The Project Gutenberg eBook of Sämtliche Werke 5-6: Die Dämonen

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Title: Sämtliche Werke 5-6: Die Dämonen

Author: Fyodor Dostoyevsky

Contributor: Dmitry Sergeyevich Merezhkovsky

Editor: Arthur Moeller van den Bruck

Translator: E. K. Rahsin

Release date: April 23, 2020 [eBook #61906]

Language: German

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*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK SÄMTLICHE WERKE 5-6: DIE DÄMONEN ***

F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke

Unter Mitarbeiterschaft von Dmitri Mereschkowski
herausgegeben von Moeller van den Bruck

Übertragen von E. K. Rahsin

Erste Abteilung: Fünfter und sechster Band

F. M. Dostojewski

Die Dämonen

Roman

R. Piper & Co. Verlag, München

R. Piper & Co. Verlag, München, 1921
11. bis 20. Tausend

Copyright 1921 by R. Piper & Co.,
Verlag in München.

............

‚Herr, wir haben in dem Dunkel

uns verirrt. Was tun wir nun?

Jede Wegspur ist verloren!

Teufel haben ganz gewiß

uns hier auserkoren, –

zerren jetzt und drehen uns

mit Dämonenmacht

wohl zickzack im Kreis herum,

in dem Schneesturm und der Nacht.

............

Wieviel sind’s? Wohin die Hetze?

Und was singen sie im Trab?

Feiern sie heut Hexenhochzeit?

Oder tanzen sie ums Grab,

das sie grad’ dem Hausgeist graben?‘

............

A. Puschkin.

Es war aber daselbst eine große Herde Säue an der Weide auf dem Berge. Und sie baten ihn, daß er ihnen erlaubte, in dieselben zu fahren. Und er erlaubte ihnen.

Da fuhren die Teufel aus von dem Menschen, und fuhren in die Säue; und die Herde stürzte sich vom Abhange in den See, und ersoffen.

Da aber die Hirten sahen, was da geschah, flohen sie, und verkündigten’s in der Stadt und in den Dörfern. Da gingen sie hinaus, zu sehen, was da geschehen war, und kamen zu Jesu, und fanden den Menschen, von welchem die Teufel ausgefahren waren, sitzend zu den Füßen Jesu, bekleidet und vernünftig, und erschraken.

Und die es gesehen hatten, verkündigten’s ihnen, wie der Besessene war gesund worden.

Evangel. Lukä, Kap. VIII, 32–37
(nach der Übersetzung von Luther).

Inhalt

    Seite
Dostojewski, der Nihilismus und die Revolution. Von M. v. d. B. IX
Vorbemerkung XXIII
Personen-Verzeichnis XXXI
1. Kapitel: Statt einer Einleitung: einiges Ausführliche aus der Biographie des wohlachtbaren Stepan Trophimowitsch Werchowenski 1
2. Kapitel: Prinz Heinz. Die Brautwerbung 59
3. Kapitel: Fremde Sünden 110
4. Kapitel: Die Hinkende 175
5. Kapitel: Die „allwissende Schlange“ 229
6. Kapitel: Die Nacht 304
7. Kapitel: Die Nacht (Fortsetzung) 384
8. Kapitel: Das Duell 426
9. Kapitel: Alle in Erwartung 446
10. Kapitel: Vor dem Fest 485
11. Kapitel: Pjotr Stepanowitsch in Tätigkeit 521
12. Kapitel: Bei den Unsrigen 595
13. Kapitel: Zarewitsch Iwan 636
14. Kapitel: Wie Stepan Trophimowitsch beschlagnahmt wurde 654
15. Kapitel: Die Flibustier. Der verhängnisvolle Morgen 670
16. Kapitel: Die Matinee 709
17. Kapitel: Das Ende des Festes 760
18. Kapitel: Ein beendeter Roman 813
19. Kapitel: Der letzte Beschluß 847
20. Kapitel: Die Reisende 887
21. Kapitel: Die mühevolle Nacht 940
22. Kapitel: Stepan Trophimowitschs letzte Reise 995
23. Kapitel: Der Schluß 1052
1. Anhang: Material zum Roman „Die Dämonen“. Aus den Notizbüchern F. M. Dostojewskis 1073
2. Anhang: Bruchstück aus einem bisher unveröffentlichten Kapitel des Romans „Die Dämonen“ 1121
Anmerkung 1139

Dostojewski, der Nihilismus und die Revolution.

Der Keim des Nihilismus lag bereits im Sektenwesen. Die Raskolniki haben zuerst durch das russische Volk eine revolutionäre Stimmung getragen und religiösen Aufruhr verbreitet. Weil der Russe rechtgläubig bleiben wollte, wurde er altgläubig, um andersgläubig und schließlich ungläubig zu werden. Der Raskol war ursprünglich ein Kampf des Volkes um seine einzige Bildung: die geistliche. Es war ein Kampf um das Wenige, das Arme im Geiste besaßen, die an Vorstellungen nicht rühren lassen wollten, in die sie sich durch Jahrhunderte eingewöhnt hatten: an Ritual, Legende und Text. Es war ein Kampf, der zu keiner Reformation führte, sondern zum Schisma, und schließlich zur Häresie. Aber in diesem Kampfe standen Beschränkte wie Besessene, und standen wild bis zum Fanatismus. Das Ende der Zeiten, das tausendjährige Reich, der Antichrist auf Erden wurde von ihnen erwartet. Schon hier wird die Verbindung von Apokalypse und Nihilismus, aber auch Konservativismus deutlich, die in allen russischen Revolutionen irgendwie wiederkehrt.

Der religiöse Nihilismus wurde allmählich zum politischen Nihilismus. Als Peter erschien und um weltlicher Reformen willen die Kirche dem Staate unterwarf, da sah man den Antichrist auch in ihm, dem Zaren. Ja, schon wagten die Raskolniki in ihrem Kampfe gegen die Kirche auch den Kampf gegen den Staat. Sie erfuhren Zuzug aus allen Kreisen, die in Reibung mit der Obrigkeit lagen. Im Raskol sammelten sich die Unzufriedenen des Landes. Es kam, wer ein schlechtes Gewissen hatte. Es kam der Beamte, der veruntreut, und der Bauer, der aufbegehrt hatte. Es kam der Soldat, der seiner Truppe entlaufen war. Es kamen Strelitzen, denen dem Blutgerichte von Moskau zu entrinnen gelang. Es kamen kosakische Freibeuter, aber auch ukrainische Patrioten, Leute aus der Anhängerschaft schon des Stenka Rasin und wieder des Mazeppa. Es kamen die Barfüßler. Es kamen Verbrecher. Es kamen Mörder, Räuber und Diebe, sie alle, denen der Kettenweg nach Sibirien drohte. Sie alle kamen und wurden hier Brüder vom Gesindel, doch Brüder in Freiheit.

Die Form dieser Brüderschaft war noch nicht die der Verschwörung. Aber die Taktik der Nihilisten kündigte sich schon unter den Sektierern an. Geheime Beziehungen wurden zwischen den Gemeinden unterhalten, wie hernach zwischen den „Gruppen“. Verfolgte wurden verborgen, falsche Pässe wurden ausgefertigt, und wie man später Proklamationen zusteckte, so wurden damals Hostien, Reliquien und verbotene Postillen geschmuggelt. In den geläuterten Brüderschaften der Stundisten, der Molokanen oder der Duchoborzen, deren Anhänger sich um ein ausgeklügeltes Sonderideechen zu sammeln pflegten, wurde dieser religiöse Nihilismus schließlich ganz brav, ehrbar und pietistisch-tugendhaft. Aber auch von ihnen, freilich auch von den Popenfamilien, in denen auf den orthodoxen Vater der problematische Sohn folgte, ging die nihilistische Unterschichtung des russischen Volkes weiter aus. Noch Raskolnikoff, in dessen Hirn statt der harmlosen Beunruhigung, wie man den Namen des Heilandes richtig zu schreiben habe, die gefährliche Frage nach Gut und Böse wühlte, trug von den Raskolniki den Familiennamen und gehörte ihnen nicht nur nach der Abstammung sondern auch in der Anlage an.

Der Dämon des Nihilismus war in einer noch mittelalterlichen Zeit wie ein unheimliches Tier gewesen. In der Zeit der Dekabristen sah man ihn in byronischer Gestalt unter jungen Enthusiasten umgehen. Die Dekabristen waren entzückte Jünglinge, die von der französischen Revolution freisinnige Begriffe gelernt und aus den europäischen Feldzügen fortschrittliche Vorstellungen mitgebracht hatten. Von ein paar idealen Forderungen, Aufhebung der Zensur und Öffentlichkeit des Gerichts, erhofften sie eine Besserung der schlechten russischen Welt. Aber sie hatten keine bestimmte politische Idee. Daran scheiterten sie. Die jungen Politiker und radikalen Ideologen der vierziger Jahre dagegen kamen in Debattierklubs zusammen. Alle ernsten Elemente, die suchten, die sich vorwärtstasteten, freilich auch alle, die in die Irre gingen, sammelten sich in diesen Debattierklubs, deren einer unter dem Namen der Petraschewzen deshalb berühmt geworden ist, weil Dostojewski in die Geschichte der Verschwörung verwickelt wurde, die man seinen Mitgliedern anhing. Dostojewski meinte diese Zeit der Unruhe in Rußland, des Übergangs und der Ungewißheit, als er schrieb: „damals gab es unter den jungen Leuten sehr, sehr viele, die von irgend etwas durchdrungen waren, die irgend etwas erwarteten ...“ Aber auch die Petraschewzen hatten noch keine bestimmte politische oder soziale Idee. Sie beschäftigten sich nur mit Ideen. Sie lasen die Bücher von Saint-Simon und Proudhon, von Owen und Fourier. Sie bezogen die „Phalanstère“. Doch eine Einheitlichkeit der Tendenz gab es in diesen Debattierklubs nicht. Unter die Einheitlichkeit eines Programms hätte man die Petraschewzen nicht bringen können. Und für eine Einheitlichkeit der Aktion fehlte jede Voraussetzung. In seinem Rechtfertigungsschreiben merkte Dostojewski an: „man kann sagen, daß man dort nicht drei Menschen fand, die in irgendeinem Punkte über ein beliebig aufgegebenes Thema übereinstimmten.“

Es war die Zeit der literarisch-politischen Forderungen. Auch Dostojewski hatte damals seine Forderungen. Und er hatte, er leugnete es nicht, seine Klagen. Er sprach im Kreise der Petraschewzen für die Aufhebung der Leibeigenschaft und hielt die Bauernbefreiung für unumgänglich. Aber er tat es nicht als Liberaler aus einer Lehrmeinung, die ihre Grundsätze liebt, sondern als Russe aus Liebe für das Volk. Er wollte die Menschen befreien, aber er wollte es in Volklichkeit und nicht durch Vergesellschaftung. Auch er las die Bücher der Sozialisten, weil sie, wie er sagte, mit Begeisterung für das Wohl der Menschen geschrieben seien. Aber den Fourierismus lehnte er ab, während Petraschewski sich für ihn einsetzte. Das Wohl der Menschen schien ihm in Rußland nur vom Volke aus durch den Staat sichergestellt werden zu können.

Auch Dostojewski war ein Revolutionär. Als Russe, als russischer Mensch mit allen seinen russischen Möglichkeiten, die vom Orthodoxen bis zum Nihilistischen reichen, teilte auch er in einem Winkel, in einer verborgenen Abgründigkeit seines sehr zusammengesetzten Wesens diese äußerste aller politischen Möglichkeiten. Als er einmal den Wunsch äußerte, daß auch die Bauernbefreiung wieder „von oben“ gemacht werden solle, und als dagegengehalten wurde, daß dies wohl niemals geschehen werde, da entschied er fast zögernd: „Ja – dann mit Gewalt.“ Er selbst wird in dieser Zeit als ein Mensch geschildert, dessen ganzes Wesen sich zum Verschwörer geeignet habe, still, wortkarg, nur fähig, unter vier Augen sich auszusprechen, doch dann, wenn die Rede ihn hinriß, von mächtiger Überzeugungskraft. Aber Dostojewski war Revolutionär nicht aus Doktrin, sondern beinahe schon aus jener Pathologie, die es zu einer Erlösung für den Russen macht, die Krankheit seines Mitmenschen zu teilen, sie aus Wissen mitzuleiden, und aus Mitleid sich zu empören. Dostojewski, der die Fähigkeit besaß, jedes Revolutionärtum mitzuerleben, hatte als Russe vor allem das Erlebnis des Nihilismus, war mit ihm seelisch vertraut, folgte ihm wahlverwandt. Aber diese Vielseitigkeit, die nur ein Ausdruck seines Russentums war, schloß zugleich die Möglichkeit ein, daß er auch den anderen Weg ging, nicht unbedingt den reaktionären der Uwaroffschen Formel, doch den konservativen eines wissenden Menschen, der schließlich zum Großinquisitor führte.

In Sibirien kam Dostojewski dem russischen Volke ganz nahe. In der Katorga lernte er es in einem täglichen Umgange erst kennen. Und er erkannte, wie tiefe und starke Menschen es doch in diesem Volke gab, die voll von der eigenen Echtheit und schweren Ursprünglichkeit einer besonderen russischen Natur waren. Sie hatten Verbrechen begangen: aber Dostojewski war Psychologe und Amoralist genug, um den Verbrecher zu verstehen. Wenn er sie prüfte, dann fand er heraus, daß sie im Grunde alle gütig waren. Und wenn er die Menschen, mit denen er in der Katorga zusammentraf, mit den Petersburger Doktrinären verglich, die von europäischen Konstitutionen und Revolutionen redeten, dann fiel der Vergleich sehr zuungunsten der Doktrinäre aus. Diese Verbrecher hatten in ihrem analphabetischen Wesen die Schönheit der autochthonen Kraft vor jenen voraus. Für diese autochthone Kraft trat Dostojewski in der Folge ein, wobei er sowohl gegen die Uwaroffs wie gegen die europäisch-radikalen Elemente zu kämpfen hatte. Mit diesem autochthonen russischen Volke fühlte er sich verbunden und in der Gewißheit eins, daß es auch dann, wenn es nicht geneigt sein sollte, das Bestehende zu erhalten, in seiner Grundlage so unverstörbar sein werde, wie es seiner noch dunklen Bestimmung sicher sein konnte. Er fühlte voraus, was heute in Rußland Ereignis geworden ist, fühlte, daß Rußland durch Untergang werde hindurch gehen müssen, und sagte: „Noch ist die zukünftige, selbständige russische Idee nicht geboren, nur ist die Erde unheimlich schwanger von ihr und schon schickt sie sich an, sie unter furchtbaren Qualen zu gebären.“

Dostojewski liebte das russische Volk wegen seiner angeborenen Empfänglichkeit für eine naive Sittlichkeit. Aber er erkannte auch, wie unberechenbar in seinen Trieben, im Widerspruche seiner Leidenschaften, in der Heftigkeit von Zuneigung oder Abneigung es war. Seine Gier, seine Fleischlichkeit, seine verhängnisvolle Selbstverschwendung war wie eine zweite Natur, die eine erste Natur ständig verschlang. Seine Maßlosigkeit war die Gegenseite seiner Anspruchlosigkeit. Nicht anders schien sein angeborenes Empörertum nur der Gegensatz zu sein, den ein Volk, das so unausgeglichen war, ständig aus sich hervorzubringen und von sich abzustoßen suchte. Dostojewski erkannte, daß ein solches Volk konservativ gezügelt werden mußte. Und mit einem politischen Denken, das auf Bindung nicht auf Auflösung gerichtet war, begann Dostojewski, als er aus Sibirien zurückgekehrt war, in Rußland bewußt zu wirken: mit einem konservativen Denken, das auf Menschenkenntnis beruhte und von Volkskenntnis herkam, mit den Überzeugungen eines psychologischen Konservativismus, der einem Volke entsprach, dessen Wesen selbst ein ewig beunruhigter und doch wieder hergestellter Konservativismus ist.

In Rußland fand Dostojewski eine völlig veränderte politische Lage vor. Die Aufhebung der Leibeigenschaft sollte endlich erfolgen. Und manche andere liberale Reform stand bevor. Aber gleichzeitig hatte unter der Oberfläche des öffentlichen und gesellschaftlichen Lebens, in den Winkeln, Mansarden und Schlupfwinkeln der Hauptstadt, in den Verschwörerkreisen der Londoner und Züricher Emigration eine Bewegung eingesetzt, von der die liberalen Forderungen der vierziger Jahre bereits anarchisch überboten wurden: die nihilistische. Ihre Erscheinungen reichten bis in die Zeit der Petraschewzen zurück. Dostojewski selbst bestätigte den Nihilisten, daß sie von den Petraschewzen herstammten, obwohl diese noch keine Nihilisten gewesen seien. Zwar war der Untersuchungsrichter im Petraschewzenprozesse im Unrecht gewesen, wenn er die wachsende Zahl der von ihren Bauern erschlagenen Gutsbesitzer, oder die der Brandstiftungen auf dem Lande, der Diebstähle und Einbrüche, auf die politische Rechnung der Angeklagten schrieb. Das waren Erscheinungen, die sich ohne Zutun der Petersburger Doktrinäre aus dem tumultuarischen Zuge der Bauernbewegung ergaben, die der Aufhebung der Leibeigenschaft voranging und die nicht mit ihr aufhörte. Nach wie vor traten Sektiererrevolten hinzu, und noch immer kam es wie zu Nicolais Zeiten vor, daß die Alt- und Andersgläubigen sich zu Tausenden zusammenrotteten, um ihre Kirchen vor Niederlegung zu bewahren, und das Militär, das mit der Exekutive betraut war, schimpflich davonjagten. Das religiöse Motiv im russischen Empörertum verband sich mit dem sozialen Motive.

Aber auch manche Vorformen des politischen Nihilismus waren Dostojewski aus seiner ersten Petersburger Zeit bekannt. Ein Petraschewze hatte zuerst die Idee der „Fünf“ ausgeheckt, die Dostojewski hernach der Komposition seiner „Dämonen“ als Skelett zugrunde legte: die Idee eines großen politischen Bundes, in dem Gruppen der Tat, die einander nicht kannten, von geheimnisvoller Oberleitung abhingen. Der Bund nannte sich die „Gesellschaft der Propaganda“ und einer von den Mitgliedern hatte gar eine „Brüderschaft der Leute von anarchischer Gesinnung zu gegenseitiger Hilfe“ vorgeschlagen. Entwürfe für die Organisation solcher Verbände wurden ausgearbeitet. Die Aussichten eines Aufstandes wurden erörtert. Nicht zuletzt gehörten die geheimen Druckereien als rätselhafte Herkunftsorte massenhafter Flugschriften oder die heimlichen Versammlungen der Petersburger Gesinnungsgenossen in ingermanländischen Städten zu den Erscheinungen, die Dostojewski als „Dämonen“motive herübernehmen und auf den terroristischen Schauplatz einer ungenannten russischen Gouvernementsstadt verlegen konnte. In der Zeit seiner Verbannung war die Taktik der Nihilisten ausgebildet worden. Man suchte eine Verbindung mit Leuten aus dem Volke, um so in den Massen eine Aufklärung über die Fremdform der russischen Zustände zu verbreiten. Die Zeit kündigte sich an, in der die Studenten „ins Volk gingen“. Typ wie Rolle der nihilistischen Studentin bereitet sich vor. In den Städten kam es zu ersten Arbeiterstreiks. Und schon ging von ersten Attentaten der Schrecken der nihilistischen Bewegung über das Land aus.

Der Nihilismus hatte noch keine Idee. Als Turgenjeff das Wort und den Begriff fand, die allmählich auf die ganze Zeitveranlagung und Geistesverfassung übertragen wurden, da wollte er mit Nihilismus den russischen Ausdruck des europäischen Positivismus bezeichnen. In der Tat war der Nihilismus zunächst durchaus aufklärerisch. Er war zu atheistisch, um religiös zu sein. Er war rein verneinend. Und es hat lange gedauert, bis er das praktische Christentum Tolstois aufnahm, das ihn endlich wenigstens mit russischen Gehalten erfüllte. Eine Idee aber bekam er erst dann, als die Revolution die Klassentheorie für sich in Anspruch nahm und Marx der Diktator der russischen Ideologen wurde.

Die Nihilisten waren Märtyrer, solange sie um ihrer Ziele willen ihr eigenes Leben zerstörten. Wie aber – wenn sie das Leben der anderen zerstörten! Wie aber – wenn sie Rußland zerstörten! Auch Dostojewski hatte, genau wie Tolstoi, und wie jeder Russe, schon aus altruistischen Gründen in seiner apostolischen Lehre soziale Elemente. Aber das war das Große an Dostojewski, und das unterscheidet ihn von der Einstellung der Marxisten, daß er die ökonomischen Probleme eine Schicht tiefer faßte, als der Sozialismus sie sah und noch heute sieht: nicht im Wirtschaftlichen, sondern im Menschlichen. Man sollte dem Volke nicht sein Volkstum nehmen, weil man ihm dann sein Menschentum nahm! Man sollte nicht Hand an das Volk legen! Und das Volk sollte nicht Hand an sich selbst legen! Um des Volkes willen nahm Dostojewski den Kampf gegen den Radikalismus auf. In seinen politischen Schriften untersuchte er den Urgrund, auf dem Rußland steht, und brachte dessen ewige Gegebenheiten in eine Übereinstimmung mit seinen eigenen menschlichen Erlebnissen, die ihn einmal sagen ließ, daß „wir Revolutionäre aus Konservativismus sind“, d. h. Kämpfer für das urrussische Wesen, zu dem die europäische Staatsauffassung, Liberalismus und Parlamentarismus, ebensowenig paßte, wie etwa die europäische Tracht. In den „Dämonen“ aber ließ er Schatoff, den Russengläubigen, diesen Einzigen, dem er je die verhaltene Begeisterung eines volksuchenden Helden gab und dessen Gestalt er wie die eines Jüngers liebte, das Wort sagen: „Wer kein Volk hat, der hat auch keinen Gott.“ Dostojewski stand in seinem Kampfe mit der Leidenschaft eines Eiferers, mit den ungeheuren Kräften, die der schwächliche Mensch aus der Idee holt, von der er besessen ist. Als Fanatiker hatte er die Massivität nicht, um das Volk durch Reform vor der Revolution zu bewahren. Und als Erscheinung blieb Dostojewski in der Reihe der großen Problematiker, die von Rousseau bis Nietzsche geht, wenn er auch als Dichter die epische Form und als Denker das apostolische Wort vor ihnen voraus hat. Aber als Mystiker wußte er, daß der Mensch seiner Unvollkommenheit überantwortet ist. Als Politiker ging er davon aus, daß jede Opposition, die der Mensch aus Doktrin an den Unterbau und das Gefüge des Seienden setzt, nur die geringe Wichtigkeit eines Endlichen haben kann, die von einem Unendlichen eingeschlossen wird. Und als Russe verkündete er dem russischen Volke, in dessen Glauben allein sich das Christentum unversehrt erhalten habe, daß es das Gottesträgervolk der Erde sei, das dereinst dieses Christentum verwirklichen und die Eigenliebe durch die Menschenliebe überwinden werde. Es ist wahr, Dostojewski ging in seinem Kampfe, den er mit Hohn und jeder geistigen Überlegenheit führte, mit einfachen Menschen zusammen, mit echtrussischen Leuten, mit allzu russischen Leuten. Er ging mit dem Inquisitor Pobjedonosszeff zusammen. Auch dieses Wissen war in seiner Menschenkenntnis, in seiner Russenkenntnis, daß der russische Mensch sogar für die Liebe zu schwach ist, die ihm gebracht wird, und daß sich mit ihr, wenn man sie nicht an den Menschen verschwenden, sondern ihn durch Liebe behaupten will, Macht über den Menschen verbinden muß.

Dostojewski erkannte früh, daß Radikalismus nicht Wurzelung sondern Entwurzelung bedeutet. Was war es denn schließlich, das der Radikalismus in Rußland entwurzeln wollte? War es nicht: die europäische Form? Um so zorniger war daher sein Kampf gegen die halbgebildeten Radikalen und europaverehrenden Westler, weil sie diese europäische Form auch noch in ihren letzten und schalsten Äußerungen – als Republik, als Konstitutionalismus und Kapitalismus – auf atheistischer Grundlage in Rußland einführen wollten. Er fühlte, daß die russische Revolution kommen werde. Dostojewski war kein Pazifist und fürchtete niemals den Krieg. Er sagte: „Nicht immer muß man den Frieden predigen, und nicht im Frieden allein liegt die Erlösung – die kann zuweilen auch der Krieg bringen.“ Aber er fühlte, daß diese Revolution die Erlösung noch nicht bringen werde. Er fürchtete die Revolution um Rußlands willen. Er fürchtete sie, weil er ihre Träger kannte, die er dann in den „Dämonen“ in einer Reihe von Karikaturen vorführte, von absonderlichen und lächerlichen, aber gefährlichen Gestalten. Er deckte in den „Dämonen“ die Zusammenhangslosigkeit des gottlosen und volklosen Nur-Ich-Menschen auf, die ihn aus seiner Natur reißt und in Tendenzen absondert. Er deckte die Wurzellosigkeit auf.

Die russische Revolution hat Dostojewski bis jetzt recht gegeben. Hinter ihrem ersten Abschnitte stand Tolstoi. Sie kam aus der Aufklärung. Und sie bedeutete die Auflösung. Aber in dem Augenblicke, in dem sich entscheidet, daß auch sie nicht nur Zerfall bringt, sondern daß nach grausamer Umschichtung ein Aufbau aus ihr hervorgeht, wird hinter ihrem zweiten Abschnitte wieder Dostojewski stehen. Er bedeutet Wiederanknüpfung.

M. v. d. B.

Vorbemerkung

Von Dostojewskis fünf großen Romanen ist der dritte, „Die Dämonen“, in den Jahren 1870 und 71 in Dresden geschrieben, in Petersburg beendet und 1871/72 in der konservativen Zeitschrift „Der russische Bote“ veröffentlicht worden.

Die beiden Strophen des ersten Mottos hat Dostojewski der Ballade „Bjéssy“ von A. Puschkin entnommen und deren Titel auch zum Titel des Romans gewählt: mit „Bjéssy“ bezeichnet der Russe gewisse böse Geister, Dämonen oder Teufel von der Art, die im zweiten, dem Evangelium Lucä entnommenen Motto, in die Säue fährt; in der schönen Ballade Puschkins (geschr. 1829), die eine Schneesturmnacht in der Steppe schildert, sind es unzählige tolle Gespenster, von denen sich der Kutscher eines reisenden Herrn wie von Troßbuben des Teufels genarrt und vom Wege weggezerrt glaubt. Die Strophen des Mottos sind ein Teil der hilflosen Antwort des Kutschers auf den Befehl des Herrn (des Dichters), doch weiterzufahren.

Im „Ersten Anhang“ sind aus Dostojewskis Notizbuchaufzeichnungen Entwürfe und Gedanken mitgeteilt, die Dostojewski ursprünglich in den „Dämonen“ zu entwickeln gedachte, sowie einige Skizzen zu den Hauptpersonen, die von ihm später teils in starker Veränderung, teils überhaupt nicht verwandt worden sind.

Im „Zweiten Anhang“ konnte nur der Anfang eines von Dostojewski nicht veröffentlichten Kapitels mitgeteilt werden: der Besuch Stawrogins bei dem Bischof Tichon. Das Manuskript des größeren Teiles dieses wichtigsten Kapitels wird im Moskauer Dostojewski-Museum aufbewahrt: sein Inhalt ist bisher nur der Familie und einigen alten Freunden Dostojewskis bekannt. Wie Dostojewskis Tochter in ihrem (deutsch bei E. Reinhardt, München erschienenen) Buch „Dostojewski“ Seite 180 berichtet, hat ihre Mutter dieses ganze Manuskript zu Anfang dieses Jahrhunderts veröffentlichen wollen, doch die alten Freunde ihres Mannes hätten sich der Veröffentlichung widersetzt. Das hat übrigens bald nach Dostojewskis Tode 1881 auch sein konservativer Freund N. N. Strachoff getan.

Nach Dostojewskis eigenen Angaben handelt es sich hier um eine Broschüre Stawrogins von etwa 60 deutschen Druckseiten, also dem Umfange nach um ein ähnliches Buch im Buche wie Iwan Karamasoffs „Legende vom Großinquisitor“. Bekannt geworden ist sonst nur, daß in dieser Schrift von Stawrogin die Vergewaltigung eines Mädchens mit unerträglichem Realismus geschildert sei. Nun ist es aber Dostojewskis Art, bestimmte Ideen – seine stärksten und revolutionärsten – immer in einer ähnlichen, so auffallend vorsichtigen Form zu bringen, sei es als Traum oder Halluzination, oder als Jugendwerk eines seiner Helden, mit der Entschuldigung, der Betreffende sei damals noch sehr jung gewesen, wie z. B. Iwan Karamasoff, oder krank, wie Hippolyt oder Stawrogin, er aber, Dostojewski, teile nur als Chronist diese sonderbaren Gedanken einzelner Menschen unserer Zeit mit. Man darf demnach wohl annehmen, daß es sich auch in dieser noch geheimgehaltenen Broschüre Stawrogins, die Dostojewski „eine Herausforderung der Gesellschaft“ nennt, nicht nur um die realistische Schilderung einer Episode handelt, sondern daß diese Episode nur der Ausgangspunkt für ihn ist, um der Gesellschaft, den von ihm so gehaßten europäischen Gesellschaftsgesetzen, den „Fehdehandschuh hinzuwerfen“ (wie in der „Legende vom Großinquisitor“ die Legende nur die Kostümierung seines Kampfes gegen den Katholizismus oder vielmehr gegen den alttestamentlichen Staats- oder Gesellschaftsbau ist). Nach einem Überblick über das Gesamtwerk Dostojewskis ist es nicht schwer zu erraten, worauf Stawrogin-Dostojewski in dieser unveröffentlichten Schrift hinauswill, hinauswollen muß. Und es ist nur zu verständlich, daß seine Freunde, wie Strachoff, dem er trotz aller Freundschaft „doch viel zu unverständlich war“, und der Machthaber Pobjedonószeff sich gegen die Veröffentlichung dieser „Herausforderung“ aussprachen. Was aber trotzdem von diesem, allen ehrlich konservativen Menschen „viel zu unverständlichen“ Geist Stawrogin-Dostojewskis in dem Roman „Die Dämonen“ verblieben ist, das sind – nach dem Fortfall der erwähnten Kampfschrift Stawrogins – fast nur ein paar Worte von Schatoff und Drosdoff, die jetzt wie zwei kleine Inseln daliegen, zwischen denen der Kontinent vorläufig noch versunken bleibt.

„Die Dämonen“ sind auch sprachlich Dostojewskis geheimnisvollstes Werk. Nicht nur, daß er sich nachlässig ausdrückt (Seite 1 sagt er z. B.: „die Geschichte beschreiben“, statt „schreiben“), daß er wichtige Satzglieder ausläßt, die unklarsten Sätze baut, – er hat sich außerdem noch vielfach der früheren Umschreibungen bedient, zu der die Schriftsteller von der strengen Zensur unter Nikolai I. gezwungen worden waren. Er treibt die Vorsicht so weit, daß er z. B. in den ersten Kapiteln, wo sich fast alles um die innerpolitischen Verhältnisse dreht, kein einziges Mal das Wort Politik oder politisch braucht. Damit nun die unzähligen verschleierten Anspielungen dem unorientierten Leser nicht völlig unklar bleiben, sind dem Text kleine erläuternde Fußnoten beigefügt worden, eingehendere Erläuterungen dagegen in den „Ersten Anhang“ verwiesen.

Einen Kommentar für sich würden dann noch die Ausfälle Schatoff-Dostojewskis gegen Belinski und die sogenannten „Westler“ erfordern, d. h. gegen die Verehrer europäischer Kultur, die, im Gegensatz zu den Slawophilen, zwischen Rußland und Europa keinen Unterschied sahen und europäische Staatsformen auch für Rußland erstrebten, während von den Slawophilen besonders Dostojewski hinter allen parlamentarischen, liberalen Formen der Europäer sein Schreckgespenst, die Plutokratie, den deshalb so verspotteten „bürgerlichen“ Gesellschaftsbau, nahen sah. Hierzu sei bemerkt, daß es vor der Aufhebung der Leibeigenschaft in Rußland nur zwei Parteien gab, eine kleine, aber allmächtige, und eine große, aber ohnmächtige, wie es etwa in einer Korrektionsanstalt (mit der man den Staat Nikolais I. verglichen hat) vom Standpunkt liberaler Individualisten nur wenige Unterdrücker und viele Unterdrückte gibt. Mögen die letzteren unter sich auch noch so verschieden sein, in ihrem Gegensatz zu den Machthabern der Anstalt sind sie doch alle einig. Dieser einmütige Wille wurde damals „die Richtung“ genannt, von der Liputin Seite 44 spricht. Es gab nur eine „Richtung“, d. h. nur einen Willen: aus dieser Enge hinauszukommen. Kaum aber hatte sich unter Alexander II. das Tor der „Korrektionsanstalt“ geöffnet, da zeigten sich sofort die großen Unterschiede innerhalb der Schar der Herausdrängenden, und „die Richtung“ begann sich zu verzweigen, zunächst in Slawophile und Westler, dann aber in die verschiedenen Arten der Slawophilen und Westler (Monarchisten, Republikaner, Radikale, Kommunisten gab und gibt es bei diesen und bei jenen, und hinzu kommen dann noch die Unterschiede in der Einstellung zur Orthodoxie). Die frühere geschlossene Front der einen „Richtung“ gegen Nikolai I., unter dem die Werke der orthodoxen Slawophilen genau so verboten waren wie die der französischen Revolutionäre und Atheisten, zerbröckelte zu einem Kampf untereinander, in dem jeder nach mindestens zwei Seiten kämpfte, wenn nicht nach drei oder vier Seiten.

„Die Dämonen“ sind das Buch der ersten Jahre dieser Kämpfe, in denen die einzelnen Menschen sich wahrlich nicht nach Parteischlagworten unterscheiden lassen, sondern nur nach einem inneren anständigen Kern oder dem Fehlen eines solchen.

Man hat dieses Werk Dostojewskis als ein „Pamphlet gegen alles Revolutionäre“ aufgefaßt, weil einzelne Vertreter einer der revolutionären Gruppen, die an europäische Schlagwörter glauben, verhöhnt und entlarvt werden. Doch nichts ist falscher, als den Verfasser deshalb gleich für konservativ zu halten. Die Konservativen sind hier ja noch viel schlimmer karikiert. Richtig wäre es, über alles, was Dostojewski voll Zorn und Spott über diese Art unwissender Revolutionäre geschrieben hat, die Worte zu setzen, mit denen er sich einmal unbewußt verrät: „... ich ärgerte mich und ich schämte mich fast für ihre Ungeschicktheit ...“ (Bd. XI der Ausgabe, Autobiographische Schriften, Seite 170).

Es war der Zorn darüber, daß diese „dummen Jungen“ die Revolution oder das „Neue russische Wort“ durch ihre törichten Redereien und Taten nur lächerlich machten, ihm seine große Revolution verpfuschten.

Nur aus dieser Kampfstellung nach links und nach rechts, nach rückwärts und vorwärts sind die vielfachen sogenannten „Widersprüche“ Dostojewskis in den „Dämonen“ zu verstehen oder das parteipolitische Chaos in seinen Werken. Er schildert z. B. den Revolutionär Pjotr Werchowenski als ungebildeten Flegel, als gewissenlosen Intriganten, Schurken und schließlich Mörder, doch vor dem konservativen Vertreter der alten Ehrbegriffe, Karmasinoff, der „auswandernden Ratte“, wird selbst dieser „Betrüger“ plötzlich zu einer nationalen Größe – ganz zu schweigen von den Konflikten, in die Dostojewski sich in den Entwürfen zu diesen Gestalten (im Ersten Anhang) unverhofft, doch unvermeidlich hineinredet. Es ist, als ob die kleinen törichten Geisterchen, die Troßbübchen des Teufels in der tollen Sturmnacht der Revolution, in der keine Spur des alten Weges mehr zu sehen ist, ihm unter der Hand und vor den Augen zergingen und er hinter ihrem kleinen dämonischen Eigensinn plötzlich die Umrisse eines riesigen Dämons zu spüren, zu begreifen beginne, wenn er den alten Idealisten und Dichter ihnen ihre Torheiten verzeihen läßt.

Inwieweit aber Dostojewski auch hier schon, nicht erst im letzten Bande der Karamasoff, selber zu jenem riesigen Dämon wird, entzieht sich vorläufig noch der Beurteilung. Man fasse es nicht als Zufall auf, daß Stawrogins „Herausforderung“ ein halbes Jahrhundert lang vergraben geblieben ist. Vielleicht ist es selbst heute noch zu früh, die Menschen aus dem so vielfach verhüllten, geheimnisvollen Becher Dostojewskis schon sehend trinken zu lassen.

Über die Absicht der Witwe Dostojewskis, dieses Manuskript nunmehr zu veröffentlichen, und über das vorläufige Scheitern dieses Planes an den gegenwärtigen russischen Zuständen gibt das S. XXIV erwähnte Buch von Aimée Dostojewskaja gleichfalls einigen Aufschluß.

Eng verbunden mit Stawrogin ist „sein Schüler“ Kirilloff. Dostojewski hat wohl selbst nicht genau gewußt, warum er diesen so eigentümlich „falsch“ sprechen läßt; er hat wohl nur mit der Sicherheit des Künstlers empfunden, daß diese Nuance zu dieser Gestalt gehört oder mindestens paßt.

Kirilloff spricht nicht in der Weise falsch, wie ein Ausländer oder wie ein Kind. Seine Sprechart, die deutsch in unstilisierter Form wohl kaum so wiederzugeben wäre, daß sie überhaupt glaubhaft bliebe, läßt sich kurz nur durch eine Übertreibung charakterisieren: er spricht ungefähr wie ein Mensch, der die Namen der Dinge nur im Nominativ kennt. Nur spricht er so nicht mit Fleiß, nicht „stilisiert“, nicht bewußt, ja vieles sagt er auch ganz richtig wie jeder andere Mensch in der Bindung der Syntax, mit der richtigen Endung, die die Beziehung der Dinge angibt; aber zwischendurch ist es immer wieder, als würden aus ihm ganz unmittelbar nur Tatsachen laut, die das Gefühl hervorstößt, ohne daß das Gehirn sie einkleidet. Vielleicht läßt sich der Gegensatz veranschaulichen mit dem Gegensatz zwischen der „beugenden“, die Beziehung angebenden Buchstabenschrift der Gegenwart und der starren Bilderschrift der alten Ägypter oder der Chinesen. Wer Rassegesetzen nachforscht, mag die Angaben über sein dunkles Äußere in Beziehung bringen zu dem Geist, der diese alten Sprachen schuf; wer sich mit Kirilloffs Philosophie als heutigem Ausdruck russischen Geistes befaßt, wird in ihr und dieser Sprechart vielleicht eine Übereinstimmung finden: nur das Wesentliche des Wortes zu geben, wie nur das Wesentliche der Welt zu suchen, im Wesen Gottes als Mensch zu vergehn, um Gott auf die Erde zu bringen.

E. K. R.

Personenverzeichnis
(unter Angabe der Aussprache der Namen)

Warwára Petrówna S’tawrógina – Witwe eines Generals.
Nicolaí Wsséwolodowitsch S’tawrógin – ihr Sohn.
S’tepán Trofímowitsch Werchowénski – Dichter und Hauslehrer.
Pjotr S’tepánowitsch Werchowénski – sein Sohn.
Praskówja Iwánowna Drósdowa – Witwe eines Generals.
Lisawéta Nicolájewna Túschina – ihre Tochter aus erster Ehe.
Mawríkij Nicolájewitsch Drósdoff – Offizier, Neffe des verstorbenen Generals Drosdoff.
Iwán Óssipowitsch *** – der frühere Gouverneur.
Andreí Antónowitsch von Lembke – der neue Gouverneur.
Júlija Michaílowna von Lembke – seine Frau.
Karmasínoff – ein berühmter Schriftsteller.
Artémij Páwlowitsch Gagánoff – Rittmeister a. D.
Lebäd’kin – ein angeblicher „Hauptmann a. D.“
Márja Timoféjewna ... – seine Schwester.
Iwán Schátoff } Kinder eines verstorbenen Dieners der Stawrógins.
Dárja Páwlowna Schátowa
(genannt Dá-scha)
Márja Ignátjewna Schátowa – Schátoffs Frau.
Arína Próchorowna Wirgínskaja – eine Hebamme.
Alexeí Nílytsch Kirílloff – ein Ingenieur.
Schigáleff – Verfasser einer Schrift über revolutionäre Theorien.
Tolkatschénko, Erkel und andere Anhänger revolutionärer Ideen.
Lipútin } Beamte.
Wirgínski
Läm’schin
Aljóscha Telät’nikoff – ein ehemaliger Beamter.
Fédjka – ein entsprungener Verbrecher.
Flibustjéroff – ein Polizeioffizier.
Ssemjón Jákowlewitsch – ein „Prophet“.
Tíchon – ein im Kloster zurückgezogen lebender Bischof.
Alexeí Jegórytsch } Dienstboten.
Nas-táß-ja
Agáfja

Ortsnamen:

Skworéschniki, Dúchowo, Brýkowo; die Fabrik der Brüder Schpigúlin, Matwéjewo.

Näheres über die historischen Vorbilder einzelner Gestalten siehe Seite 1118-1120.

Namen einzelner Nebenpersonen hat Dostojewski im Laufe der Erzählung manchmal unbewußt geändert. So nennt er z. B. den alten Gaganoff anfangs Pjotr Pawlowitsch, später dagegen Pawel Pawlowitsch und folglich seinen Sohn Artemij Pawlowitsch. Ferner heißt ein Kanzleibeamter des Gouverneurs zuerst Blümer, später Blüm. Der Name Kirílloff ist bald mit zwei, bald mit einem l geschrieben. Um Mißverständnisse infolge solcher Flüchtigkeiten zu vermeiden, ist in der Übersetzung immer die erste Form beibehalten worden. E. K. R.

Erstes Kapitel.
Statt einer Einleitung: einiges Ausführliche aus der Biographie des wohlachtbaren Stepan Trophimowitsch Werchowenski.

I.

Indem ich mich anschicke, die so seltsamen Ereignisse wiederzugeben, die sich unlängst in unserer bisher noch durch nichts hervorgetretenen Stadt zugetragen haben, sehe ich mich gezwungen, da ich mir nicht anders zu helfen weiß, zunächst etwas weiter auszuholen und mit einigen biographischen Einzelheiten über den talentvollen und wohlachtbaren Stepan Trophimowitsch Werchowenski zu beginnen. Mögen diese Einzelheiten nur als Einleitung zu der geplanten Chronik dienen, doch die Geschichte selbst, die ich zu beschreiben beabsichtige, beginnt erst später.

Ich will es sogleich ganz offen sagen: Stepan Trophimowitsch spielte unter uns immer eine gewisse besondere und sozusagen bürgerliche[1] Rolle und liebte diese Rolle bis zur Leidenschaft, – liebte sie sogar so, daß er ohne sie wohl überhaupt nicht hätte leben können. Nicht, daß ich ihn damit einem Schauspieler auf der Bühne vergleichen wollte: Gott behüte, das will ich um so weniger, als ich selber ihn ja doch achte. Hier konnte vielmehr alles Sache der Gewohnheit sein oder, besser gesagt, die Folge einer immerwährenden, im Grunde edlen Neigung, einer Neigung schon von Kindheit an, zu der angenehmen Illusion von seiner schönen bürgerlichen Stellungnahme. So liebte er z. B. ungeheuer seine Lage als „Verfolgter“ und sozusagen „Verbannter“. Um diese beiden Wörtchen spielt nun einmal ein klassischer Glanz eigener Art[2], und eben dieser scheint ihn dann, nachdem er ihn einmal bezaubert hatte, im Laufe so vieler Jahre in seiner Selbsteinschätzung immer mehr erhöht zu haben, bis er schließlich auf einem gewissen überaus hohen und für die Eigenliebe so angenehmen Piedestal zu stehen glaubte. In einem satirischen englischen Roman des vorigen Jahrhunderts hat sich ein gewisser Gulliver im Lande der Liliputaner, wo die Menschen nur einige Zoll groß waren, so daran gewöhnt, sich als Riese zu fühlen, daß er auch in den Straßen Londons unwillkürlich den Passanten und Equipagen zurief, sie sollten vor ihm ausweichen und sich vorsehen, damit er sie nicht irgendwie zertrete, denn er hielt sich immer noch für einen Riesen und die anderen für jene Kleinen. Da lachte man ihn aus und schalt ihn und die rohen Kutscher schlugen sogar mit der Peitsche nach ihm: aber war das auch gerecht? Was kann die Gewohnheit nicht alles bewirken? Die Gewohnheit hatte auch unseren Stepan Trophimowitsch fast zu demselben Wahn gebracht, wie den Gulliver, nur daß dieser Wahn sich bei ihm in einer, wenn man sich so ausdrücken darf, unschuldigeren und unverletzenderen Weise äußerte, denn schließlich war er doch ein prächtiger Mensch.

Ich denke es mir sogar so: daß man ihn in der Literatur mit der Zeit allenthalben ganz vergessen hatte; nur darf man deshalb gewiß noch nicht sagen, daß er auch früher nie bekannt gewesen sei. Unstreitig hat auch er einmal zu der berühmten Plejade[3] gewisser gefeierter Dichter der letzten Generation gehört, und eine Zeitlang – übrigens doch nur einen allerkleinsten Augenblick lang – war sein Name von manchen voreiligen Leuten beinahe schon in einer Reihe mit Tschaadajeff, Belinski, Granowski und dem damals im Auslande gerade erst beginnenden Herzen[4] genannt worden. Aber das Wirken Stepan Trophimowitschs endete fast schon im selben Augenblick, in dem es begonnen hatte, – es ward, wie er sich ausdrückte, von einem „Wirbelsturm“ zusammentreffender „Umstände“[5] zerstört. Und was stellt sich nun heraus? Daß es nicht nur keinen „Wirbelsturm“, sondern nicht einmal „Umstände“ damals gegeben hat, wenigstens nicht in seinem Fall. Ich habe erst jetzt, erst vor ein paar Tagen, zu meinem größten Erstaunen erfahren, dafür aber mit vollkommener Glaubwürdigkeit, daß Stepan Trophimowitsch hier bei uns, in unserem Gouvernement, nicht nur nicht in der Verbannung gelebt hat, wie man hier allgemein annahm, sondern daß er nicht einmal, gleichviel wann, unter Aufsicht gestanden hat. Wie groß muß demnach seine Einbildungskraft gewesen sein! Er glaubte doch vor sich selber aufrichtig und sein Leben lang, daß man in gewissen Sphären beständig vor ihm auf der Hut wäre, daß jeder seiner Schritte unablässig beobachtet und vermerkt werde, und daß jedem der drei Gouverneure, die wir im Laufe der letzten zwanzig Jahre hier gehabt haben, schon bei der Übergabe des Gouvernements als erstes von Stepan Trophimowitsch Werchowenski gesprochen worden sei, so daß jeder neue Gouverneur bereits von dort aus eine gewisse eigene, mit Sorgen verbundene Vorstellung von ihm mitgebracht habe. Hätte aber jemand mit unwiderlegbaren Beweisen diesen bei alledem ehrlichsten Menschen beruhigen und überzeugen wollen, daß ihm nicht das Geringste drohe, so würde ihn das unbedingt beleidigt haben. Und dabei war er doch der klügste, der begabteste Mensch, war gewissermaßen sogar ein Mann der Wissenschaft, obgleich er übrigens in der Wissenschaft ... nun, sagen wir, nicht gerade viel geleistet hat, oder gar, wie es scheint, überhaupt nichts. Aber das pflegt ja bei uns in Rußland mit den Männern der Wissenschaft durchgehends so zu sein.

Nach seiner Rückkehr aus dem Auslande hatte er als Lektor auf dem Lehrstuhl einer Universität geglänzt, bereits ganz am Ende der vierziger Jahre. Es gelang ihm aber nur, ein paar Vorlesungen zu halten, ich glaube, über die Araber; es gelang ihm auch noch, eine glänzende Dissertation zu verteidigen: über die in der Epoche zwischen 1413 und 1428 aufkeimende kulturelle und hanseatische Bedeutung des deutschen Städtchens Hanau und zugleich über jene besonderen und etwas unklaren Gründe, weshalb es zu dieser Bedeutung dann doch überhaupt nicht gekommen ist. Diese Dissertation traf mit einem feinen Stich geschickt und schmerzhaft die damaligen Slawophilen und schuf ihm mit einem Schlage unzählige und grimmige Feinde unter ihnen. Dann – übrigens schon nach dem Verlust des Lehrstuhls – schrieb und veröffentlichte er noch wahrscheinlich aus Rache und um zu zeigen, wen sie verloren hatten) in einer fortschrittlichen Monatsschrift, die aus Dickens übersetzte und George Sand verkündete, den Anfang einer tiefsinnigsten Untersuchung – ich glaube, über die Gründe der außergewöhnlich edlen sittlichen Anschauungen irgendwelcher Ritter in irgendeiner Epoche, oder etwas Ähnliches. Jedenfalls war es ein hoher, ungemein edler Gedanke, den er darin durchführte. Nur wurde, wie man später erzählte, die Fortsetzung dieser Untersuchung schleunigst verboten und sogar die fortschrittliche Zeitschrift soll wegen der gedruckten ersten Hälfte zu leiden gehabt haben. Das ist auch sehr gut möglich, denn was geschah damals nicht? In diesem Falle aber ist es doch wahrscheinlicher, daß nichts Derartiges geschah und nur der Autor selber die Mühe scheute, den Aufsatz zu beenden. Seine Vorlesungen über die Araber jedoch stellte er deshalb ein, weil ein von ihm an irgend jemanden geschriebener Brief mit der Darlegung irgend welcher „Umstände“ irgendwie von irgend jemandem (offenbar von einem seiner reaktionären Feinde) aufgefangen worden war, woraufhin irgendjemand irgendwelche Erklärungen von ihm verlangte[6]. Ich weiß zwar nicht, ob es wahr ist, aber man behauptete außerdem, daß gerade damals in Petersburg eine riesige, widernatürliche und antistaatliche Gesellschaft, bestehend aus nahezu dreizehn Mann, aufgespürt worden sei, eine Gesellschaft, die das Gebäude fast erschüttert hätte. Man sagte, sie hätten nichts Geringeres vorgehabt, als Fourier selber zu übersetzen[7]. Und ausgerechnet zur selben Zeit mußte dann noch in Moskau eine Dichtung Stepan Trophimowitschs beschlagnahmt werden, ein Poem, das er schon sechs Jahre zuvor in Berlin geschrieben hatte, in seiner ersten Jugend, und dessen Abschriften, unter der Hand weitergegeben, bei zwei Liebhabern der Dichtkunst und einem Studenten gefunden wurden. Ein Exemplar davon liegt jetzt auch in meinem Schreibtisch: erst im vorigen Jahre erhielt ich es von Stepan Trophimowitsch persönlich, in eigenhändiger neuester Abschrift, mit autographischer Widmung und in prachtvollem roten Saffianeinbande. Das Poem ist übrigens nicht ohne Poesie, ja es ist nicht einmal ohne ein gewisses Talent verfaßt, ist allerdings etwas sonderbar, aber damals (d. h. richtiger in den dreißiger Jahren) wurde oft in dieser Art geschrieben. Das Thema des Poems wiederzugeben, macht mir freilich Schwierigkeiten, denn, wenn ich die Wahrheit sagen soll: ich habe es überhaupt nicht verstanden. Es ist irgend so eine Allegorie in lyrisch-dramatischer Form, die an den zweiten Teil des Faust erinnert. Die Dichtung beginnt mit einem Chor der Frauen, dann folgt ein Chor der Männer, darauf ein Chor irgendwelcher Kräfte, und zum Schluß der Chöre tritt ein Chor von Seelen auf, die noch nicht gelebt haben, aber doch gar zu gern auch mal leben möchten. Alle diese Chöre singen von etwas sehr Unbestimmtem, größtenteils von irgendeinem Fluch, aber sie singen es wie mit einem Schimmer höheren Humors. Doch plötzlich verwandelt sich die Szene und es beginnt ein „Fest des Lebens“, auf dem sogar die Insekten singen; dann tritt eine Schildkröte auf mit allerhand lateinischen sakramentalen Worten und es singt irgend etwas, wenn ich mich recht erinnere, sogar ein Mineral, also ein sonst doch schon ganz unbelebter Gegenstand. Überhaupt singen alle ununterbrochen, reden sie aber einmal miteinander, so ist es mehr ein unbestimmtes Schimpfen, aber wiederum wie mit einem Schimmer höherer Bedeutung. Schließlich, nach einem abermaligen Szenenwechsel, sieht man eine wildromantische Gegend, in der zwischen Felsen ein zivilisierter junger Mann umherirrt und irgendwelche Gräser abreißt, an denen er dann saugt. Auf die Frage einer Fee, warum er das tue, antwortet er, er suche Vergessenheit, weil er ein Übermaß von Leben in sich fühle, und diese Vergessenheit im Safte dieser Gräser finde, sein Hauptwunsch aber sei – möglichst bald den Verstand zu verlieren (ein Wunsch, der vielleicht schon überflüssig ist). Darauf erscheint plötzlich auf einem schwarzen Pferde ein Jüngling von unbeschreiblicher Schönheit und ihm folgen in fürchterlicher Menge alle Völker. Der Jüngling stellt den Tod dar und die Völker lechzen alle nach ihm. Und schließlich, in der allerletzten Szene, erscheint plötzlich der babylonische Turm und irgendwelche Athleten bauen ihn nun schon zu Ende und singen dazu einen Sang der neuen Hoffnung, und wie sie die höchste Spitze vollenden, da läuft der Beherrscher, sagen wir des Olymps, in komischer Form davon, und die Menschheit, die jetzt endlich begreift, beginnt sofort, indem sie sich seines Platzes bemächtigt, ein neues Leben mit vollkommenem Durchschauen der Dinge. Dieses Poem also wurde damals für gefährlich befunden. Im vorigen Jahre schlug ich Stepan Trophimowitsch vor, es nunmehr drucken zu lassen, da es in unserer Zeit doch eine ganz unschuldige Dichtung sei, aber er lehnte den Vorschlag mit sichtbarem Mißbehagen ab. Die Auffassung, daß es eine vollkommen unschuldige Dichtung sei, gefiel ihm offenbar gar nicht, und diesem Umstande schreibe ich auch die gewisse Kühle zu, die seinerseits mir gegenüber volle zwei Monate andauerte. Doch siehe da! Plötzlich, und fast zur selben Zeit, als ich ihm vorschlug, das Poem hier drucken zu lassen, wurde unser Poem dort gedruckt, d. h. im Auslande, und erschien in einem der revolutionären Sammelbände, ohne daß Stepan Trophimowitsch überhaupt etwas davon wußte. Er erschrak zunächst nicht wenig, stürzte zum Gouverneur, entwarf einen hochedlen Rechtfertigungsbrief für Petersburg, las ihn mir zweimal vor, schickte ihn aber dann doch nicht ab, da er, wie sich herausstellte, gar nicht wußte, an wen er ihn senden sollte. Kurz, er regte sich einen ganzen Monat lang auf, doch ich bin überzeugt, daß er dabei in den geheimen Buchten seines Herzens ungemein geschmeichelt war. Von dem ihm zugestellten Exemplar des Sammelbandes trennte er sich überhaupt nicht mehr, ja er schlief fast mit ihm, am Tage aber versteckte er es unter die Matratze, weshalb er das Mädchen kaum noch das Bett aufbetten ließ, und obschon er Tag für Tag ein gewisses Telegramm erwartete, schaute er doch sehr von oben herab. Das Telegramm kam aber nicht. Da söhnte er sich auch mit mir wieder aus, was wiederum von der großen Güte seines sanften, nicht nachtragenden Herzens zeugt.

II.

Ich behaupte ja nicht, daß er wirklich niemals zu leiden gehabt hat[8], ich habe mich jetzt nur endgültig überzeugt, daß er die Vorlesungen über seine Araber so lange hätte fortsetzen können wie er wollte, wenn er nur die nötigen Erklärungen abgegeben hätte. Er aber warf sich damals gleich in die Brust und schickte sich mit besonderer Eilfertigkeit an, sich selber ein für allemal einzureden, daß seine Laufbahn vom „Wirbelsturm der Umstände“ für immer zerstört sei. Doch wenn man schon die ganze Wahrheit sagen soll, so war der eigentliche Grund dieser Änderung seiner Laufbahn die gerade jetzt in zartfühlendster Weise wiederholte Anfrage der Gemahlin des Generalleutnants Stawrogin, einer sehr reichen Dame, ob er die Erziehung und ganze geistige Ausbildung ihres einzigen Sohnes, gewissermaßen als höherer Pädagoge und Freund, übernehmen wolle – von dem glänzenden Gehaltsangebot ganz zu schweigen. Dieses Angebot war ihm schon früher einmal gemacht worden, in seiner Berliner Zeit, gleich nach dem Tode seiner ersten Frau. Diese war ein etwas leichtsinniges junges Mädchen aus unserem Gouvernement gewesen, übrigens nicht unsympathisch, die er in seiner ersten Jugend, ohne sich besondere Gedanken zu machen, geheiratet und mit der er dann viel Leid zu ertragen gehabt hatte, erstens weil seine Mittel zu ihrem beiderseitigen Unterhalt nicht ausreichten, und dann noch aus anderen, bereits sehr zarten Gründen. Sie starb schließlich in Paris, nachdem sie die letzten drei Jahre getrennt von ihm gelebt hatte, und hinterließ ihm einen fünfjährigen Sohn – „die Frucht der ersten freudevollen und noch ungetrübten Liebe“, wie sich der trauernde Stepan Trophimowitsch einmal in meiner Gegenwart unversehens äußerte. Das Kind war übrigens schon bald nach der Geburt nach Rußland geschickt worden – zu ein paar Tanten irgendwo in der Provinz, die es erziehen sollten. Damals also, nach dem Tode seiner ersten Frau, hatte er das Angebot der Warwara Petrowna Stawrogina nicht angenommen, sondern noch vor Ablauf des Trauerjahres seine zweite Frau, eine schweigsame kleine Berlinerin, geheiratet, und zwar, was das Auffallende war, eigentlich ohne jede besondere Notwendigkeit. Doch außerdem hatte er noch andere Gründe gehabt, das Angebot abzulehnen: ihn lockte der gerade damals lauttönende Ruhm eines unvergeßlichen Professors und so wollte auch er seine Adlerschwingen erproben. Jetzt aber, nachdem er sich die Schwingen versengt hatte, war es nur natürlich, daß er, besonders nachdem auch seine zweite Frau, kaum ein Jahr nach der Trauung, gestorben war, dem wiederholten verlockenden Angebot nicht widerstand. Das Entscheidende war also die glühende Anteilnahme, sowie die unschätzbare und, wenn man so sagen darf, klassische Freundschaft, die Warwara Petrowna Stawrogina ihm entgegenbrachte. So warf er sich denn in die Arme dieser Freundschaft und die währte gute zwanzig Jahre. Ich habe soeben den Ausdruck gebraucht „er warf sich in die Arme dieser Freundschaft“, doch Gott behüte und bewahre einen jeden davor, deshalb an etwas Überflüssiges und Müßiges zu denken. Nein, diese Umarmung ist einzig in höchst moralischem Sinne zu verstehen. Es waren nur die feinsten und zartesten Bande, die diese beiden so merkwürdigen Menschen auf ewig miteinander verknüpften.

Die Stellung eines Erziehers wurde auch noch deshalb angenommen, weil das kleine Gütchen, das seine erste Frau hier in unserem Gouvernement hinterlassen hatte, unmittelbar an Skworeschniki, das herrliche, nahe der Stadt belegene Gut der Stawrogins grenzte. Und zudem war es ja immer möglich, in der Stille des Kabinetts und bereits ohne von der Riesenhaftigkeit der Universitätsarbeiten absorbiert zu werden, sich ganz den Aufgaben der Wissenschaft zu widmen und die einheimische Literatur mit den tiefsten Erforschungen zu bereichern. Solche Erforschungen ergaben sich dann zwar nicht, doch dafür bot sich die Möglichkeit, das ganze übrige Leben, mehr denn zwanzig Jahre lang, sozusagen einen „Vorwurf zu verkörpern“ – buchstäblich nach dem Dichterwort:

„... Idealist und Liberaler,

Standest du vorm Vaterlande

Als verkörperter Vorwurf da!“

Doch jener Typ[9], auf den sich diese Worte bezogen, hätte vielleicht auch das Recht gehabt, zeitlebens in diesem Sinne zu posieren, vorausgesetzt, daß er es wollte, obschon so etwas doch recht langweilig sein muß. Unser Stepan Trophimowitsch aber war, wenn man schon die Wahrheit sagen soll, nur ein Nachahmer im Vergleich zu jenen Charakteren, ja und das Stehen ermüdete ihn auch, weshalb er denn oft genug ein bißchen auf der Seite lag. Aber gleichviel, auch in liegender Stellung verblieb er eine Verkörperung des Vorwurfs – das muß man ihm schon lassen –, um so mehr, als für die Provinz auch das vollauf genügte. Oh, man hätte ihn sehen sollen, wenn er sich bei uns im Klub an den Kartentisch setzte! Seine ganze Miene sprach dann förmlich: „Karten! Ich spiele mit euch Jeralásch![10] Wie ist das vereinbar? Wer kann das verantworten? Wer hat mein Wirken zertrümmert und es in Jeralásch verwandelt? Ach, geh unter, Rußland!“ und würdevoll spielte er aus, – selbstredend Coeur zuerst.

Im Grunde aber liebte er sogar sehr, ein Partiechen zu machen, weswegen er nicht selten, und besonders in der letzten Zeit, mit Warwara Petrowna unangenehme Auseinandersetzungen hatte, zumal er im Spiel immer verlor. Doch davon später. Ich will nur bemerken, daß er ein sogar gewissenhafter Mensch war (d. h. manchmal) und darum oft trauerte. Im Laufe der ganzen zwanzigjährigen Freundschaft mit Warwara Petrowna pflegte er regelmäßig drei- bis viermal im Jahre seinem „Bürgergram“, wie wir das nannten, zu verfallen, das heißt einfach einer Hypochondrie, doch der Ausdruck „Bürgergram“ gefiel der verehrten Warwara Petrowna. Späterhin war es auch noch der Champagner, dem er ab und zu verfiel oder zu verfallen begann, aber auch in der Beziehung schützte ihn die feinfühlige Warwara Petrowna das ganze Leben lang vor allen trivialen Neigungen. Er bedurfte ja auch wirklich einer Art Kinderwärterin, denn mitunter konnte er sehr sonderbar sein: konnte mitten in der erhabensten Trauer plötzlich auf die volkstümlichste Weise zu spotten anfangen. Ja, es gab Augenblicke, wo er sich sogar über sich selbst in humoristischem Sinne zu äußern begann. Nichts aber fürchtete Warwara Petrowna so, wie humoristischen Sinn. Sie war eben eine klassisch empfindende Frau, war als Frau eine Mäzenatin, die nur nach höheren Gesichtspunkten handelte. Unschätzbar war denn auch der zwanzigjährige Einfluß dieser höheren Dame auf ihren armen Freund. Doch von ihr müßte man eingehender sprechen, was ich denn auch tun will.

III.

Es gibt sonderbare Freundschaften; es gibt Freunde, die nur miteinander streiten, das ganze Leben in Streit verbringen, und doch nicht voneinander lassen können. Das Auseinandergehen ist ihnen sogar ganz unmöglich: der Freund, der aus Eigensinn als erster die Verbindung zerrisse, würde auch als erster krank werden und womöglich sterben, wenn es darauf ankommt. Ich weiß genau, daß Stepan Trophimowitsch mehrere Male, und zwar manchmal nach den intimsten Herzensergüssen unter vier Augen mit Warwara Petrowna, plötzlich, nachdem sie ihn verlassen hatte, vom Diwan aufsprang und mit den Fäusten an die Wand zu hämmern begann. Nicht sinnbildlich, sondern ganz einfach und sogar so, daß er einmal den Putz von der Wand losschlug. Vielleicht wird man nun fragen: wie ich denn eine so zarte Einzelheit habe erfahren können? Wie nun, wenn ich selbst Augenzeuge war? Wie, wenn er wiederholt an meiner Schulter geschluchzt und mir dabei in grellen Farben seine letzten Geheimnisse erzählt hat? (Und was, ja was kam dann nicht alles über seine Lippen!) Doch nach solchem Geschluchze geschah fast immer Folgendes: am nächsten Tage war er dann bereit, sich wegen seiner Undankbarkeit selber zu kreuzigen; dann rief er mich eilig zu sich oder kam schnell selbst zu mir, nur um mir mitzuteilen, daß Warwara Petrowna, „was Ehre und Zartgefühl betrifft“, ein Engel sei, er aber sei „das absolute Gegenteil“. Und nicht nur zu mir kam er dann, nein, er schrieb das alles in wortreichen Briefen auch Warwara Petrowna, gestand ihr, ohne sich zu scheuen, den Brief mit seinem vollen Namen zu unterzeichnen, daß er z. B. erst gestern einem beliebigen Menschen erzählt habe, sie halte ihn nur aus Ruhmsucht in ihrem Hause, doch im Grunde beneide sie ihn nur um seines Wissens und seiner Talente willen; ja, sie hasse ihn sogar und wage nur nicht, ihren Haß offen zu zeigen, aus Furcht, er könnte dann weggehen und ihrem Ruf in der Literaturgeschichte schaden; infolgedessen verachte er sich nun selbst und habe er beschlossen, eines gewaltsamen Todes zu sterben; von ihr aber erwarte er nur noch ein letztes Wort, das alles entscheiden werde usw., usw. in dieser Art. Nach diesem Beispiel kann man sich ungefähr vorstellen, zu welch einer Hysterie die nervösen Ausbrüche dieses unschuldigsten von allen 50jährigen Säuglingen manchmal ausarteten! Einen dieser Briefe nach irgendeinem Streit zwischen ihnen aus einem geringfügigen Anlaß, aber mit erbitterndem Ausgang, habe ich selbst gelesen. Ich war entsetzt und beschwor ihn, den Brief doch nicht abzusenden.

„Ich kann nicht ... es ist ehrlicher ... es ist meine Pflicht ... ich sterbe, wenn ich ihr nicht alles gestehe, alles!“ antwortete er nahezu fiebernd und sandte den Brief tatsächlich ab.

Gerade darin aber lag der Unterschied zwischen ihnen, daß Warwara Petrowna einen solchen Brief niemals abgesandt hätte. Freilich, er liebte über alle Maßen zu schreiben, schrieb ihr selbst damals, als sie noch in demselben Hause wohnten, schrieb in hysterischen Fällen sogar zweimal am Tage. Ich weiß genau, daß Warwara Petrowna immer mit der größten Aufmerksamkeit diese Briefe durchlas, auch wenn sie ihrer zwei am Tage erhielt, um sie dann, nummeriert und sortiert, in einer besonderen Schatulle aufzubewahren; außerdem aber hob sie sie noch in ihrem Herzen auf. Und nachdem sie dann ihren Freund den ganzen Tag vergeblich auf eine Antwort hatte warten lassen, benahm sie sich ihm gegenüber am nächsten Tage, als wäre so gut wie nichts Besonderes geschehen, als läge gar nichts vor. Auf die Weise hatte sie ihn allmählich so zugestutzt, daß er schon von selbst nicht mehr an das Vorgefallene zu erinnern wagte und ihr nur eine Weile in die Augen sah. Doch vergessen tat sie nichts, er aber vergaß manchmal schon gar zu schnell, und ermutigt durch ihre Ruhe, konnte er oft schon am selben Tage wieder lachen und beim Champagner allen möglichen Unsinn treiben, wenn ihn seine Freunde gerade an dem Tage besuchten. Mit welchen verbitternden Gefühlen muß sie in solchen Augenblicken auf ihn gesehen haben, er aber bemerkte überhaupt nichts! Es sei denn, daß ihm nach einer Woche, einem Monat oder erst nach einem halben Jahr in einem besonderen Augenblick zufällig irgendein von ihm gebrauchter Ausdruck in so einem Brief einfiel und nach und nach der ganze Brief mit allen Einzelheiten und Umständen, und dann verging er plötzlich vor Scham und quälte sich mitunter dermaßen, daß er wieder an seinen Anfällen von Cholerine erkrankte. Diese ihn heimsuchenden eigentümlichen Anfälle, die an Cholerine erinnerten, waren in gewissen Fällen der gewöhnliche Ausgang seiner nervösen Erschütterungen und stellten ein in ihrer Art interessantes Kuriosum seiner Physis dar.

Ja, Warwara Petrowna hat ihn gewiß und sogar sehr oft gehaßt; er aber hat bis zum Schluß nur eines nicht an ihr erkannt: daß er nämlich zu guter Letzt für sie zu einem Sohn geworden war, zu ihrem Geschöpf, ja man kann sagen, zu einer Erfindung von ihr, daß er schon Fleisch von ihrem Fleisch war und daß sie ihn keineswegs „aus Neid“, „um seiner Talente willen“ bei sich hielt und unterhielt. Und wie müssen solche Verdächtigungen sie verletzt haben! In ihr verbarg sich eine gewisse unerträgliche, unduldsame Liebe zu ihm, mitten unter ununterbrochenem Haß, unter Eifersucht und Verachtung. Sie beschützte ihn vor jedem Stäubchen, gab sich unermüdlich zweiundzwanzig Jahre lang mit ihm ab, und die Sorge hätte ihr den Schlaf geraubt, wenn man seinen Ruf als Dichter, als Gelehrter, sein Wirken im kulturbürgerlichen Sinne angetastet hätte. Sie hatte ihn sich ausgedacht und war selber die erste, die an die Wirklichkeit ihrer eigenen Dichtung glaubte. Er war so etwas wie ihr Traumbild. Aber sie verlangte von ihm tatsächlich viel dafür, manchmal geradezu sklavischen Gehorsam. Und nachtragend war sie bis zur Unglaublichkeit. Übrigens werde ich doch lieber gleich zwei Fälle erzählen.

IV.

Einmal, gerade in der Zeit, als sich die ersten Gerüchte von der Aufhebung der Leibeigenschaft im Lande zu verbreiten begannen, beehrte ein Petersburger Baron, ein Mann mit den allerhöchsten Verbindungen, der noch dazu von Amts wegen der mit Jubel erwarteten Neuerung sehr nahe stand, auf der Durchfahrt Warwara Petrowna mit seinem Besuch. Sie liebte und pflegte solche Bekanntschaften außerordentlich, zumal ihre Verbindungen mit der hohen Gesellschaft nach dem Tode ihres Mannes beträchtlich abgenommen hatten und schließlich ganz aufzuhören drohten. Der Baron verweilte etwa eine Stunde bei ihr und trank Tee. Von ihren Bekannten war sonst niemand zugegen, nur Stepan Trophimowitsch ward von ihr eingeladen und sozusagen zur Schau gestellt. Der Baron hatte denn auch richtig schon früher von ihm gehört, oder tat wenigstens, als habe er von ihm gehört, doch wandte er sich beim Tee selten an ihn. Natürlich hätte sich Stepan Trophimowitsch gesellschaftlich nie irgendwie blamieren können, er hatte überhaupt die feinsten Manieren; obschon er, glaube ich, nicht von hoher Herkunft war. Aber er war von der frühesten Kindheit an in einem vornehmen Moskauer Hause aufgewachsen, also sehr gut erzogen; Französisch sprach er wie ein Pariser. Der Baron mußte mithin auf den ersten Blick erkennen, mit welchen Menschen Warwara Petrowna sich umgab, wenn sie auch in der Provinz lebte. Allein, es sollte anders kommen. Als nämlich der Baron die neuen Gerüchte von der bevorstehenden großen Reform ausdrücklich bestätigte, da konnte Stepan Trophimowitsch plötzlich nicht an sich halten und rief ein „Hurra!“, wobei er mit der Hand noch eine Geste machte, die Begeisterung ausdrücken sollte. Er rief es übrigens nicht laut und geradezu elegant; ja, vielleicht war die Begeisterung sogar wohlüberlegt und die Geste absichtlich vor dem Spiegel einstudiert, eine halbe Stunde vor dem Tee; doch offenbar mißglückte ihm hierbei irgend etwas, so daß der Baron sich ein kaum merkliches Lächeln erlaubte, wenn er auch sofort überaus höflich eine Phrase über die allgemeine und erklärliche Ergriffenheit aller russischen Herzen angesichts der großen Begebenheit einflocht. Darauf empfahl er sich bald und vergaß dabei nicht, Stepan Trophimowitsch zum Abschiede zwei Finger zu reichen. Als Warwara Petrowna in den Salon zurückkehrte, schwieg sie zunächst etwa drei Minuten lang und tat, als suchte sie etwas auf dem Tisch; doch plötzlich wandte sie sich zu Stepan Trophimowitsch und stieß, bleich, mit blitzenden Augen, halblaut zischelnd hervor: „Das werde ich Ihnen nie vergessen!“

Am anderen Tage verhielt sie sich zu ihrem Freunde als wäre nichts geschehen, über das Vorgefallene verlor sie weiter kein Wort. Erst nach dreizehn Jahren, in einem tragischen Augenblick, erinnerte sie ihn plötzlich an diesen Vorfall und wieder erbleichte sie dabei genau so wie damals. Nur zweimal in ihrem Leben hat sie zu ihm gesagt: „Das werde ich Ihnen nie vergessen!“ Der Fall mit dem Baron war schon der zweite Fall; aber auch der erste war an und für sich so charakteristisch und hat, wie mir scheint, im Schicksal Stepan Trophimowitschs so viel bedeutet, daß ich mich entschließe, auch ihn zu erwähnen.

Das war im Jahre 1855, im Mai, kurz nachdem man in Skworeschniki die Nachricht vom Tode des Generalleutnants Stawrogin, des leichtsinnigen alten Herrn, erhalten hatte, der auf der Reise nach der Krim zur Übernahme eines Kommandos in der aktiven Armee unterwegs an einer Magenerkrankung gestorben war. Warwara Petrowna war also nun Witwe und ging in tiefstem Schwarz. Freilich, innerlich konnte ihre Trauer nicht sehr groß sein, denn schon die letzten vier Jahre hatten die beiden Gatten wegen der Charaktergegensätze vollkommen getrennt gelebt und sie hatte ihm nur eine Art Pension ausgesetzt. (Der Generalleutnant besaß selber nur 150 Seelen und sein Gehalt, außerdem seinen alten Adel und Beziehungen; der ganze Reichtum dagegen und Skworeschniki gehörten Warwara Petrowna, als der einzigen Tochter eines sehr reichen Branntweinpächters.) Nichtsdestoweniger hatte die Plötzlichkeit der Nachricht sie erschüttert und so zog sie sich denn in die Einsamkeit zurück. Selbstredend befand sich Stepan Trophimowitsch ununterbrochen bei ihr.

Der Mai stand in voller Blüte; die Abende waren wundervoll. Maulbeerbäume dufteten. Die beiden Freunde kamen allabendlich im Garten zusammen, saßen bis in die Nacht hinein in einer Laube und breiteten ihre Gefühle und Gedanken voreinander aus. Es gab manchen poetischen Augenblick. Unter dem Eindruck ihrer Schicksalsänderung sprach Warwara Petrowna mehr als gewöhnlich. Sie schmiegte sich gleichsam an das Herz ihres Freundes, und das setzte sich so mehrere Abende fort. Plötzlich kam Stepan Trophimowitsch ein eigentümlicher Gedanke: Wie? rechnete die erschütterte Witwe jetzt vielleicht auf ihn? Erwartete sie etwa nach Ablauf des Trauerjahres einen Heiratsantrag von ihm? – Ein zynischer Gedanke; aber gerade die Höhe der Organisation begünstigt doch mitunter noch die Neigung zu zynischen Gedanken, schon allein durch die Vielseitigkeit der Entwicklung. Er begann zu überlegen und fand, daß es wirklich diesen Anschein gewann. Er wurde nachdenklich: „Ein riesiges Vermögen, das ist allerdings wahr, aber ...“ In der Tat, Warwara Petrowna war nicht gerade das, was man unter einer Schönheit versteht: sie war eine große, gelbe, magere Frau, mit einem übermäßig langen Gesicht, in dem irgend etwas entfernt an einen Pferdekopf erinnerte. Stepan Trophimowitsch schwankte immer mehr unter solchen Betrachtungen, quälte sich mit Zweifeln und weinte sogar zweimal wegen seiner eigenen Unentschlossenheit (er weinte ziemlich oft). An den Abenden, also in der Laube, nahm sein Gesicht einen kapriziösen Ausdruck an, und zuweilen war sogar etwas Ironisches, etwas Kokettes, und zugleich Hochmütiges darin. Das geschieht ganz unwillkürlich, und sogar je edler der Mensch ist, um so bemerkbarer wird es. Ob nun Stepan Trophimowitschs Befürchtungen grundlos waren oder nicht, das ist schwer zu sagen: am wahrscheinlichsten ist, daß Warwara Petrowna an eine Heirat überhaupt nicht dachte – jedenfalls hätte sie sich wohl niemals entschließen können, ihren alten Namen, den der Stawrogins, mit dem seinen zu vertauschen, selbst wenn sein Name in der Literatur noch so berühmt gewesen wäre. Vielleicht war es von ihr aus nur ein weibliches Spiel, der Ausdruck eines unbewußten weiblichen Bedürfnisses, das ja in manchen weiblichen Fällen doch so natürlich ist. Übrigens kann ich mich für nichts verbürgen, die Tiefe des Frauenherzens ist sogar bis heute noch unerforschlich! Doch ich fahre fort.

Es ist anzunehmen, daß Warwara Petrowna aus dem eigentümlichen Gesichtsausdruck ihres Freundes bald erriet, was in ihm vorging; sie war feinfühlig und verstand zu beobachten, er aber war manchmal schon gar zu naiv. Trotzdem vergingen die Abende nach wie vor poetisch und bei anregender Unterhaltung. Einmal jedoch, bei Anbruch der Nacht, trennten sie sich nach einem besonders lebhaften, interessanten und poetischen Gespräch mit einem heißen Händedruck an der Treppe des Gartenhauses, in das Stepan Trophimowitsch in jedem Sommer aus dem riesigen Herrenhause von Skworeschniki überzusiedeln pflegte. Als er eingetreten war, nahm er zunächst, gleichsam zerstreut und doch wie in Gedanken versunken, eine Zigarre, zündete sie aber noch nicht an, sondern trat ermüdet ans offene Fenster und schaute regungslos den wie Flaum leichten, hellen Wölkchen zu, die an dem klaren Monde vorüberglitten, als plötzlich ein leises Geräusch ihn aufschreckte und er sich umsah. Vor ihm stand wieder Warwara Petrowna, von der er sich vor kaum vier Minuten im Garten getrennt hatte. Ihr gelbes Gesicht war fast bläulich, ihre Lippen schienen sich krampfhaft zusammenzupressen und die Mundwinkel zuckten. So sah sie ihm wohl volle zehn Sekunden lang schweigend in die Augen, mit festem, unerbittlichem Blick, und plötzlich stieß sie in schnellem Geflüster hervor:

„Das werde ich Ihnen nie vergessen!“

Als Stepan Trophimowitsch mir zehn Jahre später diese traurige Geschichte erzählte, flüsternd, nachdem er zuvor die Tür verschlossen hatte, versicherte er mir, er sei damals auf der Stelle so erstarrt, daß er weder gehört noch gesehen habe, wie Warwara Petrowna wieder verschwand. Und da sie später kein einziges Mal den Vorfall auch nur erwähnt hatte und alles seinen Lauf ging, als wäre nichts geschehen, so war er sein lebelang geneigt, anzunehmen, daß das Ganze nur eine Halluzination vor der Erkrankung gewesen sei, zumal er tatsächlich noch in derselben Nacht erkrankte und ganze zwei Wochen lang das Bett hüten mußte, was denn auch, übrigens sehr zur rechten Zeit, den Gesprächen in der Laube ein Ende machte.

Doch ungeachtet seiner Idee von der Halluzination war es dennoch, als erwartete er jeden Tag, während der ganzen Jahre, so etwas wie eine Fortsetzung und sozusagen Erklärung dieses Geschehnisses. Er glaubte nicht, daß es damit auch beendet sei! Und wenn er das nicht glaubte, wie sonderbar muß er dann doch manchmal auf seinen „Freund“ geschaut haben!

V.

Sie hatte sogar das Kostüm für ihn erdacht, das er seitdem beständig trug. Es war geschmackvoll und charakteristisch zugleich: ein langer schwarzer Rock, fast bis oben zugeknöpft, der aber prachtvoll saß; ein weicher Hut (im Sommer aus Stroh) mit breiter Krempe; eine Halsbinde aus weißem Batist, mit großem Knoten und hängenden Enden; ein Stock mit silbernem Knauf, dazu das Haar fast bis auf die Schultern. Er war dunkelblond und erst in der letzten Zeit begann er ein wenig zu ergrauen. Den Schnurrbart und Bart rasierte er. Man sagt, in seiner Jugend sei er ein überaus schöner Mensch gewesen. Doch meiner Meinung nach war er auch im Alter eine ungemein eindrucksvolle Erscheinung. Aber kann man denn bei dreiundfünfzig Jahren überhaupt von Alter reden? Doch aus einer gewissen „Bürger“-Eitelkeit machte er sich nicht nur nicht jünger, sondern war sogar gleichsam stolz auf die Solidität seiner Jahre, und in diesem Kostüm, hoch von Wuchs, hager, mit dem langen Haar erinnerte er gleichsam an einen Patriarchen, oder noch besser: an das Porträt des Dichters Kúkolnik[11], das in den dreißiger Jahren als Lithographie in irgendeiner Ausgabe erschien, besonders wenn er im Sommer im Garten saß, auf einer Bank unter blühendem Flieder, die Hände auf den Stock gestützt, ein aufgeschlagenes Buch neben sich und in poetisches Sinnen versunken beim Anblick des Sonnenuntergangs. Übrigens in betreff der Bücher muß ich bemerken, daß er in der letzten Zeit das Lesen gewissermaßen aufzugeben begann. Aber das geschah doch erst in der allerletzten Zeit. Die Zeitungen und Zeitschriften dagegen, die Warwara Petrowna in Menge sich zuschicken ließ, die las er beständig. Für die Fortschritte der russischen Literatur interessierte er sich gleichfalls unausgesetzt, freilich ohne dabei seiner eigenen Würde auch nur das geringste zu vergeben. Eine Zeitlang befaßte er sich auch eifrig mit dem Studium unserer inneren und äußeren Tagespolitik, doch alsbald gab er das resigniert wieder auf. Es kam aber auch anderes vor: daß er z. B. einen Band Tocqueville in den Garten mitnahm, in seiner Rocktasche aber einen Paul de Kock versteckt hatte. Doch das sind übrigens Belanglosigkeiten.

Zu dem Porträt von Kúkolnik möchte ich hier nur in Klammern bemerken: daß dieses Bild Warwara Petrowna zum erstenmal in die Hände geraten war, als sie noch in Moskau in einem adeligen Mädchenpensionat erzogen wurde. Sie verliebte sich sofort in dieses Bild, nach der Gewohnheit sämtlicher jungen Mädchen in Pensionaten, die sich nun einmal in alles zu verlieben pflegen, was ihnen nur zu Gesichte kommt, aber zugleich auch in ihre Lehrer, und zwar vornehmlich in die der Schönschreibe- und Zeichenkunst. Im vorliegenden Fall jedoch war das Bemerkenswerte nicht diese Eigenschaft junger Mädchen, sondern lediglich der Umstand, daß Warwara Petrowna die erwähnte Lithographie noch im fünfzigsten Lebensjahr unter ihren teuersten Kostbarkeiten aufbewahrte, also vielleicht nur deshalb auch für Stepan Trophimowitsch jenes besondere Kostüm erdacht hatte, das dem auf diesem Bilde dargestellten zum Teil so ähnlich war. Aber auch das ist natürlich nur eine Nebensache.

In den ersten Jahren oder, genauer gesagt, in der ersten Hälfte seines Aufenthalts bei Warwara Petrowna hatte Stepan Trophimowitsch immer noch an schriftstellerische Tätigkeit gedacht und sich eigentlich jeden Tag ernstlich vorgenommen, mit dem Werk, das ihm vorschwebte, zu beginnen. In der zweiten Hälfte aber begann er offenbar, die früheren Vorstudien schon zu vergessen. Immer häufiger sagte er zu uns: „Man sollte meinen, jetzt könnte ich mit der Arbeit beginnen, das Material ist zusammengetragen, und doch entsteht nichts! Es will einfach nicht in mir arbeiten!“ und wehmütig ließ er den Kopf hängen. Zweifellos sollte gerade das ihn in unseren Augen noch mehr erhöhen, ihn als einen Märtyrer der Wissenschaft hinstellen; aber im Grunde und für sich selbst verlangte ihn doch nach etwas anderem. „Man hat mich vergessen, niemand braucht mich!“ entrang es sich ihm mehr als einmal. Diese gesteigerte Schwermut bemächtigte sich seiner besonders ganz am Ende der fünfziger Jahre. Warwara Petrowna begriff schließlich, daß die Sache ernst war. Zudem konnte auch sie den Gedanken nicht ertragen, daß ihr Freund vergessen sei und niemand ihn brauche. Um ihn zu zerstreuen, aber zugleich auch um seinen Ruhm zu erneuen, reiste sie damals mit ihm nach Moskau, wo sie mit einigen tadellosen Vertretern der Literaten- und Gelehrtenwelt bekannt war; doch es erwies sich, daß auch Moskau nicht zufriedenstellen konnte.

Es war damals eine besondere Zeit[12]; etwas Neues brach an, etwas, das der vorhergegangenen Stille schon gar zu unähnlich war, etwas schon gar zu Seltsames, das jedoch überall gespürt wurde, selbst in Skworeschniki. Verschiedene Gerüchte drangen auch dorthin. Die Tatsachen waren ja im allgemeinen mehr oder weniger bekannt, aber es war klar, daß außer den Tatsachen noch eigentümliche sie begleitende Ideen aufzutauchen begannen, und zwar, was das Wichtigste war, Ideen in außergewöhnlicher Menge. Gerade das aber wirkte verwirrend: es war ganz und gar unmöglich, sich ein Urteil zu bilden und genau zu erfahren, was diese Ideen eigentlich bezweckten. Warwara Petrowna wollte, infolge der weiblichen Konstruktion ihrer Natur, unbedingt ein Geheimnis in ihnen verborgen wissen. Sie begann nun zunächst selber die Zeitungen und Zeitschriften zu lesen, dazu ausländische verbotene Ausgaben und sogar die damals aufkommenden Proklamationen (alles das wurde ihr zugestellt); doch ihr wurde davon nur schwindlig. Sie begann dann Briefe zu schreiben; man antwortete ihr wenig und je weiter man ging, um so unverständlicher wurde es. Stepan Trophimowitsch ward darauf feierlichst von ihr gebeten, ihr „alle diese Ideen“ ein für allemal zu erklären; doch seine Erklärungen befriedigten sie entschieden nicht. Der Standpunkt, von dem aus Stepan Trophimowitsch die allgemeine Bewegung beurteilte, war ein im höchsten Grade hochmütiger; bei ihm lief alles darauf hinaus, daß man ihn vergessen habe und niemand ihn brauche. Da aber geschah es, daß man sich schließlich auch seiner erinnerte; zuerst in ausländischen Zeitschriften[13] als eines verbannten Märtyrers, und danach sofort auch in Petersburg, als eines ehemaligen Sternes in einem bekannten Sternbilde; man verglich ihn aus irgendeinem Grunde sogar mit Radischtscheff[14]. Darauf schrieb jemand in einer Zeitung, er sei bereits gestorben, und stellte einen Nekrolog über ihn in Aussicht. Stepan Trophimowitsch belebte sich nach diesen Erwähnungen seines Namens im Nu wie ein Auferstandener, und nahm eine höchst würdevolle Haltung an. Der ganze Hochmut in seinem bisherigen Verhalten gegenüber den Zeitgenossen fiel im Handumdrehen von ihm ab und statt dessen erglühte in ihm der Wunsch: sich der Bewegung anzuschließen und seine Kraft zu zeigen. Warwara Petrowna begann sofort von neuem und an alles zu glauben und war ganz Eifer für die Sache. Es wurde beschlossen, ohne den geringsten Aufschub nach Petersburg zu reisen, alles an Ort und Stelle in Erfahrung zu bringen, persönlich zu ergründen, und sich hinfort, falls angängig, ganz und ungeteilt der neuen Aufgabe zu widmen. Unter anderem erklärte sie sich bereit, eine eigene Zeitschrift zu gründen und dieser von nun an ihr ganzes Leben zu weihen. Als Stepan Trophimowitsch sah, wieweit es gekommen war, wurde er noch selbstbewußter, und begann bereits unterwegs, sich zu Warwara Petrowna fast gönnerhaft zu verhalten, – was sie sich sofort merkte und in ihrem Herzen aufhob. Übrigens hatte sie noch einen anderen sehr wichtigen Grund zu dieser Reise, nämlich die Erneuerung ihrer Beziehungen zu den höheren Kreisen. Man mußte sich, soweit das möglich war, in der Gesellschaft wieder in Erinnerung bringen, mußte wenigstens den Versuch machen. Doch offiziell war der Anlaß zu dieser Reise ein Wiedersehen mit ihrem einzigen Sohn, der damals seine Studien im Petersburger Adelslyzeum beendete.

VI.

Sie trafen in Petersburg ein und verlebten dort fast die ganze Wintersaison. Allein zu den großen Fasten platzte alles wie eine regenbogenfarbene Seifenblase. Die Illusionen verflogen, der geschwatzte Unsinn aber klärte sich nicht nur nicht auf, sondern wurde noch widerlicher. Doch zunächst: die Wiederanknüpfung der höheren Beziehungen gelang fast gar nicht, oder nur in äußerst mikroskopischem Maße, und selbst das nur mittels erniedrigender Bemühungen. Die gekränkte Warwara Petrowna stürzte sich darauf ganz in die „neuen Ideen“ und eröffnete Abende in ihrem Salon. Sie lud Literaten ein und man führte ihr die sogleich in Menge zu. Alsbald kamen sie schon von selbst auch uneingeladen; einer brachte den anderen mit. Sie hatte noch nie solche Literaten gesehen. Eitel waren sie bis zur Unglaublichkeit, aber sie waren es ganz offen und ungeniert, wie wenn sie damit eine Pflicht erfüllten. Manche (wenn auch längst nicht alle) erschienen sogar in betrunkenem Zustande, aber auch das geschah in einer Weise, als wären sie sich dabei einer besonderen, erst gestern darin entdeckten Schönheit bewußt. Alle waren sie auf irgendetwas bis zur Seltsamkeit stolz. Auf allen Gesichtern stand geschrieben, daß sie überzeugt waren, soeben erst ein ungeheuer wichtiges Geheimnis entdeckt zu haben. Den Gebrauch von Schimpfworten rechneten sie sich offenbar zur Ehre an. Was sie alle eigentlich geschrieben hatten, war ziemlich schwer zu erfahren; aber es gab da Kritiker, Romanschriftsteller, Dramatiker, Satiriker, Polemiker. Stepan Trophimowitsch drang sogar in ihren höchsten Kreis ein, von wo aus die ganze Bewegung geleitet wurde. Bis zu diesen Regierenden war es unglaublich hoch, doch ihm kamen sie bereitwillig entgegen, obschon natürlich kein einziger von ihnen etwas Näheres über ihn wußte oder gehört hatte, außer daß er eine „Idee vertrete“. Er manövrierte dann so um sie herum, daß er auch sie bewog, etwa zwei- oder dreimal in Warwara Petrownas Salon zu erscheinen, trotz all ihrer olympischen Erhabenheit. Diese Herren waren sehr ernst und sehr höflich; benahmen sich gut; die übrigen hatten sichtlich Furcht vor ihnen; aber man sah ihnen an, daß sie keine Zeit hatten. Es erschienen auch zwei oder drei ehemalige literarische Berühmtheiten, die sich damals zufällig in Petersburg aufhielten, und mit denen Warwara Petrowna schon lange die feinsten Beziehungen unterhielt. Doch zu Warwara Petrownas Verwunderung waren diese wirklichen und bereits zweifellosen Berühmtheiten unter ihren Gästen stiller als Wasser, niedriger als Gras, manche aber von ihnen schmiegten sich an dieses neue Gesindel geradezu an und suchten sich schmählicherweise bei ihm einzuschmeicheln. Anfangs hatte Stepan Trophimowitsch Glück; man griff sofort nach ihm und begann ihn in öffentlichen literarischen Veranstaltungen zur Schau zu stellen. Als er an einem öffentlichen literarischen Abende zum erstenmal als einer der Vortragenden die Rednerbühne betrat, begrüßte ihn rasendes Händeklatschen, das gute fünf Minuten lang andauerte. Neun Jahre später gedachte er dieses Abends mit Tränen in den Augen, – übrigens mehr infolge seiner Künstlernatur als aus Dankbarkeit. „Ich schwöre Ihnen und wette darauf,“ sagte er zu mir (aber nur zu mir und als tiefstes Geheimnis), „daß unter diesem ganzen Publikum niemand auch nur das geringste von mir wußte!“ Ein beachtenswertes Geständnis: also war in ihm doch ein scharfer Verstand, wenn er schon damals auf der Rednerbühne, trotz seines Rausches, seine wirkliche Stellung so klar zu erkennen vermochte; und andererseits war doch wiederum kein scharfer Verstand in ihm, wenn er sogar nach neun Jahren nicht ohne die Empfindung einer Kränkung daran zurückdenken konnte. Unter anderem veranlaßte man ihn, zwei oder drei Kollektivproteste (wogegen – das wußte er selbst nicht) gleichfalls zu unterschreiben; jedenfalls tat er’s. Auch Warwara Petrowna wurde zur Hergabe ihres Namens veranlaßt, und auch sie unterschrieb einen Protest gegen irgendein „schändliches Verhalten“. Übrigens hielt sich die Mehrzahl dieser neuen Leute aus irgendeinem Grunde für verpflichtet, auf Warwara Petrowna, wenn sie auch ihre Abende besuchten, doch mit Verachtung und unverhohlenem Spott herabzusehen. Stepan Trophimowitsch deutete mir gegenüber später in bitteren Augenblicken an, daß sie in eben jener Zeit begonnen habe, ihn zu beneiden. Sie begriff natürlich, daß diese Leute kein Umgang für sie waren, aber trotzdem empfing sie sie bei sich mit eigensinnigem Eifer, mit aller weiblich-hysterischen Ungeduld, und hörte vor allem nicht auf, etwas zu erwarten. An den Abenden in ihrem Salon sprach sie wenig, obschon sie zu sprechen verstanden hätte; aber sie hörte um so aufmerksamer zu. Man sprach über alles Mögliche: von der Abschaffung der Zensur und des Buchstabens Jerr als harten Endzeichens, von der Ersetzung der russischen Schriftzeichen durch lateinische, sprach über die Tags zuvor erfolgte Verschickung irgend jemandes nach Sibirien, über einen Skandal, der sich in der Passage zugetragen, über die Vorteile einer Aufteilung Rußlands nach seinen Völkerschaften, unter freiem föderativem Zusammenschluß, über die Abschaffung des Heeres und der Flotte, über die Wiederherstellung Polens bis zum Dnjepr, über die Bauernbefreiung und die Proklamationen, über die Abschaffung des Erbrechts, der Familie, der Kinder und der Geistlichen, über die Frauenrechte, über das Haus des Verlegers Krajewski, das niemand Herrn Krajewski verzeihen konnte, usw. usw. Es war klar, daß sich in dieser Kohorte der neuen Menschen viele Spitzbuben befanden, aber zweifellos gab es auch viele ehrliche, sogar sehr anziehende Menschen unter ihnen, trotz gewisser wunderlicher Nuancen. Die ehrlichen waren viel unverständlicher als die unehrlichen und frechen; aber es ließ sich nicht feststellen, welche Art die andere in der Hand hatte. Als Warwara Petrowna ihre Absicht, eine Zeitschrift herauszugeben, ausgesprochen hatte, strömten noch viel mehr Leute herbei. Doch sofort hagelten ihr auch schon Beschuldigungen ins Gesicht, sie sei eine Kapitalistin und beute die Arbeitenden aus. Der Unverfrorenheit der Anklagen kam nur ihre Unverhofftheit gleich. Da geschah es aber, daß der hochbetagte General Iwan Iwanowitsch Drosdoff, der ehemalige Freund und Regimentskamerad des verstorbenen Generals Stawrogin, ein überaus ehrenwerter Mann (in seiner Art) und den wir hier alle gekannt haben, ein bis zum Äußersten starrköpfiger und reizbarer Mensch, der entsetzlich viel zu essen pflegte und den Atheismus über alles fürchtete, – daß dieser General an einem der Abende bei Warwara Petrowna mit einem berühmten Jüngling in Streit geriet. Und schon nach den ersten Worten warf ihm dieser ins Gesicht: „Wenn das wirklich Ihre Ansicht ist, dann sind Sie ja ein General,“ in dem Sinne, als könne er ein noch stärkeres Schimpfwort als die Bezeichnung „General“ nicht finden. Iwan Iwanowitsch brauste maßlos auf: „Jawohl, mein Herr, ich bin ein General und Generalleutnant und habe meinem Kaiser gedient, du aber, mein Bester, bist nur ein Bengel und ein Gottesleugner!“ Es kam zu einem höchst unstatthaften Skandal. Am anderen Tage wurde der Fall in der Presse entsprechend behandelt, und man begann Unterschriften zu einem Kollektivprotest gegen Warwara Petrownas „schändliches Verhalten“ zu sammeln, da sie dem General nicht hatte die Tür weisen wollen, was sie sofort hätte tun müssen. Und in einem illustrierten Blatt erschien eine Karikatur, die Warwara Petrowna, den General und Stepan Trophimowitsch boshaft als drei reaktionäre Freunde darstellte; dem Bilde waren auch Verse beigefügt, die der „Dichter aus dem Volk“ eigens zu diesem Ereignis verfaßt hatte. Ich bemerke hierzu von mir aus, daß allerdings viele Personen im Generalsrang die Gewohnheit haben, komischerweise zu sagen: „Ich habe meinem Kaiser gedient“ ... also ganz als hätten sie nicht denselben Kaiser wie wir einfachen Untertanen des Zaren, sondern einen eigenen, besonderen für sich.

Natürlich war es danach nicht möglich, noch länger in Petersburg zu bleiben, zumal auch Stepan Trophimowitsch endgültig Fiasko machte. Er hatte es schließlich doch nicht ausgehalten und von den Rechten der Kunst zu reden begonnen, da aber war das Lachen über ihn noch lauter geworden. Bei seinem letzten Vortrag gedachte er durch kulturfordernde Redekunst zu wirken, da er sich einbildete, damit die Herzen rühren zu können, doch rechnete er gleichzeitig auf den Respekt vor seinem Märtyrertum als „Verbannter“. So gab er denn die Wertlosigkeit und Lächerlichkeit des Wortes „Vaterland“ ohne weiteres zu, erklärte sich auch mit dem Gedanken, daß die Religion schädlich sei, einverstanden, doch dafür verkündete er laut und mit Entschlossenheit, daß Stiefel etwas Geringeres seien als Puschkin, und zwar etwas bedeutend Geringeres. Er wurde erbarmungslos ausgepfiffen, so daß er auf der Stelle, vor dem ganzen Publikum, ohne von der Rednerbühne hinabzusteigen, in Tränen ausbrach. Warwara Petrowna brachte ihn halbtot nach Hause. „On m’a traité comme un vieux bonnet de coton![1] soll er nur noch wie benommen gestammelt haben. Sie pflegte ihn die ganze Nacht, gab ihm Kirschlorbeertropfen und tröstete ihn unentwegt bis zum Morgen mit den Versicherungen: „Sie sind noch wertvoll, Ihre Stunde wird noch kommen, man wird Sie anerkennen ... an einem anderen Ort.“

Am folgenden Tage aber erschienen bei Warwara Petrowna bereits früh morgens fünf Literaten, von denen ihr drei ganz unbekannt waren, ja die sie noch nie auch nur gesehen hatte. Mit strenger Miene teilten sie ihr mit, sie hätten die Angelegenheit der von ihr geplanten Zeitschrift geprüft und in der Sache einen Beschluß gefaßt. Warwara Petrowna hatte entschieden niemanden beauftragt, diese Angelegenheit zu prüfen und über ihre Zeitschrift etwas zu beschließen. Der Beschluß bestand darin, daß Warwara Petrowna, nachdem sie die Zeitschrift gegründet, diese unverzüglich mitsamt dem Kapital ihnen zu übergeben habe, mit den Rechten einer freien Handelsgesellschaft; sie selbst aber solle nach Skworeschniki zurückkehren und nicht vergessen, Stepan Trophimowitsch mitzunehmen, der mit seinen Anschauungen „veraltet“ sei. Aus Zartgefühl erklärten sie sich bereit, ihr das Eigentumsrecht zuzuerkennen und ihr alljährlich ein Sechstel des Gewinnes zuzusenden. Das Rührendste war dabei, daß von diesen fünf Menschen vier ganz gewiß nicht die geringste eigennützige Absicht hatten und nur um der „allgemeinen Sache“ willen diese Mühe auf sich nahmen.

„Wir waren wie betäubt, als wir abfuhren,“ erzählte Stepan Trophimowitsch, „ich konnte noch überhaupt nichts fassen, und ich erinnere mich, zum Rattern der Räder murmelte ich immer nur vor mich hin: ‚Wjek, Wjek, Wjek ... Ljeff Kambeck–beck–beck ... Wjek, Wjek, Wjek ...‘[15] und der Teufel weiß was noch alles, bis wir in Moskau eintrafen. Erst in Moskau kam ich wieder zu mir – als hätte ich dort tatsächlich etwas anderes gefunden? Oh, meine Freunde!“ rief er vor uns manchmal ergriffen aus, „Sie können sich ja gar nicht vorstellen, welch eine Trauer und welch eine Wut einem die ganze Seele erfüllen, wenn die große Idee, die Sie schon lange heilig halten, von Unwissenden aufgegriffen und zu ebensolchen Dummköpfen, wie jene selbst sind, auf die Straße hinausgeschleppt wird, und plötzlich begegnet man ihr schon auf dem Trödelmarkt, wo sie kaum wiederzuerkennen ist, im Schmutz, unsinnig aufgestellt, schief, ohne jede Proportion, ohne Harmonie, als Spielzeug dummer Kinder! Nein! Zu unserer Zeit war es nicht so, unser Streben ging nicht nach der Richtung. Nein, nein, ganz und gar nicht nach der Richtung. Ich erkenne nichts wieder ... Aber unsere Zeit wird von neuem anbrechen und wird alles Wackelnde, Gegenwärtige wieder auf den festen Weg lenken. Denn was sollte sonst wohl werden? ...“

VII.

Gleich nach ihrer Rückkehr aus Petersburg schickte Warwara Petrowna ihren Freund ins Ausland: „zur Erholung“; aber es tat auch not, daß sie sich für einige Zeit voneinander trennten, das fühlte sie. Stepan Trophimowitsch fuhr mit Entzücken ab. „Dort werde ich auferstehen!“ rief er aus, „dort werde ich mich nun endlich der Wissenschaft zuwenden!“ Doch schon in den ersten Briefen aus Berlin begann wieder das alte Lied: „Mein Herz ist zerrissen,“ schrieb er an Warwara Petrowna, „ich kann nichts vergessen! Hier in Berlin hat mich alles an das Alte erinnert, an die Vergangenheit, an die ersten Begeisterungen und die ersten Qualen. Wo ist sie? Wo seid ihr jetzt beide? Wo seid ihr, meine beiden Engel, deren ich niemals wert war? Und wo ist mein Sohn, mein geliebter Sohn? Und schließlich, wo bin ich, ich selbst, wo ist mein früheres Ich, das stählern an Kraft und wie ein Fels unerschütterlich war, während jetzt irgendein Andrejeff, c’est à dire un rechtgläubiger Narr mit einem Bart, peut briser mon existence en deux[2] usw. usw. Was diesen Sohn betrifft, so ist hierzu zu bemerken, daß er ihn in seinem ganzen Leben nur zweimal gesehen hatte: das erstemal, als der Sohn geboren wurde, und das zweitemal gerade jetzt in Petersburg, wo der junge Mann sich zum Eintritt in die Universität vorbereitete. Erzogen worden war der Knabe, wie bereits erwähnt, von Tanten im Gouvernement O..., 700 Werst von Skworeschniki (auf Warwara Petrownas Kosten). Und was den erwähnten Andrejeff betrifft, so war das ganz einfach unser hiesiger Kaufmann, ein Ladenbesitzer, ein großer Sonderling, archäologischer Autodidakt und leidenschaftlicher Sammler russischer Altertümer, der manchmal Stepan Trophimowitsch in Kenntnissen zu überbieten suchte, doch vor allem über Gesinnungsfragen mit ihm debattierte. Dieser achtbare Kaufmann mit grauem Bart und in Silber gefaßter großer Brille schuldete Stepan Trophimowitsch noch 400 Rubel für einige Dessjätinen Wald, die er auf dessen kleinem (an Skworeschniki grenzenden) Gute zum Abholzen gekauft hatte. Obschon nun Stepan Trophimowitsch von Warwara Petrowna fast verschwenderisch mit Mitteln zu dieser Reise ausgestattet worden war, hatte er auf diese 400 Rubel doch noch besonders gerechnet, wahrscheinlich für seine geheimen Ausgaben, und er war fast in Tränen ausgebrochen, als Andrejeff ihn bat, sich noch einen Monat zu gedulden. Übrigens hatte Andrejeff durchaus ein Anrecht auf einen solchen Aufschub, da er die ersten Raten alle fast ein halbes Jahr vor dem Termin bezahlt hatte, weil das Geld damals von Stepan Trophimowitsch gerade dringend benötigt worden war. Jenen ersten Brief Stepan Trophimowitschs aus Berlin las Warwara Petrowna mit Spannung, unterstrich mit dem Bleistift den Ausruf „Wo seid ihr jetzt beide?“ versah den Brief mit dem Datum und verschloß ihn in die Schatulle. Er hatte natürlich an seine beiden verstorbenen Frauen gedacht. In dem zweiten Brief aus Berlin gab es eine Variation des Liedes: „Ich arbeite täglich zwölf Stunden,“ („wenn er doch wenigstens elf geschrieben hätte,“ murmelte Warwara Petrowna), „stöbere in den Bibliotheken umher, vergleiche, mache Auszüge, scheue keinen Weg; war bei den Professoren. Habe die Bekanntschaft mit der reizenden Familie Dundassoff erneuert. Wie entzückend Nadjéshda Nikolájewna selbst jetzt noch ist! Sie läßt Sie grüßen. Ihr junger Gatte und alle drei Neffen sind gleichfalls in Berlin. Abends Unterhaltung mit der Jugend, meist bis zum Morgengrauen; unsere Nächte sind nahezu attisch, jedoch natürlich nur was Feinheit und Geschmack anlangt; alles Höhere; viel Musik, spanische Motive, Pläne einer Erneuerung der Menschheit, die Idee der ewigen Schönheit, sixtinische Madonna, Licht mit Durchbrüchen der Finsternis, aber auch die Sonne hat Flecken! Oh, mein Freund, Sie mein edler, treuer Freund! Mit meinem Herzen bin ich bei Ihnen und der Ihrige; mit Ihnen allein ginge ich überall hin, en tout pays, und wäre es selbst dans le pays de Makar et de ses veaux,[3] von welchem Lande wir in Petersburg vor unserer Abreise, Sie erinnern sich wohl noch, so zitternd gesprochen haben. Denke jetzt lächelnd daran zurück. Als ich die Grenze überschritten hatte, fühlte ich mich in Sicherheit, ein seltsames, neues Empfinden, zum erstenmal nach so langen Jahren ...“ usw. usw.

„Alles Unsinn!“ urteilte Warwara Petrowna, indem sie auch diesen Brief zu den anderen legte. „Wenn sie bis zum Morgenrot attische Nächte verleben, dann wird er doch nicht zwölf Stunden über den Büchern sitzen. War er etwa betrunken, als er das schrieb? Was fällt dieser Dundassowa ein, mich grüßen zu lassen? Übrigens, mag er sich amüsieren ...“

Der Satz „dans le pays de Makar et de ses veaux“ sollte bedeuten: „wohin Makar die Kälber nicht getrieben hat“[16]. Stepan Trophimowitsch übersetzte manchmal auf die verdrehteste Weise russische Sprichwörter und Redensarten ins Französische, obschon er sie zweifellos besser zu deuten und zu übersetzen verstanden hätte; aber er tat das aus Vorliebe zu einer gewissen Nonchalance und fand es witzig.

Doch von dem „Amüsieren“ hatte er bald genug, nicht einmal vier Monate hielt er es aus und kam nach Skworeschniki zurückgeflogen. Seine letzten Briefe bestanden fast ausschließlich aus Ergüssen der gefühlvollsten Liebe zu seinem „abwesenden Freunde“, und waren buchstäblich von Tränen der Sehnsucht verwischt. Es gibt Naturen, die außerordentlich am Hause hängen, ganz wie die Stubenhündchen. Das Wiedersehen der Freunde war eine freudige Hochspannung. Nach zwei Tagen aber verlief alles wieder nach alter Art, und sogar noch langweiliger als früher. „Mein Freund,“ sagte Stepan Trophimowitsch nach vierzehn Tagen zu mir, aber als größtes Geheimnis, „mein Freund, ich habe etwas für mich furchtbar ... Neues entdeckt: Je suis un einfacher Schmarotzer et rien de plus! Mais r–r–rien de plus![4]

VIII.

Darauf trat eine stille Zeit ein und dauerte fast diese ganzen neun Jahre. Die hysterischen Ausbrüche mit dem Geschluchze an meiner Schulter wiederholten sich zwischendurch zwar regelmäßig, störten aber sonst keineswegs unser Wohlbehagen. Ich wundere mich eigentlich nur, daß Stepan Trophimowitsch in dieser Zeit nicht dick wurde. Nur seine Nase rötete sich ein wenig und seine Großmut nahm noch zu. Allmählich bildete sich um ihn ein Kreis von Freunden, der übrigens immer klein blieb. Warwara Petrowna kümmerte sich wohl nur wenig um diesen Kreis, aber wir erkannten sie doch alle als unsere Patronesse an. Nach der Petersburger Enttäuschung hatte sie sich endgültig in unserem Gouvernement niedergelassen: im Winter lebte sie in ihrem großen Hause in der Stadt, im Sommer draußen auf ihrem Gute. Nie vorher hatte sie eine solche gesellschaftliche Bedeutung und soviel Einfluß gehabt, wie in diesen Jahren, das heißt, bis zur Ernennung des neuen, unseres jetzigen Gouverneurs. Dessen Vorgänger dagegen, der unvergeßliche, weiche Iwan Ossipowitsch, war mit ihr nah verwandt, und nicht umsonst hatte sie ihm manche Wohltat erwiesen. Seine Frau zitterte geradezu bei dem Gedanken, sie könne Warwara Petrowna irgendwie mißfallen, und so grenzte denn, nach ihrem Beispiel, die Ehrerbietung der städtischen Kreise vor Warwara Petrowna fast schon an sündhaften Götzendienst. Bei solchen Zuständen hatte es natürlich auch Stepan Trophimowitsch gut. Er war Mitglied des Klubs, verlor würdevoll im Kartenspiel und erwarb sich die allgemeine Achtung, wenn auch viele in ihm nur einen „Gelehrten“ sahen. Späterhin, als Warwara Petrowna ihm eine eigene Wohnung zu beziehen gestattete, war unser Verkehr noch zwangloser. Wir versammelten uns etwa zweimal wöchentlich bei ihm, und dann gab es lustige Abende, besonders wenn er mit dem Champagner nicht kargte. Er bezog ihn von dem bereits erwähnten Andrejeff und die Rechnungen wurden halbjährlich von Warwara Petrowna bezahlt. Der Zahlungstag war dann allerdings fast immer auch ein Tag der Cholerine.

Das älteste Mitglied des Freundeskreises war Liputin, ein Gouvernementsbeamter in nicht mehr jungen Jahren, sehr liberal; in der Stadt galt er für einen Atheisten. Verheiratet war er zum zweiten Male, mit einer jungen und sehr netten Frau, die sogar eine Mitgift in die Ehe gebracht hatte. Außerdem hatte er drei halberwachsene Töchter. Diese ganze Familie hielt er in Gottesfurcht und hinter Schloß und Riegel, war sehr geizig und hatte sich von seinem Gehalt ein kleines Haus gekauft und sogar ein Kapital erspart. Er war ein unruhiger Mensch, dazu als Beamter nur von niedriger Rangklasse; in der Stadt wurde er nicht sonderlich geachtet und die bessere Gesellschaft verkehrte nicht mit ihm. Überdies war er ein berüchtigtes Klatschmaul und schon mehr als einmal dafür bestraft worden, sogar schmerzhaft, das erstemal von einem Offizier, ein anderes Mal von einem achtbaren Familienvater und Gutsbesitzer. Wir dagegen liebten seinen scharfen Verstand, seine Wißbegier, seine eigentümliche boshafte Lustigkeit. Warwara Petrowna mochte ihn nicht, aber er verstand es immer irgendwie, sich ihr anzupassen.

Auch Schatoff, ein anderer aus diesem Kreise, der jedoch erst im letzten Jahre in ihn eintrat, erfreute sich nicht der besonderen Zuneigung Warwara Petrownas. Schatoff war früher Student gewesen, war aber nach einem Studentenkrawall relegiert worden. Auf die Welt war er noch als Warwara Petrownas Leibeigener gekommen, als Sohn ihres verstorbenen Kammerdieners Pawel Fjodoroff, weshalb sie sich seiner besonders angenommen und ihn als Knaben von Stepan Trophimowitsch hatte unterrichten lassen. Sie mochte ihn nicht wegen seines Stolzes und seiner Undankbarkeit und konnte es ihm nicht verzeihen, daß er nach seiner Relegation nicht sofort nach Skworeschniki zurückgekehrt war. Ja, auf ihren eigens deshalb geschriebenen Brief an ihn hatte er seinerzeit überhaupt nicht geantwortet, sondern es vorgezogen, in der Familie eines gebildeteren Kaufmanns Kinder zu unterrichten und mit ihr ins Ausland zu fahren, mehr als Kinderwärter, denn als Erzieher. Zugleich jedoch fuhr eine Gouvernante mit, ein junges, lebhaftes russisches Fräulein, und als der Kaufmann diese nach zwei Monaten, wegen „freier Anschauungen“ wegjagte, zog es auch Schatoff vor, sich langsam davon zu machen, ihr nach Genf nachzureisen und sich dort mit ihr trauen zu lassen. In Genf verlebten sie ungefähr drei Wochen zusammen, dann aber trennten sie sich, als freie Menschen, die durch nichts aneinander gebunden waren – nicht zuletzt auch deshalb, weil sie kein Geld hatten. Schatoff trieb sich darauf noch eine Weile in Europa umher, lebte Gott weiß wovon: man sagt, er habe auf der Straße Stiefel geputzt und sei in einer Hafenstadt Lastträger gewesen. Schließlich aber kehrte er doch in seine Heimatstadt zurück, vor knapp einem Jahre, und zog zu seiner alten Tante, die aber bereits nach einem Monat starb. Zu seiner Schwester Dascha, Warwara Petrownas Zögling und besonderem Liebling, die bei ihr wie eine gesellschaftlich Gleichstehende lebte, hatte er nur seltene und entfernte Beziehungen. Unter uns war er immer finster und schweigsam, und nur zuweilen, wenn man an seine Überzeugungen rührte, war er von einer krankhaften Reizbarkeit und dann sehr unvorsichtig in seinen Äußerungen. „Schatoff muß man zuerst anbinden, wenn man mit ihm disputieren will,“ pflegte Stepan Trophimowitsch zu scherzen; aber er liebte ihn. Im Auslande hatte Schatoff einige seiner sozialistischen Überzeugungen vollständig geändert und war zum entgegengesetzten Extrem übergegangen. Er war eines jener idealen russischen Geschöpfe, die plötzlich von irgendeiner starken Idee getroffen und auf der Stelle gleichsam zu Boden gedrückt werden von ihrer Schwere, manchmal sogar für immer. Sie sind niemals imstande, mit ihr fertig zu werden, sondern beginnen sogleich leidenschaftlich an sie zu glauben, und so vergeht dann ihr ganzes Leben wie in den letzten Krämpfen unter einem auf ihnen lastenden Steine, der sie halbwegs schon erdrückt hat. Schatoffs Äußeres entsprach vollkommen seinen Überzeugungen: er war plump, blond, stark behaart, von niedrigem Wuchs, mit breiten Schultern, hatte dicke Lippen, sehr dichte, überhängende, weißblonde Augenbrauen, eine finstere Stirn, unfreundlichen, hartnäckig gesenkten, und sich gleichsam wegen irgendetwas schämenden Blick. Sein Haupthaar bildete an einer Stelle einen Büschel, der sich um keinen Preis ankämmen ließ und daher immer in die Höhe stand. Er war ungefähr sieben- oder achtundzwanzig Jahre alt. „Ich wundere mich nicht mehr darüber, daß seine Frau von ihm weggelaufen ist,“ meinte Warwara Petrowna einmal, nachdem sie ihn aufmerksam gemustert hatte. Dabei bemühte sich Schatoff, trotz seiner großen Armut, wenigstens immer sauber gekleidet zu sein. Nach seiner Rückkehr hatte er Warwara Petrowna wieder nicht um Unterstützung gebeten, sondern sich durchgeschlagen, so gut es eben gehen wollte; er arbeitete bei Kaufleuten oder sonstwie. Einmal saß er in einem Laden; darauf sollte er als Gehilfe des Transportführers mit einem Frachtschiff wegfahren, aber da erkrankte er kurz vor der Abfahrt. Man kann sich kaum eine Vorstellung davon machen, welch einen Grad von Armut Schatoff zu ertragen fähig war, und sogar ohne es zu merken. Nach der Krankheit übersandte ihm Warwara Petrowna heimlich und ungenannt hundert Rubel. Er erfuhr aber schließlich, von wem die Summe stammte, sann lange nach, nahm sie dann doch an und ging geraden Weges zu Warwara Petrowna, um sich bei ihr zu bedanken. Sie empfing ihn herzlich, aber auch diesmal enttäuschte er schmählich ihre Erwartungen: er saß ihr nur fünf Minuten gegenüber, schwieg fast die ganze Zeit, sah zu Boden, lächelte blöde, und plötzlich, gerade an der interessantesten Stelle des Gesprächs, stand er auf, machte eine schiefe und ungeschickte Verbeugung, schämte sich dabei zu Tode und – krach! hinter ihm lag Warwara Petrownas kostbares und kunstvolles Nähtischchen zerschlagen am Boden, und Schatoff verließ das Zimmer mehr tot als lebendig. Liputin tadelte ihn wegen der ganzen Geschichte heftig: einmal, weil er die hundert Rubel von seiner früheren Herrin und Despotin nicht mit Verachtung zurückgewiesen hatte und dann, weil er auch noch zur Danksagung hingegangen war. Schatoff wohnte am äußersten Ende der Stadt und er sah es nicht gern, wenn ihn jemand, selbst von uns, besuchte. Zu den Abenden bei Stepan Trophimowitsch erschien er regelmäßig und lieh dann Bücher und Zeitungen von ihm.

Ein anderer aus unserem Kreise, ein gewisser Wirginski, erinnerte, obgleich er scheinbar in allem Schatoffs vollständiges Gegenteil war, innerlich doch sehr an ihn. Es war das ein hiesiger Beamter, gleichfalls ein „Ehemann“, ein bedauernswerter junger Mensch von schon dreißig Jahren, mit bedeutenden Kenntnissen, die er größtenteils auf autodidaktischem Wege erworben hatte. Auch Wirginski war arm, dabei verheiratet, und obendrein noch gezwungen, Tante und Schwester seiner Frau zu ernähren. Diese drei Damen teilten die allerneuesten Anschauungen, nur daß sie bei ihnen etwas vulgär herauskamen, gleich „auf die Straße geschleppten Ideen“, wie sich Stepan Trophimowitsch einmal bei einem anderen Anlaß ausdrückte. Sie schöpften alles aus Büchern und waren jederzeit bereit, alles, was noch irgendwie unmodern war, zum Fenster hinaus zu werfen – wenn nur aus den fortschrittlichen Winkeln der Hauptstädte das zu tun angeraten wurde. Madame Wirginskaja hatte als Mädchen lange in Petersburg gelebt; jetzt war sie Hebamme in unserer Stadt. Wirginski selbst war ein Mensch von seltener Herzensreinheit, und nie in meinem Leben habe ich eine ehrlichere Begeisterung gesehen. „Niemals, niemals werde ich von diesen lichten Hoffnungen lassen,“ sagte er zu mir mit leuchtenden Augen. Von diesen „lichten Hoffnungen“ sprach er stets nur leise mit Wonnegefühl und flüsternd, wie von einem Geheimnis. Er war ziemlich hoch von Wuchs, aber sehr dünn und schmal in den Schultern, blaß, mit sehr spärlichem, leicht rötlichem Haar. Den oft recht hochmütigen Spott Stepan Trophimowitschs über die eine oder andere seiner Meinungen ertrug er sanftmütig, doch zuweilen widersprach er ihm sehr ernst und setzte ihn durch seine Einwände in Verlegenheit. Im übrigen ging Stepan Trophimowitsch freundlich mit ihm um, ja und überhaupt verhielt er sich zu uns allen väterlich.

„Alle seid ihr von den ‚unausgebrüteten‘,“ bemerkte er einmal scherzhaft zu Wirginski, „wenn ich auch gerade an Ihnen, Wirginski, nicht diese Be–schränkt–heit bemerkt habe, wie ich sie in Petersburg chez ces séminaristes[5] angetroffen; aber trotzdem sind Sie unausgebrütet. Schatoff möchte furchtbar gern ausgebrütet sein, aber auch er ist unausgebrütet.“

„Und ich?“ fragte Liputin.

„Sie, – Sie sind einfach die goldene Mitte, die sich überall einlebt ... auf ihre Art.“ Liputin schwieg gekränkt.

Man erzählte sich von Wirginski, und leider war es nur zu glaubwürdig, was man sich erzählte, seine Frau habe ihm bereits nach dem ersten Jahr ihrer Ehe eines schönen Tages mitgeteilt, daß er von nun an abgesetzt sei, und daß ein gewisser Herr Lebädkin seine Stelle einnehmen werde. Dieser Herr Lebädkin, ein Zugereister, stellte sich später als eine sehr fragwürdige Erscheinung heraus, die vor allem nicht das geringste Recht auf den sich selber beigelegten Titel eines Hauptmanns a. D. hatte. Was er verstand, das war lediglich den Schnurrbart zu drehen, zu trinken und den größten Unsinn zu schwatzen. Er war dabei taktlos genug, sofort zu Wirginskis überzusiedeln, freute sich hier vor aller Welt des freien Tisches und begann zu guter Letzt noch, den Hausherrn von oben herab zu behandeln. Man behauptete übrigens, daß Wirginski seiner Frau, nachdem sie ihm jene Mitteilung gemacht, geantwortet habe: „Mein Freund, bis jetzt habe ich dich nur geliebt, aber von nun ab achte ich dich.“ In Wirklichkeit wird wohl kaum ein so altrömischer Ausspruch gefallen sein, und manche behaupten denn auch, daß er im Gegenteil schrecklich geweint habe. Eines Tages, etwa zwei Wochen nach seiner Absetzung, begaben sie sich alle, die ganze „Familie“, in das Wäldchen vor der Stadt, um dort mit Bekannten Tee zu trinken. Wirginski war geradezu fieberhaft lustig gestimmt und beteiligte sich am Tanz; doch plötzlich, und zwar ohne jeden vorhergegangenen Streit, packte er den Hünen Lebädkin, der solo einen Cancan tanzte, mit beiden Händen an den Haaren, riß ihn nieder und begann ihn kreischend, schreiend und weinend zu zerren und zu hauen. Der Hüne erschrak dermaßen, daß er sich nicht einmal wehrte, und solange der andere ihn prügelte, fast nicht muckste; nachher freilich spielte er dann mit dem ganzen Feuer eines edlen Menschen den Beleidigten. Wirginski bat seine Frau die ganze Nacht auf den Knien um Verzeihung, doch die ward ihm nicht gewährt, da er sich immerhin nicht bereit erklärte, auch Lebädkin um Entschuldigung zu bitten; außerdem wurde ihm Mangel an Überzeugungstreue und Dummheit vorgeworfen; letzteres deshalb, weil er „während einer Auseinandersetzung mit einer Frau“ vor dieser auf den Knien gelegen. Der „Hauptmann“ verschwand bald darauf und erschien erst in allerletzter Zeit wieder in unserer Stadt, mit seiner Schwester und mit neuen Absichten; doch davon später. Es war also kein Wunder, daß der arme „Familienmensch“ bei uns Ablenkung suchte und ein Bedürfnis nach unserer Gesellschaft hatte. Von seinen häuslichen Angelegenheiten sprach er bei uns übrigens nie. Nur einmal, als er mit mir von Stepan Trophimowitsch heimging, war es, als wollte er etwas über seine Lage verlauten lassen, doch schon im nächsten Augenblick rief er, indem er meine Hand ergriff, flammend aus: „Aber das tut ja nichts, das ist ja nur eine Privatangelegenheit; das stört doch die ‚allgemeine Sache‘ nicht im geringsten, nicht im geringsten!“

Es kamen auch noch andere, mehr zufällige Gäste zu unseren Abenden: beispielsweise der kleine Jude Lämschin, ferner ein Hauptmann Kartusoff. Vorübergehend kam manchmal auch noch ein wißbegieriger alter kleiner Herr, aber der starb. Einmal führte Liputin einen verbannten polnischen Geistlichen, Slonzewski, bei uns ein, und anfangs ließen wir ihn aus Grundsatz an unseren Abenden teilnehmen, dann aber lehnten wir ihn doch ab.

IX.

Eine Zeitlang hieß es von uns in der Stadt, unser Kreis sei eine Pflanzstätte der Freigeisterei, der Sittenverderbnis und der Gottlosigkeit; ja eigentlich behauptete sich dieser Ruf sogar die ganze Zeit. Und dabei gab es bei uns doch nur das allerunschuldigste, liebe, echt russische, heitere, liberale Geschwätz. Der „höhere Liberalismus“ und der „höhere Liberale“, d. h. ein Liberaler ohne jedes Ziel, sind ja nur in Rußland möglich. Stepan Trophimowitsch brauchte, wie jeder wortwitzige Mensch, ganz einfach einen Zuhörer, und außerdem war ihm das Bewußtsein unentbehrlich, daß er die höchste Pflicht, Ideen zu verbreiten, erfülle. Und schließlich mußte man doch jemanden haben, mit dem man Champagner trinken und so beim Glase eine gewisse Art heiterer Gedanken über Rußland und den „russischen Geist“, über Gott im allgemeinen und den russischen Gott im besonderen austauschen konnte. Aber auch dem Stadtklatsch waren wir ganz und gar nicht abgeneigt und gelangten manchmal zu strengen, hochmoralischen Verurteilungen. Wir gerieten auch auf das Thema der Weltgeschichte, erörterten ernst das zukünftige Schicksal Europas und der Menschheit; prophezeiten doktrinär, daß Frankreich nach dem Cäsarismus mit einem Schlage auf die Stufe eines Staates zweiten Ranges herabsinken werde, und waren vollkommen überzeugt, daß das ungeheuer schnell und leicht geschehen könne. Dem Papst hatten wir schon längst die Rolle eines gewöhnlichen Metropoliten in dem geeinigten Italien vorausgesagt, und waren vollkommen überzeugt, daß diese ganze tausendjährige Frage in unserem Jahrhundert der Humanität, der Industrie und der Eisenbahnen nur eine Lappalie sei. Aber der „höhere russische Liberalismus“ verhält sich ja nun einmal nicht anders zu der Sache. Manchmal sprach Stepan Trophimowitsch auch über die Kunst, und zwar sehr gut, bloß leider ein wenig zu abstrakt. Hin und wieder kam er auch auf seine Jugendfreunde zu sprechen – lauter Persönlichkeiten, die in der Geschichte unserer Entwicklung ihren Platz haben –, er gedachte ihrer mit Rührung und Verehrung, aber ein wenig auch wie mit Neid. Wurde es einmal gar zu langweilig, dann setzte sich das Jüdchen Lämschin (ein kleiner Postbeamter), der meisterhaft Klavier spielte, an das Instrument, und zwischen den Stücken, die er vortrug, ahmte er in Tönen das Grunzen eines Schweines nach, oder ein Gewitter, oder eine Entbindung mit dem ersten Schrei des Kindes usw., usw.; nur deswegen wurde er auch eingeladen. Hatten wir stark getrunken – und das kam vor, wenn auch nicht oft –, so gerieten wir meist in Begeisterung, und einmal sangen wir sogar im Chor, zu Lämschins Begleitung, die Marseillaise, nur weiß ich nicht, ob das, was dabei herauskam, auch wirklich die Marseillaise war. Den großen Tag des 19. Februar[17] feierten wir natürlich mit Enthusiasmus, und gewöhnten uns diese Feier mit Wein und Toasten auch in den folgenden Jahren noch lange nicht ab. Übrigens: einige Zeit vor dem großen Tage hatte Stepan Trophimowitsch sich angewöhnt, ein paar geschraubte Strophen vor sich hinzumurmeln, die damals allen bekannt waren:

„Es nahen die Männer, die Äxte geschärft,

Bereiten Schreckliches vor!“

Als Warwara Petrowna das einmal vernahm, rief sie: „Was für ein Unsinn!“ und verließ erzürnt das Zimmer. Liputin aber, der gerade zugegen war, bemerkte boshaft zu Stepan Trophimowitsch: „Aber es wäre doch schade, wenn die früheren Leibeigenen den Herren Gutsbesitzern etwas Unangenehmes bereiteten,“ – und er fuhr sich mit dem Zeigefinger um den Hals herum.

Cher ami,“[6] erwiderte ihm hierauf Stepan Trophimowitsch gutmütig, „glauben Sie mir, daß dieses“ (er wiederholte die Geste um den Hals herum) „nicht den geringsten Nutzen brächte, weder unseren Gutsbesitzern, noch uns anderen insgesamt. Auch ohne Köpfe würden wir nichts herzustellen verstehen, obschon gerade unsere Köpfe uns am meisten hindern, etwas zu verstehen.“

Ich muß bemerken, daß viele bei uns annahmen, am Tage des Manifestes werde etwas Ungewöhnliches geschehen; etwas von der Art, wie es Liputin andeutete. Es scheint, daß auch Stepan Trophimowitsch diese Befürchtungen teilte, und sogar in solchem Maße, daß er kurz vor dem großen Tage Warwara Petrowna plötzlich zu bitten begann, ins Ausland reisen zu dürfen. Aber der große Tag verging, es vergingen noch mehr Tage, und das hochmütige Lächeln erschien wieder auf Stepan Trophimowitschs Lippen. Übrigens äußerte er damals einige bemerkenswerte Gedanken über den Charakter des Russen im allgemeinen und des russischen Bauern im besonderen. Er meinte schließlich:

„Als hitzige Leute sind wir etwas voreilig gewesen mit unseren Bäuerlein. Wir haben sie in Mode gebracht, und ein ganzer Zweig unserer Literatur hat sich mehrere Jahre lang nur mit ihnen abgegeben, wie mit einer neuentdeckten Kostbarkeit. Wir haben Lorbeerkränze auf verlauste Köpfe gesetzt. Das russische Dorf hat uns im Laufe der ganzen tausend Jahre nichts weiter gegeben als den Nationaltanz, den Kamárinski. Hat doch ein hervorragender russischer Dichter, dem es überdies nicht an Scharfsinn fehlte, ausgerufen, als er zum erstenmal die große Rachel auf der Bühne sah: ‚Die Rachel tausche ich nicht gegen einen russischen Bauern ein!‘ Ich bin bereit, noch viel weiter zu gehen: ich würde sogar alle russischen Bauern für die eine Rachel hingeben. Es ist Zeit, nüchterner zu urteilen und nicht unseren einheimischen unfeinen Teergeruch mit bouquet de l’impératrice[7] zu verwechseln.“

Liputin stimmte ihm sofort bei, meinte aber, daß sich zu verstellen und die Bäuerlein zu verherrlichen damals immerhin um der Richtung[18] willen notwendig gewesen sei; daß sogar die Damen der höchsten Gesellschaftskreise bei der Lektüre des „Anton Pechvogel“[19] Tränen vergossen hätten, und manche hätten sogar aus Paris an ihre Gutsverwalter geschrieben, sie sollten von nun an mit den Bauern möglichst human umgehen.

Da geschah es eines Tages, und zum Unglück gerade nach den ersten Gerüchten von Anton Petrowitsch[20], daß es auch in unserem Gouvernement, und nur 15 Werst von Skworeschniki, zu einem gewissen Mißverständnis kam, so daß man in der ersten Hitze ein Militärkommando hinschickte. Über diesen Vorfall regte sich Stepan Trophimowitsch ungeheuer auf. Im Klub schrie er, wir brauchten mehr Militär; er eilte zum Gouverneur, um zu versichern, daß er mit diesen Umtrieben nichts zu schaffen habe, und er bat, ihn nicht in diese Sache hineinzuziehen, auf Grund der Erinnerung an Gewesenes. Zum Glück ging das alles bald vorüber und löste sich in nichts auf; nur mußte ich mich damals doch über Stepan Trophimowitsch wundern.

Drei Jahre später[21] begann man, wie erinnerlich, vom Nationalismus zu sprechen und es bildete sich eine „öffentliche Meinung“. Darüber spottete er sehr.

„Meine Freunde,“ belehrte er uns, „sollte unsere Nationalität neuerdings wirklich geboren oder ‚im Entstehen begriffen‘ sein, wie sie jetzt in den Zeitungen behaupten, dann sitzt sie doch vorläufig gewiß noch in irgend so einer Petrischule[22], über dem deutschen Buch und lernt ihre ewige deutsche Lektion. Daß der Lehrer ein Deutscher ist, das lobe ich. Doch am wahrscheinlichsten dürfte sein, daß nichts geschehen wird und nichts ‚im Entstehen begriffen‘ ist, sondern alles so weitergeht wie ehedem, nämlich einfach unter Gottes Schutz! Meinem Dafürhalten nach genügt das auch für Rußland, pour notre sainte Russie.[8] Zudem sind doch alle diese Nationalismen und das Allslawentum viel zu alt, um neu zu sein. Die Nationalität ist doch bei uns, wenn Sie wollen, noch nie anders in Erscheinung getreten, als in Gestalt eines Einfalls müßiger Klubherren, und zum Überfluß noch eines Moskauer Klubs. Ich rede natürlich nicht von den Zeiten Igors[23]. Und schließlich kommt doch alles nur vom Müßigsein. Jedenfalls bei uns alles vom Müßigsein, auch das Gute, auch das Schöne. Alles von unserem herrschaftlichen, lieben, gebildeten, launenzüchtenden Müßigsein! Dreißigtausend Jahre lang wiederhole ich das schon! Wir verstehen nicht, von eigener Arbeit zu leben. Und was reden sie nur so viel von dieser öffentlichen Meinung, die es bei uns jetzt auf einmal geben soll, – so plötzlich, wie ohne weiteres fertig vom Himmel gefallen? Begreifen die Leute denn wirklich nicht, daß zur Erlangung einer eigenen Meinung vor allen Dingen Arbeit gehört, eigene Mühe, eigener Versuch in der Sache, eigene Erfahrung! Ohne eigene Mühe wird nie etwas erworben. Wenn wir arbeiten werden, werden wir auch eine eigene Meinung haben. Da wir aber niemals arbeiten werden, so wird auch immer die Meinung derjenigen maßgebend sein, die an unserer Statt bisher gearbeitet haben, also die Meinung immer desselben Europa, immer derselben Deutschen, die ja schon seit zwei Jahrhunderten unsere Lehrer sind. Überdies ist Rußland ein viel zu großes Mißverständnis, als daß wir allein es erklären könnten, ohne die Deutschen und ohne Arbeit. Schon seit zwanzig Jahren läute ich die Alarmglocke und rufe zur Arbeit! Ich habe mein Leben dafür hingegeben, um aufzuwecken und zu rufen, und habe geglaubt, ich Tor, daß es nicht vergeblich sei! Jetzt glaube ich das nicht mehr, aber ich werde trotzdem bis zum Schluß läuten, bis man mir den Strang aus der Hand nimmt, um zu meiner Seelenmesse zu läuten!“

Leider stimmten wir ihm damals bei. Aber hört man denn nicht auch jetzt noch oft genug genau solchen „lieben“, „klugen“, „liberalen“, alten, russischen Unsinn?

An Gott glaubte unser Lehrer. „Ich begreife nicht, warum mich hier alle als einen Gottleugner hinstellen?“, sagte er manchmal. „Ich glaube an Gott, mais distinguons:[9] ich glaube an ihn wie an ein Wesen, das sich Seiner in mir nur bewußt wird. Ich kann doch nicht wie Nastassja glauben“ (sein Dienstmädchen), „oder wie irgend so ein begüterter Herr, der nur ‚für alle Fälle‘ glaubt, oder wie unser lieber Schatoff, – übrigens nein, Schatoff kommt hier nicht in Frage. Schatoff glaubt gewaltsam, wie ein Moskauer Slawophile. Was aber das Christentum betrifft, so bin ich, bei all meiner aufrichtigen Hochachtung vor ihm, doch kein Christ. Eher bin ich ein Heide der klassischen Vorzeit, wie es der große Goethe war, oder ein antiker Grieche. Schon dieses Eine, daß das Christentum für das Weib kein Verständnis hatte! – wie das George Sand in einem ihrer genialen Romane so glänzend auseinandergesetzt hat. Und was den Ritus, Fasten und dergleichen betrifft, ja da begreife ich nicht, wen das etwas angeht, wie ich mich dazu verhalte? Mögen unsere hiesigen Denunzianten sich auch noch so sehr bemühen, zum Jesuiten will ich deshalb doch nicht werden. 1847 schrieb Belinski aus dem Auslande an Gogol seinen bekannten Brief, in dem er ihm heftig vorwarf, daß er an ‚irgendeinen Gott‘ glaube. Entre nous soit dit,[10] ich kann mir nichts Komischeres denken, als den Augenblick, da Gogol (der Gogol von damals![24]) diesen Brief las! Ja, das waren doch Männer! Sie liebten doch ihr Volk, sie waren imstande, um des Volkes willen zu leiden, ja sogar alles fürs Volk zu opfern, und doch waren sie gleichzeitig Manns genug, diesem Volk nicht beizupflichten, wenn es galt, die eigene Überzeugung zu wahren, ihm nicht nachsichtig in gewissen Anschauungen zu Gefallen zu reden. Ein Belinski konnte doch nicht in Fastenöl oder in Rettich mit Erbsen das Heil suchen! ...“

Doch hier ergriff Schatoff Partei:

„Nie haben diese Ihre Männer das Volk geliebt, nie um des Volkes willen gelitten und nichts haben sie fürs Volk geopfert, wie sehr sie sich das auch eingebildet haben mögen!“ brummte er unwirsch mit ungeduldigem Ruck, doch gesenktem Blick.

„Was, die sollen das Volk nicht geliebt haben!“ rief Stepan Trophimowitsch entrüstet. „Oh, und wie haben sie Rußland geliebt!“

„Weder Rußland noch das Volk!“ rief nun auch Schatoff erzürnt; seine Augen funkelten. „Man kann nicht lieben, was man gar nicht kennt, sie aber hatten ja vom russischen Volke überhaupt keinen Begriff! Alle diese Männer haben das russische Volk einfach übersehen. Belinski hat genau wie der Wißbegierige in der Kryloffschen Fabel den Elefanten im Museum gar nicht bemerkt, da er ja seine ganze Aufmerksamkeit den französischen sozialistischen Käferchen zuwandte; bei denen ist er auch ewig geblieben. Und dabei war er doch noch der Gescheiteste von euch allen! Und nicht nur übersehen haben Sie alle das Volk, Sie haben sich sogar mit Ekel und Verachtung zu ihm verhalten, schon aus dem einen Grunde, weil Sie sich unter einem Volk einzig das französische Volk vorzustellen vermochten, und selbst von diesem nur die Pariser, und Sie schämten sich, daß das russische Volk nicht ebenso war. Das ist die nackte Wahrheit! Wer aber kein Volk hat, der hat auch keinen Gott! Seien Sie versichert, daß alle die, die aufhören, ihr Volk zu verstehen, und die Verbindung mit ihm verlieren, sofort auch den Glauben der Väter verlieren und Atheisten oder Indifferente werden. Ich sage damit nur die Wahrheit! Das ist auch der Grund, weshalb Sie alle und auch wir jetzt alle entweder widerliche Atheisten oder indifferentes, verderbtes Pack sind und nichts weiter! Sie gleichfalls, Stepan Trophimowitsch, ich schließe Sie keineswegs aus, hab’s sogar vor allem in bezug auf Sie gesagt, damit Sie’s wissen!“

Nach einem solchen Monolog (und derartige Ausbrüche kamen bei ihm oft vor) geschah es gewöhnlich, daß Schatoff nach seiner Mütze griff und sofort zur Tür hinaus wollte, in der festen Überzeugung, daß nun alles zu Ende sei und er seine freundschaftlichen Beziehungen zu Stepan Trophimowitsch für immer zerstört habe. Doch der verstand es stets, ihn rechtzeitig zurückzuhalten.

„Ei, sollten wir nicht Frieden schließen, Schatoff, nach all diesen netten Wörtchen?“ pflegte er dann zu ihm zu sagen, indem er ihm von seinem Lehnstuhl aus gutmütig die Hand hinstreckte.

Der plumpe, doch leicht verlegen werdende und sich schämende Schatoff war kein Freund von Zärtlichkeiten. Äußerlich war er ein rauher Mensch, doch innerlich war er, glaube ich, unendlich zartfühlend. Wohl überschritt er oft das Maß, aber er war selbst der erste, der darunter litt. Auf Stepan Trophimowitschs versöhnliche Worte brummte er etwas vor sich hin, trat wie ein Bär auf demselben Fleck von einem Bein auf das andere, schmunzelte plötzlich ganz unvermittelt, legte die Mütze wieder aus der Hand und setzte sich schließlich auf seinen alten Platz, den Blick die ganze Zeit hartnäckig zu Boden gesenkt. Natürlich gab es dann sofort Wein und Stepan Trophimowitsch brachte einen passenden Toast aus, z. B. auf das Andenken eines jener früheren bedeutenden Männer.

Zweites Kapitel.
Prinz Heinz. Die Brautwerbung.

I.

Außer Stepan Trophimowitsch gab es auf der Welt noch ein Wesen, an dem Warwara Petrowna nicht weniger hing als an ihm: das war ihr einziger Sohn Nicolai Wszewolodowitsch Stawrogin. Für ihn war seinerzeit Stepan Trophimowitsch als Erzieher angenommen worden. Der Knabe war damals acht Jahre alt und seine Eltern lebten bereits getrennt, so daß das Kind nur unter der Obhut der Mutter heranwuchs. Man muß es Stepan Trophimowitsch lassen: er verstand es, seinen Zögling an sich zu fesseln. Sein ganzes Geheimnis bestand darin, daß er selbst noch ein Kind war. Ich war damals noch nicht hier, er aber bedurfte ja beständig eines Freundes, und er trug kein Bedenken, ein so junges Wesen zu seinem Vertrauten zu machen. Ja, es machte sich ganz von selbst, daß zwischen ihnen nicht der geringste Abstand fühlbar ward. Oft weckte er seinen zehn- oder elfjährigen Freund in der Nacht auf, nur um ihm unter Tränen sein gekränktes Herz auszuschütten oder ihm ein Familiengeheimnis zu enthüllen, ohne gewahr zu werden, daß so etwas denn doch unzulässig war. Sie fielen einander um den Hals und weinten. Von seiner Mutter wußte der Knabe, daß sie ihn sehr liebte; doch er selbst liebte sie wohl kaum. Sie sprach wenig mit ihm, tat ihm selten einen Zwang an, aber ihr aufmerksam ihm folgender Blick wurde von ihm immer krankhaft intensiv gespürt. Den Unterricht und die moralische Erziehung überließ sie übrigens ganz Stepan Trophimowitsch. Damals glaubte sie an ihn noch ohne Einschränkung. Es ist anzunehmen, daß der Lehrer die Nerven seines Zöglings ein wenig angegriffen hat: als dieser mit sechzehn Jahren auf das Lyzeum gebracht wurde, war er schwächlich und blaß, seltsam still und nachdenklich. (Später zeichnete er sich durch außergewöhnliche Körperkraft aus.) Anzunehmen ist ferner, daß die Freunde nachts nicht immer nur über irgendwelche Familiengeschichten weinten. Stepan Trophimowitsch hatte es verstanden, im Herzen seines Freundes die tiefsten Saiten zu berühren, und in ihm das erste, noch unbestimmte Empfinden jener ewigen, heiligen Sehnsucht hervorzurufen, die manche auserwählte Seele, die sie einmal gekostet und erkannt hat, nachher schon nie mehr gegen eine billige Zufriedenheit eintauschen mag. (Es gibt auch solche Liebhaber dieser Sehnsucht, denen sie teurer ist als die vollkommenste Zufriedenheit, selbst wenn eine solche für sie wirklich erreichbar wäre.) Jedenfalls aber war es gut, daß der Zögling und der Erzieher, wenn auch spät, voneinander getrennt wurden.

Während der ersten zwei Jahre im Lyzeum kam der Jüngling in den Ferien nach Haus. Als dann Warwara Petrowna und Stepan Trophimowitsch sich in Petersburg aufhielten, fand auch er sich manchmal zu den literarischen Abenden im Salon seiner Mutter ein, hörte zu und beobachtete. Er sprach wenig und war wie immer still und schüchtern. Zu Stepan Trophimowitsch verhielt er sich mit der früheren zarten Aufmerksamkeit, war aber doch etwas zurückhaltender: von hohen Dingen und Erinnerungen an Vergangenes zu sprechen vermied er sichtlich. Als er das Lyzeum absolviert hatte, trat er auf den Wunsch der Mutter beim Militär ein und wurde bald in eines der angesehensten Garde-Kavallerieregimenter aufgenommen. Er kam aber nicht zur Mutter, um sich ihr in der Uniform zu zeigen, und schrieb aus Petersburg immer seltener. Geld schickte ihm Warwara Petrowna ohne zu sparen, obschon die Einnahmen von ihren Gütern nach der Aufhebung der Leibeigenschaft so zurückgegangen waren, daß sie in der ersten Zeit nicht einmal die Hälfte der früheren Summen erhielt. Für die Erfolge ihres Sohnes in der höchsten Petersburger Gesellschaft interessierte sie sich sehr. Was ihr nicht gelungen war, gelang dem jungen, reichen und hoffnungsvollen Offizier ohne weiteres. Er erneuerte Bekanntschaften, an die sie nicht mehr hatte denken können, und überall wurde er mit dem größten Vergnügen aufgenommen. Doch schon sehr bald begannen seltsame Gerüchte ihr zu Ohren zu kommen: es hieß, der junge Mann habe ganz plötzlich und geradezu sinnlos toll zu leben begonnen. Nicht, daß er spiele oder trinke; aber man sprach von einer wilden Zügellosigkeit, von Menschen, die er mit seinen Trabern überfahren hatte, von einer grausamen Rücksichtslosigkeit gegen eine Dame der guten Gesellschaft, mit der er in Beziehungen gestanden und die er dann öffentlich beleidigt habe. Ja, in dieser Sache sei sogar etwas schon gar zu unverhüllt Schmutziges hervorgetreten. Und überhaupt sei er, wie man hinzufügte, ein herausfordernder Streitsucher, bändele an und beleidige dann einfach aus Lust am Beleidigen. Warwara Petrowna regte sich auf und war bekümmert. Stepan Trophimowitsch versicherte ihr, das seien nur die ersten stürmischen Ausbrüche eines allzu reich Veranlagten, das Meer werde sich schon wieder beruhigen, und alles das erinnere nur an die Jugend des Prinzen Heinz, der mit Falstaff, Poins und Mrs. Quickly seine Streiche vollführte. Diesmal rief Warwara Petrowna nicht „Unsinn, alles Unsinn!“ wie sie es sich in der letzten Zeit Stepan Trophimowitschs Auseinandersetzungen gegenüber angewöhnt hatte; im Gegenteil, sie hörte sehr aufmerksam zu, ließ sich alles ausführlich erklären, nahm dann selbst den Shakespeare zur Hand und las überaus achtsam das unsterbliche Werk. Doch die Lektüre beruhigte sie nicht, auch fand sie die Ähnlichkeit nicht so groß. Fieberhaft erwartete sie die Antworten auf mehrere Briefe. Die blieben auch nicht aus; bald traf die unheilvolle Nachricht ein, Prinz Heinz habe fast zu gleicher Zeit zwei Duelle gehabt, sei bei beiden der einzig Schuldige gewesen, habe den einen Gegner auf der Stelle niedergestreckt und den anderen zum Krüppel geschossen und infolgedessen sei er vor Gericht gestellt. Es endete damit, daß er zum Gemeinen degradiert, seiner Rechte beraubt und strafweise in eines der Linien-Infanterieregimenter versetzt wurde, und das war noch als ein besonders gnädiges Urteil zu betrachten.

Im Jahre 1863 gelang es ihm, sich auszuzeichnen; er erhielt das Ehrenkreuz und wurde zum Unteroffizier befördert, dann aber merkwürdig schnell auch zum Offizier. Inzwischen hatte seine Mutter wohl an hundert Briefe mit Bitten und Beschwörungen nach Petersburg geschrieben und sich um seinetwillen sogar manches Demütigende erlaubt. Nach seiner Beförderung nahm der junge Mensch plötzlich seinen Abschied, kam aber wieder nicht nach Skworeschniki und hörte sogar ganz auf, an die Mutter zu schreiben. Man erfuhr schließlich auf Umwegen, daß er sich wieder in Petersburg aufhalte, doch in der früheren Gesellschaft habe man ihn gar nicht mehr gesehen; er habe sich irgendwo gleichsam versteckt. Nachforschungen ergaben, daß er in einer sonderbaren Gesellschaft lebte, sich dem Abschaum der Petersburger Bevölkerung angeschlossen hatte, irgendwelchen stiefellosen Beamten, verabschiedeten Militärs, die in angemessener Form um Almosen baten, Trunkenbolden, deren schmutzige Familien er besuchte, Tage und Nächte in dunklen Spelunken und in Gott weiß was für Winkelgassen zubrachte, heruntergekommen, verlumpt war, und daß ihm das offenbar gefalle. Um Geld bat er seine Mutter nicht; er besaß ja auch selbst ein kleines Gut (den früheren Dorfbesitz des Generals Stawrogin), das immerhin etwas einbrachte und das er, wie verlautete, an einen Deutschen aus Sachsen verpachtet hatte. Schließlich bat ihn die Mutter doch sehr, zu ihr zu kommen, und Prinz Heinz erschien in unserer Stadt. Damals sah ich ihn zum erstenmal.

Er war ein sehr schöner junger Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren, und ich muß gestehen, seine Erscheinung überraschte mich. Ich hatte erwartet, einen schmutzigen, verkommenen, von Ausschweifungen ausgemergelten, nach Branntwein riechenden Menschen zu erblicken. Statt dessen erblickte ich den elegantesten Gentleman, der mir je zu Gesicht gekommen ist. Tadellos gekleidet und von einer Haltung, wie sie nur ein Herr, der an den feinsten Anstand gewöhnt ist, haben kann. Ich war nicht der einzige, der staunte: es staunte die ganze Stadt, der übrigens Herrn Stawrogins Lebensgeschichte sogar mit solchen Einzelheiten bekannt war, daß man sich kaum zu erklären vermochte, wie diese hier in die Öffentlichkeit hatten gelangen können. Alle unsere Damen verloren den Verstand vor Aufregung über den neuen Gast. Sie teilten sich in zwei schroff entgegengesetzte Parteien: von der einen wurde er vergöttert, von der anderen gehaßt bis zum Blutrachedurst; den Verstand freilich hatten beide Parteien verloren. Für die einen hatte es einen besonderen Reiz, daß sich in seiner Seele vielleicht ein schreckliches Geheimnis barg; anderen gefiel es entschieden, daß er ein Mörder war. Es stellte sich auch heraus, daß er eine überaus annehmbare Bildung und sogar einige wissenschaftliche Kenntnisse besaß. Von letzteren war allerdings nicht viel nötig, um uns in Erstaunen zu setzen; aber er konnte auch über aktuelle und sehr interessante Fragen sprechen und sogar mit auffallender Besonnenheit. Erwähnt sei noch als Seltsamkeit: alle fanden hier, daß er ein überaus vernünftiger Mensch sei. Er war nicht sehr gesprächig, formvollendet ohne Gesuchtheit, erstaunlich bescheiden und dabei kühn und selbstbewußt, wie bei uns sonst niemand. Unsere Stutzer sahen auf ihn mit Neid und kamen neben ihm überhaupt nicht in Betracht. Auch sein Gesicht überraschte mich: das Haar war fast schon gar zu schwarz, die hellen Augen fast schon zu ruhig und klar, die Gesichtsfarbe fast schon zu zart und weiß, die Wangenröte ebenfalls wie ein wenig zu grell und rein, die Zähne wie Perlen, die Lippen wie Korallen, – man sollte meinen, ein bildschöner Mann, und doch war diese Schönheit gleichsam auch abstoßend. Manche sagten, sein Gesicht erinnere an eine Maske; doch übrigens, was wurde nicht alles gesagt. Unter anderem sprach man auch viel von seiner außergewöhnlichen Körperkraft. Dabei war er von Gestalt beinahe hoch gewachsen. Warwara Petrowna blickte mit Stolz auf ihren Sohn, aber immer auch mit Unruhe. Er lebte bei uns etwa ein halbes Jahr – träge, still, ziemlich verdrossen; er verkehrte in der Gesellschaft, und erfüllte mit standhafter Aufmerksamkeit alle Vorschriften unserer Gouvernementsstadt-Etikette. Mit dem Gouverneur war er väterlicherseits verwandt und verkehrte in seinem Hause wie ein naher Verwandter. So vergingen ein paar Monate, und plötzlich zeigte das Tier seine Krallen.

Nebenbei: unser lieber Iwan Ossipowitsch hätte in der guten alten Zeit bei seiner Gastfreiheit einen vorzüglichen Adelsmarschall abgegeben, aber zum Gouverneur in einer so mühevollen Zeit wie die unsrige paßte er mit seiner Arbeitsscheu entschieden nicht. In der Stadt hieß es denn auch immer, nicht er, sondern Warwara Petrowna verwalte das Gouvernement. Das war freilich eine spitze Bemerkung, aber trotzdem eine Unwahrheit. Warwara Petrowna hatte in den letzten Jahren konsequent und bewußt jeden höheren Ehrgeiz aufgegeben und ihre Tätigkeit freiwillig auf ein von ihr selbst streng umgrenztes Gebiet beschränkt. Sie begann sich plötzlich mit der Bewirtschaftung ihres Gutes zu befassen, und in zwei, drei Jahren hatte sie den Ertrag desselben nahezu wieder auf die frühere Höhe gebracht. Statt sich literarischem Ehrgeiz hinzugeben, begann sie zu sparen. Selbst Stepan Trophimowitsch wurde von ihr etwas weiter entfernt, indem sie ihm jetzt endlich eine eigene Wohnung zu mieten erlaubte. Allmählich begann er sie eine prosaische Frau zu nennen, oder scherzhaft seinen „prosaischen Freund“. Selbstredend erlaubte er sich solche Scherze nur in der respektvollsten Form und nachdem er lange einen passenden Augenblick abgewartet hatte.

Wir alle, die wir ihr nahestanden, begriffen natürlich, daß der Sohn für sie gleichsam zu einer neuen Hoffnung, einem neuen Traum geworden war. Ihre leidenschaftliche Liebe zu ihm hatte schon in der Zeit seiner ersten Erfolge in der Petersburger Gesellschaft begonnen, und war dann besonders seit dem Augenblick gewachsen, als sie die Nachricht von seiner Degradation erhalten hatte. Und dabei fürchtete sie ihn doch offensichtlich und schien vor ihm förmlich seine Sklavin zu sein. Man merkte ihr an, daß sie etwas Unbestimmtes, Geheimnisvolles fürchtete, etwas, das auch sie selbst nicht zu nennen vermocht hätte, und oft betrachtete sie heimlich und unverwandt ihren Nicolas, als überlege sie und als suche sie etwas zu erraten ... und siehe da: plötzlich – streckte das Tier seine Krallen aus.

II.

Unvermutet erlaubte sich unser Prinz zwei, drei unmögliche Frechheiten gegen verschiedene Personen. Das Empörendste an ihnen war gerade ihre unerhörte Neuheit, ihre Unglaublichkeit; daß sie tatsächlich allen sonst üblichen Dreistigkeiten so unähnlich waren in ihrer törichten Bengelhaftigkeit, überdies weiß der Teufel wozu eigentlich begangen, so vollständig ohne jeden Anlaß. Eines der ehrenwertesten Häupter unseres Klubs, Pjotr Pawlowitsch Gaganoff, ein bejahrter und sogar verdienstvoller Mann, hatte die unschuldige Angewohnheit, zur Bekräftigung jeder Behauptung heftig hinzuzufügen: „Nein, mich wird man nicht an der Nase führen!“ Nun, das hatte ja weiter nichts auf sich. Aber als er eines Tages im Klub in der Hitze des Wortgefechts, inmitten einer Schar ihn umstehender Klubherren (lauter angesehner Persönlichkeiten) wieder einmal diesen Nachsatz anhing, trat Nicolai Wszewolodowitsch, der am Gespräch ganz unbeteiligt und allein abseits gestanden hatte, plötzlich auf Pjotr Pawlowitsch zu, faßte ihn unerwartet aber fest mit zwei Fingern an der Nase und zog ihn ein paar Schritte weit im Saal hinter sich her. Einen Groll konnte er gegen Herrn Gaganoff nicht haben. Man hätte das für einen echten Schuljungenstreich halten können, natürlich für einen ganz unverzeihlichen; indes war Nicolai Wszewolodowitsch, wie man später erzählte, im Augenblick der Tat geradezu nachdenklich, „ganz als wäre er nicht völlig bei Sinnen gewesen“, aber das vergegenwärtigte man sich und erwog man erst später. In der ersten Empörung dachten alle nur an den zweiten Augenblick, als er alles bereits zweifellos richtig begriff, jedoch statt verlegen zu werden, plötzlich boshaft und belustigt lächelte, „ohne die geringste Reue“, wie es hieß. Es erhob sich ein schrecklicher Lärm; er wurde umringt. Nicolai Wszewolodowitsch wandte sich um, sah ringsum alle an, ohne jemandem zu antworten, und betrachtete interessiert die Gesichter der erregt Durcheinanderschreienden. Schließlich war es, als werde er plötzlich wieder nachdenklich – wenigstens wurde später so erzählt –, er runzelte die Stirn, trat dann festen Schrittes auf den beleidigten Pjotr Pawlowitsch zu und sagte schnell, dabei sichtlich geärgert:

„Sie entschuldigen natürlich ... Ich weiß wirklich nicht, weshalb mich plötzlich die Lust anwandelte ... Es war eine Dummheit ...“

Die Nachlässigkeit dieser Entschuldigung kam einer neuen Beleidigung gleich. Es erhob sich ein noch größeres Geschrei. Nicolai Wszewolodowitsch zuckte mit den Achseln und ging hinaus. Nun kannte die Empörung keine Grenzen, und Herr Stawrogin wurde sofort einstimmig aus der Zahl der Mitglieder des Klubs ausgeschlossen. Darauf wurde im Namen des ganzen Klubs an den Gouverneur die Bitte gerichtet, mittels der ihm anvertrauten Administrativgewalt den „schädlichen Unruhstifter zu zügeln und damit die Ruhe der gesamten anständigen Gesellschaft unserer Stadt gegen schädliche Anschläge zu sichern“. Mit boshafter Unschuld wurde hinzugefügt, „vielleicht lasse sich auch gegen Herrn Stawrogin ein Gesetz finden“, um dem Gouverneur wegen Warwara Petrowna einen Stich zu versetzen. Der Gouverneur war gerade verreist, wurde aber bald zurückerwartet. Inzwischen bereitete man dem beleidigten Pjotr Pawlowitsch richtige Ovationen: man umarmte und küßte ihn, die ganze Stadt machte bei ihm Visite. Man plante sogar ihm zu Ehren ein Diner im Klub, auf Subskription, und gab es nur auf seine dringende Bitte hin auf, – vielleicht aber auch, weil man sich schließlich darauf besann, daß der Mann ja immerhin an der Nase geführt worden war und mithin eigentlich kein Grund zu Festlichkeiten vorlag.

Indes, wie hatte das alles nur geschehen können? Bemerkenswert war besonders der Umstand, daß kein Mensch diesen Streich auf zeitweiliges Irresein zurückführte. Also traute man offenbar auch einem gesunden und geistesklaren Nicolai Wszewolodowitsch Derartiges zu.

Bemerkenswert erschien mir auch jener Ausbruch eines allgemeinen Hasses, mit dem bei uns damals alle über den „Ruhestörer und großstädtischen bretteur[11] herfielen. Man wollte in jener Tat unbedingt die „freche, wohlüberlegte Absicht“ sehen, mit einem Schlage „die ganze Gesellschaft zu beleidigen“. Jedenfalls hatte er niemanden für sich gewonnen, sondern alle gegen sich in Harnisch gebracht, und wodurch nur? Bis dahin hatte er noch niemanden gekränkt, höflich aber war er schon so gewesen, wie ein Herr aus einem Modeblatt, wenn der nur sprechen könnte. Ich nehme an, daß man ihn wegen seines Stolzes haßte. Selbst unsere Damen, die mit seiner Vergötterung begonnen hatten, entrüsteten sich jetzt über ihn noch ärger als die Männer.

Warwara Petrowna war furchtbar betroffen. Später gestand sie einmal Stepan Trophimowitsch, sie habe das schon lange, schon das ganze halbe Jahr kommen fühlen, und sogar „gerade etwas in dieser Art“, ein bedeutsames Bekenntnis von seiten einer leiblichen Mutter. „Es hat also angefangen!“ dachte sie erschauernd. Nach einer schlaflosen Nacht und nachdem sie am Morgen Stepan Trophimowitsch um Rat gefragt und bei ihm sogar geweint hatte, was ihr noch nie in Gegenwart anderer geschehen war, wollte sie vorsichtig, aber entschlossen eine Aussprache mit ihrem Sohn herbeiführen. Und doch zitterte sie davor. Nicolas, der stets so höflich und ehrerbietig gegen die Mutter war, hörte sie eine Weile, die Augenbrauen zusammengezogen, sehr ernst an; plötzlich stand er auf, ohne ein Wort zu antworten, küßte ihr die Hand und ging hinaus. Am Abend desselben Tages aber kam es dann gleich zu einem zweiten Skandal, der, wenn er auch längst nicht so schlimm war wie der erste, die Entrüstung in der Stadt doch noch sehr verstärkte.

Diesmal traf es unseren Freund Liputin. Der erschien bei Nicolai Wszewolodowitsch gerade als dieser seine Mutter verlassen hatte, und bat ihn inständig, ihm die Ehre seines Besuchs zu erweisen: der Geburtstag seiner Frau sollte durch eine kleine Abendgesellschaft gefeiert werden. Warwara Petrowna hatte schon lange mit Sorge diese Neigung ihres Sohnes wahrgenommen, Bekanntschaften selbst mit Leuten der dritten Gesellschaftsschicht anzuknüpfen. Bei Liputin hatte er bisher noch nicht im Hause verkehrt. Er erriet, daß dieser ihn jetzt wegen des Skandals im Klub einlud, als Liberaler über diesen Skandal entzückt war und aufrichtig meinte, gerade so müsse man mit allen Häuptern des Klubs verfahren. Nicolas begann zu lachen und versprach zu kommen.

Die Gäste, von denen sich eine Menge eingefunden hatte, waren nicht Honoratioren, aber gewitzte Leute. Der geizige Liputin pflegte nur zweimal im Jahr Gäste einzuladen, dann aber einmal nicht zu knausern. Der Ehrengast Stepan Trophimowitsch war diesmal krankheitshalber nicht erschienen. Es wurde Tee gereicht, und es gab reichlich kalten Imbiß und Schnäpse; gespielt wurde an drei Tischen, die Jugend aber begann, in Erwartung des Abendessens, nach Klaviermusik zu tanzen. Nicolai Wszewolodowitsch forderte Frau Liputin auf – eine überaus nette kleine Frau, der vor ihm schrecklich bange war –, tanzte mit ihr zwei Touren, setzte sich dann neben sie, unterhielt sich mit ihr, brachte sie zum Lachen. Als er da bemerkte, wie hübsch sie war, wenn sie lachte, faßte er sie plötzlich vor den Augen aller Gäste um die Taille und küßte sie mitten auf den Mund, wohl dreimal hintereinander, mit ganzer Herzenslust. Die arme Frau fiel vor Schreck in Ohnmacht. Nicolai Wszewolodowitsch trat zu dem Ehemann, der in der allgemeinen Verwirrung wie betäubt dastand, wurde bei dessen Anblick selbst verlegen, und nachdem er ihm hastig zugemurmelt: „Seien Sie nicht böse,“ ging er hinaus. Liputin aber lief ihm ins Vorzimmer nach, reichte ihm eigenhändig den Pelz und geleitete ihn unter Verbeugungen die Treppe hinunter. Doch schon am nächsten Tage gab es zu dieser verhältnismäßig harmlosen Geschichte ein ganz ulkiges Nachspiel, das Liputin sogar ein gewisses Ansehen verschaffte und das er sogleich zu seinem größten Vorteil auszunutzen verstand.

Gegen zehn Uhr morgens erschien im Hause der Madame Stawrogina Liputins Magd Agafja, ein munteres, gewandtes, rotbackiges Weiblein von etwa dreißig Jahren; sie war von Liputin mit einem Auftrage zu Nicolai Wszewolodowitsch geschickt und wollte unbedingt „den Herrn selber sehen“. Der hatte starke Kopfschmerzen, kam aber doch heraus. Warwara Petrowna glückte es, die Ausrichtung des Auftrags mit anzuhören.

„Sergei Wassiljitsch“ (d. h. Liputin), begann Agafja wortgewandt zu plappern, „hat mir anbefohlen, vorerst seine beste Empfehlung auszurichten; und dann läßt er sich nach Ihrer Gesundheit erkundigen, wie Sie nun eigentlich geruht haben, nach dem Gestrigen sozusagen, und wie Sie sich nun eigentlich fühlen, eben nach dem Gestrigen, meint er?“

Nicolai Wszewolodowitsch lächelte.

„Bestelle meine Empfehlung, und ich ließe bestens danken. Und sage von mir deinem Herrn, Agafja, er wäre der klügste Mensch in der ganzen Stadt.“

„Ja und auf diese Antwort sollte ich Ihnen dann antworten,“ versetzte Agafja noch wortgewandter, „daß er das auch ohne Sie schon selber weiß und Ihnen ganz dasselbe wünscht, sozusagen.“

„Was! ... aber wie konnte er denn wissen, was ich dir antworten würde?“

„Ja, das weiß ich schon nicht, aber als ich schon hinausgegangen und schon die ganze Gasse hinuntergegangen war, höre ich plötzlich, er läuft mir nach, ohne Mütze, und: ‚Du,‘ sagte er, ‚Agafjuschka‘, sagte er, ‚wenn er dir nun sagt, bestelle deinem Herrn, daß er der Klügste in der ganzen Stadt ist, dann sag’ du ihm sogleich und vergiß das nicht, daß wir das auch ohne ihn schon wissen und ihm bloß auch dasselbe wünschen‘, sozusagen ...“

III.

Schließlich fand auch die Auseinandersetzung mit dem Gouverneur statt. Nach der so heftigen Beschwerde des Klubs war es diesem ja sofort klar, daß etwas geschehen mußte, aber was? Unserem gastfreundlichen alten Herrn schien sein junger Verwandter ebenfalls nicht ganz geheuer zu sein. Gleichwohl entschloß er sich endlich, ihm gütlich zuzureden, den Klub und den Beleidigten um Entschuldigung zu bitten, falls nötig sogar schriftlich; dann aber wollte er ihm wohlwollend nahelegen, z. B. zu Bildungszwecken nach Italien zu reisen oder überhaupt ins Ausland, etwas weiter weg von uns. In dem Raum, wo er diesmal Nicolas empfing, war wie zufällig noch sein Günstling und Sekretär Aljoscha Telätnikoff anwesend und damit beschäftigt, an einem Tisch in der Ecke Postsachen zu öffnen. Im Nebenzimmer aber saß in der Nähe der Tür ein dicker und kräftiger Oberst, ein Freund und früherer Kamerad des Hausherrn, und las die Zeitung „Die Stimme“, anscheinend ohne die Vorgänge im anderen Raum zu beachten. Iwan Ossipowitsch begann vorsichtig, holte weit aus, sprach fast flüsternd, verlor aber immer wieder den Faden. Nicolas schaute sehr unfreundlich drein, gar nicht wie ein Verwandter, war bleich, saß mit gesenktem Blick da und hörte mit zusammengezogenen Brauen zu, wie wenn er einen heftigen Schmerz unterdrückte.

„Sie haben ein gutes Herz, Nicolas, ein edles Herz,“ sagte unter anderem der alte Herr, „Sie sind überaus gebildet, haben sich in den höchsten Kreisen bewegt, haben sich auch bei uns bisher musterhaft aufgeführt und dadurch das Herz Ihrer von uns allen verehrten Mutter beruhigt ... Und nun beginnt das alles von neuem, und wieder in einem so rätselhaften und für alle gefährlichen Kolorit! Ich rede zu Ihnen als Freund Ihres Hauses, als ein Sie liebender, bejahrter Verwandter ... So sagen Sie doch, was in aller Welt treibt Sie zu solchen Ausschreitungen, die mit allen hergebrachten Formen und Sitten so unvereinbar sind?“

Nicolas hatte geärgert und ungeduldig zugehört. Plötzlich blitzte in seinem Blick gleichsam ein verschlagener und spöttischer Ausdruck auf: „Ich kann es Ihnen ja meinethalben sagen, was mich dazu treibt,“ sagte er unwirsch, sah sich um und beugte sich zum Ohr Iwan Ossipowitschs. – Der wohlerzogene Aljoscha Telätnikoff trat noch drei Schritte weiter zum Fenster, der Oberst räusperte sich hinter seiner Zeitung. Der arme Iwan Ossipowitsch hielt eilig und vertrauensvoll sein Ohr hin; er war äußerst neugierig. Und da geschah denn abermals etwas ganz Unmögliches und doch andererseits in einer Hinsicht nur zu Deutliches. Der alte Herr fühlte auf einmal, daß Nicolas, statt ihm ein interessantes Geheimnis zuzuflüstern, plötzlich den oberen Teil seines Ohres mit den Zähnen faßte und ziemlich fest zubiß.

Nicolas, was ... soll das!“ stöhnte er mechanisch mit einer ganz fremdklingenden Stimme. – Aljoscha und der Oberst begriffen nicht recht, was da vorging; es schien ihnen bis zum Schluß, daß dem Alten etwas zugeflüstert wurde, aber dessen verzweifeltes Gesicht beunruhigte sie doch. Sie glotzten sich mit aufgerissenen Augen an und wußten nicht, ob sie noch warten oder schon zu Hilfe eilen sollten, wie verabredet war. Nicolas erriet das wohl und biß noch ein wenig schmerzhafter zu.

Nicolas, Nicolas!“ stöhnte das Opfer wieder, „nun ... genug ... mit dem Scherz ...“ – Noch ein Augenblick, und der Arme wäre gestorben; doch der Unmensch hatte Erbarmen und ließ das Ohr los. Diese ganze Todesangst hatte eine volle Minute gedauert und der Alte bekam eine Art Ohnmachtsanfall. Eine halbe Stunde später aber wurde Nicolas verhaftet und eingesperrt. Das war freilich eine schroffe Maßnahme, doch unser weichherziger Regent war dermaßen erzürnt, daß er die Verantwortung selbst Warwara Petrowna gegenüber zu übernehmen wagte. Und tatsächlich, als diese sofort eilig und erregt zum Gouverneur gefahren kam, wurde ihr erklärt, daß sie nicht empfangen werden könne, und ohne auszusteigen fuhr sie heim. Sie konnte diese Absage zunächst überhaupt nicht fassen.

Endlich aber fand alles seine Erklärung! Gegen zwei Uhr nachts begann der Arrestant, der bis dahin erstaunlich ruhig gewesen war und sogar geschlafen hatte, plötzlich zu toben, schlug mit den Fäusten gegen die Tür, riß mit übermenschlicher Kraft das eiserne Gitter von dem Fenster ab, zerschlug die Scheibe und zerschnitt sich dabei die Hände. Als der wachhabende Offizier mit der Mannschaft herbeigeeilt kam und die Zelle aufschließen ließ, stellte es sich heraus, daß der Gefangene sich im stärksten Fieberdelirium befand; er wurde nach Hause zur Mutter geschafft. Nun war ja alles klar. Unsere drei Ärzte äußerten sich dahin, daß der Kranke sehr wohl schon vor drei Tagen in diesem Fieberzustande wie benommen gewesen sein könne. Somit hatte Liputin als erster das Richtige erraten. Der zartfühlende Iwan Ossipowitsch war nun sehr betreten, auch im Klub schämte man sich und begriff nicht, wie man auf diese einzig mögliche Erklärung nicht verfallen war. Natürlich gab es auch Skeptiker, aber die konnten sich nicht behaupten.

Nicolas lag gute zwei Monate. Die ganze Stadt besuchte Warwara Petrowna. Und sie verzieh. Als Nicolas sich zum Frühling hin wieder erholte und mit dem Vorschlag der Mutter, nach Italien zu reisen, einverstanden war, da bat sie ihn, vorher doch überall seine Abschiedsvisite zu machen und sich bei der Gelegenheit zu entschuldigen, wo das nötig und soweit es möglich war. Nicolas versprach ihr auch das, und sogar mit großer Bereitwilligkeit. Und alsbald erfuhr man im Klub, er habe mit Pjotr Pawlowitsch eine überaus zartfühlende Aussprache gehabt, durch die dieser vollkommen zufriedengestellt worden sei. Während dieser Visiten soll Nicolas sehr ernst und sogar ein wenig düster gewesen sein. Alle empfingen ihn anscheinend mit aufrichtiger Teilnahme, doch im Grunde waren alle verlegen und nur froh, daß er nach Italien reiste. Iwan Ossipowitsch weinte sogar, konnte sich aber aus einem unbestimmten Grunde doch nicht entschließen, ihn zum Abschied zu umarmen. Allerdings blieben bei uns manche doch überzeugt, der Taugenichts habe alle nur zum Besten gehabt, die Krankheit aber sei eine Sache für sich gewesen. Auch zu Liputin fuhr er zur Abschiedsvisite.

„Sagen Sie mal,“ fragte er ihn, „wie konnten Sie damals im voraus wissen, was ich über Ihren Verstand sagen würde, und die Antwort darauf schon mitgeben?“

„Ganz einfach,“ sagte Liputin lachend, „weil auch ich Sie für klug halte, also war’s nicht schwer!“

„Immerhin ein seltsames Zusammentreffen. Aber erlauben Sie: dann hielten Sie mich damals für gescheit und nicht für wahnsinnig?“

„Für den gescheitesten und klügsten, und ich stellte mich nur so, als glaubte ich, Sie wären nicht bei voller Vernunft. Und Sie haben mir ja auch sofort den Beweis für die Ungetrübtheit Ihres Geistes zurückgesandt.“

„Übrigens irren Sie sich da doch ein wenig: ich war tatsächlich ... krank,“ sagte Nicolas verstimmt. „Wie! glauben Sie denn wirklich, ich wäre fähig, bei vollem Verstande Menschen zu überfallen? Wozu denn das?“

Liputin wand sich betreten und wußte nicht recht, was er antworten sollte. Nicolas erblaßte ein wenig, oder vielleicht schien es Liputin nur so.

„Jedenfalls haben Sie eine sehr amüsante Denkweise,“ fuhr Nicolas fort, „und ich begreife natürlich, daß Sie Ihre Agafja zu mir schickten, um mich zu verhöhnen.“

„Ich konnte Sie doch nicht zum Duell fordern?“

„Ach, ja, richtig! Ich habe ja auch so etwas gehört, daß Sie Duelle nicht lieben ...“

„Wozu denn Französisches ins Russische übersetzen!“

„Sie halten es mit dem Nationalismus?“

Liputin wand sich noch mehr, antwortete aber nichts.

„Was, was! Sehe ich recht!“ rief Nicolas plötzlich, als er mitten auf dem Tisch, wie ein Prunkstück an der sichtbarsten Stelle, einen Band von Considérant erblickte. „Sind Sie etwa gar Fourierist? Das fehlte noch! Aber ist denn das keine Übersetzung aus dem Französischen?“ und er klopfte lachend auf das Buch.

„Nein, nicht aus dem Französischen!“ Liputin sprang fast mit einem gewissen Grimm vom Stuhl auf. „Das ist eine Übersetzung aus der Sprache der ganzen Menschheit, und nicht bloß aus dem Französischen! Aus der Sprache der universalen sozialen Republik und Harmonie, jawohl! Und nicht aus dem Französischen allein!“

„Sapperment! Aber so eine Sprache gibt es ja überhaupt nicht!“ versetzte Nicolas immer noch lachend.

Von Herrn Stawrogin soll zwar erst später die Rede sein, doch möchte ich eines schon hier bemerken: daß von allen Eindrücken, die er damals bei uns empfing, am grellsten sich seinem Gedächtnis die unscheinbare und fast gemeine Gestalt Liputins eingeprägt hatte, dieses kleinen Provinzbeamten, eifersüchtigen Ehemannes, rohen Familiendespoten, Wucherers und Geizhalses, der selbst die Überbleibsel der Mahlzeiten und Lichtstümpfchen verschloß, und doch gleichzeitig ein glühender Anhänger Gott weiß was für einer zukünftigen „sozialen Harmonie“ war, sich nachts an den phantastischen Bildern der zukünftigen Phalanstere berauschte, an deren baldige Verwirklichung in Rußland er so glaubte wie an sein eigenes Vorhandensein. Und alles das dortselbst, wo er sich ein „Häuschen“ erspart, wo er zum zweitenmal geheiratet hatte, und wo es vielleicht im Umkreise von hundert Werst keinen Menschen gab, der auch nur annähernd ein Mitglied dieser „universalen sozialen Republik und Harmonie“ hätte sein können.

„Gott mag wissen, wie es in solchen Menschen aussieht!“ dachte Nicolas oft verwundert, wenn er sich dieses unvermuteten Fourieristen erinnerte.

IV.

Unser Prinz reiste drei Jahre lang und noch länger, so daß er bei uns fast ganz in Vergessenheit geriet. Unser Kreis freilich wußte durch Stepan Trophimowitsch, daß er ganz Europa bereist hatte, sogar in Ägypten und in Jerusalem gewesen war; dann hatte er sich mit einer wissenschaftlichen Expedition auch nach Island begeben. Ferner hieß es, er habe einen Winter an einer deutschen Universität Kolleg gehört. An seine Mutter schrieb er nur selten, aber die fühlte sich dadurch nicht mehr gekränkt. Die Beziehungen zwischen ihr und ihrem Sohn hatten nun einmal diese Form angenommen, die sie wortlos hinnahm; im übrigen dachte sie beständig an ihren Nicolas und sehnte sich nach ihm. Doch davon erfuhr kein Mensch etwas. Selbst von Stepan Trophimowitsch zog sie sich anscheinend ein wenig zurück. Sie schmiedete heimlich Pläne, wurde noch sparsamer und ärgerte sich immer mehr über Stepan Trophimowitschs Verluste im Kartenspiel.

Da erhielt sie im April dieses Jahres ganz unverhofft einen Brief aus Paris, und zwar von ihrer Jugendfreundin, der Generalin Praskowja Iwanowna Drosdowa. Diese schrieb ihr plötzlich nach acht Jahren, Nicolai Wszewolodowitsch verkehre viel in ihrem Hause, habe mit Lisa (ihrer einzigen Tochter) Freundschaft geschlossen und beabsichtige, sich ihnen anzuschließen, wenn sie im Sommer nach der Schweiz reisten, obwohl er in der Familie des Grafen K... (einer in Petersburg höchst einflußreichen Persönlichkeit), die jetzt gleichfalls in Paris weile, wie ein leiblicher Sohn aufgenommen werde, so daß er, man könne sagen, fast ganz im Hause des Grafen lebe. Der Brief war kurz, doch sein Zweck deutlich. Warwara Petrowna dachte denn auch nicht lange nach, entschloß sich schnell und fuhr mit ihrer Pflegetochter Dascha Mitte April nach Paris und dann nach der Schweiz. Im Juli kehrte sie allein zurück; sie hatte Dascha bei Drosdoffs gelassen, die mit ihr Ende August heimkehren sollten.

Drosdoffs waren gleichfalls eine Gutsbesitzerfamilie unseres Gouvernements, aber der Dienst des Generals hatte sie in letzter Zeit verhindert, sich hier auf ihrem herrlichen Gut aufzuhalten. Nach dem Tode des Generals im vorigen Jahre war dann die untröstliche Praskowja Iwanowna mit ihrer Tochter ins Ausland gereist, unter anderem auch in der Absicht, es im Spätsommer in der Schweiz, in Vernex-Montreux, mit einer Traubenkur zu versuchen. Nach ihrer Rückkehr aus dem Auslande wollte sie sich dann endgültig in unserem Gouvernement niederlassen. In der Stadt besaß sie ein großes Haus, das schon viele Jahre leer stand, mit geschlossenen Fensterläden. Drosdoffs waren sehr reich. Praskowja Iwanowna, in erster Ehe Frau Tuschina, war gleichfalls die Tochter eines Branntweinpächters der alten Zeit und hatte gleichfalls eine große Mitgift erhalten. Der Rittmeister a. D. Tuschin war aber auch selbst ein vermögender Mann gewesen und kein unbegabter Mensch. Er hinterließ seiner siebenjährigen Tochter Lisa ein bedeutendes Vermögen, zu dem später noch das ganze Erbe ihrer Mutter hinzu kommen mußte, da diese aus ihrer zweiten Ehe keine Kinder hatte. Warwara Petrowna war mit dem Ergebnis ihrer Reise sehr zufrieden. Sie glaubte, mit Praskowja Iwanowna übereingekommen zu sein, und teilte nach ihrer Ankunft alles, weit offener als sonst, Stepan Trophimowitsch mit. Der rief „Hurra!“ und schnippte mit den Fingern. Seine Freude war um so aufrichtiger, als er die Zeit ihrer Abwesenheit in größter Mutlosigkeit verbracht hatte. Vor ihrer Abreise hatte sie ihm, „diesem Weibe“, nichts von ihren Plänen mitgeteilt, vielleicht weil sie fürchtete, er könne ausplaudern. Doch schon in der Schweiz hatte sie sich gesagt, daß sie den verlassenen Freund nach ihrer Rückkehr besser behandeln müsse. Tatsächlich war ihre plötzliche Abreise mit dem wortkargen Abschied für sein schüchternes Herz der Anlaß zu qualvollen Zweifeln gewesen. Außerdem quälte ihn noch eine bedeutende Geldverpflichtung, die er ohne ihre Hilfe unmöglich decken konnte. Und dann war noch allerhand gerade während ihrer Abwesenheit hinzugekommen: so hatte im Mai die Herrschaft unseres guten Iwan Ossipowitsch ihr Ende gefunden und war der Einzug unseres neuen Gouverneurs, Andrei Antonowitsch von Lembke, erfolgt. Danach hatte sich das Verhalten unserer Gesellschaft zu Warwara Petrowna und damit natürlich auch zu Stepan Trophimowitsch merklich zu ändern begonnen. Das beeindruckte ihn um so mehr, als er natürlich schon wieder erregt befürchtete, man habe den neuen Gouverneur bereits auf ihn als einen gefährlichen Menschen aufmerksam gemacht. Er erfuhr auch, daß man sich in der Stadt erzählte, die Gemahlin des neuen Gouverneurs und Warwara Petrowna seien früher bekannt gewesen, doch hätten sie sich schließlich verfeindet und den Verkehr abgebrochen. Als aber nun Warwara Petrowna nach ihrer Rückkehr so munter und siegesgewiß seinen Bericht anhörte, u. a. auch das Gerücht, demzufolge manche Damen es lieber mit der neuen Gouverneurin halten wollten, die eine echte Aristokratin sei, und folglich den Verkehr mit Warwara Petrowna aufzugeben beabsichtigten, da richtete sich sofort auch Stepan Trophimowitschs gesunkener Mut wieder auf. Er wurde im Nu wieder heiter und begann mit besonderem, freudig dienstbeflissenem Humor die Ankunft des neuen Gouverneurs zu schildern.

„Es wird Ihnen, excellente amie,[12] zweifellos bekannt sein,“ begann er kokett, die Worte geckenhaft in die Länge ziehend, „was ein russischer Regierungsbeamter im allgemeinen, und was im besonderen ein neuangestellter, ein neugebackener russischer Beamter ist. Dagegen dürften Sie kaum Gelegenheit gehabt haben, praktisch zu erfahren, was der Machtrausch eines russischen Beamten bedeutet ...“

„Machtrausch eines Beamten? Wie meinen Sie das?“

„Das heißt ... Vous savez, chez nous ... En un mot,[13] stellen Sie den erbärmlichsten Nichtsnutz als Verkäufer von, sagen wir, irgendwelchen elenden Eisenbahnfahrkarten an, und dieser erbärmlichste Wicht wird sich sofort für berechtigt halten, wie ein Jupiter auf Sie herabzusehen, wenn Sie eine Fahrkarte lösen wollen, pour vous montrer son pouvoir.[14] ‚Warte‘, denkt er dann bei sich, ‚ich will dir meine Macht zeigen!‘ Und das geht bei ihnen bis zur Selbstberauschung an dieser ihrer Macht. En un mot ...“

„Ja, fassen Sie sich kürzer, wenn Sie können.“

En un mot, dieser Herr von Lembke hat also zunächst das Gouvernement bereist. Er ist zwar ein Deutschrusse griechisch-katholischer Konfession und sogar ein überaus schöner Mann in den vierziger Jahren ...“

„Schöner Mann? Er hat Augen wie ein Schaf.“

„Allerdings. Doch aus Höflichkeit will ich dem Urteil unserer Damen nicht widersprechen ...“

„Ich bitte Sie, reden wir von etwas anderem! Übrigens, Sie tragen eine rote Halsbinde; schon lange?“

„Das ... ich ... ich habe das nur heute ...“

„Und sind Sie auch täglich sechs Werst spazieren gegangen, wie es Ihnen der Arzt verordnet hat?“

„Nicht ... nicht immer.“

„Wußte ich’s doch! schon in der Schweiz ahnte ich das!“ rief sie gereizt. „Jetzt werden Sie mir aber zehn Werst täglich gehen! Sie sind ja geradezu heruntergekommen! Sie sind ja nicht nur alt, Sie sind ein Greis geworden ... ich erschrak geradezu, als ich Sie wiedersah, trotz Ihrer roten Halsbinde ... quelle idée rouge![15] Erzählen Sie weiter von diesem Lembke, wenn es wirklich etwas von ihm zu erzählen gibt, nur kommen Sie bald zu einem Ende; ich bin müde.“

En un mot, ich wollte ja auch nur sagen, daß er einer von denen ist, die erst mit vierzig Jahren anfangen Karriere zu machen, sei es dank einer plötzlich erworbenen Gattin oder einem nicht minder verzweifelten Mittel. Über mich hat man ihm natürlich sofort alles zugetragen: daß ich die Jugend verdürbe und den Atheismus verbreite. Er hat auch sofort Erkundigungen eingezogen. Und als man ihm von Ihnen berichtete, bisher hätten eigentlich Sie das Gouvernement verwaltet, da hat er sich zu äußern erlaubt, ‚so etwas werde hinfort nicht mehr vorkommen‘.“

„Hat er das wirklich gesagt?“

„Wortwörtlich. Seine Gemahlin werden wir hier erst Ende August erblicken; sie kommt direkt aus Petersburg.“

„Nein, aus dem Auslande. Ich bin mit ihr dort zusammengetroffen. In Paris und in der Schweiz. Sie ist mit Drosdoffs verwandt.“

„Verwandt? Was für ein merkwürdiges Zusammentreffen! Man sagt, sie sei ehrgeizig und ... habe durch Beziehungen gute Protektion?“

„Unsinn, die paar Verwandten! Bis zum fünfundvierzigsten Jahr saß sie als alte Jungfer da, ohne eine Kopeke, dann hat sie endlich diesen von Lembke erwischt und nun ist ihr ganzer Ehrgeiz seine Karriere.“

„Es heißt, sie sei zwei Jahre älter als er?“

„Fünf Jahre. Ihre Mutter hat mich in Moskau umschmeichelt, damit ich sie zu den Bällen einlud, damals zu Wszewolod Nicolajewitschs Lebzeiten. Die Tochter aber saß dann ohne Tänzer da, bis ich ihr aus Mitleid nach Mitternacht den ersten Kavalier zuschickte. Niemand wollte sie mehr einladen ... Ich sage Ihnen, wie ich jetzt nach Paris kam, stieß ich sofort auf eine Intrige. Sie haben doch soeben jenen Brief der Drosdowa gelesen; was konnte noch klarer sein? Aber was fand ich? Diese dumme Drosdowa – sie ist immer dumm gewesen – sieht mich fragend an: warum ich denn gekommen sei? Sie können sich meine Verwunderung vorstellen! Aber natürlich: da intrigiert diese Lembke und dann ist da dieser Vetter, ein Neffe des seligen Drosdoff, – da war mir alles klar! Ich habe dann alles wieder zurechtgerückt; und Praskowja ist nun wieder auf meiner Seite; aber es war eine richtige Intrige im Gange!“

„Die Sie indes besiegt haben. Sie sind ein Bismarck!“

„Auch ohne ein Bismarck zu sein, kann ich Falschheit und Dummheit erkennen, wo ich ihnen begegne. Die Lembke ist falsch und Praskowja ist dumm. Selten habe ich eine so verdrossene Frau gesehen wie die, dazu hat sie noch geschwollene Füße und zum Überfluß ist sie noch gutmütig. Es gibt wohl nichts dümmeres als einen gutmütigen Dummkopf!“

„Doch, einen bösen Dummkopf, ma bonne amie,[16] ein böser Dummkopf ist noch viel dümmer.“

„Vielleicht haben Sie recht. Erinnern Sie sich noch an Lisa?“

Charmante enfant![17]

„Aber jetzt nicht mehr enfant, sondern Weib, und ein Weib mit Charakter. Ein edler und feuriger Mensch, und ich liebe es an ihr, daß sie der Mutter nicht gehorcht, dieser leichtgläubigen Närrin. Wegen dieses Vetters kam es da fast zu einem ganzen Drama.“

„Ach richtig, er ist ja mit Lisa persönlich gar nicht verwandt[25] ... Hat er denn Absichten?“

„Sehen Sie, er ist ein junger Offizier, sehr schweigsam, sogar bescheiden. Ich will immer gerecht sein. Ich glaube, er ist selbst gegen diese Intrige und hat keine Wünsche, nur die Lembke scheint da intrigiert zu haben. Er achtete Nicolas sehr. Sie verstehen, die ganze Sache hängt von Lisa ab. Als ich sie in der Schweiz verließ, stand sie sich mit Nicolas ausgezeichnet, und er hat mir versprochen, im November herzukommen. Folglich war das nur eine Intrige der Lembke, und Praskowja war einfach blind. Plötzlich sagt sie mir, meine Vermutungen seien einfach Einbildung. Da habe ich ihr aber ins Gesicht gesagt, daß sie eine Närrin ist. Wenn mich nicht Nicolas gebeten hätte, es vorläufig aufzuschieben, wäre ich nicht heimgereist, ohne dieses falsche Frauenzimmer entlarvt zu haben. Sie hat sich durch Nicolas beim Grafen K. einzuschmeicheln, hat Mutter und Sohn zu entzweien versucht. Aber Lisa ist auf unserer Seite und mit Praskowja habe ich mich verständigt. Wissen Sie, daß Karmasinoff mit ihr verwandt ist?“

„Was? Verwandt mit Frau von Lembke?“

„Nun ja. Aber nur entfernt verwandt.“

„Karmasinoff, der Novellist?“

„Nun ja doch, der Schriftsteller, worüber wundern Sie sich? Natürlich hält er sich selbst für eine Größe. Ein aufgeblasener Wicht! Sie wird mit ihm zusammen herkommen, jetzt macht sie sich dort mit ihm wichtig. Hier will sie literarische Abende veranstalten. Er kommt auf einen Monat, um hier sein letztes Gut zu verkaufen. Fast wäre ich mit ihm in der Schweiz zusammengetroffen, was ich durchaus nicht wollte. Übrigens hoffe ich doch, daß er geruhen wird, mich wiederzuerkennen. Früher hat er in meinem Hause verkehrt, hat Briefe an mich geschrieben. Es wäre mir lieb, wenn Sie sich sorgfältiger kleideten, Stepan Trophimowitsch; Sie werden mit jedem Tage nachlässiger ... Wissen Sie denn nicht, wie mich das quält! Was lesen Sie jetzt?“

„Ich ... ich ...“

„Verstehe schon. Wie gewöhnlich die Freunde, die Gelage, der Klub, die Karten und der Ruf eines Atheisten. Dieser Ruf gefällt mir nicht, besonders jetzt möchte ich ihn nicht hören. Das ist doch alles nur leeres Geschwätz. Das muß doch einmal gesagt werden.“

Mais, ma chère[18] ...“

„Hören Sie mich an: in allen gelehrten Fragen bin ich natürlich unwissend, ein Laie, im Vergleich zu Ihnen, aber auf der Heimreise habe ich viel über Sie nachgedacht. Und ich bin zu einer Einsicht gelangt.“

„Und zu welcher?“

„Zu der, daß nicht wir beide die Klügsten auf der Welt sind, sondern daß es auch noch klügere gibt als wir.“

„Das ist sowohl scharfsinnig wie treffend gesagt. Mais, ma bonne amie,[19] wenn ich auch das Rechte, nehmen wir an, nicht am besten weiß und mich objektiv vielleicht irre, so habe ich doch mein allgemein menschliches, ewiges, höheres Recht auf mein freies Gewissen? Ich habe doch das Recht, kein Heuchler und Fanatiker zu sein, wenn ich das nicht sein will, und dafür werde ich naturgemäß, solange die Welt steht, von verschiedenen Leuten gehaßt werden. Et puis, comme on trouve toujours plus de moines que de raison,[20] und da das ganz meine Meinung ist ...“

„Wie, wie war das, was sagten Sie da? Das stammt gewiß nicht von Ihnen, das haben Sie bestimmt irgendwo gelesen?“

„Das hat Pascal gesagt.“

„Das hab’ ich mir doch gleich gedacht ... daß es kein Ausspruch von Ihnen ist! Warum sagen Sie niemals etwas so kurz und treffend, sondern ziehen alles immer so in die Länge? ...“

Ma foi, chère[21] ... warum? Erstens wahrscheinlich deshalb, weil ich immerhin nicht Pascal bin, et puis[22] ... zweitens, weil wir Russen in unserer Sprache nichts auszudrücken verstehen ... Wenigstens haben wir bisher noch nichts in ihr ausgedrückt ...“

„Hm! Darin haben Sie vielleicht doch nicht recht. Aber könnten Sie sich denn nicht wenigstens solche Aussprüche aufschreiben oder merken, für den Fall, wissen Sie, wenn das Gespräch ... Ach, Stepan Trophimowitsch, ich habe mir unterwegs vorgenommen, einmal ernst mit Ihnen zu sprechen, sehr ernst.“

Chère, chère amie!

„Jetzt, wo alle diese Lembkes und Karmasinoffs ... Oh Gott, wie sind Sie heruntergekommen! Oh, wie Sie mich damit quälen! ... Ich möchte, daß diese Menschen Hochachtung vor Ihnen empfänden, denn sie sind ja alle nicht einmal soviel wert wie ein Finger von Ihnen, Ihr kleiner Finger, aber Sie, wie halten Sie sich! Was werden diese Leute in Ihnen sehen? Wen kann ich ihnen präsentieren? Statt vornehm als Zeuge dazustehn, ein Beispiel zu sein, umgeben Sie sich mit solch einem Pack, Sie haben unmögliche Gewohnheiten angenommen, sind alt geworden, können ohne Wein und Karten nicht mehr leben, Sie lesen nur noch Paul de Kock und schreiben selbst überhaupt nichts mehr, während die dort alle schreiben. Ihre ganze Zeit vergeuden Sie im Geschwätz. Ist es denn möglich, darf man sich denn das erlauben, sich mit solchem Gesindel anzufreunden, wie es Ihr ewiger Liputin ist?“

„Warum denn ‚mein ewiger Liputin‘?“ protestierte Stepan Trophimowitsch schüchtern.

„Und Schatoff? Ist er immer noch derselbe?“

Irascible, mais bon.[23]

„Ich kann Ihren Schatoff nicht ausstehen; er ist böse und eingebildet!“

„Wie geht es Darja Pawlowna?“

„Sie fragen nach Dascha? Wie kommen Sie plötzlich darauf?“ Warwara Petrowna sah ihn forschend an. „Sie ist gesund. Ich habe sie bei Drosdoffs gelassen ... In der Schweiz habe ich etwas über Ihren Sohn gehört; Schlechtes, nicht Gutes.“

Oh, c’est une histoire bien bête! Je vous attendais, ma bonne amie, pour vous raconter[24] ...“

„Genug, Stepan Trophimowitsch, gönnen Sie mir Ruhe, ich bin ohnehin erschöpft. Wir werden noch Zeit haben, uns auszusprechen, besonders über das Schlechte. Wenn Sie lachen, spritzt jetzt von Ihren Lippen schon Speichel, das ist ja bereits greisenhaft! Und wie sonderbar Sie jetzt immer lachen ... Gott, wie viele schlechte Gewohnheiten Sie angenommen haben! Karmasinoff wird Ihnen bestimmt keinen Besuch machen! Hier aber sind alle schon ohnehin froh über ... Erst jetzt zeigen Sie sich in Ihrer wahren Gestalt. Aber genug, genug, ich bin müde! Sie könnten doch wahrlich endlich einmal auf einen Menschen Rücksicht nehmen!“

Stepan Trophimowitsch nahm also „Rücksicht auf einen Menschen“, aber er entfernte sich verwirrt.

V.

Unser Freund hatte in der Tat nicht wenige schlechte Gewohnheiten angenommen, besonders in der letzten Zeit. Er war sichtlich und schnell heruntergekommen, und es war richtig, er vernachlässigte auch schon sein Äußeres. Er trank auch mehr, wurde weinerlicher und nervöser; seine Liebe zum Schönen aber war schon zu einer Übersensibilität geworden. Sein Gesicht hatte die seltsame Fähigkeit erlangt, erstaunlich schnell den Ausdruck zu wechseln, z. B. die feierlichste Miene im Nu in einen komischen oder sogar dummen Ausdruck zu verwandeln. Einsamkeit ertrug er überhaupt nicht mehr und wollte beständig unterhalten sein, sei es mit Stadtklatsch oder Anekdoten, wenn es nur etwas Neues war. Kam längere Zeit niemand zu ihm, so wanderte er trübselig durch die Zimmer, trat ans Fenster, sah gedankenverloren hinaus, schob dabei die Lippen hin und her, seufzte tief und schließlich begann er fast zu flennen. Er glaubte immer, Vorahnungen zu haben, fürchtete etwas Unerwartetes, Unabwendbares, wurde schreckhaft und achtete sehr auf seine Träume.

Diesen Tag und den Abend verbrachte er sehr traurig. Er ließ mich zu sich bitten, war sehr aufgeregt, erzählte viel, aber recht zusammenhanglos. Es schien mir schließlich, daß ihn etwas Besonderes bedrückte, etwas, das er sich vielleicht selber nicht erklären konnte. Sonst hatte er bei solchen Gelegenheiten, wenn er mir vorzuklagen begann, nach einer Weile immer ein Fläschchen bringen lassen, und alles war dann bald in weit tröstlicherem Lichte erschienen. Diesmal aber unterdrückte er sichtlich mehrmals den erwachenden Wunsch, eine Flasche bringen zu lassen. – „Und worüber ärgert sie sich denn eigentlich?“ klagte er wie ein Kind. „Tous les hommes de génie et de progrès en Russie étaient, sont et seront toujours des Kartenspieler et des Trinker qui boivent[25] anfallweise ... ich aber bin noch lange kein so großer Spieler und Trinker ... Sie macht mir Vorwürfe, warum ich nichts schreibe! Sonderbarer Einfall! ... Warum ich nichts tue! Sie sagt, ich müsse als Beispiel und Vorwurf dastehen! Mais entre nous soit dit,[26] was kann denn ein Mensch, dessen Bestimmung es ist, als verkörperter Vorwurf dazustehen, anderes tun als Nichtstun, – weiß sie das denn nicht?“

Und schließlich erriet ich auch jenen wichtigsten und besonderen Kummer, der ihn diesmal so unablässig quälte. Er war schon mehrere Male vor dem Spiegel stehen geblieben. Schließlich wandte er sich von ihm ab und sagte in einer seltsamen Verzweiflung:

Mon cher, je suis un[27] heruntergekommener Mensch!“

Ja, in der Tat, bis dahin, bis zu diesem Tage war er wenigstens von einem beständig überzeugt geblieben, trotz aller „neuen Anschauungen“ und „Ideenänderungen“ Warwara Petrownas, nämlich davon, daß er für ihr weibliches Herz immer noch bezaubernd sei, d. h. nicht nur als Verbannter oder als berühmter Gelehrter, sondern auch als schöner Mann. Zwanzig Jahre lang hatte diese schmeichelhafte und beruhigende Überzeugung tief verwurzelt in ihm gelebt, und vielleicht fiel ihm nichts so schwer, wie daß er von allen seinen Überzeugungen ausgerechnet diese aufgeben mußte. Ahnte er vielleicht an diesem Abend, welch eine ungeheure Prüfung ihm schon in so naher Zukunft bevorstand?

VI.

Ich komme jetzt zu der Wiedergabe jenes zum Teil vergessenen Geschehnisses, mit dem meine Chronik eigentlich erst beginnt.

Ende August kehrten Drosdoffs zurück. Sie trafen kurz vor ihrer Verwandten ein, der lange von der ganzen Stadt erwarteten Gattin unseres neuen Gouverneurs, und überhaupt machte ihr Erscheinen bei uns einen auffallenden Eindruck in der Gesellschaft. Doch davon später; hier sei nur bemerkt, daß Praskowja Iwanowna der sie ungeduldig erwartenden Warwara Petrowna ein höchst beunruhigendes Rätsel mitbrachte: Nicolas hatte sich bereits im Juli von ihnen getrennt und war mit der Familie des Grafen K. nach Petersburg zurückgekehrt. (NB. Der Graf hatte drei heiratsfähige Töchter.)

„Von Lisaweta habe ich nichts erfahren können, aus diesem stolzen Trotzkopf ist ja nichts herauszubringen,“ schloß Praskowja Iwanowna, „aber ich habe ja selbst gesehen, daß zwischen ihr und Nicolas etwas vorgefallen ist. Die Ursache ist mir unbekannt, aber ich glaube, Sie werden sich, meine Liebe, nach diesen Ursachen am besten bei Ihrer Darja Pawlowna erkundigen. Meiner Meinung nach ist Lisa gekränkt worden. Ich bin nur froh, daß ich Ihren Liebling Dascha endlich wieder Ihnen abliefern kann. Gott sei Dank, nun bin ich sie los!“

Doch mit diesen giftigen, offenbar absichtlich so vielsagenden Worten geriet sie an die Falsche: Warwara Petrowna verlangte sofort streng eine nähere Erklärung. Praskowja Iwanowna wurde hierauf sehr viel kleinlauter, ja schließlich begann sie zu weinen und ihr Herz auszuschütten. Es sei also zwischen Lisa und Nicolas tatsächlich zu einem Zerwürfnis gekommen, doch Gott weiß aus welchem Grunde. Ihre Anspielung auf Darja Pawlowna nahm sie wieder zurück und bat sogar ausdrücklich, ihre „in der Gereiztheit“ gesprochenen Worte ganz zu vergessen. Zu jenem Zerwürfnis hätte wohl der „trotzige und spöttische“ Charakter Lisas den Anstoß gegeben, und der „stolze“ Nicolas sei zwar sehr verliebt gewesen, habe aber die Spötteleien doch nicht ertragen und selbst zu spotten begonnen. Kurz, alle diese Erklärungen kamen sehr unklar heraus. Und dann hätten sie noch Stepan Trophimowitschs Sohn kennen gelernt, – „Das war ein ganz gewöhnlicher junger Mann, sehr lebhaft und frei, aber sonst nichts Besonderes.“ Diesen jungen Mann habe nun Lisa unrechterweise sehr bevorzugt, wohl um Nicolas eifersüchtig zu machen, nur sei ihr das nicht gelungen: statt eifersüchtig zu werden, habe Nicolas sich selbst mit dem jungen Manne befreundet, ganz als bemerke er nichts oder als wäre ihm das ganz gleichgültig. „Nun und das empörte Lisa. Der junge Mann reiste übrigens bald weiter, Lisa aber begann nun bei jeder Gelegenheit Streit mit Nicolas. Sie bemerkte, daß dieser manchmal mit Dascha sprach, und das ärgerte sie furchtbar. Da gab’s denn ewig Streit und für mich Aufregungen die aber hatten die Ärzte mir doch so verboten! Und plötzlich erhielt Nicolas von der Gräfin einen Brief und reiste sofort ab. Ihr Abschied war wieder freundschaftlich. Auf dem Wege zur Bahnstation, wohin wir ihn begleiteten, war Lisa sehr lustig und lachte viel. Alles Verstellung natürlich! Kaum aber war er weg, da wurde sie sehr nachdenklich, erwähnte ihn überhaupt nicht mehr und ließ auch mich nicht einmal von ihm sprechen. Meine Bemerkung über Dáschachen aber war falsch, nehmen Sie es mir nicht übel, Mütterchen, verzeihen Sie mir schon die Sünde! Es waren ja nur ganz gewöhnliche Gespräche, die laut geführt wurden. Mich hat das alles nur so nervös gemacht. Aber auch Lisa verhält sich zu Dascha jetzt wieder so freundlich, wie sie vorher verkehrten. Und mit Nicolas wird sie sich gewiß ebenso aussöhnen, wenn er nur bald herkäme ...“

Warwara Petrowna sagte nur, sie kenne Darja und das sei alles Unsinn. An Nicolas aber schrieb sie noch am selben Tage und bat ihn sehr, doch wenigstens einen Monat früher zu kommen als er versprochen hatte. – Und doch blieb für sie etwas Unklares in der ganzen Sache: „Nicolas ist nicht der Mann, der vor dem Spott eines Mädchens davonläuft ... Jenen Offizier haben sie richtig mitgebracht und als Verwandten im Hause einquartiert. Wie kam diese Praskowja darauf, Darja so zu verdächtigen? Und dann diese schnelle Entschuldigung ... Sicher steckt etwas dahinter, was sie nicht sagen wollte, aber zu plump angedeutet hatte“ ... Warwara Petrowna dachte die ganze Nacht darüber nach. Zum Morgen hin aber war ihr Plan fertig, wie sie wenigstens ein Hindernis beseitigen könnte. Das war nun freilich ein sehr merkwürdiger Plan, und was in ihrem Herzen vorging, als sie diesen Entschluß faßte, weiß ich nicht, noch werde ich versuchen, alle Widersprüche, die er enthielt, zu erklären. Bemerken muß ich nur, daß bis zum Morgen nicht der geringste Verdacht gegen Dascha in ihr zurückgeblieben war. Aber sie hätte es ja auch nie für möglich gehalten, daß ihr Nicolas sich für diese ihre ... „Darja“ lebhafter interessieren könnte. Am Morgen, als Dascha am Teetisch hantierte, sah Warwara Petrowna sie lange und prüfend an und sagte sich schließlich wohl zum zwanzigsten Male überzeugt: „Alles Unsinn!“ Es fiel ihr nur auf, daß Dascha seltsam müde aussah und noch stiller war als gewöhnlich. Nach dem Tee setzten sie sich beide wie immer an eine Handarbeit und Warwara Petrowna ließ sich nun einen ausführlichen Bericht über die Eindrücke erstatten, die Dascha im Auslande empfangen hatte, über die Natur, die Menschen, Sitten, Kunstwerke, Gewerbe usw. Nur über Drosdoffs und das Leben bei diesen stellte sie nicht eine Frage. Als Dascha eine halbe Stunde mit ihrer gleichmäßigen, eintönigen, aber etwas schwachen Stimme erzählt hatte, unterbrach sie sie plötzlich:

„Darja, hast du mir denn nichts Eigenes zu sagen?“

„Nein, ich habe nichts,“ antwortete Dascha nach einem ganz kurzen Nachdenken und sah Warwara Petrowna mit ihren hellen Augen an.

„Auf der Seele, auf dem Herzen, auf dem Gewissen?“

„Nichts,“ wiederholte Dascha leise, doch wie mit einer finsteren Festigkeit.

„Wußte ich’s doch! Damit du’s weißt, Dascha, ich werde nie an dir zweifeln. Aber setze dich hierher, auf diesen Stuhl, damit ich dich besser sehen kann, und höre mich an. So. Also höre jetzt: willst du nicht heiraten?“

Dascha antwortete nur mit einem fragenden, langen, übrigens nicht einmal allzu verwunderten Blick.

„Wart; sei still! Erstens ist da ein Unterschied in den Jahren, ein sehr großer sogar, aber das ist doch nur dummes Gerede. Du bist vernünftig, in deinem Leben soll es keine Fehler geben. Übrigens ist er noch ein schöner Mann ... Kurz, ich meine Stepan Trophimowitsch, den du immer so geachtet hast. Nun?“

Dascha sah sie noch fragender an, jetzt aber nicht nur erstaunt, sondern auch sichtbar errötend.

„Wart, sei still, überlege es! Meinem Testament zufolge hast du zwar Geld. Aber wenn ich sterbe, was wird dann aus dir, selbst mit diesem Gelde? Man wird dich doch betrügen, dich ums Geld bringen und dann bist du verloren. Heiratest du aber ihn, so bist du die Frau eines angesehenen Mannes. Und andererseits: sterbe ich, was wird dann aus ihm, wenn ich auch seine Existenz sichergestellt habe? Auf dich aber kann ich mich verlassen. Wart, ich habe noch nicht zu Ende gesprochen: er ist leichtsinnig, träge, charakterlos, grausam, egoistisch, hat häßliche Schwächen, aber du schätze ihn trotzdem, erstens schon deshalb, weil es noch viel schlechtere gibt. Warum schweigst du und siehst nicht auf? – Warte, sei noch still! Er ist ein altes Weib, aber um so besser für dich. Ein bemitleidenswertes Weib. Er verdiente es gar nicht, von einer Frau geliebt zu werden. Aber wegen seiner Schutzlosigkeit verdient er es schließlich doch; also liebe du ihn auch deswegen. Du verstehst mich doch?“ (Dascha nickte.) „Das wußte ich, habe auch nichts anderes von dir erwartet. Er wird dich lieben, denn er muß es, er muß! Muß dich vergöttern!“ (Ihre Stimme klang seltsam gereizt und hart.) „Übrigens wird er sich auch so schon in dich verlieben, ich kenne ihn doch. Zudem werde ich ja selbst hier sein. Sei unbesorgt, ich werde schon nach dem Rechten sehen. Er wird sich über dich beklagen, wird dich verleumden, mit dem ersten besten über dich sprechen, wird dir Briefe schreiben aus dem Nebenzimmer, sogar zwei am Tage, aber ohne dich wird er doch nicht leben können, und das ist schließlich die Hauptsache. Zwinge ihn, dir zu gehorchen; verstehst du das nicht, ist’s dein eigener Schade. Er wird sich erhängen wollen, wird dir damit drohen – glaube ihm nichts; das ist alles Unsinn; aber sei trotzdem vorsichtig, denn vielleicht ist die Stunde verhängnisvoll und er tut es wirklich. Das kommt vor bei solchen Menschen; nicht aus Stärke, sondern aus Schwäche hängen sie sich auf; und darum bringe ihn nie zum Äußersten, – das ist der erste Grundsatz in der Ehe. Und vergiß auch nicht, daß er ein Dichter ist. Höre, Darja: es gibt kein größeres Glück als sich zu opfern. Und außerdem tust du mir damit einen großen Gefallen, und das ist die Hauptsache. Denke nicht, daß ich mich aus Dummheit soeben versprochen habe; ich weiß, was ich sage. Ich bin egoistisch; sei du es auch. Ich will dich ja nicht zwingen; alles hängt von dir ab; wie du entscheidest, so wird es sein. Nun, warum sitzt du so da, sag’ jetzt etwas!“

„Mir ist alles gleich, Warwara Petrowna, wenn ich schon unbedingt heiraten soll,“ sagte Dascha mit fester Stimme.

„Unbedingt? Was willst du damit andeuten?“ Warwara Petrowna sah sie streng und unverwandt an. Dascha schwieg und kratzte mit der Nadel am Stickrahmen. – „Du bist sonst zwar gescheit, jetzt aber irrst du dich doch. Es ist mir jetzt doch nur seinetwegen in den Sinn gekommen, dich zu verheiraten. Gäbe es keinen Stepan Trophimowitsch, so dächte ich gar nicht daran, obwohl du bereits zwanzig Jahre alt bist ... Nun?“

„Ich werde tun, was Sie wünschen.“

„Also du bist einverstanden! Wart, sei still, wohin willst du? Ich bin noch nicht fertig. In meinem Testament habe ich dir fünfzehntausend Rubel vermacht. Die gebe ich dir aber schon jetzt sofort nach der Trauung. Davon wirst du ihm achttausend geben, d. h. nicht ihm, sondern mir. Denn er hat eine Schuld von achttausend, die ich bezahlen werde, nur soll er wissen, daß es mit deinem Gelde geschieht. Siebentausend behältst du demnach, davon gib ihm nichts, nicht einen Rubel. Bezahle nie seine Schulden. Tust du es einmal, nimmt das Ausbeuten kein Ende. Ihr werdet von mir fünfzehnhundert Rubel jährlich bekommen, außer der Wohnung und Beköstigung, die ihr auch weiterhin von mir erhalten werdet. Dieses Jahrgeld werde ich dir als ganze Summe auszahlen, in jedem Jahr, unmittelbar in deine Hände. Aber sei auch gut zu ihm und gib ihm zuweilen etwas, und auch seinen Freunden mußt du schon erlauben, ihn zu besuchen, einmal wöchentlich. Kommen sie öfter, so wirf sie hinaus. Aber ich werde ja immer hier sein. Sterbe ich, so bekommt ihr die Pension bis zu seinem Tode, hörst du, bis zu seinem Tode, denn es ist seine und nicht deine Pension. Dir aber werde ich außer den siebentausend, die du dir, wenn du nicht dumm bist, unangebrochen aufheben kannst, noch weitere achttausend testamentarisch vermachen. Aber mehr bekommst du nicht von mir. Damit du’s weißt. Nun, bist du einverstanden? Aber nun antworte doch endlich!“

„Ich habe schon geantwortet, Warwara Petrowna.“

„Vergiß nicht, daß es dein freier Wille ist.“

„Erlauben Sie nur, Warwara Petrowna, hat Stepan Trophimowitsch schon mit Ihnen davon gesprochen?“

„Nein, er hat nichts gesprochen und weiß überhaupt nichts davon, aber ... er wird sofort sprechen!“ – Sie stand hastig auf und nahm ihren schwarzen Schal. Dascha errötete wieder ein wenig und sah ihr mit fragendem Blick nach. Plötzlich wandte sich Warwara Petrowna mit zornflammendem Gesicht zu ihr um und fuhr sie wie ein Habicht an: „Du Törin! Du undankbare Törin! Glaubst du wirklich, daß ich dich auch nur im geringsten bloßstellen werde? Auf den Knien wird er dich anflehen, er wird vergehen müssen vor Glück, so wird das geschehen! Oder glaubst du, daß er dich um dieser Achttausend willen nehmen wird und ich jetzt hinlaufe, um dich zu verkaufen? Törin, Törin, alle seid ihr undankbare Törinnen! Gib mir meinen Schirm!“

Und sie begab sich zu Fuß zu Stepan Trophimowitsch.

VII.

In der Tat: sie glaubte aufrichtig, mit dieser Verheiratung Darja nichts Böses anzutun; im Gegenteil, sie hielt sich jetzt erst recht für deren Wohltäterin. Um so größer war daher ihr Unwille, als sie den unsicheren und mißtrauischen Blick ihrer Pflegetochter bemerkte. Sie liebte sie aufrichtig; ja, Praskowja Iwanowna hatte recht, wenn sie Dascha ihren „Liebling“ nannte. Warwara Petrowna hatte sich schon früh gesagt, als Dascha noch ein Kind war, der Charakter dieses Mädchens gleiche entschieden nicht dem ihres Bruders Iwan Schatoff, sie sei still, sanft, sehr aufopferungsfähig, treu, überaus bescheiden, verständig und, was die Hauptsache war, dankbar. „In diesem Leben werden keine Fehler vorkommen,“ sagte sie, als Dascha zwölf Jahre alt war, und da es ihre Art war, sich für jeden Einfall, der ihr gefiel, eigensinnig und leidenschaftlich einzusetzen, hatte sie dann sofort beschlossen, Dascha wie eine leibliche Tochter zu erziehen. Sie legte für sie ein Kapital beiseite und nahm eine Gouvernante ins Haus, Miß Criggs, die bis zu Daschas sechzehntem Jahre bei ihnen blieb. Dann setzten Lehrer vom Gymnasium, ein Franzose und eine arme adelige Dame, die Klavierstunden gab, den Unterricht fort. Aber der Hauptpädagoge war doch Stepan Trophimowitsch, der eigentlich Dascha „entdeckt“ und das stille Kind schon unterrichtet hatte, als es von Warwara Petrowna noch gar nicht beachtet wurde. Ich weise nochmals darauf hin: es war erstaunlich, wie Kinder an ihm hingen. Auch Lisa hatte er von ihrem achten bis elften Jahre unterrichtet (selbstredend unentgeltlich). Er hatte sich in das reizende Kind ganz verliebt und erzählte ihr wie schöne Dichtungen die Einrichtung der Welt, die Geschichte der Menschheit und der ersten Völker. Das war fesselnder als arabische Märchen. Lisa verging vor Begeisterung für diese Geschichten, zu Hause aber kopierte sie ihren Lehrer in einer höchst drolligen Weise. Als dieser sie einmal dabei überraschte, flog sie ihm in ihrer Verlegenheit einfach an den Hals und begann zu weinen. Er aber weinte gleich mit: vor lauter Entzücken. Bald aber reiste Lisa weg und die kleine Dascha blieb allein. Später überließ er den Unterricht den Lehrern, die ins Haus kamen, und kümmerte sich lange Zeit gar nicht mehr um sie. Einmal aber, als Dascha bereits siebzehn war, fiel ihm bei Tisch plötzlich ihre Lieblichkeit auf. Er begann mit ihr zu sprechen, war ersichtlich sehr zufrieden mit ihren Antworten und fragte sie zum Schluß, ob sie nicht mit ihm die Geschichte der russischen Literatur durchnehmen wolle. Warwara Petrowna lobte ihn für den guten Gedanken und dankte ihm. Dascha aber war selig. Doch als er nach den ersten paar Stunden ankündigte, das nächste Mal würden sie das Igorlied durchnehmen, erklärte plötzlich Warwara Petrowna, die wie immer zugegen war, daß es weitere Stunden nicht mehr geben werde. Stepan Trophimowitsch straffte sich, schwieg aber; Dascha wurde feuerrot. – Das hatte sich genau drei Jahre vor Warwara Petrownas jetzigem unverhofften Einfall zugetragen.

Der arme Stepan Trophimowitsch saß ahnungslos allein zu Hause und hielt trübselig schon lange Ausschau, ob denn nicht ein Bekannter zu ihm komme. Aber es wollte keiner kommen. Ein feiner Sprühregen fiel; es wurde kalt. Er seufzte. Plötzlich sahen seine Augen eine erschreckende Vision: Warwara Petrowna, bei diesem Wetter, auf dem Wege zu ihm! Und zu Fuß! Er war so verblüfft, daß er alles vergaß und sie empfing wie er war: in seiner fraisefarbenen wattierten Hausjacke.

Ma bonne amie![16] rief er ihr mit schwacher Stimme entgegen.

„Sie sind allein, das freut mich. Ich kann Ihre Freunde nicht ausstehen. Wie das hier wieder vollgeraucht ist! Und das Frühstück noch nicht beendet, dabei ist es schon zwölf! Wahrhaftig: Unordnung ist doch Ihre Seligkeit. Und Ihr einziges Behagen. Was sind das für Papierfetzchen auf dem Fußboden? Nastassja, Nastassja! Mach’ mir mal hier alle Fenster auf, Mütterchen! Wir gehen in den Salon. Ich habe mit Ihnen zu reden. Du aber fege hier doch wenigstens einmal im Leben aus! ... Schließen Sie gut die Tür, Nastassja wird natürlich horchen. Setzen Sie sich und hören Sie zu. Wohin, wohin? Wohin wollen Sie?“

„Ich ... sofort ... ich bin sofort wieder da ...“

„Ah, Sie haben den Rock gewechselt.“ Sie musterte ihn spöttisch. „Der paßt allerdings besser zu ... unserem Gespräch. Aber so setzen Sie sich doch endlich, ich bitte Sie!“

Sie erklärte ihm alles mit einem Schlage, scharf und einleuchtend. Sie streifte auch die Achttausend, die er so nötig hatte. Sie sprach ausführlich von der Mitgift. Er riß die Augen auf und begann zu zittern. Er hörte alles, aber er konnte nichts klar erwägen. Er wollte etwas entgegnen, aber die Stimme versagte.

Mais, ma bonne amie, zum dritten Mal und in meinen Jahren, und mit einem solchen Kinde!“ brachte er schließlich hervor. „Mais c’est une enfant![28]

„Das schon zwanzig Jahre alt ist, gottlob! Sie sind ein sehr kluger und gelehrter Mann, aber vom Leben verstehen Sie nichts. Sie werden ewig eine Kinderfrau nötig haben. Sterbe ich, was wird dann aus Ihnen? Sie aber ist ein bescheidenes, verständiges, charakterfestes Mädchen; zudem werde ich ja selbst immer hier sein, ich sterbe ja nicht gleich. Sie ist häuslich, ist ein Engel an Sanftmut. Dieser glückliche Gedanke kam mir schon in der Schweiz. Begreifen Sie auch: ich selbst sage es Ihnen, daß sie ein Engel ist!“ rief sie plötzlich jähzornig. „Sie bilden sich wohl ein, daß ich Sie noch bitten, alle Vorzüge aufzählen muß! Nein, Sie müßten auf den Knien ... Oh, Sie leerer, leerer, engherziger Mensch!“

„Aber ich ... ich bin doch schon ein Greis!“

„Fünfzig Jahre sind nicht das Ende, sondern nur die Hälfte des Lebens. Sie sind ein schöner Mann und wissen das selbst. Sie wissen auch, wie sehr Dascha Sie verehrt. Und wenn ich sterbe, was wird dann aus ihr? Sie haben einen angesehenen Namen, ein liebevolles Herz. Sie werden sie bilden, werden sie retten, ja retten! Inzwischen wird auch Ihr Werk fertig werden und das wird Ihren Ruhm erneuern ...“

„Allerdings ... bin ich gerade im Begriff, meine ‚Skizzen aus der spanischen Geschichte‘ vorzunehmen ...“

„Nun sehen Sie, das trifft sich ja ausgezeichnet.“

Stepan Trophimowitsch schwindelte der Kopf; die Wände drehten sich um ihn herum. „Excellente amie![12] ... seine Stimme zitterte plötzlich, „ich ... ich hätte nie gedacht, daß Sie mich je mit ... einer anderen ... verheiraten könnten!“

„Sie sind doch kein junges Mädchen, das man verheiratet, Sie heiraten doch selbst,“ stieß sie giftig hervor.

Oui, j’ai pris un mot pour un autre ... Mais ... c’est égal[29] ...“ Er sah sie wie verloren an.

„Das sehe ich, daß Ihnen das égal[30] ist,“ sagte sie mit bissiger Verachtung. „Herrgott, er wird ja ohnmächtig! Nastassja, Nastassja! Wasser!“ – Aber er kam schon wieder zu sich. Warwara Petrowna nahm ihren Schirm. „Ich sehe, daß man mit Ihnen jetzt nicht reden kann ...“

Oui, oui, je suis incapable[31] ...“

„Aber bis morgen müssen Sie sich erholt und entschlossen haben. Bleiben Sie zu Hause. Aber schreiben Sie mir keine Briefe; werde sie nicht lesen. Morgen werde ich um dieselbe Zeit wiederkommen, allein, und ich hoffe, daß Ihre Antwort eine befriedigende sein wird. Sorgen Sie dafür, daß dann niemand hier ist und daß in den Zimmern Ordnung herrscht, denn wie sieht das hier aus! Nastassja, Nastassja! ...“

Natürlich war er am nächsten Tage einverstanden. Es blieb ihm ja auch nichts anderes übrig, – aus einem besonderen Grunde ...

VIII.

Das Gut, das seine erste Frau hinterlassen hatte, gehörte nicht ihm, sondern seinem Sohn. Stepan Trophimowitsch hatte es sozusagen nur verwaltet und auf Grund einer Abmachung dem Sohn tausend Rubel jährlich als Einnahme des Gutes zugesandt. Das heißt: diese Summe war regelmäßig von Warwara Petrowna entrichtet worden, Stepan Trophimowitsch aber hatte auch nicht einen Rubel dazu beigesteuert. Die ganze Einnahme vom Gut, die übrigens nur fünfhundert Rubel im Jahre betrug, hatte er immer selbst verbraucht, dazu das Gut schließlich noch ruiniert, da er es ohne Warwara Petrownas Wissen an einen Händler verpachtet und den Wald, der das Wertvollste war, nach und nach parzellenweise zum Abholzen verkauft hatte, wenn er größere Spielverluste im Klub Warwara Petrowna doch nicht zu gestehen wagte. Für diesen Wald, der etwa achttausend Rubel wert war, hatte er im ganzen nur fünftausend erhalten. Sie knirschte natürlich, als sie das schließlich erfuhr. Aber nun hatte der Sohn plötzlich geschrieben, er werde kommen, um das Gut zu verkaufen, und den Vater beauftragt, sich inzwischen nach Käufern umzusehen. Selbstredend schämte sich nun Stepan Trophimowitsch bei seiner großzügigen und nicht materialistischen Einstellung zu solchen Dingen vor ce cher fils,[32] den er übrigens zuletzt vor neun Jahren in Petersburg als Studenten gesehen hatte. Der Wert des Gutes war von etwa vierzehn- auf kaum fünftausend Rubel gesunken. Wie sollte er das diesem Sohne nun sagen? Freilich hätte er als offiziell Bevollmächtigter den Wald verkaufen dürfen, und da dem Sohn jahrelang tausend Rubel statt etwa fünfhundert geschickt worden waren, konnte er auch einer Abrechnung ruhig entgegensehen. Doch Stepan Trophimowitsch war nun einmal ein nobler Mensch, der Höheres im Sinne hatte. In seiner Phantasie stellte er sich ein ganz anderes Bild vor: wie er diesem cher fils, wenn er endlich kam, die ganze Summe auf den Tisch legte, ohne die doppelt gezahlten Jahresraten überhaupt zu erwähnen, wie er ihn unter Tränen fest an seine Brust drückte und damit alle Abrechnungen für immer aus der Welt schaffte. Vorsichtig hatte er auch Warwara Petrowna für dieses schöne Bild zu gewinnen gesucht. Er deutete an, daß eine solche Einstellung zu einer pekuniären Frage auch ihrer Freundschaft, der „Idee“ dieser Freundschaft noch eine besondere, edle Nuance verleihen würde, sie, d. h. die Väter oder die frühere Generation überhaupt, als so viel selbstloser und großmütiger im Vergleich zu der neuen leichtsinnigen und sozialistischen Jugend hinstellen müßte. Er sprach noch allerhand, aber sie schwieg. Schließlich teilte sie ihm nur trocken mit, daß sie das Gut für siebentausend kaufen wolle. Doch von den fehlenden Achttausend – dem Wert des Waldes – sprach sie kein Wort. Das war etwa einen Monat vor dem Heiratsantrag geschehen.

Was wir hier über diesen seinen Sohn wußten, waren eigentlich nur etwas seltsame Gerüchte. Vor sechs Jahren hatte er das Studium an der Universität beendet und sich dann ohne Beschäftigung in Petersburg herumgetrieben. Plötzlich hieß es, er habe sich an der Abfassung einer geheimen Proklamation beteiligt; und bald darauf verlautete, er sei bereits in der Schweiz. Also geflüchtet.

„Das wundert mich,“ sagte damals Stepan Trophimowitsch, sichtlich bestürzt „Petrúscha – c’est une si pauvre tête![33] ... Aber wissen Sie, das kommt alles von eben diesem Unausgebrütetsein, und von der Empfindsamkeit! Was sie fesselt, ist nicht der Realismus, sondern die empfindsame, ideale Seite des Sozialismus, sozusagen seine religiöse Färbung, seine Poesie ... ins Blaue hinein, natürlich. Und gerade mir, mir muß das widerfahren! Ich habe hier schon so viele Feinde, dort noch mehr, man wird es also dem Einflusse des Vaters zuschreiben ... Gott! Petrúscha ein Aufwiegler! In was für Zeiten leben wir!“

Übrigens schickte „Petrúscha“ aus der Schweiz sehr bald seine genaue Adresse, damit ihm das Geld wie gewöhnlich zugesandt werde: also war er doch kein Emigrant von jener Art. Und jetzt, nach etwa vierjährigem Aufenthalt im Auslande, war er schon wieder im Vaterlande und kündete sogar seinen Besuch an; somit konnte doch überhaupt keine Anklage gegen ihn vorliegen. Ja, nicht nur das: es schien ihn jemand sogar zu protegieren. Er schrieb jetzt aus Südrußland, wo er sich in jemandes privatem Auftrage befand und etwas Wichtiges auszuführen hatte. Das war ja alles sehr schön, aber woher nun die fehlenden Achttausend nehmen, um den vollen Wert des Gutes auszahlen zu können? Wie nun, wenn es statt zu jenem schönen Charakterbilde plötzlich zu einem Prozeß kam? Eine unbestimmte Empfindung sagte Stepan Trophimowitsch, daß ce cher fils auf keines seiner Anrechte verzichten werde. „Woher kommt das,“ fragte er mich damals einmal halblaut, „daß alle diese fanatischen Sozialisten und Kommunisten gleichzeitig so geizig, erwerbsbeflissen und besitzstolz sind, ja je mehr einer Sozialist ist, je weiter er dabei geht, um so mehr ist er selber gerade ‚Besitzer‘. Sollte das wirklich auch von der Empfindsamkeit herrühren?“ Ich weiß nicht, ob an dieser Beobachtung Stepan Trophimowitschs etwas Wahres ist. Damals wußte ich nur, daß Petrúscha von dem Verkauf des Waldes bereits einiges erfahren hatte, und auch Stepan Trophimowitsch wußte das. Und da kamen nun diese Achttausend mit dem Vorschlage Warwara Petrownas plötzlich herbeigeflogen! Aber sie gab auch deutlich zu verstehen, daß sie auf keinem anderen Wege herbeifliegen würden. Selbstredend erklärte er sich einverstanden.

Damals, nach ihrem ersten Morgenbesuch, ließ er mich sofort dringend zu sich bitten. Er war sehr erregt, redete viel und gut, weinte zwischendurch, dann gab es eine leichte Cholerine, kurz, alles verlief wie gewöhnlich. Darauf holte er das Bild seiner zweiten Frau hervor, der Deutschen, rief: „Kannst du mir verzeihen?“, weinte wieder und war überhaupt wie aus dem Konzept gebracht. Vor Kummer tranken wir ein bißchen. Übrigens schlief er bald und süß ein. Am folgenden Morgen band er meisterhaft seine weiße Halsbinde, kleidete sich mit Sorgfalt an und besah sich oft im Spiegel. Sein Taschentuch bespritzte er mit Parfüm, übrigens nur ein wenig, doch als er Warwara Petrowna kommen sah, nahm er schnell ein anderes und steckte das parfümierte unter ein Kissen.

„Vortrefflich!“ lobte ihn Warwara Petrowna, als sie die Erklärung seines Einverständnisses vernommen hatte. „Endlich einmal sind Sie der Stimme der Vernunft gefolgt. Es eilt übrigens nicht,“ fügte sie hinzu, während sie den Knoten seiner Halsbinde betrachtete. „Vorläufig schweigen Sie, auch ich werde darüber schweigen. Bald ist Ihr Geburtstag, ich werde dann mit ihr zu Ihnen kommen. Geben Sie eine kleine Abendgesellschaft, nur Tee, keine Spirituosen, bitte; übrigens, ich werde das selbst arrangieren. Dann können wir – nicht eine Verlobung feiern, sondern es nur zu verstehen geben, ohne alle Feierlichkeiten. Und zwei Wochen später kann dann die Hochzeit stattfinden, gleichfalls ohne Lärm. Nach der Trauung könnten Sie beide ein wenig verreisen, nach Moskau, zum Beispiel. Vielleicht fahre ich mit. Doch die Hauptsache: bis dahin schweigen Sie.“

Stepan Trophimowitsch war erstaunt. Stotterte etwas von vorher mit der Braut doch sprechen müssen usw. Doch zu seiner Verblüffung fiel sie ihm gereizt ins Wort: „Wozu denn das? Vielleicht wird überhaupt nichts daraus ...“ Und auf seinen verständnislosen Blick aus aufgerissenen Augen: „Nun ja. So. Ich werde noch sehen ... Übrigens wird alles so geschehen, wie ich gesagt habe, seien Sie unbesorgt, ich werde Darja selbst vorbereiten. Alles Nötige wird ohne Sie gesagt und getan werden, Sie haben da überhaupt keine Rolle zu spielen. Und keine Briefe zu schreiben! Und daß Sie nichts verlauten lassen. Ich werde gleichfalls schweigen.“

Sie wollte ihm offenbar nichts erklären und verließ ihn sichtlich verstimmt. Eine solche Bereitwilligkeit seinerseits hatte sie doch wohl überrascht. Er aber – ach! – er überschaute seine Handlungsweise ganz und gar nicht, sah sie überhaupt nur von seinem Gesichtspunkt aus. Ja, es stellte sich bei ihm sogar ein gewisser neuer Ton ein, etwas Siegesgewisses und Leichtsinniges. Er fühlte sich!

„Das gefällt mir!“ rief er aus und blieb aufgebracht und wichtig vor mir stehen. „Haben Sie es gehört? Sie will es so weit treiben, daß ich schließlich nicht mehr will. Denn ich könnte doch auch einmal meine Geduld verlieren und ... nicht mehr wollen. ‚Wozu denn das?‘ fragt sie mich. Aber warum muß ich denn unbedingt heiraten? Nur weil sie plötzlich den lächerlichen Einfall hat? Aber ich bin doch ein ernster Mensch und habe vielleicht gar keine Lust, mich den Launen einer unvernünftigen Frau zu fügen! Ich habe Pflichten meinem Sohne gegenüber und ... und gegen mich selbst! Ich bringe ein Opfer – begreift sie das auch? Vielleicht habe ich nur deshalb eingewilligt, weil das Leben mir langweilig geworden und alles mir schließlich gleich ist. Aber wenn sie mich reizt, könnte es geschehen, daß mir plötzlich nicht mehr alles gleich ist! Ich kann mich beleidigt fühlen und mich weigern! Et enfin le ridicule[34] ... Was werden die Menschen sagen! ‚Vielleicht wird überhaupt nichts daraus‘ –! Das ist denn doch! ... Das ist der Gipfel! Das ist ... ja was soll denn das heißen? Je suis un forçat, un Badinguet, un[35] an die Wand gedrückter Mensch! ...“

Und dabei blickte doch etwas launisch Selbstgefälliges, etwas leichtfertig Spielerisches durch alle diese anklagenden Ausrufe hervor. Am Abend tranken wir wieder ein wenig.

Drittes Kapitel.
Fremde Sünden.

I.

Es verging ungefähr eine Woche und die Sache begann sich hinzuziehen. Nebenbei bemerkt: ich hatte in dieser Zeit als sein einziger, ihm ewig unentbehrlicher Vertrauter viel auszustehen. Er schämte sich, und das war die Hauptursache seiner Qual. Er schämte sich vor allen Menschen, glaubte, die ganze Stadt wisse es bereits, und so saß er denn nur zu Hause und empfing keinen außer mir! Ja, er schämte sich sogar vor mir, und je mehr er sich mir gegenüber aussprach, um so mehr ärgerte er sich gleichzeitig über mich. Eine Woche war so vergangen, er aber wußte noch immer nicht, ob er nun Bräutigam war oder noch unverlobt. Auch die Braut hatte er noch nicht gesprochen, ja, war sie denn überhaupt seine Braut? ja, war das Ganze überhaupt ernst gemeint? Aus einem ihm unbekannten Grunde lehnte Warwara Petrowna es ab, ihn zu empfangen, und auf einen seiner ersten Briefe (er schrieb natürlich wieder unzählige) hatte sie ihm kurzweg geantwortet, sie müsse ihn bitten, sie für einige Zeit mit Briefen, Fragen und Besuchen zu verschonen, da sie sehr beschäftigt sei; sie habe ihm selbst viel Wichtiges mitzuteilen, warte dazu aber den ersten freieren Augenblick ab und werde ihn dann schon wissen lassen, wann er wieder zu ihr kommen könne. Weitere Briefe werde sie ihm uneröffnet zurückschicken, denn das sei doch nur „Spielerei“.

Doch selbst diese Kränkungen und die Ungewißheit waren noch nichts im Vergleiche zu der Qual eines einzigen und ganz bestimmten Gedankens, der ihn unausgesetzt verfolgte und der die Hauptursache seiner Scheu vor den Menschen war. Natürlich hatte ich die Richtung dieses Gedankens schon längst erraten, und das merkte er, wie es ihm auch nicht entging, daß mich die Häßlichkeit dieses Verdachts, der in ihm beim Suchen nach einer Erklärung für Warwara Petrownas seltsamen Heiratsplan erwacht war, aufrichtig empörte. Er wagte nicht, diesen Verdacht offen auszusprechen, und doch schien er an ihm fast zu ersticken. Er konnte keine zwei Stunden ohne mich auskommen, ließ mich immer wieder zu sich bitten, doch wenn ich dann kam, sprach er wieder bloß von allem Möglichen, nur nicht von dem, was ihn so qualvoll beschäftigte. Das ärgerte mich doppelt und mein Ärger ärgerte wiederum ihn. Manches andere freilich erkannte er sehr richtig und definierte es sogar sehr treffend.

„Oh, wie hat sie sich verändert!“ klagte er unter anderem über Warwara Petrowna. „War sie denn damals so, als wir noch über hohe Dinge diskutierten! Werden Sie es mir glauben, damals hatte sie Gedanken, eigene Gedanken! Jetzt ist alles anders. Sie sagt, das sei alles nur altmodisches Geschwätz! Sie verachtet das Frühere ... Jetzt ist sie so ein Kommis, so ein Ökonom, ein erbitterter Mensch, und immer ärgert sie sich ...“

„Worüber kann sie sich denn jetzt noch ärgern, Sie haben doch ihren Wunsch erfüllt und eingewilligt,“ warf ich ein. – Er sah mich mit einem feinen Lächeln an.

Cher ami, hätte ich nicht eingewilligt, so hätte sie sich allerdings furchtbar geärgert, furcht–bar! Aber immerhin weniger als jetzt, wo ich eingewilligt habe.“

Mit dieser Bemerkung schien er sehr zufrieden zu sein. Aber die Zufriedenheit hielt nicht lange vor; bald war er wieder finsterer und erregter als je. Was nun mich betrifft, so ärgerte ich mich vor allem darüber, daß er noch immer nicht Drosdoffs seinen Besuch machte, obschon diese ihn längst erwarteten. Dabei hatte er selbst eine Art Sehnsucht nach Lisaweta Nicolajewna und schien zu hoffen, in ihrer Gegenwart gewissermaßen eine Erleichterung seiner jetzigen Qualen und Klarheit über seine Zweifel zu finden. Nach dem Entzücken zu urteilen, mit dem er von ihr sprach, mußte er sie für ein außergewöhnliches Wesen halten. Und doch ging er nicht hin, sondern schob den Besuch von Tag zu Tag auf. Ich ärgerte mich darüber maßlos, denn: ich brannte darauf, ihr vorgestellt zu werden, und diesen Dienst konnte nur er mir erweisen. Gesehen hatte ich sie schon oft, aber natürlich nur auf der Straße, wenn sie in Begleitung eines hübschen Offiziers, ihres sogenannten Verwandten, spazieren ritt. Meine Verblendung dauerte zwar nur kurze Zeit und ich sah ja die Aussichtslosigkeit meiner Schwärmerei sehr bald ein, aber damals war ich doch empört über meinen Freund wegen seiner Scheu, Drosdoffs seinen Besuch zu machen oder auch nur das Haus zu verlassen. Und das alles wegen jenes häßlichen Verdachts! Unser Freundeskreis war von ihm schon am ersten Tage brieflich benachrichtigt worden, daß die Abende bei ihm zeitweilig ausfallen müßten, und später hatte ich noch auf seine inständige Bitte hin, (damit nur ja niemand sich darüber wundere und eine andere Ursache vermute) jeden einzeln aufsuchen und ihm erklären müssen, daß Warwara Petrowna „unserem Alten“, wie wir ihn unter uns nannten, eine große eilige Arbeit aufgetragen habe: einen mehrjährigen Briefwechsel in Ordnung zu bringen und Ähnliches. Nur zu Liputin war ich noch nicht gegangen und ich wollte es auch nicht recht; ich wußte im voraus, daß er mir doch kein Wort glauben, vielmehr sofort argwöhnen werde, daß man gerade vor ihm etwas geheimhalten wolle. Und dann würde er natürlich in der Stadt überall herumlaufen, um sich zu erkundigen, und dabei nur Klatsch verbreiten. Da traf ich ihn plötzlich ganz zufällig auf der Straße. Ich begann mich zu entschuldigen, ich sei noch nicht dazu gekommen, ihn gleichfalls aufzusuchen usw., doch er unterbrach mich sogar und zeigte seltsamerweise gar keine Neugier, ja, er ging selbst sofort auf ein anderes Thema über und begann seinerseits die Neuigkeiten zu erzählen, die sich bei ihm inzwischen angesammelt hatten. Zunächst berichtete er von der Ankunft der Gemahlin unseres neuen Gouverneurs, die „neue Gesprächsthemata“ mitgebracht habe, und von der Opposition gegen diese Themata, die sich im Klub schon gebildet habe; alle Welt rede jetzt von neuen Ideen, alle seien hinter ihnen her usw. usw. Kurz, er erzählte eine gute Viertelstunde, und zwar so amüsant, daß ich mich nicht loszureißen vermochte, obschon ich ihn persönlich nicht ausstehen konnte. Er war in meinen Augen der geborene Spion, der alle Stadtgeheimnisse wußte, besonders alle skandalösen, und sein vorherrschender Charakterzug war, wie mir schien, der Neid. Als ich Stepan Trophimowitsch von dieser Begegnung erzählte, regte er sich, zu meiner Verwunderung, unglaublich auf und stellte die seltsame Frage: „Weiß Liputin schon etwas davon oder weiß er noch nichts?“ Ich suchte ihn zu beruhigen und zu überzeugen, daß Liputin doch unmöglich von Warwara Petrownas Plan etwas gehört haben könne; durch wen denn? Aber sein Argwohn blieb und plötzlich sagte er:

„Glauben Sie es mir oder glauben Sie es nicht, aber ich bin überzeugt, daß ihm nicht nur unsere Lage bereits bekannt ist, sondern daß er außerdem noch etwas weiß, was weder ich noch Sie wissen, und was wir vielleicht auch nie erfahren werden, oder erst dann, wenn es schon zu spät ist, wenn es kein Zurück mehr gibt!“

Ich schwieg, aber diese Worte deuteten doch vieles an. Er aber bereute sichtlich schon im nächsten Augenblick, sie ausgesprochen und seinen Verdacht verraten zu haben.

II.

Eines Morgens – es war am siebenten oder achten Tage nach Stepan Trophimowitschs Einwilligung zu heiraten – hatte ich, als ich wie gewöhnlich gegen elf Uhr zu meinem bekümmerten Freunde eilte, unterwegs ein kleines Erlebnis: ich begegnete Karmasinoff[26], dem „großen Schriftsteller“, wie Liputin ihn zu nennen pflegte.

Karmasinoffs Schriften hatten mich in meinen Jünglingsjahren entzückt, begeistert. Seine späteren tendenziösen Novellen gefielen mir viel weniger als seine ersten Werke, die noch viel Poesie enthielten; manche aber sagten mir gar nicht mehr zu. Und zuletzt hatte ich eine Skizze von ihm gelesen, die ungeheure Aussprüche darauf erhob, naive Poesie und zugleich höchste Psychologie zu bringen. Diese Skizze sollte den Untergang eines Schiffes irgendwo an der englischen Küste schildern, den er als Augenzeuge miterlebt hatte, doch in Wirklichkeit schilderte sie nur ihn, den Verfasser. Man las es förmlich zwischen den Zeilen: „So seht doch auf mich, seht, wie ich in diesen Augenblicken war! Was geht euch dieses Meer an, der Sturm usw., ich bin es doch, der euch das mit genialer Feder schildert!“ Als ich damals Stepan Trophimowitsch meine Meinung über diese Skizze sagte, stimmte er mir bei. Trotzdem hätte ich Karmasinoff jetzt, während seines Besuches in unserer Stadt, gern gesehen oder gar seine Bekanntschaft gemacht, was durch Stepan Trophimowitschs Vermittlung möglich war; sie waren ja früher befreundet gewesen. Und da begegnete ich ihm nun plötzlich an einer Straßenecke. Ich erkannte ihn sofort; man hatte ihn mir schon vor drei Tagen gezeigt, als er mit der Gouverneurin in einer Equipage vorüberfuhr.

Er war ein sehr kleiner, gezierter alter Herr, übrigens wohl nicht über fünfundfünzig Jahre alt, mit ziemlich frischem Gesichtchen, dichten grauen Löckchen, die unter seinem runden Zylinderhut hervorquollen und sich um seine kleinen, netten, rosafarbenen Ohren ringelten. Sein sauberes Gesichtchen war nicht gerade hübsch, mit den dünnen, langen, verschlagen geschlossenen Lippen, der etwas fleischigen Nase und den stechenden, klugen kleinen Äuglein. Er war eigentlich etwas altmodisch gekleidet, wenigstens erinnerte der Mantel, den er trug, an die Umhänge, die bei Regenwetter etwa in der Schweiz oder in Oberitalien getragen werden. Dafür aber waren alle die kleinen Sachen, wie Hemdknöpfchen, das Krägelchen, die Schildpattlorgnette am schmalen schwarzen Bändchen, der Ring am Finger unbedingt genau von der Art, wie sie von Leuten des untadelig guten Tones getragen werden.

Er blieb an der Straßenecke stehen und sah sich aufmerksam um. Als er bemerkte, daß ich ihn neugierig ansah, wandte er sich an mich und fragte mit honigsüßem, wenn auch kreischendem Stimmchen:

„Gestatten Sie die Frage, wie komme ich auf dem nächsten Wege zur Bykoffstraße?“

„Zur Bykoffstraße? Hier ... hier geradeaus,“ rief ich erregt, „und dann die zweite Querstraße links.“

„Ich danke Ihnen sehr.“

Verwünscht sei dieser Augenblick! Er hatte aus meiner Verlegenheit und Erregung natürlich sofort alles erraten, d. h. daß ich wußte, wer er war, daß ich seine Werke verschlungen hatte und darum so befangen und so dienstbeflissen war. Er lächelte, nickte und ging weiter. Ich weiß nicht, warum ich ihm nachging. Da blieb er wieder stehen.

„Und könnten Sie mir auch angeben, wo hier in der Nähe Droschken stehen?“ kreischte wieder seine Stimme.

„Droschken? Hier ... bei der Kirche stehen immer welche!“ und fast wäre ich selbst nach einer Droschke gelaufen. Ich vermute, daß er gerade das von mir auch erwartete. Natürlich kam ich sofort zur Besinnung und blieb stehen, aber meine erste Bewegung hat er bestimmt bemerkt, da er mich die ganze Zeit mit diesem schändlichen Lächeln scharf beobachtete. Da aber geschah etwas für mich Unvergeßliches: er ließ plötzlich ein Säckchen oder eine Art Täschchen fallen, das er in der linken Hand trug. Und ich machte unwillkürlich eine Bewegung, um es aufzuheben. Natürlich besann ich mich sofort und hob es nicht auf, nur wurde ich rot wie ein Dummkopf. Er aber nutzte die Situation raffiniert zu seinen Gunsten aus.

„Bemühen Sie sich nicht, ich kann ja selbst ...“ sagte er in bezaubernd liebenswürdigem Tone, aber erst, als kein Zweifel mehr darob bestand, daß ich es nicht aufheben würde. Er hob es selbst auf, nickte mir zu und ging weiter, indem er mich wie einen dummen Jungen stehen ließ. Das war ebensogut, als hätte ich es aufgehoben. In den ersten fünf Minuten hielt ich mich für lebenslänglich blamiert; doch als ich mich dem Hause Stepan Trophimowitschs näherte, lachte ich plötzlich laut auf: die Begegnung kam mir so komisch vor, daß ich sofort beschloß, sie meinem Freunde zur Erheiterung zu erzählen.

III.

Aber diesmal fand ich ihn zu meiner Verwunderung ganz verändert vor. Er stürzte mir freilich mit einer gewissen Spannung entgegen und begann mir zuzuhören, aber er war doch sichtlich so zerstreut, daß er meinen Bericht anfangs gar nicht verstand. Kaum aber hatte ich den Namen Karmasinoff ausgesprochen, als er plötzlich geradezu außer sich geriet.

„Reden Sie nicht von ihm, nennen Sie ihn nicht!“ rief er fast wie rasend. „Hier, hier, sehen Sie, lesen Sie!“ Er riß ein Schubfach auf und warf mir drei kleine Zettel zu. Es waren drei Zuschriften Warwara Petrownas an ihn, die sich alle auf Karmasinoff bezogen und deutlich ihre Besorgnis verrieten, der „große Schriftsteller“ könnte vergessen, ihr seine Visite zu machen. Das erste Briefchen, das sie vor drei oder vier Tagen geschrieben hatte, lautete:

„Sollte er Sie heute endlich beehren, so bitte von mir kein Wort. Erwähnen Sie mich überhaupt nicht und erinnern Sie ihn nicht daran. W. S.“

Der zweite Zettel vom vergangenen Tage lautete:

„Sollte er sich heute endlich entschließen, Ihnen seine Visite zu machen, so dürfte es das beste sein, ihn überhaupt nicht zu empfangen. Das wäre meine Meinung. Wie die Ihre ist, weiß ich nicht. W. S.“

Und den dritten hatte er vor einer Stunde erhalten:

„Ich bin überzeugt, daß in Ihren Zimmern eine Fuhre Papierschnippel und allerhand umherliegt und der Zigarrenrauch undurchdringlich ist. Ich schicke Ihnen Marja und Fómuschka, die werden in einer halben Stunde alles aufräumen. Stören Sie sie nicht, setzen Sie sich so lange in die Küche. Ich sende Ihnen einen bucharischen Teppich und zwei chinesische Vasen, die ich Ihnen schon lange schenken wollte, und außerdem meinen Teniers (diesen aber nur für einige Zeit). Die Vasen könnte man aufs Fensterbrett stellen und den Teniers hängen Sie rechts unter Goethes Porträt, dort ist er sichtbarer. Wenn er endlich erscheint, so empfangen Sie ihn mit vollendeter Höflichkeit, aber reden Sie nur von Belanglosem, z. B. von irgendetwas Gelehrtem, und mit einem Gleichmut, als hätten Sie sich erst gestern getrennt. Über mich kein Wort. Vielleicht komme ich am Abend zu Ihnen, um zu sehen, wie es aussieht. W. S.

P. S. Wenn er heute nicht kommt, so wird er überhaupt nicht kommen.“

Ich las und wunderte mich im stillen, daß solche Kleinigkeiten ihn so erregen konnten. Als ich aufsah bemerkte ich, daß er inzwischen seine weiße Halsbinde mit einer roten vertauscht hatte. Hut und Stock lagen auf dem Tisch. Er war blaß und seine Hände zitterten.

„Ich will von ihren Besorgnissen nichts wissen!“ schrie er empört als Antwort auf meinen fragenden Blick. „Je m’en fiche![36] Ihr fällt es ein, sich wegen Karmasinoff aufzuregen, aber auf meine Briefe antwortet sie mir nicht! Dort, sehen Sie, dort auf dem Schreibtisch liegt mein Brief, den sie mir gestern uneröffnet zurückgeschickt hat! Was geht es mich an, daß sie sich um Ni–kó–lenka Sorgen macht! Je m’en fiche et je proclame ma liberté! Au diable le Karmazinoff! Au diable la Lembke![37] Die chinesischen Vasen habe ich im Vorzimmer versteckt und den Teniers in der Kommode untergebracht, von ihr aber habe ich verlangt, mich sofort zu empfangen. Jawohl: verlangt, mich sofort zu empfangen, sofort! Ich habe ihr genau solch einen mit Bleistift geschriebenen Zettel unversiegelt durch Nastassja geschickt und warte jetzt. Ich will, daß Darja Pawlowna mir persönlich sagt, was gesagt werden muß, mit eigenem Munde und vor dem Angesicht des Himmels oder wenigstens vor Ihnen. Vous me seconderez, n’est-ce pas, comme ami et témoin.[38] Ich will nicht erröten müssen, ich will nicht lügen müssen, ich will keine Geheimnisse, in dieser Sache werde ich Geheimnisse nicht dulden! Sie sollen mir alles gestehen, ehrlich, offen und anständig, und dann ... dann werde ich vielleicht die ganze heutige Generation durch meine Großmut in Erstaunen setzen! ... Bin ich denn ein Schuft, mein Herr?“ schloß er plötzlich und sah mich so drohend an, als hätte gerade ich ihn für einen Schuft gehalten.

Ich bat ihn, zur Beruhigung ein wenig Wasser zu trinken. So erregt hatte ich ihn noch nie gesehen. Er lief die ganze Zeit hin und her. Plötzlich blieb er in einer ganz ungewöhnlichen Pose vor mir stehen.

„Glauben Sie wirklich,“ begann er mit krankhaftem Hochmute, mich vom Kopfe bis zu den Füßen messend, „daß ich, Stepan Werchowenski, nicht so viel sittliche Kraft in mir fände, um meine Habe – mein armseliges Bündel! – auf meine schwachen Schultern zu laden, zum Tore hinauszugehen und für immer von hier zu verschwinden, wenn das die Ehre und das hohe Prinzip der Unabhängigkeit fordern? Es wäre nicht das erste Mal, daß Stepan Werchowenski Despotismus durch Großmut zurückweist, selbst wenn es sich um den Despotismus eines wahnsinnigen Weibes handelt, also um den kränkendsten und grausamsten Despotismus, den es auf der Welt überhaupt geben kann, wiewohl Sie soeben beliebten, über meine Worte zu lächeln, mein Herr! Oh, Sie glauben natürlich nicht, daß ich soviel Großmut aufzubringen vermöchte, um mein Leben lieber bei einem Kaufmann als Hauslehrer zu beschließen oder hinter einem Zaune Hungers zu sterben! Antworten Sie mir, antworten Sie sofort: trauen Sie mir das zu oder trauen Sie’s mir nicht zu?“

Ich schwieg aber absichtlich. Ich tat sogar, als brächte ich es nicht über mich, ihn durch eine verneinende Antwort zu kränken, und könnte doch auch nicht bejahend antworten. In diesem ganzen Benehmen lag etwas, was mich entschieden verletzte, nicht mich persönlich, o nein! ... Ich werde das später erklären. Er wurde blaß.

„Vielleicht langweilt Sie überhaupt der Umgang mit mir, G–ff“ (dies ist mein Familienname), „und Sie würden lieber ... den Verkehr mit mir ganz aufgeben?“ fragte er in jenem Tone bleicher Ruhe, die gewöhnlich einem außergewöhnlichen Ausbruch vorhergeht. Ich sprang erschrocken auf; in dem Augenblick kam Nastassja herein und übergab ihm schweigend einen Zettel. Er warf einen Blick darauf und reichte ihn mir. Auf dem Papier standen nur vier Worte von Warwara Petrowna: „Bleiben Sie zu Hause.“

Stepan Trophimowitsch nahm schweigend Hut und Stock und ging zur Tür; ich wollte ihm unwillkürlich folgen. Da hörten wir plötzlich Stimmen und Schritte im Korridor. Er blieb wie vom Donner gerührt stehen.

„Liputin! Ich bin verloren!“ flüsterte er und packte mich am Arm. – Da trat Liputin schon ins Zimmer.

IV.

Warum er durch Liputins Besuch verloren sei, wußte ich mir zwar nicht zu erklären, aber sein Schreck war doch so auffallend, daß ich beschloß, hier acht zu geben. Schon die Art, wie Liputin auftrat, sagte einem sofort, daß er heute trotz aller Verbote ein besonderes Recht zum Eintritt zu haben glaubte. Er brachte einen uns unbekannten Herrn mit, offenbar einen Zugereisten. Als Antwort auf den leeren Blick des starr dastehenden Stepan Trophimowitsch rief er sogleich laut:

„Ich bringe einen Gast mit, einen besonderen! Ich wage es, Ihre Einsamkeit zu stören. Herr Kirilloff, ein hervorragender Ingenieur der Wegebaukunst. Doch das Wichtigste ist: er kennt Ihren Sohn, sogar sehr gut, und hat einen Auftrag von ihm.“

„Den Auftrag haben Sie hinzugefügt,“ sagte der Gast schroff, „davon habe ich nichts. Aber Werchowenski kenne ich. Das ist so. Ich habe ihn im Gouvernement Ch. verlassen. Zehn Tage zurück.“[27]

Stepan Trophimowitsch reichte ihm mechanisch die Hand und forderte ihn auf, Platz zu nehmen. Dann sah er mich an, dann Liputin und plötzlich, wie sich besinnend, setzte er sich selbst schnell hin, behielt aber Hut und Stock, offenbar unbewußt, in der Hand.

„Aber was sehe ich, Sie wollen selbst ausgehen!“ rief Liputin. „Und mir hat man doch gesagt, Sie seien vor lauter Arbeit ganz krank!“

„Ja, ich fühle mich nicht wohl und wollte deshalb spazieren gehen. Ich ...“ Stepan Trophimowitsch stockte plötzlich, warf schnell Hut und Stock auf den Diwan und – errötete.

Ich sah mir inzwischen schnell den Gast näher an. Er war ein junger Mann von ungefähr siebenundzwanzig Jahren, anständig gekleidet, gutgewachsen und mager, brünett, mit blassem Gesicht von gleichsam ein wenig erdig-brauner Hautfarbe und mit schwarzen glanzlosen Augen. Er schien nachdenklich und zerstreut zu sein, sprach seltsam abgebrochen und grammatisch geradezu falsch, wenigstens stellte er die Worte sehr sonderbar zusammen und bei jedem längeren Satz gerieten sie ihm anscheinend durcheinander. Liputin, dem Stepan Trophimowitschs Schreck natürlich nicht entgangen war, hatte für sich einen Rohrstuhl fast bis in die Mitte des Zimmers gezogen, um in gleicher Entfernung vom Gast und vom Hausherrn sitzen zu können, die einander gegenüber jeder auf einem Diwan Platz genommen hatten. Seine scharfen Augen fuhren neugierig im Zimmer umher.

„Ich ... ich habe Petrúscha so lange nicht mehr gesehen ... Haben Sie ihn im Auslande getroffen?“ brachte Stepan Trophimowitsch, zum Gast gewandt, unsicher hervor.

„Auch hier und auch im Auslande.“

„Herr Kirilloff ist soeben nach vierjähriger Abwesenheit zurückgekehrt,“ bemerkte Liputin, „aus dem Auslande, wo er sich in seinem Fach vervollkommnet hat, und jetzt ist er zu uns gekommen, da er Aussicht hat, eine Anstellung beim Bau unserer Eisenbahnbrücke zu erhalten. Ihr Sohn hat ihn in der Schweiz auch mit Drosdoffs bekannt gemacht, und er kennt auch Nicolai Stawrogin!“

„Ja?! ... Ich ... ich habe Petrúscha so lange nicht mehr gesehen ... und habe eigentlich so wenig das Recht, mich Vater zu nennen ... oui, c’est le mot.[39] Ich ... wie haben Sie ihn denn dort verlassen?“

„Ja, so ... Er wird selbst kommen.“ Herr Kirilloff beeilte sich sichtlich, die Antwort los zu werden. Er war entschieden geärgert, saß finster da und hörte ungeduldig zu.

„Er wird herkommen! Endlich werde ich ... Ja, sehen Sie, ich habe Petrúscha so lange nicht mehr gesehen!“ Stepan Trophimowitsch kam von diesem Satz nicht los. „Ich erwarte jetzt meinen armen Jungen, vor dem ... oh, vor dem ich so schuldig dastehe! Das heißt, ich wollte sagen, daß ich ihn in Petersburg damals für nichts Besonderes hielt ... ou quelque chose dans ce genre.[40] Der Junge war, wissen Sie, nervös, sehr empfindsam, und ... ängstlich. Bevor er zu Bett ging, verneigte er sich vor dem Heiligenbilde und bekreuzte sein Kopfkissen, um in der Nacht nicht zu sterben, je m’en souviens. Enfin,[41] kein bißchen Gefühl für das Schöne, das heißt für etwas Höheres, oder Tieferes, kein einziger Keim einer zukünftigen Idee ... c’était comme un petit idiot.[42] Übrigens, ich ... entschuldigen Sie, ich ... bin momentan ...“

„Das Kissen bekreuzte, sagten Sie das im Ernst?“ erkundigte sich Herr Kirilloff plötzlich mit besonderem Interesse.

„Ja, er bekreuzte es ...“

„Nein, ich fragte nur so; fahren Sie fort.“

Stepan Trophimowitsch sah Liputin fragend an.

„Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihren Besuch, aber ich muß gestehen, ich bin jetzt nicht imstande ... Doch gestatten Sie die Frage, wo wohnen Sie?“

„In der Bogojawlenskstraße, im Filippoffschen Hause.“

„Ach, das ist ja dasselbe Haus, in dem auch Schatoff wohnt,“ bemerkte ich unwillkürlich.

„Ja, eben, genau in demselben Hause,“ rief Liputin schnell, „nur wohnt Schatoff oben und er unten bei Lebädkin. Und er ist auch mit Schatoff und Schatoffs Frau bekannt, mit dieser sogar besonders nah und gut.“

Comment![43] So wissen Sie etwas von dieser unglücklichen Ehe de notre pauvre ami[44] mit dieser Frau?“ fragte Stepan Trophimowitsch plötzlich lebhaft, mit aufrichtigem Mitgefühl. „Sie sind der erste, der diese Frau persönlich kennt; und wenn nur ...“

„Welch ein Blödsinn!“ Kirilloff sah dabei, ganz rot vor Zorn, Liputin ungehalten an. „Was Sie immer zu allem hinzufügen, Liputin! Ich kenne Schatoffs Frau gar nicht ... habe sie nur einmal gesehen, von weitem ... Was fügen Sie immer hinzu!“ Und er machte eine schroffe Wendung auf dem Diwan, griff schon nach seiner Mütze, legte sie aber wieder hin, und als er wieder wie früher dasaß, richtete er plötzlich seine schwarzen aufflammenden Augen mit einer gewissen Herausforderung auf Stepan Trophimowitsch. Ich vermochte mir diese sonderbare Reizbarkeit überhaupt nicht zu erklären.

„Verzeihen Sie,“ versetzte Stepan Trophimowitsch fein, „ich verstehe, daß das eine sehr zarte Angelegenheit ...“

„Gar keine zarte Angelegenheit, und das ist einfach schamlos ich habe aber nicht zu Ihnen ‚Blödsinn‘ gesagt, sondern zu Liputin, weil er immer hinzufügt. Entschuldigen Sie, wenn Sie es auf sich dachten. Ich kenne Schatoff, aber seine Frau, nein, die gar nicht!“

„Ich verstehe, oh, ich verstehe. Ich habe ja nur gefragt, weil ich unseren armen Freund sehr liebe und mich immer für ihn interessiert habe ... Der junge Mann hat, meiner Meinung nach, etwas zu plötzlich, zu schroff seine früheren, vielleicht noch unreifen, aber immerhin richtigen Ansichten geändert. Er sagt jetzt dermaßen sonderbare Dinge über notre sainte Russie,[45] daß ich diesen Umschwung in seinem Inneren – anders möchte ich’s nicht nennen – einer starken Erschütterung seines Privatlebens zuschreibe, in erster Linie seiner unglücklichen Ehe. Ich, der ich mein armes Rußland studiert habe und wie meine fünf Finger kenne, und meinem Volke mein ganzes Leben geweiht habe, ich versichere Ihnen, daß er das russische Volk nicht kennt, und zudem ...“

„Ich kenne das russische Volk auch gar nicht und ... um es zu studieren ist auch gar keine Zeit da!“ fiel ihm der Ingenieur wieder ins Wort und wieder machte er eine schroffe Wendung auf seinem Platz.

„Aber er studiert es, studiert es,“ hakte Liputin flink ein, „er hat schon damit begonnen und jetzt arbeitet er an einer ungemein interessanten Abhandlung über die Ursachen der Zunahme der Selbstmorde in Rußland und überhaupt über die Ursachen, die die Verbreitung des Selbstmordes in der menschlichen Gesellschaft fördern oder hemmen. Er ist auch schon zu ganz erstaunlichen Folgerungen gelangt!“

Der Ingenieur geriet in schreckliche Erregung.

„Dazu haben Sie gar kein Recht!“ sagte er zornig. „Ich schreibe gar keine Abhandlung. Ich will keine solche Dummheiten. Ich habe Sie unter uns gefragt, nur versehentlich. Und nichts von einer Abhandlung; ich veröffentliche nicht, Sie aber haben kein Recht ...“

Liputin ergötzte sich augenscheinlich an diesem Zorn.

„Ja dann verzeihen Sie schon, vielleicht habe ich mich falsch ausgedrückt, wenn ich Ihre literarische Arbeit eine Abhandlung nannte. Er sammelt nämlich nur Beobachtungen, aber an den Kern der Frage oder sozusagen an ihre sittliche Seite rührt er überhaupt nicht, ja er lehnt sogar die Sittlichkeit selbst ganz ab und hält sich dafür an den neuesten Grundsatz der allgemeinen Zerstörung zum Zwecke der Erreichung guter Endziele. Er verlangt über hundert Millionen Köpfe, um die gesunde Vernunft in Europa zur Herrschaft zu bringen, also noch viel mehr, als auf dem letzten Weltkongreß verlangt wurden. In der Beziehung geht er viel weiter als alle anderen!“

Der Ingenieur hörte mit einem geringschätzigen und blassen Lächeln zu. Eine halbe Minute schwiegen wir alle.

„Das ist so dumm, Liputin,“ sagte Kirilloff schließlich, nicht ohne eine gewisse Würde. „Ich habe Ihnen nur einige Punkte gesagt, und Sie haben sie so aufgefaßt, das ist Ihre Sache. Aber Sie haben gar kein Recht dazu, und ich spreche davon zu niemandem. Ich verachte das Sprechen. Wenn ich Überzeugungen habe, so sind sie für mich klar. Ich philosophiere nicht mehr über das, was schon ganz klar ist. Ich kann es nicht ausstehen, zu philosophieren. Ich will niemals philosophieren.“

„Und vielleicht tun Sie ganz recht daran,“ konnte Stepan Trophimowitsch sich nicht enthalten, zu bemerken.

„Ich habe mich bei Ihnen entschuldigt, aber ich ärgere mich hier über niemanden,“ fuhr der fremde Gast schnell und erregt fort. „Ich habe vier Jahre lang wenig Menschen gesehen. Vier Jahre habe ich wenig gesprochen und mich bemüht, mit keinem Menschen zusammenzukommen, wegen meiner Ziele, die weiter niemanden angehen. Liputin fand das zum Lachen. Ich sehe das, aber ich beachte es nicht. Man kann mich nicht beleidigen, aber ich ärgere mich nur über seine Ungeniertheit. Doch wenn ich Ihnen nicht meine Gedanken erkläre,“ schloß er unerwartet und sah uns alle der Reihe nach mit festem Blick an, „so unterlasse ich das nicht deshalb, weil ich eine Anzeige bei der Regierung fürchte, nein, bitte, denken Sie nicht Dummheiten von der Art ...“

Dazu sagte schon niemand mehr etwas. Wir sahen uns nur an. Sogar Liputin vergaß zu spottlächeln.

„Meine Herren, ich bedaure unendlich,“ sagte Stepan Trophimowitsch plötzlich entschlossen und erhob sich, „aber ich fühle mich nicht wohl. Entschuldigen Sie mich.“

„Ach, das ist, damit wir fortgehen!“ rief Herr Kirilloff und sprang sofort auf. „Gut, daß Sie es sagten, ich bin sonst vergeßlich.“

Er trat mit gutmütigem Ausdruck und ausgestreckter Hand auf Stepan Trophimowitsch zu. „Schade, daß Sie krank sind und ich gekommen bin.“

„Ich wünsche Ihnen allen Erfolg bei uns,“ sagte Stepan Trophimowitsch wohlwollend und gab ihm langsam die Hand. „Ich verstehe schon, daß Sie, der Sie so lange im Auslande ohne Verkehr gelebt haben, auf uns Urrussen mit Erstaunen blicken müssen – und wir natürlich desgleichen auf Sie. Mais ce a passera.[46] Nur eines macht mir Sorge: Sie wollen hier unsere Brücke bauen, und erklären sich zu gleicher Zeit für das Prinzip der allgemeinen Zerstörung? Dann wird man Sie unsere Brücke nicht bauen lassen!“

„Was?! Wie, was haben Sie gesagt?“ rief Kirilloff bestürzt; bis er plötzlich begriff: „Ach so!“ und er brach in das heiterste und harmloseste Lachen aus; dabei nahm sein Gesicht auf einen Augenblick einen ganz kindlichen Ausdruck an, der ihm, wie mir schien, ungemein gut stand.

Liputin rieb sich die Hände vor Vergnügen über Stepan Trophimowitschs gelungene Bemerkung.

Ich aber fragte mich noch immer, warum Stepan Trophimowitsch ausgerufen hatte, „ich bin verloren“, als er Liputin kommen hörte.

V.

Wir waren alle aufgestanden. Es war jener Augenblick, in dem die Gäste und der Hausherr noch die letzten liebenswürdigen Worte zu wechseln pflegen, um dann zufrieden auseinander zu gehen.

Da bemerkte plötzlich Liputin, der bereits an der Türe stand, wie beiläufig: „Er ist ja nur deshalb so mürrisch, weil er mit dem Hauptmann Lebädkin den Streit gehabt hat. Der schlägt seine schöne Schwester, die Irrsinnige, jeden Morgen und jeden Abend mit der Nagaika, mit einer echten Kosakenpeitsche, sage ich Ihnen! Herr Kirilloff aber ist deswegen schon auf die andere Seite, in den Flügel des Hauses gezogen, um das nicht täglich anhören zu müssen. Na ja, – also auf Wiedersehen!“

„Die kranke Schwester? Die Irrsinnige? Mit der Nagaika?“ rief Stepan Trophimowitsch, als sei er selbst von einem Peitschenschlage getroffen worden. „Welch eine Schwester? Was für ein Lebädkin?“

„Lebädkin – na, dieser verabschiedete Hauptmann doch! Früher nannte er sich ‚Stabskapitän‘!“ antwortete Liputin, indem er noch einmal ins Zimmer zurücktrat.

„Ach, was geht mich sein Rang an! Welche Schwester? Mein Gott ... Sie sagen Lebädkin, aber – bei uns war doch auch ein Lebädkin!“

„Eben, eben, derselbe Lebädkin ist’s ja auch! Erinnern Sie sich noch, der damals bei Wirginski ...“

„Aber der fiel doch mit seinen falschen Papieren herein?!“

„Nun ja, damals, jetzt aber ist er zurückgekehrt, schon vor drei Wochen, und zwar unter den allersonderbarsten Umständen.“

„Aber das ist doch ein ganz nichtswürdiger Mensch!“

„Mein Gott, als ob es solche bei uns nicht geben könnte!“ gab Liputin plötzlich spottlächelnd zur Antwort und dabei sahen seine listigen Äuglein Stepan Trophimowitsch an, ihn gleichsam betastend, befühlend.

„Ach Gott, darum handelt es sich doch nicht ... Übrigens, Nichtswürdige – darin stimme ich mit Ihnen vollkommen überein, besonders mit Ihnen! Aber was weiter? Was wollten Sie damit sagen? Sie wollten doch unbedingt etwas damit sagen!!“ Stepan Trophimowitsch bestand auf einer Antwort.

„Ach, das sind ja lauter Dummheiten und sonst nichts! ... Dieser ‚Hauptmann‘ hat uns damals allem Anscheine nach nicht wegen falscher Papiere verlassen, sondern einzig und allein, um sein verrücktes Schwesterlein aufzusuchen, das sich an einem unbekannten Orte versteckt hielt. Na, und jetzt hat er sie eben hergebracht. Und das ist alles. Was ist denn dabei? Warum regen Sie sich denn so darüber auf, Stepan Trophimowitsch? Ich erzähle doch nur, was ich von ihm selber in seiner Betrunkenheit erfahren habe. Wenn er nüchtern ist, schweigt er darüber. Ein reizbarer Mensch übrigens, na, und so ... na, so ein dichtender Mars mitunter, wenn der Geist über ihn kommt, doch meist von üblem Geschmack. Und das verrückte Schwesterlein, das dabei noch hinkt, scheint mir von irgend jemand entehrt worden zu sein. Der Herr Bruder aber bezieht einen jährlichen Tribut, als Belohnung für die Ehrenbeleidigung, wie er sagt. Meiner Meinung nach ist das freilich nur Geschwätz. Er prahlt einfach. Aber das ließe sich doch mit weniger Geld auch machen! Doch Tatsache ist, daß er Geld hat, und zwar in großen Summen! Vor anderthalb Wochen ging er fast barfuß, und jetzt hat er – ich habe es selbst gesehen! – Hunderte in den Händen. Die Schwester hat täglich irgendwelche Anfälle, und schreit dann, worauf er sie mit der Peitsche ‚in Ordnung bringt‘, wie er zu sagen pflegt, – denn man müsse in das Weib ‚Achtung pflanzen‘. Ich begreife nicht, wie Schatoff es aushält, über ihnen zu wohnen. Herr Kirilloff hat es nur drei Tage aushalten können. Nun ist er umgezogen, wie gesagt. Er kannte sie noch von Petersburg her!“

„Ist das wirklich alles wahr?“ wandte sich Stepan Trophimowitsch an den Ingenieur.

„Sie schwatzen furchtbar viel, Liputin,“ brummte dieser wütend.

„Geheimnisse und wieder Geheimnisse! Woher kommt das doch, daß es bei uns plötzlich so viele Geheimnisse gibt?“ Stepan Trophimowitsch konnte nicht mehr an sich halten. Der Ingenieur ärgerte sich, errötete, zuckte ungeduldig mit den Schultern und ging schon aus dem Zimmer.

„Herr Kirilloff hat ihm sogar die Peitsche aus der Hand gerissen, sie zerbrochen und dann aus dem Fenster geworfen,“ fügte da Liputin schnell mit schlauem Lächeln hinzu.

Kirilloff kehrte sofort um: „Was soll das alles, Liputin? Das ist doch dumm. Und weshalb?“

„Aber wozu denn aus Bescheidenheit gerade die edelsten Regungen der Seele verheimlichen?! – das heißt, Ihrer Seele, selbstredend Ihrer Seele, ich spreche nicht von der meinen!“ antwortete Liputin.

„Wie das dumm ist ... und gar nicht nötig. Lebädkin ist ein ganz leerer Mensch und kommt für die Sache gar nicht in Betracht und schadet ihr nur. Warum schwatzen Sie so viel Überflüssiges? Ich gehe!“

„Ach, wie schade!“ rief da Liputin mit hellem Lächeln aus. „Sie gehen schon – sonst hätte ich Stepan Trophimowitsch noch mit einer kleinen Anekdote erfreut!“ Und zu diesem gewandt: „Bin sogar mit der Absicht hergekommen, sie Ihnen unbedingt zu erzählen. Doch Sie werden sie ja bestimmt schon gehört haben. Na, dann eben ein anderes Mal! Herr Kirilloff hat es ja so eilig ... Auf Wiedersehen also! Nein, hat aber Warwara Petrowna mich vorgestern belustigt! Sie schickte extra nach mir. Einfach zum Kranklachen war’s. Na, auf Wiedersehen, Wiedersehen!“

Aber schon hatte Stepan Trophimowitsch ihn plötzlich an den Schultern gepackt, zu sich herumgedreht und fest auf einen Stuhl gesetzt.

Liputin erschrak ordentlich.

„Ja, wie denn?“ fragte er und sah von seinem Stuhl aus ängstlich und verwundert zu Stepan Trophimowitsch empor. Doch faßte er sich schnell. „Ja, denken Sie sich, plötzlich ruft man mich und fragt mich im geheimen – was ich eigentlich von Nicolai Stawrogin denke: ob ich ihn für wahnsinnig halte oder nicht? Wie soll man da nicht staunen?“

„Sie sind verrückt geworden, Liputin!“ sagte Stepan Trophimowitsch. „Sie wissen nur zu gut, daß Sie gekommen sind, um mir irgendeine Gemeinheit zu sagen.“

Mir fiel sofort die Bemerkung Stepan Trophimowitschs ein, Liputin wisse nicht nur von unserer Sache, sondern wisse noch viel mehr, als wir je erfahren würden.

„Erlauben Sie, Stepan Trophimowitsch!“ stotterte Liputin, als ob jener ihn furchtbar erschreckt hätte. „Erlauben Sie ...“

„Schweigen Sie jetzt! Ich bitte Sie, Herr Kirilloff, kommen Sie zurück und setzen sie sich. Bitte, hier! Und Sie, Liputin, Sie werden jetzt erzählen, aber einfach und ohne Ausreden!“

„Hätte ich gewußt, daß es Sie so aufregt, so würde ich gar nicht davon angefangen haben ... und ich dachte doch, Sie wüßten das alles selbst ... schon längst ... von Warwara Petrowna!“

„Das haben Sie durchaus nicht gedacht! Aber fangen Sie endlich an, sage ich Ihnen!“

„Na, dann haben Sie doch wenigstens die Güte, sich auch zu setzen! Denn wenn Sie so vor mir herumlaufen, da würde ja alles ganz kunterbunt herauskommen!“

Stepan Trophimowitsch überwand sich und ließ sich sehr formell auf einen Sessel nieder. Der Ingenieur blickte finster zu Boden. Liputin aber sah mit unglaublichem Hochgenuß von einem zum andern.

„Ja, womit nun anfangen ... Sie haben mich ganz konfus gemacht ...“

VI.

„Vor drei Tagen also, da schickt sie plötzlich ihren Diener zu mir: sie ließe bitten, sozusagen, morgen um zwölf zu ihr zu kommen. Können Sie sich das denken? Nun, ich ließ natürlich meine Arbeit Arbeit sein und um Punkt zwölf klingelte ich an ihrer Tür. Man führte mich gleich in das Empfangszimmer. Ich wartete kaum eine Minute, als Warwara Petrowna auch schon eintrat. Sie bot mir einen Stuhl an und setzte sich selbst mir gegenüber. Ich saß nun also, brachte es aber zunächst nicht über mich, meinen Ohren wie sonst zu trauen. Sie wissen doch, wie sie mich immer behandelt hat. Sie begann also, wie es so ihre Art ist, gerade heraus und ohne alle Umschweife: ‚Sie erinnern sich wohl noch‘, sagte sie, ‚der drei sonderbaren Handlungen meines Sohnes vor vier Jahren. Die ganze Stadt konnte sie nicht begreifen, bis sich dann alles durch seine Erkrankung aufklärte. Eine dieser Handlungen ging Sie sogar persönlich an. Auf meine Bitte hin machte mein Sohn Ihnen später, als er wieder hergestellt war, seinen Besuch. Ich weiß, daß er Ihnen schon früher mehrfach begegnet war und sich mit Ihnen unterhalten hatte. Ich möchte Sie nun bitten, mir doch mit voller Offenheit zu sagen, wie Sie‘ – hier stockte sie ein wenig – ‚wie Sie damals meinen Sohn fanden ... wie Sie ihn beurteilten ... welcher Meinung Sie über ihn waren ... und ... was Sie jetzt von ihm denken.‘

„Hier stockte sie aber schon wirklich, wartete sogar ein Weilchen, und plötzlich wurde sie rot. Ich war nicht wenig erschrocken. Aber schon gleich darauf fuhr sie wieder fort, nicht gerade mit rührender Stimme, nein, das gerade nicht, denn das würde auch nicht zu ihr passen, aber so sonderbar eindringlich: ‚Ich will‘, sagte sie, ‚daß Sie mich gut und ohne ein Mißverständnis verstehen,‘ sagte sie. ‚Ich habe Sie zu mir gebeten, weil ich Sie für einen Menschen halte, der fähig ist, richtig zu beobachten.‘ (Wie finden Sie das Kompliment?) ‚Sie verstehen gewiß auch, daß es eine Mutter ist, die mit Ihnen spricht,‘ sagte sie ... ‚Mein Sohn hat in seinem Leben manches Unglück gehabt und manche Widerwärtigkeit über sich ergehen lassen müssen. Alles das,‘ sagte sie, ‚hätte nun auf seinen Verstand, ich meine, auf seine Gemütsstimmung einwirken können. Selbstverständlich spreche ich nicht etwa von Wahnsinn ... das ist ganz und gar ausgeschlossen!‘ Das sagte sie so, wissen Sie, in einem festen und stolzen Ton! ‚Aber es könnte da etwas Besonderes sein, etwas Wunderliches, eine gewisse Gedankenrichtung, die Neigung zu gewissen eigentümlichen Anschauungen‘ ... Das sind alles ihre eigenen Worte, und glauben Sie mir, Stepan Trophimowitsch, ich staunte nur so, mit welcher Genauigkeit Warwara Petrowna eine Sache zu erklären versteht. Wirklich, eine kluge Dame! ‚Jedenfalls‘, sagte sie, ‚ist mir selbst an ihm eine fortwährende Unruhe aufgefallen. Aber ich bin ja seine Mutter und Sie sind ein fremder Mensch, folglich müssen Sie, bei Ihrem Verstande, weit fähiger sein, sich ein unbefangenes Urteil über ihn zu bilden. Ich beschwöre Sie‘ – jawohl, so sagte sie wortwörtlich – ‚ich beschwöre Sie, mir die ganze Wahrheit zu sagen, ohne jegliche Beschönigung. Und wenn Sie mir versprechen wollen, nie zu vergessen, daß ich im Vertrauen zu Ihnen gesprochen habe, so seien Sie versichert, daß ich stets bereit sein werde, Ihnen künftig und bei jeder Gelegenheit meine Dankbarkeit zu beweisen.‘ Nun, wie finden Sie das?“

„Sie ... Sie haben mich so überrascht ...“ stotterte Stepan Trophimowitsch, „daß ich Ihnen ... einfach nicht glaube ...“

„Nein, bedenken Sie doch nur,“ fiel ihm Liputin lebhaft ins Wort und tat, als hätte er Stepan Trophimowitschs letzte Bemerkung überhaupt nicht gehört, „wie groß muß ihre Unruhe und Aufregung um ihn sein, wenn sie sich mit solch einer Frage, von ihrer Höhe herab, an einen Menschen wendet, wie ich es bin, und sich gar so weit erniedrigt, auch noch um Verschwiegenheit zu bitten! Wie ist das nur möglich? Sollte sie da nicht ganz unerwartete Nachrichten über ihren Sohn erhalten haben?“

„Ich weiß von nichts ... Ich glaube, sie hat keine Nachrichten erhalten ... ich habe sie allerdings ... ein paar Tage lang nicht gesehen ... aber ich möchte Sie nur daran erinnern,“ stotterte Stepan Trophimowitsch wieder, da er sichtlich seine Gedanken nicht mehr sammeln konnte – „ich möchte Sie nur daran erinnern, Liputin, daß Sie im Vertrauen gefragt worden sind, und daß Sie jetzt in Gegenwart ...“

„Ganz und gar im Vertrauen! Gott soll mich strafen, wenn ich ... Aber hier ... nun ... sind wir denn hier nicht unter Freunden? Selbst Herr Kirilloff ...“

„Ich bin nicht Ihrer Meinung. Zweifellos werden wir drei das Geheimnis bewahren. Aber Sie selbst, den vierten, fürchte ich, und Ihnen traue ich in keiner einzigen Beziehung.“

„Ja, wie denn das? Ich bin doch hier der eigentlich Interessierte! Mir ist doch ewige Dankbarkeit versprochen worden!“ Und hastig ging Liputin darüber hinweg: „Übrigens, gerade bei der Gelegenheit, möchte ich noch auf einen sonderbaren, sozusagen psychologischen Fall hinweisen. Gestern abend, noch unter dem Eindruck des Gespräches mit Warwara Petrowna – Sie können sich doch denken, welch einen Eindruck das auf mich gemacht hatte! – wandte ich mich an Herrn Kirilloff mit der harmlosen Frage: Sie haben, sagte ich, Nicolai Stawrogin doch im Auslande und auch früher schon in Petersburg gekannt, was halten Sie, frage ich, von seinem Verstande und überhaupt von seinen geistigen Fähigkeiten? Und darauf antwortet er mir lakonisch, wie das so seine Art ist: ‚Ja,‘ sagt er, ‚das ist ein Mensch mit seinem Verstande und gesundem Urteil.‘ Aber haben Sie nicht vielleicht, fragte ich weiter, im Laufe der Jahre gewisse Ideenveränderungen an ihm bemerkt oder eine besondere Geisteswandlung oder einen gewissen, wie soll ich sagen, nun – sozusagen doch einen gewissen Irrsinn? Kurz, ich wiederholte Warwara Petrownas Frage. Nun, und was denken Sie: Herr Kirilloff wird plötzlich nachdenklich und runzelt die Stirn ... Sehen Sie, genau so wie jetzt. ‚Ja,‘ sagte er dann, ‚ich bemerkte allerdings zuweilen etwas Sonderbares an ihm.‘ Denken Sie sich, wenn schon Herr Kirilloff etwas Sonderbares bemerkt hat – was kann dann nicht alles in Wirklichkeit sein?!“

„Ist das wahr?“ wandte sich Stepan Trophimowitsch an Kirilloff.

„Ich möchte nicht davon sprechen ...“ sagte Kirilloff, hob aber plötzlich den Kopf und seine Augen blitzten. „Ich möchte Ihr Recht bestreiten, Liputin. Sie haben für den Fall gar kein Recht auf mich. Ich habe gar nicht meine ganze Meinung gesagt. Ich kannte Stawrogin in Petersburg. Aber das war lange her. Und jetzt, wenn ich ihn auch wiedergesehen habe, so kenne ich ihn doch nur eben so. Ich bitte Sie, mich hier ganz beiseite zu lassen, und ... alles das sieht aus wie Klatsch.“

Liputin spielte die beleidigte Unschuld und führte die Hände auseinander.

„Wie Klatsch! Bin ich nicht gar noch ein Spion? Sie haben gut kritisieren, Herr Kirilloff, wenn Sie sich dabei selber beiseite lassen. Sogar dieser Hauptmann, Stepan Trophimowitsch, sogar dieser Lebädkin, der doch so dumm ist, wie – man schämt sich ja förmlich zu sagen, wie dumm er ist; es gibt aber so einen russischen Vergleich – sogar der denkt offenbar ganz sonderbar von Nicolai Stawrogin, obwohl er seinen Scharfsinn bewundert. ‚Bin ganz erstaunt über diesen Menschen: eine allwissende Schlange!‘ – waren seine eigenen Worte. Ich fragte also auch ihn, immer noch unter dem gestrigen Eindruck und schon nach dem Gespräch mit Herrn Kirilloff. ‚Nun,‘ fragte ich, ‚Hauptmann, was glauben Sie eigentlich, ist Ihre allwissende Schlange, Nicolai Stawrogin nicht einfach wahnsinnig?‘ Na, und nun glauben Sie mir oder glauben Sie mir auch nicht: es war für ihn, als hätte ich ihm hinterrücks einen Peitschenschlag versetzt – ohne seine Erlaubnis natürlich. Er sprang geradezu auf: ‚Ja,‘ sagte er, ‚ja, aber das kann doch keinen Einfluß haben auf ...‘ Aber auf was das keinen Einfluß haben könnte, das sagte er nicht, sondern versank nur in traurige Gedanken, und zwar in so traurige Gedanken, sage ich Ihnen, daß er davon ganz nüchtern wurde. Wir saßen gerade in der Filippoffschen Trinkstube. Erst nach einer halben Stunde ungefähr schlug er plötzlich mit der Faust auf den Tisch: ‚Ja,‘ schreit er, ‚meinetwegen auch wahnsinnig, nur kann das keinen Einfluß haben ...‘ und wieder brach er ab. Ich gebe Ihnen natürlich das Gespräch nur im Auszug wieder, aber der Sinn ist doch wohl klar? Na, und so, wen man auch fragt in der Stadt, allen kommt der Gedanke in den Kopf: ‚Ja,‘ sagt ein jeder, ‚er ist wahnsinnig; gewiß, er ist sehr klug; aber vielleicht auch wahnsinnig.‘“

Stepan Trophimowitsch saß ganz in Gedanken versunken da und schien angestrengt zu überlegen. „Wie kann Lebädkin das wissen?“ fragte er.

„Eh, wollen Sie sich nicht lieber bei Herrn Kirilloff, der mich soeben einen Spion nannte, danach erkundigen? Ich weiß nichts und rede nur so zum Zeitvertreib, das nennt man dann Spion, er aber weiß die letzten Geheimnisse und schweigt!“

„Ich weiß gar nichts. Oder wenig,“ versetzte der Ingenieur mit derselben Gereiztheit. „Sie machen Lebädkin betrunken, um aus ihm was zu erfahren. Sie haben auch mich hierher gebracht, um aus mir zu erfahren, damit ich ... hier sage. Folglich sind Sie ein Spion!“

„Ich habe ihn noch nie betrunken gemacht, das würde mich zu viel Geld kosten, und das ist er auch gar nicht wert mitsamt seinen Geheimnissen. Sehen Sie, das ist sein Wert für mich. Wieviel er für Sie bedeutet, weiß ich freilich nicht. Sonst ist er es, im Gegenteil, der jetzt mit dem Gelde nur so um sich wirft, während er vor vierzehn Tagen mich noch um fünfzehn Kopeken anpumpte. Er ist es, der mir Champagner vorsetzt, nicht ich ihm. Aber Sie haben mir einen guten Gedanken gegeben, und wenn es nötig sein wird, werde ich ihn schon betrunken machen, um von ihm etwas zu erfahren ... und dann vielleicht alle eure Geheimnisse auf einmal ... so viel ihrer da sind!“ setzte er böse hinzu.

Stepan Trophimowitsch sah die beiden verständnislos an. Sie hatten sich beide Blößen gegeben, und zwar ohne Scheu vor uns anderen Anwesenden. Mir schien es, als habe Liputin diesen Kirilloff einzig deshalb zu uns gebracht, um ihn durch eine dritte Person ins Gespräch zu ziehen – sein übliches Manöver.

„Herr Kirilloff kennt den Nicolai Stawrogin sogar sehr gut,“ fuhr Liputin in gereiztem Tone fort, „bloß will er das nicht eingestehen. Und was den Hauptmann Lebädkin betrifft, so hat der ihn noch viel früher gekannt, als er uns hier mit seinem Besuch beglückte. Sogar schon vor fünf, sechs Jahren in Petersburg, zur Zeit der sogenannten ‚unbekannten‘ Lebensepoche Nicolai Stawrogins. Man könnte daraus schließen, daß unser Prinz damals sehr sonderbare Bekanntschaften gehabt haben muß. Auch mit Herrn Kirilloff ist er in eben dieser Zeit bekannt geworden.“

„Hüten Sie sich, Liputin, ich warne Sie. Nicolai Stawrogin wird bald herkommen, und das ist einer, der seinen Mann zu stehen weiß!“

„Ja, aber was hat denn das mit mir zu tun? Ich bin der erste, der behauptet, daß er den feinsten, den erlesensten Verstand hat, und in diesem Sinne habe ich auch Warwara Petrowna gestern vollkommen beruhigt. ‚Nur für seinen Charakter,‘ sagte ich, ‚kann ich nicht einstehen.‘ Auch Lebädkin sagt ganz dasselbe. ‚Unter seinem Charakter,‘ sagt er, ‚habe auch ich gelitten.‘ Ach, Stepan Trophimowitsch, Sie haben gut sagen: ‚Klatsch‘ und ‚Spionage‘, aber bitte nicht zu vergessen: erst, nachdem Sie sehr schön alles aus mir herausgezogen haben, und mit was für einer Neugier noch dazu! Sehen Sie, Warwara Petrowna, die traf gestern gleich den Nagel auf den Kopf. ‚Sie haben,‘ sagte sie, ‚persönlich durch ihn zu leiden gehabt, darum wende ich mich auch an Sie!‘ Ja, und war es denn nicht so? Mußte ich denn nicht vor der ganzen Gesellschaft eine persönliche Beleidigung von Seiner Hochwohlgeboren hinunterschlucken? Ich glaube, ich habe Grund genug, mich für diese Klatschgeschichten zu interessieren! Heute drückt er einem die Hand, morgen aber schlägt er sie einem, dir nichts, mir nichts, ins Gesicht, und das noch in ehrenwerter Gesellschaft, grad so, wie’s ihm gefällt. Rein aus Übermut, wie’s scheint. Und was die Hauptsache ist! Diese Herren haben die Frauen natürlich immer auf ihrer Seite! Schmetterlinge sind sie und mutige Hähnchen! Gutsbesitzerssöhne mit Flügelchen hinten dran, wie einstmals Amor ... diese Herzfresser à la Petschorin![28] Sie, Stepan Trophimowitsch, als fanatischer Junggeselle, haben gut reden und mich wegen Seiner Hochwohlgeboren einen Geschichtenmacher zu nennen. Aber heiraten Sie mal erst – Sie sind ja doch noch ein ganzer Mann! – so eine nette kleine junge Frau, und Sie werden selber vor unserem Prinzen alle Türen verrammeln und gar Barrikaden im eigenen Hause bauen! Hier lohnt es sich ja gar nicht mehr, zu reden! Selbst von solch einer Mademoiselle Lebädkin, die gepeitscht wird, würde ich glauben – bei Gott! –, wenn sie nicht verrückt und lahm wäre, daß sie ein Opfer unseres Prinzen ist, und daß Lebädkin sich deshalb in seiner ‚Familienehre‘ gekränkt fühlt, wie er sich immer ausdrückt. Sie glauben, die wäre mit seinem feinen Geschmack nicht in Einklang zu bringen? Mein Gott, auch der stört diese Herren nicht immer. Jede kleine Beere wird gegessen, sie muß nur die richtige Stimmung treffen. Sie sprechen von Klatsch? Aber – sage ich es denn allein, wenn schon die ganze Stadt es ausschreit? Ich nicke nur und höre zu. ‚Ja‘-sagen ist bekanntlich nicht verboten!“

„Die ganze Stadt schreit ... das heißt, was schreit denn die ganze Stadt?“

„Na, ich meine, Hauptmann Lebädkin schreit’s in betrunkenem Zustande, so daß die ganze Stadt es hören kann. Ist das nicht dasselbe, wie wenn die ganze Stadt es schreit? Bin ich etwa schuld daran? Ich rede nur mit Freunden darüber. Ich hoffe doch, hier unter Freunden zu sein?“ und mit unschuldigem Lächeln sah er uns alle an. „Und dabei ist noch etwas geschehen! Denken Sie mal: es stellt sich heraus, daß unser Prinz ihm, dem Lebädkin, aus der Schweiz durch ein junges Mädchen dreihundert Rubel geschickt hat. Ich habe die Ehre, die junge Dame persönlich zu kennen, sie ist ohne Tadel und sozusagen eine sittsame Waise. Nach einiger Zeit aber erfährt Lebädkin aus der sichersten Quelle von einem edlen Menschen, daß ihm nicht dreihundert Rubel, sondern tausend zur Übergabe gesandt worden sind! ‚Folglich,‘ schreit er, ‚hat das Mädchen mich um siebenhundert Rubeln bestohlen!‘ Und er will das Geld durch die Polizei herausfordern, wenigstens droht er so und schreit dabei, daß die ganze Stadt es hören kann ...“

„Das ist gemein, gemein von Ihnen!“ rief plötzlich der Ingenieur und sprang vom Stuhl auf.

„Ja aber – Sie selbst sind doch dieser edle Mensch, der Lebädkin versichert hat, daß nicht dreihundert, sondern tausend geschickt worden sind! Der Hauptmann hat es mir in der Filippoffschen Kneipe, betrunken wie immer, selbst mitgeteilt.“

„Das ... das ist ein unglückliches Mißverständnis. Jemand hat sich geirrt und es ist ... ein Blödsinn – und Sie sind gemein!“

„Ja, ich will gewiß gerne glauben, daß es reiner Blödsinn ist. Ich bin sogar tief betrübt, daß man das ehrenwerte Mädchen in die Geschichte hineingezogen hat. Erstens mit den siebenhundert Rubeln, und zweitens weiß jetzt alle Welt, daß sie mit Nicolai Stawrogin intim befreundet gewesen ist. Was kostet es denn Seine Hochwohlgeboren, den jungen Stawrogin, ein ehrenwertes Mädchen zu schänden, oder auch eine fremde Frau zu beschimpfen, wie es mein ‚Fall‘ war? Kommt ihnen dann noch ein großmütiger Mensch unter die Finger, so zwingen sie ihn, mit seinem ehrlichen Namen fremde Sünden zu decken. Genau so hab ich’s doch erleben müssen! Ich rede ja nur von mir ...“

„Hüten Sie sich, Liputin!“ Stepan Trophimowitsch erhob sich drohend. Er war totenblaß.

„Glauben Sie ihm nicht, glauben Sie nicht! Jemand hat sich geirrt und Lebädkin ist immer betrunken!“ rief der Ingenieur in unbeschreiblicher Aufregung aus. „Alles wird sich aufklären, aber ich kann nicht mehr ... ich halte es für eine Gemeinheit ... und genug ... genug!“

Er stürzte aus dem Zimmer.

„Aber wohin denn, was haben Sie? Ich gehe doch mit Ihnen!“ rief Liputin erschrocken, sprang auf und lief ihm nach.

VII.

Stepan Trophimowitsch stand einen Augenblick wie in Gedanken versunken da, er sah auch mich an, doch ohne mich zu sehen, und schließlich ergriff er Hut und Stock und verließ langsam das Zimmer. Ich ging ihm nach. Erst als er aus der Tür trat, bemerkte er mich.

„Ach ja, Sie können mein Zeuge sein ... de l’accident. Vous m’accompagnerez, n’est-ce pas?[47]

„Stepan Trophimowitsch, gehen Sie trotzdem zu ihr? Bedenken Sie doch, was daraus entstehen kann!“

Er blieb stehen und flüsterte mit einem armseligen und geistesabwesenden Lächeln, in dem Scham und vollkommene Verzweiflung, doch zugleich eine seltsame Ekstase lag:

„Ich kann doch nicht ‚fremde Sünden‘ heiraten ...“

Endlich war das verhängnisvolle Wort ausgesprochen, das er eine ganze Woche mit Kniffen und Winkelzügen vor mir zu verstecken gesucht hatte!

Ich war einfach empört.

„Und ein so schmutziger, ein so ... niedriger, gemeiner Gedanke konnte in Ihrem Kopf entstehen, in Ihnen, in Stepan Werchowenski! Sie mit Ihrem guten, reinen Herzen, und das noch – vor Liputin und seinem Klatsch!“

Er sah mich an, antwortete nichts und ging weiter. Ich wollte ihn nicht verlassen, sondern bei Warwara Petrowna sein Zeuge sein. Ich hätte ihm verziehen, wenn er, mit seinem weibischen Kleinmut, auf Liputins Verleumdung hin alles geglaubt hätte: nun aber war es doch klar, daß er schon früher von selbst auf diesen Verdacht gekommen, daß er ihn die ganze Zeit mit sich herumgetragen und daß Liputin ihn jetzt nur bestätigt hatte. Er hatte sich nicht gescheut, gleich vom ersten Tage an das junge Mädchen zu verdächtigen, ohne den geringsten Grund dazu zu haben. Die herrische Handlungsweise Warwara Petrownas hatte er sich eben nur mit dem verzweifelten Wunsch erklären können, die galanten Sünden ihres teuren Nicolas so schnell wie möglich mit einer Hochzeit zu decken.

Und dafür sollte er bestraft werden, das wünschte ich ihm von ganzem Herzen.

O, Dieu qui est si grand et si bon![48] Oh, wer wird mich jetzt trösten!“ rief er aus, als er ungefähr hundert Schritte gegangen war und plötzlich stehen blieb.

„Gehen wir nach Hause, und ich werde Ihnen sofort alles erklären!“ rief ich und wollte ihn mit Gewalt zurückbringen.

„Da ist er ja! Stepan Trophimowitsch, das sind doch Sie? Sie?“ ertönte plötzlich eine frische und mutwillige junge Stimme, die mir wie Musik klang.

Noch sahen wir niemanden, als plötzlich eine Reiterin neben uns hielt. Es war Lisaweta Nicolajewna, gefolgt von ihrem tagtäglichen Begleiter. Sie zügelte das Pferd.

„Kommen Sie, kommen Sie doch schneller!“ rief sie laut und lustig. „Ich habe ihn zwölf Jahre lang nicht gesehen und gleich erkannt. Er aber ... Erkennen Sie mich wirklich nicht?“

Stepan Trophimowitsch ergriff ihre Hand. Er sah sie an, als hätte er ein Gebet zu ihr auf den Lippen, und konnte doch kein Wort hervorbringen.

„Er hat mich erkannt und freut sich! Mawrikij Nicolajewitsch, er scheint entzückt zu sein, daß er mich wiedersieht! Warum sind Sie denn in diesen ganzen zwei Wochen nicht zu uns gekommen? Tante beteuerte, Sie seien krank und man dürfe Sie nicht aufregen, aber ich weiß doch, das hat sie nur gelogen. Ich habe mit den Füßen gestampft und auf Sie gescholten, aber ich wollte unbedingt, unbedingt, daß Sie, von selbst, als Erster zu uns kämen, und darum habe ich nicht nach Ihnen geschickt. Gott, er hat sich ja nicht ein bißchen verändert!“ und sie beugte sich im Sattel nach vorn, um ihn genauer betrachten zu können. – „Es ist ja ganz lächerlich, wie wenig er sich verändert hat! Ach, doch, es sind doch kleine Fältchen an den Augen, viele Fältchen, und auf den Wangen ... und graue Haare – aber die Augen sind noch ganz dieselben! Ganz! Und ich? Habe ich mich verändert? Ja? Aber warum schweigen Sie noch immer?“

Ich erinnerte mich in dem Augenblick, daß man mir erzählt hatte, sie sei fast erkrankt, als man sie, elfjährig, nach Petersburg brachte, und daß sie während der Krankheit geweint und immer nach Stepan Trophimowitsch verlangt habe.

„Sie ... ich ...“ stotterte er mit vor Freude unsicherer Stimme. „Soeben rief ich noch aus: wer wird mich trösten? und da erklang Ihre Stimme ... Ich halte das für ein Zeichen et je commence à croire.“[49]

En Dieu? En Dieu, qui est là haut et qui est si grand et si bon?[50] Sehen Sie mal, ich kenne Ihre Lektionen noch auswendig. Mawrikij Nicolajewitsch, welch einen Glauben er mir damals beibrachte en Dieu, qui est si grand et si bon! Und erinnern Sie sich noch Ihrer Erzählungen von Kolumbus, und wie er Amerika entdeckte, und wie sie da alle ‚Land, Land!‘ geschrieen haben!? Meine Kinderfrau Aljona Frolowna sagte mir, daß ich noch nachher im Traume ‚Land! Land!‘ gerufen habe. Und wissen Sie noch, wie Sie mir die Geschichte des Prinzen Hamlet erzählt haben? Und wie Sie mir den Transport der armen Auswanderer von Europa nach Amerika beschrieben haben? Das war ja alles gar nicht wahr, später habe ich erfahren, wie man sie hinübertransportiert hat. Aber wie er mir damals alles so viel schöner vorgelogen hat! Mawrikij Nicolajewitsch, viel schöner und besser, als es in Wirklichkeit ist! Warum sehen Sie Mawrikij Nicolajewitsch so an? Das ist der allerbeste und der allertreueste Mensch auf dem Erdball, und Sie müssen ihn unbedingt ebenso lieben wie ich! Il fait tout ce que je veux.[51] Aber, Liebling, Stepan Trophimowitsch, Sie müssen wohl wieder unglücklich sein, wenn Sie mitten auf der Straße ausrufen: wer wird mich trösten? Also wieder einmal unglücklich, ja?“

„Jetzt bin ich glücklich – –“

„Tante kränkt Sie?“ fuhr sie fort, ohne seine Worte zu beachten. „Immer diese böse, ungerechte, unsere unschätzbare, teure, böse Tante! Ach, wissen Sie noch, wie Sie im Garten in meine Arme flogen und ich Sie tröstete und dann selber mit Ihnen weinte? Aber so fürchten Sie sich doch nicht vor Mawrikij Nicolajewitsch, er weiß alles, alles von Ihnen. Sie können an seiner Schulter weinen, so lange Sie wollen, und er wird stehen so lange wie Sie wollen. Schieben Sie Ihren Hut zurück, nein, nehmen Sie ihn ganz ab, auf einen Augenblick nur, heben Sie sich auf die Fußspitzen, ich werde Sie gleich auf die Stirn küssen, so wie ich Sie das letzte Mal zum Abschied geküßt habe. Sehen Sie, diese Dame dort am Fenster freut sich über uns ... Näher, näher! Gott, wie er grau geworden ist!“

Und sie beugte sich im Sattel und küßte ihn auf die Stirn.

„Nun, und jetzt zu Ihnen nach Haus! Ich weiß, wo Sie wohnen. Ich werde gleich, in einer Minute, bei Ihnen sein. Sie Eigensinn, also werde ich Sie doch zuerst besuchen. Dann aber schleppe ich Sie auf den ganzen Tag zu mir. Gehen Sie jetzt und bereiten Sie sich vor, mich zu empfangen!“

Und sie ritt mit ihrem Kavalier davon. Wir aber kehrten nach Hause zurück. Stepan Trophimowitsch setzte sich auf den Diwan und weinte.

Dieu, Dieu!“ rief er. „Enfin une minute de bonheur![52]

Nach zehn Minuten erschien sie in Begleitung des jungen Mannes. Stepan Trophimowitsch ging ihr entgegen.

Vous et le bonheur, vous arrivez en même temps![53]

„Hier haben Sie Blumen. Ich war bei der Blumenfrau. Wie Sie wissen, hat sie den ganzen Winter Bukette für Geburtstagskinder zum Verkauf. Hier stelle ich Ihnen also nochmals Mawrikij Nicolajewitsch vor, bitte sich mit ihm zu befreunden. Eigentlich wollte ich Ihnen eine Pastete statt der Blumen bringen, aber Mawrikij Nicolajewitsch behauptete, das sei nicht im russischen Stil.“

Dieser Mawrikij Nicolajewitsch war Hauptmann der Artillerie, etwa dreiunddreißig Jahre alt, hoch und schlank, von tadellosem Äußeren, mit Achtung gebietenden, auf den ersten Blick streng erscheinenden Zügen – trotz einer erstaunlichen und überaus taktvollen Güte, die man ihm sofort anmerkte, auch wenn man ihn gar nicht oder kaum kannte. Im übrigen war er schweigsam, schien kaltblütig zu sein und sehr zurückhaltend. Später sagten einige bei uns, er sei im Grunde beschränkt gewesen, aber das war entschieden ein falsches Urteil.

Die Schönheit Lisaweta Nicolajewnas zu beschreiben, will ich lieber nicht versuchen. Die ganze Stadt sprach ja schon von ihr, obwohl einige Damen fast vom Gegenteil überzeugt waren und sie beinahe häßlich fanden. Es gab aber auch solche, die Lisaweta Nicolajewna nicht nur um ihrer Schönheit willen haßten, sondern, und vor allen Dingen, wegen ihres Stolzes. Drosdoffs hatten es noch unterlassen, die üblichen Visiten zu machen – und das beleidigte natürlich jeden und alle, obgleich man in der Stadt sehr wohl wußte, daß der Grund dazu in Praskowja Iwanownas Unwohlsein lag. Sodann haßte man Lisa auch noch wegen ihrer Verwandtschaft mit der „Gouverneurin“, und drittens, weil sie täglich spazieren ritt, denn bis jetzt hatte es bei uns noch keine Amazonen gegeben. Zwar wußten alle sehr gut, daß die Ärzte ihr das Reiten verordnet hatten, aber das änderte nicht im geringsten das Urteil der Damen, sondern gab nur noch einen Anlaß, auch über ihre Kränklichkeit zu witzeln und zu spötteln. Lisa war in der Tat krank: schon auf den ersten Blick fiel einem ihre nervöse Unruhe auf. Wie sehr sie damals litt, das sollte sich freilich erst später aufklären. Wenn ich heute an sie zurückdenke und sie mir dabei vorstelle, kann ich sie übrigens nicht mehr so wunderschön finden, wie ich sie damals fand. Vielleicht war sie sogar ausgesprochen häßlich. Sie war hoch von Wuchs, schlank, biegsam und kräftig. Doch frappierte das Gesicht beinahe durch die Unregelmäßigkeit der Züge. Es war dabei bleich, mit ziemlich starken Backenknochen, hager, und die Augen waren ein wenig schräg gestellt, waren geschlitzt wie bei den Kalmücken. Aber es lag etwas in diesem Gesicht, das einen unwiderstehlich anzog. Irgendeine Macht ruhte in dem brennenden Blick ihrer dunklen Augen. Stolz und zuweilen sogar vermessen: so wirkte sie und erschien wie eine Siegerin, die nicht anders konnte, als besiegen. Ihr war es nicht gegeben, gut zu sein, aber sie kämpfte darum, es dennoch zu sein. Es waren viele edle Triebe in dieser Natur und eine Menge großer Ansätze, aber alles das suchte in ihr nach einem Ausgleich und konnte ihn nicht finden: alles in ihr war Chaos, Unruhe und Aufregung. Vielleicht stellte sie auch gar zu große Anforderungen an sich selbst und fand dabei niemals die Kraft in sich, diese Anforderungen zu befriedigen.

Sie setzte sich auf den Diwan und betrachtete das Zimmer.

„Warum werde ich in solchen Minuten immer traurig? Können Sie mir das nicht erklären, Sie gelehrter Mensch? Ich habe immer gedacht, daß ich weiß Gott wie froh sein würde, wenn ich Sie wiedersähe und mit Ihnen über all das Gewesene sprechen könnte ... und nun bin ich fast – gar nicht froh, obgleich ich Sie doch lieb habe ... Ach Gott, mein Bild hängt hier bei Ihnen! Geben Sie es her, schnell, ich weiß, ich erinnere mich ...“

Vor neun Jahren hatten Drosdoffs Stepan Trophimowitsch aus Petersburg ein Aquarellbildchen der kleinen zwölfjährigen Lisa zugeschickt und seit der Zeit hing es bei ihm an der Wand.

„War ich wirklich ein so nettes Kind? Ist das wirklich mein Gesicht?“

Sie stand auf und trat mit dem Bildchen in der Hand vor den Spiegel.

„Nehmen Sie es schnell, schnell!“ rief sie aus und gab das Bildchen zurück. „Hängen Sie es jetzt nicht auf, später, später, ich will es nicht sehen.“ Sie ließ sich wieder auf den Diwan nieder. „Das eine Leben verging und es begann ein anderes, und das andere verging und es begann ein drittes, und so geht es fort. Die Enden aber sind immer wie mit der Schere abgeschnitten. Sehen Sie mal, von was für alten Sachen ich rede, und doch ist so viel Wahrheit darin!“

Sie sah mich lachend an. Schon einigemal hatte sie mich betrachtet, aber Stepan Trophimowitsch kam in seiner Aufregung gar nicht darauf, mich ihr vorzustellen.

„Aber warum hängt mein Bild unter Säbeln? Und warum haben Sie hier überhaupt so viele Säbel und Dolche?“

Ich weiß nicht, warum bei Stepan Trophimowitsch an der Wand zwei Yatagane hingen und über ihnen ein echter Tscherkessendolch.

Als sie die Frage stellte, sah sie mich wieder an, so daß ich schon antworten wollte. Da kam Stepan Trophimowitsch endlich darauf, mich vorzustellen.

„Ich weiß, ich weiß,“ sagte sie – „es freut mich sehr. Mama hat auch schon von Ihnen gehört. Und bitte, hier stelle ich Ihnen Mawrikij Nicolajewitsch vor, ein prachtvoller Mensch. Ich hatte mir von Ihnen eigentlich einen komischen Begriff gemacht. – Sie sind doch Stepan Trophimowitschs ‚Vertrauter‘?“

Ich errötete.

„Ach, bitte verzeihen Sie, ich wollte durchaus nicht dieses Wort sagen, es ist nichts Komisches dabei, sondern nur so ...“ Und auch sie errötete verwirrt. „Übrigens, ich sehe nicht ein, warum sich da jemand dessen schämen soll, daß er ein wertvoller Mensch ist, nicht wahr? – Aber jetzt müssen wir gehen, Mawrikij Nicolajewitsch. Stepan Trophimowitsch, daß Sie in einer halben Stunde bei uns sind! O Gott, wie viel wir uns zu erzählen haben! Jetzt bin ich Ihre Vertraute, in allen Dingen, hören Sie, in allen Dingen!“

Stepan Trophimowitsch erschrak sofort.

„O, Mawrikij Nicolajewitsch weiß alles, vor ihm brauchen Sie sich nicht zu genieren.“

Mais,[54] was weiß er denn?“

„Aber warum tun Sie denn so?“ rief sie erstaunt. „Ah, so ist es also wahr, daß man es uns verheimlichen will? Ich wollte es nicht glauben! Dascha wird gleichfalls versteckt. Tante ließ mich vorhin auch nicht zu Dascha gehen, sie sagte, sie habe Kopfschmerzen.“

„Aber ... aber wie haben Sie es denn erfahren können?“

„Mein Gott, so wie alle! Als ob dazu viel gehört!“

„Ja, wissen es denn wirklich schon alle? ...“

„Wie denn nicht? Mama, das ist wahr, die hat es zuerst durch Aljona Frolowna, meine Kinderfrau, erfahren, und der hat es Ihre Nastassja schleunigst erzählt. Sie haben es doch Nastassja gesagt? Sie sagt wenigstens, Sie hätten es ihr selbst mitgeteilt.“

„Ich ... ich habe einmal davon gesprochen ...“ stotterte Stepan Trophimowitsch, über und über rot, „aber ich habe bloß angedeutet ... j’étais si nerveux et malade et puis[55] ...“

Sie lachte.

„Und da kein anderer Freund zur Hand war und Nastassja Ihnen gerade in den Weg lief – nun, ich weiß schon! Die aber hat ja überall Freundinnen. Doch lassen wir das, das ist ja alles ganz gleichgültig. Mögen es die Leute doch wissen, um so besser! Und kommen Sie bald, wir speisen früh. Ach, da habe ich etwas vergessen!“ sie setzte sich wieder. „Hören Sie mal, wer ist Schatoff?“

„Schatoff? Das ist Darja Pawlownas Bruder ...“

„Ach, das weiß ich doch, daß er ihr Bruder ist, – wie Sie wirklich sind!“ unterbrach sie ihn ungeduldig. „Ich will wissen, was er eigentlich ist, was für ein Mensch?“

C’est un pense-creux d’ici. C’est le meilleur et le plus irascible homme du monde.[56]

„Das habe ich auch schon gehört, daß er ein Sonderling ist. Aber das gehört nicht zur Sache. Man sagte mir, daß er drei Sprachen spricht, auch englisch, und sich mit literarischen Arbeiten beschäftigt. In diesem Fall könnte ich ihm viel Arbeit verschaffen. Ich habe jemanden nötig, der mir helfen kann, und je schneller ich einen finde, desto besser. Aber wird er die Arbeit annehmen, was meinen Sie? Man hat ihn mir dazu empfohlen.“

„O natürlich, et vous ferez un bienfait.“[57]

„Ich tue es gar nicht wegen des bienfait, sondern weil ich einen Gehilfen brauche.“

„Ich bin mit Schatoff befreundet,“ sagte ich, „und wenn Sie mich beauftragen wollten, so würde ich sofort zu ihm gehen.“

„Das ist ja herrlich! Sagen Sie ihm, bitte, daß er morgen um zwölf Uhr zu mir kommen soll. Ich danke Ihnen! Mawrikij Nicolajewitsch, sind Sie bereit?“

Sie ritten davon. Ich begab mich natürlich gleich zu Schatoff.

Mon ami![58] rief mir Stepan Trophimowitsch nach, „kommen Sie unbedingt um zehn oder elf Uhr zu mir, wenn ich zurückgekommen bin. Oh, ich bin schuldig, verzeihen Sie mir, ich bin vor allen, vor allen schuldig!“

VIII.

Schatoff war ausgegangen. Nach zwei Stunden ging ich wieder zu ihm – und wieder war er nicht zu Hause. Um acht Uhr abends ging ich zum dritten Male hin, um ihm, wenn ich ihn wieder nicht antreffen sollte, einen Zettel zu hinterlassen. Und richtig, er war wieder nicht zu Haus, sein Zimmer war verschlossen: er lebte ganz allein und ohne einen Dienstboten. Einen Augenblick fragte ich mich, ob ich nicht zu Lebädkins gehen und dort nach ihm fragen sollte: aber auch dort war die Tür verschlossen, es war weder ein Licht zu sehen, noch ein Laut zu hören – die Wohnung schien vollständig leer zu sein. Ich entschloß mich also, morgen früh wiederzukommen, denn auf das Zettelchen konnte ich mich nicht verlassen. Schatoff war mitunter so eigensinnig und dazu schüchtern, da war es leicht möglich, daß er einfach nicht hinging. Gerade als ich aus der Tür trat, stieß ich auf Herrn Kirilloff. Er erkannte mich sofort, und da er mich ansprach und fragte, wen ich suchte, erzählte ich ihm die ganze Geschichte und erwähnte auch meinen Zettel.

„Kommen Sie,“ sagte er, „ich werde es machen.“

Kirilloff wohnte seit diesem Morgen, wie uns schon Liputin erzählt hatte, im Flügel auf dem Hof. In dieser Hälfte des Hauses, die für ihn allein zu groß gewesen wäre, wohnte außer ihm noch ein altes, taubes Weib, das ihn auch bediente. Der Hausbesitzer selbst, Herr Filippoff, war nebenan in sein neues Heim gezogen, wo er eine Trinkstube hielt, und die Alte, die mit ihm verwandt war, beaufsichtigte nun das alte Haus. Die Zimmer in diesem Flügel waren sauber, aber die Tapeten schmutzig. Im ersten Zimmer, in das wir eintraten, standen die verschiedensten alten Möbel: zwei l’Hombretische, eine Kommode aus Ellernholz, ein großer Tisch aus rohen Brettern, wohl aus einer Bauernstube oder Küche; ferner ein paar Stühle und ein Diwan mit geflochtenen Lehnen und harten Lederkissen. In einer Ecke hing ein altes Heiligenbild, vor dem die Alte das Lämpchen schon angezündet hatte, und an den Wänden hingen zwei alte Öldruckbilder, von denen das eine den Kaiser Nicolai I. und das andere irgendeinen Bischof darstellte.

Kirilloff zündete ein Licht an und holte aus seinem Koffer, der in einer Ecke noch unausgepackt stand, ein Kuvert, Siegellack und ein Kristallpetschaft.

„Versiegeln Sie Ihren Brief und schreiben Sie die Adresse darauf.“

Ich sagte, daß das unnötig sei, aber er bestand auf seinem Wunsch. Nachdem ich die Adresse geschrieben hatte, nahm ich meinen Hut und wollte gehen.

„Ich dachte, Sie würden Tee trinken,“ sagte er. „Ich habe Tee gekauft. Wollen Sie nicht?“

Ich lehnte nicht ab. Die Alte brachte bald darauf eine riesige Teekanne mit heißem Wasser und eine kleinere mit gezogenem Tee, zwei große einfache Tassen, Weißbrot und einen ganzen Teller mit Stückzucker.

„Ich liebe Tee,“ sagte Kirilloff, „besonders in der Nacht. Ich gehe auf und ab und trinke, bis zum Morgen. Im Auslande ist Teetrinken nachts unbequem.“

„Sie legen sich erst gegen Morgen schlafen?“

„Immer, schon lange. Ich esse wenig. Trinke immer Tee ...“ Und ganz unvermittelt sagte er plötzlich: „Liputin ist schlau, aber ungeduldig.“

Es wunderte mich, daß er heute offenbar zu sprechen wünschte, und ich entschloß mich, die Gelegenheit zu benutzen.

„Das war ein unangenehmes Mißverständnis, heute vormittag, bei Stepan Trophimowitsch,“ bemerkte ich.

Er machte ein geärgertes Gesicht.

„Das war Dummheit; das sind furchtbare Nichtigkeiten; alles, was da war, denn Lebädkin spricht betrunken. Ich habe Liputin nichts gesagt, nur die Richtigkeit erklärt; denn jener hatte gefaselt. Liputin hat viel Phantasie; statt die Nichtigkeit einzusehen, hat er gleich Berge daraus gebaut. Gestern vertraute ich ihm.“

„Und heute mir?“ fragte ich lachend.

„Aber Sie wußten doch vorher schon von allem. Liputin ist schwach, oder ungeduldig, oder schädlich, oder ... neidisch.“

Das letzte Wort überraschte mich.

„Hm. Übrigens haben Sie so viele Kategorien aufgestellt, daß es schließlich kein Wunder ist, wenn er in eine von ihnen hineinpaßt.“

„Oder in alle zusammen.“

„Ja, auch das ist richtig. Liputin ist ein Chaos! Er log zwar vorhin, aber sagen Sie, ist es nicht trotzdem wahr, daß Sie ein Buch schreiben wollen?“

„Warum soll das gelogen sein?“ entgegnete er finster und sah zu Boden.

Ich entschuldigte mich und versicherte, daß ich ihn nicht ausfragen wolle. Er errötete.

„Liputin hat da die Wahrheit gesagt. Ich schreibe. Nur ist das ganz gleich.“

Wir schwiegen wohl eine Minute lang; plötzlich lächelte er wieder sein Kinderlächeln.

„Das von den Köpfen hat er sich selbst ausgedacht, nach einem Buch, und er selbst erzählte es mir zuerst, nur versteht er es schlecht; ich aber suche nur den Grund, warum die Menschen sich nicht selbst zu töten wagen; das ist alles. Aber auch das ist ganz gleich.“

„Wieso, nicht wagen? Als ob es wenig Selbstmorde gäbe?“

„Sehr wenig.“

„Finden Sie wirklich?“

Er antwortete nicht, stand auf und ging, in Gedanken versunken, auf und ab.

„Was hält denn, Ihrer Meinung nach, die Leute davon ab, sich selbst zu töten?“ fragte ich.

Er sah mich zerstreut an, als müßte er sich erst erinnern, wovon wir sprachen.

„Ich ... ich weiß noch wenig ... Zwei Vorurteile halten davon ab, zwei Gründe. Nur zwei: der eine ist sehr klein und der andere ist sehr groß. Aber auch der kleine ist sehr groß.“

„Welches ist denn der kleine?“

„Der Schmerz.“

„Der Schmerz? Ja, glauben Sie denn, daß das so wichtig ist ... in solchem Fall?“

„Das Allererste. Es gibt zwei Arten: Die, welche sich aus großem Leid umbringen, oder aus Haß, oder aus Wahnsinn, oder sonst da irgendwie ... die tun es plötzlich. Die denken wenig an den Schmerz, und tun’s plötzlich ... Aber die, die sich aus Überlegung töten – die denken viel.“

„Ja, gibt es denn überhaupt solche, die sich aus Überlegung töten?“

„Sehr viele. Wenn es kein Vorurteil gäbe, würden es noch mehr sein; sehr viele; alle!“

„Was, sogar schon alle?“

Er schwieg.

„Aber gibt es denn keine Möglichkeit, schmerzlos zu sterben?“

Er blieb vor mir stehen: „Denken Sie sich einen Stein von der Größe eines großen Hauses; er hängt über Ihnen und Sie sind unter ihm; wenn er auf Sie fällt, auf den Kopf – wird es schmerzen?“

„Ein Stein von der Größe eines Hauses? Natürlich, furchtbar!“

„Ich spreche nicht von der Angst; wird es schmerzen?“

„Ach so! Ein Stein, so groß wie ein Berg, eine Million Pud schwer? – Selbstverständlich nicht ein bißchen!“

„Aber wenn Sie so liegen, während er hängt, werden Sie furchtbare Angst davor haben, daß es schmerzen wird. Jeder große Gelehrte, jeder Arzt, alle, alle werden Angst haben. Jeder wird wissen, daß es nicht schmerzt, doch jeder wird sehr fürchten, daß es schmerzen wird.“

„Nun, und der große, der zweite Grund?“

„Das Jenseits.“

„Sie meinen die Strafe?“

„Einerlei. Das Jenseits, nichts als das Jenseits.“

„Gibt es denn nicht auch solche Atheisten, die an ein Jenseits gar nicht glauben und es vollständig leugnen?“

Er schwieg wieder.

„Sie urteilen vielleicht nur nach sich selbst?“

„Niemand kann anders urteilen, als nach sich selbst,“ sagte er und errötete wieder. „Die vollständige Freiheit wird erst dann sein, wenn es ganz einerlei sein wird, ob man lebt oder nicht. Das ist das ganze Ziel.“

„Das Ziel? Ja, aber dann wird vielleicht niemand mehr leben wollen?“

„Niemand,“ sagte er bestimmt.

„Der Mensch fürchtet den Tod, weil er das Leben lieb hat, so verstehe ich es wenigstens,“ bemerkte ich, „und so will es die Natur.“

„Das ist die Gemeinheit und hier steckt der ganze Betrug!“ Seine Augen blitzten auf. „Das Leben ist Schmerz, das Leben ist Angst, und der Mensch ist unglücklich. Jetzt liebt der Mensch das Leben, weil er Schmerz und Angst liebt. Und so hat man’s gemacht. Das Leben wird einem jetzt für Angst und Schmerz gegeben. Hierin liegt der ganze Betrug. Jetzt ist der Mensch noch nicht jener Mensch. Aber es wird einen neuen Menschen geben, einen glücklichen und stolzen. Wem es ganz einerlei sein wird, ob leben oder nicht leben, der wird der neue Mensch sein. Wer Schmerz und Angst besiegen wird, der wird selbst Gott sein. Aber den Gott wird es dann nicht mehr geben.“

„Also gibt es Ihrer Meinung nach doch noch den Gott?“

„Es gibt Ihn nicht, aber Er ist da. Im Stein ist kein Schmerz, aber in der Angst durch den Stein ist Schmerz. Gott ist der Schmerz der Angst vor dem Tode. Wer Schmerz und Angst besiegt, der wird selbst Gott werden. Dann wird ein neues Leben sein, ein neuer Mensch, alles neu ... Dann wird man die Weltgeschichte in zwei Teile teilen: vom Gorilla bis zur Vernichtung Gottes, und von der Vernichtung Gottes bis ...“

„Bis zum Gorilla –?“

„... bis zur physischen Veränderung der Erde und des Menschen. Der Mensch wird Gott sein und wird sich physisch verändern. Und das ganze Weltall wird sich verändern, und alle Dinge werden sich verändern, und alle Gedanken und alle Gefühle. Was glauben Sie, wird sich dann nicht auch der Mensch physisch verändern?“

„Wenn es uns ganz gleich sein wird, ob wir leben oder nicht leben, so werden sich alle selbst totschlagen, und darin wird dann vielleicht eine Veränderung bestehen.“

„Das ist einerlei. Den Betrug wird man totschlagen. Ein jeder, der die große Freiheit will, muß sich selbst zu töten wagen. Wer sich selbst zu töten wagt, der hat das Geheimnis des Betruges erkannt. Weiter gibt es keine Freiheit. Hier ist alles und weiter ist nichts. Wer sich selbst zu töten wagt, der ist Gott. Jetzt kann es jeder machen, daß Gott aufhört, zu sein, und daß nichts mehr ist. Aber noch hat es niemand einmal getan!“

„Selbstmörder hat es zu Millionen gegeben.“

„Aber alle nicht deswegen. Alle haben sie sich mit Angst und nicht deswegen getötet. Nur wer sich tötet, um die Angst totzuschlagen, der wird sofort Gott sein.“

„Dazu wird er vielleicht keine Zeit mehr haben,“ bemerkte ich.

„Das ist einerlei,“ sagte er leise, mit ruhigem Stolz und fast ein wenig mit Verachtung. „Es tut mir leid, daß Sie sich darüber wohl lustig machen,“ fügte er nach einer halben Minute hinzu.

„Und mich wundert, wie Sie vorhin so gereizt sein konnten und jetzt so ruhig sind, obgleich Sie doch – glühend sprechen.“

„Vorhin? Vorhin war es komisch,“ antwortete er mit einem Lächeln. „Ich liebe nicht, zu schimpfen, und lache nie,“ fügte er traurig hinzu.

„Ja, Ihre Nächte beim Tee verbringen Sie nicht gerade lustig.“

Ich stand auf und nahm meine Mütze.

„Finden Sie?“ Er lächelte mit einem gewissen Erstaunen. „Warum? Nein, ich ... ich weiß nicht,“ verwirrte er sich plötzlich – „ich weiß nicht, wie es bei den andern ist. Ich fühle, daß ich nicht so wie jedermann kann. Jeder denkt, und dann denkt er gleich an was anderes. Ich kann nicht an anderes, ich denke mein ganzes Leben lang nur an Eines. Mich hat Gott mein Leben lang gequält,“ schloß er plötzlich mit erstaunlicher Mitteilsamkeit.

„Aber sagen Sie doch, warum sprechen Sie manchmal so sonderbar ... so sonderbar falsch? Sollten Sie wirklich in den fünf Jahren im Auslande das Sprechen verlernt haben?“

„Spreche ich denn falsch? Ich weiß nicht. Nein, nicht weil ich im Auslande war. Ich habe immer so gesprochen ... mir ist es einerlei.“

„Und eine noch indiskretere Frage: ich glaube Ihnen vollkommen, daß Sie nicht gern mit Menschen zusammen sind und wenig mit ihnen sprechen – warum haben Sie aber jetzt mit mir so aufrichtig gesprochen?“

„Mit Ihnen? Sie saßen vorhin so gut da ... und Sie ... aber, einerlei ... Sie haben viel Ähnlichkeit mit meinem Bruder, viel, außerordentlich,“ sagte er errötend. „Er starb, vor sieben Jahren; der ältere; sehr, sehr viel Ähnlichkeit ...“

„Er hatte wohl einen großen Einfluß auf Ihre Anschauungen?“

„N–ein, er sprach wenig. Er sprach gar nicht. – Ich werde Ihren Zettel abgeben.“

Er begleitete mich mit der Laterne bis zur Pforte, um sie hinter mir zuzuschließen.

„Selbstverständlich verrückt,“ entschied ich bei mir.

Doch da kam es zu einer neuen Begegnung.

IX.

Kaum hatte ich den Fuß auf die hohe Schwelle des Pförtchens gesetzt, als mich plötzlich eine starke Hand an der Brust packte.

„Wer da?“ brüllte eine Stimme. „Freund oder Feind? Bekenne!“

„Das ist einer von den Unsrigen, den Unsrigen!“ kreischte neben ihm Liputin aus der Fistel. „Das ist Herr G–ff, ein junger Mann von klassischer Bildung, und mit Beziehungen zur allerhöchsten Gesellschaft!“

„Gefällt mir, falls zur Gesellschaft ... kla–a–ssischer ... das bedeutet also ge–bild–det–ster ... Ich bin der Hauptmann a. D. Ignatius Lebädkin, zu Diensten der Welt und der Freunde ... wenn sie treu sind, wenn sie nur treu sind, die Schufte!“

Hauptmann Lebädkin, groß, dick, fleischig, krausköpfig, rot und wie gewöhnlich betrunken, hielt sich vor mir kaum auf den Füßen und konnte nur mit großer Mühe die Worte hervorbringen. Ich hatte ihn schon früher von weitem gesehen.

„A–ah, der ist auch da!“ schrie er von neuem auf, als er Kirilloff bemerkte, der noch immer mit seiner Laterne an der Pforte stand. Er erhob schon seine Faust zum Schlage, ließ sie aber wieder sinken.

„Verzeihe dir, wegen der Gelehrtheit! Ignatius Lebädkin – der gebil–det–ste ...

Die Granate der flammenden Liebe

Platzte in Ignats Brust.

Da setzte sich der Invalide

weil er – weil er ...

Um Sebastopol weinen mußt’.

Wenn ich auch nie in Sebastopol gewesen bin und ... mich noch des Gebrauches aller meiner Glieder erfreue – aber ... wie finden Sie den Reim?“ Er kam wieder mit seinem betrunkenen Gesicht auf mich zu.

„Er hat keine Zeit, er muß nach Hause gehen,“ beredete ihn Liputin. „Morgen wird er Lisaweta Nicolajewna erzählen – –“

„Lisaweta?“ brüllte Lebädkin wieder. „Steh! bleib! Noch eine Variante:

Von Amazonen begleitet,

Sprengt sie dahin wie der Wind.

O, welch eine Freud mir bereitet

Das a–ris–to–kra–tische Kind!

Der Amazonenkönigin gewidmet.

Begreifst du auch? Das ist ein Hymnus! Das ist ein Hymnus, wenn du kein Esel bist! Diese Trödler, die können es nicht verstehen! Steh!“ er packte mich am Mantel und hielt mich fest, wie ich mich auch losreißen wollte. „Sage ihr, daß ich ein Ritter der Ehre bin, und Daschka ... Daschka werde ich mit zwei Fingern ... Leibeigene Skla–avin! – und darf sich nicht unterstehn –“

Mit diesen Worten fiel er hin: ich hatte mich ihm mit Gewalt entwunden und ihm dabei einen starken Stoß versetzt. Dann lief ich auf die andere Seite der Straße. Liputin kam mir nach.

„Alexei Nilytsch wird ihn schon aufheben. Wissen Sie, was ich eben von ihm erfahren habe? – das Verschen haben Sie doch gehört? Nun, er hat dieselben Verse an die ‚Amazonenkönigin‘ aufgeschrieben und wird sie morgen Lisaweta Nicolajewna mit seiner vollen Unterschrift zusenden. Was sagen Sie dazu?“

„Ich könnte wetten, daß Sie ihn dazu beredet haben.“

„Dann würden Sie verlieren!“ Liputin lachte. „Verliebt, verliebt, wie ein Kater. Aber wissen Sie auch, daß die Liebe mit Haß begonnen hat? Er haßte Lisaweta Nicolajewna, weil sie reitet, und zwar dermaßen, daß er sie laut auf der Straße zu beschimpfen anfing. Das hat er wahrhaftig getan! Noch vorgestern hat er auf sie geschimpft, als sie vorüberritt. Zum Glück hat sie nichts gehört. Und jetzt plötzlich Gedichte! Wissen Sie auch, daß er einen Antrag riskieren will? Im Ernst, im Ernst!“

„Wie kommt es, Liputin, daß überall, wo sich Schmutz ansammelt, Sie dabei sind und womöglich noch eine führende Rolle spielen?“ fragte ich ruhig, aber innerlich rasend vor Wut.

„Nun, Herr G–ff, Sie gehen etwas weit. Das Herzchen hat wohl geschlagen, als es vom Nebenbuhler hörte, wie?“

„Wa–as?“ schrie ich und blieb stehen.

„Ja, aber jetzt werde ich Ihnen zur Strafe nichts mehr sagen! Und wie gern würden Sie doch noch mehr wissen! Schon allein, daß dieser Narr jetzt nicht mehr ein gewöhnlicher Hauptmann ist, sondern Gutsbesitzer unseres Gouvernements und noch dazu ein Großgrundbesitzer, da ihm Nicolai Stawrogin sein ganzes Gut, früher zweihundert Seelen stark, vor ein paar Tagen verkauft hat. Bei Gott, ich lüge nicht! Eben hab ich’s erfahren, aber dafür aus der sichersten Quelle. So, und nun krabbeln Sie mal mit Ihrem Verstande allein weiter, mehr sage ich nicht. Auf Wiedersehen!“

X.

Stepan Trophimowitsch erwartete mich mit hysterischer Ungeduld. Er war vor einer Stunde zurückgekehrt und noch wie betrunken, als ich eintrat. Wenigstens die ersten fünf Minuten hielt ich ihn nicht für ganz nüchtern, so sehr hatte ihn der Besuch bei Drosdoffs aus dem Gleichgewicht gebracht.

Mon ami, ich habe meinen Faden nun vollständig verloren. Lise ... ich liebe und verehre diesen Engel wie früher, namentlich wie früher; aber mir scheint, sie haben mich nur erwartet, um etwas von mir zu erfahren, um etwas aus mir herauszuquetschen und dann – geh mit Gott! ... Das ist so!“

„Schämen Sie sich!“ rief ich empört, ich hielt es wirklich nicht mehr aus.

„Mein Freund, ich bin jetzt ganz allein. Enfin c’est ridicule.[59] Denken Sie nur, auch dort ist alles mit Geheimnissen vollgepfropft. Sie warfen sich geradezu auf mich mit diesen ‚Nasen‘ und ‚Ohren‘ – und wer weiß was noch für welchen Petersburger Geschichten. Sie haben ja erst jetzt erfahren, was vor vier Jahren mit Nicolai Wszewolodowitsch hier passiert ist: ‚Sie waren hier, Sie haben es gesehen, ist es wahr, daß er wahnsinnig ist?‘ Und woher diese Idee aufgetaucht ist – ich weiß es nicht! Warum will diese Praskowja unbedingt, daß Nicolas verrückt sei? Sie will es, sie will es! Ce Maurice,[60] oder wie er da heißt, dieser Mawrikij Nicolajewitsch, brave homme tout de même[61] ... Sollte sie wirklich in seinem Interesse, und nachdem, wie sie selbst aus Paris geschrieben hat, à cette pauvre amie ... Enfin,[62] ‚diese Praskowja‘, wie ma chère amie sie immer nennt, die ist ja eine Type! – ist des unsterblichen Gogols leibhaftige ‚Frau Kästchen‘[29], nur eine böse ‚Madame Kästchen‘, ein eingebildetes Kästchen, und in endlos vergrößertem Maßstabe!“

„Dann wird ja ein Kasten draus und noch dazu einer in endlos vergrößertem Maßstabe!“

„Ach, nun dann in verkleinertem, wie Sie wollen, das bleibt sich gleich, – nur unterbrechen Sie mich nicht, – mir dreht sich schon sowieso alles im Kopf. Dort fuhren sie auch schon aus der Haut; außer Lise natürlich, die sprach noch immer von ‚Tante, Tante![63] Aber Lise ist schlau und es steckte noch etwas dahinter! Geheimnisse natürlich. Und mit der Mutter hat sie sich gezankt. Cette pauvre tante![64] Es ist ja wahr, despotisch ist sie. Aber da ist jetzt eine ‚Gouverneurin‘, die Nichtachtung der Gesellschaft, die Nichtachtung Karmasinoffs, plötzlich der Gedanke vom Wahnsinn – ce Lipoutine, ce que je ne comprends pas[65] ... u–und ... Sie sagten dort, sie lege sich Essigkompressen um den Kopf, und da kommen wir ihr noch mit unseren Klagen und Briefen ... O, wie ich sie in dieser Zeit gequält habe! Je suis un ingrat![66] Denken Sie sich, wie ich zurückkomme, finde ich von ihr einen Brief vor; lesen Sie! lesen Sie! O, wie unedel das alles von mir war!“

Er reichte mir den soeben erhaltenen Brief Warwara Petrownas. Ich glaube, ihr hatte der letzte Brief mit dem „bleiben Sie zu Haus“ leid getan, denn dieses Briefchen war höflich, wenn auch kurz und bestimmt. Sie bat ihn, übermorgen, also Sonntag, um zwölf Uhr zu ihr zu kommen, und riet ihm, einen seiner Freunde mitzubringen – in Klammern stand mein Name –, und ihrerseits verpflichtete sie sich, Schatoff, als Darja Pawlownas Bruder, einzuladen: „Dann können Sie von ihr die endgültige Antwort erhalten. Genügt das jetzt? Ist es diese Formalität, nach der Sie so trachteten?“

„Beachten Sie doch diese gereizte Frage zum Schluß über die Formalität. O, die Arme, der Freund meines Lebens! Aber ich muß gestehen, diese plötzliche Entscheidung des Schicksals hat mich fast erdrückt. Ich sage ganz aufrichtig, ich habe immer noch gehofft, aber jetzt – tout est dit, ich weiß schon, daß alles aus ist. C’est terrible![67] O, wenn’s doch keinen Sonntag gäbe! Alles würde beim Alten bleiben. Sie würden mich hier wie immer besuchen, und ich würde hier ...“

„Liputins Gemeinheiten und Klatschgeschichten haben Sie ja ganz aus der Fassung gebracht, wie es scheint.“

„Mein Freund, da haben Sie wieder eine andere schmerzhafte Stelle ‚freundschaftlich‘ mit Ihrem Finger berührt. Aber diese ‚freundschaftlichen‘ Finger pflegen im allgemeinen unbarmherzig und zuweilen einfältig zu sein. Pardon, aber glauben Sie oder glauben Sie mir nicht: ich hatte die Gemeinheiten schon beinahe vergessen, das heißt, ich hatte sie keineswegs vergessen, aber die ganze Zeit, die ich bei Lise war, habe ich mich bemüht, glücklich zu sein, meinetwegen aus Dummheit bemüht. Aber jetzt, jetzt muß ich an diese großmütige, humane Frau denken, die so duldsam mit meinen niedrigen Fehlern ... das heißt, wenn auch nicht gerade duldsam ... aber wie bin ich denn selbst, ich mit meinem leeren, scheußlichen Charakter! Bin ich nicht ein törichtes Kind, mit dem ganzen Egoismus eines solchen, aber nur ohne seine Unschuld? Zwanzig Jahre hat sie mich gehütet, wie eine Kinderfrau, cette pauvre tante, wie Lise sie so graziös nennt ... Und plötzlich, nach zwanzig Jahren, will das Kindchen heiraten, verheirate es und verheirate es! ... ein Brief auf den anderen ... sie aber macht sich Essigkompressen ... u–und ... nun hat das Kind auch glücklich erreicht, was es wollte ... Sonntag ein verheirateter Mensch ... Spaß! ... Warum habe ich denn selbst darauf bestanden, warum habe ich denn die Briefe geschrieben? Übrigens, hab’s vergessen, zu sagen: Lise vergöttert Darja ... wenigstens sagt sie: ‚C’est un ange,[68] nur ein verschlossener.‘ Beide rieten sie mir zu – sogar Praskowja ... nein, übrigens die Praskowja riet mir nicht zu. O, wieviel Gift in diesem ‚Kästchen‘ steckt! Ja, und auch Lise hat mir eigentlich nicht dazu geraten: ‚Wozu brauchen Sie zu heiraten, Sie haben doch genug an gelehrten Genüssen!‘ und dabei lachte sie. Ich verzieh ihr das Lachen, denn ihr blutet ja auch das Herz. Aber sie sagten mir doch, ich könne ohne Frau nicht mehr auskommen. Es kommen Ihre schwachen Jahre und sie wird Sie dann pflegen, zudecken, oder wie sie es da sagten ... Ma foi,[69] ich habe ja auch schon die ganze Zeit so bei mir gedacht, daß die Vorsehung selbst sie mir am Abend meiner wilden Tage schickt, und daß sie mich zudecken ... enfin,[70] im Haushalt nützlich sein wird. Sehen Sie, wieviel Staub hier ist, sehen Sie, all das liegt hier so herum. Ich sagte noch vor kurzem, man solle aufräumen und da ... ein Buch auf der Diele ... La pauvre amie[71] ärgert sich immer, daß es bei mir so verkramt aussieht ... Jetzt werde ich nicht mehr ihre Stimme vernehmen! Vingt ans![72] U–und da gibt es nun noch anonyme Briefe, und denken Sie nur, es heißt, Nicolas hätte an Lebädkin ein Gut verkauft! C’est un monstre. Enfin,[73] was ist Lebädkin? Lise hört und hört, Gott, wie sie zuhört! Ich vergab ihr das Lachen, als ich sah, mit welchem Gesicht sie zuhörte, und ce Maurice ... ich würde jetzt nicht gern in seiner Haut stecken, brave homme tout de même,[74] aber ein wenig schüchtern ... Übrigens, Gott hab’ ihn selig! ...“

Er verstummte: er schien erschöpft zu sein und saß wie gebrochen da, mit müdem Blick auf den Boden starrend. Ich benutzte die Pause und erzählte von meinem Besuch im Filippoffschen Hause; auch unterließ ich es nicht, über diese Geschichten meine Meinung zu sagen, und erklärte ihm kurz und trocken, daß es meiner Meinung nach durchaus möglich wäre, daß Lebädkins Schwester – die ich nie gesehen – in der Tat einmal Nicolai Stawrogins Opfer gewesen, vielleicht in seiner ‚rätselhaften Petersburger Zeit‘, wie Liputin sich ausdrückte ... und daß es wahrscheinlich ist, daß Lebädkin, aus irgendeinem Grunde, von Stawrogin Geld erhält. Was aber die Klatschgeschichten über Darja Pawlowna anbeträfe, so seien die einzig Liputins Erfindung. Das meine auch Kirilloff.

Stepan Trophimowitsch hörte zerstreut meinen Versicherungen zu, ganz als gingen sie ihn nichts an. Ich erwähnte auch mein Gespräch mit Kirilloff und fügte hinzu, daß ich ihn im übrigen für wahnsinnig hielte.

„Er ist nicht wahnsinnig, aber er gehört zu den Menschen mit kurzen Gedanken,“ murmelte Stepan Trophimowitsch seltsam gelangweilt. „Ces gens-là supposent la nature et la société humaine autres que Dieu ne les a faites et qu’elles ne sont réellement.[75] Man läßt sich mit ihnen ein, aber Stepan Werchowenski wenigstens hat das nicht getan. Ich habe sie damals in Petersburg gesehen, avec cette chère amie[76] (oh, wie ich cette chère amie damals beleidigt habe!), doch weder ihr Geschimpfe noch ihre Lobsprüche haben mir Furcht einflößen können. Fürchte diese Leute auch jetzt nicht, mais parlons d’autre chose[77] ... Ich glaube, ich habe Schreckliches angerichtet; stellen Sie sich vor, ich habe Darja Pawlowna gestern einen Brief geschrieben und ... wie verwünsche ich ihn nun ... und mich dazu!“

„Was haben Sie ihr denn geschrieben?“

„Oh, mein Freund, glauben Sie mir, das war alles so edel gedacht! Ich teilte ihr mit, daß ich vor etwa fünf Tagen an Nicolas geschrieben habe, und gleichfalls großmütig.“

„Jetzt begreife ich!“ rief ich aufgebracht. „Und welch ein Recht hatten Sie, die beiden so einander gegenüberzustellen?“

„Aber, mon cher, erdrücken Sie mich doch nicht ganz, schreien Sie nicht so, ich bin ja schon sowieso zerknirscht ... und zerdrückt wie eine Schabe, ... und schließlich, ich glaube doch, es war alles edel. Nehmen Sie an, daß da wirklich etwas passiert ist ... en Suisse[78] ... oder angefangen hat. Ich muß doch ihre Herzen vorher fragen, um ... enfin[70] – um nicht die Herzen zu stören und wie ein Pfosten auf ihrem Weg ... Ich ... i–ich habe es einzig und allein aus Edelmut getan.“

„O Gott, wie dumm Sie das gemacht haben!“ sagte ich unwillkürlich.

„Dumm, dumm,“ griff er das Wort sogleich und fast gierig auf. „Noch nie haben Sie etwas Klügeres gesagt, c’était bête mais que faire? Tout est dit.[79] Werde ja sowieso heiraten, auch wenn’s ‚fremde Sünden‘ sind, also wozu brauchte ich da noch zu schreiben! Nicht wahr?“

„Ach, so meine ich es ja nicht!“

„Oh, jetzt erschrecken Sie mich aber nicht mehr mit Ihrem Geschrei; jetzt steht vor Ihnen nicht mehr jener Stepan Werchowenski, der ist begraben, enfin – tout est dit.[80] Ja und warum schreien Sie eigentlich? Einfach, weil nicht Sie heiraten und nicht Sie einen gewissen Kopfschmuck zu tragen brauchen! Wieder schneiden Sie ein Gesicht! Aber, mein armer Freund, Sie kennen die Frau nicht, ich aber habe in meinem ganzen Leben nichts anderes getan, als sie studiert. ‚Willst du die Welt besiegen, besiege dich selbst‘, das einzige, was einem anderen solchen Romantiker, wie Sie einer sind, Schatoff, dem Bruder meiner zukünftigen Gattin, als Ausspruch gelungen ist. Ich eigne mir gern seinen Ausspruch an. Nun, auch ich bin bereit, mich selbst zu besiegen, und heirate, aber was erobere ich anstatt der ganzen Welt? Ach, mein Freund, die Ehe! Die ist der moralische Tod jeder stolzen Seele, jeder Unabhängigkeit. Das Eheleben verdirbt mich, nimmt mir die Energie, nimmt mir den Mut, der nun einmal zum Dienst an einer Sache nötig ist. Dann kommen noch die Kinder, die am Ende gar nicht meine sind – das heißt, selbstverständlich nicht meine! –, der Weise fürchtet sich nicht, der Wahrheit ins Gesicht zu blicken ... Liputin schlug mir heute vor, mich mit Barrikaden vor Nicolas zu schützen. Er ist dumm, dieser Liputin. Das Weib betrügt selbst das allwissende Auge Gottes. Le bon Dieu[81] wußte natürlich, als er das Weib schuf, was er unternahm. Aber ich bin überzeugt, daß sie Ihn selbst – dabei gestört und Ihn verleitet hat, sie gerade so und ... mit solchen Attributen zu schaffen; denn wer würde sich umsonst solche Scherereien auf den Hals laden? Ich weiß, Nastassja würde sich über diese Freidenkerei ärgern, aber ... enfin tout est dit.“[80]

Er wäre nicht er gewesen, wenn er ohne ein billiges Wortspielchen ausgekommen wäre, wenigstens tröstete er sich jetzt damit, – aber leider nicht auf lange.

„Oh, wenn es doch kein Übermorgen gäbe, wenn doch dieser Sonntag nicht wäre!“ rief er plötzlich in heller Verzweiflung aus. „Warum kann diese Woche nicht ohne Sonntag sein – si le miracle existe?[82] Was würde es denn die Vorsehung kosten, einen einzigen Sonntag aus dem Kalender zu streichen, meinetwegen, um den Atheisten ihre Macht zu zeigen et que tout soit dit![83] Oh, wie ich sie geliebt habe! Vingt ans[72] ... und all die zwanzig Jahre hat sie mich nicht verstanden!“

„Von wem sprechen Sie denn jetzt? Ich kann Sie wirklich nicht verstehen,“ fragte ich verwundert.

Vingt ans! und nicht ein einziges Mal hat sie mich verstanden, oh, das ist grausam! Und sollte sie wirklich glauben, daß ich aus Angst heirate? Oh, welche Schmach! Tante, tante, ich bin dein! Mag sie es erfahren, diese tante, daß sie das einzige Weib ist, das ich zwanzig Jahre lang vergöttert habe! Sie muß es erfahren, anders geht das nicht, sonst muß man mich mit Gewalt schleppen zu dem da ... ce qu’on appelle le[84] Altar!“

Ich hörte zum ersten Mal dieses Bekenntnis und ich will nicht verheimlichen, daß mich eine wahnsinnige Lust zu lachen anwandelte. Oder tat ich ihm Unrecht?

„Er allein ist mir jetzt geblieben, meine einzige Hoffnung!“ rief er plötzlich, wie von einer neuen Idee erleuchtet. „Jetzt ist nur er es allein, mein armer Junge, der mich retten kann und – warum kommt er denn noch nicht? Mein Sohn, mein Petruscha ... und wenn ich’s auch nicht verdient habe – Vater zu heißen, eher ein Tiger bin ... so ... laissez-moi mon ami[85] ... ich werde ein wenig schlafen, um meine Gedanken zu sammeln. Ich bin so müde, so müde, ja, und auch Sie müssen, glaube ich, zu Bett, voyez-vous[86] ... es ist schon zwölf.“

Viertes Kapitel.
Die Hinkende

I.

Diesmal war Schatoff nicht starrköpfig, sondern erschien, auf meinen Brief hin, richtig um zwölf Uhr. Wir trafen fast zu gleicher Zeit ein, denn auch ich war gekommen, um meine erste Visite zu machen. Lisa, die „Mamá“ und Mawrikij Nicolajewitsch saßen alle drei im großen Salon und stritten sich gerade. Die Mamá wünschte, daß Lisa ihr einen bestimmten Walzer vorspiele, und als Lisa das tat, behauptete sie, das sei ein anderer Walzer. Mawrikij Nicolajewitsch trat in seiner Einfalt für Lisa ein und beteuerte, daß es wirklich der gewünschte Walzer gewesen sei, doch da begann die alte Dame vor Ärger zu weinen. Sie war krank und konnte kaum gehen. Ihre Füße waren geschwollen, und nun tat sie schon seit ein paar Tagen nichts anderes, als daß sie launisch war und mit allen und jedem Streit anfing, obgleich sie Lisa immer ein wenig fürchtete. Über unseren Besuch war man sehr erfreut. Lisa errötete vor Freude, und nachdem sie mir merci gesagt hatte (natürlich wegen Schatoff), ging sie auf ihn zu. In ihren Augen lag Neugier.

Schatoff war linkisch an der Tür stehen geblieben. Sie dankte ihm dafür, daß er gekommen war, und führte ihn dann zur Mutter.

„Das ist Herr Schatoff, Mama, von dem ich Ihnen schon erzählt habe, und hier ist Herr G–ff, ein Freund von mir und Stepan Trophimowitsch.“

„Wer von Ihnen ist nun der Professor?“

„Keiner von ihnen ist Professor, Mama.“

„Wieso, einer ist doch Professor. Du hast mir selbst gesagt, daß ein Professor kommen wird – wahrscheinlich ist es der?“ und sie wies dabei auf Schatoff.

„Ich habe Ihnen nichts von einem Professor gesagt. Herr G–ff ist Beamter und Herr Schatoff ist Student.“

„Student, Professor – die sind doch beide von der Universität. Du willst immer nur streiten. Der Schweizer sah anders aus.“

„Mama nennt Pjotr Stepanowitsch immer ‚Professor‘,“ sagte Lisa und führte Schatoff in die andere Salonecke zu einem Sofa, auf dem sie dann Platz nahm. „Wenn ihre Füße schmerzen, ist sie immer so, sie ist nämlich krank,“ sagte sie dabei leise zu ihm, während sie ihn wieder neugierig betrachtete und besonders auf seinen abstehenden Haarschopf sah.

„Sind sie Militär?“ fragte mich Madame Drosdoff, der mich Lisa unbarmherzig überlassen hatte.

„Nein, ich diene ...“

„Herr G–ff ist Stepan Trophimowitschs bester Freund,“ rief Lisa ihr aus der anderen Ecke zu.

„Sie dienen bei Stepan Trophimowitsch? Aber der ist doch auch Professor!“

„Ach, Mama, Sie machen ja schon alle Menschen zu Professoren!“ rief Lisa unwillig.

„Es gibt ihrer auch so schon zu viele! Du aber willst nur wieder deiner Mutter widersprechen. – Waren Sie hier, als Nicolai Wszewolodowitsch das erste Mal, vor vier Jahren, bei Warwara Petrowna war?“

Ich antwortete bejahend.

„War irgendein Engländer mit ihm hier?“

„Nein, nicht, daß ich wüßte.“

Lisa fing an zu lachen.

„Sehen Sie nun, Mama, daß überhaupt kein Engländer hier gewesen ist – also, wieder Lügen! Warwara Petrowna und Stepan Trophimowitsch lügen alle beide. Ja, und überhaupt – alle lügen! Gestern,“ erklärte sie darauf, zu uns gewandt, „fanden nämlich tante und Stepan Trophimowitsch eine Ähnlichkeit zwischen Nicolai Wszewolodowitsch und dem Prinzen Heinz aus Shakespeares ‚Heinrich IV.‘, und daher glaubt Mama nun, daß ein Engländer mit ihm hier gewesen sei.“

„Wenn kein Engländer da war, so war auch kein Heinz da, und euer Nicolai Wszewolodowitsch machte nur seine eigenen Streiche.“

„Mama tut nur mit Absicht so,“ fand Lisa für nötig, Schatoff auseinander zu setzen. „Sie kennt Shakespeare sehr gut; ich habe ihr selbst den ersten Akt von ‚Othello‘ vorgelesen. Sie ist jetzt immer so gereizt, wissen Sie. – Mama, hören Sie, es schlägt zwölf, Sie müssen Ihre Medizin einnehmen.“

„Der Doktor ist gekommen,“ meldete das Dienstmädchen.

Die Alte erhob sich und rief ihr Hündchen: „Semirka, Semirka, komm du doch wenigstens mit mir.“ Aber das widerliche alte Tierchen Semirka gehorchte ihr nicht, sondern kroch zu Lisa unter das Sofa.

„Du willst also nicht? Nun, dann will ich dich auch nicht mehr. Leben Sie wohl, mein Lieber, Ihren Namen habe ich leider vergessen,“ wandte sie sich an mich.

„Anton Lawrentjewitsch ...“

„Schon gut, lassen Sie nur, bei mir geht’s doch bloß zum einen Ohr hinein, zum andern hinaus. Begleiten Sie mich nicht, Mawrikij Nicolajewitsch, ich habe nur Semirka gerufen. Noch kann ich, Gott sei Dank, allein gehen, und morgen werde ich spazieren fahren!“

Und sichtlich geärgert verließ sie langsam den Salon.

„Anton Lawrentjewitsch, Sie unterhalten sich inzwischen mit Mawrikij Nicolajewitsch, – nicht wahr? Ich kann Sie versichern, daß Sie beide nur gewinnen werden, wenn Sie nähere Bekanntschaft machen,“ sagte Lisa und lächelte Mawrikij Nicolajewitsch freundschaftlich zu. Er aber erstrahlte förmlich unter ihrem Blick.

So mußte ich mich denn, wohl oder übel, mit Mawrikij Nicolajewitsch unterhalten.

II.

Die Angelegenheit, die Lisaweta Nicolajewna mit Schatoff besprechen wollte, erwies sich zu meinem Erstaunen als tatsächlich rein literarisch. Ich weiß nicht, warum ich überzeugt gewesen war, daß sie ihn aus einem anderen Grunde zu sich gerufen hätte. Als wir nun sahen, daß sie aus ihrem Anliegen kein Geheimnis vor uns machte und auch nicht leise sprach, hörten wir unwillkürlich zu; und bald zog sie uns sogar mit ins Gespräch und bat auch uns um Rat. Sie hatte, wie sie uns auseinandersetzte, schon lange die Herausgabe eines ihrer Meinung nach sehr nützlichen Buches geplant. Da sie aber in solchen literarischen Sachen keine Erfahrung besaß, so brauchte sie einen Mitarbeiter. Der Ernst, mit dem sie Schatoff ihren Plan zu erklären versuchte, setzte mich wirklich in Erstaunen.

„Also auch eine von den Modernen,“ dachte ich. „Sie scheint nicht umsonst in der Schweiz gewesen zu sein.“

Schatoff hörte ihr aufmerksam zu, den Blick eigensinnig an den Boden geheftet, und ohne jegliche Verwunderung darüber, daß ein junges Mädchen der Gesellschaft sich mit solchen Sachen abgab.

Es handelte sich um Folgendes. In einem Lande wie Rußland erscheint jährlich eine große Anzahl von Zeitungen und Zeitschriften aller Art, und in ihnen wird tagaus tagein von allen möglichen Ereignissen berichtet. Aber wenn dann das Jahr vergangen ist, werden die alten Zeitungen überall weggeräumt, in Schränke gesteckt, oder sie liegen herum, werden zerrissen, werden zum Einschlagen verwandt usw. Manch eines von den mitgeteilten Ereignissen bleibt wohl im Gedächtnis des Lesers haften, wenn es auf ihn einen Eindruck gemacht hat, und gerät erst nach Jahren in Vergessenheit. Nun würden aber viele später gern nachschlagen und das einmal Gelesene wieder lesen wollen, aber was gäbe das für eine Arbeit, in diesem Meer von Blättern die Stelle zu finden, zumal man sich oft nicht einmal erinnert, in welchem Jahre oder Monat und in welcher Zeitung man die betreffende Sache gelesen hat. Indessen könnte, wenn man alle derartigen Geschehnisse eines ganzen Jahres sammelte und in einem einzigen Bande herausgäbe – selbstverständlich nach einem bestimmten Plan und nach einem bestimmten leitenden Gedanken geordnet, mit einteilenden Überschriften, mit einem Index und mit übersichtlicher Angabe der Zeit (Monate und Tage) – so könnte eine solche Zusammenfassung des Stoffes in einem übersichtlichen Werke die ganze Charakteristik des russischen Lebens im Laufe dieses Jahres veranschaulichen, obwohl von den Ereignissen selbst, im Vergleich zu all den unzähligen Geschehnissen, von denen die Zeitungen berichten, natürlich nur ein kleiner Bruchteil gebracht werden soll.

„Wir würden also statt einer Menge Blätter mehrere dicke Bücher haben, und das wäre alles,“ bemerkte Schatoff.

Doch Lisaweta Nicolajewna verteidigte ihren Gedanken mit großem Eifer, obgleich es schwer war, ihn einleuchtend zu erklären, ganz abgesehen davon, daß sie sich auch nicht recht auszudrücken verstand. Es müsse nur ein einziger Band werden, und nicht einmal ein sehr dicker, beteuerte sie. Oder wenn es auch ein dickes Buch werden sollte, so müsse es doch übersichtlich sein, und deshalb sei die Hauptsache der Plan und die Art der Einteilung des Stoffes. Selbstredend dürfe nicht alles genommen und abgedruckt werden. Erlasse, Regierungsmaßnahmen, örtliche Verordnungen, Gesetze – so wichtig das alles auch sei – in das Buch brauchte man davon doch nichts aufzunehmen. Überhaupt könnte man vieles weglassen und sich auf eine Auswahl von Geschehnissen beschränken, die mehr oder weniger das ethische und persönliche Leben des Volkes, sozusagen die Persönlichkeit des russischen Volkes im gegebenen Augenblicke ausdrückten. Freilich käme alles in Betracht: Kuriositäten, Brände, Spenden, Stiftungen, die verschiedensten guten oder schlechten Handlungen, verschiedene Aussprüche und Reden, ja, schließlich auch Nachrichten von Überschwemmungen, ja meinethalben auch einzelne Regierungserlasse, aber aus allem müsse nur das herausgesucht werden, was die Epoche kennzeichnet. Alles müsse eben unter einem bestimmten Gesichtswinkel erfaßt und hingestellt werden, und hinter allem müsse ein Gedanke stehen, der den Zusammenhang des Ganzen sichtbar werden lasse. Und schließlich müsse das Buch sogar als Lektüre interessant und fesselnd sein, ganz zu schweigen von seinem Wert als notwendiges Nachschlagebuch! Es wäre also gewissermaßen ein Bild des geistigen, sittlichen, inneren russischen Lebens im Laufe eines Jahres. „Es muß so sein, daß alle es kaufen, es muß zu einem richtigen Handbuch werden,“ behauptete Lisa. „Ich weiß wohl, daß hierbei der Plan die Hauptsache ist, und deshalb wende ich mich an Sie,“ schloß Lisa. Sie war recht in Eifer geraten, und obgleich sie sich unklar und unvollständig ausgedrückt hatte, begann Schatoff zu begreifen.

„Es würde also doch so etwas mit einer Tendenz werden, eine Zusammenstellung von Fakten unter einem bestimmten Gesichtswinkel,“ brummte er, immer noch ohne den Kopf zu erheben.

„Keineswegs mit einer Tendenz, das ist gar nicht nötig! Nichts als Objektivität – das soll die ganze Richtschnur sein.“

„Aber die Richtung wäre ja an sich nichts Schlimmes,“ sagte Schatoff und bewegte sich endlich, „auch ließe sich das wohl nicht vermeiden, sobald man überhaupt eine Auswahl trifft. In der Art der Auswahl und Zusammenstellung wird eben schon der Hinweis enthalten sein, wie man das Ganze verstehen soll. Ihre Idee ist nicht schlecht.“

„So glauben Sie, daß man ein solches Buch zustande bringen kann?“ fragte Lisa erfreut.

„Man muß sich das noch überlegen. Es würde ein großes Unternehmen werden. So plötzlich läßt sich nichts ausdenken. Da muß man Erfahrungen sammeln. Selbst während der Arbeit dürften wir noch nicht recht wissen, wie es am besten zu machen wäre. Vielleicht finden wir das erst nach vielen Versuchen. Aber der Gedanke fängt an, einem klar zu werden. Es ist ein nützlicher Gedanke.“

Endlich sah er auf und seine Augen leuchteten sogar vor Vergnügen, so sehr war er jetzt interessiert.

„Haben Sie sich das selbst ausgedacht?“ fragte er Lisa freundlich und, wie das so seine Art war, fast verschämt.

„Ach, das Ausdenken war kein Kunststück, dafür aber ist das der Plan um so mehr,“ erwiderte Lisa lächelnd. „Ich verstehe wenig davon und bin nicht sehr klug, ich verfolge nur das, was mir selbst klar ist ...“

„Sie verfolgen?“

„Das ist wohl nicht das richtige Wort?“ forschte Lisa schnell und wißbegierig.

„Nein, doch ... man kann es sagen. Ich fragte nicht deswegen.“

„Ich habe mir schon im Auslande gesagt, daß auch ich der allgemeinen Sache irgendwie nützlich sein könnte. Ich besitze mein eigenes Geld, und es liegt tot da. Warum soll ich nicht gleichfalls arbeiten? Und zudem kam mir jene Idee ganz von selbst, ich habe mich gar nicht angestrengt oder sie mir ausgedacht –, der Gedanke war auf einmal da, und da freute ich mich sehr. Ich sah nur gleich ein, daß es ohne einen Mitarbeiter nicht gehen würde, da ich allein doch nichts verstehe. Der Mitarbeiter soll natürlich auch gleich der Mitherausgeber sein. Wir machen es dann zur Hälfte: von Ihnen kommt der Plan und die Arbeit, von mir die Idee und die Mittel zur Herausgabe. Das Buch wird sich doch bezahlt machen!“

„Wenn wir den richtigen Plan finden, wird das Buch schon gehen.“

„Ich muß nur vorausschicken, daß ich es nicht wegen des möglichen Überschusses tue, aber ich möchte doch sehr, daß es viel gekauft wird, und auf einen Überschuß wäre ich natürlich furchtbar stolz.“

„Aber was soll ich denn dabei?“

„Aber ich bitte doch gerade Sie, dieser Mitarbeiter zu sein ... Wir teilen dann. Sie werden doch den Plan ausdenken.“

„Woher wissen Sie, ob ich das kann?“

„Man hat mir schon von Ihnen erzählt ... ich weiß, daß Sie sehr klug sind und ... zu arbeiten verstehen und ... viel denken. Mir hat Pjotr Stepanowitsch Werchowenski in der Schweiz von Ihnen erzählt,“ fügte sie eilig hinzu. „Er ist ein sehr kluger Mensch, nicht wahr?“

Schatoff sah sie im Nu mit einem gleichsam huschenden Blick an, der kaum über sie hinglitt, senkte aber sofort wieder die Augen.

„Auch Nicolai Stawrogin hat mir viel von Ihnen erzählt.“

Schatoff wurde plötzlich rot.

„Übrigens, hier sind schon Zeitungen.“ Sie nahm hastig ein zusammengebundenes Paket, das auf einem Stuhl bereit lag. „Ich habe schon versucht, eine Auswahl zu treffen und ein bißchen zusammenzustellen – ich habe die Stellen angestrichen und nummeriert ... Sie werden schon selbst sehen ...“

Schatoff nahm das Paket.

„Nehmen Sie es mit nach Haus, sehen Sie es dort durch – Sie wohnen doch irgendwo?“

„In der Bogojawlenskstraße, im Filippoffschen Hause.“

„Ich weiß, wo das ist. Dort soll, wie ich gehört habe, neben Ihnen auch irgendein Hauptmann wohnen, ein Herr Lebädkin?“ fuhr Lisa mit derselben hastenden Eile fort.

Schatoff saß, das Paket, wie er es genommen hatte, frei in der Hand haltend, wohl eine ganze Minute ohne zu antworten da und blickte zu Boden.

„Zu diesen Sachen werden Sie sich doch wohl einen anderen aussuchen müssen, denn ich – tauge nicht dazu,“ sagte er schließlich mit ganz eigentümlich gesenkter Stimme, ja, fast flüsternd.

Lisa flammte auf.

„Von was für Sachen reden Sie? Mawrikij Nicolajewitsch!“ rief sie diesen, „bitte geben Sie mir jenen Brief.“

Auch ich trat nach Mawrikij Nicolajewitsch an den Tisch.

„Sehen Sie dies hier,“ wandte sie sich plötzlich an mich, während sie in sichtlich großer Erregung den Brief entfaltete. „Haben Sie schon je etwas Ähnliches gesehen? Bitte, lesen Sie es laut vor. Ich will, und es ist nötig, daß auch Herr Schatoff es hört,“ wandte sie sich darauf an mich, „haben Sie schon je in Ihrem Leben so was gelesen? Bitte, lesen Sie laut vor. Auch Herr Schatoff soll’s hören.“

Ich las nicht wenig erstaunt das Folgende:

„An die vollendete Schönheit, die Jungfrau Lisaweta Nicolajewna Tuschina.

Gnädiges Fräulein!

O, wie ist sie wunderbar,

Lisaweta Tuschina!

Wenn sie morgens ausreitet

Und durch ihre Locken der Wind gleitet!

Dann wünsch’ ich mir von ihr alle Wonne

Und denk’, sie sei meine Frau und meine Sonne.

(Gedichtet von einem Ungelehrten nach einem

Streite.)

Gnädiges Fräulein!

Am meisten bedauere ich, daß ich vor Sebastopol nicht einen Arm zum Ruhme der Tapferkeit verloren habe, sintemal ich dort überhaupt nicht gewesen bin, sondern man mich während des ganzen Feldzuges mit der Lieferung von ganz gemeinem Proviant beschäftigt hat. Sie aber sind eine Göttin im Altertum und ich bin vor Ihnen nichts, doch jetzt ahne ich, was Unermeßlichkeit ist. Betrachten Sie alles, was ich Ihnen sage, als Verse, denn Verse sind Poesie, und Poesie ist Unsinn, aber sie entschuldigt das, was man in der Prosa Unverschämtheit nennt. Wie aber sollte sich eine Sonne über eine Infusorie ärgern, wenn es doch, mit dem Mikroskop betrachtet, unendlich viele Infusorien schon in einem Wassertropfen gibt! Sogar der große Klub der Nächstenliebe zu großem Viehzeug in Petersburg, der mitleidig für die Rechte von Hunden und Pferden kämpft, nimmt sich der kleinen Infusorie nicht an, weil sie nicht ausgewachsen ist. Auch ich bin noch nicht ausgewachsen. Der Gedanke an eine Heirat würde komisch sein. Aber durch einen Menschenhasser, den Sie verachten, werde ich bald zweihundert ehemalige Seelen besitzen. Kann vieles mitteilen, und habe Dokumente in der Hand, wofür es sogar nach Sibirien gehen kann. Verachten Sie also nicht meinen Antrag. Dieser Brief ist rein poetisch zu verstehen.

Hauptmann Lebädkin,
Ihr ergebenster Freund, der immer Zeit hat.“

„Das hat ein Betrunkener geschrieben,“ rief ich aus, „ein erbärmlicher Mensch! – Ich kenne ihn!“

„Ich erhielt ihn gestern,“ begann Lisa, hochrot im Gesicht, uns hastig zu erklären. „Ich begriff sofort, daß irgend ein Narr ihn geschrieben hat. Deshalb habe ich ihn Mama auch gar nicht gezeigt, um sie nicht aufzuregen. Doch was soll ich tun, wenn er mir noch mehr solche Briefe schreibt? Mawrikij Nicolajewitsch wollte zu ihm gehen, um es ihm zu verbieten. Sie aber, Herr Schatoff, da Sie doch im selben Hause wohnen, Sie können mir vielleicht etwas Näheres über ihn mitteilen?“

„Ein verkommener Mensch,“ murmelte Schatoff zur Antwort.

„Ist er immer so dumm?“

„O nein, wenn er nicht betrunken ist, ist er durchaus nicht dumm.“

„Ich habe einen General gekannt, der in seinen Mußestunden genau solche Gedichte schrieb,“ bemerkte ich amüsiert.

„Sogar aus diesem Brief ist zu ersehen, daß er nicht dumm sein kann,“ sagte der sonst so schweigsame Mawrikij Nicolajewitsch überraschenderweise.

„Man sagt, er habe hier eine Schwester bei sich?“ fragte Lisa.

„Ja, eine Schwester.“

„Und er soll sie tyrannisieren, ist das wahr?“

Schatoff sah Lisa wieder kurz an, runzelte die Stirn, brummte nur: „Was geht das mich an!“ und wandte sich zur Tür.

„Ach, aber so warten Sie doch,“ rief Lisa erregt, „wohin wollen Sie denn schon? Wir müssen doch noch so vieles besprechen! ...“

„Was denn besprechen? Ich werde Ihnen morgen Bescheid sagen ...“

„Aber die Hauptsache ist doch, wie wir es drucken! Glauben Sie mir doch endlich, daß es mir mit dem Buch wirklich ernst ist!“ beteuerte Lisa in wachsender Unruhe. „Wenn wir es nun herauszugeben beschließen, wo soll das Buch dann gedruckt werden? Wir werden doch deshalb nicht nach Moskau reisen, und die hiesige Druckerei kommt für eine solche Ausgabe doch nicht in Frage. So habe ich denn beschlossen, eine eigene Druckerei zu gründen, sagen wir, auf Ihren Namen, und Mama würde bestimmt nichts dagegen haben, wenn es auf Ihren Namen geschieht ...“

„Woher wissen Sie, daß ich zu drucken verstehe?“ fragte Schatoff finster.

„Ja, das hat mir Pjotr Stepanowitsch Werchowenski schon in der Schweiz gesagt, daß Sie das alles verstehen, und er wollte mir sogar einen Brief an Sie mitgeben, aber dann habe ich’s vergessen ...“

Wie ich mich jetzt erinnere, ging hierauf eine Veränderung in Schatoffs Gesicht vor sich. Er stand noch ein paar Sekunden da und plötzlich verließ er das Zimmer.

Lisa ärgerte sich.

„Geht er immer so weg?“ fragte sie mich.

Ich zuckte nur mit der Schulter – doch in diesem Augenblick kam Schatoff schon zurück und legte das Paket auf den Tisch.

„Ich kann nicht Ihr Mitarbeiter sein, habe keine Zeit ...“

„Aber warum, warum denn nicht? Sie haben sich wohl über irgend etwas geärgert?“ fragte Lisa ganz traurig und ihre Stimme klang bittend.

Und dieser Ton in ihrer Stimme schien ihn stutzig zu machen: ein paar Augenblicke lang sah er sie unverwandt an, als wolle er bis in ihre Seele hineinschauen.

„Einerlei,“ murmelte er dann dumpf, „ich will nicht ...“

Und er ging wirklich weg.

Lisa blieb ganz niedergeschlagen zurück – sogar weit niedergeschlagener, als man es nach dem Vorgefallenen hätte verstehen können; wenigstens schien es mir damals so.

„Ein äußerst sonderbarer Mensch,“ bemerkte Mawrikij Nicolajewitsch.

III.

Allerdings wirkte Schatoff „sonderbar“, aber schließlich war an diesem ganzen Vorfall doch gar zu vieles unklar. Es mußte da hinter manchem noch ein anderer Sinn stecken. Diese Buchgeschichte z. B. kam mir durchaus unglaubhaft vor und ich dachte bei mir, daß sie wohl nur ein Vorwand zu irgendwelchen anderen Zwecken sein könne. Und dann dieser verrückte Brief mit dem Versprechen von Mitteilungen und „Dokumenten“, und warum hatten sie es vermieden, davon zu sprechen, warum sprachen sie sogleich von ganz etwas anderem? Warum war Schatoff so plötzlich fortgegangen, und so auffallenderweise gerade dann, als man von der Druckereifrage zu sprechen begann? Alles das gab mir zu denken und ich kam zu der Überzeugung, daß hier etwas Geheimnisvolles vorliegen müsse. – – Doch es war Zeit, daß auch ich mich verabschiedete.

Lisa schien meine Anwesenheit im Zimmer ganz vergessen zu haben. Sie stand immer noch tief nachdenklich auf demselben Platz am Tisch und starrte vor sich hin.

„Ach, auch Sie wollen gehen? Nun, auf Wiedersehen,“ sagte sie freundlich. „Grüßen Sie Stepan Trophimowitsch von mir und reden Sie ihm doch zu, daß er so bald wie möglich zu mir komme. Mama kann sich leider nicht von Ihnen verabschieden ... Sie entschuldigen gewiß!“

Ich verabschiedete mich noch von Mawrikij Nicolajewitsch und ging hinaus. Als ich schon die Treppe hinabgegangen war, kam mir der Diener nachgelaufen.

„Das gnädige Fräulein lassen Sie sehr bitten, zurückzukommen.“

Als ich daraufhin wieder zurückging und eintrat, war Mawrikij Nicolajewitsch ganz allein im großen Salon. Lisa dagegen erwartete mich im anstoßenden kleineren Empfangszimmer, dessen Tür nur angelehnt war.

Bleich und augenscheinlich noch unentschlossen stand sie mitten im Zimmer und lächelte mir zu, als ich eintrat. Plötzlich ergriff sie meine Hand und zog mich schnell zum Fenster.

„Ich will sie sehen,“ flüsterte sie und sah mich mit heißem, starkem, ungeduldigem Blick an, der jeden Widerspruch unmöglich machte. „Ich muß sie mit meinen eigenen Augen sehen, und dazu brauche ich Ihre Hilfe.“

Sie schien wirklich außer sich und ganz verzweifelt zu sein.

„Wen wollen Sie sehen, Lisaweta Nicolajewna?“ fragte ich erschrocken.

„Diese Lebädkina, diese Lahme ... Es ist doch wahr, daß sie lahm ist?“

„Ich habe sie nie gesehen, aber ich hörte noch gestern, daß sie allerdings lahm sein soll,“ antwortete ich rasch und sprach gleichfalls so leise wie möglich.

„Ich ... muß sie unbedingt sehen! Können Sie das nicht heute noch einrichten?“

Lisa tat mir furchtbar leid.

„Das ... das scheint mir ganz unmöglich. Wie ... sollte man –?“ Ich wollte ihr den Gedanken ausreden. Doch als ich sah, daß sie ganz verzweifelt war, sagte ich: „Ich könnte ja zu Schatoff gehen ...“

„Wenn Sie mir nicht helfen, dann werde ich morgen selbst zu ihr gehen. Allein. Denn Mawrikij Nicolajewitsch weigert sich, mich dorthin zu begleiten. Ich hoffe jetzt nur noch auf Sie, denn sonst habe ich ja niemanden. Mit Schatoff habe ich töricht gesprochen. Aber ich weiß, Sie sind ein Ehrenmann, und vielleicht mir ein wenig zugetan. Tun Sie es! Bitte, bitte!“

Da erfaßte mich der leidenschaftliche Wunsch, ihr in allem behilflich zu sein.

„Gut,“ sagte ich entschlossen, nachdem ich eine Weile überlegt hatte. „Ich werde noch heute selbst hingehen und den Versuch machen, sie zu sehen und zu sprechen. Unter allen Umständen. Ich werde Ihren Wunsch erfüllen. Ich gebe Ihnen mein Wort. Nur müssen Sie mir gestatten, vorher mit Schatoff darüber zu sprechen.“

„Ja, sagen Sie ihm, daß ich sie sehen muß! Daß ich nicht länger warten kann! Und sagen Sie ihm, daß ich ihn vorhin wirklich nicht zum besten gehabt habe. So etwas hat er wohl geglaubt. Deshalb scheint er ja fortgegangen zu sein. Seine Ehrlichkeit, sein Ehrgefühl war gekränkt. Ich habe ihm aber ganz gewiß nichts vorgespiegelt. Ich will wirklich das Buch herausgeben und eine Druckerei gründen ...“

„Ja, Schatoff ist der ehrlichste Mensch,“ beteuerte ich eifrig.

„Und wenn es Ihnen nicht gelingt, dann – dann gehe ich morgen selbst zu ihr. Einerlei, was daraus entsteht. Und wenn auch alle es erfahren!“

„Aber vor drei Uhr kann ich unmöglich bei Ihnen sein!“

„Gut, also dann morgen um drei. Und nicht wahr, ich habe mich nicht in Ihnen getäuscht, bei Stepan Trophimowitsch, als ich Sie für ein wenig – mir zugetan hielt?“ lächelte sie mir zu, drückte mir zum Abschied die Hand und ging schnell in den großen Salon, in dem Mawrikij Nicolajewitsch offenbar auf sie wartete.

Ich verließ das Haus, bedrückt von meinem Versprechen und unfähig, fassen zu können, was geschehen war. Ich hatte einen Menschen in wirklicher Verzweiflung gesehen, ein junges Mädchen, das sich nicht scheute, sich bloßzustellen und einem ihr fremden Menschen ihr ganzes Vertrauen zu schenken. Ihr Lächeln, das Lächeln einer Frau, die Anspielung, daß sie wisse, wie ich ihr zugetan sei, das alles regte mich nicht wenig auf. Doch sie tat mir leid, so, so leid! Ihre Geheimnisse wurden für mich plötzlich zu etwas Heiligem. Wenn man mir diese Geheimnisse hätte mitteilen wollen, – ich würde nicht zugehört haben. Ich ahnte ja mancherlei ... Aber wie sollte ich nun dieses seltsame, dieses unheimliche Zusammentreffen zustandebringen? Meine ganze Hoffnung setzte ich auf Schatoff. Ich sagte mir zwar gleich, daß er dabei wenig werde helfen können. Aber immerhin, ich ging sofort zu ihm.

IV.

Erst am Abend, um acht Uhr, traf ich ihn zu Haus. Zu meiner Verwunderung hatte er Besuch: Alexei Nilytsch Kirilloff und ein Herr Schigaleff – der Bruder der Frau Wirginski – waren bei ihm.

Dieser Schigaleff war erst seit ungefähr zwei Monaten in unserer Stadt; ich weiß nicht, woher er kam. Wirginski hatte ihn mir gelegentlich auf der Straße vorgestellt und ich wußte von ihm wenig mehr, als daß in einem fortschrittlichen Petersburger Blatt einmal ein Artikel von ihm erschienen war. Wir hatten uns damals nur flüchtig begrüßt und kaum ein Wort miteinander gewechselt. Das einzige, was ich von ihm behalten hatte, war der Eindruck, in meinem ganzen Leben noch nie ein so finsteres, griesgrämiges, mürrisches Gesicht gesehen zu haben. Er schaute drein, als erwarte er den Untergang der ganzen Welt, und zwar nicht nach irgendwelchen Voraussagungen, die schließlich auch nicht in Erfüllung zu gehen brauchten, sondern genau so, als wisse er sogar schon die Stunde des Untergangs mit tödlicher Sicherheit: etwa übermorgen früh, punkt fünf Minuten vor halb elf. Und dann waren mir noch ganz besonders seine Ohren aufgefallen, Ohren von einer geradezu übernatürlichen Größe, lang, breit und dick, die noch obendrein fast im rechten Winkel nach links und rechts vom Kopf wegstrebten. Seine Bewegungen waren plump und langsam. Wenn Liputin vielleicht hin und wieder davon geträumt hatte, daß die Phalansterien sich auch in unserem Gouvernement verwirklichen könnten, so wußte dieser Schigaleff sicher Tag und Stunde voraus, wann das geschehen werde. Jedenfalls hatte er geradezu den Eindruck eines Unheilverkünders auf mich gemacht; und daß ich gerade ihn jetzt bei Schatoff antraf, wunderte mich sehr, – um so mehr, als Schatoff Besuch schon an und für sich nicht ausstehen konnte.

Bereits auf der Treppe hörte ich, daß sie alle drei ungewöhnlich laut miteinander sprachen und, wie mir schien, sich heftig stritten. In dem Augenblick aber, als ich eintrat, verstummten sie sofort. Und plötzlich setzten sie sich, während sie bis dahin gestanden hatten. So mußte auch ich mich setzen. Wir schwiegen alle. Schigaleff tat so, als kenne er mich überhaupt nicht. Mit Kirilloff tauschte ich einen Gruß, und ich weiß nicht, weshalb wir uns nicht die Hand reichten. Schigaleff sah mich streng und finster an, mit einem Ausdruck, der völlig naiv die feste Überzeugung zeigte, daß ich sofort aufstehen und wieder weggehen würde. Da erhob sich endlich Schatoff und die anderen folgten seinem Beispiel. Sie gingen fort, ohne ein Wort zu sagen, noch sich zu verabschieden. Erst an der Tür wandte sich Schigaleff noch einmal zu Schatoff und sagte in drohendem Tone:

„Vergessen Sie aber nicht, daß Sie Rechenschaft schuldig sind!“

„Zum Teufel mit eurer Rechenschaft, ich bin keinem von euch etwas schuldig!“ rief Schatoff ihnen wütend nach, schlug die Tür zu und drehte den Schlüssel um.

„Narren!“ sagte er, nachdem sein Blick mich gestreift hatte, mit kurzem, eigentümlich gehässigem Auflachen.

Sein Gesicht sah böse aus, und ich wunderte mich, daß er diesmal als erster zu sprechen begann. Früher war es gewöhnlich so gewesen, wenn ich ihn besuchte, was freilich sehr selten geschah, daß er sich mißmutig in einen Winkel setzte und auf meine Fragen mürrisch antwortete. Erst nach längerer Zeit begann er aufzutauen und dann erst sprach er mit Vergnügen. Beim Abschied aber wurde er jedesmal wieder unwirsch, und wenn er einen zur Tür geleitete, tat er es mit einer Miene, als dränge er seinen persönlichen Feind aus dem Hause.

„Ich habe gestern bei diesem Herrn Kirilloff Tee getrunken,“ sagte ich, um ein Gespräch anzuknüpfen. „Bei ihm scheint der Atheismus ein bißchen zur fixen Idee geworden zu sein.“

„Der russische Atheismus ist noch nie über ein schlechtes Wortspiel hinausgekommen,“ brummte Schatoff, während er den alten Lichtstumpf aus dem Leuchter nahm und ein neues Licht einsetzte.

„Ich glaube nicht, daß es diesem Kirilloff um Wortspiele zu tun ist. Er versteht ja, wie’s scheint, überhaupt kaum zu sprechen – wie sollte er da noch an Wortspiele denken!“

„Papierene Menschen; aus Lakaientum kommen ihnen alle diese Gedanken,“ bemerkte Schatoff ruhig, nachdem er sich in der Zimmerecke auf einen Stuhl gesetzt und die Handflächen auf die Kniee gestützt hatte.

„Haß ist auch dabei,“ sagte er nach einer Weile des Schweigens. „Diese Leute würden selbst als erste sterbensunglücklich sein, wenn Rußland sich auf irgendeine Weise veränderte, und wäre es auch genau nach ihrem Wunsch, und plötzlich unermeßlich reich und glücklich werden würde. Dann hätten sie ja niemanden mehr, den sie hassen, auf den sie spucken, über den sie spotten könnten! Hier ist’s nichts als ein einziger tierischer, grenzenloser Haß auf Rußland, der sich in ihren Organismus hineingefressen hat ... Und von irgendwelchen heimlichen Tränen, die sich angeblich hinter dem sichtbaren Lachen verbergen sollen[30], ist hier überhaupt keine Spur vorhanden! Noch nie ist in Rußland etwas Dümmeres gesagt worden, als dieses falsche Wort von den ‚heimlichen Tränen‘!“ sagte er fast jähzornig.

„Weiß Gott, Sie sind aber wütend!“ sagte ich lachend.

„Und Sie sind ‚gemäßigt liberal‘.“ Schatoff lächelte flüchtig. „Wissen Sie,“ sagte er nach einer Weile ganz plötzlich, „ich habe das vorhin vielleicht falsch gesagt, das vom ‚Lakaientum der Gedanken‘. Sie werden gewiß bei sich gedacht haben: ‚Das sagt er nur, weil er von einem Lakai geboren ist, ich aber bin’s nicht.‘“

„Aber das habe ich durchaus nicht gedacht ... wie kommen Sie darauf! ...“

„Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, ich fürchte Sie nicht. Früher stammte ich nur von einem Lakaien ab, jetzt bin ich selber zu einem geworden, zu genau so einem, wie auch Sie einer sind. Unser russischer Liberaler ist vor allen Dingen Lakai und wartet nur darauf, wie und wo er jemandem die Stiefel putzen kann.“

„Was für Stiefel? Was meinen Sie mit dieser Allegorie?“

„Was Allegorie! Sie lachen, wie ich sehe ... Stepan Trophimowitsch hat ganz recht, wenn er sagt, daß ich unter einem Stein liege, schon halb erdrückt, aber noch nicht zerdrückt bin und mich nur noch in den letzten Krämpfen winde. Das hat er gut gesagt.“

„Stepan Trophimowitsch behauptet, daß die Deutschen Ihnen zur fixen Idee geworden sind,“ entgegnete ich leichthin. „Und es ist ja auch etwas Wahres dabei: wir haben uns doch vieles Deutsche eingesackt.“

„Ja, zwanzig Kopeken haben wir von ihnen genommen und dafür hundert Rubel vom eigenen Kapital gegeben.“ – Wir schwiegen ... „Diese Ideen hat er sich in Amerika an den Hals gelegen.“

„Wer das? Was an den Hals gelegen?“

„Ich meine Kirilloff. Wir haben dort beide vier Monate lang in einer Hütte auf dem Fußboden gelegen.“

„Ja, sind Sie denn je in Amerika gewesen?“ fragte ich verwundert. „Sie haben nie davon gesprochen.“

„Wozu davon sprechen. Vor drei Jahren zogen wir mit einem Emigrantentransport für unser letztes Geld nach den Vereinigten Staaten von Amerika, um das Leben eines amerikanischen Arbeiters, oder vielmehr: ‚um den Zustand eines Menschen in der allerschwersten sozialen Lage praktisch, d. h. durch persönliche Erfahrung kennen zu lernen.‘ Das war unser Ziel, war der Grund, warum wir auswanderten.“

„Herrgott!“ rief ich aus. „Das hätten Sie doch ebensogut zur Erntezeit in unserem Gouvernement durch ‚persönliche Erfahrung‘ kennen lernen können, ohne deshalb nach Amerika dampfen zu müssen!“

Doch Schatoff fuhr fort: „Wir verdingten uns als Arbeiter bei einem Exploiteur. Im ganzen waren wir sechs Russen: Studenten, sogar Gutsbesitzer und Offiziere waren unter uns, und alle hatten dasselbe großartige Ziel. Und so arbeiteten wir denn, quälten uns und rackerten uns ab – bis Kirilloff und ich fortgingen: wir wurden krank, hielten es nicht aus. Bei der Abrechnung zog uns dann der Exploiteur noch das Fell gehörig über die Ohren, zahlte anstatt der dreißig Dollar, die er uns laut der Abmachung schuldig war, mir nur acht und Kirilloff fünfzehn aus. Übrigens hat man uns obendrein noch geprügelt, und nicht nur einmal ... Ja, und damals war es denn, daß wir beide in einem elenden Städtchen vier Monate lang zusammen in einer Hütte auf dem Fußboden lagen. Kirilloff dachte seine Gedanken und ich dachte meine Gedanken.“

„Und der Exploiteur hat Sie wirklich geprügelt? Da werden Sie ihm wohl auch nicht schlecht mitgespielt haben?“

„Keineswegs. Im Gegenteil, wir sahen beide sofort ein, daß ‚wir Russen im Vergleich zu den Amerikanern kleine Kinder sind und daß man entweder in Amerika geboren oder lange Jahre mit ihnen zusammen gearbeitet haben muß, um die Höhe ihrer Leistung zu erreichen‘. Wir waren natürlich entzückt von Amerika und lobten dort alles: den Spiritismus, das Lynchgesetz, die Revolver und die Vagabunden. Und wenn man für eine Dreikopekensache von uns einen Dollar verlangte, so zahlten wir ihn nicht nur mit Vergnügen, sondern mit Begeisterung. Einmal, in der Eisenbahn, zog mein Nachbar aus meiner Rocktasche meine Haarbürste heraus und begann sich damit sein Haar zu striegeln. Kirilloff und ich tauschten nur einen Blick aus und stimmten sofort darin überein, daß mein Nachbar vollkommen im Recht war und seine Handlungsweise uns sehr gefiel ...“

„Sonderbar, daß solche Ideen uns Russen nicht nur in den Kopf kommen, sondern von uns auch vollführt werden,“ bemerkte ich.

„Papierene Menschen,“ wiederholte Schatoff.

„Aber immerhin, über einen ganzen Ozean schwimmen, in ein unbekanntes Land, und wenn auch ‚um durch persönliche Erfahrung‘ usw. etwas kennen zu lernen – darin liegt, weiß Gott, doch eine gewisse Großzügigkeit ... Wie sind Sie denn wieder zurückgekommen?“

„Ich schrieb an einen Menschen nach Europa und der schickte mir hundert Rubel.“

Die ganze Zeit, während der Schatoff sprach, hatte er, wie immer, zu Boden gesehen, selbst dann, wenn er erregt sprach. Jetzt aber hob er plötzlich den Kopf.

„Wollen Sie wissen, wer dieser Mensch war?“

„Nun, wer war es denn?“

„Nicolai Stawrogin.“

Er stand plötzlich auf, trat an seinen Schreibtisch – es war ein einfacher Tisch aus Lindenholz – und tat, als suche er etwas auf ihm.

Es ging bei uns damals das dunkle, aber glaubwürdige Gerücht, Schatoffs Frau hätte mit Nicolai Stawrogin in Paris eine Zeitlang gelebt, und zwar gerade vor etwa zwei Jahren, also in eben der Zeit, als Schatoff in Amerika war – freilich schon lange nachdem sie ihn in Genf verlassen hatte. „Wenn es sich so verhält, was plagte ihn dann, mir jetzt diesen Namen zu nennen und das ... noch breitzutreten?“ fragte ich mich.

„Ich habe sie ihm bis heute noch nicht zurückgegeben,“ sagte er, sich wieder zu mir wendend, und nachdem er mich kurz, aber prüfend angesehen hatte. Dann setzte er sich wieder. Und plötzlich fragte er mich schroff und schon in ganz anderem Tone:

„Sie sind natürlich mit einer bestimmten Absicht zu mir gekommen; was wünschen Sie?“

Ich erzählte ihm sofort alles und betonte besonders, daß ich Lisa unter allen Umständen helfen und das ihr gegebene Wort halten möchte. Auch beteuerte ich ihm, daß sie ihn mit der Buchangelegenheit keineswegs habe beleidigen wollen, daß er sie völlig mißverstanden haben müsse. Sein plötzlicher Aufbruch habe sie denn auch aufrichtig betrübt.

Er hörte mich sehr aufmerksam an.

„Vielleicht habe ich in der Tat wieder einmal eine Dummheit gemacht ... Aber wenn sie nicht verstanden hat, warum ich fortging – um so besser für sie!“

Er stand auf, ging zur Tür, öffnete sie und horchte hinaus.

„Sie wollen sie selbst sehen?“

„Ja, das ist es ja eben! Wie ließe sich das machen?“ Ich erhob mich schon erfreut.

„Gehen wir ganz einfach hin, solange sie noch allein ist. Lebädkin darf natürlich nicht erfahren, daß wir bei ihr gewesen sind, sonst peitscht er sie wieder. Heimlich gehe ich oft zu ihr. Gestern habe ich ihn gründlich geprügelt, als er sie wieder zu schlagen anfing.“

„Ist das wirklich wahr, daß er sie schlägt?“

„Gewiß; an den Haaren hab ich ihn von ihr fortgerissen. Er wollte sich schon mit den Fäusten auf mich stürzen, aber ich konnte ihm doch noch einen Schrecken einjagen. Dabei blieb es. Nun fürchte ich, ihm könnte das wieder einfallen, wenn er heute betrunken zurückkehrt, und dann wird er sie erst recht hauen.“

Wir gingen sogleich nach unten.

V.

Die Tür zu Lebädkins war nicht verschlossen und so traten wir ungehindert ein. Ihre ganze Wohnung bestand aus nur zwei erbärmlichen kleinen Zimmern mit verräucherten Wänden, an denen die schmutzigen Tapeten buchstäblich in Fetzen herabhingen.

Früher hatte sich in diesen Räumen Filippoffs Schenke befunden, die jetzt in das neue Haus übergeführt worden war. Die übrigen Zimmer, die früher auch noch zur Schenke gehört hatten, waren jetzt verschlossen, nur diese beiden hatte man an Lebädkin vermietet. An Möbeln standen in der Wohnung ein paar einfache Holzbänke, Tische aus rohen Brettern und nur ein einziger alter Sessel mit einer abgebrochenen Armlehne. Im Hinterzimmer stand in einer Ecke ein Bett mit einer Kattundecke. Das war das Bett von Lebädkins Schwester. Der Hauptmann aber schlief einfach auf dem Fußboden, und da er fast immer betrunken nach Hause kam, nicht selten so, wie er war, in den Kleidern. Überall war Schmutz, lagen Krümchen und Fetzchen auf dem Fußboden; in der Mitte des ersten Zimmers lag ein großer, dicker, ganz nasser Lappen, um den sich eine richtige Pfütze gebildet hatte, und in dieser stand ein alter schiefgetretener Schuh. Man sah an allem, daß hier niemand etwas tat; kein Ofen wurde geheizt, kein Essen gekocht; ja, sie besaßen nicht einmal einen Samowar, wie Schatoff mir ausführlicher berichtete. Der Hauptmann war mit seiner Schwester ohne eine Kopeke hier eingetroffen und hatte in der ersten Zeit tatsächlich, wie Liputin erzählte, seine Bekannten um ein paar Kopeken angebettelt. Dann aber, als er plötzlich in den Besitz von großen Summen geriet, hatte er sofort zu trinken angefangen und sich seitdem natürlich noch weniger um den Haushalt gekümmert.

Marja Timofejewna Lebädkina, die ich so sehr zu sehen wünschte, saß ruhig und lautlos im zweiten Zimmer, in einer Ecke, hinter einem einfachen Küchentisch auf einer Bank. Auch als wir eingetreten waren, hatte sie uns nicht angerufen, noch sich überhaupt gerührt. Schatoff sagte, daß ihre Flurtür nie verschlossen werde, und einmal sei sie sogar die ganze Nacht sperrangelweit offen geblieben. Beim schwachen Schein eines dünnen Lichtchens in einem eisernen Leuchter erkannte ich ein krankhaft mageres weibliches Wesen von vielleicht dreißig Jahren, in einem dunklen alten Kattunkleide, mit langem, bloßem Halse und dünnem, dunklem Haar, das im Nacken zu einem kleinen Knoten, von der Größe des Fäustchens eines zweijährigen Kindes, zusammengedreht war. Sie sah uns ziemlich heiter entgegen. Außer dem Licht stand vor ihr auf dem Tisch ein kleiner billiger Spiegel, wie man ihn bei Bauern sieht, lag ein altes Spiel Karten, ein zerblättertes Liederbuch und ein kleines Weißbrot, von dem sie bereits ein- oder zweimal abgebissen hatte. Man merkte, daß sie sich gepudert und geschminkt und die Lippen mit irgend etwas rot gefärbt hatte; ja, selbst die Brauen, die ohnehin schon lang, fein gezeichnet und dunkel zu sein schienen, hatte sie noch gestrichen, – aber auf ihrer schmalen und hohen Stirn sah man trotz des Puders drei lange, tiefe Falten. Ich wußte schon, daß sie hinkte, doch diesmal stand sie während unserer Anwesenheit nicht auf, so sah ich sie auch nicht gehen. Irgend einmal, vielleicht in der ersten Jugend, konnte dieses abgezehrte Gesicht vielleicht nicht unschön gewesen sein; aber ihre stillen, freundlichen grauen Augen fielen auch jetzt noch auf. Etwas Träumerisches und Inniges lag in ihrem stillen, fast frohen Blick. Diese stille, ruhige Freude, die sich auch in ihrem Lächeln ausdrückte, wunderte mich nach allem, was ich von der Kosakenpeitsche und allen Niederträchtigkeiten ihres Bruders gehört hatte. Sonderbar, daß ich dieses Mal statt des drückenden und bangen Widerwillens, den man sonst stets in der Gegenwart solcher von Gott gezeichneten Geschöpfe empfindet, – daß es mir diesmal, und fast vom ersten Augenblick an, geradezu angenehm war, sie zu betrachten und zu beobachten, und höchstens Mitleid, doch keine Spur von Abscheu, bemächtigte sich meiner später.

„Sehen Sie, so sitzt sie hier ganze Tage mutterseelenallein und rührt sich nicht, legt Karten oder betrachtet sich im Spiegelchen,“ sagte Schatoff noch an der Tür zu mir. „Er gibt ihr ja auch nichts zu essen. Die Alte aus dem Nebenhause, die Kirilloff bedient, bringt ihr zuweilen etwas aus bloßem Erbarmen. Wie man sie nur so mit dem Licht allein lassen kann!“

Schatoff sagte das zu meiner Verwunderung ganz laut, als ob wir allein im Zimmer wären.

„Guten Tag, Schatuschka!“ begrüßte ihn plötzlich Marja Timofejewna.

„Ich habe dir, Marja Timofejewna, einen Gast gebracht,“ erwiderte Schatoff.

„Gut, der Gast soll mir willkommen sein. Ich weiß nicht, wen du da mitgebracht hast, ich glaube aber, solch einen habe ich noch nie gesehen.“ Dabei sah sie mich, über das Licht hinweg, aufmerksam an. Gleich darauf wandte sie sich jedoch wieder zu Schatoff, und zu diesem allein sprach sie dann auch die ganze Zeit (mich aber beachtete sie weiter überhaupt nicht mehr, ganz als wäre ich gar nicht anwesend).

„Es wurde dir wohl langweilig, da oben im Dachkämmerlein einsam umherzugehen?“ fragte sie lachend. Da sah ich, daß sie sehr schöne Zähne hatte.

„Auch das, aber vor allem wollte ich dich wieder einmal besuchen.“

Schatoff zog eine Bank an den Tisch, setzte sich, und wies auch mir einen Platz neben sich an.

„Unterhaltung habe ich immer gern, nur bist du so drollig, Schatuschka, bist ganz wie ein Mönch! Wann hast du dich zum letztenmal gekämmt? Komm her, ich werde es wohl wieder tun müssen“ – und sie zog aus ihrer Kleidertasche einen Kamm. „Du hast wohl seit dem letzten Mal, als ich dich kämmte, dein Haar überhaupt nicht mehr angerührt.“

„Ja, wie soll ich denn? Ich habe doch keinen Kamm,“ sagte auch Schatoff heiter.

„Wirklich nicht? Warte mal, dann werde ich dir meinen schenken, nicht diesen, einen andern ... nur mußt du mich daran erinnern.“

Und mit dem ernsthaftesten Gesicht machte sie sich daran, ihn zu kämmen, zog ihm sogar auf der Seite einen Scheitel, bog sich dann zurück, um zu sehen, ob er gut geraten war – und steckte schließlich den Kamm wieder in die Tasche.

„Weißt du was, Schatuschka?“ sagte sie und schüttelte dabei den Kopf, „du bist doch ein vernünftiger Mensch und trotzdem grämst du dich. Es wird mir ganz sonderbar, wenn ich euch alle so sehe: ich verstehe nicht, wie können Menschen sich grämen und immer traurig sein? Sehnsucht ist doch nicht Traurigkeit. Mir ist immer froh zu Mut.“

„Auch mit dem Bruder?“

„Du meinst Lebädkin? Ach, der ist mein Knecht. Mir ist es ganz gleich, ob er hier ist oder nicht. Ich befehle nur: ‚Lebädkin, bring mir Wasser, Lebädkin, gib mir die Stiefel‘, und er läuft schon. Zuweilen sündige ich wohl auch und lache über ihn.“

„Und genau so ist es,“ sagte Schatoff zu mir gewandt, und zwar wieder mit lauter Stimme, ohne sich zu genieren. „Sie behandelt ihn tatsächlich wie ihren Diener, ich habe es selbst gehört, wie sie ihm zuruft: ‚Lebädkin, bring mir Wasser‘, und dabei lacht sie. Der Unterschied besteht nur darin, daß er nicht nach dem Wasser läuft, sondern sie dafür prügelt, – und trotzdem fürchtet sie ihn tatsächlich nicht im geringsten. Sie hat immer ihre nervösen Anfälle, fast täglich, die wirken natürlich auf ihr Gedächtnis, so daß sie alles vergißt und verwechselt. Glauben Sie, daß sie noch weiß, wann und wie wir hereingekommen sind? Übrigens, vielleicht weiß sie’s doch noch, jedenfalls aber hat sie es sich auf ihre Art umgedichtet und hält uns wohl jetzt für Gott weiß was, nur nicht für das, was wir sind – obschon sie dabei ganz genau weiß, daß ich ‚Schatuschka‘ bin. Das macht auch nichts, daß ich jetzt laut spreche, ja selbst wenn ich zu ihr spreche, stört das sie nicht mehr, sobald sie einmal mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt ist. Sie ist eine große Träumerin, acht Stunden, zuweilen den ganzen Tag sitzt sie auf demselben Fleck, ohne sich zu rühren. Sehen Sie das Weißbrot da: angebissen hat sie es vielleicht heute früh, aufessen wird sie es vielleicht erst morgen. Da legt sie auch schon wieder Karten aus ...“

„Rate ich doch aus den Karten und rate, Schatuschka, aber immer kommt es so wie nicht richtig heraus,“ sagte plötzlich Marja Timofejewna, die das letzte Wort Schatoffs wohl gehört hatte, und ohne aufzusehen streckte sie die linke Hand mechanisch nach dem Weißbrot aus (auch das vom Brot mochte sie gehört haben).

Die Hand fand auch schließlich das Brötchen, doch sie selbst ließ sich von neuen Gedanken wieder gefangennehmen, und nachdem sie das Brötchen eine Weile in der linken Hand gehalten hatte, legte sie es mechanisch wieder zurück, ohne es zum Munde geführt zu haben.

„Es ist immer dasselbe: ein Weg, ein böser Mann, ein Sterbebett, ein Brief irgendwoher, eine unvorhergesehene Nachricht, Trug und Hinterlist. Ach – alles Lügen, denke ich! – Was meinst du dazu, Schatuschka? Wenn Menschen lügen, warum sollen dann nicht auch Karten lügen?“ und sie mischte plötzlich die Karten durcheinander. „Dasselbe habe ich auch einmal der Mutter Praskowja gesagt ... das war eine ehrwürdige alte Frau. Immer kam sie zu mir in die Zelle, um sich von mir die Karten legen zu lassen, aber heimlich, daß die Mutter-Äbtissin es nicht sah. Und nicht sie allein kam zu mir. Sie seufzen und stöhnen dann immer, schütteln alle die Köpfe, raten hin und her und denken und bereiten sich auf etwas Großes vor – ich aber lache. ‚Woher wollen Sie denn plötzlich einen Brief bekommen, Mutter Praskowja,‘ sage ich, ‚wenn zwölf Jahre keiner gekommen ist?‘ Ihre Tochter aber hat der Mann irgendwohin nach der Türkei gebracht und zwölf Jahre hat sie von ihr kein Lebenszeichen erhalten. Und wie ich gerade so am nächsten Abend beim Tee sitze, bei der Äbtissin – aus fürstlichem Hause war sie bei uns – sitzt da bei ihr noch eine angereiste Dame und auch noch ein Mönchlein aus dem Kloster vom Berge Athos, so ein drolliger, kleiner Mensch. Was glaubst du wohl, Schatuschka, dieser selbe Mönch hat am selben Morgen der Mutter Praskowja von der Tochter aus der Türkei einen Brief gebracht – da hast du den Karo-Buben, die unvorhergesehene Nachricht! Wir trinken also Tee und der Mönch vom Berge Athos sagt zu der Mutter-Äbtissin: ‚Und vor allem‘, sagt er, ‚ehrwürdige Mutter-Äbtissin, hat der Herr Euer Kloster gesegnet, seitdem es einen so kostbaren Schatz in seinem Schoße birgt‘, sagt er. ‚Was für einen Schatz?‘ fragt die Mutter-Äbtissin. ‚Nun, die heilige Lisaweta doch!‘ sagt er. Diese Lisaweta war nämlich bei uns in einer Zelle in der Klostermauer eingemauert, wie in einem Käfig, und der war nur einen Faden lang und anderthalb Faden hoch, und da sitzt sie schon siebzehn Jahre lang hinter einem eisernen Gitter, Winter und Sommer nur in einem hanfleinenen Hemde, und sticht immer mit einem Strohhälmchen oder einem Reisigstückchen in die Leinwand und spricht kein Wort und kämmt sich nicht und wäscht sich nicht all diese siebzehn Jahre. Im Winter, wenn es kalt wird, steckt man ihr ein Pelzchen zu und täglich ein Kästchen mit Brot und einen Krug mit Wasser. ‚Wahrlich, ein schöner Schatz,‘ sagt die Mutter-Äbtissin (hat sich geärgert – sie konnte die Lisaweta nicht leiden). ‚Lisaweta,‘ sagt sie, ‚sitzt nur aus Bosheit und Eigensinn, und alles das ist Verstellung.‘ Mir gefiel das nicht, was sie sagte, denn ich wollte mich auch so einschließen lassen. ‚Ich glaube,‘ sage ich, ‚Gott und die Natur ist alles eins.‘ Alle rufen sie da, wie aus einem Munde: ‚Hört doch, hört!‘ Die Äbtissin lachte und fing mit der Dame zu tuscheln an, ich weiß nicht worüber, und rief mich nachher zu sich, streichelte mich, und die Dame schenkte mir ein rosa Bändchen – willst du, ich zeige es dir? Und das Mönchlein fing gleich an, mich zu belehren und sprach freundlich und demütig zu mir und wohl auch mit viel Verstand. Ich sitze und höre zu. ‚Hast du verstanden?‘ fragte er mich dann. ‚Nein,‘ sage ich, ‚ich habe gar nichts verstanden und lassen Sie mich lieber in meiner Ruh‘, sage ich – und seit der Zeit haben sie mich auch ganz in meiner Ruh gelassen, Schatuschka. Aber wenn ich dann aus der Kirche kam, flüsterte mir unsere Greisin, eine alte, alte Nonne zu – die büßte bei uns für ihre Weissagungen –: ‚Was ist das, die Mutter Gottes, wie dünkt es dich?‘ – ‚Die große Mutter,‘ antwortete ich, ‚das ist die große Hoffnung, die ewige Zuversicht des Menschengeschlechts.‘ – ‚Ganz recht,‘ sagt sie, ‚die Mutter Gottes – das ist die große Mutter, unsere fruchtbare Erde, und wahrlich ich sage dir, eine große Freude liegt in ihr für den Menschen. Und jedes Erdenleid und jede Erdenträne ist uns eine Freude. Und wenn du mit deinen Tränen die dunkle Erde unter dir tränkst, einen halben Meter tief, so wird dir wahrlich zur selbigen Stunde noch alles zur Freude gereichen. Und gar keinen, gar keinen Kummer wirst du mehr haben,‘ sagt sie, ‚denn sieh,‘ sagt sie, ‚eine solche Weissagung gibt es.‘ Das konnte ich nie mehr vergessen. Seit der Zeit begann ich zu beten, ich beugte mich zur Erde und küßte die Erde und weinte. Und sieh, ich sage dir, Schatuschka, es ist nichts Schlechtes in diesen Tränen, und wenn du auch gar kein Leid hast, du wirst die Tränen vor lauter Freude weinen. Die Tränen weinen sich selbst. Zuweilen ging ich zum See, an das Ufer: auf der einen Seite vom See stand unser Kloster und auf der anderen unser spitzer Berg, wir nannten ihn denn auch einfach den Spitzberg. Und so steige ich denn auf diesen Berg und wende mich mit dem Gesicht nach Osten und falle auf die Erde nieder und weine und weine, und weiß nicht, wie lange ich weine, und habe dann alles vergessen und ich weiß gar nichts mehr. Dann stehe ich auf und wende mich zurück, und die Sonne geht unter so groß, und es ist eine Pracht und Herrlichkeit – liebst du’s auch, so die Sonne zu sehen, Schatuschka? Schön ist es, aber traurig ... Und ich wende mich wieder zurück nach Osten, und der Schatten, der Schatten von unserem Berge läuft schmal und lang wie ein Zeiger über den See, eine Werst weit oder noch weiter – bis zur Insel im See, und teilt diese steinige Insel, wie sie da ist, gerade in zwei Hälften. Und wie er sie so teilt, da geht auch die Sonne ganz unter und alles erlischt plötzlich. Und dann kommt wieder die Sehnsucht so über mich, und plötzlich kommt auch die Erinnerung wieder, und ich fürchte die Dunkelheit, Schatuschka. Und immer mehr weine ich dann um mein kleines Kind ...“

„Hast du denn eines gehabt?“ fragte Schatoff, der ihr die ganze Zeit aufmerksam zugehört hatte, und stieß mich leicht mit dem Ellenbogen an.

„Wie denn nicht! Ein kleines, rosiges, mit so winzigen Fingerchen, und all mein Leid ist nur, daß ich nicht mehr weiß, ob es ein Knabe oder ein Mädchen war. Zuweilen erinnere ich mich dessen, daß es ein Knabe war, und zuweilen scheint es mir wieder, daß es ein Mädchen war. Als ich es damals gebar, da wickelte ich es gleich in Batist und Spitzen und band es mit rosa Bändchen zu und bettete es auf Blumen und sprach ein Gebet über ihm und trug das Ungetaufte und trage es durch den Wald und fürchte mich im Walde, denn ich habe Angst und weine, und am meisten weine ich darüber, daß ich geboren habe und doch den Mann nicht kenne.“

„Vielleicht kanntest du ihn doch?“ fragte Schatoff vorsichtig.

„Drollig bist du doch, Schatuschka, mit deiner Vernunft. Vielleicht, vielleicht hatte ich ihn auch ... aber was liegt daran, wenn es doch ebenso ist, als wenn ich ihn nicht gehabt hätte? Da hast du nun ein unschweres Rätsel, nun rat einmal!“ sagte sie lächelnd.

„Wohin hast du denn das Kind getragen?“

„In den Teich hab ich’s getragen,“ seufzte sie.

Schatoff berührte mich wieder mit dem Ellenbogen.

„Aber was dann, wenn du das Kind überhaupt nicht gehabt hast und alles bei dir nur Phantasie ist?“

„Eine schwere Frage gibst du mir auf, Schatuschka,“ sagte sie grübelnd und ohne jegliche Verwunderung über die Frage. „Ich kann dir aber hierauf gar nichts sagen, vielleicht habe ich auch keines gehabt. Mir scheint, daß du nur aus Neugier so fragst; aber ich werde deshalb nicht aufhören, um mein Kind zu weinen, ich habe es doch nicht im Traum gesehen?“ Große Tränen erglänzten in ihren Augen. „Schatuschka, Schatuschka, ist es wahr, daß deine Frau von dir fortgelaufen ist?“ fragte sie plötzlich, legte ihm beide Hände auf die Schultern und blickte ihn mitleidig an. „Aber du ärgere dich nicht, mir ist ja dabei auch weh. Weißt du, Schatuschka, was für einen Traum ich gehabt habe – er kommt wieder zu mir und lockt mich: ‚Kätzchen,‘ sagte er, ‚mein Kätzchen, komm her zu mir!‘ Sieh, über das ‚Kätzchen‘ freute ich mich am meisten: er liebt mich, dachte ich.“

„Vielleicht kommt er auch bald in Wirklichkeit,“ murmelte Schatoff halblaut.

„Nein, Schatuschka, das ist schon ein Traum ... er kann nicht in Wirklichkeit kommen. Kennst du das Lied:

Ich brauche nicht Dein neues, hohes Schloß!

Hier in dieser Zelle will ich bleiben,

Leben und beten,

Beten zu Gott – für dich ...

Ach, Schatuschka, mein Liebling, warum fragst du mich denn nie etwas?“

„Du wirst ja doch nichts sagen, darum frage ich auch lieber gar nicht.“

„Nein, nein, ich sage nichts und wenn du mich auch totschlügest!“ beteuerte sie schnell. „Verbrenne mich lebendig, ich sage nichts! Und wie es auch schmerzte, nichts werde ich sagen, nichts werden die Menschen erfahren!“

„Nun, siehst du, jeder hat das Seine,“ sagte Schatoff noch leiser, und senkte noch tiefer den Kopf.

„Aber wenn du mich bätest, vielleicht würde ich es dir dann doch sagen ... vielleicht würde ich es dir dann doch sagen!“ flüsterte sie wie verzückt. „Warum bittest du mich nicht? Bitt’ mich, bitt’ mich ordentlich, Schatuschka, vielleicht werde ich’s dir dann sagen. Flehe mich an, Schatuschka, bitte und beschwöre mich, damit ich dann selbst einwillige ... Schatuschka, Schatuschka!“

Aber Schatuschka schwieg. Eine Minute lang schwiegen wir alle. Langsam flossen die Tränen über ihre gepuderten Wangen. Die Hände hielt sie immer noch auf seinen Schultern, sie hatte sie vergessen aber sie sah ihn nicht mehr an.

„Eh, was geht das mich an, wäre auch Sünde,“ sagte Schatoff plötzlich und erhob sich von der Bank. „Stehen Sie auf!“ Er zog ärgerlich die Bank fort und schob sie auf ihren Platz zurück:

„Damit er nichts merkt, wenn er kommt. Wir müssen jetzt gehen.“

„Ach, du sprichst wieder von meinem Diener!“ lachte Marja Timofejewna auf. „Hast Angst! Nun, dann lebt wohl, meine lieben Gäste, aber hör, nur noch einen Augenblick, was ich dir sagen will! Neulich kam dieser Nilytsch her, mit Filippoff, dem Hauswirt, dem Rotkopf, weißt du, gerade als meiner auf mich losschlug. Wie ihn der Hauswirt da packt und durchs Zimmer schleift, schreit er: ‚Bin nicht schuld, bin nicht schuld, muß für fremde Schulden dulden!‘ Glaubst du wohl, wir haben alle so darüber gelacht ...“

„Aber das war doch ich,“ sagte Schatoff, „ich zog ihn doch gestern an den Haaren von dir fort. Der Hauswirt dagegen war vor drei Tagen nur hergekommen, um sich mit euch zu schimpfen, ... hast wohl wieder alles verwechselt?“

„Wart einmal, ja, ich habe es wirklich verwechselt, vielleicht warst du es. Aber wozu über solche Nebensachen streiten, ist es nicht einerlei, wer ihn fortriß?“ lachte sie.

„Gehen wir, schnell!“ Schatoff zog mich am Ärmel, „die Pforte knarrt: trifft er uns bei ihr, so wird er sie wieder schlagen.“

Kaum waren wir die Treppe hinaufgelaufen, als wir auch schon betrunkenes Geschimpfe hörten. Schatoff zog mich in sein Zimmer und verschloß die Tür.

„Sie werden einen Augenblick hier sitzen müssen, wenn Sie keine Geschichten mit ihm haben wollen. Hören Sie? Er quiekt wie ein Ferkel, ist wohl wieder über die Schwelle gestolpert – fast jedesmal fällt er lang hin.“

Aber ohne „Geschichten“ ging es einstweilen doch nicht ab.

VI.

Schatoff stand an der Tür und horchte hinaus. Plötzlich sprang er zurück.

„Er kommt herauf, das wußte ich ja!“ rief er wütend mir leise zu. „Jetzt haben wir ihn bis Mitternacht auf dem Halse!“

Ein paar starke Faustschläge an die Tür kündeten Lebädkin an.

„Schatoff! ... Schaa–toff, mach auf!“ brüllte der Betrunkene. „Schatoff, Freund ...“ Und plötzlich sang er los – die bekannte Romanze –:

„‚Kam zu dir mit einem Gruß,

Um zu künden, daß der Mo–o–orgenstrahl

Glühend ... be–ebend ... seinen ersten Kuß

Von den Wipfeln dieser Wä–e–elder stahl!

Laß dir künden vom Erwachen ...‘

Kchä – hm! zum Teufel!“ räusperte er sich –

„‚Vom Erwachen unter Zwei–e–eigen ...‘

Haha! klingt ja fast wie unter Ruten! Nein, lieber von was anderem! ...

‚Jeder Vogel – hat mal Durst!

Weißt du auch, was ich trinke?

Trinke, ja, trinke?

Weiß ich doch ... selber es nicht ...

Was ich ... was ich ...‘

Hm! ... Hol’ sie der Teufel, diese dumme Neugier! Schatoff, begreifst du auch, wie schön es auf Erden zu leben ist!“

„Antworten Sie nicht!“ flüsterte mir Schatoff zu.

„Hör’, mach doch auf! ... Begreifst du auch, daß es etwas Höheres gibt, als Raufereien unter ... der Menschheit? ... Es gibt, weißt du, es gibt Augenblicke im Leben eines edlen Menschen ... Schatoff, ich bin gut, ich verzeihe dir alles ... Nur, weißt du, mach doch auf! ... Schatoff, höre – zum Teufel mit den Proklamationen! – Wie?“

Schweigen.

„Begreifst du auch, Esel, daß ich verliebt bin! Ich habe mir einen Frack gekauft, sieh, einen Frack der Liebe für die Liebe, – fünfzehn Silberrubel! Eines Hauptmannes Liebe verlangt eben gesellschaftlichen Anstand ... Mach auf!“ brüllte er plötzlich wie ein wildes Tier und begann von neuem, in toller Wut mit den Fäusten an die Tür zu donnern.

„Scher’ dich zum Teufel!“ schrie nun auch Schatoff.

„S–s–s–kla–a–ve! Leibeigener Skla–ve, und deine Schwester ist auch eine Skla–a–vin ... eine Die–bin!“

„Und du hast deine Schwester verkauft!“

„Du lügst! Ich dulde aus Edelmut, während ich ... Mit einer einzigen Erklärung könnte ich ... Begreifst du auch, wer sie eigentlich ist?“

„Nun, wer denn?“ Schatoff trat neugierig an die Tür.

„Wirst du es aber auch begreifen?“

„Werd schon begreifen, wenn du es nur sagst – nun, wer ist sie denn?“

„Ich habe den Mut, es zu sagen! Ich habe immer den Mut, dem Publikum alles zu sagen!“

„Scheint doch nicht,“ neckte ihn Schatoff geflissentlich und nickte mir zu, jetzt nur gut aufzumerken.

„Was, du meinst, ich wa–age es nicht?“

„Natürlich wagst du es nicht.“

„Wie, ich wa–a–ge es nicht?“

„So sag’s doch, wenn du die herrschaftlichen Ruten nicht fürchtest ... Bist doch ein Feigling – und willst ein Hauptmann sein!“

„Ich ... ich ... sie ... sie ist ...“ stotterte Lebädkin.

„Nun?“ Schatoff legte das Ohr ans Schlüsselloch.

Ein Schweigen entstand und dauerte mindestens eine halbe Minute an.

„Du Sch–sch–u–uft!“ ertönte es endlich hinter der Tür, und der Hauptmann stolperte so schnell wie er nur konnte und keuchend wie ein Samowar die Treppe hinunter, wobei jede Stufe unter seinem Gewicht knarrte.

„Nein, er ist schlau, selbst in der Betrunkenheit wird er sich nicht verraten.“ Schatoff kam langsam von der Tür zurück.

„Aber was soll denn das alles bedeuten?“ fragte ich.

Schatoff winkte nur mit der Hand, ging wieder zur Tür, öffnete sie und begann nach unten zu lauschen. Lange horchte er, ging sogar ein paar Stufen hinab ... endlich kam er wieder zurück.

„Es ist nichts zu hören, hat sie also nicht geprügelt, wird wohl gleich eingeschlafen sein. Es ist Zeit, Sie müssen nach Hause gehen.“

„Hören Sie, Schatoff, was soll ich aus all dem schließen?“

„Eh, schließen Sie daraus, was Sie wollen!“ antwortete er mit müder und schlecht gelaunter Stimme und setzte sich an seinen Schreibtisch.

Ich ging. Ein unerhörter Gedanke bemächtigte sich meiner mehr und mehr. Mit Sorge dachte ich an den nächsten Tag.

VII.

Dieser nächste Tag – der Sonntag, an dem Stepan Trophimowitschs Schicksal sich unwiderruflich entscheiden sollte – war einer der merkwürdigsten Tage meiner Geschichte, war ein Tag der Überraschungen, an dem Altes seine Lösung fand und Neues sich knüpfte, ein Tag greller Erklärungen und – noch schlimmerer Verwirrung.

Wie ich schon erzählt habe, mußte ich meinen Freund am Morgen zu Warwara Petrowna begleiten, und um drei Uhr sollte ich dann bei Lisaweta Nicolajewna sein, um ihr zu erzählen ... ja, ich wußte selbst nicht, was! und ihr zu verhelfen – wozu? das wußte ich ebensowenig. Und nun fand plötzlich alles eine Lösung, die weder ich noch sonst jemand erwartet hatte ... Kurz, es war ein Tag seltsam zusammentreffender Zufälle.

Er begann damit, daß wir, Stepan Trophimowitsch und ich, als wir um elf bei Warwara Petrowna erschienen, sie nicht zu Hause antrafen: sie war noch nicht aus der Kirche zurückgekehrt. Mein armer Freund war aber dermaßen nervös oder innerlich erregt, daß schon dieser eine Umstand ihn sofort gleichsam vernichtete, und völlig erschöpft sank er im Empfangssalon auf einen Sessel. Ich bot ihm ein Glas Wasser an, doch trotz seines bleichen Gesichts und seiner zitternden Hände lehnte er es mit Würde ab. Übrigens möchte ich hier bemerken, daß er diesmal mit geradezu erlesener Eleganz gekleidet war: er trug die feinste Batistwäsche, die weiße Halsbinde war meisterhaft geschlungen, hielt in der einen Hand einen neuen Hut und strohfarbene Handschuhe, und zu all dem kam noch ein leiser, ganz leiser Parfümduft.

Kaum hatten wir uns gesetzt, als Schatoff, vom Diener geführt, eintrat. Warwara Petrowna hatte offenbar auch ihn um diese Zeit zu sich gebeten. Stepan Trophimowitsch erhob sich schon, um ihm die Hand zu reichen, doch Schatoff, der zunächst aufmerksam zu uns herübersah, wandte sich plötzlich zur Seite und setzte sich auf einen Stuhl an der Wand, ohne uns auch nur mit dem Kopf zuzunicken. Mein armer Freund sah mich wieder ganz erschrocken an.

So saßen wir noch eine ganze Weile in tiefstem Schweigen. Stepan Trophimowitsch begann zwar einmal mir irgend etwas zuzuflüstern, doch da er wahrscheinlich selbst nicht recht wußte, was er sagen wollte, so verstummte er bald wieder. Nach einiger Zeit kam der Diener noch einmal herein, um irgend etwas auf dem Tisch zu ordnen; oder richtiger – um nach uns zu sehen. Da wandte sich plötzlich Schatoff an ihn und fragte laut:

„Alexei Jegorytsch, ist Darja Pawlowna gleichfalls zur Kirche gefahren?“

„Nein, Warwara Petrowna geruhten allein zum Gottesdienst zu fahren, Darja Pawlowna aber sind zu Hause geblieben, sie fühlten sich nicht ganz wohl,“ meldete Alexei Jegorytsch mit Anstand.

Mein armer Freund warf mir hierauf wieder einen erregten Blick zu, so daß ich mich schon geärgert von ihm abwenden wollte. Da ertönte draußen das Rollen einer Equipage, die vorfuhr, und ein gewisses fernes Hinundher im Hause kündete uns an, daß die Herrin zurückgekehrt war. Wir standen auf. Schritte näherten sich. Aber was war das? Wir hörten Schritte von mehreren Personen. War denn Warwara Petrowna nicht allein zurückgekehrt? Das war doch etwas sonderbar, da sie selbst uns zu dieser Stunde und zu diesem besonderen Zweck zu sich gebeten hatte. Schließlich vernahmen wir seltsam schnelle Schritte, fast ein Eilen, so aber pflegte Warwara Petrowna sonst doch nicht zu gehen. Und plötzlich flog die Türe auf und tatsächlich – Warwara Petrowna erschien, atemlos und in ungewöhnlicher Erregung. Hinter ihr aber kam, langsamer, leiser, Lisaweta Nicolajewna, und die führte an der Hand – Marja Timofejewna Lebädkina! Hätte ich das im Traum gesehen, so hätte ich selbst dann meinen Augen nicht getraut.

Was war geschehen?

Nun muß ich um etwa eine Stunde zurückgreifen und erzählen, was sich inzwischen in der Kirche zugetragen hatte.

An eben diesem Sonntage war der Adel und die ganze Gesellschaft der Stadt fast vollzählig zum Morgengottesdienst erschienen. Man wußte, daß die neue Gouverneurin zum erstenmal nach ihrer Ankunft bei uns in die Kirche gehen werde. Es hatte sich schon herumgesprochen, daß sie eine Freidenkerin sei und die „neuesten Anschauungen“ teile. Und überdies wußten schon alle Damen, daß sie in einer prächtigen, sehr eleganten Toilette erscheinen werde, weshalb sich denn alle gleichfalls auf das sorgfältigste geputzt hatten. Nur Warwara Petrowna war wieder schlicht und ganz in Schwarz erschienen, genau so, wie sie sich in den letzten vier Jahren immer kleidete. Während des Gottesdienstes stand sie auf ihrem alten Platz, links, in der ersten Reihe, und vor ihr hatte ihr Diener in Livree ein Samtkissen hingelegt, kurz, alles war so, wie es immer gewesen war. Manche Leute wollten zwar bemerkt haben, daß Warwara Petrowna an diesem Morgen ganz besonders lange und inbrünstig gebetet habe; ja, später, als man sich alles wieder vergegenwärtigte, versicherte man sogar, sie habe Tränen in den Augen gehabt. Die Messe war schließlich zu Ende und unser Oberpriester, der Vater Pawel, trat aus der Sakristei, um eine feierliche Predigt zu halten. Seine Predigten wurden bei uns sehr geschätzt und man hatte ihm schon oft zugeredet, sie doch drucken zu lassen, wozu er sich aber nie entschließen konnte. An diesem Sonntage nun fiel die Predigt jedoch besonders lang aus.

Da kam, nachdem die Predigt schon begonnen hatte, noch eine Dame in einer leichten Mietdroschke angefahren, in einem von jenen altmodischen Vehikeln, auf denen Herren rittlings, Damen nur seitlich sitzen konnten, weshalb sie sich an dem Gürtel des Kutschers festhalten mußten, da sie bei jedem Stoß des Wagens wie ein Wiesengräschen im Winde schaukelten. Diese Droschken gibt es auch heute noch in unserer Stadt. Der Kutscher hielt an der Kirchenecke, da er wegen der vielen Equipagen und sogar Gendarmen vor dem Portal nicht weiterzufahren wagte. Die Dame sprang ab und gab dem Kutscher vier Kopeken.

„Was, ist es zu wenig, Wanjä?“[31] fragte sie erschrocken, als sie sah, daß der Kutscher ein Gesicht schnitt. „Das ist aber alles, was ich habe,“ fügte sie traurig hinzu.

„Nun, schon gut ... hab nicht an Verdienst gedacht ...“ Der Wanjka winkte mit der Hand und sah sie an, als dächte er: „Wäre ja auch Sünde, dich zu kränken ...“

Er steckte seinen Lederbeutel unter die Bluse und fuhr, begleitet vom Spott der anderen wartenden Kutscher, wieder davon. Spötteleien und Verwunderung begleiteten auch die Dame, so lange sie sich durch die Volksmenge und die wartenden Diener bis zur Kirchentür drängte. Aber es war auch wirklich etwas Ungewöhnliches und Überraschendes in dem Erscheinen einer solchen Person so plötzlich irgendwoher und am Sonntagmorgen mitten unter dem Volk.

Sie war krankhaft mager und hinkte; ihr Gesicht war stark gepudert und geschminkt und der lange Hals war unbedeckt. Sie hatte weder ein Tuch noch einen Umwurf, war nur in einem alten dunklen Kattunkleide, trotz des kühlen, windigen, wenn auch sonnigen Septembertages. Ihr Kopf war gleichfalls unbedeckt und in den kleinen Haarknoten im Nacken hatte sie an der rechten Seite eine Rose aus Seidenpapier gesteckt, eine von solchen, mit denen die Ostercherubim geschmückt werden. So einen Ostercherub in einem Kranz aus Papierrosen hatte ich gerade am Abend vorher unter den Heiligenbildern bemerkt, als ich bei Marja Timofejewna saß. Hinzu kam, daß die Dame, wenn auch mit niedergeschlagenen Augen, doch mit einem beinahe mehr als heiteren, fast verschmitzten Lächeln durch das Volk ging. Vielleicht hätte man sie, wenn sie noch einen Augenblick länger in der Menge geblieben wäre, überhaupt nicht in die Kirche eintreten lassen. So aber gelang es ihr noch, durch das Portal zu schlüpfen, und unauffällig schob sie sich dann weiter nach vorn.

Obgleich die Predigt noch nicht zu Ende war und die ganze Kirche andächtig zuhörte, wandten sich manche Augen doch interessiert und verwundert heimlich der Neueingetretenen zu. Diese kniete zunächst nieder, beugte ihr gepudertes Gesicht auf den Fußboden, und berührte ihn mit der Stirn; so kniete sie lange, und wie es schien, weinte sie; nachdem sie sich aber wieder aufgerichtet und von den Knien erhoben hatte, begann sie alsbald fast heiter und mit sichtlichem Vergnügen die Menschen und die Kirchenwände zu betrachten. Einzelne Damen schienen sie besonders zu interessieren, und sie stellte sich sogar auf die Fußspitzen, um besser sehen zu können, und zweimal kicherte sie dabei ganz eigentümlich. Doch schließlich erreichte auch die Predigt ihr Ende und man trug das Kreuz vor den Altar. Die Gouverneurin trat sofort vor, doch schon nach ein paar Schritten blieb sie stehen, um Warwara Petrowna den Vortritt zu geben, die gleichfalls gerade auf das Kreuz zuschritt und dabei tat, als sei ihr niemand im Wege. Die ungewöhnliche Bescheidenheit der Gouverneurin sollte natürlich ein feiner Stich für Warwara Petrowna sein – so faßten es wenigstens die Damen der Gesellschaft auf. Auch Warwara Petrowna hatte den Stich wohl verstanden, übersah ihn jedoch und küßte mit unerschütterlicher Vornehmheit das Kreuz, worauf sie dann sofort dem Ausgange der Kirche zuschritt. Ihr Diener in Livree bemühte sich ganz unnützerweise, einen Weg durch die Anwesenden zu bahnen, da alle schon von selbst höflich vor ihr zur Seite traten. Da geschah es aber, daß in der Vorhalle, wo das Volk dicht gedrängt stand, Warwara Petrowna dennoch einen Augenblick stehen bleiben und warten mußte. Und hier nun drängte sich plötzlich das sonderbare Geschöpf, mit der Papierrose im Haar, durch das Volk zu ihr hin – und fiel vor ihr auf die Kniee. Warwara Petrowna, die man nicht leicht erschrecken konnte, besonders nicht in der Öffentlichkeit, sah ruhig, streng und erhaben auf die Kniende herab.

Ich muß hier bemerken, daß Warwara Petrowna, wenn sie auch sparsamer, ja, wie manche behaupteten, sogar ein bißchen geizig geworden war, zu wohltätigen Zwecken doch immer noch viel Geld ausgab. Noch vor einem Jahr, als in einzelnen Gegenden unseres Gouvernements Hungersnot herrschte, hatte sie an das Hilfskomitee fünfhundert Rubel gesandt. Und schließlich hatte sie noch in der letzten Zeit, kurz vor der Ernennung des neuen Gouverneurs, bereits ein Damenkomitee zustandegebracht, das den ärmsten Wöchnerinnen in der Stadt und im Gouvernement Unterstützungen zukommen lassen sollte. Man warf ihr bei uns Ehrgeiz vor, doch ihr fester, durchsetziger Wille hatte die Hindernisse fast schon beseitigt, das Komitee war bereits so gut wie gegründet, und Warwara Petrowna dachte schon mit Begeisterung daran, ein ähnliches Komitee auch in Moskau zu gründen, und wie dieser Gedanke schließlich in jedem Gouvernement fruchtbar gemacht werden könnte. Da kam aber der Wechsel des Gouverneurs, und alles geriet ins Stocken; die neue Gouverneurin aber hatte, wie es hieß, schon Zeit gehabt, in der Gesellschaft einige spitze und schließlich nicht ganz unsachliche Bemerkungen über die Unzweckmäßigkeit des Grundgedankens solcher Komitees zu äußern. Diese Bemerkungen aber waren – selbstredend mit Ausschmückungen – Warwara Petrowna sofort hinterbracht worden. Zwar kann nur Gott allein wissen, was in der Tiefe eines Menschenherzens vorgeht, aber in diesem Fall glaube ich doch, annehmen zu dürfen, daß Warwara Petrowna in diesem Augenblick nicht ungern vor der Knienden stehen blieb, zumal sie ja wußte, daß sogleich die Gouverneurin und dann die ganze höhere Gesellschaft an ihr vorübergehen mußte. – „So mag sie jetzt doch sehen, wie gleichgültig mir das ist, was sie da über meinen Ehrgeiz in meinen Wohltätigkeitsplänen spöttelt. Was geht sie mich an!“

„Was haben Sie, meine Liebe, um was bitten Sie?“ fragte Warwara Petrowna und musterte aufmerksam die vor ihr kniende Bittstellerin.

Diese sah mit entsetzlich zaghaftem, verschämtem und fast andächtigem Blick zu ihr auf, und plötzlich lachte sie wieder mit jenem absonderlichen Kichern.

„Was hat sie? Wer ist sie?“ Warwara Petrowna sah mit befehlendem und fragendem Blick die Umstehenden an.

Alles schwieg.

„Sie sind wohl unglücklich? Sie brauchen eine Unterstützung?“

„Ich kam ... ich wollte ...“ stammelte die Kniende mit einer Stimme, die vor Aufregung versagte. „Ich bin nur gekommen, um Ihnen die Hand zu küssen“ ... und wieder kicherte sie. Und mit einem schmeichelnden Ausdruck im Gesicht, wie kleine Kinder ihn haben, wenn sie etwas erbitten möchten, wollte sie schon Warwara Petrownas Hand ergreifen, doch plötzlich, als hätte irgend etwas sie erschreckt, zog sie ihre Hände bang zurück.

„Nur deshalb sind Sie gekommen?“ Warwara Petrowna lächelte mitleidig, zog schnell ihr Perlmutterportemonnaie hervor, entnahm ihm einen Zehnrubelschein und gab ihn der Unbekannten.

Diese nahm ihn an. Warwara Petrowna war sichtlich sehr interessiert und hielt die Unbekannte offenbar nicht für eine gewöhnliche Bittstellerin.

„Sieh, volle zehn Rubel hat sie gegeben!“ flüsterte jemand in der Volksmenge.

„Ihre Hand, bitte,“ stammelte wieder die Kniende, die mit den Fingern der linken Hand den Schein nur an einem Eckchen krampfhaft festhielt, während der Windzug ihn bewegte.

Warwara Petrowna runzelte aus einem unbekannten Grunde ein wenig die Stirn, reichte jedoch mit ernster, strenger Miene ihre Hand hin: die Unglückliche küßte sie andächtig. Ihr dankbarer Blick leuchtete jetzt geradezu wie in Seligkeit auf.

Und gerade in diesem Augenblick kam die Gouverneurin, strömte die ganze Schar unserer Damen und höheren Würdenträger dem Ausgang zu. Die Gouverneurin mußte vor dem Gedränge am Portal stehen bleiben und ein wenig warten, und die anderen folgten ihrem Beispiel.

„Sie zittern ja, Sie haben wohl kalt?“ fragte plötzlich Warwara Petrowna, warf sofort ihren Mantel ab, den der Diener auffing, und zog von ihren Schultern einen schwarzen (keineswegs billigen) Schal, den sie eigenhändig um den entblößten Hals der immer noch vor ihr Knienden schlang.

„Aber so stehen Sie doch auf, stehen Sie auf, ich bitte Sie!“

Diese erhob sich.

„Wo wohnen Sie? Weiß denn hier wirklich niemand, wo sie wohnt?“ wandte sich Warwara Petrowna wieder ungeduldig an die Umstehenden.

„Ich glaube, das ist die Lebädkin,“ meinte schließlich jemand – es war das unser ehrenwerter Kaufmann Andrejeff: ein Mann mit langem Bart, einer in Silber gefaßten Brille und in russischer Tracht. Seinen runden Filzhut hielt er jetzt in der Hand. „Die wohnen bei Filippoff in der Bogojawlenskstraße,“ fügte er hinzu.

„Lebädkin? Bei Filippoff? Ich habe den Namen gehört ... Ich danke Ihnen, Nikon Semjonytsch, aber wer ist dieser Lebädkin?“

„Nennt sich ‚Hauptmann‘ ... ein Mensch, der sozusagen ... keinen Halt hat. Die hier ist wohl seine Schwester. Sie muß aber, denke ich, seiner Aufsicht entlaufen sein,“ bemerkte er leiser und blickte dabei Warwara Petrowna bedeutsam an.

„Ich verstehe schon, danke, Nikon Semjonytsch. Meine Liebe, Sie sind Fräulein Lebädkin?“

„Nein, ich heiße nicht Lebädkin.“

„Aber vielleicht heißt Ihr Bruder Lebädkin?“

„Mein Bruder heißt Lebädkin.“

„Also, hören Sie, meine Liebe, ich werde Sie jetzt zu mir bringen und von mir aus wird man Sie dann zu Ihnen nach Hause fahren. Wollen Sie mit mir kommen?“

„Ach ja, ach ja, ich will, ich will!“ und Fräulein Lebädkin klatschte in die Hände vor Vergnügen.

„Tante, Tante! Nehmen Sie auch mich mit!“ ertönte plötzlich Lisaweta Nicolajewnas Stimme.

Lisa war an diesem Sonntage mit der Gouverneurin, ihrer Verwandten, zum Gottesdienst erschienen, während Praskowja Iwanowna auf den Rat des Arztes hin eine Spazierfahrt unternommen und Mawrikij Nicolajewitsch gebeten hatte, sie zu begleiten. Lisa, die mit der Gouverneurin die Kirche verlassen wollte, ließ nun plötzlich ihre Verwandte einfach stehen und drängte sich ungestüm zu Warwara Petrowna.

„Liebling, du weißt doch, daß ich dich immer gern bei mir sehe, aber was wird deine Mutter dazu sagen?“ begann Warwara Petrowna würdevoll, doch plötzlich gewahrte sie Lisas ungewöhnliche Aufregung und wurde unsicher.

„Tante, Tante, ich muß jetzt unbedingt mit Ihnen fahren!“ flehte Lisa und küßte Warwara Petrowna ungestüm.

Mais qu’avez-vous donc, Lise?[87] fragte die Gouverneurin mit ausdrucksvoller Verwunderung.

„Ach, verzeihen Sie, Liebste, chère cousine![88] Ich fahre zu Tante!“ Lisa hatte sich schon im Fluge zu ihrer unangenehm berührten chère cousine herumgewandt und küßte sie schnell zweimal. „Bitte, sagen Sie maman, daß sie gleich zu Tante kommen soll, um mich abzuholen. Maman wollte heute unbedingt zu Tante fahren, sie hat es gestern selbst gesagt, ich vergaß nur, Ihnen das vorhin schon zu sagen!“ beteuerte Lisa, zitternd vor Aufregung. „Verzeihen Sie mir, Julie, seien Sie mir nicht böse ... chère cousine! ... Tante, ich bin bereit!“

„Tante,“ flüsterte sie dieser zu, „wenn Sie mich jetzt nicht mitnehmen, laufe ich zu Fuß Ihrer Equipage nach!“

Zum Glück hörte das niemand. Warwara Petrowna trat vor Schreck sogar einen Schritt zurück und sah entsetzt das anscheinend wahnsinnige Mädchen an. Dieser Blick entschied: sie beschloß, Lisa auf jeden Fall mitzunehmen.

„Dem muß ein Ende gemacht werden!“ entfuhr es ihr unwillkürlich. „Ich nehme dich mit Vergnügen mit, Lisa,“ fügte sie laut hinzu, „aber natürlich nur, wenn Julija Michailowna damit einverstanden ist,“ wandte sich Warwara Petrowna mit offenem Blick und freundlicher Würde unmittelbar an die Gouverneurin.

„Oh, gewiß! Ich werde sie doch nicht um dieses Vergnügen bringen wollen,“ zwitscherte mit erstaunlicher Liebenswürdigkeit die Gouverneurin Julija Michailowna, „zumal ich ja schon weiß, was für ein phantastisches, eigenwilliges Köpfchen auf diesem Hälschen sitzt!“ – und sie lächelte geradezu bezaubernd.

„Ich danke Ihnen aufrichtig,“ dankte Warwara Petrowna mit sehr höflichem Gruß, aber wie immer noch voll Würde.

„Und es ist mir um so angenehmer, diesen Wunsch Lisas zu erfüllen,“ fuhr Julija Michailowna in ihrer plappernden Redeweise fort und errötete sogar vor angenehmer Erregung, „als Lisa jetzt nicht nur das Vergnügen haben wird, zu Ihnen zu fahren, sondern mit diesem Vergnügen noch einer so schönen Regung nachgeben kann, wie es das Mitgefühl mit dieser ...“ (sie blickte bezeichnend auf die „Unglückliche“) „... wie es die Barmherzigkeit ist ... und ... und das noch gewissermaßen an der Schwelle der Kirche ...“

„Eine solche Auffassung macht Ihnen unbedingt Ehre,“ äußerte Warwara Petrowna in bewundernder Weise ihren Beifall.

Und Julija Michailowna streckte sofort mit liebenswürdigem Eifer die Hand aus und Warwara Petrowna drückte sie mit aufrichtiger Bereitwilligkeit. Der allgemeine Eindruck war vorzüglich. Die Gesichter der Anwesenden erstrahlten vor Vergnügen und viele lächelten süß und wohlgefällig.

Kurz, die ganze Stadt sah plötzlich ein, daß nicht die Gouverneurin aus angeblicher Mißachtung Warwara Petrowna bisher noch nicht ihren Besuch gemacht hatte, sondern daß, im Gegenteil, Warwara Petrowna es war, die zu Julija Michailowna „Distance wahrte,“ während diese, wie man jetzt meinte, wohl schon zu Fuß zu Warwara Petrowna geeilt wäre, wenn sie nur gewußt hätte, ob sie überhaupt empfangen werden würde. Und so stieg denn Warwara Petrownas Ansehen plötzlich wieder aufs höchste.

„Steigen Sie ein, meine Liebe,“ sagte Warwara Petrowna zu der Lebädkin und wies auf die vorgefahrene Equipage.

Und die Unglückliche eilte fröhlich zum Wagenschlag, wo der Diener schon bereitstand und sie hineinhob.

„Wie! Sie hinken!“ rief plötzlich Warwara Petrowna entsetzt und erbleichte. (Alle haben es damals bemerkt, jedoch nicht verstanden, warum.) ...

Die Equipage rollte davon. Warwara Petrownas Stadthaus lag ganz in der Nähe der Kirche. Lisa erzählte mir später, die Lebädkin habe während der ganzen drei Minuten der Fahrt hysterisch gelacht, Warwara Petrowna aber habe dagesessen „wie in einem hypnotischen Schlaf“ – das waren Lisas Worte.

Fünftes Kapitel.
Die „allwissende Schlange“

I.

Warwara Petrowna klingelte sofort nach einem Diener und warf sich dann in der Nähe des Fensters erschöpft in einen Sessel.

„Setzen Sie sich dorthin, meine Liebe,“ wies sie Marja Timofejewna an dem großen runden Tisch, der in der Mitte des Salons stand, einen Platz an. Darauf wandte sie sich zu uns: „Stepan Trophimowitsch, wer ist das? Sehen Sie sie an, wer ... was ist sie?“

„Ich ... ich ...“ stammelte Stepan Trophimowitsch.

In diesem Augenblick trat der Diener ein.

„So schnell wie möglich ein Tasse Kaffee! Und die Equipage soll warten!“

Mais chère et excellente amie ... dans quelle inquiétude![89] ...“ rief Stepan Trophimowitsch unsicher aus.

„Ach, französisch, französisch!“ Marja Timofejewna klatschte in die Hände vor Vergnügen. „Gleich merkt man, daß man in vornehmer Gesellschaft ist!“ Und sie schickte sich mit Entzücken an, dem französischen Gespräche zuzuhören.

Warwara Petrownas Augen ruhten auf ihr mit Befremden, ja, mit Entsetzen.

Wir schwiegen alle und warteten ungewiß auf irgendeine Lösung oder Erklärung. Schatoff erhob kein einziges Mal seinen gesenkten Kopf und Stepan Trophimowitsch schaute so erschrocken drein, als trüge er die Schuld an allem. Ich selbst blickte auf Lisa, die fast neben Schatoff saß. Lisa wiederum sah gespannt bald auf Warwara Petrowna, bald auf die Lahme: um ihre Lippen zuckte ein Lächeln, kein gutes Lächeln, – und Warwara Petrowna bemerkte es wohl. Währenddessen ließ Marja Timofejewna es sich gut gefallen: sie betrachtete entzückt und ohne jede Befangenheit die Möbel, die Teppiche, die Bilder an den Wänden, die alte gemalte Decke, die große Bronzestatue in der Ecke, die Porzellanlampe, die Albums und die Nippsachen auf dem Tisch.

„Ach, auch du bist hier, Schatuschka!“ rief sie plötzlich, lustig lachend, aus. „Denk nur, ich seh’ dich schon lange und sag’ mir: das kann er doch nicht sein! Wie soll der wohl hierher kommen?“

„Sie kennen diese Dame?“ fragte Warwara Petrowna sofort, sich zu Schatoff wendend.

„Ja,“ sagte Schatoff leise und brummig wie immer – rückte dabei auf seinem Stuhle einmal hin und her, blieb aber sitzen.

„Was wissen Sie denn von ihr? Etwas schneller, wenn ich bitten darf!“

„Ja, was denn ...“ er stockte und lächelte unnötigerweise. „Sie sehen doch selbst ...“

„Was sehe ich? Aber so reden Sie doch!“

„Sie wohnt in demselben Hause, in dem ich wohne ... mit ihrem Bruder ... einem Offizier.“

„Nun, und?“

Schatoff stockte wieder. „Wozu davon sprechen,“ knurrte er schließlich und verstummte endgültig – und wurde sogar rot.

„Natürlich, von Ihnen kann man ja auch nicht mehr erwarten!“ Warwara Petrowna wandte sich unwillig von ihm ab. Sie begriff, daß hier alle etwas Bestimmtes wußten und nur deshalb nicht auf ihre Fragen antworteten, weil sie es ihr verheimlichen wollten.

Der Diener trat wieder ein, mit der bestellten Tasse Kaffee auf silbernem Teebrett, und präsentierte sie auf Warwara Petrownas Wink Marja Timofejewna.

„Meine Liebe, Sie werden kalt gehabt haben! Trinken Sie etwas Heißes, das wird Sie erwärmen.“

Merci.“ Marja Timofejewna nahm die Tasse – platzte aber plötzlich laut darüber aus, daß sie dem Diener „merci“ gesagt hatte. Da sie jedoch gleichzeitig einen wütenden Blick Warwara Petrownas auffing, erschrak sie und stellte schnell die Tasse auf den Tisch.

„Tante,“ fragte sie darauf mit einem leichtsinnigen Ausdruck von Koketterie, „Tante, sind Sie mir vielleicht böse?“

„Wa–as?“ Warwara Petrowna richtete sich kerzengrade in ihrem Sessel auf. „Was für eine Tante –? Wie meinten Sie das?“

Marja Timofejewna hatte offenbar einen solchen Zorn nicht erwartet: ein Zittern erschütterte sie förmlich und sie drückte sich angstvoll an die Stuhllehne. „Ich ... ich dachte ..., daß man so – muß,“ flüsterte sie, den Blick starr auf Warwara Petrowna gerichtet. „Lisa hat Sie auch so genannt.“

„Was für eine Lisa?“

„Da, dort, dieses Fräulein!“ sagte Marja Timofejewna und wies mit dem Zeigefinger auf Lisaweta Nicolajewna.

„So ist die für Sie schon zur Lisa geworden?“

„Sie haben sie doch vorhin selbst so genannt.“ Marja Timofejewna faßte Mut. „Und im Traume habe ich genau solch eine Schönheit gesehen,“ und sie lachte gleichsam unwillkürlich.

Warwara Petrowna dachte einen Augenblick nach und wurde ersichtlich ruhiger: ja, sie lächelte sogar über Marja Timofejewnas letzte Bemerkung. Als diese aber das Lächeln bemerkte, stand sie auf und trat mit schüchternem Ausdruck hinkend auf sie zu.

„Bitte, nehmen Sie, ich vergaß ganz, das Tuch Ihnen zurückzugeben, seien Sie mir nicht böse –“ und sie nahm den Schal, den ihr Warwara Petrowna in der Kirche umgelegt hatte, von den Schultern.

„Nehmen Sie ihn sofort wieder um und behalten Sie ihn ganz. Setzen Sie sich! Trinken Sie Ihren Kaffee, und fürchten Sie sich bitte nicht vor mir, meine Liebe! Ich fange schon an, Sie zu verstehen.“

Chère amie ...“ erlaubte sich Stepan Trophimowitsch wieder anzufangen ...

„Ach, Stepan Trophimowitsch, hier verliert man auch ohne Sie schon den Verstand! Verschonen Sie mich wenigstens ... Ziehen Sie bitte an der Klingel fürs Mädchenzimmer, dort!“

Neues Schweigen entstand. Warwara Petrownas Blick glitt mißtrauisch über die Gesichter der Anwesenden. Da erschien Agascha, ihre bevorzugte Kammerzofe.

„Mein kariertes Tuch. Das ausländische. Was macht Darja Pawlowna?“

„Sie fühlen sich nicht ganz wohl.“

„Geh’, und sag’ ihr, ich lasse sie herbitten. Sage ihr, ich ließe sie sehr darum bitten. Auch wenn sie krank ist.“

In diesem Augenblick ertönte aus dem Vorzimmer Geräusch von Schritten und Stimmen und plötzlich erschien in der Tür rot und atemlos Praskowja Iwanowna, von Mawrikij Nicolajewitsch fürsorglich gestützt.

„Ach Gott, endlich da! Lisa, du Wahnsinnige! Was tust du deiner Mutter an!“ rief sie mit ihrer kreischenden Stimme, in die sie nach Art aller reizbaren Menschen ihren ganzen Ärger legte, schon von der Tür aus ins Zimmer.

„Warwara Petrowna, meine Liebe, ich bin nur deshalb zu Ihnen gekommen, um meine Tochter abzuholen!“

Warwara Petrowna sah sie unmutig an, erhob sich aber, um sie zu begrüßen, und sagte mit kaum verhehltem Verdruß: „Guten Tag, Praskowja Iwanowna. Setze dich, bitte. Ich wußte ja, daß du kommen würdest.“

II.

Für Praskowja Iwanowna konnte in einem solchen Empfang nichts Unerwartetes liegen. Warwara Petrowna hatte sie von Kindheit an unter dem Anschein der Freundschaft von oben herab, ja, in der Pensionszeit sogar mit Verachtung behandelt. In den letzten Tagen hatte sich ihr Verhältnis jedoch noch in einer ganz neuen und bedenklichen Weise zugespitzt. Die Gründe des drohenden Bruches waren Warwara Petrowna noch völlig unklar und daher um so beleidigender für sie. Vor allem mußte es sie kränken, daß Praskowja Iwanowna ihr gegenüber mit einem Male einen so unglaublich hochmütigen Ton anschlug. Hinzu kamen die sonderbaren Gerüchte, die ihr zu Ohren gedrungen waren, und die sie nun, eben infolge ihrer Unklarheit und Unbestimmtheit, so aufregten. Warwara Petrownas ganzes Wesen war gerade, offen und stolz, nichts haßte sie daher mehr, als versteckte Anschuldigungen. Jeglichem Ränkespiel hätte sie stets einen ehrlichen Krieg vorgezogen. Doch wie dem auch war, jedenfalls hatten sich die beiden Damen jetzt schon seit fünf Tagen nicht mehr gesehen. Warwara Petrowna war die letzte gewesen, die der anderen einen Besuch gemacht hatte – einen Besuch, von dem sie gekränkt und geärgert zurückgekehrt war. Ich glaube mich nicht zu täuschen, wenn ich sage, daß Praskowja Iwanowna mit der naiven Überzeugung eintrat, Warwara Petrowna müsse und werde aus irgendeinem Grunde vor ihr Angst bekommen. Andererseits richtete sich in Warwara Petrowna sofort ihr ganzer Stolz auf, als sie an dem Gesichte Praskowja Iwanownas wahrnahm, daß diese sie als irgendwie unterlegen behandeln wollte. Praskowja Iwanowna wiederum war, wie so viele unbedeutende Menschen, die sich sonst im allgemeinen ruhig tyrannisieren lassen, eines jähen und frechen Angriffes fähig, mit dem sie dann plump bei irgendeiner Gelegenheit herausplatzte. Zudem war sie noch krank und daher doppelt reizbar.

Daß noch andere zugegen waren, konnte in diesem Falle den Ausbruch eines Streites zwischen den beiden Jugendfreundinnen nicht verhindern: denn Stepan Trophimowitsch, Schatoff und ich galten einfach als Hausfreunde, auf deren Gegenwart man weiter nicht Rücksicht zu nehmen brauchte. Stepan Trophimowitsch hatte übrigens seit dem Eintritt seiner chère amie noch immer gestanden: jetzt, als auch noch Praskowja Iwanowna auf der Türschwelle kreischend erschien, sank er ganz erschöpft in einen Sessel und warf mir nur noch einen verzweifelten Blick zu. Schatoff dagegen drehte sich brüsk und brummend auf seinem Stuhle um: und es schien beinahe, als wolle er aufstehen und fortgehen. Lisa hatte sich zuerst halb erhoben, aber sich gleich wieder gesetzt; sie schenkte der Gegenwart ihrer Mutter überhaupt keine Beachtung, doch tat sie das nicht aus „Widerspenstigkeit“ oder „Trotz“, sondern weil sie augenscheinlich ganz unter der Macht ihrer eigenen Gedanken stand – sie starrte zerstreut in die Luft und hatte sogar für Marja Timofejewna nicht mehr die frühere Aufmerksamkeit übrig.

III.

„Ach, hierher!“ Praskowja Iwanowna zeigte auf den Lehnstuhl am Tisch, und ließ sich mit Mawrikij Nicolajewitschs Hilfe schwer auf ihn nieder. „Würde mich sonst nicht bei Ihnen hinsetzen, meine Liebe, wenn es nicht die Füße wären –“

Warwara Petrowna erhob ein wenig den Kopf, und legte die Hand an die rechte Schläfe, in der sie augenscheinlich einen stechenden Schmerz empfand – „le tic douloureux“,[90] wie ihn Stepan Trophimowitsch nannte.

„Warum denn nicht, Praskowja Iwanowna? Warum solltest du dich bei mir nicht setzen? Dein Mann war mir sein Lebelang freundschaftlich zugetan. Und mit dir habe ich noch als Kind in der Pension Puppen gespielt.“

Praskowja Iwanowna winkte nur mit der Hand ab: „Ich konnte es mir ja schon denken, daß Sie wieder von der Pension anfangen würden! Das tun Sie ja stets, wenn Sie Vorwürfe machen wollen.“

„Es scheint, daß du schon in schlechter Laune hergekommen bist. Wie geht es mit deinen Füßen? Da wird dir Kaffee gebracht! Nimm bitte ein Täßchen, trink und ärgere dich nicht.“

„Meine Liebe, Sie gehen ja mit mir um, als ob ich ein kleines Mädchen wäre! Ich will keinen Kaffee, danke!“ und sie winkte eigensinnig dem Diener ab, der mit dem Tablett zu ihr getreten war. Für Kaffee dankten übrigens auch die anderen, außer Mawrikij Nicolajewitsch und mir. Stepan Trophimowitsch nahm zwar ein Täßchen, stellte es aber gleich wieder auf den Tisch. Marja Timofejewna hätte ersichtlich allzu gern auch eines, ihr zweites, genommen. Sie streckte schon die Hand aus, bedachte sich aber noch im letzten Augenblick und dankte – worauf sie sich, offenbar sehr zufrieden mit sich selbst, wieder zurücklehnte.

Warwara Petrowna lächelte verzogen.

„Weißt du, meine Liebe, du hast dir wohl wieder einmal etwas eingebildet. Wäre nichts Neues! Du hast ja von jeher nur von Einbildungen gelebt. Wenn ich von der Pension anfange, so ärgerst du dich. Aber weißt du noch, wie du ankamst? Wie du der ganzen Klasse erzähltest, der Husarenleutnant Schablykin hätte um dich angehalten, und wie Madame Lefebure dich sofort der Lüge zieh? Dabei hattest du ja gar nicht gelogen. Du hattest dir die ganze Geschichte eben einfach eingebildet. Und so war’s immer und so wird’s wohl auch jetzt wieder sein. Also erzähle nur, womit du diesmal hergekommen bist, was du dir jetzt wieder einbildest?“

„Dabei hat sie sich in der Pension in den Popen verliebt – hahaha!“ rief Praskowja Iwanowna mit gehässigem Lachen, das bald in Husten überging.

„Ah! das hast du also nicht vergessen?“ Warwara Petrowna sah sie durchdringend an und ihr Gesicht wurde farblos vor Ärger.

Praskowja Iwanowna wurde plötzlich ernst. Dann aber fuhr es aus ihr heraus: „Warum ... warum haben Sie meine Tochter in Gegenwart der ganzen Stadt in Ihren Skandal verwickelt?“

„In meinen Skandal?“ Warwara Petrowna richtete sich drohend auf.

„Mama, ich möchte Sie doch sehr bitten, sich etwas zu mäßigen,“ sagte Lisaweta Nicolajewna plötzlich zu ihr.

„Wie! Was ... was sagtest du da?“ Aber gleich darauf schwieg sie vor dem aufblitzenden Blick ihrer Tochter.

„Was reden Sie von einem Skandal, Mama? Ich bin freiwillig hierhergekommen, mit Julija Michailownas Erlaubnis, weil ich die Geschichte dieser Unglücklichen da erfahren wollte, um ihr helfen zu können.“

„Geschichte dieser Unglücklichen?“ wiederholte Praskowja Iwanowna langsam, mit bösem Lachen. „Was mischst du dich in solche Geschichten? Ach, meine Liebe, wir haben jetzt genug von Ihrer Herrschsucht!“ fuhr sie darauf wieder Warwara Petrowna an. „Bisher haben Sie die ganze Stadt kritisiert, jetzt aber kommt die Reihe auch einmal an uns!“

Warwara Petrowna saß in einer Haltung da, als wolle sie sich sofort auf Praskowja Iwanowna stürzen; dabei war aber ihr Blick kalt und unbeweglich auf die Gegnerin geheftet.

„Sei froh, meine Liebe,“ sagte sie mit eisiger Ruhe, „daß wir hier unter uns sind. Du hast viel Überflüssiges gesagt.“

„Ich, meine Liebe, ich fürchte die öffentliche Meinung nicht so sehr, wie gewisse andere Leute. Die Furcht haben Sie vielmehr! Und daß wir hier ‚unter uns‘ sind – nun, um so besser für Sie, wenn wir hier nicht unter Fremden sind!“

„Du bist wohl etwas klüger geworden? In der letzten Woche?“

„O nein, ich bin nicht klüger geworden in der letzten Woche, aber die Wahrheit ist ans Licht gekommen in der letzten Woche.“

„Was für eine Wahrheit ist ans Licht gekommen? In der letzten Woche? Was soll das heißen? Was willst du damit sagen?“

„Da, da ... da sitzt sie ja, die ganze Wahrheit!“ Und Praskowja Iwanowna wies plötzlich auf Marja Timofejewna mit jener verzweifelten Entschlossenheit, die nicht mehr an die Folgen denkt, sondern nur im Augenblick treffen will.

Marja Timofejewna, die inzwischen mit einer fröhlichen Neugierde die alte Dame betrachtet hatte, lachte lustig auf, als sie jetzt deren Finger auf sich gerichtet sah, und bewegte sich vergnügt auf ihrem Sessel.

„Herr Jesus Christus, sind denn heute alle von Sinnen!“ murmelte Warwara Petrowna und lehnte sich zurück.

Und plötzlich wurde sie so blaß, daß wir alle erschrocken auf sie zutraten. Stepan Trophimowitsch war als erster bei ihr. Ich folgte ihm. Auch Lisa stand auf. Am erschrockensten war aber Praskowja Iwanowna selbst: sie stieß einen kurzen Schrei aus, erhob sich, so weit sie es konnte, und rief bittend mit weinerlicher Stimme:

„Meine Liebe, verzeihen Sie, das war ja nur so gesagt! – Aber so geben Sie ihr doch wenigstens Wasser!“

„Bitte, rege dich nicht auf. Und Sie, meine Herren, bitte, setzen Sie sich wieder.“ Warwara Petrowna suchte sich zu fassen.

„Meine Liebe,“ begann Praskowja Iwanowna von neuem, nachdem sie sich ein bißchen beruhigt hatte, „es war ja töricht, es war ja häßlich von mir ... Aber man hat mich mit all diesen anonymen Briefen, die mir weiß der Himmel was für Leute zuschicken, dermaßen gereizt ... wenn sie sie doch wenigstens Ihnen zuschicken würden, da sie doch von Ihnen handeln ... aber ich, meine Liebe, ich habe eine Tochter!“

Warwara Petrowna, die inzwischen wieder vollständig Herrin ihrer selbst geworden war, hatte ihr erstaunt zugehört und sah sie noch stumm mit großen Augen an, als sich eine Seitentür öffnete und Darja Pawlowna eintrat. Sie blieb stehen und sah sich um – wahrscheinlich ohne zunächst Marja Timofejewna zu erblicken, von deren Anwesenheit man ihr nichts gesagt hatte. Unsere Aufregung schien sie zu erschrecken. Stepan Trophimowitsch hatte sie zuerst bemerkt, er machte eine schnelle Bewegung, errötete und sagte plötzlich laut: „Darja Pawlowna!“ – so daß aller Augen sich der Eintretenden zuwandten.

„Das also ist eure Darja Pawlowna!“ rief Marja Timofejewna. „Ach, Schatuschka, deine Schwester gleicht dir aber gar nicht! Wie kann nur meiner solch ein schönes Wesen die Leibeigene Daschka nennen!“

Darja Pawlowna war schon an Marja Timofejewna vorübergegangen und auf Warwara Petrowna zugeschritten, als der Ausruf sie traf. Sie kehrte sich jäh um und blieb wie versteinert stehen, mit langem, entsetztem Blick auf die Lahme starrend.

„Setze dich, Dascha,“ sagte Warwara Petrowna mit unheimlicher Ruhe. „Auch sitzend wirst du sie sehen können. Kennst du sie?“

„Ich habe sie nie gesehen,“ antwortete Dascha leise, nach kurzem Schweigen. Und dann fügte sie schneller hinzu: „Ich glaube, es ist die kranke Schwester eines Herrn Lebädkin.“

„Und auch ich sehe Sie zum ersten Male, aber ich wollte Sie schon lange kennen lernen, denn in jeder Ihrer Bewegungen sehe ich die gute Erziehung!“ rief Marja Timofejewna entzückt. „Und was da mein Diener schimpft, – oh, wie wäre es wohl möglich, daß Sie Geld entwendet hätten!? Sie, die Sie so wohlerzogen und lieb sind? Denn Sie sind lieb und lieb und lieb! Das sage ich Ihnen von mir aus!“ schloß sie ganz begeistert und mit einer heftigen Handbewegung.

„Verstehst du etwas davon?“ fragte Warwara Petrowna Darja Pawlowna mit stolzer Würde.

„Ich verstehe ...“

„Das von dem Gelde hast du auch gehört?“

„Damit meint sie gewiß jenes Geld, das ich, auf Nicolai Wszewolodowitschs Bitte in der Schweiz einem gewissen Herrn Lebädkin, ihrem Bruder jedenfalls, zu übergeben übernahm.“

Ein Schweigen entstand.

„Hat Nicolai Wszewolodowitsch dich selbst darum gebeten?“

„Ja, ihm lag sehr viel daran, dieses Geld zu übersenden – es waren dreihundert Rubel. Da er aber Herrn Lebädkins Adresse nicht kannte und nur wußte, daß er hierher ziehen werde, so bat er mich, ich möge ihm das Geld bei seiner Ankunft zustellen.“

„Und was für ein Geld ist da ... abhanden gekommen? Sie sagte soeben –“

„Das weiß ich nicht. Ich habe auch schon gehört, daß Herr Lebädkin von mir gesagt haben soll, ich hätte ihm nicht das ganze Geld übersandt, aber das verstehe ich nicht. Es waren genau dreihundert Rubel und genau dreihundert Rubel habe ich eingezahlt.“

Darja Pawlowna hatte sich wieder beruhigt. Es war überhaupt schwer, dieses Mädchen irgendwie aus der Fassung zu bringen – mochte sie innerlich noch so stark bewegt sein. Jetzt antwortete sie auf jede Frage leise, aber ruhig und bestimmt und ohne die geringste Verwirrung, die doch das Bewußtsein von einer, wenn auch noch so kleinen Schuld immer hervorruft.

Warwara Petrowna ließ während der ganzen Zeit, in der Darja Pawlowna sprach, auch nicht ein einziges Mal den Blick von ihr.

„Wenn Nicolai Wszewolodowitsch sich in dieser Angelegenheit nicht einmal an mich, seine Mutter, gewandt hat,“ sagte sie ernst und offenbar sich an alle Anwesenden wendend, obwohl sie dabei Darja Pawlowna allein ansah – „wenn er vielmehr dich um diese Gefälligkeit gebeten hat, so wird er auch bestimmt seine Gründe dazu gehabt haben. Ich halte mich also gar nicht für berechtigt, weiter nach ihnen zu forschen. Und schon, daß du dabei beteiligt bist, das beruhigt mich vollkommen. Das sollst du vor allem einmal wissen, Dascha. Aber sieh, meine Liebe, du hast vielleicht doch eine Unvorsichtigkeit begangen. Mit reinem Gewissen. Einfach aus Lebensunkenntnis. Ich meine: allein schon, daß du mit diesem Menschen in Berührung gekommen bist. Und was er jetzt über dich herumerzählt, bestätigt es ja. Doch ich bin nicht umsonst deine Beschützerin. Ich werde dich schon zu verteidigen wissen. – Aber jetzt muß man alledem ein Ende machen ...“

„Am besten ist,“ fiel Marja Timofejewna ihr ins Wort, „Sie schicken ihn, wenn er selbst zu Ihnen kommt, einfach in die Dienerstube, dort kann er dann Karten spielen und wir können hier sitzen und Kaffee trinken. Ein Täßchen kann man ja auch ihm schicken, aber sonst verachte ich ihn tief!“ und sie nickte ausdrucksvoll mit dem Kopf.

„Dem muß man ein Ende machen,“ wiederholte Warwara Petrowna, nachdem sie ihr aufmerksam zugehört hatte. „Stepan Trophimowitsch, bitte klingeln Sie.“

Stepan Trophimowitsch klingelte, trat aber plötzlich erregt vor.

„Wenn ... wenn ich ... wenn ich auch die widerlichste Novelle, oder besser – schändlichste Verleumdung gehört habe ... mit dem allergrößten Unwillen ... enfin, c’est un homme perdu et quelque chose comme un forçat évadé.“[91]

Er brach ab. Warwara Petrowna maß ihn mit zugekniffenen Augen vom Kopf bis zu den Füßen. Doch schon gleich darauf trat ihr würdevoller Diener, Alexei Jegorowitsch, ein.

„Die Equipage!“ befahl Warwara Petrowna. „Du wirst Fräulein Lebädkina nach Hause begleiten.“

„Herr Lebädkin wartet unten bereits seit einiger Zeit auf sie und hat sehr gebeten, ihn anzumelden.“

„Das ist unmöglich, Warwara Petrowna,“ sagte, plötzlich vortretend, Mawrikij Nicolajewitsch, der bis dahin unerschütterlich geschwiegen hatte. „Sie erlauben, aber das ist kein Mensch, den man in der Gesellschaft empfangen kann. Das ... das ist ... mit einem Wort, das ist unmöglich, Warwara Petrowna.“

„Warten, er soll warten!“ wandte sich diese an den Diener, der sofort verschwand.

C’est un homme malhonnête et je crois même que c’est un forçat évadé ou quelque chose dans ce genre,“[92] sagte wieder Stepan Trophimowitsch erregt.

„Lisa, es ist Zeit, daß wir fahren!“ rief jetzt auch Praskowja Iwanowna und erhob sich von ihrem Lehnstuhl. Sie schien bereits zu bereuen, daß sie vorhin im ersten Schreck alles zurückgenommen hatte. Schon als Darja Pawlowna sprach, hatte sie wieder mit hochmütiger Miene zugehört. Doch am meisten wunderte ich mich über Lisaweta Nicolajewna, die, als Darja Pawlowna eintrat, das junge Mädchen schon mit gar zu offenem Haß und unverhohlener Verachtung angesehen hatte.

„Bitte, gedulde dich noch einen Augenblick!“ hielt Warwara Petrowna sie auf. „Sei so gut und setze dich wieder. Ich habe die Absicht, alles zu sagen, und du hast kranke Füße. So, danke. Ich habe dir vorhin, als mir die Geduld riß, ein paar unangenehme Worte gesagt. Sei so freundlich und verzeih sie mir. Es war überflüssig und töricht von mir. Ich sehe das selbst ein. Und da ich immer Gerechtigkeit liebe, so sage ich’s. Natürlich hast auch du allerlei Überflüssiges gesagt, wie zum Beispiel das von den anonymen Briefen. Anonyme Briefe sind schon deshalb verächtlich, weil der Schreiber ein Feigling ist. Faßt du es anders auf, so beneide ich dich nicht. Jedenfalls würde ich mit so etwas in der Tasche nicht zu meiner Freundin gehen und mich damit breit machen. Übrigens, da du nun einmal davon angefangen hast, so laß dir sagen, daß auch ich einen Brief bekommen habe. Vor sechs Tagen. Gleichfalls ohne Unterschrift. Darin teilt mir der Absender mit, daß mein Sohn den Verstand verloren habe. Ferner, daß ich mich vor einem hinkenden Frauenzimmer hüten soll, ‚das in Ihrem Leben eine große Rolle spielen wird‘, hieß es wörtlich. Ich dachte nach, und da ich wußte, daß Nicolai Wszewolodowitsch unzählige Feinde hat, schickte ich sofort nach einem Menschen, dem rachsüchtigsten und verächtlichsten von allen seinen Feinden. Im Gespräch mit ihm erriet ich denn auch sofort, woher der Brief stammte. Wenn man auch dich, Praskowja Iwanowna, mit solchen Briefen behelligt hat, meinetwegen behelligt hat, so bin ich die erste, der es leid tut. Verzeih, daß ich die unschuldige Ursache gewesen bin. – Übrigens habe ich mich entschlossen, diesen verdächtigen Menschen da unten sofort hereinzulassen. Mawrikij Nicolajewitsch hat wohl kein ganz richtiges Wort gebraucht, als er sagte, daß man ihn nicht empfangen könne. Besonders Lisa wird hier nichts zu tun haben. Komm her, Lisa, mein Liebling. Laß mich dich noch einmal küssen.“

Lisa stand auf und ging stumm zu Warwara Petrowna. Diese küßte sie, faßte ihre Hände, beugte sich etwas zurück, um sie besser sehen zu können, und blickte sie liebevoll an. Darauf bekreuzte sie sie und küßte sie nochmals. „Nun, leb wohl, Lisa,“ (in ihrer Stimme zitterten fast Tränen). „Glaub mir, daß ich nie aufhören werde, dich zu lieben. Was dir das Schicksal auch bringen mag! Gott sei mit dir, mein Kind, ich habe immer Seinen Willen gesegnet ...“ Wie es schien, wollte sie noch etwas hinzufügen, aber sie nahm sich zusammen und schwieg.

Lisa ging wie in tiefen Gedanken zu ihrem Platz zurück, doch plötzlich blieb sie vor ihrer Mutter stehen.

„Mama, ich werde jetzt noch nicht nach Hause fahren, ich möchte noch bei Tante bleiben,“ sagte sie mit leiser Stimme, doch in diesen leisen Worten lag trotzdem eine unerschütterliche Entschlossenheit.

„Großer Gott, was hast du nur wieder?“ Und ganz erschöpft ließ ihre Mutter die schon erhobenen Hände sinken.

Doch Lisa antwortete ihr nicht; sie setzte sich still wieder auf ihren Platz in der Ecke, um von neuem ins Leere zu starren.

In Warwara Petrownas Augen leuchtete etwas Sieghaftes und Stolzes auf.

„Mawrikij Nicolajewitsch, ich habe eine große Bitte an Sie. Würden Sie so gütig sein und nach unten gehn, um dort nach jenem Menschen zu sehen, und, wenn es irgend geht, ihn hereinzulassen?“

Mawrikij Nicolajewitsch verbeugte sich und verließ das Zimmer. Eine Minute später trat er mit Lebädkin wieder ein.

IV.

Ich habe schon einmal von der äußeren Erscheinung dieses Herrn gesprochen: ein großer, krausköpfiger, stämmiger Mann von ungefähr vierzig Jahren, mit einem roten, ein wenig gedunsenen Gesicht, fleischigen Wangen, die bei jeder Kopfbewegung erzitterten, kleinen, vom Blutandrang geröteten Augen, die zuweilen einen recht schlauen Ausdruck annehmen konnten, mit einem Schnurrbart und Backenbart und der Anlage zu einem fleischigen Doppelkinn, das schon ziemlich unangenehm aussah. Doch am meisten überraschte an ihm, daß er jetzt in einem Frack und in sauberer Wäsche erschien. „Es gibt Menschen, zu denen saubere Wäsche nicht paßt, ja, für die sie sich einfach nicht schickt,“ hatte Liputin einmal auf Stepan Trophimowitschs scherzhaft gemachten Vorwurf, daß er, Liputin, in seiner Kleidung nachlässig sei, nicht unrichtig erwidert. Der „Hauptmann“ aber hatte plötzlich auch neue schwarze Handschuhe, von denen er den rechten in der Hand hielt, während der linke – den er wohl nur mit großer Mühe so weit bekommen hatte – seine fleischige linke Tatze nur bis zur Hälfte bedeckte, geschweige denn sich zuknöpfen ließ. Und in dieser linken Hand hielt er einen nagelneuen, offenbar gleichfalls zum erstenmal benutzten runden Hut. So hatte es denn doch seine Richtigkeit mit dem „Frack der Liebe“, von dem er gestern Abend Schatoff berichtet hatte. Alle diese Kleidungsstücke waren schon früher auf Liputins Rat gekauft worden (wie ich später erfuhr), und jedenfalls zu einem bestimmten geheimnisvollen Zweck. Zweifellos war er auch jetzt nicht aus eigenem Antriebe hierhergekommen: selbst wenn er die Szene an der Kirchentür sofort erfahren hätte, würde er doch niemals in einer dreiviertel Stunde allein einen solchen Entschluß haben fassen und gar ausführen können. Betrunken war er dabei nicht, befand sich aber in jenem stumpfen, nebligen Zustande eines Menschen, der plötzlich nach langer Betrunkenheit wieder zu sich gekommen ist. Doch ich glaube, man hätte ihn nur zu schütteln brauchen und er wäre sofort wieder betrunken gewesen.

Allem Anscheine nach wollte er mit Temperament ins Zimmer treten, doch stolperte er zum Unglück sofort über eine Teppichecke an der Tür, worüber dann Marja Timofejewna vor Lachen fast verging. Er warf der Schwester einen wütenden Blick zu und näherte sich mit ein paar Schritten Warwara Petrowna.

„Gnädige Frau, ich bin gekommen ...“ begann er dröhnend laut, wie durch eine Trompete.

„Seien Sie so freundlich, mein Herr, sich dort – auf jenen Stuhl dort zu setzen,“ sagte Warwara Petrowna, die steif aufgerichtet dasaß. „Ich werde Sie auch von dort aus hören und so kann ich Sie besser sehen.“

Der „Hauptmann“ blieb stehen, sah blöde vor sich hin, kehrte dann aber doch zurück und setzte sich auf den bezeichneten Stuhl an der Tür. Der gänzliche Mangel an Zutrauen zu sich selbst und zu gleicher Zeit unendliche Gereiztheit drückten sich auf seinem Gesicht aus. Er hatte furchtbare Angst, das sah man, aber auch seine Eigenliebe schien stark zu leiden, und so konnte man nicht sicher sein, ob er sich nicht im gegebenen Moment plötzlich, trotz der Feigheit, zu irgend etwas, zur größten Gemeinheit vielleicht, aufraffen würde. Augenscheinlich scheute er jede Bewegung seines vierschrötigen Körpers. Bekanntlich ist der größte Schmerz solcher Wesen, wenn sie irgend einmal in Gesellschaft erscheinen, der Gedanke an ihre Hände: das ununterbrochen wache Bewußtsein, sie nirgendwohin auf anständige Weise verschwinden lassen zu können. Der „Hauptmann“ nun saß wie betäubt da, hielt krampfhaft Hut und Handschuh fest und konnte seinen zunächst völlig blöden Blick nicht von Warwara Petrownas strengem Gesicht losreißen. Er hätte sich gewiß gern umgesehen, aber er wagte es einfach nicht. Marja Timofejewna, die wohl wieder etwas an ihm äußerst komisch fand, lachte laut auf, aber auch jetzt rührte er sich noch nicht. So hielt ihn Warwara Petrowna unbarmherzig in diesem Schweigen und betrachtete ihn wohl eine geschlagene Minute lang schonungslos vom Scheitel bis zur Sohle.

„Zuerst gestatten Sie, von Ihnen selbst Ihren Namen zu erfahren,“ sagte sie endlich gemessen und vollkommen ruhig.

„Hauptmann Lebädkin,“ dröhnte sofort die Antwort. „Ich bin gekommen, gnädige Frau ...“ Und schon war er wieder im Begriff, sich zu erheben.

„Erlauben Sie!“ hielt ihn Warwara Petrowna auf. „Dieses bemitleidenswerte Geschöpf, das ich in der Kirche angetroffen habe und das mein Interesse erregt, ist Ihre Schwester?“

„Jawohl, gnädige Frau, meine Schwester, die meiner Aufsicht entschlüpft ist, denn da sie sich in solchen Umständen befindet ...“ er verstummte plötzlich und wurde feuerrot.

„Das heißt, mißverstehen Sie das nicht, gnädige Frau,“ verwickelte er sich noch mehr, „der leibliche Bruder würde so was nicht sagen ... In solchen Umständen, das heißt nicht etwa in solchen Umständen, im Sinne von – in einem Sinne, der die Ehre befleckt ... ich meine, den Ruf ...“

Er brach ab.

„Mein Herr!“ Warwara Petrowna hob den Kopf.

„Das heißt in solchem Zustande!“ schloß er plötzlich und unvermutet, mit dem steifen Finger sich vor die Stirn tippend.

Alle schwiegen eine Zeitlang.

„Leidet sie schon lange daran?“ fragte Warwara Petrowna endlich.

„Gnädige Frau, ich bin gekommen, um für die an der Kirchentür erwiesene Großmut zu danken, so recht auf russische, auf brüderliche Art ...“

„Auf brüderliche –?“

„Das heißt, gnädige Frau, nicht auf brüderliche ... oder nur in dem Sinne auf brüderliche Art, daß ich der Bruder meiner Schwester bin, gnädige Frau, und, glauben Sie mir, gnädige Frau,“ begann er wieder schneller zu sprechen, mit hochrotem Kopf, „daß ich gar nicht so ungebildet bin, wie ich auf den ersten Blick in Ihrem Salon erscheinen mag. Wir, meine Schwester und ich, sind überhaupt nichts, im Vergleich mit der Pracht, die wir hier sehen. Dazu haben wir noch Verleumder. Aber auf seinen Ruf hält Lebädkin viel und ist stolz darauf, gnädige Frau, und ... und ich ... ich bin gekommen, um mich zu bedanken ... gnädige Frau, hier ist das Geld!“

Und er riß sein Portefeuille aus der Brusttasche und begann, zitternd vor Ungeduld, mit bebenden Fingern die Papierscheine hervorzuzerren. Man fühlte, daß er so schnell wie möglich irgend etwas aufklären wollte. Andererseits fühlte er wieder, daß diese Geschichte mit dem Gelde ihn noch dümmer erscheinen ließ, und so verlor er denn die letzte Kaltblütigkeit. Die Finger zitterten, die Scheine wollten sich nicht zählen lassen, und zur Erhöhung der peinlichen Situation fiel noch ein grüner Papierschein, im Zickzack niedertaumelnd, auf den Teppich.

„Zwanzig Rubel, gnädige Frau.“ Mit den Scheinen in der Hand wollte er auf Warwara Petrowna zutreten. Als er den gefallenen Schein bemerkte, bückte er sich schon, um ihn aufzuheben, bedachte sich aber, schämte sich entsetzlich und winkte schließlich mit der Hand ab.

„Für Ihre Leute, gnädige Frau, für den Diener, wenn er hier aufräumt – mag er an Lebädkin denken!“

„Aber das kann ich unmöglich zulassen!“ sagte Warwara Petrowna schnell.

„In dem Falle ...“ er bückte sich, hob den Schein auf, wurde dabei purpurrot im Gesicht und trat schnell ein paar Schritte vor – die zwanzig Rubel in der Hand Warwara Petrowna hinhaltend.

„Was wollen Sie?!“ Warwara Petrowna erschrak nun doch so, daß sie im Schreck sogar den Sessel zurückschob.

Mawrikij Nicolajewitsch, Stepan Trophimowitsch und ich traten unwillkürlich vor ...

„Beruhigen Sie sich, beruhigen Sie sich, meine Herrschaften, ich bin nicht verrückt, bei Gott, ich bin nicht verrückt!“ beteuerte der Hauptmann nach allen Seiten hin.

„Nein, mein Herr, Sie scheinen doch nicht bei vollem Verstande zu sein!“

„Gnädige Frau, das ist ja alles nicht das, was Sie denken! Ich bin selbstverständlich nur ein Nichtswürdiger ... Oh, gnädige Frau, reich sind Ihre Prunkgemächer, aber arm sind sie bei Maria der Unbekannten, meiner Schwester, der geborenen Lebädkin, die wir vorläufig ‚Maria die Unbekannte‘ nennen wollen. Aber nur vorläufig, gnädige Frau, nur zeitweilig, sintemal Gott selber es nicht zulassen wird, daß wir es ewig tun müssen! Gnädige Frau, Sie haben ihr zehn Rubel gegeben, und sie hat das Geld angenommen, aber nur, weil Sie es waren, gnädige Frau! Hören Sie es wohl, von niemandem in der ganzen Welt würde sie etwas annehmen, diese ‚unbekannte Maria‘, denn sonst müßte sich der Stabsoffizier, ihr Großvater, der im Kaukasus unter den Augen Ermoloffs fiel, noch im Grabe umdrehen! Aber von Ihnen wird sie alles annehmen, gnädige Frau, aber wenn sie mit der einen Hand zehn Rubel nimmt, so wird sie mit der anderen zwanzig zurückgeben, als Gabe an einen der Wohltätigkeitsvereine, deren Mitglied Sie sind, gnädige Frau. Sie haben doch in den ‚Moskauer Nachrichten‘ angezeigt, daß sich jeder hier in dem Buche Ihres Wohltätigkeitsvereins einschreiben kann ...“

Der „Hauptmann“ stockte wieder und atmete schwer, wie nach einer übergroßen Kraftanstrengung; auf seiner Stirn perlten buchstäblich dicke Schweißtropfen. Die Rede über den Wohltätigkeitsverein schien er schon vorbereitet zu haben und wahrscheinlich gleichfalls unter Liputins Leitung. Warwara Petrowna sah ihn durchdringend an.

„Dieses Buch,“ sagte sie streng, „liegt unten bei meinem Portier. Dort können Sie sich zu jeder Zeit einschreiben, wenn Sie wollen. Jetzt aber bitte ich Sie, Ihr Geld wieder einzustecken und nicht so in der Luft damit herumzufuchteln ... So! Auch bitte ich Sie, sich wieder auf Ihren alten Platz zu setzen ... So! Es tut mir leid, mein Herr, daß ich mich im Falle Ihrer Schwester so versehen und ihr ein Almosen gegeben habe, während sie reich ist. Nur eines verstehe ich nicht – warum sie nur von mir allein und sonst von niemandem etwas annehmen würde. Sie haben das so betont, daß ich darüber gern eine nähere Erklärung hören würde.“

„Gnädige Frau, das ist ein Geheimnis, das erst im Grabe begraben sein wird!“ antwortete der „Hauptmann“.

„Was ... wollen Sie damit sagen?“ fragte Warwara Petrowna mit nicht mehr ganz so fester Stimme wie bisher.

„Gnädige Frau ... gnädige Frau ...!“ er verstummte, blickte finster zu Boden und drückte die rechte Hand aufs Herz. Warwara Petrowna wartete, doch ohne ihn aus den Augen zu lassen.

„Gnädige Frau!“ rief er plötzlich aus, „gestatten Sie mir, eine Frage an Sie zu stellen, nur eine einzige, ganz offen, gerade heraus, auf russische Art, also unmittelbar aus der Seele?“

„Bitte.“

„Haben Sie je gelitten im Leben, gnädige Frau?“

„Sie wollen damit wohl sagen, daß Sie durch irgend jemanden gelitten haben oder noch leiden?“

„Gnädige Frau, ach, gnädige Frau!“ rief er erregt, sprang wieder auf und schlug sich an die Brust. „Hier in diesem Herzen hat sich so viel aufgehäuft, so viel, sage ich Ihnen, daß Gott selbst sich wundern wird, wenn er es beim jüngsten Gericht erfährt!“

„Hm, stark gesagt!“

„Gnädige Frau, ich ... vielleicht spreche ich – mit zu großer Dreistigkeit ...“

„Beunruhigen Sie sich nicht, ich werde schon wissen, wann es nötig sein wird, Sie zu unterbrechen.“

„Kann ich noch eine Frage an Sie stellen, gnädige Frau?“

„Fragen Sie.“

„Kann man vor lauter Seelengröße sterben?“

„Das weiß ich nicht. Ich habe mir nie diese Frage gestellt.“

„Sie wissen es nicht! Sie haben sich nie diese Frage gestellt!“ rief er mit pathetischer Ironie. „Wenn’s so ist, wenn’s so ist, dann freilich –

‚Schweig stille, mein Herze!‘“

und er schlug sich von neuem verzweifelt an die Brust.

Schon ging er wieder im Zimmer umher. Die erste Eigenschaft von Menschen seiner Art pflegt die vollständige Unfähigkeit zu sein, sich irgendwie selbst im Zaume zu halten: sie folgen im Gegenteil machtlos dem ununterdrückbaren Bedürfnis, alles, was ihnen gerade einfällt, sofort auch zu äußern. Gerät dann einmal ein derartiger Mensch in eine Gesellschaft, in die er nicht hineingehört, so wird er sich zunächst vielleicht ganz schüchtern geben, dann aber, in demselben Grade, in dem man ihn gewähren läßt, aus sich herausgeben und am Ende zu Unverschämtheiten, wenn nicht gar Tätlichkeiten übergehen.

Der „Hauptmann“ war schon in eine bedrohliche Erregung geraten: fuchtelnd ging er auf und ab, überhörte die Fragen, die man an ihn stellte, und sprach so schnell, daß die Zunge bei den Zischlauten sich gleichsam überschlug und er häufig von einem Satz zusammenhanglos auf den andern übersprang. Ganz nüchtern war er wohl wirklich nicht. Lisa schien er gar nicht zu beachten. Und doch war es andererseits klar, daß gerade ihre Anwesenheit ihn maßlos aufregte.

So mußte es denn doch wohl, bedachte man die ganze unglaubliche Situation, einen tieferen Grund haben, warum Warwara Petrowna ihren Widerwillen unterdrückte und diesen Menschen immer noch anhörte. Praskowja Iwanowna zitterte einfach vor Angst, doch begriff sie wohl kaum, um was es sich eigentlich handelte. Stepan Trophimowitsch zitterte gleichfalls, er jedoch, weil er wie gewöhnlich viel mehr zu „begreifen“ glaubte, als da überhaupt zu begreifen war. Mawrikij Nicolajewitsch hielt sich so, als fühle er sich für unsere allgemeine Sicherheit verantwortlich, während Lisa blaß und mit großen Augen unablässig den wilden Hauptmann anstarrte. Schatoff saß wie immer mit gesenktem Kopf.

Aber am befremdlichsten war, daß Marja Timofejewna nicht nur zu lachen aufgehört hatte, sondern ganz traurig geworden war: den rechten Arm auf den Tisch gestützt, so folgte sie mit traurigem Blick den Gesten und Deklamationen ihres Bruders. Nur Darja Pawlowna schien mir ruhig zu sein.

„Das sind ja lauter unsinnige Allegorien,“ sagte plötzlich Warwara Petrowna geärgert. „Sie haben mir noch immer nicht auf meine Frage geantwortet: warum? Ich will es wissen!“

„Ich habe nicht gesagt, ‚warum‘? Sie wollen eine Antwort auf dieses ‚Warum‘?“ wiederholte Lebädkin und zwinkerte. „Ja, gnädige Frau, dieses kleine Wörtchen ‚warum‘ ist über das ganze Weltall ergossen, schon seit dem ersten Tage der Schöpfung, und die ganze Schöpfung selber schreit täglich ihrem Schöpfer zu: ‚warum‘? Und nun sind es schon siebentausend Jahre, daß sie keine Antwort darauf erhält! Muß nun wirklich einzig und allein der Hauptmann Lebädkin eine Antwort darauf geben? Ist diese Forderung auch gerecht, gnädige Frau?“

„Aber das ist ja Unsinn, nichts als Unsinn!“ Warwara Petrowna ärgerte sich und verlor endlich die Geduld. „Sie kommen wieder mit Allegorien, und reden in einem Tone, mein Herr, den ich mir verbitten möchte.“

„Gnädige Frau!“ – der „Hauptmann“ hörte sie wieder gar nicht an – „vielleicht würde ich gerne Ernest heißen wollen, und während dessen bin ich gezwungen, den einfachen Namen Ignatius zu tragen – warum das? hä?! Ich möchte vielleicht gerne Prince de Montbar heißen und doch muß ich mich nur Lebädkin nennen – hä! Warum das? Ich bin ein Poet, gnädige Frau, in meiner Seele ein Poet, und ich könnte von einem Verleger mit Kußhand tausend Rubel bekommen, und doch bin ich gezwungen, in einem elenden Loche zu wohnen – warum das? hä! Warum das? Gnädige Frau, und meiner Meinung nach ist Rußland überhaupt nur eine Farce der Natur und nichts weiter!“

„Etwas Bestimmteres können Sie wohl auf meine Frage nicht sagen?“

„Ich kann Ihnen ein Gedicht von einer Schabe vortragen, gnädige Frau!“

„Wa–a–as?“

„Nein, übergeschnappt bin ich noch nicht, gnädige Frau! Aber das werde ich später einmal sein, bloß vorläufig bin ich’s noch nicht! Gnädige Frau, einer meiner Freunde hat eine Kryloffsche Fabel gedichtet. Das ist die Fabel von der Schabe, und wenn ich sie hersagen soll –?“

„Sie wollen eine Kryloffsche Fabel deklamieren?“

„Nein, keine Kryloffsche Fabel, gnädige Frau, sondern eine von mir verfaßte Lebädkinsche Fabel! Glauben Sie mir doch, gnädige Frau, daß ich gebildet genug bin, um den großen Fabeldichter Kryloff zu kennen, für den der Kultusminister in Petersburg im Sommergarten ein Denkmal errichtet hat, um das jetzt die Kinder herumlaufen. Sie fragen ‚warum‘?, gnädige Frau, ‚warum‘? – Die Antwort darauf ist auf dem Hintergrunde dieser Fabel mit goldenen Lettern geschrieben!“

„Nun schön, so tragen Sie Ihre Fabel vor.“

Und Lebädkin begann sofort:

„Es war einmal eine Schabe,

Eine Schabe von Kindheit an,

Die kletterte und fiel

Gerade in ein Fliegenglas,

Das Fliegengift enthielt ...“

„Mein Gott, was ist denn das wieder!“ Warwara Petrowna sah sich um.

„Was das ist, gnädige Frau? Das ist, wenn im Sommer,“ – der „Hauptmann“ gestikulierte wieder wie wild und hatte ganz die gereizte Ungeduld eines Redners, den man in seinem Vortrag unterbrochen hat – „wenn im Sommer viele Fliegen ins Glas kriechen, so daß Fliegensäure entsteht, was doch jeder Esel weiß ... Unterbrechen Sie mich nicht, um Gottes willen, unterbrechen Sie mich nicht ... Sie werden schon sehen, sie werden schon sehen! –

‚Die Fliegen riefen: was ist das?

Das ist doch wirklich toll!

Wir haben selber wenig Naß,

Das Glas ist so wie so schon voll!

Und schrien wie verrückt

Zum Jupiter empor.

Da kam der Diener Nikiphor ...‘

– weiter habe ich es eigentlich noch nicht fertig,“ brach hier der Hauptmann ab. „Nikiphor nimmt aber das Glas und gießt es aus, die ganze Komödie, die Fliegen, die große Schabe, ohne aufs Geschrei zu achten, was man schon längst hätte tun sollen! Doch passen Sie auf, gnädige Frau, passen Sie auf, die Schabe klagt nicht! Und da haben Sie auch gleich die Antwort auf Ihre Frage – auf Ihre Frage ‚warum?‘“ rief er triumphierend aus. „Die Schabe klagt nicht! ... Der Nikiphor ist natürlich ganz einfach die Natur selbst,“ fügte er schnell hinzu und ging zufrieden auf und ab.

Warwara Petrowna war außer sich. „Erlauben Sie, daß nun auch ich Sie etwas frage! Was ist das für ein Geld, das Ihnen Nicolai Wszewolodowitsch übersandt haben soll? Ein Geld, das Sie nicht vollzählig erhalten haben wollen? Weshalb Sie sich erdreisten, eine zu meinem Hause gehörige Person zu verdächtigen, den Rest unterschlagen zu haben?“

„Verleumdung!“ brüllte Lebädkin mit tragisch erhobener rechter Hand.

„Nein, das ist keine Verleumdung.“

„Gnädige Frau, es gibt Umstände, die einen zwingen, eher eine Familienschande zu tragen, als laut die Wahrheit zu verkünden! – Lebädkin wird nichts ausplaudern, gnädige Frau!“

Er war wie geblendet: er schien entzückt zu sein und fühlte seine Bedeutung. Jetzt wollte er bereits beleidigen, Rätsel aufgeben, seine Macht zeigen ...

„Klingeln Sie bitte, Stepan Trophimowitsch,“ bat Warwara Petrowna.

„Oh, Lebädkin ist klug, gnädige Frau!“ fuhr er fort und zwinkerte ihr mit unangenehmem Lächeln zu. „Lebädkin ist klug, aber auch er hat ein Hindernis, auch er hat eine Vorstufe der Leidenschaften! Und diese Vorstufe – das ist die alte kriegerische Husarenflasche! Wenn Lebädkin in diesem Vorraum ist, gnädige Frau, so geschieht es wohl auch, daß er einen Brief in Versen abschickt, in pr–r–rachtvollen Versen, aber den er dann mit allen Tränen seines Lebens zurückkaufen möchte, sintemal durch ihn das Maß des Schönen gestört ward. Doch der Vogel ist ausgeflogen – kannst ihn nicht mehr am Schwänzchen einfangen! Sehen Sie, gnädige Frau, das ist der Vorraum. Lebädkin konnte wohl ein Wort fallen lassen, als er über das edle Mädchen sprach – in der Form eines edlen Unwillens, einer durch Beleidigungen aufgebrachten edlen Seele, wessen sich jedoch, unedel genug, seine Verleumder sofort bedient haben. Aber Lebädkin ist klug, gnädige Frau, und umsonst sitzt über ihm der unheilbringende Wolf, ewig ihn reizend und auf den Augenblick wartend: Lebädkin wird sich nicht vergessen und ausplaudern! Und auf dem Boden der Flasche erweist sich jedesmal anstatt des Erwarteten – die Schlauheit Lebädkins! Doch genug, oh, genug, gnädige Frau! Ihre Prunkgemächer könnten dem edelsten aller menschlichen Lebewesen gehören, doch die Schabe klagt nicht! Begreifen Sie, oh, begreifen Sie doch endlich, daß die Schabe nicht klagt, und ehren Sie ihren großen Geist!“

In diesem Augenblick ertönte unten am Portal die Klingel und bald darauf erschien der alte würdige Alexei Jegorowitsch, etwas außer Atem, da er auf das Klingelzeichen nicht sofort erschienen war.

„Nicolai Wszewolodowitsch haben geruht einzutreffen und kommen schon hierher,“ sagte er auf Warwara Petrownas fragenden Blick.

Ich erinnere mich noch heute deutlich dieses Augenblicks. Warwara Petrowna erblaßte zuerst, dann aber richtete sie sich mit einem Ausdruck starrer Entschlossenheit in ihrem Sessel auf. Wir waren alle erstaunt, ja beinahe erschreckt, – nicht nur durch diese plötzliche Ankunft Nicolai Wszewolodowitschs, der erst einen Monat später erwartet wurde, sondern mehr noch durch das geradezu unheimliche Zusammentreffen dieser Zufälle. Selbst der „Hauptmann“ blieb wie ein Pfosten mitten im Zimmer stehen und starrte mit offenem Munde und dummem Gesicht auf die Tür.

Doch da hörten wir auch schon vom Nebenzimmer her, einem langen großen Saal, schnelle, kleine Schritte sich nähern, Schritte, die auffallend rasch und kurz klangen. Und auf der Schwelle erschien – nicht Nicolai Wszewolodowitsch, sondern ein vollkommen unbekannter junger Mann.

V.

Es war ein Mensch von etwa siebenundzwanzig Jahren, ein wenig über mittelgroß, mit dünnem, blondem, ziemlich langem Haar und einem kaum sich abhebenden unscheinbaren Schnurrbart und Bärtchen. Er war sauber und sogar modern gekleidet, aber nicht elegant. Auf den ersten Blick schien er ungelenk und griesgrämig zu sein, obgleich er in Wirklichkeit weder das eine noch das andere, sondern im Gegenteil, äußerst gewandt und unterhaltend war. Einem kurzen, oberflächlichen Eindruck nach hätte man ihn für einen Sonderling halten können, und doch sollte sich hernach sein Benehmen als gut und sein Gespräch als vollkommen sachlich herausstellen.

Niemand hätte im Grunde sagen können, daß er häßlich sei – und doch gefällt sein Gesicht niemandem. Sein Schädel ist von beiden Seiten gleichsam zusammengedrückt und der Hinterkopf auffallend groß, so daß denn das Gesicht dadurch etwas Spitzes bekommt. Seine Stirne ist hoch und schmal, aber die eigentlichen Gesichtszüge sind klein: ein kleines Näschen, scharfe Augen, dünne und lange Lippen. Dabei sieht er kränklich aus, aber das scheint nur so. In seinen Wangen ist, unter den Backenknochen, eine gewisse trockene Falte, die ihm das Aussehen eines Rekonvaleszenten nach einer schweren Krankheit verleiht. Und doch ist er vollkommen gesund, stark, und ist sogar nie in seinem Leben krank gewesen.

Er geht und bewegt sich immer sehr schnell, doch ohne sich dabei eigentlich zu beeilen. Ich glaube nicht, daß irgend etwas ihn verwirren könnte. In allen Lebenslagen und in jeder Gesellschaft bleibt er immer der gleiche. Es ist eine große Selbstzufriedenheit in ihm, doch er selbst weiß nichts davon. Er spricht schnell und hastend, aber voll Selbstvertrauen, und nie braucht er nach Worten zu suchen. Die Gedanken, die er vorbringt, sind bereits völlig zu Ende gedacht. Seine Aussprache ist ungemein deutlich: jedes Wort fällt wie ein glattes, rundes Körnchen aus einer großen Vorratskammer. Anfänglich gefällt das wohl, aber schon bald werden alle diese gleichsam schon fertigen Worte unangenehm und schließlich geradezu widerlich, und zwar gerade wegen dieser schon allzu deutlichen Aussprache, wegen dieses Perlengesickers ewig bereiter Worte. Und man stellt sich unwillkürlich vor, seine Zunge müsse ganz besonders geformt, ungewöhnlich lang, dünn und rot sein, mit einer dünnen, sich ununterbrochen drehenden Spitze.

Dieser junge Mann also kam in den Salon gleichsam hereingeflogen. Ich glaube wirklich, er begann schon im Vorsaal zu sprechen. Sprechend wenigstens trat er ein, und in einem Augenblick stand er schon vor Warwara Petrowna.

„... Denken Sie doch nur, Warwara Petrowna, ich komme und glaube, daß er schon vor einer Viertelstunde hier angelangt sei. Wir trafen uns bei Kirilloff, er ging vor einer halben Stunde fort und sagte mir, ich solle in einer Viertelstunde herkommen –“

„Wer das? Wer hat Sie beauftragt, herzukommen?“ fragte Warwara Petrowna.

„Aber Nicolai Wszewolodowitsch doch! So erfahren Sie es wirklich erst jetzt? Sein Gepäck muß doch schon längst hier eingetroffen sein! Hat man Ihnen denn das nicht gesagt? Übrigens könnte man ihm einen Wagen entgegenschicken, aber ich denke, er wird jeden Augenblick kommen, und zwar, wie’s scheint, gerade in einem Augenblick, der seinen Erwartungen und, soweit ich wenigstens beurteilen kann, auch einigen seiner Berechnungen durchaus entspricht.“ Bei diesen Worten sah er sich die Anwesenden an und ganz besonders scharf den „Hauptmann“. „Ah, Lisaweta Nicolajewna, wie es mich freut, Ihnen gleich auf meinem ersten Wege zu begegnen ... Gestatten Sie –“ und er flog schnell zu ihr, um das ihm lächelnd entgegengestreckte Händchen Lisas zu drücken. „Und auch unsere hochverehrte Praskowja Iwanowna hat ihren ‚Professor‘ nicht vergessen, und scheint sich noch nicht einmal über ihn und sein Erscheinen zu ärgern, wie es in der Schweiz immer geschah. Aber wie steht es denn jetzt mit Ihren Füßen? Hatte man recht, als man Ihnen schließlich als bestes Mittel Heimatluft verschrieb? ... Wie? Kompressen? Ja, das mag ganz gut sein! Wie habe ich es nur bedauert, Warwara Petrowna,“ – er drehte sich schnell schon wieder herum – „daß ich Sie schließlich in der Schweiz nicht mehr antraf, zumal ich Ihnen so vieles mitzuteilen hatte! Ich habe allerdings an meinen Alten geschrieben, aber der wird nach seiner Gewohnheit wohl wieder –“

„Petruscha!“ rief da Stepan Trophimowitsch aus, erst jetzt plötzlich aus der Erstarrung erwachend: er warf die Arme in die Luft und stürzte zu seinem Sohn. „Pierre, mon enfant,[93] ich habe dich nicht einmal erkannt!“ und er umarmte ihn krampfhaft, während Tränen ihm über die Wangen liefen.

„Schon gut, schon gut, keine Albernheiten und keine Gesten, wenn ich bitten darf, aber so laß doch!“ wehrte Petruscha schnell ab und gab sich alle Mühe, sich aus den Armen des Vaters zu befreien.

„Ich habe dir immer, immer Unrecht getan!“

„Schon gut. Davon später. Konnte mir schon denken, daß du wieder Albernheiten machen würdest! So sei doch ein wenig nüchterner, ich bitte dich.“

„Aber ich habe dich doch zehn Jahre lang nicht gesehen!“

„Um so weniger Grund zu solchem Überschwang ...“

Mais, mon enfant![94]

„Glaub’s schon, glaub’s schon, daß du mich liebst, nimm nur, bitte, die Hände weg ... Du störst doch auch die anderen ... Ah, da ist ja auch schon Nicolai Wszewolodowitsch ... aber so höre doch endlich auf mit den Albernheiten, ich bitte dich!“

Nicolai Wszewolodowitsch war in der Tat schon im Salon: er war sehr geräuschlos eingetreten und einen Augenblick in der Tür stehen geblieben, während sein ruhiger Blick die Versammlung überflog.

Genau so wie vor vier Jahren, als ich ihn zum ersten Male sah, war ich auch jetzt wieder erstaunt über seine Erscheinung. Ich hatte ihn durchaus nicht vergessen; aber ich glaube, es gibt Gesichter, die jedesmal, wenn sie auftauchen, wieder etwas Neues mit sich bringen, etwas, das man bis dahin noch nicht an ihnen bemerkt hat. Äußerlich war er anscheinend ganz derselbe wie vor vier Jahren: genau so elegant, genau so unnahbar, beim Eintreten genau so gemessen wie damals, ja, fast war er sogar ebenso jung. Sein leichtes Lächeln war wieder so offiziell freundlich und selbstbewußt, und sein Blick unverändert streng, in sich hineindenkend und doch gleichsam zerstreut. Kurz, es war mir, als hätte ich ihn gestern zuletzt gesehen. Nur eines machte mich stutzig: man hatte ihn zwar immer schön gefunden, aber sein Gesicht glich tatsächlich manchmal einer Maske, wie einzelne gehässige Damen unserer Gesellschaft behaupteten. Jetzt aber – ich weiß nicht, weshalb – jetzt erschien er mir schon auf den ersten Blick von vollendeter, unbestreitbarer Schönheit, so daß man unter keinen Umständen noch hätte sagen können, sein Gesicht erinnere an eine Maske. Kam das vielleicht daher, daß er ein wenig bleicher war als früher und, wie mir schien, ein wenig abgenommen hatte? Oder leuchtete jetzt vielleicht ein neuer Gedanke in seinem Blick?

„Nicolai Wszewolodowitsch!“ rief Warwara Petrowna, sich steif aufrichtend, doch ohne sich von ihrem Lehnstuhl zu erheben, und indem sie den Eingetretenen mit einer befehlenden Handbewegung zum Stehenbleiben zwang – „bleibe dort noch einen Augenblick! ...“

Um die nun folgende furchtbare Frage Warwara Petrownas verstehen zu können (um derentwillen sie ihn mit dieser Bewegung und diesem Befehl nicht nähertreten ließ), diese Frage, die ich Warwara Petrowna nie und nimmer zugetraut hätte, ja, selbst deren Möglichkeit mir undenkbar erschienen wäre, – um diese Frage wirklich zu verstehen, muß man sich zunächst den Charakter Warwara Petrownas vergegenwärtigen, wie er seit jeher war und von welcher ungestümen Gewalttätigkeit er in manchen außergewöhnlichen Augenblicken sein konnte. Ich bitte auch in Erwägung zu ziehen, daß ungeachtet ihrer großen seelischen Festigkeit, des nicht geringen Verstandes und des guten Teiles von Takt- und Zartgefühl, den sie besaß, in ihrem Leben dennoch ständig Augenblicke wiederkehrten, wo sie sich völlig und, wenn man so sagen darf, ohne sich im Zaum zu halten, für etwas einsetzte oder sich für etwas hingab. Ferner bitte ich, nicht zu vergessen, daß der gegenwärtige Augenblick für sie tatsächlich einer von jenen sein konnte, in denen sich plötzlich alles Wesentliche eines Menschenlebens wie in einem Fokus vereinigt – alles Durchlebte, alles Gegenwärtige und ... warum nicht auch alles Zukünftige? Und schließlich sei noch an den anonymen Brief erinnert, den sie erhalten hatte und von dem sie kurz vorher in der Gereiztheit zu Lisas Mutter einiges hatte verlauten lassen, – freilich: ohne den weiteren Inhalt des Briefes zu verraten! Gerade in diesem aber lag vielleicht die ganze Erklärung der Möglichkeit dieser furchtbaren Frage, mit der sie sich jetzt plötzlich an den Sohn wandte.

„Nicolai Wszewolodowitsch,“ wiederholte sie mit fester Stimme, jede Silbe deutlich aussprechend, „ich bitte Sie, hier sofort zu sagen, ohne sich von der Stelle zu rühren, ob es wahr ist, daß diese unglückliche, lahme Person – diese da, sehen Sie sie an! ... Ob es wahr ist, daß das ... Ihre rechtmäßige Frau ist?“[32]

Ich erinnere mich dieses Augenblickes noch heute mit voller Deutlichkeit. Nicolai Wszewolodowitsch zuckte mit keiner Wimper, sah nur unverwandt seine Mutter an. Auch nicht die geringste Veränderung ging auf seinem Gesichte vor. Endlich lächelte er langsam ein gleichsam nachsichtiges Lächeln und trat, ohne ein Wort zu sagen, still auf seine Mutter zu, erfaßte ihre Hand und führte sie ehrerbietig an die Lippen. Und so stark war sein unwiderstehlicher Einfluß auf seine Mutter, daß sie ihre Hand ihm auch jetzt nicht zu entziehen vermochte. Sie blickte ihn nur an und ihre ganze Seele lag in diesem fragenden Blick. Noch ein Augenblick und sie würde, so schien es, die Ungewißheit nicht länger ertragen haben.

Nicolai Wszewolodowitsch aber schwieg auch jetzt noch. Nachdem er ihre Hand geküßt hatte, überflog sein Blick noch einmal die Anwesenden, und mit demselben langsamen Schritt trat er zu Marja Timofejewna. Es ist schwer, die Gesichter der Menschen in gewissen Augenblicken zu beschreiben. In meiner Erinnerung habe ich z. B., daß Marja Timofejewna damals, fast vergehend vor Schreck, sich erhob und die Hände wie ihn anflehend faltete. Aber ich entsinne mich auch, daß zu gleicher Zeit in ihren Augen ein Entzücken aufleuchtete, ein so sinnloses, so maßloses Entzücken, wie Menschen es kaum oder nur schwer zu ertragen vermögen. Vielleicht war beides richtig: der Schreck, wie das Entzücken? Ich weiß es nicht: ich weiß nur, daß ich damals schnell einen Schritt vortrat, weil ich das Gefühl hatte, sie werde sogleich in Ohnmacht fallen.

„Sie können nicht hier bleiben,“ sagte Nicolai Stawrogin mit freundlicher, klangvoller Stimme zu ihr und in seinen Augen, die sie ansahen, lag plötzlich eine große Zärtlichkeit.

Er stand in der ehrerbietigsten Haltung vor ihr und jede Bewegung verriet ungeheuchelte Hochachtung.

Und ungestüm, atemlos, halb flüsternd stammelte die Arme zu ihm empor:

„Aber kann ich ... darf ich ... jetzt gleich ... vor Ihnen niederknien?“

„Nein, das dürfen Sie auf keinen Fall,“ sagte er mit einem entzückenden Zulächeln, so daß sie plötzlich glückselig auflachte.

Und mit derselben melodischen Stimme, gut und lieb, als ob er einem kleinen Kinde zuredete, fügte er ernster hinzu:

„Vergessen Sie nicht, daß Sie ein Mädchen sind und ich Ihr ergebenster Freund zwar, doch immerhin ein Ihnen fremder Mensch bin, weder Ihr Gatte, noch Vater, noch Bräutigam. Gestatten Sie mir, daß ich Ihnen den Arm reiche, und lassen Sie uns gehen. Ich werde Sie zum Wagen führen und, wenn Sie es erlauben, auch nach Hause begleiten.“

Sie hörte ihn an und senkte wie sinnend den Kopf.

„Gehen wir,“ sagte sie dann, seufzte und nahm seinen Arm.

Hierbei geschah ihr aber ein kleines Unglück: sie mußte wohl zu hastig, wahrscheinlich mit ihrem kranken, dem zu kurzen Fuß aufgetreten sein, – jedenfalls knickte sie und fiel seitwärts gegen den Sessel und wäre wohl zu Boden gefallen, wenn Nicolai Wszewolodowitsch sie nicht sofort aufgefangen und gehalten hätte. Er legte ihre Hand auf seinen Arm, stützte sie stark und führte sie, teilnehmend und helfend, behutsam zur Tür. Sie war sichtlich sehr betrübt über ihren Fall, war verlegen und schämte sich schrecklich. Stumm, mit niedergeschlagenen Augen, tief hinkend wackelte sie neben ihm her, fast hängend an seinem Arm. So gingen sie hinaus. Ich sah, wie Lisa, die aus irgendeinem Grunde plötzlich aufsprang, ihnen mit starrem Blick die ganze Zeit nachsah bis zur Tür. Dann setzte sie sich wortlos wieder hin, doch in ihrem Gesicht war ein krampfartiges Zucken, als hätte sie etwas Ekelhaftes berührt.

Während der ganzen Szene zwischen Nicolai Wszewolodowitsch und Marja Timofejewna hatte die größte Stille geherrscht.

Als sich jetzt die Türe hinter ihnen schloß, fingen plötzlich alle auf einmal zu sprechen an.

VI.

Das heißt, nein, es wurde nicht gesprochen: es waren wohl nur Ausrufe, die man hörte. Die Reihenfolge derselben habe ich in der allgemeinen Verwirrung, die herrschte, vergessen. Sogar Mawrikij Nicolajewitsch sagte ein paar Worte. Stepan Trophimowitsch rief wieder etwas auf Französisch aus und schlug die Hände zusammen. Doch am meisten ereiferte sich sein Sohn Pjotr Stepanowitsch: er bemühte sich verzweifelt und mit großen Gesten, Warwara Petrowna von etwas zu überzeugen, er wandte sich an Praskowja Iwanowna, er wandte sich an Lisaweta Nicolajewna, ja, er rief im Eifer sogar seinem Vater etwas zu – kurz, er drehte sich mit größter Lebendigkeit im Zimmer umher. Warwara Petrowna hatte sich, hochrot im Gesicht, im ersten Augenblick von ihrem Platz erhoben und erregt Praskowja Iwanowna zugerufen: „Hast du gehört, hast du gehört, was er ihr hier soeben gesagt hat?“ Doch diese konnte nicht mehr antworten; sie winkte nur abwehrend mit der Hand und murmelte etwas Unverständliches: sie hatte eine neue Sorge, und immer wieder wandte sie den Kopf zu Lisa hin – doch aufstehen und davonfahren, das wagte sie nicht mehr, bevor sich die Tochter nicht selbst dazu entschloß. Inzwischen suchte sich der „Hauptmann“ fortzuschleichen, aber der Schreck, der ihm bei dem Erscheinen Nicolai Wszewolodowitschs in die Glieder gefahren war, lähmte ihn noch so sehr, daß er es ungeschickt genug anfing und Pjotr Stepanowitsch ihn, gerade als er aus der Tür schlüpfen wollte, noch am Ärmel erwischte und zurückzog.

„Das ist unbedingt nötig, unbedingt,“ sagte er, seine Silben wieder wie Perlen streuend, zu Warwara Petrowna, die er noch immer von irgend etwas zu überzeugen suchte.

Er stand vor ihr, sie aber hatte sich schon wieder gesetzt und hörte ihn mit Spannung an, woraus hervorging, daß er sich endlich ihre volle Aufmerksamkeit errungen hatte. „Das ist unbedingt nötig, unbedingt! Sie sehen doch selbst, daß hier ein Mißverständnis vorliegt. Es ist aber alles viel einfacher, als es scheint. Ich weiß sehr wohl, daß mich niemand bevollmächtigt hat, Ihnen das alles zu erzählen, und es scheint vielleicht geradezu, daß ich mich Ihnen aufdränge. Aber ganz abgesehen davon, daß Nicolai Wszewolodowitsch selbst dieser ganzen Sache weiter gar keine Bedeutung zuschreibt, gibt es doch auch Fälle, in denen es einem schwer fällt, persönlich die nötigen Erklärungen zu geben – und da ist es denn unbedingt geboten, daß ein anderer sich dazu entschließt, dem es weit leichter fällt, von gewissen zarten Dingen zu sprechen. Glauben Sie mir, Nicolai Wszewolodowitsch war durchaus nicht im Unrecht, als er Ihnen keine radikale Antwort auf Ihre Frage vorhin gab, – ganz abgesehen davon, daß die Geschichte überhaupt nicht so wichtig ist. Ich kenne Nicolai Wszewolodowitsch schon von Petersburg her und ich kann Sie versichern, daß alles, was da vorliegt, ihm nur Ehre macht – wenn man dieses unbestimmte Wort ‚Ehre‘ nun schon einmal gebrauchen soll ...“

„Sie wollen damit sagen, daß Sie Augenzeuge eines Geschehnisses waren, aus dem dann diese ganze ... dieses Mißverständnis entstanden ist?“

„Jawohl, Augenzeuge, und sogar Teilnehmer, wenn Sie wollen,“ bestätigte Pjotr Stepanowitsch schnell.

„Wenn Sie mir Ihr Wort darauf geben können, daß es die Gefühle meines Sohnes zu mir nicht kränken wird, zu mir, der er nicht das Ge–ring–ste verheimlicht ... und wenn Sie dabei so überzeugt sind, daß Sie ihm damit einen Gefallen erweisen –“

„Unbedingt einen Gefallen, und mir selbst wird es ein Vergnügen sein. Ich bin überzeugt, er würde mich selbst darum bitten.“

Es war gewiß sonderbar, daß dieser plötzlich vom Himmel gefallene Mensch so aufdringlich fremde Erlebnisse aufdecken wollte. Er hatte aber an Warwara Petrownas schmerzhafteste Stelle gerührt und sie dahin gebracht, wo er sie zu haben wünschte. Ich selbst wußte damals von diesem Menschen noch so gut wie nichts, um so weniger konnte ich seine Absichten durchschauen.

„Sie meinen?“ sagte Warwara Petrowna, zunächst noch vorsichtig und zurückhaltend, denn sie litt offenbar darunter, daß sie sich so weit herabließ.

Und wieder fielen, eine nach der anderen, die klaren Silben seiner Rede, wie kleine Glasperlen von einer Schnur.

„Die Sache ist ganz einfach. Im Grunde ist es kaum mehr, als eine Anekdote. Ein Romanschriftsteller würde vielleicht einen Roman daraus machen. Und uninteressant ist der Stoff auch wirklich nicht. Praskowja Iwanowna und auch Lisaweta Nicolajewna werden gewiß gern zuhören, denn er enthält, wenn auch nicht wunderbare, so doch viele wunderliche Dinge. Als vor fünf Jahren in Petersburg Nicolai Wszewolodowitsch diesen Herrn Lebädkin, der sich da soeben drücken wollte – Sie sehen, mein abgesetzter Herr Beamter des Proviantwesens, ich kenne Sie noch sehr gut, und nicht minder sind mir, wie Nicolai Wszewolodowitsch, Ihre Gaunerstreiche bekannt, über die Sie noch Rechenschaft zu geben haben werden ... Ich bitte sehr um Entschuldigung, Warwara Petrowna, – vor fünf Jahren also, in Petersburg, da nannte Nicolai Wszewolodowitsch diesen Herrn seinen Falstaff: das muß offenbar irgendein ehemaliger ‚caractère bourlesque[95] gewesen sein,“ fügte er plötzlich erklärend hinzu, „– ein Mann, der allen erlaubte, über ihn zu lachen, wenn man ihm dafür nur zahlte. Nicolai Wszewolodowitsch führte damals in Petersburg ein Leben, ich kann mich nicht anders ausdrücken, aber es war ein spottsüchtiges Leben: denn blasiert pflegt dieser Mensch nie zu sein, sich aber mit irgendeiner Arbeit zu beschäftigen, das verschmähte er damals. Ich rede, wie gesagt, nur von der damaligen Zeit, Warwara Petrowna. Dieser Lebädkin also hatte eine Schwester bei sich, dieselbe, die soeben hier saß. Bruder und Schwester hatten keinen eigenen Herd. Er trieb sich vor den großen Warenhäusern herum, selbstverständlich stets in seiner alten Uniform, redete von den Vorübergehenden an, wer ihm von ihnen günstig erschien, und vertrank dann das auf diese Weise erbettelte Geld. Das Schwesterlein aber nährte sich wie ein Vogel Gottes, half in den Winkeln und Ecken, wo sie lebte, bald dem einen, bald dem anderen, und verdiente sich so das Notwendigste. Es war das schrecklichste Sodom: ich übergehe die Schilderung dieses Lebens, an dem damals auch Nicolai Wszewolodowitsch aus ‚Verschrobenheit‘ Anteil nahm. Das ist sein eigener Ausdruck. Er pflegt mir vieles nicht zu verheimlichen. Mit Fräulein Lebädkin nun traf er eine Zeitlang öfter zusammen; sie begeisterte sich für ihn und er war – nun, er war so etwas wie der Brillant auf dem schmutzigen Fond ihres Lebens. Doch ich merke, daß ich ein schlechter Schilderer menschlicher Gefühle bin und fahre darum mit den Tatsachen fort. Törichte Leute begannen sie damals gleich zu necken und zu verspotten, und da wurde sie traurig. Überhaupt lachte man dort immer über sie, aber früher hatte sie das nicht bemerkt. Schon damals war ihr Verstand nicht ganz klar, wenn auch lange nicht so schwach und wirr wie jetzt. Es ist anzunehmen, daß sie als Kind – vielleicht dank irgendeiner Wohltäterin – eine etwas bessere Erziehung erhalten hat. Nicolai Wszewolodowitsch schenkte ihr zunächst nicht die geringste Aufmerksamkeit, wenn er dort mit ihrem Bruder und den kleinen Beamten zusammensaß und Karten spielte. Aber einmal, als man sie wieder beleidigte, packte er den betreffenden Beamten einfach am Kragen und warf ihn – es war im zweiten Stock – zum Fenster hinaus. Einen besonderen Unwillen, gekränkte Ritterlichkeit oder dergleichen konnte man an ihm dabei nicht wahrnehmen. Die ganze Szene ging vielmehr unter allgemeinem Gelächter vor sich und am meisten amüsierte sie Nicolai Wszewolodowitsch selbst. Als alles glücklich ohne gebrochene Glieder abgelaufen war, versöhnte man sich wieder und begann Punsch zu trinken. Nur die Lebädkin konnte den Vorfall und ihren Beschützer nicht vergessen – und das endete dann schließlich mit der vollständigen Zerrüttung ihres Verstandes. Ich wiederhole nochmals, daß ich ein schlechter Schilderer von Gefühlen bin. Das Wichtigste war hierbei eben ihr Wahn. Und Nicolai Wszewolodowitsch tat dann noch alles, um ihn zu verstärken. Statt gleichfalls zu lachen, begann er sie plötzlich mit überraschender Hochachtung zu behandeln. Kirilloff, der auch dabei war, – das ist ein sonderbarer und origineller Mensch, Warwara Petrowna, Sie werden ihn vielleicht noch einmal sehen, denn er ist jetzt hier – dieser Kirilloff also, der sonst nur zu schweigen pflegt, sagte plötzlich: er behandelt sie wie eine Marquise und macht sie damit noch ganz verrückt. Und was glauben Sie, was er diesem Kirilloff, den er übrigens achtet, darauf geantwortet hat? ‚Sie scheinen anzunehmen, Herr Kirilloff, daß ich mich über sie lustig mache. Seien Sie versichert, daß ich sie in der Tat denkbar hoch achte, denn sie ist besser, als wir alle.‘ Und das sagte er noch, wissen Sie, in vollkommen ernstem Ton. Dabei hatte er ihr aber in all den Monaten kaum mehr als ‚guten Tag‘ und ‚Adieu‘ gesagt. Jetzt freilich brachte er sie bald so weit, daß sie ihn für ihren Bräutigam hielt, der sie nur infolge von allen möglichen romantischen Familienhindernissen vorläufig nicht ‚entführen‘ könnte – wir aber hatten unser weidliches Vergnügen daran. Die Geschichte endete damit, daß Nicolai Wszewolodowitsch, als er endlich abreisen mußte, das war also vor jetzt etwa vier Jahren – er kam damals hierher zu Ihnen – ihr eine jährliche Pension, ich glaube ungefähr dreihundert Rubel, wenn nicht mehr, aussetzte. Mit einem Wort, es war höchstens der phantastische Streich eines Beschäftigungslosen oder, wie Kirilloff sagte, es war eine neue Etude eines übersättigten Menschen, um zu erfahren, wie weit man eine arme Närrin bringen kann. ‚Sie haben,‘ sagte Kirilloff, ‚sich absichtlich das letzte Geschöpf unter den Menschen ausgesucht, ein krüppeliges Wesen, das sowieso schon mit Schlägen und Schande bedeckt ist, und von dem Sie von vornherein ganz genau wissen, daß es an seiner tragikomischen Liebe zu Ihnen zugrunde gehen muß – und plötzlich beginnen Sie, sie absichtlich zu betrügen, nur um zu sehen, was dabei wohl herauskommen wird.‘ Nun, ich meinerseits sehe nicht ein, wie ein Mensch daran schuld sein soll, wenn ein verrücktes Weib seinetwegen sich tolle Gedanken macht. Ein Weib, wohlverstanden, mit dem der betreffende Mensch kaum ein paar oberflächliche Worte gewechselt hat! Es gibt Dinge, Warwara Petrowna, über die man nicht nur nicht klug sprechen kann, sondern über die überhaupt zu sprechen schon nicht klug ist. Doch mag es nun Laune oder Sonderbarkeit gewesen sein, aber mehr kann man schon auf keinen Fall sagen; währenddessen aber macht man hier eine ganze Historie daraus ... Ich bin zum Teil darüber unterrichtet, was hier vorgeht.“

Pjotr Stepanowitsch brach plötzlich ab und wandte sich wieder Lebädkin zu. Doch Warwara Petrowna hielt ihn, beinah zitternd vor Aufregung, zurück.

„Sind Sie fertig?“ fragte sie.

„Nein, noch nicht. Zur Vervollständigung möchte ich noch diesen Herrn Lebädkin, wenn Sie gestatten ... Sie werden gleich sehen, um was es sich handelt –“

„Genug, später, warten Sie einen Augenblick, ich bitte Sie! Oh, wie gut war es doch, daß ich Sie sprechen ließ!“

„Und vergessen Sie nicht, Warwara Petrowna,“ Pjotr Stepanowitsch fuhr gleichsam auf, „daß Nicolai Wszewolodowitsch persönlich Ihnen überhaupt keine Antwort auf Ihre Frage geben konnte – die vielleicht wirklich etwas zu kategorisch war.“

„Oh ja, das war sie nur zu sehr!“

„Und hatte ich nicht Recht, als ich sagte, einem Fremden ist es leichter, gewisse Dinge zu erklären, als einem Beteiligten?“

„Ja, ja ... aber in einer Beziehung haben Sie sich doch geirrt, und wie ich mit Bedauern sehe, irren Sie sich auch jetzt noch.“

„Wirklich? Und worin wäre das?“

„Ja, sehen Sie ... Aber wie wäre es, wenn Sie sich setzten, Pjotr Stepanowitsch?“

„Oh, wie Sie wünschen, ich bin auch müde, besten Dank.“

Er zog gewandt einen Sessel heran und drehte ihn so, daß er zwischen Warwara Petrowna und Praskowja Iwanowna, die sich am Tisch niedergelassen hatte, sitzen konnte, während Lebädkin, den er nicht aus dem Auge ließ, ihm nun gerade gegenüber stand.

„Ich meine, Sie irren sich, wenn Sie dieses eine ‚Laune‘, eine ‚Sonderbarkeit‘ nennen ...“

„Oh, wenn es nur das ist –“

„Nein, nein, nein, warten Sie,“ unterbrach ihn Warwara Petrowna, die sich offenbar zu einem langen und eingehenden Gespräch vorbereitete.

Kaum gewahrte das Pjotr Stepanowitsch, da war er schon die Aufmerksamkeit selbst.

„Nein, das ist etwas Höheres als eine Laune. Das ist, ich versichere Sie, beinahe etwas Heiliges. Das ist Prinz Heinz, wie ihn Stepan Trophimowitsch früher so treffend nannte, und was vollkommen richtig wäre, wenn er nicht noch mehr an Hamlet erinnern würde.“

Et vous avez raison,“[96] bestätigte Stepan Trophimowitsch mit Empfindung und Nachdruck.

„Ich danke Ihnen, Stepan Trophimowitsch. Ich danke Ihnen ganz besonders für Ihren unerschütterlichen Glauben an Nicolas, an den Adel seiner Seele. Diesen Glauben haben Sie auch in mir befestigt, als ich den Mut schon verlieren wollte.“

Chère, chère ...“

Stepan Trophimowitsch wollte schon vortreten, überlegte aber dann doch, daß es immerhin gewagt wäre, sie zu unterbrechen.

„Und wenn Nicolas stets einen stillen, treuen und starken Horatio neben sich gehabt hätte – auch einer Ihrer schönen Vergleiche, Stepan Trophimowitsch –, so wäre er vielleicht längst erlöst“ (Warwara Petrowna geriet schon in einen singenden Ton) „von diesem ‚Dämon der Ironie‘ – auch diesen Ausdruck hat Stepan Trophimowitsch geprägt, – der ihn sein Lebelang martert. Doch Nicolas hat nie weder einen Horatio noch eine Ophelia gehabt. Er hat nur eine Mutter gehabt. Aber was kann eine Mutter in solchen Dingen tun? Wissen Sie, Pjotr Stepanowitsch, es ist mir jetzt vollkommen klar, daß ein Mensch wie Nicolas sogar in diese schmutzigen Winkel hinabsteigen konnte. Ich begreife jetzt alles. Ich begreife diese Lust zum Spott über das Leben, auf die auch Sie vorhin so vorzüglich hinwiesen. Ich begreife diesen unersättlichen Durst nach Gegensätzen, diesen trüben und unheimlichen Hintergrund seines damaligen Lebens, von dem er sich dann wie eine leuchtende Erscheinung abhob. Und in dieser schrecklichen Welt trifft er dann ein Wesen, das alle beleidigen und verspotten, eine Krüppelige, eine Irrsinnige, und zugleich doch einen Menschen, der die edelsten Gefühle hat! ...“

„Hm ... ja, nehmen wir an –“

„Und Sie sagen, Sie können nicht begreifen, weshalb er zunächst nicht wie alle die anderen über sie lacht! Oh, ihr Menschen! Und Sie können nicht verstehen, daß er sie dann vor den Beleidigern beschützt und sie wie eine ‚Marquise‘ behandelt! Dieser Kirilloff muß ein tiefer Menschenkenner sein, wenn er auch Nicolas nicht verstanden hat! Ja, vielleicht ist es gerade dieser Kontrast, aus dem diese ganze unselige Geschichte entstanden ist. Wäre die Beklagenswerte in anderen Verhältnissen, in einer anderen Umgebung gewesen, dann hätte sie wohl überhaupt nicht diesen törichten Gedanken gefaßt. Das allerdings, Pjotr Stepanowitsch, kann nur eine Frau verstehen, und wie schade ist es doch, daß Sie ... das heißt ... ich will natürlich nicht sagen, wie schade, daß Sie keine Frau sind, aber daß Sie das ganze Verständnis einer Frau nun einmal nicht haben können.“

„Das heißt also: je schlimmer, desto besser – ich verstehe, ich verstehe schon, Warwara Petrowna. Das ist so, wie in der Religion und im Staat: je schlechter es ein Mensch im Leben hat, oder je unterdrückter ein Volk ist, desto eigensinniger wird an die Belohnung, die einen im Jenseits erwartet, gedacht. Und wenn dabei noch hunderttausend Geistliche mitwirken und den Gedanken anfachen, auf den sie selbst spekulieren, so ... oh, ich verstehe Sie, Warwara Petrowna, seien Sie unbesorgt.“

„Ich glaube – doch wohl nicht so ganz. Aber sagen Sie, hätte denn Nicolas, um jenen unseligen Gedanken in diesem unglücklichen Organismus zu ertöten,“ (weshalb sie hier dieses Wort gebrauchte, verstand ich nicht) „hätte er wirklich ebenso über sie lachen und höhnen müssen, wie die anderen rohen Kumpane? Begreifen Sie denn wirklich nicht dieses große Mitleiden, diesen edlen Schauer einer edlen Seele, mit dem Nicolas plötzlich ernst diesem Kirilloff antwortet: ‚Ich lache durchaus nicht über sie.‘ Oh, diese vornehme, diese heilige Antwort.“

Sublime!,“[97] murmelte Stepan Trophimowitsch.

„Und vergessen Sie nicht, er ist durchaus nicht reich, wie Sie vielleicht denken: ich bin reich, aber nicht er, und damals hat er meine Hilfe niemals in Anspruch genommen.“

„Ich verstehe das, ich verstehe das alles, Warwara Petrowna,“ beteuerte Pjotr Stepanowitsch und bewegte sich bereits etwas ungeduldig auf seinem Stuhl.

„Oh, das ist mein Charakter! In Nicolas erkenne ich mich selbst wieder. Ich kenne diese Jugend, diese Möglichkeiten stürmisch drängender Ausbrüche ... Und wenn wir uns jemals nähertreten sollten, Pjotr Stepanowitsch, was ich meinerseits aufrichtig wünsche, um so mehr, als ich Ihnen schon so verpflichtet bin, so werden Sie dann vielleicht verstehen –“

„Oh, auch ich wünsche, glauben Sie mir –“

„– Diesen Drang, in dem man in blindem Edelmute plötzlich einen Menschen nimmt, womöglich einen, der unser gar nicht wert ist, einen Menschen, der Sie nicht im geringsten versteht und bereit ist, Sie bei jeder Gelegenheit zu quälen: und diesen Menschen macht man plötzlich wider alle Vernunft zu seinem Idealbild, zu seinem Wahnbild, legt in ihn alle Hoffnungen, beugt sich vor ihm, liebt ihn sein Lebelang, ohne auch nur zu wissen weshalb, – vielleicht gerade deshalb, weil er das gar nicht verdient hat ... Oh, wie ich mein ganzes Leben lang gelitten habe, Pjotr Stepanowitsch!“

Stepan Trophimowitsch suchte erregt meinen Blick, doch ich konnte mich noch rechtzeitig abwenden.

„Und noch vor kurzem, noch vor kurzem – oh, wie viel mir Nicolas verzeihen muß! ... Sie werden es mir nicht glauben, wie alle mich gequält haben! Gequält von allen Seiten, alle, alle, Feinde und Freunde, und die Freunde vielleicht noch mehr als die Feinde. Und als ich den ersten anonymen Brief erhielt, Pjotr Stepanowitsch, Sie werden es mir nicht glauben, aber meine Verachtung reichte einfach nicht aus für diese ganze Gemeinheit ... Nie, nie werde ich mir diesen Kleinmut vergeben!“

„Von diesen anonymen Briefen habe ich schon gehört,“ sagte Pjotr Stepanowitsch, plötzlich wieder belebt, „seien Sie unbesorgt, den Verfasser werde ich schon herausbekommen.“

„Aber Sie können sich ja gar nicht vorstellen, was für Intriguen hier gesponnen worden sind! Sogar unsere arme Praskowja Iwanowna hat man beunruhigt – und dazu war doch wirklich kein Grund vorhanden! Liebe Praskowja Iwanowna, heute mußt du mir schon verzeihen,“ fügte sie plötzlich in einer großmütigen Regung hinzu, aber doch nicht ohne einen leisen triumphierenden Klang in der Stimme.

„Schon gut, meine Liebe,“ murmelte diese widerwillig. „Ich aber meine, man könnte jetzt endlich aufhören, es ist schon viel zu viel gesprochen worden.“ Und wieder sah sie scheu ihre Lisa an, die aber blickte auf Pjotr Stepanowitsch.

„Und dieses arme, unglückliche Geschöpf, diese Irrsinnige, die alles verloren, nur das Herz behalten hat, die – werde ich in mein Haus aufnehmen!“ rief Warwara Petrowna plötzlich entschlossen aus. „Das ist eine heilige Pflicht und ich will sie erfüllen! Vom heutigen Tage an stelle ich sie unter meinen Schutz!“

„Und das wird sogar sehr gut sein, in einem gewissen Sinne wenigstens!“ Pjotr Stepanowitsch war wieder ganz Leben. „Entschuldigen Sie, aber vorhin bin ich nicht ganz zu Ende gekommen. Gerade was den Schutz betrifft. Stellen Sie sich vor, Warwara Petrowna, – ich fange dort an, wo ich stehen blieb, – stellen Sie sich also vor, daß damals, als Nicolai Wszewolodowitsch fortgefahren war, dieser Herr da drüben, dieser Herr Lebädkin, nichts Besseres zu tun wußte, als das seiner Schwester ausgesetzte Geld eilends und restlos zu vertrinken. Ich weiß nicht genau, in welcher Weise Nicolai Wszewolodowitsch die Zahlungsart in der ersten Zeit angeordnet hatte. Ich weiß nur, daß er sich schließlich genötigt sah, wenn er Lebädkins Schwester einigermaßen sicherstellen wollte, sie in einem fernen Kloster unterzubringen – was denn auch geschah, selbstredend unter aller nur denkbaren Rücksicht auf ihre Person, aber unter freundschaftlicher Aufsicht, Sie verstehen schon! Doch was glauben Sie wohl, wozu Herr Lebädkin sich entschloß? Erst suchte er mit aller Gewalt zu erfahren, wo man sein Zinspapier, das heißt also seine Schwester, untergebracht hatte, und dann, als ihm dies gelungen war, erwirkte er, indem er irgendwelche Rechte vorschützte, daß man sie ihm herausgab, und darauf schleppte er sie hierher. Hier nun gab er ihr nichts zu essen, sondern schlug sie, und als er auf irgendeine Weise von Nicolai Wszewolodowitsch eine größere Geldsumme herausbekommen hatte, ging das alte, wüste Trinkleben sofort von neuem an. Von Dankbarkeit Nicolai Wszewolodowitsch gegenüber natürlich keine Spur; im Gegenteil, nur sinnlose neue Forderungen stellte er an ihn und drohte gar mit dem Gericht, wenn er nicht Zahlungen erhalten würde – nahm also frech als pflichtmäßig an, was freiwillig war. – Herr Lebädkin, ist alles wahr, was ich hier soeben gesagt habe?“

Der „Hauptmann“, der bis dahin stumm und mit gesenkten Augen dagestanden hatte, trat schnell zwei Schritte vor, – das Blut schoß ihm ins Gesicht.

„Pjotr Stepanowitsch ... Sie haben mich ... grausam behandelt,“ brachte er stockend hervor.

„Wieso grausam? Doch über Grausamkeit oder Zartheit können wir später sprechen, jetzt aber wollen Sie mir gefälligst auf meine Frage antworten: ist alles wahr, was ich hier gesagt habe, oder nicht?“

„Ich ... Sie wissen ja selbst, Pjotr Stepanowitsch ...“ der „Hauptmann“ stockte und schwieg.

Pjotr Stepanowitsch saß im Lehnstuhl mit übergeschlagenen Beinen und Lebädkin stand in der ehrerbietigsten Haltung vor ihm. Lebädkins Unentschlossenheit schien Pjotr Stepanowitsch sehr wenig zu gefallen: in seinem Gesicht zuckte es und sein Ausdruck wurde böse.

„Ja, wollen Sie nicht vielleicht etwas sagen?“ fragte Pjotr Stepanowitsch scharf, wobei er mit zusammengekniffenen Augen durchdringend den „Hauptmann“ anblickte. „In dem Falle – bitte. Haben Sie die Güte, wir hören.“

„Sie wissen doch selbst, Pjotr Stepanowitsch, daß ich nichts sagen kann.“

„Nein, das weiß ich durchaus nicht, höre es sogar zum erstenmal; warum können Sie denn nicht?“

Lebädkin schwieg und blickte zu Boden.

„Erlauben Sie mir, Pjotr Stepanowitsch, fortzugehen,“ sagte er endlich entschlossen.

„Nicht, bevor Sie mir eine Antwort auf meine Frage gegeben haben. Noch einmal: ist alles wahr, was ich gesagt habe?“

„Ja, es ist wahr,“ sagte Lebädkin dumpf und blickte kurz zu seinem Peiniger auf.

An seinen Schläfen trat sogar Schweiß hervor.

„Ist alles wahr?“

„Alles ist wahr.“

„Haben Sie nicht noch etwas hinzuzufügen, oder zu bemerken? Wenn Sie fühlen, daß wir Ihnen irgendwie Unrecht getan haben, so sagen Sie es. Protestieren Sie, geben Sie laut Ihre Unzufriedenheit kund!“

„Nein, ich habe nichts ...“

„Haben Sie vor kurzem Nicolai Wszewolodowitsch gedroht?“

„Das ... das ... war mehr Alkohol, Pjotr Stepanowitsch!“ (Er hob plötzlich den Kopf.) „Pjotr Stepanowitsch! Wenn die beleidigte Familienehre und die unverdiente Schande im Menschenherzen aufheulen, ist dann – ist dann wirklich der Mensch noch verantwortlich?“ brüllte er plötzlich wieder los, wie vorher sich nicht mehr im Zaum haltend.

„Sind Sie nüchtern, Herr Lebädkin?“ Pjotr Stepanowitsch sah ihn durchdringend an.

„Ich ... bin nüchtern.“

„Was soll das bedeuten: ‚beleidigte Familienehre‘ und ‚unverdiente Schande‘?“

„Das habe ich nur so ... ich wollte niemanden ...“ Der Hauptmann sank wieder zusammen.

„Meine Bemerkungen über Sie und Ihr Benehmen scheinen Sie gekränkt zu haben. Sie sind ja sehr empfindlich, Herr Lebädkin. Aber erlauben Sie mal, ich habe doch noch gar nichts über Ihr Benehmen im eigentlichen Sinne gesagt. Ich werde erst anfangen, über Ihr Benehmen im eigentlichen Sinne zu sprechen. Ja, es ist sogar sehr leicht möglich, daß ich davon anfangen werde ...“

Lebädkin erzitterte plötzlich und starrte wahrhaft entsetzt Pjotr Stepanowitsch an.

„Pjotr Stepanowitsch, ich fange jetzt erst an, aufzuwachen!“

„Hm! Und ich bin es wohl, der Sie jetzt aufgeweckt hat?“

„Ja, Sie haben mich aufgeweckt, Pjotr Stepanowitsch, ich aber habe vier Jahre unter der schwebenden Wolke geschlafen ... kann ich jetzt fortgehen, Pjotr Stepanowitsch?“

„Jetzt können Sie es ... wenigstens, wenn nicht Warwara Petrowna –?“

Die aber winkte nur mit beiden Händen ab.

Der „Hauptmann“ verbeugte sich und ging, doch nach drei Schritten blieb er plötzlich wieder stehen, preßte die Hand aufs Herz, wollte etwas sagen, tat es aber doch nicht – und ging dann endlich schnell zur Türe. Doch gerade wie er hinaus wollte, wurde sie von außen geöffnet und er stieß mit Nicolai Wszewolodowitsch beinahe zusammen. Der „Hauptmann“ duckte sich gleichsam vor ihm und erstarb auf der Stelle, ohne seine Augen von ihm abwenden zu können, wie ein Kaninchen vor einer Riesenschlange.

Einen Augenblick wartete Stawrogin, dann schob er ihn mit der Hand leicht zur Seite und trat ein.

VII.

Stawrogin war heiter und ruhig. Möglich, daß er etwas sehr Angenehmes erfahren hatte, was wir noch nicht wußten ... jedenfalls war er, wie es schien, mit irgend etwas ganz ausnehmend zufrieden.

„Kannst du mir verzeihen, Nicolas?“ Warwara Petrowna konnte sich nicht bezwingen und erhob sich sogar eilig ihm entgegen.

Da aber lachte Stawrogin auf:

„Das fehlte noch!“ rief er gutmütig und scherzhaft. „Ich sehe schon, es ist euch alles bekannt. Und ich machte mir bereits Vorwürfe während der Fahrt in der Equipage: ‚Wenigstens hätte ich doch den Scherz erzählen müssen, denn sonst, wer geht denn so fort.‘ Als mir aber einfiel, daß Pjotr Stepanowitsch hier geblieben war, sprang die Sorge von mir ab.“

Während er sprach, blickte er sich flüchtig im Zimmer um.

„Pjotr Stepanowitsch hat uns eine alte Petersburger Geschichte aus dem Leben eines eigentümlichen Menschen erzählt,“ sagte Warwara Petrowna, noch ganz entzückt, „eines launischen, eines halb wahnsinnigen Menschen, der aber in seinen Gefühlen immer edel bleibt, immer adlig, immer ritterlich –“

„Also so hoch habt ihr mich schon erhoben,“ scherzte Stawrogin. „Übrigens bin ich Pjotr Stepanowitsch diesmal sehr dankbar für seine Eilfertigkeit“ (hier tauschte er mit ihm einen blitzartig kurzen Blick). „Sie müssen nämlich wissen, maman, daß Pjotr Stepanowitsch stets der allgemeine Friedensstifter ist: das ist nun einmal seine Rolle, seine Krankheit, sein Steckenpferd, und in der Beziehung kann ich ihn besonders empfehlen. Übrigens kann ich mir schon denken, worüber er hier Bericht erstattet hat. Er erstattet ja immer Bericht, wenn er etwas erzählt. In seinem Kopf hat er eine Kanzlei. Man merke sich nur, daß er in seiner Eigenschaft als Realist nicht lügen kann und daß die Wahrheit ihm teurer ist als der Erfolg ... selbstverständlich außer in jenen besonderen Fällen, wenn ihm der Erfolg teurer ist als die Wahrheit.“ (Stawrogin sah sich, während er sprach, immer noch um.) „Sie sehen also, maman, daß nicht Sie mich um Verzeihung zu bitten haben, und daß, wenn hier irgendwo eine Schuld ist, sie natürlich nur mich treffen kann ... oder sagen wir, wenn hier eine Verrücktheit vorliegt, ich folglich der Verrückte bin – man muß doch seinen Ruf aufrechterhalten!“ und er umarmte seine Mutter und küßte sie zärtlich. „Jedenfalls aber ist die Sache jetzt erzählt, und ich dächte, nun könnte man aufhören, von ihr zu sprechen.“ Seine letzten Worte hatten plötzlich einen trockenen, harten Unterton.

Warwara Petrowna kannte diesen Ton, doch ihre Erregung verging deshalb noch nicht, sogar im Gegenteil.

„Aber wie kommt es nur, daß du heute schon hier bist, Nicolas, du wolltest doch erst in einem Monat –“

„Ich werde Ihnen natürlich alles erzählen, maman, doch augenblicklich –“ Und er trat zu Praskowja Iwanowna.

Doch diese schien ihn diesmal überhaupt nicht bemerken zu wollen: während noch vor einer halben Stunde, als er zum ersten Male erschienen war, ihre ganze Aufmerksamkeit von ihm in Anspruch genommen wurde, war diese jetzt auf etwas ganz anderes gelenkt. In dem Augenblick, als der „Hauptmann“ mit Stawrogin beinahe zusammengestoßen war, hatte Lisa plötzlich zu lachen angefangen – zuerst nur leise und verhalten, dann aber immer lauter und bemerkbarer. Sie wurde rot. Dieser Gegensatz zu ihrem kurz vorher noch so düsteren Aussehen war doch zu auffallend. Als Nicolai Wszewolodowitsch noch mit Warwara Petrowna sprach, winkte sie Mawrikij Nicolajewitsch zu sich heran, als wolle sie ihm etwas sagen: doch kaum beugte er sich zu ihr nieder, da lachte sie schon von neuem. Ja, es schien, als lache sie geradezu über den armen Mawrikij Nicolajewitsch. Dabei strengte sie sich furchtbar an, ernst zu bleiben, und preßte immer wieder ihr Taschentuch an die Lippen, doch es gelang ihr nicht, sich zu bezwingen.

Nicolai Wszewolodowitsch trat mit der unschuldigsten, aufrichtigsten Miene an sie heran, um sie zu begrüßen.

„Verzeihen Sie, bitte,“ sagte sie schnell, „Sie ... Sie haben gewiß auch Mawrikij Nicolajewitsch gesehen ... Gott, wie verboten lang Sie sind, Mawrikij Nicolajewitsch!“ Und wieder lachte sie.

Mawrikij Nicolajewitsch war allerdings hoch von Wuchs, aber durchaus nicht so auffallend, wie sie es plötzlich zu finden schien.

„Sie ... sind vor nicht langer Zeit angekommen?“ fragte sie, sich gewaltsam zusammennehmend, sogar verlegen, doch mit blitzenden Augen.

„Vor ungefähr zwei Stunden,“ antwortete Stawrogin und sah sie aufmerksam an. Ich muß hier bemerken, daß er ungewöhnlich zurückhaltend war in seiner Höflichkeit, doch ohne diese würde er vollständig gleichgültig, fast gelangweilt ausgesehen haben.

„Und wo werden Sie wohnen?“

„Hier.“

Warwara Petrowna beobachtete sie gleichfalls, plötzlich fiel ihr etwas ein.

„Aber Nicolas, wo warst du denn bis jetzt, diese zwei Stunden?“ fragte sie erstaunt, „der Zug kommt doch um zehn Uhr an.“

„Ich brachte zuerst Pjotr Stepanowitsch zu Kirilloff. Ich hatte ihn in Matwejewo (drei Stationen vor unserer Stadt), getroffen. So fuhren wir die letzte Strecke zusammen.“

„Ich aber wartete schon seit Mitternacht in Matwejewo,“ griff Pjotr Stepanowitsch schnell in das Gespräch ein. „Unsere letzten Wagen waren in der Nacht aus den Schienen gesprungen, wir hätten uns beinahe noch die Beine gebrochen!“

„Mein Gott,“ rief Lisa, „Mama, und wir wollten in der vorigen Woche auch nach Matwejewo fahren!“

„Gott erbarme dich!“ Praskowja Iwanowna bekreuzte sich.

„Ach, Mama, Mama, liebe Mama, erschrecken Sie nicht, wenn ich mir bei einer solchen Gelegenheit auch einmal ein Bein breche, mir könnte das ja nur zu leicht geschehen! Sie sagen doch selbst, daß ich jeden Tag nur ausreite, um mir das Genick zu brechen. Mawrikij Nicolajewitsch, würden Sie mich führen, wenn ich hinke?“ fragte sie wieder lachend. „Ich würde dann nur Ihnen erlauben, mich zu führen, verlassen Sie sich darauf! Sagen wir, ich breche mir ein Bein? – Aber so seien Sie doch so liebenswürdig, Mawrikij Nicolajewitsch, und sagen Sie sofort, daß Sie sich glücklich schätzen würden!“

„Was kann das für ein Glück sein, wenn man ein Krüppel ist?“ sagte Mawrikij Nicolajewitsch ernstlich ungehalten.

„Dafür würden Sie allein mich führen dürfen, nur Sie, sonst niemand!“

„Auch dann würden Sie mich führen, Lisaweta Nicolajewna,“ sagte der Offizier leise und noch ernster.

„Gott, er wollte einen Witz machen,“ rief Lisa fast entsetzt aus. „Mawrikij Nicolajewitsch, unterstehen Sie sich niemals, einen Witz zu machen! Aber Sie sind wirklich bis zu einem unglaublichen Grade Egoist! Doch ich bin überzeugt, zu Ihrer Ehre sei es gesagt, daß Sie sich selbst verleumden. Im Gegenteil, Sie würden mir von früh bis spät versichern, daß ich ohne Fuß weit interessanter sei! Eines ist aber unvereinbar: Sie sind übermäßig lang, ich aber würde, wenn ich hinken müßte, ganz klein sein – wir würden also ein schlechtes Paar abgeben!“

Und sie lachte krampfhaft.

Die Anspielungen waren flach und herbeigezogen, doch ihr war es diesmal offenbar nicht um den Ruhm zu tun, geistreich zu sein.

„Hysterie,“ flüsterte mir Pjotr Stepanowitsch zu, „ein Glas Wasser, schnell!“

Er hatte es erraten: eine Minute später liefen wir hin und her und endlich brachte man denn auch Wasser. Lisa umarmte ihre Mutter, küßte sie leidenschaftlich, weinte verzweifelt – bis sie dann plötzlich wieder auflachte. Darauf fing auch die Alte zu weinen an. Da führte denn Warwara Petrowna sie beide durch dieselbe Tür, durch die Darja Pawlowna eingetreten war, hinaus. Doch sie blieben nicht lange im Nebenzimmer, sondern erschienen schon nach wenigen Minuten wieder im Salon.

Kaum waren sie draußen, da trat Stawrogin an uns heran und begrüßte uns – außer Schatoff, der noch immer in seiner Ecke saß und den Kopf womöglich noch tiefer gesenkt hielt. Stepan Trophimowitsch versuchte sogleich, irgendein geistreiches Gespräch anzuknüpfen, doch Stawrogin wandte sich ab und wollte zu Darja Pawlowna gehen. Unterwegs jedoch hielt ihn Pjotr Stepanowitsch auf, der ihn fast mit Gewalt zum Fenster zog und ihm dort etwas anscheinend sehr Wichtiges zuzuflüstern begann. Nicolai Wszewolodowitsch freilich hörte, während der andere lebhaft gestikulierte, nur zerstreut, fast gelangweilt zu, mit seinem offiziellen, leicht spöttischen Lächeln auf den Lippen – und schließlich wurde er ungeduldig und machte sich los.

In diesem Augenblick traten die Damen wieder ein.

Warwara Petrowna führte Lisa zu ihrem alten Platz und versicherte lebhaft, daß es den gereizten Nerven unmöglich gut tun könne, wenn sie gleich an die frische Luft ginge: sie solle sich doch erst wenigstens zehn Minuten erholen! Und sie setzte sich neben Lisa und bemühte sich in einer schon recht auffallenden Weise um diese.

Pjotr Stepanowitsch lief auch gleich hinzu und begann ein lebhaftes und lustiges Gespräch.

Währenddessen trat nun Stawrogin endlich mit seinen langsamen Schritten zu Darja Pawlowna. Dascha schrak förmlich zurück, als sie ihn auf sich zukommen sah, und feuerrot, verwirrt, fast taumelnd erhob sie sich schnell.

„Ich glaube, man kann Ihnen gratulieren ... oder noch nicht?“ Er fragte es mit einem sonderbaren Zug um den Mund, den ich noch nie an ihm bemerkt hatte.

Dascha antwortete ihm irgend etwas, aber die Worte konnte ich nicht verstehen.

„Verzeihen Sie, bitte, die Aufdringlichkeit,“ sagte er und sprach lauter, „aber Sie wissen doch, daß man mich absichtlich davon benachrichtigt hat? Wissen Sie das?“

„Ja, ich weiß, daß Sie absichtlich davon benachrichtigt worden sind.“

„Nun, ich hoffe, mein Glückwunsch hat nicht gestört,“ meinte er lachend, – „und wenn Stepan Trophimowitsch ...“

„Wozu, wozu gratulieren?“ Pjotr Stepanowitsch lief schnell herbei, „wozu, wozu gratulieren, Darja Pawlowna? Bah! doch nicht etwa dazu? Wirklich! Ihre Farbe beweist, daß ich recht geraten habe! In der Tat gibt es doch nur eine einzige Art Glückwunsch, bei dem unsere schönen, sittsamen jungen Damen zu erröten pflegen. Nun, so empfangen Sie ihn denn auch von mir, wenn ich’s richtig erraten habe! Bezahlen Sie aber auch bitte die Wette! Sie werden sich doch noch erinnern, daß wir in der Schweiz gewettet haben? Sie sagten, daß Sie niemals heiraten würden und ich sagte das Gegenteil. Nun, und eigentlich bin ich ja halbwegs deshalb aus der Schweiz hierher gereist ... Apropos – Schweiz! Aber sag mir doch,“ er drehte sich schnell zu Stepan Trophimowitsch herum, „wann fährst du denn jetzt in die Schweiz?“

„Ich? ... in die Schweiz?“ fragte Stepan Trophimowitsch überrascht und verwirrt.

„Ja, wie denn? Fährst du denn nicht? Aber du heiratest doch ... du schriebst es doch!“

Pierre!“ rief Stepan Trophimowitsch streng.

„Was denn, Pierre! Sieh mal, wenn es dir angenehm zu hören ist, so bin ich hierher geflogen, um dir mitzuteilen, daß ich durchaus nichts dagegen einzuwenden habe! Du wolltest doch meine Meinung möglichst bald wissen! Wenn man dich aber ‚retten‘ muß, wie du in demselben Brief schreibst, so stehe ich dir dito zu Diensten. Ist es wahr, daß er heiratet, Warwara Petrowna?“ und wieder drehte er sich schnell zu dieser. „Ich nehme an, daß ich hier nicht von Geheimnissen rede. Er schreibt ja selbst, daß die ganze Stadt es bereits weiß, daß ihm alle bereits ihre Glückwünsche darbringen wollen, und daß er, um dem zu entgehen, nur noch in der Nacht das Haus verlassen kann. Den Brief habe ich in der Tasche. Ganz klug bin ich freilich nicht aus ihm geworden. Sag selbst, Stepan Trophimowitsch, was soll man nun eigentlich: – soll man dir ‚gratulieren‘? – oder soll man dich ‚retten‘? Sie glauben nicht, Warwara Petrowna, unmittelbar neben den glücklichsten Zeilen stehen solche der größten Verzweiflung. Zunächst bittet er mich um Verzeihung: nun, schön, das sind so seine Sentimentalitäten ... Aber übrigens – nein, es ist unmöglich, nicht davon zu sprechen: stellen Sie sich vor, er hat mich im ganzen Leben nur zweimal gesehen, und auch dann nur zufällig; jetzt plötzlich aber, wie er sich zum dritte Male verheiraten will, bildet er sich ein, damit mir gegenüber irgendwelche väterlichen Pflichten zu verletzen. Und so fleht er mich tatsächlich über tausend Werst hinweg an, ihm nicht böse zu sein und meine Erlaubnis zu seiner Vermählung zu geben! Du, ärgere dich bitte nicht, Stepan Trophimowitsch, es ist ein Zug unserer Zeit, alles zu verstehen, und ich verurteile dich ja auch nicht, ja, schließlich macht dir das alles sogar, wie man das zu nennen pflegt, nur Ehre, usw., usw. Doch davon wollte ich ja gar nicht sprechen. Die Hauptsache ist vielmehr, daß mir – nun, eben die Hauptsache nicht klar ist. Schreibst da irgend etwas von Schweizer Sünden ... ‚Heirate sozusagen fremde Sünden‘, oder wie du dich da ausdrückst, – mit einem Wort: ‚Sünden‘ sind dabei. ‚Das Mädchen‘, schreibst du, ‚ist ein Juwel‘, und du, nun natürlich, du bist ihrer ‚nicht wert‘. Das ist nun einmal sein Stil,“ sagte er wieder zu Warwara Petrowna gewandt. „Wegen irgendwelcher ‚fremden Sünden‘ ist er ‚gezwungen, zum Altar zu gehen und in die Schweiz zu reisen‘, und darum: ‚fliege her, um mich zu retten!‘ Begreifen Sie etwas? Aber ich sehe ... mir scheint ... ich bemerke am Ausdruck der Gesichter, daß –“ er drehte sich nach allen Seiten um und sah die Anwesenden mit dem unschuldigsten Lächeln an, – „daß ich nach meiner Gewohnheit wieder einmal eine Dummheit gemacht habe ... mit meiner Aufrichtigkeit, oder, wie Nicolai Wszewolodowitsch sagt – Eilfertigkeit ... Ich glaubte doch, daß wir hier unter Freunden sind? Das heißt selbstverständlich unter deinen Freunden, Stepan Trophimowitsch, nur unter deinen, denn ich bin hier ja fremd ... und nun sehe ich ... sehe ich, daß alle irgend etwas wissen, und nur ich dieses ‚Etwas‘ nicht weiß ...“

Er sah sich noch immer im Kreise um.

„So hat Ihnen Stepan Trophimowitsch geschrieben, daß er ‚fremde Sünden‘ heiraten müsse?“ Warwara Petrowna trat mit entstelltem, fast gelbem Gesicht und zuckenden Mundwinkeln auf Pjotr Stepanowitsch zu.

„Ja, sehen Sie, das heißt, wenn ich hier etwas nicht verstanden haben sollte, so ist das natürlich meine Schuld. Aber ich denke doch ... selbstverständlich: er schreibt so! Hier habe ich ja den Brief – den wichtigsten. Wissen Sie, Warwara Petrowna, endlose Briefe und schließlich einfach ein Brief nach dem anderen, so daß ich sie später gar nicht mehr zu Ende las ... Verzeih mir das Geständnis, Stepan Trophimowitsch, aber, nicht wahr, im Grunde hast du sie, wenn du sie auch an mich adressiert hast, doch mehr für die Nachgeborenen geschrieben. Reg’ dich nicht auf, es macht ja weiter nichts. Aber diesen Brief hier, Warwara Petrowna, den habe ich ganz gelesen. Denn diese ‚Sünden‘, diese ‚fremden Sünden‘: das sind doch bestimmt irgendwelche von seinen eigenen Sünden und ich könnte wetten, die allerunschuldigsten – er aber macht daraus selbstredend eine furchtbare Geschichte, so eine mit einem edlen Zuge, und vielleicht ist die ganze Geschichte nur um dieses Zuges willen herbeigezogen. Es gibt da nämlich noch gewisse Abrechnungen, die nicht ganz stimmen mögen, wozu das verheimlichen! Denn, wissen Sie, man muß es doch endlich gestehen, wir pflegen dem Kartenspiel nun einmal etwas zugetan zu sein ... Aber nein, Verzeihung, das ist schon überflüssig, das ist schon wirklich ganz überflüssig, Verzeihung! Doch was ich sagen wollte, Warwara Petrowna, erschreckt hat er mich tatsächlich, und ich schickte mich schon allen Ernstes an, ihn zu ‚retten‘. Bin ich denn ein Halsabschneider? Er schreibt da etwas von einer Mitgift ... Aber übrigens, heiratest du nun wirklich, Stepan Trophimowitsch? Doch wir reden hier und reden und ich langweile Sie bestimmt nur ... und Sie, Warwara Petrowna, verurteilen mich gewiß ...“

„Im Gegenteil, im Gegenteil, ich sehe nur, daß Sie die Geduld verloren haben und dazu hatten Sie ja auch Grund genug,“ sagte Warwara Petrowna mit einem bösen Lächeln.

Sie hatte die ganze Zeit mit boshafter Genugtuung Pjotr Stepanowitsch zugehört, der augenscheinlich eine bestimmte Rolle spielte. (Was für eine, und wozu? – das wußte ich damals nicht! Aber er spielte eine Rolle, und spielte sie ungeschickt.)

„Ganz im Gegenteil,“ fuhr Warwara Petrowna fort, „ich bin Ihnen nur zu dankbar dafür. Ohne Sie hätte ich nichts erfahren. So öffne ich jetzt zum erstenmal seit zwanzig Jahren die Augen und sehe. Nicolai Wszewolodowitsch, Sie erwähnten vorhin, daß Sie absichtlich benachrichtigt worden seien. Hat Stepan Trophimowitsch auch Ihnen in dieser Art und Weise geschrieben?“

„Ich erhielt von ihm allerdings einen ganz unschuldigen und ... und sehr ... edelmütigen Brief ...“

„Sie stocken, Sie suchen nach Worten – schon gut! Stepan Trophimowitsch, Sie haben mir einen großen Gefallen zu erweisen,“ wandte sie sich plötzlich mit blitzenden Augen an diesen. „Haben Sie die Güte, uns sofort zu verlassen und die Schwelle meines Hauses nie mehr zu überschreiten.“

Was mich an der ganzen Szene am meisten wunderte, das war die erstaunliche Würde, mit der Stepan Trophimowitsch sich hielt. Während der ganzen „Überführung“ durch seinen Sohn und selbst unter dem „Fluch“ Warwara Petrownas machte er nicht ein einziges Mal Miene, sich auch nur zu verteidigen. Woher nahm er so viel Charakterfestigkeit? Ich habe später erfahren, daß ihn seines Sohnes Betragen gleich beim ersten Wiedersehen tief und schmerzlich gekränkt hatte. Das aber war schon ein ehrliches, ein echtes Leid. Und hinzu kam dann noch der andere Schmerz: die quälende Selbsterkenntnis, daß er sich niedrig benommen hatte. Das alles gestand er mir später selbst mit seiner ganzen Offenherzigkeit. Nun, und ein wirkliches Leid und ein echter Schmerz können doch sogar einen außergewöhnlich leichtsinnigen und oberflächlichen Menschen ernst und standhaft machen, wenn auch nur auf kurze Zeit. Ja, wirkliches Leid hat selbst aus Dummköpfen Kluge gemacht, wenn auch freilich gleichfalls nur auf kurze Zeit; das ist schon so eine Eigenschaft des Leides. Wenn dem aber so ist, was konnte dann nicht alles mit einem Menschen wie Stepan Trophimowitsch geschehen? Da konnte ja echter Schmerz eine vollkommene Umwandlung bewirken! – Freilich auch hier nur auf einige Zeit ...

Er verbeugte sich würdevoll vor Warwara Petrowna, und ohne ein Wort zu sagen (allerdings blieb ihm ja auch nichts anderes übrig), wollte er schon hinausgehen, als er es doch nicht über sich gewann und zu Darja Pawlowna trat. Diese mochte das schon vorausgefühlt haben, denn sie ging ihm sofort entgegen und begann, in ihrem Schreck, schnell selbst zu sprechen, als hätte sie ihm nur ja zuvorkommen wollen.

„Sagen Sie nichts, Stepan Trophimowitsch, sagen Sie nichts, um Gottes willen,“ sie streckte ihm erregt die Hand entgegen, in ihrem Gesicht zuckte es schmerzlich. „Seien Sie versichert, daß ich Sie immer hochachten werde, Stepan Trophimowitsch, und denken Sie auch von mir nicht schlecht, Stepan Trophimowitsch, ich ... ich werde das immer sehr, sehr schätzen ...“

Stepan Trophimowitsch verbeugte sich tief vor ihr.

„Es ist dein freier Wille, Darja Pawlowna, du weißt, daß du in dieser ganzen Angelegenheit vollkommen frei handeln kannst,“ sagte plötzlich Warwara Petrowna bedeutsam.

„Ach! Nun – nun begreife ich alles!“ rief da Pjotr Stepanowitsch aus und schlug sich vor die Stirn. „Aber ... aber in was für eine Lage hat man mich denn nun gebracht? Oh, verzeihen Sie mir, Darja Pawlowna, verzeihen Sie, wenn Sie können! ... Du aber,“ wandte er sich an seinen Vater, „du hast mich ja in eine schöne Lage gebracht!“

Pierre, du könntest dich auch anders ausdrücken, wenn du mit mir sprichst,“ sagte Stepan Trophimowitsch halblaut.

„Schrei nur nicht so! Fang nur nicht an zu schreien, ich bitte dich,“ fiel ihm Pierre, mit den Armen fuchtelnd, ins Wort. „Glaub mir, das sind alles nur alte kranke Nerven und Schreien nutzt da gar nichts. Sag mir lieber, warum du mich dann nicht gleich darauf vorbereitet hast? Konntest dir doch denken, daß ich hier nach meiner Ankunft sogleich auch darauf zu sprechen kommen würde!“

Stepan Trophimowitsch blickte ihm offen in die Augen.

Pierre, du, der du so viel von dem weißt, was hier vorgeht, solltest du wirklich von dieser Sache nichts, nicht das Geringste gewußt, gehört haben?“

„W–a–as? Na, hör mal ... aber das ist doch! Wir sind also nicht nur ein altes Kind, sondern auch noch ein böses dazu? ... Haben Sie gehört, Warwara Petrowna?“

Es entstand eine Unruhe im Zimmer. Da sollte aber plötzlich etwas geschehen, was niemand auch nur hätte für möglich halten oder gar voraussehen können.

VIII.

Zunächst muß ich noch erwähnen, daß in den letzten zwei bis drei Minuten Lisaweta Nicolajewna von einer neuen Unruhe ergriffen worden war. Sie hatte schnell ihrer Mutter etwas zugeflüstert, und dann Mawrikij Nicolajewitsch, der sich zu ihr niederbeugte. Ihr Gesicht war erregt, doch zugleich drückte es Entschlossenheit aus. Offenbar hatte sie es jetzt sehr eilig, fortzukommen, denn als Mawrikij Nicolajewitsch die Mama vorsichtig aus dem Lehnstuhle zu heben begann, wollte sie schon helfen – aber sie bezwang sich noch.

Doch das Schicksal schien es nicht zu wollen, daß sie oder sonst jemand das Zimmer verließ, ohne das Ende des Ganzen mit angesehen zu haben.

Schatoff, den alle in seiner Ecke völlig vergessen hatten, und der, wie es schien, selbst nicht recht wußte, warum er da saß und noch nicht fortgegangen war – erhob sich plötzlich von seinem Stuhl und ging mit nicht schnellen, doch festen Schritten durch das ganze Zimmer auf Nicolai Stawrogin zu, ihm gerade ins Gesicht sehend.

Stawrogin war der erste, der sofort bemerkte, daß Schatoff sich erhob, und er lächelte kaum – kaum merklich; doch als Schatoff unmittelbar vor ihm stand, hörte er auf, zu lächeln.

Jetzt erst, als Schatoff schweigend vor ihm stehen blieb und keinen Blick von ihm abwandte, bemerkten auch die anderen die beiden.

Alle verstummten – Pjotr Stepanowitsch ganz zuletzt. Lisa und die Mama blieben mitten im Zimmer stehen.

So vergingen ungefähr fünf Sekunden.

Der Ausdruck dreister Befremdung in Nicolai Stawrogins Gesicht verwandelte sich in Zorn, er runzelte die Brauen und – plötzlich ...

Und plötzlich holte Schatoff mit seinem langen, schweren Arm weit aus und schlug ihn ins Gesicht.

Stawrogin wankte.

Schatoff hatte ganz eigentümlich geschlagen, nicht so, wie man sonst Ohrfeigen zu geben pflegt, nicht mit der flachen Hand, sondern mit der festen, geballten Faust – die aber war bei ihm groß, schwer, knochig, mit rötlichem Flaum und Sommersprossen bedeckt. Wenn der Schlag das Nasenbein getroffen hätte, so würde er es unfehlbar zerschlagen haben, doch er traf mehr die Wange, den linken Mundwinkel und den Oberkiefer, aus dem denn auch sofort Blut zu tropfen begann.

Ich glaube, wir schrien alle auf. Oder vielleicht war es auch nur Warwara Petrowna, die aufschrie. Ich weiß es nicht mehr, jedenfalls war es gleich darauf totenstill. Übrigens dauerte der ganze Zwischenfall nicht länger als zehn Sekunden.

Trotzdem geschah in diesen zehn Sekunden unendlich viel.

Nicolai Stawrogin gehörte zu den Naturen, die Angst überhaupt nicht kennen. Im Duell stand er, während sein Gegner auf ihn zielte, mit der größten Kaltblütigkeit da. Kam er zum Schuß, so zielte und tötete er mit einer Ruhe, die fast tierisch war. Wenn ihn jemand ins Gesicht geschlagen hätte, so würde er ihn gar nicht erst lange gefordert, sondern ihn einfach auf der Stelle totgeschlagen haben: gerade zu diesen Menschen gehörte er, die mit vollem Bewußtsein töten, und nicht etwa in einem Zustande, in dem der Mensch außer sich und unzurechnungsfähig ist. Ja, ich glaube sogar, solche Wutausbrüche, die einen blenden und benommen machen, kannte er überhaupt nicht. Selbst bei dem unermeßlichen Zorn, der sich seiner bisweilen bemächtigte, behielt er sich immer noch vollkommen in der Gewalt, und war sich dessen bewußt, daß ein Totschlag, den er nicht im Duell beging, ihn zum sibirischen Sträfling machen würde; und dennoch würde er den Beleidiger auf der Stelle erschlagen haben, und zwar ohne auch nur einen Augenblick davor zurückzuschrecken.

Ich habe mich immer bemüht, Nicolai Stawrogin richtig zu verstehen. Dank mancher glücklichen Umstände weiß ich vieles über ihn. Nahe liegt mir vor allem, ihn mit gewissen großen russischen Männern zu vergleichen, von denen sich bei uns noch einige legendäre Erinnerungen erhalten haben.

So erzählt man zum Beispiel von dem Dekabristen[33] L–n, er habe immer mit Absicht die Gefahr gesucht, habe sich an ihr berauscht und sie zu seinem Lebensbedürfnis gemacht: als junger Mensch habe er sich fast grundlos herumduelliert, in Sibirien sei er, nur mit einem Messer bewaffnet, auf die Bärenjagd gegangen und habe in den Wäldern mit entsprungenen Verbrechern, die, nebenbei bemerkt, noch gefährlicher als Bären sind, zusammenzutreffen gesucht. Zweifellos kannte ein Mann wie dieser L–n ganz genau das Gefühl der Angst: aber gerade dieses Gefühl in sich zu überwinden – das war es, was ihn reizte. Übrigens hatte dieser selbe L–n in der letzten Zeit vor seiner Verschickung nach Sibirien eine furchtbare Hungerzeit durchgemacht und sich durch die schwerste Arbeit sein Brot verdient, nur weil er sich den Wünschen seines reichen Vaters nicht fügen wollte. Also hatte er nicht nur im Kampf mit Bären und im Duell seine Standhaftigkeit und Willensstärke zu erproben und zu beweisen gesucht.

Doch seitdem sind viele Jahre vergangen, und die nervöse, zerquälte und gespaltene Natur der Menschen unserer Zeit läßt das Bedürfnis nach solchen unmittelbaren und ungeteilten Empfindungen, wie sie damals von manchen in ihrem Lebensdrang unruhigen Männern der guten alten Zeit so sehr gesucht wurden, überhaupt nicht mehr aufkommen. Stawrogin hätte auf diesen L–n vielleicht hochmütig herabgesehen, hätte ihn einen Feigling genannt, der sich immer selbst ermutigen müsse, ein Hähnchen, oder so ähnlich – nur würde er sich nie laut darüber geäußert haben. Auch er hätte im Duell den Gegner erschossen wie er es ja tatsächlich getan, auch er hätte mit Bären gekämpft, und auch dem Räuber im Walde wäre er ebenso sicher und furchtlos entgegengetreten: nur hätte er alles das ohne das geringste Empfinden eines Genusses, sondern einfach aus unangenehmer Notwendigkeit getan – schlaff, faul, vielleicht sogar gelangweilt. Das Böse in ihm war selbstredend gewachsen, im Vergleich zu L–n, ja selbst zu Lermontoff. In ihm war es vielleicht noch größer als in diesen beiden zusammen, aber dieses Böse war, wie gesagt, kalt und ruhig, war, wenn ich mich so ausdrücken darf, vernünftig – und somit das Widerlichste, das Furchtbarste, das es überhaupt geben kann.

Also noch einmal: ich hielt ihn damals und halte ihn auch heute noch, nachdem alles schon vorüber ist, für gerade so einen Menschen, der, wenn er einen Schlag ins Gesicht erhält, den Beleidiger sofort und ohne Zögern totschlägt.

Und doch geschah in diesem Falle etwas ganz anderes – etwas Rätselhaftes.

Kaum stand Nicolai Stawrogin wieder fest und aufrecht, nachdem er unter der Wucht des Schlages schmählich gewankt hatte, kaum war der gemeine, gleichsam nasse Schall des Schlages verhallt – da packte er auch schon Schatoff mit beiden Händen fest an den Schultern. Aber sofort, ja schon im selben Augenblick, riß er die Hände wieder zurück und kreuzte sie auf dem Rücken. Er schwieg. Er sah nur Schatoff an. Und sein Gesicht wurde fahl. Doch sonderbar: sein Blick erlosch gleichsam. Aber schon nach zehn Sekunden blickten seine Augen wieder kalt und – ich bin überzeugt, daß ich mich nicht getäuscht habe – vollkommen ruhig: nur bleich war er noch wie ein Hemd. Freilich weiß ich nicht, was in seinem Innern vorging, ich sah nur das Äußere.

Ich glaube, ein Mensch, der z. B. ein rotglühendes Eisenstück ergreift und es in der Hand preßt, um seine Standhaftigkeit zu erproben, und der dann zehn Sekunden lang einen unerträglichen Schmerz aushält und damit endet, daß er ihn bezwingt – ich glaube, ein solcher Mensch würde ähnliches empfinden wie Nicolai Stawrogin in diesen zehn Sekunden.

Der erste von beiden, der die Augen niederschlug, war Schatoff, und wie man sah, weil er dazu gezwungen war. Darauf wandte er sich langsam um und verließ das Zimmer, doch nicht mehr mit demselben festen Schritt, mit dem er vorhin auf Stawrogin zugeschritten war. Er ging leise und ganz besonders ungelenk hinaus, mit gehobenen Schultern, gleichsam bucklig und mit gesenktem Kopf, als dächte er schweren Gedanken nach. Ich glaube, er murmelte irgend etwas. Bis zur Tür ging er vorsichtig, ohne irgendwo anzustoßen oder etwas umzuwerfen, die Tür selbst aber öffnete er nur ein wenig, so daß er sich dann beinahe seitwärts wie durch einen Spalt durchschob. Gerade dort an der Tür war sein Haarschopf, der steif auf dem Kopfwirbel abstand, ganz besonders bemerkbar.

Kaum war die Türe hinter ihm geschlossen, als noch vor allen Ausrufen ein furchtbarer Schrei durch das Zimmer gellte. Ich sah, wie Lisaweta Nicolajewna ihre Mutter an der Schulter und Mawrikij Nicolajewitsch am Arm packte, sie zwei- oder dreimal mitriß, als wolle sie so schnell wie nur möglich weg von hier, doch plötzlich stieß sie den Schrei aus und stürzte ohnmächtig längelang hin. Noch jetzt glaube ich zu hören, wie ihr Kopf auf den Teppich schlug.

Sechstes Kapitel.
Die Nacht

I.

Es vergingen acht Tage. Jetzt, wo alles vorüber ist und ich die Chronik schreibe, wissen wir, was hinter dem Ganzen sich verbarg; doch damals wußten wir noch nichts, und nur natürlich ist es, daß uns vieles seltsam erschien. Wir, d. h. Stepan Trophimowitsch und ich, zogen uns zunächst vollständig zurück und beobachteten aus der Ferne, – nicht ohne Schrecken. Nur ich begab mich hin und wieder unter Menschen und brachte meinem Freunde verschiedene Nachrichten, ohne die er es nicht aushielt.

In der Stadt sprach man selbstverständlich über nichts anderes als die Ohrfeigengeschichte, Lisas Ohnmachtsanfall und all das andere, was an jenem Sonntag Vormittag geschehen war. Nur eines war dabei befremdlich: durch wen waren diese Begebnisse so schnell und so genau bekannt geworden? Eigentlich hatte doch keiner von den Anwesenden irgendeinen Vorteil davon, wenn er das Geschehene ausplauderte. Dienstboten waren nicht zugegen gewesen. So blieb Lebädkin: er allein hätte das eine oder andere erzählen können, weniger aus Bosheit, als einfach deshalb, weil er Geheimnisse nun einmal nicht für sich behalten konnte. Lebädkin aber war am anderen Tage mitsamt seiner Schwester spurlos verschwunden und im Filippoffschen Hause konnte mir niemand über seinen Verbleib Auskunft geben. Schatoff jedoch, bei dem ich mich nach Marja Timofejewna erkundigen wollte, hatte seine Tür zugeschlossen und verließ in dieser ganzen ersten Woche kein einziges Mal sein Zimmer. Ich ging am Dienstag wieder zu ihm und klopfte an die Tür, und da ich, obgleich alles still blieb, fest überzeugt war, daß er in seinem Zimmer sei, klopfte ich wieder und wieder. Plötzlich hörte ich, wie er aufsprang, wahrscheinlich von seinem Bett, mit schnellen Schritten zur Tür kam und mit lauter Stimme „Schatoff ist nicht zu Hause!“ rief. Da blieb mir nichts anderes übrig, als fortzugehen.

Schließlich kamen Stepan Trophimowitsch und ich auf einen Gedanken, der uns zunächst gewagt erschien, doch zu dem wir uns gegenseitig immer wieder ermutigten, nämlich, daß es nur sein Sohn Pjotr Stepanowitsch gewesen sein konnte, der die ganze Geschichte in der Stadt verbreitet hatte, obwohl er in einem Gespräch mit seinem Vater versichert hatte, er habe schon am Montag früh an allen Ecken und Enden von den Vorfällen erzählen gehört, aber namentlich Abends im Klub, und sogar dem Gouverneur und seiner Frau seien selbst die kleinsten Kleinigkeiten bereits bekannt gewesen. Bemerkenswert ist auch noch, daß Liputin, den ich an eben diesem Montag abends auf der Straße traf, mir auch schon alles Vorgefallene fast Wort für Wort und Zug für Zug zu erzählen wußte.

Viele Damen, besonders die der besten städtischen Gesellschaft, erkundigten sich auch angelegentlich nach der „rätselhaften Lahmen“, wie man Marja Timofejewna allgemein nannte. Und nicht minder interessierten sie sich für den Ohnmachtsanfall Lisaweta Nicolajewnas, zumal dieser ja auch Julija Michailowna, als Lisas Verwandte und besondere Beschützerin, anging. Und was erzählte man sich nicht alles in den verschiedenen Kreisen der Stadt! Hinzu kam, daß beide Häuser für alle und jeden verschlossen blieben. Lisaweta Nicolajewna, hieß es alsbald, läge im stärksten Nervenfieber, und dasselbe erzählte man auch von Nicolai Stawrogin, wobei man sich dann in den widerlichsten ausführlichen Beschreibungen seines Zustandes, über einen angeblich ausgeschlagenen Zahn und eine geschwollene Backe, nicht genug tun konnte. In verschwiegenen Winkeln aber glaubte man schon ganz genau zu wissen, daß in der nächsten Zeit ein Mord stattfinden werde, ein heimlicher, wie in einer korsischen Vendetta, denn Stawrogin sei nicht der Mann, der eine solche Beleidigung vergäße. Im allgemeinen sah man deutlich, wie der alte Haß gegen Nicolai Stawrogin wieder auflebte, denn selbst ehrwürdige, sonst ganz gutmütige Leute wußten nichts Besseres zu tun, als ihn zu beschuldigen, allerdings ohne selber recht zu wissen, was er verbrochen haben sollte.

Vor allem aber erzählte man sich flüsternd, natürlich unter dem Siegel der tiefsten Verschwiegenheit, daß es zwischen Nicolai Stawrogin und Lisa Tuschina in der Schweiz zu einer bösen Geschichte gekommen sei, und er ihre Ehre auf dem Gewissen habe, und daß sie später durch eine Intrigue entzweit worden seien. Freilich beobachteten vorsichtigere Leute eine gewisse Zurückhaltung solchen Geschichten gegenüber, aber zuhören taten doch alle mit Begierde.

Aber es gab auch noch andere Gerüchte, nur wurden sie nicht so allgemein, sondern nur dann besprochen, wenn man unter sich war. Ja, eigentlich war es kaum mehr als ein Gemunkel, das ich nur erwähne, um den Leser im Hinblick auf die späteren Ereignisse zum Aufmerken zu veranlassen. Es handelte sich dabei um folgendes: manche Leute sprachen nämlich, indem sie unmutig die Stirn runzelten, von dem Gott weiß woher aufgetauchten Gerücht, Nicolai Stawrogin sei zu einem ganz bestimmten Zweck in unser Gouvernement geschickt worden; durch den Grafen K. habe er in Petersburg zu irgendwelchen höchsten Spitzen Beziehungen angeknüpft, ja, vielleicht sei er sogar in den Staatsdienst getreten und jetzt womöglich mit irgendwelchen hochwichtigen Aufträgen hergesandt. Als nun gewichtige und ernsthafte Leute über dieses Gerücht lächelten und vernünftig bemerkten, daß ein Mensch, der von Skandalen lebte und bei uns damit begann, daß er sich ungestraft ohrfeigen ließ, einem Staatsdiener nicht gerade ähnlich sähe, da wurde ihnen leise zugetuschelt, daß er ja gar nicht offiziell, sondern nur sozusagen konfidentiell diesen Auftrag erhalten habe, und in solchem Falle sei es im Interesse der Sache sogar wünschenswert, daß der betreffende Vertrauensmann möglichst wenig an einen Staatsdiener erinnere. Diese Vorhaltungen verfehlten ihre Wirkung nicht, denn es war bei uns bekannt, daß man die Landesvertretung in unserem Gouvernement dort in der Hauptstadt mit einer gewissen besonderen Aufmerksamkeit im Auge behielt. Doch wie gesagt, dieses Gemunkel dauerte nur eine Zeitlang an und verstummte sogleich, als Nicolai Stawrogin wieder persönlich erschien. Im übrigen aber muß ich noch erwähnen, daß der Ursprung vieler dieser Gerüchte zum Teil ein paar kurze, doch gehässige Bemerkungen gewesen waren, die der Gardeoffizier a. D., Rittmeister Artemij Pawlowitsch Gaganoff, ein sehr reicher Gutsbesitzer unseres Gouvernements und Kreises, dabei Petersburger Weltmann, im Klub hatte fallen lassen, wenn auch in etwas unklaren und schroffen Worten. Dieser Rittmeister a. D. war der Sohn des verstorbenen Pjotr Pawlowitsch Gaganoff, jenes selben alten Würdenträgers, den Nicolai Stawrogin vor vier Jahren im Klub auf so unverzeihliche Weise beleidigt hatte.

Bekannt war auch schon geworden, daß Julija Michailowna Warwara Petrowna einen Besuch hatte machen wollen, man ihr aber an der Vorfahrt mitgeteilt habe, Warwara Petrowna könne „wegen Krankheit“ leider nicht empfangen; ferner, daß Julija Michailowna zwei Tage darauf ihren Diener zu Warwara Petrowna geschickt hätte, um sich nach deren Befinden zu erkundigen; und schließlich hatte sie sogar angefangen, Warwara Petrowna persönlich zu „verteidigen“, wenn auch nur in höherem Sinne, d. h. in einer ganz allgemeinen Weise. Alle anfänglichen Bemerkungen über den Vorfall an jenem Sonntag hörte sie kalt und streng an, so daß man schon sehr bald in ihrer Gegenwart nicht mehr davon zu sprechen wagte. Zugleich verbreitete sich dadurch die Überzeugung, Julija Michailowna habe nicht nur wie die anderen einzelne Gerüchte gehört, sondern wisse sogar alle letzten Einzelheiten, und zwar wie eine „Mitbeteiligte“. Ich bemerke bei dieser Gelegenheit, daß es Julija Michailowna zum Teil schon gelungen war, jenen höheren Einfluß zu erringen, nach dem sie so augenscheinlich strebte. Ein Teil der Gesellschaft sprach ihr bereits praktischen Verstand zu und viel Takt – aber davon später! Jedenfalls war es nicht zum wenigsten ihre Protektion, die den schnellen Aufstieg Pjotr Stepanowitschs in unserer Gesellschaft erklärte – seine gesellschaftlichen Erfolge, die damals am meisten seinen Vater Stepan Trophimowitsch in Erstaunen setzten.

Pjotr Stepanowitsch wurde fast im Nu mit der ganzen Stadt bekannt. Am Sonntag war er angekommen, und schon am Dienstag sah ich ihn mit dem stolzen, hochmütigen, sonst geradezu unnahbaren Artemij Pawlowitsch Gaganoff, in freundschaftlichem Gespräch begriffen, in einer Equipage vorüberfahren. Im Hause des Gouverneurs wurde Pjotr Stepanowitsch gleichfalls vorzüglich aufgenommen, so daß er dort schon nach wenigen Tagen die Rolle des gehätschelten jungen Mannes spielte und fast täglich bei ihnen speiste. Die Bekanntschaft Julija Michailownas hatte er allerdings schon in der Schweiz gemacht, aber nichtsdestoweniger war sein schneller Erfolg im Hause Seiner Exzellenz zum mindesten etwas sonderbar. Hatte es denn nicht von ihm geheißen, er sei ein Revolutionär? Hatte er sich nicht an allen möglichen ausländischen Veröffentlichungen und Kongressen beteiligt? „Aus alten Zeitungen kann ich Ihnen das sogar schwarz auf weiß nachweisen!“ sagte einmal Aljoscha Telätnikoff wütend zu mir, er, der Arme, der im Hause des alten Gouverneurs auch einmal der gehätschelte Junge gewesen war und nun als abgesetzter Beamter sein Leben fristete. Tatsache war eines: der ehemalige Revolutionär trat in Rußland ohne die geringste Behelligung auf – also waren alle Gerüchte vielleicht völlig unbegründet gewesen? Liputin flüsterte mir einmal zu, Pjotr Stepanowitsch habe sich die Begnadigung durch die Angabe anderer Namen erkauft und stehe seitdem in Beziehung zu hohen Stellen. Ich teilte diese gehässige Äußerung Liputins Stepan Trophimowitsch mit, der darob sehr nachdenklich wurde. Später stellte es sich heraus, daß Pjotr Stepanowitsch mit sehr guten Empfehlungen zu uns gekommen war: so z. B. hatte er Julija Michailowna von der Gattin einer der ersten Persönlichkeiten Petersburgs einen langen Brief überbracht, in dem unter anderem erwähnt war, daß auch Graf K. Pjotr Stepanowitsch durch Nicolai Stawrogin kennen gelernt und ihn einen „interessanten jungen Mann, trotz der früheren Verirrungen“, genannt habe. Julija Michailowna schätzte ihre spärlichen, so mühevoll aufrecht erhaltenen Beziehungen zur „hohen Gesellschaft“ bis zur Unglaublichkeit, und so hatte sie sich denn über den Brief jener hohen, alten Dame ungemein gefreut. Trotzdem gab es hier noch etwas Unerklärliches. Sogar ihren Mann stellte sie zu Pjotr Stepanowitsch in fast familiäre Beziehung, so daß Herr von Lembke sich schon beklagte – doch davon gleichfalls später! Bemerken möchte ich nur noch, daß selbst Karmasinoff, der „große Schriftsteller“, sich äußerst wohlwollend zu Pjotr Stepanowitsch verhielt und ihn sofort zu sich einlud – eine Eilfertigkeit dieses eingebildeten Menschen, die Stepan Trophimowitsch noch schmerzhafter als alles andere verletzte. Ich erklärte sie mir allerdings anders, nämlich: daß Karmasinoff durch diesen „Nihilisten“, für den er Pjotr Stepanowitsch zweifellos hielt, mit der fortschrittlichen Jugend in Fühlung treten wollte. Der „große Schriftsteller“ zitterte geradezu vor der Revolutionsbewegung der Studentenkreise, und da er sich in seiner Unkenntnis der Sache einbildete, in ihren Händen liege der Schlüssel zur Zukunft Rußlands, so wollte er, nachdem er es erst mit den Alten gehalten hatte, es auch mit den Jungen nicht verderben, und suchte ihnen, hauptsächlich deshalb, weil sie ihrerseits für ihn nur Mißachtung hatten, in jeder nur möglichen, und wenn auch für ihn erniedrigenden Weise zu schmeicheln.

II.

Pjotr Stepanowitsch war übrigens nur zweimal zu seinem Vater gekommen, doch zu meinem Bedauern stets in meiner Abwesenheit. Das erste Mal hatte er ihn am Mittwoch besucht, also ganze vier Tage nach seinem Eintreffen, und auch dann nur in Geschäften.

Die Abrechnung wegen des Gutes war sozusagen im stillen abgetan worden. Warwara Petrowna hatte einfach alles auf sich genommen und die ganze Summe für das Gütchen, fünfzehntausend Rubel, Pjotr Stepanowitsch ausgezahlt. Stepan Trophimowitsch wurde erst benachrichtigt, nachdem alles schon abgeschlossen war. Ihr Kammerdiener Alexei Jegorowitsch überbrachte ihm irgendein Schriftstück, das er dann stumm und würdevoll unterzeichnete. Ja, eines möchte ich bei der Gelegenheit noch ausdrücklich bemerken: unser „Alter“ bewahrte in diesen Tagen eine Haltung, wie nie zuvor, war würdevoll schweigsam, schrieb aber tatsächlich nicht einen einzigen Brief an Warwara Petrowna, was ich früher einfach nicht für möglich gehalten hätte, so daß ich unseren früheren Stepan Trophimowitsch kaum wiedererkannte, und vor allem war er ganz ruhig. Diese Ruhe hatte er offenbar plötzlich in einer bestimmten großen Idee gefunden, und nun saß er da und wartete auf irgend etwas. Ganz zuerst freilich, gleich am Montag früh, da war er krank – wenn sich auch bloß seine übliche Cholerine einstellte. Erzählte ich ihm von dem, was man in der Stadt sprach, so hörte er aufmerksam zu. Wollte ich dann aber auf den Kern der Sache übergehen, so winkte er mir sofort ab. Die beiden Besuche seines Sohnes hatten ihn selbstverständlich sehr erregt, aber nicht erschüttert oder wankend gemacht. Wohl legte er sich nachher jedesmal, mit einer Essigkompresse um den Kopf, auf den Diwan: aber im „höheren Sinne“ blieb er, wie gesagt, doch ruhig.

Übrigens kam es zuweilen doch vor, daß er mir auch nicht abwinkte, wenn ich mit meinen Erzählungen allzu sehr ins einzelne gehen wollte. Und zuweilen schien es mir, als ob ihn seine geheimnisvolle Entschlossenheit im Stiche ließe und er gegen neue stürmisch andrängende Ideen innerlich zu kämpfen hätte.

Das geschah zwar nur in Augenblicken, aber ich erwähne sie. Ich ahnte wohl, daß ihn dann der Wunsch anwandelte, aus seiner Einsamkeit hervorzutreten, sich wieder zu zeigen und einen letzten Kampf zu wagen.

„Oh, cher, wie ich sie aufs Haupt schlagen würde!“ rang es sich am Donnerstag abend aus ihm hervor, nach Petruschas zweitem Besuch, als Stepan Trophimowitsch wieder mit einer Essigkompresse auf dem Diwan lag. Bis zu diesem Augenblick hatte er mit mir noch nicht ein einziges Wort gesprochen.

„... ‚Fils‘, ‚fils chéri[98] und so weiter ... ich gebe ja zu, daß diese Ausdrücke Unsinn sind, aus dem Wortschatz der Köchinnen stammen, meinetwegen, ich gebe es selbst zu. Ich habe ihn nicht genährt noch gekleidet, ich habe ihn gleich als Säugling aus Berlin per Post nach Rußland geschickt. Ich gebe das, wie gesagt, ja vollkommen zu ... ‚Du hast mich nicht genährt, nicht gekleidet, sondern per Post fortgeschickt,‘ sagt er, ‚und hier hast du mich obendrein noch bestohlen.‘ Aber, Unseliger, rufe ich ihm zu, für wen hat denn mein Herz mein ganzes Leben lang geblutet, wenn ich dich auch damals per Post fortgeschickt habe!? Il rit.[99] Aber ich gebe ja zu, ich gebe ja zu ... wenn auch per Post –“ schloß er, wie im Fieber phantasierend.

Passons,“[100] begann er dann nach fünf Minuten wieder. „Ich kann Turgenjeff nicht verstehen. Sein Basaroff[34] ist eine fiktive Persönlichkeit, die überhaupt nicht existiert. Ich war ja selbst mit unter den ersten, die sie als unmöglich zurückwiesen. Dieser Basaroff ist gewissermaßen ein verschwommenes Gemisch von Nosdreff[35] und Byron. Oui, c’est le mot,[101] – Nosdreff und Byron. Betrachten Sie sie einmal aufmerksam: sie schlagen Purzelbäume und quieken vor Freude wie die jungen Hunde im Sonnenschein ... sie sind glücklich, sie sind Sieger! Doch was Byron! Lassen wir den hier aus dem Spiel ... Und zudem – wie viel Alltag! Welch eine köchinnenhafte Reizbarkeit der Eigenliebe! Welch ein erbärmliches Dürsten nach faire du bruit autour de son nom, ohne zu bemerken, daß son nom[102] ... Oh, Karikaturen! – Aber erlaube, rufe ich ihm zu, willst du denn wirklich dich selbst, so wie du bist, als Ersatz für Christus vorschlagen? Il rit. Il rit beaucoup. Il rit trop. Er hat so ein sonderbares Lächeln. Seine Mutter hatte nicht solch ein Lächeln. Il rit toujours.[103]

Wieder trat Schweigen ein.

„Sie sind schlau! Am Sonntag hatten sie sich verabredet ...“ platzte er plötzlich heraus.

„Zweifellos,“ sagte ich schnell und spitzte die Ohren, „und dazu war die ganze Komödie noch mit weißem Faden zusammengenäht und so ungeschickt vorgespielt!“

„Davon rede ich nicht. Aber wissen Sie auch, daß das Ganze sogar absichtlich mit weißem Faden zusammengenäht war? Damit es die merkten, die es merken sollten? Verstehen Sie?“

„Nein, ich verstehe nicht –“

Tant mieux. Passons.[104] Ich bin heute etwas irritiert.“

„Ja, aber worüber haben Sie sich denn mit ihm gestritten, Stepan Trophimowitsch?“

Je voulais convertir. Sie lachen natürlich. Cette pauvre Tantchen, elle entendra de belles choses![105] Oh, mein Freund, werden Sie es mir glauben, daß ich mich vorhin ganz als Patriot fühlte! Übrigens habe ich mich immer als Russe empfunden ... Und ein echter Russe kann auch gar nicht anders sein, als wir beide sind. Il y a là dedans quelque chose d’aveugle et de louche.[106]

„Unbedingt,“ versetzte ich.

„Mein Freund, die wirkliche Wahrheit ist immer unwahrscheinlich, wissen Sie das auch? Um die Wahrheit wahrscheinlich zu machen, muß man unbedingt etwas Lüge hinzumischen. Und so haben es die Menschen denn auch stets gehalten. Vielleicht ist hierbei etwas, was wir nicht verstehen können. Was meinen Sie, ist hier nicht etwas, was wir nicht verstehen, in diesem siegesgewissen Gekreisch? Ich würde wünschen, daß es so wäre. Ich würde es wünschen ...“

Ich schwieg. Und auch er schwieg recht lange.

„Man sagt: ‚französischer Verstand!‘ ...“ begann er plötzlich von neuem und fast wie im Fieber. „Aber das ist eine Lüge. So ist es bei uns schon immer gewesen. Wozu den französischen Verstand verleumden? Hier ist es einfach russische Faulheit, unsere Kraftlosigkeit, unsere erniedrigende Unfähigkeit, eine Idee hervorzubringen, unsere widerliche Parasitenrolle unter den Völkern. Ils sont tout simplement des paresseux,[107] – aber nicht ‚französischer Verstand‘! Die Russen müßten zum Wohle der übrigen Menschheit ganz einfach vertilgt werden ... wie schädliche Parasiten! Wir, in unserer Jugend, wir haben nach etwas ganz, ganz anderem gestrebt. Jetzt verstehe ich nichts mehr, ich habe ganz einfach aufgehört, zu verstehen! Ja, siehst du denn nicht ein, rief ich ihm zu, siehst du denn nicht ein, daß bei euch die Guillotine nur deshalb auf dem ersten Plan steht, weil Kopfabschneiden viel, viel leichter ist, als eine Idee haben? Vous êtes des paresseux! Votre drapeau est une guenille, une impuissance![108] Diese Wagen, oder wie sie da ... ‚das Rollen der Wagen, die Brot der Menschheit bringen‘ ... nützlicher als die Sixtinische Madonna, oder wie sie da ... une bêtise dans ce genre.[109] Aber siehst du denn nicht ein, rief ich ihm zu, siehst du denn nicht ein, daß ein Mensch außer dem Glück genau ebensosehr und genau in demselben Maße das Unglück nötig hat? Il rit! – ‚Du reißt hier Witze‘, sagte er mir, ‚und ... schonst dabei deine Knochen (er drückte sich gemeiner aus) auf einem Diwan, der mit Samt bezogen ist‘ ... Und vergessen Sie nicht, daß er mich dabei duzt, den Vater, als Sohn.[36] Nun, ich wollte ja nicht sagen, wenn wir beide einerlei Meinung wären ... aber so, wenn wir uns nun zanken?“

Wir schwiegen wieder.

Cher,“ sagte er plötzlich, sich schnell erhebend, „wissen Sie auch, daß das unbedingt mit irgend etwas enden muß?“

„Nun, freilich,“ sagte ich.

Vous ne comprenez pas. Passons.[110] Aber ... gewöhnlich endet es im Leben mit nichts, hier jedoch wird es ein Ende geben, unbedingt, unbedingt!“

Er stand auf und ging in größter Aufregung hin und her – bis er sich dann schließlich wieder kraftlos auf den Diwan niedersinken ließ.

Am Freitag morgen fuhr Pjotr Stepanowitsch irgendwohin fort in die Umgegend, und erschien erst am Montag wieder bei uns.

Von dieser Fahrt erfuhr ich durch Liputin: und ebenfalls war es Liputin, der mir erzählte, daß die beiden Lebädkins auf der anderen Flußseite in der Fabrikvorstadt wohnten. „Ich selbst habe sie hinübergeschafft,“ fügte er hinzu, brach aber sofort ab und teilte mir nur noch mit, daß Lisaweta Nicolajewna sich mit Mawrikij Nicolajewitsch verlobt habe – offiziell habe man es zwar noch nicht bekanntgegeben, aber nichtsdestoweniger sei es Tatsache.

Lisaweta Nicolajewna sah ich übrigens am nächsten Morgen, als sie, zum erstenmal nach ihrer Krankheit, mit Mawrikij Nicolajewitsch ausritt. Sie erblickte mich, ihre Augen blitzten auf und sie nickte mir lachend und sehr freundschaftlich zu.

Ich erzählte natürlich alles Stepan Trophimowitsch, doch nur der Nachricht über die Lebädkins schenkte er einige Aufmerksamkeit. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Jetzt aber, nachdem ich das Wichtigste aus diesen acht Tagen unserer rätselvollen Ungewißheit erzählt habe, will ich die weiteren Geschehnisse anders wiedergeben: mit Kenntnis des ganzen Sachverhalts, d. h. so, wie sich schließlich alles, als es an den Tag kam, in seinen Zusammenhängen erklärte. Ich beginne mit dem achten Tage nach jenem Sonntag, also mit dem Montagabend – denn im Grunde war es dieser Abend, an dem die „neue Geschichte“ begann.

III.

Es war sieben Uhr abends. Nicolai Stawrogin saß allein in seinem Arbeitszimmer, das er schon früher von allen anderen Räumen des Hauses zu seinem Kabinett erwählt hatte. Es war ein hoher Raum mit schönen Teppichen und etwas schweren, altertümlichen Möbeln.

Er saß in der Ecke des Diwans, wie zum Ausgehen angekleidet, doch anscheinend hatte er nicht die Absicht, aufzubrechen und irgendwohin zu gehen. Auf dem Tisch vor ihm stand eine Lampe mit einem Lampenschirm. Die Seiten und Ecken des großen Raumes blieben dunkel. Sein Blick war nachdenklich und zusammengefaßt, doch nicht ganz ruhig; sein Gesicht sah müde und ein wenig abgemagert aus. Er war tatsächlich krank, wenn auch nur an einer Erkältung, verbunden mit einem gewissen Ohrenreißen; aber das Gerücht von einem ausgeschlagenen Zahn war doch übertrieben: der Zahn hatte anfänglich nur gewackelt, war jedoch inzwischen wieder fest geworden. Auch die von innen verletzte Oberlippe war bereits zugeheilt. Das Zahngeschwür aber, das mit der Erkältung zusammenhing, hatte er nur deshalb nicht aufschneiden lassen, um nicht den Arzt empfangen zu müssen. Doch übrigens hatte er nicht nur nicht den Arzt, sondern selbst seine Mutter kaum auf ein paar Minuten eintreten lassen und auch das höchstens einmal am Tage und nur um die Dämmerstunde, wenn es schon dunkelte und das Licht noch nicht brannte.

Auch Pjotr Stepanowitsch, der zwei- bis dreimal täglich bei Warwara Petrowna vorgesprochen hatte, war nicht von ihm empfangen worden. Erst jetzt, eben an jenem Montag, nachdem Pjotr Stepanowitsch am Morgen von seiner dreitägigen Reise zurückgekehrt, schon überall in der Stadt herumgelaufen war, dann bei Julija Michailowna zu Mittag gespeist hatte und erst gegen Abend bei Warwara Petrowna erschien, verkündete sie ihm, die ihn bereits ungeduldig erwartete, daß das Verbot aufgehoben sei und Nicolas wieder empfange. Darauf begleitete sie den Gast selbst bis zur Tür des Arbeitszimmers ihres Sohnes, denn sie hatte schon längst ein Wiedersehen der beiden gewünscht. Pjotr Stepanowitsch hatte ihr versprochen, nachher noch zu ihr zu kommen und zu berichten, wie er Nicolas fand. Sie klopfte vorsichtig an die Tür und wagte sogar, als sie keine Antwort erhielt, den Türflügel drei Finger breit zu öffnen.

Nicolas, darf ich Pjotr Stepanowitsch eintreten lassen?“ fragte sie leise und gehalten, während sie sich zugleich bemühte, sein Gesicht hinter der Lampe zu erkennen.

„Gewiß, gewiß darf man, das versteht sich doch von selbst!“ rief laut und aufgeräumt Pjotr Stepanowitsch, öffnete die Tür mit eigener Hand und trat ein.

Stawrogin hatte das Klopfen seiner Mutter überhört und nur die scheue Frage vernommen, aber noch nicht antworten können. Vor ihm lag in diesem Augenblick ein Brief, den er gerade erst durchgelesen hatte und über den er dann in tiefes Nachdenken versunken war. Als er nun plötzlich den Anruf Pjotr Stepanowitschs hörte, fuhr er zusammen und suchte schnell mit einem Briefbeschwerer den Brief zu bedecken, was ihm aber nur halb gelang, denn eine Ecke des Briefes und fast das ganze Kuvert waren noch zu sehen.

„Ich habe absichtlich so laut gerufen, um Ihnen Zeit zu geben, sich vorzubereiten,“ flüsterte Pjotr Stepanowitsch, der im Nu am Tisch war und sofort mit aufmerksamem Blick das Kuvert musterte, mit wunderlich naiver Aufrichtigkeit.

„– Und haben gewiß noch glücklich bemerken können, wie ich vor Ihnen diesen Brief zu verbergen suchte,“ sagte Stawrogin ruhig, ohne sich von seinem Platz zu rühren.

„Einen Brief? Na, Sie mit Ihren Briefen ... was gehn mich Ihre Briefe an,“ versetzte der andere. „Aber ... die Hauptsache, –“ fuhr er wieder leise fort, indem er sich zur Tür wandte, die Warwara Petrowna schon geschlossen hatte, und wies mit dem Kopf nach dieser Richtung.

„Sie horcht nie,“ bemerkte Stawrogin kalt.

„Na, ich meinte bloß – und wenn sie auch horchen sollte!“ Pjotr Stepanowitsch erhob sofort wieder die Stimme und setzte sich in einen Sessel. „Ich habe ja sonst nichts dagegen, nur bin ich diesmal gekommen, um mit Ihnen unter vier Augen zu sprechen. Also endlich, vor allen Dingen, wie steht es mit der Gesundheit? Sehe schon, daß es gut steht, und morgen werden Sie vielleicht erscheinen, wie?“

„Vielleicht.“

„Sie müssen die Leute doch endlich beruhigen und ebenso auch mich!“ begann er plötzlich heftig gestikulierend, sah aber dabei ganz heiter und zufrieden aus. „Wenn Sie wüßten, was ich ihnen alles habe vorschwatzen müssen! Aber übrigens, Sie wissen es ja.“ Er lachte auf.

„Alles weiß ich nicht. Ich habe nur von meiner Mutter gehört, daß Sie sich sehr ... gerührt haben.“

„Das heißt, ich habe ja nichts Bestimmtes –,“ wehrte Pjotr Stepanowitsch schnell ab, als verteidige er sich gegen einen furchtbaren Angriff. „Ich habe nur Schatoffs Frau so ein bißchen unter die Leute gebracht, das heißt, ich meine die Gerüchte über Ihre Beziehungen zu ihr in Paris, was jenen Vorfall vom Sonntag dann durchaus erklären könnte ... Sie ärgern sich doch nicht?“

„Bin überzeugt, daß Sie sich sehr bemüht haben.“

„Nun, das allein war es, was ich fürchtete! Aber übrigens, was heißt denn das: ‚sehr bemüht‘? – das klingt ja ganz wie ein Vorwurf. Doch ich sehe, daß Sie die Sache wenigstens nicht schief auffassen: das war meine größte Sorge, als ich herkam – Sie würden sie nicht gerade nehmen ...“

„Ich will überhaupt nichts gerade nehmen,“ sagte Stawrogin mit einer gewissen Gereiztheit, doch gleich darauf lächelte er spöttisch.

„Ach, ich rede doch nicht davon, nicht davon, Sie irren sich, nicht davon!“ rief Pjotr Stepanowitsch und fuchtelte wieder abwehrend und streute die Worte wie Erbsen hin, schien aber zugleich sehr erfreut über die Reizbarkeit Stawrogins zu sein. „Ich werde Sie doch jetzt nicht mit unserer Sache ärgern, in der Lage, in der Sie jetzt sind! Ich kam nur her wegen der Affäre am Sonntag, und auch das nur zum allerkleinsten Teil, denn, nicht wahr, es geht doch nicht so! Ich bin mit den aufrichtigsten Erklärungen gekommen, die für mich notwendig sind, nicht für Sie – dies mag für Ihre Eigenliebe gesagt sein, aber zu gleicher Zeit ist es auch wahr. Ich bin gekommen, um von nun an immer aufrichtig zu sein.“

„Das heißt so viel, daß Sie früher unaufrichtig waren?“

„Das wissen Sie doch selbst ganz genau. Ich habe oft Kniffe angewandt ... Sie lächeln; freut mich sehr, denn das Lächeln ist für mich ein Vorwand zur Auseinandersetzung. Ich habe ja absichtlich das Lächeln mit der kleinen Prahlerei hervorgelockt, damit Sie sich sofort wieder ärgern: wie wagte ich zu denken, daß ich mit Kniffen Sie zu betrügen vermöchte, und zweitens, damit ich Grund habe, mich sofort zu erklären. Sehen Sie, wie aufrichtig ich bin. Na, schön, wäre es Ihnen jetzt recht, mich anzuhören?“

Stawrogins Gesicht, das bis dahin verachtend ruhig und beinahe spöttisch ausgesehen hatte, trotz der augenscheinlichen Absicht seines Gastes, ihn mit diesen zudringlichen, vorbereiteten und bewußt plumpen Naivitäten zu ärgern, verriet jetzt doch eine gewisse unruhige Neugier.

„Also hören Sie,“ begann Pjotr Stepanowitsch, noch lebhafter als vorhin. „Als ich hierher kam, das heißt, überhaupt hierher in diese Stadt, vor zehn Tagen, da entschloß ich mich natürlich, hier eine Rolle zu spielen. Besser freilich, sollte man meinen, wär’s ganz ohne Rolle, wie ... wie ... nun, als individuelle Persönlichkeit – nicht wahr? Allerdings kann nichts schlauer sein, als die Rolle einer individuellen Persönlichkeit, denn die würde mir doch niemand zutrauen. Aber wissen Sie, zuerst wollte ich schon den Rüpel spielen, weil das viel leichter ist. Aber der Rüpel ist zugleich auch schon das Äußerste, und da das Äußerste immer Aufsehen und Neugier erregt, so entschied ich mich denn endgültig für die individuelle Persönlichkeit. Nun ja, aber wie ist denn nun meine individuelle Persönlichkeit? – Doch einfach die goldene Mitte: weder klug noch dumm, mäßig begabt und ein bißchen vom Mond herabgefallen, wie hier die vernünftigen Leute sagen. Nicht wahr?“

„Möglich, daß es auch wahr ist,“ sagte Stawrogin mit einem kaum merklichen Lächeln.

„Ah, Sie geben’s zu – freut mich sehr. Ich wußte ja im voraus, daß ich Ihre Gedanken treffen würde ... Beunruhigen Sie sich nicht, nicht nötig, gar nicht nötig, ich nehme es durchaus nicht übel. Ich habe mich auch durchaus nicht in dieser Weise dargestellt, um mir von Ihnen indirekte Lobsprüche herauszuholen, à la ‚Nein, Sie sind nicht unbegabt, nein, Sie sind klug‘, oder so ähnlich ... Ah, Sie lächeln wieder! Bin ich von neuem hereingefallen? ‚Sie sind klug‘ würden Sie ja gar nicht sagen. Nun gut, meinetwegen; ich gebe alles zu. Passons,[100] wie Papachen sagt, und in Klammern: ärgern Sie sich bitte nicht über meinen Wortschwall. Übrigens, da haben wir ja gleich ein Beispiel: ich rede immer viel zu viel, d. h., ich mache immer viel zu viel Worte, und rede viel zu eilig – und doch kommt nichts dabei heraus. Warum? weil ich nicht zu reden verstehe. Die gut reden, die reden kurz. Und damit, nicht wahr, damit haben wir gleich einen Beweis für meine Unbegabtheit! Doch da diese Gabe der Unbegabtheit bei mir nun einmal eine natürliche Gabe ist – warum sollte ich sie da nicht noch künstlich gebrauchen? Nun – und so gebrauche ich sie denn so und so. Zuerst, als ich hier ankam, gedachte ich zu schweigen: aber zum Schweigen, dazu gehört ein großes Talent, und somit wäre es nichts für mich. Und da Schweigen außerdem auch noch gefährlich ist, so habe ich denn endgültig eingesehen, daß es am besten ist, wenn ich rede, und zwar gerade so auf unbegabte Art und Weise rede, das heißt, viel, viel, unendlich viel rede, mich immer beeile, etwas zu beweisen und zum Schluß mich in meinen Beweisen immer so verwickele, daß der Zuhörer womöglich davonläuft und dabei womöglich noch ausspuckt. Das hat dann drei Vorteile: erstens, daß man sich von meiner Offenherzigkeit überzeugt, zweitens, daß man meiner äußerst überdrüssig wird, und drittens, daß man mich dabei noch nicht einmal versteht – also alle drei Vorteile auf einen Hieb! Wer wird dann noch vermuten, daß ich geheimnisvolle Absichten habe? Ein jeder würde sich ja persönlich beleidigt fühlen, wenn ihm dann noch jemand sagte, ich hätte geheimnisvolle Absichten! Die Leute verzeihen mir ja jetzt schon alles, weil sich nun herausgestellt hat, daß ich, die revolutionäre Intelligenz, die einst Proklamationen verfaßt hat, dümmer bin, als sie. Ist’s nicht so? An Ihrem Lächeln erkenne ich schon, daß Sie zustimmen.“

Stawrogin dachte nicht daran, zu lächeln oder zuzustimmen, im Gegenteil, er hörte finster und ein wenig ungeduldig zu.

„Wie? Was? Sie sagten: ‚gleichgültig‘?“

Stawrogin hatte kein Wort gesagt.

„Natürlich, selbstverständlich, ich versichere Sie, daß ich das durchaus nicht darum ... nun, um Sie mit meiner Freundschaft zu kompromittieren ... Aber wissen Sie, Sie sind heute furchtbar übelnehmend! Ich komme zu Ihnen mit offenem, frohem Herzen, und Sie – Sie legen jedes meiner Worte auf die Wagschale! Ich werde heute über nichts Kitzliches mit Ihnen sprechen, ich gebe Ihnen mein Wort darauf. Und mit allen Ihren Bedingungen bin ich von vornherein einverstanden!“

Stawrogin schwieg immer noch.

„Wie? Was? Sagten Sie nicht etwas? Sehe schon, hab’ wieder nicht das Rechte getroffen. Sie haben keine Bedingungen gestellt und werden auch keine stellen. Glaub’s schon, glaub’s schon, beruhigen Sie sich nur: ich weiß ja selbst, daß es sich gar nicht lohnt, sie zu stellen – nicht wahr? Ich übernehme schon im voraus die Verantwortung für Sie, wenn Sie wollen – und tue das selbstredend aus Unbegabtheit – also nichts als Unbegabtheit und Unbegabtheit ... Sie lachen? Wie? Was?“

„Nichts ...“ Stawrogin lächelte endlich, „mir fiel nur soeben ein, daß ich Sie in der Tat einmal gewissermaßen unbegabt genannt habe, aber da Sie damals nicht zugegen waren, wird man es Ihnen hinterbracht haben ... Im übrigen bitte ich, etwas schneller zur Sache kommen zu wollen.“

„Aber ich bin ja gerade dabei! Ich rede doch nur wegen Sonntag!“ rief Pjotr Stepanowitsch aus und tat sehr erstaunt. „Nun, was war ich am Sonntag, was meinen Sie? Genau und nichts anderes als die eilfertige, mittelmäßige Unbegabtheit in Person. Und genau in meiner allerunbegabtesten Art und Weise bemächtigte ich mich des Gespräches! Doch man hat mir schon alles verziehen. Erstens, wie gesagt, weil ich vom Monde gefallen bin, denn davon ist man tatsächlich allgemein überzeugt, und zweitens, weil ich ein so nettes Geschichtchen zum besten gab ... und euch allen heraushalf, nicht wahr? So ist es doch?“

„Sie haben absichtlich so erzählt, daß der Zweifel bleibt und man die Mache merkt, während eine Abmachung überhaupt nicht vorlag und ich Sie um nichts gebeten hatte.“

„Das ist’s ja! Das ist’s ja!“ bestätigte wie in hellem Entzücken Pjotr Stepanowitsch. „Ich habe es ja absichtlich so gemacht, daß Sie die ganze Mechanik merken mußten. Ihretwegen habe ich ja gerade die ganze Komödie gespielt, nur um Sie zu fangen und zu kompromittieren. Ich wollte ja nur wissen, bis zu welchem Grade Sie sich fürchten.“

„Es wäre interessant zu wissen, warum Sie jetzt so aufrichtig sind!“

„Oh, ärgern Sie sich nicht, ärgern Sie sich nicht, und funkeln Sie bitte nicht so mit den Augen ... Übrigens tun Sie das ja gar nicht. Also interessant wäre es, zu wissen, warum ich jetzt so aufrichtig bin? Ganz einfach, weil sich jetzt alles verändert hat! Ich habe eben meine Ansichten über Sie geändert, das ist es. Den früheren Weg habe ich für immer verlassen. Ich werde Sie von nun ab nicht mehr auf die alte Art und Weise zu kompromittieren versuchen. Ich habe nun einen neuen Weg.“

„Also die Taktik geändert?“

„Von Taktik kann hier gar keine Rede sein. Von jetzt ab soll in allem nur Ihr freier Wille den Ausschlag geben. Sagen Sie ‚ja‘, – so ist’s gut. Wollen Sie ‚nein‘ sagen – bitte! Da haben Sie meine ganze neue Taktik. Doch an unsere Sache werde ich auch nicht mit dem kleinsten Finger rühren, und zwar genau so lange nicht, bis Sie es selbst befehlen. Sie lachen? Wohl bekomm’s! Auch ich lache ja. Aber soeben meine ich’s ernst, vollkommen ernst, wenn auch ein Mensch, der sich so beeilt, natürlich unbegabt ist, nicht wahr? Einerlei, meinetwegen bin ich auch unbegabt, nur rede ich jetzt im Ernst, das heißt wirklich vollkommen ernst!“

Er sprach in der Tat diesmal ernst, in einem ganz anderen Tone und mit einer seltsamen Erregung, so daß Stawrogin ihn aufmerksam anblickte.

„Sie sagen, Sie hätten Ihre Ansicht über mich geändert?“

„Ja; in dem Augenblick, als Sie damals von Schatoff Ihre Hände zurückzogen. Aber genug, genug davon, und bitte keine Fragen weiter! Mehr sage ich jetzt nicht!“

Er war schon aufgesprungen und fuchtelte wieder mit den Händen, als wollte er sich an ihn gestellter Fragen erwehren: da aber überhaupt keine gestellt wurden und er noch nicht die Absicht hatte, wegzugehen, so setzte er sich wieder hin und beruhigte sich allmählich.

„Nebenbei bemerkt, in Klammern,“ plapperte er sofort wieder los, „man schwatzt hier und wettet schon darauf, daß Sie ihn unbedingt totschlagen würden. Lembke beabsichtigte sogar, die Polizei in Bewegung zu setzen, doch Julija Michailowna hat es ihm verboten ... Aber genug davon, genug, ich sagte es Ihnen nur, um Sie zu benachrichtigen. Doch halt, noch eins: ich habe, wie Sie wissen, die Lebädkins noch am selben Tage auf die andere Flußseite geschafft – meinen Brief mit der neuen Adresse haben Sie doch erhalten?“

„Ja, gleich damals.“

„Dies aber habe ich nicht aus ‚Unbegabtheit‘ getan, sondern einfach aus Bereitwilligkeit. Wenn es ‚unbegabt‘ herausgekommen sein sollte, so war’s dafür doch aufrichtig gemeint.“

„Schon gut, vielleicht war es gerade so richtig ...“ murmelte Stawrogin nachdenklich. „Nur schicken Sie mir keine Briefe mehr.“

„Diesmal ging’s nicht anders, und es war ja nur ein einziger.“

„So weiß Liputin davon?“

„Es war nicht anders möglich. Aber Sie wissen ja selbst, daß Liputin nichts darf ... Übrigens müßte man einmal wieder zu den unsrigen gehen, – das heißt zu jenen da, nicht zu den Unsrigen, kreiden Sie es mir nur nicht gleich wieder an. Beunruhigen Sie sich nicht: es braucht ja nicht gleich zu sein – irgend wann einmal. Augenblicklich regnet es. Ich werde es denen dann sagen und sie können sich versammeln – wir gehen dann am Abend hin. Da sitzen sie nun mit offenen Mäulern, wie die jungen Waldraben im Nest, und warten gespannt darauf, was für einen Bissen wir ihnen gebracht haben – kratzen Bücher hervor und fangen gar an zu streiten. Wirginski ist Allmensch, Liputin Fourierist mit starker Neigung zu Polizeimethoden. Ein Mensch, sag ich Ihnen, der in einer Beziehung kostbar ist, aber in den meisten anderen Beziehungen streng angefaßt werden muß. Und der dritte, der mit den trauernden Ohren, trägt gar ein eigenes System vor. Beleidigt sind sie übrigens alle: weil ich mich so wenig um sie kümmere und sie ein bißchen kaltgestellt habe, haha! Aber hingehen muß man zu ihnen.“

„Sie haben mich jenen wohl als so eine Art Führer vorgestellt?“ fragte Stawrogin so nachlässig wie möglich.

Pjotr Stepanowitsch sah ihn blitzschnell an. Dann ging er schnell auf ein anderes Thema über und tat so, als hätte er die Frage ganz überhört: „Übrigens bin ich täglich zwei- bis dreimal zu Warwara Petrowna gekommen und war gezwungen, viel zu sprechen ...“

„Kann mir denken.“

„Nein, denken Sie nicht das! Ich habe einfach nur versichert, daß Sie Schatoff nicht totschlagen würden – und so ähnliche süße Sachen. Aber stellen Sie sich vor: gleich am anderen Tage hatte sie schon erfahren, daß Marja Timofejewna von mir über den Fluß geschafft worden war – haben Sie ihr das gesagt?“

„Nicht daran gedacht.“

„Wußt ich’s doch, daß nicht Sie ... Aber wer außer Ihnen hätte es ihr dann erzählen können?“

„Liputin, selbstredend.“

„N–nein, nicht Liputin,“ murmelte Pjotr Stepanowitsch geärgert. „Aber ich werde es schon erfahren, wer es war. Ich denke da eher an Schatoff. Aber nein, Unsinn, lassen wir das! Aber schließlich ist’s doch verdammt wichtig ... Übrigens habe ich immer erwartet, daß Ihre Mutter plötzlich mit der Hauptfrage herausplatzte ... Ja! Nur alle die letzten Tage war sie furchtbar niedergeschlagen, fast finster, heute aber, wie ich ankomme: siehe da – sie strahlt förmlich. Woher kommt denn das?“

„Das kommt daher, daß ich ihr heute mein Wort gegeben habe, nach fünf Tagen um Lisaweta Nicolajewnas Hand anzuhalten,“ sagte Stawrogin plötzlich mit unvermuteter Offenheit.

„Ah, so ... nun ja ... ja gewiß ...“ stotterte Pjotr Stepanowitsch und blieb stecken. „Man spricht zwar schon von ihrer Verlobung mit Mawrikij Nicolajewitsch. Sie wissen doch? Es wird auch schon stimmen. Aber Sie haben recht: sie läuft auch vom Altare fort, wenn Sie sie nur rufen. Sie ärgern sich doch nicht darüber, daß ich so ...?“

„Nein.“

„Ich sehe, daß es heute furchtbar schwer ist, Sie zu ärgern, und fange an, Sie zu fürchten ... Bin sehr gespannt darauf, wie Sie morgen erscheinen werden. Sicher haben Sie schon vieles in petto. Ärgern Sie sich wirklich nicht über mich, daß ich so ...?“

Stawrogin antwortete wieder nicht, was Pjotr Stepanowitsch vollends reizte.

„Übrigens: haben Sie das in betreff Lisaweta Nicolajewnas Ihrer Mutter im Ernst gesagt?“ fragte er.

Stawrogin sah ihn kalt und prüfend an.

„Ah, so, ich verstehe schon: um sie zu beruhigen, nun ja.“

„Und wenn ich es im Ernst gesagt habe?“ fragte Stawrogin hart.

„Ja ... nun ... na, dann mit Gott, wie man in solchen Fällen zu sagen pflegt. Würde ja der Sache nichts schaden. (Sehen Sie, ich habe nicht gesagt, ‚unserer‘ Sache, da Sie das Wort ‚unser‘ nun einmal nicht lieben.) Ich aber ... ich – nun ja, ich stehe zu Ihren Diensten, wie Sie wissen.“

„Sie meinen?“

„Gar nichts, gar nichts meine ich!“ wehrte Pjotr Stepanowitsch lachend ab, „denn ich weiß, daß Sie sich Ihre Angelegenheiten im voraus genug überlegen, und daß Sie alles schon bis zu Ende durchgedacht haben. Im übrigen aber wollte ich nur sagen, daß ich im Ernst jederzeit zu Ihren Diensten stehe, jederzeit und unter allen Umständen und in jedem Fall, – das heißt wortwörtlich in je–dem! Sie verstehen doch?“

Stawrogin gähnte.

„Ich langweile Sie schon, wie ich sehe,“ sagte Pjotr Stepanowitsch, plötzlich aufspringend, ergriff seinen runden, ganz neuen Hut und tat, als sei er im Begriff, aufzubrechen, indessen blieb er immer noch und sprach ununterbrochen weiter, jetzt allerdings stehend. Zuweilen schritt er hin und her, und wenn er sehr lebhaft sprach, schlug er sich mit dem Hut ans Knie. „Ja, eigentlich wollte ich Ihnen noch etwas Ergötzliches von den Lembkes erzählen und Sie damit erheitern!“ schwatzte er weiter, anscheinend gut gelaunt.

„Nein, das doch lieber ein nächstes Mal. Wie geht es übrigens mit Julija Michailownas Gesundheit?“

„Was das bei Ihnen allen für gesellschaftliche Gewohnheiten sind! Julija Michailownas Gesundheit ist Ihnen ja so gleichgültig, wie die Gesundheit irgendeiner Katze, und doch erkundigen Sie sich! Aber das lobe ich mir. Also: Julija Michailowna fühlt sich wohl und hat eine Hochachtung vor Ihnen, na, bis zum Aberglauben. Und was Sie von Ihnen alles erwartet, grenzt auch schon an Aberglauben. Über den Sonntag schweigt sie, und ist überzeugt, daß Sie alles sofort niederschlagen werden, sobald Sie nur wieder auf der Bildfläche erscheinen. Bei Gott, sie glaubt ohne weiteres, daß Sie weiß der Teufel was alles vermögen! Mir scheint, sie bildet sich ein, Sie könnten einfach Wunder zustande bringen. Überhaupt sind Sie jetzt ein noch viel rätselhafteres Wesen als je, dazu dieser Nimbus von Romantik, der sich um Sie gebildet hat – wahrhaftig, eine äußerst vorteilhafte Stellung. Und wie gespannt, wie neugierig man auf Sie ist! Bevor ich verreiste, war es schon heiß, doch als ich zurückkehrte, war die Hitze noch gestiegen. Danke übrigens nochmals bestens für die Beschaffung des Briefes. Graf K... wird hier allgemein mit Andacht gefürchtet. Und Sie hält man für so eine Art höheren Spion. Ich nicke dazu. Sie ärgern sich doch nicht?“

„Nein.“

„Das ist nämlich für alles Weitere sogar unbedingt nötig. Die Leute haben ja hier ihre besonderen Bräuche. Ich sporne selbstverständlich noch an. Julija Michailowna ist die Anführerin, Gaganoff der zweite ... Sie lachen? Aber ich lebe doch jetzt nach meiner neuen Taktik: ich lüge und lüge, und dann sage ich plötzlich ein kluges Wort, und zwar gerade in dem Augenblick, wenn alle ein solches suchen. Darauf umringt man mich sofort, fragt und horcht, – ich aber bin schon wieder mitten im Lügen. Jetzt haben mich schon alle aufgegeben. ‚Ach, der!‘ sagen sie und winken ab. ‚Nicht dumm, aber ein bißchen doch vom Monde herabgefallen.‘ Lembke redet mir zu, in den Staatsdienst zu treten, damit ich mich bessere. Ach, wenn Sie wüßten, wie ich ihn trätiere, das heißt, eigentlich kompromittiere. Er glotzt mich nur so an mit seinen Kalbsaugen. Julija Michailowna hilft mir dabei womöglich noch. Doch was ich sagen wollte: Gaganoff ist grenzenlos wütend auf Sie. Gestern hat er in Duchowo ganz gemein über Sie gesprochen. Ich habe ihm natürlich gleich die ganze Wahrheit gesagt, oder vielmehr, versteht sich, nicht die ganze Wahrheit. Ich war gestern vom morgen bis zum Abend draußen bei ihm. Prächtiges Gut übrigens, auch das Herrenhaus ist schön.“

„So ist er jetzt in Duchowo?“ rief Stawrogin plötzlich lebhaft, ja, fast sprang er auf, – wenigstens beugte er sich hastig nach vorn.

„Nein, jetzt nicht mehr, er hat mich selbst hierher gebracht, wir kamen zusammen zurück,“ sagte Pjotr Stepanowitsch ruhig, anscheinend ohne Stawrogins Erregung zu bemerken. „Was ist das? – Da habe ich ein Buch heruntergeworfen,“ und er bückte sich, um den Band aufzuheben. „‚Die Frauen von Balzac‘? Illustriert. Habe nicht gelesen. Lembke schreibt auch Romane.“

„Was Sie sagen?“ Stawrogin tat, als interessiere es ihn sehr.

„Jawohl, in russischer Sprache; selbstredend heimlich. Nur Julija Michailowna weiß es und erlaubt es ihm. Er ist so eine richtige Schlafmütze, aber mit Manieren. Wie das alles ausgearbeitet ist! Welch eine Strenge der Formen, welch eine Folgerichtigkeit und Disziplin! Übrigens, es wäre gut, wenn auch wir etwas davon hätten!“

„Sie loben die Verwaltung?“

„Wie sollte ich nicht! Sie ist doch das einzige, was bei uns in Rußland natürlich und in einem gewissen Grade fertig ist ... nein, nein, ich werde nicht, ich werde nicht, seien Sie unbesorgt, ich werde nicht!“ brach er plötzlich ab. „Über das Delikate kein Wort, seien Sie unbesorgt, kein Wort! Und jetzt leben Sie wohl. – Sie sind ja fast grün.“

„Ich bin erkältet.“

„Das ist glaubwürdig. Legen Sie sich hin! Doch ja, was ich noch sagen wollte: hier im Bezirk gibt es auch einige von der Skopzensekte, interessante Leute ... Doch davon später. Halt ja, eine kleine Anekdote muß ich doch noch erzählen! Hier in der Nähe steht bekanntlich ein Infanterieregiment. Freitag abend habe ich in B... mit den Offizieren zusammen gekneipt. Wir haben doch dort drei Genossen – vous comprenez?[111] Nun, es wurde über den Atheismus gesprochen, und selbstredend ward Gott zum so und so vielten Male kassiert. Man gröhlte und quiekte vor Freude. Übrigens: Schatoff meint, daß man unbedingt mit dem Atheismus beginnen müsse, wenn man es in Rußland zu einem Umsturz bringen wolle – vielleicht hat er recht. Ja, wie gesagt, es wurde über Gott gesprochen – aber da saß auch ein schon ergrauter schnauzbärtiger Hauptmann, saß und saß, schwieg die ganze Zeit. Plötzlich stand er auf, blieb mitten im Zimmer stehen, breitete die Arme aus, und sagte laut, aber doch wie zu sich selbst: ‚Wenn es keinen Gott gibt, was bin ich dann noch für ein Hauptmann?‘ Und damit nahm er seine Mütze und ging.“

„Hat einen ganz klugen Gedanken ausgedrückt,“ sagte Stawrogin und gähnte – jetzt schon zum dritten Male.

„Ja? Ich hab’s nicht verstanden – wollte Sie fragen. Und was war da doch noch –? Ja, so: ganz interessant ist die Spigulinsche Fabrik. Fünfhundert Arbeiter, ein vorzüglicher Choleraherd, ist schon seit fünfzehn Jahren nicht mehr gereinigt, und vom Arbeitslohn wird immer ein Teil abgezogen, die Besitzer aber sind Millionäre. Seien Sie überzeugt, von den Arbeitern haben schon eine ganze Reihe durchaus richtige Vorstellungen von der Internationale und Revolution. Wie, Sie lächeln? Sie werden schon sehen, geben Sie mir nur eine ganz, ganz kleine Weile Zeit! Ich habe Sie schon einmal um Zeit gebeten. Jetzt tue ich’s zum zweiten Male. Doch Verzeihung, ich höre ja schon auf! Runzeln Sie nicht die Stirn, ich höre ja schon auf! Leben Sie wohl. – Ach so!“ er kehrte nochmals um und kam zurück. – „Die Hauptsache vergesse ich ganz! Man hat mir vorhin gesagt, daß unsere Koffer aus Petersburg angekommen sind.“

„Ja, und? ...“ Stawrogin sah ihn an, ohne zu verstehen.

„Das heißt, Ihre Koffer, Ihre Sachen, mit den Fracks, Beinkleidern, der Wäsche – sind die schon hier?“

„Ja, man sagte mir vorhin so etwas ...“

„Ach, könnte man da nicht gleich ...?“

„Fragen Sie den Alexei.“

„Schön! Aber morgen, morgen könnte ich sie doch bekommen? Es sind nämlich mein Frack, ein Anzug und drei Paar Beinkleider darin ... Die von Charmeur, die er mir noch auf Ihre Empfehlung hin gemacht hat, erinnern Sie sich?“

„Ich habe gehört, Sie sollen hier den Dandy spielen,“ lächelte Stawrogin. „Ist es wahr, daß Sie sogar Reitstunden nehmen wollen?“

Pjotr Stepanowitsch verzog den Mund zu einem gezwungenen Lächeln.

„Wissen Sie,“ sagte er dann plötzlich ungeheuer schnell, mit einer eigentümlich abbrechenden Stimme, in der etwas zu zucken schien. „Wissen Sie, Nicolai Wszewolodowitsch, wir wollen das Persönliche lieber aus dem Spiel lassen, nicht wahr, ein für allemal? Sie können mich dabei natürlich verachten, so viel Sie wollen, wenn Ihnen etwas lächerlich erscheint. Aber, wie gesagt, unter uns wollen wir das Persönliche eine Zeitlang fortlassen, nicht wahr?“

„Gut, ich werde es nicht mehr ...“ sagte Stawrogin vor sich hin.

Pjotr Stepanowitsch lächelte, schlug sich mit dem Hut ans Knie, trat von einem Fuß auf den andern und sein Gesicht nahm wieder den alten Ausdruck an.

„Hier halten mich einige sogar für Ihren Nebenbuhler bei Lisaweta Nicolajewna, wie soll ich mich da nicht um mein Äußeres kümmern?“ sagte er lachend. „Übrigens, wer hinterbringt Ihnen denn das alles? Hm! Es ist schon Punkt acht; ich muß gehen. Habe zwar Warwara Petrowna versprochen, jetzt bei ihr vorzusprechen, werde das aber bleiben lassen. Sie aber – legen Sie sich mal hin, dann sind Sie morgen munterer. Draußen ist es stockdunkel und es regnet – übrigens, ich habe ja meine Droschke, denn in der Nacht ist es hier nicht ganz geheuer in den Straßen ... Doch ja, was ich noch sagen wollte: hier in der Umgegend treibt sich jetzt ein gewisser Fedjka herum, ein entsprungener Zuchthäusler aus Sibirien, und stellen Sie sich vor, er ist mein gewesener Leibeigener, den Papachen vor fünfzehn Jahren unter die Soldaten gesteckt hat, um Geld zu bekommen. Eine äußerst bemerkenswerte Persönlichkeit, dieser Fedjka.“

„Sie ... haben mit ihm gesprochen?“ fragte Stawrogin, indem er einmal kurz aufblickte.

„Ja. Vor mir versteckt er sich nicht. Er ist zu allem bereit, zu allem; für Geld, selbstredend, aber er hat auch Überzeugungen, so in seiner Art, versteht sich ... Ja, und noch etwas: wenn Sie vorhin wirklich im Ernst von dieser Absicht – Sie wissen schon, mit Lisaweta Nicolajewna, – so wiederhole ich nochmals, daß ich gleichfalls eine zu allem bereite Persönlichkeit bin, in jeder Beziehung, in welcher Sie nur wollen, und vollkommen zu Ihren Diensten stehe ... Was, Sie wollen –? Ach so, nein, nicht den Stock. Denken Sie sich, mir schien, daß Sie einen Stock suchten!“

Stawrogin suchte nichts und sagte auch nichts, aber er hatte sich allerdings seltsam plötzlich erhoben, mit einer eigentümlichen Bewegung im Gesicht.

„Und wenn Sie etwas in betreff dieses Herrn Gaganoff brauchen sollten,“ fügte Pjotr Stepanowitsch mit einemmal hinzu und wies dabei mit dem Kopf schon ganz ungeniert auf den Brief und den Umschlag unter dem Briefbeschwerer, „so kann ich natürlich auch da alles ordnen, und ich bin überzeugt, daß Sie mich nicht umgehen werden.“

Und ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um und verließ das Zimmer – doch bevor er die Tür hinter sich schloß, steckte er noch einmal den Kopf herein:

„Ich bin nur deshalb so ...“ rief er schnell, „... weil doch beispielsweise auch Schatoff nicht das Recht hatte, damals am Sonntag sein Leben zu riskieren, als er zu Ihnen trat – nicht wahr? Ich möchte wünschen, daß Sie dieses nicht vergäßen.“

Und ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand er.

IV.

Vielleicht dachte Pjotr Stepanowitsch, daß Nicolai Wszewolodowitsch, sobald er allein wäre, mit den Fäusten an die Wand schlagen würde, welchem Wutausbruch Pjotr Stepanowitsch natürlich für sein Leben gerne heimlich zugesehen hätte, wenn das nur irgendwie möglich gewesen wäre. Doch er täuschte sich sehr. Stawrogin blieb vollkommen ruhig. Wohl ganze zwei Minuten stand er noch in derselben Stellung am Tisch, anscheinend in tiefe Gedanken versunken; doch bald legte sich ein müdes, kaltes Lächeln um seinen Mund. Er setzte sich langsam wieder auf den großen Diwan, auf denselben Platz in der Ecke, und schloß die Augen, wie vor Müdigkeit. Die eine Ecke des Briefes lugte noch immer unter dem Briefbeschwerer hervor, doch er rührte sich nicht einmal, um sie zu bedecken.

Bald vergaß er sich ganz.

Warwara Petrowna hatte sich schon alle die Tage mit Sorgen gequält. Als jetzt auch noch Pjotr Stepanowitsch fortgegangen war, ohne sein Versprechen zu halten und zu ihr zu kommen, hielt sie es nicht länger aus und wagte es, selbst zu ihrem Sohne zu gehen. Die ganze Zeit hatte sie gedacht, vielleicht werde er doch endlich etwas Bestimmtes, Entscheidendes sagen. Leise, wie vorhin, klopfte sie an seine Tür, und da sie keine Antwort erhielt, wagte sie wieder, selbst zu öffnen. Als sie sah, wie er so unbeweglich und sonderbar still dasaß, trat sie, mit klopfendem Herzen, vorsichtig näher. Es machte sie stutzig, daß er so schnell und so aufrecht sitzend eingeschlafen war; sogar das Atmen merkte man kaum. Sein Gesicht war blaß und streng, doch dabei wie völlig erkaltet, regungslos. Die Brauen waren ein wenig zusammengezogen und wirkten finster: so glich er entschieden einer leblosen Wachsfigur. Warwara Petrowna stand wohl ganze drei Minuten vor ihm, mit verhaltenem Atem, und plötzlich wurde sie von einer Angst erfaßt. Auf den Fußspitzen ging sie hinaus, doch an der Tür blieb sie einen Augenblick stehen, wandte sich um, machte das Zeichen des Kreuzes über ihren Sohn und verließ dann unbemerkt den Raum – mit einer neuen schweren Empfindung und neuen Sorgen im Herzen.

Er schlief lange, über eine Stunde, und die ganze Zeit in derselben Erstarrung: kein Muskel seines Gesichtes bewegte sich, nicht das leiseste Zucken ging durch seinen Körper; die Brauen blieben unverändert streng zusammengezogen. Wäre Warwara Petrowna noch weitere drei Minuten vor ihm stehen geblieben, so würde sie das erdrückende Empfinden dieser lethargischen Regungslosigkeit ganz gewiß nicht ertragen und ihn aufgeweckt haben. Doch plötzlich schlug er von selbst die Augen auf, blieb aber, ohne sich zu rühren, wohl noch zehn Minuten unverändert sitzen, nur daß seine offenen Augen jetzt beharrlich und wißbegierig in die eine dunkle Ecke des Zimmers sahen, wie sich hineinsehend in irgendeinen ihn dort fesselnden Gegenstand, obgleich sich dort weder etwas Neues, noch etwas Besonderes befand.

Da begann die große, alte Wanduhr zu schnurren und schlug einen einzigen, schweren Schlag. Stawrogin wandte mit einer gewissen Unruhe den Kopf, um auf das Zifferblatt zu sehen. Doch in demselben Augenblick öffnete sich die Tapetentür, die zum Korridor führte, und der Kammerdiener Alexei Jegorowitsch trat ein. Er brachte einen dicken Mantel, ein Halstuch und einen Hut, und in der rechten Hand hielt er einen silbernen Teller, auf dem ein Zettel lag.

„Halb zehn,“ meldete er mit leiser Stimme und trat, nachdem er den Mantel an der Tür auf einen Stuhl gelegt hatte, zu Nicolai Wszewolodowitsch, dem er das Zettelchen präsentierte, ein kleines, ungeschlossenes Papier, auf dem nur zwei Zeilen mit Bleistift geschrieben standen.

Nachdem Stawrogin sie überflogen hatte, nahm er einen Bleistift vom Tisch und kritzelte ein paar Worte auf dasselbe Papier, das er dann wieder offen auf den Teller zurücklegte.

„Sofort zu übergeben, sobald ich ausgegangen bin,“ sagte er und erhob sich vom Diwan.

Es fiel ihm noch zur rechten Zeit ein, daß er einen leichten Samtrock an hatte, so überlegte er einen Augenblick und befahl dann, ihm einen Tuchrock zu bringen, der zu zeremoniellen Abendbesuchen besser paßte. Nachdem er sich ganz angekleidet und den Hut schon aufgesetzt hatte, verschloß er die Tür, durch die vorhin Warwara Petrowna eingetreten war, zog dann den Brief unter dem Briefbeschwerer hervor, steckte ihn zu sich und ging schweigend aus dem Zimmer. Alexei Jegorowitsch folgte ihm. Aus dem Korridor gingen sie über eine schmale steinerne Hintertreppe in den Hausflur hinab, aus dem man unmittelbar in den Park treten konnte. In einer Ecke des Flurs hatte Alexei Jegorowitsch eine Laterne und einen Regenschirm versteckt.

„Infolge des starken Regens ist der Schmutz in den Straßen ganz unerträglich,“ meldete Alexei Jegorowitsch wie mit einem entfernten letzten Versuch, seinen Herrn von dem Ausgehen abzubringen.

Doch Stawrogin machte den Schirm auf und trat schweigend hinaus in den alten Park, der wie ein Keller dunkel, feucht und naß war. Der Wind brauste und rauschte und schaukelte die Wipfel der großen, halb schon kahlen Bäume, die schmalen Sandwege waren weich und glatt. Alexei Jegorowitsch ging so, wie er war, im braunen Frack und ohne Mütze, mit der kleinen Laterne in der Hand, drei Schritte vor seinem Herrn, und beleuchtete den Weg.

„Wird man es nicht bemerken?“ fragte plötzlich Nicolai Wszewolodowitsch.

„Aus den Fenstern wird man es nicht bemerken und außerdem ist alles vorgesehen,“ antwortete der Diener leise und maßvoll.

„Meine Mutter schläft?“

„Haben sich nach der Gewohnheit der letzten Tage gleich nach neun Uhr zurückgezogen, und daß die gnädige Frau es erfährt, ist ganz ausgeschlossen. Wann befehlen der Herr, daß ich Ihn zurückerwarte?“

„Um eins, halb zwei, nicht später als zwei.“

„Zu Befehl.“

Sie umgingen auf den sich schlängelnden Wegen fast den ganzen Park, bis sie an der Ecke der großen Steinmauer stehenblieben, wo ein kleines Pförtchen auf eine schmale entlegene Nebengasse führte.

„Wird die Tür nicht kreischen?“ fragte Nicolai Wszewolodowitsch. Doch Alexei Jegorowitsch sagte, daß er zweimal, „sowohl gestern wie auch heute,“ die Angeln geschmiert habe. Er war bereits ganz durchnäßt vom Regen. Als er das Pförtchen geöffnet hatte, reichte er Nicolai Wszewolodowitsch den Schlüssel.

„Wenn der Herr geruhen, einen weiten Weg zu unternehmen, so möchte ich vorher darauf aufmerksam machen, daß den Leuten hier herum nicht zu trauen ist, besonders nicht in entlegenen Gassen und ... am allerwenigsten jenseits des Flusses,“ wagte er nochmals zu warnen.

Er war ein alter Diener, der einst Nicolai Wszewolodowitsch auf den Armen gewiegt und wie eine Kinderfrau mit ihm gespielt hatte, ein ernster, strenger Mann, der das Gotteswort kannte und gern in der Bibel las.

„Beunruhige dich nicht, Alexei Jegorowitsch.“

„Gott segne Euch, Herr, aber nur beim Anfang guter Taten.“

„Wie?“ Nicolai Wszewolodowitsch, der schon über die Schwelle getreten war, blieb stehen.

Der alte Diener wiederholte mit fester Stimme seinen Segenswunsch. Nie hätte er sich früher unterstanden, solche Worte zu seinem Herrn zu sagen.

Stawrogin sagte nichts, schloß die Tür, steckte den Schlüssel in die Tasche und ging die Gasse entlang, wobei seine Füße bei jedem Schritt an die drei Zoll tief im Schlamm versanken. Endlich erreichte er eine lange, einsame Straße, die wenigstens gepflastert war. Die Stadt kannte er genau: immerhin hatte er noch einen weiten Weg bis zur Bogojawlenskstraße.

Es war schon nach zehn Uhr, als er endlich vor der verschlossenen Pforte des Filippoffschen Hauses stehen blieb.

Die untere Etage war unbewohnt, seitdem man Lebädkins fortgeschafft hatte. Die Fensterläden waren geschlossen. Nur oben in Schatoffs Dachzimmer sah man noch Licht. Da es an der Pforte keine Klingel gab, so klopfte Stawrogin. Nichts rührte sich zunächst. Aber schließlich, nach abermaligem Klopfen, öffnete sich oben ein Klappfenster und Schatoff steckte den Kopf heraus. Es war stockdunkel und daher schwer, jemanden zu erkennen.

Schatoff sah lange hinunter.

„Sind Sie es?“ fragte er plötzlich.

„Ja.“

Schatoff schlug das Fenster zu, kam nach unten und öffnete die Pforte.

Stawrogin trat über die hohe Schwelle und ging stumm an ihm vorüber in den Flügel zu Kirilloff.

V.

Hier war alles unverschlossen. Der Flur und die beiden ersten Zimmer waren dunkel, doch im dritten, in dem Kirilloff wohnte, war es hell, und dort hörte man Lachen und dazwischen ein seltsames frohes Gequiek.

Stawrogin ging auf das Licht zu, blieb aber vor der offenen Tür stehen, ohne zunächst einzutreten.

Der Teetisch war gedeckt. Mitten im Zimmer stand die Alte, die das Haus beaufsichtigte, in einem Unterrock, in Schuhen, doch ohne Strümpfe, und in einer ärmellosen Pelzjacke aus Hasenfell. Sie trug ein anderthalbjähriges Kindchen mit fast weißen Locken, nur mit einem kurzen Hemdchen bekleidet, mit bloßen, dicken Beinchen und erhitztem, pausbackigem Gesichtchen, auf dem Arm. Offenbar hatte sie es soeben aus der Wiege genommen. Das Kindchen mochte noch vor kurzem geweint haben, denn noch standen dicke Tränen unter seinen Augen, doch war es in diesem Augenblicke froh und lustig, reckte seine Ärmchen und lachte, wie so kleine Kinder zu lachen pflegen: mit juchzenden, schluchzenden Nebentönen.

Vor dem Kindchen spielte Kirilloff mit einem großen roten Gummiball: er warf ihn kräftig auf die Diele, so daß er bis an die Decke sprang, wieder fiel und wieder sprang, während das Kindchen dazu überselig sein „Ba! ... Ba! ...“ rief. Kirilloff fing darauf den „Ba“ auf und gab ihn dem Kindchen, das dann natürlich den „Ba“ wieder gleich mit seinen eigenen, ungeschickten Händchen fortwarf, während Kirilloff ihm nachlief, um ihn aufzuheben. Zum Schluß rollte der „Ba“ unter den Schrank. Kirilloff aber streckte sich sofort längelang auf dem Fußboden aus, um ihn mit der Hand wieder hervorzuholen.

In diesem Augenblick trat Stawrogin ins Zimmer.

Das Kind, das ihn zuerst erblickte, warf sich erschreckt an den Hals der Alten und begann laut ein langgezogenes, eintöniges Kinderweinen, so daß die Alte es sofort hinausbrachte.

„Stawrogin?“ fragte Kirilloff, ohne die geringste Verwunderung über den unerwarteten Besuch, zog seine Hand mit dem Ball unter dem Schrank hervor und erhob sich. „Wollen Sie Tee?“

„Mit dem größten Vergnügen, wenn er warm ist, ich bin ganz durchnäßt.“

„Warm, sogar heiß,“ sagte Kirilloff mit Vergnügen, nachdem er sich davon überzeugt hatte. „Setzen Sie sich. Sie sind schmutzig, tut nichts. Ich kann’s später mit einem nassen Tuch ...“

Stawrogin setzte sich und trank fast auf einen Zug die eingegossene Tasse Tee aus.

„Noch?“

„Nein, danke.“

Kirilloff, der bis dahin gestanden hatte, setzte sich sogleich und fragte: „Wozu sind Sie gekommen?“

„Bitte, lesen Sie diesen Brief. Er ist von Gaganoff. Sie werden sich entsinnen, ich habe Ihnen von ihm schon in Petersburg erzählt.“

Kirilloff nahm den Brief, las ihn durch, legte ihn darauf wieder auf den Tisch und sah Stawrogin erwartungsvoll an.

„Mit diesem Gaganoff,“ erklärte Nicolai Wszewolodowitsch, „bin ich, wie Sie wissen, zum ersten Male in Petersburg vor kaum einem Monat zusammengetroffen, und dann sind wir uns noch ungefähr dreimal in der Gesellschaft begegnet. Wir wurden einander nicht vorgestellt, sprachen auch nicht miteinander und doch fand er Gelegenheit, sich ungezogen mir gegenüber zu benehmen. Ich habe Ihnen das ja damals alles erzählt. Doch was Sie nicht wissen, ist folgendes. Als er darauf Petersburg, noch vor mir, verließ, schrieb er mir einen Brief, der zwar noch nicht so beleidigend war, wie dieser hier, aber doch schon einen durchaus unzulässigen Ton hatte. Dabei stand mit keinem einzigen Worte darin, warum der Brief eigentlich geschrieben worden war. Ich antwortete ihm sofort und erklärte ihm ganz offenherzig, daß ich ‚da es sich wohl um den Vorfall mit seinem Vater vor vier Jahren hier im Klub handeln werde‘, – daß ich meinerseits durchaus bereit sei, ihm noch nachträglich meine Entschuldigung zu machen, einfach aus dem Grunde, weil meine Handlung damals im Krankheitszustande geschehen sei. Er antwortete mir nichts darauf und reiste irgendwohin fort. Nun komme ich hierher und finde ihn hier in einer wahren Tollwut auf mich. Man hat mir öffentliche Äußerungen von ihm mitgeteilt, die regelrechte Beschimpfungen sind, dazu die unglaublichsten Anschuldigungen. Und heute erhalte ich diesen Brief, – einen ähnlichen hat wohl noch nie jemand geschrieben! Mit Ausdrücken wie zum Beispiel ‚Ihre geschlagene Fratze‘. – Ich bin nun zu Ihnen gekommen, da ich hoffe, daß Sie mir nicht abschlagen werden, mein Sekundant zu sein?“

„In der Wut kann man schon ... Puschkin hat auch so geschrieben. Gut, ich komme. Sagen Sie, wie?“

Stawrogin erklärte, daß er ihn bäte, gleich morgen zu Gaganoff zu gehen. Er solle die Entschuldigung wiederholen und sogar noch einen zweiten Entschuldigungsbrief ankündigen – diesen letzteren aber nur unter der Bedingung, daß Gaganoff sein Wort gibt, keinen weiteren Brief irgendwie beleidigenden Inhalts zu schreiben, während sein letzter Brief als nicht erhalten betrachtet werden solle.

„Zu viel Konzessionen, er wird nicht darauf eingehen ...“

„Ich bin vor allem hierhergekommen, um zu erfahren, ob Sie überhaupt bereit sind, ihm solche Bedingungen zu überbringen?“

„Ich werde schon. Aber er wird nicht darauf eingehen ...“

„Das weiß ich.“

„Er will sich schlagen. Sagen Sie, wie?“

„Das ist es eben: ich möchte morgen die ganze Geschichte beendet haben. Sagen wir, um neun sind Sie bei ihm. Er wird Sie anhören und Ihr Ersuchen abschlagen. Dann wird er seinen Sekundanten zu Ihnen schicken, sagen wir – gegen elf. Mit dem besprechen Sie sich also, und um eins oder zwei könnten wir an Ort und Stelle sein. Ich möchte Sie sehr bitten, alles zu tun, was an Ihnen liegt, damit die Angelegenheit diesen Verlauf nimmt. Waffen natürlich Pistolen. Das Weitere – darum bitte ich Sie ganz besonders – richten Sie so ein: Vereinbaren Sie einen Abstand von zehn Schritten zwischen den Barrieren. Stellen Sie einen jeden von uns weitere zehn Schritt von seiner Barriere auf. Nach dem gegebenen Zeichen gehen wir aufeinander zu. Jeder muß unbedingt bis zu seiner Barriere gehen. Doch schießen kann er auch schon früher, im Gehen. So, das wäre alles, denke ich.“

„Zehn Schritt zwischen den Barrieren ist sehr nah,“ bemerkte Kirilloff.

„Nun, dann meinetwegen zwölf, aber nicht mehr. Sie begreifen doch, daß er sich nicht zum Vergnügen duellieren will. Verstehen Sie eine Pistole zu laden?“

„Ja. Ich habe selbst Pistolen. Ich werde mein Wort geben, daß Sie mit meinen noch nicht geschossen haben. Sein Sekundant gibt auch sein Wort für seine Pistolen. Dann werfen wir das Los, ob seine oder unsere.“

„Vorzüglich.“

„Wollen Sie die Pistolen sehen?“

„Meinetwegen.“

Kirilloff hockte vor seinem Koffer nieder, der noch immer unausgepackt in der Ecke stand, zog einen Kasten aus Palmenholz hervor, der innen mit rotem Samt ausgeschlagen war, und entnahm ihm zwei prachtvolle, äußerst kostbare Pistolen.

„Habe alles. Pulver, Kugeln, Patronen. Auch einen Revolver, warten Sie.“

Er kramte wieder in seinem Koffer und zog einen zweiten Kasten mit einem sechsläufigen Revolver hervor.

„Sie haben ja Waffen mehr als nötig! Und sehr teuere.“

„Sehr.“

Der gänzlich mittellose Kirilloff, der übrigens seine Armut selbst nie bemerkte, zeigte sichtlich nicht ohne Stolz seine Kostbarkeiten, die er zweifellos mit unglaublichen Opfern erstanden hatte.

„Sie haben immer noch dieselbe Absicht?“ fragte Stawrogin mit einer gewissen Vorsicht, nach minutenlangem Schweigen.

„Dieselbe,“ antwortete Kirilloff kurz: am Ton der Stimme hatte er sofort erkannt, wovon sein Gast sprach.

„Und – wann?“ fragte Stawrogin noch vorsichtiger, und wieder nach längerem Schweigen.

Kirilloff hatte inzwischen beide Kasten in den Koffer zurückgelegt und setzte sich nun auf seinen alten Platz.

„Das hängt nicht von mir ab. Sie wissen doch. Wann man mir sagen wird,“ murmelte er mehr vor sich hin, als wäre die Frage ihm ein wenig lästig, doch gleichzeitig war er, das fühlte man, durchaus bereit, auf andere Fragen zu antworten.

Er sah dabei mit seinen schwarzen glanzlosen Augen Stawrogin unverwandt an, mit einem seltsam gelassenen, doch guten und freundlichen Gefühl.

„Ich verstehe das gewiß – sich zu erschießen ...“ begann Stawrogin von neuem, nachdem er lange, wohl drei Minuten lang grübelnd geschwiegen hatte, während sein Gesicht sich verdüsterte. „Ich habe mir das selbst zuweilen vorgestellt. Aber es findet sich dann immer ein gewisser neuer Gedanke ein: wie, wenn man, zum Beispiel, ein Verbrechen beginge, oder etwas vor allem Schimpfliches, das heißt Schmachvolles, eine Schande, nur muß sie unendlich gemein sein und zugleich ... lächerlich – eine Schandtat, die von der Menschheit in tausend Jahren nicht vergessen wird, über die sie tausend Jahre lang flucht, und nun plötzlich der Gedanke: ‚ein Schuß in die Schläfe und es ist nichts mehr da‘. Was gehen einen dann noch die Menschen an, und daß sie einem tausend Jahre lang fluchen werden! Ist es nicht so?“

„Sie meinen, das ist ein neuer Gedanke?“ sagte Kirilloff, nachdem er eine Weile nachgedacht hatte.

„Nein ... das nicht ... aber als ich ihn zum ersten Male dachte, da empfand ich ihn als ganz neu.“

„Sie empfanden einen Gedanken –“ sprach ihm Kirilloff nach. „Das ist gut. Es gibt viele Gedanken, die waren immer da, und plötzlich werden sie neu. Das ist richtig. Jetzt sehe ich vieles wie zum erstenmal.“

„Nehmen wir an, Sie waren auf dem Monde,“ unterbrach ihn Stawrogin, ohne Kirilloffs Worte zu beachten, und spann seinen eigenen Gedanken weiter. „Nehmen wir an, Sie haben dort oben alle diese lächerlichen Schmutzereien begangen. Sie wissen ganz genau, daß man Ihnen dort oben fluchen wird, tausend Jahre lang, ewig, auf dem ganzen Monde ... Aber Sie sind jetzt hier auf der Erde und sehen auf den Mond von hier aus: was geht es Sie dann hier auf der Erde an, was Sie dort oben alles getan haben – und daß die dort tausend Jahre lang bei Ihrem Namen ausspeien werden, – ist es nicht so?“

„Weiß nicht,“ antwortete Kirilloff. „Ich bin nicht auf dem Monde gewesen,“ fügte er hinzu, aber ohne jede Spur von Ironie, einfach als Ausdruck der Tatsache.

„Wessen Kind war das vorhin?“

„Die Schwiegermutter der Alten ist angekommen. Nein, Schwiegertochter ... einerlei. Vor drei Tagen. Liegt jetzt krank mit dem Kind. In der Nacht schreit es viel. Der Magen. Die Mutter schläft, und die Alte bringt es dann her. Ich spiele Ball mit ihm. Ein Hamburger Ball, hab’ ihn in Hamburg gekauft. Das stärkt den Rücken. Ein kleines Mädchen.“

„Sie lieben Kinder?“

„Ja,“ antwortete Kirilloff, übrigens ziemlich gleichmütig.

„Dann lieben Sie wohl auch das Leben?“

„Ja, auch das Leben. Wieso?“

„Wenn Sie doch beschlossen haben, sich zu erschießen.“

„Wieso denn? Warum zusammen? Das Leben für sich und jenes für sich. Leben ist, aber Tod ist überhaupt nicht.“

„So glauben Sie an ein zukünftiges ewiges Leben?“

„Nein, nicht an ein zukünftiges ewiges, sondern an ein diesseitiges ewiges. Es gibt Minuten, sie kommen zu den Minuten, und die Zeit bleibt plötzlich stehen und wird ewig sein.“

„Sie hoffen, zu so einer Minute zu kommen?“

„Ja.“

„Das ist in unserer Zeit wohl kaum möglich,“ meinte Stawrogin, gleichfalls ohne jede Spur von Ironie, langsam und wie in Gedanken verloren. „In der Apokalypse schwört der Engel, daß es keine Zeit mehr geben werde.“

„Ich weiß. Das ist dort sehr richtig. Ist deutlich und genau. Wenn der ganze Mensch das Glück erreicht, dann wird es keine Zeit mehr geben, weil sie nicht nötig ist. Ein sehr richtiger Gedanke.“

„Wo wird man sie denn hinstecken?“

„Nirgendwo wird man sie hinstecken. Zeit ist kein Gegenstand, sondern eine Idee. Sie wird auslöschen im Verstande.“

„Alte philosophische Gemeinplätze, immer ein und dieselben von allem Anfange an,“ murmelte Stawrogin wie mit einem gewissen angeekelten Bedauern.

„Ein und dieselben! Ja, immer ein und dieselben vom Anfang aller Jahrhunderte an und gar keine anderen niemals!“ griff Kirilloff mit blitzenden Augen Stawrogins Wort auf, ganz als läge in diesem Gedanken fast ein Triumph!

„Ich glaube, Sie sind sehr glücklich, Kirilloff?“

„Ja, sehr glücklich,“ antwortete dieser, als gäbe er die allergewöhnlichste Antwort.

„Aber noch vor kurzem waren Sie doch so betrübt und ärgerten sich über Liputin.“

„Hm! ... Aber jetzt nicht. Damals wußte ich noch nicht, daß ich glücklich war. Haben Sie ein Blatt gesehn? Ein Blatt vom Baum?“

„Freilich.“

„Ich sah vor kurzem ein gelbes, etwas grün noch, an den Rändern angefault. Es kam mit dem Wind. Als ich zehn Jahre war, schloß ich im Winter die Augen und stellte mir ein Blatt vor, ein grünes, glänzendes, mit Äderchen, und die Sonne leuchtet. Ich schlug die Augen auf und glaubte nicht, denn es war so schön, und schloß sie wieder.“

„Was soll das? Eine Allegorie?“

„N–nein ... warum? Keine Allegorie. Einfach ein Blatt. Nur ein Blatt. Ein Blatt ist gut. Alles ist gut.“

„Alles?“

„Alles. Der Mensch ist unglücklich, weil er nicht weiß, daß er glücklich ist. Nur deshalb. Das ist alles, alles! Wer es erfährt, der wird sofort gleich glücklich sein, im selben Augenblick. Diese Schwiegertochter wird sterben, und das Kind bleibt – alles ist gut. Ich habe es plötzlich entdeckt.“

„Und wenn jemand vor Hunger stirbt, oder wenn jemand ein kleines Mädchen entehrt und schändet – ist das auch gut?“

„Auch gut. Und wenn man ihm für das Mädchen den Kopf zerspaltet, auch das ist gut. Und wenn man ihm den Kopf nicht zerspaltet, auch das ist gut. Alles ist gut, alles. Für alle die ist es gut, die da wissen, daß – alles gut ist. Wenn sie wüßten, daß sie es gut haben, dann würden sie es auch gut haben. Aber so lange sie nicht wissen, daß sie es gut haben, so lange werden sie es auch nicht gut haben. Das ist der ganze Gedanke, der ganze, und außer ihm gibt es überhaupt gar keinen.“

„Wann haben Sie es denn erfahren, daß Sie so glücklich sind?“

„In der vorigen Woche am Dienstag, nein, am Mittwoch, denn es war schon Mittwoch. In der Nacht.“

„Und bei welcher Gelegenheit denn?“

„Ich weiß nicht mehr. So. Ich ging im Zimmer ... Einerlei. Ich brachte die Uhr zum Stehen. Es war siebenunddreißig Minuten nach zwei.“

„Wohl zum Symbol dessen, daß die Zeit stehen bleiben muß?“

Kirilloff schwieg.

„Die Menschen sind nicht gut,“ begann er plötzlich wieder, „weil sie nicht wissen, daß sie gut sind. Wenn sie es wissen werden, so werden sie auch nicht mehr ein kleines Mädchen vergewaltigen. Sie müssen nur alle erfahren, daß sie gut sind, und alle werden sogleich gut sein. Alle ohne Ausnahme.“

„Nun, Sie selbst, zum Beispiel, Sie haben es nun erfahren, also sind Sie jetzt gut?“

„Ich bin gut.“

„Damit bin ich übrigens einverstanden,“ sagte Stawrogin, mit gerunzelter Stirn, vor sich hin.

„Wer da lehren wird, daß alle gut sind, wird die Welt beenden.“

„Der das lehrte, den haben sie gekreuzigt,“ sagte Stawrogin.

„Er wird kommen und sein Name wird sein Menschgott.“

„Gottmensch?“

„Nein, Menschgott. Das ist der Unterschied.“

„Sind nicht vielleicht Sie es, der hier das Lämpchen vor dem Heiligenbilde angezündet hat?“

„Ja, ich habe es angezündet.“

„Wieder gläubig geworden?“

„Die Alte liebt, daß das Lämpchen ... Heute hatte sie keine Zeit,“ sagte Kirilloff undeutlich.

„Aber selbst beten Sie noch nicht?“

„Ich bete zu allem. Sehen Sie, eine Spinne kriecht dort an der Wand und ich bin ihr dankbar dafür, daß sie kriecht.“

Seine Augen brannten wieder. Er sah immer noch unverwandt Stawrogin an, mit festem, standhaftem Blick. Stawrogin beobachtete ihn finster und widerwillig, doch in seinem Blick lag kein Spott.

„Ich wette, daß Sie, wenn ich nächstens wiederkomme, bereits an Gott glauben werden.“

Er stand auf und nahm seinen Hut.

„Wieso?“ Kirilloff erhob sich gleichfalls.

„Wenn Sie wüßten, daß Sie an Gott glauben, dann würden Sie an ihn glauben. Da Sie aber noch nicht wissen, daß Sie an ihn glauben, so glauben Sie auch noch nicht an ihn,“ sagte Stawrogin mit einem flüchtigen Lächeln.

„Das ist es nicht.“ Kirilloff dachte nach. „Sie haben den Gedanken umgekehrt. Ein Kavalierscherz. Denken Sie daran, was Sie in meinem Leben bedeutet haben, Stawrogin.“

„Leben Sie wohl, Kirilloff.“

„Kommen Sie wieder nachts; wann?“

„Ja, haben Sie denn schon vergessen, was morgen bevorsteht?“

„Ach, richtig, ich vergaß. Aber seien Sie unbesorgt, ich werde nicht verschlafen. Ich verstehe aufzuwachen, wann ich will. Ich lege mich hin und sage: um sieben Uhr – und wache auf um sieben Uhr; um zehn Uhr – und wache auf um zehn Uhr.“

„Sie haben ja merkwürdige Eigenschaften.“ Stawrogin sah in sein bleiches Gesicht.

„Ich werde die Hofpforte aufmachen.“

„Bemühen Sie sich nicht, Schatoff wird mich hinauslassen.“

„Ach so, Schatoff. Gut. Leben Sie wohl.“

VI.

Die Flurtür des leeren Hauses, in dem Schatoff wohnte, war nicht verschlossen. Im Flur war es stockdunkel, so daß Stawrogin mit der Hand tastend nach der Treppe zu suchen begann. Da wurde plötzlich im oberen Stock eine Tür aufgemacht und ein Lichtschimmer ließ ihn die Treppe sehen. Schatoff trat selbst nicht heraus, er ließ nur die Tür offen stehen. Als Stawrogin oben anlangte und an der Türschwelle stehen blieb, sah er ihn in der anderen Ecke des Zimmers an seinem Tisch stehen und warten ...

„Würden Sie mich in einer Angelegenheit empfangen?“ fragte Stawrogin, ohne einzutreten.

„Treten Sie ein. Setzen Sie sich,“ antwortete Schatoff. „Schließen Sie die Tür. Warten Sie, ich werde selbst ...“

Er schloß die Tür, drehte den Schlüssel um und setzte sich dann Stawrogin gegenüber. Er war in dieser Woche merklich abgemagert und schien jetzt zu fiebern.

„Sie haben mich müde gequält,“ sagte er halblaut murmelnd, den Blick zu Boden gesenkt. „Warum sind Sie nicht früher gekommen?“

„Sie waren so überzeugt, daß ich kommen werde?“

„Ja ... Warten Sie, ich habe im Fieber phantasiert ... vielleicht phantasiere ich auch jetzt noch ... Warten Sie.“

Er stand auf, ging zu seinem Bücherbrett und nahm von dem obersten der drei Bretter einen Gegenstand: es war ein Revolver.

„In einer Nacht träumte mir im Fieber, daß Sie kommen würden, um mich zu töten. Da habe ich mir am anderen Morgen von dem Taugenichts Lämschin für mein letztes Geld diesen Revolver gekauft. Ich wollte mich Ihnen nicht ergeben. Später kam ich wieder zu mir ... Ich habe weder Kugeln, noch Pulver ... seitdem liegt er hier auf dem Bücherbrett. Warten Sie.“

Er ging schon zum Fenster und wollte es öffnen.

„Nicht doch, warum hinauswerfen!“ rief ihn Stawrogin zurück. „Er kostet Geld ... und morgen würden die Leute davon sprechen, daß unter Schatoffs Fenster Mordwerkzeuge liegen. Legen Sie ihn wieder hin. – So. Und jetzt setzen Sie sich. Sagen Sie, warum beichten Sie mir förmlich Ihren Gedanken, daß ich zu Ihnen kommen würde, um Sie zu töten? Ich bin auch jetzt nicht gekommen, um mich mit Ihnen zu versöhnen, sondern um über etwas sehr Notwendiges mit Ihnen zu sprechen. Erklären Sie mir zunächst eines: Sie haben mich doch nicht wegen meiner Verbindung mit Ihrer Frau geschlagen?“

„Sie wissen doch selbst, daß ich nicht deswegen ...“

Schatoff sah wieder zu Boden.

„Und auch nicht wegen des dummen Klatsches über Darja Pawlowna?“

„Nein, nein, natürlich nicht! Blödsinn! Meine Schwester hat mir gleich zu Anfang gesagt ...“ erwiderte Schatoff mit Ungeduld, schroff, und fast stampfte er mit dem Fuß auf.

„Also habe ich es richtig erraten ... und auch Sie haben das andere erraten,“ fuhr Stawrogin ruhig fort. „Sie irren sich nicht, es ist so: Marja Timofejewna Lebädkin ist meine rechtmäßige, mir vor viereinhalb Jahren in Petersburg angetraute Frau. – Sie haben mich doch ihretwegen geschlagen?“

Ganz bestürzt saß Schatoff da, hörte und schwieg.

„Ich ahnte es und konnte es doch nicht glauben,“ murmelte er endlich und sah dabei Stawrogin sonderbar an.

„Und so schlugen Sie?“

Schatoff wurde feuerrot und stammelte fast zusammenhangslos:

„Ich habe es ... wegen Ihrer Erniedrigung ... für Ihren Fall ... Ihre Lüge ... Ich trat nicht an Sie heran, um Sie zu bestrafen ... Als ich auf Sie zuging, wußte ich selbst noch nicht, daß ich schlagen würde. Ich ... habe es deswegen ... weil Sie so viel in meinem Leben bedeutet haben ... Ich –“

„Verstehe, verstehe schon, sparen Sie die Worte. Es tut mir leid, daß Sie heute fiebern, denn ich muß über eine wichtige Sache mit Ihnen sprechen.“

„Ich habe schon zu lange auf Sie gewartet.“ Schatoff zitterte geradezu und erhob sich vom Stuhl. „Sprechen Sie von Ihrer Angelegenheit, ich werde dann sprechen ... nachher ...“

Er setzte sich wieder.

„Diese Sache hat mit alledem nichts gemein,“ begann Stawrogin, der ihn mit Neugier beobachtete. „Gewisse Umstände haben mich gezwungen, heute noch diese späte Stunde zu wählen, um Sie zu benachrichtigen, daß man Sie vielleicht bald ermorden wird.“

Schatoff blickte ihn wild an.

„Ich weiß, daß mir Gefahr drohen könnte,“ sagte er zurückhaltend, „aber – wie können Sie denn das wissen?“

„Weil ich ebenfalls zu jenen gehöre und eben solch ein Mitglied des Bundes bin, wie Sie.“

„Sie ... Sie ... ein Glied des ... Bundes?“

„Ich sehe an Ihren Augen, daß Sie alles von mir erwartet hätten, nur das nicht,“ sagte Stawrogin, mit kaum merklichem Lächeln. „Aber, erlauben Sie, dann wußten Sie also schon, daß man Sie ermorden will?“

„Nicht einmal gedacht habe ich daran! Und auch jetzt glaube ich es nicht, obschon Sie es sagen! Aber wer kann denn vor diesen Eseln sicher sein!“ rief er plötzlich wütend und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Ich fürchte sie aber nicht! Ich habe mit ihnen gebrochen. Der eine ist viermal zu mir gekommen und hat mir gesagt, daß man austreten kann ... aber –“ er sah auf Stawrogin – „was wissen Sie denn eigentlich davon?“

„O, fürchten Sie nichts, ich betrüge Sie nicht,“ fuhr Stawrogin kühl fort, mit dem Ausdruck eines Menschen, der nur eine Pflicht erfüllt. „Sie wollen mich examinieren: was ich davon weiß? Ich weiß, daß Sie in diesen Verband eingetreten sind, als Sie noch im Auslande waren, kurz vor Ihrer Reise nach Amerika und, ich glaube, gleich nach unserem letzten Gespräch, über das Sie mir dann ja in Ihrem Brief aus Amerika so viel geschrieben haben. Verzeihen Sie, bitte, daß ich nicht gleichfalls mit einem Brief darauf geantwortet habe, und nur ...“

„Das Geld schickten! Warten Sie einen Augenblick,“ unterbrach ihn Schatoff, zog eilig das Schubfach des Tisches auf und suchte unter einem Stoß von Papieren einen Hundertrubelschein hervor. „Hier, bitte, nehmen Sie die hundert Rubel wieder, die Sie mir schickten, ohne Sie wäre ich dort umgekommen. Ich würde Ihnen die Summe noch lange nicht zurückgeben können, ... wenn nicht Ihre Mutter diese hundert Rubel vor neun Monaten ... nach meiner Krankheit ... mir meiner Armut wegen geschenkt hätte. Doch fahren Sie fort, bitte ...“

Schatoff war vor Aufregung ganz atemlos.

„In Amerika änderten Sie dann Ihre Anschauungen, und als Sie nach der Schweiz zurückgekehrt waren, wollten Sie sich vom Bunde lossagen. Man antwortete Ihnen nicht, sondern beauftragte Sie, hier in Rußland von irgend jemandem eine Setzmaschine in Empfang zu nehmen und sie so lange aufzubewahren, bis eine von jenen beauftragte Person sie Ihnen wieder abnehmen würde. Ich bin nicht über alle Einzelheiten unterrichtet, doch in der Hauptsache verhält es sich so, nicht wahr? Sie aber nahmen den Auftrag unter der Bedingung oder vielleicht auch nur in der Hoffnung an, daß es – deren letzte Forderung sei, und Sie dann endgültig frei wären. Alles das habe ich nicht von jenen, sondern ganz zufällig erfahren. Ich möchte Sie nun auf eines aufmerksam machen, was Sie noch nicht zu wissen scheinen: daß nämlich jene Leute durchaus nicht die Absicht haben, Sie freizugeben.“

„Das ist unmöglich!“ brüllte Schatoff auf. „Ich habe ihnen ehrlich erklärt, daß ich geistig nichts mehr mit ihnen gemein habe! Das ist mein Recht, das Recht meines Gewissens und meiner Überzeugung ... Ich werde das nicht dulden! Es gibt keine Macht, die ...“

„Wissen Sie, schreien Sie lieber nicht so,“ fiel ihm Stawrogin sehr ernst ins Wort. „Dieser Werchowenski ist ein Mensch, der vielleicht in diesem Augenblick hier auf Ihrem Treppenflur zuhört, wenn nicht mit eigenen, so doch mit fremden Ohren, – was sich ja schließlich gleich bleibt. Sogar der ewig betrunkene Lebädkin war verpflichtet, Sie zu beobachten, und Sie mußten vielleicht wiederum auf ihn aufpassen, – war’s nicht so? Übrigens, sagen Sie mir lieber, hat sich Werchowenski jetzt mit Ihren Argumenten einverstanden erklärt, oder nicht?“

„Er war einverstanden: er sagte, ich könne – und ich hätte das Recht ...“

„Nun, dann betrügt er Sie. Ich weiß genau, daß sogar Kirilloff, der beinahe überhaupt nicht zu ihnen gehört, beauftragt war, Nachrichten über Sie zu schicken. Agenten haben sie in Mengen, und viele wissen es nicht einmal, daß sie dem Verbande dienen. Auf Sie hat man beständig aufgepaßt. Pjotr Stepanowitsch ist unter anderem auch deshalb hergekommen, um Ihre Angelegenheit endgültig zu erledigen: da Sie zu viel wissen und vielleicht sie alle verraten könnten, hat er die Vollmacht, Sie in einem passenden Augenblick zu beseitigen. Erlauben Sie mir, zu bemerken, daß jene die feste Überzeugung haben, daß Sie ein Spion sind, der, wenn er auch bis jetzt noch nichts verraten hat, es doch bestimmt tun wird. Ist das wahr?“ fragte Stawrogin in einem ruhigen, ganz gewöhnlichen Tone.

Schatoff verzog den Mund, als er eine solche Frage in einem solchen Tone hörte.

„Und wenn ich ein Spion wäre – wem sollte ich denn etwas verraten?“ fragte er hämisch zurück. „Nein, lassen Sie das! Zum Teufel mit mir! Aber Sie!“ rief er aus, sich plötzlich von neuem auf die Nachricht stürzend, die Stawrogin betraf, und die ihn sichtlich weit mehr erschüttert hatte, als die von seiner eigenen Gefahr. „Aber Sie, Sie, Stawrogin, wie konnten Sie sich in eine so schamlose, geistlose Knechtsgesellschaft verlieren! ... Sie, ein Mitglied dieser Bande! Ist denn das die Heldentat Nicolai Stawrogins!?“ rief er ganz verzweifelt aus und erhob wie fassungslos die Hände, als könnte es nichts Bittereres und Trostloseres für ihn geben, als diese Entdeckung.

„Erlauben Sie –“ wunderte Stawrogin sich tatsächlich, „Sie scheinen ja förmlich eine Sonne in mir zu sehen und sich selbst, im Vergleich zu mir, für so etwas wie ein Insekt zu halten? Auch aus Ihrem Brief aus Amerika habe ich das ...“

„Sie ... Sie wissen ... Eh, lassen wir mich aus dem Spiel!“ brach Schatoff plötzlich das ab. „Aber wenn Sie über sich selbst etwas sagen, erklären könnten? ... Auf meine Frage? – So tun Sie es!“ bat er erregt.

„Mit Vergnügen. Sie fragen, wie ich mich in diesen Kreis verlieren konnte, in diese geistige Spelunke? Ich bin jetzt sogar verpflichtet, Ihnen einige Mitteilungen darüber zu machen. Genau genommen, gehöre ich durchaus nicht zu diesem Bunde, habe auch früher nicht zu ihm gehört und habe weit mehr das Recht, als Sie, ihn zu verlassen, da ich ausdrücklich niemals in ihn eingetreten bin. Im Gegenteil, ich habe den Leuten gleich zu Anfang erklärt, daß ich ihnen durchaus nicht sonderlich gewogen bin, – und wenn ich ihnen zufällig einmal geholfen habe, so habe ich das nur wie ein müßiger Mensch getan. Ich habe teilweise an der Reorganisation des Verbandes nach einem neuen Plane mitgearbeitet, doch das ist auch alles. Jene aber sind jetzt bedenklich geworden und mit sich übereingekommen, daß auch ich ihnen gefährlich werden könnte, und deshalb bin auch ich, wenn ich mich nicht irre, zum Tode verurteilt.“

„Oh, mit Todesurteilen sind sie gleich bei der Hand, das geht bei ihnen schnell – und alles vorschriftsmäßig auf bestempeltem Papier, das dann von dreieinhalb Menschen unterschrieben wird! Und Sie glauben, daß die dazu fähig wären! ...“

„Hierin haben Sie teilweise recht, teilweise auch nicht,“ fuhr Stawrogin mit der früheren Gleichmütigkeit, fast Faulheit, fort. „Zweifellos ist auch viel Phantasie dabei, wie ja gewöhnlich in solchen Fällen, und in der Phantasie vergrößert das Häufchen sein Wachstum und seine Bedeutung. Ja, meiner Meinung nach besteht die ganze Gesellschaft, wenn Sie wollen, einzig und allein aus Pjotr Werchowenski, und er ist schon etwas zu bescheiden, wenn er sich nur für einen Agenten des Verbandes hält. Der Hauptgedanke, der der ganzen Sache zugrunde liegt, ist nicht gerade dümmer, als bei anderen Verbänden dieser Art. Sie haben Beziehungen zur Internationale. Es ist ihnen gelungen, sich in Rußland Agenten anzulegen, und sie haben sogar ein ziemlich originelles Verfahren erfunden ... doch selbstverständlich nur theoretisch. Was nun Sie und mich betrifft, ich meine, ihre Absichten mit uns, so ist ihre russische Organisation eine so dunkle Sache, daß man in der Tat auf alles mögliche gefaßt sein kann. Und vergessen Sie nicht, Werchowenski ist ein Mensch, der das, was er will, auch durchsetzt.“

„Diese Wanze, dieser ungebildete Flegel, dieser Flachkopf, der von Rußland überhaupt nichts versteht!“ rief Schatoff wütend aus.

„Sie kennen ihn nur flüchtig. Es ist wahr, daß sie alle nur wenig von Rußland verstehen, aber schließlich doch wohl nur wenig weniger als Sie und ich. Außerdem ist Werchowenski Enthusiast.“

„Werchowenski Enthusiast?“

„O ja. Es gibt einen Punkt, wo er aufhört, bloß Narr zu sein, und sich in einen ... Halbverrückten verwandelt. Erinnern Sie sich bitte eines Ihrer eigenen Aussprüche: ‚wissen Sie auch, wie stark ein einzelner Mensch sein kann‘? Bitte, lachen Sie nicht, er ist sogar sehr fähig, den Hahn eines Gewehres abzudrücken. Die Leute sind überzeugt, daß auch ich ein Spion bin. Und da sie die Sache nicht anzufassen verstehen, so beschuldigen sie mit Vorliebe andere der Spionage.“

„Aber Sie fürchten sie doch nicht.“

„N–nein ... Ich fürchte sie nicht sehr ... Doch mit Ihnen ist es etwas ganz anderes. Ich habe Sie wenigstens gewarnt, damit Sie sich einzurichten wissen. Es braucht einen nicht zu beleidigen, daß einem von Dummköpfen Gefahr droht. Aber wie ich sehe, ist es schon viertel nach elf.“ Stawrogin blickte auf seine Uhr und erhob sich. „Ich möchte nur noch eine ganz nebensächliche Frage an Sie stellen.“

„Um Gottes willen!“ rief Schatoff und sprang jäh auf.

„Sie meinen?“ Stawrogin sah ihn fragend an.

„Sagen Sie, stellen Sie die Frage ... um Gottes willen!“ wiederholte Schatoff in unbeschreiblicher Aufregung. „Aber mit der Bedingung, daß auch ich dann eine Frage stellen kann! Ich flehe Sie an ... daß auch ich ... Ich kann nicht mehr! – Stellen Sie Ihre Frage.“

Stawrogin wartete ein wenig, dann begann er:

„Ich hörte, Sie hätten hier einigen Einfluß auf Marja Timofejewna gehabt, und diese soll Sie gern gesehen und Ihnen zugehört haben. Ist das wahr?“

„Ja ... sie sah ... Ja – sie sah mich ...“ stammelte Schatoff ein wenig wirr.

„Ich habe die Absicht, in diesen Tagen meine Heirat mit ihr hier in der Stadt öffentlich bekanntzumachen.“

„Ist das möglich?“ flüsterte Schatoff fast entsetzt.

„Sie meinen das – in welchem Sinne? ... Es liegen durchaus keine Schwierigkeiten vor. Die Trauzeugen sind hier. Es geschah, wie gesagt, damals in Petersburg vollkommen ruhig und rechtmäßig in Gegenwart der beiden Trauzeugen, Kirilloff und Pjotr Werchowenski, und von Lebädkin, den ich jetzt das Vergnügen habe, meinen Verwandten zu nennen. Es blieb bisher allen unbekannt, weil diese drei ihr Wort gaben, darüber zu schweigen.“

„Ich meinte nicht das ... Sie sagen es so ruhig ... aber fahren Sie fort! Hören Sie, man hat Sie doch nicht mit Gewalt zu dieser Ehe gezwungen, doch nicht mit Gewalt?“

„Nein, mich hat niemand mit Gewalt dazu gezwungen.“ Stawrogin lächelte über Schatoffs einfältigen Eifer.

„Und was sie da von ihrem Kinde redet? ...“ beeilte sich Schatoff, wirr, wie im Fieber.

„Von ihrem Kinde redet? Bah! Das wußte ich nicht; höre es zum erstenmal. Sie hat nie ein Kind gehabt und hätte es auch gar nicht haben können: Marja Timofejewna ist Mädchen.“

„Ah! Das dachte ich mir auch! Hören Sie!“

„Was fehlt Ihnen, Schatoff?“

Schatoff bedeckte sein Gesicht mit den Händen, wandte sich ab, kehrte sich dann wieder um und packte plötzlich Stawrogin fest an den Schultern.

„Wissen Sie denn auch, wissen Sie denn wenigstens,“ rief er wieder laut, „warum Sie das alles getan haben und warum Sie sich jetzt zu dieser Buße entschließen?“

„Ihre Frage ist klug und boshaft, aber ich habe die Absicht, auch Sie in Erstaunen zu setzen. Ja, fast weiß ich es, warum ich damals geheiratet und warum ich mich jetzt entschlossen habe, diese ‚Buße‘, wie Sie sagen, auf mich zu nehmen.“

„Lassen wir das ... davon später ... warten Sie ... sprechen Sie von der Hauptsache, von der Hauptsache ... Ich habe zwei Jahre auf Sie gewartet!“

„Ja?“

„Ich habe schon zu lange auf Sie gewartet, ich habe ununterbrochen an Sie gedacht! Sie sind der einzige Mensch, der’s könnte ... Ich habe Ihnen schon aus Amerika davon geschrieben ...“

„Ich erinnere mich nur zu gut Ihres langen Briefes.“

„Der zu lang war, um durchgelesen zu werden? Einverstanden. Sechs Bogen ... Schweigen Sie, schweigen Sie! Sagen Sie: können Sie mir noch zehn Minuten schenken, aber gleich, jetzt gleich ... Ich habe zu lange auf Sie gewartet!“

„Bitte, auch eine halbe Stunde, aber nicht mehr, wenn’s Ihnen möglich ist, sich damit zu begnügen.“

„Aber ... nur mit der Bedingung,“ unterbrach ihn Schatoff jähzornig, „daß Sie Ihren Ton ändern. Hören Sie, ich verlange es, ich fordere es, während ich Sie doch darum anflehen müßte ... Verstehen Sie, was das heißt, zu fordern, wenn man weiß, daß man flehen müßte?“

„Ich verstehe, daß Sie sich so über alles Gewöhnliche erheben wollen, um eines höheren Zweckes willen.“ Stawrogin lächelte kaum merklich. „Und mit Bedauern sehe ich, daß Sie im Fieber sind.“

„Ich bitte, mich zu achten, ich verlange es!“ rief Schatoff. „Nicht meine Person selbst, zum – Teufel mit ihr, – aber das andere ... nur diesen einen Augenblick, für diese paar Worte ... Wir sind zwei Wesen und treffen uns hier außerhalb von Raum und Zeit ... zum letztenmal in der Welt. Lassen Sie diesen Ihren Ton, und nehmen Sie einen menschlichen an! Sprechen Sie doch ein einziges Mal im Leben mit einer menschlichen Stimme! Nicht um meinetwillen, sondern um Ihretwillen! Verstehen Sie denn nicht, daß Sie mir diesen Schlag in Ihr Gesicht schon deshalb verzeihen müssen, weil ich Ihnen damit Gelegenheit gegeben habe, Ihre grenzenlose Macht zu fühlen. Schon wieder lächeln Sie Ihr verächtliches, angeekeltes Gesellschaftslächeln! Oh, wann werden Sie mich endlich verstehen! Zum Teufel mit dem verfluchten Herrensohn in Ihnen! So begreifen Sie doch, daß ich das verlange, sonst will ich nicht mit Ihnen sprechen, werde es nicht tun, um keinen Preis, für nichts in der Welt!“

Seine fanatische Wut grenzte schon an Fieberwahnsinn. Stawrogins Gesicht verfinsterte sich und er wurde vorsichtiger.

„Da ich nun schon eingewilligt habe, noch eine halbe Stunde hier zu bleiben,“ sagte er eindringlich und ernst, „obgleich meine Zeit sehr kostbar ist, so könnten Sie mir doch glauben, daß ich die Absicht habe, Sie wenigstens mit Interesse anzuhören.“

Er setzte sich wieder auf seinen Platz.

„Setzen Sie sich!“ rief Schatoff plötzlich und setzte sich dann gleichfalls.

„Einstweilen erlauben Sie mir aber noch, Sie daran zu erinnern, daß ich meine Bitte an Sie, wegen Marja Timofejewna, eine Bitte, die wenigstens für Marja Timofejewna von großer Wichtigkeit ...“

„Nun?“ Schatoff ärgerte sich, wie ein Mensch, den man plötzlich an der wichtigsten Stelle seiner Rede unterbricht, und der dann, wenn er seinen Widerpart auch ansieht, doch noch nicht den Sinn der Worte versteht.

„... Und Sie unterbrachen mich, noch bevor ich meine Bitte zu Ende sprechen konnte,“ schloß Stawrogin lächelnd.

„Eh, was, Unsinn, nachher!“ rief Schatoff und winkte, da er endlich diese Anmaßung begriff, nur angewidert ab und ging sofort gerade auf sein Ziel los.

VII.

„Wissen Sie auch,“ begann er fast drohend, mit vorgebeugtem Körper und glänzenden Augen, wobei er den Zeigefinger seiner Rechten vor sich erhoben hielt, was er selbst gar nicht zu bemerken schien, „wissen Sie auch, welches jetzt das einzige Gotträgervolk ist, das da kommen wird, die Welt zu erlösen und zu erneuen mit dem Namen des neuen Gottes – das einzige Volk, dem die Quellen des Lebens und des neuen Wortes gegeben sind ... Wissen Sie auch, welches Volk das ist und wie sein Name lautet?“

„Nach Ihrem Gebaren zu urteilen, muß ich unbedingt und wohl so schnell wie möglich sagen, daß dieses Volk das russische sei.“

„Und schon lachen Sie! Oh, Russen!“

Schatoff krallte vor Wut die Hand ins Haar.

„Beruhigen Sie sich, ich bitte Sie darum. Im Gegenteil: ich hatte sogar gerade etwas von dieser Art erwartet.“

„Von dieser Art erwartet? Aber Ihnen selbst sind diese Worte nicht bekannt?“

„Oh, sie sind mir durchaus bekannt. Ich sehe nur zu gut, wohin Sie damit wollen. Alles, was Sie sagten, und sogar der Ausdruck ‚Gotträgervolk‘ ist nichts anderes, als die Schlußfolgerung aus unserem Gespräch, das wir vor zwei Jahren im Auslande hatten, kurz vor Ihrer Reise nach Amerika ... Wenigstens so weit ich mich dessen entsinnen kann.“

„Aber das ist ja doch Ihr Ausspruch, vom Anfang bis zum Ende Ihr Ausspruch – und nicht der meinige! Ihre eigenen Worte, und nicht nur die Folgerung aus unserem Gespräch! Und wie können Sie überhaupt sagen ‚unserem‘ Gespräch! Es war da ein Lehrer, der große, mächtige Worte predigte, und es war da ein Schüler, der von den Toten auferstand und zuhörte. Ich war der Schüler und der Lehrer waren Sie.“

„Doch erlauben Sie, wenn ich mich recht entsinne, so war es gerade nach meinen Worten, daß Sie in jenen Bund eintraten und dann nach Amerika reisten?“

„Ja – doch ich schrieb Ihnen darüber aus Amerika. Ich konnte mich damals noch nicht losreißen von all dem, woran ich mich von Kindheit auf festgesogen hatte, das das Entzücken all meiner Hoffnungen gewesen war und die Tränen meines ganzen Hasses und meiner ganzen Verzweiflung ... Oh, es ist schwer, die Götter zu wechseln! Ich glaubte Ihnen damals nicht, denn ich wollte nicht glauben und warf mich noch zum letztenmal in diese ... in diese Kloake ... Doch die Saat blieb und schoß auf und wuchs. Aber sagen Sie im Ernst: haben Sie meinen Brief aus Amerika überhaupt nicht gelesen?“

„Ich habe drei Seiten gelesen, die beiden ersten und die letzte, und das andere überflogen. Übrigens habe ich mir schon immer vorgenommen ...“

„Eh, einerlei, lassen Sie es, zum Teufel damit,“ winkte Schatoff ab. „Wenn Sie aber Ihren früheren Worten untreu geworden sind, wie konnten Sie sie denn damals aussprechen? Das ist es, was mich jetzt würgt!“

„Ich habe auch damals nicht mit Ihnen gescherzt. Als ich Sie überzeugen wollte, bemühte ich mich vielleicht weit mehr um mich selbst, als um Sie,“ antwortete Stawrogin rätselhaft.

„Nicht gescherzt! In Amerika habe ich drei Monate auf Stroh gelegen neben einem ... Unglücklichen, von dem ich erfuhr, daß Sie in derselben Zeit, als Sie in meine Seele Gott und die Heimat pflanzten, das Herz dieses selben, dieses Maniaken Kirilloff, vergifteten ... Sie haben Lüge und Verleumdung in ihm bestätigt und seine Vernunft schließlich zum Wahnsinn gebracht. Gehen Sie, sehen Sie ihn sich an ... Das ist jetzt Ihr Geschöpf! Aber Sie haben ihn ja gesehen ...“

„Erstens möchte ich Ihnen sagen, daß mir Kirilloff soeben selbst gesagt hat, daß er glücklich ist und vollkommen. Was Sie da von ‚derselben Zeit‘ sagen, das ist allerdings fast richtig – aber was liegt daran? Ich wiederhole nochmals, daß ich weder Sie noch ihn betrogen habe.“

„Sie sind Atheist? Sind Sie jetzt Atheist?“

„Ja.“

„Und damals?“

„Ebenso wie heute.“

„Ich habe nicht für mich um Achtung gebeten, als ich das Gespräch begann. Das hätten Sie, bei Ihrem Verstande, wirklich verstehen können,“ murmelte Schatoff unwillig.

„Ich bin nicht bei Ihrem ersten Worte aufgestanden, habe nicht dieses Gespräch abgebrochen, bin nicht fortgegangen, sitze noch jetzt hier und antworte gehorsam auf Ihre Fragen und ... Schreie – also habe ich doch die Achtung vor Ihnen nicht vergessen.“

Schatoff unterbrach ihn mit einer Handbewegung:

„Erinnern Sie sich noch Ihres Ausspruchs: ‚ein Atheist kann nicht Russe sein‘ – ‚ein Atheist hört sofort auf, Russe zu sein‘ – erinnern Sie sich?“

„Ja?“ fragte Stawrogin gleichsam.

„Sie fragen noch? Sie haben es vergessen? Und doch ist es einer der richtigsten Hinweise auf eine der wichtigsten Besonderheiten des russischen Geistes, die Sie erraten haben. Nein, das haben Sie nicht vergessen können! Und ich werde Sie an noch etwas erinnern. Damals sagten Sie sogar: ‚Ja, wer nicht rechtgläubig ist, der kann nicht Russe sein‘ ...“

„Mir scheint, das ist ein Gedanke der Slawophilen.“

„Nein. Die jetzigen Slawophilen würden sich von ihm lossagen. Heute ist ja alle Welt klüger geworden! Sie aber gingen damals noch weiter: Sie sagten, daß der Katholizismus überhaupt nicht mehr Christentum sei. Sie behaupteten, daß der Christus, den Rom verkündet, der dritten Versuchung des Satans nicht widerstanden hat, und daß Rom, wenn es alle Welt lehrt, Christus könne ohne Erdenreich auf der Erde nicht bestehen, damit den Antichrist verkündet und den ganzen Westen zugrunde gerichtet hat. Und Sie wiesen noch darauf hin, daß, wenn Frankreich sich quält, daran einzig der Katholizismus die Schuld trägt, denn Frankreich habe den stinkenden römischen Gott zwar verworfen, einen neuen Gott aber nicht zu finden vermocht. Ja, das alles haben Sie damals sagen können! Ich habe unsere Gespräche behalten.“

„Wenn ich gläubig wäre, so würde ich zweifellos auch jetzt noch dasselbe wiederholen: ich log nicht, als ich wie ein Gläubiger sprach,“ sagte Stawrogin sehr ernst, „aber ich versichere Ihnen, daß diese Wiederholungen meiner früheren Gedanken einen unangenehmen Eindruck auf mich machen. Können Sie nicht abbrechen?“

„Wenn Sie gläubig wären?!“ rief Schatoff, ohne der Bitte die geringste Beachtung zu schenken. „Aber wer war es denn, der mir einst sagte: ‚Wenn man mir mathematisch bewiese, daß die Wahrheit nicht in Christus ist, so würde ich es dennoch vorziehen, mit Christus zu bleiben, als mit der Wahrheit‘ –? Sollten Sie das wirklich nicht gewesen sein? Oder haben Sie das gesagt? Haben Sie’s?“

„Aber erlauben Sie auch mir, endlich zu fragen,“ – Stawrogin erhob nun auch seine Stimme – „was Sie mit diesem ungeduldigen und ... boshaften Examen eigentlich von mir wollen?“

„Dieses Examen vergeht und Sie werden nie wieder daran erinnert werden.“

„Sie bestehen immer noch darauf, daß wir außerhalb von Raum und Zeit sind?“

„Schweigen Sie!“ fuhr ihn Schatoff plötzlich an. „Ich bin dumm und ungeschickt, doch mag mein Name in Lächerlichkeit untergehen – darauf kommt’s nicht an. Aber ... werden Sie mir gestatten, hier vor Ihnen wenigstens noch Ihren größten Gedanken von damals zu wiederholen ... nur zehn Zeilen, nur die letzte Zusammenfassung?“

„Wiederholen Sie ... wenn es wirklich nur die Zusammenfassung ist ...“

Stawrogin wollte schon nach der Uhr sehen, bezwang sich aber und tat es nicht.

Schatoff beugte wieder den Oberkörper vor und auf einen Augenblick erhob er sogar abermals den Zeigefinger.

„Noch kein einziges Volk,“ begann er, als lese er Zeile für Zeile aus einem Buche ab, während er dabei Stawrogin unverändert streng ansah, „noch kein einziges Volk hat sich auf den Grundlagen der Vernunft und Wissenschaft aufgebaut und eingerichtet. Dieses Beispiel hat noch kein Volk gegeben, außer vielleicht für die Dauer von höchstens einem Augenblick, und dann geschah es aus Dummheit. Der Sozialismus muß schon seinem Wesen nach Atheismus sein, denn er verkündet gleich ausdrücklich und mit seinem ersten Satz, daß er seine Welt ausschließlich auf Vernunft und Wissenschaft aufzubauen beabsichtigt. Doch Vernunft und Wissenschaft haben im Leben der Völker stets, sowohl jetzt wie von jeher, nur eine zweitrangige und dienende Aufgabe erfüllt; und das werden sie bis zum Ende der Welt tun. Gestaltet und bewegt aber werden die Völker von einer ganz anderen Kraft, von einer befehlenden und zwingenden, deren Ursprung jedoch unbekannt und unerklärlich bleibt. Es ist die Kraft des unstillbaren Wunsches, zum Ende zu gelangen, und die sich zu gleicher Zeit ständig des Endes erwehrt. Es ist die Kraft der fortwährenden und unermüdlichen Bestätigung des Seins und Verneinung des Todes. Es ist der Geist der ewig fließenden Wasser des Lebens, wie die Heilige Schrift sagt, und mit deren Versiegen die Apokalypse so furchtbar droht. Es ist der ästhetische Trieb, wie die Künstler, es ist der moralische Trieb, wie die Philosophen ihn nennen. Ich sage einfach: ‚Es ist das Suchen nach Gott‘. Das ewige Ziel der ganzen Bewegung eines Volkes, jedes Volkes, und jedes besondere Ziel in jedem Abschnitt seiner Geschichte ist immer und einzig sein Suchen nach Gott, nach seinem Gott, unbedingt nach seinem eigenen, seinem besonderen Gott, und dann der Glaube an diesen Gott als an den einzig wahren. Gott ist die synthetische Persönlichkeit eines ganzen Volkes von seinem Anfang bis zu seinem Ende. Noch nie ist es vorgekommen, daß zwei oder mehrere Völker ein und denselben Gott gehabt hätten, sondern jedes Volk hat stets seinen eigenen Gott gehabt. Ein Anzeichen des Niedergangs der Völker ist es, wenn ihre Götter allgemein werden. Und wenn die Götter allgemein werden, dann sterben die Götter und stirbt der Glaube an sie zusammen mit den Völkern. Je stärker aber ein Volk ist, desto ausschließlicher ist auch sein Gott. Noch hat es nie ein Volk ohne Religion gegeben, das heißt, ohne Vorstellung von Gut und Böse. Jedes Volk hat seinen eigenen Begriff von Gut und Böse, und sein eigenes Gut und Böse. Wenn bei vielen Völkern die Begriffe von Gut und Böse gemeingültig zu werden beginnen, dann verwischt sich und verschwindet der Unterschied zwischen Gut und Böse und die Völker gehen zugrunde. Noch nie ist die Vernunft fähig gewesen, Gut und Böse zu erklären, oder auch nur Böse und Gut auseinanderzuhalten, wenn auch nur annähernd. Im Gegenteil, stets hat sie Gut und Böse nur schmählich und kläglich miteinander verwechselt. Die Wissenschaft aber hat immer nur rohe, plumpe Antworten gegeben. Und besonders hat sich darin die Halbwissenschaft ausgezeichnet, diese schrecklichste aller Geißeln der Menschheit, furchtbarer als Pest, Hunger und Krieg, die bis zum jetzigen Jahrhundert unbekannt war. Die Halbwissenschaft – die ist ein Despot, wie es bisher noch keinen gegeben hat. Ein Despot, der seine Priester und Sklaven hat, ein Despot, vor dem alles in Liebe und mit einem Aberglauben sich beugt, der bisher undenkbar gewesen wäre, vor dem sogar die Wissenschaft selbst zittert und dem sie schmachvoll genug beipflichtet. – Das sind alles Ihre eigenen Worte, Stawrogin, nur die über die Halbwissenschaft, die sind von mir, der ich selbst solch ein Halbwissenschaftler bin und sie darum hasse, wie ich nur etwas hassen kann. An Ihren Gedanken aber und sogar an Ihren Worten habe ich nichts geändert, nicht eine einzige Silbe.“

„Ich glaube nicht, daß Sie nichts verändert haben,“ bemerkte Stawrogin vorsichtig, „Sie haben alles leidenschaftlich erfaßt und es auch leidenschaftlich verändert – vielleicht ohne es zu bemerken. Schon allein, daß Sie Gott zu einem einfachen Attribut des Volkes erniedrigen –“

Er begann plötzlich, Schatoff mit einer ganz besonderen Aufmerksamkeit zu betrachten, nicht einmal so sehr auf seine Worte zu hören, als ihn selbst zu beobachten.

„Ich erniedrige Gott zu einem Attribut des Volkes! Im Gegenteil, ich erhebe das Volk bis zu Gott! Das Volk, – das ist der Körper Gottes. Jedes Volk ist nur so lange Volk, wie es noch seinen besonderen, seinen eigenen Gott hat, und all die anderen Götter auf der Welt stark und grausam von sich stößt; so lange es noch glaubt, daß es nur mit seinem Gott siegen und alle anderen Götter und Völker sich unterwerfen kann. Das haben alle großen Völker der Erde von sich und ihrem Gotte geglaubt, wenigstens alle einigermaßen hervorragenden, alle, die einmal an der Spitze der Menschheit gestanden. Die Juden haben nur zu dem Zweck gelebt, um den wahren Gott zu erwarten, und so haben sie denn jetzt der Welt den wahren Gott hinterlassen. Die Griechen haben die Natur vergöttert und der Welt ihre griechische Religion, das heißt, Philosophie und Kunst, hinterlassen. Rom hat das Volk im Staate vergöttert und den Völkern den Staat vermacht. Frankreich war in seiner ganzen langen Geschichte nur die Verkörperung und Entwicklung des Gottes ‚Katholizismus‘; und wenn es diesen seinen römischen Gott schließlich in den Orkus warf und sich dem Atheismus hingab, der bei den Franzosen vorläufig noch Sozialismus heißt – so geschah das nur deshalb, weil der Atheismus schließlich doch gesünder ist als der römische Katholizismus. Wenn ein großes Volk nicht glaubt, daß in ihm allein die Wahrheit ist (gerade in ihm allein und unbedingt ausschließlich in ihm), wenn es nicht glaubt, daß es ganz allein fähig und berufen ist, alle anderen Völker zu erwecken und sie mit seiner Wahrheit zu erretten, so wird es sofort zu ethnographischem Material, doch nicht zu einem großen Volk! Ein wahrhaft großes Volk kann sich auch nie mit einer zweitrangigen Rolle in der Menschheit zufrieden geben, ja, noch nicht einmal mit einer erstrangigen, sondern es muß unbedingt und ausschließlich das Erste unter den Völkern sein wollen. Ein Volk, das diesen Glauben verliert, ist kein Volk mehr. Doch da es nur eine Wahrheit gibt, so kann auch nur ein einziges Volk den einzigen wahren Gott haben, mögen andere Völker auch ihre eigenen und noch so großen Götter besitzen. Das einzige Gotträgervolk aber – das sind wir, das ist das russische Volk, und ... und ... und sollten Sie mich wirklich für so dumm halten, Stawrogin,“ brüllte er plötzlich voll Ingrimm, „daß ich nicht mehr zu unterscheiden vermag, ob diese meine Worte altes, mürbes Gewäsch sind, das von allen möglichen Moskauer Slawophilenmühlen schon durch und durch gemahlen ist, oder ob es neue Worte sind, vollständig reine und neue Worte, die letzten Worte, die einzigen Worte der Erlösung und Auferstehung und ... Eh, was geht mich jetzt in diesem Augenblick Ihr Lachen an! Was geht es mich an, daß Sie mich überhaupt nicht, überhaupt nicht verstehen, kein Wort, keinen Ton ... Oh, wie unsagbar ich es verachte, Ihr stolzes Lachen und Ihren stolzen Blick gerade jetzt!“

Er sprang auf, sogar Schaum war auf seinen Lippen.

„Im Gegenteil, Schatoff, ganz im Gegenteil,“ sagte Stawrogin ungewöhnlich ernst, ohne sich von seinem Platz zu erheben, „im Gegenteil, Sie haben mit Ihren glühenden Worten ungemein starke Erinnerungen in mir wachgerufen. Ich finde meine eigene Stimmung von damals, vor zwei Jahren, wieder, und jetzt werde ich Ihnen schon nicht mehr sagen, daß Sie meine Gedanken vergrößert haben. Es scheint mir sogar, daß ich sie noch schärfer, noch autokratischer damals prägte, und ich versichere Ihnen auf jeden Fall, daß ich sogar sehr gerne alles bestätigen würde, was Sie da sagten, aber ...“

„Aber Sie brauchen den Hasen?“

„Wa–as?“

„Das ist ja Ihr eigener, gemeiner Ausdruck!“ lachte Schatoff höhnisch auf und setzte sich wieder. „‚Um eine Hasensauce zu machen, braucht man einen Hasen, und um an Gott zu glauben, muß erst Gott da sein.‘ Das sollen Sie in Petersburg gesagt haben, à la Nosdreff,[37] der den Hasen an den Hinterbeinen fangen wollte.“

„Nein, Nosdreff prahlte, er hätte ihn bereits gefangen. Übrigens, erlauben Sie eine Frage, zumal ich jetzt wohl das volle Recht dazu haben dürfte: Ist Ihr Hase eigentlich schon gefangen oder läuft er noch?“

„Unterstehen Sie sich nicht, mich mit solchen Worten zu fragen! Fragen Sie mit anderen, mit anderen!“ Schatoff zitterte plötzlich.

„Wie Sie wünschen. Also mit anderen.“ Stawrogin sah ihn mit hartem Blick an. „Ich wollte nur wissen: glauben Sie selbst an Gott, oder nicht?“

„Ich glaube an Rußland, ich glaube an seine Rechtgläubigkeit ... Ich glaube an den Leib Christi ... Ich glaube, daß die neue Wiederkunft in Rußland geschehen wird ... Ich glaube ...“ stammelte Schatoff wie in Verzückung.

„Aber an Gott? An Gott?“

„Ich ... ich werde glauben – an Gott.“

Kein einziger Muskel bewegte sich im Gesicht Stawrogins. Schatoff sah ihn glühend, mit Herausforderung an, ganz als hätte er ihn verbrennen wollen mit seinem Blick.

„Ich habe Ihnen doch nicht gesagt, daß ich überhaupt nicht glaube,“ rief er schließlich. „Ich gebe doch nur zu verstehen, daß ich ein unglückliches, langweiliges Buch bin und vorläufig nichts weiter, vorläufig ... Aber was liegt an mir! Es liegt ja alles bei Ihnen! Ich bin nur ein unbegabter Mensch und kann nur mein Blut hingeben und weiter nichts, wie jeder unbegabte Mensch. So mag denn mein Blut auch fließen! Ich spreche jetzt von Ihnen. Ich habe zwei Jahre hier auf Sie gewartet ... Nur um Ihretwillen tanze ich jetzt hier nackt vor Ihnen. Nur Sie ... Sie allein könnten die Fahne erheben! ...“

Er sprach nicht zu Ende und wie in Verzweiflung stützte er die Arme auf den Tisch und vergrub den Kopf in den Händen.

„Ich möchte, da Sie darauf zu sprechen gekommen sind, nur eines bemerken, als Kuriosität,“ unterbrach Stawrogin plötzlich die Stille. „Warum wollen mir alle immer eine Fahne aufdrängen? Auch Pjotr Stepanowitsch ist überzeugt, ich allein könnte ihre ‚Fahne erheben‘, – wenigstens hat man mir diesen Ausspruch von ihm wiedergegeben. Er hat es sich in den Kopf gesetzt, ich wäre fähig, für sie die Rolle eines Stenka Rasin[38] zu spielen, dank meiner ‚ungewöhnlichen Fähigkeit zum Verbrechen‘ – gleichfalls seine Worte.“

„Wie? Dank Ihrer ‚ungewöhnlichen Fähigkeit zum Verbrechen?‘“ fragte Schatoff.

„Genau so.“

„Hm! ... Aber ist es wahr,“ fragte Schatoff mit einem bösen Lächeln, „daß Sie in Petersburg zu einer viehischen, wollüstigen Gesellschaft gehört haben? Daß Sie sich selbst gerühmt haben, der Marquis de Sade hätte von Ihnen noch lernen können? Daß Sie Kinder zu sich gelockt und verdorben haben? Antworten Sie! Und wagen Sie nicht, zu lügen! Stawrogin kann nicht lügen – vor Schatoff, der ihn ins Gesicht geschlagen hat! Sagen Sie, sagen Sie alles, und wenn es wahr ist, so werde ich Sie auf der Stelle totschlagen!“ schrie Schatoff wie wahnsinnig.

„Diese Worte habe ich gesagt, aber Kindern habe ich nichts angetan,“ sagte Stawrogin schließlich, aber erst nach einem gar zu langen Schweigen.

Er war erblaßt und seine Augen glühten.

„Aber Sie haben es gesagt!“ fuhr Schatoff herrisch fort, ohne seinen sprühenden Blick von ihm abzuwenden. „Und ist es wahr, daß Sie versichert haben, Sie wüßten keinen Schönheitsunterschied zwischen irgendeinem wollüstigen, tierischen Streiche und gleichviel welcher Heldentat, und wäre es selbst das Opfer des Lebens für die Menschheit? Ist es wahr, daß Sie in beiden Polen die gleiche Schönheit fanden, den gleichen Genuß?“

„So zu antworten ist unmöglich ... ich will nicht antworten,“ murmelte Stawrogin, der jetzt sehr gut hätte aufstehen und fortgehen können und doch nicht aufstand und nicht fortging.

„Ich weiß es auch nicht, warum das Böse häßlich und das Gute schön ist, aber ich weiß, warum die Empfindung dieses Unterschieds erlischt und verloren geht bei solchen Herrschaften, wie Stawrogin und seinesgleichen,“ ließ Schatoff, am ganzen Körper bebend, nicht davon ab. „Wissen Sie auch, warum Sie damals geheiratet haben, so schmachvoll, schändlich und gemein? Gerade deshalb, weil hier die Schmach und Gemeinheit schon an Genialität grenzte! Oh, Sie schlendern nicht bloß so am Rande, Sie stürzen sich dreist mit dem Kopf voran in den Abgrund hinab. Aus Leidenschaft zur Qual haben Sie geheiratet, aus Leidenschaft zu Reue und Gewissensbissen, aus geistiger, sittlicher Wollust. Hier waren Ihre Nerven wund ... Die Herausforderung an die gesunde Vernunft, die hierin lag, war schon gar zu verführerisch! Stawrogin! und eine häßliche, schwachsinnige Bettlerin, die dazu noch krüppelig ist! – Als Sie den Gouverneur ins Ohr bissen, empfanden Sie da nicht Wollust? Empfanden Sie sie? Müßiger, sich herumtreibender Herrensohn, empfanden Sie sie?“

„Sie sind Psychologe,“ sagte Stawrogin, der bleicher und bleicher wurde, „obschon Sie sich in den Gründen meiner Heirat teilweise irren ... Wer hat Ihnen übrigens all dieses mitteilen können? ...“ Er zwang sich zu einem Spottlächeln. „Doch nicht Kirilloff? Aber der war ja gar nicht zugegen ...“

„Warum sind Sie bleich geworden?“

„Was wollen Sie nur von mir?“ Stawrogin erhob schließlich die Stimme: „Ich habe hier eine halbe Stunde unter Ihrer Knute gesessen, nun könnten Sie mich doch wenigstens höflich fortgehen lassen ... wenn Sie in der Tat keinen vernünftigen Grund haben, mit mir in dieser Art umzugehen.“

„Vernünftigen Grund?“

„Zweifellos. Es wäre zum mindesten Ihre Pflicht, mir zu sagen, was Sie eigentlich bezwecken. Ich habe die ganze Zeit darauf gewartet, daß Sie es tun würden. Ich habe aber nur eine einzige rasende Bosheit in Ihnen gefunden. Ich bitte Sie, mir die Hofpforte zu öffnen.“

Er erhob sich. Schatoff stürzte ihm nach, wild vor Grimm.

„Küssen Sie die Erde, tränken Sie sie mit Tränen, bitten Sie um Vergebung!“ rief er, ihn an der Schulter packend.

„Ich habe Sie nicht erschlagen ... an jenem Sonntagmorgen ... Ich nahm beide Hände zurück ...“ sagte Stawrogin wie im Schmerz und sah zu Boden.

„So sprechen Sie doch, so sagen Sie doch alles! Sie kamen her, um mich vor der Gefahr zu warnen, Sie ließen es zu, daß ich sprach, und morgen wollen Sie Ihre Heirat öffentlich bekanntmachen! ... Sehe ich es denn nicht Ihrem Gesicht an, daß Sie mit irgendeinem neuen furchtbaren Gedanken ringen ... Stawrogin, warum bin ich dazu verurteilt, bis in alle Ewigkeit an Sie zu glauben? Hätte ich denn mit einem anderen so sprechen können? Ich habe Keuschheit, aber ich habe mich meiner Nacktheit nicht geschämt, – denn es war Stawrogin, vor dem ich sprach! Ich habe mich nicht gefürchtet, den großen Gedanken durch meine Berührung zu karikieren, denn Stawrogin hörte mir zu! ... Und werde ich denn nicht die Spuren Ihrer Tritte küssen, wenn Sie fortgegangen sind? Ich kann nicht, ich kann Sie nicht aus meinem Herzen reißen, Nicolai Stawrogin!“

„Es tut mir leid, daß ich Sie nicht lieben kann, Schatoff!“ sagte Stawrogin kalt.

„Ich weiß, daß Sie es nicht können, und ich weiß auch, daß Sie nicht lügen. Aber hören Sie, ich werde alles gut machen: ich werde Ihnen den Hasen verschaffen!“

Stawrogin schwieg.

„Sie sind Atheist, weil Sie ein Herrensohn sind, der letzte Herrensohn. Sie haben den Unterschied zwischen Gut und Böse verloren, denn Sie haben aufgehört, Ihr Volk zu verstehen ... Es steigt eine neue Generation herauf, unmittelbar aus dem Herzen dieses Volkes, doch Sie werden sie nie erkennen, weder Sie noch die Werchowenski, Vater und Sohn, noch ich, denn auch ich bin ein Herrensohn, ja, ich, der Sohn Ihres leibeigenen Dieners Paschka ... Hören Sie, verschaffen Sie sich Gott durch Arbeit – hierin liegt der ganze Kern ... Oder verschwinden Sie als gemeine, faulende Schimmelschicht ... Erwerben Sie sich Gott durch Arbeit!“

„Gott durch Arbeit? Mit welcher Arbeit?“

„Mit gemeiner Bauernarbeit! Gehen Sie, werfen Sie Ihren ganzen Reichtum hin ... Ah! Sie lachen, Sie fürchten wohl, daß eine Posse dabei herauskommen wird?“

Doch Stawrogin lachte nicht.

„So glauben Sie, daß man Gott durch Arbeit erringen kann, und zwar gerade Bauernarbeit?“ wiederholte er nachdenklich, als hätte man ihm in der Tat etwas Neues und Ernstes gesagt, worüber nachzudenken sich lohnte. „Aber wissen Sie auch,“ sagte er plötzlich, auf etwas anderes übergehend, „daß ich durchaus nicht reich bin und fast nichts mehr hinwerfen könnte? Ich bin sogar kaum imstande, die Zukunft Marja Timofejewnas sicherzustellen ... Ja, und damit ich es nicht vergesse: ich wollte Sie bitten, Marja Timofejewna auch fernerhin, wenn es Ihnen möglich ist, beizustehen, da doch nur Sie allein einen gewissen Einfluß auf ihren armen Verstand haben könnten. Ich sage das nur auf alle Fälle.“

„Schon gut, schon gut!“ Schatoff winkte mit der einen Hand ab, während er mit der anderen das Licht hielt. „Sie reden von Marja Timofejewna, gut, ich werde schon, das ist ja selbstverständlich ... Aber hören Sie, gehen Sie zu Tichon.“

„Zu wem?“

„Zu Tichon. Er ist ein früherer Bischof, der jetzt – krankheitshalber zurückgezogen – hier in der Stadt wohnt, hier in unserem Jefimjeff-Kloster.“

„Und –?“

„Nichts weiter. Man pilgert und fährt jetzt zu ihm. Gehen Sie auch zu ihm, was macht es Ihnen denn aus? Gehen Sie auch!“

„Höre es zum erstenmal und ... Diese Sorte Menschen habe ich noch nie gesehn. Ich danke Ihnen, ich werde hingehen.“

„Hierher!“ Schatoff leuchtete und geleitete ihn die Treppe hinunter.

„So,“ sagte er und stieß die Hofpforte sperrangelweit zur Straße auf.

„Ich werde nicht mehr zu Ihnen kommen, Schatoff,“ sagte Stawrogin leise, indem er durch die Pforte trat.

Die Nacht war nach wie vor finster und der Regen hatte noch immer nicht aufgehört ...

Siebentes Kapitel.
Die Nacht (Fortsetzung)

I.

Er ging die ganze Bogojawlenskstraße hinunter; schließlich führte der Weg leicht abwärts, seine Füße glitschten im Schlamm, und plötzlich öffnete sich vor ihm im Dunkeln ein breiter, nebliger, gleichsam leerer Raum – der Fluß. Die Häuser waren hier nicht mehr Häuser zu nennen, sondern Hütten, und die Straße hatte sich in vielen Sackgassen und Gäßchen verloren. Nicolai Wszewolodowitsch ging eine ganze Weile an den Zäunen entlang, ohne sich vom Flußufer zu entfernen, verfolgte aber standhaft seinen Weg, doch eigentlich ohne viel an ihn zu denken. Er war mit ganz anderen Dingen beschäftigt und sah sich erstaunt um, als er sich plötzlich, aus tiefem Denken erwachend, fast in der Mitte unserer langen, nassen Floßbrücke fand. Keine Seele ringsum. Nichts rührte sich. Um so sonderbarer erschien es ihm da, als plötzlich fast unmittelbar neben seinem Ellenbogen eine höflich familiäre, doch übrigens ganz angenehme Stimme ertönte, aber in jenem süßlich abgerundeten Redefluß, mit dem bei uns gar zu zivilisierte Kleinbürger oder lockenhäuptige junge Kommis in den Kaufläden zu paradieren pflegen.

„Würde mir der gnädige Herr nicht erlauben, das Regenschirmchen mit eins zu benützen?“

Und tatsächlich, eine Gestalt drückte sich unter seinen Schirm, oder tat wenigstens so, als wage sie es. Der Strolch ging neben ihm, ihn fast „mit dem Ellenbogen fühlend“, wie unsere Soldaten sagen. Nicolai Wszewolodowitsch verlangsamte den Schritt und beugte sich ein wenig, um dem Unbekannten ins Gesicht sehen zu können, soweit das in der Finsternis möglich war: ein Mensch, nicht groß von Wuchs und in etwa wie ein heruntergekommener, verbummelter Kleinbürger, schlecht und nicht warm gekleidet; auf dem krausen, zottigen Haar saß schief eine nasse Tuchmütze mit halbabgerissenem Schirm. Es schien ein schwarzhaariger Mensch zu sein, mager und braun; die Augen waren groß, unbedingt schwarz, mit jenem starken Glanz und gelben Schimmer, wie ihn Zigeuner haben, – das erriet man in der Dunkelheit. Alt mochte er sein – gegen vierzig, und er war nicht betrunken.

„Du kennst mich?“ fragte Stawrogin.

„Herr Stawrogin, Nicolai Wszewolodowitsch. Man hat Sie mir auf der Bahnstation gezeigt, kaum daß die Maschine hielt, akkurat am vorvergangenen Sonntag. Außer daß man schon früher von Ihnen gehört hat.“

„Von Pjotr Stepanowitsch? Du ... du bist der Zuchthäusler Fedjka?“

„Getauft hat man mich Fjodor Fjodorowitsch. Hab bis auf den heutigen Tag noch eine leibliche Mutter in hiesiger Gegend, eine alte Gottesdienerin, die zur Erde wächst, für uns selber Tag und Nacht alleweil zu Gott betet, damit daß sie nicht ganz umsonst ihre Altweiberzeit auf dem Ofen verliert.“

„Du bist aus dem Zuchthause entsprungen?“

„Ich hab’ halt selber mein Los verändert und ihnen da den ganzen Krempel hingeworfen. Denn ich war halt beinah auf Lebenszeit zur Zwangsarbeit verurteilt, und da war’s denn schon ganz absonderlich lang auf das Ende zu warten ...“

„Was treibst du hier?“

„Ja, so, ein Tag und eine Nacht und immer ist noch nichts gemacht. Die Zeit vergeht halt von selber. Was unser Onkel ist, der ist hier in der vorigen Woche im Gefängnis gestorben, wo er von wegen falscher Gelder saß, und da hab ich denn ein Gedächtnisfeierchen für ihn gemacht und dabei so selbentlich zweimal zehn Rubel an die Hunde gebracht – das ist auch alles von unseren Taten bis eben jetzt. Und dabei haben Pjotr Stepanowitsch die Möglichkeit, uns einen Paschport auf ganz Rußland zu verschaffen, als was das Herz nur will, sogar als Kaufmann. Und da wart ich denn, bis er mir seinen Segen schenkt. Darum sagen sie, – ich meine: er, Pjotr Stepanowitsch –, darum sagt er, daß Papa dich im englischen Klub beim Kartenspiel verspielt hat, und so finde ich, sagt er, ich meine Pjotr Stepanowitsch, so finde ich diese Unmenschlichkeit ungerecht. – Sie könnten mir doch, gnädiger Herr, mit drei Rubelchen so zum Erwärmen, für ein Teechen, wohlwollen?“

„Du hast mir hier also aufgelauert. Das liebe ich nicht. Auf wessen Befehl hast du es getan?“

„Was von Befehl, so ist davon gar nichts gewesen: ich kenn’ nur bloß auch Ihre Menschenliebe, wie alle Welt es eben tut. Denn unsere Einkünftekens, Sie wissen ja selbst, Herr, daß die halt ’ne Maus auf’m Schwanz fortschleppen kann. Das war vor’gen Freitag, da habe ich mich mal vollgeschlagen mit Fleisch, wie Martyn mit Seife, wie man zu sagen pflegt, aber seit damals hab ich den ersten Tag nichts gegessen, den zweiten gefastet und den dritten wieder nichts. Wasser ist ja im Fluß, bei Gott, so viel du willst, aber davon allein kann man im Magen doch nur Karauschen züchten ... Na, und so überhaupt, der gnädige Herr werden doch wohl von den Mildtätigen sein? Und ich hab hier gerade ’ne Gevatterin nich weit, die mich erwartet: nur komm du nich ohne Rubelchen zu ihr!“

„Was hat dir denn Pjotr Stepanowitsch von mir versprochen?“

„Nicht, daß er mir was vorversprochen hat, er hat nur so mit Worten gesagt, daß ich, nu ja, dem gnädigen Herrn mal nötig sein könnte, wenn solch ein Streifen mal vorkommt; aber zu was, das hat er eigentlich nich so geradeheraus gesagt, so mit Genauigkeit, denn Pjotr Stepanowitsch will nur so zum Beispiel sehen, ob ich nich Kosakengeduld habe, und Vertrauen hat er nich für ’ne Kopeke zu mir.“

„Warum denn nicht?“

„Ja, Pjotr Stepanowitsch mag wohl ein Astrolom sein und hat jetzt vielleicht auch alle Gottesplaneten erkannt, aber der Allerklügste ist er doch noch nich. Ich bin vor Ihnen, gnädiger Herr, wie vor Gottes Antlitz selber, denn ich hab vieles gehört, was man so spricht von Ihnen. Pjotr Stepanowitsch – das ist eins, aber Sie, gnädiger Herr, das ist es eben, sind das andere. Wenn der von einem Menschen sagt: ’n Gauner, so ahnt ihm schon außer diesem von diesem Menschen gar nichts mehr. Sagt er: ’n Kamel, so kann der Mensch bei ihm schon nie und nimmer einen anderen Namen kriegen. Ich aber, ich bin vielleicht, kann sein, nur am Dienstag und Mittwoch ’n Kamel, aber Donnerstag vielleicht auch klüger als er selber. Jetzt weiß er bloß eben von mir, daß ich gerade große Sehnsucht nach einem Paschport habe, denn wissen Sie, in Rußland geht’s ohne Dokumentchen auf keinerlei Art – und schon glaubt er, er hat meine Seele in der Hand! Hehe, gepfiffen! Ich sag Ihnen, Herr, Pjotr Stepanowitsch hat’s furchtbar leicht zu leben auf der Welt, denn, sehen Sie, er stellt sich einen Menschen so vor, wie er ihn haben will, und so lebt er denn auch mit ihm. Dazu ist er noch geizig, daß es schon gar keine Art mehr mit ihm hat. Er glaubt, daß ich außer als durch ihn schon nie nich wagen werde, Sie zu belästigen, aber ich bin vor Ihnen, gnädiger Herr, wie vor’m Angesicht des leibhaftigen Gottes selber, – schon die vierte Nacht erwarte ich den gnädigen Herrn hier auf dieser Brücke, in der Sache, daß ich auch ohne ihn mit leisen Schritten, wie man sagt, meinen eigenen Weg finden kann. Besser, denke ich, du verneigst dich vor ’nem Stiefel als vor ’nem Bastschuh.“

„Wer hat es dir denn gesagt, daß ich nachts über diese Brücke gehen werde?“

„Ja, das ist schon, muß ich sagen, von anderweitig herausgekommen, mehr aus der Dummheit des Hauptmann Lebädkin, denn der kann schon gar nichts für sich behalten ... Also dann drei Rubelchen vom gnädigen Herrn für die drei Nächte, als für die Langeweile, zum Beispiel? Und daß die Kleider quatschnaß sind, davon schweigen wir schon allein von wegen der Beleidigung.“

„Ich gehe jetzt nach links und du nach rechts; die Brücke ist zu Ende. Höre, Fedjka, ich liebe es, daß man meine Worte ein für allemal behält: ich gebe dir keine Kopeke und werde dich niemals – hörst du? – niemals brauchen; ferner werde ich dich weder hier auf der Brücke noch sonst wo treffen, verstanden? Und wenn du dir das nicht merkst – so binde ich dich und übergebe dich der Polizei. Jetzt – marsch!“

„O je! Aber für die Unterhaltung schmeißen Sie mir doch wenigstens was – es war doch lustiger, so zu gehen.“

„Pack dich!“

„Ja, aber wissen Sie denn hier auch den Weg? Hier gehen ja doch so verdrehte Wege ... ich könnte zeigen, denn die hiesige Stadt auf diesem Ufer – das ist doch ganz, als ob der Teufel sie im Korb getragen hätte: alles hat er durcheinandergeschüttelt.“

„Zum ... Ich binde dich!“ wandte sich Stawrogin drohend nach ihm um.

„Denken Sie nach, vielleicht doch, gnädiger Herr? Kann man denn eine Waise lange beleidigen?“

„Du scheinst ja wirklich auf dich zu bauen!“

„Ach, gnädiger Herr, ich baue auf Sie, aber nicht, daß ich sonderlich auf mich baute!“

„Ich brauche dich nicht, hab ich dir schon gesagt!“

„Aber ich brauche doch Sie, gnädiger Herr! Das ist es ja eben. Nu, werde also warten, bis Sie zurückkommen.“

„Mein Wort: wenn ich dich antreffe, binde ich dich!“

„So werd’ ich denn schon einen Gurt bereit halten. Glückliche Reise, gnädiger Herr; haben doch alleweil mit dem Schirmchen ’ne Waise beschützt; schon dafür allein werden wir bis zum Grabe dankbar sein, gnädiger Herr.“

Er blieb zurück. Stawrogin ging besorgt weiter. Dieser plötzlich aus der Nacht aufgetauchte Mensch war von seiner Notwendigkeit für ihn doch schon gar zu überzeugt und beeilte sich doch schon zu schamlos, ihm das zu zeigen. Überhaupt machte man mit ihm jetzt keine Umstände mehr. Aber es konnte doch auch sein, daß der Strolch nicht alles gelogen und seine Dienste wirklich nur von sich aus angeboten hatte, und zwar gerade heimlich, hinter Pjotr Stepanowitschs Rücken. Das aber gab dann doch am meisten zu denken.

II.

Das Haus, zu dem Stawrogin ging, lag an einer öden, entlegenen Gasse buchstäblich am äußersten Rande der Vorstadt, zwischen niedrigen Zäunen, hinter denen sich Gemüsegärten hinzogen. Es war ein alleinstehendes kleines hölzernes Haus, das man gerade erst erbaut hatte und das von außen noch nicht einmal mit Brettern beschlagen war. Die Läden des einen Fensters hatte man wohl absichtlich nicht geschlossen, denn auf dem Fensterbrett stand ein brennendes Licht, augenscheinlich als Wegweiser und Zeichen für den spät erwarteten Gast. Schon von weitem, über dreißig Schritte von der Tür, erkannte Stawrogin auf der kleinen Haustreppe die Gestalt eines Menschen von hohem Wuchs, der offenbar über dem Warten die Geduld verloren hatte und herausgetreten war. Da hörte er auch schon seine Stimme, voll Ungeduld und doch gleichsam zaghaft.

„Sind Sie es? Sie?“

„Ich bin’s,“ antwortete Stawrogin, doch nicht eher, als bis er ganz herangetreten war und den Schirm schloß.

„Endlich!“ Hauptmann Lebädkin trat hin und her und bewegte sich mit geschäftigem Diensteifer. „Das Schirmchen, wenn ich bitten darf; sehr naß heute; ich werde es aufschlagen und hier in der Ecke auf den Fußboden stellen. Bitte – bitte einzutreten, hier geht’s hinein; bitte schön.“

Die Tür aus dem Flur ins Wohnzimmer, in dem zwei Kerzen brannten, stand weit offen.

„Wenn Sie nicht selbst Ihr unbedingtes Kommen angesagt hätten, so hätte ich es schon aufgegeben, Sie zu erwarten.“

„Viertel vor eins,“ sagte Stawrogin, der ins Zimmer trat, nach einem Blick auf seine Uhr.

„Und dabei noch Regen – und eine so interessante Entfernung ... Eine Uhr habe ich nicht, und vor dem Fenster nur Gemüsegärten, da – da bleibt man hinter den Ereignissen zurück. – Aber das soll kein Vorwurf sein, das wage ich ja gar nicht, bewahre, sondern einzig nur so ... aus Ungeduld, wenn man sich die ganze Woche verzehrt ... um endlich erlöst zu werden ...“

„Wie?“

„Um seinen Schicksalsspruch zu hören, Nicolai Wszewolodowitsch.“ Und mit einer Verbeugung auf das Sofa weisend, vor dem ein Tisch stand: „Bitte, nehmen Sie Platz.“

Stawrogin sah sich im Zimmer um: es war klein und niedrig. Die ganze Einrichtung bestand nur aus dem Notwendigsten: aus zwei einfachen neuen Holzstühlen, einem gleichfalls neuen, noch unüberzogenen Sofa mit hölzerner Lehne und ohne Seitenpolster, und zwei Tischen. Auf dem kleineren, in der Ecke, standen irgendwelche Dinge, über die man eine saubere Serviette gebreitet hatte. Überhaupt schien man das ganze Zimmer äußerst sauber gehalten zu haben. Der Hauptmann war nun schon an die acht Tage nüchtern. Sein Gesicht sah gelb und abgefallen aus, der Blick war unruhig, neugierig und eigentlich verständnislos: man sah ihm an, daß er noch nicht wußte, in welch einem Ton er sprechen durfte und welcher schließlich der ratsamste war.

„Wie Sie sehen,“ wies er mit pathetischer Geste herum, „lebe ich wie ein Heiliger: Nüchternheit, Einsamkeit und Armut – das Gelübde der alten Ritter!“

„Sie glauben, die alten Ritter hätten solche Gelübde getan?“

„Tja, vielleicht habe ich mich auch verhauen? O weh, für mich gibt es keine Entwicklung mehr! Alles verdorben! Glauben Sie mir, Nicolai Wszewolodowitsch, hier bin ich zum erstenmal aufgewacht aus diesem Schandleben, – kein Gläschen mehr, kein Tröpfchen! Habe jetzt einen Winkel – und sechs Tage lang genieße ich nun schon die Wohltat der Gewissensbisse. Sogar die Wände riechen noch nach Harz, erinnern somit an die Natur. Aber was war ich, was stellte ich vor?

‚Ohne Obdach in der Nacht,

Tagsüber eine Hetze‘ ...

wie sich ein genialer Dichter ausgedrückt hat! Aber ... Sie sind ja so durchnäßt ... Wollen Sie nicht ein Gläschen Tee?“

„Bemühen Sie sich nicht.“

„Der Samowar kocht seit acht Uhr abends, aber – da ist er nun ausgelöscht! – wie alles in der Welt! Und auch die Sonne, sagt man, wird einmal auslöschen, wenn sie an die Reihe kommt ... Aber wenn Sie wollen, bringe ich ihn wieder zum Kochen ... Agafja schläft noch nicht.“

„Sagen Sie: Marja Timofejewna ...“

„Hier, hier,“ fiel ihm Lebädkin sofort flüsternd ins Wort, „wenn Sie sie sehen wollen ...?“ und er wies auf die geschlossene Tür zum Nebenzimmer.

„Sie schläft nicht?“

„O nein, nein, wie sollte sie denn? Im Gegenteil, erwartet Sie schon vom Abend an! ... wie sie es vorhin erfuhr, putzte sie sich gleich auf,“ – er wollte schon sarkastisch den Mund verziehen, unterließ es aber im Nu.

„Wie ist sie jetzt im allgemeinen?“ fragte Nicolai Wszewolodowitsch mit zusammengezogenen Brauen.

„Im allgemeinen? Ja, das geruhen Sie ja selbst zu wissen,“ und er zuckte mitleidig mit den Schultern. „Jetzt ... jetzt sitzt sie da und legt Karten ...“

„Gut, nachher. Zuerst muß ich mit Ihnen zu einem Ende kommen.“

Stawrogin setzte sich auf einen Stuhl. Der „Hauptmann“ wagte es nicht, sich auf das Sofa zu setzen, und so zog er denn schnell den anderen Stuhl herbei, setzte sich, und war, leicht vorgebeugt, in zitternder Erwartung bereit, alles zu vernehmen.

„Was haben Sie denn dort auf dem Tisch unter der Serviette?“ fragte Stawrogin, der plötzlich seine Aufmerksamkeit jenem Tisch zuwandte.

„Da–a?“ Lebädkin drehte sich sofort gleichfalls um. „Ja, das ist so von Ihren eigenen Gaben, in Gestalt, wie man zu sagen pflegt, in Gestalt von Salz und Brot ... in der neuen Wohnung ... und ich dachte auch an Ihren weiten Weg und die natürliche Müdigkeit,“ er sah ihn fast bittend an und versuchte unschuldig zu lächeln. Darauf erhob er sich, ging auf den Fußspitzen zum Tisch und entfernte ehrerbietig und vorsichtig die Serviette.

Er hatte einen ganzen Imbiß vorbereitet: geräucherten Schinken, Kalbfleisch, Sardinen, Käse, eine kleine grüne Karaffe und eine lange Flasche Bordeaux – alles war ungemein sauber, mit Sachkenntnis und fast elegant geordnet.

„Das haben Sie besorgt?“

„Jawohl ... Schon gestern ... Marja Timofejewna ist ja in der Beziehung, wie Sie wissen, gleichgültig. Aber die Hauptsache: daß es von Ihren Gaben ist, also Ihr eigenes ... da Sie ja doch hier der Hausherr sind, und nicht ich – ich bin ja doch nur so Ihr Angestellter, wenn auch, wenn auch, Nicolai Wszewolodowitsch, wenn auch mein Geist noch unabhängig ist! Diesen meinen letzten Besitz werden Sie mir doch nicht nehmen wollen!“ schloß er geradezu gerührt.

„Hm! ... wie wär’s, wenn Sie sich setzen würden?“

„Ich bin da–ankbar, dankbar und unabhängig!“ (Er setzte sich.) „Ach, Nicolai Wszewolodowitsch, in diesem Herzen hat sich so viel angesammelt, so viel, daß ich schon gar nicht mehr wußte, wie ich noch länger auf Sie warten sollte! Sehen Sie, Sie werden jetzt mein Schicksal entscheiden und auch das ... jener Unglücklichen, und dann ... dann wieder so, wie es früher war? Ich werde dann wieder meine ganze Seele vor Ihnen ausschütten, wie damals vor vier Jahren. Würdigten Sie mich doch damals dessen, mir zuzuhören, lasen Verse ... Mag man mich auch dort Ihren Falstaff genannt haben, nach Shakespeare, aber Sie haben doch so viel in meinem Leben bedeutet! ... Jetzt habe ich wieder meine große Angst und erwarte nur von Ihnen Rat und Heil. Pjotr Stepanowitsch behandelt mich ganz furchtbar!“

Stawrogin hörte ihm neugierig zu und beobachtete ihn aufmerksam. Augenscheinlich befand sich Lebädkin, wenn er nun auch schon eine Woche nicht mehr getrunken hatte, doch noch längst nicht in einem harmonischen Gemütszustande. In solchen langjährigen Trinkern setzt sich schließlich für immer etwas Ungereimtes, Dunstiges, Irrsinniges fest, das sie gleichsam benommen erscheinen läßt – was sie übrigens nicht hindert, wenn es nötig ist, nicht ungeschickter als nüchterne Leute zu betrügen, zu intrigieren und auch zu berechnen.

„Ich sehe, daß Sie sich in diesen viereinhalb Jahren nicht im geringsten verändert haben, Hauptmann,“ sagte Stawrogin wie ein wenig freundlicher. „Man sieht wieder einmal, daß die ganze zweite Hälfte des menschlichen Lebens meist nur aus den in der ersten Hälfte angenommenen Gewohnheiten besteht.“

„Erhabene Worte! Sie lösen das Rätsel der Welt!“ rief der „Hauptmann“ entzückt, halb mit verstellter, halb mit wirklich echter Begeisterung, denn er war ein großer Liebhaber guter Aussprüche. „Von allem, was Sie gesagt haben, Nicolai Wszewolodowitsch, habe ich eines ganz besonders behalten ... noch in Petersburg haben Sie’s gesagt: ‚Man muß in der Tat ein großer Mensch sein, um sogar gegen die gesunde Vernunft stand halten zu können‘. Sehen Sie!“

„Oder ebensogut auch ein Dummkopf.“

„So? Na, dann mein’twegen auch ein Dummkopf, nur haben Sie Ihr Lebelang mit dem Scharfsinn nur so um sich geworfen, die anderen aber? Mögen doch Liputin und Pjotr Stepanowitsch auch einmal etwas Ähnliches sagen! Oh, wie grausam Pjotr Stepanowitsch mit mir umgegangen ist! ...“

„Aber Sie, Hauptmann, wie haben Sie sich denn selbst benommen?“

„Ach, das betrunkene Aussehen und dazu noch die Unmenge meiner Feinde! Aber jetzt ist alles, alles vorüber und ich erneuere mich, fahre aus der alten Haut wie eine Schlange. Wissen Sie auch, Nicolai Wszewolodowitsch, daß ich mein Testament schreibe, daß ich’s schon geschrieben habe?“

„Das ist allerdings interessant. Was vermachen Sie denn und wem das?“

„Dem Vaterlande, der Menschheit und den Studenten. Nicolai Wszewolodowitsch, ich habe einmal in einer Zeitung die Biographie eines Amerikaners gelesen. Er vermachte sein ganzes, riesiges Vermögen den Fabriken und den positiven Wissenschaften, sein Skelett den Studenten der Universität seiner Stadt und seine Haut bestimmte er für eine Trommel, auf der man Tag und Nacht die amerikanische Nationalhymne trommeln sollte! Ach, wir sind ja Pygmäen im Vergleich mit dem Gedankenflug der nordamerikanischen Staaten! Rußland ist ja nur ein Spiel der Natur, aber nicht des Verstandes. Wenn ich’s versuchen wollte, meine Haut, sagen wir, dem Akmolinskschen Infanterieregiment, in dem ich die Ehre hatte, meinen Dienst zu beginnen, mit der Bedingung zu vermachen, daß man aus ihr ein Trommelfell verfertigt, auf dem man täglich vor dem ganzen Regiment die russische Nationalhymne trommeln soll – man hielte es sofort für Liberalismus und konfiszierte meine Haut! ... Darum habe ich mich denn mit den Studenten begnügt. Mein Skelett hab’ ich der Akademie vermacht, aber mit der Bedingung, einstweilen nur unter der Bedingung, daß sie auf die Stirn für alle ewigen Ewigkeiten ein Zettelchen kleben mit den Worten: ‚Ein reuiger Freidenker‘. Jawohl!“

Der Hauptmann sprach mit Begeisterung und glaubte jetzt natürlich schon selbst an die Schönheit des amerikanischen Vermächtnisses, wenn er auch als schlauer Mensch zu gleicher Zeit Stawrogin, dessen „Narr“ er früher gewesen war, aus Berechnung belustigen wollte. Aber der hatte diesmal keine Lust zu lachen, sondern fragte im Gegenteil nur eigentümlich mißtrauisch:

„Sie beabsichtigen wohl, Ihr Testament noch bei Lebzeiten zu veröffentlichen und dafür eine Belohnung zu erhalten?“

„Und wenn dem so wäre, Nicolai Wszewolodowitsch, und wenn dem so wäre?“ Lebädkin sah sich vorsichtig in ihn hinein. „Denn – was ist denn mein Los jetzt eigentlich! Sogar Verse schreibe ich nicht mehr und einst haben doch sogar Sie sich an meinen kleinen Gedichten ergötzt, Nicolai Wszewolodowitsch, wissen Sie noch, bei der Flasche? Aber aus ist’s nun mit der Feder! Hab nur noch ein einziges Lied geschrieben, wie Gogol seine ‚Letzte Geschichte‘. Sie wissen doch, Gogol verkündete ganz Rußland, daß sie sich aus seiner Seele ‚herausgesungen‘ habe. So auch ich: hab’s herausgesungen und damit – basta!“

„Was ist denn das für ein Gedicht?“

„Tja, es heißt: ‚Im Fall sie sich den Fuß zerbräche‘!“

„Wi–ie?“

Darauf hatte der Hauptmann nur gewartet. Seine Gedichte achtete und schätzte er zwar grenzenlos, doch zugleich gefiel es ihm – wohl aus einer gewissen durchtriebenen Zwieheit der Seele – daß sie Stawrogin, der früher zuweilen so über sie gelacht hatte, daß er sich die Seiten hielt, immer belustigten. Auf diese Weise erreichte er gewöhnlich zwei Ziele mit einem Mittel: ein poetisches und ein geschäftliches Ziel. Diesmal aber gab es noch ein drittes, ein ganz besonderes und äußerst kitzliches: der Hauptmann hoffte nämlich, als er das Gedicht heranzog, sich auf diese Manier am leichtesten in einem gewissen Punkte rechtfertigen zu können, hoffte dies um so mehr, als er aus einem bestimmten Grunde gerade in diesem Punkt seine Schuld für größer als in allen anderen Punkten hielt.

„‚Im Fall sie sich den Fuß mal bräche‘, das heißt, beim Reiten. Eine bloße Phantasie, Nicolai Wszewolodowitsch, ein Traumbild, aber das Traumbild eines Dichters! Einmal, beim Spazierengehen, sah dieser Dichter eine Reiterin, und da stellte er sich dann die materialistische Frage: ‚was würde dann sein?‘ – das heißt, in dem Falle, wenn! Die Sache ist doch klar: alle Kurmacher gehen sogleich wie die Krebse rückwärts, fort sind all die Heiratskandidaten, also – ‚wisch den Mund ab morgen früh‘,“ fügte er plötzlich auf Deutsch hinzu, „nur der Dichter bleibt treu, nur er mit dem gebrochenen Herzen in der Brust! Nicolai Wszewolodowitsch, sogar eine winzige Laus darf verliebt sein, denn kein Gesetz verbietet’s ihr. Und doch fühlte sich die Dame gekränkt durch meinen Brief, wie durch das Gedicht. Sogar Sie sollen sich geärgert haben, sagt man – ist’s wahr? Das wäre jammerschade, wollt’s gar nicht glauben! Nun, sagen Sie doch selbst, wen konnte ich denn mit bloßer Einbildung beleidigen? Zudem ist hier noch, mein Ehrenwort, Liputin dabei: ‚Schreiben Sie, schreiben Sie unbedingt, jeder Mensch hat das Recht, Briefe zu schreiben‘, sagte er – und so schickte ich’s denn ab.“

„Sie haben sich, glaube ich, als Bräutigam vorgeschlagen?“

„Feinde, Feinde, nichts als Feinde! ...“

„Sagen Sie das Gedicht!“ fiel ihm Stawrogin streng ins Wort.

„Ein Traum, bloß ein Traum, sag ich Ihnen!“

Aber er setzte sich doch in Positur, streckte die Hand aus und begann:

„Das schönste Weib brach mal ein Glied,

Doch ward es dadurch nur aparter!

Und doppelt liebte sie fortan

Der ohnehin in sie verliebte Dichtersmann ...“

„Genug!“ Stawrogin winkte ab.

„Oh, ich sehne mich nach Pietjer[39]!“ rief Lebädkin, schnell auf ein anderes Gebiet überspringend, als wäre von Gedichten nie die Rede gewesen. „Ich denke an eine Auferstehung, ich träume von einer Wiedergeburt ... Mein Wohltäter! Darf ich darauf rechnen, daß Sie mir nicht die Mittel zur Reise verweigern werden? Ich hab Sie die ganze Woche wie die liebe Sonne erwartet.“

„Nein, darauf dürfen Sie nicht rechnen. Außerdem ist mir von meinem Kapital fast nichts mehr verblieben. Und überhaupt, warum sollte ich Ihnen Geld geben? ...“

Stawrogin schien sich plötzlich geärgert zu haben. Kurz und trocken zählte er alle Vergehen des Hauptmanns auf: das unmäßige Trinken, die Lügengeschichten, Verschwendung des Geldes, das Marja Timofejewna gehörte, dann, daß er sie aus dem Kloster genommen hatte, die frechen Briefe mit den Drohungen, das Geheimnis bekanntzumachen, die Geschichte mit Darja Pawlowna usw., usw. Der Hauptmann wogte geradezu hin und her, gestikulierte, wollte widersprechen, doch Stawrogin wies ihn jedesmal herrisch zur Ruh.

„Und erlauben Sie,“ bemerkte er zum Schluß, „Sie schreiben immer von einer ‚Familienschande‘. Ich sehe darin keine Schande für Sie, daß Ihre Schwester Stawrogins rechtmäßig getraute Frau ist.“

„Aber die Ehe ist ein Geheimnis, Nicolai Wszewolodowitsch, niemand weiß davon, ein verhängnisvolles Geheimnis! Ich bekomme Geld von Ihnen und plötzlich stellt man mir die Frage: wofür bekommst du dieses Geld? Ich aber bin gebunden und kann nicht antworten, zum Schaden meiner Schwester – und zum Schaden meiner Familienehre!“

Der Hauptmann erhob bereits die Stimme: dieses Thema liebte er ganz besonders und er hatte sich in diesem Sinne schon vorbereitet, denn darauf beruhte seine ganze Hoffnung. Wie hätte er auch ahnen sollen, welch eine niederschmetternde Überraschung ihn gerade auf dieser seiner Basis erwartete! Ruhig und bestimmt, als ob es sich um die alltäglichste häusliche Angelegenheit handelte, teilte ihm Stawrogin mit, daß er die Absicht habe, in diesen Tagen, vielleicht morgen oder übermorgen, seine Heirat allgemein bekanntzumachen, sie ‚sowohl der Polizei wie der Gesellschaft‘ anzuzeigen – so daß denn die Frage der „Familienehre“ damit endgültig erledigt sein werde, und die der Subsidien gleichfalls.

Der Hauptmann riß die Augen auf: er begriff nicht einmal, was er da hörte; so mußte denn alles noch durchgesprochen werden.

„Aber sie ist doch ... halbverrückt?“

„Das ist meine Sache.“

„Aber ... was wird denn Ihre Mutter –?“

„Das geht Sie wenig an, Lebädkin.“

„Aber Sie werden doch Ihre Frau in Ihr Haus führen?“

„Sehr leicht möglich. Übrigens ist das schon ganz und gar nicht Ihre Sache, das geht Sie nicht das geringste an.“

„Wie, nicht angehen?“ schrie der Hauptmann auf. „Und ich?“

„Nun, Sie kommen doch selbstverständlich nicht in mein Haus.“

„Aber ich bin doch Ihr Verwandter!“

„Für solche Verwandte dankt man. Und warum soll ich Ihnen nun noch Geld geben, sagen Sie doch selbst?“

„Nicolai Wszewolodowitsch, Nicolai Wszewolodowitsch, das kann ja nicht sein, Sie werden sich das doch noch überlegen, Sie werden doch nicht Hand an sich legen wollen ... was wird man denken, was wird man in der Gesellschaft sagen?“

„Fürchte wahrlich sehr diese Gesellschaft! Habe ich doch Ihre Schwester geheiratet, als ich es wollte, damals, nach dem Gelage, auf die trunkene Wette hin, und jetzt zeige ich es öffentlich an ... wenn mir das jetzt Vergnügen macht.“

Er sagte das ganz eigentümlich gereizt, so daß Lebädkin schon mit Entsetzen zu glauben begann.

„Aber ich, was wird denn mit mir, die Hauptsache dabei bin doch ich! ... Sie scherzen vielleicht nur, Nicolai Wszewolodowitsch?“

„Nein, ich scherze nicht.“

„Wie Sie wollen, Nicolai Wszewolodowitsch, aber ich glaube Ihnen nicht ... dann werde ich eine Bittschrift einreichen.“

„Sie sind furchtbar dumm, Hauptmann.“

„Meinetwegen, aber das ist doch alles, was mir übrigbleibt!“ sagte der Hauptmann ganz wirr in seiner Benommenheit. „Früher gab man mir dort in den Winkeln für ihre Arbeit wenigstens ein Obdach, aber was soll denn jetzt aus mir werden, wenn Sie mich ganz fallen lassen?“

„Aber Sie wollen doch nach Petersburg, um Ihre Karriere zu verändern. Übrigens, ist es wahr, daß Sie, wie ich hörte, beabsichtigten, zu denunzieren – in der Hoffnung, begnadigt zu werden, wenn Sie die anderen anzeigen?“

Der Hauptmann öffnete den Mund und riß die Augen auf, doch eine Antwort gab er nicht.

„Hören Sie, Hauptmann,“ begann plötzlich Stawrogin ungewöhnlich ernst und beugte sich ein wenig vor zum Tisch.

Bis jetzt hatte er noch gewissermaßen zweideutig gesprochen, so daß Lebädkin, der sich nun einmal an die Rolle des Narren gewöhnt hatte, noch immer ein wenig im Zweifel war: ob sich sein Prinz Heinz in der Tat ärgerte oder ob er, als er von der Veröffentlichung seiner Heirat sprach, nur zu scherzen beliebte. Jetzt aber war der ungewöhnliche Ernst Stawrogins dermaßen überzeugend, daß dem Hauptmann plötzlich geradezu ein Frösteln über den Rücken lief.

„Hören Sie, und sagen Sie die ganze Wahrheit, Lebädkin: haben Sie schon denunziert, oder noch nicht? Ist es Ihnen nicht schon gelungen, irgend etwas in der Hinsicht zu tun? Haben Sie nicht aus Dummheit schon irgendeinen Brief abgeschickt?“

„Nein, noch nicht, und ... ich hab’ nicht einmal daran gedacht!“ und der Hauptmann sah ihn an, ohne sich zu rühren.

„Nun, das lügen Sie, daß Sie daran noch nicht gedacht haben. Deswegen wollen Sie ja auch nach Petersburg. Aber wenn Sie noch nichts geschrieben haben, sollten Sie dann nicht hier irgend etwas mit irgend jemandem geschwätzt haben? Sagen Sie die Wahrheit. Ich habe so etwas gehört.“

„In der Betrunkenheit mit Liputin. Liputin ist ein Verräter. Ich habe ihm nur mein Herz ausgeschüttet,“ flüsterte der arme Hauptmann.

„Nun ja, das eine Herz dem anderen Herzen, ich weiß schon, aber man braucht doch nicht gleich blödsinnig zu sein. Wenn Sie den Gedanken hatten, so hätten Sie ihn für sich behalten sollen. Heutzutage schweigen kluge Leute und reden nicht.“

„Nicolai Wszewolodowitsch,“ – der Hauptmann erzitterte. „Sie selbst haben sich doch an nichts beteiligt, ich hab doch nicht Sie ...“

„Wie sollten Sie denn, bewahre, Ihre eigene Milchkuh!“

„Nicolai Wszewolodowitsch, so urteilen Sie doch selbst! So sagen Sie doch! ...“

Und in der Verzweiflung begann er, mit Tränen in den Augen, sein Leben in diesen letzten vier Jahren zu erzählen. Es war die törichte Geschichte eines hereingefallenen Dummkopfs, der seine Nase in Sachen gesteckt, die nicht für ihn geschaffen waren, und deren Wichtigkeit er über Trinken und Schlemmen fast bis zum letzten Augenblick noch nicht begriffen hatte. Er erzählte, er habe sich schon in Petersburg „einfach verleiten lassen, aus reiner Freundschaft, wie ein treuer Student, das heißt, ohne eigentlich Student zu sein“, verschiedene Blätter durch die Türen, in die Schirme zu stecken, oder wie Zeitungen in die Briefkästen, und wo sich nur eine Gelegenheit bot, im Theater wie auf der Straße, in die Hüte oder Taschen zu befördern. Späterhin habe er auch Geld von ihnen genommen, denn „was sind denn meine Einnahmen, Sie wissen doch selbst!“ Kurz, in zwei ganzen Gouvernements hatte er „allerlei Schund“ verstreut.

„Oh, Nicolai Wszewolodowitsch,“ rief er aus, „am meisten hat mich empört, daß diese Papierlappen so ganz gegen alle bürgerlichen und besonders vaterländischen Gesetze waren! Da ist denn plötzlich gedruckt, sie sollen mit den Heugabeln kommen und nicht vergessen, daß, wer morgens arm ausgeht, abends reich zurückkommen kann – stellen Sie sich doch nur so was vor! Ein Schauer faßt mich selber und doch stopfe ich die Schandblätter überall hin ... oder plötzlich fünf, sechs Zeilen an ganz Rußland, so, mir nichts, dir nichts, ganz einfach: ‚Schließt schnell die Kirchen, vernichtet Gott, löst die Ehe, hebt das Recht der Erbfolge auf, nehmt die Messer!‘ – und das ist alles, und der Teufel weiß, was weiter. Und gerade mit diesem Papierchen, dem fünfzeiligen, bin ich dann beinahe hereingefallen, im Regiment haben mich die Offiziere verprügelt, aber dann – Gott gebe ihnen Gesundheit! – haben sie mich wieder laufen lassen. Doch im vorigen Jahre haben sie mich beinahe wirklich gepackt, wie ich Fünfzigrubelscheine, französische Kopien, Korowajeff übergab. Aber, Gott sei Dank, Korowajeff ertrank bald darauf in betrunkenem Zustande im Teich – und man konnte nichts gegen mich unternehmen. Hier bei Wirginski hatte er noch die Freiheit der sozialen Frau verkündet. Im Juni hab ich wieder im ...schen Kreise alles mögliche herumgestreut. Die sagen, ich müsse bald wieder ... Pjotr Stepanowitsch gibt plötzlich zu verstehen, daß ich gehorchen muß und droht mir einfach. Aber wie hat er mich damals am Sonntag behandelt! Nicolai Wszewolodowitsch, ich bin ein Sklave, ein Wurm, aber kein Gott – nur dadurch unterscheide ich mich von Dershawin. Doch was sind denn meine Einnahmen? Sie wissen ja selbst!“

Stawrogin hatte ihm aufmerksam zugehört.

„Vieles war mir davon ganz unbekannt,“ sagte er; „mit Ihnen konnte selbstverständlich alles geschehen ... Hören Sie,“ er dachte ein wenig nach, „wenn Sie wollen, so sagen Sie ihnen – Sie wissen schon, wem –, daß Liputin gelogen hat und daß Sie nur mich mit einer Denunziation hätten schrecken wollen, in der Annahme, auch ich sei kompromittiert ... um auf diese Weise mehr Geld aus mir herauszubekommen ... Verstanden?“

„Nicolai Wszewolodowitsch, Liebling, Täubchen, droht mir denn wirklich solch eine Gefahr? Ich habe ja nur auf Sie gewartet, um Sie das fragen zu können!“

Stawrogin lachte kurz auf.

„Nach Petersburg wird man Sie natürlich nicht lassen, selbst wenn ich Ihnen das Geld zur Reise geben wollte ... Übrigens, es ist Zeit, zu Marja Timofejewna zu gehen.“ Er erhob sich.

„Nicolai Wszewolodowitsch, aber wie wird das nun mit ihr, mit Marja Timofejewna?“

„Ja, so, wie ich sagte.“

„Ist das denn wirklich wahr?“

„Sie glauben noch immer nicht?“

„Wollen Sie mich denn wirklich so liegen lassen, wie einen alten, vertragenen Stiefel?“

„Ich werde sehen,“ meinte Stawrogin halb lachend. „Nun, lassen Sie mich.“

„Wünschen Sie nicht, daß ich so lange auf der Treppe stehe ... damit ich nicht irgendwie versehentlich zuhöre ... die Zimmerchen sind klein.“

„Das ist recht. Warten Sie ein wenig auf der Treppe. Nehmen Sie meinen Regenschirm.“

„Ihren Regenschirm, Ihren ... bin ich denn das wert?“ fragte der Hauptmann unterwürfig.

„Einen Schirm ist jeder wert.“

„Mit einem Schlage treffen Sie wieder das Minimum der menschlichen Rechte ...“ sagte Lebädkin, doch schon mehr mechanisch: er war doch gar zu bedrückt und eigentlich ganz wie vor den Kopf geschlagen. Einstweilen aber, fast gleich darauf, als er den Schirm über sich aufgeschlagen hatte, begann sich in seinem leichtsinnigen Gehirn schon ein äußerst beruhigender Gedanke mehr und mehr auszubreiten: wie, wenn man ihn bloß betrügen wollte und ihn belog? War dem aber so, dann fürchtete man sich also vor ihm und – wozu sollte er sich dann noch fürchten?

„Wenn man lügt und betrügt, so tut man das doch stets aus irgend einem Grunde – was für einer mag das nun hier sein?“ krabbelte es in seinem Kopf herum. Die Veröffentlichung der Heirat schien ihm Blödsinn zu sein: „Aber weiß Gott: bei diesem Wundertäter ist nichts unmöglich, – lebt ja überhaupt nur zu dem Zweck, um die Menschen zu ärgern! Wie aber, wenn er Angst vor mir bekommen hat nach dem Sonntag? Hm ... und noch so, wie nie zuvor? Da ist er nun hergeeilt, um zu versichern, daß er selbst alles bekanntmachen werde, aus Angst, ich könnte es sonst tun. Lebädkin, sieh dich vor, schieß keinen Bock! Hm! ... Und warum kommt er denn heimlich in der Nacht, wenn er’s selbst ausblasen will? Aber wenn er sich fürchtet, so fürchtet er sich jetzt, fürchtet gerade für diese paar Tage. Hm! ... paß auf, Lebädkin! ...“

„Schreckt mich mit Pjotr Stepanowitsch! Da kann einem ganz angst und bange werden – gerade, was das betrifft! Hm ... weiß Gott! wahrhaftig angst und bange. Was plagte mich nur, diesem Liputin, solch einem ... Der Teufel mag wissen, was diese Beelzebuben da im Spiele haben – bin nie draus klug geworden! Haben sich jetzt wieder eingefunden, genau wie vor fünf Jahren ... Ja, wem hätt’ ich’s denn sagen sollen? ‚Haben Sie nicht aus Dummheit irgend jemandem geschrieben?‘ Hm! Also kann man auch unter dem Anschein großer Dummheit schreiben? War das vielleicht gar ein Rat? ‚Deswegen wollen Sie ja nach Petersburg.‘ Der Schuft! Ich hab’s bloß mal geträumt, er aber hat sogar den Traum schon erraten! Ganz als ob er selber zur Reise nach Petersburg raten möchte. Hm! Hier werden wohl zwei Sachen im Spiele sein: entweder er fürchtet sich selber, weil er wieder was Schönes angerichtet hat, oder ... oder er fürchtet selbst überhaupt nichts und schubst nur mich, damit ich sie alle da anzeige! Ach, Lebädkin, da kann einem wahrhaftig angst und bange werden! Wenn man dabei nur keinen Bock schießt! ...“

Und er kam dermaßen ins Nachdenken, daß er selbst das Lauschen vergaß. Übrigens wäre es ihm auch schwer gefallen, etwas zu verstehen; die Tür war nicht dünn und das Gespräch wurde nur leise geführt – nur hin und wieder drang ein unklarer Laut bis zu ihm. Endlich spuckte er aus und trat wieder aus dem Flur auf die Treppe hinaus, wo er in Gedanken leise vor sich hin pfiff.

III.

Das Zimmer, in dem Marja Timofejewna saß, war fast zweimal so groß wie das erste, das der Hauptmann bewohnte. Alle Gegenstände der Einrichtung waren von derselben einfachsten Art, doch der Tisch vor dem Sofa war mit einem geblümten Paradetischtuch bedeckt, und auf ihm stand eine brennende Lampe. Über den ganzen ungestrichenen Fußboden hatte man einen schönen Teppich gebreitet und die Bettstelle mit einem grünen Vorhang völlig abgeteilt. Außerdem befand sich in dem Zimmer noch ein großer weicher Lehnstuhl, in den sich aber Marja Timofejewna niemals setzte. In der einen Ecke hing ganz wie in der alten Wohnung ein Heiligenbild, vor dem das Lämpchen brannte, und ganz wie damals lagen auch jetzt wieder die unvermeidlichen Sachen auf dem Tisch vor Marja Timofejewna: ein Spiel Karten, ein kleiner Spiegel, das Liederbuch und auch wieder eine Semmel. Hinzugekommen waren nur zwei kleine Bücher mit bunten Bildern, von denen das eine für die Jugend bearbeitete Reisebeschreibungen enthielt, das andere kleine moralische Erzählungen, vornehmlich Rittergeschichten – so ein Buch für den Weihnachtstisch oder junge Mädchen im Institut. Marja Timofejewna hatte natürlich den Gast erwartet, doch als Stawrogin eintrat, schlief sie halb liegend auf dem Sofa, auf ein hartes Kissen gebeugt. Der Gast schloß unhörbar die Tür hinter sich und begann, ohne sich von der Stelle zu rühren, die Schlafende zu betrachten.

Der Hauptmann hatte übertrieben, als er sagte, sie habe sich besonders geputzt. Sie war in demselben dunklen Kleide, in dem sie am Sonntag bei Warwara Petrowna gewesen war. Das Haar hatte sie im Nacken ebenso zu einem winzigen Knoten zusammengesteckt, und der lange magere Hals war genau so wie damals entblößt. Der schwarze Shawl, den Warwara Petrowna ihr geschenkt hatte, lag sorgfältig zusammengefaltet neben ihr auf dem Sofa. Sie war wie gewöhnlich ungeschickt gepudert und geschminkt. Stawrogin stand noch nicht eine Minute, als sie plötzlich, als hätte sie seinen Blick gefühlt, erwachte, die Augen aufschlug und sich schnell aus der halb liegenden Stellung aufrichtete. Doch offenbar ging auch in dem Gast etwas Sonderbares vor: er blieb auf demselben Fleck an der Tür stehen und rührte sich nicht; regungslos und mit durchdringendem Blick fuhr er fort, ihr wortlos und beharrlich ins Gesicht zu sehen. Vielleicht war dieser Blick übermäßig hart, vielleicht drückte sich in ihm Ekel aus, oder sogar schadenfroher Genuß an ihrem Schreck – wenn das nicht Marja Timofejewna nach dem Erwachen nur so schien. Doch wie dem auch war, jedenfalls drückte sich im Gesicht der Armen plötzlich, nach fast minutenlangem Warten, vollständiges Entsetzen aus: ein krampfartiges Zucken lief durch ihre Züge, sie erhob ihre bebenden Hände, wie zur Abwehr, und plötzlich begann sie zu weinen, genau so, wie ein erschrecktes Kind; noch ein Augenblick – und sie hätte geschrien. Doch der Gast kam zur Besinnung: in einer Sekunde veränderte sich sein ganzes Gesicht, und mit dem freundlichsten, liebenswürdigsten Lächeln trat er an den Tisch.

„Verzeihen Sie mir, ich habe Sie erschreckt, Marja Timofejewna, Sie schliefen und ich bin so unbemerkt eingetreten,“ sagte er und streckte ihr die Hand entgegen.

Der Ton der freundlichen Worte tat seine Wirkung: der Schreck verschwand aus ihrem Gesicht, wenn sie ihn auch immer noch angstvoll anblickte, augenscheinlich bemüht, sich irgend etwas zu erklären. Ängstlich streckte sie ihm die Hand entgegen und schließlich zuckte denn auch ein schüchternes Lächeln um ihre Lippen.

„Guten Tag, Fürst,“ flüsterte sie und sah ihn dabei ganz sonderbar und aufmerksam an.

„Sie haben wohl einen bösen Traum gehabt?“ fragte er und lächelte noch liebenswürdiger, noch freundlicher.

„Wie können Sie wissen, daß mir davon geträumt hat?“

Und plötzlich erbebte sie wieder, taumelte erschrocken zurück, erhob wie zur Abwehr die Hand und wieder verzog sich ihr Gesicht, wie das eines kleinen Kindes, das weinen will.

„Aber so beruhigen Sie sich doch! Warum fürchten Sie sich? Haben Sie mich denn wirklich nicht erkannt?“ redete ihr Nicolai Wszewolodowitsch zu, doch diesmal konnte er sie lange nicht beruhigen.

Schweigend sah sie ihn an und noch immer lag in ihrem fragenden Blick ein quälender Zweifel, irgend ein schwerer Gedanke, den ihr armer Kopf nicht zu fassen vermochte. Dabei war es, als strenge sie sich krampfhaft an, irgend etwas zu Ende zu denken. Bald senkte sie die Augen, bald schlug sie sie plötzlich wieder auf und überflog ihn mit einem schnellen, umfassenden Blick. Endlich schien sie sich – zwar nicht beruhigt, aber doch wie zu etwas entschlossen zu haben.

„Setzen Sie sich, bitte, neben mich, damit ich Sie nachher gut sehen kann,“ sagte sie ziemlich fest, augenscheinlich mit einer ganz bestimmten und neuen Absicht. „Aber jetzt seien Sie ganz ruhig, denn ich werde Sie nicht ansehen, und auch Sie sollen mich nicht ansehen, so lange nicht, bis ich Sie selbst darum bitte. Setzen Sie sich nun!“ fügte sie plötzlich sogar mit Ungeduld hinzu.

Die neue Empfindung bemächtigte sich ihrer sichtlich immer mehr.

Stawrogin setzte sich und wartete; ein Schweigen begann und dauerte ziemlich lange.

„Hm! Sonderbar erscheint mir das alles,“ murmelte sie plötzlich und fast wie angeekelt. „Mich haben natürlich schlechte Träume bestrickt; nur – warum mußten gerade Sie mir in eben dieser Gestalt im Traume erscheinen?“

„Lassen wir jetzt die Träume,“ unterbrach er sie ungeduldig und wandte sich zu ihr, trotz des Verbotes, sie anzusehen, und vielleicht blitzte flüchtig wieder jener Ausdruck von vorhin in seinen Augen auf. Er sah, daß sie mehrmals und sogar sehr gern zu ihm aufblicken wollte, sich jedoch jedesmal bezwang und hartnäckig den Blick zu Boden gesenkt hielt.

„Hören Sie, Fürst,“ sagte sie plötzlich lauter. „Hören Sie, Fürst ...“

„Warum wenden Sie sich von mir ab, warum sehen Sie mich nicht an, was soll diese ganze Komödie?“ rief er geärgert, da ihm die Geduld riß.

Sie aber schien ihn überhaupt nicht zu hören.

„Hören Sie, Fürst,“ wiederholte sie zum drittenmal mit fester Stimme und mit einem unangenehmen, geschäftigen Ausdruck im Gesicht. „Als Sie mir damals in der Equipage sagten, die Heirat werde jetzt öffentlich bekanntgemacht werden, da erschrak ich schon damals, weil dann das Geheimnis doch aufhören würde. Jetzt aber weiß ich gar nicht mehr ... Ich habe die ganze Zeit gedacht, und sehe nun deutlich, daß ich nicht dazu tauge. Zu putzen würde ich mich schon verstehen, zu empfangen schließlich auch: als ob es wunder wie schwer wäre, zu einer Tasse Tee einzuladen, besonders wenn man noch Diener in Livree hat! Aber immerhin, wenn man so von der Seite sehen wird ... Ich habe damals, am Sonntag vormittag, vieles in jenem Hause gesehen. Dieses hübsche Fräulein hat mich die ganze Zeit angesehen, besonders als Sie eintraten. Das waren doch Sie, der eintrat, nicht? Ihre Mutter war nur eine drollige alte Dame. Mein Lebädkin hat sich auch ausgezeichnet. Um nicht über ihn lachen zu müssen, hab ich immer zur Zimmerdecke hinaufgeschaut, schön war sie da bemalt! Seine Mutter aber müßte nur Äbtissin sein. Ich fürchte mich vor ihr, wenn sie mir auch den schwarzen Schal geschenkt hat. Die haben mich damals wohl alle nur als Überraschung empfunden; das kränkt mich ja nicht, nur saß ich dort so und dachte bei mir: was bin ich denn für die hier für eine Verwandte? Ich weiß wohl, von einer Gräfin verlangt man nur seelische Eigenschaften – denn für die wirtschaftlichen hat sie doch viele Diener – und dann noch so ein bißchen gesellschaftliche Koketterie, damit sie ausländische Reisende zu empfangen versteht. Aber trotzdem, damals am Sonntag sahen sie mich doch ganz ohne Vertrauen an. Nur Dascha ist ein Engel. Ich fürchte sehr, daß sie ihn irgendwie mit einer unvorsichtigen Bemerkung über mich kränken könnten.“

Stawrogin verzog den Mund.

„Fürchten Sie sich nicht und machen Sie sich keine Sorgen,“ sagte er.

„Aber das machte mir ja auch nichts aus, selbst wenn er sich meinetwegen ein wenig schämen sollte, denn es wäre doch immer mehr Mitleid als Schande dabei, denke ich – freilich, je nach dem, wie der Mensch selbst ist. Denn er weiß doch, daß eher ich sie bemitleiden kann, nicht aber sie mich.“

„Sie haben sich wohl sehr gekränkt gefühlt, Marja Timofejewna?“

„Wer, ich? Nein.“ Sie lachte gutmütig. „Nicht ein bißchen. Ich sah mir damals nur alle so an und dachte so bei mir: alle ärgert ihr euch, alle seid ihr entzweit; nicht einmal zusammenzukommen und von Herzen zu lachen verstehen sie. So viel Reichtum, und dabei so wenig Fröhlichkeit – traurig war mir das alles. Übrigens, jetzt tut mir niemand leid, außer mir selbst.“

„Ich hörte, Sie hätten mit Ihrem Bruder ein schlechtes Leben gehabt, ohne mich?“

„Wer hat Ihnen das gesagt? Unsinn! Jetzt ist es viel schlechter: jetzt sind die Träume schlecht, und schlecht sind die Träume deshalb geworden, weil Sie angekommen sind. Sie aber, fragt es sich, warum sind Sie denn hergekommen, sagen Sie das doch gefälligst!“

„Wollen Sie nicht wieder ins Kloster gehen?“

„So, das ahnte ich ja, daß man mir wieder das Kloster vorschlagen wird! Als ob euer Kloster da Gott weiß was für ein Wunderding wäre! Und warum soll ich denn wieder ins Kloster gehen, und womit soll ich denn jetzt noch dorthin? Jetzt bin ich doch schon ganz und gar allein! Es ist zu spät für mich, ein drittes Leben anzufangen.“

„Sie scheinen sich über irgend etwas sehr zu ärgern, – fürchten Sie nicht schon, daß ich aufgehört haben könnte, Sie zu lieben?“

„Ach, um Sie mache ich mir ja gar keinen Kummer. Ich fürchte nur für mich, daß ich selbst aufhören könnte, jemanden sehr zu lieben.“

Sie lächelte verächtlich.

„Ich werde wohl vor ihm in etwas sehr Großem schuldig sein,“ sagte sie plötzlich wie zu sich selbst. „Nur weiß ich nicht, worin ich schuldig sein könnte, und das ist nun mein ewiges Leid. Immer und immer, diese ganzen fünf Jahre, habe ich Tag und Nacht gebangt, daß ich vor ihm schuldig sein könnte. Und da bete ich denn lange und bete und denke immer an meine große Schuld vor ihm. Und nun hat es sich auch richtig herausgestellt, daß ich wahr gefühlt habe.“

„Was hat sich herausgestellt?“

„Nur fürchte ich, ob da nicht etwas von ihm aus geschieht,“ fuhr sie fort, ohne auf die Frage zu antworten, die sie vielleicht überhaupt nicht gehört hatte. „Und doch, wie könnte er sich denn mit solchen Leutchen zusammentun! Die Gräfin würde mich wohl gern verschlingen, obschon sie mich in ihre Karosse gesetzt hat. Alle sind sie an der Verschwörung beteiligt – sollte auch er es sein!? Sollte auch er ein Verräter sein?“ (Ihr Kinn und ihre Lippen begannen zu zittern.) „Hören Sie, haben Sie von Grischka Otrepjeff gelesen, dem falschen Demetrius, der in sieben Kathedralen verflucht ward?“

Stawrogin schwieg.

„Aber ja, jetzt werde ich mich zu Ihnen wenden und werde Sie ansehen,“ entschloß sie sich plötzlich. „Wenden Sie sich auch zu mir und sehen Sie mich an, aber recht aufmerksam: ich will mich zum letztenmal überzeugen.“

„Ich sehe Sie schon lange an.“

„Hm!“ sagte Marja Timofejewna und betrachtete ihn angestrengt.

„Viel dicker sind Sie geworden ...“

Sie wollte noch etwas sagen, doch plötzlich ergriff der frühere Schreck sie wieder und zum drittenmal fuhr sie mit geradezu entsetztem Gesicht zurück und erhob dabei wieder wie zur Abwehr die Hand.

„Was haben Sie nur, was fehlt Ihnen?“ rief Stawrogin wütend.

Doch der Schreck dauerte nur einen Augenblick; ihr Gesicht verzog sich zu einem sonderbaren, mißtrauischen, unangenehmen Lächeln.

„Ich bitte Sie, Fürst, stehen Sie auf und treten Sie ein,“ sagte sie plötzlich sehr bestimmt und mit fester Stimme.

„Wie, eintreten? Wohin eintreten?“

„Diese ganzen fünf Jahre habe ich mir immer nur vorgestellt, wie das sein wird, wenn Er eintritt. Stehen Sie auf und gehen Sie ins andere Zimmer, hinter die Tür. Ich werde dann hier sitzen, als erwartete ich nichts, und werde ein Buch in die Hand nehmen. Und plötzlich treten Sie dann ein, nach fünf Jahren, und sind von der Reise zurückgekehrt. Ich möchte sehen, wie das sein wird.“

Stawrogin knirschte mit den Zähnen und murmelte etwas Unverständliches.

„Genug,“ sagte er und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. „Ich bitte Sie, Marja Timofejewna, mich jetzt anzuhören. Haben Sie die Güte, Ihre ganze Aufmerksamkeit zusammen zu nehmen, wenn Sie es können. Sie sind doch nicht total verrückt!“ entfuhr es ihm in der Gereiztheit. „Morgen werde ich unsere Ehe bekanntmachen. Sie werden nie in Schlössern wohnen – fassen Sie sich, bitte! Wollen Sie nun mit mir zusammenwohnen, das ganze Leben, aber nur sehr weit von hier? Das wäre in der Schweiz, in den Bergen, dort gibt es einen Ort ... Beunruhigen Sie sich nicht, ich werde Sie niemals verlassen, oder in eine Irrenanstalt stecken. Geld werde ich noch genug haben, um nicht für uns betteln zu müssen. Sie werden ein Dienstmädchen haben; Sie werden keine einzige Arbeit zu verrichten brauchen. Alles, was Sie innerhalb der Grenzen des Möglichen wünschen, wird Ihnen verschafft werden. Sie werden beten und tun können, was Sie wollen, und gehen können wohin Sie wollen. Ich werde Sie nicht anrühren. Und auch ich werde diesen Ort nie mehr verlassen. Wenn Sie wollen, werde ich das ganze Leben lang kein Wort mit Ihnen sprechen, oder, wenn Sie wollen, so erzählen Sie mir abends, wie damals in Petersburg in den Winkeln, Ihre kleinen Geschichten. Oder ich kann Ihnen auch vorlesen, wenn Sie zum Zuhören Lust haben. Aber dafür das ganze Leben so an einem einzigen Ort – und es ist ein düsterer Ort. Wollen Sie? Können Sie sich entschließen? Und werden Sie es auch nie bereuen, werden Sie mich nie peinigen mit Tränen und Verwünschungen?“

Sie hatte ihm mit ungewöhnlicher Aufmerksamkeit zugehört, darauf schwieg sie lange und dachte nach.

„Unwahrscheinlich kommt mir das alles vor,“ sagte sie endlich spöttisch und launisch. „So könnte ich ja womöglich noch vierzig Jahre in jenen Bergen leben.“

Sie begann zu lachen.

„Nun, dann leben wir eben noch vierzig Jahre,“ sagte er mit stark gerunzelter Stirn.

„Hm! ... Um keinen Preis fahre ich dorthin.“

„Sogar mit mir nicht?“

„Wer sind Sie denn, daß ich mit Ihnen fahren sollte? Vierzig Jahre nacheinander mit ihm auf einem Berge sitzen – hört doch, womit er mir kommt! Was doch die Menschen heutzutage geduldig geworden sind! Aber nein, es kann doch nicht sein, daß ein Falke zum Uhu ward. Nicht so ist mein Fürst!“ und sie hob stolz und triumphierend den Kopf.

Da war es ihm, als ginge ihm plötzlich etwas auf.

„Warum nennen Sie mich Fürst und ... für wen halten Sie mich überhaupt?“ fragte er schnell.

„Wie? Sind Sie denn kein Fürst?“

„Ich bin niemals Fürst gewesen.“

„Und das gestehen Sie mir noch, so einfach, so ganz offen, mir ins Gesicht, daß Sie kein Fürst sind!“

„Ich kann Ihnen nur sagen, daß ich nie einer gewesen bin.“

„Mein Gott!“ Sie schlug die Hände zusammen. „Alles habe ich von seinen Feinden erwartet, aber solche Dreistigkeit doch wirklich nicht! Lebt er überhaupt noch?“ rief sie außer sich und rückte auf ihn zu. „Hast du ihn getötet oder nicht, gestehe!“

„Für wen hältst du mich?“ rief er aufspringend und sah sie an mit verzerrtem Gesicht.

Aber es war schwer, sie jetzt noch zu erschrecken. Sie triumphierte bereits.

„Wer kann es denn wissen, was du bist und woher du kommst! Nur mein Herz, mein Herz hat in all diesen fünf Jahren die ganze Intrige geahnt! Und da sitze ich nun und wundere mich: was ist das doch für eine blinde Eule, die heute zu mir gekommen ist? Nein, mein Lieber, du bist ein schlechter Schauspieler, sogar schlechter als mein Lebädkin. Grüße die Gräfin von mir recht höflich und richte ihr aus, sie solle doch einen schicken, der etwas gewandter ist als du. Hat sie dich gemietet, sag? Sonst dienst du wohl in ihrer Küche, wo sie dich vielleicht aus Gnade und Barmherzigkeit hält! Ich durchschaue ja euren ganzen Betrug, euch alle, bis auf den letzten durchschaue ich!“

Er faßte sie mit fester Kraft am Arm, über dem Ellenbogen; sie aber lachte ihm ins Gesicht.

„Ähnlich bist du ihm, ja, sehr ähnlich, vielleicht bist du auch verwandt mit ihm, – schlaues Volk! Nur ist meiner ein lichter Falke und ein Fürst, du aber bist eine Eule und ein Krämer! Wenn meiner will, so beugt er sich vor Gott, will er aber nicht, so beugt er sich auch vor Gott nicht! Dich aber hat Schatuschka (der Gute, der Liebe, mein Täubchen Schatuschka!) ins Gesicht geschlagen, wie Lebädkin erzählte. Und warum wurdest du damals so feig, als du hereinkamst? Was schreckte dich denn? Wie ich es sah, dein gemeines Gesicht, als ich fiel und du mich auffingst – da kroch es mir wie ein Wurm ins Herz: das ist nicht er, denke ich, nicht er! Würde sich doch mein Falke meiner nie vor einem vornehmen Fräulein geschämt haben! O Gott! Machte mich doch schon der Gedanke glücklich, in diesen ganzen fünf Jahren, daß mein Falke dort irgendwo hinter den Bergen lebt und fliegt und die Sonne schaut ... Sag, Usurpator, hast du viel genommen? Hast wohl für großes Geld eingewilligt? Ich hätte dir keinen Groschen gegeben! Ha–ha–ha! Ha–ha–ha! ...“

„Idiotin!“ knirschte Stawrogin, der sie immer noch am Arm gepackt hielt.

„Fort, Usurpator!“ rief sie plötzlich befehlend. „Ich bin meines Fürsten Frau und fürchte mich nicht vor deinem Messer!“

„Messer!“

„Ja, Messer! Du hast ein Messer in der Tasche. Du glaubtest wohl, ich schlief, aber ich habe alles gesehen: als du vorhin eintratest, zogst du ein Messer hervor!“

„Was hast du gesagt, Unglückliche, was träumst du für Träume!“ schrie er sie an und stieß sie aus aller Kraft von sich fort, so daß sie sogar schmerzhaft mit dem Kopf und den Schultern an die Sofalehne schlug.

Er stürzte hinaus; sie aber sprang sofort auf und lief ihm hinkend und humpelnd nach, doch erst auf der kleinen Treppe, wo sie von dem erschreckten Lebädkin mit aller Gewalt zurückgehalten wurde, gelang es ihr noch, ihm kreischend und mit Gelächter durch die Finsternis nachzurufen:

„Der falsche Demet–rius ward ver–flucht!“

IV.

„Ein Messer, ein Messer!“ wiederholte Stawrogin immer wieder in unstillbarem Haß, während er mit großen Schritten in den Straßenschlamm und die Regenpfützen trat, ohne auf den Weg zu achten. Und plötzlich, auf Augenblicke, erfaßte ihn eine unbändige Lust zu lachen, laut und toll; aber aus irgendeinem Grunde bezwang er sich und unterdrückte das Lachen. Er kam erst wieder zu sich, als er schon auf der Brücke war, gerade an der Stelle, wo ihn vorhin Fedjka angeredet hatte. Und dieser selbe Fedjka wartete hier auch jetzt, zog, als er Stawrogin erblickte, die Mütze, grinste heiter, und schloß sich ihm, keck und lustig losplaudernd, wieder ohne Bedenken an. Stawrogin ging zunächst unverändert weiter, ja, er achtete gar nicht darauf, vernahm nicht einmal, was der Strolch, der sich ihm wieder zugesellt hatte, da schwatzte. Auf einmal fiel ihm aber ein – und er wunderte sich darüber – daß ihm dieser Zuchthäusler gerade in der Zeit gar nicht in den Sinn gekommen war, als er selbst innerlich in einemfort „Ein Messer, ein Messer!“ gemurmelt hatte.

Und plötzlich packte er ihn blitzschnell am Kragen und riß ihn aus aller Kraft mit der ganzen in ihm angesammelten Wut zu Boden, daß er nur so auf die Brücke krachte. Einen Augenblick gedachte dieser wohl sich zu wehren, sagte sich aber sofort, daß er gegen einen solchen Gegner, der ihm zudem noch so überraschend zuvorgekommen war, ungefähr wie ein Strohhälmchen unmöglich aufkommen konnte. Und so verharrte er denn, halb kniend zu Boden gedrückt, die Ellenbogen auf den Rücken gerissen, wie ihn Stawrogin hielt, lautlos und reglos, sogar ohne den geringsten Widerstand auch nur zu versuchen, und wartete ruhig in schlauer Klugheit ab, was nun kommen werde. Ja, wie es schien, glaubte er überhaupt nicht an eine ernste Gefahr für sich.

Und er täuschte sich nicht. Stawrogin hatte sich zwar schon mit der linken Hand das Halstuch abgerissen, um seinen Gefangenen zu binden, doch plötzlich, Gott weiß weshalb, gab er es auf und stieß ihn nur von sich. Im Augenblick stand Fedjka auf den Füßen, wandte sich um, und ein kurzes, breites Messer blitzte in seiner Hand.

„Fort das Messer! Steck es sofort ein! Sofort!“ befahl Stawrogin mit ungeduldiger Geste – und das Messer verschwand ebenso schnell, wie es aufgetaucht war.

Nicolai Wszewolodowitsch ging darauf wieder stumm und ohne sich umzusehen weiter: aber der hartnäckige Verbrecher folgte ihm doch – diesmal freilich ohne zu schwatzen, vielmehr in respektvoller Entfernung, einen ganzen Schritt hinter ihm. So gingen sie über die ganze Brücke und kamen ans Ufer, wo Stawrogin diesmal nach links bog, in eine lange, öde Gasse, denn das war ein näherer Weg zur inneren Stadt, als der über die Bogojawlenskstraße.

„Ist es wahr, man sagt, du hättest hier in der Umgegend in diesen Tagen eine Kirche geplündert?“ fragte Stawrogin plötzlich.

„Gnädiger Herr, eigentlich ging ich zuerst nur hin, um zu beten,“ antwortete Fedjka gesetzt und höflich, und als ob nicht das Geringste vorgefallen wäre. Ja, nicht nur gesetzt, sondern geradezu würdevoll sagte er es, und von der früheren „freundschaftlichen“ Familiarität war auch nicht eine Spur mehr zu bemerken. Er war in diesem Augenblick ganz wie ein ernster, sachlicher Mensch, den man grundlos gekränkt hat, der aber auch Kränkungen zu vergessen versteht.

„Doch wie mich da unser Herrgott hingeführt hatte,“ fuhr er fort, „ach, du himmlisches Gnadenkraut, denke ich! Nur von wegen meiner Verwaistheit ist ja das alles geschehen, denn in unserem Leben geht’s nu mal gar nich ohne Unterstützung. Und sehen Sie, glauben Sie mir, gnädiger Herr, zu seinem eigenen Nachteil hat der Herr mich hingeführt: hab’ für die Sachen im ganzen nur zwölf Rubelchen bekommen. Des heiligen Nicolai silbernes Kinnband aber ist fast auf den Kauf gegangen: semiliert, sagte man.“

„Du hast vorher den Wächter erstochen?“

„Nee, das heißt, wir haben’s ja beide gemacht, der Wächter und ich, und dann erst, am Morgen, am Flüßchen, kam’s zum Streit, wer den Sack tragen sollte. Da sündigte ich, erleichterte ihn ein klein wenig.“

„Erstich noch, stiehl noch!“

„Ganz dasselbe rät mir auch Pjotr Stepanowitsch, mit genau denselben Worten, da er mir selber nie nich was geben will, denn er ist halt geizig und hartherzig in Fragen wie Unterstützung. Außerdem, daß er an den himmlischen Schöpfer, der uns doch allesamt aus einem Erdkloß gemacht hat, nich für eine Kopeke glaubt. Er sagt, alles hat die Natur gemacht, sogar jedes letzte Tier, und überdies begreift er schon ganz und gar nich, daß uns in unserem Leben ohne milde Unterstützung überhaupt nichts möglich ist. Fängst du ihm was zu erklären an, glotzt er wie ein Schaf ins Wasser: nur so wundern kannst du dich über ihn. Aber werden Sie es wohl glauben, gnädiger Herr, beim Hauptmann Lebädkin beispielsweise, wo Sie soeben besuchten, da kam’s vor, als er noch vor Ihnen bei Filippoff wohnte, daß die Tür die ganze Nacht unverschlossen steht, schläft selbst vollgesoffen wie ein Fisch, und das Geld, das kullert nur man so aus allen Taschen auf die Diele. ’s kam vor, daß man’s mit eigenen leibhaftigen Augen sah, denn nach unserer Meinung, daß man ohne milde Unterstützung was könnte, daran ist schon gar nich zu denken ...“

„Wie das, mit eigenen Augen? Bist du etwa in der Nacht hingegangen?“

„Vielleicht bin ich auch hingegangen, nur weiß das niemand nich.“

„Warum hast du ihn denn nicht erstochen?“

„Hab erst nachgezählt und mich dann bedacht. So wußte ich denn, daß ich immer hundertfünfzig Rubel rausnehmen kann, aber warum soll ich denn das, wenn ich ganze tausendfünfhundert kriegen kann, wenn ich nur eben jetzt ein wenig warte? Denn Hauptmann Lebädkin hat immer sehr auf Sie gebaut, hab’s mit meinen eigenen Ohren gehört, wenn er voll war, und es gibt hier überhaupt keine Schenke mehr, wo er nich dasselbe genau so wiederholt hat. Das hab ich auch noch von anderen gehört, und so begann ich nun gleichfalls, meine ganze Hoffnung auf den gnädigen Herrn zu setzen. Ich bin wirklich zu Ihnen, gnädiger Herr, wie zu meinem Vater oder leiblichen Bruder, denn Pjotr Stepanowitsch wird darüber niemals was von mir zu hören bekommen und auch sonst keine einzige Seele. Also deshalb meine ich, der gnädige Herr könnte mir doch wirklich jetzt mit drei Rubelchen wohlwollen? Wenn der gnädige Herr mir nur somit klar zu verstehen geben wollte, damit ich dann die Wahrheit weiß, denn für unsereins ist’s nun einmal ohne milde Unterstützung ganz und gar unmöglich.“

Da lachte Stawrogin laut auf, zog aus der Tasche sein Portemonnaie, in dem an fünfzig Rubel in kleineren Scheinen waren, und warf einen Schein aus dem Paket ihm zu, dann noch einen, dann einen dritten, vierten, fünften. Fedjka fing sie in der Luft auf, sprang hin und her, die Banknoten flatterten, fielen in den Schmutz, immer gieriger griff er nach ihnen, und immer erregter stieß er dabei ein kurzes „Äch, Äch“ hervor. Schließlich schleuderte ihm Stawrogin aus voller Faust das ganze Geldpaket zu und bog, immer noch lachend, in eine Quergasse ein – diesmal allein. Der Strolch blieb zurück, rutschte fast auf den Knien im Schmutz herum und suchte nach den vom Wind verstreuten Geldscheinen, die in den Pfützen versanken, und noch eine ganze Stunde lang konnte man hören, wie er in der Dunkelheit suchend sein kurzes „Äch, Äch!“ hervorstieß.

Achtes Kapitel.
Das Duell

I.

Am anderen Tage um zwei Uhr nachmittags fand das Duell statt. Daß dasselbe wirklich so schnell zustande kam, dazu hatte vor allem der leidenschaftliche Wunsch Artemij Pawlowitsch Gaganoffs beigetragen, sich um jeden Preis und so schnell wie nur möglich zu schlagen. Er begriff die Haltung seines Gegners nicht und war außer sich vor Empörung. Schon einen ganzen Monat beleidigte er Stawrogin, und noch immer war es ihm nicht gelungen, diesen zu einer Forderung zu bewegen. Dabei schämte er sich im Grunde der eigenen innersten Gründe des krankhaften Hasses, mit dem er Stawrogin seit der „Nasführung“ seines Vaters verfolgte. Auch konnte er Stawrogin nicht gut zuerst fordern, da dieser nicht den geringsten Anlaß dazu bot – ganz abgesehen davon, daß er ihm wegen jenes Vorfalls mit dem Vater ja bereits die allerhöflichsten Entschuldigungen angeboten hatte. Unbegreiflich war es ihm auch, wie Stawrogin die Ohrfeige Schatoffs so ohne weiteres hatte hinnehmen können. Und da er ihn denn alles in allem schließlich für einen ausgemachten Feigling halten mußte, so hatte er sich endlich entschlossen, den letzten, in seiner Frechheit so unerhörten Brief zu schreiben, der denn auch richtig den Verhaßten zu einer Forderung bewog. In fieberhafter Ungeduld hatte Gaganoff die Antwort auf diesen Brief erwartet, hatte die Chancen berechnet, die diesmal für eine Forderung bestanden, und war am Ende geradezu verzweifelt bei dem Gedanken, daß auch jetzt vielleicht aus irgendeinem Grunde nichts daraus werden könnte. Für alle Fälle aber hatte er bereits Mawrikij Nicolajewitsch Drosdoff, seinen alten Jugendfreund, zu sich gebeten: der sollte sein Sekundant sein. So hatte denn Kirilloff, als er am Morgen um neun Uhr erschien, die beiden zusammen angetroffen. Seine Erklärungen und alle die unerhörten Zugeständnisse Stawrogins waren von Gaganoff mit einer unglaublichen Heftigkeit zurückgewiesen worden. Mawrikij Nicolajewitsch hatte, nicht wenig erstaunt, zuerst darauf eingehen wollen und schon geglaubt, es ließe sich eine Versöhnung zustande bringen. Doch als er bemerkte, daß Artemij Pawlowitsch vor Zorn geradezu erzitterte, da hatte er schnell wieder geschwiegen. Er wäre wohl überhaupt aufgestanden und fortgegangen, wenn er dem Freunde nicht bereits sein Wort gegeben hätte; so aber blieb er denn, in der Hoffnung, später vielleicht noch irgendwie vermitteln zu können. Im übrigen wurden alle Bedingungen Stawrogins von Gaganoff sofort angenommen und sogar auf einen dreimaligen Kugelwechsel erweitert – ganz gegen Kirilloffs Wunsch und Absicht, der sich durchaus dagegen wehrte, aber nichts erreichte. So blieb es denn bei diesen scharfen Abmachungen.

Das Duell selbst fand um zwei Uhr in Brykowo statt, in einem kleinen Walde zwischen Skworeschniki und der Fabrik der Gebrüder Spigulin. Der gestrige Regen hatte völlig aufgehört, aber es war feucht und windig. Niedrige, trübe, zerrissene Wolken zogen schnell am kalten Himmel vorüber; die Bäume rauschten volltönend und mit den Wipfeln wogend und knarrten in den Stämmen; es war ein sehr trauriger Tag.

Gaganoff und Mawrikij Nicolajewitsch kamen in einem eleganten char à bancs[112] mit zwei prachtvollen Pferden, die Artemij Pawlowitsch selbst lenkte, auf dem Kampfplatze an; auch hatten sie einen Diener mitgenommen. Fast in demselben Augenblick trafen auch Stawrogin und Kirilloff ein, jedoch nicht im Wagen, sondern reitend, und gleichfalls in Begleitung eines Dieners. Kirilloff, der in seinem Leben noch nie auf einem Pferde gesessen hatte, hielt sich steif, doch mutig im Sattel, unter dem rechten Arm den schweren Pistolenkasten, den er für keinen Preis dem Diener hatte anvertrauen wollen, während er mit der linken Hand aus Unwissenheit beständig die Zügel anzog, weswegen denn das gereizte Pferd immer heftiger mit dem Kopf schüttelte und bereits deutlich die Absicht bekundete, sich auf die Hinterbeine zu stellen – was übrigens den Reiter nicht im geringsten zu schrecken schien. Der mißtrauische Gaganoff, der sich schon beim geringsten Anlaß leicht tief gekränkt fühlte, faßte diese Ankunft hoch zu Roß als neue Beleidigung auf: waren doch die Gegner offenbar von vornherein von einem für sie günstigen Ausgang des Duells überzeugt, so daß sie es gar nicht erst für nötig gehalten hatten, auf alle Fälle einen Wagen zum Transport eines Verwundeten zur Stelle zu haben. Ganz gelb vor Ärger stieg Gaganoff aus seinem char à bancs, wobei er bemerkte, daß seine Hände zitterten. Auf Stawrogins Gruß dankte er nicht, sondern wandte sich einfach ab.

Die Sekundanten warfen das Los: es traf Kirilloffs Pistolen. Der Wagen und die Pferde wurden mit den Dienern an den Waldrand zurückgeschickt. Dann maßen die Sekundanten die Barriere ab, wiesen den Gegnern ihren Platz an und händigten ihnen die geladenen Pistolen ein.

Mawrikij Nicolajewitsch war besorgt und traurig, Kirilloff dagegen vollkommen ruhig und unbekümmert, sehr genau in der Ausübung seines Amtes, doch ohne allzu geschäftig zu sein, kurz, er machte den Eindruck, als interessierte ihn die unheimliche Entscheidung eigentlich nicht im geringsten. Stawrogin war etwas bleicher als gewöhnlich, ziemlich leicht gekleidet, in einem Mantel, und trug einen weißen Kastorhut. Er schien sehr müde zu sein, dann und wann flog ein düsterer Schatten über sein Gesicht, und offenbar war es ihm nicht der Mühe wert, seine schlechte Laune zu verbergen. Am eigentümlichsten verhielt sich jedoch Artemij Pawlowitsch Gaganoff, und ich sehe mich schon aus diesem Grunde gezwungen, über ihn ein paar Worte hinzuzufügen.

II.

Artemij Pawlowitsch Gaganoff war ein großer Mensch, weiß und wohlgenährt, wie der Volksmund sagt, ja, beinahe feist, etwa dreiunddreißig Jahre alt, mit blondem, anliegendem Haar und, wenn man will, sogar hübschen Gesichtszügen. Er war mit dem Oberstenrang aus dem Dienst geschieden, doch wenn er es bis zum General gebracht hätte, so wäre er als solcher in voller Uniform eine noch imponierendere Erscheinung gewesen, und es wäre sehr leicht möglich, daß er im Felde einen guten Heerführer abgegeben hätte.

Zur Kennzeichnung seines Charakters darf nicht verschwiegen werden, daß der Grund, weshalb er seinen Abschied nahm, der ihn so lange und qualvoll verfolgende Gedanke an seine „Familienschande“ war: die Beleidigung seines Vaters – vor mehr als vier Jahren in unserem Klub – durch Nicolai Stawrogin. Er hielt es auf Ehre und Gewissen für unehrenhaft, nach wie vor im Heer zu bleiben, und war innerlich überzeugt, daß er das Regiment und die Kameraden schände, obschon keiner von ihnen etwas von jenem Vorfall wußte. Allerdings hatte er schon früher einmal die Absicht gehabt, den Abschied zu nehmen, schon lange vor jener Beleidigung, aus einem ganz anderen Grunde, aber er hatte doch noch geschwankt und sich nicht entschließen können. Den Anstoß zu dieser ersten Absicht, den aktiven Dienst aufzugeben, oder richtiger den Anlaß zu diesem Gedanken hatte seinerzeit[40] – wie sonderbar das auch klingen mag – das Manifest vom 19. Februar gegeben, das die Leibeigenschaft der Bauern aufhob. Dabei verlor er, Gaganoff, als einer der reichsten Gutsbesitzer unseres Gouvernements, durch dieses Manifest noch nicht einmal so viel, und außerdem sah er die Berechtigung der humanitären Gesichtspunkte selbst ein, ja er begriff fast auch die ökonomischen Vorteile der Reform, – doch ungeachtet dessen fühlte er sich nach Erscheinen des Manifestes gleichsam persönlich beleidigt. Es war das zwar nur ein Gefühl bei ihm, beinahe unbewußt, doch vielleicht empfand er es gerade deshalb um so stärker. Bis zum Tode seines Vaters hatte er sich nicht entschließen können, etwas Entscheidendes zu tun; doch durch seinen „aristokratischen“ Standpunkt wurde er in Petersburg selbst mit vielen hervorragenden Persönlichkeiten bekannt, worauf er den Verkehr mit ihnen eifrig zu pflegen begann. Im übrigen war er ein zurückhaltender, verschlossener Mensch, der zu jenen sonderbaren, doch in Rußland noch nicht ausgestorbenen Edelleuten gehörte, die auf das Alter und die Reinheit ihres Adelsgeschlechts ungeheuer viel geben und sich damit schon gar zu ernsthaft beschäftigen. Dabei war ihm aber die Geschichte Rußlands geradezu ein Greuel, wie er denn die ganze russische Art teilweise für eine Schweinerei hielt. Schon in seiner Kindheit, als er noch in einer besonderen militärischen Schule für ausschließlich vornehme und reiche Zöglinge war, hatten sich in ihm gewisse poetische Auffassungen entwickelt: ihm gefielen Schlösser und Burgen, das mittelalterliche Leben von seiner opernhaften Seite, das Rittertum. Schon damals weinte er fast vor Scham, wenn er daran dachte, daß der Zar des alten moskowitischen Reiches die russischen Bojaren körperlich hatte strafen dürfen, und er errötete, wenn er diese Bräuche mit denen des ausländischen ritterlichen Mittelalters verglich. Dieser steife, äußerst strenge Mensch, der seinen Dienst so ausgezeichnet kannte und jede Pflicht gewissenhaft erfüllte, war im Grunde seiner Seele verträumt. Man behauptete von ihm, er könne Reden, sogar gute Reden halten – einstweilen jedoch hatte er seine ganzen dreiunddreißig Jahre lang fast nur geschwiegen, und sogar in jenem vornehmen und vielbedeutenden Petersburger Kreise, in dem er seit einiger Zeit verkehrte, hatte er sich ungewöhnlich hochmütig verhalten. Da traf ihn die Begegnung mit Stawrogin, der aus dem Auslande nach Petersburg zurückgekehrt war, und brachte ihn fast um den Verstand. So war er denn von einer geradezu krankhaften Unruhe, als er jetzt vor der Barriere stand: noch immer fürchtete er, daß das Duell auf irgendeine Weise nicht zustandekommen könnte, und selbst die kleinste Verzögerung machte ihn erzittern. Ein geradezu schmerzhafter Ausdruck trat in sein Gesicht, als Kirilloff, anstatt das Zeichen zum ersten Schuß zu geben, plötzlich zu sprechen begann, allerdings nur pflichtschuldig, was er auch sofort vorausschickte.

„Nur pro forma noch ein paar Worte: jetzt, da schon die Pistolen in den Händen der Duellanten sind, frage ich zum letztenmal, ob Sie nicht wünschen, sich zu versöhnen? – Die Pflicht des Sekundanten,“ fügte er fast gleichgültig hinzu.

Und wie um seinen Freund zu ärgern – so schien es wenigstens Gaganoff –, begann nun auch Mawrikij Nicolajewitsch Drosdoff zu sprechen, der bisher noch kein Wort gesagt, sich aber schon seit dem vorigen Abend über seine Zusage quälende Vorwürfe gemacht hatte. So griff er denn Kirilloffs Vorschlag schnell auf.

„Ich schließe mich vollkommen Herrn Kirilloffs Worten an ... Daß man sich an der Barriere nicht mehr versöhnen könne – ist ein Vorurteil, das zu den Franzosen passen mag ... Und eigentlich liegt doch überhaupt keine richtige Beleidigung vor, wenigstens vermag ich sie nicht zu entdecken – Verzeihung, das wollte ich schon gestern sagen ... es werden doch alle erdenklichen Entschuldigungen angeboten, nicht wahr?“

Er war dabei ganz rot geworden. Selten hatte er so viel und in solcher Aufregung gesprochen.

„Ich wiederhole meine Bereitwilligkeit, alle mir möglichen Entschuldigungen zu machen,“ sagte Stawrogin ungewöhnlich entgegenkommend.

„Wie ist das nur möglich?!“ schrie Gaganoff, zu Drosdoff gewandt, außer sich, und stampfte mit dem Fuß. „Erklären Sie doch diesem Menschen,“ – er stieß dabei mit der Pistole in die Richtung, in der Stawrogin stand – „wenn Sie mein Sekundant und nicht mein Feind sind, Mawrikij Nicolajewitsch, daß solche Zugeständnisse die Beleidigung nur verstärken! Er hält es nicht für möglich, von mir beleidigt zu werden! ... Er hält es für keine Schande, vor mir von der Barriere zurückzutreten! Für wen hält er mich denn nach alledem! Was glauben Sie ... und Sie sind noch mein Sekundant! Sie regen mich nur auf, damit ich nicht treffe!“

Wieder stampfte er mit dem Fuß und Speichel spritzte von seinen Lippen.

„Die Unterhandlung ist beendet. Bitte, auf das Kommando zu hören!“ rief Kirilloff laut. „Eins, zwei, drei!“

Bei „drei“ gingen die Gegner aufeinander zu. Gaganoff erhob sofort die Pistole und beim fünften oder sechsten Schritt – schoß er. Eine Sekunde lang blieb er stehen und, nachdem er sich überzeugt, daß er nicht getroffen hatte, ging er schnell zur Barriere. Auch Stawrogin trat an die Barriere, erhob die Pistole, aber ziemlich hoch und schoß fast ohne zu zielen. Darauf zog er sein Taschentuch hervor und umwickelte den kleinen Finger seiner rechten Hand. Da bemerkten erst die anderen, daß Artemij Pawlowitsch doch nicht ganz gefehlt hatte: freilich hatte die Kugel den Finger nur gestreift, ohne den Knochen zu berühren. Kirilloff erklärte sofort, daß das Duell, wenn die Gegner sich jetzt nicht versöhnen wollten, seinen Fortgang nehmen könne.

„Ich behaupte, daß dieser Mensch,“ schrie Gaganoff heiser (seine Kehle war trocken geworden), sich wieder nur an Drosdoff wendend, und er wies von neuem mit der Pistole auf Stawrogin, „daß dieser Mensch absichtlich in die Luft geschossen hat ... absichtlich! ... Das ist eine neue Beleidigung! Er will das Duell unmöglich machen!“

„Ich habe das Recht, so zu schießen, wie ich will, wenn es nur nach den Regeln geschieht,“ bemerkte Stawrogin fest.

„Nein, das hat er nicht! Erklären Sie ihm das, erklären Sie es ihm doch!“ schrie Gaganoff.

„Ich bin ganz der Meinung Nicolai Wszewolodowitschs,“ sagte Kirilloff.

„Warum schont er mich!?“ raste Gaganoff, ohne auf die anderen zu hören. „Ich verachte seine Schonung ... Ich spucke ... Ich ...“

„Ich gebe mein Wort, daß ich Sie durchaus nicht beleidigen wollte,“ sagte Stawrogin ungeduldig. „Ich habe in die Luft geschossen, weil ich niemanden mehr töten will, ob Sie oder einen anderen, geht Sie persönlich nichts an. Es ist wahr, ich halte mich nicht für beleidigt, und es tut mir leid, daß Sie das aufbringt. Ich erlaube aber keinem, sich in mein Recht einzumischen.“

„Wenn er sich so vor Blut fürchtet, so fragen Sie ihn doch, warum er mich überhaupt gefordert hat?“ brüllte Gaganoff, immer noch ausschließlich zu Mawrikij Nicolajewitsch Drosdoff gewandt.

„Wie sollte man Sie denn nicht fordern?“ mischte sich Kirilloff ein. „Sie wollten doch nichts hören, wie sollte man Sie denn los werden?“

„Ich möchte nur bemerken,“ sagte Mawrikij Nicolajewitsch, der angestrengt und qualvoll über die Sache nachdachte, „wenn der Gegner im voraus erklärt, er werde in die Luft schießen, so kann das Duell, meiner Meinung nach, nicht mehr fortgesetzt werden ... aus delikaten und, ich glaube ... auch klaren Gründen.“

„Ich habe durchaus nicht erklärt, daß ich jedesmal in die Luft schießen werde!“ rief Stawrogin, der nun wirklich die Geduld verlor. „Wie können Sie wissen, was ich im Sinne habe und wie ich zum zweitenmal schießen werde ... Ich mache das Duell keineswegs unmöglich.“

„Wenn dem so ist, kann das Duell seinen Fortgang nehmen,“ wandte sich Mawrikij Nicolajewitsch an Gaganoff.

„Meine Herren, nehmen Sie Ihre Plätze ein!“ kommandierte Kirilloff.

Sie stellten sich auf, gingen wieder aufeinander zu, wieder fehlte Gaganoff und wieder schoß Stawrogin in die Luft. Übrigens waren diese Schüsse in die Luft doch zweifelhaft – es ließ sich über sie streiten: Stawrogin hätte sehr wohl behaupten können, daß er, ganz wie es sich gehört, auf den Gegner gezielt habe, wenn er nicht vorher selbst das Gegenteil angekündigt hätte, denn er richtete die Pistole nicht etwa gerade auf den Himmel oder auf einen Baumwipfel, sondern immerhin so, als ziele er auf den Gegner, – wenn er auch tatsächlich einen halben Meter über dessen Hut zielte. Dieses zweite Mal hatte er sogar ein noch niedrigeres, noch täuschenderes Ziel genommen; doch Gaganoff wäre jetzt wohl überhaupt nicht mehr zu überzeugen gewesen.

„Wieder!“ knirschte er ingrimmig. „Einerlei! Ich bin gefordert und werde von meinem Recht Gebrauch machen! Ich will zum drittenmal schießen ... unbedingt! ...“

„Dazu haben Sie das volle Recht,“ schnitt ihm Kirilloff das Wort ab.

Mawrikij Nicolajewitsch sagte nichts. Zum drittenmal wurden sie aufgestellt, zum drittenmal wurde kommandiert. Diesmal schritt Gaganoff bis zur Barriere, und von dort, auf zwölf Schritt Distanz, begann er zu zielen. Doch seine Hände zitterten zu sehr, um richtig zielen zu können. Stawrogin stand mit gesenkter Pistole und erwartete regungslos den Schuß des Gegners.

„Zu lange, zu lange gezielt!“ rief Kirilloff schließlich ungestüm. „Schießen Sie! Schießen Sie!“

Der Schuß ertönte, und diesmal riß die Kugel Stawrogins weißen Hut vom Kopfe. Gaganoff hatte gut gezielt, der Hutboden war ganz unten durchschossen; nur zwei Zentimeter niedriger und alles wäre zu Ende gewesen. Kirilloff hob den Hut auf und reichte ihn Stawrogin.

„Schießen Sie, halten Sie den Gegner nicht auf!“ rief Mawrikij Nicolajewitsch in ungewöhnlicher Erregung, als er sah, daß Stawrogin, der mit Kirilloff den Hut betrachtete, seinen dritten Schuß gleichsam vergessen hatte.

Stawrogin zuckte zusammen, blickte auf Gaganoff, wandte sich dann zur Seite und schoß diesmal schon ohne jedes Zartgefühl einfach in den Wald hinein. Das Duell war beendet. Gaganoff stand da wie erstarrt. Mawrikij Nicolajewitsch trat zu ihm und sprach etwas, doch er schien ihn gar nicht zu verstehen. Kirilloff zog den Hut, als er fortging, und nickte Mawrikij Nicolajewitsch zu; doch Stawrogin vergaß jetzt die Höflichkeit, die er vorhin bezeugt hatte; nach seinem letzten Schuß in den Wald, drückte er Kirilloff die Pistole in die Hand und ging, ohne sich auch nur einmal zur Barriere zu wenden, schnell zu den Pferden. Sein Gesicht drückte Wut aus; er schwieg. Auch Kirilloff schwieg. Sie bestiegen die Pferde und ritten im Galopp davon.

III.

„Warum schweigen Sie?“ rief Stawrogin ungeduldig Kirilloff zu, kurz bevor sie das Haus erreichten.

„Was wollen Sie?“ fragte dieser, fast vom Pferde rutschend, da es sich bäumte.

Stawrogin bezwang sich.

„Ich wollte ihn nicht beleidigen, diesen ... Dummkopf, und doch habe ich es wieder getan,“ sagte er langsam.

„Ja, Sie haben ihn wieder beleidigt,“ sagte Kirilloff trocken, – „und dabei ist er gar kein Dummkopf.“

„Immerhin habe ich alles getan, was ich konnte.“

„Nein.“

„Was hätte ich denn tun sollen?“

„Nicht fordern.“

„Noch einen Schlag ins Gesicht ertragen?“

„Ja, noch einen Schlag ertragen.“

„Ich fange an nichts mehr zu begreifen!“ sagte Stawrogin geärgert. „Warum erwartet man von mir, was man sonst von niemandem erwartet? Warum soll ich ertragen, was sonst niemand erträgt, und mir Bürden aufladen, die keiner tragen kann?“

„Ich glaube, Sie suchen eine Bürde.“

„Ich suche eine Bürde?“

„Ja.“

„Sie ... haben das bemerkt?“

„Ja.“

„Ist das so bemerkbar?“

„Ja.“

Sie schwiegen. Stawrogin sah besorgt aus, fast erschreckt.

„Ich habe nur deshalb nicht auf ihn geschossen, weil ich nicht töten wollte, und das war alles, ich versichere Sie,“ sagte er schnell und erregt, als wollte er sich rechtfertigen.

„Es war nicht nötig, zu beleidigen.“

„Was hätte man denn tun sollen?“

„Man hätte töten sollen.“

„Es tut Ihnen leid, daß ich ihn nicht erschossen habe?“

„Mir tut gar nichts leid. Ich glaubte, Sie wollten ihn wirklich erschießen. Sie wissen selbst nicht, was Sie suchen.“

„Ich suche eine Bürde,“ lachte Stawrogin auf.

„Wenn Sie nicht Blut vergießen wollten, warum gaben Sie sich denn selbst dazu her?“

„Wenn ich ihn nicht gefordert hätte, so wäre ich von ihm so erschlagen worden, ohne Duell.“

„Das ist nicht Ihre Sache. Vielleicht hätte er auch nicht erschlagen.“

„Sondern nur geschlagen?“

„Nicht Ihre Sache. Tragen Sie die Bürde. Sonst gibt es kein Verdienst.“

„Aus dem mache ich mir gerade was! Habe es noch bei niemandem gesucht!“

„Ich glaubte, Sie suchten,“ schloß Kirilloff unglaublich kaltblütig.

Sie ritten auf den Hof.

„Kommen Sie zu mir?“ lud ihn Stawrogin ein.

„Nein, ich gehe nach Haus. Leben Sie wohl.“

Er stieg aus dem Sattel und nahm seinen Kasten unter den Arm.

„Aber wenigstens Sie ärgern sich doch nicht über mich?“ fragte Stawrogin und hielt ihm die Hand hin.

„Nicht im geringsten!“ Kirilloff kehrte sofort zurück, um ihm die Hand zu drücken. „Wenn meine Bürde mir leicht ist, so ist es, weil das von Natur so ist, und wenn Ihre Bürde Ihnen vielleicht schwerer ist, so kommt das auch, weil die Natur so ist. Sehr zu schämen braucht man sich deshalb nicht, nur ein wenig.“

„Ich weiß, daß ich ein nichtiger Charakter bin, aber ich dränge mich ja auch nicht unter die Starken.“

„Tun Sie’s auch nicht. Sie sind kein starker Mensch. Kommen Sie wieder Tee trinken.“

Stawrogin trat verwirrt und erregt bei sich ein.

IV.

Alexei Jegorowitsch meldete ihm sofort, daß Warwara Petrowna, die sich über den Spazierritt Nicolai Wszewolodowitschs – den ersten nach acht Tagen Krankheit – sehr gefreut hatte, nun gleichfalls ausgefahren sei, „so wie früher alle Tage, um wieder einmal frische Luft zu atmen, dieweil sie es seit acht Tagen nicht mehr getan haben.“

„Ist sie allein gefahren oder mit Darja Pawlowna?“ unterbrach Stawrogin den alten Diener hastig und sein Gesicht verdüsterte sich sehr, als er hörte, daß Darja Pawlowna „krankheitshalber vorgezogen haben, nicht mitzufahren und sich augenblicklich in ihren Zimmern befinden“.

„Höre, Alter,“ sagte er, wie nach einem plötzlichen Entschluß, „paß auf sie heute den ganzen Tag auf, und wenn du bemerkst, daß sie zu mir kommen will, so halte sie zurück und sag ihr, daß ich sie nicht empfangen kann, wenigstens in diesen Tagen nicht ... daß ich sie selbst darum bitten lasse ... und wenn es Zeit sein wird, werde ich sie selbst rufen – hörst du?“

„Zu Befehl,“ sagte Alexei Jegorowitsch mit Kummer in der Stimme und senkte die Augen.

„Aber nicht früher, als bis du sicher bist und genau siehst, daß sie zu mir kommen will.“

„Der gnädige Herr können unbesorgt sein, es wird alles so gemacht werden. Durch mich sind bis jetzt auch alle Besuche ermöglicht worden, sie haben sich immer an mich gewandt.“

„Ich weiß. Also nicht früher, als bis sie selbst kommt. Und jetzt bring mir Tee, wenn es geht, möglichst schnell.“

Kaum hatte der Alte das Zimmer verlassen, als dieselbe Tür sich wieder öffnete und Darja Pawlowna auf der Schwelle erschien. Ihr Blick war ruhig, doch das Gesicht bleich.

„Woher kommen Sie?“ rief Stawrogin.

„Ich stand hier an der Tür und wartete, bis er hinausging, um dann bei Ihnen einzutreten. Ich habe gehört, was Sie ihm angaben. Als er fortging, versteckte ich mich hinter den Mauervorsprung rechts, und so hat er mich nicht bemerkt.“

„Ich wollte schon lange mit Ihnen brechen, Dascha ... so lange ... es noch Zeit ist. Ich konnte Sie heute Nacht nicht empfangen, trotz Ihrer brieflichen Bitte. Ich wollte Ihnen gleichfalls schreiben, aber ich verstehe nicht zu schreiben,“ fügte er mit Ärger und sogar wie angeekelt hinzu.

„Auch ich habe bereits daran gedacht, daß wir brechen müssen. Warwara Petrowna argwöhnt schon zu sehr unsere Beziehungen.“

„Nun, mag sie doch.“

„Sie soll sich nicht beunruhigen. Und so bleibt es denn jetzt bis zum Ende?“

„Sie erwarten immer noch unbedingt ein Ende?“

„Ja, ich bin überzeugt, daß es kommen wird.“

„Auf der Welt hat nichts ein Ende.“

„Hier aber wird es ein Ende geben. Rufen Sie mich dann, ich werde kommen. Und jetzt leben Sie wohl.“

„Und was für ein Ende wird denn das sein?“ fragte Stawrogin halb lachend.

„Sie sind nicht verwundet und ... haben auch kein Blut vergossen?“ fragte sie, ohne auf die Frage nach dem Ende zu antworten.

„Es war dumm; ich habe niemanden getötet, beunruhigen Sie sich nicht. Übrigens werden Sie heute noch alles von allen hören. Ich fühle mich nicht ganz wohl.“

„Ich gehe schon. Die Anzeige der Heirat wird heute nicht erfolgen?“ fragte sie noch wie unschlüssig.

„Heute nicht; morgen nicht ... übermorgen – sind wir vielleicht alle tot, ... um so besser. Lassen Sie mich, lassen Sie mich doch endlich!“

„Sie werden die andere nicht zugrunde richten ... die Wahnsinnige?“

„Ich werde keine Wahnsinnige zugrunde richten, weder die eine noch die andere, aber ich glaube, die Vernünftige richte ich zugrunde: ich bin so gemein, so niedrig, Dascha, daß ich Sie vielleicht wirklich rufen werde – ‚ganz zum Schluß‘, wie Sie sagen, und Sie werden dann, trotz Ihrer Vernunft, zu mir kommen. Warum richten Sie sich selbst zugrunde?“

„Ich weiß, daß zum Schluß nur ich bei Ihnen bleiben werde und ... ich warte darauf.“

„Wenn ich Sie aber zum Schluß nicht rufe und von Ihnen fortlaufe?“

„Das ist unmöglich, Sie werden mich rufen.“

„Darin liegt viel Verachtung für mich.“

„Sie wissen, daß nicht nur Verachtung ...“

„Also ist Verachtung immerhin dabei?“

„Ich wollte es nicht so sagen. Gott ist mein Zeuge, daß ich von Herzen wünschte, Sie hätten mich niemals nötig.“

„Die eine Phrase ist die andere wert. Auch ich wünschte, Sie nicht zugrunde zu richten.“

„Niemals und durch nichts werden Sie mich zugrunde richten können – und das wissen Sie ja selbst am besten,“ sagte Darja Pawlowna schnell und überzeugt. „Wenn ich nicht zu Ihnen komme, so werde ich barmherzige Schwester, Krankenwärterin. Oder werde als Büchertrödlerin Bibeln verkaufen. Das habe ich beschlossen. Ich kann nicht in solchen Häusern leben, wie dieses hier. Nicht das ist es, was ich will ... Sie wissen alles ... –“

„Nein, ich habe es nie erfahren können, was Sie wollen; ich glaube, Sie interessieren sich für mich, wie zuweilen alte Krankenwärterinnen aus irgendeinem Grunde einen Pflegling den anderen vorziehen, oder, noch besser, wie auf unseren Kirchhöfen die betenden Greisinnen von den vielen Leichen sich eine etwas ansehnlichere aussuchen, die sie dann besonders in ihr Herz schließen.[41] Warum sehen Sie mich so sonderbar an?“

„Sind Sie sehr krank?“ fragte sie teilnehmend und sah ihn dabei ganz eigentümlich nachdenklich und forschend an. „Gott! Und dieser Mensch will ohne mich auskommen!“

„Hören Sie, Dascha, ich sehe jetzt immer Gespenster. Heute nacht bot sich mir ein kleiner Teufel auf der Brücke an, – erbot sich, Lebädkin und Marja Timofejewna zu ermorden, um meiner gesetzlichen Ehe ein Ende zu machen, und so, daß nichts ruchbar wird. Als Handgeld verlangte er nur drei Rubel, doch gab er deutlich zu verstehen, daß die ganze Operation nicht weniger als tausendfünfhundert kosten werde. Das war mir mal ein gut berechnender Teufel! Ein Buchhalter! Ha–ha!“

„Und Sie sind fest überzeugt, daß es ein Gespenst war?“

„O nein, durchaus kein Gespenst! Das war ganz einfach der entsprungene Zuchthäusler Fedjka, ein sibirischer Sträfling und Raubmörder. Doch das ist Nebensache. Aber was glauben Sie, daß ich getan habe? Ich habe ihm das ganze Geld aus meinem Portemonnaie hingeworfen, und er ist jetzt vollkommen überzeugt, daß ich ihm damit das Handgeld gezahlt habe!“

„Sie haben ihn in der Nacht getroffen und er hat Ihnen diesen Vorschlag gemacht? Ja, sehen Sie denn wirklich nicht, daß Sie von dem Netz jener Leute schon vollständig umstrickt sind?“

„Nun, mögen sie. Aber soll ich Ihnen sagen, was für eine Frage sich jetzt in Ihnen dreht und windet? – ich sehe sie in Ihren Augen,“ fügte er gereizt mit bösem Lächeln hinzu.

Dascha erschrak:

„Gar keine Frage und es gibt da überhaupt keinen Zweifel, schweigen Sie!“ rief sie in Unruhe, die Frage gleichsam von sich fortscheuchend.

„Sie sind also überzeugt, daß ich nicht zu Fedjka in die Kneipe gehen werde?“

„O Gott!“ Sie erhob die Hände. „Warum quälen Sie mich so?“

„Nun, verzeihen Sie mir meinen dummen Scherz, offenbar habe ich mir von jenen deren schlechte Manieren angeeignet. Wissen Sie, seit dieser Nacht habe ich so wahnsinnige Lust zu lachen, immerzu, ununterbrochen, lange, aus vollem Halse zu lachen. Ich bin wie geladen mit Gelächter ... Hu! Mama ist angekommen; ich kenne den Ruck, mit dem ihre Equipage vor dem Portal anhält.“

Dascha ergriff seine Hand.

„Wird doch Gott Sie vor Ihrem Dämon bewahren und ... rufen Sie mich, rufen Sie mich dann schnell!“

„Oh, mein Dämon! Der ist ja nur ein kleines, widerliches, skrofulöses Teufelchen, das sich erkältet und den Schnupfen hat, eines von den mißlungenen. Aber Sie, Dascha, Sie wagen ja wieder nicht, etwas auszusprechen?“

Sie sah ihn mit Schmerz und Vorwurf an und wandte sich zur Tür.

„Hören Sie,“ rief er ihr mit boshaftem, verzerrtem Lächeln nach. „Wenn ... nun, da, mit einem Wort, wenn ... Sie verstehen schon, wenn ich selbst zu Fedjka in die Kneipe ginge ... und Sie nachher riefe, – würden Sie dann auch noch kommen, selbst nach meinem Gang in die Kneipe?“

Sie ging hinaus, ohne zurückzusehen, ohne zu antworten, das Gesicht mit den Händen bedeckt.

„Sie wird kommen, auch nach meinem Gang in die Kneipe!“ murmelte er nach kurzem Nachdenken vor sich hin, und in seinem Gesicht drückte sich angewiderte Verachtung aus: – „Krankenwärterin! Hm ... Doch übrigens, vielleicht brauche ich gerade das.“

Neuntes Kapitel.
Alle in Erwartung

I.

Die Geschichte dieses Duells wurde in unserer Gesellschaft ungemein schnell bekannt. An dem Eindruck, den sie machte, war das Bemerkenswerteste die Einstimmigkeit, mit der alle sich schon am nächsten Tage rückhaltlos für Nicolai Stawrogin erklärten. Selbst viele von seinen ehemaligen Feinden zählten sich plötzlich entschieden zu seinen Freunden.

Den Anstoß zu diesem überraschenden Umschwung der öffentlichen Meinung hatte zunächst nur eine einzige treffende Bemerkung gegeben; diese aber war von einer Persönlichkeit gemacht worden, die sich bis dahin noch nie öffentlich geäußert oder gar ihre Stellungnahme verraten hatte. So ward denn jene Bemerkung sogleich von ungeheurer Bedeutung für den größten Teil unserer Gesellschaft. Zugetragen aber hatte sich das alles folgendermaßen:

Gerade an dem Tage nach dem Duell feierte die Gemahlin des Adelsmarschalls unseres Gouvernements ihren Geburtstag. Die ganze höhere Gesellschaft war bei ihr versammelt. Unter den Gästen befand sich auch, oder richtiger, präsidierte, als Gattin unseres neuen Gouverneurs, Julija Michailowna, die in Begleitung von Lisaweta Nicolajewna erschienen war. Lisa war von geradezu strahlender Schönheit und sah ganz besonders froh und glücklich aus – was freilich viele Damen sogleich äußerst verdächtig fanden. Hier muß ich erwähnen, daß an ihrer tatsächlichen Verlobung mit Mawrikij Nicolajewitsch eigentlich nicht mehr zu zweifeln war: auf die scherzhafte Frage eines alten Generals, von dem gleich noch die Rede sein wird, antwortete Lisa selbst, daß sie Braut sei. Und doch – wie sonderbar das auch erscheinen mag –: keine einzige von unseren Damen wollte daran glauben und alle fuhren sie eigensinnig fort, von einem verhängnisvollen Familiengeheimnis, von einem Roman zu munkeln, der sich in der Schweiz abgespielt haben sollte, und zwar – ich weiß nicht, weshalb – unbedingt unter Mitwirkung von Julija Michailowna. Es ist wirklich schwer zu sagen, wie alle diese Gerüchte sich so lange und hartnäckig behaupten konnten, und warum immer wieder und unbedingt gerade Julija Michailowna in diese Geschichten hineingeflochten wurde und warum man glaubte, daß sie auch in die Geheimnisse der Ohrfeigengeschichte eingeweiht sei.

So kam es denn, daß man ihr auch auf der Abendgesellschaft beim Adelsmarschall, als sie mit Lisa eintrat, sogleich und ganz allgemein mit Spannung entgegensah, mit Blicken, die die Erwartung deutlich verrieten. Von dem Duell wagte man noch nicht laut zu sprechen, nur unter Bekannten tuschelte man sich dies und jenes zu. Es geschah das wohl vor allem deshalb, weil man noch nicht wußte, wie sich die Behörden zu dem Vorfall stellen würden. Soweit bekannt war, hatte man die beiden Duellanten bis jetzt noch völlig unbehelligt gelassen, und Gaganoff war, wie man wußte, schon am Morgen dieses Tages auf sein Gut Duchowo zurückgekehrt, ohne vorher irgendwelchen Belästigungen ausgesetzt gewesen zu sein. Selbstredend warteten nun alle darauf, daß endlich jemand laut davon zu sprechen anfange und damit der allgemeinen Ungeduld und Neugier, die sich so nicht äußern konnten, gewissermaßen die Tür öffne. Dabei rechnete man ganz besonders auf den bereits erwähnten alten General, und richtig: man verrechnete sich dabei nicht.

Dieser General war eines der angesehensten Mitglieder unseres Adelsklubs: Gutsbesitzer, doch nicht sonderlich reich, mit Anschauungen, die in ihrer Art geradezu einzig waren, und in Damengesellschaft ein unverbesserlicher Kurmacher. Unter anderem liebte er es besonders, auf großen Versammlungen, sei es nun im Klub oder in der Gesellschaft, mit der ganzen Würde seines Ranges und Alters plötzlich laut gerade davon zu sprechen, wovon alle nur ängstlich und heimlich zu flüstern wagten. Es war das gewissermaßen eine Spezialität von ihm. Und so tat er es denn auch diesmal wieder nach seiner alten Gewohnheit. – Mit Gaganoff war er irgendwie entfernt verwandt, jetzt aber entzweit; ich glaube, er prozessierte sogar mit ihm. Außerdem hatte er in seiner Jugend selbst zwei Duelle gehabt und war wegen des letzten zeitweilig als Gemeiner nach dem Kaukasus verbannt gewesen.

Nun ließ jemand ein paar Worte über Warwara Petrowna fallen, die „nach der Krankheit“ jetzt wieder ausgefahren sei – oder eigentlich nicht gerade über sie, sondern mehr über den herrlichen grauen Viererzug eigener, Stawroginscher, Zucht, mit dem sich dies Ereignis begeben hatte. Da bemerkte plötzlich der alte General, daß er heute den „jungen Stawrogin“ zu Pferde angetroffen habe ... Alles verstummte sofort. Der General aber schob eine Weile lang die Lippen hin und her, spielte mit seiner goldenen, ihm hohen Orts geschenkten Tabaksdose und sagte schließlich, die Worte wie ein Feinschmecker auseinanderziehend:

„Tut mir faktisch un–gemein leid, daß ich vor einigen Jahren nicht hier war ... Hielt mich gerade in Karlsbad auf. Hm ... Dieser junge Mensch in–te–ressiert mich, in der Tat, se–ehr. Es kursi–ierten ja seinerzeit die tollsten Gerüchte über ihn. Hm ... Aber wie, – sollte es fak–tisch wahr sein, daß er nicht ganz, hm, zu–rechnungs–fähig ist? Hab so etwas gehört ... Jetzt aber hörte ich, ein Student habe ihn in Gegenwart seiner Kusinen beleidigt, und er soll vor ihm unter den Tisch gekrochen sein. Und nun sagt mir plötzlich Stepan Wyssotzki, daß dieser Stawro–gin sich mit diesem ... Gaga–noff geschlagen hat. Und das ein–zig in der chevaleres–ken Ab–sicht, sei–ne Stirn der Kugel eines ... Toll–gewordenen zu bieten, bloß um ihn ... äh ... loszuwerden. Hm ... Das ist so ungefähr im Stil der Garde der zwanziger Jahre. Verkehrt er übrigens hier mit jemandem?“

Der General verstummte, als erwarte er eine Antwort, und alle Blicke wandten sich, fast wie auf ein Kommando, Julija Michailowna zu.

„Das ist doch ganz erklärlich!“ sagte diese gereizt, da alle gleichsam überzeugt schienen, gerade sie müsse jetzt etwas sagen. „Wie kann man sich darüber wundern, daß Stawrogin sich mit Gaganoff schlägt und mit dem Studenten nicht? Er konnte doch nicht seinen früheren Leibeigenen fordern!“

Bemerkenswerte Worte! Eine einfache und auf der Hand liegende Erklärung, auf die aber noch niemand verfallen war. So war sie denn auch von entscheidender Wirkung. Alles Skandalöse, Anekdotenhafte und Kleinliche war mit einem Schlage zurückgedrängt und etwas anderes tauchte vor einem auf. Man sah plötzlich einen neuen Menschen vor sich, in dem sich bis jetzt alle getäuscht hatten, einen Menschen mit Ehrbegriffen von fast idealer Strenge. Von einem Studenten, also einem gebildeten und nicht mehr leibeigenen Menschen, tödlich beleidigt, übersieht er die Beleidigung, weil der Student – sein ehemaliger Leibeigener ist. Die Gesellschaft zerreißt sich den Mund darüber und blickt mit Verachtung auf den Menschen, der einen Schlag ins Gesicht hingenommen hat: dieser aber mißachtet, übersieht einfach auch die Meinung der Gesellschaft, die ja doch zur richtigen Beurteilung der Dinge viel zu unreif ist, obschon sie sich selber stets dazu berufen fühlt.

„Und währenddessen sitzen wir hier, Iwan Alexandrowitsch, und philosophieren darüber, welches die richtigen Ehrbegriffe sind!“ bemerkt in einem edlen Anfall von Selbsterkenntnis ein alter Klubherr zum anderen.

„Ja, ja, Sie haben recht, Pjotr Michailowitsch,“ pflichtet ihm dieser reuig bei. „Und da schilt man noch auf die Jugend von heute!“

„Ach was, hier kann doch von der Jugend im allgemeinen überhaupt nicht die Rede sein,“ sagt ein Dritter. „Die Jugend von heute hat damit nichts gemein. Hier handelt es sich einfach um einen Stern, eine einzigartige Ausnahme, um einen neuen Menschen, nicht aber um irgendeine durchschnittliche Jugend von heute! Sehen Sie, so ist das aufzufassen.“

„Ja, ja ... und gerade das ist es ja, was wir brauchen; wir sind arm geworden an Persönlichkeiten.“

Doch das Wichtigste war hierbei, daß diese „Persönlichkeit“ oder dieser „neue Mensch“ sich nicht nur als „unzweifelhafter Edelmann“ erwiesen hatte, sondern außerdem noch der allerreichste Grundbesitzer unseres Gouvernements war, und folglich sogleich als Beistand und Faktor zu betrachten war. Ich habe übrigens schon früher andeutungsweise die Stimmung unserer Grundbesitzer erwähnt.[42]

Ja, man geriet sogar ordentlich in Hitze:

„Und nicht nur, daß er den Studenten nicht gefordert hat,“ hob ein anderer hervor, „er hat sogar die Hände ostentativ zurückgezogen! – Bitte das wohl zu bemerken, Exzellenz!“

„Und hat ihn nicht einmal vor unser neues Zivilgericht geschleppt ...“ meinte wieder ein anderer.

„Ungeachtet dessen, daß dieses unser hochlöbliches neues Gericht ihn dafür, daß er beleidigt worden ist, zu einer Strafe von fünfzehn Silberrubeln verurteilt hätte, ha–ha–ha!“

„Nein, hören Sie, ich werde Ihnen gleich das ganze Geheimnis unserer neuen Gerichte sagen!“ regte sich ein Dritter auf. „Hat jemand einen anderen bestohlen oder begaunert, und hat man ihn womöglich auf frischer Tat ertappt und überführt – so laufe er nur schnell nach Hause, so lange er noch Beine hat, und schlage seine Mutter tot! Dann spricht man ihn im Nu von allem frei, und die Damen werden ihm noch mit ihren Batisttüchlein von der Estrade zuwinken und Ovationen bereiten! Ehrenwort, so ist es!“

„Ein wahres Wort, bei Gott, so ist es!“

Natürlich begnügte sich die Gesellschaft auch diesmal nicht mit den bekannten Tatsachen. Man sprach wieder über die Freundschaft Stawrogins mit dem berühmten Grafen K., dessen strenger, isolierter Standpunkt den neuesten Reformen gegenüber allgemein bekannt war, ebenso wie seine aufsehenerregende Tätigkeit noch bis in die jüngste Zeit. Und plötzlich stand für alle vollständig fest, daß Nicolai Wszewolodowitsch sich mit einer von den Töchtern des Grafen K. verloben werde, obgleich zu einer solchen Annahme in Wirklichkeit auch nicht der geringste Grund vorhanden war. Was aber da irgendwelche romantische schweizer Abenteuer mit Lisaweta Nicolajewna anbetraf, oh, so erwähnten unsere Damen diese „Märchen“ überhaupt nicht mehr. Ich muß hier bemerken, daß Drosdoffs inzwischen schon überall ihre Visite gemacht hatten, und nun fand man, daß Lisa ein ganz gewöhnliches junges Mädchen sei, das mit seinen „kranken Nerven“ nur „kokettierte“. Ihren Ohnmachtsanfall am Tage der Ankunft Nicolai Wszewolodowitschs erklärte man einfach mit dem Schreck über die schändliche Tat des Studenten. Ja, man bemühte sich sogar, das, was man noch vor kurzem so phantastisch aufgefaßt hatte, jetzt so prosaisch wie möglich zu erklären; – und die Hinkende vergaß man völlig, schämte sich fast, sie überhaupt erwähnt zu haben. Die Männer aber pflegten zu sagen: „Und wenn auch hundert lahme Frauenzimmer – wer ist denn nicht jung gewesen!“ Jetzt hob man auch allgemein die Ehrerbietung Nicolai Wszewolodowitschs zu seiner Mutter hervor, sprach wohlwollend von seinem großen Wissen, das er sich in diesen vier Jahren an deutschen Universitäten erworben hatte. Die Handlungsweise Gaganoffs aber erklärte man endgültig für taktlos – „die Eigenen erkennen die Eigenen nicht!“ –, und Julija Michailowna sprach man gar „höhere Einsicht“ zu.

So wurde denn Stawrogin, als er endlich selbst in der Gesellschaft erschien, mit dem naivsten Ernst und der ungeduldigsten Erwartung angesehen. Er aber schwieg. Natürlich befriedigte das wieder weit mehr, als es endlose Erklärungen getan hätten. Kurz, er machte einen großen Eindruck auf alle, er wurde Mode. In der Gesellschaft kam er mit feinstem Takt allen seinen Pflichten nach. Ein Zurückziehen, sich Absondern war freilich unmöglich, nachdem er einmal in der Gesellschaft erschienen war. Das ist schon so in der Provinz. Man fand ihn zwar nicht „gemütlich“ oder „unterhaltsam“, aber „der Mensch hat gelitten, ist nicht so wie andere; hat auch was, worüber er nachdenken kann,“ hieß es zu seiner Entschuldigung. Sogar sein Stolz und die Unnahbarkeit, die ihm vor vier Jahren so viel Haß eingetragen hatten, gefielen jetzt und wurden sehr geachtet.

Am meisten triumphierte Warwara Petrowna. Ich weiß nicht, ob sie sich über ihre verunglückten Pläne mit Lisa sehr grämte: darüber half ihr vielleicht der Familienstolz hinweg. Sonderbar war nur eines: Warwara Petrowna glaubte plötzlich gleichfalls, daß ihr Nicolas eine Tochter des Grafen K. erwählt habe, und zwar – was das Sonderbarste dabei war – sie glaubte es gleichfalls nur auf die Gerüchte hin, die auch zu ihr bloß der „Zufall“ verschlagen hatte; selbst aber ihren Sohn zu fragen, fürchtete sie sich. Zwei- oder dreimal konnte sie sich freilich nicht bezwingen, und machte ihm vorsichtig, wenn auch heiter, den Vorwurf, nicht ganz aufrichtig zu ihr zu sein: Nicolai Wszewolodowitsch lächelte aber nur und fuhr fort, zu schweigen. So hielt sie sein Schweigen für eine Bestätigung. Und doch konnte sie bei all dem die Hinkende nicht vergessen. Der Gedanke an diese lag ihr wie ein Stein auf dem Herzen, raubte ihr den Schlaf oder schreckte sie mit unheimlichen Träumen – und das zu derselben Zeit, als sie an die Töchter des Grafen K. dachte. Aber davon später. Es versteht sich im übrigen von selbst, daß die Gesellschaft sich wieder ganz wie früher mit außerordentlicher Ehrfurcht zu Warwara Petrowna verhielt, wenn auch diese sich jetzt nur noch selten sehen ließ.

Indessen machte sie doch der Gouverneurin einen feierlichen Besuch. Natürlich war niemand über die schon erwähnte Bemerkung Julija Michailownas so entzückt, wie Warwara Petrowna: diese Worte hatten viel Leid von ihrem Herzen genommen. „Ich habe diese Frau mißverstanden!“ sagte sie sich, und mit der ihr eigenen Aufrichtigkeit erklärte sie Julija Michailowna sofort, daß sie gekommen sei, um sich bei ihr zu bedanken. Julija Michailowna war natürlich sehr geschmeichelt, verlor jedoch nicht ihre Würde. Zu gleicher Zeit stieg sie in ihren eigenen Augen ganz beträchtlich, und vielleicht sogar etwas zu hoch. So beging sie beispielsweise im Laufe des Gesprächs die Unhöflichkeit, Warwara Petrowna zu sagen, daß sie noch nie etwas von einer literarischen Tätigkeit Stepan Trophimowitschs gehört habe.

„Ich empfange und verwöhne natürlich den jungen Werchowenski, er ist zuweilen etwas unbesonnen, aber er ist ja noch jung. Jedenfalls hat er solide Kenntnisse, und ist doch immerhin schon etwas mehr, als irgend ein verabschiedeter ehemaliger Kritiker.“

Warwara Petrowna beeilte sich sofort, zu bemerken, daß Stepan Trophimowitsch niemals Kritiker gewesen sei, sondern sein ganzes Leben in ihrem Hause verbracht habe. Berühmt aber sei er durch gewisse Umstände zu Anfang seiner Karriere, die „aller Welt nur zu gut bekannt sind“, und in der letzten Zeit durch seine Studien über die spanische Geschichte; augenblicklich beabsichtige er, über die deutschen Universitäten zu schreiben und, wenn sie recht unterrichtet sei, auch etwas über die Dresdener Madonna ... Warwara Petrowna wollte ihren Stepan Trophimowitsch um keinen Preis von Julija Michailowna herabsetzen lassen.

„Über die Dresdener Madonna? Die Sixtinische? Chère Warwara Petrowna, ich habe zwei Stunden vor diesem Bilde gesessen und bin schließlich vollkommen enttäuscht fortgegangen. Ich habe nichts verstanden und mich nur über die Menschen gewundert. Auch Karmasinoff sagt, daß es schwer sei, dieses Bild zu verstehen. Jetzt finden alle nichts Besonderes an diesem Bilde, sowohl Russen wie Engländer. Den ganzen Ruhm haben ihm nur die alten Professoren verschafft.“

„Also eine neue Mode?“

„Ach, ich aber glaube, daß man unsere Jugend nicht so geringschätzen darf. Überall klagt man jetzt, unsere jungen Leute seien Kommunisten, und verachtet sie womöglich, doch meiner Meinung nach sollte man sie lieber schonen und hochschätzen. Ich lese jetzt alles: alle Zeitungen, Revuen, treibe Naturwissenschaft – ich bekomme alles, denn man muß doch, nicht wahr, endlich wissen, wo man lebt und mit wem man es zu tun hat?! Man kann doch nicht das ganze Leben lang auf den Wolken seiner Phantasie leben! Ich habe mir zum Grundsatz gemacht, die Jugend zu protegieren, und hoffe, sie auf diese Weise an dem Rande des Abgrundes zurückzuhalten, in den sie, das gebe ich zu, sonst hinabgleiten könnte. Glauben Sie mir, Warwara Petrowna, nur mit gutem Einfluß und vor allem mit Liebe können wir sie von dem Abgrund zurückhalten, in den sie die Unduldsamkeit aller dieser zurückgebliebenen alten Leute treibt. Aber wirklich: es freut mich, was ich von Ihnen über Stepan Trophimowitsch gehört habe. Sie haben mich auf einen guten Gedanken gebracht: er könnte auf unserer literarischen Matinee gleichfalls etwas vortragen. Wissen Sie es schon? Ich arrangiere einen ganzen Festtag, mit Hilfe einer Kollekte – für die armen Gouvernanten unseres Gouvernements. Sie sind in ganz Rußland verstreut; aus unserem Kreise sind allein schon sechs; außerdem noch zwei Telegraphistinnen und zwei, die die Akademie besuchen; viele würden das gleichfalls gern, haben aber nicht die Mittel dazu. Ach, das Los der russischen Frau ist entsetzlich, Warwara Petrowna! Jetzt wird daraus eine Universitätsfrage gemacht, und der Reichsrat hat sich sogar schon deswegen einmal versammelt. In unserem sonderbaren Rußland kann man wirklich alles machen, was einem einfällt. Und darum, noch einmal sei es gesagt, könnten wir nur mit Liebe und unmittelbarer warmer Teilnahme der ganzen Gesellschaft diese große, allgemeine Sache auf den richtigen Weg führen. O Gott, als ob wir viele große Menschen hätten! Es gibt ja natürlich welche, aber die sind so verstreut! Tun wir uns doch zusammen, um stärker zu werden! Wie gesagt, ich werde erst eine literarische Matinee arrangieren, darauf ein leichtes Frühstück, und dann, am Abend, einen Ball. Zuerst wollten wir den Abend mit lebenden Bildern eröffnen, aber das käme wohl etwas zu teuer, und deshalb sollen zur Unterhaltung des Publikums nur zwei Quadrillen von Masken getanzt werden – in charakteristischen Kostümen, die bestimmte literarische Richtungen darstellen. Diesen spaßigen Vorschlag hat Karmasinoff gemacht – er ist mir überhaupt sehr behilflich. Und wissen Sie, er wird zur Matinee sein letztes Werk, das noch niemand kennt, vorlesen. Er will seine Feder jetzt niederlegen und nie mehr schreiben. Dieses letzte Werk ist sein Abschied vom Publikum. Ein herrliches Ding, unter dem Titel: ‚Merci‘. Allerdings ein französisches Wort, aber er findet es scherzhafter und sogar feiner. Ich auch – ja eigentlich habe ich es ihm vorgeschlagen. Nun denke ich, vielleicht könnte auch Stepan Trophimowitsch etwas vorlesen, etwas Kürzeres und, wenn möglich ... nicht gar zu Gelehrtes. Ich glaube, auch Pjotr Stepanowitsch und noch jemand werden irgend etwas vortragen. Ich werde Pjotr Stepanowitsch zu Ihnen schicken, mit dem Programm, oder besser, erlauben Sie mir, es Ihnen selbst zu übergeben, wenn ich einmal vorüberfahre.“

„Gern! – Und Sie erlauben mir gewiß, meinen Namen gleichfalls auf die Liste zu setzen ... Ich werde es Stepan Trophimowitsch mitteilen und ihn selbst darum bitten.“

Ganz bezaubert kehrte Warwara Petrowna heim; jetzt stand sie wie ein Fels für Julija Michailowna! Über Stepan Trophimowitsch aber ärgerte sie sich plötzlich grenzenlos. Er aber, der Arme, ahnte natürlich von alledem nichts.

„Ich habe mich geradezu in sie verliebt. Ich begreife nicht, wie ich mich in dieser Frau so habe täuschen können,“ sagte sie zu Nicolai Wszewolodowitsch und zu Pjotr Stepanowitsch, der am Abend dieses Tages wieder auf einen Augenblick bei ihr vorsprach.

„Aber Sie müssen sich mit dem Alten wieder aussöhnen,“ meinte Pjotr Stepanowitsch, „er ist ganz verzweifelt. Sie haben ihn ja schon geradezu in die Küche geschickt. Gestern hat er Sie in der Equipage gesehen und gegrüßt, Sie aber sollen sich abgewendet haben. Wissen Sie, wir wollen ihn ein wenig herausheben, ich habe sogar gewisse Absichten mit ihm und er kann uns noch nützlich sein.“

„Oh, er wird ja jetzt auf der Matinee vortragen.“

„Ich spreche nicht davon allein. Übrigens, ich wollte selbst noch heute zu ihm gehen. Soll ich es ihm sagen?“

„Wenn Sie wollen. Oder nein, ich weiß nicht, wie Sie das anfangen werden,“ sagte sie ein wenig unentschlossen. „Ich hatte schon selbst die Absicht, mich mit ihm auszusprechen und wollte ihm Ort und Stunde angeben.“ Ihr Gesicht verfinsterte sich.

„Na, das lohnt sich gerade! Ich werde es ihm einfach sagen.“

„Nun, meinetwegen. Sagen Sie es ihm. Aber fügen Sie hinzu, daß ich ihm unbedingt einen Tag angeben werde. Fügen Sie das unbedingt hinzu.“

Pjotr Stepanowitsch eilte sogleich schmunzelnd zu seinem Vater. Im allgemeinen war er in dieser Zeit, so weit ich mich dessen noch erinnern kann, ganz besonders schlechter Laune und erlaubte sich unglaubliche Sachen fast allen gegenüber, was man ihm aber sonderbarerweise stets verzieh. Überhaupt hatte sich die Meinung verbreitet, daß man auf ihn irgendwie besonders sehen müsse. Hier muß ich aber erwähnen, daß ihn Stawrogins Duell in eine schon beinahe unnatürliche Wut versetzt hatte; die Nachricht traf ihn unvorbereitet. Er wurde geradezu grün im Gesicht, als man ihm das erzählte. Vielleicht litt hierbei seine Eigenliebe: er erfuhr es erst am anderen Tage, als schon alle davon wußten.

„Aber Sie hatten ja gar nicht das Recht, sich zu schlagen!“ flüsterte er Stawrogin zu, als er ihn erst am fünften Tag darauf zufällig im Klub traf.

Es ist bemerkenswert, daß sie sich in diesen fünf Tagen nirgends begegnet waren, obgleich Pjotr Stepanowitsch fast täglich bei Warwara Petrowna vorsprach.

Stawrogin blickte ihn stumm und wie zerstreut an, als verstünde er nicht, wovon jener sprach, und ging weiter, ohne stehen zu bleiben. Er ging durch den großen Saal zum Büfettraum.

„Sie sind auch zu Schatoff gegangen ... Sie wollen Ihre Heirat mit Marja Timofejewna bekannt machen,“ flüsterte Pjotr Stepanowitsch, der ihm nachlief, und faßte ihn an der Schulter.

Da schüttelte Stawrogin plötzlich seine Hand ab und drehte sich schnell mit drohend finsterem Gesicht zu ihm um. Pjotr Stepanowitsch sah ihn an und lächelte ein sonderbares langes Lächeln. Das Ganze dauerte nur einen Augenblick. Stawrogin ging allein weiter.

II.

Von Warwara Petrowna begab sich Pjotr Stepanowitsch an jenem Abend schleunigst zu seinem Vater. Daß er sich so beeilte, geschah vor allem aus Bosheit: um sich für eine Beleidigung, von der ich noch keine Ahnung hatte, sobald wie möglich zu rächen. Stepan Trophimowitsch hatte ihn nämlich bei seinem letzten Besuch nach einem Streit, der übrigens von ihm selbst begonnen worden war, mit dem Stock hinausgejagt. Damals war ich, wie gesagt, nicht zugegen gewesen, diesmal aber, als Pjotr Stepanowitsch mit seinem gewöhnlichen spöttischen Lächeln eintrat, während sein unangenehm neugieriger Blick das Zimmer gleichsam absuchte, gab mir Stepan Trophimowitsch sogleich durch einen Wink zu verstehen, ich solle den Raum nicht verlassen. So erfuhr ich denn, wie sie zu einander standen.

Stepan Trophimowitsch saß halb liegend auf dem Diwan. Seit jenem letzten Besuch seines Sohnes, am Donnerstag, war er magerer und bleicher geworden. Pjotr Stepanowitsch setzte sich in der ungeniertesten Weise neben ihn, und nahm weit mehr Platz auf dem Diwan ein, als es die Achtung vor dem Vater erlaubt hätte. Stepan Trophimowitsch rückte wortlos, seine Würde wahrend, zur Seite.

Auf dem Tisch lag ein aufgeschlagenes Buch: der Roman „Was tun?“[43] Leider muß ich hier eine gewisse Schwäche meines Freundes eingestehen: der Gedanke, daß er noch einmal aus seiner Einsamkeit hervortreten müsse, um „die letzte Schlacht zu schlagen“, hatte sich mehr und mehr in seiner verblendeten Einbildung festgesetzt. Ich erriet, daß er sich diesen Roman nur vorgenommen hatte und nun studierte, um für den Fall eines Zusammenstoßes mit den Feinden ihren ganzen „Katechismus“ zu kennen. So vorbereitet, wollte er sie dann alle widerlegen und feierlich vor „ihr“ über jene Jungen triumphieren! Oh, wie quälte ihn dieses Buch! Ganz verzweifelt warf er es oft fort, sprang auf und ging erregt, ja fast außer sich hin und her.

„Ich gebe zu, daß der Grundgedanke des Autors richtig ist,“ sagte er wie im Fieber zu mir, – „aber das ist doch noch schrecklicher! Es ist ja derselbe Gedanke, den wir gehegt haben, gerade unser eigener! Wir haben ihn selbst gepflanzt, erzogen, alles vorbereitet, – ja und was könnten die denn überhaupt noch Neues sagen, nach uns! Aber, Gott, wie ist das alles mißverstanden, wie entstellt, wie verdorben!“ rief er, nervös mit den Fingern auf das Buch klopfend. „Haben wir je solche Folgerungen gezogen, das etwa erstrebt? Wer kann hier überhaupt den Grundgedanken herauslesen?!“

„Bildest dich?“ fragte Pjotr Stepanowitsch spöttisch, nachdem er das Buch vom Tisch genommen und den Titel gelesen hatte. „War schon längst an der Zeit. Kann dir noch bessere Bücher bringen, wenn du willst.“

Stepan Trophimowitsch schwieg wieder. Ich saß auf dem anderen Diwan in der Ecke.

Pjotr Stepanowitsch erklärte schnell, warum er gekommen sei. Stepan Trophimowitsch war ganz unverhältnismäßig betroffen und hörte mit einem Schrecken zu, der sich mit äußerstem Unwillen mischte.

„Und diese Julija Michailowna ist ohne weiteres überzeugt, daß ich bei ihr vorlesen werde!“

„Das heißt, sieh mal, sie brauchen dich ja eigentlich überhaupt nicht. Im Gegenteil, es geschieht nur, um dir eine Ehre zu erweisen und somit Warwara Petrowna zu schmeicheln. Na, versteht sich doch von selbst, daß du nicht wagen darfst, etwa abzusagen. Und selber willst du doch auch riesig gern vorlesen,“ schmunzelte er. „Ihr Alten habt ja alle ’ne höllische Ambition. Aber, hör mal, damit es nicht zu langweilig ist – du hast da etwas aus der spanischen Geschichte, nicht? Du, also gib mir das Ding drei, zwei Tage vorher, damit ich es mal durchsehe, sonst schläferst du uns am Ende noch alle ein.“

Die Grobheit seiner Bemerkungen war augenscheinlich beabsichtigt. Er tat, als könne man mit Stepan Trophimowitsch eben unmöglich feiner sprechen. Mein Freund fuhr unerschütterlich fort, die Beleidigungen nicht zu bemerken. Indessen regte ihn der Inhalt des Gehörten doch immer mehr auf.

„Und sie selbst, sie selbst hat ... dir gesagt, daß du es mir mitteilen sollst?“ fragte er.

„Das heißt, sieh mal, sie wollte dir Ort und Zeit angeben, um sich mit dir auszusprechen – die letzten Überreste eurer Sentimentalitäten. Du hast zwanzig Jahre mit ihr kokettiert und ihr die lächerlichsten Albernheiten angewöhnt. Na, beruhige dich, jetzt hat das aufgehört; jetzt wiederholt sie ja selbst stündlich, daß sie dich nun erst ‚durchschaut‘. Ich habe ihr logisch auseinandergesetzt, daß eure ganze Freundschaft weiter nichts als ein gegenseitiger Erguß von Spülicht gewesen ist. Sie hat mir viel erzählt, weißt du. Pfui, was für ein Lakaienamt du bei ihr bekleidet hast. Sogar ich habe für dich erröten müssen.“

„Ich – ein Lakaienamt bekleidet?“ rief Stepan Trophimowitsch, der nun doch nicht mehr an sich halten konnte.

„Sogar noch schlimmer als das, denn du warst ja ein Schmarotzer, also ein freiwilliger Lakai. Zur Arbeit zu faul – aber auf Geld haben wir Appetit. Kennt man! Auch sie begreift das jetzt. Haarsträubend, was sie von dir alles erzählt hat! Ach, Freund, hab ich aber über deine Briefe an sie gelacht! Wie gewissenlos und wie ekelhaft! Aber ihr seid ja so verderbt, so unglaublich verderbt! Im Almosenempfangen liegt doch etwas, das den Menschen für immer verdirbt – du bist ein glänzendes Beispiel dafür!“

„Sie hat dir meine Briefe gezeigt!“

„Alle. Das heißt, wo denkst du hin, wer soll denn die alle durchlesen! Pfui, ich glaube, es sind über zweitausend Briefe. Verboten viel Papier verschmiert ... Aber weißt du auch, Alter, ich vermute, es muß da einmal einen Augenblick gegeben haben, wo sie vielleicht sogar bereit gewesen wäre, dich zu heiraten? Dümmsterweise hast du’s verpaßt! Ich meine natürlich – von deinem Standpunkt aus. Immerhin besser als jetzt, da man dich beinah mit ‚fremden Sünden‘ verkuppelt hätte, wie einen Narren zum Scherz, – und das für Geld.“

„Für Geld! Sie, sie sagt – ich hätte für Geld! ...“ rief Stepan Trophimowitsch in krankhafter Erregung.

„Ja, wie denn sonst? Was fällt dir denn ein? Unter diesem Gesichtswinkel habe ich dich noch verteidigt! Das ist doch deine einzige Entschuldigung. Sie hat jetzt selbst eingesehen, daß du Geld brauchtest, wie nun einmal alle Menschen – und von dem Standpunkte aus sogar ganz recht hattest. Ich habe ihr denn auch klar wie zweimalzwei bewiesen, daß ihr zu Eurem gegenseitigen Vorteil gelebt habt: sie als Kapitalistin, und du bei ihr als ihr sentimentaler Narr. Übrigens: über das viele verschwendete Geld ärgert sie sich nicht, obgleich du sie doch wirklich wie eine Ziege gemolken hast. Was sie jetzt erbost, ist nur, daß sie dir zwanzig Jahre lang geglaubt hat, daß sie sich von deinem Anstand hat betölpeln lassen und daß du sie gezwungen hast, so lange zu lügen. Daß sie selbst auch gelogen hat, wird sie sich nie eingestehen, aber du wirst dafür doppelt büßen müssen. Ich verstehe nur nicht, wie du nicht hast begreifen können, daß es irgend einmal doch zu einer Abrechnung kommen mußte. Denn immerhin hattest du doch so etwas wie einen Verstand. Ich habe ihr gestern geraten, dich in ein Armenhaus zu stecken. Beruhige dich, in ein anständiges: es wird schon nicht erniedrigend sein. Ich glaube, sie wird es auch so machen. Erinnerst du dich noch deines letzten Briefes an mich, ins H–sche Gouvernement, vor drei Wochen?“

„Den hast du ihr gezeigt?“ Stepan Trophimowitsch sprang vor Entsetzen auf.

„Na, selbstredend! Als ersten! Denselben, in dem du schreibst, daß sie dich ausnutzt, dich um deines Talentes willen beneidet, na, und noch allerlei über die ‚fremden Sünden‘ ... – Ach, Freund, hast du aber eine Eigenliebe! Ich habe mir vor Lachen die Seiten gehalten. Sonst sind deine Briefe mordslangweilig – hast einen entsetzlichen Stil. Habe sie überhaupt nur selten gelesen und ein Brief liegt da bei mir noch jetzt uneröffnet herum; werde ihn dir morgen schicken. Aber dieser, dieser letzte Brief – der ist ja einfach die Krone von allen! Wie ich gelacht habe, nein, wie ich gelacht habe!“

„Du Unmensch, du Ungeheuer!“ brüllte plötzlich Stepan Trophimowitsch außer sich vor Empörung.

„Pfui Teufel, mit dir kann man ja überhaupt nicht reden. Hör mal, du fühlst dich wohl wieder gekränkt, wie vorigen Donnerstag?“

Stepan Trophimowitsch richtete sich drohend auf.

„Wie wagst du es, so mit mir zu reden?“

„Ja, wie denn? Ich rede doch einfach und klar.“

„Aber so sag mir doch, bist du mein Sohn oder bist du’s nicht!“

„Das müßtest du besser wissen als ich. Natürlich, jeder Vater ist ja in solchen Fällen zu Zweifeln geneigt ...“

„Schweig, schweig!“ Stepan Trophimowitsch erzitterte am ganzen Körper.

„Sieh mal, nun schreist und schimpfst du schon wieder, ganz wie vorigen Donnerstag; wolltest ja damals schon deinen Stock erheben, inzwischen aber habe ich das Dokument gefunden. Hab den ganzen Abend in meinem Reisekoffer aus Neugier gesucht. Kannst dich beruhigen, es ist kein Beweis vorhanden. Nur ein kurzer Brief meiner Mutter an jenen Polen. Aber nach ihrem Charakter zu urteilen ...“

„Noch ein Wort und ich schlage dich –!“

„Na, das sind mir mal Menschen!“ wandte sich Pjotr Stepanowitsch plötzlich an mich. „Sehen Sie, das geht nun schon so seit dem vorigen Donnerstag. Es freut mich, daß diesmal wenigstens Sie dabei sind und urteilen können. Zuerst eine Tatsache: er macht mir Vorwürfe, weil ich so von meiner Mutter rede, aber war er es nicht selbst, der mich darauf gebracht hat? In Petersburg, als ich noch Gymnasiast war, weckte er mich womöglich zweimal in der Nacht, umarmte mich und weinte wie ein altes Weib. Und was glauben Sie wohl, was er mir dann erzählte, so in der Nacht? Na, eben diese selben keuschen Anekdoten über meine Mutter! Er war ja der erste, von dem ich es hörte.“

„Oh, ich tat es damals im höheren Sinne! Oh, du hast mich nicht verstanden. Nichts, nichts hast du verstanden!“

„Aber immerhin war es von dir doch gemeiner, als von mir, viel gemeiner, gestehe es nur! Sieh, wenn du willst: mir ist es ja einerlei. Von deinem Standpunkt betrachtet. Von meinem – na, beruhige dich: ich mache meiner Mutter durchaus keinen Vorwurf. Bist du’s, na, dann bist du es, – ist’s der Pole, – na, meinetwegen, mir ist’s egal. Ich bin doch nicht daran schuld, daß es bei euch in Berlin so dumm herausgekommen ist. Ja und hätte denn überhaupt jemals etwas Gescheites bei euch herauskommen können? Und seid ihr nun nach alledem nicht komische Leute? Kann es dir denn nicht ganz egal sein, ob ich dein Sohn bin, oder nicht? Hören Sie mal,“ wandte er sich wieder zu mir, „er hat für mich in seinem ganzen Leben nicht einen einzigen Rubel ausgegeben; bis zum sechzehnten Jahre hat er mich überhaupt nicht gekannt, darauf hat er mich hier bestohlen, und jetzt schreit er, daß ihn sein Herz sein Lebelang um mich geschmerzt habe, und geberdet sich vor mir wie ein Schauspieler. Aber ich bin doch nicht Warwara Petrowna, ich bitte dich!“

Er stand auf und nahm seinen Hut.

„Ich – verfluche dich!“ rief Stepan Trophimowitsch, bleich wie der Tod, und streckte seine Hand aus.

„Seht doch, was ein Mensch alles fertig bringt!“ Pjotr Stepanowitsch wunderte sich wirklich. „Na, leb wohl, Alter, werde nie mehr zu dir kommen. Den Aufsatz schick etwas früher, vergiß es nicht, und bemühe dich, wenn du kannst, ohne Albernheiten zu schreiben. Nur Tatsachen, Tatsachen und nochmals Tatsachen, und die Hauptsache: so kurz wie möglich. Adieu!“

III.

Pjotr Stepanowitsch hatte übrigens noch andere Gründe dafür, mit seinem Vater in dieser Weise umzugehen. Meiner Meinung nach beabsichtigte er ganz einfach, ihn zur Verzweiflung zu bringen, um ihn auf diese Weise zu einem Skandal zu treiben, der die Öffentlichkeit in einer ganz bestimmten Richtung in Anspruch nehmen mußte. Etwas Derartiges hatte er für seine ferneren Ziele, von denen jedoch erst später die Rede sein soll, unbedingt nötig. Noch eine ganze Reihe ähnlicher und miteinander in Zusammenhang stehender Pläne – freilich alle von einer gewissen Phantastik – gingen damals durch seinen Kopf. Außer Stepan Trophimowitsch hatte er noch einen anderen Märtyrer im Auge. Überhaupt hatte er deren nicht wenige, wie sich später herausstellte; doch auf diesen anderen Märtyrer rechnete er ganz besonders, und der war – Herr von Lembke in eigener Person.

Andrei Antonowitsch von Lembke gehörte zu jenem bevorzugten (von der Natur bevorzugten) Volke, von dem in Rußland mehrere hunderttausend Vertreter leben, die vielleicht selbst nicht wissen, daß sie in ihrer ganzen Masse und Gesamtheit einen streng organisierten Bund bei uns bilden. Selbstredend ist dieser Bund nicht etwa ausgedacht, sondern besteht wortlos, ohne Vereinbarungen, einfach wie eine moralische Selbstverständlichkeit – eben durch das unbedingte Zusammenhalten und die Unterstützung, die sie sich überall und unter allen Umständen wechselseitig zuteil werden lassen.

Andrei Antonowitsch hatte die Ehre gehabt, in einer jener höheren russischen Schulen erzogen zu werden, in die in der Regel nur die Söhne solcher Familien eintreten können, die mit Reichtum oder Verbindungen beglückt sind. Die Zöglinge dieser Schule wurden fast sofort nach dem Abiturientenexamen so untergebracht, daß sie selbst bei geringer Begabung noch eine gute Karriere machen konnten. Andrei Antonowitschs Großväter waren: ein Oberstleutnant und ein Bäcker. Trotzdem hatte man ihn in jener hohen Schule aufgenommen, und siehe da – er fand noch andere junge Leute ähnlicher Herkunft vor. Er war ein lustiger Kamerad; mit dem Lernen ging es zwar ziemlich schwer, aber das störte weiter nicht – man hatte ihn trotzdem gern. Als später, in den höheren Klassen, die Jünglinge, die meistens Russen waren, schon über alle möglichen Tagesfragen zu disputieren begannen, und zwar in einem Tone, der keinen Zweifel darüber bestehen ließ, daß sie, sobald sie nur erst die Schule hinter sich gebracht hätten, sofort sämtliche Probleme mit einem Schlage lösen würden – da fuhr Andrei Antonowitsch immer noch fort, sich mit den allerunschuldigsten Jungenstreichen zu beschäftigen. Es schien in seinen Augen geradezu sein Lebenszweck zu sein, seine Mitschüler auch jetzt noch durch alle möglichen Einfälle zu unterhalten – Einfälle, die sich zwar nicht durch allzu großen Geistesreichtum auszeichneten, dafür aber die junge Gesellschaft zu erheitern vermochten. Entweder schneuzte er sich, wenn der Lehrer ihn etwas fragte, auf irgendeine ganz besonders laute und mißtönende Weise die Nase, wodurch er dann sowohl die Kameraden wie den Lehrer selber belustigte; oder er machte im gemeinsamen Schlafsaal irgendwelche equilibristischen Kunststücke, die ihm einen allgemeinen und begeisterten Beifall einzutragen pflegten; oder er spielte gar einzig auf seiner Nase (und wirklich kunstvoll) die Ouvertüre zu „Fra Diavolo“. Im letzten Schuljahr zeichnete er sich wohl auch durch eine absichtliche Unordentlichkeit in der Kleidung aus, was er für genial hielt, dieweil er nämlich zu dichten begonnen hatte: und zwar in russischer Sprache, denn seine Muttersprache beherrschte er nur äußerst ungrammatisch, wie so viele seiner in Rußland lebenden Volksgenossen.

Diese Neigung zur Poesie hatte ihn dann mit einem Kameraden, dem Sohn eines armen Offiziers, den die ganze Schule für einen zukünftigen großen Poeten, so eine Art zweiten Puschkin hielt, zusammengeführt. Wie erstaunt aber war dieser Kamerad, der sich Lembkes auf der Schule nur von oben herab, gnädig, beinahe gönnerhaft angenommen hatte, als er drei Jahre später seinen Protegé, den „Lembka“, wie man ihn allgemein genannt hatte, an einem kalten Tage an der Anitschkoffbrücke traf! Der „zukünftige große Poet“ hatte sich inzwischen ganz der russischen Literatur gewidmet und es bereits glücklich bis zu zerrissenen Stiefeln und einem dünnen Sommerpaletot im Spätherbst gebracht. Um so eigentümlicher mußten seine Empfindungen sein, als er jetzt seinen „Lembka“ wiedersah: zuerst traute er seinen Augen nicht – vor ihm stand ein tadellos gekleideter junger Mann mit bewunderungswürdig bearbeitetem rötlich-blondem Backenbart, mit einem Klemmer auf der Nase, elegant behandschuht, dazu in Lackstiefeln und kostbarem Pelz mit einer Ledermappe unter dem Arm. Lembke begrüßte ihn sehr freundlich, gab ihm seine Adresse, und forderte ihn sogar auf, ihn einmal abends zu besuchen. Es stellte sich bei der Gelegenheit heraus, daß er jetzt nicht mehr einfach der „Lembka“, sondern Herr von Lembke war. Doch als nun der Schulfreund der Aufforderung nachkam und ihn tatsächlich einmal besuchte, da fand er keineswegs die Reichtümer vor, die er erwartet hatte, fand seinen „Lembka“ vielmehr in einem schmalen Zimmerchen, das ziemlich alt aussah, mit einem dunkelgrünen Vorhang in zwei ungleiche Hälften geteilt und mit ebenfalls dunkelgrünen, zwar gepolsterten, aber bereits ziemlich verschossenen Möbeln eingerichtet war. Von Lembke wohnte bei einem General, mit dem er in sehr weitläufiger Verwandtschaft stand und der den jungen Mann nach Möglichkeit in seiner Laufbahn förderte. Von Lembke empfing den Schulfreund freundlich, war aber sonst ernst und von gesellschaftlicher Höflichkeit. Über Literatur sprachen sie nur beiläufig. Ein Diener in weißer Weste brachte einen etwas bläßlichen Tee und hartes kleines, rundes Gebäck. Als der Freund aus Bosheit um eine Flasche Selterwasser bat, wurde sie ihm zwar gebracht, doch erst nach auffallend langer Zeit, während der Lembke etwas betreten zu sein schien. Übrigens muß ich hinzufügen, daß er dem Schulfreunde auch einen Imbiß anbot, doch offenbar nicht unzufrieden war, als der Gast dankte und sich bald darauf verabschiedete. Mit einem Wort: Lembke begann damals, trotz ärmlicher Verhältnisse, seine „Karriere“ und lebte bei einem Stammgenossen, der ein angesehener General war.

In dieser Zeit hatte er sich in die fünfte Tochter des Generals verliebt, und sein Antrag war, wenn ich nicht irre, auch so gut wie angenommen worden. Nur verheiratete man Amalie, als sich die Gelegenheit bot, nichtsdestoweniger mit einem deutschen Fabrikbesitzer, einem alten Freunde des alten Generals. Andrei Antonowitsch trauerte seiner Liebe nicht sehr lange nach, sondern – klebte aus Pappe ein Theater. Das ward ein richtiges Kunstwerk: der Vorhang hob sich, die Schauspieler traten auf und gestikulierten mit den Händen, in den Logen saßen Damen, im Orchester fuhren die Musiker mit den Bögen über die Instrumente, der Kapellmeister fuchtelte mit einem Stöckchen und das Publikum klatschte in die Hände. Alles das war aus Pappe hergestellt, und ausgedacht und ausgeführt von Andrei Antonowitsch von Lembke. Ein halbes Jahr lang hatte er über diesem Theater gesessen. Als er fertig war, gab der General eine intimere Abendgesellschaft; viele deutsche Damen und junge Mädchen, sowie die fünf Töchter des Generals, darunter die neuvermählte Amalie und deren Gatte, waren sehr entzückt, als das Theater vorgeführt wurde, und ergingen sich in hohen Lobsprüchen über den Verfertiger – worauf dann getanzt wurde. Lembke war sehr zufrieden und vergaß seinen Liebesgram alsbald.

Ein paar Jahre vergingen und seine „Karriere“ machte sich mehr und mehr. Er bekleidete stets Vertrauensposten unter Vorgesetzten, die gleicher Abstammung waren, und erreichte in verhältnismäßig jungen Jahren einen recht ansehnlichen Rang. Schon lange hatte er, jetzt aber ernstlich, den Wunsch gehabt, zu heiraten, und schon lange hatte er sich verstohlen nach einer passenden Partie umgesehen. Übrigens dichtete er auch jetzt noch hin und wieder, doch ohne jemandem etwas davon zu verraten, und einmal sandte er sogar eine Novelle an die Redaktion eines Blattes: sie wurde jedoch zu seinem Kummer nicht abgedruckt, sondern ihm höflich wieder zur Verfügung gestellt. Da begann er denn wieder zu kleben: diesmal einen ganzen Eisenbahnzug. Auch der gelang ihm vorzüglich: die Leute kamen aus dem Bahnhof und drängten sich, mit Koffern und Taschen in der Hand, mit Kindern und Hunden, zu den Waggons, die Schaffner und die Bahnbeamten gingen hin und her, ein Glöckchen klingelte und der Zug setzte sich in Bewegung. Über diesem Kunststück hatte er ein ganzes Jahr gesessen, seine Heiratspläne aber diesmal nicht darüber vergessen. Sein Bekanntenkreis war ziemlich groß, meistens deutsche Gesellschaft, doch verkehrte er auch in einigen russischen Familien – selbstverständlich nur in denen seiner Vorgesetzten. Da fiel ihm endlich, als er schon achtunddreißig Jahre zählte, eine kleine Erbschaft zu: sein Großvater, der Bäcker, starb und hinterließ ihm testamentarisch dreizehntausend Rubel. Nun war Herr von Lembke im Grunde trotz der schon recht ansehnlichen Stellung, die er in jungen Jahren erklommen hatte, durchaus kein Streber, vielmehr ein Mensch, der auch ganz gewiß mit einem kleineren, wenn nur recht bequemen und unabhängigen Posten vollkommen zufrieden gewesen wäre. Doch eben jetzt kreuzte, anstatt einer sanften Minna oder Ernestine, plötzlich Julija Michailowna seinen Weg, und seine Stellung stieg sofort um ein paar Stufen höher. Der bescheidene und gewissenhafte von Lembke fühlte, daß auch er ehrgeizig zu sein vermochte.

Julija Michailowna besaß, nach der alten Einschätzung, zweihundert Leibeigene und erfreute sich außerdem guter Protektionen. Andererseits war von Lembke ein hübscher Mann und sie schon über 40 Jahre alt. Obendrein verliebte er sich nach und nach wirklich in sie, und zwar genau proportional der Verstärkung des Gefühls, daß er nun Bräutigam war. Am Hochzeitstage schickte er ihr sogar ein Gedicht, das ihr sehr gefiel – vierzig Jahre sind nun einmal kein Spaß. Bald darauf bekam er auch einen gutklingenden Titel und dazu einen bestimmten Orden, und schließlich wurde er zum Gouverneur unseres Gouvernements ernannt. Seit dieser Auszeichnung begann Julija Michailowna sich um ihren Gatten doppelt zu bemühen. Ihrer Meinung nach war er nicht gerade unbegabt: er verstand, in einen Salon einzutreten, es war ihm gegeben, eine elegante Verbeugung zu machen, er vermochte sogar ernst und tiefsinnig zuzuhören, wenn andere sprachen, hielt sich dabei immer gut und konnte sogar eine Rede halten; ja, er hatte hin und wieder sogar eigene Gedanken, wenn sie auch etwas kurz waren und unvermittelt wirkten, und hinzukam, daß er sich schon die Politur des neuesten, so notwendigen Liberalismus angeeignet hatte. Doch trotz alledem beunruhigte sich Julija Michailowna nicht wenig: vor allen Dingen mißfiel es ihr entschieden, daß ihr Lembke, nachdem er so lange hinter seiner Karriere hergelaufen war, jetzt doch wieder ein immer ausgesprocheneres Ruhebedürfnis zu empfinden schien. Sie hätte zu gern ihren ganzen Ehrgeiz zu dem seinen gemacht, er aber begann wieder – zu kleben. Diesmal war es eine Kirche: der Pastor trat auf die Kanzel, die Gemeinde hörte mit andächtig gefalteten Händen zu, ein alter Mann schneuzte sich, eine Dame wischte sich mit einem Taschentuch die Tränen ab und zum Schluß begann noch eine Orgel zu spielen, die er um teures Geld eigens dazu aus der Schweiz verschrieben hatte. Als Julija Michailowna von dieser neuen Arbeit erfuhr, erschrak sie geradezu, nahm ihm das Spielzeug kurzerhand fort und versteckte es in einen Koffer, zur Entschädigung aber erlaubte sie ihm, einen Roman zu schreiben, freilich nur unter der Bedingung, daß niemand etwas davon erführe. Seit der Zeit verließ sie sich nur noch auf sich selbst. Eine Idee nach der anderen entstand in ihrem ehrgeizigen und ein wenig überspannten Geiste. Sie hatte in der Tat die Absicht, das Gouvernement zu regieren, und träumte bereits von den bestimmt nicht mehr fernen Tagen, wo sie der Mittelpunkt der Gesellschaft, aller Meinungen und Veranstaltungen unseres Gouvernements sein würde. Von Lembke selbst soll übrigens zuerst nicht wenig erschrocken gewesen sein, als er den hohen Posten erhielt, doch hatte er mit seinem Beamteninstinkt sehr bald herausgefunden, daß er eigentlich gar keinen Grund hatte, sich zu fürchten. Die ersten zwei, drei Monate seiner Tätigkeit verliefen denn auch äußerst zufriedenstellend. Da aber erschien plötzlich Pjotr Stepanowitsch – und alsbald nahm alles eine unheilvolle Wendung.

Die Sache fing damit an, daß der junge Werchowenski gleich bei der ersten Begegnung Andrei Antonowitsch von Lembke eine entschiedene Nichtachtung entgegenbrachte und sich ganz sonderbare Rechte ihm gegenüber herausnahm, Julija Michailowna aber, die sonst immer so eifersüchtig die Bedeutung ihres Mannes geachtet wissen wollte, tat plötzlich, als merkte sie davon nichts. Der junge Werchowenski wurde sozusagen ihr Schützling, aß, trank und schlief fast bei ihnen. Von Lembke suchte sich zwar des Ankömmlings zu erwehren, nannte ihn in der Gesellschaft „junger Mann“, klopfte ihm wohlwollend auf die Schulter, doch konnte er mit all dem nicht das gewünschte Resultat erzielen. Pjotr Stepanowitsch tat immer, selbst während scheinbar ernster Gespräche, als nehme er ihn überhaupt nicht ernst, und im übrigen nahm er sich sogar in Gegenwart fremder Menschen heraus, ihm die unerwartetsten, unglaublichsten Dinge ins Gesicht zu sagen. Einmal, als von Lembke nach Hause kam und in sein Arbeitszimmer trat, fand er den „jungen Mann“ auf seinem Lederdiwan vor. Er gab zur Erklärung, und zwar nicht etwa, um sich zu entschuldigen, sondern nur so oben hin, daß er, da er niemanden angetroffen, sich „bei der Gelegenheit ausgeschlafen“ habe. Von Lembke war natürlich tief gekränkt und beklagte sich bei seiner Frau; diese aber erklärte, nachdem sie zuerst über „seine Empfindlichkeit“ gelacht hatte, daß er wohl selbst die Schuld daran trüge, wenn der junge Mann sich nicht „comme il faut[113] zu ihm verhalte. Wenigstens erlaubte sich „dieser Junge“ ihr gegenüber nie irgend welche Familiaritäten, und im übrigen sei er „naiv und unverdorben, wenn auch gewiß nicht gesellschaftlich erzogen“. Von Lembke schmollte zwar, doch diesmal gelang es Julija Michailowna noch, die beiden zu versöhnen: nicht gerade, daß Pjotr Stepanowitsch jetzt eine Entschuldigung gemacht hätte, aber er riß irgend einen Witz, den man zwar in einem anderen Fall für eine neue Beleidigung hätte halten können, den man aber diesmal gnädig als Besserungsversprechen auffaßte. Am meisten ärgerte es Herrn von Lembke, daß er dem jungen Mann geradezu machtlos gegenüberstand, denn ... er hatte ihm gleich zu Anfang ihrer Bekanntschaft – seinen Roman anvertraut. Im Glauben, einen jungen Menschen mit literarischen Interessen getroffen zu haben, hatte er ihm, da er sich schon lange einen Zuhörer wünschte, eines Abends die beiden ersten Kapitel vorgelesen. Pjotr Stepanowitsch hatte zunächst zugehört, ohne zu verbergen, daß er sich langweilte, dann unhöflich gegähnt, nicht ein einziges Mal etwas gelobt, doch beim Fortgehen sich das Manuskript ausgebeten, um es zu Hause aufmerksam durchlesen und sein Urteil darüber fällen zu können, – und der arme Herr von Lembke hatte es ihm auch gegeben ... Seit der Zeit konnte er es nun nicht mehr zurückbekommen: auf seine täglichen Fragen gab ihm Pjotr Stepanowitsch meist nur eine ausweichende und nicht selten geradezu höhnische Antwort, bis er zum Schluß einfach erklärte, das Manuskript auf der Straße verloren zu haben. Als Julija Michailowna von dieser Unvorsichtigkeit ihres Gatten Kenntnis erhielt, ärgerte sie sich entsetzlich.

„Hast du ihm vielleicht auch etwas von der Kirche gesagt?“ fragte sie fast mit Schrecken.

Von Lembke begann ernstlich nachzudenken; nachdenken aber war für ihn schädlich und ihm von den Ärzten strengstens verboten worden. Und abgesehen davon, daß es plötzlich viele Scherereien im Gouvernement für ihn gab, wovon später die Rede sein wird, gab es hier auch noch einen besonderen Umstand – demzufolge diesmal sogar das Herz des Gatten litt, nicht nur die Eigenliebe eines Machthabers allein. Als von Lembke in die Ehe trat, hätte er sich niemals träumen lassen, daß sie ihm auch irgend welche Unannehmlichkeiten bereiten könnte. Er hatte sich die Ehe in seinen Gedanken an Minna oder Ernestine stets durchaus friedlich vorgestellt. Und jetzt fühlte er, daß häusliche Gewitter über seine Kräfte gingen.

Endlich sprach sich Julija Michailowna offen mit ihm aus.

„Beleidigen kann dich das überhaupt nicht,“ sagte sie, „schon deswegen nicht, weil du doch immerhin dreimal vernünftiger bist, als er, und gesellschaftlich turmhoch über ihm stehst. In diesem Jungen steckt noch viel von dem früheren freigeistigen Unsinn; ich aber finde ihn nur einfach unartig. Nur kann man nicht verlangen, daß diese jungen Leute sich so schnell verändern sollen: man muß sie langsam erziehen. Wir müssen die Jugend schonen; ich wenigstens halte sie mit Liebe und Freundschaft am Rande des Abgrundes zurück.“

„Aber, zum Teufel, ich kann mich doch nicht tolerant zu ihm verhalten, wenn er –“ rief von Lembke erregt, „wenn er in Gegenwart fremder Menschen behauptet, die Regierung vergifte das Volk absichtlich mit Branntwein, um es zu verdummen und auf diese Weise von etwaigen Aufstandsgedanken abzubringen. Denk doch nur, bitte, an meine Rolle, wenn ich in Gegenwart der ganzen Gesellschaft so etwas mit anhören muß!“

Als Lembke das sagte, mußte er wieder an ein Gespräch denken, das er vor nicht langer Zeit mit Pjotr Stepanowitsch gehabt hatte ... In der unschuldigen Absicht, den jungen Mann durch Liberalismus zu entwaffnen, zeigte er ihm eines Tages seine Sammlung von allen möglichen revolutionären Proklamationen und Flugblättern, sowohl russischen wie ausländischen, die er seit 1859 sorgfältig aufbewahrte, doch nicht etwa wie ein Liebhaber solcher Dinge, sondern einfach aus Neugier und weil sie ihm einmal vielleicht zustatten kommen konnten. Pjotr Stepanowitsch, der sofort seine Absicht durchschaute, sagte ganz ungeniert, daß in einer einzigen Zeile solch einer Brandschrift mehr Sinn stecke, als in irgend einer Kanzlei, „die Ihrige übrigens nicht ausgenommen.“

Von Lembke sah ihn groß an.

„Aber es ist doch noch zu früh, viel zu früh,“ sagte er fast bittend, indem er auf die Blätter wies.

„Nein, keineswegs zu früh: Sie fürchten sich doch, also ist es durchaus nicht zu früh.“

„Aber ich bitte Sie, hier ist zum Beispiel eine Aufforderung, die Kirchen zu zerstören!“

„Na, warum soll man das denn nicht? Sie sind doch ein kluger Mensch, glauben ja selbst an nichts und wissen doch nur zu gut, daß die Regierung die Religion bloß braucht, um das Volk dumm zu erhalten ... Wahrheit aber ist ehrlicher als Lüge.“

„Einverstanden, einverstanden, ich bin mit Ihnen vollkommen einverstanden, aber hier bei uns in Rußland ist es doch noch zu früh!“ Von Lembke runzelte unwillig die Stirn.

„Was sind Sie denn eigentlich für ein Regierungsbeamter, wenn Sie selbst damit einverstanden sind, daß man die Kirchen zerstören und mit Keulen bewaffnet auf Petersburg losmarschieren soll, und nur an der ins Auge gefaßten Zeit etwas auszusetzen haben?“

So unhöflich festgelegt, fühlte von Lembke sich äußerst pikiert.

„Ich meinte das nicht so, durchaus nicht so!“ Er ließ sich von seiner gereizten Eigenliebe immer weiter fortreißen. „Sie, als junger Mensch, der Sie mit unseren Zielen gar nicht bekannt sein können, Sie täuschen sich vollkommen! Sehen Sie, mein lieber Pjotr Stepanowitsch, Sie nennen uns Beamte der Regierung? Schön. Selbständige Beamte? Schön. Aber, erlauben Sie mal, wie handeln wir denn? Auf uns ruht die Verantwortung, und Summa Summarum dienen wir genau so der allgemeinen Sache, wie auch Sie. Nur halten wir das zusammen, was Sie auseinanderschütteln wollen und was ohne uns nach verschiedenen Seiten auseinandergleiten würde. Wir sind dabei nicht etwa eure Feinde; durchaus nicht, wir sagen euch sogar: geht voran, bereitet vor, ja schüttelt meinetwegen ... – das heißt, ich meine jetzt nur jenes Alte, das sowieso umgeändert werden muß. Wir aber werden euch dann, wenn’s nötig wird, schon in den nötigen Grenzen zurückzuhalten verstehen und euch somit vor euch selber behüten, denn ohne uns würdet ihr doch nur ganz Rußland ins Wanken und Schwanken bringen und ihm das anständige Aussehen nehmen, das es so doch wenigstens hat. Denn das ist ja gerade unsere Aufgabe, dieses anständige Äußere, wie gesagt, zu erhalten. Begreifen Sie doch, daß wir uns gegenseitig unentbehrlich sind, ganz wie in England die Tory und Whig. Nun, sehen Sie, wir sind die Tory und Sie die Whig – so verstehe ich es wenigstens.“

Von Lembke verfiel sogar in Pathos. Er liebte es, klug und liberal zu reden, noch von Petersburg her, und hier hörte zudem kein Vorgesetzter zu. Pjotr Stepanowitsch schwieg und war plötzlich von einem seltsamen, ganz ungewohnten Ernst. Das reizte den Redner noch mehr.

„Wissen Sie auch, daß ich der ‚Herr des Gouvernements‘ bin?“ fuhr er daher fort, während er im Kabinett auf- und abging. „Wissen Sie auch, daß ich vor lauter Pflichten keine einzige zu erfüllen vermag, und andererseits kann ich sagen, und es ist ebenso wahr, daß ich hier überhaupt nichts zu tun habe. Das ganze Geheimnis besteht darin, daß hier alles von der Auffassung der Regierung abhängt. Mag die Regierung doch, wenn sie will, die Republik verkünden, nun da ... ich meine nur so, meinetwegen aus Politik oder zur Beruhigung der Leidenschaften – ... aber dann soll sie andererseits, parallel dem, die Macht der Gouverneure verstärken: und Sie werden sehen, wir Gouverneure verschlingen die Republik! Was sage ich, Republik! – Alles, was Sie wollen, werden wir verschlingen! Ich wenigstens fühle, daß ich imstande bin ... Mit einem Wort: mag die Regierung mir telegraphisch activité dévorante[114] befehlen, und ich werde sofort mit der activité dévorante beginnen. Ich habe es ihnen hier gleich ins Gesicht gesagt: ‚Meine Herren, zum Gedeihen aller Institutionen sowie des ganzen Gouvernements ist vor allem eines nötig: die Verstärkung der Gouverneursmacht.‘ Sehen Sie, es ist unbedingt nötig, daß alle diese Institutionen – mögen es nun die der Landschaft oder der Justiz sein – gewissermaßen ein Doppelleben leben, das heißt, es ist nötig, daß sie da sind (ich gebe zu, daß sie unentbehrlich sind), aber andererseits ist es nötig, daß sie auch nicht da sind. Immer nach der Auffassung der Regierung geurteilt! So stellt es sich denn heraus, daß die Institutionen, wenn sie sich plötzlich als notwendig erweisen, dann da sein müssen. Vergeht aber diese Notwendigkeit, dann müssen sie wie überhaupt nicht vorhanden sein. Sehen Sie, so verstehe ich die activité dévorante. Aber die wird es nicht ohne Verstärkung der Gouverneursmacht geben. Wir sprechen ja hier unter vier Augen. Wissen Sie auch, daß ich schon nach Petersburg geschrieben habe, daß es unbedingt nötig ist, eine Schildwache vor das Gouvernementsgebäude zu stellen? Jetzt warte ich auf die Antwort.“

„Sie brauchen zwei Schildwachen,“ sagte Pjotr Stepanowitsch.

„Warum zwei?“ von Lembke blieb vor ihm stehen.

„Na so, damit man Sie respektiere, ist eine zu wenig. Sie brauchen unbedingt zwei.“

Andrei Antonowitsch verzog das Gesicht.

„Sie ... Sie erlauben sich, weiß Gott, schon etwas zu viel, Pjotr Stepanowitsch. Sie mißbrauchen meine Güte, um mir Anzüglichkeiten zu sagen, und spielen dabei immer noch so irgend einen bourru bienfaisant[115] ...“

„Na, das schon, wie Sie wollen,“ meinte Pjotr Stepanowitsch, „aber Sie bahnen uns trotzdem den Weg und bereiten unseren Erfolg vor.“

„Wen meinen Sie mit diesen ‚uns‘ und was ist das für ein ‚Erfolg‘?“ von Lembke blieb erstaunt wieder vor ihm stehen, doch eine Antwort erhielt er diesmal nicht.

Als Julija Michailowna den Bericht über dieses Gespräch vernommen hatte, war sie abermals äußerst ungehalten.

„Aber ich kann doch nicht deinen Favorit wie einen Untergebenen traitieren!“ verteidigte sich von Lembke. „Und noch dazu, wenn wir unter vier Augen sind ... Ich konnte mich versprechen ... aus gutem Herzen ...“

„Aus leider etwas schon zu gutem! – Ich wußte außerdem nicht, daß du eine Sammlung von Flugschriften hast. Habe doch die Güte, sie mir zu zeigen.“

„Aber ... er ... er hat sie mitgenommen, auf einen Tag ... er bat mich.“

„Und wieder hast du ihm so etwas ausgeliefert!“ ärgerte sich Julija Michailowna. „Welch eine neue Unvorsichtigkeit!“

„Ich werde sofort zu ihm schicken, sie zurückerbitten –“

„Du glaubst wohl, daß er sie dir geben wird?“

„Ich verlange es!“ rief von Lembke empört und sprang sogar auf. „Wer ist er, daß man ihn so fürchten muß, und wer bin ich, daß ich nichts mehr tun darf?“

„Setze dich bitte, und rege dich lieber nicht so auf,“ hielt ihn Julija Michailowna zurück. „Zunächst will ich auf den ersten Teil deiner Frage antworten: wer dieser Pjotr Stepanowitsch ist? Nun, er ist mir vorzüglich empfohlen, ist sehr begabt und sagt zuweilen äußerst kluge Sachen. Karmasinoff versicherte mir, daß er fast überall Verbindungen hat und die großstädtische Jugend vollständig unter seinem Einfluß steht. Wenn es mir nun gelingt, diese Jugend durch ihn heranzuziehen und um mich zu gruppieren, so bewahre ich sie vor dem Untergang, indem ich ihrem Ehrgeiz einen neuen Weg weise. Zudem ist Pjotr Stepanowitsch mir von ganzem Herzen ergeben und gehorcht mir in allen Dingen.“

„Aber, hör mal, während man sie da noch heranlockt, können sie ja ... der Teufel weiß was machen! Ich verstehe ja, das ist eine Idee ...“ verteidigte sich von Lembke etwas unsicher. „Übrigens, um von etwas anderem zu sprechen: im H–schen Kreise sind wieder neue Flugschriften verbreitet worden.“

„Das wird wohl wieder nur so ein Gerücht sein – wie im vorigen Sommer: Proklamationen, falsche Assignaten, und was noch alles, dabei ist bis jetzt noch nicht ein einziges Exemplar gesehen worden. Wer hat dir denn das gesagt?“

„Blümer teilte mir mit ...“

„Ach, um’s Himmels willen, verschone mich doch bitte endlich mit deinem ewigen Blümer! Daß du auch wirklich nie aufhören kannst, mich an den zu erinnern! ...“

Julija Michailowna war so aufgebracht, daß sie fast keine Worte fand. Blümer war ein Beamter der Gouvernementskanzlei, den sie ganz besonders haßte. Aber auch davon später.

„Beunruhige dich, wie gesagt, bitte weiter nicht über Werchowenski,“ schloß sie endlich das Gespräch. „Wenn er an irgend welchen Dummheiten teilnähme, so – dessen kannst du sicher sein! – würde er mit dir und mir und uns allen ganz anders sprechen. Nein, ein Phraseur ist nie gefährlich, und im übrigen sage ich dir, wenn irgend etwas passieren sollte, so werde ich womöglich noch die erste sein, die es durch ihn erfährt. Er ist mir fanatisch, geradezu fanatisch ergeben.“

Ich möchte hier den Ereignissen vorgreifen und bemerken, daß, wenn Julija Michailowna nicht diesen Ehrgeiz und Eigendünkel gehabt hätte, vielleicht all das nicht geschehen wäre, was diese üblen Leutchen bei uns anzustiften vermochten. Für vieles ist sie verantwortlich!

Zehntes Kapitel.
Vor dem Fest

I.

Der Tag des Festes, das Julija Michailowna zum Besten der armen Lehrerinnen unseres Gouvernements veranstalten wollte, wurde mehrmals angesagt und dann doch immer wieder hinausgeschoben. Pjotr Stepanowitsch und jener kleine jüdische Beamte Lämschin, der eine Zeitlang auch Stepan Trophimowitschs Abende besucht hatte, nun aber beim Gouverneur wegen seines Klavierspiels in Gnaden zugelassen wurde, saßen fast täglich Stunden lang bei Julija Michailowna; desgleichen Liputin, den sie zum Redakteur der zukünftigen unabhängigen Gouvernementszeitung erwählt hatte. Außerdem waren noch ein paar ältere und jüngere Damen, die sich lebhaft für das Fest interessierten, und nicht selten sogar Karmasinoff anwesend. Freilich tat der letztere in diesen Sitzungen wenig mehr, als mit zufriedenem Lächeln im voraus versichern, daß er das Publikum mit seiner Quadrille de la littérature[116] geradezu in Entzücken versetzen werde. Die ganze „Gesellschaft“ unserer Stadt hatte beträchtliche Summen geopfert, doch war es nicht sie allein, die an dem Fest teilnehmen sollte: das konnte vielmehr ein jeder, wenn er nur zahlte. Julija Michailowna meinte, daß man in gewissen Fällen die Vermengung der Klassen sehr wohl zulassen dürfe, denn das trüge „zur Aufklärung“ bei. Und so beschloß man denn, daß das Fest ein demokratisches werden sollte. Die verhältnismäßig große Einnahme aus der Subskription verlockte natürlich sofort zu größeren Ausgaben: man wollte jetzt etwas geradezu Wunderbares bieten, und das war denn auch der Grund, warum das Fest immer wieder hinausgeschoben werden mußte. Vor allem konnte man sich nicht entscheiden, wo der Ball stattfinden sollte: in dem großen Hause des Adelsmarschalls, das die Adelsmarschallin für diesen Tag zur Verfügung gestellt hatte, oder bei Warwara Petrowna in Skworeschniki. Bis nach Skworeschniki wäre es für Fußgänger vielleicht etwas weit gewesen, aber viele Mitglieder des Komitees meinten, daß es dort jedenfalls weit „freier“ sein würde. Warwara Petrowna selbst hätte viel darum gegeben, wenn man sich für ihren Saal entschieden hätte, doch ist es gewiß schwer zu sagen, warum eigentlich? Warum diese stolze Frau sich bei Julija Michailowna geradezu einschmeicheln wollte? Vielleicht gefiel es ihr, daß umgekehrt diese ihren Sohn so unendlich hochschätzte und von einer Liebenswürdigkeit zu ihm war, wie sonst zu keinem? Ich will hier nochmals erwähnen, daß Pjotr Stepanowitsch in dieser ganzen Zeit unentwegt fortfuhr, das Gerücht, das er schon früher in der Stadt verbreitet hatte, jetzt auch im Hause des Gouverneurs von Ohr zu Ohr zu tragen: daß nämlich Stawrogin in geheimnisvollsten Beziehungen zu den geheimnisvollsten Mächten stehe, und daß er, wie man auf das bestimmteste wisse, mit einem großen und schwerwiegenden Auftrage hergekommen sei.

Es hatte damals eine merkwürdige Stimmung die Geister ergriffen. Und besonders unter unseren Damen machte sich ein gewisser Leichtsinn bemerkbar, von dem man dabei nicht einmal behaupten konnte, daß er sich nur allmählich entwickelt hätte. Wie vom Winde hergeweht hatten sich plötzlich freie Auffassungen verbreitet. Es begann ganz allgemein ein leichteres Leben, voll von Exzentrizitäten und Freiheiten. Später, als alles wieder vorüber war, beschuldigte man ganz öffentlich nur Julija Michailowna und den Einfluß, den sie auf die Jugend der Stadt ausgeübt hatte. Doch ist es nicht richtig, daß sie allein an allem die Schuld trug. Im Gegenteil, diejenigen hatten auch nicht so ganz unrecht, welche anfänglich die neue Gouverneurin geradezu lobten, und zwar vor allem deshalb, weil sie es verstünde, die Gesellschaft zusammenzuhalten und das Leben in ihr im guten Sinne angenehmer zu machen. Mit den paar kleinen Skandalen, die inzwischen passierten, hatte Julija Michailowna auch nicht das geringste zu tun. Im übrigen aber nahm man auch diese Skandale nicht allzu ernst, sondern lachte über sie, fand sie sehr amüsant, und leider war niemand da, der sich in den Weg gestellt und gesagt hätte, daß man den Dingen nicht immer so weiter ihren Lauf lassen durfte. Nur eine kleine, oder vielleicht auch nicht einmal so kleine Gruppe, die die Verhältnisse denn doch etwas anders ansah, hielt sich abseits, aber selbst in ihr war man im stillen mehr geneigt, zu lächeln als zu murren.

Es bildete sich, wie ich mich erinnere, ganz von selbst ein ziemlich großer Kreis, dessen Mittelpunkt tatsächlich in Julija Michailownas Salon lag. Diese jugendliche Gesellschaft hatte es sich besonders zur Aufgabe gestellt, Streiche zu machen. Außer den jungen Leuten gehörten auch mehrere junge Mädchen und selbst junge Frauen zu ihr. Man veranstaltete Picknicks, Tanzgesellschaften, zog in ganzen Kavalkaden, zu Wagen und zu Pferde, durch die Stadt, wobei Pjotr Stepanowitsch und Liputin auf gemieteten Kosakenpferden immer lustig mittrabten. Man suchte Abenteuer oder führte sie womöglich absichtlich herbei, einzig um der Lachlust und Vergnügungssucht zu genügen. Die übrigen Einwohner der Stadt behandelte man als ausgemachte Dummköpfe. Die Streiche waren meist ziemlich unschuldiger Natur. Doch einmal, als man durch Lämschin frühmorgens darüber unterrichtet worden war, daß ein junger Gatte seine junge Frau in der Hochzeitsnacht irgendwie rücksichtslos behandelt hatte, setzten sich ihrer zehn Mann sofort in den Sattel, um das junge Paar bei den am nächsten Tage üblichen Visiten abzufangen. Kaum hatten sie die Neuvermählten erblickt, als denn auch schon die ganze Kavalkade den Wagen mit Hallo umringte und dann das arme Paar den ganzen Vormittag von Haus zu Haus begleitete. Sie beleidigten zwar weiter niemanden, sondern gaben nur lachend ein „Ehrengeleit“, doch war es immerhin schon ein richtiger Skandal, den sie dadurch in der Stadt erregten. Diesmal ärgerte sich von Lembke denn auch ernstlich und hatte mit Julija Michailowna wieder einmal eine lebhafte Auseinandersetzung. Auch Julija Michailowna war sehr ungehalten über die „Jungen“ und gedachte schon, sie irgendwie zu bestrafen, und doch verzieh sie ihnen am anderen Tage wieder einmal, da ihr Pjotr Stepanowitsch dazu riet und Karmasinoff den Scherz sogar geistreich fand.

„Das ist doch weiter nicht schlimm,“ sagte er. „Wenigstens ist es ein ritterlicher und ... mutiger Streich. Sie sehen doch, daß im Grunde alle darüber lachen, nur Sie sind ungehalten.“

Doch alsbald sollten auch wirklich unverzeihliche Streiche folgen, die einen schon ganz anderen Ton hatten.

In unserer Stadt erschien eine Buchtrödlerin, die billige Bibeln verkaufte. Es war eine achtbare und nicht einmal ungebildete Frau, wenn auch nur eine einfache Kleinbürgerin. Wieder war es derselbe Lämschin, der ihr, unter dem Vorwande, eines ihrer Bücher kaufen zu wollen, ein Paket unanständiger ausländischer Photographien in den Sack steckte. Als nun die arme Frau auf dem Markt ihre Bücher aus dem Sack hervorholte, fielen plötzlich die Photographien heraus. Es erhob sich zuerst ein Gelächter, die Gruppe vor ihrem Stand vergrößerte sich, man wurde unwillig und schließlich begann man zu schimpfen. Unfehlbar wäre es zu einer Schlägerei gekommen, wenn nicht die Polizei die bedrohliche Versammlung auseinander gebracht und die arme Frau auf der Wache eingesperrt hätte. Mittlerweile aber hatte Mawrikij Nicolajewitsch Drosdoff die näheren Einzelheiten dieser häßlichen Geschichte erfahren und in seiner Empörung sofort die nötigen Schritte getan, um die Unschuldige zu befreien, was ihm endlich gegen Abend auch gelang. Da wollte denn Julija Michailowna den kleinen Lämschin entschieden nicht mehr empfangen, doch schon am selben Abend geschah es, daß die ganze Schar im Triumph mit Lämschin in der Mitte bei ihr erschien und berichtete, daß er ein ganz entzückendes Stückchen komponiert habe, das sie wenigstens noch anhören müsse. Die Komposition erwies sich in der Tat als ungewöhnlich. Sie hieß: „Der deutsch-französische Krieg“, und begann mit den stolzen Tönen der Marseillaise:

Qu’un sang impur abreuve nos sillons![117]

Man hörte ordentlich die ganze Aufgeblasenheit des Rufes, hörte schon den Rausch der zukünftigen Siege! Doch plötzlich, gleichzeitig mit der meisterhaft variierten Hymne, begann irgendwo unten, seitlich, gleichsam in einer Ecke, aber eigentlich doch recht nah, ein dünnes, schwaches, hohes Stimmchen „Mein lieber Augustin“ zu singen. Die Marseillaise bemerkt es zunächst gar nicht, sie ist berauscht von ihrer Größe, aber der Augustin wird stärker, der Augustin wird immer frecher und schon singt der Augustin ganz unverhofft zusammen mit der Marseillaise. Jetzt bemerkt die Marseillaise endlich den kleinen Augustin, ärgert sich aber zunächst nur über ihn, will ihn abschütteln, verjagen – aber mein lieber Augustin hält fest. Mein lieber Augustin ist heiter und selbstbewußt, ist froh und wird tätlich, die Marseillaise dagegen wird allmählich immer dümmer: jetzt verbirgt sie es nicht mehr, daß sie sich ärgert, daß sie sich beleidigt fühlt. Das ist schon das Geschrei des heftigsten Unwillens, das sind Tränen und Schwüre mit zur Vorsehung erhobenen Händen:

Pas un pouce de notre terrain, pas une pierre de nos forteresses![118]

Doch schon ist sie gezwungen, im gleichen Takt mit Augustin zu singen ... Ihre Melodie geht irgendwie auf die dümmste und lächerlichste Weise in die des lieben Augustin über, sie beugt sich, sie zergeht ... Nur zuweilen noch tönt es wieder: qu’un sang impur ... doch sofort wird es von Augustin verschlungen und geht über in einen banalen Walzer: das ist Jules Favre, der an Bismarcks Brust schluchzt und alles, alles hingibt ... Aber schon wird Augustin wild: man hört heisere Schreie, fühlt maßlos getrunkenes Bier, Tollwut der Selbstüberhebung, Forderung von Milliarden, feinen Zigarren, Champagner und Garantien ... Augustin wird zum rasenden Gebrüll ... So endet der deutsch-französische Krieg. Alles applaudiert, Julija Michailowna aber sagt lächelnd: „Wie soll man ihm denn nicht verzeihen?“ – und der Friede ist geschlossen. Lämschin hatte entschieden ein gewisses musikalisches Talent. Stepan Trophimowitsch versicherte mir einmal, daß die größten Genies sehr wohl die größten Schurken sein könnten, und daß das eine das andere durchaus nicht aufhebe. Später hieß es allerdings, daß Lämschin dieses Stück von einem bescheidenen jungen Menschen, der ihn auf der Durchfahrt besucht hatte, gewissermaßen gestohlen habe. Übrigens karikierte Lämschin, derselbe Lämschin, der sich mehrere Jahre lang bei Stepan Trophimowitsch einzuschmeicheln versucht hatte, jetzt zuweilen bei Julija Michailowna auch Stepan Trophimowitsch – und zwar als „Freidenker der vierziger Jahre“. Alle krümmten sich vor Lachen. So wurde Lämschin immer unentbehrlicher. Zudem hing er sich sklavisch an Pjotr Stepanowitsch, der seinerseits um diese Zeit schon einen bis zur Unglaublichkeit großen Einfluß auf Julija Michailowna ausübte.

Die Erwähnung Lämschins bringt mich auf eine andere und schon wahrhaft empörende Geschichte, an der er, wie man versicherte, wieder seinen Anteil hatte.

Eines Morgens verbreitete sich in der Stadt die Nachricht von einer ganz gemeinen, abscheulichen Tat. Neben dem Portal der alten Muttergotteskirche, der ältesten in unserer alten Stadt, hing in einer Nische, hinter Glas und einem Schutzgitter, schon seit undenklicher Zeit ein großes Heiligenbild der Maria. Nun hatte man, wie es hieß, das Glas zerschlagen und ein paar Edelsteine aus der Krone der Gottesmutter gestohlen. Die Hauptsache aber war, daß man hinter das oben zertrümmerte Glas eine lebendige Maus gesteckt hatte. Die Empörung über diese skandalöse Religionsverspottung war groß: das fromme Volk drängte sich den ganzen Tag seit dem frühen Morgen zum Heiligenbilde und betete davor. Heute nun, nach vier Monaten, weiß man, daß Fedjka diesen Diebstahl begangen hat, doch schon damals hieß es, daß Lämschin dabei gewesen sei. Und heute sagt man, daß nur er die Maus hineingesetzt haben könne.

Auf Herrn von Lembke machte dieser unselige Vorfall einen furchtbaren Eindruck. Julija Michailowna soll geäußert haben, wie man mir erzählte, daß schon nach dieser Aufregung jene sonderbare Schwermut ihres Mannes begonnen habe, die dann durch spätere Ereignisse verhängnisvoll wurde, und die ihn auch jetzt noch in der Schweiz, wohin man ihn vor zwei Monaten brachte, nicht verlassen hat.

An jenem Tage nun ging ich ungefähr um ein Uhr an jener Kirche vorüber. Das Volk stand stumm vor dem Portal und betete. Da kam gerade ein reicher Kaufmann in einer Equipage angefahren, um das Bild zu küssen und seine Spende auf den Teller zu legen, den ein Mönch, der bei dem Heiligenbilde Wache hielt, für die Spenden neben sich auf einen Stuhl gestellt hatte. Gleich darauf fuhr ein leichter Wagen mit zwei jungen Damen in Begleitung zweier Herren vor. Die beiden jungen Herren stiegen aus und drängten sich durch das Volk bis vor das Heiligenbild. Beide nahmen die Hüte nicht ab und der eine drückte sich sogar noch einen Klemmer auf die Nase. Das Volk begann schon zu murren. Der Held mit dem Klemmer zog sein elegantes saffianledernes Portemonnaie hervor, das mit Scheinen geradezu vollgepfropft war, und entnahm ihm nach langem Suchen eine einzige Kopeke, die er dann nachlässig auf den Teller warf. Darauf wandten sich beide lachend und laut sprechend wieder zum Wagen zurück. Wenige Augenblicke vorher waren aber gerade Lisaweta Nicolajewna und Mawrikij Nicolajewitsch herangeritten. Lisa sprang gewandt vom Pferde, warf die Zügel ihrem Vetter zu und trat gerade in dem Augenblick zum Heiligenbild, als der eine die Kopeke auf den Teller warf. Sie errötete vor Unwillen, nahm sofort ihren runden Hut ab, streifte die Handschuhe von den Händen, kniete vor dem Bilde auf dem schmutzigen Trottoir nieder, und verneigte sich dreimal bis zur Erde. Darauf nestelte sie ihr Geldbeutelchen hervor, doch als sie in ihm nur Silbergeld fand, nahm sie sofort ihre Brillantohrringe ab und legte diese auf den kupfernen Teller.

„Das ist doch erlaubt? Edelsteine? Zum Schmuck für das Bild?“ fragte sie erregt den Mönch.

„Jede Spende ist eine gute Tat,“ antwortete dieser.

Das Volk schwieg, ohne Mißfallen oder Beifall zu äußern. Lisaweta Nicolajewna bestieg in ihrem vom Knien beschmutzten Kleide wieder ihr Pferd und ritt davon.

II.

Zwei Tage nach diesem aufregenden Ereignis begegnete ich Lisa wieder auf der Straße. Eine ganze Gesellschaft hatte sich zu Wagen und zu Pferde aufgemacht, um irgend wohin zu fahren. Lisa, die darunter war, gab sofort den Befehl, zu halten, und verlangte eigensinnig, daß ich mitkäme. In ihrem Wagen fand sich denn auch noch ein Platz, auf den ich fast mit Gewalt gesetzt wurde. Sie stellte mich lachend den jungen, meist sehr eleganten Damen vor und erklärte mir sofort, daß es ein ganz besonderer Ausflug werden sollte. Lisa war ausgelassen lustig, und überhaupt schien sie, wenn man nach dem Äußeren schloß, in dieser Zeit geradezu übermäßig glücklich zu sein. Das Ziel des Ausflugs war in der Tat ein „besonderes“: man wollte nämlich über den Fluß zum Kaufmann Sewostjanoff fahren, der in einem Flügel seines Hauses schon seit zehn Jahren unseren gesegneten, allgemein, sogar in Petersburg, bekannten Propheten Semjon Jakowlewitsch beherbergte. Diesen Semjon Jakowlewitsch besuchte alle Welt: man riß sich fast um ein gnädiges Wort von ihm, verneigte sich und legte reiche Geldspenden nieder, die er dann, wenn er sie nicht gleich unter die armen Besucher verteilte, gottesfürchtig an Klöster und Kirchen gab. So stand denn auch stets ein Mönch bei ihm, der die Gaben entgegennahm. Von der jungen Gesellschaft hatte noch niemand Semjon Jakowlewitsch gesehen und man versprach sich ungemein viel von diesem Besuch. Nur Lämschin war früher einmal bei ihm gewesen und versicherte, daß der Prophet ihn mit einem Besen hinausgejagt und ihm noch gekochte Kartoffeln nachgeworfen habe. Unter den Reitern befanden sich auch Pjotr Stepanowitsch, der sich wie gewöhnlich sehr schlecht auf seinem gemieteten Kosakenpferde hielt, und – Nicolai Stawrogin. Der letztere nahm nur ganz ausnahmsweise einmal an einer dieser allgemeinen Vergnügungen teil: an dem Tage sah er ziemlich heiter aus, doch sprach er, wie immer, nur wenig. Als wir kurz vor der Brücke an einem kleinen Gasthause vorüberfuhren, machte plötzlich jemand die Bemerkung, daß ein Gast sich daselbst erschossen habe und die Polizei erwartet werde. Sofort wurde beschlossen, auszusteigen und sich den Toten anzusehen. Vor allem waren unsere Damen gleich dabei, denn einen Selbstmörder – den sah man doch nicht alle Tage. Ich erinnere mich noch, daß eine von ihnen bemerkte: „Ach, es ist einem ja alles schon langweilig geworden! Warum sich da noch weiter zieren! Das wäre doch einmal etwas anderes.“ Nur wenige blieben im Wagen und warteten: die anderen dagegen drängten sich in einem dichten Haufen durch den Eingang in den schmalen, unsauberen Korridor – und unter diesen bemerkte ich zu meinem Erstaunen auch Lisaweta Nicolajewna. Das Zimmer, in dem die Leiche lag, war nicht verschlossen. Natürlich wagte man es nicht, uns etwa nicht hineinzulassen. Der Selbstmörder war fast noch ein Knabe, jedenfalls bestimmt nicht älter als neunzehn Jahre: ein hübscher Mensch, mit dichtem, welligem, blondem Haar und einem schmalen, feinen Gesicht. Er war schon erstarrt und seine weiße Haut sah wie Marmor aus. Auf dem Tisch lag ein Blatt Papier, auf das er geschrieben hatte, daß niemand an seinem Tode schuld sei und er sich erschossen habe, weil er vierhundert Rubel „durchgebracht“ (dieses Wort stand buchstäblich auf dem Blatt). In den vier Zeilen waren drei orthographische Fehler. An seiner Leiche saß ein alter, dicker Gutsbesitzer, der den Toten zu kennen schien und wahrscheinlich gleichfalls in diesem Gasthause abgestiegen war. Aus seinen wortreichen Klagen ging hervor, daß der Jüngling von seiner verwitweten Mutter, von Tanten und Schwestern in die Stadt zu einer Verwandten geschickt worden war, um verschiedene Einkäufe für die Aussteuer seiner ältesten Schwester, die bald heiraten sollte, zu machen. Man hatte ihm dazu vierhundert Rubel, die jahrzehntelang zusammengespart worden waren, eingehändigt, und ihn dann mit Gebeten und Segenssprüchen und unter endlosen Predigten abgeschickt. Der Junge war bis dahin sehr bescheiden und ein guter, hoffnungsvoller Sohn gewesen. In der Stadt aber hatte er sich nicht zu der Verwandten, sondern in das Gasthaus begeben und von hier direkt in eine Kneipe, wo er spielen wollte. Als er kurz vor Mitternacht ins Gasthaus zurückgekehrt war, hatte er Champagner, Havannazigarren und ein Abendessen von sechs oder sieben Gängen verlangt. Aber der Champagner war ihm gar bald zu Kopf gestiegen und von den Zigarren war ihm übel geworden, so daß er das Essen nicht einmal angerührt, sondern sich fast krank und dabei halb betrunken ins Bett gelegt hatte. Am anderen Tage, nachdem er sich ausgeschlafen, war er sofort in das Zigeunerlager hinter der Vorstadt gegangen und ganze zwei Tage dort geblieben. Am dritten Tage war er um fünf Uhr betrunken zurückgekehrt, hatte sich sofort hingelegt und bis zehn Uhr abends geschlafen. Dann hatte er ein Beefsteak, eine Flasche Champagner, Weintrauben, Papier, Tinte und die Rechnung verlangt. Niemand hatte etwas Besonderes an ihm bemerkt: er war ruhig, still und freundlich gewesen. Wahrscheinlich hatte er sich um Mitternacht erschossen, doch niemand hatte den Schuß gehört. Erst heute um eins, als es in seinem Zimmer selbst nach langem Klopfen totenstill geblieben war, hatte man die Tür aufgebrochen. Die Flasche war nur halb leer und von den Weintrauben hatte er nicht viel gegessen. Mit einem kleinen Revolver, der ihm später aus der Hand gefallen war, hatte er sich ins Herz geschossen: der Tod mußte sofort eingetreten sein – es war nur sehr wenig Blut aus der Wunde geflossen. Er saß halb liegend auf dem Sofa, als ob er nur eingeschlafen wäre, und der Ausdruck seines Gesichts war ruhig, ja fast glücklich. Alle sahen ihn mit gieriger Neugier an. Wohl in jedem Unglück eines Menschen liegt etwas, das die anderen aufmuntert. Die Damen betrachteten den Toten schweigend. Die Herren dagegen zeichneten sich durch Geistesgegenwart und Scharfsinn in ihren Bemerkungen aus. Lämschin aber, der es wohl für seine Ehrenpflicht hielt, auch jetzt den Narren zu spielen, zupfte plötzlich von der Weintraube eine Beere ab, dann noch eine und noch eine, und streckte schon die Hand nach der Flasche aus, um mit ihr irgendeinen „Witz“ zu machen, als der Polizeimeister eintrat und uns bat, das Zimmer zu verlassen. Da sich alle schon sattgesehen hatten, gingen wir denn auch sofort wieder hinaus. Den Rest des Weges legten wir unter womöglich noch ausgelassenerer Heiterkeit und noch lustigeren Scherzen zurück.

Um ein Uhr langten wir bei Semjon Jakowlewitsch an. Das Hoftor des großen Kaufmannshauses war weit offen, desgleichen die Tür des Flügels, in dem Semjon Jakowlewitsch wohnte. Man sagte uns, daß er gerade zu Mittag speiste, doch trotzdem empfinge. Unsere ganze Schar trat ins Haus. Das Zimmer, in dem er sich befand, war groß, mit drei mächtigen Fenstern, und durch ein etwa meterhohes Holzgitter in zwei Teile geteilt. Gewöhnlich blieben die Leute, die ihn besuchten, in der ersten Hälfte, und nur einzelne Glückskinder, die er selbst bezeichnete, wurden durch die kleine Tür des Holzgitters zu ihm geführt, wo er ihnen dann, wenn’s ihm gefiel, seine alten Lederstühle oder das Sofa zuwies; er selbst blieb stets unverändert in seinem alten Großvaterstuhl sitzen. Semjon Jakowlewitsch war ein ziemlich großer, etwas aufgedunsener Mann von ungefähr fünfundfünfzig Jahren, blond und kahlköpfig, mit einem gelben, glattrasierten Gesicht, dünnem, weichem Haar und geschwollener rechter Backe, die seinen Mund ein wenig schief zog; neben dem linken Nasenflügel war eine große Warze; die Augen lagen wie in schmalen Spalten und der Gesichtsausdruck war ruhig, solide, fast verschlafen. Er trug einen schwarzen Gehrock, wie ein deutscher Schullehrer, doch weder Kragen noch Halstuch, sondern nur ein dickes, doch sauberes russisches Hemd unter dem Rock. Seine offenbar kranken Füße staken in mächtigen Hausschuhen. Es hieß, er sei früher Beamter gewesen und habe sogar einen ansehnlichen Titel gehabt. Als wir eintraten, hatte er gerade eine Fischsuppe gegessen und machte sich nun an sein zweites Gericht: Kartoffeln in der Schale mit Salz. Anderes pflegte er schon seit langer Zeit nicht mehr zu essen; er trank nur viel Tee, den er sehr liebte. Ihn bedienten drei Dienstboten, die der Kaufmann für ihn hielt: der eine von ihnen sah wie ein Kontordiener aus, der andere wie ein Kirchendiener und der dritte war im Frack. Außer diesen Dienstboten war noch ein munterer Knabe zugegen, sowie ein alter, grauer, dicker Mönch, mit einer Sammelbüchse in der Hand. Auf einem der Tische kochte ein riesengroßer Samowar, neben dem auf einem Teebrett ungefähr zwei Dutzend Gläser standen. Auf dem anderen Tische lagen die Gaben: mehrere Zuckerhüte und auch kleinere Zuckerpakete, zwei Pfund Tee, ein Paar Hausschuhe, ein seidenes Halstuch, ein Stück Tuch und mehrere Leinwandrollen. Die Geldspenden kamen fast alle in die Sammelbüchse des Mönches. Ungefähr zehn fremde Menschen standen in der vorderen Hälfte des Zimmers und zwei, ein frommer Greis und ein kleiner, furchtbar magerer Mönch, der würdevoll und mit niedergeschlagenen Augen vor sich hinsah, saßen hinter dem Holzgitter: es waren lauter einfache Leute, außer einem dicken Kaufmann in russischer Tracht, der aus der Kreisstadt hergekommen war, und den alle als Millionär kannten, – sowie einer alten Dame und einem Gutsbesitzer. Alle erwarteten sie ihr Heil und wagten nicht ein Wort zu sprechen, vier lagen auf den Knien und von ihnen zog wieder ganz besonders der dicke Gutsbesitzer die Aufmerksamkeit auf sich, der an der sichtbarsten Stelle, ganz nah am Holzgitter kniete und ehrfürchtig schon eine Stunde lang auf einen Blick oder ein gütiges Wort Semjon Jakowlewitschs wartete, – dieser jedoch schenkte ihm auch nicht die geringste Beachtung.

Unsere Damen drängten sich fast bis zum Gitter vor und tuschelten vergnügt untereinander. Die Knienden und die anderen Wartenden wurden von ihnen zurückgedrängt, nur der dicke Gutsbesitzer blieb standhaft auf seinem Platz. Neugierige, heitere Blicke richteten sich auf Semjon Jakowlewitsch, gleichwie Lorgnons, Klemmer, Eingläser – und Lämschin zog sogar ein Fernrohr aus der Tasche. Semjon Jakowlewitsch überblickte ruhig und träge die ganze lustige Schar.

„Ach, ihr Liebäugelnden, ihr Liebäugelnden!“ geruhte er mit etwas heiserem Baß leicht auszurufen.

Die ganze Schar lachte auf. „Was heißt das: ‚Ach, ihr Liebäugelnden‘?“

Doch Semjon Jakowlewitsch schwieg und aß seine Kartoffeln. Endlich wischte er sich mit der Serviette den Mund und ließ sich Tee reichen.

Den Tee pflegte er gewöhnlich nicht allein zu trinken, vielmehr befahl er, auch seinen Besuchern und Gästen Tee zu reichen, doch nicht etwa jedem, sondern nur denen, die er dann selbst dem Diener zeigte – als diejenigen, welche er besonders beglücken wollte. Seine Wahl erstaunte meistens alle Anwesenden, denn er überging gewöhnlich die Reichen und Würdevollen und befahl irgend einem armen und unscheinbaren Greise den Tee zu bringen; ein anderes Mal aber überging er wieder die Armen und beglückte irgendeinen dicken, schwer reichen Kaufmann. Auch eingießen ließ er den Tee ganz verschieden, einige bekamen ihn mit, einige ohne Zucker. Diesmal befahl er, dem mageren Mönch eine Tasse mit Zucker zu reichen und dem Greise eine ohne Zucker, der dicke Mönch aber mit der Sammelbüchse erhielt diesmal keinen Tee, wie sonst fast täglich.

„Semjon Jakowlewitsch, sagen Sie mir doch bitte auch etwas. Ich habe schon so lange Ihre Bekanntschaft zu machen gewünscht,“ sagte kokett lächelnd jene selbe junge Dame aus unserem Wagen, die vorher geäußert hatte, daß einem schon alles langweilig geworden sei.

Semjon Jakowlewitsch sah sie nicht einmal an. Der kniende Gutsbesitzer seufzte tief auf.

„Mit Zucker!“ wies plötzlich Semjon Jakowlewitsch auf den Millionär.

Der trat vor und stellte sich neben den knienden Gutsbesitzer.

„Gib ihm noch mehr Zucker!“ befahl Semjon Jakowlewitsch, als der Tee eingegossen war. Der Diener tat noch eine Portion Zucker in das Glas. „Mehr, gib ihm mehr!“ – eine dritte und schließlich eine vierte Portion wurden dazu getan.

Widerspruchslos begann der Kaufmann seinen Syrup zu trinken.

„Allmächtiger Gott!“ flüsterte das Volk und bekreuzte sich.

Der Gutsbesitzer seufzte wieder laut und tief.

„Väterchen! Semjon Jakowlewitsch!“ ertönte plötzlich die Stimme der alten Dame, die unsere Schar an die Wand zurückgedrängt hatte, doch die Stimme klang so laut und scharf, wie man es gar nicht erwartet hätte. „Eine ganze Stunde, Väterchen, warte ich schon auf deinen Segen. Sprich doch dein Urteil, erlöse mich Waise, Väterchen!“

„Frage!“ sagte Semjon Jakowlewitsch zu dem Kirchendiener.

Der trat an das Gitter:

„Haben Sie das erfüllt, was Semjon Jakowlewitsch Ihnen das vorige Mal anbefohlen hat?“ fragte er die Witwe mit leiser, gemessener Stimme.

„Was, Väterchen, was erfüllt! Was kann man denn da erfüllen!“ rief die Witwe. „Diese Menschenfresser! Haben mich verklagt, drohen mit dem Senat ... und das der leiblichen Mutter! ...“

„Gib ihr! ...“ befahl Semjon Jakowlewitsch und wies auf einen Zuckerhut. Der Knabe lief schnell zum Tisch, nahm den Zuckerhut und brachte ihn der Witwe.

„Ach, Väterchen, groß ist deine Gnade! Aber wohin soll ich damit?“ klagte die Witwe wieder.

„Noch, noch!“ beschenkte Semjon Jakowlewitsch sie weiter.

Ein zweiter Zuckerhut wurde zu ihr geschleppt und auf seinen Befehl noch ein dritter und vierter. Die Witwe war schon ganz mit Zuckerhüten umstellt. Der dicke Mönch seufzte niedergeschlagen; das alles hätte in das Kloster kommen können, wie es früher schon oft geschehen war.

„Aber wohin soll ich mit so viel?“ jammerte jetzt schon die Witwe. „All das für mich allein – mir wird ja von so viel Zucker übel werden! ... Oder soll das irgend was bedeuten, Väterchen?“

„Siehst du denn das nicht?“ sagte jemand von den Bauern.

„Noch, gib ihr noch ein Pfund!“ Semjon Jakowlewitsch hörte nicht auf, sie zu beschenken.

Auf dem Tisch stand noch ein ganzer Zuckerhut; da er aber befohlen hatte, ihr nur noch ein Pfund zu geben, so brachte man ihr auch nur noch ein Pfund Zucker.

„Herrgott, Allmächtiger!“ seufzte das Volk und bekreuzte sich. „Sichtbares Zeichen! Großer Gott!“

„Versüßen Sie zuerst Ihr Herz mit Güte und Barmherzigkeit und dann kommen Sie wieder, um über Ihre eigenen Kinder zu klagen, über Ihr eigenes Fleisch und Bein – das soll, glaube ich, wohl all dieser Zucker bedeuten,“ sagte leise, doch selbstzufrieden der dicke Mönch, der diesmal keinen Tee bekommen hatte, und der es nun aus gereizter Eigenliebe auf sich nahm, die Handlungsweise zu deuten.

„Was fällt dir ein?“ ärgerte sich die Witwe. „Haben sie mich doch mit Gewalt ins Feuer ziehen wollen, als es bei Worchischins brannte? Sie haben mir auch eine tote Katze in meinen Kasten gelegt, sind überhaupt zu jeder Gemeinheit bereit ...“

„Jage sie hinaus, hinaus!“ rief plötzlich Semjon Jakowlewitsch, mit den Armen fuchtelnd.

Der Kirchendiener und der Knabe kamen sofort in den vorderen Teil des Zimmers, der erstere nahm die Frau bei der Hand und führte sie hinaus, während sie sich in einem fort nach ihren Zuckerhüten, die der Knabe nachschleppte, umsah.

„Nimm einen wieder zurück!“ befahl Semjon Jakowlewitsch dem bei ihm gebliebenen Kontordiener, der ihnen denn auch sofort nacheilte. Nach kurzer Zeit kamen alle drei mit dem einen Zuckerhut wieder zurück; so hatte die Witwe schließlich nur drei bekommen.

„Semjon Jakowlewitsch,“ ertönte plötzlich eine Stimme an der Tür, „ich habe im Traum einen Vogel gesehen, einen Häher, er stieg aus dem Wasser auf und flog ins Feuer. Was bedeutet das, Väterchen?“

„Frost!“ sagte Semjon Jakowlewitsch.

„Semjon Jakowlewitsch, warum antworten Sie mir denn gar nicht? Ich interessiere mich doch schon so lange für Sie!“ begann wieder unsere junge Dame.

„Frage!“ Semjon Jakowlewitsch wies auf den knienden Gutsbesitzer, ohne sie zu beachten.

Der dicke Mönch, dem der Befehl gegeben wurde, trat würdevoll zum Knienden und fragte:

„Worin haben Sie gesündigt? War Ihnen nicht befohlen worden, etwas zu erfüllen?“

„Nicht zu schlagen, den Händen keine Freiheit zu geben!“ sagte der Gutsbesitzer mit heiserer Stimme.

„Haben Sie das erfüllt?“

„Kann nicht! Die eigene Kraft überwältigt mich!“

„Jag’ ihn! Mit dem Besen, mit dem Besen!“ rief Semjon Jakowlewitsch und fuchtelte wieder mit den Armen.

Der Gutsbesitzer sprang auf und lief, ohne auf den Besen zu warten, aus dem Zimmer.

„Hat ein Goldstück hier gelassen,“ meldete der Mönch.

„Gib’s dem!“ Semjon Jakowlewitsch wies auf den Millionär.

Der reiche Kaufmann wagte nicht zu widersprechen und nahm das Geld.

„Das Gold zum Golde,“ konnte der Mönch nicht unterlassen, zu bemerken.

„Und diesem mit Zucker!“ Semjon Jakowlewitsch wies plötzlich auf Mawrikij Nicolajewitsch.

Der Diener goß den Tee ein und trat mit dem Glase aus Versehen zu dem Fant mit dem Klemmer.

„Dem Langen, dem Langen!“ rief Semjon Jakowlewitsch.

Mawrikij Nicolajewitsch nahm das Glas und machte eine kurze militärische Verbeugung. Ich weiß nicht warum – aber die ganze Schar wieherte plötzlich vor Lachen über diese Verbeugung.

„Mawrikij Nicolajewitsch!“ wandte sich Lisa hastig an ihn, „knien Sie bitte auf demselben Platz nieder, auf dem dieser Herr stand! – der da fortlief!“

Mawrikij Nicolajewitsch sah sie verständnislos an.

„Ich bitte Sie, Sie werden mir ein großes Vergnügen bereiten! Hören Sie, Mawrikij Nicolajewitsch,“ sagte sie eigensinnig und erregt, „knien Sie unbedingt nieder, ich will unbedingt sehen, wie Sie knien! Wenn Sie das nicht tun – kommen Sie nie mehr unter meine Augen! Ich will das, ich will das, – unbedingt! ...“

Warum sie das wollte? Ich weiß es nicht. Jedenfalls verlangte sie es in unerbittlichem Tone, in einem Anfall von Laune und Eigensinn. Mawrikij Nicolajewitsch selber erklärte diese kapriziösen Ausbrüche, die sie in der letzten Zeit ganz besonders oft hatte, wie wir später sehen werden, mit dem Auflodern eines blinden, untergründigen Hasses auf ihn ... dabei nicht etwa aus Bosheit, – im Gegenteil, sie achtete, schätzte und liebte ihn, und das wußte er, – sondern aus irgendeinem besonderen, unbewußten Haß, den sie manchmal einfach nicht in sich niederzuzwingen vermochte.

Mawrikij Nicolajewitsch gab schweigend sein Teeglas einem alten, hinter ihm stehenden Bauern, ging dann auf das Türchen des meterhohen Holzgitters zu, öffnete es, trat ohne Semjon Jakowlewitschs Erlaubnis in dessen Zimmerhälfte und kniete, allen sichtbar, mitten im freien Raum nieder. Ich glaube, er war von dem Spott Lisas, noch dazu in Gegenwart so vieler Menschen, im Innersten seiner einfachen ehrlichen Seele verletzt. Vielleicht glaubte er auch, daß sie sich schämen werde, wenn sie seine Erniedrigung sah, die sie selbst so gewünscht hatte. Außer ihm hätte sich wohl sonst keiner entschlossen, ein Weib auf so naive und gewagte Weise zu strafen. Mit unerschütterlich ernstem Gesicht kniete er also, groß und steif und – lächerlich. Doch niemand lachte; die Überraschung machte einen schrecklichen Eindruck. Alle sahen Lisa an.

„Weihe, Weihe ...“ murmelte Semjon Jakowlewitsch.

Lisa erbleichte plötzlich, schrie auf und stürzte zu ihm. Es war eine kurze leidenschaftliche Szene: mit aller Kraft wollte sie Mawrikij Nicolajewitsch wieder emporreißen, und zog ihn mit beiden Händen wie wahnsinnig am Arm.

„Stehen Sie auf, stehen Sie auf!“ rief sie, wie völlig von Sinnen. „Stehen Sie sofort auf, sofort! Wie wagten Sie es, niederzuknien!!“

Mawrikij Nicolajewitsch erhob sich. Sie umklammerte seine Arme über den Ellenbogen und sah ihm mit brennendem Blick ins Gesicht. Angst lag in ihren Augen.

„Liebäugelnde, Liebäugelnde!“ sagte Semjon Jakowlewitsch wieder.

Endlich hatte Lisa Mawrikij Nicolajewitsch in die vordere Zimmerhälfte herübergezogen. Unsere ganze Schar war unruhig geworden. Da wandte sich die junge Dame aus unserem Wagen zum drittenmal, wahrscheinlich um von dem Vorfall abzulenken, mit gezwungenem Lächeln an Semjon Jakowlewitsch:

„Aber, Semjon Jakowlewitsch, werden Sie mir denn heute gar nichts sagen? Und ich habe doch so auf Sie gerechnet!“

„Auf ... dir, auf ... dir!“ fuhr er sie plötzlich wild an, mit einem ganz unmöglichen Wort, das er noch dazu erschreckend deutlich aussprach. Die Damen schrien vor Schreck alle auf und liefen entsetzt aus dem Zimmer. Die Herren aber brachen in ein homerisches Gelächter aus. Damit war denn unser Besuch bei Semjon Jakowlewitsch beendet.

Nur etwas Rätselhaftes geschah noch – etwas, weshalb ich diese ganze Fahrt überhaupt so ausführlich erzählt habe.

Es war in dem Augenblick, als alle in hellem Haufen zur Tür drängten. Da traf Lisa, die von Mawrikij Nicolajewitsch gestützt wurde, in dem Gedränge an der Tür plötzlich mit Nicolai Wszewolodowitsch zusammen. Ich muß hinzufügen, daß die beiden, wenn sie sich auch seit jenem Sonntag mehr als einmal in der Gesellschaft begegnet waren, doch noch kein Wort miteinander gesprochen hatten. Ich sah nun, wie beide, als sie an der Tür zusammentrafen, einen Augenblick stehen blieben und sich sonderbar ansahen – doch konnte ich in dem Gedränge nichts weiter wahrnehmen. Andere dagegen versicherten mir, daß Lisa plötzlich die Hand gegen ihn erhoben und Stawrogin unfehlbar geschlagen haben würde, wenn es ihm nicht gelungen wäre, noch rechtzeitig auszuweichen. Vielleicht hatte ihr der Ausdruck seines Gesichts nicht gefallen? oder ein Lächeln nach dieser Szene mit Mawrikij Nicolajewitsch? Ich muß gestehen, daß ich davon nichts weiß, doch alle versicherten, es sei in der Tat etwas derartiges der Fall gewesen ... wenn auch „alle“ es unmöglich hatten sehen können – höchstens einige. Jedenfalls weiß ich nichts Näheres noch Bestimmtes. Ich erinnere mich nur, daß Stawrogin auf dem Heimwege auffallend bleich aussah, was er vorher nicht in dem Maße gewesen war.

III.

Fast zu derselben Zeit, als wir bei Semjon Jakowlewitsch waren, fand endlich auch das Wiedersehen Warwara Petrownas mit Stepan Trophimowitsch in Skworeschniki statt.

Warwara Petrowna war in großer Aufregung auf ihrem Gute eingetroffen: am Abend vorher hatte man endgültig beschlossen, daß das Fest im Hause des Adelsmarschalls stattfinden sollte. Da entschloß sie sich sofort, nach diesem Fest ein zweites bei sich in Skworeschniki zu arrangieren und gleichfalls die ganze Stadt zu versammeln – was ihr doch schließlich niemand verwehren konnte. Dann sollten alle selbst urteilen, welches Haus schöner wäre und wo man mit besserem Geschmack einen Ball zu geben verstünde. Warwara Petrowna war in dieser Zeit nicht wiederzuerkennen. Sie schien sich vollkommen verändert zu haben: aus der früheren unnahbaren „höheren Dame“ (ein Ausdruck Stepan Trophimowitschs) war eine weltliche, leichtsinnige Frau geworden. Oder wenigstens schien es so.

Kaum war sie an diesem Tage in Skworeschniki eingetroffen, als sie alle Räume prüfend zu durchschreiten begann, und zwar in Begleitung des treuen alten Alexei Jegorowitsch und des gewandten Fómuschka, der in Dekorationsfragen geradezu eine Autorität war. Und nun begannen die Beratungen: welche Möbel man aus dem Stadthause herüberholen sollte; welche Bilder, Kunstwerke; wo sie aufhängen, wie sie stellen; wie man am besten die Orangerie und die Blumen benutzen, wo man das Büffet herrichten sollte, und ob nicht vielleicht zwei besser wären? Und mitten in diesen schweren Beratungen fiel es ihr dann plötzlich ein, die Equipage nach Stepan Trophimowitsch zu schicken.

Dieser war schon längst auf das Wiedersehen vorbereitet und hatte täglich gerade so eine plötzliche Aufforderung erwartet. Als er sich in die Equipage setzte, bekreuzte er sich: jetzt mußte sein Schicksal sich entscheiden! Er fand seinen „Freund“ im großen Saal, in der Nische, auf einem kleinen Sofa, mit Bleistift und Papier in der Hand, während Fómuschka damit beschäftigt war, mit dem Zentimetermaß die Höhe und Breite der Fenster auszumessen, worauf sie die Zahlen notierte. Ohne sich in dieser Arbeit stören zu lassen, nickte sie Stepan Trophimowitsch zu, und als der ihr einen Gruß sagte, reichte sie ihm nur flüchtig die Hand und wies schweigend auf den Platz neben dem Sofa.

„Ich saß und wartete ungefähr fünf Minuten und – ‚drückte mein Herze nieder‘,“ erzählte er mir später. „Das war nicht mehr die Frau, die ich zwanzig Jahre lang gekannt hatte. Doch die Überzeugung, daß jetzt alles zu Ende sei, gab mir eine Kraft, die selbst sie in Erstaunen setzte. Ich schwöre Ihnen, sie wunderte sich im stillen über meine Haltung in dieser letzten Stunde.“

Warwara Petrowna legte plötzlich den Bleistift auf das Marmortischchen, das neben ihrem Sofa stand, und wandte sich ihm zu.

„Stepan Trophimowitsch, wir müssen jetzt sachlich sprechen. Ich bin überzeugt, daß Sie wieder Ihre üblichen hochtrabenden Worte und Wörtchen vorbereitet haben, aber es ist wohl besser, wenn wir gleich zur Sache kommen. Nicht wahr?“

In ihm krampfte sich etwas zusammen. Sie beeilte sich schon zu sehr, den neuen Ton anzugeben. Was mochte noch weiter kommen?

„Warten Sie, schweigen Sie,“ fuhr sie schnell fort. „Lassen Sie mich zuerst sprechen. Nachher können Sie reden. Obgleich ich eigentlich nicht weiß, was Sie mir noch zu sagen hätten. Ihnen Ihre Pension auszuzahlen, halte ich für meine heilige Pflicht. Tausendzweihundert Rubel jährlich bis zu Ihrem Lebensende. Aber wozu nenne ich das ‚heilige Pflicht‘! Sagen wir einfach: unsere Abmachung, das ist viel realer, nicht wahr? Wenn Sie wollen, können wir es auch schriftlich aufsetzen. Falls ich sterben sollte, – für den Fall ist schon alles vorgesehen. Außerdem haben Sie von mir noch die Wohnung, Bedienung und alles übrige. Übersetzen wir das in Geld – so macht das etwa tausendfünfhundert Rubel aus, nicht wahr? Ich füge jetzt noch dreihundert Rubel für Nebenausgaben hinzu – so sind das volle dreitausend Rubel. Werden Sie damit auskommen? Ich denke, wenig ist es nicht? In Ausnahmefällen werde ich übrigens – nun, Sie wissen ja. Nehmen Sie das Geld, schicken Sie mir meine Dienstboten zurück, und leben Sie, wo Sie wollen, in Petersburg, in Moskau, im Auslande, oder meinetwegen auch hier – aber nur nicht mehr bei mir. Hören Sie?“

„Vor nicht langer Zeit wurde ebenso kategorisch und ebenso eilig von denselben Lippen eine andere Forderung an mich gestellt,“ sagte Stepan Trophimowitsch langsam, deutlich, in traurigem Ton. „Ich fügte mich ... ich tanzte so, wie Sie wollten. Oui, la comparaison peut être permise. C’était comme un petit cozak du Don, qui sautait sur sa propre tombe.[119] Jetzt ...“

„Einen Augenblick, Stepan Trophimowitsch. Sie sind furchtbar wortreich. Sie haben nicht getanzt. Aber Sie erschienen mit einer neuen Halsbinde, in hellen Handschuhen, pomadisiert und parfümiert. Ich kann Sie versichern, Sie wollten selbst schrecklich gern heiraten. Das stand auf Ihrem Gesicht geschrieben. Glauben Sie mir, dieser Ausdruck war recht geschmacklos. Wenn ich es Ihnen damals nicht gleich gesagt habe, so geschah es, um Sie nicht zu verletzen. Doch Sie wollten, Sie wollten heiraten. Trotz der Gemeinheiten, die Sie über mich und Ihre Braut geschrieben hatten. Jetzt aber ist es etwas ganz anderes. Und wozu dieser Cozak du Don über Ihrem Grabe? Verstehe nicht, was das für ein Vergleich sein soll. Im Gegenteil: sterben Sie nicht, sondern leben Sie! Leben Sie, soviel wie möglich; ich werde mich sehr freuen, wenn Sie gut leben.“

„Im Armenhaus?“

„Im Armenhaus? Mit dreitausend jährlich geht man nicht ins Armenhaus. Ach so ... ich erinnere mich!“ – sie lachte kurz auf – „Pjotr Stepanowitsch sagte einmal im Scherz irgend etwas von einem ‚Armenhaus‘. Nun ja, jenes Armenhaus, von dem da die Rede war, das ist wirklich ein besonderes ‚Armenhaus‘, über das nachzudenken sich wirklich lohnte. Wie Sie selbst wissen, leben dort die ehrenwertesten alten Herren. Meistens Offiziere a. D., jetzt will sogar ein alter General sein Leben dort beschließen. Wenn Sie mit Ihrem Gelde dort eintreten wollen, so können Sie Ruhe, Zufriedenheit und Zuhörer finden. Sie werden sich mit der Wissenschaft beschäftigen, und jederzeit eine Partie Préférence spielen können ...“

Passons.[100]

Passons?“ Warwara Petrowna richtete sich steifer auf. „In dem Falle ist alles gesagt. Sie sind benachrichtigt. Von nun ab leben wir jeder für sich und sehen uns nicht mehr.“

„Und das ist alles? Alles, was von den zwanzig Jahren geblieben ist? Ihr letzter Abschied?“

„Sie lieben wirklich die Phrasen in einem Maße, daß es schon nicht mehr schön ist, Stepan Trophimowitsch. Heutzutage ist derlei nicht mehr modern. Man spricht jetzt derb, aber verständlich. Und ewig kommen Sie mir mit diesen zwanzig Jahren! Zwanzig Jahre beiderseitiger Eigenliebe und weiter nichts. Jeder Ihrer Briefe ist nicht an mich geschrieben, sondern für die Nachwelt berechnet. Ja, Sie sind Stilist, aber kein Freund. Freundschaft ist doch nur ein berühmtes Wort, in Wirklichkeit aber ist sie bloß ein – gegenseitiger Erguß von Spülicht.“

„Gott, wie viel fremde Worte! Lauter gut behaltene Lektionen! Auch Ihnen haben sie schon ihre Uniform übergeworfen! Auch Sie sind jetzt fröhlich, auch Sie an der Sonne! Chère, chère, für welch ein Linsengericht haben Sie ihnen Ihre Selbständigkeit verkauft!“

„Ich bin kein Papagei, der fremde Worte wiederholt,“ versetzte Warwara Petrowna böse. „Seien Sie versichert, daß in mir sich eigene Worte zur Genüge angesammelt haben. Was aber haben Sie für mich in diesen zwanzig Jahren getan? Nicht einmal die Bücher haben Sie mir gegeben, die ich für Sie bestellte, und die heute noch unaufgeschnitten wären, wenn Ihre Freunde sie nicht gelesen hätten. Was gaben Sie mir zu lesen, als ich Sie in den ersten Jahren immer wieder bat, mich doch zu belehren, zu leiten? Nur Romane und immer wieder Romane. Sie waren sogar auf meine Entwicklung eifersüchtig. Und währenddessen lachte doch schon alle Welt über Sie. Ich gestehe, ich habe Sie immer nur für einen Kritiker gehalten und für weiter nichts. Als ich Ihnen während der Fahrt nach Petersburg meine Absicht mitteilte, eine Zeitschrift zu gründen und ihr mein ganzes Leben zu widmen, da sahen Sie plötzlich ironisch auf mich herab und wurden furchtbar hochmütig.“

„Das war doch nicht so ... nicht das ... wir fürchteten damals, verfolgt zu ...“

„Doch, das war genau das. Und Verfolgung konnten Sie in Petersburg überhaupt nicht fürchten. Sie erinnern sich wohl noch, wie Sie damals im Februar erschrocken zu mir gelaufen kamen? Wie Sie verlangten, ich solle es Ihnen sofort schriftlich geben, in Gestalt eines Briefes, aus dem hervorginge, daß Sie mit dem beabsichtigten Blatte nichts zu tun hätten? Daß Sie lediglich der Hauslehrer seien, der bloß in meinem Hause wohnt, weil ihm sein Gehalt noch nicht ausgezahlt worden ist? War es nicht so? Sollten Sie es wirklich vergessen haben? Ich sehe, Sie haben es nicht vergessen. Ja, Sie haben sich Ihr Lebelang tatsächlich ungewöhnlich ausgezeichnet!“

„Das war nur ein Augenblick des Kleinmuts damals, unter vier Augen ...“ rief er schmerzlich aus. „Aber soll denn wirklich, wirklich, wegen dieser kleinlichen Eindrücke, nun alles zerrissen sein? Ist es möglich, daß von diesen langen Jahren nichts mehr zwischen uns verblieben ist?“

„Sie verstehen sich aufs Rechnen, das weiß ich. Sie wollen immer alles so drehen, daß schließlich ich Ihnen noch schulde. Als Sie aus dem Auslande zurückkehrten, sahen Sie auf mich von oben herab und ließen mich nicht einmal zu Wort kommen. Und als ich Ihnen nach meiner Reise von dem Eindruck, den die Sixtinische Madonna auf mich gemacht hatte, erzählen wollte, da hörten Sie nicht einmal so lange zu, bis ich geendet hatte, und lächelten nur hochmütig, ganz als könnte ich nicht ebensolche Gefühle haben wie Sie.“

„Das wird sicher anders gewesen sein ... ich entsinne mich nicht mehr ... J’ai oublié.[120]

„Nein, das war ganz genau so, und dabei war da gar kein Grund, vor mir so wichtig zu tun, denn das war ja alles Unsinn und nur Ihre Phantasie. Heutzutage begeistert sich niemand mehr für die Sixtinische Madonna. Höchstens ein paar alte Professoren. Das ist bewiesen.“

„Auch schon bewiesen?“

„Diese Madonna dient überhaupt zu nichts. Diese Schale hier ist nützlicher, denn man kann in sie Wasser gießen. Dieser Bleistift ist nützlich, denn mit ihm kann man schreiben. Hier aber ist es bloß ein gemaltes Frauengesicht, das schlechter ist als alle lebenden Gesichter. Versuchen Sie einen Apfel zu malen und legen Sie dann neben das Bild einen wirklichen. Welchen werden Sie dann nehmen? Bin sicher, daß Sie nicht schwanken werden. Sehen Sie, darauf laufen jetzt alle unsere Theorien hinaus, nachdem sie erst einmal von der modernen freien Forschung nachgeprüft sind.“

„... stimmt!“

„Ah, Sie lächeln ironisch! Aber was haben Sie mir, zum Beispiel, über das Almosengeben gesagt? Und dabei ist das Gefühl, das man hat, wenn man Gutes tut, ein hochmütiges und unsittliches, genau wie die Genugtuung des Reichen, wie sein Genuß, wenn er seine Macht und Bedeutung mit der des Bettlers vergleicht. Almosengeben verdirbt sowohl den Gebenden wie den Nehmenden und erfüllt außerdem noch nicht einmal seinen Zweck, denn es vermehrt nur die Bettler. Jeder Faulpelz, der nicht arbeiten will, drängt sich zum Reichen, wie der Spieler an den Kartentisch, um etwas zu gewinnen. Die Groschen aber, die man ihnen zuwirft, reichen ja nicht einmal für den hundertsten Teil. Haben Sie viele Almosen in Ihrem Leben gegeben? Vielleicht achtzig Kopeken, aber bestimmt nicht mehr. Denken Sie nur nach. Strengen Sie sich ein bißchen an und versuchen Sie, sich zu erinnern, wann Sie zum letztenmal ein Almosen gegeben haben. Das wird wohl schon zwei, wenn nicht vier Jahre her sein. Sie reden bloß große Worte, die Tat aber behindern Sie nur. Ja, Almosengeben müßte auch schon im jetzigen Staate ganz einfach gesetzlich verboten werden. Im Zukunftsstaat wird es überhaupt keine Armen mehr geben.“

„Oh, welch eine Sammlung fremder Schlagworte! Also ist es schon bis zum Zukunftsstaat mit Ihnen gekommen? Sie Unglückliche, möge Gott Ihnen helfen!“

„Ja, es ist bis zum Zukunftsstaat gekommen, Stepan Trophimowitsch. Sie haben so sorgfältig die neuen Ideen vor mir verborgen, aber es hat nichts genützt. Sie haben das einzig und allein aus Eifersucht getan, um Macht über mich zu besitzen. Jetzt ist mir sogar diese Julija Michailowna schon an hundert Werst voraus. Doch ich erkenne jetzt wenigstens. Trotzdem habe ich Sie verteidigt, Stepan Trophimowitsch, so viel ich nur konnte. Sie werden buchstäblich von allen angeklagt.“

Assez![121] er erhob sich von seinem Platz. „Und was sollte ich Ihnen nun wünschen? Doch nicht Reue?“

„Setzen Sie sich noch auf einen Augenblick, Stepan Trophimowitsch. Sie wissen doch schon, daß man Sie auffordert, auf der literarischen Matinee irgend etwas vorzutragen? Sagen Sie, worüber werden Sie lesen?“

„Gerade über dieses Ideal, die Sixtinische Madonna, die Ihrer Meinung nach weder einen Bleistift noch ein Glas Wasser wert ist.“

„Und nicht aus der Geschichte?“ fragte Warwara Petrowna enttäuscht. „Aber dann wird man Sie ja gar nicht hören wollen. Und ewig diese Madonna! Was haben Sie denn davon, wenn Sie alle damit einschläfern? Ich versichere Sie, Stepan Trophimowitsch, ich sage das nur in Ihrem Interesse. Es wäre doch eine ganz andere Sache, wenn Sie eine kurze, aber unterhaltende Geschichte aus dem mittelalterlichen Hofleben nehmen würden; sagen wir, aus der spanischen Geschichte. Oder eine Anekdote, die Sie dann noch mit eigenen Zutaten ausschmücken könnten. Im Mittelalter gab es doch so prunkvolle Höfe, mit Damen, wissen Sie, und Mordgeschichten. Karmasinoff sagt, daß es sonderbar zugehen müßte, wenn man in der spanischen Geschichte nicht etwas Interessantes finden könnte.“

„Karmasinoff! Dieser ausgeschriebene Dummkopf sucht für mich ein Thema!!“

„Karmasinoff, dieser erhabene Verstand! Sie drücken sich heute schon wirklich etwas zu unvorsichtig aus, Stepan Trophimowitsch.“

„Ihr Karmasinoff ist ein altes, ausgeschriebenes, gereiztes Weib! Chère, chère, haben Sie sich schon lange so von ihnen unterjochen lassen? O Gott!“

„Ich kann ihn auch jetzt nicht leiden. Wegen seiner Wichtigtuerei. Doch seinem Verstande muß ich Gerechtigkeit zollen. Ich wiederhole nochmals, daß ich Sie, so viel ich nur konnte, verteidigt habe. Aber warum wollen Sie sich denn unbedingt als lächerlich und langweilig hinstellen? Im Gegenteil, treten Sie mit einem würdigen Lächeln auf das Podium, als der Repräsentant des vergangenen Jahrhunderts, und erzählen Sie mit Ihrem ganzen Witz drei kleine Geschichten, so wie nur Sie zuweilen zu erzählen verstehen. Mögen Sie meinetwegen ein alter Mann sein, meinetwegen ein Mensch aus dem vorigen Jahrhundert, mögen Sie sogar zurückgeblieben sein: vielleicht sprechen Sie lächelnd selbst davon – sagen wir in einer Vorbemerkung. Doch alle werden dann sehen, daß Sie ein lieber, guter, geistreicher Mensch sind. Kurz, ein Mensch vom alten Schrot und Korn. Und doch so weit vorgeschritten, daß er selber über den ganzen Unsinn gewisser Begriffe, die er bis dahin gehabt hat, objektiv und richtig zu urteilen versteht. Nun, machen Sie es doch so, ich bitte Sie!“

Chère, assez![122] Bitten Sie mich nicht, ich kann nicht. Ich werde über die Madonna reden, und ich will einen Sturm erheben, der entweder sie alle vernichten oder mich allein zu Boden schlagen soll!“

„Bestimmt nur Sie allein, Stepan Trophimowitsch.“

„Gut! Das ist dann mein Los! Ich werde von jenem gemeinen Sklaven reden, von jenem stinkenden, verderbten Sklaven, der als erster mit dem Messer auf die Leiter steigt und das göttliche Antlitz des großen Ideals zerschneiden will – im Namen der Gleichheit, des Neides und ... der Verdauung. Mag mein Fluch also durch die Welt donnern und dann, dann ...“

„In die Irrenanstalt?“

„Vielleicht. Aber in jedem Fall, ob ich nun siege oder besiegt werde: am selben Abend noch werde ich meinen Koffer nehmen, meinen armseligen Koffer, und werde all mein Hab und Gut verlassen, alle Ihre Geschenke, alle Pensionen und Versprechungen für die Zukunft, und werde zu Fuß aus der Stadt gehen, um bei irgend einem Kaufmann als Hauslehrer mein Leben zu beenden oder hinter einem Zaun Hungers zu sterben. Alea jacta est!

Er stand auf.

„Ich habe es ja gewußt!“ Mit blitzenden Augen erhob sich nun auch Warwara Petrowna. „Ich habe es ja gewußt, daß Sie doch nur dazu leben, um zum Schluß noch mich und mein Haus zu beschimpfen. Was wollen Sie mit der Stelle beim Kaufmann oder dem Tod hinterm Zaun sagen? Bosheit und Verleumdung, weiter ist’s nichts!“

„Sie haben mich immer verachtet, aber ich werde wie ein Ritter, der seiner Dame bis ins Grab treu bleibt, mein Leben beenden – denn Ihre Meinung von mir war mir immer teurer, als alles andere auf der Welt. Ich nehme von Ihnen nichts mehr an, und die Rede halte ich ohne Entschädigung.“

„Wie dumm das ist!“

„Sie haben mich niemals geachtet. Ich weiß, ich habe unendlich viele Schwächen. Ja, es ist wahr: ich habe als Ihr Schmarotzer gelebt; – in der Sprache des Nihilismus ausgedrückt. Doch das war niemals das höhere Prinzip meiner Handlungen. Das geschah alles – so – so ... ganz von selbst ... ich weiß nicht, wie ... Ich habe nur immer geglaubt, daß zwischen uns etwas Höheres als Kost und Geld besteht, und nie, hören Sie, nie bin ich ein – Schurke gewesen! So – und nun gehe ich, um es wieder gut zu machen! Ich gehe meinen späten Weg, es ist schon Herbst, der Nebel liegt auf den Feldern, kalter, grauer Reif bedeckt meine Straße und der Wind singt das Lied vom nahen Grabe ... Aber ich gehe, ich gehe schon meinen neuen Weg! Und ich gehe –

‚Ganz erfüllt von reiner Liebe,

Treu dem süßen Traum ...‘

Oh, lebt wohl, meine Träume! Zwanzig Jahre! Alea jacta est.

Tränen rollten plötzlich aus seinen Augen. Er nahm schnell seinen Hut.

„Ich verstehe kein Latein,“ sagte Warwara Petrowna, die sich krampfhaft zusammennahm.

Wer weiß, vielleicht wollte sie gleichfalls weinen, doch Unwille und Eigensinn siegten wiederum.

„Ich weiß nur eines,“ sagte sie, „daß das nur Phrasen sind. Niemals werden Sie imstande sein, Ihre Worte wahr zu machen. Nirgendwohin werden Sie gehen, sondern seelenruhig bei uns weiterleben und jeden Dienstag wieder Ihre unmöglichen Freunde versammeln. Leben Sie wohl, Stepan Trophimowitsch.“

Alea jacta est!“ Er verneigte sich tief vor ihr und fuhr nach Hause – halbtot vor Aufregung.

Elftes Kapitel.
Pjotr Stepanowitsch in Tätigkeit

I.

Der Tag, an dem die literarische Matinee und der Ball stattfinden sollten, war endgültig festgesetzt, doch von Lembkes Stimmung wurde immer trüber und nachdenklicher. Er hatte so sonderbare, unheilvolle Vorgefühle, und das beunruhigte Julija Michailowna sehr. Es war doch nicht so angenehm, Gouverneur zu sein, zumal unser gutmütiger Iwan Ossipowitsch seinem Nachfolger nicht alles im Gouvernement in bester Ordnung übergeben hatte. Dazu drohte jetzt noch die Cholera, und in einzelnen Kreisen waren Rinderseuchen ausgebrochen; ferner hatten den ganzen Sommer über in Dörfern und Städten Feuersbrünste gewütet, im Volke aber begann sich schon der Glaube festzusetzen, daß man absichtlich Brandstifter umherschicke; und die Diebe hatten sich im Verhältnis zu früheren Jahren um das Doppelte vermehrt. Das alles wäre aber, wenn auch außergewöhnlich, so doch längst nicht in dem Maße beunruhigend gewesen, wenn Andrei Antonowitsch von Lembke nicht noch schwerwiegendere Sorgen gehabt hätte, die ihm nun die Ruhe seiner bis dahin so glücklichen und zufriedenen Seele raubten.

Am meisten erschreckte Julija Michailowna der Umstand, daß ihr Lembke mit jedem Tage schweigsamer wurde und manchmal beinahe verschlossen war. Doch wenn man darüber nachdachte – was konnte er denn überhaupt zu verbergen haben? Dabei widersprach er ihr selten, vielmehr fügte er sich ihr fast in allen Dingen. So wurden z. B. auf ihr hartnäckiges Verlangen hin ein paar recht gewagte Maßnahmen getroffen, die fast gegen das Gesetz verstießen, doch dafür die Macht des Gouverneurs vergrößern sollten. Aus demselben Grunde wurde z. B. ein paarmal unheilvolle Nachsicht geübt: Leute, die eigentlich den Prozeß und Sibirien verdient hatten, wurden einzig auf Julija Michailownas unbedingtes Verlangen hin zur Auszeichnung vorgeschlagen. Wie sich später herausstellte, wurde auf eine gewisse Art von Klagen ganz systematisch überhaupt nicht mehr reagiert. Außerdem unterschrieb von Lembke fast alles, was Julija Michailowna von ihm verlangte, und gewöhnlich widerspruchslos. Nur zuweilen setzte er seine Gattin durch eine plötzliche und hartnäckige Widerspenstigkeit in nicht geringes Erstaunen, und zwar immer durch eine Widerspenstigkeit in den kleinsten Nebensachen. Der Wunsch, nachdem er ihr tagelang stumm und wortlos gehorcht hatte, wieder eine eigene Rolle zu spielen, war am Ende begreiflich. Julija Michailowna jedoch wußte in solchen Fällen trotz ihres ganzen Verstandes diese edle Regung eines edlen Charakters durchaus nicht zu würdigen: von Lembke persönlich war ihr gerade in dieser Zeit vollkommen gleichgültig – und leider sollte eben hieraus viel Unheil entstehen.

Die gute Dame (sie tut mir aufrichtig leid) hätte das, was sie so sehr lockte – Ruhm, Bedeutung usw. – viel einfacher erreichen können, ja, fast noch schneller, wenn sie ihren Wünschen mit etwas weniger Exzentrizität nachgegangen wäre. Aber wie das gewöhnlich zu geschehen pflegt: denen, die ihr abrieten, hörte sie weiter nicht zu; den anderen aber, die sie in ihren eigenen Ideen bestärkten, denen folgte sie blindlings. So war denn die Arme bald nur noch ein Spielzeug der verschiedensten Einflüsse, während sie sich selbst für durchaus individuell hielt. Ihre Gutmütigkeit wurde in der kurzen Zeit ihrer Herrschaft als Gattin des Gouverneurs von vielen ausgenutzt, und gar manche schnitten dabei nicht übel ab. Aber was war das im Grunde für ein Mischmasch unter dem Anschein von Selbständigkeit! Ihr gefielen die Großgrundbesitzer und das aristokratische Element, die Erweiterung der Gouvernementsmacht wie das demokratische Prinzip mit den neuen Anschauungen, der Freidenkerei und den sozialen Lehren; und ihr gefiel der strenge Ton eines vornehmen Salons, wie die Ausgelassenheit, die oft schon an einen Gasthauston gemahnte, der sie umgebenden goldenen Jugend. Sie träumte davon, „glücklich zu machen“ und Unvereinbares zu vereinen, oder richtiger: alle und alles in schwärmerischer Verehrung um ihre Person zu versammeln. Aber sie hatte auch einige ganz besondere und bevorzugte Lieblinge. Zu diesen gehörte vor allen Pjotr Stepanowitsch, der sie mit den plattesten Schmeicheleien beherrschte. Freilich gab es da noch einen besonderen Grund, weshalb er zu ihrem Liebling ward, und dieser Grund dürfte sie vielleicht am besten charakterisieren: sie hoffte nämlich, daß er ihr – eine ganze Verschwörung aufdecken werde. Ich übertreibe keineswegs. Allerdings ist es schwer zu sagen, warum sich in ihr, fast von Anfang an, der Glaube festgesetzt hatte, gerade in unserem Gouvernement werde eine Verschwörung gegen die Regierung vorbereitet. Nun, und Pjotr Stepanowitsch verstand es vorzüglich, mit seinem zweideutigen und geheimnisvollen Schweigen in gewissen, und seinen kurzen Bemerkungen in anderen Fällen, diesen Glauben noch zu verstärken. Sie glaubte schon nach ihrem ersten Gespräch mit ihm, daß er unbedingt über das ganze revolutionäre Rußland unterrichtet sei, und außerdem und gleichzeitig hielt sie ihn für ihr persönlich bis zur Vergötterung ergeben. In ihrer Phantasie malte sie sich schon mit allen Einzelheiten aus, wie von Lembke die Verschwörung melden würde, dann der Dank aus Petersburg und die große Karriere; und schließlich, wie sie selber mit „Liebe und Nachsicht“ die Jugend „am Rande des Abgrunds“ zurückhielt! War sie doch fest überzeugt, daß sie Pjotr Stepanowitsch bereits bekehrt hatte! Warum sollte es ihr dann nicht auch bei den anderen gelingen? Kein einziger von den Verschwörern sollte umkommen: sie wollte sie alle, alle retten, und in eben diesem Sinne, nur mit dem Ziel der höheren Gerechtigkeit vor Augen, wollte sie handeln. Vielleicht – was kann man wissen – würde noch einst der ganze russische Liberalismus – und warum nicht auch die Geschichte? – ihren Namen segnen. Die Verschwörung aber würde doch aufgedeckt werden ... Also alle Vorteile zugleich.

Zunächst aber war es nötig, daß Andrei Antonowitsch zum Feste etwas heiterer wurde, und so galt es denn jetzt, ihn zu zerstreuen und zu beruhigen. Zu diesem Zweck kommandierte sie Pjotr Stepanowitsch zu ihrem Mann, in der Hoffnung, daß der auf irgendeine Weise die gewünschte Wirkung erzielte. Vielleicht konnte er ihm etwas Beruhigendes mitteilen, sozusagen aus erster Hand. Jedenfalls verließ sie sich vollkommen auf seine Geschicklichkeit.

Pjotr Stepanowitsch war schon seit Längerem nicht mehr in Herrn von Lembkes Arbeitszimmer gewesen. Er schwirrte jetzt gerade in einem Augenblick zu ihm hinein, als der Patient sich in einer ganz besonders gespannten und reizbaren Verfassung befand.

II.

Es gab da eine Kombination, die Herr von Lembke nun schon gar nicht mehr fassen konnte.

In einer kleinen Kreisstadt (in derselben, in der Pjotr Stepanowitsch vor nicht langer Zeit mit den Offizieren ein paar Abende lustig zusammengewesen war) hatte der Kommandeur einem Leutnant einen Verweis erteilt. Es geschah vor der ganzen Front. Der Leutnant war ein noch ganz junger Mensch, erst vor kurzem aus Petersburg eingetroffen, immer schweigsam und finster und anscheinend sich sehr erhaben dünkend, dabei aber klein von Wuchs, dick und rotwangig. Er ertrug den Verweis nicht, und plötzlich warf er sich mit einem eigentümlichen Geschrei oder Gekreisch, über das sich die ganze Front wunderte, und mit absonderlich gesenktem Kopf auf seinen Kommandeur und biß diesen mit solcher Gewalt in die Schulter, daß man ihn nur mit Mühe loszureißen vermochte. Zweifellos war der Mensch verrückt geworden. Wenigstens stellte sich nun heraus, daß er in der letzten Zeit schon mehrfach die unglaublichsten Sachen gemacht hatte. So hieß es u. a., er habe in seiner Wohnung zwei Heiligenbilder der Wirtin zum Fenster hinausgeworfen und ein drittes mit dem Beil zerhackt; an ihre Stelle aber habe er in seinem Zimmer auf Postamenten drei Bücher, die Werke von Vogt, Moleschot und Büchner, aufgestellt und vor jedem ein Kirchenwachslicht angezündet. Aus der Menge von Büchern, die man bei ihm fand, konnte man schließen, daß er ziemlich belesen war. Bei der Durchsuchung fand man in seinen Taschen und Koffern einen ganzen Stoß der wildesten Proklamationen.

Nun, an sich waren diese Blätter ja nichts Neues; man hatte ihrer im Laufe der Jahre so viele gesehen! Wozu da noch weiter nachdenken? Zudem waren es nicht einmal neue Proklamationen, sondern genau dieselben, die man auch im H–schen Gouvernement gefunden hatte und von denen Liputin behauptete, daß er sie vor anderthalb Monaten auf seiner Reise in einer andern Kreisstadt gleichfalls gesehen habe. Aber Andrei Antonowitsch erschrak doch: vor allem über den einen Umstand, daß der Direktor der Spigulinschen Fabrik zur selben Zeit der Polizei drei große Pakete Proklamationen übersandt hatte, die in der Nacht auf den Fabrikhof geworfen worden waren, und diese Proklamationen stimmten Wort für Wort mit jenen überein, die man bei dem Leutnant gefunden hatte. Die drei Pakete waren noch nicht einmal aufgebunden, also hatte von den Arbeitern noch keiner etwas lesen können. Eigentlich war ja die ganze Sache harmlos genug; doch Herr von Lembke begann zu grübeln, denn ihm erschien sie unendlich bedeutsam und verwickelt.

In der erwähnten Spigulinschen Fabrik hatte gerade die sogenannte „Spigulinsche Geschichte“ begonnen, von der später so viel geredet worden ist, und über die sogar die Petersburger und Moskauer Zeitungen so lange und in so verschiedenen Lesarten berichtet haben. Vor ungefähr drei Wochen war dort ein Arbeiter an sibirischer Cholera erkrankt, und nach ihm noch ein paar andere. In der Stadt verbreitete sich nicht geringe Angst, obgleich alle möglichen ärztlichen Vorkehrungen getroffen wurden. Doch die Spigulinsche Fabrik – die Besitzer hatten Geld und Verbindungen – wurde aus irgendeinem guten Grunde nicht geschlossen. Da aber hieß es plötzlich, gerade in ihr stecke der Herd der Krankheit. Andrei Antonowitsch bestand sofort energisch darauf, daß sie einmal gründlich gereinigt werde, was man denn auch tat. Kurz darauf aber schlossen die Spigulins die Fabrik – warum, wußte eigentlich niemand. Der eine Bruder lebte beständig in Petersburg, und der andere war nach der ihm befohlenen Fabrikreinigung nach Moskau gereist. Der Direktor, der den Arbeitern den Lohn auszahlen sollte, betrog dabei, wie es sich später herausstellte, die Leute geradezu unerhört. Die Arbeiter begannen zu murren und verlangten eine gerechtere Abrechnung und gingen aus Dummheit schließlich sogar auf die Polizei. Doch führten sie sich dort lange nicht so erregt auf, wie es die Zeitungen nachträglich schilderten. Und gerade in dieser Zeit geschah es denn, daß der Direktor dem Gouverneur die gefundenen Proklamationen zustellte.

Pjotr Stepanowitsch trat schnell und ohne anzuklopfen, wie ein alter Bekannter oder guter Freund, in von Lembkes Arbeitszimmer. Als Andrei Antonowitsch ihn erblickte, blieb er unfreundlich und augenscheinlich geärgert am Schreibtisch stehen, während er bis dahin auf und ab gegangen war, was er gewöhnlich tat, wenn er sich mit seinem Kanzleibeamten Blümer unter vier Augen beriet. Diesen Blümer, der übrigens ein mürrischer, ungelenker Deutscher war, hatte er trotz Julija Michailownas heftigster Opposition aus Petersburg mitgebracht. Der Kanzleibeamte trat nach Pjotr Stepanowitschs Erscheinen zur Tür, ging jedoch noch nicht hinaus. Es schien Pjotr Stepanowitsch sogar, daß er mit von Lembke einen vielsagenden Blick austauschte.

„Oho, da habe ich Sie ertappt, Sie geheimer Stadtdespot!“ rief Pjotr Stepanowitsch lachend aus und legte schnell seine Hand auf eine Proklamation, die auf dem Tisch lag. „Die soll wohl wieder Ihre Sammlung vergrößern, wie?“

Von Lembke wurde rot, und sein ganzes Gesicht verzerrte sich plötzlich.

„Lassen Sie, lassen Sie das sofort!“ schrie er zitternd vor Wut. „Und wagen Sie es nicht, mein Herr ...“

„Was haben Sie nur? Sie scheinen sich ja zu ärgern?“

„Gestatten Sie, mein Herr, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß ich Ihr sans façon[123] hinfort nicht mehr dulden werde und Sie ersuche, nicht zu vergessen ...“

„Pfui Teufel, er ärgert sich ja in der Tat!“

„Schweigen Sie!“ von Lembke stampfte mit dem Fuß. „Und wagen Sie es nicht ...“

Gott mag wissen, wozu es noch gekommen wäre, denn zu seinem Zorn gab es hier noch einen gewissen anderen Grund, den sich weder Pjotr Stepanowitsch noch Julija Michailowna auch nur hätten träumen lassen können. Mit dem unglücklichen Andrei Antonowitsch war es nämlich schon so weit gekommen, daß er wegen seiner Frau auf Pjotr Stepanowitsch eifersüchtig war und deshalb in einsamen Stunden, besonders nachts, höchst unangenehme Minuten auszustehen hatte.

„Und ich dachte, daß ein Mensch, der einem zweimal bis nach Mitternacht seinen Roman vorliest und einen um ein offenes Urteil bittet, daß dieser Mensch dann schon selber das Formelle abgetan hat ... Und Julija Michailowna empfängt mich wie einen guten Bekannten – nun soll einer aus Ihnen klug werden!“ sagte Pjotr Stepanowitsch, und sagte es sogar nicht ohne eine gewisse Würde. „Hier haben Sie übrigens Ihren Roman,“ und damit legte er ein großes, schweres, fest zusammengerolltes Heft, das in blaues Papier eingewickelt war, auf den Tisch.

Von Lembke errötete und wußte nichts zu sagen.

„Wo haben Sie es denn gefunden?“ fragte er unsicher, mit einem Zustrom von Freude, den er doch nicht abhalten konnte, obschon er ihn mit Gewalt zurückzudrängen suchte.

„Ja, denken Sie sich, so zum Rohr zusammengerollt, wie es da ist, war es hinter meine Kommode gefallen. Ich werde es wohl damals, als ich nach Hause kam, irgendwie nachlässig auf die Kommode geworfen haben. Vorgestern fand man es beim Dielenscheuern. War das aber eine Arbeit, die Sie mir da beschert hatten!“

Lembke senkte streng die Augen.

„Zwei Nächte wegen Euer Gnaden nicht geschlafen. Vorgestern fand man es, so behielt ich es denn noch und las die ganze Geschichte durch. Habe am Tage keine Zeit, mußte es also in der Nacht tun. Na, und – kann nichts dafür: bin unzufrieden. Nicht mein Geschmack. Doch übrigens zum Teufel damit, Kritiker bin ich nie gewesen. Aber losreißen konnte ich mich doch nicht, wenn ich auch unzufrieden war. Das vierte und fünfte Kapitel, die ... die sind ... weiß der Teufel, was die eigentlich sind! Und mit wieviel Komik das vollgestopft ist! Hab’ ich gelacht! Nein, wirklich, Sie verstehen es, etwas lächerlich zu machen, sans que cela paraisse![124] Na, das da im neunten Kapitel, wo nur von Liebe die Rede ist, na, nicht meine Sache; aber immerhin sehr effektvoll. Nach dem Brief von Igrenjeff wollte ich beinah zu heulen anfangen, obgleich Sie ihn ja so fein karikiert haben ... Wissen Sie, der Brief ist gewiß gefühlvoll, aber zu gleicher Zeit wollten Sie den Mann doch irgendwie karikieren, wenn ich Sie richtig verstanden habe? nicht? Hab’s mir gleich so gedacht. Na, aber für den Schluß könnte ich Sie einfach verprügeln. Was ist denn das für eine Idee, die Sie da durchführen? Das ist ja doch dieselbe alte Vergötterung des Familienglücks nebst Vermehrung der Kinder wie des Kapitals, und ‚wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heut‘! – ich bitte Sie! Zuerst bezaubern Sie den Leser geradezu, so daß selbst ich mich nicht losreißen konnte, – aber desto gemeiner ist doch dann solch ein Schluß! Der Leser bleibt genau so dumm, wie er war; man hätte doch kluge Menschen reden lassen sollen, Sie aber ... Na, genug davon, und jetzt adieu! Ärgern Sie sich nächstens nicht wieder. Ich kam eigentlich, um Ihnen ein paar Worte zu sagen, aber Sie sind ja heute so eigentümlich ...“

Von Lembke hatte inzwischen seinen Roman in einen eichenen Bücherschrank verschlossen und Blümer zugewinkt, das Zimmer zu verlassen, was der denn auch mit langem Gesichte tat.

„Ich bin heute keineswegs eigentümlich, es sind da nur ... so viele Unannehmlichkeiten,“ murmelte Herr von Lembke und runzelte die Stirn, doch schon ohne Zorn, und er setzte sich an den Schreibtisch. „Ich habe Sie lange nicht mehr gesehen,“ sagte er freundlicher, „nur fliegen Sie nächstens nicht so hastig ins Zimmer, mit Ihren Manieren, die ... zuweilen, bei der Arbeit, ist man ...“

„Was meine Manieren betrifft ...“

„Ich weiß, ich weiß, Sie haben es ja nicht mit Absicht getan, aber gerade bei so unangenehmer Arbeit, Sie verstehen schon ... Setzen Sie sich, bitte.“

Pjotr Stepanowitsch warf sich sogleich ungeniert auf den Diwan und zog die Beine unter den Stuhl.

III.

„Was ist denn das für eine unangenehme Arbeit? Doch nicht etwa diese Dummheiten?“ Dabei wies er mit dem Kopf auf die Proklamation. „Solche Blätter kann ich Ihnen so viele verschaffen, wie Sie nur wollen. Habe deren Bekanntschaft schon im H–schen Gouvernement gemacht.“

„Das heißt, damals, als Sie dort waren?“

„Versteht sich, nicht in meiner Abwesenheit. Und dann war da noch eine mit einer Vignette: ein Beil oben. Erlauben Sie“ – er nahm das Blatt vom Tisch – „na ja, hier ist ja auch ein Beil; natürlich, das ist ja dieselbe!“

„Ja, ein Beil. Sehen Sie – ein Beil.“

„Was, haben Sie etwa Angst bekommen vor dem Beil?“

„Oh, nicht vor dem Beil ... Und ich habe durchaus keine Angst. Aber diese Sache ... Es gibt hier noch ... gewisse Umstände.“

„Was für welche? Daß man sie aus der Fabrik gebracht hat? Ha–ha! Aber wissen Sie auch, daß die Arbeiter dieser Fabrik bald selbst Proklamationen schreiben werden?“

„Wie das?“ Von Lembke sah auf – streng, verwundert.

„Ganz einfach. Sie sind ein zu weicher Mensch, Andrei Antonowitsch. Schreiben Romane. Hier aber müßte man noch auf die alte Weise verfahren.“

„Wie das – alte Weise? Sollen das Ratschläge sein? Die Fabrik ist doch gereinigt worden. Ich befahl es, und sie wurde gereinigt!“

„Und unter den Arbeitern ist derweil eine Empörung ausgebrochen. Übers Knie legen müßte man die Kerls, und die Sache wäre erledigt.“

„Eine Empörung? Das ist unmöglich! Ich habe doch den Befehl gegeben, und man hat die Fabrik gereinigt!“

„Ach, Andrei Antonowitsch, Sie sind wirklich ein weicher Mensch!“

„Ich? Nun – erstens bin ich durchaus nicht so furchtbar weich und zweitens ... –“ von Lembke ärgerte sich. Eigentlich sprach er mit dem jungen Mann gegen seinen Willen, doch die Neugier, ob dieser nicht etwas Besonderes sagen würde, war zu groß, um der Unterredung einen Schluß zu machen.

„A–ah! wieder eine alte Bekannte!“ unterbrach ihn Pjotr Stepanowitsch und zog unter einem Buch ein anderes Blatt hervor, eine augenscheinlich im Auslande gedruckte Proklamation, die aber in Versen abgefaßt war. „Na, die kenne ich ja auswendig: natürlich, das ist sie ja – die ‚helle Persönlichkeit‘! Habe diese Persönlichkeit schon im Auslande kennen gelernt. Wo haben Sie denn diese hervorgekratzt?“

„Sie sagen, Sie haben sie schon im Auslande gesehen?“ horchte Herr von Lembke auf.

„Na, das fehlte noch, daß ich sie nicht gesehen hätte! – vor vier oder fünf Monaten!“

„Was Sie im Auslande nicht alles gesehen haben!“ von Lembke besah ihn sich mißtrauisch.

Doch Pjotr Stepanowitsch beachtete die Bemerkung nicht, nahm das Blatt und las laut das folgende Gedicht:

„Die helle Persönlichkeit.

Von Geburt kein Edelmann,

Unterm Volk wuchs er heran.

Bald verfolgt vom Zorn des Zaren

Und dem Hasse der Bojaren,

Predigte er allerorten

Stets mit siegbewußten Worten

Unerschrocken, wie man sah:

‚Freiheit, Gleichheit, sie sind nah!‘

Häscher fingen ihn alsbald.

Doch er floh in fremdes Land

– aus des Zaren Kasematte,

Wo man Peitschen, Zangen hatte –,

Fuhr von dort fort, hier zu schüren,

Und die Wirkung war zu spüren,

Denn das Volk begann zu warten

Und zu murren ob des harten

Schicksals, doch sieh da:

„Freiheit, Gleichheit, sie sind nah!“

Also sagt’s Euch der Student,

Hört es jetzt bis nach Taschkent!

Komme schleunigst jeder Mann,

Um den Adel und alsdann

Selbst das Zartum zu vernichten!

Hört und kommt und laßt uns richten!

Hört auf des Studenten Wort:

Aller alter Kram muß fort –

Kirchen, Ehen und Familien

Nebst den Kindern, den Reptilien!

Doch das Hab und Gut der Welt,

Land, Besitz und alles Geld –

Das soll Allgemeingut werden

In dem neuen Reich auf Erden!“

„Das haben Sie wohl bei jenem Leutnant gefunden, nicht?“ fragte Pjotr Stepanowitsch.

„Wie, Sie kennen auch diesen Leutnant?“

„Wie denn nicht! Habe zwei Tage lang mit ihm gekneipt. Der mußte unbedingt mal überschnappen.“

„Er ... Vielleicht ist er überhaupt nicht irrsinnig geworden.“

„Etwa darum nicht, weil er zu beißen anfing?“

„Aber, erlauben Sie: wenn Sie dieses Gedicht im Auslande gesehen haben – und später findet es sich hier bei diesem Offizier ...“

„Hm! Ganz scharfsinnig! Sie, Andrei Antonowitsch, Sie scheinen mich ja, wie ich sehe, examinieren zu wollen? Sehen Sie,“ begann er plötzlich mit ungewöhnlicher Wichtigkeit, „darüber, was ich im Auslande gesehen, habe ich sofort nach meiner Rückkehr einer bestimmten Stelle Mitteilung gemacht, und meine Erklärungen wurden als befriedigend befunden. Andernfalls hätte ich ja auch diese liebe Stadt hier gar nicht mit meinem Besuch beglücken können. Ich glaube also, daß meine Pflichten auf diesem Gebiet erledigt sind und ich weiter niemandem Rechenschaft schuldig bin. Und nicht etwa deswegen erledigt, weil ich vielleicht ein Denunziant bin, sondern weil ich einfach gar nicht anders handeln konnte. Diejenigen, die an Julija Michailowna über mich geschrieben haben, kannten die ganze Sachlage ... und haben mich als ehrlichen Menschen empfohlen. Na, aber zum Teufel damit! Eigentlich bin ich zu Ihnen gekommen, um über etwas sehr Ernstes mit Ihnen zu sprechen. Es ist gut, daß Sie diesen Ihren Schornsteinfeger fortgeschickt haben. Es ist eine wichtige Sache, Andrei Antonowitsch. Ich habe nämlich eine sehr große Bitte an Sie.“

„Eine Bitte? Hm ... haben Sie die Güte, ich ... bin gespannt ... hm! ... wird mich sehr interessieren. Überhaupt muß ich sagen, Sie setzen mich heute ein wenig in Erstaunen.“

Von Lembke war merklich erregt. Pjotr Stepanowitsch schlug ein Bein übers andere.

„In Petersburg,“ begann er, „war ich in vieler Hinsicht aufrichtig, doch über gewisse Einzelheiten ... zum Beispiel diese da“ – er wies mit dem Finger auf die „helle Persönlichkeit“ – „habe ich geschwiegen, erstens weil es sich nicht lohnte, darüber zu sprechen, und zweitens, weil ich nur das sagte, wonach man mich fragte. Ich liebe es nicht, in diesem Sinne vorzugreifen; darin sehe ich auch den Unterschied zwischen einem Schurken und einem ehrlichen Menschen, den ganz einfach nur die Umstände überrumpelt haben und zwingen ... Na, das mag nebenbei gesagt sein. Nun und jetzt ... jetzt, nachdem diese Dummköpfe ... na, ich meine, da es jetzt herausgekommen ist, sich bereits in Ihren Händen befindet und sich vor Ihnen schon nicht mehr wird verstecken können – denn Sie sind doch ein Mensch mit Augen, es ist gar nicht so leicht, hinter Sie zu kommen – diese Dummköpfe aber in ihrem Vorhaben fortfahren ... na, nun ja ... also: ich bin ... ganz einfach ... zu Ihnen gekommen, um Sie zu bitten, einen Menschen zu retten, einen ebensolchen Dummkopf oder meinetwegen Verrückten ... in Anbetracht seiner Jugend, seines Unglücks, und ... und Ihrer Humanität ... zum Kuckuck, Sie wollen doch nicht nur in Romanen human und gut und edel sein!“ unterbrach er plötzlich, anscheinend aus lauter Verlegenheit grob, seine ungeschickte Rede.

Kurz: man sah einen ehrlichen, offenherzigen Menschen vor sich, der bloß ungeschickt und unpolitisch war, und das wohl aus Gutmütigkeit oder übergroßer Gewissenhaftigkeit. Und jedenfalls mußte er „nicht von weitem her“ sein, urteilte von Lembke sofort mit außerordentlichem Feingefühl: genau so, wie er ihn eigentlich schon immer eingeschätzt hatte – besonders wenn er ihn in den schlaflosen Nächten der letzten Woche wegen seines Erfolges bei Julija Michailowna in seiner Seele beschimpft und heruntergerissen hatte.

„Für wen bitten Sie denn und was soll das alles bedeuten?“ erkundigte er sich würdevoll, bemüht, seine Neugier zu verbergen.

„Für ... ja das ... zum Teufel, ich bin doch nicht schuld daran, daß ich an Sie glaube! Was kann ich denn dafür, daß ich Sie für den edelmütigsten Menschen halte und, vor allem, für einen verständigen ... der fähig ist, zu begreifen, das heißt, zu verstehen ... nun, zum Henker ...“

Der Arme! Augenscheinlich verstand er sich nicht recht auszudrücken und verwickelte sich nur!

„Sie verstehen doch,“ fuhr er fort, „begreifen doch, daß ich, wenn ich Ihnen seinen Namen nenne, ihn damit sozusagen in Ihre Hände liefere, nicht wahr, ich liefere ihn dann Ihnen doch aus? Nicht wahr?“

„Aber wie soll ich es denn erraten, für wen Sie bitten, wenn Sie sich nicht entschließen können, mir seinen Namen zu nennen?“

„Ach, ja, in der Tat, das ist es ja gerade! Sie stellen einem, weiß der Teufel, mit Ihrer Logik immer ein Bein ... Na, zum Henker ... Also diese ‚helle Persönlichkeit‘, dieser ‚Student‘ ist – Schatoff ... So, da haben Sie’s jetzt!“

„Schatoff? Das heißt, wie denn Schatoff?“

„Schatoff – das ist der ‚Student‘, von dem da im Gedicht die Rede ist! Er lebt hier! Früherer Leibeigener! Derselbe, der neulich die Ohrfeige gegeben hat! Sie wissen schon!“

„Ich weiß, ich weiß!“ von Lembke kniff die Augen zusammen. „Aber erlauben Sie, worin besteht denn eigentlich seine Schuld und, die Hauptsache, – um was bitten Sie denn eigentlich?“

„Aber ihn zu retten, verstehen Sie doch endlich! Ich kenne ihn ja schon seit acht Jahren! Ich – ich war ja sein Freund!“ Pjotr Stepanowitsch regte sich anscheinend furchtbar auf. „Nun ja, ich bin doch nicht verpflichtet, Ihnen Rechenschaft über Früheres zu geben,“ meinte er und winkte mit der Hand ab, „das ist alles so belanglos. Sind ja nur dreieinhalb Menschen, und mit denen im Auslande noch nicht mal zehn ... Aber, die Hauptsache, – ich hoffte auf Ihre Humanität und zugleich auf Ihren Verstand. Sie verstehen mich doch, Sie werden die Sache dann schon selber so darstellen, wie sie wirklich ist, und nicht als weiß der Teufel was! – vielmehr als den dummen Gedanken eines verdrehten Menschen ... infolge seines Unglücks, vergessen Sie das nicht, infolge seines Unglücks, und nicht als weiß der Teufel was da – für eine Verschwörung gegen den Staat ...“

Pjotr Stepanowitsch geriet vor Eifer fast außer Atem.

„Hm ... Ich sehe schon, daß er der Schuldige ist – an den Proklamationen mit dem Beil!“ schloß von Lembke mit nahezu erhabener Miene. „Aber, erlauben Sie, wenn er allein es ist, wie konnte er sie dann hier und zugleich in der Provinz verstreuen und sogar im H–schen Gouvernement und ... schließlich, die erste Frage: wo hat er sie überhaupt herbekommen?“

„Aber ich sage Ihnen doch, daß es im ganzen vielleicht fünf Menschen sind, na, sagen wir, zehn – wie soll ich es wissen!“

„Sie wissen es nicht?“

„Ja, zum Henker, warum soll ich es denn wissen?“

„Aber Sie wußten doch, daß Schatoff einer von ihnen ist?“

„Ach!“ Pjotr Stepanowitsch winkte wieder mit der Hand ab, als wolle er den erdrückenden Scharfsinn des anderen zurückscheuchen. „Na, hören Sie, ich werde Ihnen die ganze Wahrheit sagen: von den Proklamationen weiß ich nichts, das heißt, so gut wie nichts, – zum Teufel, Sie verstehen doch, was ‚nichts‘ bedeutet? ... Nun, versteht sich, hier ist es der eine Leutnant, nun, und Schatoff, nun, und vielleicht noch irgend jemand, na – aber das ist auch alles! Nicht der Rede wert! ... Einfach kläglich! ... Ich aber bin nur zu Ihnen gekommen, um Sie für Schatoff zu bitten: man muß ihn retten, denn dieses Gedicht da – ist von ihm, sein eigenes Werk und im Auslande durch ihn gedruckt. So, das ist alles, was ich genau weiß, aber von den Proklamationen weiß ich so gut wie gar nichts!“

„Wenn das Gedicht von ihm verfaßt ist, so werden wohl auch die Proklamationen von ihm verfaßt sein. Aber welche Beweise haben Sie denn, um Herrn Schatoff zu verdächtigen?“

Pjotr Stepanowitsch riß seine Brieftasche hervor, wie ein Mensch, der schon nahe daran ist, aus der Haut zu fahren, und warf einen Zettel auf den Tisch.

„Da haben Sie die Beweise!“ rief er.

Von Lembke faltete den Zettel auseinander: er war vor einem halben Jahr aus unserer Stadt geschrieben worden und enthielt nur die kurze Mitteilung:

„Die helle Persönlichkeit“ kann ich hier nicht drucken, und überhaupt kann ich nichts machen. Drucken Sie im Auslande.

Iwan Schatoff.

Von Lembke blickte Pjotr Stepanowitsch unverwandt an ... Warwara Petrowna hatte recht, wenn sie behauptete, daß Herr von Lembke einen manchmal etwa wie ein Schaf anblicken konnte.

„Sehen Sie,“ begann Pjotr Stepanowitsch ungeduldig, „das bedeutet, daß er dieses Gedicht vor einem halben Jahr hier geschrieben hat. Er konnte es aber nicht hier drucken lassen, na, in irgendeiner, sagen wir, geheimen Druckerei, – und darum bittet er, es im Auslande zu drucken ... Das ist doch klar, sollte ich meinen?“

„Ja, das ist natürlich klar, aber wen bittet er denn darum? Das ist, wie Sie sehen, durchaus noch nicht klar,“ bemerkte von Lembke mit schlauester Ironie.

„Aber Kirilloff doch! Der Brief ist doch an Kirilloff ins Ausland geschrieben ... Wußten Sie das etwa nicht? Ärgerlich an der ganzen Sache ist ja nur, daß Sie sich vor mir vielleicht nur verstellen und selbst schon lange von diesem Gedicht wissen, na, und auch alles andere! Wie ist es denn auf Ihren Tisch gekommen? Wenn Sie es überhaupt zu erwischen verstanden haben! – wozu foltern Sie mich dann noch mit Ihren Fragen, wenn’s so ist?“

Er wischte sich fast bebend den Schweiß von der Stirn.

„Vielleicht ist auch mir einiges bekannt ...“ bemerkte Herr von Lembke, geschickt ausweichend, „aber wer ist denn dieser Kirilloff?“

„Nun, ein Ingenieur, vor kurzem hier angekommen. War Stawrogins Sekundant. Einfach ein Maniak, total verrückt. Ihr Leutnant hatte vielleicht wirklich nur Schnupfenfieber als er biß, na, aber dieser, ich sage Ihnen, der ist schon längst fürs Tollhaus reif – dafür garantiere ich. Ach, Andrei Antonowitsch, wenn die Regierung nur wüßte, was das da für Leutchen sind, sie würde ja keinen Finger rühren. Hab mich in der Schweiz und auf den Kongressen an ihnen satt gesehen, übersatt!“

„Dort, von wo aus man die Bewegungen bei uns leitet?“

„Ja, wer leitet denn? Dreieinhalb Menschen! Wenn man sie ansieht, sage ich Ihnen, kann man bloß Lust zum Gähnen bekommen. Und was sind denn das für ‚Bewegungen bei uns‘? Etwa die Verbreitung von Proklamationen? Aber wer verbreitet sie denn? Verschnupfte Leutnants und zwei bis drei Studenten! Sie sind doch ein kluger Mensch, da stelle ich Ihnen nun eine Frage: warum schließen sich nicht etwas bedeutendere Menschen der Sache an, warum immer nur Studenten und Jünglinge von zweiundzwanzig Jahren? Und wie viele sind ihrer denn selbst von solchen? Man läßt sie wohl von einer Million geübter Hunde suchen, doch wie viele hat man bisher gefunden? Sieben Mann! Ich sage Ihnen ja, nur Lust zum Gähnen bekommt man.“

Von Lembke hörte ihm aufmerksam zu, aber mit einem Ausdruck, der gleichsam sagte: „Eine Nachtigall machst du mit Fabeln nicht satt.“

„Erlauben Sie, einstweilen, – Sie behaupten, daß der Brief ins Ausland geschrieben ist; hier ist aber keine Adresse; woher wissen Sie es denn, daß der Brief an Kirilloff gerichtet ist? und schließlich überhaupt ins Ausland und ... und ... daß er wirklich von Herrn Schatoff geschrieben ist?“

„So verschaffen Sie sich doch sofort Schatoffs Handschrift und vergleichen Sie! In Ihrer Kanzlei wird sich bestimmt irgendeine Unterschrift von ihm finden. Und was Kirilloff betrifft, so hat er mir doch selbst den Brief gezeigt. Gleich damals, als er ihn bekam.“

„Also haben Sie wohl selbst ...“

„Na ja, versteht sich doch, daß ich selbst! ... Als ob man mir dort wenig gezeigt hätte! Nun, und dieses Gedicht, heißt es, soll der verstorbene Herzen persönlich für Schatoff geschrieben haben, als der sich noch im Auslande herumtrieb, angeblich zum Andenken an ihre Begegnung, als Lob, als Empfehlung gewissermaßen, na, hol’s der Teufel ... und Schatoff verbreitet es nun unter der Jugend: ‚Seht, das ist Herzens eigene Meinung über mich‘!“

„Tje – tje – tje,“ schnalzte von Lembke, endlich begreifend, „das meine ich ja auch: Proklamationen – das versteht man noch, aber Gedichte!?“

„Ja, wie sollten Sie es denn nicht verstehen! Und weiß der Teufel, wozu ich Ihnen eigentlich das alles noch überflüssigerweise ausgeplaudert habe! Hören Sie, geben Sie mir Schatoff, und dann meinetwegen zum Henker mit den anderen allen, selbst mit Kirilloff, der sich jetzt gleichfalls im Filippoffschen Hause, in dem auch Schatoff wohnt, versteckt hat. Die lieben mich nicht, weil ich zurückgekommen bin ... Aber versprechen Sie mir Schatoff, und ich präsentiere Ihnen alle die anderen auf einem Tablett. Kann Ihnen nützlich sein, Andrei Antonowitsch. Ich schätze diese ganze traurige Bande auf neun Mann, na, sagen wir – zehn. Ich beobachte sie von mir aus. Drei kennen wir schon: Schatoff, Kirilloff und dieser Leutnant. Die anderen prüfe ich erst noch ... übrigens: bin nicht gerade kurzsichtig. Das ist ganz wie im H–schen Gouvernement: zwei Studenten wurden dort mit Proklamationen ergriffen, ein Gymnasiast, zwei zwanzigjährige Edelleute, ein Lehrer und ein sechzigjähriger Major, der vom Trunk schon unzurechnungsfähig geworden war ... und das war alles, glauben Sie mir, das war alles! Man wunderte sich nicht wenig, daß das alles war. Aber ich brauche sechs Tage. Ich rieche schon den Braten und habe meine Berechnung gemacht: sechs Tage und nicht früher! Wenn Sie irgendein Ergebnis haben wollen – lassen Sie sie in diesen sechs Tagen ganz und gar ungeschoren, und ich binde sie Ihnen in ein Bündel zusammen! Rühren Sie sich jedoch früher, so fliegt das ganze Nest auseinander! Aber versprechen Sie mir dafür Schatoff, ich bitte ja nur für Schatoff ... Wissen Sie, am besten wäre es, wenn Sie ihn freundschaftlich zu sich kommen ließen, sagen wir meinetwegen, hierher in Ihr Arbeitszimmer, und dann, wissen Sie: vor ihm den Vorhang aufgezogen und ein wenig gefragt! Ach, er wird sich sofort Ihnen zu Füßen werfen und losweinen! Er ist ein nervöser, unglücklicher Mensch. Seine Frau amüsiert sich mit Stawrogin. Seien Sie gut zu ihm, und er wird Ihnen alles selbst erzählen. Doch ich brauche noch sechs Tage, wie gesagt ... Die Hauptsache aber, die Hauptsache: sagen Sie Julija Michailowna keinen Ton, kein halbes Wort davon! Geheimnis! Können Sie?“

„Wie?“ von Lembke riß die Augen auf. „Haben Sie ihr denn nicht schon selbst alles ... enthüllt?“

„Ihr? Behüte und bewahre! Ach, Andrei Antonowitsch! Sehen Sie mal, ich schätze ja ihre Freundschaft unendlich und sie überhaupt ... na, aber das da ... ich werde mich doch nicht so verhauen. Ich widerspreche ihr nie, denn ihr widersprechen – Sie wissen ja selbst – ist gefährlich. Vielleicht habe ich ihr auch mal dieses oder jenes Wörtchen gesagt, aber daß ich ihr, wie jetzt Ihnen, Namen genannt hätte, oder so etwas – wo denken Sie hin! ... Warum wende ich mich denn an Sie? Weil Sie immerhin ein Mann sind, ein ernster Mensch, mit alten, festen Erfahrungen im Staatsdienst. Sie haben doch manches im Leben gesehen! Sie wissen außerdem, glaub ich, jeden Schritt in solchen Dingen auswendig wie das Einmaleins – schon von Petersburg her. Sollte ich aber ihr zum Beispiel auch nur zwei Namen nennen, wie würde sie da gleich lostrommeln ... Sie will doch von hier aus ganz Petersburg in Erstaunen setzen! Ein wenig zu hitzig ist sie, das ist der Fehler!“

„Ja, sie hat etwas von diesem Temperament ...“ murmelte von Lembke nicht ganz ohne Genugtuung, während es ihn zu gleicher Zeit doch ärgerte, daß dieser Flegel es augenscheinlich wagte, sich so frei über Julija Michailowna zu äußern.

Pjotr Stepanowitsch dagegen schien das noch zu wenig zu sein, um andererseits seinen „Lembka“ mit genügenden Schmeicheleien überschütten, ihn ganz besiegen und endgültig einfangen zu können.

„Das ist es: zuviel Temperament,“ griff er das Wort auf. „Mag sie da meinetwegen, sagen wir, eine geniale Frau sein, eine literarische Frau, aber – die Spatzen jagt sie uns auseinander! Sechs Stunden hält sie es nicht aus, von sechs Tagen schon ganz zu schweigen. Ach, Andrei Antonowitsch, laden Sie nicht eine Frist von sechs Tagen auf ein Weib! Sie müssen mir doch einige Erfahrung zugestehen, ich meine – in diesen Dingen. Ich weiß da manches, und Sie wissen ja selbst, daß ich manches wissen kann. Nicht aus Dummheit bitte ich Sie um sechs Tage, sondern einzig um der Sache willen.“

„Ich habe gehört ...“ von Lembke konnte sich nicht recht entschließen, seinen Gedanken auszusprechen, „ich habe gehört, daß Sie nach Ihrer Rückkehr zuständigen Orts gewisse ... Erklärungen abgegeben hätten ... in etwa als ... Reuebekenntnis?“

„Na ja, was hat man nicht alles!“

„Gewiß, gewiß, und ich will auch weiter gar nichts Näheres ... Hm ... Aber es hat mir bloß immer geschienen, daß Sie hier gewöhnlich in einem ganz anderen Stile gesprochen haben, zum Beispiel über das Christentum, über die öffentlichen Einrichtungen und schließlich auch über die Regierung ...“

„Na, als ob ich wenig gesprochen habe. Auch jetzt spreche ich noch so, nur muß man diese Gedanken nicht so durchführen, wie jene Dummköpfe es wollen. Das ist es. Aber sonst – was ist denn dabei, daß er in die Schulter gebissen hat? Sie waren ja selbst in diesen Dingen mit mir einverstanden, nur sagten Sie, es sei noch zu früh.“

„Ich war eigentlich nicht in dem Sinne mit Ihnen einverstanden, und auch mit dem ‚zu früh‘ meinte ich etwas anderes ...“

„Dann ist also jedes Ihrer Worte mit einem Haken versehen, he–he! Sind wirklich ein vorsichtiger Mensch!“ bemerkte Pjotr Stepanowitsch plötzlich sehr heiter. „Hören Sie, mein Teuerster, ich mußte Sie doch erst ein wenig kennen lernen, na, und da habe ich denn zu diesem Zweck eben in meinem Stile gesprochen. Das habe ich nicht nur mit Ihnen allein so gemacht, sondern mit vielen. Vielleicht wollte ich erst nur Ihren Charakter kennen lernen.“

„Wozu denn meinen Charakter?“

„Na, wie soll ich es denn wissen, wozu!“ (er lachte wieder). „Sehen Sie mal, mein lieber und hochverehrter Andrei Antonowitsch, Sie sind schlau, aber dazu ist es noch nicht gekommen, wird es auch bestimmt nicht kommen, Sie verstehen doch? Vielleicht verstehen Sie mich wirklich? Wenn ich auch dort zuständigen Orts Erklärungen gegeben habe, als ich aus dem Auslande zurückkehrte, und ich weiß wirklich nicht, warum ein Mensch mit gewissen Überzeugungen nicht zum Vorteil dieser seiner aufrichtigen Überzeugungen handeln sollte ... so hat mir dort doch niemand etwas über Ihren Charakter gesagt, und ich habe mir noch gar keine Pflichten von dort aufladen lassen. Sie begreifen doch: ich hätte ebensogut nicht Ihnen als erstem zwei Namen zu nennen gebraucht, sondern einfach dahin, na, Sie verstehen schon, – einen Wink geben können, ich meine, dahin, wo ich die ersten Erklärungen abgab. Na, und wenn ich mich etwa für Geld bemühte, oder für sonst irgendeinen Vorteil, so wäre das meinerseits keine Berechnung gewesen, denn dankbar wird man jetzt bloß Ihnen sein, nicht mir. Aber ich tue es, wie gesagt, nur wegen Schatoff,“ sagte Pjotr Stepanowitsch mit viel Edelmut, „– nur für Schatoff, aus alter Freundschaft ... Na, aber dann, meinetwegen, wenn Sie dorthin schreiben, na, dann könnten Sie mich vielleicht auch ein bißchen loben, wenn Sie wollen ... werde nicht widersprechen. He–he ... Aber jetzt adieu, hab schon verboten lange hier gesessen, und eigentlich sollte man überhaupt nicht so viel sprechen!“ fügte er nicht unzufrieden hinzu und erhob sich vom Diwan.

„Im Gegenteil, es freut mich sehr, daß diese Angelegenheit sozusagen bestimmtere Formen annimmt.“ Von Lembke erhob sich gleichfalls und sehr liebenswürdig, – augenscheinlich noch unter dem Eindruck der letzten Worte. „Mit Dank nehme ich Ihre Hilfe an, und seien Sie überzeugt, daß ich die Bemerkung über Ihren Eifer ...“

„Sechs Tage, nur sechs Tage Frist, das ist die Hauptsache und alles, was ich brauche ... aber daß Sie sich in diesen sechs Tagen nicht rühren!“

„Gut!“

„Versteht sich, ich binde Ihnen ja nicht die Hände, wie sollte ich das auch! Sie können doch gar nicht etwa nicht beobachten lassen. Nur – schrecken Sie das Nest nicht vor der Zeit auf, – das ist es, worin ich mich jetzt auf Ihre Klugheit und Ihre Erfahrung verlasse! Na, Sie haben wohl schon unzählige Jagdhunde bereit? He–he!“ platzte lustig und leichtsinnig (eben wie ein junger Mensch) Pjotr Stepanowitsch heraus.

„So schlimm ist es gerade nicht,“ sagte von Lembke ausweichend, doch angenehm berührt. „Das ist ein Vorurteil der Jugend, die immer alles vorbereitet glaubt ... Aber erlauben Sie, noch ein Wort: wenn dieser Kirilloff Stawrogins Sekundant war, so muß doch auch Herr Stawrogin in diesem Falle ...“

„Wieso Stawrogin?“

„Ich meine, wenn sie solche Freunde sind?“

„Oh, nein, nein, nein! Diesmal haben Sie fehlgeschossen, wenn Sie auch sonst schlau sind! Aber Sie setzen mich geradezu in Erstaunen! Denn ich glaubte doch, daß Sie in betreff dieser Dinge unterrichtet sind ... Hm ... Stawrogin – das ist das vollkommenste Gegenteil, das heißt, das vollkommenste! ... Avis au lecteur.[125]

„In der Tat? Ist’s möglich?“ fragte von Lembke ungläubig. „Mir hat Julija Michailowna gesagt, daß Stawrogin, nach ihren Erkundigungen in Petersburg, ein Mensch mit einigen, sozusagen, Instruktionen ...“

„Ich weiß nichts, nichts, nichts, keine Ahnung. Adieu. Avis au lecteur!“ wich Pjotr Stepanowitsch plötzlich und nur zu offensichtlich allen weiteren Fragen aus und schwirrte schon zur Tür.

„Erlauben Sie, Pjotr Stepanowitsch, erlauben Sie, noch einen Augenblick!“ rief ihn von Lembke zurück. „Noch ein Wort, und dann halte ich Sie nicht mehr auf.“ Er nahm aus einem Schubfach einen Brief heraus.

„Sehen Sie, – gleichfalls ein Exemplar, das in diese Kategorie gehört. Und hiermit beweise ich Ihnen, daß ich das größte Vertrauen zu Ihnen habe. Was sagen Sie zu diesem Brief?“

Es war ein sonderbarer Brief: ohne Unterschrift, an Herrn von Lembke adressiert, und gestern erst hatte er ihn erhalten. Pjotr Stepanowitsch las zu seinem größten Ärger folgendes:

„Eure Exzellenz!

Sintemal Sie das nach Ihrem Range sind. Hiermit melde ich Mordanschläge auf alle hohen Würdenträger und das Vaterland; sintemal es gerade dazu führt. Habe selbst vieles ununterbrochen jahrelang verstreut. Auch Gottlosigkeit ist dabei. Ein Aufstand bereitet sich vor und Proklamationen gibt es Tausende, und nach jeder laufen dann hundert Mann mit herausgestreckter Zunge, wenn sie die Regierung nicht vorzeitig fortnimmt, sintemal man viel verspricht und das einfache Volk dumm ist, und hinzu kommt dann noch der Schnaps. Das Volk sucht den Schuldigen und wird diese wie jene verderben. Ich fürchte aber diese wie jene, und bereue, woran ich gar nicht teilgenommen, denn meine Verhältnisse sind einmal so. Wenn Sie wollen, daß ich Anzeige erstatte zur Rettung des Vaterlandes und ebenso der Kirchen und Heiligenbilder, so kann das nur ich allein. Aber mit der Bedingung, daß man mir Begnadigung aus der dritten Abteilung telegraphisch zusagt, sofort und mir allein von allen; die anderen können es dann ausbaden. Auf das Fenster beim Portier stellen Sie zum Zeichen jeden Tag abends um sieben Uhr ein Licht. Sehe ich dieses, so werde ich glauben und komme dann, um die barmherzige Hand aus Petersburg zu küssen, aber mit der Bedingung, daß ich eine Pension erhalte, sintemal wovon soll ich denn sonst leben? Sie werden es nicht zu bereuen brauchen, denn für Sie kommt dabei ein Orden heraus. Aber vorsichtig muß man sein, sonst drehen sie einem den Hals um!

Euer Exzellenz verzweifelter Mensch
fällt vor Euer Exzellenz auf die Knie
als reuiger Freidenker

Inkognito.“

Von Lembke erklärte, daß man den Brief gestern beim Portier gefunden hatte.

„Was halten Sie davon?“ fragte Pjotr Stepanowitsch beinahe grob.

„Ich würde annehmen, daß das ein Schmähbrief ist ... ein anonymer, zum Spott ...“

„Höchstwahrscheinlich wird es auch so sein. Sie kann man wirklich nicht so leicht hinters Licht führen.“

„Und vor allen Dingen deshalb, weil es so dumm ist.“

„Haben Sie hier noch irgendwelche Schmähbriefe bekommen?“

„Ja, zweimal, und beide anonym.“

„Na, versteht sich doch von selbst, daß die sich nicht unterzeichnen werden! – Derselbe Stil? Dieselbe Handschrift?“

„Nein, verschiedener Stil und verschiedene Handschrift.“

„Und ebenso närrisch wie dieser?“

„Ja, auch närrisch, und wissen Sie ... sehr gemeine Briefe.“

„Na, wenn Sie schon welche bekommen haben, so wird es jetzt wohl derselbe Absender sein.“

„Und vor allen Dingen, weil die Briefe so dumm sind. Diese Leute sind doch gebildet und würden schon so dumm nicht schreiben.“

„Natürlich, versteht sich.“

„Aber wie, wenn nun wirklich jemand etwas anzeigen will?“

„Das ist sehr unwahrscheinlich,“ schnitt Pjotr Stepanowitsch trocken ab. „Was soll denn das Telegramm aus der dritten Abteilung bedeuten? und die Pension? Es ist ja sonnenklar, daß es eine Anulkung ist!“

„Ja ... Natürlich,“ von Lembke war ein wenig beschämt.

„Wissen Sie was! Überlassen Sie mir den Brief. Ich werde Ihnen sofort den Verfasser herausfinden. Früher noch als die anderen.“

„Nehmen Sie ihn,“ sagte von Lembke, doch erst nach einigem Zögern.

„Haben Sie ihn schon jemandem gezeigt?“

„Nein, bewahre! Niemandem!“

„Auch nicht Julija Michailowna?“

„Da sei Gott vor! und ums Himmels willen, zeigen Sie ihn ihr auch nicht!“ rief von Lembke erschrocken. „Er würde sie so aufregen ... und sie würde sich furchtbar über mich ärgern.“

„Natürlich, verstehe schon! Sie würde sagen, daß Sie selbst daran schuld sind, wenn man Ihnen so was zu schreiben wagt! Man kennt doch Weiberlogik. Na, aber jetzt leben Sie wohl. Vielleicht kann ich Ihnen schon in drei Tagen den Verfasser nennen. Aber vergessen Sie nur unsere Abmachung nicht!“

IV.

Pjotr Stepanowitsch war gewiß kein dummer Mensch, doch Fedjka, der Zuchthäusler, hatte ihn richtig charakterisiert mit dem Ausspruch: „Der stellt sich einen Menschen so vor, wie er ihn haben will, und so lebt er dann mit ihm.“

Pjotr Stepanowitsch verließ Herrn von Lembke in der festen Überzeugung, daß er ihn auf wenigstens sechs Tage beruhigt habe, diese Frist aber brauchte er unbedingt. Doch seine Berechnung war falsch, und zwar weil er sich Herrn von Lembke von allem Anfange an und gleich für immer als vollkommen beschränkten Menschen vorgestellt hatte.

Herr von Lembke war, wie jeder qualvoll mißtrauische Mensch, im ersten Augenblick des Aus-sich-selbst-hinausgehens stets von größter und freudiger Vertrauensseligkeit. Die neue Wendung der Dinge erschien ihm nun zunächst in recht angenehmer Form, trotz der etlichen neueingetretenen Verwicklungen, die Achtsamkeit erheischten. Doch wenigstens zerfielen seine alten Zweifel jetzt in Staub und Asche. Aber die letzten Tage hatten ihn so müde gemacht, und er fühlte sich so gequält und so hilflos, daß seine Seele sich unwillkürlich nach Ruhe sehnte. Leider kam gerade jetzt diese Unruhe wieder über ihn. Das lange Leben in Petersburg hatte in seiner Seele unverwischbare Spuren hinterlassen. Die offizielle und sogar die geheime Geschichte der „neuen Generation“ war ihm ziemlich bekannt – war er doch ein wißbegieriger Mensch, der selbst Proklamationen sammelte –, nur hatte er noch nie auch nur ein Wort von dieser ganzen Geschichte begriffen. Jetzt aber stand er da wie in einem Walde: mit allen Instinkten ahnte er, daß in Pjotr Stepanowitschs Worten etwas schier Unmögliches enthalten war, irgend etwas außerhalb aller Formen und Vereinbarungen – „wenn auch übrigens der Teufel wissen mag, was da in dieser ‚neuen Generation‘ alles möglich ist und überhaupt ... wie sie das da alles machen!“ dachte er bei sich und verlor sich in Erwägungen.

Da steckte zum Unglück wieder Blümer seinen Kopf durch die Tür. Die ganze Zeit während der Anwesenheit Pjotr Stepanowitschs hatte er in der Nähe gewartet. Dieser Blümer war mit Herrn von Lembke sogar verwandt, wenn auch allerdings nur weitläufig, doch diese Verwandtschaft wurde sorgfältig und ängstlich geheimgehalten. Ich bitte den Leser um Entschuldigung, daß ich hier über diesen unbedeutenden Menschen ein paar Bemerkungen einfüge. Blümer gehörte als Mensch zu der sonderbaren Abart der „unglücklichen“ Deutschen – jedoch nicht infolge seiner tatsächlich großen Talentlosigkeit, sondern einfach Gott weiß weshalb. Diese „unglücklichen“ Deutschen sind keine Mythe, sondern sind wirklich vorhanden, sogar in Rußland, und haben ihren besonderen Typ. Herr von Lembke hatte für diesen Blümer von jeher ein geradezu rührendes Mitgefühl und verschaffte ihm, wo er nur konnte, und natürlich im Verhältnis zu seinen eigenen Fortschritten, immer bessere Stellen in seinem Ressort; doch Blümer hatte nirgends Glück. Bald wurde der Posten aufgehoben, bald bekam er einen neuen Vorgesetzten, und einmal hätte man ihn beinahe mit anderen zusammen vors Gericht gebracht. Er war gewissenhaft, doch leider irgendwie so, daß es schon zuviel war – zwecklos gewissenhaft, und außerdem ewig mürrisch, was ihm überall schadete, – dabei rothaarig, groß, ein wenig krumm, wehmütig, sogar gefühlvoll, und bei all seiner Unterwürfigkeit doch eigensinnig und halsstarrig wie ein Stier, freilich immer am unrechten Ort und zur unrechten Zeit. An Lembke hing er nebst seiner Frau und seinen zahllosen Kindern mit einer langjährigen und ehrfürchtigen, treuen und ergebenen Anhänglichkeit. Außer Lembke gab es keinen Menschen, der ihn je auch nur gemocht hatte. Julija Michailowna hatte ihn sofort und mit aller Entschiedenheit abgelehnt, doch verabschieden konnte sie ihn nicht, weil der Widerstand ihres Mannes in diesem Punkte nicht zu brechen war. Ja, dieser Blümer war die Ursache ihres ersten ehelichen Streites gewesen, und zwar gleich in den ersten süßen Tagen nach der Hochzeit, als sie plötzlich das kränkende Geheimnis dieser neuen Verwandtschaft erfahren hatte. Es half auch nichts, daß ihr Gatte flehend, mit gefalteten Händen, auf sie einredete und ihr gefühlvoll Blümers ganze Lebensgeschichte erzählte, sowie die Geschichte ihrer Freundschaft von Kindheit an: Julija Michailowna hielt sich für unwiderruflich blamiert und versuchte sogar mit Ohnmachtsanfällen ihren Willen durchzusetzen. Doch von Lembke wich trotzdem nicht einen Schritt von seinem Standpunkt und erklärte nur, daß er seinen Blümer um keinen Preis von sich entfernen werde, so daß sie sich schließlich ehrlich über ihn wunderte und gezwungen war, ihm diesen Blümer zu „gestatten“. Es wurde nur beschlossen, die Verwandtschaft mit ihm noch sorgfältiger als bisher geheimzuhalten, wenn das überhaupt möglich war, und sogar seinen Ruf- und Vatersnamen durch andere zu ersetzen, denn auch Blümer hieß sonderbarerweise genau wie von Lembke Andrei Antonowitsch. Hier bei uns verkehrte Blümer mit keinem Menschen, außer mit einem deutschen Apotheker, hatte auch bei niemandem Besuch gemacht und, seiner Gewohnheit getreu, zurückgezogen und sparsam gelebt. Ihm waren auch die literarischen Sünden von Lembkes bekannt, denn er war es, der den Zuhörer abgeben mußte, wenn von Lembke seinen Roman vorlesen wollte, was er natürlich nur mit aller Vorsicht und bei verschlossenen Türen tat: dann saß Blümer an die sechs Stunden wie ein Pfosten da, schwitzte und strengte sich krampfhaft an, nicht einzuschlafen, sondern wach zu bleiben und zu lächeln. Kam er dann nach Hause, so seufzte er zusammen mit seiner hageren, großfüßigen Frau über die unselige Vorliebe ihres Wohltäters für die russische Literatur.

Andrei Antonowitsch litt geradezu, als er den eintretenden Blümer erblickte.

„Ich bitte dich, Blümer, mich jetzt in Ruh zu lassen,“ begann er erregt und schnell, sichtlich bemüht, eine Fortsetzung des Gespräches, das Pjotr Stepanowitsch unterbrochen hatte, zu vermeiden.

„Man kann das ja auf die schonendste Weise machen. Sie haben doch die Vollmacht,“ bestand Blümer ehrerbietig aber hartnäckig auf dem Seinen, und näherte sich mit kleinen Schritten und krummem Rücken immer mehr dem Schreibtisch.

„Blümer, du bist mir wirklich in einem Grade zugetan und in deinem Amt diensteifrig, daß mir schon angst und bange vor dir wird, wenn ich dich nur erblicke!“

„Sie machen immer scharfsinnige Bemerkungen, aber dann lassen Sie sich von dem Vergnügen an dem Gesagten ruhig einschläfern. Damit schaden Sie sich selbst.“

„Blümer, ich habe mich soeben überzeugt, daß etwas ganz anderes dahintersteckt, etwas ganz anderes!“

„Doch nicht aus den Worten dieses falschen, lasterhaften Menschen, den Sie selbst verdächtigen? Hat er Sie glücklich mit falschem Lob Ihres literarischen Talentes so weit geblendet?“

„Blümer, du ahnst ja nichts! Dein Projekt ist eine Absurdität, sage ich dir. Wir werden nichts finden, es wird sich nur unnützes Geschrei erheben und dann Gelächter und dann Julija Michailowna ...“

„Wir werden bestimmt alles finden, was wir suchen,“ Blümer schritt fest auf ihn zu, die rechte Hand ans Herz gepreßt. „Wir können die Durchsuchung seiner Wohnung ganz früh am Morgen vornehmen, und ganz plötzlich, ohne alle Vorbereitungen, mit aller Schonung seiner Person, und dabei streng nach der Vorschrift des Gesetzes. Die jungen Leute, Lämschin und Telätnikoff, versichern felsenfest, daß wir bei ihm alles Gewünschte finden werden. Sie haben ihn früher oft besucht. Für Herrn Werchowenski ist hier niemand sehr zu haben, und die Generalin Stawrogin hat ihm formell ihre Wohltaten für weiterhin gekündigt, und jeder ehrliche Mensch, wenn es solch einen in dieser rohen Stadt überhaupt gibt, ist überzeugt, daß dort immer die Quelle des Unglaubens und der sozialen Lehren gewesen ist. Er besitzt alle verbotenen Bücher, sämtliche Werke Herzens, Rylejeffs ‚Dumy‘[44] ... Ich habe mir schon auf alle Fälle ein Verzeichnis seiner Bücher ...“

„Gott, diese Bücher hat heute doch schon ein jeder! Wie naiv du bist, mein armer Blümer!“

„Und eine Menge Proklamationen,“ fuhr Blümer fort und tat, als habe er die Bemerkung nicht gehört. „Wir werden auf diese Weise bestimmt auf die Spur der neuen Proklamationen kommen. Dieser junge Werchowenski kommt mir ungemein, ungemein verdächtig vor.“

„Aber du verwechselst ja den Vater mit dem Sohn! Sie vertragen sich durchaus nicht. Der Sohn verspottet ihn ja ganz ungeniert.“

„Das ist doch nur Verstellung, Maske!“

„Blümer, du hast wohl geschworen, mich zu Tode zu quälen! Denk doch ein bißchen nach! Er ist doch hier in der Stadt immerhin eine geachtete Persönlichkeit. Er war Professor, er ist überall bekannt, und wenn er zu schreien anfängt, wird es gleich alle Welt wissen, und dann beginnt das Witzeln über uns, und dann gelingt uns nichts mehr ... und bedenke doch nur, was wird Julija Michailowna sagen ...“

Blümer kam immer näher und hörte auf keinen Einwand.

„Er war nur Dozent und weiter nichts, nur Dozent, und ist dem Titel nach nur Kollegienassessor außer Dienst.“ Blümer preßte heftig seine rechte Hand auf die Brust. „Keinen einzigen Orden hat er und zum Staatsdienst ist er überhaupt nicht herangekommen, weil man seine Absichten gegen die Regierung kannte. Er stand im geheimen unter polizeilicher Aufsicht und steht wohl zweifellos auch jetzt noch darunter. In Anbetracht der beginnenden Unordnungen sind Sie geradezu verpflichtet, zu tun, was ich Ihnen riet. Sie aber lassen eine solche Möglichkeit, sich auszuzeichnen, wieder vorübergehen! Sehen dem Hauptschuldigen einfach durch die Finger! ...“

„Julija Michailowna! Sch–scher dich zum ...“ rief plötzlich von Lembke, der die Stimme seiner Frau im Nebenzimmer gehört hatte.

Blümer zuckte zusammen, doch ergab er sich noch nicht.

„So erlauben Sie doch, erlauben Sie doch,“ er trat immer näher und preßte jetzt schon beide Hände an die Brust.

„Sch–scher dich, pack dich!“ knirschte Andrei Antonowitsch. „Mach, was du willst ... später ... O Gott!“

Die Portiere wurde zur Seite geschlagen, und Julija Michailowna erschien. Als sie Blümer erblickte, blieb sie stehen und musterte ihn hochmütig und beleidigend vom Kopf bis zu den Füßen, als wäre schon seine bloße Anwesenheit kränkend für sie. Blümer machte stumm eine tiefe, ehrerbietige Verbeugung vor ihr und ging dann, noch krumm vor Ehrerbietung, auf den Fußspitzen zur Tür.

War es nun, daß er die letzten Worte von Lembkes für die Erlaubnis nahm, so zu handeln, wie er wollte, oder ob er es von sich aus unrechterweise, jedoch in der festen Überzeugung tat, seinem Wohltäter zu einem Orden zu verhelfen, – das mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls erwuchs, wie wir weiterhin sehen werden, aus diesem Gespräch des Vorgesetzten mit seinem Untergebenen etwas ganz Unvorhergesehenes, das viele zum Lachen reizte, als es bekannt ward, aber Julija Michailownas hellen Zorn erregte. Von Lembke dagegen wurde dadurch in der entscheidendsten Zeit in die bedauernswerteste Unentschlossenheit versetzt.

V.

Für Pjotr Stepanowitsch war es ein geschäftiger Tag. Nachdem er von Lembke verlassen hatte, begab er sich schnell zur Bogojawlenskstraße, doch als er unterwegs in der Bykoffstraße an dem Hause vorüberkam, in dem Karmasinoff wohnte, blieb er plötzlich stehen, lächelte und trat ins Haus. Man öffnete ihm mit einem: „Der Herr erwarten bereits –,“ was Pjotr Stepanowitsch sehr bemerkenswert erschien, denn er hatte durchaus nicht gesagt, daß er kommen werde.

Der „große Schriftsteller“ erwartete ihn in der Tat, und zwar schon seit drei Tagen, denn vor vier Tagen hatte er das Manuskript seines „Merci“ (seinen Abschiedsgruß ans Publikum, den er auf der literarischen Matinee zum Besten armer Gouvernanten vorzulesen gedachte) Werchowenski eingehändigt. Er hatte es aus Liebenswürdigkeit getan, in der Überzeugung, dem jungen Manne außerordentlich zu schmeicheln, wenn er ihm das große Werk schon vorher zeigte. Pjotr Stepanowitsch hatte schon längst begriffen, daß dieser ruhmsüchtige, eitle und für Nichterwählte so beleidigend unnahbare Herr, dieser „erhabene Verstand“, sich einfach an ihn herandrängen wollte. Er erriet, daß Karmasinoff ihn, wenn auch vielleicht nicht für den erklärten Führer alles dessen hielt, was in ganz Rußland heimlich revolutionär war, so doch wenigstens für einen, der in alle Geheimnisse der russischen Revolution eingeweiht war und zweifellos großen Einfluß auf die Jugend hatte. Die Gedanken dieses „klügsten Menschen in ganz Rußland“ interessierten Pjotr Stepanowitsch, doch bisher hatte er aus gewissen Gründen eine Aussprache vermieden.

Der „große Schriftsteller“ wohnte im Hause seiner Schwester, der Frau eines Kammerherrn und Gutsbesitzers, die nebst ihrem Mann den „berühmten Verwandten“ geradezu vergötterte. Augenblicklich mußten sie leider beide, zu ihrem größten Schmerz, in Moskau leben, so daß denn eine alte Dame, eine arme Verwandte des Kammerherrn, die schon lange im Hause die Wirtschaft führte, die Ehre hatte, Karmasinoff zu empfangen und aufzunehmen. Seit seiner Ankunft ging das ganze Haus auf den Fußspitzen, und niemand wagte mehr, laut zu sprechen. Die alte Dame berichtete fast täglich nach Moskau, wie Karmasinoff geschlafen und was er gegessen hatte, und einmal, als er nach einem Diner beim Stadthaupt einen Löffel voll einer gewissen Medizin hatte einnehmen müssen, schickte sie sogar ein Telegramm ab, in ihrer Furcht, er könne vielleicht krank werden. Karmasinoff selbst sprach, wenn auch höflich, so doch nur ganz trocken mit ihr, und nur wenn es unbedingt nötig war. Als Pjotr Stepanowitsch bei ihm eintrat, aß er gerade ein Kotelett. Vor ihm stand ein Glas Portwein. Pjotr Stepanowitsch war auch früher schon bei ihm gewesen, und jedesmal hatte er ihn bei diesem Morgenfrühstück angetroffen, das er dann ruhig weiter zu essen pflegte, ohne seinem Gast auch nur einmal etwas anzubieten. Nach dem Kotelett trank er dann ein Täßchen Kaffee. Der Diener war in blauem Frack, weichen, unhörbaren Stiefeln und weißen Handschuhen.

„A–ah!“ rief Karmasinoff aus und erhob sich vom Sofa, während er sich den Mund mit der Serviette abwischte; darauf trat er auf Pjotr Stepanowitsch zu, um ihn auf die Wange zu küssen – die charakteristische Angewohnheit aller Russen, wenn sie schon gar zu berühmt sind.

Pjotr Stepanowitsch wußte aber schon von früher, daß Karmasinoff bei diesem bei ihm üblichen Kuß nur die Wange hinzuhalten pflegte – da machte er es diesmal ebenso: und so legten sich denn beide Wangen flach aneinander. Karmasinoff tat, als hätte er nichts bemerkt, setzte sich wieder auf sein Sofa und lud seinen Gast ein, ihm gegenüber auf einem Lehnstuhl Platz zu nehmen, was dieser auch sofort mit seiner ganzen Nonchalance tat.

„Sie wollen doch nicht ... Wollen Sie nicht frühstücken?“ fragte Karmasinoff ganz gegen seine Gewohnheit, doch selbstverständlich in der Annahme, eine höflich ablehnende Antwort zu erhalten.

Aber ungeachtet dessen oder vielleicht gerade deshalb wünschte Pjotr Stepanowitsch sofort zu frühstücken. Ein Schatten beleidigten Erstaunens glitt über das Gesicht des Hausherrn, doch nur auf einen Augenblick: nervös klingelte er darauf nach dem Diener und erhob, trotz seiner guten Erziehung, launisch die Stimme, als er ein zweites Frühstück bestellte.

„Wollen Sie denn ein Kotelett oder Kaffee?“ erkundigte er sich bei seinem Gast.

„Beides, und bestellen Sie noch Portwein dazu, ich bin hungrig,“ sagte Pjotr Stepanowitsch seelenruhig und betrachtete Karmasinoffs Kostüm. Es bestand aus einer Art von Hausjackett, oder Jäckchen, jedenfalls war es wattiert, mit Perlmutterknöpfen versehen und sehr kurz, was sich zu seinem runden Bäuchlein und dem runden, festen Körperteil der Rückseite wenig gut ausnahm. Über seine Knie hatte er ein kariertes wollenes Plaid gebreitet, obgleich es im Zimmer warm war.

„Krank etwa?“ fragte Pjotr Stepanowitsch.

„Nein, nicht krank, aber ich fürchte, krank zu werden – in diesem schrecklichen Klima,“ antwortete Karmasinoff mit seinem kreischenden Stimmchen, wenn auch freundlich. „Ich erwartete Sie schon gestern.“

„Warum das? Ich hatte Ihnen doch nicht versprochen, zu Ihnen zu kommen.“

„Ja, aber Sie haben doch mein Manuskript! Sie ... haben Sie es gelesen?“

„Manuskript? Was für eines?“

Karmasinoff wunderte sich maßlos.

„Aber Sie haben es doch wenigstens mitgebracht?“ rief er plötzlich so aufgeregt, daß er sogar im Essen innehielt und mit aufgerissenen Augen sein Gegenüber anstarrte.

„Ach so, Sie sprechen von Ihrem ‚Bonjour‘, oder wie es da hieß ...“

„‚Merci‘.“

„Na, bleibt sich gleich. Habe es ganz vergessen und noch kein Wort gelesen. Keine Zeit. Wirklich, ich weiß nicht, in den Taschen ist das Ding nicht mehr. Na, wird sich schon finden ...“

„Nein, verzeihen Sie, ich sende lieber sofort zu Ihnen! Es könnte verloren gehen, man könnte es stehlen!“

„Ach wo! wer braucht denn so was! Warum regen Sie sich denn überhaupt so auf? Sie haben doch, wie mir Julija Michailowna sagte, immer mehrere Abschriften, eine im Auslande beim Notar, eine in Petersburg, eine in Moskau ... und eine schicken Sie dann womöglich noch in die Bank –?“

„Aber Moskau kann doch abbrennen, mitsamt meinem Manuskript! Nein, ich sende doch lieber sofort zu Ihnen ...“

„Warten Sie, hier ist es ja!“ Pjotr Stepanowitsch zog aus der hinteren Rocktasche das Manuskript hervor. „Ein wenig verknittert. Denken Sie sich nur, so wie ich es damals nahm, so hat es ruhig mit meinem Schnupftuch in der Tasche gelegen. Hatte es völlig vergessen.“

Karmasinoff warf sich gierig auf sein Manuskript, besah es von allen Seiten, zählte die Blätter nach und legte es dann fast andächtig neben sich auf ein kleines Tischchen, doch so, daß er es jeden Augenblick wieder ergreifen konnte.

„Sie lesen wohl nicht viel?“ konnte er sich schließlich nicht enthalten zu fragen.

„Nein, nicht sehr viel.“

„Und von russischer Belletristik – wohl überhaupt nichts?“

„Von russischer Belletristik? Warten Sie mal, ich glaube, ich habe einmal so etwas gelesen ... ‚Unterwegs‘ ... oder ‚Auf dem Weg‘ ... oder ‚Am Kreuzweg‘, oder wie es da hieß, hab’s vergessen. Es ist lange her. Las es vor etwa fünf Jahren. Hab keine Zeit.“

Ein kurzes Schweigen trat ein.

„Als ich herkam, versicherte ich allen, daß Sie ein ungewöhnlich kluger Mensch sind – und jetzt scheinen ja auch alle von Ihnen entzückt zu sein.“

„Danke,“ sagte Pjotr Stepanowitsch ruhig.

Der Diener brachte das Frühstück, und Pjotr Stepanowitsch machte sich mit gutem Appetit an das Kotelett, aß es im Nu auf, stürzte den Wein hinunter und trank den Kaffee.

„Dieser Grobian,“ dachte Karmasinoff, indem er noch das letzte kleine Stückchen von seinem eigenen Teller aß und das letzte Schlückchen trank, „dieser Grobian hat gewiß sofort die Stichelei in meinen Worten begriffen ... und das Manuskript wird er bestimmt mit Spannung gelesen haben, also lügt er jetzt, um sich den Anschein zu geben, als ob ... Oder sollte er doch nicht lügen, sondern einfach aufrichtig dumm sein? Einen genialen Menschen liebe ich eigentlich so, wenn er ein wenig dumm ist. Ist er nicht gar für die da wirklich so was wie ein Genie? Doch übrigens hol’ ihn der Teufel.“

Er erhob sich vom Sofa und begann, aus einer Ecke des Zimmers in die andere zu gehen, um sich Bewegung zu machen, was er nach dem Frühstück stets zu tun pflegte.

„Reisen Sie bald zurück?“ fragte Pjotr Stepanowitsch aus dem Lehnstuhl und rauchte eine Zigarette an.

„Ich bin eigentlich hergekommen, um mein Gut zu verkaufen, und hänge nun von meinem Verwalter ab.“

„Na, aber eigentlich sind Sie doch hierher gekommen, weil Sie dort Epidemien nach dem Kriege erwarteten?“

„N–nein, nicht eigentlich deshalb,“ sagte Karmasinoff, großmütig die Worte skandierend, und fuhr fort, durch das Zimmer zu spazieren, wobei er bei jedem Kehrt in der Ecke munter mit dem rechten Beinchen ausschritt. „Ich beabsichtige in der Tat, so lange wie nur möglich zu leben,“ lächelte er nicht ganz ohne Ironie. „Im russischen Herrenstand ist etwas, das den Menschen schnell verbraucht, in jeder Beziehung. Ich aber möchte mich so spät wie möglich verbrauchen und werde deshalb auch in Bälde endgültig ins Ausland übersiedeln. Dort ist auch das Klima besser, und das ganze Gebäude ist aus Stein, und alles steht fester. Für meine Lebenszeit wird Europa noch vorhalten, denke ich. Was meinen Sie?“

„Wie soll ich’s wissen!“

„Hm ... Wenn dort wirklich einmal Babylon kracht, und sein Fall wird groß sein – darin stimme ich vollkommen mit Ihnen überein, obgleich ich denke, daß es für meine Lebenszeit noch vorhalten wird – so ist doch bei uns in Rußland überhaupt nichts vorhanden, das da zusammenstürzen könnte ... im Verhältnis betrachtet. Bei uns werden keine Steine fallen, sondern alles wird sich in Schmutz auflösen. Das heilige Rußland kann am wenigsten von allem in der Welt irgendeinen Widerstand leisten. Das einfache Volk hält sich noch irgendwie mit dem russischen Gott; aber selbst der russische Gott hat sich ja nach den letzten Erfahrungen als äußerst unzuverlässig erwiesen. Sogar gegen die Bauernreform hat er kaum standzuhalten vermocht – jedenfalls hat er arg gewankt. Und dazu kommen jetzt noch die Eisenbahnen, und dann ... Nein, an den russischen Gott glaube ich schon gar nicht.“

„Aber an den europäischen?“

„Ich glaube an keinen einzigen. Man hat mich bei der russischen Jugend verleumdet. Ich habe stets jede ihrer Handlungen nachfühlen können. Man hat mir hier auch diese Proklamationen gezeigt. Man steht diesen Flugblättern allgemein verständnislos gegenüber, denn die Form schreckt ab; doch von ihrer Macht sind alle überzeugt, wenn sie sich auch selbst noch nicht dessen bewußt sind. Alles fällt hier schon längst, und alle wissen auch schon längst, daß nichts da ist, wonach man greifen oder woran man sich festhalten könnte. Ich bin schon deswegen von dem Erfolg dieser geheimnisvollen Propaganda überzeugt, weil Rußland jetzt auf der ganzen Welt im wahrsten Sinne des Wortes derjenige Ort ist, wo alles geschehen kann, ohne den geringsten Widerstand zu finden. Ich verstehe nur zu gut, warum alle wohlhabenden Russen jetzt ins Ausland strömen und von Jahr zu Jahr immer mehr Leute auswandern. Hier ist es einfach ein Instinkt. Wenn das Schiff untergeht, wandern die Ratten aus. Das heilige Rußland ist ein hölzernes Land, ein bettelarmes und ... gefährliches Land, ein Land eitler Bettler in seinen höheren Schichten, während die riesige Mehrzahl in Hütten auf Hühnerbeinen hockt. Es wird über jeden Ausweg froh sein, wenn man ihm einen solchen zeigt und erklärt. Nur die Regierung will sich noch wehren, doch fuchtelt sie mit ihrem Knüttel im Dunkeln umher und trifft womöglich die eigenen Leute. Hier ist schon alles vorausbestimmt und verurteilt. Rußland hat, so, wie es jetzt ist, keine Zukunft. Ich bin Deutscher geworden und rechne mir das als Ehre an.“

„Sie begannen da, sich über die Proklamationen zu äußern: sagen Sie, was halten Sie von denen?“

„Alle fürchten die Proklamationen, folglich sind sie mächtig. Sie decken öffentlich den Betrug auf und beweisen, daß hier nichts mehr ist, an dem man sich festhalten, auf das man sich stützen könnte. Sie sprechen laut, während alle schweigen. Und womit sie am meisten besiegen, das ist – abgesehen von der Form – dieser bis jetzt unerhörte Mut, der Wahrheit offen ins Angesicht zu schauen. Diese Fähigkeit, der Wahrheit gerade ins Angesicht schauen zu können, hat einzig und allein die russische Generation. Nein, in Europa ist man noch nicht so mutig: dort ist’s eine steinerne Herrschaft, – dort gibt es noch etwas, auf das man sich tatsächlich stützen kann. So viel ich sehe und so viel ich zu beurteilen vermag, ist der Kern der russischen revolutionären Idee die Verneinung der Ehre. Es gefällt mir, daß das so mutig und furchtlos ausgedrückt wird. Nein, in Europa begreift man das noch nicht, bei uns aber wird man sich gerade darauf stürzen. Dem russischen Menschen ist die Ehre nur eine überflüssige Last. Ja, und sie ist ihm immer eine Last gewesen, in seiner ganzen Geschichte. Mit dem öffentlichen ‚Recht auf Unehre‘ kann man ihn am ehesten verlocken. Ich gehöre ja noch zur alten Generation und, ich muß gestehen, bin noch für die Ehre, aber doch nur aus Gewohnheit. Mir gefallen bloß die alten Formen, wenn auch vielleicht aus Kleinmut – aber man muß doch irgendwie sein Jahrhundert zu Ende leben.“

Er brach plötzlich ab.

„Da rede ich und rede,“ dachte er bei sich, „er aber schweigt und beobachtet mich. Er ist ja nur gekommen, damit ich ganz offen die Frage an ihn stelle. Gut, kann er haben.“

„Julija Michailowna hat mich gebeten, einmal irgendwie auf schlaue Weise von Ihnen herauszubekommen, was das für eine Überraschung