezug auf die gesamte Anordnung und das Gepräge der Köpfe noch ganz von der Schule des Perugino abhängig, der um dieselbe Zeit denselben Gegenstand für eine Kirche bei Perugia malte, so gewahren wir doch auch, wie sehr weit schon der Schüler den Meister in Bezug auf Schönheit und Lebendigkeit übertraf. Wie die Kraft des noch nicht[S. 12] zwanzigjährigen Raffael sich regte, um sich über die Banden der Schulmäßigkeit zu erheben, wie schnell er die Meister der Schule überflügelte, das zu erkennen haben wir an dem jetzigen Aufbewahrungsort des Gemäldes die beste Gelegenheit: ganz in der Nähe, in dem nämlichen Zimmer, hängt eine Darstellung desselben Gegenstandes von Pinturicchio; bei dem Vergleich fallen Raffaels in seiner persönlichen Eigenart begründete Vorzüge gar deutlich in die Augen. — Als Altargemälde hatte das Krönungsbild auch eine „Predella,“ eine mit kleineren Bildern geschmückte Staffel, durch die es über den Altartisch emporgehoben wurde. Von dem Hauptbild getrennt, befindet sich diese Predella gleichfalls in der Vatikanischen Sammlung. Die Verkündigung, die Anbetung der drei Weisen und die Darstellung im Tempel bilden die Gegenstände der Predellenbilder. Bei diesen kleinen Gemälden hat sich Raffael noch freier und unabhängiger von der Schule bewegt als in dem Hauptgemälde. Zu den beiden ersten Darstellungen sind die Kartons, die in der Größe der Ausführung angefertigten Hilfszeichnungen, noch vorhanden, der eine im Louvre (Abb. 13), der andere im Museum zu Stockholm; an dem Karton der Verkündigung, die Raffael in eine weite Säulenhalle verlegt hat, um den im Verhältnis zu der geringen Zahl der Figuren sehr breiten Bildraum in interessanter Weise zu füllen, sieht man, wie derselbe zur Übertragung der Zeichnung auf die Tafel benutzt worden ist: die mit der Feder gezeichneten Umrisse sind mit Nadelstichen durchbohrt zum Zwecke des Durchbeutelns mit Kohlenstaub. Gewinnen wir hier einen Einblick in Raffaels Handwerksverfahren, so blicken wir in seine geistige Werkstatt in einer köstlichen Skizze im[S. 14] Museum zu Oxford (Abb. 14), welche mit wenigen sicheren und ausdrucksvollen Federzügen die Hauptgruppe des dritten Predellenbildes feststellt.
Etwa eine Tagereise nordwärts von Perugia liegt im oberen Tiberthal das Städtchen Città di Castello. Hierher ward Raffael nach der Vollendung der „Krönung Marias“ durch mehrere Aufträge geführt. Zuerst malte er hier, nach Vasaris Erzählung, ein Bild für die Kirche St. Agostino, ganz in der Art des Perugino. Den Gegenstand dieses Gemäldes gibt der Biograph nicht an; die Überlieferung aber hat ein bis zum Jahre 1789 in dieser Kirche aufgestellt gewesenes Altarbild, die Krönung des h. Nikolaus von Tolentino, als Jugendwerk Raffaels bezeichnet: in dem genannten Jahre wurde dasselbe verkauft, und dann — es war ausnahmsweise auf Leinwand gemalt — in Einzelbilder zerschnitten; die Stücke aber sind spurlos verschwunden. Ein günstigeres Geschick hat über den beiden anderen in Città di Castello gemalten Bildern gewaltet, welche Vasari ausdrücklich benennt. Das eine, den toten Christus am Kreuz mit Maria, Johannes, Magdalena und Hieronymus darstellend und ganz in der Art des Perugino gedacht und ausgeführt, gehörte der Kirche S. Domenico; jetzt befindet sich dasselbe in einer Privatsammlung zu London. Das dritte Bild, die Vermählung Marias (Abb. 15), laut Inschrift im Jahre 1504 vollendet, prangte bis gegen Ende des vorigen Jahrhunderts auf einem Altar der Kirche S. Francesco; jetzt befindet es sich in der Sammlung der Brera zu Mailand. Dieses Hauptwerk Raffaels aus seiner umbrischen Periode, weltbekannt unter dem Namen lo sposalizio, zeigt vor einem Rundbau, der den Tempel zu Jerusalem darstellt, den Hohenpriester, welcher die Hände des Brautpaares zusammenfügt; hinter Maria erscheint ein Gefolge von Jungfrauen, hinter Joseph die zurückgewiesenen Freier, von denen die Legende zu erzählen weiß: sie halten dürre Stäbe in den Händen, während aus Josephs Stab Blumen hervorgesproßt sind; zwei von ihnen zerbrechen ihre Stäbe, deren Verdorrtheit das vom Himmel geoffenbarte Zeichen ihrer Zurückweisung ist, der eine mit einer gewissen Gelassenheit, der andere, im Vordergrunde, in leidenschaftlicher Erregung. Bei diesem Bilde hat sich Raffael in der ganzen Anordnung und Gruppierung wieder getreu nach einem gleichartigen Werke des Perugino gerichtet; aber bis in die kleinste Einzelheit hat er sein Vorbild unendlich weit an Geist, Freiheit, Leben und Schönheit übertroffen; seine hervorragende Begabung für das Fach der Baukunst, die er in späteren Jahren zu bethätigen glänzende Gelegenheit finden sollte, offenbart sich in der geschmackvollen Erfindung des Tempels.
Während Raffael in Città di Castello arbeitete, war Pinturicchio damit beschäftigt, die Dombibliothek zu Siena im Auftrage des Papstes Pius III mit Fresken zu schmücken. Vasari berichtet, daß derselbe den Raffael nach Siena habe kommen lassen, um ihm an den Kartons zu diesen Wandgemälden zu helfen. Diese Nachricht hat durchaus nichts Unglaubwürdiges; der kaum einundzwanzigjährige Raffael mochte sich wohl bereitwillig zu einer solchen Hilfsarbeit verstehen dem Manne gegenüber, von dem er so vieles gelernt hatte. Ein vergebliches Bemühen würde es freilich sein, die Spuren von Raffaels Mitwirkung in jener Meisterschöpfung des Pinturicchio entdecken zu wollen; denn wenn ein älterer Maler einem jüngeren das Vertrauen schenkt, daß er sich von ihm bei einem großen Werke helfen läßt, so pflegt er demselben doch nicht zu gestatten, daß er von seinem Eignen etwas hineinbringe. Jedenfalls hielt sich Raffael nicht lange in Siena auf. Es trieb ihn, den damaligen Hauptsitz der Kunst Italiens kennen zu lernen, Florenz, wo ja auch sein vormaliger Lehrer seine Werkstatt aufgeschlagen hatte. Ehe Raffael nach Florenz übersiedelte, machte er einen Besuch in seiner Vaterstadt. Hier hatten sich inzwischen kriegerische Ereignisse zugetragen. Herzog Guidobaldo Montefeltro war durch Cesare Borgia vertrieben worden, hatte aber im Jahre 1503 unter dem Jubel der Bevölkerung von seiner angeerbten Herrschaft wieder Besitz genommen. In demselben Jahre bestieg Giuliano della Rovere, dessen Bruder mit der Schwester des Herzogs, Giovanna, vermählt war, als Julius II den päpstlichen Stuhl. Unter dem Schutze dieser mächtigen Verwandtschaft blieb dem Herzogtum Urbino der Friede gesichert. Ungestört entfaltete sich am Hofe Guidobaldos jenes rege geistige Leben, welches den italienischen Fürstenhöfen der Renaissancezeit einen so eigentümlichen Glanz und Zauber im Ge[S. 15]dächtnis der Nachwelt verliehen hat. Auch Raffael ward in den auserlesenen Kreis hineingezogen, dessen Seele die schöne und geistreiche Gemahlin des Herzogs, Elizabeta Gonzaga war, die Enkelin einer Hohenzollerntochter. Neben der Herzogin Elisabeth war des Herzogs Schwester Giovanna della Rovere eine besondere Gönnerin des jungen Künstlers, dessen Anfänge schon deutlich genug verhießen, daß er einst seiner Vaterstadt zum Ruhme gereichen würde. Mit einem warmen Empfehlungsschreiben der Herzogin Giovanna an den Bannerherrn von Florenz, Piero Soderini, ausgestattet, betrat Raffael im Herbste des Jahres 1504 die blühende Hauptstadt Toskanas. Hier stand damals Leonardo da Vinci auf der Höhe des Ruhms. Mit ihm wetteiferte der um dreiundzwanzig Jahre jüngere Michelangelo Buonarroti, dessen Riesenstandbild des David vor kurzem am Eingange des Palastes der Signoria aufgestellt worden war; jetzt waren beide Meister mit den Entwürfen zu großen Schlachtgemälden beschäftigt, welche die Wände des Ratssaales schmücken sollten. Unter den dauernd in Florenz ansässigen Malern zeichnete sich der Dominikaner Fra Bartolommeo aus, der seine charaktervollen und glaubensinnigen, farbenprächtigen Schöpfungen in streng architektonischem Aufbau anzuordnen liebte. Zu diesem ernsten Meister, den das Schicksal Savonarolas in das Kloster getrieben hatte, trat Raffael in ein besonders enges Freundschaftsverhältnis; beide lernten voneinander; Raffael teilte dem um acht Jahre älteren Freunde so viel mit, wie er empfing. Leicht läßt sich in mehreren Werken beider der wechselseitige Einfluß wahrnehmen. Aber nicht von den Lebenden allein, auch von den alten Meistern der Vorzeit lernte Raffael in Florenz; mit Eifer studierte er in der Kirche St. Maria del Carmine die Fresken des Masaccio, der die Naturtreue, die den besonderen Ruhm der Florentiner Schule bildete, in die Kunst eingeführt hatte. So kam der junge Urbinate, wie Vasari berichtet, dazu, „eine außerordentliche Vervollkommnung in der Kunst und in seiner Ausführungsart zu erlangen.“ Raffael verleugnete keineswegs seinen alten Lehrmeister; manchmal schimmert noch das Wesen der umbrischen Schule in seinen späteren Werken durch; aber eine freiere Hingabe an die Natur, eine lebenskräftigere Fülle der Formen unterscheiden seine Werke aus der Florentiner Periode deutlich von den früheren. Zu dem Altmeister Leonardo mußte Raffael mit unbegrenzter Verehrung emporblicken; auch sein klösterlicher Freund stand unter dem Banne dieses großen Zauberers. Den Einfluß, den die Anschauung von Werken des unübertroffenen Schilderers hinreißender Frauenschönheit auf den Lernbegierigen ausübte, gewahren wir besonders lebendig in mehreren von Raffael in kleiner Zeichnung skizzierten weiblichen Bildnissen (Abb. 16 u. 17). Leonardos „Gioconda“ schwebte auch, als ein freilich unerreichtes und unerreichbares Vorbild, dem jungen Künstler vor, als er seine ersten Frauenbildnisse malte. Agnolo Doni, ein begeisterter aber sparsamer Kunstfreund, der[S. 16] die Preise der berühmten Florentiner Meister der Bildniskunst scheuen mochte, hat das Verdienst, Raffael zuerst Gelegenheit gegeben zu haben, seine Kraft auf diesem ihm noch neuen Gebiete zu erproben, indem er sich und seine Gattin Maddalena von ihm abmalen ließ. Diese beiden Bildnisse (Abb. 18 und Einschaltebild) befinden sich jetzt in der Sammlung des Pittipalastes zu Florenz. Man mag sich bei ihrer Betrachtung wohl sagen, daß der junge Meister noch lange nicht auf der Höhe der Kunst stand, dem getreuen Abbild eines Menschen die Bedeutung eines allgemein giltigen Kunstwerks zu verleihen; man mag die überzeugende Charakterschilderung vermissen: dennoch sind es ein paar hochbedeutende Bilder, und deutlich spricht aus ihnen die ungewöhnliche Begabung ihres Urhebers; besonders erregt ihre schöne, kräftige Farbenstimmung schon von weitem die Aufmerksamkeit des Beschauers. — Den beiden Erstlingswerken der Gattung reihen sich zwei treffliche Meisterschöpfungen an, bei denen die Urheberschaft Raffaels zwar nicht beglaubigt, aber kaum zweifelhaft ist; beides sind Bilder unbekannter Frauen, das eine (die sogenannte Donna gravida) in der Pitti-Galerie, das andere in der Tribuna der Uffizien befindlich. — Im Jahre 1505 finden wir Raffael wieder in Perugia beschäftigt. In einer Kapelle des Kamaldulenser-Klosters San Severo malte er sein erstes Freskobild. Der gegebene Raum war ein Spitzbogen, die gestellte Aufgabe eine Darstellung der heiligen Dreifaltigkeit und einer Anzahl von Heiligen des Ordens. Leider ist das Gemälde sehr beschädigt — die Figur Gott Vaters ist ganz verschwunden — und schlimmer noch als durch den Einfluß der Zeit und der Feuchtigkeit durch eine moderne Übermalung mißhandelt. Doch läßt es immer noch die herrliche Erfindung Raffaels erkennen und bewundern. Deutlich spiegeln sich in dem Bilde die mächtigen Eindrücke wieder, welche Raffael durch den Anblick der Werke der großen alten Florentiner Meister, zugleich aber auch durch die Schöpfungen seines Freundes Bartolommeo empfangen hatte; weder den großartigen Zug der Linien in der feierlichen Anordnung der Heiligen, die im Halbkreis zu den Seiten des Erlösers auf den Wolken thronen, noch die künstlerische Freiheit und Lebensfülle in jeder einzelnen Gestalt hatte er in Peruginos Schule gelernt. Aber alle jene Einwirkungen von außen hat der jugendliche Meister mit eigner schöpferischer Kraft verarbeitet; man ahnt in dem Werke schon den künftigen unübertroffenen Meister der Monumentalmalerei. Wie lebhaft sich Raffaels Geist damals mit dem in Florenz Gesehenen beschäftigte, verrät uns unter anderm ein Studienblatt (Abb. 19), das im Museum zu Oxford aufbewahrt wird. Dasselbe enthält die unvergleichlich prächtig gezeichneten Studien zu zwei Köpfen und zwei Händen von Heiligen auf dem Freskobild von S. Severo; in einer Ecke desselben aber ist mit flüchtigen Strichen aus dem Gedächtnis eine Gruppe aus Leonardos Reiterschlacht hinskizziert, deren Karton gerade im Jahre 1505 vollendet worden war und die durch ihre nie gesehene Lebendigkeit alle Welt in Begeisterung versetzte. — Ferner malte Raffael in Perugia für das Nonnenkloster[S. 17] St. Antonio ein großes Altarwerk, sowie eine Altartafel für die Kapelle der Familie Ansidei in der Servitenkirche. Auf beiden Bildern wurde die Madonna als Königin der Heiligen dargestellt, wie sie auf einem hohen, von einem Baldachin überdachten Sitz über anderen Heiligen thront. Bei dem erstgenannten Werke kam noch ein bekrönendes halbkreisförmiges Bogenfeld mit der Gestalt des segnenden Gott Vater hinzu und eine Predella mit fünf Darstellungen: Christus am Ölberg, die Kreuztragung, die Beweinung des Leichnams Christi und die Einzelfiguren der Heiligen Antonius von Padua und Franz von Assisi. Beide Werke haben längst ihren Platz verlassen, — wie denn überhaupt kein Altargemälde Raffaels an geweihter Stelle verblieben ist. Sie befinden sich jetzt in der Nationalgalerie zu London, mit Ausnahme der Predella, welche in ihre einzelnen[S. 18] Teile zerschnitten und in verschiedene englische Sammlungen zerstreut worden ist. An beiden Gemälden fällt es auf, daß Raffael in der Anordnung, in der Auffassung des Christuskindes und teilweise selbst in der Formengebung noch stark in den Regeln der umbrischen Schule befangen erscheint; man muß annehmen, daß die Bestellungen auf Grund von älteren Entwürfen erfolgt sind; von der ehrwürdigen ortsheimischen Weise zu Gunsten der freieren, natürlicheren Auffassung, die in Florenz heimisch war, abzugehen, mochte den Auftraggebern — und vermutlich auch Raffael selbst — bei großen Altarbildern am wenigsten angezeigt scheinen. — Gegen Ende des Jahres 1505 erhielt Raffael von den Nonnen des Klosters Monteluce bei Perugia den Auftrag, eine Krönung der Himmelskönigin zu malen. Schon galt er damals für den besten Meister, und schon war er so beschäftigt, daß er die Ausführung dieser Bestellung auf unbestimmte Zeit hinausschob.
Im Jahre 1506 malte Raffael für seinen Herzog Guidobaldo einen heiligen Georg. Schon früher einmal hatte er den Schutzheiligen des Rittertums zum Gegenstand eines Gemäldes gemacht. Dieses ältere Bild befindet sich als Gegenstück zu dem noch älteren St. Michael, dem es im Format genau entspricht, im Louvre. Sehen wir in dem Erzengel den Sieg selbst verkörpert, so erblicken wir in Georg, dem Menschen, den mühevollen Kampf. Auf einem mächtigen Schimmel ist der Heilige dem Drachen entgegengesprengt; in der Wucht des Anrennens ist der Speer in der Brust des Ungetüms zerbrochen; schmerzgetroffen windet sich das Ungeheuer und bäumt sich an dem vorbeisausenden Rosse empor; aber schon hat der Ritter das Schwert von der Seite gerissen, und während er mit starker Faust das schnaubende Roß, das sich dem Beschauer entgegenbäumt, zu parieren sucht, holt er zum unfehlbaren Todesstreiche aus. Es war nicht möglich, dieses Bild an dramatischer Lebendigkeit der Schilderung, die den Beschauer an dem Vorher und Nachher des Vorgangs teilnehmen läßt, zu überbieten. Wohl aber zeigt der für den Herzog Guidobaldo von Urbino gemalte St. Georg große Fortschritte in Bezug auf die Zeichnung des Pferdes,[S. 19] wiederum eine Folge des Aufenthaltes in Florenz; auch die prächtige Landschaft erzählt von den neuen Eindrücken, die Raffael in der Hauptstadt der Kunst empfing. Die Anordnung ist umgekehrt wie bei dem ersten Bilde. Vom Beschauer abgewendet stürmt der Heilige gegen den Drachen ein; im ersten Anstoß mit dem Speer hat er diesmal das Ungeheuer niedergestreckt, über das sich der Schimmel mit gewaltigem Satze hinweghebt; die befreite Jungfrau ist im Hintergrunde betend dargestellt, während sie auf dem ersten Bilde in lebhafter Bewegung des Schreckens erscheint. Raffael hat das kleine Bild für würdig gehalten, es mit seinem vollen Namen zu bezeichnen: Raffaello U. (Urbinas) liest man auf dem Brustriemen des Pferdes. Herzog Guidobaldo hatte das Bild bestellt als ein Geschenk für König Heinrich VII von England, zum Dank für den ihm verliehenen Hosenbandorden. Darum erscheint der Heilige sehr deutlich als der Schutzpatron dieses Ordens gekennzeichnet durch ein blaues Band unter dem Knie, auf dem man das Wort honi lesen kann. Im Sommer 1506 reiste Graf Baldassare Castiglione als Gesandter des Herzogs nach London ab, um das Bild zu überreichen. Jetzt befindet sich dasselbe in der Ermitage zu Petersburg. Eine genaue Zeichnung in der Größe der Ausführung,[S. 22] mit Nadelstichen behufs Übertragung auf die Bildtafel durchbohrt, befindet sich in der Sammlung der Uffizien zu Florenz (Abb. 20).
Es ist möglich, daß dieses Bild Raffael wieder nach Urbino führte; in diesem Falle wäre es wohl denkbar, daß Papst Julius II, der auf dem Zuge nach Bologna im September 1506 drei Tage bei seinen Verwandten in Urbino verbrachte, dort zuerst die Bekanntschaft des jungen Künstlers gemacht hätte, der in seinem Dienste bald nachher die großartigsten Meisterwerke schaffen sollte.
