Title: Kulturgeschichte der Nutzpflanzen, Band IV, 2. Hälfte
Author: Ludwig Reinhardt
Release date: April 7, 2020 [eBook #61776]
Language: German
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Anmerkungen zur Transkription
Der vorliegende Text wurde anhand der 1911 erschienenen Buchausgabe so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert; Rechtschreibvarianten wurden nicht vereinheitlicht, sofern die Verständlichkeit des Textes dadurch nicht berührt wird. Fremdwörter und Transliterationen (vorwiegend aus dem Griechischen) wurden weder korrigiert noch vereinheitlicht.
Einige Bildtafeln enthalten mehrere Abbildungen. Fußnoten wurden an das Ende des jeweiligen Kapitels gesetzt.
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Kulturgeschichte der
Nutzpflanzen
2. Hälfte
Die Erde und die Kultur
Die Eroberung und Nutzbarmachung der Erde durch den Menschen
In Verbindung mit Fachgelehrten
gemeinverständlich dargestellt von
Dr. Ludwig
Reinhardt
Bd. IV in zwei Teilen
Kulturgeschichte der Nutzpflanzen
München 1911
Verlag von Ernst
Reinhardt
von
Dr. Ludwig Reinhardt
Band IV, 2. Hälfte
Mit 35 Abbildungen im Text und 76 Kunstdrucktafeln
München 1911
Verlag von Ernst
Reinhardt
Alle Rechte vorbehalten
Roßberg’sche Buchdruckerei, Leipzig.
Als die Germanen in das Licht der Geschichte traten, waren sie noch kein ausgesprochen Ackerbau treibendes Volk, wie dies erst seit dem Mittelalter der Fall ist, sondern Jagd und Viehzucht waren ihre Hauptnahrungsquellen, neben denen der Pflanzenbau eine sehr bescheidene Stelle einnahm. Persönliches Grundeigentum gab es bei ihnen noch nicht, das Land gehörte vielmehr der Gesamtheit der Gaugenossen. Jede Sippe erhielt ein Stück davon auf ein Jahr zur Bebauung zugewiesen, und dieses wurde nun von den Frauen behackt und mit allerlei Nährfrüchten wie Hafer, Gerste, Einkorn und etwas Flachs bepflanzt. Soweit Männer zu solcher in ihren Augen erniedrigenden Arbeit zugezogen wurden, waren es Kriegsgefangene, die man am Leben ließ, um sie als eine Art Arbeitstiere zu verwenden. Die Freien trieben Viehzucht, soweit nicht die leidenschaftlich gerne getriebene Jagd und der Krieg mit den Nachbarstämmen, der mit Vorliebe in Form von Raubzügen ausgeübt wurde, ihre Zeit in Anspruch nahm. Irgend welche schwere Arbeit war ihnen zuwider, und wenn sie es irgendwie vermochten, lagen sie zu Hause miteinander plaudernd auf den Bärenfellen und überließen die Sorge für Haus, Herd und Land den Frauen und Hörigen, welch letzteren naturgemäß alle schwere Arbeit zufiel. Die bescheidenen Hütten mit aus Lehm verstrichenem Flechtwerk, die zu errichten ebenfalls den Weibern oblag, wurden häufig gewechselt, um neue Weideplätze und fruchtbaren, jungfräulichen Boden aufzusuchen. Düngung des Bodens war noch unbekannt; daher wurde neuer Boden durch Abbrennen des darauf wachsenden Gehölzes urbar gemacht, sobald das zuerst umgebrochene Ackerland an Fruchtbarkeit nachließ.
Dieser halbnomadische Wirtschaftsbetrieb der alten Germanen wich erst dann einer größere Ansässigkeit bedingenden Feldwirtschaft, als[S. 2] sich der Strom der unruhig wandernden Stämme derselben an dem mit dem berühmten Wall und Pfahlgraben, dem limes romanus, umgebenen und von römisch-gallischen Ansiedlern bewohnten Dekumatenland brach und die nimmer Rastenden zwang, feste Wohnsitze einzunehmen. Ein Ausweichen nach Norden und Osten gab es nicht mehr; denn verwandte Stämme saßen schon hier, und von rückwärts drohten die nachdrängenden Slawen. Der Not gehorchend und nicht dem eigenen Trieb mußten die Germanenstämme ihr Wanderleben aufgeben, um sich durch einen geregelteren Ackerbaubetrieb neue und reichere Quellen zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse zu erschließen; denn die Zahl des Volkes wuchs, die Jagd auf den beschränkten, zur Verfügung stehenden Gebieten wurde weniger einträglich, und zur Gewinnung der nötigen Nahrungsmittel mußte eine intensivere Feldbebauung, welche mehr und mehr auch die Kräfte der freien Männer in Anspruch nahm, eingeführt werden.
Die Anleitung zu rationellerem Pflanzenbau und neue Kulturgewächse erhielten die an den limes angrenzenden Stämme begreiflicherweise zuerst von den auf höherer Wirtschaftsstufe stehenden Ansiedlern des Dekumatenlandes. Zwischen den neuen Nachbarn entwickelte sich bald ein reger Verkehr, der sich während eines zweihundertjährigen Friedens immer lebhafter gestaltete, bis die Völkerwanderung mit ihren zahllosen gewaltigen Kämpfen längere Zeit anhaltende Völkerverschiebungen bewirkte. Als diese dann ausgetobt hatte, waren die einst so wanderlustigen Stämme teils aufgerieben, teils von den fremden Völkern, mit denen sie sich mischten, absorbiert und ihrem Volkstum angepaßt, teils auch durch die starke Beeinflussung des an Kultur weit höher stehenden Römertums für eine ansässige, sich vorzugsweise auf den Landbau stützende Lebensweise gewonnen.
Schon zur Zeit des römischen Geschichtschreibers Cornelius Tacitus (54–118 n. Chr.), der uns die erste ausführlichere Schilderung von der Lebensweise und den Anschauungen der Germanenstämme gab, begann in Germanien das Bedürfnis nach fester Ansiedelung sich in weiteren Kreisen geltend zu machen. Jede Sippe besaß damals bereits einen Anteil an Wald, Wiese und Ackerland als Sondereigentum, woneben der gemeinschaftliche Flurbesitz der gemeinen Mark oder Allmende weiter bestehen blieb. Hofstätte und Anrecht an Ackerland und Allmende wurden zusammen mit dem Ausdruck Hufe oder Hub benannt. Die damalige Betriebsform war die Feldgraswirtschaft, wo[S. 3]bei jedes Stück Land nur ein Jahr bepflanzt wurde, um dann mehrere Jahre hindurch als Wiese oder Weide brach zu liegen. Damals war die Viehzucht noch viel wichtiger als der Ackerbau, der noch sehr primitiv mit dürftigem Ackergerät ausgeübt wurde.
Einen entschiedenen Fortschritt brachte die zu Beginn des Mittelalters aufkommende, wahrscheinlich von den Römern übernommene Dreifelderwirtschaft, die sich bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts in fast unveränderter Form erhielt. Sie bestand darin, daß man ein Drittel des Ackerlandes brach liegen ließ, damit sich der Boden erhole und durch das Hineinhacken oder -pflügen des auf ihm gewachsenen Unkrautes, soweit es nicht vom Vieh abgeweidet wurde, gedüngt werde. Das zweite Drittel wurde mit Wintergetreide und das letzte Drittel mit Sommerfrucht bepflanzt. Dieser Wechsel von Winter- und Sommergetreide gestattete die Feldarbeiten besser über das Jahr zu verteilen. Besondere Verdienste um die Verbreitung dieser neuen Betriebsweise erwarb sich Karl der Große, der in seinen Verordnungen über die Bewirtschaftung der königlichen Domänen seinen Beamten genaue Vorschriften machte, immer mit dem Zweck, seine musterhaft geleiteten Güter möchten den bäuerlichen Betrieben als Vorbild zur Nacheiferung dienen. Seinem guten Beispiel sind nachher vor allem die Klöster mit ihren klugen und umsichtigen Mönchen gefolgt und haben damit viel zur Hebung der Landwirtschaft beigetragen. Auch ihre Güter lieferten den umliegenden Bezirken ein nachahmenswertes Beispiel. Besonders aber beförderten die Klöster den Garten-, Obst- und Weinbau, die vornehmlich persönliche Sorgfalt lohnten. Selbst die um das 10. Jahrhundert einsetzende Städtegründung hatte einen fördernden Einfluß auf die Landwirtschaft; denn die hinter Mauern Schutz suchenden Bürger blieben, soweit sie sich nicht einem besonderen Handwerk zuwandten, Bauern, und ihr außerhalb der Ringmauern gelegener Besitz erfreute sich bald einer hohen Kultur, die wiederum hauptsächlich dem Garten- und Obstbau zugute kam.
Dadurch, daß alle Brach-, Winter- und Sommerfelder auf je einer zusammenhängenden Fläche lagen, die zunächst noch Eigentum der Markgenossenschaft blieb und erst nach und nach in den Besitz von einzelnen Familien überging, bestand ein gewisser Flurzwang, indem die Arbeit von allen Genossen, die ein bestimmtes Stück Land zur Bebauung erhalten hatten, gleichzeitig ausgeführt werden mußte. Ebenso nachteilig auf die Entwicklung der Landwirtschaft wie dieser Flurzwang wirkten auch die sozialpolitischen Verhältnisse, vor allem[S. 4] die zahlreichen, alle Kultur zerstörenden und keinen rechten Fortschritt aufkommen lassenden Kriege und Fehden der Machthaber untereinander, unter denen die Bauern in erster Linie zu leiden hatten, und der sich immer mehr ausbildende Gegensatz zwischen Privat- und Gemeindebesitz. Durch ausgiebige Belehnung von seiten der Könige für geleistete Dienste gelangte einerseits der Adel, und durch reiche Schenkungen der um ihr Seelenheil besorgten Begüterten die Kirche zu ausgedehntem Landbesitz, während das Bauerntum seit den Staufenkaisern mehr und mehr verarmte. Die durch diese ungünstigen Verhältnisse genährte allgemeine Unzufriedenheit der Landbevölkerung machte sich beim Erwachen der Geister zur Reformationszeit in den verschiedenen Bauernaufständen Luft; doch half ihr diese Auflehnung, die von den Herren aufs blutigste geahndet wurde, nicht nur nichts, sondern verschlimmerte noch wesentlich ihre Lage. Diese wurde im Laufe des 30jährigen Krieges geradezu trostlos. Nicht nur wurde die Bauernschaft um alle Habe gebracht und ihr Zug- und Nutzvieh fast ganz vernichtet, sondern in der allgemeinen Unsicherheit auch die Äcker nicht mehr bepflanzt, da keine Saat mehr vorhanden war oder das Zugvieh fehlte und die endlosen Beraubungen den Leuten allen Mut zur Bestellung ihrer Felder nahmen. Wozu auch säen, wenn doch nicht zu ernten war! So bedeckte sich die unbebaute Flur weithin mit Gestrüpp, die Wiesen verschlammten, Haus und Hof wurden zerstört oder verfielen, weil die Bewohner getötet oder in völliger Verarmung verzogen waren. Zahlreiche einst betriebsame Ortschaften verschwanden vom Erdboden, ihr einstiges Dasein nur noch in gewissen Flurbezeichnungen zurücklassend. Dafür hausten Tausende heimatlos Gewordener in Wald und Einöde. Und wer dem allgemeinen Elend der Zeit trotzte und auf der elterlichen Scholle ausharrte, der gewöhnte sich an elende Wohnung, dürftige Nahrung und schlechte Behandlung, verlor allen Lebensmut, allen Drang zur Arbeit, die ja doch nicht lohnte, nahm von der zügellosen Soldateska, mit der er verkehrte, rohe Sitten und gewalttätiges Wesen an. Die Folge war, daß die Bauern von den Grundherren immer mehr verachtet und bedrückt, ja vielfach bis zur Leibeigenschaft herabgewürdigt wurden.
Im allgemeinen brachte erst das 18. Jahrhundert bessere Zeiten für die Landwirtschaft, indem ihr einzelne Fürsten größere Aufmerksamkeit schenkten, Ackerbaugesellschaften sich bildeten und Kommissionen eingesetzt wurden, um über Verbesserungen im Betrieb zu beraten. Die erste Anbahnung eines Fortschritts brachte die große französische Re[S. 5]volution, indem sie eine weitgehende Änderung der Untertänigkeitsverhältnisse in allen Kulturstaaten Mitteleuropas herbeiführte und die Herren zwang, auch den unterdrückten Bauern einige Menschenrechte zuzuerkennen. Dadurch hob sich langsam der ganze Stand, man gab sich mehr Mühe, die Bodenverhältnisse durch Entwässerung, soweit Versumpfung vorlag, oder Bewässerung in trockenen Lagen zu verbessern, die Erträge der Felder durch Einführung von Fruchtwechsel und größere Sorgfalt in der Bereitung und Verwendung des Düngers zu steigern. Hierin ging Preußen allen anderen Staaten Deutschlands voran, und, wie sein haushälterischer Vater, war besonders Friedrich der Große nach der heilsamen Schulung, die er während seiner Küstriner Verbannungszeit in der Administration des Landes durchgemacht hatte, eifrig besorgt, die Einkünfte seiner Gebiete zu vermehren und den allgemeinen Wohlstand zu heben. Um die schwachbevölkerten Landesteile mit wertvollem Menschenmaterial zu beleben, suchte er wie schon sein Vater möglichst viel Fremde ins Land zu ziehen und durch Einführung neuer Industrien und Kulturpflanzen sein Land zu bereichern und vom Auslande möglichst unabhängig zu machen, damit das Geld im eigenen Lande bleibe. Die Zuzügler erhielten mancherlei Reiseunterstützung, Hilfsgelder für den ersten Anbau auf geschenktem oder möglichst billig überlassenem Land, das öde lag, Befreiung von den staatlichen und kommunalen Lasten je nachdem auf 2–15 Jahre, wie auch Befreiung vom Militärdienst auf drei Generationen. Außerdem genossen sie, die vielfach wegen religiöser Bedrückung ihre alte Heimat verlassen hatten, völlige Religionsfreiheit. Nach einem bekannten Ausspruche des großen Monarchen sollte ein jeder seiner Untertanen „nach seiner eigenen Fasson selig werden“.
Diese meist mit wertvollen Kenntnissen ausgestatteten Zugereisten wurden meist auf Domänen, seltener auf Rittergütern angesiedelt. Um keine unheilvolle Latifundienwirtschaft, wie in den meisten anderen Kulturstaaten, aufkommen zu lassen, forderte der einsichtsvolle Preußenkönig eine Aufteilung größerer, in einer Hand vereinigter Ländereien, ja schon größerer Bauerngüter unter mehrere Söhne oder sonstige Erben. In kleinere Besitztümer verwandelt, mußte das Land intensiver bearbeitet werden und lieferte so weit höhere Erträge. Zwischen Dörfern, deren Flur sich zu weit erstreckte, als daß sich der Anbau noch recht lohnte, wurden neue gegründet, deren Bewohner schon durch die größere Nähe ihr Land besser bewirtschaften konnten. In noch höherem Maße als sein Vater ließ er durch Austrocknung von Sümpfen und Urbar[S. 6]machung von Ödländereien neues Kulturland gewinnen, das mit fleißigen Ansiedlern besetzt wurde. Vielfach wurde der Gemeindebesitz an Wiesen unter die nachweislich dazu Berechtigten aufgeteilt. Auch er suchte durch eine möglichst gute Verwaltung der Domänen vorbildlich zu wirken. In Verbindung mit dem Streuen von Mergel zur Verbesserung des Bodens wurde die Anwendung des Tiefpfluges, der Anbau von Futterkräutern, von Hopfen und namentlich Kartoffeln, wie auch die Einführung von Hühner- und Bienenzucht empfohlen. Die Pflege des Obstbaues wurde dadurch gefördert, daß Gärtner eingesetzt wurden, die das Landvolk unentgeltlich in der Pflege und Veredelung der Obstbäume zu unterrichten hatten. Endlich bemühte sich der König um die Anpflanzung von Färberwaid, um den teuren ausländischen Indigo zu ersetzen, um diejenige des mährischen Flachses und besonders des weißen Maulbeerbaums für die Zucht der Seidenraupe, um das Rohmaterial für die von den französischen Emigranten im westlichen Gebiet seines Reiches eingeführte Fabrikation von Seidenstoffen zu gewinnen. Für letzteres Unternehmen mußte allerdings der schließliche Erfolg ausbleiben, da die Naturbedingungen für das Gedeihen dieses für die Kälte empfindlichen südlichen Gewächses in Preußen fehlten.
Dem fortschrittlichen Preußen gegenüber waren die anderen Kulturstaaten des europäischen Kontinents im Rückstand; einzig England, das durch keine Kriege von längerer Dauer in seiner Kulturentwicklung gestört wurde, war im rationellen Ausbau seiner Landwirtschaft etwas weiter fortgeschritten. Bald aber wurde es von Preußen nicht nur eingeholt, sondern sogar überflügelt. Dieser folgenschwere Umschwung, der bald allen deutschen Landen und schließlich der ganzen Kulturwelt zugute kam, ist in erster Linie dem Auftreten Albrecht Thaers (sprich tär) zu verdanken. Dieser überaus verdienstvolle Mann wurde am 14. Mai 1752 in Celle im preußischen Regierungsbezirk Lüneburg als Sohn eines Arztes geboren, der ebenfalls das Medizinstudium ergriff und sich in seiner Vaterstadt als Arzt niederließ, wo er bald reichlich Beschäftigung fand. In seinen Mußestunden beschäftigte er sich schon früh mit naturwissenschaftlichen Studien und widmete sich dem Gartenbau, der mit der Zeit ein solches Interesse in ihm erweckte, daß er diese Tätigkeit seiner ärztlichen vorzuziehen begann. Diese seine Vorliebe für die Natur brachte ihn auch in Berührung mit den wichtigsten Fragen des Ackerbaues, und seinem klaren Verstande konnten die Schäden, an denen die damalige Landwirtschaft krankte, nicht lange[S. 7] verborgen bleiben. Sein Interesse für diese wuchs derart, daß er ein kleines Landgut in der Nähe von Celle erwarb, das als Versuchsgut dienen sollte, um alle theoretischen Auffassungen jener Zeit auf ihren praktischen Wert hin zu prüfen. Er benutzte ferner die landwirtschaftliche Literatur fremder Länder, namentlich diejenige Englands, dessen Agrikultur eine ähnliche Krisis hatte durchmachen müssen, um seine Kenntnisse zu bereichern und sie dann seinem Vaterlande zur Verfügung zu stellen. Mehrere Schriften landwirtschaftlichen Inhalts machten ihn bald weithin bekannt und viele junge Leute kamen nach Celle, um seinen Wirtschaftsbetrieb zu studieren und von ihm zu lernen. So entstand von 1802–1804 das erste landwirtschaftliche Institut in Celle. Sein Bemühen, eine größere Domäne in der Nähe Göttingens zu pachten, um dort seine Lehrtätigkeit in noch ausgedehnterem Maße zu entfalten, scheiterte am Widerstande der verpachtenden Behörde. So folgte denn Thaer einem ehrenvollen Rufe König Friedrich Wilhelms III. nach Preußen. Er erwarb das im Kreise Niederbarnim gelegene Rittergut Möglin, wo er 1806 eine Akademie des Landbaus errichtete, die 1824 zu einem königlichen Institut erhoben wurde. Im Jahre 1828 starb dann der um die Allgemeinheit so überaus verdiente Mann.
Die Verdienste, die sich Albrecht Thaer um die deutsche Landwirtschaft erworben hat, sind sehr vielseitiger Art. Sein Hauptverdienst ist, daß er die Naturwissenschaften in den Dienst der Landwirtschaft stellte und in Anwendung der aus ihnen gezogenen Lehren vor allem die veraltete Dreifelderwirtschaft abschaffte und an ihre Stelle die Fruchtwechselwirtschaft stellte, mit einem Wechsel von Halm- zu Blattfrüchten, insbesondere den Schmetterlingsblütlern, den Wurzel- und Knollengewächsen. Er machte auf die Bedeutung einer eingehenden Buchführung aufmerksam, führte bessere Geräte und Maschinen, die Drillkultur, d. h. das Aussäen in Reihen, meist mittels Maschinen, den Hackfruchtbau und eine Vermehrung des Kartoffelbaus ein. Er schaffte die Brache ab, die von da an dem Anbau lohnender Gewächse Platz machte. Auch auf die günstigen Wirkungen der Mergelung und vermehrten Stallmistdüngung machte er aufmerksam und führte die Stallfütterung ein. Bedeutungsvoll ist auch seine Mitwirkung bei der gesetzlichen Regelung der gutsherrlichen und bäuerlichen Verhältnisse, der Teilung der Allmenden und der Zusammenlegung von Grundstücken, die erst eine Fruchtwechselwirtschaft ermöglichte. Die Vorzüge dieser letzteren gegenüber den anderen Wirtschaftssystemen liegen vor allem darin, daß die Bodenkräfte des Ackers durch den stetigen Wechsel von Blatt- und[S. 8] Halmfrucht, von Pflanzen mit tief in den Boden eindringenden Wurzeln mit solchen, deren Wurzeln sich nur flach ausbreiten, besser ausgenützt werden. Es findet keine einseitige Erschöpfung des Bodens statt, wie dies der Fall ist, wenn stets dieselben Pflanzen auf ein und demselben Grundstück aufeinander folgen.
Bei der Vielseitigkeit der anzubauenden Pflanzen läßt sich daher der Fruchtwechsel bei allen Klima-, Boden- und Wirtschaftsverhältnissen anwenden. Der je nach der Größe der Viehhaltung größere oder geringere Anbau von Futterpflanzen, namentlich Klee, machte den Landwirt unabhängig von Wiesen und Weiden. Die Einführung von Blattpflanzen in die Fruchtfolge bedingt ferner, daß der Boden stark beschattet wird und damit feucht, locker und verhältnismäßig rein von Unkraut bleibt; dadurch wird eine Brache fast in allen Fällen überflüssig.
Die Lehren Albrecht Thaers und seiner Schüler, die lediglich das Resultat sorgfältig durchgeführter praktischer Versuche waren, denen aber die wissenschaftliche Begründung zum Teil fehlte, hatten bewirkt, daß während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine große Umwälzung in der Art des Betriebes der Landwirtschaft eintrat. Bald gingen größere wie kleinere Betriebe von den veralteten einfachen Wirtschaftsweisen zur Fruchtwechselwirtschaft oder doch zu einem verbesserten Wirtschaftssystem über. Diese Entwicklung der Landwirtschaft nahm auch in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts ihren Fortgang, besonders da es gelungen war, die durch praktische Versuche erworbenen Erfahrungen durch die Naturwissenschaften wissenschaftlich zu begründen und aus der weiteren Entwicklung der Wissenschaft neue Gesichtspunkte im landwirtschaftlichen Betrieb zu verwerten. Agrikulturchemie und -physik einerseits, und Pflanzenphysiologie andererseits wirkten unter Führung von Männern wie Liebig, Knop, Wolny, Sachs, Hellriegel, Kühn, Orth und andern in hohem Maße befruchtend, und in den weitesten Kreisen brach sich die Überzeugung Bahn, daß nur durch das innigste Zusammenarbeiten von Wissenschaft und Praxis ein weiteres Emporblühen der Landwirtschaft möglich ist. Diesem Fortschritt dienen in erster Linie die zahlreichen, in allen Kulturstaaten eingerichteten landwirtschaftlichen Schulen und Versuchsinstitute, für deren rationellen Betrieb namentlich Julius Kühn sich große Verdienste erwarb. Dieser Mann ist geradezu der Schöpfer des modernen landwirtschaftlichen Universitätsstudiums, so daß er es wohl verdient, daß wir hier etwas eingehender von ihm reden. Dieser am 14. April 1910 im[S. 9] 85. Lebensjahre gestorbene Gründer der landwirtschaftlichen Anstalt der Universität Halle a. S. wurde am 22. Oktober 1825 als Sohn eines Landwirts zu Pulsnitz in der sächsischen Oberlausitz geboren. Von Jugend auf war der lebhafte Wunsch in ihm rege, gleichfalls Landwirt zu werden, und schon als kleiner Junge begleitete er seinen Vater, der damals Wirtschaftsinspektor in Gosda bei Spremberg war, auf seinen Gängen durch die Ställe und Felder. Mit einer für einen jungen Landwirt seiner Zeit ausgezeichneten Vorbildung trat er 1841 bei einem der hervorragendsten Landwirte seiner engeren Heimat, Blochmann in Wachau, als Ökonomielehrling ein. Von 1848 an war er selbständig tätig und beschäftigte sich damals besonders mit dem Studium der Düngung und der verschiedenen Pflanzenkrankheiten. Die Ergebnisse der letzteren veröffentlichte er 1858 unter dem Titel: „Die Krankheiten der Kulturgewächse, ihre Ursachen und ihre Verhütung“. Im Jahre 1861 erschien die im Jahre zuvor von der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Kultur preisgekrönte Schrift: „Die zweckmäßigste Ernährung des Rindviehs vom wissenschaftlichen und praktischen Standpunkte“, ein Werk, das in 12 deutschen Auflagen und zahlreichen Übersetzungen Jahrzehnte hindurch die Führung auf dem Gebiet der landwirtschaftlichen Fütterungslehre behielt. 1862 nahm er eine Berufung an die an der Universität Halle neu zu errichtende Professur für Landwirtschaft an, nachdem er kurz vorher einen gleichen Ruf nach Berlin abgelehnt hatte, „weil er wegen des Umfangs der Großstadt und der Lage derselben eine ersprießliche Wirksamkeit für seine Wissenschaft hier nicht zu erhoffen haben würde“. Im ersten Semester hatte er 3 Zuhörer, im folgenden 20, dann 56 und bereits im fünften Semester überstieg die Zahl der in Halle studierenden Landwirte die Besuchsziffer der ältesten und meistbesuchten Lehranstalten Deutschlands. 1871 war die Zahl der in Halle studierenden Landwirte mit 218 größer als an allen landwirtschaftlichen Lehranstalten Preußens insgesamt. Nachdem sich unter Kühns Führung die Eingliederung des Studiums der Landwirtschaft in die Universität so glänzend bewährt hatte, wurden in der Folge auch an anderen Universitäten landwirtschaftliche Institute nach Halleschem Vorbild ins Leben gerufen. Trotzdem nahm, obgleich auch an anderen Universitäten die Zahl der studierenden Landwirte von Jahr zu Jahr wuchs, der Besuch der Landwirtschaftlichen Anstalt der Universität Halle noch stetig bis in die Gegenwart zu, so daß bis zum Sommer 1909 fast 8000 Landwirte daselbst studiert hatten. Dieser beispiellose Erfolg beruht in erster Linie[S. 10] auf der Bedeutung Kühns als Lehrer und Forscher. Die Verbindung eines umfassenden naturwissenschaftlichen Wissens mit einer reichen landwirtschaftlichen Erfahrung gab seiner Lehr- und Forschertätigkeit ihre inhaltliche Bedeutung und war die Ursache seiner so ungemein erfolgreichen Wirksamkeit.
Außer Kühn ist noch als besonders erfolgreicher Lehrer der vom großen Reformator Thaer begründeten Landwirtschaftswissenschaft Albert Orth von der Landwirtschaftlichen Hochschule in Berlin zu nennen, der jetzt in seinem 76. Lebensjahre auf ein 50jähriges Wirken als landwirtschaftlicher Dozent und auf 46 Jahre Hochschultätigkeit zurückblickt. Er wurde am 15. Juni 1835 zu Lengefeld bei Corbach geboren, studierte zu Göttingen und Berlin, war von 1860–65 Oberlehrer an der Landwirtschaftlichen Lehranstalt Boberbeck, promovierte 1868 zu Göttingen, wurde 1870 Dozent in Halle a. S. und wirkt seit 1871 als Professor an der damals „Landwirtschaftliches Institut“ genannten Landwirtschaftlichen Hochschule in Berlin. Er ist Begründer des Laboratoriums für Bodenkunde, publizierte eine Schrift über „Kalk- und Mergeldüngung“ und nahm wertvolle wissenschaftliche Bodenuntersuchungen des Rüdersdorfer Kalkdistrikts vor. Er schuf sechs Wandtafeln für Bodenkunde, die typischen Bodenprofile des deutschen Flachlandes betreffend, machte auch mit einem Fachgenossen eine Bodenaufnahme der Pontinischen Sümpfe zwischen Rom und Neapel, die erste ihrer Art. Als Vorsteher des agronomisch-pedologischen Instituts der Landwirtschaftlichen Hochschule pflegte er vornehmlich die Erforschung und die Lehre von der Bodenbeschaffenheit in ihren Beziehungen zum Pflanzenleben, ein Verhältnis, dessen enorme Wichtigkeit für den landwirtschaftlichen Betrieb auch dem Laien ohne weiteres klar sein dürfte. Studienausflüge in Landwirtschaftsgegenden ergänzen das bei ihm gebotene theoretische Studium; auch bieten die Rieselfelder der Stadt Berlin prachtvolle Modelle für die Bewässerungs- und Entwässerungslehre, Muster für sehr bedeutende Aptierungs- und Dränierungsarbeiten. Ein für das Studium höchst wichtiges Hilfsmittel ist das von Orth während der letzten 25 Jahre mit erheblichen eigenen Geldopfern errichtete Museum, das unschätzbares Illustrationsmaterial zum Unterricht beisteuert. Darin sind unter anderem in einem Bodenschrank 60 typische, geologisch geordnete Bodenprofile des Deutschen Reiches enthalten, ferner das Wurzelherbarium der wichtigsten landwirtschaftlichen Kulturgewächse auf bis 4 m hohen Tafeln unter Glas, eine Sammlung, die in den Jahren 1882 und 1883 von Orth[S. 11] im Sandboden der Berliner Talebene mit Hilfe der Assistenten aufgenommen wurde. Kein Besucher Berlins, der sich für diesen wichtigsten Zweig der menschlichen Erkenntnis interessiert, sollte es unterlassen, diese Sehenswürdigkeit der Reichshauptstadt zu besichtigen.
In neuester Zeit hat neben dem Studium der chemischen Beschaffenheit des Bodens besonders dasjenige der Bodenbakterien und deren Einfluß auf das gute Gedeihen der Pflanzen eine große praktische Bedeutung erlangt. Zahlreiche Arten derselben, besonders die sich in den Wurzelknöllchen der Leguminosen ansiedelnden und daselbst den Stickstoff der Luft, der sonst für die Pflanze unbrauchbar ist, durch Verwandlung in salpetersaure und salpetrigsaure Salze nutzbar machenden Rhizobien oder Wurzellebewesen werden heute im großen in Reinkultur gezüchtet und zur Besiedlung des Bodens an Stelle von Düngung bei der Kultur der Leguminosen verwendet. Auch die frühere Brache hat im Grunde nur auf dem ruhigen Sichvermehrenlassen solcher stickstoffvermehrender Bakterien der verschiedensten Arten beruht. So fand schon der französische Chemiker Berthelot in seinen grundlegenden Versuchen, daß sich in liegengelassenen dürren Blättern durch die reichliche Entwicklung solcher ein Zuwachs an Stickstoff nachweisen ließ, und daß 50 kg Ackererde auf demselben Wege in sieben Monaten einen Zuwachs von 12,7 g Stickstoff erlitten. Alle diese winzigen, meist einzelligen Pilze, die teils sauerstoffbedürftig sind, teils ohne solchen gedeihen, sind vom Vorhandensein kohlenstoffhaltiger Nahrung abhängig, da sie die Kohlensäure der Luft nicht zu assimilieren vermögen. Sie können also nur dort gedeihen, wo sich Pflanzen finden, die ihnen diese Nahrung liefern.[1] Besonders kommen dafür winzige grüne Algen in Betracht, die sich überall in den obersten Bodenschichten finden, wohin das für die Zerlegung der Kohlensäure der Luft und die Assimilation des Kohlenstoffs nötige Sonnenlicht dringt. Eine solche Vergesellschaftung von stickstoffassimilierenden Pilzen und kohlenstoffassimilierenden Algen ist eine Pflanzengenossenschaft, die von allen chemischen Bedingungen so gut wie unabhängig ist, da sie sich gegenseitig alles zum Leben Nötige, außer dem aber sonst in der Regel reichlich zur Verfügung stehenden Wasser, liefern. In besonders inniger Vergesellschaftung finden sie sich speziell in der Flechtengenossenschaft, die bei der[S. 12] ersten Besiedlung nackten Gesteines, um es nach und nach zur Wohnstätte höheren Pflanzenlebens vorzubereiten, eine überaus wichtige Rolle im Haushalte der Natur spielt. Für allen höheren Pflanzenwuchs ist ihre Tätigkeit unbedingt erforderlich, weil die stickstoffsammelnden Bakterien beim Zerfall ihrer Leiber nach dem Tode den in ihnen aufgespeicherten Stickstoff den Pflanzen ebenso nutzbar machen, wie jeden andern organischer Substanz entstammenden Stickstoff. Und zwar geht die Ansammlung solchen durch sie aus der Luft kondensierten Stickstoffs erfahrungsgemäß in schweren Böden besser vor sich als in leichten, weil sich in letzteren die nicht minder allgegenwärtigen denitrifizierenden Bakterien leichter vermehren und durch ihr gutes Gedeihen dem durch jene bewirkten Nitrifikationsprozeß entgegenarbeiten. Von wie großer praktischer Wichtigkeit eine Förderung dieser Stickstoffsammlung des Bodens ist, zeigt die einfache Erwägung, daß die deutsche Landwirtschaft jährlich über 100 Millionen Mark für Stickstoffdünger ausgibt, die zum allergrößten Teil für Chilisalpeter außer Landes gehen. Auf diesem Felde lassen sich noch große praktische Erfolge erzielen, die der Landwirtschaft in der Zukunft zugute kommen werden. Vor allem soll man durch reichliche Lüftung und Besonnung des Bodens, durch ausgiebiges und tiefes Umgraben die Ansiedlung dieser Wohltäter der Menschheit begünstigen.
Außer dem Stickstoff gehören auch Phosphorsäure, Kalk und Kali zu den wichtigsten Nährstoffen der Pflanzen, deren reichliches Vorhandensein geradezu erntebestimmend für die meisten Kulturen wirkt. Die Phosphorsäure spendet man den Feldern in Form von Knochenpulver oder neuerdings meist zerstampfter Thomasschlacke, in welcher das dem Eisen beim Thomasverfahren entzogene Phosphor angesammelt wurde. Den Kalk gibt man, wenn er nicht genügend im Boden selbst enthalten ist, in Form von Kalkmergel und das Kali in Form der sogenannten Abraumsalze, so genannt, weil man diese früher beim Graben nach Kochsalz als unbrauchbaren Abfall abräumte, bis man dann die überaus große Bedeutung derselben als Nährstoff für die Landwirtschaft erkannte, und nun vielmehr die Kalisalze ausbeutet und die dabei entstandenen Hohlräume mit dem viel weniger wertvollen Kochsalz ausfüllt. Diese Kalisalzlager, die sich in Schichten der Zechsteinperiode (Dyas) um den Harz herum erstrecken und in Staßfurt zuerst 1857 beim Bohren nach Kochsalz in großer Menge gefunden wurden, bilden ganz eigentlich den viele Milliarden Mark an Wert umfassenden Reichtum Deutschlands. Andere Bodenschätze, wie vor[S. 13] allem die verschiedenen Metalle, haben auch andere Länder aufzuweisen; aber Kalisalze besitzt bis jetzt nur Deutschland, was für seine Landwirtschaft einen unendlich wertvollen Schatz bedeutet, um so mehr diese immer mehr zur Verbesserung der Böden und dadurch zur Erhöhung des Ernteertrags zur Anwendung gelangen.
Gerade in unserer Zeit, da die außerordentlich verbesserten Transportgelegenheiten die Einfuhr von billigem Getreide aus dem Ausland einen starken Zurückgang der Getreidekultur und dafür ein Überhandnehmen der Milchwirtschaft als besser rentierend bewirkte, spielt der Anbau von Futterpflanzen für die zahlreichen, fast ausnahmslos Gras fressenden Haustiere eine sehr große Rolle in der Landwirtschaft. Deshalb besitzen die Futterpflanzen als Kulturpflanzen des Menschen eine zunehmende Bedeutung für ihn. Unter ihnen sind vor allem die verschiedenen Grasarten schon so lange in Kultur, als der Mensch überhaupt Ackerbau und Viehzucht treibt; denn nur bei vollständiger Sicherheit, stets genügendes Futter wie für sich selbst, so auch für die ihm unentbehrlichen Haustiere zur Hand zu haben, war es möglich, daß einigermaßen eng beieinander wohnende Menschen in größerem Maße Viehzucht treiben konnten.
Wenn wir auch nicht mehr mit Sicherheit die ältesten Futterpflanzen der Kulturmenschheit bestimmen können, so kann doch keinerlei Zweifel darüber herrschen, daß diese unter den in 3500 Arten über die ganze Erde verbreiteten Gräsern zu suchen sind, die auch die wichtigsten Getreidearten lieferten. Wie in großer Artenzahl finden sie sich in der größten Menge der Individuen besonders in der nördlichen gemäßigten Zone, wo sie vorzugsweise die niedrige Vegetationsdecke, den Hauptbestandteil der Steppen, und in Form von Wiesen auch der vom Menschen geschaffenen Kultursteppe bilden. Gegen den Äquator nimmt zwar die Zahl der Grasarten zu, aber die Menge der Individuen ab. Ganz auf die Tropen beschränkt sind die gigantischen baumartigen Formen wie die Bambusse. Die südliche Halbkugel ist etwas weniger reich an Gräsern als die nördliche, die in dieser Beziehung besonders bevorzugt ist. Gegen die Pole zu wie auch in den höheren Gebirgsregionen nehmen die Gräser an Zahl ab und verschwinden allmählich ganz.
In der Ebene und den tieferen Gebirgslagen treten gewisse Gräser wiesenbildend auf, andere machen im Schatten der Wälder den Hauptbestandteil der niedrigen Vegetation aus, wieder andere wachsen nur auf dürrem, sandigem oder steinigem Boden, auf Heiden usw. Da die[S. 14] auf Sandboden wachsenden Gräser mit weithin kriechenden, ausläuferreichen Wurzelstöcken versehen sind, werden sie mit Vorliebe zur Verfestigung sandiger Ufer und Straßenböschungen, von Eisenbahndämmen, Festungswällen usw. und zur Bindung des Flugsandes auf den Dünen angebaut.
Früh schon hat der zu höherer Kultur emporgestiegene Mensch durch Rodung von Wäldern nicht nur Ackerland, sondern auch Wiesen zum Weiden seines Viehs gewonnen. Aber erst spät und nur durch dichtere Besiedlung der von ihm besetzten Gebiete kam er auch dazu, durch das Schneiden und Trocknen der die Wiesen vorzugsweise besiedelnden Grasarten sich Vorräte an Viehfutter für den Winter in Form von Heu anzulegen. Die ältesten Nachrichten, die wir von den Kulturvölkern des Altertums haben, gehen nicht über die Mitte des letzten vorchristlichen Jahrtausends zurück. So berichtet der um 50 v. Chr. die ethnographisch geordnete Geschichte fast aller damals bekannten Völker bis 60 v. Chr. in 40 Büchern schreibende griechische Historiker Diodoros aus Sizilien, daher Siculus genannt, bei der Schilderung der persischen Geschichte: „Als die Phönikier sich gegen den persischen König Artaxerxes (A. I., zweiten Sohn des Xerxes, der von 465–425 v. Chr. regierte; unter ihm begann der Verfall des Reichs) empörten, begannen sie die Feindseligkeiten damit, daß sie im großen königlichen Park, in welchem die persischen Könige ihren Aufenthalt zu nehmen pflegten, die Bäume umhieben und das Heu verbrannten, wovon die Satrapen ein Magazin für ihre Kavallerie angelegt hatten.“ Daß nun die Perser bei ihrem so ausgedehnten Postdienst und bei der zahlreichen von ihnen unterhaltenen Reiterei Fouragemagazine besaßen, kann uns nicht weiter wundern. Auch die Griechen und Römer haben solche teils für Militär-, teils für Friedenszwecke errichtet. Heuvorräte für den Winter anzulegen, war schon im klassischen Altertum ein wichtiges Geschäft für den Landmann, wie uns schon der ältere Cato (234–149 v. Chr.), der unversöhnliche Feind von Roms machtvoller Nebenbuhlerin, Karthago, berichtet. Eine ausführliche Schilderung der Heuernte bei den alten Römern gibt uns der zu Gades (dem heutigen Cadix) in Spanien gebürtige römische Ackerbauschriftsteller Columella im 1. Jahrhundert n. Chr. in seinem Buche über den Landbau, worin er sagt: „Der Landmann bedarf für sein Vieh mancherlei Futter, namentlich aber Heu (foenum, im französischen foin noch erhalten). Daher muß er auch seine Wiesen, denen die alten Römer den ersten Rang in der Landwirtschaft einräumten, gehörig hegen und[S. 15] pflegen. Marcus Portius (der eben genannte Cato) hebt besonders hervor, daß die Wiese keinen Schaden durch Wetterschlag leidet wie die Feldfrüchte, daß sie einen sehr geringen Aufwand erfordert und doch jährlich ihren Ertrag gibt, und zwar einen doppelten, indem sie ebensoviel frisches Gras als Futter, wie Heu für die Scheuer liefert. — Wir unterscheiden trockene Wiesen und bewässerte Wiesen. Ist der Boden fruchtbar und fett, so bedarf er keiner Bewässerung, und das darauf gewonnene Heu gilt für besser, wenn es auf einem von Natur fruchtbaren Boden gewachsen und nicht nur durch Wasser hervorgelockt ist. Das letztere muß jedoch auf magerem Boden geschehen, und wo Wasser zu Gebote steht, kann auch der magerste als Wiese benutzt werden. Übrigens darf man weder eine Vertiefung wählen, in der sich das Wasser sammelt, noch einen steilen Abhang, an welchem es rasch herabfließt. Ein sanfter Abhang dagegen schadet nicht. Am liebsten hat man aber doch eine Fläche, die sich ein wenig senkt, so daß der Regen und künstlich darauf geleitetes Wasser ganz allmählich hinuntersickern. An sumpfigen Stellen muß das Wasser in Gräben abgeleitet werden; denn ein Übermaß an Wasser ist ebenso schlimm für das Gras, wie ein Mangel daran.
Die Kultur der Wiesen erfordert mehr Sorgfalt als Anstrengung. Erstens darf man auf ihnen weder Baumstrünke, noch Sträucher, noch Dornbüsche, noch allzustarkes Gras dulden. Dergleichen muß im Herbst ausgerottet werden, wie z. B. Brombeerstauden, Gesträuch und Binsen, oder im Frühjahr, wie Cichorien (intubum). Schweine dürfen auf der Wiese nicht weiden, weil sie den Boden aufwühlen; auch darf schweres Vieh auf ihnen nur gehen, wenn der Boden trocken ist, weil sonst die Hufe zu tief einsinken und die Wurzeln des Grases beschädigen. — Magere Abhänge müssen im Februar bei abnehmendem Monde mit Mist gedüngt werden. Alle Steine und sonstigen Dinge, die der Sichel im Wege sein könnten (Sensen kannte man im Altertum noch nicht), müssen abgelesen werden. Alte, mit Moos (muscus) überzogene Wiesen befreit man von diesem, indem man es auskratzt und dann Grassamen aus der Scheuer aufstreut, oder indem man Mist auffährt; jedoch ist Asche das beste Mittel, um Moos auszurotten.
Das Gesagte bezieht sich auf Wiesen, die schon als solche vorhanden sind. Kommt es dagegen darauf an, neue anzulegen oder verdorbene neu in Stand zu setzen, so ist es oft vorteilhaft, den Boden erst zu pflügen; denn eine alte Wiese gibt, wenn sie umgepflügt ist, oft einen hohen Ertrag. Es wird also ein solches zur Wiese bestimmtes[S. 16] Stück Land im Sommer mehrmals mit dem Pfluge gewendet, dann im Herbst mit Rüben (rapum), Raps (napus) oder Saubohnen (faba) besät und im folgenden Jahre mit Getreide. Im dritten wird es dann sorgsam gepflügt und mit Wicken (vicia), die mit Heusamen (semen foeni) gemengt sind, besät. Hierauf werden die Schollen mit Hacken kleingeschlagen und mit Eggen geebnet, auch werden die kleinen Hügel, die sich da bilden, wo man die Egge wendet, dem Boden gleich gemacht, damit gar nichts zurückbleibt, woran die Sichel des Mähers (foenisex) sich stoßen könnte. Die Wicke bleibt so lange stehen, bis sie ganz reif ist und schon eine Anzahl Samen auf den Boden hat fallen lassen. Dann wird sie samt dem Grase gemäht, in Bündel gebunden und weggeschafft. Ist der Boden fest, so kann man ihn nun wässern, wenn Wasser zu haben ist. Ist er aber locker, so darf man nicht eher eine größere Menge Wasser darauf fließen lassen, als bis er dicht mit Graswurzeln durchzogen ist, sonst würde das Wasser die Erde mitnehmen und die Wurzeln des Grases bloßlegen. Auch das Vieh darf nicht auf die junge Wiese gehen. So oft das Gras emporgewachsen ist, wird es mit Sicheln (falx) geschnitten. Erst im zweiten Jahr gestattet man nach der Heuernte (foenisicium) dem kleinen Vieh, auf eine solche Wiese zu gehen, wenn sie trocken und zur Weide günstig gelegen ist. Im dritten Jahr kann auch das große Vieh auf ihr weiden, wenn sie fest geworden ist. Noch ist darauf zu sehen, daß die magersten und die höchsten Stellen der Wiese im Februar mit Heusamen und Mist beworfen werden. Ist die Höhe gedüngt, so führt der Regen oder die Bewässerung die Nährkraft auch auf die tieferliegenden Teile. Aus eben diesem Grunde düngt man die Höhen der Äcker stärker als die Tiefen.
Das Heu wird am besten zur Zeit geschnitten, da es erwachsen, aber noch nicht dürr ist; man bekommt dann mehr davon und es gibt ein wohlschmeckenderes Futter für das Vieh ab. Beim Dörren hat man darauf zu achten, daß es weder zu trocken, noch zu frisch eingefahren wird. Das allzu trockene ist strohartig, das allzu frische geht in der Scheuer (tabulatum) in Fäulnis über, erhitzt sich auch oft so, daß Feuer daraus emporschlägt. Wird geschnittenes Heu auf der Wiese vom Platzregen durchnäßt, so läßt man es ruhig liegen, bis es obenweg wieder von der Sonne getrocknet ist. Erst dann wird es gewendet und, wenn es auf beiden Seiten getrocknet ist, auf Schwaden (striga) gebracht und in Bündel (manipulus) gebunden. Nun bringt man es so bald als möglich unter Dach oder baut, wenn solches nicht möglich[S. 17] ist, Schober (meta, so hieß übrigens auch der als Ziel oder Wendepunkt dienende kegelförmige Stein in der Rennbahn) aus ihm, die so spitzig als möglich sein sollen. So wird das Heu am besten vor Regen geschützt; auch haben die Schober, abgesehen vom Schutz gegen Regen, das Gute, daß das Heu in ihnen schwitzt und so die noch vorhandene Feuchtigkeit verdunsten läßt. Auch wenn man Heu unter Dach bringt, tut man gut daran, es zunächst nur lose aufzuschichten und es erst später, nachdem es geschwitzt hat, festzutreten, da, wo es bleiben soll.“
Der fruchtbarste und bedeutendste Gelehrte Roms, Marcus Terentius Varro (116–27 v. Chr.) schreibt in seinem Buche über den Landbau: „Hört das Gras (herba) der Wiesen (pratum) auf zu wachsen und beginnt vor Hitze dürr zu werden, so muß es mit Sicheln abgeschnitten werden, dann wendet man es mit Gabeln, bis es dürr ist, bindet es in Bündel und fährt es in das Landhaus (villa). Nun kratzt man die Stoppeln (stipula) von der Wiese mit Harken und legt sie zum Heuvorrat (foenisicia). Ist dies geschehen, so werden die Wiesen noch gesichelt, d. h. es wird noch das mit den Sicheln weggeschnitten, was die Heumäher (foenisex) beim ersten Schnitt haben stehen lassen, nach welchem die Wiese noch ganz höckerig aussieht.“ Palladius im 4. Jahrhundert n. Chr. rät die als Weide dienenden Wiesen (pascuum) im August in Brand zu stecken, damit die Sträucher (frutex) bis auf den Strunk (stirps) abbrennen und die Gräser nach dem Brande um so freudiger wieder aufsprießen. Auch rät er die Scheuern nicht bloß trocken und luftig, sondern auch weit genug vom Landhaus weg zu bauen, damit letzteres im Falle eines Brandes nicht gefährdet werde.
In welch hohen Ehren der Landbau bei den Römern noch in der Kaiserzeit stand, das bezeugt uns Plinius der Ältere (23–79 n. Chr.), der uns in seiner Naturgeschichte bezeugt: „Auch bei den Ausländern hat es für eine passende Beschäftigung für Könige und Feldherrn gegolten, über den Landbau zu schreiben. Das haben z. B. die Könige Hiero, Philometor, Attalus und Archelaos, die Feldherrn Xenophon und Mago der Punier getan. Als das römische Heer Karthago erobert hatte (146 v. Chr.), schenkte unser Senat die dortigen Büchersammlungen den kleinen Fürsten Afrikas; die 28 kleinen Schriften des Mago (lebte etwa um 520 v. Chr.) aber hielt er in Ehren und ließ sie ins Lateinische übersetzen, obgleich der ältere Cato damals schon über den Landbau geschrieben hatte. — Auch unter den Weltweisen, den ausgezeichneten Dichtern, den berühmten Schriftstellern sind tüchtige Landwirte gewesen. Ich habe deren Namen in der Einleitung zu[S. 18] meinem Buche genannt, erwähne aber ganz besonders den Marcus Varro, der sich noch in seinem 81. Lebensjahr entschloß, über die Landwirtschaft zu schreiben.“
Derselbe Plinius aber bemerkt zur Tatsache, daß die römischen Landgüter zu seiner Zeit nur noch durch die infolge der zahlreichen Kriege im Überfluß auf den Sklavenmarkt geworfenen Kriegsgefangenen bearbeitet wurden: „In alter Zeit bebauten unsere Feldherrn mit eigener Hand ihre Felder, und man darf wohl annehmen, daß sich die Erde selbst über den mit Lorbeer bekränzten Pflug und den durch Triumphe berühmten Pflüger gefreut habe. Dem Serranus wurden seine Ehrenstellen übertragen, wie er gerade mit Säen (serere) beschäftigt war, und so erhielt er jenen Namen. Dem Cincinnatus überbrachte der Staatsbote (458 v. Chr.) die Diktatur, wie er seine vier Joche Landes am Vatikan pflügte; sie heißen noch jetzt die Qintischen Wiesen (er hieß nämlich Lucius Qinctius Cincinnatus). — Heutzutage wird das Land von Sklaven bearbeitet, deren Füße gefesselt, deren Hände verdammt und deren Gesichter gebrandmarkt sind. Das kann die Erde doch nur mit Widerwillen dulden.“
Neben den Gräsern spielte die Luzerne (Medicago sativa) schon bei den Kulturvölkern des Altertums eine nicht unwichtige Rolle. Dieser Schmetterlingsblütler mit bläulichen oder violetten Blüten in lockeren Trauben und spiralig zusammengerollten Hülsen ist vom südwestlichen Rußland durch Asien bis zur Mongolei, Tibet und Vorderindien heimisch, während die ihr nahe verwandte gelbblühende Abart, der Sichelklee (Medicago falcata), von Mittel- und Südeuropa bis zum nördlichen Sibirien und nach Zentralasien wildwachsend vorkommt. Die Luzerne ist ein sehr wertvolles Futterkraut, das so gut wie niemals versagt und sehr viele Jahre hindurch einen unverminderten Ertrag gibt, weshalb sie auch als „ewiger Klee“ bezeichnet wird. Sie kann auf gutem Boden bei uns jährlich viermal, in Südeuropa sogar sechsmal geschnitten werden. Die Kreuzung derselben mit dem einheimischen gelbblühenden Sichelklee hat die ihrem Ursprung gemäß häufig Farbenübergänge von Gelb nach Violett zeigende Sandluzerne (Medicago media) hervorgebracht, so genannt, weil sie noch auf magerem Boden mit Vorteil angebaut werden kann.
Im rossereichen alten Medien, der Landschaft südöstlich vom Kaukasus, scheint die Luzerne zum erstenmal in größerem Umfange als Pferdefutter angepflanzt worden zu sein; wenigstens gelangte sie von dort zu den Kulturvölkern der Mittelmeerländer, zu den Griechen als[S. 19] mēdikḗ póa oder einfach mēdikḗ und von diesen zu den Römern als medica. Die, wie vorhin gesagt, einen außerordentlich ausgedehnten Gebrauch vom Pferd für die zahlreiche Kavallerie und den Postdienst machenden Perser nannten sie aspest, d. h. Pferdefutter, pflanzten sie ebenfalls viel an und sollen sie auf ihren Kriegszügen nach dem Urteil des Plinius nach Griechenland verbreitet haben. Von den griechischen Schriftstellern erwähnt sie zuerst der Komödiendichter Aristophanes (455–387), und zwar gleichfalls als Pferdefutter. Auch Aristoteles (384–322) spricht wiederholt von ihr, urteilt aber in ziemlich abfälliger Weise von ihrem Nutzen: „Sie ist zwar den Bienen zuträglich, aber ihr erster Schnitt taugt nichts und sie entzieht den Tieren, besonders den Wiederkäuern, die Milch.“ Die Römer urteilten, nachdem sie dieses Futterkraut von den Griechen kennen gelernt hatten, günstiger darüber. Cato (234–149 v. Chr.) kannte es offenbar noch nicht, denn er schweigt sich vollständig über die Luzerne aus. Der erste, der sie erwähnt, der gelehrte Varro (116–27 v. Chr.), sagt von ihr, daß die Schafe durch die Fütterung mit medica, deren Samen beim Säen wie Getreide geworfen werde, wie auch mit dem baumförmigen Schneckenklee (cytisus) fett werden und viel Milch geben. Sehr eingenommen von ihr ist besonders der römische Ackerbauschriftsteller Columella aus dem 1. Jahrhundert n. Chr., der von ihr schreibt: „Unter allen Futterkräutern ist das medische Kraut (herba medica) von höchstem Wert, da es, einmal gesät, zehn Jahre ausdauert, jährlich vier-, bisweilen auch sechsmal geschnitten werden kann, das Feld düngt, mageres Vieh fett und krankes gesund macht. Von einem Morgen Luzerne können drei Pferde das ganze Jahr hindurch reichlich genährt werden.“ Er gibt uns eine ausführliche Schilderung seines Anbaues auf dreimal gepflügtem Feld, das zuvor gut gedüngt worden sein muß. Nach der Aussaat dürfe das Kraut nicht mit Eisen berührt werden, deshalb jäte man es mit hölzernen Hacken. Später könne man es so klein schneiden als man will, nur dürfe man nicht dem Vieh von vornherein zu viel davon geben, da es sonst blähe; es müsse sich zuerst daran gewöhnen. Sein Zeitgenosse, der aus Kilikien gebürtige griechische Arzt Dioskurides sagt von der Luzerne, jeder Landmann, der Vieh hält, pflanzt sie an, und Plinius rühmt von ihr, daß sie 30 Jahre ausdauere und so wichtig sei, daß der Grieche Amphilochos (aus Athen) über sie und den baumförmigen Schneckenklee ein Werk geschrieben habe. Auch Palladius im 4. Jahrhundert n. Chr. weiß nur Gutes von ihr zu berichten. Um die Mitte des 6. Jahrhunderts legte der sassanidische König[S. 20] Chosroes I. eine hohe Steuer auf ihre Kultur, was bei der großen Bedeutung der Pferdezucht im Lande Iran für das Volk sehr drückend, aber für ihn recht einträglich war. Später verbreiteten dann die Araber ihre Kultur weithin über Nordafrika, und durch die Kulturvölker Europas gelangte sie in der Neuzeit über die ganze Erde. Und zwar erlangte sie überall deshalb eine große Bedeutung, weil sie diejenige Futterpflanze ist, die in den Subtropen und Tropen am besten gedeiht und die sichersten Erträge gibt. Dabei hält sie 4–10 Jahre aus und gewährt 3–4 Heuschnitte jährlich. Neben dem Grünmais ist sie eine der wertvollsten Futterpflanzen für wärmere Gegenden.
Wie der Anbau der Luzerne um 490 durch die Perser nach Griechenland und zwischen 150 und 50 v. Chr. von Griechenland nach Italien gelangte, so kam er etwa hundert Jahre später von dort nach Spanien, von wo er dann im 16. Jahrhundert nach Frankreich eingeführt wurde. 1565 treffen wir ihn in Belgien. Die Provenzalen aber erhielten diese Futterpflanze von der Riviera, wohin sie ums Jahr 1550 von Italien her gelangt war, und nannten sie nach dem italienischen Ort Clauserne, woraus dann Luzerne wurde. Letzterer Name stammt indessen erst aus der Mitte des 18. Jahrhunderts; früher wurde sie burgundisch Heu oder welscher Klee genannt. Um 1570 fand sie durch Wallonen in der Rheinpfalz Eingang; doch machte ihr Anbau im 17. Jahrhundert kaum Fortschritte. Um 1730 tauchte sie, wahrscheinlich von Mainz aus dahin gelangend, plötzlich in Erfurt auf und verbreitete sich von da weiter über Deutschland.
Als Futterpflanze nicht minder beliebt als die Luzerne war bei den alten Griechen und Römern der in den Mittelmeerländern heimische, aber daselbst nicht allgemein verbreitete, jedoch um Smyrna, auf den ägäischen Inseln, in Griechenland und Süditalien wildwachsende baumförmige Scheckenklee (Medicago arborea), von den Griechen kýtisos und in Anlehnung daran von den Römern cytisus genannt. Wie in China und später auch anderwärts der weiße Maulbeerbaum für die Nahrung der Seidenraupe, so wurde in Griechenland und Italien im Altertum dieser strauchförmige Lippenblütler nur seiner Blätter wegen an den Wegrändern und als Einfassung von Äckern angepflanzt, um diese als beliebtes Viehfutter zu verwenden. Man köpfte ihn und zog ihn niedrig, benutzte also vorzugsweise den immer erneuten Stockausschlag. Acht Monate im Jahr lieferte der Baum den Tieren grünes Futter, das ihnen nach dem einstimmigen Urteil der alten Schriftsteller sehr zuträglich sein und ihre Milchabsonderung befördern sollte,[S. 21] und den Rest des Jahres Trockenfutter. Dabei war die Kultur sehr bequem und mühelos, da sich die Pflanze mit dem magersten Boden begnügte und gegen noch so große Trockenheit unempfindlich war. In dieser Weise drücken sich Columella und Plinius aus, wobei der letztere noch hinzufügt, bei solchen großen Vorzügen sei es „nur zu verwundern, daß der cytisus in Italien nicht häufiger angepflanzt werde. Dieser Strauch stammt von der Insel Kythnos (einer der ägäischen Inseln) und wurde von da zum großen Gewinne der Käsebereitung nach Griechenland und von dort nach Italien verpflanzt. In Italien ist er aber noch selten, obschon das Vieh bei keinem andern Futter mehr und bessere Milch geben soll. Man sät im Frühjahr die Samen oder steckt im Herbst Stecklinge, am besten ellenlange.“ Selbst säugenden Frauen gebe man eine Abkochung von Cytisusblättern mit Wein, wodurch auch das Kind gestärkt und sein Wuchs befördert werde. Auch in Spanien muß der Strauch zur Römerzeit angepflanzt worden sein; denn dort wird er heute verwildert angetroffen.
Überhaupt wurde bei den Alten auch verschiedenes anderes Laub als Viehfutter verwendet. Da dem heißen, gebirgigen Süden die blumenreichen Wiesen des Nordens versagt sind, lag es nahe, dem Vieh nicht nur die bei der Beschneidung von Ölbaum und Rebe abfallenden Zweige, sondern auch die Blätter von den die Wege und Äcker einfassenden Bäumen als Futter zu geben, wie das dürre Laub als Streu diente. Schon der ältere Cato (234–149 v. Chr.) erteilt in seiner Schrift über den Landbau die uns seltsam klingende Vorschrift: „Gib den Ochsen Laub von Ulmen, Pappeln, Eichen und Feigenbäumen, so lange du davon hast. — Den Schafen gib Baumlaub, so lange du solches hast“ und wiederholt später: „Hast du kein Heu, so gib dem Ochsen Eichen- und Efeublätter.“ Auch bei den späteren landwirtschaftlichen Schriftstellern wird diese Art Fütterung so oft erwähnt und vorausgesetzt, daß sie allgemein üblich gewesen sein muß.
Neben der Luzerne spielte bei den Griechen und Römern des Altertums auch die von den ersteren thérmos, von den letzteren dagegen lupinus genannte Lupine eine große Rolle als Viehfutter. Wie Theophrast im 4., so sagt der ältere Cato im 2. Jahrhundert v. Chr. von ihr, daß sie sogar auf magerem, trockenem Boden gedeihe und sandiges Erdreich fettem vorziehe; und Columella rühmt von ihr: „Unter den Hülsenfrüchten ist die Lupine vorzüglich wichtig, weil sie wenig Mühe macht, sehr wohlfeil ist und den Acker, auf dem sie wächst, sehr verbessert. Sie gibt eine herrliche Düngung, gedeiht selbst[S. 22] auf ganz erschöpftem Boden und läßt sich in der Scheuer fast ewig gut erhalten. In Hungerjahren gibt sie auch den Menschen eine sättigende Speise. Man sät sie gleich von der Tenne weg; sie gedeiht auch, wenn man sie nur ganz schlecht unter die Erde bringt. Um kräftig zu werden, bedarf sie lauen Herbstwetters; auch leidet sie durch Frost, wenn er eintritt, bevor sie erstarkt ist. Samen, die nicht zur Saat verwendet werden, sollen trocken auf dem vom Rauch durchzogenen Speicher aufbewahrt werden, damit sie nicht von den Würmern angegriffen werden.“ Sein Zeitgenosse Dioskurides unterscheidet eine zahme Lupine, die dem Menschen zur Speise dient und auch arzneilich verwendet wird, und eine wilde, der zahmen ähnliche, aber kleiner als diese, obwohl dieselben Eigenschaften besitzend. Um 200 n. Chr. urteilt der griechische Grammatiker Athenaios aus Naukratis in Ägypten über sie: „Die Lupine ist eine Speise für Hungerleider. Der Dichter Diphilos nannte sie thermokýamos, und so heißt sie noch jetzt. Polemon sagt, daß die Lakedämonier sie lysiláis nennen. Der Philosoph Zenon der Kittier war ein flegelhafter, jähzorniger Mensch, pflegte aber höflich und sogar zärtlich zu sein, wenn er eine tüchtige Portion Wein getrunken hatte. Wie er nun gefragt wurde, wie das möglich sei, antwortete er: Mir geht es wie den Lupinen; sie sind erbärmlich bitter, so lange sie trocken sind, dagegen süß und lieblich, sobald sie sich recht satt getrunken haben.“ Endlich empfiehlt sie Palladius im 6. Jahrhundert n. Chr. zur Gründüngung.
Heute noch sind die gelbe Lupine (Lupinus luteus) und die schmalblätterige blaue Lupine (Lupinus hirsutus) für unsere Landwirtschaft sehr wichtige Futterkräuter. Beide sind ursprünglich im Mittelmeergebiet heimisch und gedeihen sehr gut auf magerem Sandboden, in den sie ihre Pfahlwurzel 1 m tief und darüber hinabsenken. Erstere mit großen, goldgelben, wohlriechenden Blüten in langer Ähre und rundlichen, weißgefleckten Samen kam aus Sizilien nach Deutschland und wurde zuerst 1840 in Groß-Ballerstedt in der Altmark angebaut. Von da verbreitete sie sich bald über das ganze Sandgebiet Preußens, da sie nicht nur mannigfaltigen Nutzen zur Weide, als Grünfutter, zur Heu- und Körnergewinnung gewährt, sondern auch zur Gründüngung von höchstem Werte ist. Mit den in ihren Wurzelknöllchen angesiedelten Rhizobien wirkt sie energisch stickstoffsammelnd. Am besten gedeiht sie an freier, sonniger Lage; dabei befördert eine Zugabe von Gips den Blattwuchs.
Noch genügsamer als die gelbe ist die blaue Lupine, die selbst noch auf grandigem, d. h. aus grobem Sand und feinem Kies bestehendem[S. 23] Boden gedeiht. Sie kam aus Spanien zu uns, und besitzt einen nach oben stark verästelten Stengel, kurze, ährenförmige Trauben mit blauen Blüten und rötlichgraue, weißpunktierte Samen von der Größe von Wickensamen. Das Vieh frißt die Körner der blauen Lupine lieber als die der gelben, aber bei ersterer dringen die Wurzeln nicht so tief in den Boden ein und die Nachfrucht, wozu gewöhnlich Roggen gewählt wird, fällt viel schlechter aus. Die Lupinensamen bilden ein leichtverdauliches, bei richtiger Verwendung für Mastzwecke vortrefflich geeignetes Futter. Da sie aber bitter sind, müssen sich die Tiere erst daran gewöhnen, wenn auch Pferde und Rinder sie deshalb anfänglich zurückweisen, so nehmen sie sie schließlich doch an und kehren sich nicht mehr an die Bitterkeit derselben, zu deren Beseitigung schon zahlreiche Methoden angegeben wurden. Die Samen dienen auch als Arzneimittel und häufiger als man glaubt als Kaffeesurrogat wie Zichorie.
Viel weniger häufig als die beiden vorgenannten wird bei uns die aus dem Orient stammende weiße Lupine (Lupinus albus) angebaut. Sie diente schon den alten Griechen und Römern als Futterpflanze, wie auch die aus Westasien stammende rauhhaarige Lupine (Lupinus hirsutus) mit blauen Blüten, die bei uns als Gartenzierpflanze angetroffen wird. Die Früchte dieser beiden Lupinenarten galten den alten Griechen und Römern als Leckerbissen. Gleicherweise wurde von diesen Kulturvölkern des Altertums, teils zur Benutzung der Samen für den Menschen, teils als Viehfutter die von den Griechen láthyros, von den Römern dagegen cicercula genannte Saatplatterbse (Lathyrus sativus), auch deutsche Kichererbse, Kicherling oder weiße Erve genannt, angepflanzt. Sie ist ein 30–60 cm hoch werdendes Sommergewächs Südeuropas mit unpaarigen Fiederblättern, in drei Ranken auslaufenden Blattstielen, einzeln stehenden, langgestielten, weißen, roten oder violetten Blüten und 4 cm langen, zusammengedrückten Hülsen, die 2–3 ziemlich große, eckige, gelbweiße, rot- und violettbräunliche Samen enthalten. Obschon letztere etwas bitter sind, wird die Pflanze zu deren Gewinnung als Speise für die Menschen noch in den gebirgigen Teilen Griechenlands und Italiens angebaut. Sonst wird die Pflanze in ganz Südeuropa, besonders in Rumänien, wenig dagegen in Mitteleuropa, speziell Deutschland als gutes Viehfutter auf trockenem Boden angepflanzt. Vielfach werden deren Samen unreif wie Erbsen gegessen, sind aber weniger wohlschmeckend.
Vielfach findet man auf Wiesen als ein Zeichen von deren besserer Qualität die ausdauernde Wiesenplatterbse (Lathyrus pratensis)[S. 24] mit gelben Blüten. Wo sie aber in größeren Massen auftritt, schadet sie dem Graswuchs. Sie wird auch vielfach als Futterpflanze angebaut, da sie eine große Menge guten Futters liefert. Wegen seiner Bitterkeit wird ihr Laub im grünen Zustand vom Vieh nicht gern gefressen, wohl aber als Heu. Es ist dann sehr schmackhaft und kräftig. Ein feineres Futter als diese erzeugt die Sumpfplatterbse (Lathyrus palustris), die ebenfalls ausdauernd ist und reiche Trauben von blauen Blüten besitzt. Sie wächst auf feuchten, moorigen Wiesen, wo sonst verhältnismäßig wenig Futterpflanzen gedeihen, und wird vom Vieh auch grün gerne gefressen, weil sie nicht so unangenehm bitter ist als die vorige. Die Waldplatterbse (Lathyrus silvestris), eine in Mitteleuropa an Waldrändern und an Hecken wachsende Staude mit kletterndem, ästigem Stengel, lanzettlichen Blättern, roten Blüten in Trauben und flachen, runzeligen Samen, eignet sich dagegen zum Anbau als Futterkraut auf steinigem, grobem und dürrem Boden. Sie ist durch ein stark entwickeltes Wurzelsystem und eine große Fähigkeit die Gesteine zu zersetzen ausgezeichnet, treibt um 8–14 Tage früher als die Luzerne und ist gegen Spätfröste unempfindlich, was große Vorteile bedeuten. Den höchsten Ertrag liefert sie nach drei Jahren, indem sie 10000 kg Heu pro Hektar ernten läßt. Dabei kann sie ebenso gut grün, wie getrocknet verfüttert werden.
Während der in Südeuropa heimische Kronsüßklee (Hedysarum coronarium) in Italien und den Balearen als Futterpflanze angebaut wird, spielt der Gebirgssüßklee (Hedysarum obscurum) auf den bewässerten Alpenwiesen eine große Rolle als sehr geschätzte Nahrung des dort sömmernden Viehs. Deren nahe Verwandte sind die Esparsette und die Serradelle. Die Esparsette (Onobrychis sativa) ist eine in höheren Lagen des gemäßigten Europa heimische, östlich bis zum Baikalsee gehende, kalkstete, 30–60 cm hohe Pflanze mit lanzettlichen Blättern, langgestielten Ähren von roten Blüten und rundlichen Nüßchen, die auf trockenem, über zerklüftetem Kalkstein oder Mergel stehendem Boden das beste Futtergewächs ist und Kalkgegenden, die sonst zu den unfruchtbarsten gehören, fruchtbar macht, deshalb auch in Deutschland überall auf Kalk- und Kreideboden angebaut wird. Auf Boden mit kiesigem oder sandigem Untergrund gedeiht sie schlecht, weil die Wurzeln über 1 m tief gehen, sehr gut dagegen auf recht kalkreichem, wobei sie 3–6 Jahre aushält, jedoch meist nur einen Schnitt und Weide gibt. Den Griechen und Römern war sie durchaus unbekannt. Erst im Laufe des 15. Jahrhunderts tritt sie uns in Mitteleuropa als[S. 25] Kulturpflanze entgegen. Allem Anscheine nach hat ihre Kultur im südlichen Frankreich ihren Ursprung genommen, und zwar möglicherweise erst im 15. Jahrhundert. Im 16. Jahrhundert, zu Lebzeiten Olivier de Serres, der uns darüber in seinem Buche Théâtre de l’agriculture berichtet, war sie, die lupinella der Italiener, dort bereits eine sehr geschätzte Futterpflanze. In Italien hat sich ihr Anbau erst im 18. Jahrhundert, namentlich in Toskana, weiter ausgebreitet. Schon ums Jahr 1560 wurde sie vor der Luzerne, aber nach dem roten Klee in Süddeutschland als Futterpflanze angebaut und verbreitete sich von da weiter. Sie ist nächst Luzerne und Wiesenklee unser vorzüglichstes Futterkraut besonders für milchende Kühe, düngt mit ihren zahlreichen Wurzelknöllchen den Boden gut und liefert in ihren honigreichen Blüten eine treffliche Bienenweide.
Wie die Esparsette der Klee des Kalkbodens, so ist die auf der iberischen Halbinsel, in Spanien und Portugal, heimische Serradelle (Ornithopus sativus) der Klee des Sandbodens. Sie besitzt 30–60 cm hohe Stengel, vielblütige Köpfchen von lilafarbenen Blüten und 25 cm lange, perlschnurartig gegliederte Hülsen, wird von allen herbivoren Haustieren gerne gefressen und kommt dem Wiesenheu an Nährwert gleich. Da sie den Boden vermöge der stickstoffsammelnden Knöllchenbakterien düngt und ihn bei gutem Stand auch trefflich beschattet, ihn damit in guter Gare hinterläßt, wird sie zur Verbesserung schlechter Ländereien verwendet. Sie ist eine gute Vorfrucht, zumal für Getreide, eignet sich aber auch vorzüglich als Nachfrucht, indem man sie im Frühjahr in Wintergetreide sät und nach der Ernte desselben noch einen guten Futterschnitt oder im schlimmsten Fall eine gute Weide erhält. Sie wurde in ihrer Heimat wohl erst gegen den Anfang des 19. Jahrhunderts in Kultur genommen und gelangte von dort um die Mitte desselben zu uns.
Eine gute Futterpflanze ist auch der gelbe oder Steinklee (Medicago lupulina), eine auf Wiesen und an Wegrändern in ganz Europa mit Ausnahme der arktischen Gebiete, in Nordafrika und Mittelasien wildwachsende Pflanze mit niederliegendem oder aufsteigendem Stengel, eiförmigen Blättchen, gelben Blüten in ährigen Trauben und nierenförmigen, eingerollten Hülsen, die ein- und zweijährig kultiviert wird. Ihre Samen werden fast ausschließlich in Mittel- und Niederschlesien gezogen, während diejenigen der Luzerne und Sandluzerne vorzugsweise in der Provence und in Italien vertrieben werden.
Auch die verschiedenen Arten von Honigklee (Melilotus) finden[S. 26] als Futterkräuter Verwendung. So wurde der in Italien und Griechenland als überall angetroffenes Unkraut heimische sizilische Honigklee (Melilotus messanensis) mit gelben Blüten von den Alten als Viehfutter gepflanzt. Noch heute heißt er in Griechenland hémeron triphýlli, d. h. zahmer Klee. Bei den alten Griechen hieß er melílōtos, war dem Apollon und den Musen geweiht und galt als Symbol der Schönheit und wohlgesetzten Rede. Das wohlriechende Kraut war zu Kränzen beliebt und diente nach Nikander um den Kopf gewunden zur Linderung von Krankheiten aller Art. Der griechische Arzt Dioskurides um die Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr. schreibt in seiner Arzneikunde: „Der beste Honigklee (melílōtos) wächst bei Athen, Kyzikos und bei Karthago, und zwar mit safrangelber Farbe und Wohlgeruch. Er wächst auch in Kampanien bei Nola, hat die Eigenschaften des Bockshornklees (telízōn), aber sein Geruch ist schwächer. Man braucht ihn gegen Kopfweh und einige andere Übel.“
Der gelbblütige Honigklee (Melilotus officinalis), der durch achselständige, lange, lockere Blütentrauben ausgezeichnet ist und sehr kurze, meist einsamige Früchte zeitigt, ist eine ebenfalls als Viehfutter beliebte, 1–1,25 m hohe Staude, die in allen Teilen, besonders getrocknet, einen starken Geruch nach frischem, duftigem Heu wie das Ruchgras (Anthoxantum odoratum) und andere vorzügliches Futter gebende Gräser aushaucht. Bei allen diesen rührt der Duft von dem besonders in den Tonkabohnen enthaltenen und daraus gewonnenen, auch dem Waldmeister sein köstliches Aroma verleihenden Kumarin, das in der Parfümerie eine große Rolle spielt, auch zum Aromatisieren von Schnupftabak dient. Die Blätter und Blüten dieses, wie auch des ebenfalls gelbblütigen behaartfrüchtigen Honigklees (Melilotus macrorhiza) dienen zu erweichenden Umschlägen und besonders zur Herstellung des zerteilenden Melilotenpflasters. Letztere Art wird namentlich in England auf schlechtem Boden für Pferde kultiviert, während der bis 1,95 m hohe weißblütige Honigklee (Melilotus alba) als Wunder- oder amerikanischer Riesenklee als die beste die Luzerne ersetzende Kleeart eine Zeitlang auf magerem Boden viel gepflanzt wurde. Sein Same wurde sehr teuer bezahlt; allein nach den gemachten Erfahrungen gibt dieser Honigklee zwar eine gute Weide für Schafe, kann aber als Trockenfutter wegen seines starken Geruchs nicht unvermengt verfüttert werden und ist im erwachsenen Zustande wegen seiner langen, holzigen Stengel und Äste und den wenigen Blättern eine harte Pflanze.
Überhaupt sind alle diese Honigkleearten nur im jungen Zustande gute Futterkräuter, werden aber des bitteren Geschmacks wegen, der von ihrem Gehalte an Kumarin herrührt, unvermengt vom Vieh nicht gern gefressen. Weitaus am stärksten riecht unter allen Honigkleearten, besonders in getrocknetem Zustande, der aus Nordafrika stammende Bisamhonigklee (Melilotus coerulea) mit bläulichen oder hellila gefärbten Blüten, der hier und da in Deutschland und in der Schweiz, so namentlich im Kanton Glarus, angebaut wird. Sein getrocknetes und fein zerriebenes Kraut gibt nämlich dem vorzugsweise im Kanton Glarus in der Schweiz hergestellten Kräuterkäse oder Schabzieger seine grünliche Farbe und seinen eigentümlichen Geruch und Geschmack.
Denselben starken Geruch besitzt auch der im Orient und in Griechenland heimische Bockshornklee oder griechisches Heu (Trigonella foenum graecum), das ebenfalls zur Herstellung von Kräuterkäse dient. Dieser einjährige, 30–50 cm hohe Schmetterlingsblütler mit eiförmigen Blättern, blaßgelben Blüten und 8–12 cm langen, sichelförmig gekrümmten, längsgestreiften Hülsen kommt auch in ganz Nordafrika bis Indien wild vor und wird dort wie in Südeuropa von altersher als Viehfutter gepflanzt; auch in Südfrankreich, in Thüringen und im Vogtland wird er der Samen wegen kultiviert. Diese schmecken gekocht schleimig-bitter, riechen stark nach Honigklee und standen bei den Ägyptern, Griechen und Römern in hohem Ansehen als Arzneimittel. Plinius sagt von der Pflanze: „Der Bockshornklee hat als Arznei einen großen Ruf. Er heißt bei den Griechen télis, búkeras oder aigókeras (d. h. Rinds- oder Bockshorn, weil seine Fruchthülsen wie Hörnchen gekrümmt sind), bei den Römern aber heißt er silicia (d. h. Hülsenfrüchtler).“ Sein Zeitgenosse, der griechische Arzt Dioskurides schreibt von ihm in seiner Arzneimittellehre: „Die zu Mehl zerriebenen Samen des Bockshornklees (télis) dienen als Arznei. Man legt sie auch in Olivenöl und preßt die Mischung aus.“ Und der römische Ackerbauschriftsteller Columella aus Spanien berichtet: „Das griechische Heu (foenum graecum), das die Landleute siliqua (Hülse) nennen, wird im September gesät, wenn es als Grünfutter dienen soll, dagegen Ende Januar, wenn die Samen geerntet werden sollen. Kommt der Same mehr als vierfingerbreit unter die Oberfläche, so geht er nicht leicht auf.“ Letzterer wurde geröstet von den Alten als Speise benutzt. Heute noch werden die Samen im Orient, vornehmlich in Ägypten, mit Milch zubereitet sehr gerne gegessen und sollen namentlich von den Haremsdamen zur Erlangung der als Zeichen von besonderer Schönheit gelten[S. 28]den Wohlbeleibtheit gebraucht werden. Bei uns finden sie fast nur noch in der Tierarzneikunde und, ihres Schleimes wegen, auch in der Tuchfabrikation Verwendung. Die jungen Triebe werden im Orient gerne als wohlschmeckendes Gemüse gegessen. Der Bockshornklee, dessen Anbau Karl der Große in den Verordnungen für die kaiserlichen Güter vom Jahre 812 befahl, wird auch bei uns gelegentlich als Grünfutter und zur Heugewinnung angepflanzt, doch schmeckt er so stark, daß er nur mit andern Futterpflanzen vermischt vom Vieh gerne gefressen wird. Das Stroh der Hülsen dient bei den Arabern als Pferdefutter.
Von den eigentlichen Kleearten mit dreigeteilten Blättern (daher trifolium schon von den alten Römern genannt) ist der an feuchten Stellen Kleinasiens und Griechenlands äußerst häufig wachsende Erdbeerklee (Trifolium fragiferum) mit fleischroten Blüten schon von den Griechen und Römern als lōtós beziehungsweise lotus als geschätztes Viehfutter angepflanzt worden. Er ist das Kraut lōtós, das bei Homer die Gefilde bedeckt und von den Pferden der Helden gefressen wird. Der römische Dichter Vergil (70–19 v. Chr.) rät in seiner Georgika, der in Hexametern verfaßten Abhandlung über den Landbau, für das Vieh viel solchen Klee (lotos) zu säen, und der griechische Arzt Dioskurides um die Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr. unterscheidet außer dem wilden Erdbeerklee (lōtós), der auch der libysche heiße, weil er besonders häufig in Libyen wächst, über zwei Ellen hoch werde und Blätter wie der gewöhnliche Wiesenklee habe, den in Gärten wachsenden zahmen lōtós.
Dem Erdbeerklee ähnlich ist der überall auf Wiesen und Triften gemeine kriechende Klee (Trifolium repens) mit weißen, seltener fleischfarbenen Blüten, der auf den Wiesen, auf welchen er erscheint, stets als ein Zeichen von deren Güte gilt; er wird häufig auf minder gutem Boden, namentlich auf Marschboden kultiviert und kann noch da angebaut werden, wo der sonst bessere rote oder Wiesenklee wegen mangelnder Feuchtigkeit nicht mehr gedeiht. Er dient wie alle andern Kleearten teils zur Grünfütterung, teils zur Weide. Ebenso werden die als sehr geschätzte Futterpflanzen auf Bergwiesen häufigen Arten, der weißblütige Bergklee (Trifolium montanum), der rotblütige Bergklee (Tr. alpestre), der große rotblütige Bergklee (Tr. rubens) und der purpurblütige mittlere Bergklee (Tr. medium) auch im Tiefland häufig angebaut. Der anfänglich weißlich und zuletzt rötlich blühende Ackerklee (Tr. arvense) ist auf Äckern zwar ein Unkraut,[S. 29] gibt aber daselbst nach der Ernte dem weidenden Vieh Futter und eignet sich auch auf schlechtem Boden zum Anbau, speziell als Weidekraut. Mehr in südlichen Gegenden wird der gelblichweißblütige Rosenklee (Tr. ochroleucum) angepflanzt, während der auf feuchten Wiesen und Triften Mitteleuropas wildwachsende schwedische oder Bastardklee (Tr. hybridum) mit langgestielten, rundlichen Köpfen von weißen innern und leicht rosenroten Randblüten auch bei uns als ein sehr gutes, hinsichtlich des Bodens wenig anspruchsvolles Futterkraut angebaut wird. Es gedeiht selbst noch auf so dürftigem Grunde, wie ihn sonst keine andere Kleeart annimmt.
Auch der als Kulturpflanze der Landwirtschaft aus Italien zu uns gekommene, mit schön purpur- oder fleischroten Blüten in länglichen Köpfchen gezierte Blut- oder Inkarnatklee (Trifolium incarnatum) wird häufig in Deutschland angepflanzt. Diese einjährige Futterpflanze, die in Nordspanien, auf Sardinien und in Nordafrika wildwachsend angetroffen wird, scheint in Katalonien zuerst angepflanzt worden zu sein. Von da kam sie erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts über die Pyrenäen nach der südfranzösischen Provinz Ariège, wo de Candolle ihre Kultur beschränkt fand. Bald verbreitete sie sich über das übrige Frankreich, war um 1830 schon bei Genf in der Schweiz und drang später auch nach Deutschland vor, wo sie wegen ihrer Vorzüge bald ziemliche Verbreitung fand.
Aber der in Deutschland, wie dem übrigen Europa und der ganzen Kulturwelt als wichtigste Futterpflanze überhaupt angebaute Klee, der Klee schlechthin, ist der rote oder Wiesenklee (Trifolium pratense) mit meist purpurroten Blüten, der bei uns überall auf Wiesen als Merkmal besonderer Güte wildwachsend angetroffen wird. Er wird allgemein auf Äckern, teils für sich, teils im Gemenge (besonders mit Timothygras, Phleum pratense) kultiviert und ist auf schwerem, tiefgründigem Boden das vorteilhafteste Futterkraut in Nordeuropa, bleibt aber nur einige Jahre ergiebig und darf erst nach längerer Pause auf demselben Felde wieder gepflanzt werden, weil solche Felder an den für den Klee erforderlichen Nährstoffen erschöpft werden, die sogenannte Kleemüdigkeit zeigen.
Diesen Wiesenklee hat das Altertum nicht angebaut. Gewiß war er schon zu Ende des Mittelalters in Spanien eine geschätzte Futterpflanze, aber seine Kultur wurde erst um die Mitte des 16. Jahrhunderts durch die aus Spanien vertriebenen Protestanten in Mitteleuropa eingeführt. Zuerst läßt sich sein Anbau gegen die Mitte des[S. 30] 16. Jahrhunderts in Flandern nachweisen, von wo ihn die Engländer im Jahre 1633 durch den Einfluß des damaligen Lordkanzlers Weston, Graf von Portland, erhielten. Um 1566 finden wir den roten Kopfklee in Frankreich und Belgien als Futterpflanze angebaut. In der Folge kam er dann vor dem weißen Klee, wie auch der Esparsette und Luzerne auch in Deutschland auf. Und zwar war es zuerst die Kurpfalz, wo er durch unter dem Schutze des Kurfürsten angesiedelte spanische Refugianten eingeführt wurde. Von da aus eroberte er sich bald ganz Deutschland. Später begann man in den 1760er Jahren zuerst in Süddeutschland die Kleekultur zu verbessern und gewann damit bedeutend mehr Futter, so daß man den Viehstand zu vergrößern vermochte. Auch führte man zur Schonung der unnötig vom Vieh niedergetretenen Kleeäcker die Stallfütterung ein, bei welcher gleichzeitig die Aufsicht, wie sie der Weidgang erforderte, wegfiel. Durch die günstigen Erfolge angeregt, führte der Gutsbesitzer Johann Christian Schubart (1734–1786), der das neue Feldsystem in Darmstadt kennen gelernt hatte, mit diesem die Kultur von Kopfklee, Runkelrüben und Kartoffeln auf seinen Gütern bei Zeitz in Norddeutschland ein. Seit 1781 wirkte er auch schriftstellerisch für die weitere Verbreitung des Kleebaues, wie für die übrigen Neuerungen, die in der Folge ziemlich rasch in Thüringen und Sachsen Eingang fanden. Für seine zweifellos großen Verdienste wurde dann Schubart 1784 als Edler von Kleefeld geadelt. Durch falsche Anwendung gelangte seine Lehre vorübergehend in Mißkredit, bis sich Albrecht Thaer ihrer annahm. Auf die in England mit dieser neuen Kultur gewonnenen günstigen Erfahrungen hinweisend, vermochte er in weiten Kreisen das erschütterte Vertrauen in den Kleebau wieder zu befestigen. So fand dieser von 1848 an schnell allgemeine Verbreitung. Er bewährte sich besonders in solchen Gegenden, in denen die Kultur der Luzerne versagte. Heute ist der Kleehandel am stärksten in Deutschland, und zwar in Schlesien, dann in Steiermark und Südfrankreich, diese Länder versorgen alle übrigen mit Kleesamen. Wegen der geringen Widerstandsfähigkeit seiner Kleearten vermag Nordamerika damit bei uns keinen Markt zu gewinnen.
Auch in Sage und Geschichte spielt der Klee eine gewisse Rolle. So hat man früher vierblätterigem Klee allseitig wunderbare Zauberkraft zugeschrieben. Dem Finder sollte es Glück und Heil bringen, noch mehr aber demjenigen, dem unbewußt solches von jemand zugesteckt wurde. Noch heute glaubt das Volk in Griechenland, daß ein vierblätteriges Kleeblatt Schätze heben und die gefährlichsten Krank[S. 31]heiten heilen könne. Besondere Wertschätzung als Spender übernatürlicher Kräfte genoß es namentlich auch in England, noch mehr aber das viel seltenere siebenblätterige Kleeblatt. Das Dreiblatt des weißblütigen kriechenden Klees (Trifolium repens), nach andern wohl richtiger des Hasenklees oder gemeinen Sauerklees (Oxalis acetosella) ist der von den Dichtern englischer Zunge oft besungene shamrock, das Nationalzeichen der Irländer, das sie zur Ehre ihres Schutzheiligen St. Patrick (Patricius) tragen.
Endlich wird auch der auf sandigen Äckern als Unkraut wachsende Ackerspörgel (Spergula arvensis) mit kleinen, weißen Blüten, deren Stiele sich nach dem Verblühen herabschlagen, als ausgezeichnetes, reichlich Milch lieferndes Weidekraut angepflanzt. In der Kultur ist die Pflanze gegenüber den Wildlingen gebliebenen Verwandten viel größer und saftiger und wird deshalb als Spark (S. maxima) von jenen unterschieden. Sie gedeiht noch recht gut in Sandgegenden, wo Klee und Gras nur kümmerlich fortkommen, und gibt für Sommer und Herbst treffliches frisches Grünfutter. Auch dient die Pflanze zur Gründüngung; die zurückbleibenden Sparkwurzeln verbessern den Boden bedeutend, so daß er mit der Zeit auch für anspruchsvollere Futterkräuter verwendet werden kann.
Neuerdings werden auch verschiedene rasch wachsende Getreidearten zur Grünfütterung gepflanzt. So liefert vielfach Grünroggen und Grünbuchweizen um Anfang Mai das erste grüne Futter für das Vieh. An deren Stelle treten später Grüngerste, Grünweizen und namentlich Grünmais, welch letzterer für wärmere Gegenden weitaus das ausgiebigste Futter ist. Für trockene und zugleich warme Gebiete sind auch die kleine Kolbenhirse oder der Fennich (Setaria viridis), besonders die Varietät mit orangegelben Körnern — in Ungarn mohar genannt — und die wehrlose Trespe (Bromus inermis) von sehr großer Bedeutung.
[1] Siehe Näheres im 3. Bande des: Vom Nebelfleck zum Menschen betitelt „Das Leben der Erde“ S. 567 ff. im 13. Abschnitt, der das Leben der Erde behandelt.
Eine der ältesten Handfertigkeiten des Menschen ist das Flechten, dem später das Spinnen und Weben folgte. Dazu benutzte er die verschiedensten ihm bekannten und zugänglichen Faserstoffe des Pflanzenreichs, so vor allem den geschmeidigen Bast mancher Bäume, besonders der Linde, und die zähen Stengel der Binsen, später auch die in der nördlichen Pflanzenregion heimische, wasserreichen Untergrund liebende Korbweide.
Als früheste kultivierte Faserpflanze tritt uns in Europa der schmalblätterige Lein (Linum angustifolium) entgegen, der in nicht zu feuchten Gegenden der Mittelmeerländer von den Kanaren bis Syrien und dem Kaukasus heimisch ist und auf sterilem Boden überall wildwachsend angetroffen wird. Im Gegensatz zu unserem Kulturlein ist er nicht einjährig, sondern ausdauernd und treibt statt einem mehrere Stengel mit schmäleren Blättern und kleineren, an der Spitze kaum gekerbten Samen. Als südliche, wärmeliebende Pflanze ist er nicht imstande, die jetzigen Winter der östlichen Schweiz, wo er zur jüngsten Steinzeit in Robenhausen und anderen Pfahlbauniederlassungen in ziemlicher Menge angepflanzt und verarbeitet wurde, zu ertragen. Es muß also das Klima hier vor 4000–5000 Jahren ein wärmeres als heute gewesen sein. Aus dem Süden gelangte diese Gespinstpflanze mit den sie begleitenden Unkräutern, wie dem kretischen Leinkraut (Silene cretica), das heute noch zahlreich in den Leinfeldern Italiens wuchert, zu ihnen und wurde von ihnen auf ihren Hackfeldern angebaut, um daraus Garn für die Anfertigung von Schnüren, Fischnetzen, Matten und zum Weben von meist groben Stoffen, die jedenfalls als Unterkleidung unter den für gewöhnlich getragenen Pelzen getragen wurden, herzustellen. Diese Stoffe, die sie auf äußerst primitiven hängenden Webstühlen mit Gewichten aus gebranntem Ton zum[S. 33] Strecken der Zettel herstellten, verstanden sie bereits mit verschiedenen einfachen geometrischen Figuren zu verzieren, rot, blau und gelb zu färben und sogar schon mit allerlei primitiven Stickereien zu schmücken.
Die nördlichste neolithische Station Deutschlands, wo er gefunden wurde, ist Schussenried im südlichen Württemberg. Es mag ja sein, daß der Flachsbau damals schon etwas weiter nach Norden zu in Süddeutschland verbreitet war, aber nach Norddeutschland oder gar dem nördlichen Europa kann er unmöglich vorgedrungen gewesen sein, da diese südliche Pflanze die Winter dieser Länder durchaus nicht auszuhalten vermöchte.
Aus der älteren Bronzezeit sind noch nirgends in Europa Funde von Flachs gemacht worden. Erst aus der jüngeren Bronzezeit sind in Dänemark Reste eines feinen Linnenstoffes zutage getreten, woraus freilich noch nicht geschlossen werden darf, daß der Flachs damals bereits dort gebaut wurde, da bei den regen Handelsbeziehungen jener Zeit für das Leinen die Möglichkeit des Importes vorliegt. Außerdem wissen wir, daß alle aus jener Zeit auf uns gekommenen Gewebereste aus Wolle bestehen, aus der verfertigte Kleider damals im Norden ausschließlich getragen wurden. Die ersten Beweise der Flachskultur auf norddeutschem Boden stammen aus der älteren Eisenzeit. Man fand nämlich in der Karhofhöhle eine Art grobgeschrotenes, aus Weizen und Hirse bereitetes Brot, dem, ähnlich wie beim Brot der schweizerischen Pfahlbauern, teilweise Leinsamen zugesetzt war. Welcher Art der Flachs angehörte, läßt sich allerdings in diesem Falle nicht entscheiden. Im slawischen Burgwall von Poppschütz bei Freistadt in Schlesien hat sich ebenfalls Flachssamen, der vermutlich zur Nahrung diente, gefunden, und zwar scheint hier nach Buschan, soweit ein Urteil aus den Samen allein möglich ist, eine Übergangsform zwischen dem[S. 34] mehrjährigen, schmalblätterigen Lein der Pfahlbauzeit und dem erst später nach Europa gekommenen, heute noch bei uns kultivierten Lein zu sein.
Unser Kulturlein (Linum usitatissimum) hat seine Heimat im westlichen Persien und in Südkaukasien, wo die Stammpflanze auf trockenen Hügeln manchenorts noch wild angetroffen wird. Sie ist eine bis 60 cm hoch werdende einjährige Pflanze mit im Gegensatz zum schmalblätterigen Lein nur einem Stengel, breiteren Blättern und größeren, an der Spitze gekerbten Samen, die rascher reifen als diejenigen der schmalblätterigen wilden Art und den Vorzug haben, nicht ausgestreut zu werden wie dort, sondern in den Samenkapseln geerntet werden zu können, die bei dieser Art meist nicht mehr aufspringen. Diese Samen dienten den Leinbau treibenden Völkern der Vorzeit als willkommene fettreiche Nahrung und wurde von ihnen gerne gegessen und als Totenspeise auch den Verstorbenen mitgegeben. Der Kulturlein besitzt schöne blaue Blüten, die nur einen Tag, und zwar nur vormittags blühen. Ein solch blühendes Leinfeld bietet einen hübschen Anblick dar, der die sagenhafte Begebenheit einigermaßen glaubwürdig erscheinen läßt, die uns der fränkische Geschichtschreiber Paulus Diaconus in seiner älteren, d. h. voritalischen Geschichte der Langobarden erzählt, wonach die von den Langobarden besiegten Heruler auf ihrer Flucht ein blühendes Leinfeld für einen See gehalten hätten, in den sie sich hineinstürzten, als ob sie schwimmen wollten. So seien sie von den verfolgenden Siegern ereilt und niedergemacht worden. Nur in Amerika, wohin der Flachs bald nach der Entdeckung dieses neuen Weltteils gebracht wurde, zieht man außer der blau blühenden auch eine weiß blühende Abart. Jede Kapsel enthält[S. 35] zehn längliche, flach zusammengedrückte, hellbraune, glänzende Samen, die in ihren äußeren Zellenschichten ein im Wasser stark aufquellendes, schleimhaltiges Gewebe enthalten, weshalb man sie zermahlen und gekocht zu breiigen Umschlägen und ihren Schleim auch innerlich als einhüllendes Mittel verwendet.
Schon sehr früh, nämlich im 5. Jahrtausend v. Chr. muß der Lein in Babylonien gepflanzt worden sein; denn man hat Spuren von ihm bereits in altchaldäischen Gräbern der vorbabylonischen Zeit entdeckt. Wie er bei den Babyloniern hieß, ist bis jetzt nicht bekannt geworden. Sein Name dürfte aber ähnlich wie im Hebräischen pischta gelautet haben. Im Sanskrit hieß er nach dem um 500 v. Chr. verfaßten Ayur Veda Susrutas akasa, im Altägyptischen māhi, bei den Griechen línon und von diesen entlehnt bei den Römern linum. In Ägypten tritt er uns als Kulturpflanze schon zu Ende des 4. vorchristlichen Jahrtausends entgegen. In einem Ziegel der Stufenpyramide von Daschur, die bald nach 3000 v. Chr. gebaut wurde, fanden sich Bastfasern und Samenkapseln, die Unger als vom einjährigen Kulturlein stammend bestimmte. Aber erst ein Jahrtausend später, beim Beginn des mittleren Reiches, zur Zeit der 11. Dynastie (2160–2000 v. Chr.), hatte seine Kultur in Ägypten eine bedeutendere Entwicklung erlangt und findet man infolgedessen auch ziemlich häufig in Gräbern Leinsamen unter den Totenspeisen. So fand Mariette in einem 1881 geöffneten Grabe der 12. Dynastie (2000–1788 v. Chr.) in Theben vortrefflich erhaltene Kapseln von Leinsamen, die völlig der heute noch in Ägypten und Abessinien gepflanzten Art entsprechen.
Erst im mittleren Reich (2160–1788 v. Chr.) begann die in der Folge für die Ägypter so wichtige Leinentechnik in Aufnahme zu kommen, nachdem der Lein vorher lange vorzugsweise nur seiner nahrhaften, fetten Samen wegen kultiviert worden war, während die Menschen sich noch in Wollenstoff kleideten. Von da an wurde für den Ägypter das linnene Gewand der Gegenstand seines Stolzes und der Auszeichnung den „Barbaren“ gegenüber. Aber nicht bloß die Lebenden trugen es, und zwar in um so feinerer Qualität, je vornehmer sie waren, sondern auch die Toten wurden bei der Einbalsamierung in Leinwandbinden gewickelt, nachdem noch im alten Reiche zur Zeit der Erbauer der großen Pyramiden von Giseh, von der 3. bis 6. Dynastie (2980–2475 v. Chr.) letzteren, die überhaupt auch noch nicht mumifiziert wurden, ausschließlich grobe Wollengewänder in die Gruft mitgegeben worden waren. Vom mittleren Reiche (2160–1788 v. Chr.)[S. 36] an galt es den Ägyptern überhaupt als Greuel, einen Leichnam in Wollengewändern zu bestatten. Dazu mußten unbedingt Linnenstoffe verwendet werden. Auch ihre Priester durften, wie Herodot berichtet, nur reinlinnene Unterkleider tragen und höchstens außerhalb des Tempels einen wollenen Mantel überwerfen. Ägypten deckte damals nicht nur seinen ganzen Bedarf an Flachs, sondern es exportierte noch ziemlich viel seiner feinen, von den Griechen meist als býssos bezeichneten Leinengewebe, die im Auslande zur Herstellung von Prunkkleidern für die Vornehmen äußerst begehrt waren. Das ganze Altertum ist des Lobes voll über die unnachahmlich feinen ägyptischen Byssusgewänder, und dieses Lob begreifen wir vollständig, wenn wir die außerordentliche Feinheit der Mumienbänder der Reichen und die halb durchsichtige Gewandung nicht nur an den bildlichen Darstellungen an den Wänden der Totenkammern, sondern auch an den vornehmen Toten direkt in Berücksichtigung ziehen. Als Beispiel der Feinheit dieser Byssusstoffe berichten Herodot und Plinius, daß der ägyptische König Amasis (ägyptisch Amose) II. der 26. Dynastie, der von 570 bis 526 v. Chr. regierte, den Spartanern und dem Tempel der Athene zu Lindos auf der Insel Rhodos je ein linnenes Panzerhemd mit Tierbildern und mit Fäden aus Gold und Baumwolle durchwirkt von solcher Feinheit der Fäden geschenkt habe, daß jeder derselben aus 360 Einzelfäden bestand.
Verschiedene altägyptische Wandmalereien zeigen uns die ganze Bearbeitung des Flachses, vom Raufen der Pflanze auf den Feldern, vom Rösten und Kämmen derselben bis zum kunstvollen Weben am Webstuhl. Zum Lockern der Fasern wurde der Flachs in der ältesten Zeit in Kesseln gekocht und sodann mit keulenförmigen Hölzern geschlagen. Später dagegen wurde er auf kaltem Wege „geröstet“ und vermittelst Holzkämmen, von denen das ägyptische Museum in Berlin zwei besitzt, gehechelt. Das Spinnen und Weben wurde von den Frauen und teilweise auch Männern als besonderes Gewerbe betrieben. Wie dieses Handwerk ausgeübt wurde, erkennen wir an verschiedenen Grabgemälden des mittleren Reiches. Spindeln aus Holz und Leder von einfacher und komplizierter Form sind uns vielfach in den Grä[S. 37]bern erhalten, und das Bild der Spindel gehört mit unter die Hieroglyphenzeichen. In einem Grabe von Beni Hassan ist u. a. ein Ägypter dargestellt, der mit der Spindel hantiert. Derselbe hockt vor einem aufrechtstehenden, oben gegabelten Stabe, an den der Flachsfaden geknüpft ist. Ein Näpfchen zum Befeuchten der Finger beim Drehen des Fadens steht am Fuße des Stabes. Eine andere Darstellung zeigt sechs unter der Kontrolle einer Aufseherin arbeitende Frauen, von denen drei Spinnerinnen einen Faden ziehen, eine vierte dagegen mehrere einfache Fäden zu einem stärkeren zusammendreht. Von den beiden Weberinnen besorgt die eine den Aufzug, die andere den Einschlag. Bei zwei anderen Spinnerinnen vertritt der schlanke Körper selbst den Stab, indem sie das fertige Stück Faden um sich selbst herumdrehen. Daß gewandte Frauen auch mit zwei Spindeln zugleich umzugehen verstanden, bezeugen dem mittleren Reich (2980–2475 v. Chr.) angehörende Wandgemälde. Von den beiden in Beni Hassan beim alten Theben dargestellten Weberinnen besorgt die eine die Kette des wagrecht am Boden aufgespannten Webstuhls, die andere den Einschlag, der mit einem gekrümmten Holze durchgezogen wird, wobei die Öffnung durch zwei zwischen die Fäden der Kette geschobene Holzstäbe bewirkt wird. Auf demselben Wandgemälde webt ein Mann in einen zwischen einem Rahmen ausgespannten Stoff ein schachbrettartiges Muster. Daß aber später viel bessere Webstühle benutzt wurden, zeigt ein Wandgemälde aus der Totenstadt Theben, in welchem ein Weber an einem ähnlich wie die Webstühle der Neuzeit gebauten Webstuhle sitzt und mit den Füßen den Apparat bedient, der das Weberschiffchen hin- und herfliegen läßt. Herodot (484–424 v. Chr.), der selbst in Ägypten war, führt als etwas Bemerkenswertes an, daß die ägyptischen Weber gegen die sonstige Gewohnheit den Einschlag nicht aufwärts, sondern niederwärts zu werfen pflegen.
Durch wohlerhaltene Reste können wir uns selbst davon überzeugen, daß die wegen ihrer Feinheit bei allen Mittelmeervölkern berühmten altägyptischen Gewebe tatsächlich an Zartheit und Genauigkeit unübertroffen waren. Dabei begnügte man sich nicht mit einfachen, glatten Zeugen, sondern stellte auch wellen-, bogen- oder zickzackförmig gestreifte, flechtwerk-, schachbrett- oder mäanderartig gemusterte und solche mit einem feinen Arabeskenwerk von zierlich geschlungenen Spirallinien her, zwischen welche sich Rosetten, Sterne, Lotosblüten, gebüschelte Papyrusstengel, Skarabäen, Uräusschlangen, die geflügelte Sonnenscheibe, Namensschilder und Hieroglypheninschriften als füllende[S. 38] Elemente einschmiegen. Die verschiedenen dabei zur Anwendung gelangenden Farben waren, wie uns Plinius berichtet, nicht aufgemalt, sondern die Zeuge wurden in verschiedene Kessel mit Farbstofflösungen getaucht und dennoch schließlich verschiedenfarbig und schöngemustert herausgezogen. In einem Grabe zu Beni Hassan sehen wir den Eigentümer die Länge der fertigen Leinwand ausmessen; dabei steht ein Schreiber, der die Zahl der fertig verpackten Ballen ausmißt.
Aus Leinwand huma wurde vor allem der über den Hüften mit einem Gürtel zusammengehaltene, bis an die Knie oder Knöchel reichende Leibrock sten, daneben vielfach auch das Überkleid hbos hergestellt. Herodot sagt von den Ägyptern: „Alle Ägypter tragen eine Gewandung aus Leinen, die immer frisch gewaschen ist, was ihnen die größte Angelegenheit ist. Die Gewandung der Priester ist nur von Leinen, die Sandalen nur von býblos (Papyrus); eine andere Kleidung und andere Beschuhung dürfen sie nicht tragen. Ihr Anzug sind leinene Röcke, an den Beinen mit Franzen besetzt. Darüber tragen sie weiße, wollene Oberkleider. Keiner jedoch geht mit wollenem Anzug in den Tempel, noch wird einer damit begraben, und das stimmt mit dem sogenannten arphyschen (einem ägyptischen) und mit dem pythagoräischen Geheimdienst überein.“ Ungeheuer war auch der Verbrauch an Leinwand für die Einhüllung der Mumien in die oft über 400 m langen Binden. Darüber sagt Herodot: „... Alsdann waschen sie die Toten und umwickeln den ganzen Leib mit Bändern, die aus Leinenzeug und býssos (feinste Leinwand) geschnitten sind; sie streichen auch (arabischen) Gummi darunter, dessen sich überhaupt die Ägypter statt des Leimes bedienen.“
Außer gewöhnlichen Stoffen zu Kleidern wurden auch namentlich für den Export kunstvoll gewirkte, mit Goldfäden durchzogene, bunte Gewänder in Weiß, Rot, Gelb, Grün, Blau und Schwarz, oft mit den schönsten Mustern angefertigt. Aber auch Halstücher und Mäntel, Teppiche, Decken, Panzer, Netze, Zelte, Taue und Segel wurden aus Flachs hergestellt. So berichtet derselbe Herodot, daß die Ägypter zu der gewaltigen Schiffbrücke, die der Perserkönig Xerxes, der seinem Vater Dareios Hystaspis 485 v. Chr. gefolgt war und mit einem Landheer von einer Million Mann und einer Flotte von 1200 Schiffen im Jahre 482 aufbrach, um Griechenland zu unterjochen, über den Hellespont bauen ließ, die Taue aus Byblos (Papyrus) und Flachs liefern mußten.
Von der Feinheit des in Ägypten erzeugten Flachses weiß auch[S. 39] noch Plinius zu berichten, der in seiner Naturgeschichte schreibt: „Der Flachs der Ägypter hat zwar die geringste Stärke, bringt ihnen aber einen großen Gewinn. Es gibt dort vier Sorten: den tanischen, pelusischen, butischen und tentyritischen; eine jede führt den Namen von der Landschaft, in der sie wächst.“
Schon zur Zeit des Auszugs der Juden aus Ägypten (um 1280 v. Chr.) muß es im Niltal ausgedehnte Flachskulturen gegeben haben, um den großen Bedarf an Linnengewändern für den eigenen Bedarf und den damals schon sehr ausgedehnten Export nach Syrien, Kleinasien und die Länder am Ägäischen Meere zu bestreiten. Deshalb muß eine Flachsmißernte damals in Ägypten einen großen Verlust in volkswirtschaftlicher Beziehung bedeutet haben; denn sonst hätte man eine solche Mißernte nicht unter die sieben Plagen gerechnet, die von Jahve, dem Gott der Juden, durch Mose über die Ägypter verhängt wurden, da der Pharao sie nicht aus seinem Lande ziehen ließ. „Und der Herr ließ Hagel regnen über Aegyptenland, so grausam wie desgleichen dort noch nie beobachtet worden war, seit Leute darin wohnen. Und der Hagel schlug in Aegyptenland alles, was auf dem Felde war, beides Menschen und Vieh, und schlug alles Kraut auf dem Felde und zerbrach alle Bäume auf dem Felde. Also ward geschlagen der Flachs und die Gerste; denn die Gerste hatte Schosse getrieben und der Flachs Knoten gewonnen. Aber Weizen und Roggen ward nicht geschlagen; denn es war spätes Getreide.“ 2. Mose 9, 23 u. f.
In Palästina wurde bereits Flachs angebaut als die Juden von diesem Lande Besitz nahmen. Wir erfahren dies aus dem Umstande, daß die Kundschafter, welche Josua aussandte, auf dem Dache eines Hauses unter Flachsstengeln verborgen gehalten wurden, die hier offenbar zum Rösten an der Sonne ausgebreitet lagen. Die Verwendung des Flachses muß bei den alten Juden eine recht vielfache gewesen sein; so finden wir ihn zu Schnüren, Saiten, Lampendochten, Gürteln, wie zu den verschiedenartigsten Kleidungsstücken verwendet. Feine linnene Gewänder waren ihren Priestern, wie denjenigen Ägyptens, denen sie diesen Brauch entlehnten, bei der Ausübung ihres Amtes als Tracht vorgeschrieben. Grobe Gewänder aus ungeröstetem Flachs bildeten hingegen die Bekleidung der ärmeren Volksklassen. Hier scheinen wie anderwärts besonders die Frauen sich mit der Bearbeitung des Flachses abgegeben zu haben. Auch in ganz Vorderasien, speziell Babylonien muß nach dem um 25 n. Chr. gestorbenen griechischen Geographen Strabon seit den ältesten Zeiten eine sehr rege Flachs[S. 40]industrie bestanden haben. Er bezeichnet insbesondere die Stadt Borsippa (einst am Euphrat gelegener Stadtteil Babylons) als ein großes Industriezentrum für Leinen, das dort jedenfalls fabrikmäßig hergestellt wurde. Derselbe Autor sagt von den Babyloniern, daß sie einen leinenen, bis zu den Füßen gehenden Rock, und darüber einen wollenen tragen. Auch von den Indiern sagt er, sie tragen blumige Leinenkleider. Schon lange vor Strabon wußte Herodot (484–424 v. Chr.) von den Assyrern zu berichten: „Die Assyrier, welche stromabwärts Waren nach Babylon bringen, tragen einen leinenen Rock, der bis zu den Füßen reicht,“ und an einer andern Stelle: „Die Assyrier, welche im Heere des Xerxes (482 v. Chr.) dienten, trugen leinene Panzer.“
Solche leinene Panzer müssen in ganz Westasien bis Griechenland schon lange getragen worden sein; denn bereits in der Ilias werden sie als linothṓrēx bei einigen auf seiten der Troer kämpfenden kleinasiatischen Bundesgenossen erwähnt. Auch sonst ist der homerischen Welt Linnen bekannt, aber zunächst wohl nur als fremdländische Importware. So läßt in der Ilias Achilleus seinem ihn nach Troja begleitenden Erzieher Phoinix ein weiches Bett zurecht machen, dem als Decke Schaffelle und zarte Leinwand dienten, und in der Odyssee bereiten die Phäaken dem Odysseus ein Lager aus leinenen Decken. Aber der Gebrauch von linnener Gewandung war bei den ältesten Griechen durchaus nicht gebräuchlich. Mit dieser ägyptisch-vorderasiatischen Sitte scheinen sie erst durch die solche Ware auf ihren Schiffen feilbietenden phönikischen Kaufleute bekannt gemacht worden zu sein. Denn die bei ihnen übliche Bezeichnung chitṓn für das später unter dem eigentlichen Kleide aus Schafwolle getragene leinene ärmellose Unterkleid entstammt offenkundig dem phönikischen Worte kitonet für Leinwand.
Die ältesten Griechen trugen wie alle übrigen arischen Stämme ursprünglich nur wollene Gewandung, die bei ihnen die ältere Fellkleidung abgelöst hatte. Zuerst wurde nur das Hemd aus Wolle angefertigt und darüber trug man noch einen Fellüberwurf. Dann wurde auch letzterer durch einen Wollmantel ersetzt. Solchermaßen waren auch die Griechen der älteren Zeit gekleidet, bis sie durch die Vermittlung der Phönikier ein kurzes, ärmelloses, leinenes Untergewand unter ihrem wollenen Obergewand zu tragen begannen. Zuerst hatten die Ionier in Asien das lange herabfließende Kleid aus Leinwand von ihren reichen Nachbarn in Karien angenommen, und von ihnen ging dann diese Tracht[S. 41] zu den blutsverwandten, früh die morgenländische Zivilisation bei sich aufnehmenden Athenern über. Erst gegen die Zeit des peloponnesischen Krieges, der von 421–404 v. Chr. währte, kam, wie der zeitgenössische Geschichtschreiber Thukydides (470–402 v. Chr.) berichtet, auch bei den Athenern das altgriechische wollene Untergewand wieder zu Ehren. Er sagt: Nur unter den reicheren Bürgern hätten die älteren, am Hergebrachten hängenden Leute den ihnen liebgewordenen Luxus linnener Unterkleider nicht aufgeben wollen. Seitdem trugen nur die Frauen noch linnene Stoffe, deren feinere Sorten als Byssos aus dem Morgenlande eingeführt wurden.
Schon in den homerischen Epen werden, vermutlich noch ausschließlich auf dem Handelswege aus Phönikien oder Ägypten eingeführte, linnene Gewänder erwähnt. Die othónē wenigstens, ein feines linnenes Frauenkleid von weißer Farbe, war, wie der Name und der Zusammenhang der Stellen, in denen sie erscheint, lehrt, ein Erzeugnis westasiatischer, nicht griechischer Kunstfertigkeit. Die auch sonst mit semitisch-phrygischem Luxus umgebene Königin Helena, die eben ein Gewand gewebt hat, doppelt und purpurn, in welchem die Kämpfe der Troer und der Achäer zu schauen waren, eilt nach dem Dichter in die weiße othónē gehüllt aus dem Gemache. Auf dem runden Prunkschilde des Achilleus sah man tanzende Jünglinge in Chitone gekleidet, während die Jungfrauen mit der zarten othónē angetan waren. In dem Wunderschlosse der Phäaken sitzen die Mägde webend und die Spindel gleich den im Winde bewegten Blättern der Zitterpappel drehend; auch sie sind in die von Salböl triefende othónē gekleidet, die als dichtgewebt und mit Fransen, einer spezifisch westasiatisch-babylonischen Erfindung, versehen hervorgehoben wird. Ebenso ist das bereits erwähnte Lager, das die Phäaken dem Odysseus auf dem Schiffe bereiten und mit dem sie ihn ans Land tragen, statt wie sonst mit Pelzen und Wollstoffen mit zartem Linnen bedeckt. Auch die als weiß hervorgehobenen Segel der homerischen Schiffe müssen aus Leinwand bestanden haben; nur das Tauwerk und die Riemen, in denen die Ruder sich bewegten, waren aus Rindshaut hergestellt. In der Odyssee, dem jüngeren homerischen Gedicht, wird ein Schiffsseil aus býblos (Papyrus) erwähnt, das wie die linnenen Gewebe auf dem Wege des Tauschverkehrs aus Ägypten eingehandelt wurde.
Über den Anbau der Leinpflanze selbst auf griechischem Boden liegen aus älterer Zeit keine bestimmten Zeugnisse vor. Der im 8. vorchristlichen Jahrhundert lebende griechische Dichter Hesiod erwähnt[S. 42] nirgends in seinen Gedichten den Flachs. Dagegen erwähnt der um die Mitte des 7. vorchristlichen Jahrhunderts lebende griechische Lyriker Alkman aus Sardes in Lydien Leinsamen neben Mohn- und Sesamsamen als Genußmittel. Als solches erwähnt ihn auch der im 4. vorchristlichen Jahrhundert lebende Theophrast, der hinzufügt, der Flachs verlange zu seiner Kultur einen guten Boden. Die späteren Schriftsteller wie Vergil und Columella sagen von ihm, er sauge den Boden stark aus. Letzterer sagt in seiner Schrift über den Landbau: „Wo der Lein nicht reichlich wächst und gut bezahlt wird, sollte man ihn nicht säen, da er das Land sehr aussaugt. Jedenfalls verlangt er sehr fetten, etwas feuchten Boden und wird von Anfang Oktober bis Mitte Dezember gesät. Will man recht zarte Fäden erzielen, so sät man ihn auf recht mageren Boden. Man kann die Aussaat auch im Februar vornehmen.“ In bezug auf seinen Anbau in Griechenland, der während der römischen Zeit allgemein war, berichtet der Grieche Pausanias in seiner zwischen 160 und 180 n. Chr. verfaßten Reisebeschreibung von den Bewohnern der Landschaft Elis, in der das panhellenische Heiligtum von Olympia lag, daß sie je nach der Beschaffenheit des Bodens Hanf oder Lein pflanzten. Jedenfalls nahm der Lein zu keiner Zeit in der griechischen Bodenwirtschaft die hervorragende Stellung ein, wie in manchen Gegenden des asiatischen Kontinents, besonders in Persien und Babylonien, wo sich alle Vornehmen und die Priester ausschließlich in Linnengewänder kleideten. Und zwar waren diejenigen der letzteren, gleich denen aller vorderasiatischen Kulte, wie die der ägyptischen Priester weiß als Symbole der reinen Gottesdiener. Nach Philo warf der Hohepriester das bunte Gewand ab, sobald er das Allerheiligste betrat, und trat im weißen Linnenhemde vor die Gottheit. Diese asiatisch-ägyptische Kultussitte, der auch die Juden huldigten, ging dann später in Europa auf die ähnliche Satzungen befolgenden Pythagoräer, die Orphiker, die Priester des Isis und des Mithras zur römischen Kaiserzeit und auf alle gottesdienstliche Funktionen Ausübenden über und erhielt sich als weißes Chorhemd bis auf den heutigen Tag.
Von dem Lande der ältesten Flachskultur, Babylonien, drang diese Industrie sehr früh auch zu den Bewohnern von Kolchis in Transkaukasien vor, die später bei den Umwohnern einen besonderen Ruf für ihre ausgezeichneten Leinenstoffe erhielten. Diese müssen auch von besonderer Güte gewesen sein, denn Herodot sagt: „Einzig die Kolchier kommen den Ägyptern gleich, wie auch ihre ganze Lebensweise und die Sprache Ähnlichkeit mit derjenigen der letzteren hat. Die[S. 43] kolchische Leinwand wird von den Hellenen sardonische genannt, die jedoch, welche von Ägypten kommt, nennt man ägyptische.“ Solches sardonisches Leinen wurde wie ägyptisches viel nach Griechenland importiert und hier von den Vornehmen, die sich gern in solch feine, teure Ware kleideten, gekauft. Wie bei den übrigen Asiaten war solches Leinen meist bunt gefärbt und glänzend durchwirkt und wegen ihrer höchsten Feinheit halb durchsichtig, wie es von den Reichen gerade so geschätzt wurde wie an den vorderasiatischen Höfen. Eine spezielle, in Asien wohl seit alten Zeiten gebräuchliche Anwendung des Flachses war die zu linnenen Panzern, durch welche das Geschoß des Feindes, wie die Zähne und Krallen der bekämpften Raubtiere wenigstens einigermaßen abgehalten wurden. Von dem vom ägyptischen König Amasis II. (570–526 v. Chr.) den Spartanern und dem Tempel der Athene zu Lindos auf Rhodos geschenkten, auf das prächtigste mit Tierbildern und Goldfäden durchwirkten leinenen Panzerhemd, einem Meisterwerk der ägyptischen Kunstfertigkeit, war bereits die Rede. Solche schönbestickte Panzerhemden waren auch in ganz Vorderasien geschätzte Schmuckstücke der Anführer, während die gemeinen Soldaten unbestickte trugen. So waren nach Herodot die Assyrier und Perser vielfach mit solchen linnenen Panzerhemden bekleidet, und auch die Bemannung der phönikischen und kleinasiatischen Schiffe im Kriegszug des Xerxes (482–480 v. Chr.) trug die bei ihnen landesüblichen linnenen Panzer. Xenophon berichtet in seiner Anabasis, der Heimkehr der zehntausend Mann griechischer Truppen nach der unglücklichen Schlacht von Kunaxa im Jahre 401 v. Chr., daß sowohl die im armenischen Hochlande hausenden Chalyber, als auch die Mossynöken an der Südküste des Schwarzen Meeres bis über die Knie reichende kittelartige linnene Panzer trugen, die zum besseren Schutze gegen allfällige Verletzungen ihres Trägers gepolstert waren.
Durch das ganze griechische Altertum wird öfter der linnene Panzer erwähnt. So trug in der Ilias nicht nur der halbbarbarische Asiate Amphios, Sohn des Merops, einer der troischen Bundesgenossen, sondern auch ein Grieche, Ajax, der Führer der Bogen und Schleuder statt der Speere und Schilde führenden Lokrer, wie die Chalyber des Xenophon solche Linnenpanzer. In dem um die Mitte des 7. vorchristlichen Jahrhunderts von Delphi ergangenen, später berühmt gewordenen Orakelspruch werden die Bewohner von Argos mit dem sie charakterisierenden Beiwort die linnenbepanzerten belegt. In einem Gedicht des als Zeitgenosse der Sappho um 600 v. Chr. lebenden[S. 44] griechischen Lyrikers Alkaios aus Mytilene auf Lesbos wird unter anderen Kriegswaffen auch der Linnenpanzer genannt, und solche Panzer sah der Verfasser des griechischen Baedeker, Pausanias, noch um die Mitte des 2. christlichen Jahrhunderts als sehr alte Weihgeschenke öfter in den von ihm besichtigten Tempeln aufgehängt. Derselbe Autor berichtet, daß auch in den aus Söldnern sehr verschiedener Herkunft bestehenden karthagischen Heeren der Linnenpanzer einen wichtigen Bestandteil ihrer Bewaffnung ausmachte.
Es konnte nun nicht fehlen, daß verschiedene aus Linnen bestehende Handelsartikel, vornehmlich Tücher und Kleider, durch den regen Schiffsverkehr der Griechen frühzeitig auch nach Italien hinübergebracht wurden. Nach Diogenes von Laerte soll zur Zeit, als der von Samos gebürtige griechische Philosoph Pythagoras nach Kroton in Unteritalien übersiedelte — es war im Jahre 529 v. Chr. —, das Tragen des ionischen Linnenkleides daselbst noch ungebräuchlich gewesen sein, so daß sich Pythagoras wie alle übrigen Einwohner jener Stadt in weiße Wolle kleidete. Dagegen berichtet uns der römische Geschichtschreiber Livius, daß die Etrusker um Veji nach der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. sich linnener Panzerhemden bedienten, oder daß wenigstens ihr König, wenn er zu Pferd in die Schlacht zog, einen solchen trug. Denn als A. Cornelius Cossus den König Tolumnius von Veji in der Schlacht tötete, weihte er dessen thorax linteus dem Tempel des Jupiter feretrius auf dem Kapitol in Rom, wo ihn Kaiser Augustus noch sah und die Weihinschrift las, als er den genannten Tempel, der zu verfallen drohte, wieder herstellte. Und von einer anderen etruskischen Stadt, Tarquinii, meldet er, daß sie gegen das Ende des zweiten punischen Krieges, der von 218–201 v. Chr. dauerte, Leinwand zu Segeln an die damals neu zu erbauende römische Flotte beisteuerte. Derselbe Livius berichtet von den tapferen, das Hochland des Appennins bewohnenden und kulturell von den Etruskern stark beeinflußten Samniten, die in drei Kriegen (343–341, 326–304 und 298–290 v. Chr.) gegen die Römer kämpften, bis sie von ihnen 290 unterworfen wurden: „Als die Samniten den Entschluß gefaßt hatten, auf Tod und Leben gegen die Römer zu kämpfen, warben sie 40000 Mann, umzäunten mitten im Lager einen Platz von 200 Schritt Durchmesser, bedeckten ihn mit linnenen Tüchern und ein alter Priester las beim Opfer aus einem alten linnenen Buche vor.“ Es hatte also die weiße Leinwand an sich schon etwas Sakrales, und derselbe Autor bemerkt in seiner Geschichte Roms mehrmals, daß auch bei den Römern die[S. 45] ältesten Urkunden und Verträge auf Leinwand geschrieben seien und in Tempeln aufbewahrt würden.
Als dann die Römer die Erbschaft der Samniten und der Griechen übernahmen, wurden auch die orientalischen Linnenkleider, wenigstens bei den Vornehmen, die sich solchen Luxus leisten konnten, Sitte. Aber bis weit in die Kaiserzeit hinein waren solche nicht Erzeugnisse der heimischen Industrie, sondern fremde Importware, die um schweres Geld vom Morgenlande eingehandelt werden mußte. So führt der römische Redner und Schriftsteller Cicero (106–43 v. Chr.) in einer seiner berühmten Reden gegen Gajus Verres, der als Statthalter von Sizilien während der Jahre 73–71 nicht weniger als 40 Millionen Sesterzien (= 6 Millionen Mark) aus jener Provinz erpreßt hatte und darob im Jahre 70 angeklagt wurde, neben dem Purpur von Tyrus, Weihrauch, wohlriechenden Essenzen, feinen Weinen, geschnittenen Steinen und Perlen auch Linnenkleider als Gegenstände des verschwenderischen Luxus seiner Zeit an, so wie wir etwa sagen würden: Diamanten und Spitzen. Aber nicht nur sich selbst kleideten die vornehmen Römer in diese kostbaren Erzeugnisse der morgenländischen Industrie, sondern auch ihre Geliebten, jene gefällige Freundinnen, deren körperliche Reize durch die purpurfarbigen und goldgestickten, infolge ihrer Feinheit schleierartig durchsichtigen linnenen Gewänder von Tyrus, Kos und Amorgos, den berühmtesten Zentren ihrer Herstellung, mehr verraten als verhüllt wurden. Selbst die Dienerschaft trug kostbares Linnen, so besonders die jungen Sklaven, die bei den schwelgerischen Gastmählern servierten.
Mehr und mehr wurde die fremde Leinwand zumal im Rom der Kaiserzeit populär. Um das zuschauende Volk vor der Sonne zu schützen, ließen reiche Magistrate und Cäsaren Schutzdächer aus Leinwand über die Theater und Amphitheater wie auch über die Gerichtsstätte, das Forum, spannen. Beim Wechsel der Mode, über den schon früh, noch zur Zeit der Republik, geklagt wurde, erschienen stets wieder neue Kleiderformen, Tücher, Binden usw. aus Leinenstoff, so beispielsweise der supparus. Ursprünglich war dies die Bezeichnung eines kleinen Segels, dann eines Frauengewandes; denn, wie in Athen, bürgerten sich in Rom und in dessen westlichen und nördlichen Provinzen jeweilen zuerst linnene Frauengewänder vor solchen für die Männer ein. Dann wurde es vornehme Sitte, ein Stück feines Linnen als Schmucktuch in oder an der Hand zu tragen, ganz nach Art jener „Handtücher“ im ursprünglichen Sinne des Wortes, die auch die vor[S. 46]nehmen Griechen zu Herodots Zeit im 5. vorchristlichen Jahrhundert getragen hatten. Dieses, nach dem damit abzutrocknenden Schweiße als sudarium bezeichnete feine, weiße Linnentüchlein wurde als manipulum (von manus Hand, also „Handtuch“) nicht nur die ganze römische Kaiserzeit hindurch als Zierde und Auszeichnung des vornehmen Standes getragen, sondern dann auch von den Byzantinern übernommen. Auf allen Darstellungen des höfischen Lebens jener Zeit, von denen diejenigen auf den berühmten Mosaiken der Kirche San Vitale in Ravenna mit der Darstellung des Kaisers Justinian und seiner Gemahlin Theodora die bekanntesten sind, tritt uns bei den vornehmen Männern des kaiserlichen Gefolges dieses viereckige, feine, weiße Linnentüchlein außen am Gewand angeheftet entgegen. Und während es bei uns in die erst später erfundenen Gewandtaschen wanderte, um als gemeines Taschentuch einem praktischen Zwecke zu dienen, hat es in der Hand der Dorfschönen besonders bei den Südslawen als Ziertuch immer noch den alten Adel gewahrt. Die konservativste aller menschlichen Einrichtungen, die Kirche, hat dieses alte „Handtuch“, das manipulum der spätrömischen Zeit, als ein Stück gestickten Brokats am Arme des katholischen Meßpriesters erhalten, während es in der griechischen Kirche zum Orarion umgebildet wurde.
In den luxuriösen Bädern des alten Rom dienten dichtgewebte Leinwandtücher zum Abtrocknen und als Tischdecken. Letztere waren unter dem Namen mantelia oder mantela dazu bestimmt, den aus kostbarem Holz — meist citrum, d. h. harzreichem, duftendem Holz verschiedener Koniferenarten, besonders einer auf dem Atlasgebirge in Afrika wachsenden Zypresse — bestehenden Tisch gegen Beschädigungen der beim Speisen aufgetragenen Schüsseln zu schützen. Solche nahmen die germanischen Barbaren bei ihren räuberischen Einfällen in römisches Gebiet an sich und benutzten sie als willkommene Umschlagtücher, deren lateinische Bezeichnung zum deutschen Mantel wurde.
Auch die in Theater und Amphitheater ausgespannten großen Tücher zum Spenden von Schatten waren aus Leinen verfertigt. Plinius (23–78 n. Chr.) erzählt uns darüber: „Der erste, der solche Tücher aus Leinwand ausspannte, war Lentulus Spinther bei den Apollinischen Spielen im Theater. Dann spannte der Diktator Cäsar über das ganze Forum, ferner über die Heilige Straße von seinem Hause bis an das Kapitol eine Leinwanddecke aus. Auch Marcellus, Schwestersohn des Augustus, hat das Forum mit einer Leinwanddecke überzogen. Neulich haben sogar himmelblaue, mit Sternen übersäte leinene Segel[S. 47]tücher im Amphitheater des Nero gehangen; die über den Höfen seines Hauses sind rot.“ Später wurde noch weit größerer Prunk mit diesen als vela bezeichneten Sonnentüchern getrieben.
Trotz allem Fortschreiten des Luxus, der große Mengen von Leinwand bedurfte, hat aber Italien südlich von Rom — und dieser Teil der Halbinsel war ja in den ersten Zeiten der römischen Weltherrschaft gerade der zunächst gebende und empfangende, derjenige, auf den gleichsam das Gesicht der Hauptstadt gerichtet war und über den der Weg in die wichtigsten Provinzen des römischen Reiches führte — auch in späterer Zeit nur verhältnismäßig sehr wenig Flachs angebaut. Der 149 v. Chr. gestorbene ältere Cato, der unversöhnliche Gegner des nach dem zweiten punischen Kriege (218–201 v. Chr.) wieder aufblühenden Karthago, erwähnt in seinem Buche über die Landwirtschaft nicht einmal den Flachs. Auch Columella, der römische Ackerbauschriftsteller des 1. Jahrhunderts n. Chr., legt dieser Kultur keinen Wert bei. Er erwähnt zwar den Flachs, aber er zählt ihn mit Bohnen, Linsen, Erbsen und anderen Arten von legumina, also Gemüsen, zur Gewinnung von Leinsamen zu Speisezwecken auf. Erst der im Jahre 79 n. Chr. beim Vesuvausbruche umgekommene ältere Plinius lenkt die Blicke seiner Landsleute auf die Asien und Ägypten seit langem bereichernde Leinkultur, für die sich auch Italien eignen würde. Aber in diesem Lande gab sich nur der ehemalig etrurische und keltische nördliche Teil eingehender mit dieser Kultur ab. So sagt Plinius in seiner Naturgeschichte: „Die Anwendung des Leins erstreckt sich über alle Länder und Meere, denn mit Hilfe leinener Segel schiffen wir von der sizilischen Meerenge in 6–9 Tagen nach Alexandrien, von Gades (Cadix in Spanien) in 7 Tagen nach Ostia (an der Tibermündung), aus Afrika dahin in 2 Tagen. Die Leinpflanze wächst aus einem ganz unbedeutendem Samen und muß, wenn sie dem Menschen dienen soll, erst bis zur Feinheit der Wolle verarbeitet werden. Damit weben die Ägypter, Gallier und Germanen leinene Segel.“
Berühmt durch seinen Flachsbau war schon im 1. Jahrhundert n. Chr. Spanien, aus dem überaus feines Linnen besonders nach Rom ausgeführt wurde. Hier muß diese Kultur schon alt gewesen sein; denn der Geschichtschreiber Livius berichtet, daß die Iberer in der Schlacht bei Cannae (216 v. Chr.), jenem glänzenden Siege Hannibals, in dessen Gefolgschaft sie gegen die Römer kämpften, nach Landessitte farbig gesäumte Linnenröcke trugen. Nach Strabon trieben besonders die Emporiten eine ausgedehnte Leinwandindustrie, und trugen die[S. 48] wilden, räuberischen Lusitanier im heutigen Portugal Linnenharnische. Plinius rühmt die feinen Siebe aus Flachsfäden als ursprünglich spanische Erfindung und nennt die ferne Stadt Zoelae am Strande des Atlantischen Ozeans im Lande der rohen Asturer als Flachs bauend. Besonders berühmt für ihr feines Leinen war Saetabis und Tarraco (die heutigen Städte Xativa und Tarragona), wo das Produkt die phönikische Bezeichnung carbasus trug, die ihrerseits wiederum mit dem indischen Namen karpasi für Baumwolle zusammenhängt.
Der ältere Plinius (23–79 n. Chr.) gibt uns eine ausführliche Schilderung der Leinkultur bei den alten Römern: „Der Lein (linum) wird vorzugsweise auf sandiges, einmal gepflügtes Land gesät und wächst ungemein schnell. Im Frühjahr gesät wird er schon im Sommer gerauft. Das Reifen derselben erkennt man am Schwellen des Samens und am Gelbwerden der Pflanze. Nun wird er ausgerissen, in Bündel gebunden, die man mit der Hand umspannen kann. Diese Bündel werden 6 Tage lang an die Sonne gehängt, wobei der Samen ausfällt. Dieser hat Heilkräfte, wurde auch sonst jenseits des Padus (Po) in eine ländliche süße Speise getan; jetzt wird er nicht mehr gegessen, wohl aber bei Opfern. Nach der Weizenernte werden die Flachsstengel in Wasser gelegt, das von der Sonne durchwärmt ist, und durch ein Gewicht unter die Oberfläche gedrückt. Ob sie gehörig gerottet (macerari) sind, sieht man daran, daß sich der Bast (membrana) leicht ablösen läßt. Dann werden sie an der Sonne getrocknet und hernach auf einem Stein mit einem besonderen hölzernen Hammer geklopft. Die der Rinde am nächsten liegenden Schichten sind von geringem Wert und werden besonders zu Lichtdochten verwendet. Gleichwohl werden auch sie durch die eisernen Haken gekämmt (gehechelt), bis sie ganz entrindet sind. Das innere Mark (medulla) wird noch mehrfach nach Glanz, Weiße und Weichheit unterschieden. Den Flachs zu hecheln und zu sortieren ist eine Kunst; denn aus 50 Pfund Flachsbündeln müssen 15 Pfund reiner Flachsfäden gemacht werden. Auch das gesponnene Garn und das fertige Gewebe wird noch durch Eintauchen in Wasser und Klopfen veredelt. Das kumanische Garn aus Kampanien eignet sich trefflich zu Fisch- und Vogelfang, ja zum Fangen der Wildschweine in Netzen. Die Fäden der Ebergarne sind aus 150 einfachen Leinfäden zusammengesetzt. Gezupfte Leinwand, vorzüglich aus Segeln der Schiffe, wird vielfach in der Heilkunst gebraucht. — Man färbt auch Leinwand. Dies soll zu Alexanders (des Großen) Zeit zuerst geschehen sein. Seine Flotte fuhr (326 v. Chr.) mit farbigen[S. 49] Flaggen den Indus hinab. In der Schlacht bei Actium (31 v. Chr.) trug das Admiralsschiff, auf welchem sich Kleopatra und Antonius befanden, purpurfarbige Segel.“
Ganz Gallien bis zum äußersten Norden wird von Plinius als Flachs bauend und Leinwand webend geschildert. Die Anfänge der flämischen Leinenindustrie reichen wenigstens bis zum 1. Jahrhundert n. Chr. zurück, und daß auch die Gegend um Reims feine Leinwand erzeugte, das lehrt uns die italienische Sprache in dem Worte renso für eine von dort bezogene besonders gute Qualität. Selbst bis zu den Germanen jenseits des Rheins, fährt Plinius fort, ist diese Kunstfertigkeit gedrungen. „Das germanische Weib kennt kein schöneres Kleid als das linnene; dort sitzen sie in unterirdischen Räumen (Grubenwohnungen) und spinnen und weben.“ Ungefähr dasselbe sagt der Geschichtschreiber Tacitus (54–117 n. Chr.) in seiner Germania: „Die Frauen kleiden sich wie die Männer, nur daß sie sich häufiger als diese in linnene Tücher hüllen, die sie mit roter Farbe verzieren.“ Die Männer trugen also noch die Wollkleidung, selbst Felle, während die Frauen auf ihren Hackfeldern Flachs zogen und sich mit daraus hergestellten Linnenkleidern schmückten.
All dieser Flachs war der einjährige, von Linum usitatissimum, der im Gegensatz zum minder wertvollen mehrjährigen der Pfahlbauern erst sehr spät aus Westasien nach Mitteleuropa gelangte. Durch seine einjährige Vegetationsdauer eignete er sich auch viel besser für die rauhen Gegenden Germaniens. Und zwar wurde diese Kulturpflanze wie im Griechischen línon, so im Lateinischen linum und von da bei allen Nordvölkern Lein bezeichnet. Nur in Westgermanien kam die mit dem Begriff Flechten zusammenhängende Bezeichnung Flachs für ihn auf.
Bei den Kelten und Germanen hat sich dann die vom Süden her durch die Römer vermittelte Sitte der linnenen Kleidung sehr rasch eingebürgert; ja, diese Völkerschaften beeinflußten sogar ihre vormaligen Lehrmeister in der Weise, daß sie ihnen neue Verwendungen des Linnens lehrten. So haben die Gallier zuerst mit Pferdehaaren oder Vogeldaunen gestopfte Leinwandsäcke als Polster und Kissen verwendet und sie in der Folge auch in Italien populär gemacht, wo man sich zum Sitzen und Liegen bis dahin bloßer Lagen von Decken und weichen Stoffen bedient hatte. Sie waren es ebenfalls, die durch alle Schichten der Bevölkerung zuerst das Hemd aus Leinen trugen, wofür sie den zuerst beim heiligen Hieronymus vorkommenden Namen camisia auf[S. 50]brachten, woraus später das französische chemise für Hemd wurde. Vor ihnen hatten nur Frauen vornehmen Standes Leinwand unmittelbar am Körper getragen, und vom römischen Kaiser Alexander Severus, der von 222 an regierte und im Jahre 235 unweit Mainz von aufrührerischen Soldaten ermordet wurde, schreibt sein Biograph Lampridius, daß er weißes Linnen als Unterkleid liebte, weil es nichts Rauhes (wie die sonst getragene Wolle) habe. Einige Dezennien später schenkte Kaiser Aurelian seinem Volke weiße, mit Ärmeln versehene Tuniken, die in verschiedenen Provinzen angefertigt waren, darunter auch ungefärbte linnene aus Ägypten und Afrika.
Im Laufe der Völkerwanderung hat sich das linnene Kleid bei allen Germanenstämmen als gewöhnliche Volkstracht eingebürgert. Die Westgoten trugen über den Leinenhemden, die uns vom Berichterstatter Sidonius Apollinaris, der mit den Ältesten derselben im Namen des byzantinischen Kaisers verhandelte, als sehr schmutzig bezeichnet werden, Pelze, und die Franken neben den ledernen auch linnene Hosen. Von den Germanen kam dann der Flachsbau mit dem dem Lateinischen entnommenen Namen zu den Slawen. Wie die deutsche Hausfrau bis in die Neuzeit selbst gesponnenes Leinenzeug als ihren wertvollsten Schatz aufspeicherte, so bildete Leinwand in den Grenzgebieten der Germanen und Slawen das gewöhnliche Tauschmittel. Als solches wird sie aber auch in altnordischen Gesetzen genannt; in Skandinavien bildete sie neben dem einheimischen Wollstoff eine sehr gerne in Tausch genommene Wertsache. Endlich fand beim Weiterrücken der Kultur der Leinbau an der Ostsee und in Rußland eine neue Heimstätte, wo sie bis auf den heutigen Tag zunehmende Bedeutung erlangte.
Es kann nicht unsere Sache sein, die Bedeutung des Flachses durch das Mittelalter, wo jedermann wenigstens am Tage — nachts lag man nackt im Bett — Leinenhemden trug, bis zur Jetztzeit zu illustrieren. Es genüge nur daran zu erinnern, welche große Bedeutung Leinenzeug, zumal die Brabanter und Venezianer Spitzen, im 17. und teilweise noch im 18. Jahrhundert genoß, bis schließlich auch hierin der ältere Lein durch die jüngere Baumwolle, die ihren Siegeszug durch die ganze Welt antrat, verdrängt wurde.
Der Lein gedeiht am besten in feuchtem, kühlem Klima; bei Trockenheit bleibt er kurz im Stengel. Die beste Qualität wächst auf humosem Lehmboden unter dem Einfluß des Seeklimas, so in den Ostseeprovinzen Rußlands, in Belgien, Holland und vor allem Irland. Gepflanzt wird er gewöhnlich nach frisch umgebrochenem Rotklee oder[S. 51] nach Getreide. Weil er dem Boden viel Nährsalze entzieht, versagt er nach sich selber. Er wird möglichst frühzeitig gesät und braucht zur Vollendung seines Wachstums 90–120 Tage. Sobald das untere Drittel der Stengel gelblich geworden ist wird er gerauft, auf dem Felde getrocknet, dann die Samenkapseln an einem eisernen Kamm abgeriffelt. Zur Gewinnung des Rohflachses werden die Stengel zur Zerstörung des Pflanzenleims, der den Bast, das eigentliche Fasermaterial verbindet, gerottet, d. h. in weichem, möglichst kalkfreiem Wasser einer gelinden Fäulnis unterworfen, bis sich der Bast leicht vom inneren Holz abstreifen läßt, was in 10–14 Tagen der Fall ist. Dann werden die sortierten Stengel mit der Brake gebrochen, um den holzigen Kern des Flachsstengels in kleine Stückchen zu zerlegen, die dann durch Schwingen mit Hilfe eines hölzernen Messers entfernt werden. Zuletzt werden noch die bandartig zusammenhängenden Fasern gehechelt, d. h. durch Eisenkämme gezogen, welche alle Unreinlichkeiten, sowie die kurzen und verwirrten Fasern zurückhalten. Diese heißen Werg oder Hede (alt- und mittelhochdeutsch rîste) und dienen zum Polstern oder auch zur Herstellung grober Gespinste und Gewebe. Die glatten, gleichmäßigen Strähne aber liefern den eigentlichen Flachs, der früher in vielen Häusern zu Leinengarn gesponnen wurde, eine Manipulation, die gegenwärtig fast ausschließlich durch Maschinen besorgt wird. Die Spinnmaschine, welche in ihren Grundzügen von Ayres konstruiert wurde, ist neben dem vom Engländer Cartwright im Jahre 1787 konstruierten mechanischen Webstuhl eine der wunderbarsten und nützlichsten Erfindungen des menschlichen Geistes. Sie zieht nicht nur den Faden aus, sondern dreht und wickelt ihn zugleich auf die Spule.
Der ausgehechelte Flachs hat Fasern von 30–60, höchstens 70 cm Länge, die durch den Rest des Pflanzenleims zusammengehalten werden. Sie bestehen aus festen, fast bis zum Verschwinden des Hohlraums verdickten sogenannten Bastzellen. Der beste Flachs mit den längsten Fasern ist lichtblond oder silbergrau mit Seidenglanz. Die Gesamtproduktion Europas wird auf 700 Millionen kg geschätzt; davon entfallen 500 Millionen kg auf Rußland und etwa 100 Millionen kg auf Deutschland und Österreich. Auch Ägypten und Nordamerika erzeugen große Mengen desselben. Die Fabrikationsdistrikte für leinene Gewebe sind für Deutschland besonders in Schlesien und Westfalen (um Bielefeld) gelegen. Seit langem ist besonders das Brabanter Leinen in Form von Battist wegen seines überaus feinen Gewebes berühmt. Auch Irland liefert sehr gute Leinen, ebenso das nördliche Böhmen.
Sehr viel später als der Lein ist der Hanf (Cannabis sativa), ein naher Verwandter des Hopfens, in die Länder am Mittelmeer und nach Europa gelangt. Die alten Babylonier, Ägypter, Juden und Phönikier haben ihn noch nicht gekannt. Zuerst wird er in Indien zwischen 800 und 900 v. Chr. als angebaute Nutzpflanze unter dem Namen bhanga erwähnt, dann in dem um 500 v. Chr. verfaßten chinesischen Buche Schu-king. Seine Heimat ist Zentralasien, wo er in Turkestan bis zum Baikalsee, aber auch südlich vom Kaspischen Meer und in Südrußland stellenweise noch als Wildling gefunden wird. Dort irgendwo muß er von einem uns unbekannten Volksstamme zuerst als Nährpflanze zur Erlangung der ölreichen Samen, dann als Genußpflanze zur Gewinnung des Haschisch und zuletzt erst als Gespinstpflanze gezogen worden sein und sich langsam als Kulturpflanze allseitig ausgebreitet haben. Zu den mit ihren zahlreichen Herden nomadisierenden Skythen in Südrußland kam er als Genußmittel, indem diese sich nach dem Berichte des Vaters der Geschichte, Herodot (484–424 v. Chr.), in der Weise berauschten, daß sie in geschlossenen, kleinen Filzzelten (Jurten) Hanfsamen auf heiß gemachte Steine warfen und die sich dabei entwickelnden betäubenden Dämpfe einatmeten, bis sie, in Ekstase geratend, „vor Freude brüllend“ daraus herausrannten. Von den Thrakern berichtet derselbe Autor, daß sie aus den Fasern dieser Pflanze Kleider webten. Damals, im 5. vorchristlichen Jahrhundert war diese Pflanze den Griechen noch unbekannt. Erst später erhielten sie dieselbe aus dem Balkan unter dem Namen kánnabis, der dann unverändert von den Römern übernommen wurde. Und die Balkanstämme, die ihn den Griechen vermittelten, gaben ihn dann auch nordwärts in die Donaugegenden und nach Germanien ab. In Albanien als kanep, bei den Tschechen und Slawen als konop bezeichnet, gelangte er als hanaf zu den Germanenstämmen. Aus diesem althochdeutschem Worte ist dann mittelhochdeutsch hanef und neuhochdeutsch Hanf geworden. Nach einer sehr ansprechenden Vermutung Schraders liegt die einfachste Form des Namens im tscheremissischen (einer Sprache des Kaukasus) kene Hanf vor, während der zweite Bestandteil bis oder pis in der syrjänischen und wotjakischen (sibirischen Stämmen) Benennung der Nessel piš seine Entsprechung finden würde, so daß also cannabis eigentlich „Hanfnessel“ bedeuten würde.
Von Griechenland wanderte die Kenntnis und der Anbau des Hanfes erst in verhältnismäßig später Zeit nach Sizilien und Unter[S. 53]italien und von da nach Mittel- und Norditalien. Der ums Jahr 200 n. Chr. in Alexandrien und Rom lebende Grieche Athenaios, der uns in seinen auf uns gekommenen 15 Büchern Deipnosophistai wichtige Nachrichten über Leben und Leistungen der alten Griechen hinterließ, berichtet von König Hieron II. von Syrakus (regierte von 269–215 v. Chr.), er habe ein ungeheures Prachtschiff bauen lassen, zu dem er von allen ihm bekannten Ländern je das Vorzüglichste in seiner Art kommen ließ. Pech und Hanf habe er vom Rhonefluß in Gallien bezogen. Dort muß also zu seiner Zeit der Hanf besonders gut gediehen sein. Zu den Kelten, die sich seiner Samen, wie wir aus anderer Quelle wissen, auch als Ölspender und Betäubungsmittel bedienten, was bei den Griechen und den von diesen damit beschenkten Römern durchaus nicht üblich war, wird er jedenfalls nicht durch griechische Vermittlung über die Kolonie Massalia, dem heutigen Marseille, sondern direkt von Osten her aus der Donaugegend gekommen sein.
Der ältere Cato (234–149 v. Chr.) nennt in seiner Schrift über den Landbau weder Flachs noch Hanf. Der erste römische Schriftsteller, der den Hanf erwähnt, indem er von einem hänfenen Strick spricht, ist der ums Jahr 100 v. Chr. lebende Satiriker Lucilius. Nach ihm erwähnt ihn der gelehrte Varro (116–27 v. Chr.) in seiner Schrift über den Landbau. Er schreibt darin: „Hanf, Lein, Simsen (juncus) und Spartgras (spartum) werden auf Feldern gezogen, um aus ihnen Stricke und Seile anzufertigen.“ Das seit dem zweiten punischen Kriege (218–201 v. Chr.) von Spanien her bei den Römern als Bastpflanze aufgekommene Spartgras (auch Esparto, von Stipa tenacissima), das bis auf den heutigen Tag viel von Südspanien und dem westlichen Nordafrika exportiert wird, schränkte den Anbau des Hanfes in Italien sehr ein. Doch wurde er in der Zeit der römischen Kaiser stellenweise angepflanzt und gedieh vortrefflich; denn der 79 n. Chr. beim Vesuvausbruch als Befehlshaber der bei Misenum stationierten Heimatflotte umgekommene ältere Plinius berichtet in seiner Naturgeschichte, daß in dem durch seine Fruchtbarkeit berühmten Landstrich um Reate im Sabinerland der Hanf baumhoch werde. Sein Anbau fand damals wie heute besonders in den Niederungsdistrikten Italiens und Siziliens statt.
Nach dem nördlichen Europa verbreitete sich die Hanfkultur ziemlich spät und nur strichweise, soweit das Klima milde und der Boden humusreich und feucht ist. Die Pflanze wächst in größeren weiblichen und kleineren männlichen Individuen. Merkwürdigerweise aber be[S. 54]zeichnet der Deutsche die letzteren als Fimmel oder Femell (vom lateinischen femella Weibchen) und die ersteren als Mäschel (vom lateinischen masculus Männchen), wohl von der Vorstellung ausgehend, daß das Kürzere und Schwächere weiblich und das Größere, Stärkere männlich sein müsse. Der Hanf liebt wärmeres Klima als der Flachs und ist gegen Kälte und Spätfröste sehr empfindlich. Da er aber nur eine Vegetationsdauer von 90–105 Tagen hat, so läßt er sich in Europa noch in den Küstenländern der Ostsee kultivieren. Am besten gedeiht er auf tiefgründigem Humusboden. Man sät ihn, wenn keine Fröste mehr zu befürchten sind, zieht die kürzeren männlichen Hanfpflanzen aus, sobald deren Blätter gelb werden, ebenso nach weiteren 4–6 Wochen die höheren weiblichen, wenn diese gelb zu werden beginnen. Die Gewinnung der zum Verspinnen oder zur Seilfabrikation usw. bestimmten Fasern erfolgt im allgemeinen in der beim Flachs angegebenen Weise durch Rotten, Brechen, Schwingen und Hecheln. Die 1 bis 2 m langen Hanffasern sind weißlich oder grau und weit gröber als die Flachsfasern; die darin enthaltenen einzelnen Bastzellen sind 1,5 bis 2,5 cm lang und sehr hygroskopisch. Die Hanfproduktion Europas und Nordamerikas beziffert sich auf etwa 500 Millionen kg. Davon entfallen auf Rußland 150, Italien 50, Österreich-Ungarn 87, Frankreich, Deutschland und Vereinigte Staaten je 70 Millionen kg. In Rußland, wo der Hanf wie in Italien südlich vom unteren Po zum Teil im Lande selbst zu Stricken, Tauen und Segeltuch verarbeitet wird, gewinnt man als ein Hauptprodukt der Hanfkultur das aus dem Samen gepreßte Hanföl, das allgemein besonders während der langen und strengen griechischen Fasten als Speisefett dient. Natürlich wird solches zu gewinnen in Italien verschmäht, da es an seinem Olivenöl ein besseres Speisefett besitzt.
Von ausländischen Faserstoffen, die ähnlich wie Hanf verwendet werden, ist zunächst der bengalische Hanf zu nennen, der von einer bis 2 m hohen, von Vorderindien bis Australien verbreiteten Leguminose mit lanzettförmigen, seidenhaarigen Blättern und schönen, großen, gelben Blüten (Crotalaria juncea) gewonnen wird. Aus deren Stengeln bereitet man auf dieselbe Art wie bei unserem Hanf eine blaßgelbliche, seidenglänzende Bastfaser. Sie wird deshalb seit alter Zeit fast überall in Südasien, besonders in Indien, auf Java und Borneo kultiviert.
Der gleichfalls zur Herstellung von Tauen und Stricken und anderen Geflechten verwendete Manilahanf stammt von der auf den Philippinen heimischen Faserbanane (Musa textilis), die in großer[S. 55] Menge in den vulkanischen Gegenden dieser Inselgruppe kultiviert wird. Die wildwachsenden Pflanzen liefern zwar auch, aber nur sehr wenig Faserstoff. Man hat diese nützliche Faserpflanze auch in anderen tropischen Gegenden anzubauen versucht, aber nur mit geringem Erfolg. So stammt diese Bastfaser, die nach dem Exporthafen Manila so heißt, fast ausschließlich aus den Philippinen. Die Faserbanane hat im dritten Jahre eine Höhe von 6 m und einen Stammdurchmesser von 18 cm erreicht und wird dann vor der Blüte geerntet. Die gefällten Stämme läßt man einige Tage liegen, um sie saftärmer zu machen und schneidet dann die Fasern nach kurzer Röstung der Schäfte durch Handarbeit heraus, indem man sie durch Eisenkämme hindurchzieht. Dadurch werden die 1–2 m langen verholzten Fasern, die aus kurzen, feinen Bastzellen bestehen, rein gewonnen. Sie kommen in bräunlichen bis gelblichweißen Strängen von seidenartigem Glanz in den Handel und dienen zur Anfertigung von Seilerwaren und zu vielen Luxusartikeln, die besonders geschätzt sind, wenn die Faser mit Seide verwebt wurde, was bei den Manilataschentüchern u. dgl. der Fall ist. Wegen ihrer Leichtigkeit und Haltbarkeit im Wasser werden aus ihnen auch Schiffstaue hergestellt, doch sind sie schwerer zu verarbeiten als der Hanf. Da der Manilahanf sehr billig ist, wird er von den Schiffern meist nur als Ballast verladen. Die Insel Manila allein soll jährlich über 31 Millionen kg davon ausführen. Ungefähr 14 Millionen kg gehen nach den Vereinigten Staaten, besonders nach New York, etwa 6 Millionen kg nach England und gegen 2,5 Millionen kg werden in Manila selbst zu Schiffstauen von 1–15 cm Umfang und bis 200 m Länge verarbeitet. Gröbere und zugleich geringere Sorten stammen von anderen Musaarten, besonders von der überall in den Tropen angebauten gewöhnlichen Banane, dem Pisang.
Der Mauritiushanf stammt von einer mächtigen, hohen Staude aus der Familie der Amaryllideen (Fourcroya gigantea), die im tropischen Mittelamerika heimisch ist und seit 1750 auf der Insel Mauritius, in neuester Zeit auch in Ostindien zur Fasergewinnung kultiviert wird. Die bis 2,5 m langen Blätter werden vom dritten Jahre an geerntet und werden mit der Hand oder mit Maschinen verarbeitet.
Der Familie der Liliengewächse gehört der neuseeländische Flachs (Phormium tenax) an, eine ausdauernde Pflanze, aus deren kurzem, dickem Wurzelstock 1–2 m lange, 2–4 cm breite, graugrüne, lederartige Blätter hervorsprießen. Sie wächst auf Neuseeland, der Insel Norfolk und in verschiedenen Teilen Australiens wild, wird aber hier[S. 56] wegen ihrer Fasern auch kultiviert. Seit alter Zeit dienen die Fasern der Blätter zu Seilen, gröberen Bekleidungsstoffen und sonstigen Geflechten, während der bittere Wurzelstock wie die Sarsaparille gegen Skrofulose und Syphilis verwendet wird. Erst durch den englischen Entdeckungsreisenden Cook wurde diese Faserpflanze nach 1769 bekannt. Die durch Verfaulenlassen der Blätter gewonnene Rohfaser ist etwa 1 m lang, gelblich, stellenweise weißlich und wird erst in Europa, und zwar fast ausschließlich in England, gereinigt und zu Flechtereien wie Tauen und gröberen Webereien, namentlich Segeltuch, verarbeitet. Diese sind biegsamer und leichter als diejenigen aus gewöhnlichem Hanf und werden selbst bei langem Liegen in Wasser kaum verändert.
Ebenso verhält es sich mit dem Sanseveriahanf, der aus den langen, dickfleischigen, graugrünen, mit dunkleren Bändern quer gestreiften Blättern einer in mehreren Arten im tropischen Afrika heimischen Lilie der Gattung Sanseveria gewonnen wird. Am häufigsten wird in Westafrika Sanseveria guineensis, in Ostafrika dagegen S. cylindrica und ehrenbergi ausgebeutet. In ihrer Heimat wachsen sie in großen Beständen wild, meist auf steinigen Steppen im Schatten von Gebüsch; um jedoch die Gewinnung zu erleichtern, werden sie an verschiedenen Orten der Tropen kultiviert. Dabei sind sie höchst anspruchslos, werden außer durch Samen meist durch Wurzelschößlinge, die in großer Zahl um die Pflanze herum aufschießen, vermehrt und erreichen ein hohes Alter, so daß eine Anlage erst nach vielen Jahren erneuert zu werden braucht. Die Aufbereitung der Faser geschieht in mühsamer Weise wie bei den vorgenannten Arten von Hand, könnte aber, wenn Pflanzungen in größerem Maßstabe angelegt würden, weit einfacher durch Maschinenbetrieb gewonnen werden. Die Kultur im großen würde sich sehr lohnen, da die Sanseveria-Bastfasern von hervorragender Güte liefern. Von Deutsch-Ostafrika wurden bis jetzt davon nur 154000 kg exportiert.
In Mexiko, besonders auf der Halbinsel Yucatan, wird die in Mittelamerika heimische Sisalagave (Agave rigida) gebaut, so genannt nach der Hafenstadt Sisal in Yucatan, die lange Zeit der Hauptausfuhrort für den Sisalhanf war. Derselbe wird von den bis über 1 m langen, dicken, fleischigen Blättern der trockene Standorte wie ihre Verwandten liebenden Agave gewonnen. Diese gehört zu den Amaryllisgewächsen und entwickelt am Ende ihrer Vegetationszeit einen holzigen Schaft von 3–5 m Länge mit rispenförmigen Blüten. Nach dem Reifen der Früchte stirbt die Pflanze ab. Die Sisalagave[S. 57] wächst am besten in tropischen und subtropischen Gebieten mit nicht zu großer Feuchtigkeit und wird noch mit gutem Erfolg auf Boden angepflanzt, der für andere Kulturgewächse zu schlecht ist. Dort gedeiht sie ohne Pflege, nur muß anfänglich, solange die Pflanzen klein sind, das Unkraut niedergehalten werden. Die Fortpflanzung geschieht entweder durch Wurzelschößlinge, die vom dritten Jahre an als Triebe des Wurzelstocks reichlich aus dem Boden hervorbrechen und nur abgegraben und verpflanzt zu werden brauchen, oder durch zwiebelförmige Brutknospen, die sich ebenfalls in großer Zahl, bis zu 3000, an der Pflanze bilden, um abzufallen und ihre meist schon vorher gebildeten Wurzeln in die Erde zu versenken. Ist die Pflanze fünf Jahre alt, so können bis zu ihrem 15.-20. Jahre zwei- bis viermal jährlich die ausgewachsenen Blätter abgeschnitten werden. An diesen werden dann vermittelst einer Maschine die Fasern von den Fleischteilen des Blattes abgetrennt, gereinigt, getrocknet und gebleicht, um als Sisalhanf in den Handel zu gelangen. Dieser ist leicht, gelblich-weiß, glänzend, stärker und elastischer als Hanf, härter und weniger biegsam als Manilahanf, widersteht der Nässe, braucht also nicht geteert zu werden, und erlangt unter Wasser sogar eine erhöhte absolute Festigkeit. Er dient zur Herstellung von Tauen, Segeltuch, Packtüchern, Teppichen, Papier und als Indiafaser zum Polstern. Mexiko führt davon jährlich 500000 Ballen im Werte von 40 Millionen Mark aus. Seine Kultur ist neuerdings auch in den deutschen Kolonien, besonders Ostafrika, aber auch Neuguinea eingeführt worden. Diese führten schon 1907 für 2,2 Millionen Mark aus. Seitdem hat sich die Produktion noch wesentlich gehoben. Im Jahre 1908 wurden in Ostafrika allein die vorhandenen Sisalpflanzungen auf 10355 Hektar mit 24 Millionen Pflanzen geschätzt und kamen fast 3 Millionen kg Sisalhanf im Werte von über 2 Millionen Mark zur Ausfuhr.
Von einer verwandten Agave, der in Mexiko heimischen Agave heteracantha, die dort vom Volke lechuguilla genannt wird, stammt die im Lande selbst als ixtli, bei uns aber nach dem Hauptausfuhrhafen Tampico meist als Tampicofaser bezeichnete, zwar grobe und kurze, aber äußerst haltbare und starke Faser. Sie wird durch Abschaben der fleischigen Blätter, solange diese noch grün und saftig sind, gewonnen. Die Faserbündel werden dann ausgehoben, gewaschen, an der Sonne getrocknet, mit einem Holzkamme wie Frauenhaar gekämmt, in verschiedenen Längen zu Strähnen gebunden und in Ballen verpackt. Die Ausfuhr beträgt über 3 Millionen kg jährlich.
Im Gegensatz zu ihr steht die fast ausschließlich in Zentralamerika von verschiedenen Bromeliazeen aus der engsten Verwandtschaft der Ananas, besonders von Bromelia karatas gewonnene Pitafaser oder das Hondurasgras. Aus diesem sehr feinen und festen Faserstoff hat man früher den sogenannten Ananasbattisthergestellt, während man sich heute damit begnügt, ihn zu gröberem Flechtwerk zu verwenden. Die ihn liefernde waldbewohnende Faserpflanze wird nirgends eigentlich kultiviert. In Mexiko, wo sie auch vorkommt, besteht die ganze Pflege darin, daß im Walde das Unterholz abgebrannt wird, um den Schößlingen Platz zu machen, die nach ihrer Anpflanzung sich selbst überlassen bleiben. Die Besitzer stellen sich nur zur Ausbeutung ein und lichten vielleicht bei dieser Gelegenheit den Bestand aus, wenn er durch das Emporschießen von Schößlingen zu dicht geworden ist. Auch auf der Halbinsel Malakka und den Philippinen wird eine wilde Ananas, wie anderwärts die als Obst kultivierte eßbare Ananas zur Gewinnung von Fasermaterial benutzt.
Ein uralter, schon den alten Römern als spartum bekannter und von ihnen vielfach zu allerlei Flechtwerk verwendeter Faserstoff rührt vom sehr zähen Pfriemengras (Stipa tenacissima) her, das in den dürren, beinahe Wüstencharakter aufweisenden, außerordentlich regenarmen und lufttrockenen Steppen Algeriens, Marokkos und Südspaniens heimisch ist und von den dortigen Eingeborenen seit Urzeiten zu allerlei Flechtwerk benutzt wird. So werden heute noch wie im Altertum von der armen Bevölkerung daraus die als einziges Kleidungsstück dienenden Schürzen, wie auch die Sandalen, Tragtaschen und Stricke angefertigt, die von einer geradezu unverwüstlichen Dauerhaftigkeit sind. Die Römer lernten dieses außerordentlich feste Flechtmaterial von den Karthagern kennen, die es ausgiebig zu mancherlei Flechtwerk, auch zur Herstellung von Schiffstauen für ihre zahlreichen Handels- und Kriegsschiffe, verwendeten. Seit dem 2. punischen Kriege (218–201 v. Chr.) machten sie sich die im 1. punischen Kriege bei den Karthagern gemachten Erfahrungen mit diesen fast unzerstörbaren Tauen und Netzen zunutze. So berichtet der römische Geschichtschreiber Livius aus Padua (59 v. bis 17 n. Chr.) folgende Episode aus dem zweiten punischen Krieg, als Scipio gegen Hannibals Bruder Hasdrubal kämpfte, 210 v. Chr. Neu-Karthago und 206 das ganze von den Karthagern innegehabte Südostspanien eroberte: „Während die Römer in Italien gegen Hannibal kämpften, sandten sie eine Kriegsflotte nach Spanien; diese verwüstete die Gegend um Neu-[S. 59]Karthago und fand nicht weit von da zu Longuntica eine gewaltige Menge von getrocknetem Pfriemengras (spartum), das Hasdrubal dort für den Bedarf seiner Schiffe angehäuft hatte. Die Römer nahmen von dieser Beute, soviel sie brauchen konnten, und verbrannten das übrige.“ Der ältere Cato, der unversöhnliche Gegner des nach dem zweiten punischen Kriege wieder aufblühenden Karthago (234–149 v. Chr.) sagt in seinem Buche über Landwirtschaft, der Landmann müsse aus spartum geflochtene Seile und Körbe haben, und der Gelehrte Varro (116–27 v. Chr.) meint: „Der Landwirt muß Hanf, Lein, Binsen und spartum pflanzen, um daraus Schnüre, Stricke und Seile zu drehen.“ Der aus Spanien gebürtige römische Ackerbauschriftsteller Columella um die Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr. schreibt: „Wenn die Klauen eines Ochsen an Entzündung leiden, so schützt man sie durch einen aus spartum geflochtenen Schuh (solea spartea)“, ferner: „Bei der Olivenernte braucht man außer vielen andern Dingen Seile von Hanf und von spartum.“
Das von den Spaniern esparto, von den muhammedanischen Nordafrikanern halfa genannte Pfriemengras mit sehr faserreichen, zähen Blättern gedeiht auf trockenem, kalkhaltigem Boden am besten; auf sehr sandigem Boden liefert es eine noch kräftigere, aber kürzere Faser. Es erhebt sich nicht über 1000 m, treibt im Binnenlande längere und weißere, aber dünnere und schwächere Fasern als an der Küste, wächst in Büscheln und pflanzt sich so leicht fort, daß auf dem Boden, von dem es einmal Besitz ergriffen hat, endlose Ernten eingeheimst werden können. Das ist die Ursache, weshalb diese Grasart trotz ihrer großen Wichtigkeit als Faserpflanze nirgends kultiviert wird. Man überläßt ihr einfach das Gelände, auf dem sie sich angesiedelt hat, und denkt nicht daran, ihr irgend welche Pflege angedeihen zu lassen. Die Blätter werden zur Zeit der Reife im Mai und Juni meist noch durch Ausreißen mit den Händen, indem man sie zum festeren Anpacken um einen Stock wickelt, geerntet, getrocknet und, in Bündel gebunden, in den Handel gebracht. Die wichtigste Bezugsquelle ist Algerien, das aus dem über 400 km langen und 170 km breiten, in den Departements Oran und Algier gelegenen sogenannten Halfameer jährlich über 100 Millionen kg im Werte von 10 Millionen Mark bezieht. Nach ihm kommt Spanien mit etwa 48 Millionen kg und hernach Tunis und Tripolis mit immer zunehmenden Massen. Die Hauptmenge gelangt zur Papierfabrikation nach England, ein großer Teil wird nach Frankreich, hauptsächlich Marseille, verschifft,[S. 60] um zu grobem Packtuch, Matten, Körben und Seilerartikeln Verwendung zu finden. Wie in Nordafrika, so gelangt dieses Rohmaterial auch in Spanien zu einer sehr vielseitigen Verarbeitung. Unter den hier daraus verfertigten Gegenständen sind namentlich die dünnen aber starken, in den Bergwerken verwendeten Seile, sowie die sehr dauerhaften Sandalen zu nennen, die nicht bloß im eigenen Lande überall von der ärmeren Bevölkerung getragen, sondern auch in Menge exportiert werden.
Kein eigentliches Gras, sondern ein grasartiges Nixenkraut (Najadazee) ist das in wenig tiefem Wasser an den Küsten von Europa, Kleinasien, Ostasien und Nordamerika in dichten Beständen, wiesenartig weite Flächen bedeckend, wachsende Seegras (Zostera marina). Nach heftigen Stürmen werden oft sehr große Massen von ihm, zum Teil mit den Wurzeln, ausgerissen, bei abstillender See ans Land geschwemmt und hier zu ganzen Haufen aufgetürmt oder zu Kugeln geformt. Wie so manche andere Meergewächse hat es lange fadenförmige Pollen (Blütenstaub), die im Meere umhertreiben, bis sie von den Narben angezogen und festgehalten werden. Getrocknet dient es an Stelle der teuren Pferdehaare zum Stopfen und Polstern von Matratzen, Betten, Möbeln usw., daneben wird es auch verbrannt und zur Gewinnung von Soda benutzt.
Als vegetabilisches Roßhaar, Baumhaar, Caragate oder Tillandsiafasern kommen die durch Rotten im Wasser ihrer Hautgewebe entkleideten silberweißen, fadenförmigen, 0,5–1 m langen Luftwurzeln der als Greisenbart bezeichneten Bromeliazee Tillandsia usneoides in Form von schwarzbraunen, dem Roßhaar ähnlichen Fasern von 1 mm Dicke in den Handel, um ebenfalls an Stelle von Roßhaar zum Stopfen von Matratzen und Polstern von Möbeln, wie auch zum Verpacken von Glaswaren benutzt zu werden. Dieses als Überpflanze auf Bäumen lebende Ananasgewächs kommt im ganzen warmen Amerika von Argentinien bis Carolina in den Vereinigten Staaten vor und bedeckt in den Wäldern oft in ungeheuren Mengen weithin die Baumäste, indem es seine dunkeln, roßhaarähnlichen Zweige wie Bartflechten um sie spinnt und die die Nahrung und das Wasser aus der Luft an sich reißenden Luftwurzeln tief herabhängen läßt. Letztere werden neuerdings in Menge gesammelt und kommen besonders aus den Südstaaten Nordamerikas als Louisianamoos in den Handel.
In Westindien und Brasilien wird von dem unserem Seidelbaste nahe verwandten Strauche Funifera utilis, der vielfach zur Faser[S. 61]gewinnung angepflanzt wird, der einem Spitzengewebe ähnliche rahmweiße, als Spitzenrinde bezeichnete Bast zum Flechten von Frauenhüten, Kragen und anderen Gegenständen verwendet, während derjenige des in Ostindien auf trockenen, felsigen Hügeln wachsenden Strauches Marsdenia tenacissima aus der Familie der Asklepiadazeen oder Seidenpflanzengewächse als Jiti oder Rajmahalhanf viel gebraucht wird. Er ist nicht so kräftig wie unser Hanf, übertrifft ihn aber an Elastizität bedeutend. Seine häufigste Verwendung ist die zu Fischnetzen, denn dieser Faserstoff besitzt eine sehr große Widerstandsfähigkeit gegen Feuchtigkeit.
Ein anderer, grober Faserstoff ist der als Dunchi bezeichnete Bast eines südasiatischen, bis 2,4 m hohen Strauches Sesbania aculeata aus der Familie der Leguminosen, der in Indien und China auf nassem Boden und ohne Sorgfalt, die er auch nicht beansprucht, kultiviert wird. Bisweilen kommt er auch unter dem in Bengalen üblichen Namen Jayanti in den Handel.
Der Bast des auf Tahiti roa genannten strauchartigen Nesselgewächses Urtica argentea liefert die blendend weißen, glänzenden, zu Seilerartikeln und Luxusgegenständen verarbeiteten Roafasern, während die ebenfalls überall in Ozeanien anzutreffenden Schraubenpalmen Pandanus utilis (ursprünglich in Madagaskar zu Hause) und odoratissimus (deren wohlriechende, schon in den ältesten indischen Sanskritgedichten unter dem Namen kekata erwähnten Blüten mit Öl ausgezogen ein in Indien sehr geschätztes Parfüm liefern) die sehr zähen, zur Anfertigung von Matten und Seilen verwendeten Pandanusfasern liefert.
Häufig wird in verschiedenen Gegenden Ostindiens die daselbst heimische einjährige Hanfrose Hibiscus cannabinus angepflanzt. Diese bis 2,4 m hohe strauchartige Eibischart mit stacheligem Stengel liefert in den tief gelappten, säuerlich, etwas herb und schleimig schmeckenden Blättern ein von den Eingeborenen häufig gegessenes Gemüse, aus den Samen wird Brenn- und Speiseöl gepreßt, während der braune, rauhe Bast der Stengel, der schon in der Sanskritliteratur als nalika erwähnt wird, als geschätztes Spinn- und Flechtmaterial dient. Es ist dies der als indischer oder Gambohanf, der auch als Jute von Madras in allerdings mangelhafter Zubereitung in den Handel gelangt. Er ist weich und geschmeidig, weiß mit einem Stich ins Graugelbe, und besteht aus wenig glänzenden, feinen und gröbern, 10 bis 90 cm langen, aber nicht sehr festen Fasern. Obschon mehr dem[S. 62] Flachs und den besseren Hanfsorten als der Jute ähnlich, wird er auch Bastardjute genannt und bisweilen der Jute beigemengt. Obgleich die Hanfrose das ganze Jahr hindurch wächst, wird sie doch nur in der kühlen Jahreszeit gesät. Drei Monate danach steht sie in Blüte und muß dann zur Gewinnung des Bastes geschnitten werden.
Ihm sehr ähnlich und nicht selten unter seinem Namen gehend ist der von einer nahe verwandten Eibischart, Hibiscus sabdariffa, gewonnene Rosellahanf, dessen Hauptproduktionsgebiet die Präsidentschaft Madras in Südindien ist. Deren Blätter dienen als Salat, während die fleischigen Blütenkelche von angenehm säuerlichem Geschmack in Ostindien zur Bereitung von Gelee und Torten, in Westindien, wohin die Nutzpflanze neuerdings gebracht wurde und ebenfalls ziemlich häufig angepflanzt wird, auch als Bestandteil von kühlenden Getränken benutzt wird.
Eine noch sehr viel wichtigere Pflanzenfaser Ostindiens als die ebengenannten ist die Jute, die ihren Namen von dem schon im Sanskrit als djuta erwähnten indischen djut d. h. Faser erhielt. Zuerst wurde dieser in Indien seit den ältesten Zeiten verwendete Faserstoff durch den Engländer Dr. Roxburgh bekannt, der im Jahre 1795 an die Direktion der ostindischen Handelsgesellschaft in London einen Ballen Faserstoff sandte, den er als „Jute“ der Eingeborenen bezeichnete. Aber erst im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts fand dieses neue Flechtmaterial in England Beachtung, nachdem man um 1830 in Dundee begonnen hatte, es in der Technik zu verwenden. Die Jute wird von einer mit unsern Linden verwandten einjährigen Pflanze (Corchorus capsularis) gewonnen, die im feuchtwarmen Klima Bengalens heimisch ist und dort in großer Menge zur Bastgewinnung angepflanzt wird. Für Bengalen und teilweise auch das benachbarte Assam spielt diese Gespinstpflanze fast dieselbe Rolle wie die Baumwolle in den Südstaaten der nordamerikanischen Union. Die Jutepflanze wird 1,5–4,6 m hoch und gelangt in zwei Spielarten mit hellgrünen oder rötlichen Stengeln und Blattrippen zum Anbau. An den 2–4 cm dicken Stengeln sitzen gezähnelte Blätter und weißlich-gelbe Blüten in Trauben geordnet, die runzelige, kirschengroße, kugelige bis zylindrische Kapseln liefern. Man gewinnt die sehr festen Fasern von den vier Monate nach der im März stattfindenden Saat geschnittenen Stengeln, indem man sie von den Seitentrieben, Blättern und Stengeln befreit und in langsam fließendem Wasser einer leichten Fäulnis unterwirft. Schon nach einigen Tagen kann dann der Bast[S. 63] von dem leicht brechenden Holz und der übrigen Rinde befreit werden. Die besten Sorten sind weißlichgelb bis silbergrau, von seidenähnlichem Glanz, beim Anfühlen glatt und weich. Die schlechten Sorten sind bräunlich, hart und holzig. Die Jutefasern werden dann vermittelst hydraulischer Pressen in Ballen von 180 kg zusammengepreßt, von denen Bengalen allein jährlich 5,6 Millionen Stücke ausführt. Über Bombay gingen 1890 1500 Millionen kg derselben im Werte von 160 Millionen Mark hauptsächlich nach England, um speziell in Dundee zu gröberen Stoffen wie Decken, Portieren, Sofaüberzügen, aber auch Hemden verarbeitet zu werden.
Vor wenig mehr als einem Jahrhundert trug die ärmere Bevölkerung Bengalens noch ausschließlich aus selbst verwebten Jutefasern hergestellte Kleider, die aber als etwas grob mit der Einführung billiger europäischer Baumwollwaren mehr und mehr an Beliebtheit einbüßten. Dafür stieg ihre Wertschätzung in Europa. Da nun infolgedessen der Jutebedarf hier immer mehr steigt und die Juteproduktion Bengalens trotz ihrer beständigen Steigerung nicht genügt, so ist man bemüht, die Kultur der Jutepflanze auch anderwärts, so in Deutsch-Ostafrika, einzuführen, wo das von der Pflanze verlangte, gleichmäßig warme, feuchte Klima vorhanden ist und bei rationellerem Anbau, als er in Nordindien gebräuchlich ist, sehr gute Resultate zu erwarten wären.
Sehr nahe verwandt mit dieser Jutepflanze ist die in Südchina oder Hinterindien heimische Corchorus olitorius, ebenfalls eine einjährige, 1,5–3 m hohe Pflanze mit gelben Blüten, die sich frühzeitig[S. 64] als Gemüsepflanze in Indien verbreitete. Sie kam dann später durch die Perser nach Vorderasien und durch die Araber etwa zu Beginn der christlichen Zeitrechnung nach Syrien und Ägypten und wird jetzt noch im östlichen Mittelmeergebiet, wie auch in den Tropen der ganzen Welt als Gemüsepflanze gebaut, während die Kultur dieser Art als Faserpflanze auf Bengalen beschränkt blieb.
Ein ebenfalls sehr wichtiger südasiatischer Faserstoff ist die Ramie, im malaiischen Archipel so genannt. Unter diesem Namen lernten sie die Holländer in Java, wo sie schon lange in ziemlicher Menge produziert wird, kennen und vermittelten sie den übrigen Völkern Europas. In Indien heißt der Faserstoff rhea und in China tschu-ma. Die seidenglänzenden, geschmeidigen, auffallend starken Fasern wurden schon seit undenklichen Zeiten in Indien, Siam, Kambodscha, Cochinchina, Südchina, Japan und der ganzen südasiatischen Inselwelt zu allerlei Geweben, vom groben Segeltuch und Fischnetz bis zum eleganten, feinen als Kantonseide oder Seersucker in den Handel gelangenden Tuch, verarbeitet. Der erste Ballen davon kam 1810 nach England. Er wird von einer 1,9–2,3 m hohen, ausdauernden, nicht brennenden Nessel Ostasiens (Boehmeria tenacissima) gewonnen. Ein Wurzelstock der Pflanze treibt bis zu 15 Stengel aus mit ziemlich spärlichen, wolligen Blättern. Die Ernte erfolgt, sobald die Oberhaut der Stengel dunkelbraun geworden ist. Die Fortpflanzung geschieht durch Wurzelausläufer oder Stecklinge; die Pflege der in Reihen gestellten Pflanzen beschränkt sich auf Lockerung und Reinhaltung des Bodens von Unkraut. Sie wird hauptsächlich in China, Japan, den Philippinen, Indien und im Süden der Vereinigten Staaten angebaut. Das Rohmaterial für die besonders in Frankreich, dann auch in[S. 65] Deutschland (Emmendingen) und in der Schweiz etablierten europäischen Ramiespinnereien wird ausschließlich aus China bezogen.
Nicht minder häufig wird das von der nahe verwandten Boehmeria nivea gewonnene Chinagras in ganz Ostasien, Indien und den Sundainseln angepflanzt. Die durchschnittlich 1,5 m hohe Pflanze ist ebenfalls ausdauernd und wird durch Wurzelstöcke vermehrt; sie besitzt auf der Unterseite weißlich gefärbte Blätter. Unter günstigen Bedingungen in den Tropen sind die in Mehrzahl aus einem Wurzelstock hervorgehenden Stengel in 3–4 Monaten schnittreif und können daher zwei- bis dreimal im Jahre geerntet werden. Sie liefern einen gelblichen Bast, der gleicherweise einer leichten Verwesung unterworfen wird, bevor man ihn nach England, wohin er vorzugsweise gelangt, zu „Grasleinen“ verarbeitet, aus welchem man außerordentlich dauerhafte gröbere und feinere Gewebe herstellt. Chinas Ausfuhr davon beträgt durchschnittlich 11 Millionen kg jährlich, wovon Deutschland etwa 600000 kg im Wert von über 400000 Mark einführt.
Alle Nesseln enthalten sehr feste Bastzellen in ihren Stengeln, weshalb man sie früher, bevor man die besseren ausländischen Faserstoffe einführte, auch bei uns als Gespinstpflanzen schätzte und sogenanntes „Nesseltuch“ daraus herstellte. Einer der größten Gelehrten des Mittelalters, Albertus Magnus (eigentlich Graf von Bollstädt, 1193–1280), ist der erste, der die gemeine Brennessel (Urtica urens) als Gespinstpflanze erwähnt. Er nennt sie mit Flachs und Hanf zusammen, fügt aber hinzu, daß Nesselgewebe auf der Haut Jucken verursache, was flächsenes und hänfenes nicht tue. Neuerdings ist es nun einer Wiener Firma gelungen, auf einfache, billige Weise die Brennessel zu einer vorzüglichen Weberfaser zu verarbeiten. Aus 100 kg Nesseln werden 13 kg Fasern von sehr guter Qualität im Werte von 9 Kronen gewonnen. Da sie die Festigkeit der Bastfasern und die Geschmeidigkeit der Baumwolle besitzen, kann dieses billige inländische Material, das aus dem an sonst für Kulturpflanzen unbenützbaren Orten wachsenden Unkraut gewonnen wird, ganz gut mit der ausländischen Ramie konkurrieren.
Gleicherweise wurde einst aus dem 1–1,25 m hohen Stengel der wildwachsenden Malve (Malva officinalis) oder weißen Pappel (mittelhochdeutsch papele) eine Gespinstfaser gewonnen, die nach dem Zeugnisse von Papias und Isidor, dem Bischof von Sevilla (gestorben 636), auch zur Herstellung von Kleidern verwendet wurde. Deren Blüten geben eine weinrote Farbe, und wenn daher der um 800 v. Chr.[S. 66] lebende Franke Angilbert von der Tochter Karls des Großen Gisala berichtet, sie habe in einem malvenen Kleide geprangt, so kann damit sowohl der Stoff, als die Farbe gemeint sein. Immerhin ist es wahrscheinlich, daß der Stoff des Gewandes aus Malvenfasern bestand.
In vorgeschichtlicher Zeit und im frühen Altertum trug man auch bei uns in Europa aus Baumbast verfertigte Kleider. So berichtet der ums Jahr 50 n. Chr. lebende römische Geograph Pomponius Mela, der uns eine Erdbeschreibung hinterließ, daß die Germanen teils Wollmäntel, teils solche aus Baumbast trugen. Und wenn diese Sitte auch nicht mehr aus späterer Zeit bezeugt ist, so hat doch die Sprache wenigstens unverstandene Erinnerungen an den alten Brauch bewahrt. Der Bast wurde vornehmlich von der Linde genommen, wie die noch spät vorkommende Doppelbedeutung des Wortes lint als Lindenbaum und Bast zugleich lehrt; und wenn altnordisch lind der Gürtel bedeutet, so ist dieser eben in den ältesten Zeiten aus Lindenbast hergestellt gewesen, wie gleicherweise eine noch späte Glosse (Erklärung eines dunkeln, veralteten Wortes) limbus bast auf alte Verwendung dieses Stoffes zu Kleiderbesatz und ein Zeitwort basten, d. h. schnüren, nähen, flicken, auf die Anwendung von Bastfaden in der Vorzeit deutet. Noch heute ist dieses Wort als basteln für sorgfältiges Verrichten von irgendwelcher feiner Handfertigkeit bei uns gebräuchlich. Zudem weisen auf die alte Technik des Bastflechtens, die uns schon bei den neolithischen Pfahlbauern der Schweiz in hoher Vollendung und in den mannigfaltigsten Produkten wie Mänteln, Matten, Körben usw. entgegentritt, zwei Wörter hin, die später gleichbedeutend mit weben wurden, aber ursprünglich nur das enge Zusammenfügen und Verschlingen der groben Baststränge gemeint haben können, nämlich[S. 67] dringen für das Drehen und feste Anlegen des Flechtmaterials, wie noch mehrere alte Belege verraten, später im Sinne zwischen Flechten, Wirken und Weben schwankend, und briden für Zwängen, Zusammenfassen, das im Mittelhochdeutschen aber sowohl für das Netzflechten, als für das Bortenwirken und Stoffweben gebraucht wurde.
Den Baumbast als Flechtmaterial hat später die Leinfaser, und diese dann zum größten Teil die Baumwolle verdrängt, welche heute das am meisten benutzte Gespinstmaterial ist und deshalb wegen ihrer ungeheuren Bedeutung für die heutige Menschheit in einem besonderen Abschnitt gewürdigt werden soll. Sie ist aber durchaus nicht die einzige technisch verwendete Pflanzenwolle. Eine solche liefern uns verschiedene Wollbäume, die in den tropischen Wäldern der ganzen Erde wachsen; sie kann aber wegen ihrer Sprödigkeit und der geringen Länge ihrer Fasern kaum versponnen werden und wird deshalb seit langem von den betreffenden Eingeborenen als Polstermaterial verwendet.
Die gebräuchlichste Pflanzenwolle außer der Baumwolle ist die Seidenbaumwolle, im Sudan Kapok genannt. Sie stammt vom Seidenwollbaum (Ceiba pentandra), der nicht nur in Afrika überall wächst, sondern auch in Brasilien, dann in ganz Südasien und Indonesien, vorkommt. Hier pflanzen ihn die Eingeborenen nicht, da sie ihren Bedarf an Seidenwolle von den wilden Beständen decken können. Dagegen wird der Kapokbaum außer in Ostafrika in besonders ausgedehntem Maße in Niederländisch-Indien, speziell Java, und neuerdings auch auf Neuguinea als Nebenkultur auf Kaffee- und Teeplantagen, als Stützbaum für Pfeffer und Vanille oder als Schattenbaum zur Einfassung von Straßen an Wegrändern in etwa 5 m Abstand von den Europäern angepflanzt. Er ist ein fast im ganzen Tropengürtel verbreiteter großer Baum aus der Familie der Bombazeen mit starkem, geradem Stamme und breiten, oberirdischen Brettwurzeln, aber sehr weichem, von den Eingeborenen zu Kähnen ausgehöhltem Holz, dessen Rinde bei jungen Bäumen mit starken Stacheln besetzt ist, handförmig geteilten Blättern und in Büscheln angeordneten, ziemlich großen, weißen Blüten. Die Frucht ist eine 15 cm lange und 6 cm dicke, länglichrunde, gurkenähnliche, holzige, fünffächerige, braune Kapsel, welche in fünf Klappen aufspringt. Darin sind die Samen in kugelige Bäusche von weißen, seidenglänzenden Fasern eingebettet, welche sich beim Öffnen der Frucht ausbreiten und zu deren Verbreitung durch den Wind beitragen. Und zwar geht diese seidige Wolle nicht wie die der Baumwolle von den Samen, sondern von der[S. 68] inneren Fruchtwand aus, sie ist also keine Samenwolle, sondern ein Gewebe der Fruchtkapsel.
Da der Kapokbaum keinerlei Pflege beansprucht und in jedem Boden, im Tieflande, wie in Höhenlagen bis 1000 m gedeiht, so ist seine Kultur eine sehr einfache. Er verträgt reichliche Niederschläge und entwickelt sich, wo ihm solche geboten werden, besonders üppig; aber er nimmt auch mit spärlicherem Regenfall vorlieb und übersteht auch längere Trockenzeiten verhältnismäßig gut. Er kann leicht durch Stecklinge, wie auch durch Samen vermehrt werden und wächst sehr rasch. Im 4. Jahre wird er zuerst tragbar, bringt aber selten vor dem 6. Lebensjahre größere Erträgnisse. Ein großer Kapokbaum bringt jährlich 1000–1500 Wollkapseln zur Reife, die 1–1,5 kg reine Pflanzenwolle ergeben. Wenn die Wollkapseln sich zu öffnen beginnen, werden sie geerntet, indem sie mit langen Bambusstangen, an denen sich oben ein Häkchen befindet, gepflückt werden. Man läßt sie dann auf einer reinen Unterlage in der Sonne nachreifen, so daß sie sich ganz öffnen. Dann wird die Seidenbaumwolle zugleich mit den Samen durch Frauen und Kinder aus der Fruchtkapsel herausgenommen. Nachdem diese im Verlauf eines oder einiger Tage an der Sonne völlig ausgetrocknet ist, wird sie entkernt, was früher von Hand geschah, neuerdings aber durch Maschinen, wie sie zur Entkernung von Baumwolle dienen, besorgt wird. Das wichtigste Erzeugungsgebiet für Kapok ist Niederländisch-Indien, und zwar speziell Java, das jährlich etwa 5 Millionen kg in den Handel bringt. Der Hauptmarkt Europas dafür ist Amsterdam, wo das Kilogramm nicht unter 1 Mark zu haben ist.
Dem Kapok ähnlich, nur braun statt weiß, ist die Wolle der verwandten Ochroma lagopus, ebenfalls eines großen Baumes mit gelappten Blättern und an den Enden der Zweige stehenden großen Blüten. Die ganz analog gebauten Früchte sind 20 cm lang und 5 cm dick. Die Wolle dieser beiden Bombazeenarten eignet sich wegen ihrer Glätte und Kürze nicht zum Spinnen, gibt aber ein ausgezeichnetes Polstermaterial für Möbel, Matratzen, Kissen u. dergl., wird aber auch, da äußerst leicht, zur Herstellung von Schwimmgürteln und Rettungsringen benutzt. Gepreßter Kapok trägt nämlich das 36fache seines Gewichtes. Neuerdings findet er auch in der Chirurgie statt Baumwolle Verwendung.
Die Samen vieler Pflanzen, z. B. des allbekannten Löwenzahns, sind mit einem Haarschopf versehen, um vom Winde möglichst weit weg[S. 69]getragen zu werden. Manche dieser Haarschöpfe bestehen aus langen, seidigen Haaren, die bisweilen als Pflanzenseide in den Handel kommen. In Westindien und Südamerika wird solche Seide von Asclepias curassavica gewonnen. Eine Strophantusart Senegals liefert eine rötlichgelbe, feine Seide. Die beste Pflanzenseide aber, die merkwürdigerweise am wenigsten zur Verwendung gelangt, wird in Indien aus den Samenhaaren von Beaumontia grandiflora gewonnen. Sie ist nicht nur rein weiß und prächtig glänzend, sondern auch beinahe so fest wie Baumwolle, während sich sonst die Pflanzenseide gerade durch ihre Brüchigkeit in Mißkredit setzt. Die einzelnen Samenhaare sind bis 5 cm lang und lassen sich leicht vom Samen abtrennen.
Während diese Seidenpflanze ungerechtfertigterweise so wenig beachtet wird, ist eine andere Seidenpflanze, die aus Nordamerika stammende Asclepias syriaca, eine unglückliche Liebe aller Produzenten, an die immer wieder fruchtlose Spinnversuche verwendet werden, obgleich die Unbrauchbarkeit der Faser zu Textilzwecken schon längst erwiesen ist. Die unselige Pflanze, die auch als Zierpflanze in unseren Gärten wächst, hat wohl ziemlich lange, schön glänzende Samenhaare in ihren Balgkapseln, aber deren Brüchigkeit ist so groß, daß die Faser für sich überhaupt nicht versponnen werden kann. Mit Baumwolle zusammen versponnen, fällt die trügerische Seide beim ersten Waschen aus dem Gewebe heraus. Nicht einmal zur Herstellung von Schießbaumwolle ist sie geeignet, da sie nicht schnell genug abbrennt und zudem noch viel zu viel Asche enthält.
Groben Pflanzenbast, den man für die Herstellung von Besen, Pinseln, Bürsten u. dgl. mehr verwendet, liefern eine ganze Anzahl von Palmen in der Piassavefaser. Es ist dies ein aus dem spanischen piaçaba verändertes Wort für die Fasern der südamerikanischen Piassavepalme (Attalea funifera), die zuerst in den Handel kamen; doch erhält man heute solche Piassave auch von anderen Palmenarten, wie von der westafrikanischen Weinpalme (Raphia vinifera), von der Palmyra- und der Kitulpalme auf Ceylon (Borassus flabellifer und Caryota urens) und von der madagassischen Palme Dictyosperma fibrosum. Sie besteht aus den oft mehr als 1 m langen, festen, bis bindfadendicken, rotbraunen oder dunkelfarbigen Strängen, welche in großer Zahl am Stamme dieser Palmen entspringen und entweder aufgerichtet sind oder mit ihren Enden herabhängen, wobei sie den betreffenden Palmstämmen ein überaus charakteristisches Aussehen verleihen. Diese höchst eigenartigen Gebilde sind nichts anderes, als die äußerst wider[S. 70]standsfähigen Leitbündel (Blattadern) der Blattscheiden und Blattstiele, welche auch nach dem Absterben und der Verwesung der Blätter am Stamme erhalten bleiben.
Die südamerikanische Piassavepalme wird nirgends kultiviert, sondern die Faser wird ausschließlich von wildwachsenden Bäumen geerntet. Sie wächst in ganzen Hainen vorzugsweise auf sandigem Boden, ist stammlos, mit großen, dickstengeligen Blättern, an deren Basis die von den abgefallenen Blättern stehen gebliebenen, zerschlitzten, festen Leitbündel eine Hülle von groben Borsten bilden. Nach dem Ablösen wird die Masse zuerst einige Tage in Wasser aufgeweicht, bis das noch daran hängende weiche Gewebe abgefault ist; darauf werden die Fasern getrocknet, gereinigt, gehechelt, in bestimmte Länge geschnitten und nach der Qualität sortiert. Die Piassavepalmenbüsche liefern je 5–10 kg Fasern jährlich und bleiben bei schonender Behandlung bis 30 Jahre lang ertragsfähig. Die Piassave dient zur Herstellung von Besen, Bürsten und Seilerwaren. Zur Zeit der alten Kolonialherrschaft betrieb die portugiesische Regierung die Herstellung dieses Erzeugnisses des Landes Brasilien als Monopol, das für sie sehr einträglich war. Denn außer der Piassave erzeugt die Palme eine große Anzahl nußartiger Früchte, die dicht über dem Erdboden erscheinen und die Größe eines Truthuhneis erreichen. Diese sogenannte Coquilhonüsse finden zur Fabrikation von Knöpfen, Rosenkranzperlen, Zigarrenspitzen usw. Verwendung. Außerdem gewinnt man von ihnen ein wertvolles Schmieröl, das besonders für Uhren und ähnliche feine Mechanismen geeignet ist. Hauptexporthafen der Erzeugnisse der Piassavepalme ist Bahia nördlich von Rio de Janeiro, das jährlich etwa 140000 kg Fasern und 60000 kg Nüsse exportiert.
Den besonders von den Gärtnern als geschmeidiges und dennoch sehr starkes Material zum Binden ihrer Pfleglinge an Stützen verwendete Raphiabast gewinnt man von der an der ostafrikanischen Tropenküste und auf Madagaskar wachsenden Raphia ruffia. Es ist dies eine hohe Palme mit 10–15 m langen Blättern, deren Fiedern oft 2 m lang werden. Sie sind von mächtigen, mit den Epidermiszellen eng verwachsenen Bastrippen durchzogen, die sich mit der Epidermis (Oberhaut) in Streifen abziehen lassen. Man schneidet die jüngeren Blätter ab, wenn sie im Begriffe stehen sich zu entfalten, entfernt die Mittelrippen der Fiedern und zieht die Epidermis zuerst von der Unterseite, dann von der Oberseite ab. Die erhaltenen 7–9 mm breiten und 1–2 m langen sandfarbenen Streifen werden[S. 71] an der Sonne getrocknet. So erhält man einen hellgelben, zähen und geschmeidigen Bast von höchst bedeutender Zerreißungsfestigkeit, der zu allerlei Flechtwerk und in der Gärtnerei als Material zum Binden und Okulieren benutzt wird. Einzig gegen Feuchtigkeit ist er empfindlich. Den besten Raphiabast liefert Madagaskar. Er wird in solcher Menge von dieser Insel ausgeführt, daß man sich genötigt sah, die Ausfuhr durch ein Gesetz zu beschränken, um einer Ausrottung der Palme vorzubeugen. Die westafrikanischen Raphiaarten liefern zwar auch Raphiabast, doch zerfasert dieser leichter als der ostafrikanische.
Technisch noch wichtiger als die eben genannten Faserstoffe ist die im Handel als Coïr bezeichnete Kokosnußfaser, die aus den äußerst zähen und unverwüstlichen Leitbündeln besteht, welche in einer etwa zwei Finger dicken Schicht die sehr hartschalige eigentliche Kokosnuß mit drei Löchern an der Spitze umgiebt. Man gewinnt sie in allen Ländern, welche Kokospalmen ziehen, so vor allem an den Küsten Indiens und der indonesischen Inselwelt, als Nebenprodukt bei der Gewinnung der als Kopra bezeichneten getrockneten, fetthaltigen Kerne, indem man nach dem Öffnen der Nüsse die Faserschicht abschält und sie zur Isolierung der Fasern im Wasser einer leichten Fäulnis aussetzt, ein Prozeß, der zwischenhinein zur Beförderung der Ablösung derselben durch Klopfen mit hölzernen Hämmern unterbrochen wird. Merkwürdigerweise erhält man bei Anwendung von fließendem Wasser ein schöneres und helleres Material als in stehendem Wasser. Auch der Salzgehalt desselben hat einen Einfluß, indem die Fasern bei zunehmendem Salzgehalt dunkler rot werden. Tausend Kokosnüsse ergeben bis 60 kg feine, zu Stricken und Tauen und zur Herstellung von Matten, Läufern, Teppichen usw. verwendbare und bis 12 kg dicke, kürzere Fasern, aus denen man vorzugsweise Bürsten und Pinsel verfertigt. Dieser Coïr ist entschieden die für gröbere Geflechte wichtigste Pflanzenfaser, von der die Insel Ceylon allein etwa 70 Millionen kg jährlich ausführt. Obschon außerordentlich fest, ist er dennoch sehr leicht und gegen Wasser äußerst widerstandsfähig. Daraus verfertigte Taue und Stricke sehen zwar nicht so schön aus wie hänfene, nehmen auch keinen Teer an, aber sie schwimmen auf dem Wasser und sind fast unverwüstlich, weshalb sie sich namentlich zu Ankertauen sehr eignen. Für feinere Geflechte wird der Coïr an der Sonne oder durch schwefelige Säure gebleicht.
Die harte Steinschale der Kokosnuß, die nicht nur von den Eingeborenen zu allerlei Gefäßen und Schöpflöffeln, sondern wegen ihrer[S. 72] Festigkeit und Dauerhaftigkeit in der ganzen Kulturwelt eine ausgedehnte Verwendung für Drechsler- und ähnliche Arbeiten gefunden hat, verspricht in der Zukunft den Coïr noch an Bedeutung zu übertreffen. Auf der Suche nach einem Stoff, der besser und nachhaltiger als Wasser, das seine radioaktiven Eigenschaften außerordentlich schnell verliert, zur Aufspeicherung der Radiumemanation für ärztliche Zwecke dienen kann, hat vor zwei Jahren ein amerikanischer Gelehrter, Rutherford, gefunden, daß die aus der Kokosnuß hergestellte Kohle die gasförmige Ausstrahlung des Radiums, Thoriums oder Aktiniums ausgiebig aufzuschlucken und durch längere Zeit festzuhalten vermag. Auf diesem Ergebnis hat Dr. Shober in Philadelphia weitere Forschungen aufgebaut, die ergaben, daß Kokosnußkohle dreihundertmal so radioaktiv ist als das Wasser und diese Eigenschaft wenigstens zwei Wochen lang ganz beibehält. Die Herstellung der Radiumkokoskohle ist sehr einfach und wenig kostspielig, da bei deren Bestrahlung nichts von den kostbaren Radiumpräparaten verloren geht. Sie ist ein vollkommen neutraler Stoff, der bei der innerlichen Darreichung absolut harmlos und dennoch für manche Krankheitszustände sehr wirksam ist, so daß dieser Umstand, nunmehr auf einfache und billige Weise Radiumpräparate herzustellen, die Anwendung derselben in der Medizin ganz außerordentlich erleichtert.
Außer diesen erwähnten Bastarten dienen die getrockneten und zerschlitzten Blätter der verschiedensten Palmen- und Pandanusarten den Eingeborenen zu den mannigfaltigsten Flechtereien in Form von Matten, Körben usw. In ganz Südasien, Madagaskar und der Inselwelt des Stillen Ozeans finden wir besonders Pandanus odoratissimus teils wild, teils angebaut. Dieser palmenartige Strauch, dessen 3–5,5 m hoher Stamm stelzenartig auf zahlreichen Luftwurzeln ruht, hat seine 1 m langen, starren, schwertförmigen Blätter in schöner Schraubenlinie gestellt und trägt hängende, zapfenartige Blütenstände, die ihres Wohlgeruches wegen in den Wohnungen aufgehängt werden. Die mit einem Stein weichgeklopften Früchte geben einen aromatischen Saft und liefern auf vielen Inseln, gebacken, ein würziges Volksnahrungsmittel, das aber meist nur gegessen wird, wenn Mangel an Brotfrucht herrscht. Die Blütenknospen und der untere Teil der Blätter werden als Gemüse verspeist und aus den Fasern der Blätter werden Matten, Segel, Schürzen, Körbe u. dgl. mehr geflochten. Gleicherweise wird Pandanus utilis auf die mannigfaltigste Weise ausgenutzt; auch dessen mandelartige Fruchtkerne werden gegessen.
Wichtiger als sie ist für uns Europäer die südamerikanische strauchartige Panamapalme (Carludovica palmata), aus deren noch jungen, zusammengefalteten Blättern die nicht nur auf dem ganzen amerikanischen Festlande und in Westindien, sondern neuerdings auch bei uns so beliebten Panamahüte geflochten werden. Es ist dies eine bloß 2–3 m hoch werdende Palme, die in Kolumbien, Ekuador und Peru wild wächst und nicht kultiviert wird. Um ein möglichst weißes Material zu erzielen, werden die in den Wäldern gesammelten, unentfalteten Blätter zunächst kurz in heißes Wasser getaucht, dem der Saft einiger Zitronen beigemischt wurde, dann werden sie, nachdem sie aller Rippen und gröberen Fasern beraubt sind, zunächst im Schatten und dann in der Sonne getrocknet und mit dem Nagel des rechten Daumens in ganz schmale Streifen zerschlitzt, um zu Körbchen, Zigarrentaschen usw., besonders aber zu Hüten geflochten zu werden. Der überaus hohe Preis dieser sogenannten Panamahüte ergiebt sich nicht sowohl aus der Schwierigkeit, als aus der Langwierigkeit ihrer Herstellung. Bei täglich sechsstündiger Arbeitszeit braucht ein Arbeiter zum Flechten eines gewöhnlichen 4 Mark-Hutes 6–7 Tage. Ein Hut im Wert von 5 bis 12 Mark beansprucht bereits 14 Tage, ein feiner, etwa 100 Mark kostender sogar 6 Wochen Arbeitszeit. Am feinsten, leichtesten und schönsten gearbeitet sind diejenigen von Montecristi, die auch von allen die berühmtesten sind. Die gewöhnlichen derselben kosten 10–16, die halbfeinen 20–30 und die feinen 40–200 Mark, ja noch mehr. Von gleichfalls sehr guter Qualität sind die Hüte von Santa Elena, die zwar nicht so fein, aber durch regelmäßiges, festes Flechtwerk, fein geschlungenen Rand und rein weißes Material in hohem Maße ausgezeichnet sind. Da sie über Panama exportiert werden, nennt man sie so, obschon sie nicht dort hergestellt werden.
Weiter kommen für uns noch die Faserstoffe in Betracht, die der Papierfabrikation dienen. Wie die Mexikaner bei der Eroberung ihres Landes durch Fernando Cortez im Jahre 1519 außer Baumwolle die Fasern der Agave als Material für Kleidungsstoffe, Papier, Bindfaden und Stricken benutzten, so bedienten sich die Hindus zum Schreiben ihrer heiligen Bücher der Palmblätter und teilweise auch eines aus Birkenrinde verfertigten Papieres, während das uralte Kulturvolk der Chinesen anfänglich Tafeln aus Bambusrohr, später Seide und Papier aus der Rinde des Papiermaulbeerbaums und zuletzt aus Baumwollumpen angefertigtes Büttenpapier zum Schreiben gebrauchten. Der in China heimische, durch schöne, große Blätter ausgezeichnete Papier[S. 74]maulbeerbaum (Broussonetia papyrifera) wird gegenwärtig in größtem Maßstabe auch in Japan, China und auf vielen Inseln des großen Ozeans nach Art der Weiden kultiviert, weil die Innenrinde der zweijährigen Zweige das Material zu den außerordentlich schönen, festen und haltbaren chinesischen und japanischen Papieren gewährt, deren Festigkeit gestattet, sie wie gewebte Zeuge zu Regenschirmen, Zimmerwänden, Taschentüchern usw., ja, mit Öl getränkt, sogar zu wasserdichten Kleidungsstücken und statt Fensterglas zu verwenden. Es ist dies ein Milchsaft führender Baum von 9–12,5 m Höhe mit süßlich schmeckenden, fleischigen Beeren, die überall in Ostasien gern gegessen werden.
Die alten Ägypter aber bedienten sich zur Herstellung ihres Papieres der Stengel der Papyrusstaude (Cyperus papyrus), die diesem Produkt überhaupt den Namen gab. Es ist dies eine ursprünglich im tropischen Afrika heimische Sumpfpflanze, deren dreikantige, fingerdicke Halme 5 m hoch werden und an ihrer Spitze eine Kugel von hunderten, strahlenförmig auseinanderschießenden, dünnen Zweigen mit den Blättern und Blütenrispchen tragen. Sie wächst in allen Flüssen des tropischen Afrika in ungeheuren Mengen und beteiligt sich an der Bildung der Pflanzenbarren, welche den Lauf der größeren Ströme zuweilen verstopfen und die so undurchdringlich sind, daß Reisende auf Dampfschiffen, die von ihnen eingeschlossen wurden, kaum mehr loskommen konnten und der Gefahr des Verhungerns ausgesetzt waren.
Einst wuchs der Papyrus im alten Ägypten in Menge wild und wurde bei dem zunehmenden Bedarfe seiner Stengel auch angebaut, besonders in den zahlreichen Kanälen, die das sonst dürre, weil regenarme Land durchzogen. Heute ist er aus diesem Lande gänzlich verschwunden und ist erst wieder in Nubien am Oberlaufe des Nils und seiner Zuflüsse zu treffen, wo er mit dem Ambatsch (Herminiera elaphroxylon), einem bis 7 m hohen Hülsenfrüchtler mit wundervollen Blüten, dessen Holz ungemein leicht und schwammig ist, so daß die Eingeborenen ihre floßartigen Fahrzeuge daraus verfertigen, und der Pistie (Pistia stratiotes), einer Wasserlinse von riesigen Ausmessungen, jene erwähnten undurchdringlichen Pflanzenbarren bildet.
Die alten Ägypter bauten aus den Stengeln des Papyrus ebenfalls floßartige Fahrzeuge. In einem solchen fuhr nach der altägyptischen Sage die Göttin Isis über die Lotosblumen, weshalb auch die Krokodile einem jeden Papyrusnachen mit heiliger Scheu ausweichen sollten. Wenn nun der jüdische Prophet Jesaias, der seit 740 v. Chr.[S. 75] in Jerusalem wirkte, ein „Wehe“ über das Volk, das in Fahrzeugen von Papyrusschilf fährt, ausruft, so ist das ein Beweis, daß diese altägyptische Sitte den Völkern des Altertums wohl bekannt war. Auch Stricke und Taue wurden damit hergestellt. So wird schon in der Odyssee ein Tau aus Papyrusbast (býblos) erwähnt, und der griechische Geschichtschreiber Herodot meldet uns, daß, als der persische König Xerxes, der seinem Vater Dareios 485 v. Chr. nachfolgte und vier Jahre darauf mit einem Heer von einer Million Mann und einer Flotte von 1200 Schiffen zur Unterjochung Griechenlands aufbrach und zur Übersiedelung seines Heeres nach Europa eine Schiffbrücke über den Hellespont schlagen ließ, zum Befestigen der Schiffe Leinen- und Papyrustaue verwendet wurden. Auch Körbe, Matten, Segel und andere Geflechte wurden in Ägypten aus Papyrus angefertigt, ebenso Sandalen, die zu benützen den ägyptischen Priestern ausschließlich erlaubt war. In einem Korbe aus Papyrus setzte jene Jüdin nach dem Berichte im Alten Testament ihr erstgeborenes Kind, das Mosesknäblein, in einem Papyrusdickicht am Nile aus, wo er von der ägyptischen Prinzessin aufgefunden und an Sohnes Statt angenommen wurde. In der Heilkunde brauchte man den Papyrusbast zum Anlegen von Bandagen und zum Trocknen und Erweitern von Fisteln.
Aus dem Mark der Pflanze stellte man Lampendochte her. Die Asche dieser Pflanze galt mit Wein eingenommen als Schlafmittel und sollte, in Wasser aufgeweicht, Schwielen heilen. Die fleischigen Grundachsen des Papyrus bildeten, wie wir früher sahen, ein wichtiges Volksnahrungsmittel. Mit den pinselartigen Blütendolden schmückte man die Tempel der Götter und flocht Kränze für deren heilige Bildsäulen, wie für die zu ehrenden Könige. Plutarch erzählt, daß, als der König Agesilaos von Sparta, einer der berühmtesten Feldherrn des Altertums, nach verschiedenen Siegen über die Perser und Thebaner 361 einen Zug nach Ägypten unternahm, er sich über einen ihm als Zeichen besonderer Verehrung überreichten Papyruskranz so gefreut habe, daß er sich beim Abschied vom Könige Ägyptens einen zweiten solchen erbat. Der um 200 n. Chr. in Alexandreia lebende Grieche Athenaios aus Naukratis in Ägypten verspottete allerdings diejenigen, die Rosen in einen Kranz von Papyrus einflechten; er fand dies ebenso lächerlich, als wenn jemand Rosen zu einem Kranze von Knoblauch verwenden wollte.
So zahlreich auch die Verwendung der Papyrusstaude im alten Ägypten war, so bestand doch späterhin ihre Hauptbedeutung darin,[S. 76] daß aus ihr das allgemein gebräuchliche Schreibmaterial gewonnen wurde. Heute noch lebt ihr Name in unserer Bezeichnung dafür: Papier fort. Dieses Schreibmaterial, dessen sich schon die Priester der ältesten ägyptischen Dynastien zum Aufschreiben ihrer Mitteilungen und Gebete in heiligen Schriftzeichen, den Hieroglyphen, bedienten, wurde in folgender Weise bereitet: Die schwammigen, dreikantigen Stengel wurden in meterlange Stücke geschnitten, der Länge nach gespalten und die einzelnen hautartigen Schichten von innen, wo die feinsten Fasern lagen, nach außen vermittelst einer Nadel in dünnen Streifen abgezogen, die zuerst ausgewaschen und dann mit Beigabe von etwas Klebstoff — meist Kleber — auf Bretter ausgebreitet wurden, und zwar schichtenweise zuerst neben- und dann übereinander. Hierauf wurde die Masse durch Schlagen mit Hämmern gepreßt, getrocknet und schließlich mit einer Muschel oder einem größeren Tierzahn geglättet. Selbst der beste, durch Benetzen und Ausbreiten an der Sonne gebleichte Papyrus war gelblich und gerippt, nicht glatt. Man erkannte an ihm deutlich die quer übereinander gelegten Fasern. Gewöhnlich wurde mit der aus Ölruß mit Wasser und arabischem Gummi hergestellten Tinte nur auf einer Seite geschrieben, da die Farbe durchschlug. Um den zerbrechlichen Stoff nicht zu knicken, wurde er gerollt und in einer Leinwandhülle aufbewahrt, die wohl auch mit Pech überzogen war, um den Inhalt vor Feuchtigkeit zu schützen.
Die Papierfabrikation ist in Ägypten eine uralte Kunst, die bereits im alten Reiche zu hoher Blüte gelangt war. Im Grabe des Ptah hotep aus der Zeit der 5. Dynastie (2750–2625 v. Chr.) finden wir eine interessante Darstellung der Papyrusernte. Am Nil, dessen Ufer mit einem prächtigen Flor von Lotosblüten mit Knospen und Blättern eingefaßt ist, durch den sich träge ein Krokodil bewegt, sehen wir wie die Papyrusstauden geschnitten und in dicken Bündeln auf den Rücken von Männern zur Bearbeitung fortgetragen werden. Aber erst aus[S. 77] römischer Zeit haben wir eine ausführliche Beschreibung der Papierbereitung daraus durch den älteren Plinius (23–79 n. Chr.), der verschiedene Sorten Papier (charta) beschreibt. „Das feinste Papier aus den innersten Schichten der Papyrusstengel“, sagt er, „hieß in alter Zeit das hieratische und wurde nur zu heiligen Schriften gebraucht. Aus Schmeichelei nannte man es später Augustuspapier. Eine zweite, etwas weniger feine Sorte heißt nach des Augustus Gemahlin Livia das livianische Papier und erst die dritte heißt das hieratische Papier. Die nächstfolgende, aus noch weiter außen befindlichen Schichten der Papyrusstengel bereitete Sorte heißt die amphitheatrische. Aus dieser stellt Fannius in Rom ein so vortreffliches Papier her, daß das Erzeugnis seiner Fabrik fürstliches Papier heißt. Eine geringere Qualität aus noch weiter außen befindlichen Schichten der Papyrusstengel heißt die saitische nach der Stadt Sais (in Unterägypten), wo eine schlechte Papyrussorte verarbeitet wird. Das taniotische Papier kommt von den Schichten, die der Rinde noch näher liegen, hat seinen Namen von einer Stadt und wird nicht nach der Güte, sondern nach dem Gewichte verkauft. Das emporetische Papier taugt nicht zum Schreiben, sondern bloß zum Einwickeln des guten Papiers und anderer Waren. Die Breite der Papierbogen (plagula) ist sehr verschieden. Die besten sind 13 Finger breit, die hieratischen 11, die fannianischen 10, die amphitheatrischen 9, die saitischen sind noch schmäler. Das emporetische Papier (Packpapier) ist nicht über 6 Finger breit. Außerdem kommt beim Papier die Feinheit, Dichtigkeit, Weiße und Glätte in Anschlag. Zwanzig Papierbogen heißen im Handel ein scapus. — Das augusteische Papier widerstand, wie es anfangs zubereitet wurde, wegen seiner allzugroßen Feinheit dem Schreibrohr nicht genügend, ließ auch die Schrift durchscheinen, so daß sie auf der Rückseite an Lesbarkeit litt; es war auch so durchsichtig, daß es nicht gut aussah. Diesen Fehlern hat Kaiser Claudius (Sohn des Drusus, Stiefsohn des Augustus, 9 v. Chr. in Lyon geboren, ward 41 n. Chr. nach Caligulas Ermordung von den Prätorianern zum Kaiser ausgerufen, überließ sich ganz der Leitung seiner schlimmen Gemahlin Messalina und der Freigelassenen Pallas und Narcissus, war schwelgerisch und träge, doch Freund der Wissenschaften, errichtete große Bauten, wurde 54 durch seine zweite Gemahlin Agrippina mit einem Pilzgericht vergiftet) dadurch abgeholfen, daß er die erste Lage auf dem Brette aus Schichten zweiter Güte legen ließ und diese mit quergelegten Schichten erster Güte decken ließ. Er vergrößerte auch die Breite der Bogen.“ Außer der sehr feinen, weißen[S. 78] charta claudia und der ähnlichen noch glatteren charta fannia unterschied man später noch die charta salutatrix als viel begehrtes Briefpapier, dann die charta macrocolla mit Blättern in Form langer Streifen und die charta nigra, ein schwarzes Papier, auf welches die Schrift farbig aufgetragen wurde.
So versorgte Ägypten im Altertum das ganze ausgedehnte Römerreich mit seinem Papier, das selbst den Weg nach Gallien und Britannien fand. Da nun aber der Papyrus nicht alle Jahre gleich gut gedieh, gab es öfter erhebliche Preisschwankungen und bisweilen sogar Papierteuerungen. So schreibt derselbe Plinius: „Es gibt Jahre, in denen der Papyrus mißrät. Unter Tiberius (geb. 42 v. Chr., Stiefsohn des Augustus, durch Heirat der Kaiserstochter Julia im Jahre 12 v. Chr. Schwiegersohn des Augustus, wurde 4 n. Chr. von Augustus adoptiert und regierte, nachdem er im Jahre 14 nach des Augustus Tod vom Senat als Kaiser anerkannt worden war, bis 37, da er am 16. März auf seinem Schloß auf Kapri bereits im Todeskampf durch Macro mit Kissen erstickt wurde) trat so großer Mangel an Papier ein, daß eigene Beamte vom Senat mit der Verteilung desselben beauftragt wurden, weil sonst die ganze Verwaltung in Verwirrung gekommen wäre.“
Welche Dimensionen der Anbau und Verbrauch der Papyrusstaude und die Papierfabrikation im alten Ägypten angenommen haben muß, kann man aus dem riesigen Nachlasse von Papyrusrollen und aus den Zeugnissen der Schriftsteller des Altertums entnehmen. Der Geschichtschreiber Diodor berichtet uns, daß schon Ramses II. der 19. Dynastie (1292–1225 v. Chr.) in Theben eine sehr umfangreiche Reichsbibliothek errichten ließ. Berühmt war im Altertum die von Ptolemaios Philadelphos (regierte 285–247 v. Chr.) außer dem Museion in Alexandrien errichtete Bibliothek, die es auf die erstaunliche Zahl von 400000 Papyrusrollen brachte und erst von den Arabern verbrannt wurde. Mit dieser alexandrinischen rivalisierte unter Eumenes II. (regierte 197–159 v. Chr.) und Attalos II. (folgte seinem Bruder 159 und starb als Verbündeter Roms 138 v. Chr.) diejenige von Pergamon in Kleinasien mit damals schon 200000 Bänden. Dies erregte die Eifersucht des ägyptischen Königs Ptolemaios VI. Philometor (der von 181–145 v. Chr. regierte) dermaßen, daß er ein Gesetz gegen die Ausfuhr des Papiers aus seinem Lande erließ. Dies nötigte dann Eumenes, das nötige Schreibmaterial aus besonders präparierten und mit einer Kreideschicht überzogenen Schaffellen herstellen zu lassen.[S. 79] Dieses gelangte als charta pergamena, d. h. pergamenisches Papier in den Handel, und daraus wurde dann später die Bezeichnung Pergament. Dieser äußerst dauerhafte Papierersatz spielte besonders im Mittelalter eine sehr wichtige Rolle und hat sich zum Aufdruck von Doktordiplomen bis auf den heutigen Tag im Gebrauch erhalten.
Die ägyptischen Papierfabriken, die unter Tiberius hoch besteuert wurden, waren sehr gut eingerichtet und arbeiteten schon nach dem Prinzip der Arbeitsteilung. Man unterschied da glutinatores (von gluteum Kleber), d. h. Leimer, malleatores (von malleum Hammer), d. h. Hämmerer usw. Während die Papyruspflanze bei den alten Ägyptern natit hieß, nannten sie die Griechen wahrscheinlich nach dem ägyptischen Wort papuro, d. h. königlich, pápyros. Für den Bast der Papyruspflanze diente die schon bei Homer und dann bei Herodot vorkommende Bezeichnung býblos, woraus dann býblon für Schriftrolle wurde. Aus dieser griechischen Bezeichnung machten die Römer, die die Schriftrollen aus Ägypten durch griechische Vermittlung erhielten, ihr biblium im Sinne von Buch, im Pluralis biblia lautend, und aus der Aufschrift biblia sacra, d. h. heilige Bücher, entstand dann unser Wort Bibel. Die einheimische alte Bezeichnung der Römer für das Schriftstück war liber, d. h. Bast, weil sie als ältestes Schreibmaterial „den Bast einiger Bäume“, wie sich Plinius ausdrückt, benutzten, später aber auch zum Privatgebrauch auf Leinwand und auf Wachs schrieben. Aus dem lateinischen liber im Sinne von Schriftstück ging dann die französische Bezeichnung livre für Buch hervor, während die deutsche Bezeichnung dafür von Buche herrührt, aus deren Holz die Stäbe genommen waren, in welche die alten Germanen die Runen einschnitten, die man zu allerlei Zauber und zur Erforschung der Zukunft benutzte. Die Buchenstäbe mit den verschiedenen Runen wurden dann gemischt und ein einzelner, der gelten sollte, daraus hervorgezogen. Das war dann der entscheidende Buchenstab, nach späterer Redeweise: der Buchstabe, und die Gesamtheit derselben das Buch.
Die blühende Papierindustrie Ägyptens wurde nun nicht, wie dies gewöhnlich behauptet wird, infolge der Eroberung durch die Araber vernichtet, sondern diese setzten sie zunächst fort und brachten die von ihnen aus Ägypten nach Syrien verpflanzte Papyrusstaude am Ende des 9. Jahrhunderts nach Sizilien, wo sie dieselbe in dem danach Papireto benannten Flüßchen bei Palermo ansiedelten, um sie ebenfalls zur Papierfabrikation zu verwenden. Dort wuchs sie reichlich bis zum[S. 80] Jahre 1591, in welchem auf Veranlassung des damaligen Vizekönigs die ganze Gegend wegen des vom Papireto ausgehenden Wechselfiebers trocken gelegt wurde und damit auch der Papyrushain verschwand. Noch jetzt heißt jene Örtlichkeit piano del papireto, d. h. Ebene des Papyrushains. Heute findet sich der Papyrus in größeren Beständen nur noch am Flüßchen Anapo bei Syrakus und im Süden und Osten jener Insel wild, häufig jedoch als Zierpflanze in den Gärten der Reichen kultiviert. Die Exemplare in den europäischen Gewächshäusern scheinen alle aus Sizilien zu stammen, wo die Stengel des Papyrus nur noch zum Kalfatern der Schiffe dienen.
Die Papyrusindustrie erlosch von selbst, als im Zeitalter der Kreuzzüge durch die Vermittlung der Araber das chinesische Büttenpapier nach Europa kam und man es hier selbst darzustellen vermochte. In China bediente man sich nämlich schon längere Zeit eines anderen Papieres als in Ägypten, indem schon im Jahre 123 v. Chr. der Ackerbauminister Tsai-lün aus dem Bast des Papiermaulbeerbaums, aus chinesischem Gras und sogar aus den Fasern des Bambusrohres Papier zu bereiten lehrte. Ums Jahr 610 n. Chr. kam diese Kunst nach Korea und Japan. Unter den chinesischen Kriegsgefangenen, die im Jahre 751 n. Chr. nach dem damals muhammedanischen Samarkand kamen, befanden sich auch solche, die sich auf die Papierfabrikation verstanden. Hier wurden sie zur Ausübung ihrer Kunst angehalten und fabrizierten Papier aus dem ihnen dazu zur Verfügung gestellten Material. Hier haben die Araber zum erstenmal leinene und baumwollene Lumpen, sogenannte Hadern, zur Papierfabrikation benutzt, indem sie dieselben nach einer Mazeration in Wasser in Mörsern zerstampften und zu Papier preßten. Später wurden dann an Stelle von Menschenhänden vom fließenden Wasser getriebene maschinelle Einrichtungen als sogenannte Papierstampfen von ihnen zu Hilfe genommen und in der Folge zu eigentlichen Papiermühlen ausgebaut.
Von Samarkand wanderte dieser von den Arabern aufgegriffene neue Fabrikationszweig über Buchara und Persien westwärts nach Bagdad, wo 794 ebenfalls die Papierbereitung eingeführt wurde. Die Bagdader Papierfabriken versorgten bald das ganze Morgenland mit ihren Erzeugnissen. Der Residenzstadt eiferte bald Damaskus nach, das im 10. Jahrhundert mit anderen kunstgewerblichen Gegenständen, wie namentlich den nach jener Stadt benannten Damastgeweben, feinsten Brokaten, Linnen- und Seidenstoffen, dann den weltberühmten Damaszener Stahlwaren, vorzügliches Papier auf den Markt brachte[S. 81] und in Menge sogar nach dem Abendlande vertrieb. Unter diesem Papier gab es die verschiedensten Sorten von Schreibpapier, starkes und schwaches, glattes und geripptes, weißes und farbiges, daneben Seiden- und Packpapier. Neben diesem ungleich billigeren Schreibstoff — der Vorbedingung für die Verbreitung von Bildung, Literatur und Wissenschaft — mußten natürlich Papyrus und Pergament völlig zurücktreten. Letzteres erhielt sich nur in Gegenden, wohin die trefflichen arabischen Papiere nicht so leicht gelangen konnten, noch länger im Ansehen. Über Ägypten verbreitete sich die arabische Papierfabrikation aus Lumpen der nordafrikanischen Küste entlang nach dem von den Mauren beherrschten Spanien, wo sie im Jahre 1154 in Jativa bei Valencia ihren ersten Sitz in Europa aufschlug. Wahrscheinlich von Italien her, das das arabische Papier nach den Ländern nördlich der Alpen verhandelte und es mit der Zeit selbst zu fabrizieren lernte, kam die Papiermacherkunst zu Ende des 13. Jahrhunderts nach Deutschland, wo sich 1290 in Ravensburg, 1312 in Kaufbeuren, 1319 in Nürnberg, 1320 in Augsburg und 1380 in Basel die ersten Papiermühlen in Mitteleuropa nachweisen lassen. Eine außerordentliche Begünstigung erfuhr die Papiermacherei durch die Erfindung der Buchdruckerkunst durch den Mainzer Johann Gensfleisch zum Gutenberg und die durch den Wittenberger Augustinermönch Martin Luther begründete Kirchenreformation in Verbindung mit dem durch die Renaissance aufgekommenen allgemeinen geistigen Aufschwung. Da war es kein Wunder, daß das schöne, geschmeidige und glatte Leinenpapier den brüchigen, rauhen Papyrus und selbst das äußerst dauerhafte Pergament, das sich als Schreibmaterial noch länger als jenes erhielt, bald ganz zum Schwinden brachte. Und mit ihnen verschwand auch das bis dahin mit dem Papyrus aus Ägypten als Schreibfeder in Bündeln in den Handel gebrachte ägyptische Rohr, das als kálamos bei den Griechen und durch deren Vermittlung als calamus bei den Römern Jahrhunderte hindurch im Gebrauch war. Dieses Schreibrohr wurde aus der größten Grasart der Mittelmeerländer, dem Pfeilrohr (Arundo donax), das bis 3,6 m Höhe und 2,5 cm Dicke erreicht und im Altertum besonders zu Pfeilen benutzt wurde, in der Weise hergestellt, daß man die knotigen Halme zuschnitt und an der Spitze spaltete. Dieses Rohr war das einst bei allen Kulturvölkern am Mittelmeer allein gebräuchliche Schreibgerät und wurde hauptsächlich im Delta Ägyptens, außerdem auch in Sumpfgegenden Kleinasiens gewonnen. Erst in der römischen Kaiserzeit kam daneben auch eine aus[S. 82] gerolltem Kupferblech hergestellte Nachahmung dieses Schreibrohrs auf, von dem man je ein Exemplar in Herkulaneum, Mainz und Ungarn fand. Doch war dies jedenfalls mehr eine Kuriosität, die gegenüber dem leichten und weicher schreibenden Rohr nicht aufkommen konnte. Erst um die Mitte des 7. Jahrhunderts wurde bei den christlichen Kulturvölkern die bis dahin allgemein üblich gewesene Schilfrohrfeder durch die bedeutend elastischere und deshalb eine leichtere und besonders auch zierlichere und kunstvollere Schrift erlaubende Gänsefeder ersetzt. Diese erhielt sich im Gebrauch bis zu Anfang des vorigen Jahrhunderts, als die von dem Prager Aloys Senefelder 1796 aus einem Stück gehärtetem Stahl, nämlich einer Uhrfeder, zum Beschreiben seiner lithographischen Steine erfundene Stahlfeder von den Engländern fabrikmäßig hergestellt wurde. So entstand 1820 in Birmingham die erste Stahlfederfabrik, und seit 1826 stellte der Inhaber derselben, Josiah Mason, besondere Spezialmaschinen in den Dienst der neuen Industrie. Bei den muhammedanischen Völkern des Orients aber ist die altägyptische Rohrfeder, der calamus der Römer als kelâm (arabisch) bis auf den heutigen Tag als ausschließliches Schreibgerät in Ehren geblieben.
Bei dem im Lauf des 19. Jahrhunderts ins Ungeheure angewachsenen Papierverbrauch, der bei weitem nicht mehr aus Lumpen gedeckt zu werden vermochte, sah man sich gezwungen, zu den verschiedenartigsten Ersatzstoffen zu greifen, deren hauptsächlichste der Holzstoff des Holzes, besonders des weichen Nadelholzes, dann von Getreidestroh, Hülsenfrüchten, Heu, Binsen, Brennesseln, Disteln, Ginster und der verschiedensten Palmenblätter und Grasarten bilden, der in dem um die Mitte des 18. Jahrhunderts an Stelle der Papierstampfen aufgekommenen „Holländer“ mit Zuhilfenahme chemischer Mittel gelöst wird. Es ist dies eine ursprünglich deutsche Erfindung, die in Holland zuerst in Aufnahme kam und sich von da aus auch in Deutschland Eingang verschaffte.
Auf die Herstellung von Papier aus Holz haben die Wespen, die daraus ihre leichten und dennoch soliden Nester bauen, den Menschen geführt. Als ein Engländer, Dr. Hill, die Papierfabrikanten darüber jammern hörte, daß sie Mühe haben, genügend Lumpen zusammenzubringen, und deshalb das Papier so teuer sei, zeigte er einem solchen ein Wespennest und meinte: „Warum folgen Sie nicht dem Beispiel der Wespen, die bei der Errichtung ihres Nestbaus Holz zerfasern und daraus einen Brei machen, den sie in dünnen Lagen mit Speichel zu[S. 83] Papier leimen und trocknen lassen?“ Das führte zur Entdeckung des Holzpapiers. Am meisten wird dazu, weil am leichtesten zu beschaffen, das Nadelholz verwendet, das weit über die Hälfte der jährlich erzeugten 800 Millionen kg Papier liefert. Es wird hauptsächlich zu dem billigen Zeitungspapier verarbeitet, indem der zum Zerstören der Lignite und Harze mit Sulfitlauge gekochte Holzstoffbrei in der gegen das Ende des 18. Jahrhunderts erfundenen Zylindermaschine zu fortlaufendem, sogenanntem endlosem Papier ausgewalzt wird. Die Zeitungen Europas und Nordamerikas verbrauchen jährlich ganze Wälder von Fichten- und Tannenholz. Da nun eine Einschränkung des Zeitungswesens unmöglich ist und andererseits die Nadelholzwaldungen nicht entsprechend ihrer technischen Verarbeitung zu Papier und anderen Erzeugnissen wachsen, so verwendet man neuerdings als Ersatz dafür die verschiedensten Stroharten, die leicht zu behandeln und zu bleichen sind und durchschnittlich 45–46 Prozent, Reisstroh sogar 50 Prozent Holzstoff enthalten. Nun reicht leider auch die jährlich erzeugte Strohmenge bei weitem nicht aus, um einen erheblichen Teil des Holzes in der Papierfabrikation zu ersetzen, um so mehr, da Stroh noch zu anderen Zwecken, als Viehfutter, Streu, Verpackungsmaterial usw. in größeren Mengen verbraucht wird. Nur haben diese Surrogate des älteren Hadernpapiers leider die Eigenschaft, unter dem Einfluß von Luft und Licht rasch zu vergilben und brüchig zu werden; indessen gelang es der Technik, durch besondere Behandlung mit allerlei Chemikalien aus Holz- oder Strohschliff diejenigen Stoffe, welche das Gelb- und Brüchigwerden beschleunigen, zu entfernen, ohne damit die Fasern zu zerstören.
Von anderen Holzstofflieferanten, die als Papierrohstoffe neuerdings eine zunehmende Bedeutung erlangt haben, sind das im westlichen Mittelmeergebiet auf trockenen, salzfreien Steppen massenhaft wachsende Pfriemen- oder Spartgras (Stipa tenacissima) zu nennen, das besonders von englischen Papierfabriken zur Herstellung besserer Papiere verwendet wird. Diese bereits von uns gewürdigte Grasart mit äußerst zähen und biegsamen, 40–70 cm langen, graugrünen, nach der Breitseite zusammengerollten Blättern, hat ihre heutige spanische Bezeichnung esparto aus dem lateinischen spartum, während der andere dafür gebräuchliche arabische Ausdruck alfa oder halfa der zwischen den beiden Ketten des Atlas eingeschlossenen Steppenregion im mittleren Algerien den Namen gab. Hier werden über 200 Millionen kg Pfriemengras geerntet, von denen 75 Millionen kg[S. 84] nach England ausgeführt werden. Ebendorthin geht auch die Produktion von Spanien und Tripolis von zusammen über 80 Millionen kg, von denen 100 kg durchschnittlich 10 Mark wert sind.
Ein wichtiges Rohmaterial der indischen und chinesischen Papierfabrikation bilden die bis zu 55 Prozent Holzstoff enthaltenden Bambusfasern, die aber für die europäischen und amerikanischen Papierfabriken ebensowenig in Betracht kommen können, wie der Bast des Papiermaulbeerbaums. Ein Papierstoff aber, der vielleicht in einiger Zeit für die amerikanische Papierindustrie größere Bedeutung erlangen dürfte, sind die als Bagasse bezeichneten ausgepreßten Stengel des Zuckerrohrs, die sehr reich an Holzstoff sind und beim ausgedehnten Anbau von Zuckerrohr in großen Mengen bei der Zuckergewinnung abfallen und nur zum Teil als Heizmaterial Verwendung finden. So wird bereits in mehreren amerikanischen Fabriken zurzeit Bagassepapier hergestellt.
Von den Tropenpflanzen, unter denen man schon ihres schnellen, üppigen Wachstums wegen den Ersatz für das Holz als Papierrohstoff in erster Linie wird suchen müssen, kommen eine Reihe von Grasarten wie das Bhabur-, Munj- und Cogongras und solche Stauden und Sträucher in Betracht, die heute schon ihre Fasern zur Herstellung von Seilen, Matten usw. liefern, wie die vorhin besprochenen verschiedenen Bananen und Agaven, der Majaguastrauch u. a. m. Aus den Resten der Seilfabrikate und aus den Abfällen bei der Hanfbereitung werden heute schon größere Mengen sehr haltbarer Papiere hergestellt, die als Manilapapiere in den Handel gelangen.
Auch die Torffasern hat man zur Papierfabrikation herangezogen und stellt daraus, besonders in Amerika, ein gutes und billiges Packpapier her, das wenig empfindlich gegen Feuchtigkeit ist. Zur Fabrikation von Druckpapier jedoch eignen sich die Torffasern nicht, da es bis jetzt nicht hat gelingen wollen, geeignete Bleichverfahren für sie zu finden. Trotzdem erscheint es bei der großen Menge des verfügbaren Torfes sehr wohl möglich, daß dieser mit der Zeit einen größeren Teil des Holzes als Papierrohstoff ersetzen dürfte, um so mehr, da in den letzten Jahren die Ausbeutung der Torflager, nicht zuletzt der deutschen, im Vordergrunde des Interesses steht.
Als neuester Papierrohstoff sind die Weinreben zu nennen, mit denen man zur Zeit in den französischen Weinbaugebieten Versuche macht, die bisher zufriedenstellende Resultate sowohl hinsichtlich der Ausbeute als auch in bezug auf das Bleichen ergaben. Eine solche[S. 85] Verwertung der bisher sozusagen wertlosen Reben wäre den notleidenden französischen Weinbauern wohl zu gönnen; große Mengen Holz würde man aber dadurch nicht sparen. Und da zur Zeit die Papierindustrie noch nicht Miene macht, sich des einen oder des anderen der oben angeführten Rohstoffe in wirklich ausgedehntem Maße zu bedienen und dadurch den Holzverbrauch einzuschränken, so wird sie noch auf eine Reihe von Jahren hinaus die Wälder verwüsten, bis die Holzpreise unerschwinglich geworden sind und man — dann freilich viel zu spät — eingesehen hat, daß unser Papierbedarf auch ohne die Verarbeitung des zu anderen Zwecken so notwendigen Nutzholzes gedeckt werden kann.
Das unter dem Namen „chinesisches Seidenpapier“ in China selbst viel gebrauchte, auch in Deutschland zum Abdruck von Holzschnitten, Lithographien und dergleichen benützte feine Papier, das durch seinen Seidenglanz, seine geringe Dicke und Weichheit ausgezeichnet ist, wird aus den Fasern der jüngeren Triebe des Bambus (meist vom gemeinen Bambus, Bambusa arundinacea) gewonnen, deren gelbe, knotige, einer inneren Höhlung ermangelnde Wurzelausläufer uns als Spazierstöcke dienen. Es gibt 42 Arten dieser ausdauernder holziger Gräser, die sich besonders im tropischen Asien, namentlich im malaiischen Gebiete, finden und hier förmliche Waldungen bilden. Einige Arten steigen im Himalaja bis 3800 m Meereshöhe empor. In Amerika gedeihen beträchtlich weniger Bambusarten, von denen eine, die Chusquea aristata, in den Anden Perus bis 4700 m, d. h. an der Schneegrenze vorkommt. Auch in Asien gehen einzelne Arten weit über die Wendekreise hinaus, wie z. B. die auch bei uns als Zierpflanze im Freien aushaltende Phyllostachys bambusoides.
Von besonders wertvollen Vertretern dieser Pflanzengattung seien Bambusa arundinacea und B. tulda genannt, die in Ostindien und Hinterindien wesentlich an der Bildung der Dschungeldickichte teilnehmen und wegen ihrer hervorragenden Nützlichkeit für den Menschen auch weit über ihr Vaterland hinaus in den Tropen beider Hemisphären kultiviert werden. Ihre Stengel werden bis zu 25 m hoch und am Grunde 20–30 cm dick. Bambusa brandini erreicht eine Höhe von 38 m und Dendrocalamus giganteus sogar 40 m bei einem Stammumfang von 80 cm. Aus einem vielfach verästelten, mächtigen Wurzelstock wachsen sie stoßweise hervor, wobei an einem Bambushalm an drei aufeinander folgenden Tagen Zuwachslängen von 57, 3 und 48 cm gemessen wurden. Bei solchem raschen Wachstum kann[S. 86] ein Sproß von 20 m Höhe in wenigen Wochen ausgewachsen sein. Die jungen Triebe mächtiger Bambusen durchbrechen die Erde als teilweise mehr als armdicke, mit scheidenartigen Blättern dichtbedeckte Kegel. Indem sie Wasser zwischen ihren Blattscheiden hervorpressen, befeuchten und erweichen sie damit den Boden, was das rasche Hindurchstoßen erleichtert.
Die Bambusstengel bilden starre, tragkräftige und zugleich biegungsfeste Hohlzylinder, deren Holz außen herum reichlich mit Kieselsäure imprägniert ist und in denen die Festigkeit noch durch Einschaltung mehr oder weniger enggestellter Knoten gesteigert ist. Hier hat also die Natur eine Form des Trägers gewählt, die die geringste Materialaufwendung mit der größten Leistungsfähigkeit in sich vereinigt, ganz so wie sie der Mensch, durch theoretische Erwägungen geleitet, bei künstlich von ihm hergestellten Stützen, z. B. bei eisernen Hohlträgern, in Anwendung bringt. Erst in einer gewissen Höhe wachsen aus den allmählich verholzenden Halmen über den Knoten Seitenzweige hervor, die sich abermals quirlig verzweigen und die im Verhältnis zu ihrer Länge ziemlich breiten, deutlich gestielten Grasblätter tragen. Die schwankenden Enden der Seitenzweige und der sich nach oben verjüngenden Hauptachse tragen schwer an der Menge ihrer Blätter und neigen sich, in leichtem Bogen überhängend, herab, so daß das einzelne Bambusgebüsch einer vielstrahligen Fontäne gleicht und einen äußerst zierlichen Anblick gewährt. Übrigens gibt es auch einige schlaffe, kletternde Formen, die sich hoher Bäume als Stütze bedienen.
Merkwürdig sind die Blütenverhältnisse dieser Riesengräser. Bei einigen Arten erscheinen die Blüten alljährlich, während bei anderen nach einer zuweilen jahrzehntelangen vegetativen Periode — so hat man in Vorderindien beim gemeinen Bambus eine 32jährige Periode beobachtet — ein mit allgemeinem Laubfall verbundenes einmaliges Blühen erfolgt, wobei die Individuen nach der Fruchtreife absterben. Dann aber blüht dieselbe Art meist auf weite Strecken zugleich. Die massenhafte Produktion der mehlreichen Samen, die gekocht eine im Geschmack an den Reis erinnernde, sehr geschätzte Nahrung für den Menschen bilden, hat dann häufig eine außerordentlich starke Vermehrung der Mäuse und Ratten zur Folge, die später, nach Aufzehrung der Bambusfrüchte über die benachbarten Felder herfallen und diese plündern. Bei solchen Bambusarten vergehen dann eine Reihe von Jahren, bis aus den Keimpflanzen wieder stattliche Bestände herangewachsen sind. Noch andere Bambusarten zeigen hinsichtlich ihres[S. 87] Blühens ein mittleres Verhalten, indem jährlich einzelne Halme des Stockes ihr Laub abwerfen, zur Blüte gelangen und nach der Fruchtbildung absterben.
Die Nutzbarkeit der Bambusen ist eine so große, daß sie nur mit derjenigen der Kokospalme verglichen werden kann. Ohne sie könnte man sich die Kultur der Malaien und anderer in den Tropen lebender Volksstämme gar nicht vorstellen. Nicht nur dienen die Samen als willkommene Speise, die auch zu Brot verbacken wird — wiederholt ist, so 1812, durch das Blühen der Bambuse eine Hungersnot in Indien abgewehrt worden —, auch die jungen, noch weichen Schößlinge werden gekocht oder in Essig eingemacht gegessen. Sie kommen als Achia in den Handel. Vornehmlich die Chinesen verwenden sie zur Bereitung eines beliebten Konfektes, das oft dem Ingwer zugesetzt wird. Junge Blätter dienen als Viehfutter. Aus den bei aller Härte und Zähigkeit dennoch leichten Halmen werden Häuser errichtet, welche wegen ihrer Luftigkeit im Sommer auch von den Europäern bevorzugt werden. Die Pfosten, Dielen, Sparren, Türen, Fenster und die Dachbedeckung bestehen aus runden oder gespaltenen und flach ausgebreiteten Bambusstämmen, die mit Stücken des alsbald zu besprechenden geschmeidigen, sehr zähen Rotangs verbunden werden. Brücken, Flösse, Zäune, Palisaden, Leitern, Wasserleitungen, Dachrinnen, Masten für Schiffe und vieles andere werden aus den Stämmen gemacht. Fast die ganze Hauptstadt von Siam, Bangkok, schwimmt auf Bambusflössen und aus Bambus sind deren Häuser errichtet. Aus demselben Material bestehen die Betten, Stühle und Tische, die Eß- und Trinkgeräte, chirurgischen Instrumente, Haarkämme und was sonst an Hausrat vorhanden ist. Auch mancherlei Waffen sind aus ihm verfertigt, wie Blasrohre, Lanzen, Wurfspeere und Pfeile, die große Leichtigkeit mit unvergleichlicher Härte verbinden. Zugleich damit trug einst der chinesische Soldat einen mit einem Überzug von gefirnißten Maulbeerpapier versehenen Sonnenschirm aus Bambus. Ferner werden die hohlen Stengelteile des Bambus zu Musikinstrumenten der verschiedensten Art verarbeitet, liefern selbst Resonanzböden und Saiten. Mit Harz gefüllt dienen sie als Kerzen, deren Hülle zugleich mit der Füllung in Flammen aufgeht. Die einzelnen Glieder des Rohres werden zu Wassereimern und verschiedenen Behältern, ja sogar zu Kochtöpfen verarbeitet. In solchen, die zwar verkohlen, aber vermöge ihrer starken Imprägnation mit Kieselsäure nicht verbrennen, kocht der Javaner an einem von trockenem Bambus genährten Feuer die ihm zur Nah[S. 88]rung dienenden spargelartigen, nur viel dickeren jungen Bambustriebe. Aus dünnen, schmalen Bambusstreifen flicht er Taue und Stricke, Vorhänge, Matten, Körbe, Tragkörbe, Hüte, Reusen zum Fischfang, fertigt er Krausen und Schmuck aller Art. Zerklopfter Bambussplint liefert ihm Pinsel, Geschabsel des Rohres dient zum Polstern der Möbel und Matratzen; ein Span von kegelförmigem Querschnitt, dessen scharfe Kante von der kieselsäurereichen und infolgedessen ungemein harten äußeren Schicht gebildet wird, gibt ein sehr scharfes Messer. Dieselbe äußere Schicht dient als Wetzstein für eiserne Werkzeuge. Weil die ganze Oberfläche des Stammes verkieselt ist, widersteht er allen äußeren Angriffen und erhält sich sehr lange nicht bloß an der Luft, sondern auch im Boden. Deshalb ist der Bambus ein so gutes und dauerhaftes Baumaterial. Einen merkwürdigen Eindruck macht es, wenn ein solches aus Bambus errichtetes Dorf in Brand gerät. Dabei erhitzt sich nämlich die Luft in den abgeschlossenen Hohlräumen im Innern der Stengel und sprengt dieselben mit gewaltigem Knall auseinander. Man glaubt aus der Ferne starken Kanonendonner zu hören, aus welchem die Eingeborenen der Molukken deutlich den Ruf „bambu, bambu“ hören.
Daß ein so überaus wertvolles Produkt der Tropen auch für uns allerlei nützliche Gegenstände liefert, kann uns nicht verwundern. Wir Europäer schätzen die leichten Garten- und Balkonmöbel aus Bambus. Auf Jamaika wird der Bambus nur zur Erzeugung von Rohmaterial für die nordamerikanischen Papierfabriken angepflanzt. Die schlanken dünnen Ruten dienen als Pfefferrohr zu Pfeifenröhren, zu Angelruten, Stützen, um Pflanzen daran anzubinden, zu Spazierstöcken und Regenschirmstielen; meist wählt man dazu solche Gerten aus, an denen noch ein knopfförmiges Stück der Grundachse als Griff gelassen ist.
Bei manchen Arten enthalten die Höhlungen der jüngeren, bei anderen der älteren Stengelglieder ein klares, teilweise süßes Wasser, das dem Reisenden einen angenehmen Trunk liefert. An den Knoten älterer Halme mancher Arten, wie beispielsweise des gemeinen Bambus, finden sich daneben eigentümliche Ausschwitzungen einer schmutzigweißen bis braunen, ja schwärzlichen Masse, die an der Luft verhärtet. Sie hat einen zuckerartigen Geschmack, weshalb man sie auch als Bambuszucker bezeichnet. Sie besteht zu 86 Prozent aus Kieselsäure und verwandelt sich beim Glühen, wobei die organische Masse zerstört wird, in reine Kieselerde in Form eines chalzedonähnlichen Körpers, der bald[S. 89] weiß und undurchsichtig, bald bläulich weiß, durchscheinend und farbenschillernd aussieht.
Bei der überaus großen Nützlichkeit des Bambus lag es für den Naturmenschen auf der Hand, dieser geheimnisvollen Ausschwitzung besondere Heilkräfte zuzuschreiben. Seit undenklichen Zeiten verwenden sie die Asiaten als kostbare Medizin und übermittelten sie als solche auch ihren Nachbarn. So kam sie zu den Persern, die sie in ihrer Sprache als tovakschira, d. h. Rindenmilch bezeichneten. Daraus bildeten die Araber, die sie auch schon sehr früh von jenen erhielten, das Wort Tabaschir, als welches es heute noch im ganzen Orient einen gesuchten Handelsartikel bildet. Schon die Ärzte der römischen Kaiserzeit wandten diese aus dem Orient mit dem Nimbus wunderbarer in ihr schlummernder Heilkräfte zu ihnen gelangende Droge, die ja an sich gerade so unlöslich wie reiner Kieselsand ist, gestützt auf orientalische Traditionen, viel an. Einen Weltruf gewann der Tabaschir aber erst durch die arabischen Ärzte im 10. und 11. Jahrhundert, so daß sein Ruhm selbst nach Europa drang. Im Morgenlande hat er bis zur Gegenwart seine Wertschätzung als hervorragendes Arzneimittel zu wahren gewußt. Aus den wertvollen Untersuchungen des Geographen Ritter und des Botanikers Ferdinand Kohn scheint nun mit Sicherheit hervorzugehen, daß diejenige Substanz, welche die alten Griechen mit sákcharon und nach ihnen die Römer mit saccharum bezeichneten, nicht Rohrzucker, sondern Tabaschir war. Nach Bopp bedeutet das Sanskrit-Stammwort sarkara nicht sowohl etwas Süßes, als etwas Festes, Zerdrückbares. Im alten Indien wurde das Tabaschir als sakkar mambu, d. h. süßer Bambusstein bezeichnet und erst die Araber haben dann die Bezeichnung sakkar als sukkar auf den später erfundenen, dem Tabaschir ähnlichen, kristallinischen Rohrzucker übertragen.
Ist der Bambus nach dem Prinzipe möglichster Biegungsfestigkeit gebaut, so repräsentiert der Rotang dasjenige maximaler Zugfestigkeit. Bei ihm bildet, ganz im Gegensatz zu den biegungsfesten Konstruktionen, das mechanisch leistungsfähigste Material die Achse und Hohlheit ist vollkommen ausgeschlossen. Es sind natürliche Taue von 150–200 m Länge, in denen auch innerlich die einzelnen mechanischen Elemente nicht parallel nebeneinander herlaufen, sondern durcheinander geflochten sind, wodurch die Zugfestigkeit bedeutend erhöht wird. Die Gebrauchsmöglichkeiten des Rotangs werden wie beim Bambus durch fast unbegrenzte Spaltbarkeit noch außerordentlich vermehrt. So ist[S. 90] er in seiner Heimat ebensosehr wie der Bambus mit den Lebensgewohnheiten der Bevölkerung derartig verwachsen, daß sie ihn in der Tat ebensowenig wie jenen würde entbehren können.
Der Rotang — richtiger rotan zu schreiben, wie das malaiische Wort lautet — hat wie der Bambus seine Heimat in Südasien und Indonesien, hauptsächlich im Verbreitungsgebiet der Malaien. Von den 200 Calamusarten des indischen Florengebiets finden sich die meisten auf der Halbinsel Malakka und den Sundainseln bis Neuguinea. Sie kommen noch in Nordaustralien vor, aber nur eine Art in Afrika. In der Neuen Welt fehlen sie ganz. Am Südfuß des Himalaja steigt eine Art (Calamus montanus) bis zu 2000 m Höhe. Sie stellen kletternde Palmen dar, die aber ihre bis 150 m und mehr langen, glatten, glänzenden, dünnen Stämme nicht um ihre Stützen herumwinden, wie es die Lianen tun, sondern mit eigentümlichen Haftapparaten in die Höhe streben. Häufig sind ihre Blattscheiden so stachelig, daß sie schon an den Stützen hängen bleiben; in anderen Fällen sind die Blattenden mit den oberen Fiedern zu bestachelten, peitschenförmigen Anhängen verlängert, die sich überall, wohin sie gelangen, festkrallen. Jedes höhere Blatt greift mit seiner leichtbeweglichen, vom Winde hin und hergeschaukelten, mit widerhakig gekrümmten Stacheln versehenen Geißel an höhere Baumzweige und auf diese Weise klettert der dünne Rotangstamm bis in die höchsten Baumwipfel, über denen die häufig außerordentlich zierlichen Blätter mit ihren Fangspitzen, die keine neuen Stützen mehr erfassen können, graziös im Winde hin und her schwanken. Da nun der im Boden hinkriechende Wurzelstock der Rotangpalmen zahlreiche Schößlinge treibt und außerdem jeder derselben reichlich haselnußgroße, umgekehrten Tannenzapfen gleichende Früchte von brauner, roter oder gelber Farbe hervorbringt, von denen ein großer Teil in nächster Nähe der Mutterpflanze keimt, so bildet der Rotang überall, wo er auftritt, undurchdringliche Dickichte von unzerreißbaren Tauen, starrend von Stacheln und Widerhaken, die jeden Eindringling an der Kleidung und am Körper unbarmherzig verwunden. Immer ist es ein sehr unangenehmes, schmerzhaftes Wagnis, in ein Rotangdickicht zu dringen, darin zu jagen oder zu sammeln.
In seiner Heimat dient er den Bewohnern als das hauptsächlichste Binde- und Flechtmaterial. Ohne weitere Bearbeitung liefert er vorzügliche Taue, die beim Hausbau das ausschließliche Bindemittel für alle Balken, Pfosten und Sparren aus Bambus oder Holz bilden.[S. 91] Infolge des Besitzes dieses vorzüglichen Bindematerials stellen die Malaien kaum je Stricke aus geflochtenen Pflanzenfasern her; höchstens etwa aus den geschmeidigeren Blattscheidenfasern der Zuckerpalme (Arenga saccharifera), die noch unverwüstlicher als selbst der Rotang sind. Mit Rotangtauen werden die auf Bambusflößen errichteten Häuser und Badeplätze an den Flußufern befestigt, die Hängebrücken und deren Geländer errichtet, die Palisaden befestigt. Durch Verflechten mehrerer dünner Rotangstämme werden Gurte, Körbe und ganze Wände geflochten; häufiger verwendet man nur die kieselsäurereichen, glänzenden äußeren Schichten als Flechtrohr, während man den weicheren inneren Kern, das Peddig- oder Markrohr, anderweitig verwendet oder wegwirft. Daraus stellen besonders die Chinesen Südostasiens die verschiedensten Möbel und Geräte her, mit denen sie einen schwunghaften Handel treiben. Die jungen Sprosse vieler Arten werden roh oder gekocht gegessen, das säuerliche Fruchtfleisch einiger Arten wie Tamarindenmus verzehrt.
Der Rotang wird niemals angebaut; da er in den sumpfigen Wäldern seiner Heimat in Menge wild wächst, vermag man daraus zur Genüge seinen Bedarf zu decken. Für den Export werden die 9–10jährigen, also völlig ausgereiften Stämme, die sich durch einen scharfen Schleim klebrig anfühlen, abgeschnitten und zur Entfernung der stacheligen Blätter zwischen enggestellten, geschärften Brettern oder Pflöcken hindurchgezogen. Dann schneidet man sie in 6–8 m lange Stücke, von denen 50–100 ein Bündel bilden, das in der Mitte noch einmal zusammengebogen wird. Der Hauptexporthafen dafür ist Singapur, daneben Batavia und Makassar. Er kommt zu uns als „spanisches Rohr“ oder „Stuhlrohr“, so genannt, weil besonders Rohrstühle aus ihm angefertigt werden. Früher benutzten die Korbmacher und Stuhlflechter nur die äußeren Schichten zum Flechten und warfen das Peddigrohr weg; neuerdings wird aber auch letzteres industriell verwertet. In den Fabriken wird das Flechtrohr auf maschinellem Wege vom Peddigrohr abgetrennt und außerdem auf chemischem Wege die Farbe des Rohrs verbessert. Wegen ihrer größeren Elastizität und Dauerhaftigkeit haben die früher verworfenen glanzlosen Peddigstreifen zum guten Teil die Korbweide verdrängt, die nur noch das Material zu groben Flechtwerken liefert. Man benutzt sie zum Überflechten von Gefäßen, zu Sieben, Körben, Matten, Modellbüsten für Schneider und Schneiderinnen und Luxusartikeln aller Art. Das Flechtrohr dient vorzugsweise zum Überziehen von Sitzen und Rücklehnen der sog.[S. 92] Joncmöbel, und die beim Glätten des Flechtrohrs und der Peddigstreifen sich ergebenden Abfälle dienen in der Putzmacherei und als Polster- und Scheuermaterial. Das Malakkarohr von Calamus scipionum, eine besonders starke Ware, die in 1–3 m langen Stäben in den Handel kommt, wird hauptsächlich zu Spazierstöcken verarbeitet, während das Sarawakrohr von Calamus adspersus vornehmlich Peitschenstöcke liefert. Calamus draco gibt die weißen und braunen Maniladrachenrohre, und aus den zur Zeit der Reife mit einem roten Harz bedeckten pflaumengroßen Früchten gewinnt man das dunkelrote, geruch- und geschmacklose Drachenblut, das neben dem schon im Altertume im Orient und in den Mittelmeerländern bekannten Drachenblut des Drachenbaumes von der Insel Sokotra am östlichen Zipfel von Afrika auch bei uns früher als Arzneimittel benutzt wurde, jetzt aber, in Alkohol oder ätherischem oder fettem Öl gelöst, nur noch zur Färbung der Tischlerpolitur und von rotem Firnis und Lack dient. Die beste Sorte gewinnt man dadurch, daß die Früchte in Säcken so lange geschüttelt werden, bis das Harz abspringt, eine geringere dagegen durch Auskochen der Früchte mit Wasser, wobei sich das Harz an der Oberfläche sammelt. Ersteres wird dann zu Stangen und letzteres zu Kuchen geformt und in Kisten von 50–60 kg von Singapur aus, das jährlich etwa 30000 kg ausführt, in den Handel gebracht.
Die Baumwolle ist nicht nur die wichtigste aller spinnbaren Fasern, sondern eine der wichtigsten Waren des Welthandels überhaupt, weshalb die Engländer für sie die Bezeichnung king cotton, d. h. König Baumwolle, aufgebracht haben. Wenn auch die wichtigen Nahrungsspender des Menschen, Weizen, Reis und Mais, in der Weltwirtschaft eine noch größere Rolle spielen — nimmt doch allein die Weizenkultur der Welt eine etwa fünfmal so große Fläche als diejenige der Baumwollstaude ein, und übertrifft auch der Wert des auf der Erde produzierten Weizens denjenigen der Baumwolle um das Vierfache —, so ist doch die Kultur dieser Gespinstpflanze, in deren Fruchtfasern sich etwa ⅘ der Menschheit, d. h. etwa 1200 Millionen, kleiden, von ganz außerordentlicher Bedeutung. Die jetzige jährliche Weltproduktion an Baumwolle entspricht nach O. Warburg in Berlin einem Wert von wenigstens 4½ Milliarden Mark, wozu noch für die Saat mindestens eine halbe Million Mark hinzukommt. Über 15 Millionen Menschen sind mit der Erzeugung von Baumwolle beschäftigt. Der Transport von 12 Millionen Ballen von den Plantagen über das Meer und von den Hafenplätzen in die Spinnereien kommt wenigstens auf 360 Millionen Mark und entspricht 2400 Dampfschifftransporten zu je 5000 Ballen. Rechnet man noch die Landtransporte der übrigen 8 Millionen Ballen hinzu, so ergibt es sich, daß schon der Transport der Baumwolle einem Wert von wenigstens einer halben Milliarde Mark jährlich entspricht. In den die Baumwolle verarbeitenden Spinnereien und Webereien, sowie den Nebenbetrieben stecken über 10 Millionen Mark, die verzinst werden müssen; dabei finden mehr als 4 Millionen Menschen Beschäftigung, deren Arbeitslohn über 3 Milliarden Mark jährlich beträgt. Rechnen wir nun die Gewinne all dieser Fabrikanlagen und der dabei beteiligten Menschen, sowie[S. 94] die Erträge der Bleichereien, Druckereien, Färbereien, dann der Betriebe zur Weiterverarbeitung der fertigen Stoffe, ferner der Schneider und Konfektionsarbeiter beiderlei Geschlechts, wie auch der Groß- und Kleinhändler, die alle von der Baumwolle leben und durch ihre Arbeit den Wert derselben erhöhen, hinzu, so gelangen wir zum Schluß, daß die von der Baumwolle jährlich geschaffenen Werte 10 Milliarden Mark weit übersteigen.
Diese für die Weltwirtschaft so ungemein wichtige Nutzpflanze, von der reichlich 25 Millionen Menschen in ihrer ganzen Existenz abhängen, ist ein zu den Malvengewächsen gehörender Strauch, der in manchen Arten sogar baumartig auftritt und dann eine Höhe bis zu 5 m erreicht. Unter den äußerst mannigfaltigen Formen, in denen diese Pflanze gezogen wird, unterscheidet man fünf schärfer charakterisierte Arten, von denen drei der Neuen und zwei der Alten Welt angehören.
Bei zweien derselben, nämlich der Baumwollstaude von Peru — eigentlich ist sie aber in Brasilien heimisch und wurde von den Stämmen der Inkas von dorther in Kulturpflege erhalten — (Gossypium peruvianum) und Barbados — der bekannten Insel der Kleinen Antillen — (Gossypium barbadense) läßt sich die meist als Stapel bezeichnete Baumwolle leicht von den Samen, denen sie die von der Pflanze angestrebte Flugfähigkeit erteilen soll, ablösen und ist bei ihnen ein Überzug von kurzen Haaren nicht vorhanden. Dabei sind die Samen der ersteren nierenförmig und hängen dicht und fest zusammen, während sie bei der letzteren, die hauptsächlich in den Küstengegenden gedeiht, birnförmig gestaltet sind und lose nebeneinander liegen. Daher wird erstere von den Engländern als Kidney, d. h. Nierenbaumwolle und letztere als Sea Island, d. h. Meerinselbaumwolle, bezeichnet.
In die zweite Gruppe mit schwierig sich von den Samen ablösender Baumwolle, die zudem einen Überzug von kurzen Haaren trägt, gehört als dritte, ebenfalls in wärmeren Gebieten Amerikas heimische Art die großblätterige, in höheren Lagen gebaute und deshalb englisch als Upland bezeichnete rauhe Baumwolle (Gossypium hirsutum). Letztere, die Upland, blüht reinweiß, während die andern vorhin genannten gelb blühen. Aber auch sie zeigt am Nachmittage gelbe Streifen, ist am nächsten Morgen fleischfarben geworden, verwelkt dann und fällt nachmittags ab. Ebenfalls gelbe Blüten wie die drei erstgenannten besitzt die in Indien heimische kleinblätterige krautige Baumwolle (Gossypium herbaceum), die durch die Araber nach[S. 95] Ägypten kam und heute in allen Baumwolle liefernden Ländern gebaut wird. Rotblühend dagegen ist die in Afrika heimische und vielfach noch im Innern dieses Kontinents wildwachsend gefundene, aber auch in Asien und Amerika kultivierte baumartige Baumwolle (Gossypium arboreum), deren wie bei den andern Arten gelappte Blätter in den Buchten Zwischenzipfel tragen. Mit ihr nahe verwandt ist jene Abart, welche einzig in der Gattung gelbe Wolle hervorbringt, die sogenannte Nangkingbaumwollstaude, die in China zu Hause ist und dort viel gebaut wird. Sie trägt ihren Namen Gossypium religiosum mit Unrecht; denn die in Indien in der Nähe der brahmanischen Tempel gezogene und als heilig geltende Art, aus deren Wolle die heilige Brahmanenschnur verfertigt wird, ist nicht diese, sondern die aus Afrika stammende baumartige Art (G. arboreum) mit purpurnen oder gelben Blüten, welche von Oberguinea bis Oberägypten und Abessinien wildwachsend angetroffen wird.
Alle diese Baumwollarten, von denen Sir George Watt in seiner im Jahre 1907 erschienenen Monographie mit den wichtigeren Kulturvarietäten nicht weniger als 42 Formen unterscheidet, sind im Laufe der Zeit auf das mannigfaltigste gekreuzt worden, so daß es überaus schwierig ist, nachträglich an den einzelnen Arten zu bestimmen, welchen Stammes ihre verschiedenen Ahnen gewesen sein mögen. Alle Arten sind ursprünglich ausdauernde Gewächse, auch die krautartige (G. herbaceum), die allein außerhalb des Tropengürtels meist zu einer einjährigen Pflanze wird. Sie zeigen einen ausgebreiteten Wuchs, indem der behaarte Stamm reich verästelt ist. Daran sitzen die langgestielten breiten, meist gelappten Blätter mit spitzen Blattzipfeln und großen, an ebenfalls langen Stielen in den Achseln der Blätter entstehenden Blüten, die blaß- bis dunkelgelb, oft am Grunde rotgefärbt oder mit purpurnem Mal versehen, einzig bei der baumförmigen Art dunkelrot und bei der Upland weiß sind. Die sehr zahlreichen Staubfäden sind zu einer Röhre verwachsen, welche außen die kleinen herzförmigen Staubbeutel trägt. Der von den Staubgefäßen fast ganz eingeschlossene Griffel ist an der Spitze keulig verdickt und trägt ebenso viele Narben als die Kapsel Fächer aufweist. Die Frucht wächst zu einer walnußgroßen Kapsel heran, die sich bei der Reife in drei bis fünf Klappen öffnet, um die hervorquellenden, von ihrer Wolle umhüllten schwärzlichen Samen dem Winde preiszugeben, der sie zur Verbreitung der Art verschleppen soll. Die wilden Baumwollarten haben meist eine gelbe bis bräunlichrote Wolle, während die Kultursorten durch Auslese[S. 96] von seiten des Menschen gewöhnlich eine blendend weiße Wolle besitzen. Von diesen zeigen aber manche Sorten Rückschläge ins Rötliche, so besonders die baumartige, in den Tempelgärten Indiens gezogene.
An Ergiebigkeit der Baumwollfasern ist die westindische (Gossypium barbadense) in Form der Sea Island weitaus die beste und sollte, wo immer angängig, angepflanzt werden. Sie bringt um ein Viertel bis ein Drittel mehr und langstapeligere Wolle hervor als die krautige indische. Nächst dieser dürfte die Uplandspielart für den Anbau an zweiter Stelle in Frage kommen. Nur in kühleren Gegenden ist die indische krautartige Baumwolle die gegebene, weil sie klimahärter als die westindische ist. Je nach den Sorten liefern 500 bis 800 Fruchtkapseln etwa 1 kg Fasern, die aus fast reinem Zellstoff (Zellulose) bestehen und nur in der innern Höhlung einen schwachen Belag einer eingetrockneten Eiweißsubstanz als dem einstigen Plasma der Zelle aufweisen. Jede Faser entspricht einer langgestreckten Zelle,[S. 97] die bei der krautigen Baumwolle 2,0–2,8 cm, bei der peruanischen 3,4–3,6 cm, bei der von Barbados (Sea Island) in Ägypten 3,8 bis 4,0, auf dem amerikanischen Festlande in Florida 4,0–4,6, auf den dem Festlande vorgelagerten Inseln, z. B. Galveston, bis 5,2 cm Länge besitzt. Da die Faser an den letzteren Orten gleichzeitig einen seidenartigen Glanz gewinnt, so ist ersichtlich, daß das Klima, insbesondere die Luftfeuchtigkeit, in hervorragender Weise zur Erzeugung einer guten Baumwollfaser maßgebend ist. Je länger und feiner sie ist, um so leichter läßt sie sich verspinnen und um so wertvoller ist sie für die Verarbeitung.
In ganz Südasien sowie in China ist die Kultur der Baumwollstaude eine uralte. Dasselbe gilt teilweise auch von Ägypten; doch wurde früher daselbst nur die baumförmige oder eine Varietät derselben kultiviert. Erst seit dem Anbau der Barbadosbaumwolle (Sea Island), der seit einigen Dezennien dort eingeführt wurde, hat die ägyptische Baumwolle einen hervorragenden Platz im Welthandel gewonnen, obwohl sie ja, wie wir oben sahen, die in Nordamerika selbst gezogene an Güte nicht erreicht. Auch in Peru stand bereits bei der Entdeckung und Eroberung dieses Landes durch die Spanier im Jahre 1532 die Baumwollkultur auf einer hohen Stufe. Diese Nutzpflanze wurde von den Indianern im staatlich wohlorganisierten Reiche der Inka-Ketschua in großem Maße angepflanzt und zur Herstellung von buntgefärbten, mit zahlreichen eckig stilisierten Zeichnungen und Mustern, wie auch Stickereien und Passementerien versehenen Baumwollstoffen und anderen Erzeugnissen, namentlich auch Hängematten, verwendet.
Von der Baumwollernte der ganzen Welt, die sich auf 3300 Millionen kg im Werte von etwa 2700 Millionen Mark beläuft, liefern die Südstaaten Nordamerikas nicht weniger als 62,5 Prozent. Ihnen folgen Ostindien mit 15 Prozent, China mit fast 8 Prozent und Ägypten mit 7,3 Prozent. Auch in Buchara, Persien, Brasilien und Japan wird ziemlich viel Baumwolle gewonnen. Afrika außer Ägypten liefert nur 2,1 Prozent der Welternte, und zwar sind daran die deutschen Kolonien, besonders Deutsch-Ostafrika und Togo, mit bloß 3007 Ballen zu 250 kg im Werte von 700000 Mark beteiligt. Das ist allerdings ein fast verschwindender Bruchteil der Gesamtsumme von etwa 400 Millionen Mark, die Deutschland jährlich für Baumwolle ausgibt. Bedenkt man aber, daß die Baumwollproduktion der deutschen Kolonien Afrikas in den letzten fünf Jahren eine vierzigfache Steigerung erfuhr, so steht zu erwarten, daß sich Deutschland hierin allmählich vom ame[S. 98]rikanischen Markte emanzipieren und den eigenen Bedarf aus seinen Kolonien decken könne. Europa, das einst im Mittelalter, so weit die arabische Herrschaft reichte, Baumwolle kultivierte, pflanzt solche in geringem Maße noch in Ostrumelien auf der Balkanhalbinsel und in Griechenland, während Süditalien und Südspanien den Anbau derselben fast ganz aufgegeben haben.
Die weitaus erste Stelle in der Baumwollindustrie nimmt England ein, das etwa 20 kg Baumwolle auf den Kopf der Bevölkerung verbraucht, dann folgt Nordamerika mit ca. 14 kg und an dritter Stelle Deutschland mit etwa 8 kg auf den Kopf. Letzteres besitzt zur Zeit mit 9½ Millionen die größte Zahl von Baumwollspindeln auf dem europäischen Kontinent und verarbeitet jährlich etwa 1800000 Ballen = 800 Millionen kg im Werte von 400 Millionen Mark. Die wichtigsten Baumwollhäfen Europas sind Liverpool mit 3½ Millionen Ballen, dann Bremen mit 2 Millionen, Havre mit 820000, Manchester mit 500000, Genua mit 465000, Barcelona mit 282000, dann erst Hamburg mit 205000 Ballen jährlicher Einfuhr. Man sieht daraus, daß sich der europäische Kontinent in bezug auf den Baumwollhandel fast ganz von England befreit hat. England bezieht jetzt beinahe nur so viel, als es für den eigenen Verbrauch und denjenigen seiner Kolonien bedarf; dafür hat Bremen einen großen Teil des festländischen Handels an sich zu ziehen vermocht.
Man kann Baumwolle in allen Gegenden zwischen dem 36° nördlicher und 36° südlicher Breite ziehen, in denen eine verhältnismäßig hohe Sommertemperatur herrscht und keine heftigen Herbstregen eintreten; denn die Ernte der Wolle wird durch die letzteren nicht bloß geschädigt, sondern geradezu vernichtet. Es ist dies eine Tatsache, die sofort einleuchtet, wenn man bedenkt, daß die Kapseln in aufgesprungenem Zustande geerntet werden müssen. Am besten gedeiht die Baumwolle in Niederungen oder im Flachlande mit gleichmäßig warmem, nicht zu trockenem Klima. Viel Sonne am Tag und reichlicher Taufall während der Nacht sagen der Baumwollstaude am besten zu. Lange anhaltender Regen, namentlich bei kühler Temperatur, ist ihr in jedem Stadium der Entwicklung schädlich; vor der Blüte wirkt eine anhaltende Dürre ebenfalls schädlich. Das mit ihr zu bepflanzende Feld soll eine vor Winden gesicherte, sonnige Lage haben. Was die Beschaffenheit des Bodens anbelangt, so darf er nicht zu schwer, sondern muß durchlässig und sandig sein, also sind Lehmboden sowie eine dicke Humusschicht ihr nachteilig. Dagegen verlangt sie einen möglichst[S. 99] hohen Gehalt an Kieselsäure und muß regelmäßig mit Stallmist und der Asche der verbrannten Stauden oder Baumwollsamenmehl gedüngt werden.
Die Fortpflanzung der meist mehrjährigen Sorten, die 3–5 Jahre hindurch tragen, geschieht durch Samen. Der Anbau geschieht in dem uns nächsten Baumwollande, Ägypten, wo durch Kreuzung der ursprünglich allein vorhandenen Sudanbaumwolle von Dongola mit der langfaserigen, feinen Sea Island-Baumwolle von Nordamerika und stetige Auslese der besten Sorten ebenfalls eine sehr gute Qualität in den letzten 100 Jahren gezüchtet wurde, in folgender Weise. Die dort die Baumwollkultur betreibenden Fellachen oder Bauern pflügen zunächst die Felder mit ihrem von zwei Ochsen gezogenen altmodischen Hakenpflug und bewässern sie ausgiebig. So vorbereitet werden in sie im März mit einem spitzen Pflanzstock in Abständen von einem halben Meter 5–7 cm tiefe Löcher gemacht, in die je 7–10 Samen der zu pflanzenden Baumwollart zu liegen kommen, welche dann mit der Hand locker mit Erde bedeckt werden. Man legt nur deshalb so viel Samen in ein Loch, damit durch die vereinte Kraft der zahlreichen Sämlinge die durch die Sonnenhitze rasch verhärtende Kruste des Bodens leichter durchbrochen werden könne.
Nach anderthalb Wochen wird die eben keimende Saat leicht überflutet und hernach entfernt man die überflüssigen Pflänzchen bis auf die zwei kräftigsten in jedem Loche. Von da an werden die Baumwollfelder alle 2–3 Wochen berieselt, in der Zwischenzeit wird der Boden mit der Hacke gelockert und vom Unkraut befreit, später auch mit künstlichen Düngemitteln versehen. Dabei wird nach Möglichkeit auf die Raupen zweier der Baumwollkultur besonders schädlicher Kleinschmetterlinge, die streckenweise bisweilen die ganze Ernte vernichten, Jagd gemacht, auch die übrigen Schädlinge tierischer und pflanzlicher Herkunft nach Möglichkeit zu vernichten gesucht.
100–120 Tage nach der Aussaat beginnt die Blütezeit der Stauden, während welcher die Baumwollfelder einen sehr hübschen Anblick gewähren. Zweieinhalb bis drei Monate danach reifen die Kapseln. Die Ernte findet Ende September oder Anfang Oktober, also fünf Monate nach der Aussaat, statt, wobei alt und jung mithilft. Mit großer Geschwindigkeit wird, ohne daß dabei die Pflanze beschädigt werden darf, die aus den aufgeplatzten Fruchtkapseln herausschauende Baumwolle mit Stehenlassen der holzigen Kapselwände herausgenommen und in den vorne sackartig aufgerafften hemdartigen Rock gelegt.
Gewöhnlich stehen 10–15 Pflücker unter einem Aufseher und erhalten je zwei Reihen Baumwollstauden zum Ablesen der Wolle zugewiesen. Sind ihre Taschen bald voll, so eilen sie auf ein gegebenes Kommando zu dem an der Zufahrtstraße gelegenen Sammelplatz, um ihre Gürtel zu lösen und die Baumwolle in auf die Erde ausgebreitete Säcke zu schütten. Während sie dann zum Weiterpflücken wiederum dem Felde zustreben, suchen Männer die schlechte Baumwolle sowie alle Verunreinigungen aus dem Haufen heraus und füllen zuletzt die gute Baumwolle in große Säcke, wo sie von einem in diese hineingestiegenen Manne mit den nackten Füßen zusammengepreßt wird. Schließlich werden die Säcke zugenäht und auf Wagen ins Lagerhaus geschafft.
Die Stauden läßt man dann vom Vieh abweiden und benutzt die übrigbleibenden Strünke in dem an Feuerungsmaterial so armen Lande als Feuerungsmaterial für die zahlreichen Dampfpumpen. In holzreichen Ländern dagegen werden sie später in den Boden gepflügt oder auch verbrannt und so als Dünger verwendet. Nur ausnahmsweise werden in Ägypten die Stauden bis auf eine Höhe von etwa 60 cm über dem Erdboden zurückgeschnitten, um von ihnen noch im nächsten Jahre eine etwas kleinere Ernte zu erhalten.
Ganz ähnlich wie im Niltal ist auch in den Südstaaten Nordamerikas und überall anderwärts die Baumwollkultur. Nur die Baumwollernte wird hier in anderer Weise vorgenommen. Es hat nämlich jeder Arbeiter einen Sack mit einem Tragband um die Schulter gehängt. Dieser reicht bis zur Erde, damit ihn der Arbeiter nicht zu tragen, sondern nur zu heben braucht, wenn er zur nächsten Staude will. Wenn der Sack voll ist, wird er auf den nächsten Weg gestellt, wo ihn der die Runde machende Wagen, der auch die leeren Säcke verteilt, aufnimmt. Beschmutzte, beschädigte oder fehlerhafte Baumwolle wird in eine besondere Tasche getan. Im Wirtschaftsgebäude muß die Baumwolle auf einem hölzernen Trockenboden getrocknet werden. Dann werden zunächst die zwei Drittel des Gewichts ausmachenden Samen durch besondere Maschinen von den Fasern getrennt — egreniert, wie der technische Ausdruck lautet. Von der Sorgfalt, mit der dieses Egrenieren vorgenommen wird, hängt ja die Reinheit der Baumwolle ab. Dies geschieht in einfachster Weise durch Auszupfen mit der Hand. Doch haben selbst die Neger eine Vorrichtung erfunden, vermittelst der das Entfernen der Samen rascher von statten geht. In europäischen Betrieben geschieht das Entkernen mit den Entkernungs-[S. 101] oder Ginmaschinen, die an den Mittelpunkten der Baumwollerzeugung, den Ginstationen, aufgestellt sind. Hernach wird die Baumwolle durch hydraulische Pressen in 450 kg schwere Ballen gepreßt, die dann in Säcke von Hanf oder Jute eingenäht und mit Bandeisen verschnürt in den Handel kommen. Der weitaus größte Teil derselben wird dann in Fabriken zu den verschiedensten Garnen und Stoffen verarbeitet und nur ein kleiner Teil dient, entfettet, zur Herstellung von Verbandwatte, Schießbaumwolle, Kollodium und Chardonnetseide, welch letztere zu einem neuen aussichtsreichen Industriezweige Veranlassung gegeben hat.
So lange die Baumwolle lediglich durch Handbetrieb zu Garnen und Geweben verarbeitet wurde, wie dies in Indien und im Orient, dann auch im Abendlande gegen das Ende des 18. Jahrhunderts der Fall war, waren die daraus hergestellten Kleider und anderen Gebrauchsgegenstände naturgemäß teuer und konnten nicht in allgemeinen Gebrauch gelangen. Erst als in England in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Spinnmaschinen und mechanischen Webstühle in Gebrauch kamen, wurde das Fabrikat billiger, so daß Baumwollstoffe auch in minder bemittelten Kreisen in allgemeinen Gebrauch kommen konnten. Nur sogenannte Nangkinfabrikate (von Gossypium religiosum) kommen noch aus Ostindien zu uns. Sonst wird der ganze Bedarf in Europa selbst erzeugt, und zwar ersetzen die 45 Millionen Spindeln Englands die Handarbeit von 230 Millionen Menschen und spinnen zusammen jährlich einen Faden, der 130mal die Entfernung der Sonne von der Erde durchspannen würde.
Ehe die Verarbeitung der Baumwolle zu Garn beginnt, wird sie zunächst mit größeren Mengen derselben Sorte gut gemischt, um Garne von möglichst gleichmäßiger Güte zu erzielen, dann bei 30° C. getrocknet, in einer Wolf genannten Maschine gelockert, gründlich gereinigt und, nachdem sie von der Schlag- oder Wattenmaschine in breite, zusammenhängende, flache Streifen (Watte) gebracht worden, von der Kratzmaschine in zarte, lockere Bänder verwandelt. Hierauf werden diese durch die Streckwalze gestreckt und geglättet, dann in der Vorspinnmaschine verfeinert und erst zu dicken, lockeren und durch weiteres Verspinnen zu feineren Fäden gedreht. Endlich werden sie auf der Spinnmaschine zu Garn versponnen, das so fein sein kann, daß ½ kg desselben 1672 km lang ist, d. h. von Leipzig bis Konstantinopel reichen würde. Nach der Feinheit des verwendeten Garns unterscheidet man Kattun (nach der arabischen Bezeichnung für Baumwolle),[S. 102] Indienne (so genannt, weil ursprünglich aus Ostindien stammend mit allerlei bedruckten Figuren), Kalikos (ebenfalls ein bedruckter Baumwollstoff, so genannt, weil er zuerst aus Kalikut bezogen wurde), Nangking (ein gelbliches oder rötliches Baumwollenzeug, nach dem früheren Bezugsort in China so genannt), Perkal (dichtes, leinwandartiges Baumwollgewebe, die gröberen gleichen den Kalikos, die feinsten dagegen sind dichter als Musselin), Musselin (feinstes, durchscheinendes Baumwollgewebe — glatt, gestreift, durchbrochen usw. — aus wenig gedrehtem Garn und deshalb mit zartem Flaum, nach der Stadt Mossul am Tigris so genannt, doch ist der ostindische noch immer besonders fein und zart), Jakonett (französisches, glattes Musselin, nach einem französischen Fabrikanten so geheißen), Gingan (das ursprünglich ostindische, glatte oder gestreifte Gewebe in Baumwolle mit Bast, auch in reiner Baumwolle oder Leinen nachahmt, vom javanischen ginggan vergehend, verbleichend), Tüll (netzartiges Zwirnzeug nach dem ersten Fabrikationsort desselben, der französischen Stadt Tulle, so genannt), Barchent (geköpertes Baumwollgewebe, ursprünglich mit leinener Kette, auf einer Seite rauh und wollig), Pikee (vom französischen piqué gesteppt, mit doppelter Kette gewebtes Baumwollgewebe mit erhöhtem Muster), Manchester (nach dem ersten Fabrikationsort so bezeichneter Baumwollensamt) usw.
Früher warf man die beim Egrenieren zurückgebliebenen Samen der Baumwollpflanze, soweit man sie nicht als Saatgut verwendete, als nutzlos weg. Bald aber fand man, daß sie zu 20–30 Prozent ein sehr wertvolles Öl enthalten, das man nun sorgfältig aus ihnen preßt. Ja, man würde heute die Pflanze lediglich als Ölpflanze kultivieren, wenn sie nicht auch noch die wertvolle Faser lieferte. Der noch die Hälfte des Gewichtes Eiweiß enthaltende Preßrückstand dient als wertvolles Viehfutter.
Über die Anfänge der Baumwollkultur ist wenig Sicheres bekannt. In der Alten Welt hat sie augenscheinlich in Indien ihren Ursprung genommen, wo zuerst die niedrige krautige Baumwolle vom Menschen in Pflege genommen wurde. Zu ihr kam dann später ebenfalls in Indien die baumförmige Art hinzu, von der in der Folge die heilige dreiteilige Brahmanenschnur, das Sinnbild der göttlichen Dreiheit, angefertigt wurde. Die indische Baumwolle, im Sanskrit kârpâsi genannt, wird zuerst in den zwischen 600 und 500 v. Chr. entstandenen jüngsten vedischen Schriften, den Sutras, und zwar schon in Verbindung mit Gewändern erwähnt. Sicher wurde sie schon da[S. 103]mals in Indien in beträchtlichen Mengen zu Geweben verarbeitet. Von dort aus hat sich ihre Kultur über Hinterindien nach China verbreitet, wo zuerst der Kaiser Wu-ti um 600 v. Chr. sich in wertvolle, jedenfalls aus den Kulturländern im Süden importierte Baumwollkleider hüllte. In der Folge wurde nach Einführung der Baumwollstaude die Baumwolle im Reiche der Mitte das am meisten benutzte Zeugmaterial, wenngleich auch noch viel Hanf und besonders Ramie oder chinesische Nessel zur Herstellung von Geweben verwendet wird. Indessen läßt sich eine eigentliche Kultur der Baumwolle in China nicht vor dem 11. Jahrhundert n. Chr. nachweisen, und manche Gelehrte nehmen an, daß sie sogar erst im 13. Jahrhundert durch die das Reich erobernden Tataren eingeführt wurde.
Die erste Kunde von der in Indien als Faserstoff zur Herstellung von leichten Gewändern benutzten Baumwolle verdanken wir dem Vater der Geschichtschreibung, dem Griechen Herodot (484–424 v. Chr.), der von 460–456 Ägypten, Syrien und Babylonien bereiste und in seinem in ionischem Dialekte verfaßten Werke über die Geschichte des Orients und Griechenlands nach der auf seiner asiatischen Reise in Erfahrung gebrachten Kunde berichtet: „In Indien gibt es wilde Bäume, welche als Frucht eine Wolle (eírion) tragen, die an Schönheit und Güte die Schafwolle übertrifft. Die Indier machen aus dieser Wolle ihre Kleider.“ Nach demselben Autor war das indische Hilfskorps des Xerxes bei seinem Zuge zur Eroberung Griechenlands im Jahre 492 in solch baumwollene Kleider gehüllt. Auch der Grieche Ktesias aus Knidos, der von 416–399 Arzt am persischen Hof in Susa war und eine wertvolle, leider nur in Auszügen erhaltene persische Geschichte schrieb, weiß von der Baumwolle als einer Gespinstpflanze Indiens zu berichten. Die Pflanze selbst und ihr Produkt lernten aber erst die Begleiter Alexanders des Großen auf ihrem Zuge nach Indien kennen. Die Leute am Indus trugen nämlich baumwollene Gewebe, und die Baumwolle trat den Makedoniern daselbst so häufig entgegen, daß sie dieselbe zum Ausstopfen von Kopfkissen und Pferdesätteln benutzten. Diese Begleiter Alexanders auf seinem Zuge nach Indien brachten eingehendere Mitteilungen darüber in die Mittelmeerländer, wo diese Gespinstpflanze bis dahin völlig unbekannt geblieben war; denn die alten Babylonier, Ägypter und Griechen hatten bis dahin außer der tierischen Wolle stets nur den Lein zur Herstellung von Stoffen verwendet. Der Aristotelesschüler Theophrast erwähnt in der zweiten Hälfte des 4. vorchristlichen Jahrhunderts, daß in Indien eine Gespinstpflanze[S. 104] kárpasos gedeihe, aus der hergestellte Stoffe die Begleiter Alexanders von dort mitbrachten. Dieser Begründer der Botanik schreibt in seiner Pflanzengeschichte: „Auf der Insel Tylos im Arabischen Meerbusen (heute Bachraim am Eingang des Persischen Golfes) sollen viele wolletragende Bäume (déndra erióphora) stehen, deren Blätter wie Weinblätter, nur kleiner sind. Statt der Früchte bringen sie geschlossene Behälter von Apfelgröße hervor. Werden diese reif, so nimmt man die darin befindliche Wolle und webt aus ihr sowohl geringe als auch sehr kostbare Gewänder. Solche Bäume wachsen auch in Indien und Arabien.“ Diesen Passus schrieb der ältere Plinius um die Mitte des ersten christlichen Jahrhunderts fast wörtlich ab mit der Bemerkung, daß diese Bäume gossypini (Einzahl gossypinus) heißen — woraus dann die Botaniker später die wissenschaftliche Bezeichnung gossypium schufen. Nach ihm soll es wie in Indien und Arabien auch in dem an Ägypten angrenzenden Negerlande wolletragende Bäume geben, „deren Kapseln etwa so groß wie Granatäpfel sind“. Auch der römische Dichter Vergil, der Verfasser der berühmten, Augustus und seinem Geschlechte gewidmeten Äneis (70–15 v. Chr.) sagt in seinem Georgica benannten Lehrgedicht über den Landbau: „Im Negerlande gibt es Bäume, die weiche, weiße Wolle tragen.“ Der griechische Schriftsteller Flavius Arrianus (geb. um 100 n. Chr. zu Nicomedia in Bithynien, ward 136 unter Hadrian Präfekt von Kappadokien und starb unter Marcus Aurelius ums Jahr 176) schreibt in seiner indischen Geschichte: „Die Kleidung der Indier wird, wie Nearchos (der Flottenführer Alexanders des Großen, der nach dessen Feldzug nach Indien im Jahre 325 v. Chr. die Flotte vom Indus aus durch das Erythräische Meer in den Persischen Meerbusen führte und wie er in seinem „Paraplus“ genannten Reisebericht darüber meldet, auf dieser Fahrt die Mündungen des Euphrat und Tigris fand) sagt, aus dem Lein gefertigt, der auf Bäumen wächst. Dieser Lein ist entweder reiner weiß als jeder andere Lein oder scheint wenigstens weißer, weil die Indier, die ihn tragen, schwarz sind.“
Durch die Perserherrschaft wurde der Anbau und die Verwendung von Baumwolle als Gespinstmaterial in Vorderasien allgemeiner. Von Persien, besonders aber aus Indien führte man in der hellenistischen und mehr noch zur römischen Kaiserzeit über die Hafenstädte am Roten Meer und Alexandrien ziemliche Mengen fertiger Baumwollstoffe in die reichen Städte am Mittelmeer, zumal dem üppigen Rom, aus, wie uns der zu Ende des 2. Jahrhunderts n. Chr. in letzterer Stadt[S. 105] lebende Sophist Flavius Philostratos der Ältere berichtet. Außer in Persien, Syrien und Ägypten wurde nach der Schilderung des griechischen Geschichtschreibers und Geographen Pausanias in seiner zwischen 160 und 180 n. Chr. geschriebenen Periegesis oder Reisebeschreibung von Griechenland, Kleinasien, Syrien, Ägypten und Italien einzig in Elis, im westlichen Peloponnes, Baumwolle gepflanzt. „Eleia ist das einzige griechische Land, in der die Baumwolle (býssos) gedeiht. Die eleische Baumwolle ist ebenso zart wie die hebräische, aber nicht so gelb.“ Und Plinius (23–79 n. Chr.) sagt in seiner Naturgeschichte: „Das baumwollene Zeug (býssinon), welches in der Umgegend von Elis und in Achaia gewonnen wird, ist bei den Damen so beliebt, daß es früher dem Gewicht nach mit Gold in gleichem Werte stand.“ Doch hat sich damals die Baumwollkultur nicht weiter im römischen Reiche verbreitet, und das ganze Altertum hindurch kam weitaus das meiste an fertigen Baumwollstoffen als kostbare Handelsware aus dem Orient, besonders aus Indien, nach Europa. Dies blieb auch so nach dem Untergange der römischen Weltherrschaft, als die eleische Baumwollindustrie zugrunde gegangen war.
In der Folge dehnten die Araber mit der Ausdehnung ihrer Herrschaft das Verbreitungsgebiet der Baumwolle weiter aus. Sie brachten die Kultur dieser Staude mit derjenigen des Zuckerrohrs im 8. Jahrhundert nach Nordafrika, im 9. nach Sizilien und im 10. nach Südspanien. In Andalusien beförderte besonders der Kalif Abdurrhaman II. (912–961) den Anbau dieser Gespinstpflanze. Obschon die Araber selbst viel, allerdings gewöhnliche Baumwollstoffe herstellten, bezogen sie die feinsten Baumwollstoffe immer noch aus Indien. Zwei Araber, die im 9. Jahrhundert Indien bereisten, erzählen, daß dort fast völlig durchsichtige Kleider hergestellt würden, so fein, daß ein ganzer Rock durch einen Fingerring hindurchgezogen werden könne. Tavernier berichtet, daß türkische Turbane aus 16 m feinstem, indischem Musselin zusammengewunden seien, doch nur vier Unzen (= 120 g) wögen. Die feinsten dieser Gewebe, zu Gantipuru und Datta in Indien gefertigt, sehe man nicht, wenn sie, auf eine Wiese ausgebreitet, vom Tau befeuchtet sind. Die Inder nennen sie „gewebten Wind.“
So gebräuchlich im frühen Mittelalter Baumwollstoffe bei den Muhammedanern waren, so überaus selten waren sie bei den Abendländern anzutreffen. In seiner Geschichte der Franken hebt der Geschichtschreiber Gregor von Tours hervor, es sei im Jahre 580 ein Fremder zu Tours erschienen, der über einem ärmellosen Rock einen[S. 106] Mantel aus Baumwolle trug; und im Jahre 807 erregten Zelte, die der Kalif von Bagdad Harun al Raschid (d. h. H. der Gerechte) Karl dem Großen geschenkt hatte, große Bewunderung bei den Franken, nicht nur ihrer Größe und Buntheit wegen, sondern vor allem weil sie aus Baumwollenzeug hergestellt waren. Welchen Wert man bis tief ins Mittelalter der Baumwolle gab, beweist der Umstand, daß man ihr im Mittellatein den Namen der Seide oder eine Nebenform desselben, nämlich bombix oder bombax gab. Erst im 12. Jahrhundert kam im Volke der deutsche Name Baumwolle auf, so daß daraus geschlossen werden darf, daß damals weitere Kreise mit ihr rechneten. So wird im Gedicht „Erec“ des Hartmann von Aue (lebte 1170 bis 1215, nahm an den Kreuzzügen von 1189 und 1197 teil und lernte wohl die Baumwollpflanze in Palästina oder Syrien kennen) ein Sattelkissen linde sam ein boumwol, d. h. weich wie Baumwolle bezeichnet, und im 13. Jahrhundert berichtet ein Autor lateinisch „von der bombaxwolle, welche jetzt beim Volke boumwolle heißt“. Eine zu Anfang des 14. Jahrhunderts vorkommende, aber nur vereinzelte Bezeichnung cottûn im Marienleben des Walther von Rheinau, in welcher solcher neben „flachs, wolle und sîden“ gefärbt als Gegenstand des Webens aufgezählt wird, geht auf das italienische cotone für Baumwolle (und zugleich Baumwollstaude) zurück, das aber selbst aus dem arabischen kutn für jene Gespinstpflanze und deren Produkt stammt. Ebendaher rühren auch das französische und englische coton und das spanische algodon (mit dem arabischen Artikel al — z. B. auch in Alkohol, Alchemie usw. zu erkennen — davor). Erst im 17. Jahrhundert wird jenes arabische Wort als Kattun mit der Verarbeitung der Baumwolle zu Geweben auch in Deutschland häufiger. Ein eigenartiges, aus Leinen und Baumwolle gemischtes Zeug wird mit einem ursprünglich Wollstoff bezeichnenden fremden Wort barchât, später barchant belegt; aus diesem wurde dann unser Barchent für geköpertes Baumwollgewebe mit oft leinener Kette.
Die Einführung der Baumwolle als Gespinstfaser neben dem altgebräuchlichen Lein hat dann in Europa wie in China die Kunst der Weberei beträchtlich gesteigert. Es konnten nun viel mannigfaltigere Stoffe hergestellt werden, wie Zwilich und Drilich (als Umdeutschung des lateinischen bilix und trilix, woraus später unsere Bezeichnungen Zwilch und Drilch entstanden) für zwei- oder dreifädig gewebtes Zeug, dann — seit dem 14. Jahrhundert — damasch für gemusterte Stoffe aus Seide, Baumwolle oder Leinen nach der Stadt Damaskus, wo[S. 107] solche zuerst von den Arabern hergestellt wurden. Mit der Herstellung des Damastes bürgerte sich auch in Europa jene Art von Weberei ein, welche es versteht, auch in gebleichtes Garn allerlei Muster zu weben, so daß sie nicht sowohl durch Farbe, als bloß durch verschiedene Fadenlage zeichnerisch hervorstechen.
Noch das ganze Mittelalter hindurch kamen arabische und indische Baumwollgewebe über Venedig und Genua, von wo sie durch Säumer über die Alpenpässe nach Norden gebracht wurden, nach Augsburg und Ulm, wo bedeutende Stapelplätze dafür waren. Später suchte man die Rohbaumwolle nach Europa zu bringen und hier zu verarbeiten. Und zwar war es das für die Herstellung aller Gewebe von den wollenen Tuchstoffen bis zum Leinengewebe hervorragend tüchtige Flandern, das diesen neuen Industriezweig zuerst einführte. So entstanden am Ende des 16. Jahrhunderts in Gent und Brügge die ersten von Christen hergestellten Gewebe mit fast reiner Baumwolle, die an Güte den arabischen und indischen bald gleichgekommen sein sollen.
Diese Kattune in Form von buntbedruckten Baumwollengeweben kamen dann zu Anfang der selbständigen Regierung Ludwigs XIV., die 1661 nach Mazarins Tode begann, in Frankreich in Mode. Zuerst wurden sie von den Schiffen der Compagnie des Indes von der Koromandelküste, wo Frankreich Kolonien besaß, nach Frankreich importiert, wo die heiteren Farben, die große dekorative Wirkung und der exotische Stempel dieser leichten Stoffe sie überall sehr beliebt machte. Man kleidete sich vielfach damit, ließ Morgenröcke und Möbelüberzüge daraus verfertigen, so daß die Ware trotz ihres hohen Preises reißenden Absatz fand. Da diese Stoffe selten waren, kamen einheimische Handwerker auf den Gedanken, aus dem Orient eingeführte weiße Baumwollengewebe in der Art der indischen Kattune zu bedrucken und machten damit sehr gute Geschäfte, da die Beliebtheit des Kattuns immer mehr stieg und zwischen 1670 und 1680 unter der vornehmen Welt geradezu eine Kattunmanie herrschte. Die Fabrikanten anderer Stoffe und ein Teil der Handwerker fühlten sich darob so beunruhigt, daß sie sich an den Minister Colbert wandten, der sich ihrer annahm und im Jahre 1681 die Fabrikation und den Verkauf dieser gefärbten Tücher strengstens verbot. Die Folge davon war die Entstehung großer Kattunfabriken in England und der Schweiz. Auch entstand ein wahrer Kampf zwischen den französischen Behörden und der kattunsüchtigen Frauenwelt, die sich an das Verbot nicht hielt.[S. 108] Von 1681–1716 versuchten mehr als 30 Erlasse die Pariserinnen zur Vernunft zu bringen; doch fruchtete alles nichts. Im Gegenteil, das Verbotene reizte, und trotz aller Beschlagnahme wurde Kattun nach Frankreich eingeführt. Dabei waren die Beamtenfrauen die ersten, die die verbotenen Stoffe trugen. Die seit 1748 als Geliebte Ludwigs XV. am Hofe lebende Madame Jeanne Antoinette Poisson, die zur Marquise von Pompadour erhoben wurde und bis zu ihrem Tode 1764 in Versailles einen großen Einfluß auf die Regierungsgeschäfte ausübte, stattete in ihrem Schloß Bellevue eine ganze Zimmerflucht mit diesem Stoffe aus. Bald berieten selbst die Minister über ihre Maßnahmen gegen den Kattun in Räumen, die mit Kattun ausgeschlagen waren! Da gab am 9. November 1759 die Regierung endlich nach: die Herstellung und der Verkauf des Kattuns wurde in Frankreich gestattet. Derselbe behauptete von nun an noch längere Zeit seine Herrschaft. Noch der sonst fortschrittlich gesinnte Kaiser Josef II. von Deutschland, der von 1765–1790 regierte, verbot das Tragen von Kattun in seinen Ländern wegen dessen hohen Preises. Seine Untertanen sollten sich an die altgewohnte Linnenkleidung halten.
In England, wo man zuerst unter Heinrich VIII. (regierte von 1509–1547) in Lancashire und unter dessen Sohn Eduard VI. (1547 bis 1553) auch in Manchester und Cheshire Baumwolle zu verarbeiten begann, verstand man sehr lange keine festen Ketten aus Baumwolle zu machen, sondern verwandte dazu Leinengarne. Erst 1772 brachte man dieses Kunststück zustande und vermochte von nun an reine Baumwollengarne anzufertigen. Als dann der Schotte James Watt 1769 die Dampfmaschine verbessert hatte, und gleichzeitig die Spinnmaschine und der mechanische Webstuhl erfunden worden waren, begann dem vermehrten Bedarf an Baumwolle entsprechend eine größere Zufuhr des Rohmaterials nach England, das schon 1782 mehr als 33000 Ballen aus Syrien, Makedonien und Cayenne einführte. Die Länder, welche heute für Baumwollausfuhr in erster Linie in Betracht kommen, produzierten damals nur für ihren eigenen Bedarf. Ja Ägypten konsumierte selbst so viel, daß es noch Baumwolle aus Cypern und Kleinasien kaufen mußte. Nur die Südstaaten Nordamerikas, in welchen die Baumwollkultur ums Jahr 1770 eingeführt wurde, erzeugten damals schon in zunehmendem Maße Baumwolle, so im Jahre 1800 bereits 9 Millionen kg. Schon nach Beendigung der napoleonischen Kriege bezog England 85 Prozent seines Baumwollbedarfes aus Nordamerika. Die Produktion nahm dort immer mehr zu, so daß[S. 109] jenes Land 1860 4824000 Ballen zu 450 kg ausführte. Da brach 1861 der bis 1865 dauernde unheilvolle Bürgerkrieg aus, der die Kultur dieser Nutzpflanze hochgradig behinderte, so daß bald in der Baumwollindustrie, die von dort aus ihr Rohmaterial hauptsächlich bezog, ein förmlicher „Baumwollhunger“ ausbrach. Die Folge war, daß sehr hohe Preise für den Rohstoff bezahlt wurden. Dies bewog die verschiedensten tropischen und subtropischen Länder, diese wertvolle Nutzpflanze in Kultur zu nehmen. Indien, das vor dem nordamerikanischen Bürgerkriege nur 9–26 Prozent der in England verarbeiteten Baumwolle lieferte, lieferte nun während desselben 50 Prozent des Bedarfes, während Nordamerika von 46–84 Prozent der Einfuhr auf 7 Prozent sank. Aber nach dem Kriege eroberten die Vereinigten Staaten nicht bloß ihre alte Position zurück, sondern übertrafen noch ihre früheren Leistungen bedeutend. Während die dortige Ernte im Dezennium vor dem Kriege 1300 Millionen kg jährlich betrug, stieg sie im Dezennium nach dem Kriege auf 20000 Millionen kg.
Dieser ungeheure Baumwollverbrauch war erst möglich, als die Spinn- und Webemaschinen eingeführt waren. Den Anstoß dazu gab im Jahre 1767 der englische Zimmermann Hargraves durch seine nach seiner Tochter Jenny bezeichnete Spinnmaschine, auf der viel mehr und besseres Garn als mit der Hand hergestellt zu werden vermochte. 1796 erfand dann der Engländer Arkwright seine Wasserspinnmaschine, so genannt, weil sie zuerst durch Wasser getrieben wurde. Beide Systeme vereinigte dann Crampton in seiner Mêlemaschine. Und so kam ein Fortschritt nach dem andern, bis besonders in England die heutige Baumwollspinnerei und -weberei ausgebildet wurde. Heute noch steht dieses Land mit 45 Millionen Spindeln an der Spitze der gesamten Baumwollindustrie der Welt, ihm folgen die Vereinigten Staaten von Nordamerika mit 16 Millionen Spindeln, dann kommen der Reihe nach Deutschland, Frankreich, Rußland, Ostindien, Österreich, Italien. Neuerdings macht Japan, wie allen Industrien, so auch hierin den Kulturstaaten starke Konkurrenz. Erst im Jahre 1875 wurde die Baumwollspinnmaschine dort heimisch, und schon 1894 arbeiteten 780000 Spindeln in jenem Lande.
Nach China kam die Baumwollstaude im 10. Jahrhundert, war aber noch im 11. Jahrhundert Gartengewächs. Erst vom 13. Jahrhundert an wurde sie im freien Felde angepflanzt, doch nie in der Ausdehnung, daß man auf die Einfuhr von Indien oder Burma hätte verzichten können. Gegen das Ende des 18. Jahrhunderts brach[S. 110] eine große Hungersnot in Südchina aus; da verordnete der Kaiser, daß der größte Teil des zum Anbau von Baumwolle verwendeten Landes dem Getreidebau zurückgegeben werden solle.
Wie die Portugiesen bei den Kaffern und Mungo Park bei den Negern in Senegambien und Guinea, so fanden Kolumbus, Cortez, Pizarro und Almagro den Gebrauch der Baumwolle überall in Amerika gebräuchlich.
Während in der Alten Welt die Flachskultur, die wir außer bei den neolithischen Pfahlbauern zuerst in Vorderasien, speziell Babylonien und dann Ägypten antreffen, dann auch die schon früh aus Indien nach Persien gebrachte Hanfkultur, sowie in China die Seidenzucht neben der Wollverwertung dem Baumwollbau lange voranging, scheint sich in Amerika die Webekunst und Färberei direkt an der Gespinstfaser der westindischen Baumwollpflanze entwickelt zu haben. Nicht nur finden wir die verschiedensten Gewebe und Fabrikate aus Baumwolle als Grabbeigaben in den Gräbern der alten amerikanischen Kulturvölker von Peru bis Mexiko, sondern die Berichte der Spanier zur Zeit der Entdeckung Amerikas bezeugen, daß wie auf den Antillen, so auch in ganz Mittel- und dem warmen Südamerika die Kultur und Verarbeitung der Baumwolle überall eingeführt war. So benutzten die Azteken, die Bewohner Mexikos zur Zeit der Conquista, außer der Baumwolle auch die Faser der Agave als Gespinstmaterial, während sie den Flachs nur zur Gewinnung seiner fetten Samen anbauten. Wie sie pflanzten auch die übrigen amerikanischen Kulturvölker, die Mayas in Yucatan, die Chibchas in Kolumbien und die Ketschuas im alten Peru die Baumwolle, um daraus Gewebe anzufertigen, die als gesuchte Handelsartikel weithin transportiert wurden. Um sie zu färben und auf ihnen die zierlichsten Muster zu malen, benutzten sie bereits den Indigo, die Cochenille und das Brasilholz. Baumwollzeuge dienten überall in Amerika an Stelle des Geldes als beliebtestes Tauschmittel; sogar schon Papier, ja selbst Panzerhemden wurden daraus verfertigt. Ebenso waren die Segel ihrer aus mehreren walzenförmigen, an den Enden zugespitzten Binsenbündeln hergestellten floßartigen Fahrzeuge aus Baumwolle gewebt. Mit diesen sogenannten balsas wagten sie sich handeltreibend der Küste entlang bis hinauf zur Mündung des Rio San Juan am 4. Grad nördlicher Breite. Wunderbare Erzeugnisse speziell der altperuanischen Webekunst sind uns in den Gräbern des Totenfeldes von Ancon bei Lima erhalten geblieben. In ihnen waren die Toten in Hockstellung, von Decken und Tüchern[S. 111] umhüllt und mit einem reichen Inventar von Beigaben zum Leben im Geisterreich ausgestattet, in brunnenartigen Vertiefungen mit Seitennischen bestattet. Außer prächtig gemusterten und gefärbten Geweben aus Lamawolle, Baumwolle oder Pflanzenfaser, fanden sich auch mannigfaltige Kleidungsstücke, bei denen an den querlaufenden Fäden bunte Federchen in hübschen Mustern geknüpft waren, nebst den Webegeräten, vermittelst welcher sie hergestellt waren.
Leider hat sich diese hochstehende Kultur nicht weiter entwickeln können, sondern sie ging unter den rohen Händen der goldgierigen christlichen Konquistadoren bis auf kümmerliche Reste unter. Nur an ganz vereinzelten Stellen hat sich in abgelegenen Andentälern die alte, heimische Hausindustrie in der Verarbeitung der Baumwolle zu buntgemusterten Stoffen erhalten. Diese neuweltliche Baumwollkultur steht natürlich außer allem Zusammenhang mit der altweltlichen Ausbildung derselben. Beide haben sich vielmehr ganz selbständig aus den ihnen zu Gebote stehenden, eine natürliche Wolle als Ersatz der älteren Tierwolle darbietenden Pflanzen entwickelt.
Während die vorderasiatischen Gebiete unseren Vorfahren im Mittelalter schon die aufs kunstreichste hergestellten, hochgeschätzten Baumwollstoffe lieferten, die vielfach nach der Stadt Mossul am Tigris als Musseline bezeichnet wurden, waren diese über die Herkunft dieser Stoffe noch in vollständiger Unkenntnis befangen. Noch bis ins 17. Jahrhundert berichten uns die abendländischen Gelehrten in ihren Chroniken, daß der Baumwollstoff das Produkt der Wolle des tatarischen oder syrischen Pflanzenschafs, Barometz genannt, sei, dessen Früchte von der schönsten weißen Wolle bedeckte Lämmer enthalten. „Und daran wuchs“, schreibt Sir John Mandeville, ein englischer Ritter, der viele Länder bereiste, um deren Gebräuche und Wunder kennen zu lernen, „eine Art Früchte, als ob es Kürbisse wären; und wenn sie reif sind, kann man sie essen, und man findet darinnen ein kleines Tier mit Fleisch, Bein und Blut, als wie ein kleines Lamm, außen mit Wolle bedeckt; und man ißt beides, Frucht und Tier, und das ist ein großes Wunder. Und auch ich habe von dieser Frucht gegessen; aber obgleich es wunderbar ist, so weiß ich doch, daß Gott noch wunderbarer ist in seinen Werken.“
Andere wieder berichteten, dieser Barometz sei ein Lamm, das mit seinem Nabel auf dem Stamm der betreffenden Pflanze befestigt sei und sich von den ringsum wachsenden Gräsern ernähre; wenn aber das Futter aufgezehrt sei, so verwelke der Stamm und sterbe das Tier.[S. 112] So unglaublich schien unseren in größter Unwissenheit über alles, was jenseits der von ihnen bewohnten Länder geschah, dahinlebenden Vorfahren im Mittelalter die Möglichkeit des Vorkommens pflanzlicher Wolle, daß sie eben solche Märchen sich aufbinden ließen. Und dieses Märchen vom Schaf, das in Früchten auf Bäumen wachse, war noch lange nicht das Wunderbarste, das unsere biederen Ahnen damals glaubten und als verbürgte Wahrheit in ihren Chroniken aufzeichneten.
Die Kunst der Färberei hat sich im Anschluß an die Körperbemalung und Tätowierung entwickelt, die auch der vorgeschichtliche Europäer vor Zehntausenden von Jahren ausübte. Nebst Amulettschmuck sind Knollen von durch Eisengehalt rotem Ocker, der mit Tierfett vermischt zum Bemalen des Körpers diente, die ältesten nachweisbaren kosmetischen Gegenstände des Menschen. Dabei war es ja naheliegend, die Schmuckfarbe von der menschlichen Haut auf die geglättete Innenseite der zum Wärmeschutz umgehängten Tierfelle und später auch an die Außenseite der aus Leinfasern gewebten ältesten Kleidungsstoffe zu übertragen. So haben schon die neolithischen Pfahlbauern, und noch in erhöhtem Maße diejenigen der Bronzezeit, ihre neben den Fellen der erlegten Beutetiere getragenen Leinenkleider, wie wir aus der Verzierung ihrer gleicherweise bekleideten Idole aus gebranntem Ton schließen dürfen, mit einfachen linearen Ornamenten aus Erd- und Pflanzenfarben bedeckt. Neben Ruß und Roteisenstein dienten ihnen, nach den in ihren Kulturresten gefundenen Samen zu schließen, die Beeren des Attichs, einer Holunderart (Sambucus ebulus), zu einem hellen Blau, das Kraut des Wau (Reseda luteola) zu Gelb und vermutlich die Wurzeln der gemeinen Färberröte (Rubia tinctorum) zu einem schön leuchtenden Rot. Wahrscheinlich benutzten sie auch die aus den zerquetschten Blättern des Waids (Isatis tinctoria) gewonnene dunkelblaue bis schwarzgrüne Farbe, mit der sich nach dem Berichte Julius Cäsars die ihm bei seiner Landung in England im Jahre 55 v. Chr. entgegentretenden Britannier an Gesicht und Leib abschreckend bemalt hatten. Bei allen Naturvölkern werden dieselben Farbstoffe, die zur Hautbemalung dienen, trocken oder mit Wasser, seltener Fett oder Öl verrieben, auf ihre Fell- oder Zeugkleidung übertragen.
Die Chinesen, Inder, Perser, Babylonier, Syrer und Ägypter kannten und übten die Färberei seit uralter Zeit. Wie überall sonst dienten gefärbte Kleider auch bei ihnen als gesuchte und deshalb kostbare Gegenstände des Schmuckes und der persönlichen Auszeichnung. Schon in der Genesis wird erzählt, daß Israel seinem viel jüngeren Bruder Joseph einen „bunten Rock“ machte, um ihn zu erfreuen. In den Büchern Moses werden blau, purpurn und scharlachrot gefärbte Kleider als besonders kostbar erwähnt. Vorzugsweise wurde von den Phönikiern in Tyrus die Färberei und der Handel mit gefärbten Stoffen betrieben, und der aus dem Safte der zerquetschten, im Mittelländischen Meere lebenden Purpurschnecken (Murex brandaris und M. trunculus) gewonnene, vom Sonnenlichte nicht abschießende, sondern immer leuchtkräftiger werdende, dunkelviolettrote Purpur, der als Symbol priesterlicher und fürstlicher Würde galt, soll in jener phönikischen Stadt erfunden worden sein. Bereits die ältesten Ägypter verstanden ihre Leinenkleider, wie auch die aus demselben Material verfertigten Binden, mit denen sie ihre mumifizierten Toten einwickelten, kunstreich zu färben und unterschieden ihre Hauptgötter an den verschiedenen Farben ihrer heiligen Gewänder. Der römische Naturforscher Plinius der Ältere, um die Mitte des 1. christlichen Jahrhunderts, berichtet voll Bewunderung von dem eigentümlichen Verfahren der hochentwickelten ägyptischen Färberei, wonach das Zeug in die heiße Farbbrühe getaucht und einfarbig herausgezogen, später aber mit noch anderen Farben geschmückt wurde. Es scheint, als ob hier schon von Färberei mit Wachsdeckung in Verbindung mit nachfolgender Zeugdruckerei die Rede sei. Die Produkte des ägyptischen Kunstfleißes wurden weit verführt, und werden sowohl von jüdischen, als von griechischen Schriftstellern häufig erwähnt. Der Sitz der ägyptischen Linnenmanufaktur und -färberei war die alte Hauptstadt Memphis in Unterägypten, woselbst die bedeutendsten tyrischen Kleider- und Stoffhändler besondere Faktoreien und Färbereien besaßen. Auch die von ihnen in Tyrus selbst zu färbenden Zeuge, Gewänder und Teppiche bezogen sie zum großen Teil aus Ägypten, wie im Klagelied des im Jahre 598 v. Chr. mit dem König Jojachin von Juda von den Assyriern nach Mesopotamien abgeführten Propheten Hesekiel über die Zerstörung von Tyrus zu lesen ist.
Die alten Griechen scheinen auf kunstvoll gefärbte Kleider weniger gehalten zu haben; denn sie trugen, im Gegensatz zu den prunkliebenden Orientalen, meist ungefärbte Gewänder. Dies war wenigstens[S. 115] in der klassischen Zeit der Fall; aber noch im 7. und teilweise noch im 6. vorchristlichen Jahrhundert hatten auch sie, vom phönikischen Handelsimport beeinflußt, vielfach buntfarbige Gewänder getragen, mit denen sie in späterer Zeit nur noch die Statuen ihrer Götter bekleideten und die ihre Schauspieler als Abzeichen der alten Zeit trugen, wenn sie in den als gottesdienstliche Handlungen aufgefaßten öffentlichen Schauspielen die in längstvergangener Zeit lebenden Heroen darstellten, als ob sie noch unter den Sterblichen wandelten. In demselben Sinne brachten auch die attischen Jungfrauen der Stadtgöttin Pallas Athene an dem ihr geweihten Feste der Panathenäen ein kunstvoll farbig verziertes Obergewand, das péplon, zu einer Zeit dar, da sonst niemand mehr in Athen solch orientalisch bunte Kleider trug. Bei den Römern war eine rote Verbrämung des weißen, als Toga bezeichneten Obergewandes die Auszeichnung der noch nicht mannbaren Knaben und der Standespersonen. Die Ritter trugen den rotgestreiften Mantel, die trabea. Bei Trauer wurde die Toga schwarz gefärbt. Bei den Spielen im Zirkus unterschieden sich die verschiedenen Parteien durch die Farbe ihrer Anzüge und Plinius spricht von Grün, Orangerot, Grau und Weiß. Als Farbmaterial benutzte man im Altertum nach dem Pflanzenverzeichnis des Dioskurides und anderer Autoren Safran, Waid, Färberginster, Krapp, Alkanna, Galläpfel, die Samen des Granatapfels und einer ägyptischen Akazie, verschiedene Früchte und als Phykos bezeichnete Farbflechten. Da man außerdem Alaun, Eisen- und Kupfervitriol anwandte, muß das Beizen schon bekannt gewesen sein. Von allen diesen Farbpflanzen wurde aber außer Safran, der mehr als Gewürz diente, Wau, Waid und Krapp keine einzige von den Römern angebaut.
Auch bei den Kelten und Germanen der frühgeschichtlichen Zeit war die Kunst des Färbens ziemlich ausgebildet. So berichtet der römische Geschichtschreiber Tacitus (74–118 n. Chr.) von den deutschen Frauen, daß sie ihre Kleidung mit Rot zu verzieren pflegen. Aus Gallien führt er purpurrot färbendes Kraut an, womit er jedenfalls die zu jener Zeit auch in Germanien bekannte und angewandte gemeine Färberröte oder Krapppflanze meinte. Die Kultur dieser Pflanze wurde dann, wie wir bald sehen werden, im späteren Mittelalter in gewissen Landschaften Mitteleuropas sehr intensiv betrieben. Ebenso geschätzt war bei den frühgeschichtlichen Mitteleuropäern der zum Blaufärben benutzte Waid, der unter diesem Namen für Westgermanien bezeugt ist und im 6. Jahrhundert bei den Goten unter dem Namen[S. 116] wizdila gebräuchlich war. Auch die gelbfärbende Färberdistel wurde auf Wiesen und an feuchten Orten, wo sie wild wächst, gesammelt und von den Frauen zum Färben benutzt.
Die Entwicklung der Färberei wurde in Europa im 5. Jahrhundert durch die Wirren der Zeit der Völkerwanderung erstickt, blühte aber im Orient weiter, dessen bunte Textilstoffe von der tyrischen Blütezeit ab im ganzen Abendland hochgeachtet waren. Besonderen Ruf für ihre Produkte erlangten in ihm die Perser und Syrer, die gleich den Indern die kunstvollsten Webereien und Stickereien in den buntesten Farbenzusammenstellungen, wie sie nur die glanzvolle Beleuchtung unter dem südlichen Himmel eingab, schufen. Im Morgenlande übertrug sich auch die seit alter Zeit beobachtete Standesunterscheidung durch Farben der Gewänder auf die Muhammedaner, bei denen Grün die Auszeichnung der Familie des Propheten, der grüne Turban aber das Kennzeichen des Hadschi, d. h. desjenigen ist, der die vom Propheten vorgeschriebene Pilgerreise nach Mekka absolviert hat. Ähnlich wie in Indien heute noch den einzelnen Kasten, wie auch den verschiedenen Rangstufen innerhalb derselben genau vorgeschrieben ist, welche Farben und in welcher Zusammenstellung sie dieselben tragen dürfen. Die europäischen Fabrikanten kennen diese Gesetze ganz genau und haben eigene Musterbücher dafür.
In Indien steht die Kunst der Färberei auf derselben hohen Stufe wie vor tausend Jahren. Hier gibt man den Zeugen an den Stellen der Zeichnung, die anders gefärbt werden sollen, einen Überzug von Mastix, den weder kalte, noch warme Farbstofflösung aufzulösen vermag. Ist das Gewebe in der betreffenden Farblösung gefärbt, so braucht man nur den Mastix in Spiritus aufzulösen, unter dessen Hülle dann der Grund des Zeuges in seiner ursprünglichen Färbung zum Vorschein kommt. Die Malaien Indonesiens verfahren in ähnlicher Weise beim Färben ihrer Sarongs oder Lendentücher, ihrem oft einzigen, jedenfalls aber wichtigsten Kleidungsstück, dem sie die zierlichsten Muster zu geben wissen. Auf einem Kohlenfeuer wird eine bestimmte Wachsmischung flüssig gemacht, in einen pfeifenkopfähnlichen Behälter oben an einer dünnen Kupferröhre gegossen und fließt von da durch die Röhre ab, durch welche es vermittelst Fingerdruck auf das Zeug geleitet wird. Hier deckt es alle jene Stellen, welche nicht in der betreffenden Farbe koloriert werden sollen. Natürlich muß die Zeichnung von beiden Stellen gleichmäßig mit der Wachslösung bedeckt werden, damit die Farbe nicht von einer Seite eindringen könne.[S. 117] Nach dem Färben in kalter Farblösung wird das Wachs durch Kochen in heißem Wasser entfernt und dieselbe Prozedur für alle folgenden Farben vorgenommen, soviel solcher zur Anwendung gelangen. Mit dieser sogenannten Battikfärberei vermögen die Malaien besonders des östlichen Java die wunderbarsten Effekte zu erzielen und farbige Muster von staunenswerter Grazie zu erzeugen.
Auch die Bewohner der polynesischen Inseln färbten, ehe sie die europäischen Baumwollstoffe kennen lernten, ihre mit Holzklöppeln breit geschlagenen Lendentücher aus weichem Baumbast mit den verschiedensten einfachen Mustern. Unsere Museen bergen teilweise bemerkenswerte Proben dieser verzierten polynesischen Tapa. Noch sehr viel kunstvoller verstanden die alten Peruaner und Mexikaner vor der Zerstörung ihrer hohen Kultur durch die goldgierigen Spanier ihre Lama- und Baumwollgewebe, wie auch Lederarbeiten mit Farbmustern zu bemalen. Proben mexikanischer Gewebe, die Fernando Cortez an Karl V. nach Europa sandte, erregten durch ihre Schönheit nicht geringes Aufsehen. Und wer je das Berliner Völkermuseum besuchte, wird von den zahllosen hübschen Mustern überrascht sein, welche in den Umhüllungen und Beigaben der Mumien von Ancon und anderer Gräberfelder in Peru aus der Zeit der Inkas zutage gefördert wurden. Sie gefielen den modernen Europäern in so hohem Maße, daß diese schematisierten Muster auf zahllosen Erzeugnissen der heutigen Textilindustrie kopiert wurden und uns häufig, besonders an Tischdecken, entgegentreten. Auch die Indianerinnen Nordamerikas wußten einst Fasern und Schnüre zu färben, mit denen sie die Kleider und Mokassins, d. h. Schuhe aus weichem gegerbtem Leder, wie auch die Zeltdecken aus Büffelhaut schmückten. Heute noch üben die von der Kultur noch nicht zugrunde gerichteten Indianerstämme Alaskas, wie besonders die Thlinkiten und Bella-kula, ihre hochentwickelte Färbekunst auf Leder und Holz zur Freude der ethnographischen Sammlungen aus. Als Färbemittel gebrauchen die verschiedenen Indianerstämme Zinnobererde, Büffelbeeren, Blaubeeren, Gelbholz, Quercitron, Galläpfel usw.
Durch die Vermittlung der Kreuzzüge, die das Abendland in nähere Verbindung mit dem Morgenlande brachten, gelangte die Schönfärbekunst im 12. und 13. Jahrhundert wiederum nach Europa, abgesehen von Spanien, das in den Mauren treffliche Färbekünstler besaß. Zunächst wurde diese für das übrige Europa neue Kunst in Italien geübt, das ja durch seine Schiffahrt in regster Verbindung mit[S. 118] dem Oriente stand. Zuerst war es Florenz und dann Venedig, deren Färbereien bald den höchsten Ruhm im Abendlande erlangten. Ein Einwohner der erstgenannten Stadt hatte im 13. Jahrhundert das Geheimnis der Darstellung der blaufärbenden Orseille aus einer Flechte in Kleinasien erworben und brachte durch die Einführung derselben in die Praxis seiner Vaterstadt unermeßliche Vorteile. In Venedig erschien 1548 das erste Werk über Färberei von Giovanni Ventura Rosetti, das großes Aufsehen erregte und nicht wenig dazu beitrug, das Interesse an der Färberei in ganz Europa zu erwecken. Nördlich der Alpen gewann sie zuerst größere Bedeutung in Flandern, dessen Tuch- und Leinenweberei in hoher Blüte stand. Von hier aus verbreitete sich die Kunst der Schönfärberei allmählich über die anderen Länder Europas. In Deutschland war es der mächtige Bund der Hansa, der auch diesem Erwerbszweig große Aufmerksamkeit schenkte. Er ließ zuerst aus Italien, dann aus Flandern geschickte Färber als Lehrmeister der einheimischen kommen. Diese bildeten damals schon stattliche Zünfte, so in Augsburg 1390 und bald darauf auch in anderen schwäbischen Städten. Nach London ließ König Eduard III. von England ums Jahr 1373 Färber aus Flandern kommen, die das einheimische Gewerbe in die Höhe brachten, so daß die Zunft der Färber 100 Jahre später in London so stark vertreten war, daß sie eine eigene Kompagnie der städtischen Miliz bildete.
Von großem Einfluß auf die Entwicklung der Färberei war die Entdeckung von Amerika, indem dadurch nicht allein alle Verkehrsverhältnisse von Grund aus verändert wurden, sondern auch eine Menge wichtiger neuer Farbstoffe wie Rot- und Blauholz, Cochenille, Orlean und Quercitron in den Handel kamen. Nicht minder bewirkte die Auffindung des Seewegs nach Ostindien einen vermehrten und zugleich billigeren Bezug des bis dahin sehr kostbaren Indigo. Weil sich aber durch dessen Einfuhr die Waidbauern beeinträchtigt fühlten, so hatte der edle indische Farbstoff in Europa mit den größten Schwierigkeiten zu kämpfen. Auf Anstiften der einheimischen Waiderzeuger verbot ihn ein Edikt der Königin Elisabeth in ganz England; zugleich wurden die im Lande befindlichen Vorräte zerstört. Die Verwendung von Indigo wurde sogar mit Todesstrafe bedroht; erst im Jahre 1661 unter Karl II. wurde seine Einfuhr und Anwendung wieder gestattet.
Zu Anfang des 16. Jahrhunderts kam der Krappbau aus dem Orient nach Schlesien und Holland und 100 Jahre später auch nach Südfrankreich. Die Purpurfärberei mit der seit 1526 getrocknet als[S. 119] Cochenille von Mexiko in den Handel kommenden Schildlaus des Nopalkaktus nahm einen unerwarteten Aufschwung, als im Jahre 1650 der Holländer Cornelius Drebbel das Zinnsalz als Ersatz des Alauns einführte und auf Grund seiner Erfindung eine großartige Färberei besonders für Rot bei London errichtete. Ein Landsmann von ihm, Adrian Brauer, war es, der 1667 die Wollfärberei in England einführte. Nachdem man in der Mitte des 16. Jahrhunderts Indigo und Blauholz in England eingeführt hatte, eignete sich das Land erst mit Ende des 18. Jahrhunderts die Färberei mit Quercitron und Türkischrot, vorzugsweise auf Bankrofts Betreiben hin, an, dessen 1790 erschienenes Werk über Färberei die Grundlage der neueren Kunst bildete. In Frankreich begann sich die Färberei erst unter Ludwig XIV. zu heben, als der seit 1660 als Generalkontrolleur der Finanzen an der Spitze der Verwaltung stehende Staatsmann Colbert durch d’Albo eine tüchtige Färberordnung aufstellen ließ, die 1669 in Paris veröffentlicht und von den segensreichsten Folgen war. Und als später die französische Akademie diesem Zweige des Kunstgewerbes ihre Aufmerksamkeit zuwandte, und 1762 Joannes Althen, ein Armenier, das Geheimnis der Türkischrotfärberei zuerst nach Frankreich gebracht hatte, entwickelte sich die Färbekunst in diesem Lande so gewaltig, daß es darin bald an der Spitze aller übrigen Länder zu stehen kam.
Um 1700 entdeckte man in Berlin das Berlinerblau, und 1740 erfand Barth die Sächsischblaufärberei mit Indigosulfosäuren. Die neueste Zeit hat die Färberei durch das Studium des Verhaltens der Beizen gegen die Farbstoffe sehr gefördert; außerdem häuften sich die Entdeckungen aus dem Mineralreich, und in neuen Verbindungen der organischen Chemie lernte man die wertvollsten Rohmaterialien für glänzende Farben kennen. Erregte in dieser Beziehung schon das Murexid aus Harnsäure großes Aufsehen, so wurden alle bisherigen Erfolge seit 1859 durch die Entdeckung der Teerfarben, und zwar zunächst des Fuchsins, noch weit übertroffen. Diese beherrschen jetzt vollständig die Färberei und geben Farben in allen Nüancen von einer Leuchtkraft und vielfach auch Echtheit, wie sie vorher ganz unbekannt waren. Zudem wurden allerlei Verfahren gefunden, um einige der wichtigsten Pflanzenfarbstoffe wie Alizarin und Indigo künstlich herzustellen, so daß der Krappbau ganz und die Indigopflanzungen Indiens wenigstens zum größten Teile eingestellt wurden.
Wenden wir uns nun nach diesem kurzen Überblick über die Geschichte der Färberei zu den einzelnen Farbpflanzen, und zwar sei mit[S. 120] einer der ältesten und wichtigsten begonnen, welche die dem naiven Empfinden des primitiven Menschen am stärksten in die Augen stechende und deshalb am meisten zusagende Farbe, nämlich die rote, in großer Leuchtkraft liefert. Es ist dies der Krapp, oder die Färberröte (Rubia tinctorum), eine 60–90 cm hohe Staude mit dornig scharfen Stengeln und Blättern, gelben Blüten und schwarzen Früchten. Ihre technische Bedeutung verdankt sie dem kurzen, knorrigen Wurzelstock von 20–30 cm Länge und 5–12 mm Dicke, der außen von einer rotbraunen Rinde bedeckt, innen aber gelbrot ist. Die Pflanze gedeiht am besten auf humusreichem Boden und wird durch Ausläufer vermehrt, die man im März setzt. Im Herbst wird das Kraut, das ein gutes Viehfutter bildet, gemäht, wonach man die Stöcke zum Schutz gegen die Winterkälte mit Erde bedeckt. Die Ernte der Wurzeln geschieht erst im Spätherbst des dritten, im Morgenland sogar erst des fünften und sechsten Jahres. Nach der Entfernung der wenig wertvollen Oberhaut werden die Wurzeln zunächst getrocknet und kommen dann zerschnitten, meist aber gemahlen, als Krapp in den Handel. Er bildet ein grobes, safranfarbiges Pulver von eigentümlichem Geruch und säuerlichsüßem Geschmack, das begierig Feuchtigkeit aus der Luft an sich zieht und infolgedessen leicht zusammenbackt. Deshalb muß es sorgfältig vor Luft und Licht geschützt werden. Durch mehrjährige Aufbewahrung verbessert der Krapp seine Qualität, geht aber nach dem 5. bis 6. Jahre zurück. Außer den gewöhnlichen Pflanzenbestandteilen enthält er ein farbloses Glykosid, Ruberythrin, das sich unter dem Einfluß eigentümlicher Fermente langsam in Zucker und einen roten Farbstoff, das Alizarin, zersetzt. Daher kommt es, daß der Krapp beim Aufbewahren an Kraft des Färbevermögens gewinnt.
Seine Heimat hat der Krapp im Mittelmeergebiet bis Syrien und Persien, wo zunächst die Wurzeln der wilden Pflanze vom Menschen gesammelt und zum Färben benutzt wurden; doch wurde er im Orient und in Griechenland schön früh angebaut, ebenso von den Römern, die ihn den Völkern nördlich der Alpen vermittelten. Der griechische Arzt Dioskurides berichtet um die Mitte des 1. christlichen Jahrhunderts, daß das auch als Arzneimittel gebrauchte erythródanon angepflanzt werde und wild vorkomme; seine Wurzeln verwende man aber hauptsächlich zum Färben. Er sagt: „Der Krapp (erythródanon) auch téuthrion, drákanos und kinnábaris, bei den Römern rubia passiva, bei den Etruskern lappa minor, bei den Ägyptern aber sophobí genannt, hat eine rote Wurzel, die zum Färben dient. Es gibt[S. 121] eine wildwachsende und eine kultivierte Sorte, welche letztere beispielsweise in Ravenna angepflanzt wird. In Karien sät man den Krapp zwischen Ölbäumen. Sein Anbau bringt großen Gewinn. — Die Wurzel ist dünn, lang, rot, dient auch als Arznei.“ Sein Zeitgenosse Plinius schreibt in seiner Naturgeschichte: „Der Krapp (rubia, von rubus rot) ist zum Färben der Wolle und des Leders unentbehrlich und sein Anbau bringt viel Gewinn. Für vorzüglich gilt der bei Rom gezogene, doch wird er in fast allen Provinzen kultiviert. Man sät ihn wie die Kicherplatterbse (ervilia), doch wächst er auch wild. Er dient auch als Arznei.“ Der unter Cäsar und Augustus lebende Kriegsingenieur Vitruvius sagt in seinem Buche de architectura über ihn: „Um für Wandgemälde eine Purpurfarbe zu bekommen, färbt man Kreide mit Krapp (rubia) und Kermesbeeren (hysginum) von der Kermeseiche rot. Man bereitet auch andere Farben aus Blütenpflanzen. Um ein Ockergelb zu gewinnen, wirft man getrocknete Veilchen (viola) in ein Gefäß, gießt Wasser dazu und läßt die Mischung kochen. Ist sie wieder abgekühlt, so schüttet man sie in ein leinenes Tuch, drückt sie aus und tut das von Veilchen gefärbte Wasser in einen Mörser und reibt es mit eretrischer Kreide (Eretria, Stadt auf der Südwestküste von Euböa in Griechenland, wurde 490 v. Chr. durch die Perser zerstört, aber wieder aufgebaut) zusammen. Man macht auch eine schöne Purpurfarbe aus Heidelbeeren (vaccinium), indem man sie ebenso behandelt und Milch hinzufügt. Ein schönes Grün bekommt man, wenn man etwas Blaugefärbtes mit der gelben Farbe des Wau (luteum, d. h. gelben, von Reseda luteola) tränkt. Fehlt es an Indigo (color indicus, d. h. indischer Farbe), so wendet man Waid (vitrum, von Isatis tinctoria) an, einen Farbstoff, den die Griechen hyalon nennen.“
In dem Verzeichnis der Pflanzen, die Karl der Große auf seinen Gütern angepflanzt haben wollte, wird die Färberröte unter dem fränkischen Namen warentia angeführt, doch verbreitete sich die Krappkultur erst einige Jahrhunderte später in Frankreich, wo sie in mittelalterlichen Akten öfter erwähnt wird. Sie erlosch dann wieder, so daß sie gegen das Ende des 16. Jahrhunderts fast nur noch in Holland betrieben wurde. Im Jahre 1760 ließ der französische Minister Bertin Samen des morgenländischen Krapps, der von Rubia peregrina abstammt und heute noch der farbstoffreichste und infolgedessen geschätzteste ist, nach Frankreich kommen und unter die Landleute verteilen. In der Grafschaft Avignon führte der bereits erwähnte Armenier Joannes[S. 122] Althen 1766 den bis dahin dort unbekannten Krappbau ein, der sich wenig später auch im Elsaß verbreitete. In Deutschland wurde wohl zuerst in Schlesien Krapp gebaut; wenigstens datiert eine Breslauer Röteordnung von 1574. In Böhmen, wo im 16. und 17. Jahrhundert der Krappbau ebenfalls blühte, wurde er durch den Dreißigjährigen Krieg zugrunde gerichtet; auch in Sachsen, Bayern und Baden ging er ganz zurück. In der Pfalz datiert er seit 1763. In den 1830er Jahren nahm er aber wieder einen großen Aufschwung und wurde besonders in Südfrankreich um Avignon, dann in Holland und im Elsaß betrieben, bis im Jahre 1860 die deutschen Chemiker Gräbe und Liebermann den Krappfarbstoff, das Alizarin, künstlich aus Anthracen, einem Teerprodukt, darstellten. Dadurch wurde der Krappbau an seiner Wurzel angegriffen und ging begreiflicherweise stark zurück, obschon Napoleon III. zum Schutze des südfranzösischen Krappbaus die Hosen und teilweise auch die Mützen des französischen Militärs mit dem Krappfarbstoff rot färben ließ. Jetzt wird hauptsächlich in Kleinasien, Ägypten und Ostindien, teilweise auch in Nordamerika und Australien Krapp gebaut. In Ostindien wird die einheimische Rubia munjista gepflanzt, woher der aus jenem Lande stammende Krapp als Munjit bezeichnet wird. In Westindien und Südamerika werden ebenfalls besondere Arten von Rubia kultiviert, deren Wurzeln zum Färben dienen. Heute wird der Krapp meist nur noch in technisch veralteten Färbereien benutzt. Durch Anwendung verschiedener Beizen können mit ihm, beziehungsweise dem künstlich hergestellten Alizarin, alle Nüancen von Rot und Violett und teilweise auch von Braun erzielt werden. Er dient mit dem Samen der syrischen Raute (Peganum harmala) zur Türkischrotfärberei und zum Rotfärben von Tinte und Lack.
Einen ebenfalls schon sehr lange zum Färben benutzten dunkelroten Farbstoff liefert die Wurzel der echten Alkanna oder Alhenna, des kýpros der Alten von Lawsonia inermis, einem in Ostafrika, Arabien, Ostindien, den Sundainseln und Nordaustralien wachsenden sehr ästigen, wild meist bedornten, in der Kulturpflege aber vielfach dornenlos gewordenen Strauch von 2–4 m Höhe mit 1–1,5 cm langen Blättern und gelblichweißen bis ziegelroten Blüten. Seit uralter Zeit wird er im Orient und in Nordafrika, neuerdings auch in Ostafrika kultiviert und findet sich jetzt ostwärts bis Südchina und westwärts bis Marokko und Senegambien angebaut. Die braunrote, etwas zusammenziehend schmeckende Wurzel kam früher nach Südeuropa[S. 123] in den Handel und ist heute noch in Persien und Indien als Heilmittel und zum Färben im Gebrauch. Sie wird, wie auch die Stengel, mit Wasser gekocht und gibt eine gelblichrötliche Flüssigkeit, welche auf weiteren Zusatz von Alkalien intensiver rot wird, bis eine fast karminrote Lösung entsteht. Die Blüten sind wegen ihres Wohlgeruchs sehr geschätzt und spielen bei den religiösen Akten der Buddhisten eine große Rolle, die Blätter aber werden, wie die Mumienfunde aus dem alten Ägypten beweisen, seit sehr langer Zeit im Niltal zum Gelbrotfärben der Nägel der Finger und Zehen, der Fingerspitzen, der Handflächen und Fußsohlen verwendet, womit die Frauen ihre Schönheit zu erhöhen glauben. Die Pflanze heißt im Altägyptischen puker, woraus durch Umstellung das koptische kuper, das hebräische kopher und das griechische kýpros entstand. In einigen altägyptischen Parfümerierezepten und als Bestandteil des heiligen Räucherpulvers kyphi wird kuper als Bestandteil angeführt. Und wie die Frauen im alten Ägypten, so bedienen sich die heutigen Bewohnerinnen des Niltals wie überhaupt die Araberinnen des von ihnen fagu oder fagia genannten Strauches in der oben genannten kosmetischen Weise. Zu diesem Zwecke werden die Blätter, die getrocknet und gepulvert unter dem Namen Henna in den Handel kommen, mit Kalkmilch verrieben und aufgetragen. Alternde Frauen färben sogar ihre weiß werdenden Haare, Männer ihren Bart und die Mähne ihrer Pferde damit orangerot. Diese unserem Geschmack wenig zusagende Verschönerung ihres Äußeren halten die Orientalinnen für ebenso notwendig, als das Bemalen der Augenlidränder und Stirnmitte mit Strichen des schwarzen kuhl, einer aus Ruß oder zerstoßenem Schwefelantimon hergestellten Paste, die bereits die Frauen im alten Ägypten benutzten, wie wir aus den Gräberfunden und alten Rezepten auf Papyri wissen. In Indien dient die Henna zum Schwarzfärben von Leder.
Denselben prachtvollen roten Farbstoff Alkannin wie die echte birgt die unechte Alkanna, die Wurzel der in der Türkei, in Kleinasien und besonders in Ungarn angepflanzten und in Ballen von etwa 100 kg zu uns in den Handel gelangenden Färberochsenzunge (Anchusa tinctoria), die zum Rotfärben von Haarölen, Pomaden, Polituren usw. dient, außerdem zum Färben von Leder und in Lyon zum Färben von Seide benutzt wird. Schon die alten Griechen und Römer bedienten sich ihrer zum Rotfärben und Schminken, wie auch als Arznei. So schreibt Theophrast im 4. vorchristlichen Jahrhundert: „Die Färberochsenzunge (anchúsa) hat eine rote Wurzel wie der Krapp,[S. 124] und färbt rot.“ Hesychios schreibt: „Sich anchusieren (anchusízesthai) heißt: die Wangen mit anchusa schminken,“ und der Arzt Dioskurides sagt, die Wurzel sei fingerdick, fast blutrot und werde als Arznei benutzt und in Salben getan. Sein Zeitgenosse Plinius schreibt: „Die fingerdicke Wurzel der anchusa färbt die Finger blutrot und bereitet die Wolle für kostbare Farben vor. Auch wird sie als Arznei gebraucht.“ Bei der Besprechung der Salben erwähnt er die anchusa neben dem von dem Drachenbaume (Dracaena draco) auf der ostafrikanischen Insel Sokotra stammenden Drachenblut (cinnabaris, d. h. Zinnober) als Farbstoff (color). Auch im Mittelalter und in die Neuzeit hinein war dieser Farbstoff gebräuchlich, bis er durch bessere verdrängt wurde.
Ein ähnliches Rot wie die Färberochsenzunge liefert der Färberkroton oder die Tournesolpflanze (Chrozophora tinctoria), eine einjährige Wolfsmilchart von den sandigen Küsten des Mittelmeergebiets und aus Arabien mit langgestielten, behaarten Blättern und hängenden Fruchtkapseln. Sie diente bei den Alten zum Vertreiben der Würmer und zum Wegätzen der Warzen; jetzt wird sie zur Herstellung der Bezetten oder Schminkläppchen benutzt. Es sind dies Leinwandläppchen, die in Südfrankreich mit dem Safte der Blüten und Früchte des Färberkrotons, jetzt aber meist mit dem Extrakte des Pernambukholzes so stark getränkt werden, daß sie leicht Farbstoff abgeben. Man verwendet die Bezetten zum Schminken, zum Färben von Backwerken, Likören, Gelees und namentlich in Holland zum Färben der 2–10 kg schweren runden Süßmilchkäse, die nach der Stadt Edam benannt werden, aber vorzugsweise in der Gegend von Hoorn und Alkmaar in Nordholland hergestellt werden. Der Färberkroton wird hier und da, so namentlich bei Montpellier, angepflanzt.
Weniger wichtig ist der rote Farbstoff der syrischen Raute (Peganum harmala), eines ausdauernden Gewächses mit 30–40 cm langem Stengel und ziemlich großen, weißen Blüten, das gesellig in den Steppen Spaniens, Nordafrikas und von Südrußland bis zur Dsungarei und Tibet wächst. Die Samen dienen in der Türkei als schweißtreibendes, Würmer vertreibendes und berauschendes Mittel, auch als Gewürz, besonders aber in Verbindung mit der pulverisierten Krappwurzel zur türkischen Rotfärberei. Aus ihnen wird das auch sonst vielfach zum Färben benutzte Harmalin oder Harmalarot gewonnen.
Von anderen roten Farben finden wir in der Alten Welt den unschädlichen Farbstoff der Kermesbeeren oder Scharlachkörner in[S. 125] Form von braunroten, erbsengroßen, mit rotem Safte angefüllten Hüllen der Kermesschildlaus (früher Coccus, jetzt Lecanium ilicis), die sich an der in Südeuropa wachsenden strauchartigen Kermeseiche (Quercus coccifera) finden. Sie werden von armen Leuten, besonders Hirten und Kindern, die sich zu diesem Zwecke die Nägel lang wachsen lassen, von den Zweigen abgekratzt und kommen besonders von Nauplia in Griechenland aus in den Handel, um speziell nach Marokko, Tunis und Alexandrien verschifft zu werden, wo dieselben in hohem Preise stehen, weil die Muhammedaner ihre Wolltücher, namentlich aber ihre von uns nach der Stadt Fez in Marokko als Fez bezeichneten Kopfbedeckungen rot färben. Bei uns dienten sie früher an Stelle der teueren Cochenille in der Färberei, namentlich zur Herstellung eines schlechten Karmins, des Kermesbeeren- oder Karminlacks, und in der Apotheke zur Bereitung des Kermes-Sirups und des Alkermes-Konfekts, Präparaten, mit denen die arabischen Ärzte im Mittelalter das Abendland bekannt machten. Al ist der arabische Artikel und kermes oder kermas heißt arabisch-persisch wurmerzeugt (von kirm, Wurm). Von diesem Kermes rührt das arabisch-persische kirmasi für Karminrot her, ein Ausdruck, der als Karmoisin (später in Karmin abgekürzt) ins Deutsche überging. Der Karmoisinlack wurde besonders in Persien zur Herstellung der berühmten roten Lackwaren benutzt und kam ebenfalls durch die Vermittlung der Araber zur Kenntnis der Völker des Abendlandes. Diese Kermesbeeren wurden schon bei den alten Griechen zum Färben verwendet und hießen bei ihnen kókkos. So schreibt Dioskurides: „Die Kermeseiche (kókkos baphiké) ist ein kleiner, ästiger Strauch, an welchem Körner (kókkos) wie Linsen (phakós) hängen, welche gesammelt und aufbewahrt werden. Die besten kommen aus Galatien und Armenien, geringere aus Asien (dem nordwestlichen Kleinasien, das bei den Römern die Provinz Asia bildete) und Kilikien, die geringsten aus Spanien. Außer zum Färben gebraucht man sie in der Heilkunde, mit Essig verrieben, äußerlich als zusammenziehendes Mittel.“ Wie wir von Vitruv im letzten Jahrhundert v. Chr. erfahren, hieß das Kermesbeerenrot bei den Römern hysginum und wurde viel zum Färben und Schminken, auch zum Rotmalen von Wänden und Wandgemälden benutzt. Noch heute sind in Griechenland ausgedehnte Landstrecken, namentlich Bergabhänge und für anderweitige Kultur unbrauchbare Berge dicht mit dem Gestrüpp der Kermeseichen besetzt, die zur Kermesgewinnung ausgebeutet werden.
Ein Surrogat dieser echten Kermesbeeren der Kermeseiche bilden[S. 126] die schwarzen Beeren der aus Nordamerika bei uns eingeführten und in Südeuropa verwilderten gemeinen Kermesbeere (Phytolacca decandra), eines ausdauernden Krautes mit länglicheiförmigen, ganzrandigen Blättern. Mit dem roten Safte der Beeren färbt man in Frankreich und Portugal die Weine und in ganz Europa die Zuckerwaren, besonders Sirup rot; doch ist dieser Farbstoff weit weniger haltbar als derjenige der echten Kermesbeeren der Kermeseiche. Von Bordeaux verbreitete sich der Anbau dieser Pflanze seit 1770 nach Süddeutschland und Norditalien. Die jungen Blätter und Schößlinge werden gekocht als Gemüse gegessen. Ihr naher Verwandter, der Kermesbeerenspinat (Phytolacca esculenta) wird in seiner Heimat Südamerika wegen seines würzigen Wohlgeschmacks als Spinatpflanze kultiviert, verträgt aber unser Klima schlecht, so daß er kaum je bei uns eingebürgert werden dürfte.
Weitere, noch wertvollere rote Farbstoffe hat uns die Neue Welt in der Cochenille und dem Brasilholz geschenkt. Erstere besteht aus den getrockneten Weibchen der in ganz Mittelamerika heimischen, aber vorzugsweise in Mexiko auf Opuntien (Nopalkaktussen) gezüchteten Cochenilleschildlaus (Coccus cacti), die den modernen Karmin — früher nach den Kermesschildlauskörnern der Mittelmeerländer aus dem arabischen kirmasi Karmoisin genannt — liefern. Was die Kermeskörner der Kermeseiche den Kulturvölkern der Alten Welt, das war denjenigen der Neuen Welt, zumal den Azteken in Mexiko, die Cochenille, die ihnen vorzugsweise zum Rotfärben diente. Als die Spanier diesen prächtigen Farbstoff kennen lernten, waren sie so sehr von ihm entzückt, daß sie ihn sofort in ihrer Heimat einführten. Um diesen Farbstoff selbst zu produzieren, wurde die Cochenillekultur mit dem Nopalkaktus im 18. Jahrhundert von Mexiko aus nach Südspanien und 1853, als die Weinkultur durch die Traubenkrankheit fast ganz ruiniert war, auch nach den Kanarischen Inseln, besonders Teneriffa, verpflanzt, wo sie bald zum Haupterzeugnis des Landes wurde. Von 1853 bis 57 wurden von Teneriffa über 2 Millionen kg und 1857 allein ¾ Millionen kg exportiert. Noch früher wurde diese Schildlaus mit ihrer Nährpflanze nach Java verbracht, von wo 1853 über 45000 kg Cochenille gewonnen wurden. Erst seitdem die auf künstlichem Wege aus Teerabkömmlingen hergestellten echteren und intensiver färbenden Anilinfarben, besonders das Fuchsin, in der Färberei aufkamen, wurde die Cochenillezucht völlig zurückgedrängt.
Ein anderer amerikanischer roter Farbstoff ist das Pernambuk-[S. 127] oder echte Brasilholz, das von einem baumartigen Hülsenfrüchtler (Caesalpinia echinata) mit kurzstacheligen Ästen, unpaarig gefiederten Blättern, kurzgestielten, gelb und rot gefleckten, wohlriechenden Blüten in fast rispiger Traube und dornigen Hülsen stammt. Seine indianische Bezeichnung brasil soll dem Lande Brasilien den Namen gegeben haben. Letzteres wird nämlich erst seit 1580 so genannt, während man das Brasilholz unter diesem Namen schon seit 1494 kannte. Früher hieß es auch „Königinholz“, weil seine Verwertung jahrhundertelang ein Monopol der portugiesischen Krone war. Der in ihm enthaltene Farbstoff, der sich auch im Limaholz aus Peru und Chile, im St. Martholz aus Zentralamerika und im Jamaikaholz von den Antillen findet, heißt Brasilin. Das echte Brasilholz kommt in armdicken, außen rotbraunen bis schwärzlichen, innen gelbroten Knüppeln meist über Pernambuco — daher der Name — in den Handel. Außer als Farbholz wird es auch in der Kunsttischlerei und Drechslerei benutzt.
Ein anderer schöner roter Farbstoff südamerikanischen Ursprungs ist das Chicarot oder Caracuru, das aus den Blättern der an den Ufern des Orinoko, Cassiquiare und anderer Flüsse Südamerikas wachsenden Bignonia chica gewonnen wird. Es ist dies ein Strauch mit doppelt gefiederten Blättern, die beim Trocknen rot werden, und violetten, hängenden Blüten. Werden die Blätter abgekocht, so scheidet sich in der erkalteten Lösung der zinnoberrote, beim Reiben goldgrün metallisch glänzende Farbstoff ab, der unlöslich in Wasser, schwer löslich in Alkohol, aber leicht löslich in Ölen und Alkalien ist. Er wird von den Indianern, die an den obengenannten Flüssen hausen, zum Bemalen der Haut, in Nordamerika aber zum Gelb- und Rotfärben von Wolle und Seide benutzt.
Nahe verwandt mit dem Brasilholzbaum ist der Campeche- oder Blauholzbaum (Haematoxylon campechianum), ein 10–12 m hoher Baum mit meist krummem Stamm, runzeliger, schwarzbrauner Rinde, vielfach hin- und hergebogenen Ästen, paarig gefiederten Blättern, kleinen hochgelben Blüten in einzelnen Trauben und lanzettlichen, meist einsamigen Hülsen. Er ist ursprünglich in Mexiko und Mittelamerika heimisch, von wo das Holz von meist wildwachsenden Bäumen vorzüglich aus der Campechebai — daher der Name — und Honduras in den Handel gelangt. Bald nach der Entdeckung Amerikas gelangte sein von den mittelamerikanischen Kulturvölkern zum Färben benutztes Holz aus den mexikanischen Häfen durch die Spanier nach Europa. Im Jahre 1570, zur Zeit der Königin Elisabeth, wurde es in Eng[S. 128]land eingeführt; da man aber nicht echt damit zu färben verstand, verbot ein Parlamentsbeschluß vom Jahre 1581 streng seine Einfuhr und Verwendung. Dieses Verbot der Verwendung des als logwood, d. h. Stammholz, bezeichneten Blauholzes zum Färben wurde über ein Jahrhundert hindurch aufrechterhalten, obgleich es vielfach dadurch umgangen wurde, daß man es unter dem neuen Namen blackwood, d. h. Schwarzholz, einschmuggelte. Von Mittelamerika kam der es liefernde Baum im Jahre 1715 durch Barham nach Westindien, dann auch nach dem nördlichen Südamerika. Neuerdings wird er auch in den niederländischen Kolonien in Westindien gepflanzt. Das auswendig blauschwarze, innen rotbraune, schwere, harte Holz nimmt eine gute Politur an und dient daher außer zum Färben in der Kunsttischlerei zur Herstellung wertvoller Möbel. Es enthält einen blauen Farbstoff, das Hämatoxylin, das sich in Alkalien mit violetter Farbe löst, auch zum Schwarzfärben und in der mikroskopischen Technik als vorzügliches Kernfärbungsmittel verwendet wird.
In der Alten Welt ist das älteste Blaufärbemittel der Waid (Isatis tinctoria), ein zweijähriger, 0,5–1 m hoch werdender Kreuzblütler mit gelben, in Trauben geordneten Blüten, der im mittleren und südlichen Europa sowie im Orient auf sonnigen Plätzen wild wächst. Die Blätter geben Indigblau und waren schon den Alten als Färbematerial bekannt, weshalb die sie liefernde Pflanze teilweise auch angebaut wurde. Der Waid bevorzugt lehmhaltigen Boden, auf dem er meist nur eine Höhe von 40–60 cm erlangt. Die Blätter wurden, so lange man bei uns den Waid anpflanzte, zwei- bis dreimal im Jahre abgebrochen und in den Waidmühlen zerstampft. Der so entstehende Brei wurde, meist von Kindern, zu kleinen Kugeln geformt und getrocknet. Später wurden die Ballen in Bottiche getan und mit Wasser übergossen, wodurch sie bald in Gärung gerieten und eine Temperatur von 15–20° C. zeigten. Von den Bottichen zog man die Flüssigkeit ab und setzte ihr Kalkwasser zu, worauf der nunmehr gelbe Farbstoff sich zu Boden setzte. Durch Hinzufügen von Salzsäure erhielt er erst die blaue Farbe, die dann unter starker Hitze getrocknet und in den Handel gebracht wurde. Ursprünglich ließ man aber das in der Lösung befindliche Indoxyl durch längeres Stehenlassen sich unter Freiwerden von Indigo zersetzen. Deshalb stampfte man die nicht nur zerquetschte, sondern völlig zerfallene Waidmasse in Fässer ein, in denen sie durch Fermentwirkung nach und nach immer reicher an Indigo wurde.
Schon die alten Kelten, Germanen und Slawen bedienten sich des Waides zum Blaufärben. Von den Kelten Britanniens berichtet uns Julius Cäsar in seiner Beschreibung von der Expedition nach England in seinem Werke über die Unterwerfung Galliens unter die römische Oberhoheit, sie seien ihm mit Waid (vitrum) blau gefärbt entgegengetreten und sähen dadurch in der Schlacht überaus wild aus. Auch die Griechen und Römer bedienten sich des Waides, den erstere isátis nannten. So spricht Dioskurides von dem Waid (isátis), „dessen sich die Färber bedienen“, er werde mehr als ellenhoch und seine Blätter würden auf Geschwülste, Geschwüre und Wunden gelegt. Die Römer nannten ihn, wie uns Plinius berichtet, nach seiner Bezeichnung im Gallischen glastum. Nach der uns erhaltenen Verordnung Karls des Großen über die Verwaltung der kaiserlichen Domänen aus dem Jahre 812 mußte er, wie der Krapp, als Abgabe bestimmter Dörfer in die königlichen Weiberhäuser zu Händen der dort mit Spinnen, Weben und Färben der für den königlichen Hofhalt bestimmten Gewänder beschäftigten Frauen geliefert werden. Der geringste Teil desselben wird von wildwachsenden Pflanzen gesammelt worden sein; da er bereits angebaut wurde, wird das meiste von kultivierten Waidpflanzen abgestammt haben. Diese hieß damals bei den Franken wisdila, ewaisda oder waisdo. Im Mittelalter wurde er allgemein in Mitteleuropa angebaut und bildete hier das wichtigste Blaufärbemittel. Die ersten Nachrichten über den Anbau des Waides in Schwaben stammen aus dem Jahre 1276. Noch früher aber scheint er in Sachsen gepflanzt worden zu sein; denn die Stadt Erfurt war schon im Jahre 1290 wegen ihres Waidbaues berühmt. Die Erfurter Waidhändler bildeten die Aristokratie der Stadt und waren so reich, daß sie im Jahre 1392 die Mittel zur Gründung und später auch für Erhaltung der einst weithin berühmten, erst 1816 eingegangenen Universität Erfurt aufbringen konnten, die also gewissermaßen aus den Erträgnissen der Waidkultur und des Waidhandels errichtet und unterhalten wurde. Daraus kann man schon ersehen, wie außerordentlich wichtig die Erzeugung und der Handel mit diesem Farbstoffe im Mittelalter war. Später erwarben neben Erfurt auch noch Gotha, Arnstadt, Langensalza und Tennstedt das Recht Waid zu bauen, und zu Anfang des 17. Jahrhunderts beschäftigten sich damit außer den Einwohnern dieser Städte noch diejenigen von mehr als 300 thüringischen Dörfern. Erst in der Neuzeit hat die große Wohlfeilheit des aus Indien eingeführten Indigos den Waid trotz aller zu seinem Schutze[S. 130] unternommener amtlicher Verfügungen so ziemlich außer Anwendung gebracht. Umsonst versuchte ihn auch der edeldenkende und um seine Untertanen besorgte Kaiser Josef II. im Deutschen Reiche wieder in Aufnahme zu bringen. Nur vorübergehend, während der verhängnisvollen Kontinentalsperre, legte man sich in Mitteleuropa wieder eifriger auf seinen Anbau, da damals auch der von den Engländern aus Indien gebrachte Indigo gesperrt war. Napoleon I. setzte sogar einen Preis von einer halben Million Franken auf die lukrative Gewinnung von Indigo aus Waid; doch hat ihn bis auf den heutigen Tag noch niemand gewonnen, denn auch bei der rationellsten Verarbeitung liefert 1 Zentner Waid kaum 130 g Indigo, während die gleich zu besprechende Indigopflanze 30mal mehr davon liefert. Immerhin wird der Anbau von Waid, der am besten auf trockenem Lehmboden gedeiht, gegenwärtig noch in beschränktem Maße in Thüringen, Böhmen, und Frankreich betrieben. Seine Samen liefern gepreßt ein dem Leinöl an Wert gleichkommendes fettes Öl.
Denselben blauen Farbstoff, wie ihn der Waid liefert, gewinnt man, wie gesagt, in weit ausgiebigerer Weise aus den Indigoarten, von denen die ostindische Indigofera tinctoria die wichtigste ist. Es ist dies eine bis 1,5 m hohe Staude aus der Familie der Schmetterlingsblütler mit zerstreut stehenden, gefiederten Blättern, kurzen Trauben, sehr kleinen, dunkelrosenroten und weißen Blüten und stielrunden, herabgebogenen Hülsenfrüchten. Ihr größtes Anbaugebiet ist Bengalen, neben dem die andern wenig bedeuten. Vor allem verlangt sie ein feuchtes, heißes Klima. In gut gedüngtem und gepflügtem Boden wird der Same in Reihen von 30–50 cm Abstand gesät und mit Erde leicht bedeckt. Nach drei Monaten werden die Pflanzen kurz vor dem Beginn der Blüte etwa 12 cm über dem Boden geschnitten und nach der Faktorei gebracht, wo heute noch wesentlich nach derselben Methode wie einst im Altertum der Farbstoff aus ihnen gewonnen wird. Beim Binden und Einfahren der Ernte, deren man in guten Lagen drei, manchmal sogar vier im Jahre erhält, ist darauf zu achten, daß die Pflanzen nicht zu sehr gepreßt werden. In Stücke zerschnitten werden sie in großen gemauerten Kufen mit Wasser übergossen; darin bleiben sie liegen, bis der Saft in kurzer Zeit in Gärung gerät und eine grünlichgelbe Farbe annimmt. In dieser als nila bezeichneten Lösung bildet sich alsbald eine Schaumschicht und ammoniakalischer Geruch macht sich geltend. Dabei beginnt sich der Prozeß zu vollziehen, der das in der Pflanze enthaltene farblose Glykosid In[S. 131]dikan in Zucker und Indigweiß spaltet und durch Oxydation des letzteren das Indigblau, eben den Farbstoff Indigo, entstehen läßt. Die in Ammoniak gelöste, Indigweiß enthaltende Flüssigkeit wird nun in andere Behälter abgezogen, worin sie durch anhaltendes Schlagen und Rühren mit Schaufeln in innigste Berührung mit dem Sauerstoff der atmosphärischen Luft gebracht wird. Dabei färbt sich der gelblichgrüne Saft blau, indem das Indigweiß durch Sauerstoffaufnahme zu Indigblau oxydiert wird. Letzteres ist unlöslich, scheidet sich aus und setzt sich bei ruhigem Stehen als schlammiger Niederschlag ab. Nach dem Ablaufenlassen der klar gewordenen Flüssigkeit wird der Niederschlag an der Sonne getrocknet und im halbtrockenen Zustande in backsteinartige Formen gepreßt; diese werden völlig getrocknet und sind dann versandfertig. 250 kg rohe Indigopflanzen ergeben 1 kg festen Farbstoff. Die Gesamtproduktion daran betrug im Jahre 1903 3,4 Millionen kg, davon fielen 2,7 Millionen kg auf Indien, 0,5 Millionen kg auf Holländisch-Indien und 0,2 Millionen kg auf Mittelamerika. Der Durchschnittswert per kg beträgt 10 Mark, während er noch vor zwei Jahrzehnten das Doppelte davon und mehr betrug. Der Preis ist so stark gesunken infolge der vom deutschen Chemiker A. von Baeyer erfundenen künstlichen Herstellung des Farbstoffs, so daß sich die Indigokultur nur noch sehr schlecht lohnt und selbst in Bengalen mehr und mehr zurückgeht.
Der Indigo ist einer der wichtigsten Farbstoffe, der auf Wolle, Leinen, Baumwolle und Seide das echteste Blau gibt und infolgedessen schon im hohen Altertum als Deckfarbe zum Malen und zum Färben der verschiedensten Stoffe benutzt wurde. Zuerst wurde er in seiner Heimat Indien gewonnen und von da auf dem Handelswege in die westlich davon gelegenen Länder gebracht. Im Alten Testament wird er einigemal genannt. Jedenfalls verwandten ihn die Juden so gut wie die Babylonier und Ägypter, die diesen geschätzten Farbstoff zum Blaufärben schon in früher Vorzeit durch den Tauschhandel aus Indien bezogen. Von dort her erhielten ihn auch die Griechen und Römer, die ihm den Namen indikón beziehungsweise indicum, den indischen (nämlich Farbstoff) gaben, woraus unsere Bezeichnung Indigo hervorging. Plinius schreibt in seiner Naturgeschichte darüber: „Als Farbstoff steht das indicum in hohem Ansehen; es kommt aus Indien und besteht aus einer erdigen Masse. Wird es gerieben, so ist es schwarz; wird es aber in Wasser aufgelöst, so gibt es eine prächtige Mischung von Purpur und Blau. Das echte erkennt man daran, daß es auf[S. 132] brennende Kohlen gestreut eine herrlich purpurrote Flamme und einen nach Meerwasser riechenden Rauch gibt. (Tatsächlich entwickelt Indigo bei rascher Erhitzung einen purpurroten Dampf, verbrennt und hinterläßt nur wenig Asche.) Das Pfund indicum kostet 20 Denare (= 12 Mark).“ Dieser Farbstoff wurde wie die übrigen Produkte Indiens über das Rote Meer und Alexandrien nach dem Römerreiche gebracht. Als dieses zusammenbrach, verhandelten die Araber den Völkern des Abendlandes diesen Farbstoff unter der indischen Benennung nila oder anil, was blau bedeutet. Davon heißt er heute noch in Spanien anil und bezeichnete die Wissenschaft der Chemie das bei der Destillation des Indigos mit Kali entstehende Produkt als Anilin. Erst die Araber haben dann im Mittelalter diese Farbstoffpflanze, die sie auf ihren Handelsfahrten nach Indien in jenem Lande kennen lernten, in Westasien anzubauen und daraus den Indigo selbst herzustellen unternommen. So wurde noch im Jahre 1320 Indigo bei Jericho angepflanzt; doch scheint dieser Anbau als unrentabel bald aufgegeben worden zu sein. Jedenfalls war es dieser an ein feuchtwarmes Klima gewöhnten Pflanze hier zu trocken und zu wenig warm.
Lange wußte man im Abendlande nicht, woraus dieser indische Farbstoff gewonnen werde. So rechnete ihn eine Halberstädter Bergwerksordnung aus dem Jahre 1705 zu den schürfbaren Mineralien; er hieß deshalb auch in Verbindung mit seiner Würfelgestalt „indischer Stein“. Und doch hatte der bis nach China gereiste Venezianer Marco Polo nach seiner Rückkehr in die Vaterstadt im Jahre 1295 die Gewinnung desselben nach eigener Anschauung beschrieben. Die Italiener, die ihn von den Arabern erhalten hatten, waren auch die ersten Abendländer, die ihn anwandten. Erst nach der Entdeckung des Seeweges nach Ostindien durch Vasco da Gama kamen von 1516 an größere Mengen von Indigo nach Europa, und zwar nahm Portugal diesen Handel an sich, bis sich in der Mitte des 16. Jahrhunderts die Holländer seiner bemächtigten. Im Jahre 1631 brachten sieben holländische Schiffe 290173 kg Indigo im Werte von über fünf Tonnen Gold aus Batavia nach Amsterdam. Erst ungefähr ums Jahr 1600 begann man in Deutschland den Waidküpen etwas Indigo zuzusetzen, um deren Färbkraft für Blau zu erhöhen und zu beleben. Dieser kleine Zusatz vergrößerte sich mit der Verbilligung des Indigos fortwährend, bis schließlich der Waid gänzlich wegfiel. Doch spielte sich dieser Prozeß keineswegs glatt ab; denn wie bei der Einführung vieler anderer[S. 133] fremder Stoffe stemmte sich auch hier das Vorurteil und der Eigennutz der Waidbauern gegen die ausländische „Teufelsfarbe“. So wurde nämlich der Indigo im ersten ihn streng verbietenden Frankfurter Reichspolizeierlaß von 1577 betitelt. Das Verbot, ihn zu verwenden, wurde wiederholt in Erinnerung gebracht, so noch 1654 unter Ferdinand III. In Sachsen war von 1650–1653 sogar die Todesstrafe auf seine Verwendung gesetzt, und in Nürnberg mußten die Färber alljährlich einen feierlichen Eid schwören, kein „Teufelsauge“ — so hieß dort der Indigo — zu benutzen. Zu dieser Verfolgung des Indigos mag zum Teil die Unkenntnis der Färber beigetragen haben, die ihn in Schwefelsäure gelöst anwandten und nachher nicht genügend neutralisierten, so daß manches Stück Zeug infolge davon verdarb. Erst 1740 gab der Deutsche Barth zu Großenhain in Sachsen ein gutes Verfahren für dessen Anwendung an, wodurch Mißerfolge ausgeschlossen blieben.
Auch in Frankreich und England war aus Rücksicht für den einheimischen Waidbau die Einfuhr und Verwendung von Indigo streng verboten, bis er in letzterem Lande 1661 und in ersterem 1669 unter Colbert wieder freigegeben wurde. Unbeschränkte Anwendung genoß er aber in Frankreich erst vom Jahre 1737 an, als den Färbern erlaubt wurde, jedes beliebige Färbemittel zu verwenden. Seit 1783 wurde der Anbau des Indigos durch die Engländer in Ostindien in Angriff genommen und bald zu großer Blüte gebracht, wofür sie in Europa willige Abnehmer fanden, da man dort diesen vorzüglichen Farbstoff immer mehr schätzen lernte. Noch vor einem Vierteljahrhundert betrug die für den Anbau des Indigos in Anspruch genommene Fläche in Bengalen allein 390000 Hektar Landes. Auch auf der Koromandelküste, auf Ceylon und Java wurde er im großen angepflanzt, ebenso in Ägypten, wo ihn Mehemed Ali in den 1820er Jahren einführte. Endlich bemühte sich auch Rußland, ihn in Transkaukasien heimisch zu machen.
Neuerdings hat aber der Anbau dieses wichtigsten und einträglichsten Ausfuhrartikels Indiens, das Jahrhunderte hindurch den Weltmarkt beherrschte und an dem vor allem England sich ungeheuer bereicherte, zum großen Leidwesen aller Indigopflanzer einen gewaltigen Stoß erlitten und ist nicht mehr konkurrenzfähig gegenüber dem künstlichen Indigo, den wir dem Scharfsinne deutscher Chemiker verdanken. Die erste Indigosynthese gelang 1870 Engler und Emmerling; 1880 vermochte Baeyer ihn auf verschiedene Art aus Zimtsäure[S. 134] herzustellen und 1890 gab Heumann sein Verfahren an, das in zehnjähriger Arbeit von der badischen Anilin- und Sodafabrik in Ludwigshafen bei Mannheim zu praktischer Brauchbarkeit ausgebildet wurde, so daß er heute den Markt vollständig beherrscht und wegen seiner größeren Billigkeit in Verbindung mit andern guten Eigenschaften, die erlauben, die mannigfaltigsten neuen Farbenvarietäten, wie rote, gelbe und grüne in den wunderbarsten Nuancen herzustellen, den natürlichen Indigo immer mehr verdrängt. So sank seit dessen Aufkommen in den letzten zehn Jahren die Ausfuhr des natürlichen Indigos im Werte von 75 Millionen auf ungefähr 10 Millionen Mark. Gleichzeitig stieg die Ausfuhr des künstlichen Indigos aus Deutschland von 7,5 Millionen Mark im Jahre 1898 auf 38,6 Millionen Mark im Jahre 1908. Damit trat Deutschland das Erbe Indiens an und heimst statt jenes Landes Reichtum ein. Der beste Abnehmer für sein vorzügliches Kunstprodukt ist Japan, das 1908 für 10,7 Millionen Mark davon einführte. Ihm folgen China mit 7,3 Millionen und die Vereinigten Staaten mit 3,1 Millionen Mark. Selbst Großbritannien, das alle Anstrengungen machte, seinen Indigobau zu schützen, führte im Jahre 1908 für 2,7 Millionen Mark deutschen Indigo ein. Die Einfuhr des meist aus Indien bezogenen natürlichen Indigos, von dem Deutschland noch 1895 für 21 Millionen Mark bezog, sank schon 1903 auf 1,8 und 1908 gar auf 0,9 Millionen. So hat deutsche Intelligenz und Tatkraft statt einer Ausgabe von 20 Millionen eine Einnahme von 40 Millionen Mark jährlich bewirkt. Diese Tatsache kennzeichnet die überaus große wirtschaftliche Bedeutung des künstlichen Indigos für den deutschen Handel und die deutsche Volkswirtschaft.
Auch die alten Azteken in Mexiko, die Inkas in Peru und die übrigen zu höherer Kultur gelangten Indianerstämme Amerikas verwandten bereits vor der Ankunft der Europäer eine Art Indigo zum Blaufärben. Doch wurden nach der Entdeckung dieses Weltteils frühzeitig ostindische Indigopflanzen nach Amerika eingeführt, und zwar zunächst nach den Antillen, von wo der englische Gouverneur Lukas 1699 Samen an seine Tochter in Carolina sandte, die eine Pflanzenliebhaberin war und der es nach mehreren fehlgeschlagenen Versuchen gelang, das Gewächs zur Blüte und zur Reife zu bringen. Ihr Vater sandte später einen gelernten Indigoarbeiter, der die Gewinnung des Farbstoffs unternahm und dabei so gute Geschäfte machte, daß bald jedermann Indigo bauen wollte. In wenigen Jahren wurden nicht weniger als 100000 kg nach England gesandt, und vor dem Kriege[S. 135] im Jahre 1775, der am 4. Juli 1776 zur Loslösung der 13 nordamerikanischen Kolonien vom Mutterlande führte, betrug die Ausfuhr 550000 kg. Jetzt ist, wie gesagt, der Indigobau auf der ganzen Erde bedeutend zurückgegangen, seitdem die Badische Anilinfabrik in Ludwigshafen bei Mannheim zuerst den europäischen Markt mit künstlichem Indigo zu versehen begann. Denselben Farbstoff gewinnt man seit undenklicher Zeit in China aus dem dort heimischen Färberknöterich (Polygonum tinctorium), einer dem Buchweizen verwandten einjährigen Pflanze, die 1835 in Frankreich und 1838 in Deutschland eingeführt wurde. Obschon zahlreiche Versuche zur möglichst rationellen Gewinnung des Farbstoffs damit gemacht wurden, vermochte er dem echten Indigo keinerlei Konkurrenz zu machen, da 1000 kg seiner grünen Blätter nur etwa 7,5 kg Indigo geben.
Dem Indigo sehr nahe verwandt ist der von den im Mittelmeer lebenden kleinen Purpurschnecken der Gattungen Murex und Purpura gewonnene Purpurfarbstoff, der in chemisch reiner Form dem Indigo äußerlich zum Verwechseln ähnliche, kupferglänzende, violette Kristalle bildet. Kürzlich hat Professor Friedländer in Wien 1,5 g davon aus dem farblosen, am Sonnenlicht erst dunkelviolett werdenden Saft einer bestimmten Drüse von 12000 Purpurschnecken gewonnen. Die chemische Analyse ergab, daß er seiner Zusammensetzung nach Dibromindigo ist, d. h. Indigo, in welchem zwei Wasserstoffatome durch zwei Bromatome ersetzt sind. Nun vermöchte man auch diesen im Altertum so überaus geschätzten, weil außerordentlich teuern Farbstoff synthetisch darzustellen und so billig im großen zu verwenden. Doch gibt dieser Purpur auf der Gewebefaser ein ziemlich unreines, rotstichiges Violett, das an Schönheit mit unsern modernen Farbstoffen keineswegs in Wettbewerb treten kann und auch in bezug auf die Echtheit seiner Färbungen den echten Teerfarben durchaus nicht überlegen ist. Wenn wir nun bedenken, wie im ganzen Altertum nur die Könige und Vornehmsten sich solche trotz allen Rühmens übrigens recht unscheinbar dunkle, fast schwarze, beim seitlichen Darüberblicken einen rotvioletten Schimmer aufweisende Purpurgewänder leisten konnten — kostete doch zu Diokletians Zeit im Jahre 301 das Pfund der besten Purpurwolle noch 950 Mark unseres Geldes — so geht daraus mit aller Deutlichkeit hervor, wie überaus gering die Ansprüche der Alten an die Leistungen ihrer Färber gewesen sein müssen und wie sehr wir moderne Menschen durch die Erfolge der heute so hoch entwickelten Farbenchemie verwöhnt sind.
Von den zum Gelbfärben Verwendung findenden Pflanzen sind als für Europa älteste der Wau oder das Gilbkraut (Reseda luteola), das schon die neolithischen Pfahlbauern benutzten und später die Römer unter der Bezeichnung luteum, d. h. das Gelbe, zur Farbstoffgewinnung anpflanzten, dann der Färberginster (Genista tinctoria) und die Färberscharte (Serratula tinctoria) zu nennen, die in großen Teilen Europas wild wachsen, aber auch in vielen Gegenden Deutschlands, Englands und Frankreichs kultiviert wurden, bis sie durch die Einführung der Quercitronrinde und des Gelbholzes aus Amerika verdrängt wurden. Erstere ist die Rinde der in mehreren Varietäten auftretenden und in den mittleren Vereinigten Staaten große Waldungen bildenden Färbereiche (Quercus tinctoria), die, von der Oberhaut befreit und zu Pulver zermahlen, als Quercitron in den Handel gelangt und einen der schönsten gelben Farbstoffe liefert, der in allen Zweigen der Färberei Verwendung findet. Seit 1818 hat man den Baum in Frankreich und bald hernach auch in Bayern angepflanzt. Das Färbevermögen seiner Rinde entdeckte Bancroft im Jahre 1784, und zwei Jahre darauf erhielt er auf eine Eingabe hin vom englischen Parlament ein Monopol für Einfuhr und Gebrauch dieses neuen Färbemittels auf eine Reihe von Jahren. Der Farbstoff des Quercitrons, das Quercitrin, findet sich auch im ungarischen Gelbholz oder Fiset, der vom Färbersumach oder Perückenbaum (Rhus cotinus) herrührt, und den chinesischen Gelbkörnern, den unentwickelten Blütenknospen der Sophora japonica, die beide noch heute in der Färberei Verwendung finden. Das amerikanische Gelbholz dagegen stammt von dem auf den Antillen und in Brasilien heimischen Färbermaulbeerbaum (Maclura tinctoria), deren färbender Bestandteil, das Morin, in der Wollfärberei zu Grün und Braun, in der Baumwoll- und Seidenfärberei aber zu Gelb und Grün benutzt wird.
Eine sehr geschätzte gelbe oder rote Farbe liefert das Gummigutt, der eingetrocknete Milchsaft mehrerer hoher Bäume aus der Familie der Guttiferen, die in den feuchten Wäldern Südasiens wachsen. In Kambodscha, Siam und dem südlichen Cochinchina ist es die bis 15 m hohe Garcinia hanburyi und in Südindien und auf Ceylon die bis 18 m hohe Garcinia morella, die beide 10–12 cm lange, kurzgestielte, elliptische Blätter, kleine Blüten und kirschengroße Beeren tragen. Sind die Bäume 20–30 Jahre alt geworden, so macht man vor Eintritt der Regenzeit, d. h. von Februar bis April, spiralig verlaufende Einschnitte in den Stamm, durch welche die Ölgänge der[S. 137] Rinde angeschnitten werden. Der dabei austretende gelbe Milchsaft wird in unterhalb aufgestellten Bambusröhren aufgefangen, von denen ein Baum im Laufe von 3–4 Wochen bis 3 Bambusröhren von 50 cm Länge und 6–7 cm Dicke voll Saft liefert. Das bald eingedickte Harz wird schließlich in den Röhren durch Erwärmen am Feuer erhärtet, so daß man es in Stangenform aus den Hohlzylindern herausschieben oder die Hülle von ihm ablösen kann. Die erstgenannte Art liefert mehr Gummigutt als die zweite. Es ist eine außen grüngelbe, innen aber rotgelbe, sehr dichte Masse, die zerstoßen ein gesättigt gelbes Pulver bildet. Mit zwei Teilen Wasser verrieben, liefert es eine gelbe Emulsion, in ätzenden Alkalien dagegen löst es sich mit roter Farbe. Es schmeckt brennend scharf und übt eine äußerst heftige, abführende Wirkung aus, weshalb es arzneilich verwendet wird, so in den berüchtigten Morrisonpillen, die schon bedenkliche, hauptsächlich auf den Gehalt an Gummigutt zurückzuführende Vergiftungen herbeigeführt haben und deshalb als gefährlich gemieden werden sollten. Als solche medizinische Droge kam dieser eingetrocknete südasiatische Milchsaft überhaupt im Jahre 1603 zuerst nach Europa, und wurde 1605 in Frankfurt am Main für einen Gulden (im Werte von gegen zwei Mark) das Quentchen, d. h. 1,66 g verkauft; da es aber an Giftigkeit und stark reizender Wirkung dem Krotonöle verglichen werden kann, so wird es als Abführmittel kaum mehr verwendet. Dagegen wird es als Wasserfarbe zum Gelbmalen und zum Färben von Weingeistfirnissen viel gebraucht. Die Hauptmenge des Gummigutt wird in Kambodscha gewonnen und gelangt über Bangkok, Saigon und Singapur in den Handel. Letztere Stadt allein führt jährlich etwa 30000 kg im Werte von 150000 Mark aus. Von Kambodscha aus scheint auch seine Verwendung ausgegangen zu sein. Ein Chinese, der dieses Land von 1295–1297 bereiste, erwähnt diese von ihm kiang-hwang genannte Droge als Produkt desselben.
Von weiteren Pflanzen zum Gelbfärben, denen aber geringere Bedeutung als den vorgenannten zukommt, ist die Curcuma oder Gelbwurz (Curcuma longa) zu nennen, eine sonst meist als Gewürz gebrauchte indische Verwandte des Ingwers, deren Farbstoff Curcumin bei uns vornehmlich zum Gelbfärben von Zuckerwerk, Likören und Spielwaren, aber nur selten in der Zeugfärberei Verwendung findet, da es sich auf die Dauer nicht hält. Mit Alkalien gibt es braunrote Salze, weshalb mit einer wässerigen Lösung desselben getränkte Papierstreifen zum Nachweisen derselben dienen. In den Gelbbeeren, den[S. 138] Früchten mehrerer Wegdornarten Südeuropas (hauptsächlich von Rhamnus infectoria und Rh. amygdalina), findet sich der Farbstoff Rhamnin, der heute noch in der Färberei ziemlich ausgedehnte Verwendung findet. Die chinesischen Gelbschoten aber, die als wong-schi bezeichneten Früchte einiger Gardeniaarten, vorzugsweise von Gardenia grandiflora, werden in ihrem Heimatlande Ostasien, wie in China, so auch in Japan, zum Gelbfärben von Zeug, besonders Seide, benutzt, sind aber für den europäischen Handel belanglos. Ihr gelber Farbstoff ist mit demjenigen des Safrans, dem Crocin, identisch.
Für die alten Kulturvölker des Orients und der Gegenden am Mittelmeer war einst der Safran (Crocus sativus) der geschätzteste Farbstoff zum Gelbfärben von Gewändern, Schleiern und Schuhen. Die griechische Bezeichnung krókos für Safran rührt vom semitischen karkôm für Gelb her, das seinerseits mit dem indischen kurkum — beispielsweise auch in der von uns gebrauchten Bezeichnung Curcuma für die indische Gelbwurz enthalten — zusammenhängt. Nach den Berichten der griechischen und römischen Schriftsteller waren gelbe Krokus- wie Purpurgewänder die Lust der Orientalen und Kleinasiaten. Mit solchen schmückten sich nach dem römischen Dichter Vergil die Phryger; nebst safrangelben Schuhen und der Tiara gehörten sie zur kennzeichnenden Tracht der Perserkönige. Den Abglanz der geheiligten gelben Safranfarbe zeigen noch die ältesten, vom Orient beeinflußten mythischen Vorstellungen der Griechen, wonach die aus dem Morgenlande zu ihnen gekommenen Götter, wie Dionysos-Bacchus, und Göttinnen wie die orientalischen Könige und Königinnen das gelbe Safrankleid trugen. Der in Argos ansässige griechische Dichter Pindar (522–442 v. Chr.) läßt auch den Argonauten Jason mit einem safranfarbigen Gewande bekleidet sein, das er abwarf, als er sich anschickte, in Kolchis mit den feuerspeienden Stieren zu pflügen. Krokosfarbene Gewänder trugen dessen Gattin Medeia, Iphigeneia bei ihrer Opferung in Aulis nach Äschylos, die Königstochter Antigone in den Phönikierinnen des Euripides, die an den Fels geschmiedete Andromeda bei Aristophanes. Nach Vergils Äneis hatte Agamemnons Gattin Helena von ihrer Mutter Leda eine goldgestickte palla, d. h. Frauenüberwurf und einen mit Krokos umsäumten Schleier zum Geschenk erhalten und mit nach Mykenä gebracht.
Die Bekanntschaft mit der Safranfarbe geht bei den Griechen bis in die Zeit der Ausbildung des Heroenmythus zurück. Sie lernten sie von den Vorderasiaten kennen, die ihrerseits — nach der vorhin mit[S. 139]geteilten Geschichte der Verbreitung des Wortes für Gelb identisch mit Safran — die Verwendung dieses Farbstoffs vermutlich von den Indern kennen lernten. Von den Griechen lernten die Römer und Byzantiner und nach ihnen die Araber den intensiv gelbfärbenden Farbstoff des Safrans zum Färben verwenden. Heute ist er als Farbstoff zu teuer, eignet sich aber als völlig unschädlich zum Färben von Zuckerwerk, Kuchen und Likören. Reiche Araberinnen färben sich damit die Augenlider, Fingerspitzen und Zehen.
Das dem indischen kurkum entstammende orientalische karkôm für Gelb und zugleich den Spender der gelben Farbe, den Safran, hat auch der Färberdistel den lateinischen Namen Carthamus — tinctorius — verliehen. Dieses auch als Saflor bezeichnete einjährige, 1–1,3 m hohe, kahle Kraut aus der Familie der Kompositen besitzt länglich eiförmige, stachelig gezahnte Blätter und von grünen Hüllblättern umgebene zuerst gelbe, dann orangerote Blüten. Seine Heimat ist wohl das vorderasiatische Steppengebiet; doch läßt sich dies nicht mehr bestimmen, da die Pflanze nirgends mehr wild gefunden wird. Jedenfalls ist sie eine der ältesten Kulturpflanzen, die dem Menschen zum Rot- und Gelbfärben diente. Schon die Kleider ägyptischer Mumien aus dem dritten vorchristlichen Jahrtausend sind damit gefärbt, während China die Pflanze erst im 2. Jahrhundert v. Chr. erhielt. Das spricht wohl schon für ihre westasiatische Herkunft. Seither hat sie eine sehr weite Verbreitung gefunden und wird heute, außer in Bengalen, Persien und Ägypten, in China, Japan, Neusüdwales, Mittelamerika und Kolumbien, in geringem Umfang auch in Spanien, Frankreich, Italien, Ungarn und in einigen Gegenden Deutschlands kultiviert. Das wichtigste Produktionsland ist Indien, und zwar Bengalen, wo die 30–60 cm hohe Pflanze zur Gewinnung des Farbstoffs im großen angebaut wird. Die aus dem Blütenkörbchen im Juli und August bei trockenem Wetter gezupften, in einem Ofen unter leichter Pressung getrockneten und zuletzt in Kuchen gepreßten Blüten, die als Saflor in den Handel gelangen, liefern einen leuchtenden gelben und roten Farbstoff, der neben dem Indigo den wichtigsten Pflanzenfarbstoff darstellt. Ähnlich dem Safrangelb Crocin ist das in Wasser lösliche Saflorgelb, dem in geringer Menge ein harzartiger, nur in alkalischer Flüssigkeit löslicher roter Farbstoff, das Saflorrot oder Carthamin beigemengt ist. Letzteres wird aus dem mit Soda versetzten wässerigen Auszug durch Fällen mit Essigsäure gewonnen und ist ein dunkelbraunroter, in Alkohol leicht, in Wasser kaum und[S. 140] in Äther nicht löslicher Farbstoff, der leider nicht besonders dauerhaft, aber außerordentlich schön und von solcher Färbekraft ist, daß eine ganz geringe Menge davon hinreicht, um eine große Fläche damit zu decken. Man kann damit in verschiedenen Nuancen von Rosa bis Dunkelrot färben; er gibt auch die feinste rote Schminke, welche als spanisches Rot bekannt ist und auf flachen Porzellantellerchen oder auf Blättern ausgebreitet in den Handel kommt. Die Saflorkuchen haben helle Fleischfarbe und riechen tabakartig. Als beste Sorten gelten der bengalische und der persische Saflor. Nach ihnen kommt der ägyptische, der ebenfalls von vorzüglicher Qualität und größtem Reichtum an Farbstoff ist und deshalb am meisten zu uns gelangt; man kann annehmen, daß jährlich etwa 1,5 Millionen kg davon in Form von gepreßten Scheiben in den Handel gelangen. Da der Farbstoff aber nicht sehr lichtbeständig ist, wird er mehr und mehr von den Teerfarben verdrängt. Im 17. Jahrhundert baute man im Elsaß und in Thüringen so viel Saflor, daß eine beträchtliche Ausfuhr besonders nach England stattfand. Im 18. Jahrhundert kam der Saflorbau durch den billigen und farbstoffreicheren levantischen Saflor in Verfall, zumal die deutsche Ware durch vielfache Verfälschungen in Verruf gekommen war. Aus den bitteren Samen gewinnt man in Indien, Ägypten und Algerien ein fettes Öl, das sich sehr gut als Brennöl, weniger dagegen als Speiseöl eignet. Nach Herodot gewannen schon die alten Ägypter Öl aus seinen Samen, die man gewöhnlich als „Papageienkörner“ bezeichnet. Sie, wie auch die alten Babylonier, Syrier und Hebräer benutzten den Saflor zum Färben. In Johann Bauhins berühmtem Garten zu Boll in Württemberg wuchs der Saflor im Jahre 1495 als indische Zierpflanze. Im Laufe des 16. Jahrhunderts begann sein Anbau in Mitteleuropa, der aber heute infolge des Aufkommens der billigeren und schöneren Teerfarbstoffe völlig außer Gebrauch gekommen ist.
Einen gelbroten Farbstoff stellt der Orlean dar, der in Südamerika und Westindien aus der roten, fleischigen Oberhaut der Samen des Orleanbaumes (Bixa orellana) gewonnen wird. Dieser Farbstoff und die ihn liefernde Pflanze wird von den Tupiindianern urucu, von den Aruakindianern dagegen bicha geheißen, woraus der Name Bixa entstand, während er von den Brasilianern orelhana genannt wird, nach seinem hauptsächlichsten Fundort, dem gleicherweise benannten Maranhonfluß. Der im tropischen Südamerika heimische, 5–10 m hohe Baum mit großen, herzförmigen, gezahnten, immergrünen Blättern[S. 141] und endständigen Rispen von ansehnlichen, lebhaft blau gefärbten Blüten ist schon seit langer Zeit in allen Tropenländern bis nach Polynesien und Madagaskar hin verbreitet worden und vielfach verwildert. Seine zum Färben dienenden Fruchtschalen hat man mehrfach in peruanischen Gräbern gefunden, und noch heute bemalen die südamerikanischen Indianer mit dem durch Vermengung des fleischigen, roten Samenüberzuges mit Zitronensaft und Gummi oder Rizinusöl erhaltenen Farbstoff ihre Leiber als Zierde und zugleich Schutz gegen die blutsaugenden Moskitos. Blätter, Samen und Wurzeln werden in Südamerika und Asien als Volksheilmittel verwendet. Zur Gewinnung des Farbstoffs läßt man die zerriebenen Fruchtschalen in Wasser gären, gießt die Masse durch Siebe und entfernt das Wasser vom Niederschlag, den man über Feuer oder im Schatten trocknen läßt. Er bildet dann einen gleichförmigen, roten, veilchenartig riechenden, bitter schmeckenden Teig, der, um völliges Austrocknen zu verhindern und ihm zugleich einen lebhafteren Farbenton zu verleihen, vielfach mit Harn befeuchtet wird. Wasser entzieht dem Orlean gelbbraunes, auch in Alkohol, nicht aber in Äther lösliches Orellin, das mit Alaun gebeizte Stoffe gelb färbt. Im Rückstand bleibt der wichtigere Farbstoff Bixin, der dunkelrote Kristallblättchen bildet und in Alkohol und Äther leicht löslich ist und orangerot, in Alkalien und ätherischen Ölen dunkelgelb färbt. Kocht man Orlean mit Sodalösung und setzt dann Alaun oder ein Zinnsalz zu, so erhält man einen orangegelben Lack. Der Orlean wird in Cajenne, Guiana und Brasilien dargestellt und dient außer in der Kattundruckerei hauptsächlich in der Seidenfärberei, in England — dann allerdings ohne Harnzusatz — auch zum Färben des Chesterkäses und der Butter.
Um Seide und andere Gewebe echt grün zu färben, verwendet man das Lo-kao oder chinesische Grün, das man durch wässerigen Auszug aus der Rinde zweier Kreuzdornarten, Rhamnus chlorophorus und Rhamnus utilis, gewinnt. Diese beiden werden als Hom-bi und Pa-bi im ganzen mittleren und nördlichen China zur Farbstoffgewinnung kultiviert. Der aus ihnen gewonnene Farbstoff kommt in flachen, bläulichgrünen Scheibchen in den Handel. Aus den reifen Beeren eines andern Kreuzdorns (Rhamnus catharticus) stellt man das Saftgrün her, das mit Kalk oder Pottasche einen grünen Niederschlag gibt, der vollkommen ungiftig ist und besonders als Wasserfarbe benutzt wird.
Ein auffallender Farbstoff, der in saurer Lösung schön rot, in[S. 142] alkalischer dagegen intensiv blau ist, und daher in der Chemie als sogenannter Lackmus als Reagens oder Nachweisestoff für Säuren und Alkalien verwendet wird, stammt von verschiedenen Flechten mit strauchförmigem Thallus, die vorzugsweise an felsigen Meeresküsten wachsen. Ihre Verwendung zum Färben war schon im Altertume bekannt; so benutzten sie die Römer unter der allgemeinen Bezeichnung fucus — was eigentlich Seetang bedeutet — zur Darstellung des unechten Purpurs. Die Kenntnis ihrer technischen Verwendung ging aber in den Stürmen der Völkerwanderungszeit im Abendlande verloren, erhielt sich aber im Morgenlande, wo sie ein in Florenz ansässiger Deutscher namens Federigo (Friedrich) im 13. Jahrhundert kennen lernte. Von einer Handelsreise in die Levante brachte er Färberflechten mit und lehrte daraus vermittelst Harn eine schöne rote Farbe darstellen. Damit begründete er seinen großen eigenen Reichtum als Stammvater des später mit den Medici rivalisierenden florentinischen Adelsgeschlechtes der Rucellai, so genannt nach der für sie so bedeutungsvollen Färberflechte rucella, die heute im Italienischen oricello heißt, woraus das auch im Deutschen gebrauchte französische Wort orseille hervorging. Wie die Medici, deren Stammvater Arzt gewesen war und von ihm her den Namen und die drei Kugeln — eigentlich Pillen — im Wappen führten, so hielten es die Rucellai mit der Färberflechte, die sie zu Reichtum und Ehren gebracht hatte. Dieser von ihrem Ahnherrn eingeführten neuen Industrie verdankte aber nicht bloß dieses Geschlecht, sondere viele Städte Italiens, die den gesamten Handel mit Färberflechten aus der Levante und dem griechischen Archipel an sich gerissen hatten, ihren Reichtum, bis im Jahre 1402 der Normanne Béthencourt die Kanarischen Inseln entdeckte und auf ihnen gleichfalls den kostbaren Stoff fand. Später entdeckte man ihn auch auf den Azoren, auf Sardinien und Korsika, in den Pyrenäen, der Auvergne usw.
Die Orseille ist in Form von schwachen organischen Säuren in einer ganzen Reihe von Flechten vorhanden, unter welchen die Roccella tinctoria die gesuchteste ist. Sie liefert die levantische und kanarische Orseille, von der auf den Kanarischen Inseln allein jährlich etwa 130000 kg gesammelt werden und in den Handel gelangen; doch wird sie auch an den felsigen Küsten Südamerikas, des Kaps der Guten Hoffnung, Senegambiens und Ostindiens gesammelt. Im Gegensatz zu dieser Meerorseille wird die von der Variolaria orcina und V. dealbata in Europa gewonnene Orseille als Landorseille bezeichnet.[S. 143] Eine andere ebenfalls sehr farbstoffreiche Flechte ist Roccella montagnei, die an der ostafrikanischen Küste in den Ästuarien auf Mangrovebäumen wächst. Aus der Flechte Lecanora tartarea, die auf den Inseln nördlich von Schottland, den Orkneys und Hebriden, heimisch ist, wird der rote Indigo oder Persiko gewonnen, der im Jahre 1765 zuerst von Cuthbert dargestellt wurde. Durch Behandlung mit Alkalien — früher Harn, jetzt Ammoniak — wird der violettrote Farbstoff, das Orcein, frei, mit dem man Wolle und Seide rot oder violett färbt. Da er aber für sich allein nicht echt genug färbt, so wendet man ihn meist mit anderen Farbstoffen hauptsächlich zur Herstellung von braunen Nuancen an.
Ein schon im hohen Altertum im Orient gebräuchlicher Farbstoff ist das Drachenblut, ein von den am äußersten westlichen und östlichen Zipfel Afrikas, auf den Kanaren und der Insel Sokotra bis in die Gegenwart am Leben gebliebenen Drachenbäumen (Dracaena draco u. a.) aus der Familie der Lilienblütigen gewonnenes Harz. Es sind dies 16–18 m hohe Bäume, die wie die Dikotyledonen dauernd in die Dicke wachsen und zu äußerst auf den gabelig verzweigten Ästen und auf dem Gipfel des Stammes büschelig gehäufte, über 1 m lange, schwertförmige Blätter tragen. Sie können ein außerordentlich hohes Alter erreichen und lassen von selbst oder durch Einschnitte das dunkelrotbraune, spröde, geruch- und geschmacklose, an der Luft erhärtende Harz ausfließen, das gepulvert blutrot ist und sich in ätherischen und fetten Ölen wie auch in Alkalien zu einer roten Farbe auflöst. Es kommt entweder in Form von in Schilfblättern eingewickelten Kugeln oder in ebenfalls in Blättern eingewickelten Stangen in den Handel. Das kanarische Drachenblut machte früher einen bedeutenden Handelsartikel von Madeira aus und findet sich auch in den Gräbern der Guanchen genannten Ureinwohner der Kanaren, welche dasselbe wahrscheinlich zur Einbalsamierung ihrer Leichen benutzten. Jetzt wird es seiner zusammenziehenden Wirkung wegen vorzugsweise zu Zahnpulver und Zahntinkturen, zumal bei leicht blutendem Zahnfleisch benutzt, sowie zu Tischlerpolitur und verschiedenen Lacken. Von Sokotra erhielten es die alten Griechen unter der Bezeichnung indischer Zinnober. Der im 2. Jahrhundert n. Chr. in Kleinasien lebende griechische Schriftsteller Flavius Arrianus schreibt in seinem Bericht über die Umschiffung des Roten Meeres: „Der sogenannte indische Zinnober (kinnábari) wird auf der Insel des Dioskurides (Sokotra) von Bäumen, aus denen er tröpfelt, gesammelt.“[S. 144] In derselben Weise, wie dieses Drachenblut, wird auch das ebenso genannte Harz, das auf den Philippinen von den Früchten der Drachenrotangpalme (Calamus draco) gewonnen wird, verwendet.
Außer den bisher genannten Pflanzen sind noch einige andere zu erwähnen, die wegen ihres Gehaltes an Katechin oder Gerbstoffen zum Schwarzfärben und zum Gerben verwendet werden. Unter dem Namen Katechu kommen die verschiedensten gerbstoffhaltigen Massen in den Handel, die teils aus den Früchten der Arekapalme (Areca catechu), teils aus den Zweigen und dem Kernholze einer Akazie (Acacia catechu), teils aus den Blättern der Gambirpflanze (Uncaria gambir) durch Auskochen mit Wasser gewonnen werden. Demnach unterscheidet man Palmen- oder Areka-Katechu, dunklen Akazien- oder Pegu-Katechu und gelben oder Gambir-Katechu.
Die in den Tropen häufig angebaute, ursprünglich in Südasien heimische Arekapalme ist ein äußerst zierlicher Baum von etwa 15 m Höhe mit sehr geradem, dünnem, weißem Stamm und etwas krauser Krone von dunkelgrünen Fiederblättern. Seine eiförmigen, etwa 4 cm langen Früchte enthalten ein ziemlich hartes, marmoriertes Nährgewebe, das, in Querscheiben geschnitten, mit Kalkmilch in ein scharf schmeckendes Blatt des Betelpfeffers gewickelt, in ganz Südasien und Indonesien zum sogenannten Betelkauen verwendet wird. Durch Kochen in Wasser wird aus den Arekanüssen der Areka-Katechu gewonnen.
Ebenfalls im südlichen Asien heimisch ist die in ganz Vorder- und Hinterindien, auf Ceylon und im tropischen Afrika von Abessinien bis zum Sambesi verbreitete Katechu-Akazie, ein 4–8 m hoher Baum aus der Familie der Hülsenfrüchtler mit brauner, rissiger Rinde, sehr verzweigter, schirmförmiger Krone, weißlich behaarten, dornigen Zweigen, zerstreut stehenden, paariggefiederten Blättern und gelben Blüten. In der Trockenzeit fällt sein Laub ab. Das in möglichst kleine Späne gehauene, vom hellgelben Splint befreite Kernholz wird etwa 12 Stunden lang in mit Wasser angefüllten irdenen Töpfen ausgekocht und der dunkelbraune Auszug dann in Schalen eingedickt, um zuletzt in Formen vollständig zu erhärten. Er kommt in Klumpen in den Handel, die vor dem Gebrauch durch Chemikalien und heißes Wasser wieder aufgelöst werden. Wie der Areka-Katechu wird er massenhaft in der Färberei gebraucht, sowohl als Beize, als auch zur Erzeugung von sehr dauerhaften schwarzen, braunen und grünen Farbenschattierungen und zum Gerben von weichem, geschmeidigem Leder.
Bis jetzt sind nur die Katechubestände in Indien ausgenutzt worden, und zwar in dem Maße, daß die Gewinnung in den letzten Jahren sehr zurückging und nur für etwa 5 Millionen Mark exportiert wurde. Infolge davon hat die englische Regierung die Katechugewinnung aus den wildwachsenden Beständen geregelt und den Anbau des Baumes angeordnet. Dagegen sind die großen Katechubestände des tropischen Afrika noch vollständig unbenutzt geblieben. Besonders im Steppenwalde Deutsch-Ostafrikas kommt der Baum massenhaft vor und dürfte mit der Zeit zur Gewinnung von Katechu, der recht gute Preise erzielt, reizen.
In den Spalten des Stammes der Katechu-Akazie findet man nicht selten kristallinische Ablagerungen von Katechin oder Katechusäure, nach der Katechugerbsäure dem wichtigsten Bestandteil des Katechu, die unter dem Namen khersal in Indien als stopfendes Arzneimittel bei Diarrhoe Verwendung finden. Der von dieser Pflanze gewonnene Katechu wurde zuerst 1514 von Barbosa als Handelsartikel Südasiens erwähnt. Eine Beschreibung der Stammpflanze und der Darstellung des Katechu gab aber erst Sassetti im Jahre 1586, und bald darauf gelangte Katechu auch nach Europa. Um die Mitte des 17. Jahrhunderts erscheint er als eine sehr teuere Droge in deutschen Apothekertaxen, und 1680 schilderte Clayer den ungeheuren Verbrauch desselben in Ostasien hauptsächlich zum Betelkauen, dem dort sozusagen jedermann huldigt. Neben dem in Vorderindien gewonnenen Bombay-Katechu ist der aus Hinterindien stammende Pegu-Katechu der im Handel gewöhnlichste und für pharmazeutische Verwendungen neben dem Gambir allein zulässige. Er bildet unregelmäßige dunkelbraunrote Kuchen, wie der vorhergehend besprochene Areka-Katechu, und kommt in Matten oder Kisten verpackt in den Handel.
In mittelgroßen, graubraunen, porösen, leicht zerreiblichen, sehr leichten und daher auf Wasser schwimmenden Würfeln kommt der gelbe oder Gambir-Katechu in den Handel. Er bildet ein durch vielstündiges Kochen in Wasser und nachheriges Eindicken gewonnenes Extrakt aus den jungen Trieben von Uncaria gambir, einem kletternden Strauch Hinterindiens und der Sundainseln aus der Familie der Rubiazeen oder Krappgewächse, die besonders auf der Halbinsel Malakka, aber auch auf Java und Sumatra angebaut wird und über Singapur in den Handel gelangt. Drei- bis viermal im Jahre werden die jungen Zweige und Blätter des Gambirstrauchs zur Gewinnung des sehr reichlich Katechin (neben Katechugerbsäure) enthaltenden Gam[S. 146]birs abgeschnitten, zerkleinert, durch Kochen in Wasser extrahiert und, auf Sirupkonsistenz eingedickt, an der Luft noch völlig getrocknet. Der Gambir ist fast geruchlos, schmeckt bitter, ist in kaltem Wasser schwer, leicht dagegen in heißem Wasser löslich, färbt sich mit Eisenoxydsalzen grün und dann auf Zusatz von Alkali purpurn. Er wurde in Europa gegen das Ende des 18. Jahrhunderts bekannt, hat aber erst seit den 1830er Jahren eine ungemein große Bedeutung in der Färberei und zum Gerben schweren Leders, wie auch zum Imprägnieren von Stoffen, die beim Gebrauch der Nässe ausgesetzt sind, wie Fischernetze, Zeltstoffe und Kofferüberzüge, erlangt. Auch gegen den Kesselstein in Dampfmaschinen findet er häufig Verwendung. Die Ausfuhr von Singapur, wo fast die gesamte Produktion zusammenkommt, beziffert sich auf jährlich etwa 40 Millionen kg im Werte von 19 Millionen Mark. Davon empfängt London allein gegen 15 Millionen kg, während Deutschland nur etwa 7 Millionen kg verbraucht.
Ebenfalls reich an Gerbstoff ist der in dunkelbraunroten bis schwärzlichen, in dünnen Splittern rubinrot durchscheinenden Stücken in den Handel gelangende Kino, der sich in Weingeist mit dunkelblutroter Farbe löst und wie Katechu und Gambir teilweise in der Medizin als adstringierendes Mittel, besonders aber technisch zum Färben und Gerben Anwendung findet. Meist kommt er als Malabar- oder Amboina-Kino zu uns und bildet den nach Einschnitten in den Stamm des Baumes Pterocarpus marsupium, eines Schmetterlingsblütlers, ausgeflossenen und dann eingetrockneten, rötlichen, gerbsäurehaltigen Saft, während der gleichfalls zu uns gelangende australische Kino aus dem in gleicher Weise gewonnenen Saft verschiedener Eukalyptusarten besteht. Kaum Bedeutung für uns hat der bengalische Kino, der aus dem eingedickten Saft der Rinde von Butea frondosa besteht, ebenso der westindische, der aus der Rinde von Coccoloba uvifera gewonnen wird, traubentragend wegen seiner Früchte genannt, die angenehm sauer schmecken und in Westindien und Südamerika, wo der Baum kultiviert wird, gerne mit Zucker gegessen werden; auch bereitet man aus ihnen erfrischende Getränke. Das schwere, geaderte Holz dieses mit wohlriechenden weißen Blüten in Trauben versehenen Baumes wird zur Herstellung feiner Möbel benutzt, und aus ihm durch chemische Umsetzung eine rote und violette Farbe gewonnen. Die wässerige rötlichbraune Lösung des Kino färbt sich nämlich mit Alkalien versetzt rotviolett und gibt mit Eisenchlorid einen dunkelgrünen Niederschlag, der mit Alkalien purpurn wird. Der westindische Kino ist seit[S. 147] 1757 gebräuchlich, während der Malabar-Kino erst seit 1811 bei uns eingeführt ist. Der am frühesten in Europa gebrauchte Kino war übrigens der afrikanische, von Pterocarpus erinacea gewonnen, der seit 1733 als zusammenziehendes Mittel im Arzneischatze geführt wird.
Als Myrobalanen kommen seit dem frühen Mittelalter, da uns die Araber ihre Kenntnis vermittelten, die 5 cm langen und 2,5 cm dicken, länglich birnförmigen, grünlich gelben oder gelbbraunen Früchte mehrerer ostindischer Bäume zu uns, die wegen ihres Gehaltes von 32–45 Prozent Gerbstoff ebenfalls zum Schwarzfärben und Gerben verwendet werden. Die meisten der in den Handel kommenden stammen von verschiedenen Vertretern der Gattung Terminalia, die in den regengrünen Wäldern von ganz Vorderindien, Ceylon, Hinterindien und dem indischen Archipel wachsen, von deren einer Art, Terminalia catappa, die mandelähnlichen Samen gegessen und auch zur Ölgewinnung benutzt werden, während die Rinde zum Gerben dient. Früher wurden noch als schwarze oder graue Myrobalanen die getrockneten Früchte eines ebenfalls in Ostindien wachsenden Strauches, Phyllanthus emblica, eines Wolfsmilchgewächses, in den Handel gebracht; jetzt aber werden meist die zuerst genannten nach Europa, und zwar vorzugsweise nach England importiert. Im Altertum verstand man unter Myrobalanen die Früchte der in Ägypten wildwachsenden Balanites aegyptiaca, die zum Salben benutzt wurden. Im Mittelalter übertrug man dann den Namen zuerst auf die in Syrien wachsenden gelben Pflaumen, unsere jetzigen Mirabellen, und dann erst auf die gelben Früchte, deren gerbstoffhaltige äußere braune Schicht gewöhnlich pulverisiert in den Handel gelangt.
Demselben Zwecke des Gerbens und Schwarzfärbens dienen die gerbstoffreichen Hülsenfrüchte eines in Westindien, Mexiko und dem nördlichen Südamerika, besonders in Kolumbien und Venezuela, heimischen, 6–8 m hohen Schmetterlingsblütlers, der Caesalpinia coriaria, die als Dividivi in den Handel gelangen. Sie sind gegen 8 cm lang und 2–3 cm breit und enthalten 20–30 Prozent Gerbstoff. Diese von den Indianern schon längst als Gerbmittel verwendeten Gerbschoten wurden zuerst im Jahre 1768 von den Spaniern nach Europa gebracht, kommen aber erst seit Anfang des 19. Jahrhunderts in größeren Mengen dahin. Kolumbien führt davon jährlich 4,2 und Venezuela 3,4 Millionen kg aus, von denen Deutschland über Hamburg etwa 5 Millionen kg im Werte von 1 Million einführt. Von einer anderen Caesalpinia-Art stammen die als falsche Dividivi be[S. 148]zeichneten Gelbschoten, während Caesalpinia tinctoria die in Chile und Peru zum Gelb- und Schwarzfärben gebrauchte Dividivi von Bogotá in Form von großen, flachen Hülsen mit roter oder hellbrauner Haut hervorbringt. Ebenso reich an Farbstoff sind die kurzen, breiten Hülsen von Caesalpinia digyna, die als Tarihülsen aus Vorderindien importiert werden.
Weiter finden zum Schwarzfärben und Gerben die als Bablach in den Handel kommenden unreif gesammelten Hülsenfrüchte verschiedener Akazienarten Verwendung. Die ostindische Sorte stammt von Acacia arabica var. indica in Form von 5–8 cm langen, flachen, dunkel- oder hellbraunen Schoten, die 14–20 Prozent Gerbstoff enthalten, die ägyptische dagegen rührt von Acacia nilotica her in Form von grünbraunen Hülsen mit ähnlichem Gerbstoffgehalt. Sie dienen zum Gelb-, Braun- und Schwarzfärben, zur Bereitung von Tinte und zum Gerben von leichterem Leder.
Ähnliche Verwendung findet der Sumach oder Schmack, der aus den getrockneten Blättern verschiedener Rhus-Arten und von Coriaria myrtifolia gewonnen wird. Die beste Sorte liefert der Gerbersumach (Rhus coriaria), dessen Blätter schon die Alten als Gerbmaterial benutzten, wie sie auch seine Beeren als Gewürz wie Myrtenbeeren oder Pfeffer gebrauchten, um die Speisen schmackhafter zu machen. Zuerst nennt ihn der athenische Gesetzgeber Solon zu Anfang des 6. vorchristlichen Jahrhunderts. Seit der Zeit der arabischen Herrschaft wird der trockene, steinige Standorte bevorzugende Strauch in Unteritalien und Sizilien in großem Maßstabe kultiviert. Aus dem arabischen sommâq ging der italienische Name sommaco hervor, woraus die deutsche Bezeichnung Sumach oder Schmack hervorging. Der Gerbersumach ist ausgewachsen ein 5–6 m hoher Strauch, dem man jährlich die beblätterten Schößlinge abschneidet, so daß er nur etwa 1,5 m hoch wird. Zur Sumachgewinnung läßt man dann die abgeschnittenen Zweige der kultivierten Pflanze an der Sonne trocknen, streift die dürren Blätter ab und mahlt sie. Dadurch erhält man ein grünliches Pulver von zusammenziehendem Geschmack und eigentümlichem Geruch, von dem Sizilien allein für mehr als 16 Millionen Mark jährlich ausführt. Es wird zum Schwarz- und Dunkelrotfärben und zum Gerben feiner, leichter Ledersorten verwendet, während die Früchte des Gerbersumachs, der bei uns auch als Zierstrauch kultiviert wird, im Orient noch heute als Gewürz an Speisen und zum Sauermachen von Essig dienen.
Bis zu 10 Prozent Gerbstoff — in der Wissenschaft als Gerbsäure oder Tannin bezeichnet — enthält die von verschiedenen Eichen (besonders Quercus pedunculata und Q. sessiliflora) abgeschälte Rinde, die an sich geruchlos ist, aber zerkleinert, mit Wasser und tierischer Haut in Berührung gebracht, den bekannten Lohgeruch entwickelt. Die beste Eichenrinde wird von jungen, höchstens 25 Jahre alten Bäumen gewonnen, die in einer besonderen Art von Niederwaldbetrieb gezogen werden. Dazu gehört ein mildes Klima innerhalb der Grenze des Rebbaus. In den Eichenschälwäldern Deutschlands werden nur Stiel- und Traubeneichen genutzt, und zwar gibt man letzteren den Vorzug. Auf 4500 Hektar gewinnt man nur 2,5–3 Millionen kg. Deutschland verbraucht davon jährlich etwa 500 Millionen kg, von denen 80–100 Millionen kg im Werte von 11 Millionen Mark aus dem Auslande, besonders aus Österreich und Frankreich, bezogen werden. Zur Herstellung guten Sohlleders gibt es kein besseres Material als dieses.
In Amerika dient die Rinde der bis 30 m hohen Kastanieneiche (Quercus prinus), die in den mittleren und südlichen Vereinigten Staaten wächst, zu demselben Zwecke. Man gewinnt sie von alten, wildgewachsenen Stämmen. Sie ist meist 2–3 cm dick und enthält bis 16 Prozent Gerbsäure. Man bereitet daraus einen Extrakt, der bis über 30 Prozent derselben enthält. In derselben Weise verwendet man die durchschnittlich nur 10 Prozent Gerbstoff enthaltende, aber als billiges Material gleichwohl angewandte, rotbraune Rinde der kanadischen Hemlocktanne (Tsuga canadensis), eines 25–30 m hohen Baumes des kälteren Nordamerika, der dem Grenzgebiet der Laub- und Tannenwaldregion angehört und selbst in nassen, kalten Sümpfen gedeiht. Man beutet in den Vereinigten Staaten etwa 4 Millionen Hektar von ihm bestandenen Waldes zur Gewinnung der Rinde aus. Die Hemlocktanne kam im Jahre 1736 durch Collinson nach Europa und wird in unseren Gartenanlagen als eine der schönsten Koniferen in mehreren Varietäten angepflanzt.
Als teilweiser Ersatz der verschiedenen Arten von Eichenrinde wird neuerdings in immer steigenden Mengen die sehr gerbstoffreiche Rinde der Mangrovenbäume aus den tropischen Küstengebieten in den Handel gebracht, von der Deutsch-Ostafrika beispielsweise jährlich für 40000 Mark ausführt. Diese Mangroven- oder Manglebäume (Rhizophora mangle, Rh. mucronata u. a.) umgürten in dichten Beständen die meisten flachen Küsten und Flußmündungen der Tropen. Es sind[S. 150] bis 15 m hohe Bäume, deren Stämme und Äste zahlreiche, vielfach bogenförmig gekrümmte Luftwurzeln entwickeln, mit denen sie sich gleichsam im lockeren Uferschlamm verankern, was sehr nötig ist, wenn man bedenkt, daß bei der steigenden Flut sich die Wellen oft stürmisch an die von ihnen eingenommenen Standorte herandrängen und ihren Schaum hoch über die im Winde gebogenen Wipfel aufspritzen lassen. Ihr Holz ist außerordentlich zähe und hart und findet deshalb als Nutzholz in verschiedenster Weise Verwendung. Die immergrünen, dicken, lederartigen Blätter sind durch starke Verdickung der Oberhaut in wirksamer Weise gegen übermäßigen Wasserverlust geschützt. Das scheint auf den ersten Blick unnötig, da die Pflanzen doch im Wasser stehen; bedenken wir aber, daß dieses Wasser salzhaltig ist und daß Kochsalz für alle Gewächse, wenn es in unbeschränkter Menge in den Körper derselben eingeführt wird, ein sehr stark wirkendes Gift ist, so begreifen wir diese Schutzeinrichtung vollkommen.
Eine andere, durch ihren Standort im Wasser bedingte Eigentümlichkeit der Mangroven sind die Pneumatophoren oder Atmungswurzeln, die von einem mächtigen Aërenchymmantel umhüllt sind und durch Lentillen genannte Spalten reichlich Kohlensäure ausscheiden und Sauerstoff einatmen, um so den Gasstoffwechsel der unter Wasser befindlichen Organe zu ermöglichen. Aus den paarweise gestellten weißen Blüten gehen längliche, einsamige, nicht aufspringende Früchte mit lederartiger Schale hervor, die auch wiederum die höchst zweckmäßige Einrichtung aufweisen, bereits am Baume zu keimen. Der Keimblattstamm verlängert sich dabei monatlich um etwa 4 cm und wächst durch die Frucht heraus, so daß der Keimling nach neun Monaten gegen 0,5 m, unter Umständen sogar 1 m Länge erreicht. Er ist unten am dicksten und etwa 80 g schwer. Diese langen, schweren, aus den Früchten heraushängenden Keimblattstöcke pendeln nun bei Luftströmung hin und her, endlich reißen die Gefäßbündel, durch welche noch immer die Verbindung mit dem röhrenförmigen Teile des Keimblatts erhalten war, der Keimling fällt in die Tiefe und bohrt sich durch die Wucht des Sturzes mit seinem unteren, zur Ausbildung der Wurzel bestimmten Ende tief in den Schlamm ein. Sogar eine 0,5 m hohe Wasserschicht wird von ihm mit solcher Gewalt durchfahren, daß er in dem darunter befindlichen Schlamme aufrecht stehend stecken bleibt. Hier entwickeln sich im Laufe weniger Stunden Wurzeln, die den Keimling endgültig im Boden befestigen. Durch diese ingeniöse Einrichtung ist dafür gesorgt, daß die Nachkommenschaft im[S. 151] Schlammgebiet selbst Wurzel faßt, wo sie die günstigsten Existenzbedingungen findet, und nicht in der Frucht von den Wogen ans Ufer geschwemmt wird an Orte, die für die Weiterentwicklung höchst ungünstig sein könnten. Geschieht es nämlich, daß bei hoher Flut der Keimling die hohe Wasserschicht nicht mit genügender Kraft durchfährt, um sich in den Schlamm einzubohren, so führen ihn die Wogen weiter, um ihn ans Land zu werfen, wo es ihm gleichwohl oft noch gelingt Fuß zu fassen.
Abgesehen von ihrer als Gerbmaterial für Leder höchst wertvollen gerbstoffreichen Rinde sind die Mangrovendickichte, welche nur dadurch einigermaßen zugänglich sind, daß die netzförmig ausgebreiteten Stelzwurzeln der Bäume über den Wasserspiegel hervorragen und auf diese Weise einen Stützpunkt zum Überklettern bieten, von hoher Wichtigkeit als landerobernde Vegetationsformen, die immer weiter ins Meer hinaus vorschreiten und nach und nach bedeutende Gebiete an den Küsten in Land verwandeln. Die bogenförmig ausgespreizten Stelzwurzeln sammeln nämlich wie Reusen alles hineingeratene Pflanzenmaterial und sämtlichen Auswurf des Meeres an, halten es fest und verdichten den Untergrund des Sumpfwaldes schließlich so weit, daß er fest und gangbar wird. Diese für die seichten Küsten der Tropen so charakteristischen Mangrovenwälder sind durchaus an das Salzwasser des Meeres gebunden und steigen an den Mündungen der Flüsse nur so weit herauf, als das Wasser noch brackig ist. Im Bereiche des reinen Süßwassers verschwinden sie vollkommen. Leider sind diese Mangrovenbezirke durch das viele stehende Wasser gefürchtete Brutplätze der Moskitos, von denen die Anophelesarten die Überträgerinnen der Malaria sind.
Von weiteren gerbstoffhaltigen Drogen, die technisch außer der Gerberei besonders für die Färberei in Betracht kommen, sind die Galläpfel zu nennen, die bekanntlich durch den Stich bestimmter Gallwespenweibchen auf den Blättern und Knospen verschiedener Eichenarten entstehen, indem durch den Reiz der aus dem Ei hervorgegangenen Insektenlarve Wucherungen der betroffenen Stellen des Blattgewebes in Form von blasigen Austreibungen bewirkt werden. Unsere einheimischen Eichen (Quercus pedunculata und Q. sessiliflora) werden von einer Anzahl Gallwespen befallen, deren jede eine Galle von bestimmter Form hervorbringt. So erzeugt Cynips scutellaris die kirschgroßen, weichen, auswendig grün bis rot gefärbten kugeligen Gallen, die man so häufig an der Unterseite der Eichenblätter findet.[S. 152] Reicher an Gerbstoff als unsere einheimischen sind die großen ungarischen, die von Cynips hungarica an der Unterseite der Blätter von der Stieleiche (Quercus pedunculata), und die kleinen ungarischen Galläpfel, die von Cynips kollari gleichfalls an den Blättern der Stieleiche erzeugt werden. Während diese 25–30 Prozent Gerbstoff enthalten, steigt der Tanningehalt bei den kleinasiatischen, von Cynips gallae tinctoriae auf der Unterseite der Blätter von Quercus infectoria erzeugten auf 60 Prozent und mehr. Von diesen in ganz Vorderasien gefundenen Gallen sind die nördlich von Aleppo in Nordsyrien gesammelten die gehaltreichsten an Gerbsäure. Aus dem westlichen Gebiet kommen sie über Alexandrette nach Europa, aus dem östlichen dagegen gehen sie über Mossul nach Bombay und gelangen als indische Gallen in den Handel, um außer zum Färben zur Tintenbereitung und zur Gewinnung von Gerbsäure und zur Herstellung von Galläpfeltinktur zu dienen.
Kleinasiatische und griechische Galläpfel wurden schon zur Zeit des Hippokrates, des berühmtesten Arztes des Altertums (460–364 v. Chr.), medizinisch und technisch verwertet. Auch Theophrast (390–286 v. Chr.) erwähnt sie, und der ältere Plinius um die Mitte des 1. christlichen Jahrhunderts berichtet, daß man mit Galläpfelsaft getränktes Leinen zur Prüfung des Kupfervitriols auf seinen Gehalt an Eisenvitriol benutze. Auch später blieben die Galläpfel besonders in medizinischem Gebrauch, bis nach den Kreuzzügen solche aus Syrien und Kleinasien einen regelmäßigen Ausfuhrartikel jener Länder bildeten. In guten Jahren kommen allein von Aleppo 8–9000 Säcke im Werte von je 140–160 Mark in den Handel.
Die Knopperneiche (Quercus vallonea), die in Kleinasien und im kilikischen Taurus vorkommt, liefert in ihren Fruchtbechern die 20 bis 35 Prozent Gerbsäure enthaltenden kleinasiatischen oder Smyrnavalonen, während die Knoppern durch den Stich einer Gallwespe (Cynips calycis) in die jungen Früchte vorzugsweise der Stieleiche (Quercus pedunculata), seltener der Traubeneiche (Quercus sessiliflora) hervorgebrachte, auf der Oberfläche mit flügelartigen Höckern besetzte Gallen mit 24–35 Prozent Gerbstoff sind, die in der Färberei und, besonders in Österreich, auch noch zum Gerben des Sohlleders dienen. Sie kommen als levantinische Knoppern in den Handel. In der oft mit Mannazucker bedeckten besten Sorte von Smyrna beträgt der Gerbstoffgehalt 30–35 Prozent. Trotz ihres herben Geschmackes dienten die Früchte der Knopperneiche schon der armen Bevölkerung bei den[S. 153] alten Griechen als Nahrungsmittel, und auch jetzt noch werden sie in ihrer Heimat roh oder geröstet verspeist, während unsere einheimischen Eicheln heute nur noch als geschätztes Schweinefutter dienen. In Griechenland allein werden jährlich 5000–7400 Tonnen geerntet, die als vorzügliches Gerbmaterial besonders für Sohlleder, aber auch zum Schwarzfärben, z. B. von Seidenhüten, dienen.
Der Gerbprozeß, bei welchem die Gerbsäure Anwendung findet, ist nebenbei bemerkt ein in seinen Einzelheiten noch nicht völlig aufgeklärter Vorgang, der mit der Färberei einige Verwandtschaft besitzt. Dabei verwandelt der Gerbstoff unter Aufnahme von Sauerstoff aus der Luft die von der haartragenden Oberhaut und der fettdurchwachsenen Unterhaut befreite Lederhaut, die der Gerber auch wohl als Corium bezeichnet, zu einem vor jeglicher Fäulnis bewahrten Gebilde, dem Leder. So wichtig der Sauerstoff auch für den Gerbprozeß ist, so bewirkt er an sich noch keine Lederbildung des Coriums. Legt man ein Stück der letzteren, die aus einem festen Gefüge vielfach verschlungener Faserbündel besteht, in feuchtem Zustande in eine Sauerstoffatmosphäre oder übergießt sie in einem Becherglase mit reichlich Sauerstoff abgebenden Wasserstoffsuperoxyd, so wird noch kein Leder daraus; dies geschieht erst bei Gegenwart einer Gerbstofflösung.
Die älteste Methode der Lederfabrikation haben wir in der Sämisch- oder Ölgerberei vor uns. Die Jäger- und Nomadenstämme unserer Tage, welche, wie die Jäger der Urzeit, das Fell des erlegten Wildes auf der Fettseite mit dem Steine bearbeiten, um ihm seine Geschmeidigkeit auch nach dem Eintrocknen zu erhalten, stellen damit eine primitive Art sämisch gegerbtes Leder her. Etwas vollkommener ist das Gerbverfahren, das beispielsweise die Frauen der nordamerikanischen Indianer anwandten, um die Tierhaut in Leder zu verwandeln, d. h. in solcher Weise zu verändern, daß sie weder in Fäulnis übergeht, noch ausgetrocknet hart wird. Zu diesem Zwecke spannten sie die abgezogene Haut eines von den Männern erbeuteten Büffels oder sonst eines Wildes zwischen Holzpflöcke auf dem Boden aus und schabten mit einem geschärften Stein das anhaftende Fett und Fleisch, wie auch die Haare ab. Dann rieben sie die Haut mit dem Gehirn und Fett des Tieres ein und bearbeiteten sie tüchtig längere Zeit mit dem Schaber oder einem andern Stein, bis sie weich wurde wie sämisch gegerbtes Leder. Ähnlich wie sie verfahren andere primitive Völker der Gegenwart, die zum Einreiben der rohen Felle außer Gehirn auch Fett oder Öl verwenden. Noch heutzutage werden die in Kleienbeizen[S. 154] angeschwellten „Blößen“, wie die in Leder zu verwandelnde Mittelschicht der Haut von den Gerbern genannt wird, mehrere Male mit Tran eingerieben; zwischendurch hängt man sie einige Zeit an der Luft auf und läßt sie zuletzt in Wärmekammern angären. Dabei nehmen die Fette Sauerstoff aus der Luft auf, es entstehen sauerstoffreiche Fettsäuren, sogenannte Oxyfettsäuren, die sich mit dem geschwellten Corium so fest verbinden, daß sie selbst durch Waschen mit Soda und Seife nicht mehr entfernt werden können.
Ein anderes, in der Alten und Neuen Welt gebräuchliches, ganz rationelles Verfahren, um das Fell vor Fäulnis zu bewahren, ist die Anwendung des Rauches. Die moderne Technik macht auch hiervon wenigstens insoweit Gebrauch, als ein großer Teil der aus Amerika zu uns kommenden rohen Rindshäute der vorläufigen Erhaltung halber etwas geräuchert wird — andere salzt man ein —, und daß man Felle und Bälge für Sammlungen mit Kreosot, also mit demjenigen Bestandteile des Rauches präpariert, der die Tierfaser gegen Fäulnis widerstandsfähig macht. Auch die Anwendung von Alaun, die Grundlage der Weißgerberei, muß schon lange bekannt sein, da schon die Römer neben dem lohgegerbten festen Leder, von ihnen corium genannt, ein weiches und geschmeidiges, mit Alaun bearbeitetes Leder unter dem Namen aluta kannten.
Neuen Datums ist die Chromgerberei, die ein sehr widerstandsfähiges Leder liefert, während die altgeübte Lohgerberei ein allerdings noch besseres Produkt erzeugt. Sie wurde schon im frühesten Altertum geübt und dazu in Europa vorzugsweise die bis 16 Prozent Gerbstoff aufweisende Eichenrinde als die tanninreichste von allen Rinden unserer Waldbäume verwendet. In Rußland, wo die Eichen fehlen, gerbt man von alters her mit den Rinden der Birken, Weiden und Erlen, wie in Nordamerika mit der Rinde der Hemlocktanne. Das auf diese Weise in Nordamerika erzielte rote Sohlleder wurde zuerst im Jahre 1844 nach England und bald über den ganzen europäischen Kontinent eingeführt, doch erwies sich dieses Hemlockleder trotz seiner Billigkeit nicht als dem einheimischen lohgegerbten Leder gleichwertig.
Schon die Ägypter des vierten vorchristlichen Jahrtausends übten die Gerberei mit gerbstoffhaltigen Brühen, die sie aus den Rinden der einheimischen Pflanzen herstellten. Auf den ältesten Wandbildern der Gräber des alten Reiches zu Beginn des dritten vorchristlichen Jahrtausends sehen wir dasselbe Gerbverfahren angewandt, das man heute noch betreibt. Im frühen Altertum waren die persischen und baby[S. 155]lonischen Leder berühmt; man fertigte dort nicht bloß gröbere, sondern auch sehr feine und schön gefärbte Ware an. Mit Safran gelb gefärbte pantoffelartige Schuhe waren das Kennzeichen der Vornehmen. Diese altasiatische Industrie arbeitete selbst für Europa, wohin die schiffahrtkundigen Phönikier diese beliebte Handelsware brachten und gegen einheimische Produkte umtauschten. Gegen den Anfang der christlichen Zeitrechnung hatten die Juden fast ausschließlich den Lederhandel Syriens in Händen und versorgten mit dieser Ware Rom und die übrigen bedeutenderen Städte des römischen Reiches. Zur Zeit der arabischen Herrschaft kam im westlichen Afrika und in Spanien eine Luxusgerberei zur Blüte, für deren ausgezeichnete Produkte die Völker Mitteleuropas lange Zeit gute Käufer waren, bis man hier, zuerst in Frankreich, das Geheimnis der Fabrikation dieser besseren Ware ausgekundschaftet hatte und dann in der Neuzeit selbst zu fabrizieren anfing. Die Erinnerung an diese Verhältnisse ist in den Bezeichnungen der verschiedenen Ledersorten bis in die Gegenwart erhalten geblieben. So haben wir dem Namen nach noch heute Leder aus Marokko als Maroquin, aus der Stadt Safi in Marokko ausgeführtes Leder als Saffian und Leder aus Cordova in Südspanien als Corduan. Von jener südwestländischen Kunstgerberei aber hat man allen Grund anzunehmen, daß die Araber sie auf ihren Eroberungszügen in Asien kennen lernten und sie nachträglich bis an die Gestade des Atlantischen Ozeans verpflanzten. Daß Asien, wie überhaupt die Wiege der Kultur, so auch die einer Industrie wie der feineren Gerberei gewesen sein wird, läßt sich wohl sicher annehmen, und dafür spricht auch, daß eben in den östlichen Gegenden Europas, bei den Russen, Bulgaren, Ungarn, Türken usw., die Lederbereitung frühzeitig in ausgezeichneter Weise betrieben wurde. Wir lesen bereits bei Plinius, daß das indogermanische Volk der Kelten sein Leder vermittelst Birkenteer bereitete; daraus ergibt sich, daß die Juchtengerberei nichts Nationalrussisches ist, sondern schon von den Urindogermanen geübt wurde, von denen sie manche Zweige später wieder aufgaben.
Außer den bereits genannten Gerbstofflieferanten werden für die Lohgerberei des Leders noch verschiedene andere verwendet, von denen wir die wichtigsten kurz aufzählen wollen. Dahin gehört die Rinde der Aleppokiefer (Pinus haleppensis), eines 10–16 m hohen harzreichen Baumes des Mittelmeergebiets, der in der Region des Ölbaums im Meeressand wie auf verwittertem Felsboden gedeiht. Seit der Zeit Theophrasts im 4. vorchristlichen Jahrhundert bis heute wird sie zum[S. 156] Gerben benutzt und weithin exportiert. In Australien und Tasmanien wird zu diesem Zwecke die Rinde eines daselbst heimischen, 12 m hohen Schmetterlingsblütlers, Acacia penninervis, benutzt. Noch mehr, nämlich über 30 Prozent Gerbstoff, enthält die schwere, schwarzviolette Rinde der in Süd- und Ostaustralien häufig vorkommenden besten Gerberakazie, der Acacia decurrens, die dort in Schälwäldern mit einer Umtriebszeit von nur acht Jahren gewonnen wird. Ein ausgewachsener Baum von zehn Jahren liefert etwa einen Zentner Rinde von 44 Prozent Tanningehalt, die neuerdings auch gemahlen als Mimosarinde nach Europa ausgeführt wird. So bringt Australien allein von Acacia decurrens jährlich etwa 15 Millionen kg im Wert von 1,85 Millionen Mark in den Handel. Wie der Baum neuerdings auf Anregung der Regierung in seiner australischen Heimat in Kultur genommen wird, so wird er jetzt auch in Deutsch-Ostafrika in größerem Maße angepflanzt. Die Bäume brauchen 5–8 Jahre, bis sie die ersten Erträge liefern. Dann aber kann das Abschälen eines Teiles der Rinde in bestimmten Abständen eine Reihe von Jahren hindurch wiederholt werden.
Wie Australien in seinen verschiedenen Gerberakazien, so besitzt Neuseeland in der Rinde der 20–23 m hohen, sellerieblätterigen Tanekahafichte (Phyllocladus trichomanoides), einer weitläufigen Verwandten der Eibe, ein Material mit 28–39 Prozent eines außerordentlich wertvollen Gerbstoffs, das neuerdings in erhöhtem Maße exportiert wird, um zum Gerben feiner, weicher Ledersorten zu dienen. Daher zieht Grenoble, dieser berühmte Sitz der Glacéhandschuhfabrikation, den größten Teil der Ausfuhr desselben an sich. Südamerika dagegen hat einen sehr wichtigen Gerbstofflieferanten in dem harten, fleischroten Holz eines in den Wäldern Argentiniens und Paraguays häufig wachsenden hohen Baumes, des Quebracho — sprich kebratscho — (Schinopsis lorentzii). Dasselbe enthält bis 20 Prozent Gerbsäure und wird zur Extraktion derselben, da es sehr hart ist, mit kräftigen Maschinen zerkleinert. Die Rinde dieses Baumes mit bläulichgrünen Blättern und gelben Blüten wird medizinisch verwendet. Sie gelangte 1878 zum erstenmal nach Europa und wurde als Ersatz der Chinarinde gegen Fieber empfohlen. Sie wird besonders gegen Asthma angewandt.
Äußerst wichtige ostasiatische Gerbstofflieferanten sind auch die chinesischen Galläpfel, die seit dem Jahre 1846 aus China und seit 1860 aus Japan auf den europäischen Markt gelangen. Sie[S. 157] werden durch den Stich einer Blattlaus (Aphis chinensis) an den Blättern und Blattstielen des geflügelten Sumachs (Rhus semialata) hervorgebracht und stellen ursprünglich grüne, später graubraune, dünnwandige Blasen mit 59–77 Prozent Gerbstoffgehalt dar. Sie sind 3–10 cm lang und 1,5–4 cm dick und bergen im frischen Zustande im Innern zahlreiche junge Blattläuse. Um diese abzutöten, werden die Gallen in weitgeflochtenen Weidenkörben heißen Wasserdämpfen ausgesetzt. Man bedient sich ihrer zum Schwarz-, Braun- und Graufärben von Geweben und Leder und zur Bereitung schwarzer Tinte.
Unser Wort Tinte kommt vom romanischen, speziell italienischen tinta Farbe, das seinerseits aus dem lateinischen tincta gefärbtes (nämlich aqua Wasser) hervorging. Schon im hohen Altertum schrieb man mit schwarzer Tinte, die aus Ruß, arabischem Gummi und Wasser bereitet wurde, jedenfalls aber im ganzen sehr wenig haltbar war. Aus der römischen Kaiserzeit sind uns verschiedene Rezepte zur Bereitung solcher Tinte erhalten geblieben, so von Plinius: „Schwarze Tinte und Farbe (atramentum) wird aus Ruß von verbranntem Harz und Pech gemacht, und man hat zu diesem Zwecke auch geschlossene Kammern, in denen sich der Ruß sammelt. Die beste schwarze Tinte kommt von Kiefern. Sie wird übrigens mit dem Ruß aus Öfen und Bädern verfälscht. Man macht auch welche aus geglühter Weinhefe. Die berühmten Maler von Athen Polygnotus und Mikon machten ihre schwarze Farbe auch aus Weintrestern. Apelles erfand die schwarze Farbe aus verkohltem Elfenbein, und man nennt solche elephantinon. Es wird auch schwarze Farbe aus Indien gebracht, deren Zusammensetzung mir aber unbekannt ist. (Damit meint Plinius jedenfalls die über Indien zu den Römern gelangende chinesische Tusche.) Es wird auch welche aus feinem Ruß gemacht, der sich an ehernen Kesseln ansetzt, oder aus Kiefernkohle, die man in einem Mörser zerstößt. — Alle schwarze Farbe wird an der Sonne fertiggemacht, die Schreibtinte mit Zusatz von Gummi, die Malerfarbe mit Zusatz von Leim. Man macht sie mit Essig flüssig, damit sie sich nicht leicht wieder auswaschen läßt, und mischt eine Abkochung von Wermut darunter, damit die Mäuse nicht an sie gehen.“
Außer der schwarzen waren auch farbige, besonders rote, allerdings ebenso leicht schimmelnde Tinten im Gebrauch, die alle in gleicher Weise mit dem zugespitzten und an der Spitze gespaltenen Schreibrohr calamus auf die Schreibrollen aus Papyrus oder Pergament aufgetragen wurden. Unsere Bezeichnung Rubrik kommt ja aus dem lateinischen[S. 158] rubrum das Rote, von der kurzen, seit der altägyptischen und römischen bis fast in unsere Zeit rotgeschriebenen Inhaltsangabe als Aufschrift bei Aktenstücken und am Eingang von amtlichen Verfügungen. Schon im 3. Jahrhundert n. Chr. begann man die Tinte in der heute noch gebräuchlichen Weise anzufertigen, indem man eine stark gerbstoffhaltige Galläpfelabkochung mit Eisenvitriol versetzte. Dadurch entstand ein feiner Niederschlag von gerbsaurem Eisenoxydul, der durch schleimige Verdickungsmittel, wie arabischer Gummi, später auch Dextrin, in Suspension erhalten wurde. Erst seit einem halben Jahrhundert kennt und benutzt man klare, filtrierbare Gallustinten, in denen das Eisen in gelöster gerbsaurer und gallussaurer Verbindung enthalten ist und sich erst nach dem Schreiben in unlöslicher Form auf dem Papier niederschlägt. Die erste derartig zubereitete Tinte, die heute noch als Vorbild der meisten im Handel befindlichen Gallustinten gelten kann, war die im Jahre 1855 von Leonhardi in Dresden erfundene Alizarintinte, so genannt, weil sie außer Indigo auch noch Krapp zugesetzt erhielt. Da man aber später erkannte, daß die Indigobeigabe an sich genügt, um der Tinte gehörige Schwärze zu verleihen, ließ man den Krappzusatz als überflüssig weg. Neuerdings ersetzt man die Indigolösung in zunehmendem Maße durch andere sauer reagierende Lösungen von Farbstoffen, besonders Anilinfarben.
Die Blauholztinten werden aus Blauholzextrakt unter Anwendung von doppeltchromsaurem Kali, Chromalaun und verschiedenen in der Färberei als Beizen gebrauchten Salzen und Säuren dargestellt. Gegenüber den Gallustinten haben sie den Nachteil, daß die Schriftzüge leichter vom Papier entfernt werden können; dagegen kommt ihnen der Vorteil einer vorzüglichen Kopierfähigkeit zu. Ihrer Billigkeit wegen benutzt man sie, z. B. in Form der Kaisertinte, häufig für Schulzwecke. Die Anilintinten sind halb- bis einprozentige Lösungen der entsprechenden, auf chemischem Wege dargestellten Farben in Wasser unter Zusatz von Oxalsäure und Zucker. In bezug auf Echtheit und Beständigkeit stehen sie den Gallus- und Blauholztinten bei weitem nach, besitzen aber große Kopierfähigkeit, die sich mit der Menge des darin gelösten Farbstoffs steigert. Vor der Anwendung der Anilinfarben stellte man die rote Tinte meist aus Pernambukholz oder aus der Kochenille gewonnenem Karmin, die blaue dagegen aus Indigokarmin oder Berlinerblau her.
Wie die Tinte der Abendländer im Altertum und Mittelalter aus Ruß, der durch Verbrennen von Öl oder Holz vorzugsweise von harz[S. 159]reichen Koniferen gewonnen wurde, wird auch die Tusche der Chinesen und Japaner, mit der sie vermittelst eines feinen Haarpinsels auf Papier meist vom Papiermaulbeerbaum schreiben, aus Ruß gewonnen, und zwar vornehmlich aus dem Ruße des Sesamöles, der mit dem bei allen Ostasiaten so beliebten Patschuli parfümiert wird, was ihm den typischen echten Geruch gibt. Dieses Parfüm, das auch zum Parfümieren der indischen Schale und anderer Erzeugnisse Ostindiens dient, ist der haltbarste unter allen Pflanzendüften und wird aus den durch einen reichen Gehalt an ätherischem Öl wohlriechenden Blättern des südindischen Halbstrauches Pogostemon patschuli in Bengalen gewonnen, wo er auch, wie auf Ceylon und Malakka, kultiviert und patschapat oder patschuli geheißen wird. Schon im Altertum gelangte die chinesische Tusche durch indische Vermittlung nach den Mittelmeerländern, wo sie bei den Griechen indikón mélan und bei den Römern indicum nigrum, d. h. schwarzes Indigo (eigentlich schwarze indische Farbe) hieß. Vitruvius bezeichnet es als kohlschwarz, auch Plinius erwähnt es in seiner Naturgeschichte an der vorhin von uns erwähnten Stelle, und der weitgereiste Grieche Arrian im 2. Jahrhundert n. Chr. sagt in seinem Bericht über die Umschiffung des Roten Meeres, daß es nebst seidenen Zeugen und seidenen Fäden von der Stadt Minnagara an der Indusmündung über Alexandrien in den Handel gelange.
Wie alle orientalischen Völker die Wohlgerüche über alles lieben und sich und ihre Waren nach Möglichkeit parfümieren, so sind sie auch besondere Freunde bunter Farben, die sie in der Kleidung und ganzen Lebensführung zur Geltung kommen lassen. Weniger angenehm für unseren Geschmack ist ihre mit diesem gesteigerten Farbenbedürfnisse zusammenhängende Freude am Schminken. Wie die Orientalinnen in ihren Frauengemächern, haben auch die vornehmen Frauen in ganz Vorderasien und Ägypten sich schon im höchsten Altertume geschminkt und ihre Haare, Handflächen und Fingernägel gefärbt. In den Grabkammern der alten Ägypter hat sich uns ein reiches Inventar von wohlriechenden Salben und Schminken mit allem übrigen Toilettenzubehör vornehmer Damen gefunden, das uns von der großen Bedeutung dieser Artikel Kunde gibt. Bei den Ägypterinnen war der zwerghafte, unterwachsene und bucklige Besa, ein durchaus nicht einheimischer, sondern aus dem asiatischen Orient mit der ganzen höheren Toilettenkunst eingeführter Gott, der Toilettengott, den wir sehr häufig auf Schminkbüchsen und anderen Toilettegegenständen abgebildet finden.[S. 160] Von ihnen und den vornehmen Asiatinnen Syriens, Phönikiens und Kleinasiens nahmen dann naturgemäß die wohlhabenden Griechinnen, und von diesen wiederum die Römerinnen der späteren Zeit diese von uns als Unsitte empfundene Gewohnheit des Färbens und Schminkens hauptsächlich des Gesichtes an. Aus vielen Stellen griechischer Schriftsteller geht hervor, daß es bei den griechischen Damen ganz allgemein Sitte war, das Gesicht zu schminken. Die dazu verwandte weiße Farbe war Bleiweiß, während das Rot von der Färberochsenzunge (Anchusa tinctoria), von der Pflanze paidéros, von Maulbeeren und von phýkos (einem Tang, zweifellos der Lackmusflechte) gewonnen wurde. So führt Athenaios eine Stelle des Dichters Eubulos in einem Stück, das Die Kranzverkäuferinnen heißt, an, in der es heißt: „Wie die blonden Augenbrauen mit Ruß oder Antimonsalbe, so werden die Wangen mit Bleiweiß und Maulbeersaft beschmiert; und geht nun die Dame im Sommer aus, so fließen von den Augen her zwei schwarze Tintenbäche auf die Wangen, von den Wangen aber rote Streifen auf den Hals, und die Haare der Stirne reiben sich am Bleiweiß grau.“ Gleicherweise sprechen römische Schriftsteller vom Schminken der römischen Damen, bei denen besonders roter Lackmus zum Färben der Wangen benutzt wurde. Aber alles Eifern dagegen war umsonst, die Sitte blieb bestehen. Schon der Athener Xenophon, der Schüler des Sokrates (440–355 v. Chr.) sagt: „Wenn ich eine Dame sehe, die sich dick mit Bleiweiß angestrichen hat, um weißer zu erscheinen als sie wirklich ist, und sich auch dick mit Färberochsenzunge angepinselt hat, um röter zu erscheinen als sie wirklich ist, und die Schuhe mit hohen Absätzen trägt, um größer zu erscheinen als sie wirklich ist, dann muß ich doch bemerken, daß dergleichen Betrug wohl mitunter Fremde täuschen kann, aber diejenigen gewiß nicht, welche die Dame näher zu beobachten Gelegenheit haben. Denn sie sieht früh morgens, bevor sie sich geschmückt hat, ganz anders aus, als wenn sie Toilette gemacht hat; und ist sie angepinselt, so verrät doch jeder Schweißtropfen, jede Träne, jeder Wassertropfen den Pinsel.“
Zu allen Zeiten hat der Mann „die Herrin des Liebreizes, der Anmut und der Liebe“, „die Palme der Liebe und Anmut für ihren Gatten“, „welche geschützt ward von ihrem Manne“, und wie sonst die Wendungen zur Kennzeichnung der Frau in den altägyptischen Grabdenkmälern lauten, gewähren lassen, wenn sie auch von ihrem Triebe nach Putz auf falsche Bahnen geleitet wurde. Denn wie vor 5000 Jahren gelten noch heute die Worte des Prinzen und Gaufürsten[S. 161] Ptah-hotep, der im alten Reich unter dem König Tet-kara der 5. Dynastie (2750–2625 v. Chr.) lebte und dessen im Papyrus Prisse, dem ältesten Moralbuche der Welt, uns erhaltenen Anstands-, Sitten- und Weisheitslehren Jahrtausende hindurch als Richtschnur und Norm im Pharaonenlande dienten. Sie lauten: „Wenn du weise bist, sorge für dein Haus, liebe deine Frau in Züchten, nähre sie, kleide sie und schmücke sie, das ist die Lust ihrer Glieder. Gib ihr Wohlgerüche, erfreue sie, so lange du lebst; denn sie ist ein Gut, das seines Besitzers würdig sein soll. Sei kein Tyrann. Freundliches Wesen erreicht mehr als Gewalt. Munter ist alsdann ihr Atem und munter ihr Auge, das sie im Spiegel schaut. Gern mag sie wohnen in deinem Hause und mit Lust und Liebe darin arbeiten.“
Wenn man den Stengel einer Wolfsmilch- oder einer andern Milchsaftpflanze abbricht, so erscheint an den Bruchflächen ein Tropfen dichten, weißen Milchsafts, der zahlreiche Stoffe wie Gummi, Zucker, Eiweiß, Gerbstoffe, verschiedene Salze und Alkaloide, ferner häufig Harze und Kautschuk in Form kleiner Körnchen und manchmal auch eigenartig gestaltete Stärkekörner enthält. Er befindet sich in einem System dünnwandiger Röhren und dient teils als Reservenährlösung, teils aber als wichtiges Schutzmittel für die Pflanze. Wird eine solche nämlich verletzt, so tritt der unter starkem Druck im Individuum gehaltene Milchsaft rasch in großen Mengen aus und bedeckt, an der Luft schnell erhärtend, die Wundfläche mit festem Verschluß, so daß keine Krankheitserreger in sie hineindringen können.
Begreiflicherweise hat diese Eigenschaft frühzeitig die Aufmerksamkeit des Menschen erregt, der ja zunächst alle Erzeugnisse der Schöpfung nur nach ihrem Gebrauchswert für sein eigenes Dasein zu beurteilen pflegt. So haben die Indianerstämme Brasiliens schon seit langer Zeit den rasch vertrocknenden, dicken Milchsaft eines stattlichen Baumes aus der Familie der Euphorbiazeen oder Wolfsmilchgewächse der von ihnen bewohnten Wälder technisch zur Herstellung von weichen und zugleich elastischen Flaschen und andern Gegenständen benutzt, indem sie einen Klumpen Lehm am Ende eines Stockes in die dickflüssig gewordene Milchsaftmasse tauchten, die sie nach dem Anschneiden der betreffenden Bäume mit Steinbeilen durch eine Rinne aus Schilfrohr in daruntergestellte Kalabassen, d. h. ausgehöhlte Flaschenkürbisse, geleitet hatten. War der federnde Harzüberzug erstarrt, so wurde der trockene Lehm ausgeklopft und zurück blieb eine als Wassergefäß benutzbare Flasche mit engem Hals, die sehr elastisch und unzerbrechlich war. Um nun den ganzen Prozeß zu beschleunigen, wurde die so ge[S. 163]wonnene Form über einem Feuer getrocknet, dessen Rauch der ursprünglich hellbraunen Kautschukflasche eine dunkle Farbe verlieh. Solche kamen früher als „Negerköpfe“ in den Handel und werden von Pará an der Mündung des Amazonenstroms heute noch in dieser Form ausgeführt. Auch Schuhe, in denen es sehr angenehm zu marschieren war und die die Füße trocken hielten, was in den morastigen Wäldern von nicht zu unterschätzender Bedeutung war, Spielbälle und Fackeln wurden aus diesem wegen seiner Federkraft im Deutschen zunächst Federharz genannten Stoff verfertigt. Die Indianer bezeichneten ihn als kautschu oder kahutschu, welch fremdartiger Name sich dann bald einbürgerte, und zwar zunächst bei den Franzosen als caoutchouc (mit unhörbarem c am Ende).
Es war nämlich der französische Gelehrte Charles Marie de la Condamine (in Paris 1701 geboren und 1774 ebendort verstorben), der Europa mit diesem neuartigen Stoffe bekannt machte, nachdem ihn allerdings schon der Spanier Gonzalo Fernandez d’Oviedo y Valdes in seiner 1536 erschienenen „Allgemeinen Geschichte Indiens“ (d. h. Amerikas, das man zuerst für Indien ansah) erwähnt hatte bei Gelegenheit der Beschreibung des Ballspiels der Indianer. Er sagt von letzterem, es werde anders gespielt und auch der Ball sei aus einer andern Masse hergestellt als derjenige, dessen sich die Christen bedienen. Nach ihm beschrieb der Jesuit Charlevoix den „batos“ genannten Ball der Indianer als eine Kugel aus einer festen, außerordentlich elastischen Masse. „Er springt höher als unsere Bälle, fällt auf den Boden und springt viel höher wieder auf, als die Hand ihn nach unten warf; er fällt nieder und springt von neuem, obgleich dieses Mal weniger hoch, und so nimmt die Höhe der Sprünge allmählich ab.“ Diesen eigenartigen Stoff bezeichnet der spanische Geschichtschreiber Antonio de Herrera Tordesillas zum erstenmal als Gummi; aber ihn nach seinem Ursprunge bekanntgemacht zu haben gebührt durchaus dem Franzosen la Condamine. Dieser Gelehrte hielt sich von 1736–1744 in Südamerika auf, zuerst als Teilnehmer an der von der französischen Akademie der Wissenschaften organisierten Gradmessung in Peru, nach welcher er dann Brasilien bereiste, wobei er diesen Rohstoff bei den Indianern kennen lernte. Er brachte Proben davon mit nach der Heimat und reichte 1751 darüber eine Denkschrift bei der Akademie der Wissenschaften zu Paris ein. Doch fanden seine Mitteilungen über die merkwürdigen Eigenschaften des elastischen Baumharzes aus Brasilien ebensowenig Beachtung wie die etwas späteren von Fresneau[S. 164] und Aublet du Petit-Thouar. Man betrachtete den Kautschuk als eine Kuriosität, mit der man nichts anzufangen wußte, und glaubte endlich seinen ganzen Nutzwert erschöpft zu haben, als man die Fähigkeit desselben entdeckte, Bleistiftstriche durch Reiben damit vom Papier zu entfernen. Zu diesem Zwecke ward er längere Zeit hindurch in geringen Mengen eingeführt; doch war er noch so teuer, daß ein würfelförmiges Stück von 12 mm Seitenlänge nicht weniger als 3 Mark kostete. In England erhielt er davon den Namen „india rubber“, der ihm bis heute verblieb, während er in Deutschland die lateinische Bezeichnung „Gummi elasticum“, auch schlichtweg nur Gummi bekam. Doch nannte man ihn hier in Anlehnung an das französische caoutchouc auch Kautschuk, wobei das k am Schlusse betont wurde.
In den Jahren 1761 und 1768 veröffentlichte der französische Chemiker Macquer seine chemischen Untersuchungen über den Kautschuk, der bei gewöhnlicher Temperatur einen höchst elastischen Stoff darstellt. Bei 0° verliert er jedoch diese Eigenschaft fast ganz, ohne indessen brüchig zu werden. Die gewöhnlichen Lösungsmittel wirken auf ihn gar nicht ein und selbst gegen starke chemische Agenzien verhält er sich sehr indifferent, nur konzentrierte Schwefel- und Salpetersäure zersetzen ihn. Bei Temperaturerhöhung ändern sich seine chemischen und physikalischen Eigenschaften. Bei 50° wird er etwas weicher, bei 100° fängt er an stark zu kleben, bei 120° schmilzt er und geht bei 200° in eine braunschwarze, schmierige Masse über, welche durch Abkühlen nicht wieder in ihren früheren Zustand zurückkehrt. Noch weiter erhitzt, verbrennt er an der Luft mit rötlicher, stark rußender Flamme. Im Jahre 1791 stellte Grassart in Paris Röhren aus Kautschuk her, indem er Streifen desselben um Glasröhren wickelte und die Ränder durch Erwärmen verklebte. Doch wurden solche anfänglich kaum technisch benutzt. Noch im Jahre 1820 kannte man kaum eine andere Verwendung des Kautschuks als zum Auswischen von Bleistiftstrichen, wie solches nach dem Vorschlage des Chemikers Priestley seit dem Jahre 1770 geübt wurde, dann zu Verschlüssen und Röhrenverbindungen an chemischen Apparaten, zu elastischen Verbänden, luftdichten Firnissen und zum Wasserdichtmachen von Leder und Geweben nach dem Vorgange des Engländers Samuel Peal seit 1791. Um 1820 wurden in Paris die ersten Bougies und Katheter aus Kautschuk verfertigt. In jenem Jahre nahm der Engländer Hancock ein Patent auf elastische Gewebe mit Kautschukstreifen; gleichzeitig gelang es 1820 Stadler in Wien, den Kautschuk in Fäden zu ziehen und diese, übersponnen, zu[S. 165] elastischen Geweben zu verbinden, eine Industrie, die dann namentlich von Reithofer in Wien erfolgreich weiter entwickelt wurde. Damals begann auch Macintosh in Glasgow seine ersten Versuche zur Anfertigung wasserdichter Stoffe durch Auftragen von Kautschuklösung auf Gewebe. Er nahm 1823 ein Patent darauf, doch verschwanden die Übergewänder aus seinem wasserdichten Zeug bald wieder, weil sie in der Kälte hart und unelastisch wurden, in der Wärme dagegen leicht zusammenklebten. Im Jahre 1830 machte Thomas Hancock die ersten Versuche mit der Herstellung von Überschuhen aus Kautschuk, den sogenannten Gummischuhen. Doch vermochte diese Industrie erst von 1836 an einen Aufschwung zu nehmen, als es Chaffee in Roxburgh (Nordamerika) und Nickels in England gelang, Maschinen zu erfinden, welche den Kautschuk durch bloßes Kneten bei mäßiger Wärme in einen erweichten, fast unelastischen Körper umwandeln, der mit Leichtigkeit jede gewünschte Gestalt annimmt.
Trotz allen diesen Errungenschaften blieb der Kautschuk ein Stoff von nur untergeordneter industrieller Bedeutung, bis der Amerikaner Charles Goodyear zu Newhaven im Staate Connecticut 1839 das Vulkanisieren desselben erfand durch Imprägnieren mit Schwefel und Erhitzen. Dadurch wurden ihm die Nachteile des unangenehmen Geruchs und der Veränderung durch die Temperatur genommen und hatte man es in der Hand, durch geringen Zusatz von geschmolzenem Schwefel, mit dem sich der Kautschuk zu einer eigenen Masse verbindet, und kurzem starken Erhitzen bei allen Temperaturen weich bleibenden Gummi, durch stärkeren Zusatz von Schwefel in Verbindung mit langdauerndem Erhitzen dagegen als Ebonit bezeichneten Hartgummi von hornartiger Beschaffenheit zu erzeugen. Diese Erfindung erst ermöglichte eine unbeschränkte Anwendung des Kautschuks und verschaffte diesem Pflanzenprodukt eine ungeheure Bedeutung, die heute noch immer zunimmt. Den Anstoß zu diesem Aufschwung gab die Entdeckung des Dr. Lüdersdorff in Berlin, daß dem durch Terpentinöl aufgeweichten Kautschuk die nach dem Trocknen zurückbleibende Klebrigkeit genommen wird, wenn man ihm Schwefel beimischt. Auf diese Beobachtung baute Goodyear seine Erfindung auf, die er sofort nach amerikanischer Art im großen technisch verwertete, indem er alle möglichen Gebrauchsartikel daraus anfertigte. Im Jahre 1842 kamen die ersten vulkanisierten Kautschukartikel aus seiner Fabrik nach Europa, aber erst die Weltausstellung vom Jahre 1851 im Kristallpalast in London und noch mehr diejenige von 1855 zu Paris verschafften seinen[S. 166] äußerst mannigfaltigen Erzeugnissen allgemeine Anerkennung und Nachahmung in der ganzen Kulturwelt.
Welchen Aufschwung die Kautschukindustrie seither genommen hat, dessen sind wir alle Zeugen. Tatsächlich gibt es heute kaum einen Zweig der Industrie, der nicht in irgend einer Form Kautschuk verwendet, so daß man ohne Übertreibung sagen kann, dieser Stoff begleite den Menschen von der Wiege bis zum Grabe. Schon der Säugling saugt die ihm als Ersatz oder wenigstens als Ergänzung der Muttermilch verabreichte Tiermilch mit dem Gummisauger und streckt sich behaglich auf seiner weichen Gummiunterlage aus. Dann spielt er mit seiner Gummipuppe oder greift zum Gummiball. Mit einem Schwamm aus weichem Gummi wird er gewaschen und mit einem Kamm aus hartem Gummi wird er gekämmt, und so geht es das ganze Leben hindurch fort. Es ist ganz unmöglich, alle Gebrauchs-, Sport- und Luxusgegenstände aus Kautschuk, die der Kulturmensch der Gegenwart im täglichen Leben verwendet, auch nur aufzuzählen. Es sei hier beispielsweise nur an die Pneumatik der Fahrräder und Automobile erinnert, dann an die mancherlei Verwendung, die dieser Stoff in der Chirurgie, Orthopädie, Chemie, Elektrotechnik, Meteorologie, Luftschiffahrt usw. findet. Es ist im Laufe eines Menschenalters so weit gekommen, daß wir uns die moderne Kultur ohne Kautschuk und seine Derivate überhaupt nicht mehr vorstellen können. Entsprechend dem ins ungeahnte gesteigerten Bedarf ist auch die Gewinnung des so kostbaren Stoffs mit Riesenschritten vorwärtsgegangen. Während der Jahresverbrauch an Kautschuk im Jahre 1840 noch kaum 400000 kg betrug, ist er 1909 auf über 68 Millionen kg im Werte von etwa 500 Millionen Mark gestiegen. Davon lieferte Südamerika 42,8 Millionen kg, Afrika 23,4 Millionen kg und Asien und Polynesien 1,8 Millionen kg. Deutschlands Einfuhr an Kautschuk beträgt rund 153 Millionen Mark.
Der Kautschuk ist eine Substanz, die sich in Form mikroskopisch kleiner Kügelchen in geringem Maße bei den milchenden Pflanzen auch Mitteleuropas wie Mohn, Zichorie oder Wolfsmilch findet, während er in den Milchsäften zahlreicher Tropenpflanzen einen überwiegenden Bestandteil bildet, der sich beim Stehen des Saftes vielfach von selbst abscheidet. Er findet sich im Milchsaft der betreffenden Pflanzen in ähnlich feiner Verteilung wie die Butter in der Milch und sammelt sich beim Stehen desselben wie jene an der Oberfläche in Form eines Rahmes an. Das Zusammenballen der Kautschuk[S. 167]kügelchen erfolgt, indem das Ganze durch den Rauch gewisser Nüsse und Hitze oder durch den Zusatz von Alkalien, Säuren oder Salzen zur Gerinnung gebracht wird. Hierbei gerinnen aber die Eiweißstoffe des Milchsaftes, nicht der Kautschuk, und dabei kleben die kleinen Kautschuktröpfchen zusammen, wie im Blute der gerinnende Faserstoff, das Fibrin, die Blutkörperchen zusammenballt. Infolgedessen ist der Kautschuk stets ausgiebig mit Eiweißstoffen durchsetzt und dadurch leicht geneigt, in Fäulnis überzugehen oder einen üblen Geruch anzunehmen. Durch Zentrifugieren kann er allein rein und geruchlos erhalten werden. Chemisch besteht er im wesentlichen aus einem zu den Polyterpenen (C10H16) gehörenden Kohlenwasserstoff, gemengt mit Harz, wenig ätherischem Öl, Wachs, Eiweiß und Fett. Seine chemische Beschaffenheit wechselt aber bei den verschiedenen Pflanzenfamilien, was schon aus der voneinander abweichenden Beschaffenheit der verschiedenen Handelssorten gefolgert werden kann. Diese Kohlenwasserstoffe stehen durch ihre Zusammensetzung den ätherischen Ölen, durch ihre Nichtflüssigkeit, ihr Verhalten gegen Lösungsmittel und ihre Zersetzungsprodukte den Harzen nahe.
Der älteste technisch zur Anwendung gelangte Kautschuk stammt vom brasilianischen Kautschukbaum (Hevea brasiliensis), der am Amazonenstrom und an dessen großen Zuflüssen, besonders in den ausgedehnten Wäldern an der rechten Seite des Stromes, am Madeira, Tapajoz und Purus wächst. Diese Flüsse werden allein der Kautschukgewinnung wegen auf weite Strecken hinauf mit Dampfern befahren. Der hohe, schlanke Baum erreicht eine freie Stammhöhe bis zu 15 m und trägt dann eine lockere, luftige Krone von langgestielten, dreizähligen Blättern, kleinen, unscheinbaren, rispig angeordneten, teils männlichen, teils weiblichen Blüten und dreifächerigen Kapseln, deren Fächer mit zwei Klappen aufspringen und je einen großen, länglichen, gescheckten Samen enthalten. Letzterer enthält ein dem Leinöl ähnliches fettes Öl und wie die Blätter Aceton und Blausäure. Beim Aufspringen der Kapseln wird der Samen eine Strecke weit fortgeschleudert und so durch den Urwald verbreitet. Mit diesem verwandte Heveaarten wachsen in Guiana und weiter südlich bis zum Rio Negro, der sich bei der Stadt Manaos in den Amazonenstrom ergießt, dann in Venezuela am Orinoko und seinen Zuflüssen bis zu den Anden von Peru und Bolivia. Sie bilden keine kompakten Wälder, sondern wachsen zerstreut zwischen anderen Bäumen, so daß man nur selten zwei oder drei Heveabäume nebeneinander findet. Sie[S. 168] sind auf die Niederungen beschränkt, in denen ein heißes, feuchtes Klima herrscht und eine ausgeprägte Regenzeit sich einstellt, infolge deren ihr Besiedelungsgebiet regelmäßig alle Jahre einmal überschwemmt wird.
Infolge unausgesetzter, rücksichtsloser Ausbeutung sind die Kautschukbäume in den zugänglicheren Partien der Flußläufe vielfach ausgerottet worden; doch ist das Gebiet, in dem sie wachsen, so groß, daß gleichwohl noch keine Erschöpfung der Produktion eingetreten ist, obschon das Amazonasgebiet allein jährlich bis 30 Millionen kg Parákautschuk, so genannt, weil er über Pará ausgeführt wird, produziert. Immerhin ist es auffallend, daß trotz der enormen Bedeutung des Kautschuks für das Amazonasgebiet der Baum in seiner Heimat kaum irgendwo kultiviert wird. Die wildwachsenden Bäume werden von den nach den flaschenartigen, als seringas, d. h. Spritzen, bezeichneten Rohformen des Kautschuks seringeros genannten Kautschuksammlern in der Weise angezapft, daß mit einem kleinen Beile Vförmige Einschnitte in die Rinde geschlagen werden, unter deren Verbindungsstelle kleine Blechbecher angebracht werden, deren Seiten mit Ton verschmiert sind, damit nichts von dem reichlich aus den Wunden hervorquellenden Milchsaft daneben fließe und so verloren gehe. Jeder Einschnitt liefert innerhalb 1–3 Stunden durchschnittlich 30 ccm Milchsaft. Die Schnitte, die nur ganz oberflächlich geführt sein dürfen, damit der Holzkörper nicht verletzt werde, da sich sonst leicht Bohrkäfer in die betreffenden Wunden einnisten, werden von unten nach oben fortschreitend in Horizontalreihen angebracht. Dabei erträgt ein Baum von 1,25–2,5 m Stammumfang sehr gut 10–20 Einschnitte alle 2 oder 3 Tage, bis er endlich erschöpft ist und eine weitere Milchsaftabsonderung unterbleibt.
Die der Kuhmilch ähnliche, trinkbare, nur etwas nach Ammoniak riechende Flüssigkeit wird dann aus den Blechbechern in ein größeres Gefäß gegossen und zur Beschleunigung der Gerinnung geräuchert. Man bringt zu diesem Zwecke die steinharten Früchte der sogenannten Shevonpalme (Attalea excelsa) oder Paránüsse, oder solche von Maximiliana regia und Euterpe edulis zum Glühen, was einen starken, ölhaltigen Rauch erzeugt. Dieser letztere wird dadurch zusammengehalten, daß man ein krugartiges, irdenes Gefäß mit enger Mündung darüber aufstellt. Der Seringero gießt nun mit einer Kürbisschale etwas vom dicklichen Milchsaft über ein Holz mit spatenähnlich verbreitertem Ende, läßt den Überschuß desselben in die darunter gestellte große Blechschale abtropfen und hält dann den hängengebliebenen Teil[S. 169] in den weißen Qualm, wobei er den Stock in fortwährender Drehung erhält. Durch die Wärme des Feuers und die bei der Verbrennung entstehenden kreosotartigen Bestandteile des Rauches nimmt die Milch in kaum 15 Minuten eine gelbe Farbe an und wird fest. Hierauf wird dasselbe Verfahren wiederholt und eine Schicht legt sich über die andere, bis man einen Klumpen von der Größe einer Kegelkugel erlangt hat, der etwa 15 kg wiegt. Dieser wird dann, nachdem er eine Nacht hindurch getrocknet hat, aufgeschnitten und vom Holze heruntergestreift, das zu dessen leichteren Lösung vorher mit einer dünnen Tonschicht bestrichen wurde, und kommt als seringa in den Handel. Er zeigt auf dem Querschnitt eine deutliche Schichtung, ist außen braun bis braunschwarz, aber schon in einer Tiefe von 1 cm bernsteingelb. Aus dem Reste des Milchsaftes, der in den Gefäßen haften bleibt und deshalb nicht zu Kugeln verarbeitet werden kann, stellt man kleine, formlose Stücke her, die unter dem Namen barrocha oder sernamby de seringa in den Handel kommen, aber nur zwei Drittel vom Preise des Kugelfeingummis erzielen. Dieser sogenannte Speckgummi, an dem man noch an der verschiedenen Farbe die einzelnen Schichten erkennen kann, ist äußerst elastisch und fest und übertrifft alle anderen Sorten des Kautschuks bei weitem an Güte.
Eine geringere Sorte ist der caucho (sprich kautscho), der in der Weise gewonnen wird, daß man die Bäume fällt und ihnen durch angebrachte Einschnitte den Milchsaft entzieht, den man in einem vorher fertiggestellten Erdloch oder in einem ausgehöhlten Holzklotz sammelt. Hierauf löst man in einer Blechschüssel ein Stück Seife auf, mischt das Seifenwasser mit dem zerstampften Kraut der Betilla nigra, einer dort überall vorkommenden Pflanze, und vermengt diese Mischung mit der Kautschukmilch, die sehr bald fest wird. So entsteht eine Art Block, den man mehrere Monate liegen läßt, bis das darin befindliche Wasser zum größten Teil verdunstet ist. Die Herstellung von caucho auf die beschriebene Weise wird weniger in Brasilien als in Peru betrieben. Seine Ausfuhr geht meist über die Anden nach Bolivia, wohin neuerdings auch der feinere Parágummi des hohen Ausgangszolles wegen, womit ihn Brasilien belastet, vielfach transportiert wird, um ihn aus den Hafenplätzen der Westküste Südamerikas zu exportieren.
Wegen der großen Bedeutung des von ihnen gewonnenen Kautschuks hat man die Heveabäume, deren höchste Ertragsfähigkeit, nebenbei bemerkt, erst mit dem 24. Jahre beginnt, auch anderwärts in den Tropen angepflanzt, so besonders auf Ceylon, Malakka und Java in[S. 170] über zehn Millionen Exemplaren. Es gelang auch, sie dort vollkommen einzubürgern, aber überall da, wo der Boden nicht recht naß gehalten werden konnte, war der Ertrag an Milchsaft ein so überraschend geringer, daß die mit großen Hoffnungen auf reichen Gewinn unternommenen Kulturen wieder aufgegeben wurden; die Bäume wurden gefällt und an ihrer Stelle pflanzte man andere Nutzpflanzen an. Da man auch in Südamerika nur im Überschwemmungsgebiet des Amazonenstroms reichlich guten Kautschuk gewinnt und sich mit der weiteren Entfernung von diesem nicht nur die Menge, sondern auch die Güte desselben verringert, obgleich die Bäume selbst vorzüglich gedeihen, so hätte dieser Umstand schon einen Fingerzeig dafür geben sollen, daß die Heveaarten eine ganz besondere Empfindlichkeit gegen Standort und Klima aufweisen, also nur da mit Erfolg angesiedelt werden können, wo regelmäßige Überschwemmungen den Boden sehr stark durchtränken. Von den deutschen Kolonien würde daher besonders das Küstengebiet von Kamerun mit seinen vielen Flußarmen und feuchten Niederungen einige Aussicht auf erfolgreiche Kautschukkultur mit Heveaarten darbieten.
Nun hat man glücklicherweise außer diesen auch weniger anspruchsvolle Kautschukpflanzen kennen gelernt, unter welchen an erster Stelle die ebenfalls Nordostbrasilien angehörende Euphorbiazee Manihot glaziovii, ein 8–15 m hoher Baum mit rötlichgrauer Rinde, von der sich silberweiße Querstreifen in derselben Weise wie bei der Birke ablösen, langgestielten, fingerförmig geteilten Blättern und unansehnlichen, gelbroten Blüten, von denen männliche und weibliche an denselben Blütenständen sitzen, zu nennen ist. Die Frucht ist eine 2–3 cm große, fast kugelige dreifächerige Kapsel, die mit drei Längsschlitzen aufspringt und in jedem Fach einen gescheckten, sehr hartschaligen Samen besitzt. Die Pflanze enthält in fast allen Teilen, den Milchsaft ausgenommen, Blausäure. Sie ist in der Provinz Ceara heimisch und wird deshalb auch Ceara-Kautschukbaum genannt. Sie bildet einen wichtigen Bestandteil der Certâoflora von Nordostbrasilien, einer den Stein- und Sandsteppen ähnlichen Formation, und wird ebenfalls neuerdings zu kultivieren begonnen. Sie läßt sich sehr leicht aus Samen und Stecklingen erziehen und wächst außerordentlich rasch. Diese guten Eigenschaften zeigten sich auch bei ihrer Überführung nach den Tropenländern der Alten Welt. Überall wo man den Baum anpflanzte, auf Ceylon, in Vorder- und Hinterindien, auf Java, in Ost- und Westafrika, gedieh er auch auf ganz geringwertigem Boden vortrefflich bis zu einer[S. 171] Meereshöhe von 1000 m, gab aber eine so geringe und minderwertige Ausbeute an Kautschuk, daß man an allen Orten mit feuchtem tropischen Klima seinen Anbau wieder aufgab. Nur in Gegenden mit einer halbjährigen Trockenzeit liefert er einigermaßen Milchsaft zur Kautschukgewinnung. Schon nach vier Jahren kann er angezapft werden und liefert dann, wenn dies behutsam, ohne grobe Verletzung des Holzes geschieht, eine Reihe von Jahren hindurch das Material zum sogenannten Cearakautschuk, dessen Marktpreis 6,50–7 Mark pro kg beträgt. Noch besser ist es aber, mit dem Anzapfen zu warten, bis der Baum 6–7 Jahre alt geworden ist, da er dann mehr aushält. Als 8–9jährig liefert er dann bei insgesamt 24 Anzapfungen im Jahre höchstens 6 kg Kautschuk, der aber geringwertiger als der echte Parákautschuk ist. Die Gerinnung seines Milchsaftes wird durch Hinzugießen von Alaunlösung, neuerdings auch mit Zitronensaft oder einer billigeren Säure bewirkt. Gegenwärtig wird dieser Kautschukbaum im trockenen, steinigen Gelände von Deutsch-Ostafrika im großen angebaut, doch sind die meisten der Bäume dort noch nicht alt genug, um ertragsfähig zu sein.
Ebenfalls in Nordostbrasilien heimisch und sehr anspruchslos an Boden und Klima ist der 5–7 m hohe Mangabeirabaum (Hancornia speciosa) aus der Familie der Apocynazeen mit schlaff herabhängenden Ästen, ziemlich großen Blüten und einer pflaumengroßen, gelben, rotgestreiften, beerenartigen Frucht. Sie ist in ihrer Heimat als manguba allgemein bekannt und wird hoch geschätzt, da der Fruchtbrei, in welchem die Samen liegen, sehr angenehm süß-säuerlich schmeckt und deshalb gerne gegessen wird. Der Baum wächst in den trockenen Gegenden Brasiliens von Rio de Janeiro bis Pernambuco, besonders in den Campos cerrados den Provinzen Bahia und Pernambuco, geht südlich bis S. Paulo und westwärts durch Matto Grosso bis zu den Grenzen Perus. Die gelernten Kautschuksammler zapfen zwar nur erntereiche Bäume sachgemäß an, die herumziehenden Sammler aber haben arg gehaust und die Bestände stark gelichtet. Der Staat S. Paulo hat daher zum Schutz und zur Aufmunterung der Anpflanzung dieser Bäume ein Gesetz erlassen, das weiteste Beachtung verdient. Seine Genügsamkeit in Verbindung mit früher Ergiebigkeit und verhältnismäßig hoher Ernte lassen ihn für die trockenen Gebiete von Deutsch-Ostafrika und des Hinterlandes von Westafrika geeignet erscheinen; jedenfalls dürfte er bessere Resultate geben als die anderen bisher genannten Kautschuklieferanten.
Ein Baumriese des mittel- und südamerikanischen Urwaldes ist die den Maulbeer- und Feigenbäumen verwandte Castilloa elastica. Einzelne Exemplare des Baumes sollen bis 50 m hoch werden, seine durchschnittliche Höhe ist aber 20–30 m. Die länglich herzförmigen, hellgrünen Blätter werden bis 30 cm lang und 18 cm breit. Die achselständigen Blütenstände weisen einzelne weibliche und gehäufte männliche Blüten auf, aus welch ersteren 3–5 cm breite, flache Früchte mit zahlreichen Einzelfrüchten hervorgehen. Eigentümlich ist, daß der Baum zwei Arten von Zweigen besitzt, von denen die einen, in der Jugend gebildeten, später abgeworfen werden. Der Baum wächst vom südlichen Mexiko bis Ecuador und dem nördlichen Peru, meist in Wäldern, aber auch auf den Grasflächen. Da nun die wilden Bestände durch den rücksichtslosen Raubbau, der beim Abzapfen des Milchsaftes meist getrieben wird, sich schon bedenklich vermindert haben, pflanzte man den Baum zuerst in Westindien und Zentralamerika, dann auch an zahlreichen anderen Orten der Tropen plantagenmäßig an. Er ist nämlich eine der sichersten und ergiebigsten Kautschukpflanzen und läßt sich überall da kultivieren, wo der Anbau von Kakao mit Erfolg betrieben werden kann. Da er dabei in betreff des Bodens nicht zu wählerisch ist und eine 3–4monatliche Trockenzeit verträgt, so sind Aussichten auf erfolgreiche Kultur in vielen Tropenländern vorhanden. Allerdings stehen angepflanzte Bäume in bezug auf die Menge und Beschaffenheit des Milchsaftes wildwachsenden nach, doch wird wohl diesem Übelstande bei mehr Erfahrung in der Pflege einigermaßen abgeholfen werden können. Auch sind die Versuche, den Baum als Schattenbaum für Kakao und Kaffee zu verwenden, beachtenswert. In den deutschen Kolonien scheint er in dem feuchtwarmen Küstenklima von Kamerun, Samoa und Neuguinea fortzukommen. In Kamerun haben allerdings die Kulturen unter einem Bohrkäfer stark zu leiden; auf Neuguinea lieferten dagegen die ersten Anzapfungen recht befriedigende Ergebnisse. Die Gerinnung des Milchsaftes wird in der Heimat dieses Kautschukbaumes meist durch Hinzufügen von Saft der zerquetschten Ipomaea bona nox, eines sehr häufigen Unkrautes aus der Familie der Windengewächse, hervorgerufen. Die von den gewissenlosen Kautschuksammlern vielfach geübte, weil bequemste Art der Kautschukgewinnung besteht auch hier darin, daß die Bäume kurz über der Wurzel gefällt werden. Dabei gewinnt der Sammler eine fünfmal so große Menge Saft als durch das schonende Anzapfen, das den Baum erhält und eine spätere regelmäßige Wiederholung des Anschneidens möglich macht.
Der größte Teil des aus Kolumbien kommenden Kautschuks wird von einem andern hohen Waldbaum aus der Familie der Euphorbiazeen oder Wolfsmilchgewächse mit gestielten lanzettlichen Blättern, einfachen Blütenähren und von Fruchtfleisch umgebenen kugeligen Samen, Sapium verum, gewonnen, der vornehmlich in Höhen von 2–3000 m wächst. Auch andere Arten derselben Gattung, die in niederen Regionen heimisch sind, geben guten Kautschuk, während es zweifelhaft ist, ob Sapium biglandulosum in Mittel- und Südamerika, von der man zuerst die Herkunft des kolumbischen Kautschuks ableiten wollte, überhaupt ein brauchbares Produkt liefert.
Nächst Südamerika ist Afrika das an Kautschukpflanzen reichste Land, dessen Kautschukerzeugung in den letzten Jahren, zusammen mit der wirtschaftlichen Erschließung des Erdteils überhaupt, einen bedeutenden Aufschwung genommen hat. Unter diesen sind die verschiedenen Landolphia-Arten die weitaus wichtigsten. Es sind dies Schlinggewächse aus der Familie der Apocynazeen oder Hundsgiftgewächse mit holzigem Stengel, die sich vermittels Ranken an benachbarte Sträucher oder Bäume klammern und an diesen bis in die höchsten Baumwipfel emporklettern. Sie haben 10 und mehr cm lange, eiförmige Blätter, große, bis 3,5 cm lange trichterförmige Blüten mit aufrechten Zipfeln in dichten Blütenständen und kleinen Orangen gleichende, gelbe oder rote Beerenfrüchte, in deren gelbem, säuerlichem Fruchtfleisch die großen vieleckigen Samen eingebettet sind. Diese Früchte bilden eine Lieblingsspeise der Affen, werden aber auch vom Menschen gerne gegessen. Diese Landolphia-Arten, von denen jetzt 14 als gute Kautschuklieferanten bekannt geworden sind, kommen hauptsächlich in den Urwäldern West- und Mittelafrikas sehr verbreitet vor und bilden durch den aus ihnen gewonnenen Kautschuk den Reichtum, aber auch, wie man es durch die Mißwirtschaft im Kongostaat genugsam erfahren hat, zugleich, wie früher das weiße und schwarze Elfenbein, den Fluch des Landes. Manche Arten sind aber schon so weit vermindert, ja fast ausgerottet worden, daß man sich neuerdings dazu bequemen mußte, sie auch anzubauen, was allerdings seine Schwierigkeiten hat.
Der Kautschuk wird in der Weise aus ihnen gewonnen, daß man die dickeren Triebe der Lianen anschneidet, worauf der Saft ausfließt und mitunter schon an der Luft gerinnt. In den einzelnen Gegenden bedient man sich verschiedener Mittel, um ihn zum Gerinnen zu bringen; meist aber wird der saure Saft der Früchte derselben Schlingsträucher dazu verwendet. Schließlich formt man aus ihm kopfgroße Klumpen, die dann als solche in den Handel gelangen. Bei der Ge[S. 174]winnung des Kautschuks verfahren die Neger sehr unvernünftig, indem sie sich nicht die Mühe nehmen, die Liane anzuschneiden, sondern sie hauen sie einfach kurz über dem Erdboden ab und fangen den auslaufenden Saft auf. Dies ist natürlich die bequemste Art der Gewinnung desselben, die auch eine einmalige größere Ausbeute als das Anzapfen liefert; aber dabei geht die Pflanze zugrunde, und bei der großen Nachfrage und den hohen Preisen des Kautschuks liegt die Gefahr nahe, daß durch diesen Raubbau die ganzen Bestände an Kautschuklianen vernichtet werden. Die Kolonialregierungen suchen deshalb durch Belehrung der Schwarzen und Gesetze dieses verhängnisvolle Raubsystem möglichst einzuschränken und die Eingeborenen zu einer vernünftigen Behandlung der so wertvollen Kautschuklianen anzuleiten.
Den Landolphien nahe verwandt sind die Clitandra-Arten, ebenfalls in den Urwäldern der afrikanischen Tropen wachsende Klettergewächse, die man bis jetzt am häufigsten im Kongobecken und in Kamerun angetroffen hat. Erst in jüngster Zeit hat man ihren hohen Wert für die Kautschukgewinnung erkannt, und sie nehmen heute schon in dieser Industrie eine bedeutende Stellung ein. Der Milchsaft ist bei ihnen außerordentlich reichlich vorhanden, und zwar in derselben Güte wie bei den besseren Landolphia-Arten, wird auch in derselben Weise wie bei jenen gewonnen. In Togo und Kamerun werden versuchsweise neben den Landolphia- auch Clitandra-Arten auf einigen europäischen Pflanzungen angebaut. Von niederen, strauchartigen Apocynazeen derselben Gattung und von mehreren Carpodinus-Arten, die an mehr trockenen Stellen Westafrikas gefunden werden, gewinnt man den in den fingerdicken, weithin verästelten Rhizomen in verhältnismäßig großer Menge abgelagerten Kautschuk, der als Wurzelkautschuk aus dem nördlichen Kongogebiet und Angola in den Handel kommt. Zur Gewinnung desselben werden die Wurzelstöcke der krautigen, schmalblätterigen, etwa meterhohen Pflanzen zerschnitten, einige Tage der Sonne ausgesetzt, dann gegen zehn Tage in Wasser gelegt, hierauf mit Holzlatten geschlagen und schließlich gekocht. Das dabei gewonnene Produkt, dem von den Eingeborenen gewöhnlich Würfelform gegeben wird, ist sehr minderwertig und enthält oft bis zur Hälfte des Gewichts Rinden- und Holzstücke. In Ostafrika und Madagaskar liefert eine andere Apocynazee, Mascarenhasia elastica, die vielfach an sumpfigen Bachufern wächst, einen Kautschuk mittelmäßiger Qualität, der meist mit Landolphiakautschuk vermischt in den Handel kommt.
Als weit besserer Kautschuklieferant als diese genannten afrika[S. 175]nischen Arten wächst in denselben Gegenden Westafrikas von der Goldküste bis zum Kongo ein ebenfalls in die Familie der Apocynazeen gehörender 30 m hoher Baum, Kickxia elastica, mit grauer Rinde, lanzettlichen, lang zugespitzten, lederartigen, dunkelgrünen Blättern und gelblichen Blüten in dichten Trugdolden. Aus ihnen gehen die aus zwei Kapseln bestehenden, zahlreiche Samen enthaltenden, 15–20 cm langen Früchte hervor. Dieser Baum ist erst in neuerer Zeit als Kautschuklieferant entdeckt worden. Im Jahre 1894 brachten eingeborene Händler aus dem Lagosgebiet eine bis dahin unbekannte Kautschuksorte zum Verkauf an die Küstenplätze. Bei näherer Untersuchung erwies sich das neue Produkt als sehr wertvoll; es wurde gern gekauft, gut bezahlt und infolgedessen bald in großen Mengen von den Eingeborenen auf den Markt gebracht. Lange kannte man die Pflanze nicht, die diesen Kautschuk lieferte, bis im Jahre 1898 der Deutsche Dr. Paul Preuß am Mungofluß in Kamerun die Pflanze entdeckte und Kickxia elastica benannte. Von den Franzosen und Engländern wird sie aber nach einem auf der Goldküste einheimischen Namen gewöhnlich Funtumia elastica genannt. Der Baum ist sehr reich an stark kautschukhaltigem Milchsaft, der in zweierlei Weise gewonnen wird. Bei der ersten klettert der Eingeborene auf den Baum und schneidet von der Krone bis fast auf den Erdboden eine Rinne in die Rinde des Baumes, in welche in bestimmten Abständen schräglaufende Seitenrinnen einmünden. Der ausrinnende Milchsaft wird in einem Topf am Boden aufgefangen und nach dem Gerinnen zu Ballen geformt. Wird dieses Anzapfen vorsichtig gemacht, ohne daß man durch die Rinde hindurch in den Holzkörper einschneidet, so wächst der Baum weiter und kann im folgenden Jahre wieder angezapft werden. Bei der zweiten, allerdings bequemeren Methode wird der Baum gefällt und der aus ihm herauslaufende Saft gewonnen. Da durch diesen von den Schwarzen mit Vorliebe geübten Raubbau schon große Kickxiabestände vernichtet wurden, so daß ein erheblicher Rückgang der Kautschukgewinnung in den nächsten Jahren zu befürchten ist, hat man auch diesen Baum neuerdings in Plantagenkultur genommen. So finden sich heute in Kamerun und auf Neuguinea große, in Togo und Ostafrika kleine Anpflanzungen des Kickxiabaumes, dessen Kautschuk an Wert dem echten Parákautschuk nur wenig nachsteht. Da die Nachfrage nach ihm steigt, wird er neuerdings in größerem Maße auch im Kongostaat angepflanzt, weil er bedeutend schneller wächst und ertragsfähig wird als die Kautschuklianen, welch letztere durch die ge[S. 176]wissenlose Raubwirtschaft der die Neger dazu mißbrauchenden Beamten schon bedenklich dezimiert sind. Während die ersten Anzapfungen der Kickxia elastica bereits nach 6–7 Jahren ohne irgend welchen nennenswerten Schaden für die Weiterentwicklung des Baumes vorgenommen werden können, tritt eine Verwertungsmöglichkeit der Lianen erst nach 20 Jahren ein. Man kommt daher vom Anbau der Lianen mehr und mehr zurück und pflanzt sie nur noch dort, wo die Kickxia elastica nicht fortkommen will. Der Milchsaft der Kickxia africana dagegen, auf den man wiederholt von England aus aufmerksam gemacht hat, ist nach eingehenden Untersuchungen von Dr. Traun, einer Autorität in der Kautschukindustrie, ein für die Technik völlig unbrauchbarer Rohstoff, der, gutem Kautschuk beigemischt, denselben nur entwertet. Es muß daher vor seiner Verwendung sehr gewarnt werden.
Ein in ganz Westafrika von Senegambien bis an den Kongo vorkommender Kautschukbaum ist auch Ficus vogelii aus der Familie der Morazeen oder Maulbeerbaumgewächse. Er besitzt auf stattlichem Stamm eine breit ausladende Krone von dunkelgrünen, stark glänzenden, großen Blättern, deretwegen er von den Eingeborenen gern als willkommener Schattenspender auf Dorfplätzen angepflanzt wird. Seine haselnußgroßen, runden, grünen Früchte bilden eine gesuchte Speise der Vögel und Affen. Der durch Einschnitte aus ihm gewonnene Milchsaft liefert einen nicht gerade hervorragenden, aber doch gut verkäuflichen Kautschuk, der besonders gern mit besseren Sorten gemischt in den Handel gebracht wird. Deshalb hat man neuerdings in Kamerun begonnen, den Baum in Kultur zu nehmen.
Größere Bedeutung als er hatte bis jetzt sein südostasiatischer Verwandter, die auch bei uns als Zierpflanze gehaltene und unter dem Namen Gummibaum allgemein bekannte Ficus elastica, die in ihrer Heimat als die dort beste Kautschukpflanze kultiviert wird. Sie ist ein riesiger, bis 60 m hoher Baum, der in der Jugend meist als Überpflanze auf anderen Bäumen wächst, wohin seine Samen durch die Vögel und Affen verbracht werden. Später wird er ein Baumwürger und schließlich erst ein selbständiger Baum mit stark zerklüftetem Stamm, der von zahlreichen stammartigen Luftwurzeln gestützt wird. Diese Luftwurzeln erreichen oft die Länge von 25 m bei 1,5 m Umfang. Die Zweigenden sind mit tütenförmig eingerollten, schön roten oder weißen Nebenblättern bedeckt, die nach dem Abfallen eine Ringnarbe hinterlassen. Die Blätter sind an den Bäumen bedeutend kleiner als bei[S. 177] den als Zimmerpflanzen gehaltenen Exemplaren. Männliche, weibliche und Gallenblüten bedecken die Innenseite der Feigen, die gereift gelbgrün und ziemlich fleischig werden. Der Baum wächst vom östlichen Himalaja, von Sikkim über Assam durch das ganze westliche gebirgige Hinterindien, über Malakka und Sumatra bis Java und Borneo. Er bevorzugt den unteren Bergwald, steigt aber im Himalaja bis 1600 m hoch. Nirgends bildet er Wälder; er findet sich vielmehr zerstreut im Urwald, und in den kautschukreicheren Wäldern wachsen auf 1 Hektar nicht mehr als 1–2 Gummibäume. Seit einigen Jahrzehnten hat man in Assam, auf Java, Sumatra und Borneo, in neuerer Zeit mit bestem Erfolg auch auf Neuguinea, in Togo, Kamerun und Ostafrika Pflanzungen des Baumes angelegt, da infolge des Raubbaues die Produktion des Kautschuks aus wildwachsenden Bäumen stetig abnimmt und trotz den Bemühungen der Forstverwaltungen ein Schutz der Bäume schwer durchführbar ist. Ein ungünstiger Umstand für die Rentabilität solcher Pflanzungen ist die beträchtliche Anzahl von Jahren, die vergehen müssen, ehe man den Milchsaft in genügender Menge gewinnen kann. Die Anzapfung der Bäume geschieht wie bei den anderen Arten, indem man mit starken Messern oder Äxten Einschnitte in die Rinde macht, aus denen dann meist der geronnene Milchsaft herausgekratzt wird. Ein großer Baum mit einer Laubkrone von 45–50 m liefert bei einem einmaligen Anzapfen mehr als 2 kg Kautschuk, und diese Menge vermag er 40 und mehr Jahre hindurch jährlich zu geben. Das Produkt ist infolge von Verunreinigung häufig schwarz und klebrig und hat im Vergleich zum Parákautschuk einen geringen Wert, ist aber doch für mancherlei Erzeugnisse zu gebrauchen. Die Vermehrung des Baumes erfolgt fast stets durch etwa 1 m lange Stecklinge, die, in die Erde gesteckt, sich sehr schnell bewurzeln und rasch zu jungen Pflanzen heranwachsen, doch müssen sie ungefähr 15 m auseinander gepflanzt werden, weil sie später mächtige Kronen entwickeln und ihre weitausladenden Äste mit Luftwurzeln stützen.
Weiter sind noch Willoughbya coriacea und andere Arten der Gattung zu nennen, die als große, relativ dickstämmige Lianen des Urwaldes Hinterindien und den malaiischen Archipel bewohnen und zur Gewinnung von Kautschuk angezapft werden. Sie haben ebenfalls lanzettliche, lederartige Blätter, dagegen achselständige Blüten mit flacher Blumenkrone in Rispen, aus denen große, innen saftige, kugelige Beeren mit harter Schale und schmackhaftem Fruchtfleisch hervorgehen. Sie winden sich vermittelst langer, fadenförmiger Ranken an Bäumen[S. 178] empor, sind aber niemals in Masse an einem Orte zu finden, was die Ausbeutung erschwert. Der größte Teil des von Borneo ausgeführten Kautschuks stammt von diesen Lianen. Auf Neuguinea gewinnen die Eingeborenen aus Ficus rigo, einem 15 m hohen Baum, einen guten Kautschuk. Da aber der Baum sich nur auf einem beschränkten Gebiet findet und von den Eingeborenen sehr unvernünftig behandelt wird, so dürfte er bald ausgerottet sein, wenn man ihn nicht vorher in Kultur nimmt. Nach seinen Eigenschaften verdient er ernste Beachtung für Kaiser-Wilhelms-Land.
Endlich sind in neuester Zeit noch zwei Kautschukproduzenten in Kultur genommen worden, die es verdienen kurz genannt zu werden. Der eine ist die in Venezuela und Guiana heimische Kautschukmistel, ein Schmarotzergewächs gleich unserer Mistel, die unter anderem auch auf dem Kaffeebaum gedeiht und sich daher dazu eignet, solche Kaffeeplantagen, die aus irgend einem Grunde nicht mehr recht ertragsfähig sind, wieder ertragsfähig zu machen. Der Kautschuk wird aus den alljährlich erzeugten Früchten gewonnen. Die andere ist eine den Guayulekautschuk liefernde Komposite Mexikos, die sich zum Anbau in trockenen Gebieten eignet. Sie bildet niedrige Halbsträucher, die abgeschnitten werden müssen, um einen Ertrag zu liefern. Doch ist ihr Anbau bis jetzt, so lange man andere ergiebigere Kautschuklieferanten besitzt, ein sehr beschränkter.
Im allgemeinen hat die Kautschukproduktion in neuester Zeit nicht in dem Maße zugenommen, wie es beim immer steigenden Bedarfe für die Industrie wünschenswert gewesen wäre; Asien nimmt darin im Durchschnitt eher ab als zu, Afrika erhält sich knapp auf der erreichten Höhe und selbst das Amazonengebiet scheint den Höhepunkt überschritten zu haben. Nun darf man allerdings damit rechnen, daß noch manche wichtige Kautschukpflanzen entdeckt werden, daß die zum Teil recht rohe Art der Gewinnung verbessert wird, daß es gelingen dürfte, die Ergiebigkeit zu steigern und auch aus bisher wenig beachteten Pflanzen guten Kautschuk zu gewinnen. Am meisten ist aber von der Ausbildung der Kulturen in großem Maßstab zu erwarten. Es müssen für die einzelnen Länder und Standorte die geeignetsten Kautschukpflanzen ausfindig gemacht werden, deren Milchsaft wenn immer möglich mit Zuhilfenahme von maschinellen Einrichtungen zu verarbeiten wäre, was die Qualität des Rohproduktes bedeutend verbessern würde.
Aus einem im April 1910 in der Times erschienenen Aufsatz:[S. 179] Rubber developments in 1910 entnehmen wir, daß die Vereinigten Staaten den größten Teil des aus Südamerika auf den Markt gebrachten Kautschuks konsumieren. Im Jahre 1909 belief sich die Produktion an wildgewachsenem Kautschuk auf 64 Millionen kg; davon entfielen auf Brasilien 38 Millionen kg. Man könnte annehmen, daß die fortwährende und enorme Preissteigerung dieses Handelsartikels auch eine stetige Produktion desselben herbeiführen müßte. Aber Brasilien dürfte am Ende seiner Leistungsfähigkeit angelangt sein. Man wird kaum allzusehr fehl gehen, wenn man die Erzeugung von Urwaldkautschuk in den nächsten Jahren auf 66–72 Millionen kg berechnet; zählt man noch 27 Millionen kg aus Plantagen hinzu, so gelangt man zu einer Gesamtproduktion von annähernd 100 Millionen kg. Vorläufig ist sie allerdings noch wohl imstande, die Nachfrage zu decken; da aber diese weit rascher wächst als das Angebot, so werden sich beide binnen kurzem die Wage halten. Deshalb beginnen die großen Kautschukproduzenten ihr Augenmerk darauf zu richten, wie die Kontinuität der Erzeugung erhalten oder gar eine Vermehrung herbeigeführt werden könne. Es ist dies eine für die Weltwirtschaft sehr wichtige Frage, die aber nicht in Afrika, sondern der Hauptsache nach in der Neuen Welt gelöst werden muß. Nicht nur ist der afrikanische Kautschuk qualitativ durchaus minderwertig, sondern er ist durch die jahrzehntelang geübte Raubwirtschaft immer seltener geworden. Von den 70 Millionen kg Kautschuk des Jahres 1908 lieferte Afrika nur 14 Millionen kg und dieser Ertrag hat seither nicht in erwähnenswerter Weise zugenommen, wenn auch in jüngster Zeit englische Gesellschaften auf deutschem Kolonialgebiet größere Landerwerbungen zum ausgesprochenen Zweck der Kautschukgewinnung machten. Es ist geradezu ein Trost, zu vernehmen, daß vor allem das Kongobecken, in welchem die unglückliche Bevölkerung unter dem Zwang des vom hartherzigen Leopold II. eingeführten Systems der Gummierzeugung beinahe zugrunde gerichtet wurde, schon jetzt fast nicht mehr mitkonkurrieren kann. Denn wenn die Kautschukgewinnung am Kongo auf die Dauer nicht mehr rentiert und preisgegeben werden muß, so könnte noch derjenige Teil der schwarzen Bevölkerung, der den Anforderungen der großen Kautschukproduktionsgesellschaften noch nicht erlag, gerettet werden.
Auch in Brasilien fordert das ungesunde Klima der Urwälder am Amazonenstrom, in denen der wichtigste und ertragreichste Kautschuklieferant, die Hevea brasiliensis, die heute noch 60 Prozent der Ge[S. 180]samtproduktion liefert, wächst, zahlreiche Opfer, so daß dadurch der Wert der wildwachsenden Bestände von Kautschukbäumen beeinträchtigt wird. Deshalb beruht die Zukunft der Kautschukindustrie durchaus auf den Anpflanzungen dieses Baumes, der schon im 5. Jahre angezapft werden kann, während die Castilloa elastica dies erst im 7. bis 9. Jahre zu tun gestattet und zudem einen geringeren Ertrag liefert. Diese haben besonders in Malakka, auf Java, Sumatra und Ceylon bereits eine große Ausdehnung erlangt und sind recht einträglich, da der Plantagenkautschuk zurzeit besser als der wilde brasilianische bezahlt wird. Wenn er auch reiner und sauberer als dieser ist, kann sich gleichwohl dieses von nicht ausgewachsenen Bäumen stammende Produkt an innerem Wert nicht mit dem von den wilden, oft bis zu 30 Jahre alten brasilianischen Gummibäumen gewonnenen Erzeugnis messen. Auch weist die in den asiatischen Plantagen gezüchtete Hevea bereits eine gefährliche Krankheit auf, deren Ursache man noch nicht recht auf die Spur gekommen ist. Man ist geneigt anzunehmen, daß das südamerikanische Gewächs dem vulkanischen Boden von Java und Sumatra sich nicht anzupassen vermag. Mit großen Opfern suchen die Pflanzer nach einem Heilmittel dafür; denn ihre ganze Existenz hängt davon ab. Zudem hat die indische Regierung vom Juni 1910 an alle Arbeitsverträge der zahllosen aus Indien stammenden Kulis, die als Plantagenarbeiter auf Kautschukpflanzungen des malaiischen Archipels verdingt sind, aufgehoben, so daß bei der Schwierigkeit, aus der einheimischen malaiischen Bevölkerung die nötigen Arbeitskräfte zu erhalten, neue Heveaplantagen kaum angelegt werden können. Auch in Brasilien und Peru, wo neuerdings eine englisch-französische Finanzgruppe an den Ostabhängen der Anden in Gebieten, die für die Züchtung des Guttaperchabaumes geradezu ideale Vorbedingungen aufweisen, große Heveakulturen angelegt haben, bildet die Beschaffung der nötigen Arbeitskräfte einen Gegenstand der Besorgnis, da auf die trägen und sorglosen Eingeborenen nicht zu rechnen ist. Nun hat die japanische Regierung die Überführung japanischer Arbeiter, die sich durch Fleiß und Genügsamkeit auszeichnen, nach diesen südamerikanischen Kautschukplantagen in großen Massen gestattet, so daß dadurch die für alle Plantagen so wichtige Arbeiterfrage aufs beste gelöst zu sein scheint. Wenn sich dann nur keine Rassenfrage mit der Zeit daraus entwickelt. Schon in wenigen Jahren können aus diesen Heveakulturen allfällige Ausfälle in der Ernte des brasilianischen wilden Kautschuks gedeckt werden. Jedenfalls beruht die Entwicklung und Zu[S. 181]kunft der modernen Kautschukindustrie in erster Linie in der sehr zukunftsreichen südamerikanischen Kautschukproduktion aus der Hevea brasiliensis.
Dem Kautschuk sehr nahe verwandt ist die Guttapercha — aus dem Malaiischen getah-pertcha, d. h. Milchsaft von Sumatra, entstanden — die im malaiischen Archipel aus dem Milchsaft einiger zur Familie der Sapotazeen gehörender Bäume gewonnen wird. Merkwürdigerweise war der Gebrauch dieses Pflanzenproduktes zu allen technischen Zwecken bei den Eingeborenen Malakkas und Indonesiens lange nicht so verbreitet, wie derjenige des Kautschuks unter den brasilianischen Indianerstämmen. Die Bekanntschaft der Kulturwelt mit demselben ist noch ziemlich jungen Datums. Zwar waren schon im Jahre 1830 Muster dieses Harzes aus Singapur an die Asiatische Gesellschaft nach London gesandt worden, sie fanden jedoch nicht die geringste Beachtung. Diese wurde erst erregt, als im Jahre 1843 der Engländer Montgomery dem Londoner Gewerbeverein Mitteilungen über diesen Stoff machte, den er als Stiel einer von Eingeborenen benutzten Axt, der sich im warmen Wasser erweichen und biegen ließ, kennen lernte. Kurze Zeit darauf legte der Spanier Joze d’Almeida der Asiatischen Gesellschaft in London eine Probe der Guttapercha vor; daraufhin gelangten 100 kg dieses Materials versuchsweise aus Singapur nach London. Die ausgezeichneten Eigenschaften desselben riefen aber sehr schnell eine bedeutende Nachfrage nach ihm hervor, so daß schon 1845 11000 kg nach England gebracht wurden. Die so schnell hervorgerufene Nachfrage hatte zur Folge, daß die Gewinnung der Guttapercha, die zunächst nur in den Sümpfen von Dschohor auf der Insel Singapur aus dem Guttaperchabaum (Palaquium gutta) von Malaien und Chinesen gesammelt wurde, bald gewaltige Dimensionen annahm. Aber durch die dabei geübte rücksichtslose Raubwirtschaft, der ganze Wälder des so wertvollen Baumes durch Umhauen zum Opfer fielen, wurde dieser Guttaperchalieferant auch in der weiteren Umgebung von Singapur ganz ausgerottet. Da sah sich die englische Guttaperchahandelsgesellschaft gezwungen, einen rationellen Betrieb einzuführen und nur noch das Anzapfen der Bäume wie beim Kautschuk zu dulden. An Stelle des inzwischen gänzlich ausgerotteten Palaquium gutta, eines bis 20 m hohen dickstämmigen Baumes mit glänzenden, lederartigen Blättern, gelben Blüten und Beerenfrüchten, von dem in den ersten vier Jahren der Guttaperchagewinnung über 300000 Exemplare gefällt wurden, traten andere Arten von Palaquium, sowie[S. 182] Payena leeri, welch letztere aber einen leicht faserig werdenden Stoff, der auch weniger elastisch ist, liefert. Ihr Milchsaft ist auch weißer als derjenige der Palaquium-Arten. Um Getah zu sammeln, ziehen die Eingeborenen Sumatras in Gruppen von 3–4 Personen in den Wald, meist in Begleitung eines Mannes, der es versteht, die Geister der zu fällenden Bäume zu beschwören. Haben sie solche gefunden, so werden sie gefällt, die Stämme horizontal gelegt und vermittels eines breiten Messers in Entfernungen von 30–50 cm auf der oberen Hälfte mit 2 cm breiten, um ein Drittel des Umfangs herumlaufenden Einschnitten versehen. Der hierbei herausfließende Saft wird nicht eingesammelt, da er für minderwertig gilt. Die breiten Einschnitte füllen sich aber bald mit einem dickeren Milchsaft, der alsbald mit einem hakenförmigen Werkzeug so gründlich als möglich aus den Rinnen herausgekratzt wird, wo er mit Rindenteilen und Holzsplittern vermischt zu Klumpen gerinnt. Nach Hause zurückgekehrt werfen die Getahsammler die Klumpen in Töpfe mit 70° C. heißem Wasser und kneten die schnell erweichende Masse so lange mit den Händen durch, bis alle Rinden- und Holzstücke entfernt sind, was aber selten vollständig gelingt. Dann formt man die Masse zu kugeligen oder rechteckigen Stücken und bringt sie zur Ausfuhr. Nach Burck liefert ein Baum von 40 cm Stammumfang durchschnittlich 160 g Getah. In Borneo werden nach demselben Gewährsmanne jährlich gegen 26 Millionen Bäume gefällt, um den stets wachsenden Bedarf an Guttapercha zu decken. Es wäre dies aber nicht nötig, wenn man den Milchsaft in ähnlicher Weise gewänne wie den Kautschuk. Deshalb ist es erklärlich, daß die holländische Regierung ihre Aufmerksamkeit diesem Vernichtungswerke zugewandt hat, und da es sich undurchführbar erwies, das Einsammlungsverfahren der Eingeborenen zu verbessern, so begann sie damit, an verschiedenen Orten Kulturen von Guttaperchabäumen anzulegen, die recht gut gedeihen und für später Erfolg versprechen. Die durch Einschnitte erhaltene rohe Guttapercha, von den Malaien getah-muntah genannt, wird, bevor sie nach Europa geschickt wird, mit Wasser und etwas Zitronensaft oder Kokosnußöl gekocht, von Verunreinigungen befreit und in Formen von 10–20 kg gegossen.
Die Guttapercha des Handels ist in den besten Sorten fast weiß, sonst rötlich, oft ziemlich dunkel und marmoriert, auf dem Schnitt heller; sie fühlt sich fettig an und ist im Gegensatz zum Kautschuk bei gewöhnlicher Temperatur nur biegsam und wenig dehnbar, aber nicht[S. 183] elastisch. Sie wird aber bei 45° C. teigig, bei 65° weich und knetbar, läßt sich dann zu dünnen Blättern auswalzen und in Formen pressen, deren feinste Details sie nachher bewahrt. Bei 100° wird sie klebrig und bei 150° schmilzt sie bei teilweiser Zersetzung. Sie widersteht den meisten Lösungsmitteln und besteht aus 78–82 Prozent Gutta (C10H16)n und drei Oxydationsprodukten dieses Kohlenwasserstoffes: Fluovil, Alban und dem sehr unbeständigen Guttan. Außerdem enthält sie Gerbstoffe, Salze und zuckerähnliche Stoffe. An der Luft und am Licht wird sie durch Sauerstoffaufnahme so verändert, daß sie, die vorher ein Nichtleiter der Elektrizität war, ein guter Leiter derselben wird. Man bewahrt sie deshalb am besten in Gruben auf, die mit Wasser gefüllt und vom Licht abgeschlossen sind. Auch im Erdboden hält sie sich sehr gut. So waren unterirdisch gelegte Telegraphenkabel nach mehr als 25 Jahren noch völlig unverändert, ebenso Seekabel, die in den Jahren 1850–69 gelegt worden waren. Gegen Schwefel verhält sich Guttapercha ähnlich wie Kautschuk, nur läßt sie sich schwieriger vulkanisieren. Ein Gemenge von 1 Teil Guttapercha und 2 Teilen Kautschuk steht in bezug auf seine Eigenschaften in der Mitte zwischen beiden Substanzen. Guttapercha wird technisch zu den verschiedensten Gegenständen verwendet, bei denen es auf Undurchdringlichkeit gegen Wasser, Widerstand gegen Alkohol, Laugen und Säuren ankommt und keine höhere Temperatur mitwirkt. Am meisten findet sie in der Elektrizität zur Isolierung der Leitungsdrähte in Kabeln usw. Verwendung. Bei oberirdischen elektrischen Leitungen werden die Drähte einfach mit dem dünn ausgewalzten Guttaperchapapier umwickelt, diese durch die Spiritusflamme zum Schmelzen gebracht und die Isolation ist fertig. Unersetzlich ist die Guttapercha — und darin liegt ihr Hauptwert — bei der Herstellung unterseeischer Kabel, während nämlich alle anderen Isolatoren vom Seewasser angegriffen und endlich zerstört werden, ist sie der einzige Stoff, der sich nicht nur hält, sondern mit der Zeit eher härter und undurchdringlicher wird. Bis jetzt sind sowohl für den Kautschuk, als für die Guttapercha nur schlechte Surrogate bekannt, so daß es für die Industrie sehr wichtig ist, daß diese beiden Stoffe weiterhin in guter Qualität beschafft werden können. Hauptstapelplatz aller Sorten von Rohguttapercha ist Singapur. Zwei Drittel von dessen Ausfuhr, die von 1885–96 32 Millionen kg im Werte von 100 Millionen Mark betrug, gehen nach London und Liverpool; den Rest nehmen die Märkte von Hamburg, Rotterdam und Marseille auf.
In dieselbe Familie der Sapotazeen wie der Guttaperchabaum ge[S. 184]hört auch der amerikanische Zapotill- oder Balatabaum (Achras ballota), ein Baum Guianas und sämtlicher Antillen, dessen beim Ausschneiden herausfließender Milchsaft zu einer der Guttapercha ähnlichen, lederartig zähen, schneidbaren und sehr elastischen Masse wird, die gegenwärtig unter dem einheimischen Namen Balata jährlich in Mengen von gegen 100000 kg namentlich von Berbice, dem östlichen Distrikt von Britisch-Guiana, aus in den europäischen Handel gelangt, um als Surrogat der Guttapercha namentlich zu Treibriemen, Schuhsohlen und -Absätzen, sowie zu chirurgischen Zwecken gebraucht zu werden. Der Stamm dient in seinem Vaterlande als Bauholz und kommt auch als Nutzholz unter der Bezeichnung bully tree wood oder Balata rouge in den Handel.
Sehr nahe verwandt mit ihm sind der Zapota- oder Breiapfelbaum (Achras sapota) und die Mammei-Sapote (Lucuma mammosa), die in Westindien und im nördlichen Südamerika heimisch sind. Der Milchsaft beider findet technische Verwendung und beide liefern zugleich eßbare Früchte. Die Mammei-Sapote liefert eine Art Guttapercha, die aber bisher wenig Verwendung fand. Größere Bedeutung kommt dem Zapota- oder Breiapfelbaum zu, dessen guttaperchaähnliches Produkt zur Fabrikation des bei den Bürgern der Vereinigten Staaten so überaus beliebten Kaugummis verwendet wird. Es ist dies der Chiclegummi, der durch Anzapfen des Zapotabaumes gewonnen wird. Die aus den Einschnitten der Rinde dieses Baumes hervortretende milchweiße Flüssigkeit wird über Feuer eingedickt und soll schließlich eine hellgraue Farbe annehmen. Für den Export gibt man dem Chiclegummi eine brotlaibähnliche Gestalt. Ein Gummisammler oder „Chiclero“ kann täglich bis zu 7,5 kg Chicle gewinnen und erhält für das Kilogramm 20–30 Cents (= 85–135 Pfennige). Um einen Teil des Eingangszolls nach den Vereinigten Staaten zu sparen, der zurzeit 20 Cents pro Kilogramm beträgt, läßt man den Chicle zuerst in Kanada reinigen und trocknen, wodurch er etwa die Hälfte seines ursprünglichen Gewichtes verliert. Bei der Weiterverarbeitung wird der Gummi noch mit allerlei Zutaten wie Zucker, Vanille und Pfefferminze versehen. Irgend welche medizinisch wirksame Stoffe sind in dem reinen Chiclegummi nicht vorhanden, gleichwohl wirkt er schon auf mechanischem Wege konservierend auf die Zähne. Die Menge des nach den Vereinigten Staaten eingeführten Chicle belief sich im Jahre 1908/09 auf 2725019 kg im Werte von 1987112 Dollar, während die Einfuhr im Jahre 1885 erst 464979 kg betrug. Der[S. 185] Preis des Gummis, der vor dem Jahre 1888 nur 14–16 Cents pro Kilogramm betrug, ist heute auf 96 Cents gestiegen. Die Jahresproduktion der amerikanischen Fabriken wird auf 3 Milliarden Stück Kaugummi angegeben. Sicherlich ist nicht sowohl das Kauen, als vielmehr das damit verbundene Spucken, in welcher Fertigkeit die Yankees geradezu eine verblüffende Virtuosität erlangt haben, eine für Fremde wenig angenehme Gewohnheit dieses Volkes.
Der den Chiclegummi liefernde Zapotabaum, der teils wild wächst, teils angepflanzt wird, liefert daneben, wie gesagt, auch eine sehr geschätzte Frucht, den Breiapfel. Ferner wird sein Holz, das sehr schwer und hart und dem Mahagoni ähnlich ist, gerne zur Möbelfabrikation verwendet. In den alten mexikanischen Ruinen findet man ausgezeichnet erhaltene Türrahmen und Balken, wie auch Wandschnitzereien aus Zapotaholz als Beweis dafür, wie außerordentlich dauerhaft dieses ist.
Wie Milchsaft, Gummi und ätherische Öle, so sind Balsame, Gummiharze und Harze sehr häufig in Pflanzen enthalten und können auf verschiedene Weise daraus gewonnen werden. Die Milchsäfte und die daraus hervorgehenden Federharze wie Kautschuk und Guttapercha wurden im vorigen Abschnitte besprochen, während die Balsame und Gummiharze in den folgenden Abschnitten behandelt werden sollen. Sie sind mit größeren oder kleineren Mengen von ätherischen Ölen vermengte Schleime und Harze, die nach dem Ausfließen durch Verdunsten der ersteren mehr oder weniger rasch erhärten. Die ätherischen Öle, die ihnen meist einen starken Geruch verleihen, können durch Destillation mit Wasser aus ihnen ausgezogen werden, wobei Schleim und Harz zurückbleiben. Es sind Schutzstoffe der Pflanze zum Verschließen von Wunden und dadurch zur Abhaltung des Eindringens von irgend welchen Krankheitserregern bestimmt. Meist werden sie durch künstlich beigebrachte Verletzungen gewonnen. Zu den Balsamen gehören Mekka-, Peru-, Tolu-, Kopaiva-, Styrax- und Kanadabalsam, zu den Gummiharzen Styrax, Benzoë, Ammoniakum, Asa foetida oder Stinkasant, Euphorbium, Galbanum, Gummigutti, Sagapenum, Myrrhe und Weihrauch, die alle meist medizinisch Verwendung finden.
In der Pflanze sind auch die Harze mit flüchtigen ätherischen Ölen vermengt, als deren Oxydationsprodukte sie überhaupt entstehen. Sie unterscheiden sich von ihnen durch Sauerstoffgehalt und Nichtflüchtigkeit. Sie finden sich besonders in tropischen Pflanzen und bei uns in den Nadelhölzern; und zwar kommen sie in allen Pflanzenteilen vor, sind aber am reichlichsten in den Rinden, aus denen sie durch Einschnitte gewonnen werden. Sie sind meist gelb oder braun, durchscheinend, anfänglich weich, verhärten aber durch Verdunstung der[S. 187] in ihnen enthaltenen ätherischen Öle. Als solche nennt man sie Hartharze, weil sie bei gewöhnlicher Temperatur spröde und fest sind. Sie brennen mit rußender Flamme und geben bei trockener Destillation brennbare Gase und Öle ab. In ihren physikalischen Eigenschaften stehen sie den Fetten nahe, doch besitzen sie eine vollständig von jenen abweichende chemische Konstitution. Kein Harz ist ein chemisches Individuum, sondern ein Gemisch von Resinen, Resenen, Harzsäuren usw.
Die ätherischen Öle, aus denen die Harze durch Sauerstoffaufnahme und andere Veränderungen hervorgehen, sind meist sauerstofffrei, nur aus Kohlenstoff und Wasserstoff zusammengesetzt, daher leicht brennbar. Das wichtigste derselben ist das Terpentinöl, das aus dem Terpentin, einem durch Einschnitte in den Stamm von Nadelhölzern gewonnenen balsamartigen Harzfluß durch Destillation vermittelst Wasserdämpfen gewonnen wird. In Deutschland dienen zur Terpentingewinnung verschiedene Kiefern und Fichten, so besonders Pinus silvestris und Picea excelsa; das südfranzösische Terpentin dagegen, das weniger Terpentinöl als das deutsche besitzt, wird von der Strandkiefer (Pinus maritima) gewonnen. Das Straßburger Terpentin wird von der Weißtanne (Abies pectinata), das venezianische in Südtirol von der Lärche (Larix decidua) gewonnen. In den Vereinigten Staaten von Amerika, die weitaus das meiste Terpentin erzeugen, wird es außer von verschiedenen Pinusarten namentlich von der Hemlockstanne (Tsuga), einem im östlichen Nordamerika sehr verbreiteten, bis 40 m hohem Baum von 1,3 m Durchmesser, vom Bau der Rottanne, gewonnen, während der verwandte Kanadabalsam ein in Kanada und den Nachbarländern aus der Balsamtanne (Abies balsamei und fraseri) erzielter Terpentin ist. Alle diese werden vorzugsweise im Frühjahr durch Eröffnen der Harzgänge der Rinde durch Schnitte oder Anbohrungen gewonnen und in darunter gestellten Gefäßen gesammelt. Die Menge wechselt zwischen 2 und 3,5 kg pro Baum und Ernte, kann aber bei alleinstehenden, starken Fichten, auf deren Erhaltung es weiter nicht ankommt, bis auf 40 kg getrieben werden, wonach allerdings ein so mißhandelter Baum gewöhnlich eingeht. Dieses gelblichweiße, honigdicke, starkklebende, balsamische Harz reagiert sauer, ist löslich in Alkohol, Äther und ätherischen Ölen, enthält 15–20 Prozent Terpentinöl, Harz, Harzsäuren, wenig Ameisen- und Bernsteinsäure. Durch Destillation des Terpentins mit Wasser wird daraus das klare, farblose, stark lichtbrechende Terpentinöl gewonnen, das an der Luft Sauerstoff aufnimmt und ihn teilweise in Ozon verwandelt, wodurch es bleichend wirkt, dickflüssig wird[S. 188] und zu einer durchsichtigen, harten Harzschicht eintrocknet. Es löst Harze, Kautschuk, Schwefel, Fette und dient zum Herstellen von Lacken und Firnissen, zum Verdünnen von Ölfarben, zum Entfernen von Fett- und Farbenflecken aus Kleidern, zum Bleichen von allerlei Geweben und Elfenbein, als Arzneimittel, als Schutz gegen Phosphorvergiftung in Zündhölzchenfabriken und zum Verfälschen ätherischer Öle. Der bei der Gewinnung des Terpentinöls aus dem Terpentin zurückbleibende entwässerte Rückstand ist das Kolophonium oder Geigenharz, das bei 130–135° schmilzt und, außer zum Bestreichen der Geigenbogen, zur Herstellung von Siegellack, Harzseifen, Harzöl, Firniß, Kitt, zum Löten, zum Leimen des Papiers, zu Blitzpulver usw. dient. Die Produktion der Vereinigten Staaten allein an Terpentinöl beträgt jährlich 70 Millionen kg im Wert von 32 Millionen Mark, und zwar wird über die Hälfte davon von Savannah im Staate Georgia exportiert, das der erste Weltmarkt für Terpentin ist. Die bedeutendsten europäischen Märkte sind London, Hamburg, Antwerpen, Bordeaux. Qualitativ ist die französische Sorte die beste; sie wird in der Technik vielfach der amerikanischen vorgezogen. An dritter Stelle kommt die Produktion Rußlands, die zum größten Teil im Lande selbst Verwendung findet.
Schon im Altertum kannte und verwendete man solches Terpentin. So schreibt der um die Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr. lebende griechische Arzt Dioskurides in seiner Arzneimittellehre: „Aus der Pinie (pítys) und Kiefer (peúkē) kommt ein flüssiges Harz, das aus Gallien und Etrurien in den Handel kommt, früher auch aus Kolophon — der ionischen Stadt an der Küste Lydiens — gebracht wurde und deswegen kolophōnía genannt wird. Es kommt auch vom Fuße der Alpen vom Baume, den die Leute dort larix (Lärche) nennen. An Farbe ist es verschieden; denn es gibt reinweißes, ölfarbiges, honigfarbiges, wie das vom Lärchenbaum. Auch die Zypresse gibt ein flüssiges Harz. — Trockenes Harz kommt von der Arve, der Weißtanne, der Schwarzkiefer, der Pinie. Von allen wählt man das, was am besten riecht, durchsichtig, weder zu trocken, noch zu naß ist, sondern wie Wachs ist und sich zerreiben läßt. Am besten ist das von Pinien und Weißtannen, das gut, fast wie Weihrauch riecht. Vorzüglich schätzt man das von der Insel Pityusa (d. h. Pinieninsel, jetzt Iviza), welche bei Spanien liegt. Es wird mit und ohne Wasser über einem Kohlenfeuer gekocht und zu wohlriechenden, erweichenden Pflastern benutzt. Ausgeglühtes Harz wird auch zu Pflastern, zu stärkenden[S. 189] Arzneien und zum Färben der Salben gebraucht. Durch Verbrennen des Harzes gewinnt man Ruß, wie aus dem Weihrauch. Er dient vorzugsweise zum Färben der Augenlider, wie auch zum Heilen von deren Krankheiten. Aus Ruß wird auch die schwarze Tinte (to mélan, eigentlich: das Schwarze) bereitet, mit der wir schreiben.“
Unter Terpentin verstand man im Altertum das Harz der von den Griechen therébinthos genannten Terpentinpistazie (Pistacia therebinthus), eines südeuropäischen, dem Nußbaume ähnlichen Baumes, der heute besonders auf Chios und den benachbarten Inseln, dann auf Rhodos und Cypern zur Gewinnung des nach dem Anschneiden herausfließenden Terpentins kultiviert wird. Wir erhalten ihn hauptsächlich von den Kykladen, und zwar Chios, doch meist mit venezianischem Terpentin vom Lärchenbaume oder mit Straßburger Terpentin von der Weißtanne verfälscht. Außerdem liefert die Terpentinpistazie rundliche, durch Stiche der Pistazienblattlaus (Aphis pistaciae) hervorgerufene, oft innen mit gelben Harztropfen gefüllte, Pistazien- oder Terpentingalläpfel genannte Gallen, die, wie auch die Blätter des Baumes, zum Gerben und Rotfärben dienen. Diesen Baum und seine Produkte beschreibt schon der pflanzenkundige Grieche Theophrast (390 bis 286 v. Chr.) in seiner Pflanzengeschichte. „Die Terebinthe (términthos) wächst am Ida und in Makedonien klein und strauchartig; bei Damaskus in Syrien ist sie aber groß und schön. Es soll dort ein Berg sein, der ganz mit Terebinthen bestanden ist. Das Holz ist zäh, die Wurzeln sind stark und gehen tief. Die Blüte ist derjenigen des Ölbaumes ähnlich, aber rot. Außer der Frucht trägt der Baum auch Gallen, worin kleine Tierchen wohnen. In diesen steckt eine harzige Flüssigkeit, die man aber nicht sammelt. Das Harz gewinnt man aus dem Holze, die Frucht gibt nicht viel Harz.“ Von letzterem sagt der vorhin genannte Arzt Dioskurides, es werde aus dem steinigen Arabien gebracht, aber auch in Judäa, Syrien, Libyen, auf Cypern und den Kykladen gewonnen. Es sei das beste aller Harze; nach ihm folge an Güte das Mastixharz, dann dasjenige von Pinie und Tanne. „Es wird innerlich und in Pflastern viel angewandt. Man gibt dem durchsichtigen, farblosen, jedoch etwas bläulichen, wohlriechenden den Vorzug, auch muß es den echten Terpentingeruch haben.“
Die Verwendung des Harzes der Terpentinpistazie ist in den Mittelmeerländern und im Morgenlande uralt. Die alten Ägypter nannten es sunter und bezogen es teils aus Syrien und Cypern, teils aus dem Lande Punt (Südarabien). Noch häufiger gebrauchten[S. 190] sie das Harz der ihr nahe verwandten Mastixpistazie (Pistacia lentiscus), das sie fatti nannten, während der Baum selbst bei ihnen schub hieß. Dieses Mastixharz, von dem man drei Sorten, nämlich ein schwarzes, rotes und weißes unterschied, diente in Ägypten seit den ältesten Zeiten zu Räucherungen in den Tempeln und als Heilmittel. Es war ein wichtiger Bestandteil der kyphi genannten und zu heiligen Räucherungen verwendeten Harzmischung und wird schon in Inschriften aus der Zeit Pepis I. (um 2600 v. Chr.) erwähnt; auch diente es zum Einbalsamieren der Leichen. Heute findet es im ganzen Orient seine Hauptverwendung als Kaumittel, um das Zahnfleisch fest und den Atem wohlriechend zu machen. Diese besonders bei den Frauen im Harem zur Kurzweil geübte Sitte muß ebenfalls schon uralt sein; denn nach ihr nannten die Griechen dieses Harz mastíchē (von mastázein kauen, mástax Mund, Bissen). So schreibt Dioskurides in seiner Arzneimittellehre: „Das Harz, das aus dem Mastixbaum (schínos) gewonnen wird, heißt mastíchē und macht gekaut den Atem angenehm und zieht das Zahnfleisch zusammen. Es wird auch zu Zahnpulvern benutzt und als Arznei gebraucht, wird auch in die Haut des Gesichtes gerieben, um ihr Glanz zu verleihen. Das beste und meiste liefert die Insel Chios; solches ist glänzend, hat die Farbe des tyrrhenischen Wachses, ist zerreiblich, wohlriechend. Das grüne ist schlechter. Die Verfälschung geschieht mit Weihrauch und Zapfenharz.“ Sein Zeitgenosse Plinius sagt in seiner Naturgeschichte: „Es gibt verschiedene Sorten von Mastix (mastiche); am höchsten wird der weiße von Chios geschätzt. Von ihm kostet das Pfund 20 Denare (12 Mark), während der dunkelfarbige nur 12 gilt. Der Mastix von Chios soll wie ein Gummi aus der Mastixpistazie (lentiscus) herausfließen und erhärten. Er, wie auch die Blätter des Baumes sind vielfach in arzneilichem Gebrauch. So weiß ich, daß der Arzt Demokrates der Considia, Tochter des Konsularen Marcus Servilius, geraten hat, Milch von Ziegen zu trinken, die mit lentiscus gefüttert wurden, und daß der Erfolg ein günstiger war.“
Auch im Mittelalter war der Mastix ein wichtiges Arzneimittel. In Westeuropa war er im 9. Jahrhundert n. Chr. eine große Seltenheit, doch fand er bald darauf durch Vermittlung der arabischen Ärzte im Arzneischatze des Abendlandes Eingang. Im 16. Jahrhundert wurde er regelmäßig in den Apotheken geführt. Heute noch wird er hauptsächlich auf der Insel Chios, daneben in geringerer Menge auf Samos und Cypern gewonnen. Zu dem Zwecke wird der strauchartige Mastix[S. 191]baum in großen Beständen kultiviert und aus ihm das Balsamharz, das sich in besonderen Behältern in der Rinde befindet, durch Einschnitte in Stamm und Zweige gewonnen. Diese werden von Mitte Juni an zwei Monate hindurch von der Basis des Stammes bis hinauf in die Äste in Form von geraden oder gekreuzten Schnitten gemacht, aus denen das Harz in Tropfen heraustritt, um entweder direkt am Baum, oder, wenn es herabtropft, auf untergelegten Blättern oder Steinplatten zu erhärten, was nach 2–3 Wochen der Fall ist. Dann wird es sorgfältig in mit Papier oder Baumwollenzeug ausgelegte Körbchen gesammelt. Ein Bäumchen liefert 4–5 kg. Von den in den Handel gelangenden etwa 300000 kg Mastix im Werte von einer halben Million Mark liefert die von den Türken Sakîs ada, d. h. Mastixinsel genannte Insel Chios den größten Teil, und zwar ist die beste Sorte die an den Zweigen von selbst ausgeschwitzte, die kleine, durchsichtige, anfänglich grünliche, später gelbliche Stücke bildet. Die Masse wird bei langsamem Kauen im Munde erweicht, schmilzt bei 108° und entwickelt dabei einen balsamischen Geruch. Außer als Kaumittel dient sie im Orient als Beigabe zu Konfitüren und zur Darstellung des sehr beliebten, feinen Likörs Raki oder Mastichi, den man mit Wasser vermischt trinkt, bei uns zu Räucher- und Zahnpulvern, Kitt und besonders Firnis.
In ähnlicher Weise wird das wohlriechende Elemiharz verwendet, das Theophrast als Gummi des äthiopischen Ölbaums erwähnt. Schon im 16. Jahrhundert fand es als Resina elemnia als Räucher- und Wundheilmittel, wie auch zu Salben bei uns ziemlich häufige Verwendung. Es ist dies ein Sammelname für mehrere Harze, die aus Ostindien zu uns kamen. Das am meisten gebrauchte ist das offizinelle Manilaelemi, das von dem auf den Philippinen, besonders der Insel Luzon, aber auch auf dem asiatischen Festland kultivierten Canarium luzonicum gewonnen wird, und zwar durch zweimal jährlich wiederholtes Anschneiden des Baumes. Um einen rascheren Erguß des Harzes zu erzielen, wird in der Nähe des Baumes ein Feuer angezündet. In frischem Zustande stellt es eine klare, wenig gefärbte Auflösung von Harzen in ätherischem Öl dar, aus der sich das Harz zum Teil in fester Form ausscheidet, so daß es undurchsichtig ist. Es riecht balsamisch und schmeckt gewürzhaft bitter. Die beste Sorte ist gelblich bis grünlichweiß, zähflüssig, klebrig und erhärtet beim längeren Aufbewahrtwerden. An Stelle dieser schwer in Europa zu beschaffenden Droge führte man nach der Entdeckung Amerikas verschiedene[S. 192] ähnliche wohlriechende Harze ebenfalls unter demselben Namen Elemi in Europa ein, so das grünlichgelbe, später durch Ausscheidung von festem Harz kreidig aussehende Harz der in Yukatan und Mexiko wachsenden Amyris plumieri, einer sehr nahen Verwandten des Weihrauchbaumes, dann dasjenige von Carana- und Protiumarten in Westindien, Venezuela und Nordbrasilien. Später haben auch Ost- und Westafrika von Boswelliaarten Elemi geliefert. Doch wird neuerdings wieder am häufigsten der Manilaelemi verwendet, den der Jesuit Camellus 1701 zuerst erwähnt.
Dem Elemi ähnlich ist das Gommartharz, das auf Martinique und Guadeloupe von Bursera gummifera gewonnen wird. Es ist außen weißlich, innen grünlich oder gelblich, geschichtet, riecht terpentinartig und wird zu Firnissen benutzt, ebenso zu lithographischen Umdruckfarben, zum Steifmachen der Hüte und zu Salben und Pflastern. In derselben Weise dient der Cayenneweihrauch von Icica heptaphylla und das Harz von Occumé vom Gabunfluß in Westafrika.
Viel wichtiger als diese ist das Dammarharz. Dammar ist ein malaiisches Wort, das Harzträne, Harz bedeutet. Das in den Handel gelangende Dammarharz ist das freiwillig in großen Mengen austretende und bald an der Luft erhärtende Harz von Shorea wiesneri und anderen Dipterocarpazeen, hohen, Wälder bildenden Bäumen Vorder- und Hinterindiens und der südasiatischen Inseln. Es stellt gelblichweiße, durchsichtige, außen bestäubte Körner oder unförmliche Massen verschiedener Größe dar, ist im Bruche glasglänzend, muschelig, etwas klebend, leicht zerreiblich, riecht angenehm balsamisch und löst sich vollständig in Alkohol, Äther, Chloroform, Benzol und Schwefelkohlenstoff. Es dient zu technischen und Beleuchtungszwecken, zur Herstellung von Heftpflaster und liefert einen Firnis, der zwar nicht so dauerhaft wie der Bernstein- oder Kopalfirnis ist, aber, weil billig, farblos, klar und glänzend, sich sehr gut zum Überziehen von Ölgemälden eignet. Die erste Aufzeichnung über das Dammarharz findet sich um 1670 bei Rumphius, einem 1627 geborenen Deutschen, der als holländischer Konsul auf Amboina wirkte. Es gelangt seit 1827 hauptsächlich von Sumatra in den Handel. Die echte Droge ist das dammar putih oder weiße Harz der Malaien, während das dammar batu oder Steinharz, eine Art Manilakopal, der früher für das Dammar des europäischen Handels gehalten wurde, von der mit dem Dammarbaum verwandten Dipterocarpazee Vateria indica stammt. Das dammar item oder schwarze Harz rührt vom ostindischen Canarium stric[S. 193]tum und C. rostratum der Molukken her. Das dammar mekong oder gelbe Harz und das dammar mata kutjing oder Katzenaugenharz stammt von Hopeaarten der Halbinsel Malakka, während der dammar dagieng oder Rosendammar von Resinodendron rassak, der dammar selo vom indischen Jackbaum (Artocarpus integrifolia) besonders auf Malakka und das Saulharz von Shorea robusta auf Sumatra und Java gewonnen wird.
Erst seit dem Mittelalter ist in Europa das nordafrikanische Sandarakharz bekannt, das man von Wacholderarten abstammend wähnte und deshalb auch Wacholderharz hieß, bis der Naturforscher und Arzt Broussonet (1761–1807) von Montpellier, der längere Zeit auf den Kanarischen Inseln lebte und dort Pflanzen sammelte, zu Ende des 18. Jahrhunderts die in den Gebirgen des nordwestlichen Afrika, besonders im Atlas und seinen Vorbergen, heimische Zypressenart Callitris quadrivalvis als den wirklichen Erzeuger des von den Arabern Sandarak genannten Baumharzes entdeckte. Als solches kam es erst durch die arabischen Ärzte in Europa als innerliches und äußerliches Heilmittel, das auch zu Räucherungen und zur Herstellung von Pflastern und Salben diente, auf. Unter sandarache verstand man im Altertum das von uns Realgar genannte Schwefelarsen, während das von uns Sandarak geheißene Harz den Alten nicht bekannt war. Wohl kannten diese sehr wohl die ihn erzeugende Zypressenart, die die Griechen kédros und die Römer nach ihnen citrus nannten und deren Holz sie außer zu Schiffsbauten besonders in der Luxustischlerei zu kostbaren Möbeln und mottensicheren Kleiderkisten benutzten, aber daß ein Harz von ihr gewonnen werde, wird von keinem Schriftsteller derselben erwähnt. In der arabischen wie auch in der persischen Literatur des Mittelalters wird es als sindarûs oder sandarûs mehrfach erwähnt und dabei seine Ähnlichkeit mit dem Bernstein hervorgehoben.
In Europa hieß das Harz im Mittelalter vernix oder bernix — wie übrigens wohl auch der Bernstein —, was auf seine Verwendung zu Firnissen schließen läßt; denn das deutsche Wort Firnis ist wie auch das französische vernis und das englische varnish aus vernix hervorgegangen. Heute noch dient es außer in der Arzneikunde besonders zur Herstellung von Firnissen, Kitten und Lacken. Die Sandarakzypresse ist ein in Algerien forstlich gepflegter, meist 6 m hoher, sparrigästiger Baum oder Strauch, der teils freiwillig, teils aber durch Einschnitte in Stamm und Äste — durch letztere gewöhnlich geübte Manipulation wird eine viel größere Ausbeute erhalten — den in der[S. 194] Außenrinde enthaltenen Harzsaft herausfließen läßt. Getrocknet bildet es spröde, blaßgelbliche bis fast bräunliche, durchsichtige Körner, die beim Kauen nicht erweichen; es schmeckt balsamisch-harzig, etwas bitter, riecht beim Erwärmen balsamisch und etwas terpentinartig. Es wird mit Mastix, Kolophonium, Fichten- und Dammarharz verfälscht. Außer diesem hauptsächlich aus Marokko zu uns gelangenden echten Sandarak wird neuerdings in großer Menge ein ihm sehr ähnliches, nur in Weingeist reichlicher lösliches Harz von verschiedenen Callitrisarten als australischer oder tasmanischer Sandarak aus den Küstengebieten Australiens und Tasmaniens zu uns gebracht.
Bei dieser Gelegenheit wird es am Platze sein, einige Worte über den Firnis zu sagen, dessen Bezeichnung, wie gesagt, aus der mittelalterlichen Benennung des Sandaraks seinen Ursprung nahm. Man versteht darunter an der Luft schnell trocknende und eine glänzende, meist durchsichtige Decke auf den damit überzogenen Gegenständen bildende Flüssigkeit. Dabei unterscheidet man aus trocknenden Ölen bereitete fette Firnisse, dann durch Lösung von Harzen in diesen Ölen hergestellte Lackölfirnisse oder fette Lacke und endlich durch Lösung von Harzen in Terpentinöl oder Alkohol hergestellte Terpentinöl- und alkoholische Firnisse. Auch Äther, Kampferöl, Holzgeist und Aceton werden als Lösungsmittel angewendet. Unter ihnen sind die fetten Firnisse weitaus am dauerhaftesten, widerstehen der Wärme und Feuchtigkeit am besten, trocknen aber am langsamsten. Sie bestehen aus trocknenden Ölen, besonders Lein- und Mohnöl, deren Fähigkeit an der Luft unter Aufnahme von Sauerstoff zu trocknen durch Behandlung mit sauerstoffabgebenden Stoffen wie Bleiglätte, Braunstein oder Bleizucker erhöht werden kann. So wird beispielsweise Leinölfirnis in der Weise hergestellt, daß man helles, kalt gepreßtes Leinöl unter Umrühren etwa 2 Stunden kocht, dann nach Hinzufügen von 3 Prozent Bleiglätte abermals 3 Stunden kocht. Hierauf läßt man die Flüssigkeit mehrere Monate lagern, bleicht sie auch in einem mit einer Glasplatte bedeckten Bleikasten in 10 cm hoher Schicht durch Sonnenlicht. Der weitaus feinste Firnis aber ist der Kopallack, wie auch der Bernsteinlack.
Unter dem Sammelnamen Kopal versteht man sehr verschiedene, schwer schmelzbare, bernsteinähnliche Baumharze, die nach den verschiedenen Verschiffungsplätzen unterschieden werden und teils rezent, zum größten Teil aber fossil sind, d. h. von vorweltlichen Harzbäumen getropft sind und in kleineren oder größeren Klumpen aus der Erde[S. 195] gegraben werden. Besonders Afrika ist reich an Kopalen, von denen man hauptsächlich den ostafrikanischen oder Sansibar- und Mosambikkopal und den westafrikanischen oder Kamerunkopal unterscheidet.
Der ostafrikanische Sansibar- und Mosambikkopal wird meist an der Küste zwischen 5 bis 15° südlicher Breite gegraben und stammt von der Leguminose Trachylobium verrucosum. Es ist dies ein bis 40 m hoher Baum mit mächtigem Stamm und weit ausgebreiteten Ästen, lederförmigen Blättern, ziemlich großen, roten Schmetterlingsblüten in Rispen und länglichen, warzigen, nicht aufspringenden Hülsenfrüchten. Er ist ein typischer Küstenbaum, der nur im Bereich der Seewinde gedeiht, auch an den Küsten Madagaskars wächst und neuerdings zur Harzgewinnung auf Ceylon und Java angepflanzt wird. Stamm und Äste sind vielfach mit einem klaren Harzüberzug reichlich bedeckt. Dieses Harz wird vom Baume abgelöst und kommt als Baumkopal in den Handel. Weitaus der meiste Kopal wird aber in einem 150–300 km breiten Küstenstreifen, wo der Baum einst unweit des Meeres gedieh und in der Folge spurlos bis auf das von ihm ausgeschwitzte unverwesliche Harz verschwand, aus der Erde gegraben. Dieser ist im rohen Zustande von einer mit Sand vermengten undurchsichtigen Verwitterungskruste bedeckt, im Innern jedoch vollständig klar und durchsichtig, von blaßgelber bis blaßrötlicher Farbe. Um diese Sand- und Verwitterungskruste zu entfernen, wird er mit Soda oder Pottaschenlauge gewaschen und zeigt dann eine facettierte Oberfläche, welche man allgemein als Gänsehaut bezeichnet. Er ist der härteste aller Kopale und kommt darin dem Bernstein fast gleich. Er dient zur Herstellung der besten Lacke und Firnisse, die imstande sind, Wind und Wetter lange Zeit erfolgreich zu widerstehen. Die größten, schönsten und durchsichtigsten Stücke werden wie Bernstein zu Dreh- und Schnitzarbeiten verwendet. Übrigens unterscheidet man von diesem fossilen Kopal zwei Sorten: eine, die Chakazzi genannt wird, nur eine schwache Verwitterungskruste besitzt und eine geringe Härte aufweist, als Beweis dafür, daß sie erst verhältnismäßig kurze Zeit im Boden gelegen haben kann. Sie findet sich über dem Boden oder ganz oberflächlich im Boden an Stellen, wo der Baum noch vorkommt, zumeist aber im Rückgang begriffen ist. Der eigentliche, reife Kopal aber liegt tiefer im Boden, von Sand und Erde überlagert, an Stellen, wo weit und breit keine Kopalbäume mehr zu sehen sind, weil sich das Meer inzwischen weit zurückgezogen hat und infolgedessen die Lebensbedingungen für dieselben aufhörten günstige zu sein. Es ist schon längst[S. 196] auch aus andern Tatsachen festgestellt worden, daß die Ostküste Afrikas in langsamem Vorrücken begriffen ist und das Meer einst jene steppenartigen, öden Gegenden bespülte, in denen jetzt der Kopal gegraben wird. Wenn die auf den Nordostmonsun folgenden Regen die Erde aufgelockert haben, beginnen die Eingeborenen mit kleinen Hacken nach diesem fossilen Harze zu graben, von dem jetzt schon jährlich für über eine Million Mark über Sansibar ausgeführt wird. Bei geordnetem Betrieb könnte noch viel mehr davon gewonnen werden, was eine wichtige Einnahmequelle für das Deutsche Reich bedeuten würde, da fast die ganze Kopalgegend zur deutschen Kolonie gehört.
Auch die Küste von Westafrika weist von Sierra Leone bis nach Benguela hin an zahlreichen Orten fossilen Kopal auf. Er wird in Mergel, Sand oder Lehm in Tiefen bis zu 3 m gefunden und kommt neuerdings in viel größeren Mengen als der ostafrikanische in den Handel, ist aber von geringerer Qualität und wird nur mit 2 Mark per kg bezahlt, während jener beinahe das Dreifache davon gilt. Während der Kopal von Angola eine demjenigen von Sansibar ähnliche, nur größere Oberflächenfacettierung zeigt, auch in größeren, bis 2 kg schweren Klumpen ausgegraben wird, ist derjenige von Gabun oder Benguela von eigenartigen, tiefen Sprunglinien durchzogen, an denen er leicht erkannt werden kann. Diese sind dadurch entstanden, daß sich das Harz im Laufe der Zeit an der Peripherie stärker zusammenzieht als im Innern; wenn dies nur in geringem Maße geschieht, so bildet sich die für den Sansibarkopal charakteristische facettierte Oberfläche von kleinen, polygonalen Wärzchen. Seit einigen Jahren kommt auch aus Kamerun Kopal in den Handel, der für diese Kolonie von Bedeutung zu sein scheint. Er wird in faust- bis kindskopfgroßen, graugelben Stücken gefunden und ist meist von einer starken, gelblichweißen Verwitterungskruste bedeckt. Dies und seine außerordentliche Härte beweisen, daß wir es ebenfalls mit einem fossilen Baumharze zu tun haben. Rezent vom Baume gewonnenes Harz ist dort nicht bekannt; doch findet sich in Kamerun ein Kopalbaum, aber kein Trachylobium, sondern eine andere, Copaifera genannte Leguminose. An einzelnen Stellen Nordkameruns findet sich dieses Harz in mächtigen Lagern im Boden und kann leicht gegraben werden. An Stellen, an denen es vermutet wird, legt man Probeschürfungen an und beutet dann das Gefundene aus. Doch wird hier wie überall sonst in Afrika die Kopalgewinnung bis jetzt recht nachlässig betrieben. In Jahren, da die Feldfrüchte gut geraten und der[S. 197] Neger genug zu essen hat, wird er nie daran denken, Kopal zu graben; denn solches verursacht Mühe, und jede Anstrengung sucht er nach Möglichkeit zu vermeiden. Merkwürdig ist, daß hier so wenig als in der ostafrikanischen Kolonie sich das deutsche Kapital bis jetzt um die Ausbeutung dieser Naturschätze bekümmerte.
Ist nun Afrika recht eigentlich das Land der Kopale zu nennen, so findet sich dieses Naturprodukt auch anderwärts, so als Brasilkopal an der Ostküste Südamerikas, als Manilakopal auf den Philippinen, Sundainseln und Molukken und als Kaurikopal auf der Nordinsel von Neuseeland. Der Brasilkopal ist die weichste Kopalart, findet sich niemals fossil, sondern stammt durchgehends von jetzt noch lebenden Bäumen. Am häufigsten kommt das von Hymenae courbaril stammende Harz in Form von knolligen, gelben bis dunkelgrünen Stücken mit einem ganz dünnen, kreidigen Überzug in den Handel. Wahrscheinlich liefern auch noch andere Arten von Hymenae in Südamerika Kopal. Der Manilakopal fließt in Massen aus dem Stamm einer stattlichen Fichte, Agathis dammara, hervor, vereinigt sich an den Wurzeln in Klumpen, wird häufig vom fließenden Wasser fortgeschwemmt und sammelt sich nicht selten am Ufer der Flüsse in großen Blöcken an. Er kommt in bis zu 40 kg schweren Stücken in den Handel. Die Oberfläche derselben ist meist etwas dunkler gefärbt als das Innere, doch fehlt eine eigentliche Verwitterungskruste. Die Farbe ist gewöhnlich bernsteingelb, seltener braun, der Geruch ist angenehm balsamisch, ähnlich demjenigen des Kaurikopals. Dieser Kaurikopal stammt von der neuseeländischen Kaurifichte (Agathis australis), die auf den nördlichsten Teil der Nordinsel beschränkt ist und hier nur an ihr besonders zusagenden Stellen vorkommt. Das ist um so bedauerlicher, da sie nicht nur ein sehr schöner, stattlicher, bei einem Stammdurchmesser von bis zu 7 m 50 m Höhe erreichender Baum mit zahlreichen Ästen und dunkeln Blättern ist, sondern auch treffliches Nutzholz und große Mengen Harz liefert. Dieses letztere fließt freiwillig aus dem Stamm und sammelt sich in großen Klumpen an den Wurzeln, findet sich aber auch am und im Boden an Stellen, wo ehemals Kauriwälder standen, massenhaft, oft in mehreren Lagen übereinander, vor, so daß das zumeist von dort angesiedelten Österreichern ausgeübte Gewerbe des Kopalgrabens ein sehr lohnendes ist. Diese Kopalgräber, fast ausschließlich Dalmatiner, wohnen meist in Auckland und ziehen mit einem dünnen Stahlspeer und einer gewöhnlichen Schaufel ausgerüstet auf die Suche nach dem Kaurikopal. Zunächst wird der Speer[S. 198] in die Erde gestoßen. Fühlt nun der Gräber, daß er auf einen Kaurikopalklumpen gestoßen ist, so beginnt er zu graben. Neuerdings werden auch weite Strecken umgegraben, ohne daß erst der Stahlspeer Anwendung findet. Die Klumpen schwanken von Nuß- bis Kindskopfgröße, doch hat man gelegentlich auch bis 46 kg schwere Massen gefunden. Als Zeichen, daß sie schon sehr lange im Boden gelegen haben, sind sie meist mit einer starken Verwitterungskruste überzogen. Im Gegensatz zur weißlichen Farbe des frisch aus dem Kauribaume geflossenen, auch viel weicheren Kopals ist diejenige des härteren fossilen, seiner Entstehungszeit nach meist ins Tertiär zurückreichenden Kopals hellgelb bis dunkelbraun; doch sind letztere Stücke, die meist aus sumpfigen Stellen gegraben werden, weniger beliebt. Die Masse ist hart, riecht intensiv balsamisch und schmeckt gewürzhaft. Als der neuseeländische Kaurikopal gegen das Ende der 1840er Jahre zuerst aufgefunden und nach London geschickt wurde, hatte man zunächst keine Verwendung dafür. Von den Amerikanern lernten dann die Engländer seine trefflichen Eigenschaften kennen und schätzen. So benutzten sie ihn bald außer zur Herstellung von Lacken und Firnissen zum Beschweren der Seide, bei der Linoleumfabrikation usw. Infolge der vermehrten Nachfrage wurde seine Gewinnung immer eifriger betrieben. Während sein Export noch im Jahre 1860 nur wenig über 100000 kg im Werte von 890000 Mark betrug, war er 1899 auf über 11 Millionen kg im Werte von 13 Millionen Mark gestiegen. In letzter Zeit ging die Produktion desselben etwas zurück; doch sind jetzt noch über 7000 Personen mit seiner Gewinnung beschäftigt. Ein ganz ähnliches, ebenfalls von einer Agathis stammendes fossiles Harz wird übrigens auch in Neu-Kaledonien gegraben und kommt ebenfalls als Kaurikopal in den Handel.
Zur Herstellung von Lacken und Firnissen wird der Kopal, um ihn löslich zu machen, geschmolzen. Ist er wieder erstarrt, so wird er gepulvert und längere Zeit der Luft ausgesetzt. Zur Bereitung von fettem Kopalfirnis mischt man den geschmolzenen Kopal sofort mit erhitztem Leinölfirnis, kocht, wenn der Lack weich werden soll, einige Zeit, setzt dann das ebenfalls erhitzte Terpentinöl hinzu und filtriert nach dem Erkalten durch graues Löschpapier. Elastischen Kopalfirnis erhält man aus 3 Teilen Kopal, 1,5 Teilen Leinölfirnis und 9 Teilen Terpentinöl. Doch wird letzteres erst zugesetzt, nachdem der Leinölfirnis mit dem Kopal 2–3 Stunden gekocht hat. Etwas mehr Leinöl macht den Lack noch elastischer; nimmt man aber nur 1,25 Teil Leinölfirnis[S. 199] und kocht nicht, so trocknet der Firnis schnell. In Chloroform oder Benzol gelöster Kopal wird als Kaltlack in der Photographie benutzt.
Für die Kulturgeschichte Europas von außerordentlicher Bedeutung ist der Bernstein, von den Franzosen und Engländern als gelbe Ambra bezeichnet — ein Produkt, über das alles Mögliche gefabelt wurde (die echte graue Ambra, deutsch ursprünglich Amber, nach dem arabischen anbar, da die arabischen Ärzte zuerst diesen Stoff dem Abendlande übermittelten, genannt, findet sich in Stücken von bis zu 90 kg Gewicht, 1,5 m Länge und über 0,5 m Dicke bei Madagaskar, Java, Japan, Surinam, Brasilien im Meere schwimmend, bis seine Herkunft als Auswurfsstoff des bis 25 m Länge erreichenden Pottwals dadurch erkannt wurde, daß man ihn auch in den Gedärmen jenes Zahnwales fand. Der Amber ist eine graubraune, leichte, wachsartige, in der Hand erweichende Masse von sehr verschiedener, meist graubrauner Färbung und höchst angenehmem Geruch, löst sich in Alkohol und Äther, läßt sich in kochendem Wasser in eine ölige Flüssigkeit umwandeln und bei großer Hitze verflüchtigen. Er wurde früher als Aphrodisiacum, dann als Arzneimittel verwendet, dient heute nur noch als Parfüm in Räuchermitteln und wohlriechenden Ölen und Seifen). Der deutsche Ausdruck Bernstein, der noch im 16. und 17. Jahrhundert Börnstein (im angelsächsischen burn brennen ebenfalls enthalten) hieß, bedeutet Brennstein, weil dieser an der südlichen Ostseeküste in Ostpreußen vom stürmischen Meere meist in sogenanntem Bernsteinkraut (Tangen, besonders Fucus vesiculosus und fastigiatus) eingehüllt ans Ufer geworfene zitronengelbe bis weiße oder rotbraune, mehr oder weniger durchsichtige Stein ins Feuer geworfen mit rußender Flamme und Ausströmenlassen eines aromatischen Geruches verbrennt. Seine geheimnisvolle Herkunft auf den Wogen des Meeres in Verbindung mit der für einen Stein höchst merkwürdigen Eigenschaft, brennbar zu sein, machte ihn schon in sehr früher vorgeschichtlicher Zeit zuerst in seiner Heimat und dann weit darüber hinaus zu einem höchst wertvoll geachteten Amulette und zugleich, dank seiner schönen Farbe und prächtigen Politurfähigkeit, auch Schmuckstein. Von der jüngsten neolithischen Zeit an wurde er besonders zur Bronze- und ersten Eisenzeit durch Tauschhandel immer weiter nach Süden zu den reichen Völkern am Mittelmeer, den Etruskern, Mykenäern, Syrern und Ägyptern verbreitet, in deren Gräbern wir ihn in Perlenform zum Tragen an einem Bande um den Hals finden. Kein anderes Naturprodukt hat die Kultur Deutschlands in der jüngeren vorgeschichtlichen Zeit so[S. 200] mächtig beeinflußt als der Bernstein, der bald auf zwei durch zahlreiche Depotfunde von dagegen eingetauschten Artikeln, besonders Bronzewaffen, dann auch durch Beeinflussung ihrer Ornamentik und ihrer Töpfereiprodukte deutlich als solche charakterisierten Handelswegen nach Süden transportiert wurde. Der eine führte der Weser entlang, durchs Tal der Fulda nach dem Rheintal und von da über einige Alpenpässe nach Italien und gleichzeitig ins Rhonetal, der andere führte die Oder aufwärts durch das Tal der March ins Gebiet der Donau. Die Griechen nannten den Bernstein élektron — ein Ausdruck, aus welchem bekanntlich unsere Bezeichnung Elektrizität hervorging, weil man am Elektron, wenn er gerieben wurde, zuerst die später als elektrisch erkannten Eigenschaften entdeckte. Wie die vornehmen Mykenäer Bernsteinschmuck trugen, den wir in ziemlicher Menge unter den Totenbeigaben ihrer reich mit kunstvoll aus Gold und Silber und einer wegen der Farbe ebenfalls als élektron bezeichneten Mischung beider Edelmetalle hergestellten Schätzen ausgestatteten Gräber finden, so trugen auch die Männer und Frauen der homerischen Zeit Bernsteinschmuck. Nach den ältesten auf uns gekommenen Nachrichten der Griechen sollen die diesen wertvollen Schmuckstein zu ihnen bringenden phönikischen Bernsteinhändler erzählt haben, daß im Nordwesten der Erdscheibe sich der Eridanos (als mythologischer Name später auf den Po bezogen) in den Okeanos (das die Erdscheibe umgebend gedachte Meer) ergieße, an dessen Mündung gewisse Bäume von der dort nahe vorbeifahrenden Sonne Bernstein ausschwitzen. Aus dieser Sage geht hervor, daß schon die alten Phönikier und die von ihnen weitgehend beeinflußten Griechen den Bernstein richtig als Baumharz erkannten. Dies war auch bei den Römern der Fall, die ihn succinum nannten, weil er aus dem Saft (succus) bestimmter Bäume, die Plinius geradezu als eine Art Pinien bezeichnet, entstanden sei.
Selbstverständlich hat es schon die Kulturvölker des Altertums aufs höchste interessiert, zu erfahren, was für eine Bewandtnis es mit dem aus unbekanntem Norden zu ihnen gelangenden Bernstein auf sich habe. Der erste, von dem wir wissen, daß er um die Säulen des Herkules (die Meerenge von Gibraltar) herum eine Entdeckungsreise nach dem Norden unternahm, um die Heimat des Bernsteins wie auch des Zinnes und köstlicher Felle zu erkunden, war der Grieche Pytheas aus Massalia (Marseille) zur Zeit Alexanders des Großen um 330 v. Chr. Über seine Reise nach Britannien, der Insel Thule (wohl eine der Shetlandinseln) und dem Bernsteinland (wahrscheinlich an der Nord[S. 201]seeküste Schleswigs) schrieb er dann nach seiner Rückkehr in die Vaterstadt einen Periplus, d. h. Umfahrt, benannten, uns in einzelnen Fragmenten erhaltenen Bericht, worin er erzählt, daß der Bernstein (élektron) auf der Insel Abalos im Okeanos gegenüber dem germanischen Volke der Guttonen von den Wellen angetrieben werde. Jedenfalls ist er nicht in die Ostsee, geschweige denn ins Samland gelangt, sondern wird den von ihm mitgeteilten Bescheid von den Bewohnern Nordfrieslands an der Westküste Schleswigs, zu denen er gelangte und bei denen er den Bernstein eintauschte, erhalten haben. Jedenfalls ist auch späterhin noch Bernstein von der friesischen Nordseeküste her zu den Völkern des Mittelmeeres gebracht worden, da der um 79 n. Chr. verstorbene Römer Plinius die von ihm Glessarien oder Elektriden genannten Bernsteininseln ins germanische Meer gegenüber Britannien verlegt.
Die erste sichere Andeutung der samländischen Küste im jetzigen Ostpreußen als Heimat des Bernsteins gibt uns der seit 30 v. Chr. 22 Jahre in Rom als Lehrer der Rhetorik lebende und sich daneben mit dem Studium der römischen Geschichte beschäftigende Grieche Dionysios von Halikarnaß südlich von Milet an der Westküste Kleinasiens. Der römische Geschichtschreiber Cornelius Tacitus (54–117 n. Chr.), der uns die erste ethnographische Schilderung des alten Germaniens und seiner Bewohner gab, wußte, daß die Ästyer (Esthen) von der rechten Küste des suevischen Meeres (Ostsee) den Bernstein glesum (wohl später auf das ähnlich durchsichtige und glänzende Glas übertragen) nannten, daß sie ihn als Auswurf des Meeres sammelten und an die Römer verhandelten. Um mit den Bewohnern der Bernsteinküste direkt in Verbindung zu treten, sandte dann der von 54–68 regierende Kaiser Nero eine römische Expedition unter Anführung eines römischen Ritters an die Ostseeküste nach Norden, von wo sie mit diesem kostbaren Erzeugnis des Samlandes reich beladen heimkehrte.
Im Mittelalter fand ein ausgedehnter Bernsteinhandel besonders nach dem Oriente hin statt, wo er heute noch als Amulett zum Schutze vor Erkrankung und als Schmuckstein sehr geschätzt wird. In den ältesten Zeiten war das Auflesen des Bernsteins jedermann erlaubt. Erst die mittelalterlichen Bischöfe erkannten in dem lapis ardeus vulgo Börnstein ein geeignetes Steuerobjekt, das ihnen großen Gewinn brachte. Die erste Urkunde darüber datiert aus dem Jahre 1264. Nach ihnen beuteten die Deutschen Ritter das Bernsteinregal in größtem Maßstabe aus und verkauften den Bernstein an die Bernsteininnungen,[S. 202] die sich um 1300 in Lübeck und Brügge, 1450 in Stolp, Kolberg und Danzig und 1640 in Königsberg bildeten. Köln, Frankfurt am Main, Nürnberg und Venedig waren damals die Haupthandelsplätze für Bernstein. Später wurden mit großer Strenge waltende Bernsteingerichte eingesetzt, und die Strandbewohner mußten den Bernsteineid schwören, in welchem sie gelobten, allen gefundenen Bernstein an die Behörde abzuliefern, die sich das alleinige Recht am Bernstein anmaßte. Und diejenigen, die das anstrengende und gefährliche Amt hatten, den Bernstein aus dem Meere mit Netzen zu fischen, erhielten als einzige Entschädigung das für ihr Fischereigewerbe nötige Salz. Diese unnatürlichen Verhältnisse führten zur Verpachtung der Bernsteinnutzung an Danziger Kaufleute, die alsbald den Handel bis Indien und Persien ausdehnten und in vielen Städten Faktoreien einrichteten. Die guten Geschäfte, die sie dabei machten, veranlaßte die Regierung, die Sache wieder selbst in die Hand zu nehmen. Doch wechselten in der Folge noch vielfach Verpachtung und Selbstverwaltung miteinander ab. Erst zu Ende des 18. Jahrhunderts wurde der Bernsteineid abgeschafft, seit 1811 wurde das Recht der Bernsteingewinnung in Generalpacht gegeben und seit 1837 an den Meistbietenden verkauft.
Der Bernstein der preußischen Ostseeküste wurde später auch aus dem Meere gebaggert und wird seit 200 Jahren am Lande in großem Maßstabe gegraben. Er findet sich in der sogenannten Blauen Erde, einer durch Glaukonitkörnchen bläulich gefärbten, sandig-tonigen Bildung von 1,25–6 m Mächtigkeit, zusammen mit Holzresten, Haifischzähnen, Meeresmuscheln usw. Diese Blaue Erde ist unteroligozänen Alters, doch findet sich der Bernstein in ihr auf sekundärer Lagerstätte; er muß also älter sein und wurde von einem damals durch das Meer zerstörten, gegen Skandinavien zu gelegenen Land hier eingeschwemmt. Mit welcher Gewalt heute noch besonders Nordweststürme Bernstein vom Meeresgrunde loslösen, um ihn, meist in Tange eingewickelt, mit den Wellen ans Land zu treiben, das beweist, daß in einer einzigen Herbstnacht 1862 in der Gegend von Palmnicken und Nodems nicht weniger als gegen 2000 kg Bernstein angeschwemmt wurden. Meist sind es nur kleine Stücke, und solche von 500 g kommen darunter nur selten vor. Das größte bis jetzt bekannt gewordene Stück Bernstein wog 6750 g und befindet sich im königlichen Mineralienkabinett in Berlin.
Wie schon der große Aristoteles (384–322 v. Chr.) richtig vermutete, ist der Bernstein ein von einem Baume geflossenes Harz. Diese[S. 203] Erkenntnis einiger Gelehrter des Altertums ging im Mittelalter wieder verloren und an ihre Stelle traten die vagsten Vermutungen, bis erst wieder Boch 1796 ihn für ein fossiles Pflanzenharz erklärte und Struve ihn 1811 von einem Nadelholze ableitete. Conventz wies dann nach, daß der Bernstein des Samlandes von einer Fichte, Picea succinifera, abstammt, deren Holz- und Rindenreste häufig im Bernstein eingeschlossen vorkommen. Wie bei den heutigen Kiefern und Fichten sogenannte Harzgallen mitten im Holz entstehen, so bildeten sich solche bei der Bernsteinfichte auch im Kambium. In ihrem Harzreichtum kann letztere mit der vorhin besprochenen neuseeländischen Agathis australis verglichen werden, deren Stamm und Äste dermaßen von Harz triefen, daß sie vielfach davon wie mit Eis in Krusten und Zapfen bedeckt sind. Das Harz der Bernsteinfichte wurde in solchen Massen ausgeschieden, daß es den Stamm herablief und sich um die Wurzeln sammelte, oder von den Zweigen tropfte und auf allerlei am Boden liegende Blätter fiel, deren Form es im Abdruck bewahrte. Dabei wurden zahlreiche Insekten und andere Tiere vom zähen Harz umflossen und in ganz idealer Weise durch die Jahrmillionen bis auf unsere Zeit konserviert. Die zahlreichen pflanzlichen Einschlüsse beweisen, daß der Bernsteinwald, der spätestens eozänen Alters ist und von manchen selbst in die oberste Kreide verlegt wird, außer Tannen und Fichten Lebensbäume (Thuja), Eichen, Palmen, Lorbeergewächse, Erikazeen, Farne, Flechten und Moose enthielt. Ungeheure Zeiträume hindurch standen diese Wälder und sammelte sich in ihnen der Bernstein an. Die Bäume selbst, die ihn ausgeschwitzt haben, sind mit allen andern Lebewesen schon längst zugrunde gegangen und nur das unverwesliche Harz derselben hat sich durch die ungeheuren Zeiträume, die uns von jener Periode trennen, erhalten.
Der Bernstein ist meist klar und gleichmäßig honiggelb, seltener gelblichweiß bis braun gefärbt; nur ausnahmsweise ist er mit Luftblasen erfüllt und schaumig. Er entwickelt beim Reiben einen eigentümlichen Geruch, wird dabei negativ elektrisch, schmilzt bei 287°, brennt mit rußender Flamme, wobei er einen angenehmen Geruch entwickelt, wird beim Erhitzen in Öl weich und biegsam und läßt sich dann in Formen pressen, dabei wird milchiger Bernstein durchsichtig. Früher wurde er hauptsächlich zu Amulettschmuck verarbeitet, wie heute noch aus ihm bestehende Perlenhalsbänder mit Vorliebe zahnenden Kindern zum vermeintlichen Erleichtern des Zahnens um den Hals gehängt werden. Gegenwärtig wird er meist zu Zigarren- und Pfeifen[S. 204]spitzen verarbeitet, während der Abfall und die kleinen Stücke zur Herstellung eines trefflichen Firnisses benutzt werden. Früher glaubte man bei uns wie heute noch in Rußland, daß er alle Krankheiten anziehe und so seinen Träger davor beschütze, weshalb Bernsteinhalsbänder sehr beliebt und geschätzt waren. Desgleichen sollten aus Bernstein verfertigte Schalen und Schüsseln jede Vergiftung der aus ihnen genossenen Speisen und Getränke verunmöglichen und aufheben, was besonders im alten Rom der Cäsaren für sehr wertvoll gelten mußte, da dort solche in gewissen Kreisen an der Tagesordnung waren. Gegenwärtig ist Bernstein namentlich in China und Japan als geschätztes Amulett gegen Krankheiten, in Marokko gegen die Gefahren des Krieges viel im Gebrauch. Im ganzen wird in Deutschland jährlich für 2165000 Mark Bernstein für Zigarren- und Pfeifenmundspitzen, für 145000 Mark für Halsperlen und für 190000 Mark für Firnis und Lack verbraucht. Plinius erzählt in seiner Naturgeschichte, daß er zu seiner Zeit besonders von den Kelten der Poniederung und der Südabhänge der Alpen als Schutzmittel gegen den Kropf getragen wurde. Schon in den vorgeschichtlichen Niederlassungen Oberitaliens findet er sich häufig, ist aber hier nicht der ostpreußische gelbe, sondern ein in der miozänen Molasse des Landes selbst, speziell der Emilia, gefundener rötlicher oder brauner Bernstein, der aber nur in erbsen- bis nußgroßen Stücken vorkommt. Bei der überaus großen Wertschätzung, die aller Bernstein seit der jüngeren Steinzeit bei sämtlichen europäischen Völkern genoß, ist es nicht zu verwundern, daß solcher bereits in vorgeschichtlicher Zeit auch aus dem Potal nach den danach lüsternen Ländern im östlichen Mittelmeergebiet gelangte, sonst hätten nicht, wie wir vorhin sahen, die phönikischen Kaufleute den ältesten Griechen angegeben, daß der Bernstein von den Ufern des Eridanos (= Po) komme, wo er durch die starke Hitze der dort in der Nähe vorbeifahrenden Sonne aus gewissen Bäumen ausgeschwitzt werde. Übrigens gibt es in den meisten Ländern Europas und anderwärts verschiedenerlei, meist tertiären Landbernstein, der eine mehr oder weniger starke Verwitterungskruste besitzt, wodurch er sich vom Seebernstein der Ostseeküste unterscheidet; doch ist er nirgends in solcher Massenhaftigkeit wie in der Blauen Erde der ostpreußischen Küste vorhanden, wird zudem meist nur in kleinen, gewöhnlich dunkel gefärbten Stücken gefunden und hat infolgedessen auch keinerlei Bedeutung als Handelsartikel erlangt.
Ferner findet zur Bereitung von Firnis das Lackharz vielseitige[S. 205] Verwendung. Es ist dies ein in mehr oder weniger dicken Krusten, seltener auch Tropfen von Zweigen indischer und hinterindischer Sträucher und Bäume wie Aleurites lactifera, Schleichera trijuga, Butea frondosa, besonders aber Feigenarten wie Ficus religiosa und indica abgelesenes Harz, das durch die Weibchen der Lackschildlaus (Coccus lacca) hervorgebracht wird. Diese sammeln sich an den betreffenden Zweigen so massenhaft an, daß jene von ihnen geradezu rot bestäubt erscheinen. Nach ihrer Befruchtung stechen sie ihre lebende Unterlage an und scheiden durch Umwandlung des von ihnen aufgesaugten Saftes in ihrem Körper die Harzmasse als Exkret aus, die die Tierchen völlig umhüllt und oft auf die darunter befindlichen Zweige herabtropft. Unter dieser schützenden Umhüllung, in welcher der aufgebrauchte weibliche Organismus zugrunde geht und der Nachkommenschaft als Wiege dient, entwickeln sich die jungen Schildläuse, bis sie, reif geworden, dieselbe durchbohren und ausschlüpfen. Der Lack wird nun samt den Zweigen von den Bäumen abgebrochen und von jenen abgelöst, und zwar meist erst nach dem Ausschlüpfen der Schildläuse, um die Produktion nicht herabzusetzen. Früher wurde der undurchbohrte Lack, der noch die jungen Schildläuse und damit viel roten Farbstoff enthält, höher geschätzt als jetzt und speziell in Indien zur Gewinnung eines scharlachroten, dem Karmin der Cochenille an Leuchtkraft sehr nahe kommenden, zur Färbung von Baumwolle und Seide verwendeten Farbstoffs benutzt, der daselbst heute noch als Lacklack in den Handel kommt. Entzieht man der Masse den roten karminartigen Farbstoff mit schwacher Sodalösung, so entsteht der gelblichbraune Körnerlack, aus dem man durch Schmelzen und Auffangen der bei 140° geschmolzenen Masse auf Bananenblättern den Schellack in Form von glänzenden, braunroten, dünnen, flachen Stücken mit muscheligem Bruch gewinnt. Der Schellack schmilzt leicht, löst sich größtenteils in Weingeist und Äther, in Alkalien und gesättigter Boraxlösung; er kann auch durch Chlor gebleicht werden, wodurch er für die Herstellung von farblosen Firnissen besonders geeignet wird. Man gebraucht ihn namentlich zur Bereitung der Weingeistfirnisse, der Tischlerpolitur, des Siegellacks, verschiedener Kitte und in der Feuerwerkskunst, auch bildet er die Hauptmasse des Marineleims und der Elektrophorkuchen. In Borax aufgelöst dient er als Wasserfirnis zum Steifen und Wasserdichtmachen der Filzhüte, zum Firnissen von Papier und, mit feinem Ruß versetzt, als unauslöschliche Tinte.
In China und Japan dagegen wird der Lack durch Einschnitte[S. 206] in Stamm und Äste des zu den Terebinthen oder Balsamgewächsen gehörenden Firnissumachs (Rhus vernicifera) gewonnen. Es ist dies ein daselbst heimischer, zur Lackgewinnung vielfach auch angepflanzter äußerst giftiger Baum, dessen Ausdünstungen schon schädlich sind und dessen übelriechender Saft, auf die Haut gebracht, starke Entzündung derselben mit Bildung von schmerzhaften Geschwüren hervorruft. Er erreicht eine Höhe von 8–10 m und hat gestielte, eiförmige, zugespitzte, unten mit feinen Haaren bedeckte Blätter, die nicht giftig sind. In dem durch Einschnitte in die Rinde ausfließenden weißen Milchsaft ist das Lakkol enthalten, das durch ein Lakkase genanntes Ferment an der Luft in den glänzend schwarzen Lack umgewandelt wird. Aus diesem Produkt stellen die Ostasiaten, besonders die Japaner, durch Mischen mit dem Öle der Bignonia tomentosa, eines Kletterstrauches mit großen trompetenartigen Blüten, oder der Perilla ocymoides, mit Zusatz von Zinnober, wenn die Farbe eine rote sein soll, sonst ohne solchen, ihren berühmten Lackfirnis her. Schon im Mittelalter war bei ihnen dieser prächtige, fast unverwüstliche Firnis im Gebrauch, um mit ihm fast alle Holzgegenstände des täglichen Gebrauchs, Eß- und Trinkgeschirr, wie auch kleine und große Möbel, selbst ganze Tempel zu überziehen. Schon aus der Zeit des 12.-15. Jahrhunderts sind uns Namen berühmter Lackkünstler überliefert, und um 1700 hatte die Lackkunst besonders durch den Maler Ogata Korin ihren Höhepunkt erreicht. Die ersten japanischen Lackwaren gelangten in der zweiten Hälfte des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts durch die seit 1557 auf der Insel Macao an der Mündung des Perlflusses 133 km südöstlich von Kanton niedergelassenen Portugiesen und dann aus Manila, der Hauptstadt der durch die seit 1569 von den Spaniern besetzten Philippinen, nach Europa. War doch das durch die Reisebeschreibung des Venezianers Marco Polo aus dem 13. Jahrhundert als Zipangu im Abendlande bekannte Japan 1543 von den Portugiesen entdeckt und von ihnen der erste Handelsverkehr mit jenem kunstsinnigen Volke angebahnt worden. Sie brachten dann die Jesuiten ins Land, als deren berühmtester Missionar der heilige Franz Xaver zu nennen ist. Aber von 1617–1637 gab es dann Reibereien zwischen den Vertretern beider Nationen, die damit endigten, daß die zahlreichen unter den Japanern gewonnenen Christen wieder ausgerottet und die Portugiesen vertrieben wurden. Dafür erhielten die Holländer, die seit 1609 freien Zutritt und Erlaubnis zum Handeln erlangt hatten, eine allerdings recht beschränkte Möglichkeit der Ausfuhr japanischer[S. 207] Kunstgegenstände, unter denen außer Porzellan- und Metallgegenständen hauptsächlich Lackartikel eine wichtige Rolle spielten. Da diese letzteren bei den Vornehmen Europas großen Beifall fanden und viel begehrt wurden, suchten die Holländer sie bald auch nachzuahmen, was ihnen indessen nicht gelang. Eine ganze Sammlung japanischer Lackarbeiten besaß im 18. Jahrhundert die unglückliche Königin Marie Antoinette; diese ist jetzt im Louvre zu sehen.
Heute wird der Japanlack in folgender Weise gewonnen und benutzt. Zuerst wird der Milchsaft des im Japanischen urushi-no-ki genannten Lackbaums in der Weise gewonnen, daß man die Bäume einschneidet, den zwischen den Schnittflächen sich ansammelnden, rasch trocknenden, zähen schmutzigweißen, an der Sonne erst braun und dann schwarz werdenden Saft auskratzt und sammelt. Der beste Lack wird im August gewonnen, und zwar aus dem Stamm; der von den Ästen herrührende ist härter und zäher. Er enthält 60–80 Prozent Lack- oder Urushinsäure (C14H18O2), 3–6 Prozent Gummi, 1–3 Prozent Eiweiß, 10–30 Prozent Wasser und eine geringe Menge giftiger, flüchtiger Säure. Infolge des letzteren ist das Sammeln des Lackharzes eine gefährliche Beschäftigung und wird nur von der ärmsten Volksklasse geübt. Das Lackieren selbst ist viel weniger gefährlich und es beschäftigen sich damit zahlreiche Personen. Die Gefährlichkeit dieser Arbeit wird durch den Umstand vermindert, daß diejenigen, die eine heftigere Vergiftung damit durchmachten, eine solche nicht mehr zu befürchten haben.
Die japanische Industrie hütete bis vor kurzem sorgfältig das Geheimnis ihres Lackes vor den Augen der Europäer, und obschon die Holländer mit großem Eifer bestrebt waren, dasselbe zu erfahren, konnten sie doch die Qualität des japanischen Lackes nicht erreichen, der erst neuerdings als Rhus- oder Japanlack auf den europäischen Markt gelangt. In Japan ist seine Verwendung eine sehr allgemeine. Da diese vulkanische Insel kein so vorzügliches Kaolin und solchen Lehm wie das meist aus alten Sedimentformationen aufgebaute benachbarte China besitzt, kamen seine Bewohner schon früh dazu, ihre Gefäße statt aus gebranntem Ton und Porzellan wie die Chinesen aus Holz herzustellen und dieses durch einen Harzüberzug wasser-, feuer- und säuredicht zu machen. Dazu wurde außer dem Harz von Euphorbien und Anacardiazeen vor allem das Harz des Lackbaumes benutzt. Die alten Lackerzeugnisse, unter welchen 600–700jährige Arbeiten vorkommen, sind die besten und widerstandsfähigsten. Echte Lackgefäße[S. 208] werden auch von siedendem Wasser nicht beschädigt; auch Säuren und andere Ätzflüssigkeiten können ihnen nichts anhaben. Nur im Feuer geht der Lack zugrunde, wenn das seinen Grundstoff bildende Holz zu Kohle gebrannt ist. Das damit zu überziehende Holz wird zuerst geglättet, jede Fuge mit Papier oder Werg ausgefüllt und dann mit dünnem Bast oder Hanf überklebt, worauf die aus Ocker und Pappe bestehende Schicht kommt. Auf diese Grundierung werden je nach Art des Objektes und der Feinheit des gewünschten Überzuges 3–30 dünne Lackschichten aufgetragen. In die obere Schicht kommen die Farbstoffe, besonders Zinnober und Goldstaub, und schließlich der Glanzstrich. Die Hauptsache dabei ist, daß die einzelnen Lackschichten gut trocknen, was nicht in trockener, sondern in etwas feuchter Luft geschehen muß, weshalb auch der echte japanische Lack in alter Zeit in feuchten Gruben oder in der Nähe von Wässern auf schwimmenden Kähnen getrocknet und poliert wurde.
Die hochentwickelte japanische Lackindustrie hat nicht nur die Abendländer zur Nachahmung gereizt, sondern auch deren einheimische Firnisverwendung in weitgehendem Maße beeinflußt. Weniger war dies bei der indischen und persischen Lackfabrikation der Fall, die sich seit dem Altertum selbständig entwickelte. Die Produkte derselben stehen nicht auf der Höhe der japanischen Lackarbeiten und haben ein für unseren Geschmack zu buntes Aussehen. Sowohl Muster als Farben sind zweifellos von ihr der einheimischen Schalfabrikation entlehnt, die in diesen Ländern eine uralte einheimische Industrie ist, deren Produkte früher auch von den Damen des Abendlandes, besonders um die Mitte des letzten Jahrhunderts viel mehr als heute geschätzt wurden.
Wie die buntgemusterten Schale und Lackarbeiten ist der aus dem indischen Lacke hergestellte rote Siegellack ebenfalls eine Erfindung und ein Erzeugnis Ostindiens, das aus jenem Lande ums Jahr 1560 durch die Portugiesen nach Europa gebracht wurde und hier als „spanisches Wachs“ bald weitere Verbreitung fand. Vorher hatte man hier allgemein auf Wachs — die Babylonier mit ihren hübsch aus Halbedelsteinen geschnittenen Siegelzylindern auch auf weichem, später gebranntem Ton — gesiegelt, und zwar durften bis zur Aufnahme des roten indischen Siegellacks nur Kaiser und Könige in rotem Wachs siegeln. Später wurde bei uns der rote indische Siegellack auf mancherlei Weise nachgeahmt.
Während der Lack in Indien außer zu Siegellack besonders zur[S. 209] Gewinnung des roten Farbstoffs benutzt wird, verwenden wir ihn zu den verschiedensten schützenden Überzügen namentlich auf Gegenständen von Holz oder Pappe (papier mâché). Der meiste Lack kommt aus den Gangesländern, Siam und Annam zu uns, und zwar ist der Hauptausfuhrhafen dafür Kalkutta.
Von nicht aus solchem indischen Lack hergestellten Firnisüberzügen, die technisch in Europa und allen Kulturländern von Bedeutung sind, ist der wichtigste der aus Zelluloid, d. h. nitrierter, mit einer alkoholischen Lösung von Kampfer und je nach Bedarf auch Farbstoffen und Rizinusöl versetzter Baumwolle oder Seidenpapier hergestellte Zaponlack, den man verwendet, um blanke metallische Flächen, die keiner erheblichen Wärme und keinen starken mechanischen Angriffen ausgesetzt sind, vor der Einwirkung von Luftgasen oder Säuren zu schützen. Außer der Elektrotechnik haben sich auch andere Industrien die Vorteile desselben zunutze gemacht. So ist z. B. heute fast alles Silber zum Schutze gegen Oxydierung in Zaponlack getaucht. Wenn man häufig gebrauchte silberne Geräte einige Zeit nachdem man sie gekauft hat besieht, bemerkt man, daß gewisse gelbliche Stellen des Lackes abgeblättert sind. Das ist eben der infolge des starken Gebrauchs abgegriffene Zaponlack.
Wie sich der Mensch gerne zu festlichen Anlässen mit wohlriechendem Öle salbt und die Kleidungsstücke mit parfümiertem Wasser besprengt, so verwendet er seit Urzeiten gerne zu gottesdienstlichen Handlungen Räucherungen von duftenden Hölzern und Harzen, als deren vornehmstes der Weihrauch sich bis auf unsere aufgeklärte Zeit erhalten hat. Schon im vierten und fünften vorchristlichen Jahrtausend haben die alten Kulturvölker des Morgenlandes ihren Göttern teils in Verbindung mit blutigen oder unblutigen Opfern, teils mit Gebet und Gesang Weihrauch, Myrrhen und Galbanum geopfert, um sie durch den dabei ausströmenden Wohlgeruch zu erfreuen. Nach der Mitteilung des Vaters der Geschichtsforschung Herodot, verbrannten die Chaldäer beim Feste des Bel in Babylon alljährlich für tausend Talente, d. h. 4710000 Mark Weihrauch, und nach Plutarch brachten die Ägypter morgens, mittags und abends der Sonne ein Weihrauchopfer dar. Auch bei den Juden wurden morgens und abends auf dem vor dem Vorhange des Allerheiligsten in der Stiftshütte und später im Tempel stehenden, mit Gold überzogenen Räucheraltar allerlei wohlriechende Spezereien, vor allem auch Weihrauch, verbrannt. Bei den Griechen kam der Gebrauch des Weihrauchs zum Opfer durch Vermittlung der Phönikier etwa im 7. vorchristlichen Jahrhundert auf, bei den Römern erheblich später, in Verbindung mit Weinspenden, während vorher Met oder Milch der Herdentiere dazu gedient hatte. Die Christen betrachteten anfänglich solche Rauchopfer als heidnische Greuel; aber bereits im Verlaufe des 4. Jahrhunderts drangen sie auch in den christlichen Kultus ein, nur verbot man, diese Gott und den Heiligen allein zukommende Ehrung nach römischer Sitte auch den kaiserlichen Bildsäulen zukommen zu lassen.
Der Weihrauch und die anderen beim Verbrennen duftenden Pflanzenharze wurden im heidnischen wie im jüdischen und zuletzt im christlichen Kult in Metallgefäßen verbrannt, die an Ketten getragen und hin und her geschwungen wurden, um die Tempelräume mit Wohlgerüchen zu erfüllen. Solche bronzene Räucherpfannen (lateinisch turibula incensoria) wurden mehrfach in Pompeji gefunden und sind schon in altägyptischen Tempeldarstellungen abgebildet. In nichts ist ja der Mensch so konservativ als im Kult. Und damit der Gottheit dargebrachte Rauchopfer lassen sich bis in das früheste Altertum zurückverfolgen. Aus der biblischen Geschichte kennen wir sehr wohl den Wert, der auf solche Räucherharze gelegt wurde, und wissen aus der Weihnachtsgeschichte wie die Weisen aus dem Morgenlande, die dem Sterne nachgegangen waren, bis sie das Jesuskindlein in Bethlehem fanden, anbetend vor ihm niederfielen und ihre Schätze auftaten und ihm Gold, Weihrauch und Myrrhen als das Kostbarste, was es damals gab, schenkten.
Beim altisraelitischen Gottesdienst wurde neben Weihrauch und Myrrhe auch chelbenah, was (erhärtete) Milch bedeutet, lateinisch galbanum, geopfert, eine Droge, die der berühmte griechische Arzt Hippokrates, der große Aristotelesschüler Theophrastos und andere als chalbánē erwähnen. Es ist dies der am Stengel und an der Basis des persischen Doldengewächses Ferula galbaniflua freiwillig austretende erhärtete Milchsaft, der in Form von mehr oder weniger verklebten, außen grünlichbraunen Körnern, die oft zu einer gleichartigen Masse vereinigt sind, in den Handel gelangt. Er ist in der Kälte spröde, zwischen den Fingern knetbar, riecht stark aromatisch, schmeckt etwas bitter, terpentinartig und diente früher auch als Arzneimittel, indem man ihm eine gewisse Einwirkung auf das Uterinsystem zuschrieb. Heute wird er bei uns nur noch äußerlich als leicht hautreizendes Pflaster unter der Bezeichnung Mutterharz verwendet. Noch im Mittelalter war er eine nicht unwichtige Droge, die als ein Handelsartikel Venedigs mehrfach erwähnt wird und sich auch unter den Effekten des im Jahre 1360 in England gefangenen Königs Johann von Frankreich befand.
Wichtiger war den alten Kulturvölkern des Morgenlandes die aus Arabien stammende Myrrhe, ein in unregelmäßigen Körnern oder Knollen von Nuß- bis Faustgröße in den Handel gelangendes, gelbliches bis braunes, durchscheinendes Gummiharz verschiedener in Nordostafrika und Südarabien heimischer Terebinthenarten, von denen[S. 212] der echte Myrrhenbaum, Commiphora (d. h. Gummierzeuger) myrrha, der wichtigste ist. Von dem nur etwa 6–8 m hohen Baum fließt das Myrrhenharz von selbst nach austrocknenden Winden, die die Rinde zum Bersten bringen, nachdem sich das Holz durch vorausgegangene Regen mit Wasser gefüllt hat, aus in Form eines milchig trüben, gelblichen Saftes und erstarrt, allmählich dunkler werdend, zu einer eigentümlich balsamisch riechenden und gewürzhaft bitter schmeckenden Masse, die sich beim Erhitzen aufbläht und einen angenehmen Geruch verbreitet. Die Myrrhe enthält verschiedene ätherische Öle, Gummi und Harz und hat ihren Namen aus dem arabischen murr, was bitter bedeutet. Seit den ältesten Zeiten bildete sie neben dem Weihrauch einen wichtigen Bestandteil der Räucherungsmittel und wohlriechenden Salben, die im Orient bei allen gottesdienstlichen Handlungen zur Anwendung gelangten. Der griechische Geschichtschreiber Plutarch berichtet uns, daß die Priester im Tempel der Isis täglich dreimal räucherten, und zwar des Morgens mit Balsam, gegen Mittag mit Myrrhen (bal) und am Abend mit kyphi, einer Mischung von 16 und mehr verschiedenen Ingredienzen, bei deren Anfertigung auf die Heiligkeit der Zahl vier Rücksicht genommen werden mußte.
Das Kyphi ist ein in den hieroglyphischen Inschriften ungemein häufig erwähntes heiliges Räuchermittel. Das altägyptische Totenbuch nennt verschiedene Bestandteile desselben; außerdem haben uns griechische Schriftsteller so ausführliche Mitteilungen darüber hinterlassen, daß wir die wichtigsten Bestandteile desselben kennen. Allerdings stieg die Zahl der Ingredienzen, die anfänglich nur wenige betrugen, im Lauf der Jahrhunderte auf mehrere Dutzend. Deren Mischung wurde in den Tempeln selbst vorgenommen, und nach Plutarch las man den Salbenreibern und Räuchermittelmischern während ihrer Arbeit aus heiligen Schriften vor, damit ihre Gedanken dabei auf das Göttliche gerichtet seien. Aus den Inschriften an den Tempelwänden und dem Texte der Papyri erfahren wir von der harzigen Ausschwitzung eines nicht näher definierbaren arabischen Baumes aus der Familie der Myrrhenbäume, aus welcher die Salbenreiber der ägyptischen Tempel in besonderen Laboratorien (asit) ein Räuchermittel herstellten. Dann wird das Produkt des ebenfalls arabischen Tesepbaumes (vermutlich auch einer Commiphora-Art) häufig in den Kyphirezepten erwähnt, auch fand dessen Gummiharz wie die Myrrhe beim Einbalsamieren der Leichen Verwendung. Die wichtigsten Bestandteile des Kyphi aber waren verschiedene Weihrauch- und Myrrhenarten; daneben gelangte[S. 213] auch Mastixharz zur Anwendung, von dem man zur Zeit der Pharaonen schon drei Sorten, nämlich schwarzes, weißes und rotes unterschied.
Bei den alten Ägyptern dienten Myrrhen auch als Arznei, zum Würzen von Wein und zum Herstellen von wohlriechenden Salben, mit denen bei festlichen Anlässen vor allem das Haupthaar gesalbt wurde. Auf letztere nimmt das älteste uns aus der altägyptischen Literatur erhaltene Gedicht aus dem mittleren Reich (2160–1788 v. Chr.) Bezug, nämlich das „Lied des Harfners“, der den Schmausenden in den Häusern der Reichen während des Mahles vorsang und sie folgendermaßen zum Lebensgenusse aufforderte.
Auch bei den Juden im Alten Testamente ist viel von Myrrhen zu gottesdienstlichen Räucherungen und als profanes Duftmittel bei festlichen Anlässen die Rede. Was alles an solchen Wohlgerüchen damals bekannt war, zählt uns der um 800 v. Chr. lebende Dichter des Hohen Liedes auf, wenn er in Kap. 4, 13 von der Geliebten sagt, ihr Körper dufte „wie Zypern mit Narden, Narden mit Safran, Kalmus und Kinnamom (Zimt), mit allerlei Bäumen des Weihrauchs, Myrrhen und Aloē (dem zu Räucherungen verwandten wohlriechenden Aloeholz), mit allen besten Würzen“. Und in Kap. 5, 5: „Meine Hände troffen von Myrrhen(-salbe) und Myrrhen liefen über meine Finger.“ In[S. 214] Kap. 3, 10 spricht er zur Geliebten: „Der Geruch deiner Salben übertrifft alle Gewürze.“
Von den Ägyptern und Vorderasiaten gelangte der Gebrauch der Myrrhe als gottesdienstliches Räucherwerk und Parfüm bei festlichen Anlässen zu den Griechen und Römern, die sie in ähnlicher Weise wie die Ägypter anwandten. Als geschätztes Heilmittel empfehlen sie die römischen Ärzte Scribonius Largus und Alexander Trallianus (im 6. Jahrhundert n. Chr.). Cornelius Celsus spricht von einer schwarzen, bei Augenkrankheiten angewandten Myrrhe. Auch im Dispensatorium des Valerius Cordus wird die Myrrhe angeführt. Die heilige Hildegard nennt im 12. Jahrhundert mirrha und empfiehlt sie gegen allerlei Erkrankungen. So hat sich die Myrrhe als geschätztes Heilmittel, wenn auch nicht als Räucherwerk, bis auf unsere Tage auch im Abendlande im Gebrauch erhalten.
Noch viel wichtiger als die Myrrhe war als Räuchermittel bei allen gottesdienstlichen Handlungen der Orientalen der Weihrauch, von welchem die Alten, wie auch von der Myrrhe, verschiedene, größtenteils nach den Orten der Herkunft benannte Arten unterschieden. Ihre Erzeuger sind verschiedene Boswellia-Arten, von denen Boswellia carteri, der echte Weihrauchbaum, von den Altägyptern anti genannt, der wichtigste war. Die Weihrauchbäume sind, wie die Myrrhenbäume, in Nordostafrika nahe dem Kap Guardafui und auf einem beschränkten Saum der mittleren, als Hadramaut bezeichneten Südostküste Arabiens heimisch. In deren Stämme werden zu Ende Februar oder Anfang März und dann noch zweimal jeweilen innerhalb Monatsfrist von den Eingeborenen tiefe Einschnitte gemacht, aus denen ein milchweißer Saft reichlich ausfließt, nach einiger Zeit erstarrt er zu gelben Körnern, die dann von den Stämmen abgelöst oder am Boden aufgelesen werden. Sie schmecken aromatisch, etwas bitter, erweichen im Mund und geben, auf glühende Kohlen gestreut, einen angenehmen balsamischen Geruch von sich. Wie dieser Geruch den Menschen angenehm war, so dachte man sich, werde er auch die Götter erfreuen. So verbrannte man schon im ältesten Ägypten zu Ehren der Himmlischen den Weihrauch (anti), den man als eine der größten Kostbarkeiten mit der Myrrhe und den Gewürzen Indiens aus dem südlichen Arabien bezog. Wegen dieser aufs höchste geschätzten Produkte wurde jenes Land von allen weiter westwärts wohnenden Völkern, denen es dieselben übermittelte, stark beneidet und glücklich gepriesen. Das Land Jemen in der Südwestecke Arabiens war ihnen das „Glückliche[S. 215] Arabien“. Hier bestand in frühest nachweisbarer Zeit schon in der ersten Hälfte des zweiten vorchristlichen Jahrtausends das Reich von Machīn, das dann später von demjenigen von Saba vernichtet und abgelöst wurde. Von den Sabäern berichtet der griechische Geschichtschreiber Diodoros aus Sizilien, daher Siculus genannt, der zur Zeit Cäsars und Augustus’ in 40 Büchern die bis zum Jahre 60 v. Chr. reichende Geschichte fast aller damals bekannten Völker schrieb: „Die Sabäer wohnen im Glücklichen Arabien, haben zahmes Vieh in unermeßlicher Menge und so viel Balsam, Kassia, Zimt, Kalmus, Weihrauch, Myrrhen, Palmen und andere wohlriechende Gewächse, daß das ganze Land von einem wahrhaft göttlichen Wohlgeruch durchzogen ist, den selbst die Seefahrer aus beträchtlicher Entfernung wahrnehmen; es ist ihnen dann zumute, als röchen sie die fabelhafte Ambrosia.“
Der um 25 n. Chr. gestorbene griechische Geograph Strabon berichtet auf Grund eigener Anschauung auf Reisen und des Studiums älterer Geographen in seiner 17 Bücher umfassenden Geographika: „Im Lande der Sabäer, dem gesegnetsten Arabiens, wächst Myrrhe, Weihrauch, Zimt und Balsam. Sie holen auch Gewürze aus dem Negerlande, wohin sie mit ledernen Kähnen fahren. Ihr Vorrat an dergleichen Herrlichkeiten ist so groß, daß sie Zimt, Kassia und dergleichen wie Brennholz verbrennen und die reichsten von ihnen, die Gerrhäer, alle Geräte im Hause wie Ruhebetten, Dreifüße, Milchtöpfe, Teller usw. von Gold und Silber, und auch die Türen, Wände, Decken mit Elfenbein, Gold, Silber und Edelsteinen geziert haben.“
Der griechische Philosoph Theophrast, Schüler des Aristoteles, schreibt in seiner Pflanzengeschichte schon im 4. Jahrhundert v. Chr.: „Weihrauch (líbanos), Myrrhe (smýrnē) und Balsam (bálsamon) kommen aus Arabien und werden durch Einschnitte gewonnen oder quellen von selbst aus den Bäumen hervor, die teils auf dem Gebirge wild wachsen, teils auf eigenen Feldern am Fuß der Gebirge kultiviert werden. Der Weihrauchbaum soll nur etwa fünf Ellen hoch und sehr ästig sein. Seine Blätter sollen denjenigen des Birnbaums ähnlich, nur viel kleiner und sehr grün sein; die Rinde soll glatt wie beim Lorbeer sein. Der Myrrhenbaum ist noch kleiner, strauchartiger, der Stamm soll hart, an der Erde hin und her gebogen und dicker als ein Unterschenkel sein. Andere beschreiben diese Bäume anders. Seefahrer, welche das Gebirge gesehen haben, berichten, die Bäume seien dort durch Einschnitte verwundet, die Tropfen fielen teils herab, teils blieben sie am Baume kleben. Man breite aus Baumblättern ge[S. 216]flochtene Matten darunter, oder stampfe den Boden fest. Der von den Matten stammende Weihrauch und die Myrrhe seien klar und durchscheinend, die vom Erdboden aufgelesenen weniger, und die von den Bäumen geschabten seien durch Rindenstücke verunreinigt.
Auf dem Gebirge der Sabäer fanden die Seefahrer keine Wächter, weil dort kein Einwohner dem andern stiehlt. Diesen Zustand benutzten die Fremden, sammelten große Massen dieser Stoffe und fuhren damit weg. Übrigens hörten sie, daß die Sabäer ihren Weihrauch und ihre Myrrhe in den Sonnentempel bringen, der von bewaffneten Wächtern beschützt wird. Dort tut ein jeder seine Ware auf einen Haufen und legt auf diesen ein Täfelchen, worauf der Preis angegeben ist. Kommen nun die Kaufleute, so sehen sie nur nach den Täfelchen. Billigen sie den Preis, so nehmen sie die Ware und legen das Geld hin.
Die Stücke Weihrauch, die in den Handel kommen, sind sehr verschieden und manche wohl so groß, daß sie die Hand füllen können. Von der Myrrhe hat man eine Sorte von natürlichen Tropfen, eine andere in künstlich gestalteten Stücken.“ Der griechische Schriftsteller Flavius Arrianus (um 100 n. Chr. zu Nikomedia in Bithynien geboren, ward 136 unter Hadrian Präfekt von Kappadokien und starb unter Marcus Aurelius) berichtet in der Geschichte der Feldzüge Alexanders des Großen nach den besten Quellen: „Als Alexander in die Wüste der Gedrosier (jetzt Mekrân in Beludschistan) kam, standen dort viele ungewöhnlich große Myrrhenbäume, die noch niemand ausgebeutet hatte. Die phönikischen Kaufleute, die dem Heere folgten, führten ganze Ladungen von Myrrhe weg.“ Und Plinius endlich sagt in seiner Naturgeschichte über dieses Pflanzenprodukt: „Die Myrrhe (myrrha) wächst an mehreren Stellen Arabiens, namentlich da, wo der Weihrauch wächst. Auch kommt eine geschätzte Sorte von Inseln, und die Sabäer holen sogar Myrrhen jenseits des Meeres bei den Troglodyten. Die Bäume sind dornig, wachsen teils wild, teils absichtlich gepflanzt; aus ihnen schwitzt die Myrrhe, kommt in Beutel gepackt zu uns, und die Salbenhändler sortieren sie dann nach dem Geruch und der Fettigkeit. Auch Indien liefert eine Myrrhensorte, aber eine schlechte.“
Endlich schreibt der griechisch-ägyptische Großkaufmann Kosmas Indikopleustes (d. h. der Indienfahrer), ein Zeitgenosse des oströmischen Kaisers Justinian I. (483–565 n. Chr.), der mit seinem Freunde und Kollegen Menas von Alexandrien — beide gingen im höheren Alter ins Kloster — eine Reise nach Ostafrika und Indien machte: „Das Land, welches den Weihrauch hervorbringt, ist an der Südgrenze von[S. 217] Äthiopien gelegen, im Innern des Kontinents; aber der Okeanos reicht noch darüber hinaus. Daher ziehen die benachbarten Bewohner Barbarias nach dem Hochland, und im Handelsverkehr führen sie von dort die meisten Spezereien aus. Weihrauch, Kassia, Kalmus und vieles andere, und sie schaffen es auf dem Seewege nach Adule (dem heutigen Zeila in Massaua) und Glücklich-Arabien, nach Indien und Persien. Schon im Altertum pflegte das zu geschehen; denn die Königin von Saba, welche Christus die Königin von Mittag nennt, brachte Wohlgerüche und Kostbarkeiten zu Salomo, welche auf der afrikanischen Ostküste heimisch sind, ferner Ebenholz, Affen und Gold aus Äthiopien, da sie Äthiopien benachbart jenseits des Roten Meeres wohnte.“ Hier erweist sich allerdings der biedere Religiöse (denn er schrieb seinen Reisebericht erst als Mönch) nicht als völlig bibelfest, da er die Geschenke der Königin von Saba mit den Produkten zusammenwirft, die Salomo auf seinen wiederholt ausgeführten Expeditionen nach Ophir (im jetzigen Rhodesia) holen ließ. Später haben dann erst wieder arabische Geographen vom Weihrauchlande aus eigener Anschauung Zuverlässiges zu berichten gewußt.
Sehr groß war der Verbrauch des Weihrauchs zu gottesdienstlichen Räucherungen schon im alten Ägypten. Dabei wurden daselbst wie bei der Myrrhe verschiedene Sorten unterschieden, die je nach der Gottheit, der die Räucherung galt, verschieden gewählt wurden. So führt eine Inschrift des Tempellaboratoriums in Edfu aus der Zeit der Ptolemäer 14 Sorten Anti-Harz (Weihrauch) neben 8 Sorten Ab-Harz (eine Abart der Myrrhe) auf. Von den 14 Anti-Harzsorten bildeten 11 die erste und 3 die zweite Qualität. Alle hatten besondere Namen und sollten aus den Augen der betreffenden Gottheit, der sie geweiht waren, herausfließen. An den Festen der Gottheit, der sie entsprungen sein sollten und der sie deshalb geweiht waren, wurde nur die betreffende Sorte, und zwar in gewaltigen Mengen verbraucht. So steht im Osiristempel in Dendera geschrieben, man solle am Osirisfeste im Monat Choiak besonders mit der zweiten Sorte der ersten Qualität die Räucherbecken füllen; denn es heißt: „Es entsteht aus dem Auge des Osiris ein Anti-Harz in Wahrheit, herauskommend aus dem linken Auge; seine Farbe ist rötlich.“
In Nachahmung dieser ägyptischen Sitte benutzten auch die alten Juden nach ihrem Auszuge aus Ägypten den Weihrauch zu ihren gottesdienstlichen Räucherungen, wie schon im 2. Buch Mose 30, 34 u. f. zu lesen ist. „Und der Herr (Jahve) sprach zu Mose (am Sinai[S. 218] um 1280 v. Chr.): Nimm zu dir Spezerei, Balsam, Bdellium, Galbanum und reinen Weihrauch, von einem so viel als vom andern, und mache Räucherwerk daraus, nach der Apothekerkunst gemengt, daß es rein und heilig sei. Und sollst desselben tun vor das Zeugnis (nämlich die Bundeslade) in der Stiftshütte, wo ich mich dir offenbaren werde. Das soll euch das Allerheiligste sein. Und desgleichen Räucherwerk sollt ihr euch nicht machen, sondern es soll dir heilig sein dem Herrn. Wer ein solches machen wird, daß er damit räuchere, der soll ausgerottet werden von seinem Volke.“
Infolge seiner überaus großen Wertschätzung und vollkommenen Unentbehrlichkeit bei den gottesdienstlichen Funktionen nicht nur bei den Ägyptern, sondern auch bei den Kulturvölkern Vorderasiens und am Mittelmeer war der Handel mit Weihrauch noch viel mehr als derjenige mit Myrrhe ein sehr wichtiger Faktor und brachte den Völkern, die sich mit seiner Erzeugung und seinem Transport abgaben, reichen Gewinn. Ja, man kann sagen, daß kaum ein anderes Pflanzenerzeugnis im Altertum einen derartigen Einfluß auf das Wirtschaftsleben und die ganze Kulturentwicklung der beteiligten Völker ausgeübt hat, wie die wohlriechenden Gummiharze Weihrauch und Myrrhe. Welchen Reichtum er den Völkern Glücklich-Arabiens brachte, haben wir bereits gesehen. Allerdings ist die Menge von Gold, die sie besaßen, im Lande selbst gewonnen worden. Dann aber brachte ihnen der Zwischenhandel mit den indischen und ostafrikanischen Waren reichen Gewinn. Wie uns griechische und römische Schriftsteller berichten, muß einst im südlichen Teil des Roten Meeres ein großer Verkehr von Handelsschiffen bestanden haben, die Waren aus Indien und Ostafrika holten. So sagt uns Arrians Bericht über die Umschiffung des Roten Meeres (Periplus maris erythraei) aus dem 2. Jahrhundert n. Chr., daß die Einwohner Glücklich-Arabiens aus Makrolus an der Küste Ostafrikas Weihrauch, Myrrhe, Kankamon (ein der Myrrhe ähnliches Gummiharz) und anderes Räucherwerk, von anderen Häfen derselben Küste aber Elfenbein, Hörner des Nashorns, Schildplatt und Sklaven bezogen, aus Indien aber erhielten sie Reis, Sesamöl, Zucker („sacchari“), Pfeffer, Baumwollgewebe, Seidenstoffe, Indigo, das ingwerartige Gewürz und Heilmittel Costus, Zimtkassia, Narde und Nardensalbe, das wohlriechende, ebenfalls zu Räucherungen dienende Gummiharz Bdellium, Onyx und andere Edelsteine, murrhinische Gefäße und Stahlwaren.
Von Südarabien aus wurden diese Produkte auf dem Landwege[S. 219] weiter expediert. Die Hauptkarawanenstraße dafür, die berühmte Weihrauchstraße des Altertums, führte zunächst nach Syrien, wo sie sich teilte, um einerseits nordostwärts nach Babylonien und südwestwärts nach Ägypten abzuzweigen. Sie verödete erst als zu Beginn der römischen Kaiserherrschaft die unternehmenden ägyptischen Kaufleute regelmäßig mit ihren Schiffen in den südarabischen Häfen erschienen und die verschiedenen stark begehrten Handelsartikel an Ort und Stelle kauften. Die Folge davon war, daß die am Karawanenhandel beteiligten Stämme, ihres früheren reichen Verdienstes beraubt, teilweise nach Nordarabien auswanderten und sich dort fruchtbarere neue Niederlassungen erkämpften, oder als Söldner in die Dienste der Parther und Römer traten. Diese semitischen Stämme aus Südarabien werden im Alten Testament als Ismaeliten bezeichnet, d. h. als Nachkommen Ismaels, des Sohnes Abrahams und seiner Nebenfrau Hagar, die später von ihrem Manne samt dem Sohne verstoßen und in die Wüste geschickt wurde. Es sei beispielsweise nur an den Bericht in 1. Mose 37, 25 erinnert, in welchem die Söhne Jakobs hinter dem Rücken des Vaters ihren jüngsten Bruder Joseph an eine nach Ägypten ziehende Karawane verkauften: „Und sahen einen Haufen Ismaeliten kommen aus Gilead (dem Ostjordanland) mit ihren Kamelen, die trugen Würze, Balsam und Myrrhe und zogen hinab nach Ägypten.“
Dieser Handelsverkehr der Sabäer und Minäer, wie die Angehörigen des älteren Reiches von Machīn von den griechisch-römischen Schriftstellern bezeichnet werden, reicht in sehr hohes Altertum zurück. So bezogen schon die Ägypter der ältesten Dynastien Weihrauch, Myrrhe und die übrigen für ihre Gottesdienste gebrauchten Räucherharze von ihnen. Außerdem aber haben je und je mächtige Herrscher des Pharaonenlandes eigene Expeditionen zu Schiff nach Südarabien ausgesandt, um diese kostbaren und wichtigen Produkte in größeren Mengen zu holen. Das Land, das diese heiligen Gummiharze hervorbrachte, hieß bei den alten Ägyptern taneter, d. h. Gottesland. Es galt ihnen als die Heimat ihrer Götter, die nach allgemeinem Glauben einst dort wohnten und von dort her nach dem Niltal gelangt sein sollten. Die in den Inschriften gebräuchliche geographische Bezeichnung für dieses Land ist Punt (eigentlich Pun, da das t am Schlusse nur der weibliche Artikel ist; da aber dieser Name einmal eingeführt ist, so behalten wir ihn bei). Es umfaßte außer Südarabien die gegenüberliegende Küste von Afrika und wurde schon sehr früh von den Ägyptern selbst aufgesucht. Schon vor dem Jahre 3000 v. Chr., zur[S. 220] Zeit der Könige der 1. und 2. Dynastie, die sich als Grabstätten Pyramiden aus an der Sonne getrockneten Lehmziegeln errichteten, sandten die machtvollen Herrscher des Niltals, die in Memphis in Unterägypten residierten, ihre Schiffe, wie nach Syrien, um als wertvolles Bauholz für das holzarme Land Zedernstämme von den Abhängen des Libanon und andere Güter zu holen, so nach dem Lande Punt, um die wohlriechenden Harze, die man zum Räuchern und zu den im Leben des Orientalen so wichtigen Salben und Schminken brauchte, auf direktem Wege zu beschaffen. Genauere Nachrichten über solche Expeditionen erhalten wir durch die Denkmäler erst aus der Zeit des Königs Sahurê der 5. Dynastie, der von 2743 bis 2731 v. Chr. herrschte, und die sich bereits unter König Snofru (2930–2906) zu entwickeln beginnende älteste ägyptische Seemacht mächtig förderte. Wir erfahren von ihm, daß er eigene Schiffe nach Punt sandte, die 80000 Maß Weihrauch (anti), 6000 Gewichte Elektron (eine Legierung aus Gold und Silber) und 2600 Stäbe einer kostbaren Holzart, vielleicht Ebenholz, nach der Hauptstadt Memphis brachten. Kürzlich entdeckte Reliefs aus seinem Pyramidentempel schildern die Heimkehr dieser Flotte und diejenige einer anderen, die[S. 221] aus Phönikien mit semitischen Gefangenen und einheimischen Matrosen anlangte. Es ist dies die älteste Darstellung seetüchtiger Fahrzeuge und syrischer Semiten, die wir besitzen.
Während der 6. Dynastie (2625–2475 v. Chr.) waren die Gaufürsten von Elephantine die Erforscher der südlich und östlich von Ägypten gelegenen Länder und führen in ihren Grabinschriften den Titel „Karawanenführer, der seinem Herrn die Erzeugnisse der Fremdländer überbringt“. Einer derselben, namens Harchuf, brachte dem König Phiops II. einen Zwerg aus dem Lande Punt mit, wofür er von jenem einen Anerkennungsbrief erhielt, auf den er so stolz war, daß er ihn auf der Vorderseite seines Grabes bei Assuan einmeißeln ließ als ein Zeichen der großen Gunst, die er beim Könige genoß. Von einer größeren Expedition nach dem Lande Punt erfahren wir erst wieder während der 18. Dynastie. Veranlaßt wurde sie von der energischen Tochter und Erbin Thutmosis I., Hatschepsut, die mit ihrem Halbbruder Thutmosis II. verheiratet war und nach dessen Tode von 1516–1481 v. Chr. selbständig regierte. Um die oberste der drei Terrassen ihres Grabtempels in Der el Bahri westlich von Theben mit den Bäumen, die den Weihrauch, das heilige anti, hervorbrachten, zu schmücken, entsandte sie eine Expedition nach dem Gotteslande Punt, deren Einzelheiten sie in Inschriften und äußerst lebendigen szenischen Darstellungen an den Wänden eben jener Tempelhalle schildern ließ. Im neunten Jahre ihrer Regierung lief die aus fünf großen Seeschiffen bestehende Flotte durch einen Kanal im östlichen Delta ins Rote Meer aus und fuhr südwärts nach dem Lande Punt. Dort angekommen, wurde der ägyptische Admiral vom Fürsten Parihu, seiner Frau Ati, zwei Söhnen und einer Tochter aufs freundlichste aufgenommen. Nach dem Austausch der üblichen Geschenke und der Aufstellung der mitgebrachten Statuen der Königin und der beiden Hauptgötter Ägyptens, Amon und Ra, wurden die gewünschten Produkte des Landes Punt gegen die von zu Hause mitgebrachten Waren getauscht. Eine Darstellung mit der erklärenden Inschrift „Belasten der Transportschiffe“ zeigt uns das Einladen der Waren mit allen Details. Wir sehen darauf, wie ägyptische Matrosen bemüht sind, drei in Kübeln gepflanzte, blattlos gezeichnete, starkstämmige, knorrige Bäume, die ausdrücklich als anti, d. h. Weihrauchbäume, bezeichnet werden,[2] die[S. 222] Landungsbrücke hinauf auf das Verdeck des Schiffes zu tragen, wo bereits fünf andere solche Weihrauchbäume zwischen den aufgestapelten Schätzen sichtbar sind.
Die sechszeilige, hieroglyphische Inschrift erklärt den Vorgang in folgender Weise: „Das Belasten der Transportschiffe mit einer großen Menge von herrlichen Produkten Arabiens, mit allen kostbaren Hölzern des heiligen Landes, mit Haufen von Weihrauchharz, mit grünenden Weihrauchbäumen, mit Ebenholz, mit reinem Elfenbein, mit Gold und Silber aus dem Lande Amu, mit dem wohlriechenden Tesepholze, mit Kassiarinde (Zimtkassia), mit Ahamweihrauch (vom Balsambaum), mit Mestemschminke, mit Anāuaffen (Cynocephalus hamadryas), Kophaffen (Cynocephalus babuinus) und Tesemtieren, mit Fellen von Leoparden des Südens, mit Frauen und ihren Kindern. Niemals ist gemacht worden ein Transport gleich diesem von irgend einer Königin seit Erschaffung des Weltalls.“
Wie werden die Einwohner Thebens gestaunt haben, als diese seltsamen Dinge alle vom ägyptischen Befehlshaber „Ihrer Majestät“ überbracht wurden! Die Weihrauchbäume aber ließ sie, 31 an der Zahl, auf der obersten Terrasse ihres schönen Totentempels dem Gotte Amon zu Ehren aufstellen und rühmt sich in der Inschrift: „Ich habe ihm ein Punt gemacht in seinem Garten, wie er mir befohlen hatte..., es ist groß genug für ihn, um sich darin zu ergehen.“ Neuerdings hat man hinter diesem ihrem Totentempel, in welchem ihr und ihrem Vater der übliche Totendienst abgehalten wurde, ihr und nicht weit davon ihres Vaters Grab gefunden.
Die Beziehungen zum Lande Punt blieben auch unter ihren Nachfolgern
der 18. und 19. Dynastie erhalten und öfter melden uns die Inschriften
an den Tempelwänden von Expeditionen dahin. So lieferte der Handel
mit Punt Thutmosis III., der 54 Jahre, und zwar wie astronomisch
bestimmt wurde, vom 3. Mai 1501 bis zum 17. März 1447 v. Chr. regierte,
regelmäßige und reiche Einkünfte. Auch Haremheb, der von 1350–1315
über Ägypten herrschende Begründer der 19. Dynastie, entsandte nach
einer urkundlichen Inschrift an den Wänden seiner Grabkammer eine
erfolgreiche Expedition nach Punt. Dies wiederholten seine großen
Nachfolger, vor allen Sethos I. (1313–1292)[S. 223]
[S. 224] und Ramses II. (1292–1225
v. Chr.). Besonders unter letzterem muß ein reger Schiffsverkehr nicht
nur im östlichen Mittelmeer, sondern auch durch den Süßwasserkanal
der Landenge von Suez nach den Küsten des Roten Meeres stattgefunden
haben. Aber nicht nur jene machtvollen Könige, sondern auch die reichen
Priesterschaften der großen Tempel des Amon, Ra und Ptah besonders
in der Reichshauptstadt Theben besaßen ihre eigenen Flotten auf dem
Mittelmeer und im Roten Meere, welche, wie die Inschriften melden,
„die Erzeugnisse von Phönikien, Syrien und Punt in die Schatzkammern
des Gottes lieferten“. Es muß also damals die Schiffahrt in Ägypten in
größerem Maßstab als je zuvor betrieben worden sein.
Später hat dann der dritte König von Israel, Salomo (993–953), unter dem die jüdische Königsmacht ihren höchsten äußeren Glanz erreichte, wohl in Nachahmung der ägyptischen Herrscher, ebenfalls eine Handelsexpedition nach Punt und darüber hinaus nach dem Goldlande Ophir, das wir neuesten Feststellungen zufolge in Rhodesia zu suchen haben, entsandt. Die von ihm in Ezeon-Geber im Lande der Edomiter am Ufer des Schilfmeeres erbauten Schiffe bemannte er mit der Schiffahrt kundigen Knechten des phönikischen Königs Hiram von Tyrus, seines Bundesgenossen. Jene Expedition brachte dem Salomo 420 Zentner Gold, und da sie sich so überaus rentabel erwies, ließ er sie mehrfach wiederholen. So heißt es in 1. Könige 26–28, wo ausführlich darüber berichtet wird: „Die Schiffe Salomos aber kamen in dreien Jahren einmal und brachten Gold, Silber, Elfenbein, Affen und Pfauen“ — letztere von indischen Kaufleuten eingetauscht. Auch die Königin von Saba „aus dem Lande Reich-Arabien“ — wahrscheinlich die Königin Bilkis der sabatäischen Inschriften — kam, wie in 1. Könige 10, 2 zu lesen ist, „gen Jerusalem mit sehr viel Volk mit Kamelen, die Spezerei trugen und viel Goldes und Edelgestein“. Es sind dies dieselben Dinge, die bis dahin die Minäer aus dem Lande Punt nach Ägypten und Syrien verhandelt hatten. Später ließ dann auch der ägyptische König Nekau der 26. Dynastie — der Pharao Necho der Bibel (612–596 v. Chr.) —, dessen Schiffe im Mittelmeere und im Roten Meere fuhren, und der den Kanal von Bubastis nach Suez wollte erneuern lassen, von ihm dienstbaren phönikischen Schiffsleuten ganz Afrika umfahren. Jedenfalls sind jene damals auch in das Innere, nach Rhodesia, gelangt, wo man in den Ruinen von Simbabwe allerlei phönikische und ägyptische Altertümer fand. Das war die letzte Umseglung Afrikas, von der wir wissen, vor derjenigen[S. 225] Vasco da Gamas im Jahre 1497; denn die um 460 v. Chr. unternommene Afrikafahrt des karthagisch-punischen Admirals Hanno die Westküste Afrikas entlang, wobei er die ersten Gorillas zu Gesicht bekam, endete vor der Umschiffung des Kaps der Guten Hoffnung.
Was den Schiffsverkehr der Ägypter nach Südarabien, dem Lande des Weihrauchs, anbetrifft, so war er wieder besonders lebhaft zur Ptolemäerzeit. Aber auch damals tat er den Handelsbeziehungen der Sabäer zum Norden keinen bedeutenden Eintrag. Nach wie vor blieben diese letzteren, wie uns eine Inschrift aus der Ptolemäerzeit beweist, die Weihrauchlieferanten aller großen Tempel Ägyptens. Der Reichtum der Sabäer war immer noch weltberühmt und ihre Unbezwingbarkeit bewährte sich selbst gegenüber dem Feldherrn des römischen Kaisers Augustus, der nach anfänglichen Erfolgen von dem uneinnehmbaren Marib abziehen mußte. Noch heute zeugen die gewaltigen Ruinen, die 20 Stockwerke hohe Burg Gomdān in Sanaa, der Tempel von Marib, dessen 9,5 m hohe Mauern ellipsenförmig um eine natürliche Bodenerhöhung verlaufen und die große Talsperre von Marib, deren Bersten die Araber mit dem Untergange der Sabäermacht in Zusammenhang brachten, von der einstigen hohen Kultur jenes Reiches, das außer durch seine eigenen Produkte, vor allem Weihrauch und Myrrhe, durch seine Lage auf dem Wege von Indien nach Ägypten und den Ländern am Mittelmeer zum Handelsstaate prädestiniert war. Sein Machtbereich erstreckte sich bis nach Gaza am Mittelländischen Meere und überall dem Handelswege entlang besaß es befestigte Niederlassungen als Ablagen für den Handelsverkehr und Stützpunkte seiner Macht. Aus spätsabäischer Zeit sind Gold-, Silber- und Kupfermünzen der Herrscher, die zugleich oberste Priester ihres Volkes waren, auf uns gekommen. Sie bekunden eine starke Abhängigkeit von griechischen, später von römischen Vorbildern und zeigen uns die Könige zuerst in altarabischer Haartracht mit frei herabhängendem, langem Haar, später in geringelten, langen Strähnen und zuletzt im kurzen Haar der römischen Imperatoren.
Wie bei den Ägyptern war auch bei den Vorderasiaten, namentlich den Babyloniern, der Weihrauch ein bei den Gottesdiensten zu Räucherungen viel gebrauchter Handelsartikel. Herodot berichtet uns im 5. Jahrhundert v. Chr., daß die Araber alljährlich dem Perserkönige Dareios (um 500 v. Chr.) einen Tribut von tausend Talenten (= 26200 kg) Weihrauch abliefern mußten. Derselbe Autor sagt, daß die Weihrauchbäume in Arabien von vielen kleinen, geflügelten Schlangen[S. 226] bewacht werden. Wollen nun die Leute den Weihrauch holen, so müssen sie erst Styrax (griech. stýrax, der aus Stamm und Ästen des in Syrien und Arabien wachsenden Styraxbaumes, Styrax officinalis, gewonnene, zähflüssige, graubraune, aromatisch riechende Balsam) anbrennen, um die gefährlichen Tiere durch den Dampf zu vertreiben.
Welche Rolle dieses Räuchermittel auch bei den Juden spielte, ist uns aus dem Alten Testament genugsam bekannt. Den Propheten des Alten Bundes ist das um seiner kostbaren, wohlriechenden Harze wegen viel beneidete Glücklich-Arabien, das Land der Sabäer, der Inbegriff des Reichtums. So begreifen wir, daß Jesaias, der seit 740 v. Chr. in Jerusalem wirkte, da er seinem Volke alle Herrlichkeiten der Erde versprach, wenn es Jahve die Treue halte und ihm allein diene, ihm (in Kap. 60, Vers 6) verhieß: „Dann wird die Macht der Heiden zu dir kommen und die Menge der Kamele wird dich bedecken; sie werden aus Saba alle kommen und Gold und Weihrauch bringen und des Herrn Lob verkündigen.“ Und im Neuen Testament hat die sinnige, die Geburt des Heilandes mit den verschiedensten außergewöhnlichen Begebenheiten ausschmückende Sage als Beweis der besonderen Verehrung des Jesuskindleins die uns allen von Jugend auf bekannte Geschichte von den Weisen (eigentlich Magiern) aus dem Morgenlande erdichtet, die dem Sterne nach Bethlehem folgten, um das Kind anzubeten. Und das Kostbarste, was jene Zeit sich erdenken konnte, brachten sie dem Kindlein dar; so heißt es Matthäus 2, 16: „und sie taten ihre Schätze auf und schenkten ihm Gold, Weihrauch und Myrrhen“.
Von den seefahrenden Phönikiern lernten die Griechen den Weihrauch und seine gottesdienstliche und profane Verwendung als Räuchermittel namentlich bei Begräbnissen und als Arzneimittel kennen. Das beweist schon die Übernahme der semitischen Bezeichnung desselben lebonah, d. h. weiß, in die griechische Sprache als líbanos, woraus dann später die Römer, als sie diese Droge von den süditalischen Griechen kennen lernten, olibanum machten. Später benutzten die Griechen auch die aus dem griechischen thýein opfern gebildete Bezeichnung thýos, woraus das lateinische thus für Weihrauch wurde. Auch den Griechen war, wie den Ägyptern und Vorderasiaten, der Weihrauch so sehr der Inbegriff alles Herrlichen, daß der Dichter Pindar (522–442 v. Chr.), der erhabenste Lyriker seines Volkes, in einer herrlichen Ode die Seelen der Abgeschiedenen auf den Gefilden der Seligen unter Weihrauchbäumen wandeln läßt, während sie noch bei Homer,[S. 227] der diese Droge überhaupt noch nicht gekannt zu haben scheint, in der Unterwelt auf Asphodeloswiesen (Asphodelus ramosus, einer in den Mittelmeerländern in Menge wachsenden Lilienart mit weißen Blütentrauben, deren scharfe Wurzelknollen als Arznei und ihres Reichtums an Stärkemehl wegen auch als Nahrung gegessen wurden, so auch, wie Porphyrius uns erzählt, vom Philosophen Pythagoras, der sie sehr liebte) wandelten und sich hier vornehmlich mit Spiel und Jagd die Zeit vertrieben. Der griechische Arzt Dioskurides (im 1. Jahrhundert n. Chr.) sagt in seiner Arzneimittellehre: „Der Weihrauch (líbanos) wächst in demjenigen Teile Arabiens, den man als das weihrauchtragende bezeichnet. Der beste ist der sogenannte männliche, auch stagoniás genannt, von Natur in walzigen Stücken. Er ist weiß, inwendig fettig und brennt, an die Flamme gebracht, schnell. Man wendet den Weihrauch und den aus verbranntem Weihrauch gewonnenen Ruß als Arznei an.“ In derselben Weise wurden übrigens auch nach demselben Autor die Myrrhe und der Myrrhenruß benutzt.
Der griechische Geschichtschreiber und Geograph Arrianus (ums Jahr 110 n. Chr. in Nikomedien geboren und unter Marcus Aurelius gestorben), der einzige Schriftsteller des Altertums, der eine genaue Kenntnis der arabischen Küste besaß, schreibt in seinem Buche über die Umschiffung des Roten Meeres: „An der Südküste Arabiens liegt der Handelsplatz Kane in der weihrauchtragenden Gegend. Landeinwärts von Kane liegt die Hauptstadt des Landes, Sabbatha, in der der König wohnt. Nach Kane wird der Weihrauch, der im Lande gewonnen wird, wie in ein gemeinschaftliches Magazin gebracht, was teils auf Kamelen, teils auf Fellbooten, teils auf eigentlichen Schiffen geschieht. Von Kane aus wird der Weihrauch weiter verhandelt. — Das Weihrauchland erstreckt sich von Kane weiter ostwärts an der Küste hin bis zum Vorgebirge Syagros und der sachalitischen Handelsstadt Moscha, ist bergig, sehr schwer zugänglich, hat eine dicke, neblige Luft. Die Weihrauchbäume sind nicht groß. Der Weihrauch quillt in Tropfen hervor und erstarrt an der Rinde, wie bei uns in Ägypten das Gummi (kómmi). Er wird von den Sklaven des Königs und verurteilten Verbrechern gesammelt. Die Gegend ist ungeheuer ungesund, selbst für Leute, die nur vorbeischiffen. Die Weihrauchsammler sind demnach einem sicheren Tode geweiht; dieser wird oft noch durch Nahrungsmangel beschleunigt. Auch auf dem Vorgebirge Syagros ist eine Burg mit einem Weihrauchmagazin und einem Hafen. — Östlich[S. 228] vom Vorgebirge Syagros liegt an der Südküste Arabiens im sachalitischen Gebiete die Hafenstadt Moscha, wohin der sachalitische Weihrauch gebracht wird, welcher von königlichen Beamten verhandelt wird. Der Weihrauch liegt hier auf einem großen Haufen, der gar nicht bewacht wird, indem die Götter selbst den Ort schützen. Denn nimmt ein Schiffer ohne Erlaubnis der königlichen Beamten auch nur ein Körnchen heimlich oder offen, so ist das Schiff, durch Göttermacht gebannt, nicht imstande, den Hafen zu verlassen.“
Arrian berichtet auch in seinem Buche über Indien, daß die Leute Alexanders (des Großen) an der Mündung des Euphrat das Dorf Diridotis fanden, wohin Kaufleute Weihrauch und anderes Räucherwerk aus Arabien brachten, und Plinius sagt in seiner Naturgeschichte: „Weihrauch und Myrrhe (thus et myrrha) sind Erzeugnisse Arabiens, doch wächst die Myrrhe auch im Lande der Troglodyten, der Weihrauch aber sonst nirgends, und nicht einmal in ganz Arabien, sondern nur in der Landschaft Saba, wo in einer gebirgigen Gegend die Weihrauchwälder stehen. Der Weihrauch wird von Saba aus auf einer schmalen Straße, welche durch das Land der Minäer geht, verführt. — Den Baum selbst kennen wir nicht, obgleich die römischen Waffen tief nach Arabien hinein vorgedrungen sind. Die griechischen Beschreibungen weichen sehr voneinander ab. — Als Alexander (der Große) noch ein Kind war und große Massen Weihrauch auf die Altäre warf, hatte ihm sein Erzieher Leonides gesagt, er möge erst dann soviel davon vertun, wenn er die Weihrauchländer erobert habe. Wie nun Alexander später Arabien erobert hatte, schickte er dem Leonides eine ganze Schiffsladung Weihrauch, damit er tüchtig räuchern könne. — In Rom kostet jetzt das Pfund des besten Weihrauchs 6 Denare (= 3 Mark), das der zweiten Sorte 5 Denare (= 2,50 Mark) und das der dritten Sorte 3 Denare (= 1,50 Mark). Jährlich wird jetzt eine ungeheure Menge von Weihrauch bei Leichenbegängnissen verbrannt, während man in alten Zeiten den Göttern nur etwas Mehl und Salz opferte, und gleichwohl waren sie damals gnädiger als sie jetzt sind.“ Derselbe Autor berichtet weiterhin, daß Kaiser Nero beim Leichenbegängnis seiner zweiten Gemahlin, Poppaea Sabina, die er nach Verstoßung der achtbaren Oktavia durch schnöden Freundschaftsbruch in seinen Besitz gebracht hatte, aber, ihrer überdrüssig, sie im Jahre 65 durch Mißhandlung in hochschwangerem Zustande tötete, als Opfer für die Götter mehr Weihrauch verbrennen ließ, als nach der Berechnung Sachkundiger ganz Arabien in einem Jahre hervorzubringen vermöge.[S. 229] Allerdings waren die Eigenliebe und die Gefallsucht dieser Frau sehr groß. Obschon sie nicht mehr jung war, lebte sie nur der Pflege ihrer Körperschönheit, trug zur Erhaltung ihres zarten Teints eine Maske, die sie vor dem Sonnenbrande schützen sollte, und führte auf ihren Reisen und während des Sommeraufenthaltes stets 500 Eselinnen mit sich, um täglich in deren Milch baden und so, wie sie glaubte, die Weiße ihrer Haut erhalten zu können. Ferner berichtete Statius, daß, als der reiche Abascontius seine Gattin Priscilla bestatten ließ, im langen Leichenzuge, als zur Verbrennung bestimmt, alle Blumen, die Arabiens und Kilikiens Frühling erzeugt, auch die Blumen des Sabäerlandes, die Gewürze Indiens, Weihrauch und Balsam aus Palästina getragen wurden.
Außer als Räucherwerk spielte der Weihrauch bei den Griechen und Römern auch medizinisch eine wichtige Rolle. Schon die Hippokratiker bedienten sich seiner bei Asthma, Uterusleiden und äußerlich zu verschiedenen Salben. Diese Verwendung blieb das Mittelalter hindurch, wie auch die christliche Kirche von den antiken Kulten das Verbrennen von Weihrauch in besonderen Räuchergefäßen, die vielfach mit großer Kunst hergestellt wurden, übernahm und in den römisch- und griechisch-katholischen Abzweigungen bis auf den heutigen Tag beibehielt. Auch die katholisierende englische Hochkirche und die Sekte der Irvingianer bedient sich noch dieses uralten Rauchopfers bei ihren Gottesdiensten. Vom lateinischen incensum, d. h. das, was (bei den Gottesdiensten) verbrannt wird, hat der Weihrauch die Bezeichnung encens im Französischen und incense im Englischen. Auch hier bewahrheitet sich die immer wiederkehrende Tatsache, daß der Mensch in nichts so konservativ ist, als in Sachen der Religion.
Bedeutende Mengen von Weihrauch verbrauchen auch die Chinesen zu Opfern und bei Leichenbegängnissen. Sie erhielten ihn seit dem 10. Jahrhundert von den Arabern. Auch in Indien wird seit dem frühesten Altertum von einheimischen Commiphoraarten Weihrauch gewonnen und bei den Gottesdiensten als Brandopfer verbrannt. So wird er schon um 500 v. Chr. im Ayur veda Susrutas erwähnt. Dieser indische Weihrauch, der schon im Altertum neben dem arabischen und heute noch von den Muhammedanern mit Vorliebe verbraucht wird, stammt von Boswellia thurifera, einer vom Gangesgebiet bis zur Koromandelküste wachsenden, dem echten Weihrauchbaum sehr nahe verwandten Burserazee, die Colebrooke 1809 in Ostindien entdeckte. Diesen Baum haben wahrscheinlich schon die Griechen auf dem Alexander[S. 230]zuge im Pandschab kennen gelernt. Jedenfalls wurde auch dieser Weihrauch später neben dem arabischen verwendet. Dioskurides bezeichnet ihn als syagrium; er sei bräunlich und werde mit der Zeit gelblich. Er werde absichtlich zu walzigen Stücken geformt. Außer ihm gebe es noch eine geringe dunkler gefärbte und eine geringe weiße Sorte. Verfälscht werde dieser wie auch der arabische Weihrauch mit Pinienharz und Gummi; doch sei der Betrug leicht zu merken, weil der Gummi nicht brennt, das Pinienharz sich in Rauch verwandelt, der Weihrauch aber klar brennt. Auch der Geruch gebe ein sicheres Merkmal, um den Unterschied festzustellen.
In derselben Weise diente auch das dunkelbraune bis grünliche Gummiharz der im nordwestlichen Indien und in Belutschistan einheimischen Commiphora roxburghi und das mehr gelbrote ostafrikanische von Commiphora africana. Beide wurden besonders zu Rauchopfern wie auch arzneilich viel verwendet und kamen als Bdellium in den Handel. Dieses Bdelliumharz wurde schon von den alten Ägyptern für sich allein oder mit Myrrhen, Weihrauch und Mastix (dem Harz von Pistacia lentiscus) in Form einer Kyphimischung zum Rauchopfer oder zur Herstellung von Arzneien verwendet. Auch die Juden, die es hebräisch bdolah nannten, benutzten es wie Myrrhe, ebenso die Griechen, die dieses Harz wie die übrigen Weihrauchharze durch Vermittlung der Phönikier kennen lernten. Durch die Griechen wurden dann die Römer damit bekannt gemacht. Plinius erwähnt es, und sein Zeitgenosse, der griechische Arzt Dioskurides, sagt von ihm: „Das bdéllion tröpfelt aus einem arabischen Baume. Das beste ist bitter, durchscheinend, wie Leim anzusehen, fett, in der Mitte leicht erweichend, ohne Beimischung von Holzteilen und andern Verunreinigungen. Auf glühende Kohlen gestreut gibt es einen angenehmen Geruch. Eine zweite Sorte ist schmutzig und schwarz, bildet größere Klumpen und kommt aus Indien. Es kommt auch eine Sorte von Petra (der alten Hauptstadt der Nabatäer in Nordwestarabien bei der Sinaihalbinsel); sie ist trocken, harzig, bläulich und ist von zweiter Güte. Man verfälscht das Bdellium mit (arabischem) Gummi; dann ist es aber nicht mehr so bitter und riecht beim Räuchern nicht so angenehm. Es wird innerlich und äußerlich angewendet.“ Außer Arrian, dessen Bericht über seine Umschiffung des Roten Meeres wir vorhin erwähnten, nennt es auch Vegetius als ein Produkt des fernen Morgenlandes.
Wie von Weihrauch und Myrrhe hat man in einigen altägyptischen Gräbern auch Überreste von Mekka- oder Gileadbalsam ge[S. 231]funden, die alle den Toten als Opfergabe mitgegeben wurden. Sein Erzeuger ist der arabische Balsambaum (Commiphora opobalsamum), ein 5–6 m hoher Baum mit papierdünner, ledergelber Rinde und rutenförmigen Ästen, die nur nach den Winterregen belaubt sind. Wie sein naher Verwandter, der echte Weihrauchbaum, ist er im Somalland in Nordostafrika und im südlichen Arabien heimisch und wurde schon im Altertum nicht nur in Arabien, sondern auch in Syrien zur Gewinnung eines höchst wohlriechenden flüssigen Gummiharzes angepflanzt. Dieses ist der Balsam der alten Schriftsteller, der zwar auch zu gottesdienstlichen Räucherungen, besonders aber heute noch als hochgeschätzte Arznei Verwendung findet. Die beste, von selbst ausfließende oder durch Ritzen des Stammes und der Äste gewonnene Sorte ist dünnflüssig, blaßgelb, riecht dem Zitronenöl ähnlich und kommt nicht in den Handel, da sie von den vornehmen Orientalen ausschließlich für sich als Heilmittel und zu feinen Parfüms und Salben verwendet wird. Eher ist der weniger wohlriechende, gelbrötliche, trübe, dickflüssige Balsam im Orient zu kaufen, der dort seit dem Altertum zu rituellen Zwecken und als Arznei sehr begehrt ist.
Schon die alten Ägypter bedienten sich häufig seiner und nannten ihn aham. Auch die Juden benutzten es gern zu gottesdienstlichen und profanen Zwecken als Arzneimittel und zur Herstellung wohlriechender Salben. Ebenso kannten ihn die Schriftsteller des Altertums sehr wohl als Handelsartikel Arabiens. Der griechische Geograph Strabon (um 25 n. Chr. gestorben) schreibt, der Balsam (bálsamon) werde an der Küste des Sabäerlandes gewonnen, während ihn der römische Geschichtschreiber Tacitus (54–117 n. Chr.) nur in Judäa von mäßig großen Bäumen gewinnen läßt. Auch Theophrast und Plinius sagen, er gehe nur aus letzterem Lande hervor. Ersterer schreibt in seiner griechischen Pflanzengeschichte: „Der Balsam wird im syrischen Tieflande gewonnen, aber, wie man sagt, nur aus zwei großen Gärten. Der Baum soll die Größe eines Granatbaums und sehr viele Äste haben. Das Blatt soll ähnlich der Raute, nur mehr weiß und dabei immergrün sein. Die Frucht soll an Größe, Gestalt und Farbe derjenigen der Terebinthe gleichen. Ihr Geruch soll ganz herrlich und lieblicher sein als der Geruch der ausfließenden Tropfen. Um letztere zu gewinnen, soll man zur Zeit der größten Hitze mit eisernen Nägeln den Baumstamm und die Äste ritzen. Dann wird der Balsam bis zum Winter gesammelt. Der Ertrag ist aber gering; denn ein Mann sammelt den Tag über nur eine Muschel voll. Der Geruch ist ganz[S. 232] ausgezeichnet und so stark, daß wenig Balsam für einen großen Raum genügt. Übrigens wird kein reiner Balsam, sondern nur mit fremdartigen Zusätzen gemischter in den Handel gebracht. Auch die Zweige riechen sehr gut und werden teuer bezahlt, weswegen man den Baum oft beschneidet. Wilder Balsam soll nirgends vorkommen. Aus dem größeren Balsamgarten soll man 36 Pfund, aus dem kleineren 6 Pfund gewinnen.“ Und 350 Jahre später schrieb Plinius in seiner Naturgeschichte: „Allen andern Wohlgerüchen wird der Balsam (balsamum) vorgezogen, welchen nur Judäa erzeugt. Dort fand er sich nur in zwei königlichen Gärten. Die zwei Vespasiane (Vespasian und sein Sohn Titus, die den mit der Zerstörung Jerusalems und der Vernichtung des jüdischen Volkes als Nation im Jahre 70 n. Chr. endigenden Krieg in Judäa führten) haben dieses Bäumchen auch der Stadt Rom gezeigt. Das Land, in welchem es wächst, gehört jetzt uns; es ist aber ganz anders beschaffen, als es römische und ausländische Schriftsteller beschrieben haben. Als die Römer Judäa eroberten, wollten die Juden den Balsambaum ausrotten; allein die Römer verteidigten ihn, und so entstand ein Kampf um einen Strauch. Jetzt wird er auf Staatskosten angepflanzt und ist zahlreicher und höher als je. Seine Höhe erreicht nicht ganz zwei Ellen. Man unterscheidet drei Sorten dieses Strauches. Der frisch aus gemachten Ritzen fließende Saft heißt Saftbalsam (opobalsamum) und sein Geruch ist ungemein lieblich. Die zarten Tröpfchen werden in Hörner gesammelt und dann in neue irdene Gefäße gegossen. Der Balsam gleicht anfangs einem dicken Öl und ist farblos, später wird er rötlich und hart. Jeder Strauch wird jetzt im Sommer dreimal geritzt und später abgeschnitten. Auch die Teile des abgeschnittenen Strauches kommen in den Handel und haben nach der Eroberung Judäas in weniger als fünf Jahren einen Ertrag von 80 Millionen Sestertien (etwa 12 Millionen Mark) gegeben. Der Balsam, den man aus den abgeschnittenen Stücken des Strauches kocht, heißt Holzbalsam (xylobalsamum) und wird unter Salben gekocht. — Die Verfälschung des reinen Balsams wird recht grob und großartig betrieben, so daß ein Gefäß reinen Saftes, welches vom kaiserlichen Schatzamte für 300 Denare (etwa 15 Mark) gekauft wird, dann durch Verfälschung vermehrt für 1000 Denare (50 Mark) verkauft wird.“ Der römische Geschichtschreiber Älius Lampridius meldet uns vom schwelgerischen Heliogabalus, der im Jahre 218 17jährig durch die Bemühungen seiner ehrgeizigen Großmutter Julia Maesa, der Schwägerin des Kaisers Septimius Se[S. 233]verus, von den Legionen in Syrien zum Kaiser ausgerufen wurde und bis zu seiner Ermordung durch die Prätorianer im Jahre 222 regierte, als Ausdruck höchster Verschwendung, er habe sogar den kostbaren Balsam in Lampen gebrannt.
Im Mittelalter betrieben die Araber die Kultur des arabischen Balsambaums. Noch der Venezianer Prosper Alpino, der 1617 64jährig als Professor der Botanik in Padua starb, sah, als er Ägypten um 1590 besuchte, im Sultansgarten von Matarie, wenige Kilometer nordöstlich von Kairo, den echten Balsambaum angepflanzt. Er berichtet uns darüber in einem 1592 veröffentlichten eigenen Dialog. Seither wurde er erst wieder im letzten Jahrhundert von Europäern gesehen. Einst besaß dieser Balsam, den wir neben Myrrhe und Würze aller Art als Ladung der von Gilead im Ostjordanland nach Ägypten ziehenden Karawane der Ismaeliter erwähnt finden, an die Jakobs Söhne ihren später zu so hoher Stellung in Ägypten gelangten Bruder Joseph verkauften, eine große Bedeutung als Handelsartikel auch des Abendlandes. War er doch ursprünglich das heilige Salböl der christlichen Kirche, das zum sogenannten Chrisma — deshalb bei uns auch Chrisam genannt — benutzt wurde, wie ihn die morgenländischen Kulte bereits in gleicher Weise verwendeten. Erst als das den Balsam erzeugende Land Arabien und Syrien in die Hände der Muhammedaner fiel und dieser Handelsartikel infolge der gespannten Beziehungen mit den Christen immer seltener wurde und schließlich fast gar nicht mehr zu haben war, ist dann nach Entdeckung der Neuen Welt durch eine päpstliche Bulle im 16. Jahrhundert der aus dem nördlichen Südamerika bezogene Perubalsam zum heiligen Salböl befördert worden, als welches es seither ausschließlich dient. Übrigens werden auch die nach Verletzung der Rinde ausgeschwitzten Gummiharze einiger anderer amerikanischer Balsambäume als des Perubalsambaums, so besonders dasjenige des in Westindien und dem nördlichen Südamerika heimischen westindischen Elemibaumes (Commiphora plumieri — so genannt nach dem 1646 zu Marseille geborenen Franziskaner Charles Plumier, den Ludwig XIV. dreimal nach Amerika schickte, um besonders von Guiana aus Heilpflanzen nach Frankreich zu bringen; er starb, als er eine vierte Reise antreten wollte, im Hafen von Sta. Maria bei Cadix), auch aus der Familie der Burserazeen oder Balsambäume wie die Erzeuger der vorhin genannten wohlriechenden Gummiharze. Dessen ausgeschwitzter Balsamharz wird als westindisches Elemi bezeichnet, im Gegensatz zum viel länger bekannten ost[S. 234]indischen Elemi, das in Indien ebenfalls seit Urzeiten zu gottesdienstlichen Räucherungen, als Arzneimittel und zur Herstellung von wohlriechenden Salben dient. Ein dem westindischen Elemi sehr ähnliches wohlriechendes Gummiharz liefert auch der im nördlichen Südamerika heimische brasilische Elemibaum (Commiphora ambrosiaca), dessen nach Verletzungen aus der Rinde ausfließender Balsam, an der Luft erhärtet und in großen, unförmlichen, zusammengebackenen, blaßgelblichen Klumpen in den Handel gelangt. Es riecht eigentümlich aromatisch und dient außer zu Räucherungen auch zur Herstellung von Salben und Pflastern. In gleicher Weise wird das Caranna- oder Mararaharz von der am Orinoko wachsenden Amyris caranna, das die Eingeborenen Guianas von alters her bei Quetschungen und Wunden gebrauchen, und das von dem ebenfalls in Guiana wachsenden Baume Amyris heptaphylla gewonnene Conimaharz verwendet. Letzteres stellt eine Art Kopal dar und wird auch als solches zur Herstellung von Firnissen und Lacken benutzt.
Auch verschiedene solche wohlriechende Gummiharze bergende Hölzer werden zu gottesdienstlichen und medizinischen Räucherungen benutzt, so das Holz des orientalischen Balsambaums (Commiphora opobalsamum) und das ebenfalls balsamisch riechende Gafaholz von Commiphora erythraea auf den Dahlakinseln an der Küste der italienischen Kolonie Erythräa am Südufer des Roten Meeres. Letzteres wird besonders in der muhammedanischen Welt zu Räucherungen in den Moscheen und zum Beräuchern der Wassergeschirre benutzt.
Als Surrogat der teuren orientalischen Myrrhe diente den Griechen, wie wir von Dioskurides erfahren, zu Räucherungen und als Heilmittel die kleingeschnittene Wurzel der Pferdesellerie (hipposélinon), einer besonders in Böotien wildwachsend gefundenen Pflanze (Smyrnium olusatrum), die getrocknet als böotische Myrrhe in den Handel gelangte. Am brauchbarsten sei sie, meint jener Arzt, wenn sie den angenehmen Geruch der echten Myrrhe habe.
Ein wertvolleres Räuchermittel, das auch zur Herstellung von Arzneien eine ziemliche Bedeutung besaß, war den Griechen wie den vorderasiatischen Völkern, von denen sie seine Verwendung kennen lernten, der Styrax, ein wohlriechendes Gummiharz, das bereits in den hieroglyphischen Texten als minaki erwähnt wird. Bei den regen Handelsverbindungen mit Syrien und Babylonien kann es uns nicht wundern, daß dieses wohlriechende Balsamharz aus Syrien, wo es im Altertum in ziemlicher Menge gewonnen wurde, schon frühe nach dem[S. 235] Niltal gelangte, um so mehr die Ägypter einen so ungemein großen Bedarf an solchen Räuchermitteln und wohlriechenden Drogen zur Herstellung von gottesdienstlichen Räucherungen und Salben und Arzneien hatten. Durch die Phönikier wurde dieses Gummiharz nach Griechenland gebracht, was nach Herodots Aussage noch zu seiner Zeit, im 5. vorchristlichen Jahrhundert, der Fall war. Die Hippokratiker bedienten sich seiner vielfach als Heilmittel, besonders bei den Frauen zur Beförderung der Menstruation. Der um 25 n. Chr. verstorbene griechische Geograph Strabon aus Amasia am Südrande des Schwarzen Meeres gibt als Vaterland des dieses Balsamharz liefernden Baumes Arabien und das Taurusgebirge in Nordsyrien an. Er sagt darüber: „Hoch auf dem Rücken des Taurusgebirges, bei der Stadt Selge, wächst der Styraxbaum (stýrax) in großer Menge. Von ihm kommen die Styraxlanzenschäfte, welche denen von der Kornelkirsche ähnlich sind. In den Stämmen dieser Bäume wohnt eine Art Holzwürmer. Diese bohren sich Gänge durch die Rinde und aus ihnen fällt dann das Wurmmehl, das sich unten um den Stamm sammelt. Danach tropft auch eine Flüssigkeit heraus, welche wie Gummi leicht zusammenbackt. Sie vermischt sich am Boden mit dem Wurmmehl und mit Erde; ein Teil aber bleibt am Stamme kleben und ist rein. Auch der am Boden liegende unreine Styrax wird gesammelt; er riecht besser als der reine, ist aber in anderer Hinsicht schwächer wirkend. Er wird besonders zum Räuchern gebraucht.“
Um die Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr. sagt der aus Kilikien stammende griechische Arzt Dioskurides von ihm: „Der Styrax (stýrax) tröpfelt aus einem Baume, der dem Quittenbaum ähnlich ist. Für den besten gilt der gelbe, fette, harzige, der weißliche Klümpchen enthält, recht lange wohlriechend bleibt und beim Erweichen eine honigartige Flüssigkeit ausschwitzt. So ist der syrische aus Gabale, ferner der aus Pisidien und Kilikien beschaffen. Der dunkelfarbige, zerreibliche, kleienartige taugt nichts. Selten ist der durchsichtige, gummi- und myrrhenartige Styrax. Man verfälscht den Styrax mit dem aus dem Baume kommenden Wurmmehl, dem man Honig, pulverisierte Schwertlilienwurzel und sonst allerlei beimischt. Es gibt auch Leute, welche Wachs und Talg mit Gewürzen und Styrax an der heißen Sonne kneten, dann durch ein weites Sieb in kaltes Wasser treiben, wodurch wurmartige Stücke entstehen, die als Wurmstyrax verkauft werden und bei Unerfahrenen für echten Styrax gelten. — Der Styrax hilft gegen mancherlei Übel, man verbrennt ihn auch so, daß man viel[S. 236] Ruß gewinnt, den man ebenfalls braucht (namentlich für schwarze Tinte zum Schreiben). Von Syrien wird auch die Styraxsalbe in den Handel gebracht.“ Ähnlich drückt sich sein Zeitgenosse Plinius aus. Er sagt nämlich: „Syrien erzeugt in der oberhalb Phönikiens gelegenen Gegend den Styrax (styrax); auch wird der von Pisidien, Sidon, Cypern und Kilikien gerühmt, nicht aber der von Kreta. Der beste ist der braunrote, fettigzähe aus dem syrischen Amanus. Verfälscht wird der Styrax mit Zedernharz und Gummi, auch mit Honig und bittern Mandeln. Vom besten kostet das Pfund 17 Denare (etwa 10 Mark). Der Styrax wird innerlich und äußerlich gebraucht.“ Dieses Styrax ist das der Benzoe verwandte balsamisch riechende Gummiharz des Styraxbaumes (Styrax officinale), eines 4–7 m hohen, strauch- bis baumartigen Gewächses mit kurzgestielten, eiförmigen, unterseits weißfilzigen Blättern, endständigen Trauben wohlriechender Blüten und filzigen, grünen Steinfrüchten. Er wächst in Südeuropa, Kleinasien, Syrien, Cypern und Kreta.
An die Stelle dieses festen Styrax, der den alten Kulturvölkern allein bekannt war, ist seit dem 17. Jahrhundert der flüssige Styrax getreten, der aus dem unter der Rinde liegenden Splint des in Lykien und Karien wachsenden Amberbaums (Liquidambar orientalis) durch Kochen mit Wasser und Abpressen gewonnen wird. Das wiederum getrocknete Holz dient mit gepreßter Borke in der griechischen Kirche als Christholz neben Weihrauch zu rituellen Räucherungen und kam früher als Weihrauchrinde in den Handel.
Außer dem Holz des Amberbaums wurden im Altertum wie heute noch im Orient, besonders aber bei den verschiedenen südasiatischen Völkern, andere wohlriechende Hölzer zu Kultzwecken, beim Gottesdienst und bei feierlichen Opfern verbrannt. Unter ihnen sind das Sandelholz und das Aloeholz weitaus die wichtigsten. Ersteres ist das höchst aromatisch, rosenartig riechende, gelbe Kernholz oder Holz von älteren Stämmen des an der Malabarküste heimischen, aber in ganz Vorder- und Hinterindien, besonders auf den Sundainseln, angepflanzten Sandelbaumes (Santalum album — weiß genannt, weil das geruchlose Splintholz weiß ist). Die Hindus, Malaien und Chinesen benutzen das wohlriechende Holz zu mancherlei kostbaren Gerätschaften und zu Götzenbildern. Die Buddhisten schnitzen sich mit Vorliebe Rosenkränze daraus und die Chinesen bedienen sich des Holzes zugleich mit Weihrauch als Räuchermittel in den Tempeln und bei Leichenbegängnissen. Auch die wohlhabenden Inder und Araber räuchern in[S. 237] ihren Häusern mit demselben und lassen sich daraus Pfeifenrohre schneiden. Letzteres dagegen, das als Aloe gerühmte Räucherwerk des Alten Testaments, ist ein dunkelbraunes, sehr hartes und sprödes Holz, das von Aquilaria agallocha, einem Baume Hinterindiens stammt. Es enthält nur wenig wohlriechendes Harz; man schneidet daher die harzfreien Teile weg oder gräbt die Stämme in die Erde, wobei dann das ganze Holz gleichmäßig damit durchtränkt wird. Die Kulturvölker des Altertums schätzten es hoch und bezahlten es sehr teuer. Der um die Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr. lebende griechische Arzt Dioskurides nennt es in seiner Arzneimittellehre agállochon und sagt, es sei ein punktiertes, wohlriechendes Holz, das aus Indien und Arabien gebracht werde und zum Kauen diene, um dem Munde Wohlgeruch zu verleihen, auch zum Räuchern statt Weihrauch, und außerdem in manchen Fällen als Arznei benutzt werde. Nach dem Untergange des Römerreiches wurde es nur noch im üppigen Byzanz verwendet und kam erst wieder, als das Abendland zur Zeit der Kreuzzüge mit dem Morgenlande in Beziehungen trat, durch die Araber nach Europa. Es galt im Mittelalter als besonders heilkräftig, während es jetzt noch in Ostasien in der Parfümerie und zu Heilzwecken Verwendung findet. In seiner Heimat Hinterindien wird es regelmäßig in den Tempeln verbrannt. Napoleon I. benutzte es in seinen Palästen mit Vorliebe zu Räucherungen als Parfüm.
Endlich sind noch zwei nicht in den europäischen Handel gelangende Produkte zu nennen, die bei den ostasiatischen Kulturvölkern eine große Rolle spielen. Erstens der Sumatra- oder Borneokampfer, ein dem gewöhnlichen Laurineenkampfer ähnliches, zugleich aber etwas nach Patschuli riechendes festes ätherisches Öl von weißer Farbe und kristallinischem Aussehen, das in den Stämmen des hohen, auf Sumatra und Borneo wachsenden Kampferbaums oft in großen, mehrere Pfund schweren Stücken ausgeschieden wird, sonst das ganze Kernholz zur Konservierung und zum Schutze vor Insektenfraß und Pilzinvasion durchtränkt. Bevor der echte oder Laurineenkampfer aufkam, war er wie heute noch in China und Japan der allein als Räuchermittel bei gottesdienstlichen und andern feierlichen Handlungen verwendete, der dort auch zum Einbalsamieren der Leichen Vornehmer dient. Er ist sehr teuer und kam zu Beginn des Mittelalters als wertvolle Arznei und kostbares Räuchermittel nach Syrien, wo ihn der griechische Arzt Aetios aus Amida im 6. Jahrhundert als kaphura zuerst erwähnt. Ins Abendland kam er durch die Vermittlung der sich seiner häufig[S. 238] bedienenden arabischen Ärzte und wird um 1070 in Italien vom jüdischen Arzt Simon Seth und um 1150 von der gelehrten Hildegard, Äbtissin des Klosters Rupertsberg bei Bingen, erwähnt. Erst zu Beginn des 17. Jahrhunderts wurde er durch den weit billigeren ostasiatischen Laurineenkampfer ersetzt. Zweitens der in Cochinchina, Java und Amboina aus der Komposite Blumea balsamifera gewonnene Blumea- oder Ngaikampfer, der seiner Kostbarkeit wegen in seiner Heimat und in China nicht mehr zu Räucherungen, wohl aber als Arzneimittel und in letzterem Lande auch zum Parfümieren der feinen Schreibtusche verwendet wird.
[2] Wenn neuerdings der nordamerikanische Forscher Breasted in seiner eben deutsch im Verlag von Carl Curtius in Berlin W erschienenen, sonst sehr lesenswerten „Geschichte Ägyptens“ an dieser und an allen anderen Stellen das Wort anti mit Myrrhe, statt wie sämtliche übrigen Forscher mit Weihrauch übersetzt, so ist er darin vollkommen im Irrtum, wie mir der beste Kenner der Materie, Prof. G. Schweinfurth in Berlin-Schöneberg, auf eine persönliche Anfrage hin eingehend zu begründen die Freundlichkeit hatte.
Die Hervorbringung von Duftstoffen ist eine ungemein verbreitete Erscheinung in der Pflanzenwelt. Von den niederen Pilzen bis hinauf zu den höchsten Blütenpflanzen wird dieser Weg mit Vorliebe eingeschlagen, um die verschiedenen Insekten zur Verschleppung der Sporen oder zur Befruchtung der Blüten durch Übertragung des Blütenstaubs herbeizulocken. Auch bei den Tieren steht die Ausbildung von Duftstoffen in engster Beziehung zur Fortpflanzung, und zwar wenden sie hier die Männchen zur Anlockung und geschlechtlichen Erregung der Weibchen an. Man denke außer vielen anderen nur an den Duftstoff der Schmetterlinge, des Bibers, des Moschustieres und der Zibetkatze, welch beide letzteren dem Menschen die stärksten überhaupt existierenden Parfüme lieferten. Daß Wohlgerüche auch auf den Menschen anregend und belebend wirken, ist eine längst festgestellte Tatsache, die neuerdings auch durch wissenschaftliche Versuche belegt wurde. So konnte man beispielsweise feststellen, daß ein Mann, der unter gewöhnlichen Bedingungen am Ergographen 1 kg mit dem Daumen hochzuheben vermochte, unter dem Banne des Geruches von Tuberosen 1 kg und 100 g hochhob. In ähnlicher Weise die Psyche anregend und dadurch die Muskelkraft und die körperliche Leistungsfähigkeit überhaupt steigernd wirken andere Wohlgerüche. Vor allem wird aber die geistige Tätigkeit, besonders die Phantasie durch gewisse Düfte angeregt, die bei den verschiedenen Menschen ganz verschieden bevorzugt werden. So liebte der große Dichter Friedrich Schiller beim Geruche faulender Äpfel, die er sich stets in der Schublade seines Schreibtisches hielt, Viktor Hugo dagegen bei demjenigen der wilden Winde zu dichten. Starke Düfte wie Moschus regen auf, und unangenehme Gerüche können empfindsame Menschen geradezu krank machen. So wurde der große Albrecht von Haller durch den Geruch von Käse, der Herzog[S. 240] von Epérnay durch denjenigen des Hasen geradezu ohnmächtig; Knoblauchgeruch entkräftete Heinrich III. von Frankreich, spornte dagegen Heinrich IV. zu den tollsten Streichen an.
In besonders nahen Beziehungen stehen Wohlgerüche zur Mystik und zum Geschlechtsleben. Im vorigen Abschnitt haben wir gesehen, wie das Verbrennen wohlriechender Harze und solche enthaltender Hölzer schon sehr früh in den Gottesdienst der orientalischen Kulturvölker eingeführt wurde, um durch die Geruchsorgane die Sinne zur leichteren suggestiven Aufnahme übersinnlicher Eindrücke in das für solche Dinge empfängliche Gemüt vorzubereiten und es so in Ekstase zu versetzen. Von den morgenländischen Religionen ging dieser Gebrauch auf die abendländischen über und spielt heute noch eine bedeutende Rolle im Kulte. Vom Verbrennen solch wohlriechender Drogen wie Weihrauch, Myrrhen und bei den alten Europäern namentlich von Holz und getrockneten Beeren des Wacholders, rührt auch der in den deutschen Sprachgebrauch übergegangene französische Ausdruck Parfüm her, der aus dem Lateinischen per fumum abzuleiten ist, was „durch den Rauch“, d. h. durch die Verbrennung gewisser Substanzen erzeugter Wohlgeruch bedeutet.
Alles deutet darauf hin, daß sich das Weib zuerst der Wohlgerüche als sexuellen Reizmittels bediente und erst weit später dieselben zur Verdeckung eigener übler Gerüche verwendete. Es ist durchaus kein Zufall, daß bei allen Verführungsszenen im Alten Testament Parfüms erwähnt werden. So weit wir in der Geschichte zurückzugehen vermögen, finden wir wohlriechende Salben und Öle im Inventar vornehmer Frauen und Hetären, und zwar war schon im alten Reiche in Ägypten die Verwendung der Wohlgerüche so spezialisiert, daß für alle Körperteile besondere Parfüms zur Anwendung gelangten. Von den Orientalen, die bis auf den heutigen Tag große Liebhaber von Wohlgerüchen sind, so daß sie sogar das Konfekt nach unserm Empfinden übermäßig parfümieren, übernahmen die Griechen und Römer diese Vorliebe für Wohlgerüche. Als die Makedonier im Gefolge Alexanders des Großen nach der Niederlage des Dareios bei Gaugamela am 1. Oktober 331 v. Chr. die luxuriösen Zelte des persischen Großkönigs Dareios plünderten, waren sie nicht nur über die mancherlei darin befindlichen Kostbarkeiten, sondern vor allem auch über den unermeßlichen Reichtum an wohlriechenden Salben und köstlichen Gewürzen erstaunt. Doch bald lernten sie an diesen Produkten einer verfeinerten Kultur selbst große Freude haben, und so war bald auch in den reichen[S. 241] Griechenstädten der Luxus an Parfümen ein gewaltiger, so daß sich schließlich die Gesetzgeber genötigt sahen, dagegen einzuschreiten. Das von den Alten wegen der in dieser Stadt herrschenden Vorliebe für diese wohlriechende Blume als „veilchenduftend“ bezeichnete Athen trieb in den drei letzten vorchristlichen Jahrhunderten die Parfümverschwendung so weit, daß für die verschiedenen Teile des Körpers besondere Salben im Gebrauch waren. Dort rieben die üppigen Frauen die Haare mit einem Parfüm aus Majoran ein, Kinn und Nacken dagegen mit einem solchen aus Thymian und die Arme mit einem aus Minze. In dem verweichlichten Rom der Cäsaren wurde die Verschwendung mit Wohlgerüchen auf die Spitze getrieben. Damals war das unter dem Konsulat des Licinius Crassus aufgebrachte Gesetz, das in Italien den Verkauf ausländischer Parfümerien verbot, schon längst als unhaltbar aufgegeben, und von weither bezog man die kostbarsten Essenzen, den Veilchenduft von Athen, Rosenöl aus Kyrene, Nardensalbe aus Assyrien, Hennablütenextrakt aus Ägypten usw. Die Verwendung der Parfüms stand ganz im Dienste der Liebesgöttin Venus, und der Handel mit den Wohlgerüchen wurde meist von Kurtisanen, Kupplerinnen und Bordellwirten ausgeübt.
Man macht sich keinen rechten Begriff von den Unsummen, die damals in Rom für Wohlgerüche und kostbare Salben ausgegeben wurden. Zahllos sind die von den alten griechischen und römischen Schriftstellern genannten Drogen, die zur Bereitung der täglich nach dem Bade zur Geschmeidigmachung des Körpers angewandten Salben verwendet wurden. Die hauptsächlichsten sind das Rosen-, Lilien-, Veilchen-, Narzissen-, Myrten-, Majoran-, Thymian-, Minzen-, Basilikum-, Iris-, Narden-, Kalmus-, Kardamom-, Balsamholz-, Zimt-, Kassia-, Malabathron- (von der ostasiatischen Kassienart Cinnamomum dulce), Safran-, Weihrauch-, Myrrhen- und Galbanumöl.
In seiner Naturgeschichte berichtet uns der beim Vesuvausbruch, der Pompeji und Herkulanum verschüttete, 79 n. Chr. umgekommene ältere Plinius, daß wohl die Perser die Erfinder der Salben seien; „denn diese schmieren sich bis zum Triefen damit ein. Das erste Salbenkästchen hat, so viel mir bekannt, Alexander nach der Besiegung des Darius unter den Sachen vorgefunden, die dieser König mit sich führte. Später hat sich der Gebrauch der Salben auch bei uns verbreitet. Man schätzt sie hoch, man glaubt, sie gehören zu den Annehmlichkeiten des Lebens, ja man geht so weit, daß man die Leute noch einsalbt, wenn sie tot sind.“
Die Namen der Salben sind teils von ihrem Ursprung, teils von ihren Bestandteilen, teils aus anderer Veranlassung hergenommen. Bald hat man der einen, bald der andern den Preis zuerkannt, bald hat man die einzelnen Salben am liebsten aus dem einen, bald aus dem andern Lande bezogen. Sie bestehen aus einem mit einem Riechstoff imprägnierten Öl und sind vorzugsweise mit Drachenblut (dem blutroten Harz des Drachenblutbaumes von Sokotra, der bekannten Insel Ostafrikas) oder Färberochsenzunge gefärbt. Dabei bewirkt eine Beimengung von Harz oder Gummi, daß sich der Riechstoff nicht so schnell verflüchtigt. Verfälscht werden die Salben auf vielerlei Art.
Es gibt Leute, welche die Salben lieber dickflüssig als dünnflüssig haben, die sich also mit ihnen lieber beschmieren als begießen lassen. Marcus Otho hat sogar den Kaiser Nero dahin gebracht, daß er sich die Fußsohlen salben ließ, was doch wohl barer Unsinn ist. Man hörte auch von einem einfachen Bürger, der die Wände seiner Bäder salben ließ. Der Kaiser Cajus (Caligula) ließ die Badesessel salben, und später machte sich auch ein Sklave des Nero dieses kaiserliche Vergnügen. Die Liebhaberei für Salben hat sich sogar in die römischen Feldlager eingeschlichen, und an festlichen Tagen werden die Adler der Legionen und andere bestäubte, von Lanzenspitzen umstarrte Feldzeichen gesalbt.
Wann der Gebrauch der Salben sich unter den Römern verbreitet habe, wage ich nicht zu sagen. Jedenfalls ist es aber gewiß, daß im Jahre der Stadt 565 (188 v. Chr.), nach Besiegung des Antiochus (im Jahre 190) und Asiens, die Zensoren Publius Licinius Crassus und Lucius Julius Cäsar das Gesetz gaben, daß niemand ausländische Salben verkaufen dürfe. „Jetzt aber ist es längst so weit gekommen, daß gar manche sie sogar in die Getränke tun und sich so auch inwendig parfümieren. Es ist auch eine Tatsache, daß Lucius Plotius, Bruder des Konsuls und Zensors Lucius Plancus, als er von den Triumvirn geächtet war und sich im Salermitanischen verborgen hielt, durch seinen Salbengeruch verraten wurde. Wird ein solcher Mensch totgeschlagen, so erleidet die Welt eben keinen großen Verlust.“ Plinius kann sich also mit diesem übermäßigen Parfümgebrauch, der durch griechischen Einfluß aufkam, nicht recht befreunden. Anderthalb Jahrhunderte später weiß uns der in Naukratis in Ägypten geborene und im luxuriösen Alexandreia lebende Grieche Athenaios manch interessanten Zug von der Salbenmanie der üppigen Griechen jener reichen Handelsstadt zu erzählen. So sagt er, daß es bei den Reichen Sitte[S. 243] sei, nach der Mahlzeit Salben in goldenen Gefäßen herumzugeben und man sich den Spaß mache, einem schlafenden Gaste das Gesicht tüchtig damit einzuschmieren.
Um zu zeigen wie sich ein echter griechischer Stutzer salbt, führt dieser sehr belesene Grammatiker Athenaios eine Stelle aus der Alkestis des Dichters Antiphanes an, wo es heißt: „Wenn er sich gebadet, läßt er sich aus einem goldenen Becken Hände und Füße mit ägyptischer Salbe einreiben, mit phönikischer Salbe dagegen Wangen und Brust, mit Minzensalbe die Arme, mit Majoransalbe die Augenbrauen und das Haupthaar, mit Thymiansalbe Knie und Hals.“ Dann führt er eine Stelle aus dem Gedichte Prokris an, wo vorgeschrieben wird, wie dem Schoßhund der Prokris abgewartet werden soll. A.: „Mach dem Hündchen ein weiches Lager aus milesischer Wolle zurecht und lege eine hübsche Purpurdecke darüber.“ — B.: „Du lieber Gott!“ — A.: „Koch ihm Weizengraupen mit Gänsemilch (wohl mit Honig gemischte Milch, worin Lebern eingeweicht sind)!“ — B.: „Potz tausend!“ — A.: „Salbe ihm die Füße mit megallischer Salbe!“ —
Derselbe Autor berichtet: „König Antiochos Epiphanes (A. IV., syrischer König aus dem Stamm der Seleukiden, regierte 175–163 v. Chr., reizte durch grausame Tyrannei die Juden zum Aufstand unter den Makkabäern und machte einen erfolglosen Angriff auf Ägypten) pflegte sich in öffentlichen Bädern unter der Menge des badenden Volkes mit zu baden und ließ jedesmal ganze, mit den kostbarsten Salben gefüllte Fäßchen mitbringen. Bei dieser Gelegenheit sagte einmal jemand zu ihm: ‚Ihr Könige seid doch recht glücklich, daß ihr so herrliche Salben führt und einen so angenehmen Wohlgeruch verbreitet!’ Der König gab keine Antwort, kam aber am anderen Tage wieder, brachte ein gewaltiges Gefäß mit, das mit der kostbaren Myrrhensalbe, welche stáktē heißt, gefüllt war, und ließ es über dem Kopfe dessen, der ihn glücklich gepriesen hatte, ausgießen. Sobald dies geschehen war, sprangen alle, die sich im Badehause befanden, scharenweise auf, rannten herbei, um auch etwas von der Salbe zu erwischen und sich damit einzuschmieren. Auch der König rannte in derselben Art herbei, und wie nun der Boden schlüpfrig war und einer über den andern herfiel, so gab es ein laut schallendes Gelächter.“ Späterhin schreibt er: „Bei einem großen, feierlichen Aufzuge, den derselbe König bei Gelegenheit der Daphnischen Spiele abhielt, befanden sich auch 300 Weiber, welche aus goldenen Urnen Salben umherspritzten.“
Auch bei öffentlichen Schaustellungen liebte man im üppigen Rom der Kaiserzeit, das Publikum mit Wohlgerüchen zu bespritzen; so schreibt der römische Philosoph und Tragödiendichter Lucius Annaeus Seneca (2–65 n. Chr.), besser als Erzieher und Leiter des jugendlichen Nero bekannt, in einer seiner Episteln: „Heutzutage hat man sogar die Erfindung gemacht, in verborgenen Röhren Wasser, das mit Safran gemischt ist, bis zu einer ungeheuren Höhe emporzupumpen, um die Leute im Theater damit zu bespritzen und zu parfümieren. Man hat die Kunst erfunden, das Theater plötzlich mit Wasser zu füllen und es so in einen Teich zu verwandeln, und wieder trocken zu legen; ebenso hat man die Kunst erfunden, bei Schmausereien dem Speisesaal bei jedem Gericht eine neue Decke zu geben.“
Von Kaiser Hadrian, der von 117–138 regierte, schreibt der Geschichtschreiber Älius Spartianus: „Kaiser Hadrian teilte zu Ehren seiner Schwiegermutter Gewürze (aroma) unter das Volk aus und ließ zu Ehren (seines Vorgängers) Trajan über die Stufen des Theaters (wohlriechenden Mekka-) Balsam und (zur Parfümierung in Wein gelösten) Safran fließen.“ Zu dessen Zeit wurden auch die Statuen in den Theatern mit duftenden Essenzen aller Art, besonders auch dem sehr beliebten Safran gesalbt, von welchem nach dem griechischen Arzte Dioskurides Thessalos behauptete, er sei das einzige wirklich gut riechende Ding. Es gab damals auch hohle Bildsäulen aus Erz, die mit feinen Poren bedeckt waren, aus welchen man wohlriechende Essenzen herauszupressen vermochte, so daß die Luft ringsum mit Wohlgerüchen erfüllt war. Auch bei Gastmählern der Vornehmen war die Einrichtung getroffen, daß aus den Kuchen und dem Obst bei der geringsten Berührung wohlriechende Parfüms, mit Vorliebe in Wein gelöster Safran herausflossen. Und von Kaiser Heliogabalus (eigentlich Valerius Avitus Bassianus, wurde als Oberpriester des syrischen Gottes Elogabalus, dessen Namen er selbst annahm, auf Anstiften seiner Großmutter Julia Mäsa, der Schwägerin des Kaisers Septimius Severus, 218 17jährig von den syrischen Legionen zum Kaiser ausgerufen, zog 219 in Rom ein, wohin er den orgiastischen Dienst seines Gottes verpflanzte und ein schwelgerisches, wollüstiges Leben führte, bis er schon 222 von der Leibgarde, den Prätorianern, ermordet wurde) berichtet sein Biograph Älius Lampridius: „Kaiser Heliogabalus ließ die Polster, auf denen er mit seinen Gästen bei Tische lag, oder die Betten, auf denen er ruhte, mit Rosenblättern füllen, ließ die Säulenhallen mit Rosenblättern bestreuen und ging auf diesen spa[S. 245]zieren, oder er gebrauchte statt der Rosen allerlei Blumen wie Lilien, Veilchen, Hyazinthen und Narzissen. Er badete nur in Teichen, deren Wasser mit edlen Essenzen oder mit Safran gemischt war. Die Polster, auf denen er gewöhnlich bei der Mahlzeit lag, waren mit Hasenhaar oder Rebhuhnfedern ausgestopft. — Einst lud Heliogabalus die vornehmsten Herren zu Gast und wies ihnen als Sitz Sofas an, die mit Safran gepolstert waren.“ Auch andere antike Schriftsteller melden allerlei von solchem, erst durch orientalische Einflüsse in das Rom der Cäsaren gekommenen extravaganten Luxus.
Nach dem Untergange der römischen Weltherrschaft beschränkte sich die Anwendung der feineren Parfümerien wesentlich auf das an Kultur höher stehende Morgenland und die Vornehmen von Byzanz, während das die Weltflucht predigende Christentum des Abendlandes solchem Luxus nicht gewogen war. Unter den Arabern, die, wie alle Orientalen, Wohlgerüche sehr lieben, wurde mit den Parfümen besonders von Rosen ein großer Luxus wenigstens unter den Vornehmen, die sich solches leisten konnten, getrieben. Und diese Liebhaberei verbreiteten sie überall in Nordafrika, Spanien und Sizilien, wo sie Fuß faßten. Hier war im Gegensatz zum asketischen Christentum überall eine Stätte frohen Lebensgenusses. Wie in Bagdad so wurden auch in Andalusien Blumengärten angelegt und heitere Feste gefeiert. Zur Zeit der Abbaditenherrschaft hatte Sevilla beispielsweise 400000 Einwohner und war ganz Andalusien durch die Fülle seiner reichbewässerten Kulturen ein Paradies, von dessen Herrlichkeiten sich als letzte Zeugen die auf Mandelbäume gepfropften Rosen erhielten. Als Beispiel des hier im Fürstenhause herrschenden Luxus sei erwähnt, daß, als einmal der Lieblingsgattin des als Dichter hervorragend begabten Abbaditenfürsten Muchtamid die Lust ankam, es den Weibern aus dem Volke nachzumachen, die sie mit bloßen Füßen Lehm treten sah, dieser duftende Spezereien zerreiben und auf den Boden des Saales ausstreuen ließ, so daß sie ihn ganz bedeckten. Alsdann ward Rosenwasser darauf gegossen, und mit Vergnügen wateten die vornehmen Damen in der schlammartigen Masse von Myrrhen, Weihrauch, Zimt, Ambra und Moschus. Erst durch den Einfluß der Kreuzzüge und der arabischen Ärzte kam auch im Abendlande die Anwendung von Wohlgerüchen bei den Wohlhabenden auf und drang während der Renaissance in breitere Volksschichten zunächst in den reichen Städten Italiens, später auch Mitteleuropas ein. Aus ihrer Heimat Florenz verpflanzte Katharina von Medici 1533 bei ihrer Vermählung mit Franz I. Sohn,[S. 246] dem nachmaligen König Heinrich II., den übermäßigen Gebrauch von Parfümen an den französischen Hof, der dann unter Ludwig XIV. und XV. die Verwendung von Wohlgerüchen beinahe so weit trieb, als es die Vornehmen im kaiserlichen Rom getan hatten. Wie der Kaiser Nero seine Gemächer stets mit Rosenessenzen parfümiert haben wollte, liebte Ludwig XIV. in einer stark nach Orangenblüten duftenden Atmosphäre zu leben. Der allmächtige Minister Richelieu, der seit 1624 unter Ludwig XIII. die Geschicke Frankreichs leitete, verließ nur selten sein scharfparfümiertes Arbeitszimmer. Zu seiner Zeit war der Geruch faulender Äpfel sehr beliebt und man rieb deren zersetztes, mit Gewürznelken und Zimt gespicktes Fleisch mit Fett zusammen, um sich mit der so erhaltenen Masse die Haare zu parfümieren. Es ist dies die Pomade, die von den faulen Äpfeln pommes ihren Namen erhielt und deshalb eigentlich wie im Französischen Pommade geschrieben werden sollte. So üppig auch der französische Hof war, so war er in bezug auf Reinlichkeit kein Muster, und hier wurden die Parfüme zum großen Teil zum Verdecken der eigenen üblen Gerüche verwendet. Im Gegensatz zur Badfreundlichkeit des Mittelalters war jene Zeit sehr wasserscheu; bis zum König hinauf mied man als Nachwirkung der mittelalterlichen Askese nach Möglichkeit selbst das tägliche Waschen von Gesicht und Händen mit Wasser, befeuchtete vielmehr nur diese Körperteile bei der Toilette mit Parfümen, und war daneben äußerst sparsam mit dem Wechseln der Leibwäsche, die viele Wochen anbehalten wurde, bis man sich endlich zum Wechseln derselben entschloß. Besonders unter dem liederlichen Ludwig XV. wurde die Verschwendung in der Anwendung von Parfümen eine heillose, so daß dessen eine Mätresse, die Pompadour, jährlich dafür mehr als eine halbe Million Franken ausgab. Und zwar waren damals die stärksten Düfte die beliebtesten, so außer Peau d’Espagne besonders Moschus, Zibet, Ambra und sogar Asa foetida (Teufelsdreck). In den Räumen, in denen sich der König aufhielt, mußte jeden Tag mit den Parfümen gewechselt werden. Noch die Kaiserin Josephine überfüllte ihr Schlafzimmer mit Moschusduft, während der Kaiser Napoleon I. sich mit Kölnischem Wasser überschwemmte.
Heute verwenden selbst die Vornehmen nicht mehr solch übertriebene Parfümierung, die nur ein Zeichen stumpfer Geruchsnerven und unfeiner Art ist. Am meisten Parfümluxus treiben noch die elegant sein wollenden Frauen, deren Geruchsorgan, wie durch eingehende wissenschaftliche Versuche festgestellt wurde, überhaupt weniger fein[S. 247] empfindet als dasjenige der Männer, so daß ihnen ein Parfüm noch angenehm ist, das letzteren vielfach schon unangenehm stark erscheint. Aber wenn auch heute bedeutend weniger ausgiebig wie früher parfümiert wird, so ist dennoch der Verbrauch an Parfümen sehr viel größer als je in der parfümwütigsten Vergangenheit, weil derselbe sich nicht mehr auf die höchsten Kreise, die sich diesen Luxus erlauben konnten, beschränkt, sondern sich auf alle Volkskreise gleichmäßig ausgedehnt hat, so daß die Herstellung derselben einen bedeutenden Industriezweig darstellt. Und zwar wird heute im Gegensatz zum Altertum nicht sowohl der Körper, als die getragene Leibwäsche und die Schränke und Behälter, in denen sie aufbewahrt wird, parfümiert, wobei jedes Individuum am besten sein eigenes, seiner Persönlichkeit entsprechendes Parfüm wählt und dann auch beibehält. Denn es ist entschieden als ein Fehler zu bezeichnen, daß man die Wohlgerüche alle Tage wechselt, wie es zwar auch manche Modeköniginnen tun, die immer das Parfüm gebrauchen, das nach ihrem Geschmack zur Farbe ihrer jeweiligen Toilette zu gehören scheint. Es ist ein Zeichen viel höherer Kultur und feinerer Sitte, wenn Damen unter allen Umständen den von ihnen als sympathisch empfundenen und deshalb gewählten Wohlgeruch immer, als unzertrennlich von ihrer Art und Person wählen, gleich der Rose, Lilie oder Nelke, die auch stets nur ihren spezifischen, ganz zu ihnen gehörenden und mit zur Kennzeichnung ihres Wesens dienenden Duft aufweisen. Am raffiniertesten wird der Parfümgebrauch in Frankreich getrieben, wo die eleganten Damen in die Säume ihrer Röcke und in die Achselseiten der Taillen schmale Streifen getrockneten Parfüms in Pulverform einnähen lassen, der bei jeder Bewegung des Rocksaumes und der Gestalt fein berauschend emporwirbelt. Dabei wird das Haar niemals parfümiert, da es bei jeder Person seinen eigenen Wohlgeruch hat, der sich nur bei der allergrößten, peinlichsten Reinlichkeit bei Anwendung vielfacher Waschung zeigt, und um so mehr hervortritt, je mehr das Haar gereinigt und gepflegt wird. So soll, um nur zwei Beispiele anzuführen, nach Ada von Gersdorff, das nun weiß werdende Blondhaar der deutschen Kaiserin Auguste Viktoria einen feinen, an Veilchenduft erinnernden Geruch aufweisen, während das einst dunkle, nun ebenfalls grau werdende Haar der Königinwitwe Margarita von Italien einen zarten Ambraduft aushauchen soll. Beide Fürstinnen parfümieren es niemals.
Europa verbraucht jährlich etwa 1 Million kg flüssiges Parfüm, 800000 kg Pomaden und Essenzen, außerdem aber ungeheure Mengen[S. 248] parfümierter Seifen, Puder, Räucherkerzen, Waschwässer usw. Die meisten Parfüms liefert Frankreich, das jährlich für über 12 Millionen Franken davon ins Ausland versendet, während Deutschland in demselben Zeitraum für gegen 2 Millionen Mark ein- und für 6½ Millionen Mark ausführt. Erst neuerdings ist auch England in den Wettbewerb mit jenen beiden Ländern getreten. In Frankreich ist die Südküste an der Riviera der Produktionsort der meisten Wohlgerüche, und zwar ist das Zentrum dieser Industrie das Städtchen Grasse, wenige Stunden westlich von Nizza, dann auch Cannes und Nizza selbst, wo gewaltige Kulturen wohlriechender Blumen angelegt sind, um dem Bedarfe der Parfümfabriken zu genügen. Diese verarbeiten jährlich ebenfalls über 1 Million kg der verschiedensten wohlriechenden Blumen und Kräuter und beschäftigen dabei etwa 15000 Menschen. Die Kunst der Parfümgewinnung aus Blumen ist hier erst in der Neuzeit aufgekommen. Und zwar sind die zur Parfümgewinnung verwandten Stoffe des Pflanzenreichs fast stets ätherische Öle, die aus den Blüten, Blättern, Fruchtschalen oder anderen Teilen der betreffenden Pflanze durch Auspressen, durch Destillation mit Wasserdampf oder durch Zusammenbringen mit Fetten, die sie aufnehmen, gewonnen werden. Die Destillation mit Wasserdampf wird da angewendet, wo der Duftstoff, wie z. B. in den Blüten der Rose, quantitativ ein für allemal ausgebildet ist. Dadurch würde man nun bei anderen Blüten, wie Jasmin, Tuberose und dergleichen, die während ihrer Blütezeit immer nur ganz geringe Mengen Parfüm auf einmal bilden, da sie durch den Wasserdampf getötet werden, bloß minimale Mengen des Duftstoffes gewinnen. Hier wendet man das Zusammenbringen mit einem das Parfüm gierig aufsaugenden Körper wie Fett an. Bei diesem Prozeß, den die Franzosen Enfleurage bezeichnen, kommen die betreffenden wohlriechenden Blüten auf hölzernen Gestellen zwischen zwei Fettschichten zu liegen, an die sie ihren Riechstoff abgeben, indem das Parfüm der vom Fett durch Gaze getrennten Blüten durch darüber geleitete Luft auf dieses Medium übertragen wird. Das Fett — früher reines Tierfett, jetzt bevorzugt man das geruchlose Vaselin — wird dann durch Extraktion mit Äther von dem eingedrungenen ätherischen Öl befreit oder kommt direkt als Pomade in den Handel. Auch nach der Extraktion ist meist noch so viel Duftstoff im Fett enthalten, daß dieser Rückstand als Haarpomade verkauft werden kann. Aus 1000 kg Jasminblüten lassen sich durch Destillation 200 g ätherisches Öl entziehen; bei der Enfleurage aber gewinnt man aus demselben Quantum etwa 1800 g ätherisches Öl und[S. 249] überdies noch die vorgenannte Menge bei der schließlichen Destillation. Dies macht also zusammen 2 kg Duftstoff.
Je mehr Farbe und Gerbstoff eine Blüte ausbildet, um so weniger Riechstoff entwickelt sie. Weiße Blüten bilden, besonders wenn sie auf die Befruchtung durch in der Dämmerung fliegende Falter angewiesen sind, sehr starke Wohlgerüche aus, dann kommen die mehr auf den Besuch von Taginsekten eingerichteten gelben und roten und erst zuletzt die blauen Blüten. Grüne Blüten sind stets geruchlos, während bräunliche und schmutzigrote, faulendem Fleisch ähnlich gefärbte, zur Anlockung der die Befruchtung bei ihnen vollziehenden Aasfliegen jenen angenehme, für uns aber unangenehme indoloide Düfte entwickeln. Eine Überfülle von Licht erhöht wohl die Menge des Parfüms, vermindert aber dessen Feinheit; deshalb sind viele im Norden gezogene Duftstoffe an Qualität viel feiner als im Süden gewonnene. So übertrifft deutsches Rosenöl an Feinheit das bulgarische, das übrigens auch mit weniger Sorgfalt gewonnen wird, und Südengland bringt das wohlriechendste Lavendel- und Pfefferminzöl hervor.
Die meisten Pflanzen verdanken ihren Geruch einem komplizierten Gemisch verschiedener Verbindungen, und gerade die charakteristischsten darunter finden sich oft in äußerst geringer Menge, so daß die naturgetreue künstliche Nachahmung derselben zu den schwierigsten Aufgaben der chemischen Technik gehört. Seltener ist ein einzelner Stoff der alleinige oder wesentliche Geruchsträger, wie das Iron der Iris- oder Schwertlilienwurzel, das identisch ist mit dem Jonon in der Veilchenblüte — deshalb wird erstere im Volksmund auch Veilchenwurzel genannt —, das Vanillin in der Vanilleschote, das Kumarin in der Tonkabohne, im Waldmeister und Ruchgras, das Eugenol im Nelkenöl, der Zimtaldehyd im Kassia- oder Zimtöl. Eine Analyse des Blumenduftes ist deshalb meist ausnehmend schwierig, weil selbst Stoffe, die quantitativ nur in Spuren vorhanden sind, oft die gewichtigsten Faktoren im Konzert der verschiedenen Geruchskomponenten bilden. So sind Hauptbestandteile des höchst aromatisch riechenden Nelkenöls die schon längst bekannten beiden Duftstoffe Eugenol und Karyophyllen. Mischt man nun auch diese beiden Körper im richtigen Verhältnis, wie sie in den Gewürznelken enthalten sind, so hat diese Komposition durchaus noch nicht den Geruch des Nelkenöls. Da wurde im Laboratorium der größten deutschen Parfümfabrik, von Schimmel & Co. in Miltitz bei Leipzig, die Beobachtung gemacht, daß das allererste Destillat des ätherischen Öls ganz geringe Mengen eines äußerst intensiv und[S. 250] ganz anders riechenden Körpers enthielt. Setzte man nur wenige Tropfen von diesem dem Eugenol-Karyophyllengemisch zu, so erzielte man dann erst den charakteristischen Geruch des natürlichen Nelkenöls. Eine solche Substanz ist z. B. der Anthranilsäuremethylester, der dem Orangenblütenöl seinen Duft verleiht; mit seiner Hilfe kann man eine ganze Reihe noch anderer feiner Blumendüfte synthetisch erzeugen. Allerdings sind das alles mehr oder weniger glückliche Nachahmungen des Naturprodukts. Zu einem künstlichen Aufbau eines natürlichen Parfüms gelangt man meist nur dann, wenn der Geruchsträger ein einheitlicher Stoff ist. Eine solche Synthese gelang beim Vanillin aus Eugenol und beim Veilchenduft Jonon (identisch mit dem Iron der Schwertlilienwurzel) aus Geraniol, dem mit dem Rhodinol der Rose identischen ätherischen Öl des Geraniums und wohlriechender Grasarten. Ein Surrogat dagegen ist der künstliche Moschus, zu dessen Herstellung ein Zufall geführt hat. Als Bauer nämlich das Butyltoluol (das Toluol wird durch Destillation des Steinkohlenteers gewonnen) mit Salpetersäure behandelte und dabei in jenes drei Nitrogruppen einführte — dieselben Gruppen, die beispielsweise aus dem Glyzerin den gefürchteten Sprengstoff Nitroglyzerin hervorgehen lassen — erhielt er eine Substanz, die dem natürlichen, fast unerschwinglich teuren, der sexuellen Anreizung des Weibchens dienenden Sekret des männlichen Moschustieres täuschend ähnlich duftet.
Die Duftstoffe gehören den verschiedensten Körperklassen an. Die ätherischen Öle sind Verbindungen von Kohlenwasserstoffen und enthalten teilweise auch sauerstoffhaltige Körper. Viele scheiden beim Erkalten einen Stearopten genannten festen Körper von anderer Zusammensetzung als das flüssig bleibende Eläopten aus. Teilweise sind die Duftstoffe Alkohole, wie das Geraniol (identisch mit Rhodinol), das riechende Prinzip des kostbaren Rosenöls, oder das aus dem billigen Terpentinöl gewonnene Terpineol, das dem Fliederparfüm seinen charakteristischen Duft verleiht. Der Benzylalkohol ersetzt zusammen mit Benzylacetat den Wohlgeruch des Jasmins, der Zimtalkohol duftet nach Hyazinthen, das Menthol — auch ein Alkohol — gibt der Pfefferminze ihr würziges, erfrischendes Aroma. Von Aldehyden ist das Citral der Träger des Zitronengeruchs, Anisaldehyd derjenige des blühenden Weißdorns; auch das Vanillin der Vanille und das Piperonal des Heliotrops sind Aldehyde. Das Nitrobenzol ist das synthetische Bittermandelöl. Künstlich gewinnt man auch das Neroliöl genannte Öl der Orangenblüten, einen wesentlichen Bestandteil des Kölnischen Wassers.[S. 251] Eine wichtige Gruppe bilden auch die Ester, Verbindungen aus organischen Säuren und Alkoholen, weil sie nicht nur Geruchs-, sondern auch Geschmacksträger sind, und zwar vermitteln sie gewöhnlich Geschmack und Geruch von Obstsorten, wie Birne, Apfel, Ananas usw. Schon im Jahre 1850 erschienen sie als die ersten künstlich zusammengesetzten Parfüms im Handel, und zwar zuerst auf dem englischen Markt als apple-oil und pear-oil. Heute verwendet man sie meist für Limonaden, Fruchtbonbons und dergleichen mehr. Geruch und Geschmack stehen ja in engem Zusammenhang, und erst die Kombination von Geruchs- und Geschmackssinn vermittelt die Geschmacksabstufungen. Der leichteste Schnupfen hebt ja nicht nur die Geruchs-, sondern auch die Geschmacksempfindung mehr oder weniger auf.
Manche Duftstoffe riechen verdünnt und unverdünnt ganz gleich, so z. B. der Moschus; andere wieder duften nur in chemischer Reinheit sehr angenehm, während die geringste Verunreinigung einen widerwärtigen Mißgeruch bewirkt. Andere wieder, wie das Jonon, Vanillin und Kumarin, riechen in konzentrierter Form unangenehm scharf und kampferartig und erst in sehr großer Verdünnung lieblich. Die Gegenwart mancher Duftstoffe läßt andere selbst in den kleinsten Dosen stark hervortreten, so beispielsweise der Kampfer die im Schweiß enthaltenen Duftstoffe. Daher kommt es, daß, wenn jemand ein kürzlich erst aus dem kampferhaltigen Behälter geholtes Kleid anhat, er schon beim leichtesten Schwitzen einen unangenehm starken Schweißgeruch verbreitet. Wie sich einerseits das Geruchsorgan gegen bestimmte Düfte abstumpfen kann, so daß man sie vorübergehend oder dauernd nicht mehr riecht, so kann dasselbe andererseits auch durch Übung sehr verfeinert werden, was uns die Tee-, Hopfen- und Zigarrenhändler beweisen, die Unterschiede der von ihnen zu beurteilenden Ware herausriechen, die ein Ungeübter gar nicht herauszufinden vermag.
Man sollte meinen, das Vermögen, die Wohlgerüche zum Teil genau zu kopieren und auf künstlichem Wege vielfach in größerer Vollkommenheit darzustellen, habe die betreffenden Naturprodukte langsam verdrängen müssen. Dies ist aber durchaus nicht der Fall, sondern der Verbrauch der Drogen selbst steigt vielmehr und beide, Natur- und Kunstprodukt, beherrschen nebeneinander den Markt, wie dies beispielsweise bei der Vanille der Fall ist. Da viele Laien unbegreiflicherweise eine unbezwingliche Scheu vor allen chemischen Kunstprodukten empfinden, wird auch trotz allen Triumphen der Chemie in Zukunft stets[S. 252] das Naturprodukt neben dem Kunstprodukt in Ehren gehalten werden und seine alte Stellung behaupten.
Das älteste durch Destillation gewonnene ätherische Öl ist das Rosenöl, das im 9. Jahrhundert n. Chr. zuerst in Persien durch Ärzte aus den herrlich duftenden Centifolien des Landes gewonnen wurde. Ihm folgten die Destillate von anderen wohlriechenden Pflanzenteilen, besonders Orangenblüten, Levkojen, Moschusweide, Pfefferminze und anderen. Bald war dieser neue Industriezweig an seinem ältesten Herd, in Schiras in Persien, so verbreitet, daß der Staat von den Darstellern solcher ätherischer Öle, unter denen das Rosenöl an Bedeutung weit vorausstand, eine Steuer erhob. Die Kunst der Destillation kam dann im 10. Jahrhundert durch die Araber nach Spanien und drang von da über Frankreich allmählich nach Deutschland vor, wo sie auch zum Extrahieren der verschiedensten ätherischen Öle benutzt wurde. In Mitteleuropa war die Rose zu selten, als daß es sich lohnte, aus ihr das Rosenöl darzustellen. Dazu benutzte man die Fülle der wohlriechenden orientalischen Rosen. In Südeuropa ist eine Haupterzeugungsstätte des Rosenöls Kasanlik am Südabhange des Balkans in Bulgarien, wo die rote Damaszenerrose in solchen Mengen an Hecken gezogen wird, daß trotz der höchst primitiven, unzureichenden Destillation der Rosenblätter in kupfernen Retorten über direktem Holzfeuer alljährlich an 3000 kg Rosenöl gewonnen werden. Bedenkt man nun, daß 5000–6000 kg Blumenblätter der Rose nötig sind, um 1 kg Rosenöl zu liefern, so kann man sich vorstellen, um was für Mengen von Rosen es sich dabei handelt, die alle innerhalb eines Monats gepflückt und bearbeitet werden müssen. Die aufbrechenden Blüten werden in den ersten Morgenstunden, während welcher der Ölgehalt am größten ist, gepflückt und sollen noch an demselben Tage destilliert werden. An schönen, sonnigen Tagen, wenn der Rosenflor in überreicher Menge sich entfaltet, kommt man mit dieser Arbeit kaum nach, so daß dann viele Blüten unbenutzt stehen bleiben und verblättern. Welch herrlichen Anblick diese blühenden Rosenhecken im Mai und Juni gewähren, kann man sich leicht vorstellen. Bei der ungeheuren Menge an Blüten, die erforderlich sind, um größere Mengen des Rosenöls zu erzeugen, ist es kein Wunder, daß 1 kg davon im Großhandel gegen 800 Mark kostet. Dieses von den Türken Athar, d. h. Äther genannte Rosenöl ist hellgelb, von sehr intensivem Rosengeruch und erstarrt bei 15–22° C. Infolge seiner Kostbarkeit ist es kaum je unverfälscht zu haben. Am meisten dient dazu das denselben Riech[S. 253]stoff in reichem Maße enthaltende und deshalb sehr ähnlich duftende ätherische Geraniumöl, das in Almeria in Spanien, dann in Algerien und seit 1887 besonders auf der Insel Réunion aus den Blättern des hochrote Blüten aufweisenden, bis 1,6 m Höhe erreichenden Rosengeraniums (Pelargonium roseum) gewonnen wird. Dieses wird wiederum mit dem indischen Lemongrasöl verfälscht, das aus dem in Südindien heimischen bläulichgrauen Lemongras (Andropogon schoenanthus) gewonnen wird. Wie mit diesen beiden ätherischen Ölen wird das Rosenöl auch mit dem überaus wohlriechenden, balsamartigen ätherischen Öle verfälscht, das aus dem Holz des in Argentinien und Paraguay wachsenden, 18 m hohen Guajakbaumes (Bulnesia sarmienti) gewonnen wird und eine Ausbeute von 5,4 Prozent liefert.
Meist wird von den bulgarischen Rosenölfabrikanten das billige ostindische, als Palmarosaöl bezeichnete Lemongrasöl zum Verfälschen benutzt, von dem jährlich an 1000 kg dort eingeführt werden. Demnach ist also nicht weniger als ein Drittel des bulgarischen „Rosenöls“, von dem 1 kg im Großhandel, wie gesagt, gegen 800 Mark kostet, ostindisches Lemongras- oder Palmarosaöl, von dem 1 kg im Großhandel auf 23 Mark zu stehen kommt. Dabei wissen die schlauen Bulgaren mit der größten Raffiniertheit die Kontrolle des Staates zu umgehen und die beaufsichtigenden Beamten zu überlisten. Sie wissen dem Lemongrasöl durch längeres Stehenlassen an der Sonne seine Schärfe zu nehmen und ihm einen dem Rosenöl ähnlicheren Geruch zu verleihen und besprengen dann mit diesem Öl die frischgepflückten Rosenblüten schon auf dem Felde, so daß der im Destillierraum die Prüfung vornehmende Beamte nie andere als solche mit Lemongrasöl bespritzte Rosenblumenblätter zu Gesicht bekommt. Wer nun auch immer für schweres Geld erworbene kleine, längliche Glasfläschchen mit einigen Tropfen Inhalt aus der Türkei mit nach Hause bringt, kann sicher sein, kein reines Rosenöl gekauft zu haben; oft hat er nur Geranium- oder das noch billigere Lemongrasöl eingehandelt.
Mehr Garantie für reine Ware bieten die südfranzösischen Destillerien hauptsächlich in Grasse, ein tadelloses Produkt dagegen liefert die deutsche Firma Schimmel & Co. (Inhaber Gebrüder Fritzsche) in Miltitz bei Leipzig, die mit zielbewußter Energie die Rosenölgewinnung in die Hand genommen hat. Schon vor zehn Jahren hatte diese Firma 35 Hektare mit der roten, auch in Kasanlik angepflanzten Damaszenerrose angebaut, die über 260000 kg Blüten lieferten. Sie bringt jährlich etwa 100 kg Rosenöl in den Handel, welches an Reinheit und in[S. 254]folgedessen an Qualität das bulgarische Produkt weit übertrifft und deshalb im Großhandel das kg auf 1500 Mark zu stehen kommt. Doch liefert diese Firma auch ein künstliches Rosenöl zu 280 Mark als Engrospreis. Die von ihr benutzten Vakuumdestillationsapparate, die bis zu 45000 Liter zu fassen vermögen, entsprechen selbstverständlich den höchsten Anforderungen der Gegenwart, und die hohe technische Vervollkommnung bedingt bei gleichem Destillationsprinzip eine viel rationellere Ausnutzung des Rohmaterials und die Gewinnung eines in jeder Beziehung ausgezeichneten Produktes. Das Rosenöl selbst besteht aus einem duftlosen, wachsartigen, festen und einem flüssigen Körper, welch letzterer der eigentliche Duftträger ist und Rhodinol genannt wurde. Später stellte es sich heraus, daß es mit dem im Geraniumöl und Lemongrasöl enthaltenen Geraniol identisch ist, die Bulgaren also für ihre Verfälschung auf ein ätherisches Öl gestoßen sind, dessen wichtigster Bestandteil genau derselbe ist wie beim echten Rosenöl. Die große Verschiedenheit des Duftes ist auf geringfügige Beimengungen zurückzuführen, die trotz ihrer zurücktretenden Quantität den Charakter des Duftes bestimmen.
Da nun dem Altertum die Kunst der Destillation fehlte, die, wie gesagt, erst im 9. Jahrhundert n. Chr. von persischen Ärzten erfunden wurde, ist das, was die Alten unter Rosenöl verstanden, etwas ganz anderes, als was wir darunter verstehen. Ihr Rosenöl war eine Art Salbe (griechisch mýron), die wesentlich aus mit Rosenduft imprägniertem, fettem Öl, und zwar Olivenöl bestand. In seiner Arzneimittellehre teilt uns der um die Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr. lebende griechische Arzt Dioskurides ihre Zubereitung in folgenden Worten mit. „Rosenöl (ródinon élaion) wird so bereitet: Es werden 5 Pfund und 8 Unzen (lateinisch uncia, im Gewicht von 1⁄12 Medizinalpfund oder rund 30 g) schoínos (Lemongras oder wohlriechendes Bartgras, Andropogon schoenanthus, von dem Dioskurides an einer anderen Stelle sagt, daß es in Arabien, und zwar die beste im Lande der Nabatäer wachse, frisch, mit der Hand gerieben, einen Rosengeruch verbreite, gekostet auf der Zunge heftig brenne und vielfach als Arznei angewendet werde) klein geschnitten, in Wasser geweicht, in 20 Pfund und 5 Unzen Olivenöl gekocht und zuweilen umgerührt. Hierauf wird das Öl durchgeseiht und es werden ihm die Blumenblätter (pétalon) von 1000 Rosen zugesetzt; diese dürfen nicht naß sein, werden aber vorher mit wohlriechendem Honig gesalbt und im Öle einen Tag lang zu wiederholten Malen mit den Händen gedrückt und umgerührt. Hat[S. 255] sich nun etwas Hefeartiges zu Boden gesetzt, so kommt die Masse in einen mit Honig ausgestrichenen Mischkrug. Die Rosenblätter werden aus dem Öle genommen, ausgedrückt, in ein anderes Gefäß getan, mit 8 Pfund 3 Unzen eingedickten Öles übergossen und wiederum ausdrückt. Das letztere Verfahren gibt die geringere Sorte Rosenöl. Man kann das Verfahren noch zweimal wiederholen, wodurch man eine dritte und vierte Sorte Öl bekommt. Jedesmal wird aber das Gefäß erst mit Honig ausgestrichen. Will man alle diese Rosenölsorten recht stark machen, so wirft man in das zuerst gewonnene Öl wieder ebensoviel frische Rosenblumenblätter, rührt sie mit Händen, die mit Honig gesalbt sind, um, drückt sie aus und setzt dieselben dann auch noch ebenso zur zweiten, dritten und vierten Sorte. So kann man siebenmal neue Rosen ins Öl bringen, dann aber muß man aufhören. Auch die Presse wird übrigens mit Honig bestrichen, und endlich wird das Öl sorgfältig von dem Safte der Rosenblätter getrennt; denn bleibt von diesem nur das Geringste darin, so verdirbt das Öl. — Manche Leute zerstampfen die Rosen, stellen die Masse an die Sonne, werfen sie dann in Öl und stellen dieses an die Sonne. Manche dicken vorher das Öl mit einem Zusatz von Kalmus und langdornigem Ginster ein; andere tun, um ihm eine schöne (rote) Farbe zu verleihen, Färberochsenzunge (anchúsa) hinzu, oder, um die Haltbarkeit zu befördern, Salz. — Das Rosenöl wird innerlich und äußerlich vielfach gebraucht.“
Seit der Gewinnung des echten Rosenöls im 9. Jahrhundert bildet es als persisches Athar einen sehr wichtigen Handelsartikel im ganzen Orient und gelangte von Persien aus bis nach Indien und China, wo es ebenfalls sehr geschätzt wurde. Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts treten uns bestimmte Angaben über den Gebrauch dieses Rosenöls auch in Europa entgegen. Seit dem 17. Jahrhundert verbreitete sich die Rosenölindustrie von Persien aus weiter und gelangte damals auch nach Bulgarien, wo sie aber erst im 19. Jahrhundert die jetzige große Bedeutung erlangte. Die französische Rosenölindustrie begann um die Mitte des 19. Jahrhunderts, die deutsche erst 1883.
Wie auf Ceylon und Malakka das in Arabien und Ostindien wildwachsende, sehr gewürzhaft riechende und duftende Bartgras (Andropogon schoenanthus) als Lemongras zur Gewinnung des wohlriechenden Grasöles im großen angebaut wird, so ist dies in noch weit größerem Umfange mit dem in trockeneren Gegenden Südasiens verbreiteten Citronellgras (Andropogon citratus) der Fall, das sich von[S. 256] jenem durch seine rote Behaarung, die schmalen Blätter und die kurzen Blütenähren unterscheidet. Das 2–2,5 m hohe Gras wird aus Samen gezogen und gerade vor dem Blühen geschnitten. Bei sorgfältiger Kultur gibt es zwei bis drei Ernten im Jahr. In Südindien wird besonders auch das aus den Wurzelstöcken von Andropogon muricatus gewonnene Kuskus- oder, wie die Tamilen sagen, Votiveröl viel benutzt, aber in nicht sehr großen Mengen nach Europa ausgeführt. Dort wird auch viel Sandelholzöl aus dem in kleine Späne gehackten, rosenartig riechenden Kernholz des kleinen Sandelbaumes (Santalum album) destilliert, das in allerdings weniger ertragreicher Qualität auch auf den kleinen Sundainseln gewonnen und exportiert wird. In der Medizin dient es zur Behandlung der Gonorrhoe an Stelle des älteren Copaivabalsams. Das wohlriechende Holz dient zum Fournieren von Möbeln, zur Herstellung von allerlei kleinen Geräten, Götzenbildern und Rosenkränzen. Am meisten dient es — bei den Chinesen zugleich mit Weihrauch — als Räuchermittel in Tempeln und bei Begräbnissen; auch die wohlhabenden Araber räuchern mit demselben und lassen sich daraus wohlriechende Pfeifenrohre schnitzen.
Ebenfalls bei den Chinesen als Parfüm und Medizin sehr beliebt ist die wohlriechende Wurzel der indischen Komposite Saussurea lappa, die von Kaschmir aus in bedeutenden Mengen über Kalkutta und Bombay dorthin exportiert wird. So importiert allein der Hafen Hankau jährlich für über 100000 Mark dieser Droge, die das ganze Mittelalter hindurch als Costuswurzel auch in Europa zu den stark begehrten Handelsartikeln aus dem Oriente gehörte. Auch im Morgenlande wurde sie viel gebraucht. Während diese aromatische Wurzel heute in der abendländischen Medizin keine Rolle mehr spielt, ist dies noch bei dem aus den gewürzhaft riechenden Blättern zweier nahe verwandter australischer Bäume destillierten Cajaputöl (vom malaiischen caju puti, d. h. weißer Baum, Melaleuca leucadendron) und beim Eucalyptusöl (von dem bis 130 m Höhe erreichenden, äußerst rasch wachsenden und daher zur Entsumpfung fieberreicher Gegenden benutzten Eucalyptus globulus) der Fall. Aus den Blättern einer anderen Myrtazee, Amomis caryophyllacea, wird in den kleinen Antillen, und zwar bis jetzt fast ausschließlich von wildwachsenden Bäumen, das Bayöl gewonnen, während aus den Früchten des hauptsächlich auf Jamaika kultivierten Pimentbaumes das Pimentöl hergestellt wird. Gleicherweise destilliert man aus den verschiedenen Gewürzen wie Zimt, Kassia, Gewürznelken, Muskatnuß, Cardamomen, Ingwer, Kalmus,[S. 257] Anis, Sternanis, Fenchel, Koriander usw. die betreffenden ätherischen Öle, die mancherlei Verwendung finden. Das gleiche ist mit den wohlriechenden Lippenblütlern der Fall, wie Pfefferminze, Fenchel, Melisse, Citronell, Krauseminze, Rosmarin, Lavendel, Thymian, Basilicum und Salbei, zu denen als eines der wichtigsten tropischen ätherischen Öle dasjenige eines Halbstrauchs von Indien, Ceylon und Malakka, Pogostemon patschuli, hinzukommt, das nach der bengalischen Benennung Patschuli heißt. Diese alle werden durch Destillation aus den Blättern und übrigen krautigen Pflanzenteilen gewonnen. Mit dem durchdringend riechenden Patschuli parfümieren die indischen Frauen ihre Kopfhaare, die Kaufleute die teuren Schale und den Tabak, die Chinesen ihre Tusche. Auch in Europa wird diese Essenz häufig zu Parfümerien verwendet, da der Duft derselben der haltbarste unter allen Pflanzengerüchen ist.
Mit dem Patschuliduft wurden übrigens die Europäer durch die damit parfümierten indischen Schale bekannt, die früher zu ganz enormen Preisen verkauft wurden. Einige französische Fabrikanten aber ahmten sie in so ausgezeichneter Weise nach, daß die Kaufleute das indische Fabrikat nur durch sein eigentümliches Parfüm zu unterscheiden vermochten. Natürlich boten die französischen Fabrikanten alles auf, um zu demselben Parfüm zu gelangen, damit kein Mensch mehr ihr Fabrikat vom indischen unterscheiden könne und sie dafür dieselben hohen Preise wie für jenes erhielten. Längere Zeit blieben ihre Bemühungen erfolglos, bis es endlich gelang, das Geheimnis zu lüften. Das getrocknete Patschulikraut kam nach Europa und der französische Schal war fortan auch durch die Nase nicht mehr vom echt indischen, durch Handarbeit hergestellten, zu unterscheiden.
Das in der Pflanze enthaltene Patschuliöl ist ein Beispiel dafür, wie der Naturprozeß, durch den der Duftstoff entsteht, erst künstlich eingeleitet werden muß. Die frisch gepflückten Blätter enthalten nämlich das Öl noch nicht; sie werden halbtrocken in den Schiffsraum verpackt und machen nun auf der Reise nach Europa eine Art Gärung durch, bei welcher erst der Duftstoff entsteht. Ganz ähnlich ist es mit der Entwickelung von anderen Duftstoffen, z. B. bei den Vanilleschoten, die in frischem Zustande keine Spur Vanillin enthalten. Erst durch einen künstlich eingeleiteten Gärungsprozeß kommt es zur Bildung dieses wohlriechenden Stoffes, der dann in feinen, weißen Kristallen die durch die Gärung schwarz gewordenen Schoten bedeckt. Ebenso entwickelt sich das gleich zu besprechende Kumarin der Tonkabohne,[S. 258] des Waldmeisters und verschiedener Grasarten erst nach dem Trocknen als Heu, wodurch erst jene Substanzen den bekannten, ihnen eigentümlichen betäubenden Duft erhalten.
Eines der feinsten und kostbarsten der flüchtigen Öle, dem in Südasien sogar der allererste Rang eingeräumt wird, ist das Ylang-Ylangöl, das aus den grünlichen Blüten des etwa 20 m hohen, auf den südasiatischen Inseln heimischen, von den Malaien als Kananga bezeichneten Baumes Cananga odorata, aus der Familie der Anonazeen, gewonnen wird. Es kommt fast ausschließlich aus den Philippinen über Manila in den Handel und wird aus den Blüten von kultivierten Bäumen, deren Duft sehr viel feiner als derjenige der wildwachsenden ist, hergestellt; das Öl der letzteren, das als Kanangaöl bezeichnet wird, kostet deshalb auch fast zwanzigmal weniger, nämlich bloß 25 Mark das kg, während das echte Ylang-Ylangöl von kultivierten Bäumen 480 Mark das kg im Großhandel kostet. Es ist lichtgelb, etwas leichter als Wasser und von großem Wohlgeruch. Durch die große Nachfrage und die sehr hohen dafür bezahlten Preise veranlaßt, wurde es seit Anfang der 1860er Jahre zuerst auf Luzon, dann auch auf Java dargestellt. Seit vier Jahren sind mit der Kultur des Kanangabaumes auch auf der französischen Insel Réunion bedeutende Erfolge erzielt worden, beträgt doch die Zahl der blütentragenden Bäume dort bereits etwa 200000. Der Baum nimmt zwar mit jedem Boden vorlieb, gibt aber den meisten Ertrag an Blüten auf gutem Boden. Auch müssen die Pflanzungen vor dem Winde geschützt werden, da die Zweige sich sonst durch Aneinanderreiben beschädigen. Nur die Bäume, die in geschützten Vertiefungen und auf kräftigem, feuchtem Boden gepflanzt wurden, haben sich als widerstandsfähig und nutzbringend erwiesen. Bei guter Pflege trägt die Pflanze schon nach 1½ Jahren die ersten Blüten, die aber noch arm an dem wohlriechenden Öl sind. Die erste volle Blüte pflegt vom vierten Jahre an einzutreten, steigert sich bis zum zehnten Jahre und bleibt dann eine ganze Reihe von Jahren auf demselben Ertrag. 10 kg Blüten von einem Baum entsprechen einer Mittelernte, doch kann ein solcher ausnahmsweise 50 bis 60 kg liefern. Durchschnittlich kann man pro Hektar 2000 kg Blüten rechnen, die 20 kg höchstwertigen Ylang-Ylangöles im Werte von 9600 Mark, oder 40 kg minderwertigen Ylang-Ylangöles liefern; es ist dies also eine mit Rücksicht auf die geringen Erzeugungskosten sehr rentable Kultur, die auch für die deutschen Kolonien sehr empfehlenswert wäre.
In Südasien werden schon lange die wohlriechenden Samenkörner einer strauchartigen Malve (Hibiscus abelmoschus) als Parfüm benutzt, z. B. zwischen die Wäsche gelegt. Sie riechen ähnlich wie Moschus und kommen deshalb als Moschuskörner in den Handel. Von Indien aus hat sich der Strauch, dessen unreife Früchte als beliebtes Gemüse gegessen werden, über die ganzen Tropen und Subtropen verbreitet und wird besonders in Westindien, speziell Martinique, im großen kultiviert. In den beiden letzten Jahrzehnten hat sich der Verbrauch des aus den Moschussamen gewonnenen ätherischen Öles außerordentlich gesteigert. Ihm im Geruche ähnlich ist das aus der bitteraromatischen Wurzel der in der zentralasiatischen Steppe heimischen Sumbulpflanze, eines Doldengewächses (Ferula sumbul), gewonnene andere Moschusöl, das ebenfalls ein Surrogat des echten Moschusöles bildet.
Der echte Moschus stammt bekanntlich von dem zwischen Nabel und Geschlechtsteilen liegenden, 30–50 g schweren Beutel des rehähnlichen, auf den Gebirgen Hinterasiens, besonders in Tibet und der Mongolei lebenden, 1,15 m langen Moschustieres (Moschus moschiferus), der mit einer bräunlichen, schmierigen Substanz von sehr durchdringendem Geruch gefüllt ist. Diese dient zur Anlockung und geschlechtlichen Erregung des Weibchens. Der beste Moschus kommt von der Provinz Jün-nan im südwestlichen China in kleinen, verlöteten Bleikästen zu 20–30 Stück in den Handel und kostet bis zu 3500 Mark das kg. In ähnlicher Weise wird auch das Zibet der männlichen Zibetkatze und das Bibergeil des Bibermännchens verwendet. Sie sind nebst der Ambra des Pottwales, die meist in größeren Knollen freischwimmend auf dem Meere angetroffen und gefischt wird, die einzigen aus dem Tierreiche gewonnenen Duftstoffe, denen in der Parfümerie eine große Bedeutung zukommt. Obschon wir hier nur die pflanzlichen Duftstoffe zu besprechen haben, müssen wir sie dennoch erwähnen, da sie zur Geltendmachung der pflanzlichen Duftstoffe sehr wichtig sind. So unangenehm sie konzentriert auf unser Geruchsorgan wirken, so angenehm sind sie stark in Alkohol verdünnt. Was sie für die Parfümerie so wichtig macht, ist nicht sowohl ihr eigenes Aroma, als vielmehr ihre Fähigkeit, die Geruchsentwicklung der ihnen beigemischten pflanzlichen Ingredienzen zu fördern und andererseits wieder zu fixieren, d. h. eine etwas zu rasche Verflüchtigung zu verhindern. Hierin werden sie am wirkungsvollsten von den künstlichen Riechstoffen unterstützt, dem zweiten großen Faktor in der[S. 260] Parfümeriefabrikation, den wir im wesentlichen der deutschen Riechstoffchemie zu verdanken haben. Von ihnen war bereits die Rede, so daß wir hier nicht näher darauf einzutreten brauchen.
Wie das in den Orchideenblüten nicht seltene Vanillin, das jetzt auch künstlich hergestellt wird, sich in konzentrierter Form in den gegorenen Schoten der Vanillepflanze vorfindet, so ist das in der Pflanzenwelt als Duftstoff weitverbreitete Kumarin, das, wie gesagt, dem Waldmeister, dem Ruchgras und dem Heu den charakteristischen Geruch verleiht, in der südamerikanischen Tonkabohne in besonders hohem Maße angehäuft. Die sie hervorbringenden Tonkabäume (Dipterix odorata) sind 20–27 m hohe Schmetterlingsblütler, die in den Wäldern Guianas, Venezuelas und Nordbrasiliens heimisch sind. Von dort kommen die über mandelgroßen, glänzend schwarzen, runzeligen Samen in den Handel, die sich nach vorübergehendem Einlegen in Rum mit farblosen Kumarinkriställchen bedecken. Während sie wie die Vanilleschoten und das Kraut von Waldmeister und Ruchgras frisch fast geruchlos sind, duften sie jetzt stark nach Heu, indem sich wahrscheinlich das Kumarin, wie das Vanillin und ähnliche Duftstoffe, aus einer andern leicht zersetzlichen Substanz erst bildet. Es dient vielfach zur Parfümerie, als wohlriechende Beigabe zum Schnupftabak, zur Bereitung von Maitrankessenz und zur Imprägnierung von gewöhnlichen, geruchlosen Kirschbaumtrieben, die dann als Weichselrohr zur Herstellung von Pfeifenrohren, Spazierstöcken usw. dienen. In der Medizin wird damit der penetrante Geruch des Jodoforms gemildert.
Reichliche Verwendung finden auch die in den Blüten und Früchten der Agrumen, wie auch in den wohlriechenden Blüten der verschiedenen Gartenpflanzen, wie Veilchen, Reseda, Maiglöckchen, Heliotrop, Hyazinthen, Tuberosen, Jasmin, Akazien usw. enthaltenen ätherischen Öle. Die Stadt Grasse in Südfrankreich ist das Zentrum von deren Kultur und Gewinnung. Dabei werden die gepflückten Blüten mit geschmolzenem Fett übergossen und umgerührt, erstarrt 24 Stunden liegen gelassen. Dann wird das Fett wieder geschmolzen und dieser Prozeß wiederholt, bis das Fett mit dem Riechstoff gesättigt ist. Zur Erreichung dieses Resultates sind von manchen Blüten bis 6 kg auf 1 kg Fett erforderlich. Für die feinsten Gerüche verfährt man in der Weise, daß man große, starke Glastafeln 0,5 cm hoch mit ebensolchem reinem Fett — früher Schweineschmalz und Rindstalg, jetzt meist Vaselin — belegt und in diese die Blüten, deren Duft man auffangen will, mit dem Kelch nach oben steckt. Auf die Glastafel wird eine zweite, in derselben Art zugerichtete gelegt, welche, als Deckel dienend, den Geruch[S. 261] nicht entweichen läßt; darauf wird eine dritte wiederum mit Blüten besteckt, Glasseite auf Glasseite gelegt, die man ebenfalls mit einer Deckplatte versieht, und so fort. Nach 25–30 Tagen ist das Fett mit dem Dufte der täglich gewechselten Blüten gesättigt. Diese als Pomaden bezeichneten parfümierten Fette bilden die Grundlage der meisten Parfümartikel. Aus ihnen kann man durch Extraktion mit Weingeist den Riechstoff als Essenz erhalten und in einzelnen Fällen ihn auch als ätherisches Öl für sich abscheiden. Der Sprit gibt dem Parfüm die Frische, und sein Geruch hat etwas Belebendes. Um nun die verschiedenen, vielfach mit Phantasienamen belegten Parfümwässer zu erhalten, werden die Essenzen in mannigfaltiger, als Fabrikgeheimnis geheimgehaltener Weise gemischt und zur gegenseitigen Durchdringung der Duftstoffe oft längere Zeit in Holzfässern gelagert.
Mehr von historischem Interesse ist das uns allen aus der biblischen Geschichte bekannte Nardenöl, mit dem auch die Füße des Heilands von der Ehebrecherin gesalbt wurden und das im Altertum als kostbares Parfüm eine große Rolle spielte. Es wurde bei den Alten aus mehreren wohlriechenden Pflanzen, besonders aus der Familie der Baldriangewächse, gewonnen. Die echte kostbare Nardensalbe des Altertums wurde aus der im mittleren Himalaja wachsenden echten indischen Narde (Nardostachys jatamansi) bereitet. Ihre Wurzel schmeckt bitter gewürzhaft und war neben dem Opium ein wichtiger Bestandteil des aus etwa 60 verschiedenen Pflanzenstoffen mit Beigabe der widersinnigsten tierischen Substanzen, wie z. B. des Fleisches von Giftschlangen, hergestellten Theriaks, eines vom griechischen Leibarzte des Kaisers Nero, Andromachos, erfundenen berühmten Gegenmittels gegen den Biß giftiger Schlangen und alle tierischen Gifte überhaupt, das dieser einst mit einem in Versen abgefaßten Rezept dazu jenem Kaiser zu Füßen legte. Seither wurde jenes Mittel bis ins vergangene Jahrhundert, wie das ebenfalls in der römischen Kaiserzeit von einem andern griechischen Arzte, Menekrates, erfundene Diachylonpflaster, ein durch Kochen von Bleioxyd in Öl mit Zugabe von Gummiharzen und Harzen bereitetes Zugpflaster, das bis heute in sehr hohem Ansehen beim Volke blieb, stets feierlich in aller Öffentlichkeit unter dem Schall von Trompeten und Trommeln hergestellt. Noch im Jahre 1787 schmetterten die Pauken und Trompeten bei der gewichtigen Darstellung dieses Theriaks, zu dessen Herstellung die Vipern in Neapel noch unter den Bourbonen unter staatlicher Aufsicht gefangen wurden. Das bei den vornehmen alten Römern besonders zum Salben des Körpers nach dem Bade sehr beliebte wohlriechende indische Nardenöl ist heute[S. 262] noch in seiner Heimat Indien ein geschätztes Duft- und Heilmittel, weshalb die Nardenpflanze dort zu diesem Zwecke von alters her angebaut wird.
Das aus einer anderen Baldrianart, Nardostachys grandiflora, in Nepal gewonnene Öl riecht weniger angenehm, aber stärker als das aus der echten indischen Narde gewonnene. Die arabische Narde wurde wahrscheinlich aus dem wohlriechenden Nardenbartgras (Andropogon nardus) hergestellt, das wohl der griechische Schriftsteller Flavius Arrianus (um 100 n. Chr. zu Nikomedia in Bithynien geboren, ward 136 unter Hadrian Präfekt von Kappadokien, starb unter Marc Aurel) in seiner Darstellung von Alexanders des Großen Feldzug nach Asien im Sinne hatte, als er schrieb: „Als Alexander durch eine Wüste gegen das Land der Gedrosier (eine iranische Landschaft, etwa dem heutigen Beludschistan entsprechend) vorrückte, fand er viele wohlriechende Nardenwurzeln, welche von den Phönikiern gesammelt, vom Heere aber in solcher Menge zertreten wurden, daß die ganze Gegend danach roch.“ Die italienische Narde dagegen wurde aus dem Lavendel, die kretische Narde aus Valeriana italica und V. tuberosa und die gallische oder keltische Narde aus Valeriana celtica und V. saliunca gewonnen, deren Wurzeln noch jetzt von Triest aus nach dem Orient ausgeführt werden, wo man sie zur Herstellung einer nach dem Bade zum Salben des Körpers beliebten Salbe benutzt. Letztere Baldrianart hat ihren Namen nach einer alten, schon vom griechischen Arzte Dioskurides im 1. Jahrhundert n. Chr. erwähnten ligurischen Bezeichnung erhalten. Dieser Autor schreibt nämlich in seiner Arzneimittellehre: „Die keltische Narde wächst auf den ligurischen Bergen, wo sie saliunka genannt wird. Es ist dies ein kleiner Strauch, der samt den Wurzeln gesammelt und in Bündelchen gebunden wird. Die Blätter sind länglich, gelblich, die Blüten quittengelb. Nur die Stämmchen und Wurzeln sind wohlriechend und im Gebrauch.“ Außerdem unterscheidet er eine indische und syrische Narde. „Letztere“, fährt er fort, „hat ihren Namen nicht davon, daß sie wirklich in Syrien wächst, sondern nur deswegen, weil die Seite des Gebirges, auf welchem sie wächst, nach Syrien zu liegt, während die entgegengesetzte Seite sich nach Indien hinneigt. Letztere ist am besten frisch, leicht, gelb, von starkem Wohlgeruch. Die indische Narde dagegen, die nach dem Flusse Ganges gangitis heißt, ist kraftloser, da sie auf nassen Stellen wächst. — Aus diesen wird die Nardensalbe (nárdinon mýron) auf verschiedene Weise mit allerlei Zusätzen bereitet.“
So lange es Menschen gibt, haben sie allerlei Verletzungen und Krankheiten zu erleiden gehabt, gegen die sie Linderungs- und Heilmittel anzuwenden suchten. Diese entnahmen sie zumeist der sie umgebenden Pflanzenwelt, der sie Zauberkräfte mancherlei Art zuschrieben, die sie sich zu Nutzen machten. So entwickelte sich in engstem Zusammenhang mit der Ausübung von Zauberei die älteste Medizin der Naturvölker, deren Spuren sich noch zahlreich in unserem Volkstume nachweisen lassen. Und während fürsorgliche Frauen und mitleidige Stammesgenossen die erste und in leichteren Fällen einzige Handreichung taten, wurden in schwierigeren Fällen die erfahrenen Alten der Sippe zur Übernahme der Behandlung zugezogen. Auf solche Weise erhoben sich die Erfahrensten des Stammes, denen die Sippengenossen volles Vertrauen entgegenbrachten, zu Zauberpriestern und Ärzten in einer Person. Manche unter ihnen genossen nicht nur zeitlebens das größte Ansehen, sondern wurden nach ihrem Tode als machtvolle Geister göttlich verehrt.
Ein solcher vergöttlichter Weiser und Arzt seines Volkes war dem uralten Kulturvolke der Ägypter I-em-hotep („der in Frieden kommt“), meist gekürzt Imhotep genannt, der uns als der älteste mit Namen bekannte Arzt der Welt entgegentritt und später zum Gott der Heilkunde erhoben wurde. Als solcher war er der gute Arzt der vergöttlichten Menschengeister und der lebenden Menschen, dem man in Krankheitsfällen Opfer und Gelübde darbrachte, damit er die Krankheit zum Guten wende und Heilung eintreten lasse. Denn von jeher wurde der über die Anwendung eines Heilkrautes gesprochene Heilsegen für wichtiger und wirkungsvoller gehalten als seine guten Eigenschaften als solche, und über allem stand das durch Opfer erlangte Wohlwollen solcher im Geisterreiche waltender Heilgewaltiger. Daß nun dieser Heil[S. 264]gott der alten Ägypter eine wirkliche, im Volksbewußtsein durch die Jahrtausende lebendig gebliebene Persönlichkeit war, darüber kann durchaus kein Zweifel bestehen. Und tatsächlich haben die neuesten Forschungen der altägyptischen Literaturdenkmäler ergeben, daß der Gegenstand solch nachhaltiger Verehrung, dessen Name als der eines weisen Priesters und mächtigen Zauberers, eines geschickten Arztes und großen Baumeisters durch die ganze ägyptische Geschichte hindurch unvergessen blieb, ein Zeitgenosse des Königs Zoser war, mit dem Manetho, ein ägyptischer Priester aus Sebennytos, der unter Ptolemäus I. (305–285 v. Chr.) lebte und in griechischer Sprache eine leider bis auf die von Julius Africanus und Eusebius uns mitgeteilten Bruchstücke und den kurzen Auszug bei Josephus verloren gegangene Geschichte seines Landes schrieb, die dritte Dynastie beginnen läßt. Dieser König Zoser herrschte vor den Erbauern der großen Pyramiden bei Gise von etwa 2980 v. Chr. an und begründete die Vorherrschaft der unterägyptischen Stadt Memphis, die er zu seiner Residenz erhob. Seiner Regierungszeit gehören die ersten größeren Steinbauten des Niltals an, und unter ihm begannen die in zunächst staffelförmigen Pyramiden errichteten Königsgräber, statt aus ungebrannten, nur an der Sonne getrockneten Lehmziegeln wie zuvor, aus Steinquadern gebaut zu werden. Unter ihm hat nun als einflußreicher Beamter seines Hofes und sein Hauptratgeber Imhotep gelebt, der sich schon im Leben solchen Ansehens bei seinem Könige erfreute, daß er sein Grab dicht neben dem Grabe seines Königs in der Stufenpyramide von Sakkara bei Memphis erhielt. Nach einer alten Tradition hatte er den ehrenden Beinamen „Herr der Geheimlehre und der Zahlen“. Die Gelehrtesten seines Volkes, die Schreiber, hatten ihn zu ihrem Schutzherrn erwählt. Und wer unter ihnen fromm war, weihte ihm regelmäßig eine Spende aus dem Wasserbehälter seines Schreibzeugs, ehe er seine Arbeit begann. Noch nach Jahrhunderten kannte das Volk die ihm zugeschriebenen Sprichwörter, und 2500 Jahre nach seinem Tode war er zum Gott der Heilkunde geworden, in welchem die Griechen, die ihn Imuthes nannten, ihren eigenen Heilgott Asklepios zu erkennen glaubten. Als Gott wurde er auf einem Sessel sitzend abgebildet, mit einem einfachen Lendentuche und Hals- und Armbändern wie seine vornehmen Volksgenossen angetan, in der Rechten den Zauberstab mit dem Kopf des Schakals, also des Tieres, das als Wächter des Eingangs in die Unterwelt gedacht war, an der Spitze und in der Linken den Nilschlüssel, das Symbol des Lebens, haltend.
Die ursprüngliche und angesehenste ärztliche Gottheit der alten Ägypter war aber die Göttin Isis, der man nicht nur die Entstehung zahlreicher Krankheiten, sondern auch die Macht zuschrieb, sie wieder zu heilen. Ihre göttliche Wunder- und Heilkraft bewies sie dadurch, daß sie ihren von Seth (der personifizierten Dürre) erschlagenen Sohn Horus (die am Himmel aufsteigende junge Sonne) wieder zum Leben erweckte. Sie lehrte dann die Menschen die Krankheiten erkennen und heilen. Die Erfindung vieler Arzneimittel wurde auf sie zurückgeführt. Wegen der großen Erfahrung, welche sie in der Arzneikunde besaß, brachte man Kranke mit Vorliebe in ihren Tempel, damit sie während des Schlafes durch einen von ihr eingegebenen Traum erführen, welches Mittel sie zu ihrer Heilung anwenden sollten.
Als dritte medizinische Gottheit galt den alten Ägyptern der Gott Thot (von den Griechen mit ihrem Hermes identifiziert). Von ihm heißt es im ärztlichen Papyrus Ebers, so genannt, weil ihn der bekannte Schriftsteller Prof. Georg Ebers während seines Aufenthaltes in Theben-Luxor im Winter 1872/73 von einem dortigen Kopten erwarb — er befindet sich jetzt auf der Leipziger Universitätsbibliothek und ist, trotzdem er zur Zeit der 18. Dynastie (1580–1350 v. Chr.) geschrieben wurde, noch so gut erhalten, als ob der Schreiber, der ihn beschrieb, erst sein Schreibrohr beiseite gelegt habe —, er sei derjenige, „der da die Bücher macht, die Erleuchtung schenkt den Schriftgelehrten und Ärzten, die sich in seiner Nachfolge befinden, um (die Menschen von ihrer Krankheit) zu erlösen.“ Er hieß eigentlich Tehuti und wurde schon zur Zeit der ersten Dynastie des Reichs um 3400 v. Chr. als Urheber und Beschützer des Schrifttums bezeichnet, als „Schreiber der Wahrheit“, „Herr der göttlichen Worte“, „Darreicher der Schriften“ usw. Beim Aburteilen der Seelen in der Unterwelt durch die Götter führte er Buch über die Wägung der Herzen. Er wurde ibisköpfig dargestellt, mit dem Henkelkreuz als dem Zeichen des Lebens in seiner Rechten und einer Papyrusrolle in der Linken. Der Mittelpunkt seiner Verehrung war die Hohe Schule von Sesennu (dem Hermopolis der Griechen), wo vornehmlich die Schreiber und Ärzte ausgebildet wurden. Der um 180 n. Chr. lebende griechische Sophist Claudius Älianus leitet in seinen 14 Büchern „Vermischte Erzählung“ den Namen dieses Gottes irrtümlicherweise von thouod Säule her, weil er als Erfinder aller Künste und Wissenschaften seine Weisheit in steinerne Säulen grub. Aus diesen hieroglyphischen Inschriften schöpften die Priester in den ältesten Zeiten ihr Wissen, merkten sich die dort ver[S. 266]zeichneten Regeln der Arzneikunde und trugen sie nach Erfindung des Papiers in die 42 Rollen des Thot (von den Griechen entsprechend der Identifizierung des Thot mit ihrem Hermes hermetische Bücher genannt) ein.
Da die Krankheit bei den alten Ägyptern wie bei allen Völkern durch den Zorn der Götter herbeigeführt sein sollte und eine Versöhnung mit denselben nach der später aufgekommenen Lehre nur durch die Diener derselben bewerkstelligt werden konnte, so übten die Priester zugleich die Arzneikunde aus. Sie wurden in den verschiedenen Tempelschulen des Landes wie in den heiligen Schriften, so auch in der Arzneikunde unterrichtet und gingen dann zum Abschluß ihrer Studien nach Heliopolis, der berühmtesten medizinischen Hochschule von Ägypten, wo sie sich zu Spezialärzten für die verschiedenen Krankheiten des Menschen ausbildeten. Schon damals war die Heilkunde weitgehend spezialisiert, und es gab Augenärzte, die wegen dem schon damals verbreiteten Trachom sehr viel zu tun hatten und, nach einer Stelle im Papyrus Ebers, die von der „Öffnung des Gesichts in den Pupillen hinter den Augen“ handelt, offenbar schon Staroperationen ausführten, dann Kopfärzte, Ohrenärzte, Zahnärzte, die, wie man an den Kiefern mancher Mumien fand, bereits künstliche Zähne einzusetzen verstanden, Bauchärzte, Gliederärzte usw. Zahlreiche auf den Denkmälern abgebildete und in den Gräbern gefundene chirurgische Instrumente, wie Scheren, Lanzetten, Messer, Rasiermesser, Pinzetten, Sonden, Metallstäbchen zum Glühen, wie auch das Zubehör einer reichhaltigen Reiseapotheke beweisen, daß man schon im 3. Jahrtausend v. Chr. auch eine reiche chirurgische Tätigkeit entfaltete. Ferner sprechen vorzüglich geheilte Knochenbrüche an Mumien für eine große praktische Erfahrung im Einrichten von solchen und von Verrenkungen, wie auch für die Wundbehandlung im allgemeinen. Szenen, welche uns das Anlegen von Verbänden an diesem oder jenem Glied von Verwundeten und Kranken, das Darreichen von Arzneien, das Anlegen von Schröpfköpfen, die Vornahme verschiedener Operationen, wie Amputation und Kastration, veranschaulichen, finden sich auf verschiedenen Denkmälern. Zur durchgängig an den Knaben geübten Beschneidung, die wir beispielsweise auf einer Darstellung am Tempel des Chonsu in Karnak an den Kindern Ramses’ II. der 19. Dynastie (1292–1225 v. Chr.) dargestellt finden, dienten wie zu andern chirurgischen Eingriffen des Kultes Messer aus Feuerstein. Solche wurden auch in den Riten zahlreicher anderer Völker noch lange nach Einführung der Metalle als Werkzeugmaterial wenigstens bei gottesdienstlichen Handlungen beibehalten.
Die altägyptischen Ärzte übten keinerlei Privatpraxis aus, sondern standen im Solde des Staates. Sie wohnten wie die übrigen Priester mit ihren Familien in eigenen Häusern, bildeten aber unter sich eine durch strenge Satzungen geordnete Korporation, die auch in der Ausübung ihrer Kunst sich gewissenhaft an die vorgeschriebenen medizinischen Regeln des Thot zu halten hatte. Befolgten sie dieselben und starb der Kranke, so waren sie aller Verantwortung enthoben, hielten sie sich aber nicht an die vorgeschriebene Norm und gingen sie eigene Wege in der Methodik der Behandlung, so wurden sie mit dem Tode bestraft, und zwar auch dann, wenn der Ausgang der Krankheit ein günstiger war. Jeder Kranke wurde umsonst auf Staatskosten behandelt, mußte aber bei seiner Erkrankung nicht in das Haus des Arztes, sondern in den Tempel schicken, um ärztliche Hilfe zu erbitten. Dabei hatte der Bote genau anzugeben, an welchem Übel der Betreffende erkrankt sei, worauf der Arzt des Heiligtums nach irgend einem der Spezialisten des Kollegiums sandte und ihn in das Haus des betreffenden Patienten beorderte. Wenn auch die ärztliche Behandlung vollständig umsonst war, da ja die Priester vom Staate besoldet wurden und zu ihrem Unterhalt besondere Ländereien und sonstige Einkünfte erhielten, so war es doch Sitte, daß die Patienten nach ihrer Genesung demjenigen Heiligtum, das ihnen den Arzt gesandt hatte, je nach Vermögen einfache oder ansehnlichere Geschenke darbrachten oder zum Unterhalt der in den Tempelhöfen gehaltenen heiligen Tiere beitrugen.
Bei allen Völkern des Altertums waren die ägyptischen Ärzte um ihrer großen Erfahrung und Geschicklichkeit in der Behandlung der verschiedenen Krankheiten willen berühmt. Und obschon bei den Römern zu Ende der Republik und zu Beginn der Kaiserzeit die sehr angesehenen griechischen Ärzte eine überaus erfolgreiche Tätigkeit entfalteten, ließ man beispielsweise, wie uns Plinius berichtet, unter der Regierung des Kaisers Tiberius Claudius (41–54 n. Chr.) beim Ausbruch einer schrecklichen und furchtbar verheerend wirkenden Seuche ägyptische Ärzte nach Italien kommen, die mit ihren Kuren viel Geld verdienten.
Die als Ärzte die Heilkunde ausübenden Priester bildeten den niedersten Stand der Priesterschaft. Weit höher standen im Ansehen des Volkes die als Propheten bezeichneten Mitglieder des Priesterkollegiums, die nicht durch äußere Mittel, sondern durch Beschwörungen und Zaubermittel, wie auch durch Amulette allein mit Hilfe der Dämonen die Krankheiten zu bannen verstanden. So wurde auch bei[S. 268] diesem Volke, als es bereits sehr hoch in seiner Kultur gestiegen war, der beim Anwenden eines Mittels gesprochene Zaubersegen als noch viel wirksamer als die Arznei selbst betrachtet. Zu dieser Priesterkaste der Propheten gehörten auch alle die Weisen, Wahrsager und Zauberer, welche in den Büchern Moses, besonders im II. Kap. 7 und 8, als mächtige Zauberer mit ihren Beschwörungen Wundertaten vor dem Pharao verrichteten, aber von Mose, dem Jahve beistand, besiegt wurden. In den verschiedenen auf uns gekommenen ärztlichen Papyri wird jeweilen nicht nur die bei den verschiedenen Krankheiten anzuwendenden Heilmittel in genauer Rezeptierung, sondern auch die bei deren Anwendung auszusprechende Zauber- und Beschwörungsformel als das Allerwichtigste dabei sorgfältig angegeben. Schon bei ihrer Herstellung in den als asit bezeichneten, in besonderen Tempelräumen eingerichteten Laboratorien, an deren Wänden die heiligen Vorschriften zur Bereitung der Arzneien angegeben waren, mußten gewisse Zeremonien beobachtet und bestimmte Segen zu deren Wirksammachung gesprochen werden. Manche Kombinationen von Heilmitteln führte man direkt auf alte berühmte Heilkünstler oder gar Götter zurück. Die zahlreichen auf uns gekommenen Rezepte sind recht kurz gehalten und bestehen vielfach nur in Andeutungen, weil das einzelne als althergebracht und also allgemein bekannt vorausgesetzt wurde. Zur Herstellung der auf den medizinischen Papyri genannten Einreibungen, Salben, Umschläge, Pflaster, Tränke, Abkochungen, Speisemischungen, Klistiere usw., auf denen genau angegeben war, wann und wie sie zu applizieren oder einzunehmen waren, wurden allerlei pflanzliche und tierische Produkte, wie auch Mineralbestandteile zuerst sorgfältig mit der Wage gewogen und dann gemischt. Außer Natron, Brechweinstein, Antimon und Eisen bildeten zahlreiche pflanzliche Produkte nebst Wasser, Wein, Palmenwein, Essig, Honig, Menschen- und verschiedene Tiermilch, Blut, Galle, Fett und Exkremente der verschiedensten Tiere, auch Männer- und Frauenurin usw. eine wichtige Rolle. Die Mittel wurden für 4, 8, 9 oder 10 Tage verordnet. Die zahlreichen Rezepte zu Mitteln gegen Hautkrankheiten lassen darauf schließen, daß dieses Übel trotz aller Reinlichkeit damals im Pharaonenreiche sehr häufig war. Als Beispiele lassen wir drei Rezepte folgen:
„Desgleichen ein Mittel zu bewirken das Harnen:
Arznei für Leibesöffnung:
Wie wir durch Aristoteles erfahren, galt für jeden ägyptischen Arzt die gesetzliche Norm: die Entwicklung der Krankheit einige Tage zu beobachten und erst am vierten Tage mit einem entsprechenden Heilmittel wirksam einzugreifen. Die Kuren scheinen auch vielfach gelungen zu sein, so daß sich der Ruf der ägyptischen Ärzte weithin über die Mittelmeerländer verbreitete. Schon in Homers Odysse heißt es ja von Ägypten und seinen Bewohnern:
Dieser Ausspruch hat insofern seine Berechtigung, als jeder Ägypter, um das Gesamtwohl des Volkes zu fördern, sich außer der täglichen äußerlichen Reinigung alle Monate einmal drei Tage hindurch durch Brech- und Abführmittel, Waschungen und Klistiere auch innerlich zu reinigen und gewisse diätetische Vorschriften zu beobachten hatte, da nach althergebrachter Annahme die meisten Krankheiten aus Unreinigkeiten des Magens, der Eingeweide und der Haut entstehen sollten. „Eben dieser Diät wegen“, sagt Herodot im 5. vorchristlichen Jahrhundert, „sind die Ägypter neben den Libyern das gesundeste Volk der Erde.“ Das Volk lebte sehr einfach und badete täglich, um alle Ansteckungsstoffe, namentlich den gefürchteten Aussatz, vom Körper fernzuhalten. Aus denselben Gründen trug man auch nicht wollene, sondern leinene Kleider und mied gewisse Speisen, wie Schweinefleisch, Seefische und Saubohnen. Selbst den Königen war für den täglichen Verbrauch ein bestimmtes Quantum von Speisen und Getränken vorgeschrieben, das nicht überschritten werden durfte.
Da die altägyptischen Ärzte aus religiöser Scheu vor dem Leichnam ihn nicht sezierten und die Einbalsamierer eine besondere Zunft[S. 270] bildeten, die außerhalb des Priesterkollegiums stand und sich im allgemeinen wohl keines besonders guten Rufes erfreute, da man ihnen schöne Frauenleichen erst am dritten oder vierten Tage nach dem Tode überließ, so herrschten bei den Ärzten höchst abenteuerliche Vorstellungen über den anatomischen Bau des menschlichen Körpers, auf die wir hier allerdings nicht eintreten können. Nur das eine sei erwähnt, daß man glaubte, das Herz nehme bis zum 50. Jahre jährlich um zwei Quentchen zu, um von da an jährlich um ebensoviel abzunehmen, so daß notgedrungen der Tod vor dem vollendeten hundertsten Lebensjahre erfolgen mußte.
Dieselbe Stellung wie der Heilgott Imhotep bei den Ägyptern nahm bei den alten Griechen der göttliche Asklepios ein, der etwa im 13. vorchristlichen Jahrhundert in Thessalien gelebt haben soll. Die ausschmückende Sage hat ihn zu einem Sohne des Lichtgottes Apollon und der Königstochter Koronis gemacht, der zu Trikka in Thessalien, der Wiege seiner Verehrung, geboren und nach dem frühen Tode seiner Mutter vom weisen Kentauren Cheiron erzogen wurde, der ihn besonders in der Heilkunst unterrichtete. Da er sogar Verstorbene erweckte, erschlug ihn dann nach der Sage Zeus mit dem Blitz, in der Befürchtung, die Menschen möchten durch ihn ganz dem Tode entzogen werden; nach anderer Überlieferung geschah dies auf die Beschwerde des Gottes der Unterwelt hin. Bei Homer und Pindar ist Asklepios noch als einfacher Mensch gedacht, dessen Vergöttlichung eben begann. Seine Söhne Podaleirios und Machaon erscheinen in der Ilias als Ärzte im Heere der Griechen. Sie und ihre Nachkommen, die Asklepiaden, hatten sich durch einen feierlichen Eid verpflichten müssen, ihre Kunst nur den dazu Berechtigten und unter den herkömmlichen Bedingungen zu lehren. Bei ihrer Behandlung spielte die Inkubation (griechisch enkoimésis genannt) die größte Rolle. Sie bestand darin, daß der Kranke an geweihter Stätte — eben im Tempel des Heilgottes — auf dem Felle des von ihm geopferten Tieres schlief, um im Traume vom Heilgotte eine Offenbarung über das anzuwendende Mittel zu erlangen. Meist leiteten die Priester, die zugleich Ärzte waren, die Inkubation ein und legten die Träume der Kranken aus, oder träumten wohl auch selbst für diese. Das übliche Opfer der Genesenen war ein Hahn, den auch Sokrates nach seinem Tode (399 v. Chr.) durch das ihm auferlegte Trinken des Schierlingsbechers dem Heilgotte darzubringen befahl. Und zum Danke an den Gott hingen die Geheilten Votivtafeln mit dem Bericht über die von ihnen angewandte[S. 271] Kur im Tempel auf. Eine größere Anzahl derselben haben die neuesten Ausgrabungen zu Epidauros am äginetischen Meerbusen in der Argolis, wo in Griechenland der Hauptsitz seiner Verehrung war, zutage gefördert. Von diesem Orte aus verbreitete sich der Asklepioskult über ganz Griechenland, die ägäische Inselwelt und die Küste von Kleinasien, wo besonders in Kos, Knidos, Trikka, Pergamon und Athen sich einst vielbesuchte Heiligtümer von ihm befanden. Diese waren stets in gesunder Lage auf Anhöhen in heiligen Hainen, in der Nähe von Quellen und Heilwassern errichtet, und auch die von den Heilpriestern den Kranken befohlene Tempelkur bestand in auch nach unseren viel weiter geförderten Anschauungen recht zweckmäßigen hygienischen Verordnungen. So kann es uns nicht wundern, daß der Asklepiosdienst sich mit der griechischen Kolonisation weithin in den Ländern am Mittelmeer verbreitete. Das Symbol des Gottes, der von den Bildhauern bärtig, im Gesichtsausdruck dem Zeus ähnlich, nur milder und jugendlicher, dargestellt wurde, war die Schlange, und zwar die gelbliche Natter (Coluber aesculapi), die in seinen Tempeln gehalten und bei der Gründung neuer Kultstätten in diese übergeführt wurde. So gelangte die Äskulapschlange mit dem Dienst des in Italien Äskulap genannten Asklepios aus Epidauros nach Rom, als dort sein Kult im Jahre 293 v. Chr. bei einer Pest auf Befehl der sibyllinischen Bücher eingeführt wurde. In dieser Stadt stand der Tempel des Heilgottes auf der Tiberinsel. Mit den Römern kam dann diese Schlangenart, die sich in Südeuropa vornehmlich auf felsigem, spärlich mit Buschwerk bestandenem Boden aufhält und hier eine Länge von 1,5 m erreicht, an alle natürlichen Thermen nördlich der Alpen, wo Kranke Genesung suchten. Deshalb wird dieses in jeder Beziehung anmutige Tier heute noch überall, wo einst Römerbäder standen, z. B. in Schlangenbad, Baden bei Wien usw., gefunden.
Bei den alten Germanen wurde kein besonderer Heilgott verehrt. Wie bei allen Völkern auf primitiver Kulturstufe war bei ihnen die Heilkunst kein Privileg einer besonderen Kaste, sondern wurde von sämtlichen älteren und durch Erfahrung belehrten Volksgenossen, besonders weisen Frauen, denen man besondere Zauberkräfte zuschrieb, ausgeübt. Als Heilmittel wurden außer mineralischen und tierischen Produkten die Säfte der verschiedensten Pflanzen verwendet, wie dies heute noch bei allen Völkern der Erde geschieht. Hat man doch ausgerechnet, daß bei diesen gegenwärtig noch etwa 40000 Pflanzen in arzneilichem Gebrauche stehen. Die zufällige Entdeckung einer heil[S. 272]samen Eigenschaft erweckte begreiflicherweise die Begierde nach weiteren solchen Offenbarungen der Natur, und wenn diese ausblieben, so bemächtigte sich die Phantasie des Wunsches und dichtete vielen Gewächsen Heilkräfte an, die diese gar nicht besaßen. So wurde aus geringem Wissen ein hoffendes Glauben und aus diesem ein üppiger Aberglaube. Man glaubte, daß alle durch Gestalt, Farbe und Entwicklungsweise ausgezeichneten Pflanzen besondere Kräfte haben müßten, so beispielsweise das Farnkraut, das keine Blüten aufwies und bei dem man auch keine Sämlinge fand. Dieses Kraut sollte in der an Zauber reichen Johannisnacht seinen Samen fallen lassen, der sofort tief in den Boden verschwinde und sich deshalb dem menschlichen Auge entziehe. Das in den halbdunkeln Klüften goldigschimmernde Leuchtmoos wurde als das Gold der Kobolde gedeutet, das wie die meisten Heilsäfte aus Kräutern nur durch Zauber gewonnen werden könne. Man glaubte, daß sich die geheimen inneren Kräfte der Pflanzen vielfach schon an besonderen Merkmalen der äußeren Erscheinung erkennen lassen. Das leberartig gestaltete Blatt des Leberblümchens (Hepatica triloba) sollte heilsam sein bei Leberkrankheiten, das ohrförmige Blatt der Haselwurz (Asarum europaeum) sollte gut sein gegen Gehörleiden, die am Stengel entlang laufenden Blätter des Beinwells (Symphytum officinale) sollten Knochenbrüche heilen, wie die um den Stengel herum verwachsenen Blätter des Hasenohrs (Bupleurum rotundifolium) Wunden zusammenschließen sollten.
Gegen alle möglichen Leiden wurde das Schellkraut (Chelidonium majus) verwendet, das seinen Namen vom Vermögen Warzen abzulösen und die Haut bei Krankheiten derselben abzuschälen — vom althochdeutschen sceljan schälen — erhielt. In Rußland wird es gegen Krebs gegeben und wurde von dorther erst kürzlich auch bei uns als Krebsheilmittel empfohlen. Sein dunkelgelber Milchsaft sollte Gelbsucht heilen und wurde von den Alchemisten des Mittelalters vorzugsweise zum Goldmachen verwendet, daher die Pflanze auch Goldwurz heißt. Wegen dieser seiner Fähigkeit, die zugleich das Vermögen der Herstellung des „Steines der Weisen“ in sich schloß, der nach dem damals allgemein verbreiteten Glauben seinem Besitzer ewige Jugend und unermeßliche Reichtümer brachte, da er alle vier Elemente: Feuer, Luft, Wasser und Erde enthalten sollte, hieß das Schellkraut bei den Alchemisten „coeli donum“, d. h. Himmelsgabe. Der botanische Gattungsname Chelidonium ist aber nicht etwa daraus hervorgegangen, wie man vermuten könnte, sondern aus dem griechischen chelidón[S. 273] Schwalbe. Die Pflanze hatte nämlich schon im Volksglauben des Altertums mancherlei Beziehungen zu diesem Zugvogel. Sie blüht bei der Ankunft der Schwalben und welkt nach deren Wegzug. Aristoteles, der Vater der Naturgeschichte und Metaphysik (384–322 v. Chr.), der den Gelehrten des Mittelalters als absolute Autorität galt, sagt von ihr: die Schwalben hätten ihren erblindeten Jungen durch deren Milchsaft die Sehkraft wieder verschafft: dadurch seien überhaupt die Menschen auf die Heilwirkung der Pflanze aufmerksam geworden. Der 1590 als Leibarzt des Pfalzgrafen Johann Kasimir in Heidelberg gestorbene berühmte Arzt Tabernaemontanus (nach seinem Geburtsorte Bergzabern so genannt) gibt in seinem Kräuterbuch, an dem er — nebenbei bemerkt — 36 Jahre gearbeitet hat, etwa 30 Rezepte an, in denen das Schellkraut einen wesentlichen Bestandteil bildet; in einem derselben wird der Blütensaft mit Honig zu Sirup gesotten. Als Amulett sollte die Wurzel stets bei sich tragen, wer bei seinen Mitmenschen zu hohem Ansehen gelangen will. Und wer über den Ausgang einer schweren Krankheit Bescheid haben möchte, der braucht die Pflanze dem Kranken nur auf den Kopf zu legen; weint der Kranke dabei, so wird er genesen, singt er aber laut und hell, so muß er sterben.
Auch die Raute (Ruta graveolens) sollte mancherlei Zauber- und Heilkräfte in sich bergen, weshalb sie schon bei den Römern in hohem Ansehen stand. Aus ihr hergestellte Tränke sollten gegen die verschiedensten Krankheiten, besonders aber gegen Kolikschmerzen heilsam sein; gegen diese sollte schon ein über den Kesselbalken des Herdes aufgehängtes Stengelbündel der Raute helfen. Stücke der Pflanze um den Hals gehängt sollten Blatternkranken die Sehkraft erhalten; wer sich vor Schlangengift schützen wollte, der brauchte nur die Füße damit einzureiben. Der ums Jahr 180 n. Chr. lebende griechische Sophist Claudius Älianus erzählt in seinen Tiergeschichten: das Wiesel kenne diese Wirkung sehr wohl. Sobald es den Kampf mit Giftschlangen zu unternehmen beabsichtige, fresse es Rautenblätter und dann könnten ihm diese mit ihrem Gifte nichts anhaben. Besondere Bedeutung erlangte die Raute durch das Christentum. Es sollte die bösen Geister und das Ungeziefer vertreiben und, kreuzweise im Zimmer aufgehängt, gegen Alpdrücken schützen. Aus Rautenöl wurde der „Diebsessig“ hergestellt, der alle Ansteckungsstoffe unschädlich machen konnte und bis vor kurzem ein in Apotheken erhältliches Desinfektionsmittel bildete. Seinen Namen erhielt dieser Stoff von dem Umstande, daß ihn Diebe gewöhnlich brauchten, um zu Pestzeiten ungefährdet die[S. 274] Wohnungen der Kranken und Toten plündern zu können. Sie wurde und wird noch jetzt viel in Bauerngärten angepflanzt und so mancher Bauer im östlichen Deutschland genießt in jedem Frühjahr ein mit Raute bestreutes Brot, um den Magen zu reinigen, das Jahr über guten Appetit zu haben und von Krankheiten verschont zu bleiben.
Noch mehr Zauber wurde mit dem Johanniskraut (Hypericum perforatum) getrieben, dessen Blätter durch das Vorhandensein von Öldrüsen durchsichtig punktiert erscheinen und dessen Blütenknospen einen an der Luft sich rot färbenden Saft enthalten, weshalb es auch Blutkraut genannt wurde. Nach der deutschen Sage war es zur Sommersonnenwende aus dem Blute des von einem Eber geritzten Gottes Odin hervorgesproßen, während die christliche Kirche das Kraut aus dem Blute Johannes des Täufers hervorgehen ließ. An der Johannisfeier wurden Häuser und Kirchen damit geschmückt, damit Leib, Seele und Besitztum vor Schaden bewahrt blieben. Man trug das Blutkraut immer bei sich, um vor Verwundung und Verhexung geschützt zu sein; gefolterte Hexen erhielten einen aus ihm und Distelsamen gekochten Trank „Olebanum“, damit der Teufel ausfahre und sie bekennen sollten. Deshalb war der Teufel gegen das Kraut sehr erbost und wollte es vernichten. Zu diesem Zwecke ließ er sich viele Nadeln machen und zerstach damit die Blätter; doch verdorrte das Kraut nicht, aber seine Blätter zeigen die Nadelstiche noch heute. Will man erkennen, ob ein Hexenmeister zugegen sei, so legt man unter das Tischtuch von der Wurzel des Johanniskrauts, ohne daß jemand es merkt; sitzt nun ein Zauberkundiger mit zu Tisch, so wird es ihm sofort übel und er muß hinausgehen. Das Kraut dient auch zu Liebeszauber, wenn man es sich an die Brust steckt und der betreffenden Person, deren Liebe man sich zu erringen sucht, begegnen kann. Es kann aber auch Liebe vertreiben, wenn man es der betreffenden Person in die Schuhe oder in ein Kleid hineinpraktiziert.
Die Springwurz (Euphorbia lathyris) ist eine aus dem Mittelmeergebiet stammende Pflanze, deren Früchte bei der Reife mit starkem Geräusch aufspringen, wobei die Samen heftig herausgeschleudert und so verbreitet werden. Darin glaubte man die Kraft zu erkennen, wonach die Pflanze die Fähigkeit besitze, alles Geschlossene oder Feste aufzusprengen und Nägel, Pflöcke usw. auszuziehen. Schon Salomo soll den „Schamir“ als felsenspaltendes Mittel beim Bau seines Tempels in Jerusalem benutzt haben. Er hatte sich ihn dadurch verschafft, daß er das Nest und die Brut eines „Urhahns“ mit einem „Kristall“ be[S. 275]decken ließ; der Vogel holte nun den Schamir herbei und wollte damit den Stein wegsprengen, da liefen die Leute des Königs mit großem Geschrei herbei, und der Urhahn ließ vor Schreck die Wurzel fallen, die man dem Könige brachte. In Deutschland wuchs diese Springwurz nicht, man konnte sie sich nur in der Weise beschaffen, daß man das Nest eines Schwarzspechts mit einem Pflock verschloß, dann holte der Vogel die Springwurz herbei und hielt sie an den Pflock, wie der ältere Plinius nach Demokrit und Theophrast erzählen; in diesem Moment mußte man unter dem Nest einen roten Mantel ausbreiten und ein lautes Geschrei erheben, dann erschrak der Vogel und ließ die Springwurz zu Boden fallen. Der gelehrte Konrad von Megenberg (um 1309 auf dem Schlosse Megenberg in Franken, dessen Vogt sein Vater war, geboren und 1374 als Kanonikus am Dom zu Regensburg gestorben), der Verfasser der ersten Naturgeschichte in deutscher Sprache, bemerkt dazu, es sei nicht gut, wenn dieses Mittel allgemein bekannt würde, denn dann wäre kein Schloß mehr sicher. Diese Wirkung des Krautes galt als sehr weitgehend, indem bei Berührung mit demselben dem Gefesselten die Ketten und Bande, wie dem Zahnkranken die hohlen Zähne ausfallen sollten, das Pferd seine Hufeisen verliere usw. Außer dem Specht kennen auch Elster, Rabe, Wiedehopf und Schwalbe diese Eigenschaft des Krautes. Der Specht mit seiner Springwurz war im römischen Altertum das Symbol des Blitzes; wie dieser alles spalten und öffnen kann, so der Specht beziehungsweise die Springwurz. Auch in der germanischen Göttersage spielt sie eine gewisse Rolle. Als sich nämlich Gerda weigerte, Fros Weib zu werden, und selbst die Lockung durch die goldenen Äpfel nichts nutzten, so drohte man ihr mit der Springwurz, die sie schon zwingen werde. Deshalb wurde letztere auch Zähmezweig genannt. Sonst dienten die Samen als Purgierkörner und der Saft als Blutreinigungsmittel bei Flechten und anderen Hautausschlägen. Daher empfahl Karl der Große den Anbau des „Pillenkrautes“.
Mit dem zauberkundigen jüdischen Könige Salomo hängt auch der Salomonssiegel (Polygonatum anceps und P. multiflorum) zusammen; dieser soll die Siegeleindrücken gleichenden Narben der vorjährigen Sprosse am wagrecht im Boden kriechenden Wurzelstock verursacht haben, um anzuzeigen, daß der Pflanze besondere Kräfte innewohnen. Er soll sie auch als Sprengmittel beim Tempelbau verwendet haben.
Einen ähnlichen unterirdischen Wurzelstock besitzt der Wurmfarn[S. 276] (Polystichum filix mas), der nur in der an Zauber reichen Johannisnacht mit goldenem Lichterglanz blüht. Es sind dies die Sporen, die aber nur mit Hilfe des Teufels erlangt werden können, die von großer Kraft gegen Verhexung, Irregehen und Erkrankung im allgemeinen sein und immerwährende Jugend, Glück, Reichtum und die Erfüllung aller Wünsche verleihen sollten. Wird der „Wünschelsame“ in den Schuhen getragen, so sollte er unsichtbar machen.
Die Siegwurz oder der Allermannsharnisch verhilft zu Sieg und schützt gegen Zauberei und Krankheit, die dem Menschen auf niedriger Kulturstufe auch nur Folge von Verhexung ist. Und zwar unterschied das Volk zweierlei Art: die weibliche Siegwurz war Gladiolus (von gladius Schwert) communis. Schon die schwertförmigen Blätter sollten die Schutzwirkung anzeigen, und die von netzigen Fasern, den Resten der Blattgefäßbündel, bekleidete rundliche Knolle erschien wie ein Panzerhemd oder Harnisch. Die männliche Siegwurz dagegen war Allium victorialis. Ihre längliche Zwiebel hat ebenfalls eine netzfaserige Hülle; dem sie Tragenden sollen sieben Hämmer nichts anhaben können, daher wird sie auch „Siebenhämmerlein“ genannt. Um für alle Fälle die gewünschte Schutzwirkung zu besitzen, wurden die beiden Wurzeln als Mann und Frau zusammengetan. Noch bis in unsere Zeit verlangten die Bauern in Norddeutschland in den Apotheken „He un Se“, d. h. Er und Sie, und nagelten sie zum Schutze gegen Zauberei und Teufelsspuk an ihre Türen. Auch in der Schweiz hängt man Allium victorialis gegen Unwetter und Hexerei in der Wohnung auf; aufs Bett gelegt wirke es gegen Albdrücken und in ein Tuch eingebunden heile es Zahnschmerzen und Kopfweh. Der vorhin angeführte Arzt Tabernaemontanus sagt in seinem Kräuterbuch, daß die Bergknappen sie mit sich führen, um damit die Gespenster und bösen Geister zu vertreiben, von denen sie angefochten werden. Besonders aber ward sie von den Landsknechten hochgehalten, die sie als Amulett stets bei sich trugen, um hieb-, stich- und schußfest zu sein.
Das durch zwei hodenförmige, als Reservestoffbehälter dienende Knollen ausgezeichnete Knabenkraut (Orchis maculata) diente zu Liebeszauber und war als „Heiratswurz“ gesucht. Wird die Pflanze am Johannistage ausgerissen, so bleibt sie monatelang grün und hält alle Krankheit von den Bewohnern fern. Wird sie in die Kleider genäht, so erwirbt sie dem Träger derselben die Zuneigung der Menschen. Die handförmig geteilten Knollen des breitblätterigen Knabenkrautes[S. 277] aber dienten als „Teufelshand“ als Talisman gegen den bösen Blick, Verhexung und Krankheit, die natürlich wie alles Unerklärliche auch auf Zauberei zurückgeführt wurde. Wer sie bei sich trägt, hat Glück im Spiel und immer Geld im Beutel; nur darf man sie nicht im Hause aufbewahren, da sonst den Kühen die Milch schwindet. Sie ist aber nur dann eine Glückshand, wenn sie am Johannistage mittags oder nachts 12 Uhr ausgegraben wurde.
Besonders stark beschäftigte die Volksphantasie die so geheimnisvoll nie auf dem Boden, sondern stets nur auf Bäumen wachsende Mistel (Viscum album), die im Winter, während sonst alles abstirbt, weitergrünt; deshalb vermochte sie allein den Sonnengott Balder zu töten, als der tückische Loki den blinden Hödur bewog, einen aus Mistelholz geschnitzten Pfeil gegen ihn abzuschießen. Besonders zauberkräftig war die allerdings äußerst selten auf einer Eiche wachsend gefundene Mistel, die die allerschlimmsten Krankheiten heilte, alle Giftwirkung aufhob und allem Fruchtbarkeit verlieh. Schon bei den Kelten genoß sie das größte Ansehen. War eine solche Rarität entdeckt, so holten sie die Druiden in feierlichem Aufzuge am sechsten Tage nach dem Neumond. Zuerst wurden unter dem Baum allerlei Opfer dargebracht, dann schnitt der weißgekleidete Oberpriester die zauberkräftige Pflanze mit goldener Sichel ab und verbarg sie in seinem Mantel. Als Sühne für den Frevel wurden dann zwei weiße Stiere geopfert und bei dem darauf folgenden Opferschmause besondere Riten beobachtet. Die Mistel heißt noch heute in der Altmark „Heil allen Schaden“. Am wirksamsten ist eine mit dem Pfeil vom Baume geschossene Mistel, die man, ehe sie zu Boden fällt, mit der linken Hand auffängt; dazu muß aber die Sonne im Zeichen des Schützen stehen und der Mond im abnehmenden Licht sein. Da die Zweige der Mistel immer gabelig sind, so erblickte man darin eine Wünschelrute, welche Türen zu verborgenen Schätzen öffnen und Diebe bannen sollte. Sie hilft gegen Albdrücken und verleiht Fruchtbarkeit. So wurde sie als segenspendendes Symbol am Julfest in der Halle aufgehängt und band man Zweige von ihr in der Christnacht an die Obstbäume, damit sie im kommenden Jahre recht reichlich Frucht tragen möchten.
Geheimnisvolle Kräfte barg nach altgermanischem Glauben auch der dem Donnar heilige Haselstrauch (Corylus avellana). Wurden Runen in einen Haselstock geschnitten und das richtige Zauberlied dazu gesungen, so war das für die verschiedensten Dinge gut: es machte unverwundbar, der fliegende Pfeil wurde dadurch im Fluge gehemmt,[S. 278] wunde Glieder wurden geheilt, Feuer, Sturm und Wellen gedämpft, der Sieg errungen, streitende Männer versöhnt, Gefangene gelöst und die Minne der Frauen errungen. Diese Macht ist wohl dem frühen Blühen der Hasel, vor allen anderen Pflanzen unserer Zone, zuzuschreiben. Daher war sie auch ein Sinnbild des Lebens und seiner Neuerstehung nach dem Winter, das Fruchtbarkeit verlieh. Hasel- und Holderzweig zusammengebunden, schützten vor dem wilden Heer, verscheuchten die Irrlichter, bewahrten vor Diebstahl und Verhexung, bannten Giftschlangen und entzauberten verhexte Gegenstände. Unter dem Haselstrauch, der eine Mistel trägt, wohnt der Haselwurm oder Schlangenkönig, eine weiße, gekrönte Schlange von fabelhafter Stärke, die durch den dicksten Eichbaum wie nichts hindurchfuhr. Um ihn einzufangen, mußte man den betreffenden Haselstrauch im Namen Gottes begrüßen, ihn ausgraben, den darunterliegenden Wurm durch Hersagen eines gewissen Zauberspruches „besprechen“ und mit Beifuß bestreuen; das nahm ihm seine Kraft. Im Besitze des Haselwurmes kannte man alle geheimen Kräfte der Pflanzen, war gegen alle bösen Geister und alle Zauberei übelwollender Menschen gesichert, fand alle verborgenen Schätze, konnte durch alle Türen brechen, war unverwundbar und unsichtbar. Sogar der Böse mußte einem zu Willen sein. Aber in jeder Nacht zwischen 11 und 12 Uhr mußte der Haselwurm mit einem Ei und Raute gefüttert werden.
Auch der Wacholderstrauch (Juniperus communis) galt den alten Deutschen als mit wunderbaren Zauber- und Heilkräften begabt und spielte als solcher in Sitte und Sage eine große Rolle. Noch heute hält das Volk große Stücke auf den Kranawitt- oder Machandelbaum, dessen Beeren und aus dem Holz gewonnenes Öl seit dem Altertum als Volksheilmittel viel gebraucht werden. Wacholderreisig verwendeten die alten Germanen zu ihren Opfern und beim Verbrennen der Toten. Nach altem Volksglauben schützt der Rauch verbrannter Zweige vor Ansteckung und vertreibt böse Geister und Schlangen.
Eine Allerweltszauberpflanze war ferner der Alraun oder das Erd-, Gold- oder Galgenmännlein, so genannt, weil er unter dem Galgen aus dem Samen eines unschuldig gehängten jungen Diebes hervorgehen sollte. Doch ist die Erlangung desselben mit allerlei Gefahren verbunden. Der in der Wurzel hausend gedachte Geist schrie beim Herausgraben so entsetzlich, daß man vor Entsetzen starb; daher benutzte man bei deren Gewinnung einen schwarzen Hund, der aber[S. 279] bei diesem Geschäft das Leben einbüßte. Die Wurzel mußte an einem Freitag vor Sonnenaufgang ausgegraben werden, und zwar legte man sie zuerst ringsherum frei, schlug drei Kreuze, sprach einen Zauberspruch, band einen Strick daran und ließ sie durch den schwarzen Hund, an dem kein weißes Haar sein durfte, vermittelst des Schwanzes herausziehen, nachdem man sich vorher die Ohren sorgfältig mit Wachs verstopft hatte. Eben diese Gewinnungsart, die stets gleich geschildert wird, erzählte eine alte Frau in Göttingen Dr. Crome. Das dabei im Jahre 1820 unter dem Hochgericht auf dem Leineberge bei jener Stadt gewonnene „Alruneken“ habe den Mann, der es sich mit Hilfe des Teufels verschaffte, sehr reich gemacht. Solche Alraune verschafften nicht bloß Reichtum, sondern schützten vor allem Zauber, machten ihren Besitzer unsichtbar, öffneten die verschlossenen Türen, bewahrten vor Blitzschlag, gaben Glück zu jedem Tun, Gesundheit und kinderlosen Frauen Fruchtbarkeit. Sie mußten sehr heimlich gehalten, am besten in einem Holzkästchen verwahrt werden und wurden bloß beim Schätzeheben, Wahrsagen und sonstiger von ihnen verlangter Arbeit hervorgeholt. Man setzte ihnen bei jeder Mahlzeit etwas zu essen und zu trinken vor, wusch sie alle Freitage oder Sonnabende mit Wein oder Wasser, zog ihnen an Neumonden frische Kleider aus weißer oder roter Seide an. Starb ihr Besitzer, so wurde der Alraun auf den jüngsten Sohn vererbt; starb dieser aber vor dem Vater, so erhielt ihn der älteste Bruder. Er war der beste Talisman gegen Erkrankung, und da er sonst noch alle möglichen guten Eigenschaften aufwies, so wurde er geradezu mit Gold aufgewogen und ein schwunghafter Handel mit ihm getrieben.
Schon das früheste Altertum hat ihn gekannt und verehrt. Er wurde ursprünglich aus der fleischigen Pfahlwurzel einer im ganzen Mittelmeergebiet heimischen Nachtschattenart, der Mandragora officinalis mit grünlichgelben Blüten und gelben Beeren von 1,5 cm Durchmesser, gewonnen. Diese sollte der menschlichen Gestalt ähnlich sein, was schon Pythagoras bezeugt, und wurde deshalb als ein mit Zauberkraft wie alle Geister Verstorbener ausgestattetes Erdmännlein oder Erdweiblein — denn man unterschied auch hier zweierlei Geschlechter — angesehen. Aber ganz abgesehen von ihrer Zauberkraft, barg die Wurzel betäubende Stoffe, weshalb man sie im Altertum zur Schmerzlinderung vor chirurgischen Operationen gab. Noch im Mittelalter wurde ihr Saft mit demjenigen von Bilsenkraut und Mohn als Betäubungsmittel verabreicht. Im Abendlande, wo die echte Mandragora nicht[S. 280] mehr gedeiht, ersetzte man sie vielfach durch die rübenförmige Wurzel der Zaunrübe (Bryonia dioica), die an Zäunen und Hecken wächst. Ihr Saft dient seit alter Zeit als Abführmittel und sie selbst als Alraun, der zu mannigfaltiger Zauberei, namentlich aber zu Liebeszauber benutzt wurde. Noch heute ist auf dem Lande der Glaube verbreitet, daß, wenn ein Mädchen auf dem Gange zur Kirmeß ein Stückchen Wurzel der Zaunrübe in die Schuhe lege, ihr alle Burschen zufliegen werden. Der ältere Plinius berichtet, daß sie vor Raubtieren schütze und Knochensplitter aus Wunden ziehe, den Ertrag der Milch vermehre und das Verderben derselben verhindere. Die Jungfrau von Orleans soll einen Alraun besessen haben, daher ihre Erfolge. Der in der Bibel mehrfach erwähnte dudaim, von Luther mit „Lilien“ übersetzt, wird vielfach als Alraun gedeutet, ist aber wahrscheinlicher die auch heute noch im Orient vielfach zu Liebeszauber benutzte Frucht von Cucumis dudaim.
Es würde uns zu weit führen, hier alle die zahllosen Pflanzen anzuführen, die bei unseren Vorfahren als Arznei und Zaubermittel gebraucht wurden, und wie bei ihnen war es bei den anderen Völkern. Das erkennen wir deutlich an der Herkunft des griechischen Wortes phármakon, das unserer Bezeichnung Pharmazie zugrunde liegt und sowohl Zauber- als Heilmittel heißt. Pharmakis bedeutet die Zauberin, und diese war bei den alten Griechen zugleich Ärztin, die mit eigener Hand die mancherlei ihr als heilkräftig bekannten Kräuter sammelte und daraus die verschiedenen Heiltränke bereitete. Erst sehr spät wandten sich die Männer berufsmäßig dem Sammeln und Verkaufen der pflanzlichen Rohstoffe zu. Die Griechen nannten sie Rhizotomen oder Wurzelschneider, und erst als sie nach und nach auch die Zubereitung und den Verkauf der von den Ärzten angewandten Arzneien übernahmen, wurden sie pharmakopóles, d. h. Arzneiverkäufer, genannt. Aus ihnen wurden dann die Pharmazeuten im Sinne von Arzneibereitern, die später auch Apotheker hießen nach der griechischen Bezeichnung apothékē Aufbewahrungsort (für Kräuter nämlich). Dieser von den Römern als apotheca übernommene Ausdruck bedeutete später überhaupt das Lager der Arzneipflanzen, weshalb es im Mittelalter als Krauthausz verdeutscht wurde. In der mittelalterlichen Klosterwirtschaft wurde unter dem Wort Apotheke der Raum für die Heilkräuter verstanden, der im 13. Jahrhundert auch auf städtische Kräuterläden, in denen meist getrocknete Heilpflanzen feilgehalten wurden, überging. Nun verstanden begreiflicherweise die darin waltenden Apo[S. 281]theker Hilfe suchenden Kranken auch verwickeltere Arzneien, die zu Hause nicht so leicht bereitet werden konnten, herzustellen, was gerne benutzt wurde. So wurden sie allmählich von Heilkräuterverkäufern zu Bereitern von aus den Heilkräutern hergestellten Arzneien. Bei der Arzneibereitung war das Mischen der verschiedenen Stoffe das Wichtigste; der dafür im mittellateinischen gebrauchte Ausdruck conficere mengen führte dazu, das Produkt als confectum zu bezeichnen. Da nun die meisten Arzneistoffe des besseren Einnehmens wegen in Honig und später in Zucker eingebettet wurden, so bekam dann das Wort Konfekt mit der Zeit den Sinn einer künstlich bereiteten Süßware überhaupt, wobei der ursprüngliche Bezug auf Heilkraft mehr und mehr verschwand, so daß heute dieser Ausdruck nur Zuckerzeug bedeutet.
Nach dem Untergang der antiken Welt waren es in erster Linie die Araber gewesen, die von den Kulturvölkern des Altertums die Arzneikunde und Kenntnis der dabei angewandten Heilmittel übernahmen, um sie zur Zeit der Kreuzzüge den Abendländern zu vermitteln. Dabei lehrten sie diese auch allerlei neue Arzneiformen wie beispielsweise die Sirupe bereiten, die durchaus ein Geschenk arabischer Heilkunst sind. Aus dem arabischen scharâb Trank wurde das spanische scharope, das italienische sciroppo, siropo, das französische sirop und schließlich im 12. oder 13. Jahrhundert das deutsche Sirup. Es war dies ein dickflüssiger Trank, der sorgfältig aus allerlei Kräutern und Gewürzen mit Hilfe von Honig und später Zucker bereitet wurde. Häufig wurde er nach arabischem Muster mit Rosen- oder Veilchenwasser parfümiert. Sonst waren die wichtigsten Arzneiformen des Mittelalters die Elektuarien, im Deutschen zu latweri und zuletzt latwerg umgebildet. Es waren dies durch Kochen eingedickte Säfte verschiedener Heil- und Würzkräuter, die nach dem Wortlaute der ursprünglich griechischen Bezeichnung ekleiktón zerleckt werden sollten. Sie wurden entweder wie Salben in Büchsen, oder in Würfel geschnitten als Zeltelîn, oder in Stangenform gegossen, wie heute noch der eingedickte Lakritzensaft, aufbewahrt. Höchst selten gelangten Pulver und gar nie Pillen zur Anwendung, welch letztere erst in der Neuzeit in Aufnahme kamen.
Abgesehen von der arabischen Hochschule von Cordova, in der neben anderen Wissenschaften auch die Medizin und Alchemie reiche Pflege fanden, war Salerno in Unteritalien die älteste Pflegestätte der wissenschaftlich betriebenen Medizin in Europa. Im 12. Jahrhundert[S. 282] erließ König Roger von Neapel die erste Medizinalverfassung, die dann der seiner Zeit weit vorauseilende Kaiser Friedrich II. ausbaute und zu der er die erste Arzneitaxe hinzufügte. Erst sehr viel später wurde dann in Mitteleuropa die staatliche Überwachung über Zubereitung und Verkauf der Arzneimittel eingeführt, nachdem vom Beginne des 12. Jahrhunderts an sich in Frankreich, Deutschland usw. die Pharmazie von der Medizin getrennt hatte und reguläre Apotheken eingerichtet worden waren. Schon im 14. Jahrhundert erblühte eine freilich der Hauptsache nach alchemistische Literatur über die verschiedenen Präparate und Rohstoffe des Arzneischatzes, als deren vornehmste Träger Raimundus Lullus, Basilius Valentius, Albertus Magnus und Roger Baco zu nennen sind. Erst ganz allmählich und besonders durch die immer bedeutendere Förderung von seiten der Chemie konnte die Arzneimittellehre eine einigermaßen rationelle Gestaltung annehmen und sich von dem ungeheuren Wust und Ballast befreien, den viele Jahrhunderte in ihr aufgehäuft hatten. Immer mehr wurde die einst ganz unglaublich zahlreiche Menge der in den Apotheken gehaltenen Arzneistoffe eingeschränkt, so daß heute weitaus die Mehrzahl der einst arzneilichen Pflanzen nur durch das Anhängsel „officinalis“ hinter ihrem Namen als solche gekennzeichnet ist, jedoch keinerlei Verwendung mehr im Arzneischatze findet. Im folgenden sollen nun Herkunft und Verwendung nur der wichtigsten pflanzlichen Arzneimittel in Kürze besprochen werden.
Das Wort droga bedeutete ursprünglich einen wertvollen Arzneirohstoff vorwiegend aus der Gruppe der aromatischen Stoffe; doch scheint man bereits im 16. Jahrhundert den Begriff des Getrockneten damit verbunden zu haben. Sonst nannten die Lateiner des Mittelalters die arzneilichen Rohstoffe simplicia im Gegensatz zu den zusammengesetzten Arzneimitteln, die man als composita bezeichnete. Nach Tschirch ist heute noch in den holländischen Apotheken der Ausdruck simplicia für Drogen in Anwendung, und auch in Frankreich nennt man sie médicaments simples.
Solche Drogen waren um so geschätzter und teurer, je schwieriger sie zu beschaffen waren. Dabei spielte vielfach schon die Art der Gewinnung eine wichtige Rolle. Bis in die Neuzeit hinein waren nämlich nicht nur vom Volke, sondern auch von den Ärzten genau einzuhaltene Vorschriften bei der Herstellung von solchen gefordert. Wie bei den Menschen auf niederer Kulturstufe die bei der Einnahme einer Arznei gesprochene Zauberformel viel wichtiger als diese selbst ist, so[S. 283] achtete man auch bei uns bis vor noch nicht sehr langer Zeit genau auf die „Segen“, die bei der Gewinnung gewisser Drogen und dann wiederum bei der Herstellung der einzelnen daraus bereiteten Medikamente gesprochen werden mußten, wenn sie wirksam sein sollten. So sind nicht nur in den mittelalterlichen Kräuterbüchern, sondern auch in den bis ins 19. Jahrhundert hinein von Ärzten, Apothekern, aber auch allen besseren Familien, besonders des Adels geführten Arzneibüchlein, in denen die verschiedensten, von Geschlecht zu Geschlecht vererbten Rezepte zur Bereitung von Arzneien sorgsam zu allgemeinem Nutzen gesammelt wurden, jeweilen auch gewissenhaft die bei der Bereitung und Anwendung der betreffenden Heiltränke zu sprechenden „Segen“ notiert. Ließ man diese außer acht, so glaubte man, werde auch die Arznei trotz sorgfältigster Bereitung nicht die gewünschte Wirkung ausüben.
Wie für körperliche Krankheiten wurden Heiltränke aber auch für Liebes- und andern Zauber von den Laien so gut als von den Ärzten und Apothekern bereitet. Mit Vorliebe wurde das heilige Salböl und die Hostie, die heute noch vom Volke kraft der Weihung durch den Priester als mit besonderen Wunderkräften ausgestattet angesehen werden, zu solchem Liebeszauber, wie auch zu Krankheitszauber aller Art benutzt. Schon Kaiser Karl der Große verbot in einer Verordnung im Jahre 813 den Priestern bei schwerer Strafe, solches unter keinem Vorwand zu Heil- oder Zauberzwecken irgend welcher Art herzugeben. Und drei Jahrhunderte später beschwor Bruder Berthold namentlich die Bauern, weder mit dem Chrisma, noch gar mit der Hostie Zauberei zu treiben.
Auch ohne Beimengung von Pflanzenextrakten galt der Wein an sich schon als Heiltrank; er diente innerlich zum Kräftigen und Wiederbeleben der Körperfunktionen, und äußerlich zum Waschen der Wunden, bevor sie mit Öl getränkt wurden, wie dies ja schon im Altertum der Fall war. Es sei hier nur an die bekannte Geschichte vom barmherzigen Samariter erinnert. Mit Wein wurde unter anderm die im Mittelalter sehr oft genannte potio Paulina, der Trank des heiligen Paulus bereitet, wohl so genannt mit Anspielung darauf, daß der Apostel Paulus dem Thimotheus Wein gegen schwachen Magen und allerhand Krankheitsbeschwerden empfiehlt. Diese potio Paulina war eine Art Universalmittel, die alle Krankheiten des Kopfes, des Magens, der Brust, Schlagfluß, Lähmung und Pest heilen und den Mensch verjüngen und verschönen sollte; nur mußte sie häufig genossen[S. 284] werden, was sich aber nicht jedermann leisten konnte. Die letztere Vorschrift hat nach dem Berichte des Chronisten Thietmar von Merseburg (geboren 976 als Sohn des Grafen Siegfried von Walbeck, seit 1009 Bischof von Merseburg, gestorben 1019) der Markgraf Liuthar zu wörtlich befolgt; dadurch zog er sich durch den paulinischen Trank einen schweren Rausch zu und starb dabei plötzlich. Übrigens ist diese potio Paulina nichts anderes als der aus dem Altertum überkommene, überaus geschätzte Alantwein, der aus der Wurzel des Alantkrautes (Inula helenium) mit Zusatz von Honig durch ein umständliches Verfahren gewonnen wurde. Die Alantpflanze ist eine hohe Staude mit großen, rauhen Blättern und umfangreichen gelben, mit großen Strahlenblüten versehenen Köpfchen, die in ganz Südeuropa bis Persien heimisch ist. Sie wurde schon bei den Griechen und Römern kultiviert. Columella um die Mitte des 1. christlichen Jahrhunderts gibt uns ausführliche Anweisungen über deren Anbau. Nach ihm soll sie auf gut gedüngtem, tief gegrabenem Boden drei Fuß weit auseinandergesät und möglichst wenig versetzt werden, damit sie besser wachse. Sein Zeitgenosse, der ältere Plinius (gestorben 79 n. Chr. beim Vesuvausbruch, der Pompeji und Herkulanum verschüttete), sagt in seiner Naturgeschichte, der Alant sei an sich dem Magen nachteilig, werde aber durch Zusatz von Süßem sehr heilsam. „Man trocknet die Alantwurzel, stößt sie zu Pulver, tut dann eine Süßigkeit hinzu, oder man kocht sie mit einer Mischung von Essig und Wasser und gibt dazu noch eingekochten Weinmost, Honig, Rosinen und saftige Datteln. Man genießt sie auch mit Quitten, Spierlingsfrüchten (einer Art Mehlbeeren), Pflaumen, wozu man auch wohl Pfeffer und Thymian hinzusetzt. In dieser Weise dient die Alantwurzel als Magenstärkung, und es ist bekannt, daß Julia, die Tochter des Kaisers Augustus, sie in dieser Weise täglich aß.“ Diese Wertschätzung blieb der Alantwurzel das ganze Mittelalter hindurch erhalten. Noch in dem 1604 gedruckten Hausbuch des deutschen Arztes Colerus wird dem Alantwein, dessen Zubereitung ausführlich geschildert wird, ganz dieselben Eigenschaften zugeschrieben, die im Mittelalter von der potio Paulina gerühmt wurden; er sollte wider alle Gifte dienen, Brust und Lunge säubern, das Herz stärken und erfreuen, den verschleimten Magen reinigen, die Verstopfung der Leber und Milz beseitigen, sowie alle kalte, phlegmatische Feuchtigkeit wegnehmen, den Weibern die monatliche Reinigung fördern, gegen den Husten dienen, der von der Erkältung der Brust kommt, den Gries und Stein austreiben, die Gebärmutter stärken, die natürliche Hitze[S. 285] und Kraft erhalten, fröhlich und lustig machen und noch manches andere. Helena habe in Ägypten den Alantwein machen lernen als einen bewährten Trank für alles Gift, Leid und Trauern. Schon Plinius berichtet, daß die Pflanze helenium genannt werde, weil sie aus den Tränen der schönen Gattin des Agamemnon, Helena, hervorgegangen sein soll. Seit alter Zeit wird sie als sehr heilkräftig auch in Deutschland kultiviert und findet sich namentlich um Gebirgsdörfer herum verwildert. Ihr dicker Wurzelstock ist noch heute offizinell, weshalb die Staude auch an einzelnen Orten auf Feldern gebaut wird.
Seit dem hohen Altertum werden die Blätter und Wurzeln der 1–1,25 m hohen Eibischstaude (Althaea officinalis) gegen Husten und als schleimige Beimengung zu Latwergen und Pillen verwendet. Bei den alten Griechen und Römern hieß sie althaea, bei Scribonius Largus ebiscus und hibiscum, zur Zeit Karls des Großen mismalva oder ibischa, welch letzterer Name sich bei der heiligen Hildegard im 12. Jahrhundert allein vorfindet und zum süddeutschen Ibsche, wie auch zum norddeutschen Eibisch wurde. Sie wächst auf feuchtem, am liebsten salzigem Boden in Süd-, aber auch Mitteleuropa bis zur Ostsee, im gemäßigten West- und Nordasien, in Nordamerika und Australien. Die 1–1,25 m hohe Staude besitzt filzige Stengel und Blätter, große fleischfarbene Blüten und wird zur Gewinnung des starken Rhizoms besonders bei Bamberg, Nürnberg und Schweinfurt im großen kultiviert. Diese wird im Herbst von der zweijährigen Pflanze gesammelt und frisch geschält, ist weißgelblich, riecht süßlich, schmeckt fade schleimig und enthält 35 Prozent Schleim, 37 Prozent Stärke, 10 Prozent Zucker und 2 Prozent Asparagin. Sie dient neben den schleimig schmeckenden Blättern zur Bereitung von Brusttee. Der mit Zucker gekochte wässerige Auszug der Wurzel wird zu Sirup und gummöser Paste, ohne Zucker dagegen bei der Appretur und sonst vielfach verwendet.
Uralt ist auch die Verwendung des Baldrians (Valeriana officinalis), der bekannten Staude mit kurzem, aufrechtem, bis 1 cm dickem, oft Ausläufer und zahlreiche dünne, stielrunde Nebenwurzeln treibendem Rhizom, 30–150 cm hohem, oben verästeltem Stengel und rispigen Dolden von fleischroten, wohlriechenden Blüten. Diese in ganz Nordeuropa, Nordasien und Japan wachsende Pflanze liefert in ihrer Wurzel ein sehr wichtiges Arzneimittel. Diese hat eine braune Außenrinde, riecht nach dem Trocknen eigentümlich kampferartig unangenehm[S. 286] — doch lieben bekanntlich die Katzen den Geruch sehr — und schmeckt gewürzhaft bitter. Sie enthält 0,5–1 Prozent ätherisches Baldrianöl, das bei der kisso genannten japanischen Abart mit schmäleren Blättern bis 6, ja 8 Prozent steigt. Bei den alten Griechen und Römern war sie unter dem Namen phu bekannt, der sich bis zum 15. Jahrhundert in der Literatur erhielt. Daneben kam seit dem 11. Jahrhundert der Name valeriana auf, der nach Linné von der deutschen, auch im Schwedischen gebräuchlichen Bezeichnung Baldrian, d. h. Baldrs (des Lichtgottes, der als Sohn Odins und Freyas als der reinste der Asen galt) Kraut abzuleiten ist, vielleicht aber nach dem römischen Arzte Plinius Valerianus so genannt wurde, oder nur mit dem lateinischen valere gesund sein zusammenhängt. Dieser Ausdruck ist aber vorzugsweise nur von den Ärzten gebraucht worden. Beim deutschen Landvolk war sie im Mittelalter unter dem Namen Denemarcha, noch früher Tenemarg bekannt, ein Ausdruck, der sich in einem Teil der Schweiz bis heute erhielt. Das Infus der Wurzel dient gegen Krämpfe und Hysterie, wie auch als Reizmittel bei schwachen Nerven.
Ein sehr altes deutsches Volksmittel ist die Bergwohlverleih oder Mutterwurz genannte Arnica montana, eine auf Bergwiesen Süd- und Mitteleuropas, in Norddeutschland dagegen in der Ebene wachsende Komposite mit 30–60 cm hohem, drüsig-kurzhaarigem Stengel und großen, goldgelben, aromatisch riechenden Blüten, die neben dem in der ganzen Pflanze enthaltenen Arnizin ein kamillenartig riechendes ätherisches Öl enthalten. Im schwach aromatisch riechenden und scharf gewürzhaft, etwas bitter schmeckenden Wurzelstock ist neben Arnizin, Inulin, Gerbstoff und Gummi zu 1 Prozent das in größeren Dosen Brechen erregende Arnikaöl enthalten. In gepulvertem Zustand erregt die Wurzel Niesen. Seit alter Zeit diente die gepulverte Wurzel, in Bier getrunken, gegen Blutungen, Durchfall, Fieber, Lähmung und Epilepsie, die im Juni und Juli gesammelten Blüten aber, mit Weingeist ausgezogen, als vielgerühmtes zerteilendes und Wundmittel. Die schon zu Ende des 16. Jahrhunderts von Joel in Greifswald empfohlene Heilpflanze wurde erst seit 1712 von den Ärzten häufiger verwendet. 1777 stellte Collin die Arnikablüten als Fiebermittel den Chinarinden gleich. Da die heilige Hildegard die Pflanze im 12. Jahrhundert als wolfisgelegena bezeichnet, muß der Name Wohlverleih auf wolfsgele (Wolfsgelb) zurückgeführt werden, der sich übrigens schon vom 10. Jahrhundert an nachweisen läßt. Das jüngere, von den gelehrten Botanikern erfundene Wort Arnika ist vom griechi[S. 287]schen arnákis Lammpelz — wegen der drüsigen, weichhaarigen Blütenhülle — abzuleiten. Schon der gelehrte Basler Botaniker Kaspar Bauhin (1560–1624) bemerkt, daß der gemeine Mann die Pflanze Wohlverleih, der Arzt aber sie Arnica nenne.
Als Giftpflanze war die Herbstzeitlose (Colchicum autumnale, nach der Stadt Kolchis in Kleinasien, wo die Pflanze nach Dioskurides häufig vorkam, so geheißen) schon im Altertum und Mittelalter bekannt. Sie wurde auch Ephemeron genannt, weil man glaubte, daß derjenige, der eine Zwiebel derselben esse, noch an demselben Tage sterben müsse. Erst in der Neuzeit fand sie als Gichtmittel arzneiliche Verwendung. Zum erstenmal finden wir sie 1618 in der englischen Pharmakopoe erwähnt; in Deutschland aber kam sie erst 1763 durch Störck in Anwendung. Zeitlose heißt sie, weil sie sich an keine Zeit wie die übrigen Blütenpflanzen hält, im Herbst blüht und die Samen mit den Blättern erst im darauffolgenden Frühjahr treibt. Weil sie aber zuerst im Jahre die Frucht und erst im Herbste die Blüte zeitigt, nannten sie die Alten auch filius ante patrem, d. h. Sohn vor dem Vater. Statt der zuerst angewandten, frisch widrig rettigartig riechenden Knollen werden seit der Empfehlung von Dr. Williams in Ipswich im Jahre 1820 die weit haltbareren, im frischen Zustande weißlichen, aber beim Trocknen dunkelrotbraun werdenden Samen zur Gewinnung des Colchicins angewandt.
Neben der Herbstzeitlose haben wir in der Familie der Giftlilien den auf den Gebirgswiesen Europas und Nordasiens verbreiteten Germer (Veratrum album), auch fälschlich weiße Nießwurz genannt, zu erwähnen. Die eigentliche weiße Nießwurz (Helleborus albus) ist eine der sogenannten Christrose verwandte Hahnenfußart; beider Wurzelstock enthält das scharf giftige Veratrin und wurde unter dem gemeinschaftlichen Namen helléberos, was eine Pflanze, deren Genuß tödlich wirkt, bedeutet, als eines der berühmtesten Arzneimittel des Altertums von den Griechen und durch die Vermittlung dieser auch bei den Römern verwendet. Letztere gebrauchten dafür den einheimischen Namen veratrum, das von verare wahrsprechen — das Niesen deutete ja nach ihrer Meinung die Bestätigung der Wahrheit an — abzuleiten ist. Schon der große Schüler des Aristoteles, Theophrast, unterschied erstere als weiße und letztere als schwarze helléboros. Erstere sei selten, und die beste Art derselben wachse auf dem Oeta, letztere dagegen wachse allenthalben in Griechenland. Nach Dioskurides müssen die Wurzeln zur Zeit der Weizenernte ausgegraben werden,[S. 288] und zwar hat man dabei nach Plinius folgende Maßregeln zu beobachten: „Erst schneidet man um sie herum mit dem Schwert einen Kreis, dann blickt man nach Osten, fleht zu den Göttern, daß sie gütigst die Erlaubnis erteilen, sie zu nehmen, und beobachtet dabei den Flug des Adlers. Ein solcher befindet sich in der Regel in der Nähe; fliegt er näher heran, so ist dies ein Zeichen, daß derjenige, der die Wurzel geschnitten hat, noch in demselben Jahre sterben muß.“ Beide Wurzelarten wurden gegen die verschiedensten Krankheiten gegeben und sollten auch Wahnsinn und Epilepsie heilen. Heute werden die scharfen in ihnen enthaltenen Stoffe meist nur noch äußerlich bei Rheumatismus angewandt.
Den Alten nicht bekannt war der Stechapfel (Datura stramonium), der wahrscheinlich aus Persien stammt und durch Vermittlung der aus Nordindien stammenden Zigeuner erst im 16. Jahrhundert nach Deutschland gelangte, wo er jetzt überall an Wegen und auf Schutthaufen in der Nähe von Dörfern und Städten, wo einst die Vertreter jenes Wandervolkes rasteten, verwildert angetroffen wird. Er wurde von den Zigeunern wie die weißblütige Datura metel in Ostindien und Arabien zur Herstellung von Berauschungsmitteln mit Hanf, Opium, Gewürzen usw. verwendet. Ebenso bereiteten die alten Peruaner aus den Samen der strauchartigen Datura sanguinea mit großen, hängenden, halb roten, halb gelben Blüten einen tonga genannten berauschenden Trank, den einst die Priester des Sonnentempels zu Sogamossa, dem peruanischen Orakelsitz, tranken, um sich mit den Geistern der Verstorbenen in Verbindung zu setzen; deshalb wird sie heute noch in jenem Lande yerba de huaca, d. h. Gräberpflanze genannt. Als Arzneimittel gegen Krämpfe, Asthma und Rheumatismus werden die Blätter und Samen unseres Stechapfels erst seit 1762, da sie Störck in Wien empfahl, angewendet.
Ebenfalls irgendwo aus Westasien zwischen dem Kaspischen Meer und Afghanistan scheint das Bilsenkraut (Hyoscyamus niger) nach Europa eingeführt worden zu sein, und zwar schon im Altertum. Der aus Kilikien gebürtige griechische Arzt Dioskurides beschreibt vier Arten des Bilsenkrautes, die alle in Griechenland wachsen. Unter ihnen war die weiße Abart (H. albus) die gebräuchlichste und wurde schon von den Hippokratikern angewandt. Als dem Apollon geweihtes heiliges Kraut wurde es alljährlich von Kreta nach Rom gebracht und stand als Liebestrank neben der Mandragora in hohem Ansehen. Daß es Wahnsinn veranlassen könne, wußte schon Sokrates. Von der Be[S. 289]obachtung, daß Schweine nach dem Genusse des Krautes in Krämpfe verfallen, soll nach Helianus der Name hyoskýamos, d. h. Schweinebohne, herrühren, während Bilsenkraut das Kraut des keltischen Sonnengottes Beal bedeutet. Erst seit dem Jahre 1762, da eingehende Erfahrungen über die Wirkung des Bilsenkrautes bekanntgegeben wurden, fand es bei den wissenschaftlich gebildeten Ärzten als Beruhigungs- und Schlafmittel Anwendung.
Eine dritte Nachtschattenart ist die in Laubwäldern der Gebirgsgegenden Europas wachsende Tollkirsche (Atropa belladonna), die zuerst von deutschen Botanikern und Ärzten als Giftpflanze erwähnt wird. Erst im 16. Jahrhundert wurde sie in den Arzneischatz eingeführt und findet sich 1771 in der Württemberger Pharmakopoe angeführt. Die Bezeichnung Belladonna kam im 16. Jahrhundert in Italien auf, als die Frauen sich ihrer als kosmetischem Mittel zur Erweiterung der Pupillen bedienten, während ihr von Linné gewählter Artname von der unerbittlichen Parze Atropos, d. h. der Unabwendbaren herrührt. Das aus ihr gewonnene Alkaloid Atropin, das in der Augenheilkunde und als krampfstillendes Mittel eine große Rolle spielt, wurde 1831 von Mein zuerst isoliert. Einen ähnlichen Stoff stellten 1833 Geiger und Hesse aus dem Stechapfel dar, dessen Identität mit Atropin dann Planta nachwies. Zur Verarbeitung gelangen die in der Blütezeit im Juni und Juli gesammelten Blätter 2–4jähriger Pflanzen, die bei 30° C. rasch getrocknet werden, aber nicht über ein Jahr aufbewahrt werden dürfen. Die Blätter wilder Pflanzen enthalten etwas mehr Alkaloid als diejenigen kultivierter Pflanzen.
Auch die Geschichte des neuerdings als ausgezeichnetes Herzmittel zu so großem Ansehen gelangten rotblühenden Fingerhutes (Digitalis purpurea) läßt sich als innerlich angewandte Droge nur bis zum 16. Jahrhundert verfolgen; äußerlich wurde diese Pflanze teilweise schon im 10. Jahrhundert in Form von Umschlägen oder als Blätterdekokt gegen Geschwüre verwendet. Gegen Wassersucht brauchte sie zuerst der englische Arzt Withering (1741–1799) in Birmingham, und 1783 wurde sie in die Edinburger Pharmakopoe aufgenommen. Das Wort Digitalis, das zuerst der als Professor der Botanik in Tübingen verstorbene Bayer Leonhard Fuchs (1501–1566) 1542 aufbrachte, ist vom lateinischen digitabulum Fingerhut abzuleiten. Auch vom Fingerhut werden die sorgfältig im Schatten getrockneten, am besten zu Beginn der Blütezeit gesammelten Blätter wildwachsender Pflanzen verwendet.
Seit dem frühesten Altertum war der Eisenhut (Aconitum napellus) den Völkern gebirgiger Gegenden, in denen er mit Vorliebe wächst, als äußerst starkes Gift bekannt. So dienten die knollig aufgetriebenen Wurzeln, nach denen die Pflanze den Beinamen napellus, d. h. Rübchen hat, den alten Deutschen als Wolfswurz und den alten Griechen als lykóktonon, d. h. Wolftöter zum Vergiften wilder Raubtiere, besonders des die Herden umschleichenden Wolfes, wie diejenigen der noch giftigeren Art, Aconitum ferox, des Himalaja von den dortigen Bewohnern zum Vergiften der Pfeile benutzt wird. Nach dem griechischen Mythos soll schon die zauberkundige Medeia, Tochter des Königs Aetes von Kolchis, ein Gift daraus bereitet haben, womit sie nach der Verstoßung durch ihren Gatten Jason ihre Kinder tötete. Auch soll man nach einigen Angaben aus dem Altertum Verbrecher damit hingerichtet haben; ebenso diente sie noch im 16. Jahrhundert den Älplern zur Bereitung von Pfeilgift. Als Arzneimittel gegen Kopfweh und Wechselfieber wurde sie seit dem 17. Jahrhundert in den Apotheken geführt, kam aber erst durch die Empfehlung des Wiener Arztes A. Störck seit 1762 allgemeiner in Gebrauch. In den Handel gelangen die zu Ende der Blütezeit im Juli und August von wildwachsenden Pflanzen gesammelten und rasch an der Luft getrockneten Knollen. Sie enthalten bis 0,8 Prozent des 1833 von Geiger und Hesse entdeckten Alkaloids Akonitin, das zur Herabsetzung von Temperatur und Puls im Fieber, wie auch zur Herabminderung von Schmerzen peripherer Nerven dient.
Äußerst beliebt als Volksheilmittel gegen alle möglichen Beschwerden ist die Kamille (Matricaria chamomilla) seit dem Altertum, da sie Hippokrates als euánthemos, d. h. gute Blume, Dioskurides als anthemís und anthýllis und Galenos als anthemís und chamaimḗlon, d. h. am Boden wachsender Apfel, empfehlend erwähnen. Aus letzterer Bezeichnung ging dann der Name Chamemilla hervor, der uns bei Till Lants zu Ende des 17. Jahrhunderts zuerst entgegentritt.
Als beliebtes Bittermittel ist seit dem Altertum die Wurzel des auf Bergwiesen wachsenden Enzians (Gentiana lutea u. a.) gebräuchlich, von der meistens ein wässeriger Extrakt zur Anwendung gelangte. Von den beiden Zeitgenossen Dioskurides und Plinius wird der Name gentiana auf den 167 v. Chr. verstorbenen König Genthius von Illyrien zurückgeführt, der sie als Mittel gegen die Pest empfohlen haben soll. Galenos und Cletius Abascantus benutzten sie gegen die Auszehrung, Origines gegen Blutspeien und Coelius Aurelianus gegen[S. 291] Spulwürmer. Nach Celsus und Scribonius Largus war die Wurzel auch als Antidot im Gebrauch und bis zur Einführung der Laminariastifte wurde sie von den Chirurgen auch als Quellstift benutzt. Seit dem Mittelalter wird auch ein gegen Kolik dienlicher Schnaps aus ihr gebrannt, der besonders bei den Älplern viel benutzt wird.
Die im mitteleuropäischen Gebirge und im nördlichen Europa bis Sibirien heimische Engelwurz (Angelica officinalis) dient in ihrer Heimat als beliebtes Gemüse und fand von altersher — so haben wir diesbezügliche Berichte aus dem 10. Jahrhundert — als appetitbeförderndes und krampfstillendes Mittel Verwendung. In Deutschland wurde sie im 14. und 15. Jahrhundert als Gewürzpflanze eingeführt und galt bald als ein Hauptmittel gegen die Pest, diente auch zur Bereitung des Angelikaschnapses, dessen Darstellung im Jahre 1500 von Brunschwig beschrieben wurde. Im 16. Jahrhundert finden wir die Pflanze des öfteren erwähnt und bereits an vielen Orten kultiviert; besonderen Ruf hatten zu jener Zeit die Angelikawurzeln aus den Gärten der Mönchsklöster von Freiburg im Breisgau. Obschon die Pflanze in den Mittelmeerländern nicht vorkommt und daher den Alten unbekannt war, glaubten die alten deutschen Ärzte und Botaniker in ihr das Panas heracleum, das Smyrnion, ja selbst das Silphium der alten Griechen vor sich zu haben, was natürlich völlig irrig war. Das destillierte Öl der graubraunen, scharf gewürzhaft und etwas bitter schmeckenden Wurzel wurde erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts gewonnen und wird zum erstenmal 1582 in der Arzneitaxe der Stadt Frankfurt und 1589 im Dispensatorium noricum aufgeführt.
Die wurmabtreibende Wirkung der Farnwurzel (von Aspidium filix mas) war schon dem Begründer der Botanik Theophrastos und den späteren griechischen Ärzten bekannt. In der ganzen römischen Kaiserzeit und im Mittelalter blieb die Wurzel des Wurmfarns gebräuchlich, findet sich aber nur hier und da in den medizinischen Schriften erwähnt. Erst zu Ende des 18. Jahrhunderts kam sie wieder mehr zu Ansehen und um 1775 bildete sie den Hauptbestandteil eines Geheimmittels, das von der französischen Regierung der Witwe des Arztes Nuffer in Murten abgekauft wurde, wie auch desjenigen Mittels, das Friedrich der Große von dem aus Neuchâtel stammenden Apotheker Daniel Matthieu in Berlin erwarb. Im Jahre 1825 führte der Genfer Apotheker J. Peschier das Ätherextrakt davon ein, das neuerdings von der Filmaron genannten wirksamen Substanz abgelöst wurde.
In Persien, Turkestan und Buchara, speziell der Kirgisensteppe, wächst die Komposite Artemisia cina, eine dem Wermut und Estragon sehr nahe verwandte Beifußart, der Wurmbeifuß, dessen in der zweiten Hälfte des Juli und im August unmittelbar vor dem Aufblühen gesammelten eigenartig aromatisch riechenden Blüten, den Zitwer- oder Wurmsamen liefern, dessen wurmabtreibende Wirkung schon im Altertum bekannt war. Nach Europa scheint die Droge erst durch die Kreuzzüge eingeführt worden zu sein. Der später übliche Name semen santonici wird auf eine Mitteilung des griechischen Arztes Dioskurides zurückgeführt, der von einer beim keltischen Stamme der Santonen im südlichen Gallien (Aquitanien) wachsenden Artemisiaart, dem Wermut (Artemisia absinthium), berichtet. Danach wurde das wirksame Prinzip des Wurmsamens, das heute fast nur noch verwendet wird, Santonin genannt. In der besten Ware ist es zu 2,5 Prozent enthalten und wird von an Ort und Stelle errichteten Fabriken in Taschkent und Tschimkent gewonnen. In russisch Turkestan werden durch die Kirgisen teils von wildwachsenden, neuerdings aber auch in zunehmendem Maße von kultivierten Pflanzen etwa 2,5 Millionen kg jährlich geerntet und zum größten Teil zur Extrahierung des Santonins verwendet.
Die Pfefferminze (Mentha piperita) ist eine der ältesten aus China nach Vorderasien und dann nach Europa gelangten Arzneipflanzen, deren aromatische, während der Blüte gesammelte Blätter gekocht als krampfstillendes Mittel gebraucht werden. In Ägypten findet sie sich schon ums Jahr 1550 v. Chr. in dem Papyrus Ebers erwähnt und wurde von Schweinfurth auch in einem Grabe in Abd-el-Quurnah aus der Zeit von 1200–600 v. Chr. unter den Totenbeigaben nachgewiesen. Auch die alten Griechen und Römer gebrauchten die Pflanze, die erstere míntha, letztere dagegen menta nannten und im Gegensatz zur wilden Wasserminze die zahme hießen. Im Mittelalter fehlte sie in keinem Arzneigärtchen. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts wurde sie von den Ländern Europas zuerst in England zur Gewinnung des ätherischen Pfefferminzöles im Großen kultiviert, dann in Frankreich, Deutschland, Rußland und seit 1816 besonders in den Vereinigten Staaten von Nordamerika. Die weitaus ältesten Pfefferminzkulturen, die schon vor dem Beginn der christlichen Zeitrechnung begonnen wurden, besitzen China und Japan, wo der kristallisierbare Mentholkampfer seit ebenso lange gewonnen und als Heilmittel im Gebrauche gewesen sein soll. Das bittere und deshalb fast ausschließlich zur Gewinnung von Menthol dienende japanische Pfefferminzöl soll[S. 293] von Mentha arvensis stammen. Die Jahresproduktion des Öles beträgt in Amerika 90000 kg, in Japan 70000 kg, in England 9000 kg, in Frankreich 3000 kg, in Deutschland 800 kg und in Italien 600 kg jährlich. Vielfach wird es mit Rizinusöl, Weingeist und Petroleum verfälscht. Das englische Öl enthält 58–66 Prozent Menthol.
Ebenfalls als Blähungen vertreibend werden seit dem Altertum die Blätter der Melisse (Melissa officinalis) bei Kolik und Diarrhoe verwendet, neuerdings hauptsächlich in Form des Öles. Sie, die ihren Namen vom griechischen melíssa Biene hat, weil der Duft des Krautes die Bienen anlockt, ist die kalamínthē und das melissophýllon der Griechen und das apiastrum (von apis Biene) der Römer. Im Mittelmeergebiet heimisch, ist sie ums Jahr 960 von den Arabern in Spanien kultiviert worden und kam früh in die Arzneigärten Mitteleuropas. Gleicherweise verhält es sich mit der ihr nahe verwandten Salbei (Salvia officinalis), die ebenfalls im Mittelmeergebiet heimisch ist und seit alter Zeit als eine der vorzüglichsten Heilpflanzen für die verschiedensten Zwecke gebraucht wird. Schon Karl der Große gebot dieses Kraut salvia, das von salvare heilen benannt ist, in seinen Gärten zu pflanzen, und die heilige Hildegard im 12. Jahrhundert rühmt die Heilkraft der von ihr als selba bezeichneten Salbei.
Denselben Zwecken diente seit dem Altertum der Rosmarin (Rosmarinus officinalis), ein 1–2 m hoher immergrüner Strauch mit stark aromatischen Blättern, die früher auch als Würze und beim Brauen des Bieres dienten. Columella rühmt den Rosmarin auch als gutes Bienenfutter, und Horaz berichtet in einer seiner Oden, daß mit ihm und Myrten die kleinen Götterbilder der Penaten bekränzt wurden. Nach Ovid bekränzte man sich auch bei Festen mit Rosmarin oder Veilchen oder Rosen. Auch Quendel (Thymus serpyllum) und Thymian (Thymus vulgaris) sind seit uralter Zeit benutzte Heil- und Gewürzkräuter, die beide gleichförmig von den alten griechischen und römischen Ärzten zum Vertreiben von Blähungen verwendet wurden. Der griechische Pflanzenkenner Theophrast, der Schüler des Aristoteles, berichtet, daß der von ihm als hérpyllos bezeichnete Quendel oder Feldthymian allenthalben auf den Bergen und Hügeln wachse, besonders in Thrakien gemein sei und eine treffliche Bienenspeise liefere. Ihm vor allem verdankte der Honig des Berges Hymettos südöstlich von Athen seinen Wohlgeschmack, der ihn deshalb weithin berühmt machte. Auch der dort gesammelte Quendel wurde vor anderem geschätzt. Wie Theophrast unterscheiden auch Dioskurides, Plinius und[S. 294] Columella neben dem wilden den von ihnen als thýmos, d. h. Kraft, Mut bezeichneten Gartenthymian, der dann durch die Klöster in Mitteleuropa verbreitet wurde. Weil der Thymian aus Italien nach Deutschland kam, wurde er als welscher oder römischer Quendel bezeichnet. Im 16. Jahrhundert wurde er hier allgemein angebaut und in den Apotheken geführt. Das aus ihm gewonnene gelbrote ätherische Öl findet sich 1589 im Dispensatorium noricum erwähnt, und 1719 fand Kaspar Neumann das Thymol, das innerlich als fäulnis- und gärungswidriges Mittel gegen Fieber und Eingeweidewürmer, wie auch als desodorierendes Mittel als Ersatz der ätzenden und giftigen Karbolsäure verwendet wird.
Seit alter Zeit ist in China das Mutterkorn (Secale cornutum, d. h. gehörnter Roggen) — französisch ergot —, das Sklerotium oder Dauermycelium des Pilzes Claviceps purpurea in den von ihm bald ganz aufgezehrten Fruchtknoten verschiedener Grasarten, besonders des Roggens, als Arzneimittel gegen Blutungen speziell der Gebärmutter im Gebrauch. Von griechischen Ärzten kannten Dioskurides und Galenos die Droge, deren medizinische Verwendung bei uns erst aus dem Ende des 16. Jahrhunderts datiert. 1588 verwendete Wendelin Thallius das Mutterkorn, das gemutertes, d. h. verändertes Korn bedeutet, als blutstillendes Mittel; aber erst zu Ende des 17. Jahrhunderts führte es R. J. Camerarius in Tübingen in der Geburtshilfe als die glatten Muskelfasern der Gebärmutter zum Zusammenziehen bringendes Mittel ein. Die genaue Kenntnis seiner Wirkung verdanken wir 1820 den Amerikanern Prescott und Stearns. 1853 erkannte Tulasne zuerst den Entwicklungsgang des Pilzes, 1863 vervollständigte Kuhn denselben und wies nach, daß die in langen Schläuchen erzeugten und deshalb als Askosporen bezeichneten Sporen auf der Blüte des Roggens wieder Mutterkorn erzeugen. Das hauptsächlich in Rußland, das den größten Teil der Handelsware liefert, dann in Galizien, weniger in Spanien, Portugal und in noch geringerem Maße bei uns ausschließlich vom Roggen, und zwar kurz vor dessen Fruchtreife gesammelte Mutterkorn enthält als wichtigste Bestandteile die Alkaloide Cornutin, Ergotinin und Ergotoxin. Unter Ergotin versteht man Mutterkornextrakte verschiedener Herstellungsweise, von denen das erste derartige 1842 von J. Bonjean in Chambéry (Savoyen) dargestellt wurde. Die im Mutterkorn enthaltene Sphacelinsäure (vom griechischen sphákelos Brand) wirkt gangränbildend und ist vorzugsweise die Ursache des Mutterkornbrandes, die seuchenartig als Kriebelkrankheit oder Korn[S. 295]staupe besonders in Hungerjahren auftrat, wenn feuchte Witterung die Entwicklung des Mutterkornes begünstigte und damit verunreinigtes Mehl, zu Brot verbacken, die Hauptnahrung des Volkes bildete. Die erste sichere Nachricht über diese Krankheit findet sich aus dem Jahre 857 in den Annalen des Klosters Xanten. Dann trat sie besonders 922, 994, 1008, 1129 und in neuerer Zeit 1596, 1649 im Vogtland und 1736 in Hannover auf. Kriebelkrankheit hieß sie, weil sich zuerst durch Zusammenziehung zahlreicher Blutgefäße der Extremitäten ein Kriebeln darin zeigte und diese erst hernach gefühllos wurden und abstarben.
Als Salepknollen oder Geilwurz wurden von jeher die als Hoden imponierenden Doppelknollen verschiedener Orchisarten als Nahrungsmittel und als die Geschlechtstätigkeit anregendes Mittel verwendet; denn das Altertum und das Mittelalter sahen in der Hodengestalt eine „Signatur“, d. h. ein Hinweis darauf, daß sie vorzüglich auf die Geschlechtsorgane einwirken. Bei Dioskurides und Galen heißt der Salep órchis Hoden, woher die Pflanzengattung der Orchideen überhaupt ihren Namen erhielt. Das Wort Salep ist aus dem arabischen chusjata ssalab d. h. Fuchshoden verstümmelt. In Deutschland wird der aus dem Orient eingeführte Salep zuerst um 1480 als radix satyri in dem Drogenverzeichnis von Nördlingen erwähnt. Vom 16. Jahrhundert an sind in den Kräuterbüchern Abbildungen der betreffenden Pflanzen anzutreffen. Die Hauptmasse der bei uns hauptsächlich zur Bereitung von Schleim verwendeten Handelsware kommt über Smyrna, teilweise auch über Konstantinopel aus Kleinasien; so expediert Smyrna jährlich etwa 642500 kg der zur Blütezeit im Juni oder kurz danach gegrabenen, nach der Reinigung von anhängender Erde zwecks Abtötung zuerst in siedendem Wasser gebrühten und dann an der Luft getrockneten Orchisknollen. Ansehnliche Mengen werden übrigens auch bei uns gesammelt. In der Türkei und in Griechenland dient Salepschleim mit Honig vermischt als tägliches Morgengetränk und wird im Winter in besonderen Buden ausgeschenkt oder auch in Blechbüchsen auf den Straßen als Salepschleim ausgerufen und noch warm verkauft. Auch mit Fleischbrühe oder Schokolade gekocht gibt Salep eine treffliche, leichtverdauliche und deshalb besonders für Kranke angewandte Speise, mit der sich vornehme Haremsfrauen die im Morgenlande als besondere Schönheit angesehene Körperfülle zu erwerben suchen.
Seit Urzeiten ist als appetitanregendes Magenmittel der außer[S. 296] ätherischem Öl von grüner Farbe den glykosidischen Bitterstoff Absinthiin enthaltende Wermut (Artemisia absinthium) benutzt worden. Es ist dies eine zur Familie der Beifuße gehörende Komposite mit weißgrauen seidenhaarigen Blättern und gelben Blüten, die, wie deren Verwandte, namentlich der baumartige Beifuß (Artemisia arborea), schon im Papyrus Ebers (um 1600 v. Chr.) erwähnt wird; auch die Hippokratiker wandten diese, wie auch den verwandten Eberreiß (Artemisia abrotanum) als magenstärkendes und die Gelbsucht heilendes Mittel an. Wie das apsínthion der alten Griechen und Römer ist das althochdeutsche wermuota als ein Bittertrank charakterisiert, das auch als Wurmmittel besonders beim Vieh im Gebrauch war. In den ältesten medizinischen und botanischen Schriften Deutschlands wird der Wermut meist an hervorragender Stelle angeführt. Im 12. Jahrhundert finden wir ihn im Zürcher Arzneibuch, und im 13. Jahrhundert wurde das Kraut bis nach Island und Norwegen gebracht. Das ätherische Öl war Porta um 1570 bekannt; es dient als Erregungsmittel für die Nerven und ist der Hauptbestandteil des besonders in Frankreich sehr beliebten Likörs Extrait d’absinthe. Neuerdings ist dieser giftige Trank in der Schweiz verboten worden, so daß die Wermutpflanzer des Val de Travers im Kanton Neuchâtel sich künftighin eine andere Pflanze zu ihren Kulturen ausersehen müssen.
Ein in ähnlicher Weise die Verdauung anregendes Bittermittel ist das Tausendguldenkraut (Erythraea centaurium), eine auf Bergwiesen wachsende Enzianart, die nach dem in der Kräuterkunde sehr erfahrenen Lehrer des Herakles, Äskulap, Jason und anderer Heroen, dem Kentauren Cheiron, schon von den alten Griechen als kentaúrion bezeichnet wurde. Jener soll durch dieses Kraut eine Wunde an seinem Fuße geheilt haben, wie Achilleus, ein weiterer Schüler des Cheiron, damit nach der Ilias die Wunde des Eurypyles heilte. Es wird wie die Enzianwurzel verwendet, ist aber gegenwärtig fast außer Gebrauch gekommen, wie auch das einst vielbenutzte Kardobenediktenkraut (Cnicus benedictus). Diese in den Mittelmeerländern heimische Staude von distelförmigem Aussehen wurde schon bei den Alten unter dem Namen hētéra knḗkos arzneilich verwendet, kam dann durch die Mönche nach Mitteleuropa und wurde daselbst durch die Klöster verbreitet. Hier erhielt sie auch die Bezeichnung carduus benedictus, d. h. gesegnete Distel, weil man darin die von Theophrast als besonders wirksam gepriesene akárna beziehungsweise die atráktylis des Dioskurides vermutete, deren Blätter und Samen gegen Skorpionstich[S. 297] dienten. Wahrscheinlich sind aber diese mit Carthamus lanatus identisch. Das Kardobenediktenkraut, das noch vielfach in Gärten gezogen und u. a. bei Cölleda im Großen kultiviert wird, dient immer noch als Volksheilmittel und ist ein Bestandteil der Kölner Klosterpillen.
Uralte Volksheilmittel sind die Schafgarbe (Achillea millefolium), die schon von Plinius als Wundpflanze genannt wird, der Vogelknöterich (Polygonum aviculare), der als sanguinaria bei den Römern in hohem Ansehen stand und neuerdings seit 30 Jahren mit der Angabe, ein in Sibirien neuentdecktes Heilmittel zu sein, unter dem Namen Homeriana, Weidemanns russischer Knöterichtee usw. als unfehlbares Mittel gegen Schwindsucht mit großer Reklame vertrieben wird, der Dosten (Origanum vulgare), den bereits Theophrast und Dioskurides bei Lungen- und Leberleiden verwandten und der zur Zeit Luthers als der Ysop der Bibel galt, das auf den semitischen Sonnengott Adonai, d. h. Herr zurückgeführte Adonisröschen (Adonis vernalis), das Ovid aus dem Blute des sagenhaften Jünglings Adonis, des Geliebten der Aphrodite, hervorgehen läßt. Heute noch wird es mit Vorteil bei Wassersucht verwendet, da es das wertvolle Herzgift Adonidin, einen Ersatz für Digitalis, enthält. Ferner das Löffelkraut (Cochlearia officinalis), das seit der Empfehlung des brabantischen Arztes Joh. Wier im Jahre 1557 gegen Skorbut gebraucht wird, der Hohlzahn (Galeopsis ochroleuca), der seit dem Mittelalter einen Ruf als Heilmittel gegen Schwindsucht besitzt, das harntreibende Bruchkraut (Herniaria glabra) und das gleicherweise wirkende, schon von den alten griechischen Ärzten verwendete, neuerdings wieder durch Pfarrer Kneipp populär gewordene Zinnkraut oder der Schachtelhalm (Equisetum arvense), das Kraut des Maiglöckchens (Convallaria majalis), das von altersher vom russischen Volke gegen Wassersucht und Herzleiden angewandt wurde und, seit Marmé die der Digitalis ähnliche Wirkung des von Walz 1838 zuerst isolierten Glykosids Convallamarin im Jahre 1867 erkannte, in Form des wässerigen Extraktes als wertvolles Herzmittel auch bei uns oft an Stelle von Digitalis gegeben wird, da es im Gegensatz zu jenem keine kumulative Wirkung besitzt. Außer diesen wären noch viele andere einheimische Kräuter zu nennen, auf die wir hier nicht näher eintreten können. Selbst der als Hinrichtungsmittel beliebte giftige Schierling (Conium maculatum), das kóneion der alten Griechen, dessen Saft unter anderen auch Sokrates trinken mußte, als er im Jahre 399 v. Chr. als Verächter der Götter und Verführer der Jugend zum Tode verurteilt[S. 298] wurde, war bei den Hippokratikern als innerliches und äußerliches krampfstillendes und betäubendes Mittel sehr beliebt, wie früher bei uns gegen Zahnschmerz eine Abkochung der scharfen, die Speichelabsonderung befördernden Bertramwurzel (Anacyclus officinalis) gebraucht wurde.
Von einst viel gerühmten Wurzeldrogen sind noch zu nennen die Wurzeln des auf sonnigen Hügeln wachsenden Bibernell (Pimpinella saxifraga und P. magna), der sich schon in einem deutschen Manuskript des 8. Jahrhunderts als Bestandteil eines Universalmittels findet. Bei den alten Griechen und Römern hieß die Pflanze kaúkalis und diente als Zahnmittel, gegen Fieber und Steinbeschwerden. Aus dem deutschen bibernella, das uns bei der heiligen Hildegard im 12. Jahrhundert entgegentritt, ging dann die volkstümliche Bezeichnung pimpinella hervor, die den botanischen Namen lieferte. Die altdeutschen Ärzte gaben der P. magna den Vorzug, welche besonders als Mittel gegen die Pest hohen Ruf erlangte. Auch die Wurzel des Löwenzahns (Taraxacum officinale) war schon bei den Alten im Gebrauch als leichtes Abführmittel bei Magen- und Leberleiden. Durch die arabischen Ärzte wurde ihre Anwendung im Abendlande populär, wo sie noch heute als Blutreinigungsmittel zu den sogenannten Frühjahrskuren mit anderen abführenden Pflanzenprodukten dient.
Ein uraltes nordisches Heilmittel gegen Blasen- und Nierenleiden, das schon im 13. Jahrhundert erwähnt, seit der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts von französischen, italienischen und spanischen Ärzten benutzt wird und seit Anfang des 19. Jahrhunderts in Deutschland offizinell ist, sind die von April bis Juni von wildwachsenden Pflanzen gesammelten und getrockneten kleinen, lederigen, glatten Blätter der immergrünen Bärentraube (Arctostaphylos uva ursi), die 3,5 Prozent des mit dem Vacciniin der Heidelbeeren identischen glykosidischen Bitterstoffes Arbutin enthalten. Außerdem enthalten sie auch reichlich Gerbstoff, weshalb sie auch zum Färben und Gerben des Saffianleders gebraucht werden. Der die glänzenden Blätter erzeugende Strauch ist reich verzweigt, erhebt sich aber nur wenig über den Boden. Er wächst mit Vorliebe auf Heiden und an Felsen und erzeugt rötliche Blüten und rote Früchte, aus deren etwas mehligem Fruchtfleisch man im Norden Brot backen soll.
Weiter hat uns der arktische Norden die Renntierflechte oder das isländische Moos (Cetraria islandica) bescheert, die nicht bloß die wichtigste Nahrung der Renntiere bildet, sondern auch von den[S. 299] Menschen als Gemüse verzehrt und zu Brot verbacken wird. Sie enthält 70 Prozent durch Jod nicht gebläute Flechtenstärke Lichenin, 11 Prozent durch Jod gebläutes Dextrolichenin, die beide nährend und reizmildernd wirken, und 2–3 Prozent des Bitterstoffes Cetrarin, der zwar appetitanregend wirkt, aber vor dem Genusse durch den Menschen durch Mazeration mit schwach alkalischem Wasser völlig entfernt werden muß. 1542 findet sich bei Valerius Cordus eine Angabe, welche auf diese Droge schließen läßt, doch wurde sie mit Sicherheit erst seit 1666 durch Bartolin bekannt; 1671 empfahl sie Borrich als Abführmittel und 1683 Hjärne gegen Lungenleiden. Als Mittel für Lungenkranke fand sie erst durch die Empfehlung von Linné und Scopoli allgemeinere medizinische Anwendung; auch als blutbildendes Mittel wird sie mit Erfolg angewandt, da die Zahl der roten und weißen Blutkörperchen durch deren Genuß vermehrt wird. Sie wird in größeren Mengen aus Skandinavien, den Alpen, den Pyrenäen, dem Harz und dem Fichtelgebirge, nicht aber aus Island eingeführt.
Als uraltes, reizmilderndes und stopfendes Mittel war wohl zuerst in Westasien der als Opium bezeichnete, durch Einritzen der unreifen Fruchtkapseln des Schlafmohns (Papaver somniferum) gewonnene und durch Eintrocknen an der Luft durch Sauerstoffaufnahme eingedickte Milchsaft in Gebrauch. Von den Anwohnern der kleinasiatischen Küste lernten dann die alten Griechen den von ihnen mḗkon genannten Schlafmohn und seine betäubenden Eigenschaften kennen. Vielleicht war er schon in homerischer Zeit bekannt. Nicht nur wird in der Ilias die Pflanze mḗkon erwähnt, sondern in der Odyssee auch ein nepénthes genannter, die Erinnerung auslöschender Zaubertrank genannt, der möglicherweise aus Mohnsaft, vielleicht in Verbindung mit Hanfextrakt, bereitet wurde. Diese betäubende Wirkung des Mohnsaftes muß sehr früh auch ärztlich benutzt worden sein, obschon keine diesbezüglichen Mitteilungen auf uns gekommen sind. Den anfänglich mēkṓnion und erst viel später nach der griechischen Bezeichnung opós für Milchsaft als ópion bezeichnete eingedickte Mohnsaft, das Opium, hat der größte griechische Arzt Hippokrates (460–364 v. Chr.) nicht gekannt oder doch nicht benutzt, obschon er den Milchsaft der Blätter und Fruchtkapseln, wie die Fruchtkapseln selbst leer oder mit den Samen als Heilmittel anwandte. Wie die Hippokratiker, wendet auch der pflanzenkundige Schüler des Aristoteles, Theophrast (390–286 v. Chr.), die Bezeichnung mēkṓnion auf den betäubenden Milchsaft einer Wolfsmilchart (Euphorbia peplus) an. Erst die griechischen Ärzte[S. 300] Diokles von Karystos und Herakleides von Tarent sollen im 3. vorchristlichen Jahrhundert den eingedickten Mohnsaft als Medikament benutzt haben, und Nikander von Kolophon in Ionien lieferte um 200 v. Chr. eine Beschreibung der gefährlichen Wirkung desselben. Der um die Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr. in Rom lebende, aus Kilikien stammende griechische Arzt Dioskurides kennt diese Droge genau und berichtet bereits auch von deren Verfälschung. In dem von ihm auf uns gekommenen Arzneibuch heißt es: „Die Abkochung der Blätter und Köpfe des Mohns (mḗkon) macht schläfrig, was auch bei der Klatschrose (rhoiá) der Fall ist. Letztere hat ihren Namen rhoiá davon, daß Milchsaft (opós) aus ihr fließt (rhei). Der Milchsaft der Mohnarten, in der Größe einer Erve (órobos) — etwa einem kleinen Linsenkorn entsprechend — eingenommen, beschwichtigt Schmerzen, bringt Schlaf und fördert die Verdauung. In größerer Gabe ist er gefährlich, da er Schlafsucht und Tod bewirken kann. Der beste, durch Einschnitte mit dem Messer in die unreifen Mohnköpfe nach dem Trocknen des Taues gewonnene Mohnsaft (opós) ist dick, riecht stark, macht schon durch den Geruch schläfrig, schmeckt bitter, löst sich leicht in Wasser auf, ist glatt, weiß, weder rauh noch krümlig, schmilzt an der Sonne, brennt hell, wenn er von der Flamme berührt wird und behält seinen Geruch, auch wenn man ihn gelöscht hat. Man verfälscht ihn mit glaucium — dem Saft des großblütigen Schöllkrauts (Chelidonium glaucium), das in Italien und Griechenland wild wächst —, mit Gummi — und zwar arabischem Gummi — und dem Saft des wilden Salats (thrídax). Ist er mit glaucium verfälscht, so gibt er, mit Wasser vermengt, eine gelbe Farbe; enthält er Saft vom wilden Salat, so ist der Geruch schwach und rauher; Gummi dagegen macht ihn schwach und durchscheinend. Manche treiben den Unsinn so weit, daß sie ihn sogar mit Fett verfälschen.“
Auch Plinius berichtet ausführlich über Gewinnung und Eigenschaften des von ihm opion genannten Opiums, das damals schon nach ihm hauptsächlich in Kleinasien gewonnen wurde. Er sagt ferner, daß nach Andreas, dem Leibarzt des Ptolemaeus Philopator (221 bis 205 v. Chr.), das Opium in Alexandrien verfälscht wurde. Im 6. Jahrhundert wird Opium thebaicum (aus Oberägypten) von Alexander Trallianus und im 7. Jahrhundert von Paulus Aetius genannt. Das ägyptische Opium rühmt der um 200 n. Chr. verstorbene griechische Arzt Galenos als das beste und kräftigste, auch spricht er von libyschem und selbst spanischem Opium. Der arabische Arzt Avicenna (eigentlich[S. 301] Ibn Sina, 980–1037) spricht ebenfalls von ägyptischem Opium. Durch Araber soll bereits im 7. Jahrhundert Opium nach Persien, im 8. nach Indien und im Laufe des 10. nach China gekommen sein, wo es 973 in einem Arzneibuch erwähnt wird. Die ersten Nachrichten über in Indien selbst gewonnenes Opium verdanken wir Odoardo Barbosa, der solches 1516 auf dem Markte von Kalikut nebst kleinasiatischem antraf. Derselbe Portugiese, der nach der Entdeckung des Seeweges ums Kap der Guten Hoffnung nach Ostindien fuhr, gibt uns auch die frühesten Nachrichten über Versendung indischen Opiums nach China, wo allerdings der Schlafmohn schon seit dem 11. Jahrhundert zur Gewinnung von Opium angepflanzt wurde. Doch wurde er auch hier zunächst nur als Medizin benutzt und gelangte erst im 17. Jahrhundert in großem Umfange als Genußmittel zum Rauchen zur Anwendung. Dieser Gebrauch soll aus Formosa nach China gelangt sein, und Formosa soll sein Opium aus Java bezogen haben. In einem zwischen 1552 und 1578 verfaßten chinesischen Kräuterbuch wird die Gewinnung des Opiums und seine Verwendung, aber nur in der Medizin, beschrieben.
Die europäischen Ärzte des Mittelalters hielten das Opium für sehr gefährlich und wendeten es deshalb nur selten an, so daß sein Gebrauch gegenüber dem Altertum stark abnahm. Meist wurden nur die Mohnfrüchte verordnet, deren schlafbringende Wirkung man sehr wohl kannte. In Deutschland soll das aus dem Orient eingeführte Opium erst durch den weitgereisten Schwyzer Arzt Paracelsus (1493 bis 1541) unter der Bezeichnung laudanum eingeführt worden sein. In dem in regem Handelsverkehr mit dem Morgenlande stehenden Italien war es schon viel früher im Gebrauch; so erwähnt es 1290 Simon Jamensis, der Leibarzt des Papstes Nikolaus IV. Als Bestandteil des bereits erwähnten Theriaks wurde es in der Folge viel gebraucht. Die wissenschaftliche Grundlage für die Verwendung des Opiums in der Medizin legte der englische Arzt Sydenham (1624 bis 1689). Nachdem schon 1688 Ludwig und nach diesem Wedelius, Hofmann und andere die narkotischen Wirkungen des Opiums zum Gegenstand eingehender Untersuchungen gemacht hatten, gelang es erst 1803 Derosne aus dem Opium eine kristallisierbare Substanz, das Narkotin, herzustellen. 1804 stellte dann der Paderborner Apotheker Sertürner die Mekonsäure und 1806 das von ihm Morphin genannte „schlafmachende Prinzip“ dar. 1832 entdeckte Robiquet das Codein und fast zu derselben Zeit Dublanc das Mekonin, eine indifferente[S. 302] Verbindung. Heute kennen wir etwa 20 verschiedene Alkaloide als Bestandteile des hauptsächlich zur Anwendung gelangenden kleinasiatischen Opiums, unter denen das Morphin, das darin zu 10 bis 12 Prozent enthalten ist, die erste Rolle spielt. Nach ihm kommen an Wichtigkeit das darin zu 0,2–0,8 Prozent enthaltene Codein, das zu 4–10 Prozent enthaltene Narkotin, das zu 0,2–0,3 Prozent enthaltene Thebain, das zu 0,1–0,4 Prozent enthaltene Narcein usw. und schließlich 4 Prozent Mekonsäure.
Schon im Altertum benutzte man den Mohnsaft als Gegengift, und das Opium war eines der wichtigsten Bestandteile des Theriaks, eines Latwerges, das Neros Leibarzt Andromachos gegen den Biß giftiger Schlangen erfunden haben soll und das nach dem Arzte Claudios Galenos (133–200 n. Chr.) aus 70 Ingredienzen bestand. Dem Namen thēriakón antídoton (von tḗr Tier und akéomai abwehren), d. h. Tierbiß heilendes Gegenmittel, entsprechend war der Theriak eigentlich ein aus giftigen Tieren bereitetes Gegengift gegen Tiergift, dem Grundsatze der alten Heilkunde gemäß, daß das, was schädigt, auch heilen muß. Dazu kamen später auch zahlreiche Pflanzengifte und die heterogensten Stoffe hinzu und damit konnte es ebensogut gegen Pflanzen- und mineralische Gifte genommen werden. Seit dem 12. Jahrhundert finden wir das Mittel unter der volkstümlichen Bezeichnung Trîak oder Trîakel auch in Deutschland verbreitet. Der Verfasser der ersten in deutscher Sprache geschriebenen Naturgeschichte, Konrad von Megenberg (um 1309 auf dem Schlosse Megenberg bei Schweinfurt in Franken als der Sohn des Schloßvogtes geboren und 1374 als Kanonikus am Dom zu Regensburg gestorben), läßt ihn aus dem Fleisch der Schlange tirus und aus anderen ähnlichen Dingen bereitet werden und gegen jegliches Gift wirksam sein, mit Ausnahme desjenigen, das von jener Schlange selbst kommt. Schon vor dem 15. Jahrhundert gab es verschiedene Arten von Theriak, was daraus hervorgeht, daß damals die „grosz tiriaca“ als die allein echte, nach altbewährtem Rezept ausgeführte, den geringwertigen Surrogaten entgegengestellt wurde, die von herumziehenden Quacksalbern als Universalmedizin ebenfalls unter der reklamehaften Bezeichnung Theriak verkauft wurden. Letztere enthielten eine mehr oder weniger große Zahl heilkräftiger Stoffe in Honig gemischt. Der Hauptfabrikationsort für den echten Theriak war Venedig, wo er unter großem Pomp beim Schalle von Trompeten und Pauken öffentlich hergestellt wurde. Daneben bereitete man auch welchen in den heimischen Apotheken unter[S. 303] Aufsicht von Ärzten aus den erlesensten dazu gehörigen Sachen. Seine Anwendung geschah nicht nur innerlich, sondern auch äußerlich; so galt er in die Nase gestrichen als das beste Schutzmittel gegen Pestilenz.
Wie das Opium zum Stopfen bei Diarrhoe und seine Salze zur Herabsetzung von Hustenreiz und Schmerzen aller Art dienen, so steht seit dem Mittelalter die Faulbaumrinde (von Rhamnus frangula) als Abführmittel in Gebrauch. Diese hat vor dem Gebrauch mindestens ein Jahr zu lagern, da frische Rinde brechenerregend wirkt. Sie enthält als wirksames Prinzip das Glykosid Frangulin, das in frischen Rinden fehlt, dagegen reichlich in älteren vorhanden ist. Das Frangulin spaltet sich in Rhamnodulcit und Frangulinsäure. Erst seit dem Jahre 1848 wird die Faulbaumrinde in Deutschland medizinisch verwendet.
Demselben Zwecke dient auch die als Cascara sagrada bezeichnete nordamerikanische Faulbaumrinde (von Rhamnus purshiana), die in ihrer Heimat schon längere Zeit als mildes Abführmittel im Gebrauche steht und 1878 von Dr. J. H. Bundy in Calusa (Kalifornien) gegen gewohnheitsmäßige Verstopfung empfohlen wurde. Nach Europa kam zuerst das Fluidextrakt und seit 1883 auch die Rinde, die infolge der unsinnigen Ausbeutung des im westlichen Nordamerika (Kalifornien, Oregon, Washington und Britisch-Kolumbien) heimischen Gewächses in letzter Zeit sehr selten und deshalb auch sehr teuer geworden ist.
Als mildes Abführmittel dient sonst bei uns das sehr viel billigere Rizinusöl, das von den Samen einer im tropischen Afrika heimischen und von da über die ganze Welt verbreiteten Wolfsmilchart (Ricinus communis) gewonnen wird. Dieses einjährige, sehr rasch zu gewaltiger Höhe aufschießende und deshalb bei uns, wo es in mehreren Varietäten, meist mit Canna indica zusammen, als Zierpflanze auf Rasen kultiviert wird, auch als „Wunderbaum“ bezeichnete Kraut mit sehr großen, gelappten Blättern und ansehnlichen, getrennt geschlechtlichen Blüten ist überaus anpassungsfähig und läßt sogar noch in Christiania seine Samen reifen. In Indien, wo es schon im frühen Altertum als Ölpflanze eingeführt wurde, dienen seine Blätter der bengalischen Seidenraupe (vom Eria-Seidenspinner, Saturnia cynthi) als Futter, und in Italien wird es als palma Christi geschätzt. Die von Luther mit Kürbis übersetzte, aus einem kleinen Samenkorn zur schattenspendenden Staude herangewachsene Pflanze kikajon vor des Propheten Jonas (im 8. vorchristlichen Jahrhundert) Hütte, in deren Schatten er bei Ninive ruhte und die dann ein Wurm stach, so daß sie verdorrte,[S. 304] kann nichts anderes als eine Rizinuspflanze gewesen sein, die in der Tat gegen Verletzungen sehr empfindlich ist.
Ihrer eiförmigen, marmorierten, ölreichen Samen wegen wird die Rizinuspflanze schon seit sehr langer Zeit in Ägypten und Vorderasien angepflanzt. So fand man solche als Totenbeigaben schon in ägyptischen Gräbern aus der Zeit um 4000 v. Chr. Hier hieß die Pflanze dekam und deren Samen kiki, und das aus den letzteren gepreßte Öl wurde nach den Berichten von Herodot (484–427 v. Chr.) und Strabon (63 vor bis 20 n. Chr.) ausschließlich als Brennöl und zum Salben verwendet. Auch in Griechenland wurde die Pflanze, wie übrigens noch jetzt, unter dem Namen kiki angepflanzt. Weil die Samen einer gehörig mit Blut vollgesogenen Hundszecke (Acarus ricinus) täuschend ähnlich sehen, wurde die Pflanze nach diesen im Altgriechischen auch króton genannt, wie uns Dioskurides um die Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr. berichtet. Dieser Autor schreibt in seinem Arzneibuche: „Das Rizinusöl (kíkinon élaion) wird folgendermaßen gewonnen: Man nimmt die reifen Samen (króton) und trocknet sie in der Sonne, bis ihre Schale abfällt. Dann wirft man sie, von der Schale befreit, in einen Mörser, stößt sie sorgfältig, tut sie in einen mit Wasser gefüllten, verzinnten Kessel und kocht sie; so geben sie ihr Öl von sich, es schwimmt auf dem Wasser und wird abgeschöpft. Die Ägypter, die dessen mehr gebrauchen als wir, verfahren anders. Sie reinigen die Samen gut, mahlen sie dann in einer Mühle und pressen das Öl aus. Dieses Öl taugt nicht zur Speise, wohl aber für Lampen und Pflaster.“ Dagegen wandte dieser griechische Arzt die zerstoßenen Rizinussamen als Abführmittel an.
Durch die Kreuzzüge gelangte die Rizinusstaude als Zierpflanze in die Gärten Mitteleuropas, wo sie noch im 16. Jahrhundert gelegentlich anzutreffen war, doch geriet sie in der Folge bei uns in Vergessenheit. Erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts wurde das Rizinusöl von Westindien aus, wo es reichlich erzeugt wurde, in Europa als Abführmittel eingeführt und fand hier bald in Ärztekreisen Anerkennung. Durch eine 1764 veröffentlichte Dissertation von Dr. Cauvane wurde es in weiteren Kreisen bekannt. 1788 fand es Aufnahme in der Londoner Pharmakopoe. Als offizinelle Handelsware ist in den Apotheken heute nur das aus den geschälten reifen Samen kalt gepreßte und mit Wasser ausgekochte Öl zulässig, das eine Ausbeute von 40–45 Prozent liefert. Es enthält im wesentlichen das Triricinolein, das Triglycerid der laxierend wirkenden Ricinolsäure, daneben[S. 305] Tripalmitin und geringe Mengen von Tristearin. In den Samen, den Preßrückständen und im unreinen Öle findet sich das außerordentlich giftige Ricin, welches durch Kochen des frisch gepreßten Öles mit Wasser ausgeschieden wird. Prof. Ehrlich in Frankfurt a. M. berechnete, daß 1 g Ricin genüge, um 1½ Million Meerschweinchen zu töten. Diese enorme Giftigkeit übersteigt bei weitem diejenige des Zyankaliums und Strychnins. Durch Einspritzung von immer größeren, nicht tödlichen Dosen von Ricin gelang es Ehrlich, in den betreffenden Tieren durch Bildung eines Gegengiftes eine so weitgehende Giftfestigkeit zu erzeugen, daß die tausend-, ja zehntausendfache Dosis unbeschadet ertragen wurde. Dieses im Blutserum der mit Ricin vorbehandelten Tiere kreisende Antitoxin vermag die roten Blutkörperchen normalen Blutes sehr rasch in eine gallertartig-klumpige Masse zu verwandeln, ganz analog dem bakteriellen Antitoxin, das die Bakterien seiner speziellen Art sofort zusammenballt, zur Agglutination bringt, während normales Blutserum diese Eigenschaft nicht besitzt. Das unreine Rizinusöl dient endlich als Brennöl und zur Seifenfabrikation. Vielfach kommt Verfälschung desselben mit gebleichtem Sesamöl vor.
Eine seit uralter Zeit in China als Abführmittel gebrauchte Pflanzenwurzel ist der echte Rhabarber (Rheum officinale), der als „große gelbe Wurzel“ schon in einem angeblich von Kaiser Shen-nung um 2800 v. Chr. verfaßten Kräuterbuche erwähnt wird. Um die Wende der christlichen Zeitrechnung scheint diese Droge in den Mittelmeerländern bekannt geworden zu sein. Als erster erwähnt der griechische Arzt Dioskurides um die Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr. die Wurzel rha, nach dem Flusse Rha, der Wolga, aus welcher Gegend sie bezogen wurde, so genannt. Sein Zeitgenosse Plinius spricht von einer rhacoma, die wohl auch als Rhabarber zu deuten ist. Bei den späteren Autoren werden zweierlei Rhawurzeln nach ihrer Herkunft unterschieden, nämlich ein rha ponticum, d. h. eine pontische Wurzel, nach ihrem Bezug aus der Gegend des Schwarzen Meeres so geheißen, und ein rha barbarum, das von der Indusgegend über das Rote Meer und den alten Hafenort Barbarike zunächst nach Alexandrien eingeführt wurde. Aus dieser letzteren Bezeichnung, die allgemein im Sinne von „fremde, ausländische Wurzel“ gebräuchlich wurde, entstand dann unser Wort Rhabarber, während die lateinische Bezeichnung Rheum aus dem rhéon des Galenos hervorging. Im 6. Jahrhundert verordnete der Arzt Alexander Trallianus das eine Mal Rheum, das andere Mal Rheum barbarum und ponticum. Darunter wurden, wie[S. 306] schon Scribonius Largus und Celsus vom Rha barbarum und vom Rha ponticum berichten, verschiedene Rhabarberpräparate verstanden, obschon diese Ausdrücke ursprünglich ein und dasselbe bezeichneten. Im 11. Jahrhundert wußten die arabischen Ärzte schon, daß der Rhabarber aus China komme. Der erste Europäer, der in die Rhabarbergegend gelangte, war der Venezianer Marco Polo, der nach seiner Rückkehr aus China im Jahre 1295 in seiner Reisebeschreibung über Rhabarberkulturen in Tangut berichtet. Von dort und aus dem Gebirge um den See Kuku-nor wurden die getrockneten Rhabarberwurzeln an die Chinesen verkauft, welche sie nach Si-ning am Hwang-ho, d. h. dem Gelben Flusse, brachten, das von jeher der Hauptstapelplatz dieser Droge gewesen zu sein scheint.
Im Mittelalter war der Rhabarber sehr kostbar und selten und wurde deshalb nur wenig gebraucht. Erst durch die Entdeckung des Seeweges nach Ostindien und dadurch, daß die Russen mit den Chinesen Handelsverbindungen anknüpften, wurde er wohlfeiler und gelangte aus diesem Grunde auch mehr zur Anwendung. Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts wurde Rhabarber über Kanton und Macao verschifft, teilweise aber auch auf dem Landwege in die Länder im Westen gebracht. Dann suchten die Russen den Handel damit in ihre Hände zu bekommen. Im Jahre 1704 gelang es ihnen, denselben durch Verträge mit der chinesischen Regierung zu monopolisieren. Über die Grenzstadt Kiachta, wo die getrockneten Wurzeln Stück für Stück geprüft und die verdorbenen und unansehnlichen Stücke verbrannt wurden, gelangten sie in einer Schlittenkarawane einmal jährlich über Irkutsk nach Moskau. Hier wurden sie nochmals revidiert und die für brauchbar erkannten Stücke dem Handel übergeben. Dieser vorzügliche „moskowitische“ oder „Kronrhabarber“ war bis 1842 der einzige des Handels. In jenem Jahre öffneten nämlich die Chinesen außer Kanton und Macao weitere Häfen dem Fremdenverkehr, wodurch den chinesischen Rhabarberhändlern Gelegenheit gegeben wurde, sich der strengen Kontrolle der Russen in Kiachta zu entziehen und auch schlechtere Sorten zu verkaufen. Hierdurch und durch den Taipingaufstand von 1852–1858, der die Karawanen an der sibirischen Grenze sehr gefährdete, verringerte sich die Zufuhr über Kiachta immer mehr und hörte 1860 ganz auf; 1863 wurde der Rhabarberhof daselbst ganz aufgehoben. Seither gibt es keinen moskowitischen oder Kronrhabarber mehr im Handel. Was so bezeichnet wird, ist nach Art dasselbe, d. h. eine kantig beschnittene und durchbohrte, dunkelgefärbte, rotbrüchige[S. 307] Sorte, während der gewöhnliche chinesische Rhabarber weniger stark beschnitten und in der Qualität viel gemischter ist.
Die Stammpflanze des Rhabarbers blieb dem Abendlande unbekannt, bis im Jahre 1758 durch die Vermittlung eines tartarischen Rhabarberhändlers Samen einer Rheumart als die der echten Rhabarberpflanze von Kiachta nach St. Petersburg kamen. Carl von Linné beschrieb 1762 die hieraus gezogenen Pflanzen als Rheum palmatum. 1867 sandte der französische Konsul in Han-kau am Mittellauf des Blauen Flusses (Yang-tse-kiang), Dr. Dabry de Thiersant, lebende Wurzeln, die er durch Vermittlung eines Missionars in Sze-tschwan aus dem östlichen Tibet erhalten hatte, mit der Angabe nach Paris, daß sie von der echten, der Rhabarbergewinnung dienenden Pflanze stammten. Abkömmlinge aus diesen Wurzeln wurden dann von Baillon als Rheum officinale, eine neue Art, beschrieben, welche aber der vorigen nahe steht. Sie ist mit dem vom russischen Reisenden Przewalski auf seinen Reisen in der westlichen Mongolei und in Kan-su 1871–1873 in der Gegend von Kuku-nor und in der Berglandschaft Tangut, dem Zentrum der Verbreitung der besten Rhabarberpflanzen, gefundenen Rheum palmatum tanguticum der Lieferant des echten Rhabarbers. Das Hauptverbreitungsgebiet der 1,5–2,5 m hohen, breite, handförmige, dunkelgrüne Blätter und weiße Blüten aufweisenden offizinellen Rhabarberpflanze ist das Hochplateau von Osttibet und das westchinesische Gebirgsland zwischen dem Blauen und Gelben Fluß, das zu den Provinzen Sze-tschwan und Kan-su gehört. Die Hauptmasse des Rhabarbers kommt von Rheum officinale aus Osttibet und der chinesischen Provinz Sze-tschwan, nur ein geringer Teil nördlich davon aus der Provinz Kan-su von Rh. palmatum tanguticum; und zwar wird die beste Sorte von wildwachsenden Pflanzen gewonnen. Der wahrscheinlich nur in geringen Mengen angebaute Rhabarber gilt als minderwertig. Noch sehr viel geringer an wirksamer Substanz ist natürlich der in Europa gepflanzte echte Rhabarber, was leicht begreiflich ist, wenn man bedenkt, daß er in seiner Heimat in 3–4000 m Höhe gedeiht und bis 6300 m Höhe steigt. Zur Gewinnung der offizinellen Droge benutzt man mindestens 8–10 Jahre alte Pflanzen, deren Wurzelstöcke kurz vor der Blütezeit und wieder vor der Samenreife gegraben, vom oberen Teil und der Rinde befreit, in kleinere Stücke gespalten, durchbohrt und an Schnüre aufgezogen ziemlich oberflächlich, teils an der Luft, teils am Ofen getrocknet werden. Dann gelangen sie an die großen Häuser, die sie vollkommen putzen, sortieren[S. 308] und noch besser trocknen. Die Ware kommt dann in großen, außen mit gelbem oder rotem Papier überzogenen und mit chinesischen Schriftzeichen signierten, innen mit Zinkblech ausgeschlagenen Kisten aus der Provinz Schen-si dem Gelben Fluß entlang nach Tien-tsin und Peking, aus der Provinz Sze-tschwan mit dem Hauptstapelplatz Kwan-juön dem Blauen Fluß entlang nach Schang-hai und aus Tibet und Yün-nan zum Teil auch dem südlicheren Perlfluß entlang nach Kanton in den Handel. Die beste, orangegelbe Sorte stammt aus Schen-si und ist auch weitaus die teuerste; die andern, billigeren Sorten sind ockergelb und werden hauptsächlich von der großen Handelsstadt Han-kau am Mittellauf des Blauen Flusses aus ausgeführt, von wo der meiste Rhabarber über Schang-hai in den Welthandel gelangt.
Der Rhabarber enthält als primäre Bildungen der Pflanze zwei Gruppen von Glykosiden, nämlich die abführend wirkenden Anthraglykoside und deren Spaltungsprodukte, unter denen die Chrysophansäure, das Emodin und das Rhein die wichtigsten sind, und die nicht abführend, wohl aber zusammenziehend wirkenden Tannoglykoside und deren Spaltungsprodukte. Daher kommt es, daß kleine Dosen Rhabarber stopfend durch letztere und erst größere abführend durch erstere wirken, indem die Glykoside im Darm langsam gespalten werden. Dabei wird gleichzeitig die Absonderung der Galle angeregt.
Eine dem chinesischen Rhabarber ähnliche Wurzel liefert der in Südrußland und Sibirien heimische pontische Rhabarber (Rheum[S. 309] rhaponticum), den man, als er durch den Botanikprofessor Prosper Alpino in Padua bekannt wurde, lange Zeit für den echten Rhabarber hielt. Wahrscheinlich wird der größte Teil des rha ponticum der Alten aus ihm bestanden haben. Wenn auch schwächer als der chinesische Rhabarber wirkend, wird er nicht nur in seiner Heimat und im Morgenlande, besonders Persien, sondern auch seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in England, Frankreich, Deutschland, Österreich und Ungarn im großen angepflanzt und in den Handel gebracht. Er wird namentlich in der Tierarzneikunde seiner größeren Billigkeit wegen viel verwendet. In England begann um 1800 der Apotheker Hayward in Hanbury bei Oxford seine Kultur in größerem Stile, die dann seit 1845 einen bedeutenden Aufschwung nahm. Die Hauptkulturen Frankreichs sind in den Departements Morbihan, Doubs und Isère. Ein Teil der wirksamen Bestandteile der echten Rhabarberwurzel fehlt in den von dieser Art gewonnenen Wurzeln, die auch dünner sind.
Nach der Entdeckung Amerikas hielten bekanntlich die Spanier dieses Land zuerst für den östlichen Teil Asiens und bemühten sich, außer dem Gold, das sie in dem vom Venezianer Marco Polo als sehr goldreich beschriebenen Lande Zipangu (Japan) zu finden hofften, auch die wichtigsten asiatischen Gewürze und Arzneidrogen zu bekommen, um sich an dem damit zu treibenden Handel zu bereichern. Unter den Drogen, die Kolumbus in seinen ersten Briefen in die Heimat erwähnt, befindet sich, so speziell in den Briefen vom 4. und 14. März 1493, auch Rhabarber. Dieser amerikanische Rhabarber hat sich als die knollenförmig angeschwollenen, abführend wirkenden Wurzeln verschiedener Windengewächse erwiesen, unter denen die schon lange vor der Ankunft der Spanier in Mexiko als Abführmittel verwendete Jalapenwurzel seit Anfang des 17. Jahrhunderts auch in den Arzneischatz Europas eingeführt wurde. Diese seit 1536 deutlicher erkannte Wurzel, die der Spanier Monardes zuerst in der Provinz Mechoacan in Mexiko kennen lernte und als Rhabarber von Mechoacan in jenem Jahre beschrieb, figurierte in den europäischen Drogenverzeichnissen des 17. und 18. Jahrhunderts als Mechoacannawurzel, bis sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts nach dem mexikanischen Bezugsorte Jalapa von den Marseillern den Namen Jalapenwurzel erhielt. Die Mutterpflanze aber lernte man erst 1829 durch Cox in Philadelphia kennen. Sie kam dann 1830 zuerst nach Europa durch Schiede, der ihr den Namen Convolvulus jalapa gab. Heute wird sie aber meist nach Hayne als Ipomoea purga bezeichnet. Die Jalapen[S. 310]winde ist eine am östlichen Abhang der mexikanischen Cordillere in Höhen von 1200–2400 m wildwachsende ausdauernde Schlingpflanze, die auch an manchen Orten der Tropen wie auf Jamaika, in Südamerika, auf Ceylon und in Ostindien kultiviert wird. Die walnuß- bis faustgroßen Knollen werden das ganze Jahr hindurch, besonders aber am Ende der Regenzeit im Mai gesammelt, an der Sonne, in heißer Asche oder, in einem Netz aufgehängt, über freiem Feuer getrocknet. In letzterem Falle erhalten sie ein berußtes Aussehen und etwas Harz tritt aus. Um den Austrocknungsprozeß zu beschleunigen, werden die größeren Knollen durchschnitten; nur kleine läßt man ganz. Sie sind hart, fest und schwer, erscheinen außen dunkelbraun, runzelig, innen weißlichgrau, faserig, riechen eigenartig und schmecken anfangs süßlich, ekelhaft, dann scharf, im Rachen lange haftend. Haupthandelsplatz der nur von wildwachsenden Pflanzen gesammelten echten mexikanischen Jalapa ist der mexikanische Hafenort Vera Cruz, von wo die Droge in Ballen von 50 kg Gewicht exportiert wird. Als wichtigsten Bestandteil enthält sie das zuerst 1634 durch Ausziehen der Wurzelknolle mit Weingeist gewonnene, bis zu über 20, meist aber zu 10–13 Prozent darin enthaltene Jalapenharz, das aus 95 Prozent eines in Äther unlöslichen harzartigen Glykosids Convolvulin und zu 5 Prozent des in Äther löslichen Harzes Jalapin besteht. Aus ersterem werden im Darm die Convolvulin- und Purginsäure gespalten. In der Wirkung steht dieses Abführmittel in der Mitte zwischen Rhabarber und Aloe, indem es nicht so leicht verstopft, wie ersterer, und auch nicht so stark die Gedärme reizt, wie letztere.
Als drastisches Abführmittel wird das Gummiharz einer altweltlichen Windenart (Convolvulus scammonia) als Scammonium verwendet. Dieses hat seinen Namen vom griechischen skámma, das Gegrabene, und wurde schon im Altertum gebraucht, aber nach Dioskurides schon ebenso verfälscht wie heute. Von der im östlichen Mittelmeergebiet bis zum Kaukasus heimischen, in Kleinasien und Syrien stellenweise häufigen ausdauernden Pflanze wird der eingetrocknet bräunlichgelbe bis dunkelbraune Milchsaft aus der bloßgelegten Wurzel vermittelst Einschnittes gewonnen. Er schmeckt kratzend, bitter und riecht dem Jalapenharz ähnlich, besteht aus 10 Prozent Harz, und zwar zum großen Teil aus Jalapin, dann aus Zucker, Gummi und Gerbstoff. Im Mittelalter wurde er öfter unter der Bezeichnung Diagrydium arzneilich verwendet, kommt aber heute nur ganz ausnahmsweise zur Anwendung.
Häufiger wird das Podophyllin angewandt, das von einer an schattigen, feuchten Stellen der Laubwälder des atlantischen Nordamerika wachsenden staudigen Berberidee mit 5–9lappigen Blättern, großen, weißen, nickenden Blüten und eiförmigen, gelblichen, etwa einer kleinen Zitrone ähnlichen, vielsamigen Früchten mit säuerlichem, eßbarem Fruchtfleisch gewonnen wird, indem der weiße, kriechende Wurzelstock mit Alkohol ausgezogen und dieser spirituöse Auszug mit Wasser gefällt wird. Das so gewonnene Podophyllin stellt ein zitronengelbes bis orangebraunes amorphes, bitteres Pulver dar, das 12 Prozent Harz mit den abführenden Glykosiden Podophyllotoxin und Pikropodophyllin enthält. Auch äußerlich wird die Droge als hautreizendes Mittel angewandt. Der Wurzelstock dieser Pflanze wurde von alters her von den Indianern zum Laxieren verwendet. Im Jahre 1820 wurde das daraus gewonnene Harz in die Pharmakopoe der Vereinigten Staaten, 1864 in diejenige Englands, später auch in das deutsche, österreichische und schweizerische Arzneibuch aufgenommen. Dem Wurzelstock dieses nordamerikanischen Podophyllum peltatum ist derjenige des Podophyllum emodi aus Kaschmir und dem Südabhang des Himalaja auch in der Wirkung sehr ähnlich. Auch er wird von den Eingeboren in derselben Weise gebraucht.
Uralt ist bei den Kulturvölkern Vorderasiens und des Mittelmeergebiets die Anwendung der Aloe als Abführ- und Wundheilmittel. Schon 2–3 Jahrtausende v. Chr. war sie in Ägypten und Babylonien im Gebrauch und wurde unter der semitischen Bezeichnung halal, was bitter bedeutet, aus den Küstenländern Ostafrikas eingeführt. Die Griechen und Römer lernten sie später unter dem Namen aloe kennen. Ähnlich wie der ältere Plinius sagt sein Zeitgenosse Dioskurides von ihr: „Die meiste Aloe wächst in Indien und von dort kommt auch ihr Saft in den Handel; welche wächst auch in Arabien und Kleinasien, wie auch auf einigen Inseln, z. B. Andros, doch wird ihr Saft an letztgenannten Orten nicht gesammelt, aber man legt die zerquetschten Blätter auf Wunden. Man unterscheidet zwei Arten von Aloe, eine sandige und eine leberfarbige. Beide werden mit Gummi verfälscht, was sich jedoch durch den Geschmack, den Mangel an Bitterkeit und durch den Geruch verrät, auch läßt sich der verfälschte nicht zwischen den Fingern zu feinem Staube zerreiben. Innerlich wird er vielfach als Arznei gebraucht, äußerlich aber in Pulverform auf Wunden gestreut.“ Im mittleren und nördlichen Europa war die Aloe seit dem 10. Jahrhundert im Gebrauch und wird zu dieser Zeit in[S. 312] angelsächsischen Arzneibüchern angeführt. In Deutschland hat besonders der gelehrte Dominikaner Albertus Magnus, Graf von Bollstädt (1193–1280), viel zu ihrer Einführung beigetragen.
Die Droge ist der eingekochte Milchsaft aus den Blättern verschiedener Aloearten aus dem tropischen und subtropischen Afrika, besonders dem Kapland. Die offizinelle Kap-Aloe wird fast ausschließlich von Aloe ferox gewonnen, welche im südlichen und südöstlichen Kapland öfters dichte Bestände bildet. Es ist dies eine Liliazee mit 1 bis 1,75 m hohem, meist einmal gegabeltem Stamm, bläulichgrünen, unterseits weißgefleckten, nicht nur am Rande, sondern meist auch an der Ober- und Unterseite stacheligen Blättern und einer großen Traube von purpurroten, an der Spitze grünlichen Blüten. Die beste Sorte von Aloe wird dadurch, und zwar meist von den Eingeborenen, gewonnen, daß man die abgeschnittenen fleischigen Blätter mit der Schnittfläche nach innen unten rings um eine über eine flache Bodenvertiefung ausgebreitete gegerbte Rindshaut derart aufstapelt, daß ein kuppelartiger Bau von etwa 1 m Höhe entsteht. Nach einigen Stunden werden die Blätter einfach beiseite gestoßen und der von selbst aus ihnen geflossene Saft in ein Gefäß gesammelt und abends über freiem Feuer eingekocht, wobei fleißig gerührt werden muß, um das Anbrennen desselben zu verhindern. Noch besser ist es, ihn langsam an der Sonne eintrocknen zu lassen. In letzterem Falle scheidet sich das Aloin des Saftes kristallinisch aus und es entsteht die, wie wir vorhin erfuhren, schon von Dioskurides und den andern Ärzten des Altertums unterschiedene matte, lederfarbene Aloe, während die eingekochte, durchsichtig, glänzend und statt rot bis hellbraun wie die vorige infolge von Überhitzung schwarz geworden ist. Eine geringere Sorte wird durch Auspressen, und die schlechteste durch Auskochen der Blätter gewonnen. Sie riecht eigentümlich und schmeckt widerlich bitter durch den in ihr enthaltenen Bitterstoff Aloin, der in Wasser löslich ist und stark abführend wirkt. Ferner sind darin 30–40 Prozent Aloeharz, 0,2 Prozent Aloe-Emodin und Spuren ätherischen Öles enthalten. Die durch Auskochen der Blätter gewonnene geringste Sorte wird ihrer Wohlfeilheit wegen nur von Tierärzten benutzt. Im 16. Jahrhundert gelangte die Kultur der Aloe vulgaris nach Südeuropa und durch die Spanier nach Westindien. Seit 1693 ist die Barbados-Aloe im englischen Handel, während die Kap-Aloe erst seit ihrer Gewinnung durch den Buren Peter de Wett aufkam. Aus der Barbados-Aloe stellte dann der Edinburger Apotheker Thomas Smith 1850 als erster das Aloin[S. 313] dar. Die heute meist von Curaçao stammende Barbados-Aloe wird in Kalabassen und diese dann in Fässer verpackt, während die gebräuchlichere Kap-Aloe zum Teil in Affenhäute, als dem billigsten Verpackungsmaterial, vernäht in Kisten in den Handel gelangt und so auf den Londoner und Hamburger Auktionen verkauft wird.
Von einem unscheinbaren Hülsenfrüchtler, der Cassia angustifolia, einem im mittleren Nilgebiet von Assuan durch Dongola bis Kordofan heimischen, 30–60 cm hohen Strauch mit paariggefiederten Blättern, stammen die vom Volke als Abführmittel sehr beliebten Sennesblätter, die vom Juni bis Dezember gesammelt werden und getrocknet meist über England in den Handel kommen. Sie sind 1 bis[S. 314] 3 cm lang, eiförmig, lederig, mattgrün und enthalten außer Senna-Rhamnetin, Senna-Chrysophansäure und Cathartinsäure als eigentlichen abführenden Stoff das zu 0,8 Prozent darin enthaltene Senna-Emodin. Die alten Griechen und Römer kannten diese Droge noch nicht. Sie wurde erst seit dem 9. Jahrhundert durch arabische Ärzte unter der Bezeichnung sannâ in Europa bekannt, doch wurden im frühen Mittelalter die Fruchthülsen, und nicht die Blätter der Pflanze von den arabischen Ärzten verwendet; letztere kamen erst seit dem 11. Jahrhundert immer mehr in Gebrauch, während man in neuerer Zeit wiederum den Hülsen mehr Aufmerksamkeit zuwendet. Vom Jahre 1808–1828 war der Handel mit Sennesblättern in Ägypten unter Muhammed Ali monopolisiert und verpachtet. Als dadurch die Preise der Droge sehr in die Höhe stiegen, verpflanzten die Engländer den Anbau des Sennesstrauches nach Südindien und Ceylon, von wo heute die größte Menge unter der Bezeichnung Tinnevelly-Senna von Tuticorin aus über England in den Handel kommt, während zur Zeit des ägyptischen Monopols Triest der Hauptstapelplatz dafür war.
Als gelindes Abführmittel wird das säuerliche Fruchtmus einer anderen Leguminose, der indischen Tamarinde (Tamarindus indica), gebraucht. Dieser im tropischen Afrika von Abessinien und dem oberen Nilgebiet südwestlich bis zum Zambesi heimische Schmetterlingsblütler, der heute überall in den Tropen meist als Alleebaum kultiviert wird, stellt einen 25 m hohen, bis 8 m Stammumfang aufweisenden schattigen Baum dar mit paariggefiederten Blättern, gelblichen, purpurn geäderten Blüten und gestielten 15 cm langen und 2,5 cm breiten Fruchthülsen, die in zerbrechlicher, gelbbrauner, rauher Schale ein braunschwarzes Mus, und in diesem rundliche, viereckige, glänzend rotbraune Samen aufweisen. Für die trockenen, vegetationsarmen Binnenländer Afrikas sind die als beliebtes Obst und zur Herstellung von erfrischendem Mus und durstlöschenden Getränken benutzten Früchte von der größten Bedeutung. Auch das gelbliche, oft rot gestreifte, harte, sehr dauerhafte und von keinerlei Insekten, selbst nicht den Termiten, angegangene Stammholz ist als Werk- und Drechslerholz hochgeschätzt. Die alten Ägypter kannten den Baum als nutem, d. h. Schotenbaum, und wandten das angenehm säuerliche Mus seiner Früchte als abführende Arznei an. Die übrigen Kulturvölker des Altertums erwähnen die Frucht noch nicht, sondern erst die arabischen Schriftsteller des Mittelalters unter der Bezeichnung tamar hindi, d. h. indische Datteln, woraus dann unsere Benennung Tamarinde hervor[S. 315]ging. Durch Vermittlung der arabischen Ärzte wurden die Tamarindenschoten und das daraus hergestellte Mus in die europäischen Apotheken eingeführt. Der erste europäische Arzt, der solches erwähnt und von dessen Anwendung als kühlendem Abführmittel bei Gallenkrankheiten spricht, ist Johannes Actuarius im 13. Jahrhundert. Bei den alten deutschen Ärzten findet sich dafür die Bezeichnung siliqua arabica, d. h. arabische Schote. Seit dem 15. Jahrhundert führen die deutschen Apotheken die Tamarinde, die aber niemals besondere Geltung erhielt. Erst in neuerer Zeit ist das in Bonbonform gebrachte Tamarindenmus von Frankreich aus als tamar indien zu Abführzwecken mehr und mehr eingeführt worden. Ihre Wirkung wird durch den Gehalt von 8 Prozent Weinstein und 15 Prozent Weinsäure bedingt. Ein ausgewachsener Baum liefert 180–200 kg Früchte, deren Mus überall in den Tropen gern als Kompott verspeist wird. Aus den Ländern am oberen Nil kam der Fruchtbaum schon sehr früh nach Indien, wo er im Ayur Veda Susrutas als ambika angeführt wird. Bereits 1570 traf ihn Hernandez in Mexiko, und 1648 von Markgraf in Brasilien angepflanzt.
Gleichzeitig mit der Tamarinde wurden die von arabischen und persischen Ärzten zuerst erwähnten getrockneten Früchte des ursprünglich ebenfalls im oberen Nilgebiet heimischen und von da über die Tropen beider Hemisphären verbreiteten, bis 18 m hohen und schöne Bäume bildenden Schmetterlingsblütlers Cassia fistula unter dem Namen Röhrenkassie in die europäischen Apotheken eingeführt. Actuarius im 13. Jahrhundert beschrieb sie als Cassia nigra und erst Mesue führt sie als Cassia fistula an. Das honigartig riechende, süßschmeckende, braune Mus, das aus den 30–60 cm langen, 1,5–3 cm dicken, schwarzen oder schwarzbraunen, zylindrischen, kurzgestielten, meist etwas gekrümmten Hülsenfrüchten mit glatter, holziger Schale gewonnen wird, enthält außer Gummi und Pektinstoffen über die Hälfte des Gewichtes Zucker und wird als mildes Abführmittel für sich oder als Bestandteil von Elektuarien benutzt. Die süßeste Ware kommt, wie das meiste Tamarindenmus, aus Ostindien in zylindrischen, aus derben Rohrspänen geflochtenen Körben in den Handel; daneben ist amerikanische und afrikanische Röhrenkassie auf dem Markt. In Indien benutzt man die jungen, unreifen Früchte, mit Zucker eingemacht, als Abführmittel. Die sehr gewürzhaft riechende Rinde des Baumes, die der Pflanze die sonst nur für eine Abart des Zimtbaums, die Zimtkassie, gebräuchliche Benennung Cassia verschaffte, ist sehr reich an Gerbstoff und wird deshalb vielfach zum Gerben benutzt.
Als drastisches Abführmittel bei Wassersucht diente früher noch mehr als heute der eingedickte schleimige, gelbe Saft eines in Süd- und Hinterindien wachsenden 15 m hohen Baumes, Garcinia hanbury, der als Gummigutti in den Handel kommt. Von den Eingeborenen wurde er schon längst arzneilich und technisch verwendet, als ihn die Europäer kennen lernten. Zuerst erwähnt ihn ein chinesischer Reisender, der von 1295–97 Kambodscha besuchte, unter dem Namen kiang-hwang. Die erste Probe davon brachte der holländische Admiral J. van Neck nach Europa; von ihm erhielt Clusius 1603 davon unter der malaiischen Bezeichnung gutah jemon, d. h. heilkräftiges Gummiharz. 1611 machte ein Bamberger Arzt, Michael Reuden, den ersten medizinischen Gebrauch davon. 1651 nahm Horstius das Mittel in seine Pharmacopoea catholica auf, und 1751 erkannte Neumann die Natur der Droge als ein Gummiharz. Von 20–30 Jahre alten Bäumen wird der gelbe Milchsaft durch spiralig um den Stamm verlaufende Schnitte vor Eintritt der Regenzeit, d. h. von Februar bis April gewonnen, in 50 cm langen und 6–7 cm dicken Bambusrohren durch Erwärmen am Feuer erhärtet und dann die stangenförmige rotgelbe Masse als Röhrengutti in den Handel gebracht. Er enthält durchschnittlich 77 Prozent Harz, etwas in Alkohol lösliches Gummiguttigelb und 12 Prozent Gummi. Die drastische Wirkung der berüchtigten Morisonpillen ist wesentlich auf ihren Gehalt an Gummigutti zurückzuführen, der in stärkeren Dosen leicht Vergiftungen hervorruft.
Ein anderes, schon in sehr kleinen Mengen außerordentlich heftig abführendes und, in die Haut eingerieben, in kurzer Zeit eine starke Hautentzündung mit Pustelbildung hervorrufendes Mittel ist das Krotonöl, das aus den zerstoßenen, geschälten, reifen Samen einer 6 m hohen, sehr nahe mit der Rizinusstaude verwandten Wolfsmilchpflanze, Croton tiglium, bei gelinder Wärme ausgepreßt wird und ein dickes, braungelbes, etwas unangenehm riechendes, zunächst milde, aber sehr bald scharf brennend schmeckendes Öl darstellt. Innerlich bringt schon ½ Tropfen mit Zucker verrieben nach einer halben Stunde eine Ausleerung hervor, während 1 Tropfen — übrigens die größte Gabe, welche innerlich als Heilmittel verabreicht werden darf — schon über ein Dutzend Ausleerungen mit starkem Drang hervorruft. Das wirksame Prinzip ist das krotonolsaure Triglycerid und das Krotonharz, auf welch letzterem die blasenziehende Eigenschaft des Öles beruht. So dient es auch als Bandwurmmittel und äußerlich zu ableitenden Salben bei Rheumatismus und Neuralgien. Die Bekanntschaft mit diesem[S. 317] Öle verdankt das Abendland den arabischen Ärzten. Ums Jahr 950 war es Serapion dem Älteren, und 50 Jahre später Avicenna (eigentlich Ibn Sina, dem Leibarzte mehrerer Sultane, gestorben 1037 in Hamadan) bekannt. 1578 lieferte D’Acosta eine genauere Beschreibung nicht nur des Öles, sondern auch der in Ostindien heimischen Stammpflanze, die außer hier und in Ceylon auf Java, den Philippinen und in China kultiviert wird.
Ein uraltes Abführmittel sind endlich die faustgroßen, runden, gelben Früchte der in großer Menge die Wüsten Nordafrikas und Westasiens bewohnenden Bittergurke (Citrullus colocynthis), die einst hauptsächlich den Straußen als Nahrung dienten und als Koloquinten arzneiliche Verwendung fanden. Sie finden sich bereits im Alten Testament erwähnt, und wie schon Hippokrates, verwandte sie auch Dioskurides unter der Bezeichnung kolokynthis, d. h. Eingeweidebeweger, als Arznei. Besonders von den arabischen Ärzten wurde diese von ihnen handal genannte Droge viel verwandt und deshalb die Koloquinte schon im 10. Jahrhundert auf Cypern und in Spanien angepflanzt. Als Arzneimittel werden die Früchte in angelsächsischen Arzneibüchern des 11. Jahrhunderts angeführt. Gegen halbseitiges Kopfweh rühmte sie schon Alexander Trallianus im 6. Jahrhundert. Die getrockneten, geschälten Früchte kommen aus Spanien, Marokko, Syrien und neuerdings in komprimierter Form aus Persien und Ostindien in den Handel und enthalten besonders im Fruchtfleisch einen glykosidischen Bitterstoff, das Colocynthin, zu 0,6–2 Prozent. Die gerösteten Samen der Koloquinte werden übrigens von der ärmeren Bevölkerung der Sahara als willkommene Speise gegessen.
Eine schon im Altertum für den Arzneischatz wichtige Pflanze bildete das Süßholz. Es ist dies die ungeschälte Wurzel der in Südeuropa und im südwestlichen Asien bis Persien heimischen, bis 2 m hohen, ausdauernden Leguminose, Glycyrrhiza glabra, mit bis 20 cm langen Fiederblättern und violetten Blüten in Trauben. In den hippokratischen Schriften wird sie zwar nur einmal erwähnt, aber die späteren griechischen Ärzte benutzten sie als glykýrrhiza, d. h. Süßwurzel, häufig als schleimlösendes Mittel bei Husten. Bei den römischen Ärzten figurierte sie als radix dulcis, was ebenfalls süße Wurzel bedeutet. Noch Alexander Trallianus im 6. Jahrhundert benutzte sie viel gegen Brustbeschwerden. Unter den von Karl dem Großen in seinem capitulare de villis vom Jahre 812 zum Anbau empfohlenen Nutzpflanzen findet sie sich nicht, doch wird sie von der heiligen Hilde[S. 318]gard, Äbtissin des Klosters Ruppertsberg bei Bingen (1098–1179), als liquiricium aufgeführt, woraus dann das deutsche Lakriz und das französische rêglisse hervorging, alles natürlich Ableitungen des griechischen glykýrrhiza, das uns schon bei dem Schüler des Aristoteles, Theophrast (390–286 v. Chr.), entgegentritt. Die bis 2 cm dicke, gelbe Süßholzwurzel enthält als wesentlichsten Bestandteil das als Süßholzzucker bezeichnete Glycyrrhizin, ein an Kalk gebundenes Glykosid, das zu 6–8 Prozent darin enthalten ist. Im 15. Jahrhundert wurde von den Benediktinern in Bamberg die Kultur des Süßholzes in Deutschland eingeführt und meist von da aus die deutschen Apotheken mit dieser Droge versorgt. Seit dem 13. Jahrhundert wird es in Italien, vorzugsweise in Kalabrien und Sizilien, besonders aber in Spanien kultiviert, von wo es, im Winter ausgegraben und in Bündel von 30–35 kg Gewicht verpackt, in den Handel kommt. Auch aus Südfrankreich, Mähren und Syrien, wo die Pflanze im großen kultiviert wird, und aus der Umgebung von Smyrna, wo man sie von wildwachsenden Exemplaren sammelt, wird sie teils als solche, teils auf Lakrizensaft verarbeitet, exportiert. Der eingekochte Lakrizensaft war schon dem Dioskurides und Plinius bekannt; in Deutschland erwähnt ihn zuerst Konrad von Megenberg, der 1374 63jährig als Kanonikus am Dom zu Regensburg verstorbene Verfasser der ersten in deutscher Sprache geschriebenen Naturgeschichte. 1450 treffen wir ihn in der Arzneiliste der Stadt Frankfurt a. Main. Er wird durch Auskochen der zerquetschten minderwertigen Wurzeln in Wasser mit nachherigem Eindampfen gewonnen und dient außer als Geschmackskorrigens für Arzneien auch in der Bierbrauerei. Außer dem südeuropäischen und asiatischen Süßholz kommt eine geschälte, sogenannte russische Abart von der Varietät Glycyrrhiza glandulifera in großen, durch eiserne Bänder zusammengehaltenen Ballen von 80–100 kg in den Handel. Sie wird besonders bei Sarepta und den Inseln der Wolgamündungen im großen angebaut und ihre Wurzeln werden roh über Astrachan nach Moskau und St. Petersburg, wo sie erst geschält werden, ausgeführt. Ein anderer, meist von wildwachsenden Pflanzen an den Ufern des Ural gesammelter Teil kommt von Nishnij-Nowgorod aus auf den Markt. Diese eigenartig süß schmeckende Droge gilt als das beste Süßholz; auch bei ihm ist die Herbsternte reicher an Glycyrrhizin als die Sommerernte. Fast ebensogut in der Qualität ist das in großen Mengen in Sibirien, Turkestan und der Mongolei gesammelte und eine besondere Handelsmarke bildende chinesische Süßholz von Glycyr[S. 319]rhiza uralensis, das pharmakognostisch wesentliche Unterschiede vom russischen und spanischen zeigt.
Von einigen dem vorigen sehr nahe verwandten Schmetterlingsblütlern aus der Gattung Astragalus wird in Kleinasien, Syrien und Persien der als Bindemittel in der Technik und Arzneikunde viel gebrauchte Tragantgummi gewonnen. Er tritt als bei gutem Wetter innerhalb 3–4 Tagen erhärtender Schleim, bei feuchter Witterung durch entsprechende Volumzunahme freiwillig, beziehungsweise durch zufällige Verletzungen der Rinde durch Insekten oder weidende Tiere, in der Regel aber durch künstlich angebrachte Einschnitte aus Stamm und Ästen jener dornigen Büsche und wird in farblosen, gelblichweißen bis bräunlichen Blättern oder Körnern gesammelt. Die Sortierung in die verschiedenen Handelssorten geschieht meist in Smyrna oder Konstantinopel, von wo jährlich etwa ½ Million kg in den Handel gelangen. Besonders groß ist der Bedarf in der Kattundruckerei als Verdickungsmittel für Farben, in der Appretur von Seidenwaren und zum Glänzendmachen von Sohlleder. Er quillt in Wasser stark auf, gibt gepulvert mit 20 Teilen Wasser einen derben, vielfach auch zu Klistieren benutzten Schleim und enthält außer einem in Wasser löslichen Gummi hauptsächlich das in Wasser quellende, unlösliche Bassorin, ein Polysaccharid. Der Tragant war schon den alten Griechen und Römern als tragacantha bekannt und wurde von ihnen technisch und medizinisch benutzt. Theophrast nennt Kreta, den Peloponnes und Medien, d. h. das Gebirge im Nordwesten des heutigen Persien als die Heimat der ihn liefernden Pflanzen, und Dioskurides sagt, der beste sei durchsichtig, glatt, fast süß. Er wirke wie (arabischer) Gummi, werde in Augenheilmittel getan und gegen Brustleiden eingenommen. Sein Zeitgenosse Plinius der Ältere nennt Medien und Achaja als Hauptbezugsgegenden der Droge und fügt bei, daß ein Pfund davon zu seiner Zeit drei Denare (etwa 90 Pfennige) kostete. Durch die arabischen Ärzte wurde dann das Abendland mit dem Tragantgummi bekannt. Zum ersten Male findet sich die Droge in Deutschland im 12. Jahrhundert erwähnt. Um 1340 berichtet der Italiener Pegolotti über draganti als Ausfuhrartikel von Satalia (Adalia im südlichen Kleinasien) neben dem Tragant aus Romania, dem heutigen Griechenland. Neuerdings wird als Surrogat des Tragants der Kuteragummi von der 6 m hohen Leguminose Maximilianea gossypium, mit großen, gestielten Blättern und gelben Blüten, in Vorderindien gewonnen. Außer in seiner Heimat wird er in Cochinchina, Senegambien[S. 320] und auf der Insel Mauritius angepflanzt und liefert den dem Tragantgummi ähnlichen, in Wasser auch nur teilweise löslichen Kuteragummi, der in derselben Weise wie der Tragant verwendet wird.
Ein seit dem frühesten Altertum sehr geschätzter Exportartikel Afrikas ist der arabische oder Akaziengummi, der hauptsächlich aus Stamm und Ästen der im Nordosten Afrikas, besonders im oberen Nilgebiet wachsenden, bis 6 m hoch werdenden Gummiakazie (Acacia senegal) von den Eingeborenen gesammelt wird, um nicht nur an die Fremden verkauft zu werden, sondern in erster Linie ihnen selbst als wichtiges Nahrungsmittel zu dienen. Diese Gummiakazie bildet in Senegambien und Kordofan, im Stromgebiet des Weißen Nil und des Atbara ausgedehnte Wälder und besteht aus stacheligen Sträuchern oder bis 6 m hohen Bäumen mit schirmartiger Krone, sehr hartem Holz, grauer, rissiger Rinde und dicken Lagen gelben bis purpurroten Bastes, kleinen, doppelgefiederten Blättern, schwarzen Stacheln, langen, gelben Blütenähren und linealischen Fruchthülsen mit dunkeln Samen. Wenn im Juli, August und September in dem sonst regenarmen Lande ausgiebige Regengüsse stattfinden und daraufhin heiße Witterung eintritt, so berstet durch die austrocknenden Ostwinde die Rinde der dann eben blattlosen und sich mit den schönen, gelben Blütenähren bedeckenden Gummiakazien, und aus der allmählich der „Vergummung“ anheimfallenden Innenrinde fließt in oft größerer Menge der farblose Gummischleim aus, der alsbald am Baume erhärtet. Mit dem Ausbrechen der Blätter hört dann die Gummibildung auf. Je länger nun z. B. am Senegal der austrocknende Wüsten-Ostwind weht, um so reichlicher ist die Ernte. Nach Busse soll aber dieser Gummifluß nicht freiwillig stattfinden, wie man bis jetzt allgemein glaubte, sondern sein Entstehen lediglich der Verletzung durch die Rinde (und das Holz) anbohrende Insekten, besonders Ameisen, verdanken. Jeder Gummiklumpen entspräche demnach einer kleinen Wunde, und zwar färbt sich der austretende Gummi um so mehr rotbraun, je tiefer die Wunde ist und je mehr sich infolgedessen gerbstoffartige Stoffe beimischen. Smith endlich führt das Ausfließen von Gummi auf die Tätigkeit eines von ihm als Bacterium acaciae bezeichneten winzigen Pilzes zurück, der stets auf denselben Bäumen und an den Stellen, wo sich Gummi bildet, aufgefunden wird. Nach Louvel beginnt die Gummiabsonderung, sobald die Pflanze 7–8 Jahre alt ist, sie erreicht im 30. ihren Höhepunkt und dauert bis zum 40. an. Nur selten wird die Gummiakazie vom Menschen[S. 321] angeschnitten, um ihr wertvolles Produkt zu erhalten. Am reichlichsten fließt der Gummi in den Monaten Februar und März bis Mitte April, und zwar ist die Absonderung desselben in abnorm heißen Jahren am stärksten. Früher richteten gelegentlich Elefanten große Verwüstungen in den Gummiwäldern an, so daß der Ertrag geschmälert wurde. Die beste Sorte kommt aus Kordofan in den Handel; eine sehr gute Qualität liefert auch Südnubien und Abessinien. Weniger geschätzt dagegen ist der von anderen Akazienarten in Ost- und Südafrika, wie auch in Marokko und der Berberei gesammelte, mehr braune Gummi. Letzterer löst sich nicht vollständig wie der echte, helle arabische Gummi im doppelten Gewicht Wasser zu einem klebenden, aber nicht fadenziehenden, geruchlosen, gelblichen Schleim auf.
Beim Einsammeln des Gummis ist vor allem darauf zu achten, daß nur immer ein und dieselbe Art gesammelt wird, oder aber die Sorten verschiedener Arten gleich an Ort und Stelle auseinander gehalten werden. Dies ist deshalb von großer Wichtigkeit, weil sich die verschiedenen Gummisorten in ganz verschiedenem Maße in Wasser lösen und es so leicht vorkommen kann, daß Gummisorten gemischt werden, von denen die eine ganz, die andere nur zu einem gewissen Teil löslich ist. Eine solche Mischsorte würde dadurch fast vollständig entwertet. Derartige minderwertige gemischte Sorten kommen meist fein gepulvert in den Handel, finden aber nur schwer Absatz, weil ein solcher auch stark verunreinigt zu sein pflegt. Es empfiehlt sich, nur möglichst helle und gleichmäßig gefärbte Stücke derselben Akazienart zu sammeln und die Sorten streng auseinander zu halten. Der beste Gummi ist farblos bis hellgelb, ziemlich durchsichtig und bildet runde oder längliche Körper mit glatter, teilweise rissiger Oberfläche. Die Härte entspricht ungefähr derjenigen des Steinsalzes. Der Hauptbestandteil desselben ist Arabin, eine Verbindung der Arabinsäure mit Kalk und kleinen Mengen Kali und Magnesia, ferner wenig Bassorin und Spuren von Zucker, Gerb- und Farbstoffen. Die Verwendung des Gummis ist eine äußerst mannigfaltige. In der Medizin dient er als reizmilderndes, schleimiges, einhüllendes Arzneimittel, besonders bei Magen- und Darmentzündung und bei Vergiftungen, dann als Konstituens bei Emulsionen, Latwergen, Pasten, Pastillen, Pillen usw., als Streupulver bei Wunden, speziell Brandwunden, zu Klistieren, im großen aber in Färbereien, Druckereien, Appreturanstalten für Seidenwaren und feine Spitzen, dann Tinten- und Zündholzfabriken usw. als Klebemittel. Allein Deutschland bedarf seiner im Werte von etwa 16 Millionen Mark[S. 322] jährlich. Frankreich importiert jährlich aus dem Senegal zwischen 2 und 5 Millionen kg nach Bordeaux; der größte Teil desselben wird im Lande selbst verarbeitet.
Schon die alten Ägypter bedienten sich des arabischen Gummis in der Malerei, wie auch in der Appretur und beim Färben von Linnenstoffen. Auf den ägyptischen Denkmälern aus den Jahren um 1500 v. Chr., die uns am Grabtempel der Königin Hatschepsut in Der el Bahri an der Westseite der einstigen Residenzstadt Theben erhalten sind, wird der Gummi als kami en punt, d. h. Gummi aus dem Lande Punt (der Südspitze Arabiens und der gegenüberliegenden Somaliküste) bezeichnet und neben Weihrauch als eine begehrte Droge jenes Landes angeführt. Der ägyptische kami kam als kómmi zu den Griechen. Der große Pflanzenkenner Theophrast sagt über ihn in seiner Pflanzengeschichte: „Die Akazie (akántha) in Ägypten liefert den Gummi (kómmi); er fließt von selbst aus, oder aus Wunden, die man absichtlich macht.“ Dioskurides nennt den ägyptischen Gummibaum akakía (woraus unser Akazie entstand) und sagt, daß der Gummi vielfach als Arznei verwendet werde. Dasselbe sagt Plinius von der Droge, die er gummi nennt. Der ägyptische Gummi sei weitaus die beste Sorte, habe eine dunkle Farbe und komme in wurmförmig gedrehten Stücken in den Handel. Schon der große Hippokrates benutzte den kómmi als Arzneimittel, und der weitgereiste Herodot kannte ihn als Bestandteil der Tinte. Nach dem um 25 n. Chr. gestorbenen griechischen Geographen Strabon aus Amasia am Pontos kam der Gummi besonders aus der Umgegend der ägyptischen Stadt Akanthos, deshalb treffe man in den alten Schriften, z. B. bei Cornelius Celsus, die Bezeichnung gummi acanthinum; doch seien auch die Benennungen gummi thebaicum und g. alexandrinum gebräuchlich. Der Name „arabischer Gummi“ — daher stammend, weil er über arabische Häfen ausgeführt und durch die Araber verbreitet wurde — tritt uns zuerst beim jüdischen Arzte Ibn Serapion im 11. Jahrhundert entgegen. Im Mittelalter wurde er im Abendlande nur sehr wenig angewendet und kam auch in sehr geringen Mengen nach Europa. Der Senegalgummi kam erst im 14. Jahrhundert durch die Portugiesen nach Europa, im 17. Jahrhundert begann seine Verwendung in Frankreich, aber erst vom Jahre 1832 an begann er zunächst in Frankreich den arabischen Gummi zu verdrängen. Als durch den Mahdistenaufstand der Sudan für den Gummiexport gesperrt wurde und infolge davon die Nilgummisorten sehr selten wurden, eroberte sich der Senegalgummi den Weltmarkt und wird jetzt überall da angewendet, wo das viel[S. 323] billigere Dextrin, der durch Verkleisterung von Stärkemehl erhaltene Stärkegummi, nicht genommen werden kann.
Surrogate des arabischen oder Akaziengummis sind der indische oder Feroniagummi, der aus dem verwundeten Stamm des Elefantenapfelbaums (Feronia elephantum), eines großen Baumes in Ostindien bis Ceylon mit anisartig duftenden, unpaarigen Fiederblättern, rötlichgrünen Blüten und vielsamigen, apfelähnlichen Früchten mit harter Rinde und genießbarem Fleisch, träufelt und in großen, gelben bis braunen, durchsichtigen, in Wasser leicht löslichen Klumpen erstarrt. Er klebt stark, wird wie arabischer Gummi benutzt und ist diesem für Wasserfarben vorzuziehen. Ferner der in Westindien, besonders auf Martinique und Guadeloupe, und Brasilien gesammelte Cashawagummi, der aus Wunden des daselbst heimischen, jetzt überall in den Tropen kultivierten Akajoubaumes (Anacardium occidentale), eines Verwandten des Mahagoni, fließt. Es ist dies einer der schönsten Kulturbäume, der sich durch hohen, dicken Stamm und mächtige Laubkrone auszeichnet. Die Stiele der Früchte sind zu hühnereigroßen, birnförmigen, gelben, süßlichsauren Scheinfrüchten geworden, die ein sehr beliebtes Obst abgeben, während die als Anhängsel daraufsitzenden kleinen, nierenförmigen eigentlichen Früchte als westindische Elefantenläuse bezeichnete Steinfrüchte bilden, die auch eßbar sind und aus denen ein in der Medizin und Technik verwendetes Öl gepreßt wird.
Ein angenehm styraxartig riechendes Harz wird als Ladanum aus verschiedenen Arten von Cistrosen auf Cypern, Kreta, Naxos und in Spanien gewonnen. Schon von den alten griechischen Ärzten wurde es als erwärmendes und zusammenziehendes Mittel, innerlich bei chronischem Katarrh und äußerlich auf Wunden und Geschwüre, verwendet. Noch jetzt ist es im Orient sehr geschätzt und gilt dort als Schutzmittel gegen die Pest, während es bei uns nur etwa zu Räucherungen und als Parfüm dient. Ebenfalls bloß noch äußerliche Verwendung findet bei uns das Elemiharz, das durch Anschneiden verschiedener auf den Philippinen heimischer Kanariumarten, in Indien, Ostafrika, Venezuela und Brasilien von anderen Burserazeen gewonnen wird. In frischem Zustande stellt es eine klare, wenig gefärbte Auflösung von Harzen in ätherischen Ölen dar, aus der sich das Harz durch Verdunsten dieser letzteren ausscheidet. Der Geruch ist balsamisch, der Geschmack gewürzhaft, bitter. Es dient bei uns als Heilmittel auf Wunden, während die Eingeborenen es auch innerlich, namentlich gegen Kopfschmerz, und zu Räucherungen verwenden.
Zu scharfen Einreibungen und als Zusatz zu blasenziehenden[S. 324] Pflastern dient das Euphorbium, ein aus der geritzten Rinde einer nordafrikanischen, bis 2 m hohen, fleischigen, blattlosen Wolfsmilchart (Euphorbia resinifera) ausfließender und an der Pflanze selbst erhärtender Milchsaft, der hellgelbliche, zerreibliche Stücke bildet, die beim Erwärmen schwach weihrauchartig riechen und auf der Zunge scharf brennen. Die Einschnitte in den Stamm und die vierkantigen Zweige werden zur Fruchtzeit gemacht. Dieses Gummiharz wird ausschließlich im marokkanischen Atlas gesammelt und kommt über Mogador in den Handel. Schon im Altertum war es bekannt und wurde als scharfes Abführmittel von den griechischen Ärzten verordnet. Juba II., der Sohn Jubas I. von Numidien, der sich nach der Niederlage der Pompejaner bei Thapsus im Jahre 46 v. Chr. das Leben nahm, ein nach dem Sturze seines Vaters nach Rom gebrachter und dort erzogener, wissenschaftlich gebildeter Mann, dem später Augustus wieder einen Teil seines väterlichen Reiches verlieh, schrieb über diese Pflanze seiner Heimat, die er nach seinem Leibarzte Euphorbos benannt haben soll, eine kleine Schrift. Später ging die Kenntnis der Stammpflanze verloren, bis Berg im Jahre 1863 aus im Euphorbium enthaltenen Bruchstücken die schon 1804 von Jackson erwähnte Pflanze bestimmte. Die ersten Exemplare der Pflanze kamen 1870 in den großen botanischen Garten von Kew bei London. 1868 isolierte Flückiger das neben verschiedenen Harzen darin zu 34 Prozent enthaltene Euphorbon.
Ein anderes, ebenfalls kaum mehr innerlich, sondern als Bestandteil reizender und zerteilender Salben und Pflaster nur noch äußerlich gebrauchtes Gummiharz ist das Ammoniacum, der zur Zeit der Fruchtreife durch Stiche von Insekten ausfließende und an der Luft zu innen weißlichen, außen bräunlichen, eigentümlich unangenehm riechenden und scharf bitter schmeckenden erbsen- bis walnußgroßen Körnern erhärtende Milchsaft einer ausdauernden, bis 2,5 m hohen Umbellifere der mittleren und östlichen Gegenden Persiens und der Wüsten um den Aralsee, Dorema ammoniacum. Er erweicht in der Hand, gibt mit Wasser eine Emulsion, ist in Alkohol nicht vollständig löslich und enthält schwefelfreie Harze und Gummi. Das von den griechischen Ärzten des Altertums gegen mancherlei Krankheiten gegebene hammoniacum war noch nicht dieses persische, sondern ein von der nordafrikanischen Ferula tingitana aus Marokko gewonnenes Produkt. Nach Plinius, der es hammoniaci lacrima, d. h. Ammoniakträne, nennt, wächst es in den unterhalb des Negerlandes gelegenen Sandwüsten Afrikas. „Es kommt von einem Baume, der beim[S. 325] Orakel des Jupiter Hammon vorkommt, heißt auch metopion und quillt wie anderes Harz oder Gummi in Tropfen hervor. Es gibt zwei Sorten desselben; die beste ist zerbrechlich, die andere fett und harzig und heißt auch phýrama. Das Pfund des besten kostet 40 As (etwa 1 Mark und 60 Pfennige). Es erwärmt, zerteilt, löst auf und dient gegen allerlei Leiden.“ Den Namen hat die Droge natürlich von der Oase des Jupiter Ammon, von der sie einst bezogen wurde, und so dürfte Don unrecht haben, der sie, da sie von den alten Autoren bisweilen auch armoniacum geschrieben wird, nur als verdrehtes armeniacum aufgefaßt wissen möchte. Schon im 2. Jahrhundert n. Chr. wurde sie allmählich durch das persische Gummiharz verdrängt, das im 9. Jahrhundert von persischen, im 10. und 11. Jahrhundert auch von arabischen Ärzten genannt wird, aber erst im 14. Jahrhundert in Deutschland bekannt wurde. Die Stammpflanze wurde 1829 von Don beschrieben und benannt.
Von einem andern Doldenblütler Irans, Ferula persica, wird das knoblauchartig riechende Sagapenum gewonnen, das im Orient und in Indien als Gewürz und Heilmittel heute noch Verwendung findet. Dieses Gummiharz wurde schon in der römischen Kaiserzeit von den griechischen Ärzten verwendet. Dioskurides beschreibt es in folgender Weise: „Das sagápēnon ist der Saft einer unserer Ferula ähnlichen Pflanze und kommt aus Medien. Das beste ist durchscheinend, außen gelblich, innen weiß; der Geruch hält die Mitte zwischen dem sílphion (Teufelsdreck) und gálbanon. Der Geschmack ist scharf.“
Ein der Ammoniakpflanze ähnlicher Doldenblütler Griechenlands und Kleinasiens, Ferula opopanax oder Opopanax cheironium, eine schon von Theophrast nach dem kräuterkundigen Kentauren Cheiron in Thessalien als pánakes cheirónion bezeichnete Heilpflanze, liefert durch Einschnitte in die fleischige Wurzel das heute wenigstens bei uns nicht mehr gebräuchliche Gummiharz Opopanax (zu deutsch: Saft der Panaxpflanze, d. h. der allheilenden Kraftwurzel). Im Altertum wurde es arzneilich viel verwendet. Dioskurides, der die Pflanze vermutlich nach dem damaligen Hauptbezugsorte der daraus gewonnenen Droge, der Heraklesstadt in Bithynien am Schwarzen Meer, Herakleia pontica, einer bis zu den mithridatischen Kriegen (der letzte — dritte — derselben dauerte von 74–63 v. Chr.) sehr blühenden Hafenstadt Kleinasiens, pánakes herakleíon nennt, sagt in seiner Arzneikunde von ihr: „Das pánakes herakleíon, aus welchem ein Saft gewonnen wird, den[S. 326] man opopánax nennt und gegen viele Übel gebraucht, wächst vorzüglich in Böotien und dem arkadischen Psophis, wird aber auch, da der Saft mit Gewinn verkauft werden kann, in Gärten gezogen. Übrigens wächst die Pflanze auch in Makedonien und dem libyschen Kyrene.“
Im Gegensatz zu diesem hat sich auch bei uns bis auf den heutigen Tag ein anderes Gummiharz als wichtiges Arzneimittel und teilweise auch sehr beliebtes Gewürz im Gebrauch erhalten, nämlich die Asa foetida, im Deutschen wegen ihres abscheulichen knoblauchartigen Geruchs als Teufelsdreck bezeichnet. Die ihn liefernde Pflanze war schon dem Hippokrates als medisches (im Gegensatz zum kyrenischen) Silphion bekannt. Später sagt Dioskurides von ihm: „Der vom medischen und syrischen sílphion kommende festgewordene Saft hat einen durchdringenden Geruch und wird gegen sehr viele Leiden angewandt.“ Dieser eingetrocknete Milchsaft, den Plinius aus Persien, Armenien und Medien kommen läßt, laser nennt und dem eingedickten Safte des silphium von Kyrene gleichend bezeichnet, ist das Gummiharz des Stinkasantes (Ferula asa foetida), einer bis 2,5 m hohen Staude aus der Familie der Umbelliferen, die in Persien, Afghanistan, dem oberen Indusgebiet, besonders in den ausgedehnten Steppen und Wüsten zwischen dem persischen Meerbusen und dem Aralsee heimisch ist und bei Herat und anderswo auch kultiviert wird. Bei der geringsten Verletzung tritt der Milchsaft aus der Rinde der Wurzel aus. Er wird in der Weise gewonnen, daß die betreffenden Sammler, gewöhnlich Hirten, zur Zeit, da die Blätter zu welken beginnen, etwa Mitte April, den oberen Teil der Wurzel bloßlegen, rings um sie die abgeschnittenen Blätter, Stengel und andere Pflanzen als Schutz der Wurzel vor Wind und Sonne anhäufen, von dem mit einem dichten Schopfe von Blattresten versehenen Wurzelbeginne eine dünne Scheibe abschneiden und die auf der Wundfläche angesammelte dünne Milch abkratzen. Diese Prozedur wird nach jedesmaliger Ruhepause von einigen Tagen noch zweimal wiederholt. Nachdem die Wurzel nun wieder 8–10 Tage unberührt geblieben, liefert sie 2–3 Monate hindurch einen dicken Milchsaft, der die gute Asa foetida bildet. Von einer Wurzel wird bis zu 1 kg derselben gewonnen. Der frisch weiße Gummiharzsaft wird außen herum durch die Einwirkung der Luft bald rot, violett und schließlich gelbbraun und kommt in losen oder verklebten Körnern und Klumpen in den Handel. Er ist bei gewöhnlicher Temperatur wie Wachs schneidbar, erweicht bei geringer Erwärmung zu einer klebenden Masse, riecht höchst unangenehm knoblauchartig,[S. 327] schmeckt widerlich scharf bitter und aromatisch, gibt mit drei Teilen Wasser verrieben eine weißliche Emulsion und besteht zu 61 Prozent aus dem in Äther löslichen Ferulaester des Asaresinotannols, aus 30 Prozent Gummi, 7 Prozent ätherischem Öl, 1,5 Prozent freier Ferulasäure und Spuren von Vanillin. Bei uns dient er als Beruhigungsmittel bei Krampfkolik, Hysterie und Nervosität, als Stopfmittel gegen Diarrhöen beim Pferd und sonst vielfach in der Tierarzneikunde. In Indien, Persien und dem ganzen Morgenlande ist er zudem ein sehr beliebtes Speisegewürz, das bis vor nicht sehr langer Zeit auch in der feineren Küche Europas sehr beliebt war. War es doch in Frankreich, wo er noch unter dem ancien régime in Mode gekommen war, bei jedem Gastmahl der Vornehmen Sitte, die Suppenteller vorher mit einem Stück Stinkasant abzureiben, um die Suppe dadurch wohlschmeckender zu machen. Überall im Orient gilt er als die Verdauung befördernd; besonders wird stets das gebratene Hammelfleisch damit bestrichen, um ihm den beliebten durchdringenden Knoblauchgeruch zu verleihen. Im Orient schon lange im Gebrauch, wurde er durch die arabischen Ärzte dem Abendlande bekannt. Die von der arabischen Arzneiwissenschaft weitgehend beeinflußte Medizinschule von Salerno in Unteritalien bediente sich seiner schon im 11. Jahrhundert. Auch nach Deutschland kam die Droge sehr früh. Vom 12. Jahrhundert an bildete sie einen Einfuhrartikel des italienischen Handels. Heute kommt die beste Sorte durch Karawanen von Persien nach Bombay und von dort zu Schiff nach Europa.
Einst auch in der Arzneikunde besonders des Orients vielgebrauchte Gummiharze sind der Weihrauch und die Myrrhe. Ersterer wird im südöstlichen Arabien, in Nordostafrika und Indien aus verschiedenen Boswellia-Arten durch im Frühjahr ausgeführte tiefe Einschnitte in den Stamm der mäßig hohen Bäume in Form eines reichlich ausfließenden milchweißen Saftes gewonnen und erstarrt nach einiger Zeit zu gelben Körnern, die von den Stämmen abgelöst oder am Boden aufgelesen werden. Seit dem frühen Altertum war er nicht nur zu rituellen Räucherungen, sondern auch als Medizin hoch geschätzt. Die Hippokratiker bedienten sich seiner bei Asthma, Gebärmutterleiden und äußerlich zur Herstellung von Salben.
Fast ebenso alt ist der medizinische Gebrauch der Myrrhe, die ebenfalls schon im Papyrus Ebers erwähnt wird und nach Herodot im alten Ägypten vorzugsweise zum Einbalsamieren der Leichen und als Räuchermittel im Kulte verwendet wurde. Zu letzterem Zwecke[S. 328] wurde sie dann bei den gottesdienstlichen Handlungen aller vom Morgenlande beeinflußter Religionen in derselben Weise wie der Weihrauch benutzt. Schon im Alten Testament wird sie als kostbares Erzeugnis des „glücklichen“ im Sinne von fruchtbaren Südarabien erwähnt, das uns später der griechische Geograph Agatharchidas in seiner Schrift über das Rote Meer in folgender Weise schildert: „Die Sabäer sind das größte und in jeder Hinsicht glücklichste Volk Arabiens. Ihr Land bringt alles hervor, was zur Annehmlichkeit des Lebens gehört. Die Herden sind zahllos; das ganze Land duftet von dem herrlichen, unvergleichlichen Geruch, den dort die in Menge wachsenden Gewürze wie Balsam, Kassia, Myrrhe, Weihrauch, Zimt, Kalmus und Palmen aushauchen. Der Wohlgeruch, der aus den Wäldern kommt, läßt sich mit Worten nicht beschreiben.“
Die Myrrhe stammt von verschiedenen Commiphora-Arten, und zwar die beste von Commiphora abessinica, einem 6–8 m hohen Bäumchen der Berge von Abessinien, Erythraea und Südarabien. Der entweder freiwillig aus Rissen der Rinde oder durch Einschnitte austretende Saft ist anfangs milchig trübe, gelblich, trocknet aber bald an der Luft ein, wobei er sich dunkler färbt. Er kommt in Form von nuß- bis faustgroßen unregelmäßigen Knollen oder löcherigen Klumpen in den Handel. Am häufigsten ist die von den Somalis gesammelte Myrrhe von Commiphora playfairi, die in Kisten von 50–100 kg von Aden aus direkt, oder über Bombay, wo die Ware sortiert wird, nach Europa gelangt. Wie die alten Ägypter benutzten auch die Hippokratiker die Droge äußerlich und innerlich. In seiner Arzneimittellehre schreibt Dioskurides über sie: „Die Myrrhe besteht aus Tropfen, die von selbst oder aus absichtlich gemachten Wunden eines arabischen Baumes fließen. Es gibt verschiedene, mit verschiedenen Namen bezeichnete Sorten. Aus den fettigen preßt man das wohlriechende Myrrhenöl. Die beste Myrrhe kommt aus dem Lande der Troglodyten, ist durchscheinend, grünlich, schmeckt beißend. Die Myrrhe wird oft verfälscht, namentlich durch Gummi. Die echte, frische ist zerreiblich, leicht, überall gleichfarbig, doch zerbrochen inwendig weiß gefleckt; sie besteht aus kleinen Stücken, ist bitter, riecht gut, schmeckt scharf. Sie erwärmt, macht schläfrig, bindet, trocknet, zieht zusammen, wird innerlich und äußerlich gebraucht.“ Cornelius Celsus spricht von einer schwarzen, bei Augenkrankheiten angewendeten Myrrhe. Im Arzneischatz von Scribonius Largus, Valerius Cordus und Alexander Trallianus aus dem 6. Jahrhundert spielt dieses Gummiharz eine nicht[S. 329] unwichtige Rolle; auch die heilige Hildegard im 12. Jahrhundert empfiehlt die Mirrha. Innerlich wird sie als austrocknendes Mittel, häufiger aber äußerlich als Antiseptikum in Form von Mundwässern, Salben und Pflastern verwendet. Sie besteht aus ätherischen Ölen, Harzen und Gummi. Häufig wird ihr Bdellium beigemischt, ein ähnlich riechendes, bitter schmeckendes, ebenfalls beim Kauen erweichendes, dunkelbraunes bis grünliches Gummiharz, das im nordwestlichen Indien und in Beludschistan von Commiphora roxburghi gewonnen und in Indien arzneilich verwendet wird. Das ostafrikanische Bdellium von Commiphora africana ist mehr gelbrot und findet sich unter dem Senegalgummi. Es war schon im alten Ägypten gebräuchlich, wird von Plinius, Arrianus, Vegetius und anderen genannt und diente, was im Orient heute noch der Fall ist, zu Salben, Pflastern und Räucherwerk.
Eine dickflüssige, starkriechende Mischung von Harzen mit ätherischen Ölen stellen die Balsame dar, die ebenfalls freiwillig oder nach Verwundungen aus Stamm und Ästen mehrerer Pflanzenarten ausfließen, oder durch Auskochen und Auspressen aromatischer Pflanzenteile gewonnen werden. Sie riechen stark aromatisch, verlieren an der Luft den größten Teil ihres Gehaltes an aromatischen, ätherischen Ölen, trocknen ein und verharzen. Bei der Destillation mit Wasser geben sie die ätherischen Öle ab und hinterlassen Harz. Ursprünglich verstand man unter Balsam ausschließlich den von Commiphora opobalsamum, dem Balsambaum der Alten, gewonnenen Mekka- oder Gileadbalsam, übertrug aber den Namen später auf verschiedene andere dickflüssige Pflanzensäfte von aromatischem Geruch.
Der eigentliche, freiwillig oder durch Einschnitte in den Stamm des 5–6 m hohen, in Nordostafrika und dem südwestlichen Arabien wachsenden Balsambäumchens (Commiphora opobalsamum) ausfließende, trübe, blaßgelbe, wohlriechende, aromatisch erwärmend schmeckende Mekkabalsam kommt überhaupt nicht in den europäischen Handel, sondern nur der durch Auskochen der Zweige mit Wasser gewonnene dickflüssige, gelbliche, etwas trübe, aber weniger angenehm riechende und bitterlich schmeckende Balsam, der allmählich verharzt, 10 Prozent ätherische Öle enthält, ähnlich wie der Kopaivabalsam wirkt, aber ausschließlich in der Parfümerie benutzt wird. Früher wurde er, wie auch die kleinen, meist rötlichen, geruch- und geschmacklosen eiförmigen Steinfrüchte des Balsambäumchens viel arzneilich benutzt. Der griechische Geschichtschreiber Diodorus Siculus schreibt um 50 v. Chr.: „In einem[S. 330] Tale Syriens wächst der Balsam und liefert bedeutenden Gewinn, weil er außer dort nirgends in der ganzen Welt gefunden wird und doch von den Ärzten sehr gesucht ist.“ Und der 25 n. Chr. verstorbene weitgereiste griechische Geograph Strabon sagt: „Außer an der Küste des Sabäerlandes wird in der Nähe von Jericho, in einer gut bewässerten Gegend, der Balsam aus einem Strauche gewonnen, in dessen Rinde man Einschnitte macht. Den ausfließenden schleimigen Saft fängt man in Gefäßen auf. Er heilt Kopfschmerzen wunderbar schnell, tut den Augen wohl und ist um so teurer, weil er hier allein, und zwar in Gärten, gewonnen wird.“ Plinius berichtet uns, daß er wegen seines hohen Preises viel verfälscht werde, und daß außer dem feinen, wohlriechenden, durch dreimaliges Ritzen im Laufe des Sommers ausfließenden Saftbalsam (opobalsamum) der geringere, durch Auskochen von abgeschnittenen Stücken des Strauches in Wasser gewonnene Holzbalsam (xylobalsamum) in den Handel komme; letzterer werde hauptsächlich unter Salben gekocht. Auch Dioskurides und Tacitus berichten ausführlicher über ihn.
An Stelle dieses sehr seltenen und teuren Balsams, der seit der Zeit, da das Morgenland in die Hände der Muhammedaner gefallen war, nur schwierig zu haben war, wurde nach der Entdeckung der Neuen Welt der schon vor der spanischen Invasion von den Indianern benutzte Perubalsam im 16. Jahrhundert durch eine päpstliche Verordnung zum offiziellen Chrisma der katholischen Kirche erhoben. Bei der Eroberung Zentralamerikas durch die Spanier im Jahre 1530 wurde dieser Balsam dort als Wundheilmittel im Gebrauch vorgefunden. Er kam dann mit anderen Waren durch den peruanischen Hafenplatz Callao nach Spanien und erhielt so den Namen balsamum peruvianum, obschon er niemals in Peru, sondern weiter nördlich in Südamerika bis Mexiko gewonnen wird. In 300–700 m über dem Meer gelegenen Bergwäldern eines als Costa del Balsamo, d. h. Balsamküste benannten schmalen Küstenstriches der zentralamerikanischen Republik San Salvador wächst die Stammpflanze, Myroxylon pereirae, in Form eines bis 20 m hohen immergrünen Baumes aus der Familie der Schmetterlingsblütler mit kurzem, sich schon 2–3 m über der Erde in wenige aufstrebende Äste teilendem Stamm, unpaariggefiederten Blättern, lockeren Blütentrauben und bis 10 cm langen, 3 cm breiten Hülsen, in denen die ansehnlichen Samen zwischen zwei mit dickflüssigem, schwachgelblichem Balsam gefüllten Hohlräumen liegt. Aus letzteren wird der weiße Perubalsam gepreßt, der nicht in den Handel gelangt,[S. 331] aromatisch nach Vanille riecht und bitter aromatisch schmeckt. Der dunkelbraune, klare, in dünner Schicht rubinrot durchscheinende, dickflüssige, nicht fadenziehende, offizinelle Perubalsam wird aus den zwischen Rinde und Holz gelegenen Balsambehältern durch stellenweise Entrindung der Basis des Stammes zu Ende der Regenzeit in der Weise gewonnen, daß die entrindeten Stellen zuerst während 4–5 Minuten durch Daranhalten von Fackeln geschwelt werden. Dann legt man auf die entblößte Holzfläche, an der der Balsam als anfänglich hellgelber, dicker Saft heraussickert, Zeuglappen, aus denen, wenn sie damit getränkt sind, der Balsam durch Pressen und Auskochen mit Wasser gewonnen wird. Eine geringere, dickflüssigere Sorte wird durch Auskochen der losgelösten Rinde gewonnen. Dieses Verfahren wird mehrmals während vier Wochen wiederholt, so daß ein Baum vom 10. Jahre an 30 Jahre hindurch jährlich etwa 2,5 kg Balsam liefert. Die Bäume besitzen eine erstaunliche Lebenskraft und gehen selbst bei übertriebener Anzapfung kaum je ein, wenn nur die Wunden durch Überstreichen mit Lehm gegen das Eindringen von Pilzen und Insekten geschützt werden. Der wichtigste Bestandteil des Perubalsams ist das Cinnamein oder Perubalsamöl, das zu 62–64 Prozent nebst freier Zimtsäure und Vanillin, auch Peruviol, einem honigartig riechenden Alkohol, darin enthalten ist. Er wird in der Medizin äußerlich und innerlich in der verschiedensten Weise verwendet und spielt auch in der Parfümerie eine sehr wichtige Rolle. 1565 beschrieb ihn zuerst Monardes (1493–1578) und 1576 erhielt Philipp II. einen genauen Bericht über dessen Gewinnung durch Don Diego. Anfangs kosteten 30 g hundert Dukaten. Erst zu Ende des 16. Jahrhunderts, so beispielsweise 1582 in der Arzneitaxe von Worms, findet er sich unter seinem jetzigen Namen in den deutschen Apotheken. Im Jahre 1861 wurde der Perubalsambaum, der, wie Cortez 1522 an Kaiser Karl V. berichtete, schon im alten Mexiko in den berühmten königlichen Gärten von Hoaxtepec bei der Hauptstadt Mexiko nebst anderen Arzneipflanzen kultiviert wurde, auch in den Tropen der Alten Welt, nämlich auf Ceylon und Java, eingeführt.
Von einem dem vorigen sehr nahe verwandten Baum Südamerikas, der besonders im unteren Stromgebiet des Magdalena in Kolumbien, auch unweit der Stadt Tolu in Venezuela und westlich von diesen Gegenden in den Wäldern zwischen den Cauca und dem Sinu heimisch ist, Myroxylon toluifera, wird der Tolubalsam gewonnen, indem der Stamm an zahlreichen Stellen V-förmig einge[S. 332]schnitten, an der Basis des Einschnittes angebohrt und der heraussickernde Balsam in kleinen, vor der Öffnung befestigten Gefäßen aufgefangen wird. Er wird dann, in Schläuche von rohen Häuten gesammelt, an die Küstenplätze geschafft und hier in Blechbüchsen eingefüllt. Im frischen Zustande ist er braungelb, dickflüssig, in dünnen Schichten durchsichtig. Später erhärtet er zu einer braunroten, in der Hand erweichenden Masse, welche erwärmt einen vanille- und benzoëartigen Wohlgeruch ausströmt und einen aromatischen, säuerlichen, nur wenig scharfen Geschmack besitzt. Er besteht aus 80 Prozent eines harzartigen Esters von Zimt- und Benzoësäure nebst diesen Säuren in freiem Zustande und wird als Arznei innerlich und äußerlich, besonders aber in der Parfümerie angewandt. Monardes erwähnt seine Herkunft aus der Provinz Tolu zwischen Cartagena und Nomen Dei; 1581 brachte ihn Clusius von London mit nach Wien. Er kam mit dem Perubalsam durch die Spanier nach Europa und war schon im 17. Jahrhundert in England und Deutschland verbreitet.
Ebenfalls von einer stattlichen, bis 30 m und mehr hohen Leguminose Südamerikas mit paariggefiederten, lederigen, durchscheinend punktierten Blättern stammt der Kopaivabalsam, der seit alter Zeit von den Indianern als Wundbalsam angewandt wurde, bis ihn im Jahre 1600 ein portugiesischer Mönch in Brasilien entdeckte. Seit dem ersten Drittel des 17. Jahrhunderts steht er in Europa im Gebrauch; 1636 ist er als Balsamum copaeyvae in der Amsterdamer Pharmakopoe angeführt. Er kommt in großen Mengen aus dem ganzen nördlichen Südamerika in den Handel. Die Stammpflanze ist meist Copaiba officinalis; deren Holzkörper ist von bis zu 2 cm mächtigen Kanälen durchzogen, die besonders in ihrem unteren Ende so stark mit dem flüssigen Harzsafte erfüllt sind, daß der Stamm oft mit lautem Knall berstet und lange Sprünge entstehen, aus denen dann der Balsam austritt. Es wurde festgestellt, daß diese durch eine nachträgliche Auflösung von Zellgewebe entstandenen Harzgänge bis zu 50 kg Harzsaft enthalten können. Die Harzsammler verlassen sich aber nicht auf diesen freiwilligen Erguß des Harzes, sondern schlagen etwa 60 cm über dem Erdboden mit der Axt tiefe Löcher bis ins Kernholz, wo sich die Balsamgänge befinden. Darauf wird eine Rinne in das Loch gesteckt und der klare, ziemlich dicke, gelbbräunliche, eigentümlich aromatisch riechende Balsam fließt in dicken Tropfen aus. Bisweilen pausiert der Erguß einige Zeit; nach einiger Zeit wird dann ein gurgelndes Geräusch hörbar und alsbald findet wieder ein lebhafter Balsamerguß[S. 333] statt. Als beste Sorte wird der dicke Maracaibo-Balsam betrachtet, der 60 Prozent ätherisches Öl und den Rest Harzsäuren enthält. Er befördert die Absonderung der Schleimhäute und dient außer bei chronischem Lungenkatarrh besonders bei gonorrhoischer Harnröhren- und Blasenentzündung.
Demselben Zwecke diente viel früher der Kubebenpfeffer, ein altes indisches und arabisches Gewürz, das aus den vor der vollständigen Reife gesammelten und durch Trocknen geschrumpften, balsamisch riechenden, aromatisch scharf bitter, aber nicht brennend schmeckenden Früchten von Piper cubeba besteht, einer im malaiischen Archipel heimischen, bis 6 m hohen Kletterpflanze, die auch auf Java, Sumatra, Westindien und Sierra Leone, meist an den Schattenbäumen der Kaffeeplantagen emporrankend, kultiviert wird. Sie enthalten außer Cubebin und Kubebenharzsäure ein hauptsächlich Kubebenkampfer enthaltendes ätherisches Öl. Ihre harntreibende Wirkung wird schon vom arabischen Arzte Ibn Sina (Avicenna) um 1006 angegeben. Vom 12. und 13. Jahrhundert an wurden sie durch Vermittlung der arabischen Ärzte auch in Europa angewandt, gerieten aber später wieder in Vergessenheit, bis 1818 ein englischer Arzt, der ihre Verwendung gegen Gonorrhoe bei den Malaien kennen lernte, sie wieder empfahl. Sie haben ihren Namen aus dem arabischen kababeh und wurden schon von Marco Polo beschrieben, der sie auf seinen Reisen auf Sumatra und Java kennen lernte. Wissenschaftlich bestimmt wurde die Pflanze erst durch Karl von Linnés Sohn im Jahre 1781. Kubebenöl war 1582 auf der Frankfurter Messe zu haben, und die Kubeben sind 1609 im Inventar der Ratsapotheke in Braunschweig angeführt. Das Cubebin wurde 1839 von Soubeiron und Capitaine zuerst dargestellt.
Ganz neuen Datums ist die Verwendung des gegen dieselben Affektionen gegebenen Sandelholzöls, das aus dem Kernholz des in den trockenen Teilen Vorderindiens in 600–1000 m Höhe im Gebirge wachsenden, 6–10 m hohen, dichtbelaubten, immergrünen Sandelbaumes (Santalum album) gewonnen wird. Der Baum, der jetzt außer in fast ganz Indien besonders auf den Sandelholz-Inseln des indischen Archipels (Sumba, Timor, Flores, Sumbava, Lombok, Bali usw.) kultiviert wird, gibt, wenn er ausgewachsen im Alter von 20–40 Jahren gefällt wird, durch langsame Destillation des verkleinerten Holzes mit Wasserdampf das 80 Prozent Santalol enthaltende dicke, farblose oder blaßgelbliche Sandelöl, das Chapoteaut zuerst untersuchte.
Während das Altertum nur den vom 4–7 m hohen Styraxbaume in Kleinasien und Syrien gewonnenen festen Styrax kannte und vielfach als Medizin verwandte, wird seit dem 6. Jahrhundert daneben auch der heute ausschließlich verwendete flüssige Styrax oder Styraxbalsam aus dem Splint des in Lykien und Karien in Schälwäldern kultivierten Amberbaumes (Liquidambar orientalis) durch Auskochen der Rinde mit Wasser und Abpressen gewonnen. Der bis zu 20 m, meist aber nur 10–14 m hohe, platanenartige Baum hat ein sehr engbegrenztes Verbreitungsgebiet und liefert aus dem Vilajet Aidin, wo der Ort Mughla den Mittelpunkt der Styraxgewinnung bildet, jährlich etwa 40000 kg (aus einem Gebiet von 600 qkm). Er bildet eine graue, undurchsichtige, zähflüssige, eigenartig nach Benzoë und Perubalsam riechende, aromatisch und etwas bitter schmeckende Masse, welche außer 36 Prozent Harz Zimtsäureester, Styracin, Cinnamein und Benzoësäure enthält. Der Styraxbalsam wird außer als billigerer Ersatz des teuren Perubalsams zu innerlichem und äußerlichem Gebrauche in der Medizin, besonders in der Parfümerie gebraucht.
Der ausschließlich im amerikanischen Handel befindliche Styraxbalsam der Neuen Welt wird aus dem 9–12 m hohen, in Mittelamerika und als Charakterbaum im ganzen atlantischen Nordamerika wachsenden amerikanischen Amberbaum (Liquidambar styraciflua) mit tief gelappten Blättern durch Auskochen des Holzes alter Stämme gewonnen. Neuerdings wird dieser Baum vielfach auch bei uns als Zierbaum angepflanzt und erträgt sehr gut unsere Winter, wenn er einmal eine bestimmte Höhe erreicht hat.
Als ebensolches krankhaftes Produkt wie der Styraxbalsam fließt aus dem Stamme verwundeter Benzoëbäume (Styrax benzoin) in Siam und auf Sumatra das anfangs milchige, an der Luft zu einer rötlichgelben, aromatischen Masse erhärtende Benzoëharz aus, das einen balsamischen, reizenden Geschmack hat und beim Kauen an den Zähnen haftet. Und zwar geben ältere Bäume eine dunklere Benzoë als jüngere. Die beste Sorte kommt aus dem äußersten Nordosten der Shanstaaten am linken Ufer des Mekong. Dort in Siam wird die Rinde des mittelhohen Baumes durch Längsschnitte und Losheben der Rinde so bearbeitet, daß sich das Harz während zweier Monate zwischen Holz und Rinde ergießt und sich hier ansammelt. Auf Sumatra schneidet man viermal im Jahre die Rinde jüngerer Bäume durch gerade oder schräge Längsschnitte an und sammelt den heraustretenden[S. 335] weißen, alsbald erhärtenden Milchsaft nach einiger Zeit, um ihn in Form von größeren, zuweilen verklebten Körnern von muscheligem Bruche in den Handel zu bringen. Er enthält bis über 20 Prozent freie Benzoësäure und 70–80 Prozent Benzoëharz und dient als schleimlösendes Mittel bei chronischen Katarrhen, als gelind reizendes Mittel bei torpiden Geschwüren, zu Räucherungen, Zahnwässern und besonders reichlich in der Kosmetik. Die erste aus Sumatra stammende Benzoë wurde 1461 unter anderen Kostbarkeiten dem Dogen von Venedig vom Sultan von Ägypten als Geschenk gesandt. Die arabischen Ärzte machten deren Verwendung zuerst im Abendlande bekannt. 1521 wird sie unter den in Venedig verkauften Drogen aufgeführt und 1571 als Asa dulcis in der Eßlinger Arzneitaxe erwähnt. Die Siam-Benzoë kommt erst seit 1853 nach Europa.
Seit alter Zeit wird in ganz Ostasien der eingedickte wässerige Extrakt verschiedener gerbstoffreicher Hölzer als Katechu beim Betelkauen und als Arznei verwendet. Der Ausdruck bedeutet im Indischen Baumsaft und wird von den Eingeborenen meist nur als Kat bezeichnet. Diese Droge läßt sich erst seit 1514 als Kacho in der europäischen Literatur nachweisen und wird seit der Mitte des 17. Jahrhunderts in deutschen Apotheken gehalten. Damals, als sie aufkam, war sie einer der teuersten Stoffe der Arzneitaxe und wurde, wie schon der Name terra japonica sagt, für eine Mineralsubstanz gehalten. Erst seit 1827 erscheint sie in bedeutenderen Mengen auf dem europäischen Markt, und zwar als Pegu-Katechu, der besonders aus der Provinz Pegu in Britisch-Birma über Rangun in den Handel gelangt. Erst später kam der Gambir-Katechu auf, der über Singapur nach London und Hamburg verschifft wird. Die ersten bestimmten Daten über diese Droge stammen aus dem Jahre 1780. Der Pegu-Katechu wird von der Katechu-Akazie (Acacia catechu), einem 4–8 m hohen Baum Vorder- und Hinterindiens, wie auch des tropischen Afrika in der Weise gewonnen, daß das in kleine Stücke zerhackte Kernholz derselben etwa 12 Stunden lang mit Wasser in irdenen Töpfen ausgekocht wird. Der dunkelbraune Auszug wird dann in Schalen so weit eingedampft, daß er nach dem Ausgießen in der Form erstarrt. Je nachlässiger das Eindampfen und Trocknen betrieben wird, um so dunkler wird er. Er schmeckt zusammenziehend bitter und enthält bis 54 Prozent Katechugerbsäure und 17 Prozent Katechin oder Katechusäure. Der gelbe Gambir-Katechu dagegen wird aus den jungen Trieben und Blättern von Uncaria gambir, einem kletternden Strauch[S. 336] Hinterindiens und der Sundainseln aus der Familie der Rubiazeen oder Krappgewächse, der an den Küsten der Halbinsel von Malakka, auf Sumatra, Java und neuerdings auch auf Ceylon kultiviert wird, ebenfalls durch Auskochen in Wasser, aber meist in gußeisernen Pfannen gewonnen und nach dem Eindampfen gleicherweise in Formen, meist flachen Holzkästen, getrocknet. Er ist gelb bis hellbraun, wird hauptsächlich von den Eingeborenen zum Kauen mit gelöschtem Kalk, einem Stückchen Arekanuß und einem Blatt des Betelpfeffers benutzt und enthält bis 47 Prozent Katechugerbsäure und 20 Prozent Katechin, daneben weniger Umsetzungsprodukte des letzteren als der Pegu-Katechu. Beide dienen als zusammenziehende, stopfende Mittel, daneben besonders der Gambir-Katechu in der Technik zum Gerben und Färben.
Ähnlich dem Katechu, aber weniger in der Medizin, dafür besonders in der Gerberei und Färberei verwandt, ist der Kino, eine dunkelrotbraune bis schwärzliche, in dünnen Splittern rubinrot durchscheinende Masse von stark zusammenziehendem Geschmack und den Speichel rot färbend, die durch Einschnitte in die Rinde verschiedener tropischer Bäume gewonnen wird. Unter diesem Namen kam zuerst um 1733 der eingetrocknete rote Saft des westafrikanischen Baumes Pterocarpus erinaceus, eines Schmetterlingsblütlers aus Senegambien, über London in den Handel. Im Jahre 1811 wurde dieser Name auf den Saft des nahe mit diesem verwandten indischen Pterocarpus marsupium übertragen, der an der Malabarküste wächst und dort von den Eingeborenen in der Weise angezapft wird, daß etwas über dem Boden rinnenförmige Einschnitte in die Rinde gemacht werden, aus denen ein zäher, roter Saft ausfließt, der aufgefangen oder, am Stamme erhärtet, gesammelt und an der Sonne vollends getrocknet wird. In demselben Jahre 1811 wurde unter demselben Namen der dem vorigen sehr ähnliche Saft verschiedener Eukalyptusarten Australiens in England eingeführt, ebenso neuerdings aus Hinterindien der von Pterocarpus indicus und wallichii, aus Bengalen der von Butea frondosa und aus Westindien der von Coccoloba uvifera. Der Malabarkino enthält außer Kinoin und Kinorot bis 85 Prozent Kinogerbsäure.
Ihm ähnlich, nur leichter zerbrechlich und schneller in Wasser auflösbar ist der Extrakt der peruanischen Ratanhiawurzel, die außer Ratanhiarot bis über 40 Prozent Ratanhiagerbsäure enthält und gleicherweise als Adstringens in der Medizin, wie auch zum Gerben verwendet wird. Ratanhia nannten die Indianer des altperuanischen[S. 337] Quitschastammes die relativ große Wurzel eines in Peru wie in dem angrenzenden Brasilien und Bolivien auf sandigen Abhängen der Kordilleren in 1000–2500 m Höhe wachsenden Halbstrauchs aus der zu den Leguminosen gehörenden Familie der Caesalpinieen, die sie seit langer Zeit als Heilmittel verwandten. Sie benutzten sie auch als ein das Gebiß konservierendes Mittel zum Reinigen der Zähne, wie alle Naturvölker Wurzeln oder Zweige bestimmter Holzarten zum meist fleißig von ihnen geübten Zahnputzen in Anwendung bringen. Als solches Zahnputzmittel lernte der spanische Botaniker Ruiz die Ratanhiawurzel bei den Frauen von Huanuco und Lima kennen und brachte sie nach Spanien, von wo sich ihre Anwendung bald über Frankreich, England und Deutschland verbreitete. Obschon bereits 1805 Wildenow in Deutschland die Aufmerksamkeit der Ärzte auf diese neue Droge lenkte, wurde sie doch erst um 1818 durch die Empfehlungen von Jobst, von Klein und anderen bei uns allgemeiner. Als beste Ware kommt von Payta und Callao in Peru aus die von wildwachsenden Pflanzen gegrabene und getrocknete Wurzel in bis 60 cm langen und bis 1,5 cm dicken Stücken, neuerdings auch der in der Heimat der Pflanze selbst aus der frischen Wurzel durch Auskochen in Wasser gewonnene Extrakt in unförmlichen braunroten, außen matten, innen aber glänzenden Stücken in den Handel, um innerlich bei Diarrhoen, Nierenblutungen, äußerlich zu Mund- und Gurgelwässern zu dienen.
Von Süd-, aber auch Mittelamerika kam im 16. Jahrhundert ebenfalls die Sarsaparillwurzel von verschiedenen Smilaxarten aus der Familie der Liliengewächse als sehr geschätztes Heilmittel nach Europa, um hier als Mittel gegen die von den spanischen Soldaten von Amerika her eingeschleppte und bald ganz außerordentliche Verbreitung findende Syphilis das bis dahin hauptsächlich gebrauchte Guajakholz zu verdrängen. Das Wort stammt vom spanischen zarza parilla, d. h. stachelige Schlingrebe, galt ursprünglich der in Südeuropa heimischen Smilax aspera und wurde später auf die amerikanische Pflanze übertragen, deren Wurzel zuerst der Spanier Pedro de Cieza de Leon, der von 1535–1550 in Südamerika weilte und sie in der Provinz Guajakil in Ekuador kennen lernte, als Heilmittel empfahl. Bald darauf ist auch sein Landsmann Monardes (1493–1578) in Mexiko mit ihr bekannt geworden und lernte etwas später eine bessere Sorte aus Honduras kennen, die heute die allein offizinelle bei uns ist. Er wußte schon anzuführen, daß die Wurzeln der Sarsaparille sehr weit in die Erde gehen und daß man oft mannstief graben muß,[S. 338] um sie zu erlangen. Sie werden fast ausschließlich von wildwachsenden Pflanzen gesammelt, und zwar hauptsächlich im Hinterland der Westküste von Guatemala. Die Pflanze bevorzugt feuchtes, flaches, etwas sumpfiges, den Überschwemmungen der Flüsse ausgesetztes Waldland und läßt ihre stacheligen, verworren durcheinander wachsenden Stengel an den Bäumen emporklettern. In der trockenen Jahreszeit Januar bis Mai werden die Wurzeln ausgegraben, gut gewaschen und an der Sonne getrocknet. Sie gehen von mächtigen Rhizomen aus, sind bei einer Dicke von 7–8 mm bis 2 m lang, gelbbraun, längsfaltig und zeigen auf dem Querschnitt eine mächtig entwickelte, wie das zentrale Mark meist weiße, seltener blaßrötliche Rinde und einen gelblichen Holzring. Sie sind fast geruchlos, schmecken zuerst schleimig, dann kratzend und enthalten drei Sapotoxine: Parillin, Smilasaponin und Sarsasaponin, welch letzteres am stärksten abführend und als solches angeblich blutreinigend wirkt. Aus dieser Droge wurde das einst weltberühmte Zittmannsche Dekokt gegen Syphilis bereitet, das aber heute kaum mehr zur Verwendung gelangt, da wir in den Quecksilberpräparaten und neuerdings in einem Arsenderivat viel wirksamere und angenehmer einzunehmende Mittel haben.
Bevor diese Droge aufkam, galt zu Anfang des 16. Jahrhunderts auch in Europa wie in Amerika, wo sie schon längst von den Indianern in diesem Sinne gebraucht wurde, das harzdurchtränkte Guajakholz als bestes Mittel gegen die Syphilis. Es stammt hauptsächlich von der Zygophyllazee Guajacum officinale, einem bis 12 m hohen Baum des nördlichen Südamerika und der Antillen mit intensiv blauen Blüten und kommt in Form von oft mehrere Zentner schweren, vom gelblichweißen Splint befreiten Stücken von dunkelgrünlichbraunem Kernholz in den Handel. Außer verschiedenen Harzen, Guajak- und Guajakonsäure enthält es Saponinsäure und Saponin, welch letzteres die hauptsächlich wirksame Substanz ist, aber noch reichlicher als im Kernholz im Splint und am allerreichlichsten in der Rinde vorhanden ist, so daß eigentlich letztere vor ersterem weit den Vorzug verdiente. Guajak ist die hispanisierte indianische Bezeichnung der Pflanze, die Fernandez de Oviedo 1526 zuerst beschrieb und von der er angab, daß 1508 die erste Sendung des Holzes nach Spanien gelangte, um gegen die dort herrschende Syphilis zu dienen. Bald breitete sich ihr Ruhm über ganz Europa aus. Schon 1517 rühmte sich in Deutschland der kaiserliche Leibarzt Leopold Poll, 3000 Menschen mit dem Guajakholze von dieser damals äußerst bösartig auftretenden Krank[S. 339]heit, die alle Volksschichten erfaßt hatte, geheilt zu haben. Auch der 1523 auf der Insel Ufenau im Zürcher See an den Folgen dieser ansteckenden Krankheit verstorbene Ulrich von Hutten machte vier Jahre vor seinem Tode angeblich mit Erfolg eine Guajakkur in Augsburg durch, über die er in seiner Schrift „De Guajaci medicina et morbo gallico liber unus“ Mitteilung macht. 1525 beschaffte der Rat der Stadt Straßburg 107 kg des Holzes für eine energische Behandlung der an der Lustseuche erkrankten Bürger. In seiner zeitgenössischen Chronik berichtet der Franzose Guiffrey von seinem Könige Franz I., daß dieser selbst mehrere Jahre nacheinander unter Führung eines zuverlässigen Kapitäns eine Gallion — es waren dies die größten Segelschiffe des Mittelalters, die besonders zur Kriegführung dienten und stark armiert waren, im Gegensatz zu den kleinen Karavellen, mit denen beispielsweise Kolumbus vom spanischen Seehafen Palos ausfuhr, um nach Indien zu segeln, wobei er, ohne es zu wissen, Amerika entdeckte — nach Brasilien sandte, um jeweilen eine Ladung Guajakholz zur Behandlung seiner eigenen und seiner Hofleute Syphilis zu holen. Nur einmal, im Jahre 1543, habe er bei einem Aufenthalt in La Rochelle von normannischen Korsaren eine von ihnen erbeutete Schiffsladung gekauft, in der sich unter anderem auch „du gayet ou palme sainte“ gefunden habe.
Im Jahre 1545 beschrieb Brasavela in seiner in Venedig erschienenen Drogenkunde bereits drei Sorten des Holzes, worunter auch das von der westindischen Insel San Juan, dem heutigen Puerto Rico, stammende Palo santo oder Lignum sanctum, d. h. heiliges Holz von Guajacum sanctum, das heute von den Bahamainseln und aus Florida in den europäischen Handel gelangt, um vornehmlich zur Tischlerei und Drechslerei zu dienen. In der Folge wurde letztere Sorte, so schon 1582 auf der Messe in Frankfurt am Main, als Guajacum parvum, d. h. kleiner Guajak von dem von G. officinale stammenden Guajacum magnum, dem großen Guajak, unterschieden. 1573 fand der Augsburger Arzt Leonhard Rauwolf auf dem Basar der syrischen Stadt Aleppo Guajakholz neben Chinawurzel als Heilmittel gegen Syphilis feilgeboten. Die Arzneitaxe von Wittenberg brachte 1599 Lignum und Cortex Guajacis (Holz und Rinde). Ein Jahrhundert hielt der Ruf dieser Droge als Heilmittel gegen die Syphilis an, um dann, wie gesagt, von der Sarsaparillwurzel verdrängt zu werden. Als man als Hauptbestandteil des Holzes das darin enthaltene Harz erkannte, benutzte man von der Mitte des[S. 340] 17. Jahrhunderts an vielfach an dessen Stelle das Guajakharz, das seltener freiwillig ausfließt, sondern meist durch Einschnitte in den Stamm mit nachherigem Schwelen gewonnen wird. Als solches kommt es in haselnuß- bis walnußgroßen, dunkelrotbraunen, außen schmutzig grünlich bestäubten Körnern in den Handel, während das durch Auskochen des zerkleinerten Kernholzes hergestellte Präparat in unregelmäßigen, mehr schwarzgrünen Massen verkauft wird. Letzteres schmeckt unangenehmer und länger anhaltend kratzend als das vorige und dient heute nur noch als Reagens für Fermente und von Blut.
Ebenfalls gegen Syphilis wurde eine Zeitlang das mittelamerikanische Quassiaholz verwendet, das schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts von den aus Afrika importierten Negersklaven unter dem Namen quasci in Surinam gegen die bösartigen epidemischen Fieber des Landes gebraucht wurde. Nach Fermins Angaben sollen bereits 1714 die großen scharlachroten Blüten des Baumes noch vor dem Holz als geschätztes Magenmittel von den Eingeborenen benutzt worden sein. Nach Albrecht von Hallers Zeugnis besaß der Drogist Seba in Amsterdam schon 1730 das Quassiaholz, und 1742 soll es bereits ein ganz gemeines Medikament gewesen sein. Das gelblichweiße, dichte, geruchlose Quassienholz stammt von einem kleinen, auf den Antillen und im nördlichen Südamerika heimischen Baum aus der Familie der Simarubazeen mit gefiederten Blättern und länglichen, schwarzen Steinfrüchten, dem Karl von Linné 1763 nach der Bitterkeit seines Holzes den wissenschaftlichen Namen Quassia amara gab. Er wird außer in seiner Heimat auch in einigen Tropenländern der Alten Welt kultiviert und liefert das echte oder surinamsche Quassiaholz, während das leichtere, weniger dichte Jamaika-Quassiaholz von der verwandten, viel höheren und stattlicheren, in Westindien, besonders Jamaika, heimischen Picrasma excelsa stammt. Beide schmecken stark bitter, und zwar ersteres durch den Gehalt des von Winkler 1834 zuerst dargestellten Bitterstoffs Quassiin, letzteres dagegen durch das ähnliche Picrasmin; der ihn enthaltende wässerige Auszug dient, wie in seiner Heimat, so auch bei uns als appetitanregendes Mittel. Er besitzt schwach narkotische Eigenschaften und diente früher als Bittermittel in der Bierbrauerei, ebenso als Fliegengift.
In gleicher Weise früher als Heilmittel gegen Syphilis, während heute hauptsächlich noch als Blutreinigungsmittel verwendet, wurden die im Herbst ausgegrabenen, bis 20 cm dicken, ästigen, holzigen Wurzeln der im östlichen Nordamerika, besonders in Florida, Virginien,[S. 341] Karolina und Pennsylvanien heimischen Lorbeerart Sassafras officinalis. Als die Spanier 1512 unter Juan Ponce de Leon Florida entdeckten, das sie, wie schon Kolumbus die südlicher davon gelegenen Länder, nicht für eine neue Welt, sondern für einen Teil des asiatischen Gewürzlandes Indien hielten, weshalb diese Gebiete auch den Namen India erhielten, der erst später zur Unterscheidung vom eigentlichen Indien in Westindien präzisiert wurde, hielten sie die bis 30 m hohen diözischen Sassafrasbäume anfangs für den von ihnen so sehnlichst erwünschten Zimt. Und der sie begleitende Mönch Monardes, der später diese Entdeckungsreise beschrieb, sagt, daß das Holz auch wirklich nach Zimt gerochen habe, was durchaus nicht der Fall ist. Was man zu finden hofft, das bildet man sich schließlich ein gefunden zu haben! Noch in späterer Zeit bezeichneten die Portugiesen die Sassafrasrinde in Fortsetzung ihres holden Wahnes, es mit der Zimtrinde, die übrigens von einer nahe verwandten Lorbeerart stammt, zu tun zu haben, als canela. Die Pflanze, deren Holz schon von den Indianern Floridas als Fiebermittel benutzt wurde, erhielt dann später, als sie einsahen, daß sie nicht die Zimtpflanze sei, von den Spaniern die Bezeichnung Sassafras vom spanischen salsafras = Saxifraga, weil man ihr dieselbe Wirkung, Blasensteine zu zerkleinern, zuschrieb, wie dem Steinbrech. Nach dem fenchelartigen Geruch und süßlich aromatischen Geschmack erhielt die bereits um die Mitte des 16. Jahrhunderts von Spanien aus über ganz Europa ausgebreitete holzige Wurzel des Sassafras in Deutschland die Bezeichnung Fenchelholz. Bei den Indianern Floridas hieß das Holz pavanne, deshalb wird es in deutschen Apotheken, z. B. 1582 in Frankfurt a. M. und 1587 in Hamburg, als Lignum Pavanum seu Floridum oder Lignum Sassafras aufgeführt. Schon 1598 kannte man einen Spiritus ligni Sassafras. Der Holzteil und mehr noch die Rinde der Wurzel enthalten bis 9 Prozent eines frisch destilliert farblosen, später aber durch Aufnahme von Sauerstoff aus der Luft gelb bis braun werdenden ätherischen Öles, das 80 Prozent Safrol, 10 Prozent Phellandren, 6,8 Prozent Rechtskampfer, weiter Eugenol, Cadinen usw. enthält. In den Vereinigten Staaten von Nordamerika wird aus dem Wurzelholz mit der Rinde ein dort viel verwendetes Fluidextrakt hergestellt, während das daraus destillierte ätherische Öl sehr beliebt zum Aromatisieren von Seifen, Getränken und Tabak ist.
Sehr viel wichtiger für die Arzneikunde und namentlich die Technik als diese nordamerikanische Lorbeerart ist die gleichfalls dem Zimt sehr nahe verwandte ostasiatische Art, der Kampferbaum (Cinnamomum[S. 342] camphora), dessen Produkt, der Kampfer, ein altes chinesisches Heilmittel ist. Aber nicht dieses ostasiatische, sondern ein ähnliches südasiatisches Produkt, der Sumatra- oder Borneokampfer, der in den Stämmen eines hohen Baumes Sumatras und Borneos aus der Familie der Dipterocarpazeen (Dryobalanops camphora), der auch der ostindische Kopalbaum (Vateria indica) angehört, in eigenen Behältern in oft mehreren Pfund schweren Stücken abgesetzt wird, war schon im Altertum in ganz Südasien als Heilmittel verbreitet und beliebt. Dieser südasiatische Kampfer war als wertvolle Arznei auch in China und Japan bekannt, wo er heute fast ausschließlich verbraucht und viel höher geschätzt wird als der bei uns von dort her in den Handel kommende Laurineenkampfer. Unter der Sanskritbezeichnung kapura, d. h. weiß, gebrauchten ihn die alten Inder. Nach der Zeit der Völkerwanderung war er von Indien aus nach Westasien gelangt, wo ihn der griechische Arzt Aētios aus Amida in Mesopotamien im 6. Jahrhundert unter dem Namen kaphura als kostbares Arzneimittel erwähnt. Auch den Arabern zur Zeit Muhammeds war er bekannt; denn er wird im Koran als ein Kühlungsmittel der Getränke der Seligen im Paradiese erwähnt. Mit der von ihnen kamfur genannten Droge machten dann die arabischen Ärzte das Abendland bekannt, wo der Dipterocarpazeenkampfer im 11. Jahrhundert in Italien und im 12. Jahrhundert in Deutschland als Mittel gegen Gicht und Rheumatismus verwendet wurde. So erwähnen ihn um 1070 der jüdische Arzt Simon Seth und um 1150 die gelehrte Äbtissin Hildegard im Kloster Rupertsberg bei Bingen. 1293 lernte der venezianische Kaufmann Marco Polo auf seiner mit Vater und Onkel unternommenen Rückreise von China auf Borneo und Sumatra den dort heimischen Kampferbaum selbst kennen, wie er in seinem Reisebericht erzählt. Zur Zeit des Paracelsus (1493–1541) war der davon gewonnene Kampfer in Deutschland allgemein als Arzneimittel im Gebrauch.
Erst zu Beginn des 17. Jahrhunderts kam in Europa der ostasiatische Kampfer an Stelle des teueren Sumatra- und Borneokampfers auf, indem inzwischen die Chinesen, von der Gewinnung jenes durch Fällen, Spalten und Auslesen der Dryobalanopsbäume veranlaßt, dieselbe Droge von einem einheimischen Baume, eben dem echten Kampferbaum, zu gewinnen trachteten, was denn auch gelang. Dieser echte Kampferbaum ist ein an der chinesischen Küste von Cochinchina bis zur Mündung des Jang-tse-kiang und den vorgelagerten Inseln bis Südjapan wachsender, 8–10 m hoher, lindenähnlicher Baum mit brauner,[S. 343] runzliger Rinde und knorrigen Ästen. Er hat immergrüne, eirunde, glänzende Blätter, kleine, weiße, in Rispen stehende Blüten und dunkelrote, erbsengroße Beeren mit pfefferähnlichem Samen. Alle Teile des Baumes, besonders aber die Wurzeln, riechen und schmecken stark kampferartig. Er verlangt ein warmes Klima und möglichst feuchte Luft. Besonders auf Formosa und in ganz Südjapan wird er zur Gewinnung von Kampfer benutzt und deshalb in ausgedehnten Waldungen gezogen. Junge Bäume sind für die Kampferausbeutung wertlos. Je älter sie aber werden und je dichter ihr Holz wird, um so höher steigt in ihnen der Kampfergehalt, bis er etwa im 100. Jahr ein Maximum erreicht hat. Schon 40–50jährige Bäume werden zur Kampfergewinnung gefällt. Dabei wurde das Holz, besonders des Stammes, gespalten und ursprünglich wie beim Sumatra- und Borneokampferbaum das in Spalten und Klüften ausgeschiedene feste ätherische Öl ausgekratzt. Bald aber ging man dazu über, das in kleine Späne geschnittene und zudem durch Klopfen faserig gemachte Holz einer Destillation mit Wasserdämpfen zu unterwerfen, um den Kampfer zu gewinnen. Da dieses feste ätherische Öl am reichlichsten in den Wurzeln und unteren Teilen des Stammes enthalten ist, werden lediglich diese Teile, außer den Wurzeln noch der Stamm bis etwa in 3 m Höhe, der meist auf sehr primitive Weise ausgeführten Destillation unterworfen, wobei der Rohkampfer in Gestalt blaßrötlicher, körniger Massen mit 20 Prozent flüssigem Kampferöl gewonnen wird. Als solcher kommt er von Formosa in mit Bleiblech ausgeschlagenen Kisten von 50–60 kg Gewicht verpackt, von Japan dagegen in Bambusröhren oder Tubbs genannten Holzbottichen von 80 kg in den Handel und wird in Europa und Amerika, neuerdings auch schon in Japan und Hongkong, in eigenen Kampferraffinerien durch weitere Sublimation gereinigt.
Der Kampfer, seiner chemischen Beschaffenheit nach ein Keton von der Formel C10H16O, bildet sich im lebenden Kampferbaum aus einem ursprünglich im Holz vorhandenen flüchtigen, farblosen Öl, dem Kampferöl, das in frühzeitig in allen Teilen des Baumes angelegten Ölzellen gebildet wird und sich später durch Sauerstoffaufnahme — oft erst jahrelang nach Entstehung des Sekretes — in Kampfer umwandelt, der dann vorzugsweise in den Spalten und Höhlungen des unteren Teiles des Stammes zur Ausscheidung gelangt. Das vom rohen Kampfer vor dem Raffinieren ausgepreßte und durch Zentrifugieren entfernte flüssige, früher als wertlos beseitigte Kampferöl wird neuer[S. 344]dings auf Safrol verarbeitet. Der raffinierte Kampfer, der in 1–5 kg schweren, konvex-konkaven, in der Mitte durchlöcherten Kuchen in den Handel gelangt, stellt eine weiße, durchscheinende, kristallinisch-körnige, fettig anzufühlende, bei gewöhnlicher Temperatur allmählich ohne Rückstand sich verflüchtigende Masse von durchdringendem Geruch und brennend scharfem, hinterher kühlendem Geschmack dar, das in der Medizin äußerlich als die Haut reizendes, ableitendes, schmerzlinderndes Mittel bei rheumatischen Leiden, innerlich in kleinen Dosen zur Beruhigung, in größeren zur Anregung und Belebung des Nervensystems, der Atmung und Blutzirkulation, besonders aber in der Technik als Mottengift und in sehr großem Maße zur Herstellung von Zelluloid und rauchschwachem Pulver verwendet wird. Japan und Formosa führen jährlich über 4 Millionen kg Kampfer aus, von denen etwa 32 Prozent nach Deutschland, 31 Prozent nach Amerika, 22 Prozent nach Frankreich, 13 Prozent nach England und 2 Prozent nach Indien gehen. Zum eigenen Kampferöl bezieht Japan noch viel von Formosa, um ihn bei der Lackbereitung zu verwenden. Bei der großen Wichtigkeit, die dem Kampfer zukommt, werden zurzeit ausgedehnte Anpflanzungen von Kampferbäumen von seiten der japanischen und chinesischen Regierungen gemacht. Schon jetzt liefert die südchinesische Provinz Fo-kien über 120000 kg Kampfer jährlich. Auch werden später Madagaskar, Ceylon, Deutsch-Ostafrika, Ägypten, Algerien und der Süden der Vereinigten Staaten von Nordamerika sich an der Produktion beteiligen, wenn die dort angelegten, sehr gut fortkommenden Kulturen des Kampferbaumes zur Ausbeutung reif sein werden. Die neuerdings gehegte Hoffnung, den Kampfer auch aus den Blättern des Baumes gewinnen zu können, ist bis jetzt nur wenig erfüllt worden.
Außer den bereits erwähnten hat die Neue Welt noch eine ganze Menge wichtiger Drogen aus dem Pflanzenreiche geliefert, so die Ipecacuanha- oder Brechwurzel, die heute noch in reichlichem Maße Verwendung findet. Sie besteht aus der unterirdisch kriechenden Achse eines niederen Halbstrauchs aus der Familie der Rubiazeen oder Krappgewächse (Cephaëlis Ipecacuanha) mit nur 10–30 cm hoch aufsteigenden Stengeln, länglichovalen Blättern, weißen Blüten und erbsengroßen, blauen Beeren. Sie wächst in den feuchten, schattenreichen Wäldern Südbrasiliens wild und wird neuerdings auch auf der Halbinsel Malakka im Schatten einzelner Bäume kultiviert, um über Singapur in den Handel zu gelangen. Die beliebteste Sorte wird mit Ausnahme[S. 345] der Regenzeit das ganze Jahr hindurch in der südbrasilianischen Provinz Matto Grosso gesammelt, indem man den ziemlich oberflächlich horizontal unter der Erde verlaufenden, höchstens 5 mm dicken, knotigen Stamm aushebt, aber die an den Knoten entspringenden, größtenteils zu Stärkemehl aufspeichernden Reservestoffbehältern gewordenen Wurzeln abschneidet, um sie im Boden zu belassen oder, falls sie mit herauskamen, wieder einzupflanzen. Sie bilden dann Adventivknospen, aus denen nach 3–4 Jahren ein neuer Bestand ausbeutungsfähiger Pflanzen hervorgeht. Die in Abständen von 1 mm von ungleichen, rundlichen Wülsten, den Narben der einst hier entsprungenen zahlreichen Seitenwurzeln, versehenen unterirdischen Stammstücke werden so rasch als möglich getrocknet, am Tage der Sonne ausgesetzt und nachts durch Bedecken vor dem Tau beschützt, und sind nach 2–3 Tagen versandfähig. In sogenannten Seronnen von 40–42 kg Gewicht werden sie von den Eingeborenen oft Tagereisen weit auf den Köpfen aus dem Innern an die Küste getragen und gelangen über Rio de Janeiro nach London zum Verkauf. In 15 cm langen Stücken, noch häufiger aber fein geschnitten kommen sie in die Apotheken, um hier meist zur Herstellung der bekannten Ipecacuanha-Aufgüsse verwendet zu werden. Das wirksame Prinzip ist das 1817 von Pelletier und Magendie gefundene Emetin neben Cephaëlin und Psychrotin. Es ist zu 4 Prozent fast nur in der graubraunen Rinde und nur in Spuren im Holzkörper vorhanden. Das offizinelle Ipecacuanha-Pulver soll 2 Prozent dieser Alkaloide enthalten.
Diese brechenerregende und expektorierend wirkende Droge hat eine sehr interessante Geschichte, die es wohl verdient, hier in Kürze mitgeteilt zu werden. Der Name Ipecacuanha, den uns die Portugiesen vermittelten, stammt aus der Tupisprache und ist aus i (klein), pe (am Wege), caá (Kraut), guéne (brechenerregend) zusammengesetzt, bedeutet also „kleines Kraut, das am Wege wächst und Brechen erregt“. Die Tupi- und andern Indianer Brasiliens verwandten sie als Brechmittel. Da sie aber außer ihr noch andere Wurzeln als solches benutzten und mit dem Worte „pe-caá-guéne“ — zusammengezogen in pecacuém — bezeichneten, erhielt sie zur Unterscheidung von den größeren die Benennung i (klein), also I-pe-caá-guéne. Der portugiesische Volksname der Droge ist aber nicht Ipecacuanha, sondern Poaya. Zum erstenmal wird sie 1590 vom portugiesischen Mönch Michael Tristram, der von 1570–1600 in Brasilien lebte, unter dem Namen Igpecaya oder Pigaya erwähnt; aber erst 1648 wurde sie[S. 346] durch den holländischen Arzt Wilhelm Piso in Europa genauer bekannt. Auf einer von 1636–1641 unter Führung des Grafen Moritz von Nassau-Siegen unternommenen Forschungsreise durch Brasilien lernte er sie kennen und gab dann nach seiner Heimkehr die erste Beschreibung und Abbildung der Pflanze, die er Ipecacuanha nennt. Gleichwohl war man über die botanische Stellung der Pflanze noch lange im unklaren. Réjus hielt sie für eine Art Einbeere (Paris), Moriceau für eine Art Geißblatt (Lonicera) und der große Karl von Linné für eine Art Veilchen, weshalb er sie Viola Ipecacuanha nannte. Erst der portugiesische Marinearzt Dr. Bernardino Antonio Gomez gab 1801 die nötige Berichtigung über die von ihm in Brasilien kennen gelernte Stammpflanze. 1804 beschrieb Wildenow die Pflanze als Cephaēlis ipecacuanha; später zog der Aargauer Müller das Genus Cephaēlis zu Psychotria.
Größere Aufmerksamkeit erregte die Droge erst zu Ende des 17. Jahrhunderts. 1672 brachte sie der Arzt Le Gras nach einem dreimaligen Aufenthalte in Brasilien von dort mit; von ihm erhielt sie der Apotheker Claquenelle, ebenso Lemery. Dann brachte der Arzt Daliveau aus Montpellier, der die Pflanze in Brasilien gesehen und dort auch ihre Verwendung kennen gelernt hatte, Nachrichten über sie mit nach Europa. 1680 bekam Dr. Afforti von dem aus Brasilien zurückgekehrten und nach schwerer Erkrankung von ihm geheilten Kaufmann Garnier zum Dank eine Portion Ipecacuanha unter dem Namen der brasilischen Ruhrwurzel. Afforti beachtete dieselbe nicht, gab aber davon dem Studenten Joh. Adrian Helvetius, der damit nach seiner Etablierung in Reims 1684 sehr gute Kuren bei Ruhr machte. Er erregte damit weithin in Frankreich Aufsehen, so daß ihm Ludwig XIV. sein als Geheimnis behandeltes Mittel um 1000 Louisdor abkaufte und ihm dazu noch ein Privilegium des Alleinverkaufs erteilte. In Deutschland lenkte besonders Leibnitz die Aufmerksamkeit auf das neue Mittel, über das er in den Verhandlungen der Leopoldinischen Sozietät der Naturforscher im Jahre 1696 eine Abhandlung: De novo antidysenterico americano veröffentlichte. Zwei Jahre später nahm sich Valentini der Droge im besonderen an, doch ging es noch längere Zeit, bis sie allgemeinere Verwendung fand. Bis weit in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts war sie in den Apotheken noch recht selten und dementsprechend teuer. So kostete das Pfund nach Valentini 1704 30 Gulden und das Lot (10 g) in Mülhausen 8 Pfennige. 1887 kamen dann die ersten Proben aus den seit 1866, anfangs allerdings ohne[S. 347] Erfolg in Indien, besonders um Kalkutta, angelegten Kulturen auf den Londoner Markt und erwiesen sich als der brasilianischen Droge ebenbürtig. Von der von Hooker aus dem botanischen Garten von Kew bei London gesandten Stammpflanze waren 1872 nur noch 12 Pflanzen als Nachkommen vorhanden. Eine Vermehrung durch Stecklinge hatte größeren Erfolg; so erzielte man auf diese Weise von 300 in den Jahren 1871 und 1872 in Sikkim vorhandenen Exemplaren bereits 1873 6000 Stück. Doch hatte die Kultur der Ipecacuanha auch hier erst rechten Erfolg, als man begann, den Bedürfnissen der Pflanze nach Feuchtigkeit und Schatten Rechnung zu tragen.
Bei der Gesuchtheit der Droge kann es uns nicht wundern, daß sie sehr oft mit falscher Ipecacuanha vermischt und so gefälscht wird. Von solcher kommt die in Kolumbien wachsende Cephaēlis acuminata der echten am nächsten. Ihr unterirdisch kriechender Stamm ist rötlichbraun und bis 8 mm dick. Man bezeichnet diese Sorte als Cartagena-Ipecacuanha, weil sie vom gleichnamigen Hafen in Kolumbien exportiert wird. Erheblich schwächer wirkend ist die aus dem nördlichen Südamerika stammende dünnere, hellgraue bis graubraune „mehlige Ipecacuanha“, so genannt, weil die mit nur schwachen Einkerbungen versehene sehr dicke Rinde im Durchschnitt mehlig weiß ist. Sie stammt von Richardsonia scabra. Größer und stärker als die echte Rioware, aber sehr arm an Emetin, ist die bis 8 mm dicke, außen graubraun bis grauschwarze „schwarze Ipecacuanha“, die von der in Venezuela, Peru und Kolumbien (dem vormaligen Neu-Granada) wachsenden Psychotria emetica herrührt. Ganz emetinfrei ist die stark verästelte und mit spärlichen Einschnürungen versehene grauweiße oder hellbraungelbe „weiße Ipecacuanha“, die von der brasilischen Veilchenart Jonidium ipecacuanha stammt, ebenso die von Viola itoubou, von Polygala violacea in Venezuela, von Chamaelirium luteum und Heteropteris pauciflora in Brasilien und andern. Ganz schwach emetinhaltig ist dagegen die mit sehr dünner Rinde und ohne Einschnürungen versehene Trinidad-Ipecacuanha von Cephaëlis tomentosa.
Ebenfalls durch die Portugiesen zuerst in Europa bekanntgeworden ist die außer als appetitanregendes Mittel auch wie die Ipecacuanha gegen Ruhr verwendete Colombowurzel, die von der in den Wäldern der ostafrikanischen Küstenländer heimischen Jatrorrhiza palmata stammt. Heute wird sie außer in Mozambique, wo sie die Portugiesen bei ihrer Niederlassung von den Eingeborenen als stopfende Arznei kennen lernten, in Deutsch-Ostafrika, auf Madagaskar, den Maska[S. 348]renen, Seychellen und Ceylon kultiviert. Die dem kurzen Wurzelstock entspringenden rübenförmig verdickten, bis 30 cm langen und bis 8 cm dicken, fleischigen Wurzeln der zu den Menispermazeen gehörenden ausdauernden, strauchartigen Pflanze werden im März gegraben, gewaschen, in 2 cm dicke Scheiben geschnitten, auf Schnüre gezogen und im Schatten getrocknet. In von Matten umhüllten Ballen von etwa 50 kg Gewicht kommen sie aus Mozambique, Sansibar oder Bombay nach Hamburg und London in den Handel. Sie sind im Durchschnitt gelb und enthalten außer reichlich Stärkemehl und Gummi, die dem daraus hergestellten Dekokt eine schleimige Konsistenz geben, drei Alkaloide und zwei Bitterstoffe. Der Name Colombo hat keinerlei Beziehung zur gleichnamigen Stadt auf Ceylon, sondern rührt von der Bezeichnung kalumb her, die ihr die Kaffern gaben. Zuerst empfahl der toskanische Arzt Francesco Redi 1675 die Calumba als giftwidriges Mittel. Als solches hat sie sich nun nicht bewährt, wohl aber als tonisches Bittermittel und zum Stopfen bei Durchfällen. Ihre Abstammung und Heimat wurde geheim gehalten, bis Philipp Commerson 1770 die sie liefernde Pflanze im Garten des Gouverneurs Poivre auf Isle de France (jetzt Mauritius genannt) kultiviert fand. Erst seit sie der Arzt Gaubius in Leiden im Jahre 1771 angelegentlich empfahl, wird sie häufiger medizinisch verwendet. Die sogenannte amerikanische Colombowurzel von der Gentianee Frasera carolinensis aus Ohio, Carolina und Pennsylvanien enthält nur Gerbsäure und ist minderwertig. Am meisten wird die Droge durch die mit Ocker gelb gefärbte Wurzel der Zaunrübe (Bryonia alba und dioica) verfälscht.
Von einem im atlantischen Nordamerika, namentlich Virginien, Florida und Alabama heimischen immergrünen klimmenden Strauch (Gelsemium sempervirens) aus der Familie der Loganiazeen, die sehr stark giftige Vertreter, wie den das Strychnin liefernden Brechnußbaum, den Curarebaum, aus dem die Indianer in Guiana und Venezuela ihr berüchtigtes Pfeilgift, den schlingenden Upasstrauch, aus dessen Wurzelrinde die Malaien Javas ihr nicht minder gefährliches Pfeilgift Upas herstellen, und den vom Jesuiten Camelli 1699 nach dem Stifter des Jesuitenordens, Ignatius Loyola, Ignatiusstrauch benannten Schlingstrauch der Philippinen, der die äußerst giftigen Ignatiusbohnen liefert, aufweist, stammt die Gelsemiumwurzel. Gelsemium ist der ältere Name des Jasminum — hergeleitet vom arabischen jasmin —, der dieser Pflanze wegen ihrer Ähnlichkeit mit diesem orientalischen Strauche gegeben wurde. Das Rhizom kommt meist in kleine[S. 349] Stücke zerschnitten in den Handel und enthält vier Alkaloide, die als schmerzbetäubendes Mittel bei Neuralgien, Zahnschmerz, Rheumatismus und Brustfellschmerzen dienen. Die Indianer brauchten sie zum Vergiften der Fische. Diese bei uns weniger angewandte Droge dient in Nordamerika seit langer Zeit als Volksmittel gegen Fieber und Neuralgien. Die Wirkung besteht in Schwächung der Motilität und Herabsetzung der Sensibilität; in größeren Gaben verursacht die Droge Schwindel, erweiterte Pupillen und Doppeltsehen, allgemeine Muskelschwäche und schließlich Tod durch Atmungslähmung.
Der getrocknete Wurzelstock der kanadischen Gelbwurz (Hydrastis canadensis) liefert die neuerdings auch bei uns wie in ihrer Heimat vielgebrauchte