Die Jahre 1506 bis 1508 sind hauptsächlich durch eine Reihe von Madonnenbildern ausgefüllt. Der Schwerpunkt von Raffaels Thätigkeit in Florenz liegt in seinen himmlisch schönen Darstellungen der Jungfrau mit dem Kinde. Durch die umbrischen Madonnen werden wir noch einigermaßen an das Wesen der mittelalterlichen Kunst erinnert, die alle Kräfte auf die stimmungsvolle Schilderung der Seele verwendete und den Körper als etwas Nebensächliches behandelte. In Florenz aber, der Heimat des Realismus, der getreuen Naturwiedergabe in der Kunst, hat Raffael die Schönheit der Wirklichkeit voll erkannt. Wie einst die Meister der ewig giltigen Schöpfungen des klassischen Heidentums, so findet er in der vollkommensten menschlichen Schönheit das Mittel für die Darstellung des Göttlichen. An der Spitze der in diesem Sinne geschaffenen Werke steht die Madonna del Granduca (Einschaltebild) im Pittipalast zu Florenz. Die Bezeichnung des Bildes rührt daher, daß es aus dem Besitze des Großherzogs Ferdinand III von Toskana stammt, der dasselbe so wert hielt, daß er sich selbst auf Reisen nicht davon trennen mochte. Wer sich einmal in den Anblick des wunderbaren Gemäldes versenkt hat, muß eine solche Zuneigung begreiflich finden. Aus einem eintönig dunklen Hintergrunde treten die Gestalten der ruhig dastehenden, in halber Figur sichtbaren Jungfrau und des göttlichen Kindes in ihren Händen wie eine leuchtende Erscheinung und doch in voller Körperhaftigkeit hervor. Die Madonna erscheint in ebenso vollkommener Weise als die jungfräuliche Heilige, wie in den älteren Bildern; ihre Augenlider sind gesenkt, wie es seit langem bei den Darstellungen Marias gebräuchlich war; aber unter den Wimpern hervor blicken die Augen mit einem Ausdruck unendlicher Milde auf den Beschauer herab. Es offenbart sich uns eine Seele voll überirdischer Reinheit und überirdischer Sanftmut; aber diese Seele leuchtet aus einem menschlich glaubhaften, von warmem Blut durchströmten Antlitz voll Anmut und Lieblichkeit hervor. Auch eine scheinbar unbedeutende und nebensächliche Abweichung von der Überlieferung trägt dazu bei, dieses Himmelsantlitz mit lebendigen Reizen zu umkleiden: die schwere Verhüllung des Kopfes hat sich zurückgeschoben, so daß an Schläfen und Wangen das goldig schimmernde Haar hervorquillt, über der Stirne nur halb verborgen durch einen feinen, durchsichtigen Schleier. Der Jesusknabe schmiegt sich an die Mutter an, aber er wendet dabei das Köpfchen und heftet den vollen Blick seiner großen ruhigen Kinderaugen auf den Beschauer. — Der Madonna del Granduca folgt die ähnlich empfundene, nach ihrem englischen Besitzer benannte Madonna des Lord Cowper. Hatte Raffael dort, sich ganz in die Durcharbeitung der beiden Gestalten vertiefend, auf jedes Beiwerk verzichtet, so ist hier die Landschaft wieder zu ihrem Recht gekommen. Wie dort, wenden beide Figuren Gesicht und Blicke dem Beschauer zu. Auf einem größeren Madonnenbild aber in der Sammlung des nämlichen Kunstliebhabers (nach ihrem früheren Besitzer gewöhnlich als Madonna Niccolini bezeichnet, Abb. 21), aus dem letzten Jahre von Raffaels Aufenthalt in Florenz, schaut nur der Knabe aus dem Bilde heraus, Maria aber läßt die Blicke mit stiller Mutterlust auf ihm ruhen, und in seinem Gesichtchen ist ein fröhliches Kinderlächeln an die Stelle des großen, ernsten Ausdrucks getreten. Es erscheint gleichsam als ein natürliches Ergebnis der naturwahren Bildung der Form, welche Raffael den heiligen Gestalten verlieh, daß diese menschlich wahren Gestalten nun auch menschliche Empfindungen enthüllen. Aus dem Gnadenbilde, das sich huldvoll der Außenwelt zuwendet, wird ein Bild der Liebe zweier heiligen Wesen zu einander. Maria erscheint nicht mehr lediglich als die jungfräuliche Trägerin des Gottessohnes, sondern zugleich als die zärtlich liebende Mutter. Den Anfang dieser Darstellungen macht die bald nach der Madonna del Granduca entstandene entzückende Madonna aus dem Hause Tempi (Abb. 22) in der Münchener[S. 24] Pinakothek. Wie die Mutter hier den Knaben so herzlich an sich preßt, wie sie ihre Wange an seine Wange schmiegt und sich selig lächelnd in seinen Anblick versenkt, das ist ein Bild der reinsten Menschlichkeit, dem Leben abgelauscht, eine Erinnerung an die eigene Kindheit; aber die reine, große Empfindung des Künstlers hat einen Hauch von überirdischer Heiligkeit ausgebreitet über die schönheitsverklärte Schilderung des heiligsten menschlichen Gefühls. — In die trauliche Abgeschiedenheit eines Wohngemachs verlegt die Madonna aus dem Hause Orleans (im Besitze des Herzogs von Aumale, Abb. 23) das süße Spiel zwischen der glücklichen Mutter und dem eben aus dem Schlafe erwachten, nach Nahrung verlangenden Kinde. Wieder in reifre Landschaft erblicken wir die Gruppe in der Madonna aus dem Hause Colonna (Einschaltebild) im Berliner Museum. Kurz vor Raffaels Abreise aus Florenz entstanden, ist dieses Bild in der malerischen Ausführung nicht ganz fertig geworden; aber das hindert uns nicht, den Reiz seiner Erfindung voll zu genießen. Wie auf den älteren Bildern erblicken wir hier wieder das Gebetbuch in der Hand Marias; aber der stattliche Knabe, der sich lebhaft auf ihrem Schoße aufrichtet, hat sie in ihren frommen Betrachtungen gestört, und während sie durch eine Seitwärtswendung des Oberkörpers — dessen Umrisse nicht mehr durch den schweren Mantel verborgen werden — seinem ungestümen Verlangen ausweicht, heftet sie die Blicke voll seligen Mutterglücks auf das Kind.
Außer den Gemälden, deren Zahl — ganz abgesehen von denjenigen zweifelhafter Echtheit — noch vergrößert wird durch solche, die nur aus alten Nachbildungen bekannt sind, bieten uns zahlreiche Handzeichnungen Gelegenheit, die Unerschöpflichkeit von Raffaels Gestaltungsvermögen anzustaunen, wie er mit immer gleicher Frische und Liebe und mit immer gleichem Zauber der Schönheit das selige Beisammensein von Mutter und Kind zu schildern wußte. Manche Blätter enthalten gleich mehrere schnell niedergeschriebene Versuche, von denen jeder einzelne ein Meisterstück ist; so ein Blatt im Britischen Museum (Abb. 25), welches in zwei verschiedenen Auffassungen im Gegensatz zu jenen Bildern mit dem verlangenden Kinde, den gesättigten Knaben darstellt; das eine Mal, wie er, das Händchen gegen die Mutterbrust gestemmt, sich befriedigt umdreht, das andere Mal, wie er, noch weiter abgewendet, vom Schoß auf den Boden zu kommen sich bemüht; oder ein Blatt in der Albertina (Abb. 26), mit zwei ganz verschiedenen Kompositionen, von denen die eine das Motiv des Unterbrechens der Betrachtungen wieder in neuer Weise verwertet, indem die Mutter von selbst das Buch beiseite hält und sich zärtlich dem sie herzenden Kinde zuwendet, während die andere eine dritte Person, den kleinen Johannes, in die Handlung einführt. — Schon im Mittelalter hatte man häufig die Madonnenbilder dadurch bereichert, daß man den Sohn der Elisabeth der Gruppe hinzufügte; seine besondere Bedeutung erhielt der Vorläufer dadurch, daß er durch ein Rohrkreuz und durch ein Spruchband mit den Worten „ecce agnus dei“ auf das künftige Leiden des Gottessohnes hinwies. So ist der kleine Johannes auch auf dem ältesten derartigen Bilde Raffaels, der „Madonna des Herzogs von Terranuova“ im Berliner[S. 25] Museum dargestellt; ernsthaft blickt der kleine Jesus, auf dem Schoße der Mutter sich zur Seite neigend, auf die bedeutungsschweren Worte der ihm dargereichten Schriftrolle; dem in ein Pelzröckchen gekleideten Johannes gegenüber steht zuschauend ein dritter Knabe, vielleicht der künftige Lieblingsjünger und Evangelist Johannes. Das reizvoll farbige Rundbild gehört der ersten Florentiner Zeit Raffaels an; in der Erfindung trägt es noch ein peruginisches Gepräge, aber in den Köpfen, besonders in dem der Jungfrau, kommt schon die lebenswarme Florentiner Schönheit zum Durchbruch.
Mit ungleich größerer Freiheit hat Raffael die Gruppe der Madonna mit dem Jesus- und Johannesknaben in drei Gemälden ausgeführt, die untereinander nahe verwandt sind. Auf allen dreien sitzt Maria mit den beiden Kindern in einer Wiese, deren saftiges Grün sich in einer formenreichen Fernsicht verliert; gemeinsam ist denselben ferner der künstliche Aufbau — eine Einwirkung der Lehren des Fra Bartolommeo —,[S. 26] daß die Gruppe, so zwanglos sie sich scheinbar zusammenfügt, ein ausgesprochenes Dreieck bildet. Das erste dieser drei Bilder ist die Madonna im Grünen (Abb. 27) im kunsthistorischen Hofmuseum zu Wien (gemalt 1505 oder 1506), das zweite die Madonna mit dem Stieglitz (Abb. 28) in der Tribuna der Uffizien, das dritte (von 1507 oder 1508) die schöne Gärtnerin (Abb. 29) im Louvre. Anfänglich scheint die Anordnung der drei in ganzer Figur sichtbaren Personen in jenem regelmäßigen Aufbau dem jungen Meister ungewöhnliche Schwierigkeiten gemacht zu haben; wenigstens gibt es eine außerordentlich große Anzahl von Versuchen, Skizzen und Studien zu der Madonna im Grünen (Abb. 30 u. 32). Das Gemälde erscheint denn auch, ungeachtet seiner großen Reize, im Vergleich mit den beiden anderen noch einigermaßen befangen; in seiner Farbengebung und in den Formen der Maria legt es Zeugnis ab von dem Eifer, mit dem Raffael die Werke des Leonardo da Vinci studierte. Auch das Gemälde in Florenz ist das Endergebnis von verschiedenartigen Versuchen. Was dieses Bild besonders ansprechend macht, ist die liebenswürdige, natürlich-kindliche Auffassung der beiden Knaben: auf dem Wiener Bilde überreicht der kleine Johannes dem Christuskinde knieend das Rohrkreuz — das Schriftband ist überall weggelassen —; hier aber fehlt jeder derartige Hinweis auf das künftige Leiden, Johannes ist mit einem gefangenen Stieglitz herbeigeeilt, durch dessen Überreichung er dem Gefährten eine Freude machen will. Diese reizvolle Kindlichkeit lag nicht von vornherein in Raffaels künstlerischer Absicht; eine Federskizze im Museum zu Oxford (Abb. 33) zeigt uns den Jesusknaben noch ernsthaft mit dem Gebetbuch der Mutter beschäftigt, während Johannes müßig, nur als aufmerksamer Zuhörer dabei steht. Leider hat das Meisterwerk schwer gelitten. Raffael malte es als Hochzeitsgeschenk für seinen Freund Lorenzo Nasi in Florenz; bei einer Erderschütterung im Jahre 1548 stürzte das Nasische Haus ein, die Bildtafel ging in Stücke und mußte[S. 30] mühsam wieder zusammengesetzt und ausgebessert werden. Bei dem Pariser Bilde, dem eine äußerst liebevolle Durchführung der Blumen und Kräuter des Vordergrundes eigentümlich ist, ist es dem Meister gelungen, die religiösen Beziehungen zur Anschauung zu bringen und dennoch den Kindern die vollste, liebenswürdigste Kindlichkeit zu wahren; Johannes, mit dem Rohrkreuzchen in der Hand, hat sich auf ein Knie niedergelassen, aber wir fühlen, daß seine Kindergedanken sich noch nicht Rechenschaft darüber geben, was ihn beim Anblick des Genossen dazu treibt, die Stellung des Betens einzunehmen; und der kleine Jesus, eine der entzückendsten Kindergestalten, die Raffael geschaffen hat, blickt mit großen fragenden Augen zu dem wunderbaren, von weiblicher Anmut und göttlicher Hoheit erfüllten Antlitz der Mutter empor, als ob er Auskunft darüber erwarte, warum denn der Gefährte vor ihm kniet. Das Museum zu Oxford besitzt eine prächtige Naturstudie zu diesem Knaben (Abb. 34), mit mehreren besonderen Studien zu dem einen Füßchen, das auf dem Fuße der Mutter ruht.
Wiederum anders fügt sich die Gruppe zusammen in einem unvollendeten Gemälde, der Madonna Esterhazy in der Gemäldegalerie zu Pest. Maria ist niedergekniet und hat das Kind vor sich auf einen bemoosten Stein gesetzt; ihr zur Seite kniet der Johannesknabe, mit seiner Schriftrolle, die er lesen zu wollen scheint, beschäftigt, und lenkt die Aufmerksamkeit von Mutter und Kind auf sich. Die köstliche, lebensvolle Skizze zu diesem Gemälde besitzt die Uffiziensammlung (Abb. 35).
In derselben Sammlung befindet sich eine ganz flüchtige, aber darum nicht minder reizvolle Federskizze (Abb. 36), auf welcher der kleine Johannes dem auf dem Schoße der Mutter sitzenden Jesus anstatt des Bandes mit den Worten „ecce agnus dei“ ein wirkliches Lämmchen schwer tragend herbeibringt.
In den Kreis dieser Darstellungen gehört ferner ein in mehreren, teils von Schülern Raffaels, teils von späteren Nachahmern gemalten Exemplaren vorhandenes, der Erfindung nach auf den Meister zurückgehendes Bild, das als Madonna mit dem Schleier oder Schlaf des Kindes bezeichnet zu werden pflegt: in einer Wiese ist der Christusknabe eingeschlafen; die Jungfrau hat sich neben ihm niedergelassen und hebt den Schleier von seinem Gesichtchen, in dessen Anblick sie sich versenkt, während der kleine Johannes, an Marias Schoß geschmiegt, den Beschauer anblickt und mit ausgestrecktem Händchen auf den Gottessohn hinweist (Abb. 31).
Die Unerschöpflichkeit der Phantasie Raffaels hat sich auch an diesem Gegenstande in reichster Fülle offenbart, den er, so oft er ihn anfaßte, neu und immer gleich liebenswürdig zu gestalten wußte.
Eine andere Gruppe von Darstellungen bilden die heiligen Familien, in denen der Nährvater Joseph, bisweilen auch noch andere Personen, sich zu Maria und dem Jesuskind gesellen. Da ist zunächst das kleine Bild der Madonna mit dem Lamm in der Galerie zu Madrid, auf dem wir in einer schönen Landschaft die Jungfrau erblicken, wie sie den Knaben auf einem liegenden Lämmchen reiten läßt, während der heil. Joseph, auf einen Stab gestützt, die Gruppe liebevoll betrachtet. Dann die Madonna unter dem Palmbaum in der Sammlung des Lord Ellesmere zu London, ein liebliches Familienbild: Maria sitzt unter einer Dattelpalme und hält das Kind an einem um den Leib gewundenen Schleier fest; der Pflegevater ist niedergekniet und reicht dem Knaben, der sich in lebhafter Bewegung nach ihm umdreht, einen Strauß Blumen dar. Ein prächtiges Studienblatt zu diesem Bilde finden wir in der Louvresammlung (Abb. 37).
Eine reichere Komposition zeigt uns die heilige Familie aus dem Hause Canigiani in der Münchener Pinakothek. In einer Wiese sitzt Maria auf dem Boden, ihr gegenüber kniet die bejahrte Elisabeth; beide[S. 33] Mütter halten ihre Kinder fest; mit heiterer Miene hat der kleine Jesus das Schriftband in Empfang genommen, das der ernsthaft blickende Johannes ihm überreicht hat; in der Mitte steht hinter den beiden Frauen der heil. Joseph, mit beiden Händen auf seinen Stab gestützt, und schaut nachdenklich herab; eine hügelige Landschaft mit einer turmreichen Stadt bildet den Hintergrund. Wir erfahren durch Vasari, daß Raffael dieses Bild für Domenico Canigiani in Florenz gemacht hat; aus dem Besitz von dessen Erben kam es nachmals in denjenigen der Medici. Als Kurfürst Johann Wilhelm von der Pfalz sich mit einer Medicäertochter vermählte, kam das Bild als Heiratsgut der Prinzessin nach Düsseldorf, und von da im Jahre 1805 zugleich mit den übrigen Schätzen der Düsseldorfer Galerie nach München. Leider ist das schöne Gemälde sehr schlecht erhalten; Gruppen von Engelknaben, die zu den Seiten des heil. Joseph in der Luft schwebten, sind durch das Putzen und Übermalen ganz verschwunden, so daß jetzt der etwas allzu strenge pyramidale Aufbau der Gruppe mehr, als es ursprünglich der Fall war, in die Augen fällt. Wollen wir uns von der ursprünglichen Wirkung der Komposition eine Vorstellung machen, so müssen wir eine alte Abbildung zum Vergleich heranziehen; es gibt deren mehrere: eine Kopie in Ölfarben befindet sich im Palazzo Corsini zu Florenz, eine — freilich nicht sonderlich schöne — Tuschzeichnung im Museum zu Oxford (Abb. 38).
Den anmutig idyllischen Madonnenbildern reiht sich das durch die gleiche Fülle von Lieblichkeit ausgezeichnete Bild der h. Katharina an, welches sich in der Londoner Nationalgalerie befindet (Abb. 39). In etwas mehr als halber Figur dargestellt, steht die jungfräuliche Heilige in einer freien, von einem Fluß durchströmten Landschaft; den linken Arm hat sie auf ihr Marterwerkzeug, das Rad, gestützt, die Rechte — eine unvergleichlich schöne Hand — legt sie auf die Brust, wie um ihre Glaubensfestigkeit und ihren Opfermut zu beteuern, und blickt mit seitwärts gewendetem Kopf dem himmlischen Lichtstrahl entgegen, der aus den Wolken auf sie herableuchtet.
Im letzten Jahre seines Aufenthaltes in Florenz hatte Raffael noch einmal Gelegenheit, zu Ehren der Madonna, die er so oft in jenen lieblichen Bildern, welche die schönste Zierde der Gemächer frommer Kunstfreunde bildeten, verherrlicht hatte, ein großes Altargemälde zu schaffen; das Florentiner Geschlecht der Dei bestellte bei ihm ein solches für ihren Familienaltar in der Kirche S. Spirito. Vorher aber, im Jahr 1507, vollendete Raffael ein anderes großes Altargemälde, zu dessen Ausführung er sich schon bei Gelegenheit seiner Anwesenheit in Perugia verpflichtet hatte; eine Dame aus dem Geschlechte der Herrscher von Perugia, Frau Atalanta Baglioni, hatte ihn beauftragt, für die dortige Kirche S. Francesco eine Beweinung Christi zu malen. Atalanta hatte ihren besonderen Grund zur Wahl dieses Gegenstandes; in den blutigen Familienzwisten, welche damals fast jede italienische Stadt durchtobten, war ihr Sohn Griffone der Blutrache zum Opfer gefallen; in ihren Armen hatte er seinen Mördern verziehen. Dem jungen Meister aber fiel damit eine Aufgabe zu, die von ihm die Vertiefung in ganz andere Empfindungen verlangte, als diejenigen waren, denen er in seinen holdseligen Madonnenbildern Ausdruck verlieh. Es scheint denn auch, daß Raffael bei der Bewältigung dieses seinem Wesen ferner[S. 34] liegenden Stoffes große Schwierigkeiten zu überwinden hatte, um zu einem endgiltigen Ergebnis zu gelangen. Wenn wir eine im Museum zu Oxford bewahrte flüchtige Federzeichnung (Abb. 40) als den ersten Entwurf Raffaels zu dem Bilde für Atalanta Baglioni betrachten dürfen, so erfahren wir, daß dasselbe eine vollständige Umgestaltung durchgemacht hat, ehe es zur Ausführung kam. Auf diesem Entwurf sehen wir, wie dem vom Kreuze abgenommenen Leichnam das erste liebevolle Lager bereitet worden ist, bevor zur Bestattung geschritten wird; das Haupt Christi ruht im Schoße seiner Mutter, die vom Übermaß des Schmerzes bewältigt in die Arme ihrer Begleiterinnen sinkt; die Beine des Heilandes liegen auf dem Schoße der Magdalena, die mit gerungenen Händen den Blick von dem Toten zu der Schmerzensmutter wendet; der Jünger Johannes, Joseph von Arimathia und andere Personen stehen mit verschiedenartigen Äußerungen des Schmerzes und der Anteilnahme zur Seite. Eine ausführlichere und größere Zeichnung im Louvre (Abb. 41), auf der aber nicht sämtliche Figuren, sondern nur die wichtigsten dargestellt sind, zeigt die nämliche Anordnung mit einigen Abweichungen; Magdalena umfaßt Hand und Knie des teuren Toten; hinter ihr erscheint eine junge Frau, die besorgt das Kopftuch der ohnmächtigen Maria lüftet; Joseph von Arimathia, der auf der kleinen Skizze neben Johannes steht, ist hinter die mit Maria beschäftigten Frauen getreten und drückt seinen Schmerz und seine Unfähigkeit zu trösten durch Ausbreiten der Arme aus. Die Komposition erinnert in dieser Gestalt, in der Anordnung im ganzen und großen sowohl wie in mehreren Einzelheiten, an eine Darstellung desselben Gegenstandes, welche Perugino für die Kirche St. Chiara zu Florenz gemalt hatte, eins der vorzüglichsten Werke des Meisters (jetzt im Palazzo Pitti). Indessen entschloß sich Raffael bald zu einer ganz neuen Komposition, in der sich die Änderung bis auf die Wahl des Augenblicks erstreckte. Er verwandelte das ruhige Bild in ein bewegtes. Zwei Träger haben den Leichnam des Erlösers aufgehoben; sie sind am Eingang der Gruft ange[S. 35]kommen, zu der Stufen emporführen, die der vorderste Träger, rückwärts schreitend und schwer hebend an der Last des toten Körpers, eben ersteigt; noch einen Blick werfen die Freunde, vor allen Magdalena, die noch einmal die Hand Christi ergriffen hat, auf das teure Antlitz, bevor ihnen dasselbe für immer entzogen werden soll; der Mutter aber haben auf dem schweren Gange die Füße versagt; die Sinne schwinden ihr, und sie fällt schwer wie ein Leichnam in die Arme der begleitenden Frauen; ein Blick auf den Kreuzeshügel schließt den Horizont. Im Jahr 1507 vollendete Raffael das Ölgemälde (Abb. 42) an Ort und Stelle nach einem in Florenz gezeichneten Karton. Daß Raffael bei der Ausfüh[S. 36]rung des Kartons schon mit Gehilfen arbeitete, lehrt uns ein Blatt in der Uffiziensammlung (Abb. 43), welches die Hauptgruppe in höchst schülerhafter Zeichnung und mit einem Quadratnetz überzogen enthält; diese Zeichnung diente lediglich dem Zwecke der Übertragung in die Ausführungsgröße; mit der eignen Meisterhand aber scheint Raffael die Umrisse von Kopf und Schulter der Magdalena darin nachgezogen zu haben; als ein wieder aufgegebener Versuch stellt sich die in die Lücke zwischen Magdalena und dem Träger eingeschobene Figur dar. — Die Staffel des Altarbildes schmückte er mit den grau in grau gemalten Darstellungen der drei christlichen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe in weiblichen Halbfiguren: der Glaube betrachtet mit dem Ausdruck der Überzeugungsfestigkeit, die Hand zur Beteuerung auf die Brust gelegt, den Kelch mit der Hostie; die Hoffnung blickt mit gefalteten Händen mit einem unvergleichlichen Ausdruck unerschütterlicher Zuversicht nach oben; die Liebe hat eine Schar von Kindern an ihrem Herzen versammelt; zu den Seiten der Kreise, mit denen diese edlen Frauengestalten eingerahmt sind, erscheinen jedesmal zwei köstliche aufrechtstehende Kinderengelchen. Die Albertina zu Wien besitzt eine meisterhafte Federzeichnung (Abb. 44), die mit dem Mittelbild dieser Predella, der Liebe, im wesentlichen übereinstimmt, die aber in so fern rätselhaft ist, als sie viel mehr an Michelangelos Art zu zeichnen als an diejenige Raffaels erinnert. Bis 1608 prangte die Grablegung, in der vor allem die herrlichen, ausdrucksvollen Köpfe die höchste Bewunderung herausfordern, an ihrem Bestimmungsorte; dann wurde sie trotz laut erhobenen Widerspruches von den Mönchen von S. Francesco an den Kardinal Borghese (Papst Paul V) verschenkt; im Palazzo Borghese zu Rom ist sie dann verblieben. Das Staffelbild blieb in S. Francesco zu Perugia bis gegen Ende des vorigen Jahrhunderts, wo es, wie so zahlreiche andere italienische Kirchenschätze, von dem französischen Sieger nach Paris entführt wurde; 1815 gelangte es dann in die vatikanische Pinakothek, welche Pius VII aus den nach dem Sturze Napoleons zurückgegebenen Gemälden bildete.
Vom 21. April 1508 gibt es einen längeren Brief Raffaels, der an seinen Oheim Simone Ciarla zu Urbino gerichtet ist; die Urschrift desselben soll sich im Missionskollegium der „Propaganda“ zu Rom befinden. Daraus erfahren wir, daß Raffael Thränen vergossen hat, als er die Nachricht vom Tode des Herzogs Guidobaldo erhielt; daß er mehrere Aufträge in Aussicht hat, und daß es ihm lieber ist, wenn die Besteller seine Gemälde nach dem Empfange derselben abschätzen lassen, als wenn er selbst den Preis bestimme; daß ihm daran liege, vom Präfekten an Piero Soderini empfohlen zu werden zum Zwecke der Ausführung eines Wandgemäldes, das dieser zu vergeben habe.
Ob das Empfehlungsschreiben des Präfekten ausgestellt wurde, wissen wir nicht. Jedenfalls hatte Raffael nicht mehr nötig, sich um die Erlangung monumentaler Aufträge zu bemühen; denn in demselben Jahre noch eröffnete sich ihm der größte und glänzendste Wirkungskreis, der je einem Maler geboten worden ist. Selbst das Altargemälde der Familie Dei, welches er nach der Vollendung der Grablegung in Arbeit nahm, mußte er unfertig stehen lassen. Es ist dieses die Madonna mit dem Baldachin, so benannt wegen des großen Thronhimmels, unter welchem Maria sitzt, eine feierliche Darstellung der Königin der Heiligen, die aber nicht mehr an die Schule von Perugia, sondern eher an die Weise des Fra Barto[S. 37]lommeo erinnert. Das Bild kam nach Raffaels Tode, von Schülerhänden vollendet, in den Besitz seines Testamentsvollstreckers, des päpstlichen Kanzleipräsidenten Baldassare Turini aus Pescia, der dasselbe im Dome seiner Vaterstadt aufstellen ließ; im Jahre 1697 wurde es verkauft, was die Bürger von Pescia als eine Schmach und Kirchenschändung empfanden; es wurde Eigentum der Medicäer und fand seine Aufstellung im Palazzo Pitti.
Über den großen Wendepunkt in Raffaels Leben, seine Berufung nach Rom in die Dienste des Papstes, berichtet Vasari folgendermaßen: „Bramante aus Urbino, der im Dienste Julius’ II stand, schrieb an Raffael, da er weitläufig mit ihm verwandt war und aus demselben Orte stammte, er habe mit dem Papste, der einige Gemächer hatte neu herstellen lassen, ausgemacht, daß er (Raffael) in diesen seine Kraft erweisen könne. Der Vorschlag gefiel Raffael, so daß er seine Florentiner Arbeiten stehen ließ und nach Rom übersiedelte.“ Bramante (geboren zu Monte Asdrualdo bei Urbino um 1444) war seit mehreren Jahren mit der Riesenschöpfung des Papstes, dem Neubau der Peterskirche, beschäftigt. Michelangelo malte seit dem Frühjahr 1508 an der Decke der Sixtinischen Kapelle. Jetzt kam Raffael hinzu, um das Dreigestirn zu vervollständigen, dessen Glanz allein ausreichen würde, um den Namen Julius’ II unsterblich zu machen, auch wenn der staatskluge und kriegsgewaltige Papst weiter nichts gethan hätte, sich unvergänglichen Nachruhm zu sichern, als daß er diesen drei Männern die großartigsten und erhabensten Aufgaben stellte. Raffael hat uns die Züge des Papstes (Abb. 45) überliefert, durch den Rom zur Hauptstadt der Kunstwelt gemacht wurde, so daß der alte Ruhm von Florenz hinter demjenigen Roms verblich. Das Bildnis stammt aus den letzten Lebensjahren Julius’ II; die Last des Alters hat die starken Schultern gekrümmt, weiß wallt der volle Bart auf die Brust herab, die Augenlider sind schwer geworden; aber noch ist das Feuer nicht erloschen in den Augen, die unter der mächtigen Stirn in tiefen Höhlen ruhen, und der Ausdruck eisernen Willens und zielbewußter Kraft lagert um die zusammengezogenen Brauen und den festgeschlossenen Mund. Die ganze Persönlichkeit des alten Herrn, der mit aufgestützten Armen im Lehnstuhl sitzt, ist von so überzeugendem Leben erfüllt, daß wir die Worte Vasaris begreifen können, die Lebenswahrheit[S. 38] des Bildes habe die Beschauer zittern gemacht, wie wenn Papst Julius leibhaftig dagewesen wäre. Das prächtige Bildnis ist bald nach seinem Entstehen wiederholt kopiert worden, und zwar einige Male von so geschickten Händen, daß man nicht mehr weiß, welches das Original ist; hauptsächlich streiten die beiden in Florenz befindlichen Exemplare (eins in der Tribuna, eins im Pitti-Palast) miteinander um den Vorrang.
Im Herbste 1508 stand Raffael im Dienste des Papstes; er war mit Arbeit überhäuft und beschäftigte eine Anzahl Gehilfen. Das erfahren wir aus einem (in der Urschrift nicht mehr vorhandenen) Briefe, den er am 5. September dieses Jahres an den Bologneser Maler und Goldschmied Francesco Francia, den Lehrer von Raffaels Freund Timoteo Viti, gerichtet hat. Raffael dankt dem Meister, der ihm, wie aus dem ganzen Ton des Briefes hervorgeht, ein lieber und verehrter Freund ist, für die Übersendung von dessen Selbstbildnis und entschuldigt sich, daß er ihm das seinige noch nicht dagegen habe schicken können. „Ich hätte es Euch ja schicken können, von einem meiner jungen Leute gemacht und von mir überarbeitet; aber das ziemt sich doch nicht; oder eigentlich würde sich das gerade ziemen, um zu erkennen zu geben, daß ich dem Eurigen nicht gleich zu kommen vermag. Habt, bitte, Nachsicht mit mir, da Ihr ja auch schon erfahren haben werdet, was es sagen will, seiner Freiheit beraubt sein und im Herrendienste leben, was dann u. s. w.“
Die neu hergestellten Zimmer des Papstes, von denen Bramante an Raffael schrieb, sind die unter der Bezeichnung „Stanzen“ bekannten Gemächer des vatikanischen Palastes. In der Stanza della Segnatura, die diesen Namen erhielt, weil die Päpste in ihr die Gnadenerlasse zu unterzeichnen pflegten, begann der fünfundzwanzigjährige Raffael, der vom Papst mit großer Freundlichkeit empfangen wurde, seine Thätigkeit. Schon hatten die berühmtesten Maler im Wetteifer ihre Kräfte aufgeboten, um die vatikanischen Gemächer auszuschmücken, und eine Anzahl altbewährter Meister, darunter auch Perugino, waren noch damit beschäftigt. In der Stanza della Segnatura war die Decke bereits durch Giovanantonio Bazzi, genannt Sodoma, aus Vercelli ausgemalt. Als aber Raffael einen Teil seiner Arbeit vollendet hatte, da ließ der Papst die übrigen Malereien herunterschlagen, um das Ganze dem Jüngling zu übertragen, der die alten und die neuen Meister in den Schatten stellte. Doch veranlaßte Raffael die Beibehaltung der Einteilung, welche Sodoma der gewölbten Decke gegeben hatte, mit ihren Ornamenten, kleinen Zierbildchen und dem von Engeln getragenen päpstlichen Wappen in der Mitte. Die Bilder, welche Raffael in diesen Rahmen einfügte, geben gleichsam eine Übersicht über den Inhalt der Gesamtausschmückung des Raums. Es handelte sich um die Bearbeitung eines gewaltigen Gedankenkreises; die idealsten Besitztümer des Menschengeistes, als deren Hüter die Gottesgelehrten, die Weltweisen, die Dichter und die Gesetzgeber erscheinen, sollten im Bilde gefeiert werden. So treten uns an der Decke zunächst die sinnbildlichen Gestalten der Theologie, der Philosophie, der Poesie und der Gerechtigkeit entgegen, welche in kreisrunden Feldern die bedeutsamsten Stellen der Decke, zwischen dem Mittelfeld mit dem Wappen und den Scheitelpunkten der halbkreisförmig begrenzten Wandgemälde einnehmen. Es sind herrliche weibliche Gestalten, die auf Wolken thronen, von Genien begleitet, welche erläuternde Inschrifttafeln tragen; in vollen kräftigen Farben heben sie sich von einem leuchtenden Grunde aus Goldmosaik ab. Neben der Theologie, die durch eine unbeschreibliche Vereinigung von tiefem[S. 41] Ernst und unendlicher Milde den Blick des Beschauers gefesselt hält, erscheint die durch himmlische Begeisterung verklärte Poesie als die großartigste unter diesen überirdischen Gestalten; „von der Gottheit wird sie angeweht,“ — das würden wir erkennen, auch wenn es uns die beiden prächtigen Engelchen, die sich zu ihren Seiten in den Wolken tummeln, nicht zu lesen gäben (Abb. 46).
Zu den vier großen allegorischen Gestalten kommen vier kleinere, viereckig eingefaßte Bilder, gleichfalls auf goldenem Mosaikgrund, in den Zwickeln der Wölbung. Neben der Theologie ist der Sündenfall abgebildet (Abb. 47). Seit urältesten Zeiten wurden in der christlichen Kunst Sündenfall und Erlösung gegenbildlich zusammengestellt; das Bild der menschlichen Schuld hebt das Bild der göttlichen Gnade bedeutsam hervor. So hat auch hier diese Darstellung Platz finden müssen, in sinnvoller Beziehung zu dem Wandgemälde, welches den gnädigen Gott des Christentums feiert. Raffaels Schilderung des Vorgangs ist ein vollendetes Meisterwerk. Die Schlange — mit dem Kopf eines Weibes, wie es auch der älteren Kunst geläufig war — nähert sich im Schatten der Baumblätter flüsternd der Eva und blickt dabei beobachtend in das Gesicht Adams, der an der anderen Seite des Baumes sitzt; Eva hält mit der einen Hand den Zweig noch gefaßt, von dem sie die verbotene Frucht gebrochen hat, die sie jetzt mit einem unwiderstehlichen Blick der Verführung dem Manne darreicht; Zaghaftigkeit spricht aus Adams Haltung und Kopf, aber verlangend öffnet sich seine Hand.
Neben der Poesie ist der Sieg der Kunst über die Stümperei durch den Wettstreit des Apollo mit Marsyas verbildlicht. Neben der Gerechtigkeit gibt das Urteil des Salomo ein Beispiel weiser Rechtspflege. Neben der Philosophie aber erblicken wir anstatt einer erzählenden Darstellung wieder eine[S. 43] allegorische Gestalt, die Astronomie, welche, von zwei kleinen Genien begleitet, sich in staunender Betrachtung über die Himmelskugel beugt.
Unter den vier großen Wandgemälden pflegt den heutigen Beschauer dasjenige am meisten zu fesseln, welches der Theologie gewidmet ist. Es ist allgemein bekannt unter dem Namen Disputa (Auseinandersetzung, Abb. 48); man hat nämlich in einer Auseinandersetzung der Theologen über das Altarssakrament den eigentlichen Inhalt der Darstellung finden wollen. Thatsächlich aber ist die auf einem Altar aufgestellte Monstranz mit der Hostie nur das Bindeglied zwischen der oberen und der unteren Hälfte des Bildes. Oben nämlich erscheint der dreieinige Gott in der Herrlichkeit des Himmels; unten ist um den Leib des Herrn in Brodesgestalt die Kirche auf Erden versammelt.
In einem goldnen Lichtmeer von plastisch aufgesetzten Strahlen und glitzernden Pünktchen zeigt sich zu oberst, von endlosen Engelreigen umschwebt, Gott Vater, die Weltkugel in der Linken, die Rechte segnend erhoben, mit einem Haupt, wie es machtvoller niemals ersonnen worden ist (Abb. 50). Darunter sitzt in einem Strahlenschein, den Cherubimköpfe umringen, Christus auf den Wolken, mit einem himmelsschönen Antlitz voll ungemessener Liebe, und hebt beide Hände empor, um die Wundenmale zu zeigen (Abb. 51); neben dem Erlöser sitzen, wie am Tage des[S. 44] Gerichts, Maria und Johannes der Täufer, jene um Gnade für das Menschengeschlecht bittend, dieser mit finsteren Blicken Gerechtigkeit herabrufend; auf einer tieferen Wolkenschicht, die von Cherubimköpfen getragen wird, reihen sich die Auserwählten im Halbkreis an, Heilige des alten und des neuen Bundes in scharf charakterisierten Prachtgestalten. Unterhalb des Erlösers schwebt die Taube des heiligen Geistes herab zur Erde, von Engeln begleitet, welche die aufgeschlagenen Bücher der vier Evangelien tragen. Das alles war schon hundertmal gemalt worden, und Raffael hielt sich in allen Dingen getreu an den kirchlichen Gebrauch; noch niemals aber war es in solche Formen gekleidet und so gemalt worden, wie er es that.
In der Gruppierung der Gottesgelehrten auf Erden besaß der Künstler die vollste Freiheit, und es wäre überflüssig, über die Schönheit dieser Gruppierung noch ein Wort zu sagen. Die vier Kirchenlehrer, die in der Nähe des Altars auf Stühlen sitzen, Ambrosius und Augustinus, Hieronymus und Gregor der Große, bilden gewissermaßen die festen Punkte, an welche die Scharen von Greisen, Männern und Jünglingen sich anschließen, höchste Würdenträger der Kirche und einfache Geistliche, Klosterbrüder und gläubige Laien. Eine Gestalt ist herrlicher als die andere, jeder Kopf für sich ein erhabenes Meisterwerk. In allen erdenklichen Abstufungen kommen der felsenfeste Glaube und die heilige Begeisterung, die glaubensfreudige Hingabe und das grübelnde Forschen nach der Wahrheit zum Ausdruck. Die Lebhaftigkeit des Gespräches in Frage, Antwort und Belehrung bewegt die Massen, während einzelne Gestalten in unerschütterlicher Ruhe dazwischen stehen.
Ein seltsames Zusammentreffen, fast um dieselbe Zeit, etwa zwei Jahre später, malte unser Dürer sein dem Inhalt nach im wesentlichen mit der Disputa gleichbedeutendes Dreifaltigkeitsbild. Es drängt sich einem bei dieser Erinnerung der Gedanke an die Verschiedenheit der Verhältnisse auf, unter denen in Deutschland und in Italien die Kunst zur höchsten Blüte gelangte. Dem italienischen Meister übergab der Herr der Christenheit in dem vornehmsten Palast der Welt gewaltige Wandflächen, um darauf seine größten Gedanken in großen Zügen niederzuschreiben; im Auftrage von ein paar ehrsamen Bürgern malte der Deutsche für den Altar eines Altmännerhauses, und in „fleißigem Kläubeln“ mußte er die Fülle seiner Gestaltungskraft in den beschränkten Raum einer Tafel von weniger als drei Quadratmetern Flächeninhalt einzwängen.
Daß Raffael sich für sein erstes großes Freskobild — denn das Wandgemälde in S. Severo zu Perugia war bedeutend kleiner — besonders sorgfältig vorbereitete, versteht sich von selbst. Zu keinem seiner Werke hat sich eine so große Anzahl von Vorarbeiten, von verschiedenartigen Versuchen erhalten, wie zu diesem.
Mehrere dieser Skizzenblätter haben ein ganz besonderes, menschliches und persönliches Interesse: während Raffael die mächtigen Gestalten der Disputa in seinem Kopfe wälzte und sich bemühte, dieselben in bestimmte Formen zu bannen, schweiften seine Gedanken bisweilen in die süßeste Wirklichkeit hinüber, und die Feder, welche die Umrisse der Heiligen und Lehrer der Kirche feststellen sollte, schrieb zarte und[S. 49] glühende Liebeslieder auf das Blatt (Abb. 49). Daß Raffael sich außerdem jemals in der Dichtkunst versucht habe, zu dieser Annahme liegt keinerlei Grund vor; daß er einen sonderlichen Beruf zum Dichter gehabt habe, geht aus den paar Sonetten, die nach vielem Durchstreichen, Ausbessern und Suchen nach Reimen entstanden sind, nicht hervor. Aber die stammelnden Worte, in denen „die Zunge das Band des Sprechens löst, zu reden von der ungewöhnten, der wonnigen Verstrickung,“ die mit glühender Leidenschaft von genossenem Glück, von Trennungsschmerz und sehnendem Verlangen erzählen, sind auch ohne höheren dichterischen Wert ein schätzbares Denkmal aus Raffaels Leben. Welcher schönen Römerin die Liebeslieder gegolten haben, darüber gibt nicht einmal die Nennung eines Namens die leiseste Andeutung; nur daß sie von hohem Stande war, spricht sich an einigen Stellen, die aber wieder durchstrichen sind, aus.
(Lesung und Übersetzung der Verse aus der Disputaskizze zu Wien.)
(gestrichen: dun | durro | |
bello assalto si bel chel di) |
(gestrichen: | di quel par | |
del suo partire) |
Oben am Rande sind noch als Reimvorrat die Worte sano und va[no notiert.
Die durch das Beschneiden des Blattes verloren gegangenen Endsilben der ersten Strophe sind ergänzt nach einem vollständigen Sonett (auf einem Skizzenblatt in Oxford), welches sich als eine veränderte Fassung des vorliegenden unvollendeten darstellt: es beginnt mit den Worten: un pensar dolce und enthält die vier Zeilen lingua or di parlar etc. mit geringen Veränderungen als zweite Strophe.
(gestrichen: des | harten | |
schönen Anfalls, so schön, daß ...) |
(gestrichen: | jenes [Abschieds] | |
ihres Abschieds.) |
Die Wand der Disputa gegenüber nimmt die Schule von Athen ein; die Verherrlichung der Wissenschaft bildet das Gegenstück zu der Verherrlichung der Religion. Wie dort die christlichen Theologen aller Jahrhunderte um die Kirchenväter, so sind hier die Philosophen des griechischen Altertums um Aristoteles und um Plato versammelt, die beiden Geisteshelden, denen das Jugendalter der Renaissance die gleiche unbedingte Verehrung zollte wie den Kirchenvätern selbst. Die Räumlichkeit ist eine ideale Renaissancearchitektur, ein von vier Flügeln umgebener hoher, lichterfüllter Kuppelbau mit Standbildern von Göttern in Nischen geschmückt, unter denen Apollo und Minerva erkennbar im Vordergrund stehen. Aus der Tiefe der Halle sehen wir die beiden großen Philosophen langsam hervorwandeln, zwischen den Scharen ehrfurchtsvoller Hörer hindurch, die sich zu beiden Seiten in Reihen zusammengeschlossen haben. Die Stufenleiter des Wissens, die zur Weisheit führt, die sieben sogenannten freien Künste Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Musik, Physik, Dialektik und Metaphysik, geben die Grundlage für die Charakterisierung der verschiedenen unvergleichlichen Gruppen, die wir weiter seitwärts und im Vordergrunde, in der Vorhalle, erblicken.[S. 50] In den Gestalten und Köpfen der Weisen und Wißbegierigen hat Raffael ebenso unerreichte Charakterbilder geschaffen, wie in denjenigen der Theologen; das Lernen und Begreifen, das Lehren und Zuhören, das Forschen und das Wissen sind mit einer Meisterschaft ohnegleichen geschildert. Unsere besondere Aufmerksamkeit nimmt die Gruppe rechts im Vordergrund in Anspruch. Hier trägt der Lehrer der Geometrie, Archimedes, die Züge des greisen Bramante; von diesem getrennt durch die Gruppe der Astronomen, Zoroaster und Ptolemäus, werden ganz am Rande des Bildes zwei Köpfe sichtbar, von denen der jugendlichere mit freundlichen braunen Augen den Beschauer anblickt; das ist Raffael (Abb. 52). Wie das ganze Bild hat leider auch dieser Kopf schon sehr gelitten; immerhin aber erhalten wir durch denselben eine bestimmtere Vorstellung von den Zügen des Meisters, aus denen die große, liebevolle Seele spricht, als durch das in Öl gemalte Selbstbildnis (Abb. 53) in den Uffizien zu Florenz, dem allzu fleißiges Putzen und Ausbessern fast den letzten Rest von Ursprünglichkeit geraubt haben. — Die Disputa und die Schule von Athen nehmen ungeteilte Wände ein. Bei den anderen zwei Wandbildern war die besondere Schwierigkeit zu überwinden, daß die Bildfläche durch ein großes Fenster unterbrochen wurde. Auf der einen Seite, wo es sich um die Verherrlichung der Rechtslehre handelte, nahm Raffael seine Zuflucht zu einer Zergliederung des Raumes in drei Einzelbilder. Im Bogenfeld über dem Fenster malte er die drei Tugenden, welche von der Gerechtigkeit unzertrennlich sind, die Stärke, die Weisheit und die Mäßigung, edle Frauengestalten, neben denen wieder kleine Genien ihr munteres Spiel treiben; zu beiden Seiten des Fensters stellte er die gesetzgeberische Thätigkeit auf weltlichem und auf kirchlichem Gebiete dar: hier gibt Kaiser Justinian die Pandekten, dort Papst Gregor IX die Dekretalen aus. Der Papst trägt die Züge Julius’ II, und die übrigen Figuren dieses Gemäldes sind Bildnisse von Personen aus[S. 52] dessen Umgebung. An der gegenüberliegenden Wand, wo die Verherrlichung der Dichtkunst zur Darstellung kam, hat Raffael sich durch das Fenster nicht an der Schaffung eines einheitlichen Bildes verhindern lassen, er hat vielmehr den gegebenen eigentümlichen Raum in der glücklichsten Weise ausgenutzt. Er malte den Parnaß (Abb. 54) und verlegte den Gipfel des Musenhügels über das Fenster und ließ die Abhänge desselben sich an beiden Seiten herabsenken. Auf der Höhe des Berges sitzt unter schlanken Lorbeerbäumen Apollo (Abb. 55), ein herrlicher Jüngling, der begeistert den Klängen lauscht, die er hervorzaubert. Sein Instrument ist nicht die Lyra, die zwar als antikes Symbol der Tonkunst allbekannt, aber doch nicht geeignet war, eine lebendige Vorstellung von der Macht der Töne bei den Zeitgenossen zu erwecken; der göttliche Musiker durfte kein anderes Instrument spielen als die Geige. Der Parnaß sollte ja kein archäologisches Bild sein, sondern den Empfindungen und Gedanken der Zeit unmittelbaren Ausdruck verleihen; wie kalt würde die Leier, von der kein Mensch weiß, wie sie geklungen hat, sich ausnehmen an Stelle der Geige, bei deren Anblick doch jeder an wirkliche Musik denkt, besonders wenn ein solches Antlitz, wie dasjenige des geigenden Gottes, der Vorstellung zu Hilfe kommt! Um Apollo scharen sich die Musen. Mit ihnen haben auf dem Gipfel des Parnaß die großen Dichterfürsten Platz gefunden: Homer, der gottbegeistert die lichtlosen Augen erhebt und einem Jüngling seine Gesänge diktiert, Virgil und, diesem folgend, Dante, den Raffael außerdem auch unter den Theologen angebracht hat; neben Virgil wird ein nicht zu bestimmender Bildniskopf sichtbar. Unter der entsprechenden Gruppe auf der anderen Seite, die nicht ganz so hoch steht, erkennen wir, den Musen zunächst, Raffaels Freund, den dunkelbärtigen Ariosto; die Schar der Dichter zieht sich hier in geschlossener Reihe in den Vordergrund hinein; die vordersten Figuren pflegen als Pindar und Horaz bezeichnet zu werden. Dem sitzenden Pindar gegenüber erblicken wir Sappho, die den schönen Arm auf die[S. 56] gemalte Fenstereinfassung aufstützt; zwischen der Gruppe der Dichter, die sich mit ihr unterhalten, macht sich, hinter dem Stamme des Lorbeerbaumes, der Kopf Petrarcas kenntlich.
Unter dem Bilde des Parnaß bezeichnet die Jahreszahl 1511 den Zeitpunkt der Vollendung des ganzen Werks. In drei Jahren hatte Raffael die gewaltige Aufgabe bezwungen. Mit seiner Aufgabe wachsend hatte er sich zum größten Meister der Freskomalerei ausgebildet, den es je gegeben hat. Wie er sich gewöhnte, die Dinge groß und einfach zu sehen, das offenbaren selbst die nach der Natur gezeichneten Studien; das prächtige Blatt im British Museum mit der Gewandstudie für den sogenannten Horaz und den Studien zu den Händen derselben Figur (die rechte Hand in zwei verschiedenen Stellungen) mag als Beispiel dienen (Abb. 56). Raffael hat es mit der höchsten gottbegnadeten Meisterschaft verstanden, der Fülle der geistvollen Gedanken und der Durchbildung des Ausdrucks und der schönen Formen dasjenige hinzuzufügen, was mehr als alles andere das unlehrbare Kunstgeheimnis der Malerei ist: die malerische Haltung, die dekorative Wirkung; ehe der Beschauer dazu kommen kann, die einzelnen Schönheiten aufzusuchen oder in den Inhalt des Dargestellten einzudringen, kommt ihm die Schönheit entgegen und nimmt sofort und unmittelbar durch den Wohlklang der Linien, Massen und Farben den Blick und die Empfindung gefangen. Daß innerhalb dieser ersten und vornehmsten Eigenschaft der Malerkunst und unbeschadet dieser Eigenschaft sich alle die anderen Vorzüge entfalten, welche die bildende Kunst zu entfalten vermag, damit ist die denkbar höchste Aufgabe der Malerei gelöst. Beim Betreten der Stanza della Segnatura, dieses Allerheiligsten der Malerkunst, empfangen wir jenen vollen überwältigenden Schönheitseindruck, der auch ohne die Dolmetscherarbeit des Verstandes unsere Stimmung erregt, auch heute noch, obgleich die unerbittliche Zeit nicht spurlos hier vorübergegangen ist und namentlich in Bezug auf die Farben ihre grausamen Merkmale gar deutlich aufgeprägt hat. Noch herrlicher muß der Gesamtanblick des Raums gewesen sein, als die Verbindung zwischen den Wandgemälden und dem schönen Marmorfußboden von eingelegter Arbeit noch überall, wo jetzt untergeordnete Malereien den Sockel bilden, durch ein Intarsia-Täfelwerk hergestellt war, welches Julius II, damit es der Bilder würdig sei, durch den besten Meister in diesem Fache, Fra Giovanni aus Verona, anfertigen ließ.
Der Anblick von Raffaels Arbeit hatte den Papst bewogen, auch in dem anstoßenden Gemach die bereits fertigen Werke anderer Maler abschlagen zu lassen. Sofort nach der Vollendung der Stanza della Segnatura nahm Raffael die Ausmalung des Zimmers in Angriff, welches unter dem Namen Stanza d’Eliodoro bekannt ist. Die Beendigung dieser Arbeit aber fand erst nach dem Tode Julius’ II (20. Februar 1513) statt. Wenden wir uns daher zunächst der Betrachtung der anderweitigen Werke zu, welche Raffael in den Jahren 1508 bis 1513 entstehen ließ; denn der jugendkräftige Meister war weit davon entfernt, in den großen Wandgemälden sein ganzes Schaffensvermögen auszugeben. Eine ganze Reihe von Madonnenbildern fällt in diese Zeit. In der Mehrzahl derselben gewahren wir einen leicht erkennbaren Unterschied gegen die Florentiner Madonnen. Die stille, innige Lieblichkeit genügt nicht[S. 58] mehr; die Bilder werden ernster im Ausdruck, sie bekommen ein, wenn man will, mehr kirchliches Gepräge, das sich auch darin ausspricht, daß das Christuskind mehr als die Madonna zur Hauptfigur wird; es lebt in ihnen ein Drang nach größerer Kraftentfaltung, nach energischer Bildwirkung in Hell und Dunkel und in vollen Farben, nach stark bewegten Linien und mächtiger Fülle der Formen; selbst das Antlitz der Jungfrau verändert sich und spiegelt die kräftige Eigenart römischer Frauenschönheit wieder. Florentinisch zart ist noch der Kopf der übrigens ganz römisch gedachten Jungfrau mit dem Diadem (Abb. 57) im Louvre. In einer Landschaft, deren Hintergrund scharfgezeichnete, kahle Berglinien bilden, wie das Sabinergebirge sie zeigt, während weiter vorn antike Gebäude und großartige Ruinen von den Eindrücken erzählen, die der Boden Roms auf den Ankömmling ausübten, schläft auf einem Kissen der Jesusknabe. Durch ein Diadem als Himmelskönigin gekennzeichnet, kniet neben ihm die jungfräuliche Mutter; zwar kniet sie nicht anbetend da, wie wir es auf spätmittelalterlichen Bildern häufig sehen, sondern mit behutsam ausgestrecktem Arm lüftet sie den Schleier vom Köpfchen des Knaben, um dessen Antlitz zu betrachten; aber sie betrachtet es nicht mit seliger Mutterlust, sondern mit tiefem ahnungsvollen Ernst; und neben ihr kniet der kleine Johannes und betet mit glühender Andacht zu dem in Kindesgestalt erschienenen Erlöser der Welt. — Auf einem Bilde, dessen Original verloren gegangen ist, von dem es aber eine ganze Anzahl alter Kopieen gibt, der sogenannten Madonna von Loreto — das Bild befand sich vor seinem Verschwinden in der berühmten Wallfahrtskirche von Loreto — sehen wir den Christusknaben in geschlossenem Raum auf einem weichen Bette ruhen; die Jungfrau, welcher der h. Joseph über die Schulter blickt, ist eben herangetreten und hat den Schleier aufgehoben, mit dem das Kind zugedeckt war, und dieses streckt mit fröhlichem Verlangen die Ärmchen der Mutter entgegen. Selbst in den an und für sich mehr oder weniger schwachen Nachbildungen können wir ahnen, welchen Schatz von Poesie Raffael in diese wieder rein menschlich aufgefaßte, aber in großen, bewegten Linien komponierte Darstellung gelegt hat. Wie vollständig Raffael sich mit den Anschauungen seiner Zeit in Übereinstimmung befand, indem er[S. 61] die höchste menschliche Schönheit als Ausdrucksmittel für das Göttliche annahm, davon geben die Worte des Vasari einen Beweis, der bei der Beschreibung dieses Bildes sagt, daß der Knabe „eine solche Schönheit besitzt, daß er in den Zügen des Kopfes und in allen Gliedern beweist, daß er der wahre Sohn Gottes ist.“ Das Erwachen des Kindes ist in unübertrefflicher Weise der Wirklichkeit abgelauscht. Ein köstliches Studienblättchen im Britischen Museum (Abb. 58) erzählt uns davon, wie Raffael einmal am Bettchen eines Kindes gesessen und mit sicherer Meisterhand die wechselnden Bewegungen des eben erwachten hilflosen Geschöpfchens niedergeschrieben hat. Die am weitesten ausgeführte unter diesen Naturskizzen hat ihre Verwertung gefunden in der sogenannten Bridgewater-Madonna, die sich in der nämlichen englischen Privatsammlung befindet, welche die Madonna unter dem Palmbaum besitzt. Es ist dies eins der wenigen Madonnenbilder aus Raffaels römischer Zeit, die sich, gleich den florenti[S. 62]nischen, auf die Schilderung des frohen, traulichen Beisammenseins von Mutter und Kind beschränken. Zu einem im Original verschollenen Gemälde derselben Art, als Madonna mit dem stehenden Kinde bezeichnet, haben sich die prachtvollen Naturstudien Raffaels nach den Köpfen einer jungen Römerin und eines lachenden Kindes erhalten (im Britischen Museum, Abb. 59). Derselbe echt römische Mädchenkopf kehrt wieder in der Madonna Aldobrandini in der Londoner Nationalgalerie. Hier gesellt sich wieder der Johannesknabe zu Mutter und Kind; wie in einem Florentiner Idyll huldigt er dem Christusknaben durch Überreichen einer Blume; aber römisch wie der Kopf der Madonna ist die Landschaft, in die man durch offene Bogenfenster blickt.
In der ausgesprochensten Weise bezeichnet die veränderte Stimmung, in der religiösen Auffassung sowohl wie in der Form- und Farbengebung, die Madonna von der göttlichen Liebe (Abb. 60), wovon sich das Original im Museum zu Neapel, eine schöne[S. 63] alte Kopie im Palazzo Borghese zu Rom befindet. Hier ist der Bildgedanke mit der größten Entschiedenheit wirkungsvoll malerisch gefaßt, und inhaltlich bildet der menschgewordene Gott aufs entschiedenste den Mittelpunkt der Darstellung. Auch räumlich nimmt der Christusknabe die Mitte des Bildes ein; er sitzt rittlings auf dem Knie der Mutter, die ihn mit gefalteten Händen anbetet, und hebt segnend — nicht wie im kindlichen Spiel, sondern mit vollbewußtem Ausdruck — die Hand gegen den Johannesknaben, der in Ehrfurcht und Demut das Knie vor ihm beugt; daß dieses göttliche Kind zugleich ein schwaches Menschenkind ist, daran erinnert nur, daß es in seiner hochaufgerichteten Stellung einen Halt an dem Knie der Elisabeth sucht, die neben Maria sitzt und ihm zugleich mit der Hand eine Stütze für das erhobene Ärmchen gewährt. Der Schauplatz der Handlung ist ein stellenweise verfallenes, mächtiges antikes Gebäude; durch einen Bogen desselben sieht man im Hintergrunde den Pflegevater Joseph, in seinen Mantel gehüllt, hereinschreiten.
In mehreren anderen Madonnenbildern aus derselben Zeit, unter denen die freilich wiederum nur in der Erfindung, nicht aber in den erhaltenen Ausführungen auf Raffael zurückgehende lustwandelnde Madonna (M. del passeggio, Abb. 61), wohl die bekannteste ist, klingt der Florentiner Grundton wieder stärker durch. So ist es auch bei einem Rundbild, der Madonna aus dem Hause Alba. Das Gemälde selbst zu sehen, ist nicht vielen vergönnt, da sich dasselbe in der Ermitage zu Petersburg befindet. Aber das Museum zu Lille bewahrt ein Blatt mit dazu gehörenden Rötelzeichnungen, welches in mehrfacher Hinsicht unsere Aufmerksamkeit zu fesseln geeignet ist. Auf der einen Seite sehen wir den Entwurf zu dem Bilde, flüchtig, aber in den Hauptsachen endgiltig festgestellt (Abb. 62). Nur über Einzelheiten war sich Raffael noch nicht ganz klar, als er dies niederzeichnete; so sehen wir die Spuren eines wieder weggewischten Buches, welches Maria in der rechten Hand hielt, — bei der Ausführung ist dasselbe in die müßige linke Hand übergegangen; Änderungen hat auch der Gegenstand, den der Johannesknabe darreicht, und damit zugleich der nach diesem Gegenstand ausgestreckte rechte Arm des Christuskindes erfahren; es war ein Rohrkreuz da, dann ist das Lämmchen an dessen Stelle getreten, — auf dem Bilde ist das Rohrkreuz wieder zu seinem Rechte gekommen. Einen beiläufigen Versuch, dem Christuskinde eine ganz andere Stellung zu geben, sehen wir in der unteren Ecke des Blattes. Auf das Studium antiker Bildwerke weist die Sandale hin, welche, wie auf dem Bilde, so auch schon auf der Skizze den Fuß der Maria bekleidet. Die Stellung Marias sah Raffael von vornherein als wohlgelungen an, — abgesehen von der rechten Hand, für die er später die Lösung gefunden hat, daß sie das Kind umfaßt. Jetzt wollte er sich sofort über den Zusammenhang des Körpers in dieser einigermaßen schwierigen Stellung klar werden und zeichnete auf die Rückseite des Blattes eine Studie nach der Natur (Abb. 63). Als Modell nahm er einen jungen Mann, der Oberkleider und Beinbekleidung ablegte; mit der größten Sorgfalt zeichnete er die Beine, namentlich die Kniee, die ja in der Ausführung die wichtigsten Anhaltspunkte geben mußten, um unter den weitfaltigen Gewändern einen richtig gestalteten Körper durchfühlen zu lassen; der Kopf des Modells interessierte ihn nicht, er gab denselben im Zusammenhang mit der Figur ausführlich mit an, aber während er nach dem jungen Burschen zeichnete, dachte er an das Antlitz der Madonna, das vor seinem geistigen Auge stand; den rechten Arm, über den er noch nicht mit sich im reinen war, deutete er nur an; aber das Buch verlegte er jetzt schon in die linke Hand. Die Skizze und die Studie zu der Madonna aus dem Hause Alba sind es aber nicht allein, die das Blatt so interessant machen. Oberhalb der Skizze ist allerlei an den Rand gezeichnet: ein Gebäude in Grundriß und Ansicht, und dann, in zwei Versuchen wiederholt, eine Skizze zu einer Madonna, die auf einem Stuhle sitzt, mit dem Kind auf dem Schoße, das sich zärtlich an sie schmiegt. In diesen beiden kleinen Entwürfen, von denen der eine die beiden Figuren allein zeigt, während bei dem anderen, der durch das mehrfache Verändern und Übergehen der Umrisse sich auf der Rückseite des Blattes durchgedrückt hat, auch der Kopf des kleinen Johannes sichtbar wird, in diesen unscheinbaren Zeichnungen erkennen wir die erste Niederschrift des Gedankens,[S. 64] der sich zu demjenigen Bilde gestaltete, das mehr als irgend eine andere Schöpfung Raffaels sich die Gunst der allerweitesten Kreise erwerben und, in jeder nur erdenklichen Art abgebildet, ein Liebling der ganzen Welt werden sollte, — die Madonna della Sedia (Abb. 64).
Dem Inhalte nach kennt ja jeder dieses höchste Bild der Liebe, dieses Einssein von Mutter und Kind. Aber das Original im Pitti-Palast muß man sehen, um ganz zu begreifen, daß dieses Bild der reinsten Menschlichkeit nicht durch die glaubensinnigen frommen Blicke und gefalteten Händchen des Johannesknaben allein eine religiöse Bedeutung bekommt, sondern daß es durch die Weihe der höchsten künstlerischen Schönheit zum Überirdischen erhoben wird. Dabei sieht das Bild so wunderbar einfach und natürlich aus, als könnte es gar nicht anders sein, und wir begreifen, wie sich die kindliche Sage hat bilden können, Raffael hätte einst diese Gruppe unmittelbar nach dem Leben gezeichnet, auf der Straße, auf den Boden eines Fasses — daher die Rundform, — das gerade in der Nähe lag; die Sage ist sehr bezeichnend als ein naiver Erklärungsversuch der unmittelbaren Wahrheit, die aus dem Gemälde spricht; in Wirklichkeit ist aber gerade bei diesem Bilde nichts zufällig, jeder kleinste Linienzug, jede leiseste Bewegung des Umrisses ist wohl durchdacht, alles ist reifste künstlerische Erwägung, die ein Werk von reinster Harmonie zu schaffen weiß, ohne von dem äußeren Schein der Natürlichkeit das geringste zu opfern.
Streng im feierlich-religiösen Tone sind zwei Altarbilder gehalten, welche Raffael in jener Zeit malte. Das eine ist die Madonna von Foligno (Abb. 65), gemalt im Auftrage des päpstlichen Kämmerers Sigismondo de’ Conti aus Foligno, ursprünglich aufgestellt in der Kirche Araceli zu Rom, dann nach Foligno übertragen, Ende des vorigen Jahrhunderts durch die Franzosen entführt und seit 1815 in der Sammlung der zurückgegebenen Kunstschätze im Vatikan aufgestellt. Errettung aus Kriegsgefahr scheint den Kämmerer zur Stiftung des Bildes veranlaßt zu haben; darauf deutet in der Fernsicht des Gemäldes die Bombe hin, die, einen langen Feuerstreifen hinter sich lassend, in die Stadt Foligno herniedersaust. Aber schon spannt sich das himmlische Friedenszeichen, der Regenbogen, über die Stadt. Darüber erscheint auf Wolken thronend, in einem hellen Lichtschein, den ein Kranz von Engeln umschwebt, die Gnadenmutter mit dem Kinde. Als die Verkörperung der Bescheidenheit erscheint Maria, deren Blicke nichts weiter gewahren als den Gottessohn, den sie trägt. Huldvoll blickt der Christusknabe auf den Kämmerer herab, der am Boden kniet und in inbrünstigem Gebet seinen Dank zum Himmel sendet, während drei Heilige ihm als Fürbitter zur Seite stehen: der heilige Hieronymus hat die Hand auf sein Haupt gelegt und empfiehlt ihn mit beredter Gebärde der göttlichen Gnade; gegenüber steht der strenge Bußprediger Johannes und deutet mit der Hand auf den Erlöser der Welt; neben diesem kniet in heißer Andacht — ein Wunderwerk des Ausdrucks — der von göttlicher Liebe glühende Franziskus. Zwischen den Betern steht, als Träger eines zur Aufnahme einer Weihinschrift bestimmten Täfelchens, ein nackter kleiner Engel, eine jener liebenswürdigen, seelenvollen Kindergestalten, die Raffaels eigenstes Eigentum sind. — Das zweite Altarbild, gleich der Madonna von Foligno durch eine Farbenpracht ausgezeichnet, wie sie den bisherigen Werken Raffaels fremd war, ist die Madonna mit dem Fisch (Abb. 66). Dasselbe stammt aus der Kirche S. Domenico zu Neapel und befindet sich jetzt im Madrider Museum. Als eine Stiftung der Bitte oder des Dankes bezieht es sich auf die Heilung von einem Augenleiden. Der junge Tobias, der in der Hand den Fisch trägt, mit dessen Leber er seinem Vater das Augenlicht wiedergegeben hat, wird durch den Engel zum Thron der Jungfrau geleitet, an deren Seite der Bibelübersetzer Hieronymus steht; innig flehen die beiden, und das göttliche Kind richtet sich, von der Mutter unterstützt, empor, es streckt die Hand aus, und die Heilung ist gewährt.
In die Zeit Julius’ II fallen die ersten Kupferstiche des Marcantonio Raimondi nach Zeichnungen Raffaels. Marcantonio kam um 1510 nach Rom, wo er sich anfangs, ebenso wie in den zunächst vorhergegangenen Jahren zu Venedig, hauptsächlich mit dem Nachstechen Dürerscher Arbeiten beschäftigte, bald aber auch in die Dienste Raffaels trat. Denn Raffael, von dem erzählt wird, daß er seine Werkstatt mit Blättern Dürers ausgeschmückt habe, trug Verlangen, auch seine eignen Schöpfungen in dieser Weise vervielfältigt zu sehen. Er zog sich den Bologneser Kupferstecher zu diesem Zwecke heran und trug so durch die Schönheit seiner Zeichnungen mittelbar zur Vervollkommnung der italienischen Kupferstecherkunst bei. Dem Stichel Marcantonios verdanken wir die Kenntnis einer ganzen Anzahl von Kompositionen Raffaels, die entweder gar nicht oder in veränderter Gestalt zur Ausführung in Gemälden gekommen sind. Zu den ersten Blättern, welche dieser Meister nach Raffael stach, gehören der Tod der Lucretia und der Bethlehemitische Kindermord (Abb. 67). Sie sind gleichzeitig mit Wiedergaben von Zeichnungen zu Gemälden in der Stanza della Segnatura. Wann Raffael den Kindermord entwarf, dafür gibt der Umstand einen Anhalt, daß auf einem Skizzenblatte in der Albertina, welches den Entwurf zur Astronomie und eine Studie zu einer Figur aus dem Urteil Salomos enthält, sich auch der Entwurf zu einer der Hauptfiguren des Kindermordes findet. Eine große Skizze zu diesem Blatt, in nackten Figuren, um die Bewegungen mit Sicherheit festzustellen, bewahrt das Britische Museum (Abb. 68).
Auch zur Ausführung eines Freskobildes für einen Privatmann fand Raffael neben seiner Thätigkeit im Vatikan noch Zeit. Im Auftrage des Luxemburgers Johannes Goritz, eines lebensfrohen und geselligen, allgemein beliebten alten Gelehrten, der beim Papst das Amt eines Bittschriftensammlers bekleidete, malte er an einem Pfeiler der Kirche St. Agostino den Propheten Jesaias, eine[S. 69] kraftvolle Greisengestalt, die zwischen zwei jugendlichen Genien sitzt. Mehr als die allgemeine Anordnung können wir von diesem Werke Raffaels, in dem Vasari die Einwirkung der gewaltigen Schöpfungen Michelangelos wahrnehmen zu müssen glaubte, nicht mehr erkennen, denn das Gemälde wurde schon im XVI. Jahrhundert, da es gänzlich zu verwittern drohte, übermalt, und jetzt ist es von neuem eine Ruine. Eine auch nicht sonderlich gut erhaltene Wiederholung des einen Engels, Bruchstück einer dekorativen Wandmalerei aus dem Vatikan, welche das päpstliche Wappen von zwei Genien getragen zeigte, befindet sich in der Sammlung der Akademie S. Luca zu Rom.
Kehren wir nun zu Raffaels Hauptthätigkeit, der Ausschmückung der Vatikanischen Gemächer, zurück. Der ganze Inhalt der Gemälde in der Stanza della Segnatura ist treffend als das Glaubensbekenntnis der Renaissance bezeichnet worden. Aber der große Renaissancefürst, der dieses malen ließ, war auch römischer Papst, und das zweite Zimmer galt der Verherrlichung der Kirche. Das Bild, welches der Stanza d’Eliodoro den Namen gegeben hat, schildert nach dem 2. Kapitel des 2. Buches der Makkabäer die Vertreibung des syrischen Feldherrn Heliodor aus dem Tempel zu Jerusalem. Mit unwiderstehlicher Wucht hat der himmlische Reiter, den zwei in mächtiger Bewegung die Luft durchstürmende Jünglingsgestalten begleiten, den Tempelräuber zu Boden geschmettert. Aufgeregt drängt sich das Volk, welches das Wunder schaut. Ganz im Vordergrunde aber sehen wir eine Gruppe, die in voller Ruhe dem Ereignis beiwohnt: auf einem Tragsessel, wie er bei feierlichen Umzügen gebräuchlich war, thront Papst Julius II, den Blick auf die Himmelskrieger geheftet (Abb. 69). Dadurch kommt eine besondere Beziehung in das Gemälde, wird dessen Bedeutung erst völlig klargestellt: Papst Julius II, der von den Venezianern ein großes Ländergebiet zurückerobert hatte, in dessen Seele die Vertreibung der Franzosen aus Italien als glühendster Herzenswunsch brannte, sieht hier im Bilde, wie die himmlischen Heerscharen die Kirche von ihren Feinden befreien. Unter den Personen, die zu ihm gehören, gewahren wir ausgeprägte Bildnisköpfe: der jugendliche Mann, der nebenher schreitet, ist durch die Schrift auf dem Zettel in seiner Hand als der päpstliche Sekretär Johannes Petrus de Folcariis bezeichnet; von den Trägern des päpstlichen Stuhles gilt der eine als der Kupferstecher Marc[S. 70]antonio; welcher Deutsche aber dächte bei dem von langwallenden Locken eingerahmten Gesicht mit der hohen Stirn, den offenen Augen, der feinen Nase und dem kurzen Vollbart nicht an unseren Dürer? Daß Dürer dem Raffael als Zeichen der Verehrung sein Selbstbildnis, mit Wasserfarben auf Leinwand gemalt, übersandte, wissen wir durch Vasari.
Das nächste Bild schließt sich im Gedankengange unmittelbar an den Heliodor an. Wie dort Julius II den Triumph der Kirche über die weltlichen Gegner schaut, so wohnt er hier dem Triumph der kirchlichen Lehre über den Zweifel bei. Ein böhmischer Priester, so erzählt die Legende, hatte an der Gegenwart Christi im Altarssakrament gezweifelt: da brachen, während er zu Bolsena die Messe las, Blutstropfen aus der Hostie hervor, sobald er die Verwandlungsworte gesprochen, und überzeugten ihn. Das ist der Gegenstand der „Messe von Bolsena“. Mit freudigem Staunen vernimmt das Volk das Wunder, das sich dem Priester offenbart; in unerschütterlicher Ruhe, felsenfest[S. 71] im Glauben, kniet der Papst dem Beschämten und Bekehrten gegenüber. Durch Anordnung eines von beiden Seiten durch Stufen zugänglichen Chors, auf dem der Altar steht, und durch geschickteste Verteilung der Volksmassen und des päpstlichen Gefolges hat es Raffael mit höchster Meisterschaft verstanden, seine Komposition zwanglos um das Fenster herumzubauen, welches in die Bildfläche einschneidet.
Auf dem folgenden Bilde erscheint der Papst nicht als bloßer Zuschauer, sondern ein Papst ist die handelnde Hauptperson: Leo I, der Große, veranlaßt den Attila zur Umkehr vor Rom. Wir befinden uns im Weichbild der ewigen Stadt; das Kolosseum, die lange Bogenreihe einer alten Wasserleitung, die Cypressen einer hochummauerten Villa malen sich am Horizont; am Monte Mario bezeichnen brennende Gehöfte den Weg, den der erbarmungslose Feind genommen. In wildem Getümmel drängen sich die hunnischen Reiterscharen durcheinander, in vornehmer Ruhe reitet der Papst, von wenigen Kardinälen begleitet, den Barbaren entgegen. Wir glauben die Lippen Leos sich bewegen zu sehen, wie er mit milden und ernsten Worten auf Attila einredet. Was aber den Schrecklichen schreckt, daß er mit unwillkürlichem Schenkeldruck sein Roß zur Umkehr lenkt, das ist ein drohendes Gesicht: über dem Papste schweben, mit blitzenden Schwertern in den Händen, die Apostelfürsten Petrus und Paulus. Das prächtige Gemälde, das im Gegensatz zu seinem Gegenüber, wo himmlische Waffen die Kirchenfeinde niederschlagen, die Beschirmung des päpstlichen Besitzes durch die Macht der Überredung, unter dem Schutze des Ansehens der Apostelfürsten, schildert, wurde noch unter Julius II begonnen. Aber der Papst, der hier zur Darstellung gekommen ist, trägt wie den Namen so auch die Züge dessen, der dem eisernen Julius folgte: Leo X, aus dem Hause der größten Kunstförderer, der Mediceer.
In der Schlacht bei Ravenna (am 11. April 1512) war der Kardinal Giovanni de’ Medici in französische Gefangenschaft geraten, und unter ungewöhnlichen Umständen war er daraus entkommen. Es liegt nahe, daran zu denken, daß er, als er Papst war, in der Erinnerung an dieses Ereignis bestimmte, daß an der noch freien Wand des Zimmers, in dem sein Vorgänger die Befreiung der Kirche und des Kirchenstaates hatte schildern lassen, die Befreiung der Person des Papstes zur Darstellung kommen sollte; die Befreiung des heiligen Petrus aus dem Kerker bot sich von selbst als Gegenstand dar. Doch hängt die Wahl dieses Stoffes so innig mit dem Gedankengange zusammen, der den Inhalt des ganzen Gemäldekreises ausmacht, daß es nicht nötig ist, nach einer solchen Erklärung aus äußeren Gründen zu suchen; das ganze Papsttum erscheint in der Person des ersten Papstes, den die himmlischen Mächte beschützen, verbildlicht, und diese Darstellung enthält gewissermaßen die schriftgemäße Begründung des Inhalts der übrigen. In den sämtlichen Bildern des Heliodorzimmers gewahren wir, daß Raffael mehr als in der Stanza della Segnatura auf die Kraft der Farbenwirkung Gewicht gelegt hat. Bei dem letzten Bilde gefiel er sich in kühnen Lichteffekten. Über dem Fenster in dieser Wand blicken wir durch die Eisenvergitterung einer gemalten Fensteröffnung in das Innere des Kerkers. An Hals, Händen und Füßen gefesselt, sitzt Petrus schlafend am Boden; schlafend lehnen zwei Wächter an den Wänden. Von blendendem Lichtschein umflossen, ist ein Engel in dem dumpfen Raum erschienen und weckt den Petrus, daß er seine Fesseln abschüttle und ihm folge. Links sehen wir, wie auf der Außentreppe ein Kriegsmann mit einer Fackel die Wächter, die in der schwülen Mondnacht dort eingeschlummert sind, mit lautem Zuruf emporscheucht und sie darauf aufmerksam macht, daß im Gefängnis etwas Ungewöhnliches vor sich gehe. Aber seine Warnung kommt zu spät; denn schon schreitet an der anderen Seite der Gefangene an der Hand des lichtstrahlenden Engels ins Freie.
Am Sockel unter den Wandgemälden sind grau in grau Karyatiden gemalt; sie sind im vorigen Jahrhundert sehr gründlich und sehr schlecht übermalt worden, aber Raffaels geschmackvolle Erfindung schimmert doch noch leise hindurch. Im Louvremuseum wird eine mit dem Rotstift prächtig gezeichnete Naturstudie zu einer dieser Figuren bewahrt (Abb. 70). — An der Decke sind innerhalb einer beibehaltenen älteren Einrahmung vier Szenen aus dem Alten Testament von vorbildlicher Bedeutung gemalt: „Das Opfer[S. 72] Isaaks“ über der Messe von Bolsena, „der Herr im feurigen Busch“ über dem Heliodor, „der Herr erscheint dem Noah“ über dem Attila, „Jakobs Traum“ über der Befreiung des Petrus. Davon gehört das meiste nicht einmal der Erfindung nach Raffael an; es sind Schülerarbeiten. Bald nach dem Regierungsantritt Leos X begann die Zeit, wo der Meister dermaßen mit Arbeiten überhäuft wurde, daß er Mühe hatte, nur die Entwürfe zu bewältigen und den größten Teil der Ausführung den Händen seiner Gehilfen überlassen mußte, unter denen Giulio Romano (geb. 1498, gest. 1546) obenan stand.
Im Jahre 1514 war die Stanza d’Eliodoro vollendet. An dem glänzenden Hofe Leos X nahm Raffael eine glänzende Stellung ein. „Niemals ging er zu Hofe, ohne daß er vom Ausgehen aus seiner Wohnung an ein Gefolge von fünfzig Malern gehabt hätte — alles gute und tüchtige Maler, — die ihm das Ehrengeleit gaben; er lebte überhaupt nicht als Maler, sondern als Fürst.“ So berichtet Vasari. — Am 1. Juli jenes Jahres schrieb der Meister an seinen Oheim Simone Ciarla in Urbino einen ausführlichen Brief über seine Verhältnisse und seine Thätigkeit. Das in vielen Beziehungen hochinteressante Schreiben, die umfangreichste unter den wenigen erhaltenen Proben von Raffaels Briefstil, lautet in wortgetreuer Übersetzung folgendermaßen:
Liebster an Vatersstatt!
Ich habe Euren Brief erhalten, der mir ein sehr lieber Beweis ist, daß Ihr mir nicht böse seid, womit Ihr auch wirklich unrecht hättet, in Anbetracht dessen, wie lästig das Schreiben ist, wenn nichts Wichtiges vorliegt. Jetzt, da ich Wichtiges habe, antworte ich Euch, um Euch vollständig alles was ich mitteilen kann zu sagen. Was erstlich das Fraunehmen angeht, so antworte ich Euch, daß ich in betreff derjenigen, die Ihr mir früher geben wolltet, sehr zufrieden bin und Gott beständig danke, daß ich weder diese noch eine andre genommen habe, und darin bin ich verständiger gewesen als Ihr, der mir sie geben wolltet. Ich bin sicher, daß Ihr es jetzt auch erkannt habt, daß ich nicht an der Stelle sein würde wo ich bin; bis zu diesem Tage befinde ich mich in der Lage, in Rom für dreitausend Golddukaten Eigentum zu haben und fünfzig Goldthaler (monatliches) Einkommen, da Seine Heiligkeit unser Herr mir dafür, daß ich den Bau von St. Peter leite, dreihundert Golddukaten Gehalt gegeben hat, die mir niemals ausbleiben werden solange ich lebe, und ich bin sicher noch mehr zu bekommen, und ferner werde ich für meine Arbeiten nach meinem eignen Gutdünken bezahlt, und ich habe ein andres Zimmer für Seine Heiligkeit auszumalen angefangen, das sich auf tausendzweihundert Golddukaten belaufen wird; so mache ich, liebster Oheim, Euch und allen Verwandten und dem Vaterlande Ehre; doch trage ich Euch darum immer mitten im Herzen, und wenn ich Euch nennen höre, scheint es mir als ob ich einen Vater nennen hörte; und beklagt Euch nicht über mich, daß ich Euch nicht schreibe; hätte ich mich doch eher über Euch zu [S. 73]beklagen, da Ihr den ganzen Tag die Feder in der Hand habt und dabei sechs Monate zwischen einem Brief und dem andren hingehen laßt; aber mit alledem bringt Ihr mich nicht dazu, daß ich mit Euch schelte, wie Ihr es mit mir zu Unrecht thut. Ich bin ausgegangen von dem Heiratsthema, aber um darauf zurückzukommen, antworte ich Euch: wißt, daß Santa Maria in Portico (d. h. Kardinal Bernardo Dovizio, genannt Bibbiena, der den Titel dieser Kirche führte) mir eine Verwandte von sich geben will, und ich habe ihm, mit Erlaubnis des geistlichen Oheims (Don Bartolommeo, Erzpriester in Urbino, der Raffaels Vormund gewesen war) und der Eurigen, versprochen alles zu thun, was Seine Ehrwürdige Gnaden wollte; ich kann mein Wort nicht brechen, wir stehen mehr als je in der Enge, und bald werde ich Euch über alles benachrichtigen; habt Geduld bis diese so gute Sache sich entschieden hat, und dann werde ich, wenn ich dieses nicht thue, thun was Ihr wollt. Und wenn Francesco Buffa Partien hat so mag er wissen, daß ich deren auch habe; ich finde in Rom ein schönes Weibchen, nach dem was ich gehört habe, von sehr gutem Ruf sie sowohl wie die Ihrigen, die mir dreitausend Goldthaler Mitgift geben will; und ich wohne in eignem Haus in Rom, und daß hier hundert Dukaten mehr wert sind als zweihundert dort, dessen seid gewiß. Was das Bleiben in Rom betrifft, so kann ich niemals mehr irgendwo anders bleiben, aus Liebe zum Bau von St. Peter; denn ich bin an Bramantes Stelle; welcher Ort ist aber würdiger auf der Welt als Rom, welches Unternehmen ist würdiger als St. Peter! das ist der erste Tempel der Welt, und es ist das größte Bauwerk, das man je gesehen hat; es wird auf mehr als eine Million in Gold kommen; und wißt, daß der Papst bestimmt hat, sechzigtausend Dukaten jährlich für diesen Bau auszugeben, und er denkt an gar nichts andres. Er hat mir einen Gehilfen gegeben, einen sehr gelehrten und mehr als achtzig Jahre alten Mönch; der Papst sieht, daß der nicht mehr lange leben kann, da hat Seine Heiligkeit beschlossen ihn mir zum Gehilfen zu geben, da er ein Mann von großem Ruhm und großer Weisheit ist, damit ich’s lernen könne, wenn er irgend ein schönes Geheimnis in der Baukunst hat, damit ich ganz vollkommen in dieser Kunst werde; er heißt Fra Giocondo[1]; und jeden Tag läßt der Papst uns rufen und spricht ein Weilchen mit uns über diesen Bau. Ich bitte Euch, wollet zum Herzog und zur Herzogin gehn und ihnen dieses sagen; denn ich weiß, es wird ihnen eine Freude sein zu hören, daß einer ihrer Unterthanen Ehre einlege; und empfehlt mich Ihren Herrlichkeiten; und ich empfehle mich Euch beständig. Grüßt alle Freunde und Verwandte von mir, und zumeist Ridolfo, der so viel Güte und Liebe gegen mich hat. Am 1. Juli 1514.
Euer Raffael, Maler
in Rom.
[1] Der Dominikaner Fra Giocondo aus Verona führte in Italien und Frankreich viele bedeutende öffentliche Bauten aus, war auch als Lehrer thätig und gab eine Anzahl wissenschaftlicher Werke verschiedener Art heraus; er war ein wichtiges Glied in der Reihe der Baukünstler der italienischen Renaissance.
Wenn wir lesen, daß Raffael schon wieder die Ausmalung eines neuen Zimmers im Vatikan begonnen hat, so kann uns das nach den bisherigen Erfolgen nur selbstverständlich erscheinen. Überraschend aber wirkt die Nachricht, daß ihm die Bauleitung von St. Peter an Stelle des verstorbenen Bramante übertragen worden ist. — Bramante starb am 11. März 1514; auf dem Todesbette hatte er Raffael zu seinem Nachfolger empfohlen, wie wir aus dem amtlichen Ernennungsschreiben des Papstes erfahren. Modell und Plan, welche Raffael einreichte, fanden den Beifall des Papstes. Wohl empfand der Meister die große Last, welche diese neue Ehre ihm auferlegte. Aber mit Feuereifer warf er sich, in dem Wunsche, „die schönen Formen der antiken Gebäude zu finden“, auf das Studium des Vitruv und der erhaltenen Baudenkmäler des Altertums. Ein alter Gelehrter, Fabio Calvi, den er freundlich in sein Haus aufnahm, übersetzte ihm das Werk des antiken Baumeisters ins Italienische. Die Beschäftigung mit den baulichen Resten des Altertums füllte in Raffaels letzten Lebensjahren einen großen Teil seiner Thätigkeit; er maß und zeichnete die Denkmäler ab und begann das gewaltige Unternehmen, die ganze Pracht der antiken Stadt den Zeitgenossen in Rekonstruktionen vorzuführen. Schmerzlich be[S. 75]rührte es ihn, daß er noch das Abtragen mancher klassischen Ruine mit ansehen mußte, wenn auch die Marmormassen des antiken Rom nicht mehr in so rücksichtsloser Weise als Steinbrüche benutzt wurden, wie es im Mittelalter geschehen war. In einem Punkte gelang es ihm, der Retter zahlloser unschätzbarer Überbleibsel des Altertums zu werden: am 27. August 1515 wurde er durch ein päpstliches Breve zum Aufseher aller Ausgrabungen in Rom und bei Rom im Umkreis von zehn Miglien ernannt, mit der ausdrücklichen Befugnis, die Zerstörung eines jeden Inschriftensteins zu verhindern. Von Raffaels Interesse für die antiken Bildwerke legen zahlreiche Kupferstiche des Marcantonio und seiner Schule Zeugnis ab, sowohl solche, die von Raffael selbst mythologische Kompositionen, die aus der Anschauung antiker Werke hervorgegangen sind, bringen, als auch solche, welche auf seine Anregung hin die antiken Bildwerke selbst nachbilden. — Raffael blieb bis zu seinem Tode Baumeister von St. Peter, zeitweilig ohne Gehilfen — der alte Fra Giocondo starb schon 1515 — zeitweilig wieder mit einem[S. 76] solchen. Sehen können wir nichts von seiner Mitarbeit an dem Riesendom; denn seine Hauptaufgabe war zunächst die nachträgliche Verstärkung der Grundmauern unter den Kuppelpfeilern; seine weiteren Pläne aber wurden später wieder umgeworfen.
Raffaels baukünstlerische Thätigkeit, in der er sich als einen getreuen Jünger Bramantes erwies, blieb nicht auf den St. Petersbau beschränkt. Eine ganze Anzahl von Gebäuden, die Vasari zum Teil einzeln namhaft macht, wurde nach seinen Zeichnungen ausgeführt. Für den Kardinal Giulio de’ Medici (nachmals Papst Clemens VII) fertigte er den Entwurf zu einem Landhaus; es ist dies die übrigens niemals ganz vollendete und in der Folgezeit teilweise veränderte Villa am Monte Mario, welche nach dem Titel ihrer späteren Besitzerin Margarete von Parma, Tochter Kaiser Karls V Villa Madama genannt wird. Ein Hauptwerk, der Palast des päpstlichen Kämmerers Branconio d’Aquila, ist der Anlage der großen Säulengänge am Petersplatz zum Opfer gefallen; doch haben alte Abbildungen eine Ansicht der schönen Fassade bewahrt.[S. 78] Wohlerhalten dagegen ist der gleichfalls nach Raffaels Entwurf, aber erst lange nach seinem Tode ausgeführte Palazzo Pandolfini in Florenz.
Das Vatikanische Zimmer, dessen Ausmalung Raffael im Jahre 1514 begann, führt den Namen Sala dell’ Incendio, nach dem bedeutendsten seiner Wandgemälde, welches den Brand des Borgo schildert, den Papst Leo IV durch seinen Segensspruch stillt. Der innere Zusammenhang der Gemälde dieses Zimmers beschränkt sich darauf, daß in allen vieren Thaten von Päpsten des Namens Leo verherrlicht werden. Die Deckengemälde kommen nicht in Betracht, da hier die vorhandenen Malereien stehen ge[S. 79]lassen wurden; Perugino hatte sie angefertigt, und der Verehrung Raffaels für seinen alten Lehrer verdankten sie ihre Erhaltung. Das Bild „der Borgobrand“ (Abb. 71) offenbart noch ganz und unverfälscht Raffaels Erfindung, wenn es auch zum großen Teil durch Schüler ausgeführt worden ist. Die Schilderung der aufregenden Vorgänge bei einer Feuersbrunst bildet, räumlich wenigstens, den Hauptinhalt des großartigen Gemäldes. Links sehen wir eine prächtige Gruppe (Abb. 72), zu der die Erzählung Virgils vom Brande Trojas den Maler angeregt hat: wie Äneas den Anchises, so trägt ein rüstiger Mann, den ein schöner Knabe begleitet, seinen alten Vater auf dem Rücken aus dem brennenden Hause. Daneben rettet sich ein Jüngling, indem er sich an der Mauer lang ausgestreckt hinabgleiten läßt; eine Frau wirft von oben herab dem Gatten das Wickelkind in die emporgestreckten Hände. Gegenüber werden Löschversuche gemacht, junge Weiber, denen der Sturm die Gewänder um die kräftigen Glieder peitscht, tragen schreiend Wasser herbei (Abb. 73). Mit Gekreisch drängen sich auf der Gasse Frauen und Kinder zusammen; in der allgemeinen Hilflosigkeit wenden einige unter ihnen den Blick nach dem Vatikanischen Palast neben der alten Petrusbasilika: der Stellvertreter Gottes soll helfen. Und schon hat sich eine Schar gläubig Vertrauender dort eingefunden und liegt vor dem Fenster des Papstes auf den Knieen; da erscheint der Heilige und erhebt seine Rechte zum Segen, sein Gebet wird die Macht des Feuers brechen. Über der Betrachtung der lebensvollen Darstellungen des Vordergrundes übersieht der Beschauer leicht die kleinen Figuren in der Ferne; und doch ist gerade die Gruppe der Bittenden, verzweifelt und vertrauensvoll Hilfe Heischenden eine großartige Schöpfung. In den prächtigen Gestalten des Vordergrundes hat Raffael den Beweis geliefert, daß er den menschlichen Körper in den bewegtesten Stellungen mit einer Kenntnis wiederzugeben vermochte, die derjenigen Michelangelos nicht nachstand, dessen Werke ihn, nach Vasaris Erzählung, in Florenz zum Studium der Anatomie angeregt hatten. Die Figuren des Borgobrandes in ihrer künstlerischen Formenschönheit bildeten denn auch eine Hauptquelle des Studiums für Raffaels Schüler und deren Nachfolger. In verschiedenen Sammlungen werden zahlreiche Nachzeichnungen dieser Gestalten aufbewahrt, teils in Sepia getuscht mit aufgesetzten weißen Lichtern, teils in Rötel gezeichnet, darunter auch solche, welche — eine damals sehr fleißig betriebene Übung — aus den bekleideten Figuren das mit unfehlbarer Richtigkeit darunter steckende Nackte herausgezogen haben. Daß es sich bei diesen Blättern nicht etwa um Vorstudien Raffaels handelt, geht schon aus der genauen Übereinstimmung derselben mit den ausgeführten Figuren hervor, wodurch sie sich als nach diesen und nicht nach der Natur gezeichnet zu erkennen geben, ganz abgesehen von der Art der Zeichnung und dem teilweise geringen Formenverständnis. Wie ganz anders scharf und verständnisvoll Raffael nach der Natur zeichnete, beweist das prächtige Blatt mit zwei Aktstudien, welches er im Jahre 1515 dem Albrecht Dürer verehrt hat (aufbewahrt in der Albertina). Die beiden mit Rötel gezeichneten Figuren sind Modellstudien zu zwei Kriegern (Abb. 74) im Vordergrunde des zweiten Wandgemäldes, der Schlacht bei Ostia. Der Sieg Leos IV über die Sarazenen im Jahre 849 ist der Gegenstand des Bildes, ein zeitgemäßes Thema, da gerade jetzt wieder die Türken Italien bedrohten. Während der Kampf noch tobt, sehen wir, daß der Sieg bereits entschieden ist; am Thor der Festung werden die Gefangenen dem Papste vorgeführt, der die Züge Leos X trägt. Augenscheinlich hat Raffael bei diesem Bilde nicht nur das Ganze der Ausführung, sondern auch vieles von der Durcharbeitung der Gruppen seinen Schülern überlassen. Ganz überwiegend gehören die beiden anderen Fresken den Gehilfen Raffaels an, beides Zeremonienbilder, die schon als solche den Meister wenig reizen mochten. Das eine stellt den Reinigungseid Leos III dar. Karl der Große hat, vom Papst um Hilfe gegen die aufständischen Großen Roms angerufen (im Jahre 800), beide Parteien vor sich geladen, um sie zu verhören und danach sein Urteil zu fällen; der Papst aber weigert sich, einen irdischen Richter über sich zu erkennen, und reinigt sich durch einen freiwilligen Eid von allen Anschuldigungen. Durch die Inschrift: „Gottes, nicht eines Menschen, ist es, über Bischöfe zu urteilen“, nimmt das Bild unmittelbaren Bezug auf einen Beschluß des lateranischen[S. 81] Konzils, welches zur Zeit seiner Ausführung tagte. Das vierte Bild ist die Kaiserkrönung Karls des Großen. Selbstverständlich erkennen wir in Leo III wieder Leo X; der Kaiser soll ein Bildnis Franz’ I von Frankreich sein, der bald nach seiner Thronbesteigung (1515) ein Bündnis mit dem Papste schloß. Übrigens ist gerade dieses Gemälde, bei dem die Eintönigkeit der Schilderung einer feierlichen Versammlung kirchlicher Würdenträger der künstlerischen Darstellung besondere Schwierigkeiten in den Weg legte, ein Meisterwerk in Bezug auf malerische Wirkung.
Die Vollendung der Stanza dell’ Incendio fällt in das Jahr 1517. Es darf uns nicht wunder nehmen, daß Raffael die Mitwirkung seiner Gehilfen bei dieser Arbeit stark in Anspruch nahm. Denn die Fülle der Schöpfungen, welche er in derselben Zeit entstehen ließ, während er zugleich die Bauleitung von St. Peter als seine Hauptaufgabe betrachtete, ist geradezu unglaublich.
Nächst dem Papste war es der reiche und kunstsinnige Bankherr Agostino Chigi, der den Meister für die zahlreichsten Aufgaben gewann. Wir erfahren, daß Raffael schon 1510 für ihn die Zeichnungen zu zwei Prachtschüsseln anfertigte. Später lieferte er ihm mehrmals bauliche Entwürfe, so für einen prächtigen Pferdestall, den Chigi im Jahre 1518, bevor er seine hundert goldgeschirrten Rosse hineinführen ließ, durch die kostbarste Ausschmückung in einen feenhaften Prunkraum verwandelte, um darin den Papst, vierzehn Kardinäle und zahlreiche fremde Gesandte mit mehr als fürstlicher Pracht und Verschwendung zu bewirten. Wichtiger ist es für die Nachwelt, daß sie der Kunstliebe Chigis eine Anzahl herrlicher Wandgemälde Raffaels verdankt. Die ersten derselben sind gleichzeitig mit den ersten Arbeiten in der Sala dell’ Incendio entstanden. Chigi hatte sich jenseits des Tiber, an einer damals noch außerhalb der Stadt gelegenen Stelle zwischen dem Fluß und dem Abhang des Janiculus ein Landhaus erbauen lassen. Dieses Haus ist das reizende kleine Bauwerk, welches später, nachdem es in den Besitz des Hauses Farnese gekommen, den Namen Villa Farnesina erhalten hat. Hier malte Raffael in der dem Garten zugewandten Bogenlaube als Gegenstück zu dem von anderer Hand gemalten (später sehr schlecht erneuerten) Polyphem die Nymphe Galathea, des Cyklopen spröde Geliebte. Auf einer von zwei Delphinen gezogenen Muschel gleitet die schöne Nymphe über die spiegelglatte Meeresfläche und horcht lächelnd auf die rauhen Liebesklagen ihres ungeschlachten Verehrers; eine mutwillige Schar von Nymphen und Tritonen umschwärmt sie, ein Liebesgott hat die Zügel ihres Gespanns ergriffen, während seine Genossen mit drohend angelegten Pfeilen in den Lüften gaukeln (Abb. 75). Die heiter-schöne Sinnlichkeit des griechischen Altertums ist wieder lebendig geworden in dieser von einem wunderbaren poetischen Zauber umflossenen Darstellung. Raffael malte das Bild eigenhändig; es mochte ihm eine rechte Erholung gewähren, zwischen den ernsten Gemälden in den vatikanischen Gemächern seine Gestaltungskraft mit anmutig reizvollen Gebilden zu beschäftigen. Aber auch Chigi[S. 82] hielt ernste Aufgaben für ihn bereit. Er beauftragte ihn mit der Ausführung eines Freskobildes über dem Eingang einer Seitenkapelle in der Kirche S. Maria della Pace, welches die Propheten und Sibyllen darstellen sollte. Bei der Ausführung dieses Werkes half dem Meister sein Landsmann Timoteo Viti. Diesem pflegt man die Propheten zuzuschreiben, welche oberhalb der Sibyllen ein Bogenfeld einnehmen. Die Sibyllen aber sind Raffaels eigenste Schöpfung, wenn auch bei der Ausführung Timoteo mitgewirkt haben mag (Abb. 76). Nur eine von den vier Seherinnen, die hier in einer Gruppe vereinigt sind, ist greisenhaft dargestellt, die anderen in blühender Jugendkraft; sie besitzen nichts von dem titanenhaften, urgewaltigen Wesen der Sibyllen Michelangelos, aber dafür prangen sie in der Fülle der Schönheit. Engel mit mächtigen Fittichen überbringen den gottbegeisterten Frauen die Zukunftsworte; außer ihnen haben sich drei kleinere Himmelsbewohner eingefunden, von denen der mittelste die Fackel des Lichtes trägt, und deren heiteres Kinderlächeln den reizvollsten Gegensatz zu dem erhabenen Ernst der übrigen Gestalten bildet. Meisterhaft ist das Gemälde in den eigentümlichen Raum komponiert, den es in durchgeführter und doch wieder aufgelöster Symmetrie ausfüllt. Ursprünglich hatte Raffael die Absicht, das Gleichmaß der beiden Hälften strenger beizubehalten; das verrät eine kostbare Studien[S. 85]zeichnung im Oxforder Museum (Abb. 77); anstatt der einen Sibylle, die auf dem Bilde, sich aufrichtend, von weitem die Blicke auf die ihr zu teil werdende Offenbarung heftet und dadurch eine so treffliche Unterbrechung in die Umrißlinie bringt, sehen wir hier eine Figur, welche sich in einer ähnlichen Bewegung wie die entsprechende Sibylle der anderen Seite der Bogenrundung anschmiegt. Ein in der Albertina bewahrtes Studienblatt zu dem einen der herabschwebenden Engel (Abb. 78) belehrt uns darüber, mit welcher Gewissenhaftigkeit[S. 86] sich der Meister Rechenschaft gab über den Zusammenhang des Körpers unter dem wehenden Gewande; auf das Studium des nackt bleibenden Armes hat er eine ganz besondere Sorgfalt verwendet, aber, mit dem Erreichten noch nicht zufrieden, hat er die beiden Arme des Engels, zugleich mit dem erhobenen Arm der darunter sitzenden Sibylle noch einmal in feinster Ausführung nach einem weiblichen Modell gezeichnet, auf einem in derselben Sammlung befindlichen Blatt (Abb. 79).
Weiter übertrug Chigi die Anfertigung der Entwürfe für eine in der Kirche S. Maria del Popolo einzurichtende Kapelle an Raffael. Der Meister machte die Zeichnung zu der Architektur und die Kartons zum Bilderschmuck der Kuppel, der im Jahre 1516 durch Luigi da Pace aus Venedig in Mosaik ausgeführt wurde. Die Erschaffung der Gestirne ist dargestellt; in der Mitte der Kuppel sehen wir den Schöpfer, der von Engeln umgeben im Weltall schwebt und mit mächtig erhobenen Armen die Himmelslichter ins Dasein ruft; in den acht Feldern, in welche die Wölbung eingeteilt ist, erscheinen acht großartige Engelsgestalten, die Schutzgeister der Sterne; der erste derselben legt emporschauend seine Hände auf die Himmelskugel mit den Fixsternen; unter den übrigen steigen die sieben Planetengötter auf den Wink des Allmächtigen aus dem Nichts empor. — Auch für die bildnerische Ausschmückung der Chigi-Kapelle sorgte Raffael; er entwarf zwei Figuren, die Propheten Elias und Jonas, die der Florentiner Lorenzetto in Marmor ausführte. Die weitverbreitete Annahme, daß Raffael den Jonas selbst in Marmor gemeißelt habe, entbehrt jeder Begründung. Wohl aber ist es denkbar, daß er selbst ein Thonmodell angefertigt habe für diesen herrlichen Jüngling, der wie ein antiker Held über den Fisch, der ihn ausgespieen hat, triumphiert. Denn daß sich Raffael gerade im Jahre 1516 in der Bildnerkunst versuchte, steht fest; nach seinem Thonmodell führte damals ein sonst unbekannter Bildhauer Pietro aus Ancona eine Kinderfigur in Marmor aus. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist diese Bildhauerarbeit Raffaels in der reizenden Gruppe des von einem Delphin getragenen toten Knaben wiederentdeckt worden, von dem Raphael Mengs im vorigen Jahrhundert den ersten Gipsabguß nach Deutschland brachte; das Marmororiginal befindet sich in Petersburg.
Inzwischen war aber auch der Papst schon wieder mit neuen Aufträgen an den Meister herangetreten. Zur Bekleidung des unteren Teils der Wände in der Sixtinischen[S. 87] Kapelle sollten kostbare Teppiche in Flandern gewebt werden, und kein Geringerer als Raffael sollte die Vorlagen dazu ausführen. An Decke und Wänden der Kapelle war die ganze Heilsgeschichte von der Erschaffung der Welt an in Freskogemälden erzählt; die Teppiche sollten die Apostelgeschichte enthalten und so die ganze biblische Bilderfolge zum Abschluß bringen. In den Jahren 1515 und 1516 führte Raffael die Kartons zu den Teppichen aus und schuf damit, während er zugleich mit so vielen und so[S. 88] großen anderen Dingen beschäftigt war, eins seiner unsterblichsten Werke. Die Gewebe wurden in Brüssel bei Meister Peter von Aelst ausgeführt, und zwar in einer so kurzen Zeit, daß uns heute die Großartigkeit der Einrichtung dieser Werkstatt völlig unbegreiflich vorkommt; am Stephanstage des Jahres 1519 prangten sieben von den Teppichen an ihrem Bestimmungsorte und erregten das Staunen und Entzücken aller, die sie sahen; im nächsten Jahre kamen die drei noch fehlenden hinzu. Im Lauf der Zeiten ist diesen Prachtgeweben gar übel mitgespielt worden; sie haben ihre eigene schicksalsreiche Geschichte, die mit ihrer Verpfändung im Jahre 1521 anfängt. Zweimal wurden sie aus Rom entführt, 1527 durch die plündernden Landsknechte und 1798 durch französische Händler, die sie auf der Versteigerung kauften; schließlich haben sie zwar wieder ein Unterkommen im Vatikan gefunden, aber in einem Zustande, der es nicht mehr gestattet, sie zum Schmuck der Sixtinischen Kapelle zu verwenden. Raffaels Kartons wurden mehr als einmal nachgewebt, aber auch die besser erhaltenen Wiederholungen, wie diejenigen im Berliner Museum, geben nur ein sehr abgeschwächtes Bild von Raffaels Schöpfungen. Wir würden dieses Meisterwerk des Meisters nicht gebührend würdigen können, wenn nicht ein gütiges Geschick sieben der mit Leimfarben auf zusammengeklebtes Papier gemalten Originalkartons erhalten hätte; nach mancherlei Irrfahrten ist denselben im Kensington-Museum eine würdige öffentliche Aufstellung zu teil geworden. Es gibt nichts Vollendeteres von lebendig anschaulicher, durchaus volkstümlicher und zugleich künstlerisch erhabener Erzählung, als diese sieben Bilder aus der Apostelgeschichte, in denen die Gründer der christlichen Kirche uns in ausgeprägten Charakteren und glaubhaft wahren Gestalten entgegentreten. Raffael schildert mit einer Einfachheit und Kraft des Ausdrucks, die sich nur mit den Worten der Schrift vergleichen läßt. Die Folge der Darstellungen wird eröffnet durch den wunderbaren Fischzug Petri (Abb. 80); der ganze Zauber einer kühlen Morgenstimmung am Wasser ist ausgegossen über die herrliche Schilderung. Das zweite Bild ist die Berufung des Petrus; in verklärter Schönheit steht der Auferstandene am Ufer des Meeres bei Tiberias den Männern aus dem Volke gegenüber, die seine Lehre in alle Welt tragen sollen, und spricht zu dem niedergesunkenen Petrus: „Weide meine Schafe.“ Dann sehen wir, wie Petrus, von Johannes begleitet, an der schönen Thür des Tempels dem lahmen Bettler gebietet aufzustehen (Abb. 81); und weiter, wie Ananias auf das strenge Wort des Apostelfürsten vom göttlichen Strafgericht getroffen wird, daß der Anblick die Umstehenden schaudernd durchbebt. Fast noch packender ist die nächste Darstellung, wie vor dem Tribunal des römischen Landvogts der Zauberer Elymas durch das machtvolle Gebot des Paulus das Augenlicht verliert und in der plötzlich über ihn hereingebrochenen Finsternis hilflos umhertappt. Das nächste Bild führt uns nach Lystra; wir sehen den mit archäologischer Treue nach antiken Darstellungen abgebildeten heidnischen Opferzug vor Paulus und Barnabas Halt machen, sehen den geheilten Lahmen mit dem Zuge sich herandrängen und die Hände im Dankgebet zu den Aposteln erheben, und den Paulus, dessen mächtige Gestalt der ganzen Schar das Gegengewicht hält, mit abgewandtem Haupt seine Kleider zerreißen: „Ihr Männer, was macht ihr da?“ Schon ist das Opferbeil erhoben, um den bekränzten Stier zu fällen, im nächsten Augenblick würde das Opfer vollzogen sein, wenn nicht einer, ein schöner Jüngling, die Worte des Apostels verstanden hätte und, sich hastig durchdrängend, die That verhinderte. Das letzte Bild zeigt uns Paulus in Athen, wie der Mann Gottes auf dem Areopag der Versammlung geschulter Denker gegenüber seine Stimme erhebt; seine kernigen Worte finden aufmerksame, kopfschüttelnde, spottende Zuhörer, aber auch solche, die ihm gläubig nahen. — Wenn auch bei diesen Kartons Schülerhände behilflich gewesen sind, dieselben in Farben zu setzen, Raffaels Erfindung spricht mit voller Macht aus jedem, auch dem kleinsten Zuge. — Ein Teppich mit der Krönung Marias, der erst vor etwa zwanzig Jahren im Vatikan wieder aufgefunden worden ist, beruht gleichfalls auf Raffaels Erfindung. — Völlig unfaßbar erscheint uns die Arbeitskraft des Meisters, wenn wir erfahren, daß er in denselben Jahren, ganz abgesehen von den Zeichnungen, die er dem Marcantonio für Kupferstiche lieferte, eine Anzahl von Ölgemälden malte, und darunter solche, die erhabene[S. 89] Ehrenplätze unter den herrlichsten seiner Schöpfungen einnehmen.
Für das Kloster S. Maria dello Spasimo zu Palermo malte er die Kreuztragung Christi (Abb. 82). Dabei legte er freilich der Komposition den betreffenden Holzschnitt in Dürers Großer Passion zu Grunde, dem er den unter der Last des Kreuzes zusammengebrochenen Christus fast genau entlehnte; aber er arbeitete seine eignen Empfindungen hinein und machte die Neuschaffung durchaus zu seinem geistigen Eigentum; ganz unabhängig von dem nordischen Vorbild ist namentlich die Gruppe der niedersinkenden Mutter Maria und ihrer Frauen (Abb. 83). Das Gemälde hat merkwürdige Schicksale durchgemacht; das Schiff, auf dem es nach Sizilien gebracht werden sollte, ging unter, die Kiste mit dem Bild aber wurde ans Land getrieben und kam nach Genua; die Kunde von dem aufgefischten Gemälde verbreitete sich bald, aber nur infolge der Vermittelung des Papstes gaben die Genueser den Schatz an die Mönche zu Palermo heraus; an seinem Bestimmungsort aufgestellt, erlangte das Bild, nach den Worten Vasaris, „mehr Ruf und Berühmtheit als der Berg des Vulkan.“ Im XVII. Jahrhundert kaufte Philipp IV das Gemälde den Mönchen heimlich ab und ließ es nach Spanien bringen; jetzt befindet es sich im Museum zu Madrid.
Bei der Kreuztragung scheint die Eigenhändigkeit Raffaels in Bezug auf die Malerei zweifelhaft. Unzweifelhaft aber ist sie bei dem Juwel der akademischen Gemäldesammlung zu Bologna, der h. Cäcilia (Titelbild). Das Bild wurde schon 1513 als Altargemälde für eine Kapelle der Kirche S. Giovanni in Monte zu Bologna bestellt, aber erst 1516 kam der Meister dazu, dasselbe auszuführen. Es ist ein unvergleichliches Gedicht auf den Zauber der Musik. In der Mitte des Bildes steht Cäcilia, eine jungfräuliche Gestalt von holdseligster Anmut, mit der Orgel in den Händen, und gibt sich entzückt den Klängen hin, die ein Chor von Engeln in den Lüften ertönen läßt; vier Heilige umgeben sie, Paulus, der Evangelist Johannes, Augustinus und Magdalena, von denen jeder in seiner Weise, ein vollendetes Charakterbild, den Himmelsklängen lauscht; weltliche Musikinstrumente — diese von Raffaels begabtem Schüler Giovan da Udine (geb. 1487), der ein Meister in liebevoller Wiedergabe der Natur in kleinen Dingen war, ausgeführt — liegen zerbrochen am Boden. In der Farbe ist das Gemälde selbst Musik.
Gleichfalls für einen Bologneser Besteller entwarf Raffael dann ein Bildchen, in dem er in miniaturartig kleinem Maßstabe eine riesengroße Schöpfung niederlegte: die sogenannte Vision des Ezechiel (Abb. 84), jetzt im Pitti-Palast. Zwischen den Fittichen der vier lebenden Wesen, die in der christlichen Kunst von jeher als Sinnbilder der Evangelisten gegolten haben, schwebt Jehova im Weltraum und breitet mit erhobenen Armen, die dienstbereite Engelknaben stützen, die Hände segnend über die tief unten in der Ferne sichtbare Erde aus.
In die nämliche Zeit der höchsten Schaffenskraft des Meisters fällt unzweifelhaft dasjenige Gemälde, welches vielleicht mehr als irgend ein anderes seiner Werke jeden heutigen Beschauer die ganze Macht der Kunst empfinden läßt, die Sixtinische Madonna (Einschaltebild). Vasari berichtet mit wenigen Worten: „für die schwarzen Mönche (Benediktiner) von S. Sisto in Piacenza machte er das Hauptaltargemälde, darauf Unsere Frau mit dem h. Sixtus und der h. Barbara, ein in Wahrheit ganz seltenes und einziges Werk.“ Das vom ersten bis zum letzten Strich von Raffael eigenhändig gemalte Bild stand bis zum Jahre 1753 an seinem Bestimmungsort, dann wurde es für König August III erworben und nach Dresden geschafft. Dort fand es keineswegs von vornherein ungeteilten Beifall; die Kunstkenner des vorigen Jahrhunderts waren im Zweifel darüber, ob das Gemälde wirklich des großen Raffael ganz würdig sei. So ändern die Kunstanschauungen sich im Wechsel der Zeiten. Heute vermag wohl niemand empfindungslos dieser Schöpfung gegenüberzustehen, deren Wesen sich nicht in Worte fassen läßt, die den Blick in eine von allem Irdischen losgelöste andere Welt entrückt und den Beschauer zu andächtigem Schweigen zwingt. — Wenn jemals ein Antlitz gemalt worden ist, das ganz von überirdischer Verklärung durchgeistigt ist, so ist es dasjenige der Mutter des Erlösers auf dem Bilde von S. Sisto. Und dennoch gibt es ein Frauenbildnis von ganz weltlicher Art, das eine gewisse Ähnlichkeit mit demselben zeigt, so daß die Vermutung Raum gefunden hat, daß[S. 90] dieses Bildnis uns die Frau kennen lehre, deren Züge Raffael vorschwebten, als er jenes Antlitz schuf. Es ist die sogenannte Dame mit dem Schleier (Donna velata) (Abb. 85) in der Pitti-Galerie, ein treffliches Porträt, bei dem der Raffaelische Ursprung, wenn auch nicht ganz unbestritten, so doch in hohem Grade wahrscheinlich ist. Die Ähnlichkeit, welche diese schöne Römerin mit den großen dunklen Augen mit der Sixtinischen Madonna hat, ist immerhin nur eine entfernte, aber ganz unverkennbar gleicht sie der Magdalena auf dem Bilde der h. Cäcilia. Es pflegt sich daher an die Dame mit dem Schleier die Vorstellung zu knüpfen, daß sie uns die Züge der Geliebten Raffaels verriete, von der Vasari mehrmals spricht, und deren Bild er unter den Frauenbildnissen des Meisters besonders hervorhebt. Diese Geliebte, deren Namen nirgends genannt wird, war für die Nachwelt, die sich nicht gern damit begnügt, von großen Männern bloß die großen Werke zu kennen, ein Gegenstand prickelnder Neugier; selbst einen Namen[S. 91] hat die geschäftige Sage für dieselbe aus der Luft gegriffen: la fornarina, die Bäckerstochter. Diese Bezeichnung ist haften geblieben an dem Bildnis einer entschleierten Schönen, die auf dem Armband den Namen Raffaels trägt; dasselbe hat seit alten Zeiten als das Bild einer Geliebten des Meisters gegolten und ist als solches schon im XVI. Jahrhundert wiederholt kopiert worden; das Original befindet sich im Palazzo Barberini zu Rom (Abb. 86). — Raffael hat schönere Bildnisse gemalt als dieses. Unter Julius II hatte dieser Zweig seiner Thätigkeit etwas geruht; wenigstens erfahren wir außer von dem Porträt des Papstes selbst nur noch von zweien, von demjenigen des jungen Prinzen Federigo Gonzaga von Mantua und von dem des kunstsinnigen römischen Bankherrn Bindo Altoviti; das erstere ist verschwunden, das letztere befindet sich, leider durch Übermalungen mißhandelt, in der Münchener Pinakothek, wo es lange als Raffaels Selbstbildnis gegolten hat, infolge des allerdings zweideutig scheinenden Ausdrucks des Vasari: „Dem Bindo Altoviti machte er sein Porträt, als er jung war.“ — Unter Leo X aber wurde die Bildnismalerei ein bedeutender Teil von Raffaels Thätigkeit. So malte er unter anderen den Bruder und den Neffen des Papstes, Giuliano und Lorenzo de’ Medici, den als Dichter und Prediger gleich bewunderten päpstlichen Sekretär und Bibliotheksvorsteher Tommaso Inghirami, den Sänger und Dichter Antonio Tebaldeo, den gleichfalls als Dichter glänzenden, Raffael eng befreundeten Grafen Baldassare Castiglione und den staatsklugen Kardinal Bibbiena (Bernardo Dovizio). Einige dieser Bildnisse sind verschollen; andere sind nur in alten Nachbildungen vorhanden oder in solchen Exemplaren, bei denen es zweifelhaft scheint, ob sie die Originale seien; jedenfalls genügt das Vorhandene, um uns Raffael als einen der Größten aller Zeiten auch in der Bildnismalerei bewundern zu lassen. Unzweifelhaft Raffaels eigenhändiges Werk ist das im Louvre bewahrte Bild des Grafen Castiglione. Neben diesem geistreichen und liebenswürdigen Freunde des Meisters interessiert es uns am meisten, seinen besonderen Gönner Kardinal Bibbiena kennen zu lernen (im Pitti-Palast). Mit dessen Nichte hat sich Raffael, wenn Vasari recht berichtet ist, thatsächlich verlobt; aber zur Vermählung kam es nicht; der vom Papst ihm in Aussicht gestellte Kardinalshut soll dem Meister verlockender erschienen sein als das Band der Ehe. Eine größere Arbeit, die Raffael für Bibbiena im Jahre 1516 unternahm, war die Ausschmückung eines (jetzt unzugänglichen) Badezimmers im Vatikan mit Wandmalerei nach antiker Art. — Den Abschluß und die Krone von Raffaels Bildnissen bildet dasjenige des Papstes Leo selbst, auf dem neben dem Papste, der an einem Tische sitzt, mit der Lupe in der Hand, um die Miniaturen einer vor ihm aufgeschlagenen Handschrift zu betrachten, zwei Kardinäle mit abgebildet sind, Giulio de’ Medici (nachmals Papst Clemens VII) und Lodovico de’ Rossi, dieser der Neffe, jener der Vetter Leos (Einschaltebild). Von diesem Prachtbild gibt es zwei Exemplare, eins im Palazzo Pitti, eins im Museum zu Neapel. Wir dürfen uns nicht darüber wundern, wenn die Frage, welches das echte Bild sei, sich heute schwerlich entscheiden läßt; die Kopie wurde im Jahre 1525 durch Andrea del Sarto angefertigt, und sie gelang diesem gewandten Maler so vortrefflich, daß Giulio Romano selbst, der Raffael an dem Gemälde geholfen hatte, sich soll haben täuschen lassen. — Das letzte Bildnis, das aus Raffaels Werkstatt hervorging, war dasjenige der schönen Johanna von Aragonien, der Gemahlin des Conestable von Neapel (Abb. 87). Kardinal Bibbiena bestellte dasselbe als Geschenk für den König von Frankreich, zu dem er sich 1518 als Gesandter begab. Raffael hatte keine Zeit, selbst nach Neapel zu gehen, um die Fürstin zu porträtieren. Er schickte einen seiner Schüler hin, der die Skizze zu dem Bildnis zeichnete; nach dieser Zeichnung wurde dann das farbenprächtige Gemälde, das sich jetzt im Louvre befindet, ausgeführt. Nach Vasaris Zeugnis hat Raffael daran nur den Kopf gemalt, das übrige ist von Giulio Romano.
Vom Jahre 1517 an kam Raffael überhaupt kaum noch dazu, irgend eine Sache eigenhändig auszuführen; fing er einmal an einem Bilde zu malen an, so mußte dasselbe doch bald wieder hinter neuen Aufträgen zurückstehen. Von persönlicher Ausübung der Freskomalerei war schon gar keine Rede mehr; aber unter seiner Leitung entstanden noch zwei große Wunderwerke der Wandmalerei: die Vatikanischen Loggien und die Geschichte der Psyche in der Villa Chigis.
Ein Teil des Vatikanischen Palastes öffnet sich nach einem Hofe hin in sämtlichen Stockwerken durch Bogenlauben (loggie), die nach Bramantes und teilweise auch nach Raffaels Entwürfen erbaut sind. Denjenigen Teil der Loggien nun, der im zweiten Stock den Zugang zu den Stanzen bildet, wollte Leo X in einer Weise ausgeschmückt sehen, die eine würdige Einleitung zu der künstlerischen Pracht jener Gemächer sein sollte. Vielleicht schon gleichzeitig mit der Bestellung der Teppichkartons empfing Raffael den Auftrag zur Ausschmückung dieser Laube. Die Aufgabe war freilich hier eine ganz[S. 94] andere als in den inneren Gemächern; wer hier in freier Luft und doch vor der Sonnenglut geschützt einherwandelte, dem durfte die Kunst nur ein heiteres Formen- und Farbenspiel darbieten, das den Geist beschäftigte, ohne ihn anzustrengen, und das Auge erfreute gleichwie die unvergleichliche Aussicht über die ewige Stadt und die Campagna und die fernen Berge. Raffael hat hier ein Werk geschaffen, das seinesgleichen nicht hat. Nur bekommen wir den vollen Eindruck desselben nicht mehr an Ort und Stelle; Wind und Wetter haben den Fresken gar schlimm mitgespielt, so daß in unserem Jahrhundert die Bogen durch Glasfenster geschlossen werden mußten, um wenigstens das Vorhandene zu retten; leider hat auch die Roheit der Besucher das Ihrige dazu bei[S. 95]getragen, die Reste schmählich zu mißhandeln. Glücklicherweise fehlt es nicht an guten alten Kupferstichen, welche die Anschauung des Werkes ergänzen. Die Kunst des Altertums hat demselben als Grundlage gedient. Kurz vorher waren in den verschütteten Ruinen der Bäder des Titus wohlerhaltene Beispiele antiker Wanddekoration in Stuck und Malerei entdeckt worden. Diese reizvollen Gebilde einer mutwillig umherschweifenden Phantasie — Grotesken, wie man sie nannte, weil sie sich nur in unterirdischen Gewölben (grotte) erhalten hatten — gaben das Vorbild für die Auszierung der Loggien; nicht als ob sie schlechtweg kopiert worden wären, aber der künstlerische Sinn, aus dem sie hervorgegangen waren, wurde mit voller Frische zu neuem Leben erweckt. Einzelnes wurde wohl unmittelbar den antiken Darstellungen entliehen; Raffael wendete gerade in jener Zeit den Überbleibseln der antiken Kunst sein höchstes Interesse zu, auf sie verwies er seine Schüler, wenn die Zeit ihm fehlte, hinreichende Vorlagen zu entwerfen, und in ganz Italien, ja selbst in Griechenland unterhielt er Zeichner behufs Aufnahme antiker Werke. Aber das meiste wurde im Geiste und im Geschmack der altrömischen Verzierungskunst neu geschaffen. An Pfeilern und Bogen rankten die Grotesken empor (Abb. 88), in zierlicher Leichtigkeit und in einer Mannigfaltigkeit der Bildungen, von der auch nur annähernd durch das Wort eine Vorstellung geben zu wollen, ein fruchtloses Beginnen wäre. In gebundenerer Formengebung überspinnt das Farbenspiel die Wandflächen, in denen den Bogenöffnungen gegenüber die Fenster und Thüren der päpstlichen Wohnräume liegen, und die Kuppelwölbungen, welche die Loggien bedecken; in jeder Kuppel ordnen sich vier Bilder dem Schmuckwerk ein, die aber ihre Stoffe nicht aus der heiteren Götterwelt des Altertums, sondern, der Würde des apostolischen Palastes entsprechend, aus der biblischen Geschichte schöpfen. Die Ausführung der Grotesken und des Stuckwerkes stellte Raffael unter die Leitung des Giovan da Udine, diejenige der Bilder unter die Aufsicht des Giulio Romano.
Außer diesen beiden aber arbeitete noch eine ganze Schar von Schülern Raffaels an dem Werk, das der überall waltende Geist des Meisters mit einem einheitlichen Band umgab. In den Einzelheiten folgte jeder seinen eignen Eingebungen; namentlich in den kleinen für sich eingerahmten Stuckbildchen, welche überall in den Arabesken verflochten sind, legte jeder nieder, was ihm gerade einfiel. Da finden wir freie Abbildungen von antiken Standbildern und Reliefs, von Kompositionen Raffaels und Michelangelos und frische Szenen aus dem Leben, wir blicken sogar in das Treiben der Künstler selbst hinein: da sitzt der Meister und zeichnet mit Emsigkeit; ein Farbenreiber bereitet die Farben; ein Maurer trägt den frischen Mörtelgrund auf, und neben ihm ritzt ein junger Maler in den aufgetragenen Grund die Umrisse ein, ein anderer malt, ein dritter bringt einen Karton herbei, um ihn an die Wand zu heften, ein vierter ist damit beschäftigt, die Umrisse eines anderen Kartons mit der Nadel zu durchstechen, während ein alter Famulus die Farbentöpfe zurecht macht. — Die 52 Bilder in den 13 Kuppeln der Loggia pflegt man unter dem Namen „die Bibel Raffaels“ zusammenzufassen. Sie beginnen mit der Schöpfung und schließen mit dem Abendmahl; nur vier gehören dem Neuen, die übrigen alle dem Alten Testament an. Nach Vasari würden dieselben sämtlich auf Entwürfen Raffaels beruhen; doch können in dem letzten Teil der Arbeit diese Entwürfe höchstens in ganz flüchtigen Skizzen bestanden haben, während aus den ersten allerdings Raffaels Erfindung mit ihrer ganzen Kraft und Liebenswürdigkeit zu uns spricht. Aber auch die minderwertigen unter diesen Bildern erfüllen vortrefflich ihren nächsten, dekorativen Zweck, mit kräftigen, vollen Farbenakkorden das leichte Spiel des Zierwerks zu unterbrechen und das Auge angenehm zu fesseln. Die Darstellungen in der ersten Kuppel lehnen sich sichtlich an ein übermächtiges Vorbild, Michelangelos Schöpfungsgemälde in der Sixtinischen Kapelle, an, und wenigstens eins derselben, die Scheidung von Licht und Finsternis durch das Machtwort Gottes, bleibt trotz der kleinen Verhältnisse kaum hinter dem großen Vorbild zurück. Vielleicht am alleransprechendsten ist die zweite Kuppel, welche die Geschichte des ersten Menschenpaares erzählt; in dem zauberisch schönen Paradiesesgarten führt der Herr dem erstaunt aus dem Schlummer erwachenden Adam die Gefährtin zu (Abb. 89); dann reicht Eva dem[S. 96] Manne die verbotene Frucht (Abb. 90) — ein Vergleich mit dem Deckenbilde in der Stanza della Segnatura lehrt uns, wie verschiedenartig in der Auffassung und wie gleichwertig in der Schönheit Raffael ein und denselben Gegenstand zu behandeln wußte —; der Engel mit dem Schwerte stößt die Gefallenen in die rauhe Welt, wo ein tobender Sturm, der starke Bäume knickt, den landschaftlichen Gegensatz gegen den Paradiesesfrieden bildet; aber auch die Erde ist schön in Raffaels Augen, das sehen wir auf dem vierten Bilde dieser Kuppel an dem glücklichen Lächeln, das Eva ihren munteren Kindern schenkt, an der sonnigen Anmut der Landschaft, in der Adam das Feld bestellt. Die Schönheit der Landschaft bildet überhaupt einen großen Reiz in einer ganzen Anzahl dieser biblischen Bilder. Worin sie fast ausnahmslos unübertroffen dastehen, das ist die knappe Deutlichkeit anschaulicher Erzählung; in dieser Beziehung sind sie Musterwerke, deren Wert durch die ungleichmäßige und nicht immer gerade musterhafte Ausführung nicht abgeschwächt wird.
Die Vatikanischen Loggien waren noch nicht vollendet, da rief Chigi den Meister wieder in die Götterwelt des Altertums. Es galt die Ausschmückung der großen Loggia des Erdgeschosses in Chigis Villa in Trastevere. Das Märchen des Apulejus von Amor und Psyche bot den Stoff. Aber wie unendlich viel poetischer hat Raffael den Gegenstand aufgefaßt, als der spätrömische Schriftsteller, dessen Erzählung nur eine Profanierung des schönen Mythus von der Seele und der Liebe ist. Mit dem höchsten Geschick hat dabei der Meister seine Darstellungen den verschiedengestaltigen Flächen der Wölbung — denn auf diese beschränkte sich der Schmuck — angepaßt. Es boten sich ihm vierzehn spitzige Kappen dar, die von den Halbkreisbogen der Laubenöffnungen und der entsprechenden Wandfelder aus in die Wölbung einschneiden, zehn nach unten spitz zulaufende Zwickel, in denen sich die Wölbung auf die Pfeiler und Pilaster herabsenkt, und ein großes, langgestrecktes viereckiges Mittelfeld. Raffael rahmte diese Felder mit Blumen- und Fruchtgewinden ein, wobei er das Mittelfeld in zwei Hälften zerlegte, und füllte die Flächen mit lebensgroßen Figuren auf luftig blauem Grunde. In den Zwickelfeldern beginnt die Erzählung mit einer Dar[S. 97]stellung der Venus, die ihren Sohn auf die Erde herabsendet, um Psyche für ihre Schönheit zu strafen, nicht ahnend, daß Amor seine Macht an sich selbst erfahren sollte; im Vorbeischweben macht Amor die Grazien auf das schöne Ziel, dem sein Geschoß gelten soll, aufmerksam (Abb. 91). Was nunmehr nach der Erzählung auf Erden geschieht, die Verbindung Amors mit Psyche, und wie diese durch die Verletzung des Gebotes, das Wesen des Geliebten nicht zu erforschen, ihres Glückes verlustig wird, liegt außerhalb der Darstellungen, denn diese bewegen sich nur im Olymp. Wir sehen Venus, wie sie sich ungetröstet von Juno und Ceres, die ihr nicht Rat und Hilfe gewähren können, hinwegwendet, wie sie auf ihrem Taubenwagen die Himmelshöhen durchfährt, um die Unterstützung Jupiters zur Bestrafung der Psyche anzurufen, wie sie sich mit schmeichelnder Bitte dem Göttervater naht (Abb. 92); darauf schwingt sich Merkur zur Erde herab, um Psyche zu suchen und sie der Rache der Göttin zu überliefern. Wie Psyche die letzte, schwerste Prüfungsaufgabe gelöst und für Venus ein Gefäß aus der Unterwelt heraufgeholt hat, wie sie dieses demütig knieend der erstaunten Göttin darreicht, zeigt das nächste Bild. Und jetzt bittet Amor bei Jupiter um Gnade für die Geliebte und empfängt mit freundlichem Kuß die Gewährung; darauf schwebt Psyche, von Merkur geleitet, zum Himmel empor (Abb. 93). In dem einen der großen figurenreichen Bilder des Mittelfeldes der Decke sehen wir, wie Jupiter den Streit zwischen Venus und Amor in feierlicher Versammlung der Götter schlichtet und wie Psyche den Trank der Unsterblichkeit empfängt; auf dem anderen feiern die Götter bei festlichem Gelage die Vermählung von Amor und Psyche. So erzählt Raffael die Geschichte; in den Kappenfeldern aber läßt er kleine Liebesgötter umherschweben, welche den Göttern ihre Würdezeichen und Waffen geraubt haben und so an den Beschauer die Frage des griechischen Dichters stellen:
Leider sind die köstlichen Gemälde gegen Ende des XVII. Jahrhunderts in sehr gefühlloser Weise aufgefrischt worden; dabei haben besonders die feinen Umrisse der[S. 98] Figuren stellenweise arg gelitten, und der sonnige Luftton des Hintergrundes ist in einen schweren, trüben blauen Anstrich verwandelt worden. Wenn das Werk auch so noch einen wunderbaren Zauber ausübt, so ist das wohl das glänzendste Zeugnis für die unverwüstliche Macht seiner künstlerischen Erfindung. Unberührt von der Übermalung ist die Figur der einen Grazie geblieben, welche dem Beschauer den Rücken zuwendet: dieser herrlich gemalte Rücken gilt als Raffaels eigenhändige Arbeit. Vasari berichtet an einer Stelle, daß der Meister eine Anzahl Figuren in diesen Fresken noch selbst gemalt habe; im übrigen fiel die Ausführung der Bilder dem Giulio Romano und dem Giovan Francesco Penni (dem sein Dienstverhältnis zu Raffael den Beinamen il fattore, der Verwalter, verschafft hat) zu; die prächtigen Blumen- und Fruchtgewinde malte Giovan da Udine. Daß Raffael zu den sämtlichen Bildern ausführliche Vorzeichnungen gemacht hat, ist außer Frage: kein anderer hätte sie so erfinden und gestalten[S. 99] können. Von den erhaltenen Studien zu den Deckengemälden der Farnesina zeigen freilich nur wenige die Handschrift des Meisters (Abb. 94); zu den Studien kommt eine Anzahl von Nachzeichnungen nach den Kartons, wie sie die jüngeren Schüler zu ihrer Übung zu machen pflegten, und auch diese haben für uns ihren Wert, da sie uns teilweise die ursprüngliche Schönheit der Formengebung ungetrübter vor Augen führen als die übermalten Fresken.
Über der Vollendung der Malereien in der Villa Chigis und in den Vatikanischen Loggien war das Jahr 1519 herangekommen. Wir finden Raffael in einer fieberhaften Thätigkeit. Täglich tritt der Papst, der nach Vollendung der Loggien alles, was im Vatikan an Malerei und Architektur gemacht wird, in seine Hände gelegt hat, mit neuen Wünschen an ihn heran; bald muß er für die Kapelle des Jagdschlosses la Magliana in der Campagna Kartons zu Freskobildern zeichnen, bald für eingelegte Holzarbeiten, bald für Münzstempel Vorlagen liefern, bald die Dekorationen für ein Karnevalsfest im Vatikan entwerfen; und neben[S. 100] den Stanzen wird ein großer Saal zur Aufnahme von Wandgemälden vorbereitet. Dabei drängen ihn beständig die Vertreter fremder Fürsten, die für ihre Herren Bilder von ihm haben wollen; sie lassen sich nicht abschrecken, wenn sie einmal vor der Thür seiner Werkstatt abgewiesen werden; zu ihrer Beruhigung macht Raffael dann wohl vor ihren Augen ein paar Pinselstriche an dem bestellten Gemälde, die angefangenen Bilder werden beiseite gestellt, um neuen Platz zu machen, die dann bald dasselbe Schicksal teilen. Der sonst immer heitere und liebenswürdige Meister fängt an, in den Ruf eines Melancholikers zu kommen. Wenn wir die Zahl der zum Teil sehr umfangreichen Ölgemälde überblicken, welche Raffael seit 1517 neben seiner sonstigen angestrengten Thätigkeit noch entstehen ließ — ganz abgesehen von zweifelhaften Werken —, so begreifen wir, daß er sich im Übermaß der Arbeit aufreiben mußte, ungeachtet der Hilfe, welche ihm seine gut ausgebildeten Schüler, besonders Giulio Romano und Giovan Fran[S. 101]cesco Penni, die bei ihm wohnten, gewährten. Nicht jeder Besteller eines Bildes war so geduldig, wie die Nonnen von Monteluce bei Perugia, die im Jahre 1516 an das vor elf Jahren in Auftrag gegebene Bild der Krönung Marias erinnerten, die dann auch erlangten, daß Raffael die Komposition entwarf, und nun doch wieder warten mußten, bis lange nach des Meisters Tode die Schüler das (jetzt in der Vatikanischen Pinakothek befindliche) Gemälde fertig machten. Vor allem galt es den Papst zu befriedigen; als Geschenke für den König und die Königin von Frankreich hatte dieser zwei Gemälde bestellt, einen Erzengel Michael und eine heilige Familie. Die Überreichung dieser Geschenke lag Leo X am Herzen, und ungeduldig mahnte er immer von neuem zur Eile, bis im Frühjahr 1518 die Bilder auf Maultiere geladen und, von einem Gehilfen Raffaels begleitet, nach Fontainebleau gebracht werden konnten. Beide Bilder befinden[S. 104] sich jetzt im Louvre. Der heilige Michael ist als ein schöner Jüngling in antiker Rüstung, aber ohne Helm, dargestellt, der mit großen Schwingen herniederstürmt, um den Satan, der schon unter ihm zu Boden gestürzt ist, mit hoch erhobenem Speer zu treffen; die wilde, dunkelfarbige Gestalt des Teufels und düstere Felsen, aus deren Ritzen die Höllenflammen hervorzüngeln, heben die Lichtgestalt des Engels mächtig hervor (Abb. 95). Die große heilige Familie des Louvre, wie das vom Papst der Königin geschenkte Bild zum Unterschied von einer gleichfalls im Louvre befindlichen kleineren heiligen Familie (Die Jungfrau mit der Wiege), einer ganz von Schülerhand gemalten Komposition Raffaels, genannt wird, zeigt eine Maria, deren Antlitz an zarter, jungfräulicher Bescheidenheit mit den Florentiner Madonnen wetteifert, und einen Jesusknaben, der aus der Wiege springt und sich fröhlich der Mutter in die Arme wirft (Abb. 96); das Kind ist so kindlich, wie Raffael nur jemals eines ersonnen hat, aber seine göttliche Bedeutung wird durch die Huldigungen angezeigt, die ihm dargebracht werden: nicht nur, daß Elisabeth knieend den kleinen Johannes lehrt, die Händchen zum Gebet vor dem Altersgenossen zu falten, auch Engel sind in das enge Gemach herabgestiegen, um anbetend zu verehren und Blumen zu streuen. Den mächtigen Formen der gedrängten Komposition entspricht eine kräftige Farbengebung mit scharfen Gegensätzen zwischen Licht und Schatten. Schon den Zeitgenossen mißfiel es, daß Raffael in seinen letzten Gemälden die Schatten allzu schwarz machte, und in der Folgezeit hat sich die Anwendung einer besonderen schwarzen Farbe, die nachgedunkelt und durch die übrigen Farben durchgeschlagen ist, als sehr verderblich erwiesen. Beim Malen der großen heiligen Familie hat Giulio Romano geholfen, dem die Ausführung einer heiligen Margareta, die nach Vasaris Angabe gleichzeitig als Geschenk für das französische Königshaus nach Fontainebleau kam (jetzt ebenfalls im Louvre), beinahe vollständig überlassen blieb. Mit welcher Sorgfalt Raffael auch jetzt noch die Natur zu Rate zog, davon legen drei Studienblätter zu der großen heiligen Familie Zeugnis ab: die Louvresammlung bewahrt die nach einem leichtgekleideten Mädchen gemachte Aktzeichnung zur Madonna (Abb. 97); in der Uffiziensammlung finden wir die im Gemälde fast ganz getreu benutzte, sorgfältig ausgeführte prächtige Gewandstudie zu derselben Figur (Abb. 98) und die köstliche Modellstudie des Christuskindes (Abb. 99).
Zu Raffaels letzten Madonnenbildern gehört ferner das berühmte große Bild in Madrid, welches Philipp IV als die Perle seiner Sammlung bezeichnete, und das seitdem den Namen „la perla“ behalten hat. Es ist ein inniges Familienbild, scharf beleuchtet in stimmungsvoller Morgenlandschaft; Maria hat den einen Arm um den Nacken der in tiefernste Gedanken versunkenen Mutter Anna gelegt, mit der anderen Hand umfaßt sie den Knaben, der aus der Wiege auf ihr Knie geklettert ist und lächelnd nach den Früchten greift, die der kleine Johannes ihm bringt. Besteller des Bildes waren die Grafen von Canossa zu Verona. — Gleichfalls in Madrid befindet sich eine „Heimsuchung Marias“ in lebensgroßen Figuren, welche Raffael für den päpstlichen Kämmerer Branconio d’Aquila — denselben, zu dessen Palast in Rom er den Entwurf lieferte — anfertigte. — Für den Kardinal Colonna malte der Meister die begeisterte Jünglingsgestalt des Vorläufers Johannes (jetzt in der[S. 105] Tribuna zu Florenz), ein um der Neuheit seiner Auffassung willen häufig nachgebildetes Gemälde.
Die Wucht der Formen, die großen Linienzüge, die scharfen Gegensätze von hell und dunkel, die wir in all diesen Bildern gewahren, scheinen von dem aufgeregten Seelenzustande zu erzählen, aus dem heraus der mit der flüchtigen Zeit im Kampfe liegende Meister schuf. Das vierte der Vatikanischen Gemächer, dessen Ausmalung er leiten sollte, verhieß ihm Gelegenheit, sich in gewaltig bewegten, leidenschaftlichen Darstellungen Luft zu machen. Das Leben Kon[S. 106]stantins sollte hier geschildert werden, mit dem Sieg über Maxentius als Hauptdarstellung (Abb. 100). Zwar rührt der Karton zu dieser Schlacht, von dem Bruchstücke erhalten geblieben sind, nicht von dem Meister selbst her; aber einzelne Studien zu dem Bilde hat er gezeichnet und sicherlich auch einen Gesamtentwurf angefertigt; denn nur auf Grund eines solchen läßt es sich erklären, daß das erst mehrere Jahre nach Raffaels Tode ausgeführte Gemälde jene Fülle von Leben und jene machtvolle Großartigkeit besitzt, die dasselbe trotz seiner Mängel zu einem unübertroffenen Muster der Schilderung eines gewaltigen Heldenkampfes machen. Sicherlich geht auch die meisterhafte Anordnung der Wandeinteilung im Konstantinsaal auf Raffael zurück, die mit den figurenreichen Geschichtsdarstellungen großartige Architekturen wechseln läßt, in denen die Riesengestalten berühmter Päpste thronen. Dem Drange nach kraftvollster Wirkung, den der Meister empfand, entspricht es, daß der — in der Folge wieder aufgegebene — Versuch gemacht wurde, Ölmalerei an die Stelle der Freskomalerei treten zu lassen. Raffael hat kaum den Beginn der Malerei im Konstantinsaale erlebt; wenn wir in der Maxentiusschlacht noch eine Nachwirkung seines Geistes vernehmen, so gewahren wir in den übrigen Bildern nur allzu deutlich, wie ohnmächtig Giulio Romano und seine Genossen derartigen Aufgaben gegenüberstanden, sobald sie ganz auf sich selbst angewiesen waren.[S. 107] — Zu solchen großen Werken gehörte die Größe des Meisters. Glücklicher bewahrten die Schüler das Erbe seines Geistes in rein dekorativen Sachen; wenigstens sind die Stuckarbeiten, welche Giovan da Udine in der Villa Madama ausführte, deren Bau Giulio Romano nach Raffaels Tode übernahm, ebenbürtige Sprößlinge des Zierwerks in den Vatikanischen Loggien; freilich vermochte bei diesen Arbeiten auch ein genaues Studium antiker Vorbilder einigermaßen Ersatz zu leisten für die aus Raffaels schaffensfreudiger und unermüdlicher Phantasie geflossenen Anregungen.
Das letzte Werk, an das Raffael selbst die Hand legte, war eine große Altartafel, welche Giulio de’ Medici für die Hauptkirche seines Bischofssitzes Narbonne bestellte. Raf[S. 108]fael mochte wohl fühlen, daß das Überwiegen der Schülerarbeit in der Ausführung seiner Werke schließlich seinem Ruhm schaden würde, zumal da man in Rom anfing, den Namen des Venezianers Sebastiano (später del Piombo zubenannt), eines Nachfolgers und Freundes des Michelangelo, neben dem seinigen zu nennen. Und da gerade dieser in Bezug auf die Farbengebung sehr hervorragende Maler vom Kardinal den Auftrag bekam, das Gegenstück zu Raffaels Bild anzufertigen, so mag dies mit ein Grund gewesen sein, Raffael zu bestimmen, das Altargemälde, als dessen Gegenstand die Verklärung Christi auf dem Tabor gewählt wurde, ganz eigenhändig auszuführen. Selbstverständlich war es damit nicht ausgeschlossen, daß der Meister bei den mehr mechanischen Teilen der Arbeit Schülerhilfe benutzte, etwa bei der Übertragung der Zeichnung ins Große, oder wenn es sich darum handelte, auf Grund der Aktstudien (Abb. 101), welche er selbst mit dem äußersten Fleiß zeichnete — wie noch eine Anzahl erhaltener Blätter dieser Art bekunden —, einmal das ganze fertig komponierte Gemälde in nackten Figuren aufzubauen, um für die Formenrichtigkeit der Gestalten eine unbedingt sichere Unterlage zu haben (Abb. 102). Seinen ursprünglichen Bestimmungsort hat das Gemälde nie gesehen; nach Raffaels Tode glaubte man diese seine letzte Schöpfung an dem Hauptschauplatz seiner Thätigkeit behalten zu müssen, und stellte die Tafel auf dem Altar von St. Pietro in Montorio zu Rom auf; 1797 als Beute der Franzosen nach Paris gebracht, befindet sich das Bild seit 1815 in der Vatikanischen Pinakothek. Raffaels letztes Werk ist eins seiner gewaltigsten (Abb. 103). Durch mächtige Gegensätze ergreift es den Beschauer. Auf der Höhe des Berges, etwas entfernt, schwebt die verklärte Gestalt des Erlösers zwischen Moses und Elias hellleuchtend in der lichten Wolke über den geblendet zu Boden gestürzten drei Jüngern. Inzwischen spielt sich am Fuße des Berges ein Vorgang menschlichen Elends und menschlicher Ohnmacht ab: vor die neun zurückgebliebenen Jünger ist der Vater des mondsüchtigen Knaben, von einer Volksschar begleitet, hingetreten. Der Unglückliche hält den in Krämpfen tobenden Knaben fest und heftet, von den Leiden des Sohnes bis zur Verzweiflung ergriffen, die stieren Augen mit einem letzten Hoffnungsschimmer auf die Jünger Jesu; zwei Frauen haben sich vor diesen auf die Kniee geworfen; die eine bittet mit sanften, stummberedten Blicken, die andere, unter der wir uns die Mutter des Knaben vorstellen, verlangt leidenschaftlich, fast gebieterisch Hilfe; flehend strecken die Begleiter die Hände aus. Und die neun Apostel stehen dem gegenüber, erschüttert, von Mitleid ergriffen, aber unfähig zu helfen; denn derjenige, der helfen könnte, hat sie verlassen und ist auf den Berg gegangen, — darauf weist einer von ihnen zwei seiner Gefährten hin, die, beschämt über ihre Ohnmacht, nach dem schrecklichen Schauspiel nicht mehr hinzusehen wagen; daß derjenige, der auf dem Berge weilt, helfen wird, das verkündet mit fester Zuversicht ein anderer Apostel, der sich emporgerichtet hat, den Hilfesuchenden. Durch diese Gestalt löst sich die dramatische Spannung, wir wissen, daß die Hilfe da ist: wir erkennen es an dem Ausdruck der Gewißheit in Mienen und Gebärde des Jüngers, wir sehen es auch mit dem leiblichen Auge: denn unwillkürlich folgt der Blick der Richtung der scharf durchgehenden Linie, welcher die emporgestreckte Hand dieses Apostels den letzten Nachdruck verleiht, und haftet nun wieder auf der Lichtgestalt des Erlösers. „Beides ist eins: unten das Leidende, Bedürftige, oben das Wirksame, Hilfreiche, beides aufeinander sich beziehend, ineinander einwirkend“ (Goethe). Der Gegensatz geht auch in dem Äußeren der Darstellung durch: oben wohllautende Harmonie der Farben und Linien, alles in Lichtmassen schwimmend; unten schroff durcheinander gehende Linien, grell zusammenstoßende Farben und finstere Schatten. — Die beiden Personen, welche wir, ohne daß sie sich irgendwie störend bemerklich machten, am Bildrande als Zuschauer der Verklärung gewahren, sind eine Zuthat, welche nur für den Besteller eine Bedeutung hatte: die Schutzheiligen des Vaters und Oheims des Kardinals, Julianus und Laurentius. — Raffael hatte die Verklärung eben vollendet — vielleicht fehlten noch die letzten Übergehungen, welche die allzu harten Farbenzusammenstellungen in der unteren Bildhälfte gemildert haben würden, — da ereilte ihn der Tod. Es befiel ihn ein heftiges Fieber, gegen das bei dem Zustande von Überreizung, in welchem er sich seit langem befand, sein Körper keine genügende Widerstandskraft besaß. Aus dem[S. 109] dichterischen Nachruf, den der Graf Castiglione dem Freunde widmete, möchte man schließen, daß Raffael sich bei den Ausgrabungen das Fieber zugezogen habe; denn daß der Tod ihn gefällt habe aus Unwillen darüber, daß er es unternahm, den Leichnam der Stadt zum Leben zurückzurufen, ist der Inhalt dieses Gedichts. Ein unzeitiger Aderlaß beschleunigte den Verlauf der Krankheit, die nur wenige Tage dauerte. Raffael bereitete sich auf den Tod vor und ordnete alle seine Angelegenheiten aufs sorgfältigste. Am Karfreitag (6. April) des Jahres 1520 verschied er. Er hatte die Schwelle des reifen Mannesalters noch nicht erreicht und hatte doch eine Thätigkeit hinter sich, wie sie so reich kaum jemals einem Künstler im Laufe eines langen Menschenlebens beschieden gewesen ist. Ganz Rom sprach von nichts anderem als von Raffaels Tod, man erzählte sich, daß der Vatikanische Palast in der Nacht seines Hinscheidens Risse bekommen habe und den Einsturz drohe. Der Schmerz war allgemein; denn jeder, der ihm nahe ge[S. 112]standen, hatte den Liebenswürdigen geliebt. Der Papst weinte bitterlich, und die fremden Gesandten schickten ihren Herren ausführliche Berichte über den Trauerfall. Die Leiche wurde in der Werkstatt aufgebahrt, zu ihren Häupten stand das Gemälde der Verklärung Christi. Als Begräbnisplatz hatte Raffael sich das schönste Gebäude Roms, das besterhaltene Baudenkmal des Altertums ausgewählt; das Pantheon. Nach seinem Vermächtnis führte der Bildhauer Lorenzetto ein Marmorstandbild der Madonna aus, welches zwischen den Porphyrsäulen eines der schönen alten Tabernakel aufgestellt wurde. Daneben wurde eine einfache Inschriftplatte in das Marmorgetäfel eingelassen, um die Stelle der Gruft zu bezeichnen. Kardinal Bembo hat die kurze lateinische Grabschrift verfaßt mit dem Epigramm